Merkwürdige Dinge geschehen in einigen Geschichten dieses Ban des: Oder hat jemand schon gehört, daß man sein eigener ...
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Merkwürdige Dinge geschehen in einigen Geschichten dieses Ban des: Oder hat jemand schon gehört, daß man sein eigener Großvater werden kann? Ist es hierzulande möglich, ein Mammut gegen einen Elefanten zu tauschen? Anderes erscheint uns alltäglicher, etwa wenn von den mancherlei Mühen und Querelen eines Hausbaus erzählt wird oder davon, was der Besuch einer hochgestellten Per sönlichkeit mit sich bringt. Wolfgang Eckert erzählt in phantasti schen wie in sehr realen Vorgängen, aber immer auf heitersatirische Weise von unseren Verhältnissen und Verhaltensweisen. Manchmal bleibt uns vielleicht das Lachen im Halse stecken, wir entdecken hinter komischen Grundsituationen unsere eigenen Versäumnisse, Gewöhnungen, Enttäuschungen. Wir entdecken, wie wir sind und wie wir einst werden wollten. Wolfgang Eckert, bekanntgeworden durch seinen Roman »Familienfoto« und den Erzählungsband »Par don, sagen wir du?« erweist sich auch in diesem neuen Buch als ein phantasievoller Erzähler und als ein behutsamer, nachdenklicher Moralist.
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Wolfgang Eckert
PLÖTZLICH
LACHTE
DOKTOR
BUNSEN
Zehn Geschichten und ein Nachwort
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ISBN 3-354-00549-1
© Mitteldeutscher Verlag Halle · Leipzig 1990
Iizenz-Nr. 444-300 · LSV 7001
Printed in the German Democratic Republic
Typografie: Peter Hartmann
Einband: Thomas Schleusing
Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V15/30
Best.-Nr. 639 509 5
00850
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EIN HUT AUF DER ELBE
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Es war auf der Elbe bei Pirna, als sich in Oswald Lindenlaub zum ersten Mal dieser Gedanke regte. Das Gebirge lag hinter ihnen und hatte nichts bewirkt. Sie kehrten so zurück, wie sie gekommen waren. Unten spielte die Bordkapelle »Ein Schiff ist aus Holz oder Eisen«, oben standen trotz der aufkommenden Kühle einige wetter harte Ausflügler an der Reling. Lindenlaub fror. Aber seine Frau, die er aus irgendeinem Grunde früher einmal Käthi gerufen hatte, be stand darauf, dieser Bumsmusik fernzubleiben. Außerdem würden die Kinder später dann ebenfalls hier stehen und zum Ufer winken wollen. Seit Beginn der Reise von Dresden aus probte sie Schulaus flug. Und Oswald war die Testfigur, gewissermaßen die zu einer Person zusammengeschrumpfte dritte Klasse der Tännicht-Ober schule. Beim Kartenverkauf für die Benutzung der »Weißen Flotte« mußte er sich so stellen, daß sie ihn ständig unter Kontrolle behal ten konnte. Und schon während des Weges vom Hauptbahnhof bis hierher durfte er nicht schneller laufen als eben kleine Mädchen und Jungen – wegen der Zeitnahme und der Einhaltung des Tages planes. Als sie Schmilka erreicht hatten, kannte er alle Sehenswürdigkei ten und ihre geschichtliche Bedeutung, er hatte seine Limonade und seine Bockwurst bekommen und einmal sogar, weil er nicht wußte, wer die Festung Königstein erbaute, einen Tadel. Jetzt war er müde wie ein ausgelaugter Prüfling und fror neben ihr an der Reling. Die Berge blieben zurück, das Land wurde wieder flach, flach wie sein Leben. Er war fünf Zentimeter kleiner als seine Frau. Aber die neue Schuhabsatzmode für Herren machte ihn ebenbürtig. Trotzdem blieb der Eindruck, er schaue zu seiner Frau auf, nicht wie ein Anbe ter, sondern eben wie einer, der um gute Zensuren bemüht ist. Frau Lindenlaubs Gesicht war einst beinahe lieblich gewesen, wenn man von der breiten Stirn absah. Nun wurde auch das Kinn breit, ihr Gesicht bekam die Form eines Rechteckes. Oswald Lindenlaub tröstete sich manchmal, darin einen stärke ren Ausdruck zu sehen. Seit einiger Zeit vermied er es, ihr gegenü berzustehen. Nach dreißig Jahren Ehe kein allzu großes Problem mehr. Vielleicht lag das an ihrem Blick, der ihn oft ganz körperlich traf wie eine ordnende Hand, die ihm die Jacke geraderückte, die 7
Nase putzte, bedauernd, daß er so etwas nicht selber bemerkte. Zwischen ihre Brauen hatte sich eine winzige, aber harte Falte der Enttäuschung eingegraben. In der Mitte ihrer Ehezeit glaubte sie noch, er werde sich eines Tages zum Abteilungsleiter der Material buchhaltung aufschwingen. Statt dessen blieb er der kleine Ange stellte am siebenten Schreibtisch, damit betraut, Sparmaßnahmen zu überwachen. Das tat er gewissenhaft. Doch um Käthis Mund zuckte unausgesprochen der Vermerk: Wird nicht versetzt. Er hatte das Klassenziel nicht erreicht und litt darunter. Und seine Hoffnung, dieser eheliche Schulausflug Dresden-Schmilka-Dresden könnte die knisternde Rohrstockatmosphäre zwischen ihnen beenden, erlosch. Das Gebirge lag hinter ihnen und hatte nichts bewirkt. Sie kehrten so zurück, wie sie gekommen waren. Unten spielte noch immer die Bordkapelle auf Wunsch eines be soffenen Herrn »Ein Schiff ist aus Holz oder Eisen«, oben standen trotz der aufkommenden Kühle einige wetterharte Ausflügler an der Reling. Auch Frau Lindenlaubs Gesicht war wetterhart. Ein gefrore nes Rechteck. Je länger es Oswald Lindenlaub jetzt von der Seite betrachtete, desto mehr schien ihm das so. Er starrte dorthin, raffte auf einmal, einem inneren Zwang folgend, seine kleine Gestalt zu sammen, reckte sich und grölte voller Wut, das Rauschen des Bug wassers übertönend: »Frau Wirtin hatte einen Sohn, der konnte es mit vierzehn schon.« Er schickte sich an, alle Verse, die er kannte, aus seinem plötzlich wachsenden Körper hinauszuschreien, mitten in das Rechteck. Und die Umstehenden froren nicht mehr. »Oswald!« rief Frau Lindenlaub entsetzt. »Was soll das! Höre so fort auf, oder ich hole den Kapitän!« »Das könnte dir so passen!« frohlockte Oswald. »Nachher, wenn du mit deiner Schulklasse hier stehst, kannst du auch nicht gleich zum Kapitän rennen, sobald einer rappelt.« Er horchte ermutigt seiner Stimme nach, einer Reihung überstür zender Worte, die er da auf seine Frau abfeuerte. Frau Lindenlaub bekam einen starren Blick. Sie vollführte eine Handbewegung, als wollte sie ihren Mann ohrfeigen. Es konnte aber auch sein, daß sie eine Haarsträhne im Gesicht störte. Oswald Lin denlaub jedenfalls duckte sich, und das bißchen Revolution war zu 8
Ende. Lachen ringsum, vorgetäuscht als Hüsteln, drang an sein Ohr. Er fühlte die Sympathie der Augenzeugen für ihn, den Schwächeren. Aber er fand nicht die Kraft, sich noch einmal zusammenzuraffen. Er hatte in aller Öffentlichkeit das Äußerste gewagt. Nun spürte er, wie ihn das Schiff unaufhaltsam vom Ort seines Widerstandes da vontrug. Er umkrampfte die Reling, und es war bei Pirna, als sich zum ersten Mal dieser Gedanke in ihm hochschlich. Es mochte wohl anfangs mehr ein Bild gewesen sein: Er sah seine Frau übers Heck hinabstürzen, dorthin, wo nach seinen Vorstellun gen eine riesige Flügelschraube unter dem Wasser rotieren mußte. Heftiges Quirlen verriet, daß sie vorschriftsmäßig arbeitete. Ein Bein seiner Frau erschien an der Wasseroberfläche, eine Hand, wie ein letztes Winken. Dann trieb ihr senfbrauner Hut, einem verwelkten Blatt gleichend, auf den ruhiger werdenden Wellen, als wäre sie noch darunter. Aber sie war es nicht mehr, halleluja, und nun erst begann Oswald zu schreien, ja er machte tatsächlich Anstalten, über die Reling zu klettern, so lange, bis ihn die anderen zurückhielten. Auf Oswald Lindenlaubs Gesicht zeigte sich für Sekunden ein Schimmer stillen Glücks. Das Schiff stieß ein langgezogenes Signal aus und drosselte die Fahrt. Aber keine Rettungsringe wurden hin abgeworfen. Nur eine Stimme im Lautsprecher kündigte das bevor stehende Ende der Reise an. Neben Oswald Lindenlaub stand Käthi, unverletzt, den senfbraunen Hut kerzengerade auf dem Rechteck, und es waren jetzt zu viele Leute in Bewegung, daß er noch durch einen kräftigen Ruck hätte seine Träume in Wirklichkeit verwan deln können. Kurz danach legte das Schiff an, und er mußte diszip liniert bis zuletzt warten, weil er wieder die personifizierte dritte Klasse der Tännicht-Oberschule wurde, bleich, mit vor Schreck geweiteten Augen. Sie kehrten zurück in die dritte Etage eines Althauses, in dem wahrhaftig noch ein Schild hing: BETTELN UND HAUSIEREN VERBOTEN und sich die hölzernen Vorsaaltüren hochreckten wie gotische Gewölbe. Oswald Lindenlaub begann bald in der Küche geschäftig zu wer den, führte, die Lippen gespitzt, ein Gespräch mit seinem Wellensit tich. Käthi fiel im Wohnzimmer über einen Stoß Schülerarbeiten 9
her. Gemalte Gartenzäune, mit der pädagogischen Absicht, den Kindern exakte Querstriche – die Riegel – und Längsstriche – die Latten – beizubringen. Hinter einem Zaun wuchsen bunte Blumen, auf einem anderen saß ein komischer Vogel. Käthis Kinn prägte sich mißbilligend aus. Mit einer energischen Handbewegung schrieb sie an den Rand der Blätter: Thema verfehlt. Am Abend ließ sie wie immer Oswald allein vor dem Fernseher sitzen und ging mit der bissigen Bemerkung ins Bett, er sei ja ausgeruht. Scheinbar nichts hatte sich verändert. Wäre sie aber plötzlich aus irgendeinem Grund noch einmal ins Wohnzimmer gekommen, hätte sie Oswalds Unkonzentriertheit für die Abläufe auf dem Bildschirm beobachten können. Er trat sogar vor den Spiegel, wo er sich musterte, als woll te er die Fähigkeit für eine besondere Belastung feststellen. Manch mal lag er auf dem Sofa, die Augen geschlossen, und jener Schim mer stillen Glücks aus der Gegend von Pirna wurde sichtbar. Es geschah eine Veränderung mit ihm. Sobald er die Augen schloß, sah er kreisende Schatten, wie von Windmühlen. Und je länger er diese Erscheinung auf sich einwirken ließ, desto klarer wurde eine riesige Flügelschraube daraus. Auf dem Sofa liegend, begann er seine Frau zu ermorden. Eine gewisse Gemütlichkeit war seinen Überlegungen nicht abzustreiten. Wie nun, wenn er sie noch einmal zu einer Flußfahrt verleitete? Sie müßten dann backbord oder steuerbord stehen, mehr in der Mitte des Schiffes, damit sie auch gründlich unter den Rumpf geriet und die Umdrehungen der Schraube voll ausnutzen konnte. Schweiß trat ihm auf die Stirn, weil er sich jetzt schon aus irgend welchen Bullaugen beobachtet fühlte. Mit der Axt, dann zersägen und in der Aktentasche wegschaffen, dazu fehlten ihm die hand werklichen Fertigkeiten. Auch war das nicht seine Art. Sein Interes se für Krimiserien stieg. Doch nachdem er eine Reihe davon absol viert hatte, erkannte er, sie waren nicht verwendungsfähig, Leerfil me statt Lehrfilme. Vor dreißig Jahren hätte er sich beinahe vor lauter Sehnsucht umgebracht, als Käthi drei Tage verreiste. Jetzt packte ihn wilde Freude, wenn sie einmal für drei Stunden davon abgehalten wurde, nach Hause zu kommen. Ohne sie schien die Wohnung größer, und er konnte die Hosenträger über die Hüften 10
hinabbaumeln lassen. Mit ihr trat die Schulordnung ein. Klingelte sie an der Vorsaaltür, war für ihn die große Pause beendet. Dann wurde er aufgerufen, korrigiert und durfte sich erst setzen, wenn sie es bestimmte. Er war lebenslang unter Aufsicht. Sogar im Bett. Und als es einstmals noch geschah, zitterte er wie ein Prüfling. Nun schnarchte eine Lehrerin neben ihm, die im Schlaf brabbelte: »Bie sold, halt den Mund!« Vor dem Spiegel zog er nüchterne Bilanz: Dreißig Jahre Ehe lagen hinter ihm. Davon das erste Drittel mit dem Gefühl, sie passen gut zusammen; das zweite mit der Einschränkung, sie könnten ganz gut, wenn sich einer ändert, und das letzte Drittel mit der Gewiß heit, er soll der eine sein. Oswald Lindenlaub spürte Aufsässigkeit bis in die Zehen. Die Revolte bei Pirna ermunterte ihn. Wenn er noch etwas mit Inbrunst wünschte, so die Chance, ihren rechteckigen Dickschädel zu verän dern. Und da es sich von innen nicht machen ließ, dann auf höchst praktische Art von außen. Er war jetzt fünfundfünfzig Jahre alt. Auf dem Konto befand sich eine stattliche Grundlage für Hotelzimmer und Frauen, welche in ausreichendem Maße die richtige Müdigkeit dazu besaßen. Bei jeder von ihnen wollte er dankbar eines senf braunen Hutes gedenken, der auf der Elbe trieb. Er wurde lustig, wenn er daran dachte. Käthi, im Wohnzimmer, das sie mit der Zeit in ein Lehrerzimmer umfunktioniert hatte, hob mißtrauisch den Kopf, als sie Oswald hinter den Wänden singen hörte, und bekam ihren starren Blick. Sie zensierte Aufsätze und teilte ihre Klasse in die Leistungsstufen 1 bis 5. Singende Männer waren entweder besoffen oder ordinär. Ihr Mann trank aber nur Limonade. Sie wurde das Gefühl nicht los, sich damals vor die Säue geworfen zu haben. Am Sonntag wird sie ihm sein Singen heimzahlen, draußen im Garten, den sie am Stadtrand besaßen. Wäre der Zaun nicht gestanden, hätte ihn der Buchenwald ringsum schon lange in sich aufgenommen. Waldmeister wucherte durch die Zaunlücken herein. Und in diesem Geviert trug Käthi verbissen den Endkampf um ihre eingetrocknete Ehe aus. Einen Sieger gab es nie. Dann wäre ja der Endkampf zu Ende gewesen. In der Regel legte Oswald Lindenlaub im Frühjahr Beete an, geizte im 11
Sommer Tomatentriebe aus, pflanzte im Herbst ein Bäumchen, schippte im Winter Schnee von den Wegen. Und in der Regel be hauptete Käthi Lindenlaub, die Beete seien zu breit, die Tomatenpflanzen verunstaltet, das Bäumchen stünde an der falschen Stelle, der Schnee sei zu dreckig. Lindenlaub mußte ändern. Er zerrte das Bäumchen aus der Erde und zertrat dabei voller Wollust ihre Erdbeerreihen. Der Garten wurde zur Arena. Mit Wucht sauste Oswald auf das ihm vorgehaltene Tuch zu, wütend und schnaufend, und vergrub sich abends restlos zermürbt hinter seine Zeitungen, die er wie eine Wand zwischen sich und Käthi aufstellte. An solch einem Abend las er anfangs gelangweilt, dann aber mit steigendem Interesse folgende Zeilen: Asperula, vom lateinischen asper kommend, was soviel wie rauh und borstig heißt, auch Waldmeister genannt, besitzt nach neuesten Erkenntnissen Gifte, die zu einer Blutgerinnung im menschlichen Körper führen können, und ist deshalb nicht mehr für den Genuß zum Beispiel in der Mai bowle zu empfehlen. Untersuchungen bewiesen, daß es sich hierbei um Kumarine ... Oswald Lindenlaub ließ das Blatt sinken, lehnte sich mit ge schlossenen Augen zurück, nahm es erneut zur Hand und las gierig, wobei er das Wort Blutgerinnung mehrmals wiederholte. Ihm ge genüber saß Käthi, ihr Kinn eckiger denn je auf die Brust gedrückt, und schmökerte in einem Buch, das DER ERZIEHUNGSFAKTOR ALS EINE METHODE ZUR HERAUSBILDUNG SELBSTBEWUSSTEN HANDELNS, TEIL I hieß. Aber er stellte sich vor, sie sitzt mit die sem Werk im Garten, und der Waldmeister wächst durch den Zaun, kriecht auf sie zu, schießt hoch wie Unkraut, umschlingt sie, und schließlich verschwindet sie vollends wie ein Blatt, das langsam zerfällt. Dies war es! Er wäre am liebsten hochgesprungen und hätte sie mit Küssen geprügelt. Langzeitwirkung! Keine Axt, keine Schiffsschraube, sondern Waldmeister, schlicht Asperula. Das klang besser als Arsen. Der Mai drängte ins Land und ins Blut. Warum sollte er nicht in Form von Waldmeister in Käthis Blut dringen? Asperula stand kurz vor der Blüte, die beste Zeit also. Am anderen Tag eilte Oswald Lindenlaub nach der Arbeit fieber haft zum Garten und schuftete wie ein alter Baumwollpflücker. Der 12
Duft betäubte ihn, er taumelte in den Buchenwald, pflückte, pflück te, pflückte. Die gefüllten Säcke stellte er in den Geräteschuppen. Wieder zu Hause, überprüfte er die Weißweinbestände, ergänzte sie durch einige neue Sorten. Nun stand das Schwierigste bevor: Käthi an die Tränke zu locken. Doch es gelang besser als erwartet. Zum Wochenende erschnupperte Käthi den betörenden Duft aus dem Geräteschuppen. Mürrisch fragte sie, was denn nun das wieder für ein Unsinn sei. Flugs hatte Oswald einen Krug »Valencia« bereit, den er vorsorglich mit Waldmeister gewürzt hatte. Er füllte zwei Römer – einmal ist keinmal –, und Käthi bestaunte die Farbe des Weines. Sie schob ihr Kinn an das Glas, spitzte die Lippen und nipp te. Oswald saß reglos und voller Konzentration. Ihm schien es ein Wunder zu sein. Käthi nippte ein zweites Mal, verdrehte die Augen, und so etwas wie Anerkennung glitt über Oswald. Käthi nippte, das Glas war leer. Oswald füllte eilends nach. Und Käthi süffelte. Grüner Wein verließ den Kelch und verschwand in ihr. Ein zweites Glas lehnte Oswald ab. Das Zeug sei ihm zu süß, er bekäme Sodbrennen davon. Käthi freute sich, daß ihr eines mehr blieb. Oswald war sehr zufrieden. Drei, vier Tage lang. Dann bemerkte er, daß der Wald meister im Geräteschuppen seine Frische verlor. Und ewig blühte auch kein Mai. Oswald überlegte und erschrak. Käthi würde bis zum nächsten Mai wieder hervorragend in Schuß sein, und die Mühe war umsonst. Er grübelte abendelang verzweifelt. Not macht erfin derisch. Und so kam er auf die Idee, er müsse den Waldmeister konservieren, damit Käthi jeden Tag einen tüchtigen Tropfen be kam, bis sie grün wurde. Er besorgte sich unter größtem läuferi schem Aufwand Primasprit und setzte seine Waldmeisterernte im reinsten Alkohol an. Es entstand ein ausgezeichneter Extrakt, etwas wie Waldmeisterschnaps. Eine behutsame Kostprobe fiel so aus, daß er sich am schnellsten selber voller Wonne umgebracht hätte. Käthi brauchte das Zeug nun regelmäßig, wenn sie Schularbeiten zensierte. Er servierte schweigend im Wohnzimmer und wartete im Hintergrund, bis sie mit einem energischen Ruck ihres Kinnes und einem kurzen »Ah!« den Inhalt hineinschleuderte. Dann goß er nach. Sie sah nicht das Blitzen in seinen Augen, ihr Rotstift fuhr zischend durch die Arbeiten. Oswald ging in die Küche. Dort hatte 13
er ein Notizbuch. Auch er strichelte. Eines Tages wird er Bilanz machen. Im Keller füllten sich die Regale mit bauchigen Flaschen, auf denen Heftpflaster klebte, und es war überall zu lesen: ASPERULA. Nach seinen Berechnungen mußte der Vorrat mindes tens ein Jahr ausreichen. Monate später sah ihn Käthi während des Servierens an. Ihr kur zer Blick kontrollierte seine Verrichtungen, und sie bat ihn, die Flasche gleich stehenzulassen. Er hüpfte vor Freude wie toll in der Küche herum. Am nächsten Tag verzögerte er seine Kellerdienste und ließ sie mehrmals ärgerlich seinen Namen rufen. Schließlich spielte er den Vergeßlichen und erlebte triumphierend, wie sie schimpfend in den Keller hinabmarschierte, um sich ihr Asperula zu holen. Sie hatte angebissen oder genauer: Sie hatte sich festgesaugt. Ihr Gesicht glühte, die Augen glänzten. Auch schien ihm, ihr Ge sicht sei ovaler geworden. Alle Lebensgeister gerieten in Bewegung, und dafür gab es nur eine Erklärung: Das Gift wirkte. Es trieb noch einmal längst verschollene Eigenschaften in ihr hervor. Dahinter lauerte der plötzliche Verfall. Oswald Lindenlaub prüfte bereits insgeheim, welches Möbel und sonstige Gerumpel für den Schutt platz war und welches sich noch verkaufen ließ. Denn eines stand fest: Er würde wegziehen, gramgebeugt, um in irgendeiner Groß stadt, vielleicht Leipzig, mit seiner Verjüngungskur zu beginnen. Die Erregung ließ ihn abends schlecht einschlafen. Früher hatte er sich bei solchen Zuständen Schafe vorgestellt, die über Hecken springen, ein Schaf, zwei Schafe, drei Schafe ... bis zur Müdigkeit. Jetzt ver suchte er dasselbe. Aber nach dem ersten Schaf sah er ein dralles Weib mit gerafftem Rock Anlauf nehmen, es folgten weitere, alle im reifen Alter, versteht sich, eine Blonde, eine Schwarze, eine Rote ... Sie segelten mit ausgebreiteten Armen wie Quellwölkchen über sein Bett, und er wurde immer munterer. Käthi wollte nicht mehr allein süffeln. Bei ihr war jener Grad von Trinken eingetreten, der nach Geselligkeit drängte. Unbewußt viel leicht spürte sie den Fall ins Dunkle, und sie klammerte sich an Oswald, um ihn mit in die Tiefe zu ziehen. Natürlich lehnte Oswald ab, mit der alten Begründung, es sei ihm zu süß. Da entschied Käthi in ihrer resoluten Art, sie habe keine Lust mehr, Schluß, aus, basta. 14
Er erschrak bis ins Innerste. Nur das nicht: Käthi gesundend und auf eine ganz entgegengesetzte Art wieder kalt werdend, als er es, fast wie ein Züchter, anstrebte. Nach langem Drängen war er schließlich bereit, eine andere Mischung zu probieren, die Wodka hieß und einem harmlosen Wässerchen ähnelte. Das erste Glas verursachte bei ihm leichte Schüttelfröste. Doch er hielt durch. Es galt, Opfer zu bringen. Eine Feuersbrunst loderte in seine Eingewei de. Er hatte das Gefühl, Flammen schlagen aus seinen Ohren. Aber schon einige Wochen später goß Käthi nach. Ihre Augen blitzten, die Schülerarbeiten lagen unbeachtet auf dem Schreibtisch. Noch keine zwei Monate waren vergangen, da kontrollierte er ihre Ver richtungen beim Servieren und bat, die Flasche gleich stehenzulas sen. So zogen sich die Abende hin. Wenn Oswald dann in die Küche stricheln ging, kollidierte er leicht mit dem Türrahmen, und die Zeichen im Notizbuch gaukelten ihm vielfach das nahe Ziel vor. Er spürte ein bißchen Verlegenheit, Reue konnte man es nicht nennen, denn Käthi behandelte ihn jetzt wie ihresgleichen. Sie hatten sich aus Ermangelung sonstigen Gesprächsstoffes angewöhnt, Sechsund sechziger zu spielen. Oswald verlor meistens, sosehr er auch die Trumpffarben auf den Tisch knallte. Aber hinter ihren Karten, die sie wie einen Fächer unter den Augen hielt, fixierte ihn Käthi ohne Erbarmen. Der Endkampf war vom Garten in die gute Stube verlegt worden. Nur wirkte er um vieles gemäßigter, weil Oswald seine Zunge nicht mehr so schnell bewegen konnte und Käthi durch ihren Waldmeisterschnaps gelockerter schien. Oswald wußte, was es war: das zweite Stadium, die Lähmung des Blutkreislaufes. Als er dies feststellte, war das früh vorm Arbeitsweg, und er hatte noch so viel Zeit, in den Keller zu laufen, eine Flasche Wodka aufzuschrauben und einen Freudenschluck zu nehmen. Er streichelte liebevoll über die Armee der Asperulaflaschen, und es durchfuhr ihn mit eisiger Wonne: Mein Gott, er war ein Mörder! Einer von der eleganten Sorte. Er brachte kein Blut zum Fließen, er brachte es zum Stocken. Saubere, spurenfreie Arbeit. Am Ende konnte dem Opfer nur Unwis senheit als Todesursache vorgeworfen werden. Er ging beschwingt ins Büro, und alle freuten sich, welchen Elan er neuerdings bewies. Jeden Morgen feierte Oswald nun im Keller eine neue Erkennt 15
nis. Es wurde sein liebster Aufenthaltsraum. Er sah zunehmend gesünder aus. Seine blasse Bürofarbe wechselte in beständiges Rot, die Nase sogar ins Violett, und er besaß die langsamen, auf Sicher heit bedachten Schritte eines Mannes, der es gelernt hatte, nicht zu schwanken. Längst waren seine Eingeweide feuerfest wie Asbest geworden. Käthi fand oft liebevoll etikettierte Fläschlein in seinen Jackentaschen, Proviant für unterwegs. Das sei gegen die Kälte, verteidigte er sich und behauptete, er friere auch an heißen Tagen. »Altenburger Klarer«, »Adlershofer Wodka« und »Alter Sachse« – das war der Beginn eines wunderbaren Alphabetes. Nur an »Aspe rula« vergriff er sich nicht. Und er spürte die Bereitschaft in der Gurgel, fleißig bis zum Z – »Zubrowka« – durchzulernen. Bei dem Wort Limonade spie er angewidert aus. Lief jedoch etwas Hochpro zentiges in seine Kehle, grunzte er wie ein Eber. Oh, himmlische Wonne! Sein Gaumen wurde allmählich der hochqualifizierteste Teil seines Körpers, was zur Vernachlässigung anderer Bereiche führte. So kam er in einer schwachen Minute gläsernen Blickes und mit herunterbaumelnden Hosenträgern zur Wohnzimmertür herein, verfing sich deshalb an der Klinke, schwebte in der Luft, ruderte mit den Armen wie ein Schwimmlehrling, machte ein Winken daraus und sagte etwas schwerfällig: »Hello, Käthi.« Es sah lustig aus. Man hätte sich darüber krummlachen können. Käthi aber nannte ihn in ihrer charmanten Art ein besoffenes Ferkel und holte sich ärgerlich eine neue Flasche Asperula aus dem Keller. Abhängen mußte er sich selber. Sie trank nie mehr als fünf Gläschen am Tag, und Oswald hatte sich ausgerechnet, dies waren im Jahr fast zweitausend Prös terchen. Durch ihre Adern mußte der reinste Waldmeister fließen! Und die Wut ihrer verdammten Gesundheit wegen brachte ihn eines Sonntagmorgens so weit, daß er beim Anblick des zusammen geschrumpften Häufleins Asperulaflaschen vor Schreck im Keller eine halbe Flasche Wodka auf ex austrank. Dann hockte er eine Weile zwischen den Briketts, stieg endlich mit seinen auf Sicherheit bedachten Bewegungen die Treppe hoch und kippte oben, so, als hätte er es sich anders überlegt, kerzengerade wie ein Richtbrett wieder hinunter. Käthi fand ihn erst Stunden später. Sie war ziemlich aufgebracht. 16
Nachdem sie aber bemerkte, daraus wird er sich nie mehr etwas machen, fühlte sie Enttäuschung. Es war Prüfungszeit, und es gab eine Riesenmenge Aufsätze zu zensieren. Sie war böse, weil er sich nicht die Ferienzeit ausgesucht hatte. Zur Beerdigung trug sie einen grünen Lodenmantel und – einziger heller Lichtblick – einen senfbraunen Hut. Sie warf vorschriftsmäßig drei Häufchen Dreck auf den Deckel und klopfte sich die Handflä chen sauber, als wollte sie sagen: So, geschafft. Dann strebte sie wieder ihrem Schreibtisch zu. Aber die Arbeit ging ihr an diesem Tag nicht so recht von der Hand. Sie räumte sein kleines Schrankfach leer, unsinnige Tabakdosen darin aus der Zeit, da er noch Pfeife rauchen durfte, ein Ersatzrasierpinsel, drei Zei tungsfotos mit den langen Beinen des Friedrichstadtballettes. End lich brauchte sie ihre Bücher nicht mehr zweireihig aufzustellen. Sie warf diese Utensilien wie junge Sperlinge aus dem Nest. Dabei ge riet ihr auch eine kleine Pappschachtel in die Hand, die sich noch in der Luft öffnete und weiße bedruckte Kärtchen wie Flugblätter über den Teppich verstreute. DANKSAGUNG, las sie wohl hundertfach, FÜR DAS MIR ZUM PLÖTZLICHEN ABLEBEN MEINER LIEBEN FRAU KÄTHE LINDENLAUB DARGEBRACHTE BEILEID BEDANKT SICH IN TIEFEM SCHMERZ IHR LIEBER GATTE OSWALD LIN DENLAUB. Etwas wie Rührung suchte Käthis Gesicht heim. Dann aber ent deckte sie in der Küche ein Notizbuch, jede Seite bis zum Rand ge füllt mit Strichen. Um ihre Mundwinkel zuckte jenes bekannte Wirdnichtversetzt. Er hatte nie Gescheites zustande gebracht. In der Kü che rief der Wellensittich mehrmals krächzend: »Oswald! Oswald!« Käthi nahm das Buch DER ERZIEHUNGSFAKTOR ALS EINE METHODE ZUR HERAUSBILDUNG SELBSTBEWUSSTEN HAN DELNS, TEIL I zur Hand, klappte es dort auf, wo sie unterbrochen hatte, und ihr Gesicht erreichte wieder die rechteckige Form. Manchmal schaute sie aus Gewohnheit noch und auch ein bißchen zerstreut zur Tür, ob bald serviert wird. Aber Oswald Lindenlaub war gestorben. Im Grunde genommen schon bei Pirna. 17
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ICH HABE ZWEI JAHRE BAU HINTER MIR
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PROLOG
Ich war einmal ein anständiger Mensch. Nachts fuhr mein Gewissen nicht zusammen und blickte sich nervös nach allen Seiten um. Nein, es ruhte wie ein Embryo in mir. Und von Embryos kann man wohl mit größter Sicherheit behaupten, die sind unschuldig. Dann aber irrte sich die Akademie der Künste, oder sie verwechselte mich mit einem anderen Schriftsteller, denn sie verlieh mir einen Preis. Die Summe war nicht allzu hoch. Hätte mir aber einer über die Schulter auf meinen Kontoauszug sehen können, so wäre er wenig verwun dert gewesen, daß sie bei mir wie ein mittleres Erdbeben wirkte. Euphorisch beschloß ich, von dem Geld eine Reise auf einem Han delsschiff zu machen. Mir hatte einer versichert, Reisen bilden. In dieser Hinsicht war bei mir dringend eine sehr große Reise nötig. Es wurde aber nichts daraus. Ich weiß heute nicht mehr, weshalb. Vielleicht wimmelte es schon auf allen Handelsschiffen von Preis trägern. So wollte ich mir ein aus- und anbaufähiges Haus kaufen. Denn zwischen einer Schiffsreise und einem Hausbau gibt es keinen Unterschied. Beides ist gefährlich, und man kann gleichermaßen untergehen. Das Haus schmiegte sich in den Hang. Es war ein Häuschen. Es war ein kleines Häuschen. Es war alles klein an ihm. Unter dem Giebelchen drei Fensterchen, an der Ecke ein Laternchen, die Fens terstöckchen aus Klinker, leuchtend rot. Knusper, knusper, knusper ... Ich stand verzaubert mit meiner Frau davor. Hänsel und Gretel im Sozialismus. Wir knabberten mit unseren Blicken daran herum. Aus den Fensterchen ließen sich Fenster machen. Sohlbänke aus Terraz zo. Hinten konnte dem Häuschen ein Buckel wachsen: das Arbeits zimmer mit einer Veranda daran. Auf dieser sah ich mich sitzen, vertieft in die Zeugung eines Manuskriptes, korrigierend den Irrtum der Akademie. Meine Frau, eine glückliche Hausbesitzerin, trat mit dem Kaffee zu mir heraus. Am Rande meines Gartens – nein, Grundstück klingt besser – wuchs ein Weizenfeld hinan. Der Wind blies goldene Wellen gegen den neuverputzten Bug meines Hauses. Ich trat nun doch die Reise an. Auch Häuschen können groß wer den. 21
Die Frau, die uns das Haus verkaufte, kam heraus. Es war keine Hexe, es war ein Engel. Denn sie wollte nur den Schätzpreis, nicht mehr. Solange sie lebt, sei ihr Glück beschieden. Ich trat über die Schwelle und bückte mich instinktiv. Eine Handbreit über meinem Kopf hing die Decke. Meine Frau behauptete später, solch gebückte Haltung hätte mich plötzlich älter aussehen lassen. Aber endlich auch reifer.
WIE ICH EIN BAUHERR WURDE Das Gefühl ist nicht zu beschreiben, wenn ein Handwerksmeister ins Haus tritt und fragt: »Wo ist denn der Bauherr?« Man bekommt sofort ein projektierendes Verhalten. »Wie ist Ihr Wunsch? Wohin sollen wir das Ganze bauen?« fragt der Handwerksmeister. Und schon die Handbewegung, mit der man die entsprechenden Ideen an die vorgesehene Stelle wirft, hat zukunftweisende Bedeu tung. Ein Handwerksmeister fügt sich! »Dorthin«, sagt man wie: Es werde Licht. Der Handwerksmeister nickt ergeben. Und er baut die Sache so, daß es für den Bauherrn praktisch und für ihn bequem ist, nämlich an eine ganz andere Stelle. Ich war also nun Bauherr. Meine Frau beeindruckte das keines wegs, denn sie maßte sich an, Bauherrin zu sein. »So«, sagte ich, »da fangen wir an. Was brauchen wir zuerst?« »Kredit und einen Bauleiter«, erwiderte sie. Frauen denken im mer nur ans Geld und aus Mißtrauen ihren eigenen Männern ge genüber an andere. Wieso muß sich ein Bauherr leiten lassen? Der Bauleiter sagte: »Zuerst einhundert Sack Zement.« »Wenn’s weiter nichts ist!« rief ich. Auf der Baustoffversorgung fragte man uns: »Haben Sie ein Kon tingent?« »Haben wir nicht.« »Dann müssen Sie warten.« Ich war also ein Bauherr ohne Kontingent. Ein Bauherr ohne Kon 22
tingent ist kleiner. Das Bauherrchen ging nun zur Baustoffversor gung wie Strenggläubige in die Kirche. Also jeden Tag. Es glaubte auch. Endlich wurde sein Glaube erfüllt. Einhundert Sack Zement! Es lief zum VEB Gütertaxi. »Guten Tag, ich hätte gern eine Fahrt.« »Name? – Von wo nach wo? – Wird aber erst morgen. – Welche Fracht?« »Einhundert Sack Zement.« Dröhnendes Gelächter. Aus den Nebenräumen eilten die Ange stellten herbei und besahen sich das Wunder. »Wollen Sie unsere Taxis vernichten?« Das Bauherrchen trippelte hinaus. Ein Mitleidiger flüsterte ihm zu, auf dem Lagerplatz stünden während des Befrachtens immer LKW-Fahrer herum. Es sah sie: Nachfahren der ehemaligen Planwa genkutscher aus vergangener Zeit. Breit in den Schultern, muskulöse Bäuche, Zigarette fast wie ein Echolot senkrecht im Mundwinkel nach unten. Das Bauherrchen schlich entmutigt vorbei und entsann sich freudig, es besaß nicht nur ein Haus, sondern auch eine Bauher rin. Die Bauherrin machte sich fein: enger Rock, enge Bluse, Signalrot auf die Lippen, Haare etwas verworfen locker, Beine durch hohe Absätze verlängert. Die LKW-Fahrer pfiffen durch die Zähne. Einem fiel das Echolot heraus. Er konnte also reden. »In einer Stunde bin ich bei dir, Biene!« Als er mit seinem Schiff vor dem Häuschen ankerte, stand das Bauherrchen dort. In einem viel zu weiten sogenannten Berufsman tel. »Tut mir leid, ich bin der Mann«, sagte ich. Der LKW-Fahrer schlug sich feixend mit der Hand an die Stirn. »Ist dir einwandfrei gelungen! Na gut, sollst deine Beutelchen haben.«
WIE ICH DEN VERSUCH UNTERNAHM,
EINEN ZEMENTSACK ZU HEBEN
Der Fahrer war mit seinem Schiff abgerauscht. Ich stand inmitten
der Dieselwolken und klopfte mir voller Arbeitselan meine sauberen
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Hände sauber. Es galt, einhundert Sack Zement in den Schuppen zu transportieren. Ich legte die rechte Hand unter die Schmalseite eines Sackes, die linke unter die linke Schmalseite, wie sich das gehört. Ich sagte: »Hau ruck!« Der Sack gab sich an beiden Seiten Mühe, zu mir hochzukommen, sackte aber in der Mitte durch. Ich begriff, daß daraus wohl das Wort Sack entstanden war. Wir trennten uns. Nun kam ich auf die Idee, ich müßte vielleicht meine Arme zu einer Art Zange biegen. Ich kreuzte sie vor der Brust. Die linke Hand fuhr jetzt unter die rechte Schmalseite des Sackes, die rechte unter die linke Schmalseite. Meine Schlüsselbeine knirschten unheildrohend. Der Sack erwies sich abermals als Sack. Es dauerte eine Weile, bis ich die Arme wieder in Normallage bringen konnte. Ich schüttelte die Ecken, damit ich ihn an den Zipfeln hineintragen konnte. Dazu hätte der Sack aber in Kopfkissenbezüge abgefüllt sein müssen. Wahrscheinlich sollte ich meinen Arm unter die Mitte des Sackes schieben und ihn handhaben wie ein Ober sein Serviertuch. Der Sack erhob sich und blieb ähnlich einem auf den Kopf gestellten V liegen. Ich dachte darüber nach, wie schwer doch so ein Sack ist. Ich blickte mich vorsichtig nach allen Seiten um, ob meine geometri schen Übungen von den Nachbarhäusern aus beobachtet wurden. Nur eine Katze saß auf einer Gartensäule und sah höflich weg. So kroch ich bäuchlings mit dem Kopf voran unter das V, brüllte, stemmte den Sack mit den Schultern hoch, verlor die Orientierung und rannte mit eingeknickten Beinen mehrmals im Kreis herum. In Bruchsekunden hatte ich die Vision, irgendeine Jury müßte mir doch nun ein Zeichen geben, daß es genug sei. Aber dies war meine ganz private Weltmeisterschaft im Hausbau. Und so torkelte ich kopfüber mit dem ersten Zementsack in den Schuppen. An diesem Abend kehrte ich in meine Kindheit zurück. Meine Frau wusch mich, fütterte mich, zog mich aus, streifte mir den Schlafanzug über und trug mich mehr, als sie mich schob, die steile Treppe ins Schlafzimmer hinauf. Ganz langsam seilte sie mich ins Bett hinab. Ich sah ihre Brüste, ihre Beine, das Signalrot auf den Lippen – und schlief ein. Sofort hielten Lastwagen vor unserem Häuschen und lieferten Zementsäcke. Der Garten war nicht mehr zu sehen, der Schuppen zugedeckt. An der Hauswand stapelten sich 24
bereits die Säcke hoch. Und meine Frau stöckelte noch immer auf getakelt, ein rotes Handtäschchen schwingend, an allen Lagerplät zen entlang, neue Lieferanten zu werben. Nachts fuhr mein Gewis sen zum ersten Mal ein kleines bißchen zusammen und blickte sich nervös um.
WIE ICH SPRINGEN LERNTE Allmählich konnte ich spielend Riesensandhaufen durchwerfen, Hohldielen schichten und Ziegelsteine schmeißen. Allerdings gelang mir nie der gerade Wurf eines Ziegels. In der Luft schlug er jedesmal einen Salto, bevor er zwischen die Handschuhe meiner Bauherrin flog. Sie erschrak nur, wenn mir aus Versehen ein Normalwurf ge lang. Im Zirkus Aeros hätten sie sich für mich interessiert, und der alte Sarasani wäre bestimmt begeistert gewesen. Mein Anbauhaus versammelte sich langsam in Einzelteilen um mich her. Eines Tages kreuzten vier Männer im Stil einer Rockerbande mit ihren Motorrädern bei mir auf. Werbeopfer der Bauherrin. Sie be trachteten mich neugierig. Als hätte ihnen jemand gesagt, ich sei gar kein Schimmel, sondern ein Zebra ohne dunkle Streifen. Eine unru hige Jugend ging von ihnen aus. Es war meine erste Begegnung mit Maurern. Ich wußte nichts von den Geheimnissen ihrer Zunft. Ich erinnerte mich nur an eine Faustregel: Ein Kalk, ein Stein, ein Bier. Diese aber, mit den schlafarmen Knabengesichtern, sahen aus wie abends herumstreunende Raubkatzen. Heute hier, morgen da. Ein Steinhäger, ein Bier, eine Kalkwand. Jetzt weiß ich, sie waren die harmlosen Vorfahren derjenigen, die es nun gibt. »Schreiben Sie am Tag?« fragte einer. »Nein, nachts«, log ich, weil ich ja im Moment überhaupt nicht schrieb. »Und am Tag schlafen Sie dann –?« »Nein, da arbeite ich mit.« »Was denn! So richtig hinter uns –?!« »Ich mach’ die Mischung, damit es schneller geht.« »Scheiße«, sagte einer, den sie Fernandel nannten, sehr höflich. 25
Zuerst mußte ein Nebengebäude des Anbaues wegen weichen. Im Abreißen erwiesen sie sich immerhin als ausgesprochene Spezia listen: Nachdem sie damit fertig waren, reisten sie ganz ab. Dann erbarmte sich unser ein einzelner Maurer. Fröhlich setzte er Schicht für Schicht auf das gehärtete Fundament. Mit ihm zog Ruhe ein, und er lehrte mich eine andere Faustregel: Viele Maurer verderben den Bau. Die Schrecken, in die er uns versetzte, kamen friedlich über seine Lippen. »Ich brauche fürs Wochenende einen Mischer«, sagte er. »Hier ist einer«, erwiderte ich stolz und zeigte auf mich. Mein Maurer prüfte mich lange. »Ich brauche einen mit Kabel.« Er führte das auch noch bildlich vor. »So ein langes Dings. Und da ist ein Stecker dran. Dir kann ich den nicht in –« Und er erwähnte ein allerwertestes Körperteil, von dem er aber überzeugt war, daß es ihm nicht die benötigte Hilfe brachte. »Ich kenne eine Baustelle, da steht einer«, sagte er, »der ist ab heute abend frei, muß aber am Montag zeitig wieder dort sein, damit der Direktor keinen Wind bekommt. Der Mischer hat eine tiefe Aufhängung, organisier dir einen Multicar.« Nachdem ich davon abgekommen war, es handele sich hierbei vielleicht um einen Esel, befaßte ich mich mit dem technischen Aussehen eines Multicars und begab mich in die Stadt. Am Postplatz stand ein solches Gefährt. Ich wartete, bis sein Besitzer er schien. »Könnten Sie mir damit heute abend einen Mischer abschlep pen?« »Ich kann’s nur jetzt.« »Aber der Mischer ist erst heute abend frei!« »Das ist dein Problem, Kumpel. Ich fahr’ in einer halben Stunde an deiner Baustelle vorbei. Uhrenvergleich. Stehst du nicht da, war’s ‘ne Spazierfahrt für mich. Stehst du da, bugsiere ich dir deinen Mi scher.« »Aber ich sagte doch –!« »Und ich sagte, das ist dein Problem. Laß dort was springen. Und red die vor allem nicht mit Sie an!« Auf der Baustelle war ein Mordsbetrieb. Acht Maurer saßen auf 26
einem Gerüst und sahen zu, wie der Mischer arbeitete. Einer von ihnen hatte die Hände nicht in den Hosentaschen. Und so dachte ich, es sei der Brigadier, weil er ihnen damit ein Vorbild sein wollte. Der Mischer sah aus wie ein riesengroßer schräggestellter Eierbe cher. Er verursachte ein Geräusch, als liefen zehn IL 62 kurz vor ihrem Start warm. »Ein schöner Mischer!« schrie ich. Die acht Maurer sahen mir unbeweglich zu. Als säßen sie auf dem Balkon und blickten hinunter zur Bühne, brennend interes siert, wie sich die Handlung weiter entwickelt. Der mit den freien Hosentaschen trat näher. Unser kurzes Gebrüll verlief so: »Der würde mir gefallen!« »Für deine Wohnung?« »In gewissem Sinne!« »Bist du ‘n Studierter?« »Wieso?« »Na – weil du in gewissem Sinne sagst.« »Könnten Sie – du mir den Mischer ausleihen? Jetzt gleich?« »Nicht in diesem Theater!« »Aber es ist wichtig!« »Ach! Davon seh’ ich aber nischt!« Ich blickte verzweifelt auf meine Uhr. In zehn Minuten fuhr mein Multicar da draußen vorbei. Und ich tat ein Ungeheuerliches, eines, das ich noch nie getan hatte: Ich ließ etwas springen. Es sprang genau in eine der freien Hosentaschen des Brigadiers. Seine Hand stieß hinterher wie ein Adler, vielleicht aus Angst, das kleine Wild kaninchen könnte wieder davonhüpfen. Sie hantierte emsig in der Hosentasche. Die sieben Mitarbeiter und ich, wir erkannten: Er begriff den Wert. In seinem Gesicht ging eine Veränderung vor. »Mischer aus!« schrie er. Sieben Maurer hechteten vom Brett und absolvierten ein Tauzie hen mit dem Mischerkabel, das sie gewannen. Segensvolle Stille trat ein. Nur der Mörtel klatschte aus dem Mischer in die Kästen. Ich rannte hinaus vor die Baustelle. Oberhalb der Ottilienstraße tuckerte mein Multicar näher. Er fuhr langsam am Volkspolizeirevier vorbei. Ich winkte mit erhobenen Armen, jubelte, als käme dort eine Spit 27
zengruppe der Friedensfahrer. Zwei Wachtmeister der Volkspolizei sahen meinem Einweisungsmanöver wachen Blickes zu. Wir enter ten den Mischer. Als wir das Gelände verließen, sicherten beide Ordnungshüter die Ausfahrt, befriedigt darüber, daß sie den Fort gang eines Baugeschehens unterstützen konnten. Mein Maurer zeigte sich äußerst erfreut über meine Fortschritte. Am Sonnabend ließen wir zeitig den Mischer los. Alle Nachbarn stießen die Luken ihrer Dächer auf und suchten den Himmel ab. Ich beschickte den Mischer. Zehn Schaufeln Sand, vier Zement, eine Kalk, einen Eimer Wasser und nach Bedarf einige Schlückchen dazu. Ich war der Preisträger im Kesselraum eines Handelsschiffes und machte Dampf, damit wir schnell vorankamen zur Dichterstunde auf der Veranda. Während der Mischer fauchte und brüllte, tüftelte ich literarisch-theoretisch an einer hochbrisanten Szene: Ein Mann gibt auf eine dezente Art einer Frau zu verstehen, daß er mit ihr schlafen will. Aber jedesmal schrie jemand von oben auf mich her ab: »Mischung!« Aus heutiger Sicht, wo ich nun auf der fertigen Veranda sitze, zur Tarnung einen Stoß leerer Seiten vor mir, denn aller fünf Minuten geht auf der Straße einer vorbei und ruft hinterrücks freundlich: »Na, kleines Sonnenbad machen?« – für mich klingt es immer so, als schreie er: »Mischung!« –, jetzt nun begreife ich den Lehrsatz meiner Zunft: Ein Talent bildet sich in der Stille. Wenn mir meine Frau heute vorwirft, ich schriebe immer nur kleine nichtssagende Geschichten wie diese hier, weiß ich eine begründende Antwort: Es war damals viel zu laut, so daß mir heute auch die Stille nichts mehr nützt. Damals wurde ich ein Typ wie John Wayne oder Rock Hud son oder James Stuart. Ich bekam an der Luft eine Westernbräune. Sonnenstrahlen spielten über meine Muskeln. Einen Sack Zement warf ich auf die Schulter, stützte den abgewinkelten Arm in die Hüfte und ging leichtfüßig wie eine afrikanische Wasserkrugträgerin dahin. Aber ich brauchte früh auf nüchternen Magen keinen Krug Wasser, sondern einen mit Bier. Und abends noch einen als Bett hüpferle. Ich grübelte nicht mehr. Der Mann, der mit der Frau schla fen wollte, kam über das Anfangsstadium nicht hinaus. Ich war ständig damit beschäftigt, mein Haus zusammenzusuchen. Ich ü 28
bernahm die großen Unternehmungen, meine Bauherrin die klei nen. Folglich hatte sie dreimal soviel zu tun als ich. In einer Woche bewarb sie sich um fünfunddreißig Schachtscheine, obwohl nicht einmal eine mickrige Ölpipeline durch unser Grundstück verlief. Da sie ständig in geschlossenen Räumen auf Ämtern herumargumen tierte, erblaßte sie immer mehr, was einen guten Kontrast zu mir ergab. Nachts fuhr mein Charakter jetzt häufiger hoch und zuckte nervös an meiner rechten Gesichtshälfte abwärts. Ich lag wach und überlegte, was wir brauchen: Fenster, Eisenträger, Heizkörper, Ton rohre, Holzbalken, Sparschalung. Bei Sparschalung kam ich auf Sparbuch und da wieder seltsamerweise auf Springen. Ich schlum merte unruhevoll ein. Sogleich rüttelte mich ein Mann und behaup tete, der Zirkusdirektor Sarasani zu sein, ich solle nun endlich mein Kunststückchen vorführen. Er hob mich auf ein Trapez, und ich schwang hin und her, hin und her. Trommelwirbel ertönte. Über ihn hinweg rief Sarasani: »Meine Damen und Herren! Attention! – Attention! Wolfgango Eckertini zeigt Ihnen jetzt etwas Tausendma liges: eine kleine Korrumpolage!« Unten stand mein Partner, der Brigadier mit der freien Hosenta sche, und im weiten Rund der Zirkusarena riefen Hunderte von Wachtmeistern der Volkspolizei zu mir herauf: »Laß was springen!« Und ich sprang vollendet in die Hosentasche. Doch Sarasani rüttelte weiter an mir. Er hatte ein blasses Gesicht. »Was ist los mit dir?« rief meine Frau. »Warum wirfst du dich ständig hin und her?« Ich fand mich allmählich. Aber ich fragte sie etwas, das sie end gültig an meinem Verstand zweifeln ließ: »Weißt du, wieviele Ho sentaschen es in unserem Land gibt?«
WIE ICH EINEN GERADEN WEG GING In der Schule bekam ich gelehrt: Die kürzeste Verbindung von ei nem Punkt zu einem anderen nennt man eine Gerade. Die kürzeste Verbindung zum VEB Holzhandel war für mich die Elisabethstraße. Wir brauchten Holzbalken, damit ein Dach über unseren Kopf wachsen konnte. Die Bauherrin hatte zu dieser Zeit mit dem Kauf 29
von Buntglassteinen zu tun. Die waren in einer weit entfernten Baustoffversorgung eingetroffen. Aber ohne Preis. Nun stieg sie jeden Tag in den Linienbus, um pünktlich zur Schalteröffnung zu erfahren, daß sie morgen wiederkommen muß. Ohne Fleiß kein Preis. Also blieben mir die Holzbalken. Sie sollten sechs Meter lang sein und zwanzig Zentimeter stark. Acht Stück von der Sorte. »Haben Sie einen Freischein?« fragte streng die Angestellte im VEB Holzhandel. Ich hielt das für eine Beleidigung, denn ich sehe nicht so aus. »Ohne Schein ist bei uns kein Holz frei«, erklärte sie. Bei dem Wort holzfrei zuckte ich zusammen. Denn für unserei nen bedeutet holzfreies Papier soviel wie unverhofftes Glück übern Weg. Sie sah mein Erschrecken und fügte etwas milder hinzu: »Fahren Sie zur Kreisstelle. Dort bekommen Sie einen solchen Schein.« »Wer ist Ihr Befürworter?« überrumpelte mich der Zuständige der Kreisstelle. Ich reiste zum Schriftstellerverband. Mit dem Personenzug, Schienenersatzverkehr und wiederum Personenzug. Der Vorsitzende bescheinigte mir, ich sei ein Schriftsteller – mittelmäßiger ließ er aus – und daß ich einige Bretter nicht vor, sondern über dem Kopf brau che. Ordnungsgemäß sicherte er mich noch durch einen Stempel ab. Der Rückzug fiel ersatzlos aus. So erreichte ich abends mit Mühe und Not mein halbfertiges Häuschen. Das Telefon schrillte mir ent gegen. Die Bauherrin rief verzweifelt aus weiter Ferne: »Was soll ich tun? Der Preis für die Buntglassteine ist da. Einer kostet siebzehn Mark fünfzig! – Hallo! Bist du noch am Apparat?« Aus der Ohnmacht erwacht, flüsterte ich: »Kaufe sie. Sonst ist al les umsonst gewesen. Wir bauen sie nicht ein, wir geben sie ins Museum.« Der Mann von der Kreisstelle blickte am nächsten Tag auf mei nen Stempel. »Schriftsteller sind Sie? Hahaha! Was schreiben Sie so?« »Zur Zeit Anträge.«
»Liest die denn einer?«
»Ich hoffe! – Bekomme ich nun mein Holz?«
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»Sie erhalten erst ein Formular. Und das füllen Sie schön aus, damit Sie auch mal was anderes schreiben.« »Kann ich das nicht gleich hier erledigen?« »Geht nicht. Der Kollege, der die Formulare ausgibt, holt heute welche. Wir senden Ihnen das zu.« Schon zwei Wochen später kam das Formular! Ich füllte es sofort aus. Auch die Spalte, ob ich bereits Masern hatte. Dann vertraute ich das Dokument der Post an, und wieder zwei Wochen darauf war ich im stolzen Besitz eines Freischeines. Ich flog zum VEB Holzhan del. »Hier ist er!« rief ich von weitem. »Schön und gut«, sagte die Angestellte kühl, »wir haben kein Holz.« »Aber damals, als ich hier war –« »Da hatten wir auch kein Holz.« »Und wann haben Sie welches?« »Wissen wir nie. Kommen Sie jeden Tag vorbei.« Ich dachte an die Bauherrin und ihre Buntglassteine. Ich setzte mich an den Straßenrand und weinte bitterlich. Dabei fiel mir die Mütze vom Kopf. Kurze Zeit danach hörte ich das Klimpern von Münzen. Jemand sagte zu einem anderen: »Traurig, daß es bei uns noch Bettler gibt.« »Ich bin kein Bettler!« rief ich. »Oder doch –?« »Brauchen Sie nun Geld, oder was?« »Ich brauche Holz. Dort drinnen haben sie keines.« Die beiden Männer nickten sich zu und winkten mich mit dem Zeigefinger heran. Sie sahen sich vorsichtig nach allen Seiten um. »Sie müssen zum Bahnhof gehen«, flüsterte mir der eine ins Ohr. »Da war ich schon. Dort haben sie nur Schienenersatzverkehr.« »Sie Dussel! Wir meinen das Gleis, wo Holz abgeladen wird. Fra gen Sie nach dem Kollegen Hütelschmidt. Und noch eines: Lassen Sie was springen.« »Verstehe!« rief ich dankbar zurück. »Sarasani.« Die zwei Männer blickten sich schweigend an. Und ich wunderte mich, wie gut der eine über mich informiert war, denn er sagte: »Der hat einen Freischein.« 31
Der Kollege Hütelschmidt stimmte mich ganz nervös. Er trug eine lange Lederschürze, und es waren nirgends an ihm Taschen zu er kennen. Was macht man mit einem Mann ohne Taschen? Ich ließ mir einen anderen Trapeztrick einfallen. Ich kaufte mir in der nahen Buchhandlung mein bisher einziges Buch und begab mich wieder zum Gleisgelände. »Ich brauche Holz«, sagte ich zügig. Der Kollege Hütelschmidt blickte mich von unten herauf an. »Zum Verfeuern?« »Nein, zum Bauen. Ich bin Schriftsteller.« In der Nähe rumorte eine Rangierlok. Der Kollege Hütelschmidt mußte mich deshalb nicht richtig verstanden haben. »Schausteller, aha«, sagte er. »Riesenrad oder Geisterbahn? Willst du dir ‘n Wohnwagen bauen?« »Ein Arbeitszimmer.« Er stieß einen Pfiff durch die Zähne. »Donnerwetter, da mußt du aber Einnahmen haben!« Obwohl sich am Kollegen Hütelschmidt keine Taschen befanden, nahm er eine auffangbereite Haltung an. Ich hielt ihm schnell mein Buch hin. »Was denn, Mann! Willst du mich verscheißern –?!« »Auf Seite einunddreißig habe ich ein schönes Lesezeichen einge legt«, sagte ich erschrocken. Noch nie sah ich einen Leser, der so schnell die genannte Stelle fand. Der Kollege Hütelschmidt besah die Lektüre, und Güte huschte über sein wetterhartes Gesicht. »Lärche«, sagte er, »dort drüben. Such dir zusammen. Aber hol es schnell weg. Ich komm’ gleich abmessen und berechnen.« Wie holt man etwas schnell weg, wenn man mit keinem Fuhr parkleiter verwandt und kein Hobbysammler von Skoda-Lastwagen ist? Ich stellte mich an die pulsende Hauptverkehrsader unserer Stadt: In einer Minute zehn Schläge durch das Loch vor mir auf der Straße. Jeder fünfte davon ein LKW. Beim ersten winkte ich schüch tern aus der Hüfte heraus. Rechts und links seiner Kotflügel stabile geschwungene Sicherheitsstangen mit weißen Klappen wie Fliegen 32
klatschen. Dann kam eine abgenutzte Kiste unbekannter Herkunft, ihr folgte ein funkelnagelneuer W 50. Ich begann mich für Last kraftwagen zu interessieren und überlegte, für welchen ich mich entscheiden werde. So vergingen die Stunden. »Dein Leben möchten wir haben!« riefen vorbeihastende Be kannte. Gegen Mittag winkte ich mit beiden über den Kopf erhobe nen Händen, wie Männer von Ehrentribünen herab. Die Fahrer betrachteten mich amüsiert. So hatten sie wohl schon viele Kinder gesehen, aber noch nie einen Verrückten. Endlich klapperte ein Wagen heran, das Verdeck frei, ohne Tü ren, keine Bereifung. Der Fahrer hielt zwei müde PS an den Zügeln und betätigte manchmal den Gashebel, die Peitsche. »Geht nicht«, sagte er, »jetzt muß ich Grünfutter holen.« »Danach«, entschied ich und kletterte zu ihm hoch auf den Kutschbock. Es ist unvorstellbar, zu was einem Verzweiflung treibt. Schamgefühle verdorren. Wir kremserten durch die Straßen zum Güterbahngelände. Ich sah die Blicke derer, die mich kannten, hörte das Knistern ihrer Gedanken: Jetzt hat er schon Pferde und einen Kutscher. Will er Strittmatter nachahmen? Der Kollege Hütelschmidt hatte mein Lesezeichen längst in der Brieftasche verstaut. Während des Abtransportes warf er mir noch einige Holzabfälle für den Ofen auf die Fuhre. Lesen bildet also nicht nur, Lesen macht auch freigebig. Wir knarrten eilig zurück. Hinten hing sogar eine Fahne. Mein Kutscher wollte dringend ins Grüne. Aber ich wußte, die Balken entsprachen nicht dem errechneten Maß. Sie mußten längs durch geschnitten werden. »Bist du meschugge? Und bist du angemeldet?« rief der Kutscher entsetzt. »Beides«, erwiderte ich schweißnaß. Aber am Sägewerk begab ich mich mit dem Argument, auch eine Anmeldung sei noch einmal anmeldepflichtig, zuerst hinein. An der Kreissäge stand ein umfangreicher Mann, der so aussah, als müsse man ihn lieber mit Sie anreden. Ich machte mich ganz klein und wirkte nun wie ein von Instandhaltungssorgen geplagter Hauswirt. 33
»Könnten Sie mir ein paar Bretter durchsägen?« piepste ich. »Wo hast du sie denn?« »Draußen auf meinem Wägelchen.« »Na, dann fahr sie ‘rein.« Als ich mit dem ersten Balken rammbockähnlich, nach sechs Me tern hinten noch den Kutscher dran, die Halle nahm, schrie der Holzschneider entgeistert: »Was denn! Sind das deine Bretteln?« Ich schubste ihm behutsam den Balken vor die Bauchwand und sagte: »Reg dich jetzt bitte nicht auf. Ich lass’ was Ordentliches springen.« Und ich stieß auch nach hinten in den Bauch des Kutschers. Da ähnelten beide dem Kollegen Hütelschmidt. Wie in Butter fuhren die Kreissägenzähne in meine Balken und wir bald glücklich nach Hause. Es ist erstaunlich, was man an einem Tag leisten kann, wenn man über genügend schöpferisches Talent verfügt. Noch heute hängt zur Erinnerung, schön eingerahmt wie ein denkwürdiges Null ouvert, in meinem Arbeitszimmer der Freischein. In der Schule bekam ich gelehrt: Die kürzeste Verbindung von einem Punkt zu einem anderen nennt man eine Gerade. Das stimmt nicht. Der gerade Weg ist heute der längste.
WIE ICH EIN GLEIS IN MEIN HAUS LEGTE Hütelschmidts Balken verhalfen uns bald zu einem Dach. Bestimmt äugt Hütelschmidt seitdem auf allen Jahrmärkten unseres Landes, ob er mich mit einem Gong in der Hand vor einer Geisterbahn ent deckt, rufend: »Kommen die Damen, kommen die Herren!« Allmählich drangen mein Maurer und in seinem Sog alle not wendigen Handwerker in unsere Intimsphäre ein. Vom Anbau aus wurde ein Loch in unser Knusperhäuschen geschlagen. Es gibt nichts Schlimmeres, als ein altes Haus umzubauen. Beim Einsetzen neuer Verbundfenster zeigte sich, daß die Giebelwand dafür zu dünn war. Der Elektriker riet besorgt zu total neuen Lichtleitungen, Heizungsmonteure veränderten die Wände und Decken nach allen 34
Seiten in reinste Schweizer Käse. Der Wind fuhr bald durch den abgerissenen Giebel. Der Wind, der Wind, das himmlische Kind. Er trieb den feinen Sand der Baustelle herauf. Nachts knirschte er zwi schen unseren Zähnen. Wir hängten Zeltplanen vor die Betten, damit uns keiner von der Hauptstraße aus inmitten der aufgestapel ten Buntglassteine beobachten konnte. Verschliefen wir es einmal, so saß unser Maurer gemütlich auf der Bettkante und bat höflich um Mischung. Wir haben seitdem ein sehr gutes Verhältnis zu ihm. Auf all seinen Kindtaufen und Jugendweihen sind wir gern geladene Gäste. Seine Frau und er grüßen mich immer überaus freundlich, wenn sie mir begegnen, denn sie haben meine Bücher nicht gelesen. Die ständigen Entdeckungen neuer Bausituationen erinnerten mich an meine Frage damals, was wir zuerst brauchen, und an die kluge Antwort meiner Bauherrin: Kredit. So raffte ich mich, von Geldsorgen getrieben, abends nach getaner Arbeit mühselig auf, um pfuschen zu gehen, das heißt, meine alten Geschichten im völlig neuen Stil öffentlich gegen Honorar vorzulesen. Der neue Stil be stand darin, daß ich beinahe vor körperlicher Ermattung einschlief und eine schleppende Silbenbetonung draufhatte, die etwas Ameri kanisches in meine deutschen Geschichten brachte. Junge Zuhörer waren begeistert, alte flüsterten: »Guck mal, wie gesund der sich daran stößt.« Denn ich hatte noch immer die Westernbräune eines John Wayne. Aber innerlich ähnelte ich von Tag zu Tag mehr Molieres Tartüff. Ich kannte nun alle Taschenspielertricks und staunte nicht weiter über Leute, die beim bekannten Gegeneinanderreiben von Daumen und Zeigefinger einen Orgasmus bekamen. Ich lernte wel che kennen, bei denen Geldgier die Lebenskraft förderte. Ich sah hinter ihre Stirnen und erkannte, ihr Gehirn hatte sich im Laufe der Zeit zu einem Ellbogen verformt. Ich sah nur mich nicht. Erst jetzt stieß ich beim Kramen auf einen Brief der Kreditbank, woraus hervorging, sie könnten mir die auf der Liste mit angegebene Christbaumkette für Außenbeleuchtung nun wirklich nicht mit berechnen. Da erst erschrak ich. Damals aber war ich ein starker ungrüblerischer Mensch, der sein nachts hochzappelndes Gewissen mit dem Lasso einfing und abwürgte. Ich hatte bei Hitze stolz mei 35
nen entblößten Oberkörper getragen und im Spätherbst eine Watte jacke, was noch stolzer, weil breiter macht. Einen verwegenen Ste cher schief auf dem Kopf und alaskaverdächtige Filzstiefel an den Beinen, war ich ausgezogen, zurechtgeschnittene Eisenbahnschie nen für die Zwischendecke einzuholen. Neben mir ein Fahrer, des sen Handgelenke so dick wie meine Oberschenkel waren. Wer mit Eisenbahnschienen handelt, hat ein Gefühl für Entfernungen. Die erste Schiene, die acht Arbeiter mit dem heiseren Ruf: »Zuuu gleiiich!« heraufhievten, schleuderte mich deshalb in die entfernte Ladeflächenecke. Der Fahrer sah mich an und sagte: »Wohl etwas schwer, was?« Noch auf der Heimfahrt verlor ich die Schweißperlen nicht, denn es waren außerhalb des Kreises damals nur genehmigte Frachtfahr ten erlaubt. Was uns betraf, so hatten wir sie uns selber genehmigt. Meine rostüberzogenen Händchen zitterten heftig, und ich ließ mir von dem Fahrer widerspruchslos eine Zigarette in mein Nichtrau chergesicht stecken. Sie hing wie ein Echolot während der Anfahrt vor das Haus erkaltet an meinem Mundwinkel herab. Beinahe hätte ich meiner Bauherrin zugerufen: In einer Stunde bin ich bei dir, Biene! Aber ich war es erst in zwei Jahren, als das Häuschen seiner Vollendung entgegenging. Sagen wir, es lag an den Buntglassteinen rund um das Bett. Ich liebe es nicht, wenn ich mich dabei sehe. Schon gar nicht in Farbe.
WIE MAN EINEN HAUSBAU BEENDET Als das Haus in hellem Rauhputz stand, standen wir in heller Freu de. Pastellgelb leuchteten die Fensterblenden. Meine geträumte Veranda bot mir nun ihre Terrazzofläche zum Verweilen an. Aber unser Sohn spielte weiter auf dem übriggebliebenen Sandhaufen Bauarbeiter. Wachsame Leser werden sagen, den hat er bisher un terschlagen. Den Sohn. Ich hatte erst jetzt Zeit, ihn zu beobachten. Er wuchs zwischen Holzbalken, Hohlblocksteinen und Kiesbergen auf, gehütet von seinen Omas und Opas, genährt von seiner Mutter im Schnellverfahren. Er war ganz in sein Spiel vertieft. Mein nun 36
ausgedienter Stecher rutschte ihm ständig über die Ohren. Ein ab gebrochenes Zollstockende ragte seitlich aus seiner Hosentasche, ein Bleistift steckte hinterm Ohr. Er ging mit schweren Schritten, das Bäuchlein krampfhaft vorgereckt und die Arme gewichtig abgewin kelt. »Er macht mich nach«, sagte ich voller Stolz. Da aber stolperte der Minimime über seine fremdartig gehenden Beine und purzelte kopfabwärts den Sandhaufen hinunter. Die Mundwinkel der Bauherrin zuckten fein. »Du hast recht, er macht dich nach.« Aber unser Häuschen war fertig! Wir betrachteten es aus gemes sener Entfernung und konnten uns nicht satt sehen. Wir hatten es unter schwierigen Bedingungen groß gezogen. Oft sah es so aus, als brächten wir es nicht durch. Es kränkelte dahin. Dann stimmte es uns mit seiner Störrigkeit mutlos. An Sorgenkindern hängt man am meisten, besonders, wenn aus ihnen noch etwas geworden ist. Ein richtiger Mann baut ein Haus, pflanzt einen Baum, zeugt ei nen Sohn, heißt es. Nun kam hinter dem Sandhaufen ein kleiner Bauarbeiter hervor, mit viel zu großem Stecher auf dem Kopf, mit einem zerbrochenen Zollstöckchen in der Hosentasche. Ich hob ihn hoch, und er war für mich so schwer wie der erste Zementsack damals. In einem selbstgebauten Haus muß man klug wohnen, von einem selbstgepflanzten Baum gut ernten können. Einem selbstge zeugten Sohn aber sollte man helfen, sein Innerstes zu finden. Es gibt Leute, die bauen ein Leben lang an ihrem Haus herum. Nie kommen sie zu einem Ende. Ich kenne welche, die besitzen bereits drei Nebengebäude. Und bereitet ihnen das Schicksal einmal eine Mußestunde, so suchen sie nervös eine Fläche für ein viertes Nebengebäude aus. Im Schweiße ihres Angesichtes brechen sie hier eine Wand auf und setzen dort eine zu, um ein Jahr später die zuge setzte wieder aufzubrechen und die durchbrochene zu vermauern. Mörtelbedeckt hetzen sie durch ihre Tage und nutzen jede Möglich keit zum Geldverdienen für ihre Baupläne. Spaziergänger betrachten sie als Parasiten der Gesellschaft. Nach dem Grund ihres unruhigen Tuns befragt, rufen sie anklagend: »Die Kinder schreien nach Brot!« Aber sie sind kinderlos oder ihre Kinder schon lange los. 37
In der Wohnung eines Freundes von mir hängen an dünnen Fä den und Strohstegen federleichte bunte Papierschmetterlinge. Die geringste Luftbewegung, und sie fliegen lautlos im Kreis. Er nennt sie seine Unruhe. Sie ist absolut nutzlos und nur von Leuten zu bemerken, die im Zimmer auch einmal so vor sich hin sitzen kön nen. Es ist eine schöne Unruhe, denn sie bringt Ruhe. Aber sie braucht Geduld und keine Nebengebäude. Unser Häuschen, das stand für uns fest, sollte ein für allemal fer tig sein. Keine Extras sollten präsentieren: Auch wir sind extra. Es schmiegte sich in den Hang, solid und gut. Doch auch das kleinste Häuschen braucht Weihwasser. Der Bau muß aus der Taufe gehoben werden. Schon vor dem absoluten Ende warfen sich meine Handwerker auffallend laut über mich hinweg ein Wort wie einen Tennisball zu: Bauheben. Ich konnte nicht mehr behaupten, solche Begriffe seien mir fremd. Früher hatte ich ein Ixel zur Gattung der Wiesel gerech net. Ich spare mir eine fachliche Erklärung, damit wenigstens etwas in meiner Baugeschichte rätselhaft bleibt. Und eine Attika hielt ich für eine Zigarettensorte. Als mein Maurer einmal Estrich von mir verlangte, brachte ich Senf. »Ein Bauheben«, sagte die Bauherrin, »heißt deshalb so, weil man dort sein letztes für den Bau aufgehobenes Geld hinauswirft.« Das Bauheben fand auf der Straße statt. Auf meiner Straße. Denn ich bin Eigentümer einer zwanzig Meter langen Straße, die ich nicht wollte und die zu einer Garage führt, die ich auch nicht wollte, weil ich kein Auto besitze. Aber mein Bauleiter hatte einst gesagt, er möchte sich später von gewissen Leuten, die dann inzwischen einen Künstlernamen trügen, nicht beschimpfen lassen, kurzsichtig ent worfen zu haben. Er irrte – wie die Akademie der Künste. Auf die Wolfgang-Eckert-Straße also stellte die Bauherrin eine lange Reihe ausgeborgter Tische und zelebrierte ein Gastmahl im Freien. Noch heute gerate ich in einen Rauschzustand, wenn ich sie festlich gekleidet und alle auf einen Haufen sitzen sehe: Maurer, Zimmermann, Heizungsmonteur, Elektriker, Klempner, Fliesenleger, Bauleiter, Handlanger ... Während des Baues sagte der Klempner, ich kann erst, wenn der 38
Elektriker, und der Elektriker, ich kann erst, wenn der Heizungs monteur, und der Heizungsmonteur, ich kann erst, wenn der Mau rer, und der Maurer, ich kann erst, wenn die Handlanger, und die Handlanger – die hatten niemand mehr, die mußten. Demnach mußte auch ich. Jetzt saßen sie gemeinsam an der Tafel, und keiner sagte, ich kann erst, wenn ... Jetzt konnten sie alle. Sie hielten das von uns gereichte Weihwasser vor ihre Schlipse und sangen im schönsten Falsett: »Heeebt an!« Ich, das Bauherrchen, saß an der Schmalseite, die teuersten Fens ter der Welt aus Buntglassteinen im Hintergrund. Blödsinnigerweise trug ich ein mehrfarbig kariertes Hemd. Meine Bauherrin sagte spä ter, es hätte überhaupt keinen Kontrast zu den Fenstern gegeben und ich wäre fast das gesamte Bauheben über unsichtbar geblieben. Dazu hielt ich noch eine nach meinem Ermessen sehr poetische Festrede. Ich war also nicht nur unsichtbar, sondern auch unbegreif lich. Mich streiften deshalb öfters verwunderte Blicke, in denen das Erkennen aufblitzte, ich sei wahrscheinlich derjenige gewesen, der während des Baues im Wege herumstand und ohne den das Vorha ben genausogut gegangen wäre. Da mir außer der Festrede, die o bendrein nicht gedruckt wurde, in den letzten zwei Jahren keine weiteren Ideen gekommen waren, erlebte ich nun, wie der Rest meines Akademiepreises gurgelnd in den anwesenden Kehlen zer rann. Gesprächsfetzen erreichten mein verstörtes Gemüt. Es war von der immer größer werdenden Schwierigkeit die Rede, Kosten anschläge zu machen; vom Mißverhältnis des Arbeitsaufwandes zu den Rechnungen; von quälenden Materialbeschaffungen; von der Grausamkeit der jährlichen Steuerabgaben. Ein Handwerksmeister – wie geplagt das klang. Erneute Blicke streiften das unsichtbare, unbe greifliche Bauherrchen: »Jaja, da weißt du gar nichts! Du schreibst schnell einen Roman, und schwups, verkaufst du ihn in den Läden.« Ich beschloß an diesem Abend, niemals Handwerksmeister zu werden. Niemals! Und ich wäre bestimmt hinter die Gartenbüsche gelaufen, um, schwups, mal einen Roman zu schreiben, wenn sich der Disput nicht meinem liebsten Kind, dem eben zur Welt gekom menen Häuschen, zugewendet hätte. Alle Phasen des Baues lebten erneut auf. 39
»Du meine Güte!« rief mein Zimmermann. »Wie schwer war der Einbau des Dachgerüstes!« Vorwurfsvolle Blicke aller trafen mich. »Bei einem Walmdach«, fuhr mein Zimmermann fort – »Ja, ein Walmdach«, wurde ihm bestätigt, »ein Walmdach ist na türlich etwas Schönes!« »Ganz zu schweigen vom Vorteil«, bemerkte mein Fliesenleger sehr überzeugt, als bestünde es aus Kacheln. »Zu einem Walmdach macht sich eine glatte Fassade, weiß ge strichen, passabel«, sagte mein Maurer. »Und die Fensterrahmen müssen in Umbra sein«, ergänzte der Zimmermann. »Dann aber braune Naturklinker als Blende!« rief ein fürwitziger Handlanger. Ich goß allen mit zitternder Hand Weihwasser nach. Ihre Erre gung übertrug sich auf mich. Wir drehten die Haustreppe um ein hundertundachtzig Grad. Damit brauchte man nicht mehr durchs Wohnzimmer zum Obergeschoß. Und außerdem wurde aus der gewöhnlichen Haustreppe eine Freitreppe, die natürlich ohne ge drechseltes Geländer undenkbar war. Klempner und Elektriker freu ten sich. Sie brauchten ihre Leitungen nun nicht mehr durch alle unmöglichen Ixel zu verlegen. Eine Weile stritten wir, wie die neue, zum Walmdach passende Haustür auszusehen habe. Der Fliesenle ger brachte angesichts der veränderten Situation Badkacheln im Gebirgsstil zur Anwendung. »Nicht, wie jetzt, gefugt«, sagte er, »sondern fugenlos. Das ist auch moderner.« Kopfschüttelnd musterten mich alle. Der Heizungsmonteur hock te mißmutig herum. Er hatte keine Variationsmöglichkeiten. Die Bauherrin schlug sich unterdessen an die Stirn und einen zwei Meter längeren Anbau vor, weil die gewendete Freitreppe ein zweites Kinderzimmer in Aussicht stellte. Mehrere Handlanger boten sich sofort zur Verwirklichung des Projektes an. Da aber erhob ich Einwände. Wir drehten das Häu schen nun längs zum Hang, staunten, welchen Standort jetzt die Veranda erlangte, und öffneten ob dieses Erfolges eine weitere Fla sche Weihwasser. Die Sterne funkelten bereits am Himmel. Der 40
Große Wagen hing schief über uns, als hätte er Achsenbruch. Aber das konnte auch daran liegen, weil wir das Häuschen gedreht hat ten. Es bildete nicht mehr den Abschluß der Wolfgang-EckertStraße; es stand jetzt wie ein Reihenhaus an ihr, was den Zimmer mann zu der Idee erkühnte, ein ungleichseitiges Spitzdach entsprä che geradezu genial dem Hanggefüge. Hochrufe brachen aus. »Ja, aber«, sagte die Bauherrin verwirrt, »ist es denn nicht besser, wir lassen das Haus so, wie es ist, also mit Walmdach?« Wir betrachteten unser Häuschen und stellten erstaunt fest: Es besitzt ja gar kein Walmdach! »Wer hat denn das schon wieder verändert?« schrie ich. Bauherren sind sehr hektisch, weil sie die Verantwortung der Handwerker für ihre eigene halten. Deshalb müssen Handwerker ruhig mit ihnen reden wie Nervenärzte. »Wir haben nichts verändert«, sangen sie sanft im Chor. »Wir haben immer nur so gebaut, wie du es wolltest. Jaaa, wenn wir hätten so bauen können, wie wir es wollten –! Aber es gibt nichts Höheres als das Wort des Bauherren. Er lebe hoch! Heeebt an!« Ich setzte mich vor ein Buntglasfenster und wurde wieder un sichtbar. Das Bauheben, dessen Sinn darin besteht, immer wieder einen neuen Bau aus der Taufe zu heben, endete früh vier Uhr, als der Klempnermeister auf dem Weg zum Klo die nunmehr gedrehte Freitreppe benutzen wollte und statt hinauf- hinuntergeflogen war. Aber ich glaube, er hat dies nur als Vorwand gebraucht. Er wollte nach Hause getragen werden. Ein Glück, daß er sich nicht den Hals brach. Sonst hätte ich später einmal sagen können: Ich habe zwei Jahre Bau hinter mir. So winkten wir uns alle heil zum Abschied zu. Ich führte die Bauherrin ins Haus. Wohl dem, der ein einfaches Dach über dem Kopf hat und sich zufriedengibt! An der Tür drehte ich mich noch einmal um und blickte unruhig über die Gartenfläche. »Was hast du denn?« fragte die Bauherrin. »Dort unten«, sagte ich, »genau dort unten am Zaun ist der rich tige Platz für ein Nebengebäude.« 41
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RICHTER AUS DER LINDENSCHULE
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Ausgerechnet für den Tag, an dem die alljährliche Estrade der Spielmannszüge im Fußballstadion stattfinden sollte, meldete sich ein gewisser Berry Rich aus Marion in Ohio zu einem Besuch der kleinen Stadt an. Er sei am 15. Mai 1926 hier im Rosenhof 7 gebo ren, mit den Eltern 1940 in Köln ansässig geworden und einige Jahre nach Kriegsende in die Staaten gegangen. Nun hätte er eine Europatournee und möchte gern an diesem Tag nur für einige Stun den – eine andere Möglichkeit ließen die Termine nicht zu – seine Heimatstadt wiedersehen. In seinem Alter begänne die Sentimenta lität ... the beginning sentimentality. So oder ähnlich knallten aus dem deutschsprachigen Text einige Wörter äußerst fremd dem Bürgermeister entgegen. Er trug wie immer die falsche Brille und hielt den Brief weit von sich. Aber deshalb änderte sich der Termin auch nicht. Dann nahm er erneut das Kuvert zur Hand und roch daran, als könnte er dadurch Auf schlüsse erhalten, welche Rasierwasser oder Zigarettensorten dieser Mister Rich benutzte. »Elly!« rief der Bürgermeister ins Vorzimmer. »Komm doch mal ‘rein!« Elly, die einen katastrophengewohnten Eindruck machte, setzte sich ihm mit Stenoblock und gezücktem Bleistift gegenüber. »Elly, wo liegt Marion?« fragte der Bürgermeister. Elly ließ den Stift fallen. »Während der Arbeitszeit hat sie sich so etwas noch nicht geleistet«, sagte sie entschieden. »Marion liegt in Ohio.« »Oho!« rief Elly. »Nein, Ohio«, verbesserte er. »Und nun verschaffe mir das Ge burtenregister von neunzehnhundertsechsundzwanzig, speziell Mai, und den Kollegen Turbinus.« Im Geburtenregister stand ein Knäblein namens Berthold Richter, Sohn des Apothekengehilfen Oskar Richter und seiner Frau Hilde. Im Bürgermeisterzimmer stand Konrad Turbinus, Stadtrat für Sons tiges, befehlsbereit. »Setz dich, Konrad«, sagte der Bürgermeister. »Wie ist die ge genwärtige Vorbereitung der Estrade?« Konrad Turbinus’ Augen leuchteten auf. Es gab drei wesentliche 45
Dinge in seinem Leben: die Ausgabe der Kohlenkarten an alle Haushalte, die Sorge, es könne nicht genügend Streusand vorhan den sein, und die Absicherung der alljährlichen Estrade der Spiel mannszüge. »Hervorragend«, sagte er, »zwölf Züge gemeldet. Das sind über sechshundert Mann Verpflegung aus der Gulaschkanone. Faßbrau se, Versorgungszelt, Rotkreuzstützpunkt, Organisationskomitee, Bereitschaft der Bürger unserer Stadt, freundlich zu sein, vier Mäd chen unter den Tambouren, alle Schulen als Zuschauer verpflichtet, Eltern ging leider nicht, dreihundert Fanfaren, zweihundertfünfzig Querpfeifen, fünfzig Trommeln und –« »Konrad, hast du einen Stellvertreter?« unterbrach ihn der Bür germeister mit brutaler Sanftheit. »Ja, selbstverständlich! Du mußt immer so organisieren, daß es auch ohne dich geht.« »Sehr gut. An diesem Sonntag hast du nämlich eine andere Auf gabe.« Konrad Turbinus sprang auf. »Unmöglich! Ohne mich geht es doch gar nicht!« »Konrad, es kommt einer aus Amerika.« »Was du nicht sagst! Welcher Spielmannszug?« »Unsinn. Nur ein Mann namens Berry Rich. Früher hieß er Bert hold Richter.« Konrad Turbinus setzte sich beruhigt. »Ach so, bloß ein Spion. Das gehört aber zum Stadtrat für Inneres!« »Der Stadtrat für Inneres hat an dem Tag wichtigere Dinge zu tun. Dieser Mensch aber« – der Bürgermeister roch erneut an dem Kuvert –, »den kann man getrost unter Sonstiges abbuchen.« Konrad Turbinus schob die Unterlippe vor und starrte in einer Weise schräg nach unten auf den Fußboden, wie es nur in hiesigen Landstrichen vorkam und als Tückschen bekannt war. »Der Mann bleibt höchstens zwei Stunden, ach, was sage ich, ei ne Stunde«, beschwichtigte der Bürgermeister, »dann kannst du schnell ins Stadion und übernimmst wieder die Führung.« Die Führung bestand darin, daß Konrad Turbinus auf der Haupt tribüne in der Annahme saß, er sei für die vorbeimarschierenden 46
Spielmannszüge Orientierungspunkt. Im Privatleben war er Vater zweier Töchter, die eben damit anfingen, das Aussehen junger Männer zu analysieren, und somit keine Zeit für Querpfeifen hatten. Frau Turbinus nähte in einem Konfektionsbetrieb Einzelteile zu Männerhosen. Deshalb blickte sie Männer stets von unten nach oben an. Ein schlechtsitzender Hintern entschied dann ihr Urteil. Konrad Turbinus’ Hosen standen immer gut zu Gesicht. Wenn er morgens ins Stadthaus schritt, wackelten die nachbarlichen Gardi nen, weil sie an nachbarliche Nasen stießen. Denn seine Hosen signalisierten auch, was demnächst in den Handel kam. Er besaß einen Fünfzigquadratmetergarten mit einer himmelblauen Laube, welche zwei Drittel der Fläche jeglicher Bepflanzung entzog. Den Rest stellte eine quittegelbe Hollywoodschaukel in den Schatten. Wenn sie in Schwingung geriet, wurde das Betreten des Gartens zu einer Gefahr. Auf dieser Schaukel las Konrad Turbinus Leitartikel, erschwang sich Statistiken, verschob Entscheidungen so lange, bis er sicher war, es kann ihm nichts passieren, oder er entwarf Auf marschpläne für Spielmannszüge. Sechserreihig sah er die Formati onen einschwenken. Exaktes Beherrschen der Symmetrie durch die Flügelmänner. In zwei Tagen sollte das nun sein. Wäre das so für ihn gewesen ... Glatt wie das Fell einer Trommel spannte sich an diesem Sonntag morgen der Himmel über das Städtchen. Einzelne Fanfarenstöße, Reiherschreien ähnlich, kündeten von der Sternwanderung zum Fußballstadion. Bei jedem Ruf zuckte Konrad Turbinus zusammen. Er hockte außer Gefecht im Rathaus und wartete auf die unbe stimmte Ankunft des Berry Rich. Um diese Zeit wäre er in einem grünen Geländewagen, am Arm eine Binde mit der Aufschrift ORGANISATIONSKOMITEE, durch die Stadt gerast. Mit Fahrer natürlich. Meistens stand er wie ein Brigadegeneral in dem oben offenen Querfeldeinfrosch, der über die Schlaglöcher zu allen Einsatzstellen hüpfte und Konrad Turbinus das heroische Gefühl gab, sich wieder einmal im Kampf nicht zu schonen. Nun aber lauerte er noch immer, bereits zur Mittagsstunde, auf einen verlorenen Sohn dieser Stadt, während Tausende anderer 47
Unverlorenen längst durch die mit Bratwurstdüften bereicherte Luft zum Fußballstadion gezogen waren. Konrad Turbinus’ Füße schlu gen galvanisch den Takt zu einer unhörbaren Marschmusik. Er stöhnte tief, wobei er kleine zornige Schnaufer wie von einem Eber dazwischenbrachte. »Hällou, you ‘re singing«, sagte jemand sehr befriedigt in der Tür, »ich bin Berry Rich.« Konrad Turbinus fuhr herum. Er hatte so lange gewartet, daß er jetzt enorm überrascht war. Seit gestern übte er das Wort WELCOME. Nun aber rutschte er ins Halbdeutsche ab. »Welkomen«, sagte er verdattert und wiederholte es gleich noch einmal, als müßte er die neue Kombination sprachgefälliger machen. »Welkomen! Ich bin Konrad Turbinus, Stadtrat für Sonstiges.« »Ah, für nonsense!« rief Berry Rich und schlug endlich gegen die ihm schon lange hingestreckte Handfläche. Er trug das graue Haar bis zum Nacken und zu beiden Seiten an die Kinnbacken. Hinter der randlosen Brille blitzten unterneh mungslustige Augen. Das Jackett saß locker. In der Hand hielt er einen schwarzen schmalen Koffer. Die andere Hand war zur Begrü ßung kurz aus der Hosentasche geschnellt und dorthin wieder zu rückgekehrt. In die Hosentasche von einer Hose, die Frau Turbinus nicht als weit herumgereist, sondern als schlecht sitzend eingeord net hätte. Er sprach ein gutes Deutsch mit einem zurückgenomme nen R aus dem oberen Gaumenteil heraus. Auffallend war die wein rote Krawatte und der dazu passende große Stein am rechten Mittel finger. Konrad Turbinus glaubte sich einem verlotterten Hippie gegen über. Und wieder dachte er betrübt an den Verzicht auf die Arm binde mit der Inschrift: ORGANISATIONSKOMITEE. »Hatten Sie eine gute Reise?« fragte er wie aus einem Sprachfüh rer. »Oh, yes«, erwiderte Berry Rich, »es war ja nur – warten Sie, ja, so heißt es – ein Catssprung von Leipzig hierher.« Für Konrad Turbinus verschwand der Ozean, den er eben noch unter sich gesehen hatte, gurgelnd in einer Abflußrinne, Pleiße ge nannt. 48
»Völkerschlachtdenkmal, Napoleon, Zentralstadion – gut das«, erklärte er freudig. Und wieder hörte er Hunderte von Querpfeifen. »Wie lange bleiben?« »Two hours – etwa zwei Stunden«, überlegte Berry Rich. »Dann muß ich mit dem Zug zurück. Sie können ruhig normal mit mir sprechen, so lerne ich am schnellsten wieder Deutsch.« Konrad Turbinus atmete auf. Zwei Stunden also nur diese Über see-Erscheinung. »Gut«, sagte er, »da schlage ich zuerst unser Traditionskabinett vor.« »No, no«, widersprach Berry Rich, »ich möchte zuerst mein Ge burtshaus sehen, born in the Rosenhof sieben, o-keh?« »Ka-o«, murmelte Konrad Turbinus verwirrt. Genauso waren sie: rote Krawatte, aber politisch uninteressiert. Er wies auf den schmalen Koffer. »Wollen Sie den hierlassen?« »Ja, gern. Aber bitte, haben Sie einen Tresor?« »Wir schließen doch das Zimmer ab. Sogar das Rathaus!« »Genügt das?« zweifelte Berry Rich. »Es ist sehr wertvoll für mich.« Konrad Turbinus räumte schweigend einige Akten aus seinem Rollschrank und verstaute den Koffer darin. Am Gewicht konnte er nicht schätzen, wie viele Dollarbündel es waren. Das Städtchen lag in der Sonntagsmittagsstille. Konrad Turbinus wußte, die Spielmannszüge formierten sich nun vor dem Stadion und erhielten letzte Anweisungen. Leider nicht von ihm. Die in der Stadt Verbliebenen schrieben jetzt Fernsehprogramme aller Kanäle für die kommende Woche vom Bildschirm ab und legten sich so bereits in ihre Sessel fest. Oder sie rülpsten auf ihren Schlummerso fas. Berry Rich rief leise, teils auf englisch, teils auf deutsch, Worte des Entzückens vor sich hin, als er einige Häuser und Straßen wie dererkannte. Am Rosenhof 7 konnte er seine Ergriffenheit kaum verbergen. »Oh, wonderful!« rief er. »Es ist alles noch so wie damals, die Fenster, die alte Putz! Und sehen Sie die ausgetretenen Haustürtrep pen? Wonderful! Hier habe ich gesessen und Lakritzen gelutscht.« 49
Er fand plötzlich Worte, die ihm längst entfallen waren: gelutscht. »Ja, ja«, sagte Konrad Turbinus ungeduldig, »und nun gehen wir ins –« »Nun gehen wir in die Schule«, beschloß Berry Rich feierlich. »Aber heute ist Sonntag, da macht uns keiner auf«, sagte Konrad Turbinus. »Welche ist es denn?« »Sie hieß früher Lindenschule und dann Adolf-Hitler-Schule.« »Jetzt heißt sie wieder Lindenschule«, erklärte Konrad Turbinus. »Oh, auch wieder beim alten!« rief Berry Rich. »Nicht beim alten«, widersprach Konrad Turbinus. Aber sie ver standen sich nicht. Berry Rich brauchte einige Zeit, bis er die vier Fenster gefunden hatte, hinter welchen er den Umgang mit Zahlen und Buchstaben erlernte. Konrad Turbinus war in dieselbe Schule gegangen, eine Etage tiefer und acht Jahre länger, weil acht Jahre jünger. In dem Jahr, als der eine entlassen wurde, begann der andere. Manchmal kann ein Jahr zur Entfernung eines Lichtjahres werden. Auf dem Weg durch die Stadt lenkte Konrad Turbinus die Schritte nun ener gischer in Richtung Traditionskabinett. Berry Rich begeisterte sich am Anblick zweier Häuser am Markt, aus deren Dächern Gras in der Länge gutstehenden Korns wuchs. Er bejubelte die eingebrochenen Straßengullys, die noch aus alter Zeit stammten, ließ sich über die Aschespuren der Müllabfuhr aufklären, über die Lochmuster in den Dachrinnen, streichelte ehrfurchtsvoll die Ziegel hinter abgebröckel ten Fassaden und bewunderte die halsbrecherische Verfassung vieler Gehwege und Straßen. »Oh, wonderful!« rief er ein über das andere Mal. »Ich hätte nie gedacht, ich finde alles so wieder! Ihr habt eine splendide Art, Altes zu erhalten. Aber wenn ihr hier damit fertig seid, wohin zieht ihr dann –?« »Wir haben ein Neubaugebiet«, erwiderte Konrad Turbinus. Und es breitete sich um seine Unterlippe jenes Tückschen aus. Er wies fast strafend mit der Hand dorthin, wo sich grau und geschlos sen wie eine Festung Blöcke über die Stadt erhoben. »No, muß ich nicht besichtigen«, entschied Berry Rich, »kenne ich. Haben wir auch. Manhattan. Ich möchte Georg-Epitaph sehen.« 50
»Bitte was –?!« »Georg-Epitaph.« »Und wo wohnt der?« »In der Kirche.« »In der Kirche!« schrie Konrad Turbinus entsetzt. Die Kirche war geschlossen, halleluja! Er blickte sich furchtsam um, als er, Bemühen vortäuschend, noch einmal an der Pforte rüttel te. Eilig wollte er sich von diesem Ort entfernen. Da rief jemand aus dem gegenüberliegenden Pfarrhaus: »Wohin wollen Sie denn?« »Hay«, sagte Berry Rich, »zum Georg-Epitaph.« Als der Pfarrer mit dem Schlüssel kam, erkannte er Konrad Tur binus, und es entfuhr ihm: »Sie hier!« »Ja, ich hier«, gestand Konrad Turbinus. Nun war es an ihm, sich zu wundern. Während Berry Rich die Reihe erkundete, wo er zur Konfirmation gesessen hatte, das Georg-Epitaph vor Augen, blieb Konrad Turbi nus im Mittelschiff. Er sah auf die vor ihm herabhängenden festge nagelten Füße des Herrn und leistete sich unerlaubterweise einen Dankesseufzer, weil jetzt alle Genossen auf der Haupttribüne des Fußballstadions saßen. Berry Richs Augen glänzten jungenhaft. »Nun gehen wir zum Mittelbergwald«, sagte er, »dort steht eine ganz bestimmte Buche. In die habe ich einmal ein Herz eingeritzt. Verstehen Sie?« Konrad Turbinus setzte sich weinerlich auf einen Mauervorsprung der Kir che. Sein Körper sträubte sich gegen einen Fußmarsch von dreißig Minuten. Doch dieser Berry Rich war schon unterwegs. Wer hatte hier eigentlich die Führung? »Aber das Traditionskabinett!« rief Konrad Turbinus hinter ihm her, »ich habe den Auftrag –« »Ja, das ist es!« Berry Rich schlug sich erinnernd an die Stirn. »Jetzt habe ich das Wort wieder, das ich suchte. Traditional ist es, was ihr hier macht.« Der Mittelbergwald war im Frühjahr von einem Windbruch heimgesucht worden. Nun von Konrad Turbinus. Sie kletterten über quergestürzte Stämme, mußten einmal einem Volksstaat von Amei sen ausweichen, weil Berry Rich darauf bestand, und erreichten 51
endlich am äußersten Zipfel die gesuchte Buche. Es war ein mächtig gewachsener Baum. Berry Rich erkannte nur mit Mühe die ausei nandergefaserten Zeichen, die ihm eine Ahnung von der zeitlichen Dimension gaben, welche ihn von hier trennte. »Gehen wir«, sagte er leise. Und zurück ging es, hopphopphopp, über Stämme und Umwege an Ameisen vorbei. Mit brennenden Fußsohlen, Fichtennadeln unter dem Hemdkragen, erreichte Konrad Turbinus die Innenstadt. Inzwischen sagte er Berthold, und Berry Rich nannte ihn Connie. Es war fünfzehn Uhr, und der überseeische Gast wollte zu Mittag es sen. Konrad Turbinus vergaß vor Schreck seine schmerzenden Knie. Der Wirt der einzigen für solche Anmaßungen eventuell mögli chen Kneipe machte auf Konrad Turbinus’ Anfrage Anstalten, tät lich zu werden. Schließlich aber erklärte er sich zu Bockwurst mit Brötchen bereit, weil die Gäste auch Verlangen nach Wodka zeigten. Berry Rich nahm die Bockwürste als rustikales Element einer Tradition. Und den Wodka als eine freundliche Geste der Besat zungsmacht. Sowjetische Streitkräfte, wollte Konrad Turbinus verbessern. A ber das Du mit Berthold lähmte seine Widersprüche. Und dieser alte amerikanische Rocker begriff ja doch nichts. Wie um alles in der Welt konnte er morgen im Bericht erklären, daß sie nicht im Tradi tionskabinett gewesen waren –? Vielleicht ließ sich aus Berry Richs Begeisterung für den Wodka Kapital schlagen? Er drehte sein Handgelenk unauffällig, um die Zeit auf seiner Armbanduhr zu erkennen. Noch zwei Stunden, dann war feierlicher Zapfenstreich im Fußballstadion. »Was treibst du eigentlich drüben, Berthold?« fragte er, in der Hoffnung, damit an die Abfahrt zu erinnern. »Hauptsächlich Swing.« »Aha, da haben wir es, Bankgeschäfte.« »What?« fiel Berthold Richter verwundert ins Englische. »Ich spiele!« Alles klar, dachte Connie Turbinus. Etwas anderes war nicht zu erwarten. Deshalb der schwarze Koffer im Tresor mit den Dollarbündeln! 52
»Ich spiele Klarinette, weißt du nicht –?« Connie Turbinus’ Augen blitzten für Sekunden überrascht auf. »Warum sagst du mir das erst jetzt! Das sind doch diese kleinen Dinger, in die man bläst. Ich hätte dir Hunderte davon zeigen kön nen. Aber was machst du beruflich?« »Das ist mein Beruf.« Konrad Turbinus schüttelte bekümmert sein Haupt. »Traurig, traurig. Aber ich weiß, ihr müßt froh sein, wenn ihr ü berhaupt Arbeit findet.« »Nanu! Hörst du kein Radio?« fragte Berry Rich. »Doch. Die Nachrichten.« »Da kam ich allerdings noch nicht. Und was dort gesagt wird, steht vorher fest. Meine Freunde und ich aber, wir improvisieren.« Beinahe sah es so aus, als rückte Konrad Turbinus etwas von Berry Rich ab. »So. Improvisieren«, sagte er, »wir wissen immer, was wir tun. Planung. Verstehst du?« Endlich drängte die Stunde des Abschiedes. Im Rathaus war Berry Rich ein bißchen bewegt. Er hielt eine kleine Ansprache, lässig aus den Jackettärmeln heraus, in der mehrmals thank you very much vorkam. Dann sagte er, er hätte sich noch eine kleine Überra schung für ihn ausgedacht. Er wollte den Koffer öffnen. »Nein!« rief Konrad Turbinus und fiel ihm in den Arm. »Ich lass’ mich nicht –« Aber er stockte. Denn Berry Rich hob mit sehr vorsichtigen Be wegungen jenes Ding aus dem Behältnis, in das man bläst. Doch es sah anders aus als die hundert Dinger, die einmal im Jahr aus größe rer Entfernung an Konrad Turbinus vorbeizogen. »Ich trenne mich nie davon«, sagte Berry Rich. Er strich zärtlich über das silbern glänzende Instrument. Mein Gott, dachte Konrad Turbinus, er soll sich nicht so haben! Davon gibt es jetzt massenhaft ähnliche im Stadion. »Ich spiele etwas für dich«, sagte Berry Rich. Dann glitten seine Finger leicht über die Klarinette, sein Ober körper bog sich im gleichen Maß, wie die Töne stiegen. Es war ein Ausbrechen verhaltener Freude. Die Klarinette seufzte, jubelte, schluchzte, flüsterte, schrie, hauchte ... 53
Konrad Turbinus’ Ohren wanden sich im ungewohnten Schmerz. Aber er hielt durch. Und er gestand Berry Rich zu, sich mit diesem Gedudel wenigstens körperlich abzumühen. Da Beifallklatschen regelmäßiger Bestandteil seiner Arbeit war, schaffte er das stür misch. Am Bahnhof schnellte Berry Richs Hand aus der Hosentasche und kehrte dorthin wieder zurück. »Goodbye! So long!« Über die Dächer drangen von weit her dumpfe Schläge und helle Klänge. »What is that, Connie?« »Ach«, sagte Konrad Turbinus, »vielleicht brennt es irgendwo.« Als die Wagen anruckten, winkte er mit beiden erhobenen Ar men, bis der Blickwinkel hinter dem Fenster für Berry Rich zu un günstig wurde. Da ließ er die Arme fallen und rannte wie wild durch die Bahnhofshalle hinaus in Richtung Fußballstadion. Er kam in dem Moment, als die zwölf Spielmannszüge zum Schlußbild aufmarschierten. Eilig riß er seinem Stellvertreter die Binde mit der Aufschrift ORGANISATIONSKOMITEE vom Ärmel. Dann hastete er auf die Haupttribüne. Fanfaren, Querpfeifen, Trommeln ... Konrad Turbinus entkrampfte. Er schloß die Augen. Seine Welt war wieder in Ordnung. Aber dann neigte er auf einmal den Kopf nach vorn, legte die flache Hand hinter das Ohr. Seine Stirn krümm te sich, die Lippen zuckten nervös. Nadelstiche fuhren in sein Hirn. Es war ihm, als störe ein fremdes Geräusch die Klangkörperschaf ten. Er steckte den Finger ins Ohr, schüttelte es und horchte erneut. Doch der Ton blieb. »Da improvisiert einer!« schrie er. Ringsum wurden verwunderte Rufe laut. »Was hast du denn auf einmal, Chef?« »Warum bist du plötzlich so feinfühlig?« »Aber da improvisiert doch einer, ich höre es ganz deutlich!« schrie Konrad Turbinus noch erregter. Der Organisationsstab begann zu schwanken. Man sandte einige Horcher an die Aschenbahn. Schließlich wurde aus dem vierten Glied ein Junge herausgeholt, der falsch geblasen hatte. Er kam aus 54
der achten Klasse der Lindenschule und hieß Richter. »Aha!« rief Konrad Turbinus. »So geht es los. Kennen wir. Bei uns wird richtig gespielt!« Der Junge weinte. Konrad Turbinus blickte tadelnd auf ihn herab. »Üben, üben und nochmals üben«, sagte er, »dann spielst du genau wie die anderen, und es passiert dir nichts mehr.« Auf der Aschenbahn flogen exakt die Beine der Sechserreihen. Die Tambourstäbe stießen synchron nach oben. Kein Mißton mehr. Aber Konrad Turbinus lauschte beunruhigt in den Abendhimmel.
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TAUSCHE MAMMUT GEGEN ELEFANT
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Als sich herumsprach, Anton Dolbutzer besitze ein Autogramm Lutz Jahodas, wurde er sofort für die Kulturkommission des Betriebes vorgeschlagen. Seine verzweifelten Einwände legte der AGLVorsitzende mit den Worten lahm: »Geh nur dort ‘rein, Toni. Da gibt es nicht viel zu tun. Ab und zu Tischdecken drauf, wenn Kultur im Schwange ist, und mal Plaketten verteilen. Zur Kulturkonferenz siehst du sogar den einzigen Schriftsteller unseres Kreises, na, das ist doch schon was!« Anton Dolbutzer hatte herabhängende Schultern, die ein un sportliches Leben ahnen ließen. Er wohnte in der dritten Etage eines noch mit Öfen ausgestatteten Neubaublockes. Seine Frau sagte immer häufiger abfällig, es wäre besser, sie hätten Fernheizung, sonst reichten seine Arme durch das Briketteimerschleppen nun bald bis zum Boden herab. Anton Dolbutzers Schultern sanken bei solchen Worten noch tiefer. Aber er besaß ein Autogramm Lutz Jahodas. Weiter besaß er nichts. Kein Auto, keinen Bungalow, kein Wochenendgrundstück wie die anderen Kommissionsmitglieder. Zu den Sitzungen kurvten die Gespräche deshalb meistens um Stromli nienformen, Frühbeetkulturen oder die unumstößliche Tatsache, daß in die Nähe von Swimmingpools Schilfdächer gehören. Anton Dolbutzer befühlte dann frustriert seinen nicht vorhandenen Bizeps und verlor sich ins Träumen. Der letzte Tagesordnungspunkt be gann: Geburtstage. Er schrak zusammen, als er seinen Namen hörte. »Nein, nein«, sagte jemand, »bei diesem Bombenwetter muß ich endlich Rasen mähen! Meiner Ansicht nach käme der Kollege Dol butzer dafür in Frage.« »Hier!« rief Anton Dolbutzer aufgeregt und zerrte einen Zettel aus der Jackentasche. »Bericht«, verlas er laut. »Bericht der Kultur kommission über eine Kontrolle –« »Aber das ist doch schon lange abgehakt«, unterbrach ihn der Vorsitzende, »jetzt ist Allgemeines dran, Geburtstage.« »Der Kollege Dolbutzer«, klagte ein Kommissionsmitglied, »muß sich nicht um die Beschaffung von Edeltannen bemühen.« »Ich erinnere mich nicht«, rief sein Nachbar, »daß der Kollege Dolbutzer jemals von der Unterbodenbehandlung eines Autos ge sprochen hat, die man nur am Wochenende durchführen kann.« 59
Der Vorsitzende strafte Anton Dolbutzer mit einem tadelndbekümmerten Blick. Er hatte längst auf der Liste seiner Kommissi onsmitglieder hinter dem Namen Anton Dolbutzer ein Zeichen hingekritzelt, das in den Busfahrplänen samstags, sonntags sowie an gesetzlichen Feiertagen hieß. Auch er mußte endlich die Sicht schutzwand aufbauen, hinter der seine Frau vollkommen bräunen wollte. »Deshalb schlage ich vor, der Kollege Dolbutzer wird am kommenden Sonntag die zwei Gratulationen übernehmen. Ich bitte um das Handzeichen.« Ein Wald von hochgereckten Armen umzingelte Anton Dolbut zer. »Am Sonntag vormittag muß ich zu Hause sein!« rief er erschro cken. Seit einem Jahr wartete er auf diese Stunde, wo auch er einmal im Mittelpunkt stehen und ihm eine Abordnung der Fachgruppe Kakteen und Sukkulenten des Kulturbundes anerkennende Worte, verbunden mit den besten Wünschen für weiteres Mitzüchten, aussprechen würde. Vielleicht erhielt er sogar eine wunderschöne Coryphanta elephantidens geschenkt. Denn da hatte er selber Ge burtstag. Aber ein Hagelschlag aus Wörtern prasselte auf ihn nieder und ließ ihn verstummen. »Zu Hause sein!« »Wenn wir das nur mal könnten!« »Wir müssen Schwimmbecken mit Chlorkautschuk streichen.« »Grillgeräte reinigen!« »Gartensauna innen verkleiden!« »Keinerlei Verpflichtungen und trotzdem zu Hause sein!« »Kollege Dolbutzer«, sagte der Vorsitzende väterlich, »gut, wenn du früh, wie ich vermute, deiner Frau die Kartoffeln reiben mußt, dann begibst du dich eben ausnahmsweise einmal nachmittags hin. Aber gemacht werden muß die Sache. Es geht schließlich um zwei Persönlichkeiten unseres Betriebes.« »Um wen denn?« fragte Anton Dolbutzer und bemerkte gar nicht, daß er sich aufs Verhandeln einließ. »Einer ist der Kollege Flämig, dem wir zusätzlich noch zu einem anderen Jubiläum gratulieren: Er ist siebeneinhalb Jahre im Theater 60
ring.« »Das ist doch keine Jubiläumszahl!« rief Anton Dolbutzer, um Rettung bemüht. »Der Kollege Flämig«, fuhr der Vorsitzende verärgert über die Unterbrechung mit gehobener Stimme fort, »war in dieser Zeit zehnmal im Theater. Zehnmal!« Zwei Kommissionsmitglieder klatschten ob dieser Leistung Bei fall, hörten aber, daß sie einsam blieben, und ließen sich wieder ins Hauptfeld zurückfallen. »Der andere ist unser hochgeschätzter Genosse Roggenpfuhl vom Direktionsbereich Technik, der die Jugendtouristikreisen für das Ausland vergibt.« »Was hat denn das mit Kultur zu tun?« muckte Anton Dolbutzer noch einmal auf. »Man sieht, daß du keine Jugendlichen als Kinder hast«, erwider te der Vorsitzende, »aber wir haben welche. Und der Genosse Rog genpfuhl muß sich deshalb immer freundlich an uns erinnern kön nen.« Ein Kommissionsmitglied hob erneut die Hand. »Darum ist der Kollege Dolbutzer der einzige, der die Glückwünsche aussprechen kann, ohne daß wir Angst zu haben brauchen.« »Jawohl! Richtig! Sonst müßten wir ja alle zusammen hingehen«, wurde gerufen. Die gesamte Kommission machte einen sehr nervösen Eindruck. Anton Dolbutzer ließ außer seinen Schultern auch noch den Kopf herabsinken. Der letzte Tagesordnungspunkt, Geburtstage, war damit abgeschlossen. Am Freitag, während der Frühstückspause, hetzte Anton Dolbut zer durch die Korridore der Verwaltung und trieb die fälligen Unter schriften für die zwei Glückwunschkarten ein. Der Unterschriften komplex war über das Doppelte an Wörtern größer als der Glück wunschtext: HERZLICHE GLÜCKWÜNSCHE ZUM GEBURTSTAG, SCHAFFENSKRAFT UND PERSÖNLICHES WOHLERGEHEN! – acht Wörter. ALBERT STÜCKERT, BETRIEBSLEITUNG, FRITZ HULL, PARTEILEITUNG, HANS FRENZEL, BETRIEBSGEWERKSCHAFTS LEITUNG, KLAUS HARDTLEBEN, FDJ-LEITUNG, IN VERTRETUNG 61
ANTON DOLBUTZER, KULTURKOMMISSION – siebzehn Wörter. Aus Mangel an Erfahrung in solchen Situationen hatte Anton Dol butzer statt i. V. in Vertretung geschrieben. Sein Name verkroch sich mickrig dahinter, als wollte er sich gegen die schwungvollen Schnörkel seiner Mitunterzeichner, besonders gegen das Fleischer haken-S des Werkdirektors Stückert schützen. Zu ihm mußte er dreimal rennen, bis der Werkdirektor endlich zwischen Tür und Angel und auf Anton Dolbutzers Rücken die Karten absegnete. Mitt lerweile war die Frühstückspause längst vorbei. Infolge leeren Ma gens grübelte Anton Dolbutzer ergebnislos darüber nach, ob es auch ein unpersönliches Wohlergehen gibt. Am Nachmittag holte er im Laden der Stadtgärtnerei die bestell ten Blumen ab. Eine lange Reihe Wartender zierte rabattenförmig den Weg zum Verkaufstisch. Anton Dolbutzer wurde als Vertreter des Betriebes erkannt und nach vorn gerufen. Mit ihm noch eine Frau, die man mit Frau Doktor anredete, und einer, der Herr Stave hieß. Jemand sang im hinteren Teil der Reihe spöttisch: »Bluuumen für die Großen ...« Herr Stave beteuerte, daß er nichts mit dem gleichnamigen bekannten Schriftsteller zu tun hätte. Während des aufkommenden Streites entwich Anton Dolbutzer mit zweimal sieben Tulpen und einem schlechten Gewissen, weil er Kakteen liebte. Nach Dienstschluß schleppte er die liegengebliebene Arbeit in seiner Aktentasche nach Hause. Am Himmel zerstoben kleine Zir ruswolken und versprachen sehr warmes Wetter. Einige Kommissi onsmitglieder wünschten ihm ein angenehmes Wochenende. Den ganzen Sonnabend saß er dann über den Auszügen einer Material aufstellung für das dritte Quartal, dabei ständig besorgt nach den kühlstehenden Blumen sehend. Sogar nachts stand er auf und be stäubte sie mit frischem Wasser. Am Sonntagmorgen überraschte er seine Frau mit verführerischem Augenzwinkern, das sich aber als nervös herausstellte. Danach überraschte er sie ein zweites Mal mit der Neuigkeit, er müsse nachmittags zwei anderen Betriebsangehö rigen zum Geburtstag gratulieren. In den Glückwünschen seiner Frau war deshalb ein resignierender Unterton, der abermals das Herabsinken seiner Schultern beschleunigte. Mit der Bemerkung, es 62
mache wuchtiger und breiter, schenkte sie ihm ein großkariertes Oberhemd, in dem er wie ein kleiner Junge aussah, der zum Fa sching Cowboy spielen darf. Er zog es sofort über und verbrachte, innerlich gewachsen, den Vormittag wartend im Wohnzimmer. Obwohl sie eine Klingel besaßen, die mit Kuhglocken auf Gebirgs wiesen mithalten konnte, fragte er aller halben Stunden: »Hat es nicht eben geklingelt?« »Wer sollte schon kommen«, sagte sie. Nach dem Mittagessen war die Abordnung der Fachgruppe Kak teen und Sukkulenten des Kulturbundes noch immer nicht erschie nen, wahrscheinlich, weil es in ihrer Leitung keinen Anton Dolbut zer gab. Er ließ sich von seiner Frau die Tulpensträuße einwickeln, steckte den Zettel mit den Anschriften des Kollegen Flämig und Genossen Roggenpfuhl in die Tasche und machte sich auf den Weg, nicht ohne seine Frau getröstet zu haben, daß man Geburtstagsku chen auch abends essen kann. »Dann feiern wir richtig«, sagte er, schwieg aber auf ihre Frage, wie das bei ihm sei: richtig feiern? Er kannte nur Zweipersonenfei ern. Und wenn er sich schon einmal erkühnte, im Radio Schlager aufzudrehen, so gab es auch nur zwei Varianten beim Tanzen: er einmal mit ihr und sie einmal mit ihm ... So begab sich Anton Dolbutzer pflichtgemäß zu Kollegen Flämig, von dem er durch die Verzweigtheit der einzelnen Betriebsteile keinerlei Ahnung hatte, eben nur, daß er bisher zehnmal im Theater gewesen war. Anton Dolbutzer kramte in seinem Hinterkopf Bruchstücke über die darstellende Kunst zusammen, die ein Kultur kommissionsmitglied hin und wieder klug bei solchem bevorste henden Fall in das Gespräch werfen mußte. Herr Puntila fiel ihm ein, Wallenstein und eine Matinee, bestehend aus Artistik, Zauberei und einer Hundedressur. Die Sonne stand nun steil über seiner durchschimmernden Kopfhaut und dem großkarierten Cowboy hemd. Aufgeregt transpirierte er ein bißchen. Der Kollege Flämig empfing ihn tiefbewegt, ja, seine Augen wur den sogar feucht. Groß, hager und aufrecht hörte er sich die Glück wünsche an. Man sah, daß Anton Dolbutzer für ihn die Leibhaftig keit aller leitenden Bereiche des Großbetriebes war. Und Anton 63
Dolbutzer, beflügelt von dieser Wirkung, ließ sich kräftiger als beab sichtigt zu einem nicht enden wollenden Händeschütteln hinreißen. Als hätte der Kollege Flämig durch eine geniale Idee die schriftlichen Erfolgsmeldungen des Betriebes so entwickelt, daß sie auch im volkseigenen Kindergarten zu den Märchenstunden vorgelesen werden konnten. Der Gast wurde in die Wohnung gebeten. Frau Flämig versorgte die etwas schlaff gewordenen Tulpen mit frischem Wasser. Anton Dolbutzer fiel ihr aufgeschreckt in den Arm, als sie auch den zwei ten Strauß aufschneiden wollte. Nein, der wäre für den Genossen Roggenpfuhl! »Und was machst du, Kollege – Kollege –?« fragte Flämig. »Dolbutzer«, beeilte sich Anton Dolbutzer zu sagen, »Dolbutzer aus der Verwaltung.« Er hatte das Gefühl, Flämig dachte für einige Augenblicke, er sei von Beruf Gratulant. Frau Flämig brachte zwei Gläser und eine Flasche Kristallklaren. »Sie müssen wissen«, sagte sie, »seit heute früh wartet mein Mann auf diesen Augenblick. Ständig fragte er mich: Hat es nicht eben geklingelt?« Anton Dolbutzer forschte überrascht, ob in Frau Flämigs Augen winkeln Spottlust blitzte. Doch sie sah ihn freundlich an, und er beruhigte sich wieder. Er glaubte sogar, bei dem Kollegen Flämig eine gewisse Ähnlichkeit zu erkennen, was das Herabhängen der Schultern betraf. Spontan hob er sein Glas und sagte: »Ich heiße Toni.« »Willy«, erwiderte der Kollege Flämig feierlich, »aber sie rufen mich alle Will.« Der Klare kühlte Tonis Kehle und prallte dann heiß auf sein Pflichtgefühl, das sich sofort in Bewegung setzte. »Ich vergaß, dir auch noch zum Theaterjubiläum zu gratulieren.« Will traf während des Nachgießens die Tischdecke. »Ich bin doch gar nicht beim Theater.« »Nicht beim, sondern im«, zwinkerte Toni, »wir haben heraus bekommen, du warst zehnmal im Theater. Ja, ja, wir kriegen alles heraus. Ich gratuliere!« 64
»Mein Gott«, hauchte Will, »das letzte Stück war, glaube ich, Emilia Galotti. Und das noch zu meiner Schulzeit.« »Aber der Vorsitzende sagte doch, du wärest zehnmal –!« stam melte Toni. »Ich hab’ die Karten nur genommen«, gestand Will gequält. »Un ser A-Ge-El tat mir immer so leid. Und bezahlt waren sie ja! Toni, das kannst du mir glauben, ich schwöre das! Schauspieler wollen auch leben. Versteh mich mal, Toni, ich konnte doch als Leiter –« »Auch ich war nie im Theater!« rief Toni erfreut. Will beugte sich fassungslos nach vorn. »Aber – du bist doch in der Kulturkommission«, flüsterte er. »Dort bin ich nur, weil ich ein Autogramm Lutz Jahodas besitze«, flüsterte Toni zurück. »Das ist ja phantastisch«, jauchzte Will, »du interessierst dich al so ebenfalls für Sport! Ich hätte beinahe mal von Täve Schur eines bekommen. Aber er fuhr zu schnell vorbei. Im Theater kannst du die Beine nicht ausstrecken, das ist es, Toni, deshalb.« »Und sie machen jetzt kaum noch Pausen, hab’ ich gehört«, er klärte Anton Dolbutzer. Sie lehnten sich beide erleichtert zurück, und es wurde noch eine schöne Geburtstagsfeier. Als Anton Dolbutzer zur Haustür geleitet wurde, trug er die Tul pen für den Genossen Roggenpfuhl, als hätte er eine Flasche in der Hand. Grell flimmerten einige Sonnen vor seinen Augen. »Hier um die Ecke ist eine Bushaltestelle«, sagte Will Flämig, »an der vierten Station aussteigen. Es ist ein Viertel mit Einfamilienhäu sern. Dann rechts einhundert Meter zurücklaufen, warte mal – das siebente Haus ist das vom Genossen Roggenpfuhl. Besuche mich wieder, Toni, und ich dank’ dir und ...«, er legte verschwörerisch den Zeigefinger an die Lippen, »Lutz Jahoda.« »Täve Schur«, sagte Anton Dolbutzer geheimbündlerisch. Er wippte die Straße entlang. Seine Schultern berührten fast die Ohren. Der Bus war zum Bersten gefüllt mit Jugendlichen, die trotz der Hitze lange farbige Schals trugen, Trompeten und Rasseln mit sich führten und nach Bier stanken. »Blauweißrot – schlagt sie tot!« schrien sie. 65
Anton Dolbutzer, der keine Ahnung von Fußballeidenschaft hat te, dachte, daß irgendwo wieder ein Rockfestival ausgebrochen war. Er zwängte sich in die stickige Luft des Busses. Mit dem Rücken schützte er die kostbaren Tulpen. Der Lärm verursachte bei ihm als Gegenwehr eine lähmende Müdigkeit. Sein Atem roch nach Schnaps. So unterschied er sich wenigstens nicht in dieser Hinsicht von seinen Mitreisenden. Aber er hätte jetzt lieber auf seinem Sofa ein Nickerchen gemacht oder glücklich versunken vor seiner Kak teensammlung gesessen. Zu beiden Seiten ließen die Häuserreihen nach, und der Blick in die Ferne wurde frei. Anton Dolbutzer zählte krampfhaft die Haltestellen. Bungalowgrundstücke tauchten auf mit Menschen darin, die sich in Swimmingpools tummelten, Rasenmä her wie Kinderwagen vor sich her schoben, die Gartensauna ver kleideten, hinter Sichtschutzwänden bräunten: die also alle etwas Wichtiges zu tun hatten. Und er fuhr zu einem Genossen Roggen pfuhl! Diesmal aber nahm er sich vor, die fünffachen volkseigenen Glückwünsche gleich an der Tür loszuwerden, damit er am Kaffee tisch seiner Frau die restlichen Stunden des Sonntags endlich die zweiundfünfzigste Wiederkehr seiner Geburt feiern konnte. Er tau melte an der vierten Haltestelle aus dem Bus, lief auf der rechten Seite zurück, zählte bis sieben und bog in den Kiesweg eines weiß gestrichenen Hauses ein. Hohe Fichten spendeten ihm zum ersten Mal wohltuende Kühle. Er tastete nach dem Glückwunschkuvert, sah an der Beschaffenheit der Tulpen, daß er sich beeilen mußte, und stieg die Vortreppe hinauf. Durch die Glasscheibe der Haustür wurde Anton Dolbutzer be reits gesichtet. Ein Mann, dem anzusehen war, daß er sich irrtümli cherweise in den besten Jahren vermutete, riß die Tür auf und rief: »Ahoi, mein Freund, tritt ein, damit das Haus voll werde, ich bin es schon!« Ein leichter Kalmushauch ging von ihm aus. Im hinteren Teil der Diele liefen einige Leute mit Gläsern herum, und vom Obergeschoß herab drangen plötzlich wie auf Kommando vielstimmige Schreie. Als wieherten Pferde. Anton Dolbutzer zuckte zusammen. Er schälte eilig die dekadenten Tulpen aus dem Papier. »Im Namen –«, begann er. 66
Aber der Mann winkte ab. »Name ist Schall und Rauch. Hier ist wichtiger, was du zu bringen hast.« »Ich bringe die Grüße –«, sagte Anton Dolbutzer. »Ja, grüße auch schön wieder«, unterbrach ihn der Mann erneut, »nun gib endlich deine Disketten her und trink erst mal einen Be cher Bitteren mit mir.« Er riß ihm den Strauß aus der Hand, suchte nach einer Vase, ent deckte schließlich eine Menge Schuhe vor der Flurgarderobe und steckte die Tulpen in einen Damenstiefel. Anton Dolbutzer vergaß vor Staunen, die offiziellen Glückwün sche aus der Tasche zu ziehen. Sein Gastgeber führte ihn zu einem Serviertisch auf Rädern. Er goß aus einer grünen Flasche eine Flüs sigkeit in Gläser, nach der er schon lange roch. »So, mein Freund«, sagte er, »und du bist also derjenige, der mir Disketten anzubieten hat. Umständehalber, versteht sich.« Er zwin kerte auffällig. Doch Anton Dolbutzer schüttelte abwehrend den Kopf. »Nein, nein, ich besitze keinen Schmuck. Auch meine Frau nicht. Nicht einmal Ringe haben wir, geschweige eine Kette!« Der andere fixierte Antons Ausdruck der Augen, taxierte das Lä cheln in seinen Mundwinkeln. Dann stieß er ihm den Finger gegen die Rippen und lachte vor Wonne tief in der Kehle. »Das war gut, mein Freund! Schade, daß ich deinen Humor nicht mit ankaufen kann. Ich sehe, du kennst mich.« »Leider nein«, sagte Anton Dolbutzer, »Sie wurden mir nur ge nannt.« »Na so was! Du kennst Köhler, An- und Verkauf, nicht? Aber hier nennt mich niemand so. Sag einfach A und Vau zu mir.« Inzwischen stiegen zwei Paar Damenbeine die Treppe herab. Sie schwenkten an Anton Dolbutzer vorbei in irgendwelche Kellerräu me. Aber sie sahen nicht nach Kartoffelholen aus. Er glaubte, die dazugehörigen Köpfe von irgendwoher zu kennen. Dann entsann er sich. Doch es war einfach unvorstellbar, daß aus einem der beiden die erotisch dunkle Frage gekommen wäre: Und wie geht es Ihnen, Su Allen –? Auf alle Fälle schien es nicht die Gattin des Genossen Roggen pfuhl zu sein. Und A und Vau nicht einmal sein Schwager. Anton 67
Dolbutzers Interesse für ihn sank. Er blickte nervös auf seine Uhr, aber A und Vau goß erneut ein, und er fand, nach einigen Klaren beim Kollegen Flämig, daß es hier eigentlich schön locker war, vor ausgesetzt, er traf endlich in irgendeinem der zahlreichen Räume den Genossen Roggenpfuhl. A und Vau schob ihn die Treppe hinauf zu dem Frauenkreischen, in das tiefes Männerlachen polterte. Er betrat ein Zimmer, größer als seine gesamte Wohnung zu Hause. Aus einer Stereoanlage hämmer te Pop, den Anton Dolbutzer für böswillig zerhackten Foxtrott hielt. Junge Frauen posierten herum, und mittlere Männer poussierten um sie herum, und um sie alle schwelte bläulicher Rauch. Vielleicht erkannten sie deshalb den Neuankömmling nicht, der, nach Luft schnappend, sein Glückwunschkuvert in der Brusttasche befühlte und auf den Gesichtern der Männer den disziplinierten optimisti schen Ausdruck des Genossen Roggenpfuhl suchte. Im Moment stand eine schwarzgekleidete Blondine im Mittel punkt. Sie warf ihr langes Haar eindrucksvoll zurück, und die gol denen Ohrreifen, in denen Wellensittiche bequem hätten schaukeln können, funkelten. Anton Dolbutzer verwarf seine Vermutung, daß es sich um die Frau des Genossen Roggenpfuhl handeln könnte, denn er dachte, zum Geburtstag des Mannes trägt man kein Schwarz. – Überall liefen die Gäste wie Gastgeber umher, schenkten sich aus greifbaren Flaschen ein, nahmen sich delikat belegte Brötchen oder auserlesene Salate von Platten oder holten sich rustikal gegrilltes Fleisch aus dem Garten. Eine eigentliche Festtafel gab es nirgends. Wie auch bei ihm nicht, stellte Anton Dolbutzer erfreut fest, und er fühlte etwas wie Seelenverwandtschaft mit dem Genossen Roggenpfuhl. Ent spannt bewegte er sich nun, naschte hier und da ein Häppchen, probierte da und dort ein Tröpfchen und stellte vorerst seine Missi on ein. Als er sich an der Grillstelle im Garten einen Batzen holte, sagte der Mann hinter dem Rost, bevor Anton Dolbutzer in die Keule gebissen hatte: »Schmeckt’s? Frag mal, wo’s gegrillten Hasen gibt. Nur bei mir! Heißenborns Karnickel – die besten Artikel!« »Das Geschäft ist mir fremd«, sagte Anton Dolbutzer nachdenk lich. 68
Heißenborn lachte. »Ich hab’ kein Firmenschild. Du müßtest mal meinen Hinterhof sehen. Bloß acht Quadratmeter, aber hundert Karnickel drauf.« »Was!« entfuhr es Anton Dolbutzer. »Die können doch da nur Männchen machen.« »Hoho!« Heißenborn wendete flink eine Reihe knusperbrauner Keulen. »Noch nie was von Bodenspekulanten gehört? Mein Ge winn wächst in die Höhe. Ein Ställchen übers andere. Kürzlich wäre ich beim Füttern beinahe von der Leiter gestürzt.« Anton Dolbutzer stellte sich verwundert eine neue Rasse vor: E tagenhasen. »Hast du so viele Kinder, die gern Hasenbraten essen?« Darauf musterte ihn Heißenborn genauer. »Geh mal ins Delikat«, sagte er, »dann gehörst du zu meinen Kinderchen. Die Buben und Mädchen, die dort ein und aus hüpfen, kriegen meine Brummerchen schön in Folie geschweißt. Wir essen zu Hause gar keine Hasen.« Anton Dolbutzer dachte an seine Kakteensammlung. »Du liebst also deine Hasen«, stellte er erleichtert fest. »Ja«, erwiderte Karnickel-Heißenborn versonnen, »jedes Pfund aufwärts. Und was pfuschst ‘n du nebenbei?« »Nebenbei?« Anton Dolbutzer hatte etwas Mühe mit dem Wort pfuschen, denn er kannte nur exakte Arbeit. »Nebenbei bin ich in einer Kommission.« Karnickel-Heißenborn pfiff durch die Zähne. »Sieh einer an! Du kennst die Kurve. Wer vorn ist, verteilt. Kommissionsgroßhandel, was? – Na, Mann, laß dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Was verteilst du denn?« »Kultur«, stammelte Anton Dolbutzer überrumpelt. »Aha«, sagte Karnickel-Heißenborn etwas enttäuscht. »Also nur Eintrittskarten. Wenn mal was Besonderes ist, Katja Ebstein oder Robby Lind: zwei Karten, erste Reihe! Weihnachten hast du dann immer saubere fünfzehn Pfund, allerdings nicht in Folie geschweißt. Eine Hand wäscht die andere. Frag mal die Dame des Hauses dort drüben, was ich dafür von ihrem Mann bekomme.« Anton Dolbutzer bog erfreut den Kopf in die gewiesene Richtung und sah jene dunkelhaarige Frau, die vorhin ihre Beine an ihm vor beigeführt hatte. Sie kam nun auf Karnickel-Heißenborns Handbe 69
wegung hin zu ihnen herüber und erwies sich als einen Kopf größer. Sie zupfte sich ein Stückchen Etagenhase, legte ihren freien elegan ten Arm sanft in Anton Dolbutzers Ellenbeuge hinab und dirigierte ihn auf das Haus zu. »Wunderbar!« rief er, und der Arm übte einen kleinen Druck aus. »Seit ich hier bin, suche ich Ihren Mann. Ich kann doch nicht dau ernd herumessen und – trinken, ohne meinen Auftrag zu erfüllen.« »Gerade deshalb trinken wir jetzt«, sagte sie mit weicher Stim me. Im Haus steuerte sie ihn die Kellertreppe hinab. Bei ihm lagerten dort außer Kartoffeln mit Staub überzogene Einkochgläser. Vermut lich wollte sie mit ihm aus einer Flasche im Regal anstoßen. Er fand schon das ziemlich seltsam. Rohre streckten sich an der Decke ent lang. Hinter einer geöffneten Tür stand ein Heizkessel. »Das ist er übrigens«, sagte Frau Roggenpfuhl. Anton Dolbutzer nickte aufs Geratewohl, als wäre er einem frü heren Bekannten wiederbegegnet. Am Ende des Ganges mußte das Obst der vielen Gartenbäume lagern, denn von dort sang Wencke Myhre: »Beiß nicht gleich in jeden Apfel«. Musik im Keller. Anton Dolbutzer verharrte staunend an der Schwelle eines mari timen Märchens. Er wurde in hellblaues licht getaucht. Grüne Schlingpflanzen hingen von der Decke herab oder wuchsen zu ihr hinauf. Kleine Sessel ähnelten in ihrem Schwung den Rücken von Meeresrochen, die Tische bunten Korallenbänken. Im hinteren Teil des Raumes oder des Meeresgrundes stand die Breitseite eines ge sunkenen Schiffes mit aufgebauter Reling. Es war fest vertäut an mehreren Buhnen mit Schaumlederkappen, auf denen biertrinkende Männer hockten. Hinter dem Schiff goß ein bärtiger Mann Kognak gläser voll. Einige Paare schoben umschlungen wie im leichten Wel lengang dahin. Auf den blauen Wänden schwammen exotische Fische, silberne Delphine und ein Hai mit weitaufgerissenem Ra chen, der die kleineren Fische alle ausgespieen hatte oder eben verschlucken wollte. Anton Dolbutzer trieb auf den bärtigen Mann hinter der Reling zu, einer Kapitänsfigur, einem echten Mannschaftsführer, bei dem er nun endlich den lange gesuchten disziplinierten und optimisti 70
schen Gesichtsausdruck fand. Frau Roggenpfuhl ließ sich zwei Gläser mit grünem Meerwasser füllen, und der Kapitän goß sich lächelnd auch gleich eines voll. »Das ist der Mann, der uns den Feuerzugregler verschafft, Wolf«, sagte sie. Beide prosteten Anton Dolbutzer zu, der am heutigen Tag schon so viele Schnäpse vernichtet hatte wie im letzten halben Jahr nicht. Deshalb wohl war ihm auch die Zunge ein bißchen zu langsam für eine schnelle Erwiderung. »Ist es ein ›Samson‹ oder ein ›Braukmann‹?« fragte der Genosse Roggenpfuhl. Anton Dolbutzer war der Meinung, es sei ein Pfefferminzlikör gewesen. Weil er sich aber nicht blamieren wollte, entschied er sich für einen »Braukmann«. Offenbar hatte er richtig geraten, denn der Genosse Roggenpfuhl grunzte befriedigt: »Sehr gut. Die sollen bes ser arbeiten.« Und wie sie arbeiteten! Nachdem er noch zwei »Braukmanns« vernichtet hatte, begannen für Anton Dolbutzer die Fische an den Wänden zu schlingern, in seinen Ohren rauschte die reinste Bran dung. An der Bar versammelten sich nun die Geburtstagsgäste und musterten Anton Dolbutzer, der sich auf seiner Sitzbuhne breit einankerte. Genosse Roggenpfuhl zeigte mit dem Finger auf ihn und sagte zu einem anderen Gast: »Gib ihm eine Chance, Didi, er hat mir gehol fen.« »Okeh«, sagte Didi. »Komme am Dienstag vorbei und verlange den Kollegen Sünderhauf. Dann holen die mich. Und merke dir: Du bist schon ein Jahr für die Durchsicht angemeldet.« »Vielen Dank«, erwiderte Anton Dolbutzer, in eine ungeahnte Stimmung treibend, »aber im Grunde genommen fehlt mir gar nichts.« Einige Gäste hieben sich auf die Schenkel, und wieder war das Kreischen der Frauen zu hören, das Anton Dolbutzer an die Flugschreie von Wildgänsen erinnerte. Didi wurde endlich mit seinem Lachen fertig. »Allerdings wirst 71
du trotzdem zwei bis drei Tage warten müssen, bis dein Wagen wieder fit ist.« Anton Dolbutzer geriet in einen seligen Zustand der Zufrieden heit. Wie lieb die Menschen hier zu ihm waren! Seit drei Jahren kümmerte im Geräteraum der Hausgemeinschaft sein Handwagen fahrunfähig dahin, ein Erbstück der Eltern, wie es in dieser Größe nicht mehr gebaut wurde und deshalb keinen Reparateur fand. Nun saß er einer Seltenheit dieses Jahrhunderts gegenüber, einem echten Stellmacher. Er pries den Augenblick, als in der Kulturkommission die Wahl zur Gratulation auf ihn gefallen war. »Endlich hilft mir einer«, sagte er, »bisher hat sich keiner gefunden, der so einen gro ßen Wagen wieder in Ordnung bringen kann.« Ringsum verstummten die Gespräche. Einige Männer pfiffen leise durch die Zähne, einige Frauen fanden, daß der Neuankömmling gar nicht so klein gewachsen war, wie sie das am Anfang dachten. Kar nickel-Heißenborn, der seinen Stand draußen im Garten aufgegeben hatte, winkte beeindruckt mit der Hand. »Hallo, Kommissärchen.« Das Mädchen in Schwarz zog ihre dunklen Lidschatten nach. Su Allen löste sich aus der Umarmung A und Vaus. »Wollen wir tan zen?« gurrte sie. Bevor Anton Dolbutzer antworten konnte, daß schon genügend Drehbewegungen in seinem Kopf begonnen hatten, zog sie ihn an zwei Schlingpflanzen vorbei in ihre Umklammerung. Aus den Stereoboxen sang jemand: »Ein bißchen Aroma, ein biß chen Paloma ...« Anton Dolbutzer erschnupperte, daß es nicht nur ein bißchen Aroma war. Aus der Tiefe dieser Su Allen stiegen die gesammelten Düfte eines Kosmetiksalons hoch in seine Nase und vermischten sich mit dem Dunst des eingenommenen Alkohols, den der Genosse Roggenpfuhl in lauter kleine Einheiten, die er »Braukmanns« nann te, eingeteilt hatte. »Sie haben aber eine schöne Diskette am Hals«, säuselte er. Da drehte Su Allen zwei hastige Runden mit ihm, löste ihre Um klammerung, schob Anton Dolbutzer zurück auf seine Buhne und sagte rückengedeckt zu Didi: »Seltsam. Der Mann denkt wirklich, ‘ne Diskette ist ‘n Schmuckstück.« »Bist du sicher?« 72
»Es kann auch sein, er spielt ganz clever. Aber warum?« erwider te sie. »He, A und Vau«, sagte Didi, »woher weißt du, daß es dein Dis kettenmann ist?« A und Vau zeigte seine Zähne. Zwei davon waren vom reinsten Intershop-Gold. »Weil er mir für heute hierher avisiert wurde.« »Avisiert, avisiert!« äffte Didi. »Vielleicht hat er uns schon lange im Visier. Du hast ihn also nie gesehen?« »Die meisten Leute habe ich vorher nie gesehen, und es klappt immer«, erklärte A und Vau. »Wenn es kein Kunde ist, wer ist es dann?« rätselte Su Allen. »Wir werden das herausbekommen«, entschied Didi. Im Moment aber war Anton Dolbutzer nicht zu finden. Das Mäd chen in Schwarz hatte sich bei ihm nach dem großen Wagen erkun digt, und er hatte gesagt: »Da müssen wir hinausgehen. Bei diesem klaren Wetter ist er am besten zu erkennen.« Jetzt kamen sie beide wieder herein. Allerdings sehr getrennt. Anton Dolbutzer spürte, wie die frische Luft seine »Braukmanns« im Kopf rotieren ließ. Er bestellte beim Genossen Roggenpfuhl gleich noch so etwas Lustiges. Dabei fummelte er mit den Fingern nach seinem Kuvert in der Jackentasche, denn nun schien der Mo ment günstig zu sein. Aber A und Vau schubste ihm beunruhigt die Faust unter das Schulterblatt. »Hör mal, mein Freund, wenn du mir keine Disketten bringst, was bringst du mir dann –?« »Er besorgt mir einen Feuerzugregler, einen ›Braukmann‹«, sagte der Genosse Roggenpfuhl. Ringsum erhellten sich die Gesichter. Anton Dolbutzer nickte erfreut. »Noch einen ›Braukmann‹!« »Den kannste mir geben«, bemerkte Didi, »schließlich bring’ ich deinen Wagen auf Vordermann.« »Der hat keinen großen Wagen«, zischelte das Mädchen in Schwarz, »nicht einmal am Himmel hat er ihn gefunden.« Anton Dolbutzer blickte freundlich in die Runde. »Vielleicht wol len Sie noch eine Runde ›Braukmanns‹ mit mir trinken –?« Als wäre eine Wolke über ein besonntes Rasenstück geglitten, so 73
verdunkelten sich die Mienen der Geburtstagsgäste wieder. »Wir sind hier alle gute Freunde«, sagte Su Allen mit einem hektischen Wimperflattern, »wir treffen uns, weil wir uns sehr mögen, nicht wahr? Mein Gott, wenn der eine oder andere einmal an etwas he rankommt, was der eine oder andere nicht hat, dann gibt der eine eben dem anderen. Was ist denn schon dabei!« »Tausche Mammut gegen Elefant«, sagte A und Vau, »alt gegen neu. Im Prinzip ist das alles gebraucht, was wir brauchen.« »Nächstenliebe«, sagte Didi, »wir sind für unsere sozialistische Menschengemeinschaft, herrgottnochmal!« Anton Dolbutzer lehnte sich, einen Halt suchend, an die Reling. Im gleichen Moment verspürte er einen heftigen Stich in der Len dengegend. Er verzog schmerzlich das Gesicht, was A und Vau zu der Bemerkung veranlaßte, er habe sich im vergangenen Jahr freiwil lig mit einer Summe an der Solidaritätsspendenaktion beteiligt. Ein Mann, den Anton Dolbutzer bisher nie wahrgenommen hatte, be teuerte unaufgefordert, er hätte das Haus ja zum Schätzpreis ver kauft, aber der Käufer hätte einfach nicht gewollt. Und wieder stach es. Anton Dolbutzer verzog abermals das Gesicht. Plötzlich ahnte er, was die Ursache war. In dem neuen Geburtstagshemd mußte noch eine Nadel stecken. Aber er konnte das Hemd jetzt unmöglich aus der Hose ziehen und danach absuchen. Er wäre auch so nicht mehr dazu in der Lage gewesen. Die Kellerbar schwankte wie ein echtes Schiff. Und es schien unterzugehen. An der Wand verschlang der große Hai die kleinen Fische. Anton Dolbutzer wußte nicht mehr, ob er noch drin saß oder be reits draußen im Meer davontrieb. Und es schwante ihm dunkel, daß irgendeiner heute Geburtstag hatte. Er wehrte nun energisch die Gläser ab, die ihm plötzlich alle reichen wollten. »Nein, nein, ich habe eine Mission zu erfüllen!« rief er, bemüht, die Worte nicht zu zerren. »Ich bin hierher gekommen, um einen Auftrag zu erledigen.« Die Gläser in den Händen der anderen zitterten, ja sie schepper ten beinahe. Karnickel-Heißenborn, Besitzer von Hasen-Manhattan, tanzte ganz allein vorbei und rief: »Hallo, Kommissärchen!« 74
Genosse Roggenpfuhls Gesicht färbte sich kalkweiß. »Wieso Kommissärchen?« flüsterte Didi. Karnickel-Heißenborn jazzte mit über dem Kopf erhobenen Ar men auf der Stelle. »Juhu! Er hat mir erzählt, er ist in einer Kommis sion.« Jemand stellte den Recorder ab. Jemand stellte ihn wieder ein. Jemand drehte die Musik noch lauter. »Den haben sie uns ...«, röchelte Didi und verstummte. Anton Dolbutzer bekam Wut auf seine Frau, weil sie neue Hem den nicht gründlich von Stecknadeln befreite. Und alle sahen es. Minuten später behauptete Didi, er sei aus der Werkstatt angeru fen worden, weil dort ein Sonntagsfahrer mit einer Panne stände. Su Allen bot sich an, ihm während der Reparatur die Schrauben schlüssel zu reichen. A und Vau spielte so echt einen Hexenschuß vor, daß er sich wirklich die Hüfte zerrte. Drei Gäste machten sich bereit, ihn nach Hause zu tragen. Der Genosse Roggenpfuhl beobachtete schreckensbleich die plötzlichen Aufbrüche. »Ihr könnt mich doch jetzt nicht allein las sen!« schrie er. »Ich bleibe da!« rief Anton Dolbutzer fröhlich, »mir gefällt es in Ihrem Schiff.« Ein Schweißfilm glänzte im Genick des Genossen Roggenpfuhl. Er suchte in allen Räumen seines gastlichen Hauses fieberhaft nach restlichen Gästen, um sie aufzuhalten. Karnickel-Heißenborn schwor Anton Dolbutzer, er verfüge nur über lächerliche drei Belgische Riesenschecken, so groß etwa. Die Nase zuckte nervös, aus dem geöffneten Mund grinsten zwei kräftige Vorderzähne. Seine Hand flächen fixierten das Maß der Riesenschecken vom Schwanzpürzel bis zu den Barthaaren. Doch Anton Dolbutzer hatte wieder mit seiner Stecknadel zu tun. Da beeilte sich Karnickel-Heißenborn zu sagen, nein, es seien nur Zwergkaninchen zum Spielen. Und die Handflächenabstände schrumpften zur Goldhamstergröße. Rück wärts gehend, immer auf Anton Dolbutzer starrend, wich er aus 75
dem Haus. An einem Tisch in der Diele saß jetzt der Genosse Roggenpfuhl mit geweiteten Augen. Auch sah es so aus, als wäre sein Vollbart in kurzer Zeit grau geworden. Hinter ihm stand Frau Roggenpfuhl, den Arm auf der Schulter ihres Mannes. Er legte beide Hände wie Teller vor das Gesicht. Überall lagerten leere Flaschen, Gläser und Speise reste. Das Haus roch nach Alkohol und verschwundenen Gästen. Es war nun sehr still. Langsam nahm der Genosse Roggenpfuhl seine Hände herunter, sah mit großer Anstrengung, aber gefaßt Anton Dolbutzer an und sagte dumpf: »Jetzt erfülle deinen Auftrag.« Anton Dolbutzer fingerte das Kuvert aus der Jackentasche und begann feierlich: »Im Namen der Parteileitung ...« Hier zuckte Frau Roggenpfuhl zusammen und heulte herzzerrei ßend auf. »... überbringe ich dir, lieber Genosse Roggenpfuhl«, fuhr Anton Dolbutzer fort, aber der Genosse Roggenpfuhl sauste aus dem Sessel hoch und schrie: »Roggenpfuhl –? Wieso Roggenpfuhl? Ich heiße Ambrosius!« Anton Dolbutzer ließ verwirrt das Kuvert aus der Hand fallen. »Ja, aber«, stotterte er, »der Kollege Flämig sagte doch –« »Wer ist der Kollege Flämig?« »Das ist der, der ins Theater geht. Das heißt, wir dachten, er geht ins Theater. Herrgott, wo sind denn die Blumen! Hab’ ich sie bei ihm –?« Er begann, nun völlig konfus geworden, in seinen Hosentaschen nach den Tulpen zu suchen. Ambrosius ließ sich wieder in den Sessel fallen und zitterte am gesamten Leib vor plötzlich ausbrechender Freude. »Du mußt entschuldigen, Genosse Roggenpfuhl«, murmelte An ton Dolbutzer – »Ich sagte doch, ich bin Ambrosius«, jubelte Ambrosius, »Amb rosius! Ambrosius! Roggenpfuhl wohnt zwei Häuser weiter, Herr Kommissar. Was hat er denn ausgeheckt?« Anton Dolbutzer erhob sich mit einer leichten Verbeugung. »Ich bin nur Dolbutzer. Dolbutzer aus der Verwaltung. Kommissare füh ren wir dort nicht. Wie spät ist es denn? Um Himmels willen, schon 76
zehn, ich muß zu meiner Frau. Wir wollten noch Kuchen essen. Und ich muß zum Genossen Roggenpfuhl, Geburtstagsglückwünsche überbringen. Was soll die Kommission von mir denken. Da hatte doch noch irgendeiner Geburtstag ... Und meine Kakteen –« Ambrosius’ zusammengerutschte Gestalt wuchs aus dem Sessel. Er starrte Anton Dolbutzer erneut verunsichert an. »Kommission –?« »Kommissionsmitglied!« »Also doch!« »Was also doch? Ich bin für die Glückwünsche eingesetzt, viel leicht, weil ich so danach aussehe«, sagte Anton Dolbutzer mit trau rigem Gesicht. Ambrosius prüfte, ob Anton Dolbutzer so aussieht. Er war nicht restlos überzeugt. »Und was bedeutet das, Kakteen?« Anton Dolbutzer wurde lebhaft. »Sie bedeuten mir viel. Da ich mit meiner Frau allein lebe, konnte ich das Kinderzimmer bis zur Decke mit Regalen ausfüllen. Und so stehen sie nun alle, meine Opuntia tunicata, Etus denudatus oder die wunderschöne Mammil laria bocasana ...« Anton Dolbutzer lauschte voller Wonne diesen Klängen nach, und er tat einen tiefen Seufzer. Es war eine Weile still. Dann fragte Frau Ambrosius: »Wieviel werfen die denn so ab, Herr Dolbutzer?« »Bei regelmäßigen klimatischen Bedingungen und richtigem Standort werfen sie schon kleine Senker ab«, erwiderte Anton Dol butzer, »das hängt aber –« »Wir meinen Kies, Schrot, Moneten«, sagte Ambrosius. Anton Dolbutzer legte die Hände flach aneinander und blickte träumerisch nach oben. »Ich mache das aus Spaß an der Freude«, sagte er leise. »Was denn! Nur für Sie –?« entfuhr es Ambrosius. »Ja, nur für mich. Wenn sie nach all der Mühe blühen, ist es für mich das Schönste, was es gibt.« »Aber – lohnt sich denn das?« fragte Ambrosius ungläubig. »Es lohnt sich«, bestätigte Anton Dolbutzer. »Diese wundersa men Farben!« Auch Anton Dolbutzers Augen leuchteten wundersam, und die 77
Schultern hingen ihm nicht mehr herab. Schon dieser Begeisterung und nicht eines Autogrammes Lutz Jahodas wegen schien seine Mitgliedschaft in der Kulturkommission des Betriebes berechtigt zu sein. – »Ich muß jetzt gehen«, sagte er. »Zu Hause, wissen Sie, da sind nur meine Frau und ich und ich und meine Frau, ja ... Und Ihre Freunde sind ja auch schon fort.« »Ach, Freunde ...«, sagte Ambrosius und schwieg. »Erzähle lieber weiter. Erzähle, wie das ist mit dem Spaß an der Freude. Wie hieß doch gleich dieses Wort? Ja, richtig: wundersam.« Ambrosius und Frau besahen ihn staunend wie einen Fremden aus einem ganz anderen Land. Und Anton Dolbutzer aus der Materialverwaltung hub an zu er zählen.
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FRÜHLING IM ALLGÄU
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Am Mittwoch gab der Alte während einer Leitungssitzung unter vorgehaltener Hand bekannt, daß Anfang nächsten Monats eine Persönlichkeit sich zwei Tage lang über die Produktionsergebnisse und das Wohlbefinden der Betriebsangehörigen informieren will. Es war Herbst, das Jahresplanende drohte. Die urlaubssatten Gesichter der Leitungsmitglieder färbten sich vom Braun in ein leichtes Asch grau. Bereits ab Mittag wurden im Betriebsgelände Arbeitsplatzkontrol len abgehalten und für die vorausgesagten zwei Tage der Speisenplan der Werkküche erweitert auf Wildschweinkammsteak mit Pfirsichkompott. Der erschrockene Koch bekam den Auftrag, Ver bindungen zu einer Jagdgesellschaft in Mecklenburg aufzunehmen und dabei die Ferienbungalows des Betriebes geschickt zu erwäh nen. Ein mit Notizblöcken bewaffneter Spähtrupp stieß bald in alle Bereiche vor und registrierte Spinnweben, abgebröckelten Putz, heruntergekommene Farbanstriche, verrostete Eisenträger. Der Pförtner Emil Knedel wurde aufgefordert, sein Fenster zu putzen, damit zu sehen war, daß er noch dahinter sitzt. Allen Leitungsmit gliedern wuchsen Blasen an den Füßen, als sie bis in die entlegens ten Abteilungen rannten und den Kollegen an ihren Maschinen mit großer Herzlichkeit sagten, daß sie sich bald wohl befinden sollen. Im Betrieb tuschelte man, eine Persönlichkeit hätte sich angekün digt. Aber dies wurde öffentlich als Gerücht bezeichnet, und so wußten alle, daß es stimmt. Im Lagebericht zeigten sich dann 25 verrostete Eisenträger, 433 Quadratmeter abgebröckelter Putz, 3 Löcher und mehrere Innenfassaden mit verblichener Farbe. Die Spinnweben konnten durch ein Rollkommando mit verlängerten Besenstielen sofort beseitigt werden. Ansonsten sah der Betrieb gut aus. Von außen. Nur das Eisengeländer vor dem Haupteingang brauchte dringend Lackfarbe. Aber es goß seit zwei Tagen ununter brochen. So sahen vorübergehende Straßenpassanten bald drei Arbeiter des Betriebes im strömenden Regen dem Geländer ein deftiges Fahnenrot geben. Der erste befummelte das Rohr mit einem Lappen, der zweite pinselte dichtgedrängt hinter ihm über die trok kene Stelle, der dritte sicherte beide mit einem Regenschirm ab. Eiskegler hätten an dem, der mit dem Lappen die Fläche befummel 81
te, ihre helle Freude gehabt. Währenddessen erarbeitete der Leiter der Abteilung Betriebs handwerker eine mögliche Wegestrecke. Es stellte sich aber heraus, daß es fast nur unmögliche gab. So schlug denn eine Restaurations brigade, bestehend aus Malern, Maurern und Schlossern, eine blitz blanke Bresche, durch welche man später die Persönlichkeit ratio nell leiten konnte. Um das Wohlbefinden zu präsentieren, plante die Leitung auch zwei offizielle spontane Familienbesuche der Persön lichkeit ein. Nach sorgfältiger Auswahl kam ein E-Schweißer na mens Barth in Frage, der sich in einem offenen Brief zur Einhaltung der Arbeitszeit bekannt hatte. Außerdem spie die Lochkarte des Computers den verantwortlichen Ingenieur Wilhelm Kachelmeier aus, durch dessen wirtschaftliche Erfahrung und kultivierte Aus sprache, er beherrschte ein gehobenes Sächsisch, man einen gelun genen Abschlußeindruck erhoffte. Der Ingenieur lebte mit Frau, Sohn, Schwiegermama, Pudel und einem Schwarm Black Mollys in einer vierräumigen Wohnungseinheit. Sie befand sich in einem grauen Betonblock, der im Vergleich zu den anderen grauen Blöcken ringsum als einziger quer stand und so schon systembewußte Besu cher erschreckt hatte. Als Wilhelm Kachelmeier erfuhr, er bekäme in zwei Wochen den spontanen Besuch einer Persönlichkeit, hieb er soeben, umsorgt von allen Familienmitgliedern, einen Nagel einigermaßen in die Wand. Daran aufgehängt sollte der »Frühling im Allgäu« werden, das Ge schenk eines Onkels aus Hamburg. »Nun also nicht«, sagte Wilhelm Kachelmeier und betrachtete den Nagel, der ihn wie ein leicht nach oben gekrümmter Zeigefinger heranzuwinken schien. Er rüttelte daran. Aber seine Familienmit glieder hinderten ihn an dem frevelhaften Versuch, seine eigene Arbeit in Frage zu stellen. »Vielleicht gefällt dem Herrn Ministrant das Bild, und er be kommt Lust, dorthin zu fahren«, überlegte die Oma. Wilhelm Kachelmeiers Augen vergrößerten sich. »Um Himmels willen, wieso Ministrant?« »Weil ich es mir so denke«, beharrte die Oma, »bei Staatsbesu chen ist es immer ein Ministrant.« 82
»Du meinst einen Minister«, belehrte sie Frau Kachelmeier. Die Oma sah kopfschüttelnd ihre Tochter an. »Der ist doch be stimmt kein Minister mehr«, widersprach sie voller Überzeugung, »der ist schon lange zum Ministrant befördert worden!« Der »Frühling im Allgäu« wurde mit dem Gesicht nach unten auf den Kleiderschrank gelegt. Aber der Nagel an der Wand winkte weiter, und es sah zeitweilig so aus, als drohe er. »Jaja, früher gab es viele solcher Nägel an der Wand, und unser einer wußte gleich, wer da dort an der Wand gehangen hatte und im Koppe der Leute gewesen war«, erinnerte sich die Oma. Wilhelm Kachelmeier verlor seine gesunde Gesichtsfarbe. Sofort rief er die Verkaufsgalerie in der Bahnhofsstraße an und fragte, ob sie ein Porträt von Iljitsch Lenin hätten. Das Telefon zischte und brutzelte wie eine Bratpfanne. »Ja«, erwiderte die Verkäuferin, »das haben wir.« Noch in derselben Stunde sandte Kachelmeier seinen Sohn los, das Zurückgelegte zu holen. Doch es stellte sich ein Mißverständnis heraus: Die Verkäuferin hatte statt Iljitsch Lenin Ilja Repin gehört. Und so starrten alle Kachelmeiers erstaunt auf ein Bild, welches »Wie die Saporosher Kosaken einen Brief an den Türkensultan schreiben« hieß. Dem Sohn gefiel das Bild, weil es so viele Möglichkeiten des La chens zeigte, wie er Möglichkeiten zur Humorlosigkeit in der Fami lie kannte. Die Black Mollys benahmen sich unbeteiligt. Der Pudel hielt den Rahmen seiner hellbraunen Farbe wegen für Bratwürste. Er heulte sehnsüchtig nach oben. Frau Kachelmeier fand, daß diese wilden Gestalten nicht zum gemütlichen Stil des Wohnzimmers paßten. Die Oma nannte einen kahlgeschorenen halbnackten Kosa ken lustvoll ein Ferkel. »Es ist nicht Lenin«, bemerkte Wilhelm Kachelmeier enttäuscht, »aber Lenin hätte seine Freude daran gehabt, sähe er es hier.« »Und es ist russisch. Also immerhin bestens für den Besuch ge eignet«, lenkte Frau Kachelmeier ein. »Dann kommt dein Ministrant aus Moskau!« rief die Oma über rascht. »Ganz im Gegenteil«, sagte Wilhelm Kachelmeier, »aus Berlin.« 83
Und damit war die Kunstdiskussion beendet. Zwei Tage später erschien ein Mann und prüfte die Lichtverhält nisse im Wohnzimmer. »Wenn Sie dann dorthinten sitzen, werden es klare Fotos. Aller dings müßten die Biergläser und Kognakschwenker aus der Schrankwand verschwinden, Sie wissen ... Vielleicht haben Sie einige Wimpel, Auszeichnungen durch den Betrieb und so?« »Fotos?« stammelte Wilhelm Kachelmeier. »Ja«, sagte der Lichtausgucker, »er wird wohl gern eine Erinne rung haben wollen. Und Sie doch bestimmt auch? Und wir von der Zeitung sowieso.« Sein Blick schweifte über die Männer, die einen Brief an den Türkensultan verfertigten, und diese Szene strahlte derartig auf ihn aus, daß er die Zusatzfrage stellte: »Fahren Sie einen Sapo?« Wilhelm Kachelmeier hatte nicht zugehört. Fotos für die Zeitung, geisterte es in seinem Kopf. Er ahnte, etwas Unfaßbares kroch auf ihn zu. Bis zum angekündigten Besuch in Familie verblieb noch eine Wo che Zeit. Wilhelm Kachelmeiers Schritte wurden raumgreifender und bekamen einen festgefügten Rhythmus. Als liefe er eine Eskor te aufgereihter Männer entlang, darauf bedacht, die Gangart einer schräg vor ihm defilierenden Persönlichkeit einzuhalten. Frau Ka chelmeier gelang es, für sich und ihre Mutter das Bollwerk der Be stellungen beim Friseur zu durchbrechen und einen Tag vor dem Tag unter die Haube zu kommen. Frau Kachelmeier zusätzlich noch unter die Hände der Kosmetikerin. Denn es ging das Gerücht um, die Persönlichkeit sei noch nicht zu alt. Indessen begann Wilhelm Kachelmeier das Wohnzimmer vorzubereiten. Die Schrankwand wurde entalkoholisiert und mit einigen Wimpeln – Leihgaben des Betriebes – beflaggt. Der Pudel erhielt ein rotes Halsband. Nur die zahlreichen Black Mollys im Aquarium ließen sich farblich nicht verändern. Wilhelm Kachelmeier hatte eine kleine Auseinanderset zung mit seinem Sohn, der zu Ehren der Persönlichkeitserscheinung eine Plakette am Pullover tragen wollte: Albert Einstein mit heraus gestreckter Zunge. Er befürchtete, die Persönlichkeit könne dies für eine Beleidigung halten und ohnehin bestimmt mehr die Realitäts 84
theorie als die Relativitätstheorie kennen. Sie hätten lieber ihre Oma beobachten sollen, die während dieser Zeit frei im Wohngebiet herumlief und allen freudig erzählte, es streife bald einer, der mehr als ein Minister wäre, vor ihrer Wohnungstür die Schuhe ab. Die erste Verwunderung erlebte Wilhelm Kachelmeier, als er im Wohngebiet die Vorfahrt erhielt, wo er gar keine hatte. An einer Straßenkreuzung leierten die von rechts Einbiegenden ihr Fenster herunter und gaben ihm mit weiten Armbewegungen zu verstehen, wer hier ihrer Ansicht nach der Übergeordnete ist. Am Sonntag marschierte Elektromeister Amperger überraschend an der Hausfrau vorbei resolut ins Bad, wechselte die schon ein halbes Jahr ver schmorte Steckdose aus und erwähnte dabei sehr laut, man müsse einer höhergestellten Persönlichkeit einmal sagen, daß die Repara turwerkstatt für das Wohngebiet viel zu klein sei und mehrere Ein gaben diesbezüglich von tiefergestellten Persönlichkeiten bisher ignoriert wurden. Wilhelm Kachelmeier wollte soeben das ordnungsgemäße An bringen der Steckdose bewundern. Nun aber schlich er rückwärts ins Wohnzimmer. Dort saß er wie erstarrt und dachte über das Verhältnis von höhergestellten und tiefergestellten Persönlichkeiten nach und wie es ist, wenn man zwischen zwei Mahlsteine gerät und zu Schrot, möglicherweise zu Schrotkugeln verarbeitet wird, die dann jemand auf ein Ziel abschießt. Am Nachmittag klingelte eine Abordnung der Wohnblöcke I bis IV bei ihm und forderte schamlos, er solle doch bitte während der Begegnung erzählen, seit Bezug der Wohnungen vor zwei Jahren seien noch immer keine Gehwegplatten zu den Haustüren vorhan den. Deshalb versänken die Bürger bei Regen im Schlamm, und bei Trockenheit erstickten sie im Staub. Montags nach der Arbeit lauerten ihm die Bewohner des Blockes VIII, dem er zu allem Unglück selber angehörte, vor der Grünfläche auf und sagten ihm, er möchte doch beiläufig einmal die durchlö cherten Dachrinnen zeigen oder ihn – wenn es zum Zeitpunkt des Besuches gießen sollte – wie aus Versehen unter das herabschie ßende Wasser stellen. Auf dem Weg zu seiner Garage wurde er von einer Horde jugend 85
licher Motorradfahrer eingekreist, die ihm zuriefen, jetzt, wo er ein Staatstyp sei, könne er doch bestimmt den Stadtboß weich kneten, die Gaststätte »Gesellschaftliches Zentrum« wieder in »Stadt Wien« umzuflocken. Bei »Gesellschaftliches Zentrum« dächten die meisten Fans, vor jedem Vergnügen werden sie erst durch ein Referat ange macht, und blieben deshalb gleich ganz weg. Am heftigsten jedoch traf es Wilhelm Kachelmeier bis in sein In nerstes, als er beim Autowaschen nichtsahnend von einer Kinder gartengruppe überfallen wurde, die, angeführt von ihrer Hortnerin, mit hohen Stimmchen sang: »Alle meine Entlein
schwimmen in dem See,
doch freute es uns Kindlein,
wir hätten selber ein’.
Dann könnten wir drin planschen.
Oh, das wäre fein!«
Böswilligerweise hatte die Hortnerin alle Kinder mit den größten Augen in die vorderste Reihe gestellt. Wilhelm Kachelmeier kniete vor Plasteimer und Auto. Während er verkrampft lächelnd den Kindern winkte, entschloß er sich, den Kühlschrank so voller Spei sen und Getränke zu stopfen, daß er bis zur Ankunft der Persön lichkeit die Wohnung nicht mehr zu verlassen brauchte. Das Volk – vom betagtesten Alten bis zum unschuldigsten Kind – verfolgte ihn mit hoffnungsvollen Blicken, auch, wenn er schon im Bett lag und die Zudecke fest über das zerquälte Hirn zog. Im Dunkel seines Bettes veränderten sich die Abstufungen. Was um Gottes willen ist nun eine höher-, was eine tiefergestellte Persönlichkeit? Sein Werk direktor zeichnete für die Funktion des Vorsitzenden des Stadtaus schusses der Nationalen Front verantwortlich, wie es kürzlich in einem lokalen Kreiszeitungsbericht hieß. Er war also für ihn eine höhergestellte Persönlichkeit hoch zwei. Er selber, Wilhelm Ka chelmeier, wartete sehnlich auf die Rente. Nicht auf seine, sondern auf die des technischen Direktors im Betrieb. Er konnte doch nun nicht zum Werkdirektor gehen und ihm sagen, daß sie im Schlamm 86
endeten! Oder von oben absoffen! Oder »Wien« wiederhaben woll ten! Wie aber jetzt, wenn die Persönlichkeit fragte, ob er sich hier wohl fühle? Freilich, hin und wieder gab es etwas zu meckern, aber im Grunde genommen fühlte man sich wohl. Es kam ja immer dar auf an, wer fragt. Er hatte seine schöne Wohnung, seinen ge schmückten Balkon und gemüsesicheren Schrebergarten. Was zum Teufel gingen ihn da defekte Dachrinnen an, fehlende Gehwegplat ten und Kinderplanschbecken? Auch er mußte dieses Jahr auf seinen Platz am Balaton verzichten! Je wohler man sich fühlte, um so mehr freuten sich die Vorgesetzten. Und über den sie sich freuten, den wollten sie in ihrer Nähe haben. Nun aber blieben all diese Löcher und Schlammwege, diese gesellschaftlichen Zentren, und sogar die Kinderlein kamen. Wilhelm Kachelmeier brütete in Schweiß geba det. »Wilhelm, es hat geklingelt«, sagte seine Frau. »Ich habe nichts gehört!« rief er, »nein, nein, ich höre nichts mehr!« «Aber jetzt hast du gehört, wie ich sagte, es hat geklingelt«, wunderte sich seine Frau. »Somit mußt du auch die Klingel ver nommen haben.« »Ich sah nur, wie du die Lippen bewegtest«, erwiderte Wilhelm Kachelmeier, »ich bin völlig taub.« Als es ein zweites Mal klingelte, ging seine Frau zur Tür. Doch er wich bis in die entlegenste Vorsaalecke zurück, hielt sich die Ohren zu und befahl: »Schicke diese Leute da draußen fort, schicke sie auf der Stelle fort!« – Es war die Nachbarin mit der Frage, ob sie ein Brot übrig hätten. Alle Kachelmeiers standen danach im Vorsaal und betrachteten verwundert ihr Familienoberhaupt. Das nahm die Hände von den Ohren und flüsterte: »Na, was hat sie zu klagen –?« »Wilhelm, was ist mit dir!« rief Frau Kachelmeier besorgt. »Gar nichts. Du brauchst dir keinen Kopf zu machen. Ich mach’ mir auch keinen mehr. Es ist besser, sich keinen Kopf zu machen. Vergangene Nacht träumte ich, ich sei Robespierre. Und die Hinrich tung fiel aus, weil sie keinen Kopf an mir fanden.« Er lachte hyste risch. »Huuh, red nicht weiter!« jammerte die Oma. 87
»Kein Kopf – kein Denken«, sagte er glücklich, »ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich ihm alles mitteilen sollte. Es ist weg!« »Aber ich weiß es noch. Mir haben sie es auch erzählt«, tröstete die Oma ihn, »ich bin ja bei dir, und ich werde dich im richtigen Moment daran erinnern. Ich weiß sogar noch vieles andere. Der Herr Ministrant wird staunen!« Wilhelm Kachelmeier wies schweigend in das Wohnzimmer, schloß die Tür hinter seinem Rücken und stellte sich bebend vor den Familienmitgliedern auf. »Dein Ministrant kommt zu mir«, sagte er laut und langsam wie ein Professor, der seinen Studenten einen wichtigen Lehrsatz eintrichtern will. »Wenn du das Maul aufmachst, dann höchstens zu deinen Rentnertreffen, aber nicht hier! Es hat schon genug Bittsteller in dieser Woche gegeben.« »Bittsteller?« wiederholte die Oma verwundert. »Das heißt an ders. Soviel ich weiß, nennen sie das Eingaben. Der Herr Ministrant wird sich sogar darüber freuen. Wir setzen ihn dort aufs Sofa, ste cken ihm ein Kissen hinter den Rücken, und wenn er dreckige Schuhe anhat, kriegt er Pantoffel. Du wirst sehen, wie schön locker er sich dann deine Beschwerden zu Herzen nimmt.« »Einen Staatsvertreter läßt man auch mit Schlammbatzen an den Schuhen auf den Teppich – wenn es sein muß«, erklärte Wilhelm Kachelmeier erschrocken. »Jawohl«, ergänzte Kachelmeier junior, »und sagt ihm dabei, das kommt davon, weil die Gehwegplatten fehlen.« Frau Kachelmeiers häusliche Fähigkeiten erwachten angesichts der allgemeinen Vorfreude. »Ich backe einen Apfelstrudel«, sagte sie, »wenn was auf dem Teller bleibt, geben wir ihm den Rest mit.« Wilhelm Kachelmeier blickte selbstmörderisch in das Pflanzen gewirr seiner Black Mollys. »Du gibst mir auch den Rest«, stöhnte er. Dann trat er an die Schrankwand und suchte mit zitternder Hand eine Kognakflasche. Aber er hatte ja die Wand entalkoholi siert. Einen Tag vor dem Ereignis des spontan geplanten Besuches fuhrwerkte urplötzlich eine Malerbrigade vom Parterre bis in die erste Etage, wo Kachelmeiers wohnten. Stilvoll wurden Decke, Wände und Geländer des Treppenhauses abgetönt. Kachelmeiers 88
Vorsaaltür erhielt von außen einen schnell trocknenden Anstrich. Nachbars gegenüber kamen mit ihrer Tür unschuldig in denselben Genuß. Die Maler pinselten noch ein bißchen in die zweite Etage, soweit man sehen konnte, und verschwanden, wie sie gekommen waren, urplötzlich. Wilhelm Kachelmeier kehrte erst im Dunkeln nach Hause, damit er dem Auge des Volkes nicht in die Netzhaut lief. Er stutzte beim Anblick des Treppenhauses und trat ins Freie, um den richtigen Eingang zu suchen. Sein Magen krampfte leicht der überraschenden Betriebskost wegen. Pfirsichkompott und Rehragout – mecklenbur gische Wildschweine waren ausverkauft – drückten gegen seine kurzen Rippen. Er hatte heute im Betrieb die Persönlichkeit gesehen, die gar keine war, sondern eine, welche die Stelle vertrat, wo eine andere Persönlichkeit aus Zeitgründen und infolge menschlicher Leistungsgrenzen nicht auch noch stehen konnte. Im Wohnzimmer überprüfte Wilhelm Kachelmeier den derzeiti gen Stand in seiner Welt, rückte die Wimpel augengefälliger, probte die Sitzordnung: dort die nunmehr stellvertretende Persönlichkeit, neben ihm, gewissermaßen in vertraulicher Position, er, Frau und Sohn gegenüber, durch den Tisch ranglich getrennt, die Oma etwas tiefer auf dem Hocker und so abgeschirmt, daß es ihr schwer wurde, verheerend in das Gespräch einzugreifen, der Pudel als eine verklei nerte Art Windspiel malerisch vor seinen Füßen. Die Saporosher Kosaken überhöhten das Ganze in Optimismus. Wilhelm Kachel meier gab seinem Sohn Anweisungen: »Du sprichst nur, wenn du gefragt wirst. Und höre genau zu, welche Antwort gewünscht ist. Hast du ja in der Schule gelernt.« Für seine Frau fügte er hinzu: »Und du behältst die Oma im Auge. Sobald sie Anstalten macht, unseren Frieden zu stören, befiehlst du ihr, hinauszugehen und den Apfelstrudel in Stücke zu schneiden, aber in kleine gleichschenklige Dreieckformen, damit sie recht lange vom Schuß bleibt. Ach herrje – !« Wilhelm Kachelmeier schlug sich entsetzt an die Stirn. »Was ist denn überhaupt in der Welt los? Gab es irgendwelche Beschlüsse? Wo sind denn die En Des?« »Hat Oma um die Tomatenpflanzen auf dem Balkon gewickelt. 89
Nachts ist es noch zu kalt«, erklärte Kachelmeier junior. »Lauf hin und wickle sie alle ab. Hast du verstanden, alle! Und glätte sie schön, damit mir ja keine Zeile verlorengeht«, sagte Wil helm Kachelmeier, und er hätte sich beinahe bekreuzigt. Nun kämpfte er sich am Vorabend verbissen durch ein ihm un bekanntes Gebiet, die Politik. Ab und zu lauschte er besorgt in den restlichen Teil der Wohnung, forschend, wo sich die Oma befindet. Sie hatte den ganzen Tag so geguckt, als wollte sie die »Saporosher« gegen den »Frühling im Allgäu« auswechseln. Die Persönlichkeit, welche die eigentliche Persönlichkeit stellvertrat, kam nachmittags gegen drei. Eine Kavalkade von Autos kurvte zwischen die Wohnblöcke, und Frau Kachelmeier sah sofort mit Schrecken, daß der Apfelstrudel nicht reichen wird. Viele der Männer aber, die sich im besten Alter und bei guter Fitneß befan den, so aussahen wie gute Esser, blieben vor dem Block oder im Treppenhaus. Wahrscheinlich gefiel ihnen die frische Malerei. Wil helm Kachelmeier fegte noch einmal durch die Wohnung und blieb wie versteinert beim Anblick einer sehr bunten und umfangreichen Illustrierten stehen. Die hatte eine Freundin der Oma von einer Reise mitgebracht und ihr zum Angucken geliehen. Wilhelm Ka chelmeier verlor in letzter Sekunde die Nerven. Nie wäre er vorher auf die Idee gekommen, Szenen aus Fernsehkrimis anwenden zu müssen. Im klassischen Doppelnelson – Arme unter ihre Achseln, gefaltete Hände ins Genick – schleppte er seine Schwiegermutter in ihr Zimmer. Dort fesselte er ihr mit herumliegenden Gürteln die Beine und Arme, nahm ein Handtuch und knebelte ihr damit wie ein alter Professioneller den Mund. »Du zwingst mich dazu!« zischte er. »Kriegst dafür was Schönes zu Weihnachten.« Dann sprang er noch im rechten Moment hurtig in den Vorsaal und streckte beide Hände dem Gast entgegen, als träfe er auf einen längst verschollen geglaubten Schulfreund. Die Persönlichkeit war ein mittelgroßer Mann mit leicht ange grauten Schläfen. Sie sah beim Sprechen allen klar in die Augen, eben wie einer, der schon vielen in die Augen sehen und sich dabei schnell einen Vers machen mußte. Sie lächelte ein bißchen verlegen 90
und gewann dadurch sofort die Sympathie von Frau Kachelmeier. Hinter ihr drängten noch einige Leute in das Wohnzimmer: zwei Vertreter des Betriebes, die in der Leitung und der Betriebszeitung über das gelungene Abschlußgespräch berichten sollten, das in herz licher Atmosphäre stattfand; ein Vertreter des Kreises mit besorgten protokollarischen Gesichtszügen und der schon bestens in der Fami lie Kachelmeier bekannte Reporter, welcher mit Befriedigung die Wimpel in der Schrankwand erkannte. Wilhelm Kachelmeiers Sitz ordnung kam durcheinander. Ein Glück, daß der Hocker für die Oma nun frei war. Der Pudel entwich durch die vielen Beine in die Küche. Als einer der Betriebsvertreter an das Aquarium stieß, schwappte das Wasser, und die Black Mollys gingen auf Tauchtiefe. Schließlich saßen alle, und die Persönlichkeit äußerte sich sofort erfreut über die Saporosher Kosaken. Sie sagte, in der gesamten Weltmalerei gäbe es nicht noch einmal solch ein Beispiel unter schiedlichsten Lachens. Dies wäre verbildlichte Volkstümlichkeit. Die beiden Berichterstatter hatten nicht verbildlichte, sondern vor bildliche verstanden und notierten sich dies mit dem Hinweis für einen eventuellen Aufruf an alle Volkskunstkollektive. Die Persön lichkeit fragte Wilhelm Kachelmeier, woher er das Bild habe, und der hätte beinahe, verwirrt ob dieses Anfanges, erwidert, es sei das Geschenk eines Onkels aus Hamburg. Doch im richtigen Moment brachte seine Frau den Apfelstrudel und Kachelmeier junior zwei dampfende Kannen Kaffee. Die Persönlichkeit lobte bereits den Geruch, sah aber dabei heimlich auf ihre Uhr. Sie fuhr heute abend noch nach Berlin zurück. Morgen früh mußte eine finnische Delega tion empfangen werden. So war sie freundlich, aber eben ein biß chen schnell. Lange tiefgründige Antworten machten sie ungedul dig. Deshalb gab sie gleich selber welche: »Und wie geht es Ihnen und Ihrer Familie, Frau Kachelmeier? Wie bist du mit deiner Arbeit zufrieden? Gibt es Erfolge? Sehr schön, ich sehe es im Schrank. Und das ist also der Sohn. Sechste Klasse, aha. Macht das Lernen Spaß?« Kachelmeier junior sah seinen Vater an. Kachelmeier senior gab durch Kopfzeichen die Genehmigung, und der Sohn sagte: »Nicht immer.« 91
»Nicht immer«, rief Wilhelm Kachelmeier schnell, »gibt es für uns einen solchen Tag wie den heutigen!« »Für mich auch nicht«, gestand die Persönlichkeit. »So einen ge lungenen Apfelstrudel habe ich noch nie gegessen. Kompliment der Hausfrau.« Frau Kachelmeier strahlte, obwohl sie nicht ganz konzentriert war. Sie ärgerte sich über die Oma, die bestimmt wieder vom Bal kon aus einen Wohngebietsklatsch mit ihren Klubfans der Volksso lidarität führte. Die Persönlichkeit saß bequem, der Kaffee baute sie wieder auf. Die Anstrengung der letzten zwei Tage im Betrieb – Hände schüt teln, Ruhe und Optimismus ausstrahlen, winken, befragen und erörtern – wich nun endlich von ihr. Sie fühlte eine Freude, die sie nicht deuten konnte und die wohl damit zusammenhing, daß sie in einer behaglichen Wohnung Gast einer Familie war. Und dieser Zustand erinnerte sie an die ihrige, die sie morgen abend endlich wiedersehen konnte. Bis dahin durfte sie nicht müde sein. »Schön habt ihr euch eingerichtet«, sagte sie. »Ja, wir nutzen jede Möglichkeit, uns konsequent zu verwirkli chen«, entgegnete Wilhelm Kachelmeier, und er ließ noch ein biß chen den Mund offen, staunend, was da eben aus ihm gekommen war. Die Persönlichkeit verfolgte eine Weile den Demonstrationszug der Black Mollys. »Bist du Aquarianer?« »Das nicht«, sagte Wilhelm Kachelmeier, »aber ich habe eine große Wertschätzung dafür und Maßnahmen eingeleitet, meine Anstrengungen in diese Richtung zu intensivieren.« »Na, na, mußt du ja nicht«, beschwichtigte sein Gast, wenn’s dir nur so Freude macht.« »Konstruktiv«, bestätigte Wilhelm Kachelmeier. Und wieder war er fassungslos. Woher das nur? »Wie ich sehe, liest du sehr genau unser Organ«, sagte die Per sönlichkeit und wies dabei auf den Stapel total zerknitterter En Des, die im Fach unter dem Fernseher lagen. »Effektiv und konsequent«, erwiderte Wilhelm Kachelmeier. Da wußte er auf einmal, weshalb er so redete. Fünf Stunden Lektüre bis zur körperlichen Erschöpfung hatte gestern sein Hirn verarbeiten 92
müssen. »Das heißt also, du liest auch noch die Redaktionsanschrift mit«, stellte die Persönlichkeit fest und begann darüber laut zu lachen. Wilhelm Kachelmeier lachte zur Vorsicht ebenfalls. Auf diesen Moment wartete der Fotoreporter schon lange. Mehrmaliges Wet terleuchten blitzte für Sekunden in der guten Stube auf. Danach packte er seine Zusatzgeräte zusammen und verließ unauffällig das Zimmer, denn er hatte es wie die Persönlichkeit auch eilig; Er mußte noch zu einem nächsten Lachen. Die Persönlichkeit bemerkte den Weggang, der sie an ihren not wendigen Abschied erinnerte. So stand sie zunächst erst einmal auf und trat an das Fenster. Wilhelm Kachelmeier in Staffelform mit ihr. Über den Blöcken lockte in der Ferne ein dahindämmernder Wald. Die Persönlichkeit wußte nicht, wann sie zum letzten Mal in einem solchen spazierengegangen war. Sie blickte voller Sehnsucht dort hin. Hinter ihr benutzten die zwei Betriebsvertreter den günstigen Augenblick, sich unbemerkt ein paar Notizen zu machen für die Berichterstattung. Das fiel ihnen schwer. Sie wußten nicht, wie man über Zierfische und Apfelstrudel zum gewünschten Thema, das ja in herzlicher Atmosphäre behandelt worden sein mußte, kommen sollte. Aus einem entfernten Raum der Wohnung erklangen merkwür dige Töne. Als schreie jemand in ein Kissen. Wilhelm Kachelmeier starrte angstgepeinigt zur Straße hinunter. Schweiß befeuchtete seinen Nacken. Er glaubte dort unten die dunklen Schatten von Menschen zu erkennen, die hoffnungsvoll zur Wohnung hochsahen und unbarmherzig von ihm erwarteten, er solle für sie auf die kommunalpolitische Barrikade gehen, abstürzen und sich die Ent wicklung zum Technischen Direktor verstauchen. Die Persönlichkeit roch im Moment Fichtennadeln, Buchenlaub und Pilze in der Ferne und war ein glücklicher Mensch. Dann hüs telte der protokollarische Begleiter, und sie riß sich los. Doch Frau Kachelmeier fragte genau in dem Augenblick, wie es ihr so gehe. Die Persönlichkeit, die sich eben verabschieden wollte, hielt länger als beabsichtigt Frau Kachelmeiers Hand und sagte, sie habe ein biß chen mit dem Kreislauf zu tun. Sie sagte es so, wie es Kachelmeiers 93
Nachbarin nicht anders hätte sagen können, und die zwei Berichter statter klappten erschrocken ihre Notizbücher zu. Im Vorsaal deutete die Persönlichkeit an, sich noch erfrischen zu wollen. Sie ging auf eine Tür zu, hinter der seltsame dumpfe Heullaute erklangen. Wilhelm Kachelmeier hüpfte zwischen Tür und Persönlichkeit. »Nein, nein, das ist der Hund! Dort bitte.« Dann warteten sie schweigend im Vorsaal und lauschten der Spü lung. Die zwei Berichterstatter staunten erneut, weil sie eine Persön lichkeit noch nie aus der Toilette kommen sahen. Nach frischer Seife duftend, bedankte diese sich dann bei der Hausfrau und wurde nun doch etwas offiziell. Sie wünschte Erfolg, Wohlergehen und Schaffenskraft für die gemeinsame Sache. Sie gab das auch Kachel meier junior auf den Weg. Der fragte ermutigt und völlig unerlaubt: »Soll ich nun die En Des wieder um die Tomatenpflanzen wickeln, Vati?«, Wilhelm Kachelmeier fühlte sich so schwer nach unten sa cken, daß er schmerzhaft seine Senkfüße bemerkte. Er lachte in ganz kleinen Dosierungen. Es waren Miniaturschreie. Die Persön lichkeit begriff sekundenlang nichts. Nachdem sie begriffen hatte, verlängerte sie künstlich ihre Begriffsstutzigkeit. Schließlich sagte sie: »Ja, ja, die Frauen. Wenn ich nicht aufpasse, schleppt meine auch alles weg.« Aber sie blickte durch den lachenden Wilhelm Kachelmeier hin durch. Dann wurde sie das Treppenhaus hinabgeleitet. Wilhelm Kachelmeier schloß die Vorsaaltür, ließ sein Lachen aus dem Gesicht fallen und haute Kachelmeier junior eine Gewaltige herunter. »Wo ist die Oma?« fragte Frau Kachelmeier unheildräuend. Wilhelm Kachelmeier öffnete wortlos das Nebenzimmer. Aufschreiend entfesselte und entknebelte Frau Kachelmeier ihre Mutter. Sie kam zurück, ging auf ihren Mann zu und gab ihm eine schal lende Ohrfeige. Das hielt der Pudel für einen Angriff auf sein Herrchen und biß Frau Kachelmeier in das Bein. Über dem Sofa lachten die Saporosher Kosaken ungeheuer still aus dem Rahmen. 94
Die Oma riß das Bild vom Haken und steckte es hochkant in das Aquarium. Dann hängte sie den »Frühling im Allgäu« an die Wand. Aber sonst war der Persönlichkeitsbesuch trotzdem sehr gemüt lich gewesen.
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KASPERLE IST WIEDER DA
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Hans Säckel schrieb schon als Jüngling Gedichte. Zuerst besang er die kleinen Vertreter der Fauna, all die zwitschernden Vögelchen, krabbelnden Käferchen, zauberhaften Schneckelchen und süßen Häschen und war deshalb später problemlos zu Liebesgedichten übergegangen, wobei in letzter Zeit derartige Dichtungen den Unter titel Für E. trugen. Es ist schon schwer vorstellbar, daß ein Mensch Hans Säckel heißt und Liebesgedichte schreibt, um so unvorstellba rer aber war es, daß er in der Hauptzentrale als Ulk-Kanone größten Formates galt. Sogar, wenn er sich in der Städtischen Schwimmhalle eine grüne Badekappe aufsetzte, sah es aus, als trüge er ein Jäger hütchen, und die anwesenden Arbeitskollegen klatschten sich wie hernd auf ihre nackten Oberschenkel. Fremde fanden nichts Lusti ges daran. Aber das ist im Leben so: Über wen die Leute lachen wollen, den machen sie sich lustig. Anlaß dazu gab Hans Säckel selber während einer Berichtsver sammlung der INFORG, zu der er die Tontechnik überwachen muß te. Die INFORG war die Hauptzentrale Information und Organisati on, welche die Nebenzentralen für die Vorbereitung des Umsetzens von Information und Organisation in die Produktion anleitet. Sie war sozusagen das Überbein eines Hornes an einem Kopf. Eben hatte der baumlange Schlomski von der Abteilung Zweck lose Hinweise die Versammlung eröffnet, nun kam der Direktor der INFORG, Professor Mumsenecker, ans Pult, und es erwies sich vor aller Augen, daß er ziemlich klein war. Schlomski hatte leichtsinnig seine Chance verspielt, sich beim Direktor beliebt zu machen, indem er vergaß, das bewegliche Mikrofongestänge wieder nach unten zu biegen. Direktor Mumseneckers Stimme piepste unverstärkt in den Saal. Er hätte bei jedem Wort hochhüpfen müssen, um machtvoll zu klingen. Statt dessen schlängelte sich das Mikrofon steil über sein Haupt wie eine Kobra, die zum tödlichen Stoß ansetzt. Hans Säckel erkannte seine Verantwortlichkeit. Um die Konzent ration auf den Professor nicht zu stören, ließ er sich zu Boden fallen und kroch im Halbdunkel auf allen vieren vor zum Rednerpult. Professor Mumsenecker schrak leicht zusammen, als er zehn Finger sich an die Vorderkante des Pultes klammern sah. Er blickte sich hilfesuchend um. Dann erschienen Hans Säckels große Augen über 99
dem Sims, die sogleich angesichts des übernahen Direktors geblen det wieder versanken. Aus dem dämmrigen Saal ertönten glucksen de Geräusche. Nun versuchte es Säckel unbemerkt von der linken Pultseite, zumindest hatte sich Professor Mumsenecker entschlos sen, ihn nicht zu bemerken. Eine Geisterhand kroch zeitlupenhaft das Gestänge hinauf und zwang es zu einer langsamen Verbeugung, ja zu einem Fragezeichen vor dem Direktor. Im Saal lachten welche in ihre Bäuche. Säckel war es unterdessen gelungen, der Stimme seines Direktors einen überirdischen Klang zu geben. Aber er wollte die Idealstellung des Mikrofonkopfes erreichen. Als entschlüsselte er einen schwierigen Tresorcode, so drehte er ihn noch weiter her unter und geriet mit den abgespreizten Fingern in den Lichtstrahl der kleinen Pultlampe. An der Rückwand des Saales war nun zu sehen, wie aus dem gewaltigen Schattenschädel des Direktors zwei Hörner wuchsen. Im Saal gab es verblüfftes Gejohle und Beifall. Während Schlomski hastig und außerprotokollmäßig eine Pause ankündigte, kroch Säckel auf seinen Platz zurück. »Mensch, Säckel!« riefen die Kollegen von allen Seiten bewun dernd und schlugen ihm auf die Schulter. »Wie lange hast du dazu geprobt?« »Säckel, du altes Schlitzohr! Millimeterarbeit war das!« »Und dabei hat er nicht ein einziges Mal gelächelt. Perfekt, perfekt!« Es gab nun keine INFORG-Fete mehr ohne Hans Säckel. Auch sonst hatte es keine ohne ihn gegeben. Aber das wußten die we nigsten. Bisher saß er immer still im Hintergrund, trank seine drei Biere und, wenn es hochkam, einen Schnaps und legte danach ver neinend die Hand auf das Glas. Den Rest der Zeit freute er sich am Spaß der anderen. Zwischen zwei Köpfe hindurch und so weit ent fernt, daß er sie günstig bedichten konnte, sah er das Fräulein Elvira von der Vermittlung. Für E. Ich seh dein Antlitz wie im Traum. Dein Haar umgibt ein blauer Saum so sonderbar, als wärst du nicht von hier, jedoch die Tränen deiner Augen sagen mir ... 100
schuf er bereits voraus. Es war der Mief unzählig vieler Zigaretten, der Elviras hübsches Gesicht umnebelte, und es tränten ihr die Au gen deswegen. Nun aber wurde Hans Säckel unsanft aus seinem poetischen Nirwana geweckt, indem sich einige Kollegen zu ihm umdrehten und riefen: »Los, Säckel, laß uns nicht zappeln, du hast doch wieder was auf Lager, alte Ulknudel!« Da er nichts hatte, nannten sie ihn einen Spielverderber. Selbst um Elviras Mund zuckte Enttäuschung. Säckel bekam Angst vor der nächsten Fete. Am Vorabend derselben suchte er einen als lustig bekannten Nachbarn auf und erbat sich von ihm einen Witz. »Also«, begann der Nachbar, »da kommt ein Gerippe zum Zahn arzt. Sagt der Zahnarzt: Ihre Zähne sind in Ordnung. Aber, aber, aber Ihr Zahnfleisch!« Hans Säckel sah den Nachbarn voller Wissensdurst an. »Ja, und weiter?« fragte er. »Das ist ja der Witz«, erklärte der Nachbar verstimmt. Zur Fete kam unweigerlich der Moment, wo ihm die Kollegen ih re Zeigefinger in die Seite stießen: »Los, Säckel, mach was!« Hans Säckel nahm sich zusammen, zwinkerte, wie es der Nachbar getan hatte, und hub schelmisch an: »Also, da kommt ein Mann zum Zahnarzt. Sagt der Zahnarzt: Ihre Zähne sind in Ordnung. Aber, aber, aber Ihr Zahnfleisch!« Die gesamte Abteilung harrte erwartungsvoll der Pointe. Doch Hans Säckel lehnte sich nach erledigter Schwerstarbeit zurück. »Ja, und weiter?« wurde er gefragt. »Das ist ja der Witz«, sagte er. Im Laufe der Zeit eignete er sich einhundert Witze an, die er fein säuberlich registriert bis ins Detail aufschrieb und sich abends so lange vorlas, daß er sie bald fehlerlos aufsagen konnte. Der Erfolg war durchschlagend. Die anderen erlebten einen völlig neuen Stil des Witzeerzählens, denn Säckel trug sie mit unbeweglicher Miene tonlos und pedantisch vor. Die Pointen kamen deshalb immer dann, wo sie keiner erwartete, schon gar nicht Säckel. Während ihn gi ckerndes und gackerndes Gelächter umgab, saß er stirnrunzelnd da 101
und rannte gewissermaßen geistig mit der wissenschaftlichen Akri bie eines geborenen Organisators sein Witzregister entlang, um eine neue Nummer zu ziehen. Er hatte sich vier Bereiche erarbeitet: den politischen, den philosophischen, den erotischen und den Bereich am Abgrund. In die Fäkalien geriet er nie, denn er wußte, die Witze wanderten durch alle Räume der INFORG und machten auch vor der Vermittlung Fräulein Elviras nicht halt. Nein, Hans Säckel blieb über der Gürtellinie. Aber dort wuchs er an Selbstvertrauen, und es fiel ihm gar nicht auf, daß er bei sogenannten ernsten Gesprächen sei ner Kollegen nie zu Rate gezogen wurde. Erst in der Pause ertönte der Ruf nach ihm, und er erschien allen als ein Mittel zur Zerstreu ung. Gegen Ende des Jahres fand immer das traditionelle Vergnügen der Hauptzentrale statt. Zu den achtzig Mitarbeitern der INFORG gesellten sich dann die zwanzig Mitarbeiter der Nebenzentralen, die alle Informations- und Organisationsrezepte der INFORG einiger maßen verstehbar machten, sowie das kleine Häuflein von zehn Leuten an der Basis, welche die Rezepte völlig umkrempelten, damit man sie überhaupt verwenden konnte. »Hör mal, Säckel, an diesem Abend erwarten wir was von dir«, sagten die Kollegen. Hans Säckel wehrte bescheiden ab, wobei er in seiner Vorstellung bereits Fräulein Elvira in einem irrsinnig machenden Tanzkleid an einem der vordersten Vierertische sitzen und bewundernd zu ihm aufblicken sah. »Laß die Witze«, sagte er zu sich selber. Der Schreck eines solchen Ratschlages wegen war groß. Denn es wurde ihm plötzlich klar, daß er die Witze diesmal wirklich lassen mußte. Im merhin fand das alljährliche Vergnügen mit den Ehepartnern statt. Man war sozusagen nicht mehr in Betriebsfamilie. Professor Mumsenecker rief Hans Säckel zu sich. Er spendierte sogar einen fünfgesternten Kognak aus der volkseigenen Vertrag sabschlußhausbar. »Wir wollen diesmal unser Kulturprogramm aus eigenen Kräften gestalten«, eröffnete er, »der Kollege Wamser von der Abteilung Ergebniserfindung hat sich bereit erklärt, ›Als Büblein klein an der Mutterbrust‹ zu singen; die Kollegin Zunder vom Be reich Zufällige Organisation macht äktschen, sie trägt den ›Erlkönig‹ 102
vor, und von Ihnen weiß ich, daß Sie in unseren vielen Arbeitspau sen als Entspanner unentbehrlich geworden sind, ja, man sagte mir, Sie brächten wunderschöne Schattenspiele zustande. Kollege Säckel, ich dachte in diese Richtung.« Die nächsten Tage gab es keine Witze mehr. In den Abteilungen munkelte man, Säckel spart auf, er hat Großes vor. Auf dem Korri dor der Hauptzentrale begegnete ihm manches komplizenhafte Augenzwinkern. Nur leider von Fräulein Elvira nicht. Die hing aber auch ständig an ihren Vermittlungsstrippen und stöpselte Gesprä che. Manchmal schien es ihm, als sei ihre Stimme dunkler, geheim nisvoller geworden, wenn sie durch den Hörer sagte: »Kollege Sä ckel, da kommt was für Sie.« Zu Hause hängte er am hellichten Tag ein Bettlaken vor den Schrank, zerrte alle Rollos herunter und begann im Lichtstrahl einer Taschenlampe seine Finger bis zur Schmerzhaftigkeit zu verrenken. Auf dem Bettlaken erschienen kartoffelähnliche Gebilde, verbogene Tischtennisschläger oder Rudimente von Gartenzäunen. Hans Sä ckel lachte begeistert über das Kunststück, das er da auf die weiße Fläche warf, bis er bemerkte, dort vorn war nichts weiter zu erken nen als seine Finger, deren Nägel wieder einmal dringend geschnit ten werden mußten. Er ließ die Rollos hochschnappen und betrach tete lange im Spiegel sein sorgenvolles lustiges Gesicht. Er bekam Wut auf den Kollegen Wamser. Der hatte es leicht! Sang einfach »Als Büblein klein an der Mutterbrust« und wog fast zwei Zentner. Kein Wunder bei dieser Naturnahrung. Da konnte gut aus einem Büblein ein Bube werden. Und die Kollegin Zunder prostituierte sich mit Goethe! Auch kein Kunststück, denn sie gehörte der Sektion Reitsport bei der GST an. Allerdings ritten die nie bei Nacht und Wind. Die Witze Nummer 18, 25, 62 und 98 hatten optischen Charakter. Vielleicht konnte man aus ihnen kleine Theaterstücke in loser Folge und mit verstellter Stimme machen? Mißmutig trug Hans Säckel seinen Mülleimer hinab. Im Hof hat ten die Wohnblockkinder ein Kasperletheater aufgebaut. Sie spiel ten alle Krimiserien des Fernsehens nach. Kasperle war der Kom missar, Seppel sein Assistent, der Teufel der Mörder, die Großmut 103
ter die Leiche. Eben erhob sich die Großmutter und verlangte mit ersterbender Stimme vom Kasperle, daß er ihre Obduktion anwei sen und Gretel auch nachts nicht unbeschattet lassen soll. Die Zu schauer starrten bleich und angestrengt zum Tatort hoch. Säckel hatte noch nie solch ernsthaftes Kasperletheater gesehen. Er bekam Angst, im Hintergrund könnte plötzlich ein Schuß fallen, eine Sirene heulen, Blaulicht aufleuchten. Als er noch ein Kind gewesen war, schwang Kasperle sein bestiefeltes Bein über die Bretterwand und führte ein lustiges Gespräch mit den Kindern. Hinter ihm erschien der Teufel, und alle schrien: Kasperle, paß auf, hinter dir! Wo denn? rief Kasperle und drehte sich jedesmal in die falsche Richtung. Die Kinder gerieten deswegen schier in Verzweiflung. Aber schließlich bekam Kasperle doch noch die Kurve und hieb dem Teufel ein Mächtiges auf die Hörner. »Onkel Hans, spielst du einmal für uns?« fragte ein kleines Mäd chen. Hans Säckel ließ den Mülleimer fallen. »Oh, ja, bitte, bitte!« bettelten die Kinder. Als er mit der Hand unter den Umhang des Kommissars fuhr, wurde aus dem wieder Kasperle. Durch eine Bretterritze erkannte Hans Säckel sein Publikum. Los, Säckel, laß uns nicht zappeln, du hast doch was auf Lager ... Auf einmal wußte Hans Säckel, wie er seine Finger doch noch gebrauchen konnte. »Hurra!« schrie er, »Kasperle ist wieder da!« Das traditionelle Vergnügen der Hauptzentrale fand im Kultursaal des Stammbetriebes statt. Noch nie waren die Mitarbeiter der INFORG der Produktion so nahe gewesen. Direktor Professor Mum seneckers Festansprache übertönte diesmal dank eines richtig dis tanzierten Mikrofones das Massengemurmel an den Tischen. Man war sich nicht einig, ob der Geruch aus der Großküche Rouladen oder Schweinesteak vorankündigte. Professor Mumsenecker lobte einige Leistungsträger namentlich, was für diese gefährlich war, unter anderen den wissenschaftlichen Mitarbeiter der Abteilung Informationslose Information, Hans Säckel. Dann stand fest, es handelte sich um Kalbsschnitzel. Der gesamte Bereich INFORG mit 104
Ehefrauen fiel klirrend und klappernd über die Portionen her, rü ckengedeckt durch Liszts »Liebestraum«. Um wenig Zeit für das Tanzen zu verlieren, begann gleich danach das Kulturprogramm. Hans Säckel zog sich zitternd hinter den Büh nenvorhang zurück. Dort stand einsatzbereit das Kasperletheater der Wohnblockkinder. Geordnet in der Reihenfolge des Auftrittes lagen Kasperle, Seppel, die Großmutter, Gretel, der Teufel und ein besonders schöner gelber Hund mit Schnauzbart nebeneinander. Er hatte sie alle umfunktioniert zu Vertretern der INFORG. Den Regie zettel heftete er gut lesbar an die Innenseite der Kasperlebühne. Das gelang ihm erst beim dritten Mal, so sehr flatterten seine Hände. Schlomski, der als Bühnenhelfer fungierte, versuchte einige Notizen mit Blicken zu erhaschen. »Hoffentlich hast du heute paar Knackige auf Lager«, flüsterte er und rempelte Säckel verschwörerisch in die Rippen, »ich hab’ nämlich meine Mieze mit und brauch’ so was zur Überleitung.« Draußen vor dem Vorhang war dumpf der Bariton des Kollegen Wamser zu hören: »Als Büblein klein an der Muutterbruuust ...« Nach dem Beifall zerrte Schlomski unbarmherzig am Vor hangstrick, und die zweihundert Vergnügungssüchtigen der INFORG starrten teils amüsiert, teils befremdet auf den Kollegen Hans Säckel, der, vom plötzlichen Aufzug überrascht, noch nicht untergetaucht war und dessen angstvolles Gesicht nun aus den Kulissen des Kasperletheaters herausragte. »Hurra!« schrie er, »Kasperle ist wieder da!«, besann sich endlich und tauschte seinen eigenen Kopf gegen den richtigen Kasper ein. Kasperle wollte im Frühstücksraum der Hauptzentrale Kaffee trin ken. Aber wie immer floß keiner aus dem Automaten. Erst nach mehreren Hieben mit der Klatsche fuhr der Teufel heulend aus dem Gehäuse und hielt einen Vortrag über die verderblichen Folgen des Kaffeegenusses, da kein Geld für einen neuen Automaten geplant war. Die Großmutter wurde für die Weltmeisterin in der rhythmi schen Sportgymnastik gehalten. Doch ihre Sprünge rührten nur daher, weil sie in der dritten Etage der INFORG arbeitete, und bis dorthin reichte die Heizungswärme nicht. Seppel und Gretel er schienen als Afrikaner, entpuppten sich jedoch als Mitarbeiter der 105
Abteilung Zufällige Organisation, die ihre Fenster über dem Schacht zum Kohlenbunker hatten ... Hinter der Bretterwand hörte Hans Säckel Kichern, halblaute Zu stimmung und mäßiges Lachen. Am meisten lachten die Zuschauer über den gelben Hund mit dem Schnauzbart, denn sie glaubten, den Hausmeister erkannt zu haben. Als der Vorhang fiel, rafften sich diejenigen zu einem Beifall auf, die ihn noch nicht geleistet hatten. Hans Säckel ging für Sekunden schweißüberströmt mit seinen Puppen in die Knie, rappelte sich wieder auf und wurde, als schon keiner mehr klatschte, vom Kollegen Schlomski durch die Lücke im Vorhang hinausgestoßen. Er verbeugte sich benommen. Genau in dem Moment machte die Kollegin Zunder mit ungeheuer bebenden Knien eine deklamierende Armbewegung zufällig in seine Richtung und sagte laut: »Der Erlkönig!« Endlich kam Stimmung auf, und es wurde ein lustiger Abend. Hans Säckel erlebte bei seiner Rückkehr in den Saal freundliche Aufnahme. Seine Witze-Fans und der Hausmeister hielten sich al lerdings etwas zurück. »Hervorragend!« rief ihm der Finanzbuchhalter entgegen. »Stel len Sie sich vor, wie teuer uns ein Künstler gekommen wäre!« Professor Mumsenecker erklärte: »Nun, das war doch ganz or dentlich. Von meiner Gattin habe ich auch erfahren, daß es mir gut gefallen hat. So, mein lieber Kollege Säckel, muß Kritik sein. Offen, freundlich und voller Spaß! Ich habe schon mit dem Finanzbuchhal ter gesprochen: Jetzt können wir uns einen neuen Kaffeeautomaten kaufen. Sie sehen, Kritik kann sogar verändern.« Fräulein Elvira gestand Hans Säckel, sie hätte schon als Kind gern Kasperletheater gesehen. Hans Säckel fühlte ob dieser Worte voller Glück, wie seine lyri sche Ader unverhofft pulsen wollte. Er setzte zu einer Erwiderung an. Da aber erdröhnten die Verstärkerboxen, und es wurde für alle bis zur Polizeistunde ein Abend der Zeichensprache, der er leider nicht mächtig war. Ein neuer Frühling kam. Wiesengrün und himmelblau, dichtete Hans Säckel. Ein neuer Kaffeeautomat kam. Fräulein Elvira stärkte sich zuweilen daraus in Hans Säckels Nähe und lächelte freundlich. 106
Ich möcht in deine Augen schaun.
Die sind wie Kaffee, ach, so braun
strömte es aus ihm.
Sommers reifte sein Entschluß, ihr zum nächsten INFORGVergnügen, noch bevor die Verstärkerboxen zu brüllen begannen, ganz leise etwas Entscheidendes zu sagen. Im Herbst bockte der Kaffeeautomat, und die Leitung ließ den Plan fallen, zum nahenden INFORG-Vergnügen Hauff-Henkler an zuheuern. Statt dessen erinnerte man sich haushälterisch an das bewährte Trio Wamser, Säckel, Zunder. Also Muutterbruuust, Kas perletheater, Erlkönig. »Hören Sie, lieber Kollege Säckel«, sagte Professor Mumsenecker, »ich dachte mir, Sie machen es wieder wie damals: eine nette, er bauliche Kritik, es passiert doch soviel bei uns, nicht wahr? Aber lassen Sie bitte den gelben Hund weg! Es gibt ja so wenige Haus meister, nicht wahr?« Obwohl Hans Säckel nicht begriff, was sein Spiel damals mit ei nem Hausmeister zu tun hatte, ging er an die Arbeit. Er krempelte unternehmungslustig das Gehirn hoch. Seine Bude verwandelte sich in eine Werkstatt. Farbtöpfe standen da, künstliche Haarsträhnen hingen über den Stuhllehnen, Leim kochte, Pappmasse weichte ein, Stoffreste brauchten Zuschnitte. Waren seine Finger zum Schatten spiel zu ungeschickt gewesen, so entwickelten sie jetzt als eine Art Verlängerung des Herzens große Fähigkeiten, denn die erste selbst gebaute Puppe, die Gretel darstellen sollte, ähnelte verdammt Fräu lein Elvira. Dann formte sich Direktor Mumsenecker unter seinen Händen. Er schrak ein bißchen zusammen. Aber die Tatsache, daß er den gelben Hund nicht mehr verwendete, beruhigte ihn wieder. Sein bevorstehender erneuter Auftritt sprach sich herum. Die Kollegen zwinkerten ihm zu wie in seiner besten Witzezeit. »Mann, Säckel, du machst wieder! Komm mal ganz nahe, wir haben dir was zu erzählen.« Und sie flüsterten ihm eine betriebliche Ungeheuerlichkeit nach der anderen ins Ohr. Säckel staunte nicht schlecht. Er fühlte, dies 107
mal gelang ihm der ganz große Wurf. Die Schwarzen aus der Etage über dem Kohlenschacht, die mangelnde Heizungswärme und der defekte Kaffeeautomat erschienen ihm jetzt wie die kümmerlichen Versuche eines Anfängers. Nun ging es um Gewichtigeres! Gewis sermaßen fühlte sich Hans Säckel als Seele des Volkes der INFORG. Und als geistvoller Unterhalter Fräulein Elviras. Das gesamte Direk torium würde staunen, wenn es zum Beispiel Methoden des Lei tungsstils oder der Erfolgsmeldungen im Kasperletheater wiederer kannte, nett, erbaulich und voller Spaß. Wie es allen anderen, mit Professor Mumsenecker an der Spitze, schon einmal gefallen hatte. Diesmal wollte er am Geschick der Hauptzentrale mitdrehen, die Richtigen erhöhen, indem er den Falschen die Maske vom Gesicht riß. Ha! Das Vergnügen der INFORG erwarteten alle wie gehabt: Anspra che Mumseneckers, erholsames Essen mit Liszt, Mutterbrust, Kas perletheater, Erlkönig – Büblein klein seid ihr alle da wer reitet so spät... Mutterbrust stimmte. Dann wurde Hans Säckel mit wissendem Beifall empfangen. Als Professor Mumsenecker ein Bein über die Bretterwand des Kasperletheaters schwang, orgelte eine gewaltige Lachdetonation zur Saaldecke. Auch Professor Mumsenecker lachte verschreckt, und das machte ihn vor aller Augen größer. Danach sang eine Puppe, die dem Kollegen Wamser ähnelte, einen Erfolgs bericht der INFORG in der Melodie von »Als Büblein klein«, und der Refrain endete immer mit: »Doch davon hab ich nichts gewuu ußt.« Der Saal wackelte. Und so ging es Schlag auf Schlag. Hunderte von Mitarbeitern der INFORG mit ihren Ehepartnern schlugen sich brüllend auf die Schenkel wie damals nur einige von ihnen, als sich Hans Säckel in der Schwimmhalle die grüne Badekappe aufgesetzt hatte. Sie blickten vergnügt zu den Direktoren. Die blickten ihre Frauen an. Die Direktorengattinnen gaben ihnen ein Augenzeichen zum Mitlachen. Der Beifall trieb Säckel in einen Rausch der Improvisation. Ihm fielen Dinge ein, die ihn schon lange bedrückten, und er ließ sie durch seine Puppen ins Freie. Donnernde Bravorufe am Ende, un zählige Vorhänge. Die Kollegin Zunder mußte lange warten, bis sie 108
wie immer mit bebenden Knien zur Rezitation schreiten konnte. Aber Verwunderung auch hier. Diesmal gab sie Schillers »Taucher«. Als sie mit den Worten begann: »Wer wagt es ...«, brandete erneut Jubel auf in heiterer Erinnerung an den abgegangenen Säckel. Nach dem Diskoklänge durch die Verstärkerboxen den gemütlichen Teil des Abends eingeheult hatten, wurde Hans Säckel an der Bar von Glas zu Glas weitergereicht. Innerhalb einer Stunde gab es für ihn zwei Schlomskis, drei Wamsers, vier Mumseneckers. Aber, was noch viel schlimmer war, fünf Elviras. Und so konnte er sich nicht entschließen, welcher von ihnen er ganz leise etwas Entscheidendes sagen wollte. Der Frühling kam üblicherweise in Wiesengrün und Himmelblau. Für Hans Säckel kam er gewittrig. Blitzplatz wurde er von der Abtei lung Informationslose Information zum Archiv für Grußadressen versetzt, einer Abteilung, die in der INFORG unter Platzmangel in den Regalen litt. Die Begründung für seine Versetzung hieß, er hätte besonders in letzter Zeit Erstaunliches auf dem Gebiet der Informa tion geleistet und es sei nun an der Zeit, daß ein Experte die Namen unter den Grußadressen nach Alphabet, Betriebszugehörigkeit und Leitungsgrad ordne. Nun wurde er ständig zum Leiter des Archivs zitiert oder mußte zu den Unterzeichnern der Grußadressen reisen, weil er etwas falsch geordnet hatte. Entweder stand ein H vor ei nem G, ein Leitungsgeringerer vor einem Leitungshöheren. Hans Säckel verzweifelte an seiner Unfähigkeit. Er unterzog sich in der Neurologie einem Konzentrations- und Leistungstest. Doch die Auswertung bescheinigte ihm ein intelligentes Reaktionsvermögen. Minderwertigkeitskomplexe konnten es auch nicht sein, denn das Archiv für Grußadressen wurde ständig frequentiert von nervösen Unterleitern, die erfahren wollten, ob ihr Überleiter doch nicht etwa auf irgendeiner Grußadresse steht, die sie nicht gelesen hatten. Hans Säckel wurde also gebraucht. Aber die Arbeit an den Grußad ressen krümmte ihn dennoch. Er war so damit vollgefüttert, daß er immer weniger dazu Lust hatte, jemand zu grüßen. Nicht einmal Fräulein Elvira. Der Sommer kam mit einem L vor einem K, der Herbst mit einem Bereichsdirektor vor einem Generaldirektor. Hans Säckel wurde zu 109
Professor Mumsenecker gerufen und lief, in sein Schicksal ergeben, vor dessen Schreibtisch. »Mein lieber Kollege Säckel, wie geht es Ihnen?« fragte Direktor Professor Mumsenecker. »Es geht«, erwiderte Hans Säckel, »aber –« »Aber«, unterbrach ihn Professor Mumsenecker, »es könnte Ih nen besser gehen, nicht wahr?« Sein verständnisvolles Gesicht kam nieder und gebar langsam von oben nach unten eine strenge Sach lichkeit. »Wir haben eine Kulturkommission. Na ja. Und der Kultur kommissar, Kollege Wutz, hat im Namen dieser Leute vorgeschla gen, Sie sollen zu unserem Vergnügen wieder Ihr Kasperletheater spielen.« Hans Säckel hob erfreut den Kopf und sah gleich ein biß chen gesünder aus. »O ja, sehr gern!« rief er. »Äußerten Sie vorhin aber nicht, es könnte Ihnen besser gehen?« bemerkte Professor Mumsenecker. »Sie müssen sich schonen, lieber Kollege Säckel. In der letzten Zeit sind Sie wohl etwas über Ihre Grenzen hinausgegangen.« »Es wird jetzt anders werden«, plapperte Hans Säckel aufgeregt, »alle Jahrestagungen und Plenen sind vorbei, und es ist deshalb viel ruhiger im Archiv. Ich werde bestimmt nicht mehr ein X vor ein U machen.« Um Professor Mumseneckers Nase zuckte es hektisch. »Wie mei nen Sie das?« Hans Säckel sah seinem Direktor gerade in die Augen. »Wieder ein Puppenspiel – das wäre ein großer Spaß für mich!« Professor Mumsenecker setzte sich zur Hälfte auf seinen Schreib tisch und ließ ein Bein herunterbaumeln. »Na gut«, sagte er, »da lassen Sie Ihre Puppen tanzen. War ja auch ganz ordentlich, aller dings schien es mir manchmal, als überhöhten Sie ein bißchen das kritische Element.« »Ich dachte«, begann Hans Säckel leicht irritiert, »damit werden die Mißstände sichtbarer.« »Mißstände!« rief Professor Mumsenecker. »Kollege Säckel, bei uns in der INFORG gibt es höchstens real existierende Schwierigkei ten.« »Die auch«, ergänzte Hans Säckel begeistert, »aber ich dachte 110
mehr an die unrealen, die Fehler –« »Fehler gibt es bei uns auch nicht in der INFORG, höchstens Un terlassungen.« Hans Säckel lieferte sogleich eine weitere Unterlassung hinzu: Er unterließ es zu entgegnen. Professor Mumsenecker legte zufrieden die Hand auf seinen Arm. »Sehen Sie, nun schweigen Sie. Jajadoch, es gibt noch manches Kritikwürdige in unserer Hauptzentrale. Aber eines Tages sind wir auch damit fertig und brauchen uns nur noch zu bestätigen. Mein lieber Kollege Säckel, bohren Sie ruhig mit Ihren Puppen in unser Fleisch. Aber loben Sie! Benutzen Sie Ihren Stachel, aber balsamie ren Sie auch! Spannen Sie Ihren Bogen nicht zu stark, und Ihre Pfeile werden langsamer fliegen, so daß wir noch rechtzeitig ausweichen können. Bedenken Sie, es sind auch Gäste da. Loben Sie zum Bei spiel das unerschöpfliche Handeln unserer Abteilung Zufällige Or ganisation. Indem Sie uns sagen, wie gut wir sind, erkennen wir, daß wir noch besser werden können. Das ist doch Kritik genug! Was ich brauche, ist ein Hans Säckel und kein Hans Sack! Nun denn, Kollege Säckel, da gehen Sie mal mit neuem Kampfgeist an Ihr Kas perletheater!« Hans Säckel schüttelte Professor Mumsenecker voller Dankbar keit die Hand. Er hätte nie geglaubt, daß sein Direktor solches Kunstverständnis besitzt. Noch am Abend begann er angeregt, neue Pappmassen einzuwei chen. Er schuf einen roten Teufelskopf ohne Hörner, aber mit En gelsaugen. Die Kinder seines Wohnblockes hätten darin bestimmt Winnetou erkannt. Glücklicherweise gab es in der INFORG keinen Winnetou. Soweit, so gut. Aber für sein Spiel brauchte Hans Säckel dringend einen solchen. Erschöpft ließ er vom Teufel ab und formte, ohne es zu wollen, ein böse blickendes Kasperle. Jedoch die Nase glich jener des Finanzbuchhalters. Er pappte sie um und stellte er schrocken fest, daß sie nun eine Ähnlichkeit mit der von Professor Mumsenecker besaß. Als ihm beim dritten Versuch Kulturkommis sar Wutz entgegenblickte, der ein erneutes Kasperlespiel vorge schlagen hatte, ließ Hans Säckel die Puppe fallen. Beim Schreiben der Texte geriet er in eine Art Vorrausch. Seine 111
Pfeile schwirrten ins Ziel. So benötigte er lange, bis er den Dreh fand, sie langsam schwirren zu lassen. Er baute eine Puppe, ein Nummernfräulein, das keine Vermutung auf Fräulein Elvira zuließ, und dieses schwebte nach jeder Szene über die Kasperlebühne, ein Schild nach allen Seiten zeigend, worauf Erklärungen standen, die immer mit dem Satz begannen: Es gibt aber auch Positives in unse rer Hauptzentrale, nämlich ... Je mehr er solche Schilder malte, desto müder wurde er. Hans Säckel zog die Rollos herunter, hängte ein Bettlaken vor den Schrank und probierte Schattenspiele. Es wurde nur eine Vorfüh rung seltener Kartoffeln. Er suchte sein Witzregister durch: Alle schon erzählt. Außerdem waren die Witze alphabetisch nicht ge ordnet. Auch ihre Reihenfolge in der Wertigkeit war von ihm nicht genügend herausgearbeitet. Er ging zum Nachbar und erbat sich von ihm eine Auffrischung. »Also«, sagte der Nachbar, »da kommt ein Gerippe zum Zahn arzt.« Hans Säckel floh aus dem Zimmer. Er bastelte ein Kasperle ohne Nase. Das sah aus wie ein Preisboxer. Da nahm er das Kasperle und zerschmetterte es an der Wand.
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SCHILBILEIN
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Als Schilbär Rucktäschel das Licht der Welt erblickte, war das auf alle Fälle nach dem Zeitpunkt, von dem später behauptet wurde, da hätte er das Licht der Welt erblickt. Das wäre ohnehin nur die Ne onlampe im Kreißsaal der gynäkologischen Station gewesen. Schil bär aber lag bereits in seinem Stubenwagen mit blauem Stoffhim mel, als Opa Oskar ausrief: »Gilbert glotzt!« Oma Hermine wies ihren Mann sofort zurecht: »Wenn einer glotzt, dann du. Der Junge guckt.« »Und merke dir das endlich«, tadelte seine Schwiegertochter Nanni, »er heißt nicht Gilbert, sondern Schil-bääär.« Sie schloß die Augen dabei und ließ dieses ... bääär so melodisch nachklingen, als hätte sie eine Horde unbegabter Sprachschüler vor sich. Alle Rucktäschels schoben ihre Köpfe unter den blauen Stoff himmel. Schilbär betrachtete reglos die ersten Wesen in seinem Leben. Vier Köpfe näherten sich ihm, mit jeweils einem Loch darin, dem seltsame erschreckende Laute entsprangen. »Dududu! Nuwoisser denn? Billebillebille!« In einem Loch steckte ein qualmendes brau nes Etwas, Halsketten blitzten, rasselten, Opa Oskars Schmalfilm kamera schnurrte gefährlich, und ein Gestank, dem Schilbär nicht ausweichen konnte, der aus beißenden Tabakwolken, Haarspray und einer Kollektion Deodorants bestand, kitzelte seine Nase. Diese Lebewesen rochen und tönten sehr unangenehm. Was da zu ihm hereinstarrte und mit Fingern nach ihm stieß, War die sogenannte Familie, der er nunmehr angehören sollte. Er schnitt Grimassen. Rucktäschels feierten das lautstark als eine große Zustimmung. In Wahrheit entwickelte sich sein Verstand. Daß der Mensch darüber Grimassen schneidet, ist unwahrscheinlich. Schilbär beobachtete, wie eines der kugelköpfigen Wesen ein Ding in den Stoffhimmel hängte, das bei der geringsten Schwingung zu klappern begann. Als es ausgependelt war, versuchte er etwas Bemerkenswertes: Er wollte mit seinen Fingerchen den Vorgang wiederholen. Die Paradedecke hinderte ihn am Hochkommen. Er wurde krebsrot. Er hätte es trotzdem geschafft. Aber da sagte Nanni Rucktäschel vorwurfsvoll zu ihrem Mann: »Siehst du nicht, was der Junge will –?« 115
Und Albert Rucktäschel gab der Klapper einen Stoß. Schilbär ließ sich zurückfallen, sein Gesicht erblaßte. Und er be gnügte sich fortan damit, zu brüllen, wenn das Ding vor ihm nicht mehr baumelte. »Wie schlau der Bursche schon ist«, sagte Opa Oskar voller Stolz. Albert Rucktäschel zupfte sich gerührt einige Mörtelspritzer aus dem wildernden Vollbart. Es war Spätherbst oder Frühwinter und Albert Rucktäschel Baggerfahrer. Bevor der erste Schnee auf den still werdenden Baustellen Zurückgelassenes verdeckte, Sandhaufen, Zementplatten, Ziegelsteine, packte Albert Rucktäschels Bagger mächtig zu. An sein Eigenheim reihte sich ein geräumiger Lagerschuppen. Eben war er dabei, einen neuen zu verputzen. Er verputz te gern. In Afrika nennt man sie Geier. Sie beseitigen das Aas und sorgen so für Sauberkeit. Wo Albert Rucktäschel als letzter war, gab es saubere Baustellen. Er bereinigte die Schluderei anderer, die ihn deshalb schon einmal ausgezeichnet hatten. Seine Erscheinung strahlte absolute Selbstsicherheit aus. Sobald er das Baggerhäuschen verließ, verfiel er in eine Art Zeitlupe und stieß die Fäuste bis zu den Ellenbogen in seine Hosentaschen. Es dauerte lange, bis er unten war. Meistens bis zum Frühstück. Betrat er aber sein Eigenheim, riß er sie heraus und ging beschleunigt auf sein Beutegut zu. Aus den Überresten der Baustellen goß er nach Wunsch farbige Sockelplat ten. Außerdem baggerte er auf privaten Zuruf. Oft plumpste er des halb zur Nachtzeit entkräftet ins Bett, und es war mehr als verständ lich, daß seine Fäuste dann am anderen Tag erst gegen Mittag ganz unten ankamen. Nanni Rucktäschel arbeitete einst als Schreibkraft. Nun war sie eine Feierabendarbeiterfrau, die mit dem Fernseher ihres Mannes harrte, der draußen auf den Wogen der Eigen heimbauerei dahinfuhr und ihre Sehnsüchte stillte. Im Moment aber stillte sie Schilbär, das Produkt einer erzwungenen Ruhepause, weil damals der Zement für die Sockelplatten ausgegangen war. Mit Zement wäre wohl nichts mehr geworden. Nun war Spätherbst. Die Hochsaison der Pilze ging zu Ende. Für Albert Rucktäschel aber begann die der Filze. Altbausubstanz wurde innen rekonstruiert, verbrauchte Spannbeläge aus den Wohnungen gerissen. Albert Rucktäschel, vorübergehend baggerlos, löste die 116
Unterschichten, zentimeterdicken Filz, auf den Opa Oskar zu Hause lauerte. Mittels Schablonen schnitt er ihn zu wärmenden Einlege sohlen der Mangelgrößen 44 und 45. Oma Hermine hieb mit einem Stempel die Nummern darauf. Sie hieb in eine Bedarfslücke. Brüllte Schilbär, beeilte sich ein in der Nähe befindlicher Rucktäschel, so fort die Klapper zu bewegen, damit der Junge nicht unglücklich wurde. Die kleine Oma Hermine reiste regelmäßig im Oktober nach drü ben zu ihrem Bruder und anschließend nach drüben in die Kreis stadt zur Bank, wo sie andersfarbige Scheine als hierzulande mit brachte. Albert Rucktäschel erinnerte sich dann immer, daß sie hinten in den Mazda zu setzen ist und ein bißchen in der Welt he rumgefahren werden muß. Ziel war ein vierzig Kilometer entferntes Hochhauscafé, wo sie einen Napf Fruchteis hingesetzt bekam. Wenn Albert dann seine Baggerfahrermanieren und Opa Oskar seinen ehemaligen Kesselputzerjargon zeigten, schnitt Nanni Grimassen. Aber es war unwahrscheinlich, daß sich dabei noch ihr Verstand entwickelte. Der kleine Schilbär wuchs also in diese Harmonie hinein wie ein Butterpilz aus einem gewitterfeuchten Boden heraus. Stundenlang saß Oma Hermine vor ihm und wiederholte, nicht schlappmachend, die Buchstaben A – A. Das erste Wort jedoch, das Schilbär ausspre chen konnte, hieß Auto. Und er ließ seine Umwelt weiterhin im unklaren, wann er in die kleinen Hosen zu kacken gedachte. Für das neue Plastdreirad zeigte er kein Interesse, weil es nicht von allein fuhr. Aus demselben Grund mied er später Fahrräder. Am liebsten war es ihm, wenn er von Opa Oskar in einem Kinderwagen durch die Gegend gezogen wurde. Er schrie dabei: »Mazda! – Mazda!« Das klang wie: Platz da! So gedieh er in den folgenden Jahren prächtig. Am meisten sein Kopf. Er hatte jetzt schon große Ähnlichkeit mit dem von Opa Os kar, der in dieser Beziehung bei den Rucktäschels führend war. Die gesamte Kraft ging dorthin, wo sich so eine frühzeitige Sprachleis tung wie das Wörtchen Mazda gebildet hatte. Verwundert blickten Rucktäschels deshalb auf Schilbärs Beine, die Beinchen blieben und unter dem sich wölbenden Bäuchlein leicht einknickten, wenn er 117
schon einmal ging. Als sich Oma Hermine während einer ihrer Reisen den rechten Arm gezerrt hatte, wurde er von der gesamten Familie wie eine indische Kuh behandelt. Er durfte ruhen, wo er war. Ihr wurde die Kaffeetasse zum Mund geführt. Kam Besuch, verhinderten alle, daß man ihre Hand drückte, die Hand, an welcher einer der beiden Rie senkoffer gehangen hatte: Geschenksendung, keine Handelsware. Und der Arm heilte wieder zum Wohl der Familie. Schilbärs Beine jedoch mickerten ohne jeglichen Grund. Dabei reichten ihn alle Rucktäschels vom Kinderwagen auf ihren Armen weiter bis zum Autositz. Albert Rucktäschel legte sich für die Materialtransporte einen gebrauchten Zweitwagen zu, einen Trabant-Kombi. Es stand also noch ein Auto zu Hause bereit für Nanni. Sie konnte Schilbär nun die tausend Meter bis zur Schule und wieder zurück fahren. Seine Beine hätten die reinsten Muskelpakete werden müssen. Statt dessen wurde er vom Sport befreit, weil er im Weitsprung schon beim Anlauf in die Knie ging. Er saß dann abseits, piekobello mit neuesten Sachen gekleidet aus den Zauberläden, die es überall in größeren Städten und Bahnhöfen gab. Um die Ohren spannten sich Kopfhörer eines Transistorradios aus Oma Hermines Riesenkoffer, die er nur widerwillig abnahm, wenn ihm welche verzweifelt Zei chen gaben, daß sie mit ihm reden wollen. Zum Beispiel seine Leh rer. Er war der erste in der Schule, der ein solches Radio besaß. Nicht einer von den pinseligen Lehrern konnte damit aufwarten. In der Pause wurde Schilbär umringt. Er wippte mit halbgeschlossenen Augen auf den Fußspitzen. Sein Kaugummi flog im Rhythmus der Ohrmusik von einem zum anderen Kinnbäckchen. Und alle Mäd chen der vierten Klasse liebten ihn. Als Wochen später ein anderer Junge mit dem gleichen Transistorradio hinzukam, riß Schilbär wütend die Kopfhörer von seinen Ohren und erschrak sogleich bis ins Mark über irgendwelche unbekannten Tiere, die in den Bäumen des Schulhofes zwitscherten. Er rannte nach Hause, schloß sich in seinem Kinderzimmer ein, warf sich auf die Dielung, trommelte mit den Fäusten gegen sie und heulte wie eine Sirene. Nach langer Zeit vernahm er zum ersten Mal wieder seine Stimme. Großalarm bei den Rucktäschels. Sie standen ratlos versammelt vor der Tür. 118
»Schilbilein, mach auf, ich hab’ was für dich!« rief die Oma Her mine. Schilbileins Stimme senkte sich zu einem Entwarnungston. Die Fäuste trommelten nicht mehr. »Wenn’s kein besseres Radio ist«, schluchzte er. Rucktäschels sahen sich erleichtert an, denn sie kannten nun das Übel. Albert Rucktäschel hielt seinen Mund an das Schlüsselloch. »Es könnte – es könnte zum Beispiel, na, was könnte es denn sein? Ein Fernseher – wie wäre denn das?« Er war stolz auf seine plötzliche Idee. Die Tür schlug auf. Schilbilein, der schon wieder Schilbär wurde, lächelte unter Tränen. Er sah etwas erschöpft aus. Zwei Altersfalten überquerten seine Stirn. »Ist auch nicht gut, diese alten Kopfhörer«, sagte Nanni, »deine Ohren liegen schon ganz häßlich an.« Der Fernseher wurde so gestellt, daß Schilbär im Bett ausge streckt mittels Fernbedienung bequem schalten und walten konnte. Leider mußte er zwischendurch zur Schule. Manchmal schlich sich Opa Oskar noch mit seiner Schmalfilm kamera in das Zimmer und filmte, wie der Junge Filme anguckt. Seit Schilbärs Geburt von Oma Hermine zurechtgewiesen, wußte er ja, daß Schilbilein nicht glotzt, sondern guckt. Wenn er sich aber dann die Filme vorführte, dachte er, immerhin guckt der Junge so, als glotzt er. Vom ersten Tag Schilbärs an gab es Filme. Und Opa Oskar hatte sich vorgenommen, das Leben seines Enkels zumindest in den denkwürdigen Höhepunkten bis zum sechzehnten Jahr festzuhal ten. Der letzte Film aber zeigte nichts weiter als Schilbärs großen Kopf, welcher unbeweglich aus dem Bett ragt. Nichts weiter. Für einen Amateurfilmer keine Steigerung mehr. Schilbis Augen blickten gleichgültig über die Bettdecke auf ihre Umwelt. Eine gewisse Reife wuchs faltig in sein Gesicht. Wie eben bei einem, der schon viel gesehen hat. Zum Beispiel Banküberfälle am laufenden Band. Autostürze in Felsschluchten mit anschließen der Explosion. Gift in Weingläsern. Klatschende Faustschläge in wetterharte Gesichter. Messerwürfe in ahnungslose Rücken. Ent 119
führte schöne Frauen. Leichen auf Müllhalden ... Er suchte alle Ka näle durch, bis er wenigstens auf einen kleinen Mord stieß. Dann erst löschte er die Mattscheibe, und sein großer Kopf versank in das Kissen, umhüllt von Schüssen, Schreien, quietschenden Autoreifen, kreischenden Frauen, vom Geklirr in die Brüche gehender Zimmer einrichtungen und den Gurgellauten Sterbender. Seine Augendeckel flackerten, die Mundwinkel zuckten. Er schnitt Grimassen wie da mals, als sich noch sein Verstand entwickelte. Aber es entwickelte sich nur eine kleine kahle Stelle auf seinem Schädel, die von Morgen zu Morgen größer wurde. Vor der Zeugnisausgabe im Sommer einigten sich seine Lehrer, ihn doch mit in die siebente Klasse zu nehmen. Sie begründeten das mit der These: Keinen zurücklassen. Als die Siebener das neue Klas senzimmer bezogen und der neue Lehrer prüfend ihre Gesichter musterte, stutzte er bei Schilbi und fragte: »Was willst denn du hier? Du gehörst doch bestimmt in die Zehnte.« Schilbi hob seine müden Augen und bog die allwissenden Mundwinkel nach unten, wie er es siebenmal beim Kommissar einer siebenteiligen Krimiserie beobachtet hatte, und er sprach auch wie dieser: »Mann, überlegen Sie sich jedes Wort, es kann gegen Sie verwendet werden.« Obwohl der neue Lehrer die Serie auch kannte, eignete er sich nicht für Verhöre und beorderte Schilbi in die vorderste Bank der mittleren Reihe. Nun konnte Schilbi nur noch beim Mittagessen einschlafen. Es gab einen kleinen Aufstand der Rucktäschels gegen die Schule mit ihrem uneinsichtigen Lehrer. »Bei mir und Opa hat das Einmaleins, Kochen und Häkeln ge reicht«, sagte Oma Hermine. »Opa ist sogar neun Jahre in die Acht klassenschule gegangen. Und wie stehen wir jetzt da?« »Kochen und Häkeln bei mir nicht«, protestierte Opa Oskar. »Ist ja egal«, entschied Oma Hermine, »Kreibischs ihr Sohn hat es bis zum Inschenier gebracht. Was hat er nun davon? Wir schnei den Einlegesohlen! Wer weiß, wie sie unser Schilbilein im Unter richt quälen. Am Ende muß er auch noch auf die hohe Schule.« Schiibis kahlender Kopf zuckte wie geschockt im Schlaf. »Muß er nicht«, erwiderte Albert Rucktäschel, »er soll es schöner 120
haben, er kommt mit auf den Bau, ist alles schon abgesichert. Ha, seine Lehrer werden staunen!« Nanni streichelte Schilbär den großen überforderten Kopf. »Geh in dein Zimmer«, sagte sie, »entspanne dich ein bißchen. Vielleicht gibt es etwas im Fernsehen.« Mit fünfzehn kannte Schilbi viertausend Fernsehfilme, und er rauchte zur Freude seines Vaters schon wie ein alter Bauarbeiter. Aber er verkündete: »Ich will Diskjockey werden.« »Ein Pferd hat uns gerade noch gefehlt!« rief Oma Hermine. »Denke ja nicht, daß ich eines mitbringe. Hier gibt es auch welche.« »Quassel nicht, Oma«, sagte Schilbi in der netten Art, die er sich zugelegt hatte, »als Diskjockey brauch’ ich einen Hi-Fi-Turm.« »Laß doch das Pferd zum Draufsteigen niederknien, dann brauchst du keinen«, riet Oma Hermine unbeirrt. »Außerdem hast du das Moped. Fährst ja damit fast in dein Zimmer hinauf«, sagte Opa Oskar. »Na und?« erwiderte Oma Hermine. »Durch das Moped kommt er wenigstens an die frische Luft.« »Wieviel kostet denn so ein Hi-Fi-Turm?« fragte Nanni vorsichtig ihren Mann. »Er wird Bauarbeiter«, sagte Albert Rucktäschel verärgert, »Künstler ist kein Beruf. Und schon gar nicht Musikkünstler!« Schilbis Gesicht zerknitterte. Er starrte verhärmt vor sich hin. Dann rannte er in sein Zimmer und schloß sich ein. Sie blieben unten und warteten angstvoll, bis das Trommeln gegen die Dielung, die Sirene beginnt. Aber er verschonte sie. Und sie freuten sich so darüber, daß sie entschieden, solch ein artiger Junge muß belohnt werden. Selbst Oma Hermine konnte nun ein Pferd von einem Disk jockey unterscheiden. Nanni hatte es ihr erklärt: »Ein Pferd macht Mist, ein Diskjockey macht ganz schön Heu.« Als der Hi-Fi-Turm losging, zitterten alle Lampen im Haus wie bei einem mittleren Erdbeben. Opa Oskar schnitt falsch in den Filz, Oma Hermine rannte auf die Straße und spähte, woher die Kapelle marschiert kommt. Verständigung war nur noch auf einem Zettel möglich. »Das ist ja ein Höhlenlärm«, schrieb Albert Rucktäschel. 121
Nanni lächelte fein und schrieb zurück: »Höhle wird nicht mit h, sondern mit zwei l geschrieben.« Da feuerte Albert Rucktäschel den Zettel in die Ecke und ver fluchte zum ersten Mal den Beruf einer Schreibkraft. Die Sommerferien hatten begonnen. Aschfahl im Gesicht, er rechnete Opa Oskar, daß sie rund sechzig Tage dauerten. Doch er hatte Glück. Schon nach zwei Tagen erklärte sich Schilbi bereit, die alten Kopfhörer wieder zu nehmen und mit dem Gerät zu koppeln. »Da liegen deine Ohren auch schöner an«, lobte Nanni. Lautlos dröhnte jetzt die Musik nur noch gegen Schilbis Trom melfelle. Auch am dritten Ferientag lag er die gesamte Zeit im Bett und drückte zusätzlich auf die Fernbedienung der Mattscheibe. Den Ton dazu brauchte er nicht. Er war schon so gebildet, daß er aus der Handlung erkannte, was da immer wieder gebrüllt und gedroht wurde. An diesem dritten Ferientag sahen ihn die Rucktäschels das letz te Mal. Als er abends nicht zum Essen kam, ging Albert hinauf und blieb erstaunt an der Tür stehen. Im Bett Schilbis schlief Opa Oskar. Der Bildschirm flackerte stumm wie ein ewiges Flämmchen. Die Kopfhörer waren dem Opa im Schlaf vom Kopf gerutscht. In ihrer Nähe vernahm Albert Rucktäschel eine leise schnarrende Stimme, die soeben sagte: »Tendenz fallend.« Albert Rucktäschel zwinkerte zweimal ganz sehr. Aber der Opa, der gerade noch in der Küche Wurstbrot zu kleinen Würfeln ge schnitten hatte, lag jetzt im Bett. Albert Rucktäschel rannte hinab und zwinkerte abermals. »Hast du’s mit den Augen?« fragte Opa Oskar kauend. Statt einer Antwort wollte Albert wissen: »Wie bist du herunter gekommen?« »Solange ich ihn pflege, kommt er nicht herunter«, sagte Oma Hermine gekränkt. Albert zupfte an Opa Oskars Haaren, zog an seiner Nase. »Alles echt«, murmelte er. »Ja, denkst du etwa, dein Vater ist aus Pappe?« fragte Opa Oskar immer erstaunter. »Ihr geht jetzt alle mit zu Schilbär«, sagte Albert vor Aufregung 122
heiser. »Ich esse erst zu Ende, dann komme ich nach«, erklärte sein Va ter. »Das ist es ja«, zischte Albert noch erregter, »genau das ist es! Du bleibst jeden Schritt in meiner Nähe. Ich will sehen, wie du das machst.« Fast im Polizeigriff führte er Opa Oskar die Treppe hinauf. »Albert, wie benimmst du dich denn!« rief Nanni empört. Als sie Schiibis Zimmer betrat, stieß sie einen kleinen Schrei aus. Albert ließ Opa Oskar vor dem Bett los. »Wie kommst du dort hinein?« fragte er scharf. »Ich bin doch hier. Siehst du das nicht?« »Aber du bist auch dort!« »Haltet mich«, stöhnte Opa Oskar, »ich werde verrückt.« Alle Rucktäschels beugten sich atemlos, einschließlich Opa Oskars, über den zweiten Oskar im Bett. Der Öffnete die Augen wie damals, als er unter dem Stoffhimmel lag. Und seine Mutter erkannte, daß es Schilbi war. Doch die Stirn knüllte wie Butterbrotpapier, das Kinn schwabbelte auf den Hals, um jedes Auge strichelten Falten wie Strahlen einer Monstranz, die Haut war voller gelber Trockenheit, besonders auf dem fast kahlen Kopf. »Schilbääär!« rief Nanni. Er schien sie nicht zu hören. Seine Augen verengten sich, als hät te er Mühe, diese kugelköpfigen Wesen zu erkennen. »Ich hab’s ja gesagt, in der Schule verlangen sie zuviel«, schnat terte Oma Hermine aufgebracht. »Wir müssen einen Arzt holen«, flüsterte Albert. »Ich mach’ das«, bot sich Opa Oskar an. »Du nicht!« rief Albert. »Warum denn nicht –?« »Wie sollen wir dann noch wissen, ob du es bist!« Rucktäschels starrten sich erschrocken an. Dr. Fennhöfer hatte noch einen Heuschnupfen in seiner Staatlichen Arztpraxis sitzen, als ein gewisser Herr Rucktäschel anrief und um einen dringenden Hausbesuch bat, weil sein Sohn plötzlich bettläge 123
rig geworden sei. Also fuhr er dorthin. Das Haus war weiß gestrichen, dazu graue Sockelplatten, eine gewendelte Freitreppe aus marmorierten Stufen und ein holzver kleideter Giebel. Das Walmdach glitt auf der einen Seite länger her ab und überdeckte eine breite Veranda, auf der sich Rucktäschels abends nicht erholten, sondern Probleme der Filzbeschaffung oder der Zementbesorgung berieten. Dr. Fennhöfer pfiff leise durch die Zähne. Es war keine Melodie, es klang eher so, als ginge ihm die Luft aus. Er bemerkte schmerz lich die Dürftigkeit seines Hauses. Es fehlten ihm die grauen So ckelplatten. Er hatte sich wochenlang vergeblich danach abgestram pelt. Aber der Mann, der solche Raritäten produzierte, war leider kerngesund. Er besaß nicht einmal einen lächerlichen Plattfuß und brauchte Leute, die ihm eine Haussauna einbauen konnten. Rheu balmin-Bäder als einziges Gegenangebot reizten ihn nicht. In der gepflasterten Einfahrt zur Garage stand ein orangefarbener Mazda. Dr. Fennhöfer stellte erneut schmerzlich fest, daß sein grau er Wartburg eigentlich besser zu den grauen Sockelplatten gepaßt hätte. Wieder pfiff er durch die Zähne, etwas lauter als gewollt, und schon erschien hinter dem Haus ein mörtelbespritzter Mann. Der wischte sich die Hände an der Arbeitsjacke ab und eilte näher. Rote Hosenträger spannten sich wie Ordensbänder zu einem muskulösen Bauch herab. Nach allen Seiten des Gesichtes wucherte ein Bart. »Nanni, der Herr Doktor ist da!« rief der Mann. Er sah zu Dr. Fennhöfer hoch, der jung und glatt und kerzenge rade im beigefarbenen Sommeranzug vor ihm stand. – Nanni Ruck täschel wartete auf den marmorierten Stufen. Sie paßte zur gewen delten Freitreppe. Eine Frau mit Sinn für Eigenheim, Garten und alles Schöne. Auf der Wiese hinter dem Haus blökten einige Schafe freudig Dr. Fennhöfer zu, weil sie ihn vielleicht seiner Anzugfarbe wegen für einen Artgenossen hielten. Dr. Fennhöfer riß seine Blicke von Frau Rucktäschel los. »Bettlä gerigkeit, meinten Sie?« Er ließ sich in das Kinderzimmer führen, stellte energiegeladen seinen Hausbesuchskoffer auf den Tisch und erblickte einen Hi-FiTurm. An ihm hing ein etwa achtzigjähriger Mann mit unzähligen 124
Gesichtsrunzeln. Er schlief ausgestreckt auf einer Couch, trug aber Kopfhörer und mit allerlei Metallextras hochgemotzte Jeans, die ihn lächerlich machten. Ein Kabel führte von den Kopfhörern zum Hi-FiTurm, wo auf der Skala grüne Lichtreflexe Tonstärke und Rhyth mus einer unhörbaren Musik signalisierten. Der alte Mann lag völlig in sich gekehrt. Nur seine Arme und Beine zuckten wie im Traum. Doch als Dr. Fennhöfer genauer hinsah, erkannte er ein gewisses System der Bewegungen. Er hatte ein bißchen Mühe, den Hi-FiTurm nicht für ein EEG-Gerät zu halten. »Na gut«, sagte er, »und wo ist nun der Sohn?« Albert und Nanni Rucktäschel warfen sich bestätigende Blicke zu. Vielleicht hatten sie bisher noch an eine Halluzination geglaubt. Albert Rucktäschel hob entschuldigend die Achseln. »Aber das ist er ja, Herr Doktor.« Dr. Fennhöfer stand vorgebeugt und musterte ungläubig den al ten Mann. »Gestern sah er noch ziemlich jung aus«, flüsterte Albert Rucktä schel. »Aber heute abend war er plötzlich ganz alt«, fügte Nanni hinzu. Dr. Fennhöfer versuchte ohne eine falsche Bewegung zur Tür zu gelangen. »Na, sehen Sie«, bemerkte er sanft, »das ist doch bereits ein Zeichen zur Besserung. Legen Sie sich jetzt auch schön schlafen, und morgen werden Sie dann nicht mehr glauben, Sie sind die El tern Ihres Großvaters.« An der Tür prallte er mit dem alten Mann vom Hi-Fi-Turm zu sammen. Aber der trug jetzt keine Jeans mehr, sondern eine blaue Arbeitsschürze mit einer Schnur, an der eine große Schere baumelte. »Der Filz ist alle«, sagte er zu Albert Rucktäschel, »kannst du mir welchen aus dem Lager holen?« Dr. Fennhöfer drehte sich hastig zum Hi-Fi-Turm um. Er traute seinen Augen nicht: Dort hing der gleiche alte Mann am Kabel. Mit Jeans und ohne Schere. »Glauben Sie uns nun?« fragte Nanni. »Das ist unser Opa, und das dort ist unser Schilbär.« Dr. Fennhöfer ließ entschlossen den Deckel seines Hausbesuchs koffers hochklappen und traf Anstalten, diesen Schilbär zu untersu 125
chen. Die Seltenheit des Falles erregte seine medizinische Entde ckerfreude. Er sah sich plötzlich vor einem gerontologischen Audito rium über die erfolgreiche Bekämpfung einer neuen Geroderma, der nach ihm benannten Fennhöfer-Geroderma, referieren. Als Schilbi vom Hi-Fi-Turm abgenabelt wurde, riß er der jähen Stille wegen die Augen auf und blinzelte verwundert Dr. Fennhöfer an, der, dicht über seine Brust gebeugt, die Herztöne abhörte. Es sah so aus, als hinge Dr. Fennhöfer nun an ihm. »Is’n los?« fragte Schilbi. »Steh’ grade auf Hardrock. Und nu? Was trittst ‘n mir auf ‘n Keks?« Albert Rucktäschel hüstelte erschrocken dazwischen. »Das ist Herr Doktor Fennhöfer. Er will dich untersuchen. Gleich kannst du wieder deine Musik hören, Schilbi.« »Whau! Mach ‘n Anflug«, äußerte Schilbi. »Whau«, sagte Dr. Fennhöfer, »atmen Sie tief ein.« Der alte Schilbi röchelte wie ein sterbender Elch. Nanni verzog besorgt ihr Gesicht. Dr. Fennhöfer nahm das Stethoskop wieder ab und täuschte Nachdenklichkeit vor, weil der Befund keinen Grund zum Nachdenken gab. Was er gehört hatte, war das einwandfrei gehende biologische Uhrwerk eines jungen Mannes. Vielleicht schlug das Herz etwas zu schwach. »Sie sollten Sport treiben«, sagte er. »Was?« fragte Schilbi. »Sie sollten Sport treiben!« »Mach’ ich doch, Mann.« »Und welchen?« »Was? – Warum murmelst ‘n immer so?« »Und welchen!« schrie Dr. Fennhöfer. »Ich fahr’ Moped.« Hinter Dr. Fennhöfer standen alle Rucktäschels und warteten das Ergebnis der Untersuchung ab. Er ging auf Verlängerung. »Erheben Sie sich, machen Sie ein paar Kniebeugen«, brüllte er. Schilbi rutschte von seinem Lager, ging in die Hocke und fiel so fort um. »Wenigstens eine Kniebeuge«, bat Opa Oskar verzweifelt. Er führte sogar eine ziemlich gelungene vor. 126
»Was soll ‘n die Schaffe?« fauchte Schilbi. »Wenn du dich übernimmst, dann laß es, Schilbär«, warnte Nanni, »aber der Herr Doktor wird schon wissen, wie weit er zu gehen hat.« Der wußte es nicht. Was er erkannte, war ein Versagen der Beinmuskulatur, eine frühe Schwerhörigkeit und eine verminderte Sehkraft. Denn eben tastete sich Schilbi mit vorgestreckten Armen zu seinem Lager durch. Dr. Fennhöfer stellte eine bemerkenswerte Erschlaffung der Haut fest. Typische Alterserscheinungen. Aber laut Aussage der Eltern war der Patient fünfzehn Jahre alt, und Dr. Fennhöfer hatte noch keine Kinder, um das bezweifeln zu können. Irritiert griff er erneut zu seinem Stethoskop, erwischte jedoch Schilbis Kopfhörer vom HiFi-Turm. Eine Detonation von Elektrogitarren, Trommeln und Schlagbecken drang in seine Ohren. Er zuckte mit den Armen, schwang gekonnt die Beine und rief: »Yeah! Yeah! Yeah!« Plötzlich besann er sich und zerrte das Gerät herunter. »Frappie rend!« Er sah dabei von Opa Oskar zu Schilbi. »Wirklich frappie rend. Aber das kriegen wir schon wieder hin. Hatte Ihr Sohn ir gendwelche Überanstrengungen?« Oma Hermines Nasenflügel vibrierten. »Wir überanstrengen un ser Schilbilein nie.« »Fehlt ihm etwas?« »Das wollen wir doch von Ihnen wissen«, sagte Albert erstaunt. »Ich meine, ob ihm etwas in seinem Leben fehlt.« »Sehen Sie doch selbst!« rief Nanni und zeigte mit dem Arm in die Runde. Dr. Fennhöfer nickte. »Ich sehe. Er hat alles, was notwendig ist. Einen Fernseher, einen Hi-Fi-Turm. Besitzt er ein Motorrad?« »Ein Moped«, verbesserte Opa Oskar. »Von uns gekauft. Nächs tes Jahr wird er sechzehn, da bekommt er sofort ein Motorrad.« »Könnte er Angst vor der Zukunft haben?« »Ausgeschlossen«, erwiderte Albert Rucktäschel, »gleich zu sei ner Geburt haben wir ihn für ein Auto angemeldet.« »Und wenn er einmal etwas nicht bekommt?« Albert Rucktäschel verzögerte die Antwort durch Räuspern. »Da 127
kann es schon mal passieren, daß er sich auf die Dielen wirft.« »Auch völlig normal«, stellte Dr. Fennhöfer fest, »der gesunde Vorwärtsdrang unserer Jugend.« Sie betrachteten Schilbi, der wieder am Hi-Fi-Turm hing und in einer völlig anderen Welt war. »Was sollen wir bloß machen«, seufzte Nanni. »Wenn das die Nachbarn erfahren ...!« »Jetzt sind Schulferien«, tröstete sie Albert, »fast noch acht Wo chen. Wir können erst einmal sagen, er ist in den Ferien.« »Bis dahin kriegen wir das alles hin«, wiederholte sich Dr. Fenn höfer und merkte daran, daß er noch keinen Schritt weitergekom men war. »Wir geben Aufbauspritzen.« Mit Aufbauspritzen ging bestimmt nichts schief. Die vertrug so gar acht Wochen lang ein Gesunder. Dr. Fennhöfer kam nun jeden Tag und hieb Schilbi eine gehörige Portion Kraft in die Hinterbacken. Nach einer Woche wurde der Patient erstaunlich munter, es hielt ihn nicht mehr im Bett. Er zeigte bisher unbekannte Eigenschaften, schnürte sich selber die Schuhe zu, goß sich Kaffee ein, ja schüttelte sogar sein Bett auf. Aber er veränderte sein Aussehen nicht. Ein alter Mann jagte jetzt putzmun ter durch das Haus. Als er sich zum ersten Mal im Spiegel erblickte, befürchteten Rucktäschels, er erleide einen Schock. Aber Schilbi stellte sein verändertes Aussehen überhaupt nicht fest. Oder er nahm es für normal. Dr. Fennhöfer war begeistert. Er hätte am liebsten die Arztpraxis geschlossen und nur noch für diesen Fall gearbeitet. Selbstverständ lich konsultierte er wie immer keine Kollegen. Die Kurzsichtigkeit Schilbis verhinderte, daß er die geniale Ähnlichkeit mit seinem Großvater erkannte. Dr. Fennhöfer sah darin noch ein weiteres Phänomen: In den fünfzehn Jahren mußte sich im Inneren Schilbis ein beschleunigter Altersprozeß vollzogen haben. Die optische Ergreisung war nur wie die Spitze eines Eisberges, der sich plötzlich aus dem Wasser hob. Das Bewußtsein des Patienten alterte schon viel früher mit, aber etwa um die fünffache Schnelligkeit. So konnte Schilbi – auch wenn er gewollt hätte – gar nicht feststellen, was mit ihm geschehen war. Doch weshalb? Die Gründe! Dr. Fennhöfers 128
Psychogramm, das er über Schilbi verfertigte, zeigte die fürsorglichs te Befriedigung aller Bedürfnisse, und dies schon vorfristig, wenn man einmal vom sexuellen Bereich absah. Zwei Altersfalten über querten Dr. Fennhöfers Stirn. Er schrieb seine Beobachtungen in ein Notizbuch: »7. Juli. Fünfte Aufbauspritze gegeben. Patient erkennt sein verändertes Aussehen nicht. Eltern besitzen Schafe ...« Tage später bemerkte Schilbi, daß draußen Sommer war, und seine überschüssige Kraft drängte in die Freiheit. Opa Oskar stellte sich in die Haustür. Er breitete beide Arme zur Abwehr: »In dieser Aufmachung nicht!« Schiibis nackte Zehen ragten aus dünnsohligen Jesuslatschen, da zu ein grauleinenes Hemd ohne Kragen, das wie ein Winterunter hemd Opa Oskars aussah. Blauscheckige ausgefranste Jeans mit Messingknöpfen und effektiv aufgenähten Ärmlichkeitsfetzen schnürten seine dick gewordene Unterseite wie ein Korsett. Alles Wundergaben aus Oma Hermines Riesenkoffer. Schilbi hatte noch nie ein Hindernis gekannt. Nun gleich ein lebendes. Er begann zu brüllen. Rucktäschels eilten herbei, wie sie es seit der Klapper ge wohnt waren, und die kleine Oma Hermine schubste ihren Kessel putzer a. D. vergeblich aus dem Haustürrahmen. »Was hast du plötzlich gegen sein Aussehen?« »Ich will nicht, daß sich die Nachbarn erzählen, der alte Rucktä schel ist übergeschnappt!« rief Opa Oskar. »Noch immer trage ich gute Anzüge.« Entschlossen rannte Oma Hermine in ihre Wohnung und kam kurz darauf mit Oskars Sonntagssachen zurück. »Schilbilein, ich hab was für dich«, sang sie. Schilbi ging mit seinen schlechten Augen dicht an die dunkle Ho se heran. »Schilbär, bitte jetzt nicht auf die Dielen werfen«, bat Nanni. Doch Schilbi stieß ein Freudengeheul aus. »Mann, mich beißt ein Sandsack«, jubelte er, »wo hast ‘n die Kocher her, Oma?« »Kocher?« wiederholte Oma Hermine kopfschüttelnd. »Die hat Opa schon zur Silberhochzeit getragen.« »Die sind jetzt ganz irre paganini«, erklärte Schilbär begeistert. Er zerrte sich mühsam aus den Jeans, und Rucktäschels erlebten eine 129
wundersame Verwandlung. Plötzlich stand Schilbi vor ihnen im tadellos weißen Oberhemd, schwarzen Lackschuhen und schwarzen Hosen, die am Hintern sehr viel Platz ließen und supermodern nach unten hingen. »Nun kann er gehen«, sagte Opa Oskar befriedigt und gab die Tür frei. Als auch er verschwinden wollte, stand ein neues Hinder nis an der Tür: Albert Rucktäschel mit ausgebreiteten Armen: »Du nicht, solange Schilbär draußen ist!« »Aber ich muß zum Skaten!« Opa Oskar sah erschrocken seine Hermine an. Zum ersten Mal in ihrer Ehe senkte sie den Blick. Schilbi marschierte die Straße hinab und konnte sich in den Sil berhochzeitshosen bequem bücken. Ein völlig neues Lebensgefühl. Drei Männer im Alter Opa Oskars warteten vor der Kneipe »Zur Hopfenblüte« auf ihn und schoben den Widerstrebenden hinein. Der Wirt stellte vier doppelte Braune auf den Stammtisch. Karten wurden gemischt, zehn Blatt flogen auf Schilbi zu. Er steckte sie wie ein Quartettspiel. »Sag was, Oskar.« »Ich bin nicht Oskar.« Drei Blicke kreuzten sich untereinander. »Du solltest nicht schon zu Hause trinken.« »Oder hat dir deine Hermine wieder so zugesetzt, daß du nicht mehr weißt, wer du bist? Prost!« Schilbi erzitterte, als das kolafarbene Zeug in seine Brust fuhr. »Hast du achtzehn?« Er schüttelte sich. »Also nicht. Du auch nicht? Dann mach’ ich es.« »Rot ist Trumpf. Du kommst raus, Oskar.« Schilbi hatte ein schönes rotes As. Es gefiel ihm sehr. Auch die anderen sollten ihre Freude daran haben. Er warf es zuerst auf den Tisch. Die anderen brüllten vor Wut. »Ja, bist du völlig verrückt geworden!« »Was ist denn heute mit dir los?« »Spielst, als wäre es das erste Mal!« »Is nicht«, widersprach Schilbi, »ab und zu dreschen wir in der Schulpause Mau-Mau. Das knüllt ein.« 130
Die anderen sahen sich sprachlos an. Drei Männer lieferten den lallenden Schilbi mittags ab. »Mit eurem Opa ist was nicht in Ordnung. Er vertrug nichts. Er verlor alle Spiele.« Hinter dem Klofenster versteckt, lauschte Opa Oskar und zer drückte mit den Fäusten eine Rolle Papier. Gäbe es eine Weltmeis terschaft im Skaten, bis in das Finale wäre er gekommen. Aber nun? Nun war mit ihm nicht alles in Ordnung! Zwei Tage später, als Schilbi seine Kraftprotzspritze erhielt, ent wischte Opa Oskar und traf auf seine Skatkumpane. Er wurde an die ausstehenden Spielschulden erinnert: achtundzwanzig Mark. Ihr habt mit meinem Enkel gespielt, wollte er sagen, sah aber sogleich die Stechaugen der kleinen Oma Hermine vor seinen geistigen Bli cken, sah, wie er als Familienverräter von allen gemieden wurde. Er zahlte schweigend und biß sich dabei einen Stiftzahn locker. Er drohte Oma Hermine mit der Kürzung des Kostgeldes um achtund zwanzig Mark. Oma Hermine erklärte Schilbi, wie schädlich Alkohol und Kar tenspiele sind. In Schilbis altem Gesicht bildeten sich zwei Schmollwinkel am Mund. Ihm gefielen die Opas in der »Hopfenblü te«. Die redeten so seltsam. Die sagten zum Beispiel nicht: Irren O zwei gestern in die Kiemen gejagt. Die sagten: Ach, war das gestern eine herrliche Luft. Schilbi stampfte mit dem Fuß auf. Nächste Wo che wollte er wieder dorthin. Oma Hermine klemmte sich jammernd hinter die Schwiegertoch ter. Die lauerte auf ihren Feierabendklotzer, der einem Funkelnagel neureichen seinen Traum baggerte, und sie erzählte ihm, Opa Oskar gäbe Schilbi jetzt Skatunterricht, eine Doppelstunde in der Woche zu achtundzwanzig Mark, und es sei mehr als gerecht, wenn sie dem Opa das Geld dafür zahlten. Albert Rucktäschel zupfte wahllos aus seinem Trinkgeldbestand achtundzwanzig Mark zusammen und reichte sie Nanni. Die lieferte den Betrag an Oma Hermine weiter, und Oma Hermine ließ sich die achtundzwanzig Mark Kostgeld nun ohne Klagelaute von ihrem Oskar abziehen. Aber dem machte seine Strafmaßnahme ohne Wirkung keinen Spaß mehr, und er verzichte te auf den Abzug. So begriff Oma Hermine plötzlich das Geheimnis 131
der Geschäftlhuberei. Eine Zeitlang lief sie mit Schuldgefühlen durch das Haus. Um ihr Gewissen zu reinigen, legte sie dafür Dr. Fennhöfer ab und zu eine Schachtel »Camel« auf den Medikamen tenkoffer. Der hatte früher »Club« geraucht, gewöhnte sich aber nun die feine Sorte an, die Schilbi in seinen gerunzelten Kopf saug te. Beide brauchten diese Nervenberuhigung. Nicht selten hing Dr. Fennhöfer jetzt mit Genuß am HiFi-Turm und tauschte begeistert mit Schilbi Meinungen über etwas lautes Rockiges aus. »Geht’s ihm besser?« fragte Albert Rucktäschel. »Wie bitte?« »Geht es ihm besser?!« brüllte Albert Rucktäschel. »Danke, ich brauche kein Messer«, antwortete Dr. Fennhöfer. Daß er sich immer mehr mit Schilbi verstand, wertete er als ers ten Erfolg. Schilbi näherte sich dem Normalen – also ihm, Dr. Fenn höfer. Doch der Patient dachte nicht im Traum daran, sich auch nur von einem einzigen Arcus senilis zu trennen. Im Gegenteil, um seine Augen wuchsen die Ringe zu Doppelstreifen, und die Ähnlichkeit mit Opa Oskar wurde perfekt. So perfekt, daß ihn Oma Hermine eines Tages aus Versehen mit zu einem Veteranenvergnügen des Wohngebietes nahm. Schilbi bestaunte offenen Mundes die Musiker. Dort klemmten sich zwei ihre Schlaggitarren unter das Kinn und strichen mit einem Stecken derartig über die Saiten, daß für ihn völlig fremdartige Töne entstanden. Und noch nie in seinem Leben hatte er mit anderen untergehakt geschunkelt: »Tausend kleine Engel singen, hab mich lieb«. Als die Kapelle »Ich zupf dir eine Wimper aus und stech’ dich damit tot« spielte, geriet er ganz aus dem Häuschen. Hier konnte jeder seinen Tischnachbar hören. Sie mußten nicht hinausgehen, wenn sie sich etwas sagen wollten. Gemütlich saßen sie beisammen, erzählten Geschichten aus einer Zeit, die Schilbi fremd war und für die er sich ungeheuer zu interessieren begann. Auch konnten sie vollständige Sätze sprechen, was gar nicht mehr Mode war, und Schilbi verstand sie trotzdem. Besonders die neue Tanzart hatte es ihm angetan. Als er in einer Ecke des Saales allein vor sich hin zu zappeln begann, gab es Gelächter, und Oma Hermine wurde gefragt, 132
ob ihr Oskar Darmkrämpfe hätte. Denn hier tanzten immer eine Frau und ein Mann zusammen, indem sie sich mit den Armen um faßten. Tanzpaare nannten sie das. Schließlich gelang auch ihm das dank seiner Aufbauspritzen. »Hermine, dein Oskar! Nicht wiederzuerkennen!« »Wo hast du ihm das beigebracht! Nein, wie elastisch!« »Sonst saß er steif wie eine Esse und qualmte seine Zigarren.« »Hermine, Hermine, wenn er nicht schon vertan wäre!« Oma Hermines Lippen verschmälerten sich. Kein einziges Mal holte er sie. Dabei wußte er, wie gern sie Rheinländer tanzte. Und dann rief er sogar von weitem: »Oma!« Als er mit ihrer besten Feindin von einer Saalecke zur anderen unter dem Beifall aller »Ramona« tanzte, beim O das Führungsbein tief einknickte und das zweite hervorragend schleppend nachzog, verließ die kleine Oma Hermine unbeachtet den Ball und trippelte verbittert nach Hause. Sie zerrte sich ihr Feinstes über den Kopf und ging so, wie sie einst zur Welt gekommen war, in das Schlafzimmer. In seinem Bett saß Opa Oskar, zitternd vor Verlassenheit, den Wecker in der Hand. »Wo kommst du jetzt erst her –?« Die kleine Oma Hermine stemmte ihre Fäuste in die nackten Hüften und wurde größer. »Und warum bist du schon hier? Bekamst wohl Gewissensbisse? Eben noch hast du Ramona getanzt. Und wie ordinär!« »Was soll ich? Ich weiß gar nicht, wer Ramona ist. Ich sitze seit zwei Stunden im Bett! Wo also kommst du jetzt erst her?« »Obwohl du’s weißt – na gut! Vom Rentnerball.« Opa Oskar schnaufte und suchte nach Worten. »Man müßte dir den Arsch streifenweise –« »Oskar!« schrie Oma Hermine in einer plötzlichen Erkenntnis. »Um Himmels willen, könnte es möglich sein, daß Schilbilein –?« Sie rannte so, wie sie war, aus dem Zimmer und kehrte kurz da nach freudig zurück. »Er ist es gewesen, er ist nicht in seinem Bett! Mein Gott, Oskar, Schilbilein wird wieder gesund. Wie herrlich er ›Ramona‹ getanzt hat!« Opa Oskars Gesicht verfinsterte sich. »Bei mir ordinär – bei ihm herrlich. Ich kapiere.« 133
Er sprang aus dem Bett und lief drohend im langen Nachthemd vor ihr herum. »Ich will dir was sagen: Ich will leben!« Nanni und Albert erschienen an der Tür. Oma Hermine sprang mit einem spitzen Schrei in das Bett. »Was ist denn hier los?« fragte Nanni. »Nicht, was du denkst«, bellte Opa Oskar aufgebracht. »Dein Sohn vertritt mich bereits zum Rentnerball. Ich darf nun auch nachts nicht aus dem Haus.« »Sei doch froh, daß der Junge in Fahrt kommt«, wisperte Oma Hermine, unsicher geworden, über die hochgezogene Bettdecke hinweg. »Und ich unter die Räder!« brüllte Opa Oskar. »Nein, ohne mich. Ab morgen schneide ich keine Filzsohlen. Fini. Streik. Jawohl, Streik!« Damit schob er seine sprachlose Schwiegertochter und seinen er schrockenen Sohn zur Tür hinaus. Am anderen Tag bat Albert Rucktäschel Dr. Fennhöfer um zwei Packungen Radepur. Er war früh mit Lidzucken und zitterndem Bart erwacht. Er hatte einen schrecklichen Traum gehabt: Eine Quelle versiegte, der Boden trocknete aus. Er konnte ihn mit seinem Bagger nicht mehr aufbrechen. Der Greifer brach ab. Vor dem Haus entroll ten Demonstranten mit Schuhübergrößen ein Transparent: WIR FORDERN WARME EINLEGESOHLEN! Dr. Fennhöfer hatte in der Jackentasche zwei Packungen parat. Eine war angerissen, weil er jetzt selber Radepur nahm. Er trug bereits wärmende Einlegesohlen der Größe 44 und lernte damit das Laufen bei enormer Hitze. Gewissermaßen zu Therapiezwecken gegen Erkältungskrankheiten hatte er sich bereit erklärt, die Sohlen in der Arztpraxis seinen Patienten zu verkaufen. Sie mußten neuer dings bei Ohrenreißen ihre Schuhgröße angeben. Nun streikte Opa Oskar. Auch Dr. Fennhöfer bekam Lidzucken. Er nahm gleich mit Albert Rucktäschel zwei Pillen. Hinter dem Haus blökten die Schafe spöttisch. Zwei waren für ihn und seine Frau bestimmt. Eines als Belag für die Diele, eines für die Couch, auf der seine Knusperfrau voller Ungeduld lauerte, wenn er draußen in einer Z-Stelle diagnostizierte oder mit Schilbi am Hi 134
Fi-Turm hing, Mau-Mau mit ihm spielte, »Camel« rauchte und ne ben ihm mit den Augen einen Fernsehkrimi verschlang. Manchmal legte er sich dabei leicht ermüdet auf das Bett zurück. Schilbi sagte jetzt Fenni zu ihm. Aber er sah weiterhin alt aus. Und Opa Oskar blieb böse. Er stand fast nur noch in der Haustür. Da fesselte ihn eines Morgens Schilbi an den Hi-Fi-Turm, zwang ihm die Kopfhörer über, drehte die Lautstärke voll auf und floh aus dem Haus. – Dr. Fennhöfer kam mit seiner Spritze. Opa Oskar tobte: »Ich bin Oskar!« »Das ist gut«, beruhigte ihn Dr. Fennhöfer, »da werden sich dei ne Eltern freuen. Sie wollen nicht, daß die Nachbarn erfahren, wer du wirklich bist.« »Ich bin Oskar!« schrie Oskar nun hysterisch. Und Dr. Fennhöfer hieb zu ... Schilbi stand zur selben Zeit mit Oskars Ausweis in einer Schlan ge zur Rentenausgabe. Als Opa Oskar einen Tag später, federnd vor eingespritzter Kraft, seine Rente wollte, brachte man ihm schonend bei, daß er solche primitiven Tricks lieber lassen sollte. Man zeigte ihm seine gestrige Unterschrift. Schilbi gestand zu Hause kleinlaut im Kreis der Familie seine Ur kundenfälschung. Grund: Er brauche das Geld zum Skaten. »Wofür gebe ich dann achtundzwanzig Mark?« fragte Albert Rucktäschel drohend und blickte Nanni an. »Ich gebe sie Oma«, sagte Nanni schnell. »Und ich gebe sie Opa«, erklärte die kleine Oma Hermine noch schneller. Sie zwinkerte dabei ihrem Oskar so auffällig zu, daß es gegenüber im Nachbarhaus bemerkt werden konnte, und sie ver langsamte ihre Worte, als müßte sie Eskimos Deutsch beibringen. »Ich gebe sie Opa dafür, daß er Schilbilein Skatunterricht geben kann, nicht wahr, Oskar?« »Moment mal.« Opa Oskar zog Oma Hermine ganz behutsam an einem Blusenknopf zu sich heran. »Ich bin also Skatlehrer und weiß es nicht. Aha. Ich bekomme also achtundzwanzig Mark von dir und weiß es nicht. Aha. Achtundzwanzig Mark, die du von Nanni er hältst und die ihr Albert gegeben hat. Und ich zahle noch immer 135
Skatschulden, wenn sie mich treffen! Was machst du da mit den achtundzwanzig Mark?« »Ach, du Dummer«, plapperte Oma Hermine, »begreifst du denn nicht? Ich gebe sie gleich Schilbilein, weil – weil ich dachte, wir machen da etwas gut, ich meine – wenn wir einen Skatlehrer wie dich einsparen.« In Opa Oskars Augen begann es zu irrlichtern. Er lachte mit ho her Stimme, unterbrochen von Wörtern, die er höhnisch heraus stieß: »Ich bin ein Fall für Doktor Fennhöfer! Weil ich diese Frau geheiratet habe, hast du sie, mein Sohn, als Mutter bekommen, damit du wiederum eine Frau nehmen konntest, um diesen Skat schüler zu zeugen, den sie für mich halten und mich für ihn. Irgend etwas läuft hier falsch. Bin ich Oskar? Bin ich Schilbi? Nun seht mal zu, wie ihr mich durchbringt. Auf alle Fälle will ich heute noch ein schönes saftiges Steak, liebe Hermine. Für achtundzwanzig Mark!« »Ich hole Fenni!« sagte Schilbi erschrocken. »Du nicht!« rief Albert Rucktäschel. »Warum denn nicht?« »Wie sollen wir dann noch wissen, ob du es bist?« »Nun habt ihr auch noch mein Ossilein kaputt gemacht«, sagte Oma Hermine in die Stille. »Daß ihr’s wißt, ich fahre nicht mehr nach drüben.« Von da ab lebten die alten Rucktäschels in ihren vier Wänden, und die jungen Rucktäschels lebten überhaupt nicht mehr richtig. Sie schlichen still durch das Haus, bewegten sich gramvoll auf der Straße. »Was ist denn bei euch passiert?« wurden sie gefragt. »Ist je mand gestorben?« »Schlimmer noch«, erwiderten sie, »unsere Oma will nicht mehr nach drüben.« Der Riesenkoffer stand verwaist und ausgehöhlt in der Ecke. Rucktäschels konnten die Mainzelmännchen nicht mehr sehen, die von einer Werbung zur nächsten lockten. Der strahlendblaue Waschmittelhimmel verschwand, das duftende Haar im Wind, der rasierwasserfrische Morgen eines superharten Mannes. Sie wurden aus den Intershopläden verwiesen wie aus dem Paradies. Adam und 136
Eva Rucktäschel, zurückgestoßen in die graue Masse der Fo rumschecklosen. Oma Hermine lehnte die ununterbrochenen Angebote für MazdaRundreisen schroff ab. Ihr Schuldgefühl wandelte sich in Liebe zu Oskar. »Laßt meinen Oskar hinaus, wann er will, und auch ich fahre dann wieder hinüber ins andere Land.« Rucktäschels, auf diese Weise erpreßt, drohten nun Dr. Fennhö fer. Indessen ging Schilbi regelmäßig zu Veteranenvergnügen, zu Lichtbildervorträgen in den Klub der Volkssolidarität, zu Skataben den. Sein Sprachschatz hatte sich erstaunlich erweitert. Er konnte vollständige Sätze sprechen, sprühte vor Temperament. Das Selbst vertrauen stieg. Denn im Bus boten ihm ältere Männer ihren Platz an. Sein Interesse für Hi-Fi-Türme und Fernsehkrimis erlosch zuse hends. Dr. Fennhöfer erkundigte sich nach dem Jetztwert des Turmes. Aber die Gefahr, daß nun zwei Oskars zu gleicher Zeit gesehen wur den, verringerte seine Chancen. »Ich könnte die Spritzen absetzen«, riet er vorsichtig und sah ge duldig zu, wie es in den Köpfen der Rucktäschels arbeitete. »Ein Auto ohne Sprit kommt nicht aus der Garage.« »Absetzen!« schrien Rucktäschels wie aus einem Munde. Innerhalb von zwei Tagen kam Schilbi zur Ruhe. Er verließ nicht mehr das Bett, mußte mit dem Löffel gefüttert werden und zeigte freudige Reflexe, wenn er süßen Mehlbrei bekam. Albert Rucktäschel hastete optimistisch zu Oma Hermine hoch. »Du kannst deinen Oskar wieder laufen lassen. Und hast du sonst noch Wünsche? Brauchst du einen größeren Koffer?« Oma Hermine besah wortlos ihren alten Behälter und begann ihn mit Lederfett einzureiben. Die Welt kam wieder ins Lot. Aber die Ferien gingen zu Ende. Dr. Fennhöfer schlich bleich herum. Er hatte jetzt viele Haare im Kamm. Mit der Entdeckung und erfolgreichen Bekämpfung der Fennhöfer-Geroderma sah es mies aus. Er lieh sich alle Schmalfilme Opa Oskars und führte sie zu Hau se seiner Frau vor: Schilbi unter dem Himmel im Stubenwagen, die pendelnde Klapper im Blickfeld. Schilbi im Garten bei den ersten 137
Schritten. Hilfreiche Hände hindern ihn daran. Schilbi im Kinder wagen, die Schafe im Hintergrund. »Wunderschöne Felle«, schwärmte Dr. Fennhöfer. Er legte einen neuen Film ein: Schilbi im Mazda, aus dem Rückfenster guckend wie ein Maskottchen. Schilbi auf dem Moped, Schilbi vor dem Fernseher, Schilbi am Hi-Fi-Turm, Schilbi im Bett und nochmals im Bett und nochmals im Bett. »Ich verstehe das nicht«, sagte Dr. Fennhöfer. »Der Patient hat alles geschenkt bekommen. Beste Fürsorge! Es kann ihm nicht herr licher gehen. Und er macht mir nicht die Freude, jung zu werden. Mit fünfzehn hat er eine Erlebniswelt wie ein Achtzigjähriger. Er ist fertig. Übrigens ist der Hi-Fi-Turm preiswert, er paßt genau neben unseren Schrank. Die Lautstärke ist köstlich.« Dr. Fennhöfer sah zehn Minuten traurig zu, wie Schilbi im Bett liegt. Dann gab es keine Filme mehr. Er ging, um sich Schilbi in Wirklichkeit anzusehen. Der Empfang geschah frostig. Gereizte Stimmung. Das Leben war voller Streß für Dr. Fennhöfer geworden. Aufbauspritzen hieß: Opa Oskar im Hausarrest, Ende der Forumschecks. Keine Aufbauspritzen hieß: Opa Oskar darf skaten, Oma Hermine verreist, Schilbi ist bett lägerig. Aber in einer Woche begann die Schule! Ab und zu klappte Schilbi noch seine faltigen Augendeckel hoch. »Jetzt glotzt er!« rief Opa Oskar, und Oma Hermine widersprach ihm nicht. »Nun sieht er sogar älter aus als ich. Da kann ich wieder hinaus.« Fünf Köpfe beugten sich mit jeweils einem Loch darin über Schilbi. Halsketten blitzten, rasselten, und ein Gestank, dem der alte Schilbi nicht ausweichen konnte, der aus Haarspray und einer gesamten Kollektion Deodorants bestand, kitzelte seine Nase. Dr. Fennhöfer wünschte sich um fünfzehn Jahre zurück als Ge burtshelfer. Da wäre vieles einfacher gewesen. Er hätte Schilbi an die Mutter weitergereicht und anerkennend gesagt: ›Ein prächtiger Bursche, ich gratuliere!‹ Er blickte betrübt auf den reifen Schilbi hinunter, der ihm nicht einmal medizinischen Erfolg brachte. Die Klapper, die er auf einem der Filme gesehen hatte, pendelte nun symbolisch wie ein Damoklesschwert über ihm ... Die Klapper! Ihm kam eine dunkle Ahnung, die zu einer letzten 138
verzweifelten Idee wurde. »Haben Sie die Klapper noch?« fragte er. »Welche Klapper?« »Na, die Sie damals in den Stubenwagen hängten.« »Ich hebe alles auf«, sagte Oma Hermine. »Schnell, holen Sie die Klapper, schnell, schnell!« Sie spannten eine Schnur über Schilbis Kopf, banden die Klapper daran und brachten sie zum Schwingen. Schilbi folgte der Klapper mit den Augen. Als sie ausgependelt war, versuchte er etwas Be merkenswertes: Er wollte mit seiner Hand den Vorgang wiederho len. Er wurde krebsrot. Er hätte es trotzdem geschafft. Aber da sagte Nanni Rucktäschel vorwurfsvoll zu ihrem Mann: »Siehst du nicht, was der Junge will –?« Und Albert Rucktäschel wollte der Klapper einen Stoß geben. »Halt!« rief Dr. Fennhöfer und fiel ihm erregt in den Arm. »Las sen Sie das«, flüsterte er. Schilbi betrachtete mit den kurzsichtigen Äuglein verärgert sei nen Erzeuger. Deutlich war zu erkennen, daß er sich auf die Dielen werfen wollte, wenn er gekonnt hätte. Dann ging eine Veränderung in ihm vor, er schien zu überlegen. Die Stirn glättete sich. Er schnitt Grimassen. Vielleicht entwickelte sich sein Verstand. Dann hob er den Arm und brachte die Klapper zum Schwingen. »Er hat sie bewegt!« jubelte Dr. Fennhöfer. »Er hat sie bewegt! Und sehen Sie doch: Er wird jünger. Tatsächlich, er wird jünger!« Rucktäschels betrachteten staunend Schilbi und danach noch er staunter Dr. Fennhöfer: Um dessen Augen begannen ringförmig winzige Fältchen zu wachsen und pergamentgelb auszustrahlen. Wie bei einer Monstranz ...
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DIE BESICHTIGUNG DER HOLLÄNDER
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Die kleine Familie Blüsch fuhr einmal im Monat groß aus. Mit Car los. Früher hatte er Karli geheißen und war nicht aufgefallen. Dann ließ ihn Herr Blüsch ultraviolett färben, mit zwei gelben Rallyelängsstreifen. Vorn bekam er eine Art Sonnenschutzdach halb über die Frontscheibe. Hinten aerodynamische Heckerweiterungen wie zwei Flügel. Nun sah Karli länger aus und so, als könne er flie gen. Dann ergatterte Herr Blüsch vier rassige Radkappen. Ein Spezia list gravierte sein Signum OB – Otto Blüsch – auf die zwei einzigen Türen. Den unbedeutenden Plastknopf am Schalthebel wechselte er gegen eine Oldtimerminiatur aus, die wie ein Insekt im Bernstein steckte. Seriöse braune Webpelze für Sitze und Lehnen hatte Frau Blüsch organisiert. So wurde aus Karli Carlos. Carlos gab es nur einmal. Vierzehn Jahre hatten Blüschs auf ihn warten müssen. Des halb streichelten sie zärtlich mit ihren Schaumstoffschwämmen über seinen Rücken, bevor sie einmal im Monat zu ihrer großen Fahrt rüsteten. Einen Tag lang waren Plasteimer, Fensterleder und Hochglanzmittel in Betrieb. Carlos wurde gesalbt und gewindelt, sein Innerstes stubenrein gemacht. Söhnchen Blüsch stellte den Autosuper auf Idiotenstärke. Durch das Wohngebiet schallte es: »Heute hau’n wir auf die Pauke …« Wenn Herr Blüsch am Vorabend ins Bett fiel, war er hundemüde vor Anstrengung. Frau Blüsch konnte noch nicht. Sie blies auf ihre lackierten Fingernägel. Giftgrüne Plastwickler preßten ihr Haar zu kurzlebigen Locken. Zum Schlaf hätte sie aufgehängt werden müs sen. Wie ihr schulterfreies Kleid, das erwartungsvoll am Schrank hing. Es paßte zu den Rallyestreifen. Herr Blüsch wird einen auto bahnfarbenen Anzug tragen. Dazu ein grüner Schlips. Wie der Mit telstreifen. Söhnchens Beine werden großkarierte Hosenröhrlinge fesseln. Auf den Rücksitzen kann er sich damit genügend tummeln. Es ist alles vorbereitet. Am Morgen springt die kleine Familie Blüsch in den Carlos. Der Gashahn ist abgedreht, der Elektroboiler ausge schaltet, das Balkonfenster verriegelt, die Tür zweimal abgeschlos sen. Die Fahrt beginnt. »Hast du kontrolliert, ob der Gashahn abgedreht war?« fragte Frau Blüsch. 143
»Ich dachte, du hast, Pippi«, erwiderte Herr Blüsch. Wenn er sich einer Verfehlung verdächtig fühlte, begann er im mer seine Frau mit Püppi anzureden. Allerdings brachte er kein formvollendetes Ü dabei zustande. »Ich habe nicht«, sagte Frau Blüsch. »Dann müssen wir umkehren. Stell dir vor, bei uns klingelt einer! Alles ruht auf mir«, jammerte Herr Blüsch. Er machte Anstalten, den Mittelstreifen zu überqueren. »Ich habe den Gashahn abgedreht«, erklärte Frau Blüsch. – Car los schlingerte etwas. »Und warum das alles!?« rief Herr Blüsch. »Weil ich möchte, daß auch du dich verantwortlich fühlst.« »Das ist ja unglaublich!« stöhnte Herr Blüsch. »Gib acht auf die Fahrbahn, Otti«, sagte Frau Blüsch. Sie arbeitete in der Bahnhofsauskunft und war wegen ihrer kor rekten Beantwortung von Fragen bekannt. Für sie teilte sich die Menschheit in zwei Gruppen: Die einen wollten von ihr wissen, wann sie abfahren; die anderen, wann sie ankommen können. Otti Blüsch kam selten an. Meistens ließ sie ihn abfahren. Aber immer erste Klasse. So krampfte denn Herr Blüsch seine Finger in Carlos’ Lenkrad und war eigentlich ganz zufrieden, zwar keine Zukunft, aber dafür eine Auskunft zu haben. Carlos flitzte auf der Überholspur die Autobahn abwärts an eini gen Fiat, Lada, Wartburg, ja sogar an einigen Westwagen vorbei. Für Sekunden lagen die Autos nebeneinander, und ihre weiblichen Insassen statustuierten sich. Frau Blüschs Ohrringe blitzten spa nisch. Herr Blüsch zeigte durch einmaliges lässiges Blinken beim Einordnen, zu was er und Carlos fähig waren. Söhnchen auf dem Rücksitz zeigte zum Abschied die Zunge. Frau Blüsch bedauerte, daß nun am Heck ihre Landeszugehörigkeit erkennbar war. Über der Fahrbahn näherten sich Transit-Hinweise. Die Gemüter der kleinen Familie Blüsch begannen leichte Wellen zu schlagen wie die Erhebungen längs der Strecke. Bald verflachte die Landschaft. Heizkraftwerke und Brikettfabriken schoben sich malerisch in die Ebene. Chemiebetriebe pulverten eine wildromantische Wolken wand in den Himmel und einen würzigen Geruch durch alle Auto 144
ritzen in die Nasen. Nun knallte auch noch die Sonne auf Carlos. Herr Blüsch erlebte die Befriedigung, ein Sonnenschutzdach zu be sitzen. »Wir haben Glück, Glück, Glück – Glück haben wir!« sang er mit einer selbsterdachten Melodie. »Das Wetter kann nicht besser für uns sein. Da werden viele ihre Fahrt unterbrechen. Hauptsache, wir kommen zur Hochdruckzeit. Wie spät ist es?« »Wir liegen genau richtig«, sagte Frau Blüsch. Sie zog ihr Lippenrot nach, schreckte mit einem Stielkamm die Kunstlocken auf und brachte durch Florena-Creme das Gesicht auf Hochglanz. Söhnchen präparierte sich mit einem Kaugummi, wäh rend Herr Blüsch Carlos von der Abfahrt herunter auf einen Rast platz voller Autos zusteuerte. Er mußte zwei Runden fahren, über glücklich deswegen, bis er eine Lücke neben einem nichtssagenden Trabant entdeckte. Zwei Wagen daneben stieg ein älterer Herr aus einem Audi. Die Tür schlug mit einem satten »Plopp« zu. Herr Blüsch schloß die Augen, als hätte er eben den flaumleich ten Anschlag einer Klaviertaste gehört. Söhnchens Kennerblick entzifferte das Nummernschild. »Vati, der ist aus Hessen!« schrie er. Herr Blüsch erwachte und krachte die Tür in Carlos’ Flanke. Frau Blüsch stellte unterdessen durch die Fenster der Raststätte voller Freude fest, daß keine Plätze frei waren. »Diesmal lohnt sich’s, Otti!« jubelte sie. »Vatis Plan ist immer richtig«, erklärte Herr Blüsch stolz. Wenn sie Otti sagte, war Frau Blüsch hinter dem Schalterfenster weg. Sie kam hervor, und Herr Blüsch erlebte die seltene Auskunft, daß sie auch noch einen Unterkörper besaß. Er verschloß Carlos und begab sich mit seiner Familie auf den zweiten Teil der Sonntagsaus fahrt – die Wanderung. Sie wanderten langsam durch die Hauptwege und Lichtungen des Rastplatzes. Söhnchen hatte seine helle Freude an den Tieren, die sie dabei erkannten. Sie lagen in den Rückfenstern der Autos oder hingen am Innenspiegel, aus Stoff, aus Gummi. Pudel, Walrosse, Löwen, Panther, Eisbären, Riesenschlangen und Affen. Herr Blüsch hakte sich traulich bei seiner Frau unter. Die Vor freude verleitete ihn zu solch einer Gefühlsregung. Während sie 145
Söhnchen folgten, durchliefen sie andachtsvoll Ungarn, Dänemark, Schweiz, Italien, Jugoslawien, Saarland, Österreich, Belgien, Bayern, Polen, Niederlande, Tschechoslowakei, Bulgarien, Schweden, Spa nien, Frankreich ... Mehrmals rief Herr Blüsch laut die Automarken aus, als wollte er Götter anrufen: Fiat, Volvo, Mitsubishi, Renault, Porsche, Opel, Peugeot, Mercedes Benz ... Aber dann verschlug es ihm die Sprache, und er wäre fast vor ei nem weißen Wunder in die Knie gegangen. »Weißt du, was das ist?« flüsterte er. »Das ist ein Be Em We sie benhundertfünfzig! Mein Gott, der hat auf jeder Seite sechs Zylinder in Vau-Form! Der hat dreihundert PS!« Herr Blüsch sog die Luft tief ein und stand ganz still. Vor zwei Monaten hatte er hier auf dem Platz einen 560 SEL Mercedes ent deckt. Aber dies nun war das Höchste bisher. Auf dem Rückweg leisteten sich Blüschs noch einen Abstecher zu den riesigen Sattelschleppern aus Dänemark, Bulgarien, Schweden, Norddeutschland und den Niederlanden. »Otti«, sagte Frau Blüsch schließlich, »du hattest deinen Spaß, jetzt will auch ich meinen.« Im Vorraum der Raststätte standen die Leute Schlange und war teten auf frei werdende Tische. Der Einlaßober hielt sie in Schach. »So, nun zeige, was du kannst«, sagte Herr Blüsch leise zu Söhn chen, während er sich mit seiner Frau außer Blickweite des Obers hielt. Söhnchen hüpfte eine Weile unter den Wartenden umher. Dabei äugte er nach Kontaktpersonen. Endlich sprach er zwei kleine Mäd chen an, die längst drin waren und sich die Zeit mit Fangen vertrie ben. Bald verschwand Söhnchen als Fänger hinter der Tür. Nun spannten Herr und Frau Blüsch gut gesichert. Drei Wartende wurden gegen drei Gesättigte ausgetauscht. Aber die Glücklichen kamen empört zurück und klagten, ein kleiner Junge säße schon am Tisch und hätte ihnen erklärt, sein Papi und seine Mami seien nur mal kurz zum Auto gegangen. Herr Blüsch schubste seine Frau an. Sie überrollten die Schlange und gingen auf den Ober zu. »Hinten anstellen!« schnauzte der Ober. 146
»Aber wir sind doch längst drin!« rief Frau Blüsch mit großen Augen. Ihre spanischen Ohrringe flogen. »Wir waren nur noch mal am Auto.« »Ach, Sie sind das«, bemerkte der Ober und gab die Tür frei. Söhnchen empfing sie grinsend. Auf seinem Gesichtchen zeigte sich eine wachsame Intelligenz und erfüllte Blüschs mit Hoffnung für seine Zukunft. »Das hast du fein gemacht«, lobte Frau Blüsch. Sie wollte ihn streicheln, erkannte jedoch eine leichte Zerstörung seiner Frisur und sortierte die Härchen. Durch das Fenster konnte sie die Führerkabi ne mit Schlafkoje eines Fernlasters sehen. Dahinter spannte sich in silberner Seide die Planenlängswand. JAN VAN HENDRIKS ROTTERDAM stand dort in Meeresblau. Frau Blüsch hörte sofort die Holzschuhe aus »Zar und Zimmer mann«. Dabei wurde sie etwas durch das Geklapper der Bestecke irritiert, die wie Kastagnetten landesfremd dazwischenfuhren. An den Tischen saßen die Inhaber der Wagen. Frau Blüsch war im dritten Teil der Ausfahrt angelangt, der einzig und allein ihr gehörte. Es war ihr Quizspiel. Sie trug die Länder zu den Leuten. Automarken interessierten sie kaum. Aber sie hatte sich die Kenn zeichen der Länder auf dem Parkplatz gemerkt, und sie suchte nun die Zugehörigkeit ab. Dabei ließ sie sich weniger vom Wissen leiten, sondern mehr von ihren Gefühlen. Ungarn glaubte sie an ihren Pullovern zu erkennen, Italiener an ihrem Temperament, Jugosla wen an den schwarzen Oberlippenbärtchen, Schweden an blonden Wimpern und Franzosen am Parfüm. Allerdings hielten sich die Zugeordneten nicht immer an die Regel. Frau Blüsch zog auch Nie ten. Es hatte schon Polen mit italienischem Temperament gegeben, Tschechoslowaken mit ungarischen Pullovern, Österreicher mit französischem Parfüm und Schweizer mit jugoslawischen Oberlip penbärtchen. Einmal sogar einen Bulgaren mit bayerischen Leder hosen. Aber Frau Blüsch war dennoch glücklich, und sie schlich sich manchmal langsam auf dem Weg zur Toilette an den Tischen vor bei, um Worte aufzuschnappen, die ihre richtige Vermutung bestä tigten. Sie saß versonnen da, ihr Kinn auf die dekorativ ineinander 147
gelegten Handrücken gestützt, und war unterwegs. Herr Blüsch sezierte inzwischen die Speisenkarte. Das teuerste Gericht mit 19,80 Mark schnitt ihm selber ins Fleisch. Er entschied sich für zweimal Bockwurst mit Salat und einen Kübel Schokolade neis, weil Söhnchen keinen Hunger zu verspüren gedachte. Dazu dreimal Apfelsaft. Das waren genau 12,20 Mark. Trinkgeld in Höhe von 0,30 Mark ergaben 12,50 Mark. In Differenz zu den höchstmög lich gewesenen 19,80 Mark verblieben 7,30 Mark für das Auffüllen von Carlos. Nun saß Herr Blüsch zufrieden auf seinem Stuhl und blickte hin aus, wo auf der einhundert Meter entfernten Rollbahn Ferntrans porter und schnittige Mittelklassengehäuse im raschen Gegenver kehr aneinander vorbeiflogen, via Trelleborg, via Budapest oder Wien. Söhnchen spachtelte Eis. Die Bockwürste wurden erst in das Wasser geschmissen. »Otti«, sagte Frau Blüsch, »guck mal, da drüben sitzen die Hol länder.« »Welche Holländer?« »Na, die da draußen. Jan van Hendriks.« Herr Blüsch vollführte eine halbe Drehung auf seinem Stuhl. Schräg hinter dem Nachbartisch massakrierten zwei Männer je ein Brathähnchen. Blau und silbern gestreifte Nickis spannten sich über ihre Brustkörbe. Der eine trug einen rötlichen Backenbart, der ande re auf dem Unterarm einen tätowierten Anker. »Für Holländer sind die zu klein«, schätzte Herr Blüsch. »Auf alle Fälle sind sie größer als du«, erwiderte Frau Blüsch, »du hättest nicht das Zeug zu einem Holländer.« »Ach!« Herr Blüsch schnaufte die Luft durch seine Nase. »Was müßte ich denn da für ein Zeug haben, Pippi?« »Menschenkenntnis«, sagte Frau Blüsch. »Wenn du Menschen kenntnis hättest, wüßtest du, daß es Holländer sind. Überleg mal – der Anker! Rotterdam liegt am Wasser. Und die blau-silbernen Hemden passen zu dem Lastwagen da draußen.« »Ich wußte gar nicht, daß Menschenkenntnis eine spezifische Ei genschaft für das Entdecken von Holländern ist«, wunderte sich Herr Blüsch. »Übrigens heißt es nicht Holländer, sondern Nieder 148
länder.« »Sind das da drüben die Holländer?« fragte Söhnchen. »Ja, das sind sie«, erwiderte Herr Blüsch gereizt. Frau Blüsch sah über ihre Handrücken hinweg wie über ihr Schal terfenster. »Na bitte, du sagst es ja selber!« Daraufhin schweiften Herrn Blüschs Blicke erneut sehnsüchtig auf die nahe Rollbahn. Aber quer in das Sichtfeld sperrte sich nun der silberseidene Sattelschlepper aus Rotterdam. Herr Blüsch er kannte die Schlafkoje. Und es verbitterte ihn plötzlich die Vorstel lung, Pippi könne dort drinliegen, einen ankergeschmückten Arm auf der Hüfte. »Verdammt, wo bleiben denn die Bockwürste«, knurrte er. »Otti«, sagte Frau Blüsch, »guck mal, dort drüben – nein, nicht da, dort! – mustert mich immer eine Italienerin. Du, ich denke, die denkt, ich bin eine Spanierin.« »Da hat sie große Ähnlichkeit mit mir«, entgegnete Herr Blüsch. »Ich finde, du siehst fast beleidigend neutral aus«, stellte Frau Blüsch fest. »Hätte sie nämlich keine Ähnlichkeit mit mir«, fuhr Herr Blüsch unbeirrt fort, »dann besäße sie Menschenkenntnis und wüßte, daß du aus Meerane bist.« Herr Blüsch besah sich höhnisch die Italienerin. Da winkte ihr i talienischer Mann. Und Blüschs riefen fast zu gleicher Zeit: »Das sind ja Finzels!« »Was wollen die denn hier?« zischte Herr Blüsch. »Was weiß ich«, fauchte Frau Blüsch zurück. Sie ärgerte sich, weil es keine Italiener waren. »Die können doch überallhin bei dem seinen Verdienst. Und wie die sich zugerichtet hat!« Am Nachbartisch wurden zwei Plätze frei. Schon steuerten Fin zels mit ihren Tonic-Flaschen zu ihnen herüber. »Auch das noch«, murmelte Herr Blüsch und lächelte ihnen freundlich entgegen. »Hallo!« rief Herr Finzel. »Hast du den Zwölfzylinder-Be Em We da draußen gesehen? Da kannst du deinen Trabi als Matchbox hin tenreinlegen.« Finzels setzten sich, hängten Arm und Kopf halb über die Stuhl 149
lehnen und redeten nach nebenan. »Ich sage zu Dietmar«, sagte Frau Finzel, »Dietmar, sage ich, wenn das keine Spanierin ist! Und wer ist es? Frau Blüsch –!« »Seid ihr öfters hier?« fragte Herr Finzel, ohne Interesse an einer Antwort. »Wir sind das zweite Mal. Elfriede findet die ganze Atmo sphäre und so so toll. Hier trifft sich die halbe Welt! Wir gehen immer erst die Autos ansehen. Elfriede weniger. Die betrachtet gern Leute. Die erkennt fast immer, wer eine Bulgarin, ein Finne oder eine Italienerin ist. Dietmar, sagte sie zu mir, Dietmar, dort sitzt eine rassige Spanierin. Und wer sitzt? Na, wer –? Frau Blüsch, nein, so was! Aber du, Otti, hast noch denselben Schlips. Fahren wir zusammen nach Hause?« »Ja«, erwiderte Frau Blüsch überrumpelt. »Nein«, sagte Herr Blüsch, »wir wollen doch noch zu deinen El tern, Pippi.« Er trat seiner Frau charmant gegen die Lackschuhe. Da brüllte Herr Finzel: »Hierher! Wir haben uns hierher gesetzt!« Und der Ober brachte kopfschüttelnd ihr Essen. Es war das für 19,80 Mark. Herr Blüsch erkannte es sofort. »Da hast du es«, flüsterte er, »die können sich das Teuerste leis ten. Die fressen von oben runter die Karte durch. – Guten Appetit!« »Wenigstens dazu müßtest du dich einmal aufraffen«, kritisierte Frau Blüsch. Söhnchen gähnte gelangweilt. »Vati, gib mir Geld«, forderte es, »ich will Computer spielen.« »Na, bitte«, seufzte Herr Blüsch und zählte Söhnchen Hartgeld in das Händchen, »ich kann es eben nicht! Die haben keine Kinder.« Frau Blüsch schob ihre Unterlippe nach vorn. Sie stieß die Finger spitzen auf den Tisch. Es war so, als klappte sie ihr Schalterfenster herunter. Der Ober kam. »Bitte sehr, die Herrschaften, da haben wir den Salat!« Die Bockwürste waren lau. Sie hatten am Büfett zu lange auf Blüschs warten müssen. Herr Blüsch stand auf und ging in die Toilette, um sich zu finden. Als er seine Hände wusch, traten die zwei Holländer ein. Herr Blüsch betrachtete etwas neidisch ihre breiten Schultern. 150
»Jetze mißn mir abr rangnalln«, sagte der eine, »zwee Stundn bis Bärlin, abladn un heide noch zerigg nach Dräsdn.« Herr Blüsch vollzog einen Luftsprung und schoß aus der Toilette. Einer der beiden tippte sich hinter ihm an die Stirn. »Deine Holländer sind aus Sachsen, die müssen heute noch nach Dresden«, jubelte Herr Blüsch. »Das ist billig, Otti«, sagte Frau Blüsch, »wie lange hast du daran getüftelt?« »Aber es sind Sachsen, Pippi!« beteuerte Herr Blüsch. Pippi beobachtete ihn nachsichtig. »Natürlich«, erwiderte sie sanft, »und sie haben sich das Auto aus Rotterdam gemietet.« Durch den Mittelgang der Raststätte liefen jetzt die sächsischen Holländer. Herr Blüsch nahm eine Drohgebärde ein, sie zu holen. »Ich bringe sie dir«, sagte er mit vor Erregung ganz heiserer Fistel stimme, »ich kenne keine Verwandten! Ich stell’ sie vor dich hin, und dann kannst du ihnen erklären, wie sie gefälligst auszusehen haben!« Frau Blüsch wandte sich leicht deprimiert von ihrem Mann ab. In der Umgebung witterten die Gäste eine Abwechslung. Nur Finzels verschlangen wie hypnotisiert ihr Braumeistersteak. »Otti«, sagte Frau Blüsch, »reiß dich jetzt zusammen. Im übrigen interessiert mich das nicht mehr. Ich habe Belgier entdeckt. Die sitzen da drüben – nein, nicht da, du guckst immer falsch – dort!« Herr Blüsch erhob sich wortlos, ging bebend davon und suchte Söhnchen. Das stand vor einem Computerspiel und hatte »Jäger schießt Hirsch« ausgewählt. Durch exakt vorprogrammierte Wald wege trippelten Hirsche und ein Jägermännlein. Das Männlein ließ sich steuern, wie Herr Blüsch erstaunt bemerkte. Sobald es auf ei nem der Wege Hirschen begegnete, drückte Söhnchen ab, ein Blitz fuhr aus dem Gewehr, pardautz! – der Hirsch zerplatzte. Obwohl sich Herr Blüsch zu konzentrieren versuchte, sah er im mer wieder in den plötzlich auftauchenden Geweihträgern Kolon nen von Sattelschleppern mit silberseidenen Planen. »Laß mich mal«, bat er und ging grimmig auf die Jagd. Er war sehr treffsicher. Je mehr er Hirsche abknallte, um so breiter hoben sich seine Schultern. 151
»Peng!« rief er. »Peng! – Peng!« Sein ampelgrüner Schlips hing ihm aus der Jacke. Herr Blüsch hatte für Sekunden das Glücksgefühl, einen Anker auf dem Unter arm zu besitzen. Im Schriftbild des Computers blitzte mehrmals gelb das Wort REKORD. Die Melodie »Ein Jäger aus Kurpfalz« erklang. Herr Blüsch sang wildrollenden Auges mit. Söhnchen blickte freudig überrascht zu seinem Erzeuger auf und fragte: »Gucken wir bald wieder Holländer an?«
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DAS ZASPEL-PHÄNOMEN
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Als Hubertus Zaspel an den Schlußsatz gelangte: FÜR GÜTE GEBEN WIR UNSER BESTES, erhoben alle Teilnehmer des Treffens die Hände und ergaben sich ihrem eigenen Beifall. Hubertus Zaspel blinzelte verwirrt in den Saal. Ihm war unklar, was er gesagt hatte. War Güte nun erste Qualität oder Herzensgüte? Er stand hier vorn als Einzelteil seines Kollektivs, herausgerissen aus seiner Mitte durch das Pfänderspiel »Schraps hat den Hut verlor’n, Vier hat ihn, Vier hat ihn nicht, Zwei hat ihn, Zwei hat ihn nicht, Fünf hat ihn ...«. Er war die Nummer fünf und nicht schnell genug gewesen. Nun saß ihm ein viel zu großer Hut auf dem Kopf, gefüllt mit den ideologischen Innereien seines ehemaligen Trägers. Er blickte auf den vorgetippten Diskussionsbeitrag, bemerkte, dem betreffenden Satz folgte kein weiterer, und mutmaßte deshalb, am Ende zu sein. Überhastet sprang er vom Podest herab und eilte in seinen Unterschlupf auf Reihe 15, Platz 7 zurück. Der Vertreter des Bezirkes hielt Absprung und Flucht für den Ausdruck jugendlichen Elans und verheißender Kraft. Er neigte sich leicht zum Sekretär und sagte: »Gratuliere, da wächst dir was Gutes zu.« Der Satz wanderte durch das Präsidium, als sich Hubertus Zaspel bereits in Sicherheit wähnte. Er schreckte nur noch einmal hoch beim Nennen seines Namens im zusammenfassenden Schlußbericht des Bezirksvertreters. Aber auch hier ahnte er nichts. Kampflieder klangen ihm auf dem Weg in das Freie nach. Es war ein erster war mer Frühlingsabend. Die Teilnehmer des Treffens schnupperten überrascht in die Luft und spürten leichte Schwingungen – wie von Flügelschlägen. Zaspel warf sich rücklings in den Trabi und fuhr hinaus zum Schrebergarten, wo seine Frau, genannt Mäusi, und die Tochter Linda mit sechzig Salatpflänzchen auf ihn warteten. Er krempelte die Ärmel hoch und erklärte: »Salat muß im Winde weh’n.« Sogleich führte er den zarten Andruck der Wurzelfäserchen in den Boden vor. Seine Frau trug einen Bikini und ihre winterweiße Haut zur Schau. Zaspel fühlte nun auch das Schwingen von Flügelschlä gen. Dreißig der sechzig Salatpflanzen gingen später ein. Am Montag klopfte ihm jener, der den Hut verloren hatte, aner 155
kennend auf die Schulter. Er war ein Bereichsleiter. Er klopfte also von oben. Es ist ein himmelweiter Unterschied, aus welcher Rich tung geklopft wird. Von unten sind es Eingeschlossene, die keinen Schlüssel haben, von oben welche, die Schlüsselfragen klären kön nen. Hubertus Zaspel, der Nummer fünf im Hutspiel, ward geöffnet. Und er kletterte hinaus, seiner Bestimmung entgegen, nämlich Nummer fünf zu bleiben. Die Einladung zu einer Delegiertenkonferenz, blau auf weißem Grund gedruckt, mit beigelegter Delegiertenkarte, las er wie eine Auszeichnung. Mäusi stand hinter ihm, das Kinn auf seinen Arm gestützt, und ihre Augen schimmerten feucht angesichts der Tatsa che, mit einem Delegierten verheiratet zu sein. Sie stattete ihn mit einem schwarzen Diplomatenköfferchen aus. Den Anzug lockerte sie durch ein kesses Freizeithemd. Zum Abschied gab sie ihm einen kleinen Klaps auf den Hintern. Er lief wie geschnürt von ihr. Die Delegiertenkonferenz war angefüllt mit Delegierten, einer halbdelegierten Suppe in der Pause, die legierte Champignonsuppe hieß, der Wahl des Präsidiums, dem Hauptreferat, fünfzehn kleinen Kindern von ihm – den Diskussionsbeiträgen –, zehn Verleihungen roter Mappen, der Beschlußfassung durch Handzeichen und dem Schlußwort. Trunken von Eindrücken, das Diplomatenköfferchen hurtig schwingend, eilte Zaspel zurück in die Arme seines Weibes. »Früh haben wir eine Suppe gefaßt und danach einen Beschluß. Die Suppe war gut.« Er wollte sich auf dem Sofa zu einem Nicker chen zurechtlegen. »Du mußt noch das Wohnzimmer ausräumen«, sagte Mäusi. »Wieso das?« »Weißt du nicht mehr? Morgen kommt doch der Maler!« – Da ahnte Hubertus Zaspel etwas von der Schwere des Huttragens. Gleich danach konnte er eine erneute Einladung aus dem Kuvert schlitzen. Bei einer Vollversammlung der Vertrauensleute wird es so schlimm nicht sein, dachte er vertrauensvoll. Sie war angefüllt mit Vertrauensleuten, zwei Wiener Würstchen in der Pause, der Wahl des Präsidiums, dem Hauptreferat, neun kleinen Kindern von ihm – den Diskussionsbeiträgen –, acht Verleihungen blauer Mappen, 156
einer Grußadressenzustimmung durch Handzeichen und dem Schlußwort. »Eine Stimmung war heute, Mäusi!« schwärmte Hubertus Zaspel voller erschöpfter Zerstreuung. »Eine Stimmung ..., ich glaube, eine Zustimmung auch.« »Hast du Tomatenpflanzen gekauft?« fragte Mäusi. »Dort gab es keine«, erwiderte Zaspel. »Dann bekommen wir keine mehr«, stellte Mäusi fest, »heute war der Tag.« »Nun denn«, sagte Zaspel, »Tomaten haben Blausäure.« Er spürte leichte Flügelschläge auf den Schultern. Diesmal aber, als hätten sich rechts und links zwei Raben zu kurzer Rast niederge lassen. Versammlungen ohne Zaspel gehörten nun der Vergangenheit an. Bald tauchte sein Gesicht auch in Präsidien auf und wurde zu ei nem vertrauten Konzentrationspunkt für die unten Sitzenden. Da er nichts dachte, strahlte es Ruhe und Sicherheit aus. Deshalb war es auch für Kampfmeetings und propagandistische Veranstaltungen besonders geeignet. Rührung packte die Teilnehmer, wenn er seine jungväterliche Gestalt zu Blumen überreichenden Pionieren hinab beugte. Oder Zuversicht in sein Verantwortungsbewußtsein kam auf, wenn zu sehen war, wie unermüdlich er sich Notizen machte. Sagte zum Beispiel ein Redner, auch im vergangenen Jahr sei die Getreideernte ein maximaler Erfolg gewesen, hing er tief über dem Block und schrieb: »Brot und Brötchen nicht vergessen!« So war die Zeit reif, da seine Aufzeichnungen Manna für die Massen werden sollten. Er weitete sich zum Redner aus. »Zaspel schafft das schon«, sagten die Hutlosen. Und bald tönte die Nummer fünf, alias Fünf-hat-ihn, alias Zaspel in alle Sitzungsräume und Versammlungssäle. Gewichtige Reden entstanden, beladen mit 500 Gramm Ideen Marx, 400 Gramm Le nin, 200 Gramm Erich Honecker und als Zutaten, Petersilie gewis sermaßen, Becher und Goethe. Zaspels Diplomatenköfferchen schwang wie ein Uhrenpendel von Termin zu Termin. Er war nie mehr allein. Ständig hatte er Hunderte von Zuhörern vor sich, die 157
nach seinen Reden erlöst von dannen zogen, während er, an Worten ausgeraubt, in Mäusis Wohnung einkehrte. Es gab Haferflocken zu Abend. Brot mitzubringen, hatte er vergessen. Töchterchen Linda kannte er nur noch schlafend. Einmal wollte er es gegen Mitter nacht aus dem Bett nehmen und aufrichten wie eine Puppe, um zu erleben, wenn es die Augen öffnet. Aber Mäusi verhinderte das im letzten Moment. Sie saß jetzt häufig einsam vor dem Fernseher und schaltete um, sobald Redner eingeblendet wurden. Lag sie aufge deckt und ihrer Blöße voll bewußt im Bett, so kam er mit Zettel und Bleistift zu ihr hinein und fragte: »Du, hör mal, muß es heißen bei der Erkenntnis der Durchsetzung der ökonomischen Strategie oder in?« Sie zog die Bettdecke bis über den Kopf. Und Zaspel eilte in das Wohnzimmer, um die Eröffnungsrede für die »32. Tage der Einsatz bereitschaft« zu vollenden. Eines Tages stellte Zaspel fest, sein Diplomatenköfferchen schwang nicht mehr beim Gehen, sondern hing herab wie ein Zent nersack. Das machte Zaspel kleiner. Auch sein Lächeln wirkte mü de. Das machte ihn weiser. Wahrscheinlich war er es auch gewor den. Wenn ein Mensch unablässig auf andere herabredet und plötz lich erkennt, aber sie reden ja gar nicht mit ihm, dann ist das wahrscheinlich der erste Schritt zur Weisheit. Zaspel begann über sich und sein Veranstaltungsleben nachzudenken, und er inszenier te nun seinerseits das Hutspiel »Schraps hat den Hut verlor’n, Fünf hat ihn nicht, Drei hat ihn«. Doch alle anderen Nummern blieben schneller, er behielt den ausgebeulten Hut auf. Aus den zwei Raben, die sich einst mit leichten Flügelschlägen zu kurzer Rast niederge lassen hatten, wurden Riesengeier. Sie drückten schwer auf seine Schultern. Er nahm sie mit zu einer Wohngebietsversammlung, er schleppte sie auch wieder mit nach Hause. Keiner bemerkte das. Einige Anwesende wunderten sich nur, weshalb der Versammlungs leiter einmal die rechte und dann wieder die linke Schulter wie abwehrend ruckartig nach unten fallen ließ. Aber sie hielten das für eine neue Methode des Leitungsstils. Mäusi erklärte, wenn er bei ihrem Anblick immer nur die Achseln zucke, so hätte das bald für sie Konsequenzen. 158
Im Mai verbrannten infolge eines Auszeichnungsaktes in der Kreisstadt alle Gemüsesorten des Zaspelschen Gewächshauses, weil Zaspel noch einmal die Festrede durchgeackert hatte und deshalb nicht mehr dazu gekommen war, die Entlüftungsfenster zu öffnen. Mäusi saß weinend im Garten und verwehrte ihm auch das Kind. Von nun an lief Zaspel gebückt durch die Gegend. Seine zwei Rie sengeier hackten wütend auf ihn ein. Sorge und Unruhe peinigten ihn, Kommata an die richtige Stelle und passende Worte dazwi schen zu setzen, denn eine neue Delegiertenkonferenz drohte. Er quälte sich bis in die Abendstunden einige Begrüßungssätze auf das Papier und kam nicht vorwärts. Auf den Balkons erholten sich die jenigen, die nirgendwohin mußten. Es klingelte. Der Postbote brachte ein Telegramm. Zaspel blieb vor der Haustür, röchelte Frischluft und riß es seufzend auf. DELEGIERTENKONFERENZ FÄLLT AUS, las er. Auf seinen Schultern fühlte er den Abschwung zweier Körper und gleich danach eine Bewegung – wie von Flügel schlägen. Er besah erneut ungläubig das Telegramm. Dort stand noch immer: DELEGIERTENKONFERENZ FÄLLT AUS. Ein langes »Pfaaa!« entfuhr Hubertus Zaspels Mund. Er tat einen Freudensprung und bemerkte erschrocken, er kehrte nicht wieder auf den Boden zurück. Mit beiden Beinen herum strampelnd, die Arme hilfesuchend nach vorn gereckt, flog er durch die Luft. Es war ein unbeschreibliches Gefühl! Während des Urlau bes war er einmal mit geschlossenen Augen in den ruhigen See hineingeschwommen und hatte jegliches Maß für Raum und Tiefe verloren. Nun aber erschien ihm dieses Erlebnis im Vergleich zum jetzigen als kläglich. Federleicht und doch voller Kraft segelte er einen Meter lautlos über der Erde dahin und landete nach etwa zwanzig Metern bei den Müllkübeln, die vorn an der Straße stan den. Unsicher stolperte er noch einige Schritte und blickte sich ängstlich um. Aber die Straße war menschenleer. Er befühlte seine Beine, seine Arme. Alles wie zuvor. Dann sicherte er nach den Sei ten, nahm einen kurzen Anlauf, sprang und flog zur Haustür zurück. Allerdings ließ die Kraft nach. Und er landete bereits bei fünfzehn Metern, doch nicht mehr unsicher, sondern in einer Art Telemark aufsprung. Ein dritter Versuch ging mit knapp zehn Metern zu En 159
de. Soviel sich Hubertus Zaspel erinnerte, lag dort der Weltrekord. Der dritte Versuch war also unbedeutend. Er beließ es an diesem Abend dabei. Es fiel ihm sehr schwer, Mäusi nicht zu wecken und ihr das Ungeheuerliche zu berichten. Vielleicht hätte er dadurch wieder ihre Sympathie gewonnen. Aber es war wohl besser, er trai nierte erst einmal. Nachdenklich legte er sich zu Bett, schloß die Augen und erlebte noch einmal das Wunder seines ersten Schwe bens. Am nächsten Abend in der Dämmerung trat er vor die Haustür, sog tief die Luft ein, stieß sie mit einem befreienden »Pfaaa!« hinaus und sprang. Dreißig Zentimeter vom Startplatz entfernt kniete er danach in einer Pfütze. »Was machst du denn da?« rief ein Nachbar aus dem Fenster. »Hattet ihr Brigadefeier?« Zaspel murmelte etwas von blöder Bodenerhebung und zog sich bestürzt zurück. Er begann an seinem Verstand zu zweifeln. War er gestern einer Halluzination unterlegen? Monate folgten mit zwölf Tagungen, acht Weiterbildungsveran staltungen, zehn Propagandistentreffen, zwei Auszeichnungsakten und einem Meeting. Zaspels Riesengeier waren wieder auf seinen Schultern gelandet, er fühlte ihre Krallen, und die Beine knickten ihm ein. Kommatasorgen, Gedankenformerei und Leistungsdruck im Finden von Schlagworten wie vorher. Mäusi sah wieder so aus, als hätte es bald für sie Konsequenzen. Töchterchen Linda schrie auf, wenn ein Onkel mit Zettel, Bleistift und fremdländisch zerwühltem Haar auftauchte und verstört wissen wollte, ob Sozialismus mit einem scharfen oder einfachen »s« am Ende geschrieben wird. Vertieft in seine Grübelei, las Zaspel eines Abends nebenbei die Post und auf einer Mitteilungskarte den Schreibmaschinensatz: INSTRUKTEURANLEITUNG ENTFÄLLT! Zwei Krallen lösten sich von seinen Schultern und schwirrten ab. Er rannte sofort vor das Haus, nahm sich kaum Zeit zur Sicherung, lief an und flog seine zwanzig Meter zu den Müllkübeln. Noch mehr Genuß als zuvor! Denn nun erlebte er jeden Meter. Er flog gelockert, die Arme gebrei tet, den Kopf voran und die Beine nach hinten gestreckt. Erst kurz 160
vor der Landung zog er sie herunter und stand sicher. Rekord: sogar zwei Meter über die Müllkübel hinaus bis zur Straßenmitte! Beim Rückflug erschöpfte sich wiederum die Kraft, und er mußte sechs Meter bis zur Haustür gehen. Den Rausch der Drucklosigkeit und des Schwebens aber erfaßte er jetzt bewußt. So verzögerte er den dritten Versuch. Oben öffnete er die Schlafzimmertür, trat einige Schritte zurück, rief: »Mäusi, jetzt komme ich!« Mäusi sah mit großen Augen den Anflug Zaspels. Durch eine ge schickte Armbewegung änderte er leicht den Kurs und ging nach einer Umkreisung bei ihr nieder. – Mäusi schlang überrascht die Arme um seinen Hals. »So viel Temperament hätte ich dir nicht mehr zugetraut«, flüsterte sie. Zaspel jedoch befreite sich aus ihrer Umarmung, sprang begeis tert über die Bettwand zum neuen Anlauf und – brachte nur einen lächerlichen Betthupfer zustande. »Es geht nicht mehr«, stöhnte er. Und Mäusi erkannte ihren alten Zaspel. Wochenmitte erhielt er eine Einladung zu einem zwanglosen Ge spräch in die Kreisstadt. Am Kopf des Briefes das Signum: DTSB – KREISVORSTAND / SEKTION LEICHTATHLETIK. Unterschrieben hatte ein gewisser Zack. Er war größer als Zaspel. Sein Händedruck verursachte einen dumpfen Schmerz. Zaspel vermutete in seinen Schreibtischfächern Ansammlungen von Kugelstoßkugeln. »Setz dich, Sportfreund«, sagte Zack forsch, »gehörst du unserer Bewegung an? Nein? Das solltest du aber dringend!« Zaspel nannte gewissenhaft seine Beiträge für Partei, DSF, Ge werkschaft, Kulturbund, Kleingartensparte und Solidarität. »Wie schaffst du das?« fragte Zack. »Ich rauche nicht, ich trinke nicht«, erwiderte Zaspel. »Das ist ausgezeichnet!« lobte Zack. »Du könntest solch eine Leistung anders auch nicht vollbringen. Aber nochmals: Wie schaffst du das? Hast du dir eine bestimmte Technik ausgearbeitet?« »Ich lass’ es einfach vom Konto abbuchen«, erklärte Zaspel, »sonst merkt man ja dauernd, wieviel es ist.« »Mir wurde erzählt, es sind etwa zwanzig Meter«, sagte Sport 161
freund Zack. Hubertus Zaspel ließ den Mund geöffnet, als wollte er ›Pfaaa!‹ ru fen. »Wovon sprechen Sie?« »Nun versteck dich mal nicht, Sportfreund Zaspel«, ermunterte ihn Zack. »Ich habe ganz sichere Hinweise, obwohl es mir unglaub lich erscheint: Du springst abends, wenn du die Asche zu den Müllkübeln bringst, traumhafte Weiten.« Er beugte sich vor und hielt die Hand vor den Mund: »Wenn das so wäre – nicht auszudenken! Ist es so?« Zaspel fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß. Zorn, seiner eigenen Unvorsichtigkeit wegen, packte ihn. »Und wenn es so ist«, sagte er ausweichend, »dann ist das nur meine Sache.« »Du irrst«, korrigierte Sportfreund Zack, »und es wundert mich sehr, so etwas von dir zu hören. Wir wissen, du wirkst in der Öf fentlichkeit. Gestatte mir den Vergleich: Du kehrst dein Inneres nach außen. Ich habe schon Referate von dir gehört, die in ihrer Länge eine gewaltige sportliche Leistung aufwiesen. Wieso krem pelst du dann jetzt das Äußere nach innen? Nein, nein, Sportfreund Zaspel, es gibt keine eigene Sache. Deine Sache ist die Sache unser aller! Ich sage nur: In einem Jahr ist die Sommerolympiade. Wie also schaffst du das?« »Ich weiß es nicht«, log Zaspel. »Gut«, sagte Sportfreund Zack und hieb versöhnlich seine harte Hand auf Zaspels labile Schulter, »dir fehlt die physikalische Kennt nis deiner Muskulatur. Das macht nichts. Ist sogar gut. Bei entspre chendem Training bist du steigerungsfähig. Kommenden Sonntag neun Uhr: Stadion am Birkenweg.« Zaspel ging da nicht hin. Aber 9.30 Uhr klingelte der Sportfreund Zack an seiner Tür mit dem nachsichtigen Lächeln eines Mannes, der das Lampenfieber junger Talente kennt. Unten im Auto saßen zwei sportlich gekleidete Männer, die Zaspel während der Fahrt in das Stadion voller Interesse betrachteten. Das Stadiontor war ge schlossen. Vor dem kleinen Nebeneingang wartete ein Ordner, der nur für sie öffnete und sofort wieder verriegelte. An der Weit sprunganlage begrüßten etwa zehn Experten in Trainingsanzügen hoffnungsvoll Hubertus Zaspel. Man half ihm aus der Jacke und zu 162
seinem Schreck auch aus der Hose. Im Nu trug er knallrote Sprinter shorts, Sprungspikes und einen blauen Dreß mit dem Emblem des kreisstädtischen Sportvereins. Ein Masseur behandelte etwas skep tisch seine weißen Oberschenkel. Sportfreund Zack legte den Arm väterlich um seine Schultern. »Ganz ruhig sein«, sagte er, »du machst es so wie immer, nicht anders. Alles übrige – Absprungphase, Dynamik, Umsetzen des Körpers – analysieren diese Sportfreunde dort. Du siehst, die Weit sprunganlage haben wir verlängert. Also: Sport frei!« Hubertus Zaspel erinnerte sich an seine Kindheit: Turnunterricht auf dem Schulhof. Festlegung der Zensuren. Er stellte sich zitternd am Ende der Anlaufbahn auf, rannte im mittelmäßigen Tempo los, sprang weit vor dem Balken ab und landete entsetzlich keuchend am Beginn der Sprunggrube. Die Meßangabe zeigte 1,73 Meter. »Hüftkreisen!« befahlen die zehn Trainer. »Einige Stadionrunden laufen, lockern, zweiter Versuch.« Hubertus Zaspel schaffte eine dreiviertel Runde. Den Rest mußten ihn zwei Helfer bis zur Anlauf bahn tragen. »Es hat keinen Sinn«, hechelte er. Sie zogen ihm einen Trainingsanzug über, hüllten Decken um ihn. Man brachte eine halbe Stunde später den Nachbar, der vom gegenüberliegenden Wohnblock Zaspels Sprünge beobachtet hatte. »Zweimal habe ich es gesehen«, sagte er, »und jedesmal sprang er auch wieder zurück. Entschuldigung, Herr Zaspel, ich wollte ja nur Ihr Bestes. Ich dachte, ein Erfolg wie Katarina Witt, das wäre doch auch was für Sie.« »Bist du nun gesprungen oder –?« fragte der Sportfreund Zack är gerlich. Die Blicke der zehn Trainer bündelten sich auf Zaspel. »Nein«, gestand er, »ich bin geflogen.« Die Experten riefen sich belustigt ihre Proteste zu. »Unmöglich!« »Das ist doch Gespinne!« »Nur Realitäten bringen uns weiter!« »Nenn es ruhig Fliegen. Aber Sprung ist Sprung!« »Überleg mal, was wir heute alles auf die Beine gestellt haben. 163
Und die Vorbereitung! Weißt du, wieviel du uns kostest –?« »Es ist so«, sagte Zaspel zerknirscht, »ich kann es nur, wenn was ausfällt.« »Wie ausfallen –? Ausfälle können wir uns nicht leisten!« erwi derte Sportfreund Zack. Hubertus Zaspel sah die Trainer flehend an. Er rang – nun wie derum – nach passenden Worten. »Ich habe manchmal so einen Druck«, begann er. »Wir sollten eine sportmedizinische Untersuchung durchführen«, riet ein Trainer. »Nein, nein!« Zaspel hob abwehrend die Hände. »Es sind Termi ne. Immer wieder Termine, Termine, Termine. Oft dachte ich schon, es sind Geier. Mäusi sagt auch, es hat bald Konsequenzen. Ich fülle mich wie mit schwerer Luft. Und wenn plötzlich eine Ab sage kommt, irgendein Termin fällt aus, dann weicht sie. Ungefähr so.« Zaspel stellte sich auf, saugte Luft in die Backen und machte »Pfaaa!«. Er hüpfte ein bißchen. »So geht das«, sagte er bescheiden, »und dann fliege ich eben.« Die zehn Trainer schwankten zwischen Scharlatanerie und Wun der. »Äußerst seltsam«, sagte Sportfreund Zack. »Na gut. Für heute lassen wir es genug sein.« Am nächsten Abend trafen sich alle im Sportkasino zur Grün dung der Arbeitsgruppe »Zaspel«. Konditionstrainer, Diplomanden technischer Disziplinen, Therapeuten, Masseure und ein Sportpsy chologe umringten den Vereinstisch. Zaspel saß zu Hause über einem Referat mit dem Thema: »Die Berücksichtigung der Auslastung der Produktivkräfte unter beson derer Berücksichtigung der Anwendung der Produktionsmittel als eine entscheidende Frage in der Umsetzung der Schlüsseltechnolo gien«. Immer wieder las er den Satz und verstand ihn nicht. Es gab also kaum Aussichten zum Gelingen des Referates. »Solch einen Mann dürfen wir uns nicht entgehen lassen!« be schwor der Sportfreund Zack. »Aber seine Schenkel sind erstaunlich schlaff«, gab der Masseur 164
zu bedenken. »Beim Kneten hatte ich nur Pudding in den Händen.« »Wenn wir nun einem Schwindler auflaufen?« fragte ein Trainer. »Vielleicht hat er Spannfedern unter die Schuhe geschnallt.« »Der Mann macht einen absolut ehrlichen Eindruck«, bemerkte ein Diplomand. »Und übrigens kann die weiche Muskulatur ein Beweis dafür sein, daß es keinerlei Verspannungen gibt. Die Zeit der harten Mus keln ist vorbei. Auch im Sport müssen wir umdenken«, sagte der Psychologe. Und da er eine Brille trug, irritierte er die scharfsichti gen Trainer. Sportfreund Zack ärgerte sich zwar über diese Behauptung, doch das gesellschaftliche Anliegen Zaspel ließ ihn engstirnige Schranken überwinden. »Der Mann, der ihn beobachtet hat, schwört auf die Echtheit«, sagte er. »Beim zweiten Mal hat er sich sogar in einem Müllkübel versteckt und den einwandfreien Sprung aus allernächster Nähe gesehen. Keine Spannfedern, keine Hubschraube oder dergleichen. Zaspel ist eine Olympiahoffnung. Medaillensicher!« Die Mitglieder der AG »Zaspel« strafften ihre Oberkörper. »Ich habe eine Idee«, sagte der Psychologe. »Fakt ist, er kann nur ohne Termindruck. Also soll er einen Termin absagen, und danach lassen wir ihn sofort an die Sprunggrube.« Der Arbeitsgruppe »Zaspel« bemächtigte sich verhaltene Eupho rie. Hubertus Zaspel befolgte ihren Rat und sagte ab. Er wurde da durch von dem Referat erlöst: »Die Berücksichtigung der Auslastung der Produktivkräfte unter besonderer Berücksichtigung der Anwen dung der Produktionsmittel als eine entscheidende Frage in der Umsetzung der Schlüsseltechnologien«. Freudig sprang er 1,74 Meter. Der Trainerrat hockte verzweifelt im Sand. Noch während der Sprungphase, wenn man überhaupt von einer solchen reden konnte, hatte Zaspel einen vollbesetzten Konferenz saal mit nur einem freien Stuhl gesehen und die Stimme des Ver sammlungsleiters durch das Mikrofon gehört: »Leider muß das heutige Referat unseres bewährten Kollegen Hubertus Zaspel aus 165
gesundheitlichen Gründen entfallen.« In seiner gesamten Schulzeit hatte er nicht ein einziges Mal ge schwänzt. Der Druck blieb also. »Ehrlichkeit zu sich selber ist die erste Voraussetzung für einen echten Leistungssportler«, sagte AG-Leiter Zack hoffnungsvoll. Er boxte Zaspel aufmunternd unter die kurze Rippe und zwinkerte seinen Mitarbeitern verschwörerisch zu. Als Zaspel im Auto eines Masseurs nach Hause gefahren wurde, erklärte Zack, dabei den Sportpsychologen triumphierend im Auge behaltend: »Das war geistig völlig verkehrt. Ich nehme an, du bist noch nicht lange in der Praxis tätig. Der Fall ist doch klar: Wenn er wieder eine Tagung hat, teilen wir den Veranstaltern mit, sie sollen ihm fingiert ...!« Hierbei hob der Sportfreund Zack wie zum Schwur die Hand und wiederholte: »... fingiert ein Telegramm zusenden, worin steht, daß die Tagung ausfällt. Ich übernehme die Aufgabe, zu informieren, worum es geht. Wir warten vor seinem Haus, bis der Telegrammbote kommt. Dann werden wir ja sehen.« Es gab Beifall. Und der Sportfreund Zack sah wieder so aus, als hätte er haufenweise Kugelstoßkugeln in den Schreibtischfächern. Die informierten Veranstalter wollten natürlich einem Olympia kader den Weg zur Medaille nicht verlegen. Sie willigten ein. Am Telegrammtag hielten sich bereits nach der Mittagsstunde einige Männer in Trainingsanzügen, Jogging vortäuschend, in der Nähe von Hubertus Zaspels Wohnblock und in leeren Müllkübeln auf. Sie mußten bis in die Dunkelheit warten und vollführten zäh neklappernd Aufwärmübungen. Endlich erschien der Telegrammbo te. In der Helligkeit der Hausbeleuchtung waren die Umrisse Zaspels zu erkennen, wie er das Kuvert auffetzte. Er las es, klatschte froh in die Hände und musterte alle Hausfassaden. Die Trainer warfen sich blitzschnell in den Liegestütz. Dann saugte Zaspel die Luft ein, machte »Pfaaa!« und – hoppelte wie ein krankes Karnickel vom Eingangspodest herab ein Stück in das Dunkle. Er versuchte es nochmals, schüttelte den Kopf, zog sich eilig in das Haus zurück. Hinter den Büschen, aus den Müllkübeln kroch die AG »Zaspel« hervor. Mochte es an der Abendkühle liegen, eine gewisse Frische 166
blieb bei allen, und so kam keine Resignation auf. Im Gegenteil. Mehrere Konditionstrainer riefen ein über das andere Mal: »Phan tastisch! Äußerst phantastisch! Es geht also nur, wenn es absolut echt ist.« Auch der Sportfreund Zack, der mit seinem Trick total eingebro chen war, pochte nun um so heftiger auf eine konsequente Vorbe reitungsmethode. Man eruierte einige Veranstaltungstermine Zaspels über seine Frau und bat sie gleichzeitig, während der Entwicklungszeit ihren Mann zur Enthaltsamkeit in der Erotik aufzufordern. Mäusi lachte schrill und sagte: »Da muß er sich ja sogar von der Enthaltsamkeit enthalten.« Man war jetzt jedenfalls vom Erfolg überzeugt. Sportfreund Zack verlangte den echten Ausfall einiger zentraler Konferenzen und bekam es derart mit Kreisleitungen und Kreisräten zu tun, daß ihm die Augen aus den Höhlen quollen. Er tobte. Er drohte mit dem Nationalen Olympischen Komitee. Er vernachlässigte alle anderen Sektionen. Sein Haar verwahrloste. Aber in den Augen loderte eine Flamme, und die Mitglieder der AG »Zaspel« wurden zu seinen Fackelträgern. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die man ihnen bereitete, entschlossen sie sich, Hubertus Zaspel gleich für den Auswahlkader zu den Olympischen Sommerspielen vorzuschlagen und aufgrund seiner außergewöhnlichen Leistungen als sicher zu setzen. Der junge Sportpsychologe hob nach dieser Entscheidung, noch etwas deprimiert und trotzdem ungebrochen, seine Hand. »Aber es geht doch nur bei einem echten Ausfall.« »Jawohl!« schrie Sportfreund Zack in Fahrt. »Jawohl! Deshalb müssen wir die Olympiade ausfallen lassen!« Begeisterung brach aus. Der gesamte Trainerrat erhob sich. Einer von ihnen gab im Summton die ersten Takte der Nationalhymne vor. Der junge Sportpsychologe behauchte seine Brille, setzte sie be hutsam wieder auf und fragte: »Aber wozu soll dann unser Sport freund Zaspel noch springen –?« Die Mitglieder der Arbeitsgruppe »Zaspel« erstarrten. In der ein tretenden Stille war es so, als gäbe es einen gewaltigen lautlosen Knall. 167
Im selben Moment erhielt Hubertus Zaspel eine Mitteilung, daß die am nächsten Tag anberaumte Intensivierungskonferenz, zu der sie ihn für die Diskussionsleitung verantwortlich gemacht hatten, infolge einer Heizungshavarie leider ausfallen muß. Zaspel trat vor das Haus. Es war eine klare Sternennacht. Über den Dächern ging ein gelber sattgefressener Mond auf. An den Hausfassaden brannte nur noch vereinzelt Licht hinter den Fens tern. Kein Lüftchen wehte. Herrliche Bedingungen. Zaspel dachte an den ruhigen See, in den er einst hineinge schwommen war. Er fühlte sich ganz allein. Über seinen Schultern gab es nur eine sanfte Schwingung, die er lange nicht mehr gespürt hatte. Wie von Flügelschlägen. Als höbe sich jemand ab. Er brauchte dieses Mal gar nicht erst die Luft einzusaugen. Er stieß sich leicht vom Boden los, breitete beide Arme wie Tragflächen, spreizte seine Beine in die Waagerechte und genoß den Rausch eines unendlichen Fluges.
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PLÖTZLICH LACHTE DOKTOR BUNSEN
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Robert Bunsens Weg wird erst am Ende dieser Geschichte sichtbar, sonst liest sie vielleicht keiner. Seine geniale Idee geriet in Verges senheit, weil man sie nicht brauchte. Alle unbrauchbaren Ideen werden schnell vergessen, und das ist gut so. Alle brauchbaren Ideen schneller zu erkennen wäre besser. Wenn Robert Bunsen in die fatale Lage geriet, das Prinzip des Bunsenbrenners erklären zu müssen, und wenn er seine Unfähigkeit für derlei Dinge eingestand, fühlte er jedesmal, wie er tief auf den Durchschnitt der Gesellschaft hinabsank. Hier ist der Einstieg in das Leben Robert Bunsens, Stationsarzt im Paracelsus-Krankenhaus, Station I, allgemeine Fälle. Er ging mor gens leise summend aus der Zweizimmerwohnung. Sein Sohn wink te ihm am Fenster nach, das Summen verstärkte sich zu einer un klaren Melodie; die Frau rief mittags an, was er zu Abend essen möchte, da sang er schon laut seinen Lieblingsschlager »He, John McKenzie, wir wollen Wein«. Es gab Kollegen, die, auf den alkoholischen Inhalt des Textes an spielend, Dr. Bunsen unkorrektes Verhalten den Patienten gegen über vorwarfen. Drinnen schlürften die Kranken Lindenblütentee, und draußen grölte einer nach Lindenblättrigem! Aber am Bett seiner Patienten ließ er sich nach wie vor häuslich nieder und fragte mit leiser Stimme nach den Beschwerden wie nach gemeinsamen Bekannten. Er war bescheiden aus Vorsicht. Trat er lautstärker auf, glaubten manche Patienten, er sei tatsächlich über mehrere Stufen ein Nachfahre jenes Chemieprofessors Robert Bunsen, der 1850 den Bunsenbrenner konstruiert hatte, und er sei finanziell noch an dieser Erfindung beteiligt. Der Gedanke an Geld, das er ohne Zutun erhalten sollte, beunruhigte Dr. Bunsen. Solche Vorstellungen spornten ihn zu echter Arbeit an, und nur in dieser Hinsicht verdankte er seinem berühmten Namensvetter einiges. Die Freude, mit den Patienten zu reden, war nicht patentiert. Manchmal diskutierte er mit der Besatzung eines Zimmers über Strafstoßvarianten, obwohl er nichts davon verstand. Wurde er belehrt, so saß er ein bißchen vorgeneigt da, die Brauen neugierig verwundert gehoben und den Mund leicht geöffnet. Aber singen sollte er ja nicht mehr. Zur Visite war es für Neueingelieferte 171
schwer, ihn als Stationsarzt ausfindig zu machen. Immer gingen die langen eleganten Assistenzärzte zuerst durch die Tür, denn er be stand darauf, ihnen den Vortritt zu lassen. Dann allerdings erschien zwischen ihren Schultern ein freundlicher Mann, setzte sich unver züglich auf die Bettkanten und sprach davon, daß seit gestern die Poststraße nur noch für den Verkehr in eine Richtung befahrbar wäre. Die langen eleganten Assistenzärzte schüttelten innerlich den Kopf und vertraten sich hinter ihm die Beine. Banale Bemerkungen zu der veränderten Lage wurden in einigen Betten laut. Im hinteren Teil des Zimmers kritisierte jemand heftig die neue Regelung, und bald befanden sich alle Patienten einschließlich Dr. Bunsen mitten auf der Kreuzung Poststraße/Brüderstraße. Sie fuhren erst ein Stück die Poststraße entlang, erwogen die Nachteile von Zweitaktern, beklagten den Mangel an Spurstangenköpfen. Danach zog ihnen der verführerische Duft aus Julius Bonts Backstube in die Nase, sie bo gen in die Badergasse ein und schwärmten von der Lockerheit eines gutgelungenen Schwarzbrotes. »Speck und Wodka dazu«, sagte ein Blinddarm genießerisch. Während dieser Gespräche saß Dr. Bunsen seltsam interessiert zwischen den Betten. Er lächelte still und hatte nicht minder Lust, wieder zu summen, irgendeine Melodie formierte sich. Das, was er aus den Betten hörte, erschien ihm so angenehm körperlich, das hatte Farbe und Wärme: Männerspiele mit Zweitaktern und Spur stangen, der Biß in ein frisches Brot, Wodka, wobei ihm merkwür digerweise das Zuprosten am meisten gefiel. Der Mensch fühlt sich nun einmal wohl, wenn er auf die Gesundheit eines anderen trinken kann, weil er sich damit seine eigene erhofft. Auf den Bettkanten sitzend, hatte Dr. Bunsen die Krankheitsbilder seiner Patienten Wort für Wort im Kopf. Er las die Notizen vor jeder Visite sehr ge nau. Aber wenn er dann einen fremden Puls an seinen Fingerspitzen spürte, wenn ihm jeder Schlag bewies, daß da jemand dachte, be gann er nicht mit Verordnungen, sondern mit Unterhaltungen. Er war ein genialer Lügner. Er redete den Kranken ein, daß es gar nicht so schlimm mit ihnen stehe, und wenn sie für Sekunden von etwas anderem sprachen, beobachtete er sie, um zu erfahren, wie der erste Schritt zur Heilung mit ihnen anzustellen sei. Er war mit allen Fa 172
sern ein praktischer Arzt. Nichts ging Dr. Bunsen über den Anblick eines sauberen Krankenzimmers, in dem ihm die Patienten hoff nungsvoll entgegenblickten. Und wenn einer von Speck und Wodka schwärmte, dann gab er sein Letztes, um ihm dies wieder zu ermög lichen. Er wußte, daß die kleinen Freuden Voraussetzung zu großen waren und daß sie ein Leben lang Erwartungen auf Höhepunkte versprachen wie harmlose Betrüger. Wenn er zu dieser Erkenntnis gekommen war, fühlte er sich jedesmal als Patient unter Ärzten, die im Bett lagen. Er stand ruckartig auf, winkte freundlich und verließ mit seinem Stab den Raum. »Was sollen wir eintragen?« fragten die Assistenzärzte draußen auf dem Korridor. »Zimmer vier – genesende Tendenz«, sagte Dr. Bunsen. Er lächel te so zufrieden, daß er in den Augen der Kollegen als sonderbar zu gelten begann. Vielleicht entstand dieser Eindruck auch deshalb, weil er zur Kaffeetafel, die von der Köchin, Frau Jeck, täglich impro visiert wurde, immer etwas abseits saß und ziellos am stationären Kofferradio herumdrehte, während die anderen schlürfenderweise den gestrigen Fernsehabend sezierten. Er hatte nicht einmal einen lächerlichen dreiundvierziger Dürer. Gespräche über Kanaleinstel lungen verwirrten ihn. So lauerte er geduldig auf seine Chance. Doch als sie kam, waren die anderen beim Testbild angelangt, sie gähnten, krochen in sich zurück und starrten ihn aus ihren entzün deten Augenrändern vorwurfsvoll an. »Übrigens, Sie haben einen Doppelgänger«, orgelte Dr. Kimmer ling. Er brachte seine Tasse in Höhe des zweiten Kinnes zum Ste hen. »Gestern im Vorbeifahren dünkte mir, Sie radelten.« Die Assis tenzärzte und Stationsschwester Kriemhild kicherten. Alle übrigen betrachteten Dr. Bunsens kurze Beine, die unweigerlich an Sattelrutschen erinnerten. Der dachte an den knallroten Shiguli, welcher ihm und seinem Sohn gestern zehn Meter Abgase bis in die Ohrmu scheln gewirbelt hatte. Im Sog des Wagens sah er für Sekunden zwei Kinder mit Krawatten. Sie drehten ihm durch das Rückfenster lange Nasen und kamen ihm wie verfrühte Ausgaben Dr. Kimmer lings vor. 173
»Das war in der Hauptstraße am Thälmannplatz«, bemerkte er leise. Ringsum wurden die Tassen ziemlich klirrend auf ihre Unter tassen gesetzt. »Wie denn«, murmelte Stationsschwester Kriemhild, »Sie fahren wirklich Rad? – So mit Hosenklammern?« »Sie – Sie waren nicht Ihr Doppelgänger?« stammelte Assistent Reiffenschläger, der sich mit Dr. Bunsen immerhin so etwas wie ein Vorbild geschaffen hatte. »Nein«, erwiderte dieser beinahe bedauernd, »mein Doppelgän ger war ich.« Und weil er das Gefühl hatte, sich in der eingetretenen Stille er klären zu müssen, beschrieb er die Zierfischanlage seines Sohnes. Er malte mit den Händen in die Luft ein riesiges Aquarium, eifrig be strebt, die eingefrosteten Gesichter seiner Abteilung wieder aufzu tauen, und je länger ihm das mißlang, desto belegter wurde seine Stimme. Die Kaffeestube versank in einem Wald voller Wasser pflanzen. Rotfedern, Zebras, Skalare und Guppys schnappten nach Wasserflöhen, und die gäbe es nahe Pfaffenbach in so kleinen Tüm peln, am besten führe man da mit dem Rad hin. Aber die Augen Schwester Gundels, auf Dr. Bunsen gerichtet, blieben Fischaugen. Denn nun war für alle deutlich zu sehen, wie er mit hochgekrempel ten Ärmeln in das glitschige Aquarium tauchte, Schlamm an den Beinen. Mit Hosenklammern wäre nichts, flüsterte er, Stations schwester Kriemhild beruhigend, in Tümpel könne man nur kurzbehost gehen. »Allerdings. Sie trugen Lederhosen«, bestätigte Dr. Kimmerling trocken und senkte die Blicke auf den rechten Daumennagel. Mitten durch die Seelen seines Personals kurbelte Stationsarzt Dr. Bunsen auf einem alten Mifa-Rad mit Zugklingel und Vollberei fung. Es war ihm, als hätte er wieder einmal nicht die Konstruktion des Bunsenbrenners erklären können. »Warum eigentlich leisten Sie sich für solche Tümpeltouren kein Auto?« fragte Dr. Kimmerling. »Und überhaupt!« sagte Assistent Reiffenschläger. Dr. Bunsen blickte die kleine Kaffeerunde unsicher an, denn nun begann ein Thema, dem er sich nicht gewachsen fühlte, schlimmer 174
noch, es fehlte ihm der Ehrgeiz, um mithalten zu können. »Ich«, erklärte er, »ich möchte keines.« »Ach!« Stationsschwester Kriemhild ließ ungläubig ihre unglaub lichen Lidschatten aufblitzen. »Und dabei lächeln Sie immer und singen. Früh, mittags, abends! Sie singen und lächeln. Ich dachte deshalb, weil Sie Ihren Wagen eher bekommen?« »Ich möchte keinen«, wiederholte Dr. Bunsen beharrlich. »Aber was möchten Sie dann?« fragte Schwester Gundel. »Nichts – im Moment«, erwiderte er. »Im Moment«, murmelte Dr. Kimmerling und grübelte. Mehrmals hörte Dr. Bunsen, wie hinter seinem Rük-ken fas sungslos die Bemerkung »keine Bedürfnisse« getuschelt wurde. Er wandte sich vorsichtig um wie einer, der eingekreist wird. »Es ist«, sagte er und sah die anderen, mit seinen gutmütigen Augen Verständnis suchend, an, »es ist, weil ich nicht in der Kolon ne abreißen will.« »– ? –« »Und dann – dann könnte es mir passieren, daß ich ins Spiel der Farben an der Ampel vertieft wäre. Dieser zauberhafte Ton der Übergangsphase vom Rot zum Grün! Ich könnte stundenlang den Leuten zusehen, wie sie die Zebrastreifen benutzen. Woher kom men sie, und wohin gehen sie, was haben sie vor? Fußgänger ma chen auf mich so einen kontaktreichen Eindruck. Ja.« Im folgenden Schweigen brummte deutlich hörbar der Fahrstuhl vom Erdgeschoß zum Operationssaal. Heute wurde operiert. Unten im Hof saß schon seit sieben ein Mann auf der Bank und starrte zu den Fenstern hoch. »Tja«, sagte Reiffenschläger. »Aber hören Sie mal«, brach Dr. Kimmerling die Stille, »das sind doch alles Dinge! Bei Rot sehe ich einfach rot, weil da keiner weiter kann. Und bei Ihrem – Ihrem zauberhaften Ton, wie Sie das nen nen, lieber Kollege Bunsen, müssen Sie schon aufs Anfahren span nen. Mit Träumen ist da nichts.« »Eben«, sagte Dr. Bunsen und lächelte. Und dieses Lächeln war es, das die Kaffeetafel beunruhigte. Man kehrte sich angenehmeren Dingen zu. Dr. Kimmerling hatte eine 175
Wildlederjacke erworben, Schwester Gundel zeigte sich im Glanz neuer Schuhe, ihre Beine blieben noch die alten. Es war die beste Möglichkeit, sich gegenseitig zu zeigen, wieviel Geld man eigentlich besaß. Dr. Bunsen drehte währenddessen am Kofferradio und hörte sich versunken die Wasserstandsmeldungen an: Dresden hundertfünf undzwanzig minus sieben, Pardubice zweiundfünfzig minus eins ... Er trug schon seit Jahren einen grünen Lodenmantel mit tiefen brauchbaren Taschen. Seine Farbe schreckte einige junge Ärzte mit der Vorstellung, irgendwo auf dem Lande Bauern heilen zu müssen. Von alledem wußte Dr. Bunsen nichts. Er war abwechselnd in Dresden und Pardubice und schon ein bißchen im Zimmer fünf. Eine Woche später wurde Dr. Robert Bunsen in die Räume des Kaderleiters zu einem Gespräch gebeten, das folgenden Verlauf nahm: »Schön, daß Sie da sind«, sagte der Kaderleiter. »Sie auch«, sagte Dr. Bunsen. »Und wie geht es Ihrer Familie?« fragte der andere. »Danke. Und Ihrer?« »Auch danke.« Der Kaderleiter schob Kinn und Zigarette an das glimmende Feu erzeug. Man hörte, wie die Privatsphäre gemütlich verbrannte. Dann kramte er in allerhand Akten auf dem Schreibtisch und murmelte: »Ich habe da einige Meinungen betreffs Ihrer Person gesammelt, wo habe ich denn, ach hier! – Ja. Sie würden den Kollegen eine Zu friedenheit vorleben, die nicht mit der optimistischen Zufriedenheit unserer Menschen vergleichbar wäre.« »Ich –«, unterbrach Dr. Bunsen. »Das weiß ich«, fuhr der Kaderleiter fort, »aber es ist jetzt die Frage zu stellen, ob bei Ihnen eine echte Hinwendung vom Ich zum Wir und Hier und Heute, mit einem Wort, ob Sie das Neue eigent lich, wir verstehen uns doch.« Dr. Bunsen lauschte mit offenem Mund. »Negative oder positive Entscheidungen fallen mir relativ leicht, wissen Sie«, seufzte der Kaderleiter, »bloß bei Ihnen sind die Kontu ren verwischt, denn im selben Moment schlägt Sie Ihre Station 176
geradezu heftig als Oberarzt für unseren gesamten medizinischen Komplex vor. Und sie lobt Ihnen besondere Fähigkeiten auf dem Gebiet der Blasenerkrankungen an. Ich kann mir das nicht erklären, Sie etwa?« »Vielleicht«, erwiderte Dr. Bunsen nachdenklich, »weil ich mich für Wasserstandsmeldungen interessiere.« Irrtümlich gedruckt unter der Rubrik WOHIN HEUTE? lasen die Einwohner auf ihrer Kreisseite den Hinweis: »Oberarzt des Paracel sus-Krankenhauses wurde Herr Doktor Robert Bunsen, bisher Stati onsarzt daselbst. Wir wünschen ihm viel Erfolg ...« Nicht vermerkt war, daß Dr. Kimmerling nun die Funktion des Stationsarztes ange treten hatte und Stationsschwester Kriemhild einmal wöchentlich wegen Übermüdung von ihm behandelt wurde. Dr. Bunsen begann unverändert sein neues Arbeitsfeld zu beackern, aber er hatte noch keine zwei Furchen gezogen, da war er schon Kulturobmann, weil sich hartnäckig das Gerücht verbreitete, er sammele Fische. An der Wandzeitung des Krankenhauses stand, die leitenden Ärzte sollten sich ein Beispiel an ihm nehmen. Fest verankert in die Leitungstä tigkeit müsse die sozialistische Kultur sein. Als er im Kreiskulturhaus zur »Gräfin Mariza« nicht registriert wurde, verfolgte ihn fort an, wenn er die Stationen inspizierte, ein leichtes Kopfschütteln. Nur die kleinen Satelliten aller Oberärzte, diese kosmetisierten Schwesterchen, umkreisten ihn noch hoffnungsvoll, und er trug sich schon mit dem verzweifelten Gedanken, er müsse vielleicht anstandshalber einer im Vorbeigehen auf den Hintern klopfen. Was blieb, war eine unbedeutende Schlingerbewegung, an die er sich gewöhnte und die er deshalb schnell wieder vergaß. Allmählich ereigneten sich bei ihm Dinge, die er zuerst bestaunte und dann anzuwenden begann. Er wurde zum Vorsitzenden der Ferienkommission des Kreises gewählt. Nun hätte er wieder singen dürfen, aber er ertappte sich dabei, wie er krampfhaft nach einer Melodie suchte. Statt dessen spürte er ein leises, ruckartiges Ziehen unterhalb des Magens. Komischerweise erinnerte ihn dies an Mor sezeichen. Einmal im Monat fuhr er unerkannt mit dem Fernbus und seinem Sohn nach Pfaffenbach. Dann holten beide ihre Räder 177
aus einem Gehöft, die sie gegen ein kleines Mietgeld dort aufbe wahrten. Dr. Bunsen zog seine Rundstrickhosen aus, sprang in die speckigen Lederhosen, und, heidi, radelten sie an die Tümpel. Es kam Dr. Bunsen gar nicht mehr auf Wasserflöhe an. Er patschte durch das Wasser, röhrte wie ein Hirsch, bewarf seinen Sohn mit Moosbrocken und ließ sich überfallen. Rücklings lag er im Gras und starrte zum Himmel, wo kleine medizinische Wattebäusche nach Norden flogen. Er wagte es nicht, einen Antrag auf Urlaubsplätze zu stellen. Am 31. Mai des nächsten Jahres bat der Ärztliche Direktor des Paracelsus-Krankenhauses herzlich darum, man möge doch ener gisch Einspruch erheben, wenn er aus Altersgründen seine Funktion abgeben will, dies würde ihm seine Entscheidung erleichtern. Dar auf erhob das gesamte Personal begeistert Einspruch. Die Wahl eines neuen Direktors beschäftigte alle Gemüter. Dr. Bunsen hatte in dieser Zeit Schwierigkeiten mit seinem Sohn, der die besten Zen suren nach Hause brachte und nicht mehr zum Friseur gehen wollte. Es drohte die Gefahr, daß er auf schlechte Zensuren und kurze Haa re umwechselte. Wenn zu zwei Mitarbeitern des ParacelsusKrankenhauses ein dritter trat, stand der kommende Führungs wechsel zur Debatte. Dr. Bunsen aber lief in sich gekehrt durch die Gegend, zupfte an seinen kurzen Seitenhaaren und zog sie verstoh len über die Ohren. Der Vorschlag, ihn als neuen Ärztlichen Direk tor einzusetzen, hatte deshalb die Wirkung eines örtlichen Verei sens. Seine Fähigkeiten auf dem Gebiet der inneren Medizin waren fast Legende, die Fürsprecher allein hätten schon gereicht. Aber es kam zum Beispiel noch Stationsarzt Dr. Kimmerling hinzu, der sich eingehend mit der Funktion des Oberarztes befaßte, und Assistent Reiffenschläger, inzwischen Doktor geworden, befaßte sich mit der Funktion des Stationsarztes. Ihre leidenschaftlichen Urteile über Dr. Bunsen waren es hauptsächlich, die den Ausschlag gaben. Dr. Bunsen sah diesen Operationen bewegungslos zu. So saß er denn bald in einem Meer voller Blumen, und als sie allmählich da hinwelkten, wurde ein riesiger Eichenholzschreibtisch sichtbar, hinter dem ein kleiner Mann allmählich Aktenstücke aufbaute. Leute mit zerfurchten Gesichtern kamen zu ihm, nestelten an ihren 178
Fingern herum und flüsterten, daß sie hierfür keine Verantwortung übernehmen könnten, oder sie beklagten sich wegen unzureichen der Geldmittel pro Quartal. Unbewußt ahmte Dr. Bunsen ihre Sprachmelodie nach, faltete er seine Stirn. Früh holte ihn ein Fahrer von der Wohnung ab, abends wurde er wieder nach Hause gebracht. Aber da es immer ein anderer Fahrer war, fand er nie den richtigen Kontakt. Er saß im Auto und blickte sehnsüchtig in die frische Luft hinaus. Mit privaten Bekanntschaften, das ging ja noch. Seine Frau be suchte öfters eine ehemalige Schulfreundin, die mit einem Grab steinbauer verheiratet war. Sie besaßen zwei Töchter, und die besa ßen je ein Haus. Mehr zu besitzen, hielten sie für pietätlos. Es hätte sonst so ausgesehen, als freuten sie sich über die Toten. Außer ei nem Kunstmaler, einem Pudel und einem Diakon wollten sie sich für die Abende nun einen Ärztlichen Direktor halten. Besonders der Hausherr lachte immer dröhnend, wenn er nach der Sterblichkeits rate im Paracelsus-Krankenhaus fragte. Jedoch wurde Dr. Bunsen von der allgemeinen Fröhlichkeit nicht mitgerissen. Er bildete sich sogar ein, daß sein neuer Bekannter den Meißel nachdenklich zum Anfangsbuchstaben B an irgendeine Gra nitplatte setzte, wenn er dessen Werkstatt betrat. Das war neu an ihm, er wirkte gereizt. Mitten im tiefsten Sommer und auf dem Wege zu diesen Leuten quängelte er seiner Frau gegenüber: »Haben sie’s nicht warm, dann gehen wir wieder.« Ansonsten schrieb er Gutachten und Referate, die er sogar selber hielt. Er stellte Krankenhausordnungen auf, schlichtete Streitereien, regelte Arbeitszeiten, nahm am Ersten Mai auf der Ehrentribüne die Demonstration ab und hielt alljährlich zum Tag des Gesundheitswe sens eine Rede, die im Massengemurmel unterging und nur dann in eisige Stille geriet, wenn er die Prämien für gute Einzelleistungen nannte. Die Kastanie vor seinem Arbeitsfenster blühte, reifte, trug Früch te und warf sie prasselnd ab. Er dachte manchmal bewundernd an Chefärzte, die es zu einem Image gebracht hatten. Sein Image be stand darin, daß er die Mitarbeiter zuerst grüßte. Ein Fehler, ohne Zweifel, dafür gelang ihm aber jetzt mit lockerem Schwung das B 179
seines Namens, wenn es unter den Protokollen andere in Sicherheit bringen sollte. Er tat dies mit zusammengekniffenen Lippen und Augen, den Kopf etwas schief, als bereitete er wie früher eine Injek tion vor. Da es viele Protokolle gab, bemühte er sich gar nicht mehr, zwischendurch anders auszusehen. Stationsschwester Kriemhild wurde Oberschwester. Zu den ersten Gratulanten zählte auch er. »Ich freue mich«, sagte er, »ich wünsche Ihnen viel Erfolg.« Dann wollte er lächeln, aber unterhalb seines Magens klopfte je mand kurz, kurz, lang, lang, kurz. Er nahm zum zweiten Mal Anlauf. Vergeblich. Hinter ihm kam Getuschel auf. »Das ist purer Neid.« »Egoist bis auf die Knochen.« »Er gönnt keinem eine Entwicklung.« Darauf schloß er sich in seinem Zimmer ein und probierte vor dem Spiegel. Er konnte nicht lachen. Er fand dies erheiternd und wollte sich schier ausschütten darüber. Aber auch das mißlang. Unter dem Vorwand, Rippenbeschwerden zu haben, ließ er sich im Röntgen einige Aufnahmen schießen. Die Auswertung behielt er sich selbst vor. Diagnose: Im Thoraxbereich keine Veränderung, der Magen etwas erweitert, aber das war schon modern. Die Leute be kamen dafür keine Weisheitszähne mehr. Was ihm auffiel, war die Schlaffheit des Zwerchfelles. Es hing wie ein alter Regenmantel, dessen Appretur dahin ist, über Leber und Dickdarm. Die Grenzstränge des Sympathikus wirkten wie Garderobenständer. Er hatte vor der Aufnahme seine Lunge kräftig gebläht, jedoch glaubte er nun beim Betrachten, es sei Windstille. Kein Zweifel, ein biologi scher Kurzschluß, und der vierte Zervikalnerv morste diesen, den er jedesmal wie ein leises, ruckartiges Ziehen empfunden hatte. Es ist verständlich, daß Dr. Bunsen eine leichte Zerstreutheit nicht verbergen konnte. Er nahm sich einige Tage Resturlaub und lag die meiste Zeit grübelnd im Wohnzimmer auf der Couch. Er hielt es für absurd, zum Arzt zu gehen. Uhrmacher trugen ihre defekten Uhren auch nicht zur Reparatur. Zwei Tage hörte er in unmittelbarer Nähe seltsame Motorengeräusche. Sie schienen teils zwischen den Häusern, teils über den Dächern zu sein. Am dritten Tag zog er seinen Lodenmantel über und entdeckte zwei Straßen weiter um 180
eine Wiese versammelt alle Kinder des Wohngebietes. Mitten auf der Wiese drehte ein junger Mann an seinem Kofferradio. Es war aber keines, und die Kinder schauten auch nicht zu ihm, sie reckten ihre offenen Mäuler zum Himmel, denn dort zog ein Flugzeug – nicht größer als zwei Schullineale gekreuzt – abenteuerliche Schlei fen. Die Kinder kreischten vor Wonne bei jeder überraschenden Wende. Dr. Bunsen fühlte ein wenig schmerzlich, ein wenig neidisch, nutzlose Dinge können die größte Freude bereiten. Und je länger er diesen Meister der Fernsteuerung bestaunte, desto klarer setzte sich in ihm eine Idee fest. Er trat unauffällig näher. »Ausgezeichnet«, sagte er, »kann man so etwas kaufen?« »So etwas ist eine Antonow«, sagte der junge Mann. »Bunsen«, bemerkte Dr. Bunsen. Die A N verlor rasch an Höhe und landete vor Dr. Bunsens Schuhspitzen. Der junge Mann grinste belustigt. »Kaufen! – Basteln müssen Sie das. Wie wollen Sie sonst einen Schaden beheben, he?« Dr. Bunsen räusperte sich. Er fand es großartig, daß ihn hier nie mand kannte. »Natürlich«, sagte er, »bauen Sie auch noch andere Dinge?« »Vor Jahren habe ich mal ‘nen Wecker gebastelt. Der klingelte nicht, dafür sprach er laut vom Tonband: Auf-stehn, Sir, der Tag wartet.« »Warum gerade Sir?« fragte Dr. Bunsen. »Weil es mir Spaß machte. Mann!« »Das finde ich aber schön«, sagte Dr. Bunsen wie abwesend. Und nach einer Weile: »Vom Tonband, meinten Sie?« »Genau.« »Da muß es aber unwahrscheinlich klein gewesen sein.« »War es.« Der junge Mann nahm das Flugzeug, verließ die Wiese wie der Rattenfänger von Hameln, hinter ihm die Kinderschar und Dr. Bun sen, der den Anschluß nicht verlieren wollte. »Dann könnte es auch lachen!« rief er. »Was?« 181
»Na, das Tonband.« »Ach so.« Er hatte endlich einige Kinder beiseite gedrängt und stand dicht vor dem jungen Mann. »Ich bitte Sie«, murmelte er, »basteln Sie mir so ein Tonbandge rät. Ich zahle gut, nein, nein, ich zahle wirklich gut! Es – müßte nicht zu sehen sein. Ein Scherz, verstehen Sie, ein kleiner Scherz. Die anderen müssen denken, daß ich es bin, der da lacht.« Er bat, erklärte, lobte. Und kurze Zeit später sahen die Leute verwundert einen erwachsenen Mann, der einem jüngeren seinen Rücken hinhielt, damit dieser auf ein gebrauchtes Briefkuvert, lei denschaftlich mit der Zunge über die Lippen malend, irgendwelche Striche hinkritzeln konnte. Vier Wochen später kaufte Dr. Bunsen zum Liebhaberpreis ein Minitonbandgerät, das er bequem in der oberen Backentasche tra gen konnte. Der Auslöser war als schwarzer Manschettenknopf getarnt. Er brauchte dort nur zu drücken und danach den Mund weit zu öffnen. Die Batterie konnte unter dem Hemdkragen ver steckt werden, das Tonband spulte automatisch wieder zurück. Es war die Meisterleistung eines Amateurs, eine geniale Schöp fung, und sein Schöpfer wollte beim ersten Spaß mit dabeisein. Aber Dr. Bunsen verschwand nach der Bezahlung, die auf jener bekannten Wiese stattgefunden hatte, so unauffällig, wie er damals gekommen war. Die Generalprobe in einem riesigen Kornfeld, wo es kein Mensch hören konnte, überwältigte ihn beinahe. Noch nie hatte er solch ein Lachen vernommen: Trocken, fett, gepreßt, nä selnd, fistelnd, losbrüllend, die Atmung verkürzte sich, Erstickung nahte, zuletzt lachte jemand ungeheuer gesund aus dem Bauch her aus. Dr. Bunsen verließ nachdenklich das Kornfeld. Die nächsten Tage waren mit Gesichtszugtraining vor dem Spie gel angefüllt, denn jede Lachart erforderte eine andere Mimik. Er entwickelte dabei ein Talent, das ihn für die Laienspielgruppe des Paracelsus-Krankenhauses geradezu prädestiniert hätte. Seine ersten vorsichtigen Lachversuche mit dem Gerät wurden nicht bemerkt, da er sich in großen Gruppen lachen ließ. In kleinen Gruppen aller 182
dings, wenn sich jemand einen spezifischen Scherz erlaubte, wurde die Sache kritisch. Jeder Witz verlangte eine besondere Lachart. Aber er hatte alle auf dem Band, und die anderen fanden es etwas merkwürdig, daß der Ärztliche Direktor auf einmal so kindisch war. Eines Morgens traf er Oberschwester Kriemhild im Arzneimittel lager. Sie saß auf Dr. Kimmerlings Knien und händigte diesem so eben einige Medikamente aus. Der Überraschungseffekt war drei fach. Sie riefen Dr. Bunsen ein mattes »Guten Morgen, Herr Chef arzt!« zu und lächelten. Er vergaß den Manschettenknopf zu betätigen, blieb natürlich todernst. Erst draußen fiel ihm ein, daß es ganz menschlich ist, wenn sich zwei mögen. Er startete das Band, die gesamte Skala seiner Heiterkeit schallte durch den Korridor, drinnen im Lager begannen Oberschwester Kriemhild und Dr. Kim merling von Kopf bis Fuß zu zittern. Dies alles hätte Dr. Bunsen mit enormer Befriedigung erfüllen müssen, der Apparat funktionierte mit größter Präzision. Aber er fand keine Freude daran. Hinter seinem Schreibtisch blickte er zu den Stationsfenstern hinüber. Auf den Balkons standen in Schlafanzügen Kranke, die schon umhergehen durften und lachten. Manchmal sah auch er sich viele Jahre zurück da drüben mitlachen. Das Lineal in seiner Hand war unzerbrechlich ... Ausgangs des Sommers wurde Dr. Bunsen zu einer Fachtagung der Ärztlichen Direktoren des Bezirkes eingeladen. Er hatte bereits leichte Sitzbeschwerden und deshalb schon mehrmals die Absicht gehabt, mitten in den häufigen Konferenzen das Rennen auf zugeben. Diesmal aber fuhr er wieder in die Bezirksstadt. Ein gewis ser Sanitätsrat Dr. Mehlhörn, Träger vieler Medaillen, Besitzer einer Kollektion Urkunden, sprach als erster über die verderblichen Fol gen bei Volltrunkenheit durch Pepsinwein. Ein Thema, mit dem er im ersten Drittel des Jahrhunderts einiges Aufsehen erregt hatte. Als er am kritischsten Punkt seiner Darlegungen angekommen war, der Bildung von kontrollierten Pepsin-Nachtbars in dienstha benden Apotheken, passierte es: Plötzlich lachte Dr. Bunsen. Er mußte ein bißchen eingenickt und mit dem schwarzen Manschet 183
tenknopf gegen die Tischkante geraten sein. Dr. Mehlhörn verlor den Faden. Er wandte sich leicht mit dem Kopf wackelnd und mit einer unaussprechlichen Geste der Verwun derung zu ihm und verlangte eine Erklärung. In Dr. Bunsens Nähe erwachten einige Kapazitäten. Sie klatschten sofort irrtümlicherwei se Beifall, der wiederum irrtümlicherweise für eine Unterstützung des Referenten gehalten wurde. Es war Dr. Bunsen nicht möglich, den Zwischenfall vorzeitig abzubiegen. Das Gerät hatte keine Unter brechertaste. Er öffnete fassungslos den Mund und starrte die Ta gungsteilnehmer an. Entsetzen verbreitete sich. An den hinteren Tischen meckerten welche angesteckt in ihre Taschentücher. Er ließ sich eine Minute lachen: trocken, fett und näselnd. Als das gesunde Lachen aus dem Bauch begann, wurde die Tagung abgebrochen. Sanitätsrat Dr. Mehlhörn soll übrigens trunksüchtig geworden sein. Natürlich durch Pepsinwein ... Zur Aussprache im Paracelsus-Krankenhaus sagte Dr. Bunsen nichts als die reine Wahrheit. Er sagte, er persönlich habe nicht gelacht. Trotzdem trug man ihm an, er möchte herzlich darum bit ten, man möge doch energisch Einspruch erheben, wenn er ankün digt, seine Funktion aufzugeben, dies könnte ihm sicherlich den Wechsel erleichtern. Der jetzige Oberarzt wurde Ärztlicher Direktor, ein Meer von Blumen bedeckte seinen Schreibtisch. Er war ein befähigter Mann, hielt keine Zierfische und startete sofort, wenn die Ampel Grün zeigte. Dr. Bunsen machte sich wieder mit den Aufgaben eines O berarztes vertraut. Dies alles geschah ohne Enttäuschung. Es gibt Leute, die dazu berufen sind, den Dirigentenstab zu schwingen, und es muß Leute geben, die unten sitzen, vielleicht als vierter oder fünfter Trompeter, und die erst dem Mann da oben das Dirigieren ermöglichen. Mehr noch: die von der Richtigkeit ihres Platzes über zeugt sind. Mittwochs schlich Dr. Bunsen sich als offizieller Besucher in sei ne ehemalige Station ein, saß auf den Bettkanten derer, die keinen Besuch bekamen, und plauderte ein wenig. Er fühlte, sie brauchten ihn. Stationsarzt Dr. Kimmerling sah das gar nicht gern. Er war ohnehin mit den Nerven herunter. Er mußte jeden Tag ins Arznei 184
mittellager. Dazu bewohnte er einen Neubaublock und behauptete ständig, wenn er an seinen Kühlschrank klopfe, rufe von drinnen jemand »Herein!«. Der Herbst kam und mit ihm die Erkältungen. Dr. Bunsen hüstelte, aber er behielt die Hand staunend vor dem Mund, denn es hatte wie ein leises »Haha« geklungen. Weil die Kornfelder bereits abgeerntet waren und keinen Schutz mehr für Lachübungen boten, suchte er nach Dienstschluß einen einsamen Waldhügel am Rande der Stadt auf, ängstlich bestrebt, seinen Hustenreiz zu erhalten. Da saß er denn und starrte auf das Gewirr von Fernsehantennen hinunter und kicherte ohne Benutzung seines schwarzen Manschettenknopfes. Schließlich lachte er schallend live aus seiner Kehle. Da schmiß er das Gerät hinter sich in die Schonung. Er hörte bereits, wie er mit den Kranken irgendeines Zimmers über irgendeinen Witz grölte. Sie brauchten ihn, gewiß, aber auf einmal wurde ihm klar, er brauchte die Kranken. Mit eigenen Händen helfen, dies mußte es sein, auf alle Fälle für ihn. Er versuchte erneut ein Lachen. Aber zu seinem Erschrecken kam wiederum nur ein kraftloser Hauch über seine Lippen. Wie sollte er da an die Betten? Er sah plötzlich mit großer Genugtuung, wie sich Sanitätsrat Dr. Mehlhörn wackelnden Kopfes zu ihm umdrehte. Er sah das immer und immer wieder trotz ver zweifelten Bemühens, dieses Unglück zu vergessen. Vor seinen Augen tauchte jene Tischkante auf, und der Mund wurde ihm tro cken vor Sehnsucht. Er begann sie mit den Tischkanten im Paracel sus-Krankenhaus zu vergleichen. Dort gab es viele schöne. Doch er kannte eine besondere im Sitzungszimmer – Mahagoni, interessante Maserung, breit genug, in Ellbogenhöhe, also nicht zu verfehlen –, im Sitzungszimmer also, wo über Kaderfragen beraten wurde ... Als später einige Leute an der Stelle vorübergingen, wo Dr. Bunsen nachdenklich gesessen hatte, erblickten sie nun einen Mann, der sehr konzentriert auf dem Erdboden nahe den Fichten etwas suchte. Aber sie hielten ihn für einen Pilzsammler.
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ALS ICH MEIN EIGENER GÄRTNER WAR EIN NACHWORT
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Als Thomas Wolfes Roman »Schau heimwärts, Engel!« erschienen war, konnte er nur unter Gefahren in seine Heimatstadt zurückkeh ren, weil sie allzu deutlich im Buch erkenntlich wurde. Und in Lü beck lagen in einer Buchhandlung Personenverzeichnisse aus, die dem einheimischen Leser von Thomas Manns »Buddenbrooks« genauere Auskünfte gaben. Da stand neben den Namen des Maklers Gösch oder des Doktor Grabow zum Beispiel, wen sie als lebendes Vorbild in Lübeck hatten. Wohl deshalb schützen sich manche Au toren mit der gedruckten Nachbemerkung, Figuren und Handlung seien frei erfunden gewesen. Als ich an einem Buch, das später »Familienfoto« hieß, arbeitete, warnten mich nicht wenige Freunde mit dem Hinweis, ich lebe im Gegensatz zu Thomas Wolfe und Thomas Mann noch in der Stadt, die ich beschreibe. Und sie fügten charmant hinzu, auch literarisch sei ich weiter unten anzusiedeln. Ich hörte nicht auf sie. Ich war schon immer größenwahnsinnig. Auch verwarf ich die Idee, auf der ersten Buchseite drucken zu lassen: Die Menschen in diesem Buch sind Meeraner oder Glauchauer. Sind Sie, geneigter Leser, Mee raner, so behaupten Sie getrost, es handele sich ausschließlich um Glauchauer. Und als Glauchauer schieben Sie ruhig alles den Meera nern in die Schuhe. Aber mein Lektor, den ich aus Sicherheitsgründen nicht auch noch nennen möchte – nur, wenn dieses Buch ein Mißerfolg wird, sage ich, er heißt Klaus Walther –, also mein Lektor vermutete ganz richtig, daß der Verlag dann statt der geplanten Anzahl von Exemp laren bloß so viele veröffentliche, wie es Leser der Gegenwartslitera tur in den genannten beiden Städten gibt. So erschien das Buch ohne geeignete Richtigstellung. Ich schloß mich eine Woche beunruhigt in der Wohnung ein und kam nur allmählich von der Vorstellung los, einflußreiche Senatoren wie in Lübeck und mit Schußwaffen ausgerüstete Bürger wie in Wolfes Heimat beherrschen auch Meerane. Noch etwas verstört, wagte ich mich endlich in die Stadt. Sofort schoß ein freundlicher Meeraner auf mich zu, rieb Daumen und Zeigefinger einer Hand gegeneinander und rief: »Na, jetzt flutscht’s aber, was? Jetzt hast du bald schwarze Lackschuhe an!« 189
»Ich – nun«, stammelte ich, »und das Buch, hat es dir gefallen?« »Sieht schön bunt aus«, erwiderte er und eilte weiter. Im Postamt bemerkte ich, wie sich einige Leute in meiner Nähe über mich verständigten. Danach hörte ich den Ausruf: »Der Dich ter!« Ich verließ die Post, ohne etwas einzuzahlen, und rannte einem seriösen Herrn in die Arme, der mich vertraulich festhielt und frag te: »Hören Sie mal, Sie schreiben da, zwölf Fabrikanten aus unserer Stadt hätten nach fünfundvierzig das Land verlassen. Ich bekomme aber nur elf zusammen. Wer ist denn der zwölfte?« Ich riß mich los, aber er verfolgte mich klagend. »Wer ist denn der zwölfte um alles in der Welt! Ich kann nicht mehr schlafen! Ich bin doch hiergeblieben!« Auf dem Marktplatz schüttelte eine Bekannte bei meinem An blick mißbilligend den Kopf. »Im zweiten Kapitel läuft dein Paul Weidauer von hier aus, wo wir stehen, über die Augasse zum Thäl mannplatz. Guck mal: Wenn er durch die Marienstraße geht, hat er es kürzer. Müßtest du als Meeraner eigentlich wissen! Dann war ich in der Karl-Schiefer-Straße. Das Haus hat eine Etage, nicht zwei. Meine Güte, du bist auch noch darin geboren! Sag mal, hast du das Buch überhaupt selber geschrieben –?« Ich lief weiter und hielt mir ein Taschentuch vor das halbe Ge sicht, so wie bei einem, der vom Zahnarzt kommt. Aber ein Dritter erkannte mich, verstellte mir den Weg und tadelte: »Die Musiker in Berthels Hotel trugen schon sofort nach dem Krieg gleichfarbige Sakkos und waren nicht, wie Sie das behaupten, bunter als ein Schwarm Papageien, Mann!« »So habe ich das nicht geschrieben«, verteidigte ich mich. »Auch noch abstreiten«, sagte er. »Wenn Sie nicht genau wissen, wie Sie es sagten, dann schreiben Sie lieber Ansichtskarten.« Damit beschloß er unser interessantes Gespräch. Ich rettete mich in einen haltenden Bus, erkannte aber, er fuhr nach Glauchau, in die Stadt also, welche meiner Romanstadt ähnel te, und stieg erschrocken an der nächsten Haltestelle aus. In der Tür aber hörte ich noch einen Fahrgast zum anderen lallen: »Über die Weberei hat er geschrieben, wo es weiß Gott in Meerane ganz ande 190
re Betriebe gibt. Zum Beispiel die Weinbrennerei!« Am Stadtrand von Meerane zwinkerte mir ein völlig fremder Mann mitwissend zu: »Den Richter Max kenne ich! Der guckt jeden Abend in der Herrmannstraße aus seinem Fenster.« »Tut mir leid«, widersprach ich, »den gibt es in Wirklichkeit gar nicht.« Da wandte er sich traurig ab und wankte davon. In diesem Augenblick geschah etwas Seltsames mit mir. Tiefes Erbarmen überfiel mich. Ich rannte dem Mann nach, legte meinen Arm um seine Schultern und rief fröhlich: »Sie haben recht, er ist es! Ich verwechselte ihn mit einer anderen Figur.« »Nicht wahr«, schluchzte er nachlassend, »ich hatte es ihm ja schon erzählt, und er ist so stolz darauf. Er wartet auf sein Teilho norar.« Wir weinten beide voller Ergriffenheit und boten uns mehrmals das Du an. Dann wollten wir Richter Max in der Herrmannstraße besuchen, fanden aber vor lauter Tränen die Straße nicht und verlo ren uns aus den Augen. Ehrlich: Ich suchte auch des Teilhonorars wegen nicht mehr danach. Ein kleines zähes Mütterchen stieß mir im Konsum ihre harten Finger in die Rippen und sagte erschreckend laut: »He, Sie! Sind Sie nicht der, der das Heimatbuch ›Familienalbum‹ geschrieben hat? Ich sage Sie, das is een Ding! Alles ohne Bilder und nennt es ooch noch Album. Gab’s früher nich. Über Bilder dichten, aber keen Fotoappa rat! Arbeiten Sie mal lieber.« »Ach was!« rief jemand fünf Leute hinter mir. »Sie haben eine Stadtchronik geschrieben? Ist da auch die Geschichte von der Hu schen drin, die ihren Mann im Kinderwagen aus der Kneipe heim fuhr?« »Nein«, erwiderte ich, »bei mir liegt eine Sau im Kinderwagen.« Darauf starrten mich sogar die Verkäuferinnen nachdenklich an. Ich entfernte mich aus der Reihe, indem ich so tat, als müsse ich im Regal noch etwas Vergessenes suchen. Vor dem Laden erreichte mich der weibliche Lehrling des Konsums, schlug seine unverdor benen Wimpern sanft nieder und flüsterte, ob ich ihm die Seiten zahl verraten könnte, wo die Sau bei mir liegt. 191
Ich begriff nun: Romane sind wie Telefonbücher. Die Leute su chen sich darin, und wenn sie sich gefunden haben, sind die Freude oder das Erschrecken groß. Und sie wissen jetzt ihre Nummer. Ich sah meine wackeren Meeraner sitzen, sah, wie sie mit dem Finger sorgfältig jede Zeile meines Buches verfolgten, von A bis Z. Wer wird in einer großen Stadt schon so gelesen? Nein, ich rasiere mir den Bart nicht ab, nein, ich kaufe mir keine Perücke. Weil sie alles so genau erkennen wollen, will auch ich genau erkannt werden. Wenn Leute vor einem Spiegel stehen und ich möchte wissen, wie sie darin aussehen, dann muß ich mich hinzustellen. Und hast du nicht gesehen! – bin ich auch mit drin. Ich kann noch so genau gegen den Spiegel hauchen und ihn blank reiben, es wird nicht anders. Ich stehe links hinten. Oder rechts vorn? Oder rechts hin ten? Oder in der Mitte? Oder ist das Ganze wohl seitenverkehrt? Wie dem auch sei, ich erschrecke nun nicht mehr, wenn mich einer fragt, ob ich der alte Pförtner Schmidt-Ernst bin. Ich nicke dann bedeutungsvoll, und meine Persönlichkeit wächst minütlich. Sie lesen mich, halleluja! Sie lesen mich und nehmen mich Wort für Wort. Ich werde locker und frei. Schade, meine Kollegen Thomas aus Asheville und Thomas aus Lübeck können das nicht mehr mit erleben. Die würden vor Berufsneid erblassen. Pfeifend betrete ich mein Arbeitszimmer, produktiv schmeiße ich mich hinter den Schreibtisch. Post ist da, Zeitungen, eine Kurzgeschichte im Magazin über einen Mann, der mit seinem Charme alle schönen Frauen da hinschmelzen läßt. Ich verfolge sorgfältig jede Zeile, wie in dem Telefonbuch: Nein, ich bin es nicht. Aber ich werde mich schon noch finden. Der Brief einer ehemaligen Freundin meiner Frau liegt da. Ich lese: »... da staunte ich aber ganz schön, als ich erfuhr, Dein Mann ist Schriftsteller. Und dann schreibt er auch noch über die Gegenwart! Na, mach Dir nichts daraus. Auch solche Leute müssen vertan werden. Hauptsache, ihr vertragt euch ...« Ich greife erneut zur Kurzgeschichte und lese etwas zerstreut von dem Mann, der Charme besitzt. Ich verliere den Faden und starre ins Leere. Oh, mein bedauernswertes Weib! Was hat sie sich mit mir aufgeladen! Andere Männer sind Streckenwärter, Ingenieure, Ratsmitglieder, Schlosser, Stadtverordnete – also anständige Leute. 192
Ein handwerklich begabter Mann sagte neulich zu ihr: »Ich arbeite jeden Abend nach meinem zeitweiligen Aufenthalt im Betrieb wie der Teufel bis in die Nacht hinein für andere Leute.« Er sagte wirk lich: für andere Leute. Daraus ersieht man, wie weit bei uns die Hilfsbereitschaft entwickelt ist. »Da habe ich nun wirklich keine Zeit mehr zum Lesen. Mir fallen schon die Augen zu, wenn ich mei nen Namen auf dem Klingelknopf lese.« »Apropos fallen!« sagte meine Frau. »Wenn meinem Mann nichts einfällt, verdient er kein Geld.« »Sehen Sie!« rief der handwerklich begabte Mann. »Das ist es ja. Mir fällt nichts ein, und ich bekomme trotzdem meine Mäuse. Wozu macht Ihr Mann dann so was? Waren Sie mit ihm schon mal beim Arzt –?« Einst besuchte mich jemand und blieb so lange in der Wohnung, bis ich ihm auf den Knien versicherte, er sei es nicht in meinem Buch. Sofort verabschiedete er sich sehr erleichtert. Da erst wußte ich, er ist es. Schreiben ist also gefährlich. Kommt mir die Angst deswegen hoch und ich denke an Asheville oder Lübeck, so tröste ich mich mit dem handwerklich Begabten. Der liest mich ja nicht. Der baut. Nachdem auch ich in einer Siedlung namens Wolfsberg an einem Häuschen herumgebaut hatte, erfuhr ich erst, was die Siedler da mals bei meinem Erscheinen flüsterten: »Jetzt ist es aus, jetzt dürfen wir nicht mehr Wolfshuckel sagen. Leute, benehmt euch!« Daraus ersieht man wenigstens, ich bin ein feiner Mensch. Ich öffne mir selber die Tür und sage: »Bitte nach Ihnen.« Zwei Jahre Bau entwickelten sogar diese filigrane Lebensart wei ter. In jeder Gesellschaft konnte ich nun die Füße so auf den Tisch legen, daß es gepflegt aussah. Wo ich auch war, ich trank aus der Bierflasche. Gastgebende Hausfrauen lobten mich deshalb als rück sichtsvoll, denn ich sei darauf bedacht, ihnen hinterher den Ab wasch der Gläser zu ersparen. Kurz und gut: Arbeit an frischer Luft auf einem Baugerüst oder vor dem gefräßigen Maul eines Betonmi schers macht liebenswert, eben fein. Als die Gerüste verschwunden waren, hatte ich endlich Zeit, hemdsärmelig am Gartentor zu lehnen, und bot so überraschend ein 193
Bild der Zugänglichkeit. »Aha, der neue Siedler! Du schreibst? Was d’n da?« »Bücher.« »Gibt’s da nicht schon genug? Na ja, die alten gehn auch mal ka putt, da braucht’s neue. Wer sagt ‘n dir, was du schreiben sollst?« »Ich.« »Na, wie denn! Wenn du’s schon weißt, warum schreibst du’s dann noch auf? Bist wohl vergeßlich? Nun mal im Ernst: Wo ar beit’st ‘n du?« »Hier im Haus.« »Aber du mußt doch irgendwo acht Stunden sitzen, weil –! Wie woll’n se denn da deinen Lohn berechnen?« »Nach Büchern.« »Na gut. Und wenn die kaputten alle ersetzt sind, was dann? Weißt du was, du kriegst paar Hühner und Hasen von mir. Mensch, eine sichere Einnahmequelle braucht doch jeder! Besorg dir Ma schendraht, Zaunsäulen und Bretter. Mach einen neuen Anfang! Dann mußt du nicht mehr das aufschreiben, was du schon weißt.« Leicht irritiert betrachtete ich mich am Abend im Spiegel. Muß man Hasen striegeln? Legen Hühner ihre Eier im Laufen? Bevorzu gen Hasen Salzkartoffeln? Auf wieviele Hennen geht ein Hahn? Wenn ich gerade dabei bin, für ein kaputtes Buch ein Ersatzbuch zu schreiben, könnten dann bitte die Hühner und Hasen zu mir he reinkommen und sich ihr Futter holen? Schriftsteller hängen am Schreibtisch wie Alkoholiker an der Flasche und hören erst beim letzten Schluck auf. Ich sah mich am Telefon stehen und meinem Verlagsdirektor erwidern: »Tut mir leid, ich kann den Termin nicht halten, ich muß bei mir ausmisten.« Der Sommer kam. Keine Hasen trommelten mit ihren Hinterläu fen an die Stallrückwände, keine Hühnerfarm wuchs aus dem Bo den. Ich hatte dankend abgelehnt. Krähten nun die Nachbarhähne, spürte ich Schuldkomplexe. Ganz ohne Tiere war ich allerdings nicht. Ich besaß sechs pflegeleichte Goldfische im Gartenteich. Je doch interessierte sich die Konsumverkaufsstelle keineswegs für deren gelegte Eier, und seit Beginn des Hausbaues hatte sich mein Verhältnis zu einem selbstbewußten anschmiegsamen Wesen na 194
mens Susi gefestigt, das sich angewöhnte, mir während meiner Buchmacherei gegenüberzusitzen. Manchmal gähnte Susi, als hätte sie schon frühzeitig die Nutzlosigkeit meiner Versuche erkannt. Manchmal rollte mir während der Arbeit ein Gedanke vom Schreib tisch unter das Sofa. Susi wartete, bis er verschwunden war. Ihr Schwanz peitschte konzentriert den Boden. Dann schnellte sie vor wärts und legte ihn mir stolz vor die Füße. Aber er war tot. »Deine Gedanken überleben nun mal nicht«, sagte sie. Ich muß hier bemerken, es war eine Katze besonderer Art. Äußer lich glich sie einer gewöhnlichen Feld- und Wiesenkatze. Auf ihrem Hinterkopf saß ein schwarzer Fleck wie eine Baskenmütze. Im Grunde war sie weiß. Aber die Natur hatte ihr launisch einige geti gerte Flecke auf den Leib geworfen, den sie graziös bewegen konn te. In der Vielfarbigkeit der Flecke erkannte ich alle Katzengenerati onen der Siedlung. Die Besonderheit lag in ihren Augen, die einmal ganz dunkel und einmal hellgrün funkeln konnten. Sie waren groß und mandelförmig. Damit konnte sie einen lange anblicken, ohne mit der Wimper zu zucken. Es schimmerte etwas wie Nachsichtig keit darin, aus Kenntnis der massenhaften Fehler ihrer aufrecht gehenden und Kaffee trinkenden vermeintlichen Artgenossen. Ich fühlte mich hingezogen zu ihr. Deshalb stand häufig in den Briefen meiner Freunde: Wie geht es Deiner Susi? Und dann erst: Wie geht es Deiner Frau? Eines Tages zupfte ich hinter der Hecke Unkraut, in der Hoff nung, auf einen Gedanken zu stoßen. Susi besah zufrieden mein Tun. In ihren Augen las ich: Gartenarbeit ist besser. Jenseits der Hecke gingen Schritte vorbei. Jemand sagte zu einem anderen: »Keine Hasen, keine Hühner. Für den Bevölkerungsbedarf hat er nichts übrig. Möchte wissen, was der hier will.« Ich kniete erstarrt und stützte beide Hände gegen den Boden. »Das ist die Unterwürfigkeitshaltung«, sagte Susi, »steh auf.« »Damit ändert sich nichts«, sagte ich. Susi überlegte. »Vielleicht solltest du das Fell sträuben?« Ich entschloß mich zu einer Abart des Sträubens. »Für Hühner habe ich keine Zeit!« rief ich. »Sie und keine Zeit!« rief die Stimme hinter der Hecke zurück. 195
»Wenn unsere Männer arbeiten müssen, sind Sie den ganzen Tag im Garten.« »Im Garten bin ich nur, weil mir nichts einfällt«, verteidigte ich mich. »So? Da scheint Ihnen selten etwas einzufallen.« »Ich arbeite nachts.« »Aha. Aber nachts brennt kein Licht bei Ihnen.« »Bei Ihnen auch nicht.« »Was fällt Ihnen ein!« rief die Stimme. »Nichts«, erwiderte ich, »Sie haben es doch selber gesagt.« Da schwieg die Stimme und entfernte sich. Susis Augen ruhten grüblerisch dunkel auf mir. »Du bist zwar aufgestanden, aber im Grunde genommen hattest du noch immer die Unterwürfigkeitshaltung. Ein ausgewachsener Kater wie du! Was wollte denn diese fremde Katze von dir?« »Sie hält das, was ich mache, nicht für Arbeit.« »Hat sie es selber schon mal versucht?« »Nein.« »Wie will sie das dann beurteilen?« »Wir beurteilen zuweilen, was wir nicht kennen. Was wir ken nen, langweilt uns.« »Ich glaube«, sagte Susi, »das liegt daran, weil euer Geruchssinn nicht genügend ausgeprägt ist. Ihr könnt euch nicht erriechen. Die Katze vorhin sagte, du hättest nichts für den Bevölkerungsbedarf übrig. Was ist das? Ein Baum, wo ich meine Krallen schärfen kann?« »Ach, das ist alles das, was die Leute so wollen«, antwortete ich leichtsinnigerweise. »Und was ist das – alles?« »Zum Beispiel Autos.« »Sind das die großen Mäuse, die auf der Straße vorbeiflitzen?« »Richtig.« »Und was wollen sie noch?« »Zigaretten, Videogeräte, Armbanduhren mit Westminstergong, Messingleuchter, Delikat-Bier, Helios, HiFi-Wohnkomponenten, Stufenlichtschalter, superelastische Herrenslips, Walkmans, Bild schirmfernbedienung ...« 196
Susi zuckte mit einem Barthaar, hielt den Kopf schief, überlegte. »Wurstbrot, Milch und Wolldecken nicht?« »Das wollen sie nicht, das haben sie.« »Und schnurren sie deshalb vor Wonne?« »Kaum noch. Nur was sie wollen, hält sie am Leben.« »Was mich betrifft«, sagte Susi, »so brauche ich Mäuse, Milch und ein warmes Plätzchen im Winter.« Sie rollte sich auf den Rücken, blinzelte vergnügt in den Himmel, und ich dachte, jetzt gibt sie Ruhe. Aber plötzlich warf sie sich zu mir herum. »Gehört Frank Schöbel zum Bevölkerungsbedarf?« »Was soll denn das nun wieder?« »Weich mir nicht aus!« »Wenn du so direkt fragst, na gut: Er gehört nicht.« »Schade. Dann können die Katzen auch auf dich verzichten.« »Frank Schöbel ist ein Schlagersänger«, erklärte ich, »den kann man nicht mit mir vergleichen.« »Nein, wirklich nicht«, stimmte mir Susi zu, »ich habe ihn ge hört. Vielleicht solltest du das, was du schreibst, singen. Dann muß man es nicht lesen. Wenn ich manchmal hinter der Hecke liege, erfahre ich, wie die großen Kater über dich denken. Kürzlich sagte einer, was Frank Schöbel mit seiner Stimme verdient, hättest du durch dein Geschreibsel schon lange. Also bist du doch wie er. Also gehörst du nicht zum Bevölkerungsbedarf! Hast du mir Milch in die Küche gestellt? Prima.« Ich seufzte und verzog mich in die äußerste Ecke des Gartens. Mir fehlte die Lockerheit eines Frank Schöbel. Ich steckte ver krampft in einer viel zu kurzen Gartenhose und überfälligen Aus gehjacke. Mein einziger Erfolg stand schon vor fünfunddreißig Jah ren im Sportberichtkasten der BSG »Post«: Torwart Eckert verhin derte eine höhere Niederlage. Es war Sonntag. Draußen pilgerten die Spaziergänger durch unse re Siedlung. Wo das Tor den Sichtschutz der Hecke unterbrach, traten die Wanderer vorsichtig an das Gatter und lugten zu mir herab. »Da unten ist er.« »Unmöglich! Guck mal die Klamotten an.« 197
Ein Blick auf das Namenschild an der Säule folgte. Erneutes stau nendes Beobachten des Objektes im Gehege. »Wahrscheinlich ist es sein Gärtner.« »Nein, er ist es. Ich erkenne ihn an seiner Behaarung im Ge sicht.« »Mein Gott, so also sieht der aus!« Ich kletterte auf den höchsten Baum, hockte mich in eine Astga bel, schlug mit beiden Fäusten auf meinen Brustkorb und brüllte in Kehltönen. Schließlich sprang ich in das Haus, fand ein Stück Pappe und schrieb in Druckbuchstaben darauf: BITTE NICHT FÜTTERN! Susi lag auf dem Fensterbrett mit ganz grünen Augen. »Ich sah dich«, sagte sie, »man nennt das Imponiergehabe.« Besonders Kühne redeten mich bei Gelegenheit an. »Jawohl!« rie fen sie in den Garten. »Endlich richtig ausarbeiten!« Die Betonung legten sie auf »richtig«. Danach konzentrierte sich ihr Blick auf die Einfahrt zu meiner Garage. »Wann ist es denn soweit? Wartburg-Tourist oder Lada?« Als könnte ich Autos zur Welt bringen. »Ich kann mir nicht ein mal einen Trabi leisten«, erwiderte ich. Ihre Augen verdunkelten sich grüblerisch wie bei Susi. »Einer, der ein Haus hat, kann sich auch ein Auto kaufen«, sag ten sie. »Wozu hast du dann die Einfahrt zur Garage?« »Die ist mein Schuppen. Und es kommen ja auch Freunde mit ih ren Autos zu mir.« »Aha, auch noch Gästegarage«, murmelten sie. »Nun mal Spaß beiseite: Shiguli? Oder gar Mazda?« »Simson-Suhl. Mit Gepäckträger und Klingel«, sagte ich. Da starben sie fast vor Lachen. »Nein!« schrien sie. »Nein, so was aber auch! Jetzt glauben wir erst, was man von dir erzählt: Du sollst lustig schreiben.« Dann verkümmerte ihr Lachen und erfror langsam zu einem Grinsen. Sie blickten abwechselnd links und rechts ganz knapp an mir vorbei. Sie suchten die Schlitze in meinen Ohren. »Na denn, tschüß.« Kühl wehte mir ihr Abschiedsgruß entgegen. Es begann die Zeit meiner Vereinzelung. In einer modernen Welt kann man das auch als die Scham der Fußgänger bezeichnen. Wir 198
laufen mit krampfhaft verzerrten Füßen durch die Gegend. Für uns gibt es nur eine Kaufhalle, die nächste. Für Autobesitzer aber gibt es vier, fünf oder sechs oder soviel sie wollen. Lückenlos fahren sie aus den Städten ihren Bevölkerungsbedarf zusammen. Uns aber, die Autolosen, bedrückt das Gefühl, auf eine neue Art asozial zu sein. Haben Sie ein Auto? werden wir gefragt. Nach der Verneinung wis sen die Leute nicht, worüber sie nun noch mit uns reden sollen. Das hält kein Mensch auf die Dauer durch. »Du gefällst mir nicht mehr«, schnurrte Susi. »Du putzt dein Fell kaum, und im Napf bleibt immer etwas übrig.« »Die Sache ist die«, sagte ich, »wenn ich den Leuten die Wahr heit erzähle, glauben sie, das ist eine Lüge.« »Du meinst, den Katzen. Und was ist das – Wahrheit und Lüge? Kann man das fressen?« »Die Wahrheit ist schwer verdaulich. Deshalb nehmen wir die Lüge gern als Magentropfen dagegen.« »So freßt doch die Wahrheit nicht!« »Wir müssen sie aber fressen.« »Dann besorg dir ein Faß Magentropfen.« Susi sprang elegant auf ihren Platz in der Sofaecke. Dort blieb sie überlegend sitzen. »Wenn der Nachbarkater Peter in mein Revier markieren kommt, befehle ich ihm, er soll die dritte Erdbeerreihe nehmen und durch das rechte Loch im Zaun wieder verschwinden.« »Was willst du damit sagen?« »Er hält sich daran.« Sie putzte ein bißchen mit ihrer naßgeleckten Pfote das Gesicht und rollte sich dann, mehrmals um die eigene Achse drehend, ein. Das Kinn auf den Pfötchen, fixierte sie mich. »Soll ich dir noch etwas verraten?« »Bitte.« »Wenn ich nicht im Garten bin, was, glaubst du, macht er dann?« »Weiß ich nicht.« »Was bist du für ein dummer Kater! Da nimmt er die fünfte Erd beerreihe.« Sie blinzelte mich an und gähnte gelangweilt. »Übrigens hatte ich heute einen anstrengenden Tag: acht Mäuse.« Ich ging in den Garten und besah mir zuerst die dritte, dann die 199
fünfte Erdbeerreihe. Es gab keinen Unterschied. Und doch erkannte ich jetzt einen. Da änderte sich mein Leben, und es kam alles ins Lot. Man mußte sich nur in die Katzenperspektive begeben. Die Leute behandelten mich freundlich, ja mit einer gewissen gütigen Nachsicht. Sie waren stolz darauf, mich nun zur Ehrlichkeit erzogen zu haben. Nichts wünschen sie mehr als die aufrichtige Bestätigung der Antworten, die sie sich längst gegeben haben. »Dein Fell glänzt wieder«, sagte Susi, »was hast du gemacht?« »Deinen Rat befolgt.« »Ich kann mich nicht erinnern, daß ich dir einen gab. Immerhin ist mein Kopf kleiner als deiner.« »Wenn ich gesehen werde, nehme ich die dritte Erdbeerreihe, ansonsten die fünfte.« »Welche gefällt dir besser?« fragte Susi. »Die fünfte.« Sie streunte durch die Fichten. Auf der anderen Seite schoben sich noch einmal ihre Samtohren und die Wildlederstupsnase her aus. Ihre Augen wurden dunkel wie immer, wenn sie Sympathie für mich empfand. »Laß dich nicht erwischen.« Eines steht seitdem für mich fest: Es kommt nicht darauf an, Hühner zu haben, sondern die Vorstellung zu bestätigen, man könnte Hühner haben. Einmal in der Woche ruft meine Frau laut vom Fenster in den Garten: »Bring gleich frische Eier mit!« Ich gehe langsam, restlichen Bausand aus einer Tüte verstreuend, auf meine imitierte Garage zu und rufe: »Put, put, put!« Dann verschwinde ich in ihr und beginne fremdartig zu krähen.
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INHALT
Ein Hut auf der Elbe................................................................... 5
Ich habe zwei Jahre Bau hinter mir ........................................... 19
Richter aus der Iindenschule ..................................................... 43
Tausche Mammut gegen Elefant ............................................... 57
Frühling im Allgäu ..................................................................... 79
Kasperle ist wieder da................................................................ 97
Schilbilein................................................................................... 113
Die Besichtigung der Holländer ................................................. 141
Das Zaspel-Phänomen................................................................ 153
Plötzlich lachte Doktor Bunsen ................................................. 169
Als ich mein Gärtner war. Ein Nachwort .................................. 187
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