Martin Uitz Einlass ins Reich des Donnerdrachens
Verborgenes Bhutan
s&c 10/2008
Martin Uitz hat in Bhutan den schwier...
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Martin Uitz Einlass ins Reich des Donnerdrachens
Verborgenes Bhutan
s&c 10/2008
Martin Uitz hat in Bhutan den schwierigsten Trek der Welt bewältigt – und das ausgerechnet zur Monsunzeit. Spannungs- und kenntnisreich weiß er davon ebenso wie von der hohen Filmkunst Bhutans, vom traditionellen Nackttanz der Mönche im Kloster von Bumthang oder von der Begegnung mit einer der vier Königinnen des geheimnisvollen Reiches am Fuße des Himalaya zu erzählen. ISBN: 3-85452-921-X Verlag: Picus Verlag Wien Erscheinungsjahr: 2006 Umschlaggestaltung: Ernst Winklhofer
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Vieles in dem rätselhaften Staat am Fuße des Himalaya ist noch unerforscht: Erst Mitte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurde eine erste Straße von Indien in das Reich des Donnerdrachens gebaut, seit 1974 darf jährlich eine handverlesene Anzahl von Touristen Bhutan besuchen. Der Alltag der knapp siebenhunderttausend Bhutaner wird nach wie vor vom Buddhismus sowie von der Verehrung für ihren König, den Druk Gyalpo, bestimmt. 2007 feiern die Monarchie und die Dynastie ihr hundertjähriges Bestehen. Mit vorsichtigen Schritten führt heute König Jigme Singye Wangchuk sein Volk in eine moderne Zukunft mit Verfassung und Demokratie, nachdem er das Staatsprinzip der »Gross National Happiness«, des Bruttosozialglücks, nachhaltig mit Leben erfüllt. Der versierte Kenner Martin Uitz erklärt, warum die einzige Verkehrsampel dieses versteckten Königreichs wieder abmontiert wurde, weshalb sechs Männer gemeinsam nicht auf Reisen gehen dürfen, was es mit der subtilen Erotik eines traditionellen Hot Stone Baths auf sich hat und verrät als gebürtiger Salzburger auch, wo man die schönsten Edelweißwiesen der Welt findet.
Autor
Martin Uitz, 1952 in Salzburg geboren, studierte Rechts- und Politikwissenschaften. Seit den frühen siebziger Jahren reist er in die entlegensten Gebiete des Himalaya, am liebsten mit dem Auto über Land. Nach zwei Jahrzehnten als Reiseveranstalter und Tourismusberater der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit in Bhutan lebt er heute als freier Schriftsteller im Königreich Bhutan, liebt ausgedehnte Trekkingabenteuer und Radtouren. Autor zahlreicher Reiseführer für Fahrradtouristen und Bücher über die Geschichte des Alpinismus.
Martin Uitz
Einlass ins Reich des Donnersdrachens Verborgenes Bhutan
Picus Lesereisen
Picus Verlag Wien
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Uitz, Martin: Einlass ins Reich des Donnerdrachens Verborgenes Bhutan / Martin Uitz. – Wien: Picus-Verl., 2006 (Picus Lesereisen) ISBN 3-85452-921-X Copyright © 2006 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien Alle Rechte vorbehalten Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien Umschlagabbildung: Ernst Winklhofer Druck und Verarbeitung: Remaprint, Wien ISBN 3-85452-921-X Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter www.picus.at
Inhalt Warum es in Thimphu keine Verkehrsampel gibt.....................................9 Geschichten aus einer der kleinsten Hauptstädte der Welt ......................................... 9
Staatsbesuch zu Fuß .................................22 Nicht immer waren offizielle Gäste in Bhutan willkommen ..................................................... 22
Der schwierigste Trek der Welt .................37 Über die Gründe, den Snowman Trek gerade zur Monsunzeit zu gehen ................................ 37
Begegnungen im Wald ..............................50 Oder: wohin auch eine Königin zu Fuß geht . 50 Die Stunde des Leoparden........................66 Warum sechs Männer nichts gemeinsam unternehmen sollen ......................................... 66
Die potente Raupe ....................................79 Bhutans traditionelle Medizin bleibt ein Geheimnis ........................................................ 79
Ohnmacht im Holztrog ............................93 Bhutans Filmkunst und die Erotik eines traditionellen Hot Stone Bath ......................... 93
Die nackten Männer von Bumthang ......108 Warum Touristen bis Mitternacht im Kloster ausharren ........................................................ 108
Der Dolch im Bauch, die Hände in siedendem Öl..........................................124 Nur seine Ehefrau versteht den tanzenden Schamanen ..................................................... 124
Der Besuch des Wiedergeborenen ..........138 Auch heilige Meister sind nicht frei von Begehrlichkeit ................................................. 138
Der Strom kommt aus der Steckdose .....142 Auch in abgelegenen Bergbauerndörfern im Bhutan Himalaya ........................................... 142
Gross National Happiness ......................150 Bhutans Staatsphilosophie auf dem Prüfstand ......................................................................... 150
Die Verbannung der Süchte ...................161 Tabak verboten, Marihuana entwurzelt – und dennoch sind die Bhutaner nicht frei von Sucht ......................................................................... 161
Glossar ....................................................172
Warum es in Thimphu keine Verkehrsampel gibt Geschichten aus einer der kleinsten Hauptstädte der Welt
Er ist einer der meistfotografierten Bhutaner, der Balletttänzer mit den weißen Handschuhen, der schmucken blauen Uniform und dem martialischen Helm. Der Polizist, der an Thimphus lebhaftester Kreuzung unter dem Dach eines kleinen Häuschens den Verkehr regelt, ist ein Künstler. Seine Handbewegungen sind präzise einstudiert und erinnern tatsächlich an Ballett. Dazu ein stechender Blick, der den Autofahrern signalisiert, ob sie halten müssen oder freie Fahrt haben. Thimphu dürfte die einzige Metropole der Welt sein, in der es keine Verkehrsampel gibt. Niemand vermisst sie, denn der putzige Polizist passt allemal besser zur beschaulichen Verkehrssituation in Bhutans Hauptstadt als kalte Elektronik. Angeblich wollten die Stadtplaner einst an eben dieser Kreuzung im Stadtzentrum nahe dem Hauptplatz eine Ampel installieren, der Plan sei aber am Widerstand der Bewohner gescheitert. Touristen muss man gar nicht erst fragen, wofür sie sich entscheiden würden: Dutzende stehen mit ihren Kameras während der Saison an der Kreuzung und bannen die 9
ästhetischen Bewegungen dieses Künstlers in Uniform auf Film und Video. Wie lange die Idylle noch anhalten wird, ist schwer zu sagen. Das Verkehrsaufkommen in Thimphu hat sich in den letzten fünf Jahren mindestens verdreifacht. Ampeln sind zwar keine Konkurrenz für die sympathischen Polizisten, aber die Qualität der Atemluft macht ihnen mittlerweile zu schaffen, wenn um neun Uhr vormittags und um fünf Uhr nachmittags so etwas wie ein Hauch von Rushhour über Thimphu hereinbricht. Das Verkehrsaufkommen steigt sprunghaft an, wenn Tausende Beamte und Staatsdiener gleichzeitig Dienstbeginn haben oder den Arbeitstag beenden. Im Winter ist bereits um sechzehn Uhr Schluss, in den wärmeren Sommermonaten um siebzehn Uhr, von dreizehn bis vierzehn Uhr gibt es Mittagspause. Bhutans öffentliche Bedienstete nehmen ihre Arbeitszeiten sehr genau, Überstunden sind selten und gelten keineswegs als Zeichen besonderen Einsatzes. Als ich meinen bhutanischen Counterpart um die Büroschlüssel des Amtsgebäudes bitte, in dem ich für die bhutanische Regierung werke, weil ich mich in der Ruhe nach Dienstschluss besser auf Internet-Recherche und komplizierte Arbeiten konzentrieren kann, fasse ich einen wohlgemeinten Rat aus: »Es macht keinen guten Eindruck, wenn in deinem Zimmer nach Dienstschluss noch 10
Licht brennt. Bei uns meint man, wer seine Arbeit nicht in der offiziellen Dienstzeit erledigen kann, ist schlecht organisiert oder hat etwas zu verbergen.« Noch immer ist Thimphu eine Tintenburg, der Großteil der unselbständig Erwerbstätigen arbeitet für die staatliche Verwaltung oder einen der großen verstaatlichten Betriebe. Der Lebensrhythmus dieser Mehrheit bestimmt den Takt der Stadt. Wer einen Job in der Privatwirtschaft hat, steht auch schon mal zwölf Stunden am Tag hinter dem Tresen, im Laden oder im Büro. Denn die Privaten kennen die beamteten Arbeitszeiten samt Mittagspause nur vom Hörensagen. Geschäfte haben sieben Tage die Woche geöffnet, spätestens um neun Uhr morgens sperren sie auf, meist nicht vor zwanzig Uhr zu. Der öffentliche Dienst hingegen macht auch gerne mal Pause. Die stattliche Anzahl von vierundzwanzig nationalen Feiertagen wird noch um regionale Festtage, etwa zu den traditionellen Tsechus, ergänzt. Dazu kommen noch ad hoc Ankündigungen, die sich in Windeseile herumsprechen. Drei Trauertage zu den von den Astrologen bestimmten Zeiten wurden von seiner Majestät persönlich verfügt, als die landesweit beliebte königliche Großmutter verstarb. Während sonst Nachrichten zwischen den Ämtern manchmal recht lange auf dem Weg sind, machen Informationen über spontane Feiertage in 11
atemberaubender Geschwindigkeit die Runde. Thimphu liegt zwar auf 2500 Meter Seehöhe, doch Schneefall ist ein seltenes Ereignis. An jenem Jännermorgen, an dem die weiße Pracht die Stadt mit ein paar Zentimetern Neuschnee verzaubert, beschließe ich zu meinem Vormittagstermin im Wirtschaftministerium zu Fuß zu gehen. Der Autoverkehr ist auf den steilen Straßen Thimphus zusammengebrochen, es gibt keine Schneeräumung, keine Winterbereifung, also lasse ich mein Fahrzeug stehen und genieße dreißig Minuten winterlichen Fußmarsch vom Villenviertel Mothitang an der Hangseite hinunter ins Stadtzentrum. Pünktlich stehe ich vor den Türen des Amtsgebäudes, allein diese sind verschlossen. »Happy Snow Day« klären mich Passanten auf, ob ich denn nicht wisse, dass am ersten Tag winterlichen Schneefalls spontan ein Feiertag ausgerufen wird? Tatsächlich scheint die ganze Stadt zu feiern, nachdem bereits früh morgens angesichts der weißen Pracht die Telefone heiß gelaufen sind, um sich gegenseitig über den überraschenden Feiertag zu informieren und zu verhindern, dass versehentlich doch jemand am Arbeitsplatz erscheint. Kommt noch dazu, dass jeder Bhutaner mehrmals im Jahr religiöse Zeremonien, Pujas, zu zelebrieren hat. Dazu werden gegen ein entsprechendes Entgelt Mönche ins Haus 12
geholt, die meist drei Tage lang für Gesundheit, Seelenheil und wirtschaftliche Prosperität ihrer Auftraggeber beten. Familie, Freunde und Nachbarn werden eingeladen, diesen Ritualen beizuwohnen. Klar, dass man individuell auch für derartige Verrichtungen vom Dienstgeber freigestellt wird. Rechnet man noch die gesetzlichen vier Urlaubswochen dazu, kommen Bhutans öffentlich Bedienstete auf eine Zahl von freien Tagen, die rekordverdächtig ist. Eine der kleinsten Hauptstädte der Welt ist Thimphu zweifellos, aber in den letzten Jahren dürfte die Metropole des Reiches des Donnerdrachens auch zu einer der am schnellsten wachsenden Städte der Erde geworden sein. Nach der Volkszählung von 2005 leben im Bezirk Thimphu bereits fast hunderttausend der 634.000 Einwohner Bhutans, davon rund siebzigtausend im engeren Bereich der Stadt. Der Traum vom Glück in der Stadt ist unter Bhutans bäuerlicher Bevölkerung ungebrochen, obwohl Thimphu keineswegs mit unbeschränkten Möglichkeiten und großstädtischem Flair lockt. Es gibt ein Kino, kein Theater, keinen Konzertsaal, eine einzige gedeckte Sporthalle, einen seit Jahren geschlossenen Swimmingpool, bis vor kurzem keinen Supermarkt, keine Shoppingmails und ein sehr beschränktes Angebot an Nachtleben. Trotzdem spürt man nicht zuletzt angesichts 13
umfassender Bautätigkeit an allen Ecken und Enden, dass dieses Städtchen dabei ist, aus seinem Korsett auszubrechen. Die Kleinheit erlaubt es der Stadt, Probleme anderer Metropolen in Entwicklungsländern rechtzeitig zu erkennen und vorausblickend durch Planung auch zu lösen. So gibt es in Thimphu keine Slums, ein mit dänischer Hilfe errichtetes Kanalnetz samt vollbiologischer Kläranlage, gute Strom- und Telefonversorgung, Kabel-TV, ein bescheidenes, aber verlässliches Netz öffentlicher Autobusse, funktionierende Müllabfuhr und eine Verkehrsplanung, die erkennen lässt, dass man auf das zu erwartende Wachstum vorbereitet ist. Seit 2006 führen sechs Kilometer Autobahn vom nationalen Highway, der Bhutan mit Indien verbindet, ins Zentrum der Hauptstadt. Bhutans erste vierspurige Straße, stolz »Express Highway« genannt. Gut, die Fertigstellung der Brücken hat Verspätung, noch muss man über einspurige Behelfspontons turnen, aber umso größer ist der Zauber einer Fahrt auf den bereits fertig gestellten Kilometern. Mangels Erfahrung mit derartigen Wundern des Straßenbaus fahren Thimphus Automobilisten mit großer Begeisterung auf der neuen Autobahn in beide Richtungen, selbstredend auf beiden Seiten des Mittelstreifens, in den des Nachts bunt blinkende Karnevalslichter eingelassen sind. 14
Probleme mit Geisterfahrern gibt es keine, Gegenverkehr ist auf beiden Seiten und in alle Richtungen allgegenwärtig. Auch die Absicht der Planer, Aus- und Einfahrten zum Express Highway nur an den drei vorgesehenen Punkten zugelassen, ist der normativen Kraft des Faktischen unterlegen. Sogar Kurzparkzonen gibt es in Thimphu, zwei Probleme löst man so auf einen Schlag: Mehr als hundert schlecht qualifizierte Schulaussteiger haben so seit Jahren einen Job als Parkscheinkassiere gefunden – und Dauerparker im Stadtzentrum gehören der Vergangenheit an, denn pro halbe Stunde verrechnen die jugendlichen Parksheriffs fünf Ngultrum (zehn Cent). Dabei erbringen sie sportliche Höchstleistungen, denn sie müssen mit Falkenaugen ihre Revier beobachten und zu jenen Autofahrern sprinten, die versuchen, unerkannt die Zone zu verlassen. »Ein harter Job, in dem man keine Pause machen kann«, beschreibt ein junges Mädchen das alltägliche Katz-und-Maus-Spiel mit ihren »Kunden«. Die in Thimphu lebenden rund hundert Ausländer lieben oder hassen die Stadt, gleichgültig steht der Metropole niemand gegenüber, die noch vor fünfzig Jahren gerade einmal aus kaum zwanzig einstöckigen Häuschen bestanden hat. An der Spitze der Klagen über das urbane Leben steht die Hundeplage. Mehr als fünftausend Streuner soll es geben, tagsüber 15
schlafen sie auf Gehsteigen, ruhigeren Straßenabschnitten und im Schatten der Rollläden von Geschäftslokalen. Nachts ist Partyzeit, da kämpfen kläffende Gangs um die Revierhoheit, toben Rudel von verflohten und verlausten Kötern hinter einer läufigen Hündin her, heulen Romantiker den Mond an und plündern Hungrige die öffentlichen Müllplätze. Der Lärmpegel ist so hoch, dass Reiseveranstalter allen Ernstes ihren Kunden empfehlen, für die Nächte in Bhutans Hauptstadt Ohrenstöpsel mitzubringen. Bis 1998 bekämpfte die Stadtverwaltung die Plage mit einem gezielten Abschuss- und Sterilisationsprogramm. Doch der Mönchsrat mahnte die buddhistische Grundhaltung gegenüber allen Lebewesen ein, kein Töten und kein Quälen der Kreatur, also auch keine Dezimierung der Streuner, die in der Kette der Reinkarnationen noch dazu an ziemlich hoher Stelle rangieren und gute Chancen haben, im nächsten Leben in die Menschenwelt geboren zu werden. Also will sich seither niemand mehr mit der Bekämpfung des Problems die Finger schmutzig machen, wiewohl selbst Bhutaner sich vor allem nach Einbruch der Dunkelheit keineswegs wohl fühlen in einer Stadt, in der Hundegangs ganze Straßenzüge terrorisieren. Meine Besucherin, in der falschen Annahme, ich wäre zu Hause, schaffte es jedenfalls gerade bis zur doppelten Eingangstür meines Hauses, als sie merkte, dass zwar das Moski16
togitter offen, die Tür jedoch verschlossen war. Ein Dutzend kläffender und zähnefletschender Köter war ihr auf den Fersen, als sie in höchster Not Zuflucht zwischen Moskitogitter und Eingangstür nahm – und dort zwei Stunden der Hundebelagerung trotzte. Nummer zwei in der Klageliste ist die Abwesenheit von Brot im Warenangebot der Lebensmittelhändler Thimphus. Gut, es gibt ein süßliches Toastbrot und einen Versuch der »Swiss Bakery«, so etwas wie hellbraunes Weißbrot zu produzieren. Alles in allem aber ein Desaster für jemanden, der heimatliches Schwarzbrot zwischen den Zähnen fühlen möchte. Geheimtipp ist die Besitzerin von Thimphus einziger Pizzeria, die gelegentlich nachmittags ein annehmbares Braunbrot bäckt. Bäcker sind Exoten unter den Gewerbetreibenden Thimphus, die markantesten Spuren hat ein Bhutaner hinterlassen, der sein Handwerk in Österreich erlernt hat. So gibt es sogar in der auf Schweizer Gründer zurückgehenden »Swiss Bakery« als Spezialität des Hauses Gugelhupf und Linzertorte. Ein anderer Österreicher, Gunter Schlager, eröffnete 1992 Thimphus ersten Optikerladen. Ihn hatte die Liebe ins Land des Donnerdrachens verschlagen. Noch seltener als Optiker oder Bäcker sind in Bhutan zuverlässige Installateure oder qualifizierte Automechaniker. Zwar gibt es in Thimphu die Schule der Dreizehn Heiligen 17
Handwerke, allein diese dienen vor allem der höheren Ehre der Spiritualität. Hier werden erstklassige Thanka-Maler ausgebildet, begnadete Schnitzer, Weberinnen und Stickerinnen mit viel Gefühl für die traditionellen Muster. In sechsjährigen Kursen erlernen junge Künstler Malerei und Bildhauerei, die Anfertigung von reliefartigen Gebetssteinen und Messingornamenten. Doch für profane Notwendigkeiten wie die Reparatur eines tropfenden Wasserhahnes oder den Tausch eines Kolbenringes gibt es in Thimphu keine Ausbildungsstätte. Entsprechend ist es um Badezimmer, sanitäre Einrichtungen und Installationen nicht nur in den Hotels, sondern auch den meisten Privathäusern der Stadt bestellt. Einen Tischler zu finden, ist zwar nicht so schwierig, doch bei der Anfertigung von Holzarbeiten stößt der unerfahrene Ausländer auf ein neues Problem. Bhutan schützt seine Wälder. Siebzig Prozent des Landes sollen für immer Forst bleiben, von den subtropischen Regenwäldern im Süden bis zum alpinen Bannwald im Hochgebirge. Das Fällen von gesunden Bäumen ist daher streng eingeschränkt, nur totes Holz darf gesammelt werden. Tischler nehmen zwar Aufträge entgegen, des Verkaufsgespräch endet aber meist mit der Frage: »Und wann bringen Sie das Holz?«. Der staunende Ausländer erfährt, dass die mühsame Aufgabe, den Rohstoff für 18
Küchenregale oder Schreibtische zu beschaffen, beim Kunden liegt. Aber es gibt auch Expatriates, die gerne in Thimphu leben. Ich schätze an dieser merkwürdigen Hauptstadt, dass ich zu Fuß von meinem Haus in wenigen Stunden nach Phajoding wandern kann, einer Klostersiedlung auf 3800 Meter, von der aus man zwar auf die rasant wachsende Metropole herabblicken kann, aber nichts von der sich langsam auch hier einstellenden Hektik einer Großstadt merkt. Die Mönche von Phajoding steigen nur ganz selten ab in die Niederungen des Alltags, verbringen hier oben Jahre der Meditation und Kontemplation. Noch ein Stückchen weiter oben liegt ein hübscher See, gerade mal auf viertausend Meter über dem Meer. Sein kristallklares Wasser friert über Nacht zu, wenn ich im Spätherbst hier mein Zelt aufschlage. Hier oben treffe ich Yakhirten mit ihren Herden, löffle eine Suppe aus gärendem Yakkäse, probiere ihren Schnaps und döse in der Mittagssonne auf einer Wiese voller Edelweiß und Enzian. Und wenn die Zeit reicht, spaziere ich zu jenem Freigelände, in dem zwölf Takin, Bhutans seltsame Nationaltiere, ein Leben ohne Stress genießen. Der König persönlich hätte seinerzeit angeordnet, die Takin aus dem damals kleinen Zoogelände in die Freiheit zu entlassen, wird erzählt. Tiere in Gefangen19
schaft zu halten, wäre nicht mit dem Buddhismus vereinbar. Doch die an Menschen und regelmäßige Fütterung gewöhnten Paarhufer seien statt in die Wildnis zielstrebig in die Norzim Lam getrabt, Thimphus Hauptstraße. So habe man beschlossen, die der Freiheit entwöhnten Tiere in einem großzügigen Freigehege in einem Waldstück unterhalb des Fernsehturms anzusiedeln. Wo sonst kann man dem hauptstädtischen Trubel so leicht entfliehen und dennoch abends wieder eintauchen in eine kleine, aber ganz unterhaltsame Szene von Bars und Restaurants? Die illustren Besucher im bei Bhutanern wie Chilips, Ausländern, gleichermaßen beliebten Restaurant »Benez« diskutieren bei lokalem Whiskey und indischem Bier Neuigkeiten, vergleichen die seit kurzem vielfältige Berichterstattung in nun schon drei Zeitungen Bhutans. Eine schöne neue Medienwelt überrollt Thimphu; 1999 wurde das Fernsehen eingeführt, kurz darauf Internet, das landesweit über die einfach zu merkende Telefonnummer 100 leicht zugänglich ist. Kabelkanäle bringen vierzig und mehr TV-Programme in so gut wie jeden Haushalt, von BBC World bis zu indischen Soap Operas reicht das Angebot. Für das Jahr 2006 schließlich empfiehlt der König seinem Land, nun auch bei den Printmedien Vielfalt und Wettbewerb zu entwickeln. Seit 1965 erscheint Kuensel, anfangs 20
wöchentlich, in einer englischen und einer Dzongkha-Ausgabe, jetzt bereits zweimal in der Woche. Die dritte Sprachmutation, nepalesisch, wurde nach dem Konflikt um die Ausweisung von Angehörigen der nepalesischen Minderheit eingestellt. Die regierungsnahe Zeitung hat seit dem Frühjahr 2006 Konkurrenz: Die sonntags erscheinenden Bhutan Times begeistern Thimphus kritische Zeitungsleser seit der ersten Ausgabe durch herzerfrischende Berichterstattung und gelungene Aufmachung, der in Phuntsoling erscheinende Bhutan Observer versucht ebenfalls, von einem der kleinsten Zeitungsmärkte der Welt ein Stückchen abzuschneiden. Da gibt es allemal Stoff für heiße Diskussionen, denn die neuen Zeitungen testen Bhutans Pressefreiheit von Beginn an. Lediglich die Person des Königs bleibt unangreifbar, er erfreut sich nicht nur der Zuneigung seines Volkes, sondern wohl auch der Journalisten. Er selbst wohnt übrigens außerhalb der Stadt in einem kleinen Tal, bescheiden in einer aus Holz gebauten Villa, königliche Paläste gibt es in der gerade mal hundert Jahre alten Monarchie nicht. Bei ihm wohnen seine älteste Ehefrau und der Kronprinz. Die drei jüngeren Königinnen – seine Majestät hat vier Schwestern geheiratet – verfügen über je ein stattliches Anwesen im oberen Bereich von Mothitang, wo König Jigme Sangye sie und die gemeinsamen Kinder regelmäßig besucht. 21
Staatsbesuch zu Fuß Nicht immer waren offizielle Gäste in Bhutan willkommen
Bhutan behandelt die Angehörigen diplomatischer Vertretungen befreundeter Staaten in Thimphu mit größter Höflichkeit und Aufmerksamkeit. Kaum eine Veranstaltung, zu der das Diplomatische Corps nicht eingeladen ist, ausführliche Berichterstattung in den Medien über Besuche von Botschaftern, die zwar nicht in Thimphu residieren aber in Bhutan akkreditiert sind; Diplomatenkennzeichen für die Kraftfahrzeuge ersparen das bürokratische Besorgen von Road Permits, zollfreier Einkauf von Importwaren im einzigen Duty Free Shop der Hauptstadt macht das Leben angenehmer, kurzum, das Königreich hat ein großes Herz und kennt viele Privilegien für die Repräsentanten ausländischer Vertretungen. Genau genommen gibt es in Thimphu neben der Niederlassung der Vereinten Nationen nur zwei Vertretungen im Range von Botschaften: die des großen Nachbarn Indien und jene von Bangladesh, das zwar nicht direkt an Bhutan grenzt, aber im Süden nur durch einen schmalen Korridor von dem Himalaya-Königreich getrennt ist. Doch die Bhutaner statten selbst Kontaktbüros westli22
cher Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit gerne mit diplomatischen Ehren aus, die Niederlande und Dänemark haben daraus die Konsequenz gezogen und die regionalen Chefs ihrer EZA-Agenturen zu Honorarkonsulen ernannt. Die selbstbewusste Außenpolitik des Kleinstaates fördert seit Jahrzehnten die formelle Aufnahme von diplomatischen Beziehungen nicht nur regional mit den Mitgliedsstaaten der SAARC (South Asian Association of Regional Cooperation), der auch Bhutan angehört, sondern auch mit den Staaten der Europäischen Union, der Schweiz, den USA, Kanada, Australien, Thailand, Kuwait und vielen anderen. Bhutan ist seit 1971 Vollmitglied der Vereinten Nationen und nimmt aktiv Sitz und Stimme in vielen internationalen und regionalen Organisationen wahr. All das steht vor dem Hintergrund der Absicherung der nationalen Souveränität des Königreiches, die zwar historisch nie ernstlich in Gefahr war, deren Bedeutung aber erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts klar wurde. Die Sikkim-Krise in den 1970er Jahren löste in Bhutan Sorge aus, dass dem Land womöglich ein ähnliches Schicksal drohen könnte. Sikkim verlor 1975 als bislang letzter Staat im Himalaya seine Unabhängigkeit und wurde von Indien annektiert. Schon vorher waren mit Ausnahme von Nepal und Bhutan alle vormals unabhängigen Staaten im Hima23
laya im Einflussbereich mächtiger Nachbarn aufgegangen: Tibet wurde zwischen 1950 und 1959 von China besetzt, Kaschmir in mehreren Kriegen zwischen Indien und Pakistan aufgeteilt, die einst weitgehend selbständigen buddhistischen Kleinstaaten Ladakh und Spiti gehören heute zu Indien, die unabhängigen Fürstentümer Swat, Gilgit, Hunza und Chitral zu Pakistan. Offizielle Besucher aus aller Welt werden in Bhutan mit allen Ehren empfangen, das diplomatische Protokoll könnte nicht perfekter sein, schließlich genießen auch die Diplomaten Bhutans international einen erstklassigen Ruf und haben es in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich verstanden, jeden Zweifel an der vollen politischen Souveränität ihrer Heimat im Keim zu ersticken. Staatsbesucher fliegen heute in der komfortablen Business Class der Drukair nach Paro, wo bereits am Flughafen der Rote Teppich ausgerollt wird und der Gast im großzügig ausgebauten VIP-Bereich mit allen Würden empfangen wird. Dabei hat Bhutan alles andere als eine historische Tradition, mit Vertretern und Abgesandten ausländischer Mächte besonders höflich umzugehen. Offizielle Besuche aus dem Ausland waren bis in die 1960er Jahre selten, beschwerlich und mitunter dezidiert unerwünscht. Das lag einerseits daran, dass Bhutan bis 1964 über keinen Straßenanschluss in 24
seine Nachbarländer verfügte, Besucher daher große Mühen auf sich nehmen mussten, überhaupt nach Bhutan zu reisen oder gar bis zur Hauptstadt vorzudringen. Andererseits hatten die Herrscher in Bhutan über die Jahrhunderte wenig und zuweilen gar kein Bedürfnis, mit ausländischen Mächten in einen engeren Austausch zu treten, Verträge zu schließen oder Regeln zu vereinbaren. Die ersten Europäer, die nachweislich Bhutan besucht haben, waren die Padres Cacella und Cabrai, Jesuiten aus Portugal, die aus Indien kommend 1627 über Bhutan einen Weg nach Tibet suchten. Sie erreichten Paro gerade zu jener Zeit, als der Staatsgründer, politische und religiöse Führer Shabdrung Ngawang Namgyel (1593-1651) an strategisch wichtigen Orten Festungen erbauen ließ und das Land gegen die Tibeter verteidigte. Auch wenn der Shabdrung sich nicht für das Christentum begeistern konnte, wies er den beiden Missionaren doch gastfreundlich ein Stück Land zu, auf dem sie ihre Kirche bauen konnten. Als es den Padres nicht gelang, bekehrungswillige Bhutaner zu finden und zu taufen, beorderte er kurzerhand drei seiner Mönche zum Sakramentempfang. Er schien die Anwesenheit der ausländischen Gottesmänner zu schätzen, zumal sie ihm bei seinen politischen Nachbarn offenbar Ansehen eintrug. Doch die Missionsarbeit blieb 25
erfolglos, Cacella und Cabrai entschlossen sich weiter zu ziehen und in Tibet den großen Lama zu besuchen. Das wurde ihnen nicht leicht gemacht, denn der Shabdrung wollte seine seltsamen Besucher nicht einfach gehen lassen. Erst nach monatelangen Verhandlungen durften die beiden schließlich der Gastfreundschaft entsagen. Bis Ende des 18. Jahrhunderts liegen kaum Berichte über Reisen nach Bhutan vor. Erst als im Jahre 1772 eine bhutanische Armee das indische Fürstentum Cooch Bihar besetzte, das im Südosten an Bhutan grenzte, nahm die britische Kolonialmacht von den Störenfrieden aus den unzugänglichen Bergen Notiz. In einer Strafexpedition wurde der status quo ante wiederhergestellt, auf Vermittlung Tibets Frieden geschlossen und mit George Bogle erstmals ein Emissär der Britischen Ostindien Kompanie nach Bhutan entsandt. Bogles Besuch in Bhutan war durchaus freundlicher Natur und trägt bis heute Früchte, brachte der Engländer doch die ersten Saatkartoffeln in das Land. Zankapfel in den Beziehungen zwischen Britisch Indien, seinen halbautonomen Fürstentümern und dem Himalaya-Kleinstaat sollten jedoch die so genannten »Duars« werden, ein schmaler Landstreifen im direkt an die südöstlichen Ausläufer des Himalaya angrenzenden Flachland Assams und Bengals. Diese Grenzbezirke standen bis in das 19. 26
Jahrhundert meist unter bhutanischer Verwaltung und waren mit ihrem Reichtum an Wald und fruchtbarem, leicht zu bearbeitendem Boden unverzichtbar für die Wirtschaft des Landes. Inder und Engländer warfen den Bhutanern vor, gelegentlich Menschen, Tiere und Ernte aus den Duars zu entführen. Statt diese reichen Ländereien ordentlich zu verwalten, versuchten beide Seiten immer wieder, Steuern und Sachlieferungen aus diesen Gebieten zu erpressen. Diverse Verträge und Vereinbarungen regelten, dass die Duars zeitweise von den Bhutanern, zeitweise von den Engländern verwaltet wurden, wobei jeweils der anderen Seite entsprechende Tributzahlungen zugestanden wurden. Man beschuldigte einander regelmäßig, diese Zahlungen nicht oder nicht pünktlich zu leisten, zu veruntreuen oder an Unberechtigte abzuführen. Obwohl sich die englische Geschichtsschreibung redlich bemühte, die Schuld an den Streitigkeiten den räuberischen und unzivilisierten Bhutanern in die Schuhe zu schieben, steht hinter den jahrelangen Querelen wohl klar die Absicht der Kolonialmacht, sich diese Gebiete einzuverleiben. Kein Anlass war geringfügig genug, um nicht schwere Sanktionen oder gar die Besetzung der Duars anzudrohen. Mit allen Mitteln wurden die bhutanischen Vertreter gezwungen, angeblich 27
entführte britische und indische Staatsangehörige auszuliefern und die Missetäter gleich dazu. Hingegen wurden in umgekehrter Richtung Straftäter nicht ausgeliefert, weil man Bhutan unterstellte, über kein ordentliches Rechtssystem zu verfügen. Tatsächlich gab es damals in Bhutan nicht einmal Gefängnisse, Mördern wurde die rechte Hand abgehackt und die Sehnen an den Beinen durchtrennt – Wiederholungstäter waren aufgrund dieser Maßnahme ziemlich selten. Schließlich entsandten die Briten 1864 einen Unterhändler, der die bhutanische Regierung zur Unterschrift unter einen Vertrag bewegen sollte, der den Streit um die Duars endgültig im Sinne der Wünsche der Britischen Ostindien Kompanie regeln würde. Ashley Edens Besuch stand unter keinem günstigen Stern, Bhutans Repräsentanten ersuchten dringend um eine Verschiebung des Besuchs, die Lage im Lande wäre ungünstig. Tatsächlich tobte in Bhutan gerade wieder eine Art Bürgerkrieg. Die eigentlichen Herrscher, in der Sprache der Engländer der Dharma Raja, der höchste und spirituelle Führer, Reinkarnation des Shabdrungs sowie der Deb Raja als politischer Herrscher, residierten zwar in Punakha, konnten aber ihre Macht in keiner Weise ausüben. Der Penlop von Trongsa ritterte mit seinem Konkurrenten aus Paro um die Vormachtstellung, die Landesfürsten verbündeten sich in abwechseln28
den Allianzen mit den Dzongpens und Bezirkshäuptlingen ihrer Umlande, die eigentliche Regierung wurde ignoriert. Doch die Engländer wollten nur mit den vermeintlich wichtigsten Führern des Landes konferieren und schickten Eden los, obwohl ihm unterwegs immer wieder beschieden wurde, er solle umkehren, die Regierung in Punakha sei nicht auf den Besuch vorbereitet. Eden zog im Winter bei schrecklichen Witterungsverhältnissen über tief verschneite Pässe. Ob ihn die Bhutaner bewusst auf kaum gangbare Irrwege schickten, lässt sich nur vermuten. Tatsächlich wählte der Engländer eine sehr schwierige Zugangsroute von Darjeeling aus direkt ins Ha-Tal und folgte nicht dem wesentlich besser ausgebauten Weg über Sikkim und das tibetische Chumbi-Tal. Die meisten Träger kündigten Eden die Gefolgschaft und zwangen den sturen Abgesandten, den Großteil seiner Ausrüstung und Verpflegung zurückzulassen. Unterwegs versuchten Bezirksfürsten immer wieder, ihn zur Umkehr zu bewegen, doch Eden wollte ohne eine schriftliche Erklärung der Regierung aus Punakha, dass sein Besuch unerwünscht wäre, nicht weichen. Eden war wohl keine Idealbesetzung für diese heikle Mission. Was er von den Bhutanern hielt, lässt sich in seinen Berichten nachlesen. Die Regierung Bhutans setze sich aus einer Schar von gierigen, intriganten und 29
skrupellosen Platzhirschen zusammen, die sich ständig gegenseitig zu vertreiben und hereinzulegen versuchten, zeigt sich Eden nicht frei von Vorurteilen. Er sei von den Autoritäten im Lande mit »flegelhafter Unzivilisiertheit und Gleichgültigkeit« behandelt worden, klagt der ungebetene Gast. Tatsächlich ließen die Bhutaner ihm, der trotz aller Warnungen seinen Weg bis nach Punakha fortgesetzt hatte, eine Behandlung angedeihen, die zumindest nicht ganz den diplomatischen Gepflogenheiten entsprach. Der Trongsa Penlop, der bei den Verhandlungen faktisch den Vorsitz führte, wollte Eden einen Vertragstext abnötigen, der die vollständige Rückgabe der von den Briten besetzten Duars und hohe Reparationszahlungen vorsah. Als Eden nicht unterschreiben wollte, habe ihm der Penlop persönlich das Gesicht mit feuchter Erde eingerieben, ihn an den Haaren gezogen und auf den Rücken geschlagen. Dies alles sehr zum Gaudium der versammelten Beamtenschaft. Der Dzongpen von Wangdue Phoedrang habe noch eines draufgesetzt und den Expeditionsarzt Dr. Simpson aufgefordert, von ihm bereits vorgekautes Doma (Areca-Nuss mit Betelblättern) in den Mund zu nehmen. Als dieser dies verweigerte, habe der Penlop ihm den roten Brei ins Gesicht gespuckt. Eden unterschrieb den demütigenden Vertrag, vermerkte allerdings bei seiner Unter30
schrift »under compulsion«, im Gegenzug erhielt er freies Geleit zugesichert. In Eilmärschen bei Tag und Nacht gab er nun Fersengeld, erreichte in nur zwei Tagen Paro und nach weiteren zehn Tagen Darjeeling. Für die Briten war die Demütigung ihres Abgesandten nun Kriegsgrund. Trotz mehrerer Versuche der bhutanischen Regierung, doch noch Verhandlungen zu führen, besetzten indische und britische Truppen die begehrten Duars und wähnten sich damit am Ziel einer Politik, die wenig Rücksicht auf Rechte und Interessen des kleinen Nachbarn im Norden genommen hatte. Doch groß war das Entsetzen, als die Bhutaner im Jänner 1865 zu einem vernichtenden Gegenschlag ausholten. »Unsere Verluste hätten nicht schlimmer sein können, wenn der Feind über Feuerwaffen verfügt hätte«, beschreibt ein britischer Offizier die schreckliche Wirkung der bhutanischen Pfeile, die mit traditionellen Bambusbögen zielgenau abgeschossen wurden. Zwei Haubitzen, Dutzende Verwundete, den Großteil der Munition und Vorräte für zwölf Tage ließen die flüchtenden Truppen der Weltmacht zurück, als der Trongsa Penlop mit tausendzweihundert Mann die Grenzstadt Dewangiri (heute: Samdrup Jongkhar) angriff und erfolgreich zurückeroberte. Erst im März gelang es den Briten und ihren indischen Truppen, die Bhutaner wieder 31
an den Rand des Gebirges zurückzudrängen. Jetzt wurden Pläne für eine Invasion Bhutans geschmiedet, die nach der Regenzeit beginnen sollte. Dieses Unterfangen gelangte schließlich nicht zur Ausführung, weil bhutanische Unterhändler Bereitschaft zum Friedensschluss signalisierten. Die wesentlichen Bedingungen der Briten wurden erfüllt: Man entschuldigte sich öffentlich für die Behandlung, die man Ashley Eden hatte angedeihen lassen, gab die beiden erbeuteten Haubitzen zurück und akzeptierte die britische Besetzung der Duars gegen eine jährliche Abschlagszahlung. Die britische Kolonialmacht verwandelte die Duars nach einem Kahlschlag der wertvollen Tropenhölzer in riesige Teeplantagen, Zigtausende großteils aus Nepal stammende Gastarbeiter wurden angesiedelt und geben dem Landstrich seither ein völlig anderes Gepräge. Doch es gab auch Staatsbesucher, die anders als Ashley Eden das hohe Lied bhutanischer Gastfreundschaft, Höflichkeit und Zuvorkommenheit sangen. Jean-Claude White wurde 1905 die Ehre zuteil, »seinem Freund Ugyen Wangchuk« – wie er ihn selbst beschreibt – den Orden und die Ernennung zum Knight Commander of the Indian Empire zu überbringen. Diese hohe Auszeichnung, verbunden mit dem Titel »Sir«, wurde dem späteren ersten König von Bhutan in Aner32
kennung seiner Verdienste als Mitglied der britischen Delegation nach Tibet zugesprochen. White nahm zwei Jahre später auch als Ehrengast und Abgesandter der britischen Krone an der Wahl und Erhebung des Trongsa Penlop zum ersten Druk Gyalpo, also zum König eines endlich vereinten Bhutans Teil. Er lässt keine Gelegenheit aus, seine Reisen nach Bhutan als besonders memorable Höhepunkte seines Lebens zu beschreiben, ist voll Zuwendung für seine bhutanischen Freunde und sichtlich bemüht, die harschen Kommentare Edens zu konterkarieren. Dass Eden die Bhutaner als besonders schmutzig und undelikat darstellt, die Wasser nie an ihren Körper ließen, sondern lediglich zur Schnapsproduktion verwendeten, führt White auf Vorurteile zurück. »Meine Erfahrung mit den Leuten war, dass sie generell sehr höflich, zivilisiert und sauber waren. Während meines ganzen Aufenthaltes sah ich nur ein einziges Mal einen Betrunkenen«, schreibt White – und übertreibt damit wohl auch ein wenig. Der letzte bedeutende Staatsmann, der Bhutan einen offiziellen Besuch zu Fuß abstattet, ist der indische Premierminister Jawaharlal Nehru. 1958 will er eigentlich Tibet besuchen, doch das Land am Dach der Welt befindet sich am Vorabend des großen Khampa-Aufstandes gegen die chinesischen 33
Besatzer. So ändert Nehru seine Reisepläne, überquert zu Fuß den 4500 Meter hohen Nathu-La an der Grenze zwischen Sikkim und Tibet, steigt in das tibetische Chumbi-Tal ab, um aber gleich nach Osten abzubiegen. Diese Route war über viele Jahrhunderte der kürzeste Weg in den Westen von Bhutan, nach Paro und in die damalige Hauptstadt Punakha. Nehru reitet und wandert fünf Tage bis nach Paro, in seiner Begleitung befindet sich unter anderem seine damals vierzigjährige Tochter Indira. »Irgendwie vermittelt der Himalaya nicht nur einen Geist des Friedens, sondern auch von Dauerhaftigkeit jenseits der Verrücktheiten der Menschen«, beschreibt sein Biograf Nehrus Gedanken, »carefree« habe er sich gefühlt, als der Stress im Alltag des mächtigen Politikers Pause machte. Bhutaner führen bis heute den außergewöhnlichen Inhalt seiner Rede anlässlich des Treffens mit dem Dritten König Jigme Dorji Wangchuk auf die Begegnungen mit ihrer Kultur zurück, die Nehru während seiner Wanderung im Land des Donnerdrachens sehr beeindruckt haben. Er sei nicht gekommen, um als Vertreter eines mächtigen Landes Druck auf den kleinen Nachbarn auszuüben. Bhutan solle für immer ein unabhängiges Land bleiben, das seinen eigenen Weg gehen und selbst den Takt des Fortschritts bestimmen sollte. 34
Der indisch-bhutanische Vertrag von 1949 sah noch eine klare Führungsrolle Indiens in allen Fragen internationaler Politik gegenüber Bhutan vor, das lediglich seine inneren Angelegenheiten selbst bestimmen sollte. Mit dem Besuch Nehrus ändert sich diese Grundhaltung, die indische Regierung unterstützt Bhutans Wunsch, in den Colombo Plan aufgenommen zu werden. 1964 tritt Bhutan – ebenfalls mit indischer Empfehlung – als Vollmitglied der Weltpostunion bei und ist damit erstmals gleichberechtigtes Mitglied einer globalen Organisation. Briefmarkensammler in aller Welt gehören zu den ersten Ausländern, die nachhaltig Notiz von der Existenz des kleinen Königreiches im Himalaya nehmen: Bhutan produziert jahrelang Unmengen von Briefmarken mit den außergewöhnlichsten Techniken – und bringt damit so manchen Sammler zur Verzweiflung. Indien entsendet Experten nach Bhutan, die Anfang der 1960er Jahre die ersten Fünfjahrespläne für den kleinen Nachbarn entwickeln helfen. Und Indien finanziert den Großteil der Kosten dieser Entwicklungspolitik. Nach der Schließung der Grenzen mit Tibet und der Katastrophe des indischchinesischen Himalaya-Krieges wird die Straße von der indischen Grenze über Phuntsholing nach Thimphu und Paro gebaut. Hundertsiebzig Kilometer Gebirgsstraße, fast dreitausend Meter Höhenunterschied, unzählbare 35
Kurven in schwierigstem Gelände verbinden das Land nun mit dem Straßennetz des indischen Subkontinents. Staatsbesucher müssen seither nicht mehr zu Fuß gehen, wenn sie Bhutan eine offizielle Visite abstatten wollen.
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Der schwierigste Trek der Welt Über die Gründe, den Snowman Trek gerade zur Monsunzeit zu gehen
»You will not see any mountains!« Der japanische Tourist sagt es mit einem beschwörenden Unterton. Er sei nur hier, weil das die Zeit der Blüte des Blauen Mohns sei. Es ist der 14. Juli. Ein nasskalter Abend über den Weiden von Jangothang, irgendwo in den Wolken verbergen sich Jomolhari und Jichu Drake. Der Japaner hat bereits zufrieden den Rückmarsch angetreten, ein Stück weiter oben, am Tsophu-See, hat er Hunderte blaue und violette Blüten der Scheinanemone gesehen. Sechs Uhr früh, 15. Juli. Meine Frau hat Geburtstag. Für zwanzig Minuten öffnen sich die Monsunwolken und geben einen phantastischen Blick frei auf die vielleicht schönsten Berggipfel Bhutans. Wir sind sofort munter, staunen und strahlen. Dort oben haben die Götter ihren Sitz, im Juli ist ihr Thron noch weißer als mit Hermelin ausgelegt. Der Monsun fällt dort oben zwischen siebentausend und siebentausendfünfhundert Meter als Schnee, umso prächtiger strahlt der Jomolhari in der Morgensonne. Der Japaner wird für die folgenden drei Wochen der einzige Tourist bleiben, dem wir 37
begegnen. Doch Berge werden wir noch mehr sehen. Wer einmal im Leben eine Trekking-Reise in den Himalaya plant, sollte die Monsunmonate meiden. Zu groß ist die Gefahr, enttäuscht und durchnässt zurückzukehren. Wer aber vom Trekking-Virus befallen ist, wer also immer wieder kommt, jedes Jahr aufs neue eine immer waghalsigere Route plant, wer die vierte Trekking-Woche mehr liebt als die erste, der sollte es versuchen: Trekking im Monsun ist eine der letzten Herausforderungen im Himalaya, die sich nur einem ganz kleinen Kreis von – zugegeben – ziemlich schrägen Typen eröffnet. Und dann gleich am Snowman Trek? Laut Lonely Planet »einer der schwierigsten Treks der Welt«, mit seinen fünfundzwanzig Marschtagen und stolzen zwölf Pässen, keiner niedriger als viertausendfünfhundert Meter. Es gibt gute Gründe. Und es braucht ein wenig Hoffnung, dass es vielleicht doch nicht Tag und Nacht regnen würde. Und ein Stück Optimismus und Lebensfreude, denn für jeden Regentropfen blüht im Monsun auf den Hochalmen eine Blume: Edelweiß, so viel, dass man sie mit der Sense mähen könnte, Primeln und Bergastern, Anemonen und Frauenschuh, und natürlich der Blaue Mohn, die nationale Blume Bhutans, nur heimisch in Regionen jenseits der viertausend Meter. Im Schutz der Nebelschleier und angezo38
gen von den sommerlichen Temperaturen ziehen Tiere in die Almregionen, die sonst übers Jahr in undurchdringlichen Wäldern zu Hause sind. Bären, Blauschafe und das seltene Takin sieht man während der Monsunzeit eher und besser, weil sie sich oberhalb der Baumgrenze nicht im Dickicht verstecken können. Scheue Jäger wie der Schneeleopard folgen ihnen im Sommer bis in Höhenlagen weit über fünftausend Meter. Pilze gibt es im Überfluss. Die nächtlichen Temperaturen sinken auch auf fünftausend Meter kaum unter den Gefrierpunkt. Damit wird im Sommer eines der größten Risiken am Snowman Trek ausgeschaltet: bei Neuschnee zwischen zwei Pässen gefangen zu sein. Und die lästigen Blutegel? Für viele ein Hauptgrund, Trekking Touren im Himalaya zur Monsunzeit zu meiden – erraten, die gibt es am Snowman Trek nicht, denn die Route verläuft in Höhen zwischen 3700 und 5400 Meter. Das ist selbst dem hartnäckigsten Blutegel zu hoch. Bei den Almen von Robluthang wartet eine weitere sommerliche Belohnung auf uns. In einem idyllischen Hochtal verbringen bis zu vierhundert der seltenen Takin die feuchtwarme Sommerzeit. Ein salziger Sumpf am Ufer des kleinen Flusses hat es ihnen angetan. Takin gehören zu den seltensten Großsäugetieren der Welt. Wenige hundert Stück soll 39
es noch geben. Im Monsunmonat Juli sehen wir an die hundert von ihnen, nachdem unsere Packpferde einen neuen Weg hoch über dem Tal genommen haben, um die scheuen Takin nicht zu beunruhigen. Obwohl die Pferde also in großer Entfernung vorbeiziehen, flüchten die Takin vorerst in den tiefer liegenden Wald. Ein freundlicher Ranger kommt uns in dieser menschenleeren Gegend entgegen. Er ist Angehöriger der Königlichen Garde, abgestellt zum Schutze der seltsamen Tiere. Uns rät er, ein wenig abzuwarten, uns ein Versteck hinter Felsen zu suchen und möglichst keinen Lärm zu machen. Die Takin würden zurückkehren. Nach gut einer Stunde kommen sie tatsächlich, zuerst die älteren und stärkeren Tiere, dann Junge mit ihren Muttertieren. Behäbig, fast ein wenig vorsintflutlich in ihren Bewegungen, trotten sie langsam zurück an die Salzstelle am Flussufer. Sie haben sich noch nicht daran gewöhnt, dass sie seit drei Jahrzehnten in Bhutan nicht mehr gejagt, sondern beschützt werden. Drukpa Kinley, der »göttliche Verrückte« soll der Sage nach jenes seltsame Wesen erschaffen haben. Der Heilige habe nach einem opulenten Mahl auf Kosten von armen Hirten die übrig gebliebenen Knochen einer verzehrten Kuh wieder zusammengesetzt und dem Wesen anschließend den Kopf einer ebenfalls verspeisten Ziege aufgesetzt. Fertig war das 40
Takin (Budorcas Taxicolor), heute das »nationale Tier« Bhutans. Der Marsch über den 5005 Meter hohen Sinche La ist schon bei Schönwetter recht anstrengend. Uns zeigt der Monsun an diesem Tag, wozu er in der Lage ist. Regen beim Abbau der Zelte am Morgen, monoton prasselnder Regen beim fünfstündigen Aufstieg zur Passhöhe, nur unterbrochen vom wilden Hirtenhund der hier kampierenden Yakhirten. Bei Schönwetter hätten sie den zähnefletschenden Kläffer wohl angepflockt, aber wer sollte bei solchem Sauwetter schon vorbeikommen. Regen und nasskalte Temperaturen auf der Passhöhe, Regen beim Abstieg bis zu einem aus Yakhaar gewebten Zelt, wo die freundliche Sennerin uns mit Suja (Buttertee) verwöhnt. Doch selbst das in achtzehn Monaten Handarbeit gewebte Zelt kann heute dem Regen nicht widerstehen und leckt an dutzenden Stellen. Regen im Abstieg nach Limithang. Meine damals fünfzehn- und sechzehnjährigen Söhne Fabian und Lukas und ich ignorieren, dass wir völlig durchnässt sind, plaudern und lassen unsere Gedanken fliegen. Verlieren den Anschluss an Renée, Sophie und David, die mit den Packpferden, Guide und Koch so rasch wie möglich den Lagerplatz erreichen wollen. Erst spät bemerken wir, dass der kleine Bach, dem wir gefolgt sind, buchstäblich mit jeder Minute mächti41
ger wird. Weiter unten sehen wir Renée und die anderen, sie haben es gerade noch geschafft, das andere Ufer zu erreichen. Für uns ist es zu spät. Durchwaten ist jetzt nicht mehr möglich, der Dauerregen hat aus dem harmlosen Gewässer einen immer bedrohlicher werdenden reißenden Fluss gemacht. Vom anderen Ufer her beginnen unsere Helfer, eine Notbrücke aus Baumstämmen zu bauen. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, denn der Wildbach sucht ständig neue Reviere, schiebt Felsen und Geröll vor sich her, tobt mit tosendem Geräusch um uns herum und will sich der Brücke nicht unterwerfen. Die glitschigen Baumstämme werden notdürftig zwischen Felsen verkeilt, wir balancieren mit zitternden Knien auf die helfenden Hände am anderen Ufer zu. Die Wiese, wo wir unsere Zelte aufschlagen, steht zehn Zentimeter hoch unter Wasser, die blauen Plastikplanen unter und über den Zelten können auch nicht verhindern, dass es an allen Ecken tropft und leckt. In der Nacht wache ich auf. Es ist plötzlich so still, das Rauschen des Wildbaches ist fast völlig verstummt. Am Himmel glitzern Sterne, hinter dem Zelt leuchten die Schneefelder des Great Tiger Mountains im Mondlicht. Bald verzaubert die Morgensonne die verbliebenen Regentropfen an Primeln und Rhododendren zu silbernen Perlen. So schnell geht das – im Monsun. 42
Dörfer gibt es nur wenige an dieser außergewöhnlichen Trekking-Route. Chebisa ist eine solche Siedlung, besonders malerisch in einer grünen Senke gelegen, in die sich ein pittoresker Wasserfall ergießt, rundum Almen und schneebedeckte Gipfel. An den Graten oberhalb des Dorfes sehen wir große Herden von Blauschafen, über uns kreisen würdevoll Lämmergeier, zwei Falken durchschneiden die dünne Luft, ein Platz wie aus dem Bilderbuch, wir stellen unsere kleinen Zelte auf, genießen ein Bad im gletscherkalten Bach. Idylle pur. Das Dorf ist leer. Keine Menschenseele zu sehen, die trutzigen Steinhäuser sind verriegelt, niemand ist zu Hause. Gebirgsbewohner in Bhutan leben im Sommer als Nomaden mit ihren Yakherden weiter oben auf oft viele Tagesmärsche entfernten Hochalmen, wechseln ihre Weidegründe alle drei bis vier Wochen. Erst im Spätherbst kehren sie in ihre Wintersiedlungen zurück. Es ist schon finster, wir haben es uns in den Zelten gemütlich eingerichtet, als Lukas noch mal nach draußen muss. Mit der Kopftaschenlampe wird er abseits unseres Zeltplatzes ein Gebüsch aufsuchen. Minuten später kehrt er zurück. »Hinter dem Busch sitzt ein Hund, ich habe deutliche seine Augen im Lichtschein der Taschenlampe gesehen.« Kurz darauf erst fällt mir ein: In dem menschenleeren Dorf gibt es keine Hunde, die ziehen na43
türlich mit den Nomaden mit auf die Hochalm. Wem gehören die Augen im Busch, die Lukas beobachtet haben? Wir sehen gerade noch einen schwarzen Schatten, wie er sich wegtrollt. Unsere Mannschaft ist sehr aufgeregt, kein Tier fürchten die Bhutaner so sehr wie den schwarzen Himalaya-Bären. Der scheinbar gemütliche Meister Petz ist launisch und unberechenbar, sucht manchmal die Konfrontation auch mit Menschen, man kommt ihm besser nicht zu nahe. Tage später werden wir noch ein Exemplar sehen, diesmal bei Tageslicht, friedlich beim Äsen an einem mit Büschen bewachsenen Hang am anderen Flussufer. Unsere einheimischen Begleiter nehmen dennoch sofort Reißaus. Der Weg vom bezaubernden Dorf Laya in das abgelegene Thansa in den Lunana-Bergen gehört zu den außergewöhnlichsten und schönsten Strecken, die man im Himalaya erwandern kann. Uns macht der Monsun diese Woche besonders unvergesslich, er macht nämlich Pause. Fünf Tage wolkenloser Himmel, sommerliche Temperaturen und die schönsten Bergblicke auf die tief verschneiten Siebentausender von Lunana, auch das kann in der »Regenzeit« passieren. Den Rasttag in Laya verbringe ich damit, dem Bürgermeister und Karawanenführer zu erklären, dass wir ab morgen nur mehr neun Tragtiere brauchen werden. Nur meine bei44
den jüngeren Söhne wollen die Königsetappe des Snowman Treks mit mir wagen, Renée, Sophie und David werden absteigen zu den heißen Quellen von Gasa. Zwei Wochen hohe Pässe und Monsun sind genug. Nach langem Palaver willigt der Packtiervermittler schließlich ein, die Zahl der bestellten Yaks auf neun zu reduzieren, gegen Vorauskasse und nicht ohne uns vorher die Pferdekarawane für den Abstieg meiner Frau zu einem stark überhöhten Preis aufs Auge gedrückt zu haben. Ein langer Anstieg vom Militärlager unterhalb Layas führt auf die Hochalm Rodophu, hier sollen am nächsten Morgen neun Yaks unsere Pferde ablösen. Wir staunen, als schließlich doch sechzehn Yaks zusammengetrieben werden, der Hirte spricht kein Englisch, zuckt auf meine Fragen nur mit den Schultern, bedeutet uns, wir sollten voraus gehen und das Verteilen der Lasten ihm und seinem Neffen überlassen. Dabei hatten wir all unsere Habe präzise auf achtzehn Lasten verteilt, für neun Yaks eben. Mittags holen uns die sechzehn Yaks ein, alle scheinen voll beladen zu sein, die Lasten sind in Kartoffelsäcken verstaut, so lässt sich nicht erkennen, was die Zottelrinder eigentlich mit sich führen. »No comment«, die Miene des Yakführers lässt keine Deutung zu. Abends stößt überraschend der Besitzer der Yaks aus Laya zu uns, der zuerst gar nicht hat45
te mitkommen wollen. Er lüftet das Geheimnis seines Sinneswandels und der zusätzlichen Lasten: »Handelswaren« habe unser Karawanenführer noch zusätzlich mitgenommen, »für die Menschen in Thansa, zu denen nur selten Händler vordringen«; die Waren stammen aus Tibet und China, ein Bote wird vorausgeschickt, um die baldige Abhaltung eines Markttages in Thansa anzukündigen. Die einsamen Dörfer an der Nordwestgrenze Bhutans zu Tibet bestreiten einen guten Teil ihres »Handels« mit den Nachbarn, die sie in Tagesmärschen über fünftausend Meter hohe Pässe erreichen können. Schmuggel nennt das Gesetz diesen seit Jahrhunderten gebräuchlichen kleinen Grenzverkehr. Tibeter kommen auch über die Pässe, meist auf der illegalen Suche nach Heilkräutern und dem Potenzpilz Cordyceps. Chinesische Waren finden ihren Weg auf diese Weise in die Bergdörfer Bhutans. Die Ankunft von Chilips (Ausländern) ist für die Menschen in Thansa diesmal nur von beschränkter Bedeutung. Die viel größere Attraktion sind bunte Gummistiefel, Thermosflaschen und Daunenjacken, die unser Karawanenführer von den geheimnisvollen zusätzlichen Packtieren ablädt. Stundenlang wird gehandelt und gefeilscht. Gegen Abend verschwinden unsere Yaktreiber und ein paar einheimische Männer mit wichtigen Gesichtern, kehren erst nach Stunden und offen46
sichtlichem Genuss beträchtlicher Mengen von Chyang (leicht alkoholisches Gebräu aus Weizen oder Hirse) zurück. Sie haben nicht nur den erfolgreichen Verkauf aller mitgebrachten »Handelswaren« zu feiern sondern erzählen freimütig, dass sie auch noch jenes Yak »um einen guten Preis« verscherbelt haben, das am Anmarsch wegen seines ungestümen Gemütes stets für Unruhe in der Karawane gesorgt hatte. Der Weg von Thansa über die Berge Lunanas zu den heißen Quellen von Duer Tsachu wird als die schwierigste Prüfung an der Snowman-Route beschrieben. Viermal übernachtet man jenseits der fünftausend Meter Höhenlinie, doch nach drei Wochen in den Bergen reicht die Akklimatisation üblicherweise aus, um diese Tage und Nächte als außergewöhnliches Erlebnis voll zu genießen. Uns schickt der Monsun täglich Wolken und Regen, aber immer dann, wenn es besonders schöne Berge, Gletscherbrüche, Gebirgsseen oder Felswände zu bestaunen gibt, lüftet er gnädig seine Wolkenbanken und gibt Blicke frei, von denen wir noch lange zehren werden. Wir wandern stundenlang über Edelweißwiesen, sehen Blauen Mohn, der mit Vorliebe in der felsigen Übergangszone von Almlandschaft zum alpinen Ödland wächst und delektieren uns an den Eierschwammerln (Pfifferlingen), die in dieser menschenleeren Gegend direkt am Weg wachsen. 47
Nachts wird es ganz still, die glucksenden Bäche und kleinen Seen frieren jenseits der fünftausend Meter für ein paar Stunden zu. Schwierige Flussquerungen stehen daher frühmorgens auf dem Programm, denn da führen die Bäche weniger Wasser. Die eigentliche Gefahr ist nicht so sehr die Strömung, sondern die Kälte des Wassers, die bereits nach wenigen Minuten jedes Gefühl aus Zehen und Füßen vertreibt. So spürt man die spitzen Steine im Flussbett nicht, kann sich verletzen, stolpern und eine Beute der unberechenbaren Gletscherbäche werden. Schon deshalb queren wir Flüsse immer gemeinsam, jeder achtet auch auf die Schritte der anderen, eine hilfreiche Hand ist, falls erforderlich, schnell ausgestreckt. »Papa, hier bleiben wir doch noch einen Tag?« – Wenn ein Fünfzehnjähriger seinem Vater nach zwanzig Marschtagen am Snowman Trek so eine Frage stellt, dann sagt dies einiges über die Qualität jenes Ortes aus, der alle Trekker am Snowman wenige Tage vor Erreichen des Zieles für alle Mühsal und Anstrengung belohnt. Duer Tsachu (die heißen Quellen von Duer) liegt versteckt in einem Seitental des Mangdi-Flusses. Guru Rimpoche hat hier vor 1300 Jahren meditiert, wer heute kommt und sich die Zeit nimmt, den Geist dieses Ortes zu erspüren, wird ebenfalls in Demut und Meditation verfallen. Ein Dutzend heiße Quellen, jede anders, 48
teils mit natürlicher Kohlensäure blubbernd, teils so heiß, dass man kaltes Wasser dazuleiten muss, um ein Bad nehmen zu können, brechen aus den Felsen des engen Tales hervor. Seit Jahrhunderten bekannt für ihre Heilwirkung, wurden einfache Badeplätze aus Stein und Holz direkt an die Quellen gebaut, gerade groß genug, dass ein bis zwei Menschen gleichzeitig das Labsal eines Thermalbades genießen können. Nur wenige Besucher finden den Weg nach Duer Tsachu, zu hoch und anstrengend sind die Pässe im Osten und im Westen der Quellen, die den Zugang auf die Zeit zwischen Juni und September beschränken. Die letzten beiden Pässe auf dem Weg nach Bumthang sind in den wenigen Trekking-Führern, die Angaben zum Snowman Trek enthalten, nicht verzeichnet. Sie machen das Dutzend voll. Der Monsunregen der letzten Tage hat den Weg an vielen Stellen zu einem sumpfigen Morast werden lassen. Wir bleiben stecken, verlieren unsere Schuhe, sinken bis zur Hüfte ein. Die Stimmung ist dennoch ausgelassen fröhlich. Die vierte Woche Trecking im Monsun ist schöner und unbeschwerter als die erste.
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Begegnungen im Wald Oder: wohin auch eine Königin zu Fuß geht
Ja, die Straße von Tashitang nach Damji sei nun befahrbar, ein wenig rutschig vielleicht nach Regenfällen, aber kein Problem für ein Allradfahrzeug. Die beruhigende Auskunft des Mangap (Bürgermeister eines Ortsteils) stellt sich vor Ort als klassische Schönfärberei heraus. Die ersten fünfzehn Kilometer der waghalsig in die Schluchten des Mo-ChhuTales getriebenen Piste sind bereits in mühevoller Handarbeit mit Millionen von senkrecht in den Unterbau verankerten Steinen gepflastert, die restlichen zehn Kilometer sind dafür ein unglaublich rutschiger Lehm- und Sumpftreck, der mit einer Straße kaum etwas gemein hat. Mehrmals halte ich an und gehe zu Fuß voraus, um zu prüfen, ob die abenteuerliche Strecke überhaupt befahrbar bleibt. Der Toyota Prado wühlt sich ohne verbliebene Kraftreserve bei Vollgas im Allradantrieb durch die lehmige Suppe. Bei Einbruch der Dunkelheit erreichen wir endlich das kleine Dorf Damji, wo der Mangap bereits auf uns wartet. Er hat zu unserer Überraschung einen leidlich Englisch radebrechenden horseman aufgetrieben: Namgay bringt uns auch gleich in dem Haus unter, in dem er mit seiner rassi50
gen jungen Frau, deren Eltern und vier Schwestern wohnt. Roter Reis, etwas Chili und Salztee werden gereicht – unsere Diät für den anstrengenden Weg nach Gasa und Laya. Gasa ist mit 4400 Quadratkilometern der an Fläche größte Bezirk Bhutans, allerdings gleichzeitig jener mit der geringsten Anzahl an Einwohnern, insgesamt nur dreitausendeinhundert Menschen wohnen in den großteils im Hochgebirge liegenden Dörfern. Gasa ist die einzige Bezirkshauptstadt, die noch keinen Straßenanschluss besitzt, sechs Stunden Fußmarsch führen auf Hängebrücken über tiefe Schluchten und an malerischen Wasserfällen vorbei zu einem Aussichtspunkt. Unten am Mo Chhu liegt das Tsachu, die heißen Quellen von Gasa, in ganz Bhutan ob ihrer Heilwirksamkeit berühmt. Fünfhundert Höhenmeter weiter oben thront trutzig der Dzong, steil an den Hang geklebt, eine Fluchtburg einst zur Sicherung der nahen Grenze gegen Tibet vom Shabdrung errichtet, heute Sitz der Bezirksverwaltung und eines Klosters. Der zweite Marschtag führt über den 3900 Meter hohen Beri-La in ein Seitental des Mo Chhus, wo sich bei dem kleinen Sumpfflecken Koina der laut Lonely Planet unangenehmste Campingplatz des ganzen Himalayas befinden soll. Wir wollen daher weiter, wenn möglich bis zum Army Camp, zwei Wegstunden unterhalb von Laya. Doch der 51
Steig durch schier endlosen Urwald ist mühsam, Wurzeln, grobe Steine, dazwischen Sumpf und Hunderte kleine und größere Bäche erschweren den Aufstieg über 1300 Höhenmeter. Ich fühle mich dennoch sehr wohl, die Baumriesen sind meine Freunde, erzählen von den vielen Jahrhunderten ihres Lebens. Wen haben sie wohl schon allen hier vorbeikommen sehen. Weiter oben hängt CoyotenFlechte wie Barthaar an den hölzernen Giganten. Da stören auch ein paar Blutegel am Weg nicht, für sie ist die Saison ohnehin bald vorbei. Für meine Begleiterin hingegen ist der anstrengende Marsch eine Überforderung. Trotz aller Trecking-Erfahrung, die sie in Nepal gesammelt hat, die Wege in Bhutan haben eine andere Dimension: viel steiler, anstrengender, oft muss jeder Schritt sitzen, will man nicht umknöcheln oder abstürzen. Ich warte lange auf sie. Schon auf der Passhöhe ist klar, dass wir den Weg zum Army Camp heute nicht schaffen werden. Doch unsere Pferde samt Isomatten, Schlafsack und trockener Kleidung sind voraus, wissen nicht, dass wir das Tempo nicht halten können. Ich komme um vierzehn Uhr in Koina an. Ein einziges Steinhaus steht da inmitten sumpfiger Umgebung, bewirtschaftet von einem einsamen, alten Mann mit entzündeten Augen hinter dicken Brillen. Kurz vor sechzehn Uhr kommt Ulla erschöpft an. 52
Wir müssen nun schnell entscheiden, denn durch die Wartezeit sind meine Chancen, das Army Camp noch bei Tageslicht zu erreichen, jetzt gegen Null gesunken. Ulla wird hier bleiben, der Alte wird ihr Decken borgen und eine Suppe kochen. Ich muss die Karawane einholen und morgen in Laya sein. Ulla leiht mir ihre Taschenlampe, zumal ich mit so gut wie gar keiner Ausrüstung unterwegs bin. Über zwei kleinere Pässe geht es nun das Tal des Mo Chhu aufwärts. Gegen achtzehn Uhr wird es in Bhutan finster. Noch dazu ist Neumond. Ich steige vom zweiten Pass auf steilem Pfad in der Dämmerung wieder in die Schlucht des reißenden Flusses ab; da – Knacken im Bambusgestrüpp, das am steilen Abhang links des Weges wächst. Ich bin gewarnt: Ein Bär hat erst vorgestern vier Schweine in Gasa gerissen. Es knackt nochmals, jetzt sehe ich deutlich die Bambusäste schwanken: Zwei rundliche braune Hinterteile leuchten mir entgegen. Takin! Die seltensten Großsäugetiere der Welt, knackig dicke, muskulöse Körper geben den scheuen Tieren ein tollpatschiges Aussehen, doch sie klettern die steilsten Felsflanken wendig wie Gämsen empor. Die beiden stattlichen Exemplare flüchten vor mir durch den Bergwald. Unten am Fluss sehe ich eine Auslegerbrücke, wie sie in Bhutan seit Jahrhunderten im 53
schwierigsten Gelände reißende Gebirgsbäche und tiefe Schluchten überspannen. Es stört mich nicht, dass es schon fast dunkel ist, ich biege beschwingt um eine Felsecke – da steht vor mir mitten am Weg zur Brücke ein weiteres Takin. Diesmal ein Jungtier, sechs Monate alt, so groß wie ein Stierkalb. Das Jungtier schaut mich treuherzig an, ich sehe, dass sein Fell heller ist als das der erwachsenen Tiere, zwei parallele hellbraune Streifen ziehen in Längsrichtung vom bulligen Nacken bis zu den Hinterläufen. Ich bin auch stehen geblieben. Würde ich jetzt meine Hand ausstrecken, ich könnte das seltsame Tier anfassen. Wie lange blicken wir einander an? Eine Minute, zwei? Dann ein Schritt nach vorne, das Takin weicht mit einem Bocksprung an das Flussufer aus, bleibt aber sogleich wieder stehen. Am anderen Ufer verfolgt die Frau meines Pferdetreibers unsere seltsame Begegnung. Die beiden haben hier gehalten, eine innere Stimme muss ihnen geflüstert haben, dass ich zu weit hinten war, um es noch bei Tageslicht zum Army Camp zu schaffen. Namgay hat einen Felsvorsprung entdeckt, unter dem wir die Nacht trocken verbringen können. Wir kochen erst Suja und dann Reis am Lagerfeuer. Ein Stück Ast dient als Kochlöffel, die beiden teilen ihre Korbteller für den Reis mit mir, eine weggeworfene Plastikflasche wird geköpft und dient mir als Teehä54
ferl. Meine ohnehin bescheidene Ausstattung an Geschirr ruht – erraten – in Ullas Rucksack. Wir legen Decken an den Felsrand und verstauen unsere Ladung im Trockenen, hängen unseren Pferden und dem Esel noch ihre Hafersäcke zur Belohnung für einen langen Marschtag um. Ich schlafe gerne im Freien, noch dazu an dieser urtümlichen Stelle unter einem riesigen Felsen, wo wahrscheinlich seit Jahrhunderten Hirten genächtigt haben. Seit es dunkel ist, hat es wieder einmal zu regnen begonnen. Doch wir liegen unter dem Felsen im Trockenen. Ich schlafe bald ein, die wunderbarsten Träume begleiten mich durch die Nacht. Meine Vermutung, dass Wasser und Regentropfen den Regeln der Schwerkraft folgen und daher von der äußeren Felskante senkrecht zur Erde fallen sollten, ist falsch: im Dunkel der Nacht klammern sich kleine Wasserläufe eng an den Felsen, überwinden die Kante und rinnen scheinbar allen Naturgesetzen zum Trotz schräg innen über mein Felsendach, bis sie sich beim Anblick des direkt unter ihnen selig schlafenden Chilips nicht mehr halten können und direkt auf meinen Schlafsack tropfen. Aber wen stören solche Kleinigkeiten in einer Nacht der Großartigkeit? Bis zum Militärlager sind es noch neunzig Gehminuten, hier sollte ich eigentlich meine Papiere vorweisen, doch niemand kümmert 55
sich um mich, ein bunt aufgeputztes Empfangskomitee aus bhutanischen und indischen Offizieren wartet am jenseits eines Baches liegenden Heli-Pad im heiligen Rauch von üppig brennenden Wacholderästen und Rhododendronblättern. Hoher Besuch wirft seine Schatten voraus. Ein junger Offizier lädt mich ein, gemeinsam mit seiner Abordnung auf das baldige Eintreffen von Ashi Sangay Choden zu warten. Die jüngste der vier Königinnen Bhutans ist seit zwei Wochen von Paro über Lingshi und Laya unterwegs, um in ihrer Funktion als UNESCO-Botschafterin Aufklärungsarbeit über Familienplanung, Hygiene, Frauenrechte und AIDS-Vorsorge zu leisten. Nach wenigen Minuten erscheint eine zierliche, aber resolute Dame Anfang vierzig mit über den breitkrempigen Hut geschlungenem Tuch in königlichem Goldgelb und einer Half-Kira, dem in einer Halb-Variante von der Hüfte abwärts getragenen traditionellen bhutanischen Ganzkörper-Wickelrock für Frauen, aus feinster Seide. Hinter ihr drängeln sich kegelförmig Leibwächter, Staatssekretäre, schwitzende hohe Beamte, Offiziere in Gardeuniform, Bürgermeister, Adabeis, Günstlinge und solche, die es noch werden wollen. Gelassen nimmt Ihre königliche Hoheit die zackige Meldung des jungen Kommandanten des Militärstützpunktes entgegen, tritt dann an die andere Wegseite und wendet sich 56
mir zu. Ich sehe in ein vielleicht die Spur zu hellhäutiges Gesicht, das leichte Glänzen der Haut – ist es königlicher Schweiß oder der Rest einer Feuchtigkeitscreme? »How are you this morning?«, ihr Englisch verrät nicht den geringsten Akzent. »Are you here all alone?« Ich erzähle ihr, dass ich Freunde in Laya treffen wolle. »Tough guys, they want to go all the way to Bumthang«, Ashi ist gut informiert, hat die sechs ja gestern Abend getroffen. Ich erzähle ihr von meiner Begegnung mit den Takin, der Nacht unter dem Felsen. Ein Lächeln verändert kurz ihr Gesicht, dessen Ausdruck sonst eine Mischung aus Ernst und einem Anflug von Traurigkeit widerspiegelt. Täusche ich mich oder genießt sie es, dass da ein ungehobelter Fremdling ihr Geschichten erzählt ohne gesenkten Blick, Flüsterton und demütig vor den Mund gehaltener rechter Hand. Nach einer Viertelstunde wünscht sie mir eine gute Reise. »Safe journey, your Highness!«, entfährt es mir, erst eine Stunde später wird mir der Fauxpas bewusst – »your Majesty« hätte es wohl heißen müssen. Mein Weitermarsch nach Laya wird durch Begegnungen mit dem königlichen Tross erschwert, rund siebzig Packpferde und Mulis, geführt von Dutzenden Soldaten und Karawanenführern tragen Tonnen von Material. Neben Verpflegung, Festzelten, Gaszylindern und Kochgeschirr fallen mir vor allem zwei 57
Diesel-Generatoren auf, die Strom für die mitgeführte Lautsprecheranlage produzieren. Die Königin hält große Meetings mit den Bewohnern der Bergdörfer ab, am Sportplatz der Schule werden dann Festzelte, viele bunte Fahnen, Klappsessel und eben eine Verstärkeranlage aufgebaut. Ashi spricht mahnende Worte zur AIDS-Prävention, ein zentrales Thema ihrer Kampagne. AIDS ist an sich in Bhutan kein großes Problem, sollte man meinen. Es gibt weniger als achtzig registrierte Fälle von HIVPositiven, nur wenige Todesfälle bisher. Die Erkrankungen sind auf die urbanen Zentren von Phuntsholing und Thimphu beschränkt, fast alle Infizierten haben sich den Virus direkt oder als indirekt betroffene Ehefrau über einen Bordellbesuch im indischen Grenzort Jaigaon geholt. Doch die Bhutaner sind begabte Planer und blicken gerne und durchaus weise in die Zukunft: ein einziger AIDS-Fall in einem der abgelegenen Hochtäler wie etwa in Laya oder Lingshi kann zu einer Katastrophe führen. Denn in diesen extrem dünn besiedelten Gegenden mit vergleichsweise liberalen sexuellen Traditionen könnte es aufgrund der Lebensweise rasch zu einer Durchseuchung eines ganzen Tales kommen. Laya hat nur achthundert Einwohner, die sexuellen Begegnungen untereinander sind angesichts von Polygamie und Polyandrie jedoch vielfältiger, als man es in einer zahlenmäßig so be58
schränkten Population erwarten würde. Daher also die Aufklärung in Regionen, in denen es bislang noch keine einzige Infektion gegeben hat. Nach Ashis Ansprache gibt es Musik mit Liedtexten, die das eben Gehörte nochmals mit volkstümlichen Texten illustrieren und vertiefen. Gesundheitsbeamte zeigen dann sehr anschaulich, wie man Kondome benützt, Muster werden großzügig verteilt. Die meisten dürften allerdings nicht ihrem Bestimmungszweck zugeführt worden sein – zu groß ist die Faszination für die Kinder des Dorfes, sie zu Luftballons aufzublasen – wenigstens von der Dichtheit konnte man sich so überzeugen. Bhutans Gesundheitspolitik ist kompromisslos, das Königreich unternimmt alles, um die Gefahr von Epidemien oder das Übergreifen neuer Krankheiten auf sein Staatsgebiet rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern. Radikal verhielt sich der Kleinstaat während der SARS-Epidemie vor einigen Jahren, als kurzfristig die Grenzen für Einreisen aus gefährdeten Gebieten gesperrt wurden. Touristen, die den stattlichen Mindesttarif von zweihundert US-Dollar pro Tag und ein teures Flugticket bezahlt hatten, wurden am Flughafen Paro kurzerhand vor die Alternative gestellt, sich für mehrere Wochen in die Quarantänestation des Bezirkskrankenhauses zu begeben oder am nächsten Tag 59
nach Hause zu fliegen. Seit Ausbruch der Vogelgrippe ist die Einfuhr von Geflügel und von Eiern nach Bhutan strikt verboten, was zu einer dramatischen Verknappung der Versorgung mit Eiern in Thimphu geführt hat. Laya ist mit über dreitausendneunhundert Meter Seehöhe eine der höchstgelegenen ganzjährig bewohnten Siedlungen Bhutans. Und wohl das schönste Gebirgsdorf im Bhutan-Himalaya, auf einer flach abfallenden Almwiese am Fuße des Great Tiger Mountains und anderer vom ewigen Schnee bedeckter Siebentausender gelegen. Die Layaps sind ein Volk mit eigener Sprache und Tracht, besonders die aus Bambus geflochtenen Hüte der Damen, gekrönt von einem gleich einem Blitzableiter gen Himmel ragenden Stab, sind bemerkenswert und begehrtes Fotoobjekt. Mit Bhutan und der Staatsmacht haben die Layaps nicht viel auf dem schon erwähnten Hut. Nur acht Stunden sind es zur tibetischen Grenze, hinter der Konsumgigant China mit allen Schätzen lockt, die ein Bhutaner-Herz erfrischen können: Gummistiefel, Daunenjacken, Thermosflaschen, Teppiche, Transistorradios oder Fotovoltaik-Anlagen für die Holzlattendächer der ansonsten sehr traditionell gebauten Bergbauernhäuser – das alles sollte eigentlich hinter der gesperrten Grenze versteckt bleiben. Denn Bhutan und China unterhalten bisher keine diplomatischen Beziehungen und – zumindest offiziell – auch kei60
nen direkten Handel über die HimalayaPässe. Wären da nicht die altruistischen Layaps, die sich in den Dienst der guten Sache stellen und für den Transport dieser Güter sorgen. Auf Schleichwegen und Schmuggelpfaden, die nur sie kennen. Es soll auch vorkommen, dass sie im Gegenzug Cordyceps, den hier vorkommenden Wunderpilz nach Tibet und China liefern. Die Ernte des potenten Pilzes wird ihnen mitunter von eindringenden Tibetern streitig gemacht, die auf eigene Faust versuchen, dieses in der chinesischen Medizin seit Jahrhunderten gepriesene Tonikum im Frühsommer zu finden. Für den Rückweg habe ich wenig Zeit und will daher von Laya nach Gasa in nur einem Tag absteigen. Der Pferdeführer ist schnell einverstanden, für die Route von Damji nach Laya werden in jedem Fall je Richtung drei Tage Pferdemiete verrechnet, egal wie schnell die Kundschaft tatsächlich unterwegs ist. Die Pferde bleiben hinter mir, wir haben vereinbart, ohne Mittagsrast nach Gasa zu laufen und dort hoffentlich vor Einbruch der Dunkelheit anzukommen. Fast vierzig Kilometer sind es, mehr als zweitausend Höhenmeter bergauf und fast dreitausend bergab. Während des Aufstiegs zum Beri-La beginnt es zu nieseln. Der Wald links und rechts des matschigen und rutschigen Weges ist auch hier auf drei61
tausenddreihundert Metern noch sehr dicht, plötzlich knackt es links im Unterholz. Da steht er, unentschlossen und gutmütig sieht er aus, der Bär! Nach einigen Sekunden wendet er sich ab und verschwindet brummend im Dickicht. Ich habe gar keine Zeit, Angst zu bekommen, so schnell ist die Begegnung auch schon wieder vorbei. Hundertfünfzig Meter weiter sehe ich links einen jener mit Reisig und Wachholder ausgelegten Rastplätze, die in regelmäßigen Abständen von Voraustrupps der hohen Delegation für die Königin angelegt wurden, die wohl heute morgen hier durchgekommen sein muss. Doch jetzt stehen hier zwei kleine Zelte, ein Stück weiter oben noch das Küchenzelt der Begleitmannschaft einer Touristengruppe, die mitten im Wald ein Nachtlager bezogen hat. Ein unwirtlicher Platz, im Regen neben dem Weg zu campieren. Die drei Touristen haben die Zelte dicht gemacht und warten wohl drinnen ab, dass diese Stunden vorbeigehen. Ihr Guide lädt mich ins Küchenzelt auf Tee und Kekse ein. Mit gedämpfter Stimme erzähle ich ihm von meiner Begegnung mit dem Bären, kaum einen Steinwurf von der Lagerstätte seiner Gruppe entfernt. Ich sehe ihm an, dass er nicht erfreut ist über diese Nachricht. Da hilft nur eines: Lärm machen – denn Bären hassen 62
Unruhe. Also wird mit den Töpfen geklappert und gesungen, die Kunden will man nicht informieren, sie haben mit der Unbill der Witterung schon Ärger genug. Frisch gestärkt gehe ich weiter, überquere bald den Pass und rutsche auf immer schlammigeren Wegen die tausendvierhundert Höhenmeter hinunter auf Gasa zu. Um achtzehn Uhr ist es schon stockdunkel im dichten Urwald, eine halbe Stunde später klopfe ich an den Holzverschlag eines Geschäftes am Marktplatz von Gasa, wo wir vor drei Tagen übernachtet haben. Der nächste Morgen gehört dem Bad in den heißen Quellen unterhalb von Gasa an den Ufern des Mo Chhus. Eine Hundertschaft von Packpferden, geplagt von Heerscharen von Blutegeln, die mit Vorliebe auf Schnauze und Nüstern ihrer blutigen Beschäftigung nachgehen, verstellt den Eingang und zeugt von königlicher Präsenz. Ashi Sangay Choden hat den örtlichen Frauenverein zu einer Aussprache eingeladen. An den heißen Quellen stehen mehrere Pavillons, unter deren Dächern sich Becken befinden, die jeweils fünfzehn bis zwanzig Badenden Platz bieten. Ein großes Becken mitten im Gelände dient als Pferdeschwemme, die königlichen Reiter sind trickreich bemüht, die stattlichen Rösser aus dem Gestüt der Royals ins Wasser zu locken. Durchaus keine leichte Aufgabe, denn die stolzesten 63
Pferde des Königreiches sind ziemlich wasserscheu. Baden in heißen Quellen hat große Tradition in Bhutan. Dutzende Tsachus finden sich im östlichen Himalaya. Schon Guru Rimpoche hat an diesen heiligen Orten meditiert, die Heilwirksamkeit der Quellen ist seit Jahrhunderten tradiert. Gasa ist von allen Bädern das größte und wird heute seinem Ruf, verschmutzt und übervölkert zu sein, überhaupt nicht gerecht. Der Besuch der Königin wurde wohl zum Anlass genommen, mal einen Putztag einzulegen. Gebadet wird ohne Geschlechtertrennung, Hinweistafeln ersuchen um züchtige Bekleidung, doch mehr als ein Tuch um die Hüften oder eine Unterhose haben weder Männer noch Frauen an. Die junge Nonne im mittleren Pavillon ist ein wenig mehr auf ihre Intimsphäre bedacht und bedeckt sorgfältig mit einem ihrer roten Tücher Brüste und Scham, ältere Bauersfrauen sind da robuster und zeigen ohne Scheu, dass Busen und Po auch älterer Damen in Bhutan meist erstaunlich straff sind. Im Bad wird getratscht, Lieblingsbeschäftigung in einem Land, in dem Sensationen selten sind und man sich daher beliebt machen kann, Neuigkeiten in Umlauf zu bringen. Hier stört keine Bekleidungsvorschrift, in der Nacktheit lässt nichts Rang oder sozialen Stand erkennen, die sonst so strengen Hierar64
chien sind vergessen. Ein Kameramann von BBS (Bhutan Broadcasting Services) erzählt ausführlich von den Tagen mit der Königin, die er auf ihrem Marsch in die abgelegenen Dörfer begleitet. Postläufer bringen die bespielten Bänder nach Thimphu, um eine halbwegs aktuelle Berichterstattung auch aus den noch nicht an Telefon- und Stromnetz angeschlossenen Gebirgsgegenden zu gewährleisten. Mit dem vor kurzem erfolgten Anschluss Gasas an das Stromnetz wird auch hier bald das Fernsehen Einzug halten und zumindest teilweise das gemütliche Geschichtenerzählen und informelle Verbreiten von Gerüchten und Neuigkeiten beim Bad im Tsachu ablösen.
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Die Stunde des Leoparden Warum sechs Männer nichts gemeinsam unternehmen sollen
Der Dagala-Trek wird auch Tausend-SeenTrek genannt, angesichts von circa fünfundzwanzig größeren und fünfzig kleinen und kleinsten Gewässern in den Hochtälern des Dagala-Gebirges eine sanfte Übertreibung. Touristen wird die Tour für den Frühsommer empfohlen, während der Monsunzeit gehört ein Schuss Unvernunft gepaart mit Übermut und Wasserfestigkeit dazu, diese Route zu gehen. Mein Sohn Fabian und ich haben Sehnsucht nach den Almlandschaften, Freund Tshering und dessen Cousin Sangay sind mit dabei, Trekking Guide Sonam und Koch Dawa komplettieren das Team. Packpferde werden bestellt, Körbe mit Lebensmitteln und Küchenausstattung gepackt, morgen soll es losgehen. Am Abend läutet das Telefon: Zerknirscht meint Tshering wenige Stunden vor dem Abmarsch, wir müssten nach einem weiteren Reiseteilnehmer suchen. Sechs Männer seien ein schlechtes Omen, jedes Kleinkind in Bhutan wisse das. Niemals dürfe eine Gruppe aus sechs Männern bestehen. Vor Jahren hätten sechs junge Burschen aus Thimphu die schlimmsten Erfahrungen gemacht, als sie 66
trotz der Unglückszahl zu sechst an den See oberhalb des Klosters Tango gingen. Verlaufen hätten sie sich, vier von ihnen seien erst Wochen später halb verhungert und verwildert in Punakha aufgefunden worden, die anderen beiden gar ums Leben gekommen. Was tun? Die einzige Möglichkeit sei, einen weiteren Reiseteilnehmer zu suchen. Ich verspüre wenig Lust, die Karawane noch größer werden zu lassen, doch uns bleibt keine andere Wahl. Entspannung am nächsten Morgen: Tshering kommt ohne den angekündigten siebenten Mann zum Treffpunkt. Er hat festgestellt, dass wir ja sieben seien, der horseman würde uns vor dem schlechten Omen eines Marsches zu sechst bewahren. Ob ich wohl auch glaube, dass wir den Pferdeführer hinsichtlich der Zahlenmystik mitzählen könnten? Natürlich glaube ich das. Tshering ist beruhigt. Wir brechen erst am Nachmittag auf, fahren mit dem Auto nach Semthoka und beginnen hier unseren Trek. Vier Packpferde mit ihrem Führer erwarten uns, eine der Stuten führt ein Fohlen mit. Oft sieht man Fohlen mit den Packpferden ziehen, die Jungtiere tragen keine Lasten, sie gewöhnen sich so an Lebensweise, Disziplin und Aufgaben eines Packpferdes. Die kleinen Himalaya-Pferde, tragen zwei geflochtene Lastkörbe links und rechts von einem hölzernen Sattel herabhängend. Bis zu sechzig Kilo 67
werden den Tieren auf diese Weise aufgeladen, Mulis tragen sogar noch etwas mehr. Packpferde sind wertvollster Besitz ihrer Herren. Fünfzehntausend Ngultrum (dreihundert Euro) kostet ein ausgewachsenes Pferd, bis zu fünfundzwanzigtausend Ngultrum (fünfhundert Euro) ein Maultier. Guide Sonam weist uns den Weg hinauf zum Kloster Talakha, das man von Thimphu aus in südlicher Richtung prächtig auf einem Bergrücken liegend sehen kann. »Only one hour, if we take the short-cut«, vielleicht schaffen wir es also noch vor dem sich bereits abzeichnenden Monsunregen. Die Abkürzung führt durch dichtes Bambusgestrüpp, wir queren Bäche und felsige Kletterpartien, es sieht keineswegs so aus, als wäre das ein beliebter Weg direkt zum Kloster. Ein heftiger Platzregen bereitet uns auf die kommenden Trekking-Tage während des Hochmonsuns vor. Völlig durchnässt erreichen wir nach mehr als zwei Stunden endlich das Kloster. Es ist finster, als schließlich auch unsere Pferde mit den Schlafsäcken und einer zweiten, trockenen Garnitur Wäsche ankommen. Freundliche Mönche lassen uns im Eingangsbereich des Klosters übernachten, auch die Klosterküche dürfen wir benützen und vermeiden so das Aufstellen der Zelte im Regen. Wir sind gewarnt, die bulligen, schwarzen Hunde, die das Kloster umstreifen, haben 68
einen Ruf als besondere Raufbolde und Kläffer. Sogar der nächtliche Weg auf die fünfzig Meter entfernte Toilette sei sehr gefährlich, wird uns beschieden. Bis zwei Uhr früh knurren und bellen die wild aussehenden Köter lautstark, dann kehrt Ruhe ein. Mönche, Hunde, wir und wohl auch unsere Packpferde scheinen endlich Ruhe und Frieden für ein paar Stunden Schlaf gefunden zu haben. Nur das Prasseln des Regens erfüllt die stockdunkle Nacht mit einem monotonen Geräuschpegel, die Lichter Thimphus sind hinter schweren Monsunwolken verschwunden. Aufregung am frühen Morgen. »Tiger, tiger!« Atemlos ruft der Pferdeführer unserem Guide die Kunde von einem schrecklichen Ereignis zu. Ein Raubtier hat in den frühen Morgenstunden das Fohlen gerissen, das sich nur wenige Meter von seiner Mutter entfernt hatte. Traurig und aufgeregt zugleich zeigt uns der Pferdetreiber eine von hohem Gras und Hanfpflanzen bewachsene Senke, keine fünfzig Meter hinter dem Kloster, dreißig Meter von dem Platz entfernt, wo die Hunde faul in der Morgensonne liegen. Mit einem präzise ausgeführten Biss in das Genick hat die Raubkatze das Fohlen erst getötet und dann begonnen, die linke Bauchseite aufzureißen. Leber und Därme liegen neben dem toten Tier, die Katze wird nachts wiederkommen und ihren Hunger an den Resten stillen. Wa69
rum die Hunde nicht angeschlagen haben, bleibt ihr Geheimnis. Aus den Spuren im sandigen Boden schließen wir, dass es wohl ein Leopard gewesen sein muss, für einen Tiger sind die Abdrücke der Pfoten im weichen Erdreich zu klein. Obwohl es durchaus möglich wäre, sogar hier, nur einen halben Tagesmarsch entfernt von der Hauptstadt Thimphu, auf einen Tiger zu stoßen. Die riesigen Nationalparks Bhutans sind durch geschützte Korridore miteinander verbunden und erlauben der stabilen TigerPopulation Bhutans, ausgedehnte Streifzüge aus dem subtropischen Süden ins Gebirge zu unternehmen. Sogar am Trumshing-La, dem mit knapp viertausend Metern höchsten Straßenpass Bhutans, sind schon Tiger gesichtet und fotografiert worden. Auch nahe den Klöstern Tango und Tsheri, nur fünfundzwanzig Kilometer von Thimphu entfernt, gibt es immer wieder Tigersichtungen. Bhutan ist heute das Land mit der gesündesten Lebensgrundlage für den Bengalischen Königstiger, der überall anders am indischen Subkontinent schlimm bedroht und am Rande des Aussterbens ist. Leoparden sind viel häufiger als Tiger und praktisch überall im Königreich zu finden. Der gefleckte Leopard, der nachts unser Fohlen verspeist hat, lebt so wie sein schwarzfarbener Verwandter, der Panther, in Wäldern in 70
allen Höhenlagen des Königreichs zwischen der indischen Ebene und dem alpinen Mischwald. Weiter oben beginnt der Lebensraum des imposantesten Vertreters seiner Familie: Der seltene Schneeleopard unternimmt im Sommer Streifzüge jenseits der Baumgrenze bis auf Hochalmen jenseits der fünftausendfünfhundert Meter. Das alles tröstet den Pferdeführer nicht. Er trauert um sein Fohlen. Ich kann nicht einschätzen, ob die Trauer mehr dem materiellen Verlust oder dem Tod des Jungtieres gilt, das gestern noch so springlebendig war. Bhutaner haben eine dünne Haut, wenn Kreaturen sterben, sind sie doch alle Teil einer ewigen Kette von Wiedergeburten. »Schlimm für das Pferd, aber gut für unsere Umwelt«, wird ein paar Tage später Ministerpräsident Lyonpo Yeshi Zimba sagen, als ich ihm beim Smalltalk über Tourismusentwicklung von unserem Erlebnis berichte. Bhutans einzigartige Biodiversität sei der Stolz der Nation, wichtiges Kapital für eine nachhaltige Entwicklung mit Respekt vor Umwelt und Natur. Der Pferdebesitzer werde für den Verlust finanziell entschädigt, entsprechende moderne Gesetze sind im ÖkoMusterland Bhutan vorhanden. Früher, so der Karawanentreiber, hätte man den Kadaver des Fohlens mit Gift präpariert. Der Leopard hätte den absehbaren zweiten Besuch an der Futterstelle in der folgen71
den Nacht mit dem Leben bezahlt. Heute weiß auch der Pferdebesitzer, dass jede Jagd auf und jedes Töten von Raubkatzen und anderem Wild in Bhutan verboten ist. Er werde mit den Mönchen eine kleine Puja abhalten, um von dem toten Fohlen Abschied zu nehmen. Der Respekt vor der Kreatur im buddhistischen Bhutan verlangt so eine Zeremonie. Tatsächlich hat Bhutan in den letzten Jahrzehnten einen bemerkenswerten Prozess durchgemacht, der Schutz der Natur und ihrer Artenvielfalt ist nicht nur Gesetz geworden, sondern im Bewusstsein der Bhutaner fest verankert. Der dritte König galt noch als begeisterter Großwildjäger, verstarb während einer Safari in Ostafrika. Sein Sohn hat selbst die Jagd aufgegeben und lebt seinem Volk vorbildlich Respekt vor dem Leben vor. Jagen ist nun generell verboten, auch wenn Touristen hohe Preise für Trophäen seltener Tiere wie des Blauschafes oder des Takin zahlen würden, die es in Bhutan – in ansehnlicher Anzahl gibt. Selbst über das Fischen ist eine Diskussion entbrannt. Grundsätzlich zwar erlaubt, wenn auch streng mit der Ausgabe von Fischereikarten geregelt, wird auch das Töten der Bewohner von Bhutans glasklaren Bächen und Flüssen zunehmend stigmatisiert. Ein langer Aufstieg führt uns in die Almregion des Dagala Gebirges. Nach gut tausend 72
Höhenmetern erreichen wir die Baumgrenze, Rhododendrengebüsch, knorrige Wacholder, Birken und Föhren kämpfen hier in der Pionierzone gegen Wind, Kälte und Fels. Vereinzelt künden langstielige Edelweiß von der Romantik der vor uns liegenden Tage auf den Hochalmen. »Ha Gyello«, rufen wir aus voller Seele, als wir zur Mittagsstunde den viertausendvierhundert Meter hohen Pass überschreiten. »Friede der Erde und dem Universum« ist die Bedeutung dieses Rufes, dabei legt man einen Stein, den man mitgenommen hat, auf den improvisierten Chorten (Steinpyramiden) mit vom Wind zerfledderten Gebetsfahnen. Wir lagern auf viertausendzweihundert Meter. Vor etwas mehr als vierundzwanzig Stunden erst haben wir Thimphu verlassen, ein so forscher Anstieg in große Höhen ist nicht ungefährlich. Wir nehmen Diamox, ein Medikament mit entwässernder Wirkung, das gegen die gefürchtete Höhenkrankheit gute Dienste leisten kann. Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit bleiben aus, dafür belohnt die Höhe mit phantasievollen und aufregenden Träumen, Diamox sorgt dafür, dass man diesen nicht zu intensiv nachhängt, denn alle vier bis fünf Stunden zwingt die volle Blase zu einem abkühlenden Ausflug in die verregnete Almnacht. Am frühen Vormittag macht der Regen erschöpft Pause. Wir wandern über weite Al73
men, Yakherden genießen hier den Sommer, rundum kleine Wasserfälle, kristallklares Wasser in den Bächen auch jetzt zur Monsunzeit, ein Dutzend kleiner Seen. Eine wahrhaft heilige Landschaft. Die Berge sind Protektoren, Wasser und Seen dürfen nicht gestört, verschmutzt oder entweiht werden. Mittagsrast bei einer Hochalm. Der Steinbau liegt flach in die Landschaft geduckt, um den winterlichen Schneemassen wenig Angriffsfläche zu bieten. Rund um die Feuerstelle die Schätze der Senner: der große Holzstößel, in dem Buttertee zubereitet wird, in Streifen geschnittenes Yakfleisch, zum Trocknen und Räuchern aufgehängt – Leibspeise aller Bhutaner, auch wenn sie das Töten von Tieren lieber anderen überlassen. Zwei scheue Sennerinnen beobachten uns neugierig, wir essen Reis und Chiligemüse. Der einzige Mann auf der Alm trägt sein Schicksal im Gesicht geschrieben; Narben, verschobenes Jochbein, schiefe Backenknochen und ein zahnloser Mund erzählen die Geschichte eines Momentes der Unaufmerksamkeit. Gerade genug Zeit für das störrische Yak, um dem der fürsorglichen Achtsamkeit seiner Mutter entkommenen Kleinen einen mörderischen Tritt in sein hübsches Bubengesicht zu versetzen. Nachmittags steht der mit fast viertausendachthundert Metern höchste Pass auf dem Programm, wir queren ihn leichtfüßig in 74
südwestlicher Richtung zu den Almwiesen von Dagala. Eine fürwahr atemberaubend schöne Landschaft erschließt sich vor uns: das sanft von fast fünftausend Metern Höhe abfallende Hochtal verliert sich am Horizont, unter uns liegen zwei Dutzend kleine Almhütten, Yakherden und immer wieder glasklare Seen zeichnen ein Bild, wie es die Weiten Tibets nicht schöner wiedergeben können. Hier werden wir bleiben. Wenigstens einen der angeblich tausend Seen wollen wir näher inspizieren. Trotz des Verbotes, heilige Gewässer durch Steinwürfe oder lautes Rufen in ihrer spiegelglatten Ruhe zu stören, veranstalten Fabian, Sangay und Tshering einen Wettbewerb im Platteln. Ich frage noch vorsichtig, ob die Schutzgötter dieser Seen und Berge ob solcher Respektlosigkeit nicht mit Blitzen oder Hagelkörnern nach uns werfen würden, doch selbst unsere sonst jedem Aberglauben aufgeschlossenen bhutanischen Freunde verwerfen verlegen lachend diese Sorge. Tshering und Sangay steigen noch zum nächsten, etwas höher gelegenen See auf. Zehn Minuten später geht ein Gewitter mit einem Wolkenbruch nieder, der in seiner Intensität alle bisherigen Monsunregenfälle übertrifft. Die beiden Burschen kommen mit betroffenen Gesichtern und völlig durchnässt von ihrem Ausflug zurück. Nach einer feuchten Nacht mit anhalten75
dem Monsunregen kommt in der Morgendämmerung Leben unter die Yaks, die sich auf der Wiese zwischen zwei Steinhütten zur Nachtruhe niedergelegt hatten. Ihre Kälber werden von den Sennern jeden Abend in einer Koppel angepflockt. Dadurch bleiben die Muttertiere in der Nähe. Am Morgen gehen die Sennerinnen mit kleinen, hölzernen Zubern zuerst in die Koppel, binden nach und nach jeweils ein Kalb los, das voll Sehnsucht sofort zu seiner Mutter läuft. Ein paar Züge vom mütterliche Euter werden ihm gewährt, dann muss es weichen, die Sennerin hockt sich nun hin, klemmt den Bottich zwischen ihre Schenkel und melkt rund einen halben Liter köstlich fett-süßliche Yakmilch. Erst danach darf das Kalb wieder ran, der Rest des Tages gehört Mutter Yak samt ihrem Jungen auf den idyllischen Almwiesen der Umgebung. Ein bis eineinhalb Liter Milchleistung pro Yak macht sich gegen die Erträge von hoch gezüchteten Milchkühen in den Alpen recht jämmerlich aus, angesichts der Größe der Yakherden mit hundert und mehr Tieren erzielen die Yakbauern auf Bhutans Almen dennoch ein relativ großes Produktionsvolumen von Käse und Butter, Dahi (eine Art Yoghurt) und Sauermilch. Der Käse wird in großen Kupferkesseln gekocht, mit Leinentüchern aus der Molke abgeschöpft und dann in Tuch gewickelt zwischen schweren Steinen 76
ausgepresst. In Würfel geschnitten wird der Käse auf Ketten aufgezogen und über der Feuerstelle geräuchert. Nach mehreren Wochen sind die Würfel steinhart und haltbar, Sparkasse der Almbauern für den Winter. Chugo wird dann auf den Märkten verkauft. Zahnärzte dürften großes Interesse an diesen Vorgängen haben, denn wer versehentlich zu früh in einen solchen Käsewürfel beißt, braucht vermutlich Zahnersatz. Zwanzig bis dreißig Minuten muss man die steinharten Würfel von einer in die andere Backe schieben und mit Körperwärme und viel Speichel umgeben, bis diese endlich aufweichen und dann köstlich nach Almsommer schmecken. Auf der Wiese vor der Steinhütte spinnen Vater und Tochter einen Faden aus Yakwolle. Stundenlang gehen sie mit den großen hölzernen Spindeln spazieren, wohlwollend blickt der Vater auf seine achtzehnjährige Tochter, die selbst schon ein Baby hat. Er verbringt den Sommer hier oben mit zwei Töchtern, vier Enkelkindern und den beiden Schwiegersöhnen, seine Frau bleibt im Tal und betreut das Haus der Großfamilie. Bald ist genug Faden gesponnen, um mit einer hölzernen Winde die feinen Fäden zu einem dünnen Seil zu flechten. Jeder Griff, jede Handbewegung sind über Generationen vererbt. Die Tochter wird heute in die Kunst des Seilmachens eingewiesen. Wieder wird das Werkzeug gewechselt, je zwei dieser dün77
nen Seile werden nun mit einer anderen Spindel verknüpft, dazu werden die vier Enden der Seile über eine Distanz von rund fünfzig Metern gespannt, worauf Vater und Tochter je zwei Bahnen mit geschickten, schwingenden Bewegungen der Spindel zu einem Zopf binden. Schließlich werden diese beiden nun schon ansehnlichen Seile miteinander verflochten. Fertig ist der Strick, stark genug, um einen kräftigen Yakbullen anzupflocken oder eine Zeltplane gegen den Sturm zu sichern. Fast siebzig Prozent der Bevölkerung Bhutans leben als Subsistenzbauern. Die meisten Gegenstände des täglichen Gebrauchs und so gut wie alle Nahrungsmittel produzieren sie selbst, die Mengen entsprechen dem Eigenbedarf. Nur wenig Raum gibt es für marktfähige Produkte und Geldwirtschaft. Dazu fehlen Käufer und Marktplätze im dünn besiedelten Bhutan. Zu sechst erreichen wir das Straßenende. Der horseman hat unsere Lasten abgeladen und kehrt mit den verbliebenen vier Pferden über Almwege zurück. Er trauert um sein Fohlen. Sechs Männer sollen eben nichts gemeinsam unternehmen.
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Die potente Raupe Bhutans traditionelle Medizin bleibt ein Geheimnis
Ja, vier Pferde habe er wohl, aber er könne sie mir nicht vermieten für den geplanten Trek von Thimphu nach Lingshi. Er habe keinen horsemen, auch selbst könne er die kleine Karawane nicht begleiten. Hartnäckig weigert sich Tashi, den sonst begehrten Auftrag anzunehmen. Vier Tage hin müsse man rechnen, auf den Pässen liege noch Schnee, drei Tage zurück. Eine volle Woche also, er sei leider unabkömmlich. In wenigen Tagen wird die Regierung verlautbaren, wann die offizielle Zeit der Ernte des legendären Cordyceps beginnt. Für vier Wochen werden dann alle verfügbaren Männer und Frauen in die Hochtäler an den Flanken von Jomolhari, Jichu Drake und Tsherim Kang ausschwärmen, ihr traditionelles Tagwerk vernachlässigen und sich auf die Suche nach dem großen Glück machen. Für einen Cordyceps-Pilz zahlen Aufkäufer bis zu fünfzig Ngultrum (circa ein Euro). Wenn er Glück habe, könne er an einem einzigen Tag zwanzig Pilze finden, also tausend Ngultrum verdienen. Rote Doma-Paste tropft Tashi aus den Mundwinkeln, als er sich den baldigen Reichtum ausmalt. 79
Ich verstehe und ändere meine Strategie: Fünftausend Ngultrum würde ich ihm pauschal zahlen, wenn er mich mit drei Pferden nach Lingshi begleitet. Sichere füntausend Ngultrum gegen den Traum vom großen Fund. Nach einer Stunde blumiger Einschätzungen und Kalkulationen einigen wir uns bei fünftausendfünfhundert. Allenfalls könnten wir Lingshi ja doch in drei Tagen erreichen. Jetzt hat es Tashi plötzlich eilig, denn je schneller er seine Pferdekarawane wieder im Stall hat, umso früher wird er sich dann doch noch auf die Suche nach dem potenten Pilz machen. Cordyceps Sinensis (Raupenkeulpilz) ist eines von rund dreihundertfünfzig pflanzlichen Heilmitteln, das in der traditionellen bhutanischen Medizin verwendet wird. Auf Dzongkha heißt der seltsame Pilz Yartsa Goenbub, »im Sommer Gras – im Winter Wurm«. Ein Yakhirte in Lingshi erklärt auch überzeugend, dass dieses Wesen im Winter eine Raupe und im Sommer ein Grashalm sei. Cordyceps wird in den traditionellen Medizinen Chinas und Tibets seit Jahrhunderten als wundersames Tonikum verwendet, dessen Heilkraft nicht nur sportliche Höchstleistungen ermöglichen soll und Krebs besiegen kann, sondern auch schlappe Männer wieder fit mache. »Stärker als Viagra«, erzählt der Pharmazeut am Institut für Traditionelle Medizin. 80
In den neunziger Jahren hatten chinesische Leichtathletinnen die LangstreckenWeltrekorde für Frauen geradezu atomisiert. Bei nationalen Meisterschaften blieben bis zu fünfzehn Teilnehmerinnen unter den internationalen Bestmarken. Zuerst verdächtigte man die Funktionäre, Falschmessungen zugelassen zu haben. Doch bald klärte sich das chinesische Fräuleinwunder: Die Damen waren monatelang mit täglichen Dosen von Cordyceps verwöhnt worden. Schnell kamen die enthaltenen Substanzen auf die DopingListe. Die Rekorde wurden annulliert. Bhutaner putzen und trocknen das eigenartige Gebilde aus Raupe und Pilz. Dann zerreiben sie die Substanz und nehmen sie mit einem Glas Ara, dem lokalen Schnaps, zu sich. Manchmal wird Cordyceps auch in Schnaps eingelegt und dieser dann Wochen später getrunken. Niemand kann mir erklären, ob die stärkenden Substanzen nun in der toten Raupe oder im daraus hervorwachsenden Pilz enthalten sind. Tatsächlich nimmt die Raupe einer Mottenart die Sporen des Pilzes auf, welche dieser in der Reifezeit explosionsartig an die Luft abgibt. Die befallene Raupe lebt noch einige Zeit weiter, gräbt sich in das Erdreich in Hochwäldern an der Baumgrenze ein. Dabei beginnt am Schwanzende ein Pilz aus dem Raupenkörper zu wachsen, der annähernd dieselbe Länge wie die Raupe errei81
chen kann. Dieser Pilzfortsatz bleibt an der Erdoberfläche und sieht wie ein brauner Grashalm aus. Entdeckt werden die wertvollen Wundermittel durch kleine Bewegungen der Raupe, die den vermeintlichen Grashalm erzittern lassen. Nur sehr geübte Augen bemerken diese minimalen Bewegungen, einmal entdeckt, wird die Raupe samt Pilz vorsichtig ausgegraben und in einen Stoffbeutel gepackt. Die Halbnomaden im Umfeld der Dörfer Lingshi, Laya und Thansa suchen in kleinen Gruppen im Mai und Juni nach Cordyceps, dessen Verkaufserlös mittlerweile bei mehr als zweitausend Euro pro Kilogramm liegt. Layaps, Lunanaps und andere Volksgruppen in der Grenzregion zu Tibet sind in den letzten Jahren wohlhabend geworden, seit die Regierung das Sammeln der potenten Raupe legalisiert hat. Bis 2003 war dies nämlich den Mitarbeitern des Instituts für Traditionelle Medizin vorbehalten. Einheimische durften Funde offiziell nur an dieses Institut abliefern und erhielten dafür vom Staat festgesetzte Preise, verglichen mit den nun erzielten Marktpreisen gerade mal ein Taschengeld. Ergebnis war, dass Tausende Pilzsucher illegal auf Cordyceps-Jagd gingen, viele von ihnen kamen aus Tibet über die Grenze, der Großteil der Ernte wurde über Zwischenhändler bei Nacht und Nebel nach Tibet und 82
damit nach China geschmuggelt. Oft wurde zu früh gesammelt, wodurch die natürliche Vermehrung des Pilzes durch Sporenflug litt. Heute dürfen alle Bewohner der Region zu streng geregelten Zeiten sammeln, müssen ihre Ernte allerdings bei regionalen Sammelstellen anbieten. Dort werden Auktionen abgehalten. Die erste Serie dieser Versteigerungen war so erfolgreich, dass Bhutans Institut für Traditionelle Medizin kein einziges Gramm der begehrten Substanz ersteigern konnte. Amerikanische, japanische und chinesische Aufkäufer überboten einfach alle von den Staatsbeamten des Gesundheitsministeriums budgetierten Gebote. Jetzt ist es so, dass zehn Prozent der Ernte zu geregelten Preisen an die Mediziner im Land verkauft werden müssen, der Rest geht zu Marktpreisen in alle Welt. Diese machen einfache Karawanentreiber zu Pilzsuchern, die für einen Monat Pferde, Kinder und Ehefrau im Stich lassen um ihr Glück mit Cordyceps zu machen. Chinesische Ärzte kennen Bhutan seit Jahrhunderten als »Mejong« (Land der Kräutermedizin). Der unglaubliche Reichtum an Heilkräutern und -pflanzen, die meisten aus Hochgebirgsregionen, ist die Basis für die Herstellung traditioneller Medizin, die vor allem bei chronischen Erkrankungen hilft, jedenfalls aber keinerlei schädliche Nebenwirkungen habe, wie ihre Anhänger betonen. 83
Tibetische Naturheiler sind die Begründer dessen, was heute »traditionelle bhutanische Medizin« genannt wird. Dabei ist die Tradition gar nicht so alt: Bis in die fünfziger Jahre war Medizin in Bhutan hauptsächlich Angelegenheit von Schamanen, Wahrsagern und Mönchen. Ärzte im klassischen Sinn gab es nicht. Nach der Besetzung ihrer Heimat durch Maos Volksarmee ließen sich drei tibetische Ärzte in Dechenchoeling nahe bei Thimphu nieder und eröffneten dort eine erste Praxis. Tibetische Ärzte sind Heiler und Pharmazeuten in einer Person. Sie sammeln selbst Kräuter, Pflanzen und Mineralien, stellen daraus nach den Schriften des so genannten Medizin-Buddha Medikamente her, diagnostizieren ihre Patienten und therapieren sie mit eben diesen selbst gedrehten Pillen. 1971 ließ der Dritte König schließlich das Institut für Traditionelle Medizin errichten, um den eingewanderten tibetischen Heilern eine Wirkungsstätte zu bieten. Die Klinik gehört zu den merkwürdigsten und erfolgreichsten Einrichtungen ihrer Art, wird heute nicht nur von Patienten besucht, sondern auch von Touristen, die diesen Born von Frieden, Ruhe und wohlmeinender Gesundheit mitten in der Stadt bestaunen. Ap Dawpel ist ein alter Mann, achtzig oder mehr, genau weiß das niemand. Nachmittags sitzt er oft bei den beiden großen Gebets84
mühlen im Hof des Instituts für Traditionelle Medizin (ITMS) in Thimphu. Ap ist Sänger und Musikant, einer der berühmtesten in Bhutan, viele klassische Volkslieder verdanken Aps Liebe zur Musik, dass sie nicht in Vergessenheit geraten sind. Ich sitze gerne bei ihm, drehe an den Gebetsmühlen. Das Institut ist in der Tat einer der ruhigsten und friedlichsten Plätze in der Stadt, scheint die Kraft der bhutanischen Medizin schon durch sein Ambiente auszustrahlen. Die Schriften des Medizin-Buddha, mehr als zweitausend Jahre alt, sind Grundlage zur Ausbildung traditioneller Ärzte, die in Bhutan Drungtso heißen. Am ITMS in Thimphu werden diese in einem sechsjährigen Kurs auf ihren Beruf oder ihre Berufung vorbereitet. Sie studieren die alten Schriften, wohl mehr eine Sammlung von überlieferten Erfahrungen als das Ergebnis medizinischer Forschungsarbeit. Sie lernen, dass es für jedes Leiden zumindest zwei Medikamente auf pflanzlicher Basis gibt, die ihre volle Wirkung aber nur entfalten, wenn sie bei der wöchentlichen Puja im Altarraum des Instituts geweiht werden und wenn der Patient an ihre Wirkung glaubt. Niemand kann erklären, welche Substanzen in welchen Heilpflanzen für welche Wirkungen verantwortlich sind. Überliefert ist nur, welche Pflanzen in welchem Mischungs85
verhältnis zu bestimmten Pillen oder Kapseln verarbeitet werden. Chemische Analysen, Versuchsketten an Patienten oder sonstige Forschung sind unbekannt. Dafür blickt man auf Erfahrungen aus drei Jahrtausenden zurück. Mein erster Besuch als Patient im ITMS verlief wenig spektakulär. Die traditionelle Medizin ist auf chronische Erkrankungen spezialisiert, ergänzt sich und harmoniert wechselseitig mit der westlichen Medizin, wie sie in allen Bezirkskrankenhäusern angeboten wird. Mit einer chronischen Herzkrankheit, permanentem Vorhofflimmern und einer ziemlich undichten Aorta-Klappe geht man in Bhutan ins ITMS und nicht auf die Chirurgie. Der Drungtso nimmt sich Zeit für das Anamnese-Gespräch, das die junge Ärztin für ihn übersetzt, da er kein Englisch spricht. Ein wenig habe ich den Verdacht, er hört sich meine Krankengeschichte so interessiert an, um sie mir dann als Diagnose zu bestätigen. Doch dann fasst er meine Unterarme, fühlt mit undurchdringlich freundlich lächelnder Miene meinen Puls. »Blood pressure rather on the high side?«, will er wissen. Habe ich ihm das nicht ohnehin schon gesagt? Spürt er den Bluthochdruck wirklich mit den Fingerkuppen? Ein Blick auf die Zunge: »You are very weak, especially the kidneys« – Dasselbe hat mein chinesischer Arzt vor fünf Jahren gesagt, als ich eine Analyse meiner Herzkrankheit erwartete. Aber 86
Herz und Nieren gehören in der traditionellen Medizin Chinas, Bhutans und Tibets zusammen, so wie bei uns im Sprichwort. Ein Krankenblatt wird angelegt. In Dzongkha-Schrift. Außer »Doc Martin« kann ich nichts lesen. Der Drungtso gibt mir einen Rat auf den Weg zur Medikamentenausgabe mit: »Fifty percent is your believe,« lächelt freundlich, ohne mir die geringste Erklärung über meinen Gesundheitszustand, die geplante Therapie oder irgendwelche Zeiträume zum Wiederbesuch gesagt zu haben. Die junge Ärztin führt mich zur Apotheke an der anderen Seite des Hofes, dort wo die beiden großen Gebetstrommeln stehen. Wir drehen beide daran. Dann lässt sie in drei Plastiksäckchen je rund hundert Kapseln und Tabletten in verschiedenen Farben abfüllen. Drei braune Kapseln am Morgen, drei schwarze Pillen zu Mittag, drei blau-weiße Kapseln am Abend. In letzteren seien vierundzwanzig verschiedene Heilkräuter, klärt sie mich auf, lächelt und sagt, ich solle in einem Monat wiederkommen. Behandlung, Beratung und Medikamente sind im ITMS ebenso kostenlos wie westliche Medizin in den konventionellen Krankenhäusern in Bhutan. Auch für Chilips. Die Patienten wählen frei einen der Ärzte, die in kleinen Gesprächszimmern auf ihre Klienten warten. Geräte, Labors oder komplizierte Aufnahmeformalitäten gibt es keine. Die 87
Arzneien am ITMS werden in einer kleinen Fabrik gleich nebenan gefertigt. Zweihundertvierzig verschiedene Heilkräuter und andere meist pflanzliche Substanzen werden hier verarbeitet. Heilpflanzen werden getrocknet und zu Medikamenten verarbeitet oder als Beimischung zu Kräuterbädern und der KräuterDampf-Therapie verwendet. Dazu wird in einem simplen Schnellkochtopf eine Kräutermischung mit Wasser verdampft. Wo sonst das Ventil sitzt, ist ein Plastikschlauch angeschlossen. Dieser wird auf den erkrankten Körperteil gerichtet, heißer Dampf bestrahlt das schmerzende Gelenk oder die erschöpfte Wirbelsäule für fünfzehn bis zwanzig Minuten. Bei Gelenksdegenerationen, chronischen HNO-Infekten oder Regelbeschwerden hat diese Methode große Erfolge. Daneben gibt es noch die Therapie mit der Goldenen oder Silbernen Nadel. An Stellen, die in der chinesischen Medizin klassische Akupunkturpunkte darstellen, wird die über einer Gasflamme erhitzte, rund zehn Zentimeter lange Nadel kurz angedrückt ohne die Haut zu perforieren. Lediglich kleine Bläschen zeigen, dass eine oberflächliche Verbrennung stattgefunden hat. Schmerzzustände seien damit gut in den Griff zu bekommen. Moxen (kleine Päckchen mit Kräutern), die an Akupunkturpunkten angebracht und an88
gezündet werden, sind den bhutanische Medizinern ebenfalls bekannt. Die applizierte Hitze und der aromatische Rauch haben heilende Wirkung. Auch die Kunst des Zur-AderLassens oder des Schröpfens gehören zu den traditionellen Methoden bhutanischer Medizin, gelegentlich kommen auch »Kombinationstherapien« mit alten Schamanen-Kulten vor. So findet der Drungtso bei Hausbesuchen so manchen Patienten mit unter den Achseln eingelegten Hühnereiern vor, die der Schamane gebracht hat, wenn er klassische bhutanische Therapien anwendet. Nach einem Monat gehen meine Tabletten zu Ende. Mir geht es gut. Besser eigentlich als vorher. Aber es lässt sich nicht feststellen ob es die Lebensumstände in Bhutan, die Höhenlage, die Kost – oder eben die Kräutermedikamente der traditionellen Medizin sind. Der freundliche Drungtso fühlt wieder meinen Puls, schreibt in seiner Geheimschrift ein paar Zeichen auf das Krankenblatt und äußert sich nicht weiter zu meinem Zustand. Ein kleiner Hinweis kommt auf Nachfrage meinerseits: Es könne lange dauern, ein, zwei Jahre würden Herzpatienten seine Pillen wohl nehmen, wenn sie eine nachhaltige Wirkung erzielen wollten. »Blood pressure is now rather on the low side«, wird er nach weiteren zwei Monaten bei meinem dritten Besuch schmunzeln, viel mehr verrät er nicht zu meinem Status, ob89
wohl ich nun deutlich spüre, dass sich mein Befinden verändert hat. Er könne mich nicht heilen, sagt der Arzt, aber es sei doch schon um einiges besser geworden, das fühlte ich wohl. Genau so ist es. Die Pillen möge ich mal vorerst mindestens noch ein Jahr weiter nehmen, vielleicht aber auch bis an mein Lebensende, höre ich mit Erleichterung, denn in der Selbstdeutung meines verbesserten Gesundheitszustandes spielen diese Pillen mittlerweile eine große Rolle – ob als Placebo oder als Medikament mit umfassenden Wirkungen, wird mir verborgen bleiben. Eines Tages wache ich auf und habe jede Menge dunkles Blut im Sputum. Ich suche den Drungtso auf, warte beunruhigt auf eine Erklärung, eine Notmaßnahme, denke an ein übergangenes Magengeschwür, an irgendeine fatale Nebenwirkung der Medikamente, die ich nun schon lange nehme. Der Arzt lächelt wie immer undurchdringlich: »That is poison, it must come out.« Weitere Schritte hält er nicht für nötig. Später verrät mir Uden, die junge Ärztin, dass der erfahrene Drungtso mich sicher zum Röntgen in das westliche Krankenhaus geschickt hätte, wenn er sich um die Ursache dieser Erscheinung nicht im Klaren gewesen wäre. Neid und Eifersucht zwischen den so verschiedenen medizinischen Schulen sind hier unbekannt, das Wohl des Patienten sei die alleinige Determinante. 90
Tatsächlich habe ich bei meinen Besuchen im ITMS deutlicher als in jeder westlichen Praxis einfach das Gefühl, Drungtso und Menap (Apotheker) wünschten sich nichts mehr, als dass der Patient gesund wird. Ein gutes Gefühl! Uden ist eine der wenigen Frauen, die eine Ausbildung zum Drungtso abgeschlossen haben. In Bumthang, woher die Mutter von zwei kleinen Kindern stammt, erzähle man sich, dass die Frauen von Ärzten in der Kette der Wiedergeburten nicht in die höllenartige Unterwelt kommen können. Schon deshalb hätten ihre Eltern den Entschluss der Tochter, selbst das sechsjährige Studium am ITMS anzugehen, sehr unterstützt. Stundenlange tägliche Gebete hätten ihr während dieser Zeit sehr geholfen, die komplizierte Materie zu verstehen. So habe sie das Schlechte abwehren können, das sich immer einstellt, wenn man eigentlich etwas Gutes tun will. Heute ist Uden mit einem Drungtso verheiratet, die beiden führen eine sehr moderne, gleichberechtige Ehe, teilen sich als berufstätige Eltern die Aufgaben im Haushalt und bei der Kindererziehung partnerschaftlich. Wenn sie ein Stipendium bekäme, würde sie gerne im Ausland einen Kurs in Akupunktur machen. Ihr Mann unterstützt sie dabei und würde für diese Zeit die Verantwortung als Alleinerzieher für Sohn und Tochter übernehmen. 91
Mein Blutdruck ist nun seit mehr als einem Jahr normal bis niedrig. Herzschmerzen habe ich schon geraume Zeit nicht mehr. Mein Vorhof flimmert, aber das subjektive Gefühl, jeden unrhythmischen Pulsschlag einzeln zu spüren, ist weg. Auf Bergwanderungen und Radtouren fühle ich mich wohl und stärker als vor zwanzig Jahren. Ich habe aufgehört darüber nachzudenken, welchen Einfluss die Kräutermedizin auf mein Krankheitsbild hat. Wenn ich ins Institut für Traditionelle Medizin gehe, fühle ich Freude und Ruhe, sitze bei den Gebetstrommeln, höre Ap Dawpel zu, wenn er mit seiner Fistelstimme alte Lieder singt. Ich habe diesen Ort der Ruhe und der Heilung lieben gelernt. Blut im Sputum hatte ich nie wieder. Das Gift ist draußen.
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Ohnmacht im Holztrog Bhutans Filmkunst und die Erotik eines traditionellen Hot Stone Bath
Der Hauptdarsteller genießt im Foyer des einzigen Kinos von Thimphu sichtlich seine Popularität. Ohne Starkult kommt auch die kleine Filmindustrie Bhutans nicht aus. »Travellers and Magicians«, der Kassenhit des Jahres 2004, läuft nun schon die vierte Woche vor meist ausverkauftem Haus, täglich um achtzehn Uhr drängen sich jung und alt in Thimphu vor dem Eingang des Kinos. Tsewang, der jugendliche Held des DreiStunden-Epos, kommt fast täglich zur Vorstellung, in Thimphu kennt jeder jeden, für viel Schulterklopfen und Gesprächsstoff mit dem Schauspieler ist gesorgt, Hände werden geschüttelt. Der Film ist tatsächlich gelungen, wird in den folgenden Jahren auf alternativen Filmfestivals in Amsterdam, Wladiwostok und München laufen und kraft seiner Exotik für Aufsehen sorgen. Dabei ist Filmemachen in Bhutan bestenfalls eine Nebenbeschäftigung für einige wenige Besessene, die es schaffen, im Schatten der größten Filmindustrie der Welt in Mumbai eine eigenständige künstlerische und inhaltliche Linie zu verfolgen. Niemand in Bhutan kann vom Filmgeschäft leben. Die Produ93
zenten und Regisseure sind im Hauptberuf Beamte, Journalisten oder – wie im Falle von »Travellers and Magicians« – hoch gelehrte Lamas. Tsewang ist Radioreporter, Touristen kennen ihn als den Exehemann jener kanadischen Lehrerin Jamie Zeppa, die eines der berührendsten Bücher über Bhutan verfasst hat, die Geschichte ihrer Liebe zu und der Ehe mit einem ihrer Schüler. Heute arbeitet er bei BBS, dem Bhutan Broadcasting Service, ist Enfant terrible der abendlichen Szene Thimphus und eben gelegentlich Filmheld. Die gesamte Crew, Schauspieler, Kameraleute, Beleuchter, Regieassistenten, Best Boy sind Amateure. Gefilmt wird mit semiprofesionellen High-Definition-Videokameras, für Zelluloid fehlen Geld und Marktchance. Die meisten Szenen werden aus Kostengründen nur einmal durchgesprochen und dann gleich gedreht, erzählt mir der Darsteller jenes alten Mannes, der im Film mit seiner viel jüngeren, hübschen Frau in einer abgelegenen Hütte im Wald haust. Tatsächlich wohnt er in einem kleinen Bauernhaus nahe Paro, ist pensionierter Staatsbeamter und hat sein halbes Leben als Versorgungsoffizier an der bhutanischen Botschaft in New Delhi verbracht. Dort hat er auch zu Zeiten, als in Bhutan Kino und Fernsehen noch nicht bestanden, die filmverrückten Inder und den unglaublichen Kult um ihre Stars beobachten können. 94
Er freut sich, dass ich ihn am Wegrand anspreche, weil ich mich an sein Gesicht erinnere. »Maybe you saw me in the movies«, schmunzelt er, als ich ihn frage, woher er mir so bekannt vorkommt. Ein ausführliches Gespräch bei Tee und Keksen über Bhutans Filmschaffende, über die Magie dieses hier erst seit wenigen Jahren bekannten Mediums, aber auch über die Liebe zwischen alten Männern und jungen Frauen ist die Folge. Er selbst hat nur im Film eine viel jüngere Frau, im wirklichen Leben ist seine Frau gleich alt, verbringt drei Tage in der Woche am Markt um ihr Gemüse zu verkaufen. Er genießt den Ruhestand, Pension bekommt er keine, als er das Alterslimit erreichte, gab es im Staatsdienst nur eine Einmalzahlung als Überbrückung für Rentner. Die Rückkehr in das Leben als Subsistenzbauer hat er gut geschafft, nur manchmal bricht er aus dem traditionellen Rollenbild aus – zum Beispiel, wenn er als Schauspieler beim Film agiert. »Travellers and Magicians« erzählt die Geschichte eines jungen bhutanischen Beamten, der im kleinen Dorf Chendibji zwischen Trongsa und Wangdue seine erste Stelle antritt. Gleichzeitig hat er sich jedoch auch um eine Green Card für die USA beworben – und bekommt sie wenige Wochen nach Dienstantritt. Er soll dringend nach Thimphu zum Interview reisen, um diese Chance nützen zu können, versäumt den einzigen Autobus und 95
muss per Autostopp die zweihundert Kilometer auf Bhutans nationalem Highway zurücklegen. Bald befindet er sich in Gesellschaft anderer Reisender, die ebenfalls eines der seltenen Fahrzeuge entlang dieser einsamen Strecke anhalten wollen: ein Lama am Weg zu seinem Abt, ein Apfelbauer, der zum Markt will, ein Mann mit seiner Tochter, die ihren Schulabschluss gemacht hat und nun auf den Bauernhof zurückkehren soll. Und eben unser Held, der sich wichtig macht, allen zu verstehen gibt, dass er es am eiligsten habe, denn schließlich warte ein Traumjob im Land der unbegrenzten Möglichkeiten auf ihn, fünf Dollar in der Stunde werde er dabei verdienen, nicht hundert im Monat wie im bhutanischen Staatsdienst. »Was wirst du in Amerika arbeiten?«, fragt der weise Mönch. »Äpfel pflücken«, antwortet der junge Held. »Hmmm, das scheint wirklich wichtig zu sein«, der Mönch gibt die Antwort der traditionellen bhutanischen Gesellschaft auf den Wunsch der Jugend, im gelobten (Aus)land ihr Glück zu finden. Bemerkenswerter als die Groschenromanhandlung sind jedoch die im Film eingewobenen Erzählungen des weisen Mönchs, wenn die seltsame Reisegesellschaft am Straßenrand beim Lagerfeuer sitzt und nächtelang dem Gottesmann zuhört. Tatsächlich ist dies ein eigenständiges 96
Element der jungen bhutanischen Filmkunst: Zu trivialen Handlungen, die unter Umständen sogar in Bollywood einen Produzenten gefunden hätten, wird ein Schuss buddhistische Weisheit gemixt, werden Legenden und Geschichten eingebettet, die meist mehr Tiefgang haben, als die Haupthandlung (der jugendliche Held verliebt sich schließlich notwendigerweise in die Bauerntochter und beschließt, doch nicht auszuwandern …). Doch der Mönch erzählt eine ganz andere Geschichte, die wie ein Traum mit Unterbrechungen immer dann einfließt, wenn die triviale Haupthandlung zu langweilen beginnt. Die Geschichte eben eines alten, nicht sehr ansehnlichen Mannes und seiner jungen, hinreißend hübschen Frau. Er hat tief im Wald, drei Tagesmärsche vom heimatlichen Dorf entfernt, eine Blockhütte gebaut, dort lebt er mit ihr in selbst gewählter Einsamkeit, aber wenigstens sicher vor den Nachstellungen der jungen Männer im Dorf, die seiner Frau ständig schöne Augen gemacht hätten. Bis eines Tages ein Reitersmann in der Nähe der Hütte zu Sturz kommt, hinkend die Behausung erreicht und ob seiner Verletzung um Unterstand bittet. »Nur für eine Nacht, morgen musst du weiter«, der Alte wittert den Verdruss, den die neuerliche Präsenz eines jungen, attraktiven Mannes für seine Ehe bringen wird. Die Tage vergehen, der junge Reitersmann kann sehr zum Ärgernis des Al97
ten wegen seines schmerzenden Fußes noch immer nicht weiter. An dieser Stelle zeigt Bhutans junge Filmindustrie, dass sie mit einfachen Mitteln höchste Qualität liefern kann. Sex und Erotik sind nicht nur in Bollywood verpönt, sondern auch in Bhutan, wo zwar erigierte Penisse als Symbole der Fruchtbarkeit viele Hauswände zieren, aber ein Filmkuss obszön wäre. Der Alte kommt von der Waldarbeit nach Hause, seine junge Frau hat ihm zur Entspannung ein traditionelles Hot Stone Bath bereitet. Ein zwei Meter langer Holztrog steht zwischen aus Tüchern improvisierten Paravents, halb mit warmem Wasser gefüllt. Die Ehefrau bringt heiße Steine vom Lagerfeuer, die das Wasser auf Temperaturen erhitzen, die dem Badenden das Gefühl einer Sauna bescheren. Dazu massiert sie ihrem Mann die Schultern, ihre Augen scheinen in die Ferne zu fliehen. Da erkennt der Zuschauer, dass sich hinter dem Paravent der junge Reiter versteckt hält, durch einen schmalen Schlitz die Frau beobachtet, die ihrem alten Mann den Arbeitsstress des Tages aus den Muskeln knetet. Ihre Blicke treffen sich. Kein Kuss, keine Nacktheit, außer den Schultern des Badenden. Und doch knistert die Szene vor erotischer Spannung. Im Kinosaal, in dem sonst recht ausgelassen geplaudert, gejausnet und seit neuestem auch mit den unvermeidlichen Handys tele98
foniert wird, ist es mucksmäuschenstill geworden. Am Anfang der Szene noch ein paar pubertäre Lacher und vulgäre Sprüche, doch jetzt könnte man eine Nadel fallen hören. Erotik und Sexualität sind im öffentlichen Leben Bhutans ziemlich verdrängt, obwohl der Umgang mit Beziehungen durchaus als locker bezeichnet werden kann. Wer mit wem ein Verhältnis hat, darüber wird ausführlich getratscht, gewitzelt – aber die eigentlichen Geschehnisse sind in einen sehr privaten, verborgenen Bereich verbannt. Die Badeszene in »Travellers and Magicians« bricht mit diesem Tabu. Aber sie bricht auf eine Weise, die ungemein einfühlsam ist, nicht provoziert, sondern zum Nachdenken und Mitfühlen anregt. Feinster Ausdruck, Körpersprache in Vollendung, gezeigt von einem Mönch als Regisseur und Laienschauspielern. Das mystische Bad mit den heißen Steinen ist in der Tat ein perfekter Set für Sternstunden der Filmindustrie. Wenige andere Situationen regen so harmonisch Geist, Körper, bewusste und unbewusste Sinnlichkeit an. Für Bhutaner ist das Hot Stone Bath ein uraltes Ritual, das der Gesundheit, der Hygiene aber auch der Psyche gute Dienste erweist. Jung und Alt machen davon Gebrauch. Wie bei uns in der Sauna ist der Ort eines derartigen Bades auf angenehme Weise von Prüderie und falscher Scham befreit. Die sonst völlig in den geschützten Intimbereich verbannte 99
Nacktheit wird hier unaufgeregt akzeptiert, man hilft und betreut einander gegenseitig ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht. Älteren Männern und Frauen würde man neben den Holztrog eine Pritsche stellen, damit sie sich nach dem Bad gleich niederlegen könnten, bedeutet der Wirt der kleinen Lodge in Trashi Yangtse uns. Wir ahnen noch nicht, wie ernst der wohlgemeinte Hinweis gemeint war. Der erste Schritt in ein Hot Stone Bath ist für einen mit der Kunst dieses Genusses nicht vertrauten Chilip spannend und durchaus abenteuerlich: Man setzt sich nackt in den Holztrog, der mit auf Badewannentemperatur erhitztem Wasser gefüllt ist. Ein paar Minuten Zeit zum Akklimatisieren, dann kommt ein Helfer mit einer großen Eisenzange und bringt einen ersten glühend heißen Stein von der nahen Feuerstelle, versenkt diesen zischend am Fußende des Troges im Wasser. Rund um den Bottich ist aus blauen Plastikplanen ein Sichtschutz montiert, doch bald werde ich so konzentriert auf das Erlebnis sein, dass kein Platz mehr bleibt für Gedanken an allenfalls unerwünschte Zuschauer. Der heiße Stein beginnt, seine Wärme in das Wasser abzugeben. Ein zweiter und ein dritter folgen. Ich bin konzentriert darauf, meine Füße anzuziehen um nicht die heißen Steine zu berühren. Die Temperatur des Wassers steigt ständig. Schon ist das Wasser so 100
heiß, dass man von außen niemals in ein derart erhitztes Bad steigen würde. Ich weiß nicht, wie lange die Temperatur noch steigen wird, niemand kann die heißen Steine herausfischen, falls es zu unerträglich wird. Selbst scheint man keine Kraft zu haben, eventuell aus dem Trog zu flüchten. Ich spüre eine Mischung aus Ohnmacht, Angst, wohliger Wärme und Erregung. Die Hitze macht nicht nur dem Körper zu schaffen, sie scheint den Geist zu entführen. In eine Feenwelt? Eine andere Seinsebene? Was denke ich? Ich weiß es nicht mehr. Aber ich will in dem noch immer heißer werdenden Wasser sitzen bleiben. Irgendwann steigt die Temperatur nicht mehr. Durch einen Vorhang aus Dampf und Träumen höre ich »Another stone?« Lieber nicht, habe ich überhaupt geantwortet? Nach zwanzig Minuten steige ich aus dem Trog. Und sitze sofort auf dem Holzrand. Stehen geht nicht. Mich schwindelt. Oder schwinden mir gar die Sinne? Meine Begleiterin bereitet sich auf ihr Bad vor, das Wasser wird mit ein paar Eimern kaltem Quellwasser abgekühlt. Ich sitze noch immer am Rande des Troges. Zwanzig Minuten Schweigen. Mein Geist beginnt langsam wieder seinen Normaltakt zu finden. Sie spricht kein Wort, die Augen geschlossen scheint sie zu signalisieren: »Nimm mich nicht wahr, ich bin woanders.« Schließlich steigt 101
auch sie aus dem Trog, um sofort in meine Arme zu gleiten. Ein kurzer Moment der Panik befällt mich, der heiße Körper hängt leblos an mir, keine Reaktion auf meine Zurufe. Die Ohnmacht dauert gut zwei Minuten. Dann wissen wir beide, warum Bhutaner neben dem Holztrog eine Liege aufstellen. Der Kreislauf kollabiert gelegentlich nach einem Hot Stone Bath. Die Extremsituation lässt Psyche, Phlegma und wohl auch Begehrlichkeit zu anderen Planeten fliehen, Herz, Lunge und Blutkreislauf haben Mühe, den Körper und seine entflogene Seele auf den Beinen zu halten. Bhutans Filmemacher schaffen es besser als Tourismuswerber oder Politiker, dem Fremden die bhutanische Seele näher zu bringen. Die Szene mit dem Holztrog zeigt Erotik, wie man sie nur in diesem Königreich über den Wolken erleben kann. Der Kassenhit des Jahres 2005 erzählt die wahre Geschichte einer Fürstentochter aus dem Osten Bhutans. Mönche und Astrologen hatten festgestellt, dass zu Vertreibung eines schädlichen Dämons ein großer Chorten zu errichten wäre. »Chorten Kora«, heute eine der wichtigsten Wallfahrtsstätten im Grenzgebiet zwischen Bhutan und Arunachal Pradesh, ist der Titel der Verfilmung einer wehmütigen Geschichte von Glaube und Liebe. Ganz Thimphu spricht über diesen Film, als ich mit Jigme, meiner Nachbarin, ins Kino 102
gehe. Sie wird mir die wichtigsten Dialoge ins Ohr geflüstert übersetzen, denn der Film läuft nur in Dzongkha. Untermalt von hervorragender Filmmusik sehen wir, wie Tausende Menschen dem Rat der Mönche folgen und den größten Chorten Bhutans errichten. Die Nebenhandlung erzählt von der Fürstentochter, deren Vater ein Pferderennen veranstaltet, um den geeigneten Ehemann für seine Prinzessin zu eruieren. Es gibt viel zu lachen, die Braut singt hinreißend schön, verliebt sich glücklicherweise in den Richtigen, also den späteren Gewinner des Rennens. Nun ist es Zeit, dass die beiden einander näher kommen. In Bhutan gibt es kein Warten auf die Hochzeitsnacht. Es ist eher umgekehrt: wenn die Körper Liebender sich endlich vereint haben, zieht man zusammen, gilt dann als verheiratet – registrierte Ehen oder große Hochzeitszeremonien sind immer noch ein Minderheitenprogramm. Selbst seine Majestät der König lebte mit seinen vier Frauen mehrere Jahre zusammen und hatte bereits Kinder, bevor er die Königinnen schließlich formell heiratete. Doch vermeintlich zur großen Enttäuschung der Zuseher erscheint der Prinzessin just in dem Moment, als sie ihr Lager mit ihrem Geliebten teilen will, ihre Schutzgottheit. Sie bedeutet ihr, dass ein anderes Schicksal ihr bestimmt sei und sie auf die Liebesnacht verzichten solle. 103
Am nächsten Tag verkünden hohe Mönche ihrem Vater die Forderung des Orakels: Seine Tochter sollte jungfräulich im vor der Fertigstellung stehenden Chorten eingemauert werden, nur so würde sich der Dämon nachhaltig bezwingen lassen. Tränen fließen, doch die tapfere Braut lässt keinen Zweifel, dass sie dem Rat der Erleuchteten und ihrer Schutzgottheit folgen werde. Mit großem Pathos inszeniert, schreitet sie wie Jeanne d’Arc an der Spitze einer Menschenmenge zum Chorten, lässt sich in den vorbereiteten Räumen im Zenit des Bauwerkes zur Meditation nieder und wird eingemauert. Alles geschehen im 17. Jahrhundert, ihre Gebeine liegen noch heute in dem Riesen-Gzorfen. Meine Augen sind feucht geworden, im Kino ist es still. Wir stehen alle im Bann dieses mit viel Ernst und Gefühl vorgetragenen Dramas. Nachher werde ich Jigme, selbst jung verheiratet und Mutter zweier kleiner Kinder fragen: »Wie hättest du dich entschieden, wenn dir Mönche am Tage vor deiner Hochzeit so einen Plan unterbreitet hätten?« – »Selbstverständlich hätte ich mich geopfert, wenn es den Menschen in meiner Umgebung geholfen hätte«, kommt die Antwort ohne jedes Überlegen. Ich stelle am nächsten Tag meiner zweiundzwanzigjährigen Sekretärin die gleiche Frage. Auch sie hätte sich einmauern lassen. Dass man in Bhutans Kino auch herrlich 104
lachen kann, zeigt der Film des Jahres 2006. »Druk Ghe Goem« (Der Gast des Donnerdrachens), im bhutanischen Fernsehen und in den beiden Zeitungen Thimphus mit viel Vorschusslorbeeren angekündigt, ist es doch der erste bhutanische Film mit einem ausländischen Schauspieler. Na, wenn das kein Grund ist, wieder einmal ins Kino zu gehen. Ein amerikanischer Tourist, von einem jungen Mann mit blonden Haaren und schwarzem Bart unfreiwillig komisch dargestellt, verirrt sich auf einer Trekking-Tour zwischen Gasa und Laya. Wie ein Häufchen Elend sitzt er mit verstauchtem Fuß im Wald, wird fast vom Bären gefressen und ruft »Help me!«. Tshomo, eine Sennerin aus Laya, die mit ihrer Yakherde auf einer einsamen Hochalm lebt, hört die Rufe, rettet den Chilip und nimmt ihn bald in jeder Hinsicht unter ihre Fittiche. Denkar, die jüngere Schwester assistiert mit ein paar Brocken Englisch. Bald sind die Wunden verheilt und die Herzen entflammt. Böse Beamte vertreiben den Gast schließlich, sein Visum ist abgelaufen – in einem Land mit zweihundert Dollar pro Tag Mindestaufenthaltskosten ein schwerwiegender Verstoß. Doch ein freundlicher Reiseveranstalter schafft es schließlich, den Amerikaner wieder einreisen zu lassen, dem Happy End steht nichts im Wege. In bhutanischer Höflichkeit überschütten 105
die Medien den amerikanischen Hauptdarsteller mit Ovationen. Ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, dass der junge Mann eher zufällig zu seinem großen Auftritt gekommen ist – an seiner schauspielerischen Leistung dürfte es nicht gelegen sein. Dafür spielen die beiden bhutanischen Frauen, die bereits filmerfahrene Dorji Wangmo und die Neuentdeckung Pema Dechen ihre Rollen mit großer Verve, authentisch und überzeugend. Man nimmt den beiden ab, dass sie Angehörige des Bergvolkes der Layaps sind, Tshomo verhält sich im Yakhaarzelt der Almnomaden, als hätte sie ihr ganzes Leben dort verbracht. Während junge Bhutanerinnen vor dem Kino schwärmerisch von den blauen Augen und dem blond-schwarzen Haar des Helden schnattern, überlegt der ausländische Kinobesucher, wie er es wohl anstellen könnte, auch einmal in den Hochwäldern von Gasa verloren zu gehen. Übrigens: Während Bollywood seit Jahren alle Touristenzentren Europas, Afrikas und Amerikas als Filmkulissen vermarktet und damit einen wahren Reiseboom von Indern in diese Destinationen ausgelöst hat, ist es der indischen Filmindustrie bislang verwehrt geblieben, im Land des Donnerdrachens zu drehen. »Nicht einmal einen Werbespot würden wir genehmigen«, vertraut mir ein hoher Be106
amter des Tourismusamtes an. Die Qualität von Bollywood-Produktionen, die Inhalte und die »message« passten nicht nach Bhutan, verteidigt er diese Haltung. Wer bhutanische Filme gesehen hat, wird ihm Recht geben.
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Die nackten Männer von Bumthang Warum Touristen bis Mitternacht im Kloster ausharren
Für eine Portion Momos (fünf Stück Teigtaschen mit Käsefüllung) zahlt man sechs Euro, wenn man einmal als chilip identifiziert ist. Die Baustelle wird vom schlimmsten Dreck gereinigt und heißt für die nächsten drei Tage »Hotel«. Fahrer und Guides schlafen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt im Touristenbus, weil kein einziges Bett in irgendeiner Unterkunft mehr frei ist. Die Hotels sind so überbucht, dass den Eigentümern die Schweißperlen auf der Stirn stehen. Hochsaison in Bumthang. Die verhängnisvolle Woche Ende Oktober rund um das Jambey Lhakhang Drup führt zu allen klassischen Auswüchsen überhitzter Nachfrage, macht aus weisen, pensionierten Spitzenbeamten, die sich nun als Hoteliers versuchen, nervöse, gierige Raffzähne. Das Ortsbild wird dominiert von einer Flotte von Bussen, Minivans, Pick-ups und anderen Fahrzeugen, die allesamt für touristische Einsätze angemietet werden. Für eine Woche verschwunden bleibt die liebliche Ruhe des Bumthang Tales, die in den siebziger Jahren den ersten Schweizer Entwicklungshelfern so heimatliche Gefühle 108
vermittelte, dass zwei von ihnen bhutanische Frauen heirateten und hier geblieben sind. Nur fünfzehn Prozent aller BhutanTouristen schaffen es überhaupt, so weit in den Osten vorzudringen. Drei mühsame Reisetage auf mäßigen Straßen in schlecht gefederten Kleinbussen – und die gleiche Strecke wieder zurück – halten die meisten von einer Expedition in das auf zweitausendachthundert Meter Seehöhe gelegene Bumthang-Tal ab. Außer eben in dieser seltsamen Woche im Oktober. »Eine verrückte Zeit, aber nach ein paar Tagen ist der Spuk vorbei,« sagt Fritz Maurer, der heute mehr Bhutaner als Schweizer ist und die Entwicklung des Tourismus in seiner neuen Heimat von den ersten Gehversuchen an mitverfolgt und -gestaltet hat. Sein Swiss Guest House gilt bei Kennern trotz aller modernen und komfortablen Hotelneubauten immer noch als erste Adresse für einen stilvollen Aufenthalt in Bumthang. Der älteste Sohn Tshering führt jetzt den Betrieb mit seiner jungen bhutanischen Frau. »Wir sind gemeinsam in die Schule gegangen, aber erst viel später haben wir bemerkt, dass da mehr ist zwischen uns«, erzählt der stolze Vater eines kleinen Sohnes. Zwischendurch verbringt er neun Jahre in der Schweiz, leistet seinen Militärdienst ab, obwohl er damals kaum Schweizerdeutsch versteht, nutzt die Zeit in doppelter Hinsicht: 109
»Ich war der Feldküche zugeteilt, wir kochten für hundert, zweihundert, manchmal fünfhundert Mann. Das kann sich hier niemand vorstellen, aber es hilft ungemein, wenn man ein Hotel führt.« Als Beruf lernt er Käser, so wie Vater Fritz, der mit dieser Qualifikation Anfang der siebziger Jahre die Käsereien in Gogona und Bumthang einrichtete, die Milchleistung der Kühe durch Einkreuzungsprogramme steigerte und dafür verantwortlich ist, dass es seither in Bhutan hervorragenden Käse, Typ Gouda oder Emmentaler, gibt. Auch wenn bis heute nur kleine Mengen davon produziert werden und die Abnehmer immer noch hauptsächlich Touristen und Expatriates sind, für die an diesem Programmen teilnehmenden Bauern hat sich die Umstellung wirtschaftlich ausgezahlt. Vater Fritz Maurer stand auch Pate bei der Entwicklung des in ganz Bhutan verbreiteten Boukharis, eines kleinen Blechofens, der die offenen Feuerstellen in Tausenden Bauernhäusern abgelöst hat und bis heute in Bumthang produziert wird. Dass es heute ungezuckerten, köstlich schmeckenden Apfelsaft zu kaufen gibt, ist ebenso Fritz Maurer zu verdanken wie drei vorzügliche Honigsorten. In einem Land, in dem das Verspeisen von Honig zuvor als schwere Sünde wegen der damit verbundenen Beraubung der Bienen gesehen wurde, war das auch eine ideologische Meisterleistung, die dem eigentümlichen 110
Schweizer gelungen ist. Der König persönlich habe sich damals genau informiert und überzeugen lassen, dass den Bienen kein Schaden zugefügt wird, erst dann gab es grünes Licht für die Imker. Noch deutlicher wird Fritz Maurers Eigenart bei einem Glas Red Panda. »Weissbeer« steht in anglodeutschem Mix auf der Flasche mit dem roten Etikett – das einzige in Bhutan gebraute Bier ist nämlich ein Weißbier. Die Microbrauerei in Bumthang gilt als Geheimtipp unter Bierliebhabern, kann seit Jahren den Bedarf nach dieser Spezialität bei weitem nicht abdecken. Bedächtig und mit Schweizer Vorsicht macht sich jetzt sein Sohn Tshering Maurer an den Ausbau der Brauerei und testet die erste Fassbierausschank Bhutans, natürlich im Swiss Guest House. Dass es dort auch einen köstlichen »Chrüter« gibt, aus Anis, Fenchel, Enzian, Zimt und Heilkräutern von Fritz Maurer gebrannten Schnaps, Fondue zum Abendessen, Erdbeer- und Himbeermarmelade aus eigenem Anbau, das alles verwundert nicht, wenn man das Lebenswerk von Fritz und seiner Familie bestaunt. Der König hat ihm für seine Verdienste die bhutanische Staatsbürgerschaft und den Ehrentitel Dasho verliehen. Wer dem so Ausgezeichneten begegnet, merkt meist gar nicht, dass dieser ältere Herr im Gho, der oft auf einem kleinen Teppich in der Küche hockt und Reis mit Chiligemüse isst, kein geborener 111
Bhutaner ist. Fritz spricht Dzongkha und Englisch, für Schweizerdeutsch braucht er eine Anlaufzeit. Die Kinder hat er in die Schweiz zur Ausbildung geschickt, aber sie kommen alle zurück, sind mehr Bhutaner als Schweizer und verbinden in eindrucksvoller Weise die positiven Eigenschaften beider Kulturkreise. Wer zur Zeit der herbstlichen Klosterfeste in Bumthang eines der gemütlichen Zimmer im Swiss Guest House ergattert, die in der Ausstattung stark an Unterkünfte in Schweizer Alpenvereinshütten erinnern, kann sich also glücklich schätzen. Fünf Dutzend oder mehr Tsechus (Klosterfeste) gibt es in Bhutan, verteilt über die Monate September bis Juni. Nur im Hochsommer machen die Maskentänzer Pause, der Monsunregen würde eine Durchführung im Freien unmöglich machen. Doch internationale Touristen drängen sich vor allem um das Paro-Tsechu im Frühjahr, das Thimphu-Tsechu im September und eben das Jambay Lhakhang Drup im Oktober. Längst schon sind die Maskentänze des kleinen Klosters Jambay aus dem Innenhof hinaus auf eine Festwiese neben dem Klosterbau verlegt, weil es im traditionell für Tsechus genutzten Klosterhof zu wenig Platz für die immer größer werdende Zahl von Besuchern gibt. Das Gelände hinter dem uralten Lhakhang verwandelt sich für diese drei Tage in eine Budenstadt, hier wird auf Dutzenden 112
kleinen Feuerstellen gekocht, unter Plastikplanen stehen Tische und Sessel, Momos, Somoza, Papard, panierte Chilis oder einfach Reis mit Erna Datshi werden von Bauersfrauen mit glänzend roten Wangen angeboten. Dazu gibt es Suja (gesalzenen Buttertee) aus Thermosflaschen, Bier oder den Modedrink Spy – eine grässliche Weinimitation aus Thailand in einer aufreizend undurchsichtig gestylten Flasche. Am populärsten ist Hit-Bier, ein Starkbier aus dem benachbarten Sikkim, das besonders im ländlichen Bhutan den anderen aus Indien oder Singapur importierten Bieren vorgezogen wird. Anschließend an die Küchenbuden gibt es Ramsch in allen Preislagen, Plastikspielzeug für Kinder, Glasperlen für die Frauen, jede Menge Gelegenheit für junge Kavaliere, großzügig ein paar Scheine aus dem Gho zu ziehen und dem festlichen Anlass entsprechend kleine Geschenke zu verteilen. Etwas abseits liegt eine Budenansiedlung, aus der lautes Treiben zu vernehmen ist. »Lucky Number! Try the Lucky Number! One, two, three, four, five, six – Lucky Number!«, ruft der schwitzende Dicke mit überschlagender Stimme. Rund um seinen Spieltisch drängen sich ein Dutzend aufgeregte Zocker, der jüngste keine vierzehn Jahre alt. Sie falten ihre Zehn- oder Zwanzig-NgultrumScheine kunstvoll, der Schreihals schüttelt seinen zerschlissenen Zylinder mit sechs 113
übergroßen Holzwürfeln, knallt ihn mit beschwörender Geste auf den Tisch. »Lucky Number!« Jetzt fliegen die Geldscheine auf die sechs Felder mit den Zahlen von Eins bis Sechs. Zehner und Zwanziger meist, doch der vom Doma-Kauen aus allen Poren schwitzende Jüngling mit dem indisch anmutenden Gesicht schiebt einen auf einen schmalen Streifen zusammen gefalteten rosa Schein auf Feld Nummer Sechs, fünfhundert Ngultrum (circa zehn Euro), die größte Banknote des Königreiches. Raunen geht durch die Menge. Der Ausrufer lüftet den Zylinder, dreimal die Sechs, zweimal die Vier, ein Zweier – wieselflink kassiert der neben dem Dicken sitzende Helfer mit dem ausgemergelten Gesicht des Schaustellers die Scheine auf den Feldern Eins, Zwei, Drei und Fünf, sie fallen in einen bereits prall mit Geldscheinen gefüllten, schwarzen Plastiksack. Für die zwei Vierer gibt es den doppelten Einsatz, der Fünfhunderter auf Feld Sechs wird dreifach aufgewogen. Hastig zieht der schwitzende Gambler seinen Gewinn an sich, tausendfünfhundert Ngultrum gewonnen – für viele Burschen hier mehr als ein Monatseinkommen. Glückspiel ist in Bhutan nur an bestimmten Feiertagen und im Rahmen von Tsechus erlaubt. Die Regeln sind einfach, das Verhältnis zwischen ausbezahltem Gewinn und Ein114
nahmen der Bank halbwegs fair, jedenfalls aber durchschaubar. Der westliche Beobachter kalkuliert über eine halbe Stunde mit, rund achtzig Prozent der Einsätze werden wieder ausgeschüttet. Das verführt auch den Verfasser dieser Zeilen, sein Glück zu versuchen, spielende chilips sind die Ausnahme, aufmunternde Rufe ertönen, zwanzig Ngultrum auf Sechs, das Feld, wo gerade noch der Fünfhunderter für Furore gesorgt hatte. »Lucky Number!«, der Zylinder wird gelüftet. – »Number Six!« – vierzig Ngultrum Gewinn gleich beim ersten Versuch. Ich stecke hastig die drei Scheine ein und widerstehe fürderhin den Verführungen des Glücksspiels. Doch die wahren Motive der Besucher des Jambey Lhakang Drups liegen in intimeren Bereichen. Für die Einheimischen gilt dieses Fest als beliebter Heiratsmarkt. Nur eine Minderheit verfolgt mit religiösem Ernst die drei Tage und drei Nächte dauernden Tänze der Mönche, die meiste Zeit verbringen Burschen und Mädchen im heiratsfähigen Alter, das heißt vor allem Fünfzehn- bis Zwanzigjährige, am Jahrmarkt; flanieren in kleinen und größeren Gruppen zwischen den Buden; ab und an kehrt man ein, trinkt ein Hit-Bier, um zu zeigen, dass man schon ein ganzer Mann ist oder nuckelt lasziv an der magischen Spy-Flasche, so wie es die Disco-Girls im fernen Thimphu angeblich tun. 115
Wenn es stimmt, dass der Vollmond einen fördernden Einfluss auf die Paarungsbereitschaft der Menschheit hat, das Jambay Lhakang Drup liefert den Beweis. Viele der jungen Burschen und Mädchen entfliehen im silbernen Glanz der Vollmondnacht mit ihren Auserwählten irgendwann dem gockelhaften Treiben zwischen den Jahrmarktsbuden. Auch wenn es anfangs so aussieht, als würden die Mädchen nur in Begleitung von jeweils mindestens zwei weiteren Geschlechtsgenossinnen kichernd den Prahlereien der Jünglinge zuhören – irgendwann im Laufe der Nacht treffen sich zwei Augenpaare, finden einen gemeinsamen Ausweg aus dem brodelnden Treiben der Unentschlossenen und widmen sich dann an ruhigeren Plätzen in der kühlen Nacht beschaulicheren Dialogen von Körper und Seele. So manche Ehe in Zentralbhutan geht auf eine Vollmondnacht im Oktober in der Umgebung des Klosters Jambey zurück. Doch auch die Touristen haben ihr intimes Geheimnis, das sie nach Jambey führt. Nie würden sie zugeben, dass jener sonderbare Tanz, der um Mitternacht im Klosterhof stattfindet, irgendeinen Einfluss auf ihre Reiseplanung gehabt hätte. Man ist ja nicht mehr zwanzig, sondern eher jenseits der sechzig – und dennoch: Drei Abende lang drängen sich Chilips aus aller Welt ab achtzehn Uhr um die besten Plätze und warten 116
auf eben jenen Tanz, der so ganz anders ist als die üblichen Maskentänze bei bhutanischen Klosterfesten. Vor langer Zeit wollten Mönche im kleinen Dorf Nabche südlich von Trongsa ein Kloster bauen. Doch jede Nacht kamen Dämonen und zerstörten das mühsame Tagwerk der Mönche, die morgens immer wieder von vorne anfangen mussten. Um dieser Sisyphus-Arbeit ein Ende zu bereiten, verfielen die Mönche auf eine List: Sie verlauteten, dass sie nachts auf einer Waldlichtung, mehrere Kilometer entfernt von der Klosterbaustelle, nackt tanzen würden. Dies fanden die Dämonen spannend, verfolgten neugierig die mönchische Strip-Show und vergaßen indes völlig, dass sie ja eigentlich den Klosterbau zerstören wollten. So gelang es schließlich nach regelmäßigen nächtlichen Nackttänzen, tagsüber das Kloster fertig zu stellen. An eben jene Legende erinnert der so genannte Nackttanz der Mönche, im touristischen Marketing des Klosterfestes von Jambey seit Jahren als besondere Sensation angepriesen. Ein Schelm, wer denkt, mit derartigen Ankündigungen ließen sich fünfundachtzigjährige asketische Japaner, fünfundsiebzigjährige gelittete Amerikanerinnen oder fünfundsechzigjährige deutsche Schmerbäuche dazu verleiten, nächtelang im feuchten Gras zu hocken, in Zelten, Notunterkünften, Bauernhäusern oder auf Baustellen zu nächtigen und 117
Hunderte Kilometer auf schlechten Straßen durch den Himalaya zu reisen. Fakt ist: Sie sind alle da. Bereits um achtzehn Uhr drängen sich die ersten rund hundert Touristen um den Festplatz, stecken ihre Claims direkt an dem von Seilen umfriedeten Tanzplatz ab, lassen sich im feuchten Gras nieder und – warten. Denn die Tänze beginnen erst um zwanzig Uhr. Aber man will ja vorne dabei sein. Zwei Stunden später, mittlerweile ist die Zahl der chilips auf gut vierhundert angewachsen, beginnt ein Tanz, der nach fünfundvierzig Minuten mit einer Feuerzeremonie endet. In den ersten fünfzehn Minuten geben die klickenden Verschlüsse der Kameras den Takt an, zucken elektronische Blitze im DreiSekunden-Takt über die Festwiese, als würde der gütige Donnerdrache persönlich anwesend sein. Nach einer Stunde sind die ersten Akkus leer, das Mondlicht siegt langsam über das Blitzlichtgewitter. Ab einundzwanzig Uhr beginnen die Guides, ihren Kunden Mut zuzusprechen. Die sind nämlich mittlerweile müde, und ihnen ist kalt. Man könne doch nicht vor dem berühmten Nackttanz nach Hause gehen, beschwören die Guides ihre Gäste. Um halb zehn fordert die Nacht ihre ersten Opfer. »We did not come for the naked monk’s dance anyway«, klingt wie eine politisch korrekte Begründung für die ersten zwei Dutzend 118
Touristen, die erschöpft den Rückzug antreten. Und fotografieren dürfe man ja sowieso nicht. Gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig haben bereits mehr als die Hälfte der Touristen das Festgelände verlassen, die einheimischen Anbandler im Jahrmarktbereich sind mittlerweile unter sich. Kurz vor Mitternacht, rund fünfzig Chilips haben ausgehalten, brodelt es an der Gerüchtebörse, angeblich solle man jetzt in den Klosterhof übersiedeln, denn dort würden die legendären nackten Mönche tanzen. Das Gedränge ist bei weitem nicht mehr so groß wie zu befürchten war, im Klosterhof, der Platz für rund zweihundert Menschen bietet, ist in der Mitte ein weißer Kreis aufgemalt, in dessen Zentrum ein paar Holzscheite auf ihre Entzündung warten. Nur die Einheimischen wissen offenbar, wann es wirklich losgeht. Wir Touristen hocken uns wieder artig auf den Steinboden und – warten. Um halb eins kommt Leben in die noch schütter gefüllten Reihen, jetzt drängen plötzlich Bhutaner in großer Zahl in den viel zu kleinen Hof. Fünf Polizisten riegeln den einzigen Zugang ab und schließen die Pforte. Von draußen trommeln Hunderte Fäuste wütend gegen das Tor. Meine Sitznachbarin, eine junge Beamtin vom Royal Audit in Thimphu, erklärt mir: »They do not allow those in, who are not properly dressed.« Klar, während die Mäd119
chen durchwegs in hübsche Kiras gewandet sind, tragen die Burschen Jeans und T-Shirts mit modischen Querverweisen auf Marlboro, die Anti-AIDS-Kampagne oder den Ché. Sie müssen draußen bleiben. Doch das sehen sie nicht ein. Das Hämmern an die Türen hört sich immer bedrohlicher an, ängstliche Gesichter bei einigen Chilips. Dann ein Krachen, das Holzschloss bricht auf, Zeit für die fünf Polizisten, sich auf sichere Positionen zurückzuziehen. Ein Tsunami von nicht standesgemäß gekleideten Burschen ergießt sich in den schon überfüllten Innenhof. Nun droht tatsächlich eine Panik, Touristen, die bisher tapfer ihren Sitzplatz am weißen Kreis in der ersten Reihe verteidigt haben, flüchten angstvoll in die hinteren Ecken des Hofes. Mich schwemmt die Menschenwelle genau an jenen Punkt direkt am Kreidekreis, von dem man den besten Ausblick auf die kommenden Sensationen haben müsste. Nach einer Viertelstunde beruhigt sich alles wieder, im Hof sitzen jetzt wohl an die vierhundert Menschen neben-, auf- und übereinander. Die meisten Touristen haben ihre privilegierten Plätze eingebüßt, mir war vermeintlich das Glück hold. Die Holzscheite werden mit Kerosin übergossen und entzündet. Endlich bahnt sich aus einer der Ecken des Hofes ein Mann mit Tschinellen seinen Weg durch die Men120
schenmassen. Er gibt den Takt für die Tänzer an, ist aber kein Mönch wie sonst üblich. Und dann kommen sie: die begnadeten Körper, deretwegen Bumthang diese verrückte Woche über sich ergehen lassen muss. Das einzige Kleidungsstück, das die Anonymität der Tänzer bewahrt, ist jenes um den Kopf gewickelte weiße Tuch, das Maskentänzer unter der hölzernen Maske tragen, kleine Schlitze bei Augen und Mund erlauben ausreichende Bewegungsfreiheit. Der Erste stolpert in den Kreidekreis, versucht ein paar tänzerische Bewegungen und plumpst gleich in das lodernde Feuer, Nummer zwei und drei retten den offensichtlich schwer betrunkenen Kollegen vor dem Scheiterhaufen. Fünfzehn werden es schließlich sein, die um das Feuer hopsen. Tanzen kann das wohl nicht sein. Mönche, die betrunken sind und nicht tanzen können? Doch widmen wir uns wichtigeren Ansichten. Sie sind also nackt. Um männlichen, europäischen Lesern gleich die Urangst zu nehmen, die sie bei der Beschreibung afrikanischer Fruchtbarkeitsrituale befällt: Was die Tänzer hier an intimsten Teilen präsentieren, verhält sich in seiner Größe durchaus proportional zur durchschnittlichen Körpergröße der Bhutaner. Jenes Kleinod, dessen Besichtigung so vielen Touristen und Einheimischen – und der Legende nach ja auch den Dämonen – derar121
tigen Aufwand Wert war, versteckt sich bei einigen der Burschen geradezu unter einem künstlich aufdrapierten Büschel von Yakhaaren, andere lassen ihr bestes Stück einfach bescheiden und unbedeckt baumeln, wieder andere haben aus der landesweiten AntiAIDS-Kampagne gelernt und präsentieren sich bestens geschützt mit dunkelblauem Kondom. Zwei der Kondomträger ahnen, dass die Besucher allenfalls Eindrucksvolleres sehen wollen und haben in den schlaffen Präser zwecks Volumensvergrößerung nebst den persönlichen Schätzen eine Salatgurke eingepackt. So sehen die Dinger einigermaßen imposant aus. Tja, tanzen können diese mutigen Männer eindeutig nicht. Darüber kann auch der Alkohol nicht hinwegtäuschen, dem sie offensichtlich vor ihrem Auftritt kräftig zugesprochen haben. Dafür präsentieren sie in wenig romantischer Weise Turnübungen zu zweit, zu dritt, zu viert, die ahnen lassen, was sie gerne treiben würden, wäre es nicht so kalt, wären da nicht so viele Zuschauer und wären ihre Pimmel nicht auf geradezu minimalistische Weise auf wenige runzelige Zentimeter geschrumpft. Ziemlich vulgär, was die »Mönche« hier präsentieren. Mönche? Meine Nachbarin vom Royal Audit klärt mich auf: Den so populären Nackttanz führen bereits seit Jahren keineswegs mehr Mönche auf, denen sei die Lust 122
angesichts der voyeuristischen Vermarktung vergangen. Der örtliche Volkstanzverein entsendet seine männlichen Mitglieder, um »die Tradition zu pflegen«. Ob die Mönche, wie gemunkelt wird, ihr Ritual hinter verschlossenen Klostertüren gelegentlich auch noch pflegen, bleibt ungeklärt. Rund fünfzig verbliebene Touristen sind ziemlich sprachlos, einigen sieht man an, dass sie anderes erwartet haben. Um halb zwei ist der peinliche Spuk vorbei. Beim Frühstück wird man dennoch jenen Weichlingen, die abends nicht so lange ausgehalten haben, erzählen, was sie alles versäumt haben. Und die Mähr von den nackten, tanzenden Mönchen von Bumthang wird auch nächstes Jahr wieder dazu führen, dass jeder Hühnerstall mit Touristen belegt sein wird, in dieser verrückten Woche im Oktober.
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Der Dolch im Bauch, die Hände in siedendem Öl Nur seine Ehefrau versteht den tanzenden Schamanen
Die Einladung zum Terda klingt so unglaublich, dass ich zuerst an einen Scherz glaube. Doch Tshering versichert mir mit ernster Miene, dass noch nie ein Chilip Zeuge dieser Zeremonie gewesen sei, bei dem sich der in Trance befindliche Tänzer ein Schwert in den Bauch stoßen würde, das so fest in seinen Eingeweiden stecke, dass derjenige, der es heraus ziehen soll, seine ganze Kraft dafür aufwenden müsse. Das Bauernhaus liegt unweit der Straße über den 3070 Meter hohen Dochu-La, die von Thimphu nach Zentralbhutan und in den Osten des Landes führt. Bald sitzen wir gemütlich im Wohnzimmer des aus Fachwerk und gestampftem Lehm erbauten Hauses. Der Sohn des Gastgebers zeigt sich stolz mit seinem immer fröhlichen, sechs Monate alten Sohn, die leidenschaftliche Verliebtheit in seine aufreizend hübsche junge Frau kann er nicht verbergen. Sanft und warmherzig sind die Burschen um die Mitte zwanzig, die sich abwechselnd um die Kleinkinder im Hause bemühen, sie zärtlich in die Arme 124
nehmen oder einfach selbstverständlich mit sich herumtragen. Als ausländischer Gast habe ich die Ehre, alle Köstlichkeiten der bäuerlichen Schnapsproduktion kennen zu lernen. Besonders Fried Ara schmeckt mir sehr. In den typischen Kornschnaps, den jeder Bauer mit einfachen Geräten aus Weizen- oder Gerstemaische selbst destilliert, wird frische Eierspeise eingerührt. Das erhöht nicht nur den Nährwert, sondern offensichtlich auch die Wirkung des Gebräus. Auch der Hausvater und Ausführende des Tanzes gesellt sich zu uns. Ein einfacher Mann Ende fünfzig, Bauer und pensionierter Unteroffizier der königlichen Leibwache. Gegen zwanzig Uhr verlagert sich das Geschehen langsam in ein Zelt, das an das Haus angebaut wurde. Drinnen ist ein mächtiger Altar mit Dutzenden kunstvoll getriebenen Schmuckstücken aus eingefärbter Butter aufgebaut, buddhistische Glückszeichen hängen über dem Altar, Kaddars (Zeremonienschals) allüberall, Thankas (Rollbilder) an den Wänden. Der Boden ist auf einer Fläche von zehn mal zehn Metern mit einem großen Teppich ausgelegt. An der einen Seite ist das Zelt offen, dort kauern bereits rund drei Dutzend Zuschauer, darunter die Nachbarsfamilie, die heuer den Terda sponsert. Der Altar steht längs der Hausmauer, gegenüber ist ein Zeremonienstuhl aufgebaut, so wie ihn hohe Mönche in klösterlichen Ge125
betssälen benutzen. Doch rechts daneben steht ein weiterer derartig geschmückter Stuhl, wo der Lam bereits Platz genommen hat, neben ihm vier Mönche mit den klassischen Musikinstrumenten: zwei Dungs, das sind die teleskopartigen Langhörner, die ähnliche Töne wie Alphörner erzeugen, einer Nga, der großen aufgehängten Trommel, zwei ebenfalls ausziehbaren Jalings, die Töne erzeugen, die einer Mischung aus Trompete und Klarinette entsprechen, und zwei Kangdungs, Blasinstrumente, die aus menschlichen Schienbeinknochen gefertigt werden. Der Gastgeber und Tänzer gesellt sich nun auch in das Festzelt. Ganz unspektakulär beginnt er, die zeremoniellen Gewänder anzulegen. Er legt seinen Gho ab, steht halbnackt im Zelt und beginnt mit Hilfe seiner Frau, die gelb-rot-grünen Gewänder überzuziehen. Sie sehen ähnlich aus wie die Kleidung der Tänzer bei den Maskenfesten, doch er trägt keine Maske. Dafür liegen zwei phantasievoll gearbeitete Hüte bereit. Seine Frau erklärt mir, dass an den Hüten zu erkennen sein wird, welcher Gott gerade aus ihm spricht, denn zuerst soll es die Gottheit der Geburt, dann aber der Gott der Weisheit sein, der in ihn fährt, wenn er in Trance ist. Zum Schluss legt er noch einen Gürtel an, in dem ein gut einen Meter langes Schwert steckt. Ruhig und gelassen haben sich nun an die sechzig Besucher des Rituals versammelt. Vie126
le Kinder und Babys sind dabei, denn für sie verspricht man sich vom Terda einen besonderen Segen und Gesundheit. Mir fällt auf, dass keines der Kinder zu dieser späten Stunde schreit, quengelt oder die betont ruhige und stille Gesamtsituation stört. Später wird eines der Babys einschlafen. Die Ehefrau des Schamanen wird die Mutter auffordern, das Kind zu wecken, denn es soll den Terda mit wachem Geist erleben und aufnehmen. Als das kleine Mädchen dann ein wenig zu jammern beginnt, trägt es die Mutter sofort hinaus, denn während des Tanzes des Besessenen muss absolute Ruhe herrschen. Nach fünf Minuten wird sie zurückkommen, das vielleicht sechs Monate alte Kind wird mit großen Augen das Geschehen verfolgen und keinen Ton mehr von sich geben. Mir und meinen Freunden werden Ehrenplätze auf einer Decke an der Stirnseite des Zeltes, gleich neben den beiden Langhörnern zugewiesen. Ein glücklicher Platz, denn keine Töne höre ich lieber als das tiefe zweistimmige Brummen der Dungs, die das Zentrum der Lebensenergie im Bauch wohlig vibrieren lassen. Der Tänzer ist nun bereit. Gerade hat er noch mit seinen Nachbarn geplaudert, jetzt scheint er sich auf den Beginn der Zeremonie zu konzentrieren. Seine Frau gibt den Mönchen ein kurzes Kommando, diese beginnen mit Gebeten, untermalt von den tiefen Tönen 127
der Langhörner, dem Takt der Trommel und gelegentlich schrillen Lauten aus den Jalings. Der Tänzer atmet jetzt tief und öffnet danach den Mund ganz weit, in der Kälte der Nacht sieht man den Hauch seines Atems. Die Augen sind zugekniffen, er scheint dem Geist, der in ihn fahren soll, mit dem weit aufgerissenen Mund einen Eingang in seinen Körper darzubieten. Plötzlich beginnt er am ganzen Körper zu zucken, bäumt sich drei-, vier-, fünfmal wie von einem Stromstoß getroffen auf, streckt die Arme ganz weit in die Höhe und beginnt schwer zu atmen, eigentlich zu grunzen. Die Augen sind jetzt offen, aber ganz nach oben verdreht, er scheint krampfartig zur Decke zu starren. Ab der Gürtellinie zittert er, mit dem Mund schnappt er nach Luft, beginnt zwischendurch zu hyperventilieren, als müsste er eine Geburtswehe überatmen. Die Zuschauer sind mucksmäuschenstill und schauen den Ereignissen mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Gelassenheit zu. Auch die Kinder sind im Banne des Geschehens, doch sie haben entspannte Gesichtszüge, sie scheinen zu ahnen, dass ihnen Gutes widerfahren wird. Der Tänzer wird nun von Krämpfen geschüttelt, teils schnauft er lautstark, teils ringt er kurzatmig um Luft, plötzlich fällt er wie ein Sack in den Zeremoniensruhl, vor dem sich die seltsame Verwandlung abspielt. Er sitzt 128
jetzt anscheinend erschöpft, atmet kurz und geräuschvoll. Dann beginnt er zu sprechen. Doch niemand versteht ihn, welche Sprache spricht er? Es sei Lhasa-Tibetisch, die Sprache der gelehrten Mönche aus dem Zentrum des tibeto-lamaistischen Buddhismus, flüstern meine Freunde ehrfürchtig. Doch der Sohn versichert, dass sein Vater kein Wort tibetisch spricht. Nur in der Trance des Terda verwende er diese ihm sonst völlig unbekannte Sprache. Nur seine Frau und Helferin scheint ihn zu verstehen. Sie folgt seinen Aufforderungen und gibt auch einige weiter an einen jungen Mann, der ebenfalls als Helfer fungiert, aber die Sprache des Entrückten nicht versteht. Der ruft jetzt nach Ara, seine Frau bringt ihm einen großen Becher voll, er nimmt drei tiefe Schlucke, wieder begleitet von röchelndem Atmen und einem ständigen Zittern, das er von der Hüfte abwärts nicht unter Kontrolle zu haben scheint. Vom anderen Helfer nimmt er eine Hand voll Reiskörner, legt sie auf sein gezücktes Schwert, wischt mit der Hand darüber, wirft einige Körner in die Luft und fragt dann immer wieder seine Frau, wie viele Körner noch auf der Scheide seines Schwertes liegen. Ihre Antworten kommentiert er mit einem Gemurmel, das ablehnend oder zustimmend klingt, aber immer mit einem mit hoher Stimme vorgetragenen »Ya-yaya-ya« beginnt. Niemand kann mir erklären, was er sagt. Niemand versteht ihn. 129
Die Mönche beten und untermalen die unheimliche Szene mit Trommel und Hörnern. Manchmal gibt ihnen die Frau ein Zeichen, dass sie ein anderes Gebet anstimmen sollen. Sie gehorchen; nicht der hohe Lam ist hier der Meister, sondern der Tänzer, der über seine Gehilfin Anweisungen gibt. Das Gesicht des von der Gottheit Besessenen ähnelt in keiner Weise dem vertrauten Gesicht des Bauern, mit dem ich noch vor zwei Stunden beisammen gesessen war. Die Unterlippe hat er ständig über die Zähne gepresst, meist atmet er hyperschnell und flach, doch zwischendurch auch wieder mit einem begleitenden Grunzen und Zischen, das so gar nicht nach menschlichen Tönen klingt. Die Augen bleiben nach oben verdreht, die Stirn liegt in tiefen Falten. Ich beginne zu verstehen, was die Einheimischen mir eindringlich erklärt haben: dass nicht der freundliche Bauer von nebenan hier tanzt, sondern dessen Körper von einer Gottheit besessen sei, die eigentlich den Tanz und das Ritual ausführe. Denn mit dem Bauern hat diese Kreatur, die jetzt in unglaublichen Schritten sich im Tanz drehend über den Teppich wirbelt, nichts mehr gemein. Ein wilder Tanz, zum Teil nur auf einem Bein ausgeführt, wird von Trommelschlägen und Trompetentönen begleitet. Die Maskentänzer bei den Tsechus sind berühmt für ihre kunstvollen Tänze, doch diese sind meist gesetzt 130
und langsam. Was sich jetzt vor meinen Augen abspielt, ist ein ekstatischer Wirbel, gegen den kreiselnde Derwische wirken wie ein Seniorenehepaar beim Langsamen Walzer. Der Mann ist Pensionist, geht auf die sechzig zu. Erschöpft lässt er sich wieder einmal auf seinen »Thron« fallen, verlangt nach Ara und diesmal auch nach Milch, murmelt tibetische Formeln, verbunden mit »Ya-ya-ya-ya«. Trotz der gewaltigen körperlichen Anstrengung stehen auf seiner angespannt faltigen Stirn keine Schweißperlen. Nach mehreren Runden wilder Tänze und Labungen in den kurzen Pausen dazwischen folgt eine neuerliche Verwandlung. Jetzt wird der zweite Kopfschmuck gebracht, wieder scheint es, als würde eine andere Persönlichkeit (eine Gottheit?) von ihm Besitz ergreifen. Der Mund steht weit offen, der Körper schüttelt sich und zittert, streckt sich wie vom Blitz getroffen, dann sitzt er erschöpft auf seinem Stuhl. Seine Frau stülpt ihm die zweite Kopfbedeckung über das Haupt. Welche Rolle spielt sie? Sie versteht als Einzige seine Anordnungen, übersetzt sie sogar für die Mönche. Bringt, wonach er verlangt, lächelt beruhigend, wenn er scheinbar völlig außer sich ist, schnauft und röchelt, wirbelt und erschöpft zusammen sinkt. Ist sie seine jahrzehntelange Mitwisserin, sind die beiden ein Team, das mit diesem Hokuspokus sein Dasein aufbessert? Weiß sie als Ein131
zige, dass alles nur Theater ist, dass die dramatischen Szenen, auf die das Publikum nun schon bald zwei Stunden gespannt wartet, einstudierte Stunts sind? Keine Zeit, darüber nachzudenken. Die neue Gottheit hat den Tänzer im Griff. Seine Helferin reicht ihm einen Bambusbogen und einen Pfeil, in fünf Meter Entfernung liegt am Altar ein Ei. Lautes Schnaufen begleitet das Zielen, rastlos visiert der Mann in Trance das Ei an, schießt – daneben. Der Tänzer legt einen zweiten Pfeil ein, wieder daneben, einen dritten. Erst der sechste Pfeil trifft das Objekt, dessen von Eigelb triefende Schale nun am Pfeilende hängt. Die Helferin zeigt das gute Stück triumphierend den staunenden Zuschauern. Auch die nächste Übung ist wenig sensationell. Der Tänzer legt einen feinen, weißen Kaddar auf sein meterlanges Schwert, wie er das schon ein Dutzend Mal getan hat. Doch diesmal wirft er den Zeremonienschal nicht wie vorher auf den Altar, sondern wirbelt ihn senkrecht in die Höhe. Das wenige Gramm schwere seidene Tuch flattert langsam zu Boden, wird wieder aufgehoben, auch dieses Kunststück wird fünfmal wiederholt, bis der Kaddar endlich scheinbar entgegen allen Gesetzen der Schwerkraft am Zeltdach hängen bleibt. Doch unschwer ist zu erkennen, dass von den Bambusstreben, auf denen die Zeltplane liegt, jede Menge Schiefer und Späne 132
weg stehen, an denen sich der hauchdünne Schleier verfangen kann. Der westliche Beobachter hakt das scheinbare Wunder ab. Draußen an der offenen Seite des Zeltes, wo die meisten Zuseher hocken, wird ein kleiner Scheiterhaufen entfacht, darauf ein vier bis fünf Liter großer Topf gestellt, der zu einem Viertel mit Öl gefüllt ist. Der Tänzer wirbelt nach draußen, wirft wirre Blicke in den Topf, in dem sich das Öl langsam erhitzt. Zwischendurch rast er rastlos durch die benachbarten Gebäude, nur seine Helferin und die engsten Verwandten der Sponsoren folgen ihm. Nach einer Viertelstunde kehrt er zurück, beobachtet wieder das Feuer und den Topf, in dem das Öl mittlerweile den Siedepunkt erreicht hat. Wild gestikulierend und tief atmend umkreist der Besessene unter den staunenden Augen der Zuseher den Topf, immer wieder zerrt er an den Ärmeln seiner bunten Kleider, scheint seine Finger auf die kommende Prüfung vorzubereiten. Schließlich baut er sich vor dem Feuer auf, die Flammen werfen wilde Schattenspiele auf sein entrücktes Antlitz. Beschwörend hebt er die Arme, dann – für einen kurzen Moment – fahren beide Hände in den Topf mit siedendem Öl. Fast zu kurz, hat es zumindest den Anschein, als würde da geflunkert. Doch er scheint den Verdacht des Zweiflers zu ahnen: Ein zweites Mal tauchen die Hände in die Höllenbrühe, diesmal für mehrere Sekunden. 133
Er leckt die Fingerspitzen, von denen das Öl tropft. Bekämpft er Schmerz? Kein Zweifel. Das Öl ist siedend heiß, beide Hände waren bis zu den Handflächen eingetaucht, kein Schmerzensschrei war zu hören, keine Verletzungen sichtbar. Vielleicht kann das jedermann? So wie man über glühende Kohlen schreiten kann, wenn man Geist und Körper unter Kontrolle hat? Noch während ich mich dies frage, beginnen die Zuschauer, sich an verschiedenen Körperteilen zu entkleiden. »It will heal all your ailments, if he touches you with his oil-soaked fingers«, erklärt mein Gastgeber. Vor mir drängen sich zwei alte Frauen zum Heiler, die eine hat eine Schulter entblößt, die andere wendet dem Göttlichen erst ihren Schoß und danach ihren Rücken zu. Er salbt die freigelegten Körperstellen und bläst dabei hechelnd Atemluft darauf. »Fffffh, ffffhhh, …«, zischt er seinen Atem zwischen zusammen gekniffenen Lippen auf die zu heilenden Stellen. Jetzt sind die Kinder an der Reihe, manche sind vollständig nackt, die Salbung mit Öl soll sie vor allen Arten von Krankheiten beschützen. Der Tänzer verlangt nach Ara und Milch, wirft Reiskörner in die Luft, tanzt auf einem Bein, spricht sein »Ya-ya-ya-ya« und sprudelt tibetische Mantras hervor – oder sind es Anweisungen an seine Helferin? Wie ein Kreisel fegt er nach nunmehr schon drei Stunden 134
über den Teppichboden, immer wieder zieht er sein Schwert aus dem Gürtel, schneidet mit der scharfen Klinge Löcher in die Luft, scheint Ziel zu nehmen, lässt die mörderische Waffe wieder sinken, wirft Kaddars auf die Butterskulpturen am Altar. Schließlich platziert er das Schwert in einem Fünfundvierzig-Grad Winkel vor sich, die Schneide weist in seine Leistengegend, der Griff findet Halt am Boden. Erst nur angedeutet, ganz sanft, stemmt er seinen Unterbauch gegen die scharfe Schneide. Lässt wieder nach, beginnt von neuem, atmet und röchelt, grunzt und pfeift. Vielleicht ein Dutzend Mal stemmt er sich mit zunehmendem Gewicht gegen den Stahl, der scheint tatsächlich – wenn auch nur für ein kleines Stück – in seinen Bauch zu verschwinden. Schließlich richtet er sich auf, jetzt kann jeder es sehen, das Schwert steckt in seinem Bauch oder in seiner Hüftbeuge, genau lässt sich dies wegen der wallenden Gewänder nicht orten. Er geht einige Schritte, stützt das in seine Eingeweide eingeführte Metall mit den Händen, läuft nun auf die Zeltwand hinter seinem Thron zu und wirft sich – das in ihm steckende Schwert voraus – mehrmals mit großer Kraft gegen die straff gespannte Leinwand. Verschwindet die Waffe tatsächlich nun einige Zenitmeter weiter in seinen Weichteilen? Es hat den Anschein. Kein Blut fließt, auch die Gewänder scheinen nicht pe135
netriert, der Gesichtsausdruck verrät enorme Anspannung, aber nicht Schmerz. Nach diesen Atem raubenden Versuchen, das Schwert in seinen Körper eindringen zu lassen, sinkt der Mann auf seinen Thron, in der sitzenden Haltung scheint das Schwert nun tatsächlich tief in ihm zu stecken. Jetzt betritt seine Ehefrau und Gehilfin wieder die Szene. Niemand hat mich vorbereitet, doch die anderen Zuschauer scheinen zu wissen: Der Chilip wird die Ehre haben, das Schwert herauszuziehen. Der völlig in Trance verfallene Tänzer murmelt wieder tibetische Formeln, deutet dann kaum sichtbar in meine Richtung. Seine Frau tritt auf mich zu und fordert mich auf, mit ihr zu kommen. Sie umfasst meine Hände, alles geht jetzt sehr schnell. Sie führt meine Hände an den Griff des Schwertes, ich sehe die Schneide in den Falten der Gewänder des Tänzers verschwinden, unfähig abzuschätzen, ob und wie weit es wirklich in seinem Leib steckt. Ich will an dem Schwert ziehen, die Frau scheint mich aufzufordern, stärker zu ziehen, sie kommt mir zur Hilfe, zu zweit gelingt es uns schließlich, das meterlange Stück Metall herauszuziehen. Ich sehe gerade noch, dass die Schneide etwa fünfzehn Zentimeter an der Spitze von einer Art kondensierter Flüssigkeit behaftet ist. Schweiß? Sicher kein Blut. Aber feucht. Schon hat der Tänzer das Instrument wie136
der in Händen, springt auf, beginnt einen letzten furiosen Tanz. Ich finde mich auf meinem Platz wieder, mir scheint, als wären die ein oder zwei Minuten wie ein Traum an mir vorbeigegangen. Ich war wohl zu aufgeregt und überrascht um wahrzunehmen, was wirklich ablief. Hat die Frau, als sie mir scheinbar zu Hilfe kam, vielleicht bewusst in die Gegenrichtung gearbeitet? Mir das Gefühl gegeben, ich müsse all meine Kraft einsetzen, um die Schneide des Schwertes aus den Eingeweiden des Tänzers zu ziehen? Meine Gastgeber haben keine Zweifel. Die Burschen fragen nicht, ob das Schwert im Bauch des Tänzers steckte. Allerdings wollen sie wissen, ob es tatsächlich so schwierig gewesen wäre, den Stahl herauszuziehen, wie es seit Generationen überliefert sei. Nur wenige machen selbst die Erfahrung, die Geschichte lebt von der Überlieferung. Langsam fährt der Geist jetzt aus dem Besessenen, der erschöpft in seinem Thron sitzt. Die Mönche legen gelassen ihre Musikinstrumente zur Seite. Das Ritual ist vorbei, die Besucher gehen zurück in ihre Häuser in der Nachbarschaft. Ich sitze mit meinen Gastgebern und der Familie des Tänzers auf dem Küchenboden, wir essen klebrigen roten Reis und scharfes Erna Datshi. Auch der Tänzer gesellt sich zu uns, jetzt wieder ganz Bauer und Hausherr, ein wenig verlegen lächelnd. Über das Erlebte wird nicht gesprochen. 137
Der Besuch des Wiedergeborenen Auch heilige Meister sind nicht frei von Begehrlichkeit
Er steht plötzlich in unserem Wohnzimmer. In der Hand ein Bambusstock, um die Hüften ein vor Schmutz starrendes rot-gelbes Mönchsgewand gewickelt, löchrige Socken, zerschlissene Schuhe. In der Hand ein dickes Bündel Banknoten, meist Hundert-Ngultrum-Scheine. »I am Ngawang Dorji, Rimpoche from Taktshang, I am eighty years old. I live eight hours above Taktshang monastery. Many years of meditation. Wish you long life and good luck. Want to build one statue of Guru Rimpoche. Need money!« Zur Bekräftigung seines Ansinnes wachelt er bestimmt mit dem Geldbündel. So sieht also ein Rimpoche aus, ein erleuchteter Wiedergeborener, ein großer Lehrer. Das Männchen mit dem erstaunlich guten Englisch, fordernden Augen und nicht bescheiden ausgefallenem Selbstbewusstsein hat sich Upper Motithang nicht zufällig ausgesucht. Im Villenviertel am Südhang oberhalb von Thimphu wohnen Minister, Königinnen und vermeintlich reiche Chilips. Da wollen wir nicht zurückstehen. Schließlich gibt es in Bhutan sicher noch kaum mal hunderttausend Statuen von Guru Rimpoche, 138
also geben wir großherzig zwanzig Ngultrum. Der Heilige Mann nimmt sie, blickt uns tief in die Augen und sagt mit fester Stimme: »Hundred!« Naja, handeln will ich eigentlich nicht über die Höhe der Spende, bedeute ich dem Segensbringer. Der zischt »Long life!« und – nach einem geringschätzigen Blick auf meine billigen Kathmandu-Hosen – »Fourty?«. Ich bleibe standhaft, obwohl das lange Leben natürlich verlockend klingt. Der Rimpoche versteht. Er hat das Haus eines Knausers betreten. Ein entwaffnendes »I am hungry!« leitet die zweite Phase des strategischen Angriffs unseres Feiertagsgastes ein. Renée bietet drei Äpfel an. Die Körpersprache von Ngawang Dorji verrät: Er kennt diese Sorte, hübsch anzusehen, saftlos und im Geschmack eine Mischung aus eingeschlafenen Füßen und wurmigem Mehl. »Do you want some bisquits?« – Wenn Blicke töten könnten … Unsere Freundin Jigme flüstert ehrfürchtig, sie vermute, der Alte möchte etwas Richtiges zu essen, also Reis mit Erna Datshi. Renée eilt zur Mikrowelle. Reis ist ja immer bereit in einem bhutanischen Haushalt, ein Rest von Erna Datshi noch im Tiefkühlfach unseres launischen Eisschrankes, mehrfach aufgetaut und wieder eingefroren. Ngawang Dorji zeigt mir inzwischen seine zugegeben sehr mitge139
nommene Fußbekleidung und vergleicht diese vielsagend mit einer ganzen Galerie von Schuhen, die bei uns aufgereiht stehen. Ich bleibe standhaft. Gnädig setzt sich seine Heiligkeit nun zu Tisch, stochert im Erna Datshi, zu spät. Der Erleuchtete durchschaut natürlich sofort, dass diese Chilischoten schon einiges durchgemacht haben auf ihrem langen Weg auf den Teller des Wiedergeborenen. Befremdet schiebt er sie zur Seite und kostet den Reis. Gut, es war der billigste am Markt, kein feiner, importierter Basmati Reis aus Indien, wie man ihn in Motithang erwarten dürfte. Bauernreis eben, nicht so leuchtend weiß, mit einigen braunen und schwarzen Einsprengungen. Aber muss man deshalb gleich beleidigt den halben Teller stehen lassen? Vorwurfsvoll verlangt unser Gast jetzt doch nach Bisquits, nachdem er bei einem Kurzbesuch in der Küche die fremdländisch aussehende Packung Männer Mignon entdeckt hat. Die letzte ihrer Art in unserem gastlichen Haus. Im Container damals im September 2003 ist sie über die Weltmeere gesegelt; die Hitze vor Afrikas Küsten ist den Mannerschnitten nicht gut bekommen, die Schokoladeglasur hat die zerquetschten Leckereien in einen Einheitsbrei verwandelt. Renée bricht eine Hand voll der unansehnlichen Reste aus der Packung und reicht sie dem Meister der meditativen Entbehrung. 140
Doch die Schnitten aus der Hand der Chilip-Frau will er nicht. Die ganze Packung wäre doch das Mindeste, was man seiner Begehrlichkeit anzubieten hätte. Endlich trifft auch uns ein Strahl der Erleuchtung. Großherziges Geben ist jetzt angesagt angesichts solcher Demut. Was einmal köstliche Mignonschnitten waren, ist zu einer bröseligen Masse in gestockter Schokocreme verkommen. Es wird dem Heiligen Mann das karge Leben in der Einsiedelei versüßen. »Long life!« – Das wünschen wir ihm auch auf seinen Streifzügen durch die Villen von Motithang.
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Der Strom kommt aus der Steckdose Auch in abgelegenen Bergbauerndörfern im Bhutan Himalaya
Das Zillertal in Tirol kennt er gut. Chhewang Rinzin, Generaldirektor des Stromkonzerns »Bhutan Power« gerät ins Schwärmen. Alle Wasserkraftwerke des Zillertales zusammen produzieren ungefähr so viel Strom, wie das im August 2006 ans Netz gehende größte bhutanische Kraftwerk Tala alleine, mehr als tausend Megawatt installierte Leistung, die Einnahmen aus dem Stromexport werden das staatliche Budget allein dadurch um zehn Prozent steigen lassen. Dabei kommt Bhutan bei der Erschließung seiner Wasserkraftpotenziale ohne große Dammbauten und Stauseen aus, das Fließwasser aus den Flüssen wird abgeleitet, in einem Druckrohr zum Krafthaus geführt, produziert wird je nach verfügbarer Wassermenge rund um die Uhr. Der Tunnel für die Wasserzuleitung des Tala-Kraftwerkes ist allerdings stattliche dreiundzwanzig Kilometer lang und damit der zweitlängste der Welt. »Indien nimmt jede Kilowattstunde zum gleichen Preis ab. Wir müssen nicht wie in den Alpen Speicher bauen, um Strom zu hohen Preisen für Spitzenverbrauchszeiten zu horten.« Tatsächlich hat der brummende in142
dische Konjunkturmotor zu jeder Jahres- und Tageszeit einen unstillbaren Hunger nach Energie, Wasserkraft aus dem Himalaya ist nur eine kleine, allerdings hochwillkommene Beimischung zum Energiehaushalt der gigantischen indischen Volkswirtschaft. Bis zu achtzig Prozent des in Bhutan produzierten Stroms nimmt der große Nachbar im Süden ab. Im Winter ist es umgekehrt, da wird in Thimphu und anderen Städten mit Strom geheizt und Bhutan braucht den Großteil des Stroms selbst. Wenn die Gletscher im Himalaya weiter schrumpfen, werden die Winter wohl noch trockener, fürchten Klimaexperten. Strom aus Wasserkraft hat Bhutan nachhaltig aus der Liste der ärmsten Länder der Welt katapultiert, heute denken westliche Geberländer bereits darüber nach, angesichts der rasant steigenden Staatseinnahmen des Königreiches die Entwicklungszusammenarbeit auf eine neue Basis zu stellen. Geschenke wird es in Zukunft nur mehr wenige geben, dafür Kredite und Beratung, denn Bhutan ist ein solider Schuldner mit vorhersehbaren Einnahmen. Die größeren Kraftwerke wurden seit den achtziger Jahren in Zusammenarbeit mit Indien gebaut, kleinere Werke entstanden in Zusammenarbeit mit Österreich. Manches haben Inder und Österreicher anfangs als Geschenk mitgebracht, rund sechzig Prozent 143
der Leistungen lassen sie sich aber mittlerweile bezahlen, die Kredite aus Indien werden direkt mit Stromlieferungen beglichen. »Wir rechnen mit einem Rückzahlungszeitraum von fünfzehn Jahren, dann gehören die Investitionen uns«, freut sich Chhewang Rinzin. Im Zillertal wurde mit Krediten der Stromversorger aus Baden-Württemberg gebaut, der Rückzahlungszeitraum betrug damals fünfundzwanzig Jahre. Mit den 2005 und 2006 eröffneten Großprojekten Basochu, Tala und Kurichu hat Bhutan gerade mal fünf Prozent des geschätzten Entwicklungspotenzials an Wasserkraft ausgeschöpft, bis 2020 wird sich die Produktion verdreifachen. Ob er nicht Sorge habe, dass Wasserkraft eines Tages nicht mehr konkurrenzfähig sein könnte, wenn Indien in großem Stil mit amerikanischer Unterstützung Atomstrom produziert, frage ich den Generaldirektor. »Für Wasserkraft wird es immer einen Markt geben. Saubere, erneuerbare Energie ist immer willkommen, eine perfekte und flexible Ergänzung zu thermischer Energie«, zeigt sich Chhewang optimistisch. Was ihm mehr Sorge bereite, sind die regionalen Konkurrenten im Himalaya, vor allem Nepal mit riesigen unerschlossenen Kapazitäten. Wenn sich die Lage dort stabilisiert und die Erschließung vorankommt, könnte es einen Wettbewerb um den einzigen Kunden Indien geben. Bei 144
sinkenden Preisen lasse sich aber Wasserkraft nicht ausbauen. Auch wenn es am einfachsten wäre, den gesamten Strom aus Bhutan zu guten Preisen – vier Cent pro Kilowattstunde – nach Indien zu exportieren, Bhutan hat andere Ziele. Bis 2020 soll jeder bhutanische Haushalt an das Stromnetz angeschlossen sein. »Wir werden das Ziel schon früher, vielleicht 2017 erreichen, wenn alles gut verläuft«, gibt Chhewang ein gutes Beispiel für bhutanische Planungsmoral. Dabei sind die Kosten für den Hausanschluss in den Gebirgsdörfern mit durchschnittlich zweitausend Dollar wohl die höchsten der Welt. »Bhutan Power« trägt diese Kosten der Zuleitung bis an die Haustür ohne Unterschied der Erreichbarkeit überall im Lande, ein Beitrag zur Gross National Happiness und zur Förderung der Chancengleichheit für die Landbevölkerung. Noch sind siebzig Prozent der Bhutaner Bauern und leben in Dörfern teilweise jenseits von viertausend Metern Höhe, oft nur in tagelangen Fußmärschen zu erreichen. Einige Hundert dieser Haushalte werden aufgrund ihrer Lage wohl mit örtlichen Mikrokraftwerken oder Solarenergie versorgt werden, aber die meisten Häuser kommen ans Netz, so das ehrgeizige Ziel der Strommanager, das einem klaren Auftrag des Königs entspricht. Anfang 2006 waren es bereits siebenundfünfzig Prozent aller Haushalte, bei 145
denen der Strom aus der Steckdose kam. Nirgendwo sonst in der Region wird mit so viel Einsatz die Elektrifizierung des ländlichen Raumes betrieben. Szenenwechsel: Ugyen ist Lehramtskandidat im kleinen Dorf Chendibji am Fuße der Black Mountains. Wir sind spät dran, wollten eigentlich das kleine Kloster besichtigen, doch es dämmert bereits. »Kein Problem«, lächelt Ugyen, »wir haben ja jetzt Licht.« Eine Hundert-Watt-Glühbirne erleuchtet den Altarraum des urigen Klosters, in aller Ruhe können wir zur späten Stunde die Malereien bestaunen, die nach dem Brandunglück im Auftrag des dritten Königs im Kloster von Kuenga Rapten angefertigt wurden, um das kleine Heiligtum von Chendibji wieder in alter Pracht erstrahlen zu lassen. Chendibji liegt so weit weg von den Lichtern der Städte, dass hier kein Anschluss an das nationale Leitungsnetz rentabel gewesen wäre. So wurde ein Siebzig-KilowattKleinstkraftwerk gebaut. Seit Winter 2006 haben die rund fünfundzwanzig Haushalte nun Licht, der Strom reicht auch für Reiskocher, Radio und Wasserwärmer. Irgendwann wird wohl auch jemand einen Fernsehapparat und eine Satellitenschüssel anschaffen. Lehrer Ugyen träumt bereits von einem PC, mit dem er per E-Mail mit der Welt in Verbindung sein wird und seinen Schülern die Wunderwelt von Bill Gates näher bringen kann. 146
Stromrechnung haben die Dörfler noch keine bezahlen müssen, derzeit sei Probebetrieb, lächelt Ugyen. Der Tarif wird gleich sein wie in Thimphu und allen anderen Landesteilen, auch hier also Gleichberechtigung, obwohl die Produktionskosten aus dem Kleinkraftwerk sicher um ein Vielfaches höher sind als die der großen Anlagen im Süden. Dass in Chendibji jetzt abends die Lichter angehen, ist eine Folge des Kyoto-Protokolls. Die E7, ein Zusammenschluss der sieben größten Europäischen Energieproduzenten, kaufen sich mit der Finanzierung von Projekten erneuerbarer Energie in Dritte-Welt-Staaten von der Verpflichtung frei, die eigenen Emissionen drastisch senken zu müssen. Ugyen kennt den globalen Hintergrund. Der junge Lehrer ist stolz darauf, dass das erste derartig finanzierte Projekt Bhutans in seinem Heimatdorf steht. »Die Menschen hier sind zufrieden. Viele wollten wegziehen, jetzt ist man am Überlegen, denn die Lebensqualität ist mit Licht und Strom schlagartig besser geworden.« Obwohl die meisten Haushalte in Bhutan nur den Minimumtarif von fünfunddreißig Ngultrum (0,7 Euro) pro Monat für ihren Stromverbrauch zahlen, hängt an jeder Hauswand ein Messgerät. Eine psychologische Maßnahme, erklärt Chhewang. Auch wenn derzeit der Verbrauch gering ist, die meisten Haushalte nur vier oder fünf Glüh147
birnen anschließen, will man rechtzeitig ein Gefühl für die Kosten der elektrischen Energie herstellen. Der Haushaltstarif ist gespalten und fördert sparsamen Umgang mit der Energie: Für die ersten achtzig Kilowattstunden pro Monat bezahlt man lediglich den symbolischen Tarif von 60 Chhetrum (etwa 1 Cent) pro Kilowattstunde, dann erhöht sich der Tarif auf 1,10 Ngultrum (2 Cent) und jenseits der zweihundert Kilowattstunden pro Monat werden immer noch bescheidene 1,30 Ngultrum (2,20 Cent) in Rechnung gestellt. Indien zahlt zwei Ngultrum. Trotzdem wird der heimische Verbrauch begünstigt, die Bhutaner sollen ja glücklich sein. Und Strom macht glücklich. Das Leben in den Dörfern ist sicherer geworden. An jedem Bauernhaus brennt zumindest eine Glühbirne außen. Die ganze Nacht lang. Ein paar Dutzend Lichter lassen kleine Dörfer auch in der Dunkelheit erkennbar werden, so mancher späte Heimweg wird leichter, wenn man die Lichter sieht. Wilde Tiere meiden das Licht. Karmal Prashad Sharma ist Lhotsampa, also Südbhutaner nepalesischer Abstammung. Vor einigen Jahren hat er sein Heimatdorf Kalamati im Bezirk Samtshe verlassen, die nächtlichen Überfälle wilder Elefanten aus dem nahen Dschungel auf die mühsam bewirtschafteten Felder waren unerträglich ge148
worden. Jetzt ist er zurückgekehrt, seine Nachbarn haben ihm gesagt, seit es Strom gibt, kommen die Elefanten nicht mehr. Sie scheuen das Licht. Und wenn sich doch mal Elefanten in die Nähe wagen, dann ist es im Schein der Glühlampen leichter, im Dorf rasch einen Trupp Männer zu organisieren, die den Störenfrieden mit lautem Geschrei und brennenden Fackeln den Weg zurück in den Urwald weisen. Die vierzehnjährige Tochter Bomika Sharma hat eine andere Beziehung zur nun verfügbaren elektrischen Energie. Sie sitzt mehrere Stunden täglich vor dem Fernseher und träumt von einem Leben in der Stadt. Der Großvater riecht nach Ara, den Mund voll Betelnuss erzählt er, dass er ein zufriedener Mensch gewesen und mit seinen dreiundsiebzig Jahren eigentlich auf das Sterben vorbereitet gewesen sei. Doch dann wäre eines Tages die Nacht zum Tage geworden. Das Licht rund um die Uhr habe ihn überzeugt, dass er nun doch noch die Wiedergeburt seines verstorbenen älteren Sohnes abwarten sollte. Erst dann würde er den Schalter umlegen.
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Gross National Happiness Bhutans Staatsphilosophie auf dem Prüfstand
»Tu weniger, iss weniger, schränke deinen Stress ein, strebe weniger nach Besitz – und sei glücklicher!« So definiert Karma Ura auf meine Frage sein Verständnis von Gross National Happiness. Bhutans bemerkenswerte Staatsphilosophie leitet sich zwar aus dem Widerspruch von »Bruttonationalglück« und Bruttonationalprodukt ab, hat aber bei näherer Betrachtung nur wenig mit dem aus der Wirtschaft stammenden Terminus gemein. Karma Ura ist Bhutans bekanntester Schriftsteller, sein historischer Roman »The Hero with a thousand Eyes« so etwas wie ein modernes Nationalepos. Heute steht er dem Centre for Bhutan Studies vor, dessen Aufgabe es ist, wissenschaftliche Arbeiten über Bhutan auf internationaler Ebene zu initiieren, zu publizieren und zu sammeln. Dort werden mittlerweile Dutzende Aufsätze und Forschungsberichte zur Gross National Happiness archiviert. Doch wie sieht es tatsächlich mit dem Glücksgefühl der Bhutaner aus? Eines der statistischen Ergebnisse der großen Volkszählung von 2005 ist die scheinbare Bestätigung des nationalen Glücksgefühls: nur 3 Prozent der Bevölkerung beantworten die 150
Frage nach ihrem persönlichen Glücklichsein negativ, 97 Prozent bezeichnen sich als »glücklich« oder »sehr glücklich«. Aber sogar Bhutans neue Sonntagszeitung Bhutan Times hinterfragt kritisch, ob das denn tatsächlich so sei. Schließlich werde den Menschen seit Jahrzehnten eingeredet, sie lebten im einzigen Land der Welt, in dem Gross National Happiness als oberstes Staatsziel durchgesetzt sei. Ross McDonald, Soziologe aus Neuseeland, befasst sich ausführlich mit der Frage, ob das nationale Glück und die individuelle Zufriedenheit überhaupt von wirtschaftlichen Verhältnissen und Erfolgen abhängen. Seine Schlussfolgerung: Dies sei nicht der Fall, die Bhutaner würden Gross National Happiness wohl anders verstehen denn einfach als das Gefühl, sich über erreichten Wohlstand zu freuen. Denn der buddhistische Hintergrund schließe aus, dass man Glück allein über rücksichtsloses Durchsetzen der eigenen materiellen Ziele erreichen kann. Der König selbst definiert die vier Säulen des Konzeptes von der Gross National Happiness mit Respekt vor Kultur und Religion, guter politischer Verwaltung (good governance), wirtschaftlichem Wohlergehen und Bewahrung einer intakten Umwelt. Damit wird klar, dass Wohlstand zwar ein Faktor ist, das eigentliche Glück aber nicht in materiellen Gütern, sondern in einer Balance aller vier Komponenten besteht. 151
Angesichts einer Armada von sündteuren Toyota Landcruisern, mit denen Thimphus Oberschicht die kurzen Wegstrecken in der Hauptstadt zurücklegt, sind Zweifel angebracht, ob die materielle Bescheidenheit tatsächlich eine weit verbreitete Tugend des buddhistischen Drachenvolkes ist. Gerade die letzten Jahre mit ihrem rasanten wirtschaftlichen Aufschwung in Bhutan haben wohl eher mehr Unzufriedenheit, Geschäftsneid und Missgunst in die Gesellschaft eingeschleust. Karma Ura bezeichnet diesen Wechsel prägnant als »change from feudalism to bureaucracy«, obwohl Bhutan eigentlich kein Feudalsystem im europäischen Sinne hatte. Den Herrschenden habe es zu jeder Zeit an materiellem Reichtum gefehlt, ihre Macht war nur hierarchisch oder religiös begründet, äußerte sich jedoch nicht in einem deutlichen Mehr an Besitz oder Luxus. »Herrscher und Sklave aßen vom gleichen Teller,« umschreibt der Schriftsteller dieses einzigartige System, in dem die Mächtigen mehr als religiöse Führer und philosophische Ratgeber zu interpretieren seien, denn als Feudalherren. Die historisch gewachsenen Eliten Bhutans waren seit Jahrhunderten zum einen die Mönchsorden, in die Knaben unabhängig von ihrer sozialen Herkunft bereits in ganz jungen Jahren aufgenommen wurden. Andererseits war es der Beamtenstand, wobei Staatsdiener wie Mönche ebenfalls bereits in 152
früher Jugend aus ihrem Familienverband ausschieden und einer speziellen Ausbildung unterzogen wurden – während die verbliebene Bevölkerung auf dem Land ohne Bildung blieb. Auch wenn das heute nicht mehr so ist, das Selbstverständnis der bhutanischen Beamtenklasse ist noch immer von dieser Eliteposition bestimmt. Den kritischen, gebildeten Bürger, der von seinen Beamten selbstbewusst eine gute Serviceleistung einfordert, muss man mit der Lupe suchen. Die Privilegien des Beamtenstandes haben sich bis in die Gegenwart erhalten. Waren es früher Bildung und Versorgungssicherheit – die Beamten wurden aus den Naturalsteuern der Bauern mit allem Lebensnotwendigen versorgt – so sind es heute andere Vorteile, die es für viele Bhutaner als ultimatives Liebensziel erscheinen lassen, in den Staatsdienst einzutreten. Die Gehälter sind zwar moderat, die Lebensstellung ist aber gesichert. Seit einigen Jahren gibt es dazu auch noch ein Pensionssystem, das in der Privatwirtschaft unbekannt ist. Die soziale Stellung der Beamten könnte besser nicht sein, die Arbeitszeiten sind zumutbar, Fünf-Tage-Woche, dreißig bis fünfunddreißig Stunden Wochenarbeitszeit, ein Monat Urlaub und jede Menge zusätzliche Freizeit für dringende familiäre Verpflichtungen, relativ hohe Reisediäten: Das ergibt ein attraktives Package. Abhängig vom 153
Dienstrang kommen dazu Steuerprivilegien beim Autokauf – die meisten in Bhutan an Touristen vermieteten Allradfahrzeuge gehören höheren Beamten, die sie zollfrei erwerben können. Für den Duty Free Shop gibt es Bezugsberechtigungen, je nach Rang kommen dazu noch Fahrer oder Dienstwohnung. Bhutans Beamte geben sich schockiert, als sie im Rahmen der Vorbereitung zur Einführung der Demokratie ihre Vermögensverhältnisse offen legen müssen. König Jigme Singye Wangchuk selbst hat dem Land eine strikte Anti-Korruptionskontrolle verordnet, denn er sieht eine Zunahme der Bestechlichkeit als gefährlichste Begleiterscheinung bei der Einführung politischer Parteien und demokratisch gewählter Gremien. Daher soll Transparenz bei den Beamtenvermögen Anhaltspunkte liefern, falls ein Staatsdiener mit bescheidenem Einkommen unverhältnismäßig viel Besitz angehäuft hat. »Helfen wird das nichts«, sagt mein Nachbar, denn »wir alle wissen, dass die Beamten ihren Besitz bei ihren Ehefrauen oder Kindern parken, um selbst eine weiße Weste zu bewahren.« Ist Bhutans Selbstverständnis von Gross National Happiness und der hehren Selbstbesinnung auf immaterielle Werte also bloß eine Schimäre? Karma Ura sieht das differenziert. In Bhutan sei bis heute die Gestaltung der engeren gesellschaftlichen Umgebung, 154
das Errichten von Netzwerken und sozialen Kontakten wichtiger als das Streben nach materiellen Werten. Die Kultur, soziale und politische Angelegenheiten direkt und persönlich im passenden Umfeld zu diskutieren sei hoch entwickelt. Doch Karma Ura sieht auch die Bruchlinien im System: »Die Einführung des Fernsehens 1999 veränderte unser Denken. Plötzlich diskutieren wir globale Themen und vergessen unsere ureigensten regionalen und nationalen Angelegenheiten.« Auch sei das neue Medium für die rasant steigende Konsumgier seiner Landsleute verantwortlich. Keine Woche vergeht ohne neue Produkteinführungen, Geschäftseröffnungen und Werbekampagnen. Wer etwas auf sich hält, fliegt schon einmal zum Shopping nach Bangkok, indische Waren wären zwar zollfrei, gelten aber als weniger chic als Importe aus Thailand oder Singapur. Fernsehen war vor dem Jahr 1999 nicht ausdrücklich verboten, aber eben auch nicht erlaubt. Das genügte, um eine Einführung zu verhindern, denn Bhutans Bürger sind gewohnt, dass sie für fast alle Verrichtungen des täglichen Lebens eine Genehmigung einholen müssen. Die erste Generation von Bhutanern, die mit vierzig Kabelkanälen, Internetzugang und Medienvielfalt aufwächst, hat gerade erst das Grundschulalter erreicht. Man muss kein Prophet sein um vorherzusehen, dass diese 155
Menschen den Lebensrhythmus des Drachenvolkes in den kommenden Jahrzehnten völlig verändern werden. Und fünfunddreißig Prozent der Bhutaner sind jünger als dreizehn Jahre! Wird Gross National Happiness diesen Kulturschock überleben? König Jigme Singye Wangchuk tut viel, um sein politisches Erbe zu bewahren. Er selbst ist die treibende Kraft bei der Demokratisierung des Landes. Sehr zur Sorge seiner Bürger hat er einen Verfassungstext entwerfen lassen, der aus dem letzten absoluten Königreich der Welt eine konstitutionelle Monarchie machen soll. Der Monarch hat laut Verfassungsbestimmung mit Erreichung des fünfundsechzigsten Lebensjahres in Pension zu gehen. Als zahlreiche Bürger in Leserbriefen und Wortmeldungen den König auffordern, doch wenigstens diese grausame Bestimmung aus dem Text zu eliminieren, überrascht der Druk Gyalpo seine Untertanen mit der Ankündigung, die Rabenkrone bereits im Jahre 2008 an seinen ältesten Sohn übergeben zu wollen. Gerade rechtzeitig zum hundertjährigen Jubiläum der Monarchie soll Bhutan mit einer modernen, demokratischen Verfassung den Schritt in neue politische Strukturen schaffen. Die Feiern zur Erinnerung an die Krönung von Sir Ugyen Wangchuk zum ersten König Bhutans am 17. Dezember 1907 werden übrigens erst 2008 stattfinden, weil 156
Astrologen das Jubiläumsjahr 2007 als Lona (Unglücksjahr) identifiziert haben. In so einem Jahr soll man keine wichtigen Verrichtungen vornehmen, keine Häuser bauen, Geschäfte abschließen und nicht heiraten – und eben auch keine neue Verfassung in Kraft setzen. König Jigme Singye wird 2008 trotz seiner frühen Abdankung einer der längstdienenden Monarchen der Welt sein, hat er doch den Thron bereits als Siebzehnjähriger nach dem plötzlichen Tod seines Vater 1972 bestiegen. Keine Persönlichkeit in Bhutan steht dermaßen außerhalb jeglicher Kritik, wie der äußerst beliebte, bescheidene und benevolente Monarch. Wieder ist es er selbst, der sogar die unzweifelhafte Zuneigung seines Volkes relativiert. Manche Menschen hätten einen Knoten in der Zunge, wenn sie mit ihm sprächen, kritisiert er den Umstand, dass niemand ihm schlechte Nachrichten überbringen will. Legendär sind seine unangekündigten Besuche in Bezirken und Landgemeinden um zu verhindern, dass nach entsprechender Vorankündigung erst mal geputzt und gedrillt wird um einen guten Eindruck zu machen. Kronprinz Jigme Khesar Namgyal hält es bereits ähnlich. »Er liebt die armen Menschen mehr als die Reichen«, beschreibt mein Freund Tashi den zukünftigen Monarchen. Pompöse Auslandsreisen, aufwändiger Lebensstil und Fixplätze in den Tratschkolum157
nen der Paparazzi sind dem König und seinem Sohn jedenfalls fremd. Hingegen sind die beiden dafür bekannt, dass sie ausgiebig im Lande unterwegs sind, mühsame Wege in abgelegene Dörfer im Hochgebirge ebenso wenig scheuen wie den Dienst in der Armee: Seine Majestät persönlich führte den Militäreinsatz gegen indische Separatisten im Dezember 2003 an. Mitglieder seiner Einheit erzählen, er habe dieselbe Uniform und dieselbe Waffe getragen wie gewöhnliche Soldaten, als sie die Dschungellager der United Liberation Front for Assam (ULFA) angriffen. Groß war die nationale Begeisterung, als das US-amerikanische TIME Magazine König Jigme Singye Wangchuk auf seine Top-100Liste jener Menschen setzte, die unsere Welt verändern. In der Kategorie »Führer und Revolutionäre« findet sich der Drachenkönig, der aus freien Stücken seine absolute Macht an das Volk übergeben will, in illustrer Gesellschaft: Hillary Clinton, Bill Gates und Papst Benedikt XVI. stehen ebenso auf der Liste wie George Bush und Mahmoud Ahmadinejad. Dass Gross National Happiness die Botschaft Bhutans an die Welt sein soll, ist nicht nur ein philosophisches Ziel, sondern auch Realpolitik. Jenes Land, das laut einem 1974 im TIME Magazine erschienen Artikel dem Shangri-La des gleichnamigen Romans von James Hilton am nächsten komme, hat auch 158
dunkle, verborgene Seiten. Zum buddhistischen Verständnis von Gross National Happiness gehört wohl, dass dieses Glück nicht auf Kosten anderer erreicht werden darf. Die Vertreibung von Angehörigen der nepalesischen Minderheit in Bhutan Ende der achtziger Jahre wird zwar in Bhutan kaum öffentlich diskutiert, lastet jedoch als Hypothek auf dem kleinen Königreich. So schwer es ist, den Grad an Glücksgefühl zu messen, den ein Volk insgesamt empfindet, es gibt ein spannendes Indiz für den Ausnahmefall Bhutan: Obwohl in den letzten drei Jahrzehnten Tausende Bhutaner im Ausland studiert haben und der Besuch von Weiterbildungskursen in Europa, Amerika, Thailand oder zumindest Indien für jede mittlere Karriere Voraussetzung ist, gibt es kaum bhutanische Emigranten im Westen. Im Gegenteil, wer jemals bhutanische Studenten im Ausland beobachtet hat, wird feststellen, dass sie meist von großem Heimweh geplagt werden, sich von zu Hause um teures Geld frischen Chili, roten Reis und getrockneten Fisch schicken lassen und umgehend nach Ende des Kurses die Heimreise antreten. »Wir haben keine Tradition als Auswanderer«, sagt Karma Ura. »Unsere jungen Leute haben keine Erfahrung, sich an neue Umgebungen anzupassen, wenig Interesse an der Kultur des Gastgeberlandes und an der Entdeckung neuer Welten.« Auslandsaufenthalte 159
würden als Gelegenheit gesehen, günstig einen modernen Compound-Bogen zu erstehen, mit dem man dann in der Heimat beim Nationalsport Bogenschießen brillieren kann – und üppige Tagesdiäten zu kassieren. Das große Glück fände man im Ausland ohnehin nicht, daher kehrten so gut wie alle bhutanischen Stipendiaten gerne ins Land der Gross National Happiness zurück.
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Die Verbannung der Süchte Tabak verboten, Marihuana entwurzelt – und dennoch sind die Bhutaner nicht frei von Sucht
»Dreizehn Schüler für einen Monat vom Schulbesuch suspendiert«, die Schlagzeile auf der Titelseite des Kuensel, Bhutans damals einziger Zeitung, bezieht sich auf einen Vorfall, der so gar nicht in die heile Welt von Gross National Happiness passt. Die siebzehnjährigen Gymnasiasten waren beim Ausprobieren von Marihuana erwischt worden. Hanfpflanzen wachsen wie Unkraut an jedem Straßengraben, in den Vorgärten der Häuser, wahrscheinlich sogar am Schulhof. Wachsen? Eigentlich sollte das Vergangenheit sein, denn im Bezirk Thimphu werden alle Kräfte mobilisiert, um dieser verhängnisvollen Verführung der Natur den Garaus zu machen. Einen ganzen Samstag lang müssen Schüler, Lehrer und Eltern ausrücken und mit Harke und Schaufel im gesamten Stadtgebiet alle Marihuana-Pflanzen ausreißen, entwurzeln und schließlich verbrennen. Bunte Plakate hängen bei jedem Arbeitstrupp und künden von einer drogenfreien Gesellschaft. Die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler ist lückenlos, ein Fehlen bei so wichtigen gesellschaftlichen Aktionen wäre schwer zu entschuldigen angesichts der anwe161
senden Lehrer, die den Großeinsatz kommandieren. Die Beteiligung der Eltern, die ebenfalls eingeladen sind, sich an dem heroischen Unternehmen zu beteiligen, hält sich jedoch in Grenzen. Marihuana-Pflanzen sind zwar in Bhutan allgegenwärtig, doch der Konsum von Cannabis als Droge hat hier keine Tradition. Erst die heutige Generation von Jugendlichen, die erste mit Zugang zu Fernsehen und Internet, macht teils recht naive Erfahrungen im Umgang mit dem Stoff. Ebenfalls im Kuensel kritisiert ein Leserbriefschreiber den jüngsten Bann der Thimphuer Stadtverwaltung: Ab Herbst müssen alle Werbeaufschriften auf Geschäftslokalen entfernt werden, weil sie das Ortsbild stören. Fürderhin dürfen nur mehr exakt jene Hinweise auf die Geschäftstätigkeit aufscheinen, die auch im Gewerbeschein des betreffenden Unternehmens eingetragen sind. Steht dort also »Kramerladen«, dann darf nur diese Bezeichnung in der Werbung um Kunden auf einer Tafel über dem Eingang angebracht werden, Hinweise auf Coca Cola oder WaiWai-Noodle-Soup sind nicht mehr gestattet. Knapp ein Jahr später verordnet die Stadtverwaltung sogar eine einheitliche Gestaltung der Aufschriften in genormter Farbe und Größe, blau müssen sie nun sein mit schwarzer Umrandung, der Geschäftszweck darf in weißen Lettern in Dzongkha und English an162
gegeben werden. Drei Monate Zeit wird den Geschäftsinhabern für die Umstellung gegeben, immerhin dürfen sie zwischen drei verschiedenen Größen wählen. Damit werde die Stadt einen sauberen und wohl organisierten Eindruck machen, so ein Sprecher der Stadtverwaltung. Der Leserbrief schreiber meint, es gebe bereits zu viele »bans« in Bhutans Gesellschaft, man laufe Gefahr, den Anschluss an die modernen Zeiten zu verlieren, wenn alles verboten würde, was zum Alltag gehört. »You can’t ban everything.« Begonnen hat es vor Jahren mit dem »ban on plastic«. Die ökologische Grundausrichtung der Politik veranlasste die Thimphuer Stadtverwaltung, Plastiksackerln und Plastikverpackungen zu verbieten. Man hat sich daran gewöhnt. Wer am Markt einkaufen geht, bringt Körbe oder Tragtaschen mit, denn kein Verkäufer kann mit Plastiktüten aushelfen. Funktioniert eigentlich ganz gut, wären da nicht Tausende PET-Flaschen, in denen mittlerweile Trinkwasser, Coca Cola und Sprudel verkauft werden, die mangels Mülltrennung beim Restmüll landen. Der wird aber immerhin zweimal pro Woche von der recht gut funktionierenden Müllabfuhr der Stadt abgeholt. Religiös motiviert ist der Bann auf Fleischverkauf. Nachdem Buddhisten ja eigentlich keine Lebewesen töten sollen, gelten Flei163
scherläden grundsätzlich als anstößig. Der Berufsstand des Metzgers wird entweder von zugewanderten Hindus ausgeübt oder in den Dörfern von einer in gewisser Hinsicht stigmatisierten Familie, in der sich das blutige Handwerk vererbt. Da Bhutaner allerdings mit größter Begeisterung Yakfleisch, Schweineschwarten und zerhackte Hühner vertilgen, sieht man den armen Sündern diese Tätigkeit nach. Doch Thimphus Stadtverwaltung wollte dem schamlosen Treiben wenigstens an Sonntagen und religiösen Feiertagen einen Riegel vorschieben. So bleiben die Metzgerläden und auch der verschämt in die hinterste Ecke verlegte Fleischbereich am Wochenmarkt an diesen »auspicious days« geschlossen. Völlig verboten ist der öffentliche Handel mit Fleisch auch im ersten und vierten Monat des buddhistischen Jahres. Beim Abendessen im beliebten Thimphuer Restaurant »Jambayang« erklärt der Kellner zuerst, dass es angesichts des Fastenmonats keinerlei Fleischspeisen gibt. Dann fügt er versöhnlich hinzu, »chicken« gebe es doch. Meine Begleiterin Uden lehnt auch dies ab. Wer das totale Fleischverbot im ersten Monat des Neuen Jahres, gleich nach dem LhosarFest umgehen wolle, könne dies tun, wenn er in dieser Zeit dafür absolut keinen Fisch, kein Huhn und keine Eier esse. Mit dieser Umgehungsregel könnte man dann getrost seinen Sehnsüchten nach getrocknetem Yakfleisch 164
oder fetttriefenden Schweineschwarten nachgeben. Keinesfalls jedoch sollte man in diesem wichtigen Monat Eier essen, denn man wisse nie genau, ob in dem Ei nicht schon ein kleiner Embryo heranreife, besonders bei den einheimischen Bauerneiern sei das oft der Fall, nicht so groß sei die Gefahr bei den aus Indien importierten Billigeiern aus den großen Legebatterien. »Wenn man ein Ei mit Embryo verspeist, ist das schlimmer als wenn man fünfhundert Mönche tötet«, weiß Uden. Wir gehen kein Risiko ein und genießen vegetarische Köstlichkeiten. Auf dem Weg zu einer suchtfreien und gesunden Gesellschaft wurde der Bann auf Alkohol von vornherein nur halbherzig vorgetragen. Zu sehr sind Bhutaner den Produkten des »Army Welfare Projects« zugetan, jener Schnapsbrennerei, die der Royal Bhutan Army gehört und mit ihren Gewinnen die Pensionskasse der Armeeangehörigen füllt. Black Mountain Whiskey kostet pro Flasche nicht mal zwei Euro, das Spitzenprodukt Special Courier im rot-goldenen LuxusGeschenkkarton gerade mal drei Euro. Daneben gibt es noch jede Menge billigen Fusel, selbst gebrannten Ara, der aus Reis, Weizen oder Hirse destilliert wird und besonders auf dem Lande in Strömen fließt. Immerhin: In Thimphu gibt es einen »dry day«. Dienstag ist der Alkoholausschank in den kleinen Bars und Lokalen der Stadt ver165
boten, die meisten halten Ruhetag, zu verdienen gibt es ohnehin nichts. Die Ambivalenz gegenüber dem Dämon Alkohol ist überhaupt bemerkenswert. Jede Gelegenheit wird genützt um auf die Gefahren von Alkoholmissbrauch aufmerksam zu machen, Plakate hängen in den Gesundheitszentren, Berichte im Kuensel befassen sich mit den negativen Auswirkungen der Droge auf Mensch und Gesellschaft. Staunend blättere ich weiter: In einem ganzseitigen Inserat informiert das Army Welfare Project über die offiziellen Abgabepreise ihrer beliebtesten Schnäpse. Es soll vorgekommen sein, dass Whiskey, Gin und Brandy mancherorts zu überhöhten Preisen verkauft werden, so der erklärende Text; die Kundschaft werde auf diese Weise über die tatsächlichen Preise in Kenntnis gesetzt, damit kein Schaden entstehe. Der international bemerkenswerteste »ban« verbietet jedoch seit Jahresanfang 2005 den Handel mit Tabakwaren. Keine Meldung aus dem verborgenen Königreich hat es bisher so nachhaltig weltweit in die headline news geschafft wie das »Rauchverbot«. Erstmals habe da ein Staat das Rauchen landesweit verboten, wird nicht ganz präzise berichtet. Denn verboten ist das Rauchen keineswegs. Allemal der Handel mit Tabak – in Bhutan gibt es weder Tabakpflanzungen noch eine Zigarettenfabrik, alle Rauchwaren müss166
ten also importiert werden. Und hier setzt das Verbot an. Selbst Touristen dürfen seither nur mehr maximal zweihundert Zigaretten mitbringen, für die sie bei der Einreise einen zweihundertprozentigen Einfuhrzoll entrichten müssen, bei angefangenen Paketen wird jede Zigarette einzeln gezählt. Die meisten Ertappten übergeben seither allenfalls mitgeführte Zigaretten dem Zoll zur amtlichen Vernichtung und erhalten dafür eine schriftliche Bestätigung. Der Schwarzhandel jedoch blüht. Auch wenn der Kuensel in fast jeder Ausgabe über recht drakonische Strafen für Schmuggler berichtet. Zwanzigtausend Ngultrum (vierhundert Euro) für einen Taxifahrer, der unter dem Beifahrersitz achtzehn Päckchen indischer Billigglimmstängel hatte; Haft für eine Marktfrau, die eine über sie wegen Tabakhandels verhängte Geldstrafe von neuntausend Ngultrum nicht gleich zahlen konnte. Die Preise für unter dem Ladentisch angebotene Zigaretten sind mittlerweile auf ein Niveau gestiegen, das es vielen Bhutanern wirtschaftlich verleidet, ihrer Leidenschaft weiter zu frönen. Tatsächlich verboten ist das Rauchen in öffentlichen Gebäuden, Ämtern, Restaurants und Bars. Doch noch kennt jeder Beamte in seinem Amtsgebäude jene Zimmer, in denen Kettenraucher standhaft dem Rauchverbot trotzen, natürlich bei geschlossenen Türen, 167
zuweilen versammelt sich dann die halbe Abteilung beim rauchenden Kollegen – »Dienstbesprechung«. Die Süchtigen wissen natürlich auch genau Bescheid, in welchen Bars und Wirtshäusern zumindest im Hinterzimmer weiter geraucht wird. Und doch: Dieser Bann hat die bhutanische Gesellschaft nachhaltig verändert. Selbst Überzeugungstäter prahlen seit einiger Zeit nicht mehr damit, dem Tabakverbot zu trotzen. Jene, die noch vor Monaten besserwissend mit Hinweisen auf das Scheitern der Prohibition in den USA der zwanziger Jahre verwiesen haben, sind merklich stiller geworden. Es ist einfach unchic geworden, sich außerhalb eines engen Kreises von Gleichgesinnten eine Zigarette anzuzünden, man beginnt sich dafür zu entschuldigen oder gar zu genieren. Keinen »ban« gibt es gegen die Volksdroge Doma. Das Kauen der Arecanuss, die mit einer Paste aus ungelöschtem Kalk bestrichen und in Blätter des Betelpfefferbaumes eingewickelt wird, ist zweifellos das Drogenproblem Nummer eins des Königreichs. Die Arecanuss wächst auf einer Palme, die in großen Plantagen im Süden Bhutans angebaut wird. Hunderttausende Bhutaner sind nach ihr süchtig, greifen fünf- bis fünfzigmal pro Tag zu Doma, spucken die rotbraunen Überreste des Genussmittels in buchstäblich jede Ecke des Reiches, verlieren ihre zwar kariesfreien, 168
aber tiefrot gefärbten Zähne, weil Doma zu progressivem Zahnfleischschwund führt, leiden an Magengeschwüren und Gastritis. Dabei verursacht Doma keine Berauschung oder gar Veränderung des Bewusstseins. Die ins Betelblatt gewickelte Nuss wird vorsichtig in den Mund geschoben, dabei muss vermieden werden, dass der ungelöschte Kalk mit den Schleimhäuten in Berührung kommt. Das würde zu bösen Verätzungen führen. Minutenlang wird die seltsame Mischung umspeichelt, von einer Wange in die andere geschoben. Dann erst beginnt man vorsichtig, die anfangs steinharte Nuss anzubeißen, die sich langsam in Dutzende grobe Brösel zerlegt. Der Vorgang führt zu starkem Speichelfluss und Minuten später zu angeregter Herztätigkeit in Verbindung mit einem Hitzeschauer, der dem Kauenden die Schweißperlen auf die Stirne treibt. Besonders in der kalten Jahreszeit ist dieses Wärmegefühl wohlig angenehm, doch die Wirkung verpufft schon nach fünf bis zehn Minuten, zurück bleibt eine leichte Müdigkeit und ein übelriechender, roter Brei im Mund. Diesen zu schlucken führt zu Magengeschwüren und Gastritis, daher wird er meist ausgespuckt, an möglichen und unmöglichen Orten. Quert der unbedarfte Besucher zum Beispiel eine alte Auslegerbrücke, so wähnt er sich an einem historischen Ort blutiger 169
Kämpfe, wenn er die roten Farbspritzer rundherum irrtümlich als Blutflecken deutet. Ausgespuckt wurden die Doma-Reste ursprünglich überall, entsprechend rot gefärbt sind eigentlich weiß getünchte Wände in Ministerien, Museen und Markthallen. Heute wird versucht, wenigstens das Ausspucken in geordnete Bahnen zu leiten, ein Erziehungsprozess, der wohl noch ein oder zwei Generationen andauern wird. Doma ist im Gegensatz zu anderen Drogen keineswegs gesellschaftlich geächtet. So höflich, zurückhaltend und untertänig Beamte bei offiziellen Meetings gegenüber ihren Vorgesetzten auftreten, so selbstverständlich schieben sie sich die kleinen, grünen Päckchen während der Sitzung in die Backen, sind vorübergehend kaum ansprechbar, wenn der Mund von Speichel und Nussresten überquillt, wischen sich entspannt den Schweiß von der Stirn, wenn die erwünschte Wirkung eintritt und verlassen auch schon mal das Konferenzzimmer auf der Suche nach einer geeigneten Deponie für das faulig-rote Endprodukt. Doma kennt keine gesellschaftlichen Hierarchien, die Droge kostet nur wenige Cent. Es gehört zum guten Ton, einander bei jeder Begegnung gegenseitig Doma anzubieten. Sogar bei religiösen Zeremonien wird den Teilnehmern in ritueller Form Betelblatt und Aurecanuss gereicht. Fortgeschrittene Nutzer 170
wissen auch, dass die unansehnliche Rotfärbung der Zähne durch entsprechend konsequentes Zähneputzen vermieden werden kann, wobei der westliche Besucher den Anblick der roten Zähne noch eher ertragen kann als den penetranten Gestank, den die Droge verbreitet. Das Kauen der Volksdroge Doma zu verbieten wagt dennoch niemand. »Politischer Selbstmord wäre das«, philosophiert ein hoher Beamter – wohl ungefähr so, als würde Frau Merkel auf deutschen Autobahnen Tempo 100 verordnen.
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Glossar Ara – Schnaps Chilip – Ausländer(in) Chorten – religiöses Monument aus Stein, enthält manchmal Reliquien, an heiligen Orten, als Erinnerung an Verstorbene Chugo – geräucherter Yakkäse Chyang – leicht alkoholisches Gebräu aus Getreide Doma – Volksdroge: Arecanuss, Betelblätter und Kalkpaste Druk – Donnerdrachen Druk Gyalpo – offizieller Titel des Königs von Bhutan Drukpa – Volk des Donnerdrachens, jene tibetische Volksgruppe, die Anfang des 16. Jahrhunderts unter der Führung des ersten Shabdrungs von Tibet nach Bhutan einwanderte. Druk Yul – Land des Donnerdrachens (offizieller Landesname Bhutans) Drungtso – traditioneller Arzt Dzong – Klosterburg, Sitz der staatlichen Verwaltung und des wichtigsten Klosters im Bezirk (früher Verteidigungsanlage) Dzongkha – die Staatssprache (wörtlich: »die Sprache, die man im Dzong spricht«) Dzongkhag – Provinz, Bezirk (Bhutan hat 20 Dzongkhags) Dzongpen – Bezirksfürst Erna Datshi – Chili mit Käsesauce 172
Gho – Nationaltracht der Männer: ein Rock mit einem Gürtel an der Hüfte gebunden Guru Kimpoche – Nationalheiliger, besuchte Bhutan im 8. Jahrhundert, Vater des Mahayana Buddhismus, Wiedergeburt des historischen Buddha Kaddar – Zeremonienschal; traditionelles, glücksbringendes Geschenk Kira – Nationaltracht der Frauen: Wickelrock aus handgewebten Stoffen Lam – hoher Mönch, Abt; Lama – Mönch Lhakang – Kloster Ngultrum – Bhutans Währung; 1 Ngulturm = 100 Chetrum Penlop – Landesfürst Puja – religiöse Zeremonie Shabdrung – Titel des regelmäßig wiedergeborenen geistigen und weltlichen Führers der Drukpa Suja – gesalzener Buttertee Thanka – buddhistisches Rollbild mit religiösen Motiven Tsachu – heiße Quellen (wörtlich: heißes Wasser) Tsechu – Klosterfest mit Maskentanz, meist dreitägig
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