Seewölfe 126 1
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September 1584. Die „Isabella VIII.“ befand sich auf der Höhe der Provinz Tiantai Shan ...
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Seewölfe 126 1
Fred McMason 1.
September 1584. Die „Isabella VIII.“ befand sich auf der Höhe der Provinz Tiantai Shan und näherte sich dem Inselgewirr von Ningbo. Der Wind blies denkbar günstig mit Stärke fünf aus Südosten. Es war ein sauberer raumer Wind, der das nordwärts segelnde Schiff an der Küste entlang mit Kurs Richtung Shanghai-Shi trieb. In der Kuhl standen Ben Brighton, der Profos Carberry, Smoky und der Schiffsjunge Bill, der den narbengesichtigen Profos immer wieder verstohlen von der Seite anblickte. Carberry tat so, als sähe er diesen verstohlenen Blick nicht. O ja, er wußte, weshalb der Bengel ihn so musterte, denn er war immer noch nicht richtig dahintergestiegen, dass der Profos mit dem Kutscher zusammen ihm einen ganz hinterhältigen Streich gespielt hatte. Aber der Bengel war selbst schuld gewesen, denn sein Benehmen hatte etwas gelitten. Er hatte sich plötzlich wie ein Ochsenfrosch aufgeblasen und ein verdammtes Imponiergehabe an den Tag gelegt, seit das Mädchen „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ an Bord war. Zwei handfeste Rum mit Rizinusöl vermischt, die der Profos leutselig „ausgegeben“ hatte, hatten den Bengel kuriert. Er hatte drei Stunden lang auf dem Freiluftabort gehockt und wußte jetzt wieder haargenau, wo sein Platz an Deck war. Jetzt versuchte er, dem Profos schon im voraus jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Der Bootsmann Brighton deutete nordwärts zum Horizont, wo es grau und wie ein großer trüber Schleier heranfegte. „Eine mächtige Regenwand rast genau auf uns zu“, sagte er. „Wie sieht es mit Unserem Trinkwasser aus?“ Carberry blickte den Bengel an und gab die Frage weiter. „Du bist für das Trinkwasser verantwortlich, mein Junge, und du weißt, daß es eine verdammt verantwortungsvolle
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Aufgabe ist, denn vom Wasser hängt unser Leben ab. Wie steht's also?“ Ein paar Spritzer Salzwasser klatschten übers Vorschiff, zerstäubten und bliesen durch die Kuhl. Die Männer wurden von einem feinen Schleier überzogen. Die „Isabella“ segelte mit Steuerbordhalsen über Backbordbug. „Zwei Fässer sind noch voll, die anderen habe ich schon gesäubert“, sagte Bill. Mit der rechten Hand strich er seine schwarzen nassen Haare aus der Stirn. Insgeheim beglückwünschte er sich dazu, die Fässer gesäubert zu haben, ohne daß es ihm einer gesagt hatte, denn wenn der Profos ihm eine Aufgabe zugeteilt hatte, die er nicht erfüllte, dann setzte es was, darin verstand Carberry keinen Spaß. Er hatte ihm vor kurzem noch wortwörtlich gesagt: „Du kannst dein Maul aufreißen, wenn du im Recht bist, du kannst auch mal faul herumstehen oder sogar ein paar Rosinen klauen, aber wenn du etwas versaust, wovon das Wohl und Wehe der Mannschaft abhängt, dann kannst du dir mal die Muscheln unterm Schiff anschauen, und das meine ich verdammt ernst!“ „Gut, dann bring die leeren Fässer an Deck. Wir spannen Segeltuch auf und werden Wasser einfangen.“ „Aye, aye, Sir!“ „Der Bengel hat sich wieder gemausert“, sagte Ben Brighton lachend. „Wurde auch Zeit, er war ziemlich rotzig.“ „Ja, seit die See seinen Affenarsch drei Stunden lang gekühlt hat, ist er wieder ganz manierlich. Nur das Chinesenmädchen glotzt er immer so an, als sei es ein vom Himmel gefallener Engel, aber das geht den anderen ja auch so“, sagte Carberry anzüglich. Smoky räusperte sich und sagte andächtig: „Ein jeder fasse an seinen eigenen Zinken!“ „Was soll das heißen?“ brummte Ed. Breit und mächtig stand er in der Kuhl und blinzelte mit einem Auge den Decksältesten Smoky an.
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Smoky grinste, pfiff falsch und laut und marschierte zur Back, wo Bill gerade die Fässer an Deck wuchtete. Die graue Wand näherte sich jetzt rasch. Schon von hier aus war zu erkennen, daß es inmitten dieser Wand finster wie im Sack werden würde. Das Wasser fiel buchstäblich wie eine Wand vom Himmel, jeder sah es überdeutlich. Das Segeltuch wurde in aller Eile von Backbord nach Steuerbord gespannt und befestigt. Dort, wo das Segeltuch die tiefste Stelle bildete, stand das erste Faß, ein kleiner Riß würde dafür sorgen, daß der Regen die Fässer füllte. Carberry blickte besorgt nach vorn, wo die graue tief hängende Wand sich näherte. Diese Regenfront brachte mit Sicherheit einen Wetterumschwung mit sich, denn obwohl der Wind raum wehte, also fast achterlich, trieb eine höhere Windzone die Wolke auf sie zu. Carberry spuckte über Bord, sah mit kritischen Augen nach den Segeln und nickte dann bedächtig. „Hopp, an Deck mit euch, ihr vergammelten Seegurken!” schrie er, als er sah, wie einer nach dem anderen klammheimlich verschwand. „Runter mit den Hemden! Der kleine Guß schadet euch nicht, das ist immer noch besser, als sich in Seewasser zu waschen.“ „Batuti frieren, wenn Regengott machen Wasser“, sagte der Gambianeger. Ihn fror, als der Wind plötzlich kühler einfiel. „Du wirst schon nicht anfrieren“, versprach Ed. Nun wimmelte es an Deck von Seewölfen. Ja, so ein kräftiger Guß konnte wirklich nicht schaden, dach-, ten sie, und diejenigen, die Hemden trugen, rissen sie sich vom Oberkörper und warteten auf das, was der Himmel ihnen bescheren würde. Sie wurden nicht enttäuscht, es ging ganz schnell. Der Küstenstrich des Großen Chan verschwand an Backbord, als habe es ihn nie gegeben. Gleichzeitig wurde es dämmerig, fast dunkel schon. Die „Isabella“ segelte mitten in diese Wand aus Wasser hinein. Sofort ließ der
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Wind etwas nach, das Geräusch der an den Rumpf klatschenden Wellen wurde vom gleichmäßigen Rauschen des Regens überlagert. Das Wasser klatschte so dicht vom Himmel, daß man vom Vordeck aus nicht mehr das Achterkastell sah. „Verdammt noch mal!“ schrie der Moses. „Da ersäuft man ja glatt an Deck!“ Seine Worte wurden von einem unaufhörlichen Klatschen und Rauschen verschluckt. Es hatte den Anschein, als segele die „Isabella“ mitten durch das Meer. Es ergoß sich in einem pausenlosen Getrommel und füllte innerhalb kürzester Zeit das erste Wasserfaß. Das aufgespannte Segeltuch vermochte die riesigen Wassermengen kaum zu halten. Carberry schob das zweite Faß unter den Riß, durch den es wild hindurchgurgelte. Er konnte kaum atmen, so dicht fiel der Regen. Dicht neben Carberry platschte etwas Buntes an Deck. Es zappelte, krächzte und versuchte sich aufzurichten, aber der Regen drückte das bunte Etwas immer wieder auf die Planken zurück. Carberry grapschte danach, hielt es fest und legte es dann unter das Segeltuch. Unartikuliertes Gekrächze erklang, und der Profos lachte aus vollem Hals. Das Wasser troff ihm in Strömen vom Gesicht und lief über sein Rammkinn auf die Planken ab. „Seht euch mal diesen Piepser an“, sagte er grinsend und deutete auf Sir John, den stolzen Aracanga-Papagei, der mit den Flügeln wild um sich schlug und lahme Kreise drehte. „Pfui Teufel, ist der häßlich“, sagte Smoky kopfschüttelnd. Das stimmte allerdings, und die Männer lachten noch lauter. Sir John hatte eine ganze Menge seiner stolzen Federpracht eingebüßt. Er sah wie ein fast nackter großer Spatz aus, der in allen Farben auseinanderfloß. Sein jetzt riesengroßer Schnabel verlieh dem nackten Körper etwas direkt Abstoßendes. Klein und häßlich hockte er an Deck, ein nasser Lappen, den der Regenguß schlagartig vom Mast gewischt hatte.
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Auf dem Achterdeck fragte sich der Seewolf vergeblich, was bei den Männern dieses Gelächter ausgelöst haben mochte. Durch den Regen sah er kaum etwas, aber die Kerle lachten, er hörte sie brüllen, lachen und toben. Dann war der Schauer so schnell vorbei, wie er erschienen war. Sie hatten die Regenwolke durchsegelt, und jetzt sah auch der Seewolf, was die anderen so sehr belustigte. Er lachte stoßartig auf, als er das Bündel an Deck sah, das vergeblich Anstalten unternahm, um wieder nach oben zu fliegen. Es ging nicht, der Vogel drehte sich im Kreis und das versetzte ihn anscheinend in hilflose Wut, denn als Carberry nach ihm griff, biß er ihn kräftig in den Daumen. „Mann, siehst du aus“, sagte der Profos und setzte ihn auf seine Schulter. Sir John hatte es die Sprache verschlagen. Mehr als ein wütendes grelles Krächzen brachte er nicht heraus. Aber er hackte nach allem, was ihm zu nahe geriet. Carberry vermutete, daß der Vogel sich schämte und durch das Gelächter beleidigt war, womit er der Wahrheit sehr nahe war. Er trug ihn noch eine Weile auf der Schulter, bis Sir John langsam, aber sicher wieder einem Papagei ähnelte, sein Gefieder putzte und sich nach einer weiteren halben Stunde laut zeternd aufschwang, um auf die nächste Rah zu entwischen. Diesmal ließ er sogar seinen Erzrivalen Arwenack, den Schimpansen, in Ruhe, solange seine Farbenpracht noch nicht wiederhergestellt war. Der Wind fiel jetzt ab und zu in kleinen Böen ein, und Pete Ballie, der am Ruder stand, paßte höllisch auf. Er lief in den Böen, die das Schiff hart nach Backbord krängen ließen, so lange mit, bis er auch den letzten Rest Wind genutzt hatte. Die Regenfront wanderte, immer noch gut sichtbar, nach achtern ab und wurde schwächer. Das Mädchen Ch'ing-chao Li-Hsia, das dem Flußgott Ho Po geopfert werden sollte und deren Name soviel wie „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ bedeutete,
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erschien an Deck. Sofort blickte jeder unauffällig, wie er glaubte, in ihre Richtung, denn diese kleine zierliche Chinesin zog die Männerblicke magisch auf sich. Auf ihrem zarten Mandelblütengesicht lag die Andeutung eines Lächelns, als sie mit einem Kopfnicken grüßte. Sie hielt sich immer sehr zurück, obwohl sie ihre anfängliche Scheu längst überwunden hatte. Zu einem Baumwollhemd, das Bill ihr geliehen hatte, trug sie Leinenhosen. Aus der Ferne wirkte sie wie ein etwas magerer Knabe. Für den Moses Bill war sie ständig ein Anlaß, tief Luft zu holen, seine magere Hühnerbrust hervorzurecken, den Kopf leicht zwischen die Schultern zu ziehen und sich wie ein alter Seemann zu gebärden. Auch jetzt, als er sie sah, pumpte er sich wieder voll Luft, hütete sich aber, zu irgendeinem von der Mannschaft dämliche Bemerkungen zu sagen. Er gab bloß still für sich an, und um zu demonstrieren, was er für ein Mordskerl sei, lüpfte er das schwere Wasserfaß an, bis er einen knallroten Schädel kriegte. Sie sah es zufällig und lächelte ihn an. Sein Schädel glich einer reifen Tomate, er grinste etwas dümmlich, kratzte mit dem Zeigefinger über den Flaum an seinem Kinn und überlegte ernsthaft, ob er sich an Deck rasieren solle, so wie Carberry oder die anderen es immer taten. Aber das hätte ohnehin nur Heiterkeitsstürme ausgelöst, und so unterließ er es lieber. Außerdem bemerkte er Carberrys scheinbar gleichgültigen Blick, aber dahinter erkannte er etwas Lauerndes, und er dachte wieder an den lausigen Rum, der so ekelhaft geschmeckt hatte. Aber etwas mußte er tun, sonst würde er platzen, und so holte er den Faßdübel, setzte ihn aufs Spundloch und ergriff einen Hammer, der in Tuckers Kiste unter der Nagelbank lag. Er holte aus und hieb zu, mit einer Wucht, die dem kleinen Kerl niemand zugetraut hätte. Selbst der Schiffszimmermann Ferris Tucker zuckte zusammen, als der Bengel zuschlug.
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Es gab einen fürchterlichen Knall. Das obere Eisenband um das Faß zersprang, und die Dauben flogen auseinander. Gleichzeitig brach aus dem Faß ein Wasserschwall hervor, der so spontan herausschoß, daß er den Bengel von den Beinen riß und ihn bis zum Schanzkleid schleuderte. Eine Wand aus Wasser brach über ihm zusammen. Er prustete, schluckte und versuchte auf die Beine zu gelangen. „Verdammt“, murmelte er und sah verächtlich auf den Hammer, „ich kann mir diesen harten Schlag einfach nicht abgewöhnen.“ Kopfschüttelnd und mit in die Hüfte gestemmten Armen besah er sich die Überreste des Fasses. Carberry sah ihn völlig ausdruckslos an. Und Smoky musterte ihn genauso, wie er vorhin den Papagei Sir John gemustert hatte, als der triefnaß an Deck gefallen war. „Tut mir leid, Mister Carberry“, stammelte der Bengel, „ich, äh, mir ist der Hammer ausgerutscht.“ „Hast du schon mal ein Faß repariert?“ fragte Ed. „Jjjaaahh, Sir.“ „Dann repariere es“, sagte der Profos trocken. „Wasser haben wir trotzdem genug. Und in Zukunft haust du nicht mehr so kräftig zu, verstanden? Das Mädchen glaubt auch so, daß du ein Kerl bist, der das ganze Schiff mit einem Schlag zertrümmern kann!“ Bill nickte. Verdammt, bei dem Profos durfte er sich auf nichts einlassen, der durchschaute ihn immer sofort. Vielleicht war der früher auch mal in so ein hübsches Mädchen verknallt gewesen und kannte alle Tricks, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Während er sich mit dem kaputten Faß abmühte und kein brauchbares Ergebnis sah, weil die Dauben immer wieder zusammenfielen, erklang aus dem Großmars ein Ruf. Blacky deutete nach Steuerbord voraus. „Zwei Grad Steuerbord voraus!“ rief er laut. „Ein Schiff! Viermaster!“ setzte er hinzu.
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Fast an der Kimm stand es, man sah nur die Masten wie hauchfeine Nadeln aus dem Wasser ragen. Hasard blickte durch das Spektiv, setzte es ab und blickte noch einmal hindurch. „ ,Eiliger Drache' über den Wassern“, sagte er laut. „Dort vorn segelt die Korsarin, kein Zweifel.“ Er fühlte sich erleichtert. Die Ungewißheit, wo die Rote Korsarin Siri-Tong sich befand, war vorüber. Vielleicht hatte ihre Eile durch irgendetwas einen Dämpfer erfahren, überlegte der Seewolf. Oder sie hatte sich besonnen und war zu der Einsicht gelangt, daß sie allein doch nicht viel ausrichten konnte. Das schwarze Schiff segelte langsam, es hatte nur zwei Segel gesetzt, und wenn den Seewolf nicht alles täuschte, dann kreuzte es sogar, denn gerade jetzt ging es auf den anderen Bug, und es hatte den Anschein, als segele es ihnen entgegen. Genau ließ sich das nicht erkennen, die Entfernung war noch zu groß, so daß man sich leicht täuschen konnte. Unter der Crew verbreitete es sich schlagartig, daß der schwarze Segler sich vor ihnen befand, und nach einer Weile ließen sich auch mit bloßem Auge seine unverwechselbaren Konturen erkennen. Alles an dem Schiff war schwarz, angefangen von dem Rumpf über die Masten bis zu den schwarzen Segeln. Irgendwie erinnerte es aus der Ferne immer etwas an ein Geisterschiff, oder, wie Old O'Flynn es einmal ausgedrückt hatte: Wie ein Schiff, das in alle Ewigkeit dazu verdammt war, mit einer toten Besatzung über die Meere zu segeln. „Das ist das Schiff, das wir suchen“, sagte Hasard zu der Chinesin, die klein, zierlich und zerbrechlich auf dem Deck stand. „Ich freue mich, daß der hohe Herr es gefunden hat“, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. Hasard konnte ihr den Ausdruck „Hoher Herr“ nicht abgewöhnen, er hatte es auch nach zwei Versuchen wieder aufgegeben. Für sie war er der hohe Herr, weil er das Schiff befehligte, und vielleicht auch, weil er sie gerettet hatte, als sie halbtot auf dem
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Bambusfloß von einem Fluß ins Meer getrieben worden war. Ihre Augen lächelten mit, wenn sie etwas sagte, und das verlieh ihrem Gesicht eine gewisse Anmut, und man wußte immer, daß sie ihre Worte ehrlich meinte und daß sie von Herzen kamen. Hasard beobachtete weiterhin den schwarzen Segler. „Eiliger Drache“ hatte gewendet und lief auf dem gleichen Kurs wie die „Isabella“, nur viel langsamer. An Bord des Schiffes mußte man sie ebenfalls längst bemerkt haben. „Genau Kurs darauf halten, Pete!“ sagte der Seewolf zu seinem Rudergänger. „Nachher löst Stenmark dich ab, du hast jetzt lange genug am Ruder gestanden.“ „Aye, Sir. Gehen wir längsseits?“ „Ja, der Wind hat etwas abgeflaut, wir können es riskieren. Ich möchte wissen, was die Korsarin bewogen hat, hier tagelang auf uns zu warten.“ Er sah, wie Carberry die Rahen leicht herumholen ließ, und hörte die Kommandos, die Ben Brighton gab, damit sie später bei dem schwarzen Segler längsseits gehen konnten. Hasard verschränkte die Arme auf dem Rücken. Ab und zu warf er einen Blick auf das schwarze Schiff. Er wollte nicht unken, aber er hatte so eine dunkle Ahnung, daß dort drüben nicht alles in Ordnung war. Etwas schien sich an Bord verändert zu haben. Etwas später sah er, wie auf dem schwarzen Schiff die Segel ins Gei gehängt wurden. Wieder beschlich ihn das dumpfe merkwürdige Gefühl nahenden Unheils. 2. Die Leinen flogen herüber und ein paar lahme Begrüßungsworte wurden laut, als die „Isabella“ anlegte. Hasard hielt vergeblich nach der Roten Korsarin Ausschau. Dafür stand der Wikinger Thorfin Njal mit einem Gesicht an Deck, als müsse er alle seine Freunde persönlich beerdigen. Sein Gesicht war grimmig verzogen, als er dem
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Seewolf zunickte und etwas vor sich hin knurrte, das kein Mensch verstand. Hasard ahnte schon, was, passiert war, noch bevor er seine Frage an den Wikinger richtete. Irgendetwas war mit der Roten Korsarin passiert, das spürte er. Seine Spannung griff auch auf die Crew über, die herumstand und Thorfin anblickte. „Siri-Tong ist entführt worden“, sagte Thorfin schließlich in das lastende Schweigen hinein. Der Wikinger gab eine kurze Schilderung dessen, was sich unlängst ereignet hatte. Der Seewolf hörte zu, ohne ihn auch nur einmal zu unterbrechen. Danach entstand eine kleine Pause. Hasards Augen wurden ganz schmal. Er musterte den Wikinger, als sähe er ihn zum ersten Mal in seinem Leben. Thorfin reckte unbehaglich seine breiten Schultern. „Es ging alles so verdammt schnell“, sagte er, „die Ereignisse überstürzten sich, wir konnten die Kerle nicht verfolgen. Jetzt weiß ich nicht, auf welchem der beiden Schiffe Siri-Tong sich befindet. Genauso gut kann man sie auch an Land gebracht haben.“ „Prächtig!“ höhnte der Seewolf. „Da habt ihr euch wieder einmal selbst überboten in eurer verdammten Eile. Warum seid ihr davongesegelt, als wäre der Teufel hinter euch her! Und was hatte dieser plötzliche Kurswechsel zu bedeuten, Mister Njal?“ „Sie hat es befohlen“, murmelte Thorfin Njal. Er wich dem Blick der eisblauen Augen aus und sah auf die Planken. „Sie hat es befohlen“, wiederholte Hasard verärgert. „Und wir Idioten segeln auf gut Glück hinterher, ohne zu wissen, was los ist! Mir reicht es langsam! Die verdammte Eigenwilligkeit der Korsarin bringt uns immer wieder in schwierige Situationen. Gerade sie ist es doch, die sich hier auskennt und einen klaren Kopf behalten müßte. Aber nein, Madam Siri-Tong weiß alles besser. Das fing damals auf Little Cayman an, das war schon auf Tortuga so, und hier ist es nicht anders.“ „Tu mal was dagegen“, murmelte Thorfin. Hasards Ärger steigerte sich noch. Thorfin sah es an der Narbe im Gesicht des
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Seewolfs, die eine leicht dunklere Färbung annahm. „Hoffentlich war euch das eine Lehre, Mann“, sagte Hasard. „Und ganz besonders wird die Korsarin es sich in Zukunft merken.“ „Bestimmt“, sagte Thorfin, „diesmal hat sie ganz sicher etwas daraus gelernt“ Er war heilfroh, daß Hasard noch so ruhig blieb. Der Seewolf hatte ja recht, es war schon ein Kreuz mit ihr, die immer spontan und plötzlich handelte, wie es ihr gerade einfiel. „Du weißt also nicht genau, wo sie steckt“, sagte Hasard. „Nein. Die Bucht ist kaum einsehbar. Entweder befindet sie sich auf einem der beiden Schiffe, wie ich schon sagte, oder aber an Land.“ „An Land hat man sie sicher nicht gebracht“, meinte Hasard. Er schritt unruhig auf den Planken hin und her und betrachtete aus schmalen Augen die verkniffenen Gesichter von Thorfins Leuten. Die Kerle standen so belämmert herum, als hätte man jedem einzelnen von ihnen einen Belegnagel über den Schädel geschlagen: Dabei war Hasard sich selbst nicht darüber im klaren, was sie nun unternehmen sollten. Einfach in die Bucht hineinzusegeln, war ein sinnloses Unterfangen. Dabei kam nicht viel heraus. „Erkundigungen an Land können wir auch nicht einziehen“, sagte der Seewolf laut überlegend. „Wir sind fremde Teufel, wir fallen überall auf, man wird uns keine Auskunft geben.“ „Außerdem kreuzt hier eine Kriegsdschunke vor der Küste“, sagte der Wikinger ärgerlich. „Die haben uns auch verboten, hier weiter herumzusegeln. Anderenfalls will man uns wie Piraten behandeln. Das heißt“, er fuhr sich mit der Hand an den Hals und deutete das Hochziehen eines Stricks an, „man wird uns aufknüpfen, wenn wir hier erscheinen. Natürlich decken sich diese schlitzäugigen Kerle gegenseitig.“ „Dann sitzt die Korsarin wirklich in der Klemme.“
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Hasards Blick fiel auf „Flüssiges Licht“, die still und bescheiden im Hintergrund stand und sich zurückhielt. Die meisten der anderen Crew hatten sie noch gar nicht bemerkt. Er gab dem Chinesenmädchen mit den Augen einen Wink, das zögernd näher trat. Carberry grinste sich eins, als er den Wikinger sah, auf dessen Gesicht sich ungläubige Überraschung malte. Und dann passierte das, was der Profos schon insgeheim befürchtet und erwartet hatte. Thorfins gekrümmter Zeigefinger fuhr andächtig hoch, berührte den Kupferhelm und kratzte ihn ausgiebig — wie immer, wenn er äußerst verblüfft war. Er starrte von einem zum anderen, sah das Mädchen an, dann den Seewolf, dann Carberry. Dann kratzte er erneut seinen Helm, diesmal etwas mehr zur Mitte hin. Sein Blick war eine einzige Frage. „Das ist die Braut des Gelben Grafen“, erklärte Carberry dem verdatterten Nordmann trocken. „Braut des Gelben Grafen?“ Thorfin staunte. „Eine Adlige etwa?“ Nach und nach begann jeder leicht zu grinsen, bis auf „Flüssiges Licht“, die von der englischen Unterhaltung so gut wie nichts verstanden hatte. Sie konnte sich allerdings eine ganze Menge zusammenreimen. Auch sie hatte den gewaltigen Mann schon eine ganze Weile unauffällig gemustert. Seine Erscheinung beeindruckte sie. Die Felle, die seine gewaltige Brust bedeckten, der Bart, die Riemensandalen des großen Mannes und schließlich sein „Messer“, wie er es nannte, ein Schwert, das sich kaum in einer Hand bewegen ließ. Er erinnerte sie an einen Riesen aus der Vorzeit, wie er in den alten Sagen beschrieben wurde. Dazu trug er diesen glänzenden Helm, der in der Sonne wie Feuer aufleuchtete. „Wer ist dieser gewaltige Mann?“ fragte sie so leise, daß Hasard es nicht hörte. Aber der Profos hörte es, und er grinste. „Ein behelmter Nordpolaffe ist das“, erklärte er sachlich. „Dort, wo er herstammt, laufen noch mehr von der Sorte
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herum. Die gehen mit ihrem Helm abends ins Bett und stehen morgens wieder mit ihm auf.“ „Hat immer Helm auf?“ fragte das Mädchen scheu. „Immer“, versicherte Carberry treuherzig. Sein Spanisch war nicht so gut, und da sie nur Portugiesisch sprach, verstand sie nicht alles, was' er sagte. „Die züchten unter ihrem Helm große Nordläuse, manche brüten auch kleine Vogeleier aus. Kann sein, daß ein ganzer Schwarm Vögel davonfliegt, wenn er den Helm abnimmt.“ „Profos“, sagte Hasard ruhig, „ich denke, über das Thema unterhalten wir uns später ausführlich. Augenblicklich haben wir andere Sorgen, kapiert?“ „Aye, aye, Sir.“ Hasard erklärte ihr, was vorgefallen war. Er sprach langsam und deutlich, damit sie alles verstand. Sie nickte mehrmals, schüttelte dann den Kopf und stellte ah und zu eine Frage. „Wenn der hohe Herr es möchte, werde ich an Land gehen“, sagte sie, „und mich umhören. Ich werde Auskünfte erhalten, das weiß ich.“ Hasard hob die Schultern. „Das kann gefährlich werden“, warnte er. „Nicht für mich“, sagte sie entschieden. „Für einen Fremden ja, ich werde erfahren, was ich wissen will.“ Das Mädchen wird immer unentbehrlicher, dachte Hasard. Sicher, für sie war es viel einfacher, etwas in Erfahrung zu bringen, wenn sie es geschickt anstellte, und daran zweifelte er nicht. „Flüssiges Licht“ war intelligent und geschickt, er konnte sie mit ruhigem Gewissen an Land bringen lassen. Er sah hoch zum Ausguck, aber da rührte sich nichts. Der Ausguck meldete keine Schiffe, also war auch keine Gefahr im Verzug. „Profos, laß das Beiboot abfieren, das kleine natürlich, sobald wir keine Fahrt mehr drauf haben. Suche zwei Leute aus, die das Mädchen an Land pullen. Wir segeln ein Stück der Küste entgegen und gehen anschließend wieder auf den alten
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Kurs. Sobald ihr zurück seid, segeln wir euch wieder entgegen.“ Thorfin Njal wirkte erleichtert. Sein unbändiger Zorn hatte sich gelegt, und jetzt erfüllte ihn neuer Tatendrang. Allerdings fragte er sich, was sie ohne das Mädchen wohl getan hätten. Die „Isabella“ lief kaum noch Fahrt. Beide Schiffe dümpelten nur ganz langsam dahin, und so war es nicht weiter schwierig, das kleine Boot auszusetzen. Carberry hatte auch schon die erforderlichen Männer ausgesucht. Alle hatten sich gemeldet, aber er hatte sich für Donegal Daniel O'Flynn und Gary Andrews entschieden. „Wie, bei Odin, will sie das nur herausfinden?“ fragte der Wikinger den Seewolf. „Sie kann doch nicht einfach hingehen und gleich drauflos fragen.“ „Die Chinesen haben da ihre eigenen Methoden. Die kriegen das heraus, was sie wollen, keine Sorge. Hier sieht und hört jeder alles, hier bleibt nichts verborgen nur wir erfahren nichts!“ „Und wie ist sie zu euch an Bord gekommen?“ wollte der Nordmann wissen. „Ich dachte erst, es wäre euer Moses, aber dann sah ich das Gesicht, und - na ja!“ Hasard erzählte es ihm und fand einen aufmerksamen Zuhörer, der immer wieder den Kopf schüttelte. Inzwischen war das Boot abgefiert worden. „Flüssiges Licht“ und die beiden Männer stiegen ein. An langer Leine zog die „Isabella“ es jetzt hinter sich her. „Es ist besser, du verholst dich wieder in Richtung Horizont, Thorfin“, sagte der Seewolf. „Dieser Küstenstrich ist zwar kaum bewohnt, aber falls die Kriegsdschunke zurückkehrt, könnte es Ärger geben und unser Unternehmen wäre gefährdet.“ „Ja, ich verstehe, du hast recht, Seewolf. Je weiter ich von der Küste wegbleibe, desto besser ist es.“ Mit dem Daumen gab er dem Bootsmann Juan einen Wink, die Leinen wurden losgeworfen, „Eiliger Drache“ setzte Tuch und entfernte sich langsam von dem Rahsegler „Isabella“.
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Hasard ließ im spitzen Winkel zur Küste segeln, das Boot immer noch hinter sich herziehend. Er hielt auf eine der kleinen unbewohnten Inseln zu. Dort konnten sie ihn in der Bucht nicht so leicht entdecken, und außerdem würde er auch gleich wieder abdrehen. Das Beiboot jedenfalls würde unbemerkt irgendwo landen, das sah man von der Bucht aus erst recht nicht. 3. Klein und zerbrechlich hockte das Mädchen „Flüssiges Licht“ auf der Ducht des Beibootes und sah zum Land hin. Gary Andrews und der junge O'Flynn legten sich in die Riemen und pullten, als sich das Boot von der „Isabella“ gelöst hatte. Von hier aus gesehen, befand sich auf Steuerbord ein kleines Dorf, doch durch die vorgelagerten kleinen Inseln verschwand es rasch aus ihrer Sicht. Auch die Bucht sah man jetzt nicht mehr, ebenso wenig wie den kleinen Hafen. Alles schien wie ausgestorben. Es dauerte nochmals eine gute Viertelstunde, bis sie das Land erreichten und das Boot knirschend auflief. Das Ufer war steinig, ein von den Wellen restlos zertrümmertes Bambusfloß lag dort. Jetzt bestand es nur noch aus zerbrochenen Hölzern, die die Wellen an die Küste geworfen hatten. „Flüssiges Licht“ gab es einen feinen Stich durchs Herz, als sie an das Floß dachte, auf dem man sie dem Grafen des Gelben Flusses geopfert hatte. Ob es sich schon in Xiapu herumgesprochen hatte, daß sie noch lebte? Schnell verdrängte sie diese Erinnerung wieder. Sie lebte, alles andere zählte nicht, auch wenn sie dagegen mit den alten Traditionen gebrochen hatte. Sie lächelte den beiden Männern zu und deutete mit der Hand etwas weiter nach links. „Ich werde dort drüben an der Felsenspalte sein“, sagte sie. „Dort könnt ihr euch auch besser mit dem Boot verstecken, niemand wird euch sehen.“
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„Wie lange wird es dauern?“ fragte Dan. „Ich weiß es nicht, ich werde mich beeilen.“ Sie wollte in das sehr flache Wasser steigen, aber Dan war schon hineingeklettert, nahm sie auf die Arme und trug sie die paar Yards zum Strand hin. Dort setzte er sie grinsend ab. „Viel Glück“, wünschte er, „und sei vorsichtig!“ Sie lächelte ihm und Gary noch einmal zu, dann verschwand sie. Aus der Ferne sah sie fast aus wie Bill, dachte Dan. Zwischen den Steinen an der Küste gab es ein paar nicht sehr hohe Felsen, die wie große Steine nebeneinander standen. Einige standen im Wasser. „Dahinter warten wir, Gary. Wenn wirklich jemand zum Wasser geht, sieht er uns nicht.“ „Dann los! Besorgen wir es gleich.“ Sie schoben das Boot zurück, brachten es in die schmale Felsspalte und warteten. Beide blickten zur „Isabella“, die wieder Kurs aufs offene Meer genommen hatte. Der schwarze Segler befand sich schon fast wieder an der Kimm, hielt aber auch Fühlung und verschwand nie außer Sichtweite. Dan und Gary unterhielten sich über alles mögliche. „Flüssiges Licht“ war ein Gesprächsthema, dann vor allem das Verschwinden der Roten Korsarin, und schließlich war das Land des Großen Chan an der Reihe. So verquatschten sie die erste Stunde. Einmal kletterte Dan auf die knapp vier Yards hohen Felsen und sah sich nach allen Seiten um. Die Landschaft war eintönig. Nicht weit vom Strand entfernt standen ein paar vertrocknete Bäume, dazwischen wuchs Gras, und ab und zu gab es einen kleinen grünen Strauch. Dan hätte gern ein wenig die Insel erkundet, die zur Rechten lag, aber wahrscheinlich gab es da auch nichts interessantes zu sehen, und außerdem konnte auch das Mädchen bald wieder erscheinen.
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„Unser Moses ist in das Mädchen verknallt, daß ich jedesmal grinsen muß, wenn ich seine feurigen Blicke sehe“, sagte Gary. Er hatte sich gegen die Ducht gelehnt und die Beine gegen die vordere Ducht gestemmt. Die Hände hielt er dabei hinter dem Nacken verschränkt. „So was kann jedem mal passieren“, erwiderte Dan. „Wenn der Kerl nur nicht so furchtbar dabei angeben würde.“ Er lachte leise und Wollte noch etwas hinzufügen, doch in diesem Augenblick hörten sie Schritte. Steine bewegten sich, als jemand darüber ging. „Das ging ja verdammt schnell“, sagte Dan und erhob sich. Er konnte sich gerade im letzten Moment noch ducken und legte hastig den Finger an die Lippen. „Ein Chinese“, flüsterte er, „verdammt, wenn der uns hier sieht, dann weiß gleich das ganze Land Bescheid.“ Gary lugte mit einer halsbrecherischen Körperdrehung um den Felsen so weit herum, daß er durch den schmalen Spalt einen Teil des Strands erkennen konnte. Es war ein älterer gebeugter Mann, der sich dort bewegte. Ab und zu blieb er stehen und stellte einen kleinen geflochtenen Bastkorb auf die Steine. Dann ließ er sich jedesmal umständlich auf alle viere nieder, räumte ein paar Steine ab und wühlte in dem Sand darunter mit einer Hand, während er das Gesicht verzog und dümmlich in den Himmel blickte. Gary sah, wie der Alte zusammenzuckte, seinen bis zum Ellenbogen verschwundenen Arm hochriß, die andere Hand zu Hilfe nahm und mit beiden drehte, riß und an etwas zerrte. Dan hatte seine Position jetzt ebenfalls so gewählt, daß er den Alten beobachten konnte, ohne von ihm gesehen zu werden. „Was soll das?“ fragte Gary leise. „Was tut der da?“ „Er fängt irgendwelche Tiere, glaube ich. Aber was können das für Biester sein?“ Sie beobachteten weiter. Der Alte war völlig arglos und wähnte sich allein. „Der fängt Krebse oder so was“, sagte Gary. „Na klar, die haben sich in den Sand
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eingewühlt oder eingegraben, und er holt sie 'raus, indem er seine Flossen nach ihnen ausstreckt. Sieh mal! Die beißen sich an seiner Hand fest, deshalb zuckt er immer so zusammen.“ „Vielleicht schnüffelt er auch bloß hier herum“, sagte Dan mißtrauisch. „Ich traue diesem Burschen nicht.“ Der Alte rückte näher, direkt auf die kleinen Felsen zu. Einmal blieb er stehen, lauschte eine Weile und setzte seinen Weg fort. Er trug ein bis an den Hals zugeknöpftes speckiges Hemd, eine knielange zerfetzte Hose und einen Tellerhut. „Wenn er uns entdeckt, müssen wir ihn so lange festhalten, bis das Mädchen wieder zurück ist“, wisperte Dan. „Der kann unser ganzes Unternehmen platzen lassen!“ Der Alte stand jetzt dicht am Wasser, ließ sich wieder auf die Knie nieder und tastete den Boden ab, bis er gefunden hatte, was er suchte: Er war keine fünf Schritte mehr von ihnen entfernt. Dans Zweifel waren trotz allem noch nicht ausgeräumt. Er glaubte nicht, daß der Alte nur hier war, um Krebse zu fangen. Diesmal holte er einen ziemlich dicken Brocken aus dem Loch im Sand, über das immer wieder kleine Wellen spülten. Der Krebs hatte seine große Schere dem Alten in den Finger gehakt und hielt sich verbissen fest. Aber der Alte hatte Erfahrung. Mit der anderen Hand riß er dem Dwarsläufer blitzschnell die Glieder aus und warf sie in den Sand. Der Rest, ein ovaler Torso, wanderte in den Korb, in dem sich schon eine ganze Menge Artgenossen befanden. Eine kleine Welle hob das Beiboot an. Gary und Dan, die nicht darauf geachtet hatten, konnten nicht mehr vermeiden, daß der Bootsrumpf an den Felsen schlug. Es dröhnte dumpf und nachhallend. Der Alte blieb mit weit vorgerecktem Hals stehen, legte eine Hand hinter das Ohr und lauschte. Dan richtete sich sorglos im Boot auf, starrte den Alten an und drückte das Boot leicht von den Felsen zurück.
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„Bist du verrückt?“ wisperte Gary. „Der hat dich ganz sicher gesehen, Dan!“ „Er sieht nichts, er ist blind“, flüsterte Dan zurück. „Sieh dir nur seine Augen an!“ Jetzt erst sah es auch Gary, und unwillkürlich zuckte er bei diesem Anblick zusammen. Die eine Augenhöhle des Alten war leer und gähnte wie ein Krater in dem faltigen Gesicht. Das andere Auge war weiß, ohne Iris, ohne jede Farbe, weiß und tot. Der Alte lauschte immer noch. Seit er nichts mehr sah, hatte sich sein Gehör umso besser entwickelt. Und er hätte darauf geschworen, daß ein kleines Holzboot an die Felsen geschrammt war. Er rief etwas in hoher singender Sprache, das die beiden Männer ohnehin nicht verstanden. Es hörte sich jedoch nach einer Frage an. Die Neugier hatte ihn gepackt, er ging noch näher ans Wasser. Schließlich stellte er seinen Bastkorb auf die Steine und erklomm, immer um sich tastend, einen der großen Steine. Dan und Gary hielten den Atem an, obwohl der Anblick des Alten zermürbend war. Wie ein Geist aus einer anderen Welt hockte er nun oben auf dem Stein und blickte direkt ins Boot. Natürlich blickte er nicht, aber es erweckte den An- schein, als starrten die erloschenen Augenhöhlen die beiden Männer an, die sich mucksmäuschenstill verhielten. Der Alte krächzte etwas, seine Lippen bewegten sich murmelnd, und erst nach einer ganzen Weile tastete er sich an dem Stein wieder nach unten zurück, suchte und fand mit verblüffender Sicherheit seinen Bastkorb. Dann schlich er gebückt davon, in den beiden Männern immer noch einen Rest Mißtrauen zurücklassend. „Ein unheimlicher Geselle“, sagte Gary. „Ich glaube fast, daß der sogar unseren Herzschlag gehört hat.“ „Jetzt haut er ab — zurück“, sagte Dan. „Hoffentlich kreuzen jetzt nicht andere auf.“ Er postierte sich so auf dem Stein, daß man von weitem nicht mehr als seine Haarspitzen sah. Er jedoch konnte mit
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seinen ungewöhnlich scharfen Augen einen Ankömmling viel eher erkennen. Es erschien niemand, als wiederum mehr als eine Stunde vergangen sein mochte. Der Alte ließ sich auch nicht mehr blicken. Langsam wurde das Warten zur Qual. Eine Stunde nach der anderen verging und stellte sie auf eine harte Geduldsprobe. „Hoffentlich ist ihr nichts passiert“, sagte Gary. „Sie muß doch in dem Kaff auffallen, Mann! Wenn sie Fragen stellt ...“ Er sprach nicht weiter, aber auch Dan bedrückte die gleiche Sorge. Wie lange lagen sie jetzt schon hier? Drei Stunden, vier oder noch länger? Abwechselnd dösten sie vor sich hin, seit ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen war. Die „Isabella“ kreuzte immer noch in Sichtweite, und Dan dachte daran, daß sie sicher eine ganze Stunde pullen mußten, bis sie das Schiff erreichten. Endlich, nach einer weiteren Ewigkeit, erschien sie. Mittlerweile waren mehr als vier Stunden vergangen. Dan stieß den vor sich hindösenden Gary Andrews an. „Beweg dich, die Kleine ist da!“ Gary half ihr an Bord, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre. Er forschte in ihrem Gesicht, aber darauf lag nur ein kleines Lächeln, und das bedeutete soviel wie: Ihr werdet es schon noch früh genug erfahren. „Hat es Ärger gegeben?“ fragte Dan auf spanisch. „Nein, es hat nur etwas länger gedauert, tut mir leid.“ „Weißt du, wo die Korsarin ist?“ fragte Gary neugierig. „Laß sie doch!“ fuhr Dan ihn an. „Weshalb soll sie denn alles zweimal erzählen, du Hering! Wir werden es schon noch rechtzeitig erfahren.“ Er stieß das Boot ab, während Gary Andrews immer noch auf eine Antwort hoffte. „Flüssiges Licht“ hätte sie auch gern gegeben, aber sie hatte von seinem Spanisch kein einziges Wort verstanden, was wiederum Gary nicht wußte, und seine Frage wollte er auch nicht noch einmal wiederholen.
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Sie legten sich in die Riemen und pullten, dabei hatten sie die Küste gut im Blick. Doch niemand ließ sich sehen, weder kehrte der blinde Alte noch jemand anderer an den Strand zurück. Auf der „Isabella“ hatte Hasard sie jetzt durch das Spektiv gesehen. Zwei Segel stiegen an den Masten hoch, und der Bug glitt in ihre Richtung herum. Das Schiff nahm direkten Kurs auf die Küste. Am fernen Horizont tauchten auch wieder die Konturen des schwarzen Seglers auf. * „Ich bin gespannt, ob sie etwas erfahren hat“, sagte der Seewolf zu Ben Brighton. „Es hat ja fast einen halben Tag gekostet.“ Die „Isabella“ segelte den beiden entgegen, die emsig pullten und denen der Schweiß über die Gesichter lief. Hasard ließ das Schiff so drehen, daß sie gleich darauf parallel zu dem Boot lagen. Wieder wurden die Segel ins Gei gehängt. Dan warf die Leine an Bord. der Profos, Smoky und Blacky hielten sie fest und zogen das Boot mit. Etwas später kletterten die drei an Deck, der Profos brüllte ein paar Befehle, und die „Isabella“ drehte ab. Noch einmal wiederholte sich das gleiche Manöver weitab der Küste draußen auf See, dann lagen die beiden Schiffe wieder friedlich nebeneinander. „Flüssiges Licht“ stand auf dem Quarterdeck, eingerahmt von Hasard, Thorfin Njal, Brighton und anderen Seewölfen. „Es liegt nur noch ein Schiff in der Bucht“, berichtete sie mit leiser Stimme, „das andere ist nicht mehr da.“ „Welches Schiff ist es?“ fragte der Seewolf sofort. „Ein großes Schiff, das in den Segeln und ganz oben die Figur eines Drachen führt.“ Für Thorfin war alles klar. Seine Gedanken vollführten einen wilden Satz in seinem Schädel. „Ha, dann hat der Halunke sich nachts heimlich verzupft“, sagte er donnernd.
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„Siri-Tong und auch die Mumie befinden sich demnach an Bord von ,Fliegender Schwalbe', und dieser Läuseknacker liegt hier herum, um uns zu täuschen. Mir ist alles klar! Los, auf was warten wir noch! Segeln wir ihm hinterher.“ Thorfin wandte sich schnell ab, um ein paar Befehle zu „Eiliger Drache“ hinüberzubrüllen. Er hörte schon gar nicht mehr hin. Da war von Kanonen laden, klar bei Brandsätzen und jedem Fetzen Tuch, den die Masten tragen, die Rede, bis Hasard ihn energisch am Arm ergriff und herumdrehte. „Mann, bist du ein Hitzkopf!“ brüllte er den Wikinger an. „Hör dir doch mal an, was die Kleine berichtet!“ „Den Kerl ramme ich in Grund und Boden“, sagte Thorfin und schüttelte seine mächtige Faust. „Siri-Tong ist nicht an Bord der ,Fliegenden. Schwalbe`, sagte der Seewolf beherrscht. „Aber das andere Schiff ist doch abgehauen“, versuchte der Wikinger seinen Übereifer zu verteidigen. Es dauerte immer eine Weile, bis er begriff, denn er verstand nur ab und zu mal ein Wort von dem, was das Mädchen berichtete, und so mußte ihm jedesmal mühsam verklickert werden, was gerade anlag. Die Chinesin war unwillkürlich vor dem fluchenden und drohenden Nordmann zurückgewichen, aber Hasard lächelte ihr zu, und langsam beruhigte sie sich wieder. „Man hat die Frau, der Pirat Khai Wang war es, zum Shu-Kuan gebracht. Der Kuan hat befohlen, daß man sie auf einer Gemüsedschunke nach Shanghai bringt.“ Thorfin wollte schon wieder losbrüllen, aber Hasards eiskalter Blick stoppte ihn noch rechtzeitig. Der Wikinger war kaum noch zu halten. Er wollte kämpfen, hineinhauen, um die Scharte wieder auszuwetzen, die Piratenbrut zusammenprügeln und ausmerzen. „Ist die Gemüsedschunke schon losgesegelt?“ fragte Hasard. „Ja, sie ist unterwegs, hoher Herr. Ich weiß es genau, ich habe den Diener des Shu-
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Kuan gesprochen. Er hat mir alles erzählt, und dafür gab ich ihm die Brautglocke.“ „Die Brautglocke?“ fragte der Seewolf. „Die Jadeglocke für Ho Po, den Flußgott, den Gelben Grafen.“ Thorfin kriegte schon wieder etwas in den falschen Hals, als man es übersetzte. „Hat dieser verdammte adelige Kacker etwa auch etwas mit Siri-Tong zu tun?“ rief er erbost aus. Carberry trat dicht an den Wikinger heran. „Du mußt mal wieder an deinem Helm kratzen“, empfahl er leise, „dann kapierst du besser. Der Gelbe Graf ist ein Flußgott, du nordischer Polaraffe. Hör richtig zu, Mann!“ Thorfin stand wie ein wandelnder Berg zwischen ihnen, drehte den Kopf mal nach links, mal nach rechts und strich sich durch seinen Bart. Dabei warf er finstere Blicke um sich. „Ist das nun ein Graf oder ein Gott?“ fragte er ausgerechnet den Stör, der sich verlegen sein langes Gesicht kratzte, die Schultern hob und entschuldigend grinste. „Eins von beiden bestimmt“, sagte er, „das steht fest:“ Thorfins Blick ließ ihn schlagartig verstummen. Der Stör zog es vor, sich schnellstens zu verholen, damit ihn nicht wieder etwas am Achtersteven traf, was meist der gewaltige Riemenschuh des Wikingers war. „Was hat man mit ihr vor?“ erkundigte sich Hasard, „konntest du das in Erfahrung bringen?“ „Ja, hoher Herr! Man wird sie anklagen, der geschwätzige Diener hat das Gespräch belauscht. Sie wird in den Kerker von Shanghai gebracht werden, dort wird man sie der Grabräuberei und des Mordes anklagen und sie hinrichten! Der Mord wäre nicht so schlimm gewesen, aber sie hat das alte Kaisergrab geplündert, und da gibt es keine Gnade. Sie hat die Ahnen beleidigt und gestört und hat sie ihrer Schätze beraubt.“ Der Seewolf blickte geistesabwesend zum Horizont.
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Das war ja eine bis in alle Kleinigkeiten festgelegte Anklage! Woher hatten diese Kerle nur ihre Kenntnis? Gewiß, Siri-Tong wußte selbst, daß man ihr den Unfall als Mord anlastete, und der Grabräuberei war sie auch angeklagt, aber sie hatte sich nicht daran beteiligt, das hatte sie schon oft gesagt. Der Kapitän des Schiffes, bei dem sie damals fuhr, hatte das alte Kaisergrab geplündert und war auch dafür hingerichtet worden. Aber man hatte kurzerhand die gesamte Mannschaft angeklagt, und wen sie in die Finger kriegten, der starb durch das Schwert auf einem öffentlichen Platz, wo das Volk zusehen konnte. So weit war es jetzt also! Die Gemüsedschunke war ausgelaufen, Siri-Tong befand sich an Bord und war auf dem Weg nach Shanghai. Jetzt fiel dem Seewolf auch ein, woher der Shu-Kuan sein Wissen hatte. Cheng-Li, der Kapitän des Drachenschiffes, hatte sie damals gefangengenommen und dem „Rauch der Wahrheit“ ausgesetzt. Danach hatte die Korsarin alles ausgeplaudert, was die Kerle über sie und die Mumie des Mandarins wissen wollten. Jetzt nutzten sie dieses Wissen geschickt aus. Hasard dankte der Kleinen, die ihre zierlichen Hände vor der Brust faltete und sich verneigte, froh darüber, dem hohen Herrn mit diesen Auskünften gedient zu haben. Dann zog sie sich zurück, scheu und etwas verlegen, wie es ihre Art war, denn sie wollte keinen Dank. Was sie getan hatte, war selbstverständlich gewesen. Auch dem Wikinger ging jetzt ein Licht auf. „Diese lausige Gemüsedschunke“, sagte er. „Ein paar meiner Leute haben sie im Morgendämmer gesehen, als sie an der Küste entlangrutschte. Das war die Dschunke, und wir haben uns nichts dabei gedacht. Dieser lausige Schlickrutscher!“ „Ich hätte mir auch nichts dabei gedacht“, sagte Hasard, „denn wer sollte auf einen solchen Gedanken verfallen, Thorfin! Aber
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zumindest haben wir einen Anhaltspunkt, und jetzt werden wir hinterher segeln und uns diesen lausigen Bock aus der Nähe ansehen.“ „Und der Pirat, der hat sich heute nacht davongeschlichen, im Schutz der Dunkelheit, der ist längst weg!“ „Soll er, wir werden die Dschunke finden!“ „Segeln wir sofort?“ fragte Thorfin eifrig. „Sofort, wir haben keine Zeit zu verlieren, denn wenn die Korsarin erst einmal in Shanghai ist, haben wir alles gegen uns, was wir nur gegen uns haben können. Dann ist es zu spät.“ „Dann die Leinen los und hoch die Lappen“, sagte der Wikinger. Man sah ihm an, wie es ihm in den Fäusten juckte. Er war nicht der Mann, der eine Schlappe einsteckte und sie vergaß. 4. Es lief jedoch anders, als Hasard und der Wikinger sich das vorgestellt hatten. Noch bevor die beiden Schiffe sich trennten, erklang aus dem Großmars die Stimme Bob Greys. „Deck!“ rief er laut. „Das Drachenschiff läuft mit Kurs Nord. Es segelt gerade aus der Bucht!“ Bob hatte das Schiff vorher nicht sehen können, doch nun, als es losfuhr, geriet es in sein Blickfeld, und sofort gab er die Meldung an Deck weiter. „Wie weit ist es von der Küste entfernt?“ rief Hasard. „Eine knappe halbe Meile!“ „Einen Augenblick, Thorfin“, sagte der Seewolf, „mir gefällt da etwas nicht. Angenommen, dieser geschwätzige Diener hat das Mädchen ganz bewußt angelogen, um uns auf eine falsche Fährte zu locken, was dann? Dann lassen wir das Drachenschiff in aller Ruhe davonsegeln und jagen eine obskure Gemüsedschunke.“ An diese Möglichkeit hatte niemand gedacht, auch Ben Brighton nicht, der jetzt nickte. „Das wäre eine Idee“, sagte er. „Du meinst also, Siri-Tong befindet sich dort an Bord, die Gemüsedschunke war nur ein
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Vorwand, und auch der Pirat ist heimlich losgesegelt, um uns auf eine falsche Fährte zu locken?“ „Der Pirat wußte von uns ja noch nichts“, meinte Hasard. „Es war nur eine Idee von mir, sie muß nicht stimmen.“ „Aber es kann etwas daran sein“, sagte Thorfin. „Wenn sie vor unseren Augen lossegeln, nimmt man an, daß' wir keinesfalls glauben, die Korsarin wäre an Bord.“ „Wir werden es feststellen, die Gelegenheit ist günstig, und dieser Cheng-Li hat noch eine Rechnung bei uns offen. Wir werden ihn angreifen, und zwar so, daß er nicht entwischen kann. Ihr werdet ihn von Steuerbord in die Zange nehmen, wir von Backbord, so daß er nicht zur Küste und auch nicht ins offene Meer ausweichen kann.“ Sofort erhob sich begeistertes und zustimmendes Gebrüll von beiden Besatzungen. Der Wikinger rieb seine gewaltigen Hände, seine rauhen Kerle grinsten erfreut, und auch bei den Seewölfen gab es fröhliche Gesichter. Carberry lachte dröhnend. „Wird höchste Zeit, daß es wieder mal losgeht“, sagte er, „ich fühle mich schon wie ein Betbruder, der sich jeden Tag einen frommen Spruch einfallen lassen muß.“ „So geht es mir auch“, versicherte der Schiffszimmermann Ferris Tucker lebhaft. „Jetzt können wir endlich mal zeigen, ob wir noch etwas taugen.“ Auch der Gambianeger Batuti zeigte seine Freude unverhohlen. „Batuti werden mit großes Morgenstern auf gelbes Kopf von Zopfmann trommeln, bis Zopf ab ist.“ Sogar der Moses grinste und schielte schon nach einem Belegnagel, doch Hasard dämpfte die ganz Übereifrigen. „Glaubt nicht, daß es leicht sein wird. Denkt immer an die Brandsätze, die Cheng-Li an Bord hat. Er kann nach allen Richtungen feuern, wir dagegen müssen versuchen, ihm seine Takelage in Stücke zu schießen. Wir können nicht wahllos
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drauflosballern, denn wenn die Rote Korsarin wirklich an Bord ist, wird sie möglicherweise verletzt oder getötet.“ „Wir kriegen die Kerle trotzdem“, versprach der Wikinger, „ich werde daran denken“ Kommandos erklangen, die beiden Schiffe lösten sich und strebten voneinander fort. Während Thorfin die schwarzen Segel setzen ließ und nach Steuerbord ablief, hielt die „Isabella“ Kurs auf die Küste. Weit vor ihnen segelte jetzt das Drachenschiff unter Cheng-Li. Es hatte bereits bemerkt, daß es verfolgt wurde. Sie setzten alles, was sie an Segel an die Rahen brachten. Auch die „Isabella“ lief jetzt unter voller Segellast, und dank ihrer überlangen Masten und dem schlanken Rumpf holte sie unmerklich auf und schob sich dicht unter der Küste hinter dem Drachenschiff her. An Deck herrschte emsiger Betrieb. Der Waffen- und Stückmeister der „Isabella“, Al Conroy, war dabei, das Laden der Kanonen zu überwachen. Jeder hatte seinen festen Platz. Old O'Flynn streute Sand auf die Decks, nachdem er sie mit Seewasser übergossen hatte. Andere mannten Kugeln und Pulver an Deck, der Moses Bill wurde von einem Ort zum anderen gescheucht, und in der Kombüse war der Kutscher dabei, sein Holzkohlenfeuer zu löschen. Er stellte Messingbecken bereit mit glühender Holzkohle. Der Seewolf hatte mitgeteilt, daß es einen Enterkampf geben würde, und so hatten die Seewölfe sich schon vorsorglich mit allem bewaffnet, was zum Hauen, Stechen und Schlagen erforderlich war und benötigt wurde. Carberry war mal hier, mal da und brachte seinen Spruch von den Affenärschen an, die er persönlich in Streifen abziehen würde, wenn etwas nicht klappte. Innerhalb kürzester Zeit hatte die „Isabella“ ihre Feuerbereitschaft hergestellt. „Denke daran, Al“, sagte Hasard zu dem Stückmeister. „Nur in die Takelage oder auf die Masten halten. Keinen Schuß unter
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die Wasserlinie. Und paßt höllisch auf, wenn es Brandsätze regnet. Bisher haben wir ihre Bekanntschaft noch nicht richtig gemacht, aber diesmal kann es passieren.“ „Das befürchte ich auch“, erwiderte Al, „deshalb steht überall Sand bereit, denn mit Wasser ist das Zeug ja doch nicht richtig zu löschen.“ Hasard kehrte aufs Achterkastell zurück und kontrollierte den Rudergänger. Stenmark, der Schwede, hatte Pete Ballie eine Zeitlang abgelöst, jetzt übernahm Pete wieder das Ruder. Schnell jagte die „Isabella“ hinter ihrem Gegner, her, der Vorsprung verringerte sich immer mehr, und auf der Steuerbordseite sahen sie den Wikinger, der mit seinem Schiff wie ein Rachegott dahinjagte. Big Old Shane hatte seinen mächtigen Bogen gepackt und enterte in den Großmars auf. Diesmal hatte er keine Brandpfeile mitgenommen, aber die anderen, die er dabei hatte, waren nicht minder gefährlich, denn was Big Old Shane treffen wollte, das traf er auch. * Cheng-Li, er hieß eigentlich Li-Cheng-Li, der Kapitän des Drachenschiffes, empfand dumpfe Angst, als er die beiden Schiffe hinter sich herjagen sah. Schon einmal hatten sie ihm so übel mitgespielt, daß er Wochen brauchte, um sein Schiff wieder halbwegs instand zu setzen. Jetzt waren diese Teufel erneut hinter ihm her, und er hatte sie längst weit weg geglaubt. Er musterte seine Männer, schweigsame zähe Kerle, und er sah auch in ihren Gesichtern Angst, obwohl sie versuchten, diese Angst zu verbergen. Neben ihm stand der Feuerwerker mit besorgtem Gesicht. „Du wirst jetzt einen Pfeil zu dem schwarzen Schiff hinüberfeuern“, sagte er. „Du mußt das Segel treffen, damit es sofort in Flammen steht. Das wird die weißen Teufel so beschäftigen, daß wir ausbrechen und die offene See erreichen können. Folgt
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der andere Hund, so jagst du auch ihm Pfeile in die Segel!“ „Es wird so geschehen, hoher Herr!“ Der Feuerwerker verbeugte sich und begab sich wieder an Deck, wo die Brandsätze in den Halterungen standen. Sie waren leicht zu transportieren, und man konnte sie von jedem beliebigen Punkt des Schiffes abfeuern. Cheng-Li sah mit Entsetzen, daß die beiden Schiffe weiter aufgeholt hatten. Das Ausbrechen würde schwierig werden. Aber wenn er die offene See gewann, würde es vielleicht Hilfe geben, denn ein paar Meilen weiter segelten meistens die grollen Dschunken, und auch die Kriegsdschunke hatte diesen Kurs genommen. Er sah, wie der Feuerwerker das Gestell ausrichtete, sein Ziel anvisierte und die glimmende Lunte daran hielt. Blitzschnell fraß sich die Glut weiter, bis sie den Treibsatz erreichte. Dann zischte der Brandsatz heulend und jaulend davon, wobei er auf einem langen Feuerschweif zu reiten schien. Zum ersten Male erschien ein zaghaftes Grinsen im Gesicht des Kapitäns, der dem glühenden Pfeil nachsah und sich schon die Hände rieb. Der mußte treffen, schnurgerade flog er seinem Ziel entgegen. Doch eine Bö wandte das Unheil, das sich über dem schwarzen Segler zusammenbraute, noch einmal ab. Kurz bevor der glimmende Feuerregen sein Ziel erreichte, wurde er von einer jäh einfallenden Bö gepackt, änderte den Kurs und zerplatzte dicht über dem Wasser. Purpurfarbenes Licht ergoß sich auf die Meeresoberfläche, es brannte sekundenlang, dann war der Spuk vorbei. Cheng-Li sah sich gehetzt um, schrie zu seinem Feuerwerker einen Befehl hinüber und wartete auf den nächsten Brandsatz. Die Chinesen hatte lähmende Furcht ergriffen; als der Brandsatz harmlos ins Meer zischte, denn jetzt gingen auf dem schwarzen Segler die Stückpforten hoch. Dahinter lauerten die dunklen Schlünde der großen Kanonen. *
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Der Wikinger hatte den heranrasenden Brandsatz gesehen. Er atmete erleichtert auf, als das Höllenbiest dicht über der See krepierte und im Wasser erlosch. „Brennt ihm eins auf den Pelz!“ schrie er und schüttelte die Faust gegen den Chinesen-Kapitän. Die Stückpforten waren hochgezogen. Der Boston-Mann hielt die Lunte an das Zündloch ,und sekundenschnell fraß sich die Glut durch das Zündkraut. Das erste von zwölf Backbordgeschützen donnerte los. Das Kaliber war schwer zu bestimmen, aber es mochten Fünfundzwanzig-Pfünder sein, wie Tucker einmal geschätzt hatte. Wenn die Kanonen sich entluden, ging immer ein leichter Ruck durch den schwarzen Segler, und er krängte unmerklich zurück. Auch jetzt erfolgte wieder dieser Ruck, und Pulverrauch hüllte den Boston-Mann ein. Cheng-Li lief im allerletzten Augenblick ab und drehte nach Steuerbord, aber sein Ausweichmanöver erfolgte etwas zu spät. Der Boston-Mann hatte in die Takelage gehalten, und wahrscheinlich hätte er genau den Großmast getroffen. So aber durchschlug die große Eisenkugel nur das Großsegel, riß ein riesiges Loch hinein und fegte auf der anderen Seite ins Schanzkleid. Ein paar Trümmer wirbelten ins Wasser. Der Handlauf des Schanzkleides zersplitterte. Die Crew des schwarzen Seglers brüllte begeistert los. Sie alle hatten sich bewaffnet. Mit Äxten, Schiffshauern, Musketen und Pistolen standen sie bereit. Enterhaken lagen an Deck. Der Riß im Großsegel des Drachenschiffes verbreiterte sich. Thorfin ließ noch dichter heransegeln. Dieser lausige Kerl sollte keine Zeit mehr finden, um seine Brandsätze abzufeuern, dachte er, sie durften ihm keine Ruhe lassen, mußten ihn immer wieder beharken und unter Feuer nehmen, bis man entern konnte. Philip Hasard Killigrew hatte das Manöver beobachtet. Das Drachenschiff lag jetzt im
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Zangengriff, es segelte zwar noch ein paar Yards vor ihnen, aber es würde nicht mehr entwischen. Zum Land hin ausweichen konnte es nicht, da segelte die „Isabella“, und zur Seeseite hin vermochte es ebenfalls nicht mehr auszubrechen, denn da lag der Wikinger auf der Lauer. Blieb also nur noch die Flucht nach vorn, und die würde bald beendet sein. Hasard sah zu Al Conroy, dem Profos und Ferris Tucker, die auf ihre Gelegenheit warteten. Sie blieben eiskalt und ruhig und lauerten auf die günstigste Schußposition. Ben Brighton blickte den Seewolf an. Er zeigte mit der Hand auf zwei Chinesen, in dunkles Tuch gehüllte Gestalten, die dabei waren, neue Brandsätze auszurichten. Einer hielt eine glimmende Lunte in der Hand. „Einen Nachteil haben die Dinger“, sagte er, „wenn Böen einfallen oder der Wind stark bläst, treibt es die Dinger ab, wie es eben geschah. Das ist unser Glück.“ „Auf das wir uns lieber nicht verlassen sollten“, erwiderte der Seewolf. Auch er blickte zu dem Chinesen hinüber. Dort ließ in diesem Augenblick gerade einer der beiden Männer das Bronzegestell zum Abfeuern der Brandsätze.. fallen. Der Brandsatz entglitt seinen Fingern, er hob die Hände und krampfte sie vor der Brust zusammen, aus der ein langer gefiederter Pfeil ragte. Ein paar Atemzüge lang blieb er stocksteif an Deck stehen, dann schlug er der Länge nach hin, und der Pfeil bohrte sich durch seinen Körper. „Das war Shane“, sagte Ben Brighton. „Der schießt mit seinen Pfeilen genauer als eine Muskete.“ Er blickte nach oben in den Großmast, wo der riesige frühere Schmied von Arwenack den nächsten Pfeil auf die Sehne legte und den mächtigen, selbstgefertigten Bogen spannte, daß die Muskelstränge seiner Oberarme stark hervortraten. Auf dem Chinesenschiff herrschte Verwirrung, als der Mann tot auf die Planken fiel. Ein anderer nahm dessen Position ein, aber der Seewolf dachte nicht daran, den Kerlen Zeit zu lassen, ihre Brandsätze abzufeuern.
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„Feuer!“ schrie er laut. Conroy, Carberry und Tucker hatten längst anvisiert. Ben Brighton erschien jetzt ebenfalls. Die Culverinen der „Isabella“ brüllten wild auf. Aus den Rohren leckten yardlange Flammenzungen, und drei SiebzehnPfünder gingen fauchend auf die Reise. Vorn stand der Decksälteste Smoky zusammen mit Roskill und jagte aus der Drehbasse einen Eisenhagel zu dem Drachenschiff hinüber. Jetzt zeigte sich wieder einmal, wie gut die Seewölfe aufeinander eingestimmt waren und was das viele Üben und Exerzieren bewirkt hatte. In halber Höhe des Großmastes schlug es drüben mit vehementer Wucht ein. Eine Eisenkugel traf den Mast direkt, zwei andere knallten in die Takelage. Der schwere Mast zerbarst, als wäre er morsch, er flog auseinander, schien sich zu heben und sackte dann knirschend zur Seite. Er riß stehendes und laufendes Gut mit sich, zerfetzte die Segel und begrub mit Donnergetöse einen Teil des Decks unter sich, Pardunen mit sich reißend. Die Chinesen liefen um ihr Leben, rannten voller Panik zum Achterdeck, hielten die Hände schützend über den Kopf und brüllten. Von Steuerbord fegte der nächste Brocken heran, suchte sich seinen Weg durch die Trümmer, die an Deck lagen und riß eine breite Bresche ins vordere Schanzkleid. Thorfin Njals Gebrüll war bis zur „Isabella“ zu hören. Das Drachenschiff lief leicht aus dem Kurs, seine Fahrt sank rapide und fast hatte es den Anschein, als würde Cheng-Li aufgeben und vor der Übermacht kapitulieren. Auf der „Isabella“ traten die Wischer in Aktion, und die drei abgefeuerten Kanonen wurden sofort wieder nachgeladen. Unterdessen waren Gary Andrews, der alte O'Flynn, Bill und der Segelmacher Will Thorne pausenlos damit beschäftigt, das Deck mit Seewasser zu übergießen, auf den erhöhten Stellen Sand zu streuen und hier und da etwas zu klarieren. Es gab
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keine Hand, die ruhte, keinen, der nicht irgendwo anpackte oder zugriff. Wie bei jedem Gefecht war auch die Stimme des Profos' nicht zu überhören, der mit Kraftausdrücken nicht sparte. Carberry schien tausend Augen zu haben. Er blickte nach dem Stand der Segel, achtete auf die Kanonen, peilte zum Drachenschiff hinüber und vergaß dabei nicht, immer wieder jemanden anzumotzen, der sich seiner Ansicht nach zu lahmarschig bewegte. Unterschwellig saß dabei doch jedem die leichte Furcht im Nacken, einer der Brandsätze könne die „Isabella“ treffen, und deshalb schufteten sie, schossen, rannten und beeilten sieh, um dem Chinesen-Kapitän keine Chance zu lassen, die Dinger abzufeuern. Wenn sie ihn pausenlos beschäftigten, konnte es vielleicht gut gehen. Big Old Shane, der aus luftiger Höhe einen weitaus besseren Blick hatte, schoß einen Pfeil nach dem anderen ab, sobald die Besatzung dort drüben wieder an den Brandsätzen hantierte. Zum Glück herrschte ein unbeschreiblicher Wirrwarr an Deck. Ein paar Männer waren dabei, das stehende und laufende Gut, das einen wüsten Trümmerhaufen bildete, zu kappen, damit der Mast endlich über Bord ging, der sie behinderte. Aber bei ihnen ging es ums nackte Überleben, und das stachelte sie mächtig an. Seit sie die Bekanntschaft der Seewölfe gemacht hatten, wußten sie, was ihnen blühte, wenn es den Kerlen gelang, das Schiff zu entern. Dann blieb keine Planke auf der anderen. Jetzt bewegte sich das Drachenschiff weitaus schwerfälliger in der See. Es wurde immer langsamer. Smoky hatte die Drehbasse wieder nachgeladen und feuerte sie ab. Als der Blitz aus dem Rohr zuckte, warfen sich die Chinesen in Deckung, suchten Schutz hinter dem Schanzkleid oder sprangen hinter den Trümmerhaufen aus Holz, Tauen und zerfetzten Segeln. Der Eisenhagel richtete keinen sonderlich großen Schaden an, er zerfetzte jedoch
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noch das andere Segel und riß es in Streifen. Dann trat das ein, was jeder insgeheim befürchtete. Ein Brandsatz orgelte dicht über die „Isabella“ weg. Dicht hinter dem Schiff zerplatzte er, und ein Feuerregen ergoß sich knallrot leuchtend über dem Wasser. Der Profos stieß einen Fluch aus. „Verdammt!“ schrie er. „Diese lausigen Kakerlaken treffen uns noch! Gib die Muskete her, Jeff!“ Er riß Jeff Bowie die Muskete aus der Hand, legte an und zielte auf einen Burschen, der auf gut Glück die „Isabella“ mit Brandsätzen unter Beschuß nahm. Doch der Kerl war flink, unglaublich schnell. Noch während er sich platt auf Deck warf, heulte der Brandsatz los, und diesmal verließ die Seewölfe das Glück. Carberrys Kugel schlug auf eisenhartes Holz, wurde deformiert und heulte plattgedrückt davon. Fast im selben Augenblick traf es die „Isabella“. Heißes Feuer lohte in das Segel des Fockmastes. Es sah aus, als würde das Segel von unsichtbaren Händen blutrot gefärbt. Feuer fraß sich schnell und gierig durch das Segeltuch, das innerhalb kürzester Zeit lichterloh brannte. „Runter mit der Rah!“ schrie Carberry. „Hopp, hopp, wenn erst die Taue Feuer fangen, kommt sie von selbst an Deck. Wasser und Sand her, beeilt euch!“ Aus dem Mast lohte Hitze über das ganze Schiff. Der Seewolf behielt die Übersicht. Vom Achterkastell erfolgten seine Befehle knapp und unmißverständlich, untermalt von ein paar Handbewegungen. Schwitzend und fluchend fierten sie die Rah ab. Stücke des brennenden Segels fielen an Deck. Matt Davies versengte sich die Haare und Batuti fiel ein brennender Lappen ins Kreuz, der ihn wild zusammenzucken ließ. Wasser zischte, verkohlte Fetzen trieben über Deck. Big Old Shane enterte blitzschnell ab. Die Hitze hatte ihm die Haare versengt, und auch sein Bart hatte etwas abgekriegt. Dort oben war es unerträglich heiß geworden.
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Sogar der Papagei Sir John war längst davongeflattert und hockte auf dem Geländer des Niedergangs. Von Arwenack war ebenfalls nichts zu sehen, er hatte sich unter Deck versteckt. Das ChinesenMädchen „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ saß zitternd auf der Koje in der Kammer, die Hasard ihr überlassen hatte. Sie hatte Angst, fürchterliche Angst. Sie hörte die Kanonen brüllen, spürte den Abschuß, der das Schiff krängen ließ, vernahm das wilde Getrappel, Flüche und Gebrüll an Deck und kroch noch mehr in sich zusammen. An Deck aber ging es weiter. Mit bloßen Händen warfen sie die glimmenden und heißen Fetzen des Segels über Bord und waren heilfroh, daß die anderen Segel nicht auch noch Feuer gefangen hatten. Auch die „Isabella“ wurde jetzt langsamer. Al Conroy ließ wieder drei SiebzehnPfünder aus den Rohren jagen. Grauschwarzer Pulverqualm hüllte die Männer ein, der Rauch legte sich beizend auf die Lungen. Von der Steuerbordseite erklang das wilde Brüllen von Thorfins Kanonen, aber der Erfolg stellte sich wiederum nicht so recht ein, weil sie nicht so feuern konnten, wie sie gern wollten. Auf dem Drachenschiff zerfetzten wieder die Segel, eine Rah wurde getroffen und zersplitterte in der Luft. Die Chinesen gaben Antwort. Der erste Erfolg hatte ihren Mut gestärkt und jetzt riskierten sie alles. Wieder heulten Brandsätze los, einer zischte zwischen den Masten der „Isabella“ hindurch und knallte in die See, der andere explodierte in der Kuhl. Wie eine feurige Schlange zuckte der Brandsatz heulend und kreischend durch die Kuhl, drehte sich um sich selbst und schleuderte das grelle Höllenfeuer nach allen Seiten. Die Seewölfe liefen durcheinander. Matt Davies sprang mit einem wilden Satz in die Höhe und fluchte, als es in seiner Nähe brüllend heiß wurde.
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Winzige kleine Feuerkugeln fraßen sich in die Planken, bissen sich daran fest, rollten in die kalfaterten Ritzen und wurden zu kleinen zuckenden Flammen. Carberry warf Sand darüber, trat mit den Stiefeln auf die glühenden Kugeln und versuchte, das Feuer zu ersticken. Er schluckte hart, als sich kein Erfolg einstellte. Für kurze Augenblicke verschwand das Feuer zwar, aber gleich darauf fraß es sich weiter mit hartnäckiger Gier in die Planken des Schiffes und flackerte an unzähligen Stellen erneut auf. Der Moses schwitzte, sein Gesicht war fast schwarz, und der Schweiß rann ihm in Strömen über den Körper. Immer wieder häufte er Sand über die Flammen, goß Wasser darauf, bis es ein dicker unansehnlicher Brei wurde. Ab und zu gelang es ihm und den anderen; kleine Feuer zu ersticken, doch der Teufel selbst schien hier den Schwefel gestreut zu haben. Kaum war ein Feuer qualmend erloschen, flackerte es dicht daneben wieder auf. Es war zum Verzweifeln. Jetzt spürten sie die verheerende Wirkung der Brandsätze zum ersten Mal persönlich und am eigenen Leib. Gesehen hatten sie es schon oft, aber nicht geglaubt, daß das Feuer so wüten konnte. Es mußte aus der tiefsten Hölle stammen, und jeder befürchtete insgeheim, daß es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis die „Isabella“ in Flammen aufging. Carberry trieb sie an, er selbst unternahm alles, was möglich war, doch der Kampf gegen das wütende Feuer nahm kein Ende. Kaum war es an einer Stelle erstickt und scheinbar erloschen, flammte es an derselben Stelle kurz danach wieder auf. * Thorfin Njal war jetzt dicht herangesegelt. Auch sein Schiff war von einem Brandsatz getroffen worden, doch das harte Holz war widerstandsfähig und brannte nicht so schnell. Auch bei ihm fraß es sich in die Hartholzplanken, nistete sich ein und begann langsam zu schwelen.
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Mit lautem Gebrüll scheuchte er die Männer auf die Stationen. Sein Gesicht war krebsrot vor Wut. Diesem Bastard würde er es zeigen - und er zeigte es ihm. Der Boston-Mann und Juan ließen die großen Kanonen sprechen. Auf des Wikingers Anweisung, der sich nicht sicher war, ob sich die Rote Korsarin doch an Bord befand, hielten sie immer mit den schweren Eisenkugeln in die Takelage. Das Schiff krängte leicht, holte etwas über, als die Kanonen abgefeuert waren, und eine der schweren Eisenkugeln traf nicht die Aufbauten, sondern knallte wuchtig dem Drachenschiff ins Ruderblatt und riß noch einen Teil der Heckgalerie auf. Dieser Fehlschuß war der Anfang vom Ende. Kaum war das Ruderblatt zerschossen, da scherte das Drachenschiff leicht aus dem Kurs und ging in den Wind. Der Teufel war los, die See glich in diesem Moment einem. Hexenkessel. Auf der „Isabella“ verließ Schuß um Schuß die Rohre, dazwischen erklang das urweltliche Brüllen der Kanonen, die Thorfin Njal abfeuern ließ. Wischer rein, Pulver, nachladen, feuern. Mit Kettenkugeln wurde weiter geschossen. Systematisch schlugen die Kugeln die Takelage zusammen, zerfetzten die Nagelbänke, ließen Tauwerk, Rahen und Segelstücke von oben regnen. Jetzt kamen die Zopfmänner nicht mehr dazu, ihre Brandsätze gezielt einzusetzen, denn das Chaos auf ihrem Schiff wurde immer schlimmer. Es verlor an Fahrt und begann immer wieder in den Wind zu drehen. Carberry grinste aus rußgeschwärztem Gesicht und hob die Faust. „Ha“, sagte er voller Grimm, „die Burschen holt jetzt gleich der Teufel persönlich, und der heißt Carberry. Wenn wir nur einen einzigen Brandsatz abfeuern könnten, wären die Schlitzaugen längst erledigt. Aber wir kriegen sie auch so!“ Auch der Seewolf dachte an die Brandsätze, die sie selbst an Bord hatten. Es ging nicht, er konnte sie nicht einsetzen, wenn sich tatsächlich irgendwo unter Deck
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die Rote Korsarin befand. Manche Schiffe brannten schlagartig und lichterloh, und das wollte er nicht riskieren. Möglicherweise war alles doch nur ein abgekartetes Spiel, und man hatte „Flüssiges Licht“ belogen. Sie würden es auch so schaffen, wenn ihnen ihr eigenes Schiff nicht noch im letzten Augenblick in Flammen aufging. 5. Tucker, Carberry und einer Handvoll anderer Männer gelang das Unwahrscheinliche etwas später doch. Aus den überall emporleckenden Feuerzungen waren kleine Schwelbrände geworden. Ab und zu glühten die winzigen Kugeln noch. Ferris Tucker wütete mit seiner riesigen Axt, die scharf wie ein Schwert war. Er schlug winzige Splitter aus den Planken, kleine Späne, so zielsicher, daß den Moses jedesmal ein kalter Schauer überlief, wenn er sah, wie die Axt mächtig in die Planken fuhr und dennoch nur Spanholz davonwirbelte. Überkommende See spülte die kleinen qualmenden Splitter, in denen sich die Feuerkugeln festgefressen hatten, durch die Speigatten in die See, wo sie verzischten. Inzwischen glich das Deck des Drachenschiffes einem Trümmerhaufen. Es lenzte dahin. An Deck stand nur noch der achtere Mast mit zwei verstärkten Segeln. Den nahm Al Conroy jetzt unter gezieltes Feuer, während die anderen nach den Enterhaken griffen, Messer zwischen die Zähne klemmten, nach Schiffshauern und Belegnägeln griffen. Jeder fieberte darauf, das Schiff zu entern. Immer noch stieg Qualm auf, auch auf „Eiliger Drache“ flackerte ein kleines Feuer und Rauch hüllte das Vorschiff ein. „Segel ins Gei!“ ertönte Hasards Stimme vom Achterkastell. Die „Isabella“ lief Backbord zum Drachenschiff auf, und bevor sie den dahinlenzenden Chinesen erwischte, schoß Al Conroy mit einem
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gezielten Schuß dem Drachenschiff den achteren Mast weg. Er zerbarst in einer Wolke aus Fetzen, Holzsplittern und zerrissenem Tuch. Kopflos vor Panik rannten die Chinesen durcheinander. Auch der schwarze Segler hatte das Schiff jetzt fast erreicht. Carberry schwang den Enterhaken über dem Kopf und wirbelte ihn ein paarmal herum. Drüben tat der Boston-Mann das gleiche, und die vier Wikinger, die damals den Untergang ihres Schiffes in der Windward-Passage überlebt hatten, brüllten sich die Kehlen heiser. Cheng-Li schrie Befehle in überschnappender Stimme. Seine von Panik erfüllten Leute blieben wie versteinert stehen, schwangen ihre Waffen in den Fäusten und erwarteten den Angriff. Keiner von ihnen kniff, obwohl die Furcht sie lähmte. Enterhaken flogen hinüber, als die Segel ins Gei gesetzt worden waren, und ein harter Ruck ging durch die „Isabella“. Leinen strafften sich singend, und als auch „Eiliger Drache“ drüben hart anlegte, wurde das Chinesenschiff mitgerissen. Batuti stand an Deck, in der riesigen Hand seinen Morgenstern schwingend und finstere Drohungen ausstoßend. Der riesengroße Gambianeger erregte Aufsehen. Schon von der Gestalt und seiner Hautfarbe her flößte er den Chinesen Furcht ein. Matt Davies warf den nächsten Enterhaken hinüber, der sich in der Bordwand verkrallen sollte. Er traf aber gleich das Kreuz eines der Zopfmänner, der von dem Enterhaken ans Schanzkleid gezerrt wurde, als die Leine sich straffte und belegt wurde. Die Zopfmänner glaubten, die Hölle persönlich hätte sich aufgetan, um sie zu verschlingen. Was da an Bord quoll, bunt gekleidet, wild brüllend und Waffen schwingend, mußten Teufel aus der Hölle sein. Die drei Schiffe, die jetzt nebeneinander lagen, knallten hart in die See und trieben mit dem Wind nach Norden. Zwischen
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ihnen spritzte in hohem Bogen Seewasser auf und überschüttete Schiffe und Mannschaften. Die Zopfmänner wehrten sich verbissen. Sie waren beileibe keine Feiglinge, und als sie sich von dem Anblick der wilden Horde erholt hatten, ging es erst richtig los. Ein paar Männer beteiligten sich nicht an dem Kampf. Sowohl Hasard als auch Thorfin hatten sie abkommandiert, um die kleinen Schwelbrände zu bekämpfen, die immer noch aufflackerten. Ferris Tucker war einer der ersten, der sich hinüber schwang. Er sprang an Deck und schon wirbelte die große Schneide seiner Axt zum ersten Rundumschlag los. Wen sie traf, dem war nicht mehr zu helfen, aber die Chinesen waren flink und wendig. Immer wieder tauchten sie weg, zogen sich zurück, lockten die kämpfenden Männer zum Achterschiff, um dann blitzartig über sie herzufallen. Batuti schwang die Eisenkugel mit den mörderischen Spitzen, rollte wild mit den Augen und drosch auf alles, was sich bewegte. Den zweiten Schock kriegten die Chinesen, als der Nordmann auftauchte und das Ding schwang, das er liebevoll als „sein Messer“ bezeichnete. Das Schwert wog annähernd vierzig Pfund. Der Wikinger hieb nach einem, der flüchten wollte, sich aber blitzschnell duckte, als die Klinge nach ihm griff. Thorfin hieb das Schwert in den zersplitterten Mast, daß die Holzfetzen nach allen Seiten davonflogen. Die Zopfmänner kämpften mit Krummschwertern, Pfeil und Bogen und Armbrüsten. Einige hatten Schiffshauer und lange Messer in den Fäusten, und immer wenn Cheng-Li einen Befehl in seiner hohen Sprache schrie, fühlten sie sich angespornt und griffen wild an. Der Profos Carberry hatte sich sein Lieblingsspielzeug, einen Belegnagel aus Hartholz, geschnappt. Nicht weit von ihm entfernt spannte ein kleiner gelbgesichtiger Bursche gerade seine Armbrust und wollte auf ihn anlegen. Ed war mit einem Satz bei ihm, duckte sich und hörte es im selben Moment ekelhaft
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schrill an sich vorbeipfeifen. Der Eisenbolzen streifte fast noch sein Gesicht, dann knallte er ins Deck und blieb stecken. Zum nächsten Schuß war es für den Zopfmann zu spät. „Du lausiger Affenarsch!“ schrie Ed. „Du bist wohl größenwahnsinnig, was, wie?“ Der Zopfmann sah die mächtige Gestalt, die blitzenden Augen, die riesigen Hände, das zernarbte Gesicht und das Kinn, das einem Amboß ähnelte. Nein, gegen den hatte er keine Chance, dachte er und rannte davon bis zum zerfetzten Großmast. „Die Laus will sich verstecken!“ brüllte Ed fassungslos und griff hinter den Holzstumpf. Der Chinese duckte sich, entwischte ihm und tanzte wieder um den Mast herum, flink und schnell. Das brachte den Profos auf die Palme, und jetzt war er so in Rage, daß er den Maststumpf mit bloßen Händen aus dem Kielschwein gerissen hätte. Sein Belegnagel zuckte vor, im selben Augenblick knallte ihm etwas ins Kreuz, er achtete nicht darauf, sondern tastete wieder nach dem Gelben, der sich nach einem Holzprügel bückte. Ed zog ihm eins über, und der Tänzer streckte sich der Länge nach auf dem Deck aus und rührte sich nicht mehr. Matt Davies wütete unter den Chinesen mit seiner Hakenprothese, vor der sie immer wieder ängstlich zurückwichen. Er brauchte keine Waffe, der scharfgeschliffene Eisenhaken war Waffe genug, damit konnte er schlagen, stechen, reißen und aufschlitzen. Smoky und zwei der Wikinger prügelten sich mit einer kleinen Horde wildgewordener Chinesen. Brighton hatte gleich zwei Männer gegen sich, Blacky klopfte wie besessen drauflos, und Dan O'Flynn knallte einem Zopfmann den Knauf der Pistole über den Schädel. Auch Luke Morgan, der Hitzkopf, war in seinem Element. Seit er eins ins Kreuz gekriegt hatte, sah er nur noch rot. Jeff Bowie jagte einem Burschen nach, den der Schmied von Arwenack schon einmal auf die Planken gelegt hatte, der sich aber
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wie eine Katze wieder erhob und angriff. Als er allerdings die Hakenprothese sah, zog er es vor, aus deren Reichweite zu verschwinden, denn vor dem mörderischen Haken hatte er Angst. Das ist schon der zweite Kerl, der mit so einem Ding herumrennt, dachte er voller Entsetzen. Der Schwede Stenmark prügelte sich auf dem Vorschiff herum. Niemand hatte mehr einen klaren Überblick, bis auf den Seewolf selbst, der gelassen einem Chinesen entgegensah, der sich aufs Achterkastell schlich. Der hatte ganz besondere Nerven, denn er wollte den Kapitän der „Isabella“ schnappen. Hasard empfing ihn mit einem Fußtritt, und der Chinese segelte in hohem Bogen den Niedergang hinunter aufs Deck. Dann ergriff der Seewolf ein Fall, schwang sich hinüber auf das Achterschiff und suchte Cheng-Li. Sofort griffen ihn zwei Männer an, den Kapitän sah er jedoch nicht. Hasard zeigte den Burschen, was man unter schneller Klingenführung verstand. Er kämpfte gegen zwei Krummschwerter, aber das dauerte nur ein paar Sekunden, dann streckte der eine sich röchelnd auf den Planken aus, und den anderen trieb Hasard so lange vor sich her, bis der Bursche das Schanzkleid erreichte und Hasard ihm das Schwert aus der Hand schlug. Ein geisterhaft blasses Gesicht sah den Seewolf an. Der Zopfmann schrie in heller Angst, und als er den Seewolf lächeln sah, nutzte er den Augenblick, um sich rücklings über das Schanzkleid ins Wasser gleiten zu lassen. Er fiel jedoch nicht ins Wasser, sondern landete genau vor den Beinen des Negers Batuti. „Viel Kerl wie Ameisen“, brummte Batuti und schlug zu. „Jetzt du kannst über Bord“, setzte er hinzu, hob den Chinesen auf und feuerte ihn übers Schanzkleid. Wenn man davon absah, daß auf beiden Schiffen immer noch ein Kommando gegen Rauch und Feuer kämpfte, waren die
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Gegner etwa gleich stark, was die Anzahl der Männer betraf. Außerdem beteiligten sich bei dem Wikinger das Köchlein und Mißjöh Buveur ohnehin nicht an dem Kampf. Sie taten nur so als ob, wichen aber immer geschickt aus und verschwanden rechtzeitig. Dafür brüllten sie um so lauter, um den Anschein mörderischer Kämpfe zu erwecken. Auch Pedro Ortiz, den sie an Bord von „Eiliger Drache“ Pedro ohne Taten nannten, verstand es geschickt, sich keine Beulen einzuhandeln. Hasard beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Der Kerl verkündete zwar immer lautstark, diesen lausigen Affen würde er es schon zeigen, aber wenn einer der lausigen Affen zu dicht in seine Nähe geriet, dann verzog sich Pedro und sah sich, lautstark brüllend, nach einem anderen Gegner um. Von der kleinen Ratte Muddi war ebenfalls nichts zu sehen, und das Schandmaul Mike Kaibuk tauchte auch nur ab und zu auf, um sich mal kurz zu zeigen, dann verschwand er wieder oder schlug einem Chinesen den Belegnagel über den Schädel, der ohnehin schon bewußtlos an Deck lag und sich nicht mehr rührte. Dafür hieben die anderen mächtig zu, ganz besonders Thorfin selbst, seine Leute Arne, Eike, Olig und der Stör. Auch der Boston-Mann, Juan und Bill the Deadhead langten kräftig rein. Der Enterkampf verlief so ganz nach dem Geschmack der Seewölfe. Es hatte bereits die ersten Verletzten gegeben, aber dafür war ja ihrer Meinung später der Kutscher zuständig, der würde die Blessuren schon hinkriegen. Der Kampf tobte weiter auf drei Decks. Ein paar Chinesen waren auf die „Isabella“ gesprungen, teils weil ihnen kein anderer Rückzug blieb und teils weil sie vereinzelte Leute aus dem Kommando zur Brandbekämpfung angriffen, die sich nur schlecht zur Wehr setzen konnten. Dabei war dem Profos ein ganz besonders eifriges Kerlchen aufgefallen. Er bewunderte den Mut des Chinesen, der einen langen Zopf trug, der ihm bis weit den Rücken hinab reichte.
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Dieser flinke Kerl hatte Blacky eins übergezogen, der jetzt Anstalten machte, sich wieder zu erheben, aber der Chinese war flink und überall und nirgends, wie der Profos neidlos anerkannte. Um den Burschen wollte er sich höchstpersönlich kümmern, der hing ihm schon fast quer im Magen, denn gerade jetzt sprang er mit einem mächtigen Satz Sam Roskill ins Kreuz. Dabei flog sein langer Zopf von einer Seite zur anderen. Carberry hatte Muße, den Kerl genauer zu studieren. Er hatte eine Art Handspake in der Faust und bewegte sich so geschmeidig wie eine große Katze, die sich an ihre Opfer heranschleicht. „Siehst du den da?” fragte er seinen Freund Ferris Tucker, der schnaufend stehenblieb und sich nach einem neuen Gegner umsah. „Der fiel mir schon mal auf, der hat mir nämlich die Spake ins Kreuz gehauen“, sagte Tucker. „Aber der ist flink.“ „Auf den freue ich mich schon“, knurrte der Profos. „Ich glaube, der hat mir die Spake auch schon mal ins Kreuz geknallt.“ Er sah, wie der Mann mit dem unwahrscheinlich langen Zopf plötzlich davonrannte und sich auf Batuti stürzte. Der Gambianeger hatte gerade mit dem Morgenstern ausgeholt, und Carberry dachte, der Bursche würde genau in diesen Schlag hineinlaufen, der ihn ohne weiteres zerschmettert hätte. Aber der Gelbe erkannte die Gefahr, ließ sich platt auf die Planken fallen und entging so dem mörderisch geführten Hieb um Haaresbreite, Der schwere Morgenstern sauste vorbei. Batuti wurde von dem gewaltigen Schwung nach vorn gerissen, fing sich aber rasch wieder. Schon sprang der Gelbe ihn an, seine Handspake traf den Neger an der Schulter, und als Batuti fluchend wieder ausholte, war der Kerl wie ein Blitz verschwunden. Der Profos hatte den Rücken frei. Die meisten schlugen um ihn und Tucker einen riesigen Bogen, wenn sie nur schon die gewaltigen Figuren sahen. Nur der Kerl mit dem langen Zopf nicht.
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Plötzlich stand er da, wie hingezaubert, wie ein Geist, der aus dem Nichts erscheint. Carberry verschlug es für Sekunden glatt die Sprache, als der Kerl ihn angrinste. Im nächsten Augenblick schlug er zu. Der Profos war so verblüfft über diese energiegeladenen Bündel, daß er den Schlag mit der Handspake fast zu spät abblockte. Der Kerl tänzelte um ihn herum, und als Ed sich umdrehte, gewahrte er, daß sich ein anderer von hinten anschlich. Sofort sprang er einen Schritt zurück, holte aus und schnappte mit einer Hand nach dem Mann. Den anderen Kerl ließ er dabei nicht aus den Augen. Jetzt verblüffte Carberry allerdings seinerseits den Zopfträger. Immer wenn der zuschlagen wollte, hielt der Profos ihm den Kerl entgegen, den er sich unter den Arm geklemmt hatte. Der Bursche war leicht, und so flog er jedesmal der Spake entgegen und kriegte eine ganze Menge ab, während er unter des Profos' Achsel buchstäblich verhungerte. Dann, ganz überraschend, ließ er ihn los, und der Chinese sauste in weitem Bogen über Deck, bis er am Schanzkleid benommen liegenblieb und sich nicht mehr rührte. Ein Ruck und schon hatte Carberry den langen Zopf des Chinesen gepackt. Er griff zu, als hätte er Tauwerk vor sich, wickelte den Zopf zweimal um seine Hand und schlug dem Mann die Handspake aus der Hand. „So, du gelbes Rübenschwein“, sagte er genüßlich, „jetzt wird der alte Ed mit dir mal ein Tänzchen wagen, an das du noch lange denken wirst, du triefäugige Miesmuschel!“ Der Chinese verstand ihn nicht, aber er wußte, daß es ihm jetzt ernsthaft an den Kragen ging. Er drehte und wand sich, aber der Profos hatte seinen Zopf in der Hand, sein Heiligtum, und Carberry konnte er nur noch entwischen, wenn er den ganzen Zopf mitsamt dem Schädel abriß. „Du hättest dir öfter mal die Haare scheren sollen“, riet er trocken. „So, jetzt tanzen
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wir nach dem ,Isabella`-Bordchor Psalm siebzehn, mein schmieriges Söhnchen!“ Er riß den Arm hoch und drehte dabei den Zopf herum. Der Chinese bewegte sich wie ein Kreisel auf den Planken, je nachdem. wie der Profos ihn herumdrehte, mal nach rechts, mal nach links. „Dir werd ich schon das Fall klarieren und den Affenarsch anlüften“, sagte er munter. Er fand Spaß an dem hüpfenden Chinesen, der mal in die Knie ging, sich dann wieder aufrichtete und einen wilden Tanz auf die Planken legte. Und wenn Ed mal an einer Sache Gefallen fand, dann hielt ihn nichts davon ab. Dabei geriet sogar der Kampf ins Stocken, denn ein paar Seewölfe sahen herüber und begannen lauthals zu lachen, als sie den schreienden und quietschenden Chinesen sahen. Carberry ließ ihn weiterhüpfen, denn der Bursche hatte ihnen genügend Kummer bereitet. Auch die Chinesen, die noch nicht genug hatten, sahen angstvoll zum Profos und ihrem Kumpan, dessen Kreise immer wilder und verwegener wurden. Ihr Zopf, das war ihr Heiligtum, etwas Schlimmeres, als sie daran zu ziehen, konnte man ihnen nicht mehr antun. Sie wurden der Lächerlichkeit preisgegeben, aber davon ahnte der Profos nichts, der den Kerl bis zur Erschöpfung tanzen ließ. Hasard sah kopfschüttelnd zu. Er suchte immer noch nach dem Kapitän und entdeckte ihn schließlich zwischen den Resten der Segel und dem Trümmerhaufen an Deck. Cheng-Li richtete sich benommen auf, offenbar hatte er schon die Bekanntschaft eines Seewolfs hinter sich, denn als er auf die Beine kam, taumelte er etwas benommen. Carberry hatte an seinem Spiel jetzt jede Lust verloren. Der kreischende Chinese spielte nämlich nicht mehr so richtig mit. Er war so benommen, daß er kaum noch wußte, wo er sich befand, und sein Schädel schmerzte, seit dieser Riese ihm das Fall klarierte.
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Der Profos zog ihn am Zopf weiter zur Nagelbank und wickelte seinen langen Zopf um einen Tampen, indem er in den Zopf blitzschnell einen Knoten schlang. Der Mann aus dem Land des Großen Chan winselte und schrie, doch niemand half ihm, der Kampf entbrannte wieder von neuem, obwohl sich die Zahl der kämpfenden Chinesen schon stark reduziert hatte. Stenmark hockte verletzt am Schanzkleid, und Carberry wollte ihm auf die Beine helfen, aber der Schwede winkte ab. „Sieh lieber nach dem Moses“, sagte er, „mir fehlt nicht viel. Aber der Junge hat eins auf die Rübe gekriegt.“ Ed eilte nach vorn. Einem Chinesen, der seinen Weg kreuzte, verhalf er kurzerhand über Bord. Dann beugte er sich über den Jungen. Bill hatte glasige Augen und sah an dem Profos vorbei. Irgendjemand hatte ihm eins über den Schädel geschlagen, das sah Ed sofort an der prächtigen Beule, die seinen Kopf zierte. „He!“ rief er. „Was' ist mit dir? Kannst du aufstehen?“ „Aye, aye, Sir“, murmelte Bill, „die Fässer sind alle voll!“ „Bloß du bist noch nicht voll da“, brummte Carberry, hob den Bengel auf und trug ihn in die Kombüse. Dort setzte er ihn auf den Boden und suchte den Kutscher. Aber der hatte sich ebenfalls mitten in das Getümmel gemischt und hieb kräftig drein. „Kutscher, sieh nach dem Bengel“, sagte Ed. „Er hat so ein ähnliches Dingsbums wie Smoky damals. Scheint nicht sehr schlimm zu sein, aber sieh trotzdem nach! Überlaß mir den Burschen!“ Der Bursche war schon erledigt, den der Kutscher in die Mangel genommen hatte. Er röchelte nur noch und streckte sich dann auf den Planken aus. Während der Kutscher zur Kombüse lief, entdeckte Hasard den Kapitän erneut in dem Getümmel. Er riß seinen Degen heraus und sprang mit ein paar Sätzen direkt in seine Nähe. Cheng-Li war kein Feigling, doch als er jetzt den Seewolf vor sich sah, wünschte er
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sich weit fort. Er hatte schon viel von diesem Mann gehört und wäre dem Kampf gern aus dem Weg gegangen, denn er rechnete sich keine Chancen gegen ihn aus. Hasard sah die Unentschlossenheit im Gesicht des Kapitäns und ließ die Degenspitze vorschnellen, die Cheng-Li fast streifte. Der Kapitän zuckte zurück, ein haßerfüllter Blick traf den Seewolf. Dann riß er sein Krummschwert heraus und griff an. Wild und unkonzentriert hieb er um sich, aber Hasard paßte auf, denn auch die wild geführten Schläge hatten eine gewisse Perfektion. Hasard stolperte über einen toten Chinesen, der mit ausgebreiteten Armen auf dem Deck lag. Noch bevor er sich fing, stieß Cheng-Li einen triumphierenden Schrei aus. Blitzschnell zuckte sein Krummschwert durch die Luft und hieb mit fürchterlicher Gewalt zu. Der Seewolf sah die breite Klinge herunterzucken, duckte sich und hielt den Degen vor sein Gesicht. Der Schlag war hart, Stahl klirrte machtvoll auf Stahl und der Schlag drückte ihn zurück. Aber jetzt hatte er sich gefangen und unternahm einen Ausfall. Cheng-Li reagierte einen Sekundenbruchteil zu spät. Sein gelbes Gewand wurde aufgeschlitzt, die Degenspitze ritzte seine Haut und ein schmaler Blutstreifen erschien. Wütend ergriff er das Krummschwert, duckte sich, packte es mit beiden Händen und ließ es über seinem Kopf rotieren. Hasard mußte zurück, der Kampf der anderen geriet ins Stocken und sie sahen den beiden Kämpfern zu. Immer noch ließ der Seewolf sich zurücktreiben, fintete ein paarmal und beobachtete seinen Gegner, dessen Gesicht rot anlief vor Anstrengung. Cheng-Li keuchte, er rief ein paar Worte in seiner Sprache, die Hasard nicht verstand. Sie galten offenbar einem anderen Chinesen. Da war Thorfin Njal heran. Er griff nach seinem Schwert, hob es hoch und benutzte es wie einen Speer.
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„Laß das!“ sagte Hasard scharf. „Mit dem werde ich allein fertig, Thorfin!“ Der Wikinger schien ihn nicht zu hören. Hasard, immer noch die schnellen Schläge des Kapitäns abblockend, sah aus den Augenwinkeln, wie das Schwert blitzend durch die Luft flog. Von irgendwoher erfolgte ein gurgelnder Aufschrei, und ein Chinese, der aus sicherer Deckung eine Armbrust abfeuern wollte, brach zusammen. Blut färbte die Planken. Der Wikinger knurrte bösartig, ging zu dem toten Mann und zog das Schwert aus dessen Brust. Nach einer Weile hatte Cheng-Li sich verausgabt. Seine wilden Angriffe wurden immer wieder pariert, er schnappte nach Luft, bis seine Schläge langsamer wurden. Hasard griff an, gewandt, schnell und sicher. Mit einem blitzartigen Trennschnitt zerfetzte er das gelbe Gewand von der Brust bis zu den Knien. Es klaffte auseinander. Cheng-Li schrie auf und stürzte zu Boden. Hasard ließ den Degen sinken, wartete und ließ seinem Gegner Zeit, sich zu sammeln. Cheng-Li starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen bösartig an. Schweiß lief jetzt in langen Bächen über sein Gesicht. „Steh auf!“ sagte Hasard kalt. „Noch fehlt dir überhaupt nichts! Na los, Kerl!“ Statt einer Antwort schrie Cheng-Li wieder etwas, offenbar einen Befehl. Aber diesmal gaben die Seewölfe acht, ob sich wieder einer der hinterhältigen Schützen versteckt hatte. Es war jedoch niemand zu sehen. Die meisten waren tot, verwundet oder leicht verletzt. Das Kämpfen war so gut wie beendet, die überlebenden Zopfmänner hockten apathisch am Schanzkleid, während der Wind die drei Schiffe stetig in Richtung Norden trieb. Cheng-Lis Atem ging rasselnd, als er sich erhob. Er fürchtete die Verbissenheit, mit der der Seewolf kämpfte und dem man nicht die geringste Strapaze ansah.
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Er nahm das Krummschwert auf, stellte sich schwankend hin und wartete, das Schwert leicht von sich gestreckt. Noch einmal riß er sich zusammen und drang mit einem Wutgeheul auf den Seewolf ein, der seine Schläge gelassen parierte, sich immer wieder aus der Reichweite des Schwertes brachte und seinen Gegner hart attackierte. Ein kraftvoller Hieb, gedankenschnell ausgeführt, traf das Krummschwert. Cheng-Li starrte ungläubig auf die Waffe, die in weitem Bogen davonflog und auf die Planken schlug. Dann fühlte er die Degenspitze an seinem Hals und lehnte sich angstvoll zurück. Er wunderte sich nur, daß der Seewolf nicht zustieß und ihm die Spitze in den Hals trieb. Stattdessen sah er in ein spöttisches, gelassen wirkendes Gesicht. „Wo habt ihr das Mädchen versteckt?“ fragte Hasard leise. Cheng-Li schluckte, er hob die Schultern, starrte den Seewolf wieder an und ließ eine Kanonade von Wörtern los, die wiederum niemand verstand. Hasard drehte sich zu Ferris Tucker um, der mit der linken Hand etwas Blut von der Wange wischte. „Laß das Mädchen holen, Ferris, der Kerl versteht unsere Sprache ja doch nicht.“ Ferris sprang zur „Isabella“ hinüber. In der Zwischenzeit bedeutete Hasard dem Chinesen, er möge ihm folgen, und als der die Aufforderung, auch nicht verstand, setzte er ihm die Degenspitze ins Kreuz und dirigierte ihn zur „Isabella“ hinüber. Er warf einen schnellen Blick nach achtern. Das Ruder war besetzt, auch bei „Eiliger Drache“ stand ein Mann am Kolderstock, und so segelten die drei Schiffe nordwärts dahin. * Das Mädchen „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ erschien scheu an Deck. Als sie das Massaker sah, schloß sie sekundenlang die Augen, dann ging sie mit zögernden Schritten auf den Seewolf zu.
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„Was wünscht der hohe Herr?“ fragte sie scheu. Hasard deutete mit dem Degen auf ChengLi, der aus schmalen Augen das Mädchen musterte. „Frag ihn, wo er die Rote Korsarin versteckt hält“, sagte er. „Flüssiges Licht“ sah ihn erstaunt an. „Aber sie ist doch auf der Gemüsedschunke ...“ „Ich weiß! Aber das kann auch nur eine Täuschung gewesen sein, um uns in die Irre zu führen. Frage ihn bitte.“ Sie sprach schnell ein paar Worte. ChengLi spuckte vor ihr aus auf die Planken und sah sie giftig an. „Du bist der Verlierer“, sagte der Seewolf ruhig, „und ich würde dir raten, die Fragen zu beantworten.“ Das Mädchen übersetzte auch das. Der Chinese schüttelte den Kopf und gab keine Antwort. Hasard ritzte noch einmal sein zerfetztes Gewand. Blitzschnell, ohne seinen Körper zu treffen. Er gab immer noch keine Antwort, und jetzt wurde sein Blick direkt verächtlich. Da platzte dem Wikinger die Geduld. Er hatte sich neben Cheng-Li aufgebaut und jetzt schlug er ihm eins mit der flachen Hand an den Hinterschädel, daß der Chinese kopfüber auf die Planken flog. „So ein verstocktes Kerlchen!“ schrie Thorfin erbost. „Wir werden das Schiff selbst durchsuchen.“ „Ich will seine Antwort“, sagte Hasard. „Wollen doch mal sehen, ob der Kerl nicht redet.“ Das Mädchen wiederholte die Frage jetzt zum dritten Male. Cheng-Li sah hochmütig über sie weg. Hasards Geduld war jetzt auch erschöpft. Unter seiner Mannschaft gab es Verletzte, um die der Kutscher sich bereits kümmerte, das Schiff sah aus, als sollte es abgewrackt werden, und aus den Planken qualmte es immer noch 'leicht. „Legt ihm einen Strick um den Hals und fiert die Rah ab!“ sagte er ärgerlich. „Das fehlt dem Burschen schon lange“, erwiderte Carberry.
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Die Rah wurde abgefiert, Tucker brachte einen Strick, knüpfte eine Schlinge und warf sie Cheng-Li um den Hals. „Will der hohe Herr ihn wirklich aufhängen?“ fragte das. Chinesenmädchen entsetzt. Hasard nickte ernst. „Natürlich werden wir ihn hängen, wenn er nicht spricht. Sag ihm das auch, aber er merkt schon selbst, was wir vorhaben. Sag ihm, in ganz kurzer Zeit hängt er da oben an der Rah. Von dort aus kann er sich das Land des Großen Chan einmal viel weitläufiger ansehen. Er wird einen prächtigen Ausblick haben.“ Das Mädchen übersetzte blumenreich und schnell, und sie schien das alles noch ein wenig auszuschmücken, obwohl sie selbst nicht daran glaubte, daß der hohe Herr den Mann hängen würde. Er wollte ihn nur zum Reden bringen. Jetzt wurde das Gesicht des Kapitäns starr, und ein paar seiner Leute, die das gehört hatten, was „Flüssiges Licht“ sagte, wollten in blinder Panik über Bord springen. Sie nahmen an, daß der Seewolf nun einen nach dem anderen aufknüpfen werde. „Entweder ist der Kerl so stur“, sagte Carberry, „oder er hat schon mit seinem Leben abgeschlossen.“ „Der kriegt nicht mal an der Rah das Maul auf“, meinte Matt Davies verwundert. „Der muß doch die Hosen voll haben!“ So ähnlich erging es Cheng-Li auch, aber er ließ sich das nicht anmerken. Sollten die fremden Teufel denken, was sie wollten, sein Schicksal war so oder so besiegelt. Weshalb sollte er ihnen dann noch einen Gefallen erweisen? Hasard sah den Wikinger an, der vor Zorn bald platzte. Er dachte an die Niederlage, die ihm nicht zuletzt auch Cheng-Li mit beigebracht hatte. „Das kotzt mich an!“ brüllte er. „Diese Gauner überfallen uns, entführen SiriTong, klauen die Mumie, ah, was soll ich da noch lange reden!“ Wutschnaubend griff er nach dem Chinesen, riß gleichzeitig ein kurzes
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Messer aus dem Gürtel und packte ChengLi. Noch bevor Hasard eingreifen konnte, war es schon geschehen. Cheng-Li stieß einen Schrei aus, der sie alle zusammenzucken ließ. Thorfin fetzte mit dem scharfen Messer den Zopf des Kapitäns ab, hielt ihn eine halbe Sekunde lang in der Hand und steckte ihm seinen eigenen Zopf in den Rachen, bis Cheng-Lis Angstschrei erstickte. „Friß ihn!“ brüllte der Wikinger laut. „Und wenn du nicht sofort redest, werde ich dir noch viel mehr abschneiden!“ Im ersten Augenblick hatte jeder geglaubt, Thorfin wollte den Chinesen umbringen, obwohl sich keiner das so recht vorstellen konnte. Der Wikinger brachte keinen Mann meuchlings um, und schon gar keinen, der wehrlos vor ihm stand. Die Spannung löste sich in befreiendem Gelächter. Zuerst begann der Profos zu lachen, dann fiel die ganze Crew ein, und etwas später wurde das Gelächter zu einem Orkan homerisch brüllender Männer, die sich nur schwer wieder beruhigten. Cheng-Li stand da, völlig entgeistert, und würgte an seinem Zopf, der ihm ein Stück aus dem Mund hing. Der Wikinger, der die Sitten und Gebräuche der Chinesen nicht kannte, war überrascht, wie das Zopf abschneiden den Kapitän von einer Sekunde zur anderen verwandelt hatte. Cheng-Li war totenblaß geworden. Man hatte ihn seiner Ehre beraubt, und das war fast noch schlimmer, als hätte man ihn an der Rah hochgezogen. Dann das schimpfliche Gelächter dieser Kerle! Er hielt es nicht mehr aus. Er war vor Angst wie verwandelt. 6. Cheng-Li begann zu reden, immer schneller, die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Dabei sah er unverwandt auf „Flüssiges Licht“. Seinen Zopf hatte er ausgespuckt, nur noch ein paar lange Haare hingen ihm zwischen den Lippen hervor.
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Er fühlte sich gedemütigt, in seiner Ehre verletzt, verhöhnt und der Lächerlichkeit preisgegeben. Hasard hatte die Verwandlung ebenfalls mit Erstaunen registriert. Er beugte sich vor, sah Cheng-Li an, dann wieder das Mädchen. „Was sagt er?“ „Er sagt das, was ich dem hohen Herrn auch schon gesagt habe. Die Frau befindet sich auf einer Gemüsedschunke, die nach Shanghai segelt. Der tote Kapitän ist an Bord des Schiffes ,Fei Yen', und dort befindet sich auch ein ehrenwerter alter Herr, der auf das Piratenschiff Khai Wangs umgestiegen ist.“ „Ein ehrenwerter alter Herr?“ fragte Hasard. Er brauchte nicht lange nachzudenken, bis es ihm einfiel. Der ehrenwerte alte Herr war kein anderer als Hung-wan, der alte Chronist, der letzte Überlebende an Bord des schwarzen Seglers, der ihm auch den Namen „Eiliger Drache über den Wassern“ verliehen hatte. Der Alte war fast schon Legende, und wenn Hasard gerecht zu sich selbst war, dann hatte dieser Hung-wan ein weitaus größeres Anrecht auf die Mumie als SiriTong. Er hatte dafür gesorgt, daß sie einbalsamiert, in das Geheimversteck gebracht und über die Meere gebracht wurde, bis Piraten das Schiff überfallen hatten. „Wohin segelt Khai Wang?“ wollte Hasard wissen. Sie übersetzte wieder, obwohl Hasard die Antwort längst ahnte. „Er ist unterwegs in die Purpurne Verbotene Stadt. Sie heißt Peiping.“ Hasard nickte. Dann winkte er mit gekrümmtem Zeigefinger einen der anderen Kerle heran, die verschüchtert am Schanzkleid hockten. Sie hatten Blessuren, und sie wollten nicht mehr kämpfen, nicht mehr gegen diese Horde weißer Teufel, die ihnen so arg zugesetzt hatte. Ihr Widerstand war gebrochen, Apathie hatte sie überfallen. Und ihr stolzes Schiff war ein Wrack, das zwar noch schwamm, aber nicht mehr seetüchtig war.
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Der Seewolf ließ auch diesen Mann ausfragen, der sich anfangs stur stellte. Aber er hatte mitgekriegt, was seinem Kapitän widerfahren war, und als der Wikinger mit seinem Messer spielte und dabei lüstern auf den Zopf des Mannes starrte, packte auch dieser rigoros aus. „Ed, Ferris, Dan! Durchsucht das Schiff bis in den entferntesten Winkel. Ich bin sicher, daß die Kerle die Wahrheit gesprochen haben, aber gesundes Mißtrauen kann bei ihnen niemals schaden.“ Die drei Männer begannen damit, das Schiff auf den Kopf zu stellen. Sie durchsuchten es vom Deck bis zum Kielschwein, aber sie fanden nichts. Noch zwei andere beteiligten sich lebhaft an der Suche, die aber kaum der Roten Korsarin galt. Mißjöh Buveur und Muddi, das dreckige Rattengesicht, schlichen durch die Decks und durchsuchten hinter Thorfins Rücken auch die Kapitänskammer. Andächtig hielten sie nach Verwertbarem Ausschau, bis Mißjöh einen freudigen Schrei ausstieß. „Perlen“, sagte er heiser, „eine ganze Schachtel voll Perlen. Mann, die können wir brauchen.“ Die gelackte Holzschachtel warf er achtlos in die Ecke. Die Perlen stopfte er in die Hosentasche und gab Muddi großzügig zwei Stück davon ab. Dann suchten sie weiter. Sie fanden zerbrechlich wirkende kleine Krüge mit einer Flüssigkeit, die wie Lack aussah. Mißjöh Buveur probierte, verdrehte die Augen und heimste die Krüge ein. „Irgend so ein Schnaps“, brabbelte er, „Mann, Mißjöh, der ist ja noch wertvoller als die Scheißperlen!“ Er deckte sich damit ein, und auch Muddi vergaß nicht, sich seinen Anteil zu sichern. Dann schlichen sie wieder an Deck und brachten ihre Beute unauffällig an Bord. Carberry, Tucker und der junge O'Flynn erschienen wieder an Deck. Tucker hatte verschiedene Räume abgeklopft und dabei vermutet, daß es auch hier Geheimverstecke wie auf dem
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schwarzen Segler gäbe. Aber er hatte nichts gefunden. „Die Korsarin ist nicht an Bord“, sagte Ed. „Aber wir haben in einem kleinen Laderaum ein paar Goldbarren gesehen. Sollen wir sie an Bord holen?“ „Wie viele sind es?“ „Nicht mehr als zwölf oder vierzehn Barren. Sie sind etwas kleiner als unsere.“ Hasard überlegte kurz. „Nein“, entschied er dann. „Soli der Kerl damit selig werden. Für das Gold kann er sich neue Masten kaufen und sein Schiff aufriggen lassen. Laßt sie ihm!“ Er wandte sich wieder an das Mädchen, das in Cheng-Lis Nähe stand und zu Boden blickte. „Wenn er noch einmal unseren Kurs kreuzt, wird es ihm verdammt dreckig ergehen“, sagte Hasard. „Beim nächsten Mal hat er kein Schiff mehr unter dem Hintern.“ Sie übersetzte auch das, und Hasard sah, wie der gebrochen wirkende Chinese gleichgültig mit dem Kopf nickte. Der war sowieso erledigt, er hatte keinen Mast mehr an Deck stehen, seine Leute hatten sich stark dezimiert, und er selbst besaß keinen Zopf mehr, was für ihn wohl das allerschlimmste war. Thorfins erste Wut war jetzt verraucht. Sie hatten den Burschen in die Knie gezwungen, und der würde sich hüten, noch einmal ihren Kurs zu kreuzen. „Scher dich zum Teufel!“ sagte er laut und vernehmlich. „In der Hölle kannst du deinen Kahn wieder reparieren, du hast ja schon Übung darin!“ „Flüssiges Licht“ sah den Nordmann an. Ihr Gesicht war eine einzige Frage, denn sie hatte Thorfin nicht verstanden. „Ach was, bei Odin, er wird schon selbst wissen, was er zu tun hat“, brummte der Wikinger. Carberry hörte es hinter sich leise' winseln. Er drehte sich um und sah den Chinesen mit dem langen Zopf, der sich vergeblich bemühte, von der Nagelbank loszukommen. Ed stemmte die Arme in die Hüften und grinste.
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„Hat man da noch Worte“, murmelte er, „will dieses schmierige Rübenschwein etwa bei uns mitsegeln? Oder gefällt es dir hier. an Bord so gut, was, wie?“ Der Zopf träger schrie etwas, laut und schrill. „Binde ihn los und jage ihn zum Teufel“, befahl Hasard. „Aye, Sir. Losbinden und zum Teufel jagen“, wiederholte Ed. Er mühte sich redlich ab, den verknoteten Zopf des Chinesen von dem Fall zu lösen. Aber das ging nicht, da hatte sich alles verdreht, einschließlich Tauwerk und Haare. „Ja, was tun wir denn da?“ fragte Ed hinterhältig grinsend. „Entweder lassen wir ihn da hängen oder ...“ Er hielt inne und schien zu überlegen. „Klar“, sagte er dann strahlend, „wir schneiden einfach das Fall durch. Nein, verdammt, das ist mir zu schade“, meinte er dann. „So ein Tau kostet Geld, aber so ein lausiger Zopf, der wächst von ganz allein wieder nach!“ Sprach's, nahm das Messer und schnitt dem Chinesen ebenfalls den Zopf großzügig ziemlich dicht oben am Schädel ah. „Ha, da werden sie munter, diese triefäugigen Kakerlaken“; sagte er lachend, als der Chinese mit einem Schrei des Entsetzens losstürmte und dabei mit einer Hand seinen Schädel festhielt. „Das bringt sie auf Trab, die Gelbrübenschweine.“ Der Chinese rannte schreiend weiter, bis er endlich irgendwo auf seinem Schiff unter Deck verschwand. „Du kannst auch verschwinden“, bedeutete Hasard mit einer Handbewegung dem Kapitän Cheng-Li, der ihn noch einmal ängstlich ansah, dann aber ebenso schnell losflitzte wie der andere. Er wollte ihn noch fragen, wie diese Gemüsedschunke aussähe, auf die man Siri-Tong gebracht hatte, doch die Frage erübrigte sich. Eine sah aus wie die andere, da gab es keinen Unterschied, und auf jeder fuhren drei oder vier Chinesen. Sie mußten sich auf ihr Glück verlassen, diesen trügerischen Freund, der meist auf
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Wanderschaft war und sie schon viel zu oft im Stich gelassen hatte. Hasard beriet sich mit Thorfin und dem Boston-Mann, der eine Schramme auf der Brust davongetragen hatte. „Wir segeln so schnell wie möglich weiter“, sagte er. „Es besteht immerhin die Möglichkeit, daß wir diese Dschunke noch einholen. Sie wird dicht unter der Küste entlangsegeln und sie ist auch nicht so schnell. Sollte etwas Unvorhergesehenes passieren, ein Sturm, der uns trennt, dann sehen wir uns im Hafen von Shanghai wieder. Unsere Schiffe können wir unterwegs klarieren.“ „Hoffentlich kriegen wir diese lausige Dschunke noch“, sagte der Wikinger. „Uns wird nichts anderes übrigbleiben, als jede vor der Küste segelnde Gemüsedschunke zu untersuchen.“ „Na, dann viel Spaß“, sagte Hasard sarkastisch. „Das Mädchen hat mir gesagt, vor Shanghai gäbe es Hunderte von diesen Dingern.“ „Noch etwas, Seewolf.“ Thorfin Njal blickte auf den Trümmerhaufen, der immer noch zwischen ihnen trieb. „Sollen wir ihn nicht lieber versenken? Dann haben wir vor den Kerlen Ruhe.“ Hasard lachte spöttisch. Seine ausgestreckte Hand wies auf das Schiff. Dann schüttelte er den Kopf. „Der kreuzt nicht mehr unseren Kurs“, sagte er entschieden. „Bis das Schiff aufgeriggt ist, haben wir das Land des Großen Chan längst wieder verlassen. Außerdem sind den Burschen bis dahin die Zöpfe noch nicht nachgewachsen.“ „Löst die Enterhaken!“ rief Ben Brighton. „Hopp, hopp! Hoch die Segel und auf dem gleichen Kurs weiter!“ Carberry gab den Befehl weiter und warf dabei einen mitleidigen Blick auf das Drachenschiff. „Den Kahn möchte ich nicht geschenkt haben“, sagte er, „der sieht genauso nackt aus wie die Chinesen, wenn man ihnen die Zöpfe abgeschnitten hat.“ Der alte Segelmacher Will Thorne schleppte zusammen mit Batuti und Luke Morgan das Ersatzsegel aus der Segellast
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herbei. Es war ganz neu und noch nicht gefahren worden. Bis es angeschlagen war, verging eine ganze Weile. Carberry löste die Enterhaken und blickte die Chinesen grimmig an, die immer noch total apathisch herumhockten und schnell wegsahen, wenn der gallige Blick des Profos sie traf. Sie hatten genug, sie waren restlos bedient. Das Drachenschiff löste sich, blieb hinter ihnen zurück und trieb langsam auf die nahe Küste zu. Tucker und Carberry sahen dem Wrack nach. „Steuern und segeln läßt es sich nicht mehr“, sagte der Schiffszimmermann grinsend, „somit fehlen ihm alle guten Eigenschaften, die ein Schiff haben muß. Genauso gut kannst du auf einem Nachttopf über das Meer segeln, Ed.“ „Das ist richtig, Ferris. Es ist nicht mehr als ein schwimmender Misthaufen. Aber diese Rübenschweine haben es ja nicht anders gewollt. Aus unserer ersten Begegnung haben sie nichts gelernt. Wenn der Kahn nicht absäuft, haben sie Glück. Säuft er ab, dann haben sie immer noch ihre Rettungsboote. Die sind ja fast zu beneiden, die Kerle.“ „Ja, soviel Glück auf einmal“, murmelte Tucker. „Hoffentlich hat man den Kampf vom Land aus nicht beobachtet, denn für aridere muß es ja so ausgesehen haben, als hätten wir ein friedliches Schiff überfallen und geplündert.“ Carberry kratzte sein Rammkinn. Seine Bartstoppeln waren auch schon wieder mehr als einen Tag alt. Dann nickte er bedächtig. „Du könntest recht haben, Ferris. Hoffentlich gibt's deshalb keinen Ärger in Shanghai, und hoffentlich hat der Seewolf auch daran gedacht.“ „Hat er ganz sicher, der denkt immer an alles. Und jetzt brauche ich ein paar Leute, die mir helfen, das Deck zu klarieren. Uns hat es ganz schön erwischt, aber die Feuer der Brandsätze sind zum Glück erloschen.“ „Nimm dir, wen du willst, ich sehe inzwischen noch einmal nach dem Bengel, der benahm sich vorhin so komisch.“
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Bill war aber längst wieder auf den Beinen, wie der Profos feststellte. Der Kutscher hatte nur beruhigend abgewinkt, als er ihn nach dem Jungen fragte. Er fand ihn in der Kuhl wo er emsig damit beschäftigt war, die Unebenheiten abzuschmirgeln, die Tuckers mächtige Axt verursacht hatte, und weil der Bengel so in seine Arbeit vertieft war, stellte ihm der Profos auch keine Fragen. Während das Deck klariert wurde, versorgte der Kutscher noch immer kleine Blessuren und auch ein paar ernstere Wunden. Stenmark hatte eine Fleischwunde, die stark blutete, aber er nahm sie nicht ernst. Dort hatte ihn der Bolzen einer Armbrust erwischt und das Fleisch durchschlagen. Der Kutscher reinigte die Wunde, packte Salbe drauf und gab dem Schweden einen Klaps auf den Rücken. „In drei Jahren hast du das längst vergessen“, sagte er grinsend. „Ich habe es schon vor drei Stunden vergessen“, erwiderte der Schwede und grinste ebenfalls. Sam Roskill und Luke Morgan wurden ebenfalls noch versorgt. Die anderen Prellungen, Blutergüsse und kleinen Stauchungen heilte ohnehin die Zeit, und der konnte auch der Kutscher nicht vorgreifen, wie er sagte. Hinter ihnen verschwand das Drachenschiff, das immer näher zur Küste trieb. Es sah in der Tat wie ein altes Wrack aus. An Deck stand kein einziger Mast mehr, lediglich die schwarzen Stümpfe mit ihren gezackten Splittern reckten sich anklagend in den Himmel. Es gab keine Wanten mehr, kein stehendes Gut, nur noch liegendes Gut, wie der Profos es ausdrückte. Es dümpelte wild in der See, trieb um seine eigene Achse und schob sich dabei weiter dem Land zu, wo die Wellen es später auf den steinigen Strand setzen würden. Die „Isabella“ segelte in die Dämmerung hinein, gefolgt von dem schwarzen Segler, der zwei Kabellängen hinter ihnen lief. Langsam wurde es Nacht.
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Der befürchtete Wetterumschwung war nicht eingetreten, der Wind hatte nur einmal gedreht, war dann aber in seine vorherige Richtung zurückgegangen. Wegen seiner Adleraugen saß Dan O'Flynn diese Nacht im Ausguck. Dem entging auch eine abgedunkelte Dschunke nicht, selbst wenn sie pechschwarz gestrichen war und schwarze Segel hatte. Seit zwei Stunden saß er hinter der Segeltuchverkleidung in luftiger Höhe und blickte mal zum Land, dann wieder auf See hinaus. Hinter ihnen segelte immer noch „Eiliger Drache“, der gut an seiner schäumenden Bugwelle zu erkennen war. Thorfin Njal traute sich nicht, die „Isabella“ zu überholen, außerdem war er kein Hitzkopf wie Siri-Tong. Das, was Hasard ihm eingebleut hatte, hatte er sich gemerkt, und nun hielt er sich zurück, um nicht wieder unangenehme Situationen heraufzubeschwören. Der Seewolf erschien an Deck. Er hatte zwei Stunden lang geschlafen und fühlte sich ausgeruht. Am Ruder stand Big Old Shane, der mit seiner mächtigen Gestalt fast die kleine Hütte ausfüllte. „Bisher haben wir noch nichts gesehen“, begrüßte ihn der ehemalige Schmied von der Feste Arwenack. „Es ist wie verhext, aber uns ist noch nicht ein einziges Schiff begegnet, und dabei soll es hier doch angeblich von Dschunken nur so wimmeln.“ „Vielleicht liegt das an der etwas rauhen See“, erwiderte der Seewolf. „Die Dschunken fahren Deckslast, und wenn sie ein Brecher überrollt, sind sie ihren Krempel los.“ „Ja, das wird es wohl sein.“ Immer wenn der Mond zwischen den Wolken für kurze Augenblicke hervorlugte, sah man die nicht weit entfernte Küste. Es war ein ziemlich trostloser Streifen mit karger Vegetation. Es gab nur kleine Sträucher und Krüppelbäume, und ab und zu diese
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bewässerten Felder, in denen die Reispflanzen standen. „Kleines Boot Backbord voraus!“ hörten sie die klare Stimme Dan O'Flynns rufen. Hasard entdeckte es ebenfalls, aber bei genauem Hinsehen entpuppte es sich als größerer Nachen, in dem zwei Männer hockten, die vom Mond mit silbrigem Licht übergossen wurden. „Fischer“, sagte Hasard. „Sie stehen nur eine Kabellänge von der Küste entfernt.“ Stunde um Stunde verging. Einmal glaubte Dan an der Kimm eine größere Dschunke zu sehen, doch das konnte auch eine Täuschung gewesen sein, denn sie tauchte nicht mehr auf. Mitternacht. Der Wind blies jetzt kühler. Der Bug der „Isabella“ tauchte mitunter schwer in die See. Gischt erhob sich wie ein feiner Schleier und stäubte in langen Bahnen über das Vorschiff. „Geh schlafen“, sagte Hasard zu Shane, als Ben Brighton an Deck erschien, um den großen Shane abzulösen. Big Old Shane lachte leise. „Das könnte euch so passen“, meinte er, „jetzt, da der Kutscher heißen Rum nach achtern bringt!“ Der Kutscher jonglierte mit heißem Wasser, ein paar Mucks und einer Rumflasche. Aus der Hosentasche brachte er kleine Stücke Zuckerrohr zum Vorschein, die er in die Mucks tat. „Sag mal, Kutscher, du schläfst wohl gar nicht, was?“ fragte Big Old Shane. „Was glaubst du wohl, was ich in der Kombüse tu, wenn das Essen auf dem Herd kocht?“ fragte der Kutscher zurück. „Da mach ich klar bei Backbordauge, und später wechsele ich dann auf Steuerbord. Dabei kriege ich soviel Schlaf zusammen wie die anderen auch.“ Die Männer lachten leise. Hasard blickte zum Großmars hinauf. „Enter ab, Dan, aber sieh dich vorher noch einmal um!“ „Ich bleibe lieber oben!“ schrie Dan zurück. „Der Kutscher hat heißen Rum gebracht.“ „Ihr habt mich überredet“, sagte Dan und enterte ab.
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Der Kutscher reichte ihm die Muck, und Dan trank in kleinen Schlucken. „Das wärmt prächtig auf“, sagte er. „Mitunter hat der Kutscher ganz gute Ideen. So“, er reichte die Muck wieder zurück, aber Hasard hielt ihn am Arm fest. „Ich lasse dich ablösen“, sagte er. „Jetzt halte ich es noch ein paar Stunden aus, Sir, glaube mir dis, ich gehe nicht eher 'runter, bis wir so eine lausige Dschunke in Sichtweite haben.“ Damit verschwand er wieder. Noch einmal sichteten sie Fischer, die in ihrem Boot Ölfunzeln aufgestellt hatten. Auch sie fischten so dicht unter der Küste, daß sie mit der groben See kaum in Berührung kamen. Stunden später — es dämmerte schon bald wieder — hatte sich immer noch nichts geändert. Es war kein anderes Schiff zu sehen. Dann kroch die Dämmerung über den Horizont, und es wurde grau. Der Wind hatte etwas nachgelassen, und demzufolge war auch die See etwas ruhiger geworden. Auf dem Wasser tanzten kleine Nebelschwaden. Die ersten Seewölfe erschienen an Deck, gähnten verstohlen und pützten Seewasser zur morgendlichen Wäsche. Etwas später nahm das Bordleben seinen normalen Lauf. Der Kutscher brachte Wasser mit heißem Rum vermischt und warmes Maisbrot. Die „Isabella“ näherte sich den nördlichen Inseln von Ningbo. Hasard fluchte verhalten, als die kleinen Striche Backbord voraus auftauchten und der Abstand zum Land sich vergrößerte. „Wenn die Dschunke in diese Riesenbucht hineinsegelt, werden wir sie nie finden. Sie kann in aller Ruhe immer dicht an der Küste entlangsegeln oder sich zwischen den Inseln verstecken.“ „Wir müssen uns diesmal wirklich auf unser Glück verlassen — oder auf n Zufall“, sagte Ben Brighton. „Ich schlage vor, wir verlassen unseren Kurs nicht, denn die Dschunke wird vermutlich auf dem schnellsten Weg ihr Ziel erreichen wollen.“
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„Das hört sich gut an“, gab Hasard zu, „und da ich das gleiche annehme, tun wir so, als gäbe es diese Inseln nicht. Wir laufen auf dem alten Kurs weiter in Richtung Shanghai-Shi. Der Karte nach muß das dort drüben sein.“ Dan O'Flynn hielt sein Wort. Er enterte nicht eher ab, bis er das entdeckt hatte, was er die ganze Nacht gesucht hatte. „Schiff Backbord voraus, vermut eine Dschunke, die Gemüse fährt!“ rief er. Jeff Bowie löste ihn ab. „Vergiß nicht, den Lappen dreimal zu schwenken“, sagte Dan noch zu Jeff. „So war es mit Thorfin vereinbart. Er weiß dann, daß wir so einen Kahn gesichtet haben.“ Bowie tat, wie ihm geheißen, und vom schwarzen Segler wurde auch ein Lappen geschwenkt, zum Zeichen, daß man dort drüben verstanden hatte. Ein Segel entfaltete sich bei Thorfin knatternd, und schon schob sich das schwarze Schiff langsam näher an die „Isabella“ heran. Hasard blickte durchs Spektiv, aber er sah nicht nur eine kleine Dschunke, sondern gleich mehrere. Die eine segelte allerdings allein direkt vor ihnen, die anderen segelten zu dritt. Vom Achterkastell aus sah der Seewolf zu Thorfin hinüber. Dann zeigte er auf sich und schließlich mit der linken Hand nach Backbord. Thorfin, mittlerweile auf knapp hundert Yards herangesegelt, rief etwas und nickte. Er wußte Bescheid und hatte verstanden. Hasard würde nach Backbord ausweichen und er nach Steuerbord. Dann hatten sie die Gemüsekutsche wieder im bewährten Zangengriff, und sie konnte nicht mehr ausweichen. Immer mehr Einzelheiten ließen sich erkennen, als sie näher an die Gemüsedschunke heransegelten. Vier Männer segelten sie, Männer mit Tellerhüten, Oberlippenbärten und Zöpfen. Die Dschunke war mit Grünzeug bis an die Halskrause beladen. Hasard erkannte grüne Sträucher, Bambus und hellgrünes Kraut. Dazwischen lag Gemüse von einer Sorte, die er nicht kannte.
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„Was sagt dein Gefühl, Ben?“ fragte er den Bootsmann. Brighton hob die Schultern. „Ich weiß nicht, aber die Kerle scheinen ein schlechtes Gewissen zu haben. Sie laufen fast unmerklich in Richtung der Inseln ab und tun so, als wäre das ganz normal.“ „Ja, das tun sie. Dann werden wir ihnen folgen.“ Er wandte sich an Pete Ballie, der wieder das Ruder übernommen hatte. „Zwei Strich Backbord, Pete. Wir segeln so, daß wir die Dschunke an Backbord überholen.“ Ballie wiederholte den Befehl und grinste. Als die „Isabella“ nach Backbord abdrehte und der schwarze Segler sich von Steuerbord heranschob, schlugen die Kerle auf der Dschunke einen Haken hart nach Backbord. Die Dschunke fuhr nur ein bambusverstärktes Mattensegel, und sie war zwar langsamer, dafür aber wesentlich wendiger als die „Isabella“, die nicht so schnell folgen konnte. „Seht euch diese Kerle an“, sagte Carberry, der am Niedergang zum Quarterdeck stand. „Denen steht das schlechte Gewissen richtig ins Gesicht geschrieben. Die haben Angst, diese Bilgenläuse.“ „Ja, das haben sie“, sagte Hasard nachdenklich. Er sah die vier Burschen, die jetzt offensichtlich in Panik gerieten, als der Rahsegler ihnen den Weg verlegte. Zwei von ihnen rannten sinnlos hin und her, der dritte bediente den kleinen Kolderstock, und der vierte sprach hastig auf ihn ein. Dabei deutete er ständig zur „Isabella“ und auf den schwarzen Segler, der sich drohend und mächtig heranschob und schon fast gleiche Höhe erreicht hatte. Der Profos grinste maliziös. Sein Daumen wies verächtlich nach unten. „Den Gemüseladen kann Bill ganz allein entern“, sagte er, „und das schafft er noch mit links. Die Burschen sind ja vor Angst halb wahnsinnig.“ „Laß ein paar Segel wegnehmen, Ed! Sonst sind wir schneller an ihm vorbei, als uns lieb sein könnte.“
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„Aye, Sir! Auf die Stationen!“ schrie Carberry gleich darauf. Das Großsegel wurde weggenommen, und gleich darauf ging die Fahrt der „Isabella“ leicht zurück. Noch einmal versuchte die Dschunke auszuweichen. Sie beschrieb einen langen Bogen, doch als sich der Bug mächtig und groß, näher heranschob, verließ den Dschunkenkapitän der Mut. Er hatte Angst, von dem großen Schiff untergemangelt zu werden. Blitzschnell versuchte er nach der anderen Seite auszuweichen, doch das mißlang ebenfalls, denn dort kreuzte jetzt der schwarze Segler auf, der die Dschunke erbarmungslos vor sich herjagte. Auch Thorfin hatte Segel wegnehmen lassen. Inzwischen waren die anderen kleinen Dschunken so hart zur Küste hin abgelaufen, daß man sie zwischen den Inseln nur noch schwach erkennen konnte. Andere Schiffe trieben sich noch weiter in Landnähe' herum, und niemand schenkte ihnen Beachtung. Nur die vier' Burschen hatten angstvolle Gesichter. „Sollen wir Enterhaken werfen?“ fragte der Profos. Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Nein, Thorfin brennt schon darauf, den Kahn auseinanderzunehmen. Wenn wir auch noch anlegen, zermalmen wir den Kahn zwischen unseren Bordwänden. Wir halten das Schiff so, daß die Dschunke nicht mehr weiter zur Küste ablaufen kann.“ Gleich darauf erschien das chinesische Mädchen an Deck. Sie sah strahlend frisch aus, und als sie sich leicht verneigte, richteten sich die Blicke aller Seewölfe auf sie. Das war ihr immer etwas peinlich, sie wurde rot und verlegen, denn manche von den Kerlen blickten nicht gerade wie fromme Betbrüder. Sie hatte schon gesehen, was mittlerweile passiert war, und wandte sich an Hasard. „Ob es die Dschunke ist?“ fragte sie leise. „Sie könnte es sein, aber in ein paar Minuten wissen wir es ganz genau. Hat der
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Diener das Boot nicht ausführlicher beschrieben?“. „Sie gleichen sich alle, sie haben st immer die gleiche Größe, segeln t drei oder vier Männern und sind oben hin mit Gemüse und Reis beladen.“ „Hoffentlich ist sie es“, wünschte Hasard laut. Aber trotzdem konnte er sich nicht so richtig vorstellen, daß Siri-Tong sich unter diesem Gemüse befand. Es war eine innere Stimme, die Hasard das sagte. Er hatte das Gefühl, als würde es eine Enttäuschung geben. Andererseits gab ihm das Verhalten der Kerle zu denken, die Haken geschlagen hatten und ständig versuchten, auszuweichen. Jetzt schien es, als hätten sie sich in ihr Schicksal ergeben. Auf dem schwarzen Segler wurden zwei Enterhaken geschleudert. „Eiliger Drache“ schien das kleine Boot einfach zu überrollen. 8. Der Wikinger hätte die Gemüsedschunke am liebsten mit den bloßen Händen auseinandergerissen, als er die vier verängstigten Gestalten sah. Die Dschunke prallte an den schwarzen Segler. Ein dumpfer Stoß ließ die vier Kerle fast über Bord fliegen. Sie hielten sich krampfhaft fest und erwarteten das Unvermeidliche. Thorfin sprang mit einem wilden Satz hinüber, mehr hinunter, wenn man es genau nahm und landete zwischen duftenden Pflanzen. Der Boston-Mann folgte, dann Juan, der Bootsmann. Die Chinesen wichen zurück, hoben die Hände und ergaben sich ohne die geringste Gegenwehr. Thorfin schnappte sich den, der am Ruder gestanden hatte und die Dschunke steuerte. Jetzt segelte sie Bordwand an Bordwand mit dem schwarzen Schiff und brauchte vorerst keinen Steuermann. Thorfins Anblick lähmte die Chinesen. Ihre Angst ließ sich kaum noch in Worten ausdrücken. Sie starrten den Wikinger an wie ein Wundertier, der dem Steuermann
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das Hemd am Hals zusammendrehte und ihn mühelos ein halbes. Yard hochhievte, bis dem Chinesen die Augen aus dem Kopf quollen und er nach Luft schnappte „Wo ist die Frau?“ brüllte der Wikinger mit Donnerstimme. Natürlich verstand ihn keiner, die drei anderen standen immer noch mit erhobenen Armen herum. „Los, Juan, Boston-Mann, durchsucht den Kahn! Wenn sie an Bord ist, hat man sie bestimmt unter dem grünen Zeug versteckt.“ Thorfin ließ den zitternden Kapitän los, der verzweifelt von einem zum anderen blickte. Dann sprang er zwischen Bambusstroh, Reispflanzen und Gemüse. Er walzte alles nieder, warf das Zeug zur Seite und wühlte sich tiefer nach unten. Währenddessen stand auf der „Isabella“ alles, was Beine hatte, am Steuerbordschanzkleid. Die Männer waren gespannt, ob sich eine Spur von der Roten Korsarin fand, manche bezweifelten es, andere dagegen wollten sogar Wetten abschließen, daß man sie fand. „Etwas dichter heran, Pete“, sagte der Seewolf, „aber gib acht, daß wir das Schiffchen nicht zerquetschen!“ Ballie steuerte den Rahsegler mit Fingerspitzengefühl näher, bis die Dschunke, armselig und klein, zwischen den beiden Giganten fast erdrückt wurde. „Den Kurs so halten, Pete!“ „Aye, aye, Sir! Den Kurs so halten!“ Hasard stieg in die Kuhl, dem tiefsten Punkt der Decks, und winkte dem Mädchen, ihm zu folgen. „Frage ihn, wohin er segelt“, bat Hasard. Sie tat es, und der Dschunkenkapitän, ohnehin voller Angst und total eingeschüchtert, gab bereitwillig Auskunft. Er schnatterte drauflos, daß sich seine eigenen Worte überschlugen. Er zeigte sich nicht einmal überrascht, daß er plötzlich in seiner eigenen Sprache angeredet wurde. „Er segelt nach Shanghai“, übersetzte sie. „Er hat Lü-cha und Hongcha geladen, außerdem Reisstroh und Gemüse.“ „Was ist Lü-cha und das andere?“ fragte Hasard und sah dabei wieder auf den
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Wikinger und seine Leute, die rigoros alles abräumten und zur Seite warfen, was ihnen in die Hände fiel. „Man bereitet Getränke daraus. Die Portugiesener, die es kennen, nennen es Tee. Sie schätzen das Getränk.“ Hasard deutete auf rote und grüne Blätter an verdorrenden Stengeln. „Und daraus wird es zubereitet?“ wollte er wissen. „Man kocht die Blätter. Man kann sie auch getrocknet verwenden, sie halten sich lange.“ Auf der einen Seite hatte der Boston-Mann jetzt die Bohlen des Laderaums erreicht. Juan prüfte die Bohlen, und auch Thorfin suchte nach einem Versteck, aber er fand keins. „Ferris!“ rief Hasard. „Sieh mal nach, ob du etwas entdecken kannst.“ Ferris Tucker schwang sich auf die Dschunke hinüber. Auch vor ihm wichen die Chinesen angstvoll zurück, aber er grinste nur und machte sich an die Arbeit. Darin war der Schiffszimmermann Spezialist. Er hatte sämtliche geheimen Verstecke an Bord von „Eiliger Drache über den Wassern“ gefunden, und auch hier entging ihm nichts. Die Bohlen, die er prüfte, wiesen kein Versteck auf. Ein Teil des Holzes bestand aus dem Schiffsboden selbst, der Rest war ausgebessert worden. Hasard wandte sich wieder an das Mädchen und blickte den Kapitän an, der ihn ängstlich anstarrte. „Wenn er eine Frau an Bord hat, soll er es sagen, ihm wird dann nichts geschehen. Wenn er aber lügt, und wir finden sie, dann werden wir ihn, seine Männer und den Kahn versenken. Und er soll beileibe nicht glauben, daß wir scherzen.“ Schon als sie übersetzte, hob der Kapitän abwehrend die Hände, und die drei anderen Kerle schüttelten entschieden den Kopf. Er sprach wiederum so schnell, daß Hasard sich wunderte, daß „Flüssiges Licht“ überhaupt ein Wort verstand. Nach einer Weile hörte er auf zu sprechen, schüttelte aber immer noch den Kopf. „Er schwört beim Sohn des Himmels, daß sich keine weitere Person an Bord
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befindet“, sagte sie. „Ich glaube, er spricht die Wahrheit, denn dieser Schwur ist ihm heilig.“ „Weshalb hat er dann versucht, die Küste zu erreichen und wollte davonsegeln, wenn er nichts zu befürchten hat ?“ Wieder übersetzte sie, und erneut muhte sie sich eine endlos lange Tirade anhören. „Er sagt, sie würden immer flüchten, sobald sich ihnen ein größeres Schiff nähert. Es gehört bei ihnen zum normalen Tagesablauf, daß sie ständig überfallen werden. Lausige Piraten machen ihm das Leben zur Hölle.“ Hasard lachte spöttisch und sah „Flüssiges Licht“ etwas skeptisch an. „Was, zum Teufel, wollen denn die Piraten von einer kleinen Gemüsedschunke? Da gibt es doch nichts zu holen!“ „Oh, doch, hoher Herr! Die Piraten trauen sich nicht, die Küste anzulaufen, aber sie brauchen Tee und frische Gemüse, und darum versorgen sie Sch bei den Dschunken, indem sie sie überfallen und ausplündern. Natürlich nehmen sie nicht alles, immer nur soviel, wie sie benötigen. Das aber schmälert den Gewinn der Kapitäne, und deshalb versuchen sie, die Küste zu erreichen.“ „Ein logisches Argument“, sagte der Seewolf. „Vielleicht haben wir ihm wirklich unrecht getan, dann wer en wir uns natürlich in aller Fort bei ihm entschuldigen.“ Al sie auch das übersetzte, schien der Kapitän etwas zugänglicher zu wer en. Seine Angst verflog, und Hasard sah sich in seiner Hoffnung getäuscht, Siri-Tong doch noch zu find n. Ganz sicher hatten sie einen harmlose Dschunkenfahrer erwischt, von denen es hier so viele gab. Das erschwerte die Suche natürlich noch mehr, denn schließlich konnten sie nicht jede Gemüsedschunke anhalten und kontrollieren. „Nichts zu finden!“ schrie Thorfin enttäuscht. „Die Kerle fahren tatsächlich nur Gemüse.“ Tucker war mit seiner Kontrolle fertig. Er sah hoch und blickte die vier Chinesen an, die jetzt zaghaft grinsten.
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„Vergiß die achteren Räume nicht, Ferris!“ rief der Seewolf. „Und dort vorn gibt es auch noch eine kleine Kammer oder eine Last. Sieh genau nach!“ Tucker hatte das ohnehin vorgehabt. Das Gemüse war jetzt einmal regelrecht umgedreht worden, und man hatte nichts entdeckt. „Wenn sie nichts finden, werde ich den Kapitän entschädigen“, sagte Hasard zu dem Mädchen. „Welches Zahlungsmittel ist hier beliebt? Gold, Silber oder Perlen?“ „Man bevorzugt Silber, hoher Herr. Aber es ist nicht nötig, daß der hohe Herr den Kapitän entschädigt. Er ist froh, wenn er nicht ausgeplündert wird.“ Hasard rief nach dem Moses, der schon da war, bevor er noch seinen Namen ausgesprochen hatte. „Geh in meine Kammer, Bill! Unter der Koje befindet sich ein Fach. Öffne es und nimm zwei Silberbarren heraus.“ „Sofort, Sir!“ Der Bengel flitzte nach achtern, und etwas später kehrte er mit zwei Silberbarren zurück. „Sind die schwer“, sagte er, als er sie auf die Planken der Kuhl legte. Er stellte sich dicht neben das Mädchen und blies sich wieder auf, aber diesmal bemerkte es niemand, alle waren zu sehr mit den Ereignissen auf der Dschunke beschäftigt. Hasard ließ noch ein Segel wegnehmen, denn immer wieder überholte die „Isabella“ das Schiff, und mitunter fuhr sie so dicht auf, daß sich die Bordwände fast berührten. Das lag aber nicht an Pete Ballie, sondern an Hilo, der den schwarzen Segler steuerte und ihn nicht genau auf Kurs hielt. Tucker war jetzt auch achtern mit der Durchsuchung fertig. Da gab es nur eine kleine Kammer, in der ein paar Matten auf dem Boden lagen. Nachdem er den Raum schnell vermessen hatte, konnte er auch kein Versteck entdecken. Zum Schluß marschierte er noch einmal nach vorn, zu der kleinen Last. Er zwängte sich hindurch. Sie war so groß, daß er gerade gebückt darin stehen konnte.
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Das Licht, das von oben hineinfiel, reichte zur Orientierung. Der Raum enthielt nur eine kleine Taurolle, ein zusammengelegtes Mattensegel und ein paar getrocknete Blätter von jener Sorte, wie die Dschunke sie in dem Laderaum mitführte. Durch die Ritzen der Last konnte er in den angrenzenden Laderaum, sehen. Auch hier gab es kein Versteck, wie er feststellte. „Nichts zu finden, Hasard“, sagte er, als er den Raum wieder verlassen hatte. „Es gibt kein Versteck, das groß genug wäre, einen Menschen aufzunehmen, dafür verbürge ich mich.“ Thorfin Njal ließ die Ohren hängen. Er bedachte den Dschunkenkapitän mit einem giftigen Blick, und er sah so aus, als hätte er mit seinen großen Fäusten das Schiffchen am liebsten einmal umgedreht und kräftig durchgeschüttelt. „Verschwindet, ihr Schlitzaugen!“ knurrte der Wikinger enttäuscht wegen des Mißerfolgs. Er wollte sich entschuldigen, aber er brachte es nicht fertig. Er, der Boston-Mann und der Bootsmann Juan enterten wieder an Bord zurück, was der Kapitän mit einem erleichterten Aufatmen zur Kenntnis nahm. „Wir segeln voraus!“ schrie der Wikinger noch einmal, dann löste sich „Eiliger Drache“ von der Dschunke und lief auf Nordkurs weiter. Hasard war ganz in den Anblick der grünen Blätter versunken. Er stellte sich vor, was sich aus diesem Zeug zubereiten ließ, denn er kannte es nicht. Deshalb reizte es ihn ganz besonders. „Wirf den Enterhaken hinüber, Ed“, sagte er. „Weshalb?“ fragte der Profos. „Die Korsarin ...“ „Tu, was ich dir sage, Profos!“ „Aye, aye, Sir!“ Der Enterhaken verkrallte sich in der Bordwand. Das Tau wurde belegt, und der Dschunkenkapitän sah plötzlich bleich aus, Er begriff nicht, was die Fremden Teufel noch wollten, nachdem sie keine Frau bei ihm an Bord gefunden hatten.
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Er wunderte sich sowieso, daß sie ausgerechnet auf einer Gemüsedschunke eine Frau suchten. „Sage dem Kapitän bitte, er möchte aufentern!“ Das Mädchen rief etwas hinunter. Der Kapitän schluckte, blieb unbeweglich stehen und sah Hasard voller Furcht an. „Er hat Angst, hoher Herr!“ „Er braucht keine Angst zu haben, wir tun ihm nichts.“ Der Kapitän, ein kleiner Kerl mit einem verängstigten Gesicht, blieb mißtrauisch. Er hatte schon viel von den Fremden Teufeln gehört, aber direkten Kontakt hatte er noch nie mit ihnen gehabt, und an Bord eines solchen Schiffes war er auch noch nie gewesen. Er enterte angstvoll auf und zuckte zusammen, als starke Arme nach ihm griffen, um ihm über das Schanzkleid zu helfen. Dann stand er wie ein Häufchen Elend in der Kuhl, senkte den Blick und trat von einem Bein auf das andere. Hasard gab ihm die zwei Silberbarren und lächelte dazu. Zu „Flüssiges Licht“ gewandt sagte er: „Ich möchte mich entschuldigen und ihm zur Entschädigung diese Silberbarren geben.“ Das gelbe Gesicht mit den geschlitzten Augen verwandelte sich. Zuerst war der Ausdruck ungläubig, dann fassungslos und schließlich trat ein Leuchten in die Augen. Der Mann legte die Hände an die Brust, verneigte sich immer wieder und ging dabei rückwärts, bis er gegen den Profos prallte. Erschrocken drehte er sich um, verbeugte sich vor Carberry und schritt dann wieder auf Hasard zu, wobei er fortwährend etwas murmelte. „Es ist mir eine große Ehre“, übersetzte die Chinesin, „das Schiff betreten zu dürfen. Mein unwürdiger Körper wird es besudeln, aber der hohe Herr möge mir verzeihen.“ Carberry hatte für solche Floskeln keine Ader. Er runzelte die Stirn und sah Matt Davies an, der neben ihm stand.
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„Meine Anwesenheit wird das Schiff verunreinigen“, begann er wieder, wie das Mädchen übersetzte. Carberrys Gesicht verfinsterte sich noch mehr. „Wenn der hier an Deck scheißt“, sagte er zu Matt, „dann kann er aber was erleben.“ Matt lachte leise, die anderen grinsten, und der Seewolf warf dem Profos einen drohenden Blick zu. Zum Glück hatten weder das Mädchen noch der Kapitän seine Worte verstanden, weil er englisch sprach. „Ist doch wahr“, knurrte Ed leise im Flüsterton, „dauernd faselt er davon, das Schiff zu besudeln. Aber wenn er das tut, dann werfe ich ihn über Bord.“ Hasard klopfte dem Mann schließlich auf die Schulter, als die Verneigungen kein Ende mehr nahmen. Der Kapitän hielt die beiden Silberbarren fest umklammert, als wolle er sich sein ganzes Leben lang nicht mehr von ihnen trennen. Dann wurde er aktiv. Er trat ans Schanzkleid und rief den drei anderen etwas zu. Auf deren Gesichtern erschien jetzt ebenfalls ein Grinsen, als ginge die Sonne auf. Sie wollten sich revanchieren, und sie taten es, indem sie Reis, Sojabohnen sowie grünen und roten Tee nach oben reichten. „Um Himmels willen“, sagte Hasard, „er soll bloß nicht seine Dschunke entladen. Mich interessieren lediglich ein paar Blätter von diesem - äh - Schüschan.“ „Lü-cha und Hong-cha“, half das Mädchen lächelnd nach. Doch der Kapitän, einmal in seinem Element, ließ sich nicht mehr halten. Für die zwei Silberbarren hätte er außer einer neuen Gemüsedschunke auch noch zehn Ladungen gekriegt, und so luden die drei Kerle fröhlich ab, mit einem immerwährenden Grinsen in den Gesichtern und vielen Worten, die meist das gleiche ausdrückten. Sie bedankten sich pausenlos, verneigten sich und luden weiter ab, bis die Kuhl von einem Segen aus Bambus, Reis, Mais, Tee und Bohnen überfloß.
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Der Kutscher, ein seit jeher aufgeschlossener Mann für Neuerungen, war herangeschlichen und rieb sich die Hände. Er betrachtete das Zeug, begutachtete es, schielte regelrecht und kriegte immer größere Augen. Da gab es Sachen, von denen er noch nie gehört hatte. Die kleinen weißen Körner kannte er nicht, und auch die Bohnen hatte er noch nie gesehen. „Die sehen aus wie Kakerlaken, diese Dinger“, hörte er den Profos neben sich murmeln. „Ich wette, die laufen gleich davon, wenn man sie anfaßt. Bohnen mit Schwänzen, so was habe ich auch noch nie gesehen. Bist du sicher, daß man das Zeug essen kann, Kutscher?“ „Wenn die Chinesen es essen, können wir es auch. Und außerdem sehen die Bohnen so aus, als wären sie angekeimt. Es muß eine ganz besondere Art sein. Ich denke, das Mädchen wird uns später alles erklären.“ Carberry starrte mißtrauisch auf runde Knollen, kleine weiße Körner und äußerte die Vermutung, daß es sich um Hagelkörner handelte, aber er meinte es nicht ernst, denn ab und zu grinste er. Hasard hob die Hände und winkte ab, doch die Chinesen gaben nicht eher Ruhe, bis die Dschunke gut zur Hälfte entladen war. Erst dann, als das ganze Zeug sich in der Kuhl zu einem riesigen Berg türmte, waren sie zufrieden. Der Kapitän umklammerte immer noch seine Silberbarren, als hätte er zwei Säuglinge an der Brust. Von den vielen Verbeugungen hatte er schon ein krummes Kreuz. Zu allem Überfluß verschaffte er sich einen Abgang, der es in sich hatte, aber daran war größtenteils auch der Schimpanse Arwenack schuld, der plötzlich auf der Bildfläche erschien und mitten in das grüne Zeug hineingriff. Bisher hatte er sich zurückgehalten, und niemand hatte ihn gesehen. Der Kapitän erschrak, dienerte sich zurück, stolperte rücklings ans Schanzkleid, geriet ins Straucheln, und weil er seine Silberbarren nicht losließ, verlor er das
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Gleichgewicht und stürzte über Bord, noch bevor ihn jemand halten konnte. Er landete auf der Dschunke, fiel weich in das restliche Gemüse und grinste immer noch selig. Die Seewölfe verzogen die Gesichter, doch da erklang Hasards unbeteiligt klingende Stimme. „Wer jetzt laut lacht, den lasse ich nachher auspeitschen, und das meine ich verdammt ernst.“ Gesichter verzogen sich zu den unmöglichsten Grimassen, die das dahinter verborgene Grinsen nur noch deutlicher zeigten. Aber es lachte niemand. Auch dann noch nicht, als der Kapitän sich erhob, die beiden Barren immer noch haltend, und seine Männer ihn aus dem Laderaum zogen. Hasard winkte ihm zu, gab dabei gleichzeitig dem Affen einen Klaps, der wahllos einiges aus dem Gemüse geklaut hatte und sich damit in den Großmars verziehen wollte. „Wir segeln weiter!“ rief Hasard. Der Enterhaken wurde gelöst, die Dschunke trieb ab, und der Profos jagte die Männer auf die Stationen, und weil er sich irgendwie abreagieren mußte, warf er wieder mit seinen Lieblingssprüchen um sich. „Steht nicht herum und lacht, ihr Rübenschweine!“ schrie er. „Da gibt es nichts zu lachen, was, wie? Hoch mit den Segeln, ihr triefäugigen Kakerlaken, oder muß ich euch erst die Haut in Streifen von euren verdammten Affenärschen abziehen!“ Hinter ihnen blieb die Dschunke zurück, als auf der „Isabella“ die beiden Großsegel gesetzt wurden. Am Steuer der Dschunke stand ein grinsender Chinese, der das alles immer noch für einen Traum hielt. Solche „Piraten“ kannten ihn jeden Tag zehnmal überfallen, er hatte nichts dagegen, und er hatte auch seine Meinung über die Fremden Teufel grundlegend geändert. Die bezahlten ihre Ware wenigstens mit dem hundertfachen Wert, wogegen er bei seinen eigenen Landsleuten froh sein mußte, wenn sie ihn ausplünderten und nicht auch
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noch zum Dank verprügelten, weil er ein lausiger Gemüsefahrer war. Hasard blieb in der Kuhl. Auf dem Achterkastell stand jetzt Ben Brighton, der vorübergehend das Kommando übernommen hatte. „Ich muß mir das Zeug erst einmal genau ansehen“, hatte der Seewolf gesagt. Neben ihm stand immer noch händereibend der Kutscher und daneben das Mädchen, das ihnen alles erklärte. „Lü-cha, die grünen Blätter hier, werden in Wasser gekocht“, erklärte sie. „Hong-cha ebenfalls. Die Portugiesener trinken es heiß oder kalt, und sie tun Wein oder das andere braune Getränk hinein, dazu geben sie etwas Zucker.“ Hasard hörte aufmerksam zu. Er nahm sich vor, wenn sie das Land des Großen Chan wieder verließen, von allem etwas mitzunehmen, das es hier gab. Die Auswahl war reichhaltig, und er dachte an den Tabak, den sie damals in England zu einem unwahrscheinlich hohen Preis verkauft hatten, weil es bei Hofe plötzlich Mode geworden war, das Kraut zu rauchen. Weshalb sollte es nicht auch Mode werden, Lü-cha oder Hong-cha zu trinken oder Reis zu essen? Die Portugiesen hatten ihnen gegenüber einen Vorteil. Sie kannten das Land schon lange, obwohl sie nicht mehr sonderlich beliebt waren, aber sie ernährten sich von Reis, tranken Lü-cha, den sie Tee nannten, und waren gut versorgt. „Hast du heißes Wasser, Kutscher?“ fragte Hasard. „Aber immer, Sir!“ „Gut, dann versuchen wir das Getränk, jetzt gleich. Würdest du ihm dabei helfen?“ fragte Hasard das Mädchen. Sie nickte schnell, denn an die Kost, die es an Bord gab, konnte sie sich nur schwer gewöhnen. Es war kein schlechtes Essen, beileibe nicht, aber ihr fehlten der Reis, die süßen Kartoffeln, der Tee und die Bohnen. Hier an Bord gab es Viel Fleisch, manchmal gesalzen, mitunter getrocknet, und insgeheim verabscheute „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ das Fleisch. Sie ernährte sich viel lieber von
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Reis und Gemüse. Lediglich Fisch mochte sie noch, das war die einzige Abwechslung. Der Kutscher schleppte das Zeug nach vorn zur Kombüse, und als er das Schott erreichte, drehte er sich noch einmal grinsend um. „Euch Madenfressern wird noch das Wasser im Maul zusammenlaufen“, versicherte er. „Na, ich weiß nicht“, meinte Blacky und sah auf die Bohnen mit den langen Keimlingen. „Das Zeug haben sie doch bestimmt erst aus der Erde gebuddelt, als es schon keimte, vielleicht weil sie nichts anderes mehr zu fressen hatten.“ Er nahm ein paar von den Bohnen in die Hand und betrachtete sie. Er war skeptisch, worin ihm die anderen zum größten Teil nicht nachstanden. Es wurde hin und her palavert, begutachtet, kritisiert, bis Ben Brighton die Geduld riß. „Weshalb meckert ihr hirnrissigen Bauernlümmel eigentlich immer schon vorher, was? Wartet doch erst einmal ab. Wenn euch das Zeug nicht schmeckt, könnt ihr immer noch das Maul aufreißen! Dann freßt ihr eben weiterhin Pökelfleisch und sauft lauwarmes Wasser mit einem Schuß Rum.“ „Richtig“, sagte Carberry laut und schielte auf die kleinen weißen „Hagelkörner“. „Erst hinterher wird gemeckert, nehmt euch gefälligst ein Beispiel an mir!“ „Du hast selber dauernd rumgemotzt!“ rief Luke Morgan. „Das war nicht so gemeint, du Stint! Los, bringt das Zeug nach vorn, sonst laufen die Kakerlaken —äh, die geschwänzten Bohnen, noch allein zur Kombüse.“ Es war wirklich nicht leicht, Neuerungen einzuführen, dachte Hasard, der alles gehört hatte. Fast jeder war skeptisch oder mißtrauisch und mußte erst überzeugt werden. Er konnte es seinen Männern nicht verdenken, sie mußten sich erst nach und nach daran gewöhnen, und es würde mit Sicherheit noch eine Menge Gemecker geben, das wußte er, selbst bei seiner so aufgeschlossenen Mannschaft. Schon auf dem schwarzen Segler war das völlig
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anders. Der Wikinger hatte sich um das Gemüse überhaupt nicht gekümmert. Gut, er stammte aus dem Norden, da hielt man sich lieber an Fleisch, aber ewig gesalzenes Fleisch essen, das hing mit der Zeit jedem Mann zum Hals heraus. Interessiert sah er zu, wie „Flüssiges Licht“ zwei Hände voll der grünen Blätter in den Topf steckte, in dem das Wasser kochte. In einen anderen Topf tat sie Reis, und der Kutscher grinste, als er sah, daß sie nur ein paar Hände voll nahm. „Immer hinein damit“, sagte er und wollte nachschütten, aber das Mädchen hielt ihn zurück. „Wenn es eine Weile kocht, wird der Topf bis oben hin voll“, sagte sie, was wiederum der Kutscher nicht glauben wollte und Hasard sich nur schwer vorstellen konnte. Diese paar Körner sollten einen großen Topf voll abgeben? Das war fast unvorstellbar, aber „Flüssiges Licht“ mußte es schließlich besser wissen als sie alle zusammen. Inzwischen schleppten die Männer das Zeug zur Kombüse, bis der Kutscher sie anbrüllte. „Soll ich vielleicht in dem Gemüse ersaufen, was? Bringt es in die Vorpiek.“ „Bringt es lieber in die Segellast“, sagte Hasard. „Da ist es trocken, und es kann nicht verfaulen.“ Smoky steckte seinen Schädel durch das Schott und schnupperte. „Riecht gut“, sagte er. „Was gibt das?“ „Lütscha, du Hammel“, erwiderte der Kutscher trocken. Smoky zog wieder ab. „Jetzt quasselt der auch schon Chinesisch“, brummte er. „Schüscha, als ob das jemand behalten kann. Aber es riecht ganz gut.“ „Was riecht gut?“ fragte Bob Grey. „Kütscha, natürlich, du Hammel“, erwiderte der Decksälteste. Bis das Wort auf dem Achterdeck erschien, war es so total verbogen, daß sein eigentlicher Sinn längst beim Teufel war. Jeder sprach es anders aus. Auf dem Vordeck hatte es noch seinen richtigen Namen, in der Kuh] hatte es sich in „Süflasch“ verwandelt, auf dem
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Quarterdeck wurde „Scheschlei“ daraus, und auf dem Achterdeck, wo Batuti und Sam Roskill etwas ausbesserten, verstand der Gambianeger „Salzfleisch“. „Viel großes Wort um viel Scheiß“, schimpfte er, „erst kommen frisch Gemüse an Bord, Batuti denken, werden jetzt kochen, aber Batuti falschen denken, geben wieder verfluchtes Salzfleisch, wo armes Batuti immer kriegen Durst, daß können ganze Meer von Große Chan aussaufen.“ Sam Roskill lachte aus vollem Hals, und selbst Ben Brighton mußte mitlachen, weil der Neger sich so engagierte und alles in den falschen Hals kriegte. Die „Isabella“ war noch keine halbe Stunde weitergesegelt, als das Mißtrauen erst recht losging. Der Kutscher stellte den Kübel an Deck, dem ein aromatischer Duft entströmte. Die meisten Männer der Crew hatten sich darum geschart, und jeder hielt eine Muck in der Hand. „Bedient euch“, sagte der Kutscher. „Das ist das Getränk, das sogar der Große Chan täglich trinkt, ich habe es gesüßt. Versucht es mal, aber verbrennt euch nicht die Schnauzen.“ Mißtrauisch blickten sie in den Kessel, aus dem es dampfte. Hasard hatte eine Muck voll geschöpft, blies darüber und trank in kleinen Schlucken. Die Männer hielten ihre Mucks noch unentschlossen in den Händen, und ein paar befürchteten insgeheim, ihr Kapitän würde gleich Krämpfe kriegen und umfallen. „Sehr gut“, lobte der Seewolf und war von dem Geschmack angenehm berührt. „Jetzt probierten auch die anderen. Carberry nahm einen Schluck, kaute darauf herum und nickte. „Hm, hm“, sagte er und nickte gönnerhaft. Sein narbiges Gesicht blieb ernst, aber Hasard sah das hinterhältige Grinsen diesmal nicht auf seinen Lippen, sondern an den Augen. „Fragt sich, wie das mit einem kleinen Schuß Rum schmecken würde“, sagte Ed lauernd.
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„Das ist vorerst nicht Sinn und Zweck der Sache, Profos“, meinte Hasard. „Aber gut, jeder kriegt einen Schuß Rum in die Muck.“ „Bißchen bitter, aber nicht schlecht“, sagte Bob Grey. Der alte O'Flynn trank ebenfalls, natürlich mit Rum, und weil das Zeug so heiß war, verbrannte er sich die Lippen. „Neumodisches Zeug“, brummte er vor sich hin. „So was hat's früher nicht gegeben.“ „Ja, da habt ihr fauliges Wasser mit grünen Fäden gesoffen“, konterte der Seewolf trocken. „Wie schmeckt es dir?“ „Wenn man die heiße Brühe weglassen würde und noch eine doppelte Portion Rum reingießt, ist es nicht übel“, stellte O'Flynn fest. Dann aber verzog er sich doch mit seiner Muck in einen stillen Winkel und trank kleine Schlucke. Die echte Begeisterung wollte nicht so recht aufkommen, die Männer waren es einfach nicht gewöhnt, aber „Flüssiges Licht“ versicherte dem Seewolf, daß es den Portugiesen ähnlich ergangen sei. Aber heute würden sie den Tee literweise trinken, grünen wie auch roten. Hasard kehrte aufs Achterkastell zurück. Er klopfte Bob Grey im Vorbeigehen auf die Schulter. „Du hast recht“, sagte er, „es schmeckt ein klein wenig bitter, aber angenehm bitter. Vielleicht sollte man nicht soviel von den Blättern hineintun.“ Hasard überprüfte die chinesische Seekarte und verglich sie mit dem Land. Auf Steuerbord querab lagen winzige Inseln mit unaussprechlichen Namen. Dahinter dehnte sich die Weite der Yupangyan-Bucht. „Wenn wir die nächsten beiden Inseln passiert haben, Pete“, sagte er, „dann gehen wir zwei Strich nach Backbord. Dann werden wir auch die Segel nachtrimmen.“ „Aye, Sir. Das Zeug ist wirklich nicht schlecht, ich meine es ehrlich, es löscht den Durst.“ „Da hast du allerdings recht, Pete!“
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Auf einer der Inseln standen Hütten, wie Hasard durch das Spektiv sah. Beim Anblick des fremdartigen Schiffes strömte eine Menge Leute zusammen. Lange starrten sie der „Isabella“ nach. Auf dem Vordeck stritt Batuti immer noch herum, er verstand nicht, weshalb es jetzt doch kein Salzfleisch, aber auch kein Gemüse gab. „Batuti nix mehr verstehen“, radebrechte er, „Batuti trinken, bis Salzfleisch kommen.“ „Wo, zum Teufel, soll denn Salzfleisch herkommen?“ fragte Ferris Tucker verwundert. „Was faselst du denn dauernd von Fleisch?“ Batuti tippte sich an die Stirn, nahm eine Muck voll heißen Tee und trank ihn bedächtig. „Batuti nicht mehr wissen, glauben alle spinnen. Seit ‚Isabella' in Land von Große Chan, alles verrückt. Einer sprechen so, anderer sagen so. Viel blöd!“ „Der muß irgendwas falsch verstanden haben“, sagte Tucker und sah dem Neger kopfschüttelnd nach. 9. Nachmittags gab es zum ersten Mal auf dem Rahsegler Reis. Zu Hasards großem Erstaunen waren fast alle begeistert. Die Ausnahme waren wieder einmal Old O'Flynn und Luke Morgan. Der Profos mampfte und kaute und ließ sich nichts anmerken. Er gab auch keinen Kommentar, aber er holte sich noch eine Portion, obwohl das Zeug seinen ganzen Magen zusammenklebte, wie er versicherte. Old O'Flynn kaute mit langen Zähnen, starrte immer wieder in die Schüssel, griff dann mit dem Finger hinein und zerrieb den weichen Reis, wobei er wieder „neumodisches Zeug“ brummte. Dann herrschte plötzlich Heiterkeit an Bord, wie es sie schon lange nicht mehr gegeben hatte. Der Anlaß zu dem wilden Gejohle war das Chinesen-Mädchen „Flüssiges Licht“.
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Niemand begriff etwas, als sie aus den etwas dickeren Bambushölzern zwei lange Stäbchen brach und sie mit dem Messer etwas zurechtschnitt. Die Stäbchen waren etwas länger als eine Hand und etwas dünner als ihr kleiner Finger. Sie nahm sie in eine Hand, drückte sie geschickt zusammen und begann damit Reis aus der Schüssel zu essen. Mehr als fünfzehn Augenpaare sahen ihr fassungslos zu, und jeder behauptete störrisch, das ginge gar nicht, das wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Daraufhin brach regelrecht ein Fieber an Bord aus. Tucker mußte lange Hölzer schnitzen. Er hielt sich nicht lange damit auf, sondern hieb das dünne Bambusrohr einfach in Stücke. Es gab einen tollen Spaß, die Heiterkeit nahm kein Ende, und jeder versuchte, es dem Mädchen gleichzutun, aber das sah einfacher aus, als es war. Während die Seewölfe ungeschickt mit den Hölzern zu essen versuchten, erklang immer wieder das perlende Lachen des Mädchens, das sich köstlich amüsierte. Sie wurde ungläubig angesehen, als sie behauptete, jeder Chinese würde so sein Essen einnehmen, es gäbe kein anderes Besteck. Manche bissen auf die Hölzer, die meisten konnten sie nicht einmal halten, weil die vertrackten Dinger sich nicht halten ließen, und einige verschütteten den Reis an Deck. Die meisten gaben das Spiel bald wieder auf, es war einfach nicht zu schaffen, sie kriegten nichts in den Mund. Dafür sah das Deck aus, als hätte es geschneit, und das schadenfrohe Gelächter wollte kein Ende nehmen, wenn Blacky oder der Kutscher statt auf den Reis in die Hölzer hissen. Später erschien „Flüssiges Licht“ auf dem Achterkastell und brachte dem Seewolf noch eine Muck voll Tee. Hasard fand, daß er längst nicht mehr so bitter schmeckte, und ließ sich zwischendurch genau erklären, wo sie sich jetzt befanden.
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,Demnach werden wir Shanghai bis übermorgen früh erreichen, wenn der Wind anhält und nicht dreht“, überlegte er. „Shanghai“, sagte das Mädchen. „,Flüssiges Licht' hofft, dem hohen Herrn geholfen zu haben, ich werde dort an Land gehen.“ „Ohne dich werden wir viel Schwierigkeiten kriegen“, sagte der Seewolf leise. Er nahm sich vor, dem Mädchen einen kleinen Beutel voller Perlen zu schenken, wenn sie die „Isabella“ verließ. Damit konnte sie, die vielleicht längst totgeglaubte Flußbraut, ein neues Leben anfangen, ein Leben ohne Sorgen. „Wie meint der hohe Herr das?“ fragte sie zaghaft. „Nun“, Hasard lächelte sie an, „niemand von uns versteht die Sprache, und niemand von uns wird sie erlernen, weil sie viel zu schwierig ist. Wir können uns nicht verständigen, und so wird es immer wieder Mißverständnisse und Ärger geben. Ich kann es dir nicht zumuten, noch länger an Bord zu bleiben, aber ...“ Er schwieg und sah zum Horizont. „Ja, bitte?“ fragte sie so leise, daß der Seewolf es kaum hörte. „Es würde uns alle natürlich freuen, wenn du bis zur Rückfahrt an Bord bleiben könntest. Die Leute haben dich gern, niemand wird dir zu nahe treten oder dich belästigen. Hast du nicht selbst einmal gesagt, daß wir ohne dich Schwierigkeiten kriegen? Du hast sehr viel für uns getan, ,Flüssiges Licht', und alle sind dir sehr dankbar dafür. Die Männer werden traurig sein, wenn du uns verläßt.“ „Der hohe Herr auch?“ „Ja, ich auch.“ „Ich wünsche nicht, daß der hohe Herr traurig ist:“ In ihrer Sprache war damit bereits alles gesagt. Weiterer Worte bedurfte es nicht. Für sie hieß das, sie würde so lange an Bord bleiben, wie der hohe Herr es wünschte. „Heißt das, du bleibst noch bei uns?“
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Ihre zierlichen Finger lagen auf dem Handlauf der Five Rail, und sie malte kleine unsichtbare Muster auf das Holz. „Ich werde noch bleiben, hoher Herr!“ „Ich danke dir, aber es kann gefährlich werden.“ „Es war schon gefährlich, hoher Herr! Es war auch auf dem Fluß gefährlich, als Ho Po mich holen sollte. Ich hatte Angst. Angst vor dem kalten Wasser - und Angst vor dem Tod, obwohl ich dann zu den Ahnen gegangen wäre.“ Hasard wollte sie fragen, wie eigentlich ihre Eltern darüber dachten, die sie doch sicher längst ertrunken wähnten, aber er spürte, daß er mit seiner Frage etwas berührte, das sie in ihren feinen Empfindungen verletzen könnte, und so unterließ er die Frage lieber. Ihr Blick war verschleiert, offenbar war sie mit ihren Gedanken weit fort, doch plötzlich lag wieder ein fast seliges Lächeln um ihren Mund. „Ho Po wird sich ärgern“, sagte sie unbefangen. „Vielleicht hat er in jener Nacht auch geschlafen. Oder gibt es ihn gar nicht?“ „Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann“, sagte der Seewolf. „Bei uns gibt es keine Flußgötter, und Menschen dürfen bei uns nicht geopfert werden.“ „Würde der hohe Herr mir von seinem Land erzählen?“ „Aber gern.“ Sie hörte zu und schloß die Augen, während Hasard von England sprach. Sie stellte sich das Land vor und fragte ab und zu auch mal. „Ich wünschte mir“, sagte sie leise, „ich könnte auch in andere Länder fahren, aber das schickt sich für ein Mädchen nicht. Wünscht der hohe Herr noch Lü-cha?“ „Gern“, sagte Hasard. „Mit dem scharfen Getränk zusammen?“ „Ohne“, sagte Hasard grinsend. Eine Dschunke segelte vor ihnen ins offene Meer hinaus und kreuzte ihren Kurs. Sie nahm den Rahsegler kaum zur Kenntnis. Der Ausguck hielt weiterhin nach Gemüsedschunken Ausschau, aber es gab
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nur wenige, und die segelten zumeist einen anderen Kurs oder liefen die Küste an. Die andere Dschunke, auf der sich die Rote Korsarin befand, hatte vermutlich schon so viel Vorsprung, daß sie sie vor Shanghai nicht mehr einholen würden, und Hasard dachte sogar an die Möglichkeit, daß sie von Siri-Tong nie wieder eine Spur fanden. * Der Tag verging, es wurde wieder Nacht, und das Meer bildete nur noch ganz kleine Wellen. Auch der Wind ließ etwas nach, womit sich die Geschwindigkeit der „Isabella“ gleichzeitig reduzierte. . In dieser Nacht regnete es wieder. Aber nach einer Stunde war alles vorbei. Hasard blickte auf den schwarzen Segler, der stur und unbeirrbar durch Nacht und Meer pflügte und einen weißen Streifen hinter sich herzog. Er glaubte sogar, die mächtige Figur des Wikingers auf dem Achterdeck zu sehen, der fast unbeweglich am Kolderstock stand und „Eiliger Drache über den Wassern“ durch die Nacht knüppelte. Am anderen Morgen war es endlich soweit. Am Horizont tauchte Shanghai auf. Die Seewölfe waren schon früh auf den Beinen, das Schiff wurde geschrubbt und gesäubert, damit es blitzblank aussah, wenn es in den Hafen lief, von dem Hasard nur eine sehr vage Vorstellung hatte. „Jetzt tauchen sie auf, diese Gemüsekutscher“, sagte Ben, „und vielleicht ist sogar die dabei, auf der SiriTong steckt.“ Hasard nickte. Das ist alles möglich, aber ich zähle bei flüchtigem Hinsehen schon mindestens dreißig Dschunken. Was wir auch unternehmen, es ist sinnlos, wir können nicht mal eine einzige mehr kontrollieren, sonst kriegen wir dicken Ärger.“ In diesen frühen Morgenstunden herrschte ein geradezu unglaublich anmutendes Gewimmel. Auf der Reede von Shanghai lagen unzählige Dschunken vor Anker.
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Dazwischen segelten kleine Bambusflöße, Dschunken, die mit Blumen beladen waren, und Dschunken, die Menschen beförderten und nichts anderes als Fähren waren, auf denen dichtgedrängt Chinesen mit Tellerhüten standen. Hier offenbarte sich den Seewölfen zum erstenmal der ganze Zauber des chinesischen Reiches. „Man könnte direkt schwärmen“, sagte der Profos. „Hier riecht es nach Abenteuern, vielleicht gibt's hier auch ein paar Kneipen, die wieder mal aufgeräumt werden müssen. Ich freue mich schon auf den ersten Landgang.“ Die anderen freuten sich auch, aber der Seewolf zerschlug ihre heimliche Vorfreude schon im Ansatz, obwohl er den Männern die Abwechslung gönnte. „Unsere größte Sorge ist Siri-Tong, Männer. Erst wenn wir sie gefunden haben, könnt ihr die Kneipen ausräumen. Vorher spielt sich in der Richtung nichts ab.“ Die „Isabella“ schob sich der Reede entgegen. Auf „Eiliger Drache“ hatte man bereits zwei Segel weggenommen. Auch Hasard ließ das erste Großsegel ins Gei hängen. Sie holten den schwarzen Segler ein und glitten im Abstand von nur zwanzig Yards weiter. Pete Ballie wich einer sorglos dahintreibenden Dschunke aus, die ihren Kurs kreuzte, und fluchte leise. „Mann, wie wollen wir da jemals hindurchsegeln“, sagte er, „wenn die Kerle alle schlafen.“ Rechts von ihnen lagen kleine Boote in einer Ecke, die vom Land begrenzt wurde. Menschen erschienen aus den Löchern, die den Eingang darstellten. Die schwimmenden Hütten waren mit Reisstroh gedeckt. Ein übler Geruch drang herüber, das Wasser schillerte in allen Farben. Auf den ersten Blick war es das reinste Chaos, dieser Hafen mit seiner malerischen Pracht, dem bunten Leben und Treiben, auf den zweiten Blick dagegen schien das Chaos doch übersichtlich. Wohl kreuzte
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alles scheinbar bunt durcheinander, aber der Seewolf entdeckte ein ganz bestimmtes System darin, und die vielen Boote wichen einander immer geschickt und rechtzeitig aus. Immer wieder segelten kleine Dschunken vorbei, die mit bunten Blumen überladen waren. In halsbrecherischer Manier mogelten sie sich an auslaufenden Dschunken und Flößen vorbei. Weiter vorn, an einer langgezogenen hölzernen Pier, erschienen Leute wie Ameisen. Fast alle trugen sie diese Tellerhüte. Hafenarbeiter schleppten Kisten, Säcke und lange Stangen, an deren Enden sich zwei große Schalen befanden. Die Stangen bogen sich bei jedem Schritt beängstigend weit durch, und mehr als einmal sah es so aus, als würden die Männer ihre Last verlieren. Die meisten waren barfuß, trugen knielange Hosen aus grober Seide und eine um die Hüften mit einem Strick zusammen geknüpfte helle Jacke. Die „Isabella“ wurde bestaunt, obwohl weiter hinten im Hafen ein portugiesischer Rahsegler lag. Er war aber nur halb so groß. Immer wieder trafen sie auf Flöße, kleine Wohnboote, die verholt wurden, und Pete Ballie fluchte ständig, weil immer wieder vor dem Bug unbekümmert dahinsegelnde Chinesen auftauchten, die in den toten Winkel gerieten und erst dann wieder auftauchten, wenn sie nur handbreit von der „Isabella“ vorbeitrieben. „Wenn wir einen von denen untermangeln, ist er selbst schuld“, sagte der Rudergänger. „Ich kann den lausigen Böcken nicht ausweichen, das Ruder reagiert zu langsam.“ „Die weichen von selbst aus und wissen das“, beruhigte ihn Hasard. „Die sind wohl lebensmüde“, knurrte er gleich darauf, als zwei kleine Boote auf sie zupullten. In jedem hockten mindestens acht bis neun Chinesen, die neugierig herübergrinsten. Einer stand im Boot und rief etwas.
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Hasard verstand kein Wort. Aber „Flüssiges Licht“ war schon an seiner Seite. „Der hohe Herr möge den Booten folgen“, sagte sie. „Sie werden uns einen Liegeplatz anweisen.“ „Die denken bestimmt, wir wollen Handel treiben“, sagte der Seewolf, „aber da werden wir sie wohl enttäuschen müssen.“ Das andere Boot; mit sieben grinsenden Zopfmännern besetzt, pullte vor den Bug von „Eiliger Drache“. Aber dann, als die Chinesen den Wikinger sahen, verschwand das Grinsen wie weggewischt aus ihren Gesichtern. Sie starrten den Riesen an, der überall auffiel, und tuschelten erregt miteinander, dabei immer wieder auf ihn deutend. Sein Helm und seine Kleidung erregte fraglos mächtiges Aufsehen. Thorfin kümmerte das nicht im geringsten. Auch die Leute störten ihn nicht, die auf der Pier zusammenliefen. „Verschwindet da vorn!“ brüllte er laut. „Sonst werdet ihr untergemangelt. Haut ab!“ Hasard lachte. Natürlich hatte der Riese die Aufforderung der Chinesen nicht verstanden. „Du sollst dem Boot zur Pier folgen, Nordmann!“ rief er hinüber. „Die lotsen dich an den Liegeplatz!“ „Verstanden!“ rief Thorfin. „Wenn da aber noch mehr Kerle zusammenlaufen, bricht der Steg zusammen.“ Auf der „Isabella“ waren die Seewölfe dabei, auch das letzte Segel ins Gei zu hängen. Sie lief jetzt nicht mehr Fahrt als das kleine Boot mit den grinsenden Chinesen. Sie pullten eifrig, und Ballie folgte ihnen auf recht merkwürdige Art und Weise. Er richtete sich immer danach, daß er sie nicht sah. Tauchten sie auf, dann mußte er den Kurs ein wenig ändern. Johlend und schreiend deuteten die Chinesen nach vorn. „Dort sollen wir anlegen“, sagte Hasard. Er blickte nach vorn, wo unverrückbar fest eine riesige Menschenmenge stand, die nicht wankte und wich und immer nur auf
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die „Isabella“ blickte. Sie hatten es sich sogar auf den hölzernen Pollern bequem gemacht. Das Anlegemanöver nahm Zeit in Anspruch, als der Rahsegler fast vierkant beilegte. Carberry schwang die Festmacher. Wenn der Kerl, der jetzt noch immer auf dem Poller hockte, nicht bald verschwindet, dachte er, dann werde ich bei ihm festmachen und ihm den Tampen um den Hals legen. Aber der Kerl fing den zielsicher geworfenen Tampen geschickt auf und blieb trotzdem sitzen. Er streifte sich das große Auge blitzschnell über den Körper und grinste. Dem Profos verschlug es die Sprache. „Na, du Lebenskünstler“, sagte er, als die „Isabella“ fest vertäut war, „dir gefällt wohl die Arbeit als Pollermännchen, was, wie, du kleines Rübenschwein?“ Der Chinese schnatterte freundlich drauflos, was den Profos zu einem breiten Grinsen animierte. „Du schnatterst wie eine Ente“, sagte er, „du müßtest dich mal mit unserem Papagei unterhalten.“ „Pappelgei“, sagte der Chinese. Er konnte den Blick nicht von Carberry reißen. Der Profos imponierte ihm auf Anhieb, denn der gab sich viel freundlicher als die anderen Portugiesen. Inzwischen legte auch „Eiliger Drache“ an, und der Wikinger rief in seiner Donnerstimme ein paar Kommandos. Damit hatte er den Seewölfen die Schau gestohlen. Die Chinesen schrien und johlten, als sie den riesigen Nordmann aus der Nähe sahen. Ein paar von ihnen schwangen sich ungeniert an Bord, doch als Thorfin ein paar Schritte in ihre Richtung tat, zogen sie sich verblüffend schnell zurück. Sie fühlten sich wie Zwerge, wenn sie diesen Berg aus Fleisch und Muskeln sahen. Und auch auf seinem schimmernden Helm blieb ihr Blick lange hängen. Die meisten Chinesen reichten dem Nordmann bis höchstens ans Brustbein. Als Thorfin auf den hölzernen Anlegesteg sprang, dröhnten die Bohlen, und ein paar
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Lastenträger wichen aufschreiend vor ihm zurück. „Ich habe noch keinen von eurer Sorte gefressen“, sagte er brummig, „ihr braucht also keine Angst zu haben.“ Er enterte an Bord der „Isabella“ und lehnte sich ans Schanzkleid. „Die gaffen uns an, als hätten sie noch niemals andere Menschen gesehen“, sagte er. „Wie geht es jetzt weiter, Seewolf? Wie sollen wir in diesem mörderischen Gewimmel jemals die Korsarin finden! Das ist doch so gut wie unmöglich.“ „Ich weiß es auch noch nicht, aber wir werden eine Möglichkeit finden, dessen bin ich sicher. Das Mädchen wird uns helfen, sie hat es mir versprochen.“ „Wo ist sie?“ „Sie ist in ihrer Kammer. Sie soll sich vorerst nicht sehen lassen, sie hat es selbst so gewollt. Sie will erst dann erscheinen, wenn sich die Neugierigen wieder verlaufen haben.“ Der schwergebaute Mann seufzte. Sein Blick wanderte über den Hafen, über das unbeschreibliche Gewühl und über die Leute, die ihn angafften wie ein Wundertier. „Ich bin gespannt, wie es hier mit den Vorschriften ist. Muß man sich anmelden, oder erscheint der Hafenkommandant selbst?“ „Wir warten einfach ab, dann wird es sich schon zeigen.“ 10. Seitdem waren etwas mehr als zwei Stunden vergangen. Die Neugierigen hatten sich zum größten Teil verlaufen und gingen wieder ihrer Arbeit nach: Lasten wurden geschleppt, aus dem Bauch des weiter hinten liegenden Portugiesen ergoß sich ein Strom von Menschen, die Ballen, Säcke und Fässer schleppten, die sie auf der Pier aufbauten. Andere schleppten das Zeug weiter, wohin, das war nicht ersichtlich. „Was ist das denn?“ fragte Brighton plötzlich und deutete mit der Hand auf ein paar geduckt dastehende Holzschuppen, an
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denen vorbei sich eine eigentümliche Prozession bewegte. Die Seewölfe konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf einen Menschenzug, der seltsam anmutete. In einer teilweise verhangenen Sänfte hockte ein dicker schwitzender Mann, einer jener Würdenträger, wie sie sie schon kannten. Die Sänfte war ein Holzkasten von zwei Yards Höhe und wies entfernte Ähnlichkeit mit der Bordtoilette auf, die Tucker einmal gezimmert hatte, damit man bei schwerem Seegang nicht immer auf dem Freiluftabort hockte und Gefahr lief, über Bord zu fallen. Lange Holme ragten aus der Sänfte, yardlange hölzerne Tragegriffe, an denen sich sechs Männer festklammerten. Mit zierlichen Schritten bewegten sie sich fort. Aber das Ungetüm, das lautstark brüllend vor der Sänfte herumsprang, setzte allem die Krone auf. Carberry kratzte sich das Stoppelkinn. Der Kerl, der da herumtänzelte, war genauso groß wie er. Er hatte einen gewaltigen Brustkasten, sein Oberkörper war entblößt und sein Schädel kahl bis auf die hintere Stelle, von der ein langer Zopf herabhing. „Seht euch den an“, sagte Ed fassungslos. „Der Kerl qualmt ja wie ein Misthaufen.“ Der Glatzkopf mit dem langen Zopf schwenkte eine Art Weihrauchkessel wild in der Luft herum, aus dem dichter süßlicher Qualm drang. Er schien damit nach unsichtbaren Geistern zu schlagen, und immer wieder brüllte er lautstark und scheuchte das ihm im Weg stehende Volk vor sich her. Die Chinesen, die den Weg der Sänfte säumten, sanken in die Knie, während der Glatzkopf eifrig darum bemüht war, den beißenden Qualm aus dem Kessel großzügig zu verteilen. „Der nimmt sich ja verdammt wichtig“, sagte Ed, dem der angeberische Glatzkopf mit dem langen Zopf mächtig auf die Nerven ging. „Verpestet hier die ganze Gegend, dieses Riesenferkel!“
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Wieder schwang der Glatzkopf seinen Kessel, der mindestens zehn Pfund wiegen mochte. Er ließ ihn über seinen Schädel kreisen, tänzelte dann einen Schritt vor und trat einem Chinesen in die Kniekehlen, der nicht rechtzeitig aus dem Kurs lief. Dabei brüllte er immer lauter, blähte sich immer mehr auf und verpestete die Gegend noch stärker. Hasard nahm an, daß er seinen Herrn von den üblen Gerüchen des Hafens und seiner Umgebung verschonen sollte, denn der Würdenträger, fett und schwitzend mit einem dicken Hängebackengesicht, wedelte außerdem mit einem fast durchsichtigen Tüchlein dauernd vor seinem Gesicht herum. „Scheint so, als wollten die zu uns“, bemerkte Tucker, als die feierliche Prozession sich anschickte, den Anlegesteg zu betreten. Aus dem „wandelnden Abort“ wie Carberry die Sänfte respektlos nannte, drang eine dünne piepsige Fistelstimme. Daraufhin blieben die Träger wie vom Blitz getroffen stehen und setzten die Sänfte ab. Das Gesicht des Würdenträgers war jetzt deutlich zu erkennen. Seine Schlitzaugen verschwanden fast gänzlich hinter dicken Fettpolstern, die Tränensäcke hingen ihm bis weit auf die Wangen. Aufgeregt und höchst indigniert zog er die Augenbrauen zusammen, piepste wieder etwas und fächelte sich mit dem zarten Tüchlein Luft zu. Hasard und auch die anderen bedauerten lebhaft, daß sie kein Wort von dem verstanden, was der Dicke sagte. Dafür schwang der Glatzkopf jetzt seinen Kessel ganz dicht vor der Sänfte, ließ sich auf die Knie nieder, bis man seinen dicken Achtersteven sah und blies mit weit geblähten Wangen den beizenden Qualm in die Sänfte, und dabei brachte er es auch noch fertig, sich vor dem Dicken ständig zu verbeugen. „Wenn der Kerl nicht mehr als drei Silberbarren kostet, kauf ich ihn dem Dicken ab“, nörgelte Carberry herum. „Den würden wir mit nach Hause nehmen,
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nach Old England, und unterwegs müßte er den ganzen Tag lang das Schiff verstänkern!“ „Lacht bloß nicht“, warnte Hasard, „der Bursche könnte das in die falsche Kehle kriegen. Er scheint groß und mächtig zu sein. 'Jedenfalls hat er Einfluß, das sieht man schon an dem ganzen Aufwand, der hier getrieben wird.“ Nach einer Weile erfolgte wieder ein Befehl. Die Träger hoben die Sänfte an und gingen trippelnd weiter. Vor ihnen tobte das glatzköpfige Ungetüm mal polternd, mal mit zierlichen Schritten tänzelnd, über den Holzbohlensteg, daß die Anlegestelle bedrohlich wackelte. Dahinter begann der Platz, auf dem Fässer, Kisten und Schalen gestapelt waren. Hinter der Sänfte erschien noch etwas, und das stimmte Hasard mehr als bedenklich. Ein Trupp Soldaten erschien, immer in respektvoller Entfernung von der Sänfte. Sie trugen grüne Uniformen und hielten Armbrüste in den Händen. Auf ein Kommando aus der Sänfte nahmen sie Aufstellung, blieben stocksteif stehen und spannten die Armbrüste. Aus der Ferne richteten sie die Waffen auf die „Isabella“ und den schwarzen Segler. Niemand sprach, alle blickten der Sänfte entgegen, die jetzt ziemlich dicht vor dem Rahsegler abgesetzt wurde. Weiter hinten erschien noch ein einzelner Mann, der den Kopf hängen ließ, aber zielstrebig auf die Sänfte zueilte. Der schwitzende Mandarin stieg umständlich aus, Hilfe lehnte er ab. Der Glatzkopf nahm mit feierlichem Ernst seinen stinkenden Kessel und schwang ihn vor der Bordwand der „Isabella“ hin und her. Der Würdenträger musterte das Schiff, nickte dann gnädig und lief mit zierlichen Schritten zu „Eiliger Drache über den Wassern“. Unter dem Arm trug er ein Schriftstück, eine Rolle aus Pergament, die er umständlich entfaltete. Gleich hinter ihm erschien der Kerl, der so traurig den Kopf hängen ließ, und bezog Posten.
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Von Thorfin Njal zeigte sich der Mandarin nicht minder beeindruckt als die anderen Chinesen auch. Er nahm eine fast theatralische Pose ein und las von der Rolle mit seiner hohen piepsigen Stimme etwas ab. Er sprach in die Luft, zu den Masten des schwarzen Seglers. Hasard war unbemerkt auf die Pier gesprungen und stand jetzt nur ein paar Schritte von dem Würdenträger und Thorfin entfernt. Der Wikinger sah den Mandarin immer noch an, als zweifele er an seinem eigenen Verstand. Der andere Bursche entpuppte sich als Dolmetscher. Er lauschte jedem Wort und wartete, bis der Würdenträger seine Tirade beendet hatte, dann hob er den Kopf. Er schnatterte ebenfalls wie eine Ente, aber man verstand ihn sehr gut. „Dieses Schiff .Eiliger Drache über den Wassern' ist durch die Behörden im Namen des Kuan von Shanghai beschlagnahmt“, schnatterte er. „Es handelt sich um ein chinesisches Schiff, auf dem Fremde Teufel nichts zu suchen haben. Es ist durch Beschluß des weisen Kuan konfisziert. Da die Fremden Teufel keine Möglichkeit haben, anderswo Quartier zu beziehen, ist es ihnen bis auf Widerruf erlaubt, so lange an Bord des Schiffes ,Eiliger Drache über den Wassern' zu bleiben, bis von der Regierung anders entschieden wird. Ein Einspruch ist nicht statthaft, auch darf das Schiff den Hafen von Shanghai nicht mehr verlassen. Jede Zuwiderhandlung wird schwerste Strafen nach sich ziehen. Wenn alles geklärt ist, werden Fremde Teufel wieder neue Botschaft vernehmen.“ Hasard blickte den Wikinger an. Thorfin starrte ungläubig auf den unschuldigen Dolmetscher, der Mandarin wischte sich mit dem Tüchlein den Schweiß aus dem Gesicht und rollte die Pergamentrolle sorgfältig zusammen. Im Gesicht des Wikingers zuckte es. Hasard sah die emporsteigende Wut darin. Thorfin mußte jedes Wort verstanden haben, dann schien er zu explodieren. Die Stimme des Seewolfs klang fast sanft. „Bleibe auf den Planken, Mister Njal! Nimm es vorerst gelassen hin und laß dich
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zu keiner unüberlegten Handlung hinreißen.“ „Haben Fremde Teufel verstanden?“ fragte der Dolmetscher. „Ja, wir haben alles verstanden“, sagte Hasard, denn Thorfin hatte einen puterroten Schädel und konnte nicht antworten, so war er zum Bersten vor Wut angefüllt. Die Soldaten rückten näher heran und nahmen Aufstellung, die gespannten Armbrüste mit den gefährlichen Bolzen im Anschlag. Dann blieben sie wie erstarrt stehen und rührten sich nicht mehr. Während der Kuan von einem zum anderen sah und sich gemessenen Schrittes zurück zu seiner seidenbespannten Sänfte begab, redete Hasard weiter auf den Wikinger ein. Der sah so aus, als wolle er sich jeden Augenblick auf den Dicken stürzen und ihn erwürgen. Schließlich klaffte in seinem wildwuchernden Bart eine Lücke auf, und er preßte sauer hervor: „Eine verdammt feine Begrüßung ist das. Ich muß irgendetwas tun, sonst platze ich. Aber diese Scheißer werden Thorfin Njal noch kennenlernen, das verspreche ich ihnen.“ „Reg dich wieder ab“, riet Hasard. „Wir werden gemeinsam überlegen, was zu tun ist. Wir werden mit dem Kerl da reden.“ „Reden?“ schrie der Wikinger. „Mit dieser gelben Hafenwanze? Lieber verrecke ich auf der Stelle!“ Nach und nach gelang es dem Seewolf, den Wikinger wenigstens einigermaßen zu besänftigen. Er hatte jetzt keinen so knallroten Schädel mehr, und seine Wut war nicht mehr so groß wie anfangs. „Wartet, ihr gelben Säcke“, sagte Thorfin. „Kleinholz werde ich aus diesem lausigen Shanghai machen. Ich werde es zu einem großen Haufen aufschichten und diese schlitzäugigen Kakerlaken einen nach dem anderen zu Grillstücken verarbeiten. Und verdammt will ich sein, wenn mir nicht Odin persönlich dabei hilft.“ „Haben verstanden?“ quasselte der Dolmetscher noch einmal. „Leck mich am Arsch, du Warzenschwein“, grollte Thorfin, „und sag
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deinem lausigen Wasserkopf, daß er als erster auf meinem Messer gegrillt wird, wenn ich den Hafen aufräume.“ Der Dolmetscher nickte, obwohl er kein einziges Wort verstand.
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Zum Glück versteht er kein Englisch, dachte der Seewolf, denn sonst hätte es sicher gleich noch mehr Ärger gegeben. Stumm sahen sie sich an. Was, zum Teufel, hielt das Land des Großen Chan denn noch alles an Überraschungen für sie bereit?
ENDE