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,QKDOWVYHU]HLFKQLV Vorwort............................................................................................................7
Philosophische Beiträge :LOKHOP%HUJHU Produktkultur und Interkulturalität ................................................................13 0LFKDHOYRQ%UFN Wahrnehmen – Erkennen – Handeln. Erwägungen zu einer interkulturellen Ethik im Kontext der Globalisierung................................................................................................31 $QGUHDV&HVDQD Prozesse der Pluralisierung im Zeitalter der Globalisierung..........................49 )UHG5'DOOPD\U Dialogue among civilizations A hermeneutical perspective ..........................67 +DNDQ*UVHV Ein Globus von Nationalstaaten. Aporien des Globalisierungsdiskurses angesichts der Migration...................85 +HLQ].LPPHUOH Interkulturelle philosophische Praxis als ‘Politik der Differenz’ und ihre Rückbindung an die Dialektik .....................................................................105 'LHWHU/RKPDU Leiblich verständigt sein. Anthropologische Grundlagen des Verstehens ............................................125 5DP$0DOO Zur Janusköpfigkeit heutiger Globalisierung...............................................143 5\RVXNH2KDVKL Kunst als Ort für die Kulturbegegnung heute. Oder über das „Schöne“ und die „Sterblichkeit“ des Menschen..................155
Beiträge aus anderen Disziplinen &ULVWLQD$OOHPDQQ*KLRQGD Bildung in soziokulturell pluraler Gesellschaft: Was sie nicht ist, wie sie sein kann ..............................................................171 Ulrich Bartosch Bewusstseinswandel und politisch gesicherter Weltfriede. Zur Aktualität einer politischen Idee ...................................................................193
9LQFHQW*)XUWDGR Fundamentalism in India in the Context of Globalization and a possible Christian Response ...............................................................215 1RUEHUW+LQWHUVWHLQHU Globalization and the Dialogue of Religions ...............................................237 +HUPDQQ-RVHI6FKHLGJHQ Ist der Papst ein Globalisierungsgegner? Die Kritik Johannes Pauls II. am Kapitalismus ...........................................255
Beiträge im Spannungsfeld von Theorie und Praxis .ODXGLXV*DQVF]\N Zukunftsfähige Visionen in der Bildungspraxis ..........................................281 +HLQULFK*HLJHU Interkultureller Dialog – Ernster Dialog. Zur Bedeutung entwicklungspolitischer Bildungszusammenarbeit .............309 *DEULHOH0QQL[ Horizontverschiebungen. Multiperspektivität als Prinzip praktischen Philosophierens .......................325 Herausgeber und Verfasser ..........................................................................345
9RUZRUW Der schillernde Begriff der ‘Globalisierung’ wird zunehmend thematisch und problematisch. Dies betrifft nicht nur den ökonomischen und kommunikationstechnologischen Bereich oder die Befindlichkeiten der Alltagsdiskurse, sondern auch fachliche Zusammenhänge der Philosophie und anderer Wissenschaften. Globalisierung ist dabei problematisch als eine Rahmenbedingung diskursiver Prozesse, wobei sie dann als gegeben implizit konstatiert wird. Ebenso ist Globalisierung unter vielen Aspekten Thema und Gegenstand wissenschaftlicher Analyse. Die umfassende ‘Betroffenheit’ vollzieht sich allerdings nach wie vor ohne hinreichende und allgemein anerkannte Klärung dessen, was ‘Globalisierung’ meint oder was sie für die Wissenschaft, für die Gesellschaft und ihre Teilbereiche bedeuten kann. So reichen auch in diesem Band die Aussagen über ein weites Spektrum: von der Konstatierung der Globalisierung als bestehenden Zustandes und einer Rahmenbedingung, zu der man sich als Wissenschaft reflexiv oder reaktiv zu verhalten habe, über die Analyse diverser Teilaspekte und über visionäre Einforderungen utopischer Globalisierungsauslegungen bis hin zur Negierung ihres epistemischen Status. Hinsichtlich dieser unklaren Gemengelage scheint der Diskurs über Globalisierung zum Teil analog zum Diskurs über Multi- und Interkulturalität zu verlaufen. Multikulturalität wird von einigen als Gegebenheit konstatiert, von anderen als gescheiterte Ideologie stigmatisiert, also nahezu beliebig auf die bloße Vielfältigkeit oder aber auf eine unterstellte Ursächlichkeit für gesellschaftliche „Ghettoisierung“ und ethnisch motivierter Gewalt bezogen und begrifflich geprägt. Das Gemeinsame in dieser Unübersichtlichkeit scheint die Bestimmung des Globalen als eines Szenarios der Begegnung zu sein: Es geht um ein Hineingeraten in grenzüberschreitende Konfrontationen oder darum, sich in eine solche hinein zu begeben. So sind die Allpräsenz von Fremderfahrungen, ihre Überwindung oder ihr Verschwinden die Leitmotive der Inszenierung. Globalisierung wird so lesbar als eine Erfahrung des Fremden, die unweigerlich mit der Infragestellung des Vertrauten einher geht.
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Vorwort
Die Strategien hinsichtlich dieser Inszenierung differieren je nach Rollenverständnis: Ist man Akteur oder Regisseur des Fremdstückes, ist man Zuschauer oder Souffleur, hat man reflexive Distanz oder ist man intervenierend beteiligt? So gewinnt die Begegnungssituation eine je eigene Dramatik. Einer ‘Philosophie der Interkulturalität’ wird der interkulturelle Kontakt ein Ausdruck von Inkommensurabilität, die Berührung eines Außen (Cesana). Einer ‘interkulturellen Philosophie’ kann sich hingegen durch die Ausweitung von Diskursebenen die Perspektive auf grenzüberschreitende Dialogstrategien öffnen (Dallmayr), oder Multiperspektivität erscheint gar als eine Verheißung des Pluralen (Münnix). So bleibt bei aller Skepsis auch eine Hoffnung auf Universalität: eine Universalität der Vernunft und des Arguments (von Brück), eine der Leiblichkeit (Lohmar), der Gemeinsamkeit ästhetischer Erfahrung in unterschiedlichen kulturellen Tönungen (Ohashi) oder die Vertrautheit im Rahmen einer habituellen Empathie (Geiger). Universalität kann womöglich auch gemeinsame existenzielle Bedrohtheit bedeuten, Überlebensnotstand, der zur Zusammenkunft zwingt (Bartosch). Aus der Begegnungssituation auf sich selbst zurückgeworfen wird Begegnung dem Subjekt zur dialektischen Denkfigur, eine Grenzüberschreitung aus der Selbst-Entgegensetzung (Kimmerle). Regionalität, die Reduktion auf eine reflektierte Lebenswelt, kann ebenso zum Ausgangspunkt neuerlicher Welterkundung gedeihen. In der Spannung von Regionalisierung oder Individualisierung zum globalen Geschehen wird der Prozess der Vereinheitlichung und Harmonisierung von Oberflächen zugleich die Plattform für einen entgegengesetzten Prozess der Produktion von Differenzen und Eigenheiten (Berger). Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass Globalisierung auch das Signum des „Immer schon“ gewinnt: So ist die mit der Globalisierung verbundene Interkulturalität auch lesbar als eine Art undramatischer Normalfall von Geschichte, welcher noch eine Humanität abzugewinnen ist (Mall), oder als ein in die Geschichte der Pädagogik je schon eingeschriebener Heterogenitätsdiskurs (Allemann-Ghionda). Aus dem Begegnen erwächst nicht nur Analyse-Bedarf, Erkenntnisgewinnung steht immer auch unter lebensweltlichem Handlungsdruck. Der Umstand der Globalisierung erzeugt eine Wendung zu einer interkulturellen Ethik, einer Normanwendung von grenzübersteigender Art oder auch nur einer Handlungsorientierung inmitten der Herausforderungen durch Vielfältigkeit. Mag der Blick dabei auf einzelne ethnische oder religiöse Konflikt-
Vorwort
9
linien fallen (Furtado), mag er sich auf die Ausdehnung des kapitalistischen Marktsystems richten(Scheidgen) – zum Umgang mit Globalisierungskosten und Globalisierungschancen ist die Etablierung entsprechender wissenschaftlicher Teildisziplinen wie einer Komparativen Theologie (Hintersteiner) ebenso bedeutsam wie die Ansprüche an engagierte Bildungsarbeit und professioneller wie privater Initiative (Gansczyk). ***** Als man sich im Oktober 1997 auf der Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie in Bremen dazu entschloss, im Jahre 2000 einen größeren Kongress durchzuführen, war man sich bald einig, anlässlich des Jahrtausendwechsels ein sozialphilosophisches Thema zu wählen, das die Relevanz der Bedeutung der interkulturellen Philosophie für den weltweiten beschleunigten gesellschaftspolitischen Wandel herausstellen sollte. Der Vorstand wurde damit beauftragt, ein adäquates Thema zu formulieren und an der Universität Köln eine entsprechende internationale Tagung durchzuführen. Diesem Auftrag kamen die Vorstandsmitglieder nach, indem sie sich auf das Thema „Ethik, Politik und Bildung angesichts der Globalisierung“ einigten. Hierbei bot sich thematisch und organisatorisch eine Zusammenarbeit mit dem Philosophischen und dem Pädagogischen Seminar der Universität Köln an, denen an dieser Stelle für die erfolgreiche Kooperation gedankt sei. Mit der Wahl einer neuen Geschäftsführung des Gesellschaft wurde die Publikation der Vorträge einstweilen zurückgestellt. Da der größte Teil der Referenten jedoch sehr an einer Veröffentlichung ihrer Beiträge interessiert war, haben wir diese schließlich im Herbst 2002 erneut aufgegriffen und in Angriff genommen. Den interessierten Referenten wurde genügend Zeit anberaumt, ihre Vorträge zu aktualisieren und zu überarbeiten. Erschwert wurde diese Umarbeitung durch den Ausbruch des Irak-Krieges, der einige Beiträge inhaltlich indirekt tangierte. Weitere Mitglieder bekundeten darüber hinaus bereits 2002 ihr Interesse, ein Manuskript für den geplanten Band zu verfassen, was zu einer geringfügigen Themenverschiebung führte, weshalb der Titel dieses Sammelwerkes „Philosophie, Bildung und Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung“ lautet. Die Herausgeber dieses Bandes danken Herrn Dr. Notker Schneider, Köln, der die Kölner Tagung maßgeblich organisierte, für die Bereitstellung
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Vorwort
von Manuskripten sowie Herrn Professor Dr. Heinz Kimmerle, Rotterdam, und Herrn Professor Dr. Ram Adhar Mall, Koblenz, für die Aufnahme dieses Sammelbandes in die Reihe „Studien zur Interkulturellen Philosophie“. Ihr Dank gilt ebenso Herrn Fred van der Zee vom Rodopi-Verlag, AmsterdamNew York, für die gute Zusammenarbeit. Herrn Lothar Bangert, Köln, der bei der Erstellung einiger englischer DEVWUDFWV behilflich war, sei ebenso gedankt. Schließlich bedanken wir uns bei Frau Karin Farokhifar, Köln, für die Gestaltung des Covers. Bei der Vielfalt der interkulturellen Einstellungen und Methoden der einzelnen Autoren, ist es nur verständlich, dass die Ergebnisse der Beiträge nicht in jedem Fall mit der Meinung der einzelnen Herausgeber übereinstimmen müssen. Köln, Washington D.C., Osnabrück Die Herausgeber
im Januar 2005
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:LOKHOP%HUJHU
3URGXNWNXOWXUXQG,QWHUNXOWXUDOLWlW When the term material culture is discussed against the backdrop of globalisation two theories are facing each other: Globalisation means standardisation, and the result is only one global culture of consumption, or globalisation leads to the clash of civilisations. The essay wants to reflect a third possibility: Global material culture is a system of reference between differences, however not between differences, which are existing independently of the system, but understood as a process of production of the differences themselves. To show this two novels are interpreted which, at first sight, do not have much to do with the topic material culture: “Robinson Crusoe” by Daniel Defoe and “Vendredi ou la vie sauvage” by Michel Tournier. Finally the philosophical consequences lead to a radical concept of the encounter or meeting of strangers. Wenn im Zusammenhang von Globalisierung über Produktkultur gesprochen wird, stehen meist zwei Thesen einander gegenüber: Globalisierung heißt Vereinheitlichung mit dem Resultat einer einzigen globalen Konsumkultur, oder Globalisierung führt zum Kampf der Kulturen. Der Beitrag möchte ein drittes Denkmodell zu stärken: Globale Produktkultur ist ein Referenzsystem von Unterschieden, allerdings nicht als Beziehung je schon existierender Unterschiede, sondern als Produktionsprozess von Differenzen selbst. Die These wird am Beispiel zweier Texte entwickelt, die auf den ersten Blick wenig mit dem Thema der Produktkultur zu tun haben: „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe und „Freitag oder im Schoß des Pazifik“ von Michel Tournier. Die philosophischen Konsequenzen daraus führen schließlich zu einem radikalisierten Begriff der Begegnung von Fremden.
Der Begriff Produktkultur, ein Verwandter des englischen Terminus PDWHULDO FXOWXUH, rückt das Thema der alltäglichen Dinge explizit in den Mittelpunkt des Kulturbegriffs: Kultur ist immer zugleich auch Kultur der alltäglichen 1 Dinge. Wird diese mit dem Begriff der Interkulturalität zusammengedacht, dann geht es um das Problem von Produktkultur angesichts der ökonomischen und technologischen Globalisierung, also um den Gebrauch und die Bedeutung der alltäglichen Dinge in der Situation der WHFKQRORJLVFKHQ=LYLOL VDWLRQ. 1
Vgl. R. Eisendle/E. Miklautz (Hrsg.): 3URGXNWNXOWXUHQ'\QDPLNXQG%HGHXWXQJV ZDQGHO GHV.RQVXPV, Frankfurt a.M./New York 1992.
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Das Thema Produktkultur und Interkulturalität steht häufig unter zwei kontroversen Aspekten zur Diskussion. Sie klingen an in Buchtiteln wie 2 3 -LKDGYV0F:RUOG , in einem Begriff wie *ORNDOLVLHUXQJ oder im Titel eines 4 Sammelbandes, der den Namen *OREDONRORULW trägt. Auf der einen Seite wird von einer Tendenz der Vereinheitlichung gesprochen, die alle kulturellen Differenzen im Gebrauch und in der Bedeutung der alltäglichen Dinge einer einzigen Konsumkultur, nämlich der amerikanisch-europäischen unterwirft: die so genannte McDonaldisierung der Welt. Andererseits wird eine Tendenz der Partikularisierung behauptet: Lokale Traditionen bleiben aufrecht, fallen aus einem einheitlichen Bedeutungshorizont heraus oder verstärken sich reaktiv bis hin zu einem Krieg von Partikularismen, dessen Vorzeichen sich andeuten, wenn im Iran der Konsum von Cola verboten oder in Frankreich eine McDonald-Filiale demoliert wird: der kleine FODVK RI FLYLOLVDWLRQV im Reich der Dinge. Dass diese beiden Aspekte nicht nur einander bedingen, sondern in einem komplexen Verhältnis wechselseitiger Durchdringung stehen, ist keine neue Behauptung. Sie beinhaltet aber schon eine wesentliche Kritik am Dualismus der beiden Aspekte. Eine solche Kritik wurde zum Beispiel von Joana Breidenbach und Ina Zukrigl geleistet: In ihrem Buch 7DQ]GHU.XOWXUHQgeht es um Integrationsprozesse von Dingen des alltäglichen Gebrauchs in unter5 schiedliche kulturelle Kontexte. Was in dem einen Kontext zum Beispiel eine Limonadenflasche sein mag, ist in einem anderen Kontext Teil eines Altars. Stephen Greenblatt spricht von einer „Assimilation des Anderen“und will diesen Ausdruck zugleich „in seiner ganzen Zweideutigkeit stehen las6 sen“: Nie ist es klar, welche Seite tatsächlich wen assimiliert. Weil damit
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B. Barber: -LKDG YV 0F:RUOG+RZ *OREDOLVP DQG 7ULEDOLVP DUH 5HVKDSLQJWKH :RUOG, New York 1996. Vgl. R. Robertson: *OREDOL]DWLRQ, London 1992. R. Mayer/M. Terkessidis (Hrsg.): *OREDONRORULW0XOWLNXOWXUDOLVPXVXQG3RSXOlU NXOWXU, St. Andrä/Wördern 1998. Vgl. J. Breidenbach/I. Zukrigl: 7DQ]GHU.XOWXUHQ.XOWXUHOOH,GHQWLWlWLQHLQHUglobalisierten:HOW, München 1998. St. Greenblatt: :XQGHUEDUH %HVLW]WPHU 'LH (UILQGXQJ GHV )UHPGHQ 5HLVHQGH XQG(QWGHFNHU, Berlin 1994, 12. Greenblatt geht es darum, zu zeigen, „[...] daß sowohl Individuen wie Kulturen im allgemeinen oft über erstaunlich kraftvolle Assimilationsmechanismen verfügen, die wie Enzyme die ideologische Zusammensetzung der von außen eindringenden Stoffe verändern. Die Fremdkörper verschwinden nicht völlig, aber sie werden [...] in ein ‘Dazwischen’ gezogen, in eine Zone
Produktkultur und Interkulturalität
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immer wieder neue Gebrauchsmöglichkeiten und Bedeutungen zu den existierenden hinzugefügt werden, aus denen wiederum neue oder veränderte Dinge entstehen, kann die globale Produktkultur als sich ständig änderndes Referenzsystem von Vielfalt interpretiert werden, das immer wieder neue kulturelle Differenzen hervorbringt. Damit sind die Konturen eines Modells gezeichnet, das sowohl gegen die Voraussetzung einer globalen Konsumkultur als auch gegen die Voraussetzung je schon existierender lokaler Kulturen gewendet werden kann. Positiv geht es darum, den Produktionsprozess von Differenzen selber in den Blick zu bekommen. Für die Verwirklichung dieser Absicht müssen zunächst die beiden Seiten des skizzierten Modells, der Begriff des Referenzsystems und der Begriff der Vielfalt, in einem gewissen Sinne überspitzt werden. In Bezug auf den Begriff des Referenzsystems soll diese Überspitzung zeigen, dass damit jedenfalls kein System im Sinne eines wenn auch sublimen Substanzbegriffs gemeint sein kann. Das Thema der globalen Produktkultur konfrontiert gerade mit der Herausforderung, dass ein System als inhaltlich bestimmbares und vom Prozess der Referenz unterscheidbares nicht mehr voraussetzbar ist. Ebenso wenig aber kann davon ausgegangen werden, dass die Elemente der Vielfalt außerhalb des Referenzsystems autonom entstehen oder je schon so existieren, wie sie sind, und dann erst in Referenz treten. Vom Begriff der Interkulturalität her gedacht, richtet sich der Hintergedanke der Argumentation also gegen einen Begriff der interkulturellen Begegnung oder Konfrontation, die in einem vorausgesetzten Medium und zwischen stabilen Subjekten, Gemeinschaften und Kulturen stattfinden. Das Ergebnis der Zuspitzung wäre dann: Die Referenz selber ist das System, und Vielfalt ist der Produktionsprozess von Differenz in der Begegnung selbst. Um diese Zuspitzung am Thema der Produktkultur durchzuführen, könnten verschiedene soziologische Klassiker adaptiert werden, die jeweils den Begriff Lebensstil favorisieren. Statt aber ein weiteres Mal zu zeigen, dass der der Überschneidung, in der alle kulturell festgelegten Bedeutungen durch eine unaufgelöste und unauflösliche Hybridität in Frage gestellt werden.“ (Ebd., 13.)
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Begriff Lebensstil weniger das Faktum kollektiver Verbindlichkeit und individueller Dauer als eben ihr offenes Problem bezeichnet, soll hier von einer bekannten Begegnungssituation in der Literatur ausgegangen werden: Dabei wird es nur auf den ersten Blick erstaunen, dass aus der Begegnung zwischen Robinson Crusoe und einem Fremden, den Crusoe Freitag nennen wird, nicht 7 nur Denkfiguren zum Thema der Interkulturalität, sondern auch Hinweise für das Problem der Produktkultur in der Situation der WHFKQRORJLVFKHQ=LYLOL VDWLRQgewonnen werden können. Die Robinsonerzählung ist zunächst ein Denkexperiment, das von zwei Fragen ausgeht: Was geschieht, wenn jemand vollkommen auf sich selbst und damit, wie es bei Gilles Deleuze heißt, in eine Welt ohne anderen geworfen wird? Das ist keine einfache und schon gar nicht eine spielerische Frage, sondern die radikal gestellte Frage nach der Wirkung des Anderen. Und die zweite Frage lautet: Was geschieht, wenn dieser so Geworfene nun tatsächlich auf einen Anderen trifft? Das ist die radikal gestellte Frage nach der Begegnung von Fremden. Nach dem Vorbild des Romans von Daniel Defoe wurde eine Unzahl von Robinsonaden verfasst. Gilles Deleuze hat eine andere Version, nämlich die 8 von Michel Tournier in seinem Roman )UHLWDJ RGHU LP 6FKR GHV 3D]LILN zum Modell genommen. Ihre Gegenüberstellung mit der von Defoe erdachten Begegnung eignet sich dazu, das Thema Produktkultur im angekündigten Sinne zuzuspitzen. Die wichtigste Pointe im Roman von Defoe ist, dass Robinson auch als auf sich zurückgeworfener der bleibt, der er vorher gewesen ist. Das ist schon durch die Erzählung eines Ich garantiert, das post festum das überstandene Abenteuer memoriert und als Bildungsroman zur Darstellung bringt. In den erzählten Situationen selber gelingt Robinson die Reproduktion seiner Identität jedoch nur, indem er Objekte erzeugt und eine Ordnung von Objekten (Dingen und Tieren) konstruiert. Die Ordnung repräsentiert zugleich eine imaginäre Gemeinschaft. In paradoxer Weise rekonstruiert Robinson als einzelner die bürgerliche Arbeitsgesellschaft. Die einsame Rekonstruktion erlaubt ihm zweierlei: Er kann Distanz zur Wirklichkeit der Insel finden und 7
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Zu einer allgemeineren Interpretation dieser Begegnung im Kontext des Themas Interkulturalität vgl.: W. Berger/K. Ratschiller/E. Schmidt: 'DUVWHOOXQJYRQ)UHP GHQ, Klagenfurt 2000. Vgl. M. Tournier: )UHLWDJRGHU,P6FKRGHV3D]LILN, Frankfurt a. M. 1982.
Produktkultur und Interkulturalität
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er kann ihr als souveränes Subjekt gegenüberzustehen. Gleichzeitig garantiert die Ordnung die Konstanz seines Subjektseins. Sie ist materialisierte Erinnerung. Die Insel wird gleichsam zu einem Gedächtnistheater, möbliert mit den konstruierten Objekten, wie eine stumme und unbewegliche Gesellschaft der Dinge. Robinson schreitet dieses Theater stets aufs neue ab, er erweitert und repariert es. Sein Bewusstsein tritt, wie Hegel es gesagt hätte, tatsächlich „[...] in der Arbeit außer es in das Element des Bleibens“ und „[...] kommt 9 also hierdurch zur Anschauung des selbständigen Seins, DOVVHLQHUVHOEVW.“ Als nun genau das passiert, wovon Robinson geträumt hat, während er Tag um Tag Ausschau hielt, nämlich die Begegnung mit einem Anderen, kann dieser Andere nur eine Bedrohung der Ordnung der Objekte und daher einen namenlosen Schrecken darstellen: „Nie floh ein Hase schneller in sein Versteck oder ein Fuchs in den Bau als ich in mein Verlies“, heißt es bei Defoe. Die tatsächliche Begegnung ist dann ein Akt der Unterwerfung. Der Namenlose, den Robinson vor dem Verspeistwerden durch Kannibalen gerettet hat, „[...] legte seinen Kopf auf die Erde, nahm meinen Fuß und setzte 10 ihn auf seinen Kopf“. Der Roman beschreibt nun seine Sozialisation zum Diener der Ordnung, die Robinson rekonstruiert hat: Er erhält den Namen Freitag, ein Name, der ihn in den Zeitrhythmus des Robinson integriert, er wird dazu gebracht, nicht mehr vor dem Gewehr zu erschrecken, lernt also den Objektstatus der Dinge, er kleidet seine Nacktheit, konstituiert sich also als schamhaftes Subjekt. Michel Tournier montiert die beiden Fragen des Denkexperiments zu einer radikal anderen Versuchsanordnung. Ihn interessiert, wie er später in einem programmatischen Text notiert, gerade nicht die Begegnung unterschiedlicher Kulturen, sondern [...] die Zerstörung jeder Zivilisationsspur bei einem Menschen, der dem ätzendem Einfluß unmenschlicher Einsamkeit ausgesetzt ist, die Bloßlegung der Fundamente des Seins und des Lebens, dann auf dieser Tabula rasa die Erschaffung einer neuen Welt in Form des Probierens, Auslotens, Entdeckens, jäher 11 Einsichten und heißer Ekstasen. 9 10 11
H. Reichelt (Hrsg.): G.W.Fr. Hegel: 3KlQRPHQRORJLH GHV *HLVWHV, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1973, 120. D. Defoe: /HEHQXQGZXQGHUEDUH$EHQWHXHUGHV5RELQVRQ&UXVRH, Zürich 1957, 277, 361. M. Tournier: 'HU:LQG3DUDNOHW(LQDXWRELRJUDSKLVFKHU9HUVXFK, Frankfurt a.M. 1983, 178.
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So leitet die erste Frage des Denkexperiments eine dekonstruktive Geste in den Punkt eines absoluten $QIDQJHQV hinein, während die zweite Frage sich nicht in die Sicherheit geschichtlicher Konstanz entfernen, sondern dieses $QIDQJHQbewahren will. Als Resultat der Dekonstruktion erscheint zunächst eine radikal andere Welt, und das heißt: eine Welt ohne Anderen. Bei Tournier ist es dieser Andere, der garantiert, dass die Dinge Ordnung und Konstanz oder radikaler noch: Wirklichkeit haben. Insofern spricht Tournier aus dem philosophischen Diskurs seiner Zeit heraus. Das präzisiert Gilles Deleuze, wenn er Jean-Paul Sartre in bezug auf Tournier adaptiert: Doch der andere ist weder ein Objekt in meinem Wahrnehmungsfeld noch ein Subjekt, das mich wahrnimmt: Er ist zunächst eine Struktur des Wahrnehmungsfeldes, ohne die dieses Feld in seiner Gesamtheit nicht so funktionieren würde, wie es funktioniert.
Kurz: Der Andere ist die Bedingung einer Ordnung der Welt und somit auch und gerade der Dinge, die alltäglich zur Hand sind. Wodurch ist er diese Bedingung? Dadurch, dass der Andere die mögliche Welt außerhalb des unmittelbar Wahrgenommenen anzeigt, damit die räumliche und zeitliche Dimensionalität dieser Welt und damit aber wieder die Zeit und den Ort der alltäglichen, unmittelbar wahrgenommenen Dinge garantiert. Deleuze: Ein erschrockenes Gesicht ist der Ausdruck einer erschreckenden möglichen Welt oder von etwas Schrecklichem in der Welt, das ich noch nicht sehe. Das Mögliche ist hier also wohlverstanden keine abstrakte Kategorie, die etwas nicht Existierendes bezeichnet. Die ausgedrückte Welt existiert selbstverständlich, doch sie existiert (aktuell) nicht außerhalb dessen, wodurch sie ausgedrückt 12 wird.
Beide Garantieleistungen werden bei Tournier an vielen Stellen anschaulich. Zur räumlichen Dimensionalität heißt es im Logbuch des Protagonisten: Im Anfang projizierte ich durch einen unbewussten Automatismus mögliche Beobachter – Parameter – auf die Gipfel von Hügeln, hinter diesen Felsen oder in die Zweige jenes Baumes. Auf diese Weise war die Insel durch ein Netz von Interpolationen und Extrapolationen quadriert, das sie differenzierte und anschaulich machte.
12
0LFKHO 7RXUQLHU XQG GLH :HOW RKQH DQGHUHQ, in: Ders.: Logik des
G. Deleuze: Sinns, Frankfurt a.M. 1993, 370.
Produktkultur und Interkulturalität
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Zur Abwesenheit zeitlicher Dimensionalität als Wirkung der Abwesenheit des Anderen sagt der Robinson Tourniers: Meine Wahrnehmung der Insel ist auf sich selbst reduziert. Was ich nicht davon sehe, ist ein absolut unbekanntes. Überall, wo ich gegenwärtig nicht bin, herrscht unergründliche Nacht [...] die anderen sind wie Leuchttürme, die um sich herum ein hell erleuchtetes Eiland schaffen [...]
Und zur Wirklichkeit der Dinge heißt es konsequenter Weise: „Meine Einsamkeit greift nicht nur die Verständlichkeit der Dinge ab. Sie untergräbt ihre Existenz selbst.“ Wie schließlich die Abwesenheit des Anderen nicht nur das Bewusstsein, sondern auch seinen Körper transformiert, zeigt die Szene, in der Robinson die Erstarrung seines Mienenspiels und die daraus folgende Unfähigkeit zu Lächeln im Spiegel entdeckt: „Er begriff, daß unser Gesicht derjenige Teil unseres Körpers ist, den die Gegenwart unserer Mitmenschen 13 unaufhörlich gestaltet und umgestaltet, erwärmt und belebt.“ Auch der Robinson Tourniers versucht eine Ordnung aufrechtzuerhalten, indem er einen Ersatz für den Anderen sucht: Er stellt eine despotische Inselverfassung auf, die jedes Ding und jedes Tier gemäß eines Herrschaftsmodells ordnet. Bei Sartre sind die Dinge den sozialen Beziehungen „SDUDVL 14 WlU“ , das heißt, auf Tournier angewandt: Die Dinge selber vermögen keine von den Verhältnissen distanzierte Konstanz zu garantieren, und nachdem das Modell Robinsons nichts anderes sein kann als die Herrschaft eines auf sich zurückgeworfenen Einzelnen, so kann dieser Einzelne nur die eigene Zurückgeworfenheit in dieser Ordnung erblicken. Seine Verfassung vermag also zwar Dinge und Tiere zu unterwerfen, nicht aber den Despoten selbst, der um ihren restlos konstruierten und objektiv ironischen Charakter nur allzu gut Bescheid weiß. So fällt Robinson immer wieder neu in Zustände der Differenz- und Konstanzlosigkeit, in denen sich Raum und Zeit auf einen Punkt zusammenziehen: Er liegt in einem Sumpf, er liegt in einer Höhle, dem Herz der Insel, mit der er verschmilzt. Wie bei Defoe findet der Robinson Tourniers den Abdruck eines menschlichen Fußes. Er bleibt erschrocken stehen, aber, so die Erzählung, er „wäre nicht sonderlich überrascht gewesen, seine eigene Spur im Sand oder im Schlamm zu finden“: Zu verschlungen und überlagert sind Spuren in einer 13 14
Tournier, )UHLWDJRGHULP6FKRGHV3D]LILN, a.a.O., 44-45, 73. J.-P. Sartre: 0DU[LVPXVXQG([LVWHQWLDOLVPXV 9HUVXFKHLQHU0HWKRGLN, in: Ders.: Drei Essays, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1973, 64.
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Welt, die nicht als homogener Raum in einer homogenen Zeit abgeschritten werden kann. Robinson befreit den, der Freitag heißen wird, mehr oder minder zufällig. Und es kommt nun zu einem komplexen Prozess der Begegnung. Der Robinson Tourniers verfolgt zunächst ähnliche Strategien wie sein literarischer Vorgänger: Nach der Ankunft des Anderen beginnt er jene räumliche Ordnung und Erinnerung zu rekonstruieren, die durch die Anwesenheit des Anderen ermöglicht wird. Zumindest für eine gewisse Zeit war er wieder Gouverneur, General, Pastor geworden. Kurze Zeit glaubte er sogar, die Gegenwart des Neuankömmlings würde seiner Organisation eine Rechtfertigung, ein Gewicht, ein Gleichgewicht verleihen, welche endgültig die Gefahren beseitigen würden, die ihn bedroht 15 hatten.
Die Rekonstruktion aber misslingt. Der Grund ist, dass sich zwei tatsächlich Fremde begegnen. Freitag ist nicht fremd, weil er aus einer Kultur kommt, die Robinson fremd wäre. Das würde jenen vorausgesetzten Unterschied fordern, den nur der Robinson Defoes bilden konnte. Freitag ist fremd, weil er aus seiner Kultur absolut herausgefallen ist. Gestrandet und den Menschenfressern entkommen, ist er nahezu „Niemand“: Logbuch: „Denn es muss schon anerkannt werden, dass, abgesehen von seinen teuflischen Lach16 ausbrüchen, ganz und gar ich es bin, der in ihm handelt und denkt.“ Auch Robinson ist nicht mehr „Jemand“ im Sinne von Defoe, er ist ebenso nahezu „Niemand“, denn er ist stets aufs Neue im Begriff, die räumliche Ordnung und Erinnerung zu verlieren. Daher ist die Realität der Begegnung Übergang in ein richtungsloses Werden. Freitag gruppiert die Dinge immer wieder neu: Mit dem Inhalt von Robinsons Truhe kostümiert er Pflanzen und variiert eine neue Welt. Aus der Begegnung von Fremden entstehen an jenem Kulminationspunkt des Romans, der durch die Explosion von Robinsons Munitionslager markiert ist, zwei Figuren, die dieses Werden darstellen.
Was ist mit dieser Gegenüberstellung gewonnen? Wer im geschilderten Sinn Kritik an den Vereinheitlichungstendenzen einer globalen Produktkultur 15 16
Tournier, )UHLWDJRGHULP6FKRGHV3D]LILN, a.a.O. 120. Ebd., 47, 122-123.
Produktkultur und Interkulturalität
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leistet, unterstellt den Vereinheitlichungstendenzen oft einen Integrationsprozess im Sinne von Daniel Defoe: Die Durchsetzung kultureller Hegemonie heißt Integration eines je schon Bestimmten in eine ebenso bestimmte, je schon existierende Ordnung der Dinge. Die These, die im weiteren ausgeführt werden soll, lautet dagegen: Globale Produktkultur in der Situation der WHFKQRORJLVFKHQ =LYLOLVDWLRQ ist in bestimmter Hinsicht ein Geschehen nach dem Modell von Michel Tournier und geht in einer anderen Hinsicht über dieses Geschehen hinaus, und es ist gerade dieses Faktum, das die alltäglichen Dinge in ein Neues exponiert. Um das deutlich zu machen, kann Georg Wilhelm Friedrich Hegel, und zwar eine vierfache Pointe seines Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft, herbei zitiert werden. Dabei wird zwar nicht umstandslos der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, wohl aber das Problem, das er entfaltet, auf das Thema einer globalen Produktkultur zur Anwendung gebracht. „Es ist nicht mehr der Bedarf“, heißt es in der Rechtsphilosophie über das bürgerliche System der Bedürfnisse, „sondern die Meinung, die befriedigt werden muß. [...] Die Bedürfnisse und die Mittel werden als reelles Dasein ein 6HLQ für DQGHUH, durch deren Bedürfnisse und Arbeit die Befriedigung gleichzeitig bedingt ist. Ich erwerbe von anderen die Mittel der Befriedigung und muß demnach ihre Meinung annehmen. Zugleich aber bin ich genötigt, Mittel für die Befriedigung anderer hervorzubringen [...] alles Partikulare wird insofern ein Gesellschaftliches“, dadurch wird die „Abstraktion [...] eine Qualität der Mittel“, sagt Hegel, und eben dies führt schließlich zu dem, was Hegel die „[...] unbestimmte Vervielfältigung und Spezifizierung der Bedürf17 nisse, Mittel und Genüsse“ nennt, „welche [...] keine Grenzen hat [...]“. Die erste Pointe ist: Meinung gegen Bedarf. Der Begriff globale Produktkultur zielt auf eine Situation, die jede unmittelbare Bindung an „natürliche“ Gebrauchswerte und damit jede Möglichkeit zur geschichtlichen Herleitung der Bedeutung eines Dings unterbricht. Wäre es überhaupt möglich, ein Ding in dieser Situation nur als dieses Ding selbst zu sehen, dann erschiene es so radikal fremd wie die intelligenten Lebewesen auf einem von Stanislaw Lem erfundenen Planeten, von denen es sich am Ende, als alles schon zu spät ist, herausstellt, dass es grau verkrustete, steinartige Klumpen sind, über die der
17
H. Reichelt (Hrsg.) G.W.Fr. Hegel: *UXQGOLQLHQ GHU 3KLORVRSKLH GHV Frankfurt a.M/Berlin/Wien, 1972 § 192, 176, § 195, 177.
5HFKWV,
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22 18
Raumfahrer achtlos hinweg geschritten war. Weil aber ein Ding der globalen Produktkultur einerseits einen solchen Bruch darstellt und andererseits nicht als Ding an sich genommen werden kann, muss die zweite Pointe bei Hegel ins Spiel kommen: Die Dinge der globalen Produktkultur sind im radikalsten Sinne „Sein für andere“: Was ist, ist als das Verhältnis von Elementen, und die Elemente sind Effekt ihres Verhältnisses, wobei keinerlei Hinterwelt zur Erscheinung kommt. Die schon zitierte Limonadenflasche verweist als Bestandteil eines Altars auf ein komplexes Verhältnis, für das weder der Terminus europäisch-amerikanische Konsumkultur, noch der Terminus Afrika, noch irgend ein anderer Terminus in Betracht kommt, der auf eine vom Verhältnis unterscheidbare kulturelle Substanz verwiese. Wenn die Elemente sich aus ihrem Verhältnis bestimmen und das Verhältnis wiederum von keinem überkommenen Hintergrund mehr getragen wird, ist Referenz nur als eine Dynamik denkbar: Die Limonadenflasche wird zum Akteur im komplexen Verhältnis von Aktionen. Damit ist zunächst der Grenzwert einer Tendenz bezeichnet, in der die globale Produktkultur Kulturen als vorausgesetzte Einheiten auflöst. Deshalb ist das Feld der globalen Produktkultur nach wie vor auch ein Feld des Kampfes: Das Verbot für iranische Frauen, Fahrrad zu fahren, oder das Verbot für Frauen in Saudi-Arabien, ein Auto zu steuern, konstituiert jeweils ein Element, das auf andere Elemente referiert, und diese Referenz kann als lokale Verknüpfung bezeichnet werden. Aber jedes Element verdankt sich selbst einer Referenz, hier eben dem Verhältnis zu Fahrrad und Auto, die selber wiederum die spezifische Bedeutung hier des Erotischen oder einer Souveränität erlangen, die sie in anderen lokalen Verknüpfungen nicht haben. Die Aufhebung der Verbote würde die Referenz verändern, andere Bezüge gefährden oder ermöglichen und hervorbringen: Referenzsystem von Vielfalt. Der springende Punkt aber ist darüber hinaus: Die Tendenz führt nicht zu einer Auflösung von Kulturen in die inhaltlich bestimmbare Einheit einer wenn auch in sich selber wiederum vielfältigen Weltkultur und auch nicht zu einem Gegeneinander je schon existierender Kulturen, sondern in die Situation der %HJHJQXQJYRQ)UHPGHQ. Um das zu verdeutlichen, können die Konstellationen von Robinson und Freitag bei Daniel Defoe und Michel Tournier in einem erneuten Durchgang zugleich verallgemeinert und konkretisiert werden. 18
Vgl. St. Lem: )LDVNR, Frankfurt a.M. 2000.
Produktkultur und Interkulturalität
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Als erstes illustrieren die Erfindungen Defoes und Tourniers noch einmal das Faktum, dass Kultur als Referenzsystem der alltäglichen Dinge verstanden werden kann. Sie zeigen darüber hinaus, in welcher Weise Dinge mit ei19 nem Begriff von Georg Simmel als „Körper der Kultur“ bezeichnet werden können. Sie sind nicht „Körper der Kultur“, indem eine im Prinzip neutrale Gebrauchsfunktion eine Symbolik trägt, sondern sie stellen als einzelne jeweils eine Einheit von Gebrauchsfunktion und Symbolik dar, die auf andere „Körper der Kultur“ referiert. Symbol heißt dabei nicht, dass ein Ding Zeichen wäre für etwas anderes, sondern dass ein Ding auf andere „Körper der Kultur“ verweist, und in diesem Verweis erst ist, was es ist: weniger also Erkennungszeichen (V\PERORQ) als Vereinigungspunkt (V\PEROH): „Und nun“, berichtet der Robinson Defoes, „begann ich die Dinge anzufertigen, die ich am nötigsten brauchte, vor allem einen Stuhl und einen Tisch [...] alles so hübsch, wie ich irgend konnte.“ Von Defoe her gedacht hätte die Referenz gewissermaßen eine horizontale und eine vertikale Dimension: die horizontale Dimension eines Verweises der Dinge aufeinander, des Stuhls auf den Tisch und beider auf das Mobiliar bürgerlicher Bequemlichkeit, das Robinson rekonstruieren will, und die vertikale Dimension eines geschichtlichen Verweises und des Versprechens der relativen Konstanz, in der das Mobiliar auf die Heimkehr des Inselwanderers wartet. Von Tournier her gedacht ist ein Ding Element eines Wahrnehmungsfeldes, für das der Andere als Ausdruck einer möglichen Welt, und man kann jetzt sagen: einer möglichen Kultur, konstitutiv ist. Hier ist nun der Punkt, der über Tournier hinaus weist. Denn die Dinge erscheinen nicht nur innerhalb einer Welt oder Kultur, deren spezifische räumliche und zeitliche Dimensionalität durch den Anderen garantiert wird, lassen sich also analytisch nicht von der Kultur trennen, die sie verwendet oder hervorbringt, und sie fallen nicht nur praktisch aus Verweis und Geschichte heraus, wenn sie von ihrem Kontext getrennt sind. Unter den Bedingungen der WHFKQRORJLVFKHQ =LYLOLVDWLRQ müssen die Elemente der Produktkultur vielmehr, um einen präzisen Begriff von Bruno Latour zu gebrauchen, 20 jeweils als „Kollektiv von Menschen und nichtmenschlichen Wesen“ betrachtet werden, und diese Kollektive verschränken sich ihrerseits zu einem 19 20
Vgl. G. Simmel: 'LH *URVWlGWHXQG GDV *HLVWHVOHEHQ. In: Ders.: Das Individuum und die Freiheit, Berlin 1984, 192. B. Latour: 'LH+RIIQXQJGHU3DQGRUD, Frankfurt a.M. 2000, 211.
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Pluriversum von Systemen. Das heißt: Es gibt nicht einerseits die Dinge und andererseits mich im Verhältnis zum Anderen, wobei die eine oder die andere Seite als souverän gedacht werden kann, um dann zum Beispiel einerseits ein Konzept der Entfremdung oder andererseits das Bild eines Konsumenten zu konstruieren, der die Dinge bloß gebraucht. Menschen und Dinge sind durcheinander vermittelt: Ein Mensch und eine Pistole zum Beispiel bilden etwas Drittes, ein neues Kollektiv mit anderen Konsequenzen, der Lenker eines Autos, der durch eine Bodenschwelle zum Bremsen gezwungen wird, begegnet der Regel eines Anderen. Etwas ähnliches hat ja auch Hegel in aller Radikalität gesehen: Der Satz „alles Partikulare wird insofern ein Gesellschaft21 liches“ gilt durchaus im wörtlichen Sinne. Bei Tournier wird durch den Anderen die Dimensionalität der Welt garantiert, also ein Raum und eine Zeit als Möglichkeit der unter der Wirkung der Abwesenheit des Anderen auf das hier und jetzt geworfenen Erfahrung. Über Tournier hinaus wurden nun der Andere und die Dinge zu Kollektiven. Und das heißt weiter: Wenn die Möglichkeit eines Raumes und einer Zeit sich durch Produktkultur im nun präzisierten Sinne verwirklicht, dann verwirklicht sich durch die globale Produktkultur ein spezifischer Raum und eine spezifische Zeit.
Die These ist: Dieser Raum und diese Zeit, die der Robinson des Daniel Defoe noch rekonstruieren konnte, sind im Prozess der Verwirklichung der globalen Produktkultur selbst einer Transformation unterworfen, als dessen Grenzwert sie so wie bei Tournier in ein richtungsloses Werden übergehen. Für diese Transformation ist mit Gilles Deleuze und Felíx Guattari der Begriff 'HWHUULWRULDOLVLHUXQJ brauchbar, weil er bei aller Abstraktheit zugleich 22 konkrete Phänomene bezeichnen kann. Das wird an Hand eines bestimmten Kollektivs von Menschen und nichtmenschlichen Wesen, nämlich am Beispiel des Automobilverkehrs unmittelbar plastisch. Mehr noch als der Computer ist das Automobil die universelle
21 22
Vgl. Anmerkung 17. Vgl. G. Deleuze/)*XDWWDUL:DVLVW3KLORVRSKLH", Frankfurt a.M. 1996.
Produktkultur und Interkulturalität
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Maschine der globalen Produktkultur. Deshalb hat schon Roland Barthes das 23 Auto zum „Äquivalent der großen gotischen Kathedralen“ erklärt. Dass der Begriff 'HWHUULWRULDOLVLHUXQJ praktische Relevanz besitzt, zeigt bereits ein erster Blick auf die Geschichte des Automobilverkehrs. Seine Durchsetzung geht insofern mit einem Deterritorialisierungsvorgang einher, als das Territorium sowohl physisch als auch psychisch freigemacht werden muss für das neue Verkehrsmittel: Die Straßen sind bevölkert von konkreter Vielfalt, von Fußgängern und spielenden Kindern, von Pferden und Haustieren. Die heute gewissermaßen ins globalkulturelle Fleisch und Blut übergegangene Akzeptanz, den öffentlichen Raum dem Verkehr, der Bewegung, dem Auto zu überlassen, war in den Anfangszeiten des Automobilverkehrs in einem sehr fundamentalen, das heißt zugleich sozialen und psychischen Sinne unbekannt. Das zeigt etwa das Verbot privater Automobile im Schweizer Kanton Graubünden von 1900 bis 1925: „Bündner Volk, wach auf! Vor neun Jahren hast du dich mit gewaltiger Wucht geweigert, dein freies Alpenland zum Tummelplatz des Autos erniedrigen zu lassen [...]“, heißt in einem 24 Aufruf dieser Zeit. Diesem offensichtlichen Prozess entspricht eine tiefere physische und psychische Entleerung des Raumes. Das kann mit der Gegenüberstellung von Carl Schmitt angedeutet werden, mit der er in seinen Essay 25 /DQGXQG0HHU einen Satz Hegels kommentiert: Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester *UXQG und %RGHQ, Bedingung ist, so ist für die Industrie das nach außen sie belebende Moment das 26 Meer.
Es ist für Schmitt leerer Raum. Daher kann die Technik diesen Raum mit unbeschränkter Aktivität füllen. Schließlich wird die Teilung von Land und Meer im technischen Raum aufgelöst. Wenn Hans-Dieter Bahr in Bezug auf das Automobil schreibt: „Das Automobil reinigt die Landschaft zu einer idealen Theaterlandschaft (und zu einer abstrakten) Geometrisierung [...]“27, so klingt das wiederum wie ein Kommentar zu Hegel und Schmitt. 23 24 25 26 27
R. Barthes: 0\WKHQGHV$OOWDJV, Frankfurt a.M. 1964, 76. Zitiert nach W. Sachs: 'LH/LHEH]XP$XWRPRELO(LQ5FNEOLFNLQGLH*HVFKLFKWH XQVHUHU :QVFKH, Reinbek bei Hamburg 1984, 32. Vgl. C. Schmitt: /DQGXQG0HHU(LQHZHOWJHVFKLFKWOLFKH%HWUDFKWXQJ, Köln-Lövenich 1981. Reichelt (Hrsg.), G.W.Fr. Hegel: *UXQGOLQLHQGHU3KLORVRSKLHGHV5HFKWV, a.a.O., § 247, 176. H.-D. Bahr:hEHUGHQ8PJDQJPLW0DVFKLQHQ, Tübingen 1983, 287.
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Die Transformation des Raumes in ein Abstraktum ist Voraussetzung und Effekt der „Industrie“, also der klassischen Technik. Eine 'HWHUULWRULDOLVLH UXQJim radikalsten Sinne des Wortes bedingt die Situation in der WHFKQRORJL VFKHQ =LYLOLVDWLRQ genauso, wie sie aus ihr resultiert: Es verschwindet der abstrakte Raum selbst als Grund und Boden, auf dem geschichtliche Zeit ihre Richtung gefunden hat. Denn geschichtliche Zeit kann auch als Reisezeit in ein Bild gebracht werden: Der Weg oder die räumliche Dimension wartet bereits auf den Reisenden, der den Weg (christlich) abschreiten oder den Raum (geschichtsphilosophisch) verzeitlichen wird. Jene historische Transformation, in der die Dominanz der Raumerfahrung vor der Zeiterfahrung abgelöst wird durch die Dominanz eines Werdens, das nun selbst, mangels eines vorgeordneten Raumes, keine Richtung mehr kennt, kann als die zentrale Erfahrung der Moderne dargestellt werden. Nicht umsonst ist das Automobil neben dem Flugzeug und der Eisenbahn die wichtigste Maschine, mit deren Hilfe zum Beispiel der italienische Futurismus diese Erfahrung zu einem Programm verallgemeinert, das eine neue Welt bauen will: Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Ge28 schwindigkeit erschaffen.
Gerade das konkrete Beispiel zeigt, dass es sich dabei keineswegs um ein bloß ideologisches Konstrukt handelt: In den Anfangszeiten des Automobilverkehrs wird ein zunehmend abstrakter Raum mit dem Auto individuell durcheilt. „[...] frei waltet der Mensch über Raum und Zeit“, heißt es in einer 29 Automobilzeitung von 1906. Die Welt der allgegenwärtigen Geschwindigkeit ist eine neue Welt der Prozessualität: Ungeheuer viele koordinieren ihre rasende Bewegung in einem Zusammenspiel, die jeder Fahrer als Bestandteil einer Maschinerie und im Kontext materialisierter Regeln ausführt.
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F.T. Marinetti: (1909), in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hrsg.): Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek 1993, 77 f. Zitiert nach Sachs, a.a.O., 19.
Produktkultur und Interkulturalität
27
Prozessualität gegen Raum und Zeit, Modulation gegen Territorium und Geschichte, das ist der Grenzwert des Prozesses der 'HWHUULWRULDOLVLHUXQJ, wie er sich in der globalen Produktkultur verwirklicht. Das entspricht einem Kon30 zept, wie es mit Boris Groys in Betracht gezogen werden kann: In der globalen Produktkultur wäre das Neue das Andere. Produktkultur hieße Modulation von Gegebenem, Umwertung durch bisher nicht gemachte Vergleiche, Neuordnung. Bei Groys bedient sich die Modulation aber eines Archivs, eines Gedächtnisses von Unterschieden, das als Basis des Vergleichs vorausgesetzt wird. Die Konsequenz der bisherigen Argumentation ist dagegen, dass die Modulation stets aufs Neue die räumliche und zeitliche Dimensionalität einer möglichen kulturellen Einheit und damit auch das Archiv negiert Bei Boris Groys betrifft die Modulation sowohl die Menschen, die nicht mehr problemlos die Richtung eines geschichtlichen Fortschritts voraussetzen können, als auch die Dinge, die als Resultat der Neuordnung gegebener Elemente tatsächlich neu entstehen. Der Übergang von der Geschichte in die Modulation bleibt den Dingen selber äußerlich. Werden aber die Menschen und Dinge im Sinne von Bruno Latour als Kollektive und ihre Referenz als Pluriversum von Systemen betrachtet, muss die Negation der räumlichen und zeitlichen Dimensionalität einer möglichen kulturellen Einheit auch in diesen Kollektiven aufweisbar sein. Die Negation kann zunächst als Prozess der kulturellen Neutralisierung beschrieben werden. Die Dinge als Mitglieder lokaler Verknüpfungen gewinnen ihre Bedeutung und Gestalt im konkreten Kontext: Ein Tiroler Bergbauernschlitten ist, was er ist, eben als Tiroler Schlitten. Für Dinge als Mitglieder der globalen Produktkultur gilt, was Carl Schmitt in bezug auf Technologie insgesamt behauptet hat: Sie sind kulturell blind: Der Tiroler Bergbauernschlitten mag als gigantischer Blumentrog in der Halle eines amerikanischen Hotels hängen. Aus seinem Raum entnommen, verweist er auf keine authentische Geschichte mehr. Er repräsentiert aber auch nicht eine regionale Verknüpfung, die nun „amerikanische Konsumkultur“ genannt werden könnte. Er ist vielmehr ein Zeichen, das auf eine Universalität deutet, die in ihm zugleich formal präsent und konkret abwesend ist: Der Tiroler Berg30
Vgl. B. Groys: 1992, 119 ff.
hEHU GDV 1HXH 9HUVXFK HLQHU .XOWXU|NRQRPLH, München/Wien
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bauernschlitten als Blumentrog in der Halle eines amerikanischen Hotels kann als Inbegriff einer globalen Produktkultur gelesen werden, eine Referenz, die nichts anderes ist, als sie selbst. Jederzeit kann der Bergbauernschlitten aus der Halle entfernt werden, ohne die geringste Lücke zu hinterlassen. Darüber hinaus aber vollziehen die Dinge als Akteure der globalen Produktkultur auch eine aktive Negation der räumlichen und zeitlichen Dimensionalität einer möglichen lokalen Verknüpfung. Extrem gesprochen können sie als materielle Darstellungen von neutralen Abläufen definiert werden: Das Automobil zum Beispiel ist materialisierte Bewegung in einem Kontext, der auf keinen übergeordneten Zweck verweist, sondern mit seinem jeweiligen Zustand in eins fällt. Es sind Prozesse dieser Negation, in denen die %HJHJQXQJYRQ)UHPGHQ stattfindet. Die sich in der globalen Produktkultur begegnen, sind sich nicht fremd, weil sie aus verschiedenen Kulturen kommen. Sie begegnen sich als Fremde, weil die globale Produktkultur den Raum und die Zeit auflöst, in der sich Unterschiede als vorausgesetzte entfalten könnten: Wer sich etwa in jenes Kollektiv von Menschen und Dingen eingeordnet hat, das durch das Verkehrssystem von Los Angeles dargestellt wird, begegnet einer Unmenge von Fremden, die sich als Unzahl von Differenzen präsentieren: Farben, Typen, Stile ... Nur im Falle eines Unfalls oder Überfalls wird ein Element der Menge in Bekanntheit übergehen. Wer in eine McDonald-Filiale in Peking oder in New York oder sonst wo eintritt, ist schon jenseits räumlicher oder geschichtlicher Dimensionalität, in der sich wie bei Tournier nahezu „Niemand“ begegnet.
Es sind zugleich diese Begegnungen von Fremden, auf die Gegenläufigkeiten reagieren, die als 5HWHUULWRULDOLVLHUXQJVSUR]HVVH bezeichnet werden können: Rekonstruktionen von Systemen kollektiver Gegenstände, denen eine relativ dauerhafte zeitliche und räumliche Dimensionalität entspricht. Die Automobilpolitik des deutschen Nationalsozialismus ist das herausragendste Beispiel für Reterritorialisierungsprozesse in der Sphäre der kollektiven Dinge. Die deutschen Autobahnen waren wörtlich als Adern „des rasch und kraftvoll pulsierenden Blutkreislaufs des deutschen Volkskörpers“ konzipiert, in denen die Volkswagen zirkulieren sollten. Dieses Konzept bestimmt
Produktkultur und Interkulturalität
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ihre Form: Das ist nicht nur an einzelnen symbolisch aufgeladenen Brücken lesbar, sondern oft bis heute noch an ihren „schwingenden Bahnen“ selbst, die nicht „die kürzeste, sondern die HGHOVWH Verbindung zweier Punkte“ schaffen sollten, „der Landschaft höchste Krönung“, wie es in Publikationen 31 dieser Zeit heißt. Und nicht umsonst erinnert die Stromlinienform des Volkswagens, kein bloß verkleinerter Luxuswagen, wie viele Kleinwagen vor ihm, auch an einen Blutstropfen. Die Einheit dieses neuen Territoriums kollektiver Dinge verdankt sich der aggressiven Differenzsetzung, der Begegnung mit einem Außen, die zu nichts anderem beiträgt als zur Einheit des Inneren: Dieses Modell ist in seiner Normalform ein Standardmodell der globalen Produktkultur unter den Bedingungen der WHFKQRORJLVFKHQ=LYLOLVDWLRQ, nicht nur dort, wo die Besitzer von bestimmten Sportschuhen gegen Andersbeschuhte vorgehen, sondern gerade an den unzähligen physischen, sozialen und psychischen Mauern, die eine Mehrheit der Besitzlosen von den Konsumenten trennen. Der zitierte Volkswagen aber kann, aus seinem Kontext herausgefallen, auch eine gänzlich andere Bedeutung annehmen. Das beschreibt zum Beispiel Daniel Miller in einem Text mit dem Titel ,PSRUWHG*RRGVDV$XWKHQWLF 32 &XOWXUH für Trinidat: Dort floriert das Handwerk der Autotapezierer, die jeden Wagen mit einer Unzahl privater Symbole ausstatten und damit ein anderes Referenzsystem erzeugen. Das zeigt, dass ein Territorium kollektiver Gegenstände selbst nur politisch eingegrenzt werden kann. Im Prinzip sind immer Umgruppierungen und Übersetzungen möglich. Bei Tournier tötet Freitag einen Schafbock und verfertigt aus seinem Fell eine Äolsharfe: Sie ist das [...] einzige Instrument, dessen Musik, anstatt sich in der Zeit zu entfalten, ganz und gar dem Augenblick lebt. Man kann ihre Saitenzahl vermehren und jeder Saite diese oder jene gewünschte Note verleihen. Tut man dies, so komponiert man eine ‘Augenblickssymphonie’, die von der ersten bis zur letz33 ten Note ertönt, sobald der Wind das Instrument bestreicht.
In diesem Arrangement, das im Augenblick einer Reterritorialisierung entzogen ist, begegnet dem Robinson des Tournier nicht eine andere Kultur,
0\WKRV5HLFKVDXWREDKQ%DXXQG,QV]HQLHUXQJ GHU Ä6WUDHQGHV)KUHUV³, Berlin 1996, 124-125. Vgl. D. Miller: ,PSRUWHG *RRGV DV $XWKHQWLF &XOWXUH, in: Eisendle, Miklautz, a.a.O., 271ff. 33 Tournier, )UHLWDJRGHULP6FKRGHV3D]LILN, a.a.O., 179. 31 32
Zitiert nach E. Schütz/E.Gruber:
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sondern ein Unterschied, der nichts tieferes ist, aber gleichzeitig absolut in sich selbst existiert.
0LFKDHOYRQ%UFN
:DKUQHKPHQ±(UNHQQHQ±+DQGHOQ Erwägungen zu einer interkulturellen Ethik im Kontext der Globalisierung1 Notions are historically contingent. Languages exist only in plurality. All unity or globality constructed depends on the pluriformity of interpretation and local parameters. We live in a reality which we want to live in, but this will can not be determined on individual grounds, but is a construct of social relations. Starting from traditions, this paper builds on the general validity of reason and argument in order to work out foundations for an intercultural ethics in the horizon of the plurality of symbols, notions and motivations within the participatory act of communication. The focus is on education which is to be understood as courage towards perception of always further connections and wider horizons. Thus, education overcomes fixed patterns of thinking and living under the impetus of reverence for all life in the present and all generations to come. Begriffsbildungen sind historisch kontingent. Sprachen existieren im Plural, und jede konstruierte Einheit oder Globalität hängt ab von der Pluriformität der Deutungsmuster und lokalen Parametern. Wir leben in der Wirklichkeit, in der wir leben wollen, wobei der Wille nicht individuell bestimmt werden kann, sondern selbst ein Konstrukt sozialer Beziehungen ist. Die Darlegungen versuchen, ausgehend vom Traditionsbestand, die Allgemeinheit der Vernunft und des Arguments zu nutzen, um Grundlagen interkultureller Ethik im Horizont der Pluralität der Bilder, Begriffe und Motivationen im partizipatorischen Akt der Kommunikation zu erarbeiten. Dabei geht es um Erziehung. Sie ist der Mut zur Wahrnehmung jeweils weiterer Zusammenhänge und Horizonte. Erziehung bricht aus festgefügten Denk- und Lebensmustern aus, und zwar in der Grundhaltung der Ehrfurcht vor allem Leben in jetzigen und künftigen Generationen.
,QWHUNXOWXUDOLWlWDOVLGHDOH.RQVWUXNWLRQ Wahrnehmen, Erkennen und Handeln sind Begriffe für Funktionsbeschreibungen, die durch das generalisierende Konzept des Bewußtseins verknüpft sind. Der Begriff des Bewußtseins oder des Selbst ist schillernd. Er bezeich1
Den folgenden Ausführungen liegt eine weiter gefaßte Publikation zugrunde, die als Buch unter dem Titel: , München 2002, erschienen ist.
QHU:HOWRKQH0D
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net eine Einheit von bewußt wahrgenommener Selbstreflexivität, die entweder als Substrat von konsistenten Wahrnehmungen und Erfahrungen erscheint oder als Inbegriff einer Wahrnehmungskontinuität im Sinne der Selbstgewißheit des Subjekts zu deuten ist. Ein Bewußtsein als Subjekt oder „inneres Selbst“ kann gegenüber einem Bewußtsein als Objekt oder „äußerem Selbst“ wohl nur als Subjekt der Selbstwahrnehmung begriffen werden, wobei das Objekt dieser Wahrnehmung ebenfalls das Bewußtsein ist, aber eben nun im Modus des Objektes eines Subjekts, das „inneres Selbst“ genannt werden könnte.2 Erkenntnistheoretisch wäre dies ein Äquivalent zur Selbstgewißheit, aber als Prozeß begriffen, der verschieden ontologisiert werden kann. Was immer die eben formulierten Ausführungen besagen, sie sind nicht selbstevident, sondern bedürfen einer Interpretation, die im interkulturellen Kontext auf unterschiedliche Zusammenhänge rekurriert: − auf die europäische Philosophiegeschichte oder − auf interkulturelle Zusammenhänge. Interkulturalität ist eine ideale Konstruktion, die aus wissensökonomischen Gründen eingegrenzt werden muß, um diskutierbar zu sein, d.h. wir müssen uns auf ein spezifisches Feld von Wahrnehmungen und ihren Deutungen in bestimmten sprachlichen Zusammenhängen verständigen, denn Sprachen konstruieren nicht nur die Deutung von Ereignissen – äußeren Ereignissen, die durch die Sinne registriert werden, wie inneren Ereignissen, die Reflexionen von Bewußtseinsphänomenen sind –, sondern sie präjudizieren durch ihre Wahrnehmungssteuerung auf je unterschiedliche Weise, was als Ereignis möglich ist. Nicht nur die Deutung, sondern bereits die Wahrnehmung von Ereignissen im eben genannten Sinne ist nämlich abhängig von Sprache, weil unterschiedliche Sprachen nicht eine Wirklichkeit, die gegeben wäre, verschieden deuten, sondern was gegeben ist, hängt bereits an der selektiven Wahrnehmung, die von Sprache bzw. Denken gesteuert wird. Dies ist so, weil die Syntax wie die Semantik der Sprache beispielsweise die Kausal- und Zeitverhältnisse unterschiedlich konstruieren. Was ein „Selbst“ ist, d.h. wie sich das Subjekt zu anderen Subjekten und Objekten verhält und damit konstituiert, 2
Als Beispiel einer religionswissenschaftlichen Analyse des Subjekts als kulturellen Topos vgl. B. Gladigow: 7LHIHGHU6HHOH³XQGÄLQQHUVSDFH³=XU6\PEROLNHLQHV 7RSRVYRQ+HUDNOLWELV6FLHQFH)LFWLRQ, in: J. Assmann (Hrsg.): Die Erfindung des inneren Menschen, Gütersloh 1993, 114-132.
Wahrnehmen – Erkennen – Handeln
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wird ganz wesentlich von Sprache geprägt. Dies hat unmittelbare Relevanz für die Ethik: Interkulturelle Ethik ist nie etwas Gegebenes, sondern etwas Ausgehandeltes, das in einem hermeneutischen Prozeß von Kommunikation stets neu entsteht. Wir müssen uns also, wenn wir unser Thema interkulturell analysieren wollen, auf bestimmte sprachliche und kulturelle Muster beschränken. Interkulturalität bezüglich unseres Themas bedeutet zunächst, daß verschiedene Kulturen das Thema sehr unterschiedlich stellen und behandeln.
9HUQXQIWJHPlOHEHQ Ich möchte zunächst eine Ausgangsthese formulieren und, daraus abgeleitet, einige Maximen aufstellen, die später systemisch aus dem Zusammenhang von Wahrnehmung, Wirklichkeit und Bewußtsein zu begründen sind. Dabei werde ich als Religionswissenschaftler sprechen, d.h. von bestimmten religiösen Symbolen und formalen Deutungszusammenhängen ausgehen, ohne eine theologische Argumentation zu verfolgen, die von einem bestimmten Normensystem wie z.B. einer Heiligen Schrift oder dem Glauben an einen als göttlich legitimierten Kodex ausgehen würde. Meine Ausgangsthese zur Frage nach dem Handeln in einem interkulturellen Kontext lautet: Den Aufbruch ins -HW]W wagen. Das heißt: Venunftgemäß leben. Aber was ist Vernunft, und was heißt leben? Um zu klären, was wir tun sollen, können die Bilder der unterschiedlichen Religionen in Leitbilder und Handlungsmuster übersetzt werden, vorausgesetzt es gelingt, durch das Raster von Wahrnehmen-Erkennen-Handeln einen konsistenten Zusammenhang bestimmter Bilder aus differenten Kulturen bzw. Religionen herzustellen bzw. plausibel zu machen. Die Frage nach dem Handeln unter den Bedingungen der Globalität ist komplex, insofern unterschiedliche Kulturen in Ungleichzeitigkeiten nebeneinander existieren. Das ist so, weil die sozialen und ökonomischen Aspekte der gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozesse eine außerordentlich hohe Disparatheit an anthropologischen und ethischen Diskursen erzeugen. So ist z.B. die Rede von „dem“ Islam oder „dem“ Christentum eine bloße Abstraktion, weil sich die jeweiligen vielfältigen kulturellen Diskurse jeweils äußerst different zu ihrer eigenen Geschichte verhalten. Die Frage nach dem Handeln wird abhängig davon äußerst unterschiedliche Bedingungen vorfin-
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den und gerade nicht globalisierbaren Mustern folgen können. Wenn wir aber auf eine universal eingeforderte Vernunft setzen, so erscheint auch hier eine hohe Komplexität, denn der Begriff der Vernunft muß erklärt werden im Kontext der vierfachen Erscheinungsform des Selbstausdrucks des Subjektes, nämlich in Wahrnehmung, Gefühl, Intellekt und Willen zum Handeln. Was wir gern möchten, ist meist ein Traum. Fällt dieser ganz unrealistisch aus, wird er zur Flucht; ignorieren wir aber die Kraft des Traumes, nämlich seine kreative Option zum Anderssein, verfallen wir in Lethargie und Resignation. Also ist die Anstrengung des Willens gefordert und wir stellen die Frage: Was können wir uns zumuten, was trauen wir uns zu? Das zu beantworten bedarf aber der intellektuellen Schärfe, d.h. wir müssen deutlich und genau fragen und unterscheiden, was wünschenswert, was nötig und was möglich ist. Und das, so wissen wir heute, in drei Dimensionen: in Bezug auf unsere innere Entwicklung als Individuen, in Bezug auf unsere Lebens- und Freundschaftsverhältnisse und in Bezug auf die Gesellschaft als Ganzes im 3 Kontext der globalen Welt. Jede anthropologische Analyse in den Religionen oder der Philosophie muß den Ist-Zustand des Menschseins ansprechen, d.h. das Ungenügen, den Mangel bzw. das Leiden. Wir können kulturwissenschaftlich empirisch nachweisen, daß die Wahrnehmung des Leidens wesentlich davon abhängt, wie wir das Leiden interpretieren, von unserem Bewußtsein also. Dieses ist wiederum gefüllt und strukturiert durch Sprache und Bilder, durch Utopien und Hoffnungen, die sich hier und jetzt bewähren müssen, wenn sie Bestand haben und für die Bewältigung unseres Lebens hilfreich sein sollen. Die religiös begründete Hoffnung und die rationale Abschätzung von Sein und Sollen ergänzen einander. C.F. von Weizsäcker schreibt: Die Religion bedarf der Aufklärung, die Aufklärung bedarf der Religion. Alle großen Religionen verlieren heute an realer Macht. Ihre oft großartigen Symbole und Selbstdeutungen sind meist Jahrtausende alt. Heute, auf dem ‘Welt3
Ich werde nicht auf die Aporien der Globalisierungsdebatte eingehen, sondern nur anmerken, daß Globalität einerseits als eine kosmologische Selbstverständlichkeit, andererseits als eine ökonomische bzw. politische Zielvorgabe, letztlich aber auch als KRUURULPSHULL dem zu widerstehen geboten sei, verstanden wird. Der Begriff der Globalisierung ist als politischer Begriff erst nach dem Rio-Gipfel gebraucht und seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts zum politischen Schlagwort des Neoliberalismus geworden.
Wahrnehmen – Erkennen – Handeln
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markt der Meinungen’, hat die Wissenschaft einen festen Stand, die Religionen 4 werden relativiert.
Und doch: Ohne die Jahrtausende alten Symbole und Erzählungen der Religionen werden wir kaum das Vertrauen und den Mut aufbringen, den notwendigen Aufbruch, zu wagen. Allerdings scheint es mir nicht sinnvoll zu sein, die Bilder der Vergangenheit getrennt nach einzelnen Religionen vorzustellen, also museale Räume zu entwerfen, bei deren Begehung wir lernen sollen, wie wir handeln müßten, sondern wir können einzelne Symbole unterschiedlicher Religionen in einem gemeinsamen virtuellen Gegenwartsraum versammeln, an dessen Wände die dringendsten Probleme der heutigen Welt gemalt sind, und wir werden vor allem versuchen zu verstehen, ob die vielfältigen Aufforderungen zum Handeln Gemeinsames erkennen lassen. Dabei ist der Blick in die Vergangenheit, in die Bilder und Symbole des Leidens und der Hoffnung lehrreich. Schauen wir nämlich in die Geschichte, so sehen wir zwar einerseits eine Kette des andauernden Grauens, wir können aber auch erkennen, daß der Mensch durchaus lern- und anpassungsfähig ist. Das Vertrauen in die Wirkkraft der Hoffnung ist die Voraussetzung dafür, daß die Aufforderung zum Handeln, das einer Reflexion der Ethik im interkulturellen Kontext folgt, nicht in zynischer Ratlosigkeit sondern in vernünftiger Verantwortung gestellt werden kann. Vernünftige Verantwortung und verantwortende Vernunft sind wie die zwei Seiten einer Münze, denn das Ideal – Gott, die Einheit des Seins, die Solidarität aller Wesen – muß in analytisch genauen Schritten auf die Probleme der Gegenwart abgebildet werden, und umgekehrt ist eine Analyse dessen, was ist und sein soll, nicht möglich ohne eine Zielvorstellung oder ein zugrunde liegendes Programm, das die Richtung des Fragens bestimmt. Ein solches Programm ist immer geschichtlich bedingt und kulturell interpretiert. Aber es gibt, so meine ich, auch allgemein menschliche vorrationale Erfahrungen, die mit unserem Menschsein gegeben sind und zu allen Zeiten von allen Menschen gesucht werden, die ihre Hoffnung nicht begraben haben. Ich meine damit das Bedürfnis nach Erfahrungen von unmittelbarer Zuwendung, Geborgenheit, Gemeinschaft. Ein eindrückliches Beispiel für die solidarische Vernunft bzw. die vernünftige Solidarität in bergender Gemeinschaft erzählt die jüdische Anekdote ‘Hölle und Himmel’: 4
C.F. v. Weizsäcker:
:RKLQJHKHQZLU", München 1997, 107.
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0LFKDHOYRQ%UFN Ein Mann wurde nach seinem Tode an die Höllenpforte geleitet. Als sich das Tor öffnete, sah er die Wesen in der Hölle an reich gedeckten Tafeln sitzen. Da gab es Lachs und Hummer, Trüffeln und wohlriechend gewürzte Braten, Champagner und die besten Weine aus allen Gegenden der Welt, dazu leckere Süßspeisen jeder Art. Aber alle Wesen hatten steife Arme und konnten so die Speisen nicht genießen. Sie litten die Qual unendlicher Frustration und verschmachteten in ihrer Gier. Traurig wandte sich der Besucher zu seinem Begleiter und bat darum, nun einen Blick durch die Himmelspforte werfen zu dürfen. Dort waren die gleichen Tafeln mit den gleichen Speisen aufgebaut, und auch hier saßen Menschen mit steifen Armen um die Tische. Aber im Himmel reichten sie einander gegenseitig die Speisen, und so konnten alle alles genießen.
Was also wäre eine Maxime des Handelns angesichts der völlig neuen Situation der Bürde des Interkulturellen, die es nicht erlaubt, sich an bloßen Rückverweisen auf traditionale Muster genügen zu lassen? Diese Maxime ist der $XIEUXFK, und zwar in allen Dimensionen, die das Menschsein ausmachen: in der Wahrnehmung, im Fühlen, im Denken und im Handeln. Und dies wiederum in Bezug auf das handelnde Subjekt selbst, in Bezug auf die nähere soziale Gemeinschaft, in Bezug auf die Politik großer sozialer Gruppen und in Bezug auf die Mitwelt alles Lebendigen. Aufbruch bedeutet Bewegung in zweifacher Hinsicht: sich auf einen Weg machen und aufbrechen, was verkrustet und begrenzt ist, was Möglichkeiten verhüllt. Aufbruch also aus fest gefügten Mustern oder aus erstarrten Vollzügen. Was heißt das? Nehmen wir das Beispiel von Konflikten: Konfliktsituationen und Widersprüche sind kontradiktorisch, d.h. einander ausschließend, auf der jeweils selben Ebene. Solche Konflikte können sich auf dieser jeweiligen Ebene nur gewaltsam entladen, wobei eine Seite ausgeschaltet wird. Wenn es aber gelingt, das Problem in einem weiteren Zusammenhang wahrzunehmen bzw. auf einer umfassenderen Ebene darzustellen, könnte das scheinbar einander Ausschließende unter neuen Parametern und Koordinaten neu gesehen werden, d.h. die Spannung ist geblieben, jetzt aber produktiv gemacht für die Öffnung eines Systems in die Selbststabilisierung durch Transformation. Man hat dies den Paradigmenwechsel genannt. Er betrifft nicht nur das Denken und Handeln, sondern primär auch das Wahrnehmen und Fühlen. Allerdings liegt ein wesentliches Problem bei der Formulierung des Themas in der kollektiven Metapher des „wir“. Das „wir“ suggeriert eine Homogenität, die womöglich gar nicht gegeben ist, einen kollektiven Konsensus, der zerbrochen ist, oder positiv formuliert: Die Moderne ist aus dem selbst-
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verständlichen Wir ausgebrochen, denn das „wir“ beruhte auf der selbstverschuldeten voraufklärerischen Unmündigkeit, um mit Kant zu sprechen. Der Ausbruch war ein Aufbruch ins Individuelle, in die je eigene Gestaltung und Verantwortung, die nun die Differenz pluralistischer Lebensmuster auszuhalten hat. Der Preis war hoch: Die Geborgenheit des „wir“ zerbrach, und an 5 die Stelle trat das „Bemühen um Sicherung“ , das – aus sich selbst – nie zur Gewißheit wird. Ist das aber wirklich so neu? Wissen die Menschen nicht schon seit alters her, daß sie sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen können, daß FHUWLWXGRnicht VHFXULWDVist? Gibt es in modernen Gesellschaften noch ein allgemein verbindliches Sollen, und wenn ja, worin genau bestünde der Konsens, wenn nein, wie müßte er aussehen, wenn es ihn denn überhaupt geben sollte? Verbergen sich nicht zu schnell hinter jedem „wir“ Strategien der Vereinnahmung, die den anderen zu beherrschen trachten? Ist das „wir“ in unserer Frage vielleicht der verschwiegene Ausdruck autoritärer Macht? Schließlich ist die Individualisierung in modernen Gesellschaften ein Risiko, aber auch eine Chance der Verantwortung und selbstgestalteten Reifung des Menschseins. Aber steckt in dem Begriff „Menschsein“ oder „Humanität“ nicht wieder ein „wir“, das der Begründung bedarf? Wie kommen wir aus diesem Zirkel der Wahrnehmung und Konstruktion von Begriffen, die wiederum Wahrnehmung beeinflussen, heraus? Das UNESCO-Projekt für eine universale Ethik bzw. ein Weltethos (Hans Küng) geht davon aus, daß sich der Individualismus und die damit verbundene Aufsplitterung der Wahrnehmung von Welt in Zukunft eher noch verstärken und deshalb ein gemeinsamer Grund von Werten gefunden werden 6 müsse. Es scheint mir aber eher umgekehrt zu sein: Angesichts der Manipulation durch die Werbung und standardisierte Vorbilder, durch den Druck globaler Marktmechanismen und amerikanische Standards gehen individuelle Lebensformen verloren und die Freiheit degeneriert zur manipulierten Freiheit des Konsums. Um dem entgegenzusteuern, bedarf es genauerer Wahrnehmung der Welt, und erst diese Wahrnehmung ist es, die Grundlagen für eine universale Ethik ermöglicht. Die Wahrnehmungsänderung aber kommt zustande durch drei Faktoren: 5 6
J. Gebser: 8UVSUXQJXQG*HJHQZDUW, Teil II, Gesamtausgabe Bd. 3, Schaffhausen 1978, 387. Y. Kim: $&RPPRQ)UDPHZRUNIRUWKH(WKLFVRIWKHVW&HQWXU\, Paris 1999, 19.
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− durch 0HGLWDWLRQ, d.h. Schulung und Konzentration des Bewusstseins, − durch 9HUQXQIW, die die Vernetzung aller Lebensprozesse erkennt, − durch Synergie der interdisziplinären .RPPXQLNDWLRQ. Um die Fragestellung zu präzisieren, ist es unumgänglich, einige Kernbegriffe zu definieren.
:DKUQHKPXQJ:LUNOLFKNHLW%HZXWVHLQLQLKUHU6\VWHPLN D :DKUQHKPXQJ .RPSOHPHQWDULWlW XQG *HOWHQODVVHQ. Als der Club of Rome in der sechziger Jahren die Grenzen des Wachstums bewußt machte, veränderte dies die Wahrnehmung der ökonomischen und soziokulturellen Strukturen zunächst in den entwickelten Gesellschaften, dann auch in den Entwicklungsländern. Dabei war evident, daß es sich um die Grenzen des quantitativenWachstums handelte, während die Parameter eines qualitativen Wachstums noch ungenügend durchschaubar sind. Die Kategorie des Qualitativen ist aber kulturellreligiös höchst different vermittelt. Weil Menschen nach Verwirklichung von Werten / Idealen aufgrund der Differenz von Anspruch und Wirklichkeit in spezifischen Kontexten und auf dem Hintergrund je konkreter geschichtlicher Erfahrungen streben, haben Religionen traditionsbegründete Zusammenhänge von Wertemustern geschaffen, die relativ große Stabilität in diachronischer und diatopischer Perspektive geschaffen haben. In dem Maße, in dem die Kontexte und historischen Erfahrungen heute einander durchdringen, entstehen neue soziale Diversifikationen. Dadurch schwindet die traditionsgesicherte Stabilität. Dabei verschiebt sich auch der Horizont des geschichtlichen Handlungsraumes: Der Mensch lebt in einer begrenzten Ökosphäre, die er gestaltet und die ihn gestaltet. Er ist Subjekt und Objekt seines eigenen wirtschaftlichen und kulturell-politischen Handelns zugleich, d.h. Täter und Objekt des eigenen Tuns, wodurch er sein Wohlergehen und Scheitern selbst verantwortet. Mit anderen Worten: Der Mensch selbst ist das Problem. Dies ist die eigentliche Veränderung in der Wahrnehmung der letzten Jahrzehnte, von der alle Religionen betroffen sind. Das kulturelle Handeln und das wirtschaftliche Handeln erscheinen damit viel enger aufeinander bezogen als zuvor: Der Mensch gestaltet sich, indem er produziert, und er produziert seine eigene Gestaltung.
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Hatte die Aufklärung den allmächtigen Gott entthront und damit die Voraussetzungen für die Allmachtsphantasien des modernen Menschen geschaffen, so relativierte die Psychologie des 19. Jahrhunderts die Allmacht der humanen Vernunft durch die Freilegung der Strukturen des Unbewußten. Das ökologische Wahrnehmungsmodell der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts aber entthronte die Allmacht des KRPRIDEHU, insofern die Grenzen der quantitativen Expansion die Grenzen des Machbaren überhaupt erkennen ließen. Was aber ist wahrnehmen? Es hängt mit Wahrheit zusammen, d.h. mit einem projektionsfreien Geltenlassen dessen, was ist. Damit sind aber das Subjekt und das Objekt der Wahrnehmung gegenseitig voneinander abhängig, aufeinander angewiesen. Die Wahrnehmung des anderen ist Spiegelbild meiner selbst / meines Selbst. Was dies genau heißt, kann hier nicht geklärt werden, es ist aber notwendig darauf hinzuweisen, daß die Bestimmung der Wahrnehmung im Zusammenhang mit einer Hermeneutik des Eigenen-Ande7 ren-Fremden geklärt werden muß. E :LUNOLFKNHLW:LUNPDFKWXQG(UZLUNWHVWirklichkeit ist nicht ein „An sich“, das außerhalb des menschlichen Bewußtseins existieren würde. Vielmehr ist das wirklich, was wir als wirklich wahrnehmen. Die Wahrnehmungsbereitschafthängt an vorgegebenen Wertemustern: Wirklich ist für den Menschen vor allem das, was für ihn wirksam ist, was also seine Interessen und Wünsche positiv oder negativ beeinflußt. Die Wirklichkeit ist mithin ein Resultat interaktiver Wahrnehmungsprozesse zwischen Individuum, Gesellschaft und ökosphärischer Mitwelt. Damit ist nicht nur die Kultur, sondern auch die Natur ein Konstrukt geschichtlicher Gestaltungsprozesse. Daraus folgt, daß der Mensch der Natur nicht als Fremder gegenübersteht, sondern Teil eines Kommunikationsnetzes ist, das „Natur“ und „Kultur“ in rückgekoppelten Beziehungen als Wirklichkeit entstehen läßt. Damit ist die Verantwortung des Menschen eine Antwort auf sein Geschick, selbst schon immer die Frage seiner Existenz zu sein. Das heißt: Die Werte, durch deren Muster hindurch Wirklichkeit wahrgenommen ist, werden stets in geschichtlichen Veränderungsprozessen erzeugt, die wiederum das, was sie schaffen, gleichzeitig systemisch voraussetzen. Was wirklich ist, wird also durch den Konsens gesellschaftlicher Werte bestimmt. Dieser Konsens ist auch von den
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Vgl. Y. Nakamura: stadt 2000.
;HQRVRSKLH%DXVWHLQHIUHLQH7KHRULHGHV)UHPGHQ, Darm-
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interreligiösen Verständigungsprozessen über die religiösen Wahrnehmungsstrukturen abhängig. Daraus ergibt sich die Frage, in welcher Wirklichkeit wir leben wollen Welche Grundwerte sind nötig, den Zwang zu ökonomischem Wachstum in einem begrenzten System von Ressourcen zu beenden, ohne daß der Gesellschaft die Arbeit ausgeht und damit der soziale Frieden gefährdet wird? Ist zum Beispiel eine „asketische Kultur“ (C.F. v. Weizsäcker), die ökologisch geboten zu sein scheint, ökonomisch vernünftig? „Wirklichkeit“ ist ein Begriff, der wohl von Meister Eckhart erstmals geprägt wurde als Übersetzung von lateinisch UHDOLWDVWährend aber realitasim Sinne der aristotelischen Substanz eher das Zugrundeliegende (gr. K\SR NHLPHQRQ), also das Statische meint, möchte Eckhart die Dynamik der Wirklichkeit aussagen, also das, was wirkt, in den Blick nehmen. Das, was wirklich ist, wird wirksam, wobei die Bezeichnung die Wirklichkeit (nicht die Sachlichkeit) schafft. Wirklichkeit wird also erzeugt durch eine Wahrnehmung, einen Willen, ein Interesse. F %HZXVVWVHLQ 0XVWHU XQG 3UR]H Die Wahrnehmungsmuster von Wirklichkeit sind das, was wir Bewußtsein nennen. Dabei wird nach dem zuvor Gesagten deutlich, daß Bewußtsein weder ausschließlich individuell noch allein gesellschaftlich oder nur global-ganzheitlich ist, sondern es ist der Kommunikationsprozeß von Mensch-Mitmensch-Mitwelt. Auch der Begriff „Umwelt“ greift zu kurz, denn die Wirklichkeit, in die der Mensch gestaltend eingreift, ist die Natur, an der er selbst Anteil hat. Aufgrund der Vernetztheit aller Phänomene weicht ein hierarchisches Modell von Machtstrukturen dem kooperativen Modell von Kommunikationsstrukturen. Die wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung verlangt nach Vernetzung politischer und geistiger Organisationsprozesse, die das Individuum und die nationalstaatlichen Strukturen wie auch den Gegensatz von Natur und Kultur (und Technik) überwindet. Dies impliziert einen Bewußtseinswandel, der traditionelle Identitäten verändert. Religionen, als traditionelle Identitätsgeber, sind in ihren Tradierungsstrukturen von diesen Prozessen unmittelbar betroffen. Unter den Bedingungen des modernen Pluralismus verändert sich die Identitätsbildung durch gleichzeitige Partizipation an bisher getrennten Traditions- und Wertegemeinschaften erheblich. Das hat Auswirkungen auf die Bildungsaufgabe des Staates. Das, was wir als Wirklichkeit erfahren, steht im Wechselspiel mit allen Faktoren dessen, was ist. Was ist, ist abhän-
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gig von der Vergegenwärtigung des Vergangenen als Möglichkeit für die Zukunft.
:DVVROOHQZLUDXIZHOFKH:HLVHWXQ" Ich stelle nun die wichtigsten Parameter für die Handlungsmuster dar, die aus der bisherigen Analyse folgen. Der Schlüssel für alles Handeln ist die angemessene Wahrnehmung, folglich ist die Schulung der Wahrnehmung der Ausgangspunkt. Dabei ist unsere Wahrnehmung spontan, vernetzend, unendlich kreativ. Sie ist so angelegt, daß eine subtile Überlagerung von Phänomenen gegenseitige Durchdringungen von Wahrnehmungsmustern ermöglicht, die zu je neuen Verknüpfungen führen können. Da aber Wahrnehmung in Abhängigkeit mit den anderen Fakultäten oder Aspekten der Bewußtseinsaktivität erfolgt, sind diese in den Prozeß der Wahrnehmungsbildung von vornherein einzubeziehen. Wie die nachfolgende Graphik veranschaulicht, stelle ich die drei grundlegenden Tugenden, die das Christentum lehrt, neben die Maximen des Programms der Moderne, das mit der Französischen Revolution verbunden ist, und neben drei wesentliche Maximen des Zen-Buddhismus, nicht um eine vorschnelle interkulturelle Mischung zu erzeugen, sondern weil sich die Perspektiven gegenseitig erhellen und tiefere Einsichten in die Dynamik von Glaube-Liebe-Hoffnung erlauben (siehe Abbildung S.42). Glaube ist das Vertrauen in die Möglichkeit zur Freiheit von Vorurteilen und kreativem Aufbruch in das Offene bzw. das Un-Gewohnte. Glaube und Freiheit ermöglichen darum dieLust auf Wahrnehmung dessen, was ist (und nicht dessen, was die Gewohnheit sehen läßt). Das, was ist, ist die gegenseitige Abhängigkeit aller Wesen und Erscheinungen, die somit einander gleich, gleichwertig und gleichberechtigt sind. Hoffnung ist die Vision, daß diese Gleichheit erkenn- und lebbar wird durch Mut zur Verantwortung für alle Wesen gegen den Partikularismus von Teilinteressen. Liebe ist die Verwirklichung der Brüderlichkeit bzw. Geschwisterlichkeit, wobei die Intelligenz der Kommunikation zum Mit-Leben in Kommunion übergeht. Neue Wahrnehmung, Mut zur Verantwortung und die Freude einer tiefen Kommunion mit allem Leben befreien uns dazu, gegen den Strom der Gewohnheit und Gedankenlosigkeit schwimmen zu können.
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(1) Empfindende Wahrnehmung (Ästhetik) Achtsamkeit/Genauigkeit (2) Fühlen/Affekt (3) Denken/Urteil Mut Hoffnung Gleichheit
Klarheit Glaube Freiheit
Gleichgültigkeit (Rückzug aus der Verzweiflung)
$VSHNWHGHV %HZXWVHLQV
(4) Handeln
Menschlichkeit Zen Christentum Liebe Brüderlichkeit Franz. Revolution
Verdummung Gewalt (Unterhaltung und (egoistische Gier, Ablenkung) Bilder durch Medien)
*HIDKUHQ
$XVEUXFKDXV IHVWJHIJWHQ0XVWHUQ +DQGOXQJVHEHQHQ (1) individuell (2) Kleingruppe (3) Staaten (4) Ökosphäre
+DQGOXQJV]HLWHQ kurzfristig langfristig strategische Muster =LHO)ULHGHQ
(1) mit sich selbst (2) mit Anderen (Nähe) (3) Völkern
(4) Natur
6SLULWXDOLWlW .RPPXQLNDWLRQ JHUHFKWHU$XVJOHLFK %DODQFH4XDOLWlW
Was also sollen wir tun? Die Antwort hängt ab von Perspektiven und dem Rahmen, den man wählt, von der Allgemeinheit der möglichen Aussagen bzw. der Konkretheit und Anwendung auf spezielle Situationen. Die „Enzyklopädie der Welt-Probleme und menschlicher Potentiale“ listet 12.203 WeltProbleme auf, und diese Zahl kommt durch eine Auswertung von internationalen Zeitschriften und der Aussagen von ca. 20.000 Nicht-Regierungs8 Organisationen (NGO) zustande. Selbst wenn man verallgemeinert und ein8
Union of International Associations (Ed.): (QF\FORSHGLD RI :RUOG 3UREOHPV DQG +XPDQ3RWHQWLDO, Vol.1, München 1994, 60; zit. in: Kim, a.a.O., 35.
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engt, wie z.B. bei der UNESCO-Konferenz zum Weltethos in Paris 1997, werden noch acht weite Bereiche aufgelistet, und Aurelio Peccei spricht von 27 grundlegenden Weltproblemen: unkontrolliertes Bevölkerungswachstum, Chaos und Spaltungen in der Gesellschaft, soziale Ungerechtigkeit, Hunger und Unterernährung, Armut, der Wachstumswahnsinn, Inflation, Energiekrise, Widersprüche im internationalen Handels- und Währungssystem, Protektionismus, Analphabetismus und anachronistische Bildung, Jugendrevolte, Entfremdung, unkontrollierte Urbanisierung und damit verbundene Abnahme der Lebensqualität, Verbrechen und Drogen, Gewalt und Brutalität, Folter und Terrorismus, Verachtung von Gesetz und Ordnung, nuklearer Wahnsinn, Sklerose und Inadäquatheit der Institutionen, Korruption, Bürokratie, Zerstörung der Umwelt, Verfall der Moral, Mangel an Vertrauen, Instabilität, Man9 gel an Verstehen des Zusammenhangs dieser Probleme. Dabei sind noch nicht einmal die medizinethischen und bioethischen Herausforderungen sowie die Wissenschaftsethik und die Manipulation der Menschen durch die Konzentration der Medien genannt. Angesichts dieses Problembefunds brauchen wir eine Ethik des Seins, und erst sekundär des Sollens, d.h. der Indikativ geht dem Imperativ voraus Was heißt das? Erst wenn ich erkannt habe, wer ich bin und was meine Potentiale sind, kann ich entsprechend handeln. Ich werde nicht durch mein Handeln, sondern mein Handeln gestaltet sich nach dem, was ich bin. Das, was ich bin, erschließt sich aber erst durch genaue Wahrnehmung der solidarischen Kreativität, die in mir lebendig ist, wenn auch meist verborgen. Solidarische Kreativität ist die Erfahrung, daß sich die kreativen und beglückenden Impulse in meinem Leben nicht dem Rückzug auf mich selbst, sondern der Öffnung zu Anderen und zu Anderem verdanken. Erst wenn ich erkenne, daß mich das Anderssein des Andern nicht bedroht, sondern bereichert, weil es ein Aspekt meiner selbst ist, kann ich solidarisch sein, nicht unter Druck, sondern in selbstverständlicher Antwort auf das Lebendige in mir. Erst wenn ich weiß, daß der Andere und Ich ein Netz bilden, in dem Eigensein und Anderssein die notwendigen Pole sind, vermeide ich die einseitige Egozentriertheit und werde frei zur Liebe. Das aber ist eine Aufgabe der Bewußtseins- und Herzensbildung, weniger poetisch: der vernünftigen Erkenntnis der interrelationalen Struktur des Menschseins.
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Kim, a.a.O., 3f.
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3UDNWLVFKH0|JOLFKNHLWHQ D $OOJHPHLQFrieden, Freiheit und Gerechtigkeit hängen so eng miteinander zusammen wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit oder Hoffnung, Glaube und Liebe bzw. Mut, Klarheit und Menschlichkeit. Die Freiheit hat ihre Grenze an der Freiheit des Anderen. Die Freiheit der Anderen erstreckt sich nicht nur auf gegenwärtig Lebende, sondern auch auf zukünftige Generationen. Dementsprechend ist die Frage, wie wir unserer Welt und Mitwelt (Tiere, Pflanzen, die gesamte Ökosphäre) begegnen, an das Freiheitsproblem und an die genannte Einschränkung der Freiheit geknüpft. Das gilt auch im religiösen Feld: die Religionsfreiheit hat ihre Grenze an den Grundrechten des Anderen. E %LOGXQJEs geht um eine Erziehung zur Verantwortung und eine Verantwortung zur Erziehung im Sinne des solidarischen Mit-Seins mit allen anderen Wesen im Sinne der durch die Vernunft erkannten Vernetztheit aller Ereignisse und Gestalten der Welt. Hinsichtlich der Inhalte und Methoden der Bildung scheinen mir folgende Anwendungsschritte möglich zu sein, die sich aus meiner Analyse des Bewußtseins herleiten: − Entwicklung nicht nur der Quantität des Wissens, sondern Bildung des Bewußtseins selbst (Erkennen von Vorurteilen, systemisches Denken), − Übung von Konzentration, wobei es z.B. möglich wird Widersprüche zusammendenken zu lernen, − meditativ-synthetisches Erfassen der Wirklichkeit, − Anerkennung der Rolle von Vorbildern und Leitbildern, die herzustellen eine erstrangige gesellschaftliche Verantwortung ist. Es geht also um ganzheitliche Bildung von meditativen, ästhetischen und intel-lektuellen Aspekten der einen Erziehung. Nochmals konkretisieren möchte ich den Sachverhalt, indem ich drei Werte-Prinzipien für Bildungsaufgaben unterscheide: 1. Wenn sich das Interesse an Machtkonzentration sowohl durch Informationsentzug wie auch durch Informationsüberschwemmung ausdrücken kann, wird Spezialisierung des Wissens, die zur Unübersichtlichkeit führt, zur Selbststabilisierung von Bürokratien, nicht aber zur Lösung von Problemen führen. Gesamtwissen wird unterdrückt und durch subsystemische Wahrnehmungen ersetzt, sodaß Problemlösungen, die zu den als gängig geltenden („Sachzwang“) alternativ wären, im Ansatz verhindert werden. Die grund-
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sätzliche Frage lautet deshalb: Welcher Werte bedarf es in der Pädagogik von Problemlösungsstrategien, um dieser Reduktion auf Subsysteme entgegenzusteuern? Es geht also um systemische Methoden und systemische Wissensinhalte. 2. Das Problem der Werte, nach denen gehandelt wird, letztlich also das religiöse Problem, stellt sich in modernen pluralistischen Gesellschaften so dar: Wenn im Gefolge der Aufklärung jeder nach seiner Façon selig werden kann und soll, so muß gefragt werden, wie überhaupt Façon zustande kommt. In den traditionalen Religionen geschah dies durch Tradition, Sukzession und Diskurs – besonders, wenn mehrere Traditionen vorliegen, die bewußt erworben werden müssen, um sie zu besitzen. Unter interkulturellen Bedingungen muß prinzipiell mit differenten Konstruktionen von „Religion“ bzw. Wertegebern gerechnet werden, wobei in modernen pluralistischen Gesellschaften Interferenzprodukte bzw. Synthesen entstehen. Hier ist die Grundeinstellung nicht nur der Toleranz, sondern des prinzipiellen Interesses an der Andersheit des Anderen und am Geltenlassen, am Nicht-Vorurteilen einzuüben. Daraus ergibt sich die Befähigung zum Kompromiß und dessen Einübung. 3. In der modernen religiösen Sozialisation fehlt es häufig an kritischer Aneignung und an die Stelle des Erkenntniswillens gegenüber der eigenen Relativität kommt es nur zur Berufung auf den Besitz (der Wahrheit, der Autorität des Guru etc.). Deshalb fällt es schwer, Regeln für den pluralistischen religiösen Diskurs zu suchen und zu erarbeiten. Ziel der Bildungsaufgabe ist daher die Einübung einer kritischen solidarischen Vernunft Ein konkretes Ziel der interkulturellen wie intrakulturellen methodischen Bildung ist die Erlernung bzw. Einübung in den Umgang mit Pluralität und den Dialog. Dabei kommt es vor allem darauf an, daß im Prozeß des Dialogs die Regeln für den Dialog dialogisch bestimmt werden. Ich glaube zwar an die Kraft des konsistenten Arguments, aber diese Kraft kann sich selbst nur im ausgehandelten Konsens erweisen, sie kann nicht postuliert werden. Die Regeln des Diskurses sind angesichts der Interessengegensätze zwischen gesellschaftlichen Gruppen und der kulturell-religiösen Differenzen auf internationaler Ebene allgemein aber verbindlich zu definieren. Der Vorschlag ei10 ner planetarischen Makroethik von Karl-Otto Apel beruht auf der Diskurs-
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K.-O. Apel: $3ODQHWDU\0DFURHWKLFVIRU+XPDQNLQG, in: E.Deutsch (Ed.): Culture and Modernity: East-West Philosophical Perspectives, Honolulu 1991, 261ff.
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ethik von Jürgen Habermas und ist von der UNESCO aufgegriffen worden. Danach ist die planetarische Ethik ein Prozeß des Argumentierens, der nie zum Ende kommt. Er beruht auf drei Voraussetzungen oder Regeln, die interkulturell eingeübt werden müssen und können: − Klarheit und gegenseitiges Verständnis über alle Aspekte der intersubjektiv gültigen Aspekte der Bedeutungenvon jeweiligen Argumenten, − Verpflichtung, die so erkannte Wahrheit zu sagen, − Wahrhaftigkeit bei der Offenlegung der Intentionen, − Aufrichtigkeit der Rede. In der Struktur ähnlich argumentiert Martha Nussbaum in ihrer Grund-legung einer interkulturellen Tugendethik. Ihr Ausgangspunkt ist der ganze Mensch, der dank seiner Gefühle „intelligente und differenzierende Persönlichkeitselemente (besitzt), die eng mit Wahrnehmung und Urteilsvermögen 12 zusammenhängen“. Die Menschen unterschieden sich danach lediglich in ihrer „Zentralwahrnehmung“ und die Argumente der praktischen Vernunft/ Gefühle setzten keine absoluten Werte, sondern seien stets „inhärent vergleichend“. Daraus folge – in Anlehnung an Aristoteles – die Aufgabe des Staates, jedem Bürger die materiellen, institutionellen und pädagogischen Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die ihm einen guten Zugang zum guten menschlichen Leben eröffnen und ihn in die Lage versetzen, sich für ein gutes Leben und 13 Handeln zu entscheiden.
Sprachliche Genauigkeit ist für die Wahrnehmung und das klare Verstehen der sozialen Realität sowie für die öffentliche Debatte äußerst wichtig. Moderne Gesellschaften entwickeln Sozialisationsmuster, die von den „klassischen“ Religionen verschieden sind. Deshalb greifen die tradi-tionellen Begriffe (z.B. für das, was „Religion“ oder ein Ritus mit sozialer Bindungskraft ist) nicht mehr und müssen im partnerschaftlichen Diskurs weiterentwickelt werden. Dazu braucht es die Einübung in eine kultivierte und hochdifferenzierte Streitkultur. Interkulturalität erzwingt einerseits die historische Fragestellung nach den differenten Bedingungen und unterschiedlichen Mustern von Wertekonstruktionen in verschiedenen Sprach- wie Religionsräumen, andererseits die her11 12 13
Kim, a.a.O., 28. M.C. Nussbaum: *HUHFKWLJNHLWRGHUGDVJXWH/HEHQ, Frankfurt/M. 1999, 136. Ebd., 24.
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meneutische Frage nach den Kommunikationsbedingungen zwischen differenten Wertesystemen in heutigen Gesellschaften. Die Bildungsbemühungen sollten sich deshalb verstärkt darauf richten, die Bedingungen und syste-mischen Varianten von Wertebildungsprozessen erkennbar zu machen.
6FKOXEHPHUNXQJ Was also sollen wir tun? Uns selbst sowie jeweils einander eine Erziehung zur Verantwortung und eine Verantwortung zur Erziehung zu ermöglichen. Erziehung ist dabei der Mut zur Wahrnehmung jeweils weiterer Zusammenhänge, der Verknüpfung ethischer, intellektueller und ästhetischer Lebensgestaltung. Es geht um Erziehung zum Aufbruch aus festgefügten Denk- und Lebensmustern in der Grundhaltung der Ehrfurcht vor allem Leben in jetzigen und künftigen Generationen.
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3UR]HVVHGHU3OXUDOLVLHUXQJLP=HLWDOWHUGHU *OREDOLVLHUXQJ In this day and age of globalization, the encounter of different civilizations with peculiar value systems, forms of faith and ways of life has become the primary intercultural phenomenon. This has set off a process of pluralization which, being a drastic and dynamic process reshaping everything, equally affects the situation of thinking. An intercultural transformation of philosophy is inescapable. Intercultural philosophy appears in two types of concepts. On the one hand, intercultural philosophy intends to overcome the ways of philosophical thinking based on Western traditions by embracing non-Western traditions of philosophy. It believes in RQH philosophy existing in multiple culturally different ways of philosophizing. On the other hand, intercultural philosophy is the analysis of intercultural processes themselves. As philosophy of interculturality, it tries to identify the invariants of cultural interactions and to analyze their philosophical significance and meaning. Following this second understanding of intercultural philosophy, the considerations presented in this essay provide a short analysis of the problems of culturality and incommensurability and arrive at the conclusion that the validity and convincing force of philosophical categories and concepts are bounded by their cultural horizons. Further, it is argued that this insight transforms the philosophical and existential situation of the individual. Das interkulturelle Grundphänomen in unserem Zeitalter der Globalisierung, dass unterschiedlichste Kulturwelten mit je spezifischen Wertsystemen, Glaubensformen und Lebensstilen aufeinandertreffen, hat einen Pluralisierungsschub ausgelöst, der in seiner tief greifenden, die Verhältnisse rasch umgestaltenden Dynamik auch die Situation des Denkens betrifft. Eine interkulturelle Transformation der Philosophie ist unabweislich. „Interkulturelle Philosophie“ tritt in zweierlei Selbstverständnis auf: Zum einen versteht sie sich als ein Denken, das die im abendländisch-westlichen Kulturraum begründete Form des Philosophierens zu überwinden sucht, indem sie diese mit den großen Denktraditionen anderer Kulturräume in Verbindung bringt. Sie glaubt an die HLQH Philosophie in der vielfachen Gestalt kulturell differenter Formen des Philosophierens. Zum anderen versteht sie sich als philosophische Analyse des interkulturellen Geschehens selbst. Als Philosophie der Interkulturalität sucht sie die Invarianten der Kulturbegegnung zu identifizieren und in ihrer Bedeutung zu entfalten. Diesem zweiten Verständnis Interkultureller Philosophie verpflichtet, gelangen die vorliegenden Ausführungen am Leitfaden der interkulturellen Problemfelder „Kulturalität“ und „Inkommensurabilität“ zur Einsicht, dass Erkenntnisleistung, Tragfähigkeit und somit Verbindlichkeit philosophischer Kategorien und Konzepte in ihrer kulturellen Reichweite begrenzt sind – wodurch sich auch die philosophisch-existentielle Situation des Individuums grundlegend ändert.
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„Interkulturalität“ bezeichnet kein neues Phänomen. Kulturen standen seit jeher in Kontakt und im Austausch mit anderen Kulturen. Aber im Zeitalter der Globalisierung hat Interkulturalität einen neuen Status gewonnen. Sie bildet sozusagen die „andere Seite“ oder die „Rückseite“ des transkulturellen Globalisierungsprozesses, der gerade in seiner Ausrichtung auf zivilisatorische Einheit zugleich eine Vielzahl pluralisierender Teilprozesse der Begegnung und wechselseitigen Durchdringung der Kulturen auslöst. Die interkulturelle Grundtatsache, dass heute in akzelerierendem Tempo und im globalen Rahmen unterschiedlichste Wertsysteme, Glaubensüberzeugungen, Erklärungsmuster, Lebensformen und Lebensstile aufeinandertreffen, macht uns bewusst, dass wir uns inmitten einer Epochenwende befinden: Der Prozess der Moderne ist im Zuge der Globalisierung in ein neues Stadium eingetreten. Die Moderne hat sich durch ihre globale Ausweitung gleichsam selbst widerlegt und muss nun ihre früheren Programmpunkte aufgeben: den Fortschrittsgedanken, die Vorstellung einer einheitlichen Welterklärung auf wissenschaftlicher Grundlage, die Einrichtung einer Weltgesellschaft und Weltordnung auf der Basis rationaler Standards. Sie hat inzwischen das Stadium der offenen, durch und durch pluralisierten und ihrer eigenen Zukunft zutiefst ungewissen Moderne erreicht. Dies wirkt sich auch auf die aktuelle Situation des Denkens aus. Das Aufeinandertreffen einer Pluralität von Kulturwelten mit je spezifischen Wertsystemen, Glaubens- und Lebensformen eröffnet ein neues Forschungsfeld: das vielschichtige Geschehen in der kulturellen Zwischensphäre. Die Auseinandersetzung mit den Grundproblemen der Interkulturalität wird unausweichlich auch zu einer neuen Einschätzung philosophischer und kulturwissenschaftlicher Konzepte, Ansätze und Theorien führen: Eine interkulturelle Transformation der Philosophie und der Kulturwissenschaften zeichnet sich 1 als eine vordringliche Aufgabe unserer Zeit ab. Die Alltäglichkeit der Rede von Globalisierung banalisiert die damit verknüpften Probleme und suggeriert eine falsche Eindeutigkeit und Einheitlichkeit. Demgegenüber ist hier die Überzeugung leitend, dass wir noch kaum begonnen haben, diesen globalen Transformierungsprozess und dessen nur schwer absehbaren Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche zu begrei1
Vgl. A. Cesana: 3KLORVRSKLHGHU,QWHUNXOWXUDOLWlW3UREOHPIHOGHU$XIJDEHQ(LQ VLFKWHQ, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26 (2000), 435–461. Dort sind einige Passagen des vorliegenden Beitrags in der Zwischenzeit publiziert.
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fen. Die Betonung der Pluralisierung widerspricht der gängigen Sicht von Globalisierung als einem Geschehen, das in seiner globalen Ausrichtung zu einer Vereinheitlichung der Weltgemeinschaft durch Ökonomie, Kommunikation und Information, Wissenschaft und Technik führt und das dazu tendiert, kulturelle Differenzen zu nivellieren. Eine solche Sicht erfasst jedoch nur die Außenseite des Prozesses und übersieht, dass sich gleichzeitig auf einer anderen, tieferen Ebene eine gegenläufige Bewegung von kultureller Konfrontation vollzieht. Die globalen Vernetzungsprozesse in Wirtschaft, Kommunikationswesen und Politik haben auf der Ebene der inneren Lebenswirklichkeit gegenläufige „Entnetzungsprozesse“ zur Folge, das heißt Vorgänge des Verlusts an kultureller Identität und existentieller Orientierung. Weil hier die Gefahr des Selbstverlusts droht, sind Beharrung und Konfrontation unvermeidlich. Dies erklärt zugleich, weshalb die Begegnung mit den fremden Kulturen von vielen nicht als Bereicherung, sondern vor allem als Bedrohung erfahren wird. Auch die Tatsache, dass gerade in den hochtechnisierten Kulturräumen religiöse und normative Fundamentalismen zunehmen, bestätigt die Richtigkeit der Erklärung. Auf das kulturelle Pluralisierungsgeschehen reagieren moderne Gesellschaften immer häufiger mit einem irrationalen Identitätskult, mit Ethnozentrismus und Zuflucht bei fundamentalistischen Rigorismen. Der durch die Globalisierung ausgelöste Pluralisierungsschub ist tiefgreifender, radikaler, kompromissloser und vollzieht sich rascher als alle vergleichbaren Prozesse in unserer bisherigen Geschichte. Man mag den Verlust an kultureller Geschlossenheit und Identität, an Stabilität und Sekurität beklagen. Aber ein lamentierender Kulturpessimismus ist bekanntlich nicht nur in politischer Hinsicht gefährlich; ihn gilt es in jedem Fall zu überwinden. Die Weltsituation der Gegenwart zwingt zur interkulturellen Verständigung. Es geht dabei nicht um die Globalisierung des Kulturellen, es geht folglich auch nicht um die Überwindung kultureller Differenzen, sondern es geht ausschließlich um das Gelingen der Kommunikation zwischen Kulturen, die sich als fremde gegenüberstehen und die nur aufeinander zugehen können, wenn das Verstehenwollen des je Anderen in seiner Andersheit die leitende Absicht bildet. Raimon Panikkar hat in diesem Zusammenhang und mit
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Blick auf die heutige Weltlage vom „interkulturellen Imperativ“ gesprochen. Dieser „interkulturelle Imperativ“ bezeichnet zugleich den Ausgangspunkt der Interkulturellen Philosophie.
,QWHUNXOWXUHOOH3KLORVRSKLH Die Begegnung der Kulturen eröffnet neue, bisher unbekannte Horizonte – auch neue Horizonte des Denkens. Die Forderung nach einer interkulturellen Transformation der Philosophie wird heute vielfach und in unterschiedlicher Weise aufgegriffen. Interkulturelle Philosophie, das heißt Philosophie des Interkulturellen, kann ein Doppeltes bedeuten: In ihrer ersten Bedeutung bezeichnet „Interkulturelle Philosophie“ ein Denken, das sich in einem interkulturellen Zwischenbereich bewegt und das bestrebt ist, die traditionelle, ausschließlich im abendländisch-westlichen Kulturraum begründete Form des Philosophierens zu überwinden – soweit dies überhaupt möglich ist. Es sucht sich die großen Denktraditionen etwa des indischen, ostasiatischen oder afrikanischen Kulturraums zu erschließen und verbindet damit die Absicht, neben den kulturellen Differenzen insbesondere die transkulturellen Gemeinsamkeiten zu bestimmen. Es glaubt an die HLQHPhilosophie in der vielfachen Gestalt kulturell differenter Formen des Philosophierens. Ein solches Denken widerspricht damit dem traditionellen Selbstverständnis der abendländischen Philosophie, einen kulturunabhängigen Zugang zu universal gültigen Erkenntnissen zu besitzen, die ein den Menschen qua Menschen Betreffendes und Verbindendes wiedergeben. In ihrer zweiten Bedeutung bezeichnet „Interkulturelle Philosophie“ die philosophische Auseinandersetzung mit dem Raum des Interkulturellen selbst. Sie versteht sich dann primär als Analyse der hochkomplexen Prozesse der Kommunikation und Interaktion zwischen Kulturen. Sie ist Philosophie der Interkulturalität. Es handelt sich um die Aufgabe, die invarianten, stets wiederkehrenden grundsätzlichen Probleme interkultureller Begegnung zu identifizieren und mit den Mitteln rationaler Analyse zu entfalten. Dieser Problemhorizont, der die Prozesse der Kulturbegegnung in der Regel unthe2
R. Panikkar: (OLPSHUDWLYRLQWHUFXOWXUDO, in: R. Fornet-Betancourt (Hrsg.): Unterwegs zur interkulturellen Philosophie. Dokumentation des II. Internationalen Kongresses für Interkulturelle Philosophie, Frankfurt a.M. 1998, 20–42.
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matisch und im Hintergrund begleitet, wird erst im Konfliktfall manifest. Die Bestimmung und Analyse der Grundprobleme der Interkulturalität lassen zugleich Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen gelingender interkultureller Kommunikation erkennen. Das für die vorliegenden Ausführungen maßgebende Verständnis Interkultureller Philosophie begreift sie als Philosophie der Interkulturalität. Der Begriff der Interkulturalität ist unauflöslich vernetzt mit einer Reihe von Begriffen, die sich als Grundkategorien der Kulturbegegnung kennzeichnen lassen und die sozusagen die konstitutiven Elemente der Interkulturalitätsproblematik darstellen. Jede einzelne Kategorie bezeichnet ein Problemfeld der Interkulturalität. Die wichtigsten Problemfelder heißen: Kulturelle Identität und Ethnozentrismus, interkulturelle Hermeneutik, Kulturalität und Universalismus, Kommensurabilität und Inkommensurabilität und schließlich kultureller Pluralismus. Die Schwierigkeit, die sich mit solchen Leitbegriffen unserer Interkulturalitätsdebatten verbindet, besteht nun darin, dass es nicht gelingen will – und nie gelingen wird –, diese Begriffe widerspruchsfrei in eine Gesamttheorie der Interkulturalität zu integrieren. Sie bezeichnen eben keine klar und eindeutig bestimmbaren Sachverhalte, sondern hochkomplexe Problemfelder, die sich nur einer differenzierenden Analyse erschließen. Es überrascht deshalb nicht, dass sich immer von neuem wieder dieselben Schwierigkeiten einstellen. So wird beispielsweise unter dem Begriff des Ethnozentrismus vieles verworfen, was unter dem Begriff kultureller Identität höchste Anerkennung findet. Dass die Forderung nach Respektierung kultureller Identität sowohl mit den Standards interkultureller Kommunikation in Widerspruch zu geraten pflegt als auch in der Regel auf eine kulturalistische Position hinausläuft, bezeichnet eine weitere Schwierigkeit. Eine dritte besteht in der hermeneutischen Ausgangsdisposition, dass die Bestimmung des Eigenen nur in der Abgrenzung vom Fremden gelingen kann und das Fremde nur im Spiegel des Eigenen verständlich wird. Bereits diese drei Beispiele, die hier stellvertretend für eine Vielzahl verwandter Schwierigkeiten genannt seien, machen deutlich, wie sehr die interkulturellen Debatten unter der unzureichenden Einsicht in die Komplexität der einzelnen Problemfelder der Interkulturalitätsproblematik leiden, und bezeugen damit Bedarf und Unerlässlichkeit differenzierender Reflexionsarbeit. – Die vorliegenden Ausführungen beschränken sich darauf, ein paar Beobachtungen zu den Pluralisierungsprozessen der Gegenwart und ihren Folgen für unser Selbstverständnis mitzuteilen.
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Es gehört ganz elementar zur menschlichen Lebenswirklichkeit, kulturgeprägt und vom kulturellen Kontext abhängig zu sein. Menschsein ist der jeweiligen Kultur gegenüber nicht autonom. Die kulturelle Gebundenheit und Partikularität des eigenen Standpunkts können zwar bis zu einem gewissen Grad erkannt und durchschaut werden, sie lassen sich aber nicht einfach abschütteln. Die Überzeugungen und Glaubenssätze, aus denen ich lebe und die meine persönliche Identität ausmachen, sind kulturell vermittelt. Meine persönliche Identität hat irgendwie mit der Identität jener Kultur zu tun, der ich angehöre. Dies lässt sich generalisieren: Zwischen Individuum und kulturellem Umfeld besteht ein dialektisches Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. Es gibt die Ich-Identität des Individuums, und es gibt die Wir-Identität des Kollektivs, der Nation, der Kultur. Wichtig ist nun die Feststellung, dass die Ich-Identität jederzeit an die Wir-Identität gebunden bleibt; es ist nicht möglich, die soziokulturelle Gebundenheit einfach abzulegen. Die Wir-Identität erweist sich als der stärkere Pol; die Wir-Identität hat Vorrang gegenüber der Ich-Identität. Das Individuum verwirklicht seine Persönlichkeit im Rahmen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten kulturellen Tradition. Auf der anderen Seite kann nicht übersehen werden, dass die Wir-Identität nicht außerhalb der Individuen existiert. Die Wir-Identität besteht nur im individuellen Bewusstsein. Es handelt sich hier um die Dialektik von Dependenz und Konstitution: Der Teil hängt vom Ganzen ab und gewinnt seine Identität erst durch die Rolle, die er im Ganzen spielt, das Ganze aber entsteht erst aus dem Zusammenwirken der Teile. Das individuelle Bewusstsein ist nicht einfach nur kulturabhängig im Sinne der Dependenz, also nicht einfach durch die kulturellen Sozialisationsprozesse sozusagen von außen her geprägt. Denn das Individuum ist ja zugleich konstituierendes Moment der Kultur. Es lässt kulturelle Gemeinschaft entstehen, und zwar dadurch, dass es 3 „Träger“ eines kollektiven Selbstbildes oder Wir-Bewusstseins ist. Das wachsende Verständnis für Kulturalität, Kontextbezogenheit und Standortgebundenheit kultureller Erscheinungen sowie für die innere Kohärenz und die Autonomie differenter Kulturwelten eröffnete eine Problematik von prinzipieller Bedeutung: Die Kulturalität des Menschseins und die Plura3
'DV NXOWXUHOOH *HGlFKWQLV 6FKULIW (ULQQHUXQJ XQG SROLWLVFKH ,GHQWLWlWLQIUKHQ+RFKNXOWXUHQ, München 1992, 131.
Vgl. J. Assmann:
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lität autonomer Kulturwelten lassen grundsätzliche Zweifel daran entstehen, ob sich ein Überkulturelles im Sinne eines kulturunabhängigen Universalen überhaupt noch begründen lässt. – Die Einsicht in die kulturelle und historische Kontingenz dessen, was als Norm, Sinn und Bedeutung existentiellen Halt gewährt, ist in der heutigen Situation des Denkens unabweisbar. Gelingende interkulturelle Kommunikation setzt zwar ein neues Verständnis für die Kulturalität des Menschseins voraus. Aber es scheint das Gelingen der Kommunikation im globalen Rahmen auch davon abhängig zu sein, dass eine Verständigungsbasis von überkultureller, also universaler Verbindlichkeit gewonnen werden kann. Es vermag deshalb nicht zu überraschen, dass die Begründungsversuche universal gültiger, letztverbindlicher Ausgangspunkte die interkulturellen Kontroversen unserer Zeit dominieren. Es kommt in solchen Bemühungen auch das Anliegen zum Ausdruck, den drohenden Verlust absoluter Fundamente und die damit verknüpfte existentielle Ungewissheit abzuwenden. Der Grundtenor lautet: Ohne universal verbindliche Orientierungspunkte sind wir der pluralistischen Flut kulturell variierender Ansichten und Positionen ausgeliefert. Diese Beschwörung der Gefahren, die von der Herrschaft des Beliebigen ausgehen, hat Richard J. Bernstein als die Haltung der „Cartesian anxiety“ bezeichnet: Es ist die Angst, ohne zuverlässige Erkenntnisfundamente hilflos dem intellektuellen 4 und moralischen Chaos ausgeliefert zu sein. Wie beruhigend macht sich demgegenüber der klassische Universalismus geltend mit seiner Verheißung, dass es eine Reihe von Grundsätzen gibt, die universale, kulturunabhängige Verbindlichkeit besitzen, wobei der universale Geltungsanspruch bestimmt wird als das, „quod semper, quod ubique, quod 5 ab omnibus creditum“. Abgesehen von den Debatten über die Begründbarkeit und Verbindlichkeit der Menschenrechte tritt der universalistische Standpunkt in der Mehrzahl der interkulturellen Diskussionen nicht mehr mit dem Anspruch auf, zu wissen, was immer, überall und für alle Geltung besitzt. Die universalistische Tendenz tritt eher implizite, also unterschwellig, sublim, beinahe verborgen 4
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Vgl. R. J. Bernstein: %H\RQG 2EMHFWLYLVPDQG5HODWLYLVP, Philadelphia 1983, 18: „[...] either there is some support for our being, a fixed foundation for our knowledge, or we cannot escape the forces of darkness that envelop us with madness, with intellectual and moral chaos.“ S. Tönnies: 'HUZHVWOLFKH8QLYHUVDOLVPXV(LQH9HUWHLGLJXQJNODVVLVFKHU3RVLWLR QHQ, Opladen 1995, 14.
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auf. Es ist überaus erhellend, in der Literatur auf solche Untertöne zu achten: Immer wieder werden Einheitsvorstellungen lanciert, Sympathien für kulturellen Ausgleich bekundet oder ein kultureller Synkretismus propagiert. Die nachwirkende, implizite Präsenz, die der klassische Universalismus im Gegenwartsdenken immer noch besitzt, äußert sich gelegentlich auch nur im Fehlen des Protests gegen Verschmelzung, Assimilation, Homogenisierung und Nivellierung kultureller Differenzen. Der Prozess der Globalisierung ist zwar per se auf Universalität ausgerichtet, es wäre jedoch falsch und irreführend, Universalisierung mit Globalisierung zu verwechseln. Der Universalismus träumt von der einen Weltgesellschaft unter einheitlichen, vernunftbegründeten Rechtsprinzipien. Der Universalismus hat visionären Charakter. Er formuliert eine Utopie. Bei der Globalisierung hingegen handelt es sich längst nicht mehr um eine Vision, sondern um das Faktum der globalen Ausbreitung von Verkehr und Information, von Wissenschaft, Technologie und ökonomischer Vernetzung. Nicht jeder Globalisierungsschritt bedeutet einen Schritt in Richtung der Etablierung universaler Einheitsideale. Der Begriff der Kulturalität drückt die Tatsache aus, dass es keine von den jeweiligen kulturellen Kontexten loslösbare menschliche Bezugnahme auf Wirklichkeit geben kann. Darum erübrigt sich die Suche nach kulturunabhängigen Erkenntnisfundamenten. Strenger gefasst besagt der Begriff der Kulturalität, dass eine geistes- oder sozialwissenschaftliche Analyse – nach aller bisherigen Erfahrung – prinzipiell in der Lage wäre, jedes Phänomen der geschichtlich-kulturellen Sphäre in seiner historischen und kulturellen Kontingenz und Bedingtheit darzulegen. Der bewusst vage Begriff der geschichtlich-kulturellen Sphäre lässt es unbestimmt, ob von normativen, religiösen, politischen, sozialen oder anderen Phänomenen die Rede ist. In einer Welt, in der sich die verschiedenen geschichtlich-kulturellen Traditionen zunehmend vermischen, gewinnt der Pluralismus an Bedeutung. Der Begriff des kulturellen Pluralismus besagt, dass es eine Pluralität von Erkenntnis-, Erfahrungsund Erlebnisformen gibt, deren Differenz durch die jeweilige geschichtlichkulturelle Situation bedingt ist. Solche Einsichten lassen auch alle Versuche, eine überkulturell verbindliche und rational zwingende Wertordnung zu begründen, als illusionär erscheinen. Es gibt keinen mit rationalen Mitteln zu legitimierenden Ausweg aus der Pluralität partikulärer Wertordnungen. Dies spricht jedoch in keiner Weise dagegen, aus praktischen Gründen eine global verbindliche Wertord-
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nung auszuhandeln. Die globalisierte Welt verlangt globale Vereinbarungen als handlungsleitende Orientierungspunkte, aber solche Übereinkünfte haben weder die Überzeugungskraft noch die zeitlose Verbindlichkeit des – vergeblich – gesuchten weltumfassenden Ethos. Auch Hans Küngs „Projekt Weltethos“ ist nicht in der Lage, verbindliche Orientierung zu begründen, da es, wie kürzlich treffend bemerkt wurde, „weniger ein analytisches als ein programmatisches Gewicht“ besitzt. Aus globalen Problemen auf die Notwendigkeit globaler Lösungen zu schließen, genügt nicht, um den universalen Anspruch eines Ethos zu legitimieren.6
,QNRPPHQVXUDELOLWlW Interkulturelle Philosophie ist Philosophieren im Dienst der Kommunikation zwischen den Kulturen. Nun soll das primäre Ziel interkultureller Kommunikationsanstrengungen – einem in den einschlägigen Debatten omnipräsenten Vorurteil zufolge – darin bestehen, die kulturellen Überlappungen und Übereinstimmungen herauszuarbeiten, um auf der Basis der Gemeinsamkeiten die interkulturelle Verständigung voranzutreiben. Diese Zielsetzung ist ja offensichtlich nicht einfach falsch, aber recht naiv, und deshalb muss die Frage erlaubt sein, ob nicht – gerade etwa im Konfliktfall – eine andere Zielbestimmung ergiebiger zu sein vermöchte. Ein radikaler Perspektivenwechsel empfiehlt sich: Nicht das Herausarbeiten der Kommensurabilitäten, sondern die Analyse inkommensurabler Verhältnisse versetzt uns in die Lage, die interkulturelle Gesprächssituation zur argumentativen Klarheit zu bringen und damit die Verständigung tatsächlich voranzutreiben. Der Begriff der Kommensurabilität besagt, dass etwas „in gleicher Art messbar ist“ wie etwas anderes. Zwei Dinge heißen „kommensurabel“, wenn es ein gemeinsames Maß gibt, das Vergleichbarkeit garantiert. „Inkommensurabel“ heißen sie, wenn dieses fehlt. Es gehört zur Situation des heutigen Menschseins, mit einer Pluralität kulturell differierender Wertvorstellungen und Glaubensüberzeugungen konfrontiert zu sein. In der kulturwissenschaftlichen Perspektive erweisen sich solche Vorstellungen und Überzeugungen als historisch und kulturell kontingent, aus der Perspektive der betreffenden 6
H. P. Siller: ,QWHUNXOWXUHOO7KHRORJLHWUHLEHQ(LQH5HIOH[LRQ, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26 (2000), 353–379, hier: 357.
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Kulturangehörigen selbst kommt ihnen jedoch eine gleichsam absolute Verbindlichkeit zu. Solche Positionen, die ein Stück gelebte Wirklichkeit einer Kultur- bzw. Traditionsgemeinschaft darstellen und deswegen der Verfügbarkeit entzogen sind, erweisen sich nicht selten als – zumindest partiell – inkommensurabel: Sie sind mit Vorstellungen anderer kultureller Herkunft unvergleichbar, und zwar ebenso, wie wissenschaftliche Paradigmen oder Sprachsysteme inkommensurabel sind. Die verbreitete Rede von der Inkommensurabilität wissenschaftlicher Paradigmen oder von Sprachsystemen verführt nun leicht dazu, auch kulturelle Welten als inkommensurabel zu bezeichnen. Das stellt eine unzulässige Übertragung und zugleich eine unerlaubte Generalisierung dar, denn das interkulturelle Verhältnis ist immer sowohl durch Kommensurabilität wie auch durch Inkommensurabilität bestimmt. Dies lässt sich geradezu als Grundsatz formulieren: Zwischen Kulturen besteht weder totale Kommensurabilität 7 noch völlige Inkommensurabilität. Es wird stets zu eruieren sein, in welchen Hinsichten kulturell differente Positionen sich als inkommensurabel herausstellen. Trotz kultureller Überschneidungen und Überlappungen ist es aber nach aller bisherigen Erfahrung eine Grundtatsache interkultureller Kommunikationsprozesse, dass Inkommensurabilitäten eine bestimmende Rolle spielen. Inkommensurabilität bezeichnet – unabhängig von der Interkulturalitätsproblematik – einen Grundsachverhalt, der immer dann auftritt, wenn die Beurteilung zweier Aussagen anhand eines für beide geltenden Maßstabes nicht möglich ist. Es gibt keinen gemeinsamen Bezugsrahmen, der einen neutralen Vergleich zwischen den beteiligten Positionen erlauben würde. Es gibt keine dritte, gleichsam archimedische Instanz, die eine unabhängige Beurteilung von Richtigkeit und Falschheit der in Frage stehenden Positionen durchzuführen vermöchte. Es überrascht deshalb nicht, dass Inkommensurabilitäten auch im intrakulturellen Bereich auftreten und in den modernen multikulturellen Gesellschaften eine häufige Gegebenheit darstellen. Wie jeder Kommunikationsprozess, so ist auch der interkulturelle Kom7
Ganz ähnlich urteilt R. A. Mall: „Die Hermeneutik der totalen Differenz verabsolutiert die Unterschiede und hängt der Fiktion einer völligen Inkommensurabilität an. Während die Fiktion der totalen Kommensurabilität das interkulturelle Verstehen zu einer Farce werden lässt, macht die Fiktion der völligen Inkommensurabilität das gegenseitige Verstehen unmöglich.“ (.RQ]HSWGHULQWHUNXOWXUHOOHQ3KLORVRSKLH, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26 [2000], 307–326, hier: 315).
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munikationsprozess nicht in der Lage, über inkommensurable Positionen hinauszuführen. Wenn in der interkulturellen Kommunikationssituation Inkommensurabilitäten auftreten, dann lassen sich die dadurch entstandenen Schwierigkeiten nur überwinden, indem Ausgangspositionen aufgegeben werden. Es versteht sich von selbst, dass etwa im normativen und religiösen Bereich diese implizite Forderung nach Aufgabe und Verzicht in höchstem Maße problematisch ist und sich in der Regel auf den Kommunikationsprozess nachteilig auswirken wird. Das hier angesprochene Problem lässt sich an einer typischen Alltagssituation veranschaulichen: Person X vertritt eine durchaus begründete Position, und Person Y vertritt eine ebenfalls überzeugend begründete Gegenposition. Im Alltag pflegen wir der argumentativen Eigenart solcher Situationen dadurch gerecht zu werden, dass wir sagen, beide Personen hätten „auf ihre Weise“ Recht. Diese Wendung des „In-gewisser-Weise-Recht-Habens“ ist freilich nur legitim, wenn die beiden Personen in ihren Argumentationen irgendwo und irgendwie auch inkommensurable Prämissen verwenden, denn unter Kommensurabilitätsbedingungen könnte nicht jede der beiden Personen „auf ihre Weise“ Recht haben; es müsste sich dann vielmehr herausstellen, dass mindestens eine der beiden sich widersprechenden Positionen nur dem Anschein nach gut begründet war, tatsächlich aber unbegründet ist. Unter Bedingungen der Kommensurabilität gilt: Aus dem mit argumentativen Mitteln geführten Diskurs wird am Ende die eine Position siegreich oder – ein eher seltener Grenzfall – beide werden als Verlierer hervorgehen. Wenn hingegen die Personen X und Y gut begründete, aber letztlich inkommensurable Positionen vertreten, dann ist es in der Tat ganz korrekt zu sagen, beide hätten „auf ihre Weise“ Recht. Dies ist nicht nur in interkulturellen Debatten, sondern auch in unseren ethischen Kontroversen weitaus häufiger der Fall, als gemeinhin zugestanden wird. In solchen Fällen kann es weder Sieger noch Verlierer geben, da beide im Recht sind. Der hier vorausgesetzte Begriff der Richtigkeit wird in einem relativen Sinn verwendet und bedeutet Richtigkeit in Relation zu den vorausgesetzten Prämissen. Nun ist es aber ganz typisch, dass in solchen Situationen die Frage auftaucht, welche der beiden Positionen denn nun tatsächlichrichtig sei. Hier wird der Begriff der Richtigkeit plötzlich in einem absoluten Sinne verwendet.8 An dieser Stelle ist die Einsicht 8
R. Alexy: 5HFKW9HUQXQIW'LVNXUV6WXGLHQ]XU5HFKWVSKLORVRSKLH, Frankfurt a.M. 1995, 126.
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unabweislich, dass diese zweite Frage nicht gestellt werden darf. Da sie sich nur unter Kommensurabilitätsbedingungen beantworten lässt und ohne diese gar keinen Sinn macht, handelt es sich um eine falsch gestellte Frage. Es ist ein einseitiges und daher unzulängliches Vorgehen, die Feststellung von Kommensurabilitäten zur Basis interkultureller Kommunikationsprozesse zu machen. Das leitende Interesse sollte sich vielmehr auf die Bereiche des Inkommensurablen richten. Denn hier kommen die grundsätzlichen und wesentlichen Differenzen in den Blick. Grenzen möglicher Konsensfindung werden sichtbar. Diese Grenzen sind immer dann erreicht, wenn eine Position sich als inkommensurabel zu ihrer Gegenposition herausstellt. Eine Vermittlung inkommensurabler Gegensätze ist nicht mehr möglich. Die Analyse zeigt auf, wo die Grenze zwischen möglicher und nicht mehr möglicher Verständigung verläuft. Diese Grenze hat mit den hermeneutischen Grenzen des Verständnisses nichts zu tun: Die Feststellung inkommensurabler Verhältnisse setzt ja gerade die eindeutige Bestimmung der Positionen voraus und erfordert jeweils tiefgreifende Analysen der Konfliktfelder. Dabei ist der Dissens argumentativ so weit zuzuspitzen, dass die inkommensurablen Prämissen sichtbar werden: Wir verständigen uns, indem wir Klarheit darüber gewinnen, wo die Grenzen des Inkommensurablen tatsächlich verlaufen. Dieses simple Faktum, dass der interkulturelle Verständigungsprozess – wie jeder Verständigungsprozess – nicht über inkommensurable Positionen hinausführen kann, ist in der abendländischen Tradition merkwürdig verdeckt geblieben. Dies ist wohl primär darauf zurückzuführen, dass für die in der abendländischen Denktradition tief begründete Einheitsvorstellung der Gedanke einer objektiven Pluralität von Wertsystemen, Religionen oder Wahrheiten ebenso fremd ist wie für den traditionellen Vernunftbegriff die Vorstellung der Inkommensurabilität. Immer wenn eine Pluralität von Positionen vorliegt, lässt sich das abendländische Denken wie selbstverständlich von der hierarchisch strukturierten Einheitsvorstellung lenken, dass sich die Pluralität auf die Einheit einer Reihe letzter, universaler Grundpositionen zurückführen lassen müsse. Es braucht eine bewusste Anstrengung des Denkens, um gegen Denkgewohnheiten anzudenken, die in der Tradition verfestigte Perspektive zu überwinden und den Pluralismus als eine Grundgegebenheit des Menschseins im Zeitalter der Globalisierung anzuerkennen.
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=XU6LWXDWLRQGHV,QGLYLGXXPV Die mit der Globalisierung verknüpften Prozesse der Pluralisierung und Relativierung insbesondere im normativen und religiösen Bereich verändern die existentielle Situation des Individuums nachhaltig: Sein Selbstverständnis gerät in Zweifel, seine soziokulturelle Identität ist bedroht, die Gewissheit seiner bisher unreflektiert gelebten religiösen und normativen Überzeugungen wird brüchig. Die Auflösung bisher geschlossener Weltbilder, die Umgestaltung der Lebensformen und die Dynamik des Wertewandels haben Orientierungsnot und zunehmende existentielle Verunsicherung zur Folge: Wir leben in einer Zeit existentieller Ungewissheit. Damit hat sich die Rolle des Individuums grundlegend verändert: Wenn es auf die großen Lebensfragen keine verbindlichen Antworten mehr kennt und wenn es den drängenden Gegenwartsproblemen nicht mehr mit allgemeingültigen Lösungen begegnen kann, obwohl in jedem konkreten Fall eine Antwort und eine Lösung gefunden sein müssen, dann wird ihm die Größe der Anforderungen bewusst, die ihm die Gegenwart überantwortet. Die einzelne Person hat Entscheidungen zu treffen, die sich nicht allgemeingültig entscheiden lassen, sie handelt verbindlich ohne verbindliche Orientierung, sie verschafft sich Gewissheit, obwohl alles ungewiss bleibt. Die Not existentieller Ungewissheit erklärt sowohl die Widerstände gegen den Pluralismus als auch die tiefe Sehnsucht nach fester und absoluter Orientierung. – Wie kann unter solchen Voraussetzungen die so dringend notwendige Kommunikation in der Begegnung der Kulturen und Religionen gelingen? Denn Kommunikation setzt Offenheit für andere Positionen und Verzicht auf absolute Geltung des eigenen Standpunkts voraus. Das Kernproblem interreligiöser und interkultureller Kommunikation besteht nun darin, dass die Forderung, die absolute Geltung der eigenen Überzeugungen oder des eigenen Glaubensgrundes aufzugeben, weder möglich noch erlaubt ist. Eine Lösung dieses fundamentalen Problems gelingt nur durch eine konsequente Trennung der subjektiv-persönlichen von der intersubjektiv-kollektiven Perspektive. In jüngerer Vergangenheit war es insbesondere die Existenzphilosophie, die ausgehend von der Grunderfahrung des Zeitalters, dass wir die Möglichkeit absoluter Orientierung verloren haben, uns daran erinnerte, dass philosophische Wahrheit an das Individuum gebunden ist. Dies bedeutet, dass Wahrheit ohne Einsatz der Person, ohne Akte wirklicher Freiheit und ohne Voll-
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züge der Existenz nicht zu gewinnen ist. Da philosophische Wahrheit der Sphäre menschlichen Freiseins angehört, bedeutete es eine Verkehrung des Menschseins, das, was frei zu entscheiden ist, zu verabsolutieren und es als 10 allgemein und objektiv gültig zu behaupten. Dies lässt sich generalisieren: Wenn das Individuum im Prozess philosophisch-existentieller Selbstvergewisserung sich seiner persönlichen Position, Überzeugung und Glaubenshaltung gewiss wird, dann stellen diese – für die betreffende Person und nur für sie – in der Tat ein Absolutum dar. Dies stimmt mit der immer wieder vorgebrachten Einsicht überein, dass die eigentlich normative Instanz nicht in einem abstrakten Normenkatalog besteht, sondern dass die verantwortungsbewusst entscheidende Person selbst diese Instanz ist. Analoges gilt für die Glaubensentscheidungen, denn die eigentliche Instanz des Glaubens besteht nicht in einem Dogmenkatalog, sondern im Glaubensentschluss der Person. Es ist evident, dass die einzelne Person – für sich selbst – die absolute Geltung ihrer Überzeugungen und Glaubensgewissheiten weder preisgeben kann noch darf; und würde sie es tun, so handelte es sich nicht um persönliche Überzeugung und Glaubensgewissheit. Diese Haltung des Beharrens auf der eigenen Position, die für die einzelne Person legitim und natürlich ist, wird gerne und mit großer Selbstverständlichkeit auf die kollektive Ebene der Gemeinschaft, der Nation, der Konfession oder der Kultur übertragen. Diese Übertragung ist unzulässig, denn unbedingte Glaubensgewissheit bleibt immer an das Individuum gebunden. Auf der intersubjektiv-kollektiven Ebene hingegen erreicht der Glaube nie den Status unbedingter Gewissheit. Deshalb gilt hier auch der Satz nicht mehr, dass die absolute Geltung der gemeinsamen Überzeugungen und Glaubensgewissheiten weder preisgegeben werden könne noch dürfe. Nur persönliche Wahl und Entscheidung haben unbedingten Charakter, und dies macht den grundlegenden Unterschied aus zwischen der subjektiv-persönlichen und der intersubjektiv-kollektiven Perspektive. Es ist nun allerdings ein Faktum, dass das Individuum dazu neigt, jenen Überzeugungen, Normen und Glaubenssätzen zu folgen, die auf der intersubjektiv-kollektiven Ebene mit dem Anspruch allgemeiner Geltung auftreten. Es ist wohl ein in unserer Denktradition begründetes, spezifisch abendländi9 10
Vgl. Karl Jaspers: 1DFKODVV]XU3KLORVRSKLVFKHQ/RJLN, hrsg. von Hans Saner und Marc Hänggi, München/Zürich 1991, 387. Ebd., 281.
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sches Vorurteil, wenn uns Wertvorstellungen irgendwie als „entwertet“ und in gewisser Weise auch als weniger verbindlich erscheinen, sobald ihnen ein solcher Anspruch auf allgemeine Geltung fehlt. Demgegenüber lässt sich mit einer in der philosophischen Tradition vielfach geäußerten und insbesondere von der Existenzphilosophie verfochtenen Auffassung daran festhalten, dass in subjektiver Hinsicht die Verbindlichkeit einer von mir vertretenen Überzeugung oder eines mir gewissen Glaubenssatzes in keiner Weise beeinträchtigt wird, wenn diese Überzeugung oder dieser Glaubenssatz in objektiver Hinsicht keine allgemeine Geltung besitzt. Denn das, wofür ich mich entscheide und dessen ich mir gewiss bin, besitzt für mich selbst absolute Geltung. Wäre es anders, so wäre das in Begriffen wie „Freiheit“, „Selbstsein“ und „Existenz“ Intendierte bloß philosophische Fiktion. Ließe sich das Absolute durch zwingende, allgemeingültige Sätze des Wissens gewinnen, dann wäre zwar objektive Orientierung gewährleistet, wir besäßen wieder einen festen Halt, verbindliche Maßstäbe und sichere Geborgenheit, aber Freiheit und Selbstsein wären verloren. Die in existentieller Hinsicht unbedingte, absolute Geltung hat weder Unbedingtheit noch Absolutheit auf der Ebene intersubjektiv-kollektiver Geltung zur Voraussetzung. Es ist diese elementare Einsicht, die dadurch, dass sie vom einzelnen Menschen ausgeht, über das Potential verfügt, einen neuen Zugang zum Dialog der Kulturen und Religionen zu eröffnen. Sie zeigt einen möglichen Ausweg aus der erwähnten Grundschwierigkeit interreligiöser und interkultureller Kommunikation. Diese Schwierigkeit besteht darin, dass das Gespräch zwischen Kulturen und Religionen einer doppelten, aber scheinbar in sich widersprüchlichen Anforderung unterworfen ist: Zum einen fordert interreligiöse und interkulturelle Kommunikation, auf absolute Geltungsansprüche zu verzichten, zum anderen fordert sie, diese zu respektieren, da es weder möglich noch erlaubt ist, die absolute Geltung der eigenen Überzeugungen oder des eigenen Glaubensgrundes aufzugeben. Doch die erste Forderung gilt nur auf der intersubjektiv-kollektiven Ebene, die zweite nur auf der subjektivpersönlichen Ebene. Für das Individuum besitzt das, dessen es sich persönlich gewiss ist, trotz der offensichtlichen Subjektivität dieser Gewissheit absolute Geltung und unbedingten Charakter. Es ist nicht möglich, das, was unbedingte und absolute Geltung besitzt, preiszugeben, ohne sich selbst zu verlieren. Auf der Ebene von Staat und Gesellschaft, Religion und Kultur hingegen erreichen Überzeugungen und Glaubenslehren niemals jene Unbedingtheit und Absolutheit der Geltung, welche die persönlichen Gewissheiten
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und Entscheidungen kennzeichnen. In einer globalisierten und pluralisierten Welt ist es demnach nicht länger zu rechtfertigen, dass im Dialog der Kulturen und Religionen die Gemeinschaften ihre Positionen mit Absolutheits- und Ausschließlichkeitsanspruch vertreten.
,QWHUNXOWXUHOOH3KLORVRSKLHDXVLQWHUNXOWXUHOOHU6LFKW Die Philosophie der Interkulturalität schärft die Wahrnehmung für kulturelle Kontingenz und Bedingtheit. Sie kommt früher oder später nicht darum herum, eine ganze Reihe kritischer Fragen grundsätzlicher Art auch an sich selbst zu richten. Denn sie ist eine philosophische Disziplin unter philosophischen Disziplinen und als solche in der Tradition des abendländischen Denkens begründet. Bei der interkulturellen Begegnung der „Philosophien“ westlichen und nichtwestlichen Ursprungs treten dieselben interkulturellen Grundprobleme auf, mit denen sich die Philosophie der Interkulturalität auseinandersetzt. Deshalb hat sie einen Selbstbezug herzustellen und die interkulturellen Grundfragen ausdrücklich an sich selbst zu richten, also die Fragen nach der eigenen kulturellen Identität, nach den Grenzen des Verstehenund Nachvollziehenkönnens des Denkens nichtwestlichen Ursprungs, nach der Möglichkeit eines kulturunabhängigen, universalen Geltungsanspruchs des Denkens, nach der Legitimierbarkeit der traditionellen Vorstellung einer SKLORVRSKLDSHUHQQLV, nach Kommensurabilitäten und Inkommensurabilitäten und nach der Bedeutung des kulturellen Pluralismus. Sie wird sich dabei der Einsicht nicht entziehen können, dass sogar die Vorstellung der Einheit des philosophischen Gegenstandes in Zweifel gerät, denn es ist so gesehen doch durchaus fraglich, ob es denn überhaupt einen identischen, zeiten- und kulturenübergreifenden Problembestand der Philosophie gibt. Solche Analysen werden unter anderem ein Verständnis dafür entwickeln, dass die Verbindlichkeit philosophischer Kategorien und Konzepte durchaus kulturell begrenzt ist. Einschneidende Korrekturen am bisherigen Selbstverständnis des Philosophierens sind unvermeidlich; sie betreffen freilich weder Form noch Inhalt interkultureller Analysen, wohl aber den damit verbundenen Geltungsanspruch. Die philosophische Auseinandersetzung mit der Interkulturalitätsproblematik führt in letzter Konsequenz zur Erkenntnis, dass nicht nur das philosophische Denken, sondern auch die Wissenschaften von Prämissen ausgehen,
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die in der kulturellen Tradition des Abendlandes begründet sind und die in dieser Hinsicht als „eurozentrisch“ bezeichnet werden können. Es handelt sich um die Einsicht, dass Konzepte und Theorien nicht in einem kulturfreien Raum entstehen, sondern aus einem vorgegebenen Verstehenshorizont heraus entwickelt werden. Auch wissenschaftliche Konzepte und Theorien sind Teile jener Kulturwelt, der sie entstammen. Darum ist die Erkenntnisleistung und Tragfähigkeit wissenschaftlicher Kategorien in ihrer kulturellen Reichweite begrenzt. Die Folgen dieser Einsicht sind noch weitgehend unabsehbar; eine interkulturelle Transformation auch der Wissenschaft – und insbesondere der kulturwissenschaftlichen Disziplinen – zeichnet sich als vordringliche Aufgabe ab.
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'LDORJXHDPRQJFLYLOL]DWLRQV A hermeneutical perspective This essay seeks to delineate an alternative to the idea of a looming “clash of civilizations” by focusing on the possibility of cross-cultural dialogue. The essay asks: What is civilization? What, in particular, do we mean by “Western” civilization? And how is civilizational dialogue feasible or how should it be conducted? The emphasis on Western civilization is prompted by a basic assumption: that genuine dialogue cannot operate on an abstract “universal” level but can only proceed through an initial attentiveness to the concrete historical and cultural contexts of participants. The notion of the situatedness of dialogue is indebted to the work of Hans-Georg Gadamer whose arguments provide the principal guideposts for the essay. Together with Gadamer the essay holds that genuine encounter cannot be entirely anthropocentric, but has to take into account certain corollaries or supplements of civilizational life, especially the corollaries of “nature” and “the divine”. In this respect, cross-cultural dialogue has to be open to social-political, economic, ecological, and “spiritual” dimensions of life. Dieser Beitrag versucht mit Blick auf die Möglichkeit des grenzüberschreitenden Dialogs eine Alternative zur Vorstellung vom „Zusammenprall der Zivilisationen“ darzulegen. Er stellt Fragen wie: Was ist Zivilisation? Was „westliche“ Zivilisation? Wie ist zivilisatorischer Dialog sinnvoll und führbar? Die Betonung der westlichen Zivilisation beruht auf einer Grundvermutung: Genuiner Dialog kann nicht auf einer abstrakten „universalen“ Ebene operieren, sondern nur durch eine von Anfang an gegebene Wahrnehmung der konkreten historischen und kulturellen Kontexte der Teilnehmer vorankommen. Der Begriff der Situiertheit des Dialogs verdankt sich der Arbeit Hans-Georg Gadamers, dessen Argumentation die wesentlichen Wegmarken dieses Beitrags ausmachen. Mit Gadamer betont dieser Beitrag, dass genuine Begegnung nicht nur völlig menschzentriert sein kann, sondern auch andere Bereiche des zivilisatorischen Lebens, wie die Natur und das Göttliche, in Betracht ziehen und durch diese ergänzt werden muss. In dieser Hinsicht wird grenzüberschreitender Dialog gegenüber den soziopolitischen, ökonomischen, ökologischen und spirituellen Dimensionen des Lebens offen sein.
When asked about his view of Western civilization, Mahatma Gandhi famously replied, „It would be a good idea.“ His reply reminds us that „civilization“ is not a secure possession, but a fragile, ever-renewable endeavor; grammatically, it has the character more of a verb than a noun. This is particularly true of the emerging global or „world civilization“ – what sometimes is called the nascent „cosmopolis.“ Here again, caution is imperative. Anyone today who would claim to speak in the name of world civilization
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would be suspect (with good reason) of harboring hegemonic or imperialist designs. Contrary to the pretense of a facile cosmopolitanism, civilization in our time is what grammarians call a SOXUDOH WDQWXP (meaning that it exists only in the plural) – notwithstanding the undeniable tightening of the network of global interactions. Hence, if there is to be a genuine civilizational encounter, participants have to proceed modestly and soberly: by taking their departure, at least initially, from their own distinct perspective or vantage point; that is, by remembering and bringing to bear their own cultural-historical prejudgments while simultaneously guarding against any form of cultural or ethnic self-enclosure. The complexity of global encounter is sometimes recognized even by high-level public officials. Not long ago, the United Nations General Assem1 bly declared 2001 to be the year of „Dialogue among Civilizations.“ While signaling a welcome initiative, the declaration immediately stirs up – for philosophically minded people – a host of thorny issues and questions. What is the meaning of „civilization“ in the United Nations announcement? Is civilization equivalent here to progress in science, technology, and industry – including digital and nuclear technology? In this case, how could there be a genuine encounter – given that some civilizations (especially in the past) have not been characterized by such „progress“ and that several civilizations today are classified, by United Nations criteria, as „un-“ or „underdeveloped“ (hence under-civilized)? Similar problems beset the notion of „dialogue.“ Is dialogue equivalent to commercial transactions and information exchanges carried on via digital computers or the internet (in accordance with what some analysts call our „informatic age“ or age of „informatic civilization“)? But in this case, quite apart from the great disparity of technical resources, is dialogue not liable to shrivel into a standardized and commodified means of communication (largely reserved for expert elites)? In what follows, I want to explore the meaning of „civilizational dialogue“ by relying, at least in part, on teachings of the renowned dean of contemporary European philosophy: Hans-Georg Gadamer. My presentation proceeds in three steps. In the first section, I try to clarify the meaning of „civilization“ by highlighting some of its core ingredients and drawing attention to some of its counter-terms or border zones. In a second step, I want to illustrate and concretize that meaning by taking my bearings from my own initial vantage point (or set of her1
United Nations General Assembly: 5HVROXWLRQRI1RYHPEHU.
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meneutical prejudgments): that of „Western“ civilization. In the concluding section, I seek to delineate the meaning or significance of civilizational „dialogue“ – especially a dialogue carried on in the context of the nascent global city or emerging cosmopolis.
&LYLOL]DWLRQDQG,WV&RUROODULHV The term „civilization“ is ambivalent and surrounded by dispute. From Oswald Spengler’s 'HFOLQHRIWKH:HVW (1918/22) to Arnold Toynbee’s &LYL OL]DWLRQRQ7ULDO (1948) to Samuel Huntington’s famous (or notorious) „Clash of Civilizations“ (1993), Western intellectuals have puzzled over the meaning of the term, as well as the present and future predicaments of civilized life. In his voluminous writings, Hans-Georg Gadamer has not extensively elaborated on civilization and its continued viability (or non-viability); however, his work does provide some helpful clues. Thus, in commenting on Aristotle’s practical philosophy, 7UXWKDQG0HWKRG offers these observations: Human civilization differs essentially from nature in that it is not simply a place where capacities and powers work themselves out. Man becomes what he is through what he does and how he behaves – that is, he behaves in a certain way because of what he has become. Thus, Aristotle sees HWKRV as differing from SK\VLV in being a sphere in which the [physical] laws of nature do not operate, yet not a sphere of lawlessness but of human institutions and human modes of 2 behavior which are mutable and like rules only to a limited degree.
Gadamer’s comments accentuate an important point: namely, the linkage between civilization and human modes of behavior and specifically human institutions, which are basically the institutions of the „city“ or SROLV. This point is corroborated by etymology. Historically, civilization derives from „civil“ and „civility,“ which, in turn, go back to the Latin FLYHV (citizen), the participant in a FLYLWDV (Greek: SROLV). In the English language, civilization is a somewhat recent innovation, dating back not farther than the late eighteenth 2
H.-G. Gadamer: 7UXWKDQG0HWKRG, 2nd rev. ed., trans. J. Weinsheimer and D. G. Marshall, New York: Crossroad 1989, 312. See also O. Spengler: 7KH'HFOLQHRI WKH :HVW, 2 vols., New York: Knopf 1926-28; A. Toynbee: &LYLOL]DWLRQ RQ 7ULDO, New York: Oxford University Press 1948; S. Huntington: Ä7KH&ODVKRI&LYLOL]D WLRQV"³, Foreign Affairs, vol.72 (Summer 1993), 22-49; also Huntington: 7KH &ODVK RI &LYLOL]DWLRQV DQG WKH 5HPDNLQJ RI :RUOG 2UGHU, New York: Simon & Schuster 1996.
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century. When, in 1772, Samuel Johnson composed his dictionary of the English language, his friend James Boswell urged him to insert the term „civilization.“ Johnson, however, refused, saying that he preferred the older 3 and more customary „civility.“ The story is significant not as a matter of historical curiosity, but because it sheds light again on the central meaning of „civilization“ (at least in the Western tradition): its connection with city life and citizenship. In this way, the contours of the term become clearer (as a concept always acquires focus at its boundaries). In the case of „civilization,“ we discover two main counter-terms or boundary dimensions: (1) „nature,“ and (2) the „divine“. Both dimensions delimit and transgress the city: the first by antedating the city and remaining its permanent substrate, the second by „transcending“ the city (seen as a worldly or „temporal“ institution). Probably the expression „counter-terms“ is misleading in this context, because there is not necessarily opposition or mutual negation. Perhaps it would be preferable to speak of corollaries or constitutive supplements – supplements that powerfully impinge upon, and sometimes contest, the city, just as they are in turn invaded and contested by civilizational demands. Historically, the relation between civilization and its two corollaries or supplements has always been complex. In large measure, traditional civilizations can be differentiated by examining the degree to which the relation has been construed more in terms of conflict and antagonism or more in terms of complementarity and harmony. The conventional, but by now largely obsolete, divide between „East“ and „West“ might conceivably be explored along these lines. In the history of Western civilization, the relation has on the whole been marked by tension or conflict (or perhaps we should say that the predominant mood of conflict was only intermittently relieved by efforts at reconciliation). Western metaphysics and social theory are replete with categorical distinctions or dichotomies. Gadamer refers to the Greek (Aristotelian) distinction between SK\VLV and SROLV (or SK\VLV and QRPRV) – although one has to say that, at that time, the terms did not yet carry antithetical meanings. These connotations did, however, surface subsequently and with growing rigor. Modern anthropologists and social theorists in the West are wont to distinguish neatly between „nature“ and „culture“ (civilization) or „nature“ and „nurture,“ with elaborate theoretical constructs erected on the
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(QF\FORSDHGLD%ULWDQQLFD, Chicago: Benton, 1964, vol. 5, 824.
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basis of this distinction. Modern political philosophy is in large measure built on the division between a primordial „state of nature“ and a contractually established „civil (or political) state,“ with the former populated by pre-civil savages (variously understood) and the latter by citizens enjoying the benefits of civil law and, above all, individual rights and freedoms. Modern Western political thought is inconceivable without this dividing line; a major question has been to what extent the „natural state“ (or state of nature) can or should penetrate into the civil state, and vice versa. In the paradigmatic treatment of Thomas Hobbes, the division between nature and city is paralleled by the distinction between two kinds of bodies: natural bodies and the „artificial“ body of the state. As the epitome of artifact, the civil state is meant to promote the development of the arts and sciences, especially of scientific discoveries and inventions and their technical (or technological) application for the improvement of human comfort. As a result of the growth of science and technology, natural bodies (and nature at large) are placed increasingly under the tutelage of the city or „civilized“ life, with its steadily expanding need for resources and commodities. In anthropological terms, the division between natural and civil states surfaces as the opposition between reason and passion (or unreason), with the natural state being in the grip of pre-rational impulses and the civil state pervaded or governed by rational design – an opposition putting Western civilization again on the path of „progress“ and „enlightenment,“ accompanied by the eradication of natural „prejudices“ and inclinations. In his wide-ranging study of the „civilizing process,“ Norbert Elias places his accent squarely on the development of the arts and sciences, particularly on the advances in „civil“ rationality triggering a spiraling dynamic, which points toward expanding levels of societal complexity and functional differentiation. To be sure – and as Elias would not deny – one also needs to remember the flip side of this process: the pervasive subjugation and domination of pre-civil „natives“ or indigenous 4
See, for example, R. Grant Steen: '1$ DQG 'HVWLQ\ 1DWXUH DQG 1XUWXUH LQ +XPDQ%HKDYLRU, New York: Plenum Press 1996, and T. D. Wacha: 7KH1DWXUHRI 1XUWXUH, Newbury Park, CA: Sage, 1992. The above presentation bypasses the distinction between „culture“ and „civilization“ (which sometimes carries invidious overtones, devaluing the second term). Occasionally, „culture“ (from Latin colere) is associated with an agricultural society, while „civilization“ is said to denote an urban, perhaps industrial society. Use of the term „culture“ is further complicated by its frequent association with education or educational accomplishment (Bildung).
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peoples under the „advanced“ auspices of Western colonialism and imperial5 ism. Next to the nature-civilization conundrum there is a second contour or boundary dimension: that of the divine. Here again, Western civilization shows a tendency toward tension or conflict (notwithstanding episodes of accommodation). Whatever the tendency or preference, the boundary raises difficult issues. Clearly, civilization in the sense of civil or city life is not necessarily hostile to religion or faith; but the two domains cannot simply be equated or collapsed into each other – as happens when religion is simply reduced to a „cultural“ phenomenon (for example, by cultural anthropologists). Vis-à-vis civil life, religious faith inevitably introduces an element of „excess“ or extraordinary appeal (traditionally captured by such terms as „grace“ and „promise“). The difficulty of the relation becomes immediately clear when one turns to one of the founders of Christian thought in the West: St. Augustine. In his magisterial &LYLWDV 'HL (City of God), composed around 420 A.D., Augustine identified not only one but two cities: the earthly or mundane city (FLYLWDVWHUUHQD) and the heavenly city (FLYLWDV'HL). While the earthly city, in his view, is governed by worldly needs and especially the human lust for power and self-aggrandizement, the heavenly city is founded 6 and maintained by grace and the divine act of salvation. Ever since the time of Augustine, this distinction of cities has overshadowed the Western Christian perspective on civilization and civilizational progress, resurfacing powerfully during the Reformation and, more recently, in the works of Kierkegaard, Karl Barth, Reinhold Niebuhr, and others. As one should note, for the bishop of Hippo the two cities were not strictly antithetical to each other (or related in the mode of mutual negation); however, in subsequent times the relation was often construed in the latter sense – with important consequences for civil society. Once the two cities are radically separated from each other, worldly civil and political life is inevita5
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N. Elias: 7KH&LYLOL]LQJ3URFHVV, New York: Urizen Books 1978; also Power and Civility, New York: Pantheon Books 1982. In the wake of the Hobbesian initiative, John Locke sought to mitigate the gulf between the natural and civil states – but only by partially civilizing the „natives“ (in the state of nature). On the assumption that people are naturally civilized, subsequent laissez-faire liberalism reduced the role of the civil state (giving free rein to private economic ambitions). St. Augustine: 7KH&LW\RI*RG, ed. Vernon J. Bourke, Garden City, NY: Image Books/Doubleday 1962, 321-322.
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bly denuded of intrinsic purpose or ethical-spiritual significance. Differently and more sharply put: the more the heavenly city is elevated and „transcendentalized,“ the more mundane civil life is de-sacralized, de-divinized, or (in Max Weber’s term) „disenchanted.“ In their de-sacralized or disenchanted condition, world and nature are placed entirely in the grip of human designs and ambitions – which, in their way, provide an enormous boost to the „advances“ of modern science and technology. In the eyes of some religious thinkers, this de-sacralization of the world is precisely one of the central achievements of Christianity (seen as a transcendental monotheism). However, from an opposite position, the same process can also be championed by secular agnostics – for example, by radical Enlightenment thinkers bent on eradicating religion by showing it to be illusory and irrelevant. At the very least, these contrary or contradictory views point up the difficulty of the relation between the two cities and, more broadly, between civilization and the divine.
7KH6WRU\RI:HVWHUQ&LYLOL]DWLRQ$Q([DPSOH These comments lead me, or have led me already, deeply into my second topic: that of Western civilization and its historical development. Here we find ourselves in a cauldron of questions. Western civilization is also sometimes described as „Christian“ or „Judeo-Christian“ civilization. Although useful as shorthand formulas, these labels are also confusing and intellectually troublesome. As the previous section should have made clear, religion – Christian or otherwise – cannot simply be leveled into civilization or culture without a rest; the most one can say is that Western civilization has been touched in various ways by Christian or Judeo-Christian teachings. Apart from merging the Augustinian „two cities,“ the labels also suffer from other defects: notably the defect of sidestepping the precarious situation of Judaism in most traditional Western societies. In addition to these drawbacks, the labels are also obviously too narrow in that they ignore another important historical, and properly civilizational, dimension: the formative influence of Greece and Rome. Seen from this angle, Western civilization is at least as much Graeco-Roman as it is Judeo-Christian – the main issue being how to interpret and assess the respective significance of these divergent strands of tradition.
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As one of the foremost interpreters of Western traditions of thought, Gadamer inevitably had to reflect repeatedly on this divergence of formative influences. Contrary to some (recently fashionable) tendencies to counterpose „Athens“ and „Jerusalem“ in mutually exclusive terms, Gadamer has always recognized their tensional, but mutually supplementary, role. Commenting on Martin Heidegger’s philosophy (which he follows on this point), he emphasized that the former’s outlook had been shaped ERWK by (classical and preSocratic) Greek thought and by Christian eschatology. „Heidegger had recognized,“ he writes in one context, „a strong tension between the conceptual language of the Greeks, who had developed their physical and metaphysical world-experience cosmologically, and our own modern world-experience which is essentially influenced and formed by Christianity.“ Ever since the advent of Christianity, Western thought has been forced to grapple with these basic problems: first, how to interpret the „fundamental ‘cosmological’ orientation of the Greeks,“ and second, how to translate Greek cosmological concepts into Christian (or Judeo-Christian) vocabulary. While the Greeks knew only „peripherally“ about history, being primarily concerned with cosmology (metaphysically construed), the Judeo-Christian emphasis on salvation history brought into view another aspect of human experience: that of „hope.“ As a result, the whole course of Western thought – Gadamer writes – is marked by „the tension between human experience which unfolds itself historically and is directed towards the future, and the formation of concepts 7 which had been drawn from the cosmos.“ What is remarkable and noteworthy about Gadamer’s account is his refusal to endorse either facile synthesis or radical opposition – and above all his willingness to think together salvation history and cosmology, or JudeoChristian temporality and Graeco-Roman philosophy. Returning to the character of Western civilization, and focusing on its constitutive features, one can say that, during the main course of its history, it has evolved in the interstices of the two central labels: Graeco-Roman and Judeo-Christian (while simultaneously being exposed to „outside“ influences, from Africa, the Near East, and beyond). The confluence of elements is imprinted already on the birth certificate of Western Christianity as it was implanted upon, and emerged among, the ruins of the Roman, or Graeco-Roman (Hellenistic), 7
H.-G. Gadamer: 3KLORVRSK\ DQG /LWHUDWXUH, trans. A. J. Steinbook, in: Man and World 18 (1985), 243-244.
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civilization. During the early years, relations between Rome and Christianity were tense, hostile, and punctuated by violent persecution. Even after the conversion of Emperor Constantine and the elevation of Christianity to state religion, conflict persisted on the intellectual level. As we know, some of the Christian church fathers (like Tertullian and Irenaeus) rejected and condemned the Graeco-Roman tradition as impious and „pagan,“ while others (like Ambrose and Jerome) were willing to embrace a „selective learning“ from the same tradition, through a practice called XVXVLXVWXV. During subsequent centuries, Christianity and Roman civilization – despite continuing quarrels – entered into a kind of symbiosis or uneasy alliance. The Western church, later called the „Roman Catholic Church,“ was structured, and continues to be structured, on the model of the Roman Empire. After the coronation of Charlemagne (800 A.D.), determined efforts were made in Western Europe to reaffirm explicitly the continuity with Roman civilization, efforts giving rise to the institutionalization of the „Holy Roman Empire“ governed simultaneously by two authorities (emperor and pope) as rulers of the „two cities.“ In a curious historical twist, Roman or Graeco-Roman cosmology was placed here in the service of Christian eschatology.8 This is not the place to recount in detail the history of this uneasy alliance. Suffice it to say that, in the course of several centuries, the „heavenly city“ increasingly collapsed into the „earthly city,“ meaning that church and papacy were steadily politicized and „secularized“ (with divine grace deteriorating into a worldly-political commodity). Simultaneously, the earthly city decayed due to growing internal corruption, feudal economic stagnation, and interminable rifts between princes. The rebellion against this state of affairs was two-pronged, taking the form of the Renaissance and the Reformation. Triggered in part by the influx of Greek scholars from Byzantium, the Renaissance basically sought to rejuvenate the treasures of Graeco-Roman civilization, especially its literature and philosophy, while also trying to revitalize
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In the words of Eric Voegelin, „The understanding of the medieval empire as the continuation of Rome was more man a vague historical hangover; it was part of a conception of history in which the end of Rome meant the end of the world in the eschatological sense. Western Christian society thus was articulated into the Spiritual and temporal orders, with pope and emperor as the supreme representatives in both the existential and the transcendental sense.“ See 7KH1HZ6FLHQFHRI 3ROLWLFV$Q,QWURGXFWLRQ, Chicago: University of Chicago Press 1952, 110.
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the political city after the model of the Roman Republic. In turn, the Reformation sought to restore and purify the heavenly city, that is, the dimension of faith and grace, by stripping it of pretensions to worldly power. Although there was tension between the two revivals (note, for example, the conflict between Erasmus and Luther), there was also considerable overlap: many of the great Reformers or partisans of the Reformation were also classical humanists steeped in Greek and Latin texts (figures like Melanchthon and Reuchlin being prominent exemplars). Thus, in their combined effect, the Renaissance and Reformation testified again to the complicated, profoundly hyphenated character of Western civilization (as Gadamer has noted): its character as Graeco-Roman/Judeo-Christian. This complex civilizational amalgam was disturbed and radically reoriented during the ensuing centuries. Pursuing the momentum of its own „civilizing process“ – a momentum fueled by Baconian science and Cartesian rationalism – Western civilization steadily expanded the domain of city life (as a civil artifact), while progressively absorbing or subjugating its corollaries or horizonal supplements. Seen from this angle, Western Enlightenment signaled the upsurge of a skeptical-humanist philosophy (typified by Voltaire and Diderot) and also the triumphant ascent of empirical science and its technical/technological implementation. It is at this point that one needs to ponder whether Western civilization is not perhaps co-constituted by a third strand or ingredient: namely, the culture of „modernity“ and its social and intellectual ramifications. Clearly, Western modernity stands in a difficult relation to the two earlier formative components. While borrowing from, and furthering in many ways, the critical-philosophical legacy of Greece and Rome, modern science and rationality also break with that tradition in important ways, especially by disowning classical cosmology and teleology. Regarding the JudeoChristian legacy, Western post-Enlightenment modernity is marked by its radically secularizing and often anti-religious bent – which does not prevent it from incorporating into its arsenal a good deal of the spiritual inwardness and individualism previously nurtured by (Reformed) Christian faith. In large measure, the centrality of „human rights“ in modern Western civilization is explained by the confluence of Graeco-Roman (especially Stoic) teachings, 9
This goal is clearly manifest in N. Machiavelli’s Discourses on the First Ten Books of Titus Livius. See N. Machiavelli: 7KH 3ULQFH DQG WKH 'LVFRXUVHV, introd. M. Lemer, New York: Modern Library 1950.
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Christian spirituality, and the modern infatuation with secular individual10 ism. The profound tension introduced by modernity into the traditional fabric of Western civilization has been clearly noted by Gadamer, especially in an essay entitled „Citizens of Two Worlds“ – which refers, not so much to the Augustinian „two cities,“ but, rather, to the two contrasting (though often overlapping) worlds of tradition and modernity. As Gadamer writes, The emergence of the modern empirical sciences in the seventeenth century is the event through which the previous form of the totality of knowledge, of philosophy or SKLORVRSKLD in the broadest [cosmological] sense of the word, began to disintegrate.
As a result of this event, the previous – albeit fragile – „unity of our culture“ was called into question and further problematized. He adds: If this is so, then the formation of European [Western] civilization by science implies not only a distinction, but brings with it a profound tension into the modern world. On the one hand, the tradition of our culture, which formed us, determines our self-understanding by virtue of its linguistic-conceptual structure which originated in Greek dialectics and metaphysics. On the other hand, the modern empirical sciences have transformed our world and our whole under11 standing of the world. The two stand side by side.
As is well known, the status of Western modernity is a highly contested 12 issue, surrounded by intense philosophical, cultural, and political debates. For some, the rift between scientific modernity and Greek teleology, on the 10
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The most perceptive and instructive account of the emergence of modern individualism is Ch. Taylor: 6RXUFHVRIWKH6HOI7KH0DNLQJRI0RGHUQ,GHQWLW\, Cambridge, MA: Harvard University Press 1989. H.-G. Gadamer: &LWL]HQVRI7ZR:RUOGV, in: D. Misgeld and G. Nicholson, eds., +DQV*HRUJ*DGDPHURQ(GXFDWLRQ3RHWU\DQG+LVWRU\$SSOLHG+HUPHQHXWLFV, Albany, NY: State University of New York Press, 1992, 212-213. Compare in this context, e.g., J. Habermas: 7KH3KLORVRSKLFDO'LVFRXUVHRI0RGHU QLW\, trans. F. G. Lawrence, Cambridge, MA: MIT Press 1987; M. Passerin d’Entreves and S. Benhabib, eds.: +DEHUPDVDQGWKH8QILQLVKHG3URMHFWRI0RGHU QLW\, Cambridge, UK: Polity Press 1996; A. Heller: &DQ 0RGHUQLW\ 6XUYLYH", Cambridge, UK: Blackwell 1990; A. Wellmer: ,Q 'HIHQVH RI 0RGHUQLW\, Cambridge, MA: MIT Press, 1990; A. Giddens: 7KH&RQVHTXHQFHVRI0RGHUQLW\, Stanford, CA: Stanford University Press 1989; L. E. Cahoone: 7KH'LOHPPDRI0RG HUQLW\, Albany, NY: State University of New York Press 1988; G. Vattimo: 7KH (QGRI0RGHUQLW\, trans. J. R. Snyder, Baltimore, MD: Johns Hopkins University Press 1988.
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one hand, and between „secular/agnostic“ modernity and Judeo-Christian faith, on the other, is so profound as to be marked by irremediable rupture (which, in turn, can be either praised or condemned). For others, contrasts or divergences are mitigated by overt or covert continuities. This is not the place to rehearse this complex debate – except to note that, as a profound student of Aristotle, Hegel, and Heidegger, Gadamer himself has always tended to balance rupture or divergence with some kind of continuity. In terms of modernity’s implications for the „civilizing process,“ a few additional comments seem in order. Judging by strictly „civic“ and humanist standards, one can hardly deny the considerable accomplishments of the modern period: its contributions to the expansion of human knowledge and to the strengthening of civil-political liberty and personal autonomy. In hindsight, of course, it is also evident that some of these gains were bought at a price – a price exacted from the two corollaries or supplements of civilization. Here, one should not forget that, since its inception, modernity has steadily been accompanied – as by a shadow – by a critique of modernity and its „civilizing“ effects – a critique epitomized by such names and movements as Rousseau, Romanticism, Nietzsche, existentialism, and deconstruction. Again, I shall not pursue this issue here, except to point to a caveat voiced in Gadamer’s 7UXWK DQG 0HWKRG: we should not cast the legitimate critique of (aspects of) modernity 13 as an „antithesis to the freedom of reason.“
7RZDUGD'LDORJXHDPRQJ&LYLOL]DWLRQV These observations lead me to my final theme: the implications of the civilizing process for our global age, and especially for the emerging „dialogue 13
H.-G. Gadamer: Truth and Method, 278, 281. The statement occurs in his discussion of European Romanticism construed as a counter-move to the Enlightenment. As he writes, Romanticism treated tradition (especially medieval tradition) as the „antithesis to the freedom of reason,“ regarding it as „something historically given, like nature.“ In Gadamer’s view, however, the celebration of nature and tradition „before which all reason must be silent“ is just as „prejudiced“ (in the pejorative sense) as the „anti-tradition“ of radical Enlightenment; even the deliberate preservation of nature and the past reflects „an act of reason, though an inconspicuous one.“ Regarding the ambivalent status of modernity and the Enlightenment see especially M. Horkheimer and Th. W. Adorno: 'LDOHFWLF RI (QOLJKWHQPHQW, trans. John Cumming, New York: Seabury 1972; also S. Freud: &LYLOL]DWLRQDQG,WV'LV FRQWHQWV, trans. and ed. J. Strachey, New York: Norton & Co. 1962.
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of civilizations.“ The preceding discussion demonstrated the immense complexity of civilization, and hence of civilizational encounter and dialogue. As a result of historical sedimentations, „civilization“ is an intricate, multi-layered fabric composed of different, often tensional layers or strands; moreover, every layer in that fabric is subject to multiple interpretations or readings, as is the interrelation of historical strands. In addition to this multidimensionality, one must recall the embeddedness of civil life in the web of its corollaries, or what I call „horizonal supplements.“ All these features can be readily transferred from the Western context to other major civilizations in the emerging global arena. Thus, „Islamic civilization“ is clearly not a uniform or compact semantic structure; as several writers have emphasized, it is possible and necessary in the case of Islamic societies to differentiate (at a minimum) between pre-Islamic legacies, Islamic traditions, and modern cul14 tural layers (often shaped by Western influence). Considerations of this kind militate against a bland vision of global homogeneity. Reflecting diverse historical trajectories, different civilizations manage their own complexity and multiplicity in highly distinctive ways – prompting them to resort to differentiated cosmologies, ontologies, and epistemologies. With regard to civilizational encounter this means that, to be fruitful, dialogue has to be both intra- and inter-civilizational, establishing linkages across both historical and geographical boundaries. It is precisely against this background of multiplicity that Gadamer’s hermeneutics proves most helpful: namely, by center staging a mode of dialogue that is open-ended and hospitable to multiple and expanding horizons. The pivotal role of dialogue (*HVSUlFK) in his work is well known and requires little elaboration. Commenting on the Platonic model, 7UXWK DQG 0HWKRG stresses the point that dialogue proceeds „by way of question and answer,“ with an accent on the primacy of questioning: „To question means to bring [an issue] into the open. The openness of what is in question consists in the unsettled state of the answer.“ To be sure, questioning here is not whimsical or pointless; rather, it is guided by concern for a topic or issue (6DFKH) – a concern shared by all dialogue partners in an open-ended search for truth: 14
See, e.g., A. Soroush: 7KH7KUHH&XOWXUHV, in: Reason, Freedom, and Democracy in Islam, trans. and ed. M. Sadri and A. Sadri, Oxford: Oxford University Press 2000, 156-170. In addition to the main historical layers it is also desirable, within the Islamic tradition, to differentiate between scriptural theology, Graeco-Hellenistic philosophy, and Sufi mysticism and poetry.
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)UHG5'DOOPD\U To conduct a dialogue requires first of all that the partners do not talk at crosspurposes. […] [It] means to allow oneself to be guided by the subject matter to which the partners in the dialogue are also oriented. This demands [in turn] that one does not try to argue the other down but that one genuinely weighs the 15 other’s perspective.
What is particularly important in Gadamer’s view of dialogue is its radically non-instrumental sense: dialoguing here involves not only an act of questioning but also the experience of being questioned, or being „called into question“ – often in unsettling and disorienting ways. The openness of dialoguing means precisely the readiness of participants to allow themselves to be „addressed“ and challenged by the other, particularly the stranger, the different, the exile. In Gadamer’s words, hermeneutical inquiry is based „on the polarity of familiarity and strangeness ()UHPGKHLW),“ in that a person entering dialogue must be willing to undergo questioning, even of a radical kind. Hence, he adds, dialogical understanding as the „true locus of hermeneutics“ always hovers in the „in-between“: between self and other, familiarity and strangeness, presence and absence. Elaborating on this point, one might say that dialoguing happens in the „middle voice,“ between pure activity and passivity, which is also the terrain of what Gadamer calls „hermeneutical experience ((UIDKUXQJ)“ seen as a venturing forward into the untamed and unfamiliar. Once the aspect of the „middle voice“ is taken seriously, dialoguing ceases to be a willful exercise of construction or deconstruction. As Gadamer notes, the expression „conducting a conversation (HLQ *HVSUlFK IKUHQ)“ is actually misleading. For the more genuine the conversation is, „the less its conduct lies within the will power of either partner“; it would hence be more 16 correct to say that we „fall into conversation“ or „become embroiled in it.“ Observations of this kind apply not only to interpersonal relations, but also – and perhaps still more forcefully – to civilizational encounters. What was called „Orientalism“ in the past was precisely the effort to dominate and 15
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Gadamer: Truth and Method, 363, 367. As Gadamer adds (p. 368), „What characterizes dialogue [...] is precisely this: that here language in questioning and answering – in giving and taking, in miscommunicating and mutual understanding – performs that communication of meaning whose artful elaboration (especially with regard to written texts) is the task of hermeneutics. Hence it is more than a metaphor but an original insight if the task of hermeneutics is described as dialoguing with a text.“ Gadamer: Truth and Method, 295, 353-354, 383. Compare also J. Liewelyn: 7KH 0LGGOH9RLFHRI(FRORJLFDO&RQVFLHQFH, London: Macmillan 1991.
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„talk down“ the other, in such a manner that the „Occident“ was never 17 „called into question“ (or never allowed itself to be questioned). To avoid this outcome, civilizational dialogue must jettison self-aggrandizing or assimilationist agendas (in the sense of the old French notion of „PLVVLRQFLYLOL VDWULFH“). This means that intra-civilizational discourse should not degenerate into „culture wars,“ just as inter- or cross-cultural dialogue should move beyond Samuel Huntington’s „clash of civilizations“; but the goal in either case is not a bland amalgamation or homogenization of differences. As in the case of interpersonal relations, civilizational dialogue has to take otherness ()UHPGKHLW) seriously and hence to respect differences and distances that cannot simply be wished or talked away. What is needed here is a patient reticence, a willingness to listen to the other – often in silence. There is a famous text by Heidegger titled „A Dialogue on Language“ that records a conversation between Heidegger and a person of Japanese culture (on such topics as art, translation, and other matters). The dialogue is remarkable for its porousness and multi-dimensionality. In conversing with each other, Heidegger and this person try to understand and come closer to each other – but they do so in a halting and reticent way, with neither party seeking to assimilate or appropriate the other’s perspective. Despite several points of congruence, the exchange is perforated with puzzlement, self-questioning, and silence (even 18 silence about silence). Respect for diversity and distance brings back into view also the corollaries or supplements of civilization mentioned earlier. Seen from an existential-human perspective, these dimensions can be viewed as horizons or open frontiers (though not as terrains that can progressively be settled and appropriated). Here again, Gadamer’s work is helpful by accentuating the notion of „horizon“ (initially introduced by Edmund Husserl) and by depicting it as a „range of vision“ extending beyond „what is close at hand“ – though not in a 19 way that would nullify the familiar or assimilate the distant. On the level of 17
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2ULHQWDOLVP, New York: Vintage Books 1979; also my %H\RQG 2ULHQWDOLVP(VVD\VRQ&URVV&XOWXUDO(QFRXQWHU, Albany, NY: State University
See E. W. Said:
of New York Press 1996, especially the chapter on „Gadamer, Derrida, and the Hermeneutics of Difference,“ 39-62. See M. Heidegger: $'LDORJXHRQ/DQJXDJH, in: On the Way to Language, trans. P. D. Hertz, San Francisco: Harper & Row 1982. In Gadamer’s words: „Essential to the meaning of Situation (or situatedness) is the concept of „horizon.“ The horizon is the range of vision that includes everything that can be seen from a particular vantage point. […] The concept of „horizon“
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civilizational discourse, horizonal openness means attentiveness to other civilizations, and also to civilization’s corollaries (nature and the divine) – which speak or intervene in human discourse, but do so in recessed and „noninformatic“ ways. The question is whether we allow ourselves to be addressed in this fashion. In the later writings of Heidegger, openness in this sense is implicit in his comments on the „speaking of language,“ where language is viewed as a medium opening up a primordial space – a space for the interactive entwinement of nature’s earth and sky, and of human finitude and the divine (what he called the „four-fold“). A similar view of language is developed in the concluding part of 7UXWKDQG0HWKRG where Gadamer refers to the „speculative“ quality of language; that is, its character as an image or mirror of holistic world relations. Language is speculative, we read there, in that „the finite possibilities of a word are linked with the intended sense in a direction toward the infinite“; for to speak means „to correlate what is said with an infinity of the unsaid in a comprehensive nexus of meaning that alone 20 grants understanding.“ In the context of Western civilization and its Judeo-Christian dimension, Gadamer indicates, this speculative quality of language (its resonance with the infinite) has strong biblical support. In sacred scripture, human speech only mirrors a depth dimension of language harboring a divine „call“ or calling; thus *HQHVLV presents God as „calling“ the world into being, while the New Testament describes God as the „word“ (ORJRV, YHUEXP) made in-
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suggests itself because it expresses the superior breadth of vision that the person who is trying to understand must have. To acquire a horizon means that one learns to look beyond what is dose at hand – not in order to look away from it but to see it better, within a larger whole and in truer proposition.“ See Truth and Method, 302, 305. Although the text also speaks of a „fusion of horizons“ (p. 306), the phrase probably should not be taken in the sense of a bland consensualism. Gadamer: Truth and Method, 469; see also M. Heidegger, /DQJXDJH, in: Poetry, Language, Thought, trans. Albert Hofstadter, New York: Harper & Row, 1971, 207-208. As Gadamer adds (p. 469), the speculative account of language is „epitomized in the poetic word.“ Elsewhere, he elaborates on this point: „The poetic incarnation of meaning in language consists in the fact that it need not insert itself in the one-dimensionality of an argumentative context and logical lines of deduction but gives, so to speak, its third dimension to the poem through what Paul Celan has once called the multifariousness of each word.“ See Philosophy and Literature, 248.
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carnate in Christ. Other civilizations and religious traditions have different ways to articulate the speculative dimension of language and the character of a divine (or trans-empirical) calling. In a manner paralleling the divine word, nature also speaks to or addresses human life – but again in recessed ways, requiring sober attention. To give an example: if we destroy the rainforests or puncture the ozone layer, nature speaks through global warming and other climatic changes, trying to teach us about the consequences of our actions. Here again, the ongoing process of globalization renders ecological responsibility a global imperative. In conclusion, let me briefly sketch or summarize some of the basic requirements of civilizational dialogue in our time. One such requirement has to be attentiveness to „civilization“ seen as a form of civic or city life. As I have indicated, city life in this sense involves a mode of civility or civic conduct, governed by civil-political laws and standards. Awareness of the drawbacks of modern civilized life does not or should not cancel the need to cultivate civil society and a responsible „public sphere“ – now on a global, or globalizing, level. Whatever its other dimensions, the emerging global community will also be a „city“ – though not on the model of the nation-state – governed by fair rules of conduct and attentive to the demands of good (responsible/accountable) government. Above all, global civil life will have to nurture the virtues of practical-political citizenship; that is, a commitment to social justice and the rule of law, and a willingness to shoulder the sobering demands of civic „prudence“ (SKURQHVLV). In addition, however, attention 21
As Gadamer writes: „Creation once took place through the word of God. In this way the early [church] fathers used the miracle of language to explain the unGreek idea of the creation. More importantly still: the actual redemptive act, the sending of the Son, the mystery of incarnation, is portrayed in John’s prologue in terms of the word.“ See Truth and Method, 419. In more theological language he continues (p. 428): „Christology prepares the way for a new philosophy of man, which mediates in a new way between the mind of man in its finitude and the divine infinity. Here what we have called the „hermeneutical experience“ finds its own, special ground.“ With regard to the divine, Heidegger’s position is in many ways the reverse of contemporary fundamentalism. In his Beiträge zur Philosophie, he speaks of the possibility of the quiet passing-by of the „last God“; elsewhere he has commented on, and affirmed, Hölderiin’s notion of the „want of holy names“ in our time. See %HLWUlJH ]XU 3KLORVRSKLH 9RP (UHLJQLV , ed. F.-W. von Herrmann, Gesamtausgabe, vol. 65, Frankfurt/M.: Klostermann, 1989, 409-417; 7KH :DQW RI +RO\ 1DPHV, trans. Bernhard Radioff, in: Man and World vol. 18 (1985), 261-267.
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must be accorded to civilization’s corollaries or supplements, speaking to us in their distinctive registers. In sum, civilizational dialogue will have to be a multi-lingual discourse carried on in multiple tonalities, including the tonalities of politics, religion, philosophy, and ecology (and – subsidiarily – economics and the internet). In this complex amalgam, politics is in many ways architectonic (as Aristotle recognized). Only by fostering a commitment to social justice and public responsibility can globalization serve not only as the pacemaker of a mega-market and (possibly hegemonic) mega-state but also as the gateway to global or inter-civilizational equity and peace. Here we do well to remember the complex conditions of peace and especially its character as a gift of justice (RSXVLXVWLWLDHSD[): to have genuine peace in the city, we must also be at peace with ourselves, with nature, and with the divine (no matter how the latter is theologically formulated). Any act of exclusion or domination directed against any one of these dimensions is an act of violence undermining peace. In his &LYLWDV 'HL, Augustine spoke of the different modalities of „peace“ obtaining in the different „cities,“ arguing in favor of some concordance among them.22 Closer to our time, Mahatma Gandhi emphasized the centrality of DKPLVD (non-violence), which – in his understanding – is not merely a negative injunction, but an exhortation to „let being(s) be,“ or to allow the different dimensions of humanity to flourish. Drawing out the implication of this view for civilizational concord, the Gandhi scholar Bhikhu Parekh observes (correctly) that – without being incommensurable – „all cultures are partial and benefit from the insights of others,“ with the result that genuine global universalism „can be arrived at only by means of an un23 coerced and equal intercultural [or inter-civilizational] dialogue.“
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St. Augustine: The City of God, 459-460. B. Parekh: $9DULHG0RUDO:RUOG, in: J. Cohen/M. Howard/M.C. Nussbaum, eds.: Is Multiculturalism Bad for Women?, Princeton, NJ: Princeton University Press, 1999, 74. See also B B. Parekh: 5HWKLQNLQJ0XOWLFXOWXUDOLVP &XOWXUDO'LYHUVLW\ DQG3ROLWLFDO7KHRU\, London: Macmillan 2000.
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(LQ*OREXVYRQ1DWLRQDOVWDDWHQ Aporien des Globalisierungsdiskurses angesichts der Migration This paper is an attempt to critically examine the discourse on globalization by focusing on its three apories -- the “universalized difference”, the “different identity”, and the “bounded boundlessness” -- and on contemporary migration processes. The argument is that globalization discourse is not capable of overcoming these apories. Moreover, talk about globalization has a performative power that has considerable impact on academic and public discourses. Unresolved social and political questions/problems are being dropped; ideologically colored notions are being used as special terms; everyday experiences are being generalized and, above all, fatalism is gaining ground. Despite a widespread assumption, processes associated with globalization are not contrary to structures of the nation-state. Globalization is still unfolding within the framework of the nation-state paradigm. Thus, in the age of globalization the apories of the nation-state culminating in the causes and impacts of migration are not being solved, but just “globalized”. Der vorliegende Text ist ein Versuch, den Diskurs über Globalisierung anhand seiner drei Aporien ±$SRULHGHUXQLYHUVDOLVWLVFKHQ'LIIHUHQ], $SRULHGHUGLIIHUHQWHQ,GHQWLWlW, $SRULH GHU EHJUHQ]HQGHQ(QWJUHQ]XQJ – und angesichts rezenter Migrationsprozesse kritisch zu betrachten. Es wird darin die These vertreten, daß der Globalisierungsdiskurs nicht imstande ist, diese Aporien zu überwinden. Zudem hat die Rede über die Globalisierung eine performative Kraft, die im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs vieles bewirkt: Ungelöste soziale und politische Fragen werden fallengelassen, ideologisch gefärbte Notionen werden als Termini übernommen, Alltagserfahrungen werden verallgemeinert – und vor allem: ein Fatalismus greift um sich. Die als Globalisierung bezeichneten Prozesse stellen entgegen der verbreiteten Annahme NHLQHQ Gegensatz zu den nationalstaatlichen Strukturen dar. Die Globalisierung entfaltet sich (noch) im Rahmen des nationalstaatlichen Paradigmas. Daher werden die nationalstaatlichen Aporien, die in den Ursachen und den Wirkungen der Migration kulminieren, im Zeitalter der Globalisierung nicht gelöst, sondern bloß "globalisiert".
3KLORVRSKLVFKH5HGHEHU0LJUDWLRQXQG*OREDOLVLHUXQJ Über Migration und Globalisierung aus philosophischer, insbesondere aus interkulturell-philosophischer Perspektive sprechen zu wollen, bringt einige Schwierigkeiten mit sich. Erstens: Die Semantik des Schlagworts „Migration“ scheint mir noch zu frisch mit ideologischen Inhalten und alltagspoliti-
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schen Positionen befrachtet zu sein. Es handelt sich dabei um polarisierende Inhalte und trivialisierende Positionen, die allesamt Spuren von 6NDQGDOLVLH UXQJ aufweisen. Tatsächlich bildet Migration seit gut einem Jahrzehnt wie sonst kein Thema das regelmäßige Zentrum der medialen und öffentlichen Rede. Wir brauchen uns nur die gebetsmühlenartige Thematisierung von Zuwanderung, „Sicherheit“ oder Integration in allen europäischen Massenmedien (und deren Terminologie) anzusehen oder den Wahlreden von PolitikerInnen zu lauschen, um uns die Tragweite dieser Skandalisierung zu vergegenwärtigen. Migration und MigrantInnen, zumal die für „kulturell anders“ befundenen, haben als Problem großen „News-Wert“. Es ist nicht selten darauf hingewiesen worden, daß den MigrantInnen selbst in diesen medialen und politischen Inszenierungen fast ausschließlich die Objekt-Funktion zuteil wird: Die ganze „europäische Festung“ spricht von einer Problem-Gruppe, die in der Öffentlichkeit selbst (als Subjekt eines beredten Schweigens) abwesend ist. Die Schwierigkeit wird dadurch vertieft, daß der wissenschaftliche Diskurs dabei keineswegs eine nur kritische, beobachtende oder beschreibende Rolle spielt: Er hat zum Anwachsen der medialen und öffentlichen Rede über Migration ebenso aktiv beigetragen, wie er zur Austragung der Kämpfe zwi1 schen den migrationspolitischen Positionen instrumentalisiert wird. Migrationsforschung, der in den letzten beiden Jahrzehnten pulsierende interdisziplinäre Forschungsstrang, entwickelt sich allmählich zur intervenierenden Politikberatung und erfreut sich daher einer großen Beliebtheit auch bei Massenmedien. Sie kann mit Zahlen, alltagsnahen Tendenzanalysen und datierbaren Prognosen aufwarten, die ebenso leicht in konkrete politische Maßnahmen einfließen wie in schnell konsumierbare Schlagzeilen. Das, wovon alle Human- und Sozialwissenschaften träumen, die „Gesellschaftsrelevanz“, wird damit der Migrationsforschung zum Verhängnis. Ein philosophischer Diskurs über Migration muß diesen beiden Fakten, der medialen und öffentlichen Skandalisierung des Themas sowie der Verstrickung der wissenschaftlichen Rede darin, präventiv Rechnung tragen. Die notwendige – nicht bloß zeitlich gemeinte – Distanz, die eine historisch1
Im deutschen Sprachraum haben Dittrich und Radtke auf diese aktiv mitgestaltende Rolle der Sozialwissenschaften schon relativ früh hingewiesen. Vgl. E.J. Dittrich/F.O. Radtke: 'HU%HLWUDJGHU:LVVHQVFKDIWHQ]XU.RQVWUXNWLRQHWKQLVFKHU 0LQGHUKHLWHQ, in: dies. (Hrsg.): Ethnizität. Wissenschaft und Minderheiten, Opladen 1990, 11-40.
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philosophische Rede erst ermöglicht, ist für diesen Zusammenhang noch herzustellen. Bei unmittelbarer Intervention, ohne vorher die notwendigen terminologischen und methodischen Vorkehrungen getroffen zu haben, läuft der philosophische Diskurs Gefahr, ebenfalls den Part eines Politikberaters oder eines Legitimationsdiskurses zu übernehmen – was den kritischen Ge2 halt des Philosophischen untergraben würde. Zweitens: Der jüngere Begriff „Globalisierung“ ist mit einer ähnlichen Schwierigkeit belegt. Während die ganze Welt seit gut einem halben Jahrzehnt von einem Phänomen spricht, gibt sich das Phänomen selbst als äußerst „schweigsam“. Es gibt keine verbindlichen Definitionen, keine als VXLJHQH ULV zu bezeichnenden Merkmale und keine sichtbaren Akteure der Globalisierung, auf die sich eine wissenschaftliche oder philosophische Rede berufen und stützen könnte. Ist Globalisierung ein Zustand oder ein Ziel? Soll sie im Namen der Grenzüberschreitungen herbeigeführt werden, oder stellt sie bereits eine zwingende grenzüberschreitende Realität, die neue „conditio humana“, dar? Markiert die Globalisierung einen „Quantensprung“ im kapitalistischen Weltsystem, oder handelt es sich dabei um einen Euphemismus für dasselbe? Ist sie nicht vielleicht einer dieser performativen Begriffe, die Prozesse auslösen, welche sie zu beschreiben vorgeben: Globalisierung als VHOI IXOILOOLQJSURSKHF\? Oder sogar, wie Pierre Bourdieu bemerkte, als eine „be3 wußt-unbewußte“ Strategie? Ist sie am Ende ein anderer Name für die Vertiefung globaler Asymmetrien, wie die sarkastische Formulierung des deutschen Philosophen und Medienwissenschaftlers Joseph Vogl nahelegt, daß nämlich „Globalisierung ein Titel für Operationen ist, die weltweite 4 Probleme schaffen, ohne sie lösen zu können“? Der erhebliche Teil des sichtbar anwachsenden Globalisierungsdiskurses verfährt meines Erachtens performativ und gibt seine normativen Prämissen als dynamische Beschreibung. Auch im Zusammenhang mit dem Globalisie2
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Zum Thema Migrationsminderheiten aus philosophischer Sicht vgl. M. Kaufmann (Hrsg.): ,QWHJUDWLRQ RGHU 7ROHUDQ]" 0LQGHUKHLWHQ DOV SROLWLVFKHV 3UREOHP, Freiburg/München 2001. Vgl. P. Bourdieu: $XHU.RQWUROOH, in: Falter 45 (2000), 18-19, hier: S. 18: „Alles, was man unter dem zugleich deskriptiven wie normativen Begriff ‘Globalisierung’ faßt, ist nicht das Resultat ökonomischer Zwangsläufigkeiten, sondern einer durchdachten und bewußt geführten, sich ihrer Konsequenzen jedoch meist nicht bewußten Politik.“ J. Vogl: 'LH6SLHOIRUPHQGHU1LFKWLQIRUPDWLRQ, Interview in: Der Standard-Album vom 14. September 2002, S. 3.
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rungsbegriff wäre daher ein philosophischer Diskurs gut beraten, nicht einer solchen terminologischen und methodischen Willkür aufzusitzen. Um hier über Migration und Globalisierung eine philosophische Rede halten und zugleich diese Schwierigkeiten – wenn nicht lösen, so zumindest – überlisten zu können, will ich von einem erkenntnistheoretischen „Trick“ Gebrauch machen. Ich will nicht über diese Phänomene selbst als Konstruktionen „erster Ordnung“, sondern über den Diskurs sprechen, der sie seinerseits konstruiert und gleichsam als Referenz bestimmt – eine Konstruktion „zweiter Ordnung“. Dabei berufe ich mich auf die kritische Tradition. Für Marx etwa konnte die Beschäftigung mit der Ökonomie nicht in einer Wissenschaft der Ökonomie gipfeln, sondern diese Beschäftigung war nur als eine .ULWLN GHUgNRQRPLHmöglich. Analog dazu sollte die philosophische Beschäftigung mit Globalisierung bzw. Migration – zumal vorübergehend – in einer .ULWLN bestehen. Selbstverständlich rede ich nicht von einer Kritik an Migration und Globalisierung – was eine absurde Vorstellung wäre (was aber im unsinnigen Modewort „GlobalisierungsgegnerInnen“ die Logik Lügen straft). Diese Kritik kann eine „zweiter Ordnung“ sein, sich also auf die performativen Diskurse richten. Daher möchte ich nicht über Globalisierung und Migration als Prozesse sprechen, sondern kritisch über den *OREDOLVLHUXQJVGLVNXUV im 5 Konnex mit der 0LJUDWLRQ. Im folgenden werde ich anhand dreier Begriffe, die im Zusammenhang mit der Migration und Globalisierung oft gefallen sind, nämlich 8QLYHUVDOLV PXV3DUWLNXODULVPXV, ,GHQWLWlW und *UHQ]HQ, auf drei Sackgassen des Globalisierungsdiskurses hinweisen. Ich werde der Reihe nach von der „Aporie der universalistischen Differenz“, der „Aporie der differenten Identität“ und der „Aporie der begrenzenden Entgrenzung“ sprechen.
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Das hier als „Globalisierungsdiskurs“ verallgemeinerte Ensemble von wissenschaftlichen, medialen, politischen und literarischen Diskursen wird im folgenden manchmal durch Literaturhinweise ausgewiesen; in manchen Fällen aber habe ich mir aufgrund des „immanenten“ Charakters der Globalisierungsthese (insbesondere in den Medien) die Freiheit erlaubt, diesen Diskurs nicht an Titeln festzumachen, sondern anhand von verbreiteten Prämissen und naheliegenden Trends den globalen „Zeitgeist“ darzustellen.
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)DV]LQDWLRQGHV7XUPEDXV Ich lese, schreibe und spreche oft und mit Faszination über den Turmbau von Babel. Wenn ich dem alten philosophischen Laster verfallen und versuchen würde, diese Faszination zu analysieren, so würden sich SULPDYLVWDdrei Aspekte herauskristallisieren, die auch für unsere Fragestellung von Bedeutung sein dürften: 1. Es mag stimmen, daß %DEHOwörtlich „Wirrsal“ heißt. Es wäre dennoch eine Verkürzung der gesamten Bedeutung der Turmbau-Legende, wenn wir sie im idiomatischen Sinne auf Sprachverwirrung, Abbruch der Kommunikation, Ende der Hermeneutik reduzieren würden. Die Legende beschreibt das womöglich älteste gemeinschaftliche Projekt, in dem Einheit und Vielfalt ineinanderfließen. Kurz vor seiner Fertigstellung war der Turm bereits Symbol der größten Eintracht auf Erden; kaum war sein Bau abgebrochen, symbolisierte er schon die größte Vielfalt auf Erden. Der babylonische Turm bildet gewissermaßen das Paradigma für Gleichzeitigkeit von Gegensätzen, für das dialektische Prinzip. Wenn wir die biblisch-moralische Lehre, Hochmut werde böse bestraft, 6 sowie andere spirituelle Lesarten einmal beiseite lassen, spricht die Turmbau-Legende auch heute von vertrauten Dingen: von Eintracht und Diversität, Mono- und Multilingualität, Ordnung und Anarchie, Gemeinschaft und Differenz, Universalismus und Partikularismus, Globalisierung und Migration. 2. Letzteres ist das Stichwort für den zweiten Aspekt meiner Begeisterung: Der Turmbau ist unter anderem eine Erzählung über Migration. Die BewohnerInnen von Babel verlassen die Stadt nach der Sprachverwirrung und „werden über die ganze Erde zerstreut“. Genaugenommen geht es aber um eine Geschichte der Auswanderung, zumindest ist sie aus der Auswanderungsperspektive erzählt. Diese Perspektive ist hervorzuheben, denn im Zeitalter der Migration, wie unser Jahrhundert oft genannt wird, stellt sie etwas Ungewöhnliches dar. In den westlichen Staaten, wo die „Große Erzählung“ der Migration zu Hause ist, wird der Prozeß vornehmlich aus der anderen Perspektive, als Einwanderung beschrieben. Dort die tag- und nachtaktiven Einwanderungswillligen aus den armen Ländern, hier die Zielorte, die 6
Zu den unterschiedlichen Lesarten der Turmbau-Legende in verschiedenen Zeitaltern vgl. A. Borst: 'HU7XUPEDXYRQ%DEHO, 4 Bde., München 1995 (Nachdruck der Originalausgabe: Stuttgart 1957-1963).
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passiven „Opfer“ der Migration: EuropäerInnen. Es gibt aber eine andere Seite der Medaille. Ein Blick in die jüngere Geschichte zeigt, daß Europa selbst bis zum Ende 7 des Zweiten Weltkriegs primär eine Auswanderungsregion war. Zwischen 1820 und 1915 sind 50 bis 55 Millionen Menschen aus Europa in die Überseeländer ausgewandert; zwischen 1800 und 1930 haben sich 40 Millionen europäische Auswanderer und Auswanderinnen dauerhaft in Amerika und Australien niedergelassen. Auch die europäische Binnenmigration, insbesondere jene nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ist eine beachtliche: Allein im Sommer 1945 wurden innerhalb Westeuropas mehr als drei Millionen Menschen repatriiert, bis 1951 wurde für mehr als eine Million Menschen die Auswanderung nach 48 Ländern organisiert.8 Europa war schon immer ein Kontinent, auf dem Einwanderung und Auswanderung gleichzeitig auf der Tagesordnung standen und stehen. Einseitige Erzählungen münden in ideologische Gemeinplätze; Geschichten der Auswanderungen sind zu fokussieren. 3. Wenn ich einen weiteren Schritt setze und den interpretativen Rahmen verlasse, wird noch ein dritter Aspekt deutlich, der am Turmbau von Babel meine Phantasie beflügelt. Es handelt sich hierbei um eine hypothetische, unhistorische Frage: Was wäre denn passiert, wenn der Turm IHUWLJJHEDXWworden wäre? Wenn die BewohnerInnen dieser für ihre Zeit wohl einzigartigen Metropole nicht ihre gemeinsame Sprache verloren und mit ihrem ruhmreichen Turm ihre große Willenskraft und ihren starken Gemeinsinn unter Beweis gestellt hätten? Käme es dennoch zu anderen Sprachen und Völkern? Wären da andere Stämme und Staaten entstanden? Wäre dann Babel zu einem solchen Imperium geworden, das wir aus späteren Beispielen kennen (etwa Römisches Reich oder British Empire)? Oder hätte es eine neue Form des Universalismus hervorgebracht? Denn es steht ja geschrieben: „Alle Menschen hatten die gleiche Sprache [...]“ Es ist durchaus denkbar, daß dieser Zustand den Ausgangspunkt einer uns bisher unbekannten Form der Weltgesellschaft hätte bilden können. Natürlich gibt es auch noch – mindestens – eine dritte Möglichkeit: Es wären – etwa aufgrund interner Macht7 8
Vgl. D. Çinar: 'LHÄQHXHQ³(LQZDQGHUHU(XURSDV)UHPGHDXI'DXHU", Unveröffentlichte Dissertation an der Universität Wien 1999. Vgl. ebd.; Saskia Sassen: 0LJUDQWHQ6LHGOHU)OFKWOLQJH9RQGHU0DVVHQDXVZDQ GHUXQJ]XU)HVWXQJ(XURSD, Frankfurt/M. 1997.
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kämpfe oder durch die Hand Vertriebener, Unglücklicher, Unterdrückter etc. – aus dem Turmbau-Projekt andere „Bauten“ hervorgegangen, die sich dem Turm entgegensetzten und das Eigene in den Mittelpunkt stellten. Mit dieser hypothetischen Frage befinden wir uns LQ PHGLDV UHV. Denn auch im Zusammenhang mit der Globalisierung fällt diese Frage am häufigsten: Wird aus der Welt eine Einkaufsstraße, die den Firmen Coca-Cola, McDonalds & Co gehört? Wird der Universalismus der Reichen siegen, obwohl der Partikularismus der Handgranaten und Maschinengewehre ebenso im Aufstieg begriffen ist? Steuern wir, um einen weiteren Spruch von Marx zu mißbrauchen, auf „Globalisierung oder Barbarei“ zu? Michael Walzer spricht von zwei unterschiedlichen Arten des Universalismus und veranschaulicht sie am historischen Beispiel des Judentums. Der erste Universalismus geht davon aus, daß es einen Gott und – ZHLOXQGLQVR IHUQ es einen Gott gibt – ein Gesetz, eine Gerechtigkeit, ein richtiges Verständnis des guten Lebens, der guten Gesellschaft oder der guten Regierungsform, 9 eine Erlösung, einen Messias, ein Millennium für die gesamte Menschheit gibt.
Walzer nennt diese Variante „Universalismus des allumfassenden Gesetzes“ („covering law“-version). Dem stellt er eine relativistische Variante gegenüber, die aber immer noch ein Universalismus sei. Er zitiert den Propheten Amos, der Gott folgendes sagen läßt: Seid ihr mir nicht genausoviel wert, wie die Äthiopier, ihr Kinder Israels? [...] Habe ich nicht Israel aus dem Lande Ägypten herausgeführt, doch auch die Philister aus Kaphtor und die Aramäer aus Kir?
In dieser Perspektive gebe es, so Walzer, nicht nur HLQHQExodus, HLQHgöttliche Erlösung, HLQHQZeitpunkt der Befreiung für die ganze Menschheit. Jedes Volk wiederhole für sich die Erfahrung von Befreiung, die allerdings von HL QHPGott gewährleistet wird. Diese Variante bezeichnet er als „wiederholenden Universalismus“, der eine partikularistische Blickrichtung und eine pluralisierende Tendenz habe. Vielleicht gab es auch in Babel einen „wiederholenden Universalismus“; das Projekt Turmbau läßt aber eher die andere Variante vermuten. Der babylonische Universalismus, den Gott durch Diversifizierung verhindert hat, ist ein „covering law“-Universalismus. Er kennt nur die eigenen Götter, das ei9
M. Walzer: /RNDOH.ULWLN±JOREDOH6WDQGDUGV, Hamburg 1996, 140.
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gene Gesetz und die eigene gute Regierungsform. Es handelte sich aber, wie wir heute annehmen (wenn wir bezüglich der Babel-Legende überhaupt von einer „Zeit“ reden können), um eine Zeit, in der jede universalistische Weltauffassung aus einer gewissen Ignoranz gespeist wurde, die aus heutiger Sicht auf fehlende Kommunikations- und Transportmittel zurückgeführt werden kann. Man kannte vornehmlich das Eigene, war darin gewissermaßen verfangen und gefangen. Daher war jeder Universalismus ein LJQRUDQWHU 8QLYHUVDOLVPXV und gleichsam ein XQJHZROOWHU3DUWLNXODULVPXV. Nicht so aber der Kolonialismus, nicht so auch der philosophische Universalismus der Moderne. Denn angesichts anderer Kulturen die eigene Kultur als allumfassend zu betrachten, ja andere Kulturen mit dem Zweck der Unterwerfung zu erforschen, stellt eine andere Kategorie dar als der längst nicht mehr vorhandene „ignorante Universalismus“. Auch die andere Seite der Medaille, der „ungewollte Partikularismus“, ist verschwunden. Er verlor angesichts des neuen allumfassenden Universalismus seine Unschuld und wurde zu einem beabsichtigten, zum politischen Programm erhobenen Partikularismus – was seit gut zwei Jahrzehnten Fundamentalismus und religiöser oder nationalistischer Fanatismus genannt wird.
$SRULHGHUXQLYHUVDOLVWLVFKHQ'LIIHUHQ] Wie ist es mit der Dialektik des Universalismus und Partikularismus heute, im Zuge der Globalisierung, bestellt? Was erblicken TheoretikerInnen der Globalisierung in dieser Dichotomie? Ein Beispiel aus dem Einkaufsalltag soll den Zeitgeist verdeutlichen helfen. Wahrscheinlich kennt jede/r die Camper: Das sind Schuhe, die ein wenig wie Turnschuhe aussehen, aber alle ästhetischen und materialen Eigenschaften von maßgeschneiderten Lederschuhen aufweisen. Seit jeher ein Geheimtip (besonders für Spanien-KennerInnen; denn die Schuhe werden auf Mallorca hergestellt), sind die Camper in den letzten Jahren zu einer sehr beliebten Ware, ja zum Kultgegenstand geworden und haben gleichsam das Fußkleid-Design nachhaltig geprägt: Nahezu jede Firma stellt derzeit Schuhe her, die im Camper ihr „Paradigma“ zu haben scheinen. Wer in letzter Zeit ein Paar Camper gekauft und trotz großer Freude ob dieses Erwerbs das Interesse kurz auf die (ebenfalls anspruchsvoll gestaltete) Schuhschachtel hat
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lenken können, wird darauf folgenden Text gelesen haben (Hervorhebungen von mir): A Great Little Company: Camper is not a shoe. Camper is the result of a dream. The dream of a family from Mallorca that has been making shoes since 1877. A that stands for a ,a and a . A dream that combines the with an . A dream that has taken Camper on a walk . As in ancient myths, Camper is a , challenging with quality, irony and imagination, the . However, Camper is above all : a team of men and women and a something . A team of people that a . That is Camper’s unique guarantee: the fact that what has built this company is the excitement produced by those everyday little treasures of life.
0HGLWHUUDQHDQGUHDP ZD\RIGRLQJ ZD\RIOLYLQJ ZD\ RIIHHOLQJ RULJLQDODUWLVDQURRWV LQGXVWULDO DFURVVWKHZRUOG YRFDWLRQ PRGHUQ'DYLG *ROLDWKVRIVW\OHDQGIDVKLRQ YHU\SHUVRQDO ZLWKORFDOYDOXHV JOREDOKRUL]RQ VKDUH GLIIHUHQWZD\RIZDONLQJWKURXJK OLIH
Ich will diesen wunderbaren Text nicht groß analysieren oder kommentieren. Es geht hier nicht um sein „Unbewußtes“, die hinter ihm verschwiegen artikulierte „Wahrheit“. Er ist klar wie ein Schlager-Text. Mich interessiert lediglich der Umstand, daß dieser Text nahezu alle trendigen Gemeinplätze des Zeitalters der Globalisierung meisterhaft einspannen und hervorragend mit der zu preisenden Ware in Verbindung bringen kann: Wir haben das sonnige, legere und von seiner „Natur“ aus zum Träumen einladende Mediterrane mit seinen ebenso verträumten Menschen und die unverdorbene Zunft des Handwerkers auf der einen Seite; die Be- und Anrufungen des industriellen Zeitalters mit all seinen angepaßten Größen auf der anderen. Nun hören die verträumten Original-Handwerker auf die Anrufungen der Industrie und schicken ihren eigenen Traum in die weite Welt los. Es gibt da aber ein Problem: Der Unterschiede nivellierende Kapitalismus, symbolisiert durch mehrere Goliaths, will den kleinen Camper-David vernichten. Der Kampf zwischen dem kreativen Lokalmatador und den Platzhirsch-Giganten wird durch eine Entwicklung entschieden, die das Kräfteverhältnis umdreht: das Lokale, das vor allem durch Werte gekennzeichnet ist, kann dem Globalen, definiert als Horizont, die Hand reichen. Die Riesen, die nicht mit der Zeit gehen konnten, sind besiegt (wenn wir uns zumal die Entwicklungen auf dem Schuhmarkt anschauen). So entsteht etwas Neues: eine GLIIHUHQWHLebensführung, die zugleich jeden Erdteil umfaßt und das Individuelle ermöglicht. (LQ /HEHQ YROOHU 'LIIHUHQ]HQ. Das ist der Traum letztlich auch der „GlobalisierungsgegnerInnen“ – weshalb sie gerne Camper tragen (und bereit sind, dafür auch etwas tiefer in die Tasche zu greifen). Und das ist ein Werbetext, der die
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Globalisierung als „Lebensgefühl“ fast besser wiedergeben kann als die sogenannte World-Music. Nun wieder zur Theorie: Von der Geburtsstunde des Unwortes „Globalisierung“ an wurden AutorInnen nicht müde zu betonen, daß Globalisierung und Lokalisierung keine Gegensätze darstellen. Roland Robertson prägte hiefür den Begriff „Glokalisierung“; Stuart Hall sprach etwas kritischer von „multikultureller Küche“ und von neuen Ethnizitäten; Arjun Appudarai führte das Suffix „-scape“ ein, um auf die fließenden Grenzen zwischen alten Gegensätzen hinzuweisen; Ulrich Beck ortete ein „babylonisches Herz der Weltgesellschaft“, das nicht in der sprachlichen Uniformierung schlage, son10 dern „im Sprachen- und Identitätswirrwarr“. Richard Wilk schließlich taufte die Dialektik der Stunde Ä8QLYHUVDOLVPXVGHU'LIIHUHQ]³ Das ist eine schwerwiegende Genitivbildung und enthält Aufschlußreiches über unsere Fragestellung. Wilk sagt: Wir werden nicht alle gleich, aber wir präsentieren und kommunizieren unsere Unterschiede zunehmend auf eine Art und Weise, die einander ähnelt, die daher 11 in ihren Bedeutungen über Grenzen hinweg prinzipiell verständlich ist.
Mit einem Werbemotto bringt Ulrich Beck den Sinn auf den Punkt: „Was uns alle ähnlich macht, ist, daß wir alle unterschiedlich sind.“ Was bedeutet diese These? Zum einen klingt in ihr der „wiederholende Universalismus“ an, Differenz wird zur Kategorie der Überlappung. Wir merken, daß wir DOOH unterschiedlich sind und dieses Differenz-Bewußtsein uns verbindet. Zum anderen suggeriert sie aber, so meine Lesart der Wilk-Beckschen These, daß es nicht auf die Differenzen zwischen Individuen ankommt, sondern auf jene zwischen größeren Einheiten, sprich: .XOWXUHQ. Das „Wir“ bezieht sich nicht auf „uns einzelne Menschen“, es bezieht sich auf „uns Angehörige von Kulturen“. Wenn dem nicht so wäre, wenn das bisher Trennende nicht in der Kategorie des Kulturellen begriffen worden wäre, wären wir uns schon längst dessen bewußt, daß wir alle Individuen (unzerteilbare Kulminationseinheiten von prinzipiell unendlichen Differenzen) sind. Kulturen
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Vgl. U. Beck (Hrsg.): 3ROLWLNGHU*OREDOLVLHUXQJ, Frankfurt/M. 1998; A. Appadurai: 0RGHUQLW\DW/DUJH&XOWXUDO'LPHQVLRQRI*OREDOL]DWLRQ, Minnesota 1996; St. Hall: 5DVVLVPXVXQGNXOWXUHOOH,GHQWLWlW, Hamburg 1994. Zit. nach Beck, a.a.O., S. 59.
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haben uns bisher getrennt, weil wir vor allem NXOWXUHOOunterschiedlich sind. Nun sehen wir, daß dies keinen ausreichenden Grund für eine Trennung darstellt, sondern, im Gegenteil, für das Sichtbarwerden der Überlappung, des Verbindenden, der Allianz des Lokalen mit dem Globalen. Mit diesem Auftritt der Kultur als Kontext finden wir das altbekannte Dilemma des Universalismus-Kulturrelativismus-Streits wieder. Die klassische relativistische (heute: partikularistische) Position besagt, daß alle Handlungen, Werte und Diskurse aus einer – vor allem aus der eigenen – Kultur heraus zu argumentieren und zu legitimieren seien. Darunter fallen natürlich (um ein Universalbüchsenöffner-Beispiel wieder anzuführen) die Klitorisbeschneidung ebenso wie die Ablehnung naturwissenschaftlicher Lehrsätze oder der Grundrechte. Kultur ist das eigentliche Subjekt in der relativistischpartikularistischen Weltanschauung. Die Aporie des Partikularismus liegt in der Unmöglichkeit jedweder Kommunikation, wenn alle die eigene Kultur für sich sprechen lassen. Die Relativität zum universalen Gesetz zu erklären, ist außerdem eine krypto-universalistische Position. Der Universalismus (nicht der kolonialistische, sondern der moderne Universalismus mit menschlichem Antlitz) selbst hingegen rekurriert auf ein vernunftgeleitetes Subjekt, das an einem überdimensionalen Gespräch teilnehmen soll, nachdem es alle Spielregeln verinnerlicht hat – an einem Gespräch, das in Konsens zu münden hat. Das ist aber dann möglich, wenn das Gespräch selbst (samt seinen Bedingungen) kulturtranszendent geführt wird. Die Aporie des Universalismus liegt wiederum in der Annahme der Möglichkeit eines kulturtranszendenten Raumes. Denn bereits die Idee der Weltgesellschaft ist eine kulturell geformte Vorstellung. Eine kulturfreie Zone zu postulieren, ist eine krypto-partikularistische Position. Nun will der Globalisierungsdiskurs mit dem um sich greifenden „Universalismus der Differenz“ diesen Aporien entkommen sein. Ist aber die Annahme, Differenzen seien überall kultureller Natur, nicht schon eine universalistische (und zugleich kulturell bedingte)? Ist zudem ein Universalismus, der auf partikulare Differenzen rekurriert, nicht die Rechtfertigung des Eigenen?
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Vgl. zu dieser These H. Gürses: 'HUDQGHUH6FKDXVSLHOHU%HPHUNXQJHQ]XP.X OWXUEHJULII, in: polylog – Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, 1,2 (1998), 62-81; H. Gürses: )XQNWLRQHQGHU.XOWXU=XU.ULWLNGHV.XOWXUEHJULIIV, in: Stefan Nowotny/Michael Staudigl (Hrsg.): Jenseits des Kulturbegriffs. Meta-Genealogien, Wien 2003.
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Heißt die ethnopluralistisch-neorassistische Parole nicht „Recht auf Diffe13 renz“? Diese Aporie des Globalisierungsdiskurses, die ich als „Aporie der universalistischen Differenz“ bezeichnen möchte, hat in den migrationsbezogenen Debatten zunächst jene Form angenommen, daß Diversität zwar gutgeheißen, aber in die Privatsphäre verbannt wurde. So kam – besonders von republikanistischen KonsenstheoretikerInnen – der Vorschlag, im öffentlichpolitischen Raum Differenzen gegenüber indifferent zu sein und kulturelle Differenzen als zwar erwünschte, letztendlich aber private Unterschiede anzusehen. Jedoch auch kommunitaristische Gegenvorschläge sind alles andere als „differenzfreundlich“, wenn es um die Differenzen in der eigenen Community geht. Schließlich wurde eine pluralistische Zwischenposition (zwischen dem republikanistischen Universalismus und dem kommunitaristischen Partikularismus) vertreten: den öffentlichen Raum nach kulturellen Kriterien zu diversifizieren, indem mehrere Arten von (Staats-)Bürgerschaft definiert werden. Die Diskussionen um die – vornehmlich in normativer Politischer 14 Theorie vorgelegte – pluralistische Position halten noch an. Ihre Stärke beziehen diese, wie ich sie nennen möchte, „Differenz wertenden Multikulturalitäts-Modelle“ u.a. aus dem Umstand, daß sie der Aporie der universalistischen Differenz (und der Frage nach Universalismus/Partikularismus) ausweichen können. Das tun sie allerdings, indem sie auch die unterschiedlichen Partikularismen einer (wohlgemerkt nach universalistischen Kriterien verfahrenden) Wertung unterziehen und sie je nach der Gerechtigkeit ihrer Ansprüche zulassen und fördern, oder aber für nicht haltbar erklären. Bleibt da die 15 Aporie der universalistischen Differenz nicht bestehen?
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Vgl. P.-A. Taguieff: 'LH LGHRORJLVFKHQ 0HWDPRUSKRVHQ GHV 5DVVLVPXV XQG GLH .ULVHGHV$QWLUDVVLVPXV, in: Uli Bielefeld (Hrsg.): Das Eigene und das Fremde:
Neuer Rassismus in der alten Welt?, Hamburg 1991, S. 221-268. Vgl. W. Kymlicka: 0XOWLFXOWXUDO&LWL]HQVKLS$/LEHUDO7KHRU\RI0LQRULW\5LJKWV, Oxford 1995 und zur Diskussion dazu Kaufmann, a.a.O. E. Laclau: (PDQ]LSDWLRQXQG'LIIHUHQ], Wien 2002, stellt sich dieser Aporie und beantwortet mit seinem Modell viele Fragen im Kontext der Universalismus/Partikularismus-Dichotomie.
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$SRULHGHUGLIIHUHQWHQ,GHQWLWlW Die Währung, mit der auf dem globalen Kulturmarkt gehandelt wird, heißt NXOWXUHOOH ,GHQWLWlW (wie auch dem Camper-Werbetext zu entnehmen war). Identitäten markieren Differenzen, und kulturelle Identitäten markieren kulturelle Differenzen. Daraus folgt allerdings, daß Identitäten zwar um die Achse bestimmter Differenzen gebildet werden, aber – und justament deshalb – immer auf Kosten DQGHUHUDifferenzen. Eine Identität, so multipel sie auch sein will, rekurriert bei ihrer Artikulation auf mindestens eine und höchstens einige überschaubare Differenzen – Gender, Ethnizität, Sprache, sexuelle Orientierung ... Wenn wir indessen davon ausgehen, daß individuelle Differenzen grundsätzlich unendlich sind, kann die Artikulation von Identitäten nur durch die Ausblendung eines Großteils dieser Differenzen zustande kommen. Ansonsten, im Falle der prinzipiellen Offenheit gegenüber jedweder Differenz, müßte die kollektive Identität ihre wichtigste Funktion einbüßen: die Anrufungskraft, die Rekrutierungsmacht. Jede Identität ist das Produkt eines Auswahlverfahrens, einer .RGLIL]LHUXQJ. Nicht meine individuellen Differenzen gegenüber einem anderen Individuum sind im Moment der Kodifizierung relevant, sondern jene Differenzen, die eine kollektive Identität für sich ausgewählt hat und deren Referenz (die durch Auswahl bestimmten Differenzen) ich vorweisen kann. Daher kann ich, zusammen mit einem homosexuellen, gut verdienenden, rothaarigen Mann, den ich nie gesehen habe, und einer feministischen, behinderten, vegetarischen Frau, der ich nie begegnet bin, dieselbe kulturelle Identität haben: je nach Lage, die türkische, die asiatische, die islamische usw. Denn ich bin in einem Land geboren worden und aufgewachsen, das Türkei heißt, bekanntlich teilweise in Asien liegt und überwiegend von MuslimInnen bewohnt wird. Daß ich ein heterosexueller, schlecht verdienender, nicht-behinderter, Fleisch verzehrender Mann mit fortgeschrittener Glatze bin, wird von der abstrakten Gemeinsamkeit der Herkunft 16 überlagert. 16
Ich habe mich an anderer Stelle mit der Struktur der kollektiven Identitäten beschäftigt; vgl. H. Gürses: , in: SWS (Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft)-Rundschau 4 (1994), S. 353-368, sowie H. Gürses/B.H. Punzenberger/K. Reiser/S. Strasser/D. Çinar: , in: Journal of International Migration and Integration 2, 1 (2001), 27-54.
:HFKVHOVSLHOGHU,GHQWLWlWHQ%HPHUNXQJHQ]XP0LQGHU KHLWHQEHJULII 7KH1HFHVVDU\,PSRVVLELOLW\'\QDPLFVRI,GHQWLW\DPRQJ
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Somit komme ich zur „Aporie der differenten Identität“: Der Globalisierungsdiskurs fließt in die Konzepte zur Hybridisierung oder Kreolisierung 17 kultureller Identitäten ein, die im Rahmen der Cultural Studies und des Postkolonialismus bereits ab den 1980er Jahren ausgearbeitet wurden, und vice versa: Er rezipiert diese, natürlich ohne ihre kritischen Inhalte. Die unterstellte Kraft der Globalisierung, lokale Identitäten keineswegs zu zerstören, sondern sie lediglich von ihrer sklavischen Bindung an das Territorium und das Nationale zu erlösen, ihren hybriden Charakter dadurch erst recht zur Geltung zu bringen, wird somit zu einer wissenschaftlich untermauerten Legende. Gepaart mit der gerade eben erwähnten These vom „Universalismus der Differenz“, besagt der Globalisierungsdiskurs, daß es zwar Unterschiede zwischen Ländern, Regionen und Kulturen geben kann und soll. Sie sind die schmackhaften Gewürze in der Suppe. Die Suppe, die wir alle – da wir alle Menschen sind – täglich auslöffeln. Wir sind über alle berechtigten Differenzen hinweg ein großer Stamm, der das globale Dorf bewohnt. Was sonst wollte uns die Millenniums-Mammut-Show im Fernsehen beteuern: „Alle feiern das neue Jahrtausend – Heiden, Moslems, Juden, Buddhisten und Christen, obwohl es auf christlicher Zeitrechnung beruht“? Erzählt uns etwa das Internet bei jeder Einfahrt zur „Daten-Highway“ nicht diese Geschichte: „Wir sind eine große Familie mit vielen bunten Kleidern“? In einem gewissen Sinne projiziert der Globalisierungsdiskurs den altbekannten Nation-Mythos auf einen größeren Maßstab. Auch der Nationalismus mußte/muß oft auf die Analogie der Familie rekurrieren, um eine Gemeinsamkeit zwischen Individuen mit entgegengesetzten Interessen zu imaginieren. Im Detail liegt aber der Unterschied: Die „nationale“ Familie war eine bodenverbundene, unbewegliche, und ihre Mitglieder waren eindimensionale, „monodifferente“. Die „globale“ Familie hingegen ist mobil, sie kennt weder Scholle noch „mit Blut der Ahnen“ begossenes Territorium – nicht weil sie „selbstvergessen“ ist, sondern weil sie jede Scholle und jedes Territorium auf der Erde ihr eigen nennen kann. Und ihre Mitglieder bilden eine neue Generation, die wir von Benetton-Plakaten kennen: nicht auf ein phänotypisches Merkmal reduzierbar, aus verschiedenen, mittlerweile nicht mehr erkennbaren ethnischen und kulturellen Elementen zusammengesetzt, hybrid.
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Zur Frage der Hybridität vgl. polylog – Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 8 (2001).
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Globalisierung absorbiert die Folgen des Kolonialismus, der Nachkriegsmigration und der steigenden Mobilität der Menschen gleichermaßen und nennt das synkretische Ergebnis „hybride Identitäten“ – auf dem Markt wird das Hybride mit dem Präfix „Ethno“ versehen: Ethno-Musik, Ethno-Mode, Ethno-Küche ... Gleichzeitig wird auf die neue, übernationale „Schicksalsgemeinschaft“ hingewiesen: Wir BewohnerInnen des „global village“, wir „global players“ ziehen alle am selben Strang; die Welt ist durch diese Verbindungen klein geworden, die Distanzen kürzer. Und so wie wir miteinander eng verbunden sind, sind auch die kulturellen Identitäten in der globalen Schicksalsgemeinschaft zugleich hybrid und miteinander verwoben. Das Differente bildet die Basis heutiger Identitäten. Das erzählt uns der Globalisierungsdiskurs. Nun gehen Identitäten tatsächlich von Differenzen aus, blenden aber, wie ich bereits erwähnt habe, deren eigentliche Vielfalt aus. Je umfassender eine Identität, desto weniger Differenz verträgt sie. Zu Ende gedacht: ,GHQWLWlWLVW GHU (U]IHLQG GHU 'LIIHUHQ] DXI GHQ VLH ]XJOHLFK DQJHZLHVHQ LVW. Umgekehrt bedürfen Differenzen der Identitäten, um überhaupt artikuliert werden zu können. Das ist die Aporie jedweder Identität: ob hybrid oder nicht.18 In bezug auf globalisierte Identitäten, von denen der Globalisierungsdiskurs annimmt, sie seien offen für vielfache Differenzen, gilt diese Aporie umso mehr. Hinzu kommt – mit Blick auf Migration – ein weiterer Punkt: Hartwig 19 Berger weist darauf hin, daß in den Debatten über Migration und Multikulturalität die Frage ethnisch-kultureller Identität mit dem Problem ethnischer Lebensformen vermischt wird, und führt als Beispiel die Freizeitgestaltung der ArbeitnehmerInnen an, die vornehmlich vor dem Fernseher stattfindet – egal, ob es sich dabei um „Arbeiter“ oder um „Gastarbeiter“ handelt. Der Unterschied zwischen den sprachlichen Fassungen der Fernsehprogramme erscheint in dem Zusammenhang als sekundär. Wenn wir nun diese Art der Freizeitgestaltung als Kultur bezeichnen, müssen wir allerdings kulturelle 18
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Jacques Derrida und Gilles Deleuze haben in ihren Texten zur Differenz genau diese Verzahnung der Differenz mit der Identität zu überwinden versucht. Vgl. J. Derrida: 5DQGJlQJHGHU3KLORVRSKLH, Wien 1998, und G. Deleuze: 'LIIHUHQ]XQG :LHGHUKROXQJ, München 1997. Vgl. H. Berger: 9RP .ODVVHQNDPSI]XP .XOWXUNRQIOLNW±:DQGOXQJHQ XQG :HQ GXQJHQ GHU ZHVWGHXWVFKHQ 0LJUDWLRQVIRUVFKXQJ, in: E. J. Dittrich/F-O. Radtke (Hrsg.): Ethnizität. Wissenschaft und Minderheiten, Opladen 1990, 119-138.
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Identität aus etwas anderem ableiten, zumal es sonst weltweit eine einzige Identität geben würde (oder einige, schichtbezogene).
$SRULHGHUEHJUHQ]HQGHQ(QWJUHQ]XQJ Die letzte Aporie, die ich erwähnen möchte, betrifft die Grenzen und damit unmittelbar die Migration. Der Globalisierungsdiskurs geht von der Annahme aus, daß Nationalstaaten ökonomisch wie kulturell ausgedient haben. Doch scheint das nationalstaatliche Monopol über den politischen Bereich noch umkämpft. Viele KritikerInnen des Neoliberalismus beklagen genau den Umstand, daß die ökonomische Entgrenzung via Globalisierung keine Entsprechung auf politischer Ebene habe und die Unterhöhlung des Wohlfahrtsstaats mit dem Versäumnis einer politischen Globalisierung einhergehe. Für viele scheint dies wiederum kein Problem darzustellen, zumal die europäischen Nationalstaaten ihre politischen Agenden sukzessive an supra- und plurilaterale Entscheidungsgremien abtreten. Eine dieser relevantesten Agenden bildet der Umgang mit der Migration wie mit den „Drittstaatsangehörigen“ und in diesem Zusammenhang mit den eigenen nationalstaatlichen Grenzen. Nun beobachten wir aber etwa innerhalb der EU, daß durch die Zunahme der sogenannten europäischen Integration auch die nationalstaatlichen Grenzen immer deutlicher abgeschottet werden. Während die EU von der Harmonisierung diesbezüglicher Gesetze in allen Mitgliedsstaaten spricht, verschärfen diese Nationalstaaten ihre Migrations- und „Fremdenpolitik“ mit restriktiven Gesetzesnovellen. Migration war, wie Saskia Sassen aufgezeigt hat20, immer schon ein VHOHNWLYHU Prozeß. Mit der Globalisierung kommt da aber ein Selektionsprozeß auf, der dem Darwinschen „survival of the fittest“-Prinzip auf tragische Weise gerecht wird. Während man die globale Produktion zunehmend auf Länder mit billigster Arbeitskraft verlagert, befinden sich die in der Planung und im Management besonders begehrten Fachkräfte aus denselben Ländern zunehmend in der Lage, sich das beste Land für Einwanderung auszusuchen. Die deutsche Greencard-Debatte hat uns diesen Zustand vielleicht am plastischsten vor Augen geführt. Für die billigen Arbeitskräfte in diesen Ländern wird es in der Zukunft immer schwieriger sein, in die westlichen 20
Vgl. Sassen, a.a.O.
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Länder einzuwandern – nicht, weil das europäische „Boot voll ist“, sondern weil sie nur dort, zu Hause in der Produktionsstätte „nützlich“ sind, aber nicht hier im Planungszentrum und Warenlager. Das scheint mir die selektive Struktur der Migration im Zeitalter der Globalisierung zu sein. Der Globalisierungsdiskurs verspricht Aufhebung der Grenzen, Transkulturalisierung der Kommunikation und Konvergenz des Wissens, und dient in diesem Zusammenhang als Verschleierungsdiskurs: Er verschleiert den Widerspruch zwischen der Entgrenzung der Kommunikation, des Waren- und Kapitalverkehrs auf der einen und der Abschottung nationalstaatlicher Grenzen für Personen aus bestimmten Ländern und bestimmten Schichten auf der anderen Seite. Mobilität und Freizügigkeit, die vom Globalisierungsdiskurs als größte Errungenschaften gepriesen werden, gelten somit für Ware, Geld und für Individuen aus bestimmten Ländern und sozialen Schichten. Diese Entgrenzung begrenzt aber die Mobilität einer weltweit viel größeren Gruppe von Menschen. Nicht zuletzt liegt darin die dritte Aporie, die „Aporie der begrenzenden Entgrenzung“, der der Globalisierungsdiskurs verhaftet bleibt. 3HUIRUPDQ]GHV*OREDOLVLHUXQJVGLVNXUVHV Die Idee einer Weltgesellschaft ist nicht neu. Bereits die Turmbau-Legende erzählte von einer solchen. Neu am Globalisierungsdiskurs ist meines Erachtens etwas anderes: die performative Kraft des Diskurses über die Weltgesellschaft. Das, was in Babel durch eine Sprachverwirrung zugrunde ging, soll nun durch diesen Diskurs „herbeigeredet“ werden. Anthony Giddens spricht von zwei Haltungen bezüglich der Globalisie21 rung: Während die einen darin nur einen Mythos sehen, der die Wirklichkeit verdecke und als falsches Bewußtsein fungiere, erblicken die anderen in der Globalisierung so etwas wie ein Naturereignis, das sowieso nicht aufzuhalten, indes gefälligst schnell zu erkennen und zu akzeptieren sei. Giddens beschreibt m.E. diese beiden Positionen zwar sehr eindringlich, wiederholt dabei aber eine Dichotomie, die mir allzu konstruiert scheint. Denn zwischen Mythos und Naturereignis liegt die 3HUIRUPDQ], die aus diesen beiden gespeist wird und gleichsam beide verändert. 21
Vgl. A. Giddens: 'HUGULWWH:HJ'LH(UQHXHUXQJGHUVR]LDOHQ'HPRNUDWLH, Frankfurt/M. 1999, 40-46.
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Die Rede über die Globalisierung hat eine performative Kraft, die zum einen im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs vieles bewirkt: Ungelöste Fragen werden fallengelassen, ideologisch gefärbte Notionen werden als Termini übernommen, Alltagserfahrungen werden verallgemeinert – und vor allem: ein Fatalismus greift um sich. WissenschafterInnen, die nicht ein einziges Mal in ihrem Leben eine E-Mail geschickt haben, reden von der Dezentralisierung der Information via Internet und der Konvergenz des Wissens; StubenhockerInnen, die das exotische Ausland aus Reisekatalogen oder aus dem jährlichen Urlaub in einem umzäunten Feriendorf kennen, loben die weltweite Hybridisierung der Identitäten oder den globalisierten Wirtschaftsstandort Fidschi-Inseln. Wenn der Globalisierungsdiskurs die Welt mit entschiedener Geste zum „global village“ erklärt, ist schon der vorauseilende Gehorsam zur Stelle. Zum anderen verheißt der Globalisierungsdiskurs eine Welt, die sich in der Beliebigkeit ergeht: Es zählen nicht mehr Kriege, Hunger- und Naturkatastrophen oder Seuchen, an denen jährlich Abermillionen Menschen sterben. Diese sind „low intensity conflicts“ oder „-problems“, Übergangsschwierigkeiten, im besten Fall aber natürliche Reaktionen auf die „Informationsrevolution“. Was zählt, sind Verbindungen, egal wie und egal wer mit wem. Die Globalisierungsthese besagt, daß das Schicksal eines beliebigen Ortes auf der Erde und seiner Bevölkerung mit dem Schicksal eines anderen beliebigen Ortes und dessen Bevölkerung eng verbunden ist. Der Akzent liegt dabei auf %HOLHELJNHLW. Die Beliebigkeit in globalen Verhältnissen wird dermaßen überbetont, daß die Formen dieses Verhältnisses ausgeblendet werden. Sie können aber von Ungleichheit über Ausbeutung bis hin zur Hegemonie reichen. Die Globalisierungsthese dient der Verschleierung dieser Formen und damit der Macht- und Kraftverhältnisse. Der sprichwörtliche Flügelschlag des Schmetterlings über dem Ozean ist es, der einen Sturm in Asien auslösen kann und auf den es der Globalisierungsthese ankommt – eine beliebige Ver22 bindung. Was ich hier beschreibe, ist kein Mythos, auch kein Naturereignis – es ist aber eine performative Realität mit ähnlich verheerender Kraft und ähnlich heimlicher Mobilisierungsmacht. Der Globalisierungsdiskurs ist eine Inszenierung der Welt, wie sie nicht ist oder wie sie nicht nur ist. Diese Performance 22
Vgl. C. Geertz: Wien 1996.
:HOWLQ6WFNHQ.XOWXUXQG3ROLWLNDP(QGHGHV-DKUKXQGHUWV,
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erinnert ein wenig an die alljährliche Oscar-Verleihung: Die Beleuchtung ist perfekt, die Show bis ins kleinste Detail durchdacht, die anwesenden Gäste schön und sichtlich gerührt, das Fernsehpublikum bei der Übertragung überglücklich, weil in eine Traumwelt versetzt – and the winner is ... Genau da liegt aber der Hund begraben: denn niemand interessiert sich bei so einem gigantischen Wettbewerb für die VerliererInnen. Der Diskurs über die Globalisierung ist (wie die Oscar-Verleihung) eine Erzählung aus der Perspektive der GewinnerInnen. Zudem habe ich zu zeigen versucht, daß der Globalisierungsdiskurs nicht imstande ist, die hier beschriebenen Aporien zu überwinden; ja er vertieft sie sogar im Zusammenhang mit den Fragen der Migration, welche einen zentralen Bestandteil der vermeintlichen Globaliserung ausmachen. Den möglichen Grund dafür kann ich hier nur andeuten: Die als Globalisierung bezeichneten Prozesse stellen entgegen der verbreiteten Annahme NHLQHQGegensatz zu den nationalstaatlichen Strukturen dar. Die Globalisierung entfaltet sich (noch) im Rahmen des nationalstaatlichen Paradigmas. Unsere Welt ist noch immer ein Globus von Nationalstaaten. Daher werden die nationalstaatlichen Aporien, die in den Ursachen und den Wirkungen der Migration kulminieren, im Zeitalter der Globalisierung nicht gelöst, sondern bloß „globalisiert“. Die ungelösten Probleme und eingefahrenen Lösungsversuche unserer Gegenwart JOREDO betrachten zu können, ist zweifelsohne ein wichtiger Schritt zu ihrer Lösung. Sie jedoch aufgrund ihrer Globalität für „überwunden“ zu erklären, ist – bestenfalls – eine falsche Diagnose. Der Diskurs über die Globalisierung ist daher, so meine Conclusio, mit größter Vorsicht zu genießen. Ich merke jetzt, am Ende dieser Rede, daß meine Faszination eigentlich vor allem auf einen Aspekt zurückgeht, der in der Legende zwar etwas versteckt, nun aber sichtbar enthalten ist: Leise flüstert uns der Turmbau, daß die „babylonischen Zustände“ dem kritischen Denken die Möglichkeit bieten, auf eine bestimmte Art zu fragen. Gerade die Abwesenheit dieser Art zu fragen in der Legende selbst ist so vielsagend. Mag sein, daß die BewohnerInnen Babels eine viel zu hochmütige Utopie hatten; mag sein, daß sie schließlich im Zuge der Sprachverwirrung ihre eigenen Kinder nicht mehr verstanden haben und ausziehen mußten. Wir können, ganz im Gestus Bert Brechts, den Blick schwenken und fragen: Wer befahl aber den Bau des Turmes? Und wer mußte ihn bauen? Vor allem: Wie? Sind das keine interkulturellen Fragen?
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,QWHUNXOWXUHOOHSKLORVRSKLVFKH3UD[LVDOVµ3ROLWLNGHU 'LIIHUHQ]¶XQGLKUH5FNELQGXQJDQGLH'LDOHNWLN 3KLORVRSKLHVRI'LIIHUHQFH have a practical side which can be characterised as ‘Politics of Difference’. This is very important for intercultural philosophy. Examples for this are Jean François and his idea of a ‘patchwork of minorities’, Gilles Deleuze’s and Félix Guattari’s exposition of ‘nomadic thinking’, Julia Kristeva’s statement ‘Strangers are we to ourselves’, Luce Irigaray’s concretisation of the new concept of difference as ‘difference of the sexes’, and Jacques Derrida’s endeavour to bring together enlightened cosmopolitism and the problems of today’s multicultural societies. In the course of this article, I will argue that while all these authors criticise Hegel heavily they remain related to his project of dialectics in a constructive sense. A positive relation to GLDOHFWLFVLQ+HJHOLDQVHQVH is difficult, however, because of Hegel’s problematic judgements of the cultures of the pre-Columbian Americas, Asia and before all Africa – a view he shares with other philosophers of the period of Enlightenment. Die praktische Seite der 3KLORVRSKLHQ GHU 'LIIHUHQ], die sich als ‘Politik der Differenz’ fassen lässt, ist für das interkulturelle Philosophieren von großer Bedeutung. Als Beispiele werden behandelt: Jean-François Lyotard und sein Gedanke eines ‘Patchworks der Minderheiten’, Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Motiv des ‘nomadischen Denkens’, Julia Kristevas Theorie des ‘Fremden in uns selbst’, Luce Irigarays Konkretisierung des Differenzbegriffs als ‘Differenz der Geschlechter’ und Jacques Derridas Bemühungen, aufgeklärten Kosmopolitismus und die Probleme der heutigen multikulturellen Gesellschaften zusammen zu denken. Diese Autoren, die sich durchweg kritisch von Hegel absetzen, bleiben auf dessen Projekt der Dialektik in einem konstruktiven Sinn bezogen. Ein positives Verhältnis zur 'LDOHNWLN LP +HJHOVFKHQ 6LQQ, wird für die interkulturelle Philosophie freilich dadurch erschwert, dass Hegel sich, wie die anderen Philosophen der Aufklärung und des Deutschen Idealismus, zu den Kulturen der vorkolumbischen Amerikas, Asiens und vor allem Afrikas auf sehr problematische Weise verhält.
(LQOHLWXQJ In der Geschichte der europäisch-westlichen Philosophie nach Hegel kann man in der Haltung gegenüber anderen Kulturen eine doppelte Bewegung beobachten, die ich in einer früheren Veröffentlichung als eine ‘des Sich-Öffnens und zugleich auch wieder Sich-Verschließens’ beschrieben
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habe. Das erste weithin bekannte Beispiel für diese Haltung ist Schopenhauer, der ein deutliches, aber begrenztes Interesse an bestimmten Motiven der buddhistischen Philosophie entwickelt. Anstelle weiterer Beispiele verweise ich auf Heidegger, der interkulturell philosophische Dialoge mit japanischen und koreanischen Philosophen führt, diese aber nicht als philosophisch, sondern als ‘Gespräche zwischen Denkern’ qualifiziert. Demgegenüber gelingt in den französischen Philosophien der Differenz, übrigens auf der Grundlage der Kritik an den Hauptströmungen der europäischen Philosophie als Identitätsdenken, wie sie von Adorno und Heidegger ausgearbeitet worden ist, etwas grundsätzlich Neues. Sie arbeiten an einer Auffassung der Differenz, die in Absetzung von der eher einseitigen Charakteristik der westlichen Philosophie als Identitätsdenken bei Adorno und Heidegger, aber auch im Hinblick auf eine relativ differenziertere Beurteilung dieser philosophischen Traditionen bei Gadamer um eine Stufe radikaler ist. Dieser neue Differenzbegriff, der auch eine veränderte Auffassung davon enthält, was unter einem ‘Begriff’ zu verstehen ist, ermöglicht es, den/die/das Andere/n und damit auch fremde Kulturen entschiedener in seiner/ihrer Andersheit zu denken und sich auch anders zu ihnen zu verhalten. Die ‘Differenz’ in diesem Sinn ist außerhalb des Gegensatzdenkens anzusiedeln, das die Hauptströmung der westlichen Philosophie beherrscht und dessen paarweise Anordnung auch schon durch Adornos Insistieren auf dem Besonderen und Nicht-identischen durchbrochen worden ist. Graphisch dargestellt sieht das gesamte, hier zur Diskussion stehende Bedeutungsfeld so aus: Gleichheit Allgemeinheit Selbigkeit Identität
— — — —
Verschiedenheit, Verschiedenes Besonderheit, Besonderes Andersheit, Anderes Differenz, Nicht-identische 'Differenz'
Dieses Schema ist meinem Buch 3KLORVRSKLHQ GHU 'LIIHUHQ] (LQH (LQIK UXQJ entnommen, in dem diese Philosophien als ‘ein Weg zur interkulturellen Philosophie’ dargestellt werden, der auf Grund biographischer Gegebenhei2 ten auch ‘mein Weg dahin ist’. Für die Philosophien der ‘Differenz’ ist 1 2
H. Kimmerle: µ3UROHJRPHQD¶, in: Ders. (Hrsg.): Das Multiversum der Kulturen, Amsterdam/Atlanta 1996, 9-29, s. bes. 25-27. H. Kimmerle3KLORVRSKLHQGHU'LIIHUHQ](LQH(LQIKUXQJ, Würzburg 2000, 9 und 13; vgl. zum folgenden Kap. 4-6, jeweils die Abschnitte d und Kap. 8, Abschnitt c.
Interkulturelle philosophische Praxis als ‘Politik der Differenz’
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charakteristisch, dass sie, obwohl sie auch unter einander durchaus different sind, generell einen erweiterten Rationalitätsbegriff verwenden und in vielen verschiedenen Durchgängen die Randzonen rationalen Denkens und Handelns erforschen. Der Rationalitätsbegriff der europäisch-westlichen Tradition der Philosophie, insbesondere seine Ausprägung in der Aufklärung erscheint als einseitig und zu eng gefasst. Darin kommen Voraussetzungen zum Ausdruck, die es nahe legen, dass sich die interkulturelle Philosophie diese Arbeit zunutze machen kann, freilich nicht, ohne sie kritisch zu modifizieren, wo dies notwendig erscheint. Im Rahmen dieser Philosophien wird deren praktische Seite, die sich als ‘Politik der Differenz’ fassen lässt, vielfach und umfangreich ausgearbeitet. Ich beziehe mich hier auf einige wenige Beispiele, die für die Probleme der Interkulturalität und der Multikulturalität unmittelbar relevant sind, und zwar 3 auf Jean-François Lyotards Gedanken eines ‘Patchworks der Minderheiten’, 4 Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Motiv des ‘nomadischen Denkens’, 5 Julia Kristevas Theorie des ‘Fremden in uns selbst’ , Luce Irigarays Präzisierung und Konkretisierung des Differenzbegriffs als ‘Differenz der Geschlechter’6 und Jacques Derridas Bemühungen, aufgeklärten Kosmopolitismus und die Probleme der heutigen multikulturellen Gesellschaften zusammen zu 7 denken. Diese Beispiele werde ich im Folgenden thesenhaft vorstellen.
3 4
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J.-F. Lyotard: 'DV3DWFKZRUNGHU0LQGHUKHLWHQ. Übers. von C.-C. Haerle. Berlin 1977; ders.: 'HU:LGHUVWUHLW. Übers. von J. Vogl. München 1987 (Franz.1983). G. Deleuze: 1RPDGLVFKHV'HQNHQ, in: ders.: Nietzsche. Ein Lesebuch, Berlin 1979, 105-121 (Franz. 1973); G. Deleuze/F. Guattari: .DSLWDOLVPXVXQG6FKL]RSKUHQLH, $QWLgGLSXV, übers. v. B. Schwibs, Frankfurt/M. 1974 (Franz. 1972); dies.: ± $EKDQGOXQJEHU1RPDGRORJLH'LH.ULHJVPDVFKLQH, in: dies.: Kapitalismus und Schizophrenie II. Tausend Plateaus, übers. v. G. Ricke und R. Voullié, Berlin 1992 (Franz. 1980); dies.: :DV LVW 3KLORVRSKLH", übers. von B. Schwibs und J. Vogl. Frankfurt/M. 2000 (Franz. 1991). J. Kristeva:)UHPGHVLQGZLUXQVVHOEVW, Frankfurt/M. 1990 (Franz. 1988); dies.: / DYHQLUG XQHUpYROWH, Paris 1998. L. Irigaray: &HVH[HTXLQ¶HVWSDVXQ, Paris 1977; dies.: 3DUOHUQ¶HVWMDPDLVQHXWUH, Paris 1985; dies.: -HWXQRXV3RXUXQHFXOWXUHGHODGLIIpUHQFH, Paris 1990. J. Derrida: /HGURLWjODSKLORVRSKLHGXSRLQWGHYXHFRVPRSROLWLTXH, Paris 1997; ders.: &RVPRSROLWHVGHWRXVOHVSD\VHQFRUHXQHIIRUW, Paris 1997.
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)QI7KHVHQ]XUµ3ROLWLNGHU'LIIHUHQ]¶ 1. Im Begriff der Minderheiten steckt von vornherein eine abwertende Haltung gegenüber Menschen aus anderen Kulturen, die in der eigenen Kultur leben. Denn die Mehrheit bestimmt, was in einer Kultur gängig und erlaubt ist, und die Minderheiten haben sich dem zu fügen. Eine tolerante Haltung den Minderheiten gegenüber, das Zugeständnis, dass die Minderheiten in einem bestimmten, von der Mehrheit festgelegten Rahmen bestimmte Besonderheiten ihrer ‘kulturellen Identität’ beibehalten dürfen, gehen davon aus, dass die Minderheiten, die geduldet und denen bestimmte Zugeständnisse gemacht werden, sich den bestehenden gesellschaftlich-politischen Verhältnissen einordnen und somit im Endeffekt unterordnen müssen. Den Denkgewohnheiten des Identitätsdenkens, die im Verhältnis einer Mehrheit zu Minderheiten zum Ausdruck kommen, sucht Lyotard in einer frühen Phase seines Denkens, die von marxistischen Motiven geprägt ist, mit dem Vorschlag zu begegnen, die Gesellschaft nicht mehr nach dem Modell einer Mehrheit und verschiedener Minderheiten zu denken und einzurichten, sondern davon auszugehen, dass eine Reihe gleichberechtigter Gruppen nebeneinander bestehen, die dann alle denselben Status, nämlich den von Minderheiten haben. In der Vorstellung einer Lappendecke (patchwork) von Minderheiten liegt eine Wendung gegen jedwede hierarchische gesellschaftliche Struktur und eine positive Bewertung bunter kultureller Vielfalt. Man kann fragen, ob es nicht folgerichtig wäre, den Begriff Minderheiten fallen zu lassen und von einem Patchwork von Gruppen zu sprechen, deren Mitglieder aus verschiedenen Kulturen stammen. Und auch der Gedanke, dass sich in einer Gesellschaft jedwede hierarchischen Strukturen vermeiden lassen, scheint nicht ohne weiteres annehmbar. Er ist im Sinn des späteren Lyotard, der seine marxistische Position aufgegeben hat, in der Art zu modifizieren, dass der Aufweis eines ‘unauflöslichen Widerstreits’ (différend) in allem Sprechen, Denken und Handeln den spezifisch philosophischen Einsatz zum Abbau hierarchischer Strukturen darstellt. 2. Die ungeheuren Migrationsströme und die enorme Mobilität vieler Menschen in der heutigen Welt lassen es als berechtigt erscheinen, von einem Nomadentum neuer Art zu sprechen. Deleuze und Guattari wenden sich in ihrer gemeinsamen Denkarbeit, in der sie traditionell philosophische und kritisch psychoanalytische Ansätze miteinander verbinden, gegen die Prozesse der Kodierung, Überkodierung, Dekodierung und Rekodierung der Lebens-
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bedingungen, die in der Geschichte der Menschheit vielfach stattgefunden und zu unterdrückenden Effekten geführt haben. Diese Prozesse haben im neuzeitlichen Kapitalismus einen Höhepunkt erreicht, der zugleich auch einen möglichen Umschlagspunkt markiert. Im Kapitalismus werden alle bestehenden traditionellen Verhaltenscodices aufgelöst und ausschließlich die Prinzipien der Kapitalgewinnung und -vermehrung an deren Stelle gesetzt. Das positive Verhaltensmodell, das beide Autoren den Prinzipien des Kapitalismus gegenüber stellen, ist das des Schizos, nicht im Sinne des Bildes einer schweren psychischen Erkrankung, sondern als das freie Strömenlassen der Wünsche (désirs), bei dem auch die Unterbrechungen, die in der Befriedigung der Wünsche von selbst entstehen, nicht dauerhaft reguliert oder festgelegt werden. Diesem Verhalten entspricht ein nomadisches Denken, das eine Existenz ohne bleibende oder unveränderliche Bindungen voraussetzt, wobei sich dies nicht ausschließlich, wie beim Nomadentum bestimmter Völker in den Wüsten oder Halbwüsten dieser Erde, gegen Bindungen an einen geographischen Ort richten muss. Dieses Denken führt Deleuze und Guattari zu der Utopie einer ‘neuen Erde’ und eines ‘neuen Volkes’, die eine Rekodierung des nomadischen Verhaltens vermeiden kann. Es ist ungewiss, inwieweit mit dieser Utopie erreichbare reale gesellschaftlich-politische Verhältnisse gemeint sein können oder nur ein Gegenprinzip zu unterdrückenden Einschränkungen der Schizo-Existenz angegeben werden soll. Wenn das letztere der Fall sein sollte, bliebe die Frage offen, ob es ein bestimmtes positives Gegenmodell zur Einbindung aller Verhaltenscodices in die genannten kapitalistischen Prinzipien geben kann, und wenn ja, wie dieses dann aussehen soll. 3. Philosophen, die selbst zwischen verschiedenen Kulturen leben wie die Bulgarin Kristeva, die in Zeiten des Kalten Krieges nach Paris emigrierte und seit der Überwindung des Schismas zwischen analytisch angelsächsischen und kritisch-metaphysischen kontinentalen westlichen Philosophien auch regelmäßig in New York doziert, sind für interkulturell philosophische Fragestellungen und die Bekämpfung des Fremdenhasses sozusagen von Haus aus sensibilisiert. Wichtigster Ausgangspunkt ihres Denkens ist Freuds Theorie des Unbewussten, die sie ergänzt und erweitert, indem sie Verbindungslinien zwischen dem Unbewussten und Bewussten herausarbeitet, die ihre deutlichste Ausprägung in der ‘Weiblichkeit’ erhalten. Kristeva sieht neben universalistischen auch allenthalben xenophobe Tendenzen in den theoretischpraktischen Ansätzen der westlichen philosophischen Tradition. Und sie be-
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urteilt die Situation der Fremden äußerst differenziert; in einer ‘Tokkata und Fuge für den Fremden’ verweist sie auf dessen ‘einsame Freiheit’, den ‘Verlust und Trotz’ des Entwurzelten und zugleich Weitsichtigen, das ‘Schweigen der Polyglotten’, das sich zuweilen in ‘nichtiger und [zugleich] barocker Rede’ artikuliert, und schließlich auf die Chance und Gefahr der Reduktion auf die Rolle des Arbeiters. Kristevas Diskurs mündet in eine psychoanalytische Deutung der Erfahrung des Fremdseins, das seine Wurzeln im eigenen Unbewussten hat. Das führt indessen zu der Schwierigkeit, dass der Rekurs auf die allenthalben anzutreffende Erfahrung des Fremden ‘in uns’ selbst wieder universalistische Züge annimmt. Diese Schwierigkeit wird entscheidend abgemildert, sofern Kristeva die Ambivalenz der Situation des Fremden in der westlichen Welt mit dem Erbe einer kritischen und permanent gegen versteinerte Formen des Bestehenden revoltierenden Geisteshaltung verbindet, die als ein Versprechen an und eine utopische Perspektive für sowohl westliche als auch nicht-westliche Kulturen aufgefasst werden kann. 4. Wie Kristeva steht auch Irigaray mit ihrer philosophischen Arbeit in der Tradition der Psychoanalyse und im praktischen Kontext des Feminismus. Sie verdeutlicht den Bgeriff der ‘Differenz’, indem sie zeigt, dass das Weibliche nicht als die Gegenseite, das Andere zur Einheit des Mannes gedacht werden kann, sondern selbst gar nicht Eins, sondern in sich Viele ist. Diese radikaler gedachte Differenz des Weiblichen gegenüber dem Mann bedingt nicht nur die Notwendigkeit einer Überwindung des Gegensatzdenkens der westlichen Philosophie, sondern verlangt auch eine neue Art zu sprechen und zu schreiben. Das Projekt einer écriture féminine verbindet sie mit Julia Kristeva, Hélène Cixous und anderen Frauen der Pariser Szene. Es hat ethische, rechtliche, religionsphilosophische und allgemein kulturphilosophische Konsequenzen, wenn das Grundverhältnis zwischen den Menschen nicht das des Gegensatzes ist. Unter dieser Voraussetzung muss den Möglichkeiten einer positiven Zuwendung mehr Raum gegeben werden. Im Erbrecht und in der Namensgebung muss der weiblichen Linie dasselbe Recht zugebilligt werden wie der männlichen. Die Vorstellung des väterlichen Gottes, der mit seinem Sohn eins ist, verlangt mehr als nur eine Ergänzung durch weibliche Götter. Sie wird dadurch auch aus der Haltung des Beherrschenwollens der Natur befreit. Auf diese Weise ergeben sich Grundlagen für eine Kultur der Differenz, die von der Differenz der Geschlechter aus dem und den Anderen gegenüber offen ist für vielfältige Möglichkeiten des friedlichen und respektvollen Umgangs miteinander.
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5. Die Philosophie der Aufklärung hat mit der Absolutsetzung der Vernunft das Motiv eines praktisch-politischen Kosmopolitismus verbunden. Kant oder auch Schiller verstanden sich ausdrücklich als Weltbürger. Damit war das Ansinnen verbunden, dass jeder Mensch die Vernunft und nicht die Gefühle oder unbewussten Regungen zur obersten Richtschnur des Denkens und Handelns machen kann und soll. In seiner Geschichtsphilosophie hat Kant aus dieser Perspektive den Gedanken entwickelt, dass ‘Ungeselligkeit’ und Gewalt letztlich der Erreichung des vernünftigen Ziels der Geschichte dienen müssen. Derrida merkt im Blick auf die nähere Ausarbeitung dieses Gedankens kritisch an, dass die universale Vernunft im Prozess der Geschichte offenbar Europa eine ‘besondere Mission’ zugewiesen hat. Denn in diesem Weltteil sei der vernunftgemäße gesellschaftlich-politische Zustand am meisten fortgeschritten. Deshalb sei nach Kant zu erwarten, dass Europa ‘wahrscheinlicher Weise allen anderen [Weltteilen] dereinst Gesetze geben wird’. Es gehört nach Derridas Darstellung zu diesem Diskurs, den er als ‘eurozentrisch’ qualifiziert, dass die Geschichte der Philosophie auf Europa begrenzt bleibt. Demgegenüber ist nach seiner Auffassung das ‘Recht zur Philosophie’ für alle und jeden gegeben. Dieses Recht ist der Kern eines nicht mehr eurozentrischen Kosmopolitismus und einer gerechten und demokratischen Staatsform, die bisher nirgendwo verwirklicht ist, aber überall, wenn auch in verschiedener konkreter Ausformung, von der Zukunft erwartet werden kann. Mit Kant unterstreicht Derrida die Gastfreundschaft Fremden gegenüber. Er geht so weit, Ethik, Kultur und Gastfreundschaft als tautologische Ausdrücke zu bezeichnen. Und er stimmt Kant auch darin zu, dass das Gesetz einer unbedingten universalen Gastfreundschaft durch besondere Gesetze unter Bedingungen gestellt werden muss, etwa in dem Sinn, in dem Kant einem universalen ‘Besuchsrecht’ ein begrenztes ‘Gastrecht’ oder Bleiberecht (droit de résidence) gegenüberstellt. In diesem Zusammenhang sieht er übrigens die Möglichkeit, dass kleinere gesellschaftlich-politische Einheiten, etwa die Städte auf einer mehr persönlichen Grundlage weiter gehen können als die verfassten Staaten, indem sie für Schutz und Hilfe Suchende zu ‘Zufluchts-Städten’ (villes-refuges) werden.
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'LH5FNELQGXQJHLQHUDQGHUµ3ROLWLNGHU'LIIHUHQ]¶RULHQWLHUWHQLQWHU NXOWXUHOOHQSKLORVRSKLVFKHQ3UD[LVDQGLH'LDOHNWLN In den erwähnten Beispielen zeigt sich, dass das Denken der Differenz, gerade auch in seiner praktischen Seite als ‘Politik der Differenz’, ein Gegenmodell zum Denken in Gegensätzen zu entwickeln sucht, wie es in der Hegelschen Dialektik seine konsequenteste Ausarbeitung gefunden hat. Es ist jedoch auffallend, dass die Philosophen, die das Differenzdenken auf den Weg gebracht und es auf verschiedene Weise ausgestaltet haben, sich nicht von Hegel und der Dialektik abwenden, sondern ihre Theorien im kritischen Rückbezug darauf entwickeln. Bei ihnen ist Hegel mehr oder weniger explizit ein ständiger Gesprächspartner. Man wird also von einer Rückbindung der interkulturellen philosophischen Praxis, sofern sie von der ‘Politik der Differenz’ zu lernen sucht, an die Dialektik sprechen können. Wie sieht dieser Rückbezug im Einzelnen bei den erwähnten Philosophen aus? Aus der Schlussbetrachtung der Einführung in die Philosophien der Differenz lässt 8 sich zu dieser Frage Folgendes entnehmen. Lyotard sieht sich in seinen frühen Arbeiten vor allem über seine Auseinandersetzungen mit Marx und Adorno auch auf Hegel und die Dialektik zurückverwiesen. Auch in seinem Hauptwerk /H GLIIpUHQG ('HU :LGHUVWUHLW) spielt Hegel noch eine wesentliche Rolle. Gegen Adorno wird hervorgehoben, dass die Hegelsche Dialektik nicht auf ihre affirmative Seite festgelegt werden kann. Ihr differenzierendes Vermögen wird an der Verwendung verschiedener Sprachebenen und Satzformen, besonders der des spekulativen Satzes, deutlich gemacht. Je länger desto mehr ist freilich Kant die entscheidende Bezugsgröße für Lyotards eigenes Denken. Das zeigt sich bereits in der Vielzahl der Kant-Exkurse in dem erwähnten Hauptwerk und dann zunehmend in seinen Schriften zur Ästhetik und Politik. Auf Grund eines schematischen Missverständnisses der Dialektik scheint diese für Deleuze ein Irrweg des Denkens zu sein. Ihr gegenüber werden Nietzsches Gedanken eines sich vollendenden Nihilismus und der ewigen Wiederkehr des Gleichen, das Deleuze als das Singuläre denkt, als etwas Anderes, Neues präsentiert, das nicht auf produktive Weise mit der dialektisch-systematischen Denkweise Hegels in Verbindung steht. So vermag er zwar der Marxschen Analyse der kapitalistischen Ökonomie, die sich doch 8
Kimmerle, Philosophien der Differenz, a.a.O., 223-232, s. bes. 224-231.
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stark der Hegelschen Dialektik verpflichtet weiß, in der Geschichte von Kodierungen, Überkodierungen und Dekodierungen einen Platz zu geben, erkennt darin aber keine dialektischen Verhältnisse. Im Blick auf Kristevas Umgang mit Hegel und der Dialektik lässt sich festhalten, dass sie sich nicht prinzipiell davon abwendet. Insbesondere der materialistischen Dialektik im Sinne von Marx weiß sie sich bleibend verpflichtet. Das materialistisch dialektische Denken hat im Zusammenhang ihrer theoretischen Arbeit indessen keine schwerpunktmäßige Funktion. Es dient dazu, die gesellschaftliche Dimension der Psychoanalyse deutlich zu machen. Mehr im Einzelnen betrachtet, hilft ihr die materialistische Dialektik, die Einbindung der Weiblichkeit und des Verhältnisses von Unbewusstem und Bewusstem in gesellschaftliche und geschichtliche Zusammenhänge zu erklären. Irigarays Versuche, die Frau in ihrer Eigenheit und nicht als die/das Andere des Mannes im Sinn (s)einer Gegenseite zu denken, richten sich gegen das Denken in Gegensätzen, das die westliche Philosophie beherrscht und das in Hegels Dialektik mit der Klärung der ihm innewohnenden Logik seinen Höhepunkt findet. Dennoch bleibt die Entfaltung eines neuen Denkens bei Irigaray kritisch und sich davon absetzend auf das Denken in Gegensätzen und damit auf die Dialektik bezogen. Das gilt in besonderem Maße für Hegels Deutung der Antigone von Sophokles und der darin enthaltenen Bestimmung der Bedeutung der Frau für die Geschichte der westlichen Welt. Die Dekonstruktionen der westlichen Philosophie, die in Derridas Werk einen wichtigen Platz einnehmen, haben einen offensichtlichen Schwerpunkt im Werk Hegels und in der Bedeutung der Dialektik. Wenn man das über9 haupt so sagen kann, möchte ich *ODV , das neben einer Textspalte über Genet die Philosophie der Familie und den ihr zugrundeliegenden Begriff der Liebe im Denken Hegels behandelt, als das Hauptwerk Derridas bezeichnen. 10 Man wird in einem doppelten Wortsinn von +HJHO$IWHU'HUULGD sprechen können. Einerseits hat Derrida mit seiner dekonstruktiven Arbeit an HegelTexten eine für ihn charakteristische Hegel-Interpretation vorgelegt, die – wie alle Dekonstruktionen – nicht nur die Schwächen und Inkonsistenzen westlich-metaphysischer Denksysteme aufzeigt, sondern in und mit dieser Arbeit ein neues, anderes Denken einzuführen und zu artikulieren sucht. An9 10
J. Derrida: *ODV, Paris 1974 ([Das Läuten der] Totenglocke). St. Barnett (Hrsg.): +HJHO$IWHU'HUULGD, London/New York 1998.
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dererseits ist durch diese Arbeit das Hegel-Bild und die Einschätzung der Dialektik insgesamt verändert. Hegel bekommt eine Schlüsselposition für die kritisch-destruktive und die affirmativ-konstruktive Seite der heutigen Philosophie. Wenn es in der interkulturellen Philosophie darum geht, die Differenz der Kulturen als unhintergehbar zu denken, ergibt sich ein besonderer kritischer Bezug zu Hegels Dialektik und ihrer Bedeutung für die Geschichtsphilosophie, weil darin die unzulässige Universalisierung der westlichen Philosophie auf die Spitze getrieben wird. Die Gleichung 3KLORVRSKLH (XURSD, die von Hegel und auch noch von Heidegger vertreten wird, bringt das Selbstverständnis der westlichen Philosophie auf den Begriff. Als derjenige, der den Ethnozentrismus der westlichen Philosophie und die daraus resultierende philosophische Rechtfertigung des Kolonialismus am radikalsten und am deutlichsten formuliert hat, bleibt Hegel eine Bezugsgröße der interkulturellen Philosophie, von der sie sich kritisch abzusetzen hat. Diese Übersicht der Bedeutung Hegels und der Dialektik in den und für die Philosophien der Differenz, sowie für die interkulturelle Philosophie, lässt erkennen, dass Hegel sicher nicht abgetan ist. Er spielt darin allenthalben teils verdeckt und teils ausdrücklich eine wesentliche Rolle. Aber es wird nirgendwo klar gesagt, welches diese Rolle ist und warum sie gespielt wird. Das Verhältnis von Dialektik und Differenzdenken wird nicht ausdrücklich und im Einzelnen erörtert. Hier zeigt sich ein blinder Fleck in der Entfaltung dieser Philosophien. Deshalb soll nun abschließend in einem grundsätzlichen Sinn gefragt werden, wie die Dialektik und das Denken der Differenz auf einander zu beziehen sind.
'LH%HGHXWXQJGHU(LQEH]LHKXQJGHU'LDOHNWLNLQGDV'HQNHQGHU'LIIH UHQ]IUGLHLQWHUNXOWXUHOOH3KLORVRSKLH Einen Ansatz zur Ausarbeitung des angezeigten Problems hat J. Taminiaux in seinem Artikel 'LDOHFWLFDQG'LIIHUHQFH vorgelegt, in dem er sich primär auf die Bedeutung Hegels für das Gründungsdokument der Philosophien der Dif11 ferenz: Heideggers Schrift ,GHQWLWlW XQG 'LIIHUHQ] bezieht. Er kommt zu 11
J. Taminiaux: 'LDOHFWLFDQG'LIIHUHQFH, in: Ders.: Dialectic and Difference. Finitude in Modern Thought, hrsg. v. R. Crease/J.T. Decker, übers. aus dem Französi-
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dem Ergebnis, dass man die Frage, ob Hegel bereits die Differenz gedacht hat, ‘absolut mit Ja und absolut mit Nein’ beantworten muss. ‘Absolut mit Ja’ für den Frankfurter Hegel (1797-1800), der noch kein eigenes System der Philosophie entworfen hat. Dieser schreibt, dass die ‘Versöhnung’ und ihr ‘Austrag’ (re-conciliation) auf der einen Seite und das Sein auf der anderen Seite dasselbe sind, jene also ‘nicht zu lösen ist von der Selbstdifferenzierung des Seins’. Und ‘absolut mit Nein’ für den Hegel des Systems der Philosophie (seit 1800), in dem ‘die Differenz gänzlich aufgeht in der [...] Selbsterzeugung des Begriffs’, so dass sie ‘nichts mehr ist als ein Moment der höchsten Idee’. Dagegen wird man einwenden können, dass der Frankfurter Hegel bereits systematischer ist, als Taminiaux denkt, und dass das System der Philosophie für die Differenz offener bleibt. Es gibt zwar einen Bruch zwischen den Jugendschriften oder Frühen Schriften Hegels (bis 1800), die den systematischen Rahmen der Kantischen Philosophie voraussetzen, und seinen eigenen systematischen Entwürfen (seit 1800/01). Aber für Hegel ist bereits in seiner Frankfurter Zeit ‘Einheit’ oder ‘Verbindung’ das Höchste, und das Einzelne und Besondere sind ihre Momente. Der Weg zu dieser höchsten Einheit und die Art und Weise, wie sie erfahren wird, werden im Systementwurf von 1800, von dem zwei Fragmente erhalten sind, bei Hegel anders gedacht, als es dann in / seit seinem Buch: 'LH 'LIIHUHQ] GHV )LFKWH¶VFKHQ XQG 6FKHO OLQJ¶VFKHQ 6\VWHPV GHU 3KLORVRSKLH von 1801 der Fall ist. Zur ‘Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung’ gelangt man nach den erwähnten Systemfragmenten, indem die Philosophie in Religion, das Denken in Anbetung übergeht. Die ‘Einheit der Einheit und der Vielheit’ wird indessen seit der Differenzschrift durch das spekulative Denken selbst erreicht. Darin liegt im Blick auf die Bedeutung des Differenten nur ein gradueller Unterschied. A. Koyré hat in seinem Artikel Hegel à Iéna (1934) darauf hingewiesen, dass Hegel in dem Systementwurf von 1804/05 am Anfang der Naturphilosophie die erste Bestimmung der Natur, ‘das absolute dieses der Zeit, oder das 12 Jetzt’, auffasst als ‘absolut differente Beziehung des Einfachen’. Diese
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schen von R. Crease, Atlantic Highlands (NJ) 1985; deutsche Originalausgabe in V. Klostermann (Hrsg.): 'XUFKEOLFNH 0DUWLQ +HLGHJJHU ]XP *HEXUWVWDJ, Frankfurt/M. 1970, 79-90, siehe zum Folgenden 88-89. A. Koyré: +HJHOj,pQD (1934), in: Ders.: Études d’histoire de la philosophie, Paris 1961, 135-173, siehe 153-154; vgl. G.W.F. Hegel: /RJLN0HWDSK\VLN1DWXUSKLOR
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Stelle dokumentiert den später nicht durchgehaltenen Versuch Hegels, im Einfachen eine unauflösliche Differenz systematisch zu verankern. Das ist in anderen Systementwürfen dieses Autors so nicht (mehr) zu finden. Was sich 13 gerade auch in seiner :LVVHQVFKDIWGHU/RJLN , die den einzigen streng ausgearbeiteten Teil seines Systems der Philosophie darstellt, wohl findet, sind auffällige Unsicherheiten und Lücken in der Argumentation, wo es darum geht, das Andere oder die Verschiedenheit zu denken. Dazu habe ich genaue 14 Detailstudien vorgelegt. Wie die Forschungen von R. Wahsner zeigen, ist nicht das ‘Anliegen’ einer dialektischen Logik verfehlt, sondern der ‘Missbrauch’, den Hegel davon macht, wenn er sie ohne weiteres auf das Erkenntnismodell der exakten Naturwissenschaften ausdehnt.15 Bei einer angemesseneren Ausarbeitung dieser Logik ließe sich auch in anderer Hinsicht der überzogene Anspruch der Absolutheit und universalen Geltung vermeiden. Die dialektisch-logische Struktur wäre auf endliche, begrenzte Einheiten zu beziehen. Damit bliebe Raum für andere, nicht-dialektische Verhältnisse, so dass zu fragen wäre, wo und wann dialektische Strukturen der Wirklichkeit zu ihrer theoretischen Erfassung eine dialektische Logik und Methode notwendig machen, und auch, wo und wann dies nicht der Fall ist. Nicht der Widerspruch als Grundkategorie des dialektischen Denkens, sondern der Anspruch seiner universalen Geltung, wie er in dem Hegelschen Diktum zum Ausdruck kommt: ‘Alle 16 Dinge sind an sich selbst widersprechend’, ist fehlerhaft und muss vermieden werden.
VRSKLH
13 14
(1804/05), in: ders.: Jenaer Systementwürfe II, hrsg. v. R.-P. Horstmann, Hamburg 1982, 206-209. Band I-III: 1812-1816, Band I: überarbeitete Fassung 1831. H. Kimmerle: 'DV (WZDV XQG V HLQ $QGHUHV :LH GDV µVSHNXODWLYH 'HQNHQ¶ GDV $QGHUH GHV $QGHUHQ ]XP 9HUVFKZLQGHQ EULQJW, in: A. Arndt/Ch. Iber (Hrsg.): Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspektiven. Berlin 2000, 158-172; ders.: 9HUVFKLHGHQKHLW XQG *HJHQVDW] hEHU GDV 9HUKlOWQLV YRQ 'LDOHNWLN XQG 'HQNHQ GHU 'LIIHUHQ], in: D. Henrich (Hrsg.): Hegels Wissenschaft der Logik. Stuttgart
15
16
1986, 265-282. R. Wahsner: µ'DV %HGUIQLV HLQHU 8PJHVWDOWXQJ GHU /RJLN LVW OlQJVW JHIKOW¶ +HJHOV$QOLHJHQXQGGHU0LEUDXFKHLQHUGLDOHNWLVFKHQ0HWKRGH, in: A. Knahl u.a. (Hrsg.): Mit und gegen Hegel. Von der Gegenstandslosigkeit der absoluten Reflexion zur Begriffslosigkeit der Gegenwart, Lüneburg 2000, 205-235. G.W.F. Hegel: :LVVHQVFKDIWGHU/RJLN , hrsg. von G. Lasson, Hamburg 1963 (Nachdruck der Ausgabe von 1934), Band 2, 58.
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Aus der Sicht der Philosophien der Differenz werden widersprüchliche Verhältnisse zu einem besonderen Fall differenter Verhältnisse, auf den die Differenzen oder die Vielheit bestimmter Einheiten zu beziehen ist. Solche Verhältnisse sind ihrerseits der Vielheit verschiedener oder differenter Beziehungen einzuordnen. Dabei soll die abgeschwächte, ihres Absolutheitsanspruches entkleidete dialektische Formel von den Einheiten der Einheit und der Vielheit für den übergreifenden Zusammenhang differenter Verhältnisse nicht einfach umgekehrt werden, indem von einer Vielheit von Vielheit und Einheiten gesprochen wird. Denn die Bewegung der Umkehrung, wie sie Marx im Blick auf Hegels idealistische Begründung der Dialektik ausgeführt hat, verbleibt im Rahmen der dialektischen Logik und Methode und ihres Absolutheitsanspruches. Auch die Bewegung, die Adorno vollzieht, von einer das Negative in sich aufnehmenden, aber letztlich ins Positive wendenden Denkweise zu einer nur noch ‘Negativen Dialektik’, wird der gegenseitigen Zuordnung von Differenzdenken und Dialektik nicht gerecht. Wie diese Zuordnung im Einzelnen auszusehen hat, welche Art von Dialektik es ist, die sich im Kontext des Differenzdenken auf widersprüchliche Verhältnisse bezieht, kann hier nur in groben Umrissen angedeutet werden. Eine nähere Ausarbeitung dieses Problems würde eine eigene Darstellung erfordern. Formelhaft lässt sich sagen, dass es darum geht, den Weg von einer alles umfassenden, universalen, absoluten zu einer begrenzt gültigen und sich ihrer Grenzen bewussten, differenten Dialektik zu gehen. Die Richtung dieses Weges hat Marx in den Grundrissen der .ULWLNGHUSROLWLVFKHQgNRQRPLH (Rohentwurf, 1857-1858) bereits angegeben, wo er sagt, dass ‘die dialektische Form der Darstellung nur rich17 tig ist, wenn sie ihre Grenzen kennt’ . Dass widersprüchliche Verhältnisse weiterhin bestehen, die mit den Mitteln dialektischen Denkens zu erfassen sind, belegen nicht nur Kriege und heftige innenpolitische Auseinandersetzungen. Das gilt ebensosehr von den Mikro-Strukturen des persönlichen und familiären Lebens. Daneben gibt es auf allen Ebenen und auf vielerlei Weise differente Beziehungen: Verschiedenheiten, die nicht spannungslos sein müssen und die von den Beteiligten als bereichernd erfahren werden und die als solche auch zu denken sind. Hierbei müssen wir beachten, dass nun nicht eine erneute Widerspruchsstruktur oder ein oppositionelles Verhältnis von Dialektik und Denken der 17
Ausgabe: Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 945.
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Differenz entstehen soll. Dialektisches und Differenzdenken sind unterein18 ander und in sich zu differenzieren. Verschiedenheit und Gegensatz, die bei Hegel im Gegensatz aufgehen und sich schließlich zum Widerspruch verschärfen, werden in diesem Aufsatz 19 als zwei in sich zu differenzierende Bedeutungsfelder beschrieben. Beide Bedeutungsfelder sind nicht scharf von einander abzugrenzen und beeinflussen sich gegenseitig in ihren verschiedenen Aspekten. Die ‘Verschiedenheit’ kann, wie in der einzigen von Hegel abgeleiteten Form, ‘gleichgültige Verschiedenheit’ sein, daneben aber auch ‘nicht-gleichgültige’ und als solche ‘interessierte’ und ‘tolerierte’ oder als ‘gleichrangig’ erfahrene und bewertete Verschiedenheit. Der ‘Gegensatz’, auch in seiner zugespitzten Form als ‘Widerspruch’ kann, wie es in der Tradition der dialektischen Denkens bei Marx und in der marxistischen Philosophie geschehen ist, als ‘antagonistisch’ 20 aufgefasst werden, daneben aber auch, wie Mao tse tung angeregt hat, als ‘nicht-antagonistisch’: dann wäre von ‘gespannten’ und ‘freundschaftlich’kritischen Verhältnissen die Rede und schließlich – mit einem Begriff von K. 21 Jaspers – vom ‘liebenden Kampf’ gelingender Kommunikation. Es geht aber nicht darum, nunmehr das Denken der Differenz zu universalisieren. Die Formulierung der niederländischen Dichterin und Philosophin C. van Bruggen: ‘Es gibt kein anderes Sein als Anderssein’, die dem Buch 22 Philosophien der Differenz im Ganzen als Motto vorangestellt ist, ist negativ formuliert und lässt insofern keine Universalität beanspruchende allgemeine positive Fassung zu. Sie fordert zu der Frage auf, welche Art von Anderssein konkret jeweils gegeben ist und welches Denken für seine philo18
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Dazu habe ich in der ursprünglich auf Niederländisch in der Tijdschrift voor Filosofie (1981) und auf Ungarisch in Filozófiai Figelö veröffentlichten Fassung meines Aufsatzes: 9HUVFKLHGHQKHLWXQG*HJHQVDW]hEHUGDV9HUKlOWQLVYRQ'LDOHNWLN XQG'HQNHQGHU'LIIHUHQ] (1981) bereits Vorschläge gemacht, die indessen in die deutsche und die sich darauf basierende russische Fassung (Filosofia Hegelja. Problemi dialektiki, hrsg. von T.I. Oisermann, Moskau 1987, 102-117) nicht übernommen worden sind). H. Kimmerle: 9HUVFKLOHQWHJHQVWHOOLQJ2YHUGHUHODWLHWXVVHQGHGLDOHNWLHNHQKHW GHQNHQYDQGHGLIIHUHQWLH, in: Tijdschrift voor Filosofie 43 (1981), 510-537, siehe zum Folgenden 534-535. Mao tse tung: hEHU GHQ :LGHUVSUXFK (1937), in: Ders.: Ausgewählte Schriften. Berlin 1956, Band 1, 353-400. K. Jaspers: 3KLORVRSKLH Berlin/Göttingen/Heidelberg 19482, 351-352 u. 502-505. Kimmerle, Philosophien der Differenz, a.a.O., 11; s. C. van Bruggen: 'HJURQG JHGDFKWHYDQµ3URPHWKHXV¶, Amsterdam 1924, 9.
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sophische Erfassung angemessen ist. In der Zeit des antagonistischen Klassengegensatzes, das heißt von der industriellen Revolution des frühen 19. Jahrhunderts bis zur weitgehend technisierten und automatisierten Produktion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, waren vor allem dialektische Denkmittel erforderlich, um die damit gegebenen gesellschaftlichen Probleme auf den Begriff zu bringen. Das gilt auch, wie besonders Sartre gezeigt hat, für die Situationen des Kolonialismus und der Kämpfe um Entkolonisierung. Der Studentenaufstand von 1968, der seine Ziele nur sehr begrenzt erreichen konnte, signalisiert das Ende einer auf antagonistischen Widersprüchen beruhenden, nur oder primär durch dialektisches Denken zu erfassenden und zu steuernden gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit. Darin ist die philosophiegeschichtliche Bedeutung des 3HQVpH¶ zu erblicken. Im Kampf der Frauen um gleiche Rechte und ein eigenes Selbstverständnis, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in mehreren Wellen geführt worden ist, sind – ebenfalls seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts – insbesondere durch Kristeva und Irigaray die dialektischen Denkmittel und der damit verbundene Universalitätsanspruch kritisiert und die Möglichkeiten des Differenzdenkens ausdrücklich ins Spiel gebracht worden. Ferner sind zwischen verschiedenen Minderheiten, die auf geschlechtlichen, psycho-sozialen oder kulturellen Besonderheiten beruhen, und den Philosophien der Differenz Affinitäten entstanden. Die Verankerung der Denkarbeit dieser Philosophien in der Psychoanalyse hat vielfach zu einer Solidarisierung mit Patienten der psychiatrischen Einrichtungen geführt. Dafür ist vor allem auf Deleuze und seine Zusammenarbeit mit Guattari zu verweisen. Die interkulturelle und multikulturelle Situation, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Gesellschaften in vielen Teilen der Welt entstanden ist, erfordert zu ihrer Erfassung eher und mehr dialogische als dialektische Begriffe. Durch die Kontakte zwischen den Kulturen im weltwieten Maßstab und durch das Eindringen großer Gruppen von Menschen aus armen und weniger entwickelten Ländern in die reichen Industrieländer ist das Problem des Andersseins der Fremden aktuell geworden. Auch wenn diese Prozesse nicht unkontrolliert und unlimitiert verlaufen können, wie Derrida unter Hinweis auf Kant betont, ist es entscheidend, im Blick auf die Betroffenen die Ausschließungsmechanismen zu vermeiden, die mit den traditionellen Denkweisen der westlichen Philosophie verbunden sind. In der darauf bezogenen philosophischen Arbeit sollte die volle Bandbreite der Bedeutungsfelder von Verschiedenheit und Gegensatz ausgenutzt werden.
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Die primäre Notwendigkeit lautet, dass man mit einander sprechen muss: so weit es geht auf der Grundlage völliger Gleichheit und in der Erwartung der Erfahrung eines Neuen, das aus dem Eigenen nicht ableitbar ist. Diese Situation wird durch die globalisierenden Entwicklungen, wie sie insbesondere durch die elektronischen Mittel der Kommunikation vorangetrieben werden, nicht außer Kraft gesetzt. Diese Art von Kommunikation würde sonst eines Tages gegenstandslos oder sie würde ausschließlich über sich selbst und ihre sich ausweitenden Möglichkeiten gehen. Inter- und multikulturelle Dialoge können und sollen in den weltweiten Prozessen der Vereinheitlichung weiter bestehende Differenzen sichtbar machen und neue Differenzierungen hervorbringen. Sie dienen dabei der Verbesserung des gegenseitigen Verstehens der Menschen aus verschiedenen Kulturen. Dies hat persönlich, gesellschaftlich und politisch positive Effekte. Diese Dialoge können dazu beitragen, antagonistische Widerspüche zwischen einzelnen Menschen, gesellschaftlichen Gruppen und Staaten oder Staatengruppen, die es weit mehr als wünschenswert wäre weiterhin gibt, in Ansätzen in nicht-antagonistische oder in differentielle Verhältnisse zu überführen, in denen Menschen sich nicht nur zu tolerieren, sondern als gleichrangig zu achten lernen. Auf dem Gebiet der Philosophie haben diese Dialoge vor allem das Ziel, Denkwege und Denkmittel zur Lösung der Probleme zu erkunden und bereit zu stellen, die mit den Möglichkeiten einer einzelnen philosophischen Tradition schier unlösbar erscheinen, die deshalb gemeinsam von allen Kulturen aus angegangen werden müssen. Als Probleme dieser Art sind ohne weiteres auszumachen: die Beherrschung der atomaren Energie, die für die gesamte Welt vernichtende Folgen haben kann, die Abwendung der Verschmutzung und Zerstörung der Umwelt, die bisher nicht wirksam in die Wege geleitet ist, und die Manipulation der Erbsubstanz des Menschen, von der heute niemand sagen kann, inwieweit sie wünschbar oder zulässig ist.
%LOGHW+HJHOVSUREOHPDWLVFKHV9HUKlOWQLV]XGHQQLFKWHXURSlLVFKHQ .XOWXUHQQLFKWHLQXQEHUZLQGOLFKHV+LQGHUQLVIUHLQH.RRSHUDWLRQGHU LQWHUNXOWXUHOOHQ3KLORVRSKLHPLWGHU'LDOHNWLN" Ein positives Verhältnis der interkulturellen philosophischen Praxis, die sich an der ‘Politik der Differenz’ orientiert, zur Dialektik im Hegelschen Sinn, wird dadurch erschwert, dass Hegel sich, wie die anderen Philosophen der
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Aufklärung und des Deutschen Idealismus, zu den Kulturen des vorkolumbischen Amerikas, Asiens und vor allem Afrikas auf sehr problematische Weise verhält. Seine auf Europa zentrierte Geschichts- und Kulturauffassung gesteht den anderen Kulturen der Welt keinen gleichwertigen Status zu. Die herablassende, bis zur Verachtung gehende Haltung diesen Kulturen gegenüber kommt am deutlichsten in seinen Äußerungen über Afrika zum Ausdruck. Das alte China, Indien und der Vordere Orient, mit Ägypten, nehmen bekanntermaßen eine Zwischenstellung ein. Bei den Aussagen über die übrigen nicht-europäischen Kulturen, die hier nicht im Einzelnen herangezogen werden sollen, geht es darum, dass diese insgesamt und besonders Afrika keine eigene Geschichte, keine dem Christentum gleichwertige Religion und 23 keine Philosophie kennen. In vielfacher Hinsicht ist Hegel, dessen Gründlichkeit und Genauigkeit auf den meisten Gebieten seiner Philosophie beispielhaft ist, bei seinem Urteil über Afrika und andere nicht-europäische Kulturen schlecht informiert. So entsteht die Frage, ob seine Aussagen zu diesen Kulturen für seine Philosophie im Ganzen bedeutsam sind oder nur ein Randgebiet betreffen, auf dem Fehlurteile weniger schwer wiegen. Die betreffenden Abschnitte in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte behandeln diese Kulturen in einem ‘Anhang’, in dem erklärt werden soll, warum sie nicht an der Weltgeschichte teilhaben können. Der Grund hierfür liegt im ‘Naturzusammenhang’ als der ‘geographischen Grundlage der Weltgeschichte’. So hält er Afrika für ein nicht geographisch in sich differenziertes Hochland, in dem die Spannung des Gegensatzes von Bergen und Tälern fehlt, die vorausgesetzt werden muss, damit ein Gebiet zur Bühne des ‘Theaters der Weltgeschichte’ werden kann. Ebenso verfehlt wie dieser Ausgangspunkt sind seine Angaben über die Lebensweise der Menschen auf diesem Kontinent. Die Einzelheiten dieses Textes sind in meinem Artikel ‘Hegel und Afrika’ und auch sonst häufig angeführt worden. Der völlige Skandal liegt in der Rechtfertigung des Sklavenhandels durch Hegel, der sonst als der Verfechter der konkreten Freiheit der menschlichen Person bekannt ist. Weil die ‘Neger’ auch vor der Kolonisierung bereits Sklaverei gekannt haben, indem sie etwa die Krieger einer verlo23
G.W.F. Hegel: 9RUOHVXQJHQ ]XU 3KLORVRSKLH GHU :HOWJHVFKLFKWH (UVWHU 7HLO (LQOHLWXQJ 'LH9HUQXQIWLQGHU*HVFKLFKWH, hrsg. von J. Hoffmeister, Hamburg 5
1966, 187-241.
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renen Schlacht als Sklaven behielten, sind sie gewissermaßen vorbestimmt, auch von den Europäern als Sklaven verkauft zu werden. Ihre eigene Gewohnheit, Sklaven zu besitzen, zeigt, dass sie der Freiheit und damit des wahren Personseins nicht fähig sind. Der Sklavenhandel ist somit im Grunde kein Handel mit als Personen qualifizierten Menschen. Die Verstrickung Hegels in fatale Irrtümer steigert sich noch, wenn wir darauf achten, wie die Angaben über Gebiete außerhalb der Weltgeschichte und die dort herrschenden Bedingungen im Kern seiner Philosophie angelegt sind. Was er in den Grundlinien einer Philosophie des Rechts von 1821 als den Ausdehnungsdrang entwickelter Ökonomien beschreibt, die jenseits der Meere neue Rohstoffquellen und neue Märkte suchen, ohne darüber zu reflektieren, dass dort auch Menschen wohnen, denen diese Gebiete gehören, liest sich wie eine Erklärung und Rechtfertigung des Kolonialismus. Und auch die Bestimmung der Person am Anfang der Rechtsphilosophie, die nur ist, was sie ist, sofern sie Eigentum besitzt, verrät die Beschränkung des Kreises von Menschen, für welche die Philosophie der konkreten Freiheit gilt. Schließlich zeigt sich die Beschränkung auch in der Philosophie der Familie, nach der die Frau ihre Wirksamkeit nur im Kreis der Familie entfalten soll und keine öffentliche Funktion ausüben kann. Sie kann weder in der Sphäre der Wirtschaft noch in der des Staates als selbständige Person auftreten. Von diesen problematischen Punkten im Kern seiner Philosophie lässt sich eine Linie ziehen zur Rechtfertigung des Sklavenhandels als eines Handels mit Menschen, die in einem Gebiet wohnen, in dem nicht die Bedingungen europäischer Geschichte und Kultur anzutreffen sind und die nicht als Personen im vollen Sinn des Wortes anerkannt werden. Es ist zwar nicht als Entschuldigung für diese Irrtümer und Inkonsistenzen seiner Philosophie zu werten, macht sie aber wohl in ihrer Zeitbezogenheit verständlich, dass ähnliche Auffassungen von vielen anderen Philosophen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts vertreten worden sind. Ich nenne als Beispiele nur Kant, Voltaire und Hume. Hegel tut auch hier, was er nach der berühmten Äußerung in der Vorrede zur Rechtphilosophie als die Aufgabe der Philosophie bezeichnet hat: ‘ihre Zeit in Gedanken erfassen’. Das heißt: Er formuliert in aller Schärfe, was das allgemeine Bewusstsein seiner Zeit und seiner Kultur ausmacht. So haben wir letzten Endes nicht Hegel zu tadeln, sondern das Europa seiner Zeit.
Interkulturelle philosophische Praxis als ‘Politik der Differenz’
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Dass durch die Fehleinschätzungen und Irrtümer über Afrika und andere nicht-europäische Gebiete und ihre Verankerung im Kern seines Denkens nicht der methodische Ansatz seiner Philosophie unbrauchbar geworden ist, zeigt sich in einer Studie von Susan Buck-Morss. Sie kann es annehmbar machen, dass Hegel in der Jenaer Periode seines Denkens, als er die Voraussetzungen seines eigenen Systems der Philosophie allererst noch klären muss, die berühmte Dialektik von Herr und Knecht, die dem letzteren im Grunde die stärkere Position zuerkennt, im Zusammenhang mit den Nachrichten über den Sklavenaufstand auf Haiti entwickelt hat. In den Jenaer Systementwürfen von 1803/04 ist dann auch von einer Dialektik zwischen Herr und Sklave die Rede. Der Dialektiker Hegel traut es in dieser Zeit den ‘Negern’ auf Haiti durchaus zu, dass sie in der Lage sind, ihre eigene Freiheit zu erkämpfen. 24 Und er misst diesem Kampf eine paradigmatische Bedeutung zu. Damit dürfte die Frage dieses letzten Abschnitts, die auf die Möglichkeit einer Kooperation der ‘Politik der Differenz’ mit einer in ihre Grenzen zu verweisenden Dialektik zielt, mit ‘Ja’ zu beantworten sein. Die Bedingungen einer Gesellschaft, die auf einer sich ständig weiter ausdehnenden Ökonomie aufgebaut ist und die im Zusammenhang damit Gegensätze und Ausschließungsmechanismen erzeugt, sind auch heute noch gültig. Zur Erfassung dieser Bedingungen bedarf es der dialektischen Methode. Ihre kritische Einschätzung verlangt, dass diese Methode nicht als allein und überall gültig anerkannt wird, sondern sich dem Kontext einer ‘Politik der Differenz’ einzufügen hat.
24
S. Buck-Morrs: +HJHODQG+DLWL, in: S. Hassan und I. Dadi (Hrsg.): Unpacking Europe, Rotterdam 2001, 42-70.
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/HLEOLFKYHUVWlQGLJWVHLQ Anthropologische Grundlagen des Verstehens In this contribution I will discuss some aspects of the biological basis for understanding others. I will restrict my investigation to elementary forms of understanding which are independent of language and culture, especially concentrating on forms of understanding which depend on bodily features and mediation through bodies. The article starts off with a short discussion of the dialogue of the Chinese philosopher Chuang Tzu on the “happiness of the fish.” Next, Husserl’s analysis of the way in which we gain access to other subjects, starting from their outer appearance, will be presented. Third, I will discuss further possibilities for immediate access to other persons on the basis of recent work in human ethology and brain science. Finally, I will focus on the thesis that gesture language is a kind of universal language that is prior to spoken language and makes it possible. In diesem Vortrag werden einige Aspekte der anthropologisch-biologischen Grundlage des Verstehens anderer Menschen diskutiert. Dabei beschränke ich mich auf sehr elementare Weisen des Verstehens, die unabhängig von der Sprache und Kultur sind, und vor allem auf solche, die auf Eigenarten unseres menschlichen Leibes beruhen. Von hierher versteht sich der Titel ‘Leiblich verständigt sein’. Ich beginne mit der Analyse eines kurzen Dialogs des chinesischen Philosophen Chuang Tzu ‘Über die Freude der Fische’. Dann werde ich eine Analyse von Edmund Husserl vorstellen und diskutieren, in der es um die Art und Weise geht, in der wir von dem Anblick des Körpers des anderen Menschen zu der Setzung des Anderen als Subjekt gelangen. Auf der Basis von ausgewählten Ergebnissen der Verhaltensforschung und der neueren Gehirnforschung untersuche ich dann weitere Formen des unmittelbaren Zugangs zu Anderen. Zuletzt werden einige Thesen zur Gestensprache diskutiert, die dieser den Status einer Universalsprache zuschreiben, welche vor der gesprochenen Lautsprache liegt und deren Grund bildet.
Bei der Suche nach grundlegenden Bedingungen des Verstehens anderer Kulturen wird man auf inhaltliche Überlappungen zwischen Kulturen zurückgehen müssen, die wiederum ihren Ursprung in einer gemeinsamen Geschichte dieser Kulturen haben, sei es die des Handels, der Eroberung oder der Wanderung von Völkern. Aber alle diese kommunikativen Begegnungen konkreter Personen beruhen noch auf den Gemeinsamkeiten, die man ‘anthropologische’ nennt, weil sie den Menschen unabhängig von seiner kulturellen Prägung zukommen.
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Unter diesen anthropologischen Gemeinsamkeiten kann man wieder verschiedene Klassen unterscheiden. Hierbei gehen wir von der Vorstellung aus, daß es bei aller kulturellen Verschiedenheit eine Gleichheit der notwendigen ‘Funktionen’ gibt, die allerdings je nach Kultur verschieden ausgefüllt werden kann. Die wichtigsten Funktionen sind die allgemein-menschlichen, die des Selbstbewußtseins, der Bedürfnisstruktur, des Interesses an Selbsterhaltung usw. Daneben gibt es Gemeinsamkeiten der Funktion, die dem Menschen als gesellschaftlich lebendem Wesen in allen konkreten Gemeinschaften zukommen, d.h. die sozialen Institutionen. Soziale Institutionen sind jedoch je nach Kultur sehr verschieden. Es gibt verschiedene Familiensysteme, verschiedene Heiratssyteme (Monogamie, Polygamie, Polyandrie usw.), verschiedene Rechtssysteme, Tauschsysteme usw. Dennoch erfüllt jedes dieser Systeme auf seine Weise die Funktion, einen wichtigen Bereich sozialen Miteinanderlebens zu regeln. Über die allgemeine Identität dieser Funktionen hinaus, die jeweils kulturell verschieden gefüllt werden, gibt es jedoch noch grundlegendere biologisch-anthropologische Gemeinsamkeiten, nämlich solche, die uns als Mitglieder einer und derselben biologischen Art (und sogar derselben Gattung) zufallen. Ich möchte in diesem Beitrag drei Theorien zu dieser biologischanthropologischen Grundlage des Verstehens vorstellen. Dabei beschränke ich mich auf sehr elementare Weisen des Verstehens, und zwar auf solche, die auf Eigenarten unseres menschlichen Leibes beruhen. Da diese Gemeinsamkeiten immer schon vorliegen, trifft auf sie der Ausdruck ‘leibhaft verständigt sein’ zu. Ich beginne mit einer Interpretation eines bekannten Dialogs des chinesischen Philosophen Chuang Tzu mit seinem Schüler Hui Tzu über die Freude der Fische. Dieser vielschichtige Dialog ist grundsätzlich auf viele Weisen 1 interpretierbar. Ich werde ihn hier nicht zur Darstellung von Chuang Tzus Philosophie mystischen Einsseins verwenden, sondern als einen Prolog über die systematischen Schwierigkeiten und die unabweisbaren Vorzüge eines Modells des Verstehens interpretieren, das eine Gleichheit (d.h. eine Identität in bestimmten Hinsichten) zwischen dem verstehenden und dem verstandenen Subjekt voraussetzt. 1
Vgl. zur Philosophie von Chuang Tzu: Wing-Tsit Chan: $VRXUFH%RRNLQ&KLQHVH SKLORVRSK\, Princeton 1973, 177-210, und auch die sehr informative Darstellung von G. Wohlfart: =KXDQJ]L, Freiburg 2002.
Leiblich verständigt sein
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Der zweite Teil bietet ein erstes Modell des leiblichen Verstehens von Edmund Husserl, der die Art und Weise untersucht, in der wir von dem ersten Anblick des Körpers des anderen Menschen zu der Setzung des Anderen als Subjekt und zu einer Vorstellung seiner Motive und Gefühle gelangen. Husserls Modell des Verstehens anderer Personen beruht auf der These, daß wir das andere Subjekt auf dem Grund folgender Analogie apperzipieren: Ebenso wie wir in unserem Leib ‘handeln’, wie wir uns in ihm bewegen und auch (willkürlich oder unwillkürlich) ausdrücken, genauso agiert in dem gleichartig bewegten anderen Menschenkörper ein Subjekt. Wir werden dabei auf eine systematische Schwierigkeit stoßen, nämlich die ungeklärte Frage, wie wir unseren eigenen Körper aus einer ‘Außenperspektive’ kennen können, denn diese Kenntnis wäre die unerläßliche Grundlage des ‘analogischen Verstehens’. Im dritten Teil gehe ich auf einige Erweiterungen und Korrekturen dieses analogischen Modells leibhaften Verständigt-Seins ein. Bei der zuletzt genannten Schwierigkeit der ‘unbekannten Außenperspektive’ hilft uns die Ethologie weiter, die zeigt, daß der Mensch einige der Leistungen, die Grundlage des Verstehens anderer Personen als Subjekte sind, gleichsam von sich aus mitbringt, und zwar, ohne daß es hierzu eines Lernens bedürfte. Auch die moderne Neurophysiologie hat zu dem Thema des Verstehens anderer Personen beachtliche Beiträge zu bieten, von denen ich insbesondere kurz auf die Forschung an Spiegelneuronen eingehe. Es zeigt sich, daß die Spiegelneuronenforschung ein anderes Modell des Verstehens nahelegt, das nicht auf Analogie sondern auf einem unmittelbaren Mit- und Nachvollzug von Bewegung, Handlung und Fühlen beruht. Der vierte Teil stellt einige Thesen zur Gestensprache vor, die dieser den Status einer Universalsprache zuschreiben, welche vor der gesprochenen Lautsprache liegt und deren Grund bildet.
3URORJ&KXDQJ7]XEHUGLH)UHXGHGHU)LVFKH Zunächst gebe ich den Wortlaut des Dialogs wieder, der sich zwischen Chuang Tzu und Hui Tzu bei einem entspannten Spaziergang am Fluß ergibt: Chuang Tzu beginnt mit der Behauptung ‘Die weissen Fische schwimmen leichthin. Das ist die Freude der Fische.’, worauf Hui Tzu erwiedert: ‘Du bist kein Fisch. Woher weißt du, daß sie sich freuen?’. Darauf erwidert Chuang Tzu:
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'LHWHU/RKPDU ‘Du bist nicht ich. Woher weißt du, daß ich nicht um die Freude der Fische weiß?’ Hui Tzu antwortet daraufhin entschieden: ‘Natürlich weiß ich das nicht, weil ich nicht du bin. Aber du bist kein Fisch und darum ist es vollkommen klar, daß du um die Freude der Fische nicht weißt.’ Der Dialog endet mit den Worten von Chuang Tzu: ‘Laß uns der Sache auf den Grund gehen. Als du mich gefragt hast, wie ich denn um die Freude der Fische wissen könnte, hast du schon gewußt, daß ich um die Freude der Fische wußte, und fragtest dennoch, wie. Ich 2 wußte es, indem wir am Fluß entlanggingen.’
In diesem Dialog zeigen sich verschiedene Ebenen der Analogie. Es geht auf der untersten Stufe darum, ob Menschen die Freude der Fische erkennen können. Auf einer weiteren Stufe geht es um die Frage, ob ich einen anderen Menschen verstehen kann, und man könnte sinngemäß auch die Frage hinzufügen, ob ich eine andere Kultur verstehen kann. Obgleich die Fische viel ‘fremder’ für uns sind als viele andere Lebewesen, kann man sie doch als Metapher für das zu verstehende Fremde auf allen drei Stufen nehmen. Ich werde den Text des Dialogs interpretieren, und zwar ohne auf den Hintergrund von Chuang Tzus Philosophie des mystischen Einsseins einzugehen. Insofern dient der Dialog hier nur zur Erläuterung der gerade genannten drei Ebenen des systematischen Fragens und nicht zur Darstellung von Chuang Tzus Philosophie, obwohl einzelne Elemente angesprochen werden. Die Frage wie Chuang Tzu denn wissen könne, daß sich die Fische freuen, beantwortet dieser mit der radikaleren Frage, wie sein Schüler denn wissen könne, daß er es nicht wisse. Das wirkt zunächst wie ein Ausweichen. Der Zugang zum Fremden in der extremen Form des Verstehens einer anderen Gattung von Lebewesen wird auf den Zugang zum anderen Menschen zurück geworfen. Solange nicht geklärt ist, wie dieser vor sich geht und ob er erfolgreich sein kann, kann man auch die weitergehende Frage nach dem Verstehen der Fische nicht beantworten. Chuang Tzu nimmt damit das Argumentationsmodell seines Schülers auf und radikalisiert es: Hui Tzu verlangt für erfolgreiches Verstehen nur die Identität der biologischen Gattung, jetzt radikalisiert Chuang Tzu dieses Modell, indem er die Identität der Person als Bedingung des Verstehens fordert. Der Lehrer nimmt aber seine These nicht zurück: Die gemeinsame ‘Animalität’ der leiblichen Bewegung, die sich dann gegen alle Verwerfungen und Überschreibungen der jewiligen Kultur als einer ‘zweiten Natur’ immer 2
Ich bin bei der Formulierung des Dialogs von der englischen Übersetzung von Chan ausgegangen: a.a.O., 209f.
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noch durchsetzt, wird als ein von der kulturellen Überformung unabhängiger Zugangsweg zu anderen Lebewesen und damit auch zum anderen Menschen – und auf diese Weise auch zur anderen Kultur behauptet. Dieser Zugangsweg ist elementar und ursprünglich. Er ist von Anfang an da, d.h. er wirkt bereits in unserem Verständnis des leiblichen Bewegens und Gebarens: Die ungehinderte und scheinbar auch zweckfreie Bewegung der Fische in ihrem ureigensten Medium ist ein Ausdruck der Lebensfreude. Die eigentliche Antwort auf die Frage nach dem Zugangsmodus zu der Erfahrung des Anderen und zur anderen biologischen Gattung wird in dem ‘sprachlichen’ Teil des Dialogs jedoch nur verlangt, aber nicht gegeben. Sie wird jedoch in den nichtsprachlichen Aspekten des Dialogs angedeutet. Diese Antwort beginnt buchstäblich mit dem ersten Satz des Dialogs: Beide gehen zu ihrer eigenen Freude am Fluß entlang und philosophieren. Insofern enthält der letzte Satz von Chuang Tzu den Hinweis darauf, daß die Antwort schon mit diesem ersten Satz beginnt: Ich wußte um die Freude der Fische nicht, indem ich nur reflektierte und mit Dir diskutierte, sondern indem ich mit dir hier zu unserer eigenen Freude am Fluß entlangging und philosophierte. Der intellektualistische Ausflug seines Schülers, der zu heftiger Rede und verneinender Gegenrede führt, stört dennoch nicht die Harmonie zwischen beiden Personen. Chuang Tzu provoziert geradezu seinen Schüler zu einem intellektualistischen Abweg, indem er die zweite Dimension der Frage aufwirft. Das kontroverse Gespräch gehört mit zum Vergnügen des Spaziergangs; es ist ein natürliches Resultat ungezwungenen menschlichen Lebens. Es entspricht unserer Natur, wie die schnelle Bewegung der Fische leichthin. Eine unmittelbare Folgerung des Dialogs ist: Leugne nicht eine erlebte Tatsache, selbst wenn Du glaubst, für eine solche Leugnung gute intellektuelle Gründe zu haben! Deutlich zeigt der Dialog die Neigung des Intellekts, besonders solche Tatsachen zu leugnen, dessen Gründe er allein nicht aufzudecken vermag. Die Verabsolutierung des intellektualistischen Standpunktes bewegt Hui Tzu zu der Behauptung, daß Chuang Tzu unmöglich die Freude der Fische erfassen könnte. Er behauptet sogar, daß er es in der Tat nicht tut. Damit leugnet er eine erlebte Tatsache, der er sich bewußt 3 ist und der er sich auch bewußt bleiben sollte. Chuang Tzu kann daher auch 3
Jeder, der mit einem Haustier zusammengelebt hat, weiß, daß er die Absichten und Gefühle des Tieres zu erfassen glaubt, aber einer hartnäckigen intellektuellen Gegenrede diesem Verstehen gegenüber fühlen wir uns oft hilflos.
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zu Hui Tzu sagen, daß er diese Tatsache, daß wir nämlich die Fische (wie die Menschen unserer eigenen und fremder Kulturen) zumindest leiblich verstehen können, wider besseres Wissen leugnet. Hui Tzu stimmt durch sein Schweigen darin ein, denn der Dialog bricht hier ab. Bezogen auf die Frage der anthropologischen Grundlagen des Verstehens läßt sich dieser Hinweis verallgemeinern. Wir teilen mit allen Menschen die meisten biologisch-anthropologischen Eigenschaften, obgleich unser Denken und Werten von der Kultur abhängt, in der wir groß geworden sind. Hinsichtlich einer ‘Hermeneutik der Identität’, die die Voraussetzungen des Verstehens in Gemeinsamkeiten sieht, legt der Dialog die Folgerung nahe, daß eine solche Hermeneutik ihre Grenzen hat, aber auch ein gewisses Recht. Bei aller berechtigten Kritik an dem Modell des Verstehens, das Identität oder Gleichheit (d.h. Identität in einer bestimmten Hinsicht) voraussetzt, damit überhaupt von Verstehen gesprochen werden kann, muß man doch anerkennen, daß am Ende das Verstehen, um das es hier geht, auf einer Gleichheit in biologischer Hinsicht beruht, nämlich, daß wir und die Fische leiblich verfaßte Subjekte einer jeweiligen Lebensumwelt sind. Hinsichtlich der Möglichkeit des Verstehens anderer Menschen scheint der Hinweis, daß ich und der Andere einen Leib haben, zunächst eine Trivia4 lität zu sein. Aber auf der anderen Seite ist die Forderung der personalen Identität als Voraussetzung des Verstehens (die Chuang Tzu einwirft) in 5 unseren Augen absurd. Wir sind eher geneigt, zuzugeben, daß unsere Leiber ‘weitgehend’ gleich, ähnlich, analog usw. sind. Aber worin weist sich dieses ‘gleich’ aus? Der Zugangsweg, auf den der Dialog aufmerksam macht, ist das gesehene leibliche Gebaren und Handeln und die sich daran anschließende nachvollziehende Übertragung durch uns, die sich auf natürliche Weise unseres Bewusstseins bemächtigt. ‘Es kommt uns so vor, als ob sich die Fische freuen’, heißt nicht mehr als ‘Es kommt mir – prinzipiell auf die gleiche Weise – so vor, als ob du dich freust’. In beiden Fällen gehe ich von bestimmten äußeren Anzeichen zu der Vorstellung innerer subjektiver Erlebnisse über, die hiermit aus-
4 5
Außerdem ist es nicht einsichtig, daß wir denselben Leib haben sollen. Wie steht es in dieser Hinsicht mit dem anderen Geschlecht? Dies gilt nicht für Chuang Tzu, hier wird deutlich, daß ich den Dialog nicht zur Darstellung seiner Philosophie nutze.
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gedrückt werden. Aber dieser Weg ist nicht intellektuell; er ist intuitiv, emotional und praktisch. Hui Tzu gelangt durch Chuang Tzus provozierende Frage zunächst auf einen identitätsphilosphischen Ansatz in der Frage des Zugangs zum anderen. Zunächst geht es ihm um Gattungsidentität. Weil Chuang Tzu kein Fisch ist, kann er unmöglich deren Freude erfassen. Dieser Ansatzpunkt impliziert, daß erst die Identität der ‘biologischen’ Gattung Verständigung ermöglicht. Chuang Tzu geht auf das Argument von Hui Tzu ein, und zwar – in meiner Interpretation – um die Absurdität eines konsequent verabsolutierten identitätshermeneutischen Ansatzes aufzuzeigen. Macht man eine Identität des Erzeugers von Sinn und des Verstehenden desselben zur Bedingung des Verstehens, dann müßte schließlich die individuelle Identität Grundlage des Verstehens sein: Nur ich selbst verstehe mich selbst richtig. Damit wäre der Begriff des Verstehens obsolet. Denn für uns gilt immer: ‘Du bist nicht ich’. Weder aus der Identität der Person noch aus der Identität der Gattung noch aus der Identität der Kultur lässt sich auf den Erfolg von gegenseitigem Verstehen schließen. Allerdings gilt auch umgekehrt: Aus der Nicht-Identität ergibt sich auch noch nicht das Nicht-Verstehen. Worauf dieser Dialog hinweisen will ist Folgendes: Es gibt tiefliegende Identitäten – insbesondere unsere gemeinsame Leiblichkeit –, die Grundlage der Verständigung zwischen Personen und auch Grundlage des Verstehens anderer Kulturen sind.
+XVVHUOV7KHRULHGHV=XJDQJV]XUDQGHUHQ6XEMHNWLYLWlW Auch Husserls Ausgangspunkt ist das gesehene leibliche Gebaren und Handeln der anderen menschlichen Person. In der fünften seiner ‘Cartesianischen Meditationen’ (1930) will er klären, auf welche Weise wir von der ersten Gegebenheit einer anderen Person als physischer, bewegter Körper zu der Vor6 stellung des Anderen als einem Subjekt kommen. Husserl beginnt seine Analyse mit einer Wahrnehmung, welche noch ganz Wahrnehmung eines räumlichen Körpers ist. Wir gehen also zeitweilig davon aus, als ob wir kein Vorwissen über andere, sondern nur sinnliche Informationen zur Verfügung
6
Vgl. E. Husserl: &DUWHVLDQLVFKH0HGLWDWLRQHQ+XVVHUOLDQD,, hrsg. von S. Strasser, Den Haag 1950 (im folgenden mit „CM“ zitiert).
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hätten. Nun beobachten wir unser Bewußtsein gleichsam dabei, was es ‘tut’ und wie wir zu der Setzung einer anderen Person kommen. Ich werde versuchen, Husserls Analyse des Zugangs zur anderen Person als ein erstes Modell des Leiblich-verständigt-Seins zu interpretieren. Das erste, das wir bei dieser Selbstbeobachtung bemerken, ist, daß unsere Wahrnehmung immer aus dem anschaulichen Angebot der Sinnlichkeit durch Synthese und Sinnüberschuß gleichsam eine Vorstellung herstellt, die sich nicht allein auf das sinnlich Gegebene zurückführen läßt. So weist schon Locke darauf hin, daß wir, wenn wir eine rote Billardkugel sehen, sinnlich visuell eigentlich nur eine runde Scheibe gegeben haben, die unterschiedlich gefärbt ist. Sie hat z.B. abgeschattete Stellen am unteren Ende und oben eventuell Glanzlichter in denen sich die Lampen spiegeln. Dennoch ist das, was wir ‘wahrnehmen’ eine gleichmäßig rot gefärbte Kugel mit einer räumlichen Ausdehnung. Dieser Sinnüberschuß des Wahrgenommenen über die optisch gegebenen Informationen hinaus stammt aus der Aktivität unseres Geistes und nicht aus der Sinnlichkeit. Einen vergleichbaren Sinnüberschuß über das sinnlich Gegebene gibt es in dem Fall, in dem wir eine andere Person sehen. Zunächst erscheint ein sich bewegender Mensch visuell nicht anders als ein bewegter räumlicher Körper in meinem Gesichtsfeld, und dennoch schreibe ich ihm den Sinn zu, ein Subjekt für die Welt zu sein, so wie wir es sind. Husserl untersucht in der fünften Cartesianischen Meditation, auf welche Weise und aufgrund welcher Motive dieser Sinnüberschuß hineingelegt wird. Zunächst analysiert Husserl den Sinn dessen, was wir da sehen bzw. setzen, daß er ein Mensch ist ‘wie wir’ bzw. ‘wie ich’, denn letztlich bin ich das einzige Subjekt, das ich aus dem Gesichtspunkt des eigenen Erlebens her kennengelernt habe. Alle Rede von ‘wir’ muß sich auf diese Erfahrung, die mein ganzes bewußtes Leben begleitet, zurückgeführt werden können und auch von hier her motiviert sein. Der Begriff des menschlichen Subjekts, den ich hier ‘anwende’, ist sozusagen mit den Inhalten gefüllt, die ich bei mir erlebt habe. Husserl rekonstruiert die Art und Weise, in der ich von der wahrnehmungsmäßigen Gegebenheit eines anderen Menschen als eines „sich selbst 7
Der Sinn und das Motiv der Primordialreduktion, die Husserl vor der Analyse des Zugangs zum Anderen vollzieht, ist hiermit aber nur angedeutet. Vgl. genauer Husserl, CM, § 44.
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bewegenden Körpers mit bestimmter Gestalt“ zu der Setzung dieses Menschen als Subjekt komme, als eine Art ‘analogische Übertragung’. Die Übertragung geschieht dabei von einem zunächst nur wahrnehmungsmäßig konstituierten räumlichen Körper zu einem von einem Subjekt innerlich erlebten, belebten und bewegten Leib. Die Begriffe Körper und Leib verwendet Husserl terminologisch für diesen Unterschied. Der Begriff des Körpers soll dabei zuerst nur in demselben Sinne gebraucht werden, wie wir andere empirische Begriffe verwenden. Wir meinen mit einem menschlichen Körper ein reales Ding, das eine bestimmte Gestalt hat und das sich wie gesehene Tiere von sich aus in charakteristischer Weise eigentätig bewegen kann. Ich habe – so setzt Husserl an – eine Erfahrung von meinem eigenen Körper und weiß, daß er immer zugleich belebter Leib ist. Ich ‘schließe’ aufgrund dieser immer vorhandenen Erfahrung, ausgehend von dem beobachteten Körper des Anderen auf den Leib-Charakter des Körpers des Anderen. Die Rede von einem Schluß ist hier nicht logisch zu verstehen. Ich ‘übertrage’ die Verbindung von menschlichem Körper und belebtem Leib, die ich bei mir jederzeit erlebe, auf alle anderen Personen. Es kann aber immer nur bei einer analogischen Übertragung des Subjekt-Seins dieses Leibes bleiben, denn das eigentliche Lebensmedium dieses Subjekts, d.h. den Bewusstseinsstrom des Anderen, sein Wollen, seine Empfindungen und Wahrnehmungen, genauso wie er sie erlebt, werden wir nicht erreichen können. Analogie nennen wir allgemein die Übertragung des regelhaften Zusammenbestehens bestimmter Eigenschaften bei einem bekannten Gegenstand auf einen unbekannten Gegenstand. In unserem Fall handelt es sich um einen Körper, der so aussieht wie mein Körper. Da ich meinen Körper als Organ eines Subjekts jederzeit erlebe, setze ich zu dem bislang nur als bewegt, aber nicht von einem Subjekt belebten Körper des anderen sozusagen meine Vorstellung eines Subjekts hinzu. Ich denke ihn mir – nach Analogie meiner leiblich verfaßten Subjektivität – als Subjekt. Die Stärke dieses Modells der analogen Übertragung zeigt sich noch nicht im Moment der ersten Sinnzuschreibung, sondern sie offenbart sich vor allem in der fortlaufenden Bewährung dieser Subjektsetzung in der weiteren Erfahrung. Sie enthält nämlich konkrete Erwartungen, wie sich das leibliche Gebaren, die Mimik und die Bewegung des Gesehenen weiter entwickeln wird. In dem Zusammenspiel zwischen konkretester, inhaltlich bestimmter Erwartung und kontinuierlicher Erfüllung dieser Erwartungen bewährt sich die Sinnzuschreibung ‘Subjekt eines Leibes’ fortwährend.
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Eine Analogie ist also eine Relation zwischen insgesamt vier Relations8 gliedern: K1 : L1 = K2 : L2. Es gibt jedoch ein ernstes Problem bei der Analogiegrundlage (linke Seite), d.h. bei dem von mir immer erlebten Verhältnis von meinem Körper (K1) zu meinem Leib (L1), denn ich kenne meinen Leib gar nicht vollständig aus der Außenperspektive. Ich kenne meinen Leib z.B. nicht von hinten, ich weiß nicht, wie meine Mimik aussieht, ich weiß nicht, wie meine Körperhaltung in der Sicht anderer Personen aussieht usw. Während die körperliche Ansicht meines Rückens eventuell entbehrlich ist, so sind doch Haltung und Mimik wichtig, um z.B. die Gefühlszustände des anderen zu verstehen. Wenn man sich also auf das Modell der analogen Übertragung einläßt, so fällt uns auf, daß wir über wichtige Außenansichten unseres Leibes gar nicht verfügen. Man könnte diesen Einwand zu einer ernsten Schwierigkeit ausgestalten, allerdings lassen sich auch Einsichten der Ethologie und der Neurophysiologie heranziehen um das Modell der analogen Übertragung zu bereichern und sinngemäß zu modifizieren.
'DV/HLEOLFKYHUVWlQGLJW6HLQDXVGHP*HVLFKWVSXQNWGHU(WKRORJLH E]Z1HXURSK\VLRORJLH Es scheint so, als ob die Art und Weise, in der hier die Analogie vorgestellt wird, allzusehr auf intellektuelle Leistungen bezogen ist. Es könnte sein, daß die Art des ‘Wissens’, das wir brauchen, um die analoge Apperzeption zu vollziehen, nicht auf diskursiv-begrifflicher Ebene liegt. Die Untersuchungen von A.N. Meltzoff und M.K. Moore bei Neugeborenen hat gezeigt, daß diese in der Lage sind, die Mimik von Personen schon in den ersten Lebensstunden 9 und Tagen zu imitieren. Das heißt, Neugeborene sind ohne vorangegangenes 8
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Vgl. hierzu etwa J.F. Courtine: ,QWHUVXEMHNWLYLWlWXQG$QDORJLH; in: Phänomenologische Forschungen 24/25 (1991), 232-264, weiterhin K. Hedwig: +XVVHUOXQGGLH $QDORJLH, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 36 (1982), 77-86, und K. Held: 'DV 3UREOHP GHU ,QWHUVXEMHNWLYLWlW XQG GLH ,GHH HLQHUSKlQRPHQRORJLVFKHQ 7UDQV]HQGHQWDOSKLORVRSKLH; in: U. Claesges und K. Held (Hrsg.): Perspektiven transzendentalphänomenologischer Forschung, Den Haag 1972, 3-60. Vgl. A. Meltzoff/M.K. Moore: ,PLWDWLRQRI IDFLDODQGPDQXDOJHVWXUHVE\ KXPDQ QHRQDWHV; in: Science 198 (1977), 75-78, dies.: 1HZERUQLQIDQWVLPLWDWHDGXOWIDFLDO JHVWXUHV, in: Child Development 54 (1983), 702-709 und hierzu auch I. EiblEibesfeldt: 'LH %LRORJLH GHV PHQVFKOLFKHQ 9HUKDOWHQV *UXQGULGHU +XPDQHWKR ORJLH, München 1995, 88-92, und die dort angegebene Literatur. G. Soffer hat in: 7KH2WKHU DV$OWHU(JR $ JHQHWLF$SSURDFK (in: Husserl Studies 15 (1999), 151-
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Lernen in der Lage, einfache Gesichtsbewegungen wie das Öffnen des Mundes das Herausstrecken der Zunge, Lachen und den Ausdruck der Überraschung usw. spontan zu imitieren. Beachtenswert ist bei dieser Imitationsleistung ferner, daß die Neugeborenen noch kein Wissen darüber besitzen können, wie ihre mimischen Versuche für andere aussehen. Das ‘Wissen’, das hierfür notwendig ist, kann nicht erlernt worden sein, es scheint – so könnte man vermuten – ‘fest verdrahtet’ zu sein. Welchen ‘Inhalt’ jedoch diese Imitation hat, d.h. ob sie einer Gemütsbewegung entspricht oder nicht, wissen wir nicht. Es liegt allerdings die Vermutung nahe, daß wir in dieser leibgebunden Weise zeigen, daß wir eine Vorstellung von den Intentionen und Empfindungen des anderen Menschen haben. Auch andere Experimente sprechen dafür, daß auch die inneren Beweggründe und Empfindungen auf diese imitative Weise nachvollzogen werden. Spielt man neugeborenen Säuglingen Tonbänder mit weinenden Babys vor, dann reagieren sie darauf mit Weinen, so daß man hier eine Art Stimmungs10 übertragung vermutet. Es gibt auch neurophysiologische Belege dafür, daß bereits die Leistung der Imitation ein Zeichen für das Verstehen des Imitierten darstellt. Seit etwa 1995 gibt es in der Neurophysiologie ein Thema, das besonders für Phänomenologen von großem Interesse ist: Ich meine die Spiegelneuronen-Forschung. Es geht dabei um die Erforschung eines bestimmten Teils des Gehirns bei Primaten, des sogenannten Prämotor-Cortex (F5), der für die Steuerung motorischer Handlungen wie Greifen, Ziehen und Gehen zuständig ist. Daß dem so ist, weiß man aus Ausfallforschungen, die die Störungen bei Personen untersucht, bei denen die entsprechende Region ganz oder teilweise verletzt war oder im Experiment betäubt wurde. Eine weitere wesentliche Grundlage der Spiegelneuronen-Forschung sind bildgebende Verfahren. Bestimmte leibliche Bewegungen lassen sich in der PET-Darstellung der Aktivität der Neuronen im Gehirn als zugehörige räumlich-zeitliche Aktivitätsmuster erkennen. Diese Aktivitätsmuster können bei derselben Bewegung immer wieder identifiziert werden.
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166) eine Vielzahl weiterer Anregungen von A. Schütz, M. Merleau-Ponty, J. Piaget, eigene Erfahrungen und die Experimente von Meltzoff und Moore für eine Bereicherung der Husserlschen Intersubjektivitätstheorie verwendet. Vgl. A. Sagi/M.L. Hoffmann: (PSKDWLFGLVWUHVVLQWKHQHZERUQ, in: Develop. Psychology 12 (1978), 175f.
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Bei Experimenten an Primaten wurde 1995 von Rizzolatti und Gallese festgestellt, daß die betreffenden Regionen des Gehirns nicht nur die Steuerung der Bewegung des eigenen Körpers leisten, sondern daß sie auch eine nur gesehene Bewegung eines anderen Tieres auf dieselbe Weise ‘darstellen’, wie eine wirklich ausgeführte Bewegung des eigenen Leibes – also mit dem11 selben neurologischen Aktivitätsmuster. Die Bi-Modalität, d.h. die Aktivität sowohl für das Sehen als auch für das Tasten von einzelnen Regionen des Motorcortex, war bereits aus Untersuchungen zur Koordination von visuellen und taktuellen Informationen z.B. über Handbewegungen bekannt. Allerdings hatte man bis dahin immer nur beobachtet, daß die eigenen Handbewegungen in den zwei Dimensionen des Tastens und Gesehen-Werdens von den gleichen Aktivitätsmustern in derselben Region begleitet wurden. Daß dieselben Regionen auch zur Interpretation der Bewegungen anderer Personen verwendet werden, legt es nahe, bei den Spiegelneuronen von Trans-Modalität zu sprechen. Abgesehen davon, daß die Entdeckung der Bi-Modalität von einigen Teilen des Motorcortex eine neue Forschungsrichtung eingeleitet hat, wurde diese Entdeckung in vielen Hinsichten interpretiert und in weiteren Theorien verwendet. So z.B. in einer Theorie über den Spracherwerb und das Verstehen der Sprache, die behauptet, daß die Gestensprache eine grundlegen12 dere Form der Kommunikation ist als die gesprochene Sprache Hintergrund für diese Vermutung ist, daß eines der Sprachzentren des Gehirns (BrocaZentrum) in unmittelbarer Verbindung mit den bi-modalen Regionen steht.
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G. Rizzolatti/L. Fardiga/V. Gallese/L. Fogassi: 3UHPRWRUFRUWH[DQGWKHUHFRJQL WLRQRIPRWRUDFWLRQV. in: Brain Research 3 (1996), 131-141; dies.: $FWLRQUHFRJQL WLRQ LQ WKH SUHPRWRU FRUWH[, in: Brain 119 (1996), 593-609; G. Rizzolatti/L. Fardiga/M. Matelli et. al.: /RFDOL]DWLRQ RI JUDVS UHSUHVHQWDWLRQV LQ KXPDQV E\ 3(72EVHUYDWLRQYHUVXVH[HFXWLRQ, in: Exp. Brain Research 111 (1996), 246252, weiterhin G. Rizzolatti/L. Fardiga: *UDVSLQJREMHFWVDQGJUDVSLQJDFWLRQWKH GXDOUROHRIPRQNH\URVWRYHQWUDOSUHPRWRUFRUWH[DUHD) , in: Novartis Foundation Symposion 218 (1998), 81-103; G. Rizzolatti/L. Fogassi/V. Gallese: &RUWLFDO
PHFKDQLVPVVXEVHUYLQJREMHFWJUDVSLQJDQGDFWLRQUHFRJQLWLRQDQHZYLHZRQWKH FRUWLFDOPRWRUIXQFWLRQV, in: The Cognitive Neurosciences. ed. by M.S. Gazzaniga, Cambridge 2000, 539-552, and G. Rizzolatti/L. Fogassi/V. Gallese: 1HXURSK\VL RORJLFDO PHFKDQLVPHV XQGHUO\LQJ WKH XQGHUVWDQGLQJ DQG LPLWDWLRQ RI DFWLRQ, in:
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Nature Reviews, Neuroscience 2 (2001), 661-670. Vgl. M.C. Corballis: 7KHJHVWXUDO2ULJLQVRI/DQJXDJH, in: American Scientist 87 (1999), 138-145. Auf diese Theorie gehe ich weiter unten noch einmal ein.
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In der Folge wurden die Untersuchungen auch auf Menschen ausgedehnt und man fand weitestgehende Übereinstimmung mit den Befunden bei Primaten. Außerdem wurde deutlich, daß es bei dem so dargestellen ‘leiblichen’ Verstehen von Bewegungen anderer Lebewesen durch Nachvollzug keine Artschranken gibt: Primaten interpretieren die Handbewegung des menschlichen Experimentators auf die gleiche Weise wie die eines Artgenossen. Selbst wenn man diese Befunde sehr vorsichtig interpretiert, weisen sie doch auf, daß wir die Handlungen anderer Personen in einer leibgebundenen und nachvollziehenden Weise verstehen. Wir handeln sozusagen die Leibwegungen der anderen Personen ‘mit’, ebenso wie wir ihre Empfindungen und ihr Wollen mitvollziehen. Allerdings ist dieser deutliche Hinweis der Neurophysiologie von der Seite der Phänomenologie noch nicht im angemessenen 13 Umfang aufgenommen worden. Es scheint mir vor allem notwendig zu sein, eine Form phänomenologischer Analyse zu finden, die der Innenperspektive dieser Mitvollzüge entspricht.14 Auf diese Weise zeigt sich also ein weiteres Element des vorkulturellen Leiblich-verständigt-Seins. Auf der Basis dieser Befunde könnte sich auch eine tragfähige Basis für das Verstehen des Handelns von Tieren ergeben. Ich will allerdings hier nicht in die Diskussion eintreten, ob Tiere Bewußtsein oder gar Selbstbewußtsein haben und was sich aus diesen Vermögen für die Konstitution ihrer jeweiligen ‘Welt’ ergeben könnte. Ich denke nur, daß es an der Zeit ist, angesichts der heute bekannten Linie der Verwandtschaft von Primaten und Vorformen des Menschen bis hin zum heute lebenden modernen Menschen, 15 die gemeinsame Leiblichkeit als Verstehensgrundlage anzuerkennen. *HVWHQ0LPLNXQG*HElUGHQ Ich werde jetzt die These vom Leiblich-verständigt-Sein noch um einen Aspekt ergänzen, der ebenfalls eine sprachunabhängige Form der Kommunikation betrifft: Die Gestik. 13 14 15
Es finden sich einige Hinweise in V. Gallese: 7KHµ6KDUHG0DQLIROGµ+\SRWKHVLV, in: Journal of Consciousness Studies 8 (2001), 42ff. Meiner Ansicht nach weist hier die Analyse der sogenannten phantasmatischen Selbstaffektion einen brauchbaren Zugangsweg zu diesem Phänomen auf. Wenn ich sehe, wie ein Hund mit seinen Zähnen an einem Stock zerrt, so weiß ich, weil ich selbst meine Zähne für ähnliche Zwecke gebrauchen kann, daß er etwas ‘will’, und zwar weiß ich es im phantasmatischen Mitvollzug.
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Hierzu erinnere ich kurz an einige Eckdaten der Evolutionsgeschichte: Die Menschwerdung wird biologisch meistens mit der Entwicklung des aufrechten Ganges vor etwa 4 Millionen Jahren verbunden. Gesicherte Belege für Werkzeuggebrauch gibt es bereits vor etwa 2,6 Millionen Jahren. Man nimmt heute weiterhin allgemein an, daß sich erst vor etwa 120.000 Jahren, also verhältnismäßig spät, die gesprochene, menschliche Sprache entwickelt hat. Vom Beginn der Menschwerdung an lebte der homo sapiens in immer komplexer werdenden Gesellschaften von Jägern und Sammlern, die zu ihrem Funktionieren bereits eine leistungsfähige Form der Kommunikation voraussetzten. Diese Lücke will die These von der Gestensprache füllen. Aus der Sicht der Evolutionsforschung geschieht also eine merkwürdige Umbewertung der Einflüsse, die das Verhalten des Menschen in kultureller und in biologischer Hinsicht prägen. Alles, was sich auf die unterschiedlichen sprachlich vermittelten Kulturen zurückführen läßt und was hierin auch unterschiedlich ausgeprägt ist, tritt in den Hintergrund. Alle Differenzen der Lebensweise (Sammler u. Jäger, Ackerbau erst seit ca. 40.000 Jahren), der Kulturen, der Rassen, der Herkunft, der sozialen Schicht usw. verblassen vor den Faktoren, welche unser biologisches Überleben bereits Millionen von Jahren gewährleistet haben. Die evolutionäre Perspektive betrachtet den Menschen sozusagen ohne die Besonderheiten, die jeweiligen Kulturen entstammen. Eine solche Sichtweise ist für die Reflexion auf die vorkulturellen Grundlagen der Kommunikation sicher von Interesse, aber es könnte auch den Anschein erwecken, als ob man versuchte, alle Probleme interkulturellen Denkens mit dem Hinweis auf ihre Nebensächlichkeit gleichsam abzutun. Das ist jedoch keineswegs meine Absicht. Es fragt sich nun, welche Lehren man aus dieser groben Chronologie ziehen kann. Eine Einsicht, die man aus der langen Zeit, immerhin sind es fast 4 Millionen Jahre, in der der Mensch in sozial wohlgeordneten Gemeinschaften mit einer im Lehren und Lernen ausgeprägten Tradition lebt, ziehen kann, betrifft den Modus der Kommunikation: Die differenzierte Lautsprache ist erst vor etwa 120.000 Jahren entstanden, aber gemeinschaftliches Handeln, auch das Jagen in Gruppen, das Lehren und Lernen von Werkzeuggebrauch (den es auch schon bei anderen Primaten gibt) erfordern eine leistungsfähige Form der Kommunikation, die noch nicht sprachlich gewesen sein kann. Es liegt nahe, diese Form der Kommunikation in einer Fähigkeit jedes Menschen zu suchen, auf die wir uns erst beim Versagen jeder gemeinsam bekannten Sprache besinnen: Unsere Mimik, unsere Gestik, unsere Laut-
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malerei und die Fähigkeit, pantomimisch Handlungen und Ereignisse darzustellen. Die These, daß die Gesten eine Art von Ursprache darstellen, ist von 16 Michael C. Corballis erneut zur Diskussion gestellt worden. Diese These ist nicht neu, sie wurde im 17. Jahrhundert von Condillac aufgestellt und in den Jahren nach 1970 von dem Anthropologen Gorden W. Hewes vertreten. Ein erster Beleg dafür, daß die Gestensprache für uns heute lebende Menschen immer noch eine Universalsprache ist, liegt in einer Art Ur-Vertrauen auf die gestische Kommunikation: Wenn ich jemanden treffe, der eine Sprache spricht, die ich nicht spreche oder die ich nicht verstehen kann, dann versuche ich – und zwar ganz ‘selbstverständlich’ – mit ihm mit Hilfe von Gesten zu kommunizieren. Diese Selbstverständlichkeit zeigt unser unbefragtes Vertrauen in diese einfache Weise, um uns verständlich zu machen. Jedermann kennt leibbezogene Gesten, die wir im Alltag verwenden: Jemandem winken, heranzukommen, ihm zeigen, daß er sich setzen soll oder essen soll, ihm bedeuten, daß er eine angebotene Speise essen soll, andeuten, daß ein Kind in meine Arme kommen soll, die Absichten von jemandem mit einer abweisenden Geste zurückweisen usw. Das alles gehört zum universalen Repertoire der leibbezogenen Gesten. Natürlich könnte man hier einwenden, daß auch die Gesten keine universal verständliche Semantik besitzen, man braucht nur an den Unterschied zu denken, den das Schütteln des Kopfes bedeutet: einmal Bejahung, ein anderes 17 Mal Verneinung. Die meisten Gesten sind kulturell geformt. Wenn eine regional unterschiedliche Interpretation einer leiblichen Geste möglich ist, dann zeigt uns das deutlich, daß hier ein konventionell bestimmter Zeichengebrauch vorliegt. Konventionell bestimmte Gesten werden zu Zeichen und wir müssen sie von den ursprünglichen, leibbezogenen Gesten unterscheiden. Jeder von uns weiß, daß man Sprachen und andere Zeichen lernen muß. Auch eine Anleitung zum Gebrauch der ‘ortsüblichen’ Zeichen ist noch gänzlich innerhalb des Gebrauchs von Gesten möglich, die dann aber letztlich auf nicht-kulturgebundene, ursprüngliche und meistens leibbezogene Gesten zurückgehen muß. So zeigt etwa die Gebärde des leiblichen ‘Wegschiebens’ 16 17
Vgl. M.C. Corballis: 7KH JHVWXUDO 2ULJLQV RI /DQJXDJH, in: American Scientist 87, 2 (1999), 138-145. Vgl. zur Beschreibung und zur regionalen Verbreitung dieses sogenannten ‘sizilianischen Nein’ Eibl-Eibesfeldt, a.a.O., 667f., und zu Mimik, Gestik, Haltungen und Fortbewegungsweisen, die Ausdruckcharakter haben, ebd., 604-677.
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deutlich, daß ich etwas nicht will, die des ‘Herbeiziehens’, daß ich es haben will. Wenn ich beides noch verstärken will, dann werde ich die Mimik der ‘Freude’ und des ‘Leides’ noch mit hinzuziehen. Wir können außerdem die Bedeutung von Gesten durch Handeln und Pantomimik, d.h. durch pantomimisches Vormachen einer Handlung einführen. Dabei verwenden wir ebenfalls Gesten, die anzeigen sollen: ‘Aufgepaßt, jetzt erkläre ich dir die Sache’, und eine andere Geste, die zeigen soll: ‘Jetzt hast Du es richtig verstanden’. Natürlich können wir in einer ursprünglichen Gestensprache am besten über Dinge sprechen, die unser leibliches Handeln und unseren Leib unmittelbar betreffen. Es geht um die Absicht zu Handeln, um das Erleiden einer Handlung durch andere, sowie um Freude, Trauer, menschliche Beziehungen usw. Wir spielen ebenfalls mimisch und pantomimisch vor, was wir leiblich empfinden: Freude, Hunger, Staunen etc. Ein Bedenken betrifft die Leistungsfähigkeit der ursprünglichen Gestensprache. Dieses Bedenken trifft allerdings nicht die heute weit verbreiteten hochartifiziellen und zeichenorientierten Formen der Gebärden- oder Gestensprache wie z.B. die American Sign Language (ASL) und ebensowenig andere normierte Gestensprachen. Sie sind Sprachen wie andere Sprachen mit derselben Leistungsfähigkeit. So gibt es heute Universitäten mit allen Fächern, an denen ausschließlich in der Gestensprache unterrichtet wird. Wie steht es aber mit der Leistungsfähigkeit der ursprünglichen Gestensprache? Insbesondere stellt sich die Frage, wie die Kommunikation über Ereignisse in der Zukunft und in der Vergangenheit möglich ist. Es betrifft ebenfalls die Vermittlung von ‘Wenn-dann’ Zusammenhängen, aber auch hierfür gibt es Lösungen. In der Pantomimischen Erläuterung wird auch die Zeitfolge von Ereignissen ausgedrückt: Wenn ich jemanden ‘sagen’ will, wie ich auf eine bestimmte Handlung von ihm reagieren werde, dann spiele ich ihm dies mit 18 ‘Händen und Füßen’ vor. Der Rückgang auf Gebärden, Mimik und Gesten könnte auch als ein ‘Rückfall’ auf eine niedrigere Stufe der Verständigung verstanden werden. Es gibt jedoch gewichtige Gründe, warum man diese Wertung nicht mitmachen sollte. Gesten sind eine fundamentale, eventuell sogar die grundlegende Form 18
Zu unserem mimischen Repertoire gehört ein Ausdruck, der sagen soll: Ich tue jetzt nur so, als ob ich wirklich handele. Man spricht hierbei von dem Mund-offenGesicht oder auch ‘Spielgesicht‘, das es auch bei Schimpansen gibt. Jede Pantomime ist von einem solchen Spielgesicht begleitet. Vgl. zum Spielgesicht EiblEibesfeldt, a.a.O., 190-194, und die dort angegebenen weiteren Quellen.
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der Kommunikation. Das scheint eine gewagte These zu sein, sie wird bekanntlich aber von einigen Sprachforschern vertreten und sie hat unter dem Gesichtspunkt der evolutionären Entwicklung der Sprache eine Reihe von systematischen Vorzügen. Einer der Vorzüge der Gestensprache und der Pantomimik ist, daß sie ganz zwanglos eine grundlegende Syntax und Semantik zu bieten hat. Damit gemeint ist, daß wir bei sprachlichen Mitteilungen oder anderen Elementen der Kommunikation wissen müssen, wer das handelnde oder leidende Subjekt ist und in welcher Beziehung es zu einem anderen Objekt steht. Unsere Verben gehören zu einer Teilklasse der sprachlichen Elemente, die Handeln oder Leiden ausdrücken. Das Wer und Wie des Handelns oder Leidens wird durch eine weitere Klasse von sprachlichen Elementen, nämlich durch Substantiva ausgedrückt. Beides läßt sich in einer Gestensprache ebenfalls ausdrücken. Indem ich eine meiner Hände durch zeigenden Hinweis auf das richte, was sie bezeichnen soll, z.B. mich selbst, und die andere auf das, was dieser ersten Person geschieht oder was diese erste Person der zweiten antut, ist das Problem der Syntax, wer wie mit wem handelt, gelöst. Die semantische Deutung, d.h. die Klärung der Bedeutung von Gesten, wird durch Zeigen auf den gemeinten Gegenstand geleistet. Zusammenfassend kann man festhalten, daß es vor aller Sprache und unabhängig von aller Kultur, die an Sprache gebunden ist, anthropologische Gemeinsamkeiten gibt, die ein gegenseitiges Verstehen ermöglichen. Phänomenologie, Ethologie und Neurophysiologie geben uns Hinweise darauf, daß es elementare Methoden des Verstehens und Sich-Verständigens gibt, die allein an die gemeinsame biologische Ausstattung gebunden sind. Hier sind vor allem das Verstehen des Sinnes von leiblichen Bewegungen und leiblichem Ausdruck zu nennen, aber auch die Möglichkeit, sich mimisch, pantomimisch und mit ursprünglichen Gesten verständlich zu machen. Unbeachtete biologische Identitäten vor aller Sprache und vor aller Kultur sind demnach eine wichtige Grundlage des Verstehens anderer Personen und anderer Kulturen.
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=XU-DQXVN|SILJNHLWKHXWLJHU*OREDOLVLHUXQJ The term “globalisation” covers a wide range of promising possibilities, but simultaneously evokes global perilous aspects. Primarily, globalisation is the result of a capitalist, scientific and economic network. The reality of neoliberal economy of today's globalisation divides society into two camps, the one making profit on a global market as a matter of priority, and the other one ignoring the aspect of values. Capitalism needs clarification, and it needs to regain consciousness of it's self-interest in the sense of balance. Along that lines, Kofi Annan suggests an intermediating pact between economy, social interests and politics. Far earlier Ghandi condemned “wealth without work” and “business without moral issues” as being mortal sins of humanity. If this is adhered to, the handicaps and dangers of globalisation could be minimized. The purpose of a required intercultural agreement is, to cope with the challenges of globalisation so that humanity and justice are reached. Die Globalisierung enthält vielversprechende Möglichkeiten, aber auch globale Gefahren. Sie ist aus der Technologie, der Industrialisierung im Gefolge der angewandten Naturwissenschaften entstanden. Der Begriff Globalisierung läßt sich kurz definieren durch die Merkmale und Intensivierung ökonomischer, sozialer, technologischer und kultureller Faktoren. In erster Linie ist die heutige Globalisierung durch die kapitalistische, naturwissenschaftliche, ökonomische Vernetzung gekennzeichnet. Die neoliberale marktwirtschaftliche Realität der derzeitigen Globalisierung teilt die Person, indem sie hauptsächlich die Profitgesetzte des globalisierten Marktes auf Kosten der Werte betont. Der Kapitalismus bedarf einer Aufklärung und einer Besinnnung auf das Eigeninteresse, daß Egoismus und Altruismus im Sinne eines Ausgleichs zusammenghören. Kofi Anan schlägt daher einen Pakt zwischen Ökonomie, Sozialinteressen und Politik vor. Für Gandhi waren z.B. „Reichtum ohne Arbeit“ und „Geschäfte ohne Moral“ Todsünden der Menschheit. Wenn man dies bedenkt, könnten die Nachteile und Gefahren der Globalisierung minimiert werden. Das Erfordernis einer interkulturellen Verständigung hat den Zweck, mit den Herausforderungen der Globalisierung möglichst human und gerecht fertig zu werden.
In ihren vielfältigen Theorien und Modellvorstellungen haben die Menschen ihre Probleme schon längst gelöst. Einheitsvorstellungen hegten die Menschen immer, ob in den Kultur- oder Naturwissenschaften. Globalisierung ist immer Globalisierung von etwas, und auf dieses Etwas kommt es an, wenn wir hier vom Nutzen und Nachteil, von der Janusköpfigkeit der heutigen Globalisierung sprechen.
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Die Tendenz zur Globalisierung ist uralt. Eine Globalisierung unterschiedlichen Grades hat es seit Menschen Gedenken gegeben. Die heutige moderne europäische Globalisierung zeichnet sich durch einige Merkmale aus, die es in diesem Sinne und in diesem Ausmaß bisher nicht gegeben hat. Diese Merkmale sind großartig – sowohl im Guten als auch im Schlechten. So ist global die Menschenrechtsdiskussion angestoßen worden. Leider hat sich auch die Drogenszene globalisiert. Die Globalisierung ist nicht per se von Nachteil oder von Übel; sie enthält auch vielversprechende Möglichkeiten, aber auch globale Gefahren. Es gilt, zwischen der Euphorie und der Angst die goldene Mitte zu suchen. Interkulturalität als neues Paradigma könnte die Nachteile der Globalisierung lindern helfen. Vieles hängt von dem Faktor „Mensch“ ab, ob es gelingt, das, was ist, daraufhin zu gestalten, was sein soll. Die Sachlage wird komplizierter, wenn man bedenkt, daß selbst die Sollensvorstellungen sehr unterschiedlich sind. Die Geschichte lehrt, daß der menschliche ‘Faktor’, obwohl er nie ganz versagt hat, denn dann wäre auch die Geschichte zu Ende, nie seinen Sollensvorstellungen hat ganz gerecht werden können. Die biotechnologische und gentechnologischen Versuche und Unternehmungen sind die jüngsten Herausforderungen für den menschlichen Geist. Es ist zwar nicht unmöglich, daß der Faktor „Mensch“ die globalen Ströme zum Wohl aller leitet und lenkt, aber es ist unwahrscheinlich, daß er dabei nur Erfolge erzielen wird.
'DV3KlQRPHQGHU*OREDOLVLHUXQJ Das heutige Angesprochensein der Kulturen ist von einer ganz anderen Qualität als das gewesene in der Geschichte der Menschheit. So begegnen sich heute Europa und Asien im Geiste einer gegenseitigen Selbst- und Fremddarstellung. Eine sehr lange Zeit hat Europa nicht nur sich selbst interpretiert, sondern ebenso die anderen Kontinente. Auch die Nicht-Europäer interpretieren heute Europa. Dies mag Europa überraschen, aber es ist auch eine Folge des europäischen expansionistischen Geistes und der Globalisierung.
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Die heutige Globalisierung ist ein Kind der Moderne, und diese wiederum ist ein Kind der Technologie, der Industrialisierung im Gefolge der angewandten Naturwissenschaften. Die Moderne ist zu einer Form der weltumfassenden Interdependenzen, des weltweiten Kapitalmarktes geworden. Zugleich hat sich jedoch die Ideologie des Nationalstaates erhalten, was ein europäisches Relikt ist. Die Globalisierung an sich ist nicht nur etwas Europäisches. Andere Formen der Globalisierung hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Der Begriff der Globalisierung läßt sich kurz definieren durch die Merkmale weltweiter Verbreitung und Intensivierung ökonomischer, sozialer, technologischer, kultureller und medizinischer Faktoren. Globalisierung ist eine neue, moderne Form der großen Erzählungen. Wem ist ein Primat einzuräumen, dem Weltmarkt oder der Politik? Diese zentrale Frage muß beantwortet werden, wenn man den Herausforderungen begegnen will. Das eigentliche Subjekt der Globalisierung ist eher anonym, und wir Menschen sind beinahe Handlanger dieser Anonymität geworden. Mancherorts fragt man besorgt, ob der Mensch die heutige Globalisierung überhaupt verantworten kann. Wieviel Globalisierung ist zu verkraften? Nach einer Globalisierung 1 mit menschlichem Antlitz wird gerufen, und das zu Recht. Die Verbreitung auf den Gebieten Information, Technologie und Ökonomie bilden das Wesen der modernen Globalisierung. Auf anderen Gebieten wie z.B. Solidarität, Gerechtigkeit, Ethik usw. ist die Verbreitung eher uneinheitlich und unbefriedigend. Buthros Ghali, der frühere Generalsekretär der UNO, hat unterschiedliche Globalisierungen benannt und ihnen zugleich eine Reihenfolge gegeben: Es gibt nicht nur eine, sondern viele Globalisierungen, etwa die der Information, die der Drogen, der Seuchen, der Umwelt und natürlich und vor allem der Fi2 nanzen.
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Vgl. H. Beck: 'HUGULWWH:HJLVWGDV=LHO, in: SZ, 22.12.1998, S. 13. Zit. nach: H.-P. Martin/H. Schumann: 'LH*OREDOLVLHUXQJVIDOOH, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 254.
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*OREDOLVLHUXQJVIRUPHQLQGHU*HVFKLFKWHGHU0HQVFKKHLW Die europäische Moderne weist mehrere Stufen auf und trägt unterschiedliche Gewänder. Die Moderne ist kein statisches Phänomen. Auch sie unterliegt mehr oder minder dem Inkulturationsprozeß. Die japanische Moderne ist unverkennbar die Moderne, zugleich jedoch unverwechselbar japanisch. Im Gegensatz zu vielen anderen Kulturen, die von der Schwemme der amerikanischen Filme und anderen Erscheinungen überrannt werden, gibt es in Indien (Bollywood) eine Filmkultur, die im Ganzen ein unverwechselbares indisches Gesicht trägt. Es geht mit anderen Worten weniger um einen „Kampf der Kulturen“ als vielmehr um einen Widerstreit der Temperamente. Befreit man sich von der Kurzatmigkeit und Enge und stellt die Globalisierungsformen in eine allumfassende Geschichte der Menschheit und der Zeit (falls es sie gibt), so kann man Globalisierungsphänomene als Trend der Zeit bezeichnen. Und solche Trends hat es seit Menschengedenken gegeben. Einige Globalisierungsformen seien hier kurz erwähnt. 1. Die Globalisierung der indischen Erfindung der Null und des Dezimalsystems, die ihren Weg über Persien, Arabien nach Europa nahm. Unsere heutige weltumfassende Zahlschrift ist ein weiterer Beleg der Globalisierung einer indischen Erfindung. Das Schachspiel, das in Indien entstand, ist heute ein Welteigentum. 2. Die chinesische und indische Entdeckung der Teepflanze und die Gewohnheit des Teetrinkens, die sich in allen Ländern ausgebreitet haben, sind wietere Beispiele der Globalisierung. Ein wenig plakativ ausgedrückt besitzen „Teeisierung“ und „Mcdonalisierung“ doch eine gewisse „Familienähnlichkeit“. 3. Die chinesische Entdeckung des Schießpulvers, des Papiers, der Druckkunst und des Kompasses hat sich kontinuierlich weiter entwickelt und ausgebreitet bis zu den heutigen Waffensystemen. Adorno sieht zu Recht eine Kontinuität von der Steinschleuder zur Megabombe. 4. Ferner gibt es ideologisch motivierte und vom Wunschdenken geleitete Vorstellungen, die auf eine Globalisierung hofften oder noch hoffen. Dazu gehören der Weltkommunismus, Weltislam, Weltbuddhismus, Weltfrieden u.a. Die heutige Globalisierung ist in erster Linie durch die kapitalistische, marktwirtschaftliche, ökonomische Vernetzung gekennzeichnet. Ihre Akteure werden als JOREDO SOD\HUVbezeichnet. Sie setzt sich zumindest im Sinne der
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technologischen Formation über alle religiösen, kulturellen und traditionellen Unterschiede hinweg, ohne diese zum Verschwinden zu bringen. Die heutige Globalisierung ist auch eine politische und ethische Kategorie. Die weltweite Diskussion um die Menschenrechte und die Verpflichtung, sie zu verteidigen, belegt dies, trotz der unterschiedlichen Auffassung und selektiven Wahrnehmung. Im Vergleich zu den Globalisierungsformen in der Geschichte ist die moderne Globalisierung weder die der reisenden Händler noch bloß kolonialistisch, imperialistisch, sondern eher verführerisch und manipulativ, indem sie Anlagen und Schwächen in der menschlichen Natur anspricht und bereits vor jedem kritischen Nachdenken zu wirken beginnt. Die eigentliche Stärke der kapitalistischen und technologischen Globalisierung besteht nicht in einer bestimmten Ideologie, die sie nicht hat, sondern eher in der gemischten menschlichen Natur, die nie frei gewesen ist und nie frei sein wird von Egoismen.
(WKLNXQGGLHKHXWLJH*OREDOLVLHUXQJ Eine einigermaßen befriedigende Antwort auf die Frage nach einer holistischen Identität der Person muß neben der Vernunft, dem Verstand und der wirtschaftlichen Rationalität auch die Faktoren in Betracht ziehen, die Namen wie Sehnsucht nach Frieden, Solidarität, Harmonie, Muße, Freundschaft, Wohlwollen, Opferbereitschaft u.a. tragen. Die neoliberale marktwirtschaftliche Rationalität der heutigen Globalisierung teilt die Person, das Individuum, indem sie hauptsächlich den Profitaspekt des globalisierten Marktes auf Kosten der Werte betont. Nicht der ganze Mensch vermag sich einzubringen. Dazu erlebt er noch einen gesteigerten Konsumerismus. Die so vernachlässigten Werte unserer ganzheitlichen Identität melden sich in Form von Unruhe, Unzufriedenheit, Leere, Gewissensbissen, Lücken usw. und verlangen ihr Recht. Verlangt wird eine Globalisierung nicht gegen die Solidarität, sondern mit ihr. Auch die ganz großen Entwürfe, Erzählungen, ob sie ideologisch ganz rechts oder links angesiedelt waren, haben die verschiedenen Faktoren der Anthropologie nicht in Betracht gezogen. Wo kommt die ethisch-moralische Dimension her? Geht das Kapital bereits mit den selbstdisziplinierenden, selbstzivilisierenden und moralisierenden Kräften einher oder nicht? Fest steht, das Kapital eröffnet auf dem glo-
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balisierten Markt Macht und ungeheure Möglichkeiten. Ob Macht an sich böse ist, darüber streitet man seit Menschengedenken. Daß Macht korrumpiert und korrumpiert hat, lehrt uns die lange leidvolle Geschichte der Menschheit. Daher ist ein sehr behutsamer Umgang mit der Macht vonnöten. Die Macht des heutigen Kapitals bringt eine große Verantwortung mit sich; denn die globale Marktwirtschaft ist heute ein Faktum, und sie muß sehen, auch im eigenen aufgeklärten Selbstinteresse, daß die drei Bereiche: Ökonomie, das Soziale und das Politische nicht zu weit auseinander driften, weil dann die JOREDOSOD\HUV selbst Schaden nehmen. Die Globalisierung der Wirtschaft entzieht sich nolens volens der gesellschaftlichen Kontrolle und operiert weltweit nach dem Grundsatz der Profitmaximierung, was mit sich bringt, daß Billiglohnländer immer wieder geortet und benutzt werden. Dies führt dazu, daß Solidarität – ob auf nationaler oder internationaler Ebene – auf der Strecke bleibt. Ein Nebeneffekt ist, daß das Kapital RUWKDIWRUWORV geworden ist, und es verfährt nach dem Motto: Kapitalisten aller Länder vereinigt euch! Der globalisierte freie marktwirtschaftliche Kapitalismus ist ein mächtiger Faktor, mit dem man zu rechnen hat. Er bestimmt die heutige Szene, und es wäre kurzatmig zu meinen, man könnte ohne ihn oder gegen ihn weitermachen. Um das Ethische zu retten und ihm zur Wirkung zu verhelfen, bieten sich folgende Wege: Der Kapitalismus bedarf einer Aufklärung und der Besinnung auf das Eigeninteresse, daß Egoismus und Altruismus im Sinne eines Ausgleichs zusammengehören. Der globalisierte Kapitalismus soll humanistisch werden. Alle Arbeiterorganisationen – sieht man von den Ideologismen ab – wollten und wollen nicht die Abschaffung, sondern die Humanisierung des Kapitals. „Der Weltmarkt muß humaner werden“ fordert Kofi Annan, der Generalsekretär der UNO, zu Recht und schlägt einen Pakt zwischen Ökonomie, Sozialwesen und Politik vor. 3 Gandhi hat die sieben Todsünden der Menschheit aufgelistet : 1. Reichtum ohne Arbeit 2. Genuß ohne Gewissen 3. Wissen ohne Charakter 4. Geschäft ohne Moral 5. Wissenschaft ohne Menschlichkeit 6. Religion ohne Opfer 3
Vgl. M.K. Gandhi:
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Politik ohne Prinzipien Diese sieben Todsünden könnten einen Weg zur Minimierung der Gefahren und Nachteile der Globalisierung weisen. Sie lesen sich wie ein Pendant zur negativen Theologie für die Gesellschaftswissenschaften. Gandhi ist hier ein humanistischer Sozialist. Er hat die Menschen, die in guten Positionen waren und zur besitzenden Klasse gehörten, immer als Treuhänder des Kapitals gesehen. Aus ethisch-moralischen und aus religiösen Gründen ist er in die Politik gegangen. Eine innere Veränderung, eine Änderung der Gesinnung, des Ethos, ist für die äußere, gesellschaftliche Veränderung unabdingbar.
,QWHUNXOWXUDOLWlWDOVQHXHV3DUDGLJPDXQG*OREDOLVLHUXQJ Das Erfordernis einer interkulturellen Verständigung dient dem Zweck, mit den Herausforderungen der Globalisierung möglichst human und gerecht fertig zu werden. Es gibt eine reine eigene Kultur ebensowenig, wie es eine reine andere Kultur gibt. Die Vernetzungen der Kulturen sind vielschichtig und lassen sich fast endlos in die Vergangenheit zurückverfolgen. Trotz der manchmal unübersehbaren Vieldeutigkeit steht der Begriff Kultur für einen sowohl theoretischen als auch praktischen Orientierungsrahmen. Zur Kultur gehört wesentlich die Gestaltung einer bestimmten, dauerhaften Lebensform in der Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur und mit anderen Kulturen. So wie die Menschenwürde allen Menschen als Menschen zukommt, sind alle Kulturen als Kulturen gleichwertig, obwohl unleugbar Unterschiede bestehen, die uns zwar differenzieren lassen, die aber nicht zu Diskriminierung führen dürfen Zunächst ist die interkulturelle Sicht nicht viel anders als die intrakulturelle Sicht; denn innerhalb der gleichen Kultur gibt es auch unterschiedliche erkenntnistheoretische, ethische und politische Modelle. Die interkulturelle Sicht macht die Palette der Modelle jedoch bunter, reicher und weist unter ihnen grundsätzliche Ähnlichkeiten und erhellende Differenzen auf. Daher wirkt die interkulturelle Sicht befreiend von der Enge der kulturellen Sicht. Leider kann sie jedoch ebenso beängstigend wirken und eine Abwehrreaktion hervorrufen, die, anstelle einer Kooperation, in Konfrontation ausarten kann. Jede Enge hat eine hausgemachte Angst vor dem Fremden zur Folge. Die
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Konzeption einer Interkulturalität, die einer interkulturellen Verständigung zugrunde liegt, möchte ich folgendermaßen darstellen.
:DV,QWHUNXOWXUDOLWlWQLFKWLVW Erstens ist die Interkulturalität nicht der Name einer bestimmten kulturellen Konvention, sei sie europäisch oder nicht-europäisch. Trotz der notwendigen Zentren der unterschiedlichen kulturellen Traditionen ist die Interkulturalität zweitens orthaft, jedoch ortlos. Interkulturalität ist drittens nicht ein Eklektizismus der verschiedenen kulturellen Traditionen, deren Darstellung über die Kulturgeschichte im Sinne einer Buchbinderkunst nebeneinander heute noch zu finden ist. Viertens ist die Interkulturalität auch nicht eine bloße Abstraktion, formal-logisch und per definitionem dingfest gemacht. Sie ist fünftens aber auch nicht eine bloße Reaktion oder Hilfskonstruktion angesichts der de facto pluralistischen Situation in dem heutigen Weltkontext der Kulturen. Die Interkulturalität darf also nicht auf ein bloßes, aus der Not geborenes, politisches Konstrukt reduziert werden. Bei der Interkulturalität geht es sechstens auch nicht um eine Ästhetisierung, um ein schwärmerisch romantisches und exotisch-dilettantisches Interesse für das Außereuropäische. Dafür ist das Anliegen der interkulturellen Verständigung zu ernst. Interkulturalität ist siebtens auch nicht ein Ort der Kompensation, bei dem anderen das zu finden, was einem fehlt. Interkulturalität ist achtens auch kein Ableger der Postmodernität, auch wenn diese jene bejaht und unterstützt. Interkulturalität ist neuntens auch nicht eine transkulturelle Instanz, wenn mit diesem Terminus eine außerhalb/oberhalb der mannigfaltigen Traditionen wie ein Fixstern stehende Instanz gemeint ist. Dies ist einer der Gründe, warum wir die Vorsilbe LQWHU der Vorsilbe WUDQV vorziehen. Ferner ist die Vorsilbe WUDQV philosophisch und theologisch fast überbesetzt und reich belegt. Das Präfix LQWHU weist auf einen beobachtbaren, erlebbaren und sich analogisch fortsetzenden Zwischenraum hin, fast im Sinne der These von der Familienähnlichkeit Wittgensteins. Eine einzige Bedeutung der Vorsilbe WUDQV, die meines Erachtens der interkulturellen Orientierung entspricht und ihr gerecht wird, ist die einer Einstellung, die nicht jenseits und außerhalb der Kulturen zu postieren ist, sondern innerhalb und diese begleitend. Fast von einer Art Familienähnlichkeit könnte man hier sprechen.
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:DV,QWHUNXOWXUDOLWlWLVW Interkulturalität ist erstens der Name einer geistigen, philosophischen Einstellung, die alle kulturellen Prägungen wie ein Schatten begleitet und verhindert, daß diese sich in den absoluten Stand setzen. Methodisch verfährt sie zweitens dabei so, daß sie kein Begriffssystem unnötig privilegiert und auf begriffliche Konkordanz aus ist. So leistet sie einen wesentlichen Beitrag zu einem befreienden Diskurs. Es ist eine hausgemachte Angst zu meinen, Interkulturalität dekonstruiere die Begriffe Wahrheit, Kultur, Religion und Philosophie. Was sie jedoch deutlich werden läßt, ist der extrem relativistische und verabsolutierende Gebrauch, der von diesen Begriffen gemacht worden ist und zum Teil immer noch gemacht wird. Interkulturalität indiziert demnach drittens einen Konflikt, verbunden mit einem Anspruch. Dieser liegt darin begründet, daß die lange vernachlässigten philosophischen Kulturen, die aus Ignoranz, Arroganz und auch wegen diverser außertheoretischer Faktoren mißverstanden und unterdrückt wurden, im heutigen Weltkontext der Kulturen und Philosophien ihre Gleichberechtigung einklagen; Anspruch, weil die nicht-europäischen Philosophien und Kulturen mit ihren je eigenen Fragestellungen Lösungsansätze anbieten wollen. So stellt viertens die Interkulturalität auch einen Emanzipationsprozeß dar, wobei festzuhalten bleibt, daß es hierbei nicht um eine Emanzipation im Sinne der innereuropäischen im Zeitalter der Aufklärung geht, sondern um eine Emanzipation des nicht- und außereuropäischen Denkens von seinen Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende alten, in Europa entstandenen einseitigen Bildern. Interkulturalität ist fünftens dann die Einsicht in die Notwendigkeit, Kulturgeschichte von Grund auf neu zu konzipieren und zu gestalten. Die Universalität der kulturellen Rationalität zeigt sich so in verschiedenen philosophischen Traditionen, transzendiert diese jedoch auch. Bei der Interkulturalität geht es sechstens um die Konzeption einer Philosophie, die das eine Omnipräsente der SKLORVRSKLDSHUHQQLV in vielen Rassen, Kulturen und Sprachen hörbar macht. So wehrt die interkulturelle Philosophie die mächtige Tendenz einiger Philosophien, Kulturen, Religionen und politischen Weltanschauungen ab, sich zu globalisieren. Die Einheitlichkeit der Hardware der europäischen technologischen Formation darf nicht die gesunde Vielfalt der Software der Kulturen einverleiben. ‘Verwestlichung’ ist nicht ohne weiteres
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‘Europäisierung’. Man möchte in diesem Kontext fast von einem ‘Mythos’ der ‘Europäisierung der Menschheit’ sprechen. Interkulturalität plädiert daher siebtens für Einheit ohne Einheitlichkeit. Die Transkulturalität der formalen, technologischen und naturwissenschaftlichen Begriffsapparate darf nicht verwechselt werden mit dem Geist der Interkulturalität. Zum Wesen der Interkulturalität gehört achtens das Kultivieren der Einsicht in die erkenntnistheoretische, methodologische, metaphysische, ethisch-moralische, politische und religiöse Bescheidenheit des je eigenen Zugangs zum regulativen Einen mit vielen Namen. In der Abwesenheit eines allseitig akzeptablen archimedischen Punktes behandelt die Interkulturalität neuntens die verschiedenen Kulturen als zwar unterschiedliche, aber nicht radikal unterschiedliche Wegweiser zur wahren Kultur. Interkulturalität kennt eine fünffache Perspektive: eine philosophische, eine theologische, eine politische, eine intertextuelle und eine pädagogische. Unter philosophischer Optik bedeutet interkulturelle Philosophie, daß es falsch ist, die philosophische Wahrheit exklusiv durch eine bestimmte Tradition und eine bestimmte Tradition durch philosophische Wahrheit definieren zu wollen. Unter religiöser Optik ist die Interreligiosität ein anderer Name der Interkulturalität. Auch die eine UHOLJLRSHUHQQLV (Sanâtana dharma) trägt unterschiedliche theologische Gewänder. Interreligiosität ist selbst nicht eine Religion, der man angehören kann. Sie ist eine Haltung, die uns offen und tolerant macht. Ferner hilft sie uns, standhaft gegen Versuchungen des Fundamentalismus zu sein. Unter der politischen Optik ist die Interkulturalität ein anderer Name für eine pluralistisch-demokratische, republikanische Überzeugung, die auch die politische Wahrheit keiner Gruppe, Klasse, Partei allein zubilligt. Intertextualität ist der Name einer kulturenübergreifenden weltliterarischen Haltung, die die Software der kulturellen Vielfalt in unterschiedlichen Sprachen zum Ausdruck kommen läßt. Die pädagogische Perspektive, in einer Hinsicht sogar die wichtigste, ist der praktische Versuch, die Einsichten und Ansichten der drei anderen Perspektiven in Familie und Gesellschaft, von den Kindergärten bis zur Universität im Denken und Handeln zu lernen und lehren. Nur so kann man gegen die Fundamentalismen auf jedwedem Gebiet wirken; denn sobald diese die praktisch-politische Bühne beherrschen, kommt jede Pädagogik zu spät.
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)D]LW Die Chancen und Risiken heutiger Globalisierung sind gleichermaßen global, und vieles, wenn nicht gar alles, hängt von dem Faktor Mensch ab, ob die humanen Werte wie Toleranz, Respekt, Anerkennung, Offenheit, Solidarität, Menschenrechte, Gewaltlosigkeit sich durchsetzen. Im Geiste der Lehre Mahatma Gandhis und der aller ethisch-moralischen Gesinnungen gilt es, die Verhältnisse, wie sie sind, darauf hin zu gestalten, wie sie sein sollen. Das Paradigmatische der Interkulturalität besteht darin, dass es uns sensibilisiert für die grundsätzlichen Gemeinsamkeiten und erhellenden Differenzen unter der Kulturen, Religionen, Philosophien und diversen Weltanschauungen Eine solche Sensibilisierung befähigt uns ferner, die Einheit nicht als Einheitlichkeit (Einförmigkeit) und Differenz nicht als Unverbindlichkeit zu verstehen. Eine der größten Herausforderungen heutiger Globalisierung ist die Spannung zwischen Globalisierung und Lokalisierung. Sie müssen, soweit möglich, friedlich vermittelt und nicht gewaltsam reduktiv traktiert werden. Auch wenn es so aussieht, dass der westlich-amerikanische Weg sich unaufhaltsam heute durchsetzt und eine Globalisierung, d.h. Homogenisierung der Kulturen zur Folge hat, sind die Kräfte der Solidarität und der Gewaltlosigkeit, die zwar in der Menschheitsgeschichte nicht immer sehr wirksam, aber auch nicht bar jeder Wirkung gewesen sind, nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Die Zunahme der NGOs und anderer nicht-stattlicher Organisationen belegt dies. Es ist zwar richtig, dass die heutige Globalisierung eine Art von Fernwirkung kennt, die ebenso unpersönlich wie mächtig und allgegenwärtig ist. In einer solchen Situation ist es freilich schwer, eine Gesinnungs- und Herzensänderung mit einer Spiritualität zu kultivieren, die unbedingt nötig sind. Die schicksalhafte Frage ist daher: Welche Transformation die uralten ethischmoralischen und humanen Ideale heute durchlaufen müssen, um mit der modernen technologischen Formation fertig zu werden. Eine Antwort auf diese Frage vermittelt zwischen den verfeindeten Lagern der Befürworter und Kri4 tiker der Globalisierung. Nur eine Vermittlung mit menschlichem Antlitz kann den Stachel der Globalisierung weniger spürbar machen. 4
:RUOG2UGHUV2OGDQG1HZ London 1997, in: W. Hutton/A. 2QWKH(GJH/LYLQJZLWK*OREDO&DSLWDOLVP, London 2000.
Vgl. N. Chomsky: Giddens (Hrsg.):
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.XQVWDOV2UWIUGLH.XOWXUEHJHJQXQJKHXWH Oder über das „Schöne“ und die „Sterblichkeit“ des Menschen From a perspective of encounter, art is a place of cultural events mutually influencing each other. Twentieth century art looses certain constraints for a more fluid cultural network. Art, earlier understood as “beaux arts” lost more and more of it’s common validity. Being confronted with the century’s experience of death and mortality, “ugliness” became increasingly important in European art, as reflected, for example, in the philosophy of aesthetics of Theodor W. Adorno. Comparing this crucial moment in European art with Asia, a concept of ugliness can already be found during the period of 14th century Japan under the influence of buddhism. Insightful for this view on aesthetics is also Baudelaire for whom the classical dichotomy between good and evil changed significantly, discovering an attractive quality in seeing evil aesthetically. In conclusion, basic for every cultural world, and so for art, is the accumulation of the past or “tradition”, including its billions of deaths whose remembrance is part of it. Die Kunst als Ort der Kulturbegegnung ist als ein Geschehen zu verstehen, in dem die eine Seite die andere ändert. In der Kunstbewegung des 20. Jahrhunderts ist immer weniger kulturgebunden, da der Kunstbetrieb ein Netzwerk ist. Die Vorstellung von der Kunst als „beaux arts“ wurde dabei immer mehr verworfen. Der Sterblichkeitserfahrung des Menschen kommt dabei eine hohe Stellung zu. Das Häßliche ist letztlich mit der Sterblichkeit des Menschen verbunden. Die Kategorie des Häßlichen als eine unentbehrliches Element der Kunst wurde in der europäischen Ästhetik erst von Theodor. W. Adorno behandelt. Hingegen läßt sich die Auffassung des ÄsthetischHäßlichen in Japan unter dem Enfluß des Buddhismus bereits für das 14. Jahrhundert nachweisen. Die klassisch-dichotomische Ansicht über das Verhältnis von Gut und Böse nahm ihren Wendepunkt mit Baudelaires, der das Böse in ästhetischer Hinsicht als attraktiv empfand. Jeder Kulturwelt liegt die Anhäufung des gewesenen Welt der Toten zugrunde, welche mit dem Begriff „Tradition“ bezeichnet wird.
Wenn der Titel meines Vortrags als eine These verstanden wird: Kunst sei ein Ort für die Kulturbegegnung heute, so ist diese These zunächst wohl jedem verständlich, sogar banal. Denn jeder kann erleben, daß ein gemaltes Bild aus einem anderen Kulturkreis oder in einem anderen, weit vergangenen Zeitalter, trotz aller Fremdheit irgendwie bewundert werden kann. Dasselbe geschieht auch mit der Musik, die man ohne Kenntnisse der Kultur ihres Entstehungsortes genießen kann. Bei einem Theaterstück, das eine fremde Welt
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darstellt und in einer fremden Sprache aufgeführt wird, kann man ebenfalls eine andere Kultur an den Gebärden, den Kostümen, ja sogar und eben auch an der sonst unverständlichen, fremden Sprache erkennen. Gerade dadurch, daß ein Kunstwerk als fremd empfunden wird, erweckt es eine Neugier oder ein Interesse, was auch als eine „Kulturbegegnung“ bezeichnet werden kann. Also ist die Kunst ein Ort für die Kulturbegegnung. Mit der Feststellung dieser selbstverständlichen und banalen These kann mein Vortrag gleich am Anfang schon beendet werden. Aber ich habe noch eine halbe Stunde Redezeit. Außerdem ergibt sich oft, daß ein jedem EHNDQQWHV Selbstverständliches noch gar nicht HUNDQQW ist und sich als Fragwürdiges ergibt. Man erinnere sich an Augustinus, der bei seiner Frage nach der „Zeit“ gesteht, die Zeit sei ihm bekannt, solange niemand ihn danach frage, sobald ihn aber jemand frage, was die Zeit sei, wisse er es nicht zu erklären. In der Selbstverständlichkeit der oben aufgeführten „These“ sind ebenfalls einige Fragen versteckt. Was heißt denn „Kulturbegegnung“? Wenn ein Bild mit der Darstellung einer fremden Landschaft oder Tracht beim Beobachter ein Interesse weckt und dies als Kulturbegegnung bezeichnet wird, so ist zu bedenken, inwieweit dieses Wort eigens notwendig ist für so ein banales Phänomen. Denn dieses Wort hat hier kaum einen sachlichen Inhalt. Unter „Begegnung“ wird im folgenden ein Geschehen verstanden, in dem die eine Seite die andere ändert, mitbildet und als „ihr eigenes Anderes“ erkennt. Wenn unter der „Begegnung“ ein solches Geschehen verstanden wird, dann ist die Kulturbegegnung QLFKWV +DUPORVHV. Sie kann unter Umständen eine Auseinandersetzung auf Leben und Tod implizieren. So war es zumindest der Fall in einigen Ländern und Völkern, die sich mit der „Europäisierung“ als Begleitphänomen der Modernisierung konfrontieren mußten. Dies wiederholt sich heute im globalen Ausmaß angesichts der „Amerikanisierung“ als Begleitphänomen der Globalisierung. Hier ist weiter zu fragen, in welchem Sinne die Kunst, und was für eine Kunst, der Ort für eine Kulturbegegnung als Geschehnis im obigen Sinne sein kann. Das kleine Wörtchen „heute“ im Vortragstitel scheint diese Frage komplexer zu machen. Denn es ist heute gar nicht mehr einfach zu sagen, was die Kunst ist und inwieweit die heutige Kunst als kulturgebunden aufgefaßt werden kann. In den Kunstbewegungen wie Fauvismus, Futurismus, Dadaismus, Surrealismus usw., die in den ersten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts nacheinander auftraten, ist die kulturelle Bindung immer weniger zu erkennen. In den abstrakt-expressionistischen Kunstbewegungen nach dem Zwei-
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ten Weltkrieg, die meistens von Amerika ausgingen und in denen sich die moderne Industriegesellschaft in verschiedener Weise spiegelt, zeigt sich die genannte Tendenz noch ausdrücklicher. Das ist sicherlich eine Folge des wesentlichen Charakters der Industriegesellschaft, die sich über alle kulturelle Unterschiede hinweg in gleicher Form, nur auf Grund des Marktprinzips entwickelt. Die Riesenanlage für die Massenproduktion kann vom kulturellen Boden absehen. Der Kunstbetrieb wird dieser ,QGXVWULHJHVHOOVFKDIW überlassen. Hierdurch entsteht die Tendenz, daß gegenwärtig kein Kunstexperiment in sich isoliert bleibt. Ein Weltnetz des Kunstbetriebs herrscht auf der ganzen Erde; damit wird die Kulturgebundenheit der Kunst immer schwächer. Die Frage ist also zu wiederholen, was für eine Kunst heute als der Ort für die Kulturbegegnung gilt. Wenn es sich dabei um die lXHUOLFKH Seinsweise der Kunst handeln soll, so könnte nur gesagt werden, daß es in der Gegenwart kaum eine solche Kunst gibt. Jedoch auch in der oft vom Kunstbetrieb bestimmten, kommerzialisierten Kunstwelt, oder gerade in ihr, muß es Kunstwerke geben, die uns bewegen. Was diesen zugrunde liegt und diese jeweils DOV Kunstwerke sein läßt, ist es, worum es hier geht. Es läßt sich, wie im folgenden erörtert wird, als die jeweilige Erfahrung des Schönen XQG der Sterblichkeit des Menschen bezeichnen. Diese These hat sicherlich für Viele einen ungewöhnlichen Klang. Jedenfalls erscheint es heute allzu verwegen, eine solche „Definition“ der Kunst zu wagen. In der neueren Kunstgeschichte wurde in der Tat der Boden für die überlieferte Kunst in der Weise immer wieder von neuen Ausbrüchen erschüttert, daß seit einem Jahrhundert sogar der Begriff „Kunst“ in Frage gestellt werden mußte. Was dabei am meisten angegriffen wurde, ist die Idee der Künste als „beaux arts“, somit die Idee des „Schönen“ als des fundamentalen Elementes der Kunst. Erinnert man sich an die „Anti-Kunst“- Tendenz der Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg, die Bewegungen wie den abstrakten Expressionismus, Neo-Dadaismus, Pop Art, Minimal Art, Conceptual Art usw. vertraten, so liegt es nahe, daß das Schöne aus der Kunst beinahe ausgetrieben wurde. Die Bestimmung der Kunst als Ausdruck für die Erfahrung des Schönen scheint dieser Grundtendenz der modernen Kunst zu widersprechen. Aber gerade durch diese Austreibung des Schönen aus der Kunst kehrt die Frage nach dem Schönen in der Kunst wieder. Denn es ist nicht klar, wo denn dem Schönen der Platz zugeteilt werden soll, wenn es aus der Kunst ausgetrieben wird. Die Kunst kann von dieser Frage absehen, aber die Frage
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schlägt unversehens in die Frage nach der Kunst selbst um, wohin diese gehe. Die Kunst konnte zwar die Idee des Schönen, aber noch nicht den Schatten dieser Idee verbannen, weil sie diese Wohin-Frage nicht bewältigt hat. Wie ist es aber mit der Sterblichkeitserfahrung des Menschen, die neben dem Schönen der Kunst zugesprochen wurde? Gilt dies nicht höchstens von der Höhlenmalerei in der uralten Zeit, in der die ohnmächtigen Menschen wegen ihres Unwissens ungeschützt den Härten ihrer Umgebung ausgesetzt waren? Aber die Sterblichkeit ist ein anderer Name für die Endlichkeit des Menschen, die alle seine Tätigkeiten begleitet und von der der Mensch sich nie befreien kann. Je mehr der Mensch seine Endlichkeit durch seine Tätigkeit beheben will, desto ausdrücklicher kommt sie in den Vordergrund. Sie ist das Schattenbild der Sterblichkeit des Menschen, das jeden seiner Schritte begleitet. Der Mensch kann seine Sterblichkeit höchstens vergessen, aber gerade diese Vergessenheit ist eine Erscheinungsweise seiner Sterblichkeit. Die künstlerische Schöpfung als Tätigkeit des Menschen im ausgezeichneten Sinne muß so nicht nur die Erfahrung des Schönen, sondern auch die Erfahrung der Sterblichkeit in sich enthalten.
Mit dieser Einsicht wird der Ansatzpunkt zur Betrachtung des Vortragsthemas zwar gegeben, aber noch nicht genügend beleuchtet. Denn das kursiv geschriebene Wort „und“, d.h. die Zusammengehörigkeit von Schönem XQG dem Tod, ist noch nicht geklärt. Die Klärung dieser Zusammengehörigkeit wird dazu helfen, die Kunst in ihrer Wesensnatur so aufzufassen, daß in ihr der Ort für die Kulturbegegnung entdeckt wird. So sind zuerst einige ästhetische Gedanken und kunstgeschichtliche Vorgänge heranzuziehen. Es ist ein halbes Jahrhundert her, daß Hans Sedlmayr vom „Tod der Ikonologie“ sprach, weil in der neueren Kunst die ikonologische Interpretation, 1 wie er sie verstand, kaum mehr Platz hat. Vor einem Altarbild mit der heiligen Mutter und dem Sohn Gottes z.B. wird eine ikonologische Analyse benötigt, um diese Figuren und deren geschichtlich-kulturelle Bedeutung zu erklären. Wenn aber anstelle der heiligen Mutter und des Sohnes Gottes einfach
1
H. Sedlmayr: 9HUOXVWGHU0LWWH, Salzburg 1948, 88 ff.
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eine junge Frau und ein Knabe dargestellt werden, dann hat die Ikonologie keine Funktion mehr. In den Augen Sedlmayrs war dieser Tod einfach zu bedauern, den er auch als „Tod des Lichts“ beschrieben hat. Das von ihm gemeinte Licht ist der VSOHQGRU, die Herrlichkeit Gottes. Der Tod dieses Lichts ist dann der „Verlust der Mitte“, da die gemeinte Mitte der Platz Gottes ist. Er verschwand in den Augen Sedlmayrs infolge der Säkularisierung. Sedlmayr fragte dabei nicht, ZRKHU dieser Verlust kommt und ZLHVR der Mensch in seiner allgemeinen Tendenz das andere Licht, die helle Beleuchtung in der nächtlichen Großstädten, mag. Er war zu sehr betroffen, als daß er hätte fragen können, ZHOFKH Erfahrung des Schönen XQG der Sterblichkeit des Menschen sich in diesem Zeitphänomen zeigt. Ein neuerer, aber inzwischen längst klassisch gewordener und viel zitierter Beleg für das Zeitphänomen, das Sedlmayr verurteilte, jetzt aber in einer anderen Sicht, ist das von Marcel Duchamp 1917 in einer Ausstellung unter dem Titel „Fountain“ ausgestellte Pissoir. Man weiß heute, daß das Ausstellungskomitee das Pissoir nicht als „Kunstwerk“ erkennen konnte, bzw. anerkennen wollte, so daß das Pissoir hinter einem Vorhang in der Ausstellungshalle versteckt wurde. Duchamp trat darauf aus Protest sofort als Komiteemitglied zurück. Das Komitee hatte insofern Recht, das Pissoir aus dem Ausstellungsraum zu verbannen, als es von der konventionellen Kunstvorstellung ausging: von dem durch künstlerische Fertigkeit bearbeiteten Kunstschönen. Das Komitee bemerkte allerdings nicht, daß das DXVJHVWHOOWH Pissoir nicht mehr ein DOOWlJOLFKHV Pissoir zum Zweck des alltäglichen Gebrauchs ist. Das Komitee sah noch weniger, daß, indem dieses alltägliche Gebrauchsding eigens als ein „Werk“ DXVJHVWHOOWZLUG, der Sinn des Kunstwerkes in Frage gestellt wird. Am wenigsten begriff das Komitee, daß mit diesem Pissoir das Alltagsleben überhaupt DXVJHVWHOOW somit DOV das Alltagsleben in Frage gestellt wird. Der erste Weltkrieg hatte diese Frage schon herbeigeführt. Wenn man will, kann man also an diesem DXVJHVWHOOWHQ Pissoir einen Verweis auf die Nichtalltäglichkeit des Alltagslebens, somit auch eine bestimmte Erfahrung der Sterblichkeit finden. Die Identifikation dieses ausgestellten Pissoir als „Kunstwerk“ war zwar fragwürdig, aber diese Fragwürdigkeit war eben die, die das Kunstwerk überhaupt mit sich zu bringen begann. Die Identifikation des Kunstwerkes ist inzwischen zu einer unentbehrlichen Voraussetzung der modernen Kunstbetrachtung geworden. Um wiederum nur ein typisches Beispiel anzugeben, so ließ der amerikanische Neo-
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Dadaist Robert Rauschenberg in einer Ausstellung am Anfang der sechziger Jahre ein Bett an der Wand aufhängen. In Reaktion auf dieses Bett entwickelte Arthur Danto den Begriff der „artworld“. Diese soll durch die „artificial identification“, die Identifikation eines Dinges als eines Kunstwerkes, 2 zustande kommen. Diese ist dort notwendig, wo die Künstler danach zu streben begannen, sich mit der ihnen vorangehenden und überlieferten Kunst kritisch auseinanderzusetzen, und ihre eigene Kunst als Anti-Kunst aufzufassen. Durch die „artificial identification“ wurde sie allerdings sofort wieder als „Kunst“ kategorisiert. „Was Eruption war, wurde Boden.“3 Es mag keinen Sinn ergeben, das so mehrdeutige und zur „artworld“ gehörende „Bett“ von Rauschenberg nur im Hinblick auf die Erfahrung des Schönen XQG der Sterblichkeit hin zu interpretieren. Dies scheint noch mehr zu gelten, wenn man bedenkt, daß beides, die Sterblichkeit XQG das Schöne, dort anscheinend gar keine Themen sind. Aber wie der Name Neo-Dadaismus andeutet, dessen Vertreter Rauschenberg ist, gilt sein Werk „Bett“ offensichtlich als eine neue Fortsetzung von Duchamps „Pissoir“. Die Scheidelinie zwischen der Kunstwelt und dem Alltagsleben wurde dort beinahe aufgehoben, womit sie erneut in Frage gestellt wird. Implizit wurde damit auch das Menschenleben in der Konsumgesellschaft der Massenproduktion problematisiert. Wo Leben ist, ist auch Sterben. Dabei ist es durchaus möglich, daß der Sinn des sterblichen Leben im alltäglichen Bewußtsein gar nicht bedacht, ja sogar vergessen wird. Gerade diese Vergessenheit ist aber eine typische Weise der Sterblichkeitserfahrung. Kommen wir zurück zur Frage nach der Zusammengehörigkeit von Schönem XQG der Sterblichkeit. Es ist jetzt sichtbar geworden, daß, wenn etwas Deformiertes, Verfaultes, Chaotisches usw., kurz: Häßliches, in der modernen Kunst in bestimmter Weise thematisiert wird, das Schöne trotz seiner Abwesenheit als eine verborgene Gegenwirkung im Spiel bleibt. Dies könnte weit zurückgehen auf die mittelalterlichen Altarbilder, in denen der Leichnam Christi – eine äußerst deformierte, verfaulte und häßliche Lebenserscheinung – dennoch immer wieder dargestellt wurde. Was die dort verborgene Gegenwirkung des Schönen sei und was für ein Schönes da wirkt, bleibt allerdings noch im Dunkeln. 2 3
A. Danto: 7KH $UWZRUOG, in: The Journal of Philosophy, LXI (1964), 572ff. (reprinted in: Philosophy Looks at the Arts, Temple University Press, 1978). W. Welsch: 8QVHUHSRVWPRGHUQH0RGHUQH, Weinheim 1987, 193.
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Die platonisch-idealistische Ansicht über das Schöne will dieses HäßlichSchöne nie erkennen. Hegel faßte z.B. das Schöne „als das sinnliche 6FKHL 4 QHQ der Idee“ auf. Das Problem des Häßlichen muß in dieser Bestimmung des Schönen außer acht gelassen werden. Die neuere, anti-platonische Ästhetik, in der wie etwa bei Adorno das Problem des Häßlichen ins Auge gefaßt wurde, soll später diskutiert werden. Hier ist noch zuvor eine andere Geistestradition als die platonisch-europäische und deren Kultur des Schönen zum Weiterdenken heranzuziehen. Das chinesische Schriftzeichen für das Schöne besteht aus zwei Teilen, deren eines das „Schaf“ und deren anderes „groß“ bedeutet. Die zusammengestellte Wortbedeutung lautet also wörtlich: „großes Schaf“. In Shirakawa Shizukas Lexikon für chinesische Schriftzeichen Ä'MLW{³ *HQHDORJLH GHU 6FKULIW]HLFKHQ Tokyo 1984, das heute als kanonisch gilt, heißt es: „Das Schöne drückt die Gestalt eines beleibten Schafs aus, das dem Gott geopfert wird.“ Andere Wörter wie das Gute und das Gerechte enthalten ebenfalls das Zeichen „Schaf“. So schreibt Shirakawa: „Das Gute, das Gerechte und das Schöne, folgen alle dem (Wort) Schaf“. Das Gute ist nach Shirakawa Shizuka das, was im Gerichtsstreit dem Sieger zugeteilt wird, und das Gerechte ist das für die Opfergaben vollständig Geeignete. In der chinesischen Antike wurde über die wichtigen Dinge durch Gottesurteil entschieden, das durch die Wahrsagekunst und vermittels des Opfertiers Schaf gesucht wurde. Die chinesischen Schriftzeichen des Schönen, Guten und Gerechten haben ihren Ursprung in dieser antiken Schafkultur. Die Verwendung des chinesischen Schriftzeichens „schön“ für die Übersetzung des deutschen Wortes „das Schöne“ verdeckt diese kulturelle Herkunft aus der antiken Schafkultur. Eine ähnliche Verdeckung kann auch zwischen dem chinesischen und dem japanischen Wort für das Schöne vorkommen. Das japanische Wort für das Schöne lautet „utsukushii“, das von dem Verbum „itsukushimu“ herzuleiten ist. Dieses Verbum bedeutet: ein ZierlichKleines liebend zu umsorgen. In Shirakawas anderem, ebenfalls kanonischen Lexikon für die japanischen Wörter Ä'MLNXQ³ -DSDQLVFKH /HVHZHLVH GHU 6FKULIW]HLFKHQ heißt es, daß das japanische Wort für schön „das Gefühl des liebenden Umsorgens für einen jungen und kleinen Menschen bedeutet, das auch übertragen werden kann auf ein junges und kleines Ding“. Im chinesi4
G.W.F. Hegel: 9RUOHVXQJHQ EHU GLH bVWKHWLN ,, in: Ders.: Werke, hrsg. v. E. Moldenhauer u. K.M. Michel, Bd. 13, Frankfurt/M. 1970, 151.
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schen Schriftzeichen des „Schönen“ wird also das Erstaunen vor einem „Grandios-*URHQ“, und im japanischen Wort die Vorliebe für das „Zierlich.OHLQHQ“ ausgedrückt. Wer den tradierten Stil der Architektur oder Gartenkunst in Japan und China kennt, wird diese Verschiedenheit im ästhetischen Empfinden der beiden Völker feststellen. Diese Verschiedenheit und die kulturelle Bedingtheit des ästhetischen Empfindens wird in der idealistisch-transzendentalen Ästhetik nicht aufgegriffen. Denn, so sagt Kant, „die Geschmacksurteile begründen an sich auch gar kein Interesse. Nur in der Gesellschaft wird es LQWHUHVVDQW, Geschmack zu 5 haben“ . Kant geht es um die YRU jeglicher Verschiedenheit der Kultur geltende, bzw. gelten sollende, transzendental-apriorische Form der Geschmacksurteile. Die im chinesischen und japanischen Wort „schön“ ausgedruckte ästhetische Präferenz deutet aber an, daß das ästhetische Empfinden kulturell bestimmt wird, und die Allgemeingültigkeit des transzendentalen Apriori, wie sie in der idealistisch-transzendentalen Ästhetik erörtert wird, in der aktuellen Betrachtung der Kunst nicht reicht. Die genannte Präferenz deutet weiterhin an, daß die ästhetische Betrachtung des Schönen ein „Sprachspiel“ ist, das der jeweiligen Kultur eigentümlich ist. Ein interkulturelles Wechselspiel der ästhetischen Sprachspiele wird erfordern, die tradierte dichotomische Auffassung von Schönem und Häßlichem von Grund aus zu de-konstruieren.
Diese De-Konstruktion kann weitergeführt werden, indem das Häßliche im Verhältnis zum Schönen weiter bedacht wird. Das Häßliche ist nach der gewöhnlichen Auffassung das, was dem Formgesetz der Ästhetik widersteht und als Gegenbild des Schönen gilt. Das Wesen des Häßlichen ist aber an sich schon eine Frage. Es erschöpft sich nicht in der Negation des Schönen, da es in dieser Bestimmung nur vom Schönen her gesehen wird. Es muß eine ihm eigene Dimension geben, aus der umgekehrt das Schöne gründlicher eingesehen werden kann.
5
Vgl. I. Kant: .ULWLNGHU8UWHLOVNUDIW, Erster Teil, § 2, Anm., A7/B7.
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Die ästhetische Betrachtung des Häßlichen blieb in der europäischen 6 Philosophie und Ästhetik lange ein Desiderat. Vorhin wurde schon auf dieses Manko in der platonischen Auffassung hingewiesen. Die im Dialog „Symposium“ erzählte Idee des Schönen ist über Zeit und Raum erhaben, während die „Idee“ des Häßlichen nicht existieren NDQQ, was zwar nicht direkt von Platon behauptet wird, aber aus der Wesensnatur der Idee überhaupt folgen muß. Es wurde weiterhin darauf hingewiesen, daß es sich in der christlichen Religion mit dem Häßlichen anders verhält. Um diesen Hinweis zu ergänzen, ist das Alte Testament heranzuziehen. Der gottesfürchtige, fromme Mann Hiob wurde nämlich vom Satan „mit bösartigem Geschwür 7 von seiner Fußsohle bis zu seinem Scheitel“ geschlagen. Sogar seine Freunde konnten ihn wegen des Geschwürs nicht erkennen. Das war der Versuch Satans, den Gottesglauben Hiobs zu erschüttern und Hiob seinen Gott verfluchen zu lassen. Die Prüfung war am Ende vergeblich, und Hiob wurde von dieser häßlichen Gestalt befreit. Daß diese Befreiung eine ästhetische Bedeutung hatte, wird im Schlußteil angedeutet. Hiob hatte nämlich drei Töchter, von denen das Buch Hiob eigens schreibt: „Man fand im ganzen Lande keine schöneren Frauen als die Töchter Hiobs.“8 Zwar war es nicht Hiob selbst, dem die schöne Gestalt zugeschrieben wurde, sondern seinen drei Töchtern. Aber es wird angedeutet, daß dem Schönen das Häßliche ]X JHK|UW, und zwar nicht als der bloße Gegensatz, sondern als Gegenbild VHLQHU VHOEVW. Die Aufmerksamkeit für das Häßliche im religiösen Bewußtsein führt zur Vertiefung der Auffassung des Schönen, das sonst als das sinnliche Scheinen der Idee im Gegensatz zum Häßlich-Dunklen steht. Das durch das Häßliche zustande gekommene Schöne kann nicht bloß scheinhaft sein. In ihm muß auch das Dunkle des irdischen Lebens verborgen sein, somit auch das Häßliche, das mit der Schwäche und der Verfaulung des Lebens, letztlich mit der Sterblichkeit des Menschen verbunden wird. Karl Rosenkranz war wohl der erste, der das Häßliche in ästhetischer Hinsicht ins Auge faßte. In seiner Schrift „Ästhetik des Häßlichen“ wurde nämlich auf das Phänomen des Wohlgefallens am Häßlichen aufmerksam gemacht. Jedoch betrachtete auch 6 7 8
Dazu vgl. den Artikel „Häßliche (das)“ im Historisch-Kritischen Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter, Bd. 3: G-H, 1003 – 1007. AT, Hiob, 2, 7. AT, Hiob, 42, 15.
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Rosenkranz das Häßliche letztlich ebenfalls unter dem negativen Aspekt. „Nicht das Häßliche als solches bewirkt dann unser Wohlgefallen, sondern 9 das Schöne, durch dessen Gegenwirkung das Häßliche aufgehoben wird“. Die Kategorie des Häßlichen als eines unentbehrlichen Elementes der Kunst wurde innerhalb der europäischen Ästhetik erst von Th. W. Adorno in seiner „Ästhetischen Theorie“ nicht nur WKHPDWLVFK behandelt, sondern auch DQHUNDQQW. „Das ästhetische Verdikt übers Häßliche lehnt sich an die sozialpsychologisch verifizierte Neigung an, das Häßliche, mit Grund, dem Ausdruck des Leidens gleichzusetzen und, projektiv, zu beschimpfen.“10 Ob das gemeinte Verdikt QXU sozialpsychologisch zu erklären sei oder auf einen noch tiefer greifenden, innerlichen Grund der Menschennatur zurückzuführen ist, ist allerdings eine Frage, die hier offen gelassen wird. Jedenfalls hängt die Formulierung Adornos noch der Dichotomie vom Schönen und Häßlichen an. Seine bewußt anti-platonische Ästhetik wurde, gerade indem sie DQWLplatonisch zu sein strebte, vom Platonismus als ihrem unentbehrlichen Gegenpol 11 bedingt. Sie hätte in der Weise radikalisiert werden können, daß diese Dichotomie überhaupt aufgegeben wird. Die Radikalisierung dieser Art wird dann notwendig, wenn eingesehen wird, daß das Häßliche selber als das Schöne erscheinen NDQQ. Dieses ästhetisch schöne Häßliche, das einst in der Gestalt des Gekreuzigten gesehen wurde, kam in der neueren europäischen Kunst, vor allem im 20. Jahrhundert, in einer sehr bestimmten Weise vor, indem die bisher als häßlich empfundenen, verzerrten, deformierten, grotesken und unassimilierbaren Formen immer wieder thematisiert wurden. Adorno kann diesmal mit Recht sagen: „Wenn überhaupt, ist das Schöne eher im 12 Häßlichen entsprungen als umgekehrt.“ Allerdings müßte er, wenn er konsequent sein wollte, mit dieser Ansicht seine Dichotomie vom Schönen und Häßlichen aufgeben. Eine Auffassung des Ästhetisch-Häßlichen ist übrigens im japanischen sog. „Kunstweg“ (geidô), der unter dem Einfluß des Buddhismus die Kunstlehre in verschiedenen Kunstgebieten entwickelte, zu finden. Der Vollender 9 10 11
12
K. Rosenkranz: bVWKHWLN GHV +lOLFKHQ (Königsberg 1853), neu hrsg. von W. Henckmann, Darmstadt 1979, 52. Th.W. Adorno: bVWKHWLVFKH7KHRULH, Frankfurt a.M. 1970, 79. R. Ohashi: 5HWWXQJGHV6FK|QHQ, Vortrag auf dem Symposium, veranstaltet von der Humboldt-Stiftung, 10.-15. Dez. 1984 in Frankfurt. Ein Teil in der japanischen Version gedruckt in: R. Ohashi: Kire no Kôzô (jap.), Tokyo 1986, 258ff. Adorno, a.a.O., S. 81.
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des Nô-Spiels Zeami (1364-1443) z.B. beschrieb verschiedene Stufen der schönen Gestalt des Nô-Spielers mit dem Gleichnis der Blüte. Wenn der Schauspieler ein junger Knabe ist, ist er an sich schon hübsch und schön, wie die blühende Kirschblüte, egal welche Gebärde er auf der Bühne macht. Zeami meinte aber, daß die Schönheit dieser Art noch nicht die der „wahren Blüte“ ist, die ein Nô-Spieler erst mit seiner Kunstfertigkeit realisieren soll. Denn der Schauspieler muß allmählich altern. Sein Gesicht wird runzelig und er kann sich nicht mehr aufrecht halten. Wenn er sich diesem natürlichen Prozeß des Alterns überläßt, muß er einfach alt-häßlich werden. Aber mit der Entwicklung der Kunstfertigkeit des Nô-Spiels verinnerlicht sich die Erscheinungsart der Schönheit der Blüte, die ein Schauspieler der jeweiligen Stufe entsprechend je und je künstlerisch realisiert. Zeamis Vater Kan-nami (13331384) machte seine letzte Aufführung zehn Tage vor seinem Tod. Zeami bezeichnete sie als „die Blüte, die auf den gealterten Knochen-Zweigen noch blüht“. Sie war „die Blüte, die nicht vergeht“. Die von Kan-nami aufgeführte „Blüte, die nicht vergeht“, blühte im irdischen Zeit-Raum, sie war nicht überzeitlich. Sie war der Ausdruck für das im Alt-Häßlichen entstandene Schöne oder der Audruck für das Schöne XQG die Sterblichkeit des Menschen.
Das Problem des Ästhetisch-Häßlichen kann übrigens auch in ethischer Hinsicht weiter bedacht werden, indem das Schöne in seinem Verhältnis zum Bösen ins Auge gefaßt wird. Die Stelle des Bösen in der Ethik entspricht etwa der des Häßlichen in der Ästhetik. Die klassisch-dichotomische Ansicht über das Verhältnis von Gut und Böse herrschte zwar durch das christliche Mittelalter hindurch bis zur Neuzeit. Ein ausdrücklicher Wendepunkt kam aber mit der modernen Dichtung Baudelaires „Les Fleurs du Mal“ (1857). Man entdeckte dort, was man schon lange kannte, nämlich daß manches Böse in ästhetischer Hinsicht als attraktiv empfunden wird. Solange es als Attraktives erscheint und den Menschen anzieht, muß es irgend etwas „Schönes“ beinhalten. Zwar betonte Kant DXVGUFNOLFK, daß das reine Geschmacksurteil des Schönen „interesselos“ und vom Angenehmen grundsätzlich unterschieden werden müsse und das reine Geschmacksurteil von Reiz und Rührung unabhängig sein solle. Er wird keineswegs das Element des Schönen in den
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„Fleurs du Mal“ anerkennen. Aber was Kant als das Wesentliche untern den schönen Künsten letztlich angab, war die Zeichnung, die nur durch ihre Form 13 gefällt, aber die dem Reiz zugerechneten Farben nicht enthält. Die Armut dieser Ansicht steht schon in gewissem Widerspruch zum Reichtum der „schönen Kunst“. Der Begriff des Schönen, wenn es auf das Böse bezogen wird, fordert dazu auf, die ethische Dichotomie vom Guten und Bösen zu durchbrechen. Mit diesem Durchbruch wird die Ethik überhaupt zur Religion aufgebrochen. Kant sagte, wenn auch in einem anderen Kontext: „Moral also führt unum14 gänglich zur Religion“ . Es geht in der Religion um die Sterblichkeit des Menschen und dessen Erlösung. Auch der gute Mensch muß sterben und der böse Mensch kann auch erlöst werden. Der Gegensatz von Gut und Böse wird hier aufgebrochen. In eins mit dieser ethischen Überlegung erhellt sich ein geheimnisvoller Wesenszug des Schönen, das sich jetzt sowohl auf das Gute wie auch auf das Böse bezieht. Es kann sowohl gut wie auch böse sein. Diese ethische Überlegung zeigt weiterhin, daß das Schöne LQVLFKVHOEHU JHJHQ VLFK VHOEVW eingestellt sein kann, d.h. in sich das Häßliche als seinen Ursprung enthält. Es selbst kann seine eigene Antithesis werden. Vielleicht kann man erst von dieser Dynamik aus die gegen die Idee des Schönen protestierenden Kunstbewegungen im 20. Jahrhundert verstehen. Die Dynamik des Schönen XQG des Häßlichen ist offensichtlich der Widerschein der Dynamik des Lebens XQG des Todes. Der sogenannte „schöne Tod“, wie er religiös-romantisch als seliges Leben im Himmelreich oder im Nirwana vorgestellt wird, ist nichts anderes als die Kombinierung dieser zwei miteinander verwandten Dynamiken. Er ist insofern als ein Ausdruck für die Zugehörigkeit vom Schönen XQG der Sterblichkeit des Menschen. Der obige Schritt der Überlegung führt zu der Einsicht, wie sich das Schöne zum Tod oder zum Toten und umgekehrt wie sich der Tod zum Schönen verhält. Zu dieser Einsicht wird ein Perspektivwechsel des sonst gewöhnlichen Gesichtspunktes vom Lebenden zum Toten benötigt. Die Sterblichkeit wird als die vom Lebenden her gesehene Möglichkeit des Lebens verstanden. Der Perspektivwechsel scheint unmöglich zu sein und muß zuerst absurd klingen. Denn der Mensch kann nur so lange etwas für schön 13 14
Vgl. Kant, a.a.O., § 14, A 38f./B 39f. I. Kant: 'LH5HOLJLRQLQQHUKDOEGHU*UHQ]HQGHUEORHQ9HUQXQIW, Vorrede zur ersten Auflage, BA 9.
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empfinden, als er lebt. Der Tote hat kein Sentiment. Das Sterben bedeutet das schlechthinnige Abbrechen der Beziehung zum Schönen so wie zum Hässlichen. Wenn das Sterben als das äußerst Häßliche aufgefaßt wird, so nur deshalb, weil es vom Lebenden her vorgestellt wird. Der Tote ist aber derjenige, der auch mit dem Sterben fertig ist, und sich von jeglichem Schönen und Häßlichen verabschiedet hat. Mit dem Perspektivwechsel vom Lebenden zum Toten wird aber diese Ansicht des gesunden Menschenverstandes umgekehrt. Er verlangt, daß der Tote vom leblosen Leichnam durchaus unterschieden wird. Dieser muß verfaulen und, materiell betrachtet, verschwinden. Der Tote ist aber der Gewesene, der nicht verschwindet, sondern als der Gewesene gegenwärtig ist. Die DNA der Toten, die in der Nachkommenschaft überliefert wird, ist nur eine biologische Spur des Gewesenen. Mit Augustinus kann man schon sagen, daß der Tote in der Erinnerung, im Zeitmodus der Gegenwart der Vergangenheit, gegenwärtig ist. Aber auch wenn der Tote in der Lebenswelt völlig in die Vergessenheit gerät und niemand mehr sich an ihn erinnert, wie es meistens der Fall ist, so ist er dennoch gegenwärtig, insofern der gegenwärtigen Lebenswelt die gewesene Welt zugrunde liegt als ihre 6FKLFKWHQ. Jeder Kulturwelt liegt die Anhäufung der gewesenen Welt der Toten zugrunde, welche gewöhnlich mit dem Begriff „Tradition“ bezeichnet wird. Die sonst selbstverständliche Dichotomie von Leben und Tod ist in der Kultur in Wirklichkeit durchbrochen, da in einer Kulturwelt die Begegnung von Lebenden und Toten miteinander ständig geschieht. Die Kunst ist nun ein Kulturphänomen im ausgezeichneten Sinne, da in ihr die gewesene Welt nicht nur als anonyme Schicht begegnet, sondern, besonders seit der Neuzeit, als der individuelle Autor, sei es der lebende, sei es der gestorbene. So kann man in den Werken Cézannes dem Maler Cézanne, in den Musikstücken Mozarts dem Komponisten Mozart begegnen. Solange es also in der Kunst um das Schöne geht, hat der Tote, der sich sonst von jeglichem Schönen und Häßlichen verabschiedet haben soll, doch zu tun mit dem Schönen. Von hier aus wird sichtbar, in welchem Sinne die Kunst der Ort für die Kulturbegegnung ist. Sie ist als der schöpferische Ausdruck des Schönen XQG der Sterblichkeit des Menschen der Ort, dem die gewesene Welt zugrunde liegt und in dem der Dialog zwischen den Lebenden und den Toten stattfindet. Auch wenn das Schöne aus der Kunst ausgetrieben wird, oder gerade durch diese Austreibung hindurch, kommt die dunkle Tiefe des Schönen in
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der Art in den Vordergrund, daß die Sterblichkeit des Menschen im Modus der Vergessenheit zutage kommt. Die kulturelle Situation der hochindustrialisierten und globalisierten Welt von heute wurde am Anfang geschildert. Heute gibt es keine oder kaum eine moderne Kunst, die durch eine lokale Kultur geprägt wird. Die Begegnung der vorhandenen Kulturen in der Kunst ist kaum mehr zu erwarten außer in der mit Mühe bewußt reservierten, traditionellen Kunst. Jedoch, wenn die Kunst nicht in dieser horizontalen, sondern in der quasi vertikalen Richtung wie oben aufgefaßt wird, so kann sie heute noch, oder gerade heute, als Ort für die Kulturbegegnung gelten. Die dort begegnende Kultur ist nicht die vergangene, sondern die gewesene, die der anscheinend kulturlosen Welt der Technik zugrunde liegt und deren Gegenwart mitbildet. Sie kann auch GLH Kultur sein, die inmitten dieser Welt der Technik erst jetzt zu stiften ist, oder zumindest als solche vom jeweiligen Künstler geahnt und ertastet wird. Von der Kunst ist dies noch zu hoffen, solange sie Ausdruck für das Schöne XQG die Sterblichkeit des Menschen bleibt.
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%LOGXQJLQVR]LRNXOWXUHOOSOXUDOHU*HVHOOVFKDIW :DVVLHQLFKWLVWZLHVLHVHLQNDQQ In this paper a period of the history of education is analysed from the perspective of how plurality is discussed, especially sociocultural difference and plurality. The result of this investigation is that intercultural education is not a “subdiscipline” of general education, but rather the development of a discourse that was born in the late years of the Enlightenment. Contemporary societies in most parts of the globe have changed in such a way that they are plural, cultures having been brought into contact and been mixed. The curricula of schools reflect these changes, and they are becoming more and more similar, as cross-cultural and international empirical comparisons show. Therefore, an education that matches contemporary societal transformations should not and cannot neglect or exclude the dimension of plurality. This idea is discussed from a theoretical point of view, and consequences for university curricula and research are drawn. In diesem Beitrag wird versucht, eine Periode der Geschichte der allgemeinen Pädagogik unter dem Gesichtspunkt der Thematisierung der Pluralität, insbesondere der soziokulturellen Differenz und Vielfalt nachzuzeichnen. Die interkulturelle Pädagogik ist, so gesehen, keine „Teildisziplin“ der allgemeine Pädagogik, sondern die Weiterentwicklung eines Diskurses, der in der Spätaufklärung seinen Anfang genommen hat. Die zeitgenössische Gesellschaft ist so gut wie weltweit im soziologischen Sinne von Pluralisierung und von der Begegnung und Vermischung der Kulturen gekennzeichnet. Die Curricula der Schulen widerspiegeln diese Entwicklungen zunehmend, und sie werden weltweit immer ähnlicher, wie empirisch festgestellt werden kann. Eine allgemeine Bildung, welche zeitgemäß ist, kann und darf daher die Dimension der Pluralität nicht außer Acht lassen. Diese These wird hier bildungstheoretisch begründet, und Konsequenzen für Lehre und Forschung werden daraus abgeleitet.
(LQOHLWXQJ In diesem Beitrag möchte ich zeigen, dass die allgemeine Pädagogik und die interkulturelle Pädagogik seit längerer Zeit (aber nicht durchgehend) eine gemeinsame Geschichte haben. Diese Behauptung mag überraschend sein, hat doch seit Mitte der siebziger Jahre die interkulturelle Pädagogik sich als
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eigenständige „Teildisziplin“ herausgebildet, eine eigene Identität gesucht 2 und inzwischen eine verzweigte theoretische Diskussion entfaltet. In der Geschichte der „Mutterdisziplin“ und der „Tochterdisziplin“ ist jedoch die kulturelle Vielfalt (und damit einhergehend die kulturelle Differenz) das gemeinsame Motiv, das ab einer bestimmten Epoche – der Aufklärung – den Begriff der allgemeinen Bildung und Pädagogik mitkonstituiert hat. So lautet meine Ausgangsthese. Doch die Dimension der Vielfalt ist im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts und noch viel mehr in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts (genau: bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges) dem Druck der nationalen Interessen und der nationalistischen Ideologien gewichen. Die institutionalisierte Bildung hat in Deutschland (und natürlich in anderen Nationalstaaten) im Einklang mit den vorherrschenden Bildungstheorien einen monolingualen 3 Habitus entwickelt, der sich bis heute hält und nur zögerlich aufgebrochen wird, obwohl die an der Bildung Beteiligten multikulturell und mehrsprachig sind, und obwohl die Globalisierung das Gefangensein in monokulturellen und einsprachigen Sichtweisen zunehmend obsolet erscheinen lässt. Daher ist es notwendig geworden, die Dimension der Pluralität, insbesondere der soziokulturellen und sprachlichen Vielfalt, erneut zum Thema zu machen, und dies ist das Verdienst einer interkulturell orientierten Pädagogik, die seit Mitte der siebziger Jahre bildungstheoretisch und bildungspolitisch an einer Öffnung der allgemeinen Pädagogik und der allgemeinen Bildung arbeitet. Diesen Gedankengang werde ich in einem ersten Schritt erörtern. In einem zweiten Schritt gehe ich auf die gesellschaftlichen Veränderungen ein, die unter den Stichworten Globalisierung und Pluralität subsumiert werden können sowie auf Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Curricula. Der dritte Teil ist ein bildungstheoretischer Entwurf für eine allgemeine Bildung, die vor dem Hintergrund der genannten gesellschaftlichen Veränderungen im Zeichen von Globalisierung und Pluralisierung interkulturell und pluralistisch 1 2
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D. Lenzen (Hrsg.): (U]LHKXQJVZLVVHQVFKDIW(LQ*UXQGNXUV, Reinbek bei Hamburg 1994. G. Auernheimer: (LQIKUXQJLQGLHLQWHUNXOWXUHOOH(U]LHKXQJ, Darmstadt 1990; W. Nieke: ,QWHUNXOWXUHOOH(U]LHKXQJXQG%LOGXQJ:HUWRULHQWLHUXQJHQLP$OOWDJ, Opladen 1993; F. Achtenhagen/I. Gogolin (Hrsg.): %LOGXQJXQG(U]LHKXQJLQhEHU JDQJVJHVHOOVFKDIWHQ%HLWUlJH]XP.RQJUHVVGHU'*I(, Opladen 2002. I. Gogolin: 'HU PRQROLQJXDOH +DELWXV GHU PXOWLOLQJXDOHQ 6FKXOH, Münster/New York 1994.
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ist. Zum Abschluss zeige ich in programmatischer Absicht einige Perspektiven der Einbindung interkultureller und internationaler Ansätze in Forschung und Lehre der allgemeinen Pädagogik.
Ä9HUVFKLHGHQKHLW³LPDOOJHPHLQHQ%LOGXQJVEHJULII Zunächst eine notwendige Klärung aus heutiger Sicht. „Interkulturelle“ Pädagogik beruht auf der Grundannahme, dass „kulturelle Differenz“ eine plausible Kategorie darstellt, wenn es darum geht, das Individuum und die Gesellschaft zu charakterisieren. Die sozialwissenschaftlichen Disziplinen haben im zwanzigsten Jahrhundert dazu beigetragen, dass die „kulturelle Zugehörigkeit“ bei der Erklärung vieler individueller und gesellschaftlicher Prozesse als mindestens so wichtig angesehen wird wie die Begriffe Klasse oder Schicht, 4 5 Status, Alter, Geschlecht oder Gender. Zahlreiche Kritiker, auch französische Sozialwissenschaftler strukturalistischer und marxistischer Orientie6 rung, bestreiten die Relevanz der kulturellen Zugehörigkeit und betrachten allein den sozioökonomischen Status als wichtig. Sie haben zum Teil damit Recht, in dem Sinne, dass zwischenmenschliche Prozesse nicht durchgehend kulturalistisch gedeutet werden können und dürfen. Und doch gibt es genügend theoretische Argumente und empirische Evidenz für die Bedeutung der kulturellen Spezifität nebst allen anderen Merkmalen. Dass Kultur, kulturelle Spezifität und Differenz soziale Konstrukte (und keine genetischen Merkmale) sind, macht diese nicht weniger bedeutend für den Einzelnen, für die Gesellschaft und für die Wissenschaften. Es erscheint vor diesem Hintergrund zumindest bei der Beschreibung soziologischer und sozialpsychologischer Prozesse theoretisch korrekter, von „soziokultureller“ Vielfalt und Differenz sowie Pluralität zu sprechen. Nun kann man weiter fragen: Inwiefern ist die soziokulturelle Differenz für die Pädagogik relevant? Ein bildungstheoretisches oder ein curriculares Konzept kann sich mit der Dimension der kulturellen Vielfalt ausdrücklich 4 5
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C. Camilleri (Hrsg.): 'LIIpUHQFHHWFXOWXUHVHQ(XURSH, Strasbourg 1995. W.-D. Bukow/R. Llaryora: 0LWEUJHU DXV GHU )UHPGH 6R]LRJHQHVH HWKQLVFKHU 0LQGHUKHLWHQ, Opladen 21993; F.-O. Radtke: 'HPRNUDWLVFKH'LVNULPLQLHUXQJ([ NOXVLRQDOV%HGUIQLVRGHUQDFK%HGDUI, in: Mittelweg 36 (1995), 32-48. M. De Certeau : eFRQRPLHV HWKQLTXHV SRXU XQH pFROH GH OD GLYHUVLWp, in: OECD/CERI (Hrsg.): L'éducation multiculturelle, Paris 1987, 170-196.
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oder stillschweigend, im positiven oder negativen Sinne auseinandersetzen. Folgende Figuren sind denkbar: (1) Unausgesprochene (implizite) Verleugnung der soziokulturellen Vielfalt; (2) aktive Ablehnung; (3) stillschweigende Anerkennung; (4) ausdrückliche Anerkennung und Förderung. Die gleichen Figuren finden sich auf der (sekundären) Ebene der Reflexion über Bildung und Erziehung wieder, also in der Pädagogik, der Bildungsforschung sowie der Erziehungswissenschaft. Jeder pädagogische Diskurs und jedes Phänomen, das mit Erziehung zu tun hat (zum Beispiel Sozialisation) kann als Ausprägung einer bestimmten kulturellen Tradition analysiert werden. Interkulturelle Vergleiche sind möglich. Oder es wird im Gegenteil implizit angenommen, es gebe eine einzige, universell gültige Bildungstheorie und nur eine „richtige“ Erziehungstheorie. Die allgemeine Pädagogik hat die Herausforderung der soziokulturellen und sprachlichen Pluralität insgesamt eher unterschätzt – mit Ausnahme einiger Autoren der Spätaufklärung, die ihre Bildungstheorie aus der Annahme des Kulturrelativismus heraus entwickeln. Das Thema der Pluralität der Kulturen und Sprachen wurde in der bildungstheoretischen Diskussion im Zweig der Pädagogik, der sich als interkulturelle Pädagogik bezeichnet, nach einer Periode, die vom nationalen Gedanken und dem Nationalismus bestimmt war, in den siebziger Jahren des 7 zwanzigsten Jahrhunderts aufgegriffen. Vorboten dieser Gedankenrichtung finden sich in Dokumenten der Unesco und des Europarates seit 1949. Die erste Generation der interkulturellen Pädagogik befasst sich vornehmlich mit der durch Migration sichtbar gewordenen Pluralität der Gesellschaft. Ab Mitte der achtziger Jahre bildet sich ein weiterer Schwerpunkte heraus – die Erziehung für Europa. Doch das Thema der Pluralität ist ab den neunziger Jahren nicht mehr das Monopol der interkulturellen Pädagogik. Die allgemeine Pädagogik ist darauf aufmerksam geworden. Die Diskussion über den Begriff der allgemeinen Bildung greift in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts das Thema der Differenz und der Pluralität auf. Im Schlusskapitel des Buches „Alle alles zu lehren“ zählt Tenorth die Sensibilität für Differenzen und die Offenheit für das Fremde zu den Prioritäten einer zeitgemäßen allgemeinen Bildung. Er geht jedoch nicht näher darauf ein, wie denn 7
In meinem Buch C. Allemann-Ghionda: 6FKXOH %LOGXQJ XQG 3OXUDOLWlW 6HFKV )DOOVWXGLHQ LP HXURSlLVFKHQ 9HUJOHLFK, Bern u.a. 22002, 495-503, habe ich die theoretischen Grundlagen der interkulturellen Pädagogik den Ansätzen der allgemeinen Pädagogik systematisch gegenübergestellt.
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diese Sensibilität sich bilden könnte. Weitere Autorinnen und Autoren, die 9 sich der Disziplin allgemeine Pädagogik zuordnen lassen, anerkennen die Bedeutung der Pluralität und des Pluralismus in der zeitgenössischen Gesellschaft und thematisieren die theoretischen Folgen für die Pädagogik. Seit Beginn der neunziger Jahre mehren sich in der deutschsprachigen Diskussion die Stimmen, die kritisieren, dass die „interkulturelle Pädagogik“ sich in eine marginalisierte Lage hinein manövriert hat. Aus meiner Sicht kann die Kritik auf folgenden Hauptpunkt gebracht werden: Viele interkulturelle Entwürfe sind nicht glaubwürdig, weil sie eine Pädagogik konturieren, die ausschließlich oder vorwiegend die Förderung der Migranten und der Minderheiten zum Ziel hat. Das Ergebnis ist oft eine Art ungeschickte Kopie des aus europäischer Sicht manchmal naiv anmutenden, nordamerikanischen Multikulturalismus der achtziger Jahre. Heute stehen wir in der Diskussion vor einer Konvergenz der beiden Diskurse – des „interkulturellen“ und des „allgemeinen“. Die allgemeine Pädagogik und die interkulturelle Pädagogik haben gemeinsam ein Corpus von Analysen und Konzepten vorzuweisen, in denen die sprachliche und soziokulturelle Vielfalt oder noch weiter gefasst die Pluralität eine Rolle spielen, die Pädagogik schlechthin mitdefinieren und für die Bildungsinstitutionen eine Aufgabe unter aktualisierten Vorzeichen darstellen. Die allgemeinpädagogische Diskussion aus interkultureller Sicht dreht sich letztlich, vereinfacht gesprochen, um zwei Themen: Erstensgeht es um die Frage, wie die Strukturen und Inhalte der Bildung heute zu gestalten sind angesichts der Tatsache, dass ein einheitliches Weltbild kaum mehr denkbar 10 ist. Die Globalisierung, der Austausch zwischen Kulturen infolge von Migration, die schwindende Akzeptanz der geschlossenen Normen- und Wertesysteme der großen Erzählungen, die erhöhte Mobilität zwischen Schichten und Klassen: Das sind die Stichworte dazu. Zweitens sind die Bedingungen, unter denen Erziehung erfolgt, vor diesem Hintergrund im weitesten Sinne so vielfältig geworden, dass keine universell gültige Theorie der Erziehung
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H.E. Tenorth: $OOH DOOHV ]X OHKUHQ 0|JOLFKNHLWHQ XQG 3HUVSHNWLYHQ DOOJHPHLQHU %LOGXQJ, Darmstadt 1994. F. Heyting/H.E. Tenorth (Hrsg.): 3lGDJRJLNXQG3OXUDOLVPXV'HXWVFKHXQGQLH GHUOlQGLVFKH(UIDKUXQJHQLP8PJDQJPLW3OXUDOLWlW, Weinheim 1994. R. Watson: 0HPRULHV0RGHOVDQG0DSSLQJ7KH,PSDFWRI*HRSROLWLFDO&KDQJHV RQ&RPSDUDWLYH6WXGLHVLQ(GXFDWLRQ, in: Compare 28, 1 (1998), 5-31.
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möglich ist. Bildsamkeit ist in verschiedenen Anthropologien Verschiede11 nes. Diesen Gedankengang weiterführend frage ich: Ist es wirklich erst die Postmoderne, die den Zweifel über die Einheit des Menschenbildes erstmals in die Diskussion gebracht hat? Durch viele Zitate lässt sich belegen, dass bereits Autoren der Antike, der Renaissance, der Aufklärung und der Romantik 12 die Idee der Vielfalt und der Relativität der Kulturen geäußert haben. Eine europäische Ideengeschichte dieser Art ist allerdings – soweit mir bekannt ist – noch nicht vollständig geschrieben. Ein gutes Beispiel für eine solche Geschichte ist das Buch von Todorov 1RXVHWOHVDXWUHV/DUpIOH[LRQIUDQoDLVH 13 VXUODGLYHUVLWpKXPDLQH Darin untersucht der Autor die Kategorie der „Diversität“ in der französischen Philosophie, Politik und Literatur. Ich möchte hier ein Fragment dieser potentiellen Geschichte der Verschiedenheit aus Sicht der Pädagogik aufgreifen und folgende These zur Diskussion stellen: Der klassische Bildungsbegriff, wie er etwa aus Humboldts Schriften hervorgeht, setzt nicht eine Einheit der Kultur, sondern eine Pluralität der Kulturen voraus. Am umfassendsten erklärt Humboldt seine Sicht der vielfachen und verschiedenen Kulturen in der 1836 postum veröffentlichten Abhandlung hEHUGLH9HUVFKLHGHQKHLW GHVPHQVFKOLFKHQ6SUDFKEDXHV XQG LKUHQ(LQIOXVV 14 DXI GLH JHLVWLJH (QWZLFNOXQJ GHV 0HQVFKHQJHVFKOHFKWV. An verschiedenen Stellen führt Humboldt Beispiele für die sprachliche Ausdrucksfähigkeit an, die Sprachen selbst angeblich roher und ungebildeter Völker, der „sogenannten Wilden“, wie er sagt, besitzen. Die Kulturen, die sich in den Sprachen artikulieren, sind alle gleichwertig. Heute nennen wir diese Idee Relativismus der Sprachen und der Kulturen. Das folgende Zitat aus der gleichen Abhandlungzeigtden Widerspruch zwischen dem Wissen, dass verschiedene Weltansichten existieren und der Schwierigkeit, sich in diese zu versetzen: Die Erlernung einer fremden Sprache sollte daher die Gewinnung eines neuen Standpunktes in der bisherigen Weltansicht sein, und ist es in der That bis auf 11 12 13 14
J. Oelkers: $OOJHPHLQH 3lGDJRJLN, in: Zeitschrift für Pädagogik 36 (1997), 237267. T. De Mauro: 6WRULDOLQJXLVWLFDGHOO ,WDOLDXQLWD, Bari 31974. T. Todorov: 1RXVHWOHVDXWUHV/DUpIOH[LRQIUDQoDLVHVXUODGLYHUVLWpKXPDLQH, Paris 1989. W. v. Humboldt: hEHUGLH9HUVFKLHGHQKHLWGHVPHQVFKOLFKHQ6SUDFKEDXHVXQGLK UHQ(LQIOXVVDXIGLHJHLVWLJH(QWZLFNOXQJGHV0HQVFKHQJHVFKOHFKWV (Erste Ausgabe 1836, Herausgegeben von D. Di Cesare), Paderborn 1998.
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einen gewissen Grad, da jede Sprache das ganze Gewebe der Begriffe und die Vorstellungsweise eines Theils der Menschheit enthält. Nur weil man in eine fremde Sprache immer, mehr oder weniger, seine eigne Welt-, ja seine eigne Sprachansicht hinüber trägt, so wird dieser Erfolg nicht rein und vollständig em15 pfunden.
An anderen Stellen finden wir die bildungstheoretische und pädagogische Folgerung dieser Einsicht. Die Verschiedenheit der Sprachen ist kein Fluch Gottes, wie es die häufigste Auslegung des Turms zu Babel suggeriert. Sie ist vielmehr eine notwendige Folge der Verschiedenheit der Völker und sie tritt auch auf „als intellectuell-teleologische Erscheinung, als Bildungsmittel der Nationen, als Vehikel einer reicheren Mannigfaltigkeit, und Eigenthümlich16 keit“. Für Humboldt ist die Auseinandersetzung mit alten Sprachen, namentlich mit Griechisch und Hebräisch, in dem Sinne produktiv, dass dadurch der Begriff von der Sprachform überhaupt nach einer sonst fast unbekannt bleibenden Seite hin erweitert werden kann. Die Idee der Pluralität der Sprachen und der Kulturen steht für eine Strömung der klassischen Diskussion über allgemeine Bildung und allgemeine Pädagogik, die sich lange nicht behaupten konnte. In dieser wenig aufdringlichen Traditionslinie (ein weiterer Vertreter ist Süvern, der beim Aufbau des preußischen Bildungswesens Humboldts Berater war) ging es nicht nur um eine offene, fördernde Haltung gegenüber „anderen“ Sprachen. Es ging darüber hinaus um eine liberale Bildungsidee, die den Ausgleich der Unterschie17 de zwischen den Ständen durch Bildung fördern wollte. Diese Strömung, die wir auch „egalitär“ nennen können, verläuft parallel zu einer anderen Strömung, die auf einem einheitlichen, national definierten und undurchlässigen Kulturbegriff basiert. Die nationale Sprache hat in diesem System Vorrang, sie ist identitätsstiftend und dient dem Aufbau des Nationalstaates. Im gleichen Denksystem, das die Sprachen und Kulturen einer Hierarchie zuordnet, ist die soziale Ungleichheit naturgegeben, und das Bildungsangebot hat die soziale Pyramide widerzuspiegeln. In einschlägigen Schriften von Beckedorff, dem politischen Gegner von Süvern, kommt diese Bildungsidee zum 15 16 17
Ebd., 187. Ebd., 52. J.W. Süvern:
(QWZXUIHLQHVDOOJHPHLQHQ*HVHW]HVEHUGLH9HUIDVVXQJGHV6FKXO ZHVHQVLPSUHXVVLVFKHQ6WDDWH , in: B. Michael/H.-H. Schepp (Hrsg.):
Die Schule in Staat und Gesellschaft. Dokumente zur deutschen Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Band 22, Göttingen/Zürich 1993, 108-113.
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Ausdruck. Teil dieser Auffassung ist das kulturelle Bewusstsein als „der stärkste Wall gegen das Eindringen fremder Kulturen“, wie es ein Nach19 komme dieser Tradition 1936 ausdrückt. Die Entwicklung der theoretischen Diskussion über allgemeine Bildung nach dem zweiten Weltkrieg zeigt, dass die pluralistischen und egalitären Grundsätze der klassischen Bildungstheorie seither nach und nach wieder entdeckt werden. Die Umgestaltung vieler Lehrpläne hat in manchen Bildungssystemen genau die Richtung eingeschlagen (kulturelle Pluralisierung der Bildungsinhalte), die in den theoretischen Konzepten der interkulturellen Bildung zentral ist.20 Die interkulturelle Pädagogik ist also nichts anderes als eine zeitgenössische Variante jenes Zweiges der klassischen Diskussion über allgemeine Bildung, der für die Vielfalt in ihren verschiedenen Ausprägungen offen war. Der veränderte soziohistorische Kontext des zwanzigsten und des einundzwanzigsten Jahrhunderts verlangt infolge der Globalisierung, der tendenziell ausgeprägteren sozialen Durchlässigkeit und Mobilität sowie der häufig hybriden Identitäten eine veränderte, erweiterte allgemeine Pädagogik. Die allgemeine Pädagogik hat sich grundsätzlich zu fragen, wie sie sich der Herausforderung der Differenz stellen kann, und dies ist als durchgängiges Prinzip aufzufassen.
*OREDOLVLHUXQJDOV5HIHUHQ]UDKPHQGHUDOOJHPHLQHQ%LOGXQJ Globalisierung gehört nunmehr zum Wortschatz eines jeden lesenden Zeitgenossen. Vorbei sind jedoch die Zeiten, da dieses Wort lediglich schwammig war und die Diskussion sich in einer Polarisierung zwischen Zauberwort und Unwort, zwischen Chance, Herausforderung und Schreckgespenst erschöpfte. Globalisierung bedeutet – um es verkürzt zu sagen – Entgrenzung, schwindende Bedeutung der nationalen Grenzen. Globalisierung wird vielfach auf die wirtschaftlichen Strukturveränderungen bezogen. Anlass dazu ist die progressive Umwandlung internationaler in transnationale Konzerne. In inter18 19 20
L. v. Beckedorff: %HXUWHLOXQJ GHV 6YHUQVFKHQ 8QWHUULFKWVJHVHW]HQWZXUIV , in: ebd., 113-123. E. Spranger: *HVDPPHOWH6FKULIWHQ, hrsg. v. H.W. Nahr, Tübingen 1969.
Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: (PSIHKOXQJÄ,QWHUNXOWXUHOOH%LOGXQJXQG(U]LHKXQJLQGHU 6FKXOH³. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.10.1996, Bonn 1996.
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disziplinären Arbeiten, die ökonomische mit erziehungswissenschaftlichen Sichtweisen kombinieren, wird der Stellenwert der Globalisierung für das 21 Wissen und die Bildungssysteme unter die Lupe genommen. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Globalisierung und den Inhal-ten der allgemeinen Bildung, namentlich unter dem Aspekt der Berücksichtigung der Vielfalt oder Pluralität der Soziokulturen und Sprachen? Die pädagogischen Entwürfe der PXOWLFXOWXUDOHGXFDWLRQ und der interkulturellen Erziehung oder Bildung enthalten bereits Teilantworten auf diese Frage. Diese Antworten sind jedoch heute nicht mehr hinreichend, um ein adäquates theoretisches Konzept der allgemeinen Pädagogik angesichts der gesamten, vielschichtigen Pluralität der Gesellschaft darzustellen. Dies werde ich zuerst begründen, indem ich in einem ersten Schritt auf Aspekte der veränderten Lebensbedingungen aus dem Blickwinkel der „Pluralität“ eingehe (2.1 und 2.2), sodann auf empirische Ergebnisse zu den kulturellen Inhalten der Curricula der allgemeinen Bildung hinweise (2.3).
*OREDOLVLHUXQJPXOWLNXOWXUHOOHXQGSRO\SKRQH,GHQWLWlW In der Literatur im Umfeld der interkulturellen Pädagogik finden sich mittlerweile nicht wenige Arbeiten, die – auch empirisch – dem Thema der bikulturellen Identität gewidmet sind. Als Beispiele nenne ich hier nur das immer noch hervorragende Handbuch von Fthenakis, Sonner, Thrul und Walbiner 22 (1985) zur bilingual-bikulturellen Entwicklung des Kindes, die Untersuchung von Portera (1995) über die „interkulturellen Identitäten“ von italienischen Jugendlichen, die in Südbaden und in Süditalien aufgewachsen sind,23 sowie die Untersuchung von Cesari (1997) über die Strategien der Integration 24 von jungen bikulturellen Erwachsenen in der Schweiz.
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E. Poglia: *OREDOLVDWLRQ7HUUDLQPLQpRXWHUUDLQIHUWLOHSRXUO pGXFDWLRQ", in: M. Carton u.a. (Hrsg.): Globalisation économique et systèmes de formation en Suisse, Genève 1999, 25-45. W.E. Fthenakis u.a. (Hrsg.): %LOLQJXDOELNXOWXUHOOH (QWZLFNOXQJ GHV .LQGHV (LQ +DQGEXFKIU3V\FKRORJHQ3lGDJRJHQXQG/LQJXLVWHQ, München 1985. A. Portera: ,QWHUNXOWXUHOOH,GHQWLWlWHQ)DNWRUHQGHU,GHQWLWlWVELOGXQJ-XJHQGOLFKHU LWDOLHQLVFKHU+HUNXQIWLQ6GEDGHQXQGLQ6GLWDOLHQ, Köln u.a. 1995. V. Cesari Lusso: 4XDQGRODVILGDYLHQHFKLDPDWDLQWHJUD]LRQH3HUFRUVLGLVRFLD OL]]D]LRQHHGLSHUVRQDOL]]D]LRQHGLJLRYDQLÄILJOLGLHPLJUDWL³ Roma 1997.
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Weniger beachtet wurde bisher – zumindest in Europa – ein weiteres Phänomen, nämlich die Entstehung von Identitäten, die nicht nur bikulturell, sondern hinsichtlich der Identifikationskulturen und der Rollenmodelle PHKU IDFK zusammengesetzt sind (ich schreibe an dieser Stelle aus guten Gründen nicht „multikulturell“) Die Globalisierung zieht es nach sich, dass solche mehrfachen Identitäten immer mehr das Selbstverständnis von Personen prägen, wie mit Hinweis auf empirische Arbeiten aus dem angelsächsischen Raum gezeigt werden kann. Die Psychologin Turkle hat das Verhalten von Personen untersucht, die im Internet für sich virtuelle Welten erschaffen oder für längere Zeit an Welten teilnehmen, die von anderen entworfen worden sind – sogenannte „MultiUser-Dungeons“ (MUD). Anhand von Interviews zeigt Turkle, dass das Schlüpfen in verschiedene Rollen auf nachhaltige Weise den Alltag, die Befindlichkeit, das Verhalten und schließlich – so folgert die Autorin – die Identität der beteiligten Personen prägen kann – oft keineswegs zu ihrem 25 Nachteil. Für die Autorin kann der Identitätsbegriff durchaus mit dem Tatbestand der Pluralität der Identifikationsobjekte in Verbindung gebracht werden, so dass von einer „dezentrierten“ Auffassung des Selbst gesprochen werden kann. Zwar wird der Begriff der Identität in der Psychoanalyse zumindest bei vielen Vertretern als von der Idee der Einheit untrennbar aufgefasst, aber Turkle zeigt, dass in der historischen Debatte, ob Identität unitär oder multipel sei, die psychoanalytische Theorie keine einheitliche Position 26 eingenommen hat. Laut Turkle werde sogar Freud zu Unrecht die Theorie der Identität als einheitlich unterschoben. Eine Identität kann also durchaus auf verschiedene soziokulturelle Quellen zurückgreifen, sei es über virtuelle Kanäle, sei es über das real Erlebte (auf eine Erörterung der Begriffe „virtuell“ und „real“ und der Frage, ob eine Grenzziehung möglich ist, muss hier verzichtet werden). Zwei weitere Psychologen, Pollock und Van Reeken haben anhand von Interviews, Tagebüchern und teilnehmender Beobachtung die Biographien sogenannter „Third Culture Kids“ (TCK) analysiert.27 Es handelt sich um Kinder und Erwachsene, die aufgrund der internationalen Karrieren ihrer El25 26 27
S. Turkle/LIHRQWKH6FUHHQ, New York 1995. Ebd., 287. D.C. Pollock/R.E. v. Reeken: 7KLUG&XOWXUH.LGV7KH([SHULHQFHRI*URZLQJ8S $PRQJ:RUOGV, Yarmouth, Maine 1999.
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tern für die wiederholte Auseinandersetzung mit einer neuen Sprache und Kultur Strategien entwickeln mussten und sich dadurch eine spezifische „dritte“ kulturelle Identität konstruiert haben, eine Identität, mit der die Kids und die ehemaligen Kids mehr oder weniger friedlich koexistieren können. Für diese Spielart der kulturell aus verschiedenen, auch geographisch lokalisierbaren Elementen zusammengesetzten Identität, habe ich den Begriff der 28 polyphonen Identität geprägt und autobiographisch aufgearbeitet. Polyphone Identität definiere ich folgendermassen: Die von Pollock und van Reken beschriebene zusammengesetzte Identität international aufwachsender Personen kann auch bei Personen festgestellt werden, die, ohne im engeren Sinne dem Kreis internationaler Beamten oder Angestellten anzugehören, auf andere Weise durch ihre Biographie sich in mehreren Ländern aufhalten und dadurch an mehreren Kulturen partizipieren, sich diese aneignen. Dafür möchte ich den Begriff der ‘polyphonen Identität’ vorschlagen. Personen mit einer ‘polyphonen Identität’ verfügen aufgrund längerer, prägender Aufenthalte in verschiedenen regional oder national verankerten Kulturen über ein Repertoire an kulturell und sprachlich kodierten ‘Stimmen’. Diese können sich, wie in einem Orchester, je nach kommunikativem Zusammenhang isoliert äußern, oder aber in einer Weise kombiniert auftreten, dass der Klang einen eigenen, unverwechselbaren Ausdruck hervorbringt. Dies ist nicht in einem engen, wörtlichen Sinne nur vokal zu verstehen, sondern es erstreckt sich auf sämtliche Ausdrucksmittel der Person – verbale wie averbale –, die eine polyphone Identität hat.
Beide Typen von zusammengesetzter Identität – die aus virtuellen Streifzügen gespeiste und die sich aus realer, physischer und psychischer Mobilität ergebende, bikulturelle oder polyphone Identität – subsumiere ich unter den Begriff der „hybriden Identität“. Im Hinblick auf die Diskussion über allgemeine Bildung postuliere ich, dass multikulturelle Identitäten mit in Betracht gezogen werden müssen, damit die allgemeine Bildung einen Bezug zum Erleben und zu den subjektiven Bildungsvoraussetzungen und -motivationen haben kann. Und dass sie das soll, steht wohl nicht zur Diskussion, wenn wir davon ausgehen, dass Bildung im Dialog zwischen dem Lernenden und dem Lehrenden zustande kommt. Letzterer sollte bei allem Wissensvorsprung mit Vorteil die Lebenswelten seiner Edukanden kennen und würdigen, damit mit
28
C. Allemann-Ghionda: 7KH
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ihnen gemeinsam(anders würde es nicht gehen) das noch verborgene Potential „herausgezogen“ werden kann – wie es der Begriff „educare“ nahe legt.
'UHL$FKVHQGHUVSUDFKOLFKHQXQGVR]LRNXOWXUHOOHQ9LHOIDOW Die Globalisierung hat nicht nur auf der Ebene der subjektiven Identitätsbildung Folgen. Sie zieht auch nach sich, dass die Gesellschaft und ihre Institutionen weit mehr als im Zeitalter der Nationalstaaten von der Vielfalt der Sprachen und Soziokulturen tangiert und verändert werden. Menschen mit unterschiedlichen soziokulturellen Horizonten und sprachlichen Repertoires leben auf engstem Raum; zugleich finden interkulturelle und internationale Kontakte in verschiedener Weise statt. Anders als es lange Zeit in der Literatur über interkulturelle Pädagogik der Fall gewesen ist, möchte ich die Dimension der sprachlichen und soziokulturellen Vielfalt weiter fassen als die, die aus dem Nebeneinander von Einheimischen und Zugewanderten resultiert. Drei Achsen der soziokulturel29 len und sprachlichen Pluralität können genannt werden: – Die vergangenen, gegenwärtigen und wahrscheinlich auch zukünftigen Migrationsbewegungen prägen die meisten Gesellschaften in Nord- wie in Südeuropa, um nur unser näheres Umfeld zu nennen. Migration ist darüber hinaus ein globales Phänomen, das vielfältige Ursachen und Formen aufweist. Daraus ergibt sich, dass die soziokulturelle und sprachliche Vielfalt sich physisch in den gesellschaftlichen, insbesondere in den Bildungsinstitutionen bemerkbar macht. – Eine stattliche Anzahl Länder und Regionen der Welt ist offiziell vielsprachig und multikulturell. In Europa zeigt sich dieses historische Faktum in einzelnen Nationalstaaten und in der Region Europa. In mehrsprachigen Ländern und Regionen legen die Regierungen und die supranationalen Instanzen in offiziellen Stellungnahmen oft darauf Wert, interkulturelle Beziehungen zu fördern. Mehrsprachigkeit und Interkulturalität werden als identitätsstiftend bezeichnet und gefördert. – Die territoriale und sprachliche Mobilität wird in der beruflichen und persönlichen Biographie vieler Menschen zunehmend zur offensichtli29
'H*RXPRsQV&XUULFXOXPGHU/HKUHULQ QHQXQG/HKUHUELOGXQJIUGLHVSUDFKOLFKNXOWXUHOOH9LHOIDOW, Bern 1999.
C. Allemann-Ghionda/C. Perregaux/C.
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chen Realität. Sie haben sich mit internationalen Beziehungen, vielfältigen soziokulturellen Einflüssen und mit der Öffnung gegenüber Europa und der Welt auseinander zu setzen. Spezifische sprachliche, kulturelle und interkulturelle Kompetenzen sind in der internationalisierten und transnationalen Arbeitswelt gefragt. Auch in den Bereichen außerhalb der Arbeitswelt macht sich die Notwendigkeit bemerkbar, sich die analytischen und kommunikativen Kompetenzen anzueignen, die es einem jeden erlauben, verstehender und handelnder Akteur und Bürger zu sein. Was dies im pädagogischen und didaktischen Sinne bedeuten kann, greife ich im vierten Teil wieder auf. Doch zunächst skizziere ich im folgenden Abschnitt (2.3) die Veränderungen, die sich in den Curricula bereits niedergeschlagen haben.
3OXUDOLWlWXQG&XUULFXOD Die unter 2.2 umrissenen gesellschaftlichen Entwicklungen im Zeichen der Pluralität legen die Frage nahe: Haben sich die real existierenden Curricula der allgemeinen Bildung verändert, haben die Entscheidungsträger dafür gesorgt, dass die Bildungsinhalte vermehrt den Veränderungen des Individuums und der Gesell-schaft aus der Sicht der Pluralität der Sprachen und der Kulturen Rechung tragen? Einige wenige Hinweise auf empirische Forschungsarbeiten sollen hier zwei scheinbar gegensätzliche Tendenzen aufzeigen. Die erste Tendenz ist die Homogenisierung der Curricula der höheren Bildung. Benavot, Kamens und Meyer (1996) kommen aufgrund einer qualitativen Inhaltsanalyse von Lehrplänen der Sekundarstufe zum Ergebnis, dass sich die Curricula weltweit 30 zunehmend ähnlicher werden. Die Prioritäten der Fächer sowie die Verteilung der Stunden unterscheiden sich weniger als angenommen werden könnte, wenn die These stichhaltig wäre, dass Bildungssysteme je einen „nationalen Charakter“ aufweisen, wie es die vergleichende Erziehungswissenschaft bis vor wenigen Jahrzehnten behauptet hat. Wie kommt diese Homogenisierung zustande? Für Meyer ist es die „Weltbildungsgesellschaft“, verkörpert etwa durch internationale Organisationen wie Unesco, OECD und andere, die 30
:RUOGZLGH3DWWHUQVLQ$FDGHPLF6HFRQGD
D.H. Kamens/J.W. Meyer/A. Benavot: , in: Comparative Education Review 40, 2 (1996), 116-138.
U\(GXFDWLRQ&XUULFXOD
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eine Homogenisierung vorantreibt. Die zweite Tendenz ist eine Entnationalisierung und zugleich eine kulturelle und sprachliche Pluralisierung der Lehrpläne, die zumindest in einem Teil der Bildungssysteme langsam aber sicher vorgenommen wird – und zwar seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es muss hier die Feststellung genügen, dass seitdem die sprachliche und kulturelle Pluralisierung der Curricula durch die Bildungsministerien global begonnen hat. Was in der Praxis der konkreten Bildungsinstitutionen geschieht, ist meistens weniger spektakulär, wie einige empirische Untersuchungen zeigen.32 Zusammenfassend kann festgestellt werden: die bildungstheoretischen Ana-lysen und Postulate schlagen sich zunehmend auch in der bildungspolitischen Rhetorik und in der von den Richtlinien generierten realen Didaktik nieder.
(QWZXUIHLQHUSOXUDOLVWLVFKHQXQGLQWHUNXOWXUHOOHQ%LOGXQJ Es ist anzunehmen, dass es nicht genügt, über die Differenz zu staunen, sie zu loben und dies mit einem moralischen Appell zur Weltoffenheit zu verbinden – in der Hoffnung, dass eine veränderte Bildung sich schon von selbst einstellen werde. Die in den drei Achsen der Pluralität (2.2) beschriebenen pluralen Veränderungen geben Hinweise für die Integration der Pluralität in einen adäquaten Begriff der allgemeinen Bildung. Wie diese Integration zu erfolgen hat, wird in den folgenden Abschnitten vorgeschlagen. Die transnationale und die Binnenmigration (erste Achse) bringen den Kontakt zwischen unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Religionen, Normen und Werten mit sich, was die Bedingungen jeder Bildungsarbeit im Vergleich zu den in einem Zeitalter der nationalen und ethnischen Homogenität herrschenden verändert. Die europäische Integration und die intranationale Mehrsprachigkeit mancher Länder (zweite Achse) verlangt von den Bildungssystemen, dass sie sich von einer monokulturellen, einsprachigen und 31 32
J.W. Meyer: 'LHNXOWXUHOOHQ,QKDOWHGHV%LOGXQJVZHVHQV, in: Zeitschrift für Pädagogik, Supplement 34 (1996), 23-34. Allemann-Ghionda: 6FKXOH %LOGXQJ XQG 3OXUDOLWlW, a.a.O.; C.A. Grant/J.L. Lei (Hrsg.): Global Constructions of Multicultural Education. Theories and Realities, Mahwah, New Jersey/London 2001; S. Hornberg: (XURSlLVFKH*HPHLQVFKDIWXQG
PXOWLNXOWXUHOOH*HVHOOVFKDIW$QVSUXFKXQG:LUNOLFKNHLWHXURSlLVFKHU%LOGXQJVSR OLWLNXQGSUD[LV, Frankfurt a. M. 1999.
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nationalen Norm weg bewegen. Ziel ist es, die Vielfalt der Sprachen und Kulturen auf verschiedene Weise im Curriculum – im Kanon der allgemeinen Bildung – zu verankern: früher Unterricht in Fremdsprachen, bilinguale Lehrgänge, Einbeziehen der Sprachen regionaler Minderheiten, europäisches oder globales Curriculum insbesondere in Fächern wie Geschichte, Sprachen und Literatur – Bereiche, die in den programmatischen Schriften der Europäi33 schen Kommission heute einen wichtigen Platz einnehmen. Diese Veränderungen sollen interkulturelle Perspektiven begünstigen. Die wirtschaftliche, politische, kulturelle Globalisierung (dritte Achse) verlangt ebenso wie die erste und die zweite Achse vom Individuum, dass es lernt, mit Menschen aus und in „anderen“ kulturellen Umfeldern konstruktiv zu kommunizieren. Diese Forderung hat sich ebenfalls in den curricularen Inhalten niederzuschlagen. Partnerschafts- und Austauschprojekte (zwischen Klassen oder ganzen Schulen sowie während des Universitätsstudiums) zum Beispiel im Rahmen von Programmen der Europäischen Union (etwa SOKRATES) stellen weitere Möglichkeiten dar, eine interkulturelle Kompetenz zu entwickeln. Eine allgemeine Bildung im Sinne eines kritischen Pluralismus – so möchte ich meinen Entwurf nennen – gründet sich auf eine Auseinandersetzung mit der Pluralität der physisch repräsentierten Sprachen und Soziokulturen und dem Pluralismus der Ideen – unabhängig von der physischen Anwesenheit von Angehörigen verschiedener Soziokulturen. Das zugrundeliegende Prinzip kann unter den Begriff der „Dezentrierung“ subsumiert werden, d.h. die Bereitschaft und Fähigkeit, die eigene Sichtweise zu relativieren und zu anderen Sichtweisen in Beziehung zu setzen. Piaget plädierte für eine 34 Lehrerbildung, die sich von diesem Prinzip leiten lassen sollte. Er wies auf die vielschichtige Interdependenz der Systeme hin und wollte eine internationale Erziehung. Seine damaligen psychologischen Theorien zum kindlichen Abschied vom Egozentrismus bildeten die Grundlage. Dazu kamen Informationen über die Aufgabe der internationalen Organisationen, denn er war seit 33
34
Europäische Kommission: /HKUHQXQGOHUQHQ$XIGHP:HJ]XUNRJQLWLYHQ*HVHOO VFKDIW :HLVVEXFK ]XU DOOJHPHLQHQ XQG EHUXIOLFKHQ %LOGXQJ, Luxemburg 1996; dies.: /HUQHQOHEHQGHU)UHPGVSUDFKHQDQGHQ6FKXOHQ GHU(XURSlLVFKHQ8QLRQ, Studien Nr. 6., Luxemburg 1997. J. Piaget: 3V\FKRORJLHDSSOLTXpHjO pGXFDWLRQLQWHUQDWLRQDOH. Comment faire connaître la Société des Nations et développer l'esprit de coopération internationale. Quatrième cours pour le personnel enseignants: compte rendu des conférences données du 3 au 8 août 1931, Genf 1931, 65-68.
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1929 Direktor des Bureau International d’Education in Genf. Heute können wir diesen Gedanken weiterführen, unter Berufung auf die drei unter 2.2 beschriebenen Achsen der Pluralität genauer artikulieren und neuere psychologische Erkenntnisse namentlich zur bikulturellen, multikulturellen und polyphonen Identität sowie zur interkulturellen Kommunikation einbeziehen. Es genügt nicht eine Bildung, welche die Minderheitenkulturen adelt, ihnen eine Dignität zuerkennt. Kulturelle Differenz war und ist weitgehend 35 noch der Fokus im nordamerikanischen Modell und in der europäischen interkulturellen Erziehung, die man als jene „der ersten Generation“ bezeichnen könnte. Der Fokus auf die Minderheiten ist es, der zum unerwünschten Effekt beigetragen hat, dass die interkulturelle Erziehung vom Mainstream der allgemeinen Pädagogik als marginale Subdisziplin in eine Ecke gedrängt worden ist. Notwendig ist vielmehr eine allgemeine Bildung, die a) die menschlichen Fähigkeiten unter Beteiligung aller Gruppen und Schichten zur Entfaltung bringt, im Gegensatz zu einer Bildung, in welcher nur das kultu36 relle Kapital einer einzigen gesellschaftlichen Schicht zum Zuge kommt. Des weiteren ist zu überlegen, wie die allgemeine Bildung b) vor dem Hintergrund der drei Achsen der Pluralität Kompetenzen im analytischen, im 37 kritischen und im kommunikativen Bereich ausbilden kann. Schließlich sind c) die Prioritäten und inhaltlichen Schwerpunkte der allgemeinen Bildung so zu setzen, dass über eine Pluralisierung der Lerninhalte und -vorgänge diskriminierenden Strukturen in den Bildungssystemen entgegengewirkt werden kann. Es ist nur denkbar, die kulturellen Inhalte der allgemeinen Bildung plural und pluralistisch zu gestalten, wenn gleichzeitig die Bildungssysteme sich von einer ausgrenzenden Behandlung der Differenz (wie auch immer sie sich äußern mag) entfernen. Unter diesen Prämissen schlage ich eine Definition von interkultureller und pluralistischer Bildung vor, die folgendermaßen lautet: [Sie ist] eine pädagogische Option, die sprachliche und soziokulturelle Vielfalt in der Bildung organisatorisch, inhaltlich und methodisch als Tatsache aner35 36
37
E. Bronfen/B. Marius/T. Steffen (Hrsg.): +\EULGH.XOWXUHQ %HLWUlJH]XUDQJOR DPHULNDQLVFKHQ0XOWLNXOWXUDOLVPXVGHEDWWH, Tübingen 1997. P. Bourdieu: gNRQRPLVFKHV.DSLWDO±.XOWXUHOOHV.DSLWDO±6R]LDOHV.DSLWDO, in:
ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik und Kultur, Hamburg 1992, 49-79. D.S. Rychen/L.H. Salganik (Hrsg.): 'HILQLQJ DQG 6HOHFWLQJ .H\ &RPSHWHQFLHV, Seattle u.a. 2001.
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kennt. Sie bringt unterschiedliche, kulturell geprägte Inhalte und Perspektiven zur Geltung, sie vergleicht diese miteinander, setzt sie in Beziehung und leitet die Lernenden zur kritischen Betrachtung an. Kulturen und Sprachen von nationalen oder zugewanderten Minderheiten können je nach Zusammensetzung der 38 Bevölkerung und je nach Bildungsangebot beteiligt sein 39
Eine interkulturelle und pluralistische allgemeine Bildung hat sich – daran anschließend – in den folgenden vier Bereichen zu artikulieren: I. Subjektive und objektive Stärkung der Identität und Stellung der soziokulturellen und sprachlichen Minderheiten; II. Auswahl von Bildungsinhalten, die eine Vielfalt der Kulturen voraussetzen und deren Wertschätzung fördern; III. Bildung und Einübung kommunikativer, handlungsbezogener sozialer und interkultureller Kompetenz; IV. Annahme der soziokulturellen, sprachlichen Vielfalt und der Pluralität der Ideen als Herausforderung für die Demokratie. Zu (I). Zu den Leitideen der interkulturellen Pädagogik gehört die Stärkung der Identität der soziokulturellen und sprachlichen Minderheiten. Wie ist aber dieses Ziel zu erreichen, nachdem in der Literatur nahezu Konsens darüber besteht, dass enge und verzerrende kulturalistische und ethnizistische Ansätze nicht weiterführen, sondern kontraproduktiv sind? Das kulturell spezifische Wissen und Können sowie die biographischen Hintergründe der Individuen und Gruppen, die eine andere soziokulturelle Herkunft als die jeweilige Mehrheit aufweisen, sind zu achten. Dazu gehört in erster Linie, dass für ihre Sprachen ein angemessener Platz gefunden wird. Es geht nicht darum, dass die „Andersheit“ der Minderheiten zur Schau gestellt wird, sondern dass die Sprachen der Minderheiten selbstverständlich als normal, als dazu gehörend, in der Schule wahrgenommen werden und im Curriculum präsent sind. Dieses Postulat kann auf verschiedene Weise konkretisiert werden. Die Umstände gestalten sich anders, je nachdem zum Beispiel, ob ansässige oder zugewanderte Sprachminderheiten beteiligt sind. Gemeinsam haben diese beiden Typen von Minderheiten die Tatsache, dass ihre Sprachen von der Mehrheit als „andere“ (häufig auch als weniger wichtige) Sprachen wahrgenommen werden.
38 39
Siehe C. Allemann-Ghionda: ,QWHUNXOWXUHOOH%LOGXQJ, in: Zeitschrift für Pädagogik 36 (1997), 107-149. Die hier ansetzenden Ausführungen stellen eine leicht veränderte Fassung des Entwurfes dar, den ich in 6FKXOH %LOGXQJ XQG 3OXUDOLWlW, a.a.O., 516 ff. dargelegt habe.
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Das soziale Prestige dieser „anderen“ Sprachen kann in der Eigen- und Fremdwahrnehmung erheblich verschieden sein, was sich wiederum auf die Möglichkeit einer Integration in das Curriculum auswirkt. Durch die Integration der „anderen“ Sprachen in den Unterricht wird der kulturelle Inhalt des Unterrichts verändert, indem das Monopol einer implizit „höchsten“ oder „alleingültigen“ Bildungssprache und Kultur entfällt. Komplementär dazu kann sich der Unterricht in seiner kulturellen Qualität durch die Haltung ändern, welche die Lehrkraft Tag für Tag gegenüber der „Andersheit“ ausdrückt. Ich kann hier nicht darauf eingehen, was die Lehrerbildung zu leisten hat, wenn sie für die soziokulturelle und sprachliche Vielfalt kompetente Pro40 fessionalität aufbauen und bilden soll. Haben die Sprachen der Minderheiten einmal einen ernstzunehmenden Platz im Curriculum, so bedeutet das eine Anerkennung der „anderen“ Kulturen. Ist die Lehrkraft in der Lage, aus Überzeugung Respekt vor den „anderen“ Sprachen auszustrahlen und auszudrücken, führt dies zu einem nicht krampfhaften und gestellten, sondern selbstverständlichen Integrieren der soziokulturellen und sprachlichen Vielfalt. Die Anerkennung der Sprachen und Kulturen von Minderheiten schließt keineswegs aus, dass die Schule alles daran setzt, die sprachliche und soziale Integration der Minderheiten voranzutreiben, indem spezialisierter Unterricht in der offiziellen Sprache des Landes oder der Region angeboten werden. Solche Angebote sind jedoch integrativ zu gestalten, denn getrennte Klassen, die das Ziel hatten, das Erlernen der lokalen Sprache in einem „geschützten Raum“ zu ermöglichen, haben bisher das Problem der mangelhaften Integration eher verschärft als gelöst. Die Förderung in der jeweiligen Herkunftssprache, die Wertschätzung der individuellen Zweisprachigkeit, die Bejahung der kollektiven Mehrsprachigkeit, das Anbieten von integriertem Förderunterricht in der lokalen, dominanten Sprache, der qualifizierte Fremdsprachenunterricht und schließlich die Anpassung des Sprachunterrichts an die mehrsprachige Realität einer jeweiligen Klasse – das sind sich ergänzende Ansätze, die dazu beitragen, die Identität und die Stellung der soziokulturellen und sprachlichen Minderheiten subjektiv und objektiv zu stärken. Zu (II). Der Kanon der allgemeinen Bildung ist unter dem Aspekt zu überdenken, dass ethnozentrische, kulturell wertende Botschaften vermieden 40
Siehe C. Allemann-Ghionda/C. De Goumoëns/C. Perregaux: 3OXUDOLWpOLQJXLVWLTXH HWFXOWXUHOOHGDQVODIRUPDWLRQGHVHQVHLJQDQWV, Fribourg 1999.
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werden. Die Vielfalt der Perspektiven, der Relativismus und der kritischrationale Vergleich sollen zum Inhalt, zur Unterrichts- und Lernmethode, zum Prozess und zum Ergebnis der Bildung werden. Das Erlernen von „anderen“ Sprachen ist ein zentraler Zugang dazu. Die qualifizierteBeschäftigung mit Sprachen bedeutet an sich schon Multiperspektivität. Humboldt und viele nach ihm haben die heute kaum umstrittene sprachphilosophische Sicht der Sprachen geprägt, wonach Sprachen, Weltsichten und Lebenswelten untrennbar zusammen gehören. Gerade die unzulängliche Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts ist es, die zu neueren Ansätzen der sprachenorientierten Bildung zur Mehrperspektivität animiert. Ein qualifiziertes Erlernen von Sprachen begünstigt die Fähigkeit zur interkulturellen Verständigung auch außerhalb der Arbeitswelt und zum Abbau von Vorurteilen. Der Unterricht in Fremdsprachen vermag nicht die Komplexität der Kulturen sichtbar und einleuchtend zu machen, wenn das Curriculum nicht absichtlich mit dieser Zielsetzung aufgebaut wird. Zudem eignen sich grundsätzlich nicht nur Sprachen, sondern die meisten Fächer für einen mehrperspektivischen Unterricht. Zu (III). Der plurale und pluralistische Bildungsbegriff soll eine handlungsbezogene Komponente enthalten. Diese wäre etwa so zu umschreiben: Die an der Bildung beteiligten Personen erwerben strategische Fähigkeiten – Schlüsselqualifikationen – die sie in die Lage versetzen, mit und in soziokulturell gemischten Gruppen zu kommunizieren. In einer Schule, die zunehmend integrativ wird, und in einer Gesellschaft, die von Werte- und Normenvielfalt sowie von erhöhter sozialer Durchlässigkeit geprägt ist, ist es wesentlich, verbale und nonverbale Äußerungen, die „anders“ erscheinen, zu verstehen, anstatt beim sofortigen Verurteilen stecken zu bleiben. Nur so kann adäquat gehandelt und kommuniziert werden. Solche Fähigkeiten beinhalten eine metasprachliche, eine metakulturelle und eine metasoziale Kompetenz. Dazu gehört unverzichtbar auch das Wissen, das es ermöglicht, kulturelle Unterschiede als solche zu erkennen und sie nicht mit sozioökonomischen Fakten oder individuellen Eigenheiten oder gar Schwächen, „Defekten“, zu verwechseln. Es ist illusorisch zu hoffen, dass eine globalisierte Welt spontan Individuen hervorbringt, die solche Fähigkeiten von selbst entwickeln. Im Gegenteil, vielfach können wir beobachten, dass die Pluralisierung verunsichert. Fundamentalismus und weitere irrationale Gewaltausbrüche sind einige Folgen davon. Die in manchen Lehrplänen heute übliche Zielsetzung der „sozialen Kompetenz“ zeigt, dass die Verfasser der Lehrpläne dies
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zumindest intuitiv erkannt haben. Das Stichwort „soziale Kompetenz“ droht aber das Stadium des unverbindlichen Wunschdenkens nie zu verlassen und zur leeren Floskel zu verkommen, wenn die allgemeine und die Lehrerbildung nicht aufholen, was hinsichtlich der kulturellen Aspekte der sozialen Kompetenz bisher offensichtlich versäumt wurde. Die Erkenntnisse der For41 schung über interkulturelle Psychologie und Kommunikation stellen ein Kapital dar, dessen Ertrag die Lehrerbildung sich und den jungen Lehramtskandidat/innen nicht vorenthalten sollte. Zu (IV). Schließlich möchte ich auf die Frage eingehen, inwiefern die Pluralität eine Herausforderung für die Demokratie darstellt und die allgemeine Bildung ein Ort dafür ist. Ein Schauplatz dieser Herausforderung ist die Schule als Institution. Bisher konnte beobachtet werden, dass kulturell oder religiös bedingte, ethnisch besetzte Konflikte in der Schule in Ermangelung jeglicher Richtlinie nach improvisierten Strategien „gelöst“ oder besser gesagt umgangen wurden. Auch in Frankreich, das ein zentralistisches Bildungssystem kennt, konnte die Schule keinen stimmigen Verhaltenskodex entwickeln. Die Institution Schule muss jedoch über eine offizielle Strategie verfügen können, um solchen Konflikten ohne Willkür zu begegnen. Die theoretische Diskussion schwankt zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, zwischen Universalismus und Partikularismus. Es gibt auch Versuche, einen Weg des Aushandelns auf der Grundlage von gemeinsam zu bestimmenden Werten zu gehen, von Werten also, denen kaum eine Ideologie und kaum eine Religion widersprechen könnten. Eine aus pädagogischer Sicht meines Erachtens besonders fruchtbare Position ist der deliberative 42 Universalismus. Pluralität als Herausforderung für die Demokratie bedeutet auch: Die soziokulturell heterogenen Klassen bieten eine einmalige Chance, das Diskutieren zu lernen, ohne abstrakte Situationen simulieren zu müssen. Das tägliche Zusammensein mit Gleichaltrigen verschiedener Überzeugung, die Auseinandersetzung mit Ideen, die nicht dem common sense der Mehrheit entsprechen, bergen außerordentlich fruchtbare Bildungsmöglichkeiten in sich.
41 42
A. Thomas (Hrsg.): 3V\FKRORJLHLQWHUNXOWXUHOOHQ+DQGHOQV, Göttingen 1996. A. Gutmann: 'DV 3UREOHP GHV 0XOWLNXOWXUDOLVPXV LQ GHU SROLWLVFKHQ (WKLN, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43, 2 (1995), 273-305.
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3HUVSHNWLYHQ,QWHUQDWLRQDOHXQGLQWHUNXOWXUHOOHgIIQXQJGHU3lGDJR JLN In diesem Teil werde ich vier Thesen erörtern, um zu zeigen, in welcher Weise die Forschung und Lehre der allgemeinen Pädagogik sich in internationaler und interkultureller Hinsicht öffnen und wie sie sich am plural und pluralistisch erweiterten Bildungsbegriff orientieren kann. Es sind dies: (1) Interkulturelle Pädagogik ist NHLQH Ausländerpädagogik. Wohl haben einige Autoren der ersten Generation der interkulturellen Pädagogik (in den siebziger Jahren) Ideen vertreten, die trotz aller gegenteiligen Bemühungen diese „Teildisziplin“ als Reparaturwerkstatt für die Defizite der Kinder, die einen Migrationshintergrund haben, und für die Probleme der Schule mit solchen Kindern und Jugendlichen erscheinen lassen. Solche Konzepte verurteilen die interkulturelle Pädagogik zur Marginalisierung und Ineffektivität. In der heutigen Zeit und nach dem gegenwärtigen Stand der Diskussion wird jedoch eine bewusst allgemeine und umfassende Definition, wie ich sie im dritten Teil gegeben habe, den erweiterten Aufgaben einer interkulturell und pluralistisch verstandenen Erziehung, Bildung und Pädagogik eher gerecht. (2) Der interkulturelle Ansatz hat davon auszugehen, dass soziokulturelle Differenz oder „Pluralität“ verschiedene Dimensionen umfasst. Letztere verlangen nach einer adäquaten Definition des Begriffs der allgemeinen Bildung, nach Veränderungen der Bildungspolitik, der Organisation der Bildungssysteme, der curricularen Inhalte, der Lehrerbildung. In mancher Hinsicht tangiert die Pluralität auch Aspekte der Erziehung: Denken wir an den Einfluss der soziokulturellen Zugehörigkeit(en) und der „Risiken“ in soziokulturell heterogenen und individualisierten Gesellschaften für die personale und soziale Identität des Kindes und des Jugendlichen, die unter diesen Bedingungen oft nicht als monokulturell, sondern als bi- oder multikulturell oder als polyphon bezeichnet werden muss. (3) Konzepte der „interkulturellen“ Pädagogik sind vor dem Hintergrund der drei Achsen der Pluralität zu entwickeln. Eine interkulturelle, eine die Pluralität anerkennende und integrierende Pädagogik soll also nicht eine „Sonderpädagogik“ nur für die Freunde und Beschützer von Migranten und anderen ethnischen Minderheiten oder für eine Elite international oder kosmopolitisch denkender Bürger sein. Vielmehr sind interkulturelle Ansätze in die bildungspolitische und in die bildungstheoretische Diskussion, in Lehre und Forschung zu integrieren.
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(4) Wohl ist es so, dass heute allgemeine Pädagogik in den meisten Ländern sich immer noch als eine national eingegrenzte Disziplin darstellt. Zunehmend erfolgt aber auch eine Internationalisierung. Immer mehr Aufsätze in der =HLWVFKULIWIU3lGDJRJLNund in der =HLWVFKULIWIU(U]LHKXQJVZLVVHQ VFKDIW – um nur die im deutschsprachigen Raum bekanntesten beiden Beispiele zu nennen – behandeln Themen im internationalen Vergleich oder zumindest so, dass der Blick über den nationalen und eigenkulturellen Horizont hinaus keine Seltenheit mehr ist: wieder eine Erscheinung, die mit Globalisierung zu tun hat. Neben dem oben umrissenen interkulturellen Zugang privilegiere ich eine Erziehungswissenschaft, die interkulturelle Gesichtspunkte integriert und die international (gegebenenfalls interkulturell oder interregio43 nal) vergleichend ist. Was theoretisch für viele klar und plausibel ist, bewahrheitet sich in der vorherrschenden Bildungstheorie und in der Bildungspraxis oft nicht. Der Bildungsbegriff, der die Theorie und wohl auch große Bereiche der real existierenden Schule und Lehrerbildung prägt, verlässt nur zögernd und punktuell die Bahnen des vertrauten Monokulturalismus, obwohl zugleich eine fortschreitende sprachliche und kulturelle Pluralisierung der Benutzer der Bildungssysteme festgestellt werden kann. Eine allgemeine Pädagogik, die interkulturelle und internationale Gesichtspunkte integriert, verspricht in der heutigen Zeit überzeugender als eine national eingegrenzte Pädagogik das Verständnis der Bildungs- und Erziehungsfragen der Gegenwart zu fördern und Leitideen für Reformen anzubieten. Die gegenwärtigen Reformen im Hochschulwesen (im Zuge der Bologna-Erklärung von 1999) bieten einen strukturellen Rahmen. Dieser darf nicht vergessen machen, dass die Curricula der Erziehungswissenschaft sich auf Globalisierung, Pluralisierung und Interkulturalität einzustellen haben.
43
C. Allemann-Ghionda: Weinheim/Basel 2004.
(LQIKUXQJ LQ GLH YHUJOHLFKHQGH (U]LHKXQJVZLVVHQVFKDIW,
8OULFK%DUWRVFK
%HZXVVWVHLQVZDQGHOXQGSROLWLVFKJHVLFKHUWHU:HOWIULHGH Zur Aktualität einer politischen Idee This article aims at showing the contemporary relevance of Carl Friedrich von Weizsäcker’s political thinking. In 1963, he pointed to the permanent danger for mankind caused by the self-destructive power of atomic weapons, which could form the basis for all politics in the future. Referring to this possible future, he claimed that a change of consciousness was necessary. As will be shown here, this change of consciousness was a central pedagogical feature of his approach. Another political thinker of that time, Günter Anders, will find mention to underline this central feature. Differences and agreements between the two authors illustrate the political tasks at hand: the conservation of the human being. Francis Fukuyama’s 2XU3RVWKXPDQ)XWXUHworks from that same threat: the end of mankind. In that way, the paper illuminates, Weizsäcker’s thoughts are still insightfull and relevant. Weizsäcker’s insight that the use of weapons of mass destruction can only be hindered by a politically secured peace finds an analogue in Fukuyama’s call for the political insurance of human being. Once again, in order to survive, the paper argues, the possibility given to trespass all limitations of human powers requires to reasonably transcend the limits of contested political ideas. Der vorliegende Text will die Aktualität der politiktheoretischen Ideen von Carl Friedrich von Weizsäcker – die er u.a. 1963 formulierte – aufzeigen, indem er auf die grundlegende, fortbestehende, aber erweiterte Selbstgefährdung der Menschheit im aktuellen Kontext des Jahres 2003 hinweist. Ausgehend von dieser Einsicht hat Weizsäcker einen notwendigen Bewusstseinswandel in den Mittelpunkt seiner politischen Hoffnungen und Befürchtungen gestellt. Bewusstseinswandel als ‘pädagogische’ zentrale Figur in seinem Denken wird rekonstruiert und über einen anderen zeitgenössischen Denker der atomaren Gefahr – Günter Anders – veranschaulicht. Die Differenz und Übereinstimmung der beiden Mahner bildet dann die Grundlage um auf eine wesentliche, d.h. also qualitative Änderung der politischen Aufgaben unserer Gegenwart und Zukunft hinzuweisen: die Bewahrung des ‘Wesens des Menschen’. Hierfür wird eine Schrift von Francis Fukuyama herangezogen: „Das Ende des Menschen“. Die Überschreitung jeglicher bisheriger Grenze menschlicher Macht muß – und dies verbindet Weizsäcker und Fukuyama zwar implizit aber fundamental – zu einer rational begründeten Überschreitung jeglicher bisheriger Grenze vernünftiger politischer Idee führen.
Angesichts der gegenwärtigen grundlegenden Selbstgefährdung der Menschheit haben die politiktheoretischen Ideen von Carl Friedrich von Weizsäcker, in denen er einen notwendigen Bewusstseinswandel in den Mittelpunkt seiner
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politischen Hoffnungen und Befürchtungen stellt, neue Aktualität. Bewusstseinswandel als ‘pädagogische’ zentrale Figur in seinem Denken wird im vorliegenden Text rekonstruiert und über einen anderen zeitgenössischen Denker der atomaren Gefahr – Günter Anders – veranschaulicht. Die Differenz und Übereinstimmung der beiden Mahner bildet dann die Grundlage, um auf eine wesentliche, d.h. also qualitative Änderung der politischen Aufgaben unserer Gegenwart und Zukunft hinzuweisen: die Bewahrung des ‘Wesens des Menschen’. Hierfür wird eine Schrift von Francis Fukuyama herangezogen: 'DV (QGH GHV 0HQVFKHQ.1 Im Kern erweist sich die Aktualität der Überlegungen von Weizsäckers dann im Blick auf zwei fundamentale Gefährdungen, die beide der wissenschaftlich-technischen Bemächtigung des Menschen geschuldet sind: der umfassenden Destruktionsmacht und der umfassenden Konstruktionsmacht, Kerntechnik und Gentechnologie. Weizsäckers grundlegender Einsicht, dass der Einsatz von Massenvernichtungswaffen nur durch einen politisch gesicherten Weltfrieden verhindert werden kann, spiegelt sich dann analog in Fukuyamas grundlegender Forderung nach einer politischen Sicherung des menschlichen Wesens. Die Überschreitung jeglicher bisheriger Grenze menschlicher Macht in nahezu irrationale Bereiche muss – und dies verbindet Weizsäcker und Fukuyama implizit wie fundamental – zu einer rational begründeten Überschreitung politischer Ideen führen.
3ROLWLVFKH,GHHXQGDNWXHOOH3ROLWLN Politikwissenschaft befasst sich unter anderem mit der Entwicklung und der Geschichte von politischen Ideen. Dabei geht die politische Ideengeschichte von der historischen Abhängigkeit und Wirkmächtigkeit des Nachdenkens über Politik aus, sobald dieses Denken kommuniziert wird – also das individuelle Nachdenken überschreitet. Wenn nun von der Aktualität HLQHU älteren politischen Idee gesprochen werden soll, so ist damit mindestens zweierlei berührt: Zum einen wird unterstellt, dass die Idee in einem anderen historischen Kontext entstanden ist, auf den sie sich – möglicherweise sinnvoll – bezogen haben mag. Zum anderen wird sie in anachronistischer Weise als aussagekräftig innerhalb eines gegenwärtigen Kontextes erachtet. Dies wie1
F. Fukuyama: 'DV(QGHGHV0HQVFKHQ, Darmstadt 22002.
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derum ist nicht unmittelbar einleuchtend. Schließlich kann man davon ausgehen, dass die zeithistorischen Umstände für die Formulierung und Gestaltung 2 von Politik einen steten Wandel bedeuten und erzwingen. Die Wiederholung des Gleichen scheint nicht möglich und die Meta-Ebene einer geschichtsphilosophischen Entwicklungsgewissheit ist nicht verfügbar. Wüsste man sich im Besitz einer sicheren Erkenntnis, könnte man die Einsicht in die historischen Abläufe selbst der Geschichtlichkeit entheben und ahistorisch formulieren. Wie aber soll nun, wenn dieser Weg verstellt ist, eine ‘historische’, also geschichtlich verortete Idee zur Politik dann Aktualität erhalten? Auch die Möglichkeit ‘DXV der Geschichte zu lernen’, hilft hier nicht richtig weiter, da sie eine Kontinuität der Entwicklung unterstellt, die fraglich erscheint. Dies gilt besonders dann, wenn die politische Idee, um die es geht, vom fundamental Neuen ausgeht, und damit die Brüche der Kontinuität geradezu voraussetzt. Nun sollte es aber möglich sein LQ der Geschichte zu lernen. Damit würde weder die Enthebung der eigenen Position des Beobachters aus dem Laufe der Geschichte heraus in eine archimedische Position, noch die Überhöhung dieses Beobachters durch die vermeintliche Fähigkeit historischer erfahrungsgeleiteter Analogieschlüsse möglich. ‘In der Geschichte zu lernen’ könnte bedeuten, die jeweils neuen Bedingungen zu verstehen und ihre fortwährende Präsenz als Bedingung auch für die Zukunft herauszuarbeiten. Es ginge also darum, die Konstanz von Bedingungen zu erschließen; d.h. im Sinne einer Fragestellung von Immanuel Kant ‘die Bedingungen der Möglichkeit von’ Politik neu zu bestimmen. Eine vermeintliche, in diesem Sinne konstante Bedingung ist der Mensch. Solange Politik geschehen wird, ist sie an die Präsenz des Menschen selbst gebunden. So ist die stets neu reflektierende Beobachtung ‘Was ist der Mensch?’ ein Ausgangspunkt für politische Ideenbildung. Eine politische Anthropologie kann dabei als Entwicklungsverlauf des Menschen verstanden werden, auch ohne eine eschatologische Entwicklungsgeschichte voraussetzen zu müssen. Eine weitere Konstante istdie Welt. Solange die Präsenz des Menschen gedacht werden kann, wird sie in der Welt gedacht. Die Minderung der räumlichen und stofflichen Lebensressourcen ist eine stets neue, je aktuelle Beobachtung und zugleich eine bleibende Einschränkung der Zu2
Vgl. I. Fetscher: (LQOHLWXQJ, in: Ders./H. Münkler (Hrsg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen, München 1988, 21-39.
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kunft. Soll die Natur als Lebensraum des Menschen Bestand haben, so ist ein ‘Friedensschluss’ mit ihr nötig. Schließlich ist die Macht des Menschen eine je historische und gegenwärtige Bedingung. Gemeint ist die Fähigkeit des Menschen, verändernd auf sich selbst und auf seine Welt einzuwirken. Diese Macht ist mit der naturwissenschaftlich-technischen Entwicklung je zum historischen Zeitpunkt gewachsen. Sie hat immer zwei Aspekte: Macht zur Konstruktion und Macht zur Destruktion (=Dekonstruktion), Bewahrung der Schöpfung und Zerstörung der Schöpfung. Als Bedingungen der Möglichkeit von politischer Existenz begründen diese konstanten Bedingungen drei politische Forderungen: (1) Gerechtigkeit und Friede unter den Menschen, da der Krieg im atomaren Zeitalter stets die Auslöschung des Menschen riskiert. (2) Friede mit der Natur, da die Zerstörung der lebensfreundlichen Natur die Lebensbedingungen des Menschen auslöscht. (3) Bewahrung der Schöpfung, da das Wesen des Menschen auf dem Spiel steht. Eine historische politische Idee, die aktuell bleiben wollte, hätte sich demnach mindestens an diesen drei Grundforderungen zu orientieren. Darüber hinaus muss sie die Bedingungsfaktoren dieser Grundforderungen bestimmen. Für Carl Friedrich von Weizsäcker können diese Voraussetzungen zutref3 fen. Er richtete sein politisches Denken an den oben genannten drei politischen Forderungen aus. Er suchte die aktuellen Parameter dieser Fragestellungen, die für die Zukunft gültig bleiben würden. Dagegen blieb die detaillierte Schilderung der erwünschten möglichen Zukunft weitgehend aus. So erklärt sich, dass seine politiktheoretischen Begrifflichkeiten schnell einleuchtend wirken, bei genauerer Betrachtung aber seltsam leer und nichtssagend erscheinen mögen. Dies gilt z.B. für „Weltinnenpolitik“ ebenso wie für „politisch gesicherten Weltfrieden“, die im folgenden noch näher bestimmt werden. Weizsäcker schrieb 1986 in einer persönlichen Rückschau: Im Anfang des Starnberger Instituts wusste ich nur die Formel, die Bewahrung des Friedens müsse die politische Priorität haben. Mehr ist auch nicht dazugekommen. Und die Formel blieb blass, geeignet für die verlogenen Sonntagsre4 den der Politiker.
3 4
Siehe C.Fr.v. Weizsäcker: 'LH=HLWGUlQJW(LQH:HOWYHUVDPPOXQJGHU&KULVWHQIU *HUHFKWLJNHLW)ULHGHQXQGGLH%HZDKUXQJGHU6FK|SIXQJ, München/Wien 31986. Ders.: %HZXVVWVHLQVZDQGHO, München/Wien 1988, 429.
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Heute, fasst dreißig Jahre später, kann die einfache Formel „die Bewahrung des Friedens muß politische Priorität haben“ weiterhin Gültigkeit beanspruchen und bleibt für politische Rede geeignet. Um Missverständnisse bezüglich dieser Übereinstimmung zu vermeiden, muss man sich vergegenwärtigen, warum Weizsäcker die politische Priorität der Friedenswahrung konstatierte und weshalb dies heute ebenso gelten sollte: „Es handelt sich darum, politische Formen zu finden, in denen eine Menschheit leben kann, die weiß, 5 wie man Atomwaffen macht.“ Die heutige und zukünftige Welt ist also durch das Wissen um die Technik der atomaren Waffen in eine qualitative neue Lage geraten – diese gilt seit 1938 bzw. 1945 für alle Zukunft. Jede Überlegung, wie der Weltfriede politisch gesichert werden könnte, muss allerdings zugleich die Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Gefahren militärischer Sicherheitspolitik reflektieren. Die Kriegsgefahr blieb für Weizsäcker stets der Ausgangspunkt. Der Krieg war und ist – wie wir heute immer mehr erkennen müssen – eine „weltgeschichtliche Normalität“6 und muss auch künftig als eine mögliche Folge traditioneller Politik gesehen werden. Die 7 ‘prä-atomare’, realistische Tradition der Politik ist noch nicht überwunden. Sie wird trotz ihrer anachronistischen Züge weitergeführt, obwohl die atomaren Vernichtungswaffen dem Krieg eine neue Qualität gegeben haben. Während des kalten Krieges erzwang eine gegenseitige Bedrohung der feindlichen Mächte die Vorbereitung eines Krieges, der nicht mehr geführt werden durfte. Eine historisch völlig neuartige, paradoxe Situation war entstanden, die ein grundlegendes Dilemma der Sicherheitspolitik im atomaren 8 Zeitalter offenbarte. Sicherheitspolitik war auch in ihrer militärischen Ausprägung nicht mehr grundsätzlich die Vorbereitung auf eine kriegerische Auseinandersetzung, falls friedliche politische Mittel versagten. Sie wurde, als potentielle militärische Kraft, zur Bedingung der Aufrechterhaltung friedlichen politischen Verkehrs und damit Mittel einer Verhinderung ihrer eige9 nen praktischen Anwendung. Dies kam vor allem in der Forderung zum Ausdruck, dass nukleare Waffen politische Funktion haben müssten. Ihr Ein5 6 7 8 9
Ders'HUEHGURKWH)ULHGH, München/Wien 1981, 47. Ders.: Die Zeit drängt, a.a.O., 38. Zum politischen Realismus siehe U. Bartosch: :HOWLQQHQSROLWLN =XU 7KHRULH GHV )ULHGHQVYRQ&DUO)ULHGULFKYRQ:HL]VlFNHU, Berlin 1995, 91-133. Ders.: 'HU *DUWHQGHV0HQVFKOLFKHQ%HLWUlJH]XUJHVFKLFKWOLFKHQ $QWKURSRORJLH, München/Wien 61978, 46. Ders.: Der bedrohte Friede, a.a.O., 252.
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satz – also ihre PLOLWlULVFKH )XQNWLRQ – musste zwingend ausgeschlossen 10 werden, „nicht Sieg, sondern Kriegsverhütung ist die Aufgabe.“ Nach Weizsäcker führte diese Sicherheitspolitik zu der widersprüchlichen Aufgabe: a) die Bereitschaft zur Vorbereitung des Krieges als unbedingt notwendig aufrechtzuerhalten und b) zugleich die Abschaffung der Institution des Krie11 ges zu ermöglichen: Beide Forderungen durften sich als bestimmende Faktoren konkreter Sicherheitspolitik nicht widersprechen. Es musste gelten können: Alles soll der Erhaltung des Friedens in seiner nicht garantierten Form, der nuklearen Abschreckung, dienen, als militärisch-technisch erreichter Zeitgewinn für das Bemühen, einen politisch gesicherten Weltfrieden zu schaffen. In keinem Fall durfte die militärische Sicherheitspolitik bereits 12 selbst schon als Lösung des Friedensproblems verstanden werden. Vielmehr musste sie, unter Berücksichtung aller erreichbarer Fakten, eine klare 13 Sichtung der Gefahren vornehmen. Seit 1989/90 ist die öffentliche Wahrnehmung dieser Gefahr weitgehend verschwunden. Die Selbstgefährdung der Menschheit durch den stets möglichen Einsatz der vorhandenen atomaren Massenvernichtungswaffen hat sich aus dem allgemeinen Bewusstsein geschlichen. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Ost-West-Konfliktes schien es so, als sei dieses Problem mitgelöst worden. Die atomare Bedrohung war fälschlich als Produkt dieses Konfliktes wahrgenommen worden. Die waffenstarrende Konfrontation der antagonistischen Systeme war beendet und mit ihr scheinbar auch der Albtraum einer atomaren Vernichtung auf Gegenseitigkeit. Dies war ein Trugschluss, denn: Was heraufkam, war nicht Frieden, sondern ein verändertes Arrangement von Gewalt und Ordnung, eines, in dem die atomare Drohung, zum Teil zumindest, wieder durch den begrenzten Krieg und die latente Drohung der Gewalt wieder 14 durch deren manifesten Ausbruch ersetzt worden sind.
Heute steht die Welt ständig am Abgrund „neuer Kriege“, deren Folgen 15 noch immer schwer zu ermessen sind. Der Irak-Krieg wurde unter anderem 10 11 12 13 14 15
Ders.: Bewußtseinswandel, a.a.O., 80. Ders.: Der bedrohte Friede, a.a.O., 187. Ebd., 188. Ebd., 203, und ders.: .ULHJVIROJHQXQG.ULHJVYHUKWXQJ, München 21971, 4-8. H. Münkler: *HZDOWXQG2UGQXQJ'DV%LOGGHV.ULHJHVLPSROLWLVFKHQ'HQNHQ, Frankfurt 1992, 8. Ders.: 'LHQHXHQ.ULHJH, Reinbek bei Hamburg 2002.
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damit begründet, dass der Diktator des Irak nach atomaren Massenvernichtungswaffen strebe. Der pragmatische Kern der amerikanischen Haltung im Krieg gegen den Irak bildeten nicht reale Waffenlager, sondern die vorgestellte Möglichkeit solcher. Das überwunden geglaubte Schreckgespenst vom Einsatz atomarer Waffen war also plötzlich wieder völlig real geworden. Bereits im afghanischen Feldzug gegen die Taliban und al-Qaida wurde das Risiko einer atomaren Eskalation zwischen Indien und Pakistan billigend in Kauf genommen. Für viele Beobachter erschien das nukleare Säbelgerassel zwischen den beiden ‘kleinen’ Atommächten als überraschend und anachronistisch. Es ist Ausdruck einer unverändert bestehenden Gefahr, deren alte Abschreckungslogik nicht mehr mit der neuen Rolle der Atomwaffen in der US-amerikanischen Militärdoktrin zusammenpasst. Ebenso erschien die Drohgebärde von Nordkorea als geradezu unwirklich und die Weltöffentlichkeit belächelte fast die unglaubwürdig erscheinenden Kraftsprüche einer ‘Hunger-Diktatur’. Die Weltöffentlichkeit reagierte mit Bestürzung über Nordkoreas Ausstieg aus dem Atomwaffensperrvertrag und der Androhung eines Präventivschlages. Es hat also den Anschein, als müsse die „Kunst der Kriegsvermeidung“ wieder neu ins Repertoire der Weltpolitik eingebracht werden. Berücksichtigt man die jüngste amerikanische Politik grundsätzlich als Handeln im Krieg, so wird man sagen müssen: Der Kalte Krieg ist nach einer Zwischenphase der ‘Neuen Weltordnung’ unter der vermeintlichen Leitung der UNO – die nie wirklich diese Rolle als Erbauer oder gar Bewahrer der „Brücken in die Zukunft“ (K. Annan) übernehmen konnte – in ein Zeitalter eben dieser „neuen Kriege“ getreten. Die Vereinigten Staaten haben sich entschlossen für dieses Zeitalter die Führung zu übernehmen, es zum Zeitalter des Durchbruchs ihrer politischen Ideenwelt zu gestalten. Diese Führungsrolle orientiert sich nicht an bislang geltenden rechtlichen Rahmensetzun16 gen. Die militärische Ausübung der amerikanischen Führungsrolle ist nicht 16
In Erwartung eines amerikanischen Angriffs auf den Irak formulierte Münkler bereits 1992: „Falls die USA den eingeschlagenen Kurs weiterverfolgen, werden sie den Irak, den sie 1991 noch mit Blick auf die regional stabilisierenden Effekte seiner staatlichen Existenz fortbestehen ließen, wohl angreifen. Dies würde dem jetzigen Völkerrecht den Todesstoß versetzen. Ein anderes Völkerrecht dürfte dann an seine Stelle treten. Und das wäre keines zwischen prinzipiell Gleichen, sondern, wie die Rückkehr der Vorstellung von gerechtem Krieg zeigt, zutiefst asymmetrisch.“ (Ebd., S. 242)
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mehr defensiv, Gewalt abschreckend, sondern offensiv, Gewalt einsetzend. An die Stelle der Kriegsverhütung ist nahezu vollständig die Kriegsführung getreten. Neben den Terrorattacken vom 11. September 2001 ist wohl nichts in der sicherheitspolitischen Entwicklung unserer Welt so einschneidend wie die Veränderung der militärischen Doktrin der USA. Diese Veränderung hatte bereits früher begonnen und sie zeigt sich z.B. in der Aufkündigung des ABM-Vertrages. Sie verfolgt erneut – nach den 6WDU :DUV-Plänen von Ronald Reagan in den 80er Jahren – die Idee der eigenen Unverwundbarkeit gegen Langstreckenraketen. Sie befreit die eigene militärische Handlung von allen Einschränkungen und eröffnet reaktive sowie präventive Aktionen gleichermaßen. Und sie bezieht atomare Waffen in die Technik der Kriegsführung auf jeglicher Ebene mit ein. Die Ungeheuerlichkeit besteht in der Aufhebung jeglicher Trennung zwischen nuklearer und konventioneller Kriegsführung. Damit scheint eine militärische Sicherheitslogik erreicht, die weit hinter die Zeit von $UPV&RQWURO zurückfällt. Die atomaren Waffen sind heute als „Weiterentwicklung der Artillerie“ eingeplant, womit ein Ausspruch von Konrad Adenauer von 1957 seltsam anmutende nachträgliche Gültigkeit erlangt. Diese historische Anmerkung sei gemacht, da sie an den Ursprung von Weizsäckers öffentlicher politischer Aktivität führt: der Göttinger Erklärung, die im Kern ein Aufruf zum notwen17 digen Bewusstseinswandel war. Atomare Waffen sollten keinesfalls innerhalb der konventionellen militärischen Logik gedacht werden dürfen. Darum ging es Weizsäcker und den anderen „Atom-Forschern“ damals. Gefordert war ein Wandel des Bewusstseins. Die Aktualität dieser Forderung sollte bis hierher skizzenhaft begründet worden sein. Nun gilt es, „Bewusstseinswandel“ als Forderung verständlich zu machen.
%HZXVVWVHLQVZDQGHOXQGDSRNDO\SWLVFKH'HVWUXNWLRQ Im Werk von Carl Friedrich von Weizsäcker, des „Denkers einer Weltinnen18 politik“, nimmt die Forderung nach einem Bewusstseinswandel eine zentra17
18
Siehe Bartosch, Weltinnenpolitik, a.a.O., 62-90; E. Krauß: 9RQGHU8UDQVSDOWXQJ ]XU *|WWLQJHU (UNOlUXQJ. 2WWR +DKQ :HUQHU +HLVHQEHUJ &DUO )ULHGULFK YRQ :HL]VlFNHUXQGGLH9HUDQWZRUWXQJGHV:LVVHQVFKDIWOHUV, Würzburg 2001. M. Gräfin Dönhoff: 'HQNHU GHU :HOWLQQHQSROLWLN =XP *HEXUWVWDJ YRQ &DUO )ULHGULFKYRQ:HL]VlFNHU, in: Die Zeit, 27.06.1997.
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le Stellung ein. Die fundamentale Wandlung des Bewusstseins der entscheidenden Eliten und schließlich der Menschheit insgesamt ist die Voraussetzung, um der atomaren Drohung in der Form eines politisch gesicherten 19 Weltfriedens erfolgreich begegnen zu können. Dabei ist die Bedrohung, die Carl Friedrich von Weizsäcker seit 1939 erkannt und wahrgenommen hatte, durch die technische Möglichkeit des Menschen repräsentiert, Massenvernichtungswaffen mit einem schier unbegrenzten Zerstörungspotential herzustellen und anzuwenden. Der verantwortliche Umgang mit dieser Möglichkeit wird zu einer der entscheidenden „Lebensbedingungen der naturwissenschaftlich-technischen Welt“, deren Erforschung sich Weizsäcker in den Jahren von 1970-1980 in einem eigens dafür in Starnberg eingerichteten Institut widmet.20 Aber nicht die militärische Bedrohung allein wird von ihm wahrgenommen. Bereits in seiner Rede „Bedingungen des Friedens“ von 1963 hatte er auch auf die Gefahr einer ökologischen Katastrophe angespielt,21 die er in den folgenden Jahren auch immer deutlicher berücksichtigte. Gleichwohl darf man für Carl Friedrich von Weizsäcker eine klare Präferenz in der Gefahrenwahrnehmung der atomaren Selbstvernichtung voraussetzen. Die ökologische Problemstellung erschien ihm – zumindest zeitweise – potentiell mit naturwissenschaftlichem Sachverstand lösbar und einer allgemeinen vernünftigen Verständigung eher zugänglich. Das Paradoxe unseres Zeitalters jedoch drückt sich nach Weizsäcker in der Tatsache aus, dass technisch-naturwissenschaftliche Mittel, die Resultat einer höchstentwickelten partikularen Erkenntnisfähigkeit des Menschen sind, mit einem nahezu ‘archaischen’ Politikverständnis verwaltet werden sollen. Naturwissenschaftliche Technik und soziale Organisation stehen in einem anachronistischen Verhältnis. Auch dieser Gedanke war bereits bei anderen Autoren aufgetaucht, die teilweise mit Weizsäcker in enger Verbindung, aber auch durchaus in kritischer Distanz zu ihm standen. Sie können in der Position eines ‘Atomaren Realismus’ analytisch zusammengefasst werden.22
19 20 21 22
Bartosch, Weltinnenpolitik, a.a.O., 307-317. C.Fr. von Weizsäcker: 'HUEHGURKWH)ULHGH±KHXWH, München/Wien 1994, 185220. Ders.:%HGLQJXQJHQGHV)ULHGHQV, München/Wien 1963. Bartosch, Weltinnenpolitik, a.a.O., 238-250.
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$WRPDUHU5HDOLVPXVXQG%HZXWVHLQVZDQGHO Als ‘Atomarer Realismus’ soll eine Position bezeichnet werden, die mit der Existenz der Atombombe die Notwendigkeit einer völlig neuen Gestaltung der Weltpolitik verbindet. Für die Entwicklung der gesuchten, neuen Weltpolitik müssen historische und gegenwärtige Erfahrungen ebenso herangezogen werden, wie der Vorgriff auf eine faktisch mögliche Zukunft. Diese allgemeinste Abgrenzung des ‘Atomaren Realismus’ lässt sich durch zehn ‘HV VHQWLDOV’ ergänzen: 1. Mit der Existenz der Atombombe ist eine völlig neue Weltsituation eingetreten. 2. Die Menschheit muss die Verantwortung für ihre Fortexistenz bewusst tragen. 3. Die internationale Staatenwelt ist gezwungen, den Globus als eine reale politische Einheit zu begreifen, in der Kriege nicht mehr als Fortsetzung der Politik erlaubt sein dürfen. 4. Die Realisierung einer zeitgemäßen neuen Politik ist mit der Durchsetzung einer neuen, weltweit verbindlichen Ethik zu verknüpfen. 5. Zur Bestimmung der ethischen Grundlagen einer neuen Politik ist eine kritische philosophische Reflexion unerlässlich. 6. Die Menschheit ist prinzipiell qua Vernunft zur Einheitlichkeit fähig, Bewusstseinswandel ist möglich. 7. Die Gegenwart birgt die faktischen Voraussetzungen für eine politische Einheit, die friedliche Weltordnung ist machbar. 8. Alles reale politische Handeln muss die weitere Verwirklichungsmöglichkeit der Welteinheit zur Richtschnur haben und den Prozess der Aufklärung vorantreiben. 9. Die Utopie verliert ihren Charakter eines beliebigen politischen Entwurfes, sie wird zum Zwang. 10. Die Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis der Zukunft reichen aus, um diese Zwanghaftigkeit zu begründen. Versucht man demnach, den ‘Atomaren Realismus’ in erweiterter Form bezüglich seiner politischen Implikationen zu charakterisieren, so ist damit eine Position gemeint, die auf die Schaffung einer weltweiten Friedensordnung hinwirken will. Friede ist dabei nicht lediglich als Abwesenheit von Krieg zu fassen. Hierin liegt die Kernannahme des ‘Atomaren Realismus’. Frieden müsste die Abschaffung der Institution des Krieges mit einschließen. Nun ist der Krieg jedoch eine real existierende Option in der internationalen Politik. Allein der Nachweis, dass seine Führung nicht mehr sinnvoll sein kann bzw. statthaft sein würde, ergibt noch keine Sicherung gegen die gewaltsame Austragung von Konflikten:
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Zum geforderten Realismus der Darstellung gehört aber auch das Eingeständnis, dass das System souveräner Mächte den Krieg künftig so wenig überwinden wird wie in der Vergangenheit. Gleichwohl ist es notwendig, ihn zu überwinden. Dies ist ein Inhalt des notwendigen Bewusstseinswandels. Es genügt nicht, die Ebene der bisherigen Weltpolitik zu stabilisieren. Hier ist eine Krise not23 wendig und der Übergang zu einer neuen Ebene.
Die ethische Forderung zu einem anderen politischen Verhalten auf der Basis eines gewandelten Bewusstseins angesichts der Tatsache gefährdeter Welteinheit ist eine implizite Verbindung der Vertreter des ‘Atomaren Realismus’. Damit ist im Kern eine Bildungsaufgabe berührt: Die Menschheit muss zu einem gewandelten Bewusstsein über ihre Welt und über sich selbst gelangen. Eine Aufklärungsaufgabe, die nicht ausschließlich rational zu bewerkstelligen ist. C. F. v. Weizsäcker sieht nun den Menschen grundsätzlich in der Lage, die Verantwortung für eine weitere Entwicklung der Weltgeschicke in die Hand zu nehmen: Ich wage die Behauptung: Unter den Aufgaben für Menschheit, Kulturkreis, Nationen, Umwelt, Wirtschaft, Gesellschaft ist keine, die nicht im Prinzip in ge24 meinsam betätigter Vernunft der Menschen gelöst werden könnte.
Die Menschen müssen ihre politische Selbstorganisation den neuen Erfordernissen anpassen, also zeitgemäß gestalten. Wobei zeitgemäß zweierlei bedeutet: Zum einen adäquat zur Beherrschung der Technik (nicht zur Beherrschung der Natur!), zum anderen entsprechend der Einsicht, dass keine Politik auf zeitlosen Gültigkeiten aufbauen darf. Die notwendige Politik muss sich den potentiellen Anforderungen stets in notwendiger Flexibilität anpassen können. Sie muss als dynamische Weltinnenpolitik gestaltet werden, die den globalen Gefährdungen der einheitlich gewordenen Welt verpflichtet ist. Die Dynamik von Weltinnenpolitik ist nicht nur Ausdruck notwendiger Flexibilität auf potentielle Anforderungen, sondern Prinzip. Für Weltinnenpolitik sind mehrere Schritte notwendig, die sich als Bewusstseinswandel auszudrücken hätten. Erstens muss von den maßgeblichen Vertretern der Nationen erkannt werden, dass die naturwissenschaftlich-technische Welt keine ausschließlich national-partikularen Standpunkte mehr zu23 24
:HJHLQGHU*HIDKU, München 1984, 243f. %HGLQJXQJHQGHU)UHLKHLW5HGHQXQG$XIVlW]H, München/Wien
C.Fr. von Weizsäcker: Ders.: 1990, 105.
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lässt. Von Weizsäcker meinte trotz einer im Kern gefährlichen weltinnenpo25 litischen Denkweise der Großmächte hierzu Anfänge zu beobachten. Zweitens muss von den Entscheidungsträgern eingesehen werden, dass klassische überlieferte Politik keine adäquaten Mittel für die Handhabung der technischen Errungenschaften bereitstellt. In der Ausarbeitung der nuklearen Strategie sah er wiederum richtige Ansätze für die beginnende Einsicht, dass Krieg als das klassische Mittel nicht mehr vertretbar ist. Drittens müssen genügend viele einflussreiche Persönlichkeiten weltweit erkennen, dass verantwortliche Bewahrung des Ganzen auf Dauer nur durch einen politisch gesicherten Weltfrieden geleistet werden kann. Die Durchsetzung dieser Einsicht erhofft er sich durch wachsende internationale Kooperation in der Umweltpolitik sowie durch die einigende Diskussion der Religionsgemeinschaften. Viertens muss der praktische weltinnenpolitische Weg den Bewusstseinswandel der Menschheit als Ganzes zur Verwirklichung bringen. Schließlich kann der Weltfriede nur als ‘Leib’ der durch den Bewusstseinswandel repräsentierten Wahrheit wirklich werden. Der Weltfriede muss gestiftet werden. Mit einer von ihm erarbeiteten Anthropologie sieht Weizsäcker die Bedingungen der Möglichkeit solchen Bewusstseinswandels für den einzelnen begründet. Daraus ergibt sich die berechtigte Hoffnung, dass der Bewusstseinswandel als breite Entwicklung große Teile der Menschheit rechtzeitig 26 erreicht, wenn die vielen einzelnen sich bemühen, diesen Gedanken 27 weiterzutragen. Weltinnenpolitik ist für Weizsäcker eine Politik, die von diesem gewandelten Bewusstsein getragen ist und auf Bewusstseinswandel hinwirken kann. Als Bewahrung der Lebensbedingungen der Menschheit ist 28 sie nicht gleichzusetzen mit der Erreichung der Glückseligkeit. Weltinnenpolitik bleibt so streitbar, wie Innenpolitik es notgedrungen sein muss. Diese Konzeption ist eine weitestgehend eigenständige Entwicklung Weizsäckers. Mit seinen Mahnungen freilich steht er nicht allein. Sie lassen sich einer Reihe von vergleichbaren ‘Aufrufen an die Vernunft der Menschen’ zuordnen, die allesamt aus der Not der Wahrnehmung einer bzw. der 25 26
27 28
Ders.: *HVSUlFK PLW 0DULRQ *UlILQ '|QKRII XQG 7KHR 6RPPHU, in: Die Zeit, 26.06.1992, 9. Damit ist nicht an einen Zustand gedacht, in dem jeder einzelne den Bewusstseinswandel vollzogen haben muss. Vgl. C.Fr. von Weizsäcker: =HLWXQG:LVVHQ, München/Wien 1992, 559. Weizsäcker, Die Zeit drängt, a.a.O., 38. Ders.: Zeit und Wissen, a.a.O., 1059.
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fundamentalen Gefährdung geboren wurden. Sie beginnen nach 1945 und reichen bis heute. In der Regel sind sie an einen ethischen Appell gekoppelt, der angesichts einer unbestreitbaren und unteilbaren, globalen Gefährdung zu einem neuen Verständnis von Politik, von Krieg und Frieden auffordert. Das ‘Zeitalter der Globalisierung’ hat aus diesen exklusiven Mahnungen eine Standardformulierung werden lassen. Eine aktuelle Version, die den Neubeginn sowohl feststellt wie zugleich einfordert, ist die programmatische Schrift „Brücken für die Zukunft“ unter Federführung von Kofi Annan. Hier werden Elemente eines neuen Paradigmas für die internationale Politik skizziert: Die Globalisierungsprozesse haben ein neues Paradigma der globalen Beziehungen ins Leben gerufen: Gleichstellung, Neubewertung des Begriffs ‘Feind’, Machtstreuung, Teilhabe (VWDNHKROGLQJ), individuelle Verantwortlichkeit und themenorientierte Kooperationen sind dafür typisch. Die momentane Realität 29 gleicht einem Mosaik des alten und des neuen Paradigmas.
Der Begriff des Paradigmas weist bereits daraufhin, dass es um ein humanes Vermögen der Erkenntnis geht. Es mag daher nicht verwundern, wenn auf ein neues Bewusstsein angespielt wird, das alte Vorstellungen schließlich doch verändert: Wir haben also guten Grund zu der Annahme, dass ein neues Paradigma sich realistischerweise darauf gründen kann, dass das Konzept des Feindes in das des 30 Wettbewerbers, vielleicht Freundes transformiert wird.
Etwas im Gegensatz zu dieser eher kantianischen Vorstellung einer Durchsetzung der menschlichen Vernunft hat Weizsäcker den Bewusstseinswandel als Folge eines durchlebten Schreckens für möglich erachtet. Dieser letzte Weltkrieg – und das ist ein wichtiger Gedanke Weizsäckers – bedeute nicht die totale Vernichtung der Menschheit, sondern führe zu einer sich dann konstituierenden Nachkriegsordnung. In einer Schlüsselstelle seines Gesamtwerkes schreibt er: Dieser Atomblitz wird nie vergessen werden, solange die Menschen ihren Kindern Geschichte erzählen. Er wird das große Symbol für den Abgrund sein, in den uns die Verderbtheit des Menschenherzens einmal geführt hat. [...] Nach einer Zeit der Wirren mag ein solcher Krieg sehr wohl eine politische Union der Welt zur Folge haben, vermutlich eine ziemlich diktatorische. [...] Trotzdem be29 30
K. Annan: %UFNHQ LQ GLH =XNXQIW (LQ 0DQLIHVW IU GHQ 'LDORJ GHU .XOWXUHQ, Frankfurt/M. 2001, 120. Ebd., 138f.
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8OULFK%DUWRVFK haupte ich, fest und nicht-selbstverständlich, daß ein solcher Krieg keine Stabilisierung des nachfolgenden Friedens auf der Grundlage der Lügen der Sieger gestatten wird. Mein Grund für diese Meinung ist zum Teil die außerordentliche Symbolkraft der Ereignisse eines Atomkrieges; sie werden jedermann an die 31 biblische Beschreibung der Ereignisse vor dem jüngsten Gericht erinnern.
In dieser Passage kommt zum Ausdruck, dass für alle Überlebenden die Erfahrung des Krieges zu einem neuen weiterentwickelten Bewusstsein führen wird. Dieses gewandelte Bewusstsein würde seine Gestalt in einer Weltfriedensordnung finden. Warum ist dies ein Schlüsselgedanke? Wenn die Erfahrung eines schrecklichen letzten Weltkrieges den menschlichen Bewusstseinswandel bewirken würde, was nichts anderes heißt, als dass dieser Bewusstseinswandel tatsächlich möglich ist, dann müsste die antizipatorische Wahrnehmung des Schreckens die Bedingung der Möglichkeit für einen Bewusstseinswandel ohne Krieg sein. Er könnte die Menschen bemächtigen, eine politisch gesicherte Weltfriedensordnung vorwegnehmend zu errichten. Alle wesentlichen Elemente einer künftigen Nachkriegszeit sind in der Gegenwart bereits erkennbar und stehen dem Denken, d.h. dem Nachdenken zur Verfügung. Was lediglich fehlt, ist das reale Erleben des Schmerzes, der 32 Angst und der Verwüstung. Wenn man in Weizsäckers ‘Atomarem Realismus’ originär idealistische Aspekte aufspüren kann, dann wohl in dieser Konstruktion, in der Normativität und Deskription zusammenfallen. Idealistisch wäre dann die Hoffnung, den schmerzlichen Weg der Erfahrung durch den vernünftigen Weg der denkenden Einsicht zu ersetzen. Idealistisch wäre somit das Ansinnen, für die vormals von ‘echten’ Idealisten als utopisches Ziel verfolgte Schaffung einer Weltfriedensordnung, nun, da sie notwendig geworden ist und eintreten wird, in der Gegenwart die bewusstseinsmäßigen Voraussetzungen der Wahrneh33 mung zu schaffen, die ihr erst in Zukunft sicher sind. Die Vorstellungskraft über das Kommende und die Leidensfähigkeit über das Geschehene sind die Voraussetzung und der Gehalt von notwendigem Bewusstseinswandel gleichermaßen. Der notwendige Zeitsprung wurde auch von anderen Mahnern der atomaren Apokalypse erkannt. In besonderer Weise ist diese Frage von Günther Anders erörtert worden. Bei aller fundamentaler Differenz zwischen Weizsäcker und Anders ist „Die beweinte Zukunft“ des Verfassers der „Anti31 32 33
C.Fr. von Weizsäcker: 'HUXQJHVLFKHUWH)ULHGH, Göttingen 21979, 103f. Ders.: Wege in der Gefahr, a.a.O., 137f. Ders.: Zeit drängt, a.a.O., 47.
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quiertheit des Menschen“ ein geniales Stück Aufklärung, das zum Verständnis der Forderung eines Bewusstseinswandels konstruktiv beitragen kann.
$SRNDO\SVHXQG%HZXWVHLQVZDQGHO In sein Buch „Die atomare Drohung“ hat Günther Anders den Aufsatz „Die 34 beweinte Zukunft“ von 1961 aufgenommen. Mit der ganzen Kraft seiner Erzählkunst führt Anders den Leser in die zentralen Problemstellungen seines Denkens und Wirkens hinein. Während Günther Anders in seinem Hauptwerk „Die Antiquiertheit des Menschen“ vielen Interessierten schwer zugänglich erscheint, erlaubt die Lektüre der kleinen Erzählung von Noah und dessen verzweifeltem Bemühen, seine Mitmenschen für die drohende Gefahr der Sintflut sensibel zu machen, einen nahezu unmittelbaren Weg des Verständnisses. So einfach die vordergründige Handlung sich entwickelt, so vielfältig sind die konnotierten Sinnbezüge, die Anders durch seine Adaption des biblischen Stoffes lebendig werden lässt. Eine Auseinandersetzung mit diesem Text ist sehr fruchtbringend und dies nicht nur für das Verständnis von Anders, sondern auch zur Erhellung von Fragen, die weit über eine werkanalytische Betrachtung hinausreichen. Anders beginnt seine Erzählung mit Noahs Einsicht, dass er gescheitert ist. Sein Bemühen war vergeblich. Die Warnung Noahs vor der kommenden Sintflut war keine Neuigkeit mehr. Wenn er neuerlich „mit ‘seiner Flut’, wie sie es nannten“, ankam, erlosch das Interesse der Zeitgenossen, „weil sie von dieser ja gestern schon gehört hatten und vorgestern und vorvorgestern“. Noah zieht daraus eine besondere Konsequenz. Er kündigt seinem Gott den Gehorsam. Weil er sich nicht abfinden kann „mit den Toten von morgen“, verweigert er seine Rolle als Sprachrohr Gottes weiterzuführen. Er wird ab jetzt sein eigenes, das Spiel Noahs spielen. Er nimmt die Sache in die eigenen Hände. Verstöße gegen die gottgewollte Ordnung werden so unvermeidlich. Deshalb warnt „er seinen Gott, zornig und liebend zugleich“. Er entschließt sich, gegen die Gesetze zu verstoßen. Er verlässt den Pfad der Wahrheit. An die Stelle von Aufklärung treten Lug und Trug. Mit Taschenspielertricks will 34
G. Anders: 'LH DWRPDUH 'URKXQJ 5DGLNDOH hEHUOHJXQJHQ ]XP DWRPDUHQ München 61993, 1-11. Alle weiteren nicht gesondert ausgewiesenen Zitate beziehen sich auf diese Passage.
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er Schrecken verbreiten, der zur Einsicht führen soll und schließlich zum Handeln. Sein politisches Programm bezieht sich auf eine pessimistische politische Anthropologie und will „ihre Schwächen verwenden, so wie Du sie geschaffen hast, und ich will sie zu meiner Stärke machen“. Noah kleidet sich in „Sack und Asche“, womit er schärfstens gegen die festgelegten Normen verstößt. Er belügt seine Nachbarn vorsätzlich, denn seine Kleidung drückt unmissverständlich aus, dass „einer seiner Allernächsten“ gestorben ist. Noah, der Begünstigte, hat einen seiner liebsten Angehörigen verloren, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. Der Auftritt zeigt schnell die beabsichtigte Wirkung. Die Sensation zieht ihre begierigen Zuschauer an. Um so mehr als Noah durch sein unfassliches Glück „selbst bei denen, die ihn zu lieben meinten, verhasst gewesen“ war. Endlich konnte man sich an seiner Erniedrigung weiden und es zeigt sich, „dass, wer ausharrt, schließlich doch den gerechten Lohn Gottes einheimsen“ darf. In einem Dialog mit fünf Frommen, die aus dem Tempel kommen, lässt sich Noah die Antworten auf ungeduldig gestellte Fragen sprichwörtlich ‘aus der Nase ziehen’. Von der Straße werden seine leisen Antworten immer wieder zu den Balkonen hinauf geschrien. Da nun allen Gesprächspartnern Noahs von Beginn des Dialogs an völlig klar ist, dass ein kürzlich Verstorbener zu beklagen ist, gibt es eine große Verwirrung, als Noah nach und nach eröffnet, dass es ihr Tod, der morgige Tod seiner Zuhörer ist, den er betrauert. „Wie das möglich sein soll? [...] Weißt Du das denn wirklich nicht? Weil es übermorgen etwas sein wird, was gewesen ist.“ Der erste Schritt von Noahs Aktion, die Verblüffung, war erfolgreich. Seine Zuhörer sind sprachlos, da der Augenschein unmissverständlich die Wirklichkeit von Noahs Trauer beweist. Sie selbst sind nicht in der Lage den Widerspruch zwischen dem Sichtbaren und der offensichtlich falschen Behauptung Noahs, dass sie gestorben seien, aufzulösen. Seine vorher verschlossenen Nachbarn sind nun offen für Noahs Rede und er führt sie in eine verwirrende Reflexion zur Frage der Zeit. Zunächst stellt er fest, dass die Sintflut als zeitliches Ereignis der Zukunft vergänglich sein wird. Er beschwört also die absehbare Tatsache einer Zeit nach der Sintflut. Dann wird alles vernichtet sein. Die Totalität der Vernichtung drückt sich im besonderen Umstand des Wegfalls von jeglicher Erinnerung aus. Da die Sintflut alles vernichtet, wird es ihr gelingen die menschliche Zeit auszulöschen. Sie wird Zukunft, Gegenwart und selbst die Vergangenheit zu einem Nachher umwandeln. Eine Erinnerung an die Toten wird es ebenso wenig geben wie einen Neuanfang. Die Abfolge der Generationen ist beendet und zugleich unge-
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schehen gemacht. Noah greift zu einem unmittelbar einleuchtenden Beispiel, indem er feststellt, dass „wir alle betrogen sein werden um unseren Kaddish“. Ohne Totengebet zu bleiben ist für seine Zuhörer „eine aussichtslose Aussicht [...], da nur dieser Tod für sie den wirklichen Tod bedeutete“. Noah leitet in den dritten Akt seines Auftritts über, da nun aus der Verblüffung völlige Verwirrung geworden war. Er präzisiert seinen Auftrag: „Drehe die Zeit um – sprach die Stimme zu mir, nimm den Schmerz schon heute vorweg, vergieße die Tränen im voraus!“ Und dann stimmt er den Kaddish heulend an, vor seinen Hörern, die einer Reaktion nicht mehr fähig sind. Er segnet die Lebenden als Tote. Der Frevel, den er begeht, hätte größer nicht sein können. Noah hatte den Ablauf der Zeit gestört. Unfähig zu einer weiteren Handlung stehen sein Zuhörer wie versteinert da. Irgendwann zerreißt Noah diese seltsame Ewigkeit. Mit den Worten „Noch ist es Zeit“, „Es ist heute“ und „die Vorstellung ist beendet“ tritt er von seiner Bühne ab. In seiner Wohnung kleidet er sich um und beginnt unverzüglich eine neue Arche zu entwerfen. Die alten Pläne hatte er in seinem Hader mit Gott vernichtet. Bald treten ein Zimmerman, ein Dachdecker und ein Steuermann hinzu. Sie wollen mitbauen, „damit es unwahr werde“. Draußen beginnt es zu regnen. Die Erzählung von Noah beschreibt einen Kerngedanken im Werk von Günther Anders. Etwa 1953 kommt Anders zu der Einsicht, dass die Furchtbarkeit unserer Situation: nämlich die Möglichkeit, nein: die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung von Hiroshima und Nagasaki gerade auf dieser Diskrepanz zwischen unserer Vorstellungs- und unserer Herstellungskapazität beruhte. In der Tat sind ja fast alle meine späteren Schriften nur Variationen über dieses Grundthema der Diskrepanz, das ich seit damals nicht mehr 35 losgelassen habe; das mich seit damals nicht mehr losgelassen hat.
Längst nicht alle seiner Variationen sind im biblischen Milieu verortet. Aber die wichtigsten Kernpunkte seiner Überlegungen sind vorwiegend in theologische Begriffe gefasst. „Apokalypse“ und „Endzeit“ wären beispielhaft zu 36 nennen. Der erklärte Agnostiker , der seinen messianischen Glauben mit dem Ereignis des 6. August 1945 verloren hatte,37 bedient sich der mächtigen Sprachgewalt solcher Ausdrücke in einem säkularen Kontext. Bei Anders 35 36 37
G. Anders: +LURVKLPDLVWEHUDOO, München 1982, XII. Vgl. ebd., XXI. E. Adunka: *QWKHU$QGHUVXQGGDVMGLVFKH(UEH, in: Konrad Paul Liessmann: Günther Anders kontrovers, München 1992, 75f.
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steht die atomare Drohung für das faktische Ende. Die neutestamentliche Apokalypse verliert ihren Charakter der unausweichlichen Reinigung. Die Endzeit, z. B. von Augustinus als Übergang verstanden, wird zum letzten Zeitraum überhaupt. Somit erhalten die tradierten Bilder ihren eigentlichen, für Anders unbestreitbaren Sinn. Ihre Wahrheit kommt ans Licht der Gegenwart. An dieser Stelle ist der entscheidende, der archimedische Punkt in der Argumentation von Anders zu finden. Es ist dies der Besitz der Wahrheit. Man blicke zurück auf „Die beweinte Zukunft“. Es fällt auf, dass Anders seinen Noah an den Weisungen seines Gottes zweifeln lässt. Auch kann dieser Noah nicht dafür garantieren, dass seine Vision der Errettung wahr werden könnte. Die Wahrheit der Weissagung Gottes, dass die Sintflut hereinbrechen wird, wird nie in Zweifel gezogen. Aus dem Besitz dieser Wahrheit erwächst Noah die Berechtigung, sich über seinen Gott zu erheben und seine Macht, die Zukunft, die Geschichte selbst zu machen. Die Wahrheit von Noahs Erkenntnis beruht also auf der Gnade eines Gottes, der im Ende der Erzählung sein Glück dem eigenmächtigen Handeln des Abtrünnigen verdankt und nunmehr zum Gott von Noahs Gnaden wurde. Er kann nur mit Wohlgefallen über seinen Geschöpfen thronen, weil Noah die Zukunft gerettet und damit geschaffen hat. Ulrich Sonnemann hat auf die Vorwegnahme des Jakobischen Gotteskampfes und die damit verbundene Anachronizität der Andersschen Noah-Erzählung hingewiesen. Die Vernunft Noahs ist an die Offenbarung Gottes gebunden, weil ganz ohne das jeweils andere keines der beiden zu sein vermag, wie Gottes Auftrag nach seiner Zielbestimmung, der Noahs Widerstand ja gerade nicht gilt, vernünftig ist, hat Noahs Vernunft, die an Gott Kritik übt, gerade in ihrer fügenkönnenden Spontaneität etwas Unverfügbares noch für ihn selber, als unableit38 barer Horizont eines Denkens etwas Ortloses: Geoffenbartes.
Anders’ Noah handelt erfolgreich, aber nicht weil er gehorcht, sondern weil er sich der geoffenbarten Wahrheit bemächtigt. Seine Erhebung über Gott muss vor der vernünftigen Tat stehen. Indem Anders der Geschichte Noahs jeglichen symbolischen Gehalt nimmt, gerinnt sie zum Analogon unserer, und genauer gesagt seiner Situation. Die Drohung der atomaren Vernichtung wird zur unbestreitbaren Tatsache ihres Eintretens. Dies zu wissen heißt, die 38
U. Sonnemann: a.a.O., 247f.
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in: Liessmann,
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Wahrheit der Bedingungen menschlicher Existenz zu haben und über die freie Wahl der Mittel zu verfügen, sie abzuwenden. Unsere Apokalypseblindheit, für die uns Anders mittels des verwirrten Publikums von Noah den Spiegel vorhält, ist unserer Unkenntnis über die Wahrheit verschuldet, die Anders besitzt. Eine Besonderheit der Analogie, welche Anders vorführt, möchte ich hervorheben. Sicherlich ist es zunächst die Gewissheit der Katastrophe, die Noahs Geschichte mit der Realität des Atomzeitalters verbindet. Sie nötigt in beiden Fällen zum Handeln. Weil Noah die Zukunft in Form des unabwendbaren Ereignisses Sintflut bekannt ist, kann er ihm die Endgültigkeit nehmen. Er verhindert also nicht die Katastrophe selbst, sondern wandelt ihre Folgen. Ein absolutes Ende wird zu einem Neuanfang gestaltet. Die atomare Drohung dagegen, wie sie Günther Anders analysiert, ist aber nicht so leicht mit der Sintflut gleichzusetzen. Es kann keine Arche geben, die in ein neues Zeitalter hinüber rettet. Der atomare Mord muss verhindert oder, wie Anders meint, 39 muss immer neu hinausgeschoben, verzögert werden. Durch dieses Faktum der Unabwendbarkeit erscheint die Philosophie von Anders insgesamt sehr pessimistisch, was aber durch sein ernsthaftes Bemühen, die Apokalypseblindheit zu überwinden, konterkariert wird. Was aber bedeutsamer erscheint, ist der Umstand, dass Anders die absolute Wahrheit der Zukunft – nunmehr enthoben jeglicher transzendenter Rückversicherung – seinem eigenen Erkenntnisvermögen zuschreibt. Der Unterschied zu Carl Friedrich von Weizsäcker ist jedoch schwerwiegend. Für Weizsäcker bleiben zwei Wege offen: Entweder wir beseitigen die Gefahr. Das wird eine ungeheure Anstrengung kosten. Oder die Katastrophe wird eintreten und unsagbares Leid über die Welt bringen. Es ist die Gewissheit der Gefahr, die hier anleitet, nicht aber die Wahrheit ihres Eintretens: „Da wir die Macht besitzen, einander das Ende zu bereiten, sind wir GLH+HU 40 UHQGHU$SRNDO\SVH'DV8QHQGOLFKHVLQGZLU.“ Es gibt erstaunliche Übereinstimmungen zwischen Anders und Weizsäcker, die vor dem bezeichneten Hintergrund der Differenz betrachtet werden sollen. Eine wesentliche Übereinstimmung zwischen Anders und Weizsäcker ist in der funktionalen und rechtmäßigen Stellung der Angst gegeben: „Denn wer unfähig zur Angst ist, der ist nicht mehr in der Lage, Be39 40
Vgl. G. Anders: 'LH$QWLTXLHUWKHLWGHV0HQVFKHQ, Gütersloh o.J., 297. Ebd., 233.
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drohungen, also auch die nukleare Bedrohung, aufzufassen.“ Weizsäcker spricht vom „Mut sich zur eigenen Angst zu bekennen“ und von der Vernunft der Affekte. Zur Begründung der Angst nimmt er allerdings nicht die Erkenntnis, sondern die Wahrnehmung in Anspruch. Und er scheut sich nicht, die prinzipielle Möglichkeit von erweiterter Wahrnehmung auch am Beispiel ‘historischer Prophetie’ zu diskutieren. Eine direkte Ableitung aus solchen überlieferten Beschreibungen ist allerdings nicht seine Absicht. Eher will er damit negativ andeuten, dass der definitive Ausschluss solcher Wahrnehmungen nicht wissenschaftlich begründbar ist. Im Gegenteil, seine Herleitung der Gefahrenwahrnehmung ist definitiv auf der menschlichen Fähigkeit aufge42 baut, mögliche Zukunft vorweg zu erfahren. In „Die Zeit drängt“ schildert Weizsäcker in bemerkenswerter Weise, einen Traum von Kriegszerstörung 43 und Hoffnung, der von ihm als Zukunftswahrnehmung gedeutet wurde. In dieser Schilderung ergibt sich eine wesentliche und erstaunliche Übereinstimmung zwischen Anders und Weizsäcker: Die vorweggenommene Trauer ist der Zugang zum Bewusstseinswandel: „Wenn die Tränen nicht rechtzeitig geweint werden, so wird es kein Friedenskonzil geben, sondern das nackte Entsetzen. Tränen sind eine Gnade.“44
.RQVWUXNWLYH$SRNDO\SVHXQGJHZDQGHOWHV%HZXWVHLQ Dieser Bewusstseinswandel bleibt lebenswichtige Aufgabe für heute und in Zukunft. Er hätte auch die gegenwärtige Anstrengung um die politische Sicherung des Weltfriedens zu tragen. Der von Günther Anders gekennzeichnete „Sprung ins Absolute“ ist nicht zurückzunehmen: Was meinen wir mit dem Ausdruck ‘Sprung ins Absolute’? Unseren *RWWHV 6WDWXV: die Tatsache, dass wir durch den Besitz der ‘Atomwaffen’ 2PQLSRWHQ] gewonnen haben. Denn der neue Sprung, um den es sich handelt, ist der aus dem Großmacht-Status in die Allmacht. Natürlich, ein im theologischen Sinne vollständiger ‘Gottes-Status’ ist unserer nicht. Daß er die Allmacht der Schöp45 fung nicht einschließt, ist evident.
41 42 43 44 45
Anders, Die atomare Drohung, a.a.O., 125. Vgl. C.Fr. von Weizsäcker: $XIEDXGHU3K\VLN, München/Wien 21986, 599. Ders.: Die Zeit drängt, a.a.O., 116. Ebd., 117. Anders, Die atomare Drohung, a.a.O., 11f.
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Gerade die letzte Einschränkung von Günther Anders lässt uns Heutige zusammenzucken. Sind wir nicht gerade dorthin unterwegs? Die Entwicklung von Mikrochirurgie und Gentechnologie führt uns zu diesen Fragestellungen. Sie erfordern gleichermaßen einen entscheidenden Bewusstseinswandel. Sie müssten als Neubegründungen für Weltinnenpolitik und politisch gesicherten Weltfrieden begriffen werden. Genau besehen geschieht dies dann auch, z.B. bei Fukuyama: Was sollen wir angesichts einer Biotechnologie tun, bei der in der Zukunft große potentielle Erträge mit Gefahren verbunden sein werden, die entweder materiell und ganz offensichtlich oder geistig und subtil sind? Die Antwort ist klar: Und wenn sich erweisen sollte, daß dies über die Möglichkeiten des einzelnen Nationalstaates hinausgeht, sind eben Schritte auf internationaler Ebene notwendig. Heute müssen wir bereits anfangen, uns konkrete Gedanken darüber zu machen, wie wir Institutionen schaffen können, die geeignet sind, zwischen einer guten und einer schlechten Verwendung der Biotechnologie zu unterscheiden und ent46 sprechende Regeln national und international durchzusetzen.
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Die Schlussfolgerungen von Fukuyama sind mit Weizsäckers Forderungen nach der politischen Sicherung des Weltfriedens nahezu identisch. Angesichts einer neuen, zweiten Bemächtigung des Menschen bestätigt sich das Ziel „politisch gesicherter Weltfrieden“, der sich als Friede unter den Menschen und mit der Natur zu realisieren hätte. Genau besehen versagt die Terminologie von Anders vor dieser Herausforderung. Das „Ende des Menschen“ das hier aufscheint, ist als Ende kaum ersichtlich. Es entwickelt sich, wie Fukuyama in seinem Buch eindrücklich schildert, als Weg der Verbesserung und der erweiterten Freiheit. Schließlich ist es aber ein Anfang neuer menschlicher Existenz, dessen ungeheuerliche Folgen vorwegnehmend gespürt werden müssten. Wir sind möglicherweise dabei, in eine nachmenschliche Zukunft einzutreten, in der die Technologie uns die Fähigkeit verleiht, diesen Wesenskern im Laufe der Zeit langsam aber sicher zu verändern. Viele Menschen greifen unter der Fahne der menschlichen Freiheit nach dieser Macht. Sie wollen die Freiheit von Eltern maximieren, sich die Gestalt ihrer Kinder auszuwählen, desgleichen die Freiheit von Wissenschaftlern, Forschungen voranzutreiben, und die Freiheit von Unternehmern, sich einer Technologie zu bedienen, um reich zu werden. [...] Politische Freiheit bedeutete bislang, die Verfolgung jener Ziele, die die Natur uns 46
Fukuyama, Das Ende des Menschen, a.a.O., 24f.
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8OULFK%DUWRVFK gestellt hat. Die menschliche Natur ist sehr formbar, und wir haben eine Fülle von Wahlmöglichkeiten, die mit dieser Natur vereinbar sind. [...] Es kann sein, daß wir aus irgendeinem Grunde dazu bestimmt sind, nach dieser neuen Form der Freiheit zu greifen, oder daß die nächste Stufe unserer Entwicklung, wie manche vermutet haben, eine solche ist, in der wir bewußt die Verantwortung für unsere eigene biologische Ausstattung übernehmen, statt den blinden Kräften der natürlichen Selektion zu vertrauen. Aber wenn wir uns für diesen Weg 47 entscheiden, sollten wir dies mit offenen Augen tun.
Damit gewinnt das politische Denken von Carl Friedrich von Weizsäcker enorme Aktualität. Die Politik ist aufgerufen etwas zu realisieren, was in der Geschichte des Menschen bislang ohne Beispiel ist und eigentlich nicht möglich erscheint: Die Menschheit muss die Verantwortung für ihre Fortexistenz bewusst selbst tragen. Der Friede unter den Menschen und mit der Natur muss politisch gesichert werden. Denn, um mit Werner Heisenberg zu enden, wenn man versucht, sich zu den in Bewegung geratenen Fundamenten vorzutasten, so hat man den Eindruck [...], dass zum erstenmal im Laufe der Geschichte der Mensch auf dieser Erde nur noch sich selbst gegenübersteht, dass er keinen Partner oder Gegner mehr findet. [...] Auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur, und insofern begegnet der 48 Mensch auch hier wieder sich selbst.
47 48
Ebd., S. 299. W. Heisenberg: 'DV1DWXUELOGGHUKHXWLJHQ3K\VLN, Hamburg 1955, 17f.
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)XQGDPHQWDOLVPLQ,QGLDLQWKH&RQWH[WRI*OREDO L]DWLRQDQGDSRVVLEOH&KULVWLDQ5HVSRQVH A new awakening among the elite and educated Hindus during the second half of 19th and first half of 20th centuries gave birth to two types of nationalist movements in order to fight against the British Rule in India. The first one envisaged a pluralistic, secular India and the second, a free nation inhabited and ruled by Hindus. The ingredients of globalization gave ample opportunities to the latter movement to become strong with its fundamentalist ideology: a nation bound together through the ties of blood within a definite territory, practicing one religion, speaking one language and belonging to one culture. Hindutva ideology is reinforced by innumerable sub-systems and filial organizations in and through which it has created in-roads through every nook and corner of the vast land of India. It considers Muslims and Christians as enemies of the nation as they entertain extra-territorial loyalties and hence cannot be patriotic and true citizens of India. The Christians and Muslims need to take a fair view of the criticism levelled against them and take steps to integrate culturally into the national mainstream by contributing positively their share in the task of building up a strong nation. In der zweiten Hälfte des 19. bis zur ersten Häften des 20.Jahrhunderts führte ein neues Erwachen unter den elitären gebildeten Hindus zu zwei Typen nationalistischer Bewegungen mit dem Ziel des Kampfes gegen die britische Herrschaft in Indien. Die erste hatte ein pluralistisches, säkulares Indien vor Augen, die zweite eine freie, von Hindus bewohnte und regierte Nation. Elemente der Globalisierung ermöglichten der letzteren, nun mit ihrer fundamentalistischen Ideologie zu erstarken: Eine durch Blutverwandtschaft geformte Nation in einem bestimmten Gebiet, mit einer Religion, einer Sprache und einer Kultur. Diese Hindutva-Ideologie wird in einer Vielzahl von Subsystemen und Unterorganisationen bekräftigt und hat sich so Zugänge bis in die letzten Winkel des weiten Indien geschaffen. Sie betrachtet Muslime wie Christen als Feinde der Nation, da sie extra-terrioritäre Loyalitäten pflegen und daher nicht patriotisch bzw. keine wahren Bürger Indiens sein können. Vor diesem Hintergrund müssen Christen und Muslime einen fairen Blick auf die Ihnen entgegengebrachte Kritik werfen und Schritte unternehmen, sich in den nationalen Hauptstrang zu integrieren und einen positiven Beitrag zum Aufbau einer starken Nation zu leisten.
*OREDOL]DWLRQDQG5HOLJLRQ The phenomenon of globalization represents the contemporary empirical condition of the world and is characterized by a universal scientific rational-
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ity, a complex connectivity, a specific model of development, and most of all, by a global consciousness in behavioral patterns and attitudes. Although the emergence of globalization is extensively, and not incorrectly, attributed to social, political, economic, and technological factors, much remains to be explored regarding an additional, significant factor in its genesis: the globalizing influence of religion. 1 According to Robertson, the spread of Islam from the twelfth to the fifteenth centuries during the time of Arab and Ottoman empires, and that of Christianity during the colonial period of the sixteenth and seventeenth centuries, created inchoate forms of global perspective, many features of which were held in common by the two religions: both trace their origin to Abraham, claim belief in One God, regard all people to be children of One God, and espouse universalistic values. The rise of Protestantism in the sixteenth century, due to conflicts between religion and politics, appeared variously to lessen or increase the role of religion in legitimizing public actions, depending on how respective conflicts were resolved. In the Anglican Church of England, the role of religion was asserted positively and thereby subordinated politics to religion. In contrast, the realm of politics in France was formally separated from religion; the resulting secularization thus minimized religion’s public role. During the nineteenth and twentieth centuries, sociologists attributed only a „private“ role to religion in the West, reflecting the very real sense that religious practice had lost its „public“ significance, as it no longer officiated in 2 the legitimization of public policies. The rise of fundamentalism over the past decades, however, demonstrates that the sociologists failed to take into account the vast non-Western world in forming their theory of the privatization of religion. The coinciding of the geneses of globalization and fundamentalism strongly indicates close affinities and cross-fertilizations between 3 the two phenomena. Niklaus Luhmann suggested that the structure of globalization favored privatization of religion and religious practices; but
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3
R. Robertson: *OREDOL]DWLRQ6RFLDO7KHRU\DQG&XOWXUH, London 1992, 2 ff.; Cf. L. D’Souza: *OREDOL]DWLRQDQG5HOLJLRQ, in: 9LMxDQDGLSD 4,2 (2002), 210- 220 P. F. Beyer: 3ULYDWL]DWLRQDQGWKH3XEOLF,QIOXHQFHRI5HOLJLRQLQ*OREDO6RFLHW\, in: M. Featherstone (ed.): Global Culture, Nationalism, Globalization and Modernity New Delhi 1999, 373-395. Ibid.
Fundamentalism in India in the Context of Globalization
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seen from another perspective, the same structures gave fillip to the public influence of religion and to the development of institutionalized sub-systems. Within the process of Globalization there are inherent factors that serve to explain its correlation to religious fundamentalism: (1) the entire process of globalization, including its concept of development, lacks a human face. Globalization upholds the market as the supreme norm and profit as the prime objective for all economic enterprise. Within this scheme, the human person has been reduced to a material commodity valuable only in so far as it is productive. (2) Science and technology have failed to give meaning to the personal life of the individual and to the institutions that are valuable to him. (3) The Human person being metaphysically oriented towards the Ultimate, globalization does not take into account a person’s need to relate to, and seek resolution for, matters involving the Ultimate. (4) Finally, people living under the abovementioned constraints are confronted with a generalized social and psychic „fragmentation,“ i.e., within the sphere of modern development, they are estranged and isolated, and hence lacking the institutional, social, and personal resources to reconstruct what has been fragmented into a meaningful whole.4 In consolidating themselves, the dynamics of Globalization invited (unwittingly) a response from the affected people. This response is commonly 5 named fundamentalism, and from the perspective of the practitioner, is embraced as the affirmation of certain „fundamentals“ of human existence. Religion became a readily available tool in the counter-process of consolidation, its belief structures being utilized in the creation of new social identities. The movement thus came to be called „religious fundamentalism,“ which can be classified into two types: (1) New religious movements that vitalize old re6 ligions, and (2) Religious Nationalist movements that use religions to imple7 ment political ideologies.
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5
6
L. D’Souza: Globalization and Religion, 215. Cf. B. Wilson: 5HOLJLRQLQD6HFXODU 6RFLHW\, London 1966; idem: 5HOLJLRQ LQ 6RFLRORJLFDO 3HUVSHFWLYH, New York 1982. J.S. Hawley: )XQGDPHQWDOLVP in: C. Howland (ed.): Religious Fundamentalism and the Human Rights of Women London, 1999, 3-8; M.G. Chitkara: +LQGXWYD, New Delhi, 1997, 139-143. J. A. Beckford: 1HZ5HOLJLRQV$Q2YHUYLHZ in: Eliade, M. (ed): Encyclopedia of Religion, Vol. 10, New York, 390-394; E. Becker: 1HZ5HOLJLRQVDQG&XOWVLQWKH 8QLWHG6WDWHVRI$PHULFD, in: Eliade, vol 10, op.cit., 405-410; P. B. Clarke: 1HZ
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The first type is evidenced in the global resurgence of religious consciousness, from the most advanced and „secularized“ societies to the most traditional ones. New religious movements are contemporary responses to the contemporary social condition of humans, characterized by a search for new identity, new vision, new consciousness, and a new meaning to life. To list a few: Jesus and Pentecostal movements in the United States, ISKON (International Society for Krishna Consciousness), Transcendental Meditation in India, and Soka Gokkai and Tenrikyo in Japan. The second type, the Religious Nationalist movement, arises through a fusion of religious perspectives with the political and social destiny of a nation. Religious nationalists need not be religious fanatics, but they are essentially political activists who are interested, not so much in any political structure, but in the political ideology underlying it. For the sake of ideology they attempt to translate modern political language into concrete plans of action as a means to realize the pre-eminent goal of nation state. Martin Marty and R. Scott Appleby explain: Fundamentalism is a reaction against the invasive, intrusive, and threatening features of modernity by the emerging nation-state of the non-Western world. For example, Islamic Fundamentalism represented a delayed reaction to the hegemony of European colonial rule […]. Religious identity was used as a protective shield against the onslaught of Globalization, which was marked by the entry of integrated ‘market systems’ which came along with a variety of commodities, values, beliefs, and styles of living. The fear of extinction and the threat to survival both as a people and as a culture and the loss of distinctiveness in the rush to homogeneity resulted in the introduction of a comprehensive social system based upon religious principles that embraced law, polity, society, economy and culture. Thus Fundamentalism tended to be totalitarian in its prac8 tice and encompassed all areas of private and public life.
5HOLJLRXV0RYHPHQWV±$Q,QWURGXFWLRQ, in: S. Sutherland, (ed.), The World’s Re-
7 8
ligions, London 1988, 907-911. M. Juergensmeyer: 5HOLJLRXV1DWLRQDOLVP&RQIURQWVWKH6HFXODU6WDWH, New Delhi 1994, xiii. L. D’Souza: Globalization and Religion, 216f; M. Marty and R.S. Appleby: )XQGDPHQWDOLVPV2EVHUYHG, Chicago 1991.
Fundamentalism in India in the Context of Globalization
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7KH(PHUJHQFHRI+LQGX)XQGDPHQWDOLVP In what follows, we will consider ways in which Hindu Fundamentalism, so prevalent in India at present, is an offshoot of modernity. To those who are 9 familiar with the traditional concept of „Hinduism,“ the term „Hindu Fundamentalism“ may appear to be a contradiction in terms, for Hinduism has no record of forced conversions, excommunications, religious wars, inquisitions, nor anything similar. On the contrary, Hinduism is known for having con10 tributed DKLPVD the great ideal of non-violence, to world history; Hinduism is known to be a peace loving religion that has harmoniously integrated numerous philosophies and world-views. Indeed, from the time of its earliest known history, India has been a land with a high tolerance for multicultural and pluralistic perspectives. The philosophical background for this tolerance is rooted in the in the ways of thinking of the ancient peoples of India, who emphasized universals at the expense of particulars. As we know, universals are derived through the process of abstraction, and this process is well reflected in the Indian language of literature, Sanskrit, which is replete with abstract nouns expressing 11 abstract ideas. Within Sanskrit literature, we also see a search for higher and higher universals, principles to unify „lower“ concepts, or particulars, and this search eventually yielded the highest universal, known as „Brahman,“ a god-concept that unites and subsumes everything else, a concept that represents the „really real,“ the perspective from which everything else is „unreal.“ In the Vedic hymns, this is expressed in a pithy phrase: „Him 12 who is the one Existent, sages name variously.“ This summarizes the prevailing long-standing attitude of the people of India; namely, that the particular and the multiple have no reality in themselves and thus possess no 9
W. Halbfass:
,QGLD DQG (XURSH,
Delhi.1990, 192f. K.K. Bharadwaj: &RPEDWLQJ New Delhi, 1993, 37- 44. M.G. Chitkara: Hindutva, 33-36. Cf. also Klaus Klostermaier: $6XUYH\RI+LQGXLVP, New Delhi 1989. Cf. K. Luke: $KLPVD, in: Indian Capuchin Research Forum Vol. 1, ed. By J. Johnson, Bangalore 1991, 139 f.; J. G. Arapura: $KLPVDLQ%DVLF+LQGX6FULSWXUHV ZLWK 5HIHUHQFH WR &RVPR(WKLFV (FRORJ\ , in: Journal of Dharma XVI (1991), 198; Prajnaparamita and Related Systems: Studies in Honor of Edward Conze, Buddhistic Studies Series I, Berkeley 1977, 283-312. H. Nakamura: :D\V RI 7KLQNLQJ RI (DVWHUQ 3HRSOHV ,QGLD&KLQD7LEHW-DSDQ, Hawaii 1964, 44-51. ekam sat, vipra bahuda vadanti, RV. 1, 164, 46. &RPPXQDOLVPLQ,QGLD,
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great significance; the particular and the multiple could thence be easily tolerated, as all multiplicity could ultimately be synthesized into the One. In this way, The Hindu perspective itself could integrate all other, different perspectives, world-views, and philosophies into its own first principle: the really real without contradiction, confrontation, or conflict. Hinduism could absorb and amalgamate other religions like Jainism, Buddhism, and later on, even Islam and Christianity, to a certain extent. For many centuries, the presence of these religions in India did not give rise to great religious conflicts. When seen at all, religious conflict was limited to periodic, small-scale communal disturbances caused by local issues.
*HQHVLVRI+LQGXWYD,GHDO The Hindu people’s prevailing ways of thinking underwent radical change with the conquest of Indian lands by colonial powers. The Indian elite, as they became more and more conversant with the language of the colonizers, could easily make use of opportunities for higher study in Britain. Here they soon familiarized themselves with British liberalism, utilitarianism, rationalism, and most especially, with the causes and structures that made the nations of the West powerful and affluent. Some prominent Indian students, upon returning from their higher studies, initiated effective steps that would bring about needed social transformation and integrate Western science and ration13 ality with Indian culture and thought. During the nineteenth and the twentieth centuries, two trends of thought, or movements, developed that are currently powerful forces in shaping the destiny of the Indian nation. The first trend of thought underscores a harmonious integration of indigenous traditions, value systems, and cultural dispositions, with the Western ideals of reason, enlightenment, and liberalism, with its intention poised toward building a nation that embraces all races and peoples--a multicultural, multi-religious, 14 and pluralistic society. The greatest proponents of this movement are Raja
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S. M. Michael: 'LDORJXHZLWK+LQGXWYD,VLW3RVVLEOH", in: Mission Today, Vol. I, 1.2.3 (1999), 12 f. Cf. D. E. Smith: ,QGLDDVD6HFXODU6WDWH, London 1963; R. Kothari: ,QWHJUDWLRQ DQG([FOXVLRQLQ,QGLDQ3ROLWLFV, in: Economic and Political Weekly, October 2, 1998, 2223-2229.
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Ram Mohan Roy in the nineteenth century, and Mahatma Gandhi, 17 Jawaharlal Nehru, B.R. Ambedkar, and several others in the twentieth cenWXU\ 7KH VHFRQG WUHQG RU PRYHPHQW SURMHFWV ,QGLD RU %K UDW DVDVWURQJ nation comprising a homogeneous and pure race united together with the ties of blood purity, race, religion, tradition, and culture. Here we will focus only on this second movement, as it characterizes Hindu fundamentalism, or the Hindutva movement. This is a movement that does not reject or fail to imbibe ideas of modernity, yet, as we shall see in the following pages, borrows only those characteristics of globalization that enable it to consolidate its religious, nationalistic, and fundamentalist ideology. Hindu fundamentalism, as an offshoot of modern nationalism, emerged in Western Europe in the second half of the eighteenth century. During this time in India, it was actualized at the basic level through political and administrative unification and also through socio- religious reform movements. Here religious nationalism clearly demonstrated a departure from the Hindu elite’s perduring emphasis on the „universal“ over the „particular;“ and this, we can say, was to some extent a reaction to the Romanticist interpretation of „oriental“ thought in the eighteenth and nineteenth centuries by Western schol18 ars. As Sheldon Pollock explains, „In the Romanticist view, India was an object of fascination, a locus of spirituality, of imagination and mysticism as displayed in ancient Indian philosophy. Most attractive was the spiritual holism which, according to the German idealists philosopher and linguist 19 Schlegel was the defining characteristic of Indian culture.“ Thomas Hansen describes the philosophical underpinnings of this perspective: Holism entailed collapsing the spiritual and material world into oneness, and eradicating the cleavage between the objective world and individual conscious15
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Cf. V.C. Joshi: 5DPPRKDQ5R\DQGWKHSURFHVVRIPRGHUQL]DWLRQRI,QGLD, New Delhi 1975; D. Kopf: 7KH%UDKPR6DPDMDQGWKH6KDSLQJRIWKH0RGHUQ,QGLDQ 0LQG, Princeton 1979. Cf. G.K. Gandhi: &RPPXQDO8QLW\, Ahmedabad 1949. Vasant Moon: 'U%DEDVDKHE$PEHGNDU:ULWLQJVDQG6SHHFKHV, 4 Vols., Bombay 1987. Cf. D. Ludden: 2ULHQWDOLVW(PSLULFLVP7UDQVIRUPDWLRQVRI&RORQLDO.QRZOHGJH, in: Orientalism and the Postcolonial Predicament ed. by C. Breckenridge and P. van der Veer, Philadelphia 1993, 250-78; R. Inden: ,PDJLQLQJ,QGLD, Oxford 1990, 90-96. Sh. Pollock: 'HHS2ULHQWDOLVP"1RWHVRQ6DQVNULWDQG3RZHUEH\RQGWKH5DM, in: Breckenridge/van der Veer: Orientalism and Post Colonial Predicament, 76- 133.
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9LQFHQW*)XUWDGR ness through incorporation into an all-pervasive Spirit. [...] Hegel endorsed the view that India was essentially Hindu, understood as pure spirit, but spirit of the imaginative (soft, feminine) sort, thus of a lower logical order than the rational (masculine) spirit of the West. To Hegel this predominance of imagination precluded the emergence of reason, which explained the feeble sociopolitical structure of the Indian states. In the absence of reason, India could only produce 20 dispersed communities and people, never a viable state“
The visionaries of Religious Nationalism reacted to this view tooth and nail and proposed the ideal of Hindutva, which emphasized the „male“ characteristics of rationality and physical strength and a strong nation founded on racial, cultural, and geographical unity. The first visionary of this movement was Dayananda Saraswathi (1824-1883), who founded an organization in 1875 called $U\D 6DPDM ( Society of Aryans) in order to bring about social and religious reforms based on the ancient Hindu scriptures, the 9HGDs, and gave a clarion call to all Hindus to „go back to the 9HGDs.“ He identified „Indian“ culture as „Hindu“ culture and initiated two programs, one based on a „purification“ (6KXGGKL) ceremony for non-Hindus to reconvert to Hinduism, and the other based on „unity“ (6DQJKDWDQ) with the intention to strengthen solidarity among those who already identified themselves as Hindu. He was vociferous against Islam and Christianity, condemning their contaminating influence in India, and he set a goal for the members of his organization to reconvert all Muslims and Christians into the Hindu fold. Saraswathi bemoaned the general lack of organization in Hinduism and wished to gird Hinduism against Islamic and Christian challenges.21 The second major proponent of Hindu fundamentalism was V.D. Savarkar, who found an ideological framework and a political philosophy that tried to unite cultural pride and national self-assertion with a modernistic outlook and a vision of a strong homogeneous nation. He imbibed the ideal of
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Th. Blom Hansen: The Saffron Wave, Oxford 1999, 67 f.; Cf. J.W. F. Hegel: 7KH 3KLORVRSK\ RI +LVWRU\, Trans. by J. Sibree. Now York 1956, 160 f.; Cf. also Y. Ambrose: +LQGXWYD¶V5HDO$JHQGDDQG6WUDWHJLHV, in: idem: Hindutva, An Indian Christian ResponseBangalore 2002, 11- 102. Cf. D. Saraswati: 7KH/LJKWRI7UXWK, Trans. by G.P. Upadhyaya, Allahabad 1960; B. R. Purohit: 7KH6RFLDODQG3ROLWLFDO7KRXJKWRI6ZDPL'D\DQDQGD6DUDVZDWL, in: K. Deutsch/Th. Pantham (eds.): Political Thought in Modern India, New Delhi 1986, 53- 57; R.K. Ghai: Shuddi Movement in India, New Delhi 1990.
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a unitary state from the writings of Giuseppe Mazzani, with whom he was acquainted during his stay in Britain from 1906-1910, and authored 23 +LQGXWYD a book in which he characterizes Hindutva „not as a word but as a history.“ As Savarkar explains, „The concept of Hindutva is wider than Hinduism. Hinduism is only a derivative, a fraction, a part of Hindutva…. Hindutva embraces all the departments of thought and activity of the whole 24 being of our Hindu race.“ Savarkar proposed two main conditions for India to become a Nation State: a determined territoriality and a holistic concept of culture as a corporate whole held together by shared blood and race. „We feel we are a MDWL, a race, bound together by the dearest ties of blood, and therefore 25 it must be so.“ Savarkar argued that the cornerstone of the Hindu identity was its connection to a clearly defined „holy land“ (SLW EK PL WKH JHRJUDSKLFDO ORFDtion of the sacred shrines and myths of one’s religion. „Hindu“ denoted all people whose religion was grown „out of the soil of India – Buddhism, Jains, Sikhs, and the multiple Hindu sects. … Thus, Hindu Dharma being etymologically as well as actually the religion of the Hindus, it necessarily partakes of all the essentials that characterize a Hindu.“26 Christians and Muslims had potentially „extraterritorial loyalties,“ as their „holy lands were outside the territory of India, and they could not be counted as Hindus.“ They could not be true Hindus because their fealty to other „holy lands“ would naturally preclude their devotion to India. If, however, they relinquished their „alien“ be27 liefs, they could be readmitted into the Hindu fold as true Hindus. Herein, we see that Savarkar’s cultural nationalism is not only communal and mas28 culine, but also aggressively anti – Muslim and anti-Christian.
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Mazzani had tremendous influence on Indian political leaders like Bipin Chandra Pal, Lala lajpat Rai, and Bal Gangadhar Tilak, His works have been translated into several Indian languages. Cf. E. Fasana: )URP +LQGXWYD WR +LQGX 5DVKWUD 7KH 6RFLDODQG3ROLWLFDO7KRXJKWRI9LQD\DN'DPRGDU6DYDUNDU, in: The 13th Modern Conference of Modern South Asian Studies Toulouse 1994. V.D. Savarkar: +LQGXWYD, Bombay 1969. Ibid, 3-4. Ibid , 89. Ibid., 110. Ibid., 115. Cf. Hansen: Saffron Wave, 79; For a discussion on Aryan Invasion Theory, cf. R. Tapar: 7KH7KHRU\RI$U\DQ5DFHDQG,QGLD+LVWRU\DQG3ROLWLFV, in: Social Scientist 24, 272-74 (1996), 3-29.
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The most important event leading to the strengthening and consolidation of Hindu fundamentalism was the founding of an organization known as RSS (5DVKWUL\D6ZD\DPVHYDN6DQJK The Association of National Volunteers) by 29 Dr. Keshav Baliram Hedgewar in 1925. Baliram’s intention in founding the RSS was to incite revolt against British foreign rule and to create awareness among the Indian masses of the Hindutva principles of Hindu nationhood and culture. From its very inception, RSS identified two hostile forces as a threat to India’s integrity: (1), the Muslims and Christians who propagate values contrary to the Hindu value system and culture, and (2), the Westernized Indian elites who propagate capitalism, socialism, and communism as solu30 tions to India’s development needs. The theorist who supplied a stalwart intellectual and ideological foundation to the RSS was M.S. Golwalkar, who drew his basic concepts from Western history and scholarship. In his work, :H 2XU 1DWLRQKRRG 'HILQHG 31 , Golwalkar openly admires the „the German Race-spirit“ and pro32 vides several definitions for „nationality.“ He identifies five unities that provide interpretations and conceptual grammars to the anti-colonial and nationalist discourse: geographical unity, racial unity, religious unity, cultural unity, and linguistic unity. In his view, Hindus constituted the racial, religious, and linguistic backbone of India %K UDW DQGWKRVHZKRGLGQRWFRPply with the standards and culture of the Hindu nation should „fall out of the
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Cf. W.K. Anderson/S.D. Damle: 7KH %URWKHUKRRG LQ 6DIIURQ 7KH 5DVKWUL\D 6ZD\DPVHYDN6DQJKDQG+LQGX5HYLYDOLVP, New Delhi 1987; Th. Blom Hansen: 566 DQG WKH 3RSXODUL]DWLRQ RI+LQGXWYD in: Economic and Political Weekly 28 (16 October 1993), 2270-72; B. Tapan (ed.): .KDNL6KRUWV6DIIURQ)ODJV, Hyderabad 1993; R. D. Lambert: +LQGX &RPPXQDO *URXSV ,Q ,QGLDQ3ROLWLFV, in: R.L. Park and I. Tinker (eds): Leadership and Political Institutions in India, Princeton 1959; Chitkara, Hindutva, 143-152. Cf. K.R. Malkani: 7KH 566 6WRU\, New Delhi 1980; idem: +RZ 2WKHUV /RRN DW 566, New Delhi 1992. M. S. Golwalkar: :HRU2XU1DWLRQKRRG'HILQHG, Nagpur 1947; idem: %XQFKRI 7KRXJKWV, Bangalore 1966. Golwalkar was influenced by the writings of the German Scholar J. C. Bluntschli, who wrote in 1875 an influential book /HKUH YRP 0RGHUQHQ 6WDDW, which was published in English by Oxford University Press as 7KH 7KHRU\ RI WKH 6WDWH in 1885. Cf., Chr. Jaffrelot: 7KH%-3LQ0DGK\D3UDGHVKWKH&KDOOHQJHRIWKH2%& DQG WKH 7ULEDOV, in: Political Violence in India: The state and Community Conflicts Amherst 1995.
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pale of National Life.“ The Muslims and Christians „deserve no privileges, 33 far less any preferential treatment – not even citizen rights,“ he contended. In the same work, Golwalkar ridicules the Hegelian notion of the „effeminate Hindu“ along with Gandhi’s „devotion (%KDNWL)-inspired Hindu“ and champions the qualities of masculine culture while asserting that the ideal state of nationhood can only be realized through cultivation of strength, physical and spiritual: „The first thing is invincible physical strength. We have to be so strong that no one in the whole world will be able to overawe and subdue us. For that, we require strong and healthy bodies.“34 The same perspective was promoted in an article entitled, „Potent Men versus Patton tanks,“ describing the victory of India against Pakistan in 1965. He says: But they have ignored the fact that it is the „man“ and not the „machine“ that counts. Our superior „man“ has proved to be far superior to the „machine“ of the enemy [...]. Our MDZDQV (soldiers) have, in these few days, smashed the myth assiduously built up by the British, and believed by the world and by many of our countrymen, that we are a meek and weak lot who have always been at the 35 mercy of any and every freebooter who chose to trample on us.
Golwalkar provided a renewed methodology to the RSS: he imparted a new ideological meaning to traditional yogic exercises (DNKDUDV: physical and spiritual exercises) by rendering the spiritual tradition overall with a martial, masculine accent. His central means of implementing his ideology became the VKDNKD a place where boys and young men would meet for one hour every day for physical exercise, drills, and the inculcation of ideals and norms of righteous religious behavior (VDPVNDUV and ideological indoctrination (EDXGKLN). The purpose of these gatherings was to instill the spirit of nationalism as the ultimate and supreme loyalty, to build up a strong, fraternal bond between volunteers (6ZD\DPVHYDNV) and to create a „new man—patriotic, selfless, loyal to the Hindu nation, physically well-trained, ‘manly,’ cou36 rageous, self-disciplined and capable of organization.“ The RSS ideology can be summarized as follows: Muslims, Christians, and communists are to be considered and treated as enemies of the nation, as they are not rooted in Indian soil; these are foreign elements in the nation, 33 34 35 36
Golwalkar: We, our Nationhood Defined, 52 – 56. Golwalkar:Bunch of Thoughts, 65. Ibid., 414 – 15. Hansen: The Saffron Wave, 93.
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and they have two options: (1) they may merge with the national race by adopting its culture and forsaking their separate identity; or (2) they must remain subordinate to the Hindu culture, claiming nothing, demanding nothing, not even citizenship.
7KH6DQJK3DULY U3URJHQ\RU)DPLO\RIWKH$VVRFLDWLRQ DQG 9LVKYD+LQGX3DULVKDW:RUOG&RXQFLORI+LQGXV To ensure that its ideology would filter through to the grass root level, the RSS established subsidiary organizations at different levels, which have by now carried RSS doctrine to the remotest corners of India. Currently there are thirty-four such well-knit organizations that cater to different strata of people: teenagers, youth, University students, women, and professionals (including advocates, scientists, professors, social workers, farmers, laborers, etc.). In a parallel initiative, the RSS began to disseminate Hindutva ideology through the media. To date, the RSS has ten journals, nine in vernaculars and one in English (called the 2UJDQLVHU), with thousands of subscribers spread throughout India. All together, these subscribers constitute the „Progeny of RSS“ (6DQJK3DULYDU), loyalists who unite under one flag, one ethos, and one 37 uniform. In order to propagate +LQGXWYD worldwide and to forge a corporate identity for the Hindus, another organization called 9LVKYD+LQGX3DULVKDW (VHP: World Council of Hindus) was founded in 1964. The goals of this movement are to spread Hinduism and Hindu ideals internationally by varied means of proselytization, both at the international and at the grass roots levels, especially among tribals through recruitment of their children and youth. In the latter case, the method is to approach students directly in their hostels, to effectively educate them into the „VDQJKD-culture,“ and then to send them back 38 to their respective villages as active members of 6DQJK3DULYDU The notorious subsidiary of VHP is the %DMUDQJ 'DO, a militant youth wing of VHP founded in 1984 by Vinay Katiyara, an RSS preacher (SUDFK UDN). %DMUDQJ 'DO’s mission is to recruit young, underemployed, lower-caste men for mili37 38
Ibid., 97-110. Cf. Vishwa Hindu Parishad: 9+3 0HVVDJHV DQG $FWLYLWLHV, New Delhi 1981; Hansen: Saffron Wave, 154-157.
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tant and daring action in accord with the ensuing battle for the Hindu nation envisaged by the VHP. By the late 1990’s, %DMUDQJ 'DO had an estimated membership of 100, 000 young men, mainly in North India. They have made their mark through nefarious activities, such as the humiliation of Christian missionaries, especially religious nuns; through murder and rape; through the burning the churches; and by threatening educational institutions with demands to use Hindu symbols, to display Hindu deities, and to use Hindu songs and prayers.
7KH+LQGXWYD$JHQGD Hindutva’s one-point agenda is to conquer all of India and to make it a land of the Hindus. To achieve this goal, Hindu fundamentalists have a very strong and action-oriented subsidiary agenda, in which the following three points, among several others, are most important to the degree that they have been systematically carried out during the past decade: (1) Propagation of Hindu consciousness through electronic media by depicting stories from the Epics and 3XU QDV (sacred narrations), (2) liberation of the holy shrines in Ayodhya (the birth-SODFHRI5 PDWKHGLYLQHKHURLQWKH5 P \DQD , Varanasi (Benares), and Mathura (The birth-place of Krishna, the divine hero in the 0DK EK UDWD), because Muslims are said to have destroyed Hindu temples and to have built Mosques in their place; and (3) the condemnation all Christian missionary activities that encourage propagation of the Christian faith (condemnation includes the actual manhandling of Christian missionaries through criminal activities such as murder, rape, etc.). The concrete implementation of this one-pointed, multi-leveled agenda commenced with the electronic media, and in this area, very visible success has been achieved during the past decade—there is a new awakening of Hindu consciousness among all Hindus throughout the country, and this is evidenced by the increased patronage of Hindu temples, the burgeoning attendance of cultural festivals and religious programs, and the accelerated construction of Hindu temples in every nook, cranny, and street corner of India’s towns and villages. To date, the most inflammatory gesture toward furthering the Hindutva agenda culminated on December 6, 1992, with the demolition of the Babri
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Masjid mosque in Ayodhya. The goal was to „liberate“ Ayodhya from the Muslims by way of reconstructing the temple that is claimed to have originally stood in exactly the spot where Babri Masjid then existed, and to rededicate the temple to God Rama. The project’s aim was to reverse history by reasserting the primacy of Hindu religion and culture in India.
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In order to formulate an adequate Christian Response to the Hindutva movement, it is necessary that we understand well the movement and all its implications. From the eighth century onwards, India has been invaded and 41 ruled by foreign powers. Muslims ruled in India for nearly eight centuries, during which Hindus were the helpless victims of political and religious oppression. They became mute spectators to the cruel vandalism of their places 42 of worship as well as the enormous plunder of their wealth. At the command of Alauddhin Khilji in 1297, „the image of Somnath was carried away, 43 this time to Delhi to be trodden under foot by the (Muslim) faithful.“ Later on, the European missionaries consistently denounced Hinduism as a mass of superstition and condemned Hindus as „idol“ worshippers. Who can deny the discrimination endured by Hindus during the British Rule, who, in enforcing the principles of „divide and rule,“ not only bestowed special favors on 39
,QGLD 7RGD\,
December 15, 1992, 15ff.; December 31, 1992, 27ff.; V. Narivelli: in: -RXUQDORI'KDUPD 17 (1992), 299-308; Sh. D’Souza: $\RGK\D5HOLJLRQRU3RZHU 6WUXJJOH", in: Social Action 43 (1993), 101- 106; idem: $6RFLR3ROLWLFDO$QDO\VLV RIWKH3RVW$\RGK\D6LWXDWLRQLQ,QGLD, in: Social Action 44 (1994), 69-80; M. Ali Khan: ,VODP¶V (QFRXQWHU ZLWK +LQGXLVP LQ 6HFXODU ,QGLD, in: Journal of Dharma 19 ( 1994), 270- 283; S. Anand: 7KH +LQGX 7HPSOH, in: -HHYDGKDUD 23 (1993), 397-418. Cf. S. Anand: 7KH(PHUJHQFHRI+LQGXWYD, in: Hindutva, An Indian Christian Response ed. By J. Mattam et al., Bangalore 2002, 103-222. For Islamic and Christian encounters with India, see. Halbfass: India and Europe, 24-52. Chitkara: Hindutva, 2- 12. J.C..Powell–Price:$+LVWRU\RI,QGLD London. 1955, 135. Aurangzeb was another famous anti-Hindu Muslim Ruler who vandalized Hindu sacred symbols. He ordered, to bury „under the steps of mosque the Hindu images that were brought from the temples destroyed by him“, in: S. Bhattacharya: $ 'LFWLRQDU\ RI ,QGLDQ +LVWRU\, Calcutta 1967, 84. 3ROLWLFVRI0DQGLU0DVMLG&RQIOLFW8QGRLQJD6HFXODUDQG3OXUDOLVWLF6RFLHW\,
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Muslims, but also overtly reified what might have coexisted as benign cultural and religious differences into fractious while formal (and enforced) division. Lord Minto, the viceroy of Calcutta (1905-1910) promised a separate 44 electorate to Muslims and granted them multiple concessions. The same British „divide and rule“ policy resulted in the partition of Bengal in 1905. The motive here was „ to curb the growth of national feeling in politically advanced Bengal by driving a wedge between the Bengali speaking Hindus 45 and Muslims.“ This paved the way for the birth of the Muslim League in 46 1906. History is a witness to the fact of how Christian rulers in Goa, with the explicit intention of extinguishing the Hindu religion, destroyed Hindu temples and shrines and forbade the construction of new temples or the repair of 47 existing ones. In his autobiography, Mahatma Gandhi describes how he appreciated all religions except Christianity: „Only Christianity was at that time an exception. I developed a sort of dislike for it. And for a reason. In those days Christian missionaries used to stand in a corner near the high school and 48 hold forth, pouring abuse on Hindus and their gods.“ The Hindutva proponents associate Christians and Christianity with the colonial rulers simply because the Christian community, according to them, was happy with the British Rule, which accorded preferential treatment to them. In the Hindutva view, this preferential treatment predisposed Christians to be unpatriotic toward that which is uniquely Indian, culturally and spiritually. The early Christian Missionaries were foreigners who propagated, not only the Christian faith, but also the Western culture: their readily adopted dress, music, food habits, and style of life created a strong impression among some Hindus that Indian Christians are not patriotic, but people who have deliberately alienated themselves from the Indian Culture. In the words of Vidyarthi and Rai, „Christianity has provided the first model of Westerniza-
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Mujumdar: Struggle for Freedom, 151. Ibid 21. In 1924 Gandhi undertook fast for twenty one days and he stayed in the house of Mahammad Ali, a friend of his. Next year Mahammad Ali made a statement: „According to my religion and creed, I hold an adulterous and fallen Mussalman to be better than Mr. Gandhi.“ Ibid, 336. K.R. Malkani: 7KH5666WRU\, New Delhi 1980, 185. A.K. Priolkar: 7KH*RD,QTXLVLWLRQ, Bombay 1981, 65-70. M.K. Gandhi: $Q $XWRELRJUDSK\ 7KH6WRU\ RI 0\ ([SHULPHQWZLWK 7UXWK, Boston 1993, 28.
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tion to the tribals in the shape of Church organization, Western education, 49 and, above all, Western values and morals.“ By defining a Hindu as one who considers this land, not only his fatherland, but also his holy land, Savarkar excludes Muslims and Christians from Hinduism and from India. „Their holy land is far off in Arabia or Pales50 tine.“ His allegations that Christians and Muslims do not consider India to be their true home and that their loyalties reside outside the country is not without foundation. Most decisions in the Catholic Church are made in Rome, and the Indian Church is heavily dependent on foreign aid for its maintenance. It is no wonder, then, that critics still consider the Catholic 51 Church to be a colony of the West. The Hindutva movement must be understood as a reaction against the centuries-long, humiliating experiences of the Hindus. Hindutva proponents know that Hindus were helpless only because of their political weakness, and in their view, unless they become politically strong and dominate others, they are afraid that history might repeat itself. They want to learn from history and to undo some of the trauma they endured at the hands of Muslims and Christians. How can we understand Hindutva from the perspective of Globalization? 52 We can say that Hindutva asserts what Robertson calls „deep particularity,“ the ideal of a global relevancy and application for their particular Hindutva ideology. While its expression and organizational patterns are parochial and exclusionary, its vision, its intention, is not to isolate itself, but to broaden and disseminate its doctrines on a global level. Hindu Fundamentalism is thus a way of finding a place within the world as a whole by asserting communal identity and by enhancing the power of the group loyal to its ideology.
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Vidyarthi and Rai: 7KH7ULEDO&XOWXUHRI,QGLD, 1977, 267f. Savarkar: Hindutva, 92. Regarding the Muslims the news item in Asian Age making known the recent decision of the World Assembly of Muslim Youth (WAMY) to build 31 mosques in India at the cost of 615 000 Saudi Rials will prove the point made by Sarvarkar.. S. Mustafa: 6DXGLVWRIXQGQHZPRVTXHVLQ,QGLD in: The Asian Age, 12 February 200, 1. Robertson: Globalization and Social Theory, 175–178.
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$6KRUW&ULWLTXHRI+LQGXWYD The genesis of the Hindutva movement is a reaction to the collective experience of atrocities committed against the Hindus for centuries. With any such deeply felt reaction, there may arise occasions of, or a tendency toward, malefaction; so while trying to understand the movement sympathetically, we must, nevertheless, acknowledge its wrongs and plainly disclose those areas where a change of perspective is needed. Firstly, the ideology itself does not project „authentic“ Hinduism. As we 53 said earlier, Hinduism is a multifaceted religion and a way of life. It essentially embraces reality in all its aspects. Thus fundamentalism goes against the most basic doctrine of Hinduism. Dayanand Saraswathi, while criticizing fundamentalist trends in the Christianity of his times, became the founder of Vedic fundamentalism. He said, „Had not God revealed the 9HGD, no man 54 would have been able to write anything.“ He also declared, „In the accep55 tance of the 9HGDV, the whole truth is accepted.“ Yet history indicates that Rigvedic sages were very open-minded and invited pluralistic points of 56 views. Hence Saraswathi contradicts the very scriptures on which he bases his movement. And Sarvarkar traced Hinduism back to pre-Vedic times by asserting that the term 6DSWD6LQGKX (region of the seven rivers) was taken by Vedic peoples from the inhabitants of the area of seven rivers. But the scholars find no reference to this term in the 9HGDs and/or in its subsidiary literature (YHG JDV). It is found only in the * K\D6 WUDV (family rituals), which are very late 57 in origin. Then Sarvarkar extends the Sindhu area to all the lands conquered by the great King Rama. According to him, the birthday of Hinduism is the day Rama landed in Lanka. Yet historians have, beyond all doubt, proved that the Lanka of the Epic is located in central India, and it has nothing to do with Sri 53 54 55 56 57
Chitkara: Hindutva, 1-14. Saraswati: Light of Truth 240f. Ibid, 644. Rigveda 1. 164. 46. and 10. 114. 5. The Actual word used in Rigveda was 6DSWDVDLQGKYDK, the meaning of which is not clear. Cf. Chitkara: +LQGXWYD 1f.; Cf also Jaiminiya-grhya-sutra 2.9.20; Cf. A. Vishvabandhu: $ 9HGLF :RUG FRQFRUGDQFH, 1942-73; A. Suryakanta: 3UDFWLFDO 9HGLF'LFWLRQDU\, Oxford 1981; S. Anand: The Emergence of Hindutva, 176.
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Lanka proper. Moreover, modern Sri Lanka is an independent nation, and thus it cannot be readily co-opted by the ideals and organizations of Hindu nationhood. According to the Hindutva ideologists, only the Hindus in India constitute one nation, one race, and one culture mediated by one language. This assertion is bold cultural reductionism, refuted by every critic of this ideology. The argument that the RSS represents India and hence „The History of India 58 constitutes the Philosophy of R.S.S „ is both absurd and a very mean reading of a great nation’s diverse cultural record. Indeed, the Hindutva use of the words „nation“ (U VKWUD¶), „caste“ (M WL , „fatherland“ SLW EK PL), and „holy 59 60 land“ (SXQ\DEK PL) have not found acceptance among tribals, Buddhists, 61 62 Sikhs, and Dalits. It is well known that tribals in India have remained alienated for centuries from the Hindus. Additionally, all the cultural diversity of India can be traced to three major linguistic groups: Indo-Aryan, Dra63 vidian and Munda, or Austro-Asiatic. The claim by RSS that they represent one culture (6DPVNUWL) mediated by one language (Sanskrit) is simply untrue. Assuredly, the monolithic and revivalistic approach of RSS towards culture is misrepresentative of anything like an autochthonous identity. Rather, the RSS is propagating and applying the Brahmanic tradition of the 9HGDs hegemonicically in order to enjoy power and prestige, without taking into account the indigenous voices of the new Dalit and Tribal movements in India.
$3RVVLEOH&KULVWLDQ5HVSRQVH There is no doubt that in recent years Christians have suffered a great deal from Hindu fundamentalism. Churches have been destroyed, missionaries have been burned alive, nuns who have consecrated themselves for religious life have been raped, and priests have been paraded naked, tortured, shot 58 59
60 61 62 63
Malkani: The RSS Story, 178. N.N. Vyas and R.A. Mann (eds.): ,QGLDQ7ULEHVLQ7UDQVLWLRQ, Delhi 1980, 15-25; L.P Vidyarthi and R.K. Rai: 7KH 7ULEDO &XOWXUH RI ,QGLD, Delhi 1977, 426; S.K. Gupta: 7KH6FKHGXOHG&DVWHDQG0RGHUQ3ROLWLFV, New Delhi. 1985, 3-6. Cf. -LYDQ, February, 2000, 16. Madan: Madern Myths, Locked Minds, 680; Powell-Smith: History of India, 346. J.K.Lele: +LQGXWYD 7KH (PHUJHQFH RI WKH 5LJKW, Madras 1995, vi; R. Kumar: 'DOLW&XOWXUH$SHUVSHFWLYHIURPEHORZ, in: Social Action 50/1 (2000), 16-33. T.R. Trautmann: $U\DQVDQG%ULWLVK,QGLD, New Delhi. 1997, 227.
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dead, and even beheaded. In general, Christians have been sober in their responses compared to those of other religious communities towards such atrocities. But have the Christians considered whether their oppression also offers them a God-given opportunity to forge unity? The Christian denominations in India have never come together for any worthwhile purpose. Even when overawed with suffering, they have refused to unite and raise their voices in unified protest. Likewise, it is time for Christians to consider shedding their triumphalist and royalist rhetoric that persists in projecting Christ as „Lord and King of All.“ While we deplore the hegemonic character of Hindutva, we also need to notice how, symbolically and in fact, the Church too has dominated the world during the second millennium, with the same imperialist attitude, in this case manifesting as political and ecclesiastical Eurocentricism. Some kind of unholy alliance exists between a politics and a Church policy that is undergirded by triumphalistic theology. There is a long-held and under-examined assumption that only Christians have had the right knowledge of God and that Christians have been under the obligation to bring all nations into Christendom. As Soares-Prabhu explains: The numerical expansion of the missionizing Church or the political or economic advancement of its patrons can become more important than the welfare of the ‘evangelized’ people. Mission then ceases to be an act of service and becomes a selfish and therefore sinful exercise of institutional survival and expan65 sion of power.
This attitude is tacitly manifest even today. To this day, pomp, glamour, and hierarchical posturing still remain integral to Church orthopraxy. The credibility of Christians as a group will enhance only if we shift from the rhetoric of royal Christology to authentic servant Christology. Jesus came to serve, 64
65
In Orissa, Australian Missionary Graham Staines was burnt alive in January 1999 with his two young sons Philip and Thimothy; Fr. A.T. Thomas was beheaded, Sr. Maria Rani was stabbed again and again to death in front of all co-passengers of the bus she was traveling, Nuns in M.P were raped, several Churches in South Gujarath were burnt, a priest in Bihar was parades naked etc. While condemning the RSS, we need to remember the Christians too have a long history of suppression of human rights, through Inquisition, Crusades, Colonialization of the Americas and extermination of natives, through slave trade and the like. G.M. Soares-Prabhu: %LEOLFDO 7KHPHV IRU D &RQWH[WXDO 7KHRORJ\ 7RGD\, Ed. I. Padinjarekuttu, Pune 1999, 17.
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not to be served; he preached a kingdom accessible to the poor, to outcasts, and to the exploited. Christians also need a new ecclesiology. The church leaders must shed their image of „lordship“ and project an image of servants of the poor. And Christians must integrate themselves with the Indian Culture in order to undo the stigma of „foreigner;“ in other words, we need a truly „Indian Church.“ For this, our future theologians should opt to earn their higher degrees in India and to develop a Christian theology based on Indian Scriptures following the example of Thomas Aquinas, who built up a system of Christian theology by the appropriation of Greek philosophy. Vatican II has given the clarion call to venture into a more nuanced cultural understanding of theology through inculturation and inter-religious dialogue. The message of the Gospel must always be incarnated within a particular cultural context, and this cannot be done unless there has been sufficient investigation into the compatibilities between culture and theology. A semiotic study of Indian culture will certainly lead to a clearer understanding of the symbolic world-view of Hinduism, and this should precede any step toward inculturation or inter-religious dialogue. Although the Church in India has thus far failed in this endeavor, the question remains – can the Hindutva movement make the Church wake up from its slumber? One thing is certain: Christians can no more remain isolated from the mainstream of national life. They must have the openness to participate in Hindu festivals and celebrations and to integrate, from them, meaningful aspects into their liturgy so that a credible Indian Christian theology can emerge. Toward this endeavor, the ordinary Christian needs to be enlightened regarding authentic Hinduism through rigorous catechesis on Indian Culture and the meaning of incultura66 tion. No inter-religious dialogue can progress unless Christians are motivated to begin it and are willing to learn how to sustain it. The prevailing attitude of the Church in India towards inter-religious dialogue is, to a large 67 degree, passive, although all Church documents assert its importance. Theologians receive hardly any encouragement from the hierarchy in this enterprise. The few Christian ashrams, which should have been the fulcrum of ongoing inter-religious dialogue in India, are languishing in their ability to 66 67
Bhardwaj: Combating Communalism, 45-54. Catholic Bishops Conference of India: &RPPLVVLRQIRU 'LDORJXH, in: Guidelines for Inter-Religious Dialogue New Delhi 1989.
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bridge cultural and religious division, the approach that was previously their mainstay. Those who visit them nowadays are mostly Christians themselves. Few activities are organized to attract members of other religions, although every Church leader knows that the Christian ashrams could be the most effective instruments in the process of cultivating a truly indigenous Christian68 ity. Many of the RSS protagonists have seen and experienced life in Europe, and they observe that the Christian West is no more morally inspiring. They know that, worldwide, the West bears the worst record of human rights and ecological integrity violation. When Pope John Paul II visited India, the local press raised objections: „Why should he come to India? Let me evangelize 69 Rome“ is one sample of the local press’s reaction. The Christians in India should not miss the point. They must show that they are followers of Jesus Christ by their quality of life. They must be the salt of the earth and light of the world. As Pope John Paul II said, „Every situation is an opportunity for Christians to show forth the power which the truth of Christ has become in 70 their lives.“ In conclusion, I would like to affirm that, in India, religious identity is always a dominant identity. As Da Silva writes, „It defines for Indians who 71 they are, how they should behave in, and which group they belong to.“ In other words, India has to affirm a multi-religious identity. The concept „secular,“ the concept itself a Western import, is inadequate to express the 72 Indian reality and the Indian psyche. The Indian spirit and ethos are fundamentally „religious,“ and, therefore, each and every citizen should have the right to embrace the religion of his choice. And government administrations should revere, honor, and respect all religions, providing equal opportunities 68
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Most of the Ashrams – with the exception of Anjali Ashram – have been founded by the foreign missionaries like Abhishiktananda, Bede Griffts and Rogers. Under the Indian Gurus their contribution to the emergence of Indian Christian Theology is hardly tangible. Cf. Vandana: *XUXV$VKUDPVDQG&KULVWLDQV, Delhi 1989. Even the Malankara Orthodox Syrian church made an appeal to the central government to prevent the visit of Ignatius Sakha I of Antioch in November 1999. „Pleas to prevent visit of Patriach“, 7LPHVRI,QGLD 3 November 1999, 12. John Paul II.: (FFOHVLDLQ$VLD 42. A. Da Silva: &RPEDWLQJ&RPPXQDOLVPLQ7ZHQW\)LUVW&HQWXU\,QGLD, in: Jñanadipa, 2, 1 (1999) 82. A. Pushparajan: $6HFXODU&ULWLTXHRI+LQGXWYD, in: Hindutva ed. by J. Mattam, and P. Arokiadoss, Bangalore 2002, 227-234; Chitkara: Hindutva, 91-106.
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for all to practice and adhere to their religions of choice and should stringently avoid partiality to any one particular religion. This attitude will not only function as an antidote to communalism, but will also build up harmony and fraternalism among its citizens, thereby creating a atmosphere conducive to the acceleration of economic development and the creation of a strong and united India. India’s future course should be to foster religious pluralism, which consists of basic openness, ecumenicism, and an appreciation of traditions other than one’s own. The President of India, K.R. Narayanan, supported this view in his speech on Republic Day, 1999: The Unity of our country is not based on any monolithic idea, but on our ageold tradition of tolerance, which is at once a pragmatic concept or living together, and a philosophic concept of finding truth and goodness in every relig73 ion.
What India needs is the multi-religious identity that is its birthright as the 74 land of the origins of world religions like Buddhism, Jainism, and Sikhism. Pluralism has been a great tradition in India for three millennia. Are we then safe to consider the present fundamentalist movement in India to be a passing phenomenon, an anomaly in the development of Indian history? No. We cannot afford to wait hopefully for the synthesis of a new understanding and broad acceptance of different religious world-views. The forces of globalization have their own momentum. It is our responsibility to match that momentum with an adequate response, with clear and purposeful vision toward a „new nation“ that is true to the „old“ yet founded on universal brother and sisterhood.
73 74
Cited by P. D. Mathew: +LQGXLVP +LQGXWYD DQG 6HFXODULVP, New Delhi 1999, 138. Cf. also Bhardwaj: Combating Communalism in India, 55-60. K. Kunnumpuram: 7KH&KDOOHQJHRI+LGXWYD$Q,QGLDQ&KULVWDLQ5HVSRQVH, in: Hindutva. An Indian Christian Response, 283-202.
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*OREDOL]DWLRQDQGWKH'LDORJXHRI5HOLJLRQV This contribution presents some theoretical layers on how to systematically conceive the dialogue of religions and interreligious dialogue in the context of globalization. The first three sections reflect on the GLDORJXH RI UHOLJLRQV from the perspective of both the history of religions as well as from theory of religions, the later building on Peter Beyer’s sociological theory of the formation of world religions and their interrelatedness in a global religious system. Section four is devoted to methodological foundations of LQWHUUHOLJLRXV GLDORJXH, drawing on the work of David Krieger and Raimon Panikkar. A fifth section, finally, bespeaks interreligious dialogue as a matter of concern and quickly growing field in systematic theology. Here the author distinguishes the WKHRORJ\RIUHOLJLRQV discourse from a new developing discipline called FRPSDUDWLYHWKHRORJ\ the later suggesting to be interreligious theology that is not the domain of generalists, but rather of those who, in their theological pursuit and ‘faith seeking understanding’, are willing to engage in detailed study of other religious traditions, tentatively and over time. Dieser Beitrag präsentiert einige Theorieebenen, um den Dialog der Religionen bzw. den interreligiösen Dialog im Kontext der Globalisierung systematisch zu fassen. Die ersten drei Abschnitte reflektieren den 'LDORJGHU5HOLJLRQHQaus religionsgeschichtlicher und religionstheoretischer Perspektive. Letztere stützt sich auf Peter Beyers soziologische Theorie der Herausbildung von Weltreligionen und deren Bezogenheit im globalen religiösen System. Der vierte Abschnitt widmet sich methodologischen Grundlagen des LQWHUUHOLJL|VHQ'LDORJHV und bezieht sich dabei auf die Arbeiten von David Krieger und Raimon Panikkar. Ein fünfter Abschnitt bespricht den interreligiösen Dialog schließlich als Anliegen und rasch wachsendes Arbeitsgebiet der systematischen Theologie. Hier unterscheidet der Autor den Diskurs der 7KHRORJLHGHU5HOL JLRQHQ von einer sich neu entwickelnden Disziplin, namens .RPSDUDWLYH7KHRORJLH Letztere gibt vor, nicht eine interreligiöse Theologie von Generalisten zu sein, sondern vielmehr von jenen, die in ihrem theologischen Bestreben und Glauben suchenden Verstehen bereit sind, sich sorgfältig und über lange Zeit hin auf ein detailiertes Studium anderer religiöser Traditionen einzulassen.
The globalization of religions, religious pluralism, processes of migration, the breakdown of cultural and religious borders, traditional reentrenchment and the rise of fundamentalisms, cultural and religious conflicts, inter-religious encounters: these are not only central slogans characterizing the challenge of religion and religious traditions in today’s process of globalization. They also
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form the background for understanding the problem and mark out the variety of interests and academic disciplines that encompass the field we call the „dialogue of religions“ or „inter-religious dialogue“. The information and academic literature relating to this theme is correspondingly complex and intricate. If the study of religion approaches the topic systematically, it will attempt, on the one hand, to identify what the dialogue of UHOLJLRQV(emphasis on religions) can explain against this background of globalization (sections 13). On the other hand, it will attempt to determine the appropriate criteria and methods in the GLDORJXH of religions (emphasis on dialogue). The resulting explanatory context should be appropriate, finally, to situate particular forms of discourse in philosophy of religion or theology in relation to this topic.
,QWHUUHOLJLRXV3URFHVVHVRI7UDGLWLRQ²'LDORJXHRI5HOLJLRQV The initial conceptual question for religious studies is what we are to understand by the phrase „dialogue of UHOLJLRQV“ that is, whether or to what degree „the dialogue of religions“ can be classified or systematically explained in terms of the field’s present theoretical parameters. Does a „dialogical dogma“ constitute a part of the inherent structure of historical religious traditions, so that one can speak of a long history of inter-religious dialogue? Or has the dialogue of UHOLJLRQV only become necessary as a result of the implicitly secular structures in the most recent developments of the world’s societies? As for the first question, one can say in general that research into the history of religions and the historical developments of individual religions show that they have developed and been formed, either implicitly or explicitly, in confrontation with other or foreign elements, and that religions do not remain isolated from the history of neighbouring religions: the historical career of individual religious traditions can not be understood without confronting the history of neighbouring religious traditions, their perception and traditioning processes, their apologetics and polemics, missionary
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onfrontation and accommodation, open or hidden borrowing or reaction, exotic 1 contacts, syncretism and intercultural processes.
Instead, it may be that the identity-constituting principles of a religious tradition often appear precisely in the open or hidden confrontation with contextually given religious otherness. Despite the historical interest shown in specific questions about the development of particular religious communities or 2 about the genesis of their constitutive foundational texts, research in the study of religion is far from producing a work in which religious history is presented as a complex and open history of inter-religious encounters. Here, related systematic questions, like those of cultural and trans-religious comparisons, analogies or characteristic differences in process of inter-religious traditioning as well as questions about a concept of dialogue among religious 3 traditions have as yet received little attention. The question about the degree of variation among inter-religious traditioning processes is also left unexplained: can the plurality in the history of religions be plausibly and confidently reduced to a few basic types of inter-religious communication and 4 hermeneutics, or are completely different models for relating them appropriate, and what consequences follow for comparative estimates? In any case, the „GLDORJXH of religions“ or „inter-religious GLDORJXH,“ as a model for inter-religious encounter and the process of tradition – if it is applicable and appropriate as a category within the history of religions at all – 5 has become a central category only recently. At best one can speak of a 1
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'HU HLJHQH XQG GHU IUHPGH *ODXEH 6WXGLHQ ]XU LQWHUUHOLJL|VHQ )UHPGZDKUQHKPXQJLQ,VODP+LQGXLVPXV%XGGKLVPXVXQG&KULVWHQWXP, Tübin-
A. Grünschloß:
gen 1999, 2. Processes of inter-religious traditioning have long been of interest in biblical studies, Western Koran research and textual histories in the history of religions. For a systematic reflection on an intercultural hermeneutics of tradition and the process of inter-religious traditioning cf. N. Hintersteiner: 7UDGLWLRQHQEHUVFKUHL WHQ $QJORDPHULNDQLVFKH %HLWUlJH ]XU LQWHUNXOWXUHOOHQ 7UDGLWLRQVKHUPHQHXWLN, Wien 2001. In the sense of models of inter-religious hermeneutics, cf. the recent religious-theological discourse triadic distinction between exclusivism, inclusivism and pluralism. The expression ‘dialogue’ was first used in the second half of the twentieth-century as a concept of communication between religious traditions and only made its way into handbooks in the history of religion in the 1980s; cf. E. Sharpe: 'LDORJXHRI 5HOLJLRQV, in: M. Eliade: The Encyclopedia of Religion 4, New York 1987, 344348.
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precursor within the history of religion if one thinks of inter-religious conversations in terms such as GLDOH[LVGLVSXWDWLRDOWHUFDWLRQUHIXWDWLR, and UHSUR EDWLR, not only in the Christian Middle Ages in Europe, where the encounter 6 between Jews and Moslems is attested , but also in the courts of the Caliphs in the Islamic Near East as well as in Asia between Christian missionaries and scholars of ancestral religious traditions of India and China in the six7 teenth century.
7KH:RUOG3DUOLDPHQWRI5HOLJLRQVLQ&KLFDJR A central historical event in the dialogue among the religions was the 1893 World Parliament of Religions in Chicago, the first inter-religious encounter 8 at the international level. American Christians invited members of different religions and cultures: Japanese Buddhists, American Jews, Indian Theosophists, and Christians comprising different confessions, nationalities and languages, to speak about their religious faiths to an audience ranging up to 7,000 people. At a time when intercontinental travel constituted a major undertaking, slogans such as „religious pluralism“ or „globalization“ were unknown, and exploitive missionary practices within recent memory, such an 6
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Ulrich Berner characterizes the Jewish-Christian religious discussions that took place in Barcelona in 1263 as scarcely constituting an inter-religious dialogue in light of the asymmetrical power relations. Cf. U.Berner: =XU *HVFKLFKWH XQG 3UREOHPDWLN GHV LQWHUUHOLJL|VHQ 'LDORJHV, in: Chr. Elsas (Hg.): Tradition und Translation. FS für Carsten Colpe, Berlin 1994, 391-404. Certain initiatives by Peter the Venerable and Peter Abelard are not clearly counted as apologetics and polemics, but are considered within the scope of the dialogical (ibid. 396-405). For an understanding of apologetics in inter-religious dialogue, cf. P. Griffiths: $Q $SRORJ\ IRU $SRORJHWLFV $ 6WXG\ LQ WKH /RJLF RI ,QWHUUHOLJLRXV 'LDORJXH, Maryknoll, NY 1991. For the encounters in early Islamic Near East and in sixteenth century India and China, cf. N.A. Newman (ed.): 7KH(DUO\&KULVWLDQ0XVOLP'LDORJXH$&ROOHF WLRQRI'RFXPHQWVIURPWKH)LUVW7KUHH,VODPLF&HQWXULHV$' , Translations with Commentary, Hatfield 1993; J.-Cl. Basset: /HGLDORJXHLQWHUUHOLJLHX[ &KDQFHRXGpFKpDQFHGHODIRL, Paris 1996, 658-673. The background of the Parliament in India, Ceylon, Japan and the United States, as well as the progress of the Parliament and the organization of exchanges are treated extensively in D. Lüddeckens: 'DV :HOWSDUODPHQW GHU 5HOLJLRQHQ YRQ 6WUXNWXUHQLQWHUUHOLJL|VHU%HJHJQXQJLP-DKUKXQGHUW, Berlin/New York 2002; compare also R.H. Seager: 7KHGDZQRIUHOLJLRXVSOXUDOLVP9RLFHVIURPWKH :RUOG¶V3DUOLDPHQWRI5HOLJLRQV, La Salle 1993.
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encounter both with respect to Christian ecumenism and inter-religious encounter was extraordinary. Until that time, inter-religious encounters always took place in one direction: „Asians confronted foreigners ‘on their own soil’ but rarely ventured to foreign lands. Europeans and Americans confronted 9 foreign religions in foreign places, but not at home.“ Often, as a consequence of such inter-religious encounters, progressives and activists were treated with suspicion within their own religious communities and accused of syncretism. As a result, the pioneers of inter-religious dialogue had to gain acceptance for their activities often against the opposition of their own religious communities. In general, however, the World Parliament of Religions from 1893 was decisively important for the history of inter-religious dialogue. It not only provided insight into the cultural, religious and theological importance of religions, but also promoted the knowledge of their multiple commonalities. Finally, the convention was a decisive impetus for comparative religious studies, and an essential moment in the reception of Asian religions in the West. What some early chroniclers saw as an „attack“ on world religions can be seen in retrospect as the beginning of an increasingly intensive cooperation among religions, in the interest of human welfare. The Chicago event of 1893 recently celebrated its one hundredth anniversary, and since then there have been a number of subsequent 10 impulses for a dialogue among the religions, and a number of smaller and larger inter-religious agreements have been reached at various levels.
7KH'LDORJXHDPRQJ:RUOG5HOLJLRQVLQWKH*OREDO5HOLJLRXV6\VWHP Now we come to our other question, namely whether one can speak of a dialogue among „religions“ only in light of newer religious developments and in the context of a formation of a new world society, as our reference to the 9 10
Lüddeckens, Das Weltparlament der Religionen, 272 (translation mine). An important symbolic breakthrough is represented since Vatican II (1962-1965) by the Roman Catholic Church, which has signaled a new positive stand in relation to non-Christian religions and openness for dialogue with them. There were similar subsequent activities of the World Council of Churches. These initiatives resulted from the Christian side in numerous initiatives for dialogue; from the side of nonChristian religions these new initiatives were greeted positively, on the one hand, yet there were suspicions and concerns expressed that the intended dialogue could be a new Christian missionary strategy.
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World Parliament of Religions in Chicago in 1893 suggests. An answer to this question is possible only if one also attempts to explain, what is meant by „religions“. When do we recognize a religion as a religion and under what conditions will it be accepted as such? Is there, implied by talk of world religions, a global-cultural model for what religion is? What heuristic model can be proposed here, and what implications follow for our talk and understanding of a dialogue of UHOLJLRQV? In order to reconstruct a heuristic model for talk about a dialogue of religions from a religious-theoretical perspective, we will refer to the systematic sociology of religion of Peter Beyer, professor of religious studies in Ottawa, which orients itself on the globalization problematic. In order to develop a corresponding theory, Beyer employs the systems theory of Niklas Luhmann and extends Luhmann’s concept of global systems to include a historically imminent plurality of globalizing social systems, within which religion is located. 11 His argument is as follows: 1. Since economic systems such as capitalism and political systems such as the nation-state represent specifically modern, specialized, instrumental and globalized forms of economic and political action, it makes sense to ask whether there is a corresponding form of glob12 alized and systemic religious action. Beyer’s concern is to determine the extent to which a globalized system of religion has developed historically. 2. He begins with the Christian religious system of the Catholic Church in the European Middle Ages. This religious system influenced the historical restructuring of European society from a primarily stratified to a primarily functional and differentiated society—a transformation which resulted, among other things, in a confessional split within the religious system. The fact that religion in this society evidently no longer functioned as a unifying institution, but rather as a source of continuing conflict and war, contributed to the reconstruction of religion as a sphere of human activity, separate from 11
For the following cf. P. Beyer: 7KH0RGHUQ(PHUJHQFHRI5HOLJLRQVDQGD*OREDO 6RFLDO6\VWHPIRU 5HOLJLRQ, in: International Sociology 13 (1998), 151-172; idem:
7KH5HOLJLRXV6\VWHPRI*OREDO6RFLHW\$6RFLRORJLFDO$QDO\VLVRIDQ(PHUJLQJ 5HDOLW\, in: Numen 45, 1-29; idem (ed.): 5HOLJLRQLP3UR]HGHU*OREDOLVLHUXQJ, 12
Würzburg 2001. Luhmann’s systems theory is extraordinarily well suited for this type of inquiry, since it is centrally concerned with the idea of comparing how different systems function in relation to society, and with the way in which they function as systems and encompass internally differentiated systems.
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other areas i.e. differentiated, as well as to an internal plurality into various confessions and religions. In particular, the word „Christian“ increasingly became the designation for one „religion“ among others, and less for the (true) substance of religion as such. In addition, the formation of a primarily functional differentiated society contributed to the extension of European influence to other parts of the world, and led European observers (at least) to include others in presumably „religions“ spheres of activity within this new conceptuality. 3. This modern „discovery“ of other religions through European observers – with the help of elites in the corresponding regions – can be shown to extend beyond the triad of abrahamic faiths (Judaism, Christianity, Islam) to the formation of Buddhism and Hinduism as world religions in the eighteenth and nineteenth centuries. This extension of the concept of religions to religious systems does not presuppose any logical or historical necessity; the emergence of one religion from among others is to be understood as one possible option. This is shown by the processes by which Sikhism has differentiated itself from Hinduism and Islam from the nineteenth century, emerging from the status of merely one of many non-Moslem religious options on the Indian subcontinent, to be seen by its adherents as well as by ob13 servers as a separate religion. The formation of Chinese religion is known to have developed differently. In China, in contrast to India, a comparatively similar wide range of religious traditions and practices in the nineteenth and twentieth centuries did not lead to a single unitary Chinese religion. Rather, Western observers distinguished three different traditions of doctrine and correspondingly three Chinese religions: Confucianism, Taoism, and Buddhism. However, nearly all elites who were followers of Confucianism were either eliminated with the collapse of the imperial system, rejected the tradition entirely, or subsequently denied that Confucianism was a religion. Chinese Buddhism was not finally recognized by the Chinese elite as an indigenous religion and therefore could not become a flashpoint for the reconfiguration of Chinese religious traditions into one world religion alongside others. 4. The degree to which representatives of these other religions, through the revision and reconstruction of their own religious traditions, presented it as „one of the religions“ reflects whether we today count it among the world religions, which together constitute the „defining set of religions“ and form a 13
Cf. H. Oberoi: 7KH&RQVWUXFWLRQRI5HOLJLRXV%RXQGDULHV&XOWXUH,GHQWLW\DQG'L YHUVLW\LQWKH6LNK7UDGLWLRQOxford/New York 1997.
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global religious system. 5. Is there a global model for defining what religion is in this modern history of the formation of world religions? This question is not easy to answer, but a two-fold claim is possible: to an important extent, Christianity, as a historical accident, like the other so-called abrahamic „world religions“ such as Islam and Judaism, contains many elements of a global cultural model. Nevertheless, modern here does not refer exclusively to Western modernity but a plurality of „modernities“ all over the world, which is why the model for what counts as religion in general – in dialogue with particular religions – will change, when new or reconstituted religions are accepted as such. In summary: the fundamental religious-theoretical approach to the dialogue of religions in a global context consists in understanding the dialogue of religious traditions as a process of the formation of a global religious system. This view assumes that religion and religions are involved in a worldwide, historical progress of modernization and globalization, and that religious traditions reconfigure themselves as global systems („world religions“) or as parts of the system which itself is system building and transformative. One can speak of a dialogue of „religions“ only as a consequence of the modern formation of religious traditions as „religions“. This consists in the working out of the relationships of these religions to one another in the continuing historical process by which a global religious system is formed. On this view, the dialogue of religions is imminent to this process of global formation of religion and grows out of the interaction among religious traditions. The asymmetry given in the colonial dominance of Christianity and the West in the formation of world religions evidently repeats itself here in the efforts to establish a dialogue of religions within the present context of the 14 formation of a global religious system.
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In any case the „dialogue of religions“ in the West is primarily an initiative of the Christian world. The burden resulting from European-American colonialism and now globalization, as well as economic and political inequality has, in the encounter with other cultures and religions, certainly resulted in the maintenance of a post-colonial resentment against „dialogue“ among non-Christian world religions. This is one reason why the dialogue of religions has been a secondary undertaking of non-Christian world religions for this reason.
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0HWKRGRORJLFDO)RXQGDWLRQVRI,QWHUUHOLJLRXV'LDORJXH The dialogue of religions is not only inescapable from a systematic perspective. The global differentiations of religions as well as the consequences of industrialization, modernization, globalization and increasing world-wide migration have led to an increasing concentration of the great world religions within close confines. This close proximity not only of the great religions but of the various religious subcultures results in breaking each religion’s immediately self-evident validity claims. Thus while each religion claims that it is unique, so does every other religion. For this reason, there is no alternative to the dialogue of religions: the dialogue is the middle way between refusal to recognize the relativity and plurality of religious reality, and an arbitrary pluralism, which would level out all values. Inter-religious dialogue can not limit itself to the necessary debate about peace, justice, preservation of the environment and human rights, but must also be concerned with the ultimately valid foundations of responsibility 15 and value.
After these reflections on the history of religions and religious theory, we shall now turn to the „dialogue“ of religions and hence to practice, focusing on the theoretical underpinnings of inter-religious dialogue and its methodological foundations. A first general definition of religious dialogue might be the respectful and open communication between two or more persons belonging to different re16 ligions. This definition implies four criteria: interpersonal communication, differing religious convictions, a position of mutual respect and openness, as well as conversation on a religiously significant topic. It has become common to speak further of four levels of dialogue: a) dialogue of life, b) dialogue of cooperation and mutual action c) dialogue through understanding in intellec17 tual exchange, and d) dialogue of spiritual experience. Whereas the first 15 16
17
M. von Brück/W. Lai: %XGGKLVPXV XQG &KULVWHQWXP*HVFKLFKWH.RQIURQWDWLRQ 'LDORJ. Mit einem Vorwort von Hans Küng, München 1997, 23 (translation mine). Basset defines inter-religious dialogue similarly as: „échange de paroles et écoute réciproque engageant sur un pied d’égalité des croyants de différentes traditions religieuses“, J.-Cl. Basset, Le dialogue interreligieux, aaO., 27. E.g. J. Ries: 'LDORJXHV GHVUHOLJLRQV, in: P. Poupard: Dictionnaire des religions, Paris 1984, 479-480; H. Waldenfels: 2Q WKH +HUPHQHXWLFV RI ,QWHUFXOWXUDO (Q FRXQWHU, in: Studies in Interreligious Dialogue 2,1 (1992), 31-50; Basset, Le dialogue interreligieux, aaO., 313-355.
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two levels fall within the realm of everyday life, and include forms of social and political cooperation, the third and fourth levels aim at intellectual and spiritual life. It will be necessary to qualify this general definition and typology with methodological reflections on the practice of religious dialogue and the possibility of inter-religious understanding. Thus, in the following, I will present some core questions and a systematic sketch of the method of inter18 religious dialogue. The religion scholar David Krieger building upon the work of Raimon Panikkar,19 has distinguished seven methodological steps in inter-religious dialogue and three levels of discourse which he has placed in a fundamental 20 relation to these steps. Since his reflections are connected with a theory of communication, they offer an opportunity, at this stage, to sketch the methodological foundations of inter-religious dialogue as a communicative theory of the dialogue of religions. From this perspective, questions about the mutual relations among inter-religious dialogue, theology and religious studies can to some degree be located. Every serious dialogue among religions, Panikkar says, presupposes „a deep human honesty in searching for truth wherever it can be found; a great intellectual openness in this search, without conscious preconceptions or willingly entertained prejudices; and finally a profound loyalty toward one’s 21 own tradition.“ The methodological steps of inter-religious dialogue that follow as a result, according to Krieger are: 1) The acquisition of a credible 18
19
20
21
Some authors have in these respects taken philosophically borrowed concepts of dialogue from Buber, Gadamer, Levinas, MacIntyre, etc. Cf. among others T. Tosolini: +**DGDPHUDQG(/HYLQDV 7ZR3KLORVRSKLFDO$SSURDFKHVWRWKH &RQFHSWRI'LDORJXH, in: Studies in Interreligious Dialogue 12,1 (2001), 37-62; T. Work: &KULVWLDQ0XVOLP&RQYHUJHQFHDV7UDGLWLRQ&RQVWLWXWHG(QTXLU\, in: Studies in Interreligious Dialogue 7,2 (1997), 200-216. Raimon Panikkar, born 1918, is certainly one of the most important and competent representatives of the dialogue of religions and cultures in the twentieth-century. Himself a „border crosser“ between philosophy, theology and religious studies, his methodological reflections about the dialogue of religions are of interdisciplinary interest. D.J. Krieger: 'DVLQWHUUHOLJL|VH*HVSUlFK0HWKRGLVFKH*UXQGODJHQGHU7KHRORJLH GHU 5HOLJLRQHQ, Zürich 1986; idem: &RPPXQLFDWLRQ 7KHRU\ DQG ,QWHUUHOLJLRXV 'LDORJXH, in: Journal of Ecumenical Studies 30/3-4 (1993), 331-353; idem: 0HWK RGRORJLFDO )RXQGDWLRQV IRU ,QWHUUHOLJLRXV 'LDORJXH, in: J. Prabhu (Hrsg.): The Intercultural Challenge of Raimon Panikkar, New York 1996, 201-226. R. Panikkar: 7KH8QNQRZQ&KULVWRI+LQGXLVP, Maryknoll/NY 1981, 35.
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and critical understanding of one’s own religious tradition; 2) the acquiring of a similarly deep understanding of another religious tradition; 3) maturity of this understanding of another tradition, spanning from the level of religious conviction to that of a genuine conversion experience; 4) an internal intra-religious dialogue between both convictions and the search for a common language in order to express the truth of each religion; 5) the turn of this internal religious dialogue to an external, inter-religious dialogue with representatives of other traditions, in which one’s own new interpretation is presented; 6) the steps 1-5 are valid for all dialogue partners; 7) new interpretations are checked for their „orthodoxy.“ In order to attain this level of inter-religious dialogue and inter-religious understanding, Panikkar distinguishes between a morphological, diachronic 22 and diatopical understanding, which according to Krieger can be systematically correlated with the essential levels and discourse in human communication and its methods. The morphological understanding of the first level aims at „argumentative discourse“ or at conceptualizing general, value-neutral and objective scientific criteria for truth and meaning in the cultural and historical context of the interpreter. „Diachronic understanding“ in which temporal distances and differences in meaning ought to be overcome, are articulated at the second level as „boundary discourse“ in the sense of continuity and identity of a tradition. Morphological and diachronical hermeneutics belong to the usual process of understanding foreign cultures in ethnology, anthropology, religious history and religious studies. For Panikkar, they are insufficient to overcome the difference between religions and enable genuine religious dialogue. The hermeneutical process that finally enables genuine inter-religious understanding, is completed only with the third element which Panikkar calls the „diatopic hermeneutic.“ He thereby postulates a hermeneutic that transcends the methodological limitations of these disciplines (i.e. ethnology, anthropology, religious history, and religious studies) and attains to a higher level of „discourse of disclosure“ and ought to open a genuine „horizon of encounter.“ Only in such a horizon of encounter, in which radically different traditions come together in conversation, is religious understanding and hence genuine inter-religious dialogue possible. Against this background, inter-religious understanding and hence interreligious dialogue is to be distinguished from historical and phenomenologi22
R. Panikkar:
0\WK)DLWKDQG+HUPHQHXWLFV, New York 1979, 8f.
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1RUEHUW+LQWHUVWHLQHU
cal comparisons of faith perspectives as well as from recourse to individual historical traditions or their fundamental texts. The final horizon of inter-religious understanding and inter-religious dialogue is one of encounter, and not a horizon of indifference or exclusion as with the first or the second levels of discourse. At the first level of discourse, for example, in the phenomenology of religion, phenomena are identified in a horizon of indifference and giveness, that precisely levels out radical discontinuities among religious tradi23 tions. According to Panikkar, this applies to the philosophy of religion as well. Philosophy of religion as well as theology operates at the second level of discourse, which concerns the establishment of criteria of truth and meaning as the comprehensive context of evaluation and limitation of a particular interpretative context.24 From a methodological perspective, the level of argumentation and of „border“ or tradition discourse, does not account for the moment that accompanies all religious understanding and inter-religious dialogue, namely the moment of „being convinced“ by the truth of the other religion or world-view in the sense of a new possibility for life, for the dia25 logue partner. Understanding and dialogue at this level – in relation to other religions – is a religious experience of conversion. Related to the inter-religious dialogue between Hinduism and Christianity, with which Panikkar was primarily concerned, it would mean for example: A Christian will never fully understand Hinduism if he is not, in one way or another, converted to Hinduism. Nor will a Hindu ever fully understand Christian26 ity unless he, in one way or another, becomes a Christian.
From the assumption that all understanding implies conversion, the „discourse of disclosure“ finally grounds inter-religious understanding and the 27 possibility of inter-religious dialogue; this includes the readiness of the dia23
24 25 26 27
Cf. R. Panikkar: (SRFKpLQWKH5HOLJLRXV(QFRXQWHU, in: idem: The Intrareligious Dialogue, New York 1978, 39-52; idem: Der neue religiöse Weg. Im Dialog der Religionen leben, München 1990, 100-118. Panikkar, Der neue religiöse Weg, 53-75. R. Panikkar: 9HUVWHKHQ DOV hEHU]HXJWVHLQ, in: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.): Neue Anthropologie, Stuttgart 1975, 132-167. Panikkar, 7KH8QNQRZQ&KULVW, 43. Panikkar presents the transcendental disclosure of a new religious experience, or cosmotheandric experience, as being prior to the boundary discourse, and representing a new universal horizon. Cf. idem: 7KH &RVPRWKHDQGULF ([SHULHQFH (PHUJLQJ5HOLJLRXV&RQVFLRXVQHVV, Maryknoll/NY 1993.
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logue partner for radical change in the context of this horizon of encounter and the resulting (new) disclosure of the final horizon.
,QWHUUHOLJLRXV'LDORJXH$WKHRORJLFDOO\FRQWHVWHGILHOG This methodological basis of inter-religious dialogue should be capable of situating particular theological disciplines in relation to it. Inter-religious dialogue and inter-religious hermeneutic are inescapable elements in the evaluative task of a theology of religion, in relation both to religious plural28 ism and recently developed comparative theologies. We consider the later theological discipline more compatible with the conception of inter-religious dialogue and its relation to theology as we have presented it here. The theology of religions is a discipline within systematic theology. Its task is to compare and theologically evaluate the validity claims of religions and their relation to each other, in the context of religious pluralism. As a discipline within Christian theology, its focus is the comparison of validity claims in Christianity with those of other religions: 1) It must explicate Christian validity claims in the face of religious pluralism, on the one hand, and critically reflect upon the self-understanding and validity claims of individual non-Christian religions and their relation to Christianity. Theology cannot accomplish this task without the disclosure of other religions by religious studies, and without conversation with adherents of the other religions. 2) The theology of religions must develop an inter-religious hermeneutic for the religious-theological reflection upon individual non-Christian religions. It must formulate a criteriology for judging religious validity claims. Ideally, the theology of religions would have in view the goal of formulating a comprehensive theological theory of such religious validity claims. However, because the possibilities of knowledge are limited to a particular standpoint and by the multiplicity of religions, this ideal can only be realized hypothetically and by degrees. 3) The theology of religions must develop rules for behaviour in relation to other religious communities and their members and for inter-religious praxis, that is, for the common action with adherents of other religions. 28
D. Tracy: 'LDORJXHZLWKWKH2WKHU7KH,QWHU5HOLJLRXV'LDORJXH, Louvain/Grand Rapids 1990.
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Against the background of these tasks, a number of different models of a theology of religions were developed in the last decades under increasing pressure of religious diversity: pluralism, superiorism, inclusivism, exclusivism; and the appropriateness of these models and categories, though becom29 ing more and more subtle, have been the subject of a lively debate. The various religious-theological options form, finally, central components for an inter-religious conversation, they are the conceptual turning points in the dialogue of religions. Pluralism is now qualified from various theological perspectives and is increasingly justified from a specifically Christian, Trini30 tarian perspective. Over the last two decades, literature in theology of religions clearly has found common ground, particularly in the recognition that it is not a human prerogative to put limits on God’s saving power, and that dialogue among believers from all religions is part 31 of everyone’s religious future.
Comparative theology is a new academic discipline that has developed in the context of increasing inter-cultural and inter-religious encounter in the 32 last decade, mainly in the United States. It focuses, on the one hand, on KLV 29
30 31
32
Among the many authors in the discussion consult R. Bernhardt: 'HU$EVROXWKHLWV DQVSUXFKGHV&KULVWHQWXPV9RQGHU$XINOlUXQJELV]XU3OXUDOLVWLVFKHQ5HOLJLRQV WKHRORJLH, Gütersloh 1990; J. Dupuis: 7RZDUGD&KULVWLDQ7KHRORJ\RI5HOLJLRXV 3OXUDOLVP, Maryknoll/NY 1997; idem: &KULVWLDQLW\DQGWKHUHOLJLRQV)URPFRQ IURQWDWLRQWRGLDORJXH, Maryknoll/NY 2002; J. Hick (ed.): 7UXWKDQG'LDORJXHLQ :RUOG 5HOLJLRQV&RQIOLFWLQJ7UXWK&ODLPV, London 1974; idem: *RWWXQGVHLQH YLHOHQ1DPHQ, Frankfurt a.M. 2001; J. Ratzinger: (UNOlUXQJ'RPLQXV,HVXVhEHU GLH(LQ]LJNHLWXQG +HLOVXQLYHUVDOLWlW-HVX&KULVWLXQG GHU.LUFKH, Kongregation
für die Glaubenslehre. Einführung Leo Scheffczyk, Kommentar Joseph Ratzinger, Stein am Rhein 2000; M. Hüttenhoff: 'HUUHOLJL|VH3OXUDOLVPXVDOV2ULHQWLHUXQJV SUREOHP5HOLJLRQVWKHRORJLVFKH6WXGLHQ, Leipzig 2001; P. Schmidt-Leukel: 7KHR ORJLH GHU 5HOLJLRQHQ 3UREOHPH 2SWLRQHQ $UJXPHQWH, Neuried 1997; J. Fredericks: )DLWKDPRQJIDLWKVD&KULVWLDQWKHRORJ\RIUHOLJLRQV, New York 1999; Chr. Danz: 0RGHUQH 'RJPDWLN XQG UHOLJL|VH 9LHOIDOW hEHUOHJXQJHQ ]X HLQHU 7KHRORJLH GHU 5HOLJLRQHQ, in: Theologische Zeitschrift 58 (2002), 140-159; P. Knitter: ,QWURGXFLQJ7KHRORJLHVRI5HOLJLRQV, Maryknoll/NY 2002. Cf. M. S. Heim: 7KHGHSWKRIWKHULFKHV$WULQLWDULDQWKHRRJ\RIUHOLJLRXVHQGV, Grand Rapids 2001. F.X. Clooney: 7KHRORJ\'LDORJXHDQG5HOLJLRXV2WKHUV6RPH5HFHQW%RRNVLQ WKH7KHRORJ\RI5HOLJLRQVDQG5HODWHG)LHOGV, in: Religious Studies Review 29,4 (2003), 319-327, here 319. The work of the members of the Society for Comparative Theology from various theological schools in Boston is pathbreaking. Especially of note is the work of the Catholic theologian and Indologist Francis X. Clooney. Early advocates of com-
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WRULFDO FRPSDULVRQV of theological changes in the context of inter-religious encounter as well as FRQVWUXFWLYHFRPSDULVRQVof new theological reflections, which build on the religious, philosophical or theological intellectual traditions of at least two world religions. As a developed discipline of teaching and research, comparative theology is mostly located within systematic theology, and more than the theology of religions it depends on the close cooperation with religious studies, philosophy of religion, philosophy as well as the relevant disciplines on religious themes within the humanities. The pioneer of the discipline, Francis X. Clooney, following the earlier 33 definition of David Tracy, has recently defined it as follows: [C]omparative theology can […] be thought of as truly constructive theology, as distinguished by its sources and ways of proceeding, by its foundation in more than one tradition (although the comparativist remains rooted in one tradition), and by reflection which builds on that foundation, rather than simply on themes or by methods already articulated prior to the comparative practice. Comparative theology in this […] sense is a theology deeply changed by its attention to the details of multiple religious and theological traditions; it is a theology that 34 occurs truly only after comparison.
Additional aspects of comparative theology are highlighted by this definition: 1) comparative theology involves more than one religious tradition. The constructive (as opposed to the historical or descriptive) theological task involves the Christian, and at least one other religious tradition; 2) despite this double anchoring it is essential that the Christian comparativist remain rooted in his own tradition; 3) comparative theology occurs first with the process of com-
33
34
parative theology, contributing with major comparative projects or methodological reflections on it, are further the Methodist theologian Robert C. Neville and, in Great Britain, the Anglican theologian Keith Ward. By now comparative theology has become an emerging field and many more scholars have contributed to it. For an overview on major works and scholars in the new field cf. F.X. Clooney: &RPSD UDWLYH7KHRORJ\$5HYLHZRI5HFHQW%RRNV), in: Theological Studies 56 (1995), 521-550; idem: /DSUDVVLGHOODWHRORJLDFRPSDUDWD&RQULIHULPHQWRDGDO FXQHUHFHQWLSXEEOLFD]LRQL in: F. Squarcini (ed.): Verso l'India Oltre l'India: Scritti e ricerche sulle tradizione intellettuali sudasiastiche, Milano 2002, 275-287. Tracy points to the fact that the concept „comparative theology“ has been used at least since the nineteenth century. It was used either in contrast to a „theoretic theology“ or to point to comparative investigations of religious dogmatic teachings. Idem: &RPSDUDWLYH 7KHRORJ\, in: Encyclopedia of Religion 14 (1987), 446455, here 446. Clooney, Comparative Theology, 522.
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1RUEHUW+LQWHUVWHLQHU
parison. Conclusions are possible only a posteriori; 4) a comparative theology is prepared for total change as a consequence of such comparison. In his more recent book +LQGX *RG &KULVWLDQ *RG (2001), Clooney adds further characteristics to good constructive comparative theology. As for its functions and methods, a comparative theological project is interreligious, com35 parative, dialogical, and still apologetic. Crucial to theological comparison is that it presumes that there are theologies in different religious traditions, so that we can speak of „Hindu Theology“, „Muslim Theology“ and even „Buddhist Theology“. Theological comparison works best when it opens into a further dialogical conversation and wider theological alignement across religious lines. In contrast to theology of religions, comparative theology is not interested in general theories of religions or a comprehensive theory of religious validity and validity claims, than in focusing on concrete and limited inter-religious comparisons and case studies. This presupposes a differentiated and detailed understanding of a specific non-Christian religion. While inclusivists and pluralist positions in the theology of religions depend upon certain general concepts of experience or meta-theories, the theological requirement is to learn specific other religions as a „second first language“ and to apply the results of limited comparative projects to the revision of one’s own self-understanding of Christianity. A comparative theologian confronts the other religion with hopes and expectations: he is a believer who is in a crisis by virtue of the fact of the presence of other religions. Comparative theology acts out of the tension that 1) through a vulnerability to the transformative power of another religion and 2) through the loyalty to one’s own religious tradition. It opposes the exclusivist and inclusivist attempts of a theology of religions as well as pluralist theologies, to base their claims on a liberal universal religious experience. Comparative theology leaves the question about a universal religious experience open and risks trusting Christian theological understanding. It opposes the tendency of the radical and liberal pluralist to isolate Christianity in the face of the threat of religious pluralism. Its empathetic and bilingual imagination
35
+LQGX *RG &KULVWLDQ *RG +RZ 5HDVRQ +HOSV %UHDN 'RZQ %RXQGDULHV%HWZHHQ5HOLJLRQV, Oxford/New York 2001, 3-28.
F.X. Clooney,
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vis-à-vis other religions is finally an expression of the hope of better under36 standing one’s own religious faith. While most work currently being done in comparative theology falls in the subdisciplines of systematic and philosophical theology, it is open to also develop a possible historical side, i.e. the comparative nature of theological processes itself throughout the history of religions and theological thought. Then comparative theology can also be understood as the study of how theological change has taken place historically in the context of inter-religious relations, and of the implications of serious interchange be37 tween and among religious traditions for the future of Christian theology.
However conceived, as a theological discipline it is concerned both in terms of method and content with the solid acquisition of competencies necessary for a theologically oriented inter-religious dialogue.
&ORVLQJ5HPDUN The dialogue of religions is a relatively new and controversial development in the field of religious studies. Many proponents praise it as a method, because it provides a constructive role for inter-religious dialogue for religious studies or because it presents an instrument for greater respect, recognition 38 and understanding among adherents of different religions. As a result, many 36
J.L. Fredericks:
$ XQLYHUVDO UHOLJLRXV H[SHULHQFH" &RPSDUDWLYH WKHRORJ\ DV
, in: Horizons 22/1 (1995), 67-87; St.A. Duffy: , in: Horizons 26/1 (1999), 105-15; Hintersteiner, Traditionen überschreiten, 316-320; K. v. Stosch:
DOWHUQDWLYHWRDWKHRORJ\RI UHOLJLRQV
$ 7KHRORJ\ RI WKH 5HOLJLRQV DQGRU D &RPSDUDWLYH 7KHRORJ\
.RPSDUDWLYH7KHRORJLH±HLQ$XVZHJDXVGHP*UXQGGLOHPPDMHGHU7KHRORJLH GHU
, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 124 (2002), 294-311. A follow-up discussion on the epistemological differences in theology of religions and comparative theology can be found in N. Hintersteiner (ed): 1DPLQJDQG7KLQNLQJ *RGLQ(XURSH7RGD\7KHRORJ\LQ*OREDO'LDORJXH, Amsterdam, New York 2005, especially the contributions of P. Schmidt-Leukel: /LPLWV DQG 3URVSHFWV RI &RPSDUDWLYH 7KHRORJ\, and of K. von Stosch: &RPSDUDWLYH 7KHRORJ\DV DQ$OWHU QDWLYHWRWKH7KHRORJ\RI5HOLJLRQV. J. Renard: &RPSDUDWLYH 7KHRORJ\ 'HILQLWLRQ DQG 0HWKRG, in: Religious Studies and Theology 17/1 (1998), 3-18, here 6. D.L. Eck: 'LDORJXH DQG 0HWKRG 5HFRQVWUXFWLQJ WKH 6WXG\ RI 5HOLJLRQ, in: K.C. Patton/B. Ray (ed.): A magic dwells. Comparative Religion in the Postmodern Age, Berkeley 2000, 131-149. 5HOLJLRQHQ
37 38
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scholars in religious studies take part themselves in actual inter-religious dialogues. Here, however, we touch on the general problem of religious studies in the dialogue of religions. This consists in the fact that religious studies want to present religiously-neutral secular access to research about religions whereas the dialogue of religions is concerned with the communication of particular religious convictions between (and among) religious traditions. The danger for religious studies in participating in religious dialogue consists principally in transcending its observer status and crossing the line dividing religious studies and theology. Despite the methodological required caution, religious studies will be increasingly challenged in the future, by virtue of its own self-understanding, to exercise a qualified, but legitimate role as a participant in the dialogue of religions.
+HUPDQQ-RVHI6FKHLGJHQ
,VWGHU3DSVWHLQ*OREDOLVLHUXQJVJHJQHU" Die Kritik Johannes Pauls II. am Kapitalismus Nearly everybody’s opinion about the decline of communism takes into account the decisive influence of John Paul II’s activities. The Pope principally offends its misconception of class struggle and its atheistic alignment. The central point of his disapproval is that neoliberal theories propagate some sort of complete free markets. Particulary the impoverishment of the Third World is in his eyes a consequence of capitalism. John Paul II. pleads instead for a Christian personalism giving prominence to the solidarity of all human beings. Worldwide he stands for controlling authorities to be installed in order to regulate the free market by paving the way for social regulations. The Pope estimates work being of high transcendental value. Employment for him is a most important human right. The Social Encyclicas of the Pope guided a broad influence on the theology of liberation. Especially welcome was the fact, that he denoted the “greed for power” as “structural sin”. In succession of the revolutionary years of the sandinists in Nicaragua (1983), however, the Vatican dissociated itself from the theology of liberation. Allgemein wird anerkannt, daß das Wirken Johannes Pauls II. maßgeblich zum Untergang des Kommunismus beigetragen hat. Der Papst verurteilte insbesondere dessen Vorstellung vom Klassenkampf und dessen atheistische Ausrichtung. Neoliberale Wirtschaftstheorien, die einen vollkommen freien Markt propagieren, lehnt Johannes Paul II. ab. Gerade in den Entwicklungsländern habe der Kapitalismus zu einer Verarmung größerer Bevölkerungsschichten geführt. Er vertritt einen christlichen Personalismus, der die Solidarität aller Menschen in den Vordergrund stellt. Auf Weltebene wünscht er Kontrollorgane, die den freien Markt insofern regulieren, daß dieser in soziale Bahnen gelenkt wird. Die menschliche Arbeit hat für den Papst eine transzendente Bedeutung,. Das Recht auf Arbeit ist für Johannes Paul II. das wichtigste Grundrecht. Die Sozialenzykliken des Papstes haben einen großen Einfluß auf die Theologie der Befreiung ausgeübt. Besonders begrüßte man, daß der Papst die „Gier nach Macht“ als eine „Struktur der Sünde“ bezeichnet hat. Nach der Revolution der marxistischen Sadinisten in Nicaragua (1983) ging die Kurie jedoch auf Distanz zur Befreiungstheologie.
.ULWLNDP.RPPXQLVPXV Es ist von den verschiedensten Seiten immer wieder darauf hingewiesen worden, daß Papst Johannes Paul II. einen großen Anteil am Zusammenbruch
256
+HUPDQQ-RVHI6FKHLGJHQ
des Weltkommunismus gehabt habe. Nicht zuletzt durch seine Unterstützung der polnischen Gewerkschaft Solidarno ü wie auch durch die geschickte Diplomatie des Heiligen Stuhls. Großes Aufsehen erregte ein Artikel Michail Gorbatschows in der italienischen Zeitung „La Stampa“ vom 3. März 1992, in dem dieser äußerte: Alles was in Osteuropa in diesen letzten Jahren geschehen ist, wäre nicht möglich gewesen ohne die Gegenwart dieses Papstes, ohne die große - , nicht auch 1 politische Rolle, die er auf der Weltebene zu spielen verstand.
Der Papst selbst spielt seine Rolle beim Zusammenbruch des Kommunismus eher herunter, bezeichnet jedoch zugleich Gorbatschow als achtenswerten 2 Menschen. Der Kommunismus, so Johannes Paul II., sei als System im gewissen Sinne von allein untergegangen. Er sei als Folge seiner eigenen Fehler und 3 Mißbräuche zusammengebrochen. Zur Überraschung vieler Leser hatte der Papst ein Jahr zuvor in einem Interview mit Jas Gawronski geantwortet: Die Befürworter des Kapitalismus tendieren sehr stark dazu, auch die guten Dinge im Kommunismus in Abrede zu stellen: den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, die Sorge um die Armen. Im Kommunismus habe es eine Sorge um 4 das Soziale gegeben, hingegen sei der Kapitalismus eher individualistisch.
Wie der Bundestagspräsident Wolfgang Thierse anläßlich des 25. Amtsjubiläums des Papstes äußerte, gebe es kaum einen eindringlicheren Mahner vor dem Kapitalismus als Johannes Paul II. Diese Beurteilung des Papstes soll im folgenden näherhin untersucht werden und damit die Frage verbunden werden, wie dieser zur Globalisierung steht. Bei seinem ersten Aufenthalt in Prag im April 1990 scheute sich Johannes Paul II. nicht, in klaren Worten die soziale Ungerechtigkeit in der Welt anzuprangern. Er benutzte dabei Ausdrücke wie „Ausbeutung“, „Unterdrückte“ sowie „Mächtige“, Worte wie sie sowohl in der kommunistischen Weltanschauung wie auch in der Bibel zu finden sind. Wenn der Papst trotz gewisser Parallelen zwischen Kommunismus und Urchristentum, das Ende der kommunistischen Regime in Osteuropa sehr begrüßte, so warnt er dennoch vor 1 2 3 4
La Stampa. 3. März 1992, zitiert nach L. Accattoli: -RKDQQHV3DXO,,'LH%LRJUD ILH, Graz/Wien/Köln 2000, 244 . Accattoli, a.a.O., 244. Johannes Paul II: 'LH6FKZHOOHGHU+RIIQXQJEHUVFKUHLWHQ, Hamburg 1994, 153. Accattoli, a.a.O., 244.
Ist der Papst ein Globalisierungsgegner?
257
den Gefahren des Kapitalismus. Er tat dies zum ersten Mal in der Öffentlichkeit anläßlich dieses Pragbesuchs. Bei einer Ansprache vor den Bischöfen Tschechiens warnte er vor gewissen „Virus“-Arten genußsüchtigen Konsumismus’, praktischem und auch ausdrücklichem Materialismus, die in der Gesellschaft bereits weit verbreitet seien. Zwei Wochen später reiste er vom 6. bis 14. Mai 1990 zum zweiten Mal nach Mexiko, wo er den Gläubigen deutlich machte, daß der Zusammenbruch des Kommunismus nicht als Triumph des Kapitalismus zu verstehen sei, als ob dieser die einzig mögliche Wirtschaftsform sei. 5 Ansonsten läßt der Papst keinen Zweifel daran, daß er den Kommunismus als Gesellschaftssystem ablehnt, da es sich bei diesem um eine atheistische Weltanschauung handele und er zum anderen den Klassenkampf propagiere, wie ihn bereits Papst Leo XIII. in seiner Soziallehre abgelehnt habe. In seiner Enzyklika &HQWHVLPXVDQQXV(1991) weist Papst Johannes Paul II. darauf hin, daß sich der Frieden nur auf dem Fundament der sozialen Gerechtigkeit auf6 bauen lasse.
.ULWLNDP.DSLWDOLVPXVXQGDP1HROLEHUDOLVPXV In seiner Kapitalismuskritik nimmt Papst Johannes Paul II. Positionen aus der Sozialenzyklika Leos XIII. 5HUXPQRYDUXP (1891) auf. Insbesondere zielt er auf die Stelle ab, in der es heißt: Die Wohlhabenden sind nämlich nicht in dem Maße auf den öffentlichen Schutz angewiesen, sie haben die Hilfe eher zur Hand, dagegen hängen die Besitzlosen, ohne eigenen Boden unter den Füßen, fast ganz von der Fürsorge des Staates 7 ab.
Insbesondere in drei Enzykliken, in /DERUHPH[HUFHQV (1981), in 6ROOLFLWXGR UHLVRFLDOLV (1987) und in &HQWHVLPXVDQQXV (1991) hat Johannes Paul II. in Weiterführung der Soziallehren Johannes XXIII. und Pauls VI. Kritik am Kapitalismus verlautbar lassen. /DERUHPH[HUFHQV wurde, wie noch näher hin
5 6 7
Ebenda, 243. Johannes Paul II: (Q]\NOLNDÄ&HQWHVLPXVDQQXV³-DKUH5HUXP1RYDUXP. Mit Kommentar von A.F. Utz, Stein am Rhein 1991, Nr. 4, 7-8. Leo XIII: (Q]\NOLND5HUXPQRYDUXP. In: Leonis XIII. P.M. Acta XI, Romae 1892, Nr. 27, Nr 29, 121-122, 125.
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auszuführen sein wird, zu einem Kampfinstrument in den Händen der katho8 lischen Gewerkschaften in Lateinamerika, aber auch in Polen. Verschiedentlich hat der Papst hervorgehoben, daß man nach dem Untergang des Kommunismus einen sozial unvertretbaren reinen Kapitalismus be9 fürchten müsse. Bereits in seiner Enzyklika 6ROOLFLWXGR UHL VRFLDOLVhatte er nicht nur eine kritische Haltung gegenüber dem marxistischen Kommunismus eingenommen, sondern ebenso gegenüber dem liberalistischen Kapitalismus, was dazu führte, daß er von führenden Vertretern der amerikanischen Wirtschaft kritisiert wurde. 10 Der italienische Journalist Indro Montadelli, der sich selbst als Liberaler bezeichnet und der die antikommunistische Haltung von Johannes Paul II. gelobt hatte, bemerkte z.B.: „Gewisse antiwestliche Einstellungen des Papstes Wojtyla zu Gunsten der ,Dritten Welt´ gefallen uns 11 nicht.“ Von seinen sozialpolitischen Vorstellungen her vertritt Johannes Paul II. die Position: Je schutzloser ein Mensch in seiner Gesellschaft sei, um so mehr sei er von der Anteilnahme und Sorge der Mitmenschen und insbeson12 dere vom Eingreifen der staatlichen Autorität abhängig. Johannes Paul II. weist darauf hin, daß der Kapitalismus in seiner reinen Form noch heute zu einer unmenschlichen Ausbeutung führen kann: Trotz der großen Veränderungen, die in den fortgeschrittenen Gesellschaften stattgefunden haben, ist das menschliche Defizit des Kapitalismus mit der sich daraus ergebenden Herrschaft der Dinge über die Menschen keinesfalls über13 wunden [...].
In einem Milieu, wo der Kampf um das Notwendigste den absoluten Vorrang habe, herrschten noch die Regeln des Kapitalismus der Gründerzeit mit einer Erbarmungslosigkeit, die jener der finsteren Jahre der ersten Industrialisierungsepoche in nichts zurückstehe.14 Der Papst hält es nicht für ausgeschlossen, daß der Fehler des ursprünglichen Kapitalismus sich wiederholen könne, wo immer der Mensch den Produktionsmitteln gleichgestellt oder bloß als In-
8 9 10 11 12 13 14
G.C. Zizola: 'HU1DFKIROJHU, Düsseldorf 1997, 248. Accattoli, a.a.O., 76. Ebenda, 79-80. Il Giornale. 10. Januar 1984, zitiert nach Accattoli, a.a.O., 78. &HQWHVLPXV$QQXVa.a.ONr. 13, 18. Ebenda, Nr. 33, 39. Ebenda.
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strument behandelt werde. Der freie Markt bedürfe der öffentlichen Kontrolle, damit die Güter der ganzen Menschheit zu gute kämen. Von staatlicher Seite müsse von daher ein rechtlicher Rahmen vorgegeben werden, innerhalb dessen sich das Wirtschaftsleben entfalten könne, was nur möglich sei, wenn es eine funktionierende staatliche Institution und eine stabile Währung 16 gebe. Zwar sei die Ausbeutung wie sie Karl Marx beschrieben habe in der westlichen Gesellschaft überwunden, nicht überwunden seien hingegen die verschiedenen Formen der Ausbeutung, bei der sich Menschen gegenseitig als Werkzeuge benutzten, um ihre Sonder- und Sekundärbedürfnisse zu be17 friedigen. Auf seinen Südamerika-Reisen lehnte der Papst einen rein ökonomisch orientierten Kapitalismus ab. So stellte er z.B. in einer Rede am 2. August 1983 in Costa Rica fest: Die Kirche propagiere in ihrer Soziallehre einen Humanismus, der im Hinblick auf die Überwindung bedauerlicher gesellschaftlicher Zustände geeignete soziale Reformen anstrebe, ohne daß er dies 18 im einzelnen konkretisierte. Die ursprüngliche Fassung der Enzyklika &HQ WHVLPXVDQQXV, die unter der Verantwortung des Kardinals Roger Etchegaray entstand und gegenüber dem Kapitalismus noch schärfer formuliert war, 19 wurde jedoch aufgegeben. Im September 1993 hielt der Papst eine Rede an der Universität von Riga, in der er dazu aufrief, die „Seele der Wahrheit des Marxismus“ im Rahmen der Kritik der kapitalistischen Ausbeutung und der Entfremdung durch die 20 Ware anzuerkennen. In Polen wird der Papst insbesondere von denen, die dafür gesorgt haben, daß der polnische Kommunismus in wirtschaftlicher 21 Hinsicht in ein neoliberales System umgewandelt wurde, bezichtigt, er habe 15
16 17 18
19 20 21
(Q]\NOLND /DERUHP ([HUFHQV 6HLQHU +HLOLJNHLW -RKDQQHV 3DXO ,, „Über die menschliche Arbeit“. Herausgegeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 32), Bonn 1981, Nr. 2, 7. &HQWHVLPXVDQQXV, a.a.O., Nr. 11, 15. Ebenda, Nr. 42, 49. Johannes Paul II.: 5HGHLQ6DQ-RVp&RVWD5LFD$XJXVW, in: E.E. Stehle (Hrsg.): Der Papst im Feuerofen. Johannes Paul II. in Zentralamerika, Essen 1983, 17. Zizola a.a.O., 298. Zitiert nach Zizola, a.a.O, 299. Während unter den Begriff Neoliberalismus in den sechziger Jahren der Ordoliberalismus der Freiburger Schule und die von A. Müller-Armack und L. Erhard begründete Soziale Marktwirtschaft subsummiert wurden (siehe unten), hat dieser in der heutigen wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion eine andere Bedeutung.
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Angst vor der Freiheit in der Gesellschaft. Ihnen entgegnete Johannes Paul II. am 1. Juni 1997 in Wroclaw: Die Kirche als Hindernis für die Freiheit ist ein Unsinn, vor allem in Polen: Die Kirche war in Polen im Laufe der Jahrhunderte immer die Wächterin der Frei22 heit, und dies gilt insbesondere für die letzten fünfzig Jahre.
Auch die Enzyklika 6ROOLFLWXGR UHL VRFLDOLV kann als Kritik am Neoliberalismus angesehen werden. Er spricht hier von Grundvertrauen in das Gute und von Solidarität der Menschen und Völker, die zu Einsichten und Handlungen fähig sind, die über den Egoismus hinausgreifen. Er mißt der Solidariät der Menschheit somit einen höheren Stellenwert zu als der Selbstver23 wirklichung des Individuums. Seit Beginn der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts kann man immer mehr von einem zunehmenden Einfluß des Neoliberalismus in der Weltwirtschaft sprechen, der zu einer Verschärfung des Nord-Süd-Konfliktes führte. Dramatisch verschlechterte sich Anfang der achtziger Jahre die wirtschaftliche Situation in den Entwicklungsländern. In den Jahren 1980 bis 1985 führte eine Exportkrise dazu, daß sich die Preise für agrarische und mineralische Rohstoffe um ein gutes Drittel verringerten. Seit 1985 litten Länder wie Mexiko, Venezuela, Nigeria und Algerien unter dem rapiden Preisverfall des Rohöls. Durch die Zuspitzung der dramatischen Verschuldungen beschleunigte sich die Verarmung immer größerer Schichten. Die Industrieländer waren verstärkt auf die Bewältigung ihrer eigenen Wirtschaftskrisen konzen-
Unter Neoliberalismus versteht man eine Legitimationsideologie für eine uneingeschränkte Bewegung des Kapitals. Er spekuliert darauf, daß die einzelnen Staaten um Arbeitsplätze konkurrieren, was mit dem Abbau von steuerlichen und sozialstaatlichen Regelungen verbunden ist, die im Hinblick auf die notwendigen Investitionen als zwingend angesehen werden. Der Neoliberalismus vertritt einen Primat der Ökonomie und leitet daraus die These ab, daß diese Wirtschaftsordnung der ganzen Menschheit zu Gute komme, was sich jedoch falsifizieren lässt. Ph. Eggers:
*HVHOOVFKDIWOLFKH.RQ]HSWLRQHQGHU*HJHQZDUW'HPRNUDWLVFKHU6R]LDOLVPXV0DU [LVPXV.DWKROLVFKH6R]LDOOHKUH1HROLEHUDOLVPXV. Stuttgart u.a. 1969, 104-109; E. Nawroth: 'LHZLUWVFKDIWVSROLWLVFKHQ2UGQXQJVYRUVWHOOXQJHQGHV1HROLEHUDOLVPXV. Köln u.a. 1962, 17-22; R. Safranski: :LHYLHO*OREDOLVLHUXQJYHUWUlJWGHU0HQVFK" 22 23
München/Wien, 2003, 21. Zitiert nach Accattoli, a.a.O., 243. J. Schasching: ,Q6RUJHXP(QWZLFNOXQJXQG)ULHGHQ. Kommentar zur Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ von Johannes Paul II., Wien/Zürich/Düsseldorf 1988, 99.
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triert. Immer dort wurde das Prinzip des freien Welthandels hochgehalten, wo 24 es den Industrieländern Vorteile brachte. In der Enzyklika &HQWHVLPXVDQQXV wird die Kritik des Papstes am Kapitalismus, der unkontolliert seine freien Kräfte ausspielt, deutlich stärker als 25 zuvor akzentuiert. Wenn Johannes Paul II. ausführt: Nicht das Verlangen nach einem besseren Leben ist schlecht, sondern falsch ist ein Lebensstil, der vorgibt, dann besser zu sein, wenn er auf das Haben und 26 nicht das Sein ausgerichtet wird [...] 27
erinnert dies an Erich Fromms Standardwerk „Haben oder Sein“ . Die christliche Nächstenliebe verpflichte, mit dem eigenen ‘Überfluß’ zu helfen und bisweilen auch mit dem, was man selber ‘nötig’ hat, um das bereitzustellen, was für das Leben der Armen unent28 behrlich ist.
Eine Konsumgesellschaft sieht der Papst weniger als ein soziales noch als ein politisches System, sondern vielmehr als eine Mentalität, die den Menschen auf den Bereich der Wirtschaft und die Befriedigung materieller Bedürfnisse reduziere. Von daher habe der Konsumismus dieselbe natürliche Wurzel wie 29 der Kommunismus. Nichts ist für den Papst überflüssiger als der Luxus an sich.30 In der Enzyklika 6ROOLFLWXGRUHLVRFLDOLVwird Johannes Paul II. diesbezüglich noch deutlicher. Die ausschließliche Gier nach Profit bezeichnet er als Entartung und eine Form des Götzendienstes gegenüber „Geld, Ideologie, 31 Klasse und Technologie“, indem er sie als „Strukturen der Sünde“ darstellt.
24
Fr. Nuscheler: Ä:HOWZLUWZLUWVFKDIW DOV 6WUXNWXU GHU 6QGH"³ in: K. Gabriel/W. Klein/W. Krämer: Die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche. Zur Enzyklika Sollicitudo rei socialis, Düsseldorf 1988, 205-218, hier: 210. 25 &HQWHVLPXVDQQXV a.a.O., Nr. 35, 42. 26 Ebenda, Nr. 36, 43. 27 E. Fromm: +DEHQRGHU6HLQ'LHVHHOLVFKHQ*UXQGODJHQHLQHUQHXHQ*HVHOOVFKDIW Stuttgart 1976. 28 Ebenda, Nr. 36, 42. 29 Ebenda, Nr. 14, 19 ; J. Schasching: 8QWHUZHJV]XGHQ0HQVFKHQ. Kommentar zur Enzyklika „Centesimus annus“ von Johannes Paul II. Mit dem Text der Enzyklika in überarbeiteter deutscher Übersetzung, Wien/Zürich 1991, 25. 30 Zizola, a.a.O., 374. 31 G. Kruip: %HIUHLXQJXQG(QWZLFNOXQJ=XP9HUKlOWQLVYRQ6R]LDOOHKUHXQG7KHR ORJLHGHU%HIUHLXQJ. In: Gabriel/Klein/Krämer, a.a.O., 137-153, hier: 137.
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Es ist häufig die Frage gestellt worden, ob das Kirchenoberhaupt, das den Kommunismus ebenso ablehnt wie den freien Kapitalismus, in seinen Enzykliken einen „dritten Weg“ empfiehlt. Dies kann nicht eindeutig mit bejaht werden. Aus seinen Stellungnahmen und wirtschaftspolitischen Positionen geht nicht eindeutig hervor, daß er ein geschlossenes ökonomisches System empfiehlt. Es ist gerade in Deutschland diskutiert worden, ob er ein Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft ist, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg von Ludwig Erhard und seinem Staatssekretär Alfred Müller-Armack konzipiert wurde. Beide verwerfen die Theorie des klassischen Wirtschaftsliberalismus von einer prästabilierten Harmonie des Marktes. Im Keim bleiben Teile dieses Harmoniegedankens erhalten, doch soll ein starker Staat für eine marktmachtverhindernde Wettbewerbspolitik sorgen. In Müller-Armacks Wirtschaftstheorie finden wir auch Bezüge zur philosophischen Anthropologie, zur protestantischen Ethik 32 sowie zum Wirtschafts- und Sozialhumanismus. Es zeigt sich, daß sich in den allgemeinen Grundsätzen des Papstes zur Wirtschaftspolitik sowohl Übereinstimmungen wie Divergenzen gegenüber der „sozialen Marktwirtschaft“ finden lassen. Gemeinsamkeiten zwischen den Sozialenzykliken des Papstes und dem gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von Rudolf Eucken, dem Hauptvertreter der sogenannten Freiburger Schule, begründeten Ordo33 liberalismus lassen sich hingegen aufzeigen. Dieses Wirtschaftskonzept bildete eine Grundlage für die frühe „soziale Marktwirtschaft“. Der Ordoliberalismus sieht den freien Wettbewerb nicht als Naturgegebenheit an, er soll vielmehr durch eine staatliche Gestaltung des „Datenkrames“ in solche Bah34 nen gelenkt werden, die das Gemeinwohl sichern. Wirtschaftliche Macht32 33
34
Fr. Quaas: 6R]LDOH0DUNWZLUWVFKDIW:LUNOLFKNHLWXQG9HUIUHPGXQJHLQHV.RQ]HSWV, Berlin/Stuttgart/Wien 2000, 259-260. Neben Eucken gehörten seine rechtwissenschaftlichen Kollegen Fr. Böhm und H. Großmann-Doerth zum engeren Kreis der Freiburger Schule. Seit 1933 hielten sie interdisziplinäre Seminare zu den Grundfragen einer „menschenwürdigen und funktionsfähigen“ Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft ab. Diese Wissenschaftler pflegten auch Verbindungen zu Freiburger Widerstandskreisen gegen das nationalsozialistische Regime. Auch hielten sie Kontakte zu renommierten ins Ausland emigrierten Wirtschaftswissenschaftlern wie Fr.A. v. Hayek und W. Röpke. A. Renner: -HQVHLWV YRQ .RPPXQLWDULVPXV XQG 1HROLEHUDOLVPXV ± (LQH 1HXLQWHUSUHWDWLRQGHU6R]LDOHQ0DUNWZLUWVFKDIW. Grafschaft 2002, 37-38. 9RU QHXHQ +HUDXVIRUGHUXQJHQ GHU 0HQVFKKHLW. Enzyklika „Centesimus annus“ Papst Johannes Pauls II. Kommentar von K. Kerber, Freiburg i.Br./Basel/Wien 1991, 154.
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gruppen müßten notfalls staatlicherseits aufgelöst werden oder ihre Funktionen begrenzt werden. Für Eucken ist die beste Wirtschaftspolitik zwingend zugleich die beste Sozialpolitik. Im Gegensatz zum klassischen Liberalismus ist es durchaus erwünscht, daß der Staat gegebenenfalls durch direkte Inter35 ventionen das Wirtschaftsgeschehen beeinflußt. Die Übereinstimmung des Ordoliberalismus mit der katholischen Gesellschafts-lehre des Papstes stellt sich folgendermaßen dar: Der Staat soll einerseits die Rahmenbedingungen der Wirtschaft im Sinne des Gemeinwohls gestalten und gegebenenfalls durchsetzen, aber andererseits die Lenkung des Wirtschaftsablaufs der Entscheidung der vielen einzelnen über den Wettbewerb am Markt überlassen, ohne dauernd interventionalistisch einzugrei36 fen.
Eine solche Wirtschaftsordnung stellt sich nicht hinter den freien Markt, doch verlangt sie, daß die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Gesellschaft ge37 währleistet sind. Eine menschengerechte Wirtschaftsordnung, so der Papst, impliziere eine gewisse Gleichheit unter den Beteiligten. Es dürfe niemand so 38 übermächtig sein, daß er den Mitmenschen zur „Sklaverei verurteile“. Von Seiten einiger neoliberaler Wirtschaftswissenschaftler ist der Papst aufgrund seiner drei Sozialenzykliken teilweise scharf kritisiert worden. Dies ging in einigen Fällen sogar soweit, daß man in ihm einen verkappten Sozialisten sah. Während diese die Kritik des Papstes am Kommunismus einhellig gegrüßten, haben sie ihm bis heute die Kritik am kapitalistischen Liberalis39 mus nicht verziehen. Insbesondere trifft dies auf die Enzyklika /DERUHP H[HUFHQV zu. So kritisiert S. Seligman: Judging from the general tenor of ‘Laborem Exercens’, the Church remains wedded to socialist economics and is increasingly a sucker for the Third World anti-imperialistic rhetoric. The encyclical’s references to capitalism are almost uniformly hostile. […] The Pope is a moral leader, not an economist, and an encyclical on labor obviously won’t be based mainly on economic analyses. […]
35 36 37 38 39
Quaas, a.a.O., 259, 262.
9RUQHXHQ+HUDXVIRUGHUXQJHQGHU0HQVFKKHLW, a.a.O., 154 &HQWHVLPXVDQQXVa.a.O., Nr. 35, S. 41. J. Schasching:8QWHUZHJJV]XGHQ0HQVFKHQ a.a.O., 24. Accattoli, a.a.O., 251.
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+HUPDQQ-RVHI6FKHLGJHQ ‘Laborem Exercens’ has an implicit economic model. Its premises are largely 40 socialist.
Auch in der Kritik Johannes Pauls II. am Liberalismus gibt es Bezüge zur (Q]\NOLND5HUXP QRYDUXP Leos XIII. Der Staat, so heißt es in dieser Enzyklika, dürfe sich nicht darauf beschränken, nur für einen Teil der Staatsangehörigen, nämlich den Wohlhabenden und den vom Schicksal Begünstigten zu sorgen, die anderen aber, die den größten Teil der Gesellschaft darstellen, zu vernachlässigen. Wenn dies geschehe, so verletze dies den Grundsatz der Gerechtigkeit, nach welchem jeder das Seine zu geben bereit sein müsse. Die Wohlhabenden seien nicht in dem Maße auf den öffentlichen Schutz angewiesen, dagegen hingen die Besitzlosen ganz von dem Schutze des Staates ab.41 Wenn Johannes Paul II. in seiner Enzyklika &HQWHVLPXVDQQXVden ‘liberalen Kapitalismus’ angreift, so meint er in erster Linie den lateinamerikanischen Kapitalismus, wo der Profit als Hauptmotiv des wirtschaftlichen Fort42 schritts angesehen werde. Der Papst warnt vor einem zu ausgeprägten Individualismus. Hier kommt Wojtylas Beschäftigung mit Max Scheler und 43 dessen Personenbegriff zum Ausdruck. Der Individualismus, so Wojtyla, schränke die Teilhabe des personalen Menschen am Existieren und gemeinsamen Handeln ein und folglich die Möglichkeit, sich dadurch verwirklichen zu können. Die Person werde von anderen isoliert und als Individuum aufgefaßt, dessen Gut als vom gesellschaftlichen Geist getrennt behandelt werde. Das Existieren und Handeln mit anderen sei nur eine Notwendigkeit, der sich die Person beugen müsse. Demnach seien die anderen lediglich das Indivi44 duum nur die Quelle von Beschränkungen und Widerständen. 40
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Zit. nach J.-M. Fèvre: 'HUÄLQGLUHNWH$UEHLWJHEHU³. Untersuchungen der sozioökonomischen Deutungsrelevanz des theologisch fundierten Begriffs aus der Enzyklika „Larborem Exercens“ von Papst Johannes Paul II. (14. 9. 1981) bezüglich aktueller Entwicklungen auf den Arbeitsmärkten, Frankfurt a.M. u.a. 1990, 112-113. 5HUXPQRYDUXP, a.a.O., Nr. 27, Nr. 29, 123-125. Schasching, 8QWHUZHJV]XGHQ0HQVFKHQ, a.a.O., 104. Ähnlich wie für Scheler hat auch für Wojtyla das „Wir-Erleben“, das personale Erleben zwischenmenschlicher Beziehungen eine zentrale Bedeutung. sei dies nicht möglich, so werde der Mensch nicht nur den anderen gegenüber, sondern auch gegenüber sich selbst entfremdet. K. Wojtyla: 3ULPDWGHV *HLVWHV±3KLORVRSKLVFKH 6FKULIWHQ. Einleitung von M.F. Frings, Stuttgart 1980, 31. K. Rynkiewicz: 9RQGHU*UXQGOHJXQJGHUFKULVWOLFKHQ(WKLN]XU*UXQGOHJXQJGHU SKLORVRSKLVFKHQ$QWKURSRORJLH. Eine kritische Untersuchung zum Personenbegriff bei Karol Wojtyla, Berlin 2002, 214.
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In der Enzyklika &HQWHVLPXVDQQXVwird ähnlich wie in marktwirtschaftlichen bzw. ordnungspolitischen Konzeptionen ein Laisser-faire-Liberalismus 45 abgelehnt. K.-U. Bartels bemerkt in diesem Zusammenhang: Als eine wesentliche Ursache der Entstehung der sozialen Frage des 19. Jahrhundert identifizieren beide Positionen das Vorliegen pathologischer Degenerationsformen der Ordnung der Wirtschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, die ihren Ausdruck in marktwirtschaftsfremden und -feindlichen herrschaftlich-monopo46 listischen Tendenzen findet.
'LH6WHOOXQJ]XU*OREDOLVLHUXQJ Zum Begriff der Globalisierung gibt es keine allgemeingültige Definition. Einen Konsens wird man bei der Begriffsdeutung jedoch insofern erzielen, als es sich hierbei um die wechselseitigen Verknüpfungen des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lebens der Menschen auf diesem Planenten 47 handelt. Für den Bereich der Ökonomie hat jedoch die OECD den Versuch einer Definition gewagt. Demnach ist die Globalisierung der Wirtschaft jener Prozeß, durch den Märkte und Produktion in verschiedenen Ländern zunehmend voneinander abhängig werden infolge des grenzüberschreitenden Handelns mit Gütern, Dienstleistungen und 48 Arbeitskräften und der Bewegung von Kapital und Technologie.
Auf der globalen Ebene entstehen Sachzwänge und Mechanismen, welche die Souveränität der einzelnen Nationalstaaten in wirtschaftspolitischen Fragen ausschalten. Wenn Wechselkurse und Zinsen nicht mehr durch die politisch dafür vorgesehenen Institutionen der einzelnen Staaten festgelegt werden können, sondern von globalen Märkten bestimmt werden, kann die 49 Marktdynamik volkswirtschaftlich nicht mehr reguliert werden. Am Bei-
45
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K.-U. Bartels: .DWKROLVFKH 6R]LDOOHKUH XQG RUGROLEHUDOH $QDO\VH GHU (Q]\NOLND Centesimus Annus3DSVW-RKDQQHV3DXOV,,0DL , Frankfurt a.M. u.a. 1979, 129. Ebd. J. Hübner: *OREDOLVLHUXQJ±+HUDXVIRUGHUXQJIU.LUFKHXQG7KHRORJLH3HUVSHN WLYHQHLQHUPHQVFKHQJHUHFKWHQ:LUWVFKDIW, Stuttgart 2002, 19. Zitiert nach Safranski, a.a.O., 16. E. Altvater: 9HUVHOEVWVWlQGLJXQJGHVgNRQRPLVFKHQJHJHQEHUSROLWLVFKHQXQGJH VHOOVFKDIWOLFKHQ6WHXHUXQJHQ. In: G. Virt (Hrsg.): Der Globalisierungsprozess. Fa-
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spiel der Bundesrepublik Deutschland zeigt sich sehr deutlich, daß nicht nur die Entwicklungsländer durch Mechanismen des Kapitals in eine Verschuldung der öffentlichen Hand getrieben werden, sondern ebenso reiche Länder. Es wird deutlich, daß eine monetarische Geldpolitik, die ausschließlich auf Geldwertstabilität setzt, im Rahmen der dargestellten Globalisierung zu weiterer Arbeitslosigkeit und Sozialabbau führt. Von den Kapitaleigentümern und -managern wird in allen Teilen der Welt diese globalisierte Wirtschaft dazu genutzt, Profitmaximierung auf Kosten des Allgemeinwohls zu betreiben.50 Der Diplomat W. Hagg weist darauf hin, daß die katholische Kirche in Bezug auf die Globalisierung eine differenzierte Haltung einnehmen muß: Im Hinblick auf ihren internationalen Charakter und ihre universelle Mission ist die katholische Kirche kaum dazu berufen, sich dem Prozess der Globalisierung als solchem entgegenzustellen. Hingegen hat sie ein feines Sensorium für die Gefahr, die ein solcher, weitgehend ohne ethische und soziale Komponenten ablaufender Prozess mit sich bringt: nämlich eine Aufteilung der Menschheit in eine immer kleinere und immer reichere Elite, die Ressourcen und Technologie 51 kontrolliert, und eine immer größere Zahl von Globalisierungsverlierern.
Was den Verlauf der Geschichte betrifft, so vertritt der Papst grundsätzlich eine optimistische Einstellung. Er hat nahezu die prophetische Vision einer solidarischen Menschheit aufgezeigt. So läßt sich in der Enzyklika 6ROOL FLWXGRUHLVRFLDOLVals die Aufgabe des Päpstlichen Amtes erkennen, sowohl den Christen und darüber hinaus allen Menschen guten Willens die Notwen52 digkeit weltweiter Solidarität vor Augen zu halten. Für Karol Wojtyla erwirkt die wechselseitige Abhängigkeit von Person und Gemeinschaft eine Weltpolitik. Die Mensch erlebten in dieser Weise, daß sie aufeinander angewiesen seien. Somit entwickelten sie eine Sensibili53 tät für die Gemeinschaft aller Völker. Der Papst zeigt sich auch hier durch
50 51 52 53
cetten einer Dynamik aus ethischer und theologischer Perspektive. Fribourg/Freiburg i.Br./Wien 2002, 41-60, hier: 41. U. Durchow/F.J. Hinkelammert: /HEHQLVWPHKUDOV.DSLWDO$OWHUQDWLYHQ]XUJOR EDOHQ'LNWDWXUGHV(LJHQWXPV, Oberursel 2002, 120. W. Hagg: 'LHNDWKROLVFKH.LUFKHDOV*OREDO3OD\HU, in: Virt (Hrsg.), a.a.O., 146151, hier: 149. W. Kerber: .DWKROLVFKH/HKUHXQG:LUWVFKDIWVZLVVHQVFKDIW, in: Gabriel/Klein/ Krämer, a.a.O., 32-41, hier: 40. Rynkiewicz, a.a.O., 195.
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die Philosophie Max Schelers beeinflußt. Das Phänomen der Teilhabe hat für ihn eine große Bedeutung. Der Mensch besitze die Fähigkeit zur Teilhabe am Menschsein jedes anderen. Alles Handeln und Existieren sei daher nur in 55 Gemeinschaft möglich. Unter Gemeinschaft versteht Wojtyla nicht die 56 bloße Vielfalt der Subjekte, sondern immer die Einheit dieser Vielfalt. Johannes Paul II. orientiert sich an der Enzyklika Pacem in terris (1963) Johannes’ XXIII., wenn er bei diesen Zielen die Zusammenarbeit mit den Nichtgläubigen fordert. Gian Carlo Zizola bemerkt hierzu, daß dieses Anliegen derzeit durch die Schaffung eines neuen Weltsubjekts verkörpert, werde, das mit hinreichenden Befugnissen ausgestattet sei, um die neuen multinationalen und transnationalen Tyranneien zu kontrollieren, die im globalen Markt 57 und in den demokratischen Gesellschaften der Staaten wüteten. Bereits das Zweite Vatikanum hatte in der Pastoralkonstitution *DXGLXP HW VSHV Kritik am Weltwirtschaftssystem formuliert: Materielle Hilfe werde den aufstrebenden Völkern nicht zuteil, wenn die Praktiken des derzeitigen 58 Welthandels sich nicht von Grund auf änderten. Dieser Gedanke wurde von Papst Paul VI. in der Enzyklika 3RSXORUXPSURJUHVVLR (1967) wieder aufgenommen. Diese Enzyklika kritisiert, daß nach der herrschenden Lehre des freien Handels nur die starken Wirtschaftsmächte wie die USA, Westeuropa und Japan unterstützt und die Schwachen in der weltwirtschaftlichen Kosten59 und Nutzenverteilung benachteiligt werden. Johannes Paul II. sah schon sehr früh, daß es zu einer Kollision zwischen den Imperativen des Marktes und denen der christlichen Moral kommen müsse. Es konnte nicht mehr übersehen werden, daß sich die reale Souveränität der großen Mächte im „Cyberspace“ der Finanzen und der globalen Me60 dien abspielt. In seiner Sozialenzyklika 6ROLFLWXGR UHL VRFLDOLV übt er 54
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59 60
Nach M.F. Frings geht es K. Wojtyla in seiner Philosophie „gerade um Erfahrung, die sittliche Erfahrung zwischen Menschen im Du-Ich-Bezug, um ihr vorzügliches Recht in einem ansonsten horizontal erfahrenen Weltbezug.“ Wojtyla: 3ULPDWGHV *HLVWHV±3KLORVRSKLVFKH6FKULIWHQ, a.a.O., 29. Rynkiewicz, a.a.O., 196. 6ROOLFLWXGRUHLVRFLDOLV, a.a.O., Nr. 39, 47-49. Zizola, a.a.O., 362. II. Vatikanisches Konzil: 3DVWRUDONRVWLWXWLRQ EHU GLH .LUFKH LQ GHU :HOW YRQ KHXWH.*DXGLXPHWVSHV, in: Acta apostolicae sedis 58 (1966), Nr. 85, 1108-1110; Nuscheler, a.a.O., 205. Ebd., 206. Zizola, a.a.O., 363.
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entschiedene Kritik am internationalen Währungs- und Finanzsystem mit seiner übergroßen Fluktuation der Wechselkurse und Zinssätze. Während der Entstehung dieser Enzyklika führte der Verfall des Dollars zu einer weltweiten Börsenkrise, die insbesondere die Entwicklungsländer entscheidend prä61 gen sollte. In &HQWHVLPXV DQQXV fordert er, daß bei der zunehmenden Industrialisierung der Wirtschaft internationale Kontroll- und Leitungsorgane ein Korrektiv ermöglichen sollten, das den Wettbewerb in Grenzen zu halten 62 habe, damit dieser gerecht sozial und menschlich bleibe. Er sieht jedoch durch die Globalisierung Grenzen gesetzt, die er überwinden möchte. Dazu ist ein einzelner Staat, und wäre es auch der mächtigste der Erde, alleine nicht in der Lage. Um zu einem solchen Ergebnis zu gelangen, muß das Übereinkommen zwischen den großen Ländern wachsen, und in den internationalen Organen müssen die Interessen der großen Menschheitsfamilie gerecht vertreten werden. Es ist auch notwendig, daß bei der Einschätzung der Folgen ihrer Entscheidungen stets jene Völker entsprechend berücksichtigt werden, die auf dem 63 internationalen Markt kaum ins Gewicht fallen, [...]
Bereits in seinem ersten Lehrschreiben 5HGHPSWRUKRPLQLV(1979) stellte der Papst fest, daß die Mechanismen und Strukturen im Bereich der Finanzen, der Produktion und des Handels überprüft werden müßten, das sie mit verschiedenen politischen Druckmitteln die Weltökonomie beherrschten. Sie 64 zeigten sich unfähig, die überkommenen Ungerechtigkeiten zu überwinden. In der Enzyklika 6ROLFLWXGRUHLVRFLDOLVnimmt er diesen Gedanken wieder auf und vertieft ihn. Die bereits von ihm zuvor beschriebenen „Mechanismen“ prangert er verstärkt an. Sie wirkten fast automatisch, obwohl sie vom 65 Willen einzelner Menschen geprägt seien. Er hält fest: Solche Mechanismen, von den stärker entwickelten Ländern in direkter oder indirekter Weise gesteuert, begünstigen durch die ihnen eigenen Wirkweise die Interessen derer, die über sie verfügen, erdrücken oder lenken aber vollständig 66 die Wirtschaftsordnungen der weniger entwickelten Länder.
Der Papst scheut sich nicht, eine solche Entwicklung als „Entartung“ anzuprangern. Als eine „echte Entwicklung“ im Wirtschaftsbereich könne man je61 Schasching, ,Q6RUJHXP(QWZLFNOXQJXQG)ULHGHQ, a.a.O., 62 &HQWHVLPXVDQQXV, a.a.O., Nr. 58, 66. 63 Ebd. 64 Schasching, 8QWHUZHJV]XGHQ0HQVFKHQ, a.a.O., 85. 65 6ROLFLWXGRUHLVRFLDOLV, a.a.O., Nr. 16, 19. 66
Ebd.
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doch nur eine solche bezeichnen, an denen alle Nationen der Welt beteiligt 67 würden. Schon bald nach seinem Amtsantritt kritisierte der Papst das in wirtschaftlicher Hinsicht eklatante Nord-Süd-Gefälle bzw. das zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Bei seiner ersten Mexiko-Reise sprach er am 25. Januar 1979 in Santo Domingo auf dem Platz der Unabhängigkeit vor 300.000 Menschen und verurteilte die Vorherrschaft des Ökonomischen vor dem Menschlichen. Kein System dürfe die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen oder durch den Staat gestatten. Es dürfe nicht zugelassen werden, daß es gesellschaftliche Systeme gebe, in denen auf der einen Seite „Superreiche“ stünden und auf der anderen diejenigen, die ohne eigene Schuld materiellen Mangel leideten.68 In seiner Enzyklika 6ROOLFLWXGR UHL VRFLDOLV prangert er die stärkeren und reicheren Nationen an, sie beraubten 69 durch ihren „Imperialismus“ die ärmeren Nationen ihres Subjektcharakters. Zu den Standardaussagen der Experten in Entwicklungsfragen gehört heute die These, daß der Protektionismus der Industrieländer die wirtschaftli70 che Entwicklung der Dritten Welt behindere. In diesem Kontext verurteilt der Papst, daß multinationale Unternehmen in den Entwicklungsländern mit niedrigen Kosten Produkte herstellten und diese anschließend mit beträchtli71 chen Gewinnen verkaufen. Johannes Paul II. kritisiert in diesem Zusam72 menhang die Abhängigkeit der armen Länder von den Reichen. In &HQWH VLPXVDQQXVstellt er fest, daß sich die Länder der Dritten Welt in einer dramatischen Entwicklung befänden, die mit jedem Tag ernster werde. Die westlichen Länder liefen hingegen ihrerseits Gefahr, nicht die nötigen Kor73 rekturen ihres Wirtschaftssystems vorzunehmen. Bereits in 3RSXORUXP SURJUHVVLR hatte Papst Paul VI. verlangt, daß ein Warenaustausch zwischen Partnern geschehen müsse, für die zumindest eine
67 68 69 70 71
72 73
Ebd., Nr. 17, 20. M. Malinski: -RKDQQHV 3DXO ,, 6HLQ /HEHQ YRQ HLQHP )UHXQG HU]lKOW, Freiburg i.Br./Basel/Wien 1979, 299. Kruip, a.a.O., 150. Schasching, ,Q6RUJHXP(QWZLFNOXQJXQG)ULHGHQ, a.a.O., 73. Johannes Paul II.: (Q]\NOLND6ROOLFLWXRUHLVRFLDOLV. Zwanzig Jahre nach der Enzyklika Populorum Progressio. Herausgegeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1987, Nr. 43, 53-54. Ebd., Nr. 56, 64. &HQWHVLPXVDQQXV, a.a.O., Nr. 56, 64.
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gewisse Chancengleichheit der Handelsbeziehungen gegeben sei. Diese Re74 gelung führe zu einer wirksamen Hilfe für die Entwicklungsländer. In seinem apostolischen Schreiben 7HUWLR PLOOHQLR DGYHQLHQWH aus dem Jahre 1994 verurteilt Johannes Paul II., daß zahlreiche Christen Mitverantwortung bei schweren Formen der Ungerechtigkeit sowie der sozialen Aus75 grenzung trügen. Im Gegensatz zu den Vertretern neoliberaler Wirtschaftssysteme hält der Papst es für angemessen, daß der Staat in begrenztem Maße in das Wirtschaftssystem eingreift, um schutzlose Menschen gemäß dem Solidaritätsprinzip der katholischen Soziallehre in der Gesellschaft zu unter76 stützen.
Ä$UEHLW³DOV]HQWUDOH.DWHJRULH In der Theologie Papst Johannes Pauls II. spielt die Kategorie der Arbeit eine herausragende Rolle. Zwei Gründe lassen sich hierfür anführen. Zum einen 77 die intensive Beschäftigung mit der Philosophie Max Schelers , der nach dem Ersten Weltkrieg an der wiedergegründeten Universität Köln einen Lehrstuhl für Philosophie und Sozialwissenschaften inne hatte, sowie die Tatsache, daß Karol Wojtyla vor und während seines Studiums eine Zeit lang als Arbeiter in einem Sodawerk seinen Lebensunterhalt verdiente und von 78 daher einen unmittelbaren Zugang zur Lebenswelt der Arbeiter besitzt. Die Arbeit zeichnet sich für Wojtyla nicht nur durch eine menschliche Seite aus, sie besitzt für ihn ebenso einen transzendenten, religiösen Aspekt. Die Aktivität handwerklicher und geistiger Arbeit ist auf den Menschen in seiner Gesamtheit, in seiner Würde und in seiner Bestimmung zur Unsterblichkeit angelegt. Die Beziehung zwischen Arbeit und Religion spiegelt für 74 75 76 77
78
Nuscheler, a.a.O., 206. Zizola, a.a.O., 365. Bartels, a.a.O., 116. M.F. Frings bemerkt in diesem Zusammenhang zu Wojtylas Scheler-Rezeption: „Das Verständnis, das der Mensch von sich selbst hat, ist heute von der Idee des Arbeitsmenschen bestimmt, einem dinglich orientierten Menschen. Der Mensch hat die zunehmende Tendenz, nicht sich, sondern die Dinge zu besorgen, ja sich selbst zu verdinglichen. [...] In dieser zunehmenden technisierenden Tendenz besteht die Gefahr, daß die Seele des Menschen sich [...] in der Mechanisierung verliert [...]“ Wojtyla:3ULPDWGHV*HLVWHV±3KLORVRSKLVFKH 6FKULIWHQ, a.a.O., 24. H.-J. Scheidgen -RKDQQHV 3DXO ,,. $XV GHP 8QWHUJUXQG LQ DOOH :HOW. In: Rheinischer Merkur plus. Der Papst in Deutschland 1996, 6-11, hier: 8.
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den Papst das Bündnis zwischen dem Handeln des Menschen und dem Wir79 ken der Vorsehung Gottes wider. In der Arbeit müsse der Mensch das Mittel erkennen, mit dessen Hilfe es ihm möglich sei, geistig reifer und verantwortungsbewußter zu werden, womit er seine Berufung als unwiderrufbare Person und als Mitglied der famili80 ären und bürgerlichen Lebensgemeinschaft realisieren könne. In der Enzyklika /DERUHP H[HUFHQV hat der Begriff Arbeit eine zentrale Bedeutung. Nach Ansicht von José Aldunate bedeutet diese Enzyklika eine entscheidende Wende in der katholischen Soziallehre. Für Franz J. Hinkelammert bricht diese Enzyklika mit der Anthropologie, der Mensch verwirkliche sein Person-Sein durch Eigentum. Vielmehr fülle jetzt die Arbeit den 81 Platz des Eigentums aus. Da die Arbeit in ihrer subjektiven Dimension immer ein personales Tun sei, müsse folglich an ihr der ganze Mensch beteiligt sein, unabhängig davon, ob es sich um körperliche oder um geistige Arbeit handle.82 Das Bewußtsein von der menschlichen Arbeit müsse als eine Teilhabe am Wirken Gottes verstanden werden. Durch die Arbeit werde das Werk des Schöpfers weiterentwickelt.83 Zur Menschenwürde gehören für den Papst eine Reihe von Grundrechten. An erster Stelle stehe noch vor der Meinungsfreiheit das Recht auf Arbeit. Die Arbeit sei in besonderem Maße für die Selbstverwirklichung des Menschen notwendig. Sie müsse die Gesellschaft bereichern und sich in menschenwürdigen Bedingungen abwickeln, wobei bei ihrer Ausführung weder die physische Gesundheit noch die moralische Integrität der Arbeiter Schaden 84 nehmen dürfe. Der Papst ist sich daher darüber im Klaren, daß das Recht aller Bürger auf Arbeit nicht unverzüglich sichergestellt werden kann, ohne die gesamte Wirtschaft maßzuregeln und die freie Initiative des einzelnen zu reglementieren. Er tritt aber in diesem Zusammenhang für bestimmte Ordungsnormen im 79 80 81 82 83 84
F. Rossi (Bearb.): 'HU0HQVFKXQGVHLQH$UEHLW7H[WHYRQ-RKDQQHV3DXO,,2NWR EHU±1RYHPEHU,Vatikanstadt 1982, 35. Ebd., 37. Kruip, a.a.O., 145. /DERUHPH[HUFHQV, a.a.O., Nr. 24, 52. Ebd., Nr. 25, 54.
$QVSUDFKH3DSVW-RKDQQHV3DXO,,7UXMLOOR)HEUXDU. In: Der Blick auf das Leiden richten. Johannes Paul II. Zur Situation und Aufgabe der Kirche in Peru. Herausgegeben. von der Bischöflichen Aktion Adveniat, Essen 1986, 35.
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Bereich der Wirtschaft ein. Der Staat habe sogar die Pflicht, diese einzuführen. Die Unternehmen müßten von ihm durchgehend unterstützt werden, daß sie auch die Bedingungen für die Bereitstellung von Arbeitsangelegenheiten 85 schafften. Auch in der Bundesrepublik Deutschland ist immer wieder diskutiert worden, ob es ein Recht auf Arbeit gibt und ob dieses gegebenenfalls als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen werden sollte. Zumindest als Zielsetzung sprechen einige Bundesländer in ihren Landesverfassungen dies ihren Bürgern zu.86 Die Menschheit, so der Papst, stehe bezüglich dieses Problemfeldes vor neuen Aufgaben, die von ihm in seiner Enzyklika &HQWH VLPXVDQQXVbesonders herausgehoben werden: Eine Gesellschaft, der dieses Recht systematisch verweigert wird, in der es die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Unternehmen nicht ermöglichen, eine befriedigende Beschäftigungslage zu erreichen, kann weder eine sittliche Recht87 fertigung noch den gerechten sozialen Frieden erlangen.
Der Papst ist sich darüber im Klaren, daß die Arbeitslosigkeit und selbst 88 die Unterbeschäftigung „ein wirklich soziales Elend ist“ . Sie demütige den Menschen und rufe Gefühle der Frustration hervor, die schwerwiegende 89 psychologische und moralische Konsequenzen mit sich brächten. Für ein besonders großes Problem sieht der Papst die hohe Arbeitslosigkeit von Jugendlichen an. Um diese zu beseitigen, sei die Solidarität der Bevölkerung aller Nationen angebracht. Anläßlich der 68. Tagung der Internationalen Konferenz für Arbeit in Genf am 15. Juni 1982 äußerte er sich in diesem Zusammenhang wie folgt: Ich weigere mich zu glauben, daß die heutige Menschheit, die so großartige technische und wissenschaftliche Leistungen zu erbringen vermag, nicht im Stande sein sollte, durch eine schöpferische Bemühung, die vom Wesen der menschlichen Arbeit und der alle Menschen einenden Solidarität inspiriert ist, gerechte und wirksame Lösungen für ein wesentlich menschliches Problem, wie 90 es das Problem der Arbeitsplätze ist, zu finden. 85 86 87 88 89 90
&HQWHVLPXVDQQXV, a.a.O., Nr. 48, 105. 9RUQHXHQ+HUDXVIRUGHUXQJHQGHU0HQVFKKHLW, a.a.O., 165. &HQWHVLPXVDQQXV,a.a.O., Nr. 48, 105. /DERUHPH[HUFHQV,a.a.O., Nr. 18, 40, 42.
Ansprache Johannes Pauls II. Trujillo 4. Februar 1985, a.a.O., 35. Johannes Pauls II. an die Teilnehmer der 68. Tagung der Internationalen Konferenz für Arbeit in Genf. 15
Ä(LQH QHXH 6ROLGDULWlW RKQH *UHQ]HQ³ Ansprache
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Das Recht auf Arbeit werde insbesondere da verletzt, wo den Arbeitern wichtige Entscheidungen über ihre Arbeitsleistungen verwehrt würden; dies komme häufig bei den Landarbeitern wirtschaftlich unterentwickelter Länder 91 vor. Der Papst weist in /DERUHP H[HUFHQV auch darauf hin, daß Massenarbeitslosigkeit auch zu Hungerkatastrophen führen könne. Dies komme selbst in Ländern vor, die über beträchtliche Bodenschätze und Rohstoffe verfügten. Ein solcher Mißstand bezeuge, daß im Inneren dieser Gesellschaften „wie auch in den Beziehungen zwischen ihnen auf kontinentaler und globaler Ebene hinsichtlich der Organisation der Arbeit und der Beschäfti92 gung irgend etwas nicht funktioniert.“ Für die wachsenden Zonen von Elend und Hunger macht der Papst jedoch auch die Ausbeutung der Arbeiter verantwortlich. Von daher bedürfe es im93 mer neuer Bewegungen von Solidarität unter den Arbeitnehmern. Für die Gläubigen, die er vertrete, so der Papst, habe eine solche Solidarität stets ihre Wurzeln in der Liebe.94 Die Arbeit hat für den Papst eine herausragende soziale Bedeutung, so95 wohl im Hinblick auf die Familie als auch in bezug auf das Gemeinwohl. Jede Arbeit müsse in angemessener Weise entlohnt werden, so daß man sich damit den eigenen Lebensunterhalt bzw. den für die Familie verdienen könne. Hierbei bezieht sich der Papst auf die Sozialenzykliken Leos XIII. Dieser forderte für den Arbeiter einen gerechten Lohn, dessen Festsetzung 96 nicht dem freien Einvernehmen der Parteien überlassen werden dürfe. In seiner Ansprache vor den Bewohnern der Elendsviertel in Rio de Jainero, Favela Vidigal, vom 2. Juli 1980 betonte Johannes Paul II.: Es ist notwendig, alles zu tun, was erlaubt ist, um für sich und die Seinen all das 97 sicherzustellen, was zum Leben und zum Lebensunterhalt notwendig ist.
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Juni 1982. In: Ansprachen und Predigt von Papst Johannes Paul II. aus Anlaß seines Besuches bei internationalen Organisationen in Genf. 15. Juni 1982, Bonn 1982, 5-20, hier: 18. Rossi, a.a.O., 41. /DERUHPH[HUFHQV, a.a.O., Nr. 18, 42. Ebenda, Nr. 8, 19. Ä/HLWPRWLYVR]LDOH*HUHFKWLJNHLt“, a.a.O., 21. Vgl. hierzu auch Rynkiewicz, a.a.O., 211. 9RUQHXHQ+HUDXVIRUGHUXQJHQGHU0HQVFKKHLW, a.a.O., 22. Ebenda, 26. Ansprache Johannes Pauls II. in der Favela Vidigal in Rio de Jainero. 2. Juli 1980. In: 'HQ%OLFNDXIGDV/HLGHQULFKWHQ, a.a.O., 68.
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Johannes Paul II. weist darauf hin, daß es trotz internationaler Erklärungen und Konventionen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern immer wieder zur Arbeit von Minderjährigen, zur ungerechten Behandlung von 98 Frauen bei der Arbeit sowie zu nicht angemessener Besoldung komme. Die Arbeit gehört für den Papst zu einem verantwortungsbewußten und sinnvollen menschlichen Leben. Sie müsse zum Verbündeten seines Menschseins werden und zur Entwicklung seiner Erkenntnis und seines Gewissens führen. 99 Andernfalls werde der Mensch durch die Arbeit sich selbst entfremdet. Als Person, so bekennt Johannes Paul II., sei der Mensch Subjekt der Arbeit.100 Die Arbeit sei für den Menschen da und nicht umgekehrt. Andernfalls werde 101 der Mensch in ein Sklavendasein zurückfallen. Die Rangordnung der Werte und der tiefere Sinn der Arbeit fordere, daß das Kapital der Arbeit 102 W. Kerber bemerkt in seinem diene und nicht die Arbeit dem Kapital. Kommentar zu /DERUHPH[HUFHQV: Die Enzyklika über die ‘Arbeiterfrage’ ist also eine Enzyklika über die Armen und über das schreckliche Los, in das der neue und nicht selten gewaltsame Prozeß der Industrialisierung riesige Menschenmassen gestoßen hat. Auch heute noch rufen in vielen Teilen der Welt ähnliche wirtschaftliche, soziale und politi103 sche Umwälzungen dieselben Übel hervor.
-RKDQQHV3DXO,,XQGGLH%HIUHLXQJVWKHRORJLH Die Enzyklika 3RSXORUXPSURJUHVVLRPapst Pauls VI. hatte die damals auf ihrem Höhepunkt angelangte „Theologie der Entwicklung“ entscheidend beeinflußt. Der Titel der Enzyklika wurde offiziell mit „El Desarrollo de los Pueblos“ wiedergegeben. Der vollzogene Paradigmenwechsel von „Entwicklung“ zu „Befreiung“ beschleunigte die Rezeption dieser Theologie, die weit über Lateinamerika hinaus großes Interesse fand. Als Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zunehmend erkannt wurde, daß die gängigen Entwicklungsmodelle gescheitert waren, wurden durch die Rezeption der katho98 9RQQHXHQ+HUDXVIRUGHUXQJHQGHU0HQVFKKHLW, a.a.O., 99 Ä(LQHQHXH6ROLGDULWlWRKQH*UHQ]HQ³, a.a.O., 12. 100 /DERUHPH[HUFHQV, a.a.O., Nr. 23, 51. 101
27.
Ansprache Johannes Paul II. in Pompezia, Italien. 13. September 1979. In: Rossi, a.a.O., 21-24, hier: 23. 102 /DERUHPH[HUFHQV,a.a.O., Nr. 23, 51. 103 Kerber, a.a.O., 31.
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lischen Soziallehre die aktivsten Gruppen der lateinamerikanischen Katholiken bereits für die wachsenden sozialen Probleme ihres Kontinents sensibilisiert. Der Paradigmenwechsel von „Rückständigkeit“ zu „Abhängigkeit“ innerhalb der lateinamerikanischen Soziologie entspricht dem von der „Theologie 104 Seit etwa 1972 der Entwicklung“ zu der „Theologie der Befreiung.“ entstanden die katholischen Basisgemeinden, die bald einen kräftigen Auf105 schwung erfuhren. Einen Markstein in der Kirchengeschichte Südamerikas stellt bereits zuvor die zweite Versammlung der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellin von 1968 dar. In erster Linie liegt deren historische Bedeutung darin, daß sie einen Bruch in der traditionellen Rolle der staatstragenden lateinamerikanischen Kirche darstellt. Die teilnehmenden Bischöfe betonten, daß sich Lateinamerika in einem Zustand der Ungerechtigkeit befinde, den man als institutionelle Gewalt bezeichnen könne, weil die gesellschaftlichen Strukturen fundamentale Menschenrechte verletzten. In den Dokumenten taucht immer wieder ein Begriff auf, der bisher lediglich von der politischen Linken benutzt wurde: „Befreiung“.106 Die Solidarität mit den Armen wurde 107 als eine Verpflichtung angesehen. Auf der anderen Seite formierten sich nun auch die konservativen Bischöfe im lateinamerikanischen Episkopat. Nach der Zusammenkunft des lateinamerikanischen Bischofsrats 1972 in Sucre, Bolivien, wurde versucht, die Beschlüsse von Medellin zurückzudrängen, was inhaltlich einen Rückfall hinter die Enzyklika 3RSXORUXPSURJUHVVLR bedeutet hätte. Bei der Vorbereitung zur Konferenz von Puebla fanden diese Bestrebungen jedoch mehrheitlich keinen Anklang. Die Theologie der Befreiung wurde im Schlußdokument der Konferenz von Puebla (1979) nicht verurteilt und die Arbeit der 108 Der Besuch Basisgemeinschaften fanden eine positive Würdigung. Johannes Pauls II. in Puebla stärkte, wie der Theologe und Philosoph Enrique Dussel ausführt, das „christliche Selbstbewusstsein“ der Mexikaner und habe gezeigt, wie wichtig die Kirche in diesem Lande sei.109 104 Kruip, a.a.O., 105 E. Dussel: 106 A. Krims: 107 Ebd. 108 Kruip, a.a.O., 109
137-139.
'LH*HVFKLFKWHGHU.LUFKHLQ/DWHLQDPHULND. Mainz 1988, 381. .DURO:RMW\OD3DSVWXQG3ROLWLNHU. Köln 1986, 87.
141. Dussel, a.a.O., 394.
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Die Beschlüsse von Puebla bekräftigten explizit die Option für die Armen und befürworteten darüber hinaus entschieden die pastorale Arbeit der Basisgemeinden. Bei seiner Eröffnungsansprache zur Konferenz von Puebla stellte der Papst die Bedeutung der Katholischen Soziallehre heraus, worunter er ein 110 offenes, dynamisches System versteht, „das im Licht des Wortes Gottes und des authentischen Lehramtes wie auch der Gegenwart der Christen inmitten der wechselvollen Verhältnisse der Welt und in unmittelbarer Berührung mit den Herausforderungen, die sich daraus ergeben“, immer wieder „neu entsteht.“111 Die Kirche war in Südamerika jedoch innerlich zerrissen, und zwar in einen konservativen Flügel, der am Status quo festhalten wollte, und in einen, der auf radikale Reformen ausgerichtet war. Eine ganze Reihe von Geistlichen bediente sich der marxistischen Gesellschaftsanalyse und wollte bis zu 112 einer gewaltsamen Revolution gehen. Der Papst setzte sich zum Ziel, diese zerrissene Kirche zu einigen. Die Kollegialität unter den Bischöfen praktizierte er in der Weise, daß diese vor Ort die Katholische Kirche führen und ihre Entscheidungen treffen sollten. Jerzy Turowicz, Chefredakteur der polnischen Zeitung „Tygodnik Powszechny“ führt hierzu aus: Manche radikalen lateinamerikanischen Theologen der Befreiung haben die Stellungnahme des Papstes positiver beurteilt als manche europäische Jour-nalisten, und die Bischöfe haben ihn ausgezeichnet verstanden und seine Richtlinien akzeptiert. Sie haben in ihrem Dokument die Methoden der Militärdiktatur und ihre Doktrin der sogenannten Nationalen Sicherheit scharf verurteilt, mit deren Hilfe jeder Andersdenkende, in oftmals bedeutende Weise zum Verstum113 men gebracht wird.
Die Sozialenzykliken Johannes Pauls II. haben auf die Befreiungstheologie großen Einfluß genommen. Es sind insbesondere die päpstliche Lehr114 schreiben /DERUHP H[HUFHQV und 6ROOLFLWXGR UHL VRFLDOLV. Die Inhalte von /DERUHP H[HUFHQV wurden von ihren Vertretern auf die Kirche in Lateinamerika übertragen. Die Kirche sei dazu aufgerufen, so der chilenische 110 Kruip, 111
a.a.O. 141. Johannes Paul II.: $QVSUDFKHDXIGHU*HQHUDOYHUVDPPOXQJGHUODWHLQDPHULNDQL VFKHQ%LVFK|IHLQ3XHEOD-DQXDU. In: Predigten und Ansprachen bei seiner Reise in die Dominikanische Republik und nach Mexiko. Herausgegeben. vom. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1979, 48-67, hier: 65. 112 Malinski, a.a.O., 302. 113 Zitiert nach Malinski, a.a.O., 302. 114 Dussel, a.a.O., 381.
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Theologe F. Castillo, noch klarer und eindeutiger als bisher die Stellung für 115 die Arbeiter zu beziehen. Castillo hält fest: Wir Leben in einer Situation der extremen sozialen Ungerechtigkeit und der Verletzung der Würde der Arbeit. Die Verletzung des elementaren Rechtes auf Arbeit, massive Arbeitslosigkeit und die Ungerechtigkeit der Löhne beherrschen 116 unsere Realität [...]
In der Enzyklika 6ROOLFLWXGR UHL VRFLDOLV werden wie in der Befreiungstheologie nicht nur das Verhalten des einzelnen, sondern ebenso die gesellschaftlichen Strukturen einer ethischen Bewertung unterzogen. Besonderen Anklang fand das Wort des Papstes, in dem er „die ausschließliche Gier nach Profit und das Verlangen nach Macht“ als Ursache für die „Strukturen der Sünde“ bewertete. Die Haltung gegenüber dem Geld habe eine Form des 117 Götzendienstes eingenommen. Ein Wandel der Einstellung des Papstes und der Kurie zur Befreiungstheologie scheint mit der Machtergreifung der revolutionären Sandinisten in Nicaragua zusammenzufallen. Am 4. März 1983 besuchte der Papst Nicaragua. Das Oberhaupt der Katholischen Kirche stellte sich hinter den Erzbischof Obando y Bravo, der zum Führer der Opposition gegen die marxistische Regierung wurde. Als diese am 29. August 1983 die allgemeine Wehr118 pflicht einführte, sprach sich der Episkopat Nicaraguas dagegen aus. Im Jahre 1984 kam es zu einer Verurteilung der Befreiungstheologe durch die Römische Kurie. Manche Autoren, so z.B. G.C. Zizola, sehen in diesem Faktum einen Zusammenhang mit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen des Heiligen Stuhls mit den USA unter dem damaligen Präsidenten 119 Ronald Reagen. Am 8. August 1984 veröffentlichte die Glaubenskongregation unter ihrem Präfekten Joseph Kardinal Ratzinger die „Instruktion über einige Aspekte der Theologie der Befreiung“. Der Hauptvorwurf Ratzingers lautete dabei:
115
F. Castillo: 7KHRORJLVFKH $QPHUNXQJHQ ]X /DERUHP H[HUFHQV, in: Ders./B. Päschke: Primat der Arbeit vor dem Kapital. Kommentare zur Enzyklika „Laborem exercens“ aus der Sicht der Kirche Lateinamerikas, Münster 1983, 95-105, hier: 103. 116 Ebd. 117 6ROOLFLWXGRUHLVRFLDOLV, a.a.O., Nr. 36, 43-45. 118 Dussel, a.a.O., 397. 119 Zizola, a.a.O., 295.
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Die ‘Befreiungstheologien’ haben zwar das Verdienst, die großen Texte der Propheten und des Evangeliums über die Verteidigung der Armen wieder aufgewertet zu haben, doch verwechseln sie darüber hinaus in verderblicher Weise die Armen der Schrift mit dem Proletariat von Marx. Dadurch wird der christliche Sinn der Armut pervertiert, und der Kampf für die Rechte der Armen verwandelt sich in eine Klassenauseinandersetzung im ideologischen Sinne des 120 Klassenkampfes.
Diese Instruktion rief sehr unterschiedliche Reaktionen hervor. Für die einen handelte es sich um einen „reaktionären Rückschlag“, für die anderen um eine notwendige Kurskorrektur. In seiner Rede vom 12. Oktober 1984 anläßlich der Christianisierung der Neuen Welt, stellte sich der Papst in Santo Domingo hinter die Glaubenskongregation, indem er erklärte: Weder die von marxistischen Ideen propagierte Befreiungstheologie noch der Materialismus westlicher Prägung bieten eine Lösung für die gesellschaftliche 121 Entwicklung Lateinamerikas.
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Kongregation für die Glaubenslehre: ,QVWUXNWLRQEHUHLQLJH$VSHNWHGHU7KHRORJLH Mit einem Kommentar von Leo Scheffczyck und einer Erklärung von Kardinal Joseph Höffner, Stein am Rhein 1984, 20. 121 Ebd., Einleitung, o.S. GHU %HIUHLXQJ.
%HLWUlJHLP6SDQQXQJVIHOG YRQ7KHRULHXQG3UD[LV
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=XNXQIWVIlKLJH9LVLRQHQLQGHU%LOGXQJVSUD[LV This paper attempts to explicate the significance of visions for concrete educational purposes. The explication is based on practical experiences teaching philosophy in upper-level high school courses. Course units were designed to provide adolescents spiritual orientation in a world moving toward international and intercultural integration. This article does not aim at a systematic presentation; rather it only tries to highlight concepts considered relevant for the future. These concepts reflect the process of globalization and its relation to both the feared “Clash of Civilizations” and the much desired and advocated “Dialogue among Civilizations”. The concluding section presents concrete results of orienting young adolescents in educational practice. Dieser Beitrag stellt einen Versuch dar, die mögliche Bedeutung von Visionen für die konkrete Bildungspraxis ein wenig zu erhellen. Die Ausführungen beruhen auf Erfahrungen aus dem Philosophieunterricht mit Schülerinnen und Schülern der gymnasialen Oberstufe, der den Heranwachsenden eine geistige Orientierung in einer international und interkulturell zusammenwachsenden Welt vermitteln soll. Ohne eine systematische Darstellung anzustreben, die den Rahmen dieses Beitrages überschreiten würde, werden einige zukunftsbedeutsame Aspekte vorgestellt, die im Spannungsfeld zwischen einem befürchteten „Kampf der Kulturen“ und einem gewünschten und geforderten „Dialog der Kulturen“ den Globalisierungsprozess begleiten. Der nachfolgende Teil dieses Beitrages gewährt einen Einblick in konkrete Umsetzungen der Orientierungsversuche in die Bildungspraxis.
Der vorliegende Beitrag stellt einen Versuch dar, die mögliche Bedeutung von Visionen für die konkrete Bildungspraxis ein wenig zu erhellen. Die Ausführungen beruhen auf Erfahrungen aus dem Philosophieunterricht mit Schülerinnen und Schülern der gymnasialen Oberstufe, der den Heranwachsenden eine geistige Orientierung in einer international und interkulturell zusammenwachsenden Welt vermitteln soll. Ohne eine systematische Darstellung anzustreben, die den Rahmen dieses Beitrages überschreiten würde, werden zunächst einige zukunftsbedeutsame Aspekte vorgestellt, die im Spannungsfeld zwischen einem befürchteten „Kampf der Kulturen“ und einem gewünschten und geforderten „Dialog der Kulturen“ den Globalisierungsprozess begleiten. Der nachfolgende Teil dieses Beitrages gewährt einen Einblick in konkrete Umsetzungen der Orientierungsversuche in die Bildungspraxis.
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282 Ä'LDORJGHU.XOWXUHQ³YHUVXVÄ.DPSIGHU.XOWXUHQ³
Wir haben das dritte Jahrtausend durch ein Feuertor betreten. Wenn wir heute nach dem Horror des 11. September besser sehen und weiter sehen, werden wir 1 merken, dass Menschlichkeit unteilbar ist.
Das erste Jahr des neuen Jahrtausends, 2001, erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen zum „Jahr des Dialogs zwischen den Kulturen“. Aus diesem Anlass verfasste im Auftrag von Kofi Annan eine Gruppe bedeutender Persönlichkeiten aus der ganzen Welt unter dem Titel „Brücken in die 2 Zukunft“ ein „Manifest für den Dialog der Kulturen“, das den Opfern des Terroranschlags vom 11. September 2001 gewidmet ist. Das Manifest kann auf dem Hintergrund von Sorgen und Ängsten hinsichtlich der Belastbarkeit 3 der Umwelt und der Lebenschancen zukünftiger Generationen als weltanschauliche und ethische Grundlage für ein möglichst harmonisches Zusammenleben von Mensch, Tier und Pflanze in biologischer und kultureller Vielfalt aufgefasst werden.4 Im Dialog zwischen den Kulturen sieht das Manifest das entscheidende Paradigma, das ein friedliches Einspielen bzw. Zusammenleben der Kulturen im „Garten des Menschlichen“, in dem es noch recht wild und ungeordnet zugeht, gewährleisten könnte. Im Rückblick auf das 5 wohl brutalste Jahrhundert der menschlichen Geschichte stellt es diesen „Dialog der Kulturen“ als zukunftsfähigen Weg in expliziten Kontrast zu S.P. Huntingtons bedrohlichem Gegenparadigma vom „Kampf der Kulturen“.6 Huntingtons Auffassung nach wird im 21. Jahrhundert die zentrale und gefährlichste Dimension der kommenden globalen Politik der Konflikt zwischen Gruppen aus unterschiedlichen Zivilisationen sein.7 Dabei unterscheidet er grob sieben Kulturkreise: den sinischen, japanischen, hinduistischen, islamischen, westlichen, lateinamerikanischen und den afrikanischen. Im 1 2
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UN-Generalsekretär Kofi Annan, bei der Friedensnobelpreisverleihung, Dankesrede, Stockholm, 10. Dezember 2001. Stiftung Entwicklung und Frieden (Hg.): %UFNHQ LQ GLH =XNXQIW (LQH ,QLWLDWLYH YRQ .RIL $QQDQ, Frankfurt/M. 2001. Original: &URVVLQJ WKH 'LYLGH 'LDORJXH DPRQJ&LYLOLVDWLRQV, South Orange, New Jersey 2001. Vgl. ebd., 67. Vgl. ebd., 70. Vgl. ebd., 81. S.P. Huntington: .DPSI GHU .XOWXUHQ (Original.: 7KH &ODVK RI &LYLOL]DWLRQV), München/Wien 1997. Vgl. ebd., 11
Zukunftsfähige Visionen in der Bildungspraxis
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historischen Rückblick auf den westlichen Imperialismus, der im 19. und 20 Jahrhundert in der Dominanz über Asien, Indien, Afrika und große Teile des Nahen Ostens kulminierte, gelangt Huntington zu dem Fazit: „400 Jahre lang bedeuteten interkulturelle Beziehungen die Anpassung anderer Gesellschaf8 ten an die westliche Kultur“ , und gibt als Schlüssel zum Erfolg für den Aufstieg des Westens an: Der Westen eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder seiner Religion (zu der sich nur wenige Angehörige anderer Kulturen bekehrten), sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung 9 von organisierter Gewalt.
Unter dieser Optik lässt sich das Wettrüsten während des kalten Krieges, das zur Entwicklung von militärischen Zerstörungspotentialen führte, die die gesamte Menschheit mit der Auslöschung bedrohen, als ein Streben nach Überlegenheit in der möglichen Anwendung von organisierter Gewalt auffassen. Der Westen mit der Supermacht USA als Zentrum ging aus dem kalten Krieg als wirtschaftlich und militärisch hochüberlegener Sieger hervor. Für das 21. Jahrhundert erwartet Huntington jedoch Entwicklungen auf globaler Ebene, die zu einem relativen Niedergang des Westens führen werden. Während das 20. Jahrhundert durch Konflikte zwischen politischen Ideologien geprägt war, die Produkte des Westens sind (Liberalismus, Sozialismus, Marxismus, Kommunismus, Sozialdemokratie, Konservativismus, Nationalismus, Faschismus, Demokratie usw.), werden seiner Auffassung nach im 21. Jahrhundert an ihrer Stelle Religionen und „andere kulturell gestützte 10 Formen von Identität und Bindung“ treten. Die Rückbesinnung nichtwestlicher Länder auf Jahrhunderte alte Religionen und gewachsene Traditionen werde – mit zunehmender eigener wirtschaftlicher, militärischer oder auch Bevölkerungsstärke und mit abnehmender Orientierung am Westen – das Weltgeschehen entscheidend mitbestimmen, so dass − die globale Politik nicht mehr bipolar, wie während des kalten Krieges, sondern multipolar und multikulturell geprägt sein werde, − das Machtgleichgewicht zwischen den Kulturkreisen sich verschieben werde,
8 9 10
Ebd., 67. Ebd., 67f. Vgl. ebd., 71.
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der Westen zu Gunsten von z.B. asiatischen oder islamisch geprägten Ländern an Einfluss verlieren werde, − die kulturellen Werte als Basis für gesellschaftliche Ordnungen dienen würden, − die universalistischen Ansprüche des Westens im Konflikt mit anderen Kulturkreisen zurückgewiesen würden und − das Überleben des Westens von der Fähigkeit zur eigenen Identitätsbekräftigung, zur Einschränkung des Universalisierungsanspruchs und zum Selbstschutz vor den Herausforderungen durch nichtwestliche Gesellschaften abhängen werde. Zum Verhältnis der westlichen Kultur zu den übrigen Kulturen erhebt Huntington am Ende seines Buches die Warnung: Die Zukunft des Friedens und der Zivilisation hängt davon ab, dass die führenden Politiker und Intellektuellen der großen Weltkulturen einander verstehen und miteinander kooperieren. Im Kampf der Kulturen werden Europa und Ame11 rika vereint marschieren müssen oder sie werden getrennt geschlagen.
Der sich unmittelbar an diese Warnung anschließende letzte Satz in Huntingtons Buch bildet eine Art Vorwegnahme der Leitidee nach dem Terroranschlag vom 11.September 2001 im Kampf bzw. im Krieg gegen den Terrorismus: In dem größeren Kampf, dem globalen eigentlichen Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei sind es die großen Weltkulturen mit ihren großen Leistungen auf dem Gebiet der Religion, Kunst und Literatur, der Philosophie, Wissenschaft und Technik, der Moral und des Mitgefühls, die ebenfalls vereint mar12 schieren müssen, da auch sie sonst getrennt geschlagen werden.
Das Manifest „Gerechter Krieg gegen den Terror“ vom Februar 2002, das von 60 US-amerikanischen Intellektuellen der „What-we-are-fighting-for“Gruppe des Instituts of American Values13, zu der auch S. Huntington gehört, unterzeichnet wurde, lässt sich als moralische Rechtfertigung des Kampfes 14 zwischen „Zivilisation und Barbarei“ auffassen. 11 12 13 14
Ebd., 531. Ebd. Vgl. . Das Manifest „Gerechter Krieg gegen den Terror“ löste einen stark kontroversen Dialog mit deutschen Intellektuellen aus. Der Gesamtdialog ist unter dokumentiert.
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.ULHJJHJHQGHQ7HUURULVPXVRGHU0DUVKDOO3ODQIUGLH(UGH Der US-Präsidentschaftsmitbewerber von 2001, Al Gore, fordert in seinem Buch „Wege zum Gleichgewicht – Ein Marshallplan für die Erde“ in Anbetracht des von ihm ausführlich dargelegten verlorenen ökologischen Gleichgewichts der Erde für die Politik nach Beendigung des kalten Krieges: „Es gilt, die Rettung der Umwelt zum zentralen Organisationsprinzip unserer 15 Zivilisation zu machen.“ Die Größe dieser Aufgabe verdeutlicht er, indem er sie mit zwei anderen zentralen Organisationsprinzipien nicht nur der amerikanischen Regierung, sondern der ganzen Gesellschaft vergleicht, nämlich mit dem Kampf gegen den Faschismus, der erst mit dem 2. Weltkrieg endete, und mit dem Kampf gegen den Kommunismus, der durch den Fall der Mauer besiegelt wurde und der die Auflösung der ehemaligen Sowjetunion zur Folge hatte. Auf diese beiden großen Ziele wurden alle gesellschaftlichen Kräfte, Wissenschaft und Technik, Finanzen und Wirtschaft, Politik und Ideologie ausgerichtet. Die Entwicklung der Atombomben im 2. Weltkrieg und der Rüstungswettlauf während des kalten Krieges waren nur die auffälligsten Erscheinungsformen des Kampfes gegen den Faschismus bzw. gegen den Kommunismus. Ebenso große Anstrengungen erwartet Al Gore für den Kampf gegen die Umweltkrise. Ob wir es nun einsehen oder nicht, wir befinden uns in einem großen Kampf um das verlorene Gleichgewicht unserer Erde, in dem sich das Blatt nur dann zu unseren Gunsten wenden wird, wenn die Mehrzahl der Menschen dieser Welt durch die drohende Gefahr aufgerüttelt wird und ihre Kräfte in gemeinsamer 16 Anstrengung vereint.
Wie der Marshallplan der USA von 1947 die Widerstandskraft Westeuropas gegen die Ausbreitung des Kommunismus stärkte, so sollte ein „Marshallplan für die Erde“ gegen die ökologischen Bedrohungen erfolgreich sein. Al Gores Vision von der Rettung der Erde sollte zum neuen, die ganze Menschheit umfassenden Organisationsprinzip aufsteigen. Im Kontrast zu Al Gores Forderung zeichnet sich nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 ab, dass US-Präsident George W. Bush den 15 16
:HJH]XP*OHLFKJHZLFKW±(LQ0DUVKDOOSODQIUGLH(UGH, Frank-
Vgl A. Gore: furt/M. 1992, 267-274. Ebd., 267.
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Kampf bzw. den Krieg gegen den Terrorismus zum „zentralen Organisationsprinzip“ erhebt. In seiner Rede vom 29.1.2002 vor dem US-amerikanischen Kongress stellt er programmatisch fest: „Our war on terror is well begun, but 17 it is only begun.“ und formuliert als Leitvorstellungen und oberste Leitziele für seine Politik: History has called America and our allies to action, and it is both our responsibility and our privilege to fight freedom’s fight. Our first priority must always be the security of our nation, and that will be reflected in the budget I send to Congress. My budget supports three goals for America: We will win this war; we’ll protect our homeland; and we will revive our economy.
Auf die Sicherheit der USA und die Neubelebung der Wirtschaft richtet er demnach in seiner Rede alle gesellschaftlichen Kräfte aus. Im Kampf gegen das Böse („evil is real, and it must be opposed“) schreibt er den USA sendungsbewusst – abweichend von Al Gores „Rettung der Erde“ – als neue historische Aufgabe zu: „In a single instant, we realized that this will be a decisive decade in the history of liberty, that we’ve been called to a unique role 18 in human events.“
1HXH)HLQGELOGHUIUGLH0HQVFKKHLW Die Autoren des Manifestes „Brücken in die Zukunft“ sehen Huntingtons Theorie vom Kampf der Kulturen als einen Versuch an, das Feindbild, das durch Beendigung des kalten Krieges verloren gegangen ist, durch ein neues zu ersetzen. Die kulturell und religiös bedingten Unterschiede würden von Huntington zum Ermöglichungsgrund für Ausgrenzungen hochstilisiert, die den Kern eines Jahrtausende alten Paradigmas zum Aufbau und Stabilisie19 rung von Feindbildern ausmachen. Sie räumen ein, dass der „Feind“ ein bedeutsames Werkzeug der Macht ist, ohne das „kaum irgendwelche Führer20 persönlichkeiten“ herrschen konnten. Für das 21. Jahrhundert plädieren sie für eine Neubewertung und für einen Paradigmenwechsel hinsichtlich des Feind-Konzeptes. Der „Feind“ dürfe nicht länger ein Individuum, ein Staat, 17 18
19 20
Vgl. G.W. Bushs Rede vom 29.1.2002 vor dem amerikanischen Kongress: . Ebd. Vgl. Brücken in die Zukunft, 109. Vgl. ebd., 128.
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eine Kultur oder eine Religion sein, sondern müsse vielmehr in den gemeinsamen Bedrohungen der Menschheit durch weltweit verbreitete Armut, durch ansteckende Krankheiten, durch Massenvernichtungswaffen, durch Verbreitung von Handfeuerwaffen, durch wachsende Kriminalität, durch Drogenmissbrauch und durch andere Menschheitsplagen gesucht und „bekämpft“ 21 werden. In dem Terroranschlag vom 11.September 2001, den sie auf das Schärfste verurteilen, vermuten die Autoren allerdings ein tragisches Anzeichen für Bestrebungen, einen Kampf der Kulturen zu realisieren: „Wer diese Anschläge befahl, sähe es sicher gern, wenn die Theorie vom Kampf der Kulturen wahr 22 würde. Es wäre sein ultimativer Erfolg.“ Nach den US-Angriffen auf Afghanistan strahlte der Fernsehsender El Dschasira des Golfemirats Katar ein Video mit einer Erklärung des mutmaßlichen Terroristenführers Osama Bin Laden aus, die diese Vermutung des 23 Manifestes erhärtet. In dem Video versucht Bin Laden die Anschläge am 11. September 2001 durch ein religiöses Letztbegründungsargument zu legitimieren, indem er die Attentäter als „Speerspitzen des Islams“ heroisiert, die von Gott gesegnet seien, und Gott selbst als den eigentlichen Verursacher angibt: „Da ist Amerika, von Gott getroffen an einer seiner empfindlichsten Stellen. Seine größten Gebäude wurden zerstört, Gott sei Dank dafür.“ Die Anschläge deutet Bin Laden als Reaktion auf die Erniedrigung und Entwürdigung, die islamische Glaubensgemeinschaften seiner Auffassung nach seit 80 Jahren – von der Weltöffentlichkeit kaum beachtet – erführen: „Ihre Söhne werden getötet, ihr Blut wird vergossen, ihre Heiligtümer werden angegriffen, und niemand hört es und niemand nimmt Notiz.“ Auch den „Krieg gegen den Terrorismus“ als Gegenreaktion auf den Anschlag deutet er als weiteres Unterdrückungsinstrument der USA gegen den Islam und ruft zum Kampf der gläubigen Moslems gegen die ungläubigen Unterdrücker auf: Jeder Moslem muss danach drängen, seiner Religion zum Sieg zu verhelfen. Der Sturm des Glaubens ist gekommen. Der Sturm der Veränderung ist gekommen, um die Unterdrückung von Mohammeds Insel auszumerzen, Friede sei mit ihm. 21 22 23
Vgl. ebd., 130ff. Ebd., S. 188. Vgl. . Die nachfolgenden Zitate stammen aus einem von der Nachrichtenagentur AP dokumentierten Wortlaut der Erklärung in einer inoffiziellen Übersetzung.
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Erfüllte sich seine Forderung, dann bestünde der „ultimative Erfolg“ des Terroranschlags am 11.September 2001 in einem weltweit sichtbaren Auftakt zu einem von Bin Laden und seinen Anhängern intendierten „Heiligen Krieg“, der zusammen mit dem „Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen den Terrorismus“ Huntingtons Theorie vom Kampf der Kulturen eine 24 gewisse Bestätigung liefern würde.
hEHUZLQGXQJGHU,QVWLWXWLRQGHV.ULHJHVGXUFK:HOWLQQHQSROLWLN" Der Kulturphilosoph Arthur Koestler beginnt sein Buch „Der Mensch – Irrläufer der Evolution. Eine Anatomie der menschlichen Vernunft und Unvernunft“ mit den Worten: Wenn man mich nach dem wichtigsten Datum in der Geschichte und Vorgeschichte der Menschheit fragte, würde ich ohne Zögern den 6. August 1945 nennen. Dafür gibt es einen einfachen Grund. Seit dem Heraufdämmern seines Bewußtseins bis zu diesem Augusttag des Jahres 1945 mußte der Mensch mit der Aussicht auf seinen Tod als Individuum leben; seit dem Tag aber, an dem die erste Atombombe über Hiroshima den Himmel verdunkelte, muß er mit der 25 Aussicht auf seine Vernichtung als Spezies leben.
Die durch die Hiroshima-Atombombe nur symbolhaft angedeutete Möglichkeit einer Selbstvernichtung der Menschheit entwickelte sich durch die Anhäufung von Massenvernichtungswaffen beim Wettrüsten während des kalten Krieges 1945-1989 zu einer realisierbaren Option, die auch nach der Beendigung des kalten Krieges fortexistiert. In den ökologischen Bedrohungen durch eine sich abzeichnende Klimakatastrophe, durch eine Verringerung der Ozonschicht als Schutzschild gegen die lebenszerstörenden UV-Strahlen, durch Umweltgifte und durch eine insgesamt menschenverursachte ökologische Belastung, die die ökologische Tragfähigkeit der Erde im Hinblick auf eine Nachhaltigkeit bzw. eine selbstregulierte Erholung bereits überschritten 26 hat, wuchs während dieser Zeit eine weitere Gefahr heran, die langfristig 24
25 26
Vgl. auch „Bin Ladens Brief an die USA“ vom November 2002, der versucht, den Kampf gegen die USA und gegen deren Verbündete als notwendigen „Heiligen Krieg“ ausführlicher als in der Videoaufzeichnung zu legitimieren: . A. Koestler: 'HU0HQVFK±,UUOlXIHUGHU(YROXWLRQ, Bern/München 1978, 1. Vgl. z.B. H.-P. Dürr: )UHLQH]LYLOH*HVHOOVFKDIW, München 2002, hier: 130, 154f.
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das Weiterleben und erst recht das Wohlleben nicht nur der Menschheit, sondern auch der Mitwelt in Frage stellt. Der Friedensforscher Dieter Lutz führt in seinem Vortrag zu Ehren des 85. Geburtstages von Carl Friedrich von Weizsäcker aus: Wer eigentlich hat angesichts der Fülle der im ausgehenden 20. Jahrhundert zu bewältigenden und im friedensgefährdenden Sinne existentiellen und grenzüberschreitenden Probleme noch den Überblick über ihre Gesamtheit und Komplexität? Von der ‘Überbevölkerung’ bis zum ‘Waldsterben’? Von der Globalisierung bis zur Massenarbeitslosigkeit? Vom Welthunger bis zur Armutsmigration? Von der Klimaveränderung bis zum ‘Ozonloch’? von der Desertifikation bis zum Artensterben? Vom kalkulierten Super-GAU bis zum Terrorismus mit Massenvernichtungsmitteln? Vom ‘Krieg um Wasser’ bis zur ‘ethischen Säuberung’? Vom Rüstungsexport bis zum ‘Fundamentalismus’? Von der Veränderung des Menschenbildes durch zivile Technologien bis hin zur Mißachtung der Menschenwürde durch sogenannte Exotische Waffen? […] Stehen wir am Vorabend von Destruktion und Vernichtung? Leben wir am Vorabend von Umbruch und Revolution? Was wird der nächste Tag bringen? Die Apokalypse? Den friedlichen Bruch und Umbruch? Oder bleibt angesichts von Dilettantismus, Komplexität und Zeitknappheit nur noch das Durchschlagen des gordischen Knäuels, also das Schwert des Alexander? 27 – Also Krieg? Und immer wieder Krieg?
Der durch den Vortrag von Lutz geehrte Quantenphysiker, Philosoph und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker versucht mit einem großen Teil seines Lebenswerkes den Bedrohungen der Menschheit durch Förderung eines Bewusstseinswandels entgegenzuwirken. Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung bzw. der Lebensgrundlagen bilden seiner Auffassung nach im planetarischen Zusammenhang die drei wichtigsten Bedingungen, unter denen ein Überleben der Menschheit langfristig nur möglich ist. Ein wesentliches Ziel seiner Arbeit ist es, den Bewusstseinswandel in Richtung auf die Realisierung dieser drei Ideen, insbesondere auch als Interdependenzgeflecht, zu fördern und dabei politische und religiöse Institutionen für die Arbeit an der Realisierung dieser Werte zu gewinnen. In seiner Rede „Bedingungen des Friedens“ von 1963 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels prägte er das Wort
27
:HOWLQQHQSROLWLN±=XUFNJHZRUIHQDXIGDV-DKU±.ULHJVYHUKWXQJ XQGRGHU.RQIOLNWYHUKWXQJ" In: U. Bartosch/J. Wagner (Hrsg.): Weltinnenpolitik,
D. Lutz:
Münster 1998, 132-140, hier: 136.
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290 28
„Weltinnenpolitik“, das er in seiner Studie über Wirtschaft, Gesellschaft und Kriegsverhütung als Leiter des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg unter dem Titel „Wege in der Gefahr“ wie folgt erläutert: Es ist zunächst deskriptiv, nicht normativ gemeint. Es bezeichnet eine sich ausbreitende Wahrnehmungsweise weltpolitischer Vorgänge, eine entstehende Bewußtseinsebene. Weltinnenpolitisch denkt, wer politische Vorgänge so beurteilt, 29 als seien sie Innenpolitik.
Der Begriff „Weltinnenpolitik“ überwindet die klassische Trennung von Außen- und Innenpolitik souveräner Staaten und verdichtet deren Beziehungen auf einer neuen integralen Ebene zu einer unauflösbaren Verflechtung, die das politische Geschehen auf dem Planeten Erde als Ganzes in den Blick nimmt. Damit greift von Weizsäcker einen Gedanken auf, den Immanuel Kant in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Ab30 sicht“ bereits vorgedacht hat. Kants geschichtsphilosophische Betrachtungen unterstellen metaphysisch eine „Naturabsicht“, die die Menschengattung durch die Geschichte auf einen „weltbürgerlichen Zustand“ hin zutreibt, in dem das Zusammenleben der Staaten durch eine vollkommene Verfassung geregelt sein wird und erst dadurch eine vollkommene Verfassung auch das Zusammenleben der Individuen innerhalb eines Staates regeln kann. Dieser weltbürgerliche Zustand bildet nach Kants fortschrittsoptimistischer Geschichtsauffassung die Voraussetzung für das eigentliche Ziel der Menschheitsentwicklung: Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich-vollkommene, Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit 31 völlig entwickeln kann.
Von solch einer zukunftsoptimistischen Geschichtsbetrachtung ist von Weizsäcker allerdings weit entfernt. Ihn bedrückt viel mehr die Überlebens28 29 30
31
Vgl. C.F. von Weizsäcker: %HGLQJXQJHQGHV)ULHGHQV, Göttingen 1963. Ders.: :HJHLQGHU*HIDKU, München 1982, 243. Vgl. V. Gerhardt: ,PPDQXHO.DQWV(QWZXUI]XP(ZLJHQ)ULHGHQ, Darmstadt 1995, 232: „Die künftige Politik, auch wenn sie weiterhin von souveränen Staaten betrieben wird, kann gar nichts anderes als Bartoschs ‘Weltinnenpolitik’ sein.“ I. Kant: ,GHH]XHLQHUDOOJHPHLQHQ*HVFKLFKWHLQZHOWEUJHUOLFKHU$EVLFKW, A 404.
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frage der Menschheit. Die Weltpolitik des Systems souveräner Mächte im kalten Krieg bezeichnet er in der o.a. Studie als unvollständige Weltinnenpolitik, die auf Grund der bestehenden ideologischen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Konflikte in einem Dritten Weltkrieg enden könnte. Im Vorwort zu Ulrich Bartoschs Buch „Weltinnenpolitik“, das die „Theo32 rie des Friedens von Carl Friedrich von Weizsäcker“ umfassend darstellt, erinnert sich von Weizsäcker an das Schlüsselerlebnis, das am Anfang seiner lebenslangen Bemühungen um einen Weltfrieden stand. Nachdem er im Februar 1939 von Otto Hahn erfahren hatte, dass die bereits im Dezember 1938 entdeckte Uranspaltung durch eine Kettenreaktion eskalieren könnte und somit prinzipiell eine Atombombe möglich erschien, führte der junge Physiker mit seinem befreundeten Philosophen Georg Picht ein Gespräch, aus dem drei Folgerungen hervorgingen: 1. Wenn Atombomben möglich sind, wird es in der heutigen Menschheit jemanden geben, der sie baut. 2. Wenn Atombomben gebaut sind, wird es jemanden geben, der sie einsetzt. 3. Also hat die Menschheit nur die Wahl, entweder sich selbst zu 33 vernichten oder die Institution des Kriegs zu überwinden. Die Hiroshima-Uranbombe und die Nagasaki-Plutoniumbombe bestätigten die ersten beiden Folgerungen schon sechs Jahre später. Trotz der atomaren Höllen, die diese Ereignisse der Menschheit vor Augen geführt haben, bleibt die dritte Folgerung auch noch für das 21. Jahrhundert eine offene Frage. Sicher ist bislang, dass die Institution des Krieges auch nach Beendigung des kalten Krieges nicht einmal ansatzweise überwunden ist. Alvin und Heidi Toffler zeigen vielmehr in ihrem Buch „Überleben im 21. Jahrhundert“ eine neue Welle von staatlich organisierten Kriegsführungsmöglichkeiten auf, die die Errungenschaften des Informationszeitalters und der Wissensge34 sellschaft integrieren.
32
33 34
Bartosch/Wagner, Weltinnenpolitik, a.a.O., Vorwort, 11. Carl Friedrich von Weizsäcker selbst zu Bartoschs Darlegungen: „Ich fühle mich von ihm im Kern und im Detail meiner Überlegungen verstanden. Um der Lebenswichtigkeit des Anliegens willlen muß ich wünschen, dass seine Darstellung gelesen und erörtert wird.“ Bartosch/Wagner, a.a.O., Vorwort, 11. Bartosch/Wagner, a.a.O., 12. Vgl. A.Toffler/l. H. Toffler: hEHUOHEHQLP-DKUKXQGHUW, Stuttgart 1994.
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Der Politologe Herfried Münkler arbeitet andererseits die Tendenzen zu neuen Kriegen heraus, in denen nicht Staaten und somit öffentliche Gewalt, sondern Warlords, Söldner und Terroristen und somit privatisierte Gewalt die 35 Hauptrolle spielen. Der Terroranschlag vom 11.September 2001 und der von den USA angeführte „Krieg gegen den Terrorismus“, der Konflikt zwi36 schen dem Staat Israel und den Selbstmordanschlägen der Palästinenser und 37 die politischen Verwirrungen in Afghanistan bilden nur die dramatischsten, von den Medien ins öffentliche Bewusstsein gerückten Beispiele für die mögliche zukünftige Bedeutung des Aufeinandertreffens von privatisierter und öffentlicher Gewalt. Zu der eher wachsenden Bedeutung der Gewalt noch einmal der Friedensforscher Dieter Lutz: Es gehört zunehmend zu meiner Aufgabe als Friedensforscher, nicht zum Thema Frieden, sondern immer öfter zum Thema Krieg und zu immer neuen Gewaltakten Vorträge zu halten. Aus dieser Aufgabe ist mittlerweile eine sich wiederholende Pflicht geworden, eine zunehmend unerträgliche und mich oftmals zutiefst deprimierende Pflicht. Gewalt und Krieg – so das Empfinden – sind ‘normal’ geworden. Diesem Empfinden muss widerstanden, ja es muss be38 kämpft werden.
Da bei einer möglichen Eskalation von Konflikten nach wie vor atomare – aber auch chemische und biologische – Massenvernichtungsmittel zur Verfügung stehen, bleibt die von Koestler thematisierte Selbstvernichtungsmöglichkeit der Menschheit auch im 21. Jahrhundert ein ernstes Problem und die weltinnenpolitischen Hoffnungen auf die Überwindung der Institution des Krieges bleiben nach Beendigung des Kalten Krieges noch genauso utopisch und notwendig wie 1939. Ein „Friede mit friedlichen Mitteln“ – wie ihn der Friedensforscher Johan Galtung fordert, ist auch am Beginn des 21. Jahrhun39 derts noch lange nicht abzusehen. 35 36 37 38
39
Vgl. H. Münkler: 'LHQHXHQ.ULHJH, Hamburg 2002. Vgl. M. Pott: 6FKXOGXQG6KQHLP*HOREWHQ/DQG±,VUDHOV6RQGHUUROOHLP6FKXW] GHUZHVWOLFKHQ:HOW, Köln 2002. Vgl. A. Rashid: 7DOLEDQ$IJKDQLVWDQV*RWWHVNULHJHUXQGGHU'VFKLKDG, München 2001. Am 13.1.2003 starb der Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg Prof. Dr. Dr. Dieter Lutz im Alter von 53 Jahren an Herzversagen. In der Frankfurter Rundschau vom 22.1.2003 stellen die übrigen Friedensforschungsinstitute ihrer Traueranzeige das angeführte Zitat voran. D. Lutz im April 2002, zitiert nach Frankfurter Rundschau vom 22.1. 2002. Vgl. J. Galtung: )ULHGHPLWIULHGOLFKHQ0LWWHOQ, Opladen 1998.
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Unter weltpolitischem Aspekt kann das o.a. Manifest „Brücken in die Zukunft“ als Versuch aufgefasst werden, den von C.F. von Weizsäcker geforderten Bewusstseinswandel in Richtung auf eine vollständige Weltinnenpolitik zu fördern, so dass die weltweite Überwindung der Institution des Krieges darin bestehen könnte, dass Konflikte in Zukunft analog zu vielen realen innenpolitischen Vorgängen „im friedlichen Dialog“ und nicht im „kriegeri40 schen Kampf“ gelöst werden. Für eine „vollständige Weltinnenpolitik“ müsste die Idee, die dem Manifest zur Folge der Gründung der UNO zu Grunde lag, Realität werden: „kein Recht durch Macht mehr, sondern nur durch ein System von Regeln, die von 41 allen gleichermaßen akzeptiert werden.“ :HOWHWKRVDOVPRUDOLVFKHU0LQLPDONRQVHQVIUGDVJOREDOH=XVDPPHQOHEHQ Da der Terroranschlag vom 11. September 2001 während der Endredaktion des Manifestes „Brücken in die Zukunft“ erfolgte, fühlten sich die Autoren aufgefordert, die Bedeutung des „Dialoges zwischen den Kulturen“ als Gegenkonzept zum „Kampf der Kulturen“ noch stärker hervorzuheben: „Wir jedoch glauben, dass die tragischen Terrorangriffe vom 11. September 2001 42 einen Dialog zwischen den Kulturen noch zwingender erfordern.“ Das Manifest regt an, den Dialog zwischen den großen Religionen und den gewachsenen Kulturen, die über Jahrhunderte hinweg die Gestaltung des Lebens der Menschen geprägt haben, zur Grundlage einer Weltzivilisation zu erheben, die auf eine Einigung auf gemeinsame moralische Maßstäbe und Werte als Fundament eines globalen Ethos abzielt, ohne die religiöse und kulturelle Vielfalt zu gefährden. Vielmehr sollen die Dialoge eine Öffnung 40
41 42
Bei einer Veranstaltung in der evangelischen Akademie Tutzing im Juni 2002 anlässlich des 90. Geburtstags von Carl Friedrich von Weizsäcker bezeichnete Antje Vollmer in ihrem Vortrag zum „Beitrag der Religionen zur Globalisierung“ Kofi Annan als dessen „berühmtesten Schüler“, weil seine Auffassungen von Carl Friedrich von Weizsäcker selbst stammen könnten. Bei derselben Veranstaltung griff Erhard Eppler von Weizsäckers seit 1939 immer wieder erhobene Forderung nach einer „Überwindung der Institution des Krieges“ auf und untersuchte die Möglichkeiten einer „Weltinnenpolitik“ in Anbetracht der Privatisierung und Ökonomisierung des Terrors. Zitiert nach Aufzeichnungen des Verfassers, der an der Veranstaltung teilgenommen hat Stiftung Entwicklung und Frieden, Brücken in die Zukunft, a.a.O., 201. Ebd., 212.
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für die Vielfalt von Perspektiven bewirken. Dabei werden ursprüngliche religiöse und kulturelle Bindungen als mit einem weltbürgerlichen Geist vereinbar angesehen. Als entscheidende ethische Fragen, die auf eine Beantwortung drängen, formuliert das Manifest: 1. Auf welcher Grundlage können wir als Menschen auf einer bewohnbaren Erde überleben und unserem individuellen wie unserem sozialen Leben eine humane Form geben? 2. Unter welchen Voraussetzungen kann die menschliche Zivilisation im dritten Jahrtausend gerettet werden? 3. Welchen Grundprinzipien können die führenden Kräfte und Institutionen der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Religion folgen? 4. Auf welcher Basis kann der Einzelne ein glückliches und erfülltes Le43 ben führen? Als Vorbild für ein gemeinsames Ethos für die gesamte Menschheit und damit als moralische Grundlage für eine noch zu entwickelnde Weltordnung 44 führt das Manifest die Weltethoserklärung an, die Hans Küng – einer der Autoren des Manifestes – für das Parlament der Weltreligionen von 1993 in 45 Chicago als ethischen Minimalkonsens zwischen den Weltreligionen verfasste. Die beiden Grundforderungen 1. Jeder Mensch muss menschlich behandelt werden, 2. die Goldene Regel (Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu) und die „vier unverrückbaren Weisungen“ als Verpflichtungen auf eine Kultur 1. der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben, 2. der Solidarität und einer gerechten Wirtschaftsordnung, 3. der Toleranz und eines Lebens in Wahrhaftigkeit, 46 4. der Gleichberechtigung und der Partnerschaft von Mann und Frau finden sich in säkularisierter Form auch in dem Vorschlag wieder, den der InterActionCouncil, – eine Vereinigung ehemaliger Staatschefs wie Jimmy Carter, Michail Gorbatschow, Helmut Schmidt u.a.m., die über globale Frau43 44 45 46
Ebd., 175. Ebd., 80. Vgl. H. Küng/K.-J. Kuschel (Hrsg.): (UNOlUXQJ ]XP :HOWHWKRV 'LH 'HNODUDWLRQ GHV3DUODPHQWHVGHU:HOWUHOLJLRQHQ, München 1993. Ebd., 21-40.
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47
gen beraten, – bereits 1997 an die UN-Generalversammlung und an die Weltöffentlichkeit richtete und die von Kofi Annan als „nötig und höchst 48 willkommen“ begrüßt wurden. Mit dem Engagement für einen Dialog der Kulturen verfolgt das Manifest das Ziel, die Verwirklichung eines Weltethos 49 zu fördern, und erhebt z.B. die Forderung: Das mächtige Land, der Unternehmer, der Politiker und der Medienmensch- sie alle sind gefordert, einem Weltethos Beachtung zu schenken, denn sie sind ein50 deutig Teilhaber am gesamten Planeten.
%DODQFHRGHU=HUVW|UXQJ" F.J. Radermachers Buch „Balance oder Zerstörung“ entwickelt die Vision einer zukunftsfähigen „ökosozialen Marktwirtschaft als Schlüssel zu einer 51 weltweiten nachhaltigen Entwicklung“ , die an Carl Friedrich von Weizsäckers Anregung zu einer „Weltinnenpolitik“, an Ernst Ulrich von Weizsäckers „Erdpolitik“ und „Faktor 4“, an Hans Küngs Weltethosidee und an Al Gores „Wege zum Gleichgewicht“ anknüpft. Die Notwendigkeit einer Weltinnenpolitik begründet er wie folgt : In Zeiten einer globalisierten Ökonomie sind die sozialen, kulturellen und ökologischen Nöte rund um den Globus nur noch als Themen einer Weltinnenpolitik beherrschbar. Die Kontrolle über die Regelwerke der Weltökonomie wird 52 dabei zu einer entscheidenden Frage.
Radermacher plädiert dafür, dass die „Regelwerke der Ökonomie“ nicht als Letztbegründungsinstanz fungieren dürfen, sondern von übergeordneten „weltinnenpolitischen“ und „weltethischen“ Regelwerken kontrolliert und gezähmt werden müssen. Unter ethischen Gesichtspunkten gehört dazu seiner Auffassung nach ein Weltethos, das die Bewahrung der Natur in Form einer nachhaltigen Entwicklung und damit auch die Interessen zukünftiger Gene47 48 49 50 51 52
Vgl. . H. Schmidt (Hrsg.): Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten. Ein Vorschlag, München 1998, 100. Vgl. Stiftung Entwicklung und Frieden, Brücken in die Zukunft, a.a.O., 85. Ebd., 164. F.J. Radermacher: %DODQFH RGHU =HUVW|UXQJ gNRVR]LDOH 0DUNWZLUWVFKDIW DOV 6FKOVVHO]XHLQHUZHOWZHLWHQQDFKKDOWLJHQ(QWZLFNOXQJ, Wien 2002. Ebd., 121.
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rationen vertritt. Die Kontrolle über die Regelwerke der Weltökonomie durch eine zukunftsfähige Kopplung der weltweit operierenden Institutionen erweise sich als die entscheidende Machtfrage auf diesem Globus und sei „der Dreh- und Angelpunkt für die Ermöglichung einer nachhaltigen Entwick53 lung“ Den gegenwärtigen Zustand des Weltsystems bezeichnet Radermacher als 54 globale Apartheid , da die sozialen Ungleichheiten noch viel größer sind als in Kolonial- oder Apardheitregimen. So müssen z.B. 2 Milliarden Menschen mit weniger als 2 Dollar pro Tag auskommen. Andererseits verfügen die fünfhundert Reichsten auf der Welt über das gleiche Kapital wie drei Milliarden Menschen, also die Hälfte der Menschheit. Über das weltökonomische Design erfolge eine Vorteilnahme des Nordens durch Export massiver Umweltbelastungen, sozialer Ausbeutung und Zerstörung kultureller Vielfalt zu Lasten der Armen, von denen 8,8 Millionen pro Jahr, also 24 000 pro Tag, verhungern, die im reichen Norden kaum eine Reaktion bewirkten. Radermacher hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass Südafrikas Präsident Thabo Mbeki beim Welternährungsgipfel in Rom im Juni 2002 anmerkte, dass bei dem kurz zuvor erfolgten NATO-Russland-Gipfel kein Regierungschef der großen Industrienationen gefehlt habe, beim Ernährungsgipfel fast alle, und zitiert Mbeki mit den Worten: „Ich nehme an, dass achthundert Millionen 55 Hungernde für sie kein wirklich ernstes Problem sind.“ Vor dem Hintergrund der hinlänglich bekannten Weltprobleme Bevölkerungsexplosion, Hunger und Elend, korrupte Eliten, Betrug, Kriminalität, Terrorismus, Ressourcenübernutzung und Mitweltzerstörung, bei der die Ressourcenströme seiner Auffassung nach in skandalöser Weise von den 56 Armen zu den Reichen verlaufen, untersucht Radermacher mit Szenarien die zukunftsbedeutsame Frage, in welche Richtung die von der neoliberalen Wirtschaft dominierte Globalisierung sich möglicherweise in den nächsten Jahrzehnten entwickeln kann. Dabei unterscheidet er vier mögliche Zukunftsszenarien für das 21. Jahrhundert: Szenario A: Das heutige aktuelle neoliberale WTO-dominierte Regime der Weltökonomie, das sich durch ein hohes weltweites ökonomisches 53 54 55 56
Ebd., 125 Ebd., 119. Ebd., 192. Ebd., 124.
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Wachstum auszeichnet und die Freiheitsrechte als Zielvorstellung hochhält, das aber dabei eine zunehmende soziale Spaltung in Nord und Süd und eine Zerstörung der Umwelt in Kauf nimmt und das große Defizite im sozialen u. kulturellen Bereich aufweist. Radermacher bewertet das gegenwärtige Regime der Weltökonomie als nicht zukunftsfähig. Szenario B: Verfolgt eine Entwicklung des gegenwärtigen neoliberalen Regimes in Richtung auf eine Erweiterung von Sicherheitsarchitekturen mit massiven Sicherheitsmaßnahmen zu Lasten der bürgerlichen Freiheitsrechte. Die Erweiterung der Sicherheitsarchitekturen und die Einschränkung der Bürgerrechte glaubt Radermacher seit dem 11. September 2001 im Kampf bzw. im Krieg gegen den Terrorismus bereits feststellen zu können. Zu den massiven Sicherheitsmaßnahmen könnte am Ende solch einer Entwicklung im extrapolierten Extremfall die lückenlose Kontrolle der Aktionen der Erdbewohner mit Hilfe einer Überwachung eingepflanzter elektronischer Chips gehören, und zwar mit der Begründung, dass anders die Sicherheit in einer Welt mit dunklen Kräften nicht zu haben sei. Szenario C: Mit einer ökosozialen nachhaltigen Marktwirtschaft, die über einen Weltgesellschaftsvertrag, über eine Weltinnenpolitik und über ein Weltethos weltbürgerliche Freiheitsrechte und soziale und kulturelle Menschenrechte zu sichern versucht, präsentiert Radermacher seine Idealvorstellung von einer zukunftsfähigen Weltentwicklung, für die er sich engagiert. Szenario D: Das letzte Szenario knüpft an das Szenario B an und greift die zunehmenden ökologischen Bedrohungen auf . Die Steuerung des Weltgeschehens erfolgt nicht über konsensartige Mechanismen – wie beim Szenario C –, sondern über Macht und Druck, und zwar einerseits der Machtzentren des Nordens gegen die eigene Bevölkerung und andererseits des Nordens als Ganzes gegenüber dem Süden durch Kontrolle der Rohstoffbasis, durch Zwang zum Kauf höchst effizienter Technologie, die es nur im Norden gibt zum Vorteil des Nordens. Als Gegenreaktion könne die Not des Südens durch Revolutionen und Terror zurückschlagen. Das gegenwärtige neoliberale Weltsystem werde sich über zunehmende Sicherheitsmaßnahmen zu einer Ökodiktatur der Starken gegen die Schwachen entwickeln. Als Folge des 11. September 2001 befürchtet Radermacher, dass die USA sich unter dem Druck der Ereignisse auf dem Wege von Szenario A nach B bzw. D befinden und nicht nach C. Dieser Entwicklung hält er entgegen, dass
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seiner Auffassung nach ohne eine weltweit gerechte Ordnung der Kampf ge57 gen den Terrorismus noch mehr Terrorismus erzeugen werde.
'HU%HLWUDJGHULQWHUNXOWXUHOOHQ3KLORVRSKLH]XPÄ'LDORJGHU.XOWXUHQ³ Der junge Forschungszweig interkulturelle Philosophie, der mit der Globalisierung nach Beendigung des kalten Krieges zunehmend an Bedeutung gewinnt, geht von der Wahrnehmung aus, dass die zunehmende transkulturelle Verflechtung der Weltgemeinschaft in wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, finanz-, verkehrs- und kommunikationstechnischer Hinsicht im Kontrast zu dem Nebeneinander und oft Gegeneinander der gewachsenen gesellschaftlichen, politischen, religiösen und philosophischen Strukturen der einzelnen Kulturen steht. Diesen Kontrast betrachtet die interkulturelle Philosophie als 58 Herausforderung , so dass sie es sich zur Aufgabe gemacht hat, das jewei59 lige historische Erbe der einzelnen Kulturen aufzuarbeiten und den Dialog zwischen den Kulturen unter dem Gesichtspunkt der Interkulturalität als Voraussetzung für die reale Möglichkeit einer multikulturellen Gesellschaft durch eine theoretische und praktische Grundlegung zu fördern. Die mit dem Dialog verbundene interkulturelle Verständigung sieht die interkulturelle Philosophie als einen philosophischen Beitrag zur Verfolgung der regulativen Idee von einem harmonischen Zusammenleben der Völker an, die in Huntingtons „Kampf der Kulturen“ eine menschheitsbedrohende Alternative hat, und erweist sich dadurch als philosophische Vorläuferin des Manifestes „Brücken in die Zukunft“. Die Kulturen in ihrer Vielfalt können als Schöpfungen des menschlichen Geistes angesehen werden, die die Naturausstattung des Menschen transzendieren und überformen, dadurch eine von Ort und Zeit unabhängige Lebensgestaltung ermöglichen. Die interkulturelle Philosophie thematisiert nicht nur die jeweils historisch gewachsenen Denk- und Gestaltungsformen, die verschiedenen Deutungs- und Verstehensmuster, sondern sie vergleicht die verschiedenen Erscheinungsformen des menschlichen Geistes unter Berücksichtigung der Sprachprobleme aus intra- und interkultureller Sicht. 57 58 59
Ebd., 179ff. R.A. Mall/H. Hülsmann: 'LH'UHL*HEXUWVRUWHGHU3KLORVRSKLH, Bonn 1989, 56. Vgl. F. Wimmer: ,QWHUNXOWXUHOOH3KLORVRSKLH, Wien 1990.
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In der programmatischen Schrift „Philosophie im Vergleich der Kultu60 ren“ lehnt Ram Adhar Mall sowohl den Gedanken einer totalen Kommensurabilität als auch den einer völligen Inkommensurabilität der Kulturen ab und sieht vielmehr in den Ähnlichkeiten und Geistesverwandtschaften, den „Überlappungen“ der Kulturen die Grundlage für eine interkulturelle Kommunikation. Diese interkulturelle Kommunikation müsse laut Mall von der Einstellung getragen werden, dass die Wahrheit keinem philosophischen System, weder intrakulturell noch interkulturell, allein gehöre, so dass dementsprechend auch kein Begriffssystem privilegiert werden dürfe. Malls Verständnis nach weist die interkulturelle Philosophie daher auch die Verabsolutierungstenden61 zen jeder Metaphysik, Religion, Kultur, Logik oder Ethik zurück und versucht dadurch dem Wahrheitsfanatismus fundamentalistischer Strömungen, die in vielerlei Masken auftreten können und die stets mit einem absoluten 62 Wahrheitsanspruch verbunden seien, durch eine erkenntnistheoretische, methodologische, metaphysische, ethisch-moralische und auch religionsphilosophische Bescheidenheit im Umgang mit den traditionsgebundenen Weltanschauungen, denen sie einen relativen Wahrheitsanspruch einräumt, entgegenzutreten. Vor den Gefahren, die mit dem absoluten Wahrheitsanspruch 63 verbunden sind, warnt auch das Manifest „Brücken in die Zukunft“. Mit der Zurückstellung eines jeden absoluten Wahrheitsanspruchs lehnt die interkulturelle Philosophie nach Mall auch die Illusion ab, von irgendeiner Position aus einen Universalanspruch von Gültigkeitskriterien für gelungene Argumentationen zu erheben, die aufgrund ihres denknotwendigen Charakters von anderen Standpunkten als unmittelbar einsichtig anerkannt werden müssen. Zum Vergleich der Philosophien der einzelnen Kulturen, z.B. der europäischen, chinesischen und indischen, aber auch lateinamerikanischen und afrikanischen, die zunächst einmal auch in ihren großen Unterschieden als solche erkannt und akzeptiert werden müssen, gehöre vielmehr auch ein Vergleich der jeweiligen Argumentationsmuster, die auch historisch 60 61
62 63
Vgl. R.A. Mall: 3KLORVRSKLHLP9HUJOHLFKGHU.XOWXUHQ, Darmstadt 1995. Vgl. R.A. Mall: %HJULII ,QKDOW 0HWKRGH XQG +HUPHQHXWLN GHU LQWHUNXOWXUHOOHQ 3KLORVRSKLH, in: R.A. Mall/D. Lohmar (Hrsg.): Philosophische Grundlagen der Interkulturalität, Amsterdam 1993. Vgl. auch Th. Meyer: )XQGDPHQWDOLVPXV$XIVWDQGJHJHQGLH0RGHUQH, Hamburg 1989. Vgl. Stiftung Entwicklung und Frieden, Brücken in die Zukunft, a.a.O., 24.
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und kulturell bedingt seien und in konkreten Argumentationen oft nur in Verbindung mit ebenfalls kulturell bedingten Dispositionen und Sozialisatio64 nen auftreten. Mall plädiert daher für einen moderaten Relativismus, der nicht prinzipiell alles, sondern nur das Prinzipielle relativiert, und spricht sich sowohl gegen einen radikalen Relativismus als auch gegen einen Essentialismus aus, der schnell Gefahr laufe, hinsichtlich des Wahrheitsanspruchs überheblich zu werden. Die in Verbindung mit dem moderaten Relativismus geforderte Einübung in intra- und interkulturelle Perspektivenwechsel, die einem epistemologischen Pluralismus gerecht werden möchte, verfolge das Ziel, möglichst jenseits aller kulturellen Zentrismen zu philosophieren, ohne den eigenen Standpunkt aufgeben zu müssen. Die interkulturelle Philosophie gestehe keinem kulturellen System den Anspruch zu, sich als das universale hermeneutische Subjekt mit transethischer und transkultureller Geltung zu verstehen, und wende sich insbesondere auch gegen jede reduktive Hermeneutik, die das Fremde nicht als etwas Selbstständiges zu Wort kommen lässt, sondern es entweder den eigenen Verstehensmustern anpasst und dadurch verändert, ehe sie es zu verstehen versucht, oder gar stufentheoretisch in ein kulturell bedingtes starres Schema presst. Im Kontrast zu einer reduktiven Hermeneutik vermeide eine interkulturelle Hermeneutik eine metaphysische Vorentscheidung in der Wahrheitsfrage und konzentriere sich auf den symmetrischen Anspruch von Verstehenwollen und Verstandenwerdenwollen. Die von der interkulturellen Philosophie bevorzugte Methode ziele nach Mall auf eine interkulturelle Hermeneutik mit analogischem Charakter, die dadurch charakterisiert sei, dass sie jede Verabsolutierung vermeidet und totale Identitäten ebenso wie totale Differenzen als Ideologismen entlarvt. Der Verstehensprozess soll zwischen den verschiedenen Denkmustern und dadurch zwischen den zugehörigen verschiedenen geistigen Welten vermitteln, indem er nicht von einer radikalen Differenz der geistigen Welten, sondern von Überlappungen ausgeht und daher nach Entsprechungen – Analogien – 65 sucht.
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:DVNRQVWLWXLHUWSKLORVRSKLVFKH$UJXPHQWH", Vortrag im3KLORVRSKL VFKHQ&ROORTXLXP Universität Bremen, Studiengang Philosophie, 14.12.1995, 12.
R.A. Mall:
Vgl. auch Mall, Philosophie im Vergleich der Kulturen, a.a.O., 78f.
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Da die interkulturelle Hermeneutik dem moderaten Relativismus der interkulturellen Philosophie gemäß zunächst von einer Gleichberechtigung der verschiedenen geistigen Welten ausgehe, ist sie Malls Auffassung nach eher mit der Komplementaritätslogik eines „Sowohl/Als-auch“, der ein grundlegender Perspektivenwechsel leichter falle, als mit einer „Entweder/Oder“-Logik zu vereinbaren, die dazu neige, andere Perspektiven auszuschließen. Malls Auffassung wird durch die moderne Quantenphysik unterstützt, die den klassischen „Welle-Teilchen-Dualismus“ durch solch eine Komplementaritätslogik mit Hilfe wissenschafts- und erkenntnistheoretisch reflektierter Perspektivenwechsel überwindet. Der Zusammenhang zwischen Quantenphysik und hermeneutischem Perspektiv-Wechsel ist erst noch herzustellen. Carl Friedrich von Weizsäcker, der in seinem Buch „Zeit und Wissen“ unter anderem auch die metaphysischen, erkenntnistheoretischen, wissenschaftstheoretischen, insbesondere auch die metalogischen Grundlagen der Quantenphysik reflektiert und insgesamt das Fazit aus seiner Lebensarbeit zieht, nimmt im Einklang mit einer so konzipierten interkulturellen Philosophie ein zentrales weltanschauliches Anliegen des Manifestes „Brücken in die Zukunft“ vorweg, indem er seinen Respekt gegenüber der Pluralität des kulturellen Weltgeschehens in Analogie zum evolutionär gewachsenen Naturgeschehen wie folgt zum Ausdruck bringt: Die Vielheit der Kulturen und die Vielheit der Religionen aber ist ein Reichtum. Die Evolution des organischen Lebens erfüllt den Raum, indem, freilich unter Leiden, der Reichtum der Gestalten entsteht: der Garten der Natur. Und die Gestalten im Garten spielen sich so ein, daß sie zusammenleben können. Die menschliche Geschichte erfüllt ihren Raum, freilich unter Leiden, indem der Reichtum der Kulturen und ihrer Selbstdeutungen entsteht: der Garten des Menschlichen. Die Kulturen müssen sich so einspielen, daß sie zusammenleben können. Kein Synkretismus, der ihre Stärken verwischt. Keine Diktatur, die nur 66 eine Gestalt erlaubt.
Der Respekt vor den historisch gewachsenen Kultur-Gestalten, zu denen auch einander komplementäre Denkmuster gehören, könnte sich weit über den ursprünglichen physikalischen Anwendungsbereich hinaus, auch für ein
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C.F. v. Weizsäcker: =HLWXQG:LVVHQ, München 1992, 520.
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zukunftsfähiges Philosophieren und für eine zivile Weltgesellschaft als 67 fruchtbar erweisen. Ganz im Sinne des Manifestes „Brücken in die Zukunft“, das die Forderung erhebt, die Weltgeschichte ohne kulturell dominierende Zentrierungen neu zu schreiben, geht die interkulturelle Philosophie in Abgrenzung zu universalgeschichtlichen Totalkonstruktionen, die die Weltgeschichte in Form von spekulativen Entwürfen von einem verabsolutierenden Standpunkt aus in ein Schema pressen, von einem Anerkennen eines kulturellen Pluralismus des philosophischen Geistes aus und wendet sich damit gegen jede Art von kulturellen Zentrismen. Zu den Aufgaben einer „Philosophie im Vergleich der Kulturen“ gehört es, die Ethiken der verschiedenen Kulturen einschließlich ihrer Argumentationsmuster, die Ethosformen und die gelebten Moralvorstellungen in einem Dialog der Kulturen im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu untersuchen und die Gemeinsamkeiten („Überlappungen“) ggf. zu fördern, mit dem auch von dem Manifest „Brücken in die Zukunft“ formulierten Fernziel, dass der moralische Anspruch eines guten Zusammenlebens der unterschiedlichen Kulturen in Zukunft eine Realisierungschance erhält. 68 Mit Hans Küngs Weltethosidee , die den verschiedenen Weltkulturen ge69 meinsame Wertvorstellungen beinhaltet und die aus Sorge um eine gefähr70 dete Welt von Vertretern zahlreichen Kulturen begrüßt wurde , liegt eine erste auf einem interkulturellen Minimalkonsens beruhende Formulierung eines „Überlappungsethos“ vor, das von der interkulturellen Philosophie von 71 Anfang an kritisch begleitet wurde und – wie oben dargelegt – als zentraler Bestandteil in das Manifest „Brücken in die Zukunft“ einging.
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Zur Bedeutung von wissenschaftstheoretisch, erkenntnistheoretisch und metaphysisch reflektierter Denkmuster in der Physik für ein zukunftsfähiges philosophisches und weltgesellschafsrelevantes Denken vgl. außer Weizsäcker, Zeit und Wissen, a.a.O., und ders.: Der Mensch in seiner Geschichte, München 1991, auch die Bücher des Quantenphysikers und alternativen Nobelpreisträgers Hans-Peter Dürr: Das Netz des Physikers, München 1988, ders. (Hrsg.): 3K\VLNXQG7UDQV]HQGHQ], München 1986, ders.: Für eine zivile Gesellschaft, a.a.O. Vgl. H. Küng: 3URMHNW:HOWHWKRV, München 1991. Ders./K.-J. Kuschel (Hrsg.): (UNOlUXQJ]XP:HOWHWKRV'LH'HNODUDWLRQGHV3DUOD PHQWHVGHU:HOWUHOLJLRQHQ, München 1993. Vgl. H. Küng (Hrsg.): -D]XP:HOWHWKRV, München 1995. Vgl. R.A. Mall: 3KLORVRSKLVFKH 5HIOH[LRQHQ ]XP Ä3URMHNW :HOWHWKRV³, in: B. Jaspert (Hrsg.): Hans Küngs „Projekt Weltethos“, Hofgeismar 1992, vgl. R.A.
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%LOGXQJVSUD[LVIUHLQ=XVDPPHQOHEHQLP=HLWDOWHUGHU*OREDOLVLHUXQJ Es steht traurig um ein Land, dessen junge Menschen keine Träume mehr haben; noch trauriger aber steht es um eine Nation, in der die Alten den Versuch unternehmen, den Träumen der Jungen den Garaus zu be72 reiten.
Seit 1992 reflektieren wir im Philosophieunterricht der gymnasialen Oberstufe am Theodor-Heuss-Gymnasium Hagen in Verbindung mit Carl Friedrich von Weizsäckers Aufforderung zu einem „weltinnenpolititischen Denken“ mit Ernst Ulrich von Weizsäckers „Erdpolitik“ als Antwort auf die ökologischen Herausforderungen, mit Hans Küngs „Weltethosidee“ und seit 1995 im engen Kontakt mit der Gesellschaft für interkulturelle Philosophie, die den Dialog der Kulturen fördert, den Globalisierungsprozess, der in wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, finanztechnischer, informationstechnischer, militärischer und politischer Hinsicht den großen Erdball bereits seit längerem als 73 Weltdorf erscheinen lässt. Die interreligiöse „Weltethoserklärung des Parlaments der Weltreligionen“ und die mit ihr eng verwandte Menschenpflichtenerklärung bilden den Versuch, dem globalen menschlichen Zusammenleben eine moralische Grundlage auch für Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung und die Medien zu geben. Beide Erklärungen sind – wie oben bereits erwähnt – über Hans Küng in das von Kofi Annan initiierte Manifest „Brücken in die Zukunft“ eingegangen. Da die Weltethosidee in zunehmendem Maße nicht nur weltweit disku74 tiert wird , sondern in dieser Diskussion die Bedeutung der Bildung eine we-
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74
Mall,QWHUNXOWXUDOLWlWXQG,QWHUUHOLJLRVLWlW, in: J. Rehm (Hrsg.): Verantwortlich leben in der Weltgemeinschaft, Gütersloh 1994. Stiftung Entwicklung und Frieden, Brücken in die Zukunft, a.a.O., 24. Zur Beziehung zwischen Weltethos, Weltinnenpolitik und Erdpolitik vgl. H. Küng: .HLQH :HOWLQQHQSROLWLNRKQHHLQHQQHXHQ*HVHOOVFKDIWVNRQVHQV, in: U. Bartosch/J. Wagner, a.a.O., 5-8; C.F. von Weizsäcker: :HOWLQQHQSROLWLN , in: Bartosch/ Wagner, a.a.O., 43; E.U. von Weizsäcker: :HOWLQQHQSROLWLNXQG*OREDOLVLHUXQJ, in: Bartosch/Wagner, a.a.O., 66-70; C.F. von Weizsäcker: =XP $SSHOO IU HLQ :HOW HWKRV, in: H. Küng (Hrsg.): Ja zum Weltethos, München 1995, 89ff. E.U. von Weizsäcker: gNRORJLVFKHV :HOWHWKRV, in: .Küng/Kuschel, Wissenschaft und Weltethos, a.a.O., 337ff. Vgl. Küng, Ja zum Weltethos, a.a.O., H. Schmidt (Hrsg.): Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten, a.a.O.
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sentliche Rolle spielt , liegt es nahe, im Bildungsbereich auch Jugendliche mit diesen Ideen vertraut zu machen und ihre mögliche Bedeutung für ein zukunftsfähiges Weltzusammenleben zu hinterfragen. Die Auseinandersetzungen mit Weltinnenpolitik bzw. Erdpolitik, mit der Weltethosidee und mit dem Dialog der Kulturen können somit zum Bestandteil einer interkulturellen Erziehung werden, wie sie beispielsweise in der Denkschrift der Kommission „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“, die vom ehemaligen Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen und gegenwärtigen Bundespräsidenten Johannes Rau mit den Worten eingeleitet wird: Wir müssen uns immer wieder fragen, was wir dazu beitragen können, damit junge Menschen als mündige Staatsbürger verantwortungsbewußt unsere soziale Demokratie mitgestalten – tolerant und weltoffen in einer Welt, die immer mehr 76 zusammenwächst,
gefordert und begründet wird, wie z.B.: Das Bildungsziel einer europäischen Identität darf nicht zur Verengung auf ein eurozentristisches Weltbild führen. Für eine bestimmte Kulturtradition universelle Geltung zu beanspruchen, ist nicht durchzuhalten, ein Kulturrelativismus andererseits läßt sich nicht zur Grundlage der alltäglichen pädagogischen Praxis machen. Dieses Dilemma kann durch einen Universalismus im Konsens überwunden werden, zum Beispiel in Form der gemeinsamen Anerkennung unver77 zichtbarer Grundwerte eines demokratischen Zusammenlebens.
Einen von der Denkschrift der Bildungskommission geforderten minimalen moralischen „Universalismus im Konsens“, der die kulturelle Vielfalt nicht gefährdet, sondern im Gegenteil begrüßt, halten die interreligiöse Weltethoserklärung, die vorgeschlagene politische Menschenpflichtenerklärung, die interkulturelle Philosophie und das Manifest „Brücken in die Zukunft“ über den Dialog der Kulturen für erreichbar. Unter weltanschaulichem Gesichtspunkt lässt sich solch ein minimaler „Universalismus im Konsens“ mit Blick auf die zwischenmenschlichen Beziehungen auch als „Interkultureller Humanismus“ und unter Einbeziehung der nichtmenschlichen Welt als Holismus bezeichnen, auf den die o.a. „Welt75
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Vgl. J. Lähnemann (Hrsg.): „'DV3URMHNW:HOWHWKRV³LQGHU(U]LHKXQJ, Hamburg 1995, und J. Lähnemann/W. Haussmann (Hrsg.): 8QWHUULFKWVSURMHNWH:HOWHWKRV, XQG,,, Hamburg 2000. Denkschrift der Kommission „Zukunft der Bildung– Schule der Zukunft“ beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Berlin 1995, V. Ebd., 123.
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innenpolitik“, die „Erdpolitik“, die Weltethosidee, die interkulturelle Philo78 sophie , das Manifest „Brücken in die Zukunft“ und die zitierte Denkschrift der Bildungskommission zielen. Im Folgenden sollen einige Aktivitäten am Theodor-Heuss-Gymnasium Hagen kurz aufgeführt werden, die im Einklang mit der interkulturellen Philosophie, mit Carl Friedrich von Weizsäckers oben zitierten Zielvorstellungen, mit der Weltethosidee und mit dem Manifest „Brücken in die Zukunft“, Orientierungen in Richtung auf ein Zusammenleben von Mensch, Tier und Pflanze in biologischer und kultureller Vielfalt zu unterstützen und zu fördern versuchen. Auf der Philosophie-Homepage unserer Schule sind diese Aktivitäten 79 ausführlicher und umfassender dokumentiert. Zu ihnen gehören: 1. Die geistige Auseinandersetzung mit dem Interkulturellen Humanismus im Philosophieunterricht, bei der die Weltethosidee Fächer übergreifend in Verbindung mit politischen, ökologischen und interkulturellen Aspekten des 80 Globalisierungsprozesses behandelt wurde. 2. Eine nach pädagogischen Gesichtspunkten gestaltete Atmosphäre eines neuen Gebäudes unseres Gymnasiums: Bilder und Kerngedanken von großen, weltweit anerkannten Humanisten, denen die Zukunft der Menschheit am Herzen lag bzw. liegt, und die sich für ein menschliches Zusammenleben 81 eingesetzt haben bzw. noch einsetzen, prägen den Gesamteindruck. So lädt
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0HQVFKXQG*HVFKLFKWH±:LGHUGLH$QWKURSR]HQWULN
Vgl. R.A. Mall: , Darmstadt 2000. Die Homepage-Adresse im Internet lautet: . Einige Ergebnisse dieser Auseinandersetzung sind in Form von SchülerInnen-Dokumenten auf der o.a. Homepage veröffentlicht. Vgl. auch Lähnemann/Haussmann, Unterrichtsprojekte-Weltethos II, a.a.O Im Windfang des neuen Gebäudes: Ein Foto von einer interkulturellen Begrüßung zwischen C.Fr. v. Weizsäcker und dem Dalai Lama. An drei Foyerwänden hängen: Ein großes Foto von der Erde aus dem All, umgeben von Fotos und Kerngedanken von Mahatma Gandhi, dem Physiknobelpreisträger Albert Einstein, dem Literaturnobelpreisträger Bertrand Russell, der zusammen mit Einstein die Pugwash-Bewegung (Friedensnobelpreis 1995) anregte, der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, dem alternativen Nobelpreisträger Ken Saro Wiwa, dem Vorsitzenden der Kommission für die Umgestaltung der UNO Richard von Weizsäcker, Fotos von Friedens(nobel)preisträgern Desmond Tutu, Yehudi Menuhin, Nelson Mandela, Rigoberta Menchu, Martin Luther King, Albert Schweitzer, Andrej Sacharow und Dalai Lama und Fotos von der Erde aus dem Weltall mit heimatliche Gedan-
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z.B. Gandhis Diagnose der „Sieben Todsünden der heutigen Welt“, die in der Einleitung der Menschenpflichtenerklärung des InterActionCouncil bekannt 82 gemacht wurde, zum Nachdenken und zur Besinnung ein. Eine Fotokopie von Albert Einsteins Brief an Mahatma Gandhi bringt – wie auch das Foto im Windfang des neuen Schulgebäudes von einer Begrüßung zwischen Carl Friedrich von Weizsäcker und dem Dalai Lama – den Respekt und die Verbundenheit zwischen Vorbildern völlig verschiedener Weltanschauungen zum Ausdruck. In einer kleinen „Zukunfts-Bibliothek“ können sich die SchülerInnen mit (natur-)wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, ökologischen, politischen, interreligiösen und interphilosophischen Zukunftsproblemen und 83 deren möglichen Lösungen auseinandersetzen. 3. Veranstaltungen am Theodor-Heuss-Gymnasium im Geiste eines Interkulturellen Humanismus: Vittorio Hösle leitete zusammen mit Prof. Roche (USA) und 6 Mitarbeitern aus Korea und Brasilien am THG in dem Neubau im März 1997 eine philosophische Veranstaltung mit 50 Schülern und Schülerinnen zum Thema „Grundfragen der Philosophie“. Ram Adhar Mall, der Präsident der Gesellschaft für interkulturelle Philosophie, leitete in dem Neubau im Juni 1997 eine philosophische Veranstaltung mit 40 SchülerInnen und LehrerInnen zum Thema „Interkulturelle Philosophie und Weltethos“. In der Aula des Theodor-Heuss-Gymnasiums fanden seit 1998 ebenfalls diverse hochrangige Vorträge zur Reflexion der Globalisierung statt. 4. Philosophische Gastmahle im Hause der Inderin Saraswati AlbanoMüller: Konkrete Begegnungen im Geiste eines interkulturellen Humanismus fanden außer am Theodor-Heuss-Gymnasium Hagen vor allem auch im gastfreundlichen Hause der Inderin Saraswati Albano-Müller in Schwelm statt. Seit Jahrzehnten versteht sich Saraswati Albano-Müller im Geiste Gandhis als Brückenbauerin zwischen Menschen verschiedener Kulturen, Generationen und Berufe. Viele SchülerInnen aus verschiedenen Jahrgängen waren – wie es in mehreren Schülerdokumenten zum Ausdruck kommt – von ihrer
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ken von Astronauten verschiedener Nationen beim wundervollen Anblick der Erde aus dem All als Ausdruck eines „planetarischen Bewusstseins“. In Deutschland in der Wochenzeitschrift „DIE ZEIT“ vom 3. Oktober 1997. An der Wand der „Zukunftsbibliothek“ hängen weitere Fotos mit Kerngedanken von berühmten Vertretern der zukunftsrelevanten Themenkomplexe, die ebenfalls einen interkulturellen Humanismus verkörpern. Eine ausführliche Fotodokumentation über die Atmosphäre des Schulgebäudes findet sich im Internet unter:
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Gastfreundschaft, von ihrem weltoffenen, interkulturellen Lebensstil und von ihrer Fähigkeit zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller und geistiger Herkunft zu vermitteln tief beeindruckt. Frau Albano-Müller wurde für sie zu einem „weltethischen“ Vorbild. Seit 1997 veranstalten Saraswati Albano-Müller und ich ca. vierteljährig „Philosophische Gastmahle im Geiste eines Interkulturellen Humanismus“, an denen junge Erwachsene aus verschiedenen Städten teilnehmen. Der Titel „Philosophisches Gastmahl“ wurde bewusst so gewählt, weil es sich nicht um verkopfte Seminare handeln soll, sondern, in Anknüpfung an eine alte Tradition, um Begegnungen, die durch Vorträge, Diskussionen, Erzählungen, Gespräche, Zuhören, gemeinsame Mahlzeiten, ggf. auch Tanz- und Musikeinlagen in angenehmer Atmosphäre und Stimmung geprägt sind und das Ziel verfolgen, interessante Mitteilnehmer und bedeutsame bzw. sinnvolle Themen für sich zu entdecken. Die Philosophischen Gastmahle versuchen für einen Lebensstil zu werben, wie er im Zeitalter vieler oberflächlicher Begegnungen nicht sehr üblich ist.
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+HLQULFK*HLJHU
,QWHUNXOWXUHOOHU'LDORJ±(UQVWHU'LDORJ Zur Bedeutung entwicklungspolitischer Bildungszusammenarbeit Experiencing co-operation in science and education between nations as, in most cases, much more developed than collaboration in any other field, we should realize that this kind of co-operation is a part of the vanguard in intercultural dialogue. But, as we also will notice, there is a) a deep gap between the results of the dialogue in the field of science and education and their translation into action and b) the pragmatic level of this kind of dialogue can only be worked out under the premises of an institutionalized set of terms for politics and law. In order to better confront such facts, this paper introduces the term ”earnest dialogue.” By making a clear distinction between an ”arbitrary” and an ”earnest” attitude towards dialogue, it becomes possible to reach a point of intercultural dialogue where its results will be applied in a pragmatic meaning in the field of politics and law. According to our opinion, the international cooperation in science and education represents a kind of ”pre-school” for a certain stage of such an earnest intercultural dialogue. An dem regen akademischen Austausch zwischen Ländern, die in anderen Bereichen über keine entsprechenden Strukturen der Zusammenarbeit verfügen, läßt sich die Vorreiterrolle der Bildungszusammenarbeit ersehen. Ausgehend von der Erkenntnis, daß a) dennoch eine tiefe Kluft zwischen den Ergebnissen des Dialogs und deren Umsetzung auf der pragmatischen Ebene klafft und b) die pragmatische Dimension des Dialogs sich erst in einem institutionell abgesicherten Umfeld erschließt, wird der Begriff des ”ernsten Dialogs” eingeführt. Mit der Unterscheidung zwischen ”Beliebigkeit” und ”Ernst” wird für den interkulturellen Dialog eine Verbindlichkeit eingefordert, die in einen pragmatischen Zusammenhang mit politischer und rechtlicher Bedeutung einmünden kann. Die internationale Bildungszusammenarbeit stellt eine Art ”Vorschule” für ein bestimmtes Stadium eines ernsten interkulturellen Dialogs dar.
Die Welt ist viel zu ernsthaft, aber der Ernst ist doch selten genug.
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In meinem Beitrag werde ich mich mit der besonderen Form der Kulturbegegnung befassen, die sich im Rahmen der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit ereignet. So konzentrieren sich die nachfolgenden Ausführungen auf die spezifische Gruppe der ausländischen Studierenden und Wissenschaftler in Deutschland, denen als den zukünftigen „innovativen Funktions-
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eliten“ in der entwicklungspolitischen Diskussion seit dem Beginn der 90er Jahre besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Die Komplexität des Themas erfordert es, neben bildungstheoretischen Überlegungen auch kulturwissenschaftliche und philosophische Reflexionen in die Auseinandersetzung mit der Bedeutung entwicklungspolitischer Bildungszusammenarbeit zu integrieren. Gleich vorweg sei betont, daß ich, was die interkulturelle Dimension der Thematik anbelangt, von der unaufhebbaren Differenz der Pluralität des Menschseins ausgehe. Meinen eigenen kulturwissenschaftlichen Standpunkt will ich mit einer Unterscheidung des am Department of Culture and Communicationder New York University lehrenden Todd Gitlin verdeutlichen. Dieser trennt die „Cultural Studies“ in der anglo-amerikanischen Welt einschließlich Australien von denjenigen im „Rest des Westens“ (Frankreich, Italien, Skandinavien, Deutschland, Spanien usw.). Er attestiert den in England und den USA betriebenen Kulturwissenschaften, daß sie eine Art Trostpflaster für die bedrängte Position der englischsprachigen Linken bzw., was die Situation in den USA anbelangt, eine Kompensation dafür seien, daß im öffentlichen Diskurs „keines der Hauptprobleme unserer heutigen Zivilisation ernsthaft angepackt“ werde. Verallgemeinernd stellt Gitlin fest, daß in Zeiten der Entmutigung der Beschäftigung mit der Populärkultur eine Art Placebofunktion zukomme. Angesichts allgemeiner politischer Lähmung biete sich so einzige Möglichkeit zur politischen Betätigung. Weiterhin führt Gitlin aber auch aus, daß diese Feststellung nicht in gleicher Weise für die restlichen Länder des Westens zutreffe, in deren kulturwissenschaftlichen Kreisen „die Assoziation 2 von Kultur mit Spitzenqualität und herkömmlichen Eliten stark“ sei. Mit dem Bereich der Entwicklung im globalen Maßstab spreche ich eines der zentralen Themen unserer Zeit an. Demgemäß wird es sich bei den nachfolgenden Ausführungen nicht um ein Ausweichmanöver auf kulturelles Terrain im von Gitlin genannten Sinne handeln. Im Gegenteil ist meiner Auffassung nach die Bildungsthematik in ausgezeichnetem Maße dafür geeignet, die kulturelle Thematik und, mit ihr, diejenige des interkulturellen Dialogs 1
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3ULRULWlW IU ZLVVHQVFKDIWOLFKH .RRSHUDWLRQ hEHUOHJXQJHQ DQJHVLFKWV NQDSSHUZHUGHQGHU0LWWHO, in: E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit 41/5 (2000),
D. Weiss:
132-133, hier: 132. T. Gitlin: 2SLXPIUV$NDGHPLNHUYRON'HUDQWLSROLWLVFKH3RSXOLVPXVGHUÄ&XOWX UDO6WXGLHV³, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 44/3 (1999), 344353, hier: 350f.
Interkultureller Dialog – Ernster Dialog
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auf eine pragmatischeund sehr konkrete Weise in den Mittelpunkt internationaler Politik zu bringen. Ganz gleich, ob wir uns der Umweltproblematik, der Frage der Menschenrechte, der Demokratie oder der Friedenspolitik, der ethischen, sozialen oder religiösen Dimension von Konflikten in Europa, Afrika und Asien oder auch der Frage des Zusammenlebens von Ethnien zuwenden, all diese Problemstellungen haben den Ruf nach einer grenzüberschreitenden Orientierung im Handeln unüberhörbar gemacht. Gleichzeitig haben uns die weltpolitischen Herausforderungen unmißverständlich vor Augen geführt, daß das angestrebte Miteinander nur dann erfolgreich sein kann, wenn es auf dem Wege eines Dialogs zwischen den Kulturen geschieht, der auf Kooperation angelegt ist und dadurch, daß er auf Zusammenarbeit und nicht auf einseitige Dominanz abzielt, auf der Bereitschaft basiert, seine allenthalben festzustellende Unverbindlichkeit bzw. Beliebigkeit, die ins politische Niemandsland führt, abzulegen. Auch auf dem Feld des interkulturellen Dialogs gilt es der Verwendung von Scheinmedikamenten – dem „Placeboeffekt“ – und vordergründigen Ersatzhandlungen vorzubeugen!
:LGHUGHQ3ODFHERHIIHNW'HUHUQVWH'LDORJ Demgemäß bezeichne ich den „interkulturellen Dialog“ als „ernsten Dialog“, wenn er, im engeren Sinne, für sich politische Relevanz beanspruchen kann oder, im weiteren Sinne, von „Verläßlichkeit“ gekennzeichnet ist: Die Akteure müssen sich darauf verlassen können, daß die redehandlungs-konstituierenden Regeln von den Parteien aktuell oder habituell eingehalten werden. Dies gilt insbesondere für die sog. Wesentliche Regel, d.h. diejenige, die die pragmatische Bedeutung einer Redehandlung auszeichnet. Verläßlich redet, wer tut, was er für das Gelingen der Handlung als zu tun präsupponiert. Es behauptet verläßlich, wer im Zweifelsfall Gründe für seine Behauptung vorlegt. Verläßlich 3 verspricht, wer zu gegebener Zeit tut, was er zu tun verspricht.
„Ernst“ ist der interkulturelle Dialog in diesem Zusammenhang, wenn er von den Dialogpartnern, die unterschiedlichen Kulturen und Nationen, Eth3
C.F. Gethmann: 'LH.ULVHGHV:LVVHQVFKDIWVHWKRV:LVVHQVFKDIWVHWKLVFKHhEHUOH JXQJHQ, in: Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.): Ethos der Forschung. Ethics of Research, Ringberg-Symposium Oktober 1999, München 1999, 25-41, hier: 35.
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nien oder Gruppen entstammen, in dem Bewußtsein getragen wird, daß sich jeder von ihnen in einem bestimmten (institutionellen) Zusammenhang und in diesem in Verantwortung findet. Dies unterscheidet den „ernsten Dialog“ von dem „beliebigen“, in dem der Dialogpartner, wie weiter unten ausführlicher erläutert werden wird, das kulturelle Argument nur dazu verwendet, um zwischen den ihm zur Verfügung stehenden Identitäten im konkreten Fall so wechseln zu können, daß sich für ihn keinerlei Pflichten und Festlegungen in pragmatischer Hinsicht daraus ableiten. Bei meiner Verwendung des Wortes „Ernst“ für den Dialog oder den Kommunikationsvorgang im weitesten Sinne setze ich, ohne das weiter ausführen zu wollen, voraus, daß der Kommunikationsvorgang nicht der emphatischen Geste bedarf, um zu einem „ernsten“ zu werden. Nicht jeder der „ernst“ zu wirken versucht, ist auch „ernst“ in dem von mir gemeinten Handlungszusammenhang. Vielmehr sei angemerkt, daß die Sprache, das Wort wie auch die Geste sich selbst genug sind und nicht der Unterstreichung „das habe ich ernst gemeint“ bedürfen, da sie sich über wechsel- und gegenseitige Wahrnehmung und nicht über irgendwelche Formen der Beteuerung steuern.
%LOGXQJ±3UDNWLVFKH.XOWXU Da die entwicklungspolitische Bildungsarbeit wie kaum ein anderes interkulturelles Dialogfeld, das ideell stark besetzt ist, über ein genau definiertes institutionelles Gefüge (Kindergarten, Schule, Universität usw.) und Regelwerk verfügt und, ermöglicht durch dieses, in nationale wie in internationale Vorgänge eingebunden ist, bietet es eine hervorragende Plattform für den Austausch zwischen den Kulturen. Hier existieren zum Teil auch bewährte Dialogstrukturen, die sich durch große Lebendigkeit auszeichnen und gut genutzt werden. Der rege akademische Austausch zwischen Ländern, die im wirtschaftlichen oder auch im politischen Sektor bei weitem nicht über ein entsprechendes Kontaktnetz verfügen, ist ein beredtes Zeugnis dafür. Dies soll aber keineswegs dazu verleiten, selbstgefällig und zufrieden mit dem Er-
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Vgl. H. Geiger: 7UDQVIHU XQG 7UDQVIRUP 'HU %LOGXQJVEHJULII LP DNDGHPLVFKHQ $XVWDXVFK PLW VLFK HQWZLFNHOQGHQ /lQGHUQ, in: K. Erdmann/H. Theisen (Hrsg.): Der west-östliche Hörsaal. Interkulturelles Lernen zwischen Ost und West, Berlin 2000, 141-151.
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reichten zu sein, wie mein Beitrag noch zeigen wird. Denn gerade der Bildungsbegriff drängt nach einer immerwährenden Überprüfung. Wie sich in diesem Zusammenhang zeigt, ist die Bildungsfrage nicht loszulösen von den Fragestellungen der Moderne. Sie verlangt ganz offensichtlich eine Sensibilität für den Wandel, die Loslösung von Ort und Zeit, soziale und geographische Mobilität und die Bereitschaft, das Neue auch auf Kosten der Tradition und der Vergangenheit zu begrüßen. Unter den Vorzeichen der Moderne unterliegt ihr die Behauptung, daß Ziele oder Zwecke nicht „in der Natur“ gegeben sind, sondern der einzelne und seine Selbstverwirklichung der neue Urteilsmaßstab sind und daß man zur Erreichung dieser Ziele sich 5 selbst und die Gesellschaft verändern kann. Bildung stellt demgemäß kein Bollwerk gegen die Moderne dar. Ganz im Gegenteil beweist sie meiner Auffassung nach ihre Leistungsfähigkeit an der Art und Weise, wie sie deren Herausforderungen genügt und im einzelnen ein „Interdependenzbewußtsein 6 und Folgenbewußtsein, kurz: eine stärkere Langfristorientierung“ weckt, die innerhalb unserer funktional differenzierten Gesellschaft anstelle der allgemein vorherrschenden Kurzatmigkeit so dringend benötigt wird. Schon seit Humboldts Tagen gehört zu den Grundeinsichten jeder bildungstheoretischen Reflexion, daß ein ganz auf Effizienz ausgerichtetes System ineffizient ist und Bildung, die nurmehr an ihrer ökonomischen Verwertbarkeit gemessen wird, als sinnleere Worthülse fungiert. Bildung birgt allein nur dann das Potential für die gelingende Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Zukunft, wenn sie eine breitere, nicht primär auf ihre Instrumentalisierbarkeit hin ausgerichtete Haltung beinhaltet. Der deutsche Philosoph Hans-Georg Gadamer hat dies folgendermaßen formuliert: Das Wort Bildung wagt man kaum noch auszusprechen. Aber Bildung ist nicht, was irgend ein Mensch gemacht hat. Es hat sich gebildet, und jeder, der wirklich Bildung hat, weiß nichts davon. Er hat sich gebildet wie die Konturen der Dinge, die den großen Maler plötzlich stillhalten lassen und dem Gesetz seiner Aus7 gestaltung dienen müssen.
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Siehe D. Bell: =XU$XIO|VXQJGHU:LGHUVSUFKHYRQ0RGHUQLWlWXQG0RGHUQLVPXV 'DV %HLVSLHO $PHULNDV, in: H. Meier (Hrsg.): Zur Diagnose der Moderne, München/Zürich 1990, 21-67, hier: 22ff. D. Grimm: :HOFKH(OLWHIUZHOFKH*HVHOOVFKDIW, in: Cusanuswerk (Hrsg.): Welche Eliten für welche Gesellschaft?, Bonn 1999, 7-20, hier: 15f. H.-G. Gadamer: =XNXQIWLVW+HUNXQIW, in: KulturAustausch 3 (1997), 132-133.
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7KHVH Wie steht es nun aber mit den interkulturellen Beziehungen und deren Pragmatik, die sich im Rahmen der internationalen Bildungsarbeit auftun? Obgleich das Gespräch, der Dialog zwischen den internationalen Bildungseliten, auch was die Entwicklungsländer anbelangt, den Eindruck vermittelt, daß die entwicklungspolitische Bildungszusammenarbeit als ein zentraler Bereich des interkulturellen Dialogs, wenn nicht sogar als dessen „Vorschule“ gelten darf, sollte aber dennoch die Tatsache vergegenwärtigt werden, daß die Einsicht in die Wahrheit und das Gewahrwerden des Ernstes der Wahrheit keine bestimmten Konsequenzen für die Auswahl von Handlungen haben, geschweige denn irgendeine Form des Handelns zwangsläufig herbei8 führen! Diese Einsicht führt uns ausgehend von der als sehr lose erkannten Verbindung von Dialog bzw. den Ergebnissen des Dialogs auf der einen und der Handlungsebene auf der anderen Seite zu dem zentralen Punkt meiner Ausführungen: nämlich zu der Frage, wie der Dialog dadurch zu einem „ernsten“ wird, daß er das Sich-in-der-Verantwortung-Finden der beteiligten Personen einschließt und darüber hinaus den Übergang zur pragmatischen Ebene findet? Meine These ist, daß nicht eine bestimmte (Gesprächs-, Kommunikations- usw.) Kultur und auch nicht die ehrenwerteste Absicht oder auch Bereitschaft zum interkulturellen Dialog für dessen Gelingen in einem pragmatischen Sinne von Relevanz sind, sondern der institutionelle Bezug, wofür die pädagogische Praxis eine Art „Vorschule“ ist. Der von mir verwendete Begriff des „Ernstes“ lebt also nicht von einer bestimmten individuellen Tugend („Ernsthaftigkeit“, „Wahrhaftigkeit“), so begrüßenswert sie auch sein mag, sondern von der Institution, die den „Ernst“ als gesellschaftliche Kategorie ermöglicht und in einem konkreten politischen Kontext zu seinem Recht verhilft. Vor diesem Hintergrund ist es zunächst erforderlich, meine Begrifflichkeit von Kultur und Subjekt zu präzisieren.
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Vgl. D. Baecker: (UQVWH.RPPXQLNDWLRQ, in: K. H. Bohrer (Hrsg.): Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes, Frankfurt a.M. 2000, 389 – 403, hier: 397.
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.XOWXU±6XEMHNW In Anlehnung an Kant verstehe ich „Kultur“ primär als eine individuelle Angelegenheit, als eine Herausbildung der subjektiven Kräfte. Sie ist zwar eingebettet in objektive, vom Menschen geschaffene Gebilde, die die intersubjektive Kommunikation regeln, bleibt aber doch als die objektive Kultur der Werke und Institutionen, was mir sehr wichtig erscheint, gebunden an die subjektive Anstrengung des einzelnen, für den die Kultur eine zu realisierende Aufgabe darstellt. Somit erhält die Kultur ihre Rechtfertigung als unendliche Aufgabe, die sich nicht nur in einem bloßen „es geschieht“ erschöpft. Ihre Leistung besteht darin, daß sie dem sinnlich-vernünftigen Menschen – um wiederum mit Kant zu sprechen – seine Würde zuspricht in einer universalen Menschheitskultur oder, um das Vokabular der entwicklungspolitischen Terminologie aufzugreifen, in einem globalen Handlungszusammenhang, der „Einen Welt“. Zugegebenermaßen lastet nach meinem Verständnis von Kultur eine hohe Verantwortung auf dem Subjekt. Ja es legt sich sogar die Vermutung nahe, daß ich mich ganz der neuzeitlichen Fixierung des Erkenntnisbegriffs auf den des Erkenntnissubjekts verschreibe, um davon ausgehend die Einheit der Welt begründen und, im Rückgriff auf Hegel, einem Prozeß mit einer finalen Ausrichtung – einem „Endzweck der Welt“ – überantworten zu können. Ganz im Gegenteil erklärt sich die Betonung der Rolle des Subjekts in dem von mir erörterten Zusammenhang – der Bildungszusammenarbeit im entwicklungspolitischen Kontext – zuvorderst aus den spezifischen Vorgaben, den Erfolgsabsichten und -bedingungen des Erziehungssystems und der Universität. Um in diesem Kontext der von mir geforderten Verbindlichkeit in der Begegnung zwischen den Kulturen, die ich als „ernst“ bezeichne, eine tragfähige Grundlage zu geben, stellt das Subjekt für mich eine feste Bezugsgröße innerhalb der von mir gemeinten Form der „praktischen Kultur“ der globalen Handlungsorientierung dar. Vor diesem Hintergrund ist es dann auch zu verstehen, daß in meinen nachfolgenden Ausführungen, wenn von Herausforderungen im globalen Maßstab oder von Prozessen der Institutionalisierung die Rede ist, von dem einzelnen, dem Subjekt, und nicht etwa von Kollektiven gesprochen wird. Dieses sehe ich keineswegs in einem absoluten System, sondern als eine in dem zivilisatorischen Prozeß wirkende Kraft in Richtung auf eine Gesellschaft, die individuelles Glück gewährt, die frei von Repression ist und, gepaart mit der Verantwortlichkeit im globalen
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Handeln, aus Verfeinerung und Nuancierung sowie aus einem wachsenden Reichtum an Esprit lebt.
8QLYHUVLWlW8QLYHUVDOLWlW Der eingangs erwähnte Begriff der „Funktionseliten“, auf die ich mich konzentriere, ist meinerseits nicht interesselos, da ich mit ihm eine bestimmte Form der gesellschaftlichen Entwicklung verbinde, die auf Schlüsselpersonen wie die Absolventen von internationalen Universitäten setzt. „Wieviel Uni9 versalität muß sein, damit Universität stattfindet?“ Mit dieser von Jürgen Mittelstraß an das deutsche Universitätssystem gerichteten Frage möchte ich die sehr funktional begründete Fokussierung auf die „Funktionseliten“ aus der Engführung herausführen, die ihr allzu häufig in der entwicklungspolitischen Diskussion zukommt. Mir scheint nämlich die mit dem Begriff der „Universalität“ angesprochene Interdisziplinarität bedeutsam zu sein, die universitäre Forschung und Lehre nicht im Spezialistentum aufgehen läßt, sondern ihr auf ihren Wegen, die über die Grenzen der Disziplinen und Fächer hinwegführen, nachfolgt. Fachliche Pluralität und Multidisziplinarität sind wichtige Faktoren, die es auch in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit zu berücksichtigen gilt. Weiterhin läßt die von Mittelstraß thematisierte „Universalität“ an ein weiteres Moment der universitären Lehre und Forschung, nämlich die Internationalität und Interkulturalität denken. Angesichts der mittlerweile als vordringlich erkannten Bildung von „Lerngemeinschaften“ zwischen den Kulturen und Nationen10 ließe sich in Abwandlung des oben erwähnten Zitats von J. Mittelstraß die für unsere Auseinandersetzung mit dem Charakter der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit zentrale Frage so stellen: Wieviel Internationalität muß sein, damit Universität stattfindet? Macht die internationalisierte Hochschule, wenngleich sie die interkulturelle Begegnung mit Zielen der entwicklungspolitischen Bildungszusammenarbeit verknüpft, nicht weithin den Eindruck des Monologs der Belehrung 9
10
J. Mittelstraß: )RUVFKXQJXQG/HKUH±GDV,GHDO+XPEROGWVKHXWH, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 15 (1998), 3. April 1998, 3-11, hier: 9. Zum Beispiel H. Theisen: %LOGXQJVNRRSHUDWLRQPLW5XODQG, in: Universitas. Zeitschrift für Interdisziplinäre Wissenschaft 54 (1999), Nr. 639, 865-875, hier: 870.
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denn des gleichberechtigten Dialogs zwischen gemeinsam Lernenden? Dem Berliner Wissenschaftssoziologen Wolf Lepenies, der an die westliche Seite die Forderung nach einer Kultur des Lernens und nicht der Belehrung richtete, ist es zu verdanken, daß die Wichtigkeit einer neuen Form des transkulturellen Lernens erkannt wurde. In seinem Beitrag „Wozu deutsche Auswärtige Kulturpolitik?“ lesen wir: Aus der Erfahrung nach dem Zweiten Weltkrieg wissen wir, welche entscheidende Rolle die Lerngemeinschaft zwischen den Vereinigten Staaten und Europa oder innerhalb Europas zwischen Deutschland und Frankreich gespielt hat. Umgekehrt sind nach 1989 große Chancen vertan worden, weil – nicht zuletzt in Deutschland – der Westen sich in eine Belehrungsorgie steigerte, statt sich angesichts der neuen, unerhörten Herausforderungen auf ein gemeinsames Lernen 11 mit dem Osten einzulassen.
Adressiert an die großen Akteure der „Entwicklungspolitik“ plädiert er für eine „weltweite Stärkung lokaler Wissenskulturen“ und die stärkere Nutzung 12 „heimischer Wissens- und Expertensysteme“. In dem vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Mitte 1999 gebilligten neuen Konzept für seine Bildungsarbeit im Inland ist von einem „intensiven Such- und Lernprozeß“ für Deutschland 13 im Kontext der entwicklungspolitischen Bildung die Rede. Damit hat der Gedanke einer Lerngemeinschaft im interkulturellen, -nationalen Maßstab auch seinen Niederschlag in einer Verlautbarung der deutschen Bundesregierung gefunden, mit der zum Zwecke einer nachhaltigen, globalen Entwicklung der Notwendigkeit grenzüberschreitender Begegnung Rechnung getragen wird. Zweifelsohne ist dies ein großer Erfolg, der aber aus verschiedenen Gründen nur als ein Teilerfolg zu bezeichnen ist, weil dessen kulturelle Dimension noch zu sehr durch wirtschaftliche, merkantilistische Gesichtspunkte überdeckt wird. Darüber hinaus wird ganz richtig von Kritikern der bisherigen internationalen Kooperationsformen angemerkt, daß das institutionelle Gerüst, auf dem die Zusammenarbeit beruhte, ausgehöhlt sei und es demgemäß eines „Zugangs zur Lebenswelt“ der einzelnen Nationen, Kulturen 11
12 13
:R]XGHXWVFKH$XVZlUWLJH.XOWXUSROLWLN"
W. Lepenies: , in: J. Sartorius (Hrsg.): In dieser Armut - welche Fülle! Reflexionen über 25 Jahre auswärtige Kulturarbeit des Goethe-Instituts, Göttingen 1996, 44-56, hier: 53. Ebd.
.RQ]HSWLRQIUGHQ(LQVDW]GHU0LWWHODXVGHP%0=7LWHO(QWZLFNOXQJVSR OLWLVFKH%LOGXQJVDUEHLW , in: epd-Entwicklungspolitik 3 (2000), 51-53, hier: 51.
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bedürfe: „[D]er Ort für interkulturelles Lernen, für Begegnung und Erfahrung [liegt] nicht in den Institutionen, weder in den eigenen noch in den frem14 den“.
,QVWLWXWLRQ±%DVLVNRQVHQV Aus der Perspektive der Zusammenarbeit mit Akademikern aus Entwicklungsländern ist zu begrüßen, daß zunächst der einzelne und nicht die Institution als Gegenüber der Zusammenarbeit gesehen wird. Im Rahmen eines Konzeptes der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, das Entwicklung in einem integralen, alle Dimensionen des menschlichen Lebens umfassenden Sinn versteht, liegt es nahe, auf den einzelnen als zukünftigen Multiplikator im akademisch-wissenschaftlichen Bereich und, über diesen hinaus, im nationalen und globalen Entwicklungsprozeß zu setzen. Hervorzuheben ist aber, daß der begleitende Dialog mit den Institutionen ein unerläßlicher Bestandteil der Entwicklungszusammenarbeit ist. Bezogen auf deren Stellenwert im Rahmen einer interkulturellen Lerngemeinschaft, die ein nationales wie auch globales Entwicklungsanliegen verfolgt, scheint es mir irreführend zu sein, ganz von dem institutionellen Aspekt abzusehen und nur auf die Diskursbereitschaft zu setzen, wie dies von Dieter Kramer in seinen „Überlegungen zur Dynamik internationaler Kulturbeziehungen“ gefordert wird: Nicht der Westen allein, ja auch kein einzelner Machtblock wird die Geschichte der kommenden Jahrzehnte bestimmen. Westliche und nicht-westliche Erfahrungen und Optionen, wie sie durch die Geschichte des Imperialismus miteinander verbunden sind, sind die gestaltenden Elemente. Für eine zukunftsfähige Politik bedarf es keiner neuen Autoritäten, Orthodoxien oder Institutionen, sondern einer allgemeinen Diskursbereitschaft und der Bereitschaft, allen einen Platz zu15 zubilligen.
Dieses Konzept scheint mir deswegen in die Irre zu führen, weil es allein auf den Diskurs setzt und nicht berücksichtigt, daß der Diskurs zwar zunächst 14
15
K. Erdmann: $EVFKLHG YRP ,QVWLWXWLRQHOOHQ ± (UIDKUXQJ XQG %HJHJQXQJ DOV *UXQGODJH HLQHU NXOWXUHOOHQ +HUPHQHXWLN, in: Erdmann/Theisen, a.a.O., 13-35,
hier: 27 und 35. D. Kramer: :HOWNXOWXUHQXQG3ROLWLNhEHUOHJXQJHQ]XU'\QDPLNLQWHUQDWLRQDOHU .XOWXUEH]LHKXQJHQ, in: INEF Report des Instituts für Entwicklung und Frieden der Gerhard-Mercator-Universität GH Duisburg zur wissenschaftlichen Begleitung der Stiftung Entwicklung und Frieden, H. 25 (1997), 38.
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aus seiner Prozeßhaftigkeit lebt, aber letztendlich doch zu einer neuen Form der Institutionalisierung drängt und im zwischenstaatlichen und interkulturellen Maßstab zu immer wieder neuen Gestalten findet. Als Beispiele hierfür mögen die Charta der Vereinten Nationen oder die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gelten. Obgleich der Jahresbericht 2000 von amnesty international Menschenrechtsverstöße in 144 Ländern dokumentiert, ist es aus der Perspektive der praktischen Politik ein höchst wichtiges Faktum, daß sich bei der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien 1993 de facto alle Staaten zur universellen Gültigkeit der Menschenrechte bekannt haben. Vor diesem Hintergrund ist der Vorwurf gegen die Doppelmoral der Universalität der Menschenrechte, nicht theoretisch zu widerlegen, sondern nur durch eine praktische Politik zu entkräften, in deren Umfeld sich erst die Form des „ernsten Dialogs“ entfalten kann. Sowohl die Charta der Vereinten Nationen wie auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sind Meta-Institutionen, ohne die ein interkultureller Dialog ins Beliebige abgleitet, d.h. unpolitisch wird, wie es Todd Gitlin in bezug auf die „Cultural studies“ kritisiert. Dagegen berücksichtigt die Entwicklungszusammenarbeit immer die Bereiche der politisch-bürgerlichen, der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zugleich. Obgleich die Ablehnung von Wertehierarchien und auch die Abwertung der „Mitte“ zugunsten der „Peripherie“ ihr Ausgangspunkt ist, kann es dennoch nicht ihr Anliegen sein, „die Legitimität eines intellektuellen Lebens zu untergraben, das Werturteile wagt – Wertungen, welche die Kühnheit 16 besitzen, sich gegen den Markt zu stellen“. Die Lebendigerhaltung der vitalen Bezüge von Kultur und Politik sowie das Erschließen des Kulturbegriffs als eines in sich offenen und nach außen nicht abschließbaren Begriffs sind für mich vor diesem Hintergrund die zentralen Momente einer Theorie der interkulturellen Beziehung. Aus einer kulturwissenschaftlichen und -philosophischen Perspektive, die an dem pragmatischen Ziel der Entwicklung im nationalen, aber auch im globalen Maßstab orientiert ist, geht es darum, diese auf eine Art und Weise zu ermöglichen, die aus dem Innern der Gesellschaft kommt, ohne dabei beliebig zu sein. „Beliebigkeit“ in der interkulturellen Beziehung definiere ich in diesem Kontext als willkürliche Bezugnahme eines der beteiligten Partner auf die eigene Kulturtradition mit dem Ziel, sich der unendlichen Verpflichtung zu entledigen, dem Anderen dialogisch zu begegnen. Nicht nur weil der freie 16
Gitlin, a.a.O., 353.
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Dialog zwischen den Kulturen über einen langen Zeitraum hinweg aufgrund der imperialistischen Vergangenheit des Westens unmöglich war, kommt der Einforderung einer „allgemeinen Diskursbereitschaft“ jenseits der Orthodoxien und Institutionen immer noch ein große Bedeutung zu. Diese Forderung hat am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts angesichts der oben genannten „Beliebigkeit“ im interkulturellen Diskurs etwas von der großen Aktualität eingebüßt, die sie noch in den 60er bis 80er Jahren des letzten Jahrhunderts auszeichnete. Vielmehr hat der Dialog nun, um nicht des gebotenen „Ernstes“ verlustig zu gehen, seine Befähigung unter Beweis zu stellen, in tragfähige Kooperationsstrukturen einzumünden. Der kulturelle Diskurs hat sich in der Praxis viel deutlicher ideologisch belastet und politisch vereinnahmt herausgestellt als dies ein freier Diskurs wahrhaben will. Der Rede von kultureller Software entspricht denn einer Skepsis in bezug auf die Hardware der staatlichen Einrichtungen. In den wichtigen Fragen der Menschenrechte erweist es sich so beispielsweise als kontraproduktiv, wenn das freie Diskursprinzip bereits einen Wert an sich darstellt, ohne verbindliche Bezugnahme auf Positionen und Vertragswerke, die in einem zwischenstaatlichen Diskussionsprozeß entwickelt wurden und 17 einen Rechtsansatz beinhalten. Angesichts der Tatsache, daß es mehrere Tausend von Kultur- und Religionstraditionen gibt, aber nur ein wenig mehr als 180 Staaten den Vereinten Nationen angehören, mag diese Forderung sicherlich wenig praktikabel erscheinen, da sie nach einer institutionellen Absicherung des interkulturellen Dialog auf einer Ebene verlangt, auf der seine Vielfalt, wie die genannten Zahlen zeigen, in nicht entsprechendem Maße repräsentiert ist. Hier zeigt sich, das problematische Verhältnis von Einheit und Vielfalt darf in der Weltgesellschaft nicht unberücksichtigt bleiben. Um die Herausforderungen, die sich aus der interkulturellen Begegnung ergeben, auf der Ebene der Realpolitik berücksichtigen zu können, gilt es für alle Beteiligten, sich aus dem Nirgendwo zwischen den Kulturen zu befreien und eine Position in einem übergeordneten Kontext zu beziehen, in dem ein fairer Umgang mit dem Verschiedenen möglich ist, ohne sich aber in dem widersprüchlichen Kontext 17
Die Frage des Rechtsansatzes als eines international vereinbarten und transparenten Bezugsrahmens für die Entwicklungspolitik wird von Joachim Schmitt ausführlich diskutiert, siehe: ders.: Ä5HFKWHJHVWW]WH (QWZLFNOXQJ³ 'LH %HGHXWXQJ GHU 0HQVFKHQUHFKWH IU GLH GHXWVFKH (QWZLFNOXQJVSROLWLN, in: epd-Entwicklungspolitik 14/15 (2000), 38-42.
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nationalstaatlicher Abgrenzungen zu verlieren. Hiefür scheint mir die Vorstellung von Kultur als identitätsstiftendem Ganzen, das seine Universalität nicht aus einem Absolutheitsanspruch, sondern aus seiner Offenheit zur Welt bezieht, nötig zu sein. Eine zunehmend interdependente Weltgesellschaft wird ohne die Herausbildung eines elementaren weltweiten Basiskonsensus (unter Wahrung des Reichtums 18 kultureller Vielfalt) schwerlich funktionsfähig sein.
,QWHUNXOWXUHOOH%HJHJQXQJ±(UQVWHU'LDORJ±,QVWLWXWLRQ Die interkulturelle Begegnung kann nicht mehr den Geistern entkommen, die der Plural des Kulturbegriffs gerufen hat: Wir sprechen von Kulturen und meinen damit nicht-übertragbare Lebensstile und Werte. Gleichsam als Bestätigung dessen werden wir, wenn wir das Weltgeschehen aufmerksam verfolgen, Zeugen einer Zersplitterung, die sich jeder begrifflichen Eingrenzung entzieht und keiner Entwicklungslogik unterliegt, auch wenn uns das der Begriff der „Globalisierung“ glauben machen möchte. Da wir uns der Notwendigkeit globalen Handelns bewußt geworden sind und die Welt als die „Eine Welt“ verstehen, fühlt sich so mancher von uns in einem großen Zwiespalt zwischen seinem eigenen Anspruch und der Faktizität von Kriegen, die sich nicht allzu selten an den Bruchlinien der Kulturen entlang bewegen, wodurch der Anspruch der interkulturellen Begegnung viel an Brisanz erhalten hat. Natürlich haben wir gelernt, Andersartigkeit und Ungleichwertigkeit fein säuberlich voneinander zu unterscheiden, setzen oftmals den Begriff der „Kultur“ mit lokaler kultureller Identität gleich. Ein gutes Beispiel ist hierfür Huntingtons Kulturbegriff. Für diesen hat Thomas Meyer aufgezeigt, daß er zum einen auf Herders Kugeltheorie der vollkommenen Geschlossenheit kultureller Einheiten und zum anderen auf Parsons Wertetheorie, nach der grundlegende soziale Werte das Sinnzentrum von Kulturen ausmachen, 19 zurückgeht. Wer ist aber dann das Gegenüber in der Situation der interkulturellen Begegnung, die auf „Ernst“ setzt? 18 19
Weiss, a.a.O., 133. Th. Meyer: ,GHQWLWlWV:DKQ'LH3ROLWLVLHUXQJGHVNXOWXUHOOHQ8QWHUVFKLHGV, Berlin 1997, 66.
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Obgleich mein Gegenüber eine individuelle Person ist, habe ich sie, indem ich von geschlossenen Kulturkreisen ausgehe, in meiner Wahrnehmung von dem Platz des „Ich“ auf den Platz des „Wir“ gesetzt, so daß aus meiner Perspektive z.B. in der Diskussion um die Menschenrechte aus einem Bürger eines bestimmten Landes ein Vertreter einer bestimmten Kultur wird. In Entsprechung dazu wird mein Gegenüber selbst, je nach Gesprächssituation, entweder die Position eines Vertreters seiner Kultur einnehmen oder zu einem Verfechter ganz eigener, individueller Auffassungen mutieren. Beides ist möglich und geschieht in der Praxis sehr häufig. Damit aber finden wir uns in einer als „beliebig“ zu bezeichnenden Gesprächssituation, da mein Gegenüber für mich im Wechsel von „Ich“- und „Wir-Identität“ nicht „greifbar“ wird. „Ernst“ im interkulturellen Dialog stellt sich m.E. immer erst dann ein, wenn die mögliche Differenz zwischen persönlicher und kollektiver Identität vorausgesetzt und unter Umständen auch thematisiert wird. Im Sinn der „Wahrhaftigkeit“ der interkulturellen Begegnung ist es auszuschließen, daß die kulturelle Identität zu einem Konstrukt wird, hinter dem das Subjekt verschwindet. Um die interkulturelle Begegnung in einen „ernsten Dialog“ einmünden zu lassen, der auf dem Sich-in-der-Verantwortung-Finden des Anderen aufbaut, möchte ich mich nicht nur gegen die Theorie der Abgeschlossenheit der Kulturen wenden, sondern auch gegen die Beschwörung von Kultur als „Ur20 sprung“. Gerade an den ausländischen Funktionseliten, die im Zentrum meiner Überlegungen stehen, läßt sich sehr deutlich sehen, daß der Kulturbegriff erst aufgrund des ihm innewohnenden Bildungs- und Erziehungsgedankens jene Dimension entfaltet, die nötig ist, um die interkulturelle Begegnung im Sinne des eingeforderten „Ernstes“ fruchtbar zu machen. Auf der Konferenz von Mexico über die Kulturpolitik, UNESCO 1982, wurde dies folgendermaßen in Worte gefaßt: Kultur und Erziehung bleiben keineswegs zwei parallele Bereiche, sie durchdringen sich gegenseitig und müssen sich in Symbiose entwickeln, wobei die Kultur die Erziehung bewässert und speist und die Erziehung sich als das Mittel schlechthin erweist, um die Kultur weiterzugeben und somit die kulturelle Iden21 tität zu fördern und zu stärken.
20 21
Vgl. A. Finkielkraut: 'LH1LHGHUODJHGHV'HQNHQV, Hamburg 1989, 86-92. Zit. nach ebd., 87f.
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In diesem beidseitigen Durchdringungsprozeß von Kultur und Erziehung können persönliche und kollektive Identitäten miteinander verschmelzen. Auch wenn es in vielen Fällen gelingen mag, die Differenz von „Ich“ und „Wir“, von Person und Kulturgruppe durch Erziehung zu überbrücken, gilt es, die Möglichkeit von deren Differenz bei der interkulturellen Begegnung immer im Bewußtsein zu halten. Weil die Differenz zwischen persönlicher und kollektiver Identität grundsätzlich nicht aufhebbar und, in Entsprechung dazu, die interkulturelle Gesprächssituation durch vorgegebene Kulturmuster nicht deterministisch bestimmbar ist, bedarf es eines übergeordneten Bezugspunkts, um der interkulturellen Begegnung politische und gesellschaftliche Relevanz verschaffen zu können. Diesen Bezugspunkt stellt, wie ich meine, die Institution dar.
,QVWLWXWLRQ Der Begriff der Institution ist „im weitesten Sinne als ein Interaktionsmuster zu verstehen, das durch gemeinsame Regeln, Normen und auch Regelmäßig22 keit gekennzeichnet ist.“ Institutionen sind „auf Dauer gestellte, miteinander verknüpfte Regeln und Praktiken, die Verhalten vorschreiben, Aktivitäten eingrenzen und Erwartungen formen“ und die auch als „zielorientierte Arrangements“ die Rahmenbedingungen für gesellschaftliches Handeln beein23 flussen können. Trotz der Dynamik, die der institutionalisierte Vorgang immer zu berücksichtigen hat, kommt er nicht ohne die Elemente der Dauerhaftigkeit und Zielorientierung aus, die ihm erst die für die Lösung von globalen Problemen benötigte Langfristigkeit, den „langen Atem“ geben. Gerade im Kontext der Bildungszusammenarbeit ist Ram A. Mall zuzustimmen, der von einer ganz anderen Qualität des „reziproken Angesprochensein der Kulturen, Philosophien und der diversen Weltanschauungen“ in der heutigen Zeit spricht und die Form des Monologs längst vergangenen Tagen
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A. Jacobs: /HLWELOGHUJOREDOHU2UGQXQJ=XU5ROOHJUHQ]EHUVFKUHLWHQGHU,QVWLWX WLRQHQLP=HLWDOWHUGHU*OREDOLVLHUXQJ, in: KAS Auslandsinformationen 8 (2000), 4-15, hier: 5. U. E. Simonis: ,QVWLWXWLRQHQ GHU NQIWLJHQ :HOWXPZHOWSROLWLN, in: D. Messner (Hrsg.): Die Zukunft des Staates und der Politik. Möglichkeiten und Grenzen politischer Steuerung in der Weltgesellschaft, Bonn 1998, 300f.
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zuschreibt. Dennoch möchte ich nicht auf eine „allgemeine Diskursbereitschaft“ jenseits der Orthodoxien und Institutionen setzen, wenn es um einen ernsten Dialog mit pragmatischen Bezug zwischen den Kulturen wie der Menschenrechtsfrage oder der Frage der Bürgerrechte geht. Denn sobald im Dialog eine Ebene mit objektiv-gesellschaftlicher Relevanz beschritten wird, genügt es nicht mehr, auf die dem Dialog eigene Dynamik zu setzen. Hier werden institutionelle Rahmenbedingungen nötig, die das Handeln der Zufälligkeit und der Willkür widerstrebender Kräfte entziehen und ihm die Perspektivität verleihen, der die entwicklungspolitische Bildungszusammen-arbeit so dringend bedarf.
6FKOXEHPHUNXQJ Emmanuel Lévinas verließ 1923 Litauen und beschloß, an der Universität Straßburg zu studieren. Er erklärt dies mit den Worten, daß „Frankreich ein Land ist, in dem das Festhalten an den Formen der Kultur dem Festhalten an 25 der Erde gleichzukommen scheint“. Mit diesem Satz, der auf eine wunderbare Weise aufzeigt, daß eine Nation nicht durch ihreKultur, sondern durch „den zentralen Platz, den die Kultur dort haben sollte“26 glänzt, möchte ich meine Ausführungen abschließen.
24
25 26
2UWKDIWH2UWORVLJNHLWGHU0HQVFKHQUHFKWH±HLQH LQWHUNXOWXUHOOH3HU VSHNWLYH XQWHU EHVRQGHUHU %HUFNVLFKWLJXQJ LQGLVFKHU 7UDGLWLRQHQ, in: U. Voigt
R.A. Mall:
(Hrsg.): Die Menschenrechte im interkulturellen Dialog, Frankfurt a.M. 1998, 245262, hier: 245. Zitiert nach Finkielkraut, a.a.O., 108. Ebd., 109.
*DEULHOH0QQL[
+RUL]RQWYHUVFKLHEXQJHQ Multiperspektivität als Prinzip praktischen Philosophierens According to Nietzsche, each one of us is locked up in a prison, because our senses provide us only with a partial knowledge of the world. Our perception happens from certain perspectives, and horizons are finite. Nonetheless, it is possible to extend our knowledge of the world and of the other by changing perspectives and widening horizons. The proposed concept of multi-perspectivity, which can also be turned into education, makes cognition a “joint venture”: Striving for truth from different perspectives, which then can be combined to complete and to enrich another. “Blind spots” and “dead angles” can be enlightened in this way. For the purpose of better understanding, of man and cultures, one will then reflect all sorts of expressions (language styles, pictures etc.). As reason and empathy work together, experiencing the other will help. Folgt man Nietzsche, so ist jeder von uns in einem Gefängnis, in das unsere Sinne uns einschließen. Denn jede Wahrnehmung erfolgt aus bestimmten Perspektiven, und unsere Horizonte sind endlich. Doch ist es uns möglich, durch Perspektivwechsel unsere Horizonte und unser Wissen von der Welt zu erweitern. Der hier vorgestellte – und auch didaktisch wendbare – Ansatz der Multiperspektivität sieht Erkenntnis als „joint venture“, als gemeinsames Bemühen um Wahrheit aus verschiedenen Perspektiven, die einander bereichern und ergänzen. „Blinde Flecken“ und „tote Winkel“ können so besser ausgeleuchtet werden, was auch hilft, fremde Menschen und Kulturen besser verstehen zu können. Dabei müssen zum Zweck besseren Verstehens auch alle Äußerungsformen (Sprache, Schrift, Bilder etc.von Menschen und Kulturen) refektiert werden: Auch Erfahrung des Fremden kann helfen: Vernunft und Empahtie müssen zusammenwirken.
Die Gewohnheiten unserer Sinne haben uns in Lug und Trug der Empfindung eingesponnen. )ULHGULFK1LHW]VFKH0RUJHQU|WH
Dem Beweglichen verschieben sich die Horizonte [...] +DQV*HRUJ*DGDPHU:DKUKHLWXQG0HWKRGH
+RUL]RQWKDIWLJNHLWXQG3HUVSHNWLYLWlWPHQVFKOLFKHU(UNHQQQWLV In seinem Bild „Das Meisterwerk oder die Geheimnisse des Horizonts“ zeigt René Magritte drei Männer, die angesichts eines verdämmerten Horizonts in
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verschiedene Richtungen blicken. Über ihren Köpfen ist jeweils eine gleiche schmale Mondsichel zu sehen. Sie sehen also – der Titel „Meisterwerk“ gibt zur Ironie Anlass – alle nur einen schmalen Teil der Realität, sind an ihren Standort gebunden und machen sich so – jeder für sich – ein Bild der Wirklichkeit, das dieser nicht im Entferntesten entspricht: Immer nur sehen wir die Dinge, wie sie uns erscheinen. Doch ZLU wissen: Aus anderen Perspektiven sähe der Mond – und auch die Welt – anders aus. Unser Denken aber, mit dem wir uns ein Bild der Welt machen, baut auf unseren Wahrnehmungserfahrungen auf, ist also subjekt- und leibgebunden. „Immer sehen wir von irgendwoher“, schreibt Merleau-Ponty, „ohne dass 1 aber das Sehen in seine Perspektive sich einschlösse.“ Denn man sieht zwar alles unter bestimmtem Blickwinkeln, doch solche Blickwinkel und Sichtwiesen (auch im übertragenen Sinn) lassen sich meist – da wir für gewöhnlich „beweglich“ sind – verändern und geben uns dann umfassendere Kenntnis vom anvisierten Gegenstand oder Sachverhalt. Merleau-Ponty macht mit seiner Leibphilosophie die leibliche Gebundenheit von Wahrnehmungs- und Denkprozessen deutlich. Doch die Geschichte des Perspektivismus ist älter. Schon der Kardinal und Philosoph Nikolaus von Kues erklärte im 15. Jahrhundert Benediktinermönchen das „Sehen Gottes“ mit einem Bild, dessen Augen dem bewegten Betrachter folgen. Gott also schaut jeden anders an, je nachdem, von wo dieser auf ihn schaut, und in diesem gemeinsamen Sehen und Gesehenwerden ereignet sich eine unio mystica als ganz individuelle Erfahrung, die aber keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben kann, sondern sich ihrer Perspektivität bewusst bleiben muss. Diese Gedanken beziehen sich aber auch auf ganz alltägliche Seh- und Denkprozesse und münden praktisch ein in Cusanus’ Bemühungen um ein besseres Verständnis der Re2 ligionen. Hundert Jahre später sah Descartes den Beweis für die eigene und die Existenz der Welt in der ganz subjektiven Erfahrung eigenen Denkens und Zweifelns, und wiederum später sorgte Kant mit seiner berühmten „Kopernikanischen Wende“ für einen entscheidenden Perspektivenwechsel in der Erkenntnistheorie: Nicht das Erkenntnisobjekt stand seither im Fokus der Reflexion, sondern die Fähigkeiten des Subjekts im Hinblick auf Welterfassung 1 2
M. Merleau-Ponty: 3KlQRPHQRORJLHGHU:DKUQHKPXQJ, Berlin 1966, 91. N. Herold: 0HQVFKOLFKH3HUVSHNWLYHXQG :DKUKHLW=XU'HXWXQJGHU6XEMHNWLYLWlW LQGHQSKLORVRSKLVFKHQ6FKULIWHQGHV1LNRODXVYRQ.XHV, Münster 1975, 62.
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und Weltdeutung, denn über die Wirklichkeit „an sich“, wie sie unabhängig von unseren spezifisch menschlichen Wahrnehmungs- und Interpretationsmustern sein mag, können wir keine Aussagen machen, obgleich sie das Richtziel unseres Suchens und Erkennens bleibt. Auch Leibniz hatte den Gedanken des Cusanus aufgegriffen: Jede Seele spiegelt bei ihm das Universum „suivant son point de vue“, gemäß dem je eigenen „Sehepunckt“. Es gibt aber keinen Weg der Monaden zueinander, und in seiner Monadologie verwendet Leibniz den Begriff „Perspektive“ erstmals auch im übertragenen Sinn3 und führt ihn ins metaphysische Denken ein. Spätestens seit Platons Höhlengleichnis ist in der europäischen Philosophiegeschichte und im entsprechenden Sprachraum die Verwendung visuellräumlicher Metaphern für Denkprozesse üblich und uns oft gar nicht mehr bewusst: Einsicht, Ansicht, Durchblick, Weitblick, Umsicht, etwas „sehen“, klären, durchschauen, verdunkeln, erhellen, Standort, Gesichtspunkt, Blickwinkel, Horizont, Auf’klärung’ und dgl. mehr, und zu diesen Begriffen gehört seit Leibniz auch der der Perspektive. Der „point of view“, der „Punkt“, von dem aus wir sehen und erkennen, unser ‘Stand’punkt, ist der notwendige Referenz‘punkt’, auf den hin unsere Aussagen zu beziehen sind und von dem aus sie nur Gültigkeit beanspruchen können. Doch sind alle unsere Erkenntnisse deshalb notwendig „Irrthümer an sich“? Nietzsche meinte sicher auch nichtmenschliche Wahrnehmungsperspektiven, von denen wir keine Kenntnis haben. Doch wir „sehen“ einen Aspekt der Wirklichkeit, und auch innerhalb der menschlichen Art gibt es ganz unterschiedliche Perspektiven und Horizonte, die uns einen Teil der Wirklichkeit erhellen, aber gleichzeitig Grenzbewusstsein schaffen. Volker Gerhardt beschreibt die Perspektive als minimale Funktionsbedingung unseres Auges [...] Dass alle Wahrheit perspektivisch ist, darf somit nicht als Einschränkung verstanden werden. Es ist lediglich eine Explikation der Voraussetzung, unter der, wenn überhaupt, Wahrheit einzig 4 zu haben ist.
Unser eigener Blickwinkel ist also ein guter Beginn, denn Übergänge in andere Welten scheinen möglich: Jakob von Uexküll findet analog zum Leibnizschen Bild der Monade das noch suggestivere Bild von Seifenblasen, die 3 4
0RQDGRORJLH 'LH3HUVSHNWLYHGHV0HQVFKHQ
J.G.W. Leibniz: , Stuttgart 1998, § 357 V. Gerhardt: , in: V. Gerhardt / N. Herold (Hrsg.): Perspektiven des Perspektivismus, Würzburg 1992, V, XIV.
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die Umwelt eines jeden empirischen Subjekts darstellen und „erfüllt sind von all jenen Merkmalen, die nur dem Subjekt zugänglich sind“: Sobald wir selbst in eine solche Seifenblase eintreten, gestaltet sich die bisher um das Subjekt ausgebreitete Umgebung völlig um [...] eine neue Welt entsteht 5 in jeder Seifenblase.
Daher ist dann auch für Nietzsche jeder „sich selbst absolut nehmende 6 Gesichtspunkt als die Perspektive, die sich selbst nicht als solche versteht“ unzulässig, jeder Dogmatismus unstatthaft. Denn dabei bleibt unser „blinder Fleck“, der Punkt, von dem aus wir sehen und erkennen und der uns gerade deshalb nicht in den Blick gerät, außerhalb unseres Bewusstseins. Unser Erkennen bleibt also immer selektiv und partiell, und gerade philosophische Reflexion über unsere Erkenntnisprozesse kann dies erhellen. Dennoch bleibt für Nietzsche eine Aufgabe, die gerade heute in Zeiten der Globalisierung und der Begegnung mit vielen Kulturen wichtig wird: „Die Dinge sehen, wie sie sind!“ „Mittel: Eine Reihe von Wesen durchleben!“ 7 „Mit tausend Augen sehen!“ Der Mensch darf sich also nicht in einer einzigen Perspektive heimisch machen, sondern muss über einmal eingenommene Standpunkte und deren Perspektiven (nun auch im übertragenen Sinn) immer 8 wieder hinausgehen, um ihnen gegenüber Freiheit zu zeigen. Solche Perspektiven im übertragenen Sinn können individuelle, sozial gebundene oder kulturell bedingte Disponiertheiten sein und durch Geschlecht, Lebensalter und -erfahrung, Persönlichkeitsstruktur, Vorerfahrungen, bewusste oder unbewusste Wünsche und Abneigungen, Beruf oder spezielle Fähigkeiten und Erwartungshorizonte, soziale Schicht, Familiengeschichte, nationale Herkunft, Bildungs- und Wissensniveau, politisches Engagement, religiöse und/oder weltanschauliche Bindungen, kulturelles Umfeld, fachwissenschaftliche Perspektiven und dgl. mehr gegeben sein. Solche Befindlichkeiten gehören zum „Ich-Pol der Wahrnehmung“9, wir sind eben NHLQH 5 6 7 8 9
J. von Uexküll:6WUHLI]JHGXUFKGLH8PZHOWHQYRQ7LHUHXQG0HQVFKHQ, Hamburg 1956, 22, 46. J. Simon: )ULHGULFK1LHW]VFKH, in: Otfried Höffe (Hrsg.): Klassiker der Philosophie 2, München 1981, 222. Fr. Nietzsche: $XI]HLFKQXQJHQ DXV GHU =HLW GHU 0RUJHQU|WH XQG GHU )U|KOLFKHQ :LVVHQVFKDIW, München 1924 (Musarion), 138f. Fr. Kaulbach: 1LHW]VFKHV ,GHH HLQHU ([SHULPHQWDOSKLORVRSKLH, Köln/Wien 1980, 63. Merleau-Ponty, a.a.O., 45.
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„tabula rasa“. Doch wir können versuchen, über solche Perspektiven, die uns die Welt erschließen, hinauszugehen, indem wir sie uns bewusst machen und mögliche Alternativen in den Blick fassen. Und dies ist eine Art, wie Philosophie praktisch werden kann.
3HUVSHNWLYHQZHFKVHODOV(UNHQQWQLV]XZDFKV In Elias Canettis Roman „Die Blendung“ agieren Personen von sehr unterschiedlicher Art, verschieden von Herkunft, Geschlecht, Bildungsniveau, Beruf und Interessen. Sie alle deuten gleiche Situationen völlig anders und sind wie blind für tatsächliche Sachverhalte. Da sie aber kaum wirklich miteinander sprechen und Zeichen falsch deuten, lassen sich falsche Sichtwiesen, Beweggründe und Missverständnisse nicht erhellen. Auch Körpersprache (die ja schon intrakulturell und erst recht interkulturell verschieden sein kann) wird falsch gedeutet. Gemeinsam, ZLUNOLFK miteinander sprechend, sich einfühlend, hätte man die Katastrophe vielleicht aufhalten können. Gewissheiten können also trügerisch sein, und Sichtweisen können mehr oder weniger angemessen sein. Reflexion und Dialog können hier helfen: Um zu einem objektiveren Verständnis eines Aspekts des Lebens oder der Welt zu gelangen, treten wir von unserer ursprünglichen Sichtweise dieses Aspekts zurück und bilden uns eine neuartige Auffassung, welche die ältere Auffassung und ihre Weltbeziehung zum Gegenstand hat [...] Wird dieses Verfahren jeweils 10 wiederholt, so kommt es zu weiteren, immer objektiveren Weltauffassungen.
Und Nagel, der „Ultraobjektivität“ anstreben möchte, definiert: Eine Auffassungs- oder Denkweise ist objektiver als eine andere, wenn sie in geringerem Maße von Besonderheiten der konstitutionellen Ausstattung des Individuums und seiner Stellung in der Welt abhängig ist oder von Besonderheiten der Gattung, der dieses Wesen angehört: Je umfangreicher das Spektrum der Typen von Subjektivität, die zu einer bestimmten Art des Verstehens fähig sind, [z.B. auch verschiedene Kulturen, G.M.] je weniger ein solches Verstehen auf besondere subjektive Erkenntnisvermögen angewiesen ist, um so objektiver ist 11 es auch.
10 11
Th. Nagel: 'HU%OLFNYRQ1LUJHQGZR, Frankfurt 1992, 12. Ebd., 12f.
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Für Nagel ist der Skeptizismus unwiderlegbar und völlig einleuchtend: Letzte Gewissheiten kann es nicht geben. Das macht aber für ihn das Streben nach Objektivität, sogar nach der „Ultraobjektivität“ des „Blicks von Nirgendwo“ nicht hinfällig. Perspektivismus bleibt also nicht zwangsläufig bei Relativismus und Beliebigkeitsdenken stehen, er landet auch nicht automatisch im Nihilismus, für den es gar nichts Verbindliches mehr gibt. Doch „man muss sich bewusst bleiben, dass das Gute ebenso wie das Wahre irreduzible subjektive Komponenten einschließt.“12 Es geht eben um unsere je individuellen und subjektiven Zugänge zur Welt, die uns als Person definieren, und die kann man mit Reflexion erhellen. Doch man wird dem Phänomen der Subjektivität, die ein Teil der objektiven Welt ist, nicht gerecht, wenn man sich zu sehr von menschlichen Perspektiven entfernt. Daher muss es um eine Koexistenz des subjektiven mit objektiveren Standpunkten gehen, um eine Vermittlung von Innen- und Außensicht: Wir glauben mit Recht, dass das Streben nach Losbindung von unserer ursprünglichen Perspektive ein unverzichtbares Verfahren ist, unser Verständnis des Weltgeschehens und unserer Selbst voranzubringen, unsere Freiheit im Denken und Handeln zu erweitern und bessere Menschen zu werden. Da wir jedoch 13 sind, wer wir sind, können wir nicht restlos neben uns treten.
Wir können uns „weder der philosophischen Tätigkeit widmen, noch die Werke anderer verstehen,“ (ich ergänze: auch andere Menschen oder Kulturen nicht) „wenn wir sie auf bloß historische oder klinische Weise aus einer 14 Außenperspektive betrachten.“ Es ist also nötig, dass wir versuchen, unser eigenes Bewusstsein mit seinen beschränkten Perspektiven zu erweitern und uns darum bemühen, andere Perspektiven einfühlend zu verstehen. Dabei ist – was in der Pädagogik überhaupt nicht reflektiert wird – der zugrunde gelegte Subjektbegriff entscheidend: Geht man wie Leibniz von einem solipsistischen Ich aus, wird dies schwieriger vorstellbar sein, als wenn man subjektiven Geist als Teilhabe oder Emanation eines allgemeinen Geistes denkt.
12 13 14
Ebd., 17f. Ebd., 15f. Ebd., 23f.
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Ich gehe mit Martin Buber davon aus, dass der „Mensch am Du zum Ich“ wird und sich daher von Anfang an auf andere bezogen weiß und Wege zum Anderen finden kann. Ich unterscheide dabei drei Stufen solcher Perspektiv15 wechsel, die m.E. aufeinander aufbauen : 1. Eine erste Form von Intersubjektivität liegt für mich dann vor, wenn wir die Perspektive eines konkreten Anderen einzunehmen versuchen (was sich auch auf Äußerungen dieses Anderen beziehen kann), u.a. um uns zu einer Außensicht unseres eigenen Ich zu verhelfen und so den „blinden Fleck“ besser ausleuchten zu können, was zu verbesserter Selbsterkenntis führen dürfte. Das entspricht auch Kants zweitem Postulat für jedes Philosophieren: sich jederzeit in die Stelle eines 16 jeden anderen denken zu sollen. Diese Fähigkeit zur Selbstdistanzierung hat auch ethische Konsequenzen: Für Schopenhauer ist es geradezu das Kriterium einer guten Tat, dass jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Anderen, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei, [...] dass ich auf irgendeine Weise mit ihm identifiziert sei, [...] dass ich bei SEINEM Wehe als solchem geradezu mitleide, SEIN Wehe fühle wie sonst nur 17 meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst nur meines.
Diese Art von Perspektivwechsel zum konkreten anderen Subjekt ist also nicht nur erkenntnistheoretisch bedeutsam. 2. Ein weiteres Verfahren im Hinblick auf größere Objektivität besteht darin, dass wir aus verschiedenen Perspektiven gemeinsam, sozusagen in einer konzertierten Aktion einen bestimmten Erkenntnisgegenstand oder Sachverhalt in den Blick nehmen und unsere Ergebnis15 16 17
G. Münnix: =XP (WKRV GHU 3OXUDOLWlW 3RVWPRGHUQH XQG 0XOWLSHUVSHNWLYLWlW DOV 3URJUDPP, Münster 2004, 200ff. I. Kant: $QWKURSRORJLHLQSUDJPDWLVFKHU+LQVLFKW, BA 123. A. Schopenhauer: 3UHLVVFKULIW]XU*UXQGODJHGHU0RUDO, Haffmanns Schriften III, Zürich 1988, 564.
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se und Einsichten austauschen bzw. kombinieren. Solche Erkenntnis als „joint venture“ könnte es schaffen – bleibt man in Merleau-Pontys und Poppers Metapher vom Scheinwerfer des erkennenden 18 Bewusstseins, dass „tote Winkel“, die uns selbst nicht zugänglich sind und vielleicht auch nicht bewusst werden, ausgeleuchtet werden und wir uns so Zugang zu mehr Erkenntnisgewinn verschaffen. Der Mond hat, wie wir wissen, durchaus verschiedene Gestalten und sogar eine Rückseite, und auch diese könnte man aus einer anderen Perspektive wahrnehmen. Auch die verschiedenen Perspektiven und Zugriffsweisen diverser Wissenschaften können so kombiniert, bewertet und ins eigene Weltbild integriert werden, und das gilt sogar für unterschiedliche Perspektiven innerhalb einer Wissenschaft. Und natürlich auch für verschiedene Perspektiven verschiedener Kulturen, und so würde der Sinn interkulturellen Lernens nicht nur am besseren Verständnis füreinander festgemacht werden, sondern auch am Ziel umfassenderer Weltsicht. (Aus der Sicht des Islam etwa kann das europäische Ideal der Autonomie des Individuums Dekadenz bedeuten, denn der moralisch reife Mensch muss sich dem Willen Gottes unterwerfen, es gilt also eine Theonomie zu akzeptieren. Und während wir in Europa die Rolle der Frau in islamischen Ländern kritisieren, kritisiert der Islam unseren Umgang mit Alten, die ein Recht haben, im Kreis ihrer Familie sterben zu dürfen, und unseren Umgang mit Tieren.) 3. Die Bereicherung durch Fremderfahrungen und Fremdperspektiven, durch andere Sichtweisen und Bewertungen bewirkt schließlich, so kann man zumindest hoffen, eine dritte Form von Erkenntniszuwachs: Der Mensch kann „wachsen“: „Jede Erhöhung des Menschen [bringt] die Überwindung engerer Interpretationen mit sich.“ Er muss sich neue Horizonte erschließen, denn das starre Haften an Perspektiven zeigt – wie jede Ideologie – „die Züge 19 der Borniertheit, der Enge und der Ausschließlichkeit“. Nietzsche definiert eine Rangordnung der Standorte:
18 19
Merleau-Ponty, a.a.O., S. 47 und K.R. Popper: 1974, 347. Kaulbach, a.a.O., 65, 70.
2EMHNWLYH (UNHQQWQLV,
Hamburg
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ein Standpunkt steht in der Rangordnung umso höher, je ‘mächtiger’ er ist und umgekehrt: dieser Grad der Macht geht mit der ‘Höhe’ seines Standes zusammen: er wird durch die Weite seines Horizonts bestimmt, in den viele Perspektiven eingehen. Ein Stand erweist sich als umso mächtiger, je umfänglicher sein perspektivischer Horizont und je reicher er demgemäß an perspektivischen 20 Möglichkeiten ist.
Auch wenn man Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht wegen der elitären und sozialdarwinistischen Tendenzen nicht teilt, wird deutlich: Das Ich wird als Prozess gedacht, es muss sich selbst entwickeln und über sich selbst hinausgehen und dabei in der Lage sein, Überblicksstandpunkte zu finden, von denen sich möglichst viele, sogar einander widerstreitende Perspektiven einen oder zusammenschauen lassen. Mehr Selbstdistanz und sogar Akzeptanz für andere als eigene Sichtweisen, die als positive Momente eigenen Erkenntnisfortschritts begriffen werden können, dürfte die Folge sein und tatsächlich zu einer entwickelteren, „höheren“ Form eigener Existenz führen, so dass Hannah Arendts Vorstellung von einem „Archimedischen Punkt“ Richtziel werden könnte: Sie hofft, dass die Zeit kommen werde, wenn Menschen zwar immer noch unter den Bedingungen der Erde leben, aber gleichzeitig fähig sein würden, „sie von einem Außen her zu erblicken und im Sinne dieses Außen auf ihr zu han21 deln.“ Mag dies auch ein utopisches Ideal sein, so kann es doch als Richtziel pädagogischen Handelns fungieren.
3OXUDOLWlWXQG+HUPHQHXWLN Ist der hier vorausgesetzte Perspektivwechsel als Begegnung mit dem Fremden überhaupt möglich? Gerade Thomas Nagel mit seinem Ziel der „Ultra-
20 21
Ebd., 71. H. Arendt: 9LWDDFWLYD, München 1981, 264.
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objektivität“ hat Bedenken angemeldet: Das Phänomen des Fremdpsychischen ist uns grundsätzlich nicht von innen zugänglich. Als Metapher für fremde Subjektivität wählt er die Erlebnis- und Erfahrungswelt einer Fledermaus und stellt fest, dass wir nicht wissen können, wie es ist, jemand anderer zu VHLQ: Die Innenseite eines fremden Bewusstseins (z.B. auch die andere Wahrnehmungswelt eines Blinden), auch wenn wir die 22 Gehirnprozesse von außen beschreiben könnten, bleibt uns verschlossen. Aber wir können uns – auf der Basis von Wissen und Einfühlungsprozessen – immer bessere Bilder machen, und dies gelingt umso besser, je mehr Ähnlichkeiten wir zwischen unserer und anderen Arten der Wahrnehmung feststellen. So wissen wir zum Beispiel durch hirnphysiologische Forschungen, dass eine große Mehrheit von Menschen dominant visuell geprägt ist, eine kleine Minderheit aber nimmt am besten auditiv Informationen auf, und eine andere Gruppe braucht taktile Informationen und muss sich bewegen können: der kinästhetische Typ. Da wir aber für gewöhnlich über alle diese Sinne verfügen und häufig Mischtypen vorkommen, lässt sich ein anderer als der eigene Wahrnehmungs- und Lerntypus ganz gut vorstellen. Das Fremde ist nämlich selten das grundsätzlich Andere: Mit Bernhard Waldenfels sehe ich immer auch Eigenes im Fremden (und Fremdes im Ei23 genen), so dass Übergänge auf Grund von Gemeinsamkeiten möglich sind. Verstehensprozesse können sich auf Verschiedenes beziehen. Ich unterscheide drei Ebenen: 1. Sie können gerichtet sein auf performative Akte, auf Äußerungen anderer Menschen: z.B. auf Sprachhandlungen, Bilder, Texte. (Zu Recht beschreibt Cassirer den Menschen als „animal symbolicum“.) 2. Sie können sich aber auch beziehen auf andere Menschen selber (auch auf ihre impliziten Ansichten, Weltbilder und ihr charakteristisches Handeln), und 3. können sie auch andere Kulturen, Traditionen und Lebenswelten zum Ziel haben. Diese „Ebenen“ sind natürlich nicht disjunkt und unabhängig voneinander zu denken, sondern stellen einen Einbettungszusammenhang dar: Immer nämlich haben wir es mit symbolischen Gestaltungsleistungen zu tun, die kulturell gebunden sind, auch wenn uns unsere eigene Kultur dabei analog
22 23
:KDWLVLWOLNHWREHDEDW", in: Philosophical Review 83/4 (1974), 435'HU6WDFKHOGHV)UHPGHQ, Frankfurt 1998.
Th. Nagel: 450. B. Waldenfels:
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zum Whorf’schen Begriff des Hintergrundsphänomens nicht in den Blick gerät, weil sie uns selbstverständlich ist. Von daher dürfte die Begegnung mit einer Pluralität anderer Denkweisen, Standpunkte und Weltbildern eine Bereicherung für uns darstellen: Sie macht uns die Besonderheit unseres eigenen Denkens erst so recht bewusst (und analog ist auch Cassirers Kultur25 begriff zu verstehen). Zum Beispiel wird deutlich, dass unsere Art des sprachlichen Zugriffs auf die Welt, indem wir als handelnde Subjekte auf Objekte einwirken (Weisgerber redet sogar vom Menschen „im Akkusativ“), keineswegs universal ist, dass es andere Kategorien gibt, die Phänomene der 26 Welt sprachlich zu gliedern und zu reflektieren. Von daher ist auch William James’ Philosophie des „pluralistischen Universums“, des „Multiversums“, keine Billigung eines belanglosen Nebeneinanders divergenter Strömungen und Kulturen. Diese Philosophie des 27 „UND“ ist vielmehr eine Kritik am rationalistischen, idealistischen Einheitsdenken, das alle Erscheinungen unter oberste, möglichst noch apriorische Prinzipien zwingen wollte und so der Tendenz zum Dogmatischen nicht ausweichen kann. Aber James’ pragmatischer Ansatz macht klar: Die Weltgesellschaft ist nicht einheitlich, sie ist Vielheit, Differenz, Nicht-Integriertheit, was postmoderne Konzeptionen, etwa bei Lyotard, nicht als Mangel, sondern als Chance begreifen. Die Wirklichkeit muss nicht in einer begrifflichen Gesamtheit aufgehen, wie es die moderne Rationalitätskultur anstreb28 te. Hingegen bedeutet für James im Sinne des Pragmatismus [...] der Pluralismus oder die Lehre, dass das Universum eine Vielheit darstellt, nur, dass die verschiedenen Teile der Wirklichkeit LQ lXHUOLFKHQ %H]LHKXQJHQ ]XHLQDQGHU VWHKHQ N|QQHQ Wie weit und umfassend man auch ein Ding nehmen mag, immer gibt es nach pluralistischer An24 25 26
27 28
B. Lee Whorf: 6SUDFKH'HQNHQ:LUNOLFKNHLW, Hamburg 1972, 9. Vgl. G. Münnix: 3KLORVRSKLH in: H. Reich / A. Holzbrecher / H.J. Roth (Hrsg.): Fachdidaktik interkulturell. Ein Handbuch. Opladen 2000, 162ff. G. Münnix: 6SUDFKH XQG 'HQNHQ, Düsseldorf 1978, 80-87, und dies.: 9HUVWHKHQ XQG 9HUVWlQGQLV =XU HWKLVFKHQ 'LPHQVLRQ GHU 6SUDFKSKLORVRSKLH, in: Ethik & Unterricht 3/98, 32-36. W. James: 'DVSOXUDOLVWLVFKH8QLYHUVXP, Darmstadt 1994, 211. Was Heidegger als „ontotheologisch“ kritisierte: Die Suche nach ersten Gründen und Prinzipien geschehe ja in der Absicht, Ansprüche auf Universalität, d.h. Herrschaftsansprüche des je eigenen Denkens zu sichern. Vgl. M. Heidegger: ,GHQWLWlW XQG'LIIHUHQ], Pfullingen 1957, 41ff.
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schauung noch außerhalb seiner etwas Fremdes, das es umgibt [...] Die pluralistische Welt gleicht so mehr einer föderalistischen Republik als einem Imperium oder einem Königreich. Wie vieles auch zur Einheit zusammengebracht werden kann, wieviel sich auch in einem Bewusstseinszentrum oder in einer Tat als Einheit äußern mag, etwas29 bleibt immer autonom, außerhalb der Einheit und nicht auf sie zurückführbar.
Die Welt ist nämlich nicht statisch, sondern dynamisch, offen und veränderbar, und auch das Denken von Einheiten ist ein nicht abgeschlossener Prozess geistigen Tuns. Deshalb kann die Aufgabe des Geistes auch nicht darin bestehen, einheitliche Prinzipien zu finden, unter die sich alle Erscheinungen fügen und erklärbar werden, wohl aber darin, Vielheiten zu verstehen und zu vernetzen. Doch unterschiedslose Akzeptanz aller möglichen Perspektiven und Weltdeutungen nimmt diese nicht ernst genug. Es muss darum gehen, verstehend nachzuvollziehen, das eigene Wissen zu erweitern und sich ständig mit Neuem, „Fremdem“ auseinander zu setzen, um so neue Aspekte ins Selbst zu integrieren, ein Richtziel für Bildung überhaupt. Das ist – wie Thomas Nagel 30 es formuliert – ein Prozess von „Autotranszendenz“ und erfordert die Entwicklung von „ästhetischer und moralischer Sensibilität“, um Verstehen als 31 „Entfremdung des Fremden“ durch „Transsubjektivität“ zu ermöglichen. Die Denkfigur des hermeneutischen Zirkels ist ein vertrautes – idealistisches – Modell eines Verstehens, das dem Fremden immer schon mit Vorwissen begegnet und nur das an ihm zu deuten oder zu erfassen weiß, was das erkennende Bewusstsein vorher an Deutungsmöglichkeiten und -strukturen in es hineingelegt hat. Folgt man dieser Vorstellung, so wäre wenig Erkenntnisfortschritt möglich. Das Eigene würde so ins Fremde projiziert, und dieses wird so zwar vertraut, aber verfälscht. Handelt es sich dabei um Personen, so ist mit Lévinas eine Warnung auszusprechen: Angesichts der Unendlichkeit des fremden Anderen darf man sich nicht anmaßen, ihn oder es in seiner Gesamtheit erfasst zu haben. Es gilt 32 vielmehr, offen zu bleiben für das Seinsgeschehen des Anderen, offen aber auch für andere als eigene Deutungsmöglichkeiten. Annäherungen aber sind möglich und nötig, denn wir können durchaus Neues erfahren. Solche Annä29 30 31 32
W. James'DVSOXUDOLVWLVFKH8QLYHUVXP, Darmstadt 1994, 208. Nagel, 'HU%OLFNYRQ1LUJHQGZR, a.a.O., 130. O. Schwemmer: 'LHNXOWXUHOOH([LVWHQ]GHV0HQVFKHQ, Berlin 1997, 170ff. E. Lévinas: 'LH6SXUGHV$QGHUHQ, Freiburg 1998, z.B. 226.
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herungen setzen Interesse voraus (also auch eine emotionale Bereitschaft), erzeugen mehr Wissen vom Fremden und damit durch die Möglichkeit von Perspektivwechseln verbessertes Verständnis. Dadurch kann weiteres Interesse wachsen und ein neuer Durchgang erfolgen, der auf höhere Ebenen des Verstehens führen kann. Um dieser möglichen Höherentwicklung gerecht zu werden, stelle ich mir das Modell einer hermeneutischen Spirale vor: dem Fremden wird so seine Andersartigkeit belassen, es wird also nicht bloß versucht, es im Wege einer kurzsichtigen Aneignung zu assimilieren, ohne dass es dann weiter von Interesse wäre. Es darf nicht um Annexion und zweckdienliche Integration fremder Sichtweisen gehen, um ihre Angleichung an eigene Deutungsmuster. Damit wäre das Fremde einverleibt und kolonialisiert. Es muss vielmehr in seinem Eigenwert geachtet werden, nicht nur in seinem Wert für uns, und das ist nur möglich, wenn wir immer wieder bereit sind, uns auf neue Perspektivenwechsel einzulassen, offen zu bleiben für neue Erfahrungen und Verstehensprozesse. Dies gilt auch für Texte und andere Äußerungen mit kulturellem Hintergrund: Immer wieder neu müssen wir um sie ringen, „die Arbeit des Begriffs auf uns nehmen“, um das Gemeinte verstehen und uns erklären zu können, und auch dies ist ein Prozess der Annäherung, in dem wir die zugehörigen Begriffsverwendungen immer neu mit den Kommunikationskontexten in Beziehung setzen, aus denen heraus sie entstanden sind und sie so transponieren in unsere eigenen Kommunikationszusammenhänge, in denen das Gemeinte verstanden werden soll. Auch hier geht es um einen Wechsel von Innen- und Außenperspektiven, die uns auf höhere Ebenen des Verstehens befördern. Angemessenes Verstehen als Ziel braucht Komplexitäts- und daher Pluralitätskompetenz, und diese Differenziertheit erreicht man nicht, wenn man immer nur der eigenen Perspektive verhaftet bleibt.
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5HIOH[LRQDOV$XIJDEHSKLORVRSKLVFKHU3UD[LV Ein Philosoph hat per definitionem nach Weisheit zu streben, und die galt seit jeher als sinnvolles Ziel jeder Reflexion. Weisheit meint nicht nur Wissen, sondern auch eine ganz lebenspraktische Klugheit: die Fähigkeit, im rechten Moment das Richtige zu tun oder raten zu können. Und solche Weisheit setzt Überblickswissen und die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung voraus: „der Weise [weiß] um das Ganze und [...] im einzelnen richtigen Rat zu geben 33 [...].“ Philosophisch wie auch im Alltagsverständnis ist daher neben Wissen eine Kompetenz in sittlich-praktischen Fragen mitgemeint, und die ist ohne Reflexion wohl kaum möglich. Für den Weg dahin hat Immanuel Kant insgesamt drei Forderungen an das Philosophieren als Tätigkeit – und um das soll es hier gehen – gerichtet, um solches Überblickswissen und solch abgemessenes Urteil zu erreichen: 1. selber denken, 2. sich jederzeit in einen jeden anderen denken und 3. mit 34 sich selbst einstimmig denken , und alle drei Kompetenzen erfordern emotionale Bereitschaften und können didaktisch angeleitet und geübt werden. Doch was heißt eigentlich Denken in der philosophischen Praxis? Es kann nicht um letzte Antworten gehen, die die Fragen der Philosophie ein für allemal und letztgültig beantworten, dann bliebe dem Selberdenken kein Raum mehr. Man kann üben, „von seiner Vernunft einen freien und keinen bloß 35 nachahmenden, und, so zu sagen, mechanischen Gebrauch zu machen“ . Das bedeutet aber auch, dass andere Arten eigenständigen Denkens zu respektieren und zu verstehen sind, wie sie sich etwa in anderen Kulturen herausgebildet haben. Antworten bzw. Antwortversuche auf philosophische Fragen sind ja immer auf dem Hintergrund bestimmter Lebenspraxis und historischer Situationen entstanden, und solche kulturellen Hintergründe sind mitzudenken und können sich ändern. Die philosophische Reflexion kann auch zu gegenteiligen Ergebnissen kommen, wie sie sich z.B. schon in der europäischen Philosophie in den gegensätzlichen Auffassungen von Hobbes und Rousseau zum Wesen des Menschen zeigen. Rousseau lebte später und kam aus der damals 33 34 35
W. Welsch: 9HUQXQIW 'LH ]HLWJHQ|VVLVFKH 9HUQXQIWNULWLN XQG GDV .RQ]HSW GHU WUDQVYHUVDOHQ9HUQXQIW, Frankfurt 1996, 793. I. Kant: $QWKURSRORJLHLQSUDJPDWLVFKHU+LQVLFKW, BA 123. Ders.: /RJLN, A 21, A 27f
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friedlichen, fast idyllischen Schweiz, Hobbes lebte zur Zeit des Cromwellschen Bürgerkriegs in England und kam so zur Auffassung des „Kriegs aller gegen alle“, und beide leiteten daraus unterschiedliche Aufgaben des Staates ab. Doch solche Gegensätze fordern zum eigenen Denken heraus: Wie verhält es sich wirklich? Aus welchen Gründen gelangt man zu welchen Urteilen? Kann man – und wenn ja, weshalb? – einige Argumente nachvollziehen oder sogar teilen? Welche kritischen Anmerkungen – wiederum auf dem Hintergrund eigener Erfahrungen – wären zu machen? Da auch diese wiederum oft nicht verallgemeinerbar sind, weiß der Philosoph um die Begrenztheit seiner Perspektiven. Allgemeine Aussagen, auch die eigenen, sind also kritisch zu prüfen (und evtl. durch Beispiele zu konkretisieren), Einzelsachverhalte sind auf ihre mögliche Verallgemeinerbarkeit hin zu befragen. Gedanken äußern wir meist im Medium geschriebener oder gesprochener Sprache. Jacques Derrida sieht in der gesprochenen Sprache das „Nächste zum Denken“, denn Bewusstsein und Selbstbewusstsein entsteht für ihn 36 durch „sich sprechen Hören“. Die alphabetisierte, phonetische geschriebene Sprache ist in ihrer Linearität aber schon wieder eine Reduktion von Ausdrucksmöglichkeiten. In seiner Ausweitung des Schriftbegriffs will er andere Formen des Ausdrucks, eben 37 alles, was „zum Lesen bestimmt“ ist, mit einbeziehen und nennt Ikonogra38 phie, Kinematographie und Choreographie als weitere nicht dem Linearitätszwang der alphabetisierten Schrift unterworfene Ausdrucksformen des Menschen. Dieser Linearitätszwang nämlich ist eurozentristisch, und Derrida verweist auf die piktographischen Schriften der ägyptischen Hieroglyphen, der chinesischen Schriftzeichen und der Bilderschrift der Maya. Ein weiterer Horizont als der europäisch gewohnte ist also für Ausdrucksphänomene aller Art in den Blick zu fassen. Auch Bilder, Filme, Körpersprache sind neben der Schrift und der gesprochenen Sprache Ausdrucksphänomene und „zum Lesen bestimmt“. Zudem bricht Derrida wie Wittgenstein mit der klassischen Repräsentationstheorie: Die Bedeutung des durch die genannten Ausdrucksformen Bezeichneten ist nicht ein festes transzendentales Signifikat mit einem idealen, gedanklich fest 36 37 38
J. Derrida: 'LH6WLPPHXQGGDV3KlQRPHQ, Frankfurt 1979 H.-G. Gadamer: %LOGNXQVWXQG:RUWNXQVW, in: Gottfried Boehm (Hrsg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 90f. Ders.: *UDPPDWRORJLH, Frankfurt 1974, 20f.
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umrissenen Wesen, das sich im Signifikanten, z.B. in der es bezeichnenden Sprache nur abbildet. Vielmehr gibt es eine Kette von Verweisungen, die auf das Gemeinte deuten: Bilder, Schrift und Sprache verweisen auf einen (oder auch mehrere) Gedanken, dessen Bedeutung immer nur annäherungsweise 39 „erfasst“ werden kann: es bleibt eine Differenz , was immer neues Bemühen um begriffliches Erfassen notwendig macht. Zum Verstehen des Gemeinten sind immer zwei Perspektiven nötig: eine Innenperspektive (z.B. eines Tex40 tes, aber auch eines philosophischen Systems) und eine Außenperspektive. 41 Doch ganz grundsätzlich will Derrida ein Denken vom Signifikanten aus : Immer verweisen Begriffe, Texte, Bilder, Sentenzen auf das, was Gedanken bedeuten könnten, was mit ihnen gemeint sein könnte, und dem versucht man sich in gemeinsamer Reflexion anzunähern, versucht seine Spur aufzunehmen, um es für sich zu bedenken. Also lässt sich diese Art von Reflexion mit Krüger recht gut als „polysymbolischer Perspektivenwechsel“ fassen. Für ihn nämlich entsteht Reflexion aus der Schematisierung des symbolischen Wechsels zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektiven mit anderen [...] Reflexion ist hier genuin sozial gefasst und monologisierende Reflexion nur eine erlernte Unterart, in der 42 man sich nicht mehr auf die Übernahme der Perspektive der anderen einlässt.
Damit weist Krüger im Rückgang auf Humboldts Philosophie des Gesprächs eine Alternative zum monologisch reflektierenden Selbstbewusstsein auf (man könnte sich aber auch schon auf die Sokratischen Dialoge beziehen), wie sie ja bereits philosophiedidaktisch, wenn auch mit anderer Begründung, 43 ihren Niederschlag gefunden hat. Auch europäische Philosophie kann sich als ein solches „monologisierendes reflektierendes Selbstbewusstsein“ gerieren und andere kulturelle Perspektiven, etwa solche, die weniger vom kontinentaleuropäischen Rationalismus geprägt sind, ignorieren. Auch hier wäre also ein Dia- bzw. Polylog mit Bemühung um Perspektivwechsel anzustreben, um zu mehr Verständnis des-
39 40 41 42 43
Ders.: 'LH6FKULIWXQGGLH'LIIHUHQ], Frankfurt 1972. Ders.: 7\PSDQRQ, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Wien / Graz 1988, 21. J. Lagemann / K. Gloy: 'HP=HLFKHQDXIGHU6SXU, Aachen 1998, 153f. H.-P. Krüger: 3HUVSHNWLYHQZHKVHO $XWRSRLHVLV 0RGHUQH XQG 3RVWPRGHUQH LP NRPPXQLNDWLRQVRULHQWLHUWHQ9HUJOHLFK, Berlin 1993, 199. E. Martens: 'LDORJLVFKSUDJPDWLVFKH3KLORVRSKLHGLGDNWLN, Hannover 1973.
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sen zu gelangen, was als „Denken“ in den verschiedensten Kulturen wirkmächtig geworden ist. Kants Rede vom „öffentlichen Gebrauch der Vernunft in weltbürgerlicher Absicht“ konkretisiert sich daher nun durch eine polylogische, ja polyphone und polysymbolische Reflexionsauffassung, wobei „polysymbolisch“ die auch nonverbalen Arten von Perpektivwechseln umfasst (ich stelle mir etwa ein durch Bilder angeregtes Denken oder Gebärdensprachen vor). Dabei wird für das Verständnis anderer Positionen innerphilosophisch wie auch philosophiedidaktisch ihre „Rekontexualisierung“ wichtig: Es macht eben wenig Sinn, isolierte Aussagen – im Dialog – gegeneinander zu stellen, sondern ihre jeweiligen Perspektiven, die Standorte also, von denen aus sie ihre Bedeutung gewannen, ihre „Denkumgebungen“ sind mitzubedenken. Perspektivität ist also unhintergehbare Bedingung von Reflexion und muss in sie eingehen. Platons Dialoge, Berkeleys Unterredungen zwischen Hylas und Philonous, Descartes’ „Trialog“ „A la recherche de la vérité par la lumière naturelle“ zwischen Epistemon, Polyander und Eudoxe, Cusanus’ „de pace“ über den Frieden zwischen den Religionen, Galileis „Dialog über die Weltsysteme“, in denen ein „Simplicius“ die zu widerlegende Weltsicht des Aristoteles vertritt, Diderots „Traum“, Sartres Theaterstücke sind Beispiele solcher Reflexion: Sie lassen Personen mit verschiedenen Standpunkten und Sichtweisen auftreten, die exemplarisch für bestimmte Positionen stehen, sich gegeneinander abgrenzen und so Reflexion anregend befördern. Und immer ist eine wie auch immer geartete logische oder ontologische Wahrheit angezielt, ohne dass inhaltlich vorgeschrieben würde, wie man nun zu denken hat: Es werden zwar Argumente für die Auffassung des Autors geliefert, doch sie zwingen nicht, das eigene Denken ist gefragt. Das hier geschilderte Konzept der Autotranszendenz durch transsubjektiven Perspektivenwechsel ist zudem geeignet, zwischen zwei unterschiedlichen philosophiedidaktischen Positionen zu vermitteln. Das Konzept der Ich44 bildung durch philosophische „paideia“ ist subjektphilosophisch orientiert, das des pragmatischen Dialogs mit Ziel Konsens (Martens, s.o.) an Habermasschen Vorstellungen von Kommunikation. Eine am Perspektivismus orientierte Didaktik ist in der Lage, beide Dimensionen zu verknüpfen: Einmal geschieht Perspektivenwechsel natürlich – auch – im Medium pragmatischer Dialoge, zum anderen befördert er, wie 44
W.D. Rehfus: 'LGDNWLNGHU3KLORVRSKLH, Düsseldorf 1980, 24f.
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oben ausgeführt wurde, ganz wesentlich Ichbildung, wenn auch mit Sozialanbindung: andere, fremde Perspektiven (egal, ob von Personen, Texten oder Kulturen) gehen konstitutiv in eine „Höher“entwicklung und Reifung des Menschen mit ein. Und dabei geht es ganz wesentlich auch um Inhalte: Denn die einzelnen Perspektiven haben als Denkinhalte ihren Wert, sind gegeneinander abzuwägen und liefern nur über ihre Inhalte Material zur Reflexion. Doch auch ein besonderer Umgang mit Wissen – davon muss zum Schluss die Rede sein – gehört dazu. Wie Sokrates ist der Philosoph nicht derjenige, der alles wüsste (und daraus Herrschaftsansprüche ableitete). Im Gegenteil: Er weiß um sein Nichtwissen in allem Wissen, denn es gibt kein besitzendes Wissen vom Ganzen, und erst dank dieser Einsicht ist es überhaupt möglich, ein korrektes Verhältnis zum Ganzen einzunehmen – als Be45 zug auf ein immer Weiteres, Offenes und letztlich Unfassliches. (Und hierhin gehört auch die „gelehrte Unwissenheit“ des Cusanus.) Noch etwas zur Zieldimension: Der Weise achtet stets auf angrenzende und gemeinhin übersehene Aspekte. Er hat das Umfeld im Blick und bringt es regulativ zur Geltung. Während sich der Unwissende Zugriff aufs Ganze zutraut und zuspricht, tritt der Weise solcher Totalisierung entgegen. [...] Er erkennt die Begrenztheit der einzelnen Perspektiven, [...] Daher mahnt er, die Partikularität nicht zu verkennen und Übergriffen und Majorisierungen entgegenzutreten. [...] Die Bescheidung, die zur Weisheit gehört, resultiert letztlich aus der Einsicht in die unbeendbare Struktur der Vielheit. [...] Das generelle Grenzbewußtsein ermöglicht, im ganzen für das Unfaßliche offen zu sein und innerhalb des Faßlichen gerecht [d.h. angemessen, G.M.] 46 zu operieren.
Die Betrachtungen einer solchen Vernunft (die bei Welsch als metarationales Vermögen gedacht wird) sind vielperspektivisch; sie achtet auf Grenzen, Gegenwendigkeiten und Widerstreite ebenso wie auf latente Verbindungen und Übergänge; sie wägt ab und sucht das Richtige zu treffen. [...] Umsicht, Weitblick und Durchblick sind in ihr ver47 einigt.
Und das ist – gerade auch angesichts real gestiegener Komplexität und Pluralität in unseren Gesellschaften – ein Richtziel von Reflexion überhaupt.
45 46 47
Welsch, a.a.O., S. 794. Ebd. Ebd., 795.
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3UDNWLVFKH.RQVHTXHQ]HQ Damit hat die ursprünglich erkenntnistheoretische Position des Perspektivismus auch ethische Konsequenzen. Perspektivwechsel sind nicht nur als Ritual bei schulischer Streitschlichtung unentbehrlich, ihre Einübung bewirkt Ge48 waltprävention , kann Aggressionspotentiale abbauen helfen und zu mehr Verständnis anderer Sichtweisen führen. Und das gilt erst recht in einer Welt, in der fremde Kulturen sich nicht mehr woanders, weit weg befinden, sondern mitten unter uns im Alltag präsent sind. Daher ist die Anleitung zum Perspektivwechsel nicht nur ein wichtiger Bestandteil des sozialen Lernens, sondern auch des interkulturellen Lernens. 49 Interkulturelles Lernen darf aber keine Einbahnstraße sein , und die so angeleitete Beschäftigung mit dem „Fremdem im Eigenen“, wie bereits angedeutet, ist daher unverzichtbarerer Bestandteil eines Bemühens um besseres Verständnis von Kulturen und Subkulturen, das auch dann Sinn macht, wenn diese, wie z.B. der Sufismus, die sehr europäische (oder besser abendländische) rationalistische Argumentationskultur und ihre Diskursregeln ablehnen. Vorurteilshaftes Denken, das nicht in der Lage oder bereit ist, klischeehafte und sehr äußerliche Urteile, z.B. über Religionen, zu modifizieren, ist unphilosophisch. Es wird selten in der Lage sein, die eigene Sicherheit und Identität durch Fremd- oder auch nur Andersartiges anders als bedroht zu sehen, wenn dieses nicht von vornherein abgewehrt oder abgewertet wird. Gerade angesichts der Prozesshaftigkeit der Wirklichkeit aber müssen die Bilder, die wir uns von ihr gemacht haben, beständig revidierbar sein. Die Einübung von wechselseitigen Horizontausweitungen – auf der Basis erlebter Gemeinsamkeiten kann die Bereitschaft dazu wachsen – ist also auch hier unverzichtbar und trägt nicht nur zur allgemeinen Bildung, sondern auch zur Persönlichkeitsbildung bei, indem sie souveränere Persönlichkeiten generiert. Und damit stehen wir auch unmittelbar bei den Aufgaben der Philosophiedidaktik, wie sie in dem in NRW neu eingerichteten Fach „Praktische Philo50 sophie“ wichtig werden. Hier nämlich sitzen SchülerInnen, die nicht am 48 49 50
G. Münnix: 3KLORVRSKLHUHQJHJHQ*HZDOW, in: M.Bolz (Hrsg.): Philosophieren in schwieriger Zeit, Münster 2003, 187-210. Vgl. R.A. Mall: 3KLORVRSKLHLP9HUJOHLFKGHU.XOWXUHQ, Darmstadt 1996, 100. G. Münnix: 3UDNWLVFKH3KLORVRSKLH in: N. Münnix / D. Warthmann (Hrsg.): Fächer und fächerübergreifender Unterricht in der Sek I des Gymnasiums, Bd.3: Kulturwissenschaften, S. 183-211. Heinsberg 2000.
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konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen, und sie repräsentieren für gewöhnlich unterschiedlichste Ethnien und Kulturen. Ein Philosophieren, das sich des Werts der aktual vorfindbaren Vielfalt – auch im Geistigen – bewusst ist und es denkerisch in Rechnung stellen möchte, muss Interesse auch für gegensätzlichste philosophische Positionen und Weltsichten wecken, auch wenn diese eigenen Erfahrungen oder Meinungen nicht entsprechen. Das Bemühen darum muss zum Ethos des praktischen Philosophierens gehören. Es darf also nicht nur um bloße Suche nach Bestätigung der eigenen, möglicherweise vorgefassten Ansichten gehen, sondern um kritische Reflexion, die auch sich selbst – im Bewusstsein der möglichen Beschränktheit eigener Perspektiven – nicht ausnimmt und eigene Positionierungen zu hinterfragen bereit ist. Philosophie hat es mit dem „Allgemeinen des Denkens“ zu tun und blickt auf eine philosophische Geistesgeschichte zurück. Sie schließt immer auch die Frage nach den Gründen und Voraussetzungen ihres eigenen Denkens mit ein. Auch hier bieten sich sinnvolle Perspektiven, die je eigenen Erfahrungen denkend zu überschreiten und neue „Gesichtspunkte“ in das je eigene Denken zu integrieren. Die Fähigkeit zur Autotranszendenz, die Bereitschaft, eigene Standpunkte denkend zu überschreiten, kann Handlungsdispositionen erzeugen, die zwar im Bewusstsein der Perspektivität des je eigenen Denkens gewonnen sind, sich aber gleichwohl bemühen, das „Ganze“ – oder zumindest größere Zusammenhänge – in den Blick zu nehmen und sich der Verantwortung eines entsprechenden Handelns nicht zu entziehen. Und das wäre jenseits aller Feindbilder auch ein Beitrag zu einer neuen politischen Kultur.
+HUDXVJHEHUXQG$XWRULQQHQ$XWRUHQYHU]HLFKQLV Prof. Dr. &ULVWLQD$OOHPDQQ*KLRQGD Geboren 1949 in Rom (I), Professorin für Pädagogik an der Universität zu Köln/Philosophische Fakultät, Studium der Germanistik, Anglistik, Romanistik und Pädagogik in Basel, Turin und Münster, Veröffentlichungen zu interkulturellen und internationalen Aspekten der Erziehungswissenschaft, bildungstheoretischen und bildungspolitischen Themen im Vergleich, Mehrsprachigkeit und Bildung. Universität zu Köln, Philosophische Fakultät, Pädagogisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, D-50931 Köln. Prof. Dr. 8OULFK%DUWRVFK Geboren 1960 in Regensburg (D), Diplom-Pädagoge, M.A., Professor für Pädagogik an der Universität Eichstätt-Ingolstadt, Studium der Pädagogik und Politikwissenschaft in Regensburg und Frankfurt a.M., Veröffentlichungen zur Politischen Ideengeschichte, Friedensforschung, Erwachsenenbildung und Schulsozialarbeit. Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Fakultät für Soziale Arbeit, D85071 Eichstätt. Prof. Dr. :LOKHOP%HUJHU Geboren 1957 in Klagenfurt (A), Stellvertretender Leiter des Instituts für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung der Universität Klagenfurt, Studium der Pädagogik, Soziologie und Philosophie in Wien und Klagenfurt, Veröffentlichungen zur Philosophischen Anthropologie, Technikphilosophie und Geschichte der Philosophie. Sterneckstraße 15, A-9020 Klagenfurt. Prof. Dr. 0LFKDHOYRQ%UFN Geboren 1949 in Dresden (D), Professor für Missions- und Religionswissenschaft an der Universität München, Studium der Systematischen Theologie, Religionsphilosophie und Religionswissenschaft in Rostock, Regensburg, Madras und Dharamsala, Veröffentlichungen zum Interreligiösen- Dialog, Hinduismus, Buddhismus und Erfahrungsbegriff in europäischen sowie ostasiatischen Religionen. Institut für Missions- und Religionswissenschaft, Ludwig-Maximilians- Universität München, Schellingstraße 3 Vg./IV 407, D-80799 München.
346 Prof. Dr. $QGUHDV&HVDQD geboren 1951 in Basel (CH), Professor für Philosophie und Leiter des Studium Generale der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Studium der Philosophie, Allgemeinen Geschichte und Geschichte der Schweiz in Basel, Veröffentlichungen zur Philosophie der Geschichte, Existenzphilosophie, Argumentationsanalyse und interkulturellen Philosophie. Studium Generale der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, D-55099 Mainz. Prof. Dr. )UHG'DOOPD\U geboren 1928 in Ulm (D),Ph.D., Dr. jur., Packley J. Dee Professor am Departement for Policial Science and Philosophy, Studium der Philosophie und Rechtswissensschaften in München und an der Duke University, Veröffentlichungen zur Empirischen Philosophie, Kritischen Theorie, Hermeneutik und Vergleichenden Philosophie. 51888 Old Mill Road, South Bend, IN 46556, USA. Prof. Dr. 9LQFHQW*DEULHO)XUWDGR geboren 1947 in Indien, Direktor of the Research Institute for Philosophie and Theology, Shantia Adhana, Bangalore, Indien, Studium der Katholischen Theologie, Philosophie und Vergleichenden Religionswissenschaft in Poona, Kamatak, Löwen und Münster, Veröffentlichungen zur interkulturellen Philosophie, vergleichenden Religionswissenschaften sowie Philosophie und Spiritualität. Shanti-Sadhana Research Institue, Mysore Road, Opp. R.V. College, Bangalore – 560059 Indien. .ODXGLXV*DQVF]\N Geboren 1953 Klausberg (D), Studiendirektor für Philosophie und Physik am Theodor-Heuss-Gymnasium Hagen und in der Lehrerausbildung am Studienseminar Sek. II Hagen II, Studium der Philosophie und Physik in Bochum. Rollmannstraße 52, D-58256 Ennepetal. Dr. +HLQULFK$QGUHDV*HLJHU Geboren 1954 in Altenmünster/Landkreis Augsburg (D), Referatsleiter Asien und Stellvertretender Generalsekretär Katholischer-Akademischer AusländerDienst (KAAD), Bonn, Studium der Soziologie, Philosophie, Chinesischen Kunst und Archäologie in München, Frankfurt a.M., Hamburg und Taibei /Taiwan, Veröffentlichungen zur Chinesischen Geistesgeschichte, Philoso-
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phischen Ästhetik in China, Bildungskooperation und Länderthemen OstSüdostasiens. Max Cohen-Straße 4 D-53121 Bonn. Dr. Hakan Gürses Geboren 1961 in Istanbul (T), Senior reseacher und Universitätslektor am Institut für Philosophie der Universität Wien, Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft in Wien, Veröffentlichungen zur Politischen Philosophie, Hermeneutik, interkulturellen Philosophie und Kulturphilosophie. Gumpendorfer Straße 15/13, A-1060 Wien. Asst. Prof. Dr. Norbert Hintersteiner geboren 1963 in Melk (A), Assistant Professor for Foundational and Comparative Theology, School of Theology and Religious Studies, Catholic University of America, Washington DC, Studium der Katholischen Theologie in Salzburg, Tübingen, Bonn, Chicago und Frankfurt, Religious Studies und Comparative Theology in Boston, Veröffentlichungen zur Systematischen Theologie, Komparativen Theologie und zum Interreligiösen Dialog. The Catholic University of America, Washington DC 20064, USA. Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Kimmerle Geboren 1930 in Solingen (D), Vorsitzender der Stiftung für interkulturelle Philosophie und Kunst, Zoetemeer (NL), Studium der Philosophie, Neueren Literaturwissenschaft und Evangelischen Theologie in Tübingen, Bonn und Heidelberg, Veröffentlichungen zu Schleiermacher und die Geschichte der Hermeneutik, Hegel und die Geschichte der Dialektik, Philosophien der Differenz sowie interkulturellen Philosophie mit dem Schwerpunkt Afrikanische Philosophie. Nieuwater 35. NL-2715BP Zoetemeer. PD Dr. Dieter Lohmar geboren 1955 in Köln (D), Privatdozent für Pilosophie an der Univerität Köln. Studium der Philosophie und Mathematik in Köln, Bonn, Wuppertal und Löwen, Veröffentlichungen zur Phänomenologie, Transzendentalen Philosophie und Philosophie der Mathematik. Husserl-Archiv, Universität Köln, Albertus-Magnus-Platz, D-50923 Köln.
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Prof. Dr.5DP$GKDU0DOO geboren 1937 in Indien, lehrt Philosophie an der Universität München, Studium der Philosophie, Psychologie, Sanskrit und Anglistik in Kalkutta, Göttingen und Köln, Veröffentlichungen zur interkulturellen Philosophie, britischem Empirismus, Phänomenologie sowie Philosophie des Hinduismus und Buddhismus. Blumenstrasse 18, D-56070 Koblenz. Dr. *DEULHOH0QQL[ geboren 1949 in Düsseldorf (D), Dozentin für Philosophie am Institut für Lehrerfortbildung Mühlheim/Ruhr, Studium der Philosophie, Mathematik und Pädagogik in Köln, Veröffentlichungen zur interkulturelle Philosophie, Philosophie der Postmoderne, Ethik sowie Ästhetik. Schorlemer Straße 8 , D-40545 Düsseldorf. Dr.
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1DPLQJDQG7KLQNLQJ *RGLQ(XURSH7RGD\ 7KHRORJ\LQ*OREDO'LDORJXH 1RUEHUW+LQWHUVWHLQHU(GLWRU &XUUHQWVRI(QFRXQWHU 7KLVYROXPHLQWURGXFHVLWVUHDGHUVWRPDMRUFKDOOHQJHVDQGSURVSHFWV RQQDPLQJDQGWKLQNLQJ*RGLQ(XURSHWRGD\,VWKHUHDSODFHIRU *RGWDONDWDOO":KDWIXQFWLRQDQGLPSDFWPLJKW*RGWDONKDYHIRUWKH QHZ(XURSH"&DQWKHRORJLFDOWHQVLRQVEHWZHHQ(DVWHUQDQG:HVWHUQ (XURSHEHRYHUFRPHLQWKHQHZFRQWH[W"+RZFDQ*RGEHQDPHG DQGWKRXJKWLQ(XURSHDVLW¿QGVLWVHOILQPLGVWRIDYDULHW\RIFURVV FXOWXUDODQGLQWHUUHOLJLRXVSURFHVVHV" 7KHHVVD\VRIWKLVYROXPHE\DGGUHVVLQJTXHVWLRQVOLNHWKHVHDLP DWSUHVHQWLQJQHZSURVSHFWVWRUHIDVKLRQDQGDGYDQFH(XURSH¶V WKHRORJLFDOUROHLQDJOREDOZRUOG
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