Kirsten Meyer
Bildung
Grundthemen Philosophie
Herausgegeben von Dieter Birnbacher Pirmin Stekeler-Weithofer Holm Te...
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Kirsten Meyer
Bildung
Grundthemen Philosophie
Herausgegeben von Dieter Birnbacher Pirmin Stekeler-Weithofer Holm Tetens
DE GRUYTER
Kirsten Meyer
Bildung
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-025096-1 e-ISBN 978-3-11-025097-8
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Meyer, Kirsten. Bildung / Kirsten Meyer. p. cm. -- (Grundthemen Philosophie) Revision of the author’s Habilitationsschrift--Göttingen, 2009. Includes bibliographical references (p. ) and index. ISBN 978-3-11-025096-1 (pbk. : alk. paper) 1. Education--Philosophy. 2. Education and state. I. Title. LB14.7.M49 2011 379--dc23 2011019657
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Umschlagkonzept: +malsy, Willich Satzherstellung: vitaledesign, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3
Bildung und Autonomie . . . . . . . . Autonomieideal und Bildung . . . . . . Handlungsmöglichkeiten . . . . . . . . Autonomie des Wollens . . . . . . . . . Begründete Meinungen . . . . . . . . . Grenzen des Autonomieideals. . . . . . Gemeinschaftliche Werte. . . . . . . . . Konkurrierende Werte . . . . . . . . . . Über Autonomie hinausgehende Werte.
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13 14 17 22 29 32 33 35 38
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3
Bildung und Werte . . . Werte an sich . . . . . . . Intrinsische Werte . . . . Inhärente Werte. . . . . . Wertvolle Erfahrungen . Einzelne Werte . . . . . . Der Wert der Autonomie Der Wert des Wissens . . Ästhetische Werte . . . .
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45 45 47 51 55 60 62 68 73
4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3
Bildung und gutes Leben . . . . . . . . Bildung und menschliche Fähigkeiten . Individuelle Fähigkeiten . . . . . . . . . Spezifisch menschliche Fähigkeiten . . . Essentielle Fähigkeiten . . . . . . . . . . Bildung, Bedürfnisse und Erfahrungen . Grundbedürfnisse . . . . . . . . . . . . Wertvolle Erfahrungen und gutes Leben Bildung und kulturelle Werte . . . . . .
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. 81 . 84 . 85 . 89 . 92 . 99 . 99 . 103 . 109
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3
Bildung und Neutralität . . . . . . . . . . . . . Staatliche Neutralität . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt und Begründung des Neutralitätsgebotes . Einwände gegen das Neutralitätsgebot . . . . . . Neutralitätsgebot und Autonomie . . . . . . . . Bildung und staatliches Handeln . . . . . . . . . Staatliche Erziehung zum Wohl der Kinder . . . Beförderung der Autonomie. . . . . . . . . . . . Staatliche Kulturförderung durch Erziehung. . .
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117 120 123 128 132 134 136 140 148
VI
Inhalt
6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3
Bildung und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . Bildung und Chancengleichheit . . . . . . . . . Gleiche Chancen . . . . . . . . . . . . . . . . . Chancengleichheit und soziale Herkunft . . . Chancengleichheit und natürliche Ausstattung Bildung und Menschenrechte . . . . . . . . . . Menschenrechte als moralische Rechte . . . . . Menschenrecht auf Bildung . . . . . . . . . . . Chancengleichheit und Recht auf Bildung . . .
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155 155 156 160 165 171 172 180 183
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Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Vorbemerkung Dieses Buch ist die gekürzte Fassung meiner Habilitationsschrift, die 2009 von der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen angenommen worden ist. Nach der Promotion in Bielefeld hatte ich zunächst in Regensburg eine Assistentenstelle bei Holmer Steinfath inne. Er hat mir von Anfang an alle Freiheiten gelassen, an diesem Buch zu schreiben, und er hat meine Arbeit an diesem Buch mit kritischen, aber immer auch äußerst konstruktiven Kommentaren begleitet. Dafür und für all das, was ich von ihm lernen konnte, bin ich sehr dankbar. Als Holmer Steinfath einen Ruf an die Universität Göttingen bekam, bin ich mit ihm 2006 dorthin gewechselt. Zwei Jahre später ging ich dann an die Humboldt-Universität zu Berlin und damit an einen ausgezeichneten Ort, um weiter über Bildung nachzudenken. Neben Holmer Steinfath haben Christian Beyer, Bernd Ludwig, Margret Kraul und Walter Reese-Schäfer als Gutachter im Habilitationsverfahren mitgewirkt. Ihnen allen sei dafür herzlich gedankt. Zahlreiche weitere Kolleginnen und Kollegen haben die in diesem Buch angestellten Überlegungen durch ihre kritischen Anmerkungen und Kommentare zu früheren Fassungen beeinflusst. Besonders bedanken möchte ich mich dafür bei Dietrich Benner, Roland Bluhm, Mario Brandhorst, Ralf Busse, Dina Emundts, Holger Gutschmidt, Marco Iorio, Nadine Köhne, Corinna Mieth, Catrin Misselhorn, Michaela Rehm, Thomas Schmidt, Thomas Schramme und Tatjana Tarkian. Für das Korrekturlesen danke ich herzlich Jakob Reckhenrich, Sylvia Strauß, Benjamin Streim und Philipp Kanschik. Die zweimalige Verlagerung unseres Familienwohnsitzes in recht kurzer Zeit und vieles andere mehr wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung meines Mannes Bernhard Wegener. Trotz des jahrelangen Pendelns nach Erlangen hat er es geschafft, so viel liebevolle Zeit mit unseren Kindern Aaron und Mathilda zu verbringen. Dir, Bernhard, sei dieses Buch daher gewidmet.
1 Einleitung In der Philosophie der Bildung und Erziehung muss auch, und sogar vor allem, über Fragen des guten Lebens nachgedacht werden. Da Überlegungen zum guten Leben im Zentrum des antiken Philosophierens standen, konnte die Philosophie der Erziehung in der Antike einen weitaus größeren Raum einnehmen, als dies in der zeitgenössischen Philosophie der Fall ist. So stellt Sokrates die erzieherischen Ansprüche der Sophisten in Frage. Die Sophisten boten an, eine Ausbildung in den politischen Tugenden zu erteilen. Doch Sokrates bezweifelt, dass die Sophisten in der Lage sind, diesen Anspruch einzulösen.1 Denn den Sophisten fehlt laut Sokrates das Expertenwissen, welches sie zur Vermittlung der wahren Tugenden befähigen würde. Platon berichtet allerdings nicht nur von den kritischen Einwänden des Sokrates, sondern entwickelt in der Politeia und in den Nomoi selbst Vorschläge für eine umfassende Erziehung. Aristoteles’ Philosophie der Erziehung ist vor allem in der Nikomachischen Ethik und in der Politik erkennbar. Zwar unterscheiden sich seine Vorstellungen von der Erziehung zu einem guten Charakter von denen Platons. Aristoteles teilt allerdings Platons Ansicht, dass Gerechtigkeit und gutes Leben gezielte erzieherische Bemühungen erfordern, zu denen auch die politischen Institutionen in entscheidendem Maße beitragen sollten. Im 18. Jahrhundert übernimmt eine neue Wissenschaft das Nachdenken über Erziehung, welches nach antikem Verständnis zu den Hauptaufgaben der Philosophie gehörte, und zwar die Pädagogik.2 Im Unterschied zu der antiken Frage nach den Zwecken der Erziehung hat sich die Pädagogik allerdings häufig mit den angemessenen Mitteln der Erziehung befasst. Dem gegenüber weist schon Sokrates im Laches darauf hin, dass den Überlegungen zu den Mitteln der Erziehung zunächst einmal Überlegungen zu deren Zwecken vorangehen müssen. Auf die Frage, ob die jungen Männer das Fechten in ganzer Rüstung lernen sollen, antwortet Sokrates, dass man hier den Zweck der Erziehung in den Blick nehmen müsse. Sokrates verdeutlicht das anhand der folgenden Analogie: Wenn einer überlege, ob er ein Mittel für die Augen aufstreichen solle oder nicht, dann müsse das Augenleiden in den Blick genommen werden. Es müsse also um den Zweck gehen, den das Medikament erfüllen soll. Dieses Beispiel lasse sich verallgemeinern: „Also mit einem Worte, wenn jemand etwas eines anderen wegen überlegt, so betrifft seine Beratung dasjenige, um dessen willen er es überlegte, nicht das, was er um des andern willen suchte.“3 Diese Einsicht wendet Sokrates nun auch auf die Erziehung der jungen Männer an: „Und nicht wahr, jetzt sagen wir, dass wir, ob eine Kunst soll gelehrt werden, überlegen um der Seele der Jünglinge wegen.“4
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Wenn sich eine Theorie der Erziehung also nicht mit den Zwecken, sondern nur mit den Mitteln der Erziehung befasst, verliert sie damit die philosophischen Fragen aus dem Auge, deren Beantwortung eigentlich im Kern pädagogischer Theorie liegen müsste. Über bestimmte Mittel kann man immer nur relativ zu bestimmten Zwecken sinnvoll nachdenken, und daher sollte eine philosophische Vergewisserung über die Ziele der Erziehung der Ausgangspunkt für pädagogische Überlegungen sein. Für Herbart war ein solcher Bezug zwischen Philosophie und Pädagogik noch selbstverständlich. So schreibt er: „Pädagogik als Wissenschaft hängt ab von der praktischen Philosophie und Psychologie. Jene zeigt das Ziel, diese den Weg und die Gefahren.“5 Die heutige Kluft zwischen Philosophie und Pädagogik ist auch der Philosophie anzulasten. Die Philosophie selbst hat den Anspruch darauf, sinnvoll über Fragen des guten Lebens nachdenken zu können, zeitweilig aufgegeben, und sich damit aus dem Nachdenken über Erziehung zurückgezogen. Dazu könnten auch die offensichtlich problematischen Forderungen beigetragen haben, die Platon und Aristoteles aus ihren Überlegungen abgeleitet haben. Aristoteles behauptet in der Politik, dass die politische Gemeinschaft dem individuellen Bürger vorgeordnet ist.6 Daher solle die Verantwortlichkeit für die Erziehung dem privaten Zugriff entzogen und zur gemeinsamen Sache gemacht werden.7 Ähnlich äußert sich bereits Platon, und dessen Überlegungen zu den Inhalten und der Reichweite der gemeinsamen Erziehung erscheinen aus heutiger Sicht verfehlt. Allein deshalb darf das Nachdenken über die staatliche Erziehung – und damit über das staatliche Schulwesen – Fragen des guten Lebens aber nicht einfach ausklammern. Gegenstand dieses Buches ist es daher, in einer Auseinandersetzung mit Fragen des guten Lebens die Zwecke der schulischen Erziehung zu diskutieren. Im Folgenden wird in diesem Zusammenhang nicht nur von „Erziehung“, sondern auch von „Bildung“ die Rede sein. Bei einer Übersetzung in andere Sprachen wird das deutsche Wort „Bildung“ meist mit „Erziehung“ übersetzt, so z. B. die akademische Bildung mit „higher education“ oder „university education“.8 Dabei verliert man jedoch leicht eine wichtige Facette des Bildungsbegriffs aus dem Blick. Im Deutschen ist oftmals dann von „Bildung“ die Rede, wenn es um die Zwecke des schulischen oder universitären Wirkens geht, und das Wort „Erziehung“ bezieht sich im Deutschen eher auf dieses Wirken selbst. Soziologen weisen darauf hin, dass der Bildungsbegriff dazu dient, über die Ziele des Erziehungssystems zu reflektieren und diese zu rechtfertigen. Der Bildungsbegriff sei jedoch nach und nach konturloser geworden. Er sei heute „nur noch ein Ersatzausdruck für Erziehung, der anscheinend immer dann einspringt, wenn es gilt, Orientierungslosigkeit durch Berufung auf Werthaftes zu überspielen“.9 Pädagogen wie von Hentig verweisen da-
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rüber hinaus auf den „hohlen Anspruch“ und die „verknöcherte Praxis“ des Bildungsbegriffs.10 Im Folgenden soll dennoch von „Bildung“ die Rede sein. Der Grund besteht darin, dass der Bildungsbegriff, wenn man sich an dessen philosophischen Wurzeln orientiert, den Bezug der Erziehung zum guten Leben in den Blick rückt.11 Wilhelm von Humboldt hat diesen Bezug in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt. Der von Humboldt beleuchtete Zusammenhang zwischen Bildung und individuell gutem Leben kommt jedoch in der zeitgenössischen Bildungsdebatte zu kurz und soll daher in diesem Buch eine Revitalisierung erfahren. „Bildung“ wurde durch Humboldt zum Grundbegriff der deutschsprachigen Pädagogik.12 Der Rekurs auf die individuelle Bildung gibt bei Humboldt auch die Zwecke an, die den Bildungsinstitutionen (also Schule und Universität) zugrunde liegen sollten. In der individuellen Bildung erfolgt eine Auswahl und Aneignung von Lerninhalten aus freien Stücken im Zusammenhang mit der individuellen Persönlichkeitsentwicklung. Bilden können sich Menschen daher letztlich nur selbst. Dennoch meint auch Humboldt, dass es institutionelle Rahmenbedingungen gibt, die den individuellen Bildungsprozess befördern oder behindern können, und deshalb macht er selbst konkrete (und wirkungsmächtige) Vorschläge zu den institutionellen Rahmenbedingungen von Schule und Universität als Orte, in denen Bildung stattfindet. In einer Diskussion solcher Rahmenbedingungen für die individuelle Bildung kann uns Humboldt von der alleinigen Fokussierung auf gesamtgesellschaftliche Zwecke wegführen, welche die öffentliche Bildungsdebatte heute oftmals bestimmt. So wird Bildung in zusammengesetzten Substantiven wie „Bildungsdefizit“ oder „Bildungsinvestitionen“ häufig als Mittel zu weiteren Zwecken in den Blick genommen. Hier wird Bildung als Mittel zur Steigerung oder zumindest Bewahrung der gesamtgesellschaftlichen Produktivität und ein Bildungsdefizit als ursächlich für eine verringerte wirtschaftliche Produktivität angesehen. Wenn heute davon die Rede ist, dass zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland mehr Geld für Bildung ausgegeben werden sollte, geht es also um den gesamtgesellschaftlichen Wert des beabsichtigten Ergebnisses der Erziehung. So wird beispielsweise gefordert, die Kreativität der zu Erziehenden zu befördern, um deutsche Wissenschaftler zu künftigen technischen, wirtschaftlich verwertbaren Innovationen zu befähigen. Hiervon abweichend orientiere ich mich an den philosophischen Wurzeln des Bildungsbegriffes. Diese nehmen, zumindest wenn man Humboldt folgt, in erster Linie das Individuum in den Blick, dem durch die schulische Erziehung Bildung widerfährt.13 Die Orientierung am Begriff der Bildung schränkt die möglichen Zwecke der schulischen Erziehung damit in bestimmter Weise ein. Es geht um solche Zwecke der Erziehung, die darauf ausgerichtet sind, was gut oder wertvoll für den einzelnen Menschen ist. Um ihn und das für ihn Gute geht
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es, wenn im Folgenden von seiner „Bildung“ die Rede ist. Neben dieser Einschränkung sorgt eine Orientierung am Begriff der Bildung aber auch für eine Erweiterung der in der zeitgenössischen Philosophie der Erziehung angestellten Überlegungen. Wenn dort über mögliche Ziele staatlicher Erziehung reflektiert wird, erfolgt durchaus eine Orientierung an dem, was gut für jedes einzelne Individuum ist. Allerdings wird hier meist nur ein Gut in den Blick gerückt. Als Zweck der Erziehung wird nahezu ausschließlich die Beförderung der Selbstbestimmtheit oder Autonomie der zu Erziehenden genannt. Da eine Reflexion über die Zwecke der Erziehung nicht ohne eine Bezugnahme auf das gute Leben auskommt, eine entsprechende Orientierung staatlichen Handelns aber überaus umstritten ist, scheint Autonomie der einzige Zweck der Erziehung zu sein, auf den man sich einigen kann. Doch wir werden sehen, dass diese Einschränkung weder die aktuelle Praxis im Erziehungswesen widerspiegelt, noch als alleinige Zielformulierung für diese Praxis angemessen ist. Neben der Beförderung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung geht es um die Beförderung weiterer Fähigkeiten, wie beispielsweise der Fähigkeit, bestimmte kulturelle Werte als solche erkennen und schätzen zu können. Eine Orientierung am Begriff der Bildung hat daher auch die Funktion, solche Zwecke nicht aus dem Blick zu verlieren. Doch fangen wir ganz klein an. Es ist gut für ein Kind, lesen und schreiben zu lernen. Um dies sagen zu können, muss man keine Aussage über die Güte der verschiedenen möglichen Zwecke treffen, an deren Realisierung dem Kind später einmal liegen könnte. Der Hinweis auf den instrumentellen Wert dieser Kulturtechniken reicht aus, um deren Vermittlung zu begründen. Wenn also nach dem Zweck der schulischen Erziehung gefragt ist, dann lässt sich auf all die möglichen Ziele verweisen, welche Kinder bereits haben oder später haben werden. Als bestmögliche Erziehung könnte man dann eine Erziehung ansehen, welche diesen Zielen bestmöglich dient. Bezogen auf das Individuum ist zwar keineswegs klar, welche konkreten Ziele es später einmal verfolgen wird, z. B. welchen Beruf es ausüben will. Doch man wird immerhin die Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln versuchen, die für die Realisierung ganz verschiedener Zwecke nötig sind. Hierfür sind die elementaren Kulturtechniken ein gutes Beispiel. Lesen und Schreiben zu können ist wichtig für nahezu alle Zwecke, an deren Realisierung verschiedenen Menschen liegt. Einige Bestandteile des schulischen Unterrichts lassen sich jedoch nicht auf diese Weise rechtfertigen. Goethes Faust etwas abgewinnen zu können ist – anders als die grundlegenden Fähigkeiten des Lesens oder Schreibens – kein notwendiges Mittel für das Verfolgen fundamentaler Zwecke.14 Außerdem orientiert sich die Schule nicht nur an bereits gegebenen Zwecken, sondern sie bestimmt diese in einem entscheidenden Maße selbst mit. Die Erziehung kann nicht umhin, zumindest die Wahrscheinlichkeit dafür zu erhöhen, dass sich Kinder ganz bestimmte Zwecke zu eigen machen wer-
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den und andere eher nicht. Sollte sich die schulische Erziehung möglichst neutral gegenüber möglichen Zwecken verhalten, oder sollte sie bestimmte Zwecke gezielt befördern? Falls sie bestimmte Zwecke befördern sollte – welche sind das? An welchen obersten Zielen sollte sie sich orientieren? Das Nachdenken über Erziehung erfordert hier ein praktisches Überlegen, welches sich nicht in der Frage erschöpft, was bestimmten Zwecken am Besten dient. Darüber hinaus müssen wir über den Wert dieser Zwecke reflektieren. Verallgemeinernd werden oftmals all die Aspekte der Erziehung für unkontrovers gehalten, welche „funktional“ oder „instrumentell“ wertvoll sind. Doch diese Darstellung ist verkürzt, denn auch instrumentell Wertvolles muss sich an seinen Zwecken messen lassen, und dem Wert dieser Zwecke könnten andere Werte entgegenstehen. Ich werde im Folgenden einen wichtigen Bereich der Philosophie der Erziehung weitestgehend ausblenden müssen, und zwar Überlegungen zur moralischen Erziehung. Kant fordert, Kinder sollten „der Idee der Menschheit angemessen“ erzogen werden: „Ein Princip der Erziehungskunst, das besonders solche Männer, die Pläne zur Erziehung machen, vor Augen haben sollten, ist: Kinder sollen nicht nur dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglichen bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden. Dieses Princip ist von großer Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde.“15 Auch in der zeitgenössischen politischen Philosophie wird auf die Wichtigkeit einer moralischen Erziehung verwiesen. Rawls beispielsweise meint in A Theory of Justice, die moralische Erziehung solle den Gerechtigkeitssinn kultivieren. Niemand könne etwas gegen eine moralische Erziehung sagen, die den Gerechtigkeitssinn einpflanze. Denn mit der Zustimmung zu den Grundsätzen des Rechten im Urzustand hätten die Parteien auch den Vorkehrungen zugestimmt, die nötig sind, um diese Grundsätze in ihrem Verhalten wirksam werden zu lassen.16 In Political Liberalism ist Rawls etwas zurückhaltender – hier fordert er keine moralische, sondern eine politische Erziehung. Denn der Staat habe nur insofern ein legitimes Interesse an der Erziehung der Kinder, als diese zukünftige Bürger seien.17 Der Staat solle sich daher darauf beschränken, politische Tugenden zu vermitteln, und keine umfassende Konzeption des Guten befördern, wie sie etwa von Kant vertreten werde. Ähnlich wie Rawls argumentiert Gutmann. Sie meint, die staatliche Erziehung solle die Werte unserer modernen Demokratien vermitteln. Gutmann bezeichnet die bewusste soziale Reproduktion als den zentralen Wert der Demokratie.18 Eine Gesellschaft, die diesen Wert befördern will, müsse daher die Kinder so erziehen, dass sie die Fähigkeit erlernen, an der bewussten Gestaltung
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1 Einleitung
ihrer Gesellschaft teilzunehmen. Dazu gehöre die Beförderung bestimmter Fähigkeiten, die notwendig sind, um über politisch relevante Themen reflektieren zu können. Außerdem müsse den zu Erziehenden Toleranz und Respekt vermittelt werden. Ich werde auf diesen Punkt später kurz eingehen, da er für die Frage nach der Vereinbarkeit von Neutralitätsgebot und bestimmten Formen staatlicher Zwänge im Rahmen der schulischen Erziehung wichtig ist. Der Bereich der moralischen und der politischen Erziehung soll im Folgenden jedoch allenfalls am Rande behandelt werden. Es ist mir wichtig zu betonen, dass die Bedeutung dieses Bereiches damit nicht in Abrede gestellt werden soll. Die moralische und die politische Erziehung haben jeweils das Zusammenleben der Menschen im Blick – und die schulische Erziehung sollte zweifellos einen Beitrag zu einem friedlichen Zusammenleben leisten. Vielleicht ist das sogar eine ihrer zentralen Aufgaben. Dennoch soll es im Folgenden um die Zwecke der Erziehung gehen, in denen das gute Leben des einzelnen Individuums direkt, und ohne Rekurs auf sein Zusammenleben mit anderen, in den Blick kommt. Diese Zwecke sollen deshalb im Vordergrund meiner Überlegungen stehen, weil sie in der zeitgenössischen Diskussion aus dem Blick geraten sind. Zwar lässt sich beides nicht immer klar voneinander trennen. Zum einen ist ein friedliches Zusammenleben eine notwendige Voraussetzung für das gute Leben jedes Einzelnen. Und zum anderen trägt auch die Beförderung nicht-moralischer Werte oftmals indirekt zu einer Beförderung sozialer Zwecke bei. Schule ist immer auch ein sozialer Raum, und die Schülerinnen und Schüler lernen dort zusammen mit anderen. Dadurch erwerben sie eine ganze Reihe von sozialen Fähigkeiten, wie die Fähigkeit, anderen zuzuhören, sich anderen verständlich zu machen, sich in andere einzufühlen usw. Dennoch lassen sich zwei Fragen getrennt voneinander diskutieren. Zum einen kann man fragen, welche Art von Erziehung nötig ist, um für ein friedliches Zusammenleben oder eine stabile Demokratie zu sorgen. Zum anderen kann man fragen, inwiefern die schulische Erziehung auch darüber hinaus zu einer Beförderung des je individuell guten Lebens beitragen kann oder sogar sollte. Es ist diese zweite Frage, deren Beantwortung ich mich in diesem Buch widmen werde. Diese Frage kann an die Überlegungen Wilhelm von Humboldts anknüpfen, der die Zwecke des sich bildenden Individuums in den Blick rückt. Humboldts Bildungsideal enthält als wesentliches Moment ein Ideal der Selbstbestimmung. Dieses Ideal ist darüber hinaus auch für die zeitgenössische Philosophie der Erziehung zentral. Autonomie oder Selbstbestimmung wird als das zentrale Ziel der Erziehung ausgemacht. Im zweiten Kapitel dieses Buches geht es daher um eine Analyse des Autonomieideals und dessen Bedeutung für den Bildungsbereich. Im ersten Teil dieses Kapitels diskutiere ich drei grundlegende Aspekte dieses Ideals, die sich als
1 Einleitung
9
Autonomie des Handelns, Wollens und Meinens zusammenfassen lassen. Wie der zweite Teil dieses Kapitels verdeutlicht, greift das Autonomieideal aber letztlich zu kurz. Zwar mag man versuchen, all das, was faktisch im Bildungsbereich passiert, als Beitrag zur Autonomie oder Selbstbestimmtheit der Individuen zu verstehen. Dieser Versuch stößt jedoch an Grenzen, weil über den Wert der Autonomie hinausgehende Werte unberücksichtigt bleiben. So ist beispielsweise die Förderung ästhetischer Werte nicht allein mit dem Hinweis auf eine Förderung der Autonomie zu begründen. Um die verschiedenen für die staatliche Erziehung relevanten Werte besser einordnen zu können, widmet sich das dritte Kapitel einigen werttheoretischen Überlegungen. In seinem ersten Teil wird zwischen intrinsischen und inhärenten Werten sowie wertvollen Erfahrungen unterschieden. Dabei wird sich zeigen, dass es die „an sich“ wertvollen Erfahrungen sind, auf die unsere Rede davon, dass Bildung ein Wert an sich ist, letztlich zurückgeführt werden sollte. Diese Überlegungen lassen sich dann im zweiten Teil dieses Kapitels auf den Wert der Autonomie, den Wert des Wissens, sowie auf ästhetische Werte übertragen. Daran anschließend stellt sich die Frage, inwiefern diese Werte in einer Konzeption des guten Lebens zu integrieren sind, und ob dafür eine subjektivistische oder objektivistische Konzeption in Frage kommt. Um eine Beantwortung dieser Frage wird es mir im vierten Kapitel gehen. Im ersten Teil dieses Kapitels untersuche ich bestimmte objektivistische Konzeptionen, und zwar solche, die eine Beförderung (spezifisch) menschlicher Fähigkeiten im Blick haben. Im zweiten Teil wende ich mich subjektivistischen Konzeptionen des guten Lebens zu. Zunächst ist gerade für die Erziehung ein objektivistischer Ansatz nahe liegend. Bereits der elterlichen Erziehung liegen Vorstellungen davon zugrunde, wie zu leben gut oder ratsam ist. Eltern, die sich ein gutes Leben für ihre Kinder erhoffen, nehmen von ihren eigenen jeweiligen Lebensumständen Abstand und fragen, was ein menschliches Leben allgemein zu einem guten Leben macht.19 Eine solche Fragestellung muss auch den Reflexionen über die schulische Erziehung zugrunde liegen. Jeder Bildungskanon stellt eine Auswahl aus den Lerninhalten dar, die wir für besonders wertvoll erachten. Doch worin besteht der Zusammenhang zwischen Bildungskanon und gutem Leben genau? Ich werde in diesem Kapitel dafür argumentieren, dass die objektivistischen Fähigkeiten-Ansätze Begründungsdefizite aufweisen. Sie lassen sich aber durch eine im Kern subjektivistische Begründung ersetzen, die auf die guten Erfahrungen verweist, welche die Erziehung ermöglicht. Diesen Erfahrungen können wir allerdings einen bestimmten Grad an Allgemeinheit unterstellen. Auf der Grundlage dieser Überlegungen diskutiere ich im fünften Kapitel die Forderung nach staatlicher Neutralität im Bildungsbereich. Sollten wir im Bildungsbereich von der Forderung abweichen, staatliches Handeln
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1 Einleitung
nicht mit Bezug auf bestimmte Vorstellungen vom guten Leben, und insofern „neutral“ zu begründen? Zunächst muss hier möglichen Inhalten und Begründungen für das Neutralitätsgebot näher nachgegangen werden. Im Anschluss daran lässt sich dann zeigen, ob und inwiefern eine Beförderung des guten Lebens im Bildungsbereich tatsächlich mit guten Gründen zurückzuweisen oder aber aufrechtzuerhalten ist. Hier ist also zu prüfen, ob dem bildungsbezogenen staatlichen Handeln eine bestimmte Vorstellung vom guten Leben zugrunde liegen darf oder sogar sollte. Auch die Beförderung der Autonomie steht dabei erneut auf dem Prüfstand. Es ist zu fragen, ob sich eine autonomieorientierte Erziehung mit dem Neutralitätsgebot vereinbaren lässt, denn eben dies wird von einigen Vertretern des Neutralitätsgebotes bestritten. Letztlich wird sich jedoch zeigen, dass ein subjektivistisch interpretierter Bezug auf das individuell gute Leben wichtige Erziehungsziele begründen kann, die mit dem Neutralitätsgebot nur auf den ersten Blick unvereinbar sind. Inwiefern es Aufgabe des Staates ist, mittels schulischer Erziehung das gute Leben der zu Erziehenden zu befördern, lässt sich zeigen, wenn die auch unter Liberalen kaum umstrittene Forderung nach Chancengleichheit ins Spiel gebracht wird. Im sechsten Kapitel wird es daher um Bildung und Gerechtigkeit gehen. Eine Orientierung am Bildungsbegriff kommt der Forderung nach Chancengleichheit vermeintlich in die Quere, denn Bildung steht in dem Verdacht, das Privileg einer Elite zu sein, die sich zweckfreie Muße erlauben kann. Das humanistische Bildungsideal könnte seiner bürgerlich-elitären Herkunft wegen eine gegen die Chancengleichheit gerichtete schichtspezifische Auslese befördern. Doch wenn der Rekurs auf „Bildung“ dazu dient, die mittels Erziehung zu befördernden Aspekte eines guten Lebens in den Blick zu rücken, erweist sich dies auch für die Forderung nach Chancengleichheit als fruchtbar. Denn man muss wissen, worauf alle die gleichen Chancen haben sollten und wozu die schulische Erziehung diesbezüglich beitragen sollte, und dazu muss über Fragen des guten Lebens nachgedacht werden. Geht es auch hier wieder um die Fähigkeit zur Autonomie oder Selbstbestimmung? Impliziert die Forderung nach Chancengleichheit, dass alle die (gleiche) Chance haben sollen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Nicht allein. Jedenfalls dann, wenn ein gutes Leben nicht allein darin besteht, selbstbestimmt zu sein, bleibt der Verweis auf die Fähigkeit zur Selbstbestimmung unzureichend. Chancengleichheit sollte dann nicht nur in Bezug auf die Fähigkeit zur Selbstbestimmung gewährleistet sein, sondern auch in Bezug auf andere Dinge, die das Leben gut oder besser machen. Hier zeigt sich, dass eine genauere Explikation der Forderung nach Chancengleichheit Überlegungen dazu verlangt, was ein gutes Leben auszeichnet. Und selbst die Rede von einem Recht auf Bildung ist nicht unabhängig von solchen Überlegungen zu verstehen.
1 Einleitung
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Im Folgenden wird es im Wesentlichen um die Zwecke der schulischen Erziehung gehen. Auch wenn die universitäre Bildung also nur am Rande zur Sprache kommt, lassen sich einige der hier angestellten Überlegungen durchaus auf die universitäre Bildung übertragen. Auch hier kann der Hinweis darauf, dass Bildung ein Wert an sich ist, eine Warnung davor darstellen, sich zu sehr auf den instrumentellen Wert des Wissens zu konzentrieren und insofern etwas an sich Wertvolles außer Acht zu lassen: die mit dem Wissenserwerb einhergehenden guten oder wertvollen Erfahrungen.
2 Bildung und Autonomie Wilhelm von Humboldt charakterisiert die Bildung des Menschen als einen Prozess, und zwar als Prozess der „Verbesserung“ und „Veredlung“ des Menschen. Dabei handelt es sich um einen Prozess, den die einzelnen Individuen durchlaufen, indem sie sich mit der Welt auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung richtet sich laut Humboldt auf all das, was dem einzelnen Menschen äußerlich ist, also auf die belebte und unbelebte Natur sowie andere Menschen. Der sich bildende Mensch bemühe sich, die Welt zu erkennen und in ihr etwas hervorzubringen. Allerdings gehe es hier nur vordergründig um die Sache selbst, also z. B. um ein bestimmtes Wissen von der Welt. Denn eigentlich gehe es um die „innere Verbesserung“ und „Veredlung“ des Menschen.20 Bildung als „Verbesserung“ und „Veredlung“ ist demnach als Prozess zu begreifen, in welchem sich ein Individuum mit der äußeren Welt auseinandersetzt und dadurch sich selbst verändert und verbessert. Doch worin besteht diese Verbesserung? Humboldt spricht in diesem Zusammenhang von einer „Stärkung der eigenen inwohnenden Kraft des Menschen“.21 Unter einer solchen Kraft versteht Humboldt nicht lediglich ein bestimmtes Potential, sondern etwas selbst Tätiges.22 So spricht er davon, dass das menschliche Individuum „eine freie und selbstthätige Kraft“ sei.23 Humboldts Bildungsbegriff enthält damit zumindest als wesentlichen Bestandteil ein Ideal der Selbstbestimmung.24 Das höchste Ideal des Zusammenlebens menschlicher Wesen ist für Humboldt „dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst und um seiner selbst willen sich entwickelte“.25 Es gibt also für Humboldt ein für alle Menschen gemeinsames Ziel im Sinne einer gemeinsamen Bestimmung, und zwar das der Selbstbestimmung. Und trotz dieser grundsätzlichen Gemeinsamkeit ist das Ideal der Selbstbestimmung mit dem der Individualität vereinbar, denn es kann verschiedene individuelle Pfade eines selbstbestimmten Lebens integrieren. Auch in der zeitgenössischen Philosophie der Erziehung nimmt das Ideal der Selbstbestimmung oder Autonomie eine Schlüsselstellung ein. Dieses Ideal wird oftmals als das zentrale Ziel der Erziehung ausgewiesen. Dem Autonomieideal der liberalen Erziehung werde ich daher im Folgenden näher nachgehen (2.1). In 2.2 werde ich dann untersuchen, inwiefern ein umfassenderes Bildungsverständnis mit diesem Ideal unvereinbar ist oder doch zumindest über dieses hinausgeht. Abschließend werde ich noch einmal auf Wilhelm von Humboldts Bildungsideal zurückkommen, denn bei näherem Hinsehen weisen auch Humboldts Überlegungen über das Ideal der Selbstbestimmung hinaus.
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2.1 Autonomieideal und Bildung Das Ideal der Selbstbestimmung ist in der zeitgenössischen Erziehungswissenschaft und in der Philosophie der Erziehung weit verbreitet. Hier ist insbesondere dann von „Bildung“ die Rede, wenn es um eine Vergewisserung über die Zwecke der schulischen Erziehung geht. Und der Zweck der Erziehung, den viele Autoren in den Vordergrund stellen, ist die Beförderung der Selbstbestimmtheit oder Autonomie der zu Erziehenden. Im Deutschen ist sowohl von „Selbstbestimmung“ als auch von „Autonomie“ die Rede, im Englischen vor allen von „autonomy“ und weniger von „selfdetermination“. Welches Ziel der Erziehung damit inhaltlich angesprochen wird, lässt sich weder im Deutschen noch im Englischen daran festmachen, ob jemand von Autonomie (autonomy) oder Selbstbestimmung (self-determination) redet. Ich werde die Begriffe „Autonomie“ und „Selbstbestimmung“ daher im Folgenden synonym verwenden. Wenn Bildung als Zweck der Erziehung angesprochen wird, dann wird der Bildungsbegriff meistens eng mit dem Autonomieideal verknüpft, z. B. bei Heitger in Bildung als Selbstbestimmung. Darin schreibt Heitger, Bildung und Selbstbestimmung müssten „zusammengedacht werden“, und in der gegenwärtigen Pädagogik gelte „Selbstbestimmung als unverzichtbar für das Verständnis von Bildung“.26 Andere meinen, Bildung „verhelfe“ uns zu einem selbstbestimmten Leben.27 Doch nicht nur deutsche Autoren haben diesen Zusammenhang im Blick. Autonomie ist auch in der zeitgenössischen anglo-amerikanischen Debatte das erklärte Ideal der schulischen Erziehung. So schreibt Brighouse: „The first fundamental value that should guide the design of educational policy is the ideal that all children should have a realistic opportunity to become autonomous adults.“28 Im Folgenden werde ich genauer untersuchen, welches Ideal hier zugrunde gelegt wird. Der Inhalt der Forderung, die Autonomie zu befördern, hängt an dem jeweiligen Autonomiebegriff. Was in der Philosophie der Erziehung von den einzelnen Autoren jeweils explizit unter Autonomie oder Selbstbestimmung verstanden wird, ist jedoch sehr verschieden. Den einen geht es um den Gebrauch der Vernunft29, anderen um die Fähigkeit zum kritischen Denken30, wieder anderen um Authentizität.31 Auch in der philosophischen Autonomiedebatte ist der Kern des dort diskutierten Ideals nur schwer ausfindig zu machen. Denn in dieses Ideal fließen oftmals die Vorstellungen der jeweiligen Autoren davon ein, was besonders wichtig für uns ist. Die Diskussion um die angemessene Interpretation des Autonomieideals ist sehr davon geprägt, was – nach Meinung der jeweiligen Autoren – gut für uns ist, woran uns liegt, was uns als Personen auszeichnet, was unsere Individualität ausmacht, usw.32 Auch in die Überlegungen der verschiedenen Autoren zu den Voraussetzungen für ein autonomes Leben gehen oftmals deren spezifische Vorstellungen davon ein, was gut für uns
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ist. Streit herrscht beispielsweise darum, ob und inwiefern eine bestimmte Form der kulturellen Zugehörigkeit nötig ist, um ein autonomes Leben führen zu können, und auch hier geht es im Kern um die Frage, welche Bedeutung verschiedene Formen der kulturellen Zugehörigkeit für ein gutes Leben haben. Teilweise wird das Autonomieideal definitorisch sehr stark ausgeweitet. So meinen Anderson/Honneth, es sollten diejenigen als autonom bezeichnet werden, die einen eigenen Lebensplan nicht nur entwickeln, sondern auch tatsächlich verwirklichen können. Als Bedingungen für ein autonomes Leben fordern die Autoren daher die Bereitstellung materieller, institutioneller und sozialer Rahmenbedingen für ein autonomes Leben.33 Doch da wir nicht die Bedingungen dafür herstellen können, dass jeder in der Lage ist, das von ihm für wertvoll erachtete Leben auch tatsächlich führen zu können, und da über das, was verschiedene Menschen für wertvoll erachten, gerade Uneinigkeit bestehen kann, ist ein so ausgeweitetes Autonomieideal problematisch, da es diese Uneinigkeit zudeckt. Wir werden noch sehen, dass dies auch für die Philosophie der Erziehung gilt, wo ein solches Autonomieideal mögliche Konflikte verschleiern kann, denen sich die Philosophie der Erziehung eigentlich stellen müsste. Daher ist es wichtig, eine umfassende, verschiedene Verwendungsweisen integrierende, aber zugleich abgeschlossene und nicht beliebig erweiterbare Vorstellung davon zu entwickeln, was das Autonomieideal der liberalen Erziehung ausmacht. Wenn man Autonomie als Ideal der Erziehung diskutiert, geht es nicht um die Frage, inwiefern eine einzelne Handlung oder ein einzelner Wunsch als autonom zu bezeichnen ist. Stattdessen geht es um das Ideal einer autonomen Person oder um ihr als selbstbestimmt zu bezeichnendes Leben. Es geht also um das Leben dieser Person im Ganzen. Dies ist am besten zu verstehen, wenn das Leben einer Person von seinem Ende her betrachtet wird. Wenn das Ideal der Selbstbestimmung realisiert wurde, müsste sich am Ende des Lebens sagen lassen, dass die Person ein selbstbestimmtes Leben geführt hat. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen den einzelnen Handlungen und dem im Ganzen als selbstbestimmt zu bezeichnenden Leben. Ist das Leben einer Person nur dann selbstbestimmt, wenn sie immer selbstbestimmt gehandelt hat, oder muss nur ein bestimmter Anteil ihrer Handlungen selbstbestimmt sein? Und falls letzteres der Fall ist – wie groß muss dieser Anteil mindestens sein? Auf diese Fragen gibt es deshalb keine sinnvolle Antwort, weil eine Person nur mehr oder weniger selbstbestimmt sein kann. Selbstbestimmung und Autonomie sind also als graduelle Begriffe zu verstehen.34 Uns geht es damit um die Frage, inwiefern die Erziehung dazu beitragen kann, das Leben der zu Erziehenden selbstbestimmter zu machen, als es ohne Erziehung wäre. Das kann sie dadurch erreichen, dass sie deren Fähigkeit zur Autonomie verbessert, indem sie ein – noch näher zu bestimmendes – Wissen und Können vermittelt. Obwohl
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2 Bildung und Autonomie
es in der Erziehung um die Vermittlung der Fähigkeit zur Autonomie gehen sollte, ist es jedoch der Wert der Ausübung dieser Fähigkeit, aus dem die Fähigkeit zur Autonomie ihren Wert gewinnt. Wie sollen wir dieses Autonomieideal nun genauer bestimmen? Was ist unter der Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu verstehen und inwiefern trägt deren Ausübung zu einem selbstbestimmten Leben bei? Um sich einer Antwort auf diese Frage zu nähern, reicht eine reine Begriffsanalyse nicht aus, da in das Autonomieideal evaluative Vorannahmen eingehen, die durch eine reine Begriffsanalyse nicht auszumachen sind. Mir wird es im Folgenden einerseits darum gehen, diese Vorannahmen zu explizieren, und sie in die Charakterisierung eines umfassenden Autonomieideals zu integrieren. Andererseits soll dieses jedoch nicht so ausgeweitet werden, dass es konkurrierende Annahmen darüber zudeckt, was ein gutes Leben auszeichnet. Es geht also darum, ein Autonomieideal zu entwickeln, welches in der Philosophie der Erziehung die Funktion übernehmen kann, ganz bestimmte Erziehungsziele in den Blick zu rücken, welches aber nicht den Blick dafür verstellt, dass es auch andere, mit dem Autonomieideal sogar im Konflikt stehende Zwecke der Erziehung gibt. Es geht mir also darum, ein Autonomieideal zu entwickeln, welches für die Philosophie der Erziehung fruchtbar ist. Der Autonomiebegriff ist in ganz unterschiedlichen Kontexten wichtig – in konkreten moralischen, rechtlichen und politischen Kontexten, für unser Selbstverständnis als Personen, im Kontext moralischer Verantwortung usw. Und ein Großteil des Streits um die angemessene Explikation des Autonomiebegriffs lässt sich dadurch erklären, dass die jeweiligen Autoren ganz unterschiedliche theoretische und praktische Interessen am Autonomiebegriff haben.35 Eine Explikation des Autonomiebegriffs kann somit dadurch gewinnen, dass von einem spezifischen Interesse ausgegangen wird, welches man damit verbindet, und das spezifische Interesse ist hier eines an der Philosophie der Erziehung. Es könnte in anderen Kontexten (z. B. in der Medizinethik in Bezug auf das Problem der Patientenautonomie) andere sinnvolle Explikationen des Autonomiebegriffs geben. Dennoch sollten zumindest Familienähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Autonomiebegriffen sichtbar bleiben. In der folgenden Explikation des für die Philosophie der Erziehung wichtigen Autonomieideals soll daher sowohl die Anschlussfähigkeit an wichtige Beiträge der innerphilosophischen Explikation des Autonomiebegriffs als auch an unsere alltagssprachliche Verwendung der Begriffe „Autonomie“ und „Selbstbestimmung“ gewahrt bleiben. Dazu bietet es sich an, zunächst potentielle Einschränkungen der Autonomie einer Person zu betrachten. Im Folgenden werde ich daher ausgehend von offensichtlichen Einschränkungen der Autonomie drei Aspekte untersuchen, welche für das Autonomieideal der liberalen Erziehung wichtig sind. Diese drei Aspekte umfassen die Autonomie des Handelns (2.1.1), des Wollens (2.1.2) und des Meinens (2.1.3).36
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2.1.1 Handlungsmöglichkeiten Fremdbestimmt scheinen wir insbesondere dann zu sein, wenn wir zu etwas gezwungen werden. Doch worin bestehen solche äußeren Zwänge? Man könnte jede unerwünschte Beschränkung als „Zwang“ beschreiben, sei es eine Beschränkung, die von anderen Menschen ausgeht, sei es eine Beschränkung, die durch natürliche Gegebenheiten und Ereignisse zustande kommt. So ließe sich sagen, dass einen ein natürliches Feuchtgebiet „zwingt“, einen Umweg zu machen, wenn man trockenen Fußes den Wald erreichen will. Allerdings ist ein so allgemeiner Begriff von Zwang für unsere Zwecke nicht brauchbar. Einer am Autonomieideal orientierten Erziehung kann es nicht darum gehen, natürliche Hindernisse jeglicher Art aus dem Weg zu räumen oder Mittel zu ihrer Überwindung aufzuzeigen. Selbst als Ziel einer technisch-naturwissenschaftlichen Erziehung wäre dies zu weit gegriffen. Daher liegt es näher, sich zunächst auf die Fälle zu konzentrieren, in denen eine Person eine andere Person zu etwas zwingt. Hier ist zum einen an einen überwältigenden Zwang (z. B. Festhalten) und zum anderen an eine Drohung zu denken. Von Drohungen ausgehende Zwänge unterscheiden sich von überwältigenden Zwängen zuweilen nur unwesentlich. Wenn jemand einen anderen mit einer Pistole bedroht und sagt: „Geld oder Leben“, dann zwingt er ihn, ihm das Geld zu geben.37 Er nimmt dem anderen damit alternative Handlungsmöglichkeiten, und ihm das Geld zu geben ist die einzige Handlungsmöglichkeit, die ihm bleibt. Denn obwohl er theoretisch die Möglichkeit hätte, sich erschießen zu lassen, ist dies keine Möglichkeit, die tatsächlich für ihn in Betracht kommt. Zuweilen lassen Drohungen jedoch im Gegensatz zum überwältigenden Zwang alternative Handlungsmöglichkeiten durchaus offen. Dies ist z. B. dann Fall, wenn die Drohung nur darin besteht, dass der Person bestimmte Unannehmlichkeiten bereitet werden, wenn sie einer Aufforderung nicht nachkommt. Auch hier findet jedoch eine Einschränkung von Möglichkeiten statt. Die Möglichkeit, der Aufforderung nicht nachzukommen und von diesen Unannehmlichkeiten verschont zu bleiben, wird hier, zumindest wenn die Drohung ernst zu nehmen ist, vereitelt. Daher kann man festhalten, dass sowohl überwältigende Zwänge als auch Drohungen bestimmte Handlungsmöglichkeiten vereiteln. Ich will nicht ausschließen, dass wir zuweilen auch dann von Zwang reden, wenn dies nicht der Fall ist. Doch dabei handelt es sich eher um Ausnahmen – in der Regel impliziert unsere Rede von einem Zwang das bewusste Vorenthalten erwünschter Handlungsmöglichkeiten. Es geht um Möglichkeiten, die einem eigentlich offen gestanden hätten und die einem nicht mehr offen stehen, weil es jemanden gibt, der einen an der Wahrnehmung dieser Möglichkeiten hindert. Fremdbestimmt ist man also dann, wenn einem von anderen Menschen bestimmte Handlungsmöglichkeiten genommen werden. Man könnte nun behaupten, dass eine Erzie-
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hung, die sich an dem Ideal der Selbstbestimmung orientiert, Handlungsmöglichkeiten eröffnen sollte. Doch eine solche Übertragung ist nicht ohne weiteres möglich. Denn hier bleibt unklar, welche Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden sollten, um die Autonomie zu befördern. Es geht ja nicht darum, Handlungsmöglichkeiten wiederzueröffnen, die den zu Erziehenden ehemals offenstanden und die durch eine Form der Fremdbestimmung nicht mehr offen stehen. Sondern es geht darum, Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, die ihnen bisher nicht offenstanden. Von welchen Möglichkeiten soll man nun sagen, dass sie zu eröffnen die Selbstbestimmtheit oder Autonomie der zu Erziehenden befördert? Im Fall der Fremdbestimmung werden Handlungsmöglichkeiten vereitelt, die jemandem eigentlich offengestanden hätten. Hier lässt sich der normale oder erwartbare Lauf der Dinge ins Spiel bringen. Danach wird eine Person fremdbestimmt, wenn ihr Handlungsmöglichkeiten vorenthalten werden, die ihr üblicherweise offenstehen würden.38 Analog dazu ließe sich sagen, dass die Erziehung die Autonomie befördert, wenn sie Handlungsmöglichkeiten eröffnet, die den zu Erziehenden normalerweise offenstehen würden. Allerdings zeigt das folgende Beispiel die Schwächen einer solchen Argumentation. Normalerweise bringen Eltern ihren Kindern bei, die Sprache zu sprechen, welche in dem Land, in dem diese Kinder aufwachsen, vorwiegend gesprochen wird. Doch manche Eltern kommen dieser Erwartung nicht nach, weil sie selbst noch nicht sehr lange in diesem Land leben und daher der Landessprache nicht mächtig sind. Wenn diesen Kindern nun in der Grundschule in besonderen Förderkursen die fehlenden Sprachkenntnisse vermittelt werden, könnte man dies damit begründen, dass den Kindern auf diese Weise Möglichkeiten eröffnet werden, die ihnen normalerweise offenstehen würden. So werde ihre Autonomie befördert. Doch dass diesen Kindern diese Möglichkeiten normalerweise offenstehen würden, ist nicht richtig. Wenn man sagt, es sei zu erwarten, dass Kinder die Landessprache lernen, dann geht es hier nicht um ein hypothetisches Geschehen. Stattdessen ist der Begriff der Erwartung hier normativ zu verstehen: Den Kindern sollte die Landessprache vermittelt werden. Doch in welcher Beziehung steht diese Forderung zum Autonomieideal? Welche Möglichkeiten sollten eröffnet werden, um die Autonomie zu befördern? Sprachkenntnisse sind für nahezu all die Möglichkeiten wichtig, welche das Bildungssystem eröffnet, aber durch fehlende Bildungsabschlüsse auch gerade verwehrt. Insofern ist es kaum umstritten, dass diese Kenntnisse vermittelt werden sollten. Es gibt jedoch umstrittenere Ziele der Erziehung, und hier stellt sich die Frage, inwiefern diese mit Verweis auf eine Beförderung der Autonomie gerechtfertigt werden können. Brighouse behauptet in diesem Zusammenhang, dass Kinder immer dann in ihrer Autonomie eingeschränkt sind, wenn ihre Eltern es versäumen, ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen. Und eine autonomieorientierte Erziehung müsse dement-
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sprechend das gute Leben der zu Erziehenden befördern. So hätten beispielsweise Menschen mit einer homosexuellen Orientierung in einigen religiösen Gemeinschaften nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, ein gutes Leben zu führen. Daher meint Brighouse, eine autonomieorientierte Erziehung sollte einem homosexuellen Jungen ein Leben ermöglichen, welches seinen sexuellen Präferenzen entgegenkommt.39 An anderer Stelle betont Brighouse, dass die eigentliche Bedrohung der Autonomie nicht von den Religionsgemeinschaften, sondern von „kommerziellen Kräften“ ausgehe, welche auf die Beförderung einer materialistischen Grundhaltung zielen.40 Eine autonomieorientierte Erziehung solle also darum bemüht sein, einem solchen Materialismus etwas entgegenzusetzen. Diese Beispiele zeigen, dass ein sehr weit verstandenes Autonomieideal die Debatte über die Angemessenheit solcher Forderungen erschwert. Würde ein so weites Autonomieideal zugrunde gelegt, könnten beispielsweise die religiösen Gemeinschaften, die meinen, dass nur eine heterosexuelle Orientierung ein gutes Leben ermöglicht, eine Einschränkung der mit der sexuellen Orientierung verbundenen Lebensmöglichkeiten mit dem Verweis auf das Autonomieideal einfordern. Würde man pauschal immer dann von einer Vergrößerung der Autonomie sprechen, wenn das gute Leben befördert wird, gerieten so mögliche Konflikte zwischen unterschiedlichen Vorstellungen von einem guten Leben aus dem Blick. Dies gilt auch für die Diskussion darüber, ob die Erziehung bestimmte kulturelle Werte befördern und diese den „kommerziellen Kräften“ entgegenhalten sollte. Wer meint, dass die Vermittlung kultureller Werte für ein gutes Leben wichtig ist, der muss dafür Gründe anführen. Eine solche Begründung kann jedoch nicht auf das Autonomieideal rekurrieren, wenn dieses selbst den Bezug zum guten Leben einschließt. Es lässt sich also nicht sagen, dass eine Beförderung kultureller Werte um der Autonomie willen und diese um des guten Lebens willen wichtig ist, wenn in das Autonomieideal selbst bereits substantielle Vorstellungen vom guten Leben eingespeist werden. Eine auf das gute Leben verweisende Autonomiekonzeption hat also den Nachteil, dass man erst in Diskussionen über das gute Leben eintreten muss, um zu entscheiden, ob bzw. in welchem Grad eine Person ein autonomes Leben führt. Und wenn diese Diskussionen nicht geführt werden, verhindert ein solch umfassendes Autonomiekonzept eine differenziertere Analyse all der Aspekte, die hier unter den Begriff der Autonomie subsumiert werden. Alle sind sich dann zwar vordergründig einig darin, dass die Autonomie der zu Erziehenden befördert werden sollte. Doch diese Einigkeit kann sich als trügerisch erweisen, da die allgemein geteilte Forderung nach der Beförderung der Autonomie konkret sehr Verschiedenes, und unter Umständen sogar Widersprüchliches, impliziert. Auch wenn alle im Namen der Autonomie das gute Leben befördern wollen, sind sie sich doch keineswegs einig darüber, worin dieses gute Leben genau besteht.
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Auch eine Orientierung an einer Konzeption von Freiheit, wie sie beispielsweise von Seebaß vertreten wird, führt uns in dieselben Schwierigkeiten. Seebaß meint, jemand sei in seiner Freiheit eingeschränkt, wenn ihm Handlungsmöglichkeiten verschlossen blieben, die ihm eigentlich offen stehen sollten. Und dies wird bei ihm wie folgt spezifiziert: „Statt von der ‚Eigentlichkeit’ ihres Offenstehens könnten wir auch davon sprechen, dass die Offenheit dem, der gehindert wird, ‚wesensgemäß’ wäre oder dass ihre Verschlossenheit ‚wider seine Natur’ ist.“41 Man könnte also im Anschluss an Seebaß behaupten, in der Erziehung sollte Kindern die Möglichkeit eröffnet werden, sich wesensgemäß zu entfalten. Doch auch hier wäre erst einmal genauer zu prüfen, ob und inwieweit es in der Erziehung tatsächlich um eine wesensgemäße Entfaltung der zu Erziehenden gehen sollte. Nehmen wir beispielsweise an, man verstehe darunter eine Entwicklung der eigenen Talente und Fähigkeiten und leite daraus die Forderung ab, dass die Schule diejenigen, die besonders sportlich sind, zu Spitzenleistungen im Sport anregen sollte. Eine solche Forderung könnte man nun damit begründen, dass dies die Autonomie dieser Schüler befördere. Doch dies macht eine solche Erziehung zwar vermeintlich weniger strittig (da die Beförderung der Autonomie ein Ziel ist, auf das sich zumindest in einer liberalen Gesellschaft viele einigen können), verhindert aber eine Diskussion darüber, worum es der Erziehung genau gehen sollte. Geht es tatsächlich um die „wesensgemäße Entfaltung“ der zu Erziehenden, um die Vermittlung bestimmter kultureller Werte, oder worum sonst? Diese Überlegungen sollen die Gefahr deutlich machen, die darin besteht, das Konzept der Selbstbestimmung zu weit auszudehnen. Zwar wird durch diese Überlegungen verständlich, wie Heitger darauf kommt, den Anspruch der Bildung als Selbstbestimmung als „universal“ zu bezeichnen.42 Doch wenn all das, was der Beförderung würdig erachtet wird oder dessen Beförderung wünschenswert ist, als Beförderung der Selbstbestimmung ausgewiesen wird, dann wird dieses Konzept überfrachtet. Das Konzept der Selbstbestimmung sollte also schmaler sein, weil ein ausgreifendes Konzept die Möglichkeit einer differenzierteren Analyse all der Aspekte verhindert, die hier unter den Begriff der Selbstbestimmung subsumiert werden. Die Konzepte der Selbstbestimmung oder Autonomie sollten gerade in Bezug auf die Autonomie des Handelns nicht zu weit ausgedehnt werden, weil man sonst mögliche Konflikte zwischen dem Autonomieideal und anderen Wertvorstellungen aus dem Blick verliert. Für das Eröffnen ganz bestimmter Handlungsmöglichkeiten müsste man also eigens argumentieren. Hierzu ein sehr weit verstandenes Autonomiekonzept heranzuziehen, ist der Philosophie der Erziehung nicht dienlich. Allerdings lässt sich im Namen des Autonomieideals immerhin fordern, alternative Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Denn dies ist ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Vorstellung von einem selbstbe-
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stimmten Leben. Selbst Gerald Dworkin, der ansonsten streng zwischen Handlungsfreiheit und Autonomie unterscheidet, meint, dass alternative Wahlmöglichkeiten eine notwendige Bedingung dafür sind, ein autonomes Leben führen zu können. Unter Freiheit versteht Dworkin zum einen die Abwesenheit von Hindernissen bei der Ausführung einer bestimmten Handlung und zum anderen das Vorhandensein alternativer Wahlmöglichkeiten. Eine Einschränkung der so verstandenen Freiheit dürfe jedoch nicht pauschal mit einer Einschränkung der Autonomie gleichgesetzt werden. Als Beispiel dafür dient Dworkin Odysseus, der befiehlt, dass man ihn, an Händen und Füßen gefesselt, an den Mast binde, um den Rufen der Sirenen nicht zu erliegen. Die Umsetzung dieses Befehls schränke ihn in seiner Freiheit ein, nicht jedoch in seiner Autonomie. Dworkin betont also, dass Freiheit und Autonomie nicht gleichzusetzen seien. Allerdings räumt er ein, dass Freiheit (neben Macht und Privatheit) eine notwendige Bedingung dafür ist, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, denn damit sich jemand eigene Ziele setzen kann, müssen ihm dafür alternative Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.43 Dworkin ist diesbezüglich zuzustimmen, und das lässt sich gut anhand des eben genannten Beispiels verdeutlichen (welches Dworkin eigentlich dazu dient, zwischen Autonomie und Handlungsfreiheit zu unterscheiden). Zwar mag auch eine Person als selbstbestimmt zu bezeichnen sein, die in einer konkreten Situation keine alternativen Wahlmöglichkeiten mehr hat (z. B. der an den Mast gefesselte Odysseus). Doch Odysseus hat sich dafür entschieden, in dieser konkreten Situation keine Wahlmöglichkeiten zu haben, weil ihn die Neugierde trieb, das Lied der Sirenen zu hören. Und zum Zeitpunkt dieser Entscheidung hatte er sehr wohl alternative Wahlmöglichkeiten. Er konnte sich an den Mast binden lassen oder sich, wie seine Gefährten, stattdessen die Ohren mit Wachs verschließen. Ein Leben, in dem uns dauerhaft keine alternativen Wahlmöglichkeiten offenstehen, würde man nicht als selbstbestimmt bezeichnen wollen. Die Autonomie des Handelns ist daher ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Autonomieideals. Nur ist es eben schwer zu sagen, welche alternativen Handlungsmöglichkeiten vorhanden sein müssen und welche Wünsche man zu realisieren in der Lage sein muss, um ein autonomes Leben zu führen. Wir könnten uns daher darauf beschränken, von einem „angemessenen“ Spektrum alternativer Handlungsmöglichkeiten zu reden.44 Auch in die Explikation dieses angemessenen Spektrums gehen aber wiederum evaluative und normative Annahmen mit ein. Denn einerseits kann es nicht um die bloße Anzahl alternativer Handlungsmöglichkeiten gehen, sondern es muss sich um wertvolle Möglichkeiten handeln, deren Offenstehen tatsächlich bedeutsam ist. Und andererseits muss eine Antwort auf die Frage, welche wertvollen Handlungsmöglichkeiten den zu Erziehenden offenstehen sollten, notwendig normative Prämissen enthalten.
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Diese können aber gerade umstritten sein. Wir hatten oben das Beispiel der sexuellen Orientierung gestreift. Wer meint, dass es jedem Menschen freistehen sollte, zwischen verschiedenen Formen der Partnerschaft (z. B. homosexuell/heterosexuell) wählen zu können, der mag dies (z. B. gegenüber bestimmten Religionsgemeinschaften, die anderer Meinung sind) mit Rekurs auf das Autonomieideal begründen. Streng genommen ist das jedoch wenig erhellend, weil die Gegenseite erst einmal bestreiten könnte, dass diese Wahlmöglichkeit zu dem „angemessenen“ Spektrum an alternativen Wahlmöglichkeiten gehört, welches das Autonomieideal beinhaltet. Dass es angemessen ist, diese Wahlmöglichkeit zu haben, müsste dann anders begründet werden als mit Bezug zum Autonomieideal – um dessen inhaltliche Ausfüllung hier ja gerade Streit herrscht. Für das Eröffnen vieler Handlungsmöglichkeiten sollte man also besser direkt argumentieren als mit Rekurs auf das Autonomieideal. So ließe sich direkt dafür argumentieren, wie wichtig es für einige Menschen ist, dass ihnen die Option einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft offensteht. Einige allgemeine Bemerkungen lassen sich in Bezug auf eine Beförderung der Autonomie des Handelns aber doch machen. Um aus mehreren zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen eine Auswahl treffen zu können, muss man zunächst wissen, was überhaupt zur Wahl steht. Außerdem ist eine Kenntnis der Folgen und Nebenfolgen wichtig, die zu erwarten sind, wenn man eine bestimmte Entscheidung trifft.45 Darüber hinaus muss man wissen, ob und unter welchen Bedingungen bestimmte Dinge realisierbar sind. Neben der bloßen Kenntnis der Mittel zum Erreichen bestimmter Ziele muss man außerdem über zahlreiche Fähigkeiten verfügen, um diese Mittel tatsächlich ergreifen zu können. Man muss also vieles wissen und vieles können, um seine Ziele zu erreichen. Lesen und schreiben zu können ist beispielsweise wichtig für die Verwirklichung sehr vieler Ziele, und dem, der nicht schreiben kann, sind wichtige Lebensmöglichkeiten verschlossen. Solche Lebensmöglichkeiten zählen daher tatsächlich zu dem „angemessenen“ Spektrum an Handlungsmöglichkeiten, dessen Einschränkung klarerweise auch eine Einschränkung der Autonomie bedeutet.
2.1.2 Autonomie des Wollens Nachdem ich bisher von Einschränkungen und einer Beförderung der Autonomie des Handelns ausgegangen bin, wird es nun darum gehen, Einschränkungen in der Autonomie des Wollens näher in den Blick zu nehmen und daraus weitere Möglichkeiten einer Beförderung der Autonomie abzuleiten. Einschränkungen in der Autonomie des Wollens liegen beispielsweise dann vor, wenn eine Person inneren Zwängen unterliegt. Wenn wir bestimmte Wünsche nicht gutheißen, uns in unserem Handeln aber dennoch von diesen Wünschen leiten lassen, haben wir den Eindruck, wir würden von diesen Wünschen fremdbestimmt. Zwar sind im wörtlichen Sinne alle
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unsere Wünsche, die uns zum Handeln bewegen, unsere eigenen, aber von einigen Wünschen, und den Handlungen, die daraus resultieren, fühlen wir uns entfremdet. Ein Beispiel dafür ist jemand, der gerne aufhören würde zu rauchen, sich aber nicht dazu bringen kann, von diesem Suchtmittel zu lassen. Er fühlt sich in gewissem Sinne von dem Wunsch nach der Zigarette besiegt, und ist, wie Frankfurt es formuliert, ein „helpless bystander to the forces that move him“.46 In solchen Fällen können wir unser Handeln nicht kontrollieren, und die Möglichkeit der Kontrolle unserer Handlungen ist damit ein weiterer Bestandteil des Autonomieideals. Hierfür lässt sich auch der historische Ursprung des Autonomiebegriffs heranziehen, denn als „autonom“ wurden zunächst politische Gebilde bezeichnet, die sich ihre Gesetze selbst geben. Kant hat diese Autonomiekonzeption auf Personen übertragen.47 Danach ist eine Person als autonom zu bezeichnen, wenn sie sich die Gesetze ihres Handelns selbst gibt und nur ihren eigenen Gesetzen untersteht. Doch wie ist es vorstellbar, dass wir die Gesetze, die wir uns selbst gegeben haben, auch gegen uns selbst durchsetzen? Wir können hier noch einmal auf unser Beispiel des Rauchers zurückkommen. Wird dem Verlangen nach einer Zigarette nachgegeben, so wird gegen das selbst gegebene „Gesetz“ verstoßen, nicht mehr zu rauchen. Die Person kann nun aber versuchen, die zukünftige Befolgung des Gesetzes gegen ihr Verlangen durchzusetzen, z. B., indem sie sich zu einer Rauchentwöhnungstherapie anmeldet. Obgleich Präventionskampagnen und auch Maßnahmen gegen das bereits begonnene Rauchen zum Standardrepertoire der schulischen Erziehung zählen, sind derartige Formen der Suchtprävention und Suchtbekämpfung jedoch allenfalls ein Aspekt der schulischen Erziehung. Dennoch ist die Vermittlung der Fähigkeiten, die für die Kontrolle des eigenen Handelns nötig sind, ein wichtiger Bestandteil der schulischen Erziehung. Man muss lernen, Ziele, die man sich gesetzt hat, nachhaltig zu verfolgen, nicht zu schnell aufzugeben, sie gegen innere Widerstände durchzusetzen und so eine Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen. Das Ideal der Selbstbestimmtheit umfasst allerdings nicht nur irgendeine Kontrolle, sondern wir sollen es selbst sein, die uns bestimmen. Und dazu ist es wichtig, dass uns unsere Wünsche selbst zuzurechnen sind. Frankfurt hat in diesem Zusammenhang die Rede von „Wünschen zweiter Stufe“ ins Spiel gebracht, in denen wir uns auf die Wünsche erster Stufe beziehen. So könnte sich der Raucher, der eigentlich nicht rauchen will, wünschen, nicht ständig von dem Wunsch nach einer Zigarette besiegt zu werden. Was diese Person also wirklich will (nämlich dem Wunsch nach der Zigarette nicht nachzugeben), ist Frankfurt zufolge mit diesem Wunsch zweiter Stufe angegeben.48 Gegen Frankfurt wurde in diesem Zusammenhang eingewandt, dass nicht zu sehen ist, wodurch sich die von ihm so genannten Wünsche zwei-
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ter Stufe als diejenigen ausweisen lassen, die der Person eigen sind. Denn es müsste gezeigt werden, weshalb Wünsche zweiter Stufe nicht durch Wünsche dritter Stufe und diese wiederum durch weitere höherstufige Wünsche in Frage gestellt werden könnten. Hier stellt sich entweder ein Regressproblem, oder man müsste eine zusätzliche Bedingung dafür anführen, wann der Bezug zu Wünschen zweiter Stufe hinreichend dafür ist, anzugeben, was eine Person eigentlich will.49 Eine genauere Diskussion dieser Einwände würde über unser Thema hinausführen. Ein wichtiger Hinweis, den Frankfurt in seiner Entgegnung auf diese Einwände gibt, sei jedoch hier genannt. Frankfurt meint, auf manche Wünsche seien wir festgelegt – wir können nicht anders als diese Wünsche zu haben, und das mache uns gerade aus.50 Hier bringt Frankfurt z. B. die Bindung an bestimmte Ideale ins Spiel. Diese sorgen dafür, dass wir uns nicht, oder nur schwer, dazu bringen können, von bestimmten Wünschen abzulassen. Selbstbestimmt sind wir laut Frankfurt gerade dann, wenn uns manche Dinge so wichtig sind, dass wir uns nicht davon abbringen können. Frankfurt bestimmt den Maßstab für die Adäquatheit der Identifikation mit einem Wunsch über solche volitionalen Notwendigkeiten. Diese bestimmen, was wir wirklich wollen und was wir wirklich sind. Dass solche volitionalen Notwendigkeiten, zu denen etwa Bindungen an bestimmte Ideale gehören, für unsere Autonomie zentral sind, ist aus dem Autonomiebegriff nicht zwingend ableitbar. Allerdings kann man hier zumindest auf einen umgangssprachlich verbreiteten Sinn von Selbstbestimmung rekurrieren, denn was eine Person (selbst) auszeichnet, machen wir insbesondere daran fest, was ihr besonders wichtig ist.51 Und ob eine Person selbst über ihr Leben bestimmt, machen wir davon abhängig, ob sie sich von diesen Dingen leiten lässt. Als Voraussetzung für ihre Autonomie kann man daher angeben, dass ihr überhaupt manches so wichtig sein muss, dass sie es in einem weit verstandenen Sinne liebt, sich damit identifiziert, sich nur schwer davon abbringen kann, usw. Ein darauf rekurrierendes Autonomieideal könnte diesen Aspekt sogar in den Vordergrund rücken. Auch hier fließen jedoch wiederum evaluative Grundannahmen ein. Denn einem solchen Ideal von Selbstbestimmung liegt die These zugrunde, dass es gut für uns ist, wenn starke Bindungen unser Handeln bestimmen. Eine solche These formuliert Frankfurt auch ganz explizit. Frankfurt behauptet, dass starke Bindungen, in denen man etwas oder jemanden liebt, notwendig zu einem guten Leben hinzugehören: „In any case, as I shall simply stipulate, without loving in one or more of its several modes life for us would be intolerably unshaped and empty. For our own sakes, we need to love; otherwise, our lives will be miserably deprived“.52 Unser Leben wäre sehr viel ärmer oder, wie Frankfurt sich ausdrückt, „miserably deprived“, wenn wir nichts und niemanden lieben würden.
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Von inneren Zwängen lassen sich starke Bindungen dadurch unterscheiden, dass sie emotional nicht als innere Zwänge erlebt werden und wir uns nicht von ihnen entfremdet fühlen. Unsere Emotionen erweisen sich allerdings zuweilen als trügerisch. Wir erleben etwas manchmal deshalb nicht (mehr) als inneren Zwang, weil wir resigniert und uns damit abgefunden haben, dass wir uns nicht davon abbringen können. Dieser Vorgang muss uns nicht einmal bewusst sein. Außerdem kann die starke Bindung an ein Ideal dafür sorgen, dass wir Zweifel an diesem Ideal nicht zulassen, um nicht durch eine Loslösung von diesem Ideal erschüttert zu werden.53 Und daher stellen gerade starke Bindungen eine Bedrohung für unsere Autonomie dar. Diesen Schwierigkeiten lässt sich damit begegnen, dass man für die Identifikation mit bestimmten Wünschen wiederum einen Prozess der Reflexion einfordert. Gegen Frankfurt lässt sich vorbringen, dies nicht genug berücksichtigt zu haben. Jaeggi formuliert diesen Einwand so: „Was Frankfurt unterschätzt ist die Rolle der Reflexion, Begründung und Bewertung, die den Prozess der Identifikation mit den eigenen Wünschen begleitet bzw. zumindest potentiell begleiten können muss, damit diese in einem wirklich anspruchsvollen Sinn zu ‚eigenen’ werden können.“54 Wenn eine solche kritische Reflexion über bestimmte Wünsche tatsächlich gegeben ist, kann damit auch dem Einwand begegnet werden, dass gerade starke Bindungen eine Bedrohung für unsere Autonomie darstellen. Denn wenn unterstellt werden kann, dass eine Person über ihre starken Bindungen reflektiert und dennoch daran festhält, würden wir die Behauptung, sie sei qua dieser Bindungen in ihrer Autonomie eingeschränkt, in der Regel zurückziehen. Es ist daher offenbar die kritische Reflektiertheit, die im Zentrum unseres Autonomieideals steht – zumindest, wenn wir uns an einer verbreiteten Verwendung der Begriffe „Autonomie“ und „Selbstbestimmung“ orientieren.55 Eine selbstbestimmte Person muss sich die Frage stellen, wie sie handeln und leben soll. Dazu gehört die Bereitschaft, das, was ihr im Leben wichtig und wertvoll ist, kritisch in Frage zu stellen und sich das, bei dem sie bleiben will, dadurch bewusst anzueignen.56 Das Ideal der kritischen Reflektiertheit ist auch für das Autonomieideal der liberalen Erziehung zentral. Ich hatte angekündigt, in einer Explikation des für die Philosophie der Erziehung wichtigen Autonomieideals die Anschlussfähigkeit an einschlägige Beiträge der innerphilosophischen Explikation des Autonomiebegriffs zu wahren. Dabei kann freilich nicht ausgeschlossen werden, dass einige Autoren stärker und andere schwächer an dem Ideal der kritischen Reflektiertheit orientiert sind. Da wir gesehen haben, dass die verschiedenen Konzeptionen von Autonomie stets einen bestimmten Bezug zum guten Leben beinhalten, muss es nicht irritieren, dass selbst starke Bindungen ein wichtiger Bestandteil einzelner Explikationen des Autonomieideals sind. Gerade für die Philosophie der Erziehung erweist sich jedoch ein an der kritischen Reflektiertheit der zu Erziehenden
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orientiertes Autonomieideal als fruchtbarer. Denn es ging uns hier darum, ein Autonomieideal herauszuarbeiten, welches in der Philosophie der Erziehung die Funktion einnehmen kann, ganz bestimmte Erziehungsziele in den Blick zu rücken, und welches nicht den Blick dafür verstellt, dass es auch andere, mit dem Autonomieideal zuweilen sogar im Konflikt stehende Zwecke der Erziehung gibt. Was einer liberalen und insofern am Autonomieideal orientierten Erziehung oftmals entgegengehalten wird, ist eine Vernachlässigung individueller Bindungen an bestimmte gemeinschaftliche Werte (vgl. dazu auch 2.2.1). Wenn eine starke Bindung an bestimmte Werte (statt einer kritischen Reflexion über eben diese) nun selbst als wesentlicher Bestandteil des Autonomiedeals ausgewiesen würde, gerieten solche Konflikte leicht aus dem Blick. Zudem wäre fraglich, wie eine autonomieorientierte Erziehung konkret vorgehen sollte, um solche starken Bindungen zu befördern. Die Bestandteile der Erziehung, die üblicherweise einer Beförderung der Autonomie zugerechnet werden (wie zum Beispiel eine Konfrontation mit alternativen Wertvorstellungen), fielen dann jedenfalls nicht mehr unbedingt darunter. Eine wichtige Möglichkeit der kritischen Reflexion über unsere Ziele und Wünsche ist eine Reflexion über ihre Entstehung. Wir können uns also fragen, wie es dazu gekommen ist, dass uns etwas besonders wichtig wurde.57 Zwar wird man an manchen Wünschen auch dann noch festhalten wollen, wenn man auf eine problematische Wunschgenese stößt. Dass wir den Entstehungsprozess unserer Wünsche im Nachhinein für fragwürdig erachten, muss uns also nicht davon abbringen, diese Wünsche weiterhin aufrechtzuerhalten.58 Wenn man beispielsweise einsieht, dass ein bestimmtes soziales Engagement ursprünglich nur dem fragwürdigen Ziel diente, sich dadurch Anerkennung zu erwerben, muss einen dies nicht dazu bewegen, dieses Engagement aufzugeben. Stattdessen könnte man gerade daran festhalten, weil man feststellt, dass unabhängig von den ehemaligen Gründen viel Wichtigeres dafür spricht, dieses Engagement fortzusetzen. Das, was uns wichtig ist, können wir oftmals auch dann noch gutheißen, wenn wir die ursprünglichen Motive für die Beschäftigung damit kritisch in Frage stellen. Dennoch erscheint uns das, was wir heute wollen, zumindest überprüfungsbedürftig, wenn wir erfahren, dass es auf eine kritikwürdige Weise zustande gekommen ist. Die Reflexion auf die Entstehung unserer Wünsche ist daher eine gute Möglichkeit dafür, diese zu überprüfen, und eine Erziehung, die sich am Autonomieideal orientiert, kann eine solche Überprüfung anregen. Darüber hinaus sind andere Möglichkeiten der Überprüfung denkbar, die sich ebenfalls in einer autonomieorientierten Erziehung vermitteln lassen. Man muss lernen, seine Wünsche einschätzen zu können und sich zum Beispiel klarmachen, inwiefern Wut oder falscher Stolz der Grund für be-
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stimmte Wünsche ist. Man muss diese Emotionen verstehen lernen, indem man darüber reflektiert, warum man wütend oder gekränkt ist. Außerdem muss man sich fragen können, ob einem die eigenen Wünsche auch tatsächlich entsprechen. Ob das der Fall ist, entscheidet sich auch anhand unserer Neigungen und Fähigkeiten. Anderson führt als Beispiel dafür einen bestimmten Berufswunsch an, der solche Überlegungen erforderlich macht: „Ich muß somit, wenn ich zum Beispiel erwäge, ob ich ein verdeckter Ermittler für die Polizei werden soll oder nicht, meine Neigungen abschätzen, in bestimmten Situationen so oder anders zu reagieren. Würde mir diese Bekanntschaft mit mir selbst fehlen, wäre ich in geringerem Maße fähig, meine Entscheidungen zu rechtfertigen, und meine Autonomie wäre damit eingeschränkt.“59 Die gleiche Überlegung trifft auch auf weniger ausgefallene Berufswünsche und auf viele andere Wünsche zu. Man muss wissen, was man sich zutrauen kann und was den eigenen Neigungen und Begabungen entgegenkommt. Eben dies ist ein wesentlicher Aspekt der Forderung, dass es einer autonomieorientierten Erziehung um Authentizität gehen sollte. Denn das Konzept der Authentizität muss auf Dinge Bezug nehmen, die der Person eigen sind, und ihre Neigungen und Begabungen scheinen gerade im Bereich der Erziehung dafür in Frage zu kommen. Eine autonomieorientierte Erziehung wird die zu Erziehenden also dazu anregen, darüber zu reflektieren, woran ihnen liegt und was ihnen liegt, was also ihren Neigungen und Fähigkeiten besonders entgegenkommt. Außerdem sollte eine autonomieorientierte Erziehung dazu beitragen, dass die Schülerinnen und Schüler das, was ihnen im Leben wichtig ist, vor dem Hintergrund möglicher Alternativen überprüfen können. Eben dies ist auch tatsächlich eine zentrale Forderung derjenigen, die für eine an dem Autonomieideal orientierte Erziehung argumentieren. So fordert Ackermann: „A system of liberal education provides children with a sense of the very different lives that could be theirs“.60 Den Anspruch an eine autonomieorientierte Erziehung erfüllt man also unter anderem damit, dass man die zu Erziehenden mit alternativen Lebensmöglichkeiten konfrontiert. Dieses Ziel einer liberalen Erziehung lässt sich damit begründen, dass die Kenntnis alternativer Lebensmöglichkeiten der Autonomie im Sinne einer kritischen Reflektiertheit zuträglich ist. Gerade wenn man das Ideal der Selbstbestimmung über eine Abgrenzung von einer möglichen Fremdbestimmtheit erklärt, wird dieser Zusammenhang deutlich. Denn fremdbestimmt sind wir nicht nur, wenn wir zu etwas gezwungen werden, sondern auch dann, wenn wir manipuliert werden, und die selektive Versorgung mit Informationen ist eine Form der Manipulation. Informationsdefizite können einen manipulativen Einfluss auf unser Wollen und auf unsere Meinungen haben, und zusätzliche Informationen können daher die Autonomie des Wollens und des Meinens vergrößern. Letzteres wird uns im nächsten Abschnitt (2.1.3) beschäftigen.
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Doch zuvor noch ein Wort zu einer möglichen Kritik an den bisherigen Überlegungen. Gegen die Beförderung der kritischen Reflektiertheit als dem zentralen Ziel einer autonomieorientierten Erziehung ließe sich einwenden, dass es uns nicht zuträglich ist, uns permanent zu fragen, was uns wirklich wichtig ist. Eine solche Form von Autonomie würde uns in endlose Reflexionsspiralen führen und uns so handlungsunfähig machen. Damit wäre sie nicht erstrebenswert und könnte somit auch keine grundlegende Bedeutung für unser Autonomieideal haben. Diesen Einwand greift eine Autonomiekonzeption auf, die betont, Autonomie sei nicht so zu verstehen, dass bestimmte Wünsche de facto auf reflektierte Entscheidungen zurückzuführen sind, sondern dass wir an ihnen festhalten würden, wenn wir darüber reflektierten.61 Doch nehmen wir an, eine solche hypothetische Zustimmung sei das der liberalen Erziehung zugrunde liegende Autonomieideal. Welchen Beitrag könnte sie dann dazu leisten, die so verstandene Autonomie der zu Erziehenden zu befördern? Welche Funktion kommt ihr hier noch zu? Eine Antwort auf diese Frage wird wiederum auf die Beförderung der Fähigkeit zur kritischen Reflexion über die eigenen Wünsche verweisen müssen. Deren Beförderung lässt sich aus einem solchen Autonomieideal ableiten, wenn man annimmt, dass es uns nicht zuträglich ist, niemals über unsere Wünsche zu reflektieren. Denn damit wäre es zumindest sehr unwahrscheinlich, dass wir an all unseren Wünschen festhielten, falls wir darüber reflektieren würden. Auch im Rahmen eines auf unsere hypothetisch reflektierten Wünsche rekurrierenden Autonomieideals wäre also die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu befördern, sowie deren tatsächliche Ausübung. Das nur auf eine hypothetische Reflexion unserer Wünsche rekurrierende Autonomieideal ist noch aus einem weiteren Grund für die Philosophie der Erziehung nicht einschlägig: Eine bloße Bezugnahme auf bereits vorhandene Wünsche kann das Autonomiedeal der Erziehung nicht vollständig bestimmen. Denn gerade die Erziehung kann sich nicht nur an bereits vorgegebenen Wünschen orientieren (und fragen, ob die zu Erziehenden hypothetisch an diesen festhalten würden), sondern trägt selbst zur Ausprägung bestimmter Wünsche bei. Und wenn sie sich dabei am Autonomieideal orientiert, dann wird sie dafür Sorge tragen wollen, dass die Ausprägung dieser Wünsche selbstbestimmt erfolgt. Damit dies gelingt, wird sie wiederum die Beförderung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung im Blick haben, und ein dafür nötiges Wissen und Können vermitteln. Dieses beinhaltet zum Beispiel die Kenntnis alternativer Wahlmöglichkeiten, um in der Ausbildung bestimmter Wünsche mögliche Alternativen berücksichtigen zu können. Auf den soeben genannten Einwand, dass jemand sich, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, nicht permanent fragen muss, was ihm wirklich wichtig ist, sollte man daher entgegnen, dass das einer liberalen Erziehung
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zugrunde liegende Autonomieideal nicht verlangt, das ganze Leben ständig radikal in Frage zu stellen. Eine liberale Erziehung kann allerdings dazu beitragen, dass die zu Erziehenden überhaupt über die Gründe reflektieren, die sie dafür haben, an bestimmten Wünschen festzuhalten. Diese Gründe müssen nicht notwendig allen anderen Personen vernünftig und einleuchtend erscheinen. In den persönlichen Reflexionsprozess können auch Gefühle eingehen, die sich nicht allen anderen gegenüber als rational ausweisen lassen. Die liberale Erziehung kann aber dafür werben, sich zumindest selbst gegenüber Rechenschaft abzulegen. Außerdem sollte sie dazu beitragen, dass bereits die Ausprägung zentraler Wünsche nicht bloß fremdbestimmt erfolgt. Darüber hinaus muss eine selbstbestimmte Person in der Lage sein, das, was sie will, auch tatsächlich realisieren zu können. Dazu ist sowohl eine Freiheit von inneren als auch von äußeren Hindernissen wichtig. Sie muss die Ziele, die sie sich gesetzt hat, auch gegen innere Widerstände durchsetzen können. Und bei der Realisierung dieser Ziele dürfen ihr keine äußeren Hindernisse im Weg stehen. Wir hatten allerdings gesehen, dass die Beantwortung der Frage, welche äußeren Hindernisse eine am Autonomieideal orientierte Erziehung aus dem Weg räumen muss, die Schwierigkeit aufwirft, dass in Vorstellungen von einem angemessenen Spektrum an Handlungsmöglichkeiten normative Grundannahmen eingehen müssen.
2.1.3 Begründete Meinungen In der Philosophie der Erziehung hat das Ideal der Selbstbestimmung oder Autonomie viele Facetten, doch besonders häufig wird darauf verwiesen, dass eine Erziehung zur Autonomie die Unabhängigkeit der zu Erziehenden befördern sollte. Hier könnte man zunächst an eine materielle Unabhängigkeit denken, also z. B. eine Unabhängigkeit von der materiellen Zuwendung der Eltern. Dabei geht es offenbar um eine Unabhängigkeit, die sich in einer gewissen Autonomie des Handelns ausdrückt. Doch auch Meinungen und Wertvorstellungen kommen für eine solche Unabhängigkeit in Frage. Die so verstandene „geistige Unabhängigkeit“ einer Person ist in der Alltagssprache ein durchaus verbreiteter Ausdruck. Und auch in der philosophischen Autonomiedebatte ist der Verweis auf diese Form der Unabhängigkeit im Zusammenhang mit dem Autonomieideal gängig. Selbst die Autoren, die einen sehr engen Autonomiebegriff haben, räumen zumindest einen Zusammenhang zwischen Autonomie und Unabhängigkeit ein.62 Neben der Reflexion über unsere Wünsche umfasst das Autonomieideal also auch eine Unabhängigkeit unserer Meinungen und Wissensansprüche. Dieses Ideal lässt sich als das Ideal einer „epistemischen Autonomie“ bezeichnen.63 Doch warum ist die Unabhängigkeit der eigenen Meinungen überhaupt erstrebenswert? Gegen ein solches Ideal ließe sich einwenden, dass wir nur an der Wahrheit unserer Meinungen, nicht jedoch an ihrer Unabhängigkeit ein Interesse haben sollten. Denn die Frage, wie wir zu
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unseren Meinungen gelangt sind, und ob sich darin unsere Unabhängigkeit zeigt, kann uns gleichgültig sein, wenn das, was wir für wahr halten, auch tatsächlich wahr ist. Und wenn sich die Unabhängigkeit einer Person darin zeigt, dass sie dogmatisch und unkritisch auf ihren eigenen Meinungen beharrt, würde man eine solche Person gerade nicht als in einem positiv verstandenen Sinne autonom bezeichnen.64 Diese Überlegung zeigt, dass es auch in dem Ideal der Unabhängigkeit letztlich wiederum um eine kritische Reflektiertheit geht. Denn wer unkritisch auf seinen Meinungen beharrt, lässt eine solche Reflektiertheit gerade vermissen. Eine autonome Person reflektiert kritisch über ihre Meinungen und Wissensansprüche. Und dazu gehört eben auch, dass sie ihre Meinungen nicht unreflektiert von anderen übernimmt. Zu einer kritischen Reflektiertheit gehört die Überprüfung und gegebenenfalls Revision der eigenen Meinungen und Wissensansprüche, und dies schließt die Ablehnung einer unreflektierten Übernahme fremder Meinungen und Wissensansprüche ein. Eine an dem so verstandenen Autonomieideal orientierte Erziehung sollte also die Unabhängigkeit der eigenen Meinungen und Wissensansprüche von den Meinungen anderer nicht um deren Unabhängigkeit willen befördern, sondern darauf hinwirken, dass die zu Erziehenden den Anspruch an sich stellen, Meinungen und Wissensansprüche einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Auch wenn es oft nicht möglich ist, gänzlich unabhängig von anderen Personen zu seinen eigenen Meinungen zu gelangen, so wird eine selbstbestimmte Person doch darum bemüht sein, fremde Meinungen zumindest zu überprüfen. Für die Möglichkeit einer solchen Überprüfung ist wieder ein bestimmtes Wissen und Können wichtig. Die zu Erziehenden müssen auch hier ein Wissen über mögliche Alternativen besitzen, und dies kann eine autonomieorientierte Erziehung dadurch befördern, dass sie die zu Erziehenden mit abweichenden Meinungen konfrontiert. Dazu gehören beispielsweise umstrittene Meinungen darüber, welches die „wahre“ Religion sei. Das für die Autonomie des Meinens notwendige Können ist außerordentlich vielschichtig. So muss man falsche Schlüsse als solche identifizieren können, vermeintliche empirische „Evidenzen“ richtig einordnen können, sich nicht von dem bloßen Rekurs auf vermeintliche Autoritäten beeindrucken lassen, sowie sich von solchen Reaktionen auf die eigenen Meinungen nicht irritieren lassen, die mit der Sache selbst nichts zu tun haben (z. B. ad hominem-„Argumente“). Doch heißt das nicht mit anderen Worten, dass derjenige autonom ist, der von seiner Vernunft Gebrauch macht? Lässt sich das Autonomieideal also letztlich auf Rationalität reduzieren? Eine Antwort auf diese Frage muss berücksichtigen, in welchem Kontext das Autonomieideal diskutiert wird. In der Philosophie der Erziehung sollte die Verbindung zwischen dem Autonomieideal und starken Rationalitätsansprüchen nicht zu eng sein. Gerade bei der Reflexion über die eigenen Wünsche kann die Frage
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nach der Rationalität dieser Wünsche schnell an ihre Grenzen stoßen. Denn verschiedene Personen können zwar gleichen Rationalitätsanforderungen unterliegen, aber in der kritischen Reflexion über ihre Wünsche dennoch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Rationalitätsstandards legen uns nicht auf bestimmte Wünsche fest. Wenn wir uns selbstbestimmt fragen können, wie wir leben wollen, dann sind wir darin gerade nicht auf eine vernünftige Antwort festgelegt. Selbst dort, wo rationale Maßstäbe eine Entscheidung nahe legen, ist die Autonomie des Wollens nicht auf das beschränkt, was rational geboten ist. Hier bestehen vielmehr Spielräume, welche die Person autonom ausfüllen kann. Anders als die Autonomie des Wollens ist allerdings gerade die Autonomie des Meinens besonders an Rationalitätsannahmen gebunden. In Bezug auf eine Reflexion über die eigenen Meinungen sollte es einer selbstbestimmten Person darum gehen, ob diese begründet sind. Eine Erziehung zur Autonomie wird sich deshalb die Aufgabe setzen, die zu Erziehenden zu einer nach Gründen suchenden Auseinandersetzung mit ihren Meinungen und Wissensansprüchen anzuregen. Sie wird die dazu nötigen und ihrerseits aus Rationalitätsvorstellungen ableitbaren Fähigkeiten zu vermitteln versuchen. Diese Fähigkeiten gewinnen ihren Wert aber nicht erst aus ihrem Beitrag zur Autonomie der Person. Jemand sollte nicht allein deshalb die Behauptungen anderer auf ihre Tragfähigkeit überprüfen können, weil ihn das autonomer macht, sondern weil das der Wahrheit seiner Meinungen zuträglich ist. Dies ist in der Regel wichtig für die Realisierung dessen, woran ihm liegt. Dennoch kann gerade das Ideal der Unabhängigkeit der eigenen Meinungen dazu beitragen, dass die zu Erziehenden auch dann kritisch über fremde Wissensansprüche reflektieren, wenn der instrumentelle Wert des Wissens (und damit die Bedeutung der Wahrheit der Wissensansprüche) für sie nicht ersichtlich ist. Bisher war noch nicht explizit von unseren Meinungen mit evaluativem Gehalt die Rede. Über eine kritische Reflexion unserer Werturteile wurde also noch nichts gesagt. Man hätte diese bereits bei einer Diskussion der Autonomie des Wollens diskutieren können, da unsere Wünsche oftmals bestimmte Wertannahmen enthalten. Man hält bestimmte Dinge für wünschenswert, und das ist der Grund dafür, warum man sie sich wünscht. Doch wenn sich die Autonomie unseres Meinens darin erweist, an einer rationalen Begründbarkeit orientiert zu sein – müsste dies dann nicht auch für unser Wollen gelten? Sind wir nur dann autonom, wenn wir immer gute Gründe dafür nennen können, dass das, was wir wollen, auch tatsächlich wert ist gewollt zu werden? Wir sollten hier berücksichtigen, dass sich Meinungen mit deskriptivem und Meinungen mit evaluativem Gehalt unterscheiden. Dieser Unterschied besteht auch in dem Anspruch an die Begründbarkeit der jeweiligen Urteile. Zwar mögen einige Werturteile auf dieselbe Weise begründbar sein wie Tatsachen und hier auch denselben An-
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forderungen unterliegen. Doch für andere Werturteile gilt das nicht. Sie sind nicht rational begründbar, und daher kann auch die Erziehung nicht erreichen, dass die zu Erziehenden Gründe dafür nennen können, warum etwas wertvoll ist. Die Erziehung kann allerdings auch in Bezug auf diese Wertvorstellungen zumindest dazu anregen, über die Genese der eigenen Wertvorstellungen zu reflektieren. Außerdem kann sie dazu beitragen, Begründungsdefizite als solche ans Licht zu heben. Und selbst wenn klar ist, dass sich einzelne Wertvorstellungen nicht näher begründen lassen, sollte eine selbstbestimmte Person gerade zu diesen Wertvorstellungen Alternativen kennen, um im Lichte dieser Alternativen an den eigenen Wertvorstellungen festzuhalten – oder diese gegebenenfalls revidieren zu können. Selbst wenn sich beispielsweise bestimmte religiöse Ideale rational nicht näher begründen lassen, sollte eine selbstbestimmte Person zumindest Alternativen zu diesen Idealen kennen; auch wenn diese selbst wiederum nicht rational begründbar sind. Denn wenn das Autonomieideal in einer kritischen Reflektiertheit besteht, ist dies der Weg, für eine solche Reflektiertheit zu sorgen. Daher trägt eine Konfrontation mit unterschiedlichen Wertvorstellungen zur Beförderung der Autonomie bei. Einer Erziehung, die sich am Autonomieideal orientiert, wird es um die Vermittlung verschiedener – und auch konkurrierender – Wertvorstellungen gehen. Unterschiedliche Wertvorstellungen können explizit zum Unterrichtsthema gemacht werden. Mindestens ebenso wichtig wird jedoch die Begegnung mit anderen Menschen sein, welche einen unterschiedlichen kulturellen Hintergrund haben und mit unterschiedlichen Wertvorstellungen aufgewachsen sind. Eine am Autonomieideal orientierte Schule sollte daher sowohl in den Unterrichtsinhalten als auch in der Zusammensetzung der Schüler- und Lehrerschaft an einer Vielfältigkeit unterschiedlicher Meinungen und Wertvorstellungen orientiert sein.
2.2 Grenzen des Autonomieideals Eine Beförderung der Autonomie gilt in der zeitgenössischen Philosophie der Erziehung als das zentrale Ziel der Erziehung. Im Folgenden wird jedoch deutlich werden, dass es sich hierbei nicht um das einzige Bildungsziel handelt. In Abschnitt 2.2.1 wird es zunächst um mögliche Konflikte zwischen einer Beförderung der Autonomie und bestimmten gemeinschaftlichen Werten gehen. Solche Konflikte werden von Kommunitariern gegen den Liberalismus geltend gemacht. Darüber hinaus haben Aristoteliker vorgebracht, dass der Wert der Autonomie mit weiteren Werten konkurriere (2.2.2). In Abschnitt 2.2.3 werden wir darüber hinaus sehen, dass – ungeachtet solcher möglichen Konflikte – der Bildungskanon (der sich auf die Beförderung bestimmter Werte festlegt) nicht mit dem Verweis auf das Au-
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tonomieideal begründbar ist. Die ästhetische Erziehung ist dafür ein gutes Beispiel. Der Sinn für bestimmte Bücher, oder für bestimmte Formen der Musik, des Theaters, der Oper etc. sollte nicht, oder zumindest nicht allein, deshalb vermittelt werden, weil es der Autonomie förderlich ist, einen solchen Sinn zu entwickeln.
2.2.1 Gemeinschaftliche Werte Zuweilen wird aus dem Autonomieideal abgeleitet, dass sich die Lehrperson in Wertfragen neutral verhalten sollte. Damit kann entweder gemeint sein, dass sie umstrittene moralische Fragen (z. B. über die moralische Zulässigkeit einer Abtreibung) gar nicht erst zum Thema machen sollte. Oder es ist damit gemeint, dass sie in diesen Fragen selbst nicht Stellung beziehen sollte (z. B. nicht sagen, dass sie Abtreibung für moralisch verwerflich hält). Ersteres kann jedoch nicht von einer autonomieorientierten Erziehung gefordert werden, denn um kritisch über bestimmte Wertvorstellungen reflektieren zu können, müssen diese zum Thema gemacht werden. Auch eine völlige Zurückhaltung der Lehrperson in umstrittenen Wertfragen ist keine notwendige Voraussetzung für eine autonomieorientierten Erziehung. Denn manchmal mag es ausreichen, wenn die Lehrperson zwar ihre Meinung sagt, die Lernenden aber umfassend mit abweichenden Meinungen konfrontiert.65 In einer Diskussion über Abtreibung müsste beispielsweise dafür gesorgt werden, dass konkurrierende Sichtweisen (z. B. die feministische und die katholische) gleichermaßen zur Sprache kommen. Einer autonomieorientierten Erziehung sollte es darum gehen, konkurrierende Wertvorstellungen aufzuzeigen, und dies betrifft nicht nur moralische Werte, sondern z. B. auch religiöse Werte sowie konkurrierende Vorstellungen von einem guten Leben. Gegen diese Art der Erziehung haben Kommunitarier Vorbehalte. Sie meinen, die liberale Betonung der autonomen Person löse gemeinschaftliche Bindungen auf, und dies sei nicht nur für die Gemeinschaft, sondern für jedes einzelne Individuum schlecht, welches sich über solche Bindungen definiere.66 Was könnten Befürworter einer autonomieorientierten Erziehung auf Einwände dieser Art entgegnen? Zunächst könnten sie bestreiten, dass eine kritische Reflektiertheit notwendig, oder zumindest regelmäßig, zur Auflösung dieser Bindungen führt. Dies bestreitet beispielsweise Schaber: „Generell gilt: Mit einer Vielfalt von Lebensformen konfrontiert zu sein, impliziert nicht, allen Werten gegenüber Distanz zu wahren.“67 Schaber geht sogar noch weiter. Er meint, wenn wir etwas aufgrund von Reflexion als Wert anerkennen, würden wir uns stärker damit identifizieren als mit Werten, die wir unhinterfragt aus dem sozialen Zusammenhang übernehmen.68 Schaber meint also, die autonomieorientierte Erziehung verstärke Bindungen an bestimmte gemeinschaftliche Werte, statt diese aufzulösen.
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Dagegen gibt Steinfath allerdings zu bedenken, dass wir in der Ausbildung von unseren Zielen und umfassenden Idealen von Sinn- und Deutungsressourcen zehren, welche wir (oft unhinterfragt) aus dem sozialen Zusammenhang übernehmen. Die daraus erwachsenen Bindungen könnten aber der Forderung nach einer reflektierten Lebensweise durchaus entgegenstehen. Denn hier sei unter anderem zu bedenken, dass bei vielen Menschen die starke Identifikation mit bestimmten Zielen und Idealen „von Objektivitätsunterstellungen zehrt, die einer ausführlichen und ins Gründliche gehenden Überlegung nicht standhalten können“. Vielen Menschen sei daher „der Gedanke kaum erträglich, dass das, was ihnen im Leben am wichtigsten ist, keine Basis in realen Werten, in einer absoluten Vernunft oder in einem göttlichen Willen hat“.69 Man müsse damit zugeben, dass es starke Spannungen zwischen solchen Bindungen und Selbstbestimmung geben könne. Dies würde erklären, „warum viele Menschen Angst vor Selbstbestimmung haben und in ihr nur einen Wert unter anderen sehen“.70 Im Gegensatz zu Schaber ist Steinfath hier offenbar skeptischer hinsichtlich der Möglichkeit, etwas aufgrund von Reflexion als Wert anzuerkennen. Um diesem Dissens genauer nachzugehen, müsste man sich genauer fragen, welche Bindungen „einer ausführlichen und ins Gründliche gehenden Überlegung nicht standhalten können“, und inwiefern eine autonomieorientierte Erziehung dem entgegensteht. Am deutlichsten scheint mir ein solcher Konflikt in Bezug auf bestimmte religiöse Bindungen zu sein. Daher verwundert es auch nicht, dass Befürworter einer autonomieorientierten Erziehung in solchen Fällen real mit den größten Widerständen rechnen müssen. So wollen manche Eltern beispielsweise aus religiösen Gründen ihre Kinder vor Einflüssen schützen, die deren religiöse Überzeugungen bedrohen. Daraus ergeben sich Konflikte, weil einige Eltern es aus diesen Gründen ablehnen, ihre Kinder auf eine Schule zu schicken, und sie stattdessen selbst unterrichten wollen. Wenn religiös motivierte Eltern ihre Kinder nicht auf eine öffentliche Schule schicken wollen, wird dafür oft als Grund angegeben, dass die Kinder dort mit falschen Wertvorstellungen und mit aus religiöser Sicht anstößigen Lebensmöglichkeiten konfrontiert würden. So werde den Kindern dort beispielsweise eine falsche Vorstellung von Sexualität und der Rolle der Frau vermittelt. Dem wird von liberaler Seite entgegenhalten, dass dem Wunsch der Eltern auf Heimunterricht nicht nachgegeben werden sollte, weil dies die Selbstbestimmtheit oder Autonomie ihrer Kinder gefährde. Denn ihren Kindern fehle ohne die schulische Erziehung die Möglichkeit, die in ihrem religiösen Umfeld vorherrschenden Vorstellungen und Praktiken mit alternativen Vorstellungen kontrastieren und so kritisch über die elterlichen Vorstellungen reflektieren zu können.71 Der Konflikt wird demnach als einer zwischen religiösen Werten und dem Wert der Autonomie beschrieben, und einige Liberale fordern hier, dem
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Wert der Autonomie Vorrang einzuräumen. Einer derartigen Beschreibung des Konflikts liegt ein Autonomieideal zugrunde, welches auf eine Beförderung der kritischen Reflektiertheit verweist, und es wird gefordert, die so verstandene Autonomie auch zu Lasten bestimmter Bindungen zu befördern. Auch jenseits solcher spezifischen Konflikte gibt es allgemeine Warnungen, Kinder zu früh mit zu vielen unterschiedlichen Optionen zu konfrontieren. In Bezug auf sehr kleine Kinder lässt sich z. B. vermuten, dass es ihrer Willensbildung abträglich ist, zu früh mit zu vielen unterschiedlichen Wertvorstellungen konfrontiert zu werden.72 Um dieser Vermutung näher nachzugehen, müsste man die empirischen Wissenschaften, und zwar insbesondere die Entwicklungspsychologie, befragen. Wenn diese zeigen könnte, dass eine zu frühe Konfrontation mit zu vielen Alternativen der Ausbildung eines hinlänglich gefestigten Willens abträglich wäre, so müsste die Erziehung dies berücksichtigen. Dies wird jedoch auch von einigen Liberalen gesehen. So räumt Ackermann ein, zumindest kleine Kinder würden durch eine zu breite Palette unterschiedlicher Lebensmöglichkeiten überfordert. Es gebe Grenzen dessen, womit man Kinder konfrontieren könne. Jenseits dieser Grenzen würde Kindern die Bedeutung dessen, womit sie konfrontiert werden, verschlossen bleiben.73 Liberale können also Warnungen davor, die Kinder zu früh mit zu vielen konkurrierenden Wertvorstellungen zu konfrontieren, durchaus in ihre Überlegungen aufnehmen, und sie tun dies offenbar auch. Dennoch sollten sie sich einer zu weitgehenden Gleichsetzung oder Vermengung der jeweiligen Wertorientierungen und der individuellen Autonomie verwehren. Man sollte eine Festlegung auf bestimmte Wertvorstellungen nicht oder wenigstens nicht durchgängig damit begründen, dass dies der Autonomie zuträglich sei. Wer meint, dass eine Bindung an bestimmte gemeinschaftliche Werte für unser gutes Leben zentral ist, sollte nicht deshalb erklären, sie sei zugleich zentral für ein autonomes Leben. Auch hier sollten in den Autonomiebegriff möglichst keine umstrittenen Annahmen über ein gutes Leben einfließen, um Konflikte zwischen dem Autonomieideal und der Bindung an bestimmte gemeinschaftliche Werte nicht zu verschleiern. Im folgenden Abschnitt werden sich darüber hinaus weitere mögliche Konflikte zwischen dem Autonomieideal und konkurrierenden Werten zeigen.
2.2.2 Konkurrierende Werte Wir haben gesehen, dass die Beförderung der Autonomie insbesondere von erklärten Liberalen als das Ziel der Erziehung ausgewiesen wird. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Autonomie der zentrale Bestandteil eines guten Lebens ist, oder dass alle anderen Werte letztlich auf Autonomie zurückgeführt werden können. Dem widersprechen jedoch nicht nur die Kommunitarier, sondern ebenso einige erklärte Aristoteliker. So betont
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Hurka, Autonomie sei nur ein intrinsischer Wert unter vielen anderen.74 Auch Sher meint, neben dem Wert der Autonomie müsse man auch andere Werte in Betracht ziehen. Zwar habe Autonomie einen großen Wert, aber daraus folge nicht, dass Autonomie das einzige sei, was einen Wert habe.75 Zusätzlich zur Beförderung der Autonomie soll es der Erziehung daher diesen Autoren zufolge um die Beförderung weiterer (intrinsischer) Werte gehen. Deren Beförderung konkurriert aber unter Umständen mit der Beförderung der Autonomie. So macht Hurka bei der Autonomie des Handelns zugunsten anderer Werte Abstriche. Denn er meint, eine Tätigkeit könne auch dann wertvoll sein, wenn sie aufgezwungen wurde, und sie könne wertvoller sein als eine andere Tätigkeit, welche von derselben Person frei gewählt wurde. Selbst wenn Mozart in seiner Jugend die Musik aufgezwungen worden wäre, so hätte Mozarts Leben dennoch als Komponist einen größeren Wert gehabt, als wenn er seine Zeit damit zugebracht hätte, in der Sonne zu liegen. Selbst wenn man sich sein Leben als nur eingeschränkt selbstbestimmt vorstellen würde, so wäre sein der Musik gewidmetes Leben Hurka zufolge dennoch besser gewesen als sein selbstbestimmtes Sonnenbräunen. Hurka begründet das so: „Even if autonomy has some value, it cannot have so much as to outweigh all Mozart’s music.“76 Diese Äußerung weist auf mögliche Konflikte zwischen dem vermeintlich intrinsischen Wert der Autonomie und dem intrinsischen Wert der Musik (oder des Komponierens) und beiderlei Vermittlung mittels Erziehung hin. Ich werde der Frage nach einem möglichen Konflikt zwischen dem Wert der Autonomie und anderen (intrinsischen) Werten in einem späteren Kapitel noch einmal genauer nachgehen (vgl. 3.2.1), denn dazu sind zunächst einige werttheoretische Überlegungen nötig (vgl. dazu 3.1). Auch Hurkas nähere Begründung für seine Position soll in einem späteren Kapitel genauer betrachtet werden (vgl. 4.1.3). Dort werde ich, so viel sei schon hier gesagt, Hurkas objektivistischen Ansatz letztlich zurückweisen. Den Konflikt zwischen dem Wert der Autonomie und anderen Werten könnten Liberale auflösen, indem sie der Beförderung der Autonomie den einzigen beförderungswürdigen Wert zuschreiben, oder der Autonomie einen derartig hohen Wert beimessen, dass dieser Wert alle anderen Werte übertrifft.77 Allerdings ist dort, wo sehr gewichtige Werte dem Wert der Autonomie entgegenstehen, erst einmal nicht zu erkennen, warum diese durch den Wert der Autonomie notwendig übertrumpft werden sollen. Und selbst wenn der Wert der Autonomie größer wäre als alle anderen Werte, so könnten mehrere konkurrierende Werte zusammengenommen doch den Wert der Autonomie übertrumpfen.78 Der Liberale müsste nun entweder behaupten, dass sogar kleine Zugewinne an Autonomie größere Zugewinne an konkurrierenden Werten übertrumpfen. Oder er behauptet, es gebe ein Minimum an Autonomie, das erreicht werden muss, bevor andere Werte
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den Wert der Autonomie übertrumpfen können. Oder er zeichnet die Autonomie grundsätzlich als notwendige Bedingung für alle anderen Werte aus. Bestimmte Zustände und Aktivitäten hätten also nur dann einen Wert, wenn sie selbst gewählt sind. Autonomie stünde dann nicht im Konflikt mit anderen Werten, sondern wäre eine Bedingung für ihren Wert. Darüber hinaus könnte man solche Konflikte zurückweisen, indem man alle anderen Werte letztlich auf den Wert der Autonomie zurückführt. Diese Position lässt sich Martha Nussbaum zuschreiben, obwohl sie sich selbst als Aristotelikerin versteht. Nussbaums Ansatz besteht zunächst einmal in einer Spezifizierung menschlicher Fähigkeiten (capabilities), die ihres Erachtens notwendige Bedingung für ein gutes Leben sind. Dazu zählt sie unter anderem die Fähigkeit zu voller Lebensdauer, zu Gesundheit, zu angemessener Ernährung und angemessenem Obdach, zu sexueller Befriedigung und zu Bewegungsfreiheit. Weiterhin nennt sie die Fähigkeit zum Gebrauch der Sinne und die Fähigkeit zum Gebrauch der Vernunft (beides auf eine „wahrhaft menschliche Weise“), die Fähigkeit, kritisch über den eigenen Lebensplan reflektieren zu können, sowie die Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben.79 Nussbaum meint außerdem, einer staatlichen Erziehung solle es um eine Beförderung solcher Fähigkeiten gehen.80 Doch welche der eben genannten „capabilities“ kommen dafür in Frage? Unter den eben genannten Fähigkeiten würde man die schulische Erziehung beispielsweise dafür zuständig erklären, die kognitiven Fähigkeiten zu befördern. In Nussbaums Liste finden sich jedoch nicht nur solche inneren Fähigkeiten, sondern auf ihrer Liste finden sich auch verschiedene Möglichkeiten. Dazu zählen die Möglichkeit, eine angemessene Unterkunft zu haben, Bewegungsfreiheit zu haben, Freizeit zu haben, sich erholen zu können und nicht zuletzt: sein eigenes Leben führen zu können. Einige dieser Möglichkeiten hängen wiederum von dem Besitz bestimmter Fähigkeiten ab, wie z. B. der Fähigkeit, lesen und schreiben zu können. Zu der Vermittlung solcher Fähigkeiten kann die Erziehung klarerweise beitragen. Darüber hinaus kann die Erziehung den Kindern bestimmte Lebensmöglichkeiten erst einmal aufzeigen, denn das Wissen um diese Möglichkeiten ist eine Voraussetzung dafür, sie auch tatsächlich ergreifen zu können. So würde die schulische Erziehung die Kinder mit solchen Lebensmöglichkeiten konfrontieren, die sie in dem Leben ihrer Eltern nicht realisiert finden, und sie so in die Lage versetzen, ihr eigenes Leben zu führen. Doch greift der Staat damit nicht zu sehr in die elterliche Freiheit ein? Dagegen, die Freiheit der Eltern zu wenig zu berücksichtigen, verteidigt sich Nussbaum mit dem Verweis darauf, dass nur so die Autonomie der Kinder gewährleistet werden könne. Wenn einem an Entscheidungsfreiheit liege, müsse man fragen, „was es bedeutet, ein Wesen zu sein, das Entscheidungen trifft, und was es bedeutet, ein Kind so zu erziehen, dass es zu ei-
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nem solchen Wesen wird.“81 Nussbaums Liste soll also festlegen, welche Möglichkeiten Menschen offen stehen und welche Fähigkeiten Menschen haben sollten, damit man von ihnen sagen kann, dass sie ein selbstbestimmtes Leben führen können. Die internen Fähigkeiten in Nussbaums Liste (z. B. von seinen Sinnen Gebrauch machen zu können sowie kritisch über den eigenen Lebensplan reflektieren zu können) sind die inneren Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben, die äußeren Möglichkeiten (z. B. den Partner frei wählen zu können) sind Bedingung für eine angemessene Handlungsfreiheit, die ebenfalls Bestandteil des Autonomieideals ist.82 Wenn die Fähigkeiten auf Nussbaums Liste anzeigen, was nötig ist, um ein gutes Leben führen zu können, kann man Nussbaum also so verstehen, dass ihr Fähigkeiten-Ansatz letztlich nur von einer normativen Grundannahme getragen wird. Diese Annahme besagt, dass ein gutes Leben in einem selbstbestimmten Leben besteht oder dass es umso besser ist, je selbstbestimmter es verläuft. Nussbaums Argumentation würde dann also lediglich eine starke Wertschätzung der persönlichen Autonomie zugrunde liegen. Und damit würden ihre (erklärtermaßen aristotelischen) Erziehungsideale mit denen der liberalen Erziehung zusammenfallen. Der vermeintliche Konflikt zwischen einer Beförderung der Autonomie und konkurrierenden Werten würde dann so aufgelöst, dass eine Beförderung der Fähigkeiten, um die es Nussbaum geht, letztlich selbst einer Beförderung der Autonomie geschuldet ist. Allerdings lässt sich bezweifeln, dass die von Nussbaum genannten Fähigkeiten tatsächlich im Ideal der Selbstbestimmung aufgehen. Diesen Zweifeln soll im nächsten Abschnitt genauer nachgegangen werden.
2.2.3 Über Autonomie hinausgehende Werte Selbst wenn wichtige Bestandteile des Bildungskanons mit dem Autonomieideal vereinbar wären, wird man zumindest einräumen müssen, dass sich die so getroffene Auswahl nicht mit Rekurs auf das Autonomieideal begründen lässt. Ein Beispiel dafür ist die ästhetische Erziehung. Wieso sollte eine Beförderung der Fähigkeit, einem guten Buch oder einer Oper etwas abgewinnen zu können, die Autonomie der zu Erziehenden vergrößern? Jemand könnte behaupten, wertvolle Erfahrungen, die der Besuch einer Oper ermöglicht, gehörten zu dem „adequate range of choices“, die alle haben sollten, um überhaupt ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Doch das wäre überzogen. Und selbst die vorsichtigere Annahme, dass eine solche neu dazugewonnene Erfahrung unsere Autonomie vergrößert, ist keine adäquate Begründung für das Einräumen dieser Möglichkeit. Dies wird klar, wenn wir uns vor Augen führen, wie man in anderen Kontexten für das Einräumen einer solchen Möglichkeit argumentieren würde. Angenommen, ein Stadtrat diskutiert darüber, wofür die knappen kommunalen Haushaltsmittel ausgegeben werden sollten. Zur Begründung etwa der Forderung, das Theater weiterhin zu bezuschussen, würde wohl
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kaum ein Mitglied des Stadtrats den argumentativen Umweg über das Autonomieideal nehmen. Stattdessen würde direkt und mit Bezug auf den Wert des Theaters oder des Theaterbesuchs dafür geworben werden, das Theater weiterhin zu subventionieren. So könnte beispielsweise behauptet werden, dass der Theaterbesuch eine Bereicherung für das Leben der Bürger in dieser Stadt darstellt. Und eine solche Bereicherung würde hier nicht in der Vergrößerung der Autonomie bestehen, sondern in dem Wert eines Theaterbesuchs. Nun nehmen wir an, dass der Stadtrat nicht über die Finanzierung eines Theaters, sondern über eine städtische Bezuschussung der ästhetischen Erziehung diskutieren würde, z. B. durch eine Finanzierung der Musik- und Kunstschule der Stadt. Auch hier würde nicht erst über den Umweg der Autonomie, sondern direkt darauf verwiesen werden, dass der Besuch der Musik- und Kunstschule in vielfacher Hinsicht eine Bereicherung darstellt. Dabei würde direkt für den Wert künstlerischer Entfaltung, nicht jedoch für den Wert der Autonomie argumentiert. Die Möglichkeit einer künstlerischen Entfaltung ist nicht deswegen wertvoll, weil sie zu einer größeren Autonomie beiträgt. Vielleicht gibt es Formen künstlerischen Tätigseins, die einen wichtigen Beitrag zu einer Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen, Zielen und Idealen leisten, und so für eine – möglicherweise nicht einmal kognitiv zu verstehende – kritische Reflektiertheit sorgen. In diesem Fall leistete die ästhetische Erziehung tatsächlich einen Beitrag zur Beförderung der Autonomie. Doch ist dies kaum die zentrale Zielsetzung der ästhetischen Erziehung, und die ästhetische Erziehung geht sicher nicht darin auf. Diese Überlegungen lassen sich nun auch für eine Auseinandersetzung mit Nussbaums Position fruchtbar machen. Autonomie ist nur ein Wert neben zahlreichen anderen wertvollen Dingen auf Nussbaums Liste, und es ist nicht zu sehen, warum sich alle anderen Punkte nur deshalb als wertvoll ausweisen lassen, weil sie zu einem selbstbestimmten Leben beitragen oder die Voraussetzung dafür sind. So ist etwa die von Nussbaum angeführte Fähigkeit zum Gebrauch der Sinne auch für diejenigen wichtig und wertvoll, deren Leben man als nur eingeschränkt selbstbestimmt bezeichnen würde, weil sie nicht oder nur sehr rudimentär über ihre Wünsche und Meinungen reflektieren. Zwar mag man es als Voraussetzung für ein angemessenes Spektrum an Handlungsmöglichkeiten ansehen, von seinen Sinnen Gebrauch machen zu können. Für den Wert dieser Handlungsmöglichkeiten ließe sich aber wiederum unabhängig von Autonomie argumentieren. Zudem geht es Nussbaum nicht um irgendeinen Gebrauch der Sinne, sondern z. B. um einen Gebrauch, der das Erleben und Hervorbringen von geistig bereichernden Werken der Literatur und Musik ermöglicht. Dazu bedarf es Nussbaum zufolge einer angemessenen (schulischen) Erziehung.83 Wir ha-
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ben jedoch gesehen, dass das Autonomieideal überstrapaziert würde, wenn man die ästhetische Erziehung damit begründete. Bei manchen Punkten auf Nussbaums Liste ist ein sinnvoller Bezug zum Autonomieideal darüber hinaus überhaupt nicht klar – sie lassen sich also gar nicht mit Hilfe des Autonomieideals rechtfertigen. Ein besonders eindeutiges Beispiel dafür scheint die Fähigkeit zu sein, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben, welche ebenfalls auf Nussbaums Liste auftaucht. Jemand, der in einer Großstadt aufwächst und diese Möglichkeit nicht hat, den mag man zwar bedauern, weil ihm eine wichtige Erfahrungsmöglichkeit fehlt. Damit würde er jedoch nicht notwendig ein nur eingeschränkt selbstbestimmtes Leben führen. Man könnte so reden, wenn man eine Einschränkung der Selbstbestimmtheit immer dann ausmacht, wenn einer Person eine für wichtig erachtete Erfahrungsmöglichkeit fehlt. Doch wir hatten bereits gesehen, dass nicht immer auf die Beförderung der Autonomie verwiesen werden sollte, wenn dafür argumentiert wird, ganz bestimmte Möglichkeiten einzuräumen. Dass eine bestimmte Möglichkeit offeriert werden sollte, sollte nicht stets damit begründet werden, dass dies die Autonomie der zu Erziehenden erhöht. So ausgeweitet wird die Autonomie ein äußerst unscharfer Zweck der Erziehung. Und der Streit darum, was genau mittels Erziehung befördert werden darf oder sollte, wird nur vermeintlich beigelegt. Ein solcher Autonomiebegriff verwischt Differenzen zwischen unterschiedlichen Vorstellungen davon, welche Zwecke einer staatlichen Erziehung zugrunde liegen sollten. Dieses Problem spiegelt sich auch in Nussbaums Vorstellungen von einer staatlichen Erziehung wider. Denn Nussbaum meint, wir sollten uns so wie „gute Ärzte“ verhalten, welche sich verantwortungsvoll um die Bedürfnisse ihrer Patienten kümmern, und analog dazu ein Erziehungswesen schaffen, das die Erziehenden in die Lage versetzt, von ihren Fähigkeiten Gebrauch zu machen.84 Doch der Vorstellung vom „guten Arzt“ liegt hier die Vorstellung zugrunde, dass der Arzt besser weiß, was gut für seinen Patienten ist, als dieser selbst. Und im Fall der staatlichen Erziehung müsste er es nicht nur besser wissen als die Kinder, sondern auch besser als deren Eltern. Damit sind eben doch Konflikte zwischen einer paternalistischen Auffassung und liberaleren Vorstellungen auszumachen. Um solche klassischen Konflikte im Blick zu behalten und die Explikation des Autonomieideals nicht von Voraussetzungen über ein gutes Leben abhängig zu machen, sollten wir auch hier wieder berücksichtigen, dass die Konfrontation mit konkurrierenden Wertvorstellungen ein zentrales Ziel der autonomieorientierten Erziehung ist, nicht jedoch zusätzlich auch alle anderen möglichen Ziele der Erziehung. Allerdings kann sich auch eine liberale Erziehung durchaus auf die Vermittlung solcher Wertvorstellungen festlegen, die notwendig dafür sind, dass die sozialen Bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben der einzel-
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nen Individuen vorliegen. Nicht in Bezug auf alle Werte wird eine autonomieorientierte Erziehung bezüglich deren (selbstbestimmter) Übernahme oder aber Ablehnung indifferent sein. Stattdessen wird die liberale Erziehung in Bezug auf manche Werte explizit das Ziel verfolgen, dass die zu Erziehenden diese Werte übernehmen. Dazu gehören Werte wie Respekt und Toleranz. Einer an dem Wert der Autonomie orientierten Erziehung muss an der Vermittlung dieser Werte gelegen sein, denn eine autonomieorientierte Erziehung sollte den Blick nicht nur auf die inneren, sondern auch auf die äußeren Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben richten. Sie sollte daher berücksichtigen, dass die Autonomie des Einzelnen nur unter entgegenkommenden sozialen Bedingungen möglich ist.85 Die Erziehung sollte solche entgegenkommenden sozialen Bedingungen für möglichst alle wahrscheinlich machen. Zwar kann es durchaus Spannungen zwischen den individuellen und den sozialen Bedingungen für ein autonomes Leben geben, welche insbesondere die individuelle Handlungsfreiheit betreffen. Doch wenn in die Explikation des angemessenen Spektrums an Handlungsmöglichkeiten (s. o.), welches von dem Autonomieideal erfasst wird, Überlegungen zu den sozialen Bedingungen für ein autonomes Leben eingehen (so fiele die Möglichkeit, andere Menschen zu verletzen, dann klarerweise nicht unter das angemessene Spektrum an Möglichkeiten), treten diese Spannungen in den Hintergrund. Die sozialen Bedingungen, unter denen die Heranwachsenden später leben werden, gestaltet die Erziehung selbst mit. Eine autonomieorientierte Erziehung sollte insofern dazu beitragen, diese sozialen Bedingungen zu schaffen. Es wäre sinnlos, alternative Wertvorstellungen aufzuzeigen, wenn nicht sichergestellt wäre, dass Lebensformen, die von anderen Personen nicht als wertvoll angesehen werden, von diesen dennoch toleriert werden. Eine autonomieorientierte Erziehung sollte also durchaus an der Vermittlung ganz bestimmter Wertvorstellungen orientiert sein, und zwar an der Vermittlung solcher Wertvorstellungen, deren allgemeine Übernahme eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass alle einzelnen Mitglieder dieser Gesellschaft überhaupt in der Lage sind, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Obwohl diese Überlegungen eine wichtige Ergänzung darstellen, stellen sie nicht die These in Frage, dass vieles von dem, was faktisch im Bildungsbereich passiert, nicht als bloße Beförderung der Autonomie zu interpretieren ist. Wie für die ästhetische Erziehung gilt dies auch für die Vermittlung bestimmter Wissensinhalte. Manches Wissen lässt sich dem oben genannten „angemessenen“ Spektrum von Handlungsmöglichkeiten zurechnen, weil es eine notwendige Voraussetzung dafür ist, diese Möglichkeiten ergreifen zu können. Doch viele der in der Schule vermittelten Wissensinhalte fallen nicht in dieses Spektrum. Zu wissen, wann die Pyramiden gebaut wurden, oder wie die Mitose funktioniert, ist nicht, oder zumindest nicht nur, der
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Autonomie zuträglich. Für solche Wissensinhalte ausschließlich mit Rekurs auf das Autonomieideal zu argumentieren, wäre daher verfehlt. Auch wenn sich eine autonomieorientierte Erziehung auf die Beförderung bestimmter moralischer Werte wie Respekt und Toleranz festlegen sollte, weil die Beförderung dieser Werte eine Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben aller ist, gilt dies für viele andere Werte nicht. Jeder Bildungskanon geht davon aus, dass die Vermittlung mancher Dinge besser ist als die Vermittlung anderer, und dass es besser ist, sein Herz an das eine zu hängen als an das andere. Selbst wenn die so getroffene Auswahl mit dem Autonomieideal vereinbar wäre, ließe sie sich doch nicht mit dem Autonomieideal begründen. Und selbst wenn man meint, dass auch eine autonomieorientierte Erziehung den kulturellen Hintergrund berücksichtigen sollte (weil es wichtig für ein selbstbestimmtes Leben ist, sein Herz an ganz bestimmte Dinge zu hängen), wäre es verfehlt, den Bildungskanon ausschließlich so zu begründen. Denn obwohl sich dieser zweifellos an kulturellen Werten orientiert, geht es dabei nicht nur darum, dass seine Inhalte faktisch von vielen Mitgliedern einer Kultur wertgeschätzt werden, sondern man hält sie für wert, wertgeschätzt zu werden. Und dies lässt sich nicht mit Rekurs auf das Autonomieideal begründen. Um zum Anfang dieses Kapitels zurückzukommen: Auch Humboldt hat recht konkrete Vorstellungen davon, wie der Bildungsprozess ablaufen sollte, und diese weisen über das Ideal der Selbstbestimmung hinaus. Humboldt spricht in seiner Theorie zur Bildung des Menschen von einer „Stärkung der eigenen inwohnenden Kraft des Menschen“.86 Humboldt verwendet den Kraftbegriff aber auch im Plural, und dabei spricht er von „physischen“, „intellektuellen“, und „moralischen“ Kräften.87 Unter Kräften versteht Humboldt hier offenbar bestimmte Fähigkeiten und deren Gebrauch. Humboldt meint, der sich bildende Mensch stärke und erhöhe „die Kräfte seiner Natur“.88 Allerdings ist die Entwicklung dieser Kräfte nicht beliebig, sondern Humboldt wirbt für ein bestimmtes Ideal, an dem sich die Ausbildung der einzelnen Kräfte bemisst. In seiner Frühschrift findet sich dazu die folgende Äußerung: „Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“89 Obwohl Humboldt der Eigentümlichkeit und Selbstbestimmtheit des einzelnen Menschen Raum geben will, hat er doch konkrete inhaltliche Vorstellungen vom Bildungsprozess. Denn er fordert die „höchste“ und „proportionierlichste“ Bildung der individuellen Kräfte zu einem Ganzen. Diese sei der „wahre Zweck“ des Menschen. Humboldt hat hier offenbar ein natürliches Telos des Menschen im Auge, welches den Zwecken, die sich Menschen selbst setzen, vorausgeht und Menschen in normativer Hinsicht die Zwecke, die sie sich setzen sollten, vorgibt. In seinen Versuchen, dies
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weiter zu präzisieren, kommt Humboldts idealisierende Vorstellung von der griechischen Kultur ins Spiel: „[S]o fesselt uns am Altertum vor allem die Größe, welche immer mit dem Leben eines Menschen dahin ist, die Blüte der Phantasie, die Tiefe des Geistes, die Stärke des Willens, die Einheit des ganzen Wesens, welche allein dem Menschen wahren Wert gibt.“90 Das im Neuhumanismus zur Geltung gelangte Ideal des Griechentums dient Humboldt also dazu, die normativen Vorgaben zu entwickeln, welche eine Orientierung an dem Ideal der Selbstbestimmung allein nicht hervorzubringen vermag, die seine Bildungstheorie aber gleichwohl beinhaltet.91 Im Folgenden werde ich nicht versuchen, durch eine Interpretation aller Humboldtschen Texte bzw. Fragmente92 Anhaltspunkte dafür zu finden, wie der Zweckbegriff bei Humboldt letztlich zu deuten und inwiefern Bildung der „wahre“ Zweck des Menschen ist. Stattdessen werde ich mich in den folgenden Kapiteln um eine eigene systematische Klärung der damit angesprochenen Fragen bemühen. So werde ich in einem späteren Kapitel beispielsweise den Versuch beleuchten, den Zweck der Erziehung daran auszurichten, was das Telos oder Ergon des Menschen ist (vgl. Abschnitt 4.1.2). Zunächst soll jedoch einer Überlegung näher nachgegangen werden, die in der zeitgenössischen Diskussion oftmals mit Verweis auf Humboldt angeführt wird. Mit Bezug auf Humboldt ist von „Bildung als Wert an sich“ die Rede. Diese Rede gilt es genauer zu verstehen und auf ihre Tragfähigkeit zu untersuchen. Denn in diesem Kapitel haben wir gesehen, dass die Behauptung, Bildung sei ein Wert an sich, keineswegs in der Behauptung aufgeht, Autonomie sei ein Wert an sich.
3 Bildung und Werte Dass Bildung ein „Wert an sich“ sei oder einen „Wert an sich“ habe, wird vor allem betont, wenn bestimmte Zwecke der Bildungspolitik oder bestimmte Einstellungen zur Bildung kritisiert werden sollen – insbesondere eine Ausrichtung an rein ökonomischen Interessen. Besonders in Bezug auf die universitäre Bildung ist dieser Hinweis recht verbreitet. Hier wird behauptet, Bildung sei ein Wert an sich, und daher solle es beispielsweise keine Studiengebühren geben. In Bezug auf die schulische Bildung wird in diesem Zusammenhang auf den Wert der Autonomie sowie auf den Wert des Wissens verwiesen. Und jeweils wird behauptet, diese Dinge seien ein Wert an sich oder sie seien eben kein Wert an sich, denn das ist insbesondere in Bezug auf den Wert des Wissens umstritten. Im Folgenden soll daher geklärt werden, inwiefern Bildung tatsächlich ein Wert an sich ist. Dazu ist es hilfreich, zwischen intrinsischen Werten (3.1.1), inhärenten Werten (3.1.2) und an sich wertvollen Erfahrungen (3.1.3) zu unterscheiden. Im darauf folgenden Abschnitt (3.2) können diese Überlegungen dann noch genauer auf den Wert der Bildung angewendet werden.
3.1 Werte an sich Mein Ziel ist eine Konzeption von Werten an sich, die verwendet werden kann, um mögliche Zwecke der schulischen Erziehung besser einzuordnen. Mir wird es dabei um die Begründbarkeit der Werte gehen, die als zentrale Werte der Erziehung ausgewiesen werden. Dazu gehören der Wert der Autonomie, der Wert des Wissens, sowie ästhetische Werte, die ich jeweils in 3.2 ausführlicher diskutieren werde. Genuin moralische Werte sollen dabei unberücksichtigt bleiben – von deren Begründbarkeit sollen die Ausführungen in diesem Kapitel also nicht handeln. Denn ein Urteil über den intrinsischen Wert einer Sache ist nicht notwendig als moralisches Urteil zu verstehen. In diesem Kapitel wird es mir also nicht um die Begründbarkeit genuin moralischer Forderungen gehen. Stattdessen werde ich die Zwecke der Erziehung in den Blick nehmen, zu deren Begründung darauf verwiesen wird, bestimmte Dinge seien „an sich wertvoll“. So wird beispielsweise die Vermittlung bestimmter Wissensinhalte mit dem Hinweis darauf begründet, dass es „an sich“ wertvoll sei, bestimmte Dinge zu wissen. Wir werden sehen, dass der Hinweis auf den intrinsischen Wert einer Sache als Aufforderung oder Empfehlung zu verstehen ist, die es näher zu explizieren gilt (3.1.1). Man kann versuchen, diese Aufforderung oder Empfehlung mit dem Hinweis auf den inhärenten Wert einer Sache zu be-
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gründen, also damit, dass man sich inhärent wertvollen Dingen zuwenden und diese um ihrer selbst willen wertschätzen sollte (3.1.2). Doch eine Begründung dafür, warum es empfehlenswert wäre, sich inhärent wertvollen Dingen zuzuwenden, muss letztlich auf die Erfahrungen verweisen, die sich mit diesen Dingen machen lassen. Diese Erfahrungen selbst sind es, die „an sich“ wertvoll sind (3.1.3). Dies erschließt sich uns letztlich nur aus einer subjektiven Perspektive. Dennoch kann uns der Hinweis auf den Wert dieser Erfahrungen tatsächlich einen Grund dafür liefern, uns für diese Erfahrungen offenzuhalten und anderen Menschen die Möglichkeit zu verschaffen, solche Erfahrungen zu machen (z. B. mittels Erziehung). Das gilt beispielsweise für den Wert des Wissens – denn der Wissenserwerb ist mit wertvollen Erfahrungen verbunden. Bildung ist damit insofern ein Wert an sich, als im Zusammenhang mit dem Wissenserwerb auf (an sich) wertvolle Erfahrungen verwiesen werden kann. Der folgenden Diskussion muss noch vorangeschickt werden, dass ich die Begriffe „(intrinsisch) gut“ und „(intrinsisch) wertvoll“ synonym verwenden werde. Ich werde also im Folgenden die Rede davon, dass etwas ein „Wert“ oder ein „Gut“ an sich ist, bzw. die Rede davon, dass es an sich „gut“ oder „wertvoll“ ist, nicht voneinander trennen. Zuweilen wird behauptet, dass „gut“ und „wertvoll“ unterschiedliche Bedeutungen haben und daher auseinandergehalten werden sollten. So meint Harman, es sei wichtig, die Auffassung, etwas sei „gut“, von der Auffassung, es sei „wertvoll“, zu unterscheiden, und er begründet das mit dem Verweis auf die folgenden Beispiele: „A good baseball bat need not be a valuable baseball bat, a good discussion is not necessarily the same thing as a valuable discussion, a good life is not the same as a valuable life, and honesty is good whether or not it is valuable.“93 Der Grund dafür, dass die Adjektive „gut“ und „wertvoll“ in Harmans Beispielen keineswegs austauschbar sind, liegt offenbar an der spezifischen Bedeutung, welche beide in dem jeweiligen Kontext haben. Ein Baseballschläger ist gut, wenn sich mit ihm gut spielen lässt – wertvoll ist er hingegen, wenn er teuer ist. Der Unterschied zwischen einer guten und einer wertvollen Diskussion ist dagegen weniger klar. Eine Diskussion ist gut, wenn sich alle daran beteiligen. Für wertvoll würde man sie vielleicht erklären, wenn sich mit dem Ergebnis der Diskussion etwas anfangen ließe. Der vermeintliche Unterschied zwischen einem guten und einem wertvollen Leben ist noch interpretationsbedürftiger, vielleicht ist die Rede von einem wertvollen Leben normativ stärker aufgeladen als die Rede von einem guten Leben. Vielleicht zeichnet man ein wertvolles Leben (im Gegensatz zu einem bloß „guten“ Leben) auch als besonders lobenswert aus. So ist Mutter Theresas Leben „wertvoll“ gewesen, und zwar wertvoll für andere. In dem letzten von Harman angeführten Beispiel, dem der Ehrlichkeit, verhält es sich jedoch genau andersherum: Wertvoll ist die Ehrlichkeit für die Person selbst, und „gut“ heißt in diesem Beispiel „moralisch gut“.
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Wir sehen also, dass die Unterschiede in den Bedeutungen von „gut“ und „wertvoll“ sehr stark vom jeweiligen Kontext abhängen. Beide Begriffe haben keine einheitliche und in einheitlicher Weise voneinander zu unterscheidende Bedeutung, an der man sich orientieren könnte. Wir haben gesehen, dass „gut“ in der Umgangssprache zuweilen etwas anderes bedeutet als „wertvoll“. Doch in Bezug auf den hier relevanten Kontext, in dem es nicht um alle Äußerungen geht, in denen davon die Rede ist, dass etwas „gut“ oder „wertvoll“ ist, sondern nur um die, in denen etwas als „an sich gut“ oder „an sich wertvoll“ bezeichnet wird, sind solche Unterschiede nicht auszumachen. Ich werde daher beide Begriffe synonym verwenden.
3.1.1 Intrinsische Werte Wie ist die Behauptung zu verstehen, dass bestimmte Dinge an sich wertvoll sind? Der Terminus, der für die Rede von an sich wertvollen Dingen in der Philosophie oftmals verwendet wird, ist der des „intrinsischen Wertes“. Die Liste dessen, von dem Philosophen behaupten, es sei intrinsisch gut oder wertvoll, ist lang und erstaunlich heterogen. Beispiele für vermeintlich intrinsisch wertvolle Dinge oder Zustände sind Autonomie, Wissen, ästhetische Gegenstände, Freundschaft, Liebe, Gleichheit und die Natur. Doch wie ist die Behauptung zu verstehen, dass diese Dinge intrinsisch gut oder wertvoll sind? G. E. Moore behauptet, man könne zwar fragen, welche Dinge intrinsisch gut seien, nicht aber, was „intrinsisch gut“ bedeute. Doch das sei unproblematisch, denn was „gut“ bedeute, das leuchte jedem unmittelbar ein.94 Die Frage, was es bedeuten kann, dass etwas einen intrinsischen Wert hat, verlangt also laut Moore keine Antwort, da jedem klar vor Augen stehe, was gemeint sei. Moores Behauptung ist auf den ersten Blick nicht unplausibel, da wir die Rede davon, dass etwas einen intrinsischen Wert habe oder „an sich gut“ sei, nicht sofort als unverständlich zurückweisen. Allerdings fällt auf, dass diejenigen, die auf den intrinsischen Wert einer Sache verweisen, diesem Hinweis meist selbst eine Erklärung hinzufügen. Sie scheinen also keineswegs davon auszugehen, dass der Verweis auf den Wert dieser Sache aus sich heraus verständlich ist. Die Erklärung, die dem Hinweis auf den intrinsischen Wert einer Sache häufig beigefügt wird, lautet so: Wenn von solchen Werten die Rede ist, wird auf einen instrumentellen Wert verwiesen, von dem sich dieser abgrenzen lässt. Besonders deutlich wird das in der Naturethik. So behauptet z. B. Rescher: „Arten haben nicht bloß einen rein instrumentellen Wert für den Menschen; sie sind auch um ihrer selbst willen wertvoll – sie haben einen intrinsischen Wert.“95 Dass etwas einen intrinsischen Wert habe oder ein Wert an sich sei, wird hier so erklärt, dass dieser Wert nicht instrumentell sei oder dass er über den instrumentellen Wert dieser Sache hinausgehe. Dies ist eine
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auch in anderen Kontexten verbreitete Weise, das Konzept des intrinsischen Wertes zu erläutern.96 Darüber hinaus wird das Konzept des intrinsischen Wertes noch auf eine zweite Weise erläutert: Intrinsisch wertvolle Dinge hätten ihren Wert „in and of itself.“97 Korsgaard erklärt dies so, dass es dabei um den Ort oder die Quelle dieses Wertes gehe – intrinsisch wertvolle Dinge tragen ihren Wert mit sich und beziehen ihn nicht aus einer anderen Quelle.98 Solche Formulierungen sind jedoch alles andere als einfach zu verstehen.99 Zudem sind sie der Sache nach umstritten. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn hier explizit Werte postuliert werden, die unabhängig von wertenden Subjekten bestehen können. Denn es ist umstritten, ob eine solche Rede von wertungsunabhängigen Werten überhaupt Sinn macht bzw. ob es solche Werte überhaupt geben kann.100 Korsgaard argumentiert dafür, die beiden Lesarten intrinsischer Werte auseinanderzuhalten und nur noch in Bezug auf die zweite Lesart von intrinsischen Werten zu reden. Intrinsische Werte seien damit von extrinsischen Werten abzugrenzen statt von instrumentellen Werten. Man solle auf der einen Seite finale (und eben nicht: intrinsische) von instrumentellen Werten unterscheiden; auf der anderen Seite intrinsische von extrinsischen Werten. Bei der Unterscheidung zwischen finalen und instrumentellen Werten gehe es um die Art und Weise unserer Bewertung, bei der Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Werten gehe es darum, woher die Dinge ihren Wert beziehen.101 Wer in konkreten praktischen Fragen auf den intrinsischen Wert einer Sache verweist, hat allerdings nicht notwendig etwas zur Quelle dieses Wertes gesagt (also nicht über intrinsische Werte in Korsgaards Sinne geredet). Stattdessen hat das Konzept des intrinsischen Wertes in diesen Kontexten oftmals eine normative Funktion. Dies wird deutlich, wenn wir die durchaus verbreitete Abgrenzung intrinsischer von instrumentellen Werten noch einmal genauer betrachten. Wie etwa ist der Hinweis zu verstehen, die Natur habe insofern einen intrinsischen Wert, als sie nicht lediglich einen instrumentellen Wert habe? Zunächst einmal führt diese Unterscheidung nur zu einer negativen Bestimmung: Intrinsische Werte seien nicht-instrumentelle Werte. Damit ist zunächst noch offen, wie die Rede davon, dass etwas einen nicht auf unsere Zwecke bezogenen Wert hat, genau zu verstehen ist. Eine Antwort auf diese Frage wird nun gerade eine Gemeinsamkeit zwischen der Rede von intrinsischen und instrumentellen Werten in den Blick nehmen müssen. Die für die Rede von intrinsischen Werten wichtige Bedeutung der Prädikate „gut“ und „wertvoll“ ist nämlich die, welche auch in der Rede von instrumentell guten oder wertvollen Dingen enthalten ist. Und eine entscheidende Gemeinsamkeit besteht darin, dass beide Werturteile normative Implikationen haben. Oftmals haben instrumentelle Werturteile die Funktion, eine bestimmte Handlung zu empfehlen.102 Der
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Verweis auf den instrumentellen Wert einer Sache impliziert dann, dass wir die nötigen Mittel zu unseren Zwecken ergreifen sollten oder dass dies zumindest empfehlenswert sei. Und auch diejenigen, die auf den intrinsischen Wert einer Sache verweisen, meinen damit oftmals, dass wir etwas tun sollten oder dass es zumindest empfehlenswert wäre. Dies wird klar, wenn man sich konkrete Verwendungsweisen dieses Begriffes ansieht. Der normative Charakter dieses Begriffes wird in der Naturethik sehr deutlich. Naturethiker konstatieren nicht einfach, dass die Natur intrinsisch gut oder wertvoll ist, sondern fordern mit dem Verweis auf den intrinsischen Wert der Natur deren Schutz. Und dieser Schutz soll unabhängig von dem instrumentellen Wert der Natur für den Menschen erfolgen. Auch in anderen Kontexten haben Urteile über den intrinsischen Wert einer Sache eine solche normative Funktion. Wenn beispielsweise auf den intrinsischen Wert der Oper verwiesen wird (oder darauf, dass die Oper „ein Wert an sich“ sei), dann ist damit oftmals die Forderung verbunden, dass Opernhäuser unabhängig davon subventioniert werden sollten, wie viele Menschen die Oper besuchen und ihr etwas abgewinnen können. Hier geht es wie schon in der Naturethik darum, Maßnahmen einzufordern, welche die Existenz einer Sache sichern sollen, und dazu wird auf den intrinsischen Wert dieser Sache verwiesen. Wenn auf den intrinsischen Wert einer Sache verwiesen wird, kann es darüber hinaus auch um eine emotionale oder kognitive Einstellung zu dieser Sache gehen. Wir werden dann nicht zu einer bestimmten Handlung aufgefordert, sondern bestimmte Gefühle oder eine bestimmte Einstellung gegenüber dieser Sache werden als angemessen ausgewiesen. Die mit dem Hinweis auf den intrinsischen Wert einer Sache verbundene normative Dimension ist daher nicht notwendig so zu verstehen, dass wir die Existenz dieser Sache befördern sollten – sondern hier kommt eine große Bandbreite von Einstellungen in Frage.103 Der Hinweis auf den intrinsischen Wert eines Kunstwerkes kann beispielsweise so interpretiert werden, dass man dem Kunstwerk auf eine Weise begegnen sollte, die sich als „ästhetische Anerkennung“ bezeichnen lässt. In diesem Zusammenhang sind auch solche Aufforderungen oder Empfehlungen zu nennen wie die, intrinsisch Wertvolles zu bewundern, zu achten oder zu lieben. Hier wird ausgedrückt, dass es angemessen ist, einer Sache bestimmte Gefühle entgegenzubringen.104 Doch wer intrinsische Werte so definiert, dass Träger dieser Werte es wert sind, ihnen mit wertenden Gefühlen zu begegnen (z. B. mit Bewunderung),105 der kann die Frage danach, warum sie dies wert sind, nicht wiederum mit dem Verweis auf ihren intrinsischen Wert begründen. In diesem Fall liefert der bloße Hinweis auf den intrinsischen Wert einer Sache keine Begründung für die damit verbundene Forderung oder Empfehlung, also z. B. der, einer intrinsisch wertvollen Sache mit bestimmten Gefühlen zu begegnen. Es mag durchaus gute Gründe für die damit ausgedrückte For-
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derung oder Empfehlung geben. Der bloße Verweis auf den intrinsischen Wert einer Sache liefert uns aber erst einmal keine derartigen Gründe. Wer auf den intrinsischen Wert einer Sache verweist, meint oftmals, dass wir mit ihr auf eine bestimmte Weise umgehen sollten oder dass dies zumindest empfehlenswert sei. Allerdings bekommt man damit keinen guten Grund dafür genannt, diesen normativen Ansprüchen auch tatsächlich nachzukommen. Und die Rede von dem intrinsischen Wert einer Sache kann sogar die Funktion haben, sich einer Begründung der damit verbundenen Aufforderung oder Empfehlung zu entziehen. So wird beispielsweise auf den intrinsischen Wert der Oper verwiesen, um Maßnahmen zur Sicherung der Fortexistenz der Oper auch von denen einzufordern, die der Oper nichts abgewinnen können. Solche allgemeinen Urteile über den intrinsischen Wert einer Sache werden nur über die damit verbundenen Forderungen verständlich, sie können diese aber selbst nicht begründen. Konkrete Hinweise auf den ästhetischen Wert einer Sache können uns allerdings durchaus Gründe für bestimmte Handlungen liefern – etwa in dem uns hier interessierenden Bereich der ästhetischen Erziehung. Zunächst fällt auf, dass wir in unserem Reden über Kunstwerke eher ein deskriptives als ein evaluatives Vokabular benutzen. Statt darüber zu reden, wie „gut“ ein Kunstwerk ist, redet man über dessen Farbgebung oder Komposition und andere deskriptive Eigenschaften. Wenn dennoch davon die Rede ist, dass es sich um ein gutes Kunstwerk handelt, dann wird meistens auf bestimmte Wertungsstandards verwiesen. Wer beispielsweise behauptet, dass dies ein gutes expressionistisches Gemälde ist, kann dazu auf Standards verweisen, an denen sich ein expressionistisches Gemälde messen lässt. Ein gutes expressionistisches Gemälde ist dann eines, welches diesen Standards in besonderer Weise genügt.106 Doch warum sollte es in der ästhetischen Erziehung darum gehen, ein Verständnis für diese standardrelativen Werte zu befördern? Wenn die ästhetische Erziehung ein Verständnis für ästhetisch wertvolle Gegenstände befördert, dann lässt sich das damit begründen, dass es gut ist, diese Dinge wertschätzen zu können. Es geht hier also um den Wert des Umgangs mit diesen Objekten. Eben dieser Umgang, also z. B. die ästhetische Kontemplation, kann nun ebenfalls als „an sich“ wertvoll ausgewiesen werden. Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass dies dann der Fall ist, wenn sich im Umgang mit diesen Dingen gute oder wertvolle Erfahrungen machen lassen. So haben wir beispielsweise einen guten Grund, ein bestimmtes Buch zu lesen, wenn dessen Lektüre gute Erfahrungen ermöglicht. Wir haben einen Grund, uns für solche Erfahrungen offenzuhalten oder anderen diese Erfahrungen zu ermöglichen (z. B. mittels Erziehung), weil diese Erfahrungen gut sind. Und da wir diese Erfahrungen durchaus als „an sich“ gute Erfahrungen bezeichnen können, ist hier nun doch ein relevanter Sinn
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von „an sich gut“ ausgemacht. Wie passt dieser zu den bisher angestellten Überlegungen zu intrinsischen Werten? Ich hatte zunächst gefragt, was diejenigen, die sagen, eine Sache sei intrinsisch wertvoll, damit meinen. Eine mögliche Antwort auf diese Frage lautet, dass dieser Satz in einen normativen Satz wie etwa „diese Sache sollte erhalten werden“ zu übersetzen ist. Wir können dies auch so ausdrücken, dass damit lediglich gesagt ist, dass es einen Grund dafür gibt, diese Sache zu erhalten, ohne dass der Verweis auf den Wert dieser Sache selbst einen solchen Grund liefert.107 Dies gilt jedoch nicht für die im Folgenden erläuterte Rede davon, dass bestimmte Erfahrungen „an sich“ gut oder wertvoll sind. Denn diese Rede liefert uns tatsächlich einen Grund dafür, etwas zu tun, also z. B. solche Erfahrungen zu suchen oder sie anderen mittels Erziehung zu ermöglichen. Bevor ich diese Erfahrungen im übernächsten Abschnitt näher in den Blick nehmen werde, wende ich mich im nun folgenden Abschnitt dem Objekt wertvoller Erfahrungen zu. Denn diese Erfahrungen richten sich in der Regel auf etwas, das als wertvoll erfahren wird. Es scheint daher verkürzt zu sein, nur die Erfahrungen selbst als wertvoll zu bezeichnen und nicht die Dinge, auf die sich diese Erfahrungen richten und die hier offenbar als (an sich) wertvoll erfahren werden.
3.1.2 Inhärente Werte Aus dem bisher Gesagten ergibt sich beispielsweise, dass eine Begründung für den Erhalt eines Theaters auf den Wert verweisen muss, den der Theaterbesuch für uns hat, und zwar im Rahmen einer ästhetischen Erfahrung. Doch würden wir nicht umgekehrt sagen, dass sich der Wert der Erfahrung aus dem Wert des Gegenstands ergibt, auf den sie sich richtet? Ist der Theaterbesuch nicht deshalb eine wertvolle Erfahrung, weil das Theater (bzw. ein Theaterstück oder eine Inszenierung) einen Wert hat? Ist es nicht das gute Buch, welches einen Wert hat, und macht nicht der Wert dieses Buches seine Lektüre zu einer wertvollen Erfahrung? Um diese Fragen zu beantworten, hilft es uns, den Begriff des „inhärenten Wertes“ näher zu betrachten. Er geht auf C. I. Lewis zurück, der die Dinge als „inhärent“ wertvoll bezeichnet, die das Potential haben, zu einer wertvollen Erfahrung beizutragen.108 Dabei hat Lewis vor allem den Wert der Objekte ästhetischer Erfahrungen im Blick. Ein Grund dafür, diese Werte als „inhärent“ wertvoll zu bezeichnen, besteht für Lewis darin, dass sie sich so von instrumentellen Werten abgrenzen lassen: „Values which inhere in the nature of the object in this sense of being realizable through presentation of it, contrast with instrumental values of things, which are potentialities for conducing to some positive value-quality not disclosed in the presence of that object to which the value is attributed but through presentation of some other object to which it may lead.“109 Doch gewinnen
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inhärent wertvolle Dinge nicht bei Licht betrachtet ihren Wert daraus, dass sie Mittel zum Zweck wertvoller Erfahrungen sind? Für Lewis schließt sich das offenbar nicht aus, denn an anderer Stelle betont er tatsächlich den instrumentellen Wert inhärent wertvoller Dinge. Diese seien „a means only to this further end of satisfaction found in human living.“110 Allerdings fragt man sich, inwiefern inhärente Werte dann noch von instrumentellen Werten zu unterscheiden sind. Zunächst könnte man hier ihren konstitutiven Wert ins Spiel bringen. Dies schlägt Audi vor: „[A]n inherently good thing such as a beautiful painting is good ‚in itself’: it has intrinsic properties […] that reward us when we appropriately experience it as having those properties, and it is not a means (in any ordinary sense) to the value of experiencing them, since it is partly constitutive of that experience.“111 Audi erklärt allerdings nicht genauer, was er unter einem konstitutiven im Gegensatz zu einem instrumentellen Wert versteht. Konstitutiv und instrumentell wertvolle Dinge lassen sich so voneinander unterscheiden, dass letztere prinzipiell substituierbar sind, erstere dagegen nicht. Zwar mag es wertvolle Erfahrungen geben, deren Objekt prinzipiell austauschbar ist, und dazu zählen vielleicht bestimmte Lusterfahrungen. Für den Wert ihrer Objekte wäre es dann charakteristisch, dass er in dem Vergnügen besteht, welches sie versprechen – wobei dieselbe Art von Vergnügen auch von einem anderen Objekt ausgelöst werden kann. Solche Objekte hätten einen instrumentellen Wert, wenn es letztlich nicht darauf ankommt, wie man zu diesem Vergnügen gelangt. Darüber hinaus gibt es jedoch viele Erfahrungen, die nicht unabhängig von einem bestimmten Objekt zu haben sind, welches diese Erfahrung mit konstituiert. Die Bewunderung für die sprachliche Kraft eines Gedichtes von Goethe ist eben nicht ohne das Gedicht zu haben, das Gedicht lässt sich hier nicht substituieren. Ein Objekt wäre also für eine Erfahrung konstitutiv, wenn es keine mögliche Erfahrung von einem anderen Objekt gibt, welche der Erfahrung dieses Objektes wesentlich ähnlich ist. Nehmen wir jedoch an, jemand mache beim Betrachten eines Kunstwerkes die gleiche oder zumindest eine ganz ähnliche Erfahrung wie beim Betrachten eines anderen Kunstwerkes – die beiden Kunstwerke könnten beispielsweise von demselben Künstler stammen und sich nur in einem winzigen Detail voneinander unterscheiden. Man müsste dann sagen, dass das erste Kunstwerk durch die Existenz eines zweiten seinen inhärenten Wert verliert, denn es gäbe dann eine mögliche Erfahrung von einem anderen Objekt, welche der Erfahrung dieses Objektes wesentlich ähnlich ist. Das ist jedoch wenig plausibel, denn es wäre seltsam, von einem „inhärenten“ Wert zu sprechen, wenn dieser durch solche äußeren Umstände verloren gehen kann. Der Unterschied zwischen dem inhärenten und dem bloß instrumentellen Wert einer Sache muss sich daher anders beschreiben lassen
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als über die eben vorgenommene Unterscheidung zwischen konstitutiven und instrumentellen Werten. Wie also lässt sich dieser Unterschied fassen? Inhärent wertvolle Dinge sind das Objekt bestimmter wertvoller Erfahrungen, die entsprechenden Erfahrungen richten sich auf diese Dinge. Doch inwiefern kann man von dem Wert dieser Dinge sagen, er sei ihnen inhärent? Bei Audi findet sich dazu noch ein weiterer Vorschlag. Audi bezeichnet bestimmte Dinge deshalb als inhärent wertvoll, weil sich deren angemessene Erfahrung auf ihre intrinsischen Eigenschaften richtet.112 Damit meint Audi z. B. die Farbeigenschaften eines Bildes.113 Audi betont, es handele sich hier um dispositionale Eigenschaften, deren Manifestierung einer Relation zu lebenden Dingen bedarf. So seien Farben tatsächlich „in den Dingen“, auch wenn man einräumen müsse, dass es zu einer Manifestierung durchaus der Lebewesen bedarf, die zum Farbensehen befähigt sind.114 Allerdings gibt es Kunstwerke, deren angemessene Erfahrung nicht allein auf deren bloße Farbeigenschaften, sondern auf bestimmte relationale Eigenschaften bezogen ist. So ist beispielsweise zunächst nicht zu sehen, inwiefern das, was an der Mona Lisa gefällt, tatsächlich nicht-relational ist. Denn uns gefällt, wie uns die Mona Lisa „anschaut“, und das ist klarerweise eine relationale Eigenschaft des Bildes. Man könnte dies jedoch so ausdrücken, dass dieses Gemälde die intrinsisch-dispositionale Eigenschaft hat, bei frontaler Ansicht den Eindruck zu erwecken, man werde von einer jungen Dame angesehen. Und man könnte darüber hinaus behaupten, dass sich auch die Möglichkeit einer wertvollen Erfahrung als intrinsisch-dispositionale Eigenschaft der Mona Lisa rekonstruieren lässt.115 Die Mona Lisa hätte also die intrinsisch-dispositionale Eigenschaft, bei der Betrachtung ihrer intrinsisch-dispositionalen Eigenschaften (darunter z. B. die Eigenschaft, einen „anzuschauen“) eine wertvolle Erfahrung hervorzurufen. Grundsätzliche Einwände gegen eine solche Redeweise ließen sich erheben, indem man bestreitet, dass es sich hier um einen angemessenen Gebrauch des Adjektivs „intrinsisch“ handelt.116 Außerdem ließe sich bestreiten, dass bestimmte (ästhetische) Gegenstände bei allen hinreichend sensiblen Menschen zu wertvollen Erfahrungen führen, wenn diese den Blick auf bestimmte Eigenschaften dieser Gegenstände richten. Auf diese Behauptung ist derjenige verpflichtet, der hier von intrinsisch-dispositionalen Eigenschaften redet. Dass bestimmte Gegenstände bei allen hinreichend sensiblen Menschen zu wertvollen Erfahrungen führen, ist eine sehr starke Behauptung. So starke Behauptungen müssen wir allerdings nicht machen, wenn wir, statt intrinsische Eigenschaften ins Spiel zu bringen, den Begriff des inhärenten Wertes stärker an die Art der Erfahrungen binden, die sich mit bestimmten Dingen machen lassen. Wenden wir uns noch einmal unserer Ausgangsfrage zu: Entgeht uns nicht etwas, wenn wir nur noch von dem Wert der
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Erfahrungen, nicht jedoch von dem Wert des Objektes unserer Erfahrungen reden? Das, was uns hier entgeht, ist ein Verständnis für den Gehalt bestimmter Erfahrungen. Wir begegnen manchen Objekten unserer Erfahrungen innerhalb dieser Erfahrungen mit bestimmten wertenden Gefühlen (z. B. mit Bewunderung), die sich nicht auf die Erfahrungen richten, die sich mit diesen Dingen machen lassen, sondern auf diese Dinge und deren Eigenschaften selbst. Wir bewundern etwas also nicht dafür, dass wir bei seiner Betrachtung wertvolle Erfahrungen machen, sondern dafür, wie großartig es ist. Dies ist ein wesentlicher Gesichtspunkt einer ganzen Reihe wertvoller Erfahrungen. Möglicherweise gibt es bestimmte Formen von Lusterfahrungen, die nur Erfahrungen von unserer Lust sind. Für einen Großteil unserer guten Erfahrungen gilt dies hingegen nicht – sie sind nicht Erfahrungen von unseren eigenen psychischen Zuständen, sondern von etwas außerhalb von uns Liegendem. Ästhetische Erfahrungen richten sich beispielsweise auf bestimmte ästhetische Gegenstände. In ihnen wird etwas als schön, erhaben usw. erfahren. So ist auch die Rede davon zu erklären, dass wir eine Sache „um ihrer selbst willen“ wertschätzen. Wir schätzen sie nicht, oder zumindest nicht nur, für die wertvollen Erfahrungen, die sich mit ihr machen lassen. Der Begriff des inhärenten Wertes beschreibt also den Gehalt oder den Charakter bestimmter Erfahrungen. Das ist durchaus mit der Rede davon vereinbar, dass das Objekt einer Erfahrung wertvoll ist, weil es wertvolle Erfahrungen ermöglicht, nur steht dies eben nicht im Fokus der Erfahrung selbst. Welche Gründe gibt es nun dafür, sich inhärent wertvollen Dingen zuzuwenden? In einer Antwort auf diese Frage wird man zunächst auf bestimmte Eigenschaften der für wertvoll erachteten Dinge verweisen. Man würde beispielsweise auf die Komposition eines Kunstwerkes, den Spannungsbogen eines Buches oder die Kameraführung eines Films verweisen, um zu erklären, warum diese Dinge gut sind. Dabei gibt es jedoch eine direkte Verbindung zu den guten Erfahrungen, die sich im Umgang mit diesen Dingen machen lassen. Denn die genannten Werteigenschaften (z. B. die hervorragende Komposition eines Kunstwerkes) sind gerade charakteristisch für solche Erfahrungen. Daher kann der Hinweis auf die Komposition eines Kunstwerkes, den Spannungsbogen eines Buches oder die Kameraführung eines Films einen Grund dafür liefern, dass sich mit diesen Dingen wertvolle Erfahrungen machen lassen, und dass es lohnt, dieses Buch zu lesen oder diesen Film zu schauen. Solche Hinweise sind also dazu geeignet, das Kunstwerk, das Buch oder den Film als geeignetes Objekt einer wertvollen Erfahrung zu empfehlen. Zu sagen, warum etwas wertvoll ist, gibt also zugleich Gründe dafür, dass es zu wertvollen Erfahrungen beiträgt. Und derjenige, der diese Erfahrungen macht, wird das Objekt dieser Erfahrungen innerhalb bestimmter wertender Einstellungen (z. B. der ästhetischen Anerkennung) dann ebenfalls „um seiner selbst willen“ wertschätzen.
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Die Rede von dem inhärenten Wert einer Sache kann also den Gehalt oder den Charakter bestimmter Erfahrungen in den Blick rücken, die sich im Umgang mit dieser Sache machen lassen. Das Objekt dieser Erfahrungen wird darin „um seiner selbst willen“ wertgeschätzt. Ein Verständnis für den inhärenten Wert einer Sache erwirbt man damit letztlich, indem man solche Erfahrungen macht. Im nächsten Abschnitt soll noch klarer werden, inwiefern – über die Rede von dem inhärenten Wert der Objekte solcher Erfahrungen hinaus – sinnvoll davon die Rede sein kann, dass diese Erfahrungen selbst „an sich“ wertvoll sind.
3.1.3 Wertvolle Erfahrungen Musik zu hören kann eine gute oder wertvolle Erfahrung sein. Im Deutschen ist der Erfahrungsbegriff sehr stark kognitiv konnotiert. Wer z. B. erfährt, dass er belogen wurde, der weiß jetzt, dass er belogen wurde. Im Englischen umfasst der Erfahrungsbegriff (also „experience“) darüber hinaus auch subjektive Zustände des Erlebens.117 Im Folgenden werde ich zwar den deutschen Begriff der Erfahrung verwenden, damit aber dennoch von der kognitiven Konnotation absehen und diese subjektiven Zustände meinen. Trotz dieser Schwierigkeit ist die Rede von bestimmten „Erfahrungen“ der von bestimmten „Erlebnissen“ vorzuziehen. Viele subjektive Zustände des Erlebens sind nicht von dem Objekt zu trennen, auf das sie bezogen sind, und das bringt der Erfahrungsbegriff sehr gut zum Ausdruck. Wenn jemand beispielsweise ein Musikstück anhört, können wir dieses Erlebnis nur schwer von seinem Gegenstand trennen. Wir können nicht „Musik hören“, ohne Musik zu hören, und die gute Erfahrung, die wir beim Musikhören machen, ist daher nicht von der Musik zu trennen. Wenn wir hier nur sagen, dass es sich um ein gutes Erlebnis handelt, sehen wir von dem Musikstück ab, und der besondere Charakter dieses Erlebnisses bleibt damit ungenannt. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Komplexität verschiedener guter Erfahrungen verkannt wird, wenn diese auf „Lust“ reduziert werden. Denn der Begriff der Lust lässt außer Acht, worauf sich unsere Erfahrung richtet.118 Das mag in Bezug auf Lust oder Freude manchmal tatsächlich angemessen sein – zuweilen sind wir einfach froh, ohne uns damit über etwas zu freuen. Auf viele andere Erfahrungen trifft dies jedoch nicht zu. Diese Erfahrungen sind nicht davon zu trennen, was hier als gut erfahren wird. Daher ist der Erfahrungsbegriff passender als der Begriff des Erlebnisses, weil er beides, also die Subjekt- und die Objektseite, in einem Begriff (nämlich dem der Erfahrung) zu vereinen vermag. Bestimmte Zustände des subjektiven Erlebens werden von uns als gut oder wertvoll erfahren, und in ihnen wird etwas als gut erfahren. Für diese Zustände werde ich im Folgenden den Ausdruck „gute Erfahrungen“ verwenden. Und mir geht es hier um an sich gute Erfahrungen.
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An sich gute Erfahrungen sind gut für uns in dem Sinne, dass es sich bei ihnen um Zustände des subjektiven Erlebens handelt. Doch wie ist die Rede davon zu verstehen, dass solche Erfahrungen an sich gut sind, wenn sie doch zugleich für uns gut sind? Die Rede von an sich guten Erfahrungen dient auch hier wieder einer Abgrenzung von instrumentellen Werten. Im Bereich der Erfahrungen ist eine solche Abgrenzung nicht nötig, wenn diese klarerweise nicht-instrumentell gut sind. So kann man beim Musikhören Erfahrungen machen, die nicht als Mittel zu irgendwelchen Zwecken, sondern „an sich“ gut sind. Aber es gibt auch Erfahrungen, die instrumentell wertvoll sind. Ein mögliches Beispiel für eine instrumentell wertvolle Erfahrung wäre die Erfahrung von Mitleid. Derjenige, der eine solche Erfahrung macht, ist eher gewillt, anderen zu helfen, und Mitleid wäre dann gut als Mittel zum Zweck moralisch guter Handlungen. Im Bereich der guten Erfahrungen stellt dies jedoch eher eine Ausnahme dar. Um die folgenden Ausführungen daher sprachlich nicht unnötig zu verkomplizieren, wird im Folgenden nur noch von „guten“ Erfahrungen die Rede sein, und damit sind dann „an sich gute“ Erfahrungen angesprochen. Deren Wert ergibt sich also nicht daraus, dass sie Mittel zum Zweck anderer guter Dinge sind. Versuchen wir nun, den Hinweis auf den Wert solcher Erfahrungen besser zu verstehen. Hier ist äußerste Vorsicht geboten, denn bei dem Versuch einer Explikation dieser Werte drohen sie instrumentalisiert zu werden. Wenn man beispielsweise fragt, warum es eine gute Sache ist, Musik zu hören, dann ist man versucht zu sagen: Weil es Spaß macht – doch damit wird dem Musikhören nur noch ein instrumenteller Wert zugesprochen, denn Spaß zu haben wäre dann als wertvoll hingestellt und das Musikhören als ein Mittel zum Zweck des Spaßhabens. Zwar könnte man diesen Schwierigkeiten entgehen, wenn man den Musikgenuss als eine Form des Spaßhabens auffasst statt als ein Mittel dazu. Doch auch diese Analyse ist unzutreffend, weil der Begriff des Spaßes auf eine Weise hedonistisch getönt ist, die den Wert manchen Musikhörens nicht erfasst. Jemand könnte behaupten, dass es ihm wirklich keinen Spaß macht, Beethovens Fugen anzuhören, sondern dass er dies eher als eine Zumutung empfindet. Dennoch sei es gut, sich dies zuzumuten. Beethovens Fugen seien zwar grässlich anzuhören, aber sie anzuhören sei dennoch eine große Bereicherung. Auch hier lauert eine Instrumentalisierung, weil man fragen könnte, wozu es gut ist, sich die Fugen anzuhören. Dass es instrumentell gut ist, sich Beethovens Fugen zuzumuten, war mit dieser Äußerung aber nicht notwendig gemeint. Wer hier gerade nicht sagen will, dass dies für etwas anderes gut ist, der könnte gemeint haben, dass Beethovens Fugen zu hören schlicht eine an sich gute Erfahrung ist. In dem Bemühen, eine Antwort auf die Frage zu geben, warum eine Erfahrung wertvoll ist, verliert man also leicht das besondere Charakteristikum dieser Erfahrung aus den Augen. Gute Erfahrungen wie das Mu-
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sikhören werden beispielsweise auf Lustgewinn reduziert, und damit wird die Vielfalt guter Erfahrungen gerade verkannt. Das Musikhören (oder genauer: die Erfahrung, die man dabei macht) ist an sich gut, und daher gibt es keine Antwort auf die Frage, warum oder wozu es gut ist. In einer Antwort auf die Frage danach, inwiefern bestimmte Erfahrungen gut sind, lassen sich allerdings Parallelen zu anderen guten Erfahrungen aufzeigen. Insofern lassen sich bestimmte gute Erfahrungen (z. B. die beim Hören von Jazz) auch demjenigen anpreisen, der diese noch nicht gemacht hat, wohl aber andere Erfahrungen dieser Art (z. B. beim Hören klassischer Musik). Und auch wenn jemand bisher keinen Zugang zu guten Erfahrungen einer bestimmten Art hatte (z. B. weil er keinen Zugang zu einer bestimmten Musikrichtung hat), dann versteht er doch, was gemeint ist, wenn hier von guten Erfahrungen die Rede ist. Denn er versteht das Prädikat „gut“, und er hat selbst gute Erfahrungen anderer Art gemacht. Doch was haben verschiedene gute Erfahrungen gemeinsam? Eine Möglichkeit, die Gemeinsamkeit guter Erfahrungen in den Blick zu bekommen, erschließt sich aus unserem Umgang mit diesen Erfahrungen. Von dem Zustand, in dem wir uns befinden, wenn wir gute Erfahrungen machen, wünschen wir oftmals, dass er bestehen bleibt. Retrospektiv würden wir sagen, dass wir diese Erfahrungen nicht missen wollen. Und prospektiv wird man diese Erfahrungen oftmals wiederholen wollen. Gute Erfahrungen können ganz unterschiedlicher Qualität sein, sie können beispielsweise deshalb als gut bezeichnet werden, weil sie freudvoll, bereichernd, intensiv, komisch oder sinnstiftend sind. Diesen Erfahrungen ist gemeinsam, dass man sie nicht missen will, dass man sie oft auch wiederholen will und dass man anderen dazu rät, sich in Situationen zu begeben, in denen sich diese Erfahrungen machen lassen. Doch letztlich bleiben solche Kriterien äußerlich. Der Wert dieser Erfahrungen erschließt sich uns letztlich nur aus unserer subjektiven Perspektive. Hier stimmt Moores Behauptung, dass „gut“ nicht weiter erklärt werden kann. Gute oder wertvolle Erfahrungen sind also von einem subjektiven Standpunkt aus gut, der sich nicht weiter explizieren lässt. Auf einen solchen subjektiven Zustand können wir uns dennoch ebenso verständigen wie auf andere subjektive Zustände, z. B. darauf, wie es ist, traurig zu sein. Der Begriff der guten Erfahrung ist ein umfassenderer Begriff als der Begriff der Traurigkeit oder der Fröhlichkeit, aber er ist von derselben Art. Der Begriff der guten Erfahrung ähnelt anderen phänomenalen Begriffen. Dazu zählen Begriffe wie: „so ein Geschmack“, „so ein visuelles Erlebnis“, „so ein Gefühl“. Aber wir sollten der drohenden Tendenz widerstehen, das Phänomen, welches der Begriff erfasst, mit so etwas wie Lust, Vergnügen etc. zu identifizieren. Stattdessen sollten wir sagen, dass der Typus der guten Erfahrung ein sehr komplexer Typus von geistigem Zustand ist. Wir kennen wenigstens Aspekte der funktionalen Rolle solcher Zustände: das
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Subjekt neigt dazu, den Zustand zu erhalten, ihn zu wiederholen etc. Diese funktionale Rolle gibt uns ein objektives (Dritte-Person-)Konzept von guten Erfahrungen. Aber dieses erfasst ebenso wenig das Wesentliche des Typus der guten Erfahrung wie ein funktionaler Begriff von Rot-Erlebnissen deren Rot-Qualität erfasst. Nun gilt aber erstens, dass wir außerdem ein subjektives (Erste-Person-)Verständnis von guten Erfahrungen haben; und zweitens, dass wir es hier mit einem komplexen, aber irgendwie einheitlichen Phänomen zu tun haben. Verschiedene gute Erfahrungen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht – in ihrem intentionalen Objekt, sicherlich auch in allerlei Empfindungs- und Gefühlsqualitäten, die zu den spezifischen Erfahrungen untrennbar hinzugehören. Aber es gibt auch etwas Gemeinsames an ihnen – oder jedenfalls eine handfeste Ähnlichkeit zwischen ihnen allen, und das greife ich hier mit dem allgemeinen Begriff der guten Erfahrung heraus. Im Bereich der Phänomene, die für nicht-instrumentelle Werthaftigkeit relevant sind, ist das Phänomen der guten Erfahrung das fundamentalste, das wir begrifflich zu fassen bekommen. Was eine gute Erfahrung ist, kann man auch unabhängig davon verstehen, was ein guter Gegenstand der Erfahrung ist, weil es bestimmte Lusterfahrungen gibt, die sich nicht auf einen bestimmten Gegenstand richten. Oftmals richten sich gute Erfahrungen aber auf einen Gegenstand, dem bestimmte Werteigenschaften zugeordnet werden (z. B. ästhetische Eigenschaften). Diese Position ist damit vereinbar, dass die Ausfüllung des Typus der guten Erfahrung bei verschiedenen Menschen (z. B. in verschiedenen Kulturen) verschieden sein kann. Bei manchen Menschen zündet eine Opernarie einfach nicht; ihr Hören baut die Struktur einer solchen Erfahrung nicht auf. Wer hier von intrinsisch-dispositionalen Eigenschaften redet, müsste mindestens sagen, dass bestimmte (ästhetische) Gegenstände letztlich mit Notwendigkeit bei allen (aufgeschlossenen, trainierten) Menschen zu guten Erfahrungen führen. Er müsste also behaupten, dass diese Dinge die dispositionale Eigenschaft haben, unter bestimmten Bedingungen bei jedem hinreichend sensiblen Menschen zu einer guten Erfahrung zu führen. Doch so weit müssen wir nicht gehen. Auch wenn man nicht behauptet, dass bestimmte Dinge mit psychologischer Notwendigkeit zu einer guten Erfahrung beitragen, so kann ein Hinweis auf den Wert der mit ihnen verbundenen Erfahrungen dennoch erhellend sein. Menschen ähneln sich und machen daher oft sehr ähnliche Erfahrungen. Und weil wir uns ähnlich sind, liefern die Erfahrungen anderer einen wichtigen Hinweis darauf, was auch von uns als gut erfahren werden könnte. Dass andere von bestimmten Dingen angezogen werden, dass sie diese nicht missen oder sie sogar wiederholen wollen, und dass sie diese als „gute“ oder „wertvolle“ Erfahrungen bezeichnen, kann daher ein Grund für uns sein, uns selbst darauf einzulassen.
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Damit ist neben der im ersten Abschnitt erläuterten normativen Funktion der Rede von intrinsischen Werten nun eine weitere Spielart von „an sich gut“ ausgemacht, nämlich die einer an sich guten Erfahrung. Wie sich dies in die theoretische Landschaft verschiedener Konzeptionen intrinsischer Werte einfügt, wird deutlich, wenn man sich Frankenas Auseinandersetzung mit Moores Konzeption intrinsischer Werte anschaut. Frankena schlägt zwei unterschiedliche Analysen dieses Konzeptes vor. Entweder sei das Konzept so zu verstehen, dass intrinsische Werte eine normative Komponente besitzen, die dazu führt, dass intrinsische Werte in Ausdrücken des Sollens definierbar seien.119 Frankena will sich jedoch nicht darauf festlegen, dass Wertprädikate über Sollensaussagen gefasst werden müssen. Stattdessen mache eine Auseinandersetzung mit Moore gerade deutlich, dass „gut“ (und zwar in der Spielart, für die sich Moore interessiert, also im Sinne von „gut an sich“) ambivalent sei und auf zwei Weisen verstanden werden könne: einerseits „in terms of ought“ und andererseits in „nonethical-terms“, z. B. „in terms of desire or satisfaction“.120 Damit, dass Frankena von „satisfaction“ redet, verweist er in der zweiten Lesart ebenfalls auf bestimmte Erfahrungen. Die Plausibilität der ersten Lesart von „gut an sich“ hatte ich im ersten Abschnitt betrachtet. Einige Urteile über den intrinsischen Wert einer Sache werden tatsächlich nur über die damit verbundenen Forderungen (also in „terms of ought“) verständlich. Mit dem Verweis auf den intrinsischen Wert der Natur wird beispielsweise deren Schutz gefordert, und die Rede von dem intrinsischen Wert der Natur lässt sich nur über eine Explikation dieser Forderungen verstehen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn explizit darauf verwiesen wird, dass nicht die Möglichkeit wertvoller Erfahrungen (z. B. einer ästhetischen Erfahrung im Umgang mit der Natur) deren „intrinsischen“ Wert konstituiert. Im Hinblick auf die zweite Lesart sollten wir uns allerdings in der Art wertvoller Erfahrungen nicht auf die Rede von „satisfaction“ beschränken. Frankena selbst hat seine Überlegungen an anderer Stelle konkretisiert und dabei betont, es gebe ganz unterschiedliche „good-making qualities of experience“. Frankena spricht hier von verschiedenen Arten von „satisfactoriness“, die wir erfahren, und er betont ausdrücklich, „pleasantness“ sei nur eine davon.121 Allerdings scheint mir auch das Wort „satisfactoriness“ zu kurz zu greifen. Wir sollten stattdessen schlicht von guten Erfahrungen reden. Und für gute Erfahrungen gilt nun tatsächlich, dass „gut“, ganz wie Moore behauptet, eine „einfache“ Qualität ist, die sich nicht weiter erklären lässt.122 Moore selbst meint, dass es zusätzlich zu guten Erfahrungen auch noch andere intrinsisch wertvolle Dinge gebe.123 So meint er beispielsweise, die schöne Natur hätte auch dann einen intrinsischen Wert, wenn es keine Menschen gäbe, die sich an dieser erfreuen könnten.124 Hier kommt allerdings wieder Frankenas erste Lesart zum Tragen – die Rede von diesen intrinsi-
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schen Werten ist nur „in terms of ought“ zu interpretieren. Dies wird bei Moore daran deutlich, dass er seine Überlegungen zum wertungsunabhängigen Wert der Natur mit dem folgenden Gedankenexperiment erläutert: Stellen wir uns eine sehr schöne Welt vor, mit schönen Bergen, Flüssen, Seen usw. In dieser Welt soll es jedoch keine Menschen geben, die diese schöne Natur wertschätzen. Wenn wir nun vor der Wahl stünden, eine hässliche oder eine schöne Natur herzustellen (wir würden heute wohl eher sagen: eine hässliche oder schöne Natur zu hinterlassen), dann sollten wir uns laut Moore gänzlich unabhängig von der Wertschätzung schöner Natur (die ja in diesem Gedankenexperiment unberücksichtigt bleiben soll), in unserem Handeln um die schöne Natur bemühen.125 Der Hinweis auf den intrinsischen Wert einer Sache trägt hier aber nichts zur Begründung der damit verbundenen Forderungen oder Empfehlungen bei. Dagegen kann der Hinweis auf den inhärenten Wert einer Sache immerhin andeuten, welche Art guter Erfahrungen sich mit dieser Sache machen lassen (z. B. ästhetische Erfahrungen im Umgang mit der Natur). Der Hinweis auf den Wert bestimmter Erfahrungen kann uns einen Grund dafür liefern, uns für diese Erfahrungen offenzuhalten. Außerdem kann er einen Grund für die Forderung liefern, anderen Menschen die Möglichkeit zu verschaffen, solche Erfahrungen zu machen (z. B. mittels Erziehung). Die Rede davon, dass Bildung „ein Wert an sich“ sei, kann somit als Plädoyer dafür verstanden werden, solche Erfahrungen mittels Erziehung zu ermöglichen. Zwar kann man hier letztlich nur auf subjektive Zustände verweisen, die als gut erfahren werden. Was an dem Hören von Musik gut ist, ist letztlich nur dem zugänglich, der das Musikhören selbst als gut erfährt. Dennoch können wir uns über den Wert bestimmter Erfahrungen verständigen, und eine solche Verständigung kann die Grundlage dafür liefern, diese mittels Erziehung zu befördern. Eine solche Verständigung ist das Ziel der folgenden drei Abschnitte, in denen ich anhand dreier für die schulische Erziehung besonders relevanter Werte die obigen Überlegungen vertiefen werde – und zwar in Bezug auf den Wert der Autonomie, den Wert des Wissens, sowie ästhetische Werte.
3.2 Einzelne Werte Die schulische Erziehung hat zweifellos einen instrumentellen Wert. Und selbst ihre obersten Ziele können zugleich instrumentell gut sein. So ist das Ziel der Beförderung der Autonomie zugleich ein Mittel zu anderen Zwecken. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die für ein autonomes Leben konstitutive Handlungsfreiheit, die darin besteht, zwischen alternativen Lebensmöglichkeiten wählen zu können. So haben die meisten Unterrichtsfächer deshalb einen hohen instrumentellen Wert, weil sie auf den Arbeitsmarkt vorbereiten und die Schüler in die Lage versetzen, später zwischen
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unterschiedlichen Berufen wählen zu können. Doch alle Unterrichtsfächer ermöglichen zugleich gute Erfahrungen, die nicht in ihrem instrumentellen Wert für die spätere Berufstätigkeit aufgehen. Gerade wenn sich der Deutschunterricht nicht darauf beschränkt, den Schülern beizubringen, wie man ein Bewerbungsschreiben formuliert, sondern stattdessen einen guten Roman zum Thema macht, werden den Schülern dadurch „an sich“ gute Erfahrungen ermöglicht. Im Folgenden soll nun genauer betrachtet werden, inwiefern man die Vermittlung ganz bestimmter Wissensinhalte und Fähigkeiten, um die es in der Erziehung geht, mit Rekurs auf gute Erfahrungen begründen kann. Zuvor muss etwas zu der Auswahl der im Folgenden erörterten Werte gesagt werden, und zwar insbesondere deshalb, weil vermeintlich besonders wichtige Werte im Folgenden nicht zur Sprache kommen werden, und zwar die moralischen Werte. Regelmäßig kommt die Forderung auf, dass eine so genannte „Werteerziehung“ wieder an Stellenwert gewinnen soll. Meistens ist mit dem Ruf nach einer „Werteerziehung“ der Appell an eine moralische Erziehung verbunden. Die Fächer, die hierfür zuständig erklärt werden, sind zum einen der Religions- und zum anderen der Ethik-Unterricht. Wenn jedoch nur die moralische Erziehung als „Werteerziehung“ bezeichnet wird, liegt dem ein verkürzter Wertbegriff zugrunde. Denn neben den moralischen Werten befördert der schulische Unterricht eine ganze Reihe weiterer Werte (z. B. ästhetische Werte). Eine Beförderung dieser Werte verspricht gute Erfahrungen für die einzelnen Schüler. In dem Ruf nach einer neuen „Werteerziehung“ geht es hingegen vor allem darum, den Beitrag der (moralischen) Erziehung zu einem besseren und friedlicheren Miteinander zu betonen. Obwohl dies unbestreitbar eine zentrale Aufgabe der schulischen Erziehung ist (die jedoch in allen, und nicht nur in den eben genannten Fächern erfolgt), soll es mir hier in erster Linie um den Wert der Bildung für den einzelnen Menschen gehen. Denn dies ist die Dimension, die momentan am ehesten aus dem Blick gerät. In diesem Kapitel soll es noch nicht um einen Vergleich zwischen verschiedenen Werten bzw. zwischen verschiedenen wertvollen Erfahrungen gehen. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, ob es prinzipiell möglich ist, die guten Erfahrungen unterschiedlicher Menschen miteinander zu vergleichen, sondern es stellt sich bereits die Frage, welchen Vergleichsmaßstab wir anlegen, um unsere eigenen Erfahrungen als mehr oder weniger gut auszuweisen. Wie kommen wir zu der Aussage, eine Erfahrung sei besser oder wertvoller als eine andere? Auf dieses schwierige Problem der Vergleichbarkeit verschiedener Werterfahrungen werde ich erst in Kapitel 4 zurückkommen. Zunächst sollen jedoch einzelne Werte, um deren Beförderung es der Erziehung erklärtermaßen geht, eingehender betrachtet werden. Im Folgenden werde ich also näher auf den Wert der Autonomie (3.2.1), den Wert des Wissens (3.2.2) sowie auf ästhetische Werte (3.2.3) und deren Be-
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förderung mittels Erziehung eingehen. Eine Diskussion dieser Werte soll das Konzept der guten Erfahrung noch einmal an konkreten und für die Erziehung sehr grundlegenden Werten verdeutlichen und dessen Relevanz für die Begründung unterschiedlicher Erziehungsziele herausstellen.
3.2.1 Der Wert der Autonomie Alternative Wahlmöglichkeiten haben einen instrumentellen Wert. Zusätzliche Möglichkeiten machen es wahrscheinlicher, dass sich unter den angebotenen Möglichkeiten besonders gute Möglichkeiten befinden. Neben der Quantität spielt dabei auch die Qualität der Wahlmöglichkeiten eine Rolle – zusätzliche Wahlmöglichkeiten zu haben ist gut, wenn es sich tatsächlich um gute Möglichkeiten handelt. In Bezug auf die Erziehung ist hier besonders der Hinweis auf unsere Neigungen und Fähigkeiten wichtig. Ein breites Angebot an Wahlmöglichkeiten erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich darunter Möglichkeiten befinden, die den eigenen Neigungen und Fähigkeiten entgegenkommen.126 Ein solches Angebot reicht allein nicht aus, sondern wir müssen außerdem in der Lage sein, aus diesem Angebot das für uns Beste zu wählen. Auch diese Fähigkeit zur Autonomie hat also einen instrumentellen Wert. Sie ermöglicht es uns, eine gute Wahl zwischen alternativen Lebensmöglichkeiten zu treffen. Welche Lebensweise für uns die Beste ist, können wir in der Regel besser entscheiden als andere, denn hier kommt es wesentlich auf unsere individuellen Neigungen und Fähigkeiten an. Wären wir nicht zur Autonomie befähigt, wäre es weniger wahrscheinlich, dass wir das finden, was gut für uns ist – denn wir würden uns dabei unreflektiert von den Vorgaben anderer leiten lassen. Eine ausführliche Begründung des instrumentellen Wertes der Autonomie findet sich bei Mill. Mills Argumentation beruht auf der Prämisse, dass sich Menschen in ihren Neigungen und Vorlieben stark voneinander unterscheiden: „Such are the differences among human beings in their sources of pleasure, their susceptibilities of pain, and the operation on them of different physical and moral agencies, that unless there is a corresponding diversity in their modes of life, they neither obtain their fair share of happiness, nor grow up to the mental, moral, and aesthetic stature of which their nature is capable.“127 Weil Menschen so unterschiedlich sind, sollten sie nicht darauf festgelegt sein, ihr Leben auf eine bestimmte Weise zu führen. Und daher sollten ihnen alternative Möglichkeiten offenstehen. So begründet Mill die Autonomie des Handelns, aber auch die Autonomie des Wollens, also die Fähigkeit, unter den verschiedenen Handlungsmöglichkeiten eine reflektierte Wahl zu treffen. Auch die Autonomie des Meinens hat für Mill einen instrumentellen Wert. Wenn man grundsätzlich kritisch über bestimmte Wissensansprüche reflektiere, minimiere man das Risiko, sich in einer Sache zu irren. Und selbst, wenn man richtig liege, sei es dennoch wichtig, sich selbst und ande-
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ren Rechenschaft über seine Überzeugungen abzulegen. Denn die Lebenskraft einer Überzeugung schwinde, wenn man nicht mehr gezwungen sei, über die Gründe, die sie stützen, zu reflektieren. Selbst wenn bestimmte Überzeugungen wahr seien, sei es daher von großer Bedeutung, dass sie zur Diskussion gestellt würden.128 Mill argumentiert vor dem Hintergrund dieser Überlegungen vor allem für Meinungs- und Diskussionsfreiheit. Aber dieselbe Argumentation kann auch eine Erziehung zur Autonomie begründen, in der Kinder dazu angehalten werden, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und jegliche Wissensansprüche einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Bei Mill ist Autonomie allerdings nicht bloß Mittel zum Zweck – sondern auch ein Wert an sich. So meint er, persönliche Selbstbestimmung (individual spontaneity) sei intrinsisch wertvoll und verdiene um ihrer selbst willen Beachtung.129 Mill begründet diese Behauptung unter anderem damit, dass es den Menschen als Menschen auszeichne, von seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung Gebrauch zu machen – letztlich erweist sich Mill dabei als Aristoteliker. Was von dieser Begründung zu halten ist, wird in einem späteren Kapitel diskutiert werden (vgl. 4.1.2). Zunächst werde ich die Behauptung, Selbstbestimmung sei „ein Wert an sich“ nun vor dem Hintergrund der bisher angestellten Überlegungen genauer betrachten.130 In 3.1 hatte ich behauptet, dass der Hinweis darauf, etwas sei „an sich wertvoll“, letztlich nur im Hinblick auf gute Erfahrungen hilfreich ist. Wir müssten uns also auch hier an den guten Erfahrungen orientieren, welche mit einer selbstbestimmten Lebensführung einhergehen. Um welche Erfahrungen könnte es sich dabei handeln? Das Offenstehen alternativer Handlungsmöglichkeiten ist ein wichtiger Bestandteil des Autonomieideals. Befürworter einer liberalen Erziehung fordern daher, dass den zu Erziehenden alternative Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden sollten. Ist es nun auch über den instrumentellen Wert alternativer Wahlmöglichkeiten hinaus „an sich“ gut, die Wahl zu haben? Dass das Offenstehen alternativer Wahlmöglichkeiten einen Wert für uns hat, begründen einige Autoren wiederum mit dem intrinsischen Wert der Autonomie. Handelnde nehmen Einfluss auf ihre Stellung in der Welt – und das können sie nur, wenn ihnen alternative Handlungsmöglichkeiten offen stehen. Wer sich in dieser Weise als Handelnder verstehe, messe der Wahl zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten einen „intrinsischen Wert“ bei.131 Wer so von dem intrinsischen Wert der Autonomie spricht, der meint, dass wir wählen können sollten. Doch wie lässt sich diese Auffassung begründen? Was ließe sich demjenigen sagen, der diesem Ideal faktisch nicht nachstrebt? Wie ließe es sich ihm gegenüber begründen, dass Selbstbestimmung dennoch ein Wert für ihn ist? Auf welche guten Erfahrungen ließe sich hier verweisen?
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Zum einen kann es von uns als schöpferischer Akt empfunden werden, dem eigenen Leben Gestalt zu geben.132 Ein solch schöpferischer Akt setzt das Offenstehen alternativer Wahlmöglichkeiten voraus. Unser „Lebenswerk“ kann sich an materiellen Dingen ablesen lassen, z. B. an einer Sammlung, die man angelegt hat, einem Garten, um den man sich gekümmert hat, oder einem Buch, das man geschrieben hat. An diesen äußeren Dingen lässt sich ablesen, dass wir in unserem Leben tätig waren und wie wir tätig waren. Das Leben ist dann nicht einfach an uns vorübergezogen, sondern wir haben äußere Spuren hinterlassen. Doch vielfach bestehen diese Spuren eben nicht in äußeren Gegenständen, die wir hervorgebracht haben – sondern sie sind in unserem Leben selbst zu suchen. Und ein Rückblick auf das eigene Leben kann auch dann als gut erfahren werden, wenn es nicht diese äußeren Güter sind, auf die man zurückblickt, sondern wenn man zu der Überzeugung kommt, selbst seinem Leben die Richtung gegeben zu haben, die es genommen hat. Sein Leben mitgestaltet zu haben, ist rückblickend eine gute Erfahrung, und sie lässt sich auch während der Gestaltung selbst machen. Vor zwei alternativen Handlungsmöglichkeiten zu stehen und sich nicht entscheiden zu können, mag zunächst eine eher leidvolle Erfahrung sein, aber sich dann doch entschieden zu haben, ermöglicht uns schon während der Entscheidung das erhebende Gefühl, unser Leben selbst in die Hand genommen und ihm – in einer Art schöpferischem Akt – eine Richtung gegeben zu haben. Neben dem Offenstehen alternativer Wahlmöglichkeiten hatte ich vor allem die kritische Reflexion über die eigenen Wünsche und Ziele als wichtigen Bestandteil des Autonomieideals ausgemacht. Diese beinhaltet auch eine Reflexion über unsere Wertvorstellungen, welche mit unseren Wünschen eng verzahnt sind. Denn oftmals wünschen wir uns etwas, weil wir es für gut erachten; und von dem, was wir wünschen, kann man fragen, ob es denn auch wert ist, gewünscht zu werden. Doch was macht den nichtinstrumentellen Wert einer Reflexion über unsere Wünsche, Ziele und Wertvorstellungen aus? Wir erachten unser Leben für umso besser, je eher wir davon ausgehen können, dass das, was wir für liebens- und erstrebenswert halten, auch tatsächlich liebens- oder erstrebenswert ist.133 Denn unser Selbstwertgefühl ist unter anderem davon abhängig, dass wir die Ziele erreichen, von denen wir meinen, dass sie es wert waren, verfolgt zu werden. Ob etwas tatsächlich liebens- und erstrebenswert ist, machen wir daran fest, dass wir es trotz offensichtlicher Alternativen für liebens- und erstrebenswert halten können. Eine Konfrontation mit möglichen Alternativen ermöglicht es, uns dessen zu vergewissern. Eine solche Vergewisserung über die eigenen Ziele und Ideale kann daher ein Gefühl der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens verstärken.134 So lässt sich die vielfach geäußerte Behauptung verstehen, dass es sinnstiftend ist, von seiner Fähigkeit zur Autonomie Gebrauch zu machen.135 Und auch hier lässt sich ein Bezug zu bestimmten
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Erfahrungen ausmachen. Es kann also mit bestimmten als sinnstiftend bezeichneten Erfahrungen verbunden sein, auf der Grundlage einer kritischen Reflektiertheit unserem Leben eine bestimmte Richtung zu geben. Selbst wenn wir dadurch in unserem bisherigen Selbstverständnis erschüttert werden, kann dies mit guten Erfahrungen verbunden sein. So schreibt Goethe aus Italien an Charlotte von Stein: „Immer muss ich wiederhohlen: ich glaubte wohl hier etwas rechts zu lernen, daß ich aber soweit in die Schule zurückgehen müsste, glaubt ich nicht, und je mehr ich mich selbst verläugnen muß je mehr freut es mich.“136 Allerdings können den „an sich“ und den instrumentell guten Erfahrungen von Autonomie auch negative Erfahrungen gegenüberstehen, die manchmal mit einem Zugewinn an Autonomie einhergehen. Eine kritische Reflexion über unsere Ziele und Ideale kann beispielsweise unsere Identifikation mit ihnen schwächen oder gar zu ihrer Preisgabe führen.137 Und eine Preisgabe unserer Ideale kann uns in unserem Selbstverständnis erschüttern. Es mag insofern durchaus mit Nachteilen verbunden sein, sich bewusst und im Lichte alternativer Möglichkeiten für das eigene Leben entscheiden zu können. Eine solche Reflexion kann uns vor Augen führen, dass das, was wir ehemals für liebens- und erstrebenswert hielten, einer kritischen Reflexion nicht standhält. Und jemand könnte sein Leben nun zwar für reflektierter halten, es aber dennoch als sinnentleert empfinden. Dass jeder Zugewinn an Autonomie das Leben notwendig besser macht, lässt sich also nicht konstatieren, wenn man die Perspektive der betroffenen Person letztlich für grundlegend erachtet. Dies betrifft auch den Zugewinn an Wahlmöglichkeiten. Nicht jeder Zugewinn an Wahlmöglichkeiten macht unser Leben notwendig besser. Dennoch lässt sich sagen, dass ein Zugewinn an Wahlmöglichkeiten sowie bestimmte Formen kritischer Reflektiertheit unser Leben in der Regel besser machen. Und dies reicht zur Begründung bestimmter Erziehungsideale, wie hier dem Autonomieideal, bereits aus. Auf diesen Punkt werde ich Folgenden noch genauer eingehen. In der Diskussion des Autonomieideals hat sich gezeigt, dass neben der Reflexion über bestimmte Wertvorstellungen auch eine Reflexion über eigene und fremde Wissensansprüche ein wichtiger Bestandteil des Autonomieideals ist. Wenn wir aufgrund von falschen Meinungen über uns selbst oder die Welt entscheiden, werden wir von dieser Täuschung in gewisser Weise „fremdbestimmt“. Steinfath meint, der entscheidende Punkt sei hier, „daß wir als in der Wirklichkeit lebende Wesen von dieser so und so bestimmt werden, daß wir von ihr aber, wenn sie uns in wesentlichen Aspekten verstellt ist, hinterrücks bestimmt – und das heißt: fremdbestimmt – werden.“138 Wer selbst über sein Leben bestimmen wolle, dem liege daher an der Wahrheit seiner Überzeugungen, und selbst derjenige, der „das Glück hat zu bekommen, was er will, obwohl er in einem Netz von Illusionen verfangen ist“ handle und lebe dadurch „nicht wirklich selbstbestimmt“.139
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Dem ist entgegenzuhalten, dass wir uns selbstbestimmt dafür entscheiden können, bestimmte Informationen bewusst nicht zur Kenntnis zu nehmen. Manche Menschen wirken sogar darauf hin, dass andere sie über ihren Zustand im Unklaren lassen – der Umgang mit schweren Erkrankungen ist dafür möglicherweise ein Beispiel.140 Auch hier lässt sich also nicht sagen, dass es notwendig und in jedem einzelnen Fall besser für uns ist, über alles uns betreffende Wissen zu verfügen. In der Regel ist uns dies aber durchaus zuträglich und kann insofern auch als Erziehungsideal aufrechterhalten werden. In Abschnitt 2.2.2 hatte ich zwei konkurrierende Positionen genannt: Zum einen die Position, dass der Wert der Selbstbestimmung immer wichtiger ist als andere Werte, und zum anderen die Position, dass andere Werte den Wert der Selbstbestimmung zuweilen übertrumpfen können. Vor dem Hintergrund der inzwischen angeführten Überlegungen ist nun deutlicher geworden, was zu berücksichtigen wäre, um für eine dieser beiden Positionen zu argumentieren. Man müsste sich auch hier entweder mit instrumentellen Werten oder mit den jeweiligen Erfahrungen auseinandersetzen, welche mit dem Wert der Selbstbestimmtheit bzw. mit konkurrierenden Werten einhergehen. Zugunsten der Autonomie ließe sich dann entweder anführen, dass Autonomieerfahrungen immer wertvoller sind als konkurrierende Erfahrungen, oder dass man die konkurrierenden Erfahrungen gar nicht erst machen kann, wenn sich diese Erfahrungen nicht auf eine autonome Entscheidung zurückführen lassen. Ersteres lässt sich wohl nicht behaupten, denn es gibt Menschen, die große Teile ihrer Autonomie aufgeben, weil sie sich von einer heteronomen Lebensführung mehr versprechen. So könnte sich jemand einem spirituellen Lehrer überantworten und damit auf die mit einer autonomen Lebensführung verbundenen Erfahrungen gerade verzichten. Diese Person scheint davon auszugehen, dass Erfahrungen anderer Art, nämlich spirituelle Erfahrungen, den Wert der Autonomie überwiegen. Wenn diese Person nach einer Weile auch noch retrospektiv sagen würde, dass sie diese spirituellen Erfahrungen nicht missen will und dass sie die erheblichen Einbußen an Handlungsfreiheit dafür willentlich in Kauf nimmt, wird man nicht darauf rekurrieren können, dass die fehlenden Autonomieerfahrungen den Weg in Frage stellen, den sie eingeschlagen hat. Insofern wird man hier nicht behaupten können, dass ihr Leben deshalb verfehlt ist, weil sie nicht sieht, dass Autonomie „an sich“ wertvoll ist. Hier ließe sich wiederum nur auf den instrumentellen Wert der Autonomie verweisen. Die Person in diesem Beispiel hat sich selbst dafür entschieden, ihre Selbstbestimmtheit aufzugeben. Ist dies nicht immerhin eine notwendige Bedingung dafür, die genannten guten Erfahrungen (z. B. die von Spiritualität) überhaupt machen zu können? Stellen wir uns vor, dass sich diese Person nicht aus freien Stücken dem spirituellen Lehrer überantwortet hat,
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sondern dass sie unreflektiert in seinen Einfluss hineingeraten ist. Könnte es dennoch sein, dass sie dieselben guten Erfahrungen macht wie die Person im ersten Fall? Wenn wir das nicht ausschließen wollen, müssen wir einräumen, dass es tatsächlich gute Erfahrungen geben könnte, die nicht auf eine selbstbestimmte Entscheidung zurückzuführen sind. In Bezug auf die Erziehung führt uns ein solches Eingeständnis jedoch nicht weit vom Autonomieideal weg. So sind wir beispielsweise nicht darauf festgelegt, Hurka dahingehend zuzustimmen, dass auch eine erzwungene Hingabe an die Musik besser ist als trivialere Arten, seine Zeit zu verbringen (vgl. dazu bereits Abschnitt 2.2.2). Hurka achtet bei dieser Behauptung nicht auf den Wert der Erfahrungen, die sich beim Klavierspielen machen lassen, sondern für ihn ist das Klavierspielen unabhängig davon die bessere Tätigkeit. (Hurka begründet dies mit einer teleologischen Konzeption, die wir in Abschnitt 4.1.3 noch näher in den Blick nehmen werden.) Wer jedoch auf die Erfahrungen selbst achtet und den Wert des Musizierens daran bemisst, wird den Einfluss solcher Zwänge auf diese Erfahrungen mit in die Überlegungen einbeziehen. Kinder, die permanent zum Klavierspielen gezwungen werden, machen dabei einfach keine guten Erfahrungen. Meist hört man dies ihrem Klavierspiel auch an. Zwar mag es hier zeitliche Verschiebungen geben – so kann Überredung oder ein sanfter Druck Kinder dazu bringen, an einer Sache festzuhalten, der sie bisher nichts, aber nachher sehr viel abgewinnen können. Allerdings scheinen sich viele Erfahrungen unter (permanentem) Zwang gar nicht machen zu lassen; zumindest sind Zwänge der Möglichkeit, solche Erfahrungen zu machen, überaus abträglich. Zwar muss auch Hurka nicht bestreiten, dass ein Erzieher einfühlsam und geschickt vorgehen sollte, wenn es darum geht, sein Ziel zu erreichen, und dazu könnte die Ablehnung zu starker Zwänge gehören. Allerdings ist Hurka vorzuwerfen, dass er das Ziel nicht über die guten Erfahrungen bestimmt und insofern eine wichtige Gefahr aus dem Blick verliert, die äußere Zwänge gerade in Bezug auf das Erreichen dieses Zieles mit sich bringen. Es ist nicht an sich besser, Klavier spielen zu können als es nicht zu können, aber das Klavierspiel ermöglicht an sich wertvolle Erfahrungen. Dabei kann es durchaus gerechtfertigt sein, Kinder so zu beeinflussen, dass gute Erfahrungen dieser Art möglich werden. Nur sollte man dabei die Gefahr im Auge behalten, eben diese Erfahrungen durch bestimmte Formen des Zwangs gerade zu verhindern. In Bezug auf die schulische Erziehung ist dies beispielsweise bei der vorgeschriebenen Lektüre kanonischer Werke der Literatur zu beobachten. Deutschlehrer müssen hier sehr aufpassen, dass der schulische Zwang, ein bestimmtes Buch zu lesen, den Schülern die Erfahrungen, die sich beim Lesen dieses Buches machen lassen, nicht verleidet. Umgekehrt scheinen gerade diejenigen, deren Schulbesuch eine entschiedene Wahl vorausgeht
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(also beispielsweise Frauen in Ländern, in denen Frauen es sich erkämpfen müssen, zur Schule gehen zu dürfen) auch über den instrumentellen Wert des Schulbesuchs hinaus diesem gerade deshalb so viel abgewinnen zu können, weil er ihnen in besonderer Weise unmittelbar wertvolle Erfahrungen ermöglicht.
3.2.2 Der Wert des Wissens Neben der Beförderung der Autonomie geht es in der schulischen Erziehung auch um Formen der Wissensvermittlung, die sich nicht, oder zumindest nicht nur, mit Rekurs auf eine Beförderung der Autonomie begründen lassen. Stattdessen könnte hier wieder darauf verwiesen werden, „Wissen“ sei ein Wert an sich. Doch was lässt sich mit dieser Behauptung anfangen? Um diese Frage zu beantworten, ist es zunächst hilfreich, zwischen Wissen und wahrer Meinung zu unterscheiden. Eine grobe Unterscheidung lässt sich so treffen: Eine wahre Meinung zu haben ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend dafür, etwas zu wissen. Wenn man etwas weiß, ist nämlich nicht bloß Glück oder Zufall der Grund dafür, dass das, was man meint, auch tatsächlich wahr ist. Was genau hier hinzukommen muss, ist in der Philosophie seit langem umstritten, doch weitgehende Einigkeit besteht immerhin darüber, dass Wissen von wahrer Meinung auf diese grob skizzierte Weise zu unterscheiden ist. Ist diese Unterscheidung gemacht, kann in einem zweiten Schritt nach dem Wert des Wissens im Unterschied zu dem Wert wahrer Meinungen gefragt werden. Dieser Frage liegt meistens die Annahme zugrunde, dass Wissen immer wertvoller ist als bloß wahre Meinungen.141 Dies ist allerdings überzogen, denn für viele wahre Behauptungen ist es irrelevant, ob man weiß, dass sie wahr sind, oder ob man lediglich glaubt, dass sie wahr sind. Dass es dennoch insgesamt besser ist, Dinge zu wissen, als bloß zufällig einer wahren Meinung zu sein, liegt an den mit dem Wissenserwerb verbundenen Fähigkeiten. Wenn ein Schüler weiß, dass 21+22=43 ist, und es sich hier nicht bloß um eine wahre Meinung handelt, dann ist er in der Regel in der Lage, auch auf die Frage, was 21+32 ist, eine richtige Antwort zu geben. Wenn ein Schüler weiß, dass 21+22=43 ist, dann liegt es zwar nicht an diesem Wissen, wenn er zugleich weiß, dass 21+32=53 ist, aber an der beiderseits zugrunde liegenden Fähigkeit zu rechnen. Der Besitz dieser Fähigkeit erweist sich in zahlreichen Lebenssituationen als instrumentell wertvoll. Ebenso verhält es sich auch mit vielen anderen Wissensinhalten. Es ist instrumentell wertvoll, die mit dem Erwerb der Wissensinhalte verbundenen Fähigkeiten zu besitzen. Dazu zählen zum Beispiel die Fähigkeit, die richtigen Schlüsse ziehen zu können, die geeigneten Quellen befragen zu können, die Verlässlichkeit bestimmter Informationsquellen einschätzen zu können usw., also das Wissen darum, wie etwas zu tun ist. Und auch das Wissen darum, dass etwas der Fall ist, kann klarerweise einen instrumen-
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tellen Wert haben. Doch hat Wissen nun – im Unterschied zu bloß zufällig wahrer Meinung – auch noch einen nicht-instrumentellen Wert? Da wir unser Wissen nicht bloß zufällig erwerben, ist es oftmals eine Leistung oder eine Errungenschaft, etwas zu wissen. Riggs meint, daraus ergebe sich ein zusätzlicher Wert, der nicht auf den instrumentellen Wert wahrer Meinungen zurückgehe. Dies erkläre also den über den Wert wahrer Meinungen hinausgehenden Wert des Wissens.142 Dass es eine Leistung oder Errungenschaft ist, etwas zu wissen, leuchtet zunächst tatsächlich ein. Bezogen auf unser Beispiel lässt sich sagen, dass es eine Leistung ist, wenn ein Schüler weiß, dass 21+22=43 ist, und nicht bloß richtig rät, dass dem so ist. Fände man heraus, dass die richtige Antwort nur geraten war, würde man den Schüler nicht für seine Antwort loben, doch wenn er rechnen kann und daher weiß, dass 21+22=43 ist, hätte er ein solches Lob verdient. Dieses Lob geht darauf zurück, dass dem Erwerb dieser Fähigkeit bestimmte Bemühungen zugrunde gelegen haben. So könnte der Schüler dafür gelobt werden, dass er in der Schule gut aufgepasst, seine Hausaufgaben gemacht und Additionsaufgaben geübt hat. Dass diese Bemühungen lobenswert sind, liegt jedoch letztlich wiederum an deren instrumentellem Wert. Solche Bemühungen führen dazu, dass jemand beim Addieren nicht nur zufällig richtig liegt, sondern dass er addieren kann. Sein Wissen, wie man addiert, hat einen instrumentellen Wert, der sich aus dem Wert der richtigen Lösung von Additionsaufgaben ergibt. Damit ist jedoch immer noch offen, inwiefern Wissen auch ein „Wert an sich“ sein kann. Hier lässt sich wiederum auf „an sich“ wertvolle Erfahrungen verweisen. Bestimmte Formen des Wissenserwerbs ermöglichen solche Erfahrungen. Und diese Erfahrungen lassen sich von dem instrumentellen Wert der Wissensinhalte abgrenzen. In einem Versuch, diese Erfahrungen phänomenologisch in den Griff zu bekommen, lassen sich zumindest verschiedene Facetten solcher Erfahrungen beschreiben. Die eine betrifft die Erfahrungen, die wir auf dem Weg zu einer Einsicht machen, also im Prozess des Wissenserwerbs. Sich ganz auf eine Sache zu konzentrieren, in ein Problem vertieft oder versunken zu sein und dabei die Zeit zu vergessen, sind Facetten dessen, was daran gut ist. Wertvolle Erfahrungen machen wir also bereits in unserem Streben nach Erkenntnis, und nicht erst, wenn wir meinen, tatsächlich etwas erkannt zu haben. Die zu dem Wissenserwerb gehörige Aufmerksamkeit und Fokussiertheit ist mit den wertvollen Erfahrungen, die sich dabei machen lassen, verbunden. Eine solche Überlegung wird auch von Hume angestellt: „When we are careless and inattentive, the same action of the understanding has no effect upon us, nor is able to convey any of that satisfaction, which arises from it, when we are in another disposition.“143 Weiterhin sind die mit dem Wissenserwerb verbundenen Tätigkeiten herausfordernd, und es bedarf einer geistigen Anstrengung, Wissen zu erwerben. Gerade diese Anstrengung
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geht mit wertvollen Erfahrungen einher. Auch dies wird von Hume betont, und er meint sogar, „to exert our genius“ sei von allen Tätigkeiten des Geistes „the most pleasant and agreeable“.144 Nicht nur der lange Weg zum Wissen ermöglicht wertvolle Erfahrungen, sondern auch spezifische Momente der Einsicht selbst. Wenn sich einzelne Details, Informationen und Bruchstücke von Erkenntnis plötzlich zu einem Bild zusammenfügen, wenn sich etwas, das vorher vermeintlich sinnlos nebeneinander stand, zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügt, wenn das, was vorher unerklärlich war, plötzlich erklärlich wird, aber dennoch erstaunlich bleibt (oder sogar umso erstaunlicher wird) – all dies können sehr erhebende Momente sein. Dies gilt auch für das naturwissenschaftliche Wissen, welches in der Bildungsdebatte nahezu ausschließlich mit seinem instrumentellen Wert begründet wird. Zu wissen, wie genau eine Pflanze mit Hilfe der Sonnenenergie hochwertige Kohlenstoffverbindungen aufbauen kann, mag nützlich sein, wenn man in der Pflanzenzucht tätig ist. Denn die genaue Kenntnis der Abläufe der Photosynthese ermöglicht es beispielsweise, die Bedingungen für das Pflanzenwachstum in einem Gewächshaus zu optimieren. Doch auch darüber hinaus kann man die Einsicht in die Abläufe der Photosynthese als eine wertvolle intellektuelle Erfahrung erleben. Auch das Nachvollziehen eines mathematischen Beweises kann solche Erfahrungen mit sich bringen. Man muss dafür nicht der erste sein, der einen solchen Beweis führt, sondern es reicht für eine wertvolle intellektuelle Erfahrung schon aus, solche Beweise erfolgreich nachzuvollziehen. Doch wenn man (richtig) rät, dass sich eine mathematische Wahrheit beweisen lässt, ermöglicht dies noch keine derartige Erfahrung. Nur wenn man weiß, dass sich eine mathematische Wahrheit beweisen lässt, weil man in der Lage ist, diesen Beweis selbst nachzuvollziehen, wird man hier eine wertvolle Erfahrung machen. Das, was letztlich einen nicht-instrumentellen Wert hat, ist unseren bisherigen Überlegungen zufolge nicht die Kenntnis der Wahrheit, sondern eine menschliche Erfahrung.145 Ist es für unser Streben nach Wahrheit damit letztlich egal, ob das, was wir für wahr halten, auch tatsächlich wahr ist?146 Zunächst lässt sich sagen, dass wir in der Regel keine wertvollen Erfahrungen machen, wenn wir raten, dass etwas der Fall ist – sondern die wertvollen Erfahrungen begleiten eine bestimmte Form des Wissenserwerbs. Doch nehmen wir an, dass wir meinen, das Falsche „erkannt“ zu haben, und dass wir dieser „Erkenntnis“ trotzdem eine wertvolle Erfahrung zuordnen. Irren wir uns dann nicht bezüglich des Wertes dieser Erfahrung? Müsste man in diesem Fall nicht sagen, es sei unangemessen, der Erfahrung selbst einen Wert zuzuschreiben? Betrachten wir den Fall einer Form von Wissen, die instrumentell wenig Wert hat, also beispielsweise unser Wissen darum, welche Art von Faustkeilen Steinzeitmenschen benutzten. Angenommen, jemand findet einen
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vermeintlich behauenen Stein und zieht daraus Schlüsse auf die Art der Faustkeile in der Steinzeit. Sein Fund und diese Überlegungen sind mit Erfahrungen verbunden, die für ihn sehr wertvoll sind. Nun ist es allerdings vorstellbar, dass er nach einer Weile herausfindet, dass er sich geirrt hat. Er findet heraus, dass der von ihm für einen Faustkeil gehaltene Stein niemals von Menschen bearbeitet worden ist. Stattdessen liegt es an der Art des Gesteins, dass dieser Stein aussieht wie ein behauener Faustkeil. Sollte nun nicht derjenige, der dachte, dass es sich um einen Faustkeil handelt, in diesem Fall den Wert seiner mit dieser „Entdeckung“ verbundenen früheren Erfahrungen in Zweifel ziehen? Wer diese Frage bejaht, geht davon aus, dass es verfehlt wäre, nur die wertvollen Erfahrungen selbst in den Blick zu nehmen. Die Genese dieser Einstellung lässt sich unter anderem mit dem instrumentellen Wert wahrer Meinungen erklären, denn es ist in der Regel instrumentell wertvoll, sich diesbezüglich nicht zu irren.147 Ein wichtiger Grund dafür, dass uns an der Wahrheit liegt, ist also der instrumentelle Wert der Wahrheit unserer Meinungen. Dies kann zum einen der instrumentelle Wert wahrer Meinungen für denjenigen sein, der über sie verfügt, aber auch für andere Menschen, denen er diese mitteilt. Und daher erwarten wir zum Beispiel von einem Wissenschaftler, dass es ihm so geht wie dem Archäologen, der über die Entdeckung des falschen Faustkeils erschüttert ist. Es ist ein wichtiger Bestandteil des Ideals der Wissenschaftlichkeit, dass Wissenschaftler Wissen um seiner selbst willen suchen sollten.148 Der Hinweis auf den intrinsischen Wert des Wissens lässt sich damit so interpretieren, dass wir nicht als Mittel zu anderen Zwecken nach Wissen streben und unserem Wissen nicht bloß einen instrumentellen Wert beimessen sollten. Eine solche Forderung wird z. B. an Wissenschaftler gestellt. Ihnen sollte es nicht bloß um die Anerkennung ihrer Kollegen gehen, sondern in erster Linie um den Wissensgewinn selbst. Die Genese dieser Forderung lässt sich jedoch gerade mit dem instrumentellen Wert einer solchen Einstellung erklären. Es ist ein wichtiger Bestandteil des Ideals der Wissenschaftlichkeit, dass Wissenschaftler die Wahrheit „um ihrer selbst willen“ suchen sollten, weil diese Einstellung die Wissenschaft voranbringt. Es könnte also der instrumentelle Wert der nicht-instrumentellen Wahrheitsorientierung gewesen sein, der dazu geführt hat, dass wir dem Wissen einen intrinsischen Wert zuschreiben. Außerdem hat auch das Ideal der Wahrhaftigkeit in diesem Kontext einen hohen instrumentellen Wert. Wenn ein Wissenschaftler der Wahrhaftigkeit einen intrinsischen Wert beimisst (also meint, dass er die Wahrheit sagen sollte), dann können wir uns sicher sein, dass er uns nicht um seiner eigenen wissenschaftlichen Laufbahn willen über wichtige Dinge im Unklaren lässt, sondern uns beispielsweise mit den von seiner Vermutung abweichenden Ergebnissen eines Experimentes konfrontiert.
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Und dass er das tut, hat wiederum einen instrumentellen Wert für uns und den wissenschaftlichen Fortschritt.149 Allerdings muss das Ideal der Wissenschaftlichkeit an ein Streben nach Wahrheit anknüpfen können, welches sich nicht auf den instrumentellen Wert des Erkannten richtet. Denn sonst wäre es aussichtslos, von einem Wissenschaftler zu fordern, nicht als Mittel zu anderen Zwecken nach Wissen zu streben, sondern die Wahrheit um ihrer selbst willen zu suchen. Es gibt Normen, die eine solche Einstellung vorschreiben, aber die Möglichkeit zu einer solchen Einstellung muss vor den entsprechenden Normen bestanden haben, die sich ja darauf richten, dass man eine solche Einstellung haben sollte. Doch ist es richtig, dass der Wissenschaftler von sich aus eine solche Einstellung mitbringen kann? Ist es eine verständliche Disposition, dem Wissenserwerb nicht nur einen instrumentellen Wert beizumessen? Nietzsche ist ein solches Streben nach Wahrheit suspekt. Dem Wissenschaftler könne es nicht bloß um die Wahrheit des Erkannten gehen, und dass sich manche Menschen „den Wissenschaften übergeben“, könne „nicht vom angeblichen ‚Trieb zur Wahrheit’ herkommen: denn wie sollte es überhaupt einen Trieb nach der kalten, reinen, folgenlosen Erkenntnis geben können!“150 Dass es einen Trieb nach der kalten Erkenntnis gibt, lässt sich in der Tat bestreiten. Doch der Wissenserwerb lässt uns eben nicht kalt, sondern ermöglicht wertvolle Erfahrungen. „Wissen“ ist keine solche Erfahrung, doch die Aneignung eines bestimmten Wissens kann mit wertvollen Erfahrungen verbunden sein. Manche Formen theoretischer Neugier sind offenbar nicht durch den instrumentellen Wert des Erkannten zu erklären. Stattdessen scheinen wir schlicht ein Interesse daran zu haben, etwas herauszufinden und uns der Wahrheit anzunähern. Die Beantwortung mancher Fragen ist uns nicht wegen des instrumentellen Wertes des dadurch erworbenen Wissens wichtig, und dies lässt sich positiv so formulieren, dass das Wissen hier „um seiner selbst willen“ angestrebt wird. Eine Erklärung für dieses ursprüngliche Interesse kann schon bei dem Wissensdrang eines Kindes anknüpfen, und Erwachsene scheinen sich zumindest einen Teil dieses Wissensdrangs zu bewahren.151 Zeigt unser Streben nach Wissen damit nicht gerade, dass eine Analyse, die gute Erfahrungen in den Mittelpunkt rückt, letztlich verkürzt ist? Zeigt es nicht gerade, dass es uns nicht, oder zumindest nicht ausschließlich, um diese Erfahrungen geht? In einer Antwort auf diese Frage sollte man wieder die verschiedenen Perspektiven auseinanderhalten, die bereits in den Überlegungen zu inhärenten Werten zur Sprache kamen. Der Begriff des inhärenten Wertes, so wie ich ihn verwendet habe, beschreibt den Gehalt oder den Charakter bestimmter Erfahrungen. Wir schätzen eine Sache innerhalb dieser Erfahrungen nicht, oder zumindest nicht nur, für die wertvollen Erfahrungen, die sich mit ihr machen lassen. Und das ist durchaus mit der
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Rede davon vereinbar, dass das Objekt einer Erfahrung wertvoll ist, weil es wertvolle Erfahrungen ermöglicht, nur steht dies eben nicht im Fokus der Erfahrung selbst. Das gilt nun auch für den Wert des Wissens. Man strebt nicht nach Wissen, um bestimmte Erfahrungen zu machen. Wenn hingegen nach den Gründen dafür gefragt wird, mittels schulischer Erziehung den Wissensdrang junger Menschen zu befördern, dann können wir neben dem instrumentellen Wert des Wissens auf die guten Erfahrungen verweisen, die das Streben nach Wissen ermöglicht. Gerade weil uns die Beantwortung mancher Fragen um ihrer selbst willen wichtig ist, ermöglicht bereits die Suche nach einer Antwort wertvolle Erfahrungen. Unsere intellektuelle Neugier ist geduldig. Selbst wenn wir eine Weile lang keine guten Erfahrungen machen, sind uns bestimmte Einsichten so wichtig, dass wir dennoch weiter danach suchen. Es ist aber zu bezweifeln, dass wir mit dieser Suche fortfahren würden, wenn wir nie gute Erfahrungen darin machten und wenn uns der Wissenserwerb also gänzlich kalt ließe. Wenn sich jemand auf der Suche nach der Antwort auf bestimmte Fragen langweilt und ihn die wissenschaftliche Tätigkeit gänzlich unerfüllt lässt, dann ist anzunehmen, dass er auch das Ziel der Erkenntnis weniger wichtig finden wird. Wem es um das Wissen selbst geht, der macht wertvolle Erfahrungen, aber wer keine wertvollen Erfahrungen macht, dem wird auch der Wissenserwerb nach einer Weile weniger wichtig sein. Der Wissenserwerb ist eine zielgerichtete Tätigkeit, die in ihrem Vollzug erfüllend ist, und sie ist umso erfüllender, je wichtiger einem das Ziel ist. Dass einem das Erreichen dieses Ziels wichtig bleibt, hängt aber wiederum mit den Erfahrungen zusammen, die sich dabei machen lassen. Dies sollte auch die schulische Erziehung berücksichtigen, wenn sie die Schüler darin bestärken will, von sich aus nach Wissen zu streben und bestimmte Einsichten zu suchen.
3.2.3 Ästhetische Werte Aristoteles unterscheidet zwischen zwei Seiten der Erziehung: Auf der einen Seite gehe es um die Vermittlung instrumentell wertvoller Fähigkeiten, auf der anderen Seite gebe es eine Seite der Erziehung, in der es um selbstzweckhafte Tätigkeiten gehe. Letztere bereite die Schüler nicht auf das Arbeitsleben vor, sondern sie erziehe zum würdigen Genuss der Muße. So könne die Grammatik beispielsweise zu Geldgeschäften eingesetzt werden, oder zu mancherlei Staatsgeschäften. Anders dagegen die Musik: Sie gewähre Charakterbildung, Unterhaltung und geistigen Genuss. Die Musik sei daher ein Beispiel für ein Lehrfach, worin man die Söhne nicht des Nutzens willen unterweise, sondern weil dieses Fach eines freien Mannes würdig und schön sei.152 Auch die für das Arbeitsleben wichtigen Fähigkeiten könnten zugleich einen weiteren Wert haben – so sei das Zeichnen wichtig für den Verkauf von Geräten und Kunstsachen, aber zugleich schärfe es den Blick für körperliche Schönheit. Und diesen Wert solle man nicht aus dem
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Blick verlieren, denn „überall nach dem Nutzen zu fragen, ziemt sich am wenigsten für hochsinnige und freie Männer“.153 Die ästhetische Erziehung ist heute einem hohen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, denn sie steht häufig in der Gefahr, zu Gunsten anderer Fächer in den Hintergrund gedrängt zu werden.154 Daher sind die Fürsprecher der ästhetischen Erziehung darum bemüht, gute Gründe für die Wichtigkeit der ästhetischen Erziehung anzuführen. Dabei wird die ästhetische Erziehung jedoch in erster Linie als Mittel zu über den Bereich der Ästhetik hinausgehenden Zwecken in den Blick gerückt.155 Es wird also auf den Nutzen künstlerischer Betätigung verwiesen, und zwar auf einen über den Bereich der Kunst hinausgehenden Nutzen. So wird beispielsweise dafür argumentiert, dass die ästhetische Erziehung die Schulleistungen in anderen Fächern verbessert, indem sie zur Verbesserung bestimmter kognitiver Fähigkeiten beiträgt. Außerdem wird die ästhetische Erziehung damit begründet, dass sie die Kreativität der zu Erziehenden erhöhe, und zwar nicht nur die auf den Bereich der Kunst bezogene Kreativität, sondern eine Kreativität, die sich auch in anderen Lebensbereichen fruchtbar machen lasse. Darüber hinaus werden hier weitere wertvolle Fähigkeiten ins Spiel gebracht, zu denen die ästhetische Erziehung vermeintlich beiträgt, wie Konzentration, Motivation und soziale Fähigkeiten, letzteres z. B. durch eine Beförderung der Fähigkeit zur Empathie.156 Die Probleme einer solchen Argumentation liegen auf der Hand. Zum einen scheinen diese Behauptungen empirisch fragwürdig zu sein – empirische Untersuchungen konnten zwar einige Korrelationen ausmachen, der behauptete kausale Zusammenhang zwischen der ästhetischen Erziehung und der Beförderung dieser Fähigkeiten ist aber in vielen Fällen umstritten.157 Und selbst wenn die ästhetische Erziehung die behaupteten Fähigkeiten tatsächlich befördern würde, muss man sich fragen, ob sie tatsächlich das effektivste Mittel dazu ist. So mögen zusätzliche Unterrichtseinheiten in Mathematik die mathematischen Fähigkeiten effektiver befördern als der Musikunterricht. Und wenn, was außerdem behauptet wird, der Musikunterricht in besonderer Weise dazu geeignet wäre, soziale Fähigkeiten zu befördern, dann ließe sich damit nur für bestimmte Aspekte des Musikunterrichts werben, wie etwa für das gemeinsame Musizieren. Andere Aspekte des Musikunterrichts bedürften dann nach wie vor einer Rechtfertigung. Aufgrund solcher Schwierigkeiten mahnt Koopmann an, in einer Rechtfertigung für die ästhetische Erziehung nicht den intrinsischen Wert der Kunst aus dem Blick zu verlieren. Zwar hätten die Fürsprecher der ästhetischen Erziehung zahlreiche Gründe für deren Wert angeführt. Diese Gründe seien aber in der Regel nicht überzeugend, denn „they ignore the intrinsic value of the arts and construe the arts as a function of some extraartistic life goal“.158 Doch wie genau lassen sich hier intrinsische Werte ins Spiel bringen, und inwiefern ist ein Hinweis auf solche Werte dazu geeig-
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net, Gründe für die ästhetische Erziehung zu liefern? Zunächst einmal können wir auch hier eine terminologische Änderung vornehmen. Statt von intrinsischen Werten zu reden, können wir inhärente Werte und die damit verbundenen wertvollen Erfahrungen in den Blick nehmen. In Abschnitt 3.1.2 haben wir gesehen, dass den Objekten ästhetischer Erfahrungen ein „Wert an sich“ zugeschrieben wird. Um für diese inhärenten Werte zu argumentieren, kann man auf bestimmte Eigenschaften der Träger dieser Werte verweisen, also beispielsweise auf die Komposition eines Kunstwerkes, den Spannungsbogen eines Buches oder die Kameraführung eines Films. Damit wird zugleich auf wertvolle Erfahrungen verwiesen, die sich mit diesen Dingen machen lassen, und diese Erfahrungen sind es, auf die rekurriert werden kann, wenn für die ästhetische Erziehung argumentiert wird. Um zu klären, was genau den Wert ästhetischer Erfahrungen ausmacht, scheint man zunächst sagen zu müssen, was überhaupt unter genuin ästhetischen Erfahrungen zu verstehen ist. Eine Möglichkeit, die Besonderheit ästhetischer Erfahrungen auszumachen, wäre der Bezug zu einer diese Erfahrungen kennzeichnenden Einstellung. Bei Kant besteht diese Einstellung in der Interesselosigkeit, und die ästhetische Lust wird von ihm somit als interesseloses Wohlgefallen bestimmt.159 Ich muss eine genaue Strukturbestimmung der ästhetischen Erfahrung jedoch an dieser Stelle offenlassen, weil sie weit über das hier behandelte Thema hinausführen würde. Stattdessen werde ich unter „ästhetischen Erfahrungen“ all die Erfahrungen verstehen, die sich in dem gemeinhin so genannten Bereich des Ästhetischen machen lassen, also Erfahrungen mit Musik, mit Literatur, mit bildender Kunst, mit Filmen usw. In der Philosophie der Kunst gibt es nun unterschiedliche Versuche, den Wert dieser Erfahrungen theoretisch zu bestimmen. Misselhorn meint beispielsweise, dass bei der Rezeption von Kunstwerken mit narrativem Charakter (Filme, Romane, Theaterstücke) Simulationsprozesse eine Rolle spielen, in denen wir die Perspektive einer oder mehrerer anderer Personen einnehmen. Das Spannungsverhältnis verschiedener Perspektiven untereinander (z. B. der verschiedenen Charaktere in einem Roman), sowie Konflikte zwischen der Perspektive des Rezipienten und den simulierten Perspektiven sei ein Bestandteil der existentiellen Dimension ästhetischer Erfahrungen. Diese Erfahrungen würden einem dadurch Gelegenheit geben, die eigene Sichtweise neu zu überdenken und gegebenenfalls zu verändern.160 Hier könnte man wiederum den Wert der Autonomie ins Spiel bringen. Der Wert ästhetischer Erfahrungen würde sich dann aus einer Steigerung unserer Autonomie ergeben. Selbst wenn dies einleuchtet, so ist der Wert ästhetischer Erfahrungen allerdings nicht auf den Wert der Autonomie zu reduzieren. Darüber hinaus habe ich grundsätzliche Zweifel, wie weit man auf der Suche nach einer einheitlichen Erklärung für den Wert ganz verschiedener ästhetischer Erfah-
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rungen kommen kann. Zweifel an einer einheitlichen Erklärung des Wertes aller ästhetischen Erfahrungen ergeben sich etwa in Bezug auf die Frage, inwiefern sich die guten Erfahrungen der Rezeption von Kunst und die der künstlerischen Tätigkeit wesentlich ähnlich sind. Denn beide scheinen sich so stark voneinander zu unterscheiden, dass sie sich schwerlich in eine Theorie über den Wert aller ästhetischen Erfahrungen integrieren lassen. Statt den Wert ästhetischer Erfahrungen allgemein zu charakterisieren, können wir aber versuchen, den Wert einzelner ästhetischer Erfahrungen möglichst präzise zu beschreiben. Doch was lässt sich dazu sagen? Ein Beispiel dafür ist Bittners Antwort auf die Frage, „wie es ist, Klavier zu spielen“: „– ‚Und wie ist es?’ – Für den einen so, für den anderen so und für mich so – als ein Beispiel dafür, wie es ist, Klavier zu spielen: Klavier spielen ist, eines dieser wunderbaren Stücke zur Erscheinung bringen und mit den eigenen Händen formen, das Stück mit dem grandiosen Eröffnungsthema, oder das mit den erstaunlichen harmonischen Veränderungen gleich in der Exposition, das Stück mit seinem überschwänglichen Jubel und das mit seiner verzweifelten Kargheit. So ist es, Klavier zu spielen: aus diesem Grund spiele ich, und aus dieser Art von Gründen spielen andere Leute. Irreführend könnte man sogar sagen, daß ich Klavier spiele um Beethovens oder Schuberts oder wer es auch sei willen. Das wäre irreführend, weil es denken ließe, ich wolle diesen toten Komponisten etwas Gutes tun – nichts dergleichen natürlich. Lassen wir ‚Beethoven’ stattdessen für den Charakter einiger Stücke stehen, die der Komponist dieses Namens geschrieben hat, so trifft der Satz den Punkt: ein Grund, aus dem ich manchmal Klavier spiele, ist die Tatsache, daß es so ist, Klavier zu spielen, also etwa daß es von der Beethoven-Art ist.“161
In die Beschreibung des Wertes der Erfahrungen geht eine Beschreibung der jeweiligen Klavierstücke ein – eines hat ein grandioses Eröffnungsthema und ein anderes erstaunliche harmonische Veränderungen. Insofern beinhaltet diese Beschreibung den Wert des Objektes wertvoller Erfahrungen, also den Wert dessen, worauf sich diese Erfahrungen richten. Letztlich machen diese Beschreibungen dennoch deutlich, wie es für uns ist, Klavier zu spielen und inwiefern dies für uns wertvoll ist. Wir mögen uns darin unterscheiden, und es mag tatsächlich „für den anderen so und für mich so“ sein, Klavier zu spielen. Aber Menschen ähneln sich und ähnliche Dinge ermöglichen ähnliche Erfahrungen, so dass das obige Zitat selbst demjenigen, der bisher nicht Klavier spielen kann, Gründe dafür liefern kann, dies zu lernen. Und solche Gründe lassen sich dann auch für die ästhetische Erziehung anführen. Eine solche Fokussierung auf den Wert unserer Erfahrungen ist jedoch nicht unumstritten. Denn der alleinige Rekurs auf den Wert unserer Erfahrungen scheint einen wichtigen Aspekt unserer Rede von ästhetischen Werten außen vor zu lassen. Betrachten wir dazu zunächst die passive Seite, also die ästhetische Wertschätzung bereits bestehender ästhetischer Objekte. Eine solche Wertschätzung ermöglicht wertvolle Erfahrungen, doch diese scheinen unsere Einstellung nicht voll zu erfassen. Wenn das
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Kunstwerk seinen Wert aus dem Wert der Erfahrung gewinnt, die seine Betrachtung ausmacht, dann dürfte es den Wert der Erfahrung beispielsweise nicht schmälern, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass es sich um eine Fälschung handelt. Auch wenn es sich nur um eine sehr gut gemachte Fälschung handelt, kann man es dennoch verblüffend finden, auf welch subtile Weise einen die Mona Lisa anlächelt. Allerdings wollen die meisten Menschen lieber Originale betrachten, und eine Fälschung würde, wenn sie als solche angeboten würde, auf einer Auktion nur einen Bruchteil des Preises erzielen, den ein Original einbrächte. Das liegt unter anderem daran, dass in dem Moment, wo wir wissen, dass es sich um eine Fälschung handelt, andere Erfahrungen einer bestimmten Qualität nicht mehr möglich sind. Die „echte“ Mona Lisa im Louvre zu betrachten, sich vorzustellen, wie Leonardo da Vinci dieses Bild gemalt hat, dass es seine Farben waren, die dort zu sehen sind, dass sein Pinselstrich zum Greifen nah ist, all dies fällt weg, wenn man bewusstermaßen eine bloße Fälschung betrachtet. Nehmen wir also an, das Bild, das im Louvre hängt, sei nur eine Fälschung. Würde das den Wert der Erfahrungen all derer schmälern, die nichtsahnend im Louvre stehen und sich vorstellen, wie Leonardo da Vinci dieses Bild gemalt hat? Nehmen wir an, die Sache klärt sich auf und das Bild wird als Fälschung enttarnt. Man würde die eben angesprochenen Erfahrungen mit diesem Bild nicht noch einmal machen können, weil man weiß, dass es sich um eine Fälschung handelt. Doch wir würden unser Wissen darum, dass es sich um eine Fälschung handelt, auch angesichts des Verlustes der Möglichkeit, wertvolle Erfahrungen dieser Art zu machen, nicht für bedauerlich halten. Stattdessen würden wir es sogar begrüßen, bezüglich der Echtheit des Bildes nicht länger im Unklaren zu sein. Und wir würden unsere frühere Begeisterung sogar im Nachhinein für bedauerlich halten. Daher würden wir verlangen, dass man die Menschen, die weiterhin nichts ahnend im Louvre vor der vermeintlich echten Mona Lisa stehen, über diesen Irrtum aufklärt. Es geht uns also offenbar um mehr als um die subjektive Qualität der Erfahrungen allein. Wie ist das zu erklären? Wir messen hier möglicherweise wiederum der Wahrheit unserer Überzeugungen eine nicht-instrumentelle Wichtigkeit bei. Wenn wir meinen, die echte Mona Lisa zu bewundern, dann wollen wir uns diesbezüglich nicht irren. Ein solches Interesse an der Wahrheit unserer Überzeugungen erschöpft sich offenbar nicht in dem instrumentellen Wert der Wahrheit, denn ein solcher ist hier nicht zu erkennen. Dass uns solchermaßen an der Wahrheit liegt, wird auch in den einschlägigen Gedankenexperimenten der philosophischen Diskussion deutlich. So beschreiben Gedankenexperimente, in denen uns die Außenwelt nur vorgetäuscht wird, sehr unattraktive Szenarien.162 Uns geht es offenbar nicht bloß um die Qualität unserer Erfahrungen. Wir wollen darüber hinaus, dass sich diese Erfahrungen auf reale Objekte richten, und wir wollen nicht permanent über die Existenz
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der Gegenstände, auf die sie sich richten, getäuscht werden. Wir wollen uns an einem echten Sommertag erfreuen und diesen Sommertag nicht nur vorgespielt bekommen. Gleiches gilt auch für die mit bestimmten Formen des Wissenserwerbs verbundenen Erfahrungen. Uns geht es darum, uns der Wahrheit anzunähern, und wir wollen uns auch dann nicht täuschen, wenn uns eine solche Täuschung bestimmte wertvolle Erfahrungen gerade ermöglicht. Auf diese Weise lässt sich auch erklären, warum wir fehlgeleitete ästhetische Werturteile für problematisch erachten. Das Problem ist ihre Unangemessenheit und der Irrtum, in dem wir uns befinden, wenn wir ein unangemessenes Urteil fällen. Moore behauptet, dass wir beim Betrachten eines schönen und eines hässlichen Gegenstandes genau die gleichen Emotionen haben können, wenn wir ersteren zu Recht, und letzteren zu Unrecht bewundern.163 Dies scheint mir zweifelhaft zu sein, doch nehmen wir an, so etwas sei tatsächlich vorstellbar. Moore behauptet nun, die Bewunderung eines hässlichen Gegensandes sei ein großes Übel. Daher könne es nicht auf die Emotion allein ankommen – sie habe für sich betrachtet keinen oder zumindest nur einen sehr geringen Wert. Denn um wertvoll zu sein, müsse dieses emotionale Element mit einem bestimmten kognitiven Element zusammenkommen.164 Bei Moore wird nicht ganz klar, wie dieses kognitive Element bestimmt ist, aber es scheint dadurch gekennzeichnet zu sein, dass sich bestimmte Emotionen auf etwas richten. Ästhetische Bewunderung ist Bewunderung für etwas. Wer einen (eigentlich) hässlichen Gegenstand für seine Schönheit bewundert, dessen Bewunderung ist laut Moore deutlich weniger wertvoll als die Bewunderung desjenigen, der ein wahrhaft schönes Objekt bewundert. Doch aus welcher Perspektive können wir sagen, dass die Bewunderung weniger wertvoll ist? Sie ist weniger wertvoll aus der Perspektive all derjenigen, die der Wahrheit ihrer Meinungen einen hohen Wert beimessen – die meinen, dass sie auch dann nach Wahrheit streben sollten, wenn der instrumentelle Wert wahrer Meinungen nicht ersichtlich ist. Und eine solche Einstellung nehmen wir in Bezug auf den Wahrheitsgehalt vieler unserer ästhetischen Urteile notwendig ein. Wenn wir ein ästhetisches Objekt bewundern, dann meinen wir, dass dieses Objekt unsere Bewunderung verdient und dass es wert ist, bewundert zu werden. Dabei rekurrieren wir nicht auf die guten Erfahrungen, die mit eben dieser Bewunderung einhergehen, sondern beispielsweise auf bestimmte Standards für herausragende Kunstwerke, aus denen unsere Bewunderung hervorgeht. Wir müssten dementsprechend irritiert sein, wenn uns jemand zeigen würde, dass diese Bewunderung unangebracht ist (z. B. weil ein Kunstwerk nur eine schlecht gemachte Kopie eines anderen Kunstwerkes ist). Ähnliches gilt für die künstlerische Tätigkeit. Auch hier scheint der bloße Rekurs auf wertvolle Erfahrungen nicht hinreichend zu sein. Wenn jemand an einem Gedicht arbeitet, dann will
3.2 Einzelne Werte
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er ein gutes Gedicht schreiben und kein schlechtes – selbst wenn mit dem Verfassen eines schlechten Gedichtes gleichermaßen wertvolle Erfahrungen verbunden wären. Standardrelative Werte (die beispielsweise festlegen, wann es sich bei einem Gedicht um ein „gutes“ Gedicht handelt) fließen also in die Bewertung unserer Erfahrungen mit ein. Im nächsten Kapitel werde ich daher ausführlicher diskutieren, inwiefern die allgemeine Frage danach, wie gut unser Leben verläuft, mit dem Verweis auf unsere Erfahrungen (die wir z. B. beim Schreiben eines Gedichtes machen), auf unsere Einstellungen (dass wir z. B. ein gutes Gedicht schreiben wollen) oder anhand weiterer Überlegungen (z. B. ob wir etwas aus unseren Fähigkeiten machen) zu beantworten ist. Dabei wird sich jedoch erneut zeigen, dass der Rekurs auf mögliche Werterfahrungen für unsere Überlegungen zu den Zwecken der Erziehung zentral ist.
4 Bildung und gutes Leben Im letzten Kapitel hat sich gezeigt, inwiefern die schulische Erziehung wertvolle Erfahrungen ermöglicht. Darunter fallen beispielsweise Erfahrungen von Autonomie, die mit der Aneignung von Wissen verbundenen Erfahrungen, sowie ästhetische Erfahrungen. Bislang habe ich allerdings einen für die Philosophie der Erziehung wichtigen Versuch unbeachtet gelassen, bestimmte Werte mit Bezug auf eine Konzeption des guten Lebens zu begründen, die über den Rekurs auf unsere Erfahrungen hinausgeht. Wer sagt, die ästhetische Erziehung sei gut für Jugendliche, der kann auf die Erfahrungen verweisen, die sich im Umgang mit ästhetischen Gegenständen machen lassen. Darüber hinaus wird allerdings behauptet, dass manche Dinge das Leben „an sich“ besser machen, oder dass es „an sich“ gut ist, bestimmten Tätigkeiten nachzugehen oder bestimmte Fähigkeiten zu entwickeln. Auf einen solchen Vorschlag sind wir bereits in Kapitel 2 gestoßen. Dort haben wir die von Nussbaum vorgeschlagene Liste derjenigen Fähigkeiten betrachtet, die ihres Erachtens zu einem guten Leben gehören. Dazu zählt sie unter anderem die Fähigkeit zu angemessener Ernährung und angemessenem Obdach, die Fähigkeit zur Mobilität sowie die Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben.165 In Kapitel 2 hatten wir bereits gesehen, dass der Wert der Autonomie in dieser ansonsten sehr heterogenen Liste eine zentrale Rolle spielt – er sorgt z. B. dafür, dass auf dieser Liste lediglich von Fähigkeiten die Rede ist, nicht jedoch von tatsächlich ausgeübten Tätigkeiten. Allerdings haben wir bereits gesehen, dass der Wert der Autonomie den Wert dieser Fähigkeiten nicht, oder zumindest nicht allein, zu begründen vermag. Wir sind daher, um für derartige Fähigkeiten zu argumentieren, auf zusätzliche Überlegungen angewiesen. Bevor ich im Folgenden (in 4.1.3) noch einmal genauer auf Nussbaums diesbezügliche Überlegungen eingehe, ist es jedoch erforderlich, der Behauptung, dass es „an sich“ oder „objektiv“ gut sei, bestimmte Fähigkeiten zu entwickeln, grundsätzlicher nachzugehen. Der Hinweis auf den Wert der Entfaltung bestimmter Fähigkeiten ist in der Philosophie der Erziehung allgemein sehr verbreitet. Hier geht es allerdings (anders als bei Nussbaum) oftmals um die Entfaltung individueller Fähigkeiten: Wer musikalisch sei, der solle sein musikalisches Talent entfalten, und dies sei „intrinsisch gut“, und nicht nur wegen der mit dem Klavierspielen einhergehenden guten Erfahrungen. Die Rede vom intrinsisch Guten hat auch hier wieder eine normative Dimension. Es wird gefordert, dass wir etwas aus unseren Fähigkeiten machen sollten, oder dass wir andere in die Lage versetzen sollten, ihre Fähigkeiten zu entwickeln.
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Auch über die Entfaltung der individuellen Fähigkeiten hinaus wird behauptet, die Erziehung solle zur Entfaltung derjenigen Fähigkeiten beitragen, die für alle Menschen wesentlich oder essentiell sind (und eben dies ist Nussbaums Argumentationslinie). Einigen solcher Ansätze liegt die Annahme zugrunde, das Ziel unseres Handelns solle die möglichst umfassende Entwicklung bestimmter Fähigkeiten und der möglichst gute Vollzug bestimmter Tätigkeiten sein. Sie gehen also davon aus, dass unsere Fähigkeiten „perfektioniert“ werden sollten. Solche Konzeptionen des guten Lebens werden daher in der politischen Philosophie auch als „Perfektionismus“ bezeichnet.166 Zuweilen werden jedoch nicht nur diejenigen Positionen als „perfektionistisch“ bezeichnet, die tatsächlich irgendetwas „perfektionieren“ wollen. Sondern der Ausdruck „Perfektionismus“ wird auch verwendet, um eine Position zu benennen, die über eine bloß subjektivistische Theorie des guten Lebens hinausweist. Eine solche Definition findet sich z. B. bei Sher. Den Subjektivismus charakterisiert Sher so, dass alles, was gut (für uns) ist, entweder auf unsere aktuellen oder idealen Wünsche (desires), Wahlakte (choices) oder Freuden (enjoyments) oder eine Kombination dieser Dinge zurückgeführt werde. Der Perfektionist bestreite hingegen, dass dies ausreiche: „By contrast, if a view denies that these factors exhaust the determinants of value, I shall call it a form of perfectionism.“167 Der Perfektionist nehme also an, dass manche Dinge auch unabhängig davon gut (für uns) seien, ob sich dadurch unsere Wünsche erfüllen oder ob wir uns an diesen Dingen erfreuen können.168 An dieser Charakterisierung der subjektivistischen Position werde ich mich im Folgenden orientieren. Statt von „desires“ und „choices“ werde ich allerdings allgemein von Einstellungen reden. Außerdem werde ich den Subjektivismus so verstehen, dass er neben den „Freuden“ (enjoyments) auch weitere gute Erfahrungen in den Blick nehmen kann. Ein Subjektivist ist also entweder der Auffassung, dass es an unseren Einstellungen hängt, wie gut unser Leben verläuft (A), oder er könnte sagen, dass wir dazu die Qualität unserer Erfahrungen in den Blick nehmen müssen (B). Es kann natürlich auch Subjektivisten geben, die meinen, dass beides wichtig ist, wobei dann das genaue Verhältnis zwischen (A) und (B) genauer geklärt werden müsste. Um die vermeintlich subjektivistische Position besser einschätzen zu können, müssen wir außerdem wissen, ob es hier nur um aktuelle Einstellungen oder Erfahrungen geht, oder aber auch auf künftige (also prognostizierte) Einstellungen oder Erfahrungen rekurriert wird; und inwiefern darauf verwiesen wird, wie informiert, vernünftig oder aufgeklärt unsere Einstellungen sind. Künftige Wünsche sind gerade im Bereich des Lernens wichtig. Wir haben jetzt einen Grund, Italienisch zu lernen, wenn wir nächstes Jahr in Italien die Sprache sprechen wollen,169 und im Erzie-
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hungsbereich finden wir viele Beispiele dieser Art. Hier sollten wir zudem künftig zu erwartende Erfahrungen in den Blick nehmen. Vertreter einer objektivistischen Konzeption des guten Lebens meinen hingegen, darüber hinaus sei auch (C) (z. B. die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten, aber hier ließe sich auch anderes einsetzen) dafür maßgeblich, wie gut unser Leben verläuft. Objektivisten könnten allerdings behaupten, dass (A) und (C) oder (B) und (C) notwendig miteinander verknüpft sind. Sie könnten z. B. behaupten, dass die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten „an sich“ gut ist, und nicht gut, weil dies Lust gewährt. Zugleich könnten sie jedoch annehmen, dass eine Entfaltung unserer Fähigkeiten tatsächlich und sogar notwendig Lust gewährt. Und in dieser Hinsicht wäre (C) dann nicht unabhängig von (B), sondern die Unabhängigkeit ist hier lediglich eine der Begründung: (C) ist auch unabhängig von (B) ein Grund dafür, wie gut das Leben einer Person verläuft.170 Macht eine Entwicklung unserer Fähigkeiten (C) unser Leben nun tatsächlich auch unabhängig von (A) oder (B) besser, als es ansonsten wäre? In den folgenden drei Abschnitten werde ich diese Frage im Hinblick auf drei verschiedene Fähigkeiten-Ansätze diskutieren, welche die Entwicklung individueller (4.1.1), spezifisch menschlicher (4.1.2) sowie essentieller (4.1.3) Fähigkeiten in den Blick nehmen. Das Ergebnis dieser Diskussion sei hier bereits vorweggenommen: Ein Perfektionist bestreitet Shers Definition gemäß, dass der Subjektivist den Wert der Entfaltung bestimmter Fähigkeiten erschöpfend erklären kann. Doch die im Folgenden zu diskutierenden Positionen bieten keine überzeugende Alternative zum subjektivistischen Bild an. Letztlich werden wir auch hier wieder auf gute Erfahrungen verweisen müssen, um zu begründen, warum man bestimmte Fähigkeiten mittels Erziehung befördern sollte. Sher selbst bezeichnet seine eigene Position als perfektionistisch, wobei er sich letztlich auf unsere fundamentalen Ziele (goals) bezieht, um sagen zu können, dass die Beförderung bestimmter Fähigkeiten gut für uns ist (mehr dazu in Abschnitt 4.1.3). In Bezug auf unsere Ziele würde man jedoch sagen, dass uns daran liegt, diese auch tatsächlich erreichen zu können. Inwiefern unterscheidet sich der Bezug auf unsere fundamentalen Ziele dann noch von dem Bezug auf unsere Wünsche, den auch ein Subjektivist vornehmen würde? Sher geht davon aus, dass unsere fundamentalen Ziele (anders als unsere Wünsche) etwas sind, worauf wir als Menschen durch unsere biologische Natur notwendig festgelegt sind. Der Abgrenzung seiner Position vom Subjektivismus liegt damit eine zusätzliche Annahme zugrunde. Sher nimmt an, dass es dem Subjektivismus um Einstellungen geht, die „peculiar to individuals“ seien. Ihm gehe es hingegen um „very general goals that characterize the human species“.171 Allerdings kann auch ein Subjektivist durchaus einräumen, dass manche Dinge gut für jeden von uns sind – und er kann dabei durchaus auf
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unsere menschliche Natur verweisen (mehr dazu in Abschnitt 4.2.1, wo es um unsere Grundbedürfnisse gehen wird). Zwar liegt es durchaus nahe, in diesem Fall davon zu sprechen, dass etwas objektiv gut für uns ist, und insofern wird es zumindest verständlich, dass Sher seine eigene Position nicht als „subjektivistisch“ bezeichnet. Dennoch ist es gerade die auch von Sher geteilte „wichtigste Einsicht“ des Subjektivismus, welche diesen von objektivistischen (oder „perfektionistischen“) Theorien über das gute Leben unterscheidet. Diese Einsicht besteht darin, dass es an unserer mentalen Verfasstheit hängt, ob etwas gut für uns ist: „what counts as a good life for us is somehow rooted in our mental makeup.“172 Damit lassen sich also auch solche Theorien als „subjektivistisch“ bezeichnen, welche die von Sher genannte Grundannahme teilen, die aber dennoch darauf verweisen, dass manche Dinge insofern objektiv gut für uns sind, dass sie gut für jeden von uns sind. Denn beides ist durchaus miteinander vereinbar.
4.1 Bildung und menschliche Fähigkeiten Wenn jemand vieles weiß und vieles kann, dann scheint dies auch unabhängig von seiner eigenen Einstellung dazu gut zu sein. Selbst wenn jemand seinem Wissen und seinen Fähigkeiten selbst keinen Wert beimisst, scheint sein Leben besser als das eines anderen zu verlaufen. Dies ließe sich damit begründen, dass durch die Aneignung dieses Wissens und Könnens seine menschliche Natur „blüht“ oder „gedeiht“, was auch unabhängig von seiner subjektiven Perspektive festzustellen wäre. Ein solcher Ansatz hätte den Vorzug, die verschiedenen Werte, die bisher genannt wurden (wie Autonomie und Wissen), in eine einheitliche Konzeption eines guten Lebens integrieren zu können. Im Bildungsbereich würde es dann allgemein darum gehen, der menschlichen Natur zu ihrer Blüte zu verhelfen, und die einzelnen Ziele (wie die Beförderung der Autonomie oder bestimmter Fähigkeiten) könnten sich an diesem übergeordneten Ziel messen lassen. Doch dieser Vorzug kann diesen Ansatz noch nicht begründen. Was also spricht, falls überhaupt, für eine derartige Konzeption des guten Lebens? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst eine wichtige Unterscheidung treffen. Ich werde im Folgenden solchen Ansätzen nachgehen, welche der Entwicklung bestimmter menschlicher Fähigkeiten einen nicht-instrumentellen Wert beimessen. Doch hier gibt es verschiedene Spielarten. Entweder sind individuelle Fähigkeiten angesprochen, die dem einzelnen Menschen zukommen und ihn von anderen Menschen unterscheiden (4.1.1). Oder es geht um spezifisch menschliche Fähigkeiten, die Menschen als Menschen auszeichnen und in denen sie sich von anderen Lebewesen unterscheiden (4.1.2). Drittens werden essentielle Fähigkeiten des Menschen in den Blick gerückt, deren Besitz für das Menschsein wesentlich oder konstitutiv ist (4.1.3).
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4.1.1 Individuelle Fähigkeiten Der Ansatz, der von der Entfaltung der individuellen Fähigkeiten ausgeht, wird in dem folgenden Zitat aus einem Roman Rousseaus so auf den Punkt gebracht: „Über die der Gattung gemeine Verfassung hinaus bringt jeder bei seiner Geburt ein besonderes Temperament mit, das sein Talent und seinen Charakter bestimmt, und bei dem es nicht darum geht, es zu ändern oder es zu bezwingen, sondern es zu entwickeln und zu vervollkommnen (perfectionner).“173 Rousseau meint, der Erfolg der Erziehung hänge davon ab, ob jeder Geist nach seiner besonderen Form geleitet werde, und für diese besondere Form seien die individuellen Anlagen des Kindes entscheidend. Das Zitat legt nahe, dass Rousseau nicht nur deshalb dafür plädiert, auf die Individualität des Kindes zu achten, weil sich so bestimmte andere Zwecke der Erziehung besser erreichen lassen. Stattdessen scheint die Entwicklung und Vervollkommnung der individuellen Talente seines Erachtens selbst ein wichtiger Zweck der Erziehung zu sein. Doch warum ist es so wichtig, dass jeder seinen eigenen Charakter entwickeln kann, und wie lässt sich die in diesem Zitat ins Spiel gebrachte Behauptung begründen, dass man die individuellen Talente nicht nur entwickeln, sondern sogar vervollkommnen sollte? Bei der Rede von dem „Charakter“ eines Menschen geht es oftmals um die Gesamtheit seiner geistigen Eigenschaften, also um die Gesamtheit seiner „Charaktereigenschaften“. Sie könnte jedoch auch so gemeint sein, dass wir uns im Kern unseres Wesens auf eine für jeden von uns spezifische Weise unterscheiden. Allerdings bezweifle ich, dass sich diese Metapher auf eine verständliche Weise ausbuchstabieren lässt. Erhellender ist dagegen die Rede von unseren individuellen Talenten. Diese könnte allerdings suggerieren, dass jeder bestimmte Dinge vorzüglich kann, oder dass zumindest nur dann von einem Talent die Rede sein kann, wenn jemand etwas vorzüglich kann (diejenigen, die nichts vorzüglich können, hätten dann keine Talente). So soll der Verweis auf bestimmte Talente im Folgenden aber nicht verstanden werden. Wer ein musikalisches Talent hat, muss also nicht komponieren können wie Mozart, denn dieser hatte eben ein ganz außergewöhnliches musikalisches Talent. Stattdessen werde ich dann von Talenten reden, wenn es um Dinge geht, die eine Person gemessen an ihren sonstigen Fähigkeiten besonders gut kann. Der Begriff des Talents ist positiv besetzt, denn die Rede von unseren Talenten impliziert eine Wertschätzung der Fähigkeiten, die damit überhaupt als Talente ausgewiesen werden. Zwar reden wir manchmal so, dass jemand das „Talent“ dazu hat, andere zu verletzen, aber es handelt sich hier um eine ironische Redeweise. Die Ironie ergibt sich gerade daraus, dass die Rede von unseren Talenten normalerweise positiv besetzt ist. So werden beispielsweise ein gutes Gedächtnis, mathematisches Verständnis, die Fähigkeit zum logischen Denken, ein gutes Sprachgefühl, künstlerische Fä-
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higkeiten, Geschicklichkeit und handwerkliche Fähigkeiten als Begabungen oder Talente ausgewiesen. Impliziert die Tatsache, dass wir etwas gut oder sogar besonders gut können, dass wir von dieser Fähigkeit Gebrauch machen sollten? Sollten wir unsere Talente entwickeln? Kant behauptet sogar, wir seien verpflichtet, unsere Talente zu entfalten: „Ein dritter findet in sich ein Talent, welches vermittelst einiger Cultur ihn zu einem in allerlei Absicht brauchbaren Menschen machen könnte. Er sieht sich aber in bequemen Umständen und zieht vor, lieber dem Vergnügen nachzuhängen, als sich mit Erweiterung und Verbesserung seiner glücklichen Naturanlagen zu bemühen. Noch frägt er aber: ob, außer der Übereinstimmung, die seine Maxime der Verwahrlosung seiner Naturgaben mit seinem Hange zur Ergötzlichkeit an sich hat, sie auch mit dem, was man Pflicht nennt, übereinstimme.“174 Kant verneint diese Frage: Wir verletzen unsere Pflicht, wenn wir lieber dem Vergnügen nachgehen, als uns um die Verbesserung und Erweiterung unserer glücklichen Naturanlagen zu bemühen. Grundsätzlich ist uns die Aufforderung zur Entfaltung unserer Talente nicht fremd, auch wenn die Behauptung, dass wir verpflichtet sind, unsere Talente zu entfalten, überzogen klingt. Doch wir tadeln den, der seine Talente brachliegen lässt und loben den, der sie entwickelt. Dies lässt sich unter anderem so erklären, dass die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten und Talente in den meisten Fällen einen instrumentellen Wert hat.175 Daher sind wir in der Regel gut beraten, uns um die Entwicklung unserer Fähigkeiten zu kümmern, und die Forderung, dies zu tun, ist daher eine Klugheitsforderung. Darüber hinaus hat die Entwicklung und bestmögliche Ausübung unserer Fähigkeiten und Talente einen instrumentellen Wert nicht nur für uns, sondern auch für andere Menschen. So war und ist es wertvoll für sehr viele andere Menschen, dass Mozart sein musikalisches Talent so früh und so umfassend zum Einsatz gebracht hat. Es ist gut für uns alle, wenn es jedem einzelnen von uns darum geht, etwas aus seinen Fähigkeiten zu machen, und dies kann erklären, wie es dazu kam, der Entfaltung der Talente einen hohen Wert zuzuschreiben. Auf eine solche Erklärung waren wir bereits in Bezug auf den Wert der Wahrheit gestoßen. Wenn der Wahrheit ein intrinsischer Wert zugeschrieben wird, dann lässt sich die Genese dieser Wertzuschreibung über den instrumentellen Wert erklären, den ein nicht-instrumentelles Verhältnis zur Wahrheit hat. Denn wenn wir meinen, dass wir der Wahrheit einen nicht-instrumentellen Wert beimessen sollten, dann ist diese Einstellung instrumentell wertvoll für andere Menschen. Eine solche Erklärung trifft nun ebenfalls auf die Genese unserer Vorstellungen vom Wert der Entfaltung unserer Talente zu. Es ist instrumentell wertvoll für andere Menschen, wenn wir meinen, dass wir unsere Talente nicht ungenutzt lassen sollten. Es ist gut für andere, wenn wir uns zur Entfaltung unserer Talente aufgefordert fühlen, selbst wenn wir
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uns keinen persönlichen Gewinn davon versprechen. Doch was ließe sich demjenigen entgegenhalten, der sich nichts von der Entfaltung bestimmter Talente verspricht und darüber hinaus bezweifelt, dass er in irgendeiner anderen Hinsicht dazu aufgefordert ist, sich um die Entfaltung seiner Talente zu kümmern und von seinen Fähigkeiten Gebrauch zu machen? Wie ließe es sich ihm gegenüber begründen, dass er etwas aus seinen Fähigkeiten machen sollte? Eine mögliche Antwort auf diese Frage bestünde darin, sie mit dem Hinweis darauf zurückzuweisen, dass sie sich faktisch nicht stellt. Das wäre dann der Fall, wenn niemand ernsthaft eine solche Position vertreten würde. Um dies zu begründen, könnte man zunächst behaupten, dass wir notwendig darauf aus sind, die Dinge, die wir tun, möglichst gut zu tun, und dass wir dazu unsere Talente entfalten müssen. Das könnte z. B. auf intellektuelle, sportliche und künstlerische Leistungen zutreffen. Das Prädikat „gut“ würde dann bestimmte Wertungsstandards angeben, an denen sich das eigene Tun messen lassen muss. Und man könnte behaupten, dass es jemandem, der etwas tut, immer auch darum geht, dieses gemäß solchen Standards „gut“ zu tun. Wenn jemand Klavier spielt, dann gehe es ihm immer auch darum, gut Klavier zu spielen, und wenn jemand sich sportlich betätigt, dann gehe es ihm immer auch darum, ein guter Sportler zu sein. Und daher müsse ihm daran gelegen sein, sein musikalisches oder sportliches Talent möglichst umfassend zu entfalten. Diese Behauptung ist jedoch falsch. Wir scheinen nicht gewillt zu sein, jede unserer Tätigkeiten an solchen Standards messen zu lassen, selbst wenn diese Standards zur Verfügung stehen. Zuweilen wollen wir beispielsweise einfach nur schwimmen, ohne damit auch gleichzeitig möglichst gut schwimmen zu wollen. Auch die Behauptung, dass wir notwendig darauf aus sind, unsere Talente zu entfalten, wäre zu stark. Etwas derartiges behauptet Scanlon: „One thing all individuals naturally and reasonably want is to develop their talents and to exercise their realized abilities.“176 Um zu begründen, dass wir vernünftigerweise etwas aus unseren Fähigkeiten machen wollen, kann man wieder auf den instrumentellen Wert einer solchen Einstellung verweisen. Doch Scanlons Behauptung lässt sich darüber hinaus so lesen, dass wir dies natürlicherweise wollen, dass wir also von Natur aus notwendig darauf festgelegt sind, unsere Talente entfalten zu wollen. Diese Behauptung ist jedoch zu stark, weil sie keinen Raum für die selbstbestimmte Entscheidung lässt, seine Fähigkeiten nicht zu entfalten. Kants Frage danach, ob wir verpflichtet sind, unsere Talente zu entfalten, stellt sich ja gerade deshalb, weil es Menschen geben kann, die „lieber dem Vergnügen nachhängen“ als sich um die Verbesserung ihrer Naturanlagen zu bemühen. Dennoch trifft Scanlons Beobachtung insofern zu, als es vielen Menschen wichtig ist, ihre Talente zu entfalten, und zwar insbesondere in den Kulturen, in denen dies besonders wertgeschätzt wird. Die Genese einer
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solchen Wertschätzung kann man wiederum mit Rekurs auf den instrumentellen Wert erklären, den die Entfaltung der eigenen Talente nicht nur für das Individuum selbst, sondern auch für andere Menschen hat. So wird verständlich, warum wir voneinander fordern, die Aufgaben wahrzunehmen, zu denen wir kraft unserer Talente besonders befähigt sind, und unsere Talente möglichst umfassend zu entwickeln. Auch für andere Menschen wäre es bedauerlich, wenn wir unsere Talente „verschwendeten“. Gegen eine solche Verschwendung wendet sich daher die Wertschätzung unserer Talente und die daran geknüpfte Aufforderung, unsere Talente zu entfalten. Außerdem spielen für diese Aufforderung oftmals religiöse Überzeugungen eine Rolle: Wenn man mit bestimmten natürlichen Gaben „gesegnet“ ist, dann solle man diese nicht verschwenden. Und wenn einem Gott ganz bestimmte Gaben „gegeben“ hat, dann solle man die damit verbundene Aufgabe auch erfüllen. Dieser Denkstil könnte sogar in Kants Begründung für die Pflicht zur Entfaltung unserer Talente hineinspielen. Denn Kant meint, ein vernünftiges Wesen wolle notwendig, dass alle Vermögen in ihm entwickelt werden, „weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind.“177 Etwas aus den eigenen Fähigkeiten zu machen, wird in unserer Kultur hoch geschätzt. Der kulturelle Hintergrund bestimmt zudem die Auswahl derjenigen Fähigkeiten mit, deren Entfaltung man für erstrebenswert hält, und die insofern überhaupt erst als „Talente“ bezeichnet werden. Er hat damit einen Einfluss darauf, welche Arten von Persönlichkeitsentwicklung für angemessen oder gar für „kultiviert“ gehalten werden. Dennoch gibt es darüber hinaus Fähigkeiten, die zu entwickeln ein allgemeines menschliches Bedürfnis ist – möglicherweise gehört dazu beispielsweise die Entwicklung zumindest irgendeiner Form von kreativer Tätigkeit. Dies wäre auch für die Erziehung relevant. Welche Bedürfnisse tatsächlich von allen Menschen geteilt werden, ist letztlich eine empirische Frage. Wenn es jedoch tatsächlich ein allgemeines menschliches Bedürfnis gäbe, bestimmte Fähigkeiten zu entfalten, dann ließe sich vor dem Hintergrund dieser Annahme behaupten, dass es gut für die zu Erziehenden ist, wenn ihnen die Erziehung darin weiterhilft. Dies wäre vor allem dann der Fall, wenn sich zeigen ließe, dass mit der Befriedigung dieses Bedürfnisses wertvolle Erfahrungen verbunden sind. Auf diesen Punkt werde ich am Ende von Abschnitt 4.1.3 noch zurückkommen. Gibt es nun darüber hinaus gute Gründe für die Behauptung, dass es „an sich“ oder „objektiv“ besser ist, seine Talente zu entfalten? Was lässt sich demjenigen entgegenhalten, dem daran nicht liegt? Auch hier läge es nahe, wiederum den Wert der Individualität sowie den Wert der Autonomie zur Begründung des Wertes ins Spiel zu bringen, den die Entwicklung der eigenen Talente hat. Doch beides wäre verfehlt. Unsere Individualität lässt sich anders entwickeln als über eine Entfaltung unserer Talente. Wir
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können zum Beispiel in unserer Gesellschaft gerade dadurch individuell sein, dass wir uns nichts aus der Entfaltung unserer Talente machen. Auch eine Orientierung am Autonomieideal hilft hier nicht weiter. Raz meint, eine selbstbestimmte Person müsse die Möglichkeit haben, alle ihre Talente zu entfalten.178 Sie muss diese Möglichkeiten allerdings nicht nutzen. Zwar gehört es zur Selbstbestimmtheit einer Person, wichtige Fähigkeiten entfalten zu können. Denn dies scheint ein Teil des „angemessenen“ Spektrums an Handlungsmöglichkeiten zu sein (vgl. 2.1.1) und wäre insofern eine Voraussetzung für eine bestimmte Form von Handlungsfreiheit, welche ein Bestandteil des Autonomieideals ist. Allerdings kann sich die Selbstbestimmtheit einer Person gerade darin erweisen, von diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch zu machen. Raz räumt dies zwar ein, geht aber an anderer Stelle davon aus, dass diese Person damit auch ein schlechteres Leben hat. Er will sich zwar daran orientieren, wie gut oder erfolgreich das Leben einer Person im Ganzen aus ihrer Perspektive ist, doch wenn Raz sagt, wir sollten das Leben einer Person aus ihrer Perspektive bewerten, dann sollen wir abschätzen, ob ihre Ziele ihren Talenten und Fähigkeiten angemessen sind. Raz behauptet beispielsweise, dass jemand, der seine Zeit mit dem Glücksspiel verbringt (und darin auch recht erfolgreich ist), ein schlechteres Leben führt als ein Farmer.179 Doch eine Begründung für diese Behauptung ergibt sich nicht aus dem Verweis auf die Autonomie. Wir sollten uns daher weiteren Versuchen zuwenden, eine Entwicklung bestimmter Fähigkeiten mit Rekurs auf eine Konzeption des guten Lebens zu begründen.
4.1.2 Spezifisch menschliche Fähigkeiten Neben einer Entfaltung der individuellen Talente könnte die Erziehung außerdem eine Entwicklung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten im Blick haben, die nicht einzelnen Individuen zukommen, sondern Menschen als Menschen auszeichnen. Aristoteles nimmt eine solche Perspektive ein, wenn er sagt, auf der Suche nach dem Inhalt der Glückseligkeit müsse man das „spezifisch Menschliche“ in den Blick nehmen. Das spezifisch Menschliche bestehe nicht bloß in der Ernährung und im Wachstum (wie bei den Pflanzen) und auch nicht in einem bloß sinnlichen Leben (wie bei Ochsen, Pferden und anderen Tieren). Stattdessen zeichne den Menschen ein nach dem vernunftbegabten Seelenteil tätiges Leben aus.180 Das höchste Gut, nach dem der Mensch strebe, bestehe in einem möglichst uneingeschränkt vernunftgeleiteten Leben, da die Ausübung der Vernunft die spezifische Leistung des Menschen sei. Für Tätigkeiten gelte generell, dass das Gute, auf das sie gerichtet sind, in ihrem Ergon liegt. Und das Ergon des Menschen wird bei Aristoteles durch seine Abgrenzung von den spezifischen Leistungen anderer Lebewesen gewonnen. Lassen sich nun bestimmte Bildungsideale, wie das Autonomieideal oder bestimmte Formen der Wissensvermittlung, auf diese Weise begrün-
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den? Lässt sich eine Orientierung am Autonomieideal damit rechtfertigen, dass es hier um die Beförderung einer für den Menschen charakteristischen Fähigkeit geht? Ansätze zu einer solchen Rechtfertigung finden sich beispielsweise bei Mill. Durch die Fähigkeit zur Autonomie unterscheide sich der Mensch vom Affen. Derjenige, der seine Umwelt über sein Leben bestimmen lasse, brauche dafür keine anderen Fähigkeiten als die Fähigkeit zur Imitation, die sich schon bei den Affen finde.181 Menschen könnten aber mehr als Affen, und diese Fähigkeiten sollten befördert werden. Denn man solle der menschlichen Natur zu ihrer vollen Blüte verhelfen: „Among the works of man, which human life is rightly employed in perfecting and beautifying, the first in importance surely is man himself.“182 Mill fordert in On Liberty, dass man Menschen die Möglichkeit geben sollte, selbst herauszufinden, was für sie das Beste ist. Das sei deshalb angebracht, weil Menschen verschieden sind und daher unterschiedliche Bedürfnisse haben.183 Wie schon bei Humboldt finden sich jedoch auch bei Mill Bemerkungen, die über einen solchen Subjektivismus hinausweisen. So rekurriert Mill in Anlehnung an Humboldt auf den „wahren Zweck“ des Menschen.184 Und hierbei hat er sowohl die menschliche Individualität als auch die menschliche Autonomie im Blick. Mill behauptet, Individualität habe einen „intrinsischen Wert“ (intrinsic worth),185 und indem ein Mensch seine Individualität ausbilde, werde er zu einem „noble and beautiful object of contemplation“.186 An anderer Stelle meint Mill, in dem Ausmaß seiner Selbstbestimmtheit erweise sich der „relative Wert“ (comparative worth) des Menschen.187 Auch der Wert des Wissens wird zuweilen damit begründet, dass „der Wert des Menschen“ steige, wenn dieser nach Wissen strebe. Dabei wird darauf verwiesen, dass letztlich nicht die Erkenntnis der Wahrheit selbst, sondern die mit dem Streben nach Wahrheit verbundenen Fähigkeiten, deren Ausübung und deren Weiterentwicklung wertvoll seien. Der Gebrauch dieser Fähigkeiten sei nicht bloß als Mittel zum Zweck der Erkenntnis wertvoll, sondern deshalb, weil er „den Wert des Menschen“ ausmache. Ein Beispiel dafür sind die Überlegungen Lessings. Die Aufwendung von geistiger Kraft, um hinter die Wahrheit zu kommen, ist Lessing zufolge wichtiger als die Erkenntnis der Wahrheit selbst: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu seyn vermeynet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worinn allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet.“188 Lessing meint also, dass der Wert des Menschen von dem Gebrauch seiner Fähigkeiten bestimmt werde, und dass sich durch das Streben nach Wissen seine Kräfte entfalten. Doch wie lässt sich dafür argumentieren, dass der Wert des Menschen durch die Erweiterung seiner Kräfte steigt?
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Zeitgenössische Aristoteliker räumen oftmals ein, dass man nicht behaupten solle, es sei die Funktion oder der Zweck des Menschen, seine menschliche Natur zu entfalten.189 Denn die Zwecke, von denen hier sinnvoll die Rede sein könne, seien keine funktionalen Zwecke, sondern das, wonach wir streben. Steinfath bringt das so auf den Punkt: „[D]ie Rede von einem natürlichen, überlegungs- und wollensvorgängigen Telos oder Ergon des Menschen ist sachlich nicht haltbar. Ein Zweck ist das, um dessentwillen etwas angestrebt wird, und dieses ‚um dessentwillen’ ist nur unter der Voraussetzung eines setzenden Bewusstseins verständlich. Andernfalls müsste das Telos oder Ergon als Endpunkt eines rein kausalen Mechanismus gedacht werden. Dann wäre aber zu fragen, warum uns das Erreichen dieses Punktes kümmern sollte.“190 Gibt es dennoch gute Gründe dafür, das höchste für den Menschen zu erlangende Gut in der Entfaltung seiner spezifischen Leistung zu sehen? Jeder möchte als Mensch erkannt und anerkannt werden. Doch dass wir jemanden als Menschen erkennen können, setzt nicht voraus, dass es ihm um die Entwicklung seiner spezifisch menschlichen Fähigkeiten geht. Denn wir können andere Menschen immer als Menschen erkennen und von den Tieren unterscheiden. Schon die körperlichen Merkmale eines Menschen weisen ihn eindeutig als Menschen aus. Darüber hinaus hat selbst jemand, der sich gänzlich der Sinnenlust hingibt, diesen Weg in der Regel gewählt, und er unterscheidet sich diesbezüglich von den Tieren. An dieser Stelle könnte man immerhin fordern, dass Menschen wählen sollen, um sich darin von den Tieren zu unterschieden. Wir haben gesehen, dass eine solche Forderung bei Mill zu finden ist. Doch es ist nicht zu sehen, wie sich diese Forderung mit den spezifisch menschlichen Fähigkeiten begründen lässt. Denn selbst derjenige, der unreflektiert die Vorgaben anderer übernimmt und dessen Leben wir gerade nicht als das Resultat freier Entscheidungen begreifen würden, hätte nicht deshalb ein schlechteres Leben, weil er sich diesbezüglich nicht von den Affen unterscheidet. Es mag andere Gründe geben, doch dass wir gerade das tun sollten, was wir können und kein Tier, kann auch in Bezug auf die Fähigkeit zur Selbstbestimmung keine Begründung dafür liefern, dass uns daran liegen sollte, diese Fähigkeit zu entwickeln. Dies kann ein Blick auf möglicherweise spezifisch menschliche, aber dennoch schlechte Aktivitäten verdeutlichen. So behaupten Biologen zuweilen, im Tierreich fänden sich keinerlei Formen von bloßer Boshaftigkeit. Tiere fügen sich angeblich untereinander nur dann Schaden zu, wenn ihnen selbst dies auch nützt. Falls es tatsächlich zuträfe, dass dies nur beim Menschen anders ist, dann würde man dennoch nicht sagen wollen, dass uns dies irgendeinen (und noch so schwachen) Grund dafür liefert, mit dieser Praxis fortzufahren, auch wenn dieser letztlich von stärkeren (moralischen) Gründen überboten wird.
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Der Hinweis auf die spezifisch menschlichen Fähigkeiten bringt uns also auf der Suche nach einem überzeugenden Fähigkeiten-Ansatz nicht weiter. Statt von den spezifisch menschlichen Fähigkeiten auszugehen, sollten wir uns daher auf eine verwandte Alternative konzentrieren: Für eine Antwort auf die Frage nach dem guten Leben könnte es wichtig sein, was für den Menschen wesentlich ist. Im nächsten Abschnitt werde ich daher (ebenfalls an Aristoteles orientierten) Fähigkeiten-Ansätzen näher nachgehen, die diese Perspektive einnehmen, und zwar den Ansätzen von Sher, Hurka und Nussbaum. Diesen drei Autoren geht es nicht um die spezifisch menschliche Leistung, sondern um die Eigenschaften, die für uns Menschen essentiell sind. Und sie behaupten, dass sich Aussagen über das gute Leben aus einem Rekurs auf diese essentiellen Eigenschaften ableiten lassen.
4.1.3 Essentielle Fähigkeiten In den folgenden Ansätzen geht es also nicht darum, was den Menschen von den Tieren unterscheidet, sondern vielmehr darum, was für den Menschen wesentlich oder essentiell ist. So meint Sher, dass es bestimmte fundamentale Ziele gibt, die allen Menschen wichtig sind. Er bezeichnet diese Ziele als (nahezu) universell und unausweichlich. Anders als die Ziele, welche von einer bestimmten Kultur vorgegeben werden, und damit auch der Kritik an eben dieser spezifischen kulturellen Zielsetzung zugänglich sind, gebe es universelle Ziele, die von allen Menschen geteilt würden. Weil wir durch unsere menschliche Konstitution auf diese Ziele festgelegt seien, mache es schlichtweg keinen Sinn zu fragen, ob wir damit fortfahren sollten, diese Ziele zu verfolgen. Und daher seien gerade diese fundamentalen Ziele der geeignete Ausgangspunkt für die Bewertung aller anderen Ziele, auf die wir nicht notwendig festgelegt sind.191 Sher meint, dass das Erreichen unserer fundamentalen Ziele die vorherige Entwicklung bestimmter Fähigkeiten erfordere.192 Somit ergibt sich aus seinem Ansatz, dass bestimmte Fähigkeiten befördert werden sollten, weil es gut für jeden Menschen sei, wenn diese befördert werden. Denn eine Entwicklung dieser Fähigkeiten sei nötig, damit Menschen ihre fundamentalen Ziele erreichen können, auf die sie als Menschen notwendig festgelegt sind. Doch inwiefern ist diese Behauptung erhellend – die Entwicklung welcher Fähigkeiten kann Sher auf diese Weise anmahnen, deren Wert bisher umstritten oder zu wenig begründet war? Da die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, heute (in den meisten Kulturen) von enormer Bedeutung für das Erreichen fundamentaler Ziele ist, lässt sich dafür argumentieren, dass diese Fähigkeiten mittels schulischer Erziehung vermittelt werden sollten. Doch Sher geht es nicht darum, für die Bedeutung dieser grundlegenden, aber in ihrer Bedeutung wohl nur wenig umstrittenen, Fähigkeiten zu argumentieren.
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Sher behauptet stattdessen, dass der Staat (z. B. in den Bildungseinrichtungen) die Fähigkeit befördern sollte, bestimmte ästhetische Werte als solche erkennen zu können, und dass er einer geistig verarmten Kultur entgegenwirken sollte. Sher meint in diesem Zusammenhang, wer nur Punkrock höre, laufe Gefahr, Mozart nichts mehr abgewinnen zu können: „When critics deplore the coarseness of our culture, their main emphasis is usually aesthetic. They say – and I agree – that an endless diet of punk rock or sitcoms leaves one ill-equipped to appreciate the music of a Mozart or the prose of a Jane Austen.“193 Doch welche fundamentalen Ziele eines jeden Einzelnen werden nicht erreicht, wenn dieser Mozart nichts abgewinnen kann? Sher wird hier sehr allgemein. Wer bestimmte ästhetische Unterscheidungen nicht mehr treffen könne, der verfehle so fundamentale Ziele wie den erfolgreichen Umgang mit anderen Menschen, der eine Sensibilität erfordere, die in einer verarmten Kultur fehle.194 Die konkretere Behauptung, dass das Hören von klassischer Musik nötig ist, um sensibel auf andere Menschen eingehen zu können, ist jedoch nicht haltbar. Bestimmte Dinge ästhetisch wertschätzen zu können, ist keine notwendige und erst recht keine hinreichende Bedingung dafür, gut mit anderen Menschen umgehen zu können. Und es ist verfehlt, die ästhetische Erziehung vorwiegend damit zu begründen, dass dadurch Fähigkeiten befördert werden, die für etwas anderes wichtig sind als den Bereich der Ästhetik selbst (vgl. dazu schon 3.2.3). Die ästhetische Erziehung sollte also nicht vorwiegend dazu beitragen, Fähigkeiten zu entwickeln, die zur Realisierung außerhalb der Ästhetik liegender (fundamentaler) Ziele nötig sind. Es kann sicher gut für Jugendliche sein, wenn sie Mozarts Musik und Jane Austens Prosa schätzen lernen, doch das liegt nicht, oder zumindest nicht nur daran, dass sie dazu Fähigkeiten brauchen, die für etwas anderes als die ästhetische Erfahrung selbst wichtig sind. Stattdessen sind solche Erfahrungen „an sich“ gut oder wertvoll, und nicht nur als Mittel zum Zweck der Realisierung anderer (fundamentaler) Ziele. Sher behauptet außerdem, es sei besser, wichtige Dinge zu tun (z. B. ein Mittel gegen Krebs zu erforschen) als unwichtige Dinge zu tun (z. B. faulenzen). Ein Leben, in dem man sich ausschließlich dem Spiel und der Erholung verschreibe, sei „wasteful and lost“. Im Unterschied dazu könne das nachhaltige Verfolgen anderer Ziele (z. B. ein Mittel gegen Krebs zu entwickeln oder ein guter Vater zu sein) dem Leben „meaning and worth“ verleihen.195 Sher ist hier dahingehend zuzustimmen, dass wir unser Leben als sinnvoller erfahren können, wenn wir uns Zielen verschrieben haben, deren Erreichen uns tatsächlich wichtig ist. Doch es könnte auch ein ambitioniertes Ziel sein, die höchste Welle zu reiten, und derjenige, der die meiste Zeit mit dem Surfen verbringt, anstatt sich in der Krebsforschung zu engagieren, würde sein Leben insofern als ebenso sinnerfüllt bezeichnen wie das des Krebsforschers. Möglicherweise würde er zugeben, dass letzte-
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res in moralischer Hinsicht überlegen ist, aber diese Hinsicht muss für die Bewertung seines Lebens nicht durchschlagend sein. Auch Sher selbst müsste in der Bewertung des Lebens einer Person wieder den Rekurs auf ihre unausweichlichen Ziele suchen. Doch im Hinblick auf welche universellen und unausweichlichen Ziele lässt sich zeigen, worin ein „sinnvolles“ oder „wertvolles“ Leben besteht? Selbst die Annahme, dass wir alle notwendig darauf festgelegt sind, möglichst viel aus unseren Fähigkeiten machen zu wollen (ob es nun physische oder intellektuelle Fähigkeiten sind), scheint mir eine zu starke Behauptung zu sein. Demjenigen, der sein Leben lieber den sinnlichen Freuden widmen will, lässt sich daher auch nicht notwendig entgegenhalten, dass dies seinen „eigentlichen“ oder „fundamentalen“ Zielen zuwiderläuft. Shers Position hat also das Problem, dass die vermeintlich universellen und unausweichlichen Ziele des Menschen die konkreten Werte, um die es ihm geht, nicht begründen können. Zwar mögen wir alle unausweichlich bestimmte allgemeine Ziele haben, wie beispielsweise das Ziel, gesund zu sein und von anderen Menschen geachtet zu werden. Doch diese Ziele können die Werte, um die es Sher geht, wie beispielsweise bestimmte ästhetische Werte, nicht begründen.196 Gehen wir daher einem weiteren Versuch nach, dies zu tun. Hurka möchte im Gegensatz zu Sher nicht behaupten, dass alle Menschen faktisch danach streben, bestimmte menschliche Fähigkeiten zu entfalten, oder dass sich eine Beförderung dieser Fähigkeiten mit ihren (unausweichlichen) Zielen begründen lässt. Hurka weist ausdrücklich darauf hin, dass sich seine Konzeption gerade dadurch von subjektivistischen Konzeptionen des guten Lebens unterscheidet, dass er sich nicht an dem orientieren muss, wonach Menschen faktisch streben.197 Menschen könnten sich über den Wert ihrer Ziele irren, und daher solle man den Wert dieser Ziele nicht mit den Zielen selbst identifizieren. Stattdessen geht es Hurka darum, die These zu verteidigen, dass bestimmte Eigenschaften die menschliche Natur konstituieren oder das Menschsein auszeichnen – sie machen Menschen zu Menschen. Und das gute menschliche Leben bestehe darin, diese Eigenschaften in einem hohen Maße zu entwickeln.198 Auch Hurka vertritt wie Sher eine essentialistische Position. Es geht ihm um Eigenschaften, welche für den Menschen wesentlich sind, also „properties essential to humans, or that constitute the human essence.“199 Eine Eigenschaft sei essentiell für eine Klasse von Dingen, wenn jedes Ding diese Eigenschaft besitzen müsse, um zu dieser Klasse zu gehören. Die essentiellen Eigenschaften der Menschen seien also die, welche jeder besitzen muss, um ein Mensch zu sein.200 Eben diese Eigenschaften legen laut Hurka fest, worin ein gutes Leben besteht. Ein bestmögliches Leben bestehe dann in der bestmöglichen Entwicklung dieser Eigenschaften.201 An diesem perfektionistischen Ideal sollen (ought) sich Menschen laut Hurka orientieren, und diese Forderung bestehe sowohl unabhängig davon, ob sie dies auch
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tatsächlich oder hypothetisch wollen, als auch von der Lust, die ein solches Leben möglicherweise verspricht.202 Die essentiellen Eigenschaften, die wir bestmöglich entwickeln sollten, seien einerseits unsere physischen Fähigkeiten und andererseits die Fähigkeit zum Gebrauch unserer theoretischen und praktischen Vernunft.203 Wenn hier bestimmte Eigenschaften als „essentiell“ ausgewiesen werden, dann liegt diesem Prädikat selbst eine Bewertung zugrunde – wir meinen uns durch diese Eigenschaften als Menschen positiv auszuzeichnen. Wir machen uns hier also offenbar ein Bild davon, was zum Menschsein positiv dazugehört. Und dem könnte das Bedürfnis zugrunde liegen, uns über Standards dafür zu verständigen, was uns wichtig ist. Doch wie lassen sich diese Standards denen gegenüber begründen, die diese nicht teilen? Auch bei den zeitgenössischen Aristotelikern sucht man vergebens nach einer solchen Begründung. Hurka meint lediglich, das von ihm rekonstruierte Ideal habe „intrinsic appeal“, es sei „deeply attractive“ und genieße „widespread acceptance“.204 Außerdem nennt er ein paar allgemeine Vorzüge einer solchen Theorie über das gute Leben, vor allem den, dass eine solche Theorie es vermag, verschiedene Werte zu integrieren.205 Doch die so verstandene Attraktivität einer solchen Theorie kann diese nicht selbst begründen. Außerdem ist nicht klar, wie sich aus Hurkas Essentialismus der von ihm vertretene Perfektionismus ergibt.206 Angenommen, die Fähigkeit zur theoretischen und praktischen Vernunft sei tatsächlich eine essentielle menschliche Eigenschaft. Inwiefern können wir dann ein besseres Leben führen, wenn wir von unserer theoretischen und praktischen Vernunft möglichst umfassend Gebrauch machen? Da wir bereits dann als Mensch zu erkennen sind, wenn wir die Disposition besitzen, von unserer Vernunft Gebrauch zu machen, kann ein umfassenderer oder sogar bestmöglicher Gebrauch der Vernunft nicht ebenfalls eine essentielle menschliche Fähigkeit sein. Damit ist nun aber nicht mehr klar, inwiefern uns der Rekurs auf essentielle Fähigkeiten dazu anhalten kann, unsere Vernunft bestmöglich zu entwickeln. Sogar die Forderung, dass wir diese essentiellen Fähigkeiten überhaupt entwickeln sollten, lässt sich daraus nicht ableiten, denn es ist ja bereits die Disposition, dies tun zu können, die hier als essentielle Eigenschaft des Menschen ausgewiesen wird. Es ist also nicht klar, wie Hurka innerhalb seines Ansatzes dafür argumentieren kann, dass wir die von ihm als „essentiell“ ausgewiesenen Eigenschaften überhaupt oder gar bestmöglich entwickeln sollten.207 Gehen wir daher einem letzten essentialistischen Ansatz nach, den ich zwar in Teilen ebenfalls zurückweisen werde, an dem sich jedoch ein wichtiger Gedanke aufrechterhalten lässt. Nussbaum geht es ebenfalls darum, die Frage nach dem guten Leben mit den essentiellen Eigenschaften des Menschen zu verbinden. Dabei stellt Nussbaum (wie Hurka) eine Verbindung von einem essentiell menschlichen zu einem guten menschlichen Leben her.
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Anders als Hurka konzentriert sich Nussbaum jedoch offenbar darauf, eine Grenze oder Mindeststandards für ein gutes Leben anzugeben – ihr geht es weniger darum zu zeigen, dass wir von den essentiell menschlichen Eigenschaften in vorzüglicher Weise Gebrauch machen sollten, um ein möglichst gutes Leben zu führen. Nussbaum geht es in Anlehnung an Aristoteles darum, die Frage nach dem guten Leben mit einer Darstellung der eigentümlichen Leistung des Menschen zu verbinden. Dazu rekurriert sie auf die gemeinsamen Vorstellungen vom Menschsein: „So interpreted, the argument about human functioning traces some outlines for the good human life by investigating some shared ideas about humanness.“208 Nussbaum fragt also danach, wodurch Menschen sich definieren. Um diese Frage zu beantworten, schlägt sie unter anderem vor, sich auf Mythen zu stützen. Mythen von nicht-menschlichen, anthropomorphen Geschöpfen, die entweder tier- oder gottähnlich sind, ließen uns darüber nachdenken, warum diese Geschöpfe nicht als Menschen angesehen werden können, obwohl sie den Menschen ähneln.209 Auf diese Weise ließe sich herausfinden, was für Menschen im Allgemeinen zu einem menschlichen Leben dazugehört. Einige Eigenschaften halten wir für so wichtig, dass wir uns durch sie definieren. Ein Leben, in dem diese Eigenschaften fehlen, kann man Nussbaum zufolge nicht mehr als „wahrhaft menschliches“ Leben bezeichnen. Mit diesen Überlegungen wendet sich Nussbaum in ihren praktischpolitischen Forderungen gegen einen Kulturrelativismus, der davon ausgeht, dass es für die Mitglieder mancher Kulturen nicht wichtig ist, über bestimmte Fähigkeiten zu verfügen. Im zweiten Kapitel hatten wir bereits gesehen, dass Nussbaums Fähigkeiten-Ansatz so zu interpretieren ist, dass es ihr an zentraler Stelle um den Wert der Autonomie geht (vgl. 2.2.2). Den Wert der Autonomie betont sie in ihren praktisch-politischen Überlegungen insbesondere mit Blick auf das Leben von Frauen. Selbst wenn Frauen in manchen Kulturen selbst meinen, dass es für sie nicht wichtig ist, ein zumindest rudimentär selbstbestimmtes Leben führen zu können, sollte man ihnen laut Nussbaum dennoch ein solches Leben ermöglichen. Dabei kommt ihr essentialistischer Ansatz zum Tragen. Denjenigen, die behaupten, dass Autonomie nur in manchen Kulturen wichtig sei, hält Nussbaum also letztlich das „wahrhaft menschliche Leben“ entgegen. Hier wird gerade von einer spezifischen kulturellen Zugehörigkeit abgesehen.210 Allerdings ist erst einmal nicht klar, wie sich aus der Tatsache, dass andere Menschen ein solches Leben nicht mehr für „wahrhaft menschlich“ halten würden, die Behauptung ableiten lassen soll, dass ein solches Leben tatsächlich nicht mehr wahrhaft menschlich ist und insofern die Mindestanforderungen an ein gutes Leben nicht erfüllt sind. Warum sollte die Tatsache, dass viele Menschen etwas für wertvoll erachten und meinen, dass es zu einem guten Leben dazugehört, darauf hin-
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deuten, dass es tatsächlich für jeden Menschen wertvoll ist? Obwohl Nussbaum erklärtermaßen einen aristotelischen Ansatz vertritt, argumentiert sie in weiten Teilen subjektivistisch. Und es ist diese Art der Argumentation, die solche Brücken bauen kann. Um für den Wert der Autonomie zu argumentieren, zeigt sie Fälle auf, in denen Frauen mit einen Zugewinn an Autonomie gute Erfahrungen gemacht haben.211 Nussbaum geht in der Frage nach dem guten Leben also letztlich empirisch vor. Ein solcher Ansatz kann den Menschen, die ein Leben führen, welches viele andere Menschen nicht für ein „wahrhaft menschliches“ Leben halten würden, nicht unterstellen, damit notwendig ein schlechtes Leben zu führen. In dieser Hinsicht vermag der essentialistische Ansatz erneut nicht zu überzeugen. Dennoch erweist sich eine empirische Vorgehensweise in der Frage nach dem guten Leben durchaus als fruchtbar, und dieses Element in Nussbaums Position sollten wir daher nicht voreilig verwerfen. Demjenigen, der ein Leben führt, welches Elemente entbehrt, die viele andere Menschen für gut halten, kann man damit zwar das gute Leben nicht per se absprechen. Dennoch kann man ihm Hinweise darauf geben, welche Dinge sein Leben möglicherweise oder sogar mit hoher Wahrscheinlichkeit besser machen würden. Denn über die Dinge, die sein Leben bereichern können, findet man etwas heraus, indem man die Erfahrungen anderer Menschen untersucht. Auf diese Weise lässt sich dann auch für die verschiedenen Fähigkeiten argumentieren, die auf Nussbaums Liste erscheinen. So könnte die Fähigkeit zu einer angemessenen Bewegungsfreiheit etwa damit begründet werden, dass viele Menschen einen Zugewinn an Mobilität als erhebliche Bereicherung erfahren haben. Zu denken wäre hier etwa an Frauen, die nicht länger auf einen sehr engen häuslichen Bewegungsradius festgelegt waren.212 Allerdings ist nicht zu sehen, inwiefern sich behaupten lässt, dass alle Bestandteile auf Nussbaums Liste notwendig zu einem guten Leben dazugehören. Zudem scheinen manche Bestandteile auf ihrer Liste wichtiger als andere zu sein, und es irritiert daher, dass alle Fähigkeiten bei Nussbaum auf einer Ebene liegen (so ist uns eine angemessene Ernährung in der Regel wichtiger als die Verbundenheit mit der Natur). Darüber hinaus ist darauf hingewiesen worden, dass einige Fähigkeiten auf ihrer Liste nicht vorkommen, obwohl nicht zu sehen ist, dass sie unwichtiger als diejenigen Fähigkeiten sind, die Nussbaum selbst nennt. So fragt etwa Scherer, „wieso beispielsweise Werte wie ‚Kultur und Wissenschaft’ fehlen, wohingegen ‚Bindung zur Natur’ als Wert fungiert.“213 Dennoch sind Nussbaums Überlegungen dazu geeignet, Wege zu einer Verständigung über diese Fragen aufzuzeigen. Dabei werden wir letztlich auf empirische Überlegungen verwiesen, und diesen Teil von Nussbaums Ansatz sollten wir beibehalten. Auf der Grundlage solcher empirischer Überlegungen ließe sich dann auch für einige der Ideale werben, um die es den Perfektionisten geht. So orientiert sich Hurka beispielsweise sehr stark
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an aristotelischen Idealen, und ich hatte behauptet, dass Hurka selbst keine Begründung für diese Ideale liefert. Mit Hilfe eines empirischen Ansatzes ließe sich für seine Ideale allerdings anders argumentieren. Einer Beförderung dieser Ideale ließe sich etwas abgewinnen, wenn man zeigen könnte, dass viele Menschen in der Entwicklung und bestmöglichen Ausübung ihrer essentiellen Fähigkeiten wertvolle Erfahrungen machen. Hier kommt auch der in Abschnitt 4.1.1 diskutierte Ansatz wieder ins Spiel. Denn möglicherweise machen wir solche Erfahrungen auch oder sogar gerade in der Entwicklung unserer individuellen Fähigkeiten und Talente, in denen wir uns von anderen Menschen unterscheiden. Und auch hier könnte es mit besonders wertvollen Erfahrungen verbunden sein, diese individuellen Fähigkeiten in einem hohen Maße oder sogar bestmöglich zu entfalten. Letztlich werden wir also auch hier auf unsere Erfahrungen verwiesen. Ein solcher Ansatz vermag einige der oben genannten Überzeugungen der Vertreter „aristotelischer“ Ansätze zu integrieren.214 Dies ist offenbar auch Rawls’ Anliegen. Das von ihm vertretene so genannte „aristotelische Prinzip“ erläutert Rawls so, dass Menschen die Entwicklung ihrer Talente und Fähigkeiten erfreue, und dass die Freude (enjoyment) daran umso größer sei, je umfassender diese Fähigkeiten realisiert seien und je größer ihre Komplexität sei. Rawls behauptet, uns liege insbesondere an der Entfaltung solcher Talente, die anspruchsvolle oder komplexere Tätigkeiten ermöglichen, denn an solchen Tätigkeiten erfreuen wir uns seines Erachtens mehr.215 Ob eine Wertschätzung gerade der komplexeren Tätigkeiten tatsächlich auf alle Menschen zutrifft, wäre jedoch zumindest dann fraglich, wenn man das Streben nach Wissen als eine komplexere Tätigkeit ausweist als die sportliche Betätigung – denn einige Menschen ziehen letzteres klarerweise vor. Allerdings sind herausfordernde Tätigkeiten (zu denen dann auch sportliche Betätigung gehört) oftmals tatsächlich mit besonders wertvollen Erfahrungen verbunden (wir sollten hier anstatt von „Freude“ wieder allgemeiner von wertvollen Erfahrungen reden). Außerdem ist es oftmals besonders erfüllend, das, was wir tun, auch besonders gut zu tun oder in einer Sache immer besser zu werden. Rawls bezeichnet das aristotelische Prinzip als „psychologisches Gesetz“.216 Zwar ist der Gesetzesbegriff hier zu stark, denn er lässt unserer Individualität und Autonomie zu wenig Raum. Doch den meisten oder zumindest sehr vielen Menschen geht es tatsächlich so, wie Rawls behauptet, und damit ist gerade für den Erziehungsbereich schon sehr viel gesagt. Denn hier muss man keine strengen psychologischen Gesetzmäßigkeiten konstatieren, um eine Sache für beförderungswürdig zu halten, sondern es reicht der Hinweis darauf, dass sie bisher von sehr vielen Menschen als gut erfahren wurde. Wenn es bisher vielen Menschen so ging, dann ist es vielversprechend, diese Erfahrungen mittels Erziehung zu ermöglichen. Vieles spricht dafür, selbst wenn einzuräumen ist, dass dies nicht notwendig bei
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jedem fruchten muss. Hier zeigt sich, dass im Bereich politisch-praktischen Handelns auch dann auf Vorstellungen von einem guten Leben verwiesen werden kann, wenn man dabei nicht mit einem objektivistischen Anspruch auftritt – und wenn man im Rahmen subjektivistischer Überlegungen zugeben muss, dass manche Dinge eben nicht notwendig das Leben jeder Person besser machen. Gerade im Erziehungsbereich wäre es verfehlt, deshalb gar keine Überlegungen zum guten Leben mehr heranzuziehen, denn zur Begründung der Ziele, um die es der schulischen Erziehung geht, sind solche Überlegungen unausweichlich.
4.2 Bildung, Bedürfnisse und Erfahrungen In Abschnitt 4.1 hat sich gezeigt, dass der Bezug zum guten Leben nur dann eine Beförderung individueller oder allgemein menschlicher Fähigkeiten begründen kann, wenn man ihm eine subjektivistische Interpretation gibt, da sich für die einschlägigen objektivistischen Versuche, dies zu tun, keine überzeugenden Argumente fanden. Neben dem Hinweis auf den instrumentellen Wert der Beförderung bestimmter Fähigkeiten kann man innerhalb eines subjektivistischen Ansatzes außerdem auf wertvolle Erfahrungen verweisen, die damit einhergehen. Die Subjektivität dieser Erfahrungen ist jedoch nicht daran geknüpft, dass nur wenige Menschen diese Erfahrungen machen. Stattdessen gibt es sogar einige Erfahrungen, die Menschen als Menschen in gleicher Weise machen und auch gleich bewerten. Und diese Erfahrungen ließen sich dann in einem bestimmten Sinne von „objektiv“ auch als objektiv gut ausweisen. Wenn das objektiv gut ist, was für jeden Menschen gut ist, dann kann sich der Subjektivist die Frage nach dem objektiv Guten also durchaus stellen. Doch was ist gut für uns alle? Welche Dinge sind für alle Menschen wichtig? Was muss gegeben sein, damit wir zumindest keine leidvollen Erfahrungen machen? Zunächst werden wir hier auf menschliche Grundbedürfnisse verwiesen. Im folgenden Abschnitt werde ich daher fragen, wie weit uns ein solcher Ansatz tragen kann und inwiefern sich daraus bestimmte Zwecke der Erziehung ableiten lassen.
4.2.1 Grundbedürfnisse Wenn wir uns in dem, was subjektiv gut für uns ist, hinreichend ähnlich sind, dann ist das subjektiv Gute in einem bestimmten Sinn von Objektivität auch objektiv gut. Es ist dann nicht nur für einzelne Personen, sondern für alle Menschen gut. Das, was gut für uns alle ist, hängt unter anderem von den Bedürfnissen ab, die wir als Menschen teilen, und dafür kommen vor allem unsere Grundbedürfnisse in Frage. Zu unseren Grundbedürfnissen zählen klarerweise bestimmte biologische Bedürfnisse. Diese Bedürfnisse lassen sich über die biologische Funk-
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tion, die man ihnen zuweist, nicht nur an unserem Verhalten erkennen, sondern prinzipiell auch über eine Untersuchung ihrer körperlichen Voraussetzungen. So lässt sich anhand des Zuckergehaltes im Blut einer Person sowohl darauf schließen, dass diese Person „Hunger hat“ (im Sinne eines Nährstoffmangels, also eines physiologischen Mangelzustands), als auch, dass diese Person Hunger verspürt (also auf einen psychologischen Mangelzustand). Und es sind vor allem diese biologischen Bedürfnisse, die als Grundbedürfnisse bezeichnet werden. Unbestrittene Grundbedürfnisse sind das Bedürfnis nach Nahrung, Wasser und Luft zum Atmen. Diese Bedürfnisse sind allen Menschen gemeinsam, und alle Menschen bedürfen der Befriedigung dieser Bedürfnisse, um ihre biologische Funktionsfähigkeit aufrecht zu erhalten und überleben zu können. Darüber hinaus werden jedoch auch andere Dinge zu den Grundbedürfnissen gezählt, wie z. B. die Gesellschaft anderer Menschen.217 Diese Grundbedürfnisse lassen sich nicht auf unsere biologischen Funktionen reduzieren. So ist die Gesellschaft anderer Menschen, zumindest für erwachsene Menschen, für das bloße Überleben nicht zwingend notwendig. Zu den Grundbedürfnissen sind solche Bedürfnisse aber deshalb zu zählen, weil der psychologische Mangelzustand, der mit dem Streben nach Bedürfnisbefriedigung verbunden ist, ähnlich gravierend sein kann wie der Mangelzustand bei den biologischen Grundbedürfnissen. Weil diese Mangelzustände so gravierend sind, haben wir einen starken Grund dafür, uns die Dinge zu beschaffen, auf die sich unsere Grundbedürfnisse richten. Bleiben unsere Grundbedürfnisse unbefriedigt, erleiden wir in der Regel schweren Schaden. Doch haben wir auch dann einen Grund, unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen, wenn deren Befriedigung mit den Zielen in Konflikt kommt, die uns eigentlich wichtiger sind? Copp bejaht diese Frage, und er begründet dies damit, dass es auch in solchen Fällen vernünftig (rational) wäre, unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen.218 Denn unsere Grundbedürfnisse richten sich Copp zufolge auf die Dinge, derer wir bedürfen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen.219 Um zu behaupten, dass uns unsere Grundbedürfnisse auch dann Handlungsgründe liefern, wenn uns an dem, worauf sie sich richten, nichts liegt, muss Copp davon ausgehen, dass manchen Menschen nichts daran liegt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Und das behauptet er auch tatsächlich: Viele Menschen, und möglicherweise sogar ganze Kulturen, messen der Autonomie laut Copp keinen Wert bei.220 Doch warum sollte es für diese Menschen dennoch vernünftiger sein, ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Copps Antwort auf diese Frage hängt an seinem Verständnis von „Irrationalität“ und „Autonomie“, denn er behauptet, der Begriff der Irrationalität beinhalte bereits einen Bezug auf den Autonomiebegriff. Copp betont, jemand, der autonom sei, bestimme selbst über sein Leben, seine Ziele und seine Wertvorstellungen. Wer stattdessen aufgrund unreflektierter Impulse
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handele und sich einfach von seinen Gefühlen und Neigungen treiben lasse, sei ein klares Beispiel für einen „irrational agent“.221 Zwar habe eine solche Person jeweils Gründe, das zu tun, was sie gerade tut, aber diese Gründe würden keinem „deeper coherent plan or value“ entspringen. Damit sei ihr Handeln auch nicht als „rational“ zu bezeichnen, denn „rationality requires governing oneself on the basis of such values or plans“.222 All dies geht jedoch über eine bloß begriffliche Behauptung nicht hinaus. Copp nennt offenbar eine Verfehlung unserer Selbstbestimmtheit „irrational“, aber er hat nicht gezeigt, inwiefern diese tatsächlich irrational ist. Copp hat also nicht gezeigt, warum es notwendig irrational ist, wenn man eine Möglichkeit ungenutzt lässt, sein Leben selbstbestimmter zu gestalten, als es ansonsten wäre. Damit ließe sich Copps Rede von der Objektivität unserer (im Hinblick auf ihren Beitrag zu unserer Autonomie interpretierten) Grundbedürfnisse nur dann aufrechterhalten, wenn man eben doch behauptet, dass allen Menschen faktisch daran liegt, ein im unfassenden Sinne selbstbestimmtes Leben zu führen. Es bleibt jedoch fraglich, ob dies tatsächlich der Fall ist. Die Rede davon, dass es sich hier um ein Grundbedürfnis handelt, kann zu einer Beantwortung dieser Frage selbst keinen Beitrag leisten, sondern sie setzt eine Beantwortung dieser Frage voraus. Copp hat auf diese Frage eine negative Antwort gegeben, denn seines Erachtens gibt es viele Menschen, die der Autonomie keinen Wert beimessen. Insofern überzeugt Copps Analyse nicht. Die Gründe dafür, Grundbedürfnisse zu befriedigen, ergeben sich stattdessen aus den leidvollen Erfahrungen, die Menschen machen, wenn ihre Grundbedürfnisse unbefriedigt bleiben. Eine Identifikation von Grundbedürfnissen mit Autonomie oder eine Erklärung ihres Wertes über ihren Beitrag zur Autonomie ist also irreführend.223 Die Wichtigkeit der Befriedigung von Bedürfnissen resultiert nicht, oder zumindest nicht allein, aus einer ansonsten eingeschränkten Autonomie. Schmitz bringt diese Kritik in den folgenden Fragen zum Ausdruck: „Ist das Bedürfnis nach Gesundheit nur deswegen relevant, weil ein kranker Mensch schwerlich autonom handeln kann? Ist das Schlimme an der Nichtbefriedigung dieses Bedürfnisses nicht vielmehr das Leiden das Kranken? Wird im Autonomie-Modell nicht eine sekundäre Folge der Befriedigung des Bedürfnisses als der primäre Wert beschrieben?“224 Doch selbst wenn sich nicht alle anderen Grundbedürfnisse auf Autonomie reduzieren ließen, wäre damit noch nicht gezeigt, dass die Autonomie aus dem Katalog der Grundbedürfnisse herausfällt. Ist also Autonomie, anders als Schmitz behauptet, zu den Grundbedürfnissen zu zählen? Eine Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie weit man das Autonomieideal fasst. Zumindest bestimmte Formen der Handlungsfreiheit lassen sich meines Erachtens tatsächlich als Grundbedürfnis ausweisen. Denn es gibt ein elementares Bedürfnis danach, dass uns zumindest ein gewisser Spielraum für eigene Entscheidungen bleibt, dass also zumindest eine elementare
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Form von Handlungsfreiheit vorliegt. Ein sehr stark in seinen Handlungsmöglichkeiten beschnittenes Leben ist daher ein sehr leidvolles Leben, und Menschen sind sich als Menschen darin einig, starke äußere Zwänge abzulehnen. Das in Kapitel 2 rekonstruierte Autonomieideal der liberalen Erziehung richtet sich jedoch vor allem auf unsere kritische Reflektiertheit. Und dieser messen nicht alle Menschen übereinstimmend einen ähnlich hohen Wert bei wie die Mitglieder liberaler Gesellschaften. Man könnte zwar behaupten, dass sie dieser einen Wert beimessen würden, wenn sie die Chance hätten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Doch selbst wenn man gute Gründe zu dieser Annahme hätte, sollte man diese umfassende Autonomie nicht als „Grundbedürfnis“ bezeichnen. Grundbedürfnisse sind so zentral, dass sie sich kaum unterdrücken lassen. Es wäre daher überzogen, eine sehr umfassende kritische Reflektiertheit als Grundbedürfnis auszuweisen. Dennoch gibt es eine Reihe von Grundbedürfnissen, deren Befriedigung zumindest ein weit größeres Maß an Handlungsfreiheit voraussetzt, als es vielen Menschen bisher gegeben ist. Und dass zumindest ein gewisser Spielraum für eigene Entscheidungen besteht, ließe sich selbst als Grundbedürfnis bezeichnen. Dies ist auch für das Recht auf Bildung wichtig, und auf diesen Zusammenhang werde ich später (vgl. 6.2.2) noch zurückkommen. Der Blick auf unsere Grundbedürfnisse macht klar, dass sich alle Menschen so ähnlich sind, dass sie tatsächlich zentrale Bedürfnisse teilen. Der Grund für diese Ähnlichkeit ist ihre biologische Natur – und dies wird in Bezug auf die biologischen Grundbedürfnisse, wie dem Bedürfnis nach Nahrung oder Wasser, besonders deutlich. In diesen Grundbedürfnissen unterscheiden wir uns oftmals nicht von den Tieren, und dass es wichtig ist, diese Bedürfnisse zu befriedigen, ist daher nicht dadurch zu erklären, dass es sich hier um spezifisch menschliche Bedürfnisse handelt. Doch weil wir uns als Menschen so ähnlich sind, gibt es – neben der Befriedigung dieser körperlichen Bedürfnisse – auch andere Bedürfnisse, deren Befriedigung in aller Regel für Menschen äußerst wichtig ist. Diese Bedürfnisse können zuweilen nicht mit ihrer biologischen Funktion erklärt werden. Doch das ist auch nicht notwendig, um sie als Grundbedürfnisse auszuweisen. Es reicht die Beobachtung, dass der psychologische Mangelzustand, der sich einstellt, wenn diese Bedürfnisse unbefriedigt sind, sehr gravierend ist. Die Erziehung kann sowohl zur Befriedigung unserer materiellen wie auch unserer nicht-materiellen Grundbedürfnisse beitragen. In vielen Ländern ist es beispielsweise Analphabeten kaum möglich, selbst sehr elementare materielle Bedürfnisse zu befriedigen, und eine schulische Erziehung ist daher nötig, um die Voraussetzungen zur Befriedigung dieser Bedürfnisse zu schaffen. Doch auch zu der Befriedigung nicht-materieller Bedürfnisse – wie dem Bedürfnis nach Anerkennung – kann sowohl die elterliche Erziehung als auch die schulische Erziehung einen entscheidenden Beitrag
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liefern. Allerdings sollten wir die Rede von unseren Grundbedürfnissen nicht überstrapazieren, und wir sollten nicht zu viele mögliche Zwecke der Erziehung mit dem Verweis auf unsere Grundbedürfnisse begründen. So wäre es unangebracht, die im Zusammenhang mit dem Wert des Wissens und mit ästhetischen Werten genannten Werterfahrungen mit der Rede von unseren Grundbedürfnissen in Verbindung zu bringen. Im Folgenden sollen daher noch einmal die Zwecke der Erziehung im Vordergrund stehen, die über die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse hinausweisen. Es geht nach wie vor um eine Begründung für diese Zwecke. Der Rekurs auf unsere Werterfahrungen ist eine solche Begründung, und diesem soll im folgenden Abschnitt so nachgegangen werden, dass der Bezug dieser einzelnen Werterfahrungen zu einem insgesamt guten Leben sichtbar wird.
4.2.2 Wertvolle Erfahrungen und gutes Leben Gute Erfahrungen lassen sich mit ganz unterschiedlichen Dingen machen – beim Fußballspielen, beim Wissenserwerb, in einer Freundschaft, wenn sich unsere Wünsche erfüllen, wenn wir etwas erreicht haben, usw. Wie sich die unterschiedlichen Erfahrungen in eine einheitliche Theorie des guten Lebens integrieren lassen, wie sie sich (falls überhaupt) gewichten lassen und welche Erfahrungen mittels schulischer Erziehung besonders befördert werden sollten, ist jedoch bisher noch offen geblieben. Wir hatten gesehen, dass uns wertvolle Erfahrungen auf zwei Weisen zugänglich sind. Zum einen können wir den äußeren Umgang mit diesen Erfahrungen in den Blick nehmen. Wir können fragen, mit welchen Dingen sich Menschen gerne umgeben und welche Erfahrungen sie aktiv suchen. Zum anderen sind diese Erfahrungen von einem inneren Standpunkt aus gut oder wertvoll, der uns nur subjektiv zugänglich ist (vgl. 3.1.3). Über einen solchen subjektiven Zustand können wir uns dennoch verständigen. Versuche einer Explikation solcher Erfahrungen lassen sich beispielsweise in literarischen und religiösen Texten finden. In diesen Texten finden wir Hinweise darauf, dass sich die Erfahrungen, die unterschiedliche Menschen machen, offenbar so ähnlich sind, dass sie sich über diese Erfahrungen verständigen können. Solche Ähnlichkeiten können sehr grundsätzlich sein. Alle Menschen machen bereits aufgrund ihrer biologischen Natur ähnliche Leid- und Lusterfahrungen. Wir alle leiden unter Durst und Hunger, Hitze und Kälte, und wir haben Schmerzen, wenn wir krank sind. Zumindest sehr viele Menschen kennen das Gefühl, verliebt zu sein, und viele Menschen können sich über den Wert bestimmter Naturerfahrungen verständigen. Kultur- und zeitübergreifende Untersuchungen können daher einerseits menschliche Grunderfahrungen ausweisen, die alle – oder zumindest sehr viele – Menschen teilen. Andererseits können solche Untersuchungen da-
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rüber hinaus Erfahrungen aufdecken, die sich nur in bestimmten, diesen Erfahrungen entgegenkommenden Kulturen machen lassen. Uns stellt sich hier die Frage, welchen Erfahrungen man in der begrenzten Zeit der schulischen Erziehung einen hohen Stellenwert einräumen sollte. Dazu wäre es wichtig zu wissen, welche Erfahrungen besonders wertvoll sind. Diese Frage ist allerdings nur schwer zu beantworten. Wenn zwei Tätigkeiten einen instrumentellen Wert für ein und dieselbe Sache haben, lassen sie sich gut miteinander vergleichen. Wenn man die sportliche Betätigung unter dem Aspekt der Fitnesssteigerung betrachtet, dann sind bestimmte Sportarten anderen Sportarten diesbezüglich überlegen. Schwimmen ist diesbezüglich besser als Kegeln. Doch wenn sich der Wert zweier Tätigkeiten nicht an dem Zweck bemessen lässt, zu dem sie beitragen, sind solche Vergleiche auf den ersten Blick aussichtslos. Denn in Bezug worauf sollte man sie vergleichen? Hier ließe sich antworten, dass man sie hinsichtlich des Wertes der Erfahrungen vergleichen kann, welche mit diesen Tätigkeiten einhergehen. Doch wie sollten sich verschiedene wertvolle Erfahrungen vergleichen lassen, wenn dadurch, dass sie an sich wertvoll sind, der Maßstab fehlt, der einen solchen Vergleich ermöglicht? Wie kann man die gute, körperlich wohltuende Erfahrung, an einem kalten Tag unter der heißen Dusche zu stehen, mit den Erfahrungen vergleichen, welche die Lektüre eines guten Romans ermöglicht? Eine mögliche Antwort darauf lautet so, dass uns der unterschiedliche Wert unserer Erfahrungen subjektiv zugänglich ist. Manche subjektiven Erfahrungen sind aus einer subjektiven Perspektive besser als andere. Es gibt demnach qualitativ unterschiedliche Werterfahrungen, die sich dennoch untereinander vergleichen lassen.225 Selbst wenn solche Vergleiche möglich wären, würden sie jedoch dadurch verkompliziert, dass die mit guten Erfahrungen einhergehenden Tätigkeiten darüber hinaus auch noch instrumentell wertvoll sein können. Duschen dient der Körperhygiene und nicht nur den wohltuenden Gefühlen, und das verleiht dem Duschen einen zusätzlichen Wert. Und ein Spaziergang an der frischen Luft ist nicht nur angenehm, sondern auch noch gesund. Wer sich fragt, was er tun soll, wird also nicht nur den Wert der mit den verschiedenen Tätigkeiten einhergehenden Erfahrungen berücksichtigen müssen, sondern auch den instrumentellen Wert dieser Tätigkeiten. Zudem wird derjenige, der sich fragt, ob er lieber einen Spaziergang machen oder am warmen Ofen sitzen bleiben soll, große Schwierigkeiten haben, das angenehme Gefühl, am warmen Ofen sitzen zu bleiben, mit dem unangenehmen Gefühl zu vergleichen, krank zu sein. Erschwerend kommt hinzu, dass er auch noch zu berücksichtigen hätte, dass nur eine sehr vage Beziehung zwischen dem Unterlassen des Spaziergangs und einer möglichen Krankheit besteht. Selbst bei einfacheren Vergleichen zwischen dem Wert unterschiedlicher Erfahrungen stoßen wir schnell an Grenzen. Wenn wir uns beispielsweise
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fragen, ob wir lieber ein Buch lesen oder uns mit Freunden treffen sollen, dann wird eine Entscheidung dadurch erschwert, dass sich der Wert des Lesens (bzw. der Erfahrungen, die sich dabei machen lassen) und der Wert des Treffens mit Freunden schlecht miteinander vergleichen lassen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass uns eine Vergegenwärtigung der jeweiligen Erfahrungen (z. B. durch den Gedanken an das letzte Buch, welches wir gelesen haben, oder an das letzte Treffen mit den Freunden) nicht notwendig sagt, welches besser war. Dies ist so zu erklären, dass es unterschiedliche Typen oder Familien von Erfahrungen gibt, die sich hinsichtlich ihres Wertes nicht in „bessere“ und „schlechtere“ Erfahrungen einteilen und die sich nicht auf einer Skala miteinander vergleichen lassen.226 Das ist ein weiterer Grund dafür, dass ich mich hier keiner hedonistischen Konzeption guter Erfahrungen anschließen konnte (vgl. dazu insbesondere Abschnitt 3.1.3). Hedonisten meinen, dass sich unterschiedliche Erfahrungen auf einen Erfahrungstyp, nämlich den der Lust, zurückführen lassen. Man mag nun einen sehr weiten Lustbegriff haben, der deutlich mehr als die bloße Sinneslust umfasst. Dennoch scheitern die hedonistischen Ansätze meines Erachtens daran, dass die verschiedenen wertvollen Erfahrungen nicht auf einer Skala anzuordnen sind, und dass uns eine Axiologie, die dies versucht, daher verkürzt vorkommen muss.227 Zudem haben wir gesehen, dass viele wertvolle Erfahrungen intentionale Objekte als wertvoll präsentieren (vgl. dazu vor allem 3.2.3), und auch dies spricht gegen einen simplen Hedonismus. Auch sprachlich bräuchten wir daher ein reicheres Vokabular als das der „Lust“ und verwandter Begriffe, um wertvolle Erfahrungen angemessen zu beschreiben. Warum sagen wir als Antwort darauf, warum wir etwas tun, dann so oft, „Weil es mir Freude macht“? Bittner bietet dafür folgende einleuchtende Erklärung an: Es sei eben schwierig, die wahren Gründe zu benennen, denn das müsste so geschehen, „daß man sowohl dem Erfahrenen nahe bleibt wie auch für andere verständlich wird“.228 Der Grund, aus dem wir im Normalfall Wein trinken, liege darin, wie es ist, Wein zu trinken, „aber auseinanderzulegen, wie es denn nun ist, und zwar zutreffend, genau und erhellend, übersteigt meine Fähigkeiten und auch die der meisten von uns. Einige von uns sind darin besser als andere, das stimmt, aber niemand von uns ist darin gut. […] Wir sind überhaupt nicht gut darin, zu beschreiben, was es ist, woran wir Freude haben. Nicht unbereist ist das Land der Freuden, aber weithin unkartographiert.“229 Zwar lassen sich die unterschiedlichen Werterfahrungen nur schwer beschreiben und miteinander vergleichen. Dennoch gibt es gute Gründe dafür, dass sich die schulische Erziehung auf ganz bestimmte Werterfahrungen konzentrieren sollte. Denn es gibt eine Reihe von Werterfahrungen, welche nur oder insbesondere durch die Erziehung ermöglicht werden. Es geht hier um solche Erfahrungen, die vielen Kindern verschlossen blieben,
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würden sie nicht durch Erziehung vermittelt. Ein Beispiel dafür sind wiederum bestimmte ästhetische Erfahrungen. Für die ästhetische Erziehung in der Schule lässt sich daher so argumentieren, dass sie die Voraussetzung dafür schafft, bestimmte Dinge ästhetisch wertschätzen zu können. Ästhetische Gegenstände ermöglichen wertvolle Erfahrungen, und einige dieser Erfahrungen kann man nur dann machen, wenn man über ein bestimmtes Wissen oder Können verfügt. Nur wenn dieses Wissen und Können in der Schule vermittelt wird, kann man sich sicher sein, dass jedes Kind diese Erfahrungen machen kann. Auch viele Formen kreativer Tätigkeiten blieben einigen Kindern verschlossen, wenn ihnen nicht in der Schule die dazu nötigen Mittel (Farben und Papier, ein Musikinstrument oder schlicht Zeit für kreative Tätigkeiten) zur Verfügung gestellt würden. Die wertvollen Erfahrungen, welche die Kunst, Musik und Literatur ermöglichen, würden vielen Kindern verschlossen bleiben, wenn diese nicht im Fokus der allgemeinen (schulischen) Erziehung stünden. Auf welche Weise lässt sich nun dafür argumentieren, dass die schulische Erziehung die Möglichkeit solcher zusätzlicher wertvoller Erfahrungen eröffnen sollte? Warum reicht es nicht, wenn Kinder die guten Erfahrungen machen können, für die sie kein in der Schule vermitteltes Wissen oder dort vermittelte Fähigkeiten benötigen (z. B. beim Fußballspielen)? Eine Antwort darauf ist in der Bereicherung zu suchen, die solche zusätzlichen wertvollen Erfahrungen bedeuten. Und wir können unserem Leben oftmals gerade dann viel abgewinnen, wenn es reich an verschiedenen wertvollen Erfahrungen ist. Somit kann der Wert der Vielfalt unserer Erfahrungen eine die verschiedenen wertvollen Erfahrungen integrierende Funktion einnehmen. Auf diese Weise lässt sich auch Humboldts Überlegung etwas abgewinnen, wonach „der wahre Zweck des Menschen [...] die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ sei.230 Auch wenn sich, wie ich gezeigt habe, die objektivistischen Untertöne der Rede vom „wahren Zweck“ des Menschen nicht hinreichend begründen lassen, so spricht doch etwas für die vielfältige Ausbildung der menschlichen Fähigkeiten. Zugleich ist mit diesem Zitat aber auch die Schwierigkeit angesprochen, der wir hier begegnen. Viele verschiedene Talente zu entwickeln ist nur schwer damit vereinbar, einzelne Talente besonders gut zur Entfaltung zu bringen. Humboldt geht offenbar davon aus, dass es hier auf das richtige Maß ankommt, und daher ist in diesem Zitat von einer „proportionierlichen“ Bildung der Kräfte die Rede. Das „richtige“ Maß kann jedoch wiederum nicht von einer objektivistischen Theorie des guten Lebens angegeben werden, sondern muss selbst auf bestimmte Erfahrungen zurückgeführt werden. In Kapitel 2 hatten wir gesehen, dass sich eine Erziehung, die sich am Autonomieideal orientiert, unter anderem darauf richtet, viele verschiedene
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Lebensmöglichkeiten aufzuzeigen. Doch wenn uns an der Vielfalt unserer Erfahrungen liegt, geht es dabei nicht nur um Autonomie. Wir halten verschiedene Erfahrungsmöglichkeiten nicht nur deshalb für besser, weil wir uns so für bestimmte Möglichkeiten entscheiden können. Der Wert der Vielfalt geht also nicht in deren konstitutiven Wert für ein selbstbestimmtes Leben auf. Stattdessen können wir manchen Erfahrungen gerade deshalb so viel abgewinnen, weil sie neu oder anders sind als bisher Erlebtes, und weil sie unserem Leben eine bestimmte Facette hinzufügen. Eine solche Bereicherung kann sogar selbst als wertvoll erfahren werden. Ein weiterer Grund dafür, dass die Vielfalt unserer Erfahrungen wichtig ist, besteht außerdem darin, dass sich verschiedene Erfahrungsbereiche gegenseitig beeinflussen können. Eine ästhetische Sensibilisierung kann beispielsweise eine zusätzliche Perspektive auf das Fußballspielen eröffnen und den Wert der Erfahrungen verstärken, die sich dort machen lassen. Allerdings scheint es, als hätten wir bisher etwas Wichtiges außer Acht gelassen. Denn es scheint auch unabhängig von unseren Erfahrungen gut für uns zu sein, objektiv wertvollen Tätigkeiten nachzugehen und uns mit objektiv wertvollen Dingen zu beschäftigen. Ist es nicht gerade deshalb so wertvoll, bestimmte ästhetische Erfahrungen zu machen, weil sich diese auf wertvolle Dinge richten, und ist die subjektiv erfahrbare Qualität des Umgangs mit wertvollen Dingen nicht allenfalls ein zusätzlicher Wert? Betrachten wir einen Klavierspieler, der eine Beethovensonate spielt: Färbt nicht der Wert der Musik, ihre Schönheit oder Kraft, auf den Wert des Musizierens ab? Macht nicht dieser Wert das Leben des Klavierspielers besser als es ansonsten wäre – und zwar unabhängig von den wertvollen Erfahrungen, die mit dem Klavierspielen einhergehen?231 Diese Fragen sind zu verneinen. Angenommen, es ließe sich sagen, dass eine Klaviersonate, gemessen an bestimmten Standards für eine gute Sonate, schlechter ist als eine andere. Können wir nun sagen, dass das Spielen der besseren Sonate das Leben eines Klavierspielers auch unabhängig von der Qualität der damit verbundenen Erfahrungen besser macht als das Spielen der schlechteren Sonate? Hier ergibt sich das Problem, dass nicht zu sehen ist, inwiefern der Wert der Sonate und das (erfahrungsunabhängige) gute Leben des Klavierspielers miteinander verbunden sein sollten. Wieso sollte der Wert der Sonate auf den Wert des Lebens des Klavierspielers abfärben? Dass dies nicht zu sehen ist, wird noch deutlicher, wenn man den Umgang mit wertvollen Dingen verschiedener Art in den Blick nimmt. Angenommen, jemand liest morgens einen recht guten (aber nicht ausgezeichneten) Roman, und nachmittags schaut er sich ein ausgezeichnetes Fußballspiel an. Macht dann das ausgezeichnete Fußballspiel sein Leben vergleichsweise besser als die Lektüre des guten Romans? Diese Frage irritiert, und das liegt daran, dass sich die unterschiedlichen Standards, an denen sich die Güte des Romans und des Fußballspiels jeweils bemisst, nicht in einen allgemei-
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nen Standard für ein gutes Leben integrieren lassen und einen solchen auch nicht konstituieren können. Wenn sich der Wert unterschiedlicher Tätigkeiten an den je eigenen Standards für diese Tätigkeiten bemisst, dann ist also nicht zu sehen, inwiefern sich daraus ein Standard für ein gutes Leben ableiten lässt, anhand dessen sich beurteilen ließe, ob es besser oder schlechter verläuft. Insofern bleibt hier wieder nur der Rekurs auf unsere Erfahrungen. Wie gut oder schlecht unser Leben verläuft, bemisst sich an unseren subjektiven Erfahrungen, und es ist mit besonders wertvollen Erfahrungen verbunden, eine besonders gute Komposition auf dem Klavier zu spielen oder sich eine solche anzuhören. Auch wenn sich die Wertschätzung eines Stückes nicht auf diese Erfahrungen richtet, so ist diese Wertschätzung dennoch mit wertvollen Erfahrungen verbunden. Und obwohl wir nicht sagen würden, dass ein Buch nur deshalb gut ist, weil es wertvolle Erfahrungen ermöglicht, lassen sich mit guten Büchern oftmals besonders gute Erfahrungen machen. Und spätestens, wenn nicht mehr gefragt ist, warum dieses Buch gut ist, sondern wenn gefragt ist, warum es gut ist, dieses Buch zu lesen, werden wir in unserer Antwort letztlich auf diese Erfahrungen verweisen müssen. Auf diese Weise können wir auch dem prozeduralen Charakter von Bildung gerecht werden, auf den Humboldts Bildungsbegriff verweist. So können wir, allein gestützt auf wertvolle Erfahrungen, den evaluativen Gehalt bestimmter Bildungsprozesse verständlich machen. Indem wir beispielsweise ein Musikstück immer besser verstehen, machen wir immer reichhaltigere und insofern bessere Erfahrungen. Uns erschließt sich dieses Musikstück in seiner Vielfalt und Tiefe, und dieser Prozess hat selbst eine bereichernde Qualität, die wiederum in dem Wert der darin gewonnenen Erfahrungen zu suchen ist. Auch der Wert der Vervollkommnung bestimmter Anlagen und Fähigkeiten lässt sich, wie ich bereits in Abschnitt 4.1.3 deutlich gemacht habe, auf diese Weise verstehen. Zwar rekurrieren wir in unseren Antworten auf die Frage, wie gut das Leben einer Person verläuft, nicht nur auf ihre Erfahrungen, sondern auch auf ihre Einstellungen. Diesen Punkt hatte ich bereits im letzten Kapitel angesprochen (vgl. Abschnitt 3.2.3). Wir reden zuweilen so – und eine Konzeption des guten Lebens, die dem nicht Rechnung trägt, scheint daher verkürzt zu sein. Insbesondere für die Philosophie der Erziehung sind wertvolle Erfahrungen aber letztlich grundlegender als bestimmte Einstellungen. Zwar ist durchaus einzuräumen, dass wir unser Leben oder bestimmte Tätigkeiten anhand bestimmter Standards bewerten. So liegt uns oftmals daran, das, was wir tun, gemäß bestimmter Standards gut zu tun, und wir meinen ein besseres Leben zu führen, wenn uns dies auch tatsächlich gelingt. Solche Standards können in der Schule vermittelt werden. Eine Begründung dafür, warum die ästhetische Erziehung versuchen sollte, den zu Erziehenden solche standardrelativen Werte zu vermitteln,
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kann allerdings nicht darauf verweisen, dass sich die Erziehenden diese Standards bereits zu eigen gemacht haben und ihnen daher daran liegt, ihr eigenes Handeln solchen Standards zu unterwerfen. Hier müsste daher gezeigt werden, warum es gut für die zu Erziehenden ist, sich solche Standards allererst zu eigen zu machen. Und dabei wird man doch wieder auf potentielle Werterfahrungen verweisen müssen. Letztlich muss sich die Weitergabe dieser Standards also wiederum an dem Wert ästhetischer Erfahrungen festmachen lassen. Dies ist jedoch ohne weiteres möglich, denn beides ist eng miteinander verknüpft. Die Standards haben einen direkten Bezug zu den Erfahrungen, die sich mit einer Sache machen lassen. Gerade weil es für diejenigen, die ästhetisch Wertvolles wertschätzen, eine Bereicherung bedeutet, dies zu tun, kann uns dies einen Grund dafür liefern, die Fähigkeit, ästhetische Werte als solche erkennen zu können, mittels Erziehung zu befördern und die zu Erziehenden mit ästhetisch wertvollen Gegenständen zu konfrontieren. Doch wie ist die gerade für den Bildungsbereich wichtige Rede von der Beförderung kultureller Werte mit einem solchen Subjektivismus vereinbar? Kann auch eine Begründung für die Beförderung kultureller Werte auf potentielle Werterfahrungen rekurrieren? Um eine Beantwortung dieser Frage wird es mir im nun folgenden Abschnitt gehen.
4.2.3 Bildung und kulturelle Werte Bildung wird häufig in einen engen Zusammenhang mit kulturellen Werten gestellt.232 Wenn eine moderne Gesellschaft einen erheblichen Teil ihrer Ressourcen in den Erwerb eines Wissens investiert, welches volkswirtschaftlich von fragwürdigem Nutzen ist, dann geschehe das deshalb, weil es dabei um die Bewahrung kultureller Errungenschaften gehe. Wenn Museen unterhalten, Opernhäuser und Symphonieorchester subventioniert, Lehrstühle für Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte unterhalten und in der Schule Musik und alte Sprachen vermittelt würden, dann sei der Grund dafür in einer Beförderung kultureller Werte zu sehen.233 Der gegenwärtige Gebrauch des Kulturbegriffs speist sich aus mindestens drei verschiedenen Ideen, die man vereinfacht einer französischen, deutschen und angelsächsischen Tradition zuweisen kann. Sowohl in der französischen als auch in der deutschen Tradition ist der Kulturbegriff an verschiedene Projekte geknüpft, die im weiten Sinne als „politisch“ zu bezeichnen sind. Während in der französischen Tradition der Kulturbegriff an dem Ideal des universellen Fortschreitens der Menschheit orientiert ist, wurde er in Deutschland gebraucht, um eine nationale Identität und Einheit zu beschreiben. Dieser integrative Aspekt fehlt im angelsächsischen Kulturbegriff, welcher stattdessen an einer konservativen Beförderung „klassisch“ kultureller Errungenschaften in Disziplinen wie Kunst und Philosophie
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orientiert ist.234 Gemäß diesen unterschiedlichen Kulturbegriffen kann auch der Ausdruck „kulturelle Werte“ verschieden interpretiert werden. Dem progressiven Kulturbegriff zufolge wären die Werte der Aufklärung als „kulturelle Werte“ zu bezeichnen – allen voran das Autonomieideal. Dem klassischen Kulturbegriff zufolge können wir uns auf den Wert der verschiedenen Formen künstlerischer und intellektueller Reflexion konzentrieren. Diese klassischen Werte finden auch Eingang in das integrative Konzept, doch dieses umfasst darüber hinaus weit mehr. Der Wert der Oper lässt sich auch mit dem integrativen Kulturbegriff durchaus als kultureller Wert beschreiben. Allerdings fallen unter das integrative Konzept darüber hinaus auch vermeintlich „trivialere“ Aktivitäten (z. B. das Eisstockschießen in einigen nördlichen Ländern). Denn dem integrativen Kulturbegriff zufolge wäre all das kulturell wertvoll, was von den Mitgliedern einer bestimmten Gruppe wertgeschätzt wird. Der integrative Kulturbegriff kann auch den Wert der Autonomie integrieren, denn eine Orientierung am Autonomieideal zeichnet liberale Gesellschaften ja gerade aus. In welcher Beziehung stehen diese kulturellen Werte nun zum Gelingen unseres Lebens? In The Morality of Freedom behauptet Raz, wie gut unser Leben sei, hänge in einer liberalen Gesellschaft davon ab, inwiefern wir in der Lage sind, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.235 In späteren Schriften nimmt Raz darüber hinaus eine Reihe weiterer kultureller Werte in den Blick, und er behauptet auch hier, dass wir nur dann ein gutes Leben führen, wenn wir uns diese kulturellen Werte zu eigen gemacht haben. In The Practice of Value versucht Raz aufzuzeigen, inwiefern kulturell Wertvolles zu einem sinnvollen Leben beiträgt. In diesem Zusammenhang behauptet er, dass bloß sinnliche Vergnügen flüchtige Vergnügen sind, welche nur dann zur Sinnhaftigkeit unseres Lebens beitragen, wenn sie in kulturelle Werte eingebettet sind: „[O]nly then can they give meaning to people’s lives […].“236 Auch wenn Raz dahingehend zuzustimmen ist, dass wir unser Leben oftmals gerade dann als sinnerfüllt erfahren, wenn es in kulturelle Werte eingebettet ist, sollten wir jedoch nicht behaupten, dass es nur unter diesen Voraussetzungen tatsächlich objektiv sinnvoll ist. Angenommen, das Leben einer Person, die sich ganz dem sinnlichen Vergnügen hingibt, obwohl dies von ihrer Umgebung wenig wertgeschätzt wird, würde von dieser Person selbst als keineswegs sinnlos bezeichnet. Raz würde dem wohl entgegnen, dass der Bezug auf ein sinnvolles Leben voraussetzt, dass es sich um ein wertvolles Leben handelt. Und er könnte ergänzen, dass ein Leben nur dann wertvoll ist, wenn es aus kulturell wertvollen Aktivitäten besteht. Allerdings ist hier nicht zu sehen, wie sich dafür argumentieren lässt, dass einige Aktivitäten weniger wertvoll sind als andere. Wenn sich der Wert dieser Aktivitäten nach dem Beitrag zu einem wertvollen Leben bemisst, dann müssen wir wiederum erklären, worin ein wertvolles Leben besteht.
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Wenn man nun aber behauptet, dass sich der Wert eines Lebens nach der Sinnhaftigkeit bemisst, dann wird diese Argumentation zirkulär. Außerdem liefert uns eine solche Argumentation keinerlei Anhaltspunkte dafür, welche kulturellen Werte in künftigen Generationen (mittels Erziehung) befördert werden sollten. Wie lässt es sich also rechtfertigen, wenn von staatlicher Seite bestimmte kulturelle Werte befördert werden? Eine Antwort auf diese Frage wird sehr unterschiedlich ausfallen müssen, je nachdem, welche kulturellen Werte man hier in den Blick nimmt und welche Arten ihrer Beförderung zur Debatte stehen. Mögliche Gründe für den Unterhalt von Museen, die Subventionierung von Symphonieorchestern, sowie eine Beförderung kultureller Werte in Schule und Universität sind je getrennt zu diskutieren. Und selbst in den einzelnen Bereichen (z. B. der universitären Bildung) wird eine Begründung für die Beförderung kultureller Werte unterschiedlich ausfallen müssen, je nachdem, um welche kulturellen Werte es dabei geht. Im fünften Kapitel werde ich kurz auf die Probleme einer staatlichen Kulturförderung im außerschulischen Bereich zurückkommen (also z. B. bei der Subventionierung von Opernhäusern). An dieser Stelle soll es jedoch nur um die schulische Bildung gehen. Auch wenn eine Begründung für die Beförderung einzelner kultureller Werte dabei jeweils sehr unterschiedlich ausfallen muss, werde ich doch zumindest versuchen, einige allgemeine Gründe für eine Beförderung kultureller Werte mittels schulischer Bildung zumindest zu skizzieren. Zunächst sind hier solche kulturellen Werte zu beachten, die für unser Zusammenleben von zentraler Bedeutung sind. Für eine Vermittlung bestimmter gemeinsam geteilter Werte lässt sich mit dem Hinweis darauf argumentieren, dass deren gemeinsam geteilte Wertschätzung für unser Gemeinwesen wichtig ist.237 So meint Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit, die Erziehung solle den Gerechtigkeitssinn kultivieren.238 Rawls verweist hier letztlich darauf, dass bestimmte Gerechtigkeitsvorstellungen bisher von jedem (erwachsenen und aufgeklärten) Mitglied unserer Gesellschaft geteilt werden (und darunter ein Konsens zumindest unter aufgeklärten Bürgern besteht), aber er ist darüber hinaus davon überzeugt, dass sie auch von jedem zukünftigen erwachsenen Mitglied unserer Gesellschaft geteilt werden sollten. Um für letzteres zu werben, wird man allerdings nicht auf den integrativen Kulturbegriff verweisen können, sondern den progressiven Kulturbegriff heranziehen müssen.239 Und für dessen „kulturelle“ Werte müsste dann eigens argumentiert werden. In einer Begründung für die Beförderung dieser kulturellen Werte wird man jedoch (anders als beispielsweise bei den ästhetischen Werten) zumindest nicht direkt auf potentielle Werterfahrungen rekurrieren können – sondern hier hat man es mit Argumentationen im Bereich der moralischen Werte zu tun, die einen anderen Weg nehmen müssen. So müsste Rawls beispielsweise dafür argu-
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mentieren, warum jemand aufgrund von Umständen, für die er nichts kann (z. B. seine soziale Herkunft), nicht schlechtere Lebensaussichten haben sollte als andere Menschen. Außerdem ist es unabhängig von dem Inhalt gemeinsam geteilter Wertvorstellungen wichtig, dass die Angehörigen eines bestimmten Gemeinwesens überhaupt zentrale Wertvorstellungen teilen. Denn dass sie diese teilen, ermöglicht ihnen ein Gefühl von Gemeinsamkeit und Verbundenheit, welches für das Funktionieren eines solchen Gemeinwesens wichtig ist. So setzt eine bestimmte Form von Solidarität mit den Mitgliedern der eigenen Gesellschaft voraus, dass man ein Gefühl von Zusammengehörigkeit entwickelt hat, welches sich aus einer gemeinsamen Geschichte und aus gemeinsam geteilten Wertvorstellungen speist. Dies ist eine zentrale Grundüberzeugung des Kommunitarismus, der dies liberaleren Vorstellungen entgegenhält. Das ist wohl auch ein Grund dafür, dass sich Kommunitarier häufig zur Erziehung äußern und gerade hier Defizite einer liberalen Position ausmachen. Kommunitarier verweisen jedoch nicht nur auf den Wert solcher gemeinsamer Werte für das Zusammenleben, sondern auch für das gute Leben des einzelnen Individuums. So meinen sie vor allem, es sei wichtig für unsere Identität, zentrale Wertvorstellungen mit den Mitgliedern der Gemeinschaft, in der wir leben, teilen zu können.240 Auch dies kann also ein Grund dafür sein, in der Erziehung darauf zu achten, dass Wertvorstellungen vermittelt und befördert werden, die in einer Gesellschaft allgemein geteilt werden. Allerdings müsste man hier meines Erachtens kritisch nachfragen, ob der von den Kommunitariern konstatierte Zusammenhang zwischen solchen gemeinschaftlichen Wertungen und einem – für uns wichtigen – Sinn für unsere Identität tatsächlich so stark ist wie behauptet. Es ist aber zweifellos wichtig, ein historisches Bewusstsein zu entwickeln. Ein solches Bewusstsein ermöglicht zum einen das eben genannte Gefühl von Zusammengehörigkeit, welches sich aus einer gemeinsamen Geschichte und aus gemeinsam geteilten Wertvorstellungen speist. Zum anderen trägt es dazu bei, die eigene Kultur aus einer gewissen Distanz heraus zu betrachten. Es befördert insofern die persönliche Autonomie, da man sich die Kultur, in die man hineingewachsen ist, so noch einmal neu aneignen oder manchen Bestandteilen gegenüber kritisch begegnen kann. Eine solche Fähigkeit ist darüber hinaus wichtig für den kulturellen Fortschritt. Gerade ein progressives Kulturverständnis wird damit auf die Entwicklung eines historischen Bewusstseins achten. Das Bewusstsein historischer Prozesse ermöglicht beispielsweise ein Wissen um die kulturelle Gewordenheit unterschiedlicher Staatsformen und Rechtssysteme. Eine Reflexion über deren Geschichte kann dazu beitragen, die Fragilität der eigenen Staatsform zu erkennen und ein waches Auge für mögliche Gefahren zu entwickeln, welche die als kulturell wertvoll ausgewiesenen Errungenschaften eines
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liberalen Rechtsstaates bedrohen. Darüber hinaus ermöglicht ein historisches Bewusstsein eine Reflexion über solche Wertvorstellungen, die nicht direkt ein bestimmtes Staatsverständnis implizieren. So ist es beispielsweise wichtig, über die Herkunft der in der je eigenen Kultur vorherrschenden Regeln der Höflichkeit und Etikette zu reflektieren, sich zu vergegenwärtigen, was Anlass für Scham und Schuldgefühle ist, was als angemessen oder unangemessen gilt, welches Verhältnis zur eigenen Familie erwartet wird, und wie man fremden Menschen begegnet. Eine Auswahl der Dinge, von denen man meint, sie gehörten zum kulturellen Inventar und sollten daher Gegenstand der Erziehung sein, wird auch als „Bildungskanon“ bezeichnet.241 Doch warum sollte im Deutschunterricht ausgerechnet Goethes Faust gelesen werden? Warum sollte ein europäischer Bildungskanon vermittelt werden? Zum einen lässt sich auch hier auf die Wichtigkeit der Vergewisserung über ein gemeinsames kulturelles Erbe verweisen. Zum anderen lässt sich die Vermittlung kanonischer Werke damit begründen, dass eine Vermittlung dieser Werke in unserer Kultur besonders nahe liegt. Die Wertschätzung dieser Werke hängt an bestimmten Wertungsstandards, und diese Standards sind in Bezug auf die kanonischen Werke einer bestimmten Kultur in dieser Kultur besonders gut entwickelt und verfügbar.242 Sie werden an den Universitäten gelehrt und weiterentwickelt, und die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer werden an der Universität darauf vorbereitet, diese Wertungsstandards zu vermitteln. Die kanonischen Werke sind gemessen an diesen Wertungsstandards besonders gut, und wenn man fragt, warum besonders gute Werke den Schülerinnen und Schülern nahe gebracht werden sollten, dann wird man auch hier wieder darauf verweisen können, dass besonders gute Werke besonders bereichernde ästhetische Erfahrungen ermöglichen und dass eine Auseinandersetzung mit ihnen daher besonders lohnt. Für das Bewahren einer Kontinuität bestimmter kultureller Werte gibt es darüber hinaus Gründe, die wiederum an der Möglichkeit wertvoller Erfahrungen hängen. Denn bestimmte Formen der historischen und kulturellen Kontinuität werden selbst als wertvoll erfahren.243 Zitate und Anspielungen auf Vergangenes, eine Aufnahme bestimmter bereits etablierter Kunstformen oder ein ironischer Bruch mit eben diesen haben eine eigene ästhetische Qualität. Nur dadurch, dass wir uns hier auf gemeinsame Referenzpunkte beziehen können, kann eine solche Qualität hervorgebracht und wahrgenommen werden. Zitate oder Anspielungen, die nicht verstanden werden, laufen ins Leere, und der Bildungskanon ermöglicht solche Zitate und Anspielungen. Eine Auseinandersetzung mit bestimmten Wertungsstandards ermöglicht es außerdem, über Vergangenes hinauszugehen, gänzlich neue Wege zu beschreiten und insofern eine Form von künstlerischer Kreativität zu entwickeln, die neue Formen der ästhetischen Wertschätzung hervorbringt. In einer Diskussion der Frage, welche Werte in der
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Schule am Ende befördert werden sollen, müssten damit sowohl anthropologische als auch kulturspezifische Erwägungen vorgebracht werden. Einerseits gibt es allgemein menschliche Grunderfahrungen, andererseits bilden Kulturen ihre eigenen Bewertungsstandards aus, über die sie ihr kulturelles Erbe definieren. Obwohl es damit gute Gründe für ein Festhalten am bisherigen Bildungskanon gibt, sollte man sich zudem auch anderen und bislang nicht kanonischen Werken öffnen. Da es sich als große Bereicherung erweisen kann, wenn ein Lehrer, der über das dazu nötige Wissen verfügt, kanonische Werke einer anderen Kultur mit in den Unterricht aufnimmt, sollten die Vorgaben für die staatliche Erziehung daher nicht so eng sein, dass sie diese Möglichkeit ausschließen. Denn auch mit den kanonischen Werken anderer Kulturen lassen sich bereichernde ästhetische Erfahrungen machen. Außerdem sollte die schulische Erziehung einen Sinn dafür vermitteln, woran anderen Kulturen liegt und worin sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zu anderen Kulturen zeigen. Auch wenn dies in diesem Buch thematisch nicht im Vordergrund steht, so ist es meines Erachtens eine zentrale Funktion der schulischen Erziehung, die Grundlagen für ein friedliches Miteinander aller Menschen zu schaffen – und dies setzt ein Verständnis für andere Kulturen und deren Werte voraus. Auch aus diesem Grund sollte man trotz der genannten Gründe für ein Festhalten am Bildungskanon immer auch mögliche Erweiterungen im Blick behalten. Ein respektvolles Miteinander setzt ein Verständnis für die Wertvorstellungen anderer Menschen voraus. Dies betrifft nicht nur deren Werterfahrungen, sondern auch die normative Dimension ihrer Wertungen. Wir müssen zumindest verstehen, warum andere meinen, dass man auf eine bestimmte Weise leben sollte, und ein solches Verständnis muss in der Schule vermittelt werden. Dazu eignet sich etwa eine Auseinandersetzung mit literarischen Werken der jeweiligen Kulturen. Das Aufzeigen unterschiedlicher Wertvorstellungen kann außerdem mit einer Beförderung der Autonomie begründet werden. Eine autonomieorientierte Erziehung müsste zugunsten eines (kulturellen) Wertes Partei ergreifen, nämlich zugunsten der Autonomie selbst. Denn eine autonomieorientierte Erziehung müsste der gezielten Beförderung anderer kultureller Werte eher kritisch gegenüberstehen, wenn diese damit begründet wird, dass es sich hier um die in der eigenen Kultur vorherrschenden Werte handelt. Eine Orientierung am Wert der Autonomie würde stattdessen einfordern, einen Sinn dafür zu vermitteln, dass es unterschiedliche und auch konkurrierende Werte gibt, die schon innerhalb einer Kultur und allemal zwischen unterschiedlichen Kulturen umstritten sind. Wer die Autonomie selbst als einen wichtigen kulturellen Wert anerkennt, wird daher anmahnen, dass den zu Erziehenden zwar bestimmte kulturelle Werte vermittelt
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werden sollten, aber immer auch zusätzlich die Fähigkeit, diese kritisch zu hinterfragen und mit anderen Wertvorstellungen zu kontrastieren. Allerdings gibt es auch in liberalen Gesellschaften Eltern, die meinen, dass um des guten Lebens ihrer Kinder willen deren Autonomie (im Sinne einer kritischen Reflektiertheit) gerade nicht mittels staatlicher Erziehung befördert werden sollte. Sie wollen gerade nicht, dass ihre Kinder mit konkurrierenden Wertvorstellungen konfrontiert werden, weil dies die Wertschätzung anderer vermeintlich wichtigerer Werte (z. B. religiöser Werte) gefährde. Wenn diese Eltern nun mit Rekurs auf den Wert der Autonomie dennoch dazu gezwungen werden, ihre Kinder auf eine (staatliche) Schule zu schicken, dann ist dies in besonderer Weise begründungsbedürftig. Hier scheint die liberale Forderung nach staatlicher Neutralität verletzt zu werden. Inwiefern dies der Fall ist, und ob sich dies im Bildungsbereich in Bezug auf die Beförderung der Autonomie und anderer auch in liberalen Gesellschaften umstrittener Werte rechtfertigen lässt, ist daher die Fragestellung des nun folgenden Kapitels.
5 Bildung und Neutralität In seiner Frühschrift, den Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, plädiert Humboldt für eine weitgehende Zurückhaltung des Staates im Bereich der Erziehung. Humboldt argumentiert in dieser Schrift insgesamt dafür, dass der Staat die Freiheit seiner Bürger nur um deren Sicherheit willen beschränken solle. Er solle hingegen nicht versuchen, noch darüber hinaus ihr Wohl zu befördern: „[D]er Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger, und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst, und gegen auswährtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzwecke beschränke er ihre Freiheit.“244 In den Bereich einer so weitgehenden Zurückhaltung des Staates fällt bei Humboldt auch die schulische, universitäre und berufliche Erziehung: „Oeffentliche Erziehung scheint mir daher ganz ausserhalb der Schranken zu liegen, in welchem der Staat seine Wirksamkeit halten muss.“245 Insbesondere in Bezug auf die universitäre Bildung hält Humboldt auch in späteren Äußerungen an dieser Auffassung fest. Humboldt betont, jeder Eingriff des Staates in die Universität sei schädlich, und die Sache würde „ohne ihn unendlich besser gehen.“246 Auch in einer gewissen institutionellen Freiheit der Schulen sieht Humboldt „das kräftigste Mittel, die Schulen zu heben.“247 Allerdings macht Humboldt durchaus recht konkrete Vorschläge zur Lehrplangestaltung. So sollten an den höheren Schulen alle Schüler in der untersten Klasse Griechisch und Latein lernen und erst danach eine der beiden Sprachen aufgeben dürfen.248 Denn die Kenntnis der Sprachen des Altertums sei, so Humboldt, Voraussetzung für die „wahre Bildung“.249 An dieser Stelle offenbart sich also bei Humboldt ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen dem Gebot staatlicher Zurückhaltung einerseits und der Verantwortung des Staates für die Bildung seiner Bürger andererseits. Um eben dieses Spannungsverhältnis geht es auch in zeitgenössischen Debatten; hier wird nach der Vereinbarkeit zwischen einer positiven Sorge um die Bildung und dem Gebot staatlicher Neutralität gefragt. Die Einhaltung dieses Gebotes wird von zeitgenössischen Liberalen als die zentrale Forderung des Liberalismus bezeichnet.250 In den genannten Debatten geht es um die Frage, inwiefern das Neutralitätsgebot bestimmte Formen staatlichen Handelns im Bildungs- und Erziehungsbereich in Frage stellen kann – oder inwiefern diese das Neutralitätsgebot in Frage stellen. Denn gerade der Bildungsbereich wird von den Kritikern des Neutralitätsgebotes als Beispiel dafür genannt, dass das staatliche Handeln faktisch gegen das Neutralitätsgebot verstößt und dies auch weiterhin tun sollte. Sie be-
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haupten, dass ein Festhalten am Neutralitätsgebot wenig wünschenswerte Folgen für die schulische Erziehung hätte, denn dieses liefe auf eine nicht hinnehmbare Preisgabe wesentlicher Bestandteile des Bildungskanons hinaus.251 Beispiele, die hier genannt werden, sind Fächer wie Musik, Literatur und Mathematik. Diesen Bestandteilen der schulischen Erziehung liege die Vorstellung zugrunde, dass es gut ist, eine Liebe zu diesen Dingen zu entwickeln, und das sei mit dem Neutralitätsgebot nicht vereinbar. Inwiefern hier tatsächlich eine Unvereinbarkeit mit dem Neutralitätsgebot vorliegt, wird noch zu klären sein. Zunächst einmal kommt der Verdacht auf einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot konkret eher an anderer Stelle auf, und zwar dann, wenn es Konflikte zwischen den Vorgaben der staatlichen Erziehung und den Anliegen einzelner Eltern gibt. Solche Konflikte ergeben sich, wenn Eltern bestimmte Bestandteile des schulischen Unterrichts ablehnen, so zum Beispiel die Vermittlung der Evolutionstheorie im Biologieunterricht oder die Sexualerziehung. In beiden Fällen sind religiöse Gründe einschlägig, deren Nichtbeachtung stets unter dem Verdacht steht, dem Neutralitätsgebot zuwiderzulaufen. Zwar können Eltern selbst im Rahmen der Schulpflicht noch maßgeblich auf die unterrichteten Wissensinhalte Einfluss nehmen. So können sie ihr Kind auf eine Privatschule schicken oder vom Schwimmunterricht befreien lassen. Doch auch den Privatschulen werden staatliche Vorgaben bezüglich der Unterrichtsinhalte gemacht, denen nicht alle Eltern zustimmen können. Und wenn die Option der Privatschule für bestimmte Eltern nicht besteht, dann müssen diese ihre Kinder in Deutschland auch dann auf eine staatliche Schule schicken, wenn sie die dort vermittelten Unterrichtsinhalte (z. B. aus religiösen Gründen) nicht befürworten. Können die Eltern hier auf das Neutralitätsgebot verweisen? Mit Hilfe des Neutralitätsgebotes ließe sich fordern, Eltern grundsätzlich die Entscheidung zu überlassen, ob ihre Kinder eine Schule besuchen oder von ihnen selbst unterrichtet werden. Dem lässt sich entgegenhalten, dass es den Kindern schadet, wenn sie nur von ihren Eltern unterrichtet werden. Eben dies wird jedoch von den entsprechenden Eltern bestritten. Sie meinen, dass es dem Wohl ihrer Kinder abträglich ist, eine (öffentliche) Schule zu besuchen. Das Schadensprinzip allein hilft uns hier nicht weiter, denn es ist zu fragen, womit Eltern ihren Kindern schaden. Wenn wir in unserer Antwort auf diese Frage von den Vorstellungen der Eltern abweichen und ein staatliches Eingreifen in deren Erziehung für gerechtfertigt halten, dann verabschieden wir uns damit vermeintlich vom Neutralitätsgebot. Ob und in welchen Fällen dies tatsächlich der Fall ist, wird im Folgenden zu klären sein. Letztlich argumentiere ich in diesem Kapitel dafür, dass einige Formen staatlichen Engagements im Bildungsbereich zwar auf den ersten Blick, nicht aber bei näherem Hinsehen mit dem Neutralitätsgebot prinzipiell
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unvereinbar sind. An ihnen weiter festzuhalten stellt das Neutralitätsgebot also nicht grundsätzlich in Frage. Denn das Neutralitätsgebot verlangt, dass sich staatliche Zwänge jedem gegenüber rechtfertigen lassen müssen, und eine solche Rechtfertigung ist durchaus mit Rekurs auf bestimmte Werte oder Vorstellungen vom guten Leben möglich. Eben dies behaupten auch die erklärten Gegner des Neutralitätsgebotes, die so genannten „Perfektionisten“. Allerdings liegen deren Positionen objektivistische Theorien des guten Lebens zugrunde, die, wie ich in 4.1 argumentiert habe, Begründungsdefizite aufweisen. Wenn staatliche Zwänge mit Hilfe solcher Theorien begründet werden, lassen sie sich also nicht jedem gegenüber rechtfertigen. Dennoch bieten die bereits in 4.2 angestellten Überlegungen zu einer subjektivistischen Theorie des guten Lebens und deren Implikationen für den Bildungsbereich genügend Potential, um bestimmte Formen staatlichen Handelns im Bildungsbereich begründet zu verteidigen. Insofern ist das Resultat dieser Überlegungen sowohl mit der Grundüberzeugung der liberalen Positionen als auch mit bestimmten Überzeugungen der Perfektionisten zu vereinbaren. Liberale fordern, dass sich staatliche Zwänge jedem gegenüber rechtfertigen lassen müssen. Perfektionisten meinen, dass der Staat wertvolle Dinge befördern und den Bürgern so zu einem guten Leben verhelfen sollte. Beides ist miteinander vereinbar, wenn in einer Begründung für bestimmte Formen staatlichen Handelns subjektivistische Überlegungen zum guten Leben vorgebracht werden. Um die Tragfähigkeit einer solchen Begründung für Formen staatlichen Handelns im Bildungsbereich wird es also letztlich gehen. Dazu ist es zunächst nötig, die liberale Forderung nach Neutralität genauer zu bestimmen und ihre Begründung zu rekonstruieren (5.1.1). Daraufhin werden dann mögliche Einwände gegen diese Forderung zur Sprache kommen (5.1.2). In Abschnitt 5.1.3 geht es schließlich um die Frage, inwiefern eine Begründung für das Neutralitätsgebot auf einer starken Wertschätzung der persönlichen Autonomie basieren muss. Auf der Grundlage dieser Überlegungen kann in 5.2 der Frage nachgegangen werden, inwiefern bestimmte Praktiken im Bildungs- und Erziehungsbereich mit dem Neutralitätsgebot vereinbar sind. In 5.2.1 gehe ich zunächst auf eine Besonderheit des Bildungsbereiches näher ein. Hier geht es um eine Beförderung des Wohls der Kinder, und dies unter Umständen sogar gegen den Willen deren Eltern. Ein besonders wichtiger Aspekt dieser Überlegung ist eine Beförderung der Autonomie der Kinder mittels schulischer Erziehung, die ich in einem bestimmten Umfang verteidigen werde (5.2.2). Auch über den Wert der Autonomie hinaus lässt sich eine Orientierung an bestimmten Werten im Bereich der staatlichen Erziehung durchaus rechtfertigen, indem auf wertvolle Erfahrungen rekurriert wird, die sich in der Auseinandersetzung mit (kulturell) wertvollen Dingen machen lassen. Eine solche Rechtfertigung ist Gegenstand des Abschnitts 5.2.3.
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5.1 Staatliche Neutralität Das Neutralitätsgebot hat seine Wurzeln in der klassischen liberalen Forderung nach staatlicher Neutralität in religiösen Fragen. Der klassische Liberalismus befürwortet einen politischen Säkularismus und weist das Konzept des Glaubensstaates zurück. Dafür sind die blutigen Erfahrungen mit religiösen Auseinandersetzungen ursächlich. In Fragen des Glaubens, so die liberale Überzeugung, soll der Staat daher keine Position beziehen. Inzwischen ist diese Forderung ausgeweitet worden, denn nicht nur Vertreter bestimmter Glaubensrichtungen haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was ein gutes oder wertvolles Leben auszeichnet. Liberale fordern daher, dass der Staat nicht nur in religiösen Fragen, sondern immer dann keine bestimmte Position beziehen sollte, wenn keine Einigkeit über bestimmte Weltanschauungen und Werte besteht. Um welche Weltanschauungen und Werte geht es hier? Dazu findet man unter den Befürwortern des Neutralitätsgebots eine Reihe unterschiedlicher Formulierungen: Der Staat bzw. die Regierung solle neutral sein gegenüber verschiedenen „ways of life“252, „final ends“253, „conceptions of the good“254 oder „comprehensive religious, philosophical, and moral doctrines“255. Eine allgemeine philosophische oder moralische Lehre beansprucht laut Rawls Gültigkeit für einen weiten Bereich und sei insofern „umfassend“ (comprehensive), als sie Vorstellungen über den Wert des menschlichen Lebens und eine bestimmte Idealvorstellung des menschlichen Charakters enthalte.256 Solche Konzeptionen geben einheitliche Antworten auf eine Reihe komplexer Fragen und Probleme oder machen eine einheitliche Zielvorgabe für das, was im Leben wichtig ist. Dies spiegelt sich auch in der Formulierung „way of life“ wider, die suggeriert, dass es sich hier um einen bestimmten Weg handelt, der dem Leben eine gewisse Einheitlichkeit und Struktur gibt. Man sollte hier allerdings nicht voraussetzen, dass nur dann ein fundamentaler Dissens um die Angemessenheit bestimmter Wertvorstellungen besteht, wenn es um solche einheitlichen, unsere Erfahrungen insgesamt strukturierenden Konzeptionen des guten Lebens geht.257 Daher werde ich im Folgenden allgemeiner davon ausgehen, dass es das Neutralitätsgebot mit umstrittenen Wertvorstellungen zu tun hat. Umstritten sind in pluralen Gesellschaften nicht nur, aber auch, bestimmte moralische Werte. Ein solcher Streit stellt das staatliche Handeln vor schwierige Fragen. Ein Beispiel dafür ist der Streit um den moralischen Status von Embryonen und um die Forderung, den Embryonenschutz von staatlicher Seite zu gewährleisten. Diese Problematik ist auch für die schulische Erziehung wichtig, wenn moralische Fragen dieser Art im schulischen Unterricht explizit zum Thema gemacht werden. Dies geschieht unter anderem im Philosophie- und Ethikunterricht. Insbesondere letzterer gerät dabei leicht in den Verdacht, das Neutralitätsgebot zu missachten, wenn
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in ihm erklärtermaßen eine „Werteerziehung“ erfolgen soll. In der gesellschaftspolitischen Diskussion, welche die Einführung des Faches Ethik mit vorangetrieben hat, wird darunter vor allem eine Moralerziehung verstanden. Dem Ethikunterricht könnte also vorgeworfen werden, das Neutralitätsgebot zu verletzen, indem er die Forderung nach „Wertneutralität“ missachtet. Dies wäre der Fall, wenn er sich der Beförderung bestimmter moralische Werte verschriebe, welche gesellschaftlich umstritten sind (z. B. der Wert des ungeborenen Lebens). Wenn in einer pluralen Gesellschaft Dissens über diese moralischen Werte besteht, ist es kein legitimes Ziel des Ethikunterrichts, die Schüler dazu zu bringen, bestimmte damit verbundene moralische Forderungen für richtig zu halten (wie etwa die nach einem starken Schutz ungeborenen Lebens). Dies gilt jedoch nicht für die Vermittlung bestimmter grundlegender moralischer Werte, welche (weitgehend) unbestritten von jedem akzeptiert werden – oder zumindest akzeptiert werden sollten. Selbst wenn es einzelne Personen in einer Gesellschaft gibt, die diese moralischen Werte in Frage stellen, so würden Liberale dennoch nichts dagegen einzuwenden haben, diese Werte mittels Erziehung zu befördern. Das Neutralitätsgebot verlangt insofern keine umfassende Neutralität in moralischen Angelegenheiten.258 Alle Vertreter des Neutralitätsgebotes verschreiben sich durchaus bestimmten moralischen Werten oder moralischen Forderungen. Besonders einschlägig ist in diesem Zusammenhang die Forderung, dass jegliche Zwänge, die auf andere Menschen ausgeübt werden, ihnen gegenüber gerechtfertigt werden müssen. Denn diese moralische Forderung wird zur Begründung des Neutralitätsgebotes herangezogen.259 Darüber hinaus machen sich nahezu alle Vertreter des Neutralitätsgebotes für bestimmte Gerechtigkeitsforderungen stark, wie etwa diejenige nach Nichtdiskriminierung. Eine moralische Erziehung, die sich explizit gegen Formen der Diskriminierung richtet, kollidiert daher nicht mit der liberalen Forderung nach staatlicher Neutralität. Insofern liegt hier kein grundsätzlicher Konflikt mit denjenigen Kommunitariern vor, die fordern, dass es der moralischen Erziehung um die Vermittlung folgender moralischer Einsichten gehen sollte: „[D]ass die Würde des Menschen unantastbar ist, dass Toleranz eine Tugend und Diskriminierung abscheulich ist, dass friedliche Konfliktlösungen besser sind als Gewalt […].“260 Wer liberalen Ansätzen unterstellt, eine solche Erziehung nicht gutheißen zu können, hat das liberale Anliegen offenbar gründlich missverstanden. Auf welche Art von Wertvorstellungen das Neutralitätsgebot anzuwenden ist, wird daher im Folgenden noch genauer zu klären sein. Zuvor soll jedoch auf eine Schwierigkeit aufmerksam gemacht werden, welche die Reichweite des Neutralitätsgebotes betrifft. Unter Liberalen besteht keine Einigkeit darüber, auf welche Bereiche staatlichen Handelns diese Forde-
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rung anwendbar ist. Manche meinen, das Neutralitätsgebot betreffe nur die Verfassung.261 Dagegen wird jedoch eingewandt, dass eine Verfassung nur dann neutral sei, wenn sie eine nicht-neutrale Politik ausschließe. Wenn es mit der Verfassung vereinbar sei, dass Gesetze erlassen werden, die nicht neutral gerechtfertigt werden können, dann sei die Verfassung selbst dafür vor dem Hintergrund des Neutralitätsgebotes zu kritisieren. Daher könne das Neutralitätsgebot nicht auf eine bestimmte Ebene (also auf die Ebene der Verfassung) beschränkt sein, sondern eine neutrale Rechtfertigung müsse auf allen Ebenen staatlichen Handelns verlangt werden.262 Damit wäre allerdings nur noch wenig staatliches Handeln erlaubt. Weil dies einen Kritikpunkt darstellt, weisen auch die Gegner des Neutralitätsgebotes darauf hin, dass das Neutralitätsgebot konsequenterweise auf alle Bereiche staatlichen Handelns auszudehnen wäre.263 Einige Liberale betonen daher, dass das Neutralitätsgebot für verschiedene Formen staatlichen Handelns eine unterschiedliche Relevanz habe, und dies hänge mit der unterschiedlichen Eingriffstiefe staatlicher Zwänge zusammen.264 Zumindest diejenigen, die aus dem Neutralitätsgebot keine völlige Zurückhaltung des Staates ableiten wollen, müssen solche Unterschiede einräumen. Denn wer meint, dass keiner Form staatlichen Handelns umstrittene Wertvorstellungen zugrunde liegen dürfen, der entwickelt nicht bloß einige Restriktionen für Mehrheitsentscheidungen, sondern muss solche Entscheidungen in sehr vielen Fällen für unzulässig halten. Nehmen wir beispielsweise an, ein Stadtrat beschließe, ein bestimmtes Gebiet zum Naturschutzgebiet zu erklären und dessen Betreten zu verbieten oder zumindest mit Auflagen zu versehen. Jemand, der unberührter Natur keinen Wert beimisst und sich durch diese Auflagen gestört fühlt, könnte nun mit Rekurs auf das Neutralitätsgebot bestreiten, dass man ihm das Betreten dieses Gebietes verbieten darf. Wer hingegen den Bezug zum Neutralitätsgebot an dieser Stelle nicht für einschlägig hält, der macht dessen Anwendung von der Eingriffstiefe staatlicher Zwänge abhängig. Das Neutralitätsgebot gilt nach dieser Lesart nur oder zumindest in erster Linie für besonders intensive staatliche Eingriffe oder für Eingriffe mit bestimmten Bereichsbezügen. Darüber hinaus ließe sich anführen, dass der Wert unberührter Natur nicht umstritten ist – umstritten sei nur, wie Konflikte mit anderen (ebenfalls unumstrittenen) Werten aufgelöst werden sollten. Nicht die einzelnen Werte selbst, sondern die Werthierarchien seien dann umstritten. Anders als Gaus, der meint, dass es das Neutralitätsgebot verbiete, umstrittene Werthierarchien im staatlichen Handeln wirksam werden zu lassen, behauptet Klosko, dies sei eine politische Entscheidung, gegen die dann nichts einzuwenden sei, wenn die einzelnen Werte, die dabei gegeneinander abgewogen werden, selbst neutral gerechtfertigt werden könnten.265 Die jeweils genannten Beispiele können den Dissens in der Sache gut verdeutlichen: Gaus behauptet, die Helmpflicht für Motorradfahrer sei mit dem Neutralitätsge-
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bot nicht zu vereinbaren. Zwar sei das Tragen eines Helmes der Sicherheit zuträglich. Der aufgeklärte Motorradfahrer sehe das selbst genauso, aber er nehme ein Sicherheitsrisiko auf sich, um den Fahrtwind in den Haaren zu spüren. Gaus zufolge solle man diese Wertordnung nicht schlicht als „unvernünftig“ bezeichnen und insofern Neutralität wahren.266 Klosko meint hingegen mit Bezug auf die Anschnallpflicht, diese verstoße nicht gegen das Neutralitätsgebot. Zwar räumt er ein, dass die jeweilige Wertschätzung der Sicherheit und Freiheit unterschiedlich ausfallen könne und in einer partikularen Konzeption des Guten verankert sei.267 Darin stimmt er also offenbar mit Gaus überein. Dies bedeute jedoch kein Problem für das Neutralitätsgebot. Wichtig sei nur, dass die zugrunde liegenden Werte (also hier Freiheit und Sicherheit) selbst neutral gerechtfertigt werden können. Welche Werte letztlich als gewichtiger beurteilt werden, sei eine politische Entscheidung und liege außerhalb der Forderungen des Neutralitätsgebotes. Diese Überlegungen wendet Gaus auch auf den Erziehungsbereich an. So dürfe beispielsweise die Politik darüber entscheiden, in welchem Ausmaß Musikunterricht an staatlichen Schulen angeboten wird. Selbst wenn dies umstritten sei, könne hier nicht von einer Verletzung des Neutralitätsgebotes die Rede sein.268 Letztlich bleiben beide Positionen problematisch. Bei Gaus scheint es keinerlei Spielraum für politische Entscheidungen und keinerlei politische Gestaltungsmöglichkeit mehr zu geben. Bei Klosko ist hingegen nicht zu sehen, warum die Rechtfertigungspflicht für staatliche Zwänge, die das Neutralitätsgebot einfordert, im Falle umstrittener Werthierarchien nicht mehr greift. Wenn sich staatliche Zwänge jedem vernünftigen Bürger gegenüber rechtfertigen lassen müssen, unterschiedliche Werthierarchien aber nicht als mehr oder weniger vernünftig ausgewiesen werden können, dann scheint das Neutralitätsgebot an entscheidender Stelle zu stark aufgeweicht zu werden. Ich werde die Frage, wie weit das Neutralitätsgebot reicht und auf welche Art staatlichen Handelns es anwendbar ist, im Folgenden nicht allgemein beantworten. Stattdessen soll durch eine Fokussierung auf den Bildungsbereich deutlich werden, was für eine größere bzw. geringere Reichweite des Neutralitätsgebotes spricht. Durch eine größere Feinkörnigkeit der Untersuchung soll also im zweiten Teil dieses Kapitels (5.2) gezeigt werden, inwiefern staatlichem Handeln im Bildungsbereich umstrittene Werte bzw. umstrittene Werthierarchien zugrunde liegen dürfen. Dazu sind jedoch zunächst einige weitere grundsätzliche Überlegungen zum Inhalt und zur Begründung des Neutralitätsgebotes nötig.
5.1.1 Inhalt und Begründung des Neutralitätsgebotes In der Diskussion des Neutralitätsgebotes werden drei mögliche Spielarten dieses Gebotes unterschieden.269 Die erste bezieht sich darauf, wie staatli-
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ches Handeln begründet oder gerechtfertigt wird. Staatliches Handeln solle z. B. nicht unter Hinweis auf eine inhaltlich umstrittene Verbesserung des Lebens der von diesem Handeln Betroffenen begründet werden. So dürfte beispielsweise das Verbot, sonntags die Geschäfte zu öffnen, nicht damit begründet werden, dass die christlichen Kirchen dieses fordern und die Einhaltung der christlichen Gebote auch das Leben derjenigen besser macht, denen der entsprechende Glaube oder die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche fehlt. Von der Neutralität der Begründung staatlichen Handelns wird zweitens eine Forderung nach Neutralität der Ziele staatlichen Handelns unterschieden. Hier wird gefordert, dass der Staat nicht gezielt bestimmte Wertvorstellungen befördern sollte.270 So sollte der Staat beispielsweise nicht mittels Erziehung die Einhaltung religiöser Gebote befördern. Dass Zielneutralität und Neutralität der Begründung auseinanderfallen können, macht Arneson anhand des folgenden Beispiels deutlich: Eine Politik, die das Ziel verfolgt, den Katholizismus zu befördern, sei nicht neutral, aber es könnte dafür möglicherweise eine neutrale Rechtfertigung geben, etwa die der Aufrechterhaltung des bürgerlichen Friedens.271 Allerdings leitet sich die Forderung nach Zielneutralität letztlich ebenfalls von der Forderung nach einer Neutralität der Begründung für staatliches Handeln ab. Der obigen Politik liegt nämlich letztlich das Ziel zugrunde, den Frieden zu sichern, und die Beförderung des Katholizismus ist dazu nur ein Mittel (wobei sich bestreiten lässt, dass es sich hier tatsächlich um ein angemessenes Mittel handelt). Eine Beförderung des Katholizismus wird in diesem Fall mit der Friedenssicherung begründet. Wenn ein solcher Zusammenhang zwischen einem starken Katholizismus und dem bürgerlichen Frieden tatsächlich bestünde, und wenn sich alle darin einig wären, dass dies tatsächlich das angemessene Mittel zur Friedenssicherung ist, würde die Beförderung des Katholizismus dem Neutralitätsgebot nicht zuwiderlaufen. In Bezug auf die Friedenssicherung ist eine solche Einigkeit wohl nicht zu erwarten, aber es könnte immerhin einzelne Forderungen der christlichen Kirchen geben, deren Einhaltung mit dem Neutralitätsgebot durchaus vereinbar ist. Ob etwa das Verbot der Geschäftsöffnung an Sonntagen zu rechtfertigen ist, wird klar, wenn nach einer Begründung für dieses Verbot gefragt wird. Begründet der Gesetzgeber dieses Verbot mit dem Verweis auf die entsprechenden Forderungen der Kirchen, oder könnte er dies nur so begründen, dann würde ein Vertreter des Neutralitätsgebotes dieses Verbot für nicht gerechtfertigt halten. Denn in seiner Begründung müsste auf Wertvorstellungen verwiesen werden, die nicht allgemein geteilt werden. Wenn eine Begründung für dieses Verbot hingegen neutral ausfällt, d. h. wenn dabei nicht auf umstrittene Wertvorstellungen verwiesen wird, hat ein Vertreter des Neutralitätsgebots nichts dagegen einzuwenden. So hält etwa Mill das Verbot, sonntags zu arbeiten, durchaus für gerechtfertigt, denn es
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lässt sich seines Erachtens wie folgt begründen: Wenn einige sonntags arbeiten (um mehr zu verdienen), werden bald alle sonntags arbeiten müssen. Doch wenn alle sonntags arbeiten, verdiene niemand mehr als vorher, und die Arbeit von sieben Tagen müsse für den Lohn von sechs geleistet werden.272 Das Gesetz ließe sich also seines Erachtens mit einem gemeinsamen Interesse begründen, welches jeder (Arbeitnehmer) ungeachtet seiner religiösen Überzeugungen an diesem Gesetz hat. Neutralität ist also auch bei Mill gefordert in Bezug auf die Inhalte einer möglichen Begründung staatlichen Handelns. Von der Neutralität der Begründung staatlichen Handelns wird nun noch eine weitere Form der Neutralität unterschieden, und zwar die Neutralität der Folgen staatlichen Handelns. Danach wäre gefordert, dass der Gesetzgeber auch dann keinen Ruhetag einführen oder für dessen Beibehaltung plädieren darf, wenn er sich in der Begründung dafür nicht auf umstrittene Wertvorstellungen bezieht oder beziehen müsste. Das Neutralitätsgebot würde sich dann weniger auf die Begründung als vielmehr auf bestimmte Folgen staatlichen Handelns beziehen. Der Staat sollte demnach nichts tun, welches die Anhänger umstrittener Wertvorstellungen gegenüber anderen begünstigt. Arneson macht dies anhand des folgenden Beispiels deutlich: Wenn der Staat allen seinen Bürgern garantiere, dass sie in ihrer Religionsausübung frei sind und versuchen dürfen, ihre Religion zu verbreiten, dann führe dies dazu, dass einigen Religionsgemeinschaften die Verbreitung ihrer Lehre schwerer fällt als anderen (z. B. weil ihre Lehre besonders unplausibel ist).273 Allerdings ist nicht zu sehen, warum ein Vertreter des Neutralitätsgebotes diese Politik für problematisch erachten sollte. Denn hier geht es um ein schlichtes Nichtstun des Staates und nicht um staatliche Zwänge. Nur letztere wären rechtfertigungspflichtig. Es stellt sich daher die Frage, mit welcher Begründung ein Vertreter des Neutralitätsgebotes die so verstandenen Folgen staatlichen Handelns problematisieren sollte. Zudem wird die Forderung nach einer Neutralität der Folgen von einigen Liberalen explizit zurückgewiesen. Begründet wird diese Zurückweisung mit der plausiblen Behauptung, dass die Wahrung einer Neutralität der Folgen nicht praktikabel sei.274 Insofern sollten wir das Neutralitätsgebot so verstehen, dass es nicht auf eine Neutralität der Folgen staatlichen Handelns ankommt, sondern auf eine Neutralität der Begründung für staatliche Zwänge. Einige Vertreter des Neutralitätsgebotes nehmen an dieser Stelle eine weitere Spezifizierung dieses Begründungsanspruchs vor: Die genannten Gründe müssten für jeden vernünftigen Menschen einsichtig sein.275 Und das seien sie nur dann, wenn darin nicht auf solche Wertvorstellungen rekurriert werde, die unter vernünftigen Menschen umstritten sind. Doch um welche Wertvorstellungen könnte es sich dabei handeln? Ist nicht vielmehr davon auszugehen, dass unter vernünftigen Individuen über das Gute Ei-
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nigkeit herrschen müsste? Rawls bestreitet das und verweist dazu auf das „Faktum des Pluralismus“. Darunter versteht Rawls den von ihm konstatierten Umstand, dass es in freiheitlichen Gesellschaften keine umfassende religiöse, philosophische oder moralische Weltanschauung oder Konzeption des Guten gebe, auf die sich alle einigen können. Keine der verschiedenen religiösen, philosophischen und moralischen Lehren werde von allen bejaht, und daran werde sich auch in Zukunft nichts ändern. Dieser Pluralismus sei also nicht nur eine momentane Erscheinung, sondern wir müssten von dessen Fortdauern ausgehen. Wenn er überwunden werden könne, dann nur durch den Gebrauch staatlicher Macht: „[T]his diversity can be overcome only by the oppressive use of state power […].“276 Hier stellt sich die Frage, ob sich ein solcher Pluralismus nicht auch durch den Gebrauch der Vernunft ändern könnte. Rawls verneint diese Frage jedoch, weil er die konkurrierenden Konzeptionen des Guten alle in gewisser Weise für vernünftig hält. Auch dann, wenn verschiedene Personen jeweils im Besitz aller relevanten Informationen seien und in unparteiischer Weise nachdächten, könnten sie in Bezug auf die von ihnen für vernünftig gehaltene Konzeption des Guten zu divergierenden Urteilen gelangen. So gesehen gebe es also mehrere, gleichermaßen vernünftig zu nennende Konzeptionen des Guten. Daher reiche der Verweis darauf, dass eine umstrittene Konzeption des Guten „vernünftig“ sei, zur Rechtfertigung staatlicher Zwänge nicht unbedingt aus. Rawls nimmt also an, dass es auch unter vernünftigen Individuen umstrittene Wertvorstellungen gibt. Von den grundlegenden staatlichen Institutionen ausgehende Zwänge seien damit nicht zu rechtfertigen, wenn in der Begründung für diese Zwänge Voraussetzungen vorkämen, die von den Vertretern der verschiedenen, aber gleichwohl vernünftigen Konzeptionen des Guten nicht gemeinsam geteilt würden: „It is unreasonable for us to use political power, should we possess it, or share it with others, to repress comprehensive views that are not unreasonable.“277 An dieser Stelle könnte einwendet werden, dass einer solchen Argumentation ein Skeptizismus zugrunde liegt, der das Neutralitätsgebot selbst in Frage stellt. Es scheint auf den ersten Blick inkonsistent, einerseits zu behaupten, dass sich keinerlei Wertvorstellungen als überlegen ausweisen lassen und zugleich zu behaupten, dass dies für den Wert der Neutralität nicht gilt. Doch dem lässt sich entgegnen, dass ein Skeptizismus bezüglich der Begründbarkeit bestimmter konkurrierender Wertvorstellungen in einer pluralistischen Gesellschaft nicht notwendig auf bestimmte (moralische) Gebote auszudehnen ist. Selbst ein sehr umfassender Skeptizismus ist mit dem Neutralitätsgebot durchaus vereinbar, solange er hinsichtlich der Forderung, dass staatliche Zwänge rechtfertigungspflichtig sind, nicht indifferent ist. Und gegenüber dieser Behauptung sind Vertreter des Neutralitätsgebotes eben tatsächlich nicht indifferent. Das Neutralitätsgebot lässt sich mit dem moralischen Verbot begründen, andere zu etwas zu zwingen,
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was sich ihnen gegenüber nicht rechtfertigen lässt.278 Zwänge sind rechtfertigungspflichtig, und das gilt insbesondere für staatliches Handeln. Inwiefern sich staatliches Handeln allen „vernünftigen“ Individuen gegenüber rechtfertigen lassen muss, ist jedoch unter Liberalen umstritten. So wirft Galston Rawls beispielsweise vor, dass dieser bestimmte Überzeugungen zu schnell als „unvernünftig“ bezeichne – so beispielsweise eine Ablehnung bestimmter demokratischer Werte.279 Außerdem sei eine Unterscheidung zwischen vernünftigen und unvernünftigen Wertvorstellungen nicht erforderlich, wenn man sich den wichtigsten Grund vor Augen führe, der für das Neutralitätsgebot spreche, nämlich die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens. Man solle das Neutralitätsgebot so verstehen, dass der Staat immer dann Neutralität gegenüber konkurrierenden Wertvorstellungen wahren sollte, wenn eine fehlende Neutralität den sozialen Frieden gefährdet. Das sei jedoch unabhängig davon zu entscheiden, wie „vernünftig“ die konkurrierenden Wertvorstellungen jeweils sind. Galston plädiert daher dafür, den „brute fact of difference“ zu berücksichtigten – unabhängig davon, was für die einzelnen Überzeugungen spricht und wie vernünftig sie jeweils sind.280 Rawls behauptet zuweilen selbst, die Aufrechterhaltung des Friedens und der Stabilität einer Gesellschaft sei das Ziel des Neutralitätsgebotes. So schreibt er in Political Liberalism, wir bräuchten „an agreement that might serve the political purpose, say, of achieving peace and concord in a society characterized by religious and philosophical differences“.281 Allerdings gibt es Formen staatlicher Zwänge, von denen keine unmittelbare Bedrohung des sozialen Friedens zu erwarten ist. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn diese Zwänge Minderheiten betreffen, von denen keine Bedrohung des sozialen Friedens ausgeht. Auch diese Zwänge müssen sich gegenüber den Menschen rechtfertigen lassen, die ihnen unterstehen. Der Hinweis auf die Aufrechterhaltung des Friedens und der Stabilität einer Gesellschaft reicht damit in diesen Fällen nicht aus, sondern das Neutralitätsgebot muss in solchen Fällen doch mit Rekurs auf die Rechtfertigung staatlicher Zwänge begründet werden. Ich werde darauf noch ausführlich zurückkommen, wenn es um die Frage geht, ob es sich Mitgliedern bestimmter Religionsgemeinschaften gegenüber rechtfertigen lässt, wenn der Staat sie dazu zwingt, ihre Kinder zur Schule zu schicken. In der Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen wird man doch wieder darauf eingehen müssen, wie „vernünftig“ die Forderungen der jeweiligen Eltern und die diesen zugrunde liegenden Wertvorstellungen sind. Wir sollten allerdings die Bedenken gegen die Behauptung im Auge behalten, dass staatliche Zwänge immer schon dann gerechtfertigt sind, wenn diejenigen, die von ihnen betroffen sind, vernünftig genug wären, um dies einzusehen. Zum einen mögen die Kriterien für die „Vernünftigkeit“ bestimmter (Wert-)vorstellungen selbst umstritten sein. Des Weiteren ist zu
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berücksichtigen, dass das Neutralitätsgebot zumindest auch die Funktion hat, für Stabilität und Frieden in einer Gesellschaft zu sorgen. Wenn faktisch große Uneinigkeit bezüglich der Angemessenheit bestimmter staatlicher Zwänge vorherrscht, dann ist dadurch der gesellschaftliche Frieden bedroht. Dies sollte durchaus in die Überlegungen zur Wahrung staatlicher Neutralität eingehen. Darüber hinaus ist es nicht nur äußerst problematisch, andere zu etwas zu zwingen, was sie nicht einmal hypothetisch einsehen würden, wenn sie vernünftiger wären. Unabhängig von ihrer Vernünftigkeit werden Zwänge als besonders problematisch erfahren, wenn und soweit diejenigen, die hier zu etwas gezwungen werden, die (vermeintlich) guten Gründe für diesen Zwang faktisch nicht einsehen. Diesem Umstand ist auch dann Rechnung zu tragen, wenn man die Betroffenen für nicht vernünftig genug hält, um die Richtigkeit dieser Zwänge einzusehen. Diese Überlegungen sind auch für die staatlichen Zwänge im Bildungsbereich relevant, und ich werde auf sie in 5.2 noch zurückkommen. An dieser Stelle können wir festhalten, dass zwei Fragen voneinander zu unterscheiden sind. Zum einen müssen wir fragen, ob sich bestimmte staatliche Zwänge grundsätzlich jedem gegenüber begründen lassen. Und zum anderen müssen wir fragen, ob es richtig ist, diese Zwänge auch tatsächlich auszuüben. Es ist durchaus möglich, auf die erste Frage eine bejahende und auf die zweite Frage eine verneinende Antwort zu geben. Liberale würden meistens beide Fragen verneinen, Perfektionisten beide bejahen. Aber es sind auch Abweichungen davon denkbar. So könnte man die erste Frage zwar bejahen, die zweite aber dennoch verneinen, z. B. mit dem Hinweis auf eine Gefährdung des sozialen Friedens. Die Uneinigkeit zwischen den Gegnern und Befürwortern des Neutralitätsgebotes ist im Wesentlichen in zwei Punkten auszumachen. Zum einen ist umstritten, worauf in einer Begründung für staatliche Zwänge rekurriert werden kann. Erklärte Gegner des Neutralitätsgebotes bringen hier in der Regel objektivistische Konzeptionen des guten Lebens ins Spiel. Zum anderen schätzen die Gegner und die Befürworter des Neutralitätsgebotes offenbar die Gefahren unterschiedlich ein, die von der Mehrheit befürwortete staatliche Zwänge in sich bergen. Diese beiden Punkte sollen im nächsten Abschnitt genauer betrachtet werden.
5.1.2 Einwände gegen das Neutralitätsgebot Der Dissens zwischen Befürwortern und Kritikern des Neutralitätsgebotes geht vor allem auf unterschiedliche Konzeptionen des guten Lebens zurück. Das wird deutlich, wenn man sich die Kritik am Neutralitätsgebot konkret ansieht. Ein Beispiel dafür ist die Kritik Arnesons, der dem Neutralitätsgebot einen staatlichen Paternalismus entgegenhält, den er selbst befürwortet. Gegen die von einem solchen Paternalismus ausgehenden staatlichen Zwänge sei nicht per se etwas einzuwenden, denn manchmal würden
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äußere Zwänge unser Leben tatsächlich besser machen.282 Dies sei dann der Fall, wenn wir selbst nicht wissen, was gut für uns ist, und es daher besser für uns sei, wenn wir (auch mittels staatlicher Zwänge) auf den richtigen Weg gebracht werden. Warum aber sollten wir nicht selbst am besten wissen oder entscheiden können, was gut für uns ist? Zum einen könnten wir uns über die angemessenen Mittel zum Erreichen unserer Zwecke täuschen. Es würde sich dann lediglich um epistemische Defizite handeln. Arneson geht aber weiter. Wir können uns seines Erachtens auch in unseren Vorstellungen von dem Wert bestimmter Zwecke irren. Es gebe Dinge, die objektiv gut seien, und insofern könne ein Paternalismus, dem es um die Beförderung objektiv wertvoller Dinge geht, unser Leben erheblich besser machen. Wer beispielsweise mit einem großen künstlerischen Talent geboren sei, der solle dieses Talent entfalten, denn für ihn bestehe ein (objektiv) gutes Leben in der Entfaltung dieses Talents. Und insofern könne ein Paternalismus, der uns dazu bringe, objektiv wertvolle Dinge zu realisieren, unser Leben auch unabhängig davon besser machen, ob wir dies selbst genauso sehen. Zwar will sich Arneson nicht auf eine ganz bestimmte Vorstellung vom (objektiv) guten Leben festlegen – also z. B. nicht auf einen FähigkeitenAnsatz, der davon ausgeht, intrinsisch gut sei nur die Entwicklung der essentiellen menschlichen Fähigkeiten. Dennoch erscheint „intellectual and cultural achievement“ und „athletic excellence“ auch auf Arnesons Liste wertvoller Bestandteile des guten Lebens, und obwohl auf dieser Liste außerdem „pleasurable experience“ und „enjoyment“ auftaucht, wird diese doch zumindest um „of the excellent“ ergänzt.283 Insofern vertritt er offenbar eine objektivistische Konzeption des guten Lebens, die jedoch seiner Meinung nach auf dem „common sense“ basiert, statt auf einer begründeten Theorie darüber, was ein gutes Leben auszeichnet. Wenn im common sense allerdings gerade Uneinigkeit darüber besteht, welche Dinge auf dieser Liste tatsächlich wertvoll sind bzw. welchen Stellenwert sie innerhalb eines guten Lebens haben, dann hilft uns die von ihm vorgelegte Liste nicht aus den Schwierigkeiten hinaus, die mit dem Anspruch auf Objektivität auftretende aber gleichwohl umstrittene Vorstellungen vom guten Leben in sich bergen. Hier zeigt sich außerdem eine weitere Schwierigkeit der Kritik am Neutralitätsgebot. Das Neutralitätsgebot wird dafür kritisiert, dass es mit bestimmten, eigentlich guten und richtigen Formen staatlichen Handelns unvereinbar ist und diese verbietet. Doch wenn man das Neutralitätsgebot so formuliert, dass staatliche Zwänge allen vernünftigen Individuen gegenüber begründbar sein sollen, müssten die Kritiker des so verstandenen Neutralitätsgebotes für ein staatliches Handeln plädieren, welches sich nicht jedem vernünftigen Individuum gegenüber begründen lässt. Dann ist allerdings nicht mehr zu sehen, wie diese Kritik selbst vernünftig begründet werden kann. Die Kritik am Neutralitätsgebot befindet sich damit in dem folgenden Dilemma: Entweder sie
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behauptet mit guten Gründen, dass bestimmte Konzeptionen des Guten vernünftiger sind als andere. Dann dürfte aber auch ein Vertreter des Neutralitätsgebotes nichts dagegen haben, diese mittels staatlichen Handelns zu befördern. Oder die Kritik behauptet, dass sich bestimmte Konzeptionen des Guten nicht gegenüber jedem vernünftigen Individuum begründen lassen. Dann ist aber nicht mehr zu sehen, inwiefern eine Beförderung dieser Konzeptionen des Guten vernünftig ist – die Kritik am Neutralitätsgebot wäre dann also selbst nicht mehr ausreichend gerechtfertigt. Sher unterstellt den Vertretern des Neutralitätsgebotes, zu fordern, dass in der Begründung für staatliches Handeln auf keine bestimmten Vorstellungen vom guten Leben verwiesen werden darf, und zwar auch dann nicht, wenn sich bestimmte Vorstellungen vom guten Leben gut begründen lassen. Er formuliert das Neutralitätsgebot daher so: „(N) Do not support any law or policy on the basis of any particular conception of the good.“ Dem stellt er folgendes von ihm selbst befürwortetes Gebot entgegen: „(M) Do not support any law or policy on the basis of any conception of the good that you have not scrutinized and found to satisfy your usual standards of justification.“284 So formuliert kann der Gegner des Neutralitätsgebotes zwar dem soeben genannten Dilemma entgehen. Shers Analyse zeigt aber gerade, dass Liberale und Perfektionisten näher beieinander liegen, als oftmals behauptet wird. Denn auch den Liberalen geht es um eine Rechtfertigung für bestimmte Formen staatlichen Handelns. Wenn sich diese mit Rekurs auf bestimmte Werterfahrungen (und insofern subjektivistisch) begründen ließen, dann sollten sich die Liberalen mit den Perfektionisten dahingehend einig sein, dass ein bestimmtes Gesetz oder eine bestimmte Politik eben doch mit Rekurs auf das gute Leben begründet werden darf. Dies lässt sich anhand des folgenden Beispiels verdeutlichen. Angenommen, jemand war noch nie im Kino, weil ihn Kinofilme vermeintlich kaltlassen. Wenn er von seinen Freunden überredet wird, mit ins Kino zu gehen, und er sich daraufhin zum Cineasten entwickelt, dann war dieses Überreden gut für ihn (jedenfalls, wenn Cineast zu sein selbst wieder etwas Gutes ist). Diese Überlegung lässt sich auch auf staatliches Handeln übertragen. Wenn es einen staatlich bezuschussten Kinotag mit stark verbilligten Eintrittsgeldern für in Cannes preisgekrönte Filme gäbe und diese Person nicht durch die Überredung ihrer Freunde, sondern durch dieses attraktive Angebot dazu gebracht würde, ins Kino zu gehen, dann hätte sich die staatliche Förderung guter Filme im Nachhinein auch für sie als gut erwiesen. Diese Person müsste diese Form der staatlich subventionierten Kulturförderung also zumindest retrospektiv für gut erachten. Auch wenn so zumindest die Möglichkeit besteht, dass sich eine staatliche Förderung der Dinge, die die Mehrheit für wertvoll erachtet (und die insofern eine entsprechende Gesetzgebung befürwortet), auch für andere Mitglieder der Gesellschaft im Nachhinein als gut erweist, wird der Libera-
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le einer solchen Argumentation freilich mit Skepsis begegnen. Denn diejenigen, die sich des staatlichen Machtapparates bedienen, könnten gerade die falschen Vorstellungen davon haben, was das Leben besser macht. Und diejenigen, die es eigentlich besser wissen, könnten gerade nicht die erforderlichen Mittel haben, um ihre Vorstellungen vom guten Leben durchzusetzen. An diesem Punkt offenbart sich damit eine weitere Meinungsverschiedenheit zwischen Kritikern und Befürwortern des Neutralitätsgebotes. Kritiker des Neutralitätsgebotes messen diesen Gefahren offenbar eine vergleichsweise geringe Bedeutung bei. Sher bürdet dem Vertreter des Neutralitätsgebotes in diesem Zusammenhang die folgende Beweislast auf: Er müsste Argumente dafür vorbringen, dass gerade eine staatliche Beförderung des guten Lebens besonders irrtumsanfällig ist, und er müsste zeigen, warum nicht gerade das Neutralitätsgebot dem guten Leben abträglich sein könnte. Sher räumt allerdings ein, dass Liberale durchaus versucht haben, dies zu zeigen. Liberale behaupten, dass die Regierung deshalb nicht besser als die einzelnen Bürger wisse, was gut für diese sei, weil sie deren individuelle Vorlieben und Ziele nicht kenne. Solche Informationen seien aber wichtig, weil jede vernünftige Theorie des Guten berücksichtigen müsse, dass das gute Leben einer Person auch daran hängt, wie glücklich und erfüllt ihr Leben aus ihrer Perspektive ist. Außerdem betonen Liberale, dass gerade der Besitz staatlicher Macht von der Notwendigkeit befreit, kritisch über damit beförderte Werte reflektieren zu müssen. Das Fehlen einer solchen kritischen Reflektiertheit mache es unwahrscheinlich, dass die Vorstellungen vom guten Leben, welche staatlichem Handeln zugrunde gelegt werden, besser begründet sind als konkurrierende Vorstellungen. Darüber hinaus beraube man sich der Vielfalt konkurrierender Wertvorstellungen, wenn ganz bestimmte Wertvorstellungen von staatlicher Seite befördert würden. Sher räumt nun zwar ein, dass diese Überlegungen wichtig seien, weist sie letztlich aber doch zurück. Zwar könnten sie zusammengenommen für einige Restriktionen im Gebrauch staatlicher Macht sprechen, sie könnten aber auch zusammengenommen keine umfassende staatliche Neutralität begründen.285 Was ist von diesem Dissens zu halten? Wie überzeugend die liberalen Bedenken letztlich sind, ist meines Erachtens erst zu sehen, wenn einzelne Bereiche einer staatlichen Beförderung des guten Lebens genauer in den Blick genommen werden. Man müsste hier in Bezug auf konkrete Formen staatlichen Handelns überlegen, inwiefern die liberalen Vorbehalte berechtigt sind. So kommt Sher zu dem Schluss, dass ein staatlicher Paternalismus für das Leben einiger Menschen tatsächlich gut sein kann, denn einige Menschen machen sich seines Erachtens gerade zu wenig Gedanken darüber, was ihrem eigenen Leben zuträglich wäre. Ich halte diese Überlegung in Bezug auf erwachsene Menschen für problematisch. Sie ist aber durchaus anzuführen, wenn es um Gründe für oder gegen das Festhalten am Neutra-
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litätsgebot speziell im Erziehungsbereich geht. Denn hier geht es um Kinder, für deren Wohlergehen der Staat Partei ergreift. Und Kindern kann in der Tat der Überblick darüber fehlen, was dem eigenen Leben zumindest perspektivisch zuträglich wäre. Daher ist es wichtig, die staatlichen Zwänge im Erziehungsbereich, die dem Neutralitätsgebot vermeintlich zuwiderlaufen, noch genauer in den Blick zu nehmen, als dies bisher geschehen ist. Eben dies soll im zweiten Teil dieses Kapitels erfolgen (5.2). Zuvor sollten wir jedoch einer weiteren möglichen Begründung für das Neutralitätsgebot näher nachgehen. Man könnte vermuten, dass man das Neutralitätsgebot letztlich mit dem Wert der Autonomie begründen muss. Zumindest gegen eine gezielte Beförderung der Autonomie (z. B. mittels staatlicher Erziehung) dürften Vertreter des Neutralitätsgebotes somit nichts einzuwenden haben. Wenn dem Neutralitätsgebot eine starke Wertschätzung der Autonomie zugrunde läge, wäre es inkonsistent, mit Rekurs auf das Neutralitätsgebot eine staatliche Beförderung der Autonomie abzulehnen. Da diese Behauptung insbesondere für den Erziehungsbereich wichtig ist, werde ich sie im nächsten Abschnitt diskutieren. Dort wird sich jedoch zeigen, dass ein Vertreter des Neutralitätsgebotes nicht notwendig auf ein umfassendes Autonomieideal festgelegt ist.
5.1.3 Neutralitätsgebot und Autonomie Einige Liberale begründen das Neutralitätsgebot explizit mit dem Wert der Autonomie. Am deutlichsten wird das bei Ackermann. Er behauptet, das Neutralitätsgebot garantiere dafür, dass ein autonomes Leben möglich sei, und nur ein autonomes Leben sei ein „wahrhaft“ gutes Leben.286 Gegen diese Argumentation wird jedoch von anderen Liberalen eingewandt, dass sie selbst nicht neutral sei. Der Stellenwert der Autonomie in einem guten Leben sei umstritten.287 Aus diesem Grund betont Rawls in Political Liberalism, dass es mit dem politischen Liberalismus nicht zu vereinbaren sei, wenn der Staat mittels Erziehung gezielt die Autonomie als Ideal befördere.288 Demgegenüber könnte man behaupten, dass sich das Neutralitätsgebot nur mit dem Wert der Autonomie begründen lässt.289 Eine solche Annahme ist tatsächlich nahe liegend.290 Wenn das Neutralitätsgebot – wie etwa von Rawls – damit begründet wird, dass alle Bürger einen Anspruch darauf haben, nur von solchen politischen Institutionen reglementiert zu werden, die sie auf der Basis ihrer eigenen vernünftigen Überlegungen akzeptieren können, dann liegt dem auf den ersten Blick eine starke Ablehnung der Fremdbestimmung und damit gleichzeitig eine starke Wertschätzung der Selbstbestimmung zugrunde. Weil wir selbst über unser Handeln bestimmen wollen, lehnen wir es ab, dass sich andere staatlicher Macht bedienen, um über unser Handeln zu bestimmen. Vertretern des Neutralitätsgebotes ließe sich damit unterstellen, in der Begründung für dieses Gebot selbst auf
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den Wert der Autonomie verweisen zu müssen. Rawls’ Behauptung, dass es mit dem Neutralitätsgebot unvereinbar sei, mittels Erziehung die Autonomie zu befördern, wäre dann nicht konsistent. Doch sind die Vertreter des Neutralitätsgebotes tatsächlich auf ein umfassendes Autonomieideal festgelegt? Diese Frage ist zu verneinen, da ein solches Autonomieideal mehr impliziert als bestimmte Formen von Handlungsfreiheit. Einschränkungen der Handlungsfreiheit können gravierend sein, wenn sich diejenigen, die andere in ihrer Freiheit einschränken, dazu des staatlichen Zwangsapparates bedienen. Diese Einschränkungen sind daher besonders rechtfertigungsbedürftig. Vorgaben für eine solche Rechtfertigung macht das Neutralitätsgebot. Dieses Gebot richtet sich aber auf eine potentielle Einschränkung der Handlungsfreiheit, und daraus folgt nicht, dass darüber hinaus auch eine umfassende Autonomie befördert werden sollte. Autonomie beinhaltet zwar Handlungsfreiheit, aber beides fällt nicht zusammen.291 Das Autonomieideal umfasst mehr als Handlungsfreiheit allein (siehe dazu bereits 2.1). Dies kann man sich klarmachen, indem man mögliche Konflikte zwischen der Wahrung der Freiheit und der Beförderung einer umfassenderen Autonomie in den Blick nimmt, und solche Konflikte ergeben sich gerade im Erziehungsbereich. So wies das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg eine Klage religiös motivierter Eltern zurück, die ihre Kinder nicht auf eine öffentliche Schule schicken wollten.292 Auch der Verwaltungsgerichtshof Mannheim wies eine Klage von Eltern ab, die ihre schulpflichtigen Kinder ausschließlich zu Hause unterrichten wollten. Von Seiten des Gerichts wurde unter anderem darauf verwiesen, dass es dem Wohl der Kinder abträglich sei, nicht mit konkurrierenden Wertvorstellungen konfrontiert zu werden.293 Dass eine Konfrontation mit konkurrierenden Wertvorstellungen gut für diese Kinder ist, ließe sich wiederum mit dem Wert der Autonomie begründen. Im zweiten Kapitel haben wir gesehen, dass einige Liberale fordern, die Kinder mit konkurrierenden Wertvorstellungen zu konfrontieren, damit sie das, was ihnen im Leben wichtig ist, vor dem Hintergrund möglicher Alternativen überprüfen können.294 Dieses Ziel einer liberalen Erziehung lässt sich damit begründen, dass die Kenntnis alternativer Lebensmöglichkeiten der Autonomie im Sinne einer kritischen Reflektiertheit zuträglich ist. Diesem Rekurs auf den Wert der Autonomie könnten die eben genannten Eltern jedoch nichts abgewinnen. Sie lehnen den Unterricht an staatlichen Grundschulen aus religiösen Gründen ab. Ihre Ablehnung begründen sie damit, dass ihre Kinder durch eine Konfrontation mit alternativen Wertvorstellungen von einem Lebensweg abgebracht würden, der mit den göttlichen Geboten im Einklang stünde. Diese Eltern werden durch die Schulpflicht in ihrer Freiheit eingeschränkt, ihre Kinder so zu erziehen, wie sie dies selbst für richtig halten. Ihnen lässt sich jedoch nicht unterstellen, dass
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sie selbst auf ein umfassendes Autonomieideal festgelegt sind, um dafür argumentieren zu können, dass andere es unterlassen sollten, in ihre Freiheit einzugreifen. Denn diese Eltern wehren sich ja gerade gegen solche Eingriffe in ihre Handlungsfreiheit, die mit einem umfassenderen Autonomieideal, das auch die (potentielle) Autonomie ihrer Kinder einbezieht, gerechtfertigt werden. Die in Abschnitt 5.1.1 genannten Begründungen für das Neutralitätsgebot verweisen daher auch nicht auf den Wert der Autonomie, wenn behauptet wird, dass staatliche Eingriffe in die Handlungsfreiheit rechtfertigungspflichtig sind. Um für eine liberale Erziehung zu argumentieren, welche sich dem in Kapitel 2 näher charakterisierten Autonomieideal verschreibt und dies notfalls auch gegen die Interessen der jeweiligen Eltern befördert, kann man den eben genannten Liberalen also nicht unterstellen, in der Begründung für das Neutralitätsgebot selbst auf ein umfassendes Autonomieideal festgelegt zu sein. Wie aber lässt sich dann, falls überhaupt, für eine Beförderung der Autonomie und anderer umstrittener Ziele der Erziehung argumentieren? Eine Antwort auf diese Frage wird Besonderheiten des Erziehungsbereiches in den Blick nehmen müssen. In den bisherigen Überlegungen habe ich mich ganz allgemein auf das Neutralitätsgebot und seine möglichen Begründungen und Implikationen konzentriert und dabei gerade für den Erziehungsbereich wichtige Besonderheiten weitestgehend außer Acht gelassen. Diese sollen daher im Folgenden genauer in den Blick genommen werden. Auf die Diskussion um die Beförderung der Autonomie mittels staatlicher Erziehung komme ich dann noch einmal zurück (in 5.2.2).
5.2 Bildung und staatliches Handeln Der Bildungs- und Erziehungsbereich wird von den Gegnern des Neutralitätsgebotes angeführt, um zu zeigen, dass dieses gerade in diesem Bereich besonders unplausibel ist. Viele Perfektionisten behaupten, dass eine Beförderung bestimmter Werte gerade im Erziehungsbereich unproblematisch sei, weil dort keine staatlichen Zwänge im Spiel seien. So meint z. B. Hurka: „There is much non-coercive promotion of the good that perfectionism approves. The state can, first, promote perfectionism through its education system.“295 Gerade die Erziehung übe keine Zwänge aus, sondern gehe mit anderen Mitteln vor. Sie erhöhe die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich jemand bestimmte Wertvorstellungen zu eigen mache, auf eine Art und Weise, die selbst nicht verwerflich sei. Nicht jedes Mittel, welches man aufwende, um bestimmte Wertvorstellungen zu befördern, impliziere notwendig eine Form von Zwang.296 Auch Raz wendet gegen das Neutralitätsgebot und zugunsten des Perfektionismus ein, dass nicht jede perfektionistische Handlung problematische Zwänge impliziere.297 Chan unterscheidet zwi-
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schen einem „coercive perfectionism“ und einem „noncoercive perfectionism“. Und auch er meint, dass die Erziehung letzterem zuzuordnen sei.298 Diese Bemerkungen übersehen jedoch die realen Zwänge. Zumindest, wenn Eltern dazu gezwungen werden, ihre Kinder auf eine (staatliche) Schule zu schicken, sind klarerweise Zwänge im Spiel, die dann doch einer Rechtfertigung bedürfen. Außerdem werden alle Bürger über Steuern gezwungen, die staatliche Erziehung mitzufinanzieren. Insofern lässt sich die Frage, ob in diesen Fällen das Neutralitätsgebot verletzt wird, nicht einfach damit beantworten, dass im Erziehungswesen staatlicher Zwang keine oder nur eine untergeordnete Rolle spiele. Allerdings sind hier Abstufungen in der Intensität staatlicher Zwänge zu erkennen. Eine steuerliche Belastung dürfte weniger schwer wiegen als der Zwang, die eigenen Kinder auf eine (staatliche) Schule schicken zu müssen, wenn dies (beispielsweise aus religiösen Gründen) den eigenen Überzeugungen zuwiderläuft. Die These der Perfektionisten, manche Bereiche staatlichen Handelns seien den Vorgaben des Neutralitätsgebotes nicht unterworfen, weil dort keinerlei staatlicher Zwang ausgeübt werde, erweist sich demnach als Fehlvorstellung. Der Bildungsbereich ist gerade kein Beispiel zwangsfreien staatlichen Handelns. Die im Bildungsbereich auf die betroffenen Eltern und auf die betroffenen Kinder, sowie auf all diejenigen, die in ihren Steuergeldern das Bildungssystem mitfinanzieren, ausgeübten Zwänge werfen jeweils spezifische Fragen auf, um deren Beantwortung es im Folgenden gehen wird. Vertreter eines politischen Liberalismus beschränken sich oftmals darauf, staatliche Eingriffe im Erziehungsbereich mit einer Beförderung politischer Tugenden zu begründen.299 So verweisen sie zum Beispiel darauf, dass eine Konfrontation mit unterschiedlichen Wertvorstellungen der Beförderung der Toleranz dienlich sei. Auf diese Weise argumentiert über weite Strecken beispielsweise Macedo.300 Macedo nimmt allerdings eine Erweiterung dieser auf das politische Gemeinwesen bezogenen Argumentation vor. Nicht vernachlässigt werden dürfe nämlich die Tatsache, „that we are dealing with children who are not the mere extensions of their parents“.301 So erstrecke sich etwa die religiöse Freiheit der Eltern nicht vollständig auf den Umgang mit ihren Kindern. Die religiös motivierte elterliche Ablehnung der Einnahme bestimmter lebenswichtiger Medikamente, die der Staat hinnehmen müsse, soweit es um die selbstbezogene Entscheidung Erwachsener gehe, dürfe hinsichtlich der Kinder nicht akzeptiert werden. Dies sehen andere Liberale ähnlich. Als Beispiel dient hier oftmals die ablehnende Haltung der Zeugen Jehovas gegenüber Bluttransfusionen. Die Zeugen Jehovas sollten zwar nicht gezwungen werden, selbst Bluttransfusionen zu akzeptieren, aber der Staat dürfe sie zwingen, ihren Kindern Bluttransfusionen zu ermöglichen.302
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Lassen sich staatliche Zwänge im Erziehungsbereich nun in ähnlicher Weise mit dem Wohl der Kinder rechtfertigen, die ihrerseits wie ihre Eltern diesen Zwängen unterstehen? Um eine Beantwortung dieser Frage wird es in den nächsten beiden Abschnitten gehen. In Abschnitt 5.2.1 werde ich zunächst einige allgemeine Überlegungen zu den Zwängen anstellen, die im Rahmen der Schulpflicht auf bestimmte Eltern ausgeübt werden.303 In Abschnitt 5.2.2 geht es dann konkreter um eine mögliche Rechtfertigung für die Beförderung der Autonomie mittels staatlicher Erziehung gegen den Willen der jeweiligen Eltern. Darüber hinaus sind weitere staatliche Zwänge in den Blick zu nehmen. Wie lässt es sich mit dem Neutralitätsgebot vereinbaren, wenn staatliche Ausgaben im Bildungsbereich mit bestimmten Wertvorstellungen begründet werden? Diese Fragen werden bisher vor allem im Zusammenhang mit der staatlichen Subventionierung des Kulturbereichs diskutiert, und auf diese Diskussion werde ich in Abschnitt 5.2.3 genauer eingehen, da sie sich auch für den Bildungsbereich fruchtbar machen lässt.
5.2.1 Staatliche Erziehung zum Wohl der Kinder Ein staatliches Engagement in der schulischen Erziehung hat zweifellos eine gesamtgesellschaftliche Funktion. Es besteht ein erhebliches öffentliches Interesse an der Erziehung der heranwachsenden Mitglieder einer Gesellschaft. Rawls konzentriert sich in seinen Überlegungen ausdrücklich auf diesen Aspekt.304 Solche Überlegungen sind zwar sehr wichtig, aber ich werde mich hier stärker einem in der zeitgenössischen Diskussion eher vernachlässigten Aspekt der Erziehung zuwenden. Denn über die gesamtgesellschaftliche Funktion der schulischen Erziehung hinaus ist auch das individuelle Wohl der jeweiligen Kinder in den Blick zu nehmen, dessen Beförderung sie dienen kann.305 Eltern sollte es nicht erlaubt sein, ihren Kindern etwas vorzuenthalten, was deren Leben entscheidend besser machen könnte. Doch welche potentiellen Verbesserungen rechtfertigen staatliche Zwänge? Und wie ist mit dem Problem umzugehen, dass hier gerade umstritten ist, ob etwas das Leben dieser Kinder tatsächlich besser macht? Auch Liberale räumen ein, dass die Freiheit dort an ihre Grenzen stößt, wo bestimmte moralische Grundsätze verletzt werden. In diesem Zusammenhang rekurrieren sie beispielsweise auf bestimmte Formen von Diskriminierung.306 Dies ist auch für den hier diskutierten Zusammenhang relevant. So kann eine obligatorische Grundschulbildung Formen der Diskriminierung verhindern. Zu den inhaltlichen Kernforderungen des Menschenrechts auf Bildung gehört die Gewährleistung einer obligatorischen Grundschulbildung für alle (dazu mehr in Kapitel 6). Dies lässt sich unter anderem mit einem Schutz vor Diskriminierung begründen. So kann die Grundschulpflicht in einigen Ländern dazu beitragen, die Interessen von Mädchen gegenüber den Interessen ihrer Eltern zu verteidigen, die diese ansonsten nicht zur Schule schicken würden.
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Die Schulpflicht lässt sich also mit dem Schutz Minderjähriger begründen, deren Eltern nicht in ausreichender Weise dafür sorgen, dass diese gut durchs Leben gehen. Schon Mill hielt es für richtig, staatliche Regularien im Erziehungsbereich mit dem Schutz Minderjähriger zu begründen. Wenn Eltern es versäumen, ihrem Kind grundlegende Fähigkeiten zu vermitteln, dann sei dies sowohl ein Verbrechen gegen die Gesellschaft als auch ein moralisches Verbrechen gegen den unglücklichen Sprössling selbst. Man solle ein Alter festsetzen, in dem man prüfe, ob jedes Kind lesen könne, und wenn das nicht der Fall sei, dann solle man den Vater des Kindes mit einer mäßigen Geldstrafe bedenken und das Kind auf seine Kosten in die Schule schicken. Außerdem müsse den Kindern eine Mindestmenge an Allgemeinwissen vermittelt werden. Ob Eltern dieser Verpflichtung nachgekommen sind, solle von staatlicher Seite ebenfalls im Rahmen obligatorischer Prüfungen ermittelt werden. Darüber hinaus regt Mill freiwillige Prüfungen an, bei denen man ein Zeugnis über ihren erfolgreichen Abschluss erwerben können solle. In diesen Prüfungen solle jedoch neben dem Test eines bestimmten Könnens oder bestimmter Fähigkeiten nur Faktenwissen abgefragt werden. Gerade die Prüfungen in umstrittenen Themen wie Religion und Politik sollten nicht die Wahrheit oder Falschheit bestimmter Auffassungen voraussetzen. Die Kinder müssten vielmehr nur wissen, welche unterschiedlichen Positionen in einer Sache überhaupt vertreten werden. 307 In Bezug auf das gegenwärtige Schulsystem wird aber vielfach angenommen, die Fürsorgepflicht des Staates gegenüber Kindern reiche weiter bzw. die von Mill erwähnte, aber nicht näher quantifizierte Mindestmenge an Allgemeinwissen sei größer geworden, so dass eine allgemeine Schulpflicht bis zu einem bestimmten Alter angebracht sei. Wie also sind die konkreten Fälle zu bewerten, in denen Kinder, die in relativ abgeschlossenen religiösen Gemeinschaften aufwachsen, dort nicht mit konkurrierenden Wissensansprüchen, Wertüberzeugungen und Lebensmöglichkeiten konfrontiert werden? In der US-amerikanischen Diskussion wird hier vor allem auf den Fall Wisconsin v. Yoder rekurriert. In den frühen siebziger Jahren hatte eine Gruppe Amischer in dem Bundesstaat Wisconsin gefordert, die bis dahin bis zu einem Alter von sechzehn Jahren geltende Schulpflicht für die Angehörigen ihrer Glaubensgemeinschaft aufzuheben. Die Vorbehalte der Amischen gegenüber dem Besuch weiterführender Schulen bezogen sich darauf, dass die Werte, die dort vermittelt würden, mit ihren Wertvorstellungen nicht vereinbar seien. So würden an den weiterführenden Schulen intellektuelle und wissenschaftliche Leistungen befördert, sowie Wettbewerbsdenken und Erfolgsorientierung vermittelt. Die Amischen meinen dagegen, ein gutes Leben zeichne sich eher durch eine bestimmte Form der Lebensweisheit als durch intellektuelles Wissen aus. Dem Einzelnen solle es zudem um das Wohl der Gemeinschaft statt um den eigenen Erfolg gehen. Der Fall Wisconsin v. Yoder wurde vor dem Supreme Court verhandelt.
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Die Schulpflicht für die Amischen wurde schließlich auf die Zeit bis zum vierzehnten Lebensjahr reduziert. In der Begründung des Supreme Courts wurde darauf abgestellt, dass der Staat selbst kein Interesse daran habe, die Amischen über diese Zeit hinaus zum Schulbesuch zu zwingen, und dass er sie deshalb auch nicht zwingen dürfe.308 Wer in der Diskussion solcher und ähnlicher Fälle auf Seiten der klagenden Eltern steht, könnte auf das (vermeintliche) Recht der Eltern verweisen, ihre Kinder so zu erziehen, wie sie dies selbst für richtig halten. Hier geht es um ein Abwehrrecht gegen mögliche Eingriffe des Staates, und dieses Recht wird von philosophischer Seite unterschiedlich begründet. Zum einen wird behauptet, das Recht der Eltern, selbst über die Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen, liege im Interesse der Kinder.309 Eine andere Argumentationslinie behauptet, eine Stärkung der Familie (durch starke Elternrechte) sei dem gesamtgesellschaftlichen Wohl zuträglich, weil nur so gewährleistet sei, dass die Eltern willens und in der Lage sind, in die Erziehung ihrer Kinder zu investieren. Solche (selbstlosen) Investitionen seien für unsere Gesellschaft von hoher Bedeutung.310 Eine dritte Argumentationslinie leitet Rechte der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder aus den Interessen der Eltern ab. So behaupten Brighouse/Swift: „The challenge of parenting is something adults have an interest in facing, and it is that interest that grounds fundamental parental rights over their children.“311 Der Hinweis auf bestimmte Rechte der Eltern lässt allerdings die Möglichkeit offen, dass diese Rechte begrenzt und an bestimmte Bedingungen geknüpft sind. So meinen Brighouse/Swift, dass die Eltern zwar ein Interesse daran haben, auf die Werte und die Lebenspläne ihrer Kinder Einfluss zu nehmen. Dieses Interesse sei aber nur insofern zu berücksichtigen, als dadurch die prospektive Autonomie ihrer Kinder nicht eingeschränkt werde.312 Doch wie lässt es sich den Eltern gegenüber begründen, dass ihre Elternrechte gerade dann an ihr Ende gelangen, wenn durch ihren Erziehungsstil die Autonomie ihrer Kinder gefährdet ist? Einige Liberale verweisen an dieser Stelle darauf, dass die staatliche Erziehung zwar nicht gezielt die Autonomie befördern dürfe, aber anderes (z. B. Toleranz) befördern solle, was im Ergebnis eine Beförderung der Autonomie zur Folge habe. So meint Rawls, es sei Aufgabe des Staates dafür zu sorgen, dass allen Kindern eine angemessene politische Erziehung zuteil werde. Dazu gehöre es, über die eigenen verfassungsmäßigen und bürgerlichen Rechte in Kenntnis gesetzt zu werden. Die Kinder sollten darauf vorbereitet werden, kooperierende Mitglieder einer (gerechten) Gesellschaft zu sein und deren Fortbestand zu sichern. Dazu sollten die politischen Tugenden befördert werden, so dass die faire Kooperation in den gegenseitigen Beziehungen dauerhaft gesichert sei. Eine solche Erziehung sei zwar nicht auf Autonomie aus, aber sie könne zur Folge haben, dass damit gleichzeitig die Autonomie der zu Erziehenden befördert werde. Obwohl
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nicht intendiert, käme dies also im Ergebnis dem von Rawls so genannten „umfassenden“ Liberalismus entgegen.313 Der umfassende Liberalismus ist umstritten, und daher fordert Rawls ausdrücklich, dessen Ideale nicht mittels einer staatlichen Erziehung gezielt zu befördern. Doch wenn eine Beförderung des umfassenden Liberalismus eine unvermeidbare Konsequenz des politischen Liberalismus sei, dann müsse dies akzeptiert werden.314 Bringt eine politische Erziehung tatsächlich als Nebeneffekt eine Beförderung der Autonomie mit sich? Meines Erachtens ist es zweifelhaft, ob das Ziel einer Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger tatsächlich mit einer umfassenden Beförderung der Autonomie einhergeht. Wir hatten vor allem die kritische Reflektiertheit der zu Erziehenden als wichtige Zielvorstellung einer autonomieorientierten Erziehung ausgemacht (vgl. 2.1). Doch um die Gesetze zu kennen (und damit seine legalen Rechte und Pflichten) und um kooperative Mitglieder der Gesellschaft zu sein, muss man nicht in dem umfassenden Sinne selbstbestimmt sein, der dem Autonomieideal der liberalen Erziehung zugrunde liegt. Am ehesten überzeugt hier noch der Bezug zur Tugend der Toleranz, welche mittels Erziehung befördert werden sollte, und deren Beförderung im Ergebnis eine Beförderung der Autonomie mit sich bringen könnte.315 So heißt es in einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes, in dem es um die Ablehnung der Genehmigung zur Erteilung von Heimunterricht geht: „Die Pflicht zum Besuch der staatlichen Grundschule dient dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags und ist zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich. […] Das Vorhandensein eines breiten Spektrums von Überzeugungen in einer Klassengemeinschaft kann die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog als einer Grundvoraussetzung demokratischer Willensbildungsprozesse nachhaltig fördern.“316 Doch kann der Verweis auf eine Erziehung zu Toleranz tatsächlich in allen Fällen rechtfertigen, dass Kinder mit konkurrierenden Wertvorstellungen konfrontiert und so in die Lage versetzt werden, ihre eigenen Wertvorstellungen kritisch in Frage zu stellen? Nehmen wir an, eine bestimmte Religionsgemeinschaft erzöge ihre Kinder zu großer Friedfertigkeit. In solchen Fällen wäre es fraglich, ob staatliche Eingriffe in die Erziehung ihrer Kinder tatsächlich allein mit einer Beförderung der Toleranz gerechtfertigt werden können. Warum sollte man diese Kinder mittels staatlicher Erziehung mit konkurrierenden Wertvorstellungen konfrontieren, wenn doch die Werte dieser Religionsgemeinschaft so beschaffen sind, dass keine Konflikte mit Andersdenkenden zu erwarten sind? Diese Frage stellt sich insbesondere in Bezug auf relativ abgeschlossene und an dem gesellschaftlichen Leben insgesamt recht wenig partizipierende Religionsgemeinschaften, wie etwa die Amischen. Eine Konfrontation der Kinder mit fremden Wertvorstellungen ist in diesen Fällen nur schwer mit Rekurs auf bestimmte politische Interessen zu begründen.
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Neben der gesamtgesellschaftlichen Funktion der Erziehung sollte jedoch auch das Wohl des je Einzelnen in den Blick genommen werden. Denn es lässt sich direkter als über den Umweg einer Beförderung liberaler Tugenden darauf verweisen, dass es für die entsprechenden Kinder besser ist, mit alternativen Lebensmöglichkeiten konfrontiert zu werden. Eine insofern autonomieorientierte Erziehung würde dann nicht nur eine Beförderung der politischen Tugenden bezwecken, sondern sie würde direkt eine Beförderung der Autonomie zum Ziel haben, und zwar um des Wohls der jeweiligen Kinder willen.317 Dass dies neutral gerechtfertigt werden kann, wird jedoch von etlichen Liberalen bestritten. Was lässt sich dem entgegenhalten?
5.2.2 Beförderung der Autonomie In Abschnitt 5.1.3 hatten wir gesehen, dass das Neutralitätsgebot nicht notwendig mit dem Wert der Autonomie (im umfassenden Sinne) begründet werden muss. Eine Begründung des Neutralitätsgebotes kommt damit aus, dass sich staatliche Zwänge jedem gegenüber rechtfertigen lassen müssen. Doch nicht nur staatliche Zwänge müssen gerechtfertigt sein, sondern auch die Zwänge, die Eltern auf ihre Kinder ausüben. Im Bereich der Erziehung gibt es auf allen Seiten gerechtfertigte und ungerechtfertigte Zwänge. Es kann daher nicht darum gehen, staatliche Zwänge grundsätzlich auszuschalten und elterliche Zwänge grundsätzlich zuzulassen, sondern man muss stattdessen fragen, welche Art von Zwang gerechtfertigt ist.318 Wann also ist eine staatliche Erziehung, die gegen den Willen der Eltern durchgesetzt wird, gerechtfertigt? Liegt ein solcher Fall vor, wenn Eltern es versäumen, die Autonomie ihrer Kinder zu befördern? Einige Liberale bestreiten dies ganz entschieden. Besonders deutlich wird das bei Galston. Die Beförderung der persönlichen Autonomie sei mit dem Neutralitätsgebot unvereinbar. Aus diesem Grund fordert Galston „a non-autonomy-based system of public education“. Daraus folgt seines Erachtens konkret: „What it [the state, K.M.] may not do is prescribe curricula or pedagogic practices that require or strongly invite students to become sceptical or critical of their own way of life.“319 Andere Liberale sprechen sich dagegen ausdrücklich für eine autonomieorientierte Erziehung aus. Ihnen geht es in der Forderung nach staatlicher Neutralität ebenfalls um die Möglichkeit einer Rechtfertigung staatlichen Zwangs. Zwang sei in der Regel nur dann gerechtfertigt, wenn in seiner Begründung nicht auf bestimmte Wertvorstellungen oder Vorstellungen von einem guten Leben verwiesen werden müsse. Allerdings seien nicht alle Gründe, die auf einer bestimmten Vorstellung vom guten Leben basieren, per se ungeeignet, staatliches Handeln zu rechtfertigen. So könne der Verweis auf den Wert der Autonomie durchaus eine adäquate Rechtfertigung liefern. Daher meint selbst Gaus: „I, indeed, think that some notions of autonomy […] provide such reasons.“320
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Doch warum gerade Autonomie? Die wohl auf den ersten Blick überzeugendste Antwort auf diese Frage stammt von Raz.321 Der behauptet, zumindest in liberalen Gesellschaften müsse der Staat für die Beförderung der Autonomie seiner Bürger sorgen, und zwar um deren guten Lebens willen. Raz vertritt die These, dass in liberalen Gesellschaften ein notwendiger Zusammenhang zwischen einem autonomen und einem guten Leben bestehe. Seine Argumentation für diese These lässt sich wie folgt rekonstruieren: Nur die Personen, die wertvolle Ziele verfolgen und diese erreichen, haben ein gutes Leben. Alle wertvollen Ziele, die sich in einem liberalen Umfeld verfolgen lassen, kann man nicht erreichen, ohne zugleich ein autonomes Leben zu führen. Daraus folgt: Eine Person, die in einem liberalen Umfeld lebt und die Fähigkeit zur Autonomie nicht besitzt, hat kein gutes Leben. Nehmen wir an, die Prämissen in Raz’ Argument seien wahr.322 Könnte man auf diese Weise dafür argumentieren, auch gegen den Willen der Eltern die Autonomie ihrer Kinder zu befördern? Betrachten wir dazu den vor dem Verwaltungsgericht Augsburg verhandelten Fall noch einmal genauer. Die Kläger, die sich gegen die Schulpflicht ihrer damals sechsjährigen Tochter wenden, gehören einer Glaubensgemeinschaft an und leben zusammen mit anderen Angehörigen dieser Gemeinschaft in einer ehemaligen Klosteranlage. Sie wollen ihre Tochter zusammen mit anderen Kindern von Angehörigen der Glaubensgemeinschaft durch Hausunterricht unterrichten lassen. Liefert uns nun Raz’ Konklusion einen Grund dafür, dass dies dem guten Leben des besagten Mädchens abträglich ist? Betrachten wir das Leben der Tochter vor ihrer Einschulung. Das Mädchen lebt in Deutschland, und Raz würde sicher behaupten, dass dies ein liberales Umfeld ist. Allerdings lebt sie auch (und vor allem) innerhalb ihrer religiösen Gemeinschaft, und die ist nun gerade kein liberales Umfeld. Wenn man also bestreitet, dass sie nur in einem liberalen Umfeld lebt, dann lässt sich aus dem Argument nicht ableiten, dass sie ein schlechtes Leben führt. Das Argument schließt nicht aus, dass ihr die religiöse Gemeinschaft wertvolle Möglichkeiten offeriert, die nicht an die Bedingungen der Autonomie geknüpft sind. Und daher lässt sich aus diesem Argument auch nicht ableiten, dass sie notwendig ein schlechtes Leben führt. Nehmen wir nun ihr Leben als Ganzes in den Blick. Wird sie ihr Leben in einem liberalen Umfeld verbracht haben? Darüber lässt sich nur spekulieren. Falls man davon ausgehen kann, dass sie ihr gesamtes Leben in der religiösen Gemeinschaft verbringen wird, wenn sie nicht auf eine öffentliche Grundschule geht, würde uns Raz’ Argumentation keinen Grund dafür liefern, ihre Autonomie zu befördern. Allerdings könnte diese Voraussetzung dadurch in Frage gestellt werden, dass man die Gemeinschaft für instabil hält. Eben diese Zusatzannahme wird von Raz selbst diskutiert. Wenn abzusehen sei, dass eine bestimmte Gemeinschaft in einer modernen Gesellschaft als isolierte Gruppe nicht überleben könne, müsse dafür Sorge
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getragen werden, dass den jungen Menschen, die heranwachsen, die Fähigkeiten vermittelt werden, die sie benötigen, um außerhalb dieser Gemeinschaft ein gutes Leben zu führen.323 Wenn abzusehen ist, dass die Kinder die religiöse Gemeinschaft in einem bestimmten Alter verlassen werden, ist es wichtig dafür zu sorgen, dass die Kinder die Fähigkeiten erworben haben, welche eine autonome Lebensführung möglich machen. Denn man kann davon ausgehen, dass diese Fähigkeiten tatsächlich eine wichtige Bedingung für ein gutes Leben in einer liberalen Gesellschaft sind. Falls man begründete Zweifel daran hat, dass die religiöse Gemeinschaft den Kindern eben diese Fähigkeiten vermittelt, dann ist dies ein Grund dafür, solche Fähigkeiten in der Grundschule zu vermitteln. Doch liefert uns dies einen Grund dafür, den Kindern schon zu Schulzeiten alternative Lebensmöglichkeiten und Wertvorstellungen aufzuzeigen? Sollte die Schule über die Vermittlung bestimmter Fähigkeiten hinaus auch das Spektrum an alternativen Lebensmöglichkeiten erweitern, und zwar durch die Konfrontation mit eben diesen Möglichkeiten? Man könnte behaupten, das gute Leben der Kinder sei nicht erst dann gefährdet, wenn sie ein Leben außerhalb dieser Gemeinschaft führen, sondern es sei gerade dadurch gefährdet, dass sie ihr Leben mit großer Wahrscheinlichkeit unreflektiert innerhalb der Gemeinschaft verbringen werden. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist dann besonders hoch, wenn ihre Eltern sehr lange dafür sorgen, dass sie nichts über mögliche Alternativen zum Leben innerhalb der Gemeinschaft erfahren. Doch mit Hilfe von Raz’ Argument lässt sich nicht zeigen, dass die Kinder damit kein gutes Leben führen. Wenn man bestreitet, dass die religiöse Gemeinschaft ein liberales Umfeld ist, dann lässt sich aus dem Argument nicht ableiten, dass die Kinder ein schlechtes Leben führen, denn es schließt nicht aus, dass ein solches Umfeld wertvolle Möglichkeiten offeriert, die nicht an die Bedingungen der Autonomie geknüpft sind. Eine mögliche Einschränkung der Lebensmöglichkeiten ließe sich allerdings auf eine andere Weise problematisieren, als Raz dies tut. Raz bemisst den Erfolg eines Lebens daran, ob jemand wertvolle Ziele verfolgt. Anstatt den Wert dieser Ziele von dem jeweiligen Kontext abhängig zu machen, könnte man nun behaupten, dass alle wertvollen Möglichkeiten an die Bedingungen der Autonomie geknüpft sind, und zwar unabhängig vom jeweiligen Kontext. Es ließe sich also bestreiten, dass die Ziele, die eine bestimmte Gruppe für wertvoll erachtet, auch dann wertvoll sind, wenn die Bedingungen der Autonomie nicht erfüllt sind. Eine solche Kritik wäre mit der Position von Raz vereinbar. Einerseits legt uns Raz zwar nahe, dass der Wert bestimmter Ziele von bestimmten gesellschaftlichen Praktiken generiert wird. Andererseits betont er jedoch, dass die Frage, ob ein Ziel tatsächlich wertvoll ist, damit noch nicht beantwortet ist. Die gesellschaftlichen Praktiken seien nur eine notwendige, nicht jedoch eine hinreichende
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Bedingung für die Existenz bestimmter Werte. Raz hält es also durchaus für möglich, dass das, was eine bestimmte Kultur oder Gruppe für wertvoll erachtet, mit guten Gründen zu kritisieren ist.324 Allerdings bringt er selbst keine klare Kritik an Gruppierungen vor, die der Autonomie keinen oder nur einen geringen Wert beimessen.325 Raz liefert uns also keinen Grund dafür, Kindern, die in stabilen religiösen Gemeinschaften aufwachsen, mittels einer staatlichen Erziehung alternative Lebensentwürfe zu präsentieren und so ihre Autonomie zu befördern. Selbst wenn wir seine Prämissen akzeptieren würden, ließe sich aus seinem Argument nichts über einen Zusammenhang zwischen der Autonomie und dem guten Leben dieser Kinder ableiten. Dieses Problem stellt sich auch für andere Versuche, die Beförderung bestimmter kultureller Werte mittels einer staatlichen Erziehung gegen den Willen der Eltern durchzusetzen. Wenn die jeweiligen Eltern diesen Werten selbst nichts abgewinnen können, dann kann man mit Hilfe einer Argumentation wie der von Raz nicht zeigen, dass den Kindern, die zwar innerhalb dieser Gesellschaft, aber zugleich in einer bestimmten (z. B. religiösen) Subgruppe dieser Gesellschaft aufwachsen, eben diese Werte mittels einer staatlichen Erziehung vermittelt werden sollten. Wir müssten also nach weiteren Gründen dafür suchen, dass der Staat mittels Erziehung eine Beförderung der Autonomie verfolgen darf oder sogar sollte. So könnte man versuchen, sich auf eine bestimmte Auslegung religiöser Gebote zu einigen. Denen, die eine Beförderung der Autonomie dem gläubigen Leben für abträglich halten, ließe sich entgegnen, dass nur der authentische Glaube zählt, so dass ein manipulierter Glaube auch dann für Gott keine Bedeutung hätte, wenn er der richtige wäre. Einen bestimmten Glauben unhinterfragt zu übernehmen, wäre dann weniger wertvoll als der Glaube, der einer möglichen Kritik standgehalten hat. Zudem könnten sich unreflektierte Glaubensvorschriften als äußerst kontraproduktiv erweisen. So provoziert der religiöse Zwang die Gefahr der Heuchelei, die vom wahren Glauben wegführt.326 Es ist jedoch fraglich, ob diese beiden Punkte die genannten Eltern überzeugen würden. Allerdings bleibt uns hier zum einen der Verweis auf den instrumentellen Wert der Autonomie. Einigen Kindern ist das Leben, welches ihre Eltern für gut erachten, tatsächlich zuträglich. Doch Menschen sind verschieden, und manche Kinder würden ein besseres Leben außerhalb der Glaubensgemeinschaft ihrer Eltern führen, weil ihren Neigungen und Fähigkeiten ein solches Leben nicht entgegenkommt. Zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten wählen zu können, hat somit einen instrumentellen Wert. Es erhöht die Wahrscheinlichkeit dafür, die Option zu finden, die den eigenen Neigungen und Fähigkeiten am ehesten entspricht. Diese Argumentation findet sich schon bei Mill. Ihr liegt die Prämisse zugrunde, dass Menschen
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von Natur aus verschieden sind. Wenn man diese Prämisse akzeptiert, gibt es tatsächlich einen guten Grund für die Beförderung der Autonomie. Zum anderen lässt sich auch hier wieder auf allgemein menschliche Erfahrungen verweisen. Welche Dinge wertvolle Erfahrungen ermöglichen und welche Erfahrungen dem entgegenstehen, ist letztlich eine empirische Frage. Menschen sind verschieden sozialisiert. Ihre Möglichkeiten, ein glückliches oder sinnvolles Leben zu führen, sind von dieser Sozialisation sehr stark geprägt. Doch es gibt Erfahrungen, die Menschen als Menschen unabhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit machen. Ein Beispiel dafür ist der Zusammenhang zwischen einem glücklichen und einem zumindest rudimentär autonomen Leben. Darüber hinaus kann man zwar nicht mit völliger Sicherheit sagen, dass ein im umfassenderen Sinne autonomes Leben auch tatsächlich besser wäre. Wenn sich jedoch zeigen ließe, dass sehr viele Menschen unterschiedlicher Kulturen einer autonomen Lebensführung viel abgewinnen konnten, dann wäre das ein guter Grund dafür, die Fähigkeit zur Autonomie mittels Erziehung zu befördern. Viele Erfahrungen sind erst in bestimmten Kontexten möglich und insofern kontextspezifisch. Darüber hinaus können selbst allgemein menschliche Erfahrungen durch kulturelle und persönliche Sinnentwürfe überformt werden. So mag die Erfahrung von Autonomie zwar eine allgemein menschliche Erfahrung sein, aber sie ist in manchen Gesellschaften nur eingeschränkt möglich. In liberalen Gesellschaften wird sie darüber hinaus positiv verstärkt. Doch damit ist ein mit Allgemeingültigkeitsanspruch formulierter Rekurs auf den Wert der Autonomie nicht per se verfehlt. Zwar spricht vieles dafür, dass die Wertschätzung der Autonomie mit dem kulturellen Kontext variiert. Allerdings folgt daraus nicht, dass die Wertschätzung der Autonomie ein bloß kulturelles Phänomen ist. Auch wenn die Wertschätzung der Autonomie unter einigen Bedingungen schwerer fällt als unter anderen, spricht doch vieles dafür, dass sie eine allgemein menschliche Erfahrung ist. Trotz ihrer Verschiedenheit ähneln Menschen sich und machen häufig ähnliche Erfahrungen, selbst unter sehr unterschiedlichen und selbst unter erschwerten Bedingungen. So scheinen sehr viele Menschen einen einmal erfolgten Zugewinn an Autonomie auch dann nicht mehr missen zu wollen, wenn ihre Umgebung ihrer persönlichen Autonomie keinen hohen Wert beimisst. Und insofern macht selbst für diejenigen, deren gesellschaftliches Umfeld einer Wertschätzung der Autonomie nicht entgegenkommt, ein Zuwachs an Autonomie das Leben oftmals tatsächlich besser. Um diese These zu überprüfen, wären zweifellos detailliertere empirische Untersuchungen nötig. Zumindest Ansätze dazu finden sich bei Nussbaum. Ein Beispiel dafür sind Erfahrungsberichte von Frauen in Indien, die in einem Projekt lesen gelernt haben. Diese Erfahrungen gibt Nussbaum so wieder: „I would have been very wrong to assume […], that these women
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did not want separateness and choice, that they really wanted to submerge their own aims in those of husband and family. This, again, emerges retrospectively, in their moving accounts of their newfound feelings of selfhood and mental awareness.“327 Wenn sich solche Berichte über den Einzelfall hinaus bestätigen ließen, wäre zumindest eine sehr weitreichende Zurückweisung des Autonomieideals keine Auffassung, die eine von mehreren vernünftigen (und gleichwohl umstrittenen) Auffassungen vom guten Leben ist. Insofern wäre das Faktum des vernünftigen Pluralismus hier ab einem bestimmten Punkt nicht mehr einschlägig. Zuweilen wird behauptet, eine Orientierung am Wert der Selbstbestimmung sei ein modernes Phänomen und reiche nicht weit zurück. Dagegen wendet Gerhardt ein, dass das Streben nach Selbständigkeit zu den ältesten überlieferten Werten der europäischen Kultur gehöre.328 Der Anspruch auf Selbständigkeit sei nicht erst vor zwei- oder dreihundert Jahren in Umlauf gekommen. Nachweisbar sei dieser Anspruch seit mehr als zweitausendfünfhundert Jahren (und vieles spreche dafür, dass er noch um einiges älter ist). Gerhardt bringt solche Nachweise selbst und nennt dazu unter anderem Textstellen bei Hesiod, Platon, Aristoteles, Lukrez und Cicero.329 Eine solche Sichtung literarischer und philosophischer Bemerkungen zum Wert der Selbstbestimmung kann die bereits angesprochenen empirischen Untersuchungen ergänzen, um zu zeigen, dass die Wertschätzung der Autonomie kein bloß partikulares und nur unter modernen Liberalen unumstrittenes Ideal ist, sondern sogar auf Erfahrungen zurückgeht, die Menschen als Menschen machen und von jeher (oder zumindest schon vor sehr langer Zeit) gemacht haben. Es ist allerdings zu beachten, dass dem Wert der Autonomie andere Werte entgegenstehen können, und dass auch dieses Verhältnis zu klären wäre. So kann ein Zugewinn an Autonomie mit der Auflösung wichtiger Bindungen einhergehen, und es bleibt insofern fraglich, ob die Beförderung einer sehr umfassenden kritischen Reflektiertheit tatsächlich allen Menschen gleichermaßen entgegenkommt. Kommen wir auf den zu Anfang dieses Kapitels erläuterten Konflikt zurück. Sollte der Staat Eltern zwingen dürfen, ihre Kinder auf eine Schule zu schicken? Es gibt gute Gründe dafür, in einem bestimmten Ausmaß mittels schulischer Erziehung die Autonomie der Kinder auch gegen den Willen ihrer Eltern zu befördern. Hier ist auf der einen Seite das Wohl der Kinder zu nennen, welches durch eine Konfrontation mit alternativen Wertvorstellungen befördert wird. Darüber hinaus ist das Anliegen der Gesellschaft einschlägig, insbesondere die für ein friedliches Zusammenleben wichtigen Werte allen Mitgliedern dieser Gesellschaft zu vermitteln. Diesen Gründen für eine Beförderung der Autonomie mittels staatlicher Erziehung steht die faktische Ablehnung der betroffenen Eltern entgegen. Zwischen diesen Gründen ist eine vernünftige Abwägung zu treffen. Das Ergebnis einer solchen Abwägung ist jedoch theoretisch nicht zweifelsfrei auszumachen. Die
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theoretischen Ressourcen philosophischer Überlegungen sind hier offenbar begrenzt, was auch mit den zahlreichen empirischen Vorüberlegungen zusammenhängt, die hier einfließen müssten (vgl. dazu die eben skizzierten Ansätze Nussbaums). Außerdem hatte ich bereits in Abschnitt 2.1.1 auf die Schwierigkeit aufmerksam gemacht, die schon eine Explikation des Autonomieideals mit sich bringt. Diese Schwierigkeit besteht darin, dass in Vorstellungen von einem angemessenen Spektrum an Handlungsmöglichkeiten (welches Bestandteil der Autonomie des Handelns ist) normative Grundannahmen eingehen müssen, die aus dem Autonomiebegriff allein nicht abzuleiten sind. Dennoch lässt sich sagen, dass es zu dem angemessenen Spektrum an Handlungsmöglichkeiten gehört, aus einer Gemeinschaft auch austreten zu können. Es sollte daher zumindest dafür gesorgt werden, dass den Kindern ein späterer Austritt aus der Gemeinschaft, in der sie leben, möglich ist. Das fordert sogar Galston, der ansonsten sehr starke Vorbehalte gegenüber einer von staatlicher Seite verordneten autonomieorientierten Erziehung hat. Galston meint, der Staat solle dafür sorgen, dass ein freier Austritt aus den verschiedenen Gruppierungen möglich ist, deren Vielfalt er ansonsten bewahren sollte.330 Doch was muss gewährleistet sein, damit die einzelnen Gruppenmitglieder aus ihrer Gruppe austreten können? Galston nennt hier die folgenden Bedingungen: Erstens gehe es um ein Wissen über mögliche Alternativen zu dem Leben, welches man faktisch führt, zweitens um Fähigkeiten, diese Alternativen bewerten und einordnen zu können, drittens um psychologische Bedingungen, also um die Freiheit von manipulierenden Einflüssen der Eltern auf ihre Kinder oder allgemein Freiheit von psychologischem Zwang, und viertens um „fitness conditions“, worunter er die Fähigkeiten versteht, die man braucht, um bei einem Austritt aus der eigenen Gruppierung für das Leben außerhalb dieser Gruppierung gerüstet zu sein und die dort offerierten Möglichkeiten auch tatsächlich ergreifen zu können.331 Diese Bedingungen sind allerdings so formuliert, dass sie mit einer recht umfassenden Beförderung der Autonomie einhergehen. Wenn wir uns beispielsweise überlegen, welche Bedingungen wir für die Autonomie des Wollens formuliert haben (vgl. Abschnitt 2.1.2), dann fallen die von Galston formulierten Austrittsbedingungen damit gerade zusammen. Galston selbst räumt dies zumindest ansatzweise selbst ein. Die Gewährleistung der Möglichkeit, aus der eigenen Gruppierung auszutreten, bringe einen in die Nähe von solchen Praktiken, wie sie von denen gefordert werden, die der staatlichen Erziehung (anders als Galston) das Autonomieideal zugrunde legen wollen. Sie bringen einen Galston zufolge allerdings nur in die Nähe, und es bestehen nach wie vor Unterschiede.332 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass ein Unterschied nur dann noch zu erkennen ist, wenn man eine ganz bestimmte Autonomiekonzeption vertritt. Galston wendet sich hier
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offenbar vor allem gegen eine Autonomiekonzeption, die davon ausgeht, dass wir uns von der Vernunft und nicht von unserem religiösen Glauben oder der Tradition leiten lassen sollten, um ein gutes Leben führen zu können.333 Das ist aber nicht die Autonomiekonzeption, die dem Autonomieideal der liberalen Erziehung zugrunde liegt oder zugrunde liegen müsste. Sein Anliegen, einen am Wert der Autonomie orientierten Liberalismus zurückzuweisen, unterläuft Galston damit selbst. Seine eigenen Forderungen fallen mit denen der liberalen Erziehung zusammen. Wir sehen also, dass die vermeintlichen Unterschiede in den theoretischen Ausgangspunkten verschwinden, wenn diese in konkrete praktische Überlegungen münden. Dies gilt sogar für die praktischen Überlegungen derjenigen Autoren, deren Ansätze aristotelische Züge aufweisen und die sich darin vermeintlich sehr grundsätzlich von liberaleren Ansätzen unterscheiden. Dazu gehört Nussbaum, die zwar in ihren theoretischen Überlegungen einen anderen Ausgangspunkt nimmt, praktisch dann aber doch zu denselben Ansichten neigt wie die erklärten Vertreter eines politischen Liberalismus. Obwohl Nussbaum an vielen Stellen ihrer Werke auf den Wert der Autonomie rekurriert, ist sie dennoch äußerst vorsichtig, wenn es darum geht, praktische Zwänge im Bildungswesen mit einer Beförderung der Autonomie zu begründen. Zwar vertritt sie erklärtermaßen ein aristotelisches Staatsverständnis, zwar nennt sie eine Reihe von Fähigkeiten, die zu einem guten Leben notwendig hinzugehören, zwar meint sie, es sei Aufgabe des Staates, diese Fähigkeiten zu befördern – und doch plädiert sie in strittigen Fällen nicht ausdrücklich für ein staatliches Eingreifen in die Erziehung der Eltern. Ein solch strittiger Fall ist der oben bereits erwähnte Konflikt zwischen einer Gruppe Amischer und dem Bundesstaat Wisconsin. Die Jungen werden in der Gemeinschaft der Amischen vor allem an die Landwirtschaft und das Handwerk herangeführt, die Mädchen lernen hingegen eher auf das Haus bezogene Tätigkeiten. Nussbaum meint daher, die Jungen seien für ein Leben außerhalb dieser Gemeinschaft besser gerüstet. Das gibt ihr zwar zu denken, aber es bringt sie dennoch nicht dazu, die oben genannte Entscheidung des Supreme Court zurückzuweisen. Stattdessen hält sie diesen Fall lediglich für „äußerst schwierig“ zu entscheiden,334 und an anderer Stelle meint sie sogar, es sei plausibel anzunehmen, dass dieser Fall richtig entschieden wurde.335 Dabei schließt sich Nussbaum sogar Rawls’ Vorstellungen in Political Liberalism an: „The state that I favour should probably not use the notion of autonomy, a notion that has (and had in Mill) strong historical links to the rejection of theistic sources of meaning.“336 Nussbaum räumt jedoch ein, dass Kindern die Fähigkeit vermittelt werden sollte „to think critically about their own way of life, at least enough so that exit options are available to them.“337 Damit fällt Nussbaums Position hier letztlich mit Galstons Position zusammen.
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Offenbar sind also alle Seiten bereit, zwischen den Anliegen der Eltern, ihre Kinder gemäß den eigenen Wertvorstellungen zu erziehen und dem Wohl der Kinder, welches durch eine Konfrontation mit alternativen Wertvorstellungen befördert werden kann, sowie dem Anliegen der Gesellschaft, insbesondere die für ein friedliches Zusammenleben wichtigen Werte allen Mitgliedern dieser Gesellschaft zu vermitteln, abzuwägen. Obwohl ich (ebenso wenig wie die genannten Autoren) das Ergebnis einer solchen Abwägung für den einzelnen Fall vorwegnehmen will, sollte doch klar geworden sein, dass es gute Gründe dafür gibt, mittels staatlicher Erziehung die Autonomie nicht nur als Nebenprodukt (einer politischen Erziehung), sondern gezielt zu befördern – um des guten Lebens der jeweiligen Kinder willen. Was diesen Gründen im konkreten Fall entgegensteht, kann hier nicht verallgemeinernd geklärt werden. Auch kann die Philosophie hier schon deshalb nicht zu einem abschließenden Urteil kommen, weil zunächst weitere empirische Überlegungen angestellt werden müssten. Dennoch kann die Philosophie zumindest grundsätzliche Überlegungen für eine Verständigung über diese Problematik bereitstellen, um die nötige Debatte differenzierter führen zu können.
5.2.3 Staatliche Kulturförderung durch Erziehung Im letzten Abschnitt haben wir eine Vereinbarkeit der im Rahmen der Schulpflicht ausgeübten Zwänge mit dem Neutralitätsgebot betrachtet. Doch auch die staatliche Finanzierung bestimmter Bildungseinrichtungen, deren Besuch jedem freisteht, könnte gegen das Neutralitätsgebot verstoßen. Denn wenn alle Bürger an der Finanzierung dieser Einrichtungen beteiligt sind, müssten sich die Werte, die den dort vermittelten Inhalten zugrunde liegen, wiederum jedem gegenüber rechtfertigen lassen. Dies wird deutlich, wenn man sich Hurkas Vorschläge zur Erwachsenenbildung ansieht, bei denen er sich an dem Vorgehen der kanadischen Regierung orientiert. Die kanadische Regierung finanziert Werbekampagnen, in denen die Bürger dazu motiviert werden sollen, sich an sportlichen Aktivitäten zu beteiligen. Hurka begründet dies damit, dass solche Aktivitäten „intrinsisch wertvoll“ seien. Die Kampagnen seien daher ein Beispiel dafür, dass die Bürger auf unproblematische Weise in die richtige Richtung gelenkt werden könnten.338 Schon die Werbung für das Sporttreiben wird jedoch möglicherweise nicht bei allen Steuerzahlern auf Verständnis stoßen. Sie könnten fordern, die Steuerlast insgesamt zu reduzieren, statt für eine umstrittene Form der Erwachsenenbildung Geld aufzuwenden; oder sie könnten zumindest fordern, die Steuern für unstrittigere Projekte auszugeben. Sich hier einfach darauf zu berufen, dass es sich nur um eine staatliche Förderung handelt, die jedoch keinerlei staatliche Zwänge impliziere, reicht daher nicht aus. Erklärte Perfektionisten, wie beispielsweise Hurka, machen im Gegensatz zu den meisten Liberalen konkrete inhaltliche Vorschläge zu den Akti-
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vitäten staatlicher Bildungseinrichtungen. Und sie begründen diese mit dem Verweis auf intrinsische Werte: „The state can, first, promote perfection through its educational system. Its schools can teach students about the natural world and the history of their culture, in part because knowing these subjects is intrinsically good.“339 Hurkas Position hatte ich oben Begründungsdefizite unterstellt (vgl. 4.1.3). Doch auf den ersten Blick spiegelt sie das Verständnis von Bildung wider, welches sich in den dafür zuständigen Institutionen und in unserem Bildungskanon ausdrückt. Wie also lässt sich dieses Verständnis rechtfertigen? Muss dem Bildungskanon letztlich doch die Annahme zugrunde liegen, dass manche Dinge intrinsisch wertvoll sind, und verstößt er damit gegen das Neutralitätsgebot? Bevor wir uns einer Beantwortung dieser Frage zuwenden, ist es hilfreich, zunächst eine ähnliche Diskussion zu betrachten, und zwar die um eine staatliche Förderung von Kunst und Kultur. Wie lässt sich die staatliche Kunst- und Kulturförderung rechtfertigen? Perfektionisten behaupten, dass unsere Kultur einen bestimmten Grad an Tiefe, Vielschichtigkeit und Exzellenz aufweisen muss, damit die menschliche Natur blühen und gedeihen kann. Da der Staat für das Florieren der menschlichen Natur Sorge tragen sollte, müsse er für die Exzellenz der Kultur sorgen, wenn die Bürger nicht selbst dafür sorgen können. Und er solle dies auch dann tun, wenn sie nicht dafür sorgen wollen.340 Dies lässt sich beispielsweise auf die Förderung der Kunst beziehen. Der Kunstförderung läge dann die Annahme zugrunde, dass es gut ist, sich künstlerisch zu betätigen oder die Produkte solcher Aktivitäten wertzuschätzen, und dass dies besser ist als anderes, also besser als vermeintlich trivialere Aktivitäten. Da der Staat dafür sorgen sollte, das Leben der Bürger besser zu machen, sollte er die Kunst fördern. So begründet scheint die Kulturförderung allerdings mit dem Neutralitätsgebot unvereinbar zu sein. Mit dem Hinweis auf das Neutralitätsgebot weisen daher einige Liberale die staatliche Kulturförderung zurück. Ein Beispiel dafür ist Brighouse. In der Rechtfertigung staatlicher Zwänge, also von z. B. Steuern, die für die Kultursubventionierung ausgegeben werden, müsse Neutralität zwischen verschiedenen Vorstellungen vom guten Leben gewahrt werden. Eine Rechtfertigung der Kultursubventionierung könne diesem Erfordernis jedoch nicht genügen. Denn die Kultursubventionierung befördere manche Arten zu leben mehr als andere.341 Kunstkritiker mögen sich über die Förderungswürdigkeit mancher Kunst einig sein, aber wenn die Kunstkritiker bestimmen, welche Kunst gefördert werden sollte, dann ließe sich das wiederum nicht allen Bürgern gegenüber rechtfertigen. Hier setze nur eine Gruppe ihre Interessen durch, und es sei nicht zu sehen, wie dies mit dem Neutralitätsgebot zu vereinbaren ist. Zwar gebe es Kunst, über deren Wert sich alle einig seien, so z. B. Shakespeares Werke. Aber dennoch bestehe Uneinigkeit darüber, ob bestimmte Ressourcen für die Beförderung seiner Werke ausgegeben werden sollten (z. B. durch die
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Subventionierung von Theatern, in denen seine Stücke aufgeführt werden) und warum diese Ressourcen nicht stattdessen für etwas anderes ausgegeben werden sollten. Die staatliche Kulturförderung verstoße daher gegen das Neutralitätsgebot.342 Welche Kunst besonders gut ist, entscheidet sich nicht an der Richtigkeit bestimmter Vorstellungen vom guten Leben, sondern anhand ästhetischer Kriterien. Insofern lässt sich (zumindest innerhalb der Kunstkritik) tatsächlich Einigkeit über den Wert bestimmter Kunstwerke erzielen. Die Kulturförderung kann allerdings dennoch gegen das Neutralitätsgebot verstoßen. Auch wenn die Kunst selbst nicht darauf festgelegt ist, Aussagen über ein gutes Leben zu treffen, so ist doch die Förderung der Kunst darauf festgelegt, Aussagen über den Wert der Kunst für unser Leben treffen zu müssen. Insofern wird eben doch auf umstrittene Vorstellungen davon zurückgegriffen, was ein gutes Leben auszeichnet. Der Kunstförderung müsste nämlich die Annahme zugrunde liegen, dass ein Leben, in dem man sich mit kulturell wertvollen Dingen beschäftigt, besonders gut ist. Hier wird also der Beschäftigung mit künstlerisch wertvollen Dingen ein Vorrang gegenüber anderen Dingen eingeräumt, die Menschen darüber hinaus wichtig sind. Wenn es nun auch im Bildungsbereich explizit darum geht, kulturelle Werte dieser Art zu befördern, dann kann das ebenfalls vor dem Hintergrund des Neutralitätsgebotes kritisiert werden. Brighouse bestreitet jedoch explizit, dass sein Argument auf den Bildungsbereich anwendbar ist. Kindern dürften sehr wohl bestimmte kulturelle Werte nahe gebracht werden.343 Doch nehmen wir an, es ginge um die Frage, ob Kindern im Musikunterricht die Oper näher gebracht werden sollte. Die ästhetische Erziehung ist an die Existenz eben der Dinge geknüpft, auf die sich die ästhetische Wertschätzung richtet. Wer Kindern beibringen will, die Oper ästhetisch wertzuschätzen, muss mit ihnen in die Oper gehen können, und dies setzt die Existenz von Opernhäusern voraus. Daher lässt sich die staatliche Beförderung kultureller Werte innerhalb und außerhalb des Erziehungsbereiches nicht so klar voneinander trennen, wie Brighouse dies offenbar im Sinn hat. Wenn es sich den Eltern gegenüber begründen ließe, dass es gut für ihre Kinder ist, die Oper ästhetisch wertschätzen zu können, dann wäre damit auch ein Grund für den Erhalt der Opernhäuser genannt. Doch auch hier wird man wieder konkurrierende Werte in den Blick nehmen müssen. Wenn mit der Beförderung der Wertschätzung der Oper so hohe Kosten verbunden sind, wie sie die staatliche Subventionierung der Opernhäuser mit sich bringt, könnte dies als Grund dafür angeführt werden, diese Art ästhetischer Erziehung abzulehnen. Wer sich für eine Beförderung kultureller Werte mittels Erziehung ausspricht, müsste also Gründe dafür nennen, warum eben dies das Leben der zu Erziehenden so entscheidend besser machen kann, dass die damit verbundenen Kosten in Kauf zu nehmen sind. Hier wird man jedoch wiederum nicht lediglich auf
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den intrinsischen Wert dieser Dinge verweisen können. Wie also lässt sich dann dafür argumentieren? Einen Versuch dazu macht Ronald Dworkin. Er räumt zwar ein, dass eine Begründung für die Förderung einzelner kulturell wertvoller Dinge schwierig sei. Dennoch meint er, dass wir es klarerweise mit einer Verschlechterung der Lebensbedingungen zu tun hätten, wenn die Reichhaltigkeit unserer Kultur insgesamt weniger würde. Dworkin argumentiert vor allem mit Rekurs auf zukünftige Generationen für ein staatliches Engagement im Bereich der Kunst und Kultur. Man solle den Blick dabei weniger auf einzelne Kulturgüter richten, als auf unsere Kultur insgesamt. Um uns über eine angemessene Form der Kulturförderung verständigen zu können, sollten wir die strukturellen Aspekte unserer Kultur identifizieren, die deren Reichtum ausmachen und diesen für künftige Generationen erhalten. Dworkin geht es hier darum, zukünftigen Generationen eine bestimmte Form von Vielfalt zu ermöglichen. Man solle zum Beispiel darauf achten, dass den Mitgliedern zukünftiger Generationen eine reichhaltige Sprache erhalten bleibt, in der sich verschiedene Emotionen angemessen ausdrücken lassen.344 Dworkin fragt nun, ob es sich bei einem staatlichen Engagement, dem es darum geht, die Reichhaltigkeit unserer Sprache zu sichern, um eine Form von Paternalismus handelt. Doch er verneint diese Frage, denn es widerspreche weder bereits bestehenden Präferenzen, noch werde versucht, bestimmte für gut erachtete Präferenzen zu etablieren und schlechte zu verhindern. Diese beiden Formen des Paternalismus reduzierten Wahlmöglichkeiten, und unsere Vorbehalte gegen einen staatlichen Paternalismus bezögen sich auf eben diese Reduktion von Vielfalt. Sein Vorschlag, gerade die Reichhaltigkeit unserer Kultur zu sichern, nehme diese Vorbehalte dagegen ernst. Denn eine Sicherung der Reichhaltigkeit der Sprache würde eine Reduktion von Möglichkeiten gerade verhindern. Dies betreffe nicht nur die Reichhaltigkeit unserer Sprache, sondern auch andere Aspekte der Reichhaltigkeit unserer Kultur, die mittels Kultursubventionierung bewahrt würden. So hinge die Möglichkeit, etwas künstlerisch wertschätzen zu können, an der Möglichkeit, dabei auf bereits etablierte ästhetische Kategorien zurückgreifen zu können.345 Der bloße Hinweis auf das Eröffnen von Wahlmöglichkeiten kann die liberalen Vorbehalte gegenüber der Kultursubventionierung allerdings nicht ausräumen. Denn jemand könnte behaupten, dass die für die Kultursubventionierung einbehaltenen Steuergelder den Effekt haben, dass Wahlmöglichkeiten gerade eingeschränkt werden, die ihm wichtiger gewesen wären. Er hätte dieses Geld auf andere Weise ausgeben wollen, und ihm seien durch die Kultursubventionierung wertvolle Möglichkeiten genommen worden. Selbst wenn ihm die Kulturförderung bestimmte Möglichkeiten eröffnet (z. B. die Möglichkeit, ins Theater zu gehen), sei dies dennoch
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ein Eingriff in seine Handlungsfreiheit. Denn ihm würden Möglichkeiten eröffnet, von denen er keinen Gebrauch machen will und dadurch Möglichkeiten genommen, die er eigentlich ergreifen wollte (z. B. mit dem Geld ins Kino zu gehen). Mit einem bloßen Rekurs auf die Vergrößerung der Wahlmöglichkeiten ist es also nicht getan. Die Vielfalt unserer Kultur besteht nicht nur aus Kunst und Musik, sondern beispielsweise auch aus verschiedenen Sportarten, verschiedenen Computerspielen und unzähligen anderen Arten, seine Zeit zu verbringen. Nicht jedes dieser Dinge bedarf einer staatlichen Förderung, damit es als Wahlmöglichkeit offensteht. Doch selbst wenn ein solcher Bedarf bestünde, würde man in Bezug auf manche potentiellen Wahlmöglichkeiten eine staatliche Förderung für gänzlich unangebracht halten, weil es sich hier nicht um wertvolle Möglichkeiten handelt (z. B. Computerspiele, die sich schlecht verkaufen und vom Markt verschwinden werden). Am Ende müsste also auch Dworkin darauf rekurrieren, dass es besser für Menschen ist, bestimmte zusätzliche Möglichkeiten zu haben, und zwar die Möglichkeiten, die eine insofern reichere Kultur eröffnet. Dworkin argumentiert insbesondere mit Blick auf künftige Generationen. Selbst wenn uns dies Opfer abverlange (z. B. Steuern zu zahlen für die Kultursubventionierung oder für die ästhetische Erziehung), so seien wir dennoch dazu aufgefordert, zukünftigen Generationen eine reichhaltige Kultur zu erhalten. Denn deren Leben mache der kulturelle Reichtum tatsächlich besser. Dworkin müsste jedoch angeben, inwiefern ein kultureller Reichtum das Leben besser macht oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit besser machen könnte. Und dabei reicht ein bloßer Bezug zu dem von Dworkin ins Auge gefassten Wert der kulturellen Vielfalt nicht aus, sondern dieser Wert ist selbst begründungsbedürftig. Auch der Verweis auf die Autonomie des Handelns hilft hier nicht weiter. Denn welche Wahlmöglichkeiten offenstehen sollten und insofern zu dem angemessenen Spektrum an Wahlmöglichkeiten gehören, ist mit Rekurs auf das Autonomieideal allein nicht zu entscheiden. Stattdessen sollte man daher direkter als über den Umweg des Autonomieideals dafür argumentieren, dass eine bestimmte Form von Vielfalt wertvoll ist. So ließe sich in Bezug auf die sprachliche Vielfalt beispielsweise zeigen, wie wichtig es für uns ist, Emotionen angemessen ausdrücken zu können. Das Lesen von Literatur ermöglicht ein reichhaltigeres Vokabular, in dem man über sein Denken, Wollen und Fühlen sprechen kann. Das wiederum trägt dazu bei, auch differenzierter zu empfinden. Literatur ermöglicht darüber hinaus die Einsicht, dass man derselben Sache gegenüber auch anders empfinden kann, als man es bisher gewohnt war. Diese Überlegungen lassen sich auch auf nicht-sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten unserer Emotionen übertragen, wie sie etwa in der Musik oder in der bildenden Kunst zu finden sind. Als einen weiteren Grund dafür, vielfältige Erfahrungen zu ermöglichen, lässt sich anführen, dass sich verschiedene Erfahrungs-
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bereiche gegenseitig beeinflussen können. Eine ästhetische Sensibilisierung kann den Wert der Erfahrungen verstärken, die sich auch in anderen Bereichen machen lassen. Außerdem ermöglichen bestimmte Formen der historischen und kulturellen Kontinuität selbst wertvolle Erfahrungen. Wenn in einem Roman auf bestimmte literarische Werke zurückgegriffen wird oder wenn in einem Kinofilm frühere Filme subtil, ironisch oder auch plakativ zitiert werden, dann kann gerade dies einem Roman oder einem Film einen besonderen Wert verleihen und besonders wertvolle Erfahrungen ermöglichen. Insofern hat die Reichhaltigkeit unserer Kultur und ihre Kontinuität ein kreatives Potential, welches es zu bewahren gilt (vgl. dazu bereits 4.2.3). Diese allgemeinen Überlegungen beantworten nicht die Frage, welche konkreten Werte in der Schule befördert werden sollten. Welche traditionellen Kulturgüter gilt es im ästhetischen Bereich zu bewahren, und an welcher Stelle sollten wir moderneren Kulturgütern ebenso viel oder sogar eine größere Förderung angedeihen lassen? Sollte den Schülern eher die Oper oder sollten ihnen eher gute Filme nahegebracht werden? Wofür sollten wir uns angesichts knapper Ressourcen und angesichts einer nur begrenzt zur Verfügung stehenden Schulzeit bevorzugt entscheiden? Um diese Fragen zu beantworten, werden wir uns über den Wert einzelner Erfahrungen verständigen müssen, die sich mit diesen Dingen machen lassen, sowie darüber, inwiefern sich der Wert verschiedener Erfahrungen gegenseitig bedingt. Eine solche Verständigung ist wichtig, um den berechtigten Bedenken der Befürworter des Neutralitätsgebotes angemessenen Tribut zu zollen. Die Beförderung bestimmter Kulturgüter sollte auch im Erziehungsbereich nicht mit deren intrinsischem Wert, sondern mit Rekurs auf die guten Erfahrungen erfolgen, zu denen eine Beförderung dieser Kulturgüter beitragen kann. In einer möglichen Rechtfertigung für die Beförderung der Vielfalt kultureller Werte ist dabei immer auch das Wohl derjenigen mit zu berücksichtigen, welche zukünftig in unserer Gesellschaft leben werden. Auch für sie sind die äußeren Bedingungen für ein möglichst gutes Leben in dieser Gesellschaft aufrecht zu erhalten, und ihnen sind die inneren Fähigkeiten zu vermitteln, die sie brauchen, um diese Möglichkeiten auch tatsächlich wahrnehmen zu können. Insofern wird es im Erziehungsbereich immer auch darum gehen, manche in der jetzigen Gesellschaft nicht von jedem gleichermaßen geschätzte Kulturgüter zu befördern, um den Mitgliedern der künftigen Gesellschaft eine reichhaltige Kultur zu bewahren. Doch der Wert dieser Reichhaltigkeit müsste sich letztlich jedem gegenüber begründen lassen, und es sollte eine möglichst breite Verständigung über den Wert dieser Reichhaltigkeit und deren Inhalt erfolgen. Die Philosophie kann hier begriffliche und argumentative Ressourcen zu einer Verständigung über diese Fragen beisteuern. Obwohl unserem Bildungssystem eine Orientierung am guten Leben zugrunde liegt, verstößt es damit nicht per se gegen das Neutralitätsgebot.
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Dies wäre nur dann der Fall, wenn sich die darin beförderten Werte nicht jedem gegenüber rechtfertigen ließen. Daher trifft Krauts pauschale Behauptung, dass „public support for nonvocational education“ mit dem Neutralitätsgebot unvereinbar sei, nicht zu.346 Kraut begründet diese Behauptung so: „The underlying assumption of a liberal education is that it is good to develop a love of such subjects as music, dance, theatre, literature, science, and mathematics, and to participate to some degree in the institutions connected to these subjects. The state endorses this conception of a good life by approving and funding the curriculum of public schools.“347 Kraut ist in diesem Punkt durchaus zuzustimmen. Es geht der (liberalen) Erziehung tatsächlich darum, eine Liebe zur Musik, zur Literatur, zur Naturwissenschaft, zur Mathematik etc. zu entwickeln. Doch dies ist keineswegs unvereinbar mit dem liberalen Neutralitätsgebot, denn die hier beförderten Werte lassen sich auf eine Weise subjektivistisch begründen, welche einer liberalen Rechtfertigung staatlichen Handelns entgegenkommt. Damit wäre auch von liberaler Seite grundsätzlich nichts gegen die (von Seiten der Perfektionisten geäußerte) Behauptung einzuwenden, dass es im Bildungsbereich um eine Beförderung des guten Lebens gehen darf. Einwände gegen diese Behauptung ergeben sich allerdings daraus, dass dem Bezug zum guten Leben von Seiten der Perfektionisten ein problematischer Objektivismus zugrunde liegt. Insofern dies der Fall ist (Hurkas Perfektionismus ist dafür ein gutes Beispiel), verstößt eine Beförderung des so verstandenen guten Lebens mittels staatlicher Erziehung tatsächlich gegen das Neutralitätsgebot. Dafür wäre ein solcher Perfektionismus dann mit guten Gründen zu kritisieren. Doch die Kritik hängt hier an der konkreten Ausbuchstabierung der Konzeption des guten Lebens und nicht an der Tatsache, dass überhaupt auf das gute Leben verwiesen wird. Wenn dies auf angemessene Weise erfolgt, ist nicht per se etwas dagegen einzuwenden, dass die staatliche Erziehung gezielte Bemühungen darauf verwendet, das Leben der Kinder besser zu machen, als es ansonsten wäre. Im nächsten Kapitel werden wir darüber hinaus sehen, dass auch die Liberalen spätestens dann, wenn es ihnen um soziale Gerechtigkeit geht, ohne substantiellere Überlegungen zum guten Leben nicht auskommen. Wenn im Bildungsbereich staatliche Mittel zur Verfügung gestellt werden, um soziale Gerechtigkeit zu schaffen, dann muss man eben doch fragen, inwiefern diese Mittel für ein gutes Leben nötig sind oder inwiefern sie das Leben besser machen können, als es ansonsten wäre. Gerade bestimmte Forderungen nach Chancengleichheit sind mit einer Konzeption, die sich jeder Aussage über das gute Leben enthält, nicht zu vereinbaren. Liberale müssen einräumen, dass Überlegungen zum guten Leben nötig sind, um zu entscheiden, worauf alle die gleichen Chancen haben sollten. Für diese These werde ich im nun folgenden Kapitel argumentieren.
6 Bildung und Gerechtigkeit Im Folgenden wird es um den Zusammenhang zwischen Bildung und Gerechtigkeit gehen. Auch Überlegungen zur Bildungsgerechtigkeit erfordern Überlegungen zu den Zwecken von Bildung bzw. zu dem Zusammenhang zwischen Bildung und gutem Leben. Dieses Verhältnis gilt es im Folgenden genauer zu bestimmen. Wenn zusätzliche Investitionen im Bildungsbereich angemahnt werden, kann dies vor dem Hintergrund zweier unterschiedlicher Grundannahmen geschehen. Zum einen kann dem die Überzeugung zugrunde liegen, dass es für die zu Erziehenden selbst lohnenswert ist, bestimmte Dinge zu wissen oder bestimmte Fähigkeiten erworben zu haben. Das ist z. B. dann der Fall, wenn von einem „Recht auf Bildung“ die Rede ist. Auch in der Forderung, mittels schulischer Erziehung für Chancengleichheit zu sorgen, drückt sich die Auffassung aus, dass die schulische Erziehung etwas Gutes für diejenigen ist, denen sie zuteil wird. Darüber hinaus liegt der Forderung nach zusätzlichen Investitionen im Bildungsbereich jedoch oftmals die Annahme zugrunde, dass eine bessere Bildung einiger Menschen auch für viele andere Menschen gut ist. So wird zum Beispiel angemahnt, mehr staatliche Gelder in den Bildungsbereich zu investieren, um die ökonomische Produktivität zu steigern. Hier geht es nicht um das Wohl desjenigen Individuums, dem Bildung zuteil wird, sondern um das Wohl der gesamten Gesellschaft, zu dem seine Bildung beiträgt.348 Eine auf das gesamtgesellschaftliche Wohl abzielende Argumentation nimmt die Bildung jedes einzelnen Individuums als bloßes Mittel zum Zweck in den Blick, etwa hinsichtlich ihres Beitrags zur ökonomischen Produktivität einer Gesellschaft. Darüber hinaus ist jedoch zu fragen, wie viel Bildung den einzelnen Individuen unabhängig davon ermöglicht werden sollte, inwiefern ihre Bildung anderen zuträglich ist. Eine Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie das Gebot der Chancengleichheit im Bildungsbereich zu verstehen ist (6.1) und was mit Rekurs auf ein „Recht auf Bildung“ gefordert werden kann (6.2). Wir werden im Folgenden sehen, dass eine Explikation der dabei erhobenen Forderungen erneut Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Bildung und gutem Leben aufwirft.349
6.1 Bildung und Chancengleichheit Die Forderung nach Chancengleichheit im Bildungsbereich hat viele Facetten. So werden gleiche Chancen für Mädchen und Jungen, deutsche und ausländische Kinder, Kinder aus bildungsfernen und bildungsnahen
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Schichten, und schließlich sogar gleiche Chancen für begabte und weniger begabte Kinder gefordert. Diese verschiedenen Forderungen sollen zunächst im Hinblick auf mögliche Gemeinsamkeiten analysiert werden. Zum einen ist dazu grundsätzlich zu fragen, was allgemein unter einer Chance verstanden werden kann. Zum anderen bedarf es einer Klärung des Aspekts der Gleichheit der Chancen (6.1.1). Schließlich können wir uns den konkreten Forderungen nach einer Gleichheit der Chancen im Bildungsbereich genauer zuwenden. Dabei wird es vor allem darauf ankommen, die Forderung nach gleichen Chancen bei unterschiedlicher sozialer Herkunft (6.1.2) sowie nach gleichen Chancen bei unterschiedlicher natürlicher Ausstattung (6.1.3) genauer zu betrachten.
6.1.1 Gleiche Chancen Um zu klären, wie man die Forderung nach Chancengleichheit grundsätzlich verstehen kann, ist es hilfreich, zunächst den Begriff der „Chance“ näher in den Blick zu nehmen. Im Englischen ist von „equality of opportunities“ die Rede. Dies lässt sich mit „Gleichheit der Chancen“, aber auch mit „Gleichheit der Gelegenheiten“ oder „Gleichheit der Möglichkeiten“ übersetzen. Die Rede von einer Chance (und auch von einer „opportunity“) impliziert, dass eine Person in einer bestimmen Beziehung zu einem Ziel steht. Diese Beziehung lässt sich so ausdrücken, dass die Person eine Chance darauf hat, dieses Ziel zu erreichen. Welcher Art ist diese Beziehung? Oftmals wird der Begriff der Chance so gebraucht, dass damit auf eine Gelegenheit verwiesen wird, die eine Person hat, etwas Bestimmtes zu tun. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass es hier um eine Gelegenheit geht, welche sie wahrnehmen kann. Es liegt also bei ihr, ob sie von ihrer Chance tatsächlich Gebrauch macht oder nicht. So lässt sich zum Beispiel die Forderung interpretieren, dass alle hinlänglich begabten Schülerinnen und Schüler die Chance haben sollten, Bildungszertifikate zu erwerben, die den Besuch einer Universität ermöglichen. Wenn sie dieses Ziel erreichen wollen, dann sollen sie es auch erreichen können. Sie sollen daran nicht prinzipiell gehindert sein, etwa dadurch, dass an weiterführenden Schulen ein Schulgeld erhoben wird, welches ihre Eltern nicht aufbringen können. Um die Abwesenheit derartiger Hindernisse geht es auch in anderen Kontexten, wie etwa in der Forderung, dass alle Kinder die Chance haben sollten, lesen zu lernen. Konkret könnte dass heißen, dass in einem Entwicklungsland eine Schule gebaut werden sollte, deren Besuch unentgeltlich und somit allen Menschen möglich ist. Es gibt aber durchaus Unterschiede zu dem eben genannten Beispiel. Die Rede von einer Chance bezieht sich hier nicht im Kern auf eine Gelegenheit, die man wahrnehmen kann, wenn man sie wahrnehmen will. Denn es ist davon auszugehen, dass jeder, der die Möglichkeit hat, lesen zu lernen, von dieser Möglichkeit auch Gebrauch
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machen will. Stattdessen geht es in dieser Forderung um das Einräumen einer Möglichkeit, die bisher nicht bestand. Der Punkt ist hier also nicht, dass es an den jeweiligen Individuen liegt, ob sie diese Möglichkeit wahrnehmen (oder nicht), sondern dass ihnen eine solche Möglichkeit überhaupt zur Verfügung stehen sollte.350 So verstanden wäre eine Chance also eine Möglichkeit, über die eine Person im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel verfügt. Manche Hindernisse, welche einer Person beim Erreichen eines Zieles im Weg stehen, lassen sich nicht von anderen aus dem Weg räumen. Die Forderung, bestimmte Chancen einzuräumen, ist daher so zu verstehen, dass es um Hindernisse geht, die man aus dem Weg räumen kann. Dies wiederum impliziert, dass die für eine Chance relevanten Hindernisse sozial veränderbar sind. Oftmals sind sie gerade deshalb veränderbar, weil es sich um sozial konstituierte Hindernisse handelt. Wenn Mädchen die gleiche Chance auf den Besuch einer Schule haben sollten wie Jungen, dann wird gefordert, Mädchen nicht länger von dem Besuch einer Schule auszuschließen. Die Forderung nach Chancengleichheit beinhaltet also, unüberwindbare Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die einer Gruppe von Menschen bestimmte Möglichkeiten verwehren. Darüber hinaus impliziert die Forderung nach Chancengleichheit nicht nur, alle unüberwindbaren Hindernisse aus dem Weg zu räumen, sondern außerdem wird die Abwesenheit bestimmter Erschwernisse gefordert.351 Angenommen, der lange Weg zur nächsten Schule stellt zwar kein unüberwindbares Hindernis dar, aber eines, welches ursächlich dafür ist, dass einige von den Menschen, die einen sehr weiten Weg haben, auf den Besuch der Schule verzichten. In diesem Fall könnte man die Forderung, dass jeder die gleiche Chance haben sollte, lesen zu lernen, ebenfalls für unerfüllt halten und den Bau einer weiteren Schule fordern. Über das Ausräumen aller unüberwindbaren Hindernisse hinaus würde dann das Ausräumen bestimmter prinzipiell überwindbarer Hindernisse gefordert. Statt der Abwesenheit bestimmter Erschwernisse wird auch das Vorhandensein bestimmter Mittel eingefordert. Statt zu sagen, dass jemanden der weite Weg zu Schule nicht am Schulbesuch hindern soll, wird gefordert, dass er über bestimmte Mittel verfügen soll, die ihm den weiten Weg zur Schule ermöglichen oder erleichtern. So wird beispielsweise gefordert, dass ihm ein Schulbus zur Verfügung stehen sollte. Im Kontext des Bildungssystems ist eine Vielzahl möglicher Hindernisse zwischen den einzelnen Individuen und deren Bildungszielen denkbar. Dazu zählen direkte Diskriminierung im Sinne eines expliziten Ausschlusses bestimmter sozialer Gruppen, sowie indirektere Formen der Benachteiligung, wie die Erhebung von Schulgeld, welches Kindern aus einkommensschwachen Elternhäusern faktisch den Zugang zur Bildungseinrichtung verwehrt. Auch eine Selektion über Bildungszertifikate (z. B. das Abitur)
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verwehrt den Zugang zu bestimmten Bildungsinstitutionen (z. B. der Universität). Die Forderung, jemandem eine Chance auf das Erreichen eines bestimmten Zieles zu geben, lässt sich dabei oftmals so verstehen, dass er die Möglichkeit haben soll, dieses Ziel tatsächlich zu erreichen – so sollten etwa alle hinlänglich begabten Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben, die Hochschulreife zu erwerben. Forderungen nach Chancengleichheit erschöpfen sich jedoch nicht in der Angabe solcher Möglichkeiten. Oftmals ist dabei in anderer Weise von Chancen die Rede, und zwar im Sinne einer Angabe von Wahrscheinlichkeiten. Diese Redeweise lässt sich anhand des folgenden Beispiels verdeutlichen: Wer eine Chance darauf hat, den Job zu bekommen, auf den er sich beworben hat (weil er die nötigen Voraussetzungen dafür erfüllt), und selbst wer eine gute Chance darauf hat (weil er besonders gut für diesen Job qualifiziert ist), wird ihn nicht bereits dann bekommen, wenn er ihn bekommen will. Wenn nun darüber reflektiert wird, wie gut seine Chancen sind, erfolgt eine Angabe von Wahrscheinlichkeiten. Insbesondere, wenn die Rede von einer Chance quantifiziert wird, ist also von der Wahrscheinlichkeit die Rede, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Diese Wahrscheinlichkeit kann mehr oder weniger hoch sein, je nachdem, wie gut die Chancen sind. Dieser Aspekt der Rede von einer Chance wird im Folgenden insbesondere dann wichtig werden, wenn es um die Forderung nach einer Gleichheit der Chancen geht, denn diese ist, wie wir noch sehen werden, oftmals als eine Forderung nach Gleichwahrscheinlichkeit zu verstehen. Die Forderung nach einer Gleichheit der Chancen ist ähnlichen Einwänden ausgesetzt wie andere Gleichheitsforderungen auch.352 Ein wichtiger Einwand besteht darin, dass der Verweis auf die Gleichheit letztlich verzichtbar und Gleichheit insofern nur Nebenprodukt der Erfüllung der eigentlich relevanten Standards der Gerechtigkeit sei. Krebs hält ihn für den „wohl entscheidenden“ Einwand gegen den Egalitarismus.353 Dieser Einwand wurde besonders deutlich von Raz, Frankfurt und Westen erhoben.354 Insbesondere letzterer bezieht ihn direkt auf die Forderung nach Chancengleichheit. Westen meint, dass die Rede von der Gleichheit der Chancen überflüssig und sogar verwirrend sei. Um diesen Einwand in seiner Anwendung auf die Forderung nach Chancengleichheit überprüfen zu können, ist es also wichtig, den Rekurs auf die Gleichheit der Chancen genauer zu verstehen. In einigen Forderungen nach Chancengleichheit wird behauptet, dass alle einen bestimmten Anspruch auf etwas haben. Hier ist der Verweis auf die Gleichheit tatsächlich verzichtbar. Ein Beispiel dafür wäre die Forderung, dass jeder Mensch die gleiche Chance haben sollte, eine Schule zu besuchen. In dieser Aussage geht es um einen Anspruch, der sich gleichermaßen auf alle Menschen bezieht. Daher ist der Verweis auf die Gleichheit hier eigentlich nicht notwendig. Es würde ausreichen zu sagen, dass jeder
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eine Chance auf den Besuch einer Schule haben sollte, und die Rede davon, dass jeder die gleiche Chance haben sollte, enthält damit ein überflüssiges Element. Es erfüllt hier allenfalls eine rhetorische Funktion.355 Denn es wird betont, dass alle gleichermaßen eine Chance auf das Erreichen eines Ziels haben sollten – niemand sollte davon ausgeschlossen sein.356 Demgegenüber ist der Rekurs auf die Gleichheit in streng egalitären Forderungen nach Chancengleichheit nicht verzichtbar. Als streng egalitär können also solche Forderungen bezeichnet werden, in denen der Verweis auf die Gleichheit notwendig ist, um die Forderung zu explizieren. Bei einigen Forderungen nach Chancengleichheit handelt es sich nun tatsächlich um streng egalitäre Forderungen. Wenn mehrere Menschen die gleiche Chance auf das Erreichen eines Zieles haben sollten, kann das bedeuten, dass sie die gleichen Möglichkeiten (im Sinne von Gelegenheiten) dazu haben sollten. Oder es kann bedeuten, dass sie die gleichen Aussichten (im Sinne von Wahrscheinlichkeiten) auf das Erreichen dieses Zieles haben sollten. Streng egalitär ist die Forderung nach Chancengleichheit dann, wenn man diese als Forderung nach gleich vielen oder gleich guten Möglichkeiten, oder wenn man sie als Forderung nach gleich guten Aussichten versteht. Denn in diesen Forderungen ist der Rekurs auf die Gleichheit nicht verzichtbar. Wir werden im nächsten Abschnitt (6.1.2) noch sehen, dass einige der Forderungen nach gleichen Chancen auf das Erreichen bestimmter Bildungsabschlüsse als streng egalitäre Forderungen zu verstehen sind. Wie aber sind die in der philosophischen Diskussion sehr allgemeinen Forderungen nach Chancengleichheit einzuordnen, die nicht konkret auf bestimmte Ziele (wie etwa das Erreichen eines bestimmten Bildungsabschlusses) bezogen sind? Ihnen liegt die gemeinsame Annahme zugrunde, dass Gleichheitsforderungen von den individuellen Entscheidungen über die eigene Lebensführung abhängig gemacht werden sollten. Insofern ist von einer (bloßen) Gleichheit der Chancen die Rede.357 Die einen fordern in diesem Zusammenhang gleiche Chancen auf Wohlergehen,358 andere fordern, allen gleich viel von dem zu geben, was als Mittel zu verschiedenen Zwecken eingesetzt werden kann.359 Letztere behaupten, dass alle die gleichen Chancen haben, ein gutes Leben zu führen, wenn alle gleich viele Ressourcen bekommen, die sie gemäß ihren eigenen Vorstellungen vielseitig verwenden können. Damit sind sie allerdings dem Einwand ausgesetzt, dass Menschen unterschiedlich viele Ressourcen brauchen.360 Wer beispielsweise nicht laufen kann, braucht vergleichsweise mehr Ressourcen (z. B. für einen Rollstuhl) als ein anderer. Sen meint daher, eine gerechte Verteilung müsse sich daran orientieren, in welchem Grade jemand die Chance hat, von grundlegenden Fähigkeiten Gebrauch zu machen.361 Sen setzt hier voraus, dass der Besitz oder die Ausübung bestimmter Fähigkeiten sehr wichtig für jeden von uns ist. Doch um eine genauere Eingrenzung vornehmen zu können, welche Fähigkeiten alle Menschen haben
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sollten und welche Möglichkeiten allen Menschen offenstehen sollten, muss man wiederum Überlegungen dazu anstellen, inwiefern diese Fähigkeiten und Möglichkeiten unser Leben bereichern bzw. ihr Fehlen unser Leben erheblich schlechter macht als es ansonsten wäre. Solche Überlegungen sind insbesondere dann nötig, wenn die Forderung nach Chancengleichheit mehr impliziert als die Sicherung gewisser Mindeststandards für ein gutes Leben. Wenn gefordert ist, dass alle die gleichen Chancen darauf haben sollten, ein gutes Leben führen zu können, müssen Überlegungen dazu angestellt werden, worin ein solches besteht bzw. was das Leben besser machen kann, als es ansonsten wäre. Auf diesen Punkt komme ich im Folgenden noch zurück. Ist nun die allgemeine Forderung, dass alle die gleiche Chance darauf haben sollten, ein gutes Leben zu führen, ebenfalls als streng egalitäre Forderung zu verstehen? Falls man diese Forderung so interpretiert, dass es für alle gleichermaßen möglich sein soll, ein in einem irgendwie absoluten Sinne gutes Leben zu führen, wäre diese Forderung nicht streng egalitär. Denn hier ginge es nicht um einen Vergleich des Lebens einzelner Individuen; eine solche Forderung enthält kein relationales Element. Die Forderung, dass es für alle gleich wahrscheinlich sein sollte, ein (in einem irgendwie absoluten Sinne) gutes Leben zu führen, enthält hingegen ein solches relationales Element. Dies gilt auch für die Forderung, dass alle ein gleich gutes Leben haben sollten (oder zumindest die gleiche Chance darauf). Der Verweis auf die Gleichheit ist in diesen Forderungen nicht verzichtbar, und es handelt sich insofern um streng egalitäre Forderungen. Im Folgenden wird sich nun zeigen, dass Forderungen nach Chancengleichheit im Bildungsbereich oftmals als streng egalitäre Forderung zu verstehen sind. Hier ist der Verweis auf die Gleichheit der Chancen tatsächlich nicht verzichtbar. Um diese Forderungen zu explizieren, müssten zudem substantielle Überlegungen zum guten Leben angestellt werden. Dies gilt sogar für einige der Forderungen nach Chancengleichheit, in denen der Verweis auf die Gleichheit prinzipiell verzichtbar ist. Auch hier müssen Überlegungen zum guten Leben angestellt werden, um zu bestimmen, worauf im Bildungsbereich alle (gleichermaßen) eine Chance haben sollten.
6.1.2 Chancengleichheit und soziale Herkunft Die Forderung, dass alle Kinder die gleiche Chance auf Bildung haben sollten, kann sowohl einen streng egalitären als auch einen nicht streng egalitären Gehalt haben. Betrachten wir zunächst eine nicht streng egalitäre Forderung: Alle Kinder sollten die Chance haben, sich die essentiellen Kulturtechniken anzueignen (z. B. lesen und schreiben zu lernen). Es geht hier nicht darum, was jemand im Vergleich zu anderen hat, sondern wessen er bedarf. Wenn jeder eine in dieser Hinsicht ausreichende Erziehung bekom-
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men hat, dann wurde dieser Forderung genüge geleistet, und zwar unabhängig von noch bestehenden Unterschieden in der Qualität der Erziehung. Allerdings gehen die faktisch erhobenen Forderungen nach Chancengleichheit im Bildungswesen darüber hinaus. Selbst wenn für jedes Kind zumindest minimale Erfolge (z. B. lesen und schreiben zu können) erzielt worden sind, wäre der Forderung nach Chancengleichheit noch nicht gänzlich Genüge geleistet. Wenn unser Bildungssystem dafür kritisiert wird, dass die Bildungschancen von der sozialen Herkunft abhängig sind, bezieht sich diese Kritik nicht lediglich auf das Fehlen bestimmter Möglichkeiten. Gefordert ist dabei nicht, oder zumindest nicht nur, dass jeder genug haben sollte, sondern jeder das Gleiche. Es geht hier um gleiche Chancen, und zwar im Sinne gleicher Wahrscheinlichkeiten auf das Erreichen bestimmter Bildungsziele, oder um gleich viele bzw. gleich gute Möglichkeiten. Die Forderung, dass zwei Personen die gleiche Chance auf das Erreichen eines Zieles haben sollen, lässt sich so verstehen, dass es für beide gleich wahrscheinlich sein soll, dieses Ziel zu erreichen.362 Diese Forderung ist streng egalitär, wenn sich die Wahrscheinlichkeit, die eine Person oder Gruppe auf das Erreichen eines Zieles haben sollte, daran bemisst, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für eine andere Person oder Gruppe von Personen ist. Konkrete Forderungen nach mehr Chancengleichheit im Bildungsbereich können dies gut verdeutlichen. Wenn die Wahrscheinlichkeit für ein Beamtenkind, ein Gymnasium zu besuchen, sehr viel höher ist als die Wahrscheinlichkeit für ein Arbeiterkind, dann wird darin eine Verletzung der Forderung nach Chancengleichheit ausgemacht.363 Die Forderung nach Chancengleichheit wäre in diesem Fall als streng egalitäre Forderung zu interpretieren: Wenn 30% aller Beamtenkinder eines Jahrgangs das Abitur machen, dann sollten auch ungefähr 30% aller Arbeiterkinder dies tun. Wenn dagegen 60% aller Kinder aus Beamtenfamilien eines Jahrgangs Abitur machen, dann sollten es auch bei den Arbeiterkindern ungefähr 60% sein. Wie hoch die Chancen der einen Gruppe sein sollten, bemisst sich also daran, wie hoch die Chancen der anderen Gruppe sind. Zwar lässt sich aus statistischen Daten über die Häufigkeit des Schulbesuchs bestimmter Gruppen nicht darauf schließen, wie wahrscheinlich es für den konkreten Einzelnen ist, eine bestimmte Schulbildung zu bekommen. So ist nicht damit zu rechnen, dass ein stark lernbehindertes Beamtenkind zum Gymnasium gehen wird, und zwar unabhängig von seiner sozialen Herkunft. Nehmen wir jedoch an, dass nichts anderes über zwei neugeborene Kinder bekannt ist als nur ihre soziale Herkunft. Wenn tatsächlich Chancengleichheit vorläge, dann dürfte die unterschiedliche soziale Herkunft keinen Einfluss auf eine Prognose darüber haben, wie wahrscheinlich es für jedes der beiden Kinder ist, später ein Gymnasium zu besuchen. Letztlich geht es dabei nicht um die Chancen einer Gruppe,
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sondern um die Chancen von Individuen als Mitglieder einer Gruppe.364 Und deren Chancen sollen gleich sein. Dass dies eine durchaus verbreitete Forderung ist, wird beispielsweise deutlich, wenn man sich die an internationale Leistungsvergleiche anknüpfende Debatte um die Bildungschancen in Deutschland ansieht. Die internationale Leistungsvergleichsstudie PISA zeigt für Deutschland eine starke Abhängigkeit des Schulerfolgs von der sozialen Herkunft.365 Da die PISA-Ergebnisse darauf hindeuten, dass es anderen Ländern gelingt, den Schulerfolg von der sozialen Herkunft unabhängiger zu machen, wird ein Festhalten an unserem Bildungssystem vor dem Hintergrund dieser Tatsache kritisiert. Dazu wird auf die fehlende Chancengleichheit verwiesen. Eine mögliche Ursache für die soziale Selektivität des deutschen Bildungssystems ist in der Struktur der Übergänge verschiedener Schulformen zu verorten. In unserem Schulsystem erfolgt der Übergang von den Grundschulen zu den Bildungsgängen der Sekundarstufe I relativ früh. Einige Bildungsforscher meinen, dies führe dazu, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten für weniger begabt gehalten werden als andere Kinder, obwohl sich diese Unterschiede bei einer längeren gemeinsamen Schulzeit hätten nivellieren können.366 Falls es richtig ist, dass unser Bildungssystem einen Rahmen schafft, in dem Kinder aus bildungsfernen Schichten sehr viel schlechtere Bildungschancen haben, als sie haben könnten (und Alternativen klar vor Augen stehen), liegt darin eine Ungerechtigkeit unseres Bildungssystems. Wenn unser Bildungssystem den Einflussfaktor „soziale Herkunft“ weniger stark ausschaltet als die Bildungssysteme anderer Länder, dann ergeben sich daraus Forderungen nach mehr Chancengleichheit auch in unserem Bildungssystem. Bei diesen Forderungen geht es nicht darum, die Mitglieder einer Gruppe eine Zeit lang systematisch vorzuziehen, um so dafür zu sorgen, dass zu einem zukünftigen Zeitpunkt gesagt werden kann, die Chancen der einen Gruppe seien langfristig gleich hoch gewesen wie die Chancen der anderen Gruppe. Sondern es wird gefordert, den Grund für die strukturelle Benachteiligung einer bestimmten Gruppe abzustellen. Letztlich geht es hier nicht um die Chancen einer Gruppe, sondern um die Chancen von Individuen als Mitglieder einer Gruppe. Doch deren Chancen sollen gleich sein, und dies ist durchaus als streng egalitäre Forderung zu verstehen. Allerdings ist nicht zu bestreiten, dass neben solchen etwaigen strukturellen Benachteiligungen zahllose weitere Unterschiede in der familiären Sozialisation und den Einflüssen des weiteren Umfelds zu den unterschiedlichen Bildungschancen beitragen. Die Forderung nach Chancengleichheit kann sich insofern nur auf realisierbare, und sie sollte sich nur auf mit bestimmten Freiheiten, Ansprüchen und Rechten vereinbare Veränderungen erstrecken. Eine umfassende Gleichheit der Lebensaussichten lässt sich nicht realisieren, denn der Staat kann (und sollte) nicht verhindern, dass
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manche Eltern im außerschulischen Bereich mehr Anregungen bieten als andere. Eltern haben in Bezug auf die Bildungsmöglichkeiten in vielerlei Hinsicht erheblichen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder. Wir können nicht dafür sorgen, dass alle Kinder faktisch die gleichen Aussichten auf eine gleich gute Bildung haben, wenn wir gleichzeitig an grundlegenden liberalen Werten festhalten wollen.367 Das Einlösen der Forderung nach Chancengleichheit darf daher nicht um jeden Preis erfolgen. Jede Forderung nach Chancengleichheit muss auch die nötigen Mittel zu ihrer Durchsetzung in den Blick nehmen. Mit diesem wichtigen Hinweis lassen sich allerdings nicht jegliche Forderungen nach der Herstellung größerer Chancengleichheit pauschal zurückweisen. So könnte man die Gesellschaft beispielsweise dafür verantwortlich erklären, Unterschiede in den Bildungsmöglichkeiten zu reduzieren, die durch ein unterschiedliches Einkommen der Eltern zustande kommen. Einige Familien können sehr viel mehr Geld für die Bildung ihrer Kinder ausgeben als andere – und ihren Kindern beispielsweise teure Nachhilfestunden finanzieren oder sie auf eine Privatschule schicken.368 Doch geht mit dem Umstand, dass mache Kinder private Nachhilfestunden erhalten oder eine Privatschule besuchen können, andere Kinder dagegen nicht, der Anspruch einher, dies zu ändern? Für welche Form der Chancengleichheit sollten die gesellschaftlichen Institutionen sorgen? Eine nicht streng egalitäre Position zu dieser Frage nimmt beispielsweise Anderson ein. Sie meint, dass bestimmte Möglichkeiten garantiert werden müssten, die alle Menschen in einer Gesellschaft als Bürger gleich dastehen lassen. Es gehe um die „capabilities necessary for functioning as an equal citizen in a democratic state“.369 Diese Möglichkeiten sollten alle Menschen gleichermaßen haben. Jeder solle beispielsweise die Möglichkeit haben, lesen und schreiben zu lernen. Doch einige andere in der Schule vermittelte Fähigkeiten sind laut Anderson von dieser Forderung nicht erfasst, und dazu zählt sie zumindest im US-amerikanischen Kontext das Erlernen einer Fremdsprache.370 Wenn einige Kinder eine Fremdsprache erlernen können, andere dagegen nicht, dann habe die amerikanische Gesellschaft also laut Anderson keinen Grund, dafür zu sorgen, dass alle eine Fremdsprache erlernen können. Dass die einen im Vergleich zu den anderen mehr Chancen haben, hält Anderson offenbar für moralisch nicht relevant. Streng egalitäre Forderungen nach Chancengleichheit weisen über einen solchen Ansatz hinaus. Wenn manche Eltern ihren Kindern kraft ihres höheren Einkommens zusätzliche Bildungsmöglichkeiten offerieren, dann wird gefordert, auch den anderen Kindern diese Möglichkeiten zu offerieren. Wenn einige Kinder zusätzliche Möglichkeiten bekommen, dann sollten andere Kinder ebenfalls zusätzliche Möglichkeiten bekommen, damit alle gleich viele Möglichkeiten haben. Wenn die Möglichkeiten einiger Kinder besser sind, dann sollte man den anderen aus diesem Grund ebenfalls
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bessere Möglichkeiten eröffnen. Alle sollten also gleich viele Möglichkeiten sowie Möglichkeiten gleicher Qualität haben. Doch warum sind solche Vergleiche wichtig? Warum generieren zusätzliche Möglichkeiten der einen Gruppe die Forderung, auch den anderen diese zusätzlichen Möglichkeiten zu eröffnen? Brighouse und Swift halten dies für ein Gebot der Fairness. Eltern, die ihren Kindern zusätzliche Möglichkeiten eröffnen, machen die Lebensaussichten der anderen Kinder zuweilen dadurch schlechter, als sie es ansonsten wären. Wenn einige Kinder schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, weil anderen Kindern eine bessere Erziehung zuteil wird, dann seien keine fairen Wettbewerbsbedingungen gegeben.371 Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist kompetitiv, so dass bessere Chancen der einen Gruppe (z. B. derjenigen, die eine gute Privatschule besuchen konnten) schlechtere Chancen der anderen Gruppe nach sich ziehen (z. B. derjenigen, die nur eine qualitativ schlechtere staatliche Schule besucht haben). Wenn manche Eltern ihre Kinder auf bessere Schulen schicken können, dann verschlechtern sich dadurch die Ausgangsbedingungen derjenigen, die eine solche Möglichkeit nicht hatten. Hier werde man auf das Gebot der Fairness verwiesen, also darauf, dass die gesellschaftlichen Institutionen für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen sollten. Manche Bildungsmöglichkeiten haben allerdings keine offensichtlichen Auswirkungen auf die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und auch keine Effekte auf das Leben derjenigen, die nicht von diesen zusätzlichen Möglichkeiten profitieren. Dazu gehört z. B. die Möglichkeit, bestimmte Dinge ästhetisch wertschätzen zu können. Zwar mag dies auch einen instrumentellen Wert haben. Darüber hinaus sind aber die wertvollen Erfahrungen zu berücksichtigen, die eine ästhetische Erziehung ermöglicht (vgl. dazu bereits 3.2.3). Wie also sind die zusätzlichen Möglichkeiten einzuordnen, die nicht nur bessere Berufsaussichten eröffnen, sondern das Leben in anderer Weise bereichern? Ein streng egalitärer Ansatz müsste hier letztlich auf ein umfassendes Ideal gleicher Lebensaussichten rekurrieren. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, für dieses Ideal bzw. für die streng egalitäre Forderung, allen die gleichen Lebensaussichten zu eröffnen, ausführlich zu argumentieren. Dieses Ideal scheinen jedoch viele Menschen bereits zu teilen. Sehr viele Menschen sind sich einig darin, dass die soziale Herkunft eines Kindes eigentlich keinen Einfluss darauf haben sollte, wie gut sein Leben verläuft. Da die Bildungsmöglichkeiten, die ein Kind hat, einen großen Einfluss darauf haben können, wie gut sein Leben verläuft, lassen sich Forderungen nach mehr Chancengleichheit im Bildungssystem direkt an dieses Ideal anschließen. In solchen Forderungen sollten freilich auch die problematischen Aspekte einer Fokussierung auf bestimmte inhaltliche Konzeptionen von Bildung thematisiert werden. Dazu könnte zum Beispiel der soziale Aus-
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schluss durch Sprachmilieus gehören. Sprachverfeinerung nur mit Blick auf die damit einhergehenden wertvollen Erfahrungen anzusehen, wäre insofern verkürzt. Hier ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass Bildung als distinguierendes Elitemerkmal zur sozialen Abschließung bestimmter Gruppen beitragen kann.372 Wenn Bildung jedoch als Beitrag zum guten Leben aller Menschen verstanden und auch gefordert wird, kommt eine solche Perspektive in den Blick. Dabei sollte dann jeweils angeben werden, für wen eine bestimmte Form der Bildung welche Bereicherung darstellt – und welche Folgen dies jeweils für andere hat. Dabei sollte man jedoch nicht lediglich an den Erwerb bestimmter Bildungszertifikate und die daran geknüpften Berufsaussichten denken. Letztlich muss man also fragen, inwiefern ein bestimmtes Wissen und bestimmte Fähigkeiten das Leben besser machen können, als es ansonsten wäre, und damit wird man erneut auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Bildung und gutem Leben verwiesen. Dies gilt auch für eine weitere Facette der Forderung nach Chancengleichheit im Bildungsbereich, und zwar für die Forderung nach einer Gleichheit der Bildungschancen bei unterschiedlicher natürlicher Ausstattung.
6.1.3 Chancengleichheit und natürliche Ausstattung Es ist nahe liegend, die soziale Herkunft und die natürliche Ausstattung gerechtigkeitstheoretisch auf einer Ebene anzusiedeln. So meint etwa Gosepath, wer verstanden habe, warum der Einfluss von sozialen Umständen auf die gesellschaftliche Güterverteilung ungerecht sei, werde „durch Nachdenken dazu geführt [...], auch die natürliche Ausstattung als weitere Art des Zufalls ausschließen zu müssen.“373 Der Einfluss von sozialen Umständen sei ja deshalb ungerecht, weil die betreffende Person nichts für diese Umstände kann, und das treffe auch auf ihre natürliche Ausstattung zu. Doch was genau impliziert die Forderung nach Chancengleichheit in Bezug auf die natürliche Ausstattung? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst genauer betrachten, worum es hier geht. Statt von der „natürlichen Ausstattung“ ist in diesem Kontext auch von „natürlichen Begabungen“ oder von „natürlichen Talenten“ die Rede.374 Einzelne Fähigkeiten oder Dispositionen werden dabei als Begabungen oder Talente ausgewiesen. In Bezug auf den hier relevanten Kontext ist insbesondere an solche Fähigkeiten zu denken, die eine Person im Schulsystem erfolgreich sein lassen – wie etwa eine schnelle Auffassungsgabe für mathematische Zusammenhänge. Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang auch von den Begabten die Rede. Dem scheint die Auffassung zugrunde zu liegen, dass einige Kinder insgesamt begabter sind als andere. Diese Rede ist jedoch kritisch in Frage zu stellen.375 Woran sollte sich bemessen, ob jemand insgesamt begabter ist als ein anderer? Und warum sollten wir annehmen, dass es tatsächlich insgesamt und nicht
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nur partiell begabtere Menschen gibt? Da es auf diese Fragen keine guten Antworten gibt, sollten wir besser von einzelnen Begabungen und Talenten reden. Damit würde dann auf bestimmte Fähigkeiten und Dispositionen verwiesen, die unabhängig von der sozialen Herkunft zur natürlichen Ausstattung eines Individuums gehören. Auch diese Rede ist jedoch nicht unproblematisch: Gibt es solche natürlichen Begabungen oder Talente überhaupt? Sollten wir den Begabungsbegriff so verwenden, dass damit in erster Linie (oder sogar ausschließlich) auf die natürliche Ausstattung verwiesen wird? Insbesondere in der pädagogischen Literatur geht es in der Rede von bestimmten Begabungen nicht in erster Linie um die natürlichen Anlagen und Fähigkeiten.376 Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass sich die vermeintliche „natürliche“ Begabung faktisch nicht von den sozialen Faktoren abgrenzen lässt, die ebenfalls die Entwicklung einer Person beeinflussen. Wer von natürlichen Begabungen redet, setzt sich daher dem Vorwurf aus, dabei die fragwürdige Annahme zu machen, dass einige Menschen bestimmte Dinge „von Natur aus“ besser können als andere. Dabei werde sozialen Unterschieden zu wenig Gewicht beigemessen, und diese würden mit natürlichen Unterschieden verwechselt. Dieser Vorwurf richtet sich in der bildungspolitischen Diskussion insbesondere an diejenigen, die unterschiedliche Lernerfolge auf unterschiedliche natürliche Begabungen zurückführen. Denn oftmals handelt es sich bei den vermeintlichen Unterschieden in der natürlichen Ausstattung lediglich um das Resultat sozialer Faktoren. Diese haben auf sehr vielfältige Weise Einfluss auf den Bildungserfolg. So betonen z. B. Bourdieu/Passeron, dass der schulische Unterricht implizit einen Korpus von Wissen, Fertigkeiten und vor allem Ausdrucksmöglichkeiten gebildeter Klassen voraussetze. Die an schulischen Kriterien gemessenen Fähigkeiten würden daher von einer Affinität zwischen den kulturellen Gewohnheiten einer Klasse und den Anforderungen des Bildungssystems und dessen Erfolgskriterien abhängen.377 Die Blindheit gegenüber diesen sozialen Faktoren führe dann dazu, Ungleichheiten des Bildungserfolgs auf Ungleichheiten der Begabung zurückzuführen. Bourdieu/Passeron betonen daher, gerade im Bildungsbereich sei man besser beraten, zunächst soziale Faktoren für einschlägig zu halten – jedenfalls so lange nicht alle Wege erforscht sind, auf denen soziale Ungleichheitsfaktoren wirken können.378 Ungeachtet dieser – meines Erachtens berechtigten – Warnungen, können wir uns aber zumindest theoretisch fragen, auf welche Weise vermeintliche Unterschiede in den natürlichen Begabungen oder Talenten im Bildungssystem berücksichtigt werden sollten, um Gerechtigkeitsforderungen Genüge zu tun. Denn etliche Philosophen gehen offenbar davon aus, dass es solche Unterschiede gibt, und sie gehen in ihren Gerechtigkeitstheorien darauf ein. So argumentieren sie beispielsweise dafür, dass die Chancen einer Person, bestimmte vorteilhafte Positionen zu erreichen, nur von ihren
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Talenten und ihren Bemühungen abhängen sollten, nicht jedoch von ihrer sozialen Herkunft.379 Dabei wird vorausgesetzt, dass es solche natürlichen Talente tatsächlich gibt. Was folgt gerechtigkeitstheoretisch aus einer solchen Annahme? Einige Egalitaristen verweisen darauf, dass natürliche Talente nicht verdient sind und leiten daraus ab, dass Güter, die kraft solcher Talente erwirtschaftet wurden, umverteilt werden dürfen. Dagegen wird jedoch von libertärer Seite eingewandt, dass dies nicht gerechtfertigt sei. Zwar hätten wir unsere Talente nicht verdient, wohl aber die kraft dieser Talente angeeigneten Güter. Wir seien daher in keiner Weise dazu aufgefordert, die Früchte unserer Arbeit wieder abzugeben. Diese Früchte dürften also nicht einfach zugunsten der weniger Talentierten umverteilt werden.380 Um derartige Fragen der Verteilung kraft solcher Talente bereits erwirtschafteter Güter soll es mir hier aber nicht gehen. Stattdessen geht es um die Frage, was sich aus der Forderung nach Chancengleichheit für den angemessenen Umgang mit unterschiedlichen natürlichen Talenten im Erziehungswesen ergibt. Besonders verbreitet ist wohl die Forderung, dass jeder die gleichen Chancen haben sollte, seine Talente zu entwickeln. Doch was genau ist hier gefordert? Sollte jeder die gleichen Ressourcen für Erziehung bekommen, um seine Talente zu entfalten? Oder sollten diejenigen, die in wichtigen Dingen weniger talentiert sind, mehr Ressourcen für Erziehung bekommen als andere? Oder sollte man die Talentierten besonders fördern? Die Antworten auf diese Fragen hängen an den jeweiligen gerechtigkeitstheoretischen Grundüberzeugungen. Wer sich etwa mit Rawls auf diejenigen Mitglieder der Gesellschaft konzentriert, deren Lebensaussichten am schlechtesten sind, hat gute Gründe für die Annahme, dass wir diejenigen besonders fördern sollten, die von der Natur besonders schlecht ausgestattet worden sind. Wer meint, das Bildungssystem solle die Anstrengungen auf die Verbesserung der langfristigen Aussichten der am wenigsten Bevorzugten lenken, könnte also dafür plädieren, mehr Ressourcen für die Bildung derjenigen aufzuwenden, denen das Lernen in bestimmten Bereichen schwerer fällt als anderen. Ein solch explizites Plädoyer findet sich allerdings bei Rawls nicht. In Justice as Fairness spricht er sich sogar für eine Förderung der Begabten aus: „[T]he better endowed […] are encouraged to acquire still further benefits […] on condition that they train their native endowments and use them in ways that contribute to the less endowed.“381 Rawls meint, eine solche Förderung entspreche durchaus seinem Differenzprinzip, wonach man sich an den Lebensaussichten derjenigen orientieren sollte, die am schlechtesten gestellt sind. Dem Differenzprinzip werde entsprochen, wenn auch (und insbesondere) die weniger Begabten von den Errungenschaften der Begabten profitieren. Die Begabten könnten dafür sorgen, dass insgesamt mehr pro-
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duziert werde, und das käme bei einer entsprechenden Umverteilung durch eine progressive Besteuerung dann auch den weniger Begabten zugute.382 Aber wäre es tatsächlich auch für die schlechter Gestellten vorteilhaft, wenn die in bestimmten Dingen besonders Begabten besonders gefördert würden? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie diese Förderung aussieht und welche Folgen sie hat. Gerade die Gruppe derjenigen Personen, die aufgrund einer besonders guten Bildung einflussreiche gesellschaftliche Positionen innehaben, müsste die Interessen aller Gesellschaftsmitglieder berücksichtigen, also auch und insbesondere die der schlechter Gestellten. Um die dafür nötige Motivation und die dafür nötigen sozialen Kompetenzen zu besitzen, müsste sich diese Gruppe aber selbst aus allen gesellschaftlichen Schichten rekrutieren. Auf diese Weise gewinnt also die Forderung nach gleichen Bildungschancen unabhängig vom sozialen Hintergrund durch ein folgenorientiertes Argument zusätzliches Gewicht.383 Die soziale Herkunft sollte keinen Einfluss auf die Bildungschancen haben, weil so dafür gesorgt werden kann, dass diejenigen, die später einflussreiche Positionen in der Gesellschaft besetzen, die Grundinteressen aller Menschen gleichermaßen vor Augen haben und nicht nur die spezifischen Interessen einer gesellschaftlich privilegierten Gruppe vertreten. Damit ist jedoch lediglich ein weiterer Grund für die Forderung nach einer Gleichheit der Chancen unabhängig von der sozialen Herkunft genannt. Betrachten wir nun die Forderung, dass auch unterschiedlich talentierte Menschen in bestimmten Hinsichten gleiche Chancen haben sollten. Hier muss man wiederum den direkten Gewinn einer bestimmten schulischen Erziehung für diejenigen in den Blick nehmen, die eine solche Erziehung erhalten, und nicht die Vorteile, die sie anderen durch ihre Erziehung verschaffen. Zwar könnten die in bestimmten Hinsichten talentierteren Personen mit Hilfe einer guten Erziehung Güter erwirtschaften, von denen auch die weniger Talentierten profitieren. Insofern ist die so genannte „Begabtenförderung“ auch anderen zuträglich. Diese Argumentation läuft jedoch Gefahr, den direkten Beitrag der Erziehung zu einem guten Leben der einzelnen Individuen aus dem Blick zu verlieren, und somit die Forderung nach Chancengleichheit in wichtigen Hinsichten zu wenig zu berücksichtigen. So ist es zwar einerseits plausibel, in bestimmten Dingen begabte Individuen besonders zu fördern, wenn dies letztlich auch anderen zugute kommt. Doch wenn eine solche Begabtenförderung die Chancen anderer auf das Erreichen attraktiver Positionen verschlechtert, dann kann dies deren Wohl selbst dann abträglich sein, wenn ihnen die bessere Ausbildung der Talentierteren mehr Einkommen gewährt. Man muss hier zwischen Einkommen und Vermögen auf der einen Seite und Chancen auf Positionen auf der anderen Seite abwägen.384 Ein höheres Einkommen wiegt aber nicht
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notwendig schlechtere Chancen (im Sinne von Aussichten auf das Erreichen attraktiver Positionen) auf. Zusätzlich zu den Aspekten „Einkommen“ und „Aussichten“ müsste man klären, inwiefern es auch unabhängig von den Berufsaussichten gut für Menschen ist, ihre Talente bestmöglich zu entfalten. Dafür kommt zum Beispiel die Anerkennung in Frage, die ihnen von anderen Menschen für die Entfaltung ihrer Talente zuteil wird. Darüber hinaus sind die mit der Entfaltung der eigenen Talente verbundenen wertvollen Erfahrungen zu berücksichtigen. In A Theory of Justice hat Rawls dies selbst im Blick. Rawls spricht sich hier explizit dafür aus, die Erziehung nicht nur als Mittel zum Zweck der Beförderung produktiver Fähigkeiten anzusehen, sondern auch deren Beitrag zu einer darüber hinausgehenden Bereicherung des Lebens zu berücksichtigen: „[R]esources for education are not to be allotted solely or necessarily mainly according to their return as estimated in productive trained abilities, but also according to their worth in enriching the personal and social life of citizens, including here the less favored.“ 385 Wenn das Einkommen wichtiger wäre als all diese Dinge, dann spräche das dafür, einigen eine bessere Erziehung zu ermöglichen und den Zugewinn umzuverteilen. Doch wenn man die eben genannten immateriellen Güter zusätzlich in den Blick nimmt, ist dies zu bezweifeln. Die inhaltliche Ausfüllung der Forderung, jeder sollte die gleichen Möglichkeiten haben, seine Talente zu entwickeln, verlangt also letztlich einen Bezug zum je individuell guten Leben. Und wie gut unser Leben verläuft, hängt eben nicht nur von unserem Einkommen ab, sondern auch davon, inwiefern wir etwas aus unseren Fähigkeiten machen können. Ob es dann letztlich bestimmte natürliche Begabungen sind, auf die der schulische Erfolg zurückgeht, oder aber die soziale Herkunft, ist weniger relevant als es zunächst schien. Zwar sind gewisse Zweifel an dem Konzept „natürlicher“ Begabungen wichtig, weil damit der Behauptung begegnet werden kann, dass es „natürliche“ Schranken dessen gibt, wozu Menschen mittels schulischer Erziehung gebracht werden können. Um hier einschlägig zu sein, müsste diese Behauptung jedoch so zugespitzt werden, dass sie klarerweise unplausibel wird. Denn es müsste behauptet werden, dass eine bessere Förderung derjenigen, denen das Lernen schwerer fällt, schlechterdings nichts bewirken kann. Dies ist ebenso wenig haltbar wie die Behauptung, dass die schulische Erziehung für Kinder aus bestimmten Elternhäusern von vornherein nichts bewirken kann. In jedem Fall sollten also diejenigen, deren schulischer Erfolg (aus welchen Gründen auch immer) bisher geringer ausfällt, eine besonders intensive Förderung erhalten. Dies müssten jedenfalls diejenigen Egalitaristen fordern, denen es um die Gleichheit der Lebensaussichten geht. Eine besondere Förderung derjenigen, die in der Schule bislang weniger erfolgreich waren, können freilich auch Vertreter nicht streng egalitärer
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Positionen fordern. Sie würden das nur anders begründen: Statt uns darauf zu konzentrieren, dass alle gleich viel haben, sollten wir uns darauf konzentrieren, dass alle genug haben. Dies wurde offenbar bisher versäumt. Eine zu große Anzahl von Schülerinnen und Schülern verlässt die Schule gänzlich ohne Schulabschluss – und damit zunächst ohne jede berufliche Perspektive. In der PISA-Studie hat sich zudem gezeigt, dass die Gruppe der leistungsschwächsten Jugendlichen in Deutschland größere Schwierigkeiten im Lesen hat als die Schülerinnen und Schüler in vielen anderen Ländern. Insgesamt erreichten in Deutschland fast 10% der 15jährigen nicht einmal die Kompetenzstufe I, d. h. ihnen fehlen basale Lesekompetenzen und somit Grundvoraussetzungen für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und beruflichen Erfolg.386 Diese Zahlen zu verbessern sollte ein vorrangiges Ziel unserer Bemühungen sein. Die besonders wichtigen Fähigkeiten, welche die schulische Erziehung in jedem Fall vermitteln muss, sind grundlegende Kulturtechniken, wie lesen, schreiben und rechnen zu können, sowie darüber hinausgehende Fähigkeiten, die einen Einstieg ins Arbeitsleben ermöglichen. Statt hier also komparative Überlegungen zur Chancengleichheit anzubringen, welche die Chancen, die eine Person haben sollte, daran bemessen, wie hoch die Chancen sind, die eine andere Person hat, reicht ein Rekurs auf Möglichkeiten, die jedem offenstehen sollten. Egalitaristen können allerdings ihren Kritikern durchaus darin beipflichten, dass in Bezug auf die leistungsschwächeren Schüler enorme Defizite zu konstatieren sind, dies es vorrangig zu beheben gilt. Daher können sie zugeben, dass man sich erst einmal darauf konzentrieren sollte, dass alle genug haben. Sie würden aber zugleich betonen, dass damit noch nicht alles getan sei, was getan werden sollte: Darüber hinaus seien auch relationale Überlegungen anzustellen. Kritiker streng egalitärer Forderungen halten dem entgegen, dass es reicht, dafür zu sorgen, dass alle genug haben. Doch wie viel ist genug? Um zu sehen, welche Möglichkeiten mindestens eröffnet werden müssten, um für Bildungsgerechtigkeit zu sorgen, ist auch der Kritiker streng egalitärer Forderungen darauf festgelegt, Überlegungen zum guten Leben anzustellen. Seine Aufgabe ist hier sogar in gewisser Hinsicht noch schwieriger. Er ist darauf festgelegt, nicht nur anzugeben, was das Leben bereichern und insofern besser machen kann, sondern er muss darüber hinaus angeben, wann die Grenze dessen unterschritten ist, was für ein gutes Leben mindestens erforderlich ist.387 Dass sie mit dieser Schwierigkeit ebenfalls konfrontiert sind, haben die Kritiker streng egalitärer Forderungen nicht immer gesehen. So behauptet etwa Schramme, ein schwerwiegendes Problem des (streng egalitär interpretierten) Ideals der Chancengleichheit bestehe darin, dass das Ziel, für dessen Erreichung die Chancen gleich sein sollten, notwendigerweise unterbestimmt sei. Denn dazu müsste angegeben werden können, worin ein
6.2 Bildung und Menschenrechte
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gutes Leben bestehe.388 Schramme ist jedoch entgegenzuhalten, dass diese Schwierigkeit auch seinen eigenen Ansatz betrifft. Er meint, man solle das (streng egalitär verstandene) Ideal der Chancengleichheit verlassen und lediglich den Anspruch auf die Ermöglichung eines guten Lebens einlösen (den jeder gleichermaßen hat). Dazu müsse man Zustände identifizieren, bei denen die Möglichkeit zu einem guten Leben nicht vorhanden oder stark eingeschränkt ist. Schramme geht es hier um die Explikation generell notwendiger Voraussetzungen für ein gutes Leben, und er meint, als geeignetes Kriterium könnten Bedürfnisse gelten. So konstatiert Schramme z. B. ein „Bedürfnis nach sinnvollen Tätigkeiten“.389 Eine Explikation derartiger Bedürfnisse setzt jedoch ebenfalls substantielle Überlegungen zum guten Leben voraus. Die Aufgabe wird sogar noch dadurch erschwert, dass man nach Bedürfnissen suchen müsste, deren Befriedigung eine notwendige Bedingung für ein irgendwie absolut (und nicht graduell) verstandenes gutes Leben ist. Es ist einfacher, dafür zu argumentieren, dass bestimmte (sinnvolle) Tätigkeiten unser Leben besser machen können, als diese begründet als Mindestbedingungen für ein gutes Leben auszuweisen. Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, dass Überlegungen zum guten Leben sogar in Bezug auf die nicht streng egalitären Forderungen anzustellen sind, welche sich an das „Menschenrecht auf Bildung“ knüpfen. Denn hier wird man erneut darüber nachdenken müssen, inwiefern ein Mindestmaß an Autonomie oder die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten unter bestimmte Mindestanforderungen an ein gutes Leben fallen, auf die sich das Menschenrecht auf Bildung bezieht.
6.2 Bildung und Menschenrechte Von einem Recht auf Bildung ist bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 die Rede, und zwar in Artikel 26. Dort heißt es in Absatz 1: „Everyone has the right to education. Education shall be free, at least in the elementary and fundamental stages. Elementary education shall be compulsory. Technical and professional education shall be made generally available and higher education shall be equally accessible to all on the basis of merit.“390 Das Recht auf Bildung wurde in wichtigen multilateralen Verträgen aufgegriffen und präzisiert. So erscheint es z. B. in den Artikeln 13 und 14 des „International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights“ (1966). Zu den inhaltlichen Kernforderungen des Rechts auf Bildung gehört die Gewährleistung einer obligatorischen und unentgeltlichen Grundschulbildung für alle, eine für jeden frei zugängliche weitere Schulbildung oder Berufsausbildung und schließlich eine akademische Bildung, die jedem nach seinen Fähigkeiten gleichermaßen offenstehen sollte. Das Recht auf Bildung ist bisher nicht umfassend eingelöst worden. Dies lässt sich z. B. an der Alphabetisierungsrate ersehen, die insbesondere
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in den afrikanischen Ländern der Sub-Sahara Region erhebliche Defizite in der Grundschulbildung offenbart.391 Allerdings ist die Alphabetisierungsrate zwar ein sehr wichtiger, aber nicht der einzige Indikator dafür, dass das Recht auf Bildung bisher nicht umfassend eingelöst wurde. Wir werden noch sehen, dass selbst Deutschland vorgeworfen wurde, einigen Aspekten des in der Erklärung der Menschenrechte artikulierten Rechts auf Bildung nicht nachzukommen.
6.2.1 Menschenrechte als moralische Rechte Welche Art von Aussagen macht eine Erklärung der Menschenrechte? Ich möchte behaupten, dass hier letztlich moralische Forderungen artikuliert werden. Inhalt ist neben dem rechtlichen damit auch ein bestimmter moralischer Anspruch, den die Rechtsträger gegenüber den Adressaten dieses Rechts haben. Diese Ansprüche lassen sich auch als moralische Rechte bezeichnen.392 Als moralische Rechte gelten die Menschenrechte dann vor aller positiven Rechtssetzung. Wir können diese Rechte als Anspruchsrechte verstehen. Negative Anspruchsrechte (Abwehrrechte) implizieren die Pflichten anderer, bestimmte Handlungen zu unterlassen, positive Anspruchsrechte (Leistungsrechte) implizieren die Pflichten anderer, bestimmte Handlungen auszuführen. Die bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte werden oftmals als negative Anspruchsrechte interpretiert. Ökonomische, soziale und kulturelle Rechte formulieren hingegen positive Anspruchsrechte. So ist auch das Recht auf Bildung ein positives Anspruchsrecht, denn es ist ein Recht darauf, bestimmte Güter oder Leistungen zu erhalten. Wenn jemand ein Recht darauf hat, diese Güter zu erhalten, dann kann er diese Güter beanspruchen, und seine Ansprüche sind damit gerechtfertigt. Moralische Rechte sind also moralisch begründete Ansprüche, und insofern generieren auch die Menschenrechte, wenn man sie als moralische Rechte versteht, solche moralisch begründeten Ansprüche. Es handelt sich hier um besonders fundamentale Ansprüche, und die Menschenrechte liefern eine Grundlage dafür, auf die Erfüllung dieser Ansprüche zu pochen. Eine Analyse des Menschenrechts auf Bildung sollte sowohl die Träger als auch den genauen Inhalt dieses Rechtes bestimmen, sowie die Adressaten, an die sich die davon ausgehenden Forderungen richten. Die Rechtsträger sind im Fall der Menschenrechte alle Menschen, und insofern sind Menschenrechte generelle Rechte, die Menschen qua Menschsein haben. Demgegenüber sind spezielle Rechte solche Rechte, die bestimmte Menschen unter bestimmten Bedingungen haben. Sie hängen von vorhergegangenen Handlungen (z. B. einem Vertrag oder Versprechen) oder bestimmten sozialen Beziehungen (z. B. der Mitgliedschaft in einer bestimmten Gesellschaft) ab. Anders als solche speziellen Rechte kommen Menschenrechte allen Menschen zu, und sie bestehen nicht nur gegenüber bestimmten Personen, sondern grundsätzlich gegenüber allen anderen Menschen.
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Zuweilen wird behauptet, Menschenrechte bestünden nicht gegenüber einzelnen Menschen, und schon gar nicht gegenüber allen Menschen. Primärer Adressat sei die Hoheitsgewalt (der Staat, die Europäische Gemeinschaft etc.). Ich werde im Folgenden jedoch dafür argumentieren, dass als Adressaten der Menschenrechte keineswegs nur Staaten, Regierungen und Organisationen, sondern auch Einzelpersonen in Frage kommen. Wozu genau alle Menschen in Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte verpflichtet sind, ist damit aber noch offen. Auch auf diese Frage werde ich im Folgenden noch zurückkommen. Dabei wird sich in Bezug auf das Menschenrecht auf Bildung folgende allgemeine Bestimmung der daran geknüpften Ansprüche und Pflichten ergeben: Alle Menschen haben gegenüber allen anderen Menschen den Anspruch darauf, dass diese sich in einem zumutbaren Ausmaß und möglichst effektiv dafür einsetzen, dass ein bestimmtes Maß an Bildung für sie gewährleistet wird. Auch wenn man Menschenrechte als allgemeine und moralische Rechte begreift, kann ihre praktische Durchsetzung freilich problematisch sein. Illegale Einwanderer, die ein Schattendasein führen müssen, haben in dieser Hinsicht keine effektiv realisierbaren Menschenrechte. Niemand gewährt ihnen ihre Rechte, und sie können sie auch nicht offen geltend machen, weil sie sich vor dem Staat und seinen drohenden Strafmaßnahmen verstecken müssen. Bildung, medizinische Versorgung, Schutz auf körperliche Unversehrtheit etc. sind dadurch nicht gewährleistet.393 Das Problem der Staatenlosigkeit ist ein besonderes Problem, angesichts dessen sich aber offenbart, warum es problematisch sein kann, die Menschenrechte nur als moralische Rechte zu verstehen und nicht auch den realen wie juristischen Kontext ihrer Realisierung oder Vereitelung in die Betrachtung einzubeziehen. Der Staatenlose kann oftmals nichts mit seinen moralischen Rechten anfangen. Es mag daher zynisch klingen zu behaupten, er „habe“ diese Menschenrechte, also z. B. das Recht auf Bildung. Das Gegenteil zu behaupten, also, dass er kein Menschenrecht auf Bildung habe, kann seine Realität unter Umständen besser beschreiben. Er hat keinen effektiven Zugang zu diesem Recht, und er kann es nicht einklagen. Als durchsetzbares juridisches Recht besteht dieses Recht also für ihn nicht, und wer diese Rede als Hinweis auf ein juridisches Recht versteht, der kann es daher nur als Zynismus deuten, wenn behauptet wird, hier habe jemand ein Recht auf Bildung. Doch wer hier ausdrücklich betont, dass es sich um ein moralisches Recht handelt, welches Forderungen nach seinem wirksamen Schutz nach sich zieht (im Fall des illegalen Einwanderers z. B. durch seine Einbürgerung oder wenigstens partielle Gleichstellung mit Staatsangehörigen), dem wird man keinen Zynismus vorwerfen können. Der Fall der illegalen Einwanderer ist ein besonderes Problem, weil Menschenrechte hier nicht wirksam geschützt werden, selbst wenn entsprechende Forderungen in der jeweiligen nationalen Rechtsordnung enthalten und insofern institutiona-
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lisiert sind (z. B. die Forderung nach einer unentgeltlichen Grundschulbildung). Gerade die sozialen Menschenrechte sind aber oftmals gar nicht erst ausdrücklich rechtlich verankert, und in diesem Fall haben nicht nur illegale Einwanderer, sondern auch viele Bürger des jeweiligen Staates effektiv keinen Zugang zu den Leistungen, die diese Rechte (als moralische Rechte) einfordern können. Soweit diese Leistungen wirkungsvoll gesichert und die Menschenrechte insofern wirkungsvoll geschützt werden sollen, wird man hier gerade eine Institutionalisierung der entsprechenden Menschenrechte verlangen. Gerade weil es sich hier um grundlegende moralische Rechte handelt, wird man verlangen, diese in juridische Rechte zu transformieren. Obwohl die Menschenrechte im juridischen Recht verankert sind, ist die Gültigkeit der in den Menschenrechtskatalogen ausgedrückten moralischen Rechte keineswegs an solche juridischen Rechte geknüpft. Menschenrechte bestehen also auch unabhängig von ihrer rechtlichen Institutionalisierung. Gerade in Bezug auf die Menschenrechte halten wir es allerdings in der Regel für erforderlich, dass diese in juridische Rechte transformiert werden. Denn wir meinen, dass Menschenrechte auf institutionelle (und damit wirkungsvolle) Weise geschützt und durchgesetzt werden sollten. Dies gilt insbesondere für die Freiheitsrechte und die bürgerlichen Rechte. Für die Menschenrechte des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereichs wirft diese Forderung jedoch Schwierigkeiten auf. Gegen diese Gruppe von Menschenrechten, zu denen auch das Recht auf Bildung gehört, wird daher eingewandt, sie seien nicht institutionalisiert bzw. nicht institutionalisierbar, und die Menschenrechtsterminologie sei daher irreführend.394 Zum einen wird eingewandt, dass individuellen Rechten bestimmte hoheitliche Pflichten korrespondieren müssen, und dass eine solche Korrespondenz nur vorliege, wenn das entsprechende Recht institutionalisiert sei. So lange eine solche Institutionalisierung nicht vorliege, handele es sich daher nicht um ein Recht. Selbst wenn diese Rechte institutionalisiert werden könnten, reiche das nicht aus, um ihnen den Status eines Menschenrechts zu verleihen. So behauptet z. B. O’Neill: „Some advocates of universal economic, social and cultural rights go no further than to emphasize that they can be institutionalized, which is true. But the point of difference is that they must be institutionalized: if they are not there is no right.“395 Doch warum sollten diese Rechte erst in dem Moment bestehen, wo sie institutionalisiert sind? Rechten müssen bestimmte Pflichten korrespondieren. Aber es handelt sich hier gerade um eine Pflicht zur Institutionalisierung des entsprechenden Rechts. Wir sind also dazu verpflichtet, diese Rechte wirksam zu schützen, und zwar durch ihre Institutionalisierung. So wäre ein Staat in Bezug auf das Recht auf Bildung beispielsweise dazu aufgefordert, ein einklagbares Recht auf den kostenlosen Besuch der Grundschule in seinen Katalog der positiven Rechte aufzunehmen. Und jeder Einzelne wäre dazu aufgefordert, im Rahmen seiner Möglichkeiten auf solche institutionellen
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Veränderungen hinzuwirken.396 Das Recht auf Bildung besteht als moralisches Recht also nicht erst dann, wenn es durch das juridische Recht tatsächlich wirksam geschützt wird. Doch sind solche Forderungen nach einer Institutionalisierung sozialer Menschenrechte überhaupt realistisch? Diese Frage führt uns zu einem weiteren Einwand, der in Bezug auf die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte vorgebracht wird. Selbst unter größter Anstrengung sei es nicht möglich, für eine Realisierung vieler der in den einschlägigen Erklärungen genannten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte zu sorgen. Insbesondere das in Artikel 24 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte genannte Recht auf einen bezahlten Erholungsurlaub wird hier oftmals als Beispiel genannt.397 Von den Regierungen der Länder, in denen die Industrialisierung wenig fortgeschritten ist, könne man nicht verlangen, soziale Rechte wie das Recht auf einen bezahlten Erholungsurlaub zu gewährleisten. Damit liefen diese Menschenrechtsforderungen letztlich ins Leere. Gegen diesen Einwand lässt sich allerdings vorbringen, dass der Schutz dieser Rechte eine politische Entscheidung ist. Tatsächliche absolute Hindernisse kann ich hier nicht erkennen. Und selbst wenn diese Rechte aktuell nicht wirksam geschützt werden können, folgt daraus noch nicht, dass sie nicht bestehen. Denn die damit verbundenen moralischen Ansprüche müssen ja nicht so lauten, dass diese Rechte jetzt wirksam geschützt werden sollten, sondern dass die nötigen Maßnahmen ergriffen werden sollten, damit dies immerhin künftig der Fall ist. Hier ist zwar festzuhalten, dass Rechten Pflichten korrespondieren und dass dieses moralische Sollen auch ein Können implizieren muss. Doch eine Regierung kann immerhin Maßnahmen ergreifen, die zu einem wirksameren Schutz der Menschenrechte beitragen, als er aktuell erfolgt, und sie kann eine zukünftige Garantie sozialer Menschenrechte so zumindest vorbereiten. Außerdem sind in der Forderung nach einer Realisierung der sozialen Menschenrechte nicht nur die Länder angesprochen, in denen diese Menschenrechte bislang nicht gewährleistet werden können, sondern diesen Rechten korrespondieren auch Forderungen nach einer Unterstützung dieser Länder durch andere Länder. So kann beispielsweise dem Recht auf Bildung nicht nur dadurch zur Geltung verholfen werden, dass Verfassungstexte ein solches Recht als einklagbares Recht enthalten, sondern auch ein von anderen Staaten, Gruppen oder gar Einzelpersonen finanzierter Ausbau des Bildungssystems dieser Länder kann ein Schritt in diese Richtung sein. Insofern richten sich die mit den sozialen Menschenrechten verbundenen Ansprüche nicht allein an die Regierungen oder an die Mitglieder der Länder, in denen diese Rechte bislang nicht wirksam geschützt werden. Die Regierungen und die Mitglieder der Länder, denen es aus eigener Kraft nicht möglich ist, diese Rechte wirksam zu schützen, sind also zumindest nicht
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allein angesprochen, wenn die Einhaltung dieser Menschenrechte gefordert wird. In der Regel sind hier aber die Regierungen der betroffenen Länder zumindest mit angesprochen. Dies ist in Bezug auf das Recht auf Bildung in den einschlägigen Menschenrechtsdokumenten auch ausdrücklich vorgesehen. Die Länder, in denen eine unentgeltliche Grundschulbildung für alle bislang nicht gewährleistet werden konnte, sollen einen detaillierten Plan entwickeln, wie sie zum Ausbau des Erziehungswesens beitragen werden und wann eine unentgeltliche Grundschulbildung für alle gewährleistet sein wird.398 Diese Planung kann und sollte von einer internationalen Unterstützung begleitet sein.399 Es bleibt hier allerdings zu fragen, von wem man die Realisierung der Menschenrechte tatsächlich verlangen kann. Ich hatte soeben sowohl Regierungen und Institutionen als auch einzelne Individuen zu den potentiellen Adressaten der den Menschenrechten korrespondierenden Forderungen gezählt. Doch sind nicht in erster Linie Staaten oder Regierungen und gerade keine Einzelpersonen Adressaten der Menschenrechte? Und können nicht zusätzlich zu Staaten oder Regierungen allenfalls internationale Organisationen und Institutionen (wie die Vereinten Nationen oder die Weltbank) Adressaten der mit diesen Rechten einhergehenden Forderungen sein? Zwar ist dies deshalb nahe liegend, weil Einzelpersonen weder für einen effizienten noch für einen dauerhaften Schutz der Menschenrechte garantieren können. Der effektivste Weg, sich für die Wahrung der Menschenrechte einzusetzen, wird oftmals gerade darin bestehen, auf einer institutionellen Ebene Veränderungen zu erwirken. Doch dies zu tun liegt eben auch in der Verantwortung von Einzelpersonen. Sie könnten beispielsweise versuchen, auf ihre Regierungen so einzuwirken, dass sich diese im Rahmen internationaler Kooperationen für eine Stärkung der Menschenrechte einsetzen. Letztlich sollte dabei das Ziel verfolgt werden, die Menschenrechte von abstrakten moralischen Forderungen in konkrete, garantierte Rechtsansprüche umzuwandeln. Die Menschenrechte generieren damit den Anspruch darauf, dass für ihren wirkungsvollen Schutz gesorgt wird, und ihnen korrespondiert die moralische Pflicht, dies zu tun. Dass nicht nur Regierungen, sondern auch Einzelpersonen als Adressaten der Menschenrechte angesprochen sind, kann man sich klarmachen, wenn man demokratische Gesellschaften in den Blick nimmt. Denn hier sind die Bürger dieser Gesellschaften die Quelle der Autorität ihrer Regierungen, und wenn ihre Regierung als Adressat der Menschenrechte angesprochen ist, dann sind sie es letztlich selbst. Die Mitglieder demokratischer Gesellschaften sind dabei nicht nur aufgefordert, sich für eine Wahrung der Menschenrechte in ihren eigenen Gesellschaften stark zu machen, sondern sie sollen auf ihre Regierungen so einwirken, dass diese sich auch für die Wahrung der Menschenrechte in anderen Ländern einsetzen. Die Men-
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schenrechte einer Person beinhalten also nicht nur moralische Ansprüche gegenüber der eigenen Regierung oder allen Mitbürgern, die eigene Gesellschaft so umzugestalten, dass die Menschenrechte gewahrt werden. Sondern damit ist auch ein Anspruch an die Mitglieder anderer Gesellschaften verbunden, sich für die Wahrung dieser Menschenrechte einzusetzen. Doch wie weit reichen solche Ansprüche? In welchem Ausmaß sind wir beispielsweise dazu aufgefordert, uns für die Garantie des Rechts auf Bildung auch in anderen Ländern einzusetzen? In den verschiedenen Antworten auf diese Frage wird danach unterschieden, ob es sich hier um Ansprüche handelt, die sich aus positiven Hilfspflichten oder aus negativen Pflichten ergeben.400 Negative Pflichten werden insofern geltend gemacht, als die schlechte wirtschaftliche Lage anderer Länder auf ein ungerechtes internationales Wirtschaftssystem zurückzuführen sei. Vor dem Hintergrund einer solchen Annahme fordert Pogge, dass man sich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten für eine Veränderung der globalen Grundordnung einsetzen sollte. Diese sei so umzugestalten, dass es zu einem Abbau extremer Armut und Ungleichheit kommt.401 Was leistet der Verweis auf die Menschenrechte in einer Begründung dieser Forderung? Pogge lässt sich so verstehen, dass eine Wahrung der Menschenrechte das angemessene Kriterium für eine Beurteilung der Gerechtigkeit des internationalen Wirtschaftssystems ist. Dessen Ungerechtigkeit lasse sich also direkt an der Verletzung der Menschenrechte ablesen: „[P]ersons involved in upholding coercive social institutions have a shared moral responsibility to ensure that these institutions satisfy at least the universal core criterion of basic justice by fulfilling, insofar as reasonably possible, the human rights of the persons whose conduct they regulate.“402 Wenn eine Verletzung der Menschenrechte das Kriterium für die Ungerechtigkeit ist, verschwimmt jedoch der vermeintliche Unterschied zwischen den Ansprüchen, die sich aus negativen Pflichten ergeben (und in denen, wie bei Pogge, auf eine Schädigung verwiesen wird, die wir zu unterlassen haben) und der Pflicht zur Hilfeleistung.403 Denn beides würde sich aus dem jeweiligen Menschenrecht ergeben, z. B. dem in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte artikulierten Recht auf einen Lebensstandard, der die Befriedigung der Grundbedürfnisse gewährleistet, also Nahrung, saubere Luft und Wasser, Kleidung, Wohnung und ärztliche Versorgung gewährt (im Folgenden „Menschenrecht auf Subsistenz“ genannt).404 Dem Menschenrecht auf Subsistenz würde dann die Pflicht korrespondieren, sich nicht an der Aufrechterhaltung eines internationalen Wirtschaftssystems zu beteiligen, welches dazu beiträgt, dass Menschen Hunger leiden müssen. Denn ein internationales Wirtschaftssystem, unter dem die Grundbedürfnisse vieler Menschen unbefriedigt bleiben, wäre aus diesem Grund als ein ungerechtes System zu bezeichnen.
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Dies lässt sich jedoch ebenso mit Rekurs auf unsere positiven Pflichten formulieren. Das Recht auf Subsistenz ist ein Anspruchsrecht, mit dem bestimmte Hilfspflichten korrespondieren. Wir müssen hier nicht notwendig an solche Hilfe denken, wie sie akut und in besonderen Notlagen von wohltätigen Organisationen geleistet wird, die auf Spendengelder angewiesen sind. Stattdessen sollten wir uns dafür einsetzten, die Lage der Hilfsbedürftigen nachhaltig zu verbessern, indem wir unser internationales Wirtschaftssystem anders einrichten. Der Unterschied wäre dann bloß ein rhetorischer. Auf unsere Hilfe scheinen andere einen geringeren Anspruch zu haben als darauf, gerecht behandelt zu werden. Doch wenn es in beiden Fällen dasselbe Menschenrecht ist, von dem diese Ansprüche ausgehen (z. B. das Recht auf Subsistenz), ist ein Unterschied zwischen den daraus abgeleiteten positiven und negativen Pflichten nicht auszumachen. Selbst wenn es eine realisierbare Alternative zu der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung gibt, unter der die jetzt von erheblicher Armut betroffenen Menschen besser gestellt sind, stellt sich die Frage, warum wir verpflichtet sind, auf eine Reform dieser Ordnung hinzuwirken. Wenn dazu wiederum auf die Menschenrechtsdefizite verwiesen würde, wäre damit zunächst keine Begründung vorgebracht, die den von Pogge betonten Unterschied zwischen positiven und negativen Pflichten offenbart. Pogge kommt es offenbar auf den folgenden Unterschied an: Wenn sich zeigen lässt, dass wir in unserem Handeln direkt dazu beigetragen haben, dass die Befriedigung der Grundbedürfnisse anderer Menschen nicht gewährleistet ist, dann sind wir stärker zu einer Veränderung der Situation herausgefordert, als wenn das nicht der Fall wäre. Denn es ist moralisch verwerflicher, jemanden durch eigenes Handeln in eine Notlage zu stürzen, als einem Notleidenden nicht zu helfen. Dieses Beitragen und dessen Bezug zum Vorwurf der Ungerechtigkeit müsste man nun genauer analysieren.405 In Bezug auf die Einrichtung unseres Weltwirtschaftssystems ist der Verweis auf dessen Ungerechtigkeit z. B. dann angebracht, wenn bestimmte prozedurale Kriterien für einen fairen Handel nicht eingehalten werden. So müssen Handels- und Kaufbeziehungen ohne Druck zustande kommen, und alle beteiligten Parteien müssen hinreichend informiert sein. Wenn also die Industrieländer mit den Entwicklungsländern Handelsabkommen abschließen, müssen sie dafür Sorge tragen, dass diese Verträge diesen Kriterien genügen. Wenn sie das nicht tun, haben diejenigen, die dafür verantwortlich sind, tatsächlich zu einer ungerechten Situation beigetragen. Es gibt allerdings Fälle, in denen wir zu der miserablen Situation anderer Menschen klarerweise nicht beigetragen haben, etwa im Falle eines Erdbebens. In diesen Fällen sind unsere Hilfspflichten daher besonders umstritten. Die umfangreichste Forderung wäre wohl die, dass die Wohlhabenden einen großen Teil ihres Einkommens dafür aufwenden müssen, die Grundbedürfnisse anderer zu befriedigen – bis zu dem Punkt, an dem
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die Befriedigung der eigenen Grundbedürfnisse gefährdet ist.406 Schwächer (aber in mehreren Hinsichten effektiver) wäre die Forderung, sich (politisch) für eine internationale, europäische oder nationalstaatliche Hilfe einzusetzen. Außerdem kann man fragen, ob es sich bei den hier genannten Hilfspflichten um individuelle oder gemeinsame Pflichten der Gruppe der Wohlhabenden handelt.407 Eine gemeinsame Pflicht der Gruppe der Wohlhabenden würde den einzelnen Individuen weniger zumuten und insofern den Überforderungseinwand entschärfen, den das Postulat individueller Pflichten nach sich zieht. Ich kann die Plausibilität der unterschiedlichen Ansätze hier nicht im Einzelnen prüfen und muss insofern an dieser Stelle offenlassen, ob es sich bei den Pflichten zur Hilfeleistung um individuelle oder gemeinsame Pflichten handelt und wie weit solche Pflichten reichen. Dennoch können wir einige Überlegungen zu der anderen Seite solcher Pflichten anstellen, und zwar den Rechten darauf, etwas zu bekommen. Betrachten wir zunächst das Recht auf eine nachhaltig gesicherte Subsistenz. Eine gesicherte Subsistenz umfasst das, was zur Befriedigung der Grundbedürfnisse nötig ist, also z. B. sauberes Wasser, eine angemessene Ernährung und eine minimale Gesundheitsversorgung. Ohne ein Mindestmaß an gesicherter Subsistenz scheitern auch alle anderen Aktivitäten, und somit schwindet selbst der Ansatzpunkt für die Sicherung der Grundfreiheiten, die eine liberalistische Rechtsauffassung schützen will. Insofern muss man zusätzlich zu einer Sicherung der Freiheitsrechte mindestens ein Recht auf Befriedigung der Grundbedürfnisse postulieren.408 Selbst diejenigen, die in der Formulierung der Menschenrechte äußerst restriktiv sind (und hier vor allem die Grundfreiheiten geschützt wissen wollen), müssten also das Recht auf Subsistenz mit in den Menschenrechtskatalog aufnehmen. Gegen das Postulat solcher Leistungsrechte wird zuweilen die Unterscheidung zwischen negativen und positiven Anspruchsrechten angeführt. Die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte seien positive Anspruchsrechte. Die Menschenrechte umfassen aber angeblich nur, oder zumindest vorrangig, negative Rechte.409 Allerdings ist nicht zu sehen, warum die Menschenrechte, wenn man sie als moralische Rechte interpretiert, nicht auch als positive Rechte zu verstehen sein sollten. Außerdem ist schon die Grundunterscheidung weniger trennscharf, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Selbst die bürgerlichen Freiheitsrechte schließen bestimmte Leistungsrechte zumindest mit ein. Denn auch um diese Rechte zu sichern, muss der Staat, z. B. durch die Einrichtung von entsprechenden Gerichten, für den Schutz der Bürger etwas tun.410 Allerdings sollte man den Unterschied zwischen den negativen und den positiven Anspruchsrechten nicht ganz nivellieren, denn er kann eine zentrale Schwierigkeit in den Blick rücken, die sich bei dem Postulat positiver Hilfspflichten stellt: Normalerweise will sich jeder selbst helfen und nicht von der Hilfe anderer abhängig sein. Das Postulat einer positiven Pflicht kollidiert daher mit dem Bedürfnis
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nach Autonomie, und dies nicht nur auf Seiten desjenigen, der dieser Pflicht unterliegt, sondern auch desjenigen, der aufgrund dieser Pflicht Hilfe erwarten kann. Daher sollte eine Garantie der Leistungsrechte keine Strukturen verfestigen, in denen einige Menschen dauerhaft von der Hilfe anderer abhängig sind. Stattdessen sollten andere nur aushilfsweise helfen müssen, und darin besteht ein wichtiger Unterschied zu den negativen Pflichten.411 Dennoch müsste vor dem Hintergrund dieser Annahme gerade das Recht auf Bildung selbst von denen verteidigt werden, die ansonsten Vorbehalte gegenüber den Leistungsrechten haben. Gerade das Recht auf Bildung kann mit dem Hinweis auf das Bedürfnis verteidigt werden, sich dauerhaft selbst helfen zu können und nicht länger von der Hilfe anderer abhängig zu sein. Nehmen wir daher nach diesen allgemeinen Überlegungen das Recht auf Bildung genauer in den Blick.
6.2.2 Menschenrecht auf Bildung Zwar erfordert eine Einlösung des Rechtes auf Bildung kurzfristig Hilfe, so zum Beispiel finanzielle Hilfe für den Aufbau eines Bildungssystems in Ländern, die solche Hilfe benötigen. Langfristig kann so aber gerade der Hilfsbedürftigkeit abgeholfen werden. Letztlich geht es hier darum, Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Grundbedürfnisse aus eigener Kraft befriedigen zu können. Insofern trägt gerade der Ausbau des Bildungssystems dazu bei, die Befriedigung der Grundbedürfnisse nachhaltig zu sichern. Nickel behauptet, die sozialen Menschenrechte müssten mehr umfassen als das bloße Recht auf Subsistenz, nämlich zum Beispiel das Recht auf Bildung und Erziehung: „The idea of subsistence alone offers too minimal a conception of social rights. It neglects education […]“.412 Allerdings lässt sich das Recht auf Bildung zunächst einmal gerade aus dem Recht auf Subsistenz ableiten. Nur eine ausreichende Bildung kann dafür sorgen, dass alle Menschen dauerhaft in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse aus eigener Kraft zu befriedigen. Dazu müssen sie ihre Grundinteressen selbst wahrnehmen und diese auch gegen ökonomisch oder politisch stärkere Personen oder Gruppen wirksam verteidigen können. Sie müssen sich beispielsweise dagegen wehren können, nur durch die Annahme einer extrem gesundheitsgefährdenden oder in anderer Weise mit den Grundbedürfnissen unvereinbaren Arbeit für das Überleben der Familie sorgen zu können. Letztlich müssen sie in die Lage versetzt werden, am Arbeitsmarkt und in der Politik gleichberechtigt teilnehmen zu können, und dazu müssen sie in der Regel lesen und schreiben können. Darüber hinaus ist die Erziehung auch über den Bereich der Sicherung der Erwerbsgrundlage wichtig. Ein Beispiel dafür ist die Gesundheitserziehung, z. B. in Bezug auf die Aidsprävention. Gerade im Hinblick auf die Erziehung im Elementarbereich sollte das Menschenrecht auf Bildung wenig strittig sein, denn die dort vermittel-
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ten Fähigkeiten sind in der Regel zu einer nachhaltigen Befriedigung der Grundbedürfnisse nötig. Selbst wenn man in der genaueren Bestimmung solcher Grundbedürfnisse äußerst restriktiv wäre, ließe sich daraus ein Recht auf Bildung ableiten. Denn eine effektive und nachhaltige Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse ist nur möglich, wenn allen Menschen zumindest eine elementare schulische Bildung offen steht. Insofern ließe sich an dem Recht auf Bildung auch von Seiten derjenigen festhalten, die betonen, dass sich in Menschenrechtsforderungen nur Minimalforderungen artikulieren, die sich auf die Garantie extrem wichtiger Güter richten.413 Wer extrem arm ist, der ist auf andere angewiesen, um lebenswichtige Güter zu bekommen, und es ist gerade diese besondere Form der Abhängigkeit von anderen, die das Leben in äußerster Armut so schlecht macht.414 Diese Abhängigkeit lässt sich jedoch strukturell nur durch verbesserte Bildungsmöglichkeiten verändern, und insofern ist das Recht auf Bildung eng mit dem Recht auf Subsistenz verzahnt. Doch selbst wer bestreitet, dass das Recht auf Subsistenz in den Katalog der Menschenrechtsforderungen gehört, und meint, dass dort nur bestimmte bürgerliche und politische Rechte ihren Platz haben sollten, kommt an dem Recht auf Bildung nicht vorbei. Dieses Recht ist nämlich nicht nur mit dem Recht auf Subsistenz, sondern auch mit den bürgerlichen und politischen Rechten verbunden. Hier ist die Erfüllung der von dem Recht auf Bildung generierten Forderungen eine notwendige Bedingung dafür, dass diese bürgerlichen und politischen Rechte wirksam geschützt werden können. Denn nur wer zumindest eine rudimentäre Bildung genießen konnte, weiß um die eigenen Rechte und Freiheiten und ist in der Lage, davon auch tatsächlich Gebrauch zu machen, sich gegen eine Verletzung dieser Rechte effektiv zur Wehr zu setzen und an politischen Strukturen mitzuwirken, die diese Rechte nachhaltig sichern. Das Menschenrecht auf Bildung wird daher auch als „empowerment right“ bezeichnet, welches auf die anderen Menschenrechte ausstrahlt und ihre Verwirklichung fördert.415 Allerdings scheinen manche Formulierungen, in denen das Recht auf Bildung und Erziehung konkretisiert wird, mehr zu umfassen als eine Beschreibung der notwendigen Mittel zu einer nachhaltig gesicherten Subsistenz oder eine Aufklärung über bestimmte bürgerliche Rechte. In diesen Formulierungen ist damit nicht lediglich der so gesehen instrumentelle Wert von Bildung angesprochen. Denn hier finden sich Forderungen, die uns schon im vierten Kapitel begegnet sind, und zwar in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Fähigkeiten-Ansätzen und deren Implikationen für das Bildungssystem (4.1). Es wird gefordert, jeder Mensch solle mittels Erziehung in die Lage versetzt werden, seine Anlagen und Fähigkeiten voll zur Entfaltung zu bringen. In der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie anderen einschlägigen Dokumenten findet sich als Zielvorstellung von Bildung einhellig die folgende Formulierung: Bildung
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müsse auf die „volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit“ gerichtet sein. In Artikel 29 der UN-Kinderrechtskonvention findet sich darüber hinaus die folgende Formulierung: „States Parties agree that the education of the child shall be directed to (a) The development of the child’s personality, talents and mental and physical abilities to their fullest potential […].“416 Hier wird also gefordert, dass die Begabungen und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten bestmöglich zu entwickeln sind. Es lässt sich möglicherweise bezweifeln, dass die volle Entfaltung aller geistigen und körperlichen Fähigkeiten tatsächlich ein universell geteiltes Ideal eines guten Lebens ist. Den eben genannten Formulierungen könnte man dann vorwerfen, unberücksichtigt zu lassen, dass es sich bei Menschenrechten um universelle Rechte handelt.417 Menschenrechte gelten qua Mitgliedschaft in der Menschengemeinschaft, und sie hängen weder von vorhergegangenen Handlungen (z. B. Versprechen) oder Verträgen noch von der Mitgliedschaft in einer spezifischen Gesellschaft ab. Hier geht es einerseits um die Rechtsträger, und bei Menschenrechten sind grundsätzlich alle Menschen Träger dieser Rechte.418 Andererseits betrifft dies aber auch die Adressaten dieser Rechte, also diejenigen, die den Rechtsträgern gegenüber zu bestimmten Handlungen verpflichtet sind. Und wenn prinzipiell alle Menschen sowohl Träger als auch Adressaten der Menschenrechte sind, müssen sich die jeweiligen Rechte allen Menschen gegenüber begründen lassen, und zwar unabhängig davon, ob diese spezifische kulturelle Werte teilen. Gerade dann, wenn man die Menschenrechte als moralische Rechte versteht, müssten sich die damit verbundenen Forderungen jedem gegenüber begründen lassen, der diesen Forderungen untersteht. Und wenn letztlich alle Menschen diesen Forderungen unterstehen, müssten sie sich auch allen Menschen gegenüber rechtfertigen lassen. Wenn es in den eben genannten Formulierungen um eine Beförderung solcher Lebensmöglichkeiten ginge, deren Wert mit guten Gründen in verschiedenen Kulturen umstritten ist, dann wäre eine solche universelle Begründbarkeit nicht mehr gegeben. Genügt also der Anspruch, dass jedes Kind seine Persönlichkeit, seine Begabungen und seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen können sollte, dem Anspruch auf Universalisierbarkeit? Muss dieser Formulierung eine Konzeption des guten Lebens zugrunde liegen, die weder allgemein geteilt wird noch den Anspruch erheben kann, jedem (vernünftigen) Individuum gegenüber begründbar zu sein? Hier kommen wiederum eine Reihe empirischer Fragen ins Spiel: Gibt es Kulturen, die bestreiten würden, dass die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung gebracht werden sollen? Gibt es Kulturen (und nicht nur Regierungen!), die eine solche Erziehung ablehnen würden, und lässt sich dieser Ablehnung begründet widersprechen? Kann man dazu auf
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wichtige Erfahrungen verweisen, die alle Menschen machen, oder zumindest machen würden, wenn man sie dazu in die Lage versetzte? Da sich diese Fragen nicht allein durch philosophische Überlegungen klären lassen, werden wir hier darauf verwiesen, die konkrete inhaltliche Ausfüllung des Rechts auf Bildung dem öffentlichen Diskurs zu überlassen. Letztlich muss die Philosophie der Menschenrechte den konkreten Inhalt einzelner Menschenrechte offenlassen. So meint auch Sen: „The viability and universality of human rights are dependent on their ability to survive open critical scrutiny in public reasoning.“419 Hier müsse man allerdings „widespread acceptability“ von „pre-existing ubiquitous acceptance“ unterscheiden.420 Dieser Hinweis ist wichtig. Wie etwa sind die Überzeugungen von Kulturen zu bewerten, in denen Frauen keine Berufsausbildung erhalten, sondern nur häusliche Fähigkeiten erwerben sollen? Ich habe in den vorangegangenen Kapiteln versucht zu zeigen, wie man sich der Beantwortung einer solchen Frage annähern kann – indem man z. B. den instrumentellen Wert der Autonomie untersucht sowie die wertvollen Erfahrungen beleuchtet, die mit einem Zugewinn an Autonomie einhergehen können. Dabei kann die Philosophie zumindest begriffliche und argumentative Ressourcen zur Verfügung stellen, die für den Diskurs über den konkreten Inhalt des Rechts auf Bildung wichtig sind. So bedarf beispielsweise das Autonomieideal einer philosophischen Explikation, um die damit verbundenen Forderungen angemessen rekonstruieren zu können. Außerdem sollte man fragen, inwiefern auch über dieses Ideal hinausgehende Werte zu berücksichtigen sind. Die Philosophie kann hier zumindest den Rahmen für eine Diskussion dieser Werte abstecken, z. B. indem sie die Frage formuliert, inwiefern mit der Entfaltung der Persönlichkeit und der individuellen Begabungen wertvolle Erfahrungen verbunden sind, und wie sich diese wertvollen Erfahrungen in den Kontext eines guten Lebens stellen lassen. So kann sie beispielsweise fragen, ob sinnvoll davon die Rede sein kann, dass Grundbedürfnisse unbefriedigt bleiben, wenn ein Mindestmaß an Autonomie nicht gesichert ist oder Personen an der Entfaltung bestimmter Fähigkeiten gehindert werden. Die dazu bisher angestellten Überlegungen sind damit auch für eine konkrete Explikation der Reichweite des (Menschen-)rechts auf Bildung und der damit verbundenen Ansprüche relevant. Obwohl wir gesehen haben, dass in diese Überlegungen immer auch empirische Fragen eingehen müssen, kann die Philosophie doch zumindest dazu beitragen, diese empirischen Fragen erst einmal aufzuwerfen und Versuche ihrer Beantwortung zu systematisieren.
6.2.3 Chancengleichheit und Recht auf Bildung Die in dem Recht auf Bildung enthaltene Forderung nach einer unentgeltlichen und obligatorischen Schulbildung im Elementarbereich lässt sich als eine Forderung nach Chancengleichheit formulieren. Alle sollten die glei-
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chen Chancen haben, eine Grundschulbildung zu kommen, unabhängig von der sozialen Herkunft (daher sollte die Grundschulbildung kostenlos sein) und unabhängig vom Geschlecht (dazu könnte möglicherweise die Grundschulpflicht beitragen, wenn sie verhindert, dass Eltern ihre Mädchen nicht zur Schule schicken). Diese Forderung ist nicht streng egalitär, da die geforderte Gleichheit der Chancen hier lediglich eine rhetorische Funktion hat. In Abschnitt 6.1.2 hatten wir darüber hinaus streng egalitäre Forderungen nach Chancengleichheit in den Blick genommen, so z. B. die Forderung, dass die Bildungschancen nicht von der sozialen Herkunft abhängen sollten. Kann nun davon ausgegangen werden, dass auch das Menschenrecht auf Bildung solche streng egalitären Forderungen impliziert? In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte findet sich in dem Paragraphen zum Recht auf Bildung tatsächlich eine Formulierung, die man streng egalitär interpretieren könnte. So heißt es dort in Artikel 26, Absatz 1: „[H]igher education shall be equally accessible to all on the basis of merit.“421 Die Forderung, dass die akademische Bildung allen gleich befähigten Kindern bzw. Jugendlichen gleichermaßen zugänglich sein sollte (equally accessible to all), lässt sich einerseits als Diskriminierungsverbot lesen, also so, dass der Zugang Kindern aus einkommensschwächeren Familien (z. B. über ein Schulgeld) nicht verwehrt werden darf. Sie könnte aber auch als streng egalitäre Forderung interpretiert werden, und zwar so, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, eine höhere Schule zu besuchen, für Kinder aus einkommensschwächeren Elternhäusern gleich hoch sein sollte wie die Wahrscheinlichkeit für ein Kind aus einer einkommensstärkeren Familie. Zumindest wenn man hier die streng egalitäre Interpretation zugrunde legt, verstößt auch Deutschland gegen die dem Recht auf Bildung korrespondierenden Forderungen. Zwar gibt es in Deutschland eine obligatorische und unentgeltliche Grundschulbildung für alle, doch das deutsche Bildungssystem berücksichtigt die eben genannte streng egalitäre Forderung zu wenig. In Abschnitt 6.1.2 hatten wir gesehen, dass die Schullaufbahnen in Deutschland eng mit der familiären Herkunft verknüpft sind. Die internationale Leistungsvergleichsstudie PISA weist eine starke Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft nach. Unserem Bildungssystem wird daher vorgeworfen, dass es einen Rahmen schafft, in dem die soziale Herkunft wesentlich über den Schulerfolg entscheidet und in dem der Einflussfaktor „soziale Herkunft“ weniger stark ausgeschaltet wird als in den Bildungssystemen anderer Länder. Diese Kritik findet sich auch in den Ausführungen des UN-Sonderberichterstatters für Bildung, Vernor Muñoz. Da Kinder unterer Schichten in Hauptschulen überrepräsentiert und in Gymnasien eher unterrepräsentiert sind, reflektiere das deutsche Schulsystem eine Trennung sozialer Schichten. Die Struktur des deutschen Bildungssystems sei für diese Trennung zumindest mitverantwortlich, weil in ihm bereits im Alter von zehn Jah-
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ren eine Klassifizierung der Kinder vorgenommen werde.422 Deutschland wird damit vorgeworfen, dass das Bildungssystem für ungerechtfertigte Ungleichheiten sorgt, denn die Erfahrungen anderer Länder zeigten, dass eine Umstrukturierung des Bildungssystems eine größere Chancengleichheit ermöglichen könne. Das Menschenrecht auf Bildung scheint damit sowohl egalitäre also auch nicht streng egalitäre Forderungen zu beinhalten. Zum einen sollten bestimmte Bildungsmöglichkeiten jedem offen stehen (z. B. der Besuch einer Grundschule). Diese Forderung ist nicht streng egalitär. Doch wenn der Sonderberichterstatter für Bildung die Chancenungleichheiten kritisiert, welche das deutsche Bildungssystem hervorbringt, dann sind damit durchaus streng egalitäre Forderungen verknüpft. Das deutsche Bildungssystem sollte nämlich erklärtermaßen dafür sorgen, dass die Bildungschancen, die ein Kind hat, nicht oder zumindest weniger stark von seiner sozialen Herkunft abhängen. Hier bekommt diese Forderung dadurch zusätzliches Gewicht, dass ihre Nichteinhaltung gar in den Kontext einer Menschenrechtsverletzung gestellt wird. Doch ist es tatsächlich angebracht, streng egalitäre Forderungen in die Rede von einem Menschenrecht auf Bildung aufzunehmen? Bisher hatte ich mehrere Wege aufgezeigt, für die von dem Menschenrecht auf Bildung generierten Ansprüche zu argumentieren. Entweder können wir auf die klassischen Freiheitsrechte und politischen Teilhaberechte verweisen, welche unbestritten in einen Katalog der Menschenrechte gehören. Die mit dem Recht auf Bildung verbundenen Ansprüche müssen erfüllt werden, damit diese Rechte wirksam geschützt werden können. Bildung ist also ein notwendiges Mittel zum Zweck der Wahrung anderer fundamentaler Menschenrechte, und daraus lässt sich ein Menschenrecht auf Bildung ableiten. Der zweite Weg, den ich aufgezeigt hatte, besteht darin, einen Bezug zum Recht auf Subsistenz herzustellen. Jeder Mensch kann danach zumindest den Anspruch darauf erheben, seine Grundbedürfnisse erfüllt zu sehen. So lässt sich wiederum das Recht auf Bildung begründen, denn eine elementare Schulbildung ist in der Regel eine notwendige Bedingung für eine nachhaltige Befriedigung der Grundbedürfnisse aus eigener Kraft. Und auch über eine Befriedigung der Grundbedürfnisse hinaus beinhaltet das Recht auf Bildung den Anspruch auf die Entfaltung bestimmter Fähigkeiten. Hier ist auch der Zusammenhang zwischen Bildung und Selbstbestimmung in den Blick zu nehmen. Letztlich geht es dabei um den Zusammenhang zwischen Bildung und bestimmten Mindestbedingungen für ein gutes Leben bzw. der Möglichkeit, ein solches führen zu können. Es gibt nun noch einen weiteren Weg, auf dem für ein Recht auf Bildung argumentiert werden könnte. Neben dem Verweis auf bestimmte Grundfreiheiten und Grundbedürfnisse macht Gosepath als weiteren Weg die von ihm so genannte Gleichverteilungsauffassung geltend. Gemäß dieser
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6 Bildung und Gerechtigkeit
Auffassung ließen sich die sozialen Menschenrechte damit begründen, dass jeder Mensch den gleichen Anspruch auf einen gerechten Anteil bei der Verteilung aller Güter habe.423 Wenn keine überzeugenden Gründe für eine Ungleichverteilung angeführt werden könnten, dann sei eine Gleichverteilung die einzig legitime Verteilung, sofern man die Rechtfertigungsansprüche aller Menschen gleichberechtigt ernst nehme.424 Gosepath betont, der über das Gleichverteilungsprinzip gewonnene Status sozialer Menschenrechte würde im Niveau weit über dem liegen, was soziale Rechte bisher sichern, „da diese immer nur einen (Minimal-)Standard eines Gutes mit dem Ziel der Ermöglichung einer menschenwürdigen Existenz für alle festschreiben“.425 Kann eine solche Überlegung über die genannten Begründungsansätze hinaus auch das Menschenrecht auf Bildung stark machen, und kann sie sogar dessen Reichweite vergrößern? Dagegen spricht, dass insbesondere auf globaler Ebene nicht zu sehen ist, inwiefern es sich bei den Forderungen, die dem Recht auf Bildung korrespondieren, um solche der Verteilungsgerechtigkeit handelt. Denn es gibt kein globales Bildungssystem, welches unterschiedliche Chancen zuteilt, und insofern müssen sich einige streng egalitäre Forderungen doch wieder auf die einzelnen Länder und deren Bildungssysteme zurückführen lassen. Diese teilen mehr oder weniger gleiche Chancen zu und können daher für eine Ungleichverteilung kritisiert werden. Hier geht es also um solche Gerechtigkeitsforderungen, die sich aus der Struktur bestimmter gesellschaftlicher Institutionen ableiten. Diese Forderungen können Menschen dann nicht qua Menschsein erheben, sondern weil sie Mitglied einer bestimmten Gesellschaft sind. Gosepath geht darüber noch hinaus, denn die Gleichverteilungsauffassung richtet sich erklärtermaßen auf alle erwünschten Güter, und sie ist nicht auf Personen innerhalb einer Gesellschaft begrenzt. Gosepath bestreitet, dass sich die Verteilungsgerechtigkeit nur auf solche Güter bezieht, die gemeinsam, also durch eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Kooperation, hergestellt worden sind. Die Gleichverteilungsauffassung reiche weiter, denn alle Güter, „über die wir zusammen die Kontrolle haben und die wir verteilen können“, seien als zu verteilende Güter anzusehen.426 Was würde aus dieser Auffassung für das Recht auf Bildung folgen? In Bezug auf das Recht auf Bildung ließe sich der Inhalt der daraus gewonnenen Forderungen so konkretisieren, dass alle Menschen gleich viele oder gleich gute Bildungsmöglichkeiten bekommen sollten, und zwar überall auf der Welt. Bereits die Annahme, dass wir dies bewerkstelligen können, ist freilich zu bezweifeln. Zumindest eine Annäherung an dieses Ideal ist aber möglich. Doch sind wir tatsächlich moralisch dazu aufgefordert, dieses Ideal zu realisieren? Gosepath behauptet, dass uns eine Gleichverteilung erwünschter Güter von der universalen Moral der gleichen Achtung abverlangt werde, denn
6.2 Bildung und Menschenrechte
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danach müsse jede Person als mit prima facie gleichem Anspruch auf alle erwünschten Güter angesehen werden, die gemeinsam verteilt werden können. Gosepath geht davon aus, dass unsere Weltgemeinschaft so organisiert ist, dass sie eine große „Kontrolle und damit Verantwortung“ über die sozialen Verhältnisse hat.427 Wer jedoch die Kontrolle über die weltweiten Bildungsmöglichkeiten hat und insofern aufgefordert ist, diese gleich zu verteilen, ist meines Erachtens schwer zu sehen. Es gibt keine globale Instanz, die Bildungsgüter zuteilt. Insofern ist eine ungleiche Verteilung dieser Güter nicht in demselben Sinne als „ungerecht“ zu bezeichnen wie eine von den Bildungssystemen einzelner Gesellschaften zu verantwortende Ungleichverteilung von Bildungsgütern oder Bildungschancen. Zwar ließe sich für eine Verbesserung der Bildungschancen in anderen Ländern durch die Ausweitung eines bestimmten Ideals gleicher Lebensaussichten werben. Gemeint ist das in Abschnitt 6.1.2 bereits angesprochene Ideal, demzufolge alle Mitglieder unserer Gesellschaft zumindest am Anfang ihres Lebens in bestimmten Hinsichten gleich dastehen sollten. Sie sollten vor allem unabhängig von der sozialen Herkunft gleich gute Lebensaussichten haben. Dieses Ideal ließe sich ausdehnen. Man würde dann nicht nur meinen, dass alle Mitglieder der eigenen Gesellschaft die gleichen Lebensaussichten haben sollten, sondern alle Menschen überall auf der Welt. Eine treibende Kraft für die Ausweitung dieses Ideals könnte das Fehlen überzeugender Gründe für eine Beschränkung dieses Ideals auf die Mitglieder der eigenen Gesellschaft sein. Allerdings liegt die Realisierung eines solch umfassenden Ideals offenbar in weiter Ferne. Schon in Bezug auf unsere eigene Gesellschaft ist es aufgrund der Probleme seiner Umsetzung schwierig, dieses Ideal zu realisieren. Diese Schwierigkeiten verschärfen sich bei der genannten Ausweitung dieses Ideals auf die Lebensaussichten aller Menschen. Außerdem ist zu betonen, dass sich ein derartiges Ideal gleicher Lebensaussichten nicht mit dem Verweis auf den Schutz der Menschenrechte begründen lässt. Auch das Menschenrecht auf Bildung ist getrennt von diesem Ideal zu betrachten. Wir sollten die Rede von einem Menschenrecht auf Bildung daher nicht überstrapazieren.428 Im Zentrum der mit dem Recht auf Bildung verbundenen Ansprüche steht eine nachhaltig gesicherte Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen, zu der das Bildungswesen einen notwendigen Beitrag liefern muss. Wir sind daher moralisch dazu aufgefordert, uns für einen Ausbau des Bildungswesens in den Ländern einzusetzen, in denen dies bisher nicht gewährleistet ist, z. B. weil keine unentgeltliche Grundschulbildung für alle Kinder gewährleistet werden kann. Darüber hinaus scheint die mittels schulischer Bildung ermöglichte Entfaltung bestimmter geistiger und körperlicher Fähigkeiten auch jenseits der Befriedigung der Grundbedürfnisse vom Menschenrecht auf Bildung erfasst zu werden.
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In unserem eigenen Bildungswesen sind vor allem die Chancenungleichheiten zu kritisieren, die dieses beinhaltet. Zwar habe ich Bedenken gegen die Auffassung vorgebracht, dass man die oben diskutierten streng egalitären Forderungen (z. B. nach Gleichwahrscheinlichkeit auf das Erreichen bestimmter Bildungszertifikate bei unterschiedlicher sozialer Herkunft) tatsächlich mit dem Verweis auf das Menschenrecht auf Bildung erheben sollte. Denn wenn Menschenrechte generelle Rechte sind, kommen sie allen Menschen qua Menschsein zu, und nicht, weil sie Mitglied einer bestimmten Gesellschaft sind. Dennoch haben alle Menschen einen Anspruch darauf, von den Institutionen ihrer Gesellschaft nicht willkürlich benachteiligt zu werden. Auf einen solchen Anspruch scheint auch der UN-Sonderberichterstatter für Bildung zu verweisen, wenn er das deutsche Bildungssystem kritisiert.429 In unserem Bildungssystem hängen die Bildungschancen noch immer sehr stark an der sozialen Herkunft. Diesen Missstand zu beheben wird daher gerade in Deutschland das vorrangige Ziel von Reformen im Bildungsbereich sein müssen. Und wenn es dabei sogar gelänge, auch die wertvollen Erfahrungen, welche in den nicht primär an der beruflichen Qualifizierung orientierten Aspekten der schulischen Erziehung eröffnet werden, allen Kindern aller gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen zu ermöglichen, dann wäre tatsächlich ein humanistisches Bildungsideal verwirklicht worden.
7 Schluss Ausgehend von einem an Wilhelm von Humboldt orientierten Verständnis von Bildung ging es in diesem Buch um den Zusammenhang zwischen Bildung und gutem Leben. Humboldts Überlegungen zur Bildung des Menschen sind mit einem Ideal der Selbstbestimmung verbunden. Auch in der zeitgenössischen Philosophie der Erziehung steht der Wert der Selbstbestimmung oder Autonomie im Zentrum der Diskussion. Im zweiten Kapitel haben wir aber gesehen, dass der Hinweis auf den Wert der Autonomie den Bildungskanon nicht allein begründen kann. Zwar ist die Beförderung der Autonomie ein sehr wichtiges Ziel der schulischen Erziehung, jedoch lassen sich weder die ästhetische Bildung noch eine Reihe von anderen Zielen der Erziehung ausschließlich mit dem Wert der Autonomie begründen. Die Behauptung, „Bildung“ sei ein Wert an sich, geht damit nicht in der Behauptung auf, „Autonomie“ sei ein Wert an sich. Jene Behauptung zielt oftmals darauf, bestimmte Tendenzen der Bildungspolitik zu kritisieren, nach denen Bildung lediglich als Mittel zu bestimmten – meist ökonomischen – Zwecken ausgewiesen wird. Dieser Kritik habe ich mich letztlich angeschlossen. Es ist jedoch keineswegs offensichtlich, welchen Sinn man der Rede von „an sich“ wertvollen Dingen abgewinnen kann. Um diese Rede zu erhellen, bedurfte es daher im dritten Kapitel zunächst einiger werttheoretischer Überlegungen. Der Bezug zu an sich wertvollen Erfahrungen hat sich dabei als zentral erwiesen. Daher sollte die Erziehung zur Begründung ihrer Ziele auf den Wert bestimmter Erfahrungen verweisen. Ausgehend von diesen Überlegungen konnten wir den Wert der Autonomie, den Wert des Wissens und bestimmte ästhetische Werte genauer erfassen. Es hat sich gezeigt, dass Bildung insofern an sich wertvoll ist, als eine Steigerung der Autonomie, die Aneignung von Wissen und die ästhetische Wertschätzung wertvolle Erfahrungen ermöglichen. Daran anknüpfend bin ich im vierten Kapitel der Frage nachgegangen, welche Konzeption des guten Lebens einen angemessenen Rahmen für die Überlegungen zum Wert der Bildung bieten kann. Dabei ist deutlich geworden, dass die verschiedenen objektivistischen Überlegungen, die man hier für einschlägig halten könnte, letztlich nicht zu überzeugen vermögen. Weder der Bezug zu den individuellen Fähigkeiten noch der Verweis auf die allgemein menschlichen oder für den Menschen wesentlichen Fähigkeiten können der Begründung bestimmter Bildungsziele dienen, wenn dabei gute Erfahrungen unberücksichtigt bleiben. Insofern habe ich hier für einen subjektivistischen Ansatz plädiert. Diese Terminologie provoziert Missverständnisse. Daher ist zu betonen, dass ein subjektivistischer Ansatz weder Beliebiges für wertvoll erklären noch zur Simplifizierung guter Er-
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fahrungen neigen muss. Darüber hinaus können wir diesen vielschichtigen Erfahrungen durchaus einen bestimmten Grad an Allgemeinheit unterstellen – zumindest sehr viele Menschen machen mit ähnlichen Dingen positive oder negative Erfahrungen. Deshalb kann ein subjektivistischer Bezug auf das gute Leben wichtige Erziehungsziele begründen, die mit der liberalen Forderung nach staatlicher Neutralität nur auf den ersten Blick unvereinbar sind. Dies ist im fünften Kapitel deutlich geworden. Das Neutralitätsgebot verlangt, dass sich staatliche Zwänge jedem gegenüber rechtfertigen lassen müssen. Eine solche Rechtfertigung ist im Bildungsbereich jedoch durchaus mit Bezug auf das gute Leben möglich. Die subjektivistisch zu deutende Rede von durch Erziehung ermöglichten Werterfahrungen bietet genügend Potential, um bestimmte Formen staatlichen Handelns im Bildungsbereich begründet zu verteidigen. Insofern ist das Resultat dieser Überlegungen sowohl mit der Grundüberzeugung der Liberalen als auch mit bestimmten Überzeugungen der in dieser Debatte so genannten „Perfektionisten“ zu vereinbaren. Liberale fordern, dass sich staatliche Zwänge jedem gegenüber rechtfertigen lassen müssen. Perfektionisten meinen, dass der Staat wertvolle Dinge befördern und den Bürgern so zu einem guten Leben verhelfen sollte. Beides ist miteinander vereinbar, wenn in einer Begründung für bestimmte Formen staatlichen Handelns subjektivistische Überlegungen zum guten Leben vorgebracht werden. Schulische Zwecke lassen sich mit dem Verweis auf bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten begründen. Hier ist vor allem an solche Erfahrungen zu denken, die einigen oder gar sehr vielen Kindern verschlossen blieben, würden sie nicht im Fokus der schulischen Erziehung stehen. Diesen Aspekt habe ich im sechsten Kapitel erneut aufgegriffen. In diesem Kapitel hat sich gezeigt, dass nicht nur nichts dagegen einzuwenden ist, wenn das Bildungssystem bestrebt ist, zur Verbesserung der Lebensaussichten beizutragen (und insofern am guten Leben orientiert ist), sondern dass dies mit guten Gründen gefordert werden kann. So impliziert die Forderung nach Chancengleichheit beispielsweise, dass unabhängig von der sozialen Herkunft die gleichen Aussichten darauf bestehen sollten, einen guten Beruf zu ergreifen. Zu diesen Aussichten trägt das Bildungssystem maßgeblich bei. Darüber hinaus ist jedoch zu überlegen, in welchen weiteren Hinsichten Bildung das Leben bereichern kann. Denn eine lediglich an ökonomisch verwertbaren Fähigkeiten orientierte Argumentation, die Fragen des guten Lebens aus dem Blick verliert, unterschlägt wichtige Aspekte der Forderung nach Chancengleichheit. Auch in die Rede von einem Recht auf Bildung müssen solche Überlegungen eingehen – hier steht beispielsweise der Wert der Autonomie erneut zur Debatte. Der Bildungsbereich ist damit ein Beispiel dafür, dass auch eine Explikation liberaler Forderungen Überlegungen zu der Frage erfordert, was das
7 Schluss
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Leben gut oder zumindest erheblich besser macht. Selbst wenn darauf verzichtet werden muss, ganz bestimmte Dinge als notwendige Bestandteile eines jeden guten Lebens auszuweisen, so sind grundsätzliche Gedanken zu der Frage, was das Leben erheblich bereichern kann, dennoch ein wichtiger Bestandteil praktischer Überlegungen. Dies gilt auch oder sogar insbesondere für die Philosophie der Erziehung. In diesem Buch sollte damit beispielhaft deutlich geworden sein, wo sich die Frage nach dem guten Leben in der praktischen Philosophie stellt, welcher Art mögliche Antworten auf diese Frage sind und inwiefern auch in das staatliche Handeln Überlegungen zum guten Leben einfließen sollten. Es hat sich gezeigt, worüber insoweit nachgedacht werden muss, inwiefern die Philosophie zu diesen Überlegungen beitragen kann und wo sie dabei an Grenzen stößt. Da das gute Leben thematisch im Zentrum des antiken Philosophierens stand, nahm auch die Philosophie der Erziehung in der Antike einen nicht unerheblichen Raum ein. In der zeitgenössischen Philosophie wird die Frage nach den Zwecken der Erziehung hingegen nur noch vereinzelt gestellt. Ein Grund dafür besteht darin, dass die Philosophie Fragen des guten Lebens aus den Augen verloren oder den Versuch ihrer Beantwortung sogar explizit zurückgewiesen hat. Meine Überlegungen sollten deutlich machen, dass es nötig ist, diese Fragen wieder aufzugreifen – und sie sollten Wege aufzeigen, dies zu tun.
Anmerkungen 1. 2. 3. 4. 5.
6. 7. 8.
9. 10.
11. 12. 13.
14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.
So zum Beispiel in Platons Protagoras. Zum Verhältnis zwischen Philosophie und Pädagogik siehe auch Hügli 1999. Platon, Laches 185d. Platon, Laches 185e. Herbart 1902, S. 69. Freilich gibt es durchaus auch zeitgenössische Pädagogen, die über die Ziele der Erziehung reflektieren. So stellen in Deutschland z. B. Klafki (vgl. z. B. Klafki 1957, 1996) und von Hentig (vgl. z. B. von Hentig 1993, 1996) viel diskutierte Reflexionen über die Ziele der Erziehung an. Vgl. Aristoteles, Politik, 1253a18-29. Vgl. Aristoteles, Politik, 1337a21-31. Fuhrmann weist darauf hin, dass education, éducation, educazione usw. eher dem deutschen Terminus ‚Erziehung’ entsprechen. Das, was im Deutschen unter ‚Bildung’ zu verstehen sei, müsse darüber hinaus mit dem Begriff der ‚Kultur’ in Verbindung gebracht werden. Vgl. Fuhrmann 2002, S. 36. Zenkert betont, das deutsche Wort ‚Bildung’ sei kaum übersetzbar in andere Sprachen. Vgl. Zenkert 2004, S. 692. Zur Geschichte des Bildungsbegriffs vgl. auch Lichtenstein 1966 und 1971. Luhmann/Schorr 1999, S. 83f. Um dies zu überwinden, fordert von Hentig 1968, für einige Jahrzehnte ganz auf den Bildungsbegriff zu verzichten. Ende der 70er Jahre entscheidet auch er sich jedoch dafür, den Begriff selbst wieder zu verwenden (vgl. von Hentig 1977). 1996 schreibt von Hentig dann sogar eine Monographie mit dem Titel „Bildung“. Vgl. dazu auch Tetens 2003, S. 54. Vgl. Bollenbeck 1996, S. 148. Allerdings ist es durchaus ein wichtiges Ziel Humboldts, über die Vervollkommnung des Individuums zur Vervollkommnung und Verbesserung der Gesellschaft beizutragen. Zu dem gesellschaftlichen Kontext, in dem Humboldts Überlegungen stehen, vgl. z. B. Lübbe 1986 und Iorio 2008. Zu den verschiedenen Zwecken des sprachlichen Unterrichts siehe auch Wilson 2002. Kant, Pädagogik, Akademie-Ausgabe, Band IX, S. 447. Vgl. Rawls 2003, S. 452. Vgl. Rawls 1996, S. 200. Vgl. Gutmann 1999, S. 42ff. So auch Steinfath 1998, S. 14. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, in: Gesammelte Schriften, Band 1, S. 283. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, in: Gesammelte Schriften, Band 1, S. 285. Vgl. dazu auch Menze 1986, S. 58. Humboldt, Das achtzehnte Jahrhundert, in: Gesammelte Schriften, Band 2, S. 95. Dies konstatieren auch Benner 2003, S. 54 und Zenkert 2004, S. 693. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, in: Gesammelte Schriften, Band 1, S. 109. Heitger 2004, S. 19 und S. 21. Hastedt 1998, S. 51. Brighouse 2000, S. 65. Siehe auch Winch 1999. Vgl. z. B. Hirst/Peters 1970. Vgl. z. B. Hare 1999, Steutel/Spieker 1999 und Cuypers 2004. Vgl. z. B. Walker 1999.
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Anmerkungen
32. Christman kritisiert in diesem Zusammenhang vor allem die Rede von einem „wahren Selbst“, die von den verschiedenen Autoren nur auf einzelne Aspekte dessen ausgerichtet werde, was für unser Selbstverständnis wichtig ist. Vgl. Christman 2005, S. 333. 33. Den Autoren geht es vor allem um die sozialen Bedingungen für ein autonomes Leben. Vgl. Anderson/Honneth 2005, S. 129f. 34. Ähnlich sehen das z. B. Raz 1988, Rössler 2001, S. 119 und Steinfath 2001. 35. Vgl. dazu auch Baumann 2008. 36. Diese terminologische Unterscheidung trifft auch Baumann 2000, von dessen Überlegungen ich hier profitiert habe. 37. Für eine ausführliche Untersuchung von „coercive threats“ dieser Art siehe Raz 1988, S. 148. 38. Zum Zusammenhang zwischen solchen Üblichkeiten und einer Einschränkung der Handlungsfreiheit siehe auch Gerhardt 1999, S. 250f. 39. Vgl. Brighouse 2000, S. 73. 40. Vgl. Brighouse 2006, S. 23. 41. Seebaß 1996, S. 763. 42. Heitger 2004, S. 21. 43. Vgl. Dworkin 1988, S. 108. 44. Siehe dazu auch Raz, der meint, zumindest ein „adequate range of choices“ sei eine notwendige Bedingung für ein autonomes Leben. Vgl. Raz 1988, S. 373. 45. Vgl. dazu auch Seebaß 2000, S. 194f. 46. Frankfurt 1988a, S. 21. 47. „Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist.“ Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Band IV, S. 440. Dasselbe gilt für Kants Begriff der Selbstbestimmung: „Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen“. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Band IV, S. 427. 48. Vgl. Frankfurt 1988a. 49. Diese Kritik findet sich bereits bei Watson 1975, für eine detaillierte Darstellung der Regress-Problematik siehe auch Friedman 1986, Christman 1989 und Baumann 2000. Frankfurt hat diese Einwände allerdings selbst gesehen. In „Identification and Wholeheartedness“ argumentiert Frankfurt dafür, dass der Regress gestoppt werden kann, indem sich die Person von ganzem Herzen (wholehearted) mit etwas identifiziert. Vgl. Frankfurt 1988b. Dass es Frankfurt so gelingt, das Regressproblem zu entschärfen, meint z. B. Herrmann 2000, S. 156ff, kritisch dagegen Baumann 2000, S. 165ff. 50. Für eine Kritik der Rede vom „Nicht-anders-können“ vgl. Bittner 2000. 51. So auch Steinfath 2001, S. 394. 52. Frankfurt 1999a, S. 174. Vgl. auch Frankfurt 1999b. 53. Dies ist sogar ausdrücklich ein Bestandteil in Frankfurts Analyse des „Caring“. Vgl. Frankfurt 1988c, S. 87. Kritisch dazu z. B. Betzler 2001 und Steinfath 2001, S. 439. 54. Jaeggi 2005, S. 145. 55. Ähnlich auch Dworkin 1989. 56. So auch Steinfath 2001, S. 398. 57. Dieser Gedanke ist in Christmans Konzept von Autonomie eingegangen (vgl. Christman 1991). Christman meint, dass eine Person die Genese ihrer Wünsche billigen können muss, damit man ihr Autonomie zuschreiben kann. 58. Dies wendet auch Steinfath 2001, S. 418 gegen Christman ein. 59. Anderson 1994, S. 111. 60. Ackermann 1980, S. 139. Hier geht es Ackermann noch um Erziehung im Allgemeinen, wenig später bezieht er diese Forderung konkret auf die schulische Erziehung. Vgl. S. 155f. Ähnlich auch White 1973, S. 22.
Anmerkungen
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61. Eine solche Autonomiekonzeption vertritt z. B. Christman 1991. Ähnlich auch Rössler, die jedoch einräumt, dass eine Reflexion auf das eigene Leben bei autonomen Personen „ein selbstverständlicher Teil des Handelns und Lebens“ sein muss. Rössler 2001, S. 107f. 62. Vgl. z. B. Dworkin 1988, S. 109. 63. So auch Baumann 2000. 64. Auf diesen Aspekt macht Baumann aufmerksam. Vgl. ebd., S. 92. 65. So auch Schaber 1995, S. 93. 66. Vgl. z. B. Sandel 1998. Siehe auch MacIntyre 1981 und 1987. 67. Schaber 1995, S. 96. 68. Vgl. Schaber 1995, S. 96. 69. Steinfath 2001, S. 440. 70. Steinfath 2001, S. 442. 71. Im fünften Kapitel werde ich auf diese Debatte noch einmal zurückkommen. 72. Diese Vermutung äußert Steinfath, und er leitet daraus ab, dass zumindest kleineren Kindern gegenüber manche Dinge als besonders wertvoll oder wichtig herausgestellt werden sollten. Vgl. Steinfath 2000, S. 168f. 73. Vgl. Ackermann 1980, S. 141. 74. Vgl. Hurka 1987, S. 377. 75. Vgl. Sher 1995, S. 146. 76. Hurka 1993, S. 149. 77. Diesen Weg geht offenbar Ackermann: „[I]t is […] not necessary for autonomy to be the only good thing; it suffices for it to be the best thing that there is.“ Ackermann 1980, S. 368. 78. So auch Sher 1995, S. 147. 79. Vgl. z. B. Nussbaum 1999a, S. 41ff. Diese Auflistung findet sich aber auch in vielen anderen Publikationen Nussbaums. 80. Vgl. Nussbaum 1988a, S. 161. Auch die Erziehung selbst findet bereits auf Nussbaums Liste der menschlichen Grundfähigkeiten einen Platz. Vgl. z. B. Nussbaum 1999a, S. 41. 81. Nussbaum 1999b, S. 80. 82. Vgl. dazu auch Scherer 1993. 83. Vgl. Nussbaum 1999b, S. 200f. 84. Vgl. Nussbaum 1999b, S. 71. Obwohl Nussbaum wenig später immerhin für „eine gewisse Flexibilität“ in der Beförderung der geistigen Fähigkeiten eintritt, die sich an dem kulturellen Hintergrund der zu Erziehenden orientieren sollte (S. 74), bleibt doch eine Spannung zwischen dem paternalistischen und einem autonomieorientierten Ansatz bestehen. 85. Siehe dazu auch Raz 1988, Schaber 1995 und Anderson/Honneth 2005. 86. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, in: Gesammelte Schriften, Band 1, S. 285. 87. Humboldt, Das achtzehnte Jahrhundert, in: Gesammelte Schriften, Band 2, S. 94f. 88. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, in: Gesammelte Schriften, Band 1, S. 283. 89. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, in: Gesammelte Schriften, Band 1, S. 106. 90. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, in: Gesammelte Schriften, Band 1, S. 104. 91. Vgl. dazu auch Zenkert 2004, S. 695. 92. So ist Humboldts „Theorie der Bildung“ nicht mehr als eine sehr fragmentarisch gebliebene Skizze. 93. Harman 2000, S. 130. 94. Vgl. Moore 1993, S. 58ff. 95. Rescher 1997, S. 180. 96. Vgl. dazu auch Bernstein 2001, S. 329. 97. So Bernstein 2001, S. 330, der diese Rede jedoch letztlich als „obskur“ zurückweist. 98. Vgl. Korsgaard 1983, S. 170f. Korsgaard geht es hier aber nicht darum, diese Rede von intrinsischen Werten inhaltlich zu verteidigen. Sie selbst rückt die Rede von extrinsischen, aber gleichwohl nicht-instrumentellen Werten in den Vordergrund.
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Anmerkungen
99. Eine metaphorische Redeweise ist in diesem Kontext generell recht verbreitet. (Selbst) kritisch dazu auch Feldman 1998, S. 339. 100. Dies bestreitet z. B. Harman 2000, S. 142. 101. Vgl. Korsgaard 1983. 102. Steinfath meint, das gelte für alle Werturteile. Die Praxis des Wertens sei kein Selbstzweck, sondern sie habe generell eine normative Funktion. Vgl. Steinfath 2001, S. 258. 103. Ähnlich bereits Anderson 1993. 104. Eine solche Analyse findet sich z. B. bei Rabinowicz und Rønnow-Rasmussen 1999. Diese reden hier allerdings nicht von „intrinsischen Werten“, sondern von „final value“: „[F] inal value […] is analysed in terms of a range of fitting responses that the object calls for.“ Rabinowicz und Rønnow-Rasmussen 1999, S. 49. De Sousa unterscheidet hier noch feiner zwischen der Verständlichkeit und Angemessenheit eines Gefühls. Vgl. de Sousa 1997, S. 205f. 105. Eine solche Definition findet sich beispielsweise bei Steinfath: „Werttheoretisch gesehen heißt das, dass etwas intrinsisch gut ist, wenn es zu Recht Gegenstand wertender Gefühle ist […].“ Steinfath 2001, S. 262. 106. Vgl. dazu ausführlich Raz 2003 und das Kapitel „Mixing Values“ in Raz 1999. 107. So meint Scanlon: “[B]eing good, or valuable, is not a property that itself provides a reason to respond to a thing in certain ways. Rather, to be good or valuable is to have other properties that constitute such reasons“. Scanlon 1998, S. 97. 108. Vgl. Lewis 1962, S. 432ff. Verbreitung erlangte diese Terminologie vor allem durch Frankena 1973. Unter den zeitgenössischen Philosophen hat sich insbesondere Audi die Rede von inhärenten Werten zu eigen gemacht. Vgl. z. B. Audi 2003. 109. Lewis 1962, S. 432. 110. Lewis 1962, S. 434. 111. Audi 2005, S. 125. 112. Vgl. Audi 2003, S. 35 und Audi 2005, S. 125. 113. Vgl. Audi 2005, S. 125, Fn. 12. 114. Vgl. Audi 2003, S. 35. 115. Dies käme ebenfalls Audis Überlegungen entgegen. So behauptet er: „[T]heir inherent value consists in a certain kind of experimentability.“ Audi 2005, S. 126. Für eine Analogie von sekundären Qualitäten und evaluativen Eigenschaften vgl. auch McDowell 1985. 116. Einige Versuche, intrinsische Eigenschaften zu bestimmen, basieren auf der Vorstellung, dass intrinsische Eigenschaften solche Eigenschaften sind, die ein Gegenstand unabhängig von der Existenz anderer Gegenstände besitzt. Vgl. dazu z. B. Langton/Lewis 1998. 117. Ich rede hier von Zuständen, aber dabei soll durchaus die Möglichkeit bestehen, dass diese sich in die Zeit erstrecken. Den Prozesscharakter betont Tännsjö 1999, S. 532. 118. Aus diesem Grund bezeichne ich die im Folgenden entwickelte Position nicht als „hedonistisch“. Allerdings hat sie gewisse Ähnlichkeiten mit dem von Feldman 2004 verteidigten „attitudinal hedonism“. Mir scheint es aber leicht zu Missverständnissen zu führen, die verschiedenen guten Erfahrungen, um die es hier geht, unter den gemeinsamen Begriff „pleasure“ zu subsumieren. 119. „My main contentions regarding Moore’s position […] lead to the conclusion that there is no reason for regarding intrinsic value as undefinable, as Moore does. If it has itself a normative character, then it is definable in terms of ‚ought’.“ Frankena 1942, S. 104. Ähnlich auch Baldwin 1990, S. 76ff. 120. Frankena 1942, S. 109. 121. Frankena 1973, S. 73. 122. Deren Einfachheit erläutert Moore selbst mit Hilfe einer Analogie zwischen dem Farbadjektiv „gelb“ und dem Adjektiv „gut“: „[J]ust as you cannot, by any manner of means, explain to any one who does not already know it, what yellow is, so you cannot explain what good is.“ Moore 1993, S. 59. 123. Moore hatte in einem früheren Aufsatz ebenfalls vorgeschlagen, das „an sich Gute“ über wertvolle Erfahrungen zu verstehen. Später korrigiert er sich jedoch und sagt, „an sich
Anmerkungen
124. 125. 126. 127. 128. 129. 130. 131. 132. 133.
134. 135. 136. 137. 138. 139. 140. 141. 142. 143. 144. 145.
146. 147.
148.
149. 150.
151. 152. 153. 154.
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gut“ seien nicht nur wertvolle Erfahrungen, sondern zusätzlich zu guten Erfahrungen gebe es auch noch andere intrinsisch wertvolle Dinge. Vgl. Moore 1942, S. 555. Vgl. Moore 1993, S. 135. Vgl. Moore 1993, S. 135. Vgl. dazu auch Scanlon 1988 und Dworkin 1988, S. 78. Mill, On Liberty, S. 75f. Vgl. Mill, On Liberty, S. 44. Vgl. Mill, On Liberty, S. 63. Dass Autonomie oder Selbstbestimmung „intrinsisch“ wertvoll sei, behaupten auch zeitgenössische Autoren, so z. B. Wall 1998, S. 148ff. So argumentiert Hurka 1987, S. 366. Darauf verweist Steinfath 2001, S. 306. Raz, der ebenfalls auf diesen Punkt verweist, geht hier weiter. Ihm geht es nicht, oder zumindest nicht nur darum, ob wir unser Leben für wertvoll halten, sondern vielmehr darum, ob es tatsächlich wertvoll ist. Vgl. Raz 1988, S. 298. Für eine Kritik an Raz in diesem Punkt vgl. Neal 1994. Ähnlich auch Steinfath 2001, S. 306 und S. 459. Dies konstatiert beispielsweise Dworkin 1988, S. 31. Goethe 2004, S. 208. Vgl. dazu auch Steinfath 2001, S. 442. Steinfath 2001, S. 406. Steinfath 2001, S. 407. Das sieht Steinfath an anderer Stelle auch selbst so. Vgl. Steinfath 1998, S. 87. Vgl. z. B. Riggs 2002, S. 79. Vgl. Riggs 2002, S. 93. Hume, A Treatise of Human Nature, S. 451. Ebd., S. 449. Vgl. zu diesen Überlegungen Humes auch Meyer 2010. Ähnlich auch von Rauchhaupt: „[D]ie Antwort auf die Frage, was wir denn davon haben, etwas um seiner selbst willen zu wissen, lautet schlicht und ergreifend: Freude.“ Von Rauchhaupt 2005, S. 48. Eben dies behauptet offenbar Werkmeister 1970, S. 49. Da es mir hier um intrinsische Werte geht, halte ich die Überlegungen zum instrumentellen Wert der Wahrheit sehr kurz. Weitere Argumente liefert – auf der Grundlage entscheidungstheoretischer Überlegungen – z. B. Loewer 1993. So z. B. meint Max Weber: „Welches aber ist die innere Stellung des Mannes der Wissenschaft selbst zu seinem Beruf? – wenn er nämlich nach einer solchen überhaupt sucht. Er behauptet: die Wissenschaft „um ihrer selbst willen“ und nicht nur dazu zu betreiben, weil andere damit geschäftliche oder technische Erfolge herbeiführen, sich besser näheren, kleiden, beleuchten, regieren können.“ Weber 1995, S. 18. Dass auch Weber hier durchaus einen normativen Anspruch formuliert, wird an der folgenden Textstelle deutlich: „Verehrte Anwesende! ‚Persönlichkeit’ auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient.“ Ebd., S. 15. Vgl. dazu auch Horwich 2006, S. 351. Für eine Genese unserer Vorstellungen vom Wert der Wahrheit und dem Wert der Wahrhaftigkeit siehe auch Williams 2002. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III, KSA 1, S. 394. Im Folgenden schließt sich bei Nietzsche eine Analyse der eigentlichen treibenden Kräfte an, so z. B. Langeweile, Spieltrieb, Biederkeit usw. Eine solche Erklärung findet sich auch in John Stuart Mills Antrittsrede als Rektor der University of St. Andrews. Vgl. Mill 1867. Vgl. Aristoteles, Politik, 1338a30ff. Aristoteles, Politik, 1338b1-5. Mit „ästhetischer Erziehung“ ist hier das gemeint, was im Englischen „education in the arts“ genannt wird. Darüber hinaus wäre es meines Erachtens nicht unangemessen, auch Bestandteile des naturwissenschaftlichen Unterrichts als „ästhetische Erziehung“ auszu-
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155. 156. 157. 158. 159. 160. 161. 162.
163. 164. 165. 166. 167. 168.
169. 170. 171. 172. 173.
174. 175.
176. 177. 178. 179. 180. 181. 182. 183.
Anmerkungen
weisen. Darauf kann ich allerdings an dieser Stelle nicht genauer eingehen. Zum Einfluss biologischen Wissens auf die ästhetische Wertschätzung der Natur vgl. z. B. Meyer 2003. Vgl. dazu bereits Schiller 1983. (Orig. 1795). Vgl. dazu z. B. Carr 2005. Für eine Diskussion verschiedener Vorschläge dieser Art vgl. White 1998. Einen guten Überblick über die empirische Forschung zu diesen Thesen gibt Koopmann 2005, S. 86f. Koopmann 2005, S. 85. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft. Akademie-Ausgabe, Band V, S. 188ff. Vgl. Misselhorn 2005, S. 433. Bittner 2005, S. 190. Ich denke hier beispielsweise an Putnams „Gehirn im Tank“ oder, in Bezug auf die Simulation freudvoller Erfahrungen, an die „Erfahrungsmaschine“ von Nozick. Vgl. Putnam 1981 und Nozick 1974, S. 42ff. Vgl. Moore 1993, S. 239. Vgl. Moore 1993, S. 239. Vgl. z. B. Nussbaum 1999a, S. 41ff. Vgl. z. B. Hurka 1993. Sher 1997, S. 8f. Das „für uns“ habe ich hier jeweils in Klammern gesetzt, weil nicht alle Perfektionisten so reden würden. Sher selbst spricht sich jedoch für diese Redeweise aus. Vgl. Sher 1997, S. 195. Vgl. dazu auch Nagel 1970, S. 58f. Eine Abhängigkeit zwischen (A) und (C) konstatiert Schaber innerhalb seines objektivistischen Ansatzes. Vgl. Schaber 1998, S. 165. Sher 1997, S. 198. Sher 1997, S. 198. Rousseau, Œuvres complètes, La Nouvelle Héloïse, S. 563. [Die deutsche Übersetzung dieses und der folgenden Rousseau-Zitate stammt von Michaela Rehm.] Der Kontext dieses Zitats ist eine Unterhaltung über Erziehung, in der zunächst (aus dem Mund von Julie) Rousseaus Credo dargelegt wird: „Die Natur will, dass die Kinder Kinder sind, ehe sie Männer werden. Wenn wir diese Ordnung umkehren wollen, werden wir vorzeitige Früchte hervorbringen, die weder Reife noch Geschmack haben, und bald verfaulen werden [...].“ Rousseau, Œuvres complètes, La Nouvelle Héloïse, S. 562. Im Émile gibt es diverse ähnliche Stellen, so zum Beispiel diese: „Der kluge Mann hört lange auf die Natur, beobachtet den Zögling genau, bevor er ihm das erste Wort sagt. Erlaubt zuerst dem Keim seines Charakters, sich in voller Freiheit zu zeigen, legt ihm keinerlei Zwang auf, um ihn besser kennen zu lernen.“ Rousseau, Œuvres complètes, Émile, S. 324. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Band IV, S. 422f. Dieser Aspekt findet sich auch in Kants Begründung für die oben genannte Pflicht, denn er sagt, dass ein vernünftiges Wesen deshalb wolle, dass seine Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm zu allerlei möglichen Absichten dienlich sind. Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Band IV, S. 423. [Hervorhebung K. M.]. Scanlon 2003, S. 216. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Band IV, S. 423. [Hervorhebung K. M.]. Vgl. Raz 1988, S. 376. Vgl. Raz 1988, S. 298f. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1097b33-1098a2. Vgl. Mill, On Liberty, S. 65. Mill, On Liberty, S. 66. Mill, On Liberty, S. 65.
Anmerkungen
199
184. Mill zitiert zustimmend eine lange Textpassage aus Humboldts Frühschrift, und zwar die oben bereits zitierte Passage, in der Humboldt meint, „der wahre Zweck des Menschen“ sei die „höchste und harmonische Entwicklung seiner Kräfte zu einem Ganzen“. Mill, On Liberty, S. 64. 185. Mill, On Liberty, S. 63. 186. Mill, On Liberty, S. 70. 187. Mill, On Liberty, S. 66. 188. Lessing, Eine Duplik, S. 23f. 189. Vgl. Hurka 1999. Anders dagegen Foot 2001 und Hursthouse 1999. 190. Steinfath 2001, S. 448. 191. Vgl. Sher 1997, S. 239. 192. Vgl. Sher 1997, S. 208. 193. Sher 1997, S. 213. 194. Vgl. Sher 1997, S. 213f. 195. Sher 1997, S. 177. 196. Diese Kritik findet sich auch bei Hurka 1998. 197. Vgl. Hurka 1999, S. 47. 198. Vgl. Hurka 1993, S. 3. 199. Hurka 1993, S. 11. 200. Vgl. Hurka 1993, S. 11. 201. Allerdings gelte dies nur für eine bestimmte Sorte essentieller Eigenschaften, nämlich solcher, welche „essential to humans and conditioned on their being living things“ sind. Hurka 1993, S. 16. [Hervorhebung K.M.]. 202. Hurka 1993, S. 17. 203. Hurka 1993, S. 39f., S. 43ff. 204. Hurka 1993, S. 32. 205. Vgl. dazu auch Hurka 1999, S. 71. 206. Diese Kritik an Hurkas Ansatz findet sich auch bei Sher 1997, S. 221. 207. Für eine allgemeine Kritik an perfektionistischen Theorien und eine Kritik speziell zu Hurka siehe auch Dorsey 2010. 208. Nussbaum 1988a, S. 182. 209. Vgl. Nussbaum 1990, S. 217f. An anderer Stelle spricht Nussbaum ebenfalls von einem „less than fully human life“ bzw. einem „way of life [that] would not count as a human life“. Vgl. Nussbaum 1988a, S. 180f. 210. Nussbaums Einwände gegen den Kulturrelativismus finden sich z. B. in Nussbaum 1988b, Nussbaum 1998, S. 790ff und in Nussbaum 1999b. 211. Solche Beispiele finden sich z. B. in Nussbaum 2000 und 2006. Ich komme darauf im fünften Kapitel (5.2.2) noch einmal zurück. 212. Vgl. dazu Nussbaum 1998. 213. Scherer 1993, S. 912. 214. Allerdings differieren dann nach wie vor die Begründungen für diese Überzeugungen. So betont Sher ausdrücklich, dass der bloße Rekurs auf unsere Erfahrungen zu kurz greife: „[W]hether someone lives a good life cannot depend exclusively on the quality of his experience.“ Sher 1997, S. 229. 215. Vgl. Rawls 2003, S. 374f. 216. Rawls 2003, S. 375. 217. Weitere Beispiele für derartige „nicht-materielle“ Grundbedürfnisse (basic needs) sind bei Copp „education, the ability to use the local language, security from coercive interference, and, perhaps, a minimum of privacy“. Copp 2000, S. 334. 218. Vgl. Copp 2000, S. 334. 219. Vgl. Copp 2000, S. 341. 220. Vgl. Copp 2000, S. 348. 221. Copp 2000, S. 344. 222. Copp 2000, S. 345.
200
Anmerkungen
223. Ein solcher Autonomie-Ansatz findet sich auch bei Brock 1998 und Doyal/Gough 1991, kritisch dagegen Schmitz 2007. 224. Schmitz 2007, S. 250. 225. Dies ist offenbar Mills Position in Utilitarianism. 226. Steinfath weist darauf hin, dass selbst bloße sinnliche Empfindungen, wie die eines angenehmen Geschmacks, sich nicht immer nach dem Grad ihrer Angenehmheit ordnen lassen. Vgl. Steinfath 2001, S. 212. Ähnlich auch Schaber 1994, S. 155. 227. Eine Zuordnung von Zahlenwerten („Someone being happy to degree +10“) zu so genannten „basic intrinsic value states“ findet sich z. B. bei Feldman 2000, doch dies scheint an unserer subjektiven Perspektive vorbeizugehen. 228. Bittner 2005, S. 193. 229. Bittner 2005, S. 193f. 230. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, in: Gesammelte Schriften, Band 1, S. 106. 231. Dieses Beispiel findet sich bei Darwall 1999 und 2002. 232. So meint Fuhrmann, dass der Bildungsbegriff über den Begriff der Erziehung hinaus mit dem Kulturbegriff in Verbindung gebracht werden müsse. Vgl. Fuhrmann 2002, S. 36. Ähnlich auch Thurnherr 2005, S. 41. Zur Geschichte des Bildungsbegriffs und dessen Bezug zum Kulturbegriff siehe auch Bollenbeck 1996. 233. Vgl. von Rauchhaupt 2005, S. 32f. 234. Vgl. Kuper 1999. 235. Vgl. Raz 1988, S. 391. Den politischen Implikationen dieser Behauptung werde ich in Abschnitt 5.3.1 näher nachgehen. Dort werde ich dann auch die Gründe dafür nennen, die Raz für diese Behauptung anführt. 236. Raz 2003, S. 36. 237. Schon Aristoteles begründet die Inhalte der staatlichen Erziehung damit, dass diese Erziehung den eigentümlichen Charakter der jeweiligen Verfassung erhalte. Vgl. Aristoteles, Politik, 1337a11-20. 238. Vgl. Rawls 2003, S. 451. 239. Das gilt auch für die demokratischen Werte, welche im Zentrum von Gutmanns Erziehungskonzeption stehen. Vgl. Gutmann 1999. 240. Vgl. z. B. Sandel 1998, S. 150. 241. Zum Bildungskanon vgl. auch Fuhrmann 2002. 242. So auch von Rauchhaupt 2005, S. 41f. 243. Vgl. dazu auch Dworkin 1985, S. 231. 244. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, in: Gesammelte Schriften, Band 1, S. 129. 245. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, in: Gesammelte Schriften, Band 1, S. 146. 246. Humboldt, Über die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: Gesammelte Schriften, Band 10, S. 252. 247. Humboldt, Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts, in: Gesammelte Schriften, Band 10, S. 121. 248. Vgl. Humboldt, Der königsberger und der litauische Schulplan, in: Gesammelte Schriften, Band 13, S. 266. 249. Humboldt, Der königsberger und der litauische Schulplan, in: Gesammelte Schriften, Band 13, S. 277. Allerdings warnt Humboldt an dieser Stelle durchaus davor, dem Sprachunterricht den übrigen Unterricht zu opfern. 250. Dworkin 1978 hat dazu wesentlich beigetragen. Siehe auch Larmore: „[T]he distinctive liberal notion is that of the neutrality of the state.“ Larmore 1987, S. 42. 251. So z. B. Kraut 1999, S. 322f. 252. Kymlicka 1989. 253. Moon 1993. 254. Ackermann 1980, Larmore 1987, Rawls 1996.
Anmerkungen
201
255. Rawls 1996. 256. Vgl. Rawls 1996, S. 175. 257. Außerdem können selbst erklärte Gegner des Neutralitätsgebotes eine solche Strukturierung für extrem schwierig (oder gar aussichtslos) halten. Vgl. dazu auch Chan 2000, S. 13. 258. Huster weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auch die Verfassung dem Gesetzgeber und der Schule insofern einen weitreichenden Gestaltungsspielraum lasse. Es sei daher „unsinnig“, jeden Versuch der Vermittlung von Normen in der Schule als Indoktrination zu diffamieren. Huster 2002, S. 320. 259. Z. B. explizit bei Gaus 2003. 260. Etzioni, „Die Entdeckung des Gemeinwesens“, S. 288, zitiert nach Huster 2002, S. 313. 261. Rawls wendet das Neutralitätsgebot auf die Verfassung an, sowie auf „questions arising in the legislature that concern or border on constitutional essentials, or basic questions of justice […]“. Rawls 1996, S. 137. 262. So z. B. Gaus 2003, S. 159. 263. Vgl. z. B. Arneson 2003, S. 209. 264. Vgl. z. B. Gaus 2003, S. 147. 265. Vgl. Gaus 2003 und Klosko 2003. 266. Vgl. Gaus 2003, S. 158. 267. Vgl. Klosko 2003, S. 179. 268. Vgl. Gaus 2003. 269. Eine solche Unterscheidung hält beispielsweise Arneson 2003 für aufschlussreich. 270. Vgl. dazu z. B. Arneson 2003, S. 193. 271. Vgl. Arneson 2003, S. 194. 272. Vgl. Mill, On Liberty, S. 100f. 273. Vgl. Arneson 2003, S. 193. 274. Vgl. z. B. Rawls 1996, S. 193. 275. Vgl. vor allem Rawls 1996. 276. Rawls 1996, S. 54. 277. Rawls 1996, S. 61. 278. So explizit in Gaus 2003, S. 146. Ähnlich begründen das Neutralitätsgebot z. B. auch Dworkin 1978 und Larmore 1987. 279. Galston 1995, S. 519. 280. Galston 1995, S. 519. 281. Rawls 1996, S. 63. 282. Vgl. Arneson 2003, S. 200ff. 283. Vgl. Arneson 2003, S. 215. 284. Sher 1997, S. 131. 285. Vgl. Sher 1997, S. 129ff. 286. Ackermann 1980, S. 11. 287. So z. B. Larmore 1987, S. 52 und Galston 1995, S. 526. 288. Vgl. Rawls 1996, S. 199f. Siehe dazu auch Macedo 1995. 289. Für die Forderung nach Wertneutralität der Erziehung postuliert dies z. B. Schaber 2010. 290. Dies nimmt auch Raz an, der jedoch betont, auf diese Weise ließe sich nur „neutrality between those conceptions of the good which greatly value an autonomous development of one’s life“ fordern. Daher bezeichnet Raz dies am Ende nicht mehr als eine „doctrine of neutrality“, sondern als „moral pluralism“. Raz 1988, S. 133. 291. Die Diskussion dieses Punktes orientiert sich in der politischen Philosophie häufig an Berlins Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit. Vgl. Berlin 1969. Dass das Neutralitätsgebot nur die negative Freiheit impliziert, betont z. B. Larmore 1987, S. 46f. 292. Bayerisches Verwaltungsgericht Augsburg, Urteil vom 30.4. 2002 - Au 9 K 02/294. 293. VGH Mannheim, Urt. v. 18.6.2002 - 9 S 2441/01. Die daraufhin eingereichte Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen. Vgl. BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 29.4.2003 – 1 BvR 436/03. In: NVwZ 2003, Heft 9, S. 1113.
202
Anmerkungen
294. 295. 296. 297. 298. 299.
Vgl. z. B. Ackermann 1980, S. 139 und White 1973, S. 22. Hurka 1993, S. 159. Ähnlich auch Sher 1997, S. 36f. Vgl. Raz 1988, S. 161. Vgl. Chan 2000, S. 14f. Vgl. z. B. Gutmann 1999. Einige Liberale halten diesen Ansatz für nicht liberal genug. So meint White, dass manchen Menschen anderes wichtiger sei als die aktive politische Teilhabe. Vgl. White 1999, S. 189. Ähnlich auch Barry 2002, S. 212f. Vgl. Macedo 1995. Macedo 1995, S. 486. Dies konstatiert sogar Galston, der ansonsten einen stärker am Wert der (religiösen) Vielfalt orientierten Liberalismus proklamiert als Macedo. Vgl. Galston 1995, S. 518. Die Schulpflicht übt freilich nicht nur auf die Eltern, sondern auch auf Kinder Zwänge aus. Ich werde auf damit verbundene Probleme allerdings im Folgenden nicht näher eingehen. Für eine sehr kritische Einschätzung dazu vgl. z. B. Oevermann 2003. Vgl. Rawls 1996, S. 200. Ausdrücklich betont dies auch Barry 2002, S. 209. So z. B. Galston 1995, S. 532, mit Blick auf bestimmte private amerikanische Universitäten. Vgl. Mill, On Liberty, S. 119. Ein ausführlicher Kommentar zu dieser Entscheidung findet sich bei Arneson/Shapiro 1996. Siehe dazu z. B. Brennan/Noggle 1997 und Shapiro 1998, Kapitel 4. Dieses Argument nennen Brighouse und Swift, auch wenn sie es selbst nicht verteidigen. Vgl. Brighouse/Swift 2006b, S. 85. Brighouse/Swift 2006b, S. 96. Vgl. Brighouse/Swift 2006b, S. 104. Vgl. Rawls 1996, S. 199. Dieser Gedanke findet sich schon bei Gutmann 1995, S. 573. So z. B. Macedo 1995, S. 471. BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 29. 4. 2003 – 1 BvR 436/03; in: NVwZ 2003, Heft 9, S. 1113. Barry unterstellt Gutmann, letztlich selbst die Autonomie befördern zu wollen, und diese daher im Rahmen der Überlegungen zur politischen Erziehung mit „hineinzuschmuggeln.“ Barry 2002, S. 224. So auch Ackermann 1980, S. 162f. Galston 1995, S. 529. Gaus 2003, S. 155. Vgl. Raz 1988, S. 390ff. Dieses Argument wird daher häufig aufgegriffen, z. B. von Schaber 1995. Für eine Kritik an der zweiten Prämisse vgl. McCabe 2001. Raz ist, was die Lebensdauer solcher Gruppen angeht, sehr skeptisch. Vgl. Raz 1988, S. 424. Allerdings wird die Lebensdauer solcher Gruppen gerade davon abhängen, inwiefern von staatlicher Seite in die Erziehung der Kinder eingegriffen wird. Vgl. Raz 2003, S. 25. Dennoch deutet Raz solch eine kritische Haltung an vielen Stellen an. Er redet beispielsweise von „those who believe the illiberal culture to be inferior to theirs“, und scheint sich selbst dazu zu rechnen. Raz 1988, S. 424. Außerdem behauptet er, jeder hätte Grund dazu, sich selbst und andere autonom zu machen. Raz 1988, S. 407. Zu diesem Argument vgl. Forst 2000, S. 18. Nussbaum 1999a, S. 48. Vgl. Gerhardt 1999, S. 107. Vgl. Gerhardt 1999, S. 119f. Vgl. Galston 1995, S. 533.
300. 301. 302. 303.
304. 305. 306. 307. 308. 309. 310. 311. 312. 313. 314. 315. 316. 317.
318. 319. 320. 321. 322. 323.
324. 325.
326. 327. 328. 329. 330.
Anmerkungen
203
331. Vgl. Galston 1995, S. 534. 332. „Clearly, the protection of meaningful exit […] brings us back some distance toward policies more typically associated with autonomy concerns. Some distance, but not all the way.“ Galston 1995, S. 534. 333. So rekonstruiert er jedenfalls das Ideal der „liberal autonomy“. Vgl. Galston 1995, S. 525. 334. Vgl. Nussbaum 2000, S. 233f. 335. Vgl. Nussbaum 2006. 336. Nussbaum 2006, S. 306. 337. Nussbaum 2006, S. 306. 338. Vgl. Hurka 1993, S. 159. 339. Hurka 1993, S. 159. 340. Ähnlich formuliert die Position des Perfektionisten auch Dworkin 1978, S. 221. 341. Vgl. Brighouse 1995, S. 55. 342. Vgl. Brighouse 1995, S. 56f. 343. Vgl. Brighouse 1995, S. 37. 344. Vgl. Dworkin 1985, S. 229f. 345. Vgl. Dworkin 1985, S. 230f. 346. Vgl. Kraut 1999, S. 322. 347. Kraut 1999, S. 323. 348. Vgl. dazu beispielhaft das folgende Zitat: „Deutschland stützt seine Wettbewerbsfähigkeit auf das Wissen und Können der Menschen. Deshalb hat das Bundesbildungsministerium den Bildungssektor mit Zukunftsinvestitionen deutlich gestärkt.“ BMBF 2004, S. 25. 349. Anders als Jentsch 2009 werde ich im Folgenden allerdings nicht dafür argumentieren, dass eine Konzeption von Chancengleichheit auf eine objektivistische Konzeption des guten Lebens verweisen sollte. 350. Walzer betont in diesem Zusammenhang, auch einem Lehrer gehe es nicht um das Eröffnen von bloßen Chancen: „The goal of the reading teacher is not to provide equal chances but to achieve equal results. […] He doesn’t try to make it equally possible for students to read; he tries to engage them in reading and teach them to read.“ Walzer 1983, S. 203f. 351. Vgl. dazu auch Westen 1985, S. 840f. 352. Eine ausführliche Diskussion der verschiedenen Formen der Egalitarismuskritik und ihrer Anwendung auf die Forderung nach Chancengleichheit unternehme ich in Meyer 2007. Im Folgenden konzentriere ich mich lediglich auf die meines Erachtens wichtigste Kritik. 353. Krebs 2000, S. 17. 354. Vgl. Frankfurt 1999c, Raz 1988, Westen 1985. Siehe auch Parfit 1998. 355. Zur rhetorischen Funktion des Verweises auf Gleichheit siehe auch Raz 1988, S. 220ff. 356. Eine so verstandene Forderung nach Chancengleichheit findet sich beispielsweise bei Raz 1994, S. 24. 357. Vgl. dazu auch Anderson 1999, S. 291. 358. Vgl. Arneson 1989. Kritisch dazu z. B. Rakowski 1997. 359. Besonders wegweisend ist hier Dworkin 1981 gewesen. 360. Vgl. dazu z. B. Sen 1992 und Cohen 1989. 361. Vgl. Sen 1979 und Sen 1992. 362. Vgl. dazu auch Rae 1981, S. 65. 363. So war beispielsweise 1988 die Wahrscheinlichkeit für ein Beamtenkind, das Gymnasium zu besuchen, 50%, für ein Arbeiterkind dagegen 10%. Zehn Jahre später konnte der Anteil der Kinder aus Arbeiterfamilien an den Gymnasien um 7% erhöht werden. Doch damit hat sich die Chancenungleichheit noch verstärkt: Im gleichen Zeitraum nahm der Anteil der Beamtenkinder auf Gymnasien um 14% zu. Vgl. dazu Palentin 2005, S. 159. 364. So auch O’Neill 1993, S. 151. 365. Vgl. z. B. Baumert/Schümer 2001, S. 355-372. 366. Vgl. dazu z. B. Valtin 2008, S. 12.
204
Anmerkungen
367. So auch Satz 2007, S. 634. Anders als Satz meine ich allerdings nicht, dass einen dies dazu bringen muss, das Ideal der Chancengleichheit zurückzuweisen und es durch einen „adequacy standard“ zu ersetzen. 368. Schneider weist in einer empirischen Studie nach, dass das Einkommen der Eltern einen starken Einfluss auf die Inanspruchnahme von Nachhilfe hat. Vgl. Schneider 2005. 369. Anderson 1999, S. 316. Darüber hinaus betont Anderson, „people are entitled to whatever capabilities are necessary to enable them to avoid or escape entanglement in oppressive social relationships“. Anderson 1999, S. 316. Denn es gehe nicht nur um „functioning as an equal citizen“, sondern „egalitarians also aim at abolishing private relations of domination“. Anderson 1999, S. 316. 370. Vgl. Anderson 1999, S. 319. 371. Vgl. Brighouse/Swift 2006a, S. 476. Konstruktive Vorschläge, wie solche fairen Bedingungen herzustellen sind, macht Brighouse 2000. 372. Mit Blick auf „Bildung und Kultur“ als „deutsches Deutungsmuster“ konstatiert Bollenbeck derartige Distinktionsgewinne. Vgl. Bollenbeck 1996, S. 203. 373. Gosepath 2004, S. 440f. 374. Vgl. z. B. Gosepath 2004, S. 440ff. Rawls spricht z. B. von „genetic endowment“, „natural abilities“, „native endowments“ und „natural assets“. Vgl. Rawls 2001, S. 75ff und Rawls 2003, S. 86ff. Im Anschluss an Dworkin 2000 ist auch von der „genetic lottery of talent“ die Rede, vgl. z. B. Van der Veen 2002, S. 56. 375. Vgl. dazu ausführlich Jacobs 2004, S. 68ff. 376. So konstatiert etwa Böhm im Wörterbuch der Pädagogik, inzwischen werde in der Forschung vorwiegend ein dynamischer Begabungsbegriff vertreten. Dabei würden sowohl erbliche Dispositionen als auch Einflüsse der Umwelt berücksichtigt. Die erbliche Anlage gelte als „plastisch und lernfähig, als eine Potenz, die zu ihrer Verwirklichung Anregungen und Förderungen aus der Umwelt bedarf“ (Böhm 2005, S. 67). Auch Tenorth 2007 meint, Begabung sei in der heutigen Pädagogik ein Terminus, mit dem man „die Einheit des Themas von Anlage und Umwelt“ behandeln könne (Tenorth 2007, S. 125). Tenorth zeigt sich daher irritiert von Wewetzers Eintrag im Historischen Wörterbuch für Philosophie, in dem behauptet wird, Begabung werde heute noch meist definiert als angeborene Veranlagung und Befähigung zu bestimmten Leistungen. Vgl. Wewetzer 1971, S. 775 und Tenorth 2007, S. 128, Fn. 20. 377. Vgl. Bourdieu/Passeron 2007, S. 34f. Siehe auch Bourdieu 2008. 378. Vgl. Bourdieu/Passeron 2007, S. 95, Fn. 1. 379. Vgl. z. B. Miller 2003, S. 177ff. 380. Vgl. Nozick 1974. 381. Rawls 2001, S. 76. 382. Vgl. Rawls 2001, S. 76. Allerdings räumt Rawls dem Chancenprinzip lexikalischen Vorrang gegenüber dem Differenzprinzip ein (vgl. Rawls 2003, S. 73ff und Rawls 2001, S. 43f; vgl. dazu auch Pogge 1994, S. 99ff). Gosepath meint, dass eine Eliteförderung verboten sein müsste, wenn faire Chancengleichheit einen Vorrang vor Verteilungsprinzipien des ökonomischen Bereichs hätte. Vgl. Gosepath 2004, S. 446. Rawls scheint diese Schwierigkeiten deshalb nicht zu sehen, weil er das Chancenprinzip nur auf soziale (und nicht auf natürliche) Unterschiede anwendet. 383. Dieser Gedanke stammt von Anderson. Sie drückt das so aus: „Working backward from the requirements for a qualified elite, we can derive a standard of fair educational opportunity to which all social groups should be entitled.“ Anderson 2007, S. 614. Allerdings bringt dies Anderson nicht dazu, streng egalitäre Forderungen nach Chancengleichheit in einer Reichweite zu formulieren, die an die Forderungen erklärter Egalitaristen heranreicht. 384. So auch Gosepath 2004, S. 446. 385. Rawls 2003, S. 92. 386. Vgl. Artelt et. al. 2001, S. 116ff. 387. Dies merkt auch Casal 2007, S. 315ff an.
Anmerkungen
205
388. Vgl. Schramme 1999, S. 187f. 389. Schramme 1999, S. 189, Fn. 23. 390. Universal Declaration of Human Rights. Vgl. Nickel 2007, S. 196. 391. Vgl. dazu die Zahlen das UNESCO Institute for Statistics (http://stats.uis.unesco.org). 392 Derselben Ansicht sind z. B. Feinberg 1973, Shue 1996 und Alexy 1998, S. 249. 392. Vgl. dazu auch Koch 2007, die Konfliktfelder bei der Gewährung des Rechts auf Bildung für Kinder ohne Aufenthaltsrecht und Duldung diskutiert. 393. Außerdem wurde gegen soziale Menschenrechte vorgebracht, dass die Rede von einem „Recht“ überhaupt nur im Kontext von Freiheitsrechten sinnvoll sei. Eine überzeugende Zurückweisung dieses Einwands findet sich bereits bei Peffer 1978. Vgl. dazu auch Waldron 1984, S.11. 394. O’Neill 1996, S. 132. 395. Vgl. dazu auch Sen 2004, S. 347. 396. Vgl. z. B. Cranston 1983, S. 13. 397. Vgl. dazu auch Artikel 14 des „International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights“, z. B. in Nickel 2007, S. 238. 398. So steht in Artikel 2.1 des „International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights“, die Länder, die diesen Vertrag unterzeichnet haben, seien dazu angehalten, Schritte zu der vollständigen Realisierung dieser Rechte zu unternehmen, und zwar „individually and through international assistance and cooperation“. Nickel 2007, S. 233. 399. Vgl. dazu z. B. Pogge 2002, S. 197. 400. Vgl. z. B. Pogge 1998 und Pogge 2002. 401. Pogge 2002, S. 49. Pogge nennt darüber hinaus noch weitere Gründe, warum dieses System ungerecht ist, z. B. den unkompensierten Ausschluss von dem Gebrauch natürlicher Ressourcen, sowie die Kolonialisierung, die den betroffenen Ländern schlechtere Ausgangspositionen verschafft hat. Vgl. ebd., S. 201ff. 402. Ähnlich auch Mieth 2008, S. 25. 403. Vgl. Nickel 2007, S. 196. Zur inhaltlichen Ausfüllung des Rechts auf Subsistenz vgl. z. B. Shue 1996, S. 23. 404. Eine detaillierte Analyse findet sich bei Bleisch 2010. Siehe auch Anwander/Bleisch 2007. 405. Forderungen dieser Art finden sich bei Singer 1972 und bei Unger 1996. 406. Vgl. dazu Schlothfeldt 2007 und Schlothfeldt 2009, der dafür argumentiert, dass es hier um gemeinsame Pflichten geht. 407. Eine solche Argumentationslinie findet sich auch bei Shue 1996, S. 24ff. 408. Auf der Grundlage einer Unterscheidung zwischen negativen und positiven Rechten weist z. B. Cranston 1973 die ökonomischen und sozialen Menschenrechte zurück. 409. Vgl. dazu Shue 1996, S. 36ff und Tugendhat 1993, S. 352ff. 410. So auch Tugendhat 1993, S. 355. 411. Nickel 2007, S. 139. 412. So z. B. Cranston 1973. 413. Vgl. dazu auch Schaber 2007. 414. Vgl. Lohmann 2006, S. 161. 415. Convention on the Rights of the Child. U.N. General Assembly. Document A/RES/44/25 (12 December 1989) with Annex. 416. Zur Universalität der Menschenrechte vgl. z. B. Alexy 1998, Gosepath 1998, Nickel 2007. 417. Ausnahmen sind allerdings solche Rechte, bei denen etwa nur Kinder oder bei denen nur Erwachsene als Rechtsträger in Frage kommen. 418. Sen 2004, S. 356. 419. Sen 2004, S. 354. 420. Nickel 2007, S. 196. Im „International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights“ heißt es an dieser Stelle: „Higher education shall be made accessible to all, on the basis of capacity […]“.Vgl. Artikel 13, Absatz 2d des „International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights“, in Nickel 2007, S. 237.
206
Anmerkungen
421. Vgl. dazu den Bericht über das Ergebnis des Deutschlandbesuchs (2006), welcher der UN-Menschenrechtskommission im März 2007 vorgelegt wurde. (Report of the Special Rapporteur on the right to education, Vernor Muñoz, Addendum, Mission to Germany (13-21 February 2006). General Assembly, Distr. General, A/HRC/4/29/Add. 3, March 2007.) 422. Vgl. Gosepath 1998, S. 157. 423. Vgl. Gosepath 1998, S. 176. 424. Gosepath 1998, S. 180. 425. Gosepath 1998, S. 175. 426. Gosepath 1998, S. 179. 427. Es ist darüber hinaus in pragmatischer Hinsicht verfehlt, die Rede von einem Menschenrecht auf Bildung zu inflationär zu gebrauchen. Davor warnt auch Kunze 2007, S. 192. 428. Aus dem Bericht geht im Übrigen nicht immer klar hervor, was er für eine aufgrund völkerrechtlich bindender Verträge für die deutsche Bildungspolitik verpflichtende Vorgabe hält und was eine aus seiner Sicht wünschenswerte, aber nicht schlechthin menschenrechtlich bindende bildungspolitische Maßnahme wäre. Darauf verweist auch HeimbachSteins 2007, S. 16.
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Personenregister A Ackermann, Bruce 27, 35, 132, 194–195, 200–202 Alexy, Robert 205 Anderson, Elisabeth 163, 196, 203–204 Anderson, Joel 15, 27, 194–195 Anwander, Norbert 205 Aristoteles 3, 4, 73, 89, 92, 96, 145, 193, 197– 198, 200 Arneson, Richard 124–125, 128, 129, 201– 203 Audi, Robert 52–53, 196 B Baldwin, Thomas 196 Barry, Brian 202 Baumann, Holger 194 Baumann, Peter 194–195 Baumert, Jürgen 203 Benner, Dietrich 193 Berlin, Isaiah 201 Bernstein, M. 195 Bittner, Rüdiger 76, 105, 194, 198, 200 Bleisch, Barbara 205 Böhm, Winfried 204 Bollenbeck, Georg 193, 200, 204 Bourdieu, Pierre 166, 204 Brennan, Samantha 202 Brighouse, Harry 14, 18–19, 138, 149–150, 164, 193–194, 202–204 Brock, Gillian 200 C Carr, David 198 Casal, Paula 204 Chan, Joseph 201 Christman, John 194–195 Cohen, Gerald 203 Copp, David 100–101, 199 Cranston, Maurice 205 Cuypers, Stefaan 193 D Darwall, Stephen 200 Doyal, Len 200 Dworkin, Gerald 21, 194–195, 197 Dworkin, Ronald 151–152
F Feinberg, Joel 205 Feldman, Fred 196, 200 Foot, Philippa 199 Forst, Rainer 202 Frankena, William 59, 196 Frankfurt, Harry 23–25, 158, 294, 203 Friedman, Marilyn 194 Fuhrmann, Manfred 193, 200 G Galston, William 127, 140, 146–147, 201–203 Gaus, Gerald 122–123, 140, 201–202 Gerhardt, Volker 145, 194, 202 Goethe, Johann Wolfgang von 6, 52, 65, 113, 197 Gosepath, Stefan 165, 185–187, 204–206 Gough, Ian 200 Gutmann, Amy 7, 193, 200, 202 H Hare, William 193 Harman, Gilbert 46, 195–196 Hastedt, Heiner 193 Heimbach–Steins, Marianne 206 Heitger, Marian 14, 20, 193–194 Hentig, Hartmut von 4, 193 Herbart, Johann Friedrich 4, 193 Herrmann, Martina 194 Hirst, Paul 193 Horwich, Paul 197 Hügli, Anton 193 Humboldt, Wilhelm von 5, 8, 13, 42–43, 90, 106, 108, 117, 189, 193, 195, 199–200 Hume, David 69–70, 197 Hurka, Thomas 36, 67, 92, 94–98, 134, 148– 149, 154, 195, 197–199, 202–203 Hursthouse, Rosalind 199 Huster, Stefan 201 I Iorio, Marco 193 J Jacobs, Lesley 204 Jaeggi, Rahel 25, 194 Jentsch, Sabine 203
220
K Kant, Immanuel 7, 23, 75, 86–88, 193–194, 198 Klafki, Wolfgang 193 Klosko, George 122–123, 201 Koch, Ute 205 Koopmann, Constantijn 74, 198 Korsgaard, Christine 48, 195–196 Kraut, Richard 154, 200, 203 Krebs, Angelika 158, 203 Kunze, Axel 206 Kuper, Adam 200 Kymlicka, Will 200 L Langton, Rae 196 Larmore, Charles 200–201 Lessing, Gotthold Ephraim 90, 199 Lewis, Clarence 51–52, 196 Lewis, David 196 Lichtenstein, Ernst 193 Loewer, Barry 197 Lohmann, Georg 205 Lübbe, Hermann 193 Luhmann, Niklas 193 M Macedo, Stephen 135, 201, 203 MacIntyre, Alasdair 195 McCabe, David 202 McDowell, John 196 Menze, Clemens 193 Meyer, Kirsten 197–198, 203 Mieth, Corinna 205 Mill, John Stuart 62–63, 90–91, 124–125, 137, 143, 147, 197–202 Miller, David 204 Misselhorn, Catrin 75, 198 Moon, Donald 200 Moore, George E. 47, 57, 59–60, 78, 195–198 N Nagel, Thomas 198 Neal, Patrick 197 Nickel, James 180, 205 Nietzsche, Friederich 72, 197 Noggle, Robert 202 Nozick, Robert 198, 204 Nussbaum, Martha 37–40, 81–82, 92, 95–97, 144, 146–147, 195, 198–199, 202–203 O O’Neill, Onora 174, 203, 205
Personenregister
P Palentin, Christian 203 Parfit, Derek 203 Passeron, Jean–Claude 166, 204 Peters, Richard 193 Platon 3, 4, 145, 193 Pogge, Thomas 177–178, 204–205 Putnam, Hilary 198 R Rabinowicz, Wlodek 196 Rae, Douglas 203 Rakowski, Eric 203 Rauchhaupt, Ulf von 197, 200 Rawls, John 7, 98, 111, 120, 126–127, 132– 133, 136, 138–139, 147, 167, 169, 193, 199–202, 204 Raz, Joseph 89, 110, 134, 141–143, 158, 171, 194–198, 200–203 Rescher, Nicolas 47, 195 Riggs, Wayne 69, 197 Rønnow–Rasmussen, Toni 196 Rössler, Beate 194–195 Rousseau, Jean–Jacques 85, 198 S Sandel, Michael 195, 200 Satz, Debra 204 Scanlon, Thomas 87, 196–198 Schaber, Peter 33–34, 195, 198, 200–202, 205 Scherer, Christiane 97, 195, 199 Schiller, Friedrich 198 Schlothfeldt, Stephan 205 Schmitz, Barbara 101, 200 Schramme, Thomas 170–171, 205 Seebaß, Gottfried 20, 194 Sen, Amartya 159, 183, 203, 205 Shapiro, Ian 202 Sher, George 36, 82–84, 92–94, 130–131, 195, 198–199, 201–202 Shue, Henry 205 Singer, Peter 205 Sokrates 3 Sousa, Ronald de 196 Spieker, Ben 193 Steinfath, Holmer 34, 65, 91, 193–197, 199– 200 Steutel, Jan 193 Swift, Adam, 138, 164, 202, 204 T Tännsjö, Tornbjörn 196 Tenorth, Heinz–Elmar 204 Tetens, Holm 193
Personenregister
Thurnherr, Urs 200 Tugendhat, Ernst 205 U Unger, Peter 205 V Valtin, Renate 203 Van der Veen, Robert 204 W Waldron, Jeremy 205 Wall, Steven 197 Walker, James C. 193 Walzer, Michael 203 Watson, Gary 194 Weber, Max 197 Werkmeister, William 197 Westen, Peter 158, 203 Wewetzer, Karl–Hermann 204 White, John 194, 198, 202 Williams, Bernhard 197 Wilson, John 193 Winch, Christopher 193 Z Zenkert, Georg 193, 195
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Sachregister A Autonomie – als Zweck der Erziehung 13–16 – Begriff 14, 16, 19–20, 23–25, 28–29, 35, 40, 100, 146–147, 194–195 – des Handelns 17–22, 152 – des Wollens 22–29, 194 – des Meinens 29–32 – Fähigkeit zur Autonomie 14–16, 23, 28, 62–64, 141 – Grenzen des Autonomieideals 32–43, 152 – und gutes Leben, vgl. Gutes Leben – und Neutralität, vgl. Neutralität – Wert der Autonomie 60, 62–68, 75, 81, 84, 88–90, 96–102, 114–115, 132, 183, 189–190 B Bedürfnisse 40, 84, 88, 90, 99–103, 171, 177– 181, 183, 185, 199 Begabung, vgl. Talent Bildungssystem 18, 135, 153, 157, 161–162, 164, 166–167, 175, 180–181, 184–188, 190 C Chancengleichheit – Begriff 155–160 – und Egalitarismus 156–171, 184–188, 203–204 – und natürliche Ausstattung 165–171 – und Recht auf Bildung 183–188 – und soziale Herkunft 112, 160–165, 168– 169, 184 E Elite 10, 165, 204 Erziehung – ästhetische Erziehung 33, 38–41, 49–50, 73–79, 81, 93, 106, 108, 150, 152–153, 164, 189, 197–198 – liberale Erziehungsideale 13–16, 25–29, 33–41, 63, 102, 110–115, 117–122, 129– 154, 190, 202–203 – Philosophie der Erziehung 3–8, 13–14, 32, 43, 136, 189–191 – schulische Erziehung, vgl. Schule
Erfahrungen – ästhetische Erfahrungen 51, 53–54, 59–60, 75–76, 81, 93, 106–107, 109, 113–114, 164, 189 – wertvolle Erfahrungen 9, 11, 38, 46, 50–79, 81–83, 88, 93, 97–99, 103–109, 119–120, 130, 144–145, 152–153, 164–165, 169, 183, 188–190, 196–199 F Fähigkeiten – Entwicklung von Fähigkeiten 6–10, 14– 16, 23, 27–28, 31, 37–42, 62–64, 68–69, 73–74, 81–99, 112, 115, 129, 137, 139, 141–147, 159–160, 165–166, 169–171, 181–185, 189–190, 195 – essentielle Fähigkeiten 92–99, 129 – Fähigkeit zur Autonomie, vgl. Autonomie – individuelle Fähigkeiten 85–89, 165–166, 181–185 – spezifisch menschliche Fähigkeiten 89–92, 159–60, 195 G Gutes Leben – Subjektivismus versus Objektivismus 81– 84, 128–132, 189–190 – und Autonomie 15–16, 18–19, 24–25, 33, 35, 37–38, 40, 132, 137, 140–143, 145 – und Chancengleichheit 159–160, 165, 168– 171, 182–183, 185, 190–191, 203 – und Erziehung 3–5, 8–10, 148–153, 189– 191 – und Fähigkeiten–Ansätze 84–99 – und Grundbedürfnisse 99–103 – und wertvolle Erfahrungen 103–109 H Humboldt 5, 8, 13, 42–43, 90, 106, 108, 117, 189, 193, 195, 199–200 K Kanon 9, 32, 38, 42, 67, 113–114, 118, 149, 189, 200 Kultur – Begriff 109–111, 193, 204
224
Sachregister
– kulturelle Werte 6, 19–20, 26, 32–35, 42– 43, 87–88, 92–93, 96–97, 109–115, 119, 143–145, 182–183 – kultureller Hintergrund 15, 32, 42, 87–88, 195 – Kulturförderung 130, 148–154 – Kulturrelativismus 96, 199 – Kulturtechnik 6, 160, 170
– staatliche Schule 4, 34, 115, 118, 123, 133, 135, 141, 164 – weiterführende Schulen 117, 161–162, 184, 203
M Menschenrechte – als moralische Rechte 172–180 – Menschenrecht auf Bildung 136, 171–188 – Menschenrecht auf Subsistenz 177–181, 185, 205
U Universität 5, 111, 113, 117, 156, 158, 202
N Neutralität – Bildung und staatliche Neutralität 9, 115, 117–155, 190, 200–201 – das liberale Neutralitätsgebot 8, 10, 117– 136, 140, 148–150, 153–154, 190, 201 – Neutralitätsgebot und Autonomie 33, 132–148 – staatliche Erziehung und Religionsgemeinschaften 19, 22, 30, 32–34, 61, 115, 118, 120, 124–127, 133, 135, 137, 139, 141–143, 147, 202 P Pädagogik 3–5, 14, 166, 193, 204 Perfektionismus – Begriff 82–84, 119 – kontra Neutralitätsgebot 128–132, 134– 135, 190 – kontra Subjektivismus 81–84, 119, 154, 190, 198–199 – und essentielle Fähigkeiten 94–95, 97–98 – und staatliche Kulturförderung 148–149, 154 S Schule – Grundschule 18, 133, 139, 141–142, 162, 174, 185 – Privatschule 118, 163–164 – Schulerfolg 161–165, 167–169, 184–185, 187–188, 190 – schulische Erziehung 5, 6, 8, 20, 27, 32, 34, 41, 60–61, 65, 67–69, 73, 106, 111–115, 117–118, 121, 136–137, 139, 142, 145, 153, 156–159, 163–164, 169–170, 184, 201 – Schulpflicht 118, 133, 136–138, 141, 148
T Talent 20, 27, 81, 85–89, 98, 106, 129, 165– 169, 182–183, 204
W Werte – ästhetische Werte 9, 45, 49–50, 60–61, 73– 79, 93–94, 103, 106, 109, 111, 113, 150, 164 – inhärente Werte 51–55, 196 – instrumentelle Werte 47–49, 51–52, 56, 58, 60–62, 197 – intrinsische Werte 47–51, 195–197 – kulturelle Werte, vgl. Kultur – moralische Werte 33, 45, 120–121 – Wert der Autonomie, vgl. Autonomie – Wert des Wissens, vgl. Wissen – wertvolle Erfahrungen, vgl. Erfahrungen Wissen – Begriff 68–69 – Wert des Wissens 9, 11, 31, 45–46, 60–61, 68–73, 84, 90, 97–98, 103, 189, 197, 203