Max Horkheimer Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung Notizen in Deutschland
Herausgegeben von Werner Brede Einleitung vo...
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Max Horkheimer Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung Notizen in Deutschland
Herausgegeben von Werner Brede Einleitung von Alfred Schmidt
S. Fischer Verlag
Inhalt
Einleitung: Die geistige Physiognomie Max Horkheimers Von Alfred Schmidt NOTIZEN 1950 bis 1969 1950 bis 1955 Falsche Hosenrolle Paris Guter Tropfen Radikale Schwierigkeit mit dem Schlechten Ausdruck und Schmerz Eine kantische Soziologie Jenseits des Geschlechterprinzips Vorwärts Judentum, Wahrheit, Wahn Trade marks Geist und Zeit Nach Voltaire Albernheit der Philosophie Der Dichter und die Maßnahme* Die Frage der Philosophie Kunst und Kino Versuchung des Philosophen Zur Selbsterkenntnis Die verbotene Frage Philanthropischer Verein* Zur Ontologie Psychoanalyse als Ursache ihrer Notwendigkeit Nach dem Kino
3 5 4 4 4 5 5 5 8 8 8 9 9 10 10 11 11 12 12 15 15 14 15 15
* Zur Erläuterung der Sternchen siehe Nachwort des Herausgebers, S. 359.
VI
Der Pragmatismus der Religionen Notiz zur Dialektik Absteigende Linie Mythos und Aufklärung Staats-Räson Relativität Versuchung Die geförderte Wissenschaft Der Vielbeschäftigte Standort Hegel-Kritik Kriegsbericht Resitzindividualismus* Die besondere Exklusivität der Liebe Deutsche Empfindsamkeit Politik und Publikum 1956 Gedankenfreiheit Das Ende des Sprechens Studienreform Psychoanalyse als Richter Zum Antisemitismus Die Nichtigkeit des Individuums Schreckbild Perversion* Die weltgeschichtliche Persönlichkeit Arbeitgeber — Arbeitnehmer Emanzipation als Anpassung Denken und Haben Zwischenbilanz Rückblick auf Clavigo Kirchenväter und Propheten Ad Freiheit Zum Wesen des Menschen Zur Ideologiekritik Furcht und Moral Gegen die Wesenslehren Über Kleider
Inhalt
16 16 17 18 18 18 18 18 19 19 19 20 20 21 22 22
25 26 27 27 28 29 30 30 31 31 32 32 32 33 33 33 34 34 34 35
Inhalt Jugendbewegung Das Maul Gleichberechtigung als Egalisierung* Die Mitschuldigen* Leben, Denken und Geld Bürger und Bauer Die Zukunft des Bürgertums Kritische Analyse und Pragmatismus Bedürfnis Zwei Seiten des Materialismus Ferienlaune Konkretes Staunen Frage an die Psychoanalyse Tradition Handware und Fabrikware Bedürfnisforschung Über menschliche Trauer Warenkunde Naturgeschichte Kollektivschuld Sinn der Arbeit Womit einer umgeht Charme Der Fortschritt Glück ohne Verdienst Homunculus Interesseloses Wohlgefallen Die Französische Revolution* Fortschritt, Gerechtigkeit und Untergang des Ichs Glück und Sprache Glück und Unglück Bürgerliche Küche Verbotene Bücher Die neuen Analphabeten Abschied von der Dame Eine Welt Die Negativen Bürgerliche Dialektik
VII
56 36 36 36 37 37 38 39 39 40 40 41 41 41 41 42 42 42 43 43 43 43 44 44 44 44 44 45 45 46 46 46 47 47 47 48 49 49
VIII
Inhalt -
Zur deutschen Aufklärung Die Kultivierten
49 50
1957 bis 1958 Zur Wissenschaftstheorie* Vertauschte Rollen Frage David und Goliath - heute Unterschied Stufenleiter Geschlossene Gesellschaft Achtung und Furcht Dialektik der Aufklärung (I) Im Zirkus Liebe und Erfahrung Die Reklamekultur Der Teufel Umkehrung der Verhältnisse Nicht daran denken Die Außengeleiteten Zu Saint-Simon Irrtum des Idealismus Kleinfamilie Individuum und Gesellschaft Falsche Askese Kritische Theorie Falsche Ansprüche Widerspruch der Liebe Falscher Anschein Ladenschlußgesetz Zu Hegel Ohne Maß Schopenhauer und Nietzsche Hegels Trick Vermittlungen des Fortschritts Moral Philosoph vom Fach
51 51 52 52 53 53 55 54 54 54 55 55 56 56 57 57 58 59 59 59 60 61 61 61 61 62 62 62 63 63 65 65 66
Humanität
66
Inhalt Demokratie und Massenmedien* Negative Politik Hegel und Marx Vergebliche Liebe Vergebliche Trauer Kritik und Geld Sein und Sein* Wahrheit und Gerechtigkeit Politik und Philosophie heute Small talk Mensch und Rhinozeros Europäischer Geist Die neuen »Revolutionen« System der Redürfnisse Ende nichts, alles nichts Die drei Fehler von Marx Marx als Studium Nach der Emigration Soziologie Subjekt-Objekt Utopische Regression Fazit der großen deutschen Philosophie - in abstracto Job und Hobbies »Klassische Bildung« Götterlehre !959 Volksempfänger Kein Sinn Massendemokratie Antinomien der Liebe Innenarchitektur* Beruf: Frau* Gegen die Philosophie Zur gegenwärtigen Aufgabe der Soziologie Ende der Moral Egalite Fraternite
IX 67 67 68 69 69 70 70 71 71 72 72 75 75 74 74 75 76 77 77 78 78 79 80 80 81
82 82 82 83 83 85 79 86 88 88 89
x
Inhalt
Der Preis der Selbstbeherrschung Paradox der Philosophie Zwischen den Stühlen Hindernis Europa Das Böse in der Geschichte Was ist Religion? Selbstmitleid Nonkonformismus Die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft Zu abstrakt Die schwierige Tradition Jesus Umsonst Schlechtes Beispiel Unter Gleichen »Ethik« Zeitung für Deutschland* Psychoanalyse und Daseinsanalyse Leere Vermittlung Entlarvung des Ideologiebegriffs Spekulation Verhaßtes Spiegelbild An die Positivisten
89 90 90 91 91 92 93 93 94 95 96 96 97 97 98 98 98 98 99 99 100 101 101
1959 bis 1960 Konvergenztheorie* Hinter der Fassade Der Fluch der Endlichkeit Für eine Assoziation der Hellsichtigen Im Namen des Volkes Selbsterhaltungstrieb Geschichte und Zukunft des Individuums Funktion und Grenzen bürgerlicher Kultur Falsche Bescheidenheit Wahre Utopie ist traurig Liebe und Selbstsucht Die Wahrheit des Positivismus Geist und Freiheit
104 105 106 107 107 108 109 111 114 115 116 116 117
Inhalt Am Gängelband Zu spät Bei der Lektüre Voltaires Die Wahrheit der Religion Über den Ursprung der Sprache Geist, Kunst und Bürgertum Nach den Kreuzzügen Dialektik der Aufklärung (II) Aufklärung und Religion Der Trug des Glücks Rationalisierung der ratio Verwitterte Tafeln Come and go Oben und unten Überholter Protest Falsche Rückkehr zur Religion Massen-Medium Nordatlantikp akt* Wider die Logik, die dialektische und die gewöhnliche Philosophie und Ideologie Bürger Schopenhauer Geschichtsphilosophische Spekulation Glück und Bewußtsein Familie und Tauschprinzip Autonomie Zweiter Klasse Über Klugheit Das Ende des Christentums Zur Geschichte der Geschlechtlichkeit Pro patria Eine besondere Art von Antisemitismus Bewältigung der Vergangenheit Atomismus Großbetrieb Vom Mythos zum Chaos Zur Ergreifung Eichmanns Geist Permanent education
XI 118 119 120 121 125 125 125 126 127 127 128 129 129 150 130 131 132 133 134 135 135 136 137 138 139 139 140 141 142 144 145 146 147 147 148 148 151 152
XII
1961 bis 1962 Philosophie im Taschenbuch Zur Moralphilosopliie Kants Zwischen Armut und Überfluß Nietzsche und die Juden Stadien des Mythos Alle sind kriminell Eitle Hoffnung Einträgliche Beschäftigung Täuschung Falsche Wichtigkeit Zur Geschichte der Autonomie Zur Metaphysik des Judenhasses Zu Eichmann Sitten, höhere Kultur Deutsche Politik Verschleierungen Marx und der Liberalismus Gebet und romantische Liebe* Staat Israel* Das Ich als Funktion Leidensarten Theorie des Gewissens Der Einzelne Eine Anregung für die Sozialforschung* Wahrheit in der Rede Gegen die Verdrängung des Todes Grenzfall Normalität* Brotgelehrtheiten* Gut und Böse Der Fluch ist die Wahrheit Die Kulturkonsumenten Grand Guignol Von der Psychoanalyse kuriert Kleine Tugendlehre Für den Elfenbeinturm Über Erziehung
Inhalt
154 154 156 157 158 160 160 16J 161 162 163 164 164 165 165 166 167 168 169 169 170 170 171 171 172 173 174 174 175 175 176 177 177 178 178 179
Inhalt
Formen des Egoismus Zu einer Theorie Freuds Ratschlag für Lehrer Abwehrmechanismen Über Theorie und Praxis Gesundheitspolitik Die Universitätsphilosophie und ihre Vertreter Notwendige Eitelkeit Verdrängte Schuldgefühle Schopenhauer als Optimist Naturgeschichte Das Ende der individuellen Liebe Eine Schwäche der Theologie Gesellschaftlich notwendiger Optimismus Suum esse conservare Die Macht des Interesses Ausgeträumt Liquidationen Komische Alte Sozialer Wandel der Intellektuellen Die Kirche ist die Maßnahme* Diesseits des Ruhms Mit offenen Augen Zur Krisentheorie Die Rolle der Arbeiterparteien Im Zeitalter der Verwaltung* Sinnlose Negation Ideologien nach Marx Krieg und Perversion Utopie als Widersinn Gesellschaft im Übergang Les extremes se touchent Historizität der Moral Der Sinn des Lebens Das Ende der praktischen Philosophie Zum Regriff des Einzelnen Das Phänomen der Beatles Wir Nazis
XIII
180 181 181 181 182 182 184 184 185 185 187 187 188 188 189 189 190 190 191 191 192 192 193 193 193 194 194 194 195 196 196 197 197 198 199 199 200 200
XIV
1966 bis 1969 Der Entronnene Nächstenliebe und Egoismus Das Subjekt in der Industriegesellschaft Zerfall der bürgerlichen Ehe Für einen medizinischen Warentest Trauer-Feier Der wahre Konservative Im Apparat Für Amerika Zur Euthanasie Zur Kritik der politischen Ökonomie Zur Politik in der Bundesrepublik Die Gemeinschaft der Juden Keep srniling Rezeptpflichtig Philosophie als Unterhaltung Blick ins Konversationslexikon Wahre Kritik der praktischen Vernunft Gegen den Linksradikalismus Religion und Gesellschaft Primat der Außenpolitik Die Demokratie als ihr eigener Feind* Am selben Strang Zur Studentenbewegung Glauben und Wissen Nach Auschwitz Der Gang der Philosophie Ohne Illusion Ende mit Schrecken Ohne Liebe Zur Kritischen Theorie Ad Pessimismus Das Ende einer Illusion Kants Irrtum Do ut des Kunst als Ornament
Inhalt
202 202 205 205 204 204 205 205 206 206 207 207 208 208 209 209 209 210 210 210 211 211 211 212 212 215 215 213 214 214 215 215 216 216 217 218
XVI
Spielregeln Archimedes und die moderne Metaphysik Umschlag von Gedanken Man kann nur dem Ganzen helfen Skepsis und Moral Heroische Weltanschauung Alle müssen sterben Diskussion über die Revolution Takt Animismus Über die Formalisierung des Christentums Glaube und Profit Entweder — Oder! Politische Lebensregel Metaphysik Gesellschaftsbau und Charakter Plattheiten Gesundheit und Gesellschaft Die Nicht-Gezeichneten Herrschaft der Kirche Buddhismus Der kleine Mann und die Philosophie der Freiheit Eine alte Geschichte Uninteressiertes Streben nach Wahrheit Bürgerliche Moral Revolutionäres Theater oder »Kunst versöhnt« Zur Charakterologie Die Gestrandeten Verschiedene Kritik Zur Psychologie des Gesprächs Die Ohnmacht der deutschen Arbeiterklasse Atheismus und Religion Der Wolkenkratzer Bedürfnislosigkeit der Reichen Symbol Kain und Abel Der Kampf gegen den Bürger Erziehung zur Wahrhaftigkeit
Inhalt
248 250 250 251 251 254 254 255 258 259 260 260 260 262 265 263 266 267 267 268 268 268 271 272 273 274 275 276 278 280 281 286 287 288 288 288 289 290
Inhalt Wert des Menschen Die Frau bei Strindberg Macht, Recht, Gerechtigkeit Grade der Bildung Liebe und Dummheit Indikationen Zur Geburtenfrage Sozialismus und Ressentiment Die Urbanität der Sprache Eine Kategorie von Großbürgern Das Persönliche Der gesellschaftliche Raum Ein Märchen von der Konsequenz Konfession . Der »leider« stabilisierte Kapitalismus Dienst am Geschäft Das Ansehen der Person Menschheit Schwierigkeit bei der Lektüre Goethes »Geld macht sinnlich« (Berliner Spruchweisheit) Das verlassene Mädchen Asylrecht Schlechte Vorgesetzte Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen Ohnmacht des Verzichts Die gute alte Zeit - Wandlungen der Moral Verantwortung Freiheit der moralischen Entscheidung Arbeitsfreude Europa und das Christentum Die Sorge in der Philosophie Gespräch über die Reichen Dankbarkeit Der Fortschritt Der Idealismus des Revolutionärs Die Person als Mitgift »Greuelnachrichten«
XVII
291 292 293 294 295 295 296 297 299 300 300 301 302 302 303 303 304 306 306 307 307 309 309 310 311 312 313 313 315 315 316 320 320 321 322 324 324 325
XVIII
Zu Goethes Maximen und Reflexionen Die neue Sachlichkeit Lüge und Geisteswissenschaften Wirtschaftspsychologie Kunstgriffe Am Telefon Absonderlichkeiten des Zeitalters Der Charakter Zufälligkeit der Welt Ernste Lebensführung Relativität der Klassentheorie Entsetzen über den Kindermord Profitinteressen Moralische Intaktheit des Revolutionärs Freie Bahn dem Tüchtigen Menschliche Beziehungen Geistige Leiden Zwei Elemente der Französischen Revolution Vom Unterschiede der Lebensalter Verpönte Affekte Schwierigkeit eines psychoanalytischen Begriffs Durch Schaden wird man klug Das ist die Welt Gewerkschaftsbürokratie Die Zurückgebliebenen Doppelte Moral Zur Relativität des Charakters Eine Neurose Warten Das Unerforschliche Vergessen Nachwort des Herausgebers
Inhalt
326 327 330 330 330 331 332 333 334 336 337 339 339 340 340 341 343 343 344 345 346 347 347 348 348 349 350 351 351 352 353 355
Einleitung: Die geistige Physiognomie Max Horkheimers Von Alfred Schmidt
Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welche etwan ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat: - dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt. Arthur Schopenhauer
Biographischen und denkgeschichtlichen Periodisierungen haftet leicht etwas Willkürliches an. Dennoch sind sie, behutsam vorgenommen, ein unentbehrliches Hilfsmittel des Historikers. Das gilt zumal dann, wenn es dieser, wie im Fall Max Horkheimers, mit einem höchst komplexen Lebenswerk zu tun hat, dessen wirkliche - nicht standpunkthaft fixierbare - Intentionen sich dem heutigen Leser zunächst verschließen. Deutlich lassen sich in Horkheimers geistiger Biographie sechs Etappen unterscheiden. — Die erste fällt mit den während des Ersten Weltkriegs entstandenen Novellen und Tagebuchblättern zusammen, die inzwischen unter dem Titel Aus der Pubertät veröffentlicht wurden.1 Moralischer Protest gegen gesellschaftliches Unrecht, utopische Sehnsucht nach dem Besseren und pessimistische Metaphysik, eingedenk der letztlichen Vergeblichkeit alles menschlichen Tuns, stehen in diesen erstaunlichen Versuchen des jungen Mannes unversöhnt nebeneinander. Sie sind, wie Horkheimer im fortgeschrittenen Alter betont hat, gespeist vom »Willen zur Wahrheit und zum richtigen Leben«; sittlich-religiöse Imperative erscheinen hier »als die unmittelbar den Einzelnen bestimmenden oder von ihm negierten Motive«2. An wissenschaftlicher Erkenntnis der gesellschaftlichen Realität 1 Herausgegeben und mit einem Nachwort von Alfred Schmidt, München 1974. 2 Ibid., Vorwort, S. 7.
geeignet, seine rebellischen Gedanken zu nuancieren — fehlt es dem jungen Horkheimer. Er verficht »unbedingte . . . Treue zu einem Glauben«3; durch seine Novellen geht der schmerzliche Riß von Ideal und Wirklichkeit: sie schildern das gnadenlose Schicksal kompromißloser Tugend »in dieser Welt«4. Verstricktheit des Menschen in ewige Natur und unbeirrter Kampf gegen zeitliches Unrecht bilden schon damals Hauptmomente seines Denkens. So unerläßlich es für ihn ist, daß die »Ungerechtigkeit der Verteilung der Güter« beseitigt werde, so fragt er sich doch zugleich, ob nicht selbst die »Erfüllung der kühnsten Utopien« die »große Qual« unberührt ließe, »weil der Kern des Lebens . .. Qual und Sterben ist«5; ob nicht die »übersinnliche Bedeutung« selbst »menschenfreundlicher, mitleidiger Tat«6 problematisch wird, ist der »Weltund Höllenapparat«7 einmal durchschaut. Man sieht: Horkheimers Jugendschriften nehmen, ausgehend von Schopenhauers (streckenweise radikalisierter) Willensmetaphysik, wesentliche Züge seiner späteren Konzeption vorweg. »Der metaphysische Pessimismus«, erklärt Horkheimer denn auch rückblickend 1968, »war seit je mir vertraut. Meine erste Bekanntschaft mit Philosophie verdankt sich dem Werk Schopenhauers; die Beziehung zur Lehre von Hegel und Marx, der Wille zum Verständnis wie zur Veränderung sozialer Realität haben, trotz dem politischen Gegensatz, meine Erfahrung seiner Philosophie nicht ausgelöscht.«8 Marxsche und Schopenhauersche Denkmotive—diese stehen fürs malum metaphysicum, jene fürs malum physicum arbeiten sich in der Kritischen Theorie auf allen ihren Stufen aneinander ab, weil die »richtige Gesellschaft« stets auch »ein Ziel« ist, »das mit der Vorstellung von Schuld sich verschränkt« 9 nicht nur mit der eines wissenschaftlich beherrschbaren Gesamtprozesses. Die Studien- und Assistentenjahre Horkheimers (1919—1925) bil-
den die zweite Stufe seiner intellektuellen Entwicklung. Während dieser Zeit steht er unter dem Einfluß seines Frankfurter Lehrers Hans Cornelius, bei dem er 1922 mit der Dissertation Zur Antinomie der teleologischen Urteilskraft promoviert. 1925 erfolgt die Habilitation mit der Arbeit Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. Cornelius, ursprünglich Schüler von Mach und Avenarius, bezeichnet die »erkenntnistheoretische Klärung des Weltbildes und die Beseitigung der metaphysischen Scheinprobleme« als »erste Forderung des philosophischen Klarheitsbedürfnisses«10. In seiner »transzendentalen Systematik« verbinden sich psychologisch-sensualistische Elemente mit Kantischen. Horkheimers genaue, ihm nützliche Kenntnis der (teilweise vom Neukantianismus schwer ablösbaren) positivistischen Erkenntnistheorien, seine antidogmatische, Kants Verdienste bewahrende Grundhaltung bilden sich in dieser Zeit heraus. Allerdings wird er schon früh an der Frankfurter Universitätsphilosophie irre. Ihn bewegen vor allem inhaltlich-metaphysische Fragen. So schreibt er im November 1921 seiner späteren Frau: »Nicht formale Erkenntnisgesetze, die im Grunde genommen höchst unwichtig sind, sondern materielle Aussagen über unser Leben und seinen Sinn haben wir zu suchen.«11 Während seiner Privatdozentur, 1926—1930, gelingt es Horkheimer, die akademischen Eierschalen abzustreifen und den für ihn künftig verbindlichen Begriff von Philosophie zu entwickeln. Gekennzeichnet ist diese dritte Phase durch den entschiedenen Übergang zum Marxismus (dessen Sprengkraft er sich freilich bereits an den revolutionären Ereignissen der Nachkriegszeit vergegenwärtigt hatte). Die Radikalität des von Horkheimer inzwischen erreichten Bewußtseins reflektiert sich in dem erst 1954 in der Schweiz unter dem Pseudonym Heinrich Regius veröffentlichten Aphorismen-Band Dämmerung, der - wenigstens hierzulande — in den späten sechziger Jahren eine wichtige Rolle bei der politischen Selbstverständigung studentischer Protestgruppen spielte. Die »gelegentlichen Notizen«, wie Horkheimer, allzu bescheiden, seine Schrift bezeichnet, leiten in Wahrheit über zu den Katego-
rien der Kritischen Theorie. Da das 1926-1951 entstandene Buch den zweiten Teil des vorliegenden Bandes bildet, scheint es geboten, einige Nervenpunkte genauer zu untersuchen. Von Anbeginn bewegt sich Horkheimers Denken - was selten verstanden wird - im Medium einer doppelten Frontstellung: gegen »sinngebende«, dogmatisch verkündete Metaphysik und gegen begriffsfeindlichen Positivismus, der jeglichen übers Hier und Jetzt hinausreichenden Sinn abstrakt verneint. Sowenig der Gedanke im unmittelbaren Nutzeffekt aufgeht, so wenig gibt es für Horkheimer einen reinen, der materiellen Realität enthobenen Erkenntnistrieb. Wer vorgibt, einem »interesselosen Streben nach Wahrheit« zu folgen, unterliegt einer ideologisch aufbereiteten »philosophische[n] Täuschung«12. Ein »um des Denkens willen« betriebenes Denken hat »seinen Sinn, Mittel zur Verbesserung menschlicher Verhältnisse zu sein, verloren«13. Zudem widerstreitet jenes »Streben nach Wahrheit« insofern dem eigenen Anspruch, als »es an ihre Stelle notwendig ein Phantom, die absolute, d. h. die überirdische Wahrheit setzen muß«14. Wenn Horkheimer — was prima fade befremden mag — immer wieder betont, »Metaphysik« sei unmöglich, so versteht er darunter den Inbegriff theologischer, auch rationalistischer Ansprüche, positiv über ein Absolutes zu urteilen. Wohl sind, umgekehrt, »Aussagen über die Zufälligkeit, Endlichkeit, Sinnlosigkeit der sichtbaren Welt möglich«15. Aber Horkheimer weigert sich, mit Kants Ideenlehre das selbst noch »in solchen Negationen ... fungierende Kriterium der Notwendigkeit, Unendlichkeit und Sinnhaftigkeit... als Bürge der Existenz des Ewigen im menschlichen Gemüt«16 zu interpretieren. Jenes Kriterium — davon ist nichts abzumarkten - bleibt ein menschlich-allzumenschlicher Gedanke, »der mit denen, die ihn fassen, stirbt und verweht«17. Wir sind es, die ebenso aus Furcht und Mißtrauen wie aus Hoffnung darauf verfallen, den zahllosen Übeln der sinnlich erfahrbaren Welt eine
ewige, absolut gute und gerechte Instanz entgegenzusetzen. Wann immer unsere Aussagen das Bedingte, zeitlich Befristete überschreiten, sind sie »gleich berechtigt oder gleich unberechtigt«18. Die dem unbestechlichen Blick offenkundige »Sinnlosigkeit der Welt« geht für Horkheimer namentlich daraus hervor, daß der Differenz eines moralisch guten von einem moralisch schlechten Leben keine überzeitliche Symbolkraft zukommt; sie »straft die Metaphysik, d. h. ihre sinnvolle Deutung Lügen«. Das freilich irritiert »nur den.. ., welcher aus Furcht vor irgendeinem Herrn und nicht aus Mitleid mit den Menschen ein menschliches Leben führt«19. All dies spricht Horkheimer ohne Zynismus aus: als »traurige Erkenntnis«20. Nur soweit es den Menschen — radikal endlichen Wesen — gelingt, konkrete Vernunft in ihrer geschichtlichen Welt durchzusetzen, bleibt diese kein »Spiel blinder Natur«21. Dem materiellen Universum freilich sind unsere Ängste und Nöte, unser ephemeres Glück schlechthin äußerlich. »Güte« oder »Gerechtigkeit« wohnen dem Weltall nicht inne: es ist »dumpf und erbarmungslos«22. — Die Menschheit ist allein. Erwägungen, die Horkheimers Materialismus mit der Philosophie Schopenhauers verbinden. Wohl verwirft dieser aus erkenntniskritischen und ethischen Gründen den als »absolute Physik«23 auftretenden Materialismus. Aber er vermag dessen (zunächst von ihm entschieden behauptete) Unvereinbarkeit mit metaphysischem Denken insofern nicht durchzuhalten, als er Kant vorwirft, Metaphysik und Erkenntnis a priori voreilig identifiziert zu haben: »Dazu hätte man.. . beweisen müssen, daß der Stoff zur Lösung des Rätsels der Welt schlechterdings nicht in ihr selbst enthalten seyn könne, sondern nur außerhalb der Welt zu suchen sei, in etwas, dahin man nur am Leitfaden jener uns a priori bewußten Formen gelangen könne. So lange aber Dies nicht bewiesen ist,
haben wir keinen Grund, uns, bei der wichtigsten und schwierigsten aller Aufgaben, die inhaltsreichsten aller Erkenntnisquellen, innere und äußere Erfahrung, zu verstopfen, um allein mit inhaltsleeren Formen zu operieren.«24 Entsprechend handfest fällt aus, was Schopenhauer die »Entzifferung der Welt«25 nennt. So unterstreicht er (ganz wie die großen Materialisten der französischen Aufklärung) die kreatürliche Hinfälligkeit und Mangelsituation des Menschen. Ihr — nicht etwa einem autonomen Erkenntnisdrang — entspringt Schopenhauer zufolge »das Bedürfniß einer Metaphysik«26. Animal metaphysicum ist der Mensch nur, weil zuvor animal physicum ist: »Ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod, und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der Noth des Lebens, was den stärksten Anstoß . . . zu metaphysischen Auslegungen der Welt giebt. Wenn unser Leben endlos und schmerzlos wäre, würde es vielleicht doch Keinem einfallen zu fragen, warum die Welt dasei und gerade diese Beschaffenheit habe.«27 Aus Schopenhauers Perspektive ist denn auch genauer zu verstehen, was es mit Horkheimers schroffer Absage an »Metaphysik« auf sich hat: sie ist ihrerseits metaphysisch — materialistische Einsicht in die physische Bedingtheit und Gebrechlichkeit alles Menschlichen.28 Die Themen amtlicher Metaphysik dagegen demaskieren sich bereits durch die »Fragestellung« und den »mehr oder weniger gepflegte[n] Ton ihrer Behandlung«29. Man merkt sogleich, daß ihre "Verfechter kaum »von dem beeindruckt sind, was die Menschen quält«30. Was die offiziellen Philosophen oder Geisteswissenschaftler »über Geist, Kosmos, Gott, Sein, Freiheit..., ... über Kunst, Stil, Persönlichkeit, Gestalt, Epoche, ja über Geschichte und Gesellschaft« berichten, ist unanfechtbar objektiv;
»Leid oder gar Empörung über das Unrecht oder Mitleid mit den Opfern«31 sind ihnen fremd. Was die um überzeitliche Sachlichkeit bemühten Metaphysiker als das wahre Wesen des Seienden ausgeben, ist offenbar »so geartet, daß man es erforschen und in seinem Anblick leben kann, ohne in Empörung gegen das bestehende Gesellschaftssystem zu geraten. Der Weise, der den Kern der Dinge schaut, kann zwar aus dieser Schau alle möglichen philosophischen, wissenschaftlichen und ethischen Konsequenzen ziehen, ... aber der Blick für die Klassenverhältnisse wird wenig geschärft. Ja, die Tatsache, daß man unter den vorhandenen Klassenverhältnissen diesen Aufschwung zum Ewigen nehmen kann, bildet je mehr eine gewisse Rechtfertigung der Verhältnisse, als der Metaphysiker diesem Aufschwung absoluten Wert zuerkennt«32. Er erhebt die Menschen über die Niederungen des Alltags, gewährt ihnen Zugang zu einer höheren, der bloß empirischen vorgeordneten Wirklichkeit und verhilft ihnen derart, inmitten des Bestehenden, zur wahren Bestimmung. Es gibt jedoch keinen einheitlich-geistigen, die empirische, raumzeitlich bestimmte Wirklichkeit, sei's die des Menschen oder die der Natur, tragenden, erzeugenden oder sinnstiftend überwölbenden Grund. Darin faßt sich die marxistische Kritik zusammen, die Horkheimer in der Dämmerung an den ontologisch wiedererstandenen Metaphysiken der zwanziger Jahre übt. Deren Vertreter, obenan Heidegger, tendieren dazu, umgangssprachliche, der Lebenspraxis entstammende Begriffe - in entstofflichter Form aufzunehmen. Ihres geschichtlichen, jeweils überprüfbaren Gehalts ledig, erhalten sie die - ideologische - Würde fachmännisch ermittelter Bestimmungen der condition humaine.33 Horkheimer
durchschaut schon damals die apologetische Rolle der offiziellen Philosophen, die »lieber ein System der Werte als eines der Unwerte aufstellen, . .. lieber >vom Menschen überhaupt als von den Menschen im besonderen, vom Sein schlechthin als von ihrem eigenen Sein handeln«34. Sie sperren sich gegen die Wahrheit, daß »ihr Geschwätz . . . vom >Ewigen<« zum ideologischen Mörtel gehört, der das »Haus der gegenwärtigen Menschheit« zusammenhält, wie Horkheimer es im Aphorismus >Der Wolkenkratzer< eindringlich beschreibt: »Dieses Haus, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach eine Kathedrale ist, gewährt in der Tat aus den Fenstern der oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel.«35 Sosehr Horkheimer das »scheußliche Gespensterreich«36 der bürgerlichen Metaphysik jener Jahre verachtet, so sehr hält er fest an der Idee einer vernünftig eingerichteten Menschheit. Sie verbindet ihn, wenn auch in eigentümlich gebrochener Weise, mit dem Denkzusammenhang des deutschen Idealismus. Dieser versieht ihn mit einem materialeren Begriff von Philosophie als der damals zeitgenössischen. Sein Gewährsmann Schopenhauer, Kantianer und Kant-Kritiker zugleich, besteht (nicht anders als der von ihm grimmig befehdete Hegel) darauf, daß »die Welt..., gerade als Erscheinung, die Manifestation Desjenigen ist, was erscheint«: des Dinges an sich. »Dieses muß daher sein Wesen ... in der Erfahrungswelt ausdrücken, mithin . . . herauszudeuten seyn . .. aus dem Stoff, nicht aus der bloßen Form der Erfahrung. Demnach ist. . . Philosophie . .. das richtige, universelle Verständniß der Erfahrung selbst, die wahre Auslegung. . . ihres Gehaltes. Dieser ist das Metaphysische, . .. das in die Erscheinung bloß Gekleidete und in ihre Formen Verhüllte.«37 - Beachten wir, daß auch der Materialist Marx, bei
politisch gegensätzlichen Intentionen, sowenig wie Schopenhauer die »Wirklichkeit« naiv-realistisch hinnimmt. Er bezeichnet sie ausdrücklich als »Erscheinungswelt«38. Wissenschaftliches Verhalten besteht ihm zufolge darin, die »Oberfläche der Erscheinung«39 zu durchdringen; es muß »durch den Schein hindurch das innere Wesen und die innere Gestalt« des kapitalistischen Gesamtprozesses »erkennen«40. Dieser durchaus sachliche, nicht nur auf formaler Analogie beruhende Zusammenhang von Schopenhauer und Marx ist hier hervorzuheben, weil er, ohne daß dies unmittelbar deutlich würde, in. Horkheimers Philosophie eingegangen ist. Er erstreckt sich übers Erkenntniskritische hinaus auch aufs Metaphysische und Moralische. Beide Denker lehren die Bewußtlosigkeit und Blindheit des Weltlaufs. Marx freilich, darin Kant verpflichtet, beschränkt diesen negativen Zustand auf die — wie er hofft — revolutionär beendbare »Vorgeschichte« der Menschheit; seine Theorie zielt darauf ab, daß human vergesellschaftete Individuen »ihre Geschichte selbst machen«, und zwar »mit Gesamtwillen nach einem Gesamtplan«41. Der weit skeptischere Schopenhauer dagegen sieht im historischen Prozeß »stets nur das Selbe wiederholt, unter andern Namen und in anderm Gewände«: jeder fortschrittsgläubige Versuch, die »Weltgeschichte als ein planmäßiges Ganzes zu fassen«42, ist verwerflicher Hegelianismus. Damit verzichtet Schopenhauer auf einheitliche Geschichtstheorie überhaupt - nicht nur auf metaphysische. Der Annahme überindividueller Strukturen und Tendenzen begegnet er mit unüberwindlichem Mißtrauen: »Selbst das Allgemeinste in der Geschichte ist an sich selbst doch nur ein Einzelnes und Individuelles, nämlich ein langer Zeitabschnitt, oder eine Hauptbegebenheit: zu diesen verhält
sich, daher das Besondere, wie der Theil zum Ganzen, nicht aber wie der Fall zur Regel; wie dies hingegen in allen eigentlichen Wissenschaften Statt hat, weil sie Begriffe, nicht bloße Thatsachen überliefern.«48 Freilich — und davon geht Horkheimer aus — genügt es nicht, den offenkundigen Mangel dieser rein narrativen Interpretation der Geschichte bloß zu tadeln, die deren Gang auf eine Summe einzelner Geschehnisse reduziert. In Schopenhauers Beharren darauf, daß Historiographie es mit dem »schlechthin Einzelnen und Individuellen«44 zu tun hat, steckt nämlich zugleich materialistischer Protest gegen konformistische Metaphysiken, die individuelles Leiden entschärfen oder gar verklären, indem sie es in die - vermeintlich sinnvolle - Totalität des Geschichtsverlaufs eingliedern. Demgegenüber — das bezeugen die Anfänge gerade von Marx und Engels - besteht der philosophische wie politische Übergang zum Materialismus zunächst einmal darin, wolkige Universalien zu kritisieren und sich der realen Nöte »des wirklichen individuellen Menschen«45 anzunehmen. »Wir müssen«, schreibt Engels 1844 an Marx, »vom Ich, vom empirischen, leibhaftigen Individuum ausgehen, um ... uns von da aus zu >dem Menschen< zu erheben. >Der Mensch< ist immer eine Spukgestalt, solange er nicht an dem empirischen Menschen seine Basis hat. Kurz, wir müssen vom. .. Materialismus ausgehen, wenn unsre Gedanken und namentlich unser >Mensch< etwas Wahres sein sollen; wir müssen das Allgemeine vom Einzelnen ableiten, nicht aus sich selbst oder aus der Luft à la Hegel.«46 Sätze, die Schopenhauer fraglos unterschrieben hätte. Auf einem anderen Blatt steht, daß die Begründer des Marxismus, anders als der Willensmetaphysiker, bei jener (polemisch gewonnenen, noch feuerbachianisch getönten) »Basis« nicht stehenblieben, sondern sie zur ökonomischen, entwicklungsgesetzlichen Basis der Sozialgeschichte erweiterten. Eine konkret-klassenmäßige Betrachtungsweise, die — wie gesagt — in der Dämmerung durchweg erreicht ist.
Dadurch freilich, daß Horkheimer den historischen Materialismus von vornherein aus einem Schopenhauerschen Blickwinkel rezipiert, bleibt er davor bewahrt, »die« Geschichte pantheistisch zu verklären: sie ist keine selbsttätige, teleologisch sich entfaltende Substanz.47 Die von Marx entdeckten ökonomischen Gesetze besagen nach Horkheimer lediglich, daß die »Elemente« des Sozialismus »in gewisser Weise im Kapitalismus vorhanden sind«: als objektive »Tendenzen«48. Dabei ist das »Erfahrungsmaterial, auf Grund dessen wir annehmen, daß die Tendenzen sich wirklich durchsetzen, ... sehr gering«49. Horkheimer hält jedoch wenig von der weisen Skepsis jener, die Marx ehrerbietig als neutrales Bildungsgut in die Geschichte der Philosophie »einordnen«. Indem er zu »auch so einem Philosophen« wird, büßt seine Lehre ihre sachliche und — für Horkheimer noch wichtiger - moralische Verbindlichkeit ein. Denn die an sich richtige »Feststellung, daß aus der marxistischen Theorie der Sozialismus nicht >folgt<, auch wenn er ... wünschenswert sein sollte, wirkt« — skeptisch vorgetragen - »als wissenschaftliche und moralische Begründung des Kapitalismus«50. Für Horkheimer indessen ergibt sich hieraus keine Resignation, sondern das kämpferische »Bekenntnis zur Praxis, deren die Theorie bedarf«. »Marx«, so schreibt er damals noch, »hat das Gesetz der herrschenden unmenschlichen Ordnung aufgedeckt und
die Hebel gezeigt, die man ansetzen muß, um eine menschlichere zu schaffen.«51 Was die Skepsis betrifft, so ist sie Ausdruck eines akademischen, in selbstgenügsamer Kontemplation verharrenden Denkens. Ihr Gegenteil, betont Horkheimer, ist nicht wiederum eine theoretische Haltung - das optimistisch verkündete Dogma -, sondern der Vollzug der geschichtlichen Praxis selbst. - Bloße Heilsgewißheit hat bürgerlicher Skepsis nichts voraus: »Die Illusion des naturnotwendigen Eintritts der sozialistischen Ordnung gefährdet das richtige Handeln kaum weniger als der skeptische Unglaube. . .. Die sozialistische Gesellschaftsordnung... ist historisch möglich; verwirklicht wird sie aber nicht von einer der Geschichte immanenten Logik, sondern von den an der Theorie geschulten, zum Bessern entschlossenen Menschen, oder überhaupt nicht.«52 In diesem Kontext stehen auch Horkheimers prinzipielle Überlegungen zur proletarischen Politik der zwanziger Jahre. Den reformistischen Sozialdemokraten wirft er vor, sie hätten »das Wissen um die Unmöglichkeit einer wirksamen Verbesserung der menschlichen Verhältnisse auf kapitalistischem Boden verloren«53. Soweit sie spezifisch theoretische Arbeit nicht völlig verwerfen, neigen sie dazu, »alle bestimmten Begriffe und Ansichten ... zu diskreditieren . .. und alles mit der gleichen grauen Farbe des Relativismus, Historismus, Soziologismus anzuschmieren«54. Der materialistischen Dialektik abhold, setzen sie »das Relativieren oder das Fragen überhaupt«55 absolut. Derart genügen die realpolitischen Ideologen nicht einmal dem eigenen positivistischen Credo, es komme darauf an, die Tatsachen nüchtern anzuerkennen: auch ihre Erkenntnis verfällt schlechtem Relativismus. Die Reformisten treten »unparteiisch und illusionslos«56 auf. Aber ihre »Liebe zum >Konkreten<«, muß unglücklich bleiben; denn es erschließt sich »nur dem aus der Praxis entspringenden Interesse«, \ das gesellschaftliche Ganze zu ändern. Ihr Begriff des Konkreten geht auf im »Stoff, mit dem sie ihre Schematismen füllen, er wird
bei ihnen nicht durch die bewußte Parteinahme im geschichtlichen Kampf, über dem sie vielmehr zu schweben glauben, organisiert«57. Umgekehrt bekennen sich die kommunistischen Theoretiker zwar zu den marxistischen Prinzipien, aber diese nehmen in ihren Schriften keine »durch die Menge des theoretisch verarbeiteten Stoffs ... zeitgemäße Gestalt an, sondern werden undialektisch festgehalten«58. Entsprechend doktrinär fällt die kommunistische Politik aus. Sie setzt sich vielfach über reale Gegebenheiten hinweg und »erschöpft sich . . . in erfolglosen Befehlen und moralischer Zurechtweisung der Ungehorsamen und Treulosen«59. Leeren Kategorien hier steht begriffslose Stoffhuberei dort gegenüber. Die politische Ohnmacht und Spaltung der deutschen Arbeiterklasse reflektiert sich theoretisch darin, daß die »beiden Momente der dialektischen Methode: Tatsachenerkenntnis und Klarheit über das Grundsätzliche«60, voneinander isoliert sind. Geradezu prophetisch klingt Horkheimers Urteil über die damalige kommunistische Orthodoxie, wenn er etwa schreibt, die Treue zur materialistischen Lehre drohe »zum geist- und inhaltlosen Buchstaben- und Personenkult« zu verkümmern, sofern »nicht bald eine radikale Wendung«61 eintrete. Die »Erkenntnis der wirklichen Welt« aber, den »materialistische[n] Inhalt« sieht er zu dieser Zeit »im Besitz jener, welche dem Marxismus untreu geworden sind«82. Da sie die
weltgeschichtliche Perspektive verloren haben, stumpft ihre Erkenntnis zur (imHegeischen Sinn) abstrakten Faktizität ab; »ohne das materialistische Prinzip werden die Tatsachen zu blinden Zeichen ... oder ... geraten ... in den Bereich der das geistige Leben beherrschenden ideologischen Mächte«63. Politisch drückt sich dieses - letztlich ökonomisch bedingte - Nebeneinander von begriffslosem Inhalt und inhaltslosem Begriff darin aus, daß die einen zwar das Bestehende als schlecht erkennen, es ihnen aber an Wissen fehlt, »die Revolution praktisch und theoretisch vorzubereiten«, während den anderen, welche über die erforderlichen Kenntnisse verfügen, die grundlegende Erfahrung von der »dringenden Notwendigkeit der Änderung«64 abgeht. Daher haben die Sozialdemokraten, wie Horkheimer schließlich die Weimarer Situation der Linksparteien beurteilt, wenn sie miteinander diskutieren, »viel zuviele Gründe. Sie berücksichtigen peinlich genau alle Umstände, erweisen dadurch der Wahrheit und Objektivität eine Reverenz und beschämen ihre unwissenden Gegner durch die Vielfältigkeit der Gesichtspunkte. Die Kommunisten haben viel zuwenig Gründe, d. h. sie verweisen häufig... bloß auf die Autorität. In der Überzeugung, die ganze Wahrheit für sich zu haben, nehmen sie es mit den einzelnen Wahrheiten nicht so genau und bringen ihre besserwissenden Gegner mit moralischer, notfalls auch mit physischer Gewalt zur Räson«65. Bei alledem weiß Horkheimer, wie wenig damit getan ist, angesichts dieses Zustands der Arbeiterbewegung nur an den guten Willen der Beteiligten zu appellieren. Er ist objektiv vermittelt. Daß die unmittelbar am Sozialismus Interessierten und diejenigen, die - potentiell wenigstens - über die zu seiner Herbeiführung notwendigen - theoretischen und politischen - Qualitäten verfügen, sich auf zwei einander bekämpfende Gruppen des Proletariats verteilen, liegt daran, daß »der Typus des tätigen Arbeiters .. . nicht mehr kennzeichnend [ist] für die, welche am dringendsten einer Änderung bedürfen. Es vereinigt vielmehr eine bestimmte untere Schicht der Arbeiterklasse ... immer ausschließlicher das Übel und die Unruhe des Bestehenden in sich. Diese . ..
am dringendsten an der Revolution interessierten Arbeitslosen besitzen aber nicht wie das Proletariat der Vorkriegszeit die Bildungsfähigkeit und Organisierbarkeit, das Klassenbewußtsein und die Zuverlässigkeit der in der Regel . . . in den kapitalistischen Betrieb Eingegliederten«66. Horkheimers soziologische Notizen zu den Weimarer Linksparteien sind in doppelter Hinsicht wichtig. Einmal belehren sie über den — prekären — politischen Ort auch der späteren Kritischen Theorie, zum anderen — das ist der umfassendere Aspekt — darüber, daß Sozialismus für Horkheimer von Anbeginn keine Frage der Sozialtechnik, sondern wesentlich eine sittliche Idee ist. Wie sich ein Gelehrter zu der geschichtlichen Aufgabe stellt, die Klassengesellschaft durch eine gerechtere Ordnung zu ersetzen, bezeichnet »den Grad seiner Moralität«67. Die »Verwirklichung des Sozialismus« ist für Horkheimer geradezu die »Form«, welche die Moral »in der Gegenwart angenommen hat«68, ohne daß deshalb die analytische Bedeutung des wissenschaftlichen Materialismus geschmälert würde. Um das gesellschaftlich Wünschenswerte zu erreichen, bedürfen die revolutionären Kräfte genauen Studiums der ökonomischen Verhältnisse. Nicht deren Selbstlauf freilich, sondern allein die durchdachte Aktion der heute Leidenden kann den besseren Zustand herbeiführen: »die ihr Sein selbst regelnde, rational organisierte sozialistische Gesellschaft«69. Der frühe Horkheimer ist von der objektiven Möglichkeit überzeugt, die Fremdherrschaft des Kapitals zu brechen und die vereinigten Individuen zu den Herren ihres Schicksals zu machen: »Wenn die Menschen ihren gesellschaftlichen Lebensprozeß bewußt in die Hand nähmen und an die Stelle des Kampfes kapitalistischer Konzerne eine klassenlose und planmäßig geleitete Wirtschaft setzten, dann könnten auch die Wirkungen des Produktionsprozesses auf ... ihre Beziehungen überschaut und reguliert werden.«70
Der Rekurs auf den letztlich moralischen Kern des Horkheimerschen Sozialismus lenkt unseren Blick abermals auf dessen (von Interpreten kaum wahrgenommenen) negativ-metaphysischen Hintergrund. Bleibt das materielle Universum taub für menschliches Hoffen und Leiden und gehört es vollends - wie Horkheimer unterstreicht - »zur primitivsten intellektuellen Klarheit und Wahrhaftigkeit des modernen Menschen«, völlig frei zu sein vom »Glauben an die Existenz einer von der Geschichte unabhängigen und sie doch bestimmenden Macht«71, so sind die Menschen auf sich selbst angewiesen. Wenn etwas sie motivieren kann, solidarisch zu handeln, Partei zu ergreifen für ihre besseren Möglichkeiten, dann die Tatsache ihrer Verlassenheit. Sie verbindet in Horkheimers Denken Schopenhauer mit Marx, den metaphysischen Materialismus mit dem ökonomischen. Auch die humane Praxis hat keinen absoluten, über Raum und Zeit hinausreichenden Sinn.72 — Ein spezielles Merkmal des frühen Aphorismen-Bandes ist noch zu erwähnen: die in ihm waltende Methode. Sie ist insofern hegelianisch, als sie das Allgemeine im besonderen Inhalt aufsucht und darstellt. Horkheimer begnügt sich nicht damit, den überkommenen Lehrgehalt des Marxismus bloß kommentierend vorzutragen. Er folgt darin Marx selbst, bei dem es heißt, die »wahre Theorie« müsse »innerhalb konkreter Zustände und an bestehenden Verhältnissen klargemacht und entwickelt wer-
den«73. Die »Zustände« und »Verhältnisse«, mit denen Horkheimer es zu tun hat, sind die des vorfaschistischen Deutschland. Zu ihnen gehören - überbauhaft — auch Begriffe wie »Metaphysik, Charakter, Moral, Persönlichkeit und Wert des Menschen«, auf die seine Notizen sich »immer wieder kritisch« beziehen und die, bei aller thematischen Vielfalt, eine gewisse »Einheitlichkeit«74 des Buches konstituieren. Freilich geht es Horkheimer weniger um die (fachphilosophisch neutral bleibende) Zergliederung jener Begriffe als darum, sie hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Genesis und Funktion zu untersuchen. Dabei fällt einiges ab zur Soziologie namentlich der geisteswissenschaftlichen Gelehrtenzunft dieser Periode, die den Marxismus teils vornehm totschwieg, teils akademisch einzugliedern suchte. Daneben enthält der Band Stücke anderer Art. Man könnte sie Beiträge zu einer materialistischen Analytik des Alltagslebens nennen. Ihr Verfahren ist das jener »zarten Empirie«, von der Goethe in seinen Maximen und Reflexionen schreibt, sie mache sich »mit dem Gegenstand innigst identisch« und werde »dadurch zur eigentlichen Theorie«75. Wird diese, wovon Horkheimer überzeugt ist, nicht durch die offizielle Bedeutsamkeit ihrer Objekte geadelt, sondern durch wahre Einsicht, so kann solche auch im soziographischen, genau beobachteten Detail stecken. Das Mienenspiel eines Mannes, der in Gegenwart eines anderen telefoniert, ist dann nicht weniger aufschlußreich für gesamtgesellschaftliche
Tendenzen als ein Gespräch im Salon oder der Argwohn eines Hotelportiers, der ein allzu reichliches Trinkgeld erhält. Horkheimers durchgängiges Thema ist »die Abhängigkeit der psychischen Reaktionen und der Bildung des Charakters« der Individuen von ihrer »materiellen Situation«76. Keineswegs bestreitet er biologisch vorgegebene Anlagen. Zahlreiche »Reaktionsnuancen« haften uns seit der Geburt an. »Aber der Horizont, der jedem von uns durch seine Funktion in der Gesellschaft vorgezeichnet ist, die Struktur der Grundinteressen, die uns durch unser Schicksal von Kindheit an aufgeprägt wird, läßt sicher nur in den seltensten Fällen eine relativ ungebrochene Entfaltung jener individuellen Anlagen zu. Diese Chance besteht um so mehr, je höher die soziale Schicht ist, in der einer das Licht der Welt erblickt. . .. Die Lust an billigen Vergnügungen, der bornierte Hang an kleinlichem Besitz, das hohle Gespräch über eigene Angelegenheiten, die komische Eitelkeit und Empfindsamkeit, kurz die ganze Armseligkeit der gedrückten Existenz brauchen sich dort nicht vorzufinden, wo die Macht dem Menschen einen Inhalt gibt und ihn entwickelt.«77 — Horkheimer verfügt schon in der Dämmerung über ein erstaunliches Sensorium für Soziales; er weist - kritisch - nach, wie sich die Tauschgesellschaft noch in den Bezirken der Innerlichkeit fortsetzt, wie sie einwandert in die subtilsten Verästelungen einer Freundschaft oder Liebe. Die Menschen sind komplizierte EchoApparate, die - zum Guten oder Schlechten - zurückspiegeln, was ihnen in der Welt widerfährt. Die Jahrzehnte von 1950 bis 1950 umfassen diejenigen beiden
Etappen der Entwicklung Horkheimers, die sein Bild wie das der von ihm begründeten Kritischen Theorie im Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit geprägt haben. Die eine - sie kann als vierte Etappe gelten — reicht von 1930, dem Jahr seiner Berufung auf den eigens für ihn geschaffenen Frankfurter sozialphilosophischen Lehrstuhl, bis 1940, dem Jahr seiner Übersiedlung von New York nach Kalifornien. In diese ungemein produktive Zeit fallen so wichtige Studien wie die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (1950), >Hegel und das Problem der Metaphysik< (1932), zuerst erschienen in der Festschrift für Grünberg, vor allem aber die großen Essays der Zeitschrift für Sozialforschung, von denen hier nur >Materialismus und Metaphysik< (1933), »Materialismus und Moral< (1933), Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie< (1935), »Egoismus und Freiheitsbewegung< (1936) sowie die programmatische Arbeit »Traditionelle und kritische Theorie< (1937) genannt seien. Ausgehend vom Gedanken einer — empirisch unterbauten — »Sozialphilosophie« gelangt Horkheimer in dieser Zeit zu einem spezifischen Begriff von »Sozialforschung« und von diesem schließlich zur schulbildenden Kritischen Theorie. Demgegenüber ist das Jahrzehnt von 1940 bis 1950, die Kriegsund Nachkriegszeit, gekennzeichnet einerseits durch inhaltlichsoziologische Studien über rassistische und ethnozentrische Vorurteile, Ideologien und Verhaltensweisen, andererseits durch negativ-geschichtsphilosophische Arbeiten wie Vernunft und Selbsterhaltung (1942) sowie, beide 1947 veröffentlicht, Eclipse of Reason und die (gemeinsam mit Adorno geschriebene) Dialektik der Aufklärung. Setzt Horkheimer noch während der dreißiger Jahre - bei aller Distanz zur kommunistischen Parteipolitik - die Kritische Theorie mit dem Lehrgebäude des »dialektischen Materialismus« gleich78, weiß er sich damals noch in einem theoriegeschichtlich verbürgten Rahmen79, so erweist sich ihm dieser während der fünften Etappe seines Wirkens als unzulänglich. An-
gesichts des »Widerspruch^] zwischen den handgreiflichen Interessen der Massen und der faschistischen Politik . .., für die sie sich enthusiastisch einspannen«80 lassen, wird es unabdingbar, die Kritische Theorie durchpsychoanalytischeKategorien anzureichern. Nicht, daß Freud vorher in Horkheimers Kreis vernachlässigt worden wäre. Schon die erste Nummer der Zeitschrift für Sozialforschung enthält einen größeren Artikel von Fromm über Methode und Aufgabe einer »analytischen Sozialpsychologie«. Aber erst jetzt rückt die »Wechselwirkung von Gesellschaft und Psychologie«81 wirklich ins Zentrum der Theorie. Primär freilich bleibt dabei der ökonomisch-soziale Druck: Freuds »Lebensnot«. Es geht nicht an, gesellschaftliche Antagonismen dadurch abzuschwächen, daß »man sie unvermittelt auf den Menschen, auf bloß inwendige Vorgänge reduziert«82. Jener Druck aber — darin konkretisiert Freud die Marxsche Lehre — pflanzt sich »in sozialpsychologischen unbewußten Prozessen« fort, »welche die Menschen dazu bringen«, ihn »auch noch zur eigenen Sache zu machen und den Verlust der Freiheit in Kauf zu nehmen«63. Mit der energischen Aufnahme Freudscher Einsichten in die (damit weniger starr vertretbare) materialistische Geschichtsauffassung geht in Horkheimers Denken während seiner kalifornischen Jahre zweierlei einher: die rigorose Kritik spätkapitalistischer Massenkultur und - sofern diese unter dem Diktat reflexionsloser Selbsterhaltung steht - eine gewisse, die Eigenständigkeit von Philosophie betreffende Korrektur an Marx. - Sicher: auch in den großen Traktaten der dreißiger Jahre betont Horkheimer, daß marxistische Gesellschaflslehre »über das Erbe des deutschen Idealismus hinaus das der Philosophie schlechthin« bewahrt; »sie ist nicht irgendeine Forschungshypothese, die im herrschenden Betrieb ihren Nutzen erweist, sondern ein unablösbares Moment der historischen Anstrengung, eine Welt zu schaffen, die den Bedürf-
nissen und Kräften der Menschen genügt. Bei aller Wechselwirkung zwischen der kritischen Theorie und den Fachwissenschaften . . . zielt sie nirgends bloß auf Vermehrung des Wissens als solchen ab, sondern auf die Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen. . . . Im Unterschied zum Betrieb der modernen Fachwissenschaft ist... die kritische Theorie ... auch als Kritik der Ökonomie philosophisch geblieben: ihren Inhalt bildet der Umschlag der die Wirtschaft durchherrschenden Begriffe in ihr Gegenteil, des gerechten Tauschs in die Vertiefung der sozialen Ungerechtigkeit, der freien Wirtschaft in die Herrschaft des Monopols ... Es handelt sich hier . .. um die geschichtliche Bewegung der Epoche, die zum Abschluß kommen soll«84. Das eigentlich Philosophische an der Marxschen Lehre erblickt Horkheimer zu dieser Zeit in keinem besonderen, von einzelwissenschaftlichen Inhalten völlig verschiedenen Objekt, sondern darin, daß »die Erkenntnis des historischen Verlaufs des Ganzen« ihr »treibende[s] Motiv«85 ist. Daß es einen solch strukturierten, begrifflich erfaßbaren Verlauf gibt, der einen geschichtlich höheren Zustand herbeiführt, wird damals, prinzipiell jedenfalls, von Horkheimer noch festgehalten. In der materialistischen Einheit von Wissenschaft und Philosophie kommt jener - unbeschadet der Absage an bloß deskriptiven Empirismus — letztlich doch der Vorrang zu.88 Philosophie ist für Horkheimer in dieser Periode nichts in sich Bestimmtes, sondern - wie bei Marx selbst - Moment der Kritik der politischen Ökonomie.87 Einen anderen Stellenwert (das wurde bereits angedeutet) beansprucht dagegen die Philosophie im späteren Denken Horkheimers. Ohne je ausdrücklich mit den Prämissen und Resultaten des Marxschen Kapitals zu brechen, mißtraut er immer mehr auch einer materialistisch konzipierten Stufenfolge der Weltgeschichte. Solange diese, schreibt er 1942, »ihren logischen Gang geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht« 88. Sie bleibt un-
beherrschtes Schicksal. Angesichts schwindender Chancen politisch eingreifender Praxis sowie wachsender Ohnmacht des Einzelnen gegenüber den kollektiven Mächten ändert sich wesentlich, was Horkheimer 1940 in einem Aufsatz gleichen Titels die »gesellschaftliche Funktion der Philosophie« nennt. Diese besteht zwar nach wie vor in der »Kritik des Bestehenden«89. Deren Rückbezug aber zur marxistischen Ökonomik ist unterdessen in seinem Denken merklich abgeblaßt. Philosophie, die dadurch ein höheres Maß an Eigenständigkeit gewinnt, als ihr der ursprünglich Marxsche Kontext einräumt, soll »verhindern, daß die Menschen sich an jene ... Verhaltensweisen verlieren, welche die Gesellschaft in ihrer jetzigen Organisation ihnen eingibt«90. Entsprechend heißt es in der Dialektik der Aufklärung, einer vollends philosophischen Schrift: »Das Bestehende zwingt die Menschen nicht bloß durch physische Gewalt und materielle Interessen, sondern durch übermächtige Suggestion. Philosophie ist nicht Synthese, Grundwissenschaft oder Dachwissenschaft, sondern die Anstrengung, der Suggestion zu widerstehen, die Entschlossenheit zur intellektuellen und wirklichen Freiheit. «91 Eine nähere Diskussion der zwischen 1930 und 1950 entstandenen
Schriften Horkheimers erübrigt sich hier92; sie war nur insoweit aufzunehmen, als sie zum besseren Verständnis der 1950 bis 1969 entstandenen Notizen beiträgt, die den Hauptteil des vorliegenden Bandes ausmachen. Auf ihren philosophischen Gehalt ist jetzt einzugehen. — Vergegenwärtigen wir uns zunächst die politischzeitgeschichtlichen und geistigen Bedingungen, unter denen sie niedergeschrieben wurden. Die wichtigsten Lebensdaten dieses Zeitabschnitts sind rasch genannt. 1950 nimmt das Frankfurter Institut unter Horkheimer, der von Los Angeles nach Deutschland zurückgekehrt ist, seine Arbeit wieder auf, ein Jahr später in einem neuen Gebäude. 1951 bis 1953 wirkt Horkheimer als Bektor der Frankfurter Universität, von 1954 bis 1959 als Gastprofessor an der University of Chicago. Seine Emeritierung erfolgt 1959. Er verläßt Frankfurt und lebt bis zu seinem Tode in Montagnola im Tessin. — Die politische Situation, die Horkheimer bei seiner Rückkehr vorfindet, ist die eines (bis weit in die sechziger Jahre) entschieden restaurativen Nachkriegsdeutschland, das wiederbewaffnet und eingegliedert ins atlantische Bündnis — schon aus geographischen Gründen zum wichtigsten Schauplatz des Kalten Krieges wird. Dem Westen steht in jenen Jahren schärfster Konfrontation eine aggressiv-stalinistische Ideologie und Militärmacht gegenüber. Der schon während der nationalsozialistischen Zeit brutal unterdrückte Marxismus stellt sich erheblichen Bevölkerungsteilen (einschließlich der organisierten Arbeiterschaft), die ihn mit dem russischen System gleichsetzen, weiterhin als indiskutabel dar. Unter diesen Umständen kann es sich für den Kreis um Horkheimer nicht länger darum handeln, auf der (bereits vorher prekären, jetzt aber vollends fragwürdig werdenden) Einheit von kritischer Analyse und revolutionärem Handeln zu beharren. Der geschichtliche Ort von Theorie hat sich geändert; unmittelbarer Nutzeffekt macht sie verdächtig. »Aktion um der Aktion willen«,
schreibt Horkheimer 1946, »ist dem Denken um des Denkens willen keineswegs überlegen«.93 Seine im selben Jahr ausgesprochene Erwartung, wenigstens die demokratischen Völker würden nach ihrem Waffensieg über die Barbarei »die Prinzipien der Humanität, in deren Namen die Opfer des Krieges gebracht wurden, ausarbeiten und in Praxis überführen«04, erfüllt sich nicht. Schon damals ist ihm die Problematik modernen Fortschritts bewußt, die nach Kriegsende sein großes geschichtsphilosophisches Thema werden sollte: »Deutlich scheint, selbst mit der Erweiterung des Denkund Handlungshorizonts durch das technische Wissen, die Autonomie des Einzelsubjekts, sein Vermögen, dem anwachsenden Apparat der Massenmanipulation zu widerstehen, die Kraft seiner Phantasie, sein unabhängiges Urteil zurückzugehen. . . . Der Fortschritt droht das Ziel zunichte zu machen, das er verwirklichen soll — die Idee des Menschen.«95 In Anbetracht dessen wird die — sozialphilosophisch begründete — soziologische Forschung und Lehre zu dem (verglichen mit dem älteren Ansatz) bescheideneren Versuch, die tiefgreifenden anthropologischen Veränderungen zu erfassen und die Individuen zu wappnen gegen wahnhaftes, vorurteilsvolles Denken und Verhalten. Sie trägt so zur Mündigkeit politisch aufgeklärter Menschen bei, die eine gerechtere, vernünftig eingerichtete Welt anstreben. Dazu aber bedarf es, wie Horkheimer 1951 anläßlich der Wiedereröffnung des Frankfurter Instituts abermals unterstreicht, der »Verbindung großer Gesichtspunkte mit verantwortlicher strenger Arbeit im einzelnen«96. Verweilen wir etwas bei Horkheimers programmatischen Ideen, die den Geist widerspiegeln, in dem er seine akademische Tätigkeit im Deutschland der fünfziger Jahre aufnimmt. »Wir sehen in der Sozialwissenschaft«, heißt es hier, »ein Element jenes aktuellen Humanismus, mit dessen Ent-
faltung die Frage nach der Zukunft der Menschheit heute verbunden ist. ... Der Student moderner Soziologie erfährt die Gründe für die Meinung der anderen, für das unterschiedene Verhalten der anderen Nation und Religion und Politik. Echte Liberalität ist ein Produkt der Einsicht. Wer soziologisch gebildet ist, neigt wenig dazu, sich von einem totalitären Propagandaapparat gegen den Rest der Welt verblenden zu lassen. .. . Gesellschaftliche Einsicht ist aber ... nicht mit... Relativismus zu verwechseln . .. Seit je hat der Geist, dem es wirklich um.. . das Ganze ging, den Fluß, die Verstrickung und Bedingtheit der endlichen Momente . . . erforscht. ... Wenn ich von den großen Gesichtspunkten gesprochen habe, die mit der Einzelarbeit sich verbinden müssen, so meine ich, daß in ... der soziologischen Haltung.. . immer eine Intention steckt, die die Gesellschaft, wie sie ist, transzendiert. . . . Eine gewisse kritische Haltung.. . gehört sozusagen zum Beruf des Theoretikers der Gesellschaft, und eben dieses Kritische, das aus dem Positivsten, was es gibt, der Hoffnung, fließt, macht den Soziologen unpopulär. Den Studenten dazu zu erziehen, diese Spannung zum Bestehenden . . . zu ertragen, ihn im echten Sinn sozial zu machen - was einschließt, daß er auch ertragen können muß, allein zu stehen - ist vielleicht das . .. letzte Ziel der Bildung, wie wir sie auffassen.«87 Gesichtspunkte, die für Horkheimer verbindlich bleiben. Vermehrt und modifiziert werden sie, zumal während der sechziger Jahre, durch ein wichtiges Moment, das seine Spätphilosophie zurückbezieht auf die frühen Novellen und Tagebuchblätter: die ausdrückliche Aufnahme Schopenhauers in die Kritische Theorie. Vorher ist die Willensmetaphysik — als ein Stück westeuropäischer Aufklärung - in Horkheimers Schriften gleichsam untergründig präsent.98 Jetzt dagegen widmet er ihr eine Reihe positiver, auf Vorträge zurückgehender Studien. 1955 erscheint >Schopenhauer und die Gesellschaft', 1961 >Die Aktualität Schopenhauers<, 1967
>Religion und Philosophie< 1971 >Pessimismus heute< und 1972 Bemerkungen zu Schopenhauers Denken im Verhältnis zu Wissenschaft und Religion<." Schopenhauers Größe erblickt Horkheimer — gerade als Soziologe — in seinem strengen »Nominalismus gegenüber der Gesellschaft«100. Wie »in der Natur«, heißt es in der Welt als Wille und Vorstellung, »nur die Species real, die genera bloße Abstraktionen sind, so sind im Menschengeschlecht nur die Individuen und ihr Lebenslauf real, die Völker und ihr Leben bloße Abstraktionen«101. Schopenhauer verwirft den Mythos der Nation, das gewalttätige, den Einzelnen mißachtende Kollektiv. Jenem, seinem Glücksverlangen und Leiden, gilt das unbeirrbare Interesse der Schopenhauerschen Philosophie, obwohl (und gerade weil) sie andererseits lehrt, daß wir dem Schleier der Maja unterliegen: Raum und Zeit, die das principium individuationis bilden, sind subjektiv; sie gehören nicht dem Ding an sich an, weshalb sich die Vielheit der rastlos umgetriebenen Menschen (wie der Dinge überhaupt) als leerer Schein erweist. Was Schopenhauer erkenntniskritisch-metaphysisch ausspricht: die Nichtigkeit des Individuums, wird Horkheimer zufolge vom jüngsten Gang der Geschichte ratifiziert: »Was in der gegenwärtigen Periode sich ereignet, der Rückgang sozialer Bedeutung des Einzelnen, seine zunehmende Ersetzbarkeit, ist nach Schopenhauers Philosophie konsequent; jedenfalls wird die Lehre von der Verkehrtheit der Angst vor dem Tod, der Eitelkeit des Daseins menschlichen Ichs,
dadurch bestätigt. . .. Seit Schopenhauer hat der Pessimismus durch die soziale Entwicklung noch weitere Gründe gefunden. Das Schicksal des Einzelnen, das im Leben wie im Tode ein höchst wichtiges Thema der Philosophie, und erst recht der Theologie, gebildet hatte, verliert nicht nur im Jenseits, sondern in der schlichten Wirklichkeit seine Bedeutung. Je rationaler, je gerechter die Gesellschaft funktioniert, desto mehr ist jeder ersetzbar, desto weniger differenziert ist seine Individualität. Die innere Logik der Geschichte weist nicht bloß auf Abschaffung der Klassenunterschiede, sondern auch der Unterschiede zwischen den durchs Kollektiv bestimmten Einzelnen. «102 Was unterdessen geschehen ist, würde in Horkheimers Optik einen weit radikaleren Pessimismus als den Schopenhauers rechtfertigen. Der (christlichem Glauben verwandte) Trost seiner Philosophie, die Rückkehr jener, die ihren egoistischen, blind vitalen Drang verneinen, in die unterschiedslose Einheit des Weltwillens sei »eine Art Erlösung«103, ist noch zu affirmativ. »Einzig bleibt« - darin besteht der Grundgedanke des späten Horkheimer — »die durch den Fortschritt selbst gefährdete Sehnsucht, die den vom Elend der Vergangenheit, dem Unrecht der Gegenwart und der Aussicht auf eine des geistigen Sinns entbehrende Zukunft wissenden Menschen gemeinsam ist. Sie könnte .. . eine Solidarität begründen, die, in undogmatisch«* Weise, theologische Momente in sich enthält. Mit ihrer letztlich negativen Haltung verbände sich, was ... als >Kritische Theorie< bekannt ist. Die durch ihre Sehnsucht Verbundenen vermöchten über ein Absolutes, Intelligibles, über Gott und Erlösung nichts auszusagen, das Wissen . . . nicht als absolute Wahrheit zu verkünden, jedoch... zu bezeichnen, was im Angesicht des, wenn auch teuer zu bezahlenden so doch notwendigen Fortschritts, zwecks Minderung des Leidens zu verändern oder zu bewahren ist. Mit theoretischem Pessimismus könnte eine... Praxis sich verbinden, die, des universalen Schlechten eingedenk, das Mögliche trotz allem zu verbessern sucht. Ihr eigenes Urteil über Gut und Schlecht wird den in jener Solidarität Tätigen nicht als absolute Wahrheit gelten. Der Relativität des eigenen Urteils,
soweit es nicht auf Feststellung von Fakten sich beschränkt, sind sie sich stets bewußt.«101 Von dieser bescheidenen, aber humanen Perspektive: analytisch an Marx, metaphysisch an Schopenhauer orientiert und beide überschreitend, hat eine präzise Interpretation der - häufig mißverstandenen - Spätphilosophie Horkheimers auszugehen. Sie ist kein unvermittelter Bruch mit den vorangehenden Stufen seines Denkens, eher deren dialektische Aufhebung. Beunruhigt von dem - wahrlich begründbaren - Zweifel, »ob nicht das Reich der Freiheit, einmal verwirklicht, sich notwendig als sein Gegenteil, die Automatisierung der Gesellschaft wie des menschlichen Verhaltens, erweisen müßte«, versucht Horkheimer, die heutige Weltlage »im Bewußtsein solchen Zwiespalts zu reflektieren, ohne den Gedanken an das Andre preiszugeben«103. Das fraglos aufschlußreichste Dokument der Horkheimerschen Spätphilosophie bilden die Notizen im vorliegenden Band. Sie enthalten ein sachlich Neues - keine Nachlese oder bloße Ergänzung der älteren oder gleichzeitig entstandenen, bereits publizierten Schriften.106 Obwohl sie nach Inhalt und Sprachgestik in manchem an die auf eine »dialektische Anthropologie« abzielen-
den Aufzeichnungen und Entwürfe im letzten Teil der Dialektik der Aufklärung anknüpfen107, offenbart sich hier eine qualitativ andere, bisher gleichsam subkutane Schicht des Horkheimerschen Werks. Unwillkürlich kommt einem beim Lesen der Notizen Nietzsches Satz aus Jenseits von Gut und Böse in den Sinn, jede kodifizierte Philosophie sei notwendig » Vordergrunds-Philosophie «, verberge stets »auch eine Philosophie«: eine »umfänglichere, fremdere, reichere Welt«, einen »Abgrund hinter jedem Grunde, unter jeder >Begründung<«108. In der Tat nehmen sich im Licht der Notizen allgemein rezipierte Stücke der Philosophie Horkheimers, die man — abermals mit Nietzsche gesprochen — für seine »letzten und eigentlichen« Ansichten hielt, einigermaßen vordergründig aus. Neben den während der fünfziger und sechziger Jahre veröffentlichten Schriften vertraute Horkheimer - was jetzt zutage tritt - seinen Notizbüchern Gedanken an, deren Bestimmtheit und Radikalität ihresgleichen suchen. Nirgendwo opfert Horkheimer die Genauigkeit philosophischen Ausdrucks stilistischer Glätte. Lieber noch nimmt er Sprödheiten und syntaktische Schwierigkeiten in Kauf. Seine Aphorismen' sind keine leicht verdauliche Kost; sie bedürfen geduldiger und sorgsamer Lektüre. Wenn im folgenden versucht wird, in die inhaltliche Diskussion der Notizen einzutreten, so kann es sich beim Reichtum der Motive allenfalls darum handeln, ihren Ort im Horkheimerschen Gesamtwerk nach Identität und Differenz zu bezeichnen: wenige Fingerzeige müssen dabei genügen. Abgerundete Systematik wäre verfehlt. Wohl werden Horkheimers Reflexionen durch die gemeinsame Tendenz zusammengehalten, dem negativen Weltlauf zu widerstehen. Das rechtfertigt aber keineswegs Bestrebungen, sie zu einem fertigen, schlicht referierbaren »Standpunkt« zu verfestigen. Was Horkheimers essayistische Arbeiten stets hervorgehoben haben: daß der Erkenntnisprozeß prinzipiell unabschließbar
ist und Wahrheit einen Zeitkern hat; daß weder Objekt noch Subjekt der Erkenntnis einheitlich-geistig strukturiert sind: all diese Momente kehren eigenartig verschärft — auch durch die aphoristische Form im vorliegenden Buch wieder. Gnadenlos kritisch, versagen sich Horkheimers Notizen jede Arglosigkeit. Es gehört zu der von ihnen erreichten Stufe des Bewußtseins, daß ihr Autor, anderswo noch bereit, dem Akt des Philosophierens einige geschichtliche Substantialitat zuzubilligen, jetzt weit skeptischer urteilt. Philosophie, wie »tief oder gewitzigt« sie sei, klingt »ein wenig albern«. Selbst Nietzsche gelingt es nicht, dem zu entgehen. »Was ihm am System verdächtig erschien«, schreibt Horkheimer, »haftet auch seinen eigenen Gedanken noch an. Die .. . elegante Verhaltenheit. .. bewahrt ihn .. . nicht davor, so viel Unbeherrschtheit zu zeigen, daß er über Gott und Welt und seine Schmerzen redet. Der Weltmann hält sich an Golf, vom Geschäft redet er selten, und Philosophie ist... schon auf dem Weg, zur Weltdeutung für Mittelständler zu werden und schließlich in den Buden der Volksfeste anzulangen, wie die Astrologie. Wenn es um die Wahrheit geht, ist. . . jedes Wort. . . redselige Klage, stets unangebracht. «109 Kein Wunder, daß moderne Philosophen häufig versucht sind, der »gesunden Wissenschaft« nachzueifern, »bietet doch ihr Betrieb mit den festen, dem Beherrschungszweck angepaßten Maßstäben ... verlockende Sicherheit«; in der wissenschaftlichen Welt bringen »Ingeniosität, Fleiß und Gesundheit Erfolg«110, während Philosophie dem Verdacht ausgesetzt bleibt, bloße Privatmeinung zu sein. Ihre Schwäche besteht darin, daß sie - Erbin der theologischen Idee ewiger Seligkeit - auf Wahrheit abzielt, »die nicht nur keinem Zweck im handfesten Sinn, sondern nicht einmal der Ordnung und Verfügbarkeit erworbenen Wissens dient«111. Auch auf die Kraft bestimmter Negation, der die Dialektik der Aufklärung noch vertraut, ist kein Verlaß. Hegel hat recht, wenn er sagt, »ein negierter Gedanke« werde zum »inhalierenden Moment eines ... reicheren geistigen Gebildes«112. Vermag dieses jedoch
ist und Wahrheit einen Zeitkern hat; daß weder Objekt noch Subjekt der Erkenntnis einheitlich-geistig strukturiert sind: all diese Momente kehren eigenartig verschärft — auch durch die aphoristische Form im vorliegenden Buch wieder. Gnadenlos kritisch, versagen sich Horkheimers Notizen jede Arglosigkeit. Es gehört zu der von ihnen erreichten Stufe des Bewußtseins, daß ihr Autor, anderswo noch bereit, dem Akt des Philosophierens einige geschichtliche Substantialität zuzubilligen, jetzt weit skeptischer urteilt. Philosophie, wie »tief oder gewitzigt« sie sei, klingt »ein wenig albern«. Selbst Nietzsche gelingt es nicht, dem zu entgehen. »Was ihm am System verdächtig erschien«, schreibt Horkheimer, »haftet auch seinen eigenen Gedanken noch an. Die .. . elegante Verhaltenheit. . . bewahrt ihn . . . nicht davor, so viel Unbeherrschtheit zu zeigen, daß er über Gott und Welt und seine Schmerzen redet. Der Weltmann hält sich an Golf, vom Geschäft redet er selten, und Philosophie ist.. . schon auf dem Weg, zur Weltdeutung für Mittelständler zu werden und schließlich in den Buden der Volksfeste anzulangen, wie die Astrologie. Wenn es um die Wahrheit geht, ist. . . jedes Wort. . . redselige Klage, stets unangebracht.«109 Kein Wunder, daß moderne Philosophen häufig versucht sind, der »gesunden Wissenschaft« nachzueifern, »bietet doch ihr Betrieb mit den festen, dem Beherrschungszweck angepaßten Maßstäben ... verlockende Sicherheit«; in der wissenschaftlichen Welt bringen »Ingeniosität, Fleiß und Gesundheit Erfolg«110, während Philosophie dem Verdacht ausgesetzt bleibt, bloße Privatmeinung zu sein. Ihre Schwäche besteht darin, daß sie — Erbin der theologischen Idee ewiger Seligkeit - auf Wahrheit abzielt, »die nicht nur keinem Zweck im handfesten Sinn, sondern nicht einmal der Ordnung und Verfügbarkeit erworbenen Wissens dient«111. Auch auf die Kraft bestimmter Negation, der die Dialektik der Aufklärung noch vertraut, ist kein Verlaß. Hegel hat recht, wenn er sagt, »ein negierter Gedanke« werde zum »inhärierenden Moment eines . . . reicheren geistigen Gebildes«112. Vermag dieses jedoch
sich an der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit nicht auszuweisen, so besteht keinerlei Gewähr, »daß es mehr sei als der ursprünglich negierte Gedanke selbst«113. Wie Adornos Negative Dialektik bezweifelt auch der späte Horkheimer, daß die Negation der Negation automatisch ein Positives ergibt. Was bleibt, ist ihm zufolge »die Einsicht in die Ohnmacht alles Geistigen, dem die Macht zuwenig ist — das ist die Wahrheit, und an dieser Stelle berühren sich Materialismus und ernsthafte Theologie. Und deshalb sind die wahren Philosophen heute gegen die Philosophie«114. Aber - beeilt Horkheimer sich hinzuzufügen — selbst diese Einsicht ist als solche eitel; es sei denn, sie gilt als real verifizierbare Feststellung: »Dann ist sie Erkenntnis so gut wie das Gravitationsgesetz.«115 Philosophie, die im Zeitalter des deutschen Idealismus ihren höchsten Ehrgeiz darin sah, öffentlich und welthaltig zu sein, die großen geschichtlichen Interessen einer aufsteigenden Klasse auf ihren objektiven Begriff zu bringen, fühlt sich heute wieder, wie der junge Marx die nachklassischen Denker des Altertums interpretiert, angezogen vom »Lampenlicht des Privaten«, das der »Nachtschmetterling« aufsucht, »wenn die allgemeine Sonne untergegangen ist«116. - »Wir treten«, sagt Horkheimer, »im Untergang dieser Zivilisation, in die Phase ein, in der dem zeitgemäßen Philosophieren nur die Privatsphäre bleibt: Lust und Unlust abschätzen, wie die römischen Stoiker, Kyniker, Kyrenaiker. Mit den Systemen ist es aus, ja mit allen großen Gedanken.«117 Philosophie hat, im Hegeischen Sinn, ihre Substantialität eingebüßt. Das ahnen junge Menschen, die »schon zu sehr mit technischer Erfahrung gesättigt« sind, »um in Philosophie mehr als eine sympathische Illusion ... zu verspüren«118. Leere Skepsis freilich ist so wenig hilfreich wie religiöse Positivität: »Es gibt eine andere Konsequenz: das Schweigen. Was immer gesagt wird, ist nicht gesagt, denn der es vernehmen soll, der Nichtendliche, vernimmt es nicht. Die Men-
sehen, zu denen wir sprechen, sind bloß Gegenstände, die wir in Bewegung setzen, mit Worten wie mit Armen, Waffen und Maschinen. Philosophie . . . sieht vom Sprecher und Hörer ab und setzt sich selber absolut. .. . Sprache, die Wahrheit sein will, ist plapperndes Schweigen .. . Deshalb ist nichts wahr. Nicht einmal, daß wir in der Nacht sind, ist wahr, nicht einmal, daß es nicht wahr ist... und das Aufspreizen der Verneinung und Versagung zur Philosophie, . . . der logische Positivismus, der aus der Not eine mathematische Tugend macht, lebt vom Scheine dessen, das zu leugnen ihr einziger Inhalt ist. «119 Formulierungen, die sich mit den exponiertesten Stellen im Werk Nietzsches messen können. Auf sie war zunächst zu verweisen, um keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, in welchem Maße Horkheimers Spätwerk — ohne deshalb szientistisch oder kirchlichtheologisch abzudanken — den Akt und geschichtlichen Ort gegenwärtigen Philosophierens problematisiert. Gleichwohl enthält vorliegender Band — in großartigem Widerspruch zu seinen grundsätzlichen Erwägungen - eine Fülle einzelner, philosophisch weitertreibender Gedanken. Ihnen wenden wir uns jetzt zu. Kritik am Positivismus bezieht sich bei Horkheimer nie bloß auf die Verabsolutierung der im vorgegebenen sozialen Rahmen geltenden wissenschaftlichen Methodik, sondern ebensosehr auf das alltägliche, jenem Rahmen verhaftete Bewußtsein der Menschen. Die Notizen leiten die spezifische Gestalt des westlichen Positivismus nach dem Zweiten Weltkrieg aus einer längerfristigen Konjunktur ab, welche Herrschende wie Arbeiter auf das Bestehende vereidigte; philosophisch beflügelte Phantasie wird damit kraftlos. Die radikalen Intellektuellen erweisen sich als »Wegweiser, die im Dunkel ihre Schutzbefohlenen längst verloren haben und sich einreden, das liege an jenen«120. Dabei stammt das allerorts festzustellende »Genügen an dem, was ist,. .. nicht bloß aus dem lahmen Willen, sondern« - mehr noch - »aus dem Gefühl, daß dahinter nichts mehr kommt, wenigstens nichts, das von einem selbst abhängt«121. Mit dem unwiderruflichen Ende europäisch be-
stimmter Geschichte wird der Positivismus - gleichviel, wie gründlich seine innertheoretische Kritik ausfällt - zur immanenten »Wahrheit« des Zeitalters: »Alle Begriffe, die sich nicht auf Fakten reduzieren lassen, sind bedeutungslos.«122 Damit ist weniger ein beschränktes Denken als die Realität getroffen, deren Widerschein es ist. Was die marxistisch übliche Polemik gegen fetischisierte Tatsachen betrifft: das Beharren auf der historisch-gesellschaftlichen Vermitteltheit menschlicher oder außermenschlicher Befunde, so erinnert Horkheimer mit Recht daran, wie wenig dem fortgeschrittensten (sich nicht einmal mehr so nennenden) Positivismus daran liegt, »die >facts< im ontologischen Sinn als ursprünglich auszugeben, . . . er versteht sich als Hilfswissenschaft und läßt die absolute Wahrheit dort, wo Nietzsche sie hingeworfen hat«123. Bedenklich am Positivismus ist weniger sein Wahrheitsmoment, das Funktionieren des falschen Weltzustands angemessen auszudrücken. Sein wirklich gravierender Mangel ist es, sich eben darin wohl und bestätigt zu fühlen, sich — wie Horkheimer sagt — »über sich selbst nicht aufzuregen, sondern im stillen mit der Theologie die Überzeugung zu teilen, daß man eben positiv sein müsse. Die Theologie sagt: am Ende steht die Gerechtigkeit, der Positivismus: es wird besser und besser. So finden sich beide mit dem Bestehenden ab«124. Wer dagegen, dialektisch argumentierend, die geschichtliche, was allemal heißt: subjektive Vermitteltheit des Tatsächlichen hervorhebt, »nimmt« — ungewollt altmodisch — »die Theologie ernst zu einer Zeit, da deren eigene Anhänger — auch hier zusammen mit den Positivisten — die Religion als Element der funktionierenden Wirtschaft stillschweigend durchschaut haben«125. Breiten Raum widmet Horkheimer dem durch Religion und Theologie bezeichneten Problemkreis. Ein Aspekt seiner Spätphiloso-
phie, der noch unlängst erhebliche Mißverständnisse und Polemiken veranlaßte. Zeitgenössischem Bewußtsein, welchem der Atheismus, den zu verfechten einmal unbeschreiblichen Mut erforderte, zur simplen Selbstverständlichkeit geworden ist, mochten Horkheimers - überaus vorsichtige - Erwägungen sensationell erscheinen. Beflissene Publizistik stellte die Situation so dar, als habe der Begründer der Kritischen Theorie sein Lebenswerk an positive Religiosität verraten. Demgegenüber sind die Notizen (besser als mündliche Auskünfte des späten Horkheimer) geeignet, wenn nicht den heiklen Punkt zu klären, so doch die gröbsten Fehlurteile zu entkräften. Horkheimers Religionskritik läßt das Schema gängiger Aufklärung insofern hinter sich, als sie — absehend von der These, Religionen seien Herrschaftsinstrumente — argwöhnt, daß jene »als Gängelbänder ursprünglich schon gemeint waren«126. Den unbefangenen Betrachter jedenfalls »überrascht.. . der tiefe Pragmatismus im Kern der Weltreligionen, die Illusionslosigkeit, die — bei aller Verschiedenheit der Legenden und kultischen Apparaturen die Weltreligionen zu Gebilden macht, die sich zum Verwechseln ähnlich sind. Im Grunde sind sie alle schon so synthetisch, gekünstelt, manipulatorisch wie die kitschigen Sekten ä la Christian Science«127. - Daß heute auch der »ehrlichste Anhänger die Religion pragmatisch nimmt«128, bestätigt Horkheimers Verdacht. Andererseits enthalten die Notizen erstaunliche Sätze wie diese: »Ich traure dem Aberglauben vom Jenseits nach, weil die Gesellschaft, die ohne ihn auskommt, mit jedem Schritt, mit dem sie dem Paradies auf Erden näherrückt, von dem Traum sich entfernt, der die Erde erträglich macht. Im Genuß, im emphatischen Sinn war die Erinnerung ans Paradies noch gegenwärtig.«129 — Auch darin seinem Freunde Adorno verbunden, zieht Horkheimer die alte, heute von gewitzigten Geistlichen supranaturalistisch gescholtene, in Wahrheit der Sehnsucht nach stofflich erfülltem Glück nähere Dogmatik der modernen, oft hohleren Theologie vor. So hat sich, kraft der (wie immer problematischen) Vorstellung,
die Seele sei unsterblich, in der Geschichte Europas »über das Christentum der Gedanke der absoluten Bedeutung des einzelnen Menschen durchgesetzt. ... Aus der Idee des ewigen Gottes folgte das ewige Schicksal jedes seiner Kinder. Daß die Konsequenz auch wirklich ins Bewußtsein trat, . . . liegt an... der freilich vom Christentum nicht ganz loszulösenden spezifisch europäischen.. . Technik ... und Ökonomie, die das frei wirtschaftende Subjekt in Gestalt des Unternehmers und die . . bürgerliche Form der Gesellschaft hervorbrachte«130. Mit dem Übergang vom liberalistischen zum monopolistischen Zeitalter verblaßt der ursprünglich christliche Gedanke von der unendlichen Bedeutsamkeit des Einzelnen. Er wird, wie die bürgerliche Kultur insgesamt, liquidiert, nicht - im Sinn von Marx - dialektisch im geschichtlich Höheren aufgehoben. Dieses bestünde, nach Horkheimer, in einem Bewußtsein, »das unter Realisierung der Vergänglichkeit des individuellen Subjekts an dessen Einzigkeit festhielte und eine Gesellschaft entfaltete, in der trotz seiner Nichtigkeit der Einzelne den Zweck des Ganzen bildete, dem zu dienen eben darum für ihn sinnvoll wäre. Dann hätte die Exaltation des Individuums im Mythos der Seele nachträglich sich geschichtlich ausgewiesen, etwa wie das Totem, das überhöhte Bild des Tiers in der Bewältigung der Tiere«131. Man sieht: Horkheimers Verhältnis zum Theologischen ist weit komplexer, gebrochener, als häufig angenommen wird. Er macht sich nichts vor hinsichtlich der wissenschaftlichen wie lebenspraktischen Fragwürdigkeit, j a Unhaltbarkeit der — streng weltfeindlich verstandenen — theologischen Tradition, spricht jedoch zugleich — weder schönfärberisch noch zynisch — die nihilistischen Konzequenzen der Massenkultur aus. Wer (wenn auch noch so distanziert von Kirchlichem) an jener Tradition festhält, muß Horkheimer zufolge »die Aufrichtigkeit besitzen, den Gegensatz solcher Treue nicht bloß zur Wissenschaft, sondern zum realitätsgerechten Denken schlechthin einzugestehen«132. Das erklärt die an Nietzsches Freund Overbeck gemahnende
Schroffheit, mit der Horkheimer jedes kompromißlerische Bündnis der Theologie mit der infamen Welt anprangert. Daher auch seine Kritik an modernen — völlig geschichtswidrigen — Versuchen, Religion als »ein Festes«133 zu konservieren, wobei man voraussetzt, man könne ohne weiteres zu ihr »zurückkehren«. An der heute zumeist als Mittel sozialer Kontrolle benutzten Religion »wird offenbar, was einmal in ihr war, die Sehnsucht nach dem Anderen, an dem das Diesseits sich als das Schlechte erwies«134. Sicher: früh schon tendierte Religion als etablierte Macht dazu, den »ihr innewohnenden Widerspruch« zum Bestehenden zu entschärfen. Aber sie »mußte ihn . . . zugleich bewahren, bis er als Theismus und Atheismus der Aufklärung die Gestalt der Religion abstreifte und einer anderen Form gesellschaftlichen Lebens zur Existenz verhalf. Der Widerspruch zielte, bedingt durch die Natur.. ., doch über . . . Natur hinaus, auf die gerechte . . . Ordnung; daß die vorhandene schlechtere ihn als berechtigten erweckte und ihm zugleich die Erfüllung versagte, gab ihm ... produktive Kraft. Diese Kraft ist im Westen erlahmt. . . . Anstatt die Aufklärung, in welche . .. Religion übergegangen war, mit vollem Bewußtsein durchzuführen, die trügerische Freiheit der Revolution zur Gerechtigkeit voranzutreiben, hat die westliche Gesellschaft resigniert. Die Rückkehr zur Religion meint nicht, daß sie wieder an den Himmel glaubt, sondern daß es ihr zur besseren Einrichtung der Erde an Glauben gebricht, daß sie nichts mehr will als sich selbst. Sich in ein Höheres zu verwandeln, . . . überhaupt sich selbst in einem Anderen zu wollen, diese Substanz der Religion hat die Gesellschaft verloren«185. - Die opportunistische, auf bloßes Überwintern abzielende Theologie, radikalem Jenseitsglauben ebenso entfremdet wie einer realen geschichtlichen, sie transformierenden Aufgabe, muß vergehen. Es scheint, als sei die Stunde ihrer Bewahrung durch Negation endgültig versäumt. Freilich (das verbindet sie abermals mit Adornos Spätwerk) sind die Notizen auch des Begriffs der Dialektik - selbst der materialistischen — keineswegs mehr sicher. Alle Dialektik, sagt Hork-
heimer, beruht auf einem »einzigen, fundamentalen Widerspruch«, womit »jeder bestimmte Widerspruch im Gang der Entwicklung« zur »Gestalt dieses... entscheidenden Widerspruchs« wird. — »Es ist der zwischen Wahrheit und Erfüllung.«136 Nicht allein die innerhalb des Hegeischen Horizonts diskutierbaren Fragen sind letztlich bezogen auf diesen Widerspruch. Auch der für Horkheimers Aufsätze der dreißiger Jahre so entscheidende Differenzpunkt von Idealismus und Materialismus: die Abgeschlossenheit oder Unabgeschlossenheit des dialektischen Prozesses, erscheint ihm jetzt problematisch. Hegels gesamtes System soll als Denkvollzug — die Frage beantworten, ob »das Absolute mit dem Ziel der Sehnsucht aller Wesen, das Gute mit der Utopie zusammenstimme«137. Im Grunde ist sie identitätsphilosophisch vorentschieden; »das Hegeische System geht von der« — christlichen — »Hypothese aus, daß die Versöhnung gewiß . . ., daß das Sein zugleich gut sei«138. Selbst Marx, obwohl Atheist und Gegner Hegels, steht noch im Bann geschichtstheologischer Prämissen. Das geheime »Apriori seines Denkens« ist »die Einheit von theoretischer Einsicht und ihrer politischen Anwendung - oder vielmehr die Gewißheit der Anwendbarkeit«139. Weniger denn je des glücklichen Ausgangs der historischen Dialektik: realer Versöhnung der Menschen mit ihrer und der äußeren Natur sicher, scheint uns »die ganze Anstrengung des Denkens« vergeblich. »Damit aber« — das ist Horkheimers kantianische Pointe — »sind wir dem Begriff der verfemten >unendlichen Auf gabe< verdächtig nahegerückt. Hätte Hegel« — so fragt er — »vielleicht nur mit dem Gewaltstreich jener >Hypothese< seine Folgerichtigkeit erkauft, so daß am Ende das ehrliche >Postulat< und die regulative Idee unserer Lage angemessenere Ausdrücke wären als der mit sich versöhnte Begriff?«140 Überhaupt spielt Kant (weniger als Vorläufer Fichtes und Hegels denn als Verfechter einer »kritizistischen« Grenze von Erkenntnis) eine wichtige Rolle in Horkheimers Notizen. Diese lösen sich vielfach vom deutsch-spekulativen Hintergrund seiner mittleren
Schriften und betonen skeptisch-erkenntniskritische und naturalistische Momente der westeuropäischen Aufklärung.141 Was die damit einhergehende Interpretation Kants betrifft, so konkretisiert sie frühere Versuche Horkheimers, den Grundgedanken des transzendentalen Idealismus: die »Abhängigkeit« der Form des vom individuellen Bewußtsein objektiv Erfahrenen von überindividueller Subjektivität materialistisch zu dechiffrieren.142 Dabei sind zwei — auch im Horkheimerschen Spätwerk nicht völlig miteinander verträgliche - Weisen solcher Kant-Interpretation zu unterscheiden. Anthropologisch gerichtet, geben beide die »Reinheit« des Transzendentalen auf. Kants Kritizismus stellt sich so als noch abstrakte, empirischer Korrektur bedürftige Vorstufe einer materialistischen Konstitutionslehre dar. Diese zielt darauf ab, den Gedanken »subjektiver« Vermitteltheit der Welt des naiven Realismus gegen seine ursprünglich idealistische Fassung durchzuhalten. Sie sucht den materialistischen Inhalt einer idealistisch gewonnenen Einsicht zu retten.143 Die beiden Versionen, in denen die revidierte Konstitutionslehre in Horkheimers Notizen auftaucht, haben eine ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichende Vorgeschichte. Die eine - ihre Begründer sind Marx und Engels - übersetzt die den gegebenen Stoff formierenden, eine kohärente Gegenstands-
rierend — in ihr Material stets schon eingegangenen Momente Rechenschaft ablegen. Horkheimer denkt dabei wiederum ans Grundschema »der jeweils gängigen Wahrnehmungsweise« und an die Funktion des gesellschaftlichen Intellekts, eine subjektiv gegebene »phänomenale Welt möglicher Erfahrungszusammen- ' hänge«149 zu stiften. Wollte Kant über geschichtliche, mit der menschlichen Gattung als solcher gesetzte Konstituentien von Erfahrung herausarbeiten: »Formen jeder denkbaren intersubjektiven Realität«150, so kommt es einer marxistischen Konstitutionslehre auf epochenspezifische Unterschiede an. Das große Verdienst Kants, heißt es in Schopenhauers Hauptwerk, besteht darin, daß er »die ganze Maschinerie unseres Erkenntnisvermögens, mittelst welcher die Phantasmagorie der objektiven Welt zu Stande kommt, auseinanderlegte und stückweise vorzeigte«151. Aus dieser Perspektive leuchtet ein, daß Horkheimer Kants kritisches Unternehmen als »Ideologienlehre«, das heißt »Analyse notwendigen Scheins«152 deutet. Was Kant selbst von der transzendentalen Dialektik sagt (er nennt sie »Logik des Scheins«), gilt ebensosehr von der transzendentalen Ästhetik und Analytik; denn das sinnliche, raum-zeitlich präformierte Material wird von den Kategorien des reinen Verstandes »zu der Welt verarbeitet, die wir für die von uns unabhängige reale halten« 153. Daß wir die Erscheinung als Ding an sich betrachten, ist freilich nicht nur logisch, sondern auch gesellschaftlich notwendig. Dafür spricht, daß Kant zunächst die »synthetische Arbeit des Gemüts als die ... in jedem einzelnen Ich wirkende Aktivität bestimmt«154; darin reflektiert sich ein gesamtgesellschaftlicher Zustand, der - mit Engels gesprochen - »auf der Rewußtlosigkeit der Reteiligten
beruht«155, die - für sich bewußt handelnd - mit ähnlichen Kräften ausgestattet sind, denen jedoch ihre gemeinsam erzeugte Wirklichkeit als ein Fremdes, weil Unbeherrschtes entgegentritt. Marx hat im Kapital, im vielerörterten Abschnitt über den »Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis«, Kants — und Schopenhauers — Lehre vom notwendigen Schein auf materielle Füße gestellt. Seine Warenanalytik löst ein, was es mit Schopenhauers »Phantasmagorie der objektiven Welt« auf sich hat.156 Die notwendige Verkehrung von erscheinender und an sich seiender Wirk-
lichkeit bringt Marx auf den Begriff eines - epochal begrenzten Quid pro quo. Es besteht ihm zufolge darin, daß die Warenform »den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als... Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt. ... Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt« 157. Ein »gegenständlicher«, nicht aufs unmittelbare Bewußtsein der Individuen zurückführbarer »Schein«158; er gründet — ohne durch bloße Einsicht zu verschwinden — darin, daß die alltäglich erlebte, »fertige Form .. . der Warenwelt . .. den gesellschaftlichen Charakter der Privatarbeiten und daher die gesellschaftlichen Verhältnisse der Privatarbeiter sachlich verschleiert, statt sie zu offenbaren«159. Diskutieren wir jetzt Horkheimers zweite, weniger spezifisch gesellschaftliche als (im weiteren Sinn) naturalistische Kant-Interpretation. Sie liegt, wie bemerkt, auf der Linie Schopenhauers, Langes und Nietzsches. Nicht zufällig knüpfen die Notizen in diesem Betracht an die Aufzeichnung >Zur Kritik der Geschichtsphilosophie< in der Dialektik der Aufklärung an, wo es heißt: »Das Gehirnorgan, die menschliche Intelligenz, ist handfest genug, um eine reguläre Epoche der Erdgeschichte zu bilden. Die Menschengattung einschließlich ihrer Maschinen, Chemikalien, Organisationskräfte — und warum sollte man diese nicht zu ihr zählen wie die Zähne zum Bären, da sie doch dem gleichen Zweck dienen und nur besser funktionieren — ist in dieser Epoche le dernier cri der Anpassung.... Eine philosophische Konstruktion der Weltgeschichte hätte zu zeigen, wie sich trotz aller Umwege und Widerstände die konsequente Naturherrschaft immer entschiedener durchsetzt und alles Innermenschliche integriert.«180 - Überlegungen, die von Marx her gesehen insofern sinnvoll sind, als er
sich. - übrigens noch irn Kapital - weigert, die »menschliche Natur im allgemeinen« und die »in jeder Epoche historisch modifizierte Menschennatur«161 einfach ineinander aufgehen zu lassen. Dem entspricht seine (keineswegs nur methodisch zu verstehende) Unterscheidung der »allgemeinen Natur des Arbeitsprozesses« und seiner spezifisch kapitalistischen Gestalt.162 Marx sieht also die objektive (sich auch im Nebeneinander zweier Typen materialistischer Konstitutionslehren abzeichnende) Möglichkeit, den menschlichen Weltbild-Apparat abstrakt-gattungsmäßig oder in seiner geschichtlich vermittelten Besonderheit zu untersuchen. Dagegen lehrt er — darin der Dialektik verpflichtet — in der Deutschen Ideologie, daß Natur (einschließlich der menschlichen) und Geschichte (einschließlich der natürlichen) keine »zwei voneinander getrenntefn] >Dinge<« sind: die Menschen haben stets »eine geschichtliche Natur und eine natürliche Geschichte vor sich«, und »die vielberühmte >Einheit des Menschen mit der Natur< [hat] in der Industrie von jeher bestanden und in jeder Epoche je nach der geringeren oder größeren Entwicklung der Industrie anders bestanden«163. — Ungeschlichtete (vielleicht materialistisch unschlichtbare) Brüche der Marxschen Lehre, auf die, systematisch gesehen, Horkheimers Schwanken zwischen einer historisch-gesellschaftlichen und einer biologisch-pragmatistischen Reformulierung der Kantischen Konstitutionsfragen zurückgehen mag. Nun gehört es zu den wichtigsten Einsichten des dialektischen Materialismus, daß die bisherige Geschichte - Marx nennt sie »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft«164 — »nach Art eines
Naturprozesses« ablief, daher »wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen« war. Den »Konflikten vieler Einzelwillen« entspringend, bildete ihr jeweiliges Ergebnis »das Produkt einer, als Ganzes, bewußtlos und willenlos wirkenden Macht«165. Was die Sozialdarwinisten zynisch ins Positive, Unabänderliche verkehren: daß menschliche Geschichte bis heute blinde Naturgeschichte war; daß sich (worauf Horkheimers Kritik der Geschichtsphilosophie in der Dialektik der Aufklärung hinauswill) in gesamtgesellschaftlich unbewältigter Herrschaft über Natur mehr und mehr die Herrschaft der Natur reproduziert, die zu brechen einmal der Sinn von Zivilisation war - eben dies steht bei den Begründern des Marxismus zur Kritik. Engels nennt es in einem Brief an Lange »die höchste Blamage für die moderne bürgerliche Entwicklung . . ., es noch nicht über die ökonomischen Formen des Tierreichs hinausgebracht«166 zu haben. Hier nun setzen Horkheimers Bedenken ein. Sein Spätwerk fragt, ähnlich wie das von Marcuse, ob es überhaupt glücken könne, die fatale Verstricktheit der Menschen in Natur zu beenden, wie sie der Logik ihrer wissenschaftlich-technisch gesteuerten Gesellschaft entspringt. Hat dort, wo man revolutionär über die bürgerliche Welt hinausgegangen ist, ein qualitativer oder nur ein gradueller Wandel stattgefunden? Ist irgendwo heute das geschichtliche Kontinuum von Herrschaft durchbrochen ? Zeichnet sich die historische Möglichkeit ab, einen neuen, nicht mehr instrumentalistisch festgelegten, sondern menschheitlich finalisierten Entwurf von »Welt« gegenständlich-praktisch durchzusetzen? Oder ist zu befürchten, daß die zeitlich befristeten ökonomischen Gesetze, auf die der Marxismus bislang, mit Recht, sein theoretisches Hauptaugenmerk gerichtet hat, sich als oberflächliche Modifikationen jener Gesetze erweisen, von denen Engels selbst sagt, daß sie »für alle
bisherige Geschichte Gültigkeit hatten«, weil sie »Verhältnisse« ausdrücken, »die allen auf Klassenherrschaft und Klassenausbeutung beruhenden Gesellschaftszuständen gemeinsam sind«167? Fallen Allgemeines und Besonderes derart auseinander, wie dies das Marxsche Kapital an wichtigen Stellen nahelegt, die Geschichte als bloße SuperStruktur eines Geschichtslosen zu betrachten scheinen, dann nähert sich — analytisch richtig bleibend — die Marxsche Theorie Schopenhauers Pessimismus, der dem welthistorischen Verlauf nur ein Idem, sed aliter abzugewinnen vermag. Hiervon geht der späte Horkheimer aus. Seine Notizen zeugen von der bedrückenden, heute allerorten erfahrbaren Identität von — negativer — Ontologie und positivistischer Unmittelbarkeit, aber auch von dem »Impuls, daß es anders werden soll, daß der Bann gebrochen wird und es sich zum Rechten wendet«168. An Kant allerdings, um auf ihn zurückzukommen, wird deutlich, daß »Sehnsucht nach dem, was der instrumenteilen Vernunft der Wissenschaft sich entzieht«, sich selbst dann durch Wissenschaft nicht stillen oder gar überwinden läßt, wenn diese »als Metawissenschaft«169 auftritt. Indem Kants Transzendentalphilosophie die erscheinende, dem Menschen vertraute Welt als »Ordnungsprodukt menschlich-intellektueller Funktionen« betrachtet, »ist er mit
Hume, das heißt letzten Endes mit dem Positivismus, einig«170. Entscheidend wurde jedoch für Kant die Absicht, dadurch über Hume hinauszugelangen, daß er »Erscheinung als Erscheinung des Wahren, des Intelligiblen erklärte, als ein Relatives, das von dem Absoluten zeuge«171. Dabei übersieht er, Horkheimer zufolge, daß auch dieser Gedanke erscheinungs-immanent bleibt: er beruht auf »denselben Kategorien .. . wie die Erscheinung schlechthin, nur, daß die empirischen Aussagen biologisch-pragmatische Funktionen erfüllen, die spekulativen jedoch - und die Beziehung des Relativen zum Absoluten schlechthin ist bereits spekulativ — bei genauer Besinnung als . . . irreal. .. sich erweisen«172. Unkritisch wird Kant überall dort, wo er — das eigene Verbot mißachtend — die »Erscheinung. . . nicht als abhängig von anthropologischen Prozessen und daher pragmatisch, sondern in ihrer Beziehung zu einem von Erscheinung Verschiedenen, Jenseitigen.. . darstellen will«173. Wenn bei Horkheimer Kants apriorische Strukturen der Subjektivität in handfest anthropologischer Form wiederkehren, so handelt es sich nicht um eine »vergröbernde« - innerphilosophisch diskutierbare - Interpretation, sondern um eine gesellschaftliche Einsicht. Die neueste Geschichte belehrt drastisch über die Inkonsistenz und Brüchigkeit dessen, was im bürgerlichen Zeitalter Selbstbewußtsein, Geist und durchgebildete Individualität hieß. Das einmal substantiell gedachte Ich entpuppt sich zusehends als Funktion, die vielleicht, wie schon Nietzsche vermutete, künftig durch einen »vollkommenen Automatismus«174 verdrängt wird. Ist das »nicht-empirische Ich« inzwischen zur »Hypothese« geschrumpft, so stellt sich »das empirische« illusionsloser Analyse als »gesellschaftlich bedingte, von jedem Individuum stets wieder hervorzubringende, stets gefährdete Leistung im Daseinskampf« dar. »Ihr Sinn besteht ausschließlich darin, dem Menschen, der sonst wie andere Tiere auf Instinkt und augenblicklichen Eindruck angewiesen wäre, die Erfahrungen seiner Zivilisation wie des eige-
nen Lebens, die der Gattung noch nicht einverleibt und vererbbar sind, zur Verfügung zu stellen. Es bildet eine Art psychologischen Verdauungsergans. Seine Funktion betrifft die Selbstbehauptung in der Natur, mittelbar die Einrichtung gesellschaftlichen Zusammenwirkens zu diesem Zweck.«175 Im Augenblick ihres geschichtlichen Untergangs pflegt sich das Wesen einer Sache zu offenbaren. Im gegenwärtigen Zeitaltei tritt zutage, in welch hohem Maß humane Qualitäten sich gesellschaftlichen Widerständen und Mängeln verdankten; verschwinden diese (was freilich wünschenswert genug ist), so verlieren auch jene ihre reale Bedeutung. Marx und Engels, unterstreicht Horkheimer, »waren im Grunde Idealisten und glaubten an die Selbstverwirklichung des absoluten Subjekts«176. Deshalb konzipiert ihre Lehre den totalen Menschen der klassenlosen Gesellschaft am Bild — hinüberzurettender — bürgerlicher Errungenschaften. Unbeachtet bleibt dabei die Frage, ob diese, abgelöst von ihrer — geschichtlich begrenzten — raison d'etre, überhaupt Bestand haben. Denkbar, daß selbst Freiheit (ihr substantieller Begriff ist gewonnen an der bürgerlichen von 1789) kein »Ende« an sich ist, »sondern ein vorübergehendes Mittel in der Anpassung der Tierrasse Mensch an die Bedingungen ihrer Existenz«177. Dabei ist Horkheimer sich darüber im klaren, daß der unabwendbare Schwund individueller Freiheit mit tendenziell zunehmender Gleichheit der menschlichen Lebensbedingungen einhergeht. Der zwar wahnhafte, zugleich aber »Geist, soweit er vom Verstand als Werkzeug sich unterschied«178, allein ermöglichende »Glaube des Einzelnen an sich selbst« wird im strengen Sinn unproduktiv und erweist sich als vergängliches Moment des »bürgerlichen Emanzi-
pationsprozesses« wie der »Wahrheit«179. Dafür sieht Horkheimer eine objektive Logik am Werk, die einen völlig technisierten Zustand herbeiführt, bei dem jedoch — ganz wie es Marx vorschwebte - Natur derart unterjocht wird, daß »der Mangel und damit die Notwendigkeit der Herrschaft von Menschen über Menschen verschwindet«180. Man mag diesen Fortschritt unter dem Aspekt seines hohen Preises als Regression beklagen. Doch solche Kritik, betont Horkheimer, »ist ruchlos, solange es noch ein Leid gibt, das durch den Fortschritt behoben werden kann«181. - Überhaupt wäre es verfehlt, Horkheimers Theorie des heute sich vollziehenden Übergangs zur verwalteten Welt als laudatio temporis acti zu deuten. Er weiß, daß Kultur und Geist, wie sie einst blühten, zugleich insofern ein Unwahres anhaftete, als sie auf der entwürdigenden Arbeit der meisten Menschen beruhten. Das vorliegende Buch ist Horkheimers geistiges Vermächtnis. Es muß jenes umfassende Werk ersetzen, von dem er während seiner letzten Lebensjahre wiederholt sprach, das zu schreiben ihm der Tod verwehrte. Um so wichtiger ist für jeden an der Kritischen Theorie und ihrem Schicksal Interessierten das Studium der hier niedergelegten Einsichten. Sie enthalten, gleich beachtlich in dem, was sie von seinen älteren Arbeiten trennt, wie in dem, was sie mit ihnen verbindet, die Substanz der Horkheimerschen Spätphilosophie. Ihr Grundzug (was immer politisch Enttäuschte oder beflissene Theologen in den letzten Jahren geäußert haben mögen) ist entschieden materialistisch. Freilich handelt es sich hier um einen unserer ideologiesüchtigen Zeit wenig zuträglichen, alles andere als weltanschaulich-affirmativen Materialismus. Getragen ist er von der unabweislichen Erfahrung nicht nur der gesellschaftlichen, sondern auch (und vor allem) kosmischen Nichtigkeit des Individuums: »Angesichts der neuesten Astronomie, nach der die Erde nicht bloß keinem Mittelpunkt - und was wäre das schon -, sondern eher dem blitzschnell verglühenden Funken in
einer Atomexplosion vergleichbar ist, erscheint die Zentrierung des Erlebens ums eigene Ich pure Idiotie.«182 Dabei verschlägt es wenig, daß — rein faktisch — unsere bewußten Vorstellungen stets aufs Ich bezogen sind. Es geht Horkheimer vielmehr um die Frage, welchen Sinn es habe, »meine Gefühle, Aspirationen, mein Weltverständnis, mein Glück und Unglück, Ehre und Schande davon abhängig zu machen, was dem Empfindungs- und Atomkomplex, der meine Namenmarke trägt, in der Mikro-Wuselwelt zustößt, die menschliche Gesellschaft heißt«183. Gleich abwegig, sagt Horkheimer, wäre es anzunehmen, »die Erde sei nicht etwa der Mittelpunkt unseres Sonnensystems, sondern. . . das Zentrum des Universums schlechthin«184. Dagegen, fährt er fort, kommt auch Schopenhauers berühmter, subjektiv-idealistischer Einwand nicht an, »das erkennende Subjekt« sei »Bedingung der Vorstellung des Universums«, die Welt sei »meine Vorstellung«185. Horkheimer kritisiert Schopenhauers Erkenntnistheorie streng immanent. Gehen wir von der je eigenen Vorstellung aus, so zeigt sich, wie absurd es ist, ihre objektiven Inhalte in gerade demjenigen fundieren zu wollen, was — wiederum im nämlichen Bewußtsein — als ephemer durchschaubar ist: »Denn das Subjekt der Erkenntnis, dem mein Individuum in derselben Nichtigkeit erscheint wie alle anderen, hat eben diese Nichtigkeit und Relativität in seine Reflexionen einzusetzen — und nach der Wahrheit sich zu richten, nicht nach dem Zufall, daß es mit diesem Individuum gerade verbunden ist.«188 Horkheimers später Materialismus ist negativ. Er reflektiert ein Zeitalter, in dem es so aussieht, als wolle die menschliche Gattung (ein emphatischer Begriff in Feuerbachs und Marxens Sprache) den erbärmlichen »Status einer besonders geschickten, raffinierten
Tierrasse«187 erreichen. Daher auch das Fragezeichen, das er hinter die hedonistische Komponente des traditionellen (in diesem Punkt mitunter vulgären) Materialismus setzt. Das relative Recht, ihn abzulehnen, wird angesichts einer Gesellschaft offenbar, die »überall neben der Macht nur an den Lebensstandard denkt. .. Wahr ist, daß ein Satter den Hungrigen, dem es schlecht geht und der leben will, nicht einen Materialisten schelten darf. Die Frage ist, ob dort, wo schon genug zu einem passablen Leben vorhanden ist, das Prinzip, es müsse immer besser und besser werden, nicht gefährliche Torheit ist«188. - Was ist bei aller Güterfülle gewonnen, wenn das autonome Subjekt zum »romantischen Begriff«189 wird? Das führt uns zurück zum gesellschaftstheoretischen Aspekt des Horkheimerschen Materialismus. Dessen Kritik am technischen Fortschritt »denunziert die Auflösung des Geistes und der Seele, den Sieg der Rationalität, ohne ihn schlicht zu verneinen«190. Sosehr sich Horkheimer hütet, ein Rezept anzubieten - er interpretiert die Falschheit jenes Fortschritts weithin als Ausdruck der nach wie vor widerspruchsvollen Produktionsweise. Von einer Überholtheit der marxistischen Krisentheorie kann keine Rede sein: »Eben die Elemente der Konjunktur, durch die die Krise hintangehalten wird, die Kriegswirtschaft im Frieden, die Leistungen für die berühmten Unterentwickelten, in Wahrheit ein weiteres Moment der Kriegswirtschaft, vor allem aber die >blühende< Freizeit, verschleiern nicht bloß die sich ausbreitende Krankheit der Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Form, sondern sind ihre Symptome.«191 — Horkheimer besteht auf der analytischen Kraft der Marxschen Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie, denen die »sogenannte Wirtschaftswissenschaft... nichts an die Seite zu stellen«192 hat. Was ihm an Marx, der »eine höchst vernünftige Grundlage des Verständnisses gesellschaftlicher Ent-
wicklung«183 geliefert hat, problematisch erscheint, ist dessen geschieh tsphilosophischer Optimismus: die Annahme, der — fraglos heraufziehende-nachkapitalistische Zustand werde soziale Gleichheit mit vollentfalteter individueller Freiheit versöhnen. Ein Zweifel, der sich in Horkheimers Begriff der verwalteten Welt ausdrückt. Wer heute die »richtige Gesellschaft« anstrebt, muß in »seine Kritik der bestehenden . . . die Treue zu der Freiheit« aufnehmen, »die es zu bewahren . .. gilt«194. Philosophie befindet sich in der Gegenwart in einer Art Rückzugsgefecht. Sie nimmt beim Stand der Geschichte notwendig Züge des Utopischen und Verstiegenen an. Der Philosoph sieht sich auf »allgemeine Formulierungen, wie die Kantischen vom Endziel der weltbürgerlichen Geschichte, zurückverwiesen«105. Unmittelbar brauchbare Parolen aufzustellen, die dem schlicht-pragmatischen Geist des Bestehenden nichts voraushätten, ist nicht ihre Aufgabe. Der Einzelne, vollends der philosophierende, kann wenig ausrichten; »er vermag jedoch in Theorie und Praxis in die Entwicklung kritisch einzugreifen, indem er durch zeitgemäße Methoden zur Bildung unzeitgemäßer Kollektive beiträgt, die den Einzelnen ... zu bewahren vermögen«196. Der letzte Aphorismus dieses Buches trägt den Titel >Für den Nonkonformismus^ Er könnte über dem Lebenswerk eines wahrhaft europäischen Denkers stehen - wie Nietzsche und Thomas Mann den Begriff geprägt haben. An Horkheimer kann die Gegenwart lernen, daß der Kampf um das Bessere ohne Selbstbetrug oder Lüge zu führen ist. Er ist ein Philosoph des langen Atems, ein Feind rascher, weil ideologisch bleibender Lösungen. Auch denjenigen redet er nicht nach dem Munde, die ihm politisch nahestehen. In Horkheimers geistiger Existenz hat sich die Idee des unabhängig urteilenden, aufgeklärten Subjekts noch einmal verkörpert. Was ihn kennzeichnet, ist die Fähigkeit zur unbestechlichen Kritik auch der eigenen Ideen, denen er gleichwohl die Treue gehalten hat.
Notizen 1950 bis 1969
Falsche Hosenrolle. — Zwei Dinge habe ich auf der Überfahrt nach Frankreich begriffen. Beide betreffen die Frau. - Der Grund, warum ich die Mode der Slacks nicht liebe: die Frau schreitet jetzt wie ein Mann, Zigarette im Mund, die Mundwinkel nach unten, die Stirn gefaltet: wie der Herr dieser die Natur zertretenden Zivilisation. Die Gleichheit mit dem Mann wird betont, dessen zivilisatorische Rolle ihr so schlecht ansteht. Sie zeigt alle Übel des Assimilanten an den Unterdrücker. Das Erotische wird in dieser lizenzierten Freiheit gerade negiert - im Gegensatz zur alten Hosenrolle. — Das zweite ist, daß die Entsexualisierung durch die verweigernde Massenkultur, das Covergirl in der Welt ohne maisons de rendez-vous, die letzte Konsequenz der bürgerlichen Ersetzung des utopischen Gottesglaubens durch die Anbetung der Geliebten ist. Hat man erst einmal durch die literarische und sonstige Erhöhung der Liebe zu einer Art Kultus die Verfemung der Liebe ideologisch für ungültig erklärt, endet man notwendig bei »mother wore tights«. Die Liebe gedeiht nicht im Zeitalter, in dem Maupassants Novellen zu famous bedtime stories werden. Und ist nicht Maupassant in seiner schriftstellerischen Ambition, dem trotz allem die Feier der Liebe noch als Mittel diente, selbst mit schuldig? Wofür man erfolgreich mit der Feder eintritt, wird schal — wie die Menschen, die man in den Erfolg treibt, selbst.
Paris. - Ich warf einen Brief in den Schalter in der Hotelhalle nachts um 12 Uhr. Nach einer Stunde entdeckte ich, daß der Brief besser unterbliebe, und entschloß mich, ihn bei der Leerung zurückzuziehen. Ich fragte den Nachtportier, wann der Schalter geleert werde: »Um 10 Uhr morgen früh.« So stand es auch angeschrieben. Um ½10 Uhr war ich in der Halle. Der Tagesportier sagte, der Schalter sei längst geleert. Der erste Gang finde um 7 Uhr statt. Die Post gehe dann ins Büro an der Rue Danton,
dann sogleich in die Zentralstelle Rue du Louvre. Keine Möglichkeit, den Brief zurückzuholen, er selbst habe einmal einen ganzen Tag vergeblich an einen solchen Versuch gewandt. Ich ging zur Rue Danton, zeigte ein gleiches Kuvert, wie der Brief es hatte, und erhielt ihn in einer Minute zurück. Böses Paris: Die beruhigende Auskunft des Nachtportiers ist unzuverlässig. Sie läßt dich im Stich. Gutes Paris: Die beunruhigende Auskunft des Tagesportiers ist es auch. Du wirst gerettet. Guter Tropfen. — Der Bankier entdeckt im Winkel seines Weinschranks eine Flasche Vieux Fine Champagne, halb angetrunken — vor acht Jahren; noch ist sie gut — ja besser geworden. Auch sein Buchhalter hatte eine Flasche französischen Cognacs, ungeöffnet, für Tage der Krankheit aufbewahrt. Sie ist verdorben, wenn er sie aufmacht. Sie war zu isoliert. Radikale. — Vor den Schwächen der eigenen Frau werden sie verständnisvoll, die Menschheit aber soll morgen das Wunder vollbringen. Liegt es daran, daß sie die Menschheit zu wenig oder zu sehr lieben? Schwierigkeit mit dem Schlechten. - Daß die englische Philosophie flach ist, weil sie den Menschen einfach als nach vorne strebenden, altruistischen oder auch im rechten Sinne egoistischen ansetzt, ist wahr. Betont man jedoch dagegen die Positivität des Schlechten oder auch nur die Tiefe im menschlichen Wesen, so begeht man unmittelbar einen Widersinn. Alle Rede ist Ausdruck, Bekenntnis, Zeugnis, und man kann doch zum Schlechten sich nicht bekennen. Wahr ist, daß unser Glaube in jeder Phase notwendig ein unerhelltes Moment, einen Zug von Vergötzung an sich trägt. Indem unsere Rede dieser ihrer eigenen Eitelkeit innebleibt, ohne doch die Naivität des Glaubens auf der je erreichten Stufe abzustreifen, indem sie, mit anderen Worten, ohne Zynismus, ja bei aller Unbedingtheit des Fürwahrhaltens ihre natürliche Ohnmacht kennt, gesteht sie jeweils die Notwendigkeit des Schlechten ein. Die Behauptung von der Güte des Schlechten ist entweder metaphorisch wie im Christentum, wo sie eigentlich meint, daß das Schlechte dem Guten diene. Dann ist sie leider nicht wahr. Oder sie führt
Notizen
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in gnostischen Dualismus, der verlangt, beim unaufgelösten Widerspruch stehenzubleiben und noch dabei selig zu sein. Ausdruck und Schmerz. - Schreiben kann entweder heißen, daß man Feststellungen macht, Tatsachen bezeichnet, also zur Beherrschung beiträgt — oder daß man sich ausdrückt. Da der Ausdruck hier ein sprachloser ist, so ist er notwendig reflektiert, der Schmerz ist einer, der sich über sich beklagt, ein narzißtisch-wehleidiges Moment ist davon nicht abzulösen, selbst wo er über andere trauert. Daher das narzißtische Moment in fast aller Dichtung. Und gibt es Ausdruck, der nicht schmerzlich ist? In der nichtwissenschaftlichen Literatur bleibt die Wahl zwischen dem Mythos, dem Falschen — und dem Jammer, dem Ohnmächtigen. Aus diesem Dilemma bezieht der Positivismus seine Stärke. Selbst diese Betrachtung unterliegt demselben Verhältnis, ihr Sinn hat etwas vom Flackernden. Eine kantische Soziologie. - Eine Kritik der Vernunft schreiben wie Kant, nur daß die bearbeitenden Faktoren, der Mechanismus, der aus dem Material die »einheitliche« Erfahrung macht, anstatt in den reinen Formen der Anschauung und des Verstandes im sozialen Schematismus besteht. Selbst die Anordnung könnte beibehalten werden. Die transzendentale Ästhetik hätte von der materiellen Produktion zu handeln, die den Menschen die Welt unmittelbar strukturiert: aus ihr gehen die herrschaftsmäßigen Wahrnehmungsweisen im allgemeinen und speziellen hervor, ferner alles, was Marx den notwendigen Schein nennt. Die transzendentale Analytik wären die Medien der gesellschaftlichen Intellektualität von der Schule bis zum Kino. Die Sphäre der Vernunft aber die Tendenz zur Anpassung der Gesellschaft an immer höhere Stufen — was Hegel die List der Vernunft nennt. Jenseits des Geschlechterprinzips. —Freud erklärte in der Theorie vom Ödipuskomplex die Identifikation mit dem Vater aus der Liebe zur Mutter. Sie gehört dem starken, erwachsenen Mann, daher macht man sich ihm gleich. Er kann dem Konkurrenten, dem Kinde, wehren, man muß sein wie er, um die Mutter zu besitzen. - Es gibt aber eine viel einfachere, einleuchtendere Erklärung:
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Notizen
woran man denkt, zu dem wird man. Der Vater — die Realität fordert, verbietet, lehrt. Das Unabänderliche, Verweigernde - das man doch ändern möchte — zwingt uns, uns mit ihm zu identifizieren, um es zu ertragen — dies ist das Prinzip des Denkens, ja vielleicht aller Kultur überhaupt. Daraus geht dann auch die (Natur-) Beherrschung hervor; Identifizierung ist die Voraussetzung der Beherrschung. Sobald diese freilich gelingt, verschwindet die Identifizierung: das Beherrschte wird zur Sache und nur das Beherrschte. (Daß Marx den Mangel an planmäßiger Regulierung der ökonomischen Beziehungen im Kapitalismus » Verdinglichung« der menschlichen Verhältnisse nennt, ist terminologisch irreführend. Es ist im Gegenteil eine Mythologisierung, Erhebung zum Rang von Naturgottheiten; die Marktgesetze sind nicht bloß Tag und Nacht und Donner des viktorianischen Zeitalters, sondern Moira, das Schicksal schlechthin. Im 20. Jahrhundert erst werden sie — als Folge jener Identifizierung — zu beherrschbaren Dingen, zum Gegenstand von Manipulation.) Aus der Angst folgt die Liebe, aus der Liebe die Herrschaft. Nur was wir fürchten, lernen wir lieben, nur was wir lieben, lernen wir kennen. Was wir aber kennen, hören wir auf zu lieben und zu fürchten. Das ist die Geschichte der Zivilisation. Jeder der Termini enthält die andern und das Ganze; der mittlere, das Lieben ist die Identifizierung, das Denken. — Bachofen berichtet auf Grund einer Plutarch-Stelle, daß die lykischen Männer bei Trauerfällen Frauenkleider anziehen mußten, und er interpretiert den Brauch als Identifizierung mit der Mutter, die den Heimgegangenen geboren und wieder aufgenommen hat. Nur die Mutter geht der ganze Vorgang etwas an. Nur sie ist eigentlich beteiligt. Ans Sterben denken, hieße demnach an die Mutter denken, und an die Mutter denken, sich zur Mutter machen. Das bürgerliche Kind macht sich zum Vater. Der Vorgang ist primitiver, als Freud ihn beschreibt, nicht so verständlich und übersichtlich, es bedarf nicht des Umwegs über die (aus der Analogie mit der genitalen Beziehung Erwachsener erschlossene) sexuelle Begierde nach der Mutter, um die Angleichung an den Vater zu erklären. Die Angst vor ihm ist die Urtatsache der Zivilisation. Er ist der Eindringling im Verhältnis von Mutter und Kind: das Äußere, die Kälte der Wirklichkeit. Das hat Freud alles richtig gesehen, auch die Zusammengehörigkeit von Mutter, Hei-
Notizen
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mat und Tod. Sein Vorurteil (vor allem in seinen früheren Perioden) Hegt in der dogmatischen Ansetzung des Männlichen und Weiblichen als getrennter Urmächte, während die Sexualliebe des männlichen Ejndes zur Mutter wahrscheinlich erst eine Folge der Angleichung an den Eindringling ist. Seit Jenseits des Lustprinzips hat Freud diese Verhältnisse geahnt. Vielleicht sollte es heißen: »Jenseits des Geschlechterprinzips«. Dann wäre in jenem klassischen Mythos von der Entstehung der Liebe aus der Teilung des Einen die Wahrheit über die extralibidinöse Sehnsucht enthalten (den Todestrieb), die nur kraft der libidinösen Begierde sich erfüllen kann. Entgegen der ursprünglichen Freudschen Kontrastierung von Selbsterhaltung und männlichem Eros bildeten diese beiden zusammen die Einheit des schaffenden Prinzips (wie es ja auch im Unbehagen angedeutet ist), kraft dessen die Utopie der Versöhnung sich erfüllen soll (wie sie freilich durch die unmittelbare Entgegensetzung von Eros und Todestrieb ausgeschlossen wird). Man muß sich freilich vor der optimistischen Harmonisierung des subjektiven, auf Selbsterhaltung gerichteten Strebens mit der objektiven Befriedigung ebenso hüten wie vor der allzu raschen Gleichsetzung des ersteren mit dem männlichen und der Heimkehr mit dem mütterlichen Prinzip. Der Tod, in den uns das tätige Leben der Zivilisation hinausführt, ist eben nicht die Heimat, sondern die Preisgebung, nicht der Frieden, sondern der Zerfall, nicht die Ruhe, sondern das Nichts. Daher enthält die Freudsche bloße Entgegensetzung des Männlichen und des Mütterlichen (väterlich und mütterlich sind, wie Bachofen gesehen hat, keine echten Wechselbegriffe) auch keine Vermittlung. - Hegels Geschichtsphilosophie dagegen, in der das Subjektive, die Triebe, wesentlich als List der Vernunft, das heißt als Hersteller der Identität, als Vermittler des Absoluten im Sinn der wiedergewonnenen Unmittelbarkeit erscheinen, überspringt in ihrem phantastischen Optimismus die Möglichkeit der Fehlschläge, erfährt sich wirklich als den Geist, der das Gelingen schon in der Tasche hat. Die Möglichkeit des Mißlingens aber scheint, besonders in der Gegenwart und von Euramerika aus betrachtet, in der Natur des geistigen Prozesses selbst angelegt zu sein. Die Tendenz der Kenntnis, die aus Angst erwachsene Identifizierung zunichte zu machen, schießt übers Ziel hinaus. Anstatt die Unmittelbarkeit der Ineinssetzung
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Notizen
von Subjekt und Objekt zu vermitteln, indem sie das Vermittelte der Vermittlung selbst im Gedächtnis behält, nimmt sie, in falscher Selbstvergessenheit, die Vermittlung, das Denken, oder vielmehr deren Resultat, eben die Kenntnis, die sogenannten Tatsachen, als das Ursprüngliche. Die Naivität gegenüber dem Produkt und andrerseits die Aufgeklärtheit vor dem Unaufgeklärten, die Positivität des modernen Geistes, ist nur eine andere Form der dogmatischen, auf die Spitze getriebenen Trennung von Subjekt und Objekt; das scheinbar problemlose Einheitsdenken der Wissenschaft ist der alte Dualismus der bürgerlichen Metaphysik. Carnap impliziert den Cartesius, der logische Empirismus die Zweisubstanzenlehre. »Es gibt nur Fakten« heißt entweder »alles ist Objekt« oder »alles ist Subjekt«. Die Sphäre der Ungeschiedenheit ist liquidiert und damit auch der Gedanke an die Wahrheit. Der Vorgang ist ähnlich wie in der Kunst: indem der Schein sich selbst (scheinbar) so durchsichtig geworden ist, daß er sich nur noch als Schein und gar nicht mehr als Wirklichkeit nimmt, indem alles Magische in der Kunst, alles echt Illusionäre ohne Rest verschwindet, verschwindet sie selbst. Auf die Wissenschaft angewandt: indem wir die Sache nur mehr objektiv betrachten, anstatt sie zu sein, verschwindet die Objektivität. Vorwärts. — Nach vorwärts schauen ist identisch mit der Freiheit von Mythologie, von Aberglauben — vom Gedanken an die Toten. Darin kann auch die Freiheit von Selbstbemitleidung, Narzißmus, Verstocktheit zum Ausdruck kommen. Alle rückwärts gewandte Treue ist vielleicht schon Selbstliebe. Judentum, Wahrheit, Wahn. - In dem Festhalten des Judentums an seinem alten Glauben steckt ein Moment der Versteifung im Ich — der Angst, es zu verlieren — der Eitelkeit. Sie haben furchtbar dafür bezahlt - und wahrscheinlich mehr noch für die mit diesem Starrsinn verknüpfte Wahrheit als für den Wahn.
Trade marks. — Das Monopol derer, die überhaupt noch denken können. Sie nehmen an den hochbezahlten Spitzenstellungen teil (falls ihre Kenntnis sich verwerten läßt). Hier ist einer der Fälle, wo herabgesunkenes Kulturgut noch Marktwert besitzt. Es steht
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damit ähnlich wie mit den Bildern der Romantik, Liebe und Tod, sie werden zu trade marks der Industrie - Film, Parfüms und Zahnpasta. Geist und Zeit. - In jedem Satz, der wahr sein will — also in jedem Satz — wird von der Zeit abstrahiert. Denn ein Satz, dessen Wahrheit von der Zeit angenagt wird, ist eben nicht wahr. Davon geht Hegel in der Phänomenologie aus. Die Dialektik der Sinnlichkeit beruht darauf, daß der Satz »Jetzt ist es Nacht« morgen früh vom Tag widerlegt wird. Er, der Satz, schließt die Zeit nicht in seine Wahrheit ein. Die Frage ist, ob es Sätze gibt, welche von der Zeit unabhängig sind. Zuerst dachte man an die mathematische Physik — die reine Mathematik war denn doch zu luftig, um die Wahrheit zu repräsentieren. Einstein aber hat die Physik nicht vom Bedenken in dieser Hinsicht befreit, seine Kritik der traditionellen Mathematik und Mechanik leuchtet ein. Die allgemeine Relativitätstheorie jedoch ist ganz und gar nicht absolut. — Der Gang der Phänomenologie dagegen macht an der entscheidenden Stelle (wie es ihm zukommt) einen Sprung. Die Zeit wird in der Vernunft nicht in einer vernünftigen Weise überwunden, sondern (unvermittelt) objektiviert. Gerade dies - was sich an allen anderen Übergängen der Phänomenologie wiederholt — ist das Geheimnis des »Sprunges« in der Methode. Der absolute Geist setzt sich trotz der vielen Einzelschritte, die sich als Vermittlungen ausgeben — immer wieder irrational als absolut. An den Übergängen klappt es nicht. Das hat schon der schreckliche Feuerbach gesehen. Der Geist ist nicht außerhalb der Zeit, er kann des Verbums nicht entraten, wie sehr er es auch als Metapher verharmlosen möchte. Der Tod ist nicht bloß, wie er sagt, in ihm, sondern über ihm. Er ist nach ihm eigentlich nicht wahr - Hic Rhodus! Nach Voltaire. - Die Berühmtheit des Schriftstellers im 19. Jahrhundert gab ihm eine Art von Immunität. Auf ihn war etwas von der Übergesetzlichkeit des absoluten Monarchen übergegangen. Die Freiheit, die er dadurch erwarb, übte er gleichsam als Repräsentant der Menschheit aus - er konnte ganz Mensch sein - in ihm ehrte sich die Gesellschaft und überwand, wenngleich unbewußt und ideologisch, die geistige Verstümmelung ihrer Mitglieder. Im
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Sieg Voltaires über den Absolutismus wird — im Gegensatz zu den Julimorden - die Majestät bewahrt. Das ist die positive Seite des bürgerlichen Begriffs der Größe, der heute entartet ist. — Im 20. Jahrhundert wird die Stellvertretung abgeschafft — der Parlamentarismus in Agonie. Die Verhältnisse sind so reich, daß ihr Fortbestehen nur als unvermittelte Abhängigkeit der Menschen denkbar ist. Bei den Russen wird mit dem Parlamentarismus zugleich die Größe liquidiert. Ein Lebender, vom Popanz des Diktators abgesehen, darf nicht groß sein, denn die neue Herrschaft duldet keine Immunität. Der bloße Gedanke eines vom Zwang ausgenommenen Menschen, der »nein« zu ihr sagen könnte, die Idee eines Kriteriums jenseits ihrer Konventikel widerstreitet ihr. Groß ist nur ihr Warenzeichen: der völkerfressende Feldmarschall. Der Schriftsteller entwickelt sich auf den sozialen Standort des Lakaien zurück. Der umgekehrte Prozeß von Voltaires Ruhm. Albernheit der Philosophie. - Daß gesprochene und gar geschriebene Philosophie, mag sie an sich immerhin tief oder gewitzigt sein, ein wenig albern klingt, ist offenbar. Nicht einmal Nietzsche macht eine Ausnahme. Was ihm am System verdächtig erschien, haftet auch seinen eigenen Gedanken noch an. Die Geschliffenheit des Aphorismus, die elegante Verhaltenheit, bewahrt ihn doch nicht davor, so viel Unbeherrschtheit zu zeigen, daß er über Gott und Welt und seine Schmerzen redet. Der Weltmann hält sich an Golf, vom Geschäft redet er selten, und Philosophie ist bloß ein offerierter Kommentar, schon auf dem Weg, zur Weltdeutung für Mittelständler zu werden und schließlich in den Buden der Volksfeste anzulangen, wie die Astrologie. Wenn es um die Wahrheit geht, ist nur das Schweigen nicht unbeherrscht, jedes Wort ist redselige Klage, stets unangebracht. Der Dichter und die Maßnahme. - Die materialistischen Dichter und sonstwie Gewitzigten sollten mit ihrem Spott übers Wahre, Schöne und Gute vorsichtig sein. Wenn sie zuletzt alle Begriffe als Ideologie ad acta legen, müssen sie zu ihrer eigenen Rechtfertigung den Gott wieder herbeiholen, den die Begriffe einmal ablösen sollten. Es sei denn, daß sie, im Dienst einer noch viel gewitzigteren Regierung, deren Maßnahmen verkünden. Dann dürfen sie
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jener getrost ihre Rechtfertigung überlassen. Nur der Zweifler verfällt der Maßnahme. Die Frage der Philosophie. - »Wenn es keinen Gott gibt, braucht es mir mit nichts ernst zu sein«, argumentiert der Theologe. Die Schreckenstat, die ich verübe, das Leiden, das ich bestehen lasse, leben nach dem Augenblick, in dem sie geschehen, nur noch im erinnernden menschlichen Bewußtsein fort und erlöschen mit ihm. Es hat gar keinen Sinn zu sagen, daß sie dann noch wahr seien. Sie sind nicht mehr, sie sind nicht mehr wahr: beides ist dasselbe. Es sei denn, daß sie bewahrt blieben — in Gott. — Kann man dies zugestehen und doch im Ernst ein gottloses Leben führen? Das ist die Frage der Philosophie. Kunst und Kino. — Alle Kunst hat die Eigenschaft, den Genuß selbst zu gewähren, ohne die Menschen dafür erst auf die Realität zu verweisen, wie es das moderne Kino tut. Dieses erborgt das Interesse nur aus dem wirklichen Leben und wird damit selbst zum Instrument. Es teilt etwas übers fremde, zuweilen sogar scheinbar übers eigene, nämlich das durchschnittliche Dasein mit. In Wahrheit freilich ist es mehr und mehr das Leben der Stars: Fußballhelden, Gammler, Komponisten und noch eigentlicher das der Darsteller selbst. Dadurch wird die Schaustätte selbst zum Auf enthaltsraum für Narrenfänger, für fans, so ähnlich wie die Gitter vor den großen Studios, wo Neugierige einen Blick auf ihre Berühmten tun wollen, oder spätabends die Eingänge zu den Restaurants in Hollywood, wo vielleicht ein paar Größen vom Essen kommen. Der Zuschauer wird zum Kiebietz und die Luft zum Ersatz der Luft. - Die Massenkunst ist also darin die Fratze der wahren, daß beide für den Genuß selbst eintreten. Im Kino erscheint er als zu mächtig für die Alltagsmenschen, und man nimmt mit dem bloßen Anblick vorlieb, vor der Kunst wird selbst der mächtigste noch zu schal für die ärmste Menschenseele, und der Anblick öffnet ihr den Himmel. Auch die Kunst weist über das Dingliche hinaus, aus dem das einzelne Werk besteht - aber nicht auf die herrschende Wirklichkeit, sondern aufs Unbedingte, das durch des Werkes innere Vollendung und Autonomie gleichsam garantiert wird. Jedes Werk zeugt für ein anderes Prinzip als das der Welt. Auch
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die Kunst ist sich selbst genug, wie der Film mit seinen Stars, die nur sie selbst bedeuten - aber sie ist es gerade deswegen, weil sie der Realität nicht zum Vergleich bedarf. - Und doch kann man von der Massenkultur nicht zur Kunst kommen und in ihr selbst in ihrer Harmonie oder Disharmonie - den Frieden finden. Denn Kunst ist mit der Wahrheit identisch, und diese zwingt uns in die wirkliche Praxis, in den endlosen und so ungleichen Kampf für die Kreatur. Versuchung des Philosophen.- Versuchung des Philosophen: er entsagt dem Denken, da es - unbeweisbar - immer bloß Meinung sei — und verschreibt sich der gesunden Wissenschaft. Endlich der Sphäre entrinnen, in der man sagt, wie es »ist«, während es doch anders »sein« kann. Endlich aus der Sprache zur Formel übergehen, wie der Physiker. Selbst noch die Montage von Tatsachen ist unverbindlich, plausibel, bloßer Ausdruck; wie gut, der fortwährenden Qual zu entfliehen, bei jedem Schritt sowohl das Ziel wie die Methode, das Thema wie den Stil, den Gegenstand wie die Richtung des Interesses aus sich selbst und doch in strenger Tuchfühlung mit der »Sache« zu bestimmen. Was ist gegen diesen ununterbrochenen Zwang zur Exaktheit einzuwenden, der am sicheren Pfad des äußeren Kriteriums zur wissenschaftlichen Erkenntnis führt? Wenn es wahr ist, daß auch die Wissenschaft im entscheidenden Augenblick jenem anderen philosophischen Zwange folgt, so bietet doch ihr Betrieb mit den festen, dem Beherrschungszweck angepaßten Maßstäben, so viel verlockende Sicherheit, daß der Philosoph zuweilen neidisch in diese Welt hinübersieht, in der bloße Ingeniosität, Fleiß und Gesundheit Erfolg bringen und die Sorge um die Richtigkeit der Unternehmung selbst stets »anderen« überlassen wird. Zur Selbsterkenntnis. - Aus Natur totes Material machen, ist nicht so sehr ein Unrecht, das man der Natur antut, als eine Abstraktion des Lebendigen von sich selbst, die sich im Menschen vollzieht: ein Fehler der Selbsterkenntnis. Freilich muß man dieses Wort so fassen, daß es die Praxis einschließt.
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"Die verbotene Frage. — Die Völker des 20. Jahrhunderts werden über die wichtigste soziale Frage, über welche die Zivilisation zerstört werden kann, im dunkeln gehalten. Weder in der westlichen Hälfte noch gar in der östlichen werden die verschiedenen gesellschaftlichen Systeme, zwischen denen die Menschen zu wählen haben und um derentwillen sie einander anzufallen bereit wären, leidenschaftslos und mit Ausführlichkeit, auf jedes der Länder angewandt, mit Vor- und Nachteilen, günstigen Aussichten und Gefahren vernehmlich dargestellt. - Wenn aber das nicht der Fall ist, kann man füglich fragen, wie weit in der Tat die Völker ihre eigenen Geschicke bestimmen. Daß sie in Rußland und seinem Herrschaftsbereich in blindem Gehorsam verhalten werden, ist bekannt. Stehen aber die Dinge - in der bezeichneten Hinsicht - nicht selbst im Westen fragwürdig? Hat der durchschnittliche Bürger und Arbeiter neben dem positiv oder negativ gefärbten Bilde des gegenwärtigen Rußlands eine Vorstellung von den wirklichen Risiken oder Chancen des Sozialismus, wenn er, von allen angenommen, in den westlichen Ländern in Gang gebracht würde? Noch nicht einmal über das englische Experiment in diesen Jahren sind die Menschen adäquat unterrichtet. Das ist nicht bloß die Schuld der Massen, sondern vor allem derer, welche die intellektuellen und materiellen Mittel der Aufklärung innehaben. Die wichtigsten Fragen der Menschheit bleiben mit einem Tabu belegt, werden verdrängt und erzeugen - eben weil die Menschen ahnen, daß man darüber vernünftig sprechen müßte — den Haß gegen den, von dem sie annehmen, daß er es tut. Es entsteht die innere Wut gegens Leben, wie es ist, daß man nur loben muß, und der Fanatismus gegen alles, was anders ist. Mit dem »Austausch« von Studenten, Professoren und anderen Bevorzugten innerhalb der westlichen Länder ist dem wahrlich nicht abzuhelfen. Die Ausgetauschten teilen, angesichts der verschwindenden Verschiedenheiten ihrer eigenen Länder, zumeist den Glauben der Superiorität des ihnen gemeinsamen gesellschaftlichen Systems. Ausgesprochen oder nicht, bildet das dann das sich durch den Verkehr noch verstärkende Apriori der Beziehungen. Philanthropischer Verein. — All diese »intercultural« und »goodneighbour«-Veranstaltungen, durch welche die Heutigen, mangels
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Religion, sich davon abhalten, ein gegenseitiges Gemetzel zu beginnen. Sie sind Religionsersatz und sogar - wenigstens auf lange Zeiträume - unblutiger als die Religionen, an die man wirklich glaubt. Das philanthropische Vereinswesen wird von den Interessierten bezahlt. Es ist so namenlos traurig, weil auch die Bezahlten, dieses ganze Gewimmel von Vereins-»professionals« von der Putzfrau bis zum Anwalt, der für sich dadurch Reklame macht, daß er Geld auftreibt, bloß dran zu glauben glauben, weil es ihnen Geld einbringt. Von den eingesessenen Juden zu schweigen, die nicht mit Unrecht ihre Religion darin sehen, daß die anderen den Frieden halten. — All diese Erziehung hat ihre Meriten, aber sie ist negativ. Sie wird notwendig, weil in der Identifikation selbst, im Unmittelbaren kein Glück mehr gefunden wird. Die Menschen sind verkapselt, ihre Gefühle eingezwängt. Es ist so trostlos, daß es einem selbst noch um den fehlenden Haß leid tut. Oh, dieses »humorvolle« Reden, daß eben für den Verein »das liebe Geld« notwendig ist. Weil sie sich mit gar niemandem und gar nichts eins fühlen können, erreichen sie eine Art von Friedlichkeit, die vom Tod und seinem Geruch kaum noch zu unterscheiden ist. Zur Ontologie. — Das Sein ist die allgemeinste Kategorie. Ist das Allgemeine aber auch essentieller als das Besondere? Geht es uns wirklich mehr an, wie die Philosophen geglaubt haben, als das Nächste, Einzelne? — Die Frage ist analog der gesellschaftlichen, ob die Funktionen an der Spitze der Pyramide, der Minister, wesentlicher als der Schutzmann an der Straßenecke seien. Sind die umfassenden wirtschaftlichen Dekrete bedeutsamer oder öder als die Schlichtung der streitenden Parteien im Wirtshaus? Ist der Glaube ans Allgemeine nicht bloß die Rationalisierung der größten Macht, der Trennung von Befehl und Ausführung entsprechend? — Im Grunde war die Aufhebung dieses logischen Gegensatzes das Thema der Hegeischen Philosophie, der Dialektik. Bei ihm geht schließlich die Rechnung auf - vielleicht zu glatt. In der Praxis ist's die Frage der Rotation der staatlichen Funktionen, so daß die Dienstmagd zeitweilig Polizist wird — oder Minister — und umgekehrt. Kein Zweifel, daß die Magd es schließlich zuwege brächte — aber der Minister?
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Psychoanalyse als Ursache ihrer Notwendigkeit. — Die Therapie der Psychoanalyse besteht darin, »eingeklemmten« Affekten die Möglichkeit des Ausdrucks zu verschaffen. Sie will die Drohung beseitigen, die sozusagen die Türe oder den Deckel bildet, hinter denen die Affekte rumoren. Dann - so meint sie - ist reine Luft. Hat aber nicht die Türe bloß deshalb die komprimierende Wirkung, weil sie aus falschem Material gefertigt ist - aus Verboten nämlich, an die man nicht mehr glaubt? Und beweist die ahnungslose Sicherheit, mit welcher der Therapeut sich zur Beseitigung des Hindernisses berufen fühlt, nicht eben die Sinnlosigkeit des Verbots, die — ebensosehr wie seine Gewalt (sind Gewalt und Sinnlosigkeit nicht zuletzt ein und dasselbe?) - die Neurose bedingt? Rationalität ist keine formale, sondern eine inhaltliche Kategorie. Vernunft ist der Name für das, was vernünftig ist. Indem der Analytiker den Bruch der schmerzhaften Kindes- oder Gattenliebe in der Analyse ins Belieben des Subjekts stellt, negiert er das vom fortschreitenden Zerfall der Bürgerlichkeit bereits angefressene Tabu; in gefährlicher Sorglosigkeit, ein kleiner Nietzsche, stößt er noch, was fällt — und dem Partner seines Patienten den Dolch ins Herz. Heilen nennt er die Ermutigung zur zeitgemäßen Skrupellosigkeit auf jener Seite des Familienkonflikts, der er die Rechnung präsentieren kann. Das solidere Tabu jedoch, das noch unverminderte Inzest- und Perversionsverbot, bleibt bestehen, die Lust es zu durchbrechen, wird »analysiert«. — Die Vernunft des Analytikers reflektiert die Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft; sie negiert als Aberglaube alles, was man den Machthabern entgegenhalten könnte, es sei denn, den Tadel, daß sie — weil sie noch nicht alle kuriert sind — zuweilen ein schlechtes Gewissen haben. Sie läßt die vom Leben Geschlagenen selbst ohne die Hoffnung, daß es nicht der höchste Richter sei, denn das Leben gilt ihr als der höchste Richter. Und dem Sterbenden in seiner Seelenqual wüßte sie nichts zu sagen, als daß er nicht rechtzeitig zur Analyse gegangen sei. Nach dem Kino. — Wir lehnen den Film ab - im Gedanken an Kunst — zunächst ans Schauspiel. Aber selbst wenn wir aus einem Film kommen, der die Forderung nicht ganz so gröblich verletzt, oder gar aus einem guten Schauspiel selbst, befällt uns leicht die
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gewohnte Trauer. Entweder konnten wir uns zum Inhalt nur historisch verhalten — denn noch für Iphigenie ist wahr, was für Nora galt, daß die Situation dem Sinn nach schief zu unserer Existenz steht -, oder wir konnten uns zum Inhalt unmittelbar verhalten dann fühlen wir, daß unsere Existenz schief zum wirklichen Leben steht. So oder so wird die absolute Hoffnung, in der uns zu bestärken das sicherste Wahrzeichen des Kunstwerks bildet, niedergehalten, wir erfahren nicht sie, sondern ihr Fernsein, und das Gefühl der Verlassenheit durchdringt uns noch tiefer als zuvor. Der Pragmatismus der Religionen. - Die Schalheit der Weltreligionen, ja der berühmten Philosophien, besteht darin, daß sie samt und sonders im geheimen und im nicht einmal so geheimen Verstande nicht bloß als Lenkungsmittel der Völker funktionierten - das weiß man ja -, sondern als Gängelbänder ursprünglich schon gemeint waren. Am wenigsten galt das für die ärmsten und naivsten der Gläubigen und vielleicht noch für Jesus von Nazareth. Bei den Buddhas und Mohammeds ist's schon anders, jedenfalls überrascht den unvoreingenommenen Betrachter der tiefe Pragmatismus im Kern der Weltreligionen, die Illusionslosigkeit, die — bei aller Verschiedenheit der Legenden und kultischen Apparaturen die Weltreligionen zu Gebilden macht, die sich zum Verwechseln ähnlich sind. Im Grunde sind sie alle schon so synthetisch, gekünstelt, manipulatorisch wie die kitschigen Sekten ä la Christian Science. - Vielleicht sollte man es der Gegenwart zum Ruhme anrechnen, daß heute selbst die Gläubigen etwas davon ahnen, ja daß selbst der ehrlichste Anhänger die Religion pragmatisch nimmt. Der Verdacht läßt sich freilich nicht abweisen, daß schon die Märtyrer mit dem Gefühl in den Tod gegangen sind, daß ohne Religion die Menschen unmöglich zu lenken wären. Waren sie am Ende Märtyrer - des Fortschritts? Notiz zur Dialektik. - In der Dialektik geht eigentlich alle Gegensätzlichkeit auf einen einzigen, fundamentalen Widerspruch zurück, ja jeder bestimmte Widei sprach im Gang der Entwicklung selbst ist eine Gestalt dieses selben entscheidenden Widerspruchs. Die philosophischen Probleme, die sich an den Begriff der Dialektik als ganzer knüpfen, wie die Frage der Versöhnung innerhalb
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oder jenseits der Geschichte, des Verhältnisses von Geschichte und Vernunft, Logik, Natur und Geist, abgeschlossener und unabgeschlossener Dialektik, beziehen sich in letzter Instanz auf jenen Widerspruch und können nur von ihm aus begriffen werden. Es ist der zwischen Wahrheit und Erfüllung. Ob das Absolute mit dem Ziel der Sehnsucht aller Wesen, das Gute mit der Utopie zusammenstimme, ist so tief unbestimmt, daß die Bestimmung mit der Ausführung des gesamten Systems zusammenfällt. In der Hegelschen Logik ist die Frage vorentschieden — im Sinne der christlichen Kultur; das Hegeische System geht von der Hypothese aus, daß die Versöhnung gewiß sei, daß das Sein zugleich gut sei, vom christlichen Gottesbegriff. Und noch bei Marx, der ihn verneint, ist der theologische Charakter der Geschichte, die Einheit von theoretischer Einsicht und ihrer politischen Anwendung — oder vielmehr die Gewißheit der Anwendbarkeit das Apriori seines Denkens. — Wir aber gehen nicht mit so selbstgewisser Geste über das für so große Denker belanglose Sterben der Kreatur hinweg, die Dialektik ist uns kein Spiel, dessen Ausganges wir sicher wären. Sie ist ernst. Wenn der Widerspruch sich nicht versöhnt, wissen wir, daß die ganze Anstrengung des Denkens sinnlos war. Damit aber sind wir dem Begriff der verfemten »unendlichen Aufgabe« verdächtig nahegerückt. Hätte Hegel vielleicht nur mit dem Gewaltstreich jener »Hypothese« seine Folgerichtigkeit erkauft, so daß am Ende das ehrliche »Postulat« und die regulative Idee unserer Lage angemessenere Ausdrücke wären als der mit sich versöhnte Begriff? Absteigende Linie. — Weg der Aufklärung, dargestellt in der Verkürzung der Namen. Vom großen Schmuck der rühmenden, in den Namen aufgenommenen Ahnenreihe bis zu den bürgerlichen und schließlich Vor-Namen, bei denen dann aus Robert der Kürze halber Bob werden muß. Die Aufklärung führt so in der Namengebung die Majestätsrechte allgemein durch: was vorher den Louis mit der Kardinalzahl vorbehalten blieb, gilt jetzt für jeden - der Sprung von der Qualität in die bloße Quantität gilt für die Richtung der Monarchen auf die Bürger. Zwischen jenen und den Zuchthäuslern, die man ja auch nach Nummern benennt, besteht die Affinität von Randfiguren der bürgerlichen Ordnung.
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Mythos und Aufklärung, - Wir denken immer daran, daß Mythologie - dem geistigen Gott gegenüber - falsche Religion ist. Gegenüber der total dunklen Welt, der drohenden des Primitiven sowohl wie der nichtssagenden des Primitiven, enthält sie doch ein Positives — das, was Bedeutung gibt, immerhin den Anfang der Relativierung, der Negation. Staats-Räson. - Vielleicht besteht die Bedeutung der Etatisierung in unserer Epoche darin, daß die Menschen dann sich über den Staat erheben können, wenn sie ihn erst einmal durch den Druck, den er auf sie ausübt, in sich selbst aufgenommen haben. Der freie Bürger entstand, als das Mittelalter die Stämme der Völkerwanderung kraft der furchtbaren Disziplin der verbündeten kirchlichen und säkularen Mächte so weit gebrochen hatte, daß der Einzelne die Würde, die ihn unterwarf, als Menschen-Würde in sich trug. Sollte etwa jetzt, in dieser schrecklichen Epoche, ein ähnlicher Prozeß, aber auf höherer Ebene, mit den ganzen Menschen und der ganzen Menschheit vor sich gehen? Dies würde das verstärkte Leiden im allgemeinen und im besonderen die Verzweiflung derer erklären, die schon zivilisiert waren und nun aufs neue durch die Mühle müssen. Relativität, — Um die »Relativität«, vor allem die Zeitbedingtheit, unserer geistigen Existenz mit allen Ideen zu erfassen, braucht man nur etwa Musik auf einige Monate zu meiden und sie dann mit fremden Ohren zum ersten Mal wieder zu hören. Sie kann klingen wie eine total fremde, in sich geschlossene ferne Welt, die auch wieder — sinnlos — versinken kann. Versuchung. - Die Versuchung, die eine Frau auf den Mann ausübt und vice versa, ist immer die, ob nicht bei dieser Umarmung die Welt sich verwandelt und das Absolute verwirklicht wird. Man weiß nie, ob bei dieser Vereinigung nicht das völlig Neue sich ereignet. - So ist die Liebe immer - das Sakrileg. Die geförderte Wissenschaft. - Man schaue sich die Verwalter der Wissenschaft, die Agenten der Foundations an - ihren nüchternen, bitteren Blick, und man wird dahinter die Auftraggeber erblicken,
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die ihnen auf dem Nacken sitzen. Die widerspruchsvolle Einheit von deren objektiver Machtfülle und subjektiver Unsicherheit in der gegenwärtigen Gesellschaft spiegelt sich bei den Verwaltern wider, die das Neue und Abenteuerliche hassen wie die Pest und sich, auch in der Wissenschaft, auf die großen Kongresse verlassen. Dahin fließt das Geld der Foundations, und so sieht die Wissenschaft aus. Der Vielbeschäftigte. — Zuweilen wundere ich mich, wie leicht die Menschen die Ablehnung einer Bitte, Einladung, eines beruflichen Angebotes hinnehmen, wenn es mit der Überbeschäftigung begründet wird. Die Ursache dieser Erscheinung hegt in dem Gefühl, daß Zeitmangel hohe berufliche Qualifizierung oder gar Vermögen anzeigt. Wer so ablehnt, zeigt an, daß er den anderen nicht braucht, das erweckt Respekt und Liebe. Ich kenne Menschen, die das instinktiv wissen und ablehnen, auch, wenn sie gar nichts zu tun haben. Sie geben sich dadurch ein Air von Wichtigkeit und erreichen mindestens, daß sie nochmals und mit größerem Eifer gebeten werden. Auch wenn das nicht geschieht, haben sie den Genuß des gesellschaftlichen Wertes ihrer eigenen Person. - Ich kenne freilich auch Menschen, die trotz vieler Arbeit mit dem anderen sich so zu identifizieren gewohnt sind, daß sie nicht leicht »nein« sagen können, selbst wenn die Bitte konventionell ist. (Vom materiellen Interesse, das die Beziehungen überwiegend regelt, sieht die obige Reflexion ohnehin ab.) Standort - Wie man doch den Standort berücksichtigen muß! Der Vorwurf der Amerikafreundlichkeit meint im heutigen Deutschland dasselbe, was man im Jahre 1925 mit einem Kommunisten bezeichnete oder 1940 - im Mittelwesten - mit Roosevelt. Hegel-Kritik. — Die Kritik an Hegel hat nicht dort einzusetzen, wo er den Geist bestimmt, ebensosehr nicht Geist zu sein. Gerade das nicht mehr als Theorie, als Denken Faßbare (und damit auch nicht gedanklich Faßbare), das sogenannte Moment der Praxis, das Aktive, Willensmäßige gehört zum Geist, wenn er nicht abstrakt, nicht als Sparte in der Arbeitsteilung gedacht wird. Vielmehr bezieht sich die richtige Kritik an Hegel darauf, daß er die Aktion und ihre Resultate, soweit sie nur in der Welt vorhalten, a
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priori zu rechtfertigen entschlossen ist. Gerade dadurch geht dann bei ihm das Praktische im Theoretischen wieder auf, und der Unterschied wird nicht aufgehoben, was ja gerade in der Aktion nicht bloß der denkerischen - geschieht, sondern verwischt oder besser: implizite wieder durchgestrichen. Zwischen dem rein Theoretischen und dem Kindlichen einerseits und dem Praktischen andererseits aber hat eine ähnliche Affinität statt wie zwischen dem Praktischen und dem Väterlich-Mütterlichen; das Theoretische entspricht dem Beschütztwerden, das Praktische dem Beschützen. Auch der Schutz muß noch gerettet werden, sonst sieht die Vernunft in der Welt nur Regresssion und wird falsche Vernunft. — Das zu sagen klingt seltsam in einer Welt, in der die Führer und Magnaten, das Erwachsensein und die Protektion ohnehin angebetet sind. Wir aber geraten gerade deshalb in Gefahr, das andere zu hypostasieren. — Geist ist Reflexion — ichbezogen — hat stets ein narzißtisches, infantiles Moment — überall, wo sie bei sich stehenbleibt; selbst wo sie sagt: ich schäme mich, Mensch zu sein. Wenn du dich schämtest - könntest du dich dabei aufhalten, es zu konstatieren! Kriegsbericht. - Undurchsichtigkeit der modernen Kriege. Korea bedeutet es den Wunsch, veraltete Waffenloszuwerden, das Experimentieren mit neuen, das Messen strategischer und sonstiger Methoden wie in Spanien — oder einfach das, als was es den Völkern präsentiert wird? Es besteht der Verdacht, daß es in den Beratungen der allerhöchsten Stellen so einfach zugeht wie in ihren Verlautbarungen - jedenfalls nicht viel anders. Besitzindivdualismus. - Es wird eine Zeit kommen, da man gar nicht mehr verstehen wird, daß nicht ein Einzelner mit dem Besitze tun könnte, wie ihm beliebte. Das ius usus abususque, das doch von der Gesellschaft verliehen und erhalten war und gerade die Gleichgültigkeit gegen sie ausdrückte, wird als irrer Widerspruch erscheinen. - Aber jene Zeit wird auch nicht mehr ahnen, daß eben dieses Recht den Einzelnen zum König machte - eine Vorwegnahme, ohne die die Gesellschaft nie eine menschliche werden kann. Denn Mensch sein, heißt König sein.
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Die besondere Exklusivität der Liebe. - Die Einheit des Allgemeinen und des Besonderen wird in der Liebe offenbar. Indem du diesen besonderen Menschen liebst, liebst du, was in allen Menschen, ja in allen Kreaturen ist, denn die Menschheit lieben oder vielmehr das Leben — denn die Menschheit exklusiv zu lieben, widerspricht sich selbst - kann man nur im konkreten Einzelnen. Dabei wird auch offenbar, daß die Trennung von Leib und Seele ein Akt der Abstraktion ist, der wieder zurückgenommen werden muß, denn man liebt nicht entweder die Seele oder den Leib oder das eine plus das andere, sondern diese Stirn und diesen Mund und diesen Gang als die des bestimmten Menschen. In dieser Begrenzung aber, wenn sie sich ihrer zugleich als solche bewußt ist, besteht die Liebe zum Ganzen - sozusagen in der gebrochenen Exklusivität. Spinoza, strenger zugleich und milder als Bruno, kommt diesem Wissen sehr nahe, aber als Stoiker will er das Einzelne nur achten, weil das Ganze darin sich spiegelt, und gerade das »weil« — sozusagen die Reflexion als Bedingung, als Rechtfertigung a priori der Identifikation mit dem Besonderen - nimmt dem Besonderen, dem Vergänglichen, sein Gewicht. Die Liebe gilt dann doch wieder dem Allgemeinen, das eben mit der Intellektualisierung des Besonderen seinen Inhalt verloren hat. Im Christentum verhält es sich gar nicht so verschieden. Die Forderung der Nächstenliebe »um Gottes willen« gerät nur dann nicht in den selten schlechten Widerspruch, wenn man - wie es freilich die große Theologie immer getan hat — Gott so gründlich von seiner Schöpfung emanzipiert, daß er mit allem Reichtum der lebendigen Welt begabt wäre, auch wenn es gar keine Welt gäbe. Sobald Gott auch nur eines dankbaren Blicks eines sterblichen Wesens bedarf, um ganz Gott zu sein, bleibt auch die große Liebe »um Gottes willen« nicht die zum Absoluten. Die so erscheinende Bedürftigkeit Gottes, die von der Patristik mit Recht als heidnische Unterstellung gebrandmarkt worden wäre — die Götter, die der Opfer bedürfen! -, wird im Judentum durch Gottes Affekte, Zorn und Trauer, im Christentum durch die Lehre von Gott als dem Menschensohn anerkannt. In beiden ist das Leiden, die Abhängigkeit Gottes gesetzt, nur daß im Christentum durch die Auferstehung, die immer schon vollzogen ist, das Ganze vorentschieden und — man möchte sagen — theoretisch verharmlost ist. (Daher Eckarts Ausweg.) - Wir selbst erfahren den Wider-
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spruch, daß die Liebe zum Allgemeinen nur dann in der zum Besonderen sich verwirklicht, wenn wir aufs Allgemeine Verzicht leisten - und andererseits die Liebe zum Besonderen nur gerettet wird, wenn die Begrenzung, die Exklusivität, die es vom Allgemeinen trennen, als zufällig erfahren - und in diesem hier das Leben lieben. Sonst wird die Ausschließlichkeit borniert. Eben weil diese Stirn und dieser Mund einzig sind, sind sie nur ein Beispiel. Wenn ich das an ihnen selbst nicht erfahre, bleibt meine Liebe - ein Versehen. Deutsche Empfindsamkeit. - Ein merkwürdiges Phänomen in Deutschland: Man ist empfindsam geworden gegen den starken kritischen Ton. Er erscheint »geschmacklos«, wie heute, im Jahre 1954, die bloße Erwähnung der Konzentrationslager. Empfindsam angesichts der eben vergangenen Geschichtsperiode. Was da in den seelischen Gewölben drunten gehalten werden muß, wenn schon der Name des Geschehenen als gefährlich empfunden wird. Es ist das Gegenteil der Überwindung durch Bewußtsein, die Anti-Therapie. Weil das drunten aber nicht genannt werden soll, wird es nicht gebannt, es verhärtet sich und wird noch böser — ohne die heilende Kunst der Erinnerung. Wie schwach ist diese wunderwirkende Nation! Politik und Publikum. - In der Politik der fünfziger Jahre ist es jetzt so wie in der motion picture industry. Man steht nicht zu einer Sache und sucht, das Publikum für sie empfänglich zu machen, sondern man will sich fürs Publikum empfänglich machen und dann zu ihm stehen. Solcher Verlust der einen Seite, nämlich der Sache, muß notwendig die hypostasierte andere Seite, nämlich das Publikum, schließlich zunichte machen, also gerade das Gegenteil von dem zustande bringen, was scheinbar beabsichtigt ist. Das vergeblich respektvolle Verhalten zum Publikum erweist sich als Verachtung und Selbstgerechtigkeit, denn in ihrem tiefsten Innern ahnen die sozialdemokratischen Bürokraten nicht weniger als Metro'Goldwyn-Mayer, daß das Publikum eben durch die Sache, die sie ihm schaffen sollten, sei sie theoretisch oder ästhetisch, politisch oder bildnerisch, jeweils erst ein Wesen erhält. Sie sollen die Arbeit fortführen, durch die die Öffentlichkeit Achtung verdient.
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Indem sie nun nur die Sache dem Publikum und gar nicht mehr dieses der Sache gleichmachen wollen, wird die bloße Anpassung zur Sache selbst; anstelle des Publikums als eines bestimmten, dem sie zu dienen behaupten, treten ihre eigenen bornierten und vergröberten Vorstellungen von ihm als einziger Leitfaden, sei's bei der Herstellung des Films oder der politischen Propaganda. Hinter der Selbsttäuschung aber verbirgt sich der bloße Wille zur Selbstperpetuierung, der disziplinlose Hunger auf box office oder Wahlerfolge; die Machtgier, verbunden mit der maßlosen, nicht zuletzt aus Schuldgefühl über das zu ihrem Leidwesen nicht ganz verdrängbare aufklärerische Erbe stammenden Angst, bedingt den katastrophalen Mangel an Phantasie. Die Angst der deutschen Sozialdemokratie, bewußt und unbewußt, durchherrscht ihre tapfere Geschichte von jenem Bebel an, der den Schießprügel auf die Schulter nehmen wollte, über die Bewilliger der Kriegskredite für unseren Kaiser, über den Organisator der weißen Heeresverbände, Noske, dem die SA noch zu Dank verpflichtet war, über den Minister Braun, der die Polizei des demokratischen Staates, wenn auch schweren Herzens, gegen die Handlanger der Braunen einzusetzen sich versagte, über Severing, den Gesetzestreuen, den Mahner der zum Schutz der Republik bereiten Arbeiter, daß sie nicht versuchten, das Hitlerreich gewaltsam abzuwenden, als es noch Zeit war, von allen jenen sittenstrengen und gewissenhaften Kiembeamten bis zu ihrem Inbegriff, Herrn Ollenhauer. Ein Produkt der Angst vor dem Gedanken, der den Dingen an die Wurzel gehen könnte, ließ dieser Vorsitzende der Opposition, um seinen Wählern nahe zu sein, sich von seinem eigenen Propagandaapparat bestätigen, daß sein Gesicht vom Intellekt nicht durchfurcht sei, und das stimmt für seine Politik. Das Vaterland kann ruhig sein. Nachdem die Bauern und Käsehändler, die er mit sturem Nationalismus ködern wollte, durch den Wahlausgang bewiesen haben, daß sie tiefer blikken als er, nämlich durch die nationale Phrase hindurch auf die geschäftliche Realität, und daß sie also der Intonation, mit der jene erklingt, schon anmerken, was für diese, will heißen, die Preise, zu erwarten steht, hat er versprochen, sich noch besser anzupassen und zugleich am Nichtbewährten festzuhalten, ganz wie Hollywood nach einem flop. Nur nicht zur Sache: das Publikum ist Herr, der Pofel war noch zu gut. In Europa 1955, in dem endlich
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der pfiffige Einfall von 45, die Niederlage rasch noch dadurch in Sieg zu verwandeln, daß man als treuer Eckart gemeinsam mit dem perfiden Albion und den anderen verjudeten Plutokratien gegen das ehemals verbündete Rußland zöge, noch zu seinem Recht zu kommen scheint, in Europa, das unter der Parole Europa soeben integriert und begraben wird, bietet die deutsche Opposition in der Tat den Anblick eines nicht einmal monumentalen Schundfilms.
Gedankenfreiheit. — An der Polemik gegen den Nachtwächterstaat (z. B. Saint-Simon) mag etwas richtig gewesen sein, inzwischen aber ist der Leviathan schon ein so ungeheures Ungeheuer geworden, daß wir auch dort, wo er selber sich vorerst noch als Nachtwächter im Dienst der bürgerlichen Ruhe ausgibt, nicht mehr sagen und schreiben und denken dürfen, er sei ein Ungeheuer. Nur so im allgemeinen ist das erlaubt, etwa, wenn man gleichzeitig zu verstehen gibt, es gehe gegen die Sozialversicherung. Ein einzelner Mensch sein wollen, Zeit wollen, um ruhig zu denken, und gar die Freiheit, es zu sagen — auch wenn es ganz gegen die Forderungen der Zeit geht anstatt mit ihnen —, das wirkt jetzt schon fast so pervers wie vor hundert Jahren die Promiskuität. Natürlich gehört es zu diesem Zustand, daß schon die im Ernst vertretene Behauptung, es gebe keine Gedankenfreiheit, zur Ächtung oder Schlimmerem führt. Denn nur bestimmte Mißbräuche der Gedankenfreiheit, das heißt die verantwortliche Erwägung dessen, was vom Ungeheuer jeweils verpönt ist, können ja offenbar zu der perversen Behauptung führen, nur das wenige, was gerade verboten ist, sei des beschützten Gedankens wert. Als ob die Gedankenfreiheit nicht gerade darin bestünde, daß man das Verbotene durchdenkt - anstatt es zu verdrängen, zu projizieren und was dazugehört. Gerade das Denken des Verbotenen müßte der Staat schützen, wenn er nicht längst schon etwas anderes als den Menschen schützte. Wer wagte es, hier forzufahren! - Wer bist du, daß du diesen Ton anschlägst? Das Böse, Hämische ist daran unwichtig. Nicht weil du ohnmächtig bist, sondern weil der Ton der Macht im Mund des Mächtigen wie des Ohnmächtigen falsch ist. Das Falsche besteht darin, daß du, der du dich im Leben hältst, an der Unterdrückung der Freiheit teilhast, daß man nicht Entzug der Gedankenfreiheit böse denunzieren kann, wenn man sie mitmacht, ja alles mitmacht, was dazugehört ~ den Betrieb, das Großtun, das Fleischfressen. Du erstickst zuviel, um anklagen zu dür-
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fen. Du bist verzweifelt darüber, daß du nicht die Wahrheit so leicht sagen darfst, wie du willst - der kritische Tonfall macht es sich viel zu einfach —, und vermengst deinen persönlichen Ärger mit der Anwaltschaft für alles, was nicht sprechen kann. Das Ende des Sprechens. - Wir beklagen, daß man nicht mehr sprechen kann. Die Menschen sind stumm, soviel sie auch reden mögen. Allzuleicht jedoch vergessen wir, daß die Sprache deshalb tot ist, weil der Einzelne, der zum anderen spricht, als Einzelner, sagen wir als denkendes Subjekt, nichts mehr zu sagen hat — in dem Sinn, wie es heißt: »Der hat nichts zu sagen«, das heißt, der ist ohnmächtig, er kann nichts vollbringen, auf sein Wort hin geschieht nichts. Es hat nichts zu sagen, heißt, es hat keine Konsequenzen, es bedeutet nichts, es tut nichts, es macht nichts. Wenn heute zwei miteinander reden, so mag ihre Rede ein Vermittlungsglied in einer vorherbestimmten, festen Kette von Machtauswirkungen sein, wie etwa die Rede der Marionetten aus dem Osten in den Versammlungen der Vereinten Nationen, aber das Gespräch zwischen zwei Bürgern erzeugt keine Kette von Ursachen und Wirkungen in der Welt, wie einst, wo von Argument und Gegenargument selbst nicht etwa bloß der Tauschvertrag als kennzeichnendes Fundament der ökonomischen Bewegung (man denke auch an den Gesellschaftsvertrag, der retrospektiv von der Marktwirtschaft her gesehen als der schöpferische Akt schlechthin erschien), sondern in jeder Hinsicht, selbst in machtpolitischer (von religiöser schon ganz zu schweigen), das Neue ausging. Heute ist die Rede schal, und die, welche nicht zuhören wollen, haben gar nicht so unrecht. Einesteils ist das Wort Lenkinstrument der armseligen Führergestalten der Massengesellschaft, ihr hypnotischer Hammer, der aus den Mäulern der Rundfunkgeräte und in der Einsamkeit der Untersuchungsgefängnisse zusammen mit den übrigen Foltermethoden Gehorsam erzwingt; andrerseits fristet es am Rande der zu Ende gehenden bürgerlichen Zivilisation ein mickriges Dasein als Bildungsgespenst. Aber auch von ihm lassen sich die verschüchterten ratlosen Nachkommen der Gebildeten bloß deshalb heimsuchen, weil sie schon die Morgenluft wittern, in der an die Stelle des Psychoanalytikers der Große Bruder tritt. Sie suchen Anweisung, weil sie selbst nicht mehr mit anderen redend einen eigenen Weg
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auftun können, einen eigenen Weg bahnen können. Deshalb ist es auch heute vergeblich zuzuhören. Das Sprechen ist überholt. Freilich auch das Tun, soweit es auf das Sprechen einmal bezogen war. Studienreform. - In meiner platonischen Akademie bekämen die untersten Klassen Kritik der politischen Ökonomie zu hören und hätten alle Konsequenzen zu ziehen. Sie würden zu aktiven Dialektikern erzogen und mit der Praxis vertraut gemacht. In den oberen freilich hätten sie — ohne das erste zu vergessen — den MalIarm6 zu verstehen. Psychoanalyse als Richter. — Der psychologische Roman und seine Fortsetzung, die Psychoanalyse, legen den Nachdruck oder besser die Schuld auf innere Antriebe der behandelten Person. Sie machen das fremde oder auch das eigene Subjekt zu ihrem Hauptobjekt — nicht die objektive Konstellation. Mag das Subjekt sich rechtfertigen wie immer — es ist von vornherein verurteilt: seine Rechtfertigung gilt als Rationalisierung. Es ist ein altes Erbe der christlichen Seelenforschung, das von der Aufklärung gestützt wird, von Augustin über Pascal zu Vauvenargues und Freud — nur immer verlassener von der Hoffnung. Mit jedem Schritt dieser inwendigen Sondierung wird das jenseitige Heil, um dessentwillen sie begonnen ward, heilloser mit dem abstrakten Prozeß, durch den es erreicht werden soll, konfundiert, bis schließlich das Ziel ganz vergessen und der Prozeß, die Analyse für sich allein, angebetet wird. Die letzte Phase, in dem Possenspiel der Horneyschen »Selbstanalyse« trivial vorweggenommen, ist dann die »Selbstkritik« in der stalinistischen Welthälfte. In ihr wird ganz wie bei Freud dem ohnmächtigen Subjekt vom Untersuchungsrichter und schließlich - ihn vorwegnehmend und introjizierend — vom eigenen Ich die vorgeblich immanente Konsequenz des Gedankens oder Aktes entgegengehalten, den das Subjekt gewissermaßen naiv einmal vollzogen hatte. Was es auch dagegen sagen mag, es gilt als Rationalisierung der verfemten Absicht oder — bei Stalin wieder gröber als bei Freud - als Ausflucht und Lüge. Bei beiden steht schon vor der Prozedur der Tatbestand fest, der nachgewiesen werden soll, bei beiden ist man schon von Anfang an verurteilt. Aber die Exi-
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stenz der »Seele« bleibt auch bei Stalin anerkannt: in der moralischen Phraseologie wie in der Insistenz, mit der das Schuldbekenntnis gefordert wird. Das »pater peccavi« muß wenigstens in den Fällen gesprochen sein, wo der Galgen im Angesicht der Welt in Aktion tritt. - Gehorsam, Selbsterniedrigung, Reue und Bußfertigkeit, die altehrwürdigen Schmuckstücke christlicher Seelenlehre, erleben eine schaurige Renaissance und geben freilich damit etwas vom Geheimnis ihrer frühesten gesellschaftlichen Leistung preis. Der Terror der äußeren Mächte verwandelte oder besser ergänzte sich zu freiwilliger Disziplin. Wie es mit der Verinnerlichung je schon stand, hat Nietzsche gewußt. Frage: ob die »Selbstkritik« ein schrecklicher Anfang oder ein Ende mit Schrecken ist. Zum Antisemitismus. - Die Juden sind deshalb der Feind, weil sie das, was sich als absolut aufspreizt, den Götzendienst, die Nation, den Führer, durch ihre Zeugenschaft für den geistigen Gott relativieren. Sie finden in einem anderen den Halt, den die Nichtjuden bei den Medizinmännern suchen müssen. Daher ist ihr bloßes Dasein — daß sie zu dem »Volk Gottes« gehören — ein Stein des Anstoßes. Sie müssen beseitigt werden, je absoluter ein System sich gibt, desto dringender. Denn jeder Jude wird als Mitglied des jüdischen Volkes erfahren, also des Volkes, das seit bald zweitausend Jahren seinen Staat verloren hat, trotz aller Zerstreuung gehalten war durch seine Vorstellung von Gott, das Volk also im höchstmöglichen Sinn des Wortes, des Seins, von dem jeder fühlt, daß sein eigenes Volk ihm nicht entsprechen kann. Und gerade deshalb exaltiert er krampfhaft dessen Absolutheit. In seiner eigenen Isoliertheit, die er durch Vergötzung seines Volkes, als dem Kollektiv, dem er zugehört, vergeblich zu durchbrechen sucht, sieht er den Juden, der dazu nichts zu tun braucht, nicht einmal ins Bethaus zu gehen, nicht einmal seine hebräische Sprache zu sprechen, ja, der als Abtrünniger noch ein Teil des Volkes bleibt - in seiner Isoliertheit sieht der andere ihn im Besitze dessen, wonach er süchtig ist - einer Wesenheit. Daß die Menschen den Juden wesentlich als Juden erfahren, erweckt die Rachsucht, die nicht einmal der Tod besänftigen kann.
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Die Nichtigkeit des Individuums. — Angesichts der neuesten Astronomie, nach der die Erde nicht bloß keinem Mittelpunkt - und was wäre das schon —, sondern eher dem blitzschnell verglühenden Funken in einer Atomexplosion vergleichbar ist, erscheint die Zentrierung des Erlebens ums eigene Ich pure Idiotie. Nicht, daß die bewußten Vorstellungen — Re- und Protektionen, wie Husserl sagen würde, aufs Ich bezogen oder — nach Freud — vom Ich organisiert sind, steht in Frage — das ist ein Tatsachenproblem —, sondern was es für einen Sinn habe, meine Gefühle, Aspirationen, mein Weltverständnis, mein Glück und Unglück, Ehre und Schande, davon abhängig zu machen, was dem Empfindungs- und Atomkomplex, der meine Namenmarke trägt, in der Mikro-Wuselwelt zustößt, die menschliche Gesellschaft heißt. Dieser Unsinn ist nicht bloß ebenso überholt wie die geozentrische Weltansicht seit Kopernikus, sie ist schon seit Stoa und Boetius schlechthin verrückt. Sie ist ebenso unangemessen wie die Meinung, die Erde sei nicht etwa der Mittelpunkt unseres Sonnensystems, sondern sie sei das Zentrum des Universums schlechthin. Der Schopenhauersche Gegengedanke im Beginn des zweiten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung, daß doch das erkennende Subjekt die Voraussetzung, die Bedingung der Vorstellung des Universums sei, daß die Welt meine Vorstellung ist, vermag gegen diese Einsicht gar nichts. Denn eben in dieser meiner Vorstellung erscheint es ja als verrückt, meinen Glauben, mein Glück und Unglück von dem abhängig zu machen, was - in meiner Vorstellung - als das Belanglose erkennbar ist. Denn das Subjekt der Erkenntnis, dem mein Individuum in derselben Nichtigkeit erscheint wie alle anderen, hat eben diese Nichtigkeit und Relativität in seine Reflexionen einzusetzen — und nach der Wahrheit sich zu richten, nicht nach dem Zufall, daß es mit diesem Individuum gerade verbunden ist. Die Taten und das Ergehen des eigenen Ichs als ausschlaggebendes Kriterium für Lust und Verzweiflung sind zwar äußerst suggestiv — wie Tiere können wir nicht davon loskommen, wie Tiere sind wir dieser Angst ausgeliefert, aber sie ist nicht logischer als die des Wilden vor der Sonnenfinsternis. Und das Tier hat uns dabei noch zweierlei voraus. Es kennt die Angst nur im Augenblick der Gefahr, und es kennt nur die Angst, nicht Ehre und Ruhm. Es ist nur Opfer der unmittelbaren Suggestion. Geist sollte - durch alle Vermittlungen der Er-
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fahrung der gesellschaftlichen Gefühle hindurch — uns von jener letzten noch befreien, anstatt auch diese, die gesellschaftlichen Illusionen zu verstärken. Schreckbild Perversion, - Welch ungeheure Masse verdrängter Wünsche nach anderer als regulär genitaler Triebbefriedigung müssen in den Menschen wohnen, da sie immer zur Wut bereit sind, wenn das Wort Perversion ertönt. Wehe dem Opfer des tyrannischen Regimes seit dem Beginn des Mittelalters, bei dem der Verfolger auf das Perversionsmotiv verfiel. Es ist keine Marter zu furchtbar, keine den Massen genug - denn keine ist stark genug, daß sie den Brand in sich löschen können. Keine vermag sie für die eigene Versagung zu entschädigen, die sie nicht überwinden können. Der Genuß, den sie bei der Perversion imaginieren, scheint ihnen so übermenschlich, daß die Qualen, mit denen er vergolten wird, nicht mehr menschlich sein sollen. Und doch gibt es kaum ein Vergehen, das so wenig Leid zufügt wie die Perversion. Es sei denn, daß Gewalt im Spiel ist. Aber gilt das nicht bei jedem Geschäft? Wie der Raubmord das non plus ultra der Übervorteilung, so der Lustmord das non plus ultra sexueller Leidenschaft. Mit dem Problem des nicht gewöhnlichen Sexualhandels hat das so wenig zu tun wie »Geld oder Leben« mit dem Imperialismus des großen Geschäfts. Nein, weniger. Die weltgeschichtliche Persönlichkeit. - Bei Stalin und ähnlichen Typen macht man sich viel zu großartige Vorstellungen über ihre »grandiose tiefgründige« Persönlichkeit - einfach weil sie so viel Macht haben. Aber der Umstand, daß einer so hoch klettert und nachher soviel Übel anrichten kann, zeugt keineswegs für die Großartigkeit seines Charakters oder auch nur seines Denkens. Man unterschätzt, wie weit einer mit Brutalität kommt, wenn er nur einmal einen wichtigen Posten erreicht hat. Stalin ist persönlich wahrscheinlich nichts weiter als ein brutaler Gangsterhäuptling, der keine Kritik verträgt und die anderen wie Dreck behandelt, wenn sie nicht gerade mächtiger sind als er, was nur außerhalb Rußlands vorkommt. Er ist höchst uninteressant. Nur der Schrekken, den er ausbreitet, ist übermenschlich. Wie harmlos erscheinen seine Kollegen AI Capone und Mickey Cohen gegen diese welthi-
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storische Figur. Überhaupt - die Weltgeschichte - und erst die geschriebene. Je grauslicher ihr Gegenstand wird, um so verlogener sind ihre Annalen. Arbeitgeber — Arbeitnehmer. — Dem freien Unternehmer drohte nach langen Fehlern, die vom unverschuldeten Mißgeschick nach außen kaum zu unterscheiden waren, der Bankrott. Er mußte wieder beginnen. Der Angestellte vergeht sich, wird entlassen - ist in ständiger Gefahr der Zurechtweisung — ja Bestrafung. Welchen Unterschied im Selbstbewußtsein, bis in die kleinsten Einzelheiten des Charakters und der Lebensführung muß das im Gefolge haben! Emanzipation als Anpassung. - Eine Folge der technisierten Massengesellschaft: die Konkurrenz der Frau um die männlichen Arbeitsstellen. Die Frau hört auf zu dienen und wird Angestellte. Der Prozeß ist notwendig, aber er liquidiert die entscheidendste Sphäre, in der sie ein nicht verdinglichtes Leben noch fristen konnte. Schon als die Dessous durch die Slacks verdrängt wurden und es nichts mehr auszuziehen gab als diese, war das Zwischenreich, von dem die Liebe lebte, dahingeschwunden, und jetzt ist mit der Kuhmagd die Lady, mit dem Dienstmädchen das Freudenmädchen und mit dem Aschenbrödel die Prinzessin auf den Film gekommen. Sie werden zu Ideologien. In der Wirklichkeit geht es für beide Geschlechter nur noch um Stellungen; die Stellungen heute haben nichts mit Sades menschlichen Pyramiden gemein, wenn freilich Van de Veldes Praktikum die Vermittlung herstellt zwischen der Philosophie dans le boudoir und der Freizeitgestaltung in der Arbeitersiedlung. Dafür, daß die Frau nicht mehr zur Dirne zu werden braucht, verliert sie die Fähigkeit, Geliebte zu sein. Der Mann aber verlernt die Sehnsucht nach der ewigen Seligkeit, da das stellvertretende, ephemere Glück in den Armen der angebeteten Sklavin die Seligkeit nicht mehr in Erinnerung bringt. Und selbst dieses Glück zehrte von einer anderen Erfahrung, die der Geschlechtsdemokratie zum Opfer fiel: der Zartheit der Mutter, die ganz dem Kinde gehörte, die man verlassen hat. Heute kann man nicht mehr an sie denken, weil es sie nicht mehr gibt.
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Denken und Haben. - Im Wesenskern dessen, was wir das Denken nennen, steht das »Er-wägen«, das Abschätzen von Risiko und möglichem Gewinn, das Wechselspiel zwischen Festhalten und Mehren des Besitzes — ein Widerspruch, der das Lebenselement des Gedankens bildet. Wer als Kind am Vater, der sich und anderen viel verbieten konnte, die Gebärde des »vielleicht sollte ich dies doch wagen, das Unternehmen könnte gelingen« nicht erfahren hat, eine aus dem Widerspruch lustvolle Gebärde, die jene Strenge erst als sinnvoll erkennen läßt und selbst ein Erbe von Jahrtausenden bildet — der ist kein richtiger Mensch, wie wir ihn verstehen, der ist zu kurz gekommen. Aber die Gebärde ist nur möglich auf dem Grunde der Liebe zu dem, was man hat. Heutzutage ist das Riskieren leer und allgemein geworden, weil jener Grund geschwunden ist. Wenn man dem Bestehenden durch keine Liebe mehr verhaftet ist, kann man auch das Zukünftige nicht wirklich wollen — deshalb sind die Lobredner des Bestehenden heute, die es bloß mit dem Mord und aus Haß gegen das andere glorifizieren, stets bereit, jeden Umschwung zu akzeptieren — Geschichte ist ihnen fremd. Zwischenbilanz. — Die Revolutionäre haben ihre raison d'etre darin, daß das Bestehende überholt und ein andres an der Zeit ist. Die Herren von gestern fanden sie darin, das geschaffen und erhalten zu haben, was jetzt verschwinden soll. Die, die das Zukünftige erhalten werden, kennen wir noch nicht. Rückblick auf Clavigo. - Clavigos Freund Carlos erhält von der Nachwelt recht. In unseren Tagen wäre Marie wirklich bloß selbstsüchtig, neurotisch fixiert. Wo es doch so viele Männer gibt, warum des Besitzes dieses einen wegen zugrunde gehen und ihn zugrunde richten! Aufspreizen des Privaten. Carlos repräsentiert bei Goethe die Feudalität, seine Argumentation ist ganz und gar nicht frivol, sondern corneilleanisch. Der Ruhm gegen die »gemeinere«Empfindung, nämlich die, die man mit dem gemeinen Manne teilt. Das ist ein neues Licht auf unsere »Restaurationsperiode«. Die Abschaffung des Privaten, die »Relativierung« des Privaten vom Größeren her. Nur daß die Corneillesche »gloire« jetzt selbst als überholtes Privates erscheint - als besserer Job, und nur der Untergang des
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Ehrgeizes in der anonymen Gesellschaft übrigbleibt: Prominenz, die gegen ihre Träger sich verselbständigt hat. Er ist gerade noch genug, um in ihrem Dienst Interviews zu geben. Deshalb kann es auch keine Tragödie mehr geben. Kirchenväter und Propheten. - Bei den Christen ist in der Geschichte vom Paradies die Erbsünde die Hauptsache, bei den Juden die Vertreibung und der Wunsch nach der Rückkehr. Ad Freiheit. —Wo man nicht mehr unideologisch sagen kann: »Das unterstütze ich mit meinem Geld« oder ».. . mit meinem Geld nicht«, ist man in bezug auf diese Sache kein Subjekt. Heute ist das nur eine Redensart, da das Geld einer Privatperson belanglos ist. Zum Wesen des Menschen. — Der Blutdurst der Bauern und sonstiger Helfershelfer, wenn ein Wolf oder ein Berglöwe sich nächtlich ein Schaf holt, verrät die schlecht überwundene Gier nach rohem Fleisch - nach Zerfleischen und Überfall. Indem man den tierischen Räuber zur »Bestie« stempelt, schlägt man draußen mit abgefeimter Brutalität, was man drinnen in sich selbst nicht ausrotten kann, das Vor-Zivilisatorische. Es kommt darüber hinaus in dem bestialischen Haß gegen den Wolf aber noch weiter zum Ausdruck, daß man den eigenen Fraß, dem die Schafe ausschließlich vorbehalten bleiben sollen, insgeheim als die grauenvolle Praxis empfindet, die sie wirklich ist. Die Züchter von Haustieren erfahren im täglichen Umgang mit ihnen etwas von deren Indivualität und ihrem vertrauenden Leben. Der eigene Widerwille gegen den Mord am Beschützten, gegen den Verkauf an den Schlächter, ist in die untersten seelischen Schichten verstoßen und steigt in der Wut gegen den illegalen Fresser, der soviel harmloser ist als der verräterische Hirte selbst, mit blutunterlaufenen Augen herauf. Im Mord am Wolf bringt man das eigene Gewissen zum Schweigen. Die Gelegenheit ist günstig: man kommt sich dabei auch noch als Beschützer vor — und ist es auch in diesem Augenblick. Der Schutz ist zugleich Totschlag - qui saurait y remedier! -, nur die blutunterlaufenen Augen verraten, daß noch mehr im Spiel ist als die Dialektik der Zivilisation.
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Zur Ideologiekritik. — Je simpler die offizielle Ideologie, um so komplizierter heute ihre Ableitung. Diese Einsicht besagt, daß das Denken aus der Mode kommt. Furcht und Moral. — Versuche einmal deinen Gehorsam gegen Gott, zum Beispiel das Halten der Feiertage, ganz von der Furcht des Herrn zu lösen - aber ganz! -, und du wirst finden, daß das Kaprizieren auf die Beachtung der Gebote, sofern sie nicht an sich selbst als zweckmäßig erscheinen, in so etwas wie Mitleid gegen Gott — oder sagen wir »freiwillige Gegenleistung« übergeht. Und so sieht's dann auch aus. Soll ich eine wichtige, mir und anderen nützliche Arbeit liegenlassen, nur weil Gott am siebenten Tag geruht hat! — Aber täusche dich nicht. Der Gehorsam gegen Gott ist, wie Kant ganz richtig gesehen hat, in die Achtung vor dem Moralgesetz übergegangen, und mit ihr steht es haargenau wie mit der Gottesfurcht ohne Furcht. Es fehlt — wenn man den Nutzen nicht einsieht, und von dem soll doch abstrahiert werden - der Grund, warum die Moval gerade so und nicht anders ist. — Was bleibt, ist nur, daß überhaupt etwas Grundloses geschehen soll, die Distanz gegens Pragmatische, gegen das, was in dieser Welt Wirkung und Gültigkeit hat. Diese Distanz für sich allein enthält zwar keinen konkreten Hinweis darauf, was geschehen soll, sie gibt nichts an, vor allem keine Werthierarchie, und doch scheint sie in gewisser Weise eindeutig zu sein. Es rührt vorn Verdacht gegen die Richtigkeit der Welt her, so wie sie jeweils gerade ist, selbst noch gegen alle guten Motive. (Kant hat in der Tat mit seinem Mißtrauen gegen die guten Motive sehr tief gesehen.) — Wenn wir an die Offenbarung nicht in aller Schlichtheit glauben können, entsteht die Gefahr der Kälte, die in jener Distanz enthalten ist. Gegen die Wesenslehren. — Im Bereich des Begriffs ist es nicht anders als in dem der Musik: was ein Element sei, stellt sich erst im Fortgang heraus. Drei aufeinander folgende gleiche Töne sind zwar in sich selbst nicht nichts, sondern etwas. Aber ob sie etwas in sich Geschlossenes darstellen, einen dreiteiligen Rhythmus oder den Beginn einer Mozartschen Melodie, macht den Unterschied einer Welt aus, und man darf nicht denken, der erstere Fall sei
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eigentlich der Grundfall, gewissermaßen das »Natürliche«, und man könne aus ihm besser ihr »Wesen« bestimmen als aus der bestimmten Melodie. Dieser Irrtum liegt wohl den Wesenslehren fast ohne Ausnahme zugrunde, selbst wenn man das Wesen des Menschen aus seiner Existenz als Individuum zu bestimmen trachtet. — Eben deshalb besagt aber auch die Äußerung einer abstrakten philosophischen Lehre noch recht wenig, es sei denn, daß Ort und Ton einen Schluß auf ihre bestimmten politischen Konsequenzen zulassen. Es bedarf der Kenntnis der ganzen Melodie. Daß auf solche Weise alles Denken in der Tat bloß Stückwerk bleibt, ist kein Einwand gegen die Forderung, es so weit wie möglich zu treiben. Über Kleider. - Den Frauen hängte im 19. Jahrhundert der Liebhaber den Schmuck um den Hals. Die kostbaren Kleider kündeten den Triumph, daß er die schone Maitresse sein eigen nannte. Der Rückstand von unsublimiertem Exhibitionismus im Mann, der im Glanz der Geliebten eine Art legitimen Ausdruck fand, erhielt in ihrem Reiz auf die anderen seine Befriedigung und die Bewunderung der Kenner, barg ein Element erlöster Homosexualität; die Maitresse stand für den Liebhaber, in ihr bewunderte man ihn. Mit den Dessous der weiblichen Garderobe ist auch dieser ephemere Untersinn verschwunden. Die professional woman von heute trägt Kleid und Schmuck, von Fragen der Laufbahn abgesehen, als herabgesunkenes erotisches Kulturgut. Sie beschafft sich das Kostüm aus eigenem Gehalt, und der erhöhte Sex-Appeal des Schnittes vermag so wenig die geheimen Gefühlsingredienzien herbeizuzwingen, ohne die der Zauber zum Glamour herabsinkt, wie die Slacks die Hosen der weiblichen Pagenrolle ersetzen, in der die verschlungene Einheit von Liebe und Homosexualität in Erscheinung trat. Die Frauenkleider heute sind Attrappen, Schemen vergangener Wesenheiten, wie die Eigenschaften und Gefühle, mit denen die zerfallende bürgerliche Welt, die kein Eigenes aus sich mehr erzeugen kann, den Anschein des Lebens erweckt - eine Art dürrer Romantik, die die Erinnerung ans Gewesene durch das Bekenntnis ersetzt, es existiere noch. Die professional woman präsentiert den Ehekontrakt und will so wenig das Baby missen wie die Italienerin, sie mimt den Kunstgenuß wie die erotische Hin-
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gäbe, die für sie nur timings sind im Ernst des Lebens, das kein Leben ist. Jugendbewegung. — Die Jugendbewegung entsprang nicht zuletzt daraus, daß man im väterlichen Geschäft keine Chancen mehr sah. Das Maul. - Die Art, wie die Gesichter, die Körper von Filmstars fotografiert werden, die Covergirls, die Großaufnahmen, führen auf die Vergötzung der einzelnen Körperteile — nicht einmal bloß auf die des Leibes als ganzen - zurück. Der lächelnde, gierige oder lüsterne Mund hat die erotische Bedeutung (als Vagina-Symbol) schon hinter sich gelassen und gleicht dem Maul des Moloch, das angebetet wird, weil es die Kinder verschlingt, oder man weiß nicht warum, man hat es schon vergessen, es ist nur noch — das Maul. Gleichberechtigung als Egalisierung. — Die »Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Ehe«, das paßt den Herren von heute ausgezeichnet in den Kram. Das bedeutet nämlich, daß die Konkurrenz, die »human relations«, kurz die Entfremdung, auch in der sogenannten gesellschaftlichen Zelle noch die Menschen gegeneinander isolieren, daß es keine verwirklichte mikroskopische Utopie, keine verschworene Gemeinschaft, auch nicht im kleinsten mehr geben kann und der Mensch nackt vor der Maschinerie des Allgemeinen steht. Man sieht, wie wir bei unseren Nachhutkämpfen schon mit der Kirche gemeinsame Sache machen. Wie so oft bei freiheitlichen Dingen hatte sie — durch den Beichtvater — die verschworene Gemeinschaft dadurch vorweg gemildert und somit akzeptabel gemacht, daß sie in Grenzen tolerierte, was heute, da es in der bürgerlichen Gesellschaft im Namen des Privaten, der Freiheit, der Menschheit der Kontrolle sich entzog, liquidiert wird. Man konnte einigermaßen leben lassen, solange es sich auf die priviligierte Schicht der Bürger erstreckte, heute, bei der »Demokratisierung« der Gesellschaft, wird es gefährlich. Jeder muß Rechenschaft ablegen für alle. Daß mir keiner das Schlafzimmer als Schlupfwinkel der Denkfreiheit in Anspruch nimmt! Die Mitschuldigen. — Wir dürfen uns nicht beklagen, was auch kommt, denn wir sitzen ruhig und bequem in unseren Fauteuils,
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wir dinieren und diskutieren, wenngleich wir wissen, daß die Hölle los ist. Auch wir gehören zu den Teufeln — auch wir. Leben, Denken und Geld. — Man spricht so oft von der Genügsamkeit, die durchs technische Zeitalter aus der Mode komme. Ganz richtig. Die Genügsamkeit, in einem gewissen Sinne, ist Voraussetzung des Glücks, ja, der geistigen Genußfähigkeit. Aber wir können deshalb nicht genügsam leben, weil man ohne Geld, ohne immer mehr Geld — das hat schon Hobbes gewußt — der Brutalität, dem Tod, dem Terror preisgegeben ist. Ohne viel Geld gibt es keine Sicherheit und daher kein eigenes Leben mehr, und so viel Geld, wie man zu seinem Schütze braucht, um leben und — das schließt leben doch ein — denken zu können, hat keiner mehr, der zum Leben und Denken das Zeug hätte. Bürger und Bauer. — Daß das Bürgertum Opfer seines eigenen Mittels, des Geldes, oder der abstrakten Macht und Kaufkraft wurde, ja überhaupt alle Zwecke nur mehr als Rationalisierungen, Ideologien für den hypostasierten Tauschwert machte, ist hinreichend bekannt. Der Mechanismus, der dabei die wichtigste Rolle spielt, ist der Schwund des Gedächtnisses. Er zeigt sich in der eigenen Geistigkeit des Bürgertums, dem Skeptizismus. Der negierte Mythos wird nicht aufgehoben, sondern durchgestrichen, liquidiert, vergessen. Daher existiert er unbewältigt in den unteren Regionen fort, und schließlich fällt ihm der gedankenlose Sieger selbst anheim. — Das zeigt sich in der Auffassung vom Menschen selbst. Der Bürger nahm die Nacktheit des Menschen, seine Roheit und Blödheit im Bauern wahr, er gewann sein Selbstgefühl als Städter, der zwar nicht dem Adel zugehörte und doch ihm nicht Untertan war. Das Bewußtsein des Bürgers trägt die Spuren seines Aufstiegs an sich: er identifiziert sich mit dem Adel, dem er durch Arbeit und Sparen mühsam in der Herrschaft folgen muß, durch die Verachtung des Bauern, die niemals Sache des Adels war. Noch im Achselzucken des erfolgreichen Geschäftsmannes angesichts des kleinen Mannes steckt die Identifizierung mit der Kaste sowohl wie die Distanzierung von dem, der nicht ganz in die Stadt gehört. Der andere ist - wie der Bauer - bloß ein Mensch, und das will heißen, bloß ein Vieh. — Indem nun dieses andere, ganz negiert,
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im Sinne der Zivilisation noch Rohe einfach draußen gelassen und vergessen wird, überschlägt die Zivilisation sich selbst, sie hat die Roheit bloß bekämpft — in jeder Kindererziehung — und ist, am Ende der Epoche, im Begriff, ihr wieder anheimzufallen, weil sie unverändert im bürgerlichen Menschen selbst noch da ist. - Am weitesten sind die Franzosen gekommen, die Pariser zumal. Goethe hat die Sache zu der seines Lebens gemacht. Fast alle seine großen Werke sind Versuche, die Zivilisation konkret zu machen. Rousseau ist daher zu verstehen — auch Stifter. Dagegen Hollywood! Die Zukunft des Bürgertums. - Der Sozialismus war von Marx konzipiert als die höhere Phase der Gesellschaft, in der alles, was in der bürgerlichen sich entfaltet hatte, aufgehoben, das heißt zugleich seiner Verabsolutierung entkleidet und gerettet sein sollte. In Rußland sind die Elemente der Vorgeschichte da, aber, im Gegenteil, gebrochen und ins Gigantische verzerrt. Am augenfälligsten tritt dies in den Prozessen hervor. War es der Ruhm des Bürgertums, dem Einzelnen—wenigstens dem Prinzip nach—selbst als Angeklagtem oder Verdächtigem die Freiheit zu lassen, sich schuldig oder unschuldig zu bekennen, hatte der Staat die Pflicht, ihm selbst und der Gesellschaft die Wahrheit zu beweisen, so erkennen die Sowjettyranneien diesen Grundsatz an, nur daß der Staat, das strahlende Vehikel der je abgefeimtesten Clique, den Einzelnen zur Strecke bringt. Das geistige Wrack, das da gestehen muß, ist die Fratze des Menschen, den das Bürgertum—aus seinen eigensten Interessen heraus, nicht aus Inspiration, immerhin jedoch recht nachdrücklich — achten und vollenden wollte. Was in den Kellern seiner großstädtischen Polizeireviere sich abspielte, tritt dem Bürgertum jetzt im sogenannten Sozialismus als sein eigenes Zerrbild gegenüber, und das schlechte Gewissen, das in besseren Zeiten die anständigen Leute von solchen Schönheitsfehlern wegsehen ließ, starrt nun in den östlichen Vergrößerungsspiegel. Wenn das Bürgertum angesichts dieser Konsequenzen nicht in sich geht, wenn es vom Balken im Spiegel nicht wenigstens auf den Splitter im eigenen Auge schließt, wird das russische Zerrbild des Sozialismus das Modell für die letzte Phase der bürgerlichen Gesellschaft bilden. Hitler und seine mediterranen Kollegen haben schon den Anfang gemacht.
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Kritische Analyse und Pragmatismus. - Wer nach Osten sieht, gewahrt den Schrecken der Militärdiktatur. Bedeutet da sein Entsetzen schon die Integration in den integrierten Westen, da doch der integrierte Westen die einzige welthistorische Gegenmacht ist? Ist ohne solche Integration die Kritik nicht Luft, eitel Luft, wie das ohnmächtige Individuum, von dem sie kommt? Wird sie nicht zur leeren Meinung, da geschichtlich doch nur dort Substanz ist, wo es eine Macht gibt, die etwas anderes an die Stelle des Kritisierten setzen kann? Gilt nicht dasselbe auch umgekehrt? Muß nicht die Kritik am Westen nolens volens östlich sein? Kann es Kritik geben ohne historische Basis? Wird nicht der Verlust des pragmatischen Moments in der Kritik, der Hinblick auf die konkrete Möglichkeit, sie durchzusetzen, mit dem Übergang in eitlen Utopismus bezahlt? Gewiß gibt es ohne denkerisch fundierte, an realen Möglichkeiten sich ausweisende Hoffnung, die vom bloß willkürlich schweifenden Wünschen durch ihre Exaktheit sich unterscheidet, keine wahre Kritik. Sie aber ist die Seele der Geschichtserfahrung selbst, ohne sie gibt es nur Gefolgschaft — und sind nicht ungefähr alle heute, die über Geschichte reden, Gefolgsleute? Ohne exakte Kritik, die den Einzelnen zum Urheber und alleinigen Hüter und doch die Menschheit zum Subjekt haben kann, gäbe es nicht einmal die sinnvolle Erwägung, ob West und Ost am Ende gar nicht die Antinomie darstelle, an die sie uns glauben machen wollen. Bedürfnis. — Daß die Industrie die Bedürfnisse nach ihren Waren künstlich produziert, wußte man längst vor Hegel. Was den Denkern entging, war das Verschwinden des natürlichen Bedürfnisses selbst. Sie sahen den Widerspruch des erzeugten, sogenannten »kulturellen« Existenzminimums zur unentwegt geforderten Genügsamkeit der Massen, des Interesses an der steigenden Nachfrage zu dem an sinkenden Herstellungskosten, den Widerspruch zwischen der Masse als Konsumenten und Lohnempfänger. Die Erscheinung ist längst zurückgetreten; zugleich mit der Verwandlung der großen Wirtschaftsmächte in Institutionen und der Übernahme zahlloser wirtschaftlicher Funktionen durch den Staat hat sich auch die Gestalt der Nachfrage geändert. Jeder, der in dieser Gesellschaft existieren will, muß einen Lebensstandard haben, den die Situation vorzeichnet, und er muß - als Konsument, der selbst
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zum Produzenten seiner Fähigkeit als Angestellter wird — seine »privaten« Produktionsmittel, ohne die er nicht brauchbar ist, instand halten, erneuern, ergänzen usf.: sein Fahrrad, Auto, Radio, seine Wohnung mit allen Maschinen darin, die vorgeschriebene Kleidung und was je dazugehört. Er wird vom Konsumenten zum Abgabepflichtigen. Der Unterschied von Kaufpreis und Steuer, öffentlichem und sozialem Eigentum verringert sich, denn die Summe, die er für Instandhaltung der Straße und die seines eigenen Transportgerätes zahlt, sind beide gleich unfreiwillig, nur daß er das Transportgerät noch selbst bedienen muß. Mag sein, daß das neuste Bedürfnis jeweils erst noch der Stimulierung bedarf, etwa das echt kulturelle nach dem Fernsehgerät! Das gilt aber nur für eine kurze Spanne. Laßt erst einmal die Zeit der flammenden Reden wiederkehren, und wer nicht gehorsam in den Kasten guckt, ist schon subversiv. Man muß den Kasten haben. Das Beispiel ist lehrreich. Die ganzen Apparaturen, von der Weckuhr bis hinunter zur Langspielschallplatte, werden in der veränderten Gesellschaft zu Elementen der umfassenden Hypnose, der Gehirnspülung. Es begann damit, daß man die Bedürfnisse erzeugte, jetzt stellt sich heraus, daß die erzeugten ihrem Wesen nach auf gar nichts anderes als eben ihre eigene Erzeugung gerichtet sind. Die Hypostasierung des Mittels, der Prozeß der Verdinglichung, tendiert dahin, daß der Wille des Menschen nur noch darauf gerichtet ist, erzeugt zu werden, die leere Sucht. Es ist nicht wahr, daß die Maschine an sich selbst die Menschen kommandiert, die sie bedienen. Sie kommandiert nur dort, wo es kein Subjekt gibt, das über sie verfügt. Heute ist bei allen Einzelnen nur der Zwang zum Dienst, und die Verfügung vollzieht sich blind und anonym - trotz Führer und Wirtschaftsführer. Erst mit der Bildung eines verfügenden Subjekts wäre die Freiheit gesetzt — und das Bedürfnis. Zwei Seiten des Materialismus. - Toleranz - da alles sein muß, wie es ist. — Protest dagegen, daß alles so ist, wie es sein muß. Ferienlaune. — Der Begriff »Ferienlaune« denunziert den Alltag wie die Ferien und das Leben, das in sie auseinanderfällt. Daß man das Glück als eine der Zeit anzupassende Stimmung empfindet, läßt erkennen, wieweit es damit her ist: vorgeschriebenes
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Glück. Dem Alltag aber gebührt das Possenspiel des Ernstes, der von sich weiß, daß das Glück anderswo zu suchen ist. So haben sich die Menschen zu unserer Zeit ihr Dasein eingerichtet! Konkretes Staunen. — Das Staunen ist in die konkreteren Zweige der Philosophie übergegangen. Wer etwa zum ersten Mal gewahr wird, wie die Spaltung von Gefühl und Ratio, von Liebe und Interesse, von menschlicher Beziehung und Dienstverhältnis an den Übergang der Familie von geschlossener Hauswirtschaft in die »private« Sphäre der Konkurrenzgesellschaft geknüpft ist, dem fällt es wie Schuppen von den Augen. Er erfährt, daß Romeo und Julia einen Wendepunkt in dieser Geschichte ausdrücken, und entdeckt so die Bedeutung der Literatur. Er sieht, wie die »Heiligkeit« der naturwüchsigen Gemeinschaft auf die Zweieinheit der Liebenden übergeht und mit der romantischen Liebe das Individuum entsteht. Frage an die Psychoanalyse. — Ist eine Liebe deshalb suspekt, weil sie, die sublimierte, in den gemeinen Instinkt, ja in die Aggression sich zurückverwandeln kann? Merkt man ihr die Herkunft und mögliche Zukunft an, oder wandelt sich mit dem Umschlag des gemeinen Triebes ins andere nicht bloß der Gegenstand, sondern die Essenz des Impulses selbst? Gilt nur der Augenblick, oder zählt auch die Genesis zur Wahrheit? Tradition. — Kinder erfahren die Gebräuche der Erwachsenen bedeutsamer, tiefer als diese selbst. Das brauchen die Gebräuche, um lebendig zu bleiben. Aber unsere Generation ist im Begriff, die Kinder abzuschaffen. Handware und Fabrikware. - Unterschied von Hand- und Fabrikware: diese befriedigt weiteren Bedarf, sowohl mehr Menschen als Zwecke. Aber der ephemere Unterschied im Anblick eines handgemachten Möbels oder eines handgebundenen Buchs, der handartige, kaum begrifflich faßbare, bestimmbare Unterschied ist die Spanne, durch die sich das Individuum erfährt und ehrt. Er bedeutet wahrhaft den ums Ganze. Die Differenz zwischen dem modernen Fabrikstuhl und der Arbeit eines alten Tischlers ist schon der
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von zartestem chinesischen Tee und Coca Cola. Wie sehr aber gilt das erst von der Sprache, die vom und für den denkenden Menschen leben kann und für die jede Nuance des Ausdrucks, jeder Buchstabe eine Gewissensfrage bildet, und den ready-made Jargon von Presse und Bestseller. Bedürfnisforschung. - Entscheidend für die sogenannte Bedürfnisforschung in der gegenwärtigen Gesellschaft (z. B. daß man kein anständiges Buch mehr drucken kann) ist der Übergang der Vermögen von Privaten an die Aktiengesellschaften und Konzerne. Solange der Einzelne noch Geld hatte, konnte er in seinem Privatleben noch vom Diktat der Massenkultur abweichen — und wenn nicht er, so die Söhne und Töchter und sonstige Anhängsel. Heute kauft er sich den Mercedes auf Geschäftskosten, und an Büchern, die man nicht gelesen haben muß, besteht kein Interesse mehr — geschweige an kostspieligen Überzeugungen. Die Jungen aber müssen rasch verdienen. So kommt es, daß diese Gesellschaft, die für ihren Zeitungswald täglich den wirklichen dezimiert, theoretische Gedanken mimeographiert. Es wird sonst im Verhältnis - zu teuer. Über menschliche Trauer. — Das Glück der Menschen ist nicht höher und tiefer als das der Tiere, dafür aber weniger unschuldig. Die Trauer der Menschen dagegen ist höher und tiefer — durch die Trauer werden sie selbst unschuldiger. Warenkunde. — Als ob nicht das Allgemeine gerade in den feinsten Nuancen des Besonderen zu finden wäre! Man denke an den gebratenen Ochsen, den ein Bauernhof den Gästen zum Hochzeitsschmaus gibt. In ihm steckt noch etwas von den Mahlzeiten des langen Winters, bei denen man die Zartheit und Saftigkeit, den je eigenen Geschmack der einzelnen Teile und des bestimmten gefütterten Tieres schätzen lernte. Es ist davon noch etwas in der städtischen Familie des 19. Jahrhunderts zu spüren, als die Mutter zum Metzger ging und über das Stück, das sie für ihre Haushaltung einkaufte, sachkundig mit ihm sprach. Die Kinder wußten davon, auch von den angemessenen Taten der Zubereitung. Im Massenkonsum der Gegenwart geht solche Kenntnis, die von Kul-
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tur unabtrennbar ist, verloren. Es ist schon viel, wenn man Beefvon Kalbssteak unterscheidet und aus Gründen der Diät die fetten von den mageren Stücken. Kalorien und Packing firms treten an die Stelle von selbst erfahrenen Nuancen. In »Heinz Beefsoup« aber ersteht die Wesenheit des Ochsen, das Allgemeine, die »Idee« des Schmauses — in der das Besondere untergeht. Bei der »Idee« des Schönen ist es gar nicht so verschieden. Naturgeschichte. - Menschengeschichte als Naturgeschichte begreifen. Die verrückte Entwicklung der Technik resultiert aus dem unbeschreiblichen Vermehrungsdrang dieser Rasse. Die dazugehörige Technik drückt bloß die Brutalität gegenüber aller übrigen Natur aus. Die Menschen wollen überhandnehmen. Kollektivschuld. — Jede Minute der Ruhe oder Zerstreuung, die nicht der Wiederherstellung oder Stärkung der Leistungsfähigkeit dient — ganz genau in dem Sinn, wie die trockensten Puritaner es meinen —, ist Wahnwitz. Denn in allen Städten der Welt vollzieht sich das Unausdenkbare. Der Henker verrichtet sein Werk im Dunkel und im Licht, an Mensch und Tier, an Kindern, Alten und an solchen, die in den besten Jahren stehen. Er foltert mit und ohne Lizenz, in Gefängnissen, Irrenhäusern, Konzentrationslagern, Arbeitshäusern — überall, wo die totale Macht sich austobt. Und du nimmst daran teil in jeder Minute, in der du im geringsten dagegen zu wirken vermöchtest, du hilfst dem Henker, solange du atmest und nicht alles daran setzt, ihm in den Arm zu fallen. Sinn der Arbeit. - Heute muß man den Sinn der Arbeit preisen, denn alle sind Angestellte, für die sie in Wirklichkeit keinen hat. Sie sind in diesem, freilich unerläßlichen Entfremdungsprozeß zweiter Auflage (der erste war die freie Marktwirtschaft) zu bedauern. Sie schielen im Büro nach dem Uhrzeiger, der sie für Hausarbeit und Television freigibt. Womit einer umgeht. — Die bedenkliche Nähe der »ökonomischen« Geschichtsinterpretation zur bürgerlichen Tendenz to debunk, überall das »Interesse« suchen. Gewiß, man hat es Ursprung-
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lieh nicht so gemeint, aber die Nachläufer! Dem Gegenstand des debunking widerfährt dabei gewöhnlich, was ihm gebührt, aber die debunkers werden darum nicht erträglicher. Charme. — Wenn immer einer mit Verstand und Überzeugung und in menschlichem Gespräch seine Sache bei anderen durchsetzt, pflegt er von anderen zu hören, sein Erfolg beruhe auf persönlichem Charme. Wer so spricht, kann sich nicht vorstellen, daß man ein Mensch sein kann, ohne diese Qualität sogleich als Mittel zu gebrauchen. Er kennt das Sein bloß als Instrument. Der Fortschritt. — Die vorwärtsstürmende Gesellschaft! Der Fortschritt! Kaum hat man die Telefonnummern sich eingeprägt, werden sie umgestellt - wie das Antlitz der Städte. Glück ohne Verdienst. - Einer erbt viel Geld. Wie schön, daß er ohne »Verdienst« so im Leben gehalten wird, ohne Arbeit, ohne Schmerz! Da kreischen sie: »Wie ungerecht!« Ahnt ihr denn, daß dies das bißchen Gerechtigkeit ist, das auf dieser Welt übrigbleibt? Glück — ohne Verdienst? Homunculus. - Wäre die Erzeugung des Lebens in der Retorte ein Gegenbeweis gegen das Göttliche? Sie stammte doch aus menschlicher Wissenschaft — und ist denn diese weniger »bedingt« als die Erde und was auf ihr wächst? - Die ganze Reflexion gehört dem bereits erschütterten Glauben an. Ein Theologe müßte für den Homunculus sein! Interesseloses Wohlgefallen. - Die Soziologen, »linke«und »reckte«, fassen die Gegenwart immer noch zu harmlos auf. Wer einmal die Jugend auf den Motorrädern, in Fabriken und Laboratorien unbefangen ansieht, der weiß, daß die »richtige« Gesellschaft kein Interesse mehr hervorlocken kann — erst recht nicht die humane. Die wollen lieber unter abgebrühten Barbarenführern das Weltall erobern als einmal Philemon und Baucis sein. Die brauchen einen Sinn ihres Lebens, der zu den Motorrädern, Fabriken und Laboratorien paßt; die Achtung vor dem Leben, das Glück im anderen, das lange Reifen ist ihnen pures Gewäsch, hat keine Bedeutung
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in ihrem Dasein — Sentimentalität, so etwas wie Vegetariertum. — Gibt es eine Antwort darauf? Die Französische Revolution. — Daß die große Französische Revolution einen so tiefen Eindruck hinterlassen hat, rührt nicht zuletzt daher, daß die Heiligkeit des französischen Königs tiefer in die Herzen gegraben war als die anderer Fürsten. Daß man diesen König enthaupten und doch siegreich bleiben konnte, hat eine ungemeine Stärkung des Bewußtseins der Freiheit wie eine Befriedigung des Ressentiments bewirkt. Fortschritt, Gerechtigkeit und Untergang des Ichs. — Mach schrieb: »Das Ich ist nicht zu retten«, und seine erkenntnistheoretisch gemeinte Aussage wurde durch die gesellschaftliche Entwicklung wahr gemacht. Daß Stärke, Intensität, Dauer, Differenziertheit, Substanz des Ichs vom Äußeren abhängen, hat schon der Idealist Fichte, der Herold des Ichs, gesehen, als er die Person vom Eigentum abhängig machte. Inzwischen ist nicht bloß das individuelle Eigentum der gesellschaftlichen Tendenz nach im Schwinden begriffen, sondern andere, ebenso notwendige Bedingungen werden vom Gang der industriellen Entwicklung ergriffen. Die Rolle der veränderten Natur ist bekannt, vom laufenden Band bis zum Computer, ebenso die auflösende, atomisierende Wirkung der mass media. Dazu kommen aber die im engeren Sinne gesellschaftlichen Tatsachen. Die fortwährenden Änderungen der Wohnung innerhalb und zwischen den Städten bewirken, daß der Mensch keine dauernde Bleibe mehr hat, keine Heimat, und der Wechsel übt eine differenzierende Wirkung aus auf die Person. Die veränderte Beziehung zwischen den Geschlechtern, die leichtere Lösbarkeit der Ehe bringen es mit sich, daß Menschen nicht mehr in einem eng gemeinsamen Leben miteinander Erfahrungen machen, miteinander altern und im gegenseitigen Erkennen in Wechselwirkung ihr Ich konstituieren. Von den sonstigen Beziehungen, den Freundschaften und beruflichen Verbindungen gilt das ebenso. Mit den materiellen Voraussetzungen des Ichs vergehen auch die menschlichen. In der atomisierten sozialen Realität wird das Atom zerspalten wie in der physikalischen. Und doch lösen beide etwas auf, das fälschlicherweisehypostasiert war. Es zergehen die mythischen We-
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senheiten vor dem Fortschritt, sie gehen zugrunde vor der — Gerechtigkeit. Glück und Sprache. — Das Glück ist von Sprache nicht zu trennen - sowenig wie vom Ernst. Ich entsinne mich der Weise, in der zuweilen von einer Frau gesprochen wird, die uns vorher nur abstrakt — etwa als Hausfrau, einflußreiche Dame, tüchtige Mutter, Pflegerin, stellungslose Angestellte - bekannt war. Sie erschien als älteres Wesen, wie geschlechtslos. Dann spricht jemand von ihr, erinnert an ein Leiden, vornehmlich einen Schmerz, der sie seit kurzem plagt, einen harmlosen oder bedenklichen, jedenfalls körperlichen Schmerz. Er sagt: »Sie leidet darunter, die Sache macht ihr viel zu schaffen.« Mit diesen Worten erscheint sie in ihrer Menschheit, die in ganz spezifischer Weise sich gegen das Leben abmüht und darin sich zu halten sucht, suum esse conservare. In diesem Allgemeinsten erfahren wir sie als ein höchst Besonderes. In diesem »sie« und »ihr« wird ihr mit der Einzigkeit auch das Geschlecht zurückgegeben. Diese einzige Frau mit ihrem Körper, in dem noch seine Jugend lebt, seine gegenwärtige Jugend, wie alt sie sein mag - einsam im Ablauf der Welt. Indem uns das durchs persönliche Fürwort in einem Augenblick aufgeht, in der Trauer, die sich einstellt, liegt zugleich ein Licht, das Glück heißt. Glück und Unglück. - Das Glück ist qualitativ unendlich vielfältig, das Unglück nur quantitativ. Bürgerliche Küche. - Der Prozeß der Zivilisation kann am kulinarischen Geschmack beobachtet werden. Infolge der künstlichen Produktionsmethoden in Landwirtschaft, Metzgerei, Küferei werden die starken Speisen, die Unterschiede abgeschliffen — ganz wie auf anderen Gebieten. So wie heute ein Spargel ähnlich einer Erbse schmeckt, nimmt auch, infolge der Manipulationen, der eigene Geschmack des Schinkens und der Wurst ab, der Salat, die Kartoffel büßen von ihrem spezifischen Aroma ein. Der Wein trägt immer noch die Zeichen des Unterbrechens seines Gärungsprozesses und des vorsorglichen Zusatzes von schwefliger Säure an sich. Das steht alles im Dienst rascherer, rationellerer, umfangreicherer Produktion. Als Wirkung davon verflacht freilich auch das subjektive
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Organ, und eine Karotte von ehedem dürfte heute schon den zivilisierten Gaumen anmuten wie den Bürger das Betreten eines knoblauchgeschwängerten Mietshauses in Lennox Avenue. Da ist die andere Seite desselben Prozesses, der es schließlich unmöglich machte, die Schauspiele des Greveplatzes fortzusetzen: man kann kein Blut mehr sehen. Aber nur die Hoffnung nicht aufgeben, es gibt der Gegentendenzen genug. Verbotene Bücher. — Die Bibel ist ein revolutionäres Buch. In der Geschichte herrscht das gesellschaftliche Unrecht und der Fanatismus; das Alte Testament dagegen verkündet die Gerechtigkeit und das Neue die Liebe. Der bedenklichen Stellen sind Legion. Schon die Inquisition hatte deren Lektüre untersagt, und wo immer ein totalitärer Staat es anstatt mit Analphabeten mit denkenden Subjekten zu tun hatte, ersetzte er die selbständige Lektion durch eine offizielle Version oder schränkte die Verbreitung ein. Die offizielle Version aber adjustiert das jeweils Bestehende, handle es sich um Jesaia oder um Jesus, von Karl Marx ganz zu schweigen. Die neuen Analphabeten. - Die Zeit, in der schreiben und lesen können ein Privileg war, ist noch gar nicht so lange her — auch in Europa. Heute scheint es uns selbstverständlich, daß es allgemein sei. Noch aber sind Stil, Gewandtheit des Ausdrucks, Ordnung und Disposition der Gedanken ein Privileg. Mit dem Anbruch der automatisierten Epoche wird das alles wieder in Frage gestellt. Es wird eine Elite geben, die richtig auf die Knöpfe drücken und die Apparaturen verstehen kann. Wir werden wieder zu Analphabeten. Unsere Gewandtheit ist von vorgestern. Die Versuche der Künstler vom automatischen Dichten der Surrealisten bis zur neusten Musik werden nichts helfen. Wir fallen hoffnungslos zurück. Die Gedanken müssen sich dem Medium anpassen, das sie vermittelt; auf die Dauer ist es solider als die ihm fremde Logik, die sich seiner wenn auch durch raffinierte Anpassung — bedienen will. Abschied von der Dame. - Es gibt der Tendenz nach die Dame nicht mehr. Noch geht sie unter den Heutigen einher, Zeichen der Vergangenheit, in der das französische Wort - wenn auch unbe-
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wüßt — an die Tage erinnerte, in denen Frankreichs Zivilisation europäisches "Vorbild war. In den höchsten Schichten einer Geldoder Adelsaristokratie, die gegenüber den Managern den Vorzug hat, nicht immer aufs Sichdurchsetzen angewiesen zu sein — trägt man noch »Dame« - wie etwa der russische Adel bis 1900 französisch gesprochen hat, wenngleich es veraltet war. Auch die Kleinbürgerinnen des »alten«, nicht des »neuen« Mittelstandes schleppen noch heute den Begriff Dame verzerrt in ihrer untergehenden Welt herum wie die Bauern einst die Moden der Stadt als ihre Trachten. Die Kleinbürgerinnen sind auch ihren Figuren nach alter Stil in schlechter Ausgabe. Aber das zählt nicht. In Amerika hat das Wort eine vulgäre Bedeutung angenommen, armselige Erotik mit gutmütiger Ironie, schon ganz abgeschliffen, man merkt ihm an, daß Frankreich einstmals nicht so verachtet war. In dem französischen Lehnwort steckt in seiner amerikanischen Vulgarisierung eine tiefere Ahnung um die Eigenheit des Geschlechts, um die Individualität des weiblichen Geschlechts als in Lady oder woman oder girl. — Selbst außerhalb jener Aristokratie führen aber noch einzelne Frauen die Dame fort, eine kinderlose Frau, die zu ihrem Mann steht, eine Mutter, die stolz auf den Sohn ist, eine verarmte Witwe, die in Gedanken an den Verstorbenen lebt, die große Schauspielerin der letzten Generation, einsam aus einer vergehenden Zeit. Ihr Verschwinden wird besiegelt durch alles, was sich in Zeitschriftentiteln, Reklame, Warenhausabteilungen »für die Dame« vorstellt. Eine Well. - Die barbarischen Strafen bei den Völkern, die heute hochkommen und mit denen man von gleich zu gleich verhandelt, sind symbolisch für das, was jetzt über Europa Macht gewinnt. Indem der Sinn für das Trennende geschwächt wird, nimmt auch der für die eigene Zivilisation ab (»für die Werte«, wie die Sonntagsredner sagen würden). Im 19. Jahrhundert hat sich in Europa eingeschliffen, daß selbst der schlimmste Mörder noch geheilt wird, die qualifizierte Todesstrafe war nicht nur abgeschafft, sondern unvorstellbar. Es war draußen, zeitlich und räumlich. Heute fliegen die Bürger in ein paar Stunden nach Saudiarabien, berichten in den Illustrierten über die wegen eines Diebstahls abgehackte Hand — und verhandeln weiter von gleich zu gleich. Das schlägt auf die
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eigene Mentalität, von Hitler und Franco schon aufgeweicht, zurück. Mit dem Kolonialismus, der die Abscheulichkeit wenigstens bloß nach außen trug und sich im Innern dafür die Zivilisation bewahrte, schwindet nicht bloß die Ideologie der Mission des weißen Mannes, sondern das geringe, das er dem Farbigen voraushatte. Die Quittung der Ungerechtigkeit dieser Zivilisation ist es, daß sie selbst verschwinden muß, sie geht an dem Grauen zugrunde, das sie einmal geduldet hat - und mit ihr der Abscheu vor dem Grauen, das ihr Kern — und ihr Stolz war. — Europäer sein hieß einmal: den Menschen achten. Die Negativen. — Die negativen, negativistischen Geister, die nur sehen und sagen, was das Grauen ist, was nicht sein soll, die Gott zu nennen sich scheuen, was wollen sie? — Daß es gut wird. Die Positiven handeln in seinem Namen, sie bejahen die Welt und ihren Schöpfer. Sie einigen sich — sind nicht gegen die heiligen Güter. Sie führen sie im Mund. So einigte Hitler die Deutschen, indem er die Juden als Opfer designierte, Nasser die Araber, indem er Israel als Opfer designiert. Bürgerliche Dialektik. — Seien wir gegen die bürgerliche Ordnung nicht undankbar. Ihr größter Fehler ist, daß kraft immanenter Gesetze sie sich liquidiert, nicht das Elend in ihr, denn das kann sie überwinden. Das Wichtigste, was unter allem geistig wir ihr zu danken haben, ist, daß die Geste der Freiheit unserem Denken eignet, daß — wie sehr wir Angst haben vor dem Untergang - wir doch in gewisser Weise auch keine Angst haben, weil unser Verstand nicht eingeschüchtert ist. Wenn wir ein Höheres wollen als diese Ordnung, vermögen wir es nur, weil sie uns - selbst als sie unterm Feudalimus erst erstarkte — die Kritik lehrte, auch die an uns selbst. Wir wollen ein Besseres, nur Vorsicht, daß uns sein Kommen nicht selbst noch diesen Willen verschlägt. Zur deutschen Aufklärung. — Die deutsche Aufklärung heißt nicht Lessing, denn der ist von Frankreich und dem provinziellen Deutschland her zu verstehen, sondern Engels und Marx. Rückwirkend empfängt von ihnen her noch Kant seinen besonderen Platz in der Gesellschaft der europäischen Emanzipation.
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Die Kultivierten. — Es gibt ein Interesse an Musik und bildender Kunst, das sich im bürgerlichen Sinn auch heute noch lohnt - wenngleich sie ihre fortschrittliche Bedeutung verloren haben — und das freilich nur bei den nicht eigentlich Tätigen vorhanden ist. Der Besuch von Theatern und Museen, das Spielen von Sinfonie-Schallplatten und der Ankauf kunsthistorischer Bücher lief ern ein Alibi. Man ist kultiviert. Die Tätigkeit kostet weder viel Geld noch Phantasie, noch emotionalen Aufwand, wie ein Spiel mit anderen. Man läuft kein Risiko und wird nicht dick davon. Es gibt ein Air von Kultiviertheit und Modernität und schadet weder der Gesundheit noch dem Portemonnaie. Es entspricht den geschwächten Instinkten des Zerfalls der bürgerlichen Zivilisation. Da liegt mir Baseball noch näher.
Zur Wissenschaftstheorie. — Die Tatsachen der Naturwissenschaft tragen den Stempel des in jeder Epoche verschieden gelagerten und ausgerüsteten gesellschaftlichen Bedürfnisses nach Herrschaft über die Natur, die Tatsachen der Sozialwissenschaften den des Interesses an der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse, sei's der Stärkung derer, die schon sind, oder ihrer Veränderung. Wollen diese Wissenschaften ihre Abstraktheit überwinden und zu sich selber kommen, müssen sie auf die Funktionen reflektieren, die ihr Material formen, strukturieren, konstituieren. Dazu gehört vor allem die Apparatur der jeweils gängigen Wahrnehmungsweise, der Leistung des intellektuellen Apparats, durch die er die phänomenale Welt möglicher Erfahrungszusammenhänge heraushebt, so daß sich die Menschen einer Epoche, einer Gesellschaft weitgehend verstehen können. Kant hat sein Geschäft darin gesehen, diejenigen dieser Funktionen zu bezeichnen, die allen Epochen gemeinsam sind, das heißt, die Formen jeder denkbaren intersubjektiven Realität, jedes Erfahrungszusammenhanges überhaupt. Uns kommt es auf die Unterschiede an. Der gängige empirische Soziologe von heute aber ist dem herrschenden Schematismus gegenüber ganz naiv. Er setzt im Begriff der facts die bis ins kleinste bedingte herrschende Sehweise, alle die bewußten und unbewußten Interessen, durch die die Welt gegliedert wird, absolut und nennt die systematische Darstellung der facts die »Theorie«. Dieser Theorie geht aber die Selbstbesinnung ab, sie ist dumm.
Vertauschte Rollen. — Die Beschreibungen des Zerfalls der Kultur in der Massengesellschaft setzen sich rasch dem Vorwurf der Romantik aus. Aber die Darstellung dessen, was im Schwinden begriffen ist, drückt vielmehr das Negative des Gegenwärtigen aus, sie bedeutet weit mehr das Elend des Bestehenden, als daß sie beanspruchen dürfte, den Glanz des Vergangenen zu schildern. Eben weil sie das fühlen, sind heute die Reaktionäre gegen die Ver-
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gangenheit. Die Rollen sind vertauscht. Das Lob des Alten wird verdächtig und das Vertrauen in die Zukunft konventionell. Die Analyse des Leidens, aus dem diese neue Romantik entspringt, wäre die des Drucks der Realität. Solange auf ihn nicht direkt und schonungslos reflektiert wird, bleiben die Beschreibungen der Massengesellschaft bloß eine Art Ablenkung; man verkleidet die Misere in der rücksichtslosen Industriegesellschaft als Schmerz um Kultur. Das ist ein Alibi für die Intellektuellen, die die Misere nicht beim Namen nennen wollen. Frage. - Im Altertum war Arbeit eine Schande, die Sache der Sklaven, heute arbeitet Rockefeller. In der letzten Generation wurde der gute Kuchen von den Weibern gemacht, die Küche war Degradation, selbst die Einrichtung der Chefs ist erst hundert Jahre alt. Jetzt erscheinen die Frauen für einen industriell produzierten Pudding als Farbreklame ganzseitig im New Yorker] Was ist diese Kultur? David und Goliath — heute. — Das Argument der Liberalen in den westlichen Ländern, man dürfe nicht dulden, daß die Aggressornation Israel die Früchte ihres Überfalls behalte; die Charta der UNO, das »Recht« müsse gewahrt bleiben, ist nicht bloß inhaltlich, sondern logisch ein Blendwerk. Über den Inhalt ist bloß die Masse der Zeitungsleser aufzuklären, und das sind freilich die meisten. Drei Jahre kleine Überfälle machen zusammen einen größeren aus als den Spaziergang, den das kleine Israel ins große Ägypten machte. Seine Kleinheit wird ihm angerechnet, wenn man den Willen der vielfachen Arabermillionen demokratisch moralisch gegen es ausspielt, den Willen Goliaths gegen den Davids, der Ärgernis gibt. Von den anderen kriegerischen Maßnahmen der ägyptischen Friedenswahrer, wie der Schließung des Suezkanals für Israel, gegen die Sanktionen zu verhängen keinem in den Sinn kam, braucht gar nicht die Rede zu sein. Logisch aber ist das Argument so brüchig, weil das Recht, das da gegen Israel angerufen wird, doch positives Recht sein soll und positives Recht eine Gewalt voraussetzt, die es gegen alle gleichermaßen wahrnimmt. Dem widerspricht schon der Begriff und ganz gewiß das Wesen der UNO, denn Interessen und nicht das Gesetz bestimmen den Willen der
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Interessenten, die hier zu Gericht sitzen. Soll aber statt des Rechts die Idee der Gerechtigkeit selbst zum Maßstab genommen werden, so reproduziert sich auf höherer Stufe, im Verkehr der Nationen, was in dem der Individuen gilt. Die Großen halten sich durch ihre Macht in Schach, das Recht zwischen ihnen ist der Vergleich, zu dem sie sich bereit finden nach dem Stand ihrer Kraft. Die Verzweiflung der Kleinen, die Gerechtigkeit in solchen Grenzen nicht finden können, stört den Vergleichszustand; die Taten, in denen sie sich ausdrückt, galten als Verbrechen. Dazu zählt im Leben der Völker heute der Krieg wie im Leben der Individuen die Gewalt; die Großen haben andere Mittel, den Reichtum und den Herrschaftsapparat. Der Krieg ist verboten, so lange, bis einer der wirklich Großen dahintersteht. Deshalb ist das Argument logisch nichts wert. Amerika kann den Bedrohungen von Seiten seiner Nachbarn, auch der etwas ferneren, leicht Herr werden, aber Israel darf es nicht. Gewaltlosigkeit gilt so lange als Gerechtigkeit, bis im Streit der Großen die Hegeische Lehre vom Weltgeist als Vollstrecker des Absoluten in Erscheinung tritt. Unterschied. — Wenn in Europa einer benebelt aussieht und verwirrt redet, ohne doch gerade betrunken zu sein, sagt der Zuschauer böse: »Wahrscheinlich ein Säufer«, in Amerika ernsthaft besorgt: »He obviously needs psychiatric help.« Stufenleiter. — In der späteren Phase einer Kultur ist das selbstverständlich, unmittelbar gesetzt, was in der früheren erst durch die Überwindung archaischer Gehalte und Mythen erreicht wurde und daher als vermittelt, als »geistig« erschien. Deshalb erscheint die frühere Stufe als »kultivierter«, das heißt, geistiger — innerlicher. Rom blickt auf Griechenland, Amerika auf Europa. Rom und Amerika haben trotzdem recht, sich zugleich auch »höher« zu fühlen; das Vergessen der Vermittlung ist ein Element gesellschaftlicher Leistungsfähigkeit. Geschlossene Gesellschafl. — Die romantische Liebe ist auch deshalb so unmodern, weil sie zum Gegensatz gegen die Gesellschaft treibt. Der Kreis der Liebenden ist in seiner Abgeschlossenheit zugleich selbstgenügsam, universal und ausschließlich, besonders,
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wenn ihm selbst die Ehe als Konzession erscheint. — Von der Familie im alten Sinn gilt, in abgeschwächter Form, nicht unähnliches. Sie ist eine Gesellschaft in der Gesellschaft. Achtung und Furcht. - Wie sehr Achtung und Furcht noch zusammenhängen, zeigt sich daran, daß man Achtung nur vor dem hat, was ist. Je weniger Sein oder Macht, desto weniger verehrungswürdig. Das Geheimnis der europäischen Kultur liegt darin, die Vorstellung ausgebreitet zu haben, die ewige Gerechtigkeit, das Gute habe einen Sinn. So hat man die Gerechtigkeit und das Gute lieben gelernt, während das Sein doch dem Stumpfen, Festen, Beharrlichen zukommt. Das unterscheidet die europäisch-westliche Situation von allem östlichen. Ob das Fragwürdige bekömmlich, in letzter Linie dem Menschlichen förderlich ist, ich weiß es nicht. Dialektik der Aufklärung (I). - Nach der bürgerlichen Epoche geschieht wahrscheinlich nicht deren Aufhebung, sondern bei höchster mechanischer Präzision des Reproduktionsprozesses der Rückfall ins Unmittelbare. Die Menschen erfahren sich nicht mehr als Einzelne, die eines ihr Dasein transzendierenden Ziels bedürfen, es gibt keine Notwendigkeit mehr für das Grand Etre und Hegels objektiven Geist. Die Menschen reflektieren auf sich selbst nicht mehr als Endliche, die ohne den unendlichen oder wenigstens irgendeinen Sinn nicht sein können, sondern sie sind — unreflektiert »positiv« - Elemente der sozialen Realität. Vermittlung fällt weg. Dialektik der Aufklärung. Im Zirkus. - Am Elefanten im Zirkus vermag die Überlegenheit des Menschen, die im Kampf der Technik nicht zu schlagen ist, ihrer selbst innezuwerden. Mit Peitsche und Eisenhaken wird das bedächtige Tier hereingeführt. Es hebt auf Kommando den rechten, den linken Fuß, den Rüssel, dreht sich im Kreise, legt sich mit Mühe nieder, und schließlich steht es, unter Peitschengeknall, auf zwei Beinen, die den schweren Leib kaum halten können. Das ist seit vielen hundert Jahren, was der Elefant zu tun hat, um den Menschen zu gefallen. Aber man sage nichts gegen den Zirkus oder den Akt in der Manege. Er ist dem Tier nicht fremder, nicht unangemessener, ja wahrscheinlich näher noch als die Sklavenarbeit,
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um derentwillen es in die Menschengesdhichte einging. In der Manege, wo die Gestalt des Elefanten gegen die Dummheit der Zuschauer wie das Abbild der ewigen Weisheit sich ausnimmt, die unter Narren um des lieben Friedens willen ein paar närrische Gesten macht, entlarvt sich noch die objektive Widervernunft der erzwungenen Leistung, die dem vernünftigen Zweck des indischen Holzmarkts dient. Daß die Menschen von solcher Arbeit abhängen, um sich selbst ihr hingeben zu müssen, ist im Grund auch ihre eigene Schande. Die Versklavung des Tiers als Vermittlung ihres Daseins durch die Arbeit gegen die eigene und fremde Natur hat die Konsequenz, daß ihnen ihr Dasein so äußerlich ist wie der Zirkusakt dem Tier. Das hat Rousseau geahnt, als er seine Preisschriften schrieb. Die Zivilisation als Verdummung. Liebe und Erfahrung. — Der Liebende liebt den Geliebten, wie er ihn sieht, und darin liegt seine eigene Weise und Geschichte wie die der Gesellschaft, der er angehört. Was ihm am Geliebten gut erscheint, weist auch seine eigene Idee des Guten und der richtigen Welt. Andrerseits freilich wird seine Idee des Guten vom Geliebten tangiert. Es gibt Menschen, die darin gar keinen Widerstand zu leisten vermögen und rasch die Züge des Wesens annehmen, mit dem sie jeweils verbunden sind. Was im emphatischen Sinn Erfahrung heißt, ist der produktive, mit Reflexion durchsetzte Prozeß der Aufnahme dessen, was im Anderen als ein Neues aufleuchtet. Die Reklamekultur. — Es scheint so, als ob die Reklamekultur sich selbst entlarve, indem der dürftige Text ihrer Magazine sich offen als Vorwand für die Verkaufsanzeigen der Inserenten darstellt. Die Idee bekennt sich selbst zu dem, als was die böseste Kritik zur allgemeinen Entrüstung sie einmal entlarven wollte - Dienerin des Profits zu sein. Aber es scheint nur so. Das Rezept der Reklameexperten, die den Schundfilm im Fernsehen an den Stellen unterbrechen, wo die kindische Spannung vielleicht noch ausreicht, daß die Zuschauer die Reklame des Seifenpulvers mitnehmen, gesteht nur ein, was die Auftraggeber wollen, daß es aufs Verkaufen ankommt. Das in alle Hirne zu hämmern, nach diesem Prinzip die Menschen zu modeln, die Menschen ganz und gar in Tauschmaschrnen zu verwandeln, die Halleluja rufen und in Wirklichkeit
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bloß auf Mark und Pfennig reagieren, auf Motorrad, Eisschrank und Position, das ist gerade ihr Ideal. Mit diesen Menschen können sie großartig fertig werden, mit diesen schlauen, fortgeschrittenen, zynischen Vulgärpragmatisten, auf sie ist die Gesellschaft zugeschnitten. Der Feind ist nicht der Homo oeconomicus, sondern wer ihn kritisiert. Anders zu sein ist schon revolutionär. Das Resultat aber ist der Untergang alles dessen, was einmal an anderen Kräften, Motiven und Sehnsüchten in den Menschen war. Das wird hinuntergedrängt und äußert sich nur noch als Reaktionsbild, das heißt als Hohn auf alles, was anders ist. Jener Schundfilm selbst wird durch die in der Ankündigung schon übertriebene Sensation noch vergröbert. Trotz der Durchsichtigkeit auf den ökonomischen Zweck, ja infolge davon, verkümmert die Aufnahmefähigkeit für die Nuance. Mag der Zweck auch pädagogisch und human ins Mittel hineinspielen, wie in jenen wohlmeinenden Büchern und Filmen, wo etwa die Geschäftigkeit der Menschen, ja die ganze Konsumkultur aus hygienischen, moralischen und religiösen Gründen kritisiert wird, der Ernst des Zwecks wird durch die Diskrepanz zum Mittel desavouiert. Wer die Utopie im Sinn hat, dem bleibt kein Atem für diese Mittel. Im Grund läuft der Betrieb weder auf den Konsum noch dessen Sparte Hygiene hinaus, sondern auf die Verfestigung der bestehenden Hierarchie durch den Schwindel, daß Konsum und Hygiene der Sinn des Lebens sein muß. Der Teufel. — Ich habe eine Entdeckung gemacht: daß die Nazis die Juden mit Füßen traten, bis sie verreckten, daß jener Henkersknecht der Jüdin, die ihn verfluchte, als man sie und die Scharen in den Gasofen trieb, die Peitsche ins Gesicht schlug, das hat seinen Ursprung in der pervertierten Sehnsucht nach der Güte, die Macht hat — in der Provokation des Guten. In jenem Peitschenhieb liegt die Unfähigkeit, das ohnmächtige Gute zu lieben. Die Verzweiflung an dessen Macht. Der Teufel. Umkehrung der Verhältnisse. — Die Emanzipation der Frau mag ihr gut oder schlecht tun — on ne sait pas. Die meisten der hardboiled young ladies of today scheinen sich verschworen zu haben, Kant und Schopenhauer und Nietzsche zu rechtfertigen, wo sie am
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fragwürdigsten sind. Gewiß ist, daß kein Mann, und eben deshalb auch keine Frau vom anderen mehr sagen kann: Du gehörst mir. Das Eigentum am Menschen ist abgeschafft, soweit die Liebe in Frage steht - sie gehören der Karriere. Wie unschuldig waren die zwanzig Francs, der Louis d'or, um die ein Mädchen für die Nacht zu kaufen war, wie versanken die unzähligen versklavten Frauen vor dem Sklavendienst der wenigen Männer, die die einzige, die Ihre, auf Händen trugen wie der Sklave die Herrin. Jetzt herrscht niemand über niemanden, und alle zittern vor der Macht. Nicht daran denken. - Auf die Abschaffung der Vermögens- und anderen Glücksursachen der Unterschiede zwischen den Menschen ist in den totalitären Ländern des Ostens die Einsetzung der bürokratischen Hierarchie gefolgt. In einer gerechten Gesellschaft dagegen hätte auch sie zu verschwinden. Es bleiben nur die persönlichen Differenzen — und ließen diese sich halten ohne sozial gesetzten Unterschied des Glücks? Verschwände mit ihm nicht die unterschiedliche Erziehung im weitesten Sinn, so daß alles auf Geschicklichkeit, psychologische Begabung, streamlined conf ormism hinausliefe? Konkurrenz um Freundschaft - und Freundschaft wozu — in einer gerechten Gesellschaft? Daran soll man nicht denken, bis sie verwirklicht ist. (Chicago, November) Die Außengeleiteten. — Wenn heutzutage, besonders in Amerika, von der Entfaltung des Individuums - sehr ehrlich — die Rede ist, was ist da eigentlich gemeint? Die Steigerung und Vervielfältigung von Fertigkeiten in einer Arbeitseinheit plus der mehr oder minder richtigen Einschätzung der Chancen des Fortkommens. Von der Einsicht ins Ganze, von der »Theorie«, aus der nicht bloß die Praxis, sondern die Emotionen auch des Einzelnen folgen, wird ganz abgesehen. Gibt es aber kein richtiges und falsches Denken und Handeln im Hinblick auf die Welt, das mit materiellen und Prestigeinteressen nichts zu tun hat, dann geht alles Theoretische, alles objektive Denken und Fühlen, in den paar durch die Arbeitsteilung hergestellten Berufen auf. Wenn das so ist, warum sollen wir an der Entfaltung der Individuen überhaupt Anteil nehmen
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- höchstens wegen der Steigerung der Produktion. Menschen als Mittel. Die Spannung zwischen Einzelnen und Gesellschaft ist dann zugunsten der Gesellschaft verschwunden, die Identität ist widerspruchslos und fade geworden, und die Gesellschaft wird zur Apparatur für Apparatschiks. Darauf läuft die ganze Universitätserziehung hier hinaus. Die Studenten sollen und wollen immer nur lernen, wie man etwas macht, was es schon gibt, oder wie man etwas wird, was schon viele sind; sie selber wollen bleiben, was sie ja schon waren. Als Individuum soll eigentlich gar nichts mit ihnen vorgehen, an ihre Subjektivität, die innere Instanz, aus der heraus sie Entscheidungen treffen, soll nicht gerührt werden. Der Inhalt, der Gegenstand, nicht der Grund ihrer Urteile und Parteinahme soll betroffen werden, sonst tritt man ihnen zu nahe und wird unwissenschaftlich, und beweisen kann man's ohnehin nicht. Zwischen Studenten und ihren Lehrern geht so viel und so wenig vor wie zwischen den Leuten überhaupt, sie vollziehen die Leistungen, die in diesem Sektor vom Produktionsapparat in seiner gegebenen Form vorgezeichnet sind - der Unterschied zwischen gesellschaftlicher und privater Aktivität ist ohnehin längst schon abgeschlossen. Daß die Massen ihre Versorgung - Einkäufe, Haushalt, Fortpflanzung, Erholung — selber besorgen, spielt bei allem Verschleiß eine entscheidende Rolle für den Gang der herrschenden Ökonomie. Das ändert aber nichts daran, daß es die auf das Individuum übertragene Funktion des Apparates ist, sich als dessen Räder selbst zu schmieren, es ist die Fortsetzung des Betriebs. So und nicht anders sind diese Individuen aufzufassen — es sei denn durch ihre tiefinnere Resignation. Zu Saint-Simon. — Saint-Simon sagt, niemand soll hungern, sondern jeder nach seinen Fähigkeiten und Leistungen belohnt werden. Was geschieht aber, wenn die Menschen sich beim Nichthungernmüssen begnügen? Entweder man macht das so unangenehm, daß es aufs selbe hinausläuft wie bei der Fürsorge in der bestehenden Gesellschaft — oder man muß den Menschen die besseren Konsummittel, den Luxus wieder einreden, wie's ebenfalls heute geschieht. Läßt man ihnen dagegen eine vernünftige Moral, die auch bei bescheidener Existenz zum Glück befähigt, dann ist's mit der Macht der Gesellschaft aus. Die Motoren, Flugzeuge, ja die
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Naturwissenschaft entspringen dem Zwang zur Karriere, zum »Aufstieg«, für den man das Leben vergißt. Ohne die Peitsche der Konkurrenz fangen die Menschen zu denken an! Irrtum des Idealismus. — Der Begriff ist abstrakt — trotz Hegel. Einsicht in die Qualen des anderen und sie selber erfahren ist zweierlei, ja die Erinnerung noch ist blaß, wie lebhaft sie sei. Das ist der Irrtum des Idealismus, besonders des deutschen. Sowenig die Tathandlung des Subjekts ans fürchterliche Leben reicht, so wenig reicht das Leben des Begriffs an die Natur und Geschichte, deren Abbild er ist. Hier ist das Gegenargument gegen Rationalismus jeder Art. Der Begriff ist inadäquat, er mag bis an den Himmel reichen, wie seine Vertreter meinten, aber nicht ans Bestehende, daran dachten sie nicht. Kleinfamilie. - Wie sollten Kinder, deren Eltern im Alter von Jungen und Mädchen geheiratet haben und nächstens sich scheiden lassen, wenn sie kein gutes household team bilden, die äußeren und inneren Gesten der Besinnung lernen! Wie sollen sie zu etwas anderem sich schließlich zwingen als dem, wozu die Gewalt der Gesellschaft sie zwingt, wenn die Rebellenführer der kleineren Gesellschaften, der Banden und Bünde zu Ende gehen! Sie haben keine anderen Motive gelernt als die brutalen des Fortkommens, und soweit eine andere Sehnsucht sich drinnen regt, muß die Gefahr, die sie seit der Kindheit gebildet hat, durch Verstärkung, Übersteigerung der Brutalität übertäubt werden. Im Normalfall führt das zu jener eisigen Kälte, die alle freundlichen Gesten des neuen Menschen Lügen straft, zuweilen tritt die Repression der Sehnsucht in Haß und Mord hervor. Sie verstehen gar nicht mehr, daß es andere Ziele gibt als die des Erfolgs in der Wirklichkeit, und halten das Christentum, das sie am Sonntag bekommen, am Werktag ganz ehrlich für verrückt. Individuum und Gesellschaft. - Wenn alle Götter gestürzt sind, bleibt als Substanz des Ichs die Wahl zwischen — nein, nicht einmal mehr die zwischen Karriere und Gütern, denn auch die Karrieren und Güter haben keine Unterschiede mehr. Zurück bleibt der Automatismus der aufs abstrakte Individuum bezogenen Wahl an sich,
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das Funktionieren der die Individuen bestimmenden gesellschaftlichen Mechanismen durch die Individuen hindurch. Das resultiert aus der Form der Gesellschaft, die bloß an sich und nicht für die Menschen reich ist. Denen hängt immer die Zunge heraus. Wird es immer so sein, daß die Menschen gebrochen werden müssen, um Menschen zu sein, und dann keine Menschen werden, weil sie gebrochen sind? Kann man sich denken, daß sie erzogen würden wie die Söhne reicher Eltern, aus denen zuweilen etwas wurde, oder wie Emile oder Buddha? Dann freilich, dann hörte die Menschheit auf, denn die sind schlecht für die Erhaltung der Rasse. Die Natur kann sich auf sie nicht verlassen, sie haben zuviel Sinn für sie. Falsche Askese. - Was einmal über die rationelle Motivation hinausging, die Anhänglichkeit an Dinge und Menschen, das Pflegen von Beziehungen, die keinen praktischen Wert mehr haben, die Einlösung des Versprechens, die nicht mehr erzwingbar war, das Hören auf die im eigenen Innern sich regende Natur, muß den gesteigerten Ansprüchen des Fortkommens weichen. Die Macht der Gesellschaft zwingt die Jungen immer ausschließlicher in die Kanäle der Zivilisation. Wie sie sich hineinfügen und ernst der Produktion verschreiben, die große Anstrengung, den Zweigen der Arbeitsteilung sich anzupassen, sie aufzunehmen, die Gescheitheit des Mechanikers, die ruhig stetige Geduld der Studenten, die Experten werden, bedeuten eine Angleichung ans Werkzeug, die in ihrer ruhigen Gewalt eine eigene Würde hat. Man sehe sich die amerikanischen Studenten in den späten Nachtstunden, in der Bibliothek, im Zug und im Flugzeug an, wie sie der Formel, dem Zwang der Mathematik, sich gleichmachen. Es ist unsinnig, sie schwärmend zu wollen. Aber ist nicht die Überwindung der eigenen, von Kindheit noch sich meldenden Regung jedesmal die Wiederholung des Hinunterstoßens des Tiers, der Ablegung des Tierisch-Unschuldigen auf höchste Weise, die mit der Versklavung der Tiere zusammenging? Ist nicht die Emanzipation zu radikal — oder nicht radikal genug (es gibt ja kein Zurück) —, erinnert sie nicht, noch beim besten Exemplar, ans Schlachthaus eher als an Askese? Max Weber war ein Irrtum. Er dachte ans Sparen - das war schon richtig-, aber er vergaß die Liquidation. Richtige Askese setzt Wissen ums Andere voraus.
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Kritische Theorie. - Immer fragen sie gleich, was man nun tun soll, sie fordern es von der Philosophie, als ob sie eine Sekte wäre. Sie sind in Not und wollen praktische Anweisung. Wenngleich aber Philosophie die Welt in Begriffen darstellt, entspricht sie doch darin der Kunst, daß sie nach innerer Notwendigkeit — ohne daß Absicht dazwischen tritt, eben - der Welt den Spiegel vorhält. Sie hat — das ist wahr - eine engere Beziehung zur Praxis als die Kunst, sie spricht nicht bildlich, sondern im wörtlichen Sinn. Ein Imperativ aber ist sie nicht. Ausrufungszeichen liegen ihr fern. Sie hat die Theologie abgelöst, aber keinen neuen Himmel gefunden, auf den sie weisen kann, nicht einmal einen irdischen Himmel. Aus dem Sinn schlagen kann sie ihn freilich nicht, und darum wird sie immer nach dem Weg gefragt, der hinführt. Als ob es nicht gerade ihre Entdeckung wäre, daß der Himmel, zu dem man den Weg weisen kann, keiner ist. Falsche Ansprüche. — Wenn der kalten Hoffnungslosigkeit der Ontologie ihre Unmenschlichkeit vorgehalten wird, kann sie erwidern, die Sprache, durch die Humanität hindurchscheint, Verständnis des Leids der Kreatur, sei Trug. Weltimmanente Praxis vermag Elend zu lindern, die Welt selbst bleibt verlassen und elend, und das Denken, das die Welt als Ganzes betrifft und in philosophischer Sprache seinen Ausdruck findet, hat keinen Grund zum Widerspruch gegen die Unmenschlichkeit. Widerspruch der Liebe. — Nirgends wird die dialektische Natur der Realität und ihres Begriffs deutlicher als im Wesen der Tugenden. Liebe und Treue verlangen Härte gegen andere. Wer nicht hart ist, kann auch nicht lieben. - Vielleicht hebt Liebe sich selber auf. Falscher Anschein. - Wenn heute der Anschein besteht, daß die großen Errungenschaften, Telegraf und Telefon, Luftpost und Rundfunk, im Dienst eines jeden sind und die versierte Stimme der Telefonistin für »uns« da ist, so ist dem hinzuzufügen, daß all dies für die Magnaten der Industrie da ist und »uns« nur so lange zur Verfügung steht, als jene oder ihre Herren es nicht exklusiv in Anspruch nehmen. In der Stimme der Telefonistin, der
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Figur der Hostess im Flugzeug schwingt die Ausrichtung der Welt auf den großen Betrieb nach. Sie sprechen zu »uns« wie der Angestellte, die Sekretärin zum Generaldirektor, weil der den Ton angibt. »Wir« profitieren davon, daß man den Betrieb nicht extra noch für die wenigen Wichtigen einstellen kann. Das wäre zu umständlich. An den Schaltern der Sozialversicherungen ist der Ton ein anderer. Ladenschlußgesetz. — Die wohltätige Wirkung des gesetzlichen Ladenschlusses besteht darin, daß von nun an nur noch die reichen Damen gemütlich einkaufen können, wie das füll employment nur noch ihnen ein Dienstmädchen gewährt. Zu Hegel. — Mit der Schöpfungsgeschichte, nach der zum Herrn der Natur der Mensch bestimmt ist, wäre auch Hegel widerlegt. Wenn nach ihm Vernunft zwar keineswegs mit Überlistung aller Kreatur zusammenfällt wie in der Technik und den Wissenschaften, so bleibt der alles durchdringende Begriff, der in der Sache selbst sich wiedererkennt, der Geist, im Grunde doch subjektiv; es ist der Geist der Menschen, ihrer Einrichtungen und ihrer Gesellschaft. Das einzig Objektive, das andere - wie er sagt, das »Mystische« liegt letztlich darin, daß der Kampf der Völker in der Weltgeschichte nicht durch rationale Übereinkunft zu ersetzen sei. Im übrigen erfährt die Vernunft keine Einschränkung. Die Welt kommt zu sich selber, wenn sie den Menschen adäquat ist. Mit diesem Glauben zahlt die sich selbst genügende Philosophie ihren Tribut an die Offenbarung. Der Aufklärung gegenüber ist Hegel darin überlegen, daß das Erkennen der Entäußerung, des Eingehens in die Sache bedarf, wie sehr diese freilich am Ende ajs das Erkennen, als der »Begriff«, das Subjektive, sich enthüllt, und er ist ihr darin unterlegen, daß er meint, die Adäquatheit sei schon erreicht. Ohne Maß. - Als ob die Heldentaten der Märtyrer des Fortschritts, Bruno, Vanini, Galilei, nicht einem ähnlichen Drang entsprungen wären wie die der übrigen Verbrecher aus Leidenschaft. Der Sehnsucht nachjagen, die vom Gesetz verboten ist, sei's die nach Liebe, Glück oder Wahrheit und ihrer Mitteilung. Sich gehenlassen. Sich
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anstrengen, um sich gehenzulassen. Geblendet sein. Sich's nicht verwehren können oder wollen. Tun, was man nicht soll, weil man dem Licht folgt. Alle die sind am Rand der Gesellschaft. Anders ist nur die Blindheit, der Mangel an Liebe, sei's im Verbrechen oder Wohl verhalten, im pedantischen bösen Bürger oder bösen Narren. Was gut und schlecht ist, wird nicht durchs handliche Gesetz gemessen, wie notwendig es auch sei. Wohl denen, die sich daran halten können, ohne auszutrocknen. Schopenhauer und Nietzsche. — Daß alles Leben der Macht gehorcht und aus dem Zauberkreis des Egoismus gerade noch die Hingabe an die Sache, die Identifikation mit dem, was nicht ich bin, herauszuführen und ins Nichts hineinzuführen scheint — und das ist ein Mythos -, hat Schopenhauer gesehen und war der Welt böse dafür. - Nietzsche, darin auch ein deutscher Philosoph, fand nicht weniger den appetitus, den Drang zur Expansion auf Kosten alles Schwachen als Kern der Existenz, wenngleich er ahnte, daß das noch ein Vorletztes sei. Im Gegensatz zu Schopenhauer wollte er vom Elend, dem am Ende auch wir selbst verfallen, zur Verneinung alles Daseins sich nicht zwingen lassen. Er merkte, daß gerade sie die Konsequenz, die Verlängerung des ganzen grauenvollen Mechanismus war, das Gegenteil von Philosophie, das heißt von Freiheit, Denken, Phantasie, Spontaneität; er merkte, daß der Pessimismus gerade was er leugnete: die Schönheit der Welt, den Glanz des Lebens zur Voraussetzung hat, entdeckte den schlechten Widerspruch im Werk des Lehrers. Was dieser gegen den Selbstmord anführt, das, womit er den Unsinn des Selbstmordes dartut, gilt für die pessimistische Position überhaupt. Bedenklich ist nur, daß Nietzsches Ja selbst mehr verzweifelt als ursprünglich klingt, daß in ihm der Pessimismus nicht nur aufgehoben, sondern fortgesetzt wird, heilloser, wahnwitziger als beim Begründer. Überlegen ist Nietzsches psychologische, gesellschaftliche, historische Einsicht. Philosophie gibt es wahrscheinlich gar nicht, sie ist immer bloß ein Mythos. Hegels Trick. - Unsere die Wirklichkeit transzendierende Vorstellungskraft ist begrenzt. Entweder es gibt nach diesem Leben noch viele andere, die ihm ähnlich sind, oder die ewige Seligkeit oder
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die Hölle, das heißt, quantitativ und qualitativ gesteigerte Leiden und Freuden, oder einen Zwischenzustand, das Fegefeuer. Hindus und Christen haben mit alledem in Gedanken experimentiert, und die Sekten haben die und jene Seite ausgebaut. Auch die mittelalterliche Philosophie, selbst der heilige Thomas, haben dazu beigetragen und erzählt, wie der Anblick der Verdammten die Seligen noch ergötzt. Seitdem aber hat die Philosophie nur noch hinzugefügt, daß wir vielleicht von jenem Anderen, das den Sinn des Diesen ausmacht, gar nichts wissen können. Das ist Kant gewesen, und alle anderen haben es bei der Wirklichkeit bewenden lassen, ja, der Positivismus hat selbst dies noch als Mythologie ad acta gelegt. Der Trick Hegels aber besteht darin, daß er durch den Namen des Absoluten, das dem Relativen immanent sein und ihm die Würde verleihen soll, den Anschein erweckt, als hätte das Absolute, trotz Kant und aller Einsicht in die Nichtigkeit des Abstrakten, an sich selbst, also eben abstrakt, eine eigene Bedeutung, die es im dialektischen Prozeß dem Nicht-Abstrakten einzuflößen vermöchte. Er meint, das Sein, das er als Nichts erkannt hat, ließe sich zuletzt als die Fülle erweisen, der das Nichts bloß als Moment, nämlich als das Vergehen der Individuen angehöre, das für seinen Glanz notwendig sei. Aber im Vergehen der Individuen schwindet der Glanz. Die Tatsachen sind da und vergehen, und man kann sagen, das Dasein und die Vergänglichkeit blieben da und vergingen nicht. Das ist es im Grund, was Hegel mit dem Überwiegen des Positiven meint, dem das Negative als immanente treibende Kraft nur innewohne; das ist der Grund, warum der Begriff, das Leben, die Liebe dauern und den Schmerz in sich entfalten sollen. Aber der Gedanke, daß der Schmerz, der Untergang, das Grauen sich wiederholen und der Begriff, das Leben, die Liebe in dieser Wiederholung bloß »beiherspielen«, wie er gern sagt, zerstört das System. - Nicht am Nominalismus als Philosophie — er wäre eine widersinnige Philosophie -, sondern an der Brüchigkeit der Ideen krankt Hegels Doktrin. Wenn es wahr ist, daß das Positive, der zum Höchsten gesteigerte Moment, das Negative erst zum Negativen macht und nicht umgekehrt das Glück, dessen erst der Erfahrenste innewird, die Trauer bedingt, die dem Ganzen adäquat ist dann ist doch ebenso wahr, daß die Philosophie, die das begrifflich bestätigen will, der Hinweis auf eben dieses Positive als Sinn und
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Bedeutung, es in eine abscheuliche Lüge verdreht. Eher noch als die Wahrheit ist das Höchste, Absolutes oder Glück oder Liebe, das Unwiederholbare, das Andere des Begriffs. Vermittlungen des Fortschritts. - Vom Zurückgebliebenen aus nimmt sich das Fortgeschrittene immer wie Flachheit aus. Das Zurückgebliebene dagegen sinkt vor der Zivilisation zum Hokuspokus herab, zu den Ritualtänzen der Wilden, an denen die explorers ihr Vergnügen haben. Das sind die winkeligen Gäßchen, die Antiques. Das sind die großen Philosophen für die travellers der Geschichte, das ist Paris für die Touristen. Der Weg geht vom Unmittelbaren zum Vermittelten, vom sinnlichen Genuß, dem Kannibalismus, über den Glauben zur bloßen Anschauung. Bei ihr angelangt, erweist sich freilich, wie sich's gehört, der Kannibalismus als die Torheit, das heißt das völlig durch die verkehrte Brille erfahrene Leben. Der Amerikaner heute, das Geschäft, nimmt den Denker alten Stils in Europa als Kreuz, Zauberer, im Grund als phony wahr, und indem Amerika tatsächlich über Europa hinausgelangt ist, wird der Denker zu dem, als was der Geschäftsmann ihn wahrnimmt, zum Scharlatan, seine Wahrheiten zu Zaubersprüchen. Derselbe Prozeß wiederholt sich auf allen Gebieten. Es führt ein Weg von der heiligen Prostitution im Tempel, die selbst schon reichlich abgeleitet war, über die große Kokotte zum russischen Ballett und zur Revue in den Folies Bergeres und von da zu den musicals aus Hollywood. Nachdem solche Massenproduktionen des leeren Scheins die Welt aber einmal erobert haben, wird selbst noch die Straßendirne häßlich und unbekömmlich. Indem die Vermittlung des Unmittelbaren offenbar wird, verliert es den Schein, der es einmal befähigte, Glück zu gewähren. Moral. - Der spezifische Beitrag zur europäischen Kultur, den die deutsche Philosophie geleistet hat, ist das Gewissen als moralische Instanz. Moral im eigentlichen Sinn als Pflicht, als fleischgewordenes Gebot, kennt im Grund weder die romanische noch die angelsächsische Welt. In England hat Erziehung stets ein feudal-ästhetisches Element behalten, der gentleman und die lady, in Amerika gibt es einerseits das Gesetz, andererseits die Religion, in den ro-
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manischen Ländern das religiöse oder säkulare Naturrecht. Die Russen heute halten Moral, wenn sie mit ihr konfrontiert werden, für ideologische Narrenpossen. Sie sind ganz und gar unvermögend zu verstehen, was das sein soll. Eine von der Partei unabhängige Instanz? So weit sind sie noch nicht. Philosoph vom Fach. - Wir vergessen allzu leicht, daß mit dem Fall eines mythischen Götzen auch die Leidenschaft des Angriffs auf ihn, die Negation, überholt und hinfällig wird. Die Erregung des Nominalismus, als er die aristotelischen Formen für Gespenster erklärte, verliert mit deren Erledigung seine philosophische Bedeutung, und der Nominalist wird zum Scholastiker wie der Realist, den er erledigte. Das Ansehen des Existenzialismus, der das Wesen im Menschen negiert und auf die Entscheidung, das engagement, verweist, wird hinfällig im Augenblick seines Triumphes. Die Hegelsche Vorstellung, nach der die Negation das Negierte zugleich bewahren müßte, ist wahrscheinlich selbst der gute alte Aberglaube an den göttlichen Sinn, das heißt die Affirmation des Positiven. Warum sollte »bewahrt« werden, warum nicht vergessen werden? Es ist die Setzung der Wahrheit, die in der Philosophie doch gerade nicht vorausgesetzt werden darf, es ist positive Theologie. Ockham ist nicht weniger provinziell als Thomas und Sartre nicht weniger als Husserl. Ist es nicht unsere Utopie, daß die Aufhebung ein anderes Resultat hervorbringe als das Nichts — unser Glauben an die — Kultur. Wir sind Philosophen vom Fach. Humanität. — Unsere praktische Philosophie ist die Humanität. Daß Menschen kein Elend leiden, ja daß Kreatur sich entfalten dürfe, ist der Zweck des allgemeinen Handelns. Daß der Schutz der Freiheit die Unterdrückung, Bändigung ihrer Feinde bedingen kann, geht aus dem widerspruchsvollen Wesen der Realität hervor, aber auch dabei ist der einzige Leitfaden das humane Ziel, das vom Mittel nicht verschlungen werden darf. Wie kitschig das klingt, so kennen wir andere höchste Maßstäbe nicht. Die westliche Welt hat sie sich beschmutzt, als sie Hitler so lange die Hand reichte, bis er an ihre eigensten materiellen Interessen rührte, sie entehrt sich in jedem Lächeln gegenüber den Mördern im Kreml,
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mit denen sie gut wäre, wenn sie bloß keine so bedrohliche Haltung annähmen. Die westliche Welt wird darum zugrunde gehen, daß ihr die eigenen materiellen Belange wichtiger sind als der Schutz der Menschheit diesseits oder jenseits der Grenzen. Und auch gegen die Gefahr der Überheblichkeit des eigenen Urteils, das sich anmaßt, wann und wie die Menschheit zu nähren, zu lehren und zu behüten ist, gibt es keinen höheren Appell als den an die Solidarität mit dem Leiden, das es abzuschaffen gilt. Nicht der Krieg ist das größte Übel, sondern der Schrecken, der im Kriege wie in anderen Zuständen, wie in der Gewaltherrschaft, gegenwärtig ist. Ob es richtig sei, daß Völker sich in einen Krieg begeben, um die Gewaltherrschaft, die in einem anderen Volke herrscht, abzuschaffen, darüber entscheidet eben jener Appell. Zumeist aber wird die Gewaltherrschaft schwinden, wenn die materielle Not behoben wird, die ihr Bestand verleiht. Wüßte ich nur ein besseres Wort als Humanität, den armen provinziellen Slogan eines halbgebildeten Europäers. Ich weiß keins. Demokratie und Massenmedien. - Die Demokratie, deren Wähler nicht zugleich erleuchtet und human sind, muß schließlich den skrupellosesten Propagandisten anheimfallen. Die Entfaltung der Massenbeeinflussungsmittel Zeitung, Rundfunk, Fernsehen, Umfragen in Verbindung und Wechselwirkung mit dem Rückgang der Bildung müssen notwendig zu Diktatur und Rückgang der Humanität führen. Negative Politik. — Negative Theologie gilt auch in der Politik. Die Programme für Planwirtschaft, die heute schon weitgehend Apologie des Trends geworden sind, der ohnehin in den Vereinigten Staaten besteht, beziehen ihren Grund aus der Forderung nach Gerechtigkeit. Aber es ist fraglich, ob das ärgste Elend, das in Zucht- und Irrenhäusern, und was sonst nach Abhilfe schreit, nicht rascher durch direkten Zugriff als durch ökonomische Pläne geschieht. Im Osten haben die Pläne schlimmere Taten bewirkt als die zaristische Planlosigkeit. Das Schlechte abschaffen ist menschlicher als das Gute suchen.
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Hegel und Marx. - Der Unterschied zwischen Hegel und Marx im Hinblick auf die gesellschaftliche Realität beginnt erst mit der Rolle, die von einzelnen Schichten gespielt wird. Bei Hegel wie bei Marx liegt der Sinn der Existenz darin, daß das Individuum die Funktion seiner Gruppe, die ihr von der Geschichte zugedacht ist, mitmacht oder gar anführt. Unabhängig davon — abstrakt ist es nichts. Indem es seine gesellschaftliche Funktion sich zu eigen macht, verwirklicht sich das Absolute als sein ihm eigener Sinn durch und in ihm. In der Bestimmung der Schichten sowohl wie ihrer Funktion gehen sie auseinander. Bei Hegel ist jede gesellschaftliche Gruppe, sofern sie nur notwendig zur Struktur des Ganzen gehört, ein positives »sittliches« Element. Zwischen Familie und Nation gelten alle an der Produktion und Reproduktion, direkt und indirekt an der Gesellschaft beteiligten Einheiten, Unternehmer, Arbeiter, Bauern, Angestellte, Bürokraten, Professoren alles. Das ist der wesentliche Sinn ihrer Anerkennung als »Stände«, er sieht nicht so sehr ihre Verwandlung, als ihren dauernden Anteil am Ganzen, das zu erhalten ihnen und durch sie dem Einzelnen den Sinn gibt. Hegel wie Goethe hätten ganz für Amerika Partei ergriffen, ihre Philosophie ist pro-amerikanisch. Marx läßt — neben den aussterbenden Feudalherren — nur die Unternehmer und Arbeiter gelten. Die positive Zeit der Unternehmer ist im Grunde schon abgelaufen, wenngleich sie - vorerst wenigstens noch das Positive repräsentieren kann, an der gegenwärtigen ökonomischen Periode wesentlich beteiligt zu sein. Kategorien wie »Angestellte« haben nach Marx keine Realität. Die Rolle der Arbeiter aber ist die des Proletariats. Sie erfüllen ihre welthistorische Funktion nach Marx nicht, indem sie die Maschine bedienen, sondern indem sie zugleich sich anschicken, an die Stelle der gegenwärtigen Gestalt der Gesellschaft eine neue zu setzen und damit zugleich die Form ihres eigenen Daseins zu negieren, umzuwandeln. Der Begriff Proletarier ist von diesem Negativen, sich selbst Negierenden gar nicht zu trennen. (Deshalb steht auch die sozialdemokratische wie russische Glorifizierung des Proletariats, »des arbeitenden Menschen« im Widerspruch zu Marx.) Nach Marx liegt somit der »absolute« Sinn des gesellschaftlichen Wesens des Individuums in dieser Weltperiode nicht im Aufgehen in der gesellschaftlichen Funktion, sondern in deren Veränderung. Diese
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aber folgt aus dem, was er die Entmenschung des Proletariers genannt hat, das heißt daraus, daß er immer entschiedener um ein selbständiges, frei über sich verfügendes Leben betrogen wird. Daraus entspringt dann die »geschichtliche Tat«, die ihn zum Vollstrecker des Absoluten macht. Zwei kritische Fragen schließen sich daran. Erstens: Wie wird die Idee eines Absoluten überhaupt begründet, wenn es undenkbar ist, daß wir aus ihm philosophieren? Wie kann dem Proletarier seine eigene Negativität nicht bloß als Misere, sondern als Negativität gegen eine absolute Bestimmung erhellen, ohne daß das ganz Andere, ganz Neue anbricht, das vielleicht trotz allem sich als Nichts erweist? Zweitens: Gilt die, freilich durch endlose weitere Verdinglichung hindurch, sich im gegenwärtigen gesellschaftlichen System durchsetzende Verbesserung der materiellen Zustände als Weitertreiben der Entmenschung oder als deren, wenn auch zweifelhaftes Remedium? Daß sie eben als Verringerung der groben Misere im Kampf um bessere Existenz real zu bejahen ist, hätte Marx nicht bestritten; was gilt aber im Hinblick auf die Entmenschung, die ja eben dadurch als Motiv immer weniger reflektiert wird? Wird nach Marx die Aussicht auf die Veränderung dadurch verdeckt, daß im Schwinden der grob sichtbaren Form der Entmenschung die Reflexion auf die Menschheit, dies bittere Verlangen nach ihr, mit verschwindet? Wenn das wirklich so wäre, dann müßte mit dem Ansturm der technisierten Barbaren des Ostens die bis zur bürgerlichen Periode entfaltete Gesellschaft zugrunde gehen und wie nach der Antike mit einem neuen Prinzip ein neuer Anfang gemacht werden. Vergebliche Liebe. - Kant ist Aufklärer, darin auch mit jedem Positivismus einig. Jede transzendierende Liebe ist Wahn. Weh mir. Vergebliche Trauer. — Den Toten einen Dienst tun, irgendetwas nicht bloß Pragmatisches tun, ist im eigentlichen Sinn unsinnig. Das besagt die Kantische Erklärung, alle Verbindung von Vorstellungen, alle »Synthesis« rühre vom Verstande her, dessen Kategorien bloß zur Ordnung von Material taugten, bloß »Erscheinungen« zustande brächten. Daß unsere Gedanken eine Wirkung den Toten, dem Drüben bringen könnten, ist danach reiner Unsinn, Verrücktheit. Tote sind Dung.
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Kritik und Geld. - Es gilt, einen großen Irrtum zu berichtigen: Die Kritik der Gesellschaft, die seit dem 16. Jahrhundert, vor allem in der Aufklärung, bürgerlich war, ist mit Marx nicht etwa unbürgerlich oder sozialistisch oder gar »proletarisch« geworden, sondern durchaus bürgerlich geblieben, sie ist ihrem Wesen nach bürgerlich. In der sozialdemokratischen Politik, Parteidisziplin, Demonstrations- und Streiktaktik, vom östlichen Bürokratismus ganz zu schweigen, ist von jenem individualistischen Geist auch nichts mehr zu verspüren. Dem kritischen Stil ist der Boden entzogen. Zu ihm gehörte einmal auch — das Geld. Daß Montaigne, Voltaire, Marx und alle die anderen — Kant eingeschlossen — so schreiben konnten, hing damit zusammen, daß sowohl die Klasse als ganze, der sie angehörten, wie eben dadurch auch der Einzelne, der in finanziell geschützter Lage aufwuchs und irgend dazugehörte und »etwas war«, die Sicherheit des bürgerlichen Staates genoß. Geld war so sehr die entscheidende Macht, daß bloß die Notdurft, die Armut, der Diebstahl — nicht die Praktizierung der Gedankenfreiheit - sträflich schienen. Das gilt bis zur Französischen Revolution natürlich cum grano salis, es gab ja die Scheiterhaufen, aber selbst denen konnte — in steigendem Maße — der Vermögende sich entziehen. Notfalls war England schon fortgeschritten genug - oder Potsdam, wenn es nicht anders ging. Heute, mit dem Auseinandertreten von Verfügungsgewalt und mittlerem Eigentum, schwindet die Unabhängigkeit der Einzelnen, sie verliert ihre gesellschaftliche Bedeutung, die durchs Geld geschützten Individuen verkörpern Funktionen des Bestehenden, verschmelzen mit ihnen. Die dauernden Inflationen, der schwindende Realwert brechen die fortschrittliche Rolle des Geldes, es verliert seine Rolle als Fetisch - und damit zugleich seine wohltätige Kraft. Indem es alles beherrscht, gibt es zugleich auch sein spezifisches Wesen auf. Sein und Sein. — Bei dem Fundamentalontologen ist Sein und Sein dasselbe. Es ist aber nicht dasselbe. Deshalb ist diese Philosophie verkehrt. Lieber noch will ich dem Dualismus der Theologen folgen, den die Geschichte hinter sich gelassen hat. Er hat die Rechtfertigung des Bestehenden wenigstens nur durch die Anwendung von Kunstgriffen geleistet. Bei den Ontologen — auch bei denen,
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die das nicht wollen, ja sich ausdrücklich gegen jede Stellungnahme verwahren — ist Philosophie eo ipso Apologie. Wahrheit und Gerechtigkeit. — Über- und Unterordnungsverhältnisse in der Gesellschaft bloß von unten zu sehen ist gerecht, aber nicht wahr. Marx meinte, in Zeiten, in denen die Gesellschaft arm war, sei es nicht einmal gerecht gewesen. Erst jetzt sei es soweit, und nun fielen Wahrheit und Gerechtigkeit zusammen. Seine Geschichtsphilosophie ist optimistisch, sie gehtauf. Im Grunde hielt er, als guter Humanist, beide Begriffe für identisch. Das meinen wir auch, und eben deshalb scheint uns die Gesellschaft an dieser Diskrepanz in die Brüche zu gehen. Politik und Philosophie heute. — In Staaten, die strategisch weit vorgeschoben sind, wie Deutschland heute, läuft der Denkende Gefahr, die Außenpolitik zu sehr zum Grund seines Denkens zu machen. Aber die Außenpolitik ist aus den inneren Verhältnissen der Staaten zu verstehen - in Deutschland noch nicht einmal allein aus den deutschen inneren Verhältnissen. Auf sie schlägt die Außenpolitik dann freilich wieder zurück, siehe Wilhelm und Hitler - und wird wieder aus den inneren Verhältnissen erneuert, siehe das neue deutsche Heer. Jedenfalls sollte die Politik nicht der Kern unseres Denkens sein - nicht einmal die Ökonomie. Zu alledem hat das von außenpolitischen Motiven beherrschte Denken der Privaten in einer Welt, wo die politische Geschichte durch Experten geführt wird, die selbst wieder von technischen, industriellen Informations- und anderen Experten schlecht und recht beraten sind, etwas vom leeren Bramarbasieren an sich. Die Leute bekennen sich zur einen oder anderen »Politik«, kritisieren, warnen, empfehlen - und man hat das Gefühl, ja die Gewißheit, daß sie selber es nicht besser machen würden als jene, die es ohnehin schon schlecht genug machen. Wir treten, im Untergang dieser Zivilisation, in die Phase ein, in der dem zeitgemäßen Philosophieren nur die Privatsphäre bleibt: Lust und Unlust abschätzen, wie die römischen Stoiker, Kyniker, Kyrenaiker. Mit den Systemen ist es aus, ja mit allen großen Gedanken. Engels und Nietzsche sind vergangen, der gute Europäer nicht weniger als der preußische Staat.
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Small talk. — Die Sprache verliert ihre übers rein Funktionelle, Pragmatistische, Instrumenthafte hinausgehende Bedeutung zugleich mit dem Rückgang des Einzelnen. Je weniger typisch für die Gesellschaft die selbständigen, bürgerlichen Individuen sind, je weniger sie »etwas zu sagen« haben, gleichviel ob es rück- oder fortschrittlich, oppositionell oder staatserhaltend ist, desto mehr wird sie - vom rein Technischen abgesehen - Ausstaffierung, Empfehlung für eine Laufbahn, für die Zugehörigkeit zu den Gruppen, wie Kleidung, Eßmanieren, Gewohnheiten. Wenn Menschen zusammen sind, ist's small talk. Der Inhalt ist gleichgültig. Auch bei pathetischen Deklamationen, bei Festivitäten, Versammlungen, Gottesdiensten sind sich die Beteiligten im Grund bewußt, daß es nicht auf den Inhalt ankommt, sondern auf die Einhaltung des Gebrauchs. Bei den Nuancen spielen spezifische Nebeninteressen eine Rolle, die man wissen oder erraten kann. So naiv, die Sprache beim Inhalt oder gar beim Wort zu nehmen, ist keiner, jedenfalls keiner der Mitgekommenen. Die Kinder lernen die Sprache schon so, sie begreifen gar nicht, daß es anders sein könnte. Sie wissen nur den Zweck, nicht die Bedeutung. Dafür sorgt der Ansager im Fernsehen, im Rundfunk, die Stars im Kino. Daß sie nicht für die Charaktere, die von ihnen dargestellt werden, sondern für die jeweils mehr oder minder aktuellen Idole genommen werden, mit der Aura ihres Privatlebens und aller Gerüchte darüber, ist eine Wiederholung des Sprachsystems. Was sie darstellen, besagt nichts. Zu erwarten, daß ein Kind, das diese Stimme, das Lächeln, die angedrehte Heiterkeit stundenlang im Tag oder wenigstens in der Woche vernimmt, je erfahren sollte, es sei etwas anderes als bloßes Mittel, ist Aberglaube. Alle Menschen fallen in den Zustand der Schlauheit zurück. Schlauheit ist dem Tier näher als Einsicht. Das Tier ist klug. Im Rascheln des Laubs fühlt es nicht den Herbst und die Vergänglichkeit, sondern den herannahenden Feind. Im Bau der Sputniks feiert der Mensch nicht als Vernunftwesen, sondern als Raubrasse Triumphe, die vor lauter Klugheit verrückt geworden ist. Mensch und Rhinozeros. - Auf einem Gemälde von Longhi aus dem 18. Jahrhundert steht ein gefangenes Rhinozeros, das von Herrschaften in einer Stadt Europas angegafft wird. Kaum irgend-
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wo wird die Dummheit der Menschen so deutlich wie auf diesem Bild. Sie sind die einzige Rasse, die Exemplare anderer Rassen gefangenhalten oder sonst auf eine Art quälen, bloß um sich selbst dabei groß vorzukommen. Wie weise wirkt das dumme Tier auf dem Bild vor den törichten Menschen, die zu jener Zeit gerade ihre eigenen Gattungsgenossen folterten und verbrannten, vorgeblich, weil sie vom Glauben abwichen, in Wirklichkeit aus Gründen, die sie selbst nicht kannten. Wie unbeschreiblich töricht und grausam ist diese Naturrasse. Europäischer Geist. - Die Philosophen im 19. Jahrhundert, Hegel und Nietzsche, haben geschrieben: Gott ist tot. Wahr ist vielmehr, daß der Gedanke gestorben ist. Seine geschichtliche Rolle: die Überwindung des Aberglaubens, die Lockerung der Bande, mit denen die Religion die Menschen im Dienst des ersten und zweiten Standes hielt, die Befreiung des bürgerlichen Einzelnen ist zu Ende gespielt, und die Fortsetzung der Emanzipation, ihre Verallgemeinerung in einer Gesellschaft des Überflusses, die den Einzelnen und seine geistige Fähigkeit bewahrt, ist mißlungen. Der Gedanke hat eine kritische, negative, befreiende Funktion, ohne die er nicht leben kann. Die Seele der großen Philosophie, die Kraft der Wahrheit, ihr historischer Rechtsanspruch, ist die Aufklärung und der Einzelne. Nachdem es die bürgerliche Gesellschaft nicht vermocht hat, sich über sich selbst hinaus zu entwickeln, ohne das Individuum geistig zu verkümmern, geht mit dem Bürger auch der Gedanke zugrunde. Sein Tod wirft seine Schatten voraus. Er ist schon nicht mehr. Der Geist, der übrigbleibt, ist Instrument der Naturforschung, oder vielmehr ein Gespenst des Geistes. Es wird verschwinden. Die neuen »Revolutionen«. - Die neuen sogenannten Revolutionen im Orient haben mit der Französischen vor allem die Gewalt gemein. Auch der Bastillesturm war schon manipuliert, aber er hatte wenigstens keinen patentierten Führer. Auf die heutigen nationalsozialistischen Aufbrüche folgt kein Thermidor, denn das eingesessene Bürgertum und seine Napoleons haben sie von Beginn an m der Hand. Sie stehen im Zeichen des 20. Jahrhunderts, das mit dem preußischen Militarismus begonnen hat, durchs 19. zog
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sich das Moment der Humanität, das bei allem Grauen in die Französische Revolution von der Aufklärung hineinschien. System der Bedürfnisse. — Das Verhalten der Menschen geht wie bei den Tieren einzig auf die Befriedigung der Bedürfnisse aus. Sie ist in der liberalistischen Periode durch Geld, in der gegenwärtigen in steigendem Maße wieder durch Macht repräsentiert. Der Macht dient, wenn auch auf Umwegen, jede Handlung, ja noch jede Geste. Man will Macht haben, wenigstens zu haben scheinen, und man wirbt um sie. Noch die Wohltat, die dem anderen erwiesen wird, setzt den Geber in die mächtigere Position, gibt ihm das Gefühl der Macht, mag auch das Motiv ins Unbewußte gesunken sein. Vielleicht stammt Großmut zuweilen aus der Rebellion gegen die Macht, die einen selbst so verletzt hat, daß man ihr an einer Stelle entgegenhandeln will. Nietzsche hat all dies, wie keiner, gewußt. Er sah, daß Identifikation mit der Schwäche des anderen im Grunde die Schwäche gegen die eigene Schwäche ist. Und doch hat er die Großmut geliebt, die Großmut aus Überschwang, die nichts fühlt und erwartet. Sie allein, meint er, überwindet das listige Tier, das der Mensch aus sich gemacht hat. Ist aber nicht selbst diese Bewunderung, sofern sie sich reflektiert, sofern sie sich dabei erkennt als das, was sie ist, ein Versuch, aus der Schwäche herauszukommen? Dient man nicht schon seiner Schwäche, wenn man denkt; können Intellekt und Großmut zusammengehen? Auch der Prediger Zarathustra ist kaum — Christ. Ende nichts, alles nichts. - Der Einzelne allein ist etwas. Ja, wir sind dem Nominalismus näher als dem Realismus. Gewiß bedeutet das Individuum, sofern es sich bloß vom anderen unterscheidet, wie Hegel gesagt hat, das Schmächtige und Unwirkliche, gewiß sind alle wesentlichen Bestimmungen gesellschaftlich. Nur daß sie ihren Charakter, wesentliche Bestimmungen zu sein, einzig von jenem Ohnmächtigen und Unwirklichen empfangen, weil in der Ohnmacht, im Nichtigen, das Resultat, das Ganze sich erweist, als was es ist: nicht Sein sondern — Nichts. Ende nichts, alles nichts. Und das Ende ist Nichts. Jeder Realismus läuft auf die Behauptung eines positiven Sinnes hinaus, die Begründung des Tuns durch
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ein in letzter Linie vollendetes, dem Sinn nach vollendetes Sein, sei's auch nur als zu verwirklichende Möglichkeit. Das aber ist immer Hypostasierung der Theorie. Die drei Fehler von Marx. — Die drei Fehler von Marx: Erstens nimmt er die Geschichte der paar europäisch-amerikanischen Völker mit ihrer bürgerlich-fortschrittlichen Wirtschaft als die Gesellschaft, die Geschichte schlechthin. Man kann aber höchstens sagen, daß sie im gegenwärtigen Zeitalter die Welt in eine furchtbare Bewegung bringen. Zweitens meint er — darin selbst ein Kind der bürgerlich-fortschrittlich-idealistischen Ideologie - das Bewußtsein, das in der bisherigen Geschichte durch Abhängigkeit von den materiellen Verhältnissen bedingt gewesen sei, werde, sobald die materiellen Verhältnisse, zuletzt die ökonomischen, von den Menschen gemeistert würden, »frei« sein, und zwar — wenn auch die Wirtschaft dabei ein Reich der Notwendigkeit bliebe — so frei und absolut und ungebunden, wie kaum Fichte es behauptete. Und eben deshalb sollen nach Marx, von Lenin ganz zu schweigen, alles Elend und Grauen auf dem Weg dahin in Kauf genommen werden, Opfer am Altar der Freiheit gebracht werden wie nur je an den viel bescheideneren Altären der heidnischen Götter. Drittens wähnte er, der Friede unter den Klassen sei der Friede unter den Menschen und mit der Natur. Die richtige Ordnung soll nur noch Sublimierung und keine Verdrängung, daher keinen Haß, kein Ressentiment, kein psychologisch und daher gesellschaftlich bedingtes Unheil mehr nötig haben. Diese Vorstellung, die aus den beiden ersten sich ergibt, ist sein schönster Gedanke, die Menschen würden damit nicht bloß zu ihren eigenen Helfern, sondern zu denen der Natur, und schließlich würden sie - nicht spielen — wie Herbert Marcuse meint —, sondern an die Kreatur sich verschenkend, sich hingebend zugrunde gehen. Aber der Zerfall müßte seine Schatten vorauswerfen, und so würden sie selbst wieder zu einem barbarischeren, grausameren, primitiveren Zustand zurückkehren. Wie das höhere, edlere Individuum eine geringere Widerstandskraft besitzt und dem Tod verfällt, muß auch die Menschheit, sofern sie ihrer Bestimmung genügt, zerfallen, sie ist selbst Natur. Wiederauferstehung ist den Göttern vorbehalten. Der Marxsche Materialismus, von der idealistischen Selbsttäuschung befreit, kommt
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Schopenhauer näher als dem Demokrit. Marx hätte wohl wirklich gemeint, die freie Menschheit werde Raketen nach dem Mond schießen — aus Neugier oder pour passer le temps. Aber, wie sich zeigt, gehören die Raketen dem Reich der Notwendigkeit an, und der Freiheit bleibt die Solidarität mit dem Leben, der Kampf um das Richtige nicht bloß in der Gesellschaft, sondern in der Natur schlechthin. Das Glück erträgt es schlecht, beim Unglück zu wohnen, das hat Nietzsche schon besser gewußt als Marx - trotz des Fallenden, das man »auch noch stoßen« soll. Wer sehen kann, wird sich vergessen, und wer sich vergißt, hört schließlich zu sehen auf. Der richtige Zustand der Menschheit, den Marx im Sinn hat, müßte zugleich auch ihr kürzester sein. Wahrheit ist nicht — wie die Philosophen meinten— das Festeste, Solideste, Verlässigste, sondern - wie mir scheint - der verschwindende Augenblick, der Schein. (31. August 1958) Marx als Stadium. - Die Marxschen Lehren wollten selber ein Moment an der gesellschaftlichen Praxis bilden, die als Theorie des Proletariats über die bürgerliche, kapitalistische, durch den Markt hindurch funktionierende Ordnung hinaus auf die in ihr schon angelegte, höhere sozialistische hinführen sollte. Das war um die Mitte und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Werden die Marxschen Lehren heute in westlichen Ländern vorgetragen, ohne daß ihr inzwischen historisch gewordener Charakter dabei hervortritt, werden sie gar, nachdem die Geschichte längst die Zeit der praktischen Bedeutung der Gedanken hinter sich gelassen hat, als eine Art Wegweiser oder als Parolen verstanden, dann verwandeln sie sich selbst in eine Art Ideologisierung, in das falsche Bewußtsein, daß durch Demonstrationen, Propaganda, politische Streiks etwas anderes besorgt werden könnte als die Geschichte der östlichen Machthaber oder die Beschleunigung des Faschismus im eigenen Land. Die Marxschen Theorien sind Stadien des Gedankens, durch den er hindurchgehen muß wie durch Nietzsche und Kant, ihre Hypostasierung als ganze jedoch ist nicht weniger ungereimt als die der Kritik der reinen Vernunft oder der Fröhlichen Wissenschaft, ja, sie ist dem freien Gedanken noch feindlicher, denn
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es scheint, daß die wenn, auch verstümmelten Lehren von Marx und Engels zum Herrschaftsapparat der nächsten Jahrhunderte dienen sollen, ähnlich wie die verstümmelten Lehren des Evangeliums seit jener anderen Völkerwanderung zu Beginn des Mittelalters: Jesus, von anderen Völkern aus den jüdischen Propheten herausgepickt, wie Marx heute aus der Linie der europäischen Philosophen. Die Marxsche Theorie wird zur Gewalt, die die Massen ergreift, wie das Paulinische Christentum schließlich die Massen ergriff, aber fragt mich nicht, welche Despoten in solchen Fällen nachzuhelfen pflegen. Nach der Emigration. — Die europäischen, besonders die deutschen Intellektuellen, die die Hitlerzeit nach Amerika trieb, erfüllen dort die Aufgabe, das älter und reicher werdende Land, das sich den fortschrittlichen Gedanken leisten kann, darin zu bestärken; sie denken das weiter, was in Europa auch nach Hitler nicht fortzusetzen ist. Die aber, die nach dem Osten gingen, werden von dem aus wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Tiefen gewaltsam sich emporraffenden und ausbreitenden Gebiet auf die Funktionen zurückgebracht, die dem erst neu sich zivilisierenden Zustand entsprechen, sie fallen mit ihrem Materialismus als Weltanschauung noch weit hinters europäische Mittelalter zurück. So kommen sie denn als Sendboten einer höchst primitiven Heilslehre, die sie als Aufklärung verkaufen müssen, nach dem Westen. Sie sind des freien Gedankens ganz entwöhnt. Sie gehören zu den Kräften, die Europa auf die Stufe der unterentwickelten Länder, in denen der Gedanke eine der Peitschen bildet, mit denen die Massen angetrieben werden, zurückreißen und in Provinz verwandeln. Soziologie. - Soziologie ist nicht bloß immer Theorie oder Empirie oder beides in Verbindung, so etwa, daß die Empirie die Theorie stützte oder verifizierte oder auch die sogenannte Praxis vorbereitete, die mit der Theorie verbunden sein soll. Soziologie heißt vor allem, die gesellschaftlichen Dinge aus der Ferne anzusehen. Etwa, daß man bemerkt, das Bewußtsein der Menschheit, wie unbewußt es auch sei, die Zivilisation, manifestiere sich in den faits divers, darin, daß ein Unfall, Unglück, Todesfall notiert und mitgeteilt wird. Das ist heute schon alles rationalisiert, es dient zur Verhütung
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neuer Unfälle, rascher Orientierung und dergleichen. Objektiv heißt es aber noch immer, daß der Verunglückte zur menschlichen Gesellschaft gehörte, daß sie Kenntnis nimmt von dem, was ihm zustieß. Jenes »man«, das die unmenschlichen Philosophen so verlästern, das sie als Subjekt von Geschwätz denunzieren, stellt vielmehr die arme, kümmerliche Weise dar, in der die Menschheit auf sich selbst reflektiert. Im Krieg hört das auf, er ist das Gegenteil des »man«, an die Stelle der den Barbaren so verhaßten Rhetorik tritt das Geschehen, die geschichtliche Auseinandersetzung, oder wie das sonst noch heißt, in der nackten Gestalt der Tat. Die Humanität lebt im Polizeibericht. Subjekt-Objekt. — Freud hat entdeckt, daß vom typischen Anfassen aller Gegenstände der Umgebung bis zur Berührung des geliebten Menschen mit dem Blick eine Linie führt. Wird das erste Greifen, das zwischen Subjekt und Objekt noch keinen Unterschied weiß, gehemmt, so wird niemals - durch den Gegensatz von Subjekt und Objekt hindurch — dieses in jenem sich verlieren und zurückgewinnen können. Es kommt nicht zum menschlichen Leben. (Oktober 1958) Utopische Regression. - Wer nicht das Glück des Eigentums erfahren hat, wer es sich und anderen nicht gönnt, vermag das Unrecht seiner Verteilung unter den Menschen nicht im geringsten zu verstehen. Wer aber jene Erfahrung gemacht hat, fürchtet sich nicht weniger davor, daß die Verteilung von irgendwelcher diktatorischen Instanz betrieben wird, als vor dem Schrecken, den die Mächtigen mit dem allzu ungleichen Eigentum anrichten. Eben die Folgen dieser Ungleichheit, der durch sie gesetzte Charakter der Gesellschaft, der Individuen und der Massen, verhindern, daß es eine gerechte Verteilung geben kann. Deshalb die Regression. Zu wählen ist nicht zwischen den Resten des Liberalismus und dem Sozialismus, sondern zwischen Erhaltung der Freiheit und der bürokratischen Diktatur, der freilich jene Reste von selbst immer näher kommen. Den richtigen Sozialismus dem falschen im Osten entgegenzusetzen ist wieder bloß noch eine Utopie geworden, denn
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die ganze Geschichte der Gegenwart schreit dagegen, daß politische Änderungen in den westlichen Systemen anderes zustande brächte als die weitere Reduktion der einzig hier noch bestehenden Freiheit. Es gilt, sie zu verteidigen, solange es nur möglich ist. Das hat Konsequenzen für das Leben des Einzelnen. Da das Sein, das das eigene Fortkommen transzendierende Interesse, nicht mehr in der Geschichte der Gesellschaft, in der er lebt, sich erfüllen kann, da es sich nicht in seinem Zeitalter erfüllen kann, wird es zugleich konkreter, indem es erfährt, daß die Menschheit, und nicht bloß ein Teil von ihr, in Ordnung kommen kann; und abstrakter, indem seine eigene Arbeit von dem Ziel durch einen unendlich langen, unübersehbaren Weg getrennt ist. Er wird auf allgemeine Formulierungen, wie die Kantischen vom Endziel der weltbürgerlichen Geschichte, zurückverwiesen. Das richtige Denken wird wieder philosophischer, utopischer, nur diesmal als Rückgang. Das Verhältnis von Denken und Realität, das in der Wissenschaft so brillant geworden ist, löst in der Theorie sich auf, und damit nimmt auch Wissenschaft einen Zug von Wahnsinn an. Fazit der großen deutschen Philosophie - in abstracto. - Würde je die Menschheit sich ihrer selbst bewußt und bestimmte in größter möglicher Freiheit ihre eigenen Geschicke, es bliebe ihr nur noch, in Hingabe an alle übrige Kreatur deren Leiden zu mildern. Käme es dazu, daß die Menschheit als ganze Erfahrungen zu haben vermöchte, sie richtete die Erde so ein, wie ein denkender Vater einmal seine Familie und sein Gut verwaltete, weil er in ihrem Gedeihen sein Glück und ihrem Zerfall sein Elend fand. Der Unterschied bestünde nur darin, daß die Kreatur für die Menschheit, nicht wie für jenen Bürger das Seine, noch einem anderen Zweck dienen könnte, denn am Ende der menschlichen Entfaltung, soweit sie gedacht werden kann, steht nicht noch einmal ein Anderes, sondern die Einheit, die Hingabe, die Großmut angesichts dessen, was im Dunkel ist. Daß die Menschheit noch lebte, entspränge dem Willen, sich zu verschenken, denn ohne den Widerspruch gegen das Festhalten an ihm ist das menschliche Leben unmenschlich, und dieser Widerspruch ist keiner, wenn das Leben, wie im Krieg und hi der Technik, bloß eingesetzt wird, damit es desto mehr gesichert werde. Erst wenn das Leben zum Höchsten gemacht ist,
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wird es jeder so zu lieben vermögen, daß die Hingabe keine Torheit mehr ist. Job und Hobbies. — Die Klage über den Materialismus, oder wie wir sagen würden, Konkretismus der heutigen Jugend hat die gesellschaftliche Situation zum Gegenstand. Die Jungen verbinden in der Tat mit ihrer Arbeit keinen »Sinn «mehr als den der Karriere, daneben gibt es die saubere Freizeit. Bei der Trennung des Lebens in Job und hobbies ist der Sinn unter den Tisch gefallen. Dieser Trennung entspricht die andere zwischen Alltag und Kultur. Kultur sind gehobene hobbies, gekoppelt mit narzißtischer Befriedigung und dem so notwendigen Prestige. Kunst, Religion, Philosophie gehören zur Kultur. Sie belegen den psychologischen Ort, der für den Sinn da wäre, mit Beschlag. Erhielten aber die Kinder eine Erziehung, in der das vernünftige Leben der Menschheit und die Einrichtung der Erde so im Bewußtsein des Einzelnen stände, daß die Beziehung seiner Arbeit und seines ganzen Daseins zu dem Ziel nicht bloß als Worte, sondern als wörtlich von ihm und allen anderen herzustellende Aufgabe durchsichtig würde, dann gingen die psychischen Energien in diesen Willen ein, und die Reduktion des Einzelnen auf nichtssagende Teilfunktionen könnte überwunden werden, ohne daß die Teilfunktionen verachtet würden. Nur ist es dazu längst schon zu spät, und die Macht freut sich daran. Sie will die Menschen blind und produziert das Verderben. »Klassische Bildung«. - Das Studium des griechischen Altertums war den Humanisten, das heißt den Gymnasien und der Universität, vorbehalten. Dort wurde es, gleichsam selbstverständlich, als zur richtigen Ausbildung des Menschen gehörig hingenommen. Heute ist das als »Tradition« begrifflich gefaßt und eben damit in Frage gestellt. Um zu bestehen, müßte es nachweisen, daß es nützlich wäre. Dies aber wäre zugleich der Nachweis seiner Überflüssigkeit, denn nur, um Menschen zu erziehen, die nicht ausschließlich auf Nützliches sich verweisen, hat jenes Studium seinen Sinn gehabt. Wenn sie und ihre Lehrer jetzt an die dubiosen Rechtfertigungen sich halten, die jenes Studium schmackhaft machen sollen, so irren sie sich. Viel besser leisten die klar auf bestimmte
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Funktionen der arbeitsteiligen Gesellschaft bezogenen Unterrichtsfächer die erwünschte Ertüchtigung für die Laufbahn, und wäre es die diplomatische oder die sogenannte künstlerische, in Wirklichkeit kunstgewerbliche, als der pragmatistisch gewordene Unterricht im Griechischen. Die als nützlich verteidigte Bildung fürs Nutzlose wird selbst nutzlos, wie andererseits die sich selbst setzende Vernunft die Unvernunft darstellt. Wo Tradition sich rationalisiert, hat sie schon aufgehört. Götterlehre. - Besser ist es, gütigen Göttern zu folgen, als ohne Verehrung eines besseren, höheren, richtigeren Seins der eigenen Schwäche nachzugeben, die einen gleichgültig macht gegen das Leid der anderen. Statt Göttern und Ideologen jedoch, die längst durchschaubaren Fetischen anhängen, folgt man allein der Nation, die den Schein der Güte nach innen durch die Blindheit nach außen erzeugt, oder einer Philosophie, Theorie, Lehre, die die Bosheit und den Mord rechtfertigt, geschehe es auch im Namen der Vernunft oder Freiheit, im Namen von Marx oder irgend eines, der sich auf irgend einen beruft, wer er auch sei. Das ist, wie sehr die Berufung auch scheinbar ernsthaft geglaubt werde, der Verzicht auf die Einsicht, der rationalisierte Hochmut, die Idolatrie mit dem Hintergedanken des Mords. Als die Bolschewiken die Zarenfamilie ermorden ließen —um keinen Thronprätendenten übrigzulassen -, haben sie der russischen Revolution das Schandmal aufgedrückt und das Symbol für die Schandtaten der Zukunft aufgerichtet. Nicht, weil die »Weltrevolution« nicht kam, sondern weil die feste Theorie, der abstrakte Gott, alles erlaubte, hat die Revolution in die Barbarei geführt, mit der sie jetzt die Erde bedroht.
Volksempfänger. — Daß man, wie in Europa, für einen Rundfunkapparat im eigenen Haus regelmäßig Steuern bezahlen muß, symbolisiert die Abschaffung des Eigentums. Damit ist nämlich gesetzt, daß jemand ins Haus kommen und nach dem Besitz schnüffeln kann, der zum Teil das Kapital des Staates ist. Der Übergang vom Telefon, das wenigstens draußen mit einem Draht verbunden ist, zur Maschine, die in der freien Luft schwingende Wellen auffängt, markiert den Umschlag. Die Commercials, die im amerikanischen Radio die Erhebung vom privaten »Empfänger« überflüssig machen, sind eine harmlosere Einrichtung, die mehr mit liberalem Geist übereinstimmt. Die Europäer tun unrecht, sich darüber zu mokieren. Die Wohnung des Amerikaners bleibt unverletzt. Kein Sinn. — Geschichtsphilosophie mit irgendeinem Sinn ist Unsinn, Angstprodukt der verlassenen Menschen, Herrschaftsmittel, Propaganda von oben und unten. Es gibt keinen Sinn. Der einzelne Mensch schon führt sein Leben wie ein Irrer im Urwald, auch wenn er noch so weise ist, und erst die Völker, erst die Menschheit! In Europa redeten sie sich einmal ein, man dürfe die Natur nicht begaffen, nicht erfinden, nicht die Erde wollen, dann schmissen sie das um und begaffen, erfinden, wollen Erde und Mond und Weltraum und spielen wie Kinder mit dem Feuer. Es gibt keinen Gang der Geschichte, es sei denn, der ins Verderben. Alles ist zugleich Zufall und Notwendigkeit, aber kein Sinn. Massendemokratie. - Die Demokratie im Zeitalter der Massensuggestion wird vor der Verfassung nicht haltmachen. Arme Menschenrechte, die in dieser verankert sind, arme Freiheit, der jene Schutz bieten soll. Aber Demokratie ist ja für die Mehrheit da, und die Menschenrechte gelten für die Einzelnen. Wann war schon der Einzelne in der Geschichte sicher, relativ sicher in den Industrieländern des 19. Jahrhunderts ungefähr - auch nur ungefähr.
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Und die Freiheit, das ist ja die Freiheit des sogenannten Volkes, nicht des Einzelnen. Also keine Angst, solange die Verfassungsänderung von der Mehrheit beschlossen wird — die Verfassungsänderung gegen die Einzelnen. Deshalb führt Demokratie zu ihrem Gegenteil, zur Tyrannis. Antinomien der Liebe. - Liebe verschenkt sich an den Anderen. Sie ist selbst ein Beweis der eigenen Kraft und Macht, unendlich schwer von Narzißmus und Herrschaft zu unterscheiden und doch so leicht, denn der Inhalt wirkt auf die Form zurück. Wie leicht ist die egoistische von der richtigen, sich mit dem Anderen identifizierenden Liebe zu unterscheiden. Aber das negative Moment vermag im Anderen sich geltend zu machen. Er kann die Liebe nehmen und, falsch imitierend, das Moment der Macht, der Überlegenheit von ihr in sich aufnehmen und sich gegen den Liebenden wenden. Die Liebe kann dies wissen, sie muß zwischen schwächlicher Hingabe und Herrschaft den Weg finden. Er liegt in der tätigen Preisgabe des eigenen Selbsts ans andere und der geistigen Unbeugsamkeit. — Schwerer als dies ist die andere Antinomie in der Liebe zu überwinden; daß die Liebe zum einen der Ausschluß, zumindest die Begrenzung der Liebe zum anderen ist, das ist der Ausdruck der Endlichkeit des Einzelnen. Leben ist Schuld, du magst es für einen, für viele Menschen, für eine Sache hingeben, du entziehst es anderen. Mit jedem Schritt, den du zur Befreiung des einen unternimmst, entfernst du dich vom anderen. Es sei denn, daß Worte genügten, aber zumeist genügen sie nicht, und in vielen Fällen richten sie zugleich Schaden an. Der Mensch ist schuldig. Innenarchitektur. - Die Wurzel, aus der die gesellschaftlichen Mächte fließen, die heute die entscheidenden Veränderungen menschlicher Charaktere bedingen, das, was die veränderte Welt des Westens erklärt, ist die Unfähigkeit der Einzelnen und kleinen Gruppen gegenüber der übermächtigen sozialen Apparatur, irgendeinen ihr widerstrebenden, irgendeinen eigenen Einfluß zu üben. Während bis in die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts hinein die Verhältnisse so geartet waren, die Kapitalmächte wie die Länder so auf sich selbst gestellt, daß noch Möglichkeiten für gesellschaftlich relevante Aktivität, spontane einzelne Aktivität blieben,
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ist jetzt alles völlig verfilzt, unauflösbar, übermächtig. Als geschichtlich, handelndes Subjekt kann man nur Diener von Parteien oder Ländern sein, die selbst bis in alle Einzelheiten von jener übermächtigen Dogmatik bestimmt werden, man kann also als Subjekt nur Objekt sein. Das war bis zu einem gewissen Grad schon immer so, jetzt aber ist die Quantität in Qualität umgeschlagen. Der Effekt zeigt sich zunächst in der Unaktualität aller Theorie und Intellektualität, dazu gehört die Umfunktionierung von Philosophie und Soziologie. Die Energien, die im 18. Jahrhundert noch in die Philosophie flössen — damals war auch Wissenschaft gewissermaßen Philosophie, weil sie eigenen, von relativ souveränen Einzelnen ausgehenden Einfluß ausübte —, fließen jetzt in die relativ vorurteilslose, illusionslose Art, wie der Einzelne sich mit seiner Situation abfindet. Die Lettres persanes waren gegen die negativen Momente des Pariser Lebens, des Zentrums der Zivilisation gerichtet, heute geht die Aufklärung auf Lösung von Komplexen des Einzelnen, um seine Freiheit von irrationalen Beschwerden. Wenn es auf Änderung des Ganzen ankommen soll, zuckt der Aufgeklärte die Achseln. Eben dadurch wird die Aufklärung zur Verdrängung und Härte. Da man doch nichts ändern kann, sind dem Verhältnis zum anderen Menschen Grenzen gezogen, die man respektiert. Man ist freundlich, hilfreich, bis zu dem Grad, an dem es Torheit würde. Freundschaft setzte voraus, daß die Menschen es anders machen konnten. Indem das wegfällt, wird sie sinnlos. Der triste Ausdruck des Zustands zeigt sich in der physischen, ökonomischen Unmöglichkeit, allein oder auch als kleine Gruppe etwas auszurichten. Einer, der kein Manager ist (und dazu gehören auch die erfolgreichen Professoren und Schreiber), kann noch nicht einmal eine Sekretärin halten, geschweige denn eine adäquate Bibliothek. Die Inflation, die verkürzten Arbeitsstunden, die Notwendigkeit, daß auch die Frau verdient, die Vollbeschäftigung der affluent society reduziert den Einzelnen auf ein Nichts. Das schlägt auf jeden Gedanken zurück, der den Einzelnen braucht, um wirklich zu werden. Es ist wie im Altertum, die Platonischen Entwürfe, die aufs Ganze gehen, werden sinnlos. Die Schulen behalten recht, die einen lehren, sich zurechtzufinden. Auch die radikalste Aufklärung wird so zum Zimmerschmuck. Die Eitelkeit bestimmter Gedanken und schließlich des Gedankens selbst kann ruhig darge-
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legt werden. Es wird damit nur bestätigt, was jeder schon weiß. Aber auch die Größe des Gedankens wird hingenommen, sie bedeutet Anerkennung der Innenarchitektur. In Amerika sind alle Gelehrte zugleich experts, das heißt, Diener der Apparatur, wie auch darüber aufgeklärt. Das heißt, frei vom inneren Widerstand. Wahrscheinlich kann es der Mensch gar nicht weiter bringen. Das Leben ist Schuld. Wir haben die Wahl zwischen Gewalt und Resignation. Beruf: Frau. - Daß die Frauen in der Art, ihren Körper, Gesicht, Frisur herzurichten, in der Kleidung, in Gebärden, Ton der Stimme, Gang immer noch, ja jetzt erst gleichsam absichtlich ihre Rolle als Liebesobjekte zum Modell nehmen, zeigt einerseits, daß es fast schon vergessen ist und als Ideologie, nun unterstrichen, »overdone« wird, andererseits jedoch wird durch die Nützlichkeit, die es auch heute für die Frauen hat, bestätigt, daß auch die gegenwärtige noch den Charakter der Männergesellschaft fortführt, ähnlich wie den der Seniorengesellschaft, wenngleich diese noch vermittelter, noch weniger wahr ist als jene. Die Frauen tun es jetzt sozusagen freiwillig, es ist für sie vorteilhaft und in gewisser Weise »a must« geworden, Frau zu spielen, während die Naturkategorie längst durch spezifische gesellschaftliche abgelöst ist. Im Grund ist es schon eine Schande, wesentlich Frau zu sein, und gerade deshalb kann man es spielen. In Wahrheit ist Frau schon nur noch als Beruf unter anderen akzeptabel. Was sind Sie PHousewife. Es muß wie »stenographer« in die betreffende Rubrik passen. Beim Mann ist es anders. Zwar wird auch Männlichkeit noch als darzustellender Charakter gefordert, aber die Zeit, in der das einmal objektiv vom anderen Geschlecht gefordert war, liegt ein Aon weiter zurück. In der Männergesellschaft hatte es etwas von der Verpflichtung des Siegers an sich, nicht weich zu werden. Es war von den Männern selbst, nicht von den Frauen vorgeschrieben. Wo diese heute darauf bestehen, spürt man selbst im Scherz noch den Masochismus durch, der die ihm auferlegte Ordnung zürn eigenen Willen macht. Gegen die Philosophie. - Philosophie ist der vergebliche Versuch, einer Erkenntnis zur Geltung zu verhelfen, die nicht auf Hantie-
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rung hinausläuft, der Versuch, Wahrheit zu produzieren, die nicht nur keinem Zweck im handfesten Sinn, sondern nicht einmal der Ordnung und Verfügbarkeit erworbenen Wissens dient, Wahrheit an sich. Abgesehen jedoch davon, daß hinter ihr der theologische Zweck der ewigen Seligkeit sich verbirgt, den die Philosophie als Erbin des Christentums übernommen hat, läuft sie, eben weil sich der theologische Zweck nicht verifizieren läßt, im Irrgarten der frommen Wünsche herum, die ihr freilich mit allen Menschen, insofern sie nur zu sprechen vermögen, gemeinsam sind. Die Dialektik, die nicht aufgeht, bildet bloß scheinbar einen Ausweg. Die bestimmte Negation bedeutet ganz richtig, daß ein negierter Gedanke zum inhärierenden Moment eines differenzierten, reicheren, geistigen Gebildes wird. Wenn jedoch eben dieses an der Realität sich nicht als solches messen kann, bleibt es ohne die geringste Gewißheit, ja Wahrscheinlichkeit, daß es mehr sei als der ursprünglich negierte Gedanke selbst. Die Bestätigung kann psychologisch oder soziologisch sein, jenes reichere Gebilde mag der größeren Genußfähigkeit, besserem Überblick, der Zustimmung Einzelner oder ganzer Gruppen dienen, eine Wahrheit in sich selbst, so verführerisch das klingen mag, hat es nicht. Der Rückgriff auf die immanente Logik, die fürs Kunstwerk gilt, kann nicht helfen, denn Philosophie will in noch anderem Sinne wahr sein als Kunst. Was bleibt, ist die Einsicht in die Ohnmacht alles Geistigen, dem die Macht zuwenig ist — das ist die Wahrheit, und an dieser Stelle berühren sich Materialismus und ernsthafte Theologie. Und deshalb sind die wahren Philosophen heute gegen die Philosophie. Die Einsicht in die Ohnmacht bildet keine Ausnahme, auf sie findet Anwendung, was für alle Sprachen, alle Gedanken gilt, sie ist selbst eitel, es sei denn, daß sie sich als Feststellung versteht und ihre Bestätigung in der Welt findet. Dann ist sie Erkenntnis so gut wie das Gravitationsgesetz. Zur gegenwärtigen Aufgabe der Soziologie. — Was die Soziologie betrifft, so ist zwischen der Wissenschaft vom Ganzen und der von den Teilen ein qualitativer Sprung. Die Studien über Teile, soweit sie nicht den Gedanken ans Ganze in sich tragen, sind durchs Ganze bestimmt, ohne darauf zu reflektieren, sie sind Instrumente ohne Vorstellung davon, welcher Richtung sie dienen. Der Versuch, das
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Ganze im Sinn zu behalten, an dessen Begriff die praktische Intention auf Gerechtigkeit — wie Piaton wußte — ja schon konstruktiv beteiligt ist, bedeutet keineswegs, daß der Gegenstand der Studie selbst ein größerer, daher formaler sein müsse, sondern die Reflexion auf ein nicht von außen und auch nicht immanent wissenschaftlich, gleichsam technisch gesetztes Thema. Die davon unberührten, insofern abstrakten Untersuchungen pflegen darauf stolz zu sein, daß sie - im Gegensatz zu jenen spekulativen — der Bestätigung fähig und also exakt sind. Aber man täusche sich nicht. Die Bestätigungen in der Soziologie, von völlig technisierten Zweigen abgesehen, sind anderer Art als die in der Naturwissenschaft. Das Resultat besteht in der Wirkung auf menschliches Verhalten, nicht im Funktionieren eines Dings, oder vielmehr es macht die Menschen zu funktionierenden Dingen; das gilt für die Konsequenzen der polls nicht weniger als fürs market and motivation research, für die human relations studies ebenso wie für die Demoskopie. Nur eine Art von Untersuchungen, die nicht von der Idee des Ganzen geleitet sind, bewahren die Autonomie. Es sind jene, die, von Auftraggebern unabhängig, relative, daher sich widersprechende Gerechtigkeit zum Ziele haben, die Änderung des Elends an bestimmten Stellen der Gesellschaft, in Gefängnissen, Irrenhäusern, Familien, Landstrichen, den Städten und Dörfern. Die Soziologen werden sagen: »Das aber tun wir ja, siehe die Fabrik!« Ja, die Grenzen sind fließend, wie selten jedoch werden die Untersuchungen in Anlage und Gang von jener ersten Rücksicht der Gerechtigkeit bestimmt, die den Unterschied ums Ganze macht. Es ist wahr, angesichts der Unmöglichkeit, mehr aufs Ganze einzuwirken, kommt die Soziologie auf den Teil, die kleine Gruppe, wie die Philosophie von der Betrachtung des Absoluten auf Lust und Unlust des Individuums, von Piaton auf die Stoa, von Hegel auf den Existentialismus. Der Begriff der gesellschaftlichen Klasse mündet in den der Politik, in die Aktivität der Avantgarde, der Begriff der Altersforschung in Sozialpolitik oder Caritas. Zu dieser sich zu bekennen ist im gegenwärtigen Zeitabschnitt ein Vorrecht, ja die Ehre der Soziologie, deren gewollte Änderung. Das Ganze aus der Theorie mag nur zum Schlechten führen.
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Ende der Moral. - Moral verschwindet. Sie war die autonome Version der Gläubigkeit. Jetzt wird sie durch die Ausdehnung der gesellschaftlichen und staatlichen Direktiven ersetzt. Das gilt aber nicht bloß für die Individuen im westlichen Bezirk, wo allein die Menschen soweit fortgeschritten waren, sondern von den europäischen Nationen selbst. Sie werden von den durch stärkere Völker beherrschten Kombinationen kontrolliert. Damit verschwindet die individuelle und nationale Souveränität sowohl wie die damit verknüpfte Illusion menschlicher Verpflichtungen. Selbst die sogenannten Neutralen kennen Souveränität bloß noch als den Freipaß, mit ihren Untertanen zu verfahren, wie es den jeweiligen Regierungen beliebt. Nach außen müssen sie lavieren, sich nach anderen richten, nach innen können sie wüten, wie sie wollen, den Großen ist das gleichgültig. Die haben mit dem Schwund der kulturellen Ideologie auch die der zivilisatorischen Mission aufgegeben. Sie wird als Kolonialismus in Acht und Bann getan. Aber gerade jetzt, wo das Grauen des Kolonialismus vor der ebenso grauenvollen Rebellion der unterdrückten Kolonialvölker sich auflöst, steigt das gute Bild jener Verantwortung der weißen Völker auf, die sie einmal als Rationalisierung der Akkumulation des Kapitals benutzten. Die Welt schickt sich an, ohne Moral auszukommen, als Gesamtorganisation oder als Gesamtvernichtung. Beides wohnt nah beieinander. Der Fortschritt tendiert dazu, in Katastrophen zu münden, weil er das Rückständige bloß hinter sich läßt. Egalité. — Daß in der Demokratie der Unterschied zwischen der crapule und den anständigen Leuten nicht mehr gelten soll, heißt nicht, daß es crapule nicht mehr gibt. Er wird vielmehr zugunsten der crapule liquidiert. Auf Ungerechtigkeit scheint er deshalb zu beruhen, weil zur Anständigkeit als moralischer Verfassung ein differenzierender Instinkt, wenn nicht gar ein eigenes Urteil gehört, das das Resultat der Erfahrung von langen Generationen bildet; doch ist schwer auszumachen, ob der moralisch höher Entwickelte, der keineswegs der Reichere, Mächtigere sein muß, notwendig auch leidloser ist als der Gemeine. Indem die Gesellschaft sich so einrichtet, daß beide die gleiche Chance haben, muß nicht nur der Unterschied selbst veralten und illusorisch werden, sondern die Noblesse als Charakterzug wird nichtig und lächerlich. Mag es
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immerhin wahr sein, daß auch das Gute von einem Menschen auf unbewußten narzißtischen oder in der Kindheit als lustbringend erfahrenen und daher als Charakterzüge fixierten Triebregungen beruht — in der neuen gesellschaftlichen Realität sind die menschlichen Energien so entschieden auf bewußte Interessen reduziert, daß der Edlere, will man ihn nicht bloß für töricht halten, höchstens noch als einer dasteht, der seine Interessen um so abgefeimter zu kaschieren weiß. Den Zuschauern ist schon deshalb viel daran gelegen, jeder feineren Geste dies nachzusagen, weil sie durchs wahrhafte Dasein dessen, was nur als Vorwand ein Recht auf Bildung genießt, sich in ihrer glatten Entschlossenheit zur Vulgarität zutiefst beunruhigt fühlen. Daher auch das übertriebene Lob der anständigen Regung, der man nichts nachweisen kann. Es soll wenigstens durch Übertreibung der Verdacht an ihr haften bleiben, daß das Ganze doch nicht so sei, wie die Anerkennung es haben will; sie soll zugleich verpflichtet werden, nun der Übertreibung nachzuleben, und somit in der Zukunft für das Gute, das sie in der Vergangenheit beging, die Strafe rigoroser Kontrolle ertragen. Deshalb gehört zur Abschaffung der Noblesse, daß sie in der Massenkultur um so gewaltiger gepriesen wird. Fraternite. — Der Prozeß, durch den die technisierte Massengesellschaft sich als Uniformität der engen Gefühle durchsetzt, verläuft über die Notwendigkeit gesellschaftlicher Kontrolle aller Handlungen der Individuen. Wenn die Schritte, die ich für mich selbst mache, schon der offiziellen und inoffiziellen Prüfung der von jovialer Vertraulichkeit unvermittelt in mißtrauische Aufmerksamkeit übergehenden Beziehung der Kollegen und Nachbarn ausgesetzt sind, werde ich mir die Schritte, die ich für andere tue und die eben deshalb schon auffallen, zweimal überlegen. Wenn schließlich die Handlungen seltener werden und verschwinden, folgen ihnen die motivierenden Gefühle schließlich nach. Konsequenzlose Regungen haben geschichtlich keinen Bestand. Der Preis der Selbstbeherrschung. — Daß die Gesellschaft in ihrer fortgeschrittensten Gestalt heute die Individuen psychisch so reduziert, daß sie das innere Leben, die Autonomie ihrer Mitglieder kastriert, hat den letzten Grund in der Abscheulichkeit, mit der
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die Selbstbeherrschung der Menschenrasse in der Natur sich durchsetzt. Die Tötung des inneren Lebens ist die Quittung dafür, daß die Menschen vor dem äußeren Leben, dem Leben außer ihrem, keine Achtung haben. Die Gewalt nach außen, die Technik heißt, müssen sie sich in ihrem eigenen Innern selbst antun. Der Reichtum, den sie mittels ihrer Apparaturen erweitern, die Gewalt der Maschinerie, schlägt gesellschaftlich in totalitäre Herrschaft, überall und psychologisch in die Herrichtung des geistigen Lebens zum bloßen Scharfsinn für individuelle Selbsterhaltung, das heißt in Armut des Gedankens um. Die Menschen, die bloß sich wollen, machen sich buchstäblich selbst zunichte, an sich selbst rächt sich das Leben für die Schuld, die es am Leben begeht. Die negativen Erscheinungen in der Gesellschaft heute sind zwar Symptome des Verfalls, nur daß der Zerfall und nicht die sogenannte Konstruktion das Endziel ist, wie sehr man jenem nur als Teufel wirklich dienen kann. Triumphieren kann in der Geschichte immer nur, was des Triumphes nicht würdig ist. Ecclesia triumphans wäre die Fratze des sterbenden Gottes, den sie als trade mark benützt. Paradox der Philosophie. - Das Paradox der Philosophie besteht darin, zugleich Ausdruck und Aussage sein zu wollen. Aber der Ausdruck stellt nichts fest, und die Feststellung ist kein Ausdruck. Die Trauer, die über das Wirrsal der Nacht nicht zur Tagesordnung übergehen kann, wird zum psychologischen Apercu, sobald sie sich zur Behauptung versteift; sie hebt sich auf, wenn sie, wie bei Schopenhauer, als System sich aufspreizt. System gibt es nur als ein Positives, als Affirmation. Der Blick in die Welt aber mag nicht zur Versicherung übergehen. Zwischen den Stühlen. - Die linken Intellektuellen, die in den Jahren nach 45 aus der westlichen Emigration in den Osten gingen, waren entweder blind oder den Henkern drüben verwandt. Sie sahen die Unterdrückung nicht oder bejahten sie. Diejenigen aber, die im Westen blieben, haben den Preis nicht bezahlt, den es kostet, für die Freiheit zu stehen. Sie dachten, die Gesellschaft könne vom Reichtum zur Gerechtigkeit übergehen, ohne daß die Barbarei eintrete, ohne neues Mittelalter oder ohne Übergang des Weltgeistes an andere, unterentwickeltere Völker, ja, sie sind das
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Symbol dieses Glaubens. Er ist optimistischer Wahn, und es bleibt ihnen nur die Hoffnung, daß sie sterben, ehe sie die Wahrheit an sich selbst erfahren müssen. (März 1959) Hindernis Europa. - Die der europäischen Gegenwart angemessene Regierungsform ist die Einparteienherrschaft in mehr oder minder diktatorischer Gestalt. Die vielen Parteien, die differenzierte Form, die kollektiven Interessen auszudrücken, sind unangemessen geworden, weil die Gesellschaft zwar spezialisiert und unterteilt, aber nicht eigentlich differenziert ist, alle werden sich nur ähnlicher. Das Parlament im alten Sinn, die vielen Parteien, entsprechen nicht mehr der Realität; die uniformen Interessen überwiegen die Differenzen. Daher erscheinen die Debatten, die Reibungen, die dadurch bedingte Schwäche der Regierungen bloß als Schwerfälligkeit, als Mängel des Apparats, der nicht exakt funktioniert. Man spürt, daß die nuancierten Vorstellungen den regulären an Bedeutung längst nicht mehr gleichkommen, und erwartet ein Kommandowort, das diese gegen jene schneidig durchsetzt. Eben dies gilt für die europäischen Völker. Die vielen Individualitäten unter ihnen sind längst bloß noch ein Hindernis. Daß man die Staaten nicht aufeinander einschleifen kann, bedeutet, daß Europa in ein balkanartiges Dasein übergeht und schließlich noch stärker in Abhängigkeit gerät, als es schon ist. Es fehlt die Autorität, die dem Pluralismus ein Ende macht und Europa von der Renaissance bis zu den Weltkriegen als das mit Schmach bedeckte »System« denunziert, wie Hitler den Reichstag und de Gaulle die Republik. Sind nicht die schon aufgescheuchten, reisenden, ihre Differenzen vergeblich vertuschenden Staatsmänner das vergrößerte Abbild der Parteiführer in ihren Verhandlungen? Das alles ist überholt, die Einheiten sind zu klein, die Geschichte hat keinen Platz mehr dafür, sie setzt zu umfassenden Aktionen an. Was einzeln ist, muß untergehen. Das Böse in der Geschichte. - Kant sagt, das radikal Böse in der Menschennatur bestehe darin, daß der Mensch als einziges Lebewesen das Gute wisse und dennoch das Schlechte tue. Wenn es nun
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einen Fortschritt der Zivilisation gibt, so bringt er es notwendig mit sieb, daß das Wissen, zu dem auch das Wissen des Guten gehört, das allem anderen Wissen immanent ist, sich unter den Menschen ausbreitet. Mehr Menschen sind in der Lage, mehr und klareres Wissen vom Guten zu haben als in barbarischen Phasen der Geschichte. Sofern sich damit das Tun des Guten, der moralische Zustand unter den Menschen nicht wenigstens in demselben Verhältnis hebt, bedeutet der Fortschritt eo ipso zugleich moralische Regression, Zunahme des Bösen. Daß bei Steigerung der durchs Wissen vermittelten Fertigkeiten die Menschen nicht besser werden, heißt, daß sie schlechter werden. Das ist nicht nur einfach eine mathematische Relation oder eine fa<;on de parier, sondern ein realer historischer Prozeß. Der Gang des Wissens erfordert in den Individuen nicht weniger als in der Gesellschaft als ganzer, wenn er sich nicht in der substantiellen Änderung seines Subjekts ausdrückt, Rationalisierung, ideologische und notfalls physische Regression. Die Individuen werden bei den verfeinerten Tele- und Mikroskopen, Tonbändern und Funkgeräten blinder, tauber, unansprechbarer, die Gesellschaft unentwirrbarer, hoffnungsloser, ihre Untaten (die kaum vergangenen und die drohenden) gewaltiger, übermenschlicher als je zuvor. Über die ganze Welt und bis zur Sonne hinauf macht das radikal Böse in der Welt als Herrschaft über alle Kreatur sich geltend, zugleich sich selbst zerfleischend, sich, die Menschen und die Menschheit als ihr Banner schwingend, weil die Menschheit bloß noch als Propagandaphrasen und als Übertölpelung des Gegners von der gewitzigten Elite gebrau cht und mit Augenblinzeln von den Düpierten akzeptiert wird. Der Böse hat die Sehnsucht vergessen, er kennt nur ihr Gegenteil, das Einverständnis mit dem, was schon ist. Was ist Religion? - Was ist Religion im guten Sinn? Der gegen die Wirklichkeit durchgehaltene, immer noch nicht erstickte Impuls, daß es anders werden soll, daß der Bann gebrochen wird und es sich zum Rechten wendet. Wo das Leben bis hinab zu jeder Geste in diesem Zeichen steht, ist Religion. Was ist Religion im schlechten Sinn? Eben dieser zur Affirmation, zur Verkündigung pervertierte und daher die Wirklichkeit bei aller Geißelung vergoldende Impuls, die eitle Lüge: das Schlechte, das Leiden, das
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Grauen habe einen Sinn, sei es durch die irdische, sei es durch die himmlische Zukunft. Die Lüge bedarf nicht erst des Kreuzes, sie wohnt schon im ontologischen Begriff der Transzendenz. Wo der Impuls ehrlich ist, bedarf er keiner Apologie, er ist der Begründung nicht fähig. Selbstmitleid. — Die Schnecke ohne Haus kriecht über den feuchten Waldweg, den schlanken, glänzenden, schwarzen Leib hinten verletzt, mit Schlamm bedeckt. Sie ist noch im ersten Viertel des Wegs und überquert ihn nicht im rechten Winkel, sondern schräg. Wenn die feinen Fühlhörner Gefahr bemerken, zieht der Leib sich zusammen. Das Ganze ist wach und differenziert, aber der wirklichen Bedrohung, dem spazierenden Stiefel des Kolosses Mensch, höchst unangemessen. Das Verhältnis ist sinnlos, wahrscheinlich die ganze Mühe der Überquerung. Der in der Organisation der Schnecke nicht vorgesehene Menschenweg hat sie vielleicht getäuscht, für sie ist der jenseitige Wegrand kein Drüben, kein Ende, kein Ziel, wie es dem Menschen erscheint, der den Weg gemacht hat und begreift. Die Schnecke, ganz hingegeben ihrer Anstrengung, zieht, schutzlos einer unbekannten Hoffnung folgend, eine Furche in die Schlammwüste. Wer sich über sie beugt, der Gemeinsamkeit mit ihr eingedenk, hat ihr, von seiner Schlauheit und seinen Machtwerkzeugen abgesehen, das Mitleid mit sich selbst voraus, das ihn die Minute verlieren läßt, in der er vielleicht etwas ändern könnte. Im Blick auf die Schnecke läßt er sich gehen, bekümmert um die eigene Verlorenheit, anstatt trotz allem in der Wüste fortzuziehen, selbst wenn die Hoffnung verloren wäre. Nonkonformismus. — Im Osten genügt es, über allgemeine Dinge das Maul aufzumachen und, anstatt der Vorschrift nachzuplappern, zu sagen, wie es im Herzen aussieht, um den Sanktionen zu verfallen. Aber auch im Westen kann der Geistige die heißen Themen nicht anrühren, ohne verdächtig zu werden: die Unterschiede der Macht — von der direkten Verfügung des Einzelnen über Menschen bis zur Behandlung, die er in der Klinik, beim Zahnarzt, bei Reisen erfährt, von narzißtischen Befriedigungen, von Essen und Trinken und Weibern gar nicht zu reden. Mehr als je ist in der Demokratie die Welt für ihn da, und die anderen haben noch
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nicht einmal den Trost, mit ihresgleichen arm zu sein, sie verfügen ja über ein Einkommen, es ist gerade genug mikroskopisch-differenzierte Aufstiegschance da, um die Konkurrenz wach- und die Solidarität fernzuhalten. Tabu sind Themen wie die Ablenkungsfunktion des Interesses an der Außenpolitik, die Minister, die anrufen, sich gegenseitig empfangen, abfliegen, all das leere und durch Geistlosigkeit demütigende Gerede von den Bemühungen, den Frieden zu bewahren — als ob die, die sich bemühen, nicht eben die wären, die ihn gefährden helfen. Von solchem Gerede leben dann die Zeitungen, die Rundfunkstationen und das ganze Instrumentarium der Gehirnwäsche und natürlich alle die Friedensstifter, von den Gewaltigen im Osten angefangen bis zu den Obersten des Herrn Hitler, die einstweilen zu Wächtern der Demokratie sich erniedrigt haben. Die enorme Propaganda für Außenpolitik, in deren Licht Chruschtschow und Nasser fast schon der Brigitte Bardot oder der Soraya den Rang ablaufen, erzeugt dann — eben weil die Konferenzen im Grunde den Leuten schnuppe sind jenen Stumpfsinn, der sich nicht mehr zu empören weiß, wenn die Vertreter der eigenen Firma den Schurken, mit deren Verworfenheit sie den Rüstungsrummel motivieren, in die Arme sinken, selbst wenn jene soeben die Freunde der Firma im Orient und sonstwo ermordet haben. Das zu sagen ist allen ein Greuel, hüben und drüben. Der Intellektuelle soll in der Menschheit das Vertrauen aufrechthalten, auf Grund dessen die Massenmorde an den Unschuldigen angezettelt wurden und jetzt zu neuen Taten fortgeschritten wird. Der Intellektuelle soll die Menschen am Denken hindern, wozu ist schließlich die Arbeitsteilung da. Wenn er kein Optimist ist, kann man ihn in der sterbenden Welt nicht brauchen, in der der Geist am Ende ist. Die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft. -Die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft besteht nicht zuletzt in der Rettung des Individuums aus der feudalen Unterdrückung, wodurch die Seele, die das Christentum ihm verliehen hatte und die das Bürgertum bezweifelte, in der Achtung vor allem, »was Menschenantlitz trägt«, erst den endgültigen Ausdruck fand. Indem nun die sozialistische Theorie die Menschheit anstelle des Einzelnen setzt, damit er zu sich selbst komme — und das Bürgertum hat die sozialistische
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Theorie in der Massengesellschaft längst eingeholt —, erscheint das Individuum vor dem Kollektiv, sei es Nation oder Staatenblock, bereits als quantite n^gligeable. Der Einzelne gilt als Nichts, damit es allen Einzelnen gutgehen soll. Damit kehrt die Gesellschaft auf höherer Ebene wieder zum Mittelalter zurück. Dieses hatte um der Seele willen den Einzelnen und sein Glück für nichts geachtet, die Gegenwart tut ihm im Namen des Glücks dasselbe an. Die für die Menschheit, ja für eine sogenannte Nation sterben oder geopfert werden, sind in ihr nicht aufgehoben, sondern tot, nichts, Erde. Die bürgerliche Gesellschaft selbst geht in die künftige umspannende Gewalt ein, wird von den Ereignissen geschluckt, ohne ihr Prinzip, den Einzelnen, hinüberzuretten. Die Gesellschaft etabliert sich als die Naturraubrasse, die sie immer war, nur künftig mit dem entsprechenden Selbstbewußtsein — als solche organisiert. Zu abstrakt. — Die Aufklärung im Kampf mit den herrschenden Mächten stellt die Wahrheit dar. Nach dem Sieg, der in der Französischen Revolution blutig errungen wurde, fiel der Gegensatz, von dem sie lebte, dahin. Ihre Thesen blieben dieselben, des Widerspruchs gegen die Macht des Unrechts entkleidet, sanken sie jedoch zur faden Erkenntnislehre herab, die nicht einmal mehr richtig war. Der Gedanke, der Spannung gegen die Realität entkleidet, verliert seine Kraft. Als isoliertem, der Geschichte enthobenen, als bloßer »These« kommt ihm Wahrheit nicht zu. Selbst die höchsten Ideen sind nichts - für sich allein. Das bedeutet der Satz vom Schmerz und der Langeweile in der Vorrede zur Phänomenologie. Er löst auch das Rätsel von der Langeweile anderer Kunst. Das Abstrakte hatte eine Sprache, als es dem Naturalismus, selbst dem impressionistisch und expressionistisch fortgeschrittenen, die Stirn bot. Nach der musealen Versteinerung der Werke des 19. Jahrhunderts verblaßt die abstrakte Kunst zum Konsumgut und Ornament. Sie wird nichtssagend und konformistisch, wie rebellisch sie sich gebärden mag. »An diese Wand gehört noch ein bunter Fleck«, sagt der Bankdirektor, der mit der Zeit geht, »look how funny«, der amerikanische employee, beim Anblick eines Picasso, »that woman has three eyes, doesn't she.« Die Künstler haben gewonnen, es war ein Pyrrhussieg; in Epochen wie dieser lebt Kunst durch Niederlagen.
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Die schwierige Tradition. — Die Rebellion der Jungen gegen die Tradition ist ähnlich konstruiert wie die Wendung des Gewissens gegen die, die es den Jungen einpflanzten. Hier werden Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Fleiß, alle Tugenden in frischem Rigorismus gegen die Väter gewandt, dort die von den Alten großgezogene Rationalität. »Werde vernünftig, rede dir keine unsinnigen Dinge ein, tu nichts Unnützes«, sagt der Vater. »Wozu also die Achtung vor dem ehrwürdigen Kram, dessen Sinn mir nicht einleuchtet«, antwortet der Sohn. Und wehe, wenn der Vater nun von der Vernunft abrückt. Es bedürfte sehr langen Reifens, bis der Sohn erfährt, daß die Vernunft erst Vernunft wird, wenn sie nicht mehr bloß Vernunft ist. Der bedenklichste Mangel des dürftigen Rationalismus, wie das Schlagwort lautet, ist nicht etwa die angebliche Trockenheit, sondern die Regression ins Irrationale und verlogene Metaphysik. Zu dem, was Vernunft heißt, zur Vernunft selber weiterzugehen bedarf einer längeren Zeit, als sie heute dem Einzelnen gegeben ist. Jesus. - Jesus starb für die Menschen, er konnte sich nicht geizig für sich selbst behalten und gehörte allem, was leidet. Die Kirchenväter machten daraus eine Religion, das heißt, sie machten eine Lehre, die auch dem Bösen noch ein Trost war. Seither war das in der Welt so erfolgreich, daß der Gedanke an Jesus überhaupt nichts mit dem Handeln und schon gar nichts mehr mit den Leidenden zu tun hat. Wer das Evangelium liest und nicht sieht, daß Jesus gegen seine heutigen Vertreter gestorben ist, kann nicht lesen. Diese Theologie ist der grimmigste Hohn, der je einem Gedanken widerfuhr. Die frühe Kirche nahm schließlich nach vielen inneren Kämpfen Soldaten auf, die Mordwerkzeuge zweier feindlicher Heere segnete sie noch nicht. — Die geistigen Energien, die durch die unerhörte, die Kälte des Altertums durchbrechende Tat Jesu erweckt wurden, lenkt die Religion, die sich auf ihn beruft, von der Mimesis auf den Kult, vom Handeln aufs Anbeten ab. Ware das nicht geschehen, so hätte man Jesus wahrscheinlich vergessen, seine Anhänger hätten sich verschwendet, sie wären im Dunkel untergegangen; anstatt einer successful organization, die auch an Bildungsergebnissen nicht arm ist, bliebe nichts, die guten Taten und Einrichtungen und die schlechten Taten und Einrichtun-
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gen des Christentums wären in keinem Geschichtsbuch verzeichnet, und Jesus behielte recht. Sein Reich wäre nicht von dieser Welt. Wer wagt zu sagen, was das bessere ist. Umsonst. - Die Gefühle der Großmut, der Güte heute haben keinen langen Atem mehr. Im Ansatz sind sie in den jungen Menschen da, aber das Leben stellt zu rasch seine Anforderungen. Das bildet sich bis in die einzelnen Gesten hinein ab. Das Lächeln, die offene Bewegung erstirbt — sie ist Allotria, solange sie nicht schon einen Zweck gefunden hat: das Mädchen, das sich korrigiert, weil es innewird, daß kein möglicher Partner zugegen ist. Schlechtes Beispiel. — Daß die Menschen von heute, die Jugend voran, die Ungleichheit, den krassen Unterschied der Macht nicht negativ zur Kenntnis nehmen, sich nicht — wenigstens in ihrem Herzen — auflehnen, hat zunächst denselben Grund wie die Toleranz der amerikanischen Arbeiter gegen die Gehälter der Gewerkschaftsführer: Wenn sie diese davonjagten, es käme nichts Besseres nach. Man findet sich darein, daß es ohne die Tribute an die Großen, ohne die fetten Großen nicht geht. Das wird jetzt durch den Blick nach dem Osten noch verstärkt; das System ist dort anders, die Unterschiede aber sind ebenso groß. Je mehr diese Resignation sich ausbreitet, desto geringer die Möglichkeit einer Entwicklung der fortgeschrittenen Gesellschaft zur Autonomie. Sie haben keine Zeit und keine Kraft, um anderes als ums individuelle Fortkommen, um die Organisation der persönlichen Verhältnisse sich zu kümmern. Die Arbeitsteilung in Führer und Geführte wird fraglos akzeptiert, solange es gut geht, und wenn es schlecht geht, erst recht. Der Gedanke der freien Gesellschaft erweist sich in diesem Äon als bloße Utopie. Das vielleicht ist die katastrophalste Konsequenz, die das Beispiel des Ostens für die Geschichte der westlichen Völker zeitigt; sie erfüllen ihre eigene Bestimmung nicht. Sie haben ihr Selbstbewußtsein eingebüßt.
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Notizen (Juli 1959)
Unter Gleichen. — Die deutschen Millionäre drücken den prominenten Juden heute die Hand, und diese haben verziehen. Das Augenblinzeln der Freundschaft bedeutet, daß den Prominenten nichts passieren wird. Sie haben Geld und Paß in der Tasdie. Wenn ihresgleichen früher ein Leids geschah, war's ein Versehen. Prominente und Millionäre verstehen sich; ihr Einverständnis ist eine Tautologie, beide sind dasselbe, auch wenn die Prominenten ihr Vermögen mit radikaler Kunst und Theorie machen. Was kann die schaden! Jeder weiß, sie ist Vordergrund; der Ernst beginnt beim Einkommen. Der Gedanke an die Erschlagenen ist Spaß. »Ethik«. - Wenn einer Macht hat, ist sein Wille zum großen Ziel Idealismus, seine Insistenz Unbeirrbarkeit und sein Verzicht die Vernunft. Nimmt seine Macht ab, wird der Wille zum Mangel an Realitätssinn, die Insistenz Narrheit und der Verzidit zum Unvermögen. Hat er die Macht verloren, sinkt er selbst zum querköpfigen Alten herab, den man kaum noch bedauern kann. Und was steht dagegen? - ein objektiver Maßstab, wenigstens ein Argument? - nichts als der Appell an die ewige Gerechtigkeit. Zeitung für Deutschland. - Der Inhalt der großen Zeitungen spiegelt die materiellen Interessen der Wohlhabenden wider. Ihnen geht es um Parlamentsentscheidungen, Außenpolitik, Parteien, das heißt lim alles, was Einfluß auf Gesdiäft und Börse hat. Der Genuß ist vermittelt, die Zeitung Instrument für richtiges Disponieren. Die Sensationspresse bedient den kleinen Mann. In ihren Spalten genießt er Liebe, Sport und Gewalttat unmittelbar. Deshalb ist sie auch, mit Bildern geschmückt, und das Bild tendiert, den Text zu verdrängen. Der Wohlhabende hat es leicht, sie zu verachten, ihm steht der Star selbst zur Verfügung, mit dessen Fotografie der Krämer sich begnügen muß. Psychoanalyse und Daseinsanalyse. - Freuds Begriffe mögen trotz aller empirischen Bekenntnisse nicht weniger spekulativ sein als die der Daseinsanalyse, die eben davon lebt, daß Freud den exakten Beweis schuldig blieb. Der Unterschied besteht darin, daß die
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erbärmlichen Derivate aus der Heideggerschen Ontologie, die Daseinsangst, das Vorlaufen zum Tod und die Eigentlichkeit, zur Kälte gegen den Einzelnen und zur Diktatur in der Gesellschaft führen und die der Psychoanalyse zum Verständnis der Kranken und Gesunden, zu einer menschenwürdigen Erziehung und zur Humanität. Sie bedrohen die konventionelle Lüge, die die moralische Maske der Strafjustiz und der allgemeinen Grausamkeit bilden, und stammen von einem erfahrenen Juden, Grund genug, sie coüte que coüte aus dem Bewußtsein wegzutun. Leere Vermittlung. - Die Insistenz der Epigonen, auf die Vermittlung aller Phänomene hinzuweisen, mit der die geschichtliche, gesellschaftliche Bedingtheit etwa der Wahrnehmungen oder menschlicher Eigenschaften gemeint ist, schlägt ins Leere. Sie war akut zur Zeit des Kampfes gegen den scholastischen Naturbegriff, schließlich noch den Nominalismus bis Hume. Der moderne Positivismus denkt nicht daran, die »facts« im ontologischen Sinn als ursprünglich auszugeben, das ist ihm schnuppe, er versteht sich als Hilfswissenschaft und läßt die absolute Wahrheit dort, wo Nietzsche sie hingeworfen hat. Das Problematische am Positivismus besteht darin, sich über sich selbst nicht aufzuregen, sondern im stillen mit der Theologie die Überzeugung zu teilen, daß man eben positiv sein müsse. Die Theologie sagt: am Ende steht die Gerechtigkeit, der Positivismus: es wird besser und besser. So finden sich beide mit dem Bestehenden ab, das ihre logische Voraussetzung bildet. Die Wiederholung, daß alles vermittelt und geworden sei, ist demgegenüber antiquarisch — der Schlag ins Wasser. Sie nimmt die Theologie ernst zu einer Zeit, da deren eigene Anhänger auch hier zusammen mit den Positivisten — die Religion als Element der funktionierenden Wirtschaft stillschweigend durchschaut haben. Entlarvung des Ideologiebegriffs. —Die unmittelbaren Beziehungen, wenn man will: die persönlichen Beziehungen der Menschen zueinander, waren seit je schon durch die gesellschaftlichen vermittelt. Nicht bloß wie einer den anderen sah, sondern wie er sich zu ihm verhielt, was er mit ihm oder gegen ihn tat, ob er ihn mochte, wie und was er zu ihm redete, hing ab von der gesell-
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schaftlichen Realität. Das Abhängigkeitsverhältnis jedoch, ist umfassender geworden. In der gegenwärtigen Periode des Zerfalls nimmt mit der Verdrängung der allgemeinen gesellschaftlichen Herrschaftsstruktur aus dem Bewußtsein der Individuen die zynische Anerkennung der materialistischen Motive in ihrem Umgang untereinander zu. Das verdankt sich selber der ökonomischen Situation. Wenn einer den anderen einlud, hat es einmal — wenn auch nur symbolisch - die freundschaftliche Geste der Generosität, die Durchbrechung des bürgerlichen Geizes — und eben sie ist das säkularisierte, verbürgerlichte Opfer — bedeutet. Das erhöhte den Geladenen. Im Dank liegt noch die längst vergessene Ahnung, daß das Geschenk den, dem es gebracht wird, zum Gott erhebt. Heute trägt die Spesen der Konzern. Von denen abgesehen, die sich Gäste suchen, damit sie selbst auf Firmen- oder Steuerkosten dinieren können, und jenen Glücklicheren, für deren Privat- und somit Wahrnehmungsvermögen Hotelrechnungen unterschwellig sind, schleift sich die Regel, nur den einzuladen, der nichts kostet, als allgemeines Ethos ein. Auch das Opfer war in klarer Absicht auf Erfolg gebracht. Dies jedoch war einmal die Größe der bürgerlichen Zeit, daß sie den Ritus der alten Zeit herübernahm, ohne doch an seine Kraft zu glauben, daß er, des Zwecks entkleidet, eigene Bedeutung annahm wie das Kunstwerk, das, nicht mehr unmittelbar dem Gebrauch verhaftet, die Menschen des ästhetischen Sinnes erst mächtig werden ließ. Die Verselbständigung, Verdinglichung, Hypostasierung der psychischen Regungen wird jetzt nicht überwunden, sondern rückgängig gemacht. Anstatt dem gesellschaftlichen Ganzen ihre eigene, sublime Gestalt einzubilden, werden sie der fixen Gescheitheit heute als Ideologie und schließlich als Schrullen durchsichtig und am Ende eingezogen. Indem die Beziehungen der Menschen in ihrer simplen Absichtlichkeit sich offenlegen, schwindet die Möglichkeit, daß der Schein, der sie einmal verhüllte, in einer neuen Welt zur Wahrheit werde. Spekulation. — Philosophie war stets bürgerlich. Thaies, der erste Philosoph, war ein kommerzielles Genie. Er machte ungeheures Geld, wenn nicht durch Petroleum, so wenigstens durch Olivenöl. Und kein anderer als Spinoza hat es ihm bewundernd nachgesagt (Brief an Jelles vom 17. 2. 1671). Nicht umsonst heißt phi-
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losophisches Denken Spekulation. Hätte Thaies Pech gehabt und das Olivengeschäft wäre faul gewesen, er wäre zum Bettler geworden, und Bettler philosophieren nicht. Verhaßtes Spiegelbild. - Der Antisemitismus rührt zum Teil daher, daß trotz Feudalismus und Sklavenwirtschaft die europäische Zivilisation — wie wahrscheinlich die anderen auch — auf dem Geschäft beruhte. Die Juden als die ältesten Vertreter von Kultur in der christlichen Welt werden als Zeugen des Tatbestandes erfahren, den man verkörpert und nicht wahrhaben will. Jede ihrer Gesten bekennt sich zur Gerechtigkeit als gleichem Tausch, jede ihrer Gesten ruft die eigene Daseinsweise in Erinnerung, jede ihrer Gesten, auch wo sie der individuellen Lüge dient, kompromittiert die Lüge, die die Gesellschaft durchzieht, deshalb hatten es die Juden im materialistischen Amerika leichter als im idealistischen Deutschland. Deshalb sind sie heute überall gefährdet; die Gerechtigkeit, die in ihrem Wesen und ohne ihren Willen sich ausdrückt, widerspricht nicht weniger dem Staatskapitalismus im Osten als der westlichen Monopolgesellschaft. Sie sind dem Handel, dem Liberalismus verhaftet, der Beziehung zwischen Einzelnen, dem Bürgertum. Ihre Existenz, wie sehr sie sich im Einzelnen widerspricht, weist in eine Gesellschaft von Freien und Gleichen, aber nicht zur Volksgemeinschaft. An die Positivisten. - Modernen Positivismus oder Empirismus nennt man die Anschauung, die wesentlich vom Vergessen zweier sie selbst betreffender Momente lebt. Beide beziehen sich auf die geistige Welt. Erstens versichern die Vertreter dieser Ansicht bereitwillig, daß die verallgemeinernden Schlüsse, die Analogien und Mutmaßungen, die aus den feinen, methodisch der Naturwissenschaft abgelauschten Untersuchungen über soziale und individuelle Gegenstände auf Mensch und Gesellschaft gezogen werden, in sich selbst keineswegs zuverlässig seien. Die Studien gehen nur auf den beschränkten Tatsachenkreis und die begrenzte Zeit, auf die sie sich beziehen. Wenn dem aber so ist, dann hat ein guter Beobachter und gescheiter Mensch wenigstens so viel Recht auf seine Phantasie, Intuition, Spekulation wie der Sozialforscher auf seine Mutmaßung. Im Gegenteil, der Forscher steht in Gefahr, den Wald
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vor lauter Bäumen, die entscheidenden Tendenzen im historischen und einzelnen Leben vor seinen Veranstaltungen, f acts and figures nicht zu sehen. Zum zweiten pflegen die Positivisten zuzugeben, daß die Gefühle keine Unterschiede im Hinblick auf die Wahrheit aufweisen, es sei erkenntnismäßig äquivalent, ob einer auf ein Ereignis mit Wohlgefallen oder Mißbehagen reagiere, beides seien Fakten zugleich, jedoch lieben die Positivisten ihre Ansicht als die sauberste, anständigste, dem allgemeinen Wohl nützlichste zu empfehlen, sie stehen mit dem Fortschritt der Humanität im engsten Zusammenhang. Sie weisen heute gerne auf die vom totalitären Rausch erfaßten Massen, die Gefolgschaft des Nationalsozialismus als Beispiele für die Folgen metaphysischer und sonstiger Irrlehren hin. Dabei wird nur davon abgesehen, daß die Gewaltherren selbst, der Volksaufklärer Joseph Goebbels, der im Auftrag ebenso nüchtern denkender Magnaten die Massen in Bewegung setzte, nach positivistischer Doktrin sich philosophisch einwandfrei verhielt, und — hätte er es erreicht — vor keiner Vernunft zu tadeln war. Die Positivisten kennen nicht den Tatbestand der richtigen Einsicht und des richtigen Handelns im emphatischen Sinn. Sie wissen nichts davon, daß der Haß gegen einen anständigen und die Ehrfurcht vor einem niederträchtigen Menschen nicht bloß vor der Sitte, sondern vor der Wahrheit verkehrte Regungen, nicht bloß ideologisch tadelnswerte, sondern sachlich verkehrte Erfahrungen und Reaktionen sind, ganz gleichgültig, ob sie einen Zweck erreichen oder nicht. Der jeweils vorgesehene Zweck aber ist nach den Positivisten das einzige Kriterium. Die allgemeine Nützlichkeit, das sogenannte Glück der größten Zahl, das sie auch heute noch — nicht nur zu Benthams Zeiten — gern als den selbstverständlichen Zweck den Wissenschaften wie dem Geschäft unterschieben, braucht nach dem Sinn ihrer eigenen Auffassung keinen zu scheren und tut es ohnehin selten genug. — Oh, ihr aufgeklärter Positivisten. Ihr meint, eure Nüchternheit sei unmittelbar Humanität. In Wahrheit verlaßt ihr euch auf Himmel und Hölle, das heißt auf die Religion. Wären die Menschen ihr nicht zugetan, ihr hättet wahrscheinlich nicht weniger Bedenken, den Verzicht auf Mythologie zu empfehlen, als Voltaire, dem sie für die Canaille noch unentbehrlich schien. Der Unterschied besteht darin, daß er es wußte und ihr naiv an die Macht der Nüchternheit glaubt. Sein
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Kampf gegen den Aberglauben galt der Grausamkeit des bedrohten Regimes, der eure der Theorie, die dem gegenwärtig herrschenden gegenüber die Idee eines angemesseneren, menschenwürdigeren, richtigeren Zustands zur immanenten Voraussetzung hat. Indem ihr nichts als die Tatsachen wollt gelten lassen, verbannt ihr den Unterschied von richtiger und schiefer Intention aus dem Gebiet der Vernunft und überlaßt es dem Bestehenden allein, die Aufgaben und die Wege zu bestimmen, wie es beurteilt werden soll. Eure Mythologie ist die, das Bestehende zum Eins und Allen zu erheben, zum Einzigen, neben dem man keine anderen Götter haben soll. Durch die Art, wie ihr bestimmt, was Wissenschaft heißt, designiert ihr den Wissenschaftler als Funktionär des ja schon herrschenden Betriebs. Das ist der Grund, warum der Neopositivismus heute die Kennmarke der zuverlässigen Elite ist. Die Heideggerei paßt vorzüglich dazu, denn nicht nur läuft ihre Trennung von Philosophie und Wissenschaft darauf hinaus, daß diese, wie der Positivismus will, sich bei den Fakten zu bescheiden hat, sondern die handwerkliche Philosophie gibt vor, in dieser Arbeitsteilung ebenso nüchtern das Sein zu beackern wie die anderen Professoren die verschiedenen Bereiche des Seienden. Beide aber, Positivismus und Fundamentalontologie, im Grunde eins, werden sich mit den Herrschaften im Osten desto besser verstehen, je mehr es drüben zu essen gibt. Daß dem Denken die Idee der Veränderung an Ort und Stelle nicht einwohnen darf, war den Machthabern drüben schon immer selbstverständlich. Die Negation in der Dialektik, die Kritik, hatten im Innern die Unterlegenen jeweils an sich selbst zu üben, und im Äußern galt sie dem Anspruch auf Expansion. Der Materialismus glorifizierte den eigenen Staat, er war um so herrischer, je schlechter es ging, jetzt heißt er fast schon Realismus; der Name Positivismus ist bloß wegen des Buchs aus der Frühzeit tabu. Daß der Gedanke dem Bestehenden kein Anderes entgegenstellen, es nicht unter dem Aspekt des Anderen sehen darf, daß Theorie im eigentlichen Sinn nicht anerkannt wird, das gilt für Moskau nicht weniger als für New York.
Konvergenztheorie. - Das Zeichen des Zerfalls der westlichen Zivilisation liegt nicht in der Bereitschaft, mit den Barbaren zu verhandeln, wenngleich das die Schwäche der zivilisierten Völker beweist, sondern in der Neigung, Chruschtschow als einen ihresgleichen aufzunehmen. Amerika empfängt ihn als eine Art rugged individualist, tüchtigen businessman, frischfrohen Farmer, der etwas aushält, physisch und moralisch, ohne Humanitätsduselei. Der bringt was fertig für seine Leute, macht aus Rußland eine gutgehende Fabrik, mit dem kann man sich verstehen. Implizit wird darin anerkannt, daß das Geschäft, die Produktion die Hauptsache ist; Christentum, Diamat sind Schmieröl, erfüllen ihre notwendige Funktion, die Gesellschaft zusammenzuhalten, irgend sowas muß man haben. Da aber die Russen die Produktion erst auf den Stand bringen müssen, wo die Amerikaner schon sind, ist bei jenen die Konzentration auf Technik als das Entscheidende der natürliche Anfang, und es ist ganz natürlich, daß alles andere bloß in deren Dienst steht; bei den Amerikanern aber bedeutet dasselbe den Verzicht, darüber hinauszugehen. Ein ähnliches Verhältnis bestand schon zwischen den Vereinigten Staaten und Europa. Indem Europa sich der zwangsmäßigen Konzentration Amerikas auf Produktion und Geschäft imitierend anschloß, nachdem es selbst imstande gewesen wäre, an die Einrichtung des richtigeren Lebens zu gehen, hat es auf seine eigene historische Entwicklung verzichtet und im Hinblick auf die Erfüllung des ihm immanenten Prinzips der Entfaltung des Menschen und der Gerechtigkeit resigniert. Es hat mit Amerika noch einmal den Lebensstandard zur Hauptsache gemacht, ohne es nötig zu haben. Das gilt fürs kaiserliche wie fürs Hitlerdeutschland und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für die übrigen europäischen Länder. Jetzt gilt es für den Westen überhaupt. Das Bekenntnis zur Freiheit, das einzelne Individuen und Gruppen ernst meinen, ist im Ganzen zur Phrase herabgesunken und wird sich als solche erweisen, sobald es darauf ankommt,
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das Geschäft zu schützen. Dann wird — wie sich heute schon zeigt, die Diktatur in Kauf genommen. Chruschtschow lacht mit Recht. In puncto Technik und Lebensstandard wird er schließlich die anderen einholen, und alles, was darüber hinausgeht, was den Vorzug der westlichen Zivilisation hätte bilden können, die Entfaltung des Einzelnen durch Formen der Verwaltung, an denen sie wirklich als Gleiche teilnehmen, die damit gesetzte Ausbreitung des selbstbewußten Gedankens, der souveränen Instinkte und Kräfte der Einzelnen jenseits des bloß Fachlichen, das dadurch zum Moment herabsänke, ist hier aufgegeben worden. Das zu verwirklichen bleibt dann den neuen Herrenvölkern der Welt überlassen, wenn sie ihre Jugend, in der sie die Westler einholen, einmal hinter sich haben. Deshalb ist die westliche Begeisterung für den Machthaber Chruschtschow so beschämend. Hinter der Fassade. - Daß die Demokratie or whatever you may call it in Deutschland keine Tradition hat als verlorene Kriege und re-education, erzählen die Deutschen selber. Hinter dieser Beschönigung ihrer Rancune gegen die droits de l'homnie aber steht die Bereitschaft, in jenen fanatischen Patriotismus auszubrechen, der sich vor dem anderer Völker dadurch auszeichnet, daß er keine Idee hat, daß er in bloßer kollektiver Barbarei besteht. Nichts von Liebe ist darin, das beweist allein schon der offenkundig zum schamlosen Kitsch herabgesunkene Heimatrummel von landsmannschaftlichen pressure groups und Edelweißromanen. Nichts ist wahr als Machtgier und Aggression. Wie sollte denn ein Volk Selbstbewußtsein aufbringen, das in der jetzt lebendigen Generation auf Befehl eines zugleich schlauen und wahnsinnigen Demagogen zwölf Jahre lang den Mord als Handwerk übte, das die Nachbarn überfiel und die Welt unterjochen wollte, ein Volk, das nach der Niederlage sogleich die Feinde, weil sie jetzt die Herren waren, als Befreier begrüßte, nach dem ersten Schrecken jedoch den Haß gegen die Befreier entdeckte und mit jedem Tag, an dem es ihm auf Grund der fremden Hilfe besser geht, sich zu neuen Taten rüstet. Nirgendwo in zivilisierten Ländern ist so wenig Grund zum Patriotismus wie in Deutschland, und nirgendwo wird von den Bürgern weniger Kritik am Patriotismus geübt als hier, wo er das Schlimmste vollbracht hat. Berlin, die Wiedervereinigung, die Ge-
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biete jenseits der Oder des zu Recht besiegten Deutschlands werden zu Stimulantien der neuen patriotischen Gesinnung, die von einem unheimlichen Willen gegen inneren, j a gegen äußeren Widerspruch sich ausbreitet. Unansprechbar, weil unreflektiert und von keinem vernünftigen Grund gestützt, vom Westen schlau die Reputation erborgend, man sei ein liberales Volk, man teile die politische Geschichte mit der freien Welt, schickt man sich an, der Freiheit den nächsten Streich zu spielen. Die Kotaus vor den Widerstandskämpfern, die offiziellen Absagen an den Antisemitismus, von den Synagogenbesuchen der Bürgermeister bis zum Schweigen bei Anne Frank, all dieses bereits kleinlaut und formell gewordene Schuldgetue hat bloß die Funktion, sich zum rechten Patriotismus wieder das gute Gewissen zu machen, sofern es nicht bloße Reklame für amerikanische Foundations ist. Der Patriotismus in Deutschland ist so furchtbar, weil er so grundlos ist. Der Fluch der Endlichkeit. - Der Härte, deren der Einzelne bedarf, um sich in der Welt durchzusetzen gegen die anderen Menschen wie gegen die Natur, entspricht in der Geschichte der Völker die Bereitschaft zum Krieg. Die Nachsicht, die unterschiedslose Milde unterstützt ebensosehr das Schlechte, wie die Kraft und der Wille, sich ihm entgegenzustellen, dem Guten erst die Entfaltung ermöglicht. Indem das Christentum die Selbstbehauptung zu seinem praktischen Gesetz erhob und das Evangelium, welches das Gegenteil lehrt, ruhig und unverändert weiter verkündete, hat es den Widerspruch nicht überwunden, sondern einfach stehengelassen. Das gehört nicht weniger zu seinem Paradox als die Kierkegaardsche Vorstellung von der Unwahrscheinlichkeit des Geglaubten, ja es ist dasselbe Paradox, nur anders ausgedrückt. Dazu gehört die Einsicht in die Unmöglichkeit, dem Übel sich zu widersetzen, ohne Unrecht zu tun. So weise ist keiner, daß er gewiß sein dürfte, der Schlag, mit dem er sich verteidigt, treffe in richtiger Weise den, der ihn verdient. Indem der Einzelne oder die Gesellschaft sich das Recht der Strafe herausnimmt, machen sie sich zum Tier, das sich wehrt. Alle Rationalisierungen der Gewalt können das nicht umstoßen. Indem die Menschen sich behaupten, werden sie zu Tieren, und ohne Tier zu werden, können sie keine Menschen sein. Sie können nur zugrunde gehen, und indem sie aus Mangel an Wider-
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stand, wie immer sie den Mangel begründen mögen, das Unmenschliche triumphieren lassen, sind sie wiederum Tiere. Die Antwort, dem Heiligen mangle nicht die Kraft, führt aus dem Engpaß nicht heraus, denn der Heilige leidet am Jenseitsglauben. Es gibt keinen Weg, die Endlichkeit ist ein Fluch. Für eine Assoziation der Hellsichtigen. — Eine Assoziation über alle Länder gründen, besonders in Deutschland, die dem Entsetzen derer Ausdruck verleiht, die keinen affirmativen Glauben haben, weder die Metaphysik noch die Politik. Diese erscheint ihnen im wahnsinnigen Nachkriegseuropa als humane Praxis unmöglich; jene als Galimathias. Die das Grauen des Wirtschaftswunders erfassen, die verlogene Demokratie, die Bestechungsprozesse mit Hitlerrichtern, den Luxus und das Elend, die rancune und Absage an jede Anständigkeit, die Bewunderung der östlichen und westlichen Magnaten, die Auflösung des Geistes, die Verprovinzialisierung der alten Zivilisation, für sie wäre die Assoziation eine Art Heimat. Keine Revolution im Schilde führend, weil sie in nacktem Terror endigt, wären sie doch die freilich ohnmächtigen Erben der Revolution, die sich nicht ereignet hat, die armen Hellsichtigen, die in die Katakomben gehen. Im Namen des Volkes. — Das Bewußtsein, daß die Richter, wie die Behörden überhaupt, Organe der Allgemeinheit sind, die deshalb über sie wachen muß, fehlt in Deutschland völlig. Richter sind Obrigkeit und daher oben - niemandem verantwortlich. Wenn ein Gerichtsfall durch die Presse geht, erfährt ihn niemand so, als handle das Gericht in seinem Auftrag und er müsse darüber wachen, daß der Richter die Vollmacht, die er hat, nicht überschreite. Er ist Beamter, ein Mitglied der Herrschenden, ja deren Inkarnation, er spricht die Wahrheit. Der Affekt, den Gehorsam auslöst, hat seit der Jugend den Weg gefunden, den ihm die unantastbare Macht einzig noch übrigließ, die Identifikation mit ihr selbst und die Rache an dem von ihr Gezeichneten. Die reaktivierten Gefühle nehmen den vorschriftsmäßigen Verlauf, bedienen sich der vorschriftsmäßigen Rationalisierungen und dienen zugleich noch als Abführmittel des täglich angehäuften Neids. Alles geht auf den Angeklagten, besonders wenn sich das Denkt auf Geld oder Bru-
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talität bezieht, denn danach verlangt, wer sich ducken muß. Der Beschuldigte ist allein, Element der Triebökonomie seelisch Verkrüppelter, die ihn konsumieren, bis ein anderer kommt, im voraus schon genießend, daß der unkontrollierte Staatsanwalt und der Richter das nächste Mal noch schmackhaftere Speisen bieten werden mit dem Hinweis darauf, daß man ja niemanden schonen dürfe. Beim Prozeß gegen den Freiherrn, der sich durch ein Mittagessen bestechen ließ, beschlich uns noch ein leises Unbehagen. Es wird uns nicht mehr stören, wenn es endlich wieder gegen den wahrhaft Korrupten geht, den Prasser und Schieber. Was jetzt vorgeht, macht uns das gute Gewissen dazu oder besser, es rechtfertigt nachträglich die Verfolgung jener Geldmenschen und Intellektuellen und ermächtigt uns zur künftigen. Selbsterhaltungstrieb. - Der Fluch der Menschheit besteht darin, daß sie über die Tierheit sich nicht erheben kann. Jeder will gut leben, essen, trinken, es sich wohl sein lassen, auch geschlechtlich. Alles andere sind Umwege dazu, auf denen sich einer verlieren kann und meinen, der Umweg sei das Ziel. Die Produktion des Schönen und Wahren dient dem Wohlsein und hält sich freilich leicht für den Zweck selber. Vom Metzgerhandwerk unterscheidet sie sich nicht im Hinblick auf die wesentliche Verschiedenheit, ein Instrument zu bilden, sondern weil sie, an sich selbst betrachtet und insofern sie keine größere Konsumtion von Blut bedingt, ein herrenloseres Mittel ist. Mit der Differenzierung von Selbsterhaltung und libidinösen Trieben hat Freud gegen die verlogene Psychologie ganz recht gehabt; diese sind plastisch, jene unaufschiebbar. Aber die Insistenz auf der Libido läßt leicht vergessen, daß die Selbsterhaltung das Primäre ist. Freud hat den Zusammenhang nicht mehr gesehen. Die Derivate der Partialtriebe, wie er sie nennt, der Narzißmus, der Geiz und Ehrgeiz, der Machthunger und die Grausamkeit, sind ebensosehr Transformationen und Fixierungen von Stadien der Selbsterhaltung wie der Geschlechtlichkeit, ja wahrscheinlich ist die Geschlechtlichkeit die der Gattung einwohnende, im Individuum transformierbare Tendenz zur Selbsterhaltung. Die Transformierbarkeit des Sexus enthüllt, daß der Einzelne nur zur Reproduktion der Gattung existiert; er kann sich aufgeben, weil er kein natürlicher Zweck ist, und er kann sich ab-
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sohlt setzen, weil es auf ihn nicht ankommt. Das Religiöse phantasiert das Wohlsein in die Unendlichkeit hinein. Jenseits des kleinen Spielraums des Wohlseins, das ihm in seiner historischen Lage die Gattung gewährt, liegt aber das Nichts. — Auf Grund solcher Erkenntnis ist auch die Politik zu betrachten, die innere und die äußere. Die Anstrengungen der Industriellen, der Gewerkschaftsführer und des Klerus, sie alle gelten zunächst ihrem eigenen Wohl und dessen Sicherung, die nur durch Festigung der Macht zu gewährleisten ist; in zweiter Linie gelten sie dann den Gruppen, mit deren Ansprüchen man rechnen muß. Für den Osten, für sogenannte erwachende Nationen, gilt nur noch penetranter dasselbe. Wenn aber ein Einzelner für eine Mehrheit sein Leben in die Schanze schlägt, hypostasiert er die für alle Herdentiere geltende Regel, daß eines weniger wichtig als viele andere ist, oder er fällt den dazu gestifteten Ehrungsriten zum Opfer. Er nimmt sie unbedingt ernst. Selbst das Mitleid, die Liebe sind Hypostasierungen der dem Menschen innewohnenden Selbsterhaltung und Selbstliebe, und wenn sie zum Untergang führen. Der Liebende liebt sich in seiner Tat ebenso wie in ganz anderen. Aber wenn die Einsicht in das Grau in Grau der Motive festgehalten wird, verschwinden Kunst und Philosophie zusammen mit dem Edlen der Handlung im Allgemeinen des natürlichen Triebs. Das ist wahr und zugleich offenkundig die Unwahrheit. Die Beethovensche Sinfonie ist nicht allein Selbsterhaltung, sondern ebensosehr Befreiung aus deren Kreis, wie die Entäußerung in den anderen zugleich die Befreiung aus der Sturheit der Enge des je eigenen Ichs bedeutet. Im Hinausgehen über sich wird ausgesprochen, was jeden gefangenhält, und als Schein leuchtet ein Anderes auf. Die Freiheit jedoch, die damit sich auftut, hebt die reale Verschlossenheit in den Kreis der Selbsterhaltung nicht auf, die das Ziel der Vernunft bildet, sie reflektiert sie nur. Die Freiheit besteht im Scheinen der Gefangenschaft. Das ist der einzige Trost, der den mächtig-ohnmächtigen Menschen bleibt, die doch in Wirklichkeit nur Tiere sind. Geschichte und Zukunft des Individuums. - In der europäischen Zivilisation hat sich über das Christentum der Gedanke der absoluten Bedeutung des einzelnen Menschen durchgesetzt. Die Vermittlung war der Begriff der unsterblichen Seele. Aus der Idee des
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ewigen Gottes folgte das ewige Schicksal jedes seiner Kinder. Daß die Konsequenz auch wirklich ins Bewußtsein trat, anstatt unter dem bereitliegenden, gleichfalls als Konsequenz konstruierbaren und von den Theologen ausgiebig ausgebreiteten Galimathias unterzugehen, liegt an den realen Bedürfnissen, an der freilich vom Christentum nicht ganz loszulösenden spezifisch europäischen Entwicklung von Technik, Produktion und Ökonomie, die das frei wirtschaftende Subjekt in Gestalt des Unternehmers und die ihm zugehörige bürgerliche Form der Gesellschaft hervorbrachte. Mit dem im monopolistischen Kapitalismus notwendig sich überlebenden Liberalismus aber verliert auch die Vorstellung von der Bedeutung jedes Einzelnen ihre Aktualität. Das Christentum, dessen fortschrittliche Funktion erledigt ist, dient wesentlich nur noch der Eingliederung in die monopolistische Realität und muß dabei mit faschistisch-nationalistischen Ideologien konkurrieren, die dasselbe Geschäft ebenso gut oder noch besser besorgen. Die fortgeschrittene geistige Gestalt wäre ein Bewußtsein, das unter Realisierung der Vergänglichkeit des individuellen Subjekts an dessen Einzigkeit festhielte und eine Gesellschaft entfaltete, in der trotz seiner Nichtigkeit der Einzelne den Zweck des Ganzen bildete, dem zu dienen eben darum für ihn sinnvoll wäre. Dann hätte die Exaltation des Individuums im Mythos der Seele nachträglich sich geschichtlich ausgewiesen, etwa wie das Totem, das überhöhte Bild des Tiers in der Bewältigung der Tiere, die Verehrung des Löwen und des Schafes in Jagd und Viehzucht. Die Erhebung eines Begriffes ins Religiöse pflegt seine Ohnmacht im realen Leben anzuzeigen, die Aufrichtung als Gegenstand der Verehrung ist der Beginn der Bewältigung. Sie kann Überwindung bedeuten oder Liquidation. Im Westen scheint der Begriff des Einzelnen zur konformistischen Scheidemünze herabzusinken: »auf den Menschen kommt's an« und »der Wert der Persönlichkeit«. Das alles gehört zum Schleier vor der Herrschaft der Milliardäre, die keine geschichtliche Zukunft mehr hat. Die östlichen Monopolisten sind nicht moralischer. Im Gegenteil. Indem sie jedoch die Gesellschaft anstatt den Einzelnen zum Gott machen, gleichsam als Antithese zum Christentum, könnte, da sie am Beginn einer historischen Periode stehen, aus der blutigen Realität, wie einst das Bürgertum aus den furchtbaren Kämpfen der Renaissance, eine bewältigte, das heißt eine
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für alle Menschen funktionierende Gesellschaft werden. Dann wäre der Begriff des Einzelnen nicht liquidiert, sondern aufgehoben. Nicht zuletzt hängt das davon ab, daß die geschichtlichen Konstellationen es den europäischen Intellektuellen, von denen die modernen Ideen des Ostens in Marxismus und Technik ihren Ausgang nehmen, erlauben, ihre eigenen Ideen festzuhalten und das Neue, das auch furchtbar über Europa kommen wird, hineinzubilden. Es wird von außen und in furchtbarer Weise kommen, da Europa es nicht in sich selbst verwirklicht hat, so daß es nun barbarisch aus der Barbarei sich ausbreiten muß; und leicht ist es möglich, daß der Gedanke von der Unverlierbarkeit des Einzelnen sich in der Menschheit wieder verliert. Funktion und Grenzen bürgerlicher Kultur. — Historische Funktion bürgerlicher Kultur: nach dem unreflektierten Befangensein in den Kollektivitäten und Hierarchien der Vergangenheit den Menschen individuelles Selbstbewußtsein zu vermitteln, sie zu der Einsicht zu erziehen, der Gedanke wohne in jedem, seine Würde teile jedem sich mit, die Freiheit des Einzelnen sei allgemein. Die Grenze der bürgerlichen Kultur: in der Vereinzelung und Besonderung sich zu verfestigen und sie dadurch zur Lüge zu machen. Das Selbstbewußtsein ist Bewußtsein von Leben, Fähigkeiten, Regungen, Erfahrungen, die ebensosehr aus den gesellschaftlichen Strukturen, aus der mit ihnen und gegen sie wirkenden Natur, aus Geschichte und Gegenwart sich herstellen wie aus der ja noch unbestimmten, frei erscheinenden subjektiven Energie, dem Elan des Einzelnen. Der Fremde hat es immer gewußt; der Arme, der den Reichen, der Eingeborene, der den Kolonialisten sah, der Sansculotte, der den Aristokraten schlug und umgekehrt. Auch Fremde nehmen sich gegenseitig als Einzelne wahr, nur erscheint ihnen die natürliche und gesellschaftliche Bestimmtheit des anderen von der Sprache bis zur Bewaffnung, von der Kleidung bis zur Hautfarbe wichtiger als die sogenannte Individualität. Im praktischen Leben aber sind alle einander fremd. Nationale, religiöse und sonstige Verbände sprechen daher ihre Individuen mit den einschlägigen kollektiven Namen und nicht als den je einzelnen für sich seienden Menschen an. Die bürgerliche Kultur, die den damit gesetzten Widerspruch zwischen dem Menschen aus sich selbst und dem be-
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dingten Menschen einschließt, pflegt ihn im Alltag zu ignorieren, indem sie die Entgegengesetzten ohne Rücksicht aufs Vorzeichen addiert, das Individuelle zum Gesellschaftlichen, das Allgemeine zum Besonderen. Der Einzelne ist nach ihr er selber plus dem, was Natur und die Gesellschaft hinzutun, er ist singuläres Subjekt plus historischem, überindividuellem Subjekt plus den Einflüssen der Welt überhaupt. In der philosophischen Theorie macht sie kurzen Prozeß, der subjektive Idealismus läßt das Subjekt, der weltanschauliche Materialismus nur das Objekt stehen, und der logische Positivismus, durch die schwierigen Diskussionen gewitzigt, setzt dem Begriff von Subjekt und Objekt überhaupt ein Ende, streicht ihn als praktisch nutzlos durch. Die Unauflösbarkeit der Frage nach dem Einzelnen, die von der neuen Fundamentalontologie hypostasiert und scharlatanhaft als eine Art Zauber, als das zum exzentrischen »Dasein« gewordene Sein aufgemacht wird, ist zugleich der Grund, durch den der Positivismus so bequem und plausibel ist; die Schwierigkeit leugnen oder sie zum Gott machen und sich selbst zu seinem Propheten sind zwei Seiten derselben Weigerung, sie praktisch zu überwinden; die Absolutheit des besonderen Subjekts wird als bürgerliche Grundthese festgehalten, und zugleich wird seine Bestimmtheit durch anderes, also seine Relativität, anerkannt. Das unveränderliche Festhalten, die Verabsolutierung, aber gibt dem Einzelnen in der Theorie, was ihm die Praxis versagen muß. Je weniger das Bürgertum es vermochte, die politische Emanzipation der Individuen durch die Unterwerfung der Gesellschaft unter ihre bewußte, gemeinsame Tätigkeit im Verlauf seiner Herrschaft in der westlichen Welt zu ratifizieren, desto zwanghafter hielt es an der Ideologie der Freiheit des Individuums fest, zu der das Dogma von der unverletzbaren Souveränität der Nation hinzugehört. Damit der Franzose, der Deutsche nicht mehr als geführte Unmündige, sondern als autonome Subjekte sich bei den Namen ihrer Völker anstatt bei ihren Eigennamen rufen könnten, müßten Frankreich und Deutschland so sehr zur Sache der Einzelnen werden, daß sie nicht mehr bloß Frankreich und Deutschland wären, sondern Momente der richtig eingerichteten Welt. Indem das Bürgertum im Gegensatz dazu die vernünftige autonome Negation des Einzelnen in seine eigene, von ihm real mitbestimmte Gesellschaft nicht ermöglicht hat, tritt ihm nun,
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nach dem furchtbaren Vorspiel des Faschismus, das Zerrbild der Negation des Individuums, der Kollektivismus im Osten, entgegen. Der Faschismus hat die Ohnmacht des Bürgertums ausgedrückt, zur Überwindung der unwahren Absolutheit des einzelnen Subjekts zu gelangen, erwar ein Ende, der russisch-chinesische Zwangsstaat ist ein Anfang, der das bürgerliche Selbstbewußtsein nicht in sich hat. Gegen den Westen, der es versäumte, kann er nur auftreten wie der Faschismus, als blinde Verneinung individueller Autonomie. Ob er aus sich die höhere Form hervorbringt, ob er die besondere Subjektivität zur allgemeinen machen kann, ohne daß die allgemeine Ordnung untergeht, die er, der neuen Technik angemessen, jetzt in Grauen zu verwirklichen sich anschickt, gehört der künftigen Geschichte an. Die Einzelnen in der bürgerlichen Welt aber müssen lernen, daß die Formel: ich bin autonom, bin frei, bin Selbstzweck, nicht weniger abstrakt und falsch ist als die Behauptung der Russen, ihre Gesellschaft sei die wahre Wirklichkeit oder der scholastische Begriffsrealismus, nach dem nur das Allgemeine - id est die Kirche — existiert, während unvermittelt daneben die Lehre von der unsterblichen Einzelseele bestand, bis der Nominalismus, der Vorkämpfer des Bürgertums, das Verhältnis umkehrte. Der Glaube des Einzelnen an sich selbst ist nun steril geworden. Er war ein Moment des bürgerlichen Emanzipationsprozesses und als solches ein Moment der Wahrheit; heute fordert die Doktrin die Antwort heraus, daß der Einzelne sterben muß, ohne die Möglichkeit zu haben, in einem sinnvollen Ganzen aktiv aufzugehen, sterben als Angeführter in modernen Kriegen, die er durch Hirnwäsche oder physischen Zwang als die seinen mitmacht, leben und sterben als Getriebener der unbewußt von ihm miterzeugten Verhältnisse. — Immer, solange der Tod nicht bezwungen ist, wird er sterben wie ein Tier, insofern das Ende von draußen kommt, undurchsichtig, sinnlos auch noch im bewußten Opfer. Um so sinnloser aber werden der Tod und das Leben sein, als die Welt, die die Menschen sich schaffen, selber chaotisch und sinnlos, selbst nicht mit ihm identisch, sondern bloß ein Äußeres ist. Die bürgerliche Kultur, alles in ihr, wird in demselben Verhältnis und Tempo falscher, als sie die Zeit überschreitet, in der sie noch mehr werden konnte als sie selbst. Das drückt sich in allen Zweigen aus. War Kunst, die bildende nicht weniger als Musik
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und Literatur, einmal ein kritisches Moment, dessen Ohnmacht ihm nicht wesentlich als Verzweiflung einwohnte, so wird heute noch die "Verzweiflung zum Ornament. Die Architektur, die hohen Zimmer, das dem je Einzelnen zugedachte Mobiliar, an das Erinnerung sich knüpfen konnte, hatte ihn, wenn auch auf Kosten der Massen, erhöht, indem sie das Mittel, Haus, Stuhl, Bett und Teppich, selbst zum Zweck zu machen schien. An ihnen, an der Weise, wie sie, jedes in seiner Besonderheit, in den langen Tagen der Kindheit hineinspielten, erfuhr der Einzelne seine eigene Besonderheit, zu der sie mitgehörten. Heute sinkt alles fortschrittlich zum Instrument herab, und nichts bleibt übrig, um das eigene Subjekt zu erhöhen, weder Speise noch Kleidung noch Schmuck, damit es aus ihnen sich als ein Einziges zurückgewinnen kann. Das Subjekt wird zum Gegenstand der Produktion, die von ihm nicht beherrscht wird; indem es ganz zum Zweck geworden ist, hat es in der Masse sich verloren, deren Führer die Schlausten und Brutalsten sind. Wo in der Geschichte der Individuen und Völker es nicht weitergeht, beginnt die Regression. (Oktober 1959) Falsche Bescheidenheit. - Daß die Sozialdemokratie alte Restbestände revolutionärer Theorie nun auch offiziell liquidiert, ist ganz in Ordnung. Die Revolution hätte in der westlichen Welt höchstens noch den Sinn, die provinziell werdenden Staatsgebilde den östlichen Interessenten rascher in die Hände zu spielen. Darauf spekulieren Otto Strasser und Konsorten, von den kommunistischen Lakaien ganz abgesehen. Die Sozialdemokratie will sich in der bestehenden gelenkten Demokratie einrichten und — ohne grundlegende Veränderungen - einmal selbst die Lenker stellen. Die amerikanische demokratische Partei fungiert den Europäern als Vorbild. Aber sie kommen spät. In der Periode, vor der die westlichen Staaten stehen, wird der Kampf um die Führung nicht mehr lange in friedlich-demokratischem Wettbewerb ausgetragen; die rivalisierenden Cliquen müssen auf gegenseitige Unterdrückung abzielen. Das wird sich zeigen, sobald die Konjunktur nachläßt oder die Überlegenheit des Lebensniveaus gegenüber Rußland sichtbar zurückgeht. Dann werden die Monopolisten, die hinter den jetzigen
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Regierungsparteien stehen, zum rechten Totalitarismus greifen, und die Sozialdemokraten müssen trotz aller Abschwörung der Revolution ihrerseits zu Gewaltmitteln greifen oder untergehen. Es gibt einen Kampf der Cliquen mit oder ohne Proskriptionstafeln, wenn die Ohnmacht der Opposition angesichts moderner Suggestions- und Waffentechnik nicht vorher schon besiegelt ist. Dann entscheidet der - lokale - Krieg. Zu der Beherrschung der Massen gibt es keine Alternative mehr; die Zeit der Menschen, mündig zu werden, ist in der alten Zivilisation vorbei. Wahre Utopie ist traurig. - Die Zwangsherrschaft der Russen hat mit dem Christentum gemein, daß sie die Menschen aufruft, sich zu vereinen, und zugleich verkündet, daß alles um ihretwegen geschehe. Indem der Glaube, nationalistischer wie katholischer, das Opfer begründet, von Märtyrertum und Askese bis zum gesellschaftlich notwendigen Triebverzicht, leistet er zivilisatorische Arbeit. Der Materialismus als kollektives Credo kann des Trostes individueller Unsterblichkeit entbehren, weil er nach wenigen Generationen die Genugtuung auf Erden in Aussicht hat. Zuvorderst profitiert die eigene Kirche auch bei ihm, wie gefährlich immer es deren Spitzen haben. Seine der fortgeschrittenen Technik entsprechende Lehre läuft darauf hinaus, daß man mit straff dirigierten Massen Wunder vollbringen kann. Es ist möglich, daß die Dezentralisation, die in den letzten Jahren sich als zweckmäßig erwies und von den neuen Machthabern erzwungen wurde, eine Entwicklung der Maschinerie ankündigt, die mehr und mehr Individuen zur allgemeinen Entfaltung ihrer Fähigkeiten bringt. Damit würde nachträglich und auf neue Weise ein liberales, qualitativ verändertes Moment ins totalitäre Ganze hineingenommen. Die humaneren Individuen, die damit in großer Anzahl zur Entwicklung kämen, vermöchten vielleicht mit ebenso wenig mythischen Vorstellungen auszukommen wie die vom Christentum emanzipierten freien Denker der vergangenen Jahrhunderte; es sei denn, daß sie die Menschheit vergötzten, die in Wahrheit nicht so sehr das Hegelsche Reich der Sittlichkeit verkörpert als eine wohlorganisierte Raubrasse in der Natur. Einzig indem sie sich als solche erkennte, vermöchte sie über sich selbst binauszugelangen und als ganze im vollen Bewußtsein seiner Sinnlosigkeit das Opfer zu bringen, in
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das der christliche Märtyrer im falschen Glauben an die ewige Seligkeit einst sein Leben verwandelt hat. Die wahre Utopie ist traurig. Liebe und Selbstsucht. - Das Moment von Selbstsucht, das in jeder Art von Liebe zu anderen enthalten ist, spielt doch in jeder eine verschiedene Rolle, und in jeder kann es der Funktion und Stärke nach sich ändern. Die Erwartung der göttlichen Belohnung im christlichen Erbarmen kann durch seine Übung im Lauf der Jahre belanglos werden, sei es indem das Vergnügen am Dank der Versorgten oder Gewohnheit, der Hang zur Wiederholung an seine Stelle tritt, sei es, daß richtiges Mitleid zur Hauptsache wird. Geschlechtsliebe, je nach der persönlichen und gesellschaftlichen Situation durch blinden Trieb, Narzißmus oder Tradition gelenkt, kann einmal übergehen in das Leben im Anderen und restlose Identifikation, die von jener christlichen nur durch die tiefere Vertrautheit unterschieden ist, die sich der Beschränkung auf den Einzigen verdankt. Gleichwohl entbehrt die vulgäre Geringschätzung, mit der die Jugend im Angesicht solcher Liebe Philemon und Baucis zitiert, der Wahrheit nicht. Die Kraft, auf die Reize zu reagieren, der sich in einem langen gemeinsamen Leben allmählich an dem einen Menschen die unendliche Differenziertheit erschlossen hat, die jedes Lebendige an sich trägt, ist zugleich so bescheiden geworden, daß sie an eben diesem ihr Genüge findet. In der zynischen Reaktion der Jugend ist die Ahnung enthalten, daß die Ausschließlichkeit bei allem Adel objektiv zugleich Trägheit bedeutet. Keine Liebe ist rein. Die Wahrheit des Positivismus. — Inhaltliche Philosophien sind stets ein Symptom für gesellschaftliche Spannungen. Sie kündigen geschichtliche Kämpfe an, Revolution und Reaktion. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa tendierte zu einem formalistischen Kantianismus und selbst zu ihm nur als matte Antwort auf Vogt und Moleschott. Der Konjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg entspricht der Positivismus. Weder die Oberen noch die Arbeiter wollen etwas anderes als das Bestehende; die Phantasie, die aus der Philosophie sich erzeugt, hat daher keine Kraft. Der Unterschied zu früheren Perioden besteht nur darin, daß die Träume,
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die sie zu spinnen vermöchte, keinen Tag mehr hätten, um sich zu erfüllen. Das Genügen an dem, was ist, stammt nicht bloß aus dem lahmen Willen, sondern aus dem Gefühl, daß dahinter nichts mehr kommt, wenigstens nichts, das von einem selbst abhängt. Die europäische Geschichte ist aus, und deshalb hat der Positivismus recht, es gibt keine Zuflucht als die Maschinerie. Alle Begriffe, die sich nicht auf Fakten reduzieren lassen, sind bedeutungslos. Geist und Freiheit. - Der Geist als Zweck, nicht als bloßes Mittel, verliert heute den Sinn. Das Glück, das einmal ihm anhaftete und sowohl dem, der Geistiges hervorbrachte, wie denen, die es empfingen, sich mitteilte, entsprang zuletzt der Relativierung des Todes oder vielmehr der noch nicht erfolgten Erkenntnis seiner Endgültigkeit auf den sogenannten primitiven Stufen der Zivilisation. Mit dem Jenseits sich beschäftigen, wenn man hoffen darf, dort in ein höheres Leben aufzusteigen, hat, wie alles, was zu künftiger Lust in Beziehung steht, einmal selbst Lust bereitet. Wie das Unheil färbt auch das Glück den Gedanken, der sich auf es bezieht. Am intensivsten hat das ausgehende Christentum jenes Glück gekannt, als schon die neue Wissenschaft das Universum für die irdische Theorie und Praxis mit Beschlag belegte und doch der Glaube ans Andere noch zu dem logischen Widerspruch fähig war, jenseits der natürlichen Unendlichkeit einen Ort für die Seligkeit zu behaupten, nicht bloß für Ideen, wie bei Piaton, sondern für das Paradies. Was auf solche unmögliche Möglichkeit sich bezog, war Geist, und die deutsche Musik und Philosophie haben ihn einmal ausgedrückt. Es gibt kein Glück in Gedanken und Phantasie, das sich nicht aus der wie immer entfernten Ahnung realen Genusses herleitete; noch die sublimste Sehnsucht verdankt sich dem natürlichen Trieb. — Was für den Geist zutrifft, gilt für die Freiheit, die mit ihm identisch und widersprechend ist. Sie war erstrebt und geliebt als der Weg zur Befriedigung der Bedürfnisse im geschichtlichen Dasein, ein Mittel, das als Zweck erschien, weil es erst zu erkämpfen war. Die Freiheit auf Erden nahm den Glanz des vergeistigten Paradieses an, wie einst dieses den des Firmaments sich zugeeignet und heller gespiegelt hatte als die wirklichen Sterne, von denen er ursprünglich ausgegangen war. Die neue Wissenschaft, für die die Freiheit gefordert wurde, meinte im Beginn,
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bei Bruno, noch an Gott und Ewigkeit verschrieben zu sein. Erst im 18. Jahrhundert hat sie die Idee zur Hypothese gestempelt und abgelegt. Die Freiheit als politisches Prinzip leitet aus dieser Säkularisation sich her, bildet ein Moment von ihr, das sp äter sich entfaltete und zum Riesen wurde. Die Ideale der liberalen Politik erborgten für die materiellen Ziele noch das Andenken der himmlischen, die selber aus der Projektion der irdischen ursprünglich ihre Kraft bezogen hatten. Indem jetzt die Maschinen der Konsumtionsfabriken und der Massensuggestion die Bedürfnisse sozusagen an der Wurzel stillen, fällt die Vermittlung über Geist und Freiheit dahin, beide werden vom Interesse verlassen. Das Bewußtsein kehrt zu sich selbst als zum Organ der Auseinandersetzung mit der Natur, zur Befriedigung physischer Bedürfnisse als zur spezifischen Waffe der Menschenrasse zurück, die Individuen im Westen werden denen im Osten gleich, angesichts der Technik wird die Freiheit überflüssig, die zu ihrer Entfaltung nötig war. Ja, der Prozeß scheint sich umzukehren. Im Osten schickt Freiheit sich an, ein zu erwerbendes Gut zu werden, während sie im Westen als vermeintlich unverderblicher Besitz verkommt. Indem sie zu nichts mehr als Mittel gebraucht wird, hört sie auf, noch ein Zweck zu sein. Sie wird nicht aufgehoben, sondern aufgelöst. Was dagegen immer als Mittel galt, das Lebensmittel jeder Art, und erst recht die Mittel der Lebensmittel, Maschinen und Verkehrsmittel und was ihnen dient, ist Zweck geworden. Kant hat beim kategorischen Imperativ, den Menschen als Zweck zu gebrauchen, gleichsam als selbstverständlich vorausgesetzt, daß der Mensch den Menschen ohnehin immer als Mittel benützt. Kant war im Recht. Mittel zu sein ist die Bedingung dafür, als Zweck zu gelten, und eben dieses Paradox des autonomen Gedankens erfährt er nun an sich selbst. Kant freilich hat das Postulat des höchsten Gutes im Sinne der Autonomie selbst zu erkennen geglaubt, und jenes Gut schließt mit der Freiheit die Gerechtigkeit ein. Wenn die Gesellschaft, um schließlich zu bestehen, auch dieser als Mittel bedürfte, hätte der Geist noch eine andere Zukunft als seine Auflösung. Am Gängelband. - Zu den unbedeutenden Symptomen der Vernichtung der individuellen Entschlußfähigkeit durch die industrielle Konzentration gehört die Verpackung von Produkten der phar-
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mazeutischen Industrie. Früher waren die Pillen in Fläschchen oder Röhrchen verpackt, die in Pappkästchen staken. Darin befand sich eine Beschreibung, womöglich in mehreren Sprachen, mit Darstellung der Zusammensetzung, Wirkungsweise, Aufzählung der Indikationen, Dosierung und Art der Benutzung. Heute wird ein im Verhältnis zum Inhalt umständlicher Plastikapparat geliefert, auf dem gerade noch die Marke und schließlich ein knapper Zusatz steht. Die große Industrie braucht den Konsumenten nicht mehr im Detail zu unterrichten, nur noch bei der großen Reklame ihn psychologisch anzuspornen. Das übrige sollen die Ärzte besorgen, mit denen sie im Bündnis steht, wie in Amerika. Dort liefert sie dem Patienten von jedem Produkt sowenig wie möglich und verschweigt noch den Namen, damit bei der Neubestellung jedesmal der Arzt wieder zugezogen werden muß, und der Verbrauch steigt doch, denn jeder hat seine Gesundheit lieb. Er muß den Körper, die eigene Maschine, in guter Verfassung halten, damit sie funktionieren kann wie die anderen. Die Industrie bedient sich der Ärzte als eine Art Partner, nicht etwa bedienen die Patienten sich der Ärzte oder der Industrie. Entsprechendes gilt von den übrigen Zweigen der Versorgung. Als angeblich selbständige Auftraggeber werden die Menschen durch immer zweckmäßigere Dinge, die ihnen immer genauer vorschreiben, wie sie zu bedienen sind, zur Unselbständigkeit verhalten. Das Wasser vom Brunnen zu holen war schwer. Die Frauen auf dem Weg konnten den Gedanken nicht fassen, daß die Notwendigkeit sich ändern werde. Das housewife heute kennt jene Umständlichkeit aus Gemälden und Opernszenen, aber die Freiheit, die der Hahn in Küche und Badezimmer ihr und den Ihren schenkt, ist von zahllosen anderen Verrichtungen, die dem Aufdrehen aufs Haar gleichen, in Beruf und Freizeit ausgefüllt. Die Notwendigkeit, ihnen sich anzupassen, ist nicht weniger autoritativ, und der Weg, auf dem kein gadget und kein Verkehrssignal die Menschen in Anspruch nahm, hat aufgehört. Indem sie zum Subjekt wird, wird sie weniger Subjekt. Zu spät. - Seit mehr als hundert Jahren steht die deutsche Politik unter dem Zeichen »zu spät«. Das Schlagwort der Einigung, das die Ereignisse noch am Ende als Ruf nach der Wiedervereinigung begleitet, als ob die bisherigen Erfahrungen nicht alle Europäer
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von solcher Wiederholung abschrecken müßten, hat schon der mißglückten 48er Revolution gedient, als Holland, England, Frankreich längst geeinigt waren. Die echte Neuerung, die Preußen — Deutschland in die Welt brachte, als es kurz nach Italien durch eine Serie von Kriegen rufen konnte: »Es ist erreicht«, war das Wettrüsten als Kennzeichen der Beziehungen zwischen den Nationen, die Kürassierhelme von Kanzler und Kaiser, der Kaiser als Feldherr, aber nicht wie einst Napoleon Bonaparte, weil er von Strategie mehr als andere verstand, sondern um den Ruhm rasch nachzuholen. Zu spät kamen Flotte und Kolonialismus, zu spät die ruhmlose Revolte nach dem vom Zaun gebrochenen Weltkrieg Nummer Eins. Der Nationalsozialismus kann historisch ein Vorbild bedeuten. Obgleich er dem Beispiel des Faschismus im geschichtlich verwandten Neuitalien folgte, mag er dem künftigen Frankreich, ja dem balkanisierten europäischen Kontinent voranleuchten, dessen Länder sich desto autoritärer verstehen müssen, je mehr die Kräfte im Osten auf allen Gebieten wachsen und die Vereinigten Staaten sich mit Rußland verständigen und selber gegebenenfalls sich wehren müssen. Zu spät aber kam er in doppeltem Sinn. Er wollte mit Gewaltmitteln, wie heute die zurückgebliebenen Länder, die Proletariernationen, wie Hitler sagte, Amerika einholen, die gigantischen Fabriken, die neuen Städte, die Autostraßen, das Teamwork, die Skrupellosigkeit der alten Magnaten. Zum anderen und in einem damit ward durch ihn nachgeholt, was es auch anderswo seit langem gab, die bürgerliche Gesellschaft ohne Junkertum und radikale Arbeiterbewegungen, der Eingriff des Staates in die Ökonomie. Der völkische Rausch sollte der Rationalisierung, dem wirtschaftlichen Erfolg und der Weltmacht zugute kommen. Roosevelt konnte die Krise mit dem New Deal bekämpfen, die deutsche Bourgeoisie hatte es mit Traditionen und Kommunisten zu tun, und dies war das social and cultural lag, das die letzte Karikatur der bürgerlichen Revolution, das Aufräumen im 20. Jahrhundert zum Abbild der Hölle werden ließ. Die Gegenwart bedeutet die Einübung der auferlegten Demokratie, während sie historisch schon verurteilt ist. Bei der Lektüre Voltaires. — Welcher Unterschied zwischen demselben Wort zu verschiedenen Epochen. Als Voltaires nüchterne
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Geschichtsauffassung mit den großen Werken an den Tag trat, überwand sie ein Jahrtausend gelehrter Scharlatanerie; heute ist alles schon selbstverständlich, der Essai sur les Moeurs durch minutiöse soziologisch-psychologische Methoden überholt, und die Angriffe auf die politisch-kirchliche Historie klingen eher nach positivistischer Resignation als nach der Verkündigung einer neuen Gesinnung. All das ist bekannt. Die Idee eines großen Mannes gilt zuerst als verrückt, hat man gesagt, dann als selbstverständlich und schließlich als ein Gemeinplatz. Was man dagegen seltener bemerkt, ist die Kraft des Widerstandes jener Schriften, die Epoche machen, gegen die von ihnen eröffnete Zeit. Wer beim Lesen Voltaires genau hinhört, erfährt, daß jener jetzt entschwundene Gegensatz, das Pathos des Neuen und der Widerstand, in jeder Zeile lebt und sie groß macht. Die Wiederholungen werden den Ton nicht mehr treffen, in dem beim ersten Durchbruch das noch mitgenommen wird, was fortan bloß ein Kuriosum bildet oder ganz vergessen wird. Die Wiederholung ist flach, das Neue zugleich mehr als es selbst. Der von Voltaire weit hinter sich gelassene Bossuet läßt aus dem Essai weit mehr sich heute noch erfahren als aus der Histoire Universelle, die seither nicht mehr lesbar ist. Das wirklich Neue ist zugleich immer mehr, als was es selber sein will. Deshalb gehört die Reformation mehr der Politik als dem Gang des Gedankens an, der Praxis mehr als der Theorie. Ihre Leistung hat eine Änderung der gesellschaftlichen Verwaltung, nicht eine Revolution des Gedankens bewirkt, Luther ist den Kreuzzügen mehr verwandt als der Vernunft, dagegen hat der Stil Voltaires mehr mit dem Grand Siecle gemein als mit der Französischen Revolution. Die Wahrheit der Religion. — Irgend jemand hat über Tolstoi geschrieben, er sei fromm geworden, als er zu alt war, um noch das Leben zu genießen. Religion als Trost, das heißt aber mehr, als ein Pfarrer dabei sich denken mag. Nicht ihre Wahrheit geht dem Bedürftigen auf, sondern das Bedürfnis konstituiert ihre Wahrheit, und nicht einmal bloß das individuelle Bedürfnis, sondern das gesellschaftliche. Die Geschichte der Religion seit dem Untergang der Antike ist klar strukturiert, phylogenetisch folgt sie der Ontogenese des religiösen Bewußtseins eines Kindes aus gutbürgerlichem Haus.
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Nachdem im Anfang die Welt in religiösen Kategorien erfahren wurde, so wie die Mönche und Eltern es wollten, begann der Zweifel mit dem zunehmenden Wissen, das in Konflikt mit jenen Kategorien geriet. Die Götter schwanden mit der Furcht dahin, aus der sie nach Lukrez entstanden waren. Die Städter mußten ihr Leben verdienen, der Gehorsam allein war kein zuverlässiger Leitfaden mehr, sie hatten selbst sich um die Welt zu kümmern, und zwischen die feste Regel des Daseins und die Erwartung des Dortseins trat das Interesse von Hier und Jetzt. Und wie das Kind, nachdem es frei und erwachsen ist, die eigenen Kinder aus Zweckmäßigkeit wieder mit Religion erzieht, so halten die Rürger nach allen Revolutionen die unselbständigen Massen auch weiter zum Glauben an. Wenn das Bedürfnis heute die Wahrheit der Religion konstituiert, so steht sie jedodi nicht schlechter da als die Philosophie. Auch sie gewährt Trost, und sei es, nachdem ihre Versuche, die Religion mit der Wissenschaft zu versöhnen oder wenigstens als unanfechtbar daneben stehenzulassen, sich als eitel erwiesen - den Trost, daß es keinen gibt. Wo immer Vernunft den Ausdruck, sei es der Hoffnung oder der Verzweiflung, zu rationalisieren sucht, sei es mit Kant als mögliches Postulat oder mit Hegel als die Negation, die schließlich vom Gedanken einer nicht mehr zu negierenden Wahrheit ihre Kraft gewinnen muß, wo sie sich sozusagen zu erkennen gibt, sei es als Mittel oder Zweck - mit dem einen ist ja schon das andere gesetzt —, wo sie auf sich zu reflektieren und eben damit die Reflexion zu überwinden meint, wo irgend sie den Ausdruck zur Wahrheit umdeutet — und das tut sie immer, wo sie nicht schlechthin funktioniert —, wird sie zum Trost wie die Religion. Seiner bedarf nicht bloß die geschlechtliche Impotenz, die jener Kritiker Tolstois im Auge hatte, jeder ist vielmehr von Jugend an in vieler Hinsicht und zu vielen Zeiten ohnmächtig und alt. An den glücklichen Tagen freilich, bei guter Konjunktur und Vollbeschäftigung, verliert Philosophie, soweit sie nicht, wie die Fundamentalontologie, als latentes Stimulans für künftige Großtaten bezogen wird, an Interesse. Das wirkliche Malaise der intellektuellen Jugend: sie ist schon zu sehr mit technischer Erfahrung gesättigt, um in Philosophie mehr als eine sympathische Illusion, eine Art Droge zu verspüren. Besser als Tolstoi weiß die Jugend heute über ihr hohes Alter Bescheid. Dieses Bescheidwissen jedoch,
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die ganze Reflexion auf die Unmöglichkeit und Überholtheit der Philosophie fällt unter das Verdikt, aus dem sie selber besteht. Die Skepsis, lautet seine formalistische Floskel, hebt sich selber auf. Sie gilt für ihre Negationen, so gut wie gegen das, wogegen sie sich wenden will. Philosophie gegen Philosophie ist undenkbar, sie behauptet die Wahrheit, von der sie aussagt, daß sie nicht existiert. So wäre das Positive wahr? Weil die Skepsis sich widerspricht, hätten die nicht-skeptische Philosophie, die Religion, irgendein Glaube recht? Es gibt eine andere Konsequenz: das Schweigen. Was immer gesagt wird, ist nicht gesagt, denn der es vernehmen soll, der Nichtendliche, vernimmt es nicht. Die Menschen, zu denen wir sprechen, sind bloß Gegenstände, die wir in Bewegung setzen, mit Worten wie mit Armen, Waffen und Maschinen. Philosophie, sofern sie nicht bloß Anweisung sein will, die bestätigt wird, also Wissenschaft, sieht vom Sprecher und Hörer ab und setzt sich selber absolut. Sprache im emphatischen Sinn, Sprache, die Wahrheit sein will, ist plapperndes Schweigen, niemand spricht und sie spricht zu niemandem. Deshalb ist nichts wahr. Nicht einmal, daß wir in der Nacht sind, ist wahr, nicht einmal, daß es nicht wahr ist, ist wahr - und das Aufspreizen der Verneinung und Versagung zur Philosophie, das heißt der logische Positivismus, der aus der Not eine mathematische Tugend macht, lebt vom Scheine dessen, das zu leugnen ihr einziger Inhalt ist. Über den Ursprung der Sprache. - Sprache, ob sie will oder nicht, muß den Anspruch erheben, wahr zu sein. Ihr Ursprung aber, der ihr Wesen ausmacht, ist die Herde, die durch Laute in sich selbst zusammenhält und ihre Existenz führt. In pervertierte zoologisch-physiologische Kategorien ist der Ruf des Einzelnen, der Gedanke, das Zwiegespräch mit der Ewigkeit und noch das sich mit sich selbst vermittelnde Subjekt-Objekt des Idealismus zurückzuübersetzen, wenn es sich zu begreifen sucht. Das heißt, daß es sich nicht begreifen, sondern bloß verständigen kann - als Herde. Geist, Kunst und Bürgertum. — Die Vorhut des Bürgertums seit der Renaissance war die neue Wissenschaft. Je mehr ihre Wahrheit sich ausbreitete, desto allgemeiner wurde die Verfolgung, desto mehr Hingabe erforderte das Bekenntnis zu ihr. So wurde Ver-
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nunft zur Göttin und ihre Bekenner, die freien Intellektuellen, zu einer Gruppe verschworener Fackelträger. Der Gedanke ist der Wegbereiter der liberalen Gesellschaft, zu ihm bekennt sie sich, solange sie noch nicht am Ziele ist. Das Bekenntnis heißt, daß die Intelligenz von jenen als ihre eigene Sache bejaht wird, die ihr selbst noch nicht nachgekommen sind. Am Ende des Bürgertums, zur Zeit des Verfalls, hat die übers Verständnis hinausgeschrittene Intelligenz ihre fortschrittliche gesellschaftliche Funktion verloren. Das Bürgertum preist an Feiertagen den Geist, dessen Träger jedoch sind zu Predigern dessen geworden, was schon ist, zu Fabrikanten von mehr oder minder kultivierten Ornamenten, von Luxusmitteln für die Besser-oder Schlechtergestellten, je nach Bedarf. Es gibt aber auch solche, die der immanenten Logik des Geistes an sich selber weiter folgen, sich selbstvergessen von der bürgerlichen Menge entfernen, ihr sozusagen dorthin vorlaufen, wohin ihnen zu folgen kein Interesse und daher kein Verständnis besteht. In Zeiten der Konjunktur gelten solche Intellektuelle gerade noch als elegant, in gefährdeten Perioden als unsichere Kantonisten. Um so weniger ist es mit ihrer eigenen Sache zu vereinbaren, wenn sie als angebliche Wahrer von Gütern, die den Menschen heilig seien, der Gesellschaft, die ihnen nicht folgen kann, devot sich anbieten. Sie sind Wegweiser, die im Dunkel ihre Schutzbefohlenen längst verloren haben und sich einreden, das liege an jenen. Sie bieten dem Bürgertum die Ware an, von der den richtigen Gebrauch zu machen zu seiner Überwindung führen müßte, sie sind als künstlerische, literarische, philosophische Experten, als Schmuckstücke in die Arbeitsteilung eingeordnet, aus der auszubrechen ihr Gewerbe ist. Die Täuschung aber schlägt auf ihr Produkt zurück. Indem es in sich stimmig wird, wird es zugleich auch stumm. Das Zeichen ist, daß es der Erläuterung bedarf, der Anbiederung an die Welt, die es verurteilt. Die avancierten Intellektuellen am Ende des Bürgertums können die Wahrheit nicht mehr sagen, deren Sinn es war, ihm zur Macht zu verhelfen. Die Wahrheit ist zu Ende, und der Beweis dafür ist, daß sie noch vorgibt dazusein. Für den Übergang zu einer Form der Gesellschaft, in der die Freiheit mit Gerechtigkeit verbunden wäre, zu einer höheren Bürgerlichkeit also, die die frühere in sich enthielte, ist es längst zu spät geworden, und die barbarischen Anfänge eines sozialistischen
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Autoritarisxnus im Osten kannten den Intellektuellen nur, soweit es in den allerersten Stadien dort auch um bürgerlich Liberales ging. Das fortschrittlich Geistige hat seinen Platz im Übergang vom Feudalen, in der Befreiung vom Feudalen zur emanzipierten Daseinsform des konkurrenzfähigen, politisch sich selbst bestimmenden Unternehmers, der die Massen für seinen Zweck als Nation organisiert. Dies war der Sinn der großen Literatur wie der großen Musik, deren unmittelbare Verständlichkeit mit ihrer geschäftlichen Aktualität zusammenfiel. Heute existieren die vergangenen Stücke in Museumskonzerten und die gegenwärtigen als Raritäten für die Familien des Managers. In ihrer Unverständlichkeit verbirgt sich keine Spitze mehr. Das Unbehagen, das das Publikum bei avancierten Werken der Jahrhundertwende und der zwanziger Jahre zuweilen ergreift, entspringt der unbewußten Ahnung, daß die damals noch denkbare Vollendung der Bürgerlichkeit durch Weltkriege und Faschismus ersetzt und vereitelt wurde. Aus dem verborgenen Schuldgefühl rührt der Charakter peinlicher Überholtheit, den manche Produkte jener Perioden noch an sich tragen. Bei Gemälden läßt sich der fatale Sinn durch hohe Preise ablösen, bei Musikstücken, deren Wiederbeleber von der Konjunktur etwas mit abbekommen wollen, ist es schon schwieriger, die Literatur steht zwischen beiden. Die konservativen Stücke Kafkas lassen in der Literarhistorie und im Massenkonsum auch als billiges Vergnügen sich umfunktionieren. Karl Kraus bleibt trotz des Konservatismus auf Studenten beschränkt. Schönberg jedoch erinnert trotz aller reaktionären Gesinnung zu sehr an verpaßte Gelegenheiten. Er ist von Inhalt nicht ganz so frei wie die abstrakten Bilder der Gegenwart, die, wenn nicht fürs Büro der Generaldirektoren gemalt, doch stumm genug sind, um dort ihren Platz zu finden. Abstrakte Kunst heute verhält sich zum Surrealismus wie der Positivismus zur Aufklärung. Sie hat keine Gegner mehr. Nach den Kreuzzügen. - Was ehemals Losung und Parole hieß, ist jetzt zur Reklame geworden. Jeder weiß es, und trotzdem bleibt die Wirkung ungeschmälert, ein Beweis, wie wenig Einfluß die ratio hat, wo das Unbewußte Morgenluft wittert. Und wie die Plakate und Litfaßsäulen, die bunten Seiten, ja die Illustrierten selbst dem Geschäft sich verdanken, so dienten die großen Ideen, in deren
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Namen die Massen Gewalt verübten, seit je der Macht, der die Verhältnisse zu eng erschienen. Zeugte der Griff nach dem Heiligen Land ebensosehr wie die Reaktion der Päpste auf die Siege der Mohammedaner und die Positionen von Byzanz von dem Appetit der italienischen Handelsleute und jüngeren Fürstensöhne, so gehen die großen faschistischen Tendenzen auf die Herrschaftsträurue der aktivsten Kapitalinteressen des europäischen Kontinents, vorab der Deutschen, zurück. Der alte Reklameslogan hieß : »Gott will es, Dieu le veut«; der neue: »Lang lebe Deutschland«, nur, daß man heute schon vorher weiß, wer die Opfer sind, und sogleich ruft: »Die Juden raus.« Denn die Macht, die sich der faschistischen Massen bedient, weiß allzu genau, daß sie das Versprechen des ewigen Reichs, der Utopie, die trotz Heroismus stillschweigend in allen Aufrufen gesetzt ist, nicht halten kann und gar nicht halten will. Statt dessen büßt sie das Wort durch Konzession an die Grausamkeit ein, an die Wut der Zukurzgekommenen. Und sie akzeptieren es im Vorhinein. Neu ist eben, daß sie es jetzt schon wissen und damit einig sind. Im ersten Kreuzzug wurden die Juden im blinden Enthusiasmus umgebracht, und dahinter stand als Utopie die ewige Seligkeit, heute ist es eine Art Vertrag: die Massen ziehen in den Krieg und dürfen dafür die Juden morden — und dahinter steht das Nichts. Dialektik der Aufklärung (II). - Die Dialektik der Aufklärung besteht wesentlich im Umschlag des Lichts in die Finsternis. Das gilt nicht bloß in dem Sinn, daß bei der Auflösung der Mythologie Erfahrung und Fähigkeit zur Erfahrung mitverschwinden. Durch die geistige Passivität, in welche die Menschen in der neuen Wirtschaft versetzt werden, die ausschließliche Konzentration auf Geld und Job, die hohe Schlauheit, auf die der seelische Apparat der Individuen reduziert wird, erhalten die durchsichtigsten Wahnideen, sofern sie nur am Horizont auftauchen und das screening der Massenkommunikation passieren, jede Chance. Alle verlogenen Werte produzieren die Bindungen, deren die eine oder andere Machtgruppe bedarf. Wenn Durkheim meint, daß die Lockerung des gesellschaftlichen Gewebes den Selbstmord des isolierten Einzelnen begünstigt, so hätte er hinzufügen können, daß je loser die Gesellschaft zerfällt, desto geringer nach der Lüge gegriffen wird, die
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sie auf schlechte Weise zusammenhält. Wer glaubt nicht lieber an die Volksgemeinschaft, als sich umzubringen, es sei denn, daß er schon verrückt genug ist, um auch darüber die Achseln zu zukken. Die Schizophrenie, die konsequente Fortbildung der Ablehnung jedes Anspruchs einer Sache auf Liebe oder Achtung, die letzte Vernichtung der Mythologie, wird am Ende noch zur menschlicheren Gesinnung als die Bereitschaft zur verlogenen Anhänglichkeit an die Idee, die die Fähigkeit zur Solidarität ersetzt. In Perioden des Untergangs, wie der gegenwärtigen, kommt dem Wahnsinn die höhere Wahrheit zu. Aufklärung und Religion. - Der Begriff von Göttern oder Gottes, so sagten die Aufklärer der Nationen, diente zur Erklärung des Unerklärten, der Schaffung und der Zusammenhänge in der Natur und der Schicksale der Menschen in der Gesellschaft. Je weiter die Naturerkenntnis fortschreitet und je gerechter und durchsichtiger die Gesellschaft wird, so daß keine gesellschaftlich bedingten Unterschiede, kein gesellschaftlich bedingtes Leid den Finger Gottes als Erklärung fordern, desto weniger werden die Menschen der Religion bedürfen. Erst dann, so konnte man den Aufklärern erwidern, erst wenn die Religion von ihrer ideologischen Funktion befreit ist, wird die Frage nach ihrer Wahrheit unzweideutig zu stellen sein. Aber, so könnten sie erwidern, werden wir dann nicht der Religion bedürfen, weil wir doch sterben müssen und weil die Kreatur, die nichtmenschliche, durch die Natur und vor allem durch die unbarmherzige Menschheit leidet? Bedarf es nicht immer der Religion, weil die Erde, auch wenn die Gesellschaft in Ordnung wäre, das Grauen bleibt? Der Trug des Glücks. - Zwei alte Leute, zwei junge Freunde, zwei Liebende oder wer sonst immer mit Worten und Gesten gegenseitig sich erhöht und gegen den dunklen Hintergrund der Wirklichkeit das Leben schöner macht, lebt in selbsterzeugter Scheinwelt. Die Sprache ist wahr oder unwahr. Der Ausdruck, der den anderen im Überschwang erhöht, ist ein Urteil, und wenn es nicht den nackten Tatbestand bezeichnet, ein falsches Urteil. Noch das Bekenntnis »Du bist gut«, »Du bist die Schönheit selbst« ist Schein, auch, wenn der Liebende die Schönheit wahrnimmt, die dem Gleich-
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gültigen entgeht, denn die hellsichtigeren Augen vermögen jenes »Bist« nicht einzulösen, nicht zu erweisen, das im glücklichen Moment gesetzt ist und mehr meint als den Moment. Die Replik, die Wahrheit sei nur im Moment, sie leuchte auf wie nur ein flüchtiger Schein und schwinde, ohne zunichte zu werden, ohne sich zu leugnen, das eben ist der Glaube der Glücklichen, der trügerisch ist. So trügerisch wie der Schrei des Gefolterten, der die Welt anklagt. Mit seinem Ersterben verhallt seine Wahrheit. Ausdruck ist Schein, weil kein Gott ist, der ihn vernimmt. Nur solange einer die Macht hat, zu hören und wahrzunehmen, nur solange die Realität einem recht gibt, hat der Widerstand gegen die Realität die Wahrheit, die seine Substanz ausmacht. Er ist seinem Sinn nach zur Ohnmacht verdammt, es ist kein Absolutes, das ihn in sich hereinnimmt und bewahrt. Der Schmerz und das Negative bleiben abstrakt, selbst im Hegeischen Mythos von der Totalität. Rationalisierung der ratio. - Der Fortschritt besteht darin, des Überflüssigen sich zu entledigen. Je mehr Umwege er erspart, desto mehr ist er Fortschritt. Daß die Menschen mittels der Erwägung jedes Einzelnen, mittels der Freiheit jedes Einzelnen, zu hungern oder etwas zu verdienen, an ihre Arbeitsplätze getrieben wurden, war ein Umweg. Er läßt sich durch zentralistische Ordnungen ersparen. Das Denkenläßt sich ersparen. In dreifachem Sinn: erstens, daß nicht die durch Freizügigkeit komplizierte Überlegung, sondern das gesellschaftlich umfassende Programm die Arbeit eines jeden bestimmt; zweitens, daß nicht so viele einzelne Unternehmer, sondern ein mit Gewalt ausgestattetes Kommando ohne die alten Krisen die Wirtschaft bestimmt; drittens, daß nicht jeder oder viele etwas von vielem wissen müssen, sondern das Individuum in einem schmalen Fache etwas kann und selbst die Koordinierung zu einer immer spezialisierteren Branche wird; das Denken verwaltet, man soll es rationalisieren und damit selbst die ratio - rationalisieren. Der Gedanke erweist sich als Mythos und das Glück, das er bringt, als Zauber von Primitiven. Endlich erwachsen werden — ihr Faulen. Noch seid ihr Freigeister; bloß die Nachfolger der Theologen, über die ihr lacht.
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Verwitterte Tafeln. — Nietzsche sprach vom decadent. Er sah, daß die alte Welt aufhörte, zu der er selbst noch sich rechnete. Er sah die Verblichenheit und durch sie hindurch die Bedingtheit der Werte, die sich für objektiv ausgaben. Der sogenannte Sinn, alles was über die tägliche Reproduktion der Individuen hinaus ihr Leben erfüllte, ihm einen Grund gab, erwies zu seiner Zeit sich als hohl. Als Objektives, vom Willen der Subjekte Unabhängiges hatten die Werte die Negation der individuellen Lust gefordert, und eben dadurch hatten sie sich als ein schlechter Trost der Individuen enthüllt, die ökonomisch oder psychologisch zur Lust nicht fähig waren. So setzte Nietzsche den Willen selbst, die Kraft zur Unabhängigkeit sogar noch von der Lust, zu der im höchsten Maße einer fähig ist, den Menschen als Ziel. Nietzsche aber wußte nicht, warum die alte Welt aufhört. Sie ist zu Ende, weil sie in der Struktur, die die Welt geographisch und gesellschaftlich jetzt angenommen hat, keine historische Funktion mehr ausübt. Die europäische Kultur ist mangels einer Zukunft eingegangen, denn die Individuen hören auf, sich zu entfalten, wenn keine kollektive Aufgabe mehr da ist, mit der sie sich ineinssetzen können. In Hegels Geschichtsphilosophie wird von den Völkern, die ihre Mission erfüllt haben, nicht mehr gehandelt. Sie sind der Gegenstand des Philosophen, solange der Weltgeist bei ihnen ist, die Kapitel über Orientalen, Griechen, Römer, Germanen handeln von der Zeit, in der sie die fortgeschrittensten sind. Dann schweigt der Denker, und kein Verzweiflungsakt von selbstgesetzten Werten kann mehr helfen. Die Tafeln sind verwittert, noch ehe sie zerbrochen sind. Come and go. - Die zurückgebliebenen Völker, wie man sie heute nennt, bücken gierig auf die hochindustrialisierten, aber der Schmerz ihrer Entbehrung ist durch das Bewußtsein der Kraft gemildert, durch die sie es den arrivierten schließlich gleichtun werden. Anders der zurückgebliebene Einzelne in den schon arrivierten Ländern selbst. Wie manche jener älteren, herabgesunkenen Kulturen hat er sich vielleicht gegen seinen Neid zur Wehr gesetzt. Die Befriedigung in der geistigen Welt, die Kompensation durch Mythos und Phantasie, die historischen Stufen sich verdanken, auf denen hohe gesellschaftliche und darauf seelische Differenzierung
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durch geringeren allgemeinen Reichtum erzwungen war, wird ihm nicht mehr zuteil, und jenes Vertrauen in die Zukunft steht ihm nicht an. Unmittelbar im Banne des Konsumgutparadieses kann er nichts mehr denken als die Schande, nicht dabeizusein. Die Entbehrung, mag sie, absolut gesehen, geringer sein als die einst übliche, mißt ihre Gewalt ausschließlich an der Gegenwart. Er ist kein newcomer, sondern ein Alter, der geht. Oben und unten. — Wer immer unten war, kann nicht generös sein, er hat die Welt nicht erfahren, wie sie von oben aussieht. Wer immer oben war, kann sie auch von unten kennen, ja die lebendige Identifikation mit den Armen, Verfolgten bietet sich dem nicht Verhärteten an. Der Mensch weiß vom Tier, das Tier leidet bloß unter ihm. Die Unmöglichkeit, das Verhältnis umzukehren, das die Struktur der Welt buchstabiert, ist zugleich die Formel des Unrechts, unter dem sie steht. Einsicht, Glück, Generosität sind die Mitgift derer, die oben sind. Je weniger sie davon Gebrauch machen, desto mehr verhärtet sich die unrechte Verteilung. Die Ahnung dieses Zusammenhanges ist der legitime Sinn des Christentums. Der höchste Mensch ist der, der sich zum tiefsten herabläßt, und eben dadurch wird er zum höchsten, der andere noch befreien kann. Sich zu verschwenden im vollen Sinne des Wortes, vermag nur ein Gott. So ungerecht hat er die Welt eingerichtet — und so gerecht, denn wie wenig kann der sich beklagen, der zur Großmut selber nicht fähig ist. Überholter Protest. - Der in den naturalistischen Stücken der Jahrhundertwende und noch der zwanziger Jahre, auch im Theater Brechts, enthaltene Protest hat sich abgeschwächt. Er wirkt im Grunde fad, weil der Umstand, daß man nur durch Gaunereien — heute heißt es Konformismus — ein respektables Leben führen kann, daß das Unrecht, die Blindheit, zur Karriere gehört, schon selbstverständlich geworden ist. In der psychologischen Situation eines jeden erscheinen die Ideen, die dem Protest zugrunde liegen, als Ideologie, und die psychologische Situation gründet in der gesellschaftlichen und historischen Wirklichkeit. Gerechtigkeit, die übers Bestehende hinausgeht, wird zur bloßen Abstraktion, weil die geschichtliche Aufgabe von den alten Völkern preisgegeben ist.
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Ob die neuen nach barbarischen Anfängen sie einmal entfalten werden, bleibt unbestimmt, ihnen ist sie jedenfalls durch die Resignation des Westens, der in den letzten Jahrhunderten die Geschichte vorantrieb, überlassen. Falsche Rückkehr zur Religion. - Die gesellschaftliche Rolle der Religion erschien der kritischen Theorie als Anwendung der Projektion von irdischen Verhältnissen ins Jenseits zum Zweck der Herrschaft. Heute ist die Projektion schon durchsichtig und matt geworden. Die Weltraumraketen lassen das Reich der Seligen nicht ungestört. Die Anwendung jedoch wird fortgesetzt, sie funktioniert nach dem Gesetz der Trägheit weiter. Als Mittel der Kontrolle identifiziert, wird sie in der Vollbeschäftigung eingebaut und leistet zudem ihren Dienst bei der Vorbereitung des nächsten Versuchs, das europäische Schicksal kriegerisch abzuwenden und wider Willen zu erfüllen. Indem Religion auf solche Weise hohl geworden ist, wird offenbar, was einmal in ihr war, die Sehnsucht nach dem Anderen, an dem das Diesseits sich als das Schlechte erwies. Wie sehr sie den ihr innewohnenden Widerspruch gegen das Bestehende in Kontrolle nahm, sie mußte ihn, der stets aufs neue sich entzündete, zugleich bewahren, bis er als Theismus und Atheismus der Aufklärung die Gestalt der Religion abstreifte und einer anderen Form gesellschaftlichen Lebens zur Existenz verhalf. Der Widerspruch zielte, bedingt durch die Natur wie Hunger und Durst, doch über die Natur hinaus, auf die gerechte, die richtige Ordnung; daß die vorhandene schlechtere ihn als berechtigten erweckte und ihm zugleich die Erfüllung versagte, gab ihm die produktive Kraft. Diese Kraft ist im Westen erlahmt. Während im Osten der Druck des Terrors schon die Ahnung des künftigen Widerstands erfährt, der nach den Völkerwanderungen und Katastrophen auf ein gesellschaftliches Höhere zielt, schwinden hier die Illusionen vollends dahin. Der Materialismus, zu dem die Menschen dort gezwungen werden, trägt bei aller Macht, die er ausübt, bei aller Sturheit, die er aufrechterhält, den Stempel des Provisoriums an sich, das, wie das Mittelalter in Europa, tausend Jahre dauern mag; hier wissen alle insgeheim, daß die Idee aus ihrer Welt sich nur noch vollends zurückziehen kann. Die festere Struktur, zu der die westliche Gesellschaft ihre Zuflucht nimmt, wird ihr durch die Konkurrenz mit
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dem Osten aufgezwungen, ihren eigenen Gedanken, die Freiheit und das Recht des Einzelnen, vermag sie darin nicht aufzuheben, vielmehr nur in immer neuen Diktaturen und im Bündnis mit ihnen preiszugeben. Anstatt die Aufklärung, in welche die Religion übergegangen war, mit vollem Bewußtsein durchzuführen, die trügerische Freiheit der Revolution zur Gerechtigkeit voranzutreiben, hat die westliche Gesellschaft resigniert. Die Rückkehr zur Religion meint nicht, daß sie wieder an den Himmel glaubt, sondern daß es ihr zur besseren Einrichtung der Erde an Glauben gebricht, daß sie nichts mehr will als sich selbst. Sich in ein Höheres zu verwandeln, ja überhaupt sich selbst in einem Anderen zu wollen, diese Substanz der Religion hat die Gesellschaft verloren, indem sie die Religion als ein Festes zu ihrer Sache erklärte. Ein Festes kann man gegen ein anderes Festes vertauschen, wie es in Deutschland mit dem arischen Christentum und überall im Nationalismus geschehen ist. So haben die Völkischen nach dem debacle sich wieder in religiöse Christen zurückverwandelt, ohne daß sie sich verändert hätten. Das Spiel kann so fortgehen, bis der Kontinent in andere Hände übergeht. Massen-Medium. — In der vom Untergang bedrohten Zivilisation, die in rasender Eile der Bedrohung durch eine neue, gewaltigere Völkerwanderung mit der Produktion von Mitteln zur Ausrottung des Lebens und der Angleichung an waffenstarrende Diktaturen zu begegnen sucht, bricht mangels irgendeines anderen Zweckes als Geld und Macht der Wahnsinn aus. öffnet man, um ihre alltägliche Stimme zu hören, zu gleichgültiger Stunde - ohne event den Trichter des Radios, so erklingt in Amerika, dem fortgeschrittenen Land, eine Narrenshow losgelassener Marktschreier, durchmischt mit Fetzen veralteter Jazzbands und Boogy-Woogies. Die Erwartung, daß es im provinziellen Europa vielleicht besser sei, wird beim ersten Ton Lügen gestraft, es ist ärger. Die schmelzenden Melodien, die verlogene Heiterkeit, die Folklore der zurückgebliebenen Nationen verraten durch den Gestus der Unschuld und Harmonie, daß sie die Maske bilden für Neid und Niedertracht. Je tiefer einer den Rachedurst in seinem Inneren trägt, um s0 empfindsamer reagiert er auf Schmerz und Dissonanz in Kitsch und Kunst. Die alltägliche Stimme der Völker verkündet, daß keine
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Aufgabe mehr für sie erkennbar ist, daß sie vom Geist verlassen sind. Die Zeit der neuen Völkerwanderung bricht an. Nordatlantikpakt. - Im Zweiten Weltkrieg bekämpften England und Amerika noch die Antidemokratie, die totalitäre Aggression schlechthin. Mit Rußland verbündeten sie sich, als es vom Faschismus angegriffen war, wenngleich Herr Stalin zunächst seine Verwandtschaft mit Hitler mit untrüglichem Instinkt erkannte. Die Deutschen waren newcomers wie die Russen, nur ältere, eben deshalb waren beide Nationalisten aus Rancune. Heute, nachdem die Deutschen überflügelt sind, stehen die Angelsachsen allein nicht mehr den erwachenden Germanen, sondern zwei erwachenden Kontinenten gegenüber. Sie können es sich nicht mehr leisten, der Antidemokratie die Spitze zu bieten, sondern müssen sich mit den autoritären Gebilden von rechts zusammentun, um den Asiaten zu widerstehen. Es tritt klar hervor, daß die Parole »Krieg der totalitären Barbarei« die Rationalisierung handfester Interessen ist nicht allein durch die Bündnisse mit den reaktionärsten Regierungen der Welt, sondern auch durch die Einladungen und Freundschaftsofferten an totalitäre Herren der Gegenfront, sobald diese nur einmal ein freundliches Gesicht machen. Die Massenmörder werden getätschelt und umarmt, und es bedarf schon der massiven Beleidigung, ehe man sich, und auch dann nur ungern, auf Konferenzen von ihnen trennt. Schreckensherrschaft macht niemanden mehr salonunfähig, es sei denn, daß die eigenen Leute ihn davonjagen. Battista, der Freund von gestern, ist nicht mehr gern gesehen, und Chruschtschow würde erst recht nicht mehr bewirtet, wenn er wie jener über die Grenze fliehen müßte. Nicht nach ihren Taten werden die Diktatoren beurteilt, sondern nach ihrem Schicksal. Das ist eines der Zeichen, daß die objektiven Gehalte, für die die sogenannte freie Welt einsteht, in rasendem Schwinden begriffen sind. Der Sinn für sie ist im Erlöschen begriffen - er ist erloschen. Das ist das Werk der Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der fünfzehn Jahre, in denen die angelsächsische Welt vom Kampf gegen den Nationalsozialismus oder vielmehr gegen die deutsche Gefahr für England-Amerika zum Bündnis mit seinesgleichen auf der ganzen Welt übergeht. Die Entwicklung war vorgezeichnet in der Politik Chamberlains und seinesgleichen, sie
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hatten nichts gegen Hitlers Konzentrationslager und Kriegsabsichten gegen Rußland; heute würden sie ihm helfen. Der einzige Roosevelt ist j a nicht mehr - er hätte auch keine Aussicht, gewählt zu werden. Das ist vorbei. Wider die Logik, die dialektische und die gewöhnliche. — Das Christentum und die Christenheit sind zweierlei, darin hat Kierkegaard recht, nur weiß er es nicht von der Dialektik ihres Verhältnisses. Noch in ihren Untaten muß die Christenheit das Evangelium wenigstens zum Vorwand nehmen, und das Evangelium spräche nicht, hätten die Päpste und Kaufleute keinen beiderseits so profitablen Pakt geschlossen, daß sich ein Heer von Propagandisten bezahlt machte. Die Prediger gehören zur Christenheit. Sie stehen im Dienst der gewinnsüchtigsten Gruppen der Weltgeschichte und bekennen dies Verdikt gegen den zum Lebensziel erhobenen Lebensstandard. Sie segnen die Waffen, Aufrüstung und Krieg und verkünden, daß man Böses mit Gutem vergelten soll. Sie sind die Fürsprecher der Übervölkerung und schreiben die Keuschheit auf ihre Fahnen. Die Geschichte des Christentums ist das Symbol des Verhängnisses, das noch die reinste Lehre an die Ausübung des Schreckens, ans Bündnis mit Macht und Unrecht knüpft. Ohne den unbeugsamen Willen, mit dem Teufel einen Pakt zu machen, hätte das Sublime nicht bloß keine weltgeschichtliche Kraft gebildet, es könnte nicht einmal erinnert werden. — Folgt daraus, daß die Dialektik zu bejahen sei oder vielmehr die Sinnlosigkeit der Realität, die den Gedanken nur produziert, indem sie ihn desavouiert? Kann der Gedanke erhalten werden, indem er sich selbst als abstrakt erkennen und nur in Verbindung mit dem infamen Weltlauf für wahr halten kann, so daß er isoliert, sich selbst als leere Eitelkeit, als bloßes Bekenntnis, verspotten muß? Ist die Bedingung dem Bedingten äußerlich? Wird das Christentum durch die Christenheit nicht etwa Lügen gestraft, sondern bloß verleugnet? — Der Tod am Kreuz, so scheint es, hat die Welt nicht erlöst, sondern die Vergeblichkeit des Glaubens an die Wahrheit dargetan. Das ist das Sublime, was nach Abzug des Aberglaubens übrigbleibt. Es ist Nichts, das Sein ist der Schrecken.
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Philosophie und Ideologie. — Die Kritik der reinen Vernunft ist Ideologienlehre, die Analyse notwendigen Scheins. Von der transzendentalen Dialektik hat er es selber gesagt, aber auf die transzendentale Ästhetik und Analytik trifft es nicht weniger zu. Das mit der Brille von Raum und Zeit wahrgenommene sinnliche Material wird vom Verstand, von den Kräften der reinen ursprünglichen Apperzeption zu der Welt verarbeitet, die wir für die von uns unabhängige reale halten. Die Erscheinung wird, notwendig, als Ding an sich angeschaut. Und die Verkehrung ist nicht bloß notwendig, sondern gesellschaftlich notwendig, denn daß Kant, trotz allen späteren Versuchen, davon loszukommen, die synthetische Arbeit des Gemüts als die des persönlichen Subjekts, als die in jedem einzelnen Ich wirkende Aktivität bestimmt hat, entspringt notwendig dem Zustand der Gesellschaft, in dem sie von der Tätigkeit einer Vielzahl einzelner Subjekte mit ähnlichen Kräften bestimmt wird. - Infolge der kritischen, das Ganze relativierenden Theorie erschien Kant als der Alleszermalmer — trotz der versöhnlichen Ideenlehre, die den Glauben erlaubte, indem sie ihm den angeblich festen Boden entzog. Die Nachfolger haben denn auch rasch genug die Kritik durch die positive Lehre vom Absoluten übertönt. Indem sie das Subjekt, dessen Kennzeichnung bei Kant noch schwankend war, zum unbedingten machten, wiederholten sie in der Philosophie den von Feuerbach bezeichneten Prozeß der Gesellschaft, in welcher der Vater zum Gott und die bürgerliche zur heiligen Familie wird. Der Abschluß, die Entschlossenheit, aus Kant das Zögern und die Widersprüche zu entfernen und alle logischen Folgerungen zu ziehen, hat die Philosophie zur Ideologie zurückgeführt. Bürger Schopenhauer. — Schopenhauers Pessimismus steht über der europäischen Philosophie, weil er mit der Einsicht in den mechanischen Charakter alles Geschehens, die er mit den Empiristen, Skeptikern, Aufklärern teilt, zugleich das mit ihr identische Wissen um die Verlassenheit des Ganzen realisiert und ausspricht. Der Makel seines Gedankens besteht darin, daß er mit diesem Fluch sich ineinssetzt. Zur Eigenheit seines hellen Stils gehört das böse Pathos, daß alles, was dem Leben widerfährt, ihm recht geschieht. Er spricht vom Trieb zum Dasein und Wohlsein, das die Essenz der
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Kreatur ausmacht, mit denunzierendem, schimpfendem Unterton, und eben, weil sie moralisiert, widerspricht seine Sprache der Moral, die sie selber verkündet. Er macht das Mitleid zur Grundlage des Guten, ja zur Quelle der Einsicht, die tiefer als Wissen ist. Mitleid aber kann nur fühlen, wer das Glück zu lieben vermag. Schopenhauer hat es geahnt, als er sagte: die Mitfreude sei des Mitleids höchste Form. Aber selbst darin schwingt der Hohn mit, daß es so wenige gibt, die sie fühlen können. Er ist ein Bürger, und die Stimmung, aus der sein Gedanke fließt, ist Kälte und Geiz. Das hat nur einer gewußt: Nietzsche. Schopenhauer kennt nicht den Überschwang. Das ist der Makel, der der Wahrheit seines Werkes anhaftet, der umgekehrte wie der an Spinoza. Dessen Ethik reflektiert das Glück und verschmäht die Barmherzigkeit, jedoch um wieviel besser als Schopenhauer war er selbst. Geschichtsphilosophische Spekulation. - Die Außenpolitik ist die Fortsetzung der Innenpolitik, und was die Einwohner im Zeitalter des Rundfunks und Fernsehens davon erfahren, ist Massenlenkung durch Zerstreuung. Im Westen will man Handelsbeziehungen, die Diplomaten in den sogenannten Entwicklungsländern agieren als Vertreter der vereinigten Geschäftsinteressen ihrer Länder, und selbst die Spionage dient wesentlich dazu, die Konkurrenten auszustechen. Im Osten soll die Produktion gesteigert werden. Noch lange ist sie nicht so weit, wie man sie sich wünscht, so tauscht man vor allem Industrieerzeugnisse ein. Dabei suchen die dortigen Herren freilich der Gefahr zu begegnen, daß die größere Leistungsfähigkeit der westlichen Gegner die fremden Länder auf die andere Seite bringt und überdies die eigene geographische Vormachtstellung, der eines Tages die Welt zum Opfer fallen soll, durch sogenannte Einkreisung beschnitten wird. Zuletzt läuft alles, auch das Strategische, auf den garantiert sicheren Lebensstandard hinaus, nur daß im Osten, weil er dort niederer ist, ein größerer Impetus, eine Idee, die Kommunisierung der Erde dahintersteht. Ideen haben noch stets des Mangels bedurft, um nicht in Klischees zu entarten. Und hier gründet die Frage nach der Substanz der Menschheit, die eigentlich geschichtsphilosophische Spekulation. Wenn die Vorgeschichte zu Ende ist, weil Essen und Wohnen und Kleidung nirgends mehr und für niemanden ein Problem sind,
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wird dann die höhere, die eigentliche Geschichte beginnen, die Kultur, wie es heißt, oder zeigen die Kinos und Stars in den arrivierten Ländern an, wo es dann hinuntergeht? Ich meine, die Menschheit hat über ihre natürlichen Bedürfnisse hinaus nur dann noch sogenannte edlere, wenn jene noch nicht befriedigt sind. Vielleicht habe ich unrecht. Das hieße, daß die Idee nicht an den Mangel geknüpft wäre, die Liebe zur Gerechtigkeit nicht ans herrschende Unrecht, die Großmut nicht ans Elend und die Macht. Das Dasein der außermenschlichen Natur, der die Menschen helfen könnten, ohne doch von ihr bedroht zu sein, setzt allein schon eine brüderliche Sehnsucht voraus, die ohne Unterdrückung unter den Menschen kaum zu denken ist. Selbst die Gewalt, die der Erziehung innewohnt, hat kaum mehr einen Boden, wenn alles vorhanden ist und die Not ein Ende hat. Der Rückfall scheint das einzige Ziel des Fortschritts zu sein. Doch der Gedanke daran ist ruchlos, solange es noch ein Leid gibt, das durch den Fortschritt behoben werden kann. Glück und Bewußtsein. — Zum Glück gehört Bewußtsein, unreflektiertes Glück ist keines. Erst wenn es einmal behindert war, wird das Atmen zum Genuß. Solange Freiheit ersehnt ist, erscheint sie als Glück, und nicht bloß verführte, sondern autonome Menschen wagen das Leben für sie. Die gewonnene wird vergessen wie das Atmen. Die Helle, die durch die aufgeschlagenen Läden ins Zimmer dringt, der Blick aus dem Fenster im noch dämmerigen Zimmer gewähren die Erfahrung des Lichts; in den picture Windows und den Häusern aus Glas ist sie im Schwinden begriffen, und noch die Rede der Baufunktionäre, die Menschheit brauche Bauten mit Luft und Licht, knüpft an Erinnerung, an das Gedächtnis der slums, denen freilich nicht so sehr die Fenster wie die Toiletten fehlten. Das Leben setzt in der Änderung sich fort, doch der Gang des Fortschritts, der gegenwärtiges und zukünftiges Glück zerstört, ist wesentlich nichts als dieser unendliche Untergang, wenn das Vergangene nicht zugleich gerettet wird. Der sprichwörtliche Beamte in der dunklen Kanzlei, der aus dem kleinen Schalter guckte und ihn zuwarf, wenn die Uhr schlug, war Objekt des Hohnes und Neides und beides mit Recht, des Hohnes, weil er im bürokratischen Dunkel hauste, des Neides, weil er sich
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verschließen konnte. Heute sitzt er mit seinesgleichen im Glashaus, kontrolliert von allen, die vorbeigehen, und der allgemeine Schalterschluß wird vom Publikum stumm respektiert. Es ist besser geworden, der Beamte sitzt im Hellen, und die Leute haben nichts mehr gegen ihn, aber mit der Entfernung vom Schlechteren ist zugleich sein Positives verschwunden, die Wohltat des Dunkels, die Freiheit zuzumachen wie die des selbstbewußten Schimpfens. Familie und Tauschprinzip. — Daß in die Familie das Tauschprinzip eingedrungen ist, erscheint als Auflösung. Wirklich halten die feudalen Formen schließlich auch in der sogenannten Zelle der Gesellschaft nicht mehr stand. Die Konservativen nehmen es leichter als die Opposition. Sie haben sich an die Gesellschaft gewöhnt, und es ist ja langsam genug gegangen. Jene dagegen fand die Tauschgesellschaft schon überholt, als sie den politischen Sieg davontrug, ihr ist das Prinzip das Negative, der Gegensatz zur Solidarität. Die Kritik der Gesellschaft hatte zu Beginn schon eine Affinität zu de Bonald und de Maistre, weil ihr die Irrationalität der bürgerlichen ratio aufging. Jetzt findet sie bestätigt, daß selbst in der Familie beim Tausch der Stärkere, zuletzt der wirtschaftlich Stärkere recht behält, der, dessen Geld oder Fähigkeit, es zu verdienen, mehr bedeutet. Wer besser ausgestattet ist, trägt den Sieg davon. Die ganze Psychoanalyse der Eheschwierigkeiten beruht auf der Anerkennung solchen Maßstabs. Es sei nicht gesund, daß der eine mehr gibt als der andere. Eben deshalb jedoch wird der übervorteilt, der nicht viel mehr mitbringt als Liebe. Die Ausdehnung des Tauschprinzips auf die Familie muß sie sprengen. Die Macht des Vaters als Feudalherrn, die sich im Schlupfwinkel des Haushalts noch behauptet hatte, wird vom höheren Prinzip — und der Tausch unter Freien ist das Höhere — mit Recht abgelöst. Die wirkliche Freiheit aber ist noch nicht realisiert. Solange bis sie existiert und die alten Formen überwunden sind, läßt nur der Überschwang im einzelnen Leben das Tauschprinzip hinter sich. Wahrscheinlich wird es in einzelnen Ländern und Breiten fortvegetieren, wenn die Welt längst von den Barbaren, die jetzt die Entwicklung bestimmen, überrannt ist.
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Autonomie. — Wenn Autonomie des Einzelnen bis dorthin reicht, wo die gesellschaftliche Bedingtheit anfängt, existiert sie dann überhaupt? Kant hat gemeint, die Vernunft habe ein Interesse daran. Was er Vernunft nennt, ist jedoch vergänglich, ihre Ideen sind in der Geschichte entstanden und werden durch sie überholt, und mit dem Interesse, mit allen Interessen, steht es nicht anders. Alle Gefühle sind ihrem Grund wie ihrem Ziel nach gesellschaftlich. Dankbarkeit erfährt, wer Macht, das heißt Geld oder Einfluß, zumindest eine Qualität besitzt, die im Bestehenden Geltung hat. Und wer sie zollt, macht von der Fähigkeit, die er aus den Ursprüngen der Herde ererbte, naiven oder wohlberechneten Gebrauch. Was bei den Geschlechtern Schönheit heißt, hängt nicht weniger von der Struktur der Epoche ab als der Wert der leiblichen und geistigen Stärke, die — in ihrer Qualität selbst durch die Verhältnisse bestimmt — je nach dem Nahrungsmittelspielraum, der Intensität des Kampfs um Subsistenz und dem Stand der Technik, höchst Verschiedenes vermag und dementsprechend höchst verschieden im Kurs steht. Persönlicher Mut, so eng mit dem verknüpft, was Autonomie bedeutet, und in um so höherem Grad erfordert, je größer die Intelligenz und andererseits der Aberglaube ist, hat aus den herrschaftlichen Zeiten, die ihn kultivierten, in die Gegenwart überlebt. Seiner wird von den Verteidigungsministerien und in manchen Karrieren noch bedurft, und daher wird er nicht bloß im Theater reproduziert. In den jugendlichen gangs scheint er von selbst zu wachsen, ineins mit Trotz und Hohn gegen die Welt, die neben Macht und Konsum kein ehrliches Motiv mehr bietet. Die chaotische Verzweiflung der Jungen wie die resignierende Abwendung der Denkenden von dem niedergehenden Allgemeinen, also die am offenkundigsten bedingten Phänomene dieser Zeit, erscheinen als die schwachen Spuren der unmöglichen Autonomie, die in Wahrheit nie bestanden hat. Zweiter Klasse. - Der Speisewagen fährt zunächst der ersten Klasse. Wenn die von der zweiten etwas zu essen wollen, müssen sie weiter gehen im rüttelnden Zug als die von der ersten. Wenn sie wieder zurückkommen, ist es enger, lauter, schmutziger. Die ganze Reise ist anstrengender für sie. Liegt das an ihnen? Werden sie für irgend etwas bestraft? Im lärmenden Coupe - und so ist ihr
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ganzes Leben und das ihrer Kinder - kann man nicht feinfühlig werden, man muß eine harte Haut haben, um sidi dabei ordentlich zu fühlen. Früher waren erste und zweite Klasse oder vielmehr dritte - es gab ja drei, das ist schon fast vergessen - noch entschiedener getrennt: es ist (oder es scheint) jetzt besser, aber die Haut muß härter sein, Feinfühligkeit kann sich da nicht entwickeln, wozu auch. Feinfühligkeit freilich ist Moment, wohl gar Voraussetzung von Humanität, was nur heißen will, daß sie in der ersten Klasse gedeihen könnte, nicht etwa notwendig dort zu finden sei. Aber wofür werden jene nun wirklich bestraft? Die Arbeit des Einzelnen von ihnen ist gesellschaftlich nicht so weitreichend wichtig wäre fast zuviel gesagt - wie die der Insassen beim Speisewagen - in Deutschland fahren sie schon in besonderen Zügen, wo es nur erster gibt und man alle Bequemlichkeiten hat. Jene werden bestraft, weil jeder aus ihrer Zahl keine ökonomische Reichweite hat. Das Prinzip der Gerechtigkeit nach Saint-Simon ist der Gegenwart gar nicht so fern, die Unterschiede sind bemessen nach der wirtschaftlichen Bedeutsamkeit. Nur: ist das gerecht? Oder sollte es etwa so sein, wie Marx sich das Endstadium dachte, allen nach ihren Bedürfnissen, allen das Höchste, was die Technik leisten kann? Muß das Ganze dann nicht zurückgehen, weil der alte gute Anreiz fehlt? Ohne Preis kein Fleiß? Oder sollte es nach Nietzsche zugehen, so daß auf den Leidensl'ähigsten die größte Rücksicht genommen wird? Behalten am Ende nicht die Liberalsten im Bund mit Saint-Simon und den östlichen Stachanowisten recht gegen die Abschaffung des materiellen Unterschieds? Gehört die Ungerechtigkeit nicht mit zum Wesen der Sache? Soweit es um die Darstellung der Vorgeschichte zu tun ist, stimmt der Gedanke, daß die Untern nach oben wollen, aber wenn es zuletzt nur noch erster Klasse gibt, sinkt der ganze Zug nicht auf die dritte herab, wenn er überhaupt noch geht, ohne daß die ganze chose wieder von vorne anfangen muß? Das Andere entzieht sich dem Begriff. Das Reich der Freiheit wäre das des Übermenschen; wenn man aber darauf deutet, wird es zur Illusion. Über Klugheit. - Wenn einer unter den Menschen »klug« sagtmeint er die Fähigkeit, sich dem Bestehenden anzupassen, in ihm fortzukommen, das Handeln nach dem Prinzip des Gewinne. Tö-
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richt heißt, dem universalen Prinzip zuwider sein, aus anderen Interessen leben, oder auch bloß der inneren und äußeren Mechanismen der Selbstbehauptung in der gesellschaftlichen Hierarchie nicht mächtig zu sein. Der Gründe solcher Unfähigkeit sind unendlich viele, von der allzu hastigen Gier nach Aufstieg bis zum schizophrenen desint&ressernent, das einen der Aneignung der zielsicheren Methoden entwöhnt. In der Mitte der Skala liegt die Hingabe an den Schein, das ausschließliche Verfallen an Kunst und Philosophie und politischen Widerstand. Es gibt kluge und dumme Genies. Das Material, in dem die Klugen sich ausdrücken, ist jeweils die gegebene Wirklichkeit, sie zeigen, was man in ihr werden, mit ihr vollbringen kann. Das Material der anderen, Stein, Sprache, Farben, Ton, und die Geschichte selbst jedoch bedürfen der Phantasie und des Enthusiasmus. Der geniale Unternehmer wie der Revolutionär sind beide besessen nicht weniger als der Dichter, nur daß jener sich dem Hier und Jetzt verschreibt und dieser dem Anderen - es sei denn, daß er klug ist wie der Geschäftsmann und seine Produktion zur Unternehmung macht. Andererseits hat der geniale Unternehmer eine größere Affinität zum Untergang als wer nur auf Nummer sicher geht. Das Ende des Christentums. — Im Gegensatz zu den ägyptischen, babylonischen, griechisch-römischen Epochen, erkürte die Zivilisation, die sich einmal die christliche nannte, die Liebe zum Anderen als Richtschnur des Handelns. Das Andere hatte einen doppelten Sinn. Es war selbst die unendliche Liebe und zugleich, daraus herfließend, die Freundlichkeit der Kreatur. In Auseinandersetzung mit dem dadurch gesetzten inneren Widerstand und über alle Konzessionen an sein Gegenteil — die Geschichte der Konzession ist die Geschichte der Theologie - hat das Prinzip sich als zivilisatorische Kraft bewährt. In der freien, gegen die Scholastik gewandten Wissenschaft wie in den politischen Losungen der Gleichheit und Brüderlichkeit. Jenseits des eigenen Bereichs, den Resten der alten Zivilisationen, den fremden Kontinenten gegenüber haben sich ausschließlich die negativen, dem Prinzip widersprechenden, von ihm unbewältigten Triebe in krasser Weise gezeigt. Zu den Farbigen wurden die Weißen durch die Gier nach größerer Macht, durch die Aussicht auf größeren Gewinn, Herrschaft über
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fremde Arbeit und die eigenen Kriege hinausgetrieben. Wie ernst die christliche Mission ihren eigenen Trägern gewesen sein mag, wo sie ihre Funktion für den Kommerz nicht erfüllte, wie einst in Paraguay, wurde sie gestoppt. Die Unterordnung des christlichen Prinzips unter sein von ihm bedingtes und geduldetes Gegenteil wird nun der Zivilisation verderblich, die seinen Namen trägt. Es zeigt sich, daß es zu nennen, auf es zu deuten, es affirmativ in dieser Welt sich zuzuschreiben, es zu benutzen zugleich seine Leugnung ist. Daß die Christen den anderen als Gewaltherren erschienen sind, ist nicht das Schwerste dessen, das sich heute rächt, die eigenen Gewaltherren waren nicht weniger grausam. Der höchst begründete Zweifel am eigenen Prinzip, die Ahnung, daß es, in der eigenen Gesellschaft längst zur Funktion erniedrigt, keine weitere Entwicklung hat, nimmt den christlichen Völkern das Bewußtsein, daß ihre Zivilisation die anderen bestimmen könne. Die Kraft, die auf sich selbst vertraut, ist längst an die Nationen übergegangen, die den Lebensstandard, die Befriedigung der Bedürfnisse aller, die Materie, die jenen dem Bekenntnis nach zurückstehen soll, dem Bekenntnis nach zum ersten machen. Indem die Völker, die sich zu ihm bekannten, das Christentum, anstatt es zu erfüllen, verraten haben, haben sie das Vertrauen aufgegeben, ohne das Erziehung undenkbar ist. Die anderen ahmen jetzt ihre Praxis nach — und nicht bloß die Praxis, auch die Theorie. Sie bekennen sich zur Freiheit und plappern Souveränität. In Wirklichkeit führen die Schlauen das Regiment. Die weiße Zivilisation geht als materialistische von den Russen zu den Chinesen über, die Neger sind von dem Christentum unberührt. Die verzweifelten Versuche der Kirche münden in die Armeen und die autoritären Regime, bei den Schwarzen sind ihnen selbst die Mohammedaner überlegen. Als letzte Hoffnung bleibt ein letzter Kreuzzug. Er besiegelte den Verrat. Zur Geschichte der Geschlechtlichkeit. - Der Kreis der in den Mythos zurückkehrenden Aufklärung wird an der Geschichte der Geschlechtlichkeit offenbar. Sie kehrt zu ihrem Ursprung zurück. Liebe, romantische Liebe wie es heißt, ging im Mittelalter aus derselben historischen Konstellation hervor wie der Handel und die Wissenschaft. Der Einzelne wurde bedeutsam, seine Entschei-
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düngen erhielten Konsequenz, nicht im Jenseits, sondern in der irdischen Zukunft. Mit der Verabsolutierung weltlicher Politik hingen die geschichtlichen Ereignisse immer enger von den Umständen der regierenden Familien ab, und die städtisch-bürgerliche entfaltete sich nach ihrem Vorbild. Aber die Bedeutung des Erben, aus der in beiden die weibliche Verhaltensvorschrift folgte, brachte unmittelbar nur die Zucht in der Familie, nicht die Liebe hervor. Wahrscheinlich verdankt sich ihr Erscheinen als gesellschaftliches Phänomen der Negation der Zucht, der Rebellion gegen das Interesse der Familie, gegen die Ordnung der Beziehungen, die den Schein der Heiligkeit gewonnen halte. Indem die Ausschließlichkeit der geschlechtlichen Hingabe nicht mehr von außen verhängt, sondern im Hinblick auf den Anderen gewollt war, wurde die Sexualität aus dem als ewige Sitte verklärten Zweckzusammenhang befreit, und die Person gewann im Diesseits erst den unendlichen Wert, den sie mit dem Rückgang der Theologie im Jenseits verloren hatte. Die tödliche Gefahr, die mit dem Durchbrechen des Tabus in jeder einzelnen Begebenheit sich wiederholte, die je geleistete Überwindung der Furcht vor dem Geheiligten und der äußeren Widerstände, gaben der Sexualität das Sublime, das sie zur Liebe machte. Mit dem Schwinden von Furcht und Widerstand, mit der Änderung der gesellschaftlichen Grundlagen für die Familie vermag die Geschlechtlichkeit immer weniger in Gestalt der Liebe das ganze Leben bis in jede Einzelheit im Hinblick auf das Verhältnis zu einem einzigen anderen Menschen zu strukturieren. Der dadurch gestiftete Zusammenhang wird loser, die Vergangenheit weniger in die sich eben dadurch differenzierende Zukunft hineingetragen; ein Motiv der Sublimierung, ein Element der Zivilisation fällt dahin. Ein äußeres Zeichen bildet die Angleichung und Umfunktionierung der Kleidung der Geschlechter, sie versinnlicht die Liquidierung des sexuellen Tabus überhaupt. Die zurückgebliebenen Völker, die Buschmänner Afrikas, die den Prozeß beschleunigt nachzuholen im Begriffe sind, ziehen sich an, die Weißen ziehen sich aus. Sie nähern sich einer Art Monogamie, die von der Promiskuität sich mehr durch die größere Bequemlichkeit Unter den gegebenen Umständen als durch intensivere Erfahrung unterscheiden mag. Sie wird leicht in geplante Verkehrsregelung überzuleiten sein, wie sie in China heute eingeübt wird. Nur daß
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sie dort ein Beginn und hier ein Phänomen des Rückgangs ist. Was hier im einzelnen Weltteil, losgelöst, als Kreis erscheint, mag das Moment einer Entwicklung bilden. Die europäische Aufklärung könnte eine geschichtliche Funktion erfüllen, die von Europa aus, wo sich der Kreis zu schließen scheint, nicht mehr erkennbar ist. Pro patria. - Daß man für das Vaterland zu sterben bereit sein solle, ist kein allgemeines moralisches Gebot. Der Satz gilt vielmehr nur, sofern im Vaterland eine Ordnung herrscht, die jeden Einzelnen grundsätzlich allen anderen Einzelnen gleichachtet und ihm soviel Freiheit gewährt, wie es ohne Beschränkung eben desselben Menschenrechts der anderen möglich ist. Sofern der Satz sich auf den Krieg bezieht, hat er Geltung im Falle, daß das eigene von solchen Ländern bedroht ist, die diesen Zustand zu verschlechtern trachten, wie es aus den Verhältnissen in ihren eigenen Institutionen und den daraus entspringenden Absiditen der Eroberung und Unterjochung wahrzunehmen ist. Die Bürger totalitärer Staaten, die mit freiheitlichen im Kriege stehen, sind moralisch nicht verpflichtet zu kämpfen. Das Vaterland in abstracto ist keine wahre Idee. Auch die menschliche Bestimmung freilich bleibt abstrakt und unwahr, wenn sie nicht entfaltet wird. Der Zustand allgemeiner Freiheit tendiert je nach der technischen Reife und der Spannung zu anderen Völkern dazu, die Macht und den mit ihr verbundenen Genuß auf einen immer kleineren Kreis von Menschen einzuschränken und die übrigen durch geistiges und materielles Futter bei der Stange zu halten. Wenn auf niedereren technischen Stufen die Freiheit um der Freiheit, nämlich der Erreichung höherer Geschicklichkeiten willen, einzuschränken ist, so auf den höchsten, um den Rückfall zu verhindern. Er kündigt nicht bloß in der Macht der wenigen sich an, das Zeichen ist zugleich die Armut im Herzen der Völker mit dem hohen Lebensstandard. Je woniger Menschen ohnmächtig hungern, desto weniger Stimme haben sie, desto mehr desavouieren sie die wenigen, die oben sind. und die vielen, die sie vergessen. Die Freiheit in abstracto ist nicht wahrer als das Vaterland. - Wenn eine gute Sache den Einsatz des Lebens verlangt, sind nicht selten Menschen da, die bereit sind. das Ihre zu tun. Gewöhnlich scheitert die gute Sache. Später, sehr
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viel später, kommt eine geschichtliche Situation, in der die Überlebenden belohnt werden sollen. Dann sind es die Falschen, die Richtigen pflegen an der Konjunktur nur selten teilzunehmen — sonst wären sie nicht die Richtigen. Die Wirklichkeit, auch die bessere, geht über sie hinweg. Sie hat es mit der schlechteren, in der jene ihr Leben riskierten, gemeinsam, denen, die mehr Affinität zur Macht haben, freundlicher zu sein als den Gerechten, die zum Opfer werden. Eine besondere Art von Antisemitismus. - Es gibt in Deutschland eine Art Antisemitismus, die mit der Liebe zu den Eltern zusammenhängt. Die haben in der behüteten Stube dem Kind vom Bösen erzählt, das draußen ist, von der Gefahr des mitleidlosen Lebens. Der Antisemitismus, der so in die junge Seele kam, ist dann von der Erinnerung ans Gute nicht mehr zu lösen, und Aufklärung wirkt wie die Kälte der neuen Zeit, die mit dem Schönen vollends aufräumt. Es ist die verkehrte Welt. Nur das bleibt dann zu hoffen, daß im Angesicht des Mordes der im Guten erwachsene Irrtum sich abkehrt. Daß er dem Mord entgegentritt, läßt sich nicht erwarten, es sei denn, die Erfahrung hätte den Irrtum aufgeklärt. Dazu bietet das Leben auf dem Markt nur selten Gelegenheit. - Nicht nur Elternliebe kann zum Antisemitismus beitragen, auch die Angst vor dem Unteren. Sie ist tief mit jener verwandt. Einst ließen gebildete Juden in Deutschland sich taufen, weil sie weg wollten vom Unteren, in die Zivilisation nicht Aufgenommenen, wie es im Verhalten der Assimilierten zu Ostjuden zum Vorschein kam. Sie wollten keine Zigeuner sein. So können NichtJuden nun vom Assimilierten sich abwenden, der eben deshalb etwas vom Ghetto noch an sich trägt. Der Antisemitismus in sich selbst kann Moment sehr vieler Gesinnungen sein, auch anständiger. Das haben viele Konservative bewiesen, die bis zu Hitler Antisemiten waren. Ihr Antisemitismus war gleichsam unschuldig. Wie weit das in Deutschland heute außer den Juden selbst anderen möglich ist, wage ich nicht zu sagen. Diese nicht jüdischen Antisemiten müßten ganz frei von regulärem Antisemitismus sein, wirkliche Menschen.
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Notizen (Ende November 1960)
Bewältigung der Vergangenheil. - Im Jahre i960 bat man in Deutschland der nationalsozialistischen Vergangenheit die »Bewältigung« widerfahren lassen. Man stellte sie, zunächst jedenfalls, mit negativen Vorzeichen zur Diskussion. Das war schon viel, da man ja schließlich nicht wenig um ihretwillen erduldet hatte. Eigentlich wäre es nach psychologischem Rhythmus an der Zeit, um gegen die Verfemung des eigenen Verhaltens durch die Fremden zu rebellieren. Aber man ist schon so stark geworden, daß man es sich leisten kann, das Vergangene zunächst auch selbst, gleichsam aus freien Stücken, zu tadeln — nicht wegen der Niederlage, sondern weil man sogar dort gerecht ist, wo es gegen einen selber geht. Wir lassen uns von niemandem ... Mit wieviel mehr Recht wird man hierzulande, nachdem das abgemacht ist, gegen jene vorgehen, die damals, 1945, triumphierten, als Deutschland darniederlag, gegen die hochmütigen Völker des Westens, die in ihrer Torheit die Deutschen niederschlugen und mit den Russen sich verbündeten, gegen die man jetzt die Deutschen schon so bitter wieder nötig hat, gegen die Individuen, Emigranten, Juden, zweifelhafte Elemente, die sich seit jenen Jahren wieder breitmachen, ohne daß sie mit »uns« die Bomben pfeifen hörten und die Not und Schande mit uns teilten. Schon fängt die Konjunktur zu zittern an, schon sitzt man am »längeren Hebelarm«, wie die Gescheiten vor zehn Jahren voraussahen, schon kapituliert die Sozialdemokratie, weil auch noch diese Art der Opposition keinen Boden mehr hat. Das Volk muß sich zusammenschließen wie seit je. Darf das die anderen wundern? Wir repetieren nur die Geschichte. War der Nazismus die einzig grauenvolle grande revolution in diesem Land, Robespierre und Bonaparte in einem, so ist die Zeit gekommen, wo man die Großen endlich in den Schrein des nationalen Herzens wieder aufnimmt. »Enrichissez-vous«, rief LouisPhilippe. Nachdem wir wieder reich geworden, holen wir, wie jener nach zehn Jahren seiner Herrschaft, die Großen ins Pantheon. Nur daß bei uns die Dinge rascher gehen. Napoleon III. oder vielmehr seine Art der Wiederherstellung hat schon ihren Einzug gehalten. Sollen wir schlechter sein als die Grande Nation, die bis vor kurzem als die Vorkämpferin der Freiheit galt? Analogien gibt
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es viele, chronologisch geordnet und ungeordnet. Wenn schon die Revolte 1918 und die wenigen Jahre danach in der nazistischen Herrschaft schließlich die rechte Antwort fanden, so folgt auf das arme Aufatmen der Anständigkeit, auf jene bessere Zeit des Elends vor der Währungsreform gewiß einmal ein Regiment, das nicht weniger als das Dritte Reich die Niederwerfung der Commune ins Gedächtnis ruft. Rache ist die Seele nationalistischer Siege, und angesichts der Entnazifizierung braucht man nicht erst eine Dolchstoßlegende aufzutun. Jetzt machen wir gerade noch in Kollektivschuld und Freundschaft mit Israel, aber einmal muß auch das sein Ende haben. Bald ziehen wir den Schlußstrich. Atomismus. — Die Antike dachte, die Elemente, die Atome werden durch Liebe und Haß bewegt, angezogen und abgestoßen, jedes Teilchen der Materie sei nicht allein. Aus der Vereinigung aber entstehe das Leben. Heute, am Ende der Zivilisation, deren Anfang durch jene Philosophie bezeichnet wird, sind selbst die Menschen zu Atomen geworden, und keine Liebe vereinigt sie. Jeder ist allein wie in der anorganischen Natur, die von der Wissenschaft längst der Triebe entkleidet wurde. Ja, ihr nie endender Wille zur Herrschaft bricht noch auseinander, was einmal als letzte, als natürliche und ewige Einheit galt. Indem sie das Atom zu spalten lernten, öffnet - als eine Art Trost — sich die Aussicht, daß die Menschen, die in ihrer Gesellschaft zur kontrollierten, bis ins letzte beherrschten Existenz herabgesunken sind, den Kreis schließen und wieder zur bloßen Materie werden. Irgendwo mag in ihr aufs neue eine Bewegung den Anfang nehmen, die den Namen der Liebe verdient. Großbetrieb. — Bürgerliche Demokratie im 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 20. beruhte auf den differenzierten Interessen des Handels und der Industrie und den Hoffnungen des Proletariats. Das Parlament war der Ort der Auseinandersetzung. Heute werden die Interessen der Wirtschaft, soweit sie auseinandergehen, hinter den Kulissen in Einklang gebracht, die Abgeordneten sind bloße Funktionäre. Die Opposition, in Deutschland die Sozialdemokratie, unterscheidet sich von den anderen lediglich durch ein gewisses Interesse an der Erhöhung der sogenannten Sozialleistun-
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gen und dem Wunsch des weiteren Aufstiegs der eigenen Parteisekretäre. Es ist ein Wettbewerb zwischen Bürokraten, wie in einer großen Firma oder sonstigen Verwaltung. Eine andere Bedeutung kommt dem Parlament auch gar nicht mehr zu. Das Land ist eine Firma - mit eigenem Militär. Vom Mythos zum Chaos. - Der Rückgang in der Achtung vor der einen und einzigen Ehe, die ein Mensch schließen und halten soll, gehört zur Dialektik der Aufklärung. Indem es üblicher wird, mehrmals zu heiraten, sinkt die Bedeutung des Einzelnen, dessen Leben durch die Spiegelung im Anderen, mit dem er gemeinsam altert, zusammengehalten wird, herab, es sind nicht mehr zwei, die gemeinsam das Ich eines jeden von ihnen konstituieren und durch Erinnerung reich machen und entfalten, sondern das Ich wird der chaotischen Sukzession der Erlebnisse wieder ähnlicher. Zugleich freilich wird der Einzelne vom Mythos der Ehe emanzipiert. Die Überwindung des Mythischen wird mit dem Rückfall ins Chaotische bezahlt. Anders ausgedrückt, die Wahrheit selber stellt sich im Fortgang als mythisches Produkt heraus. Der Mensch als radikal Anderes denn das Tier ist selber ein Irrtum. (Dezember i960) Zur Ergreifung Eichmanns. - Ein Helfershelfer des Nationalsozialismus, namens Eichmann, der im besonderen mit der Ausrottung der Juden in Deutschland wie in den von Deutschen besetzten Ländern beauftragt war, ist von israelitischen Bürgern in Argentinien ergriffen und nach Israel gebracht worden. Dort soll er vor ein Gericht gestellt und abgeurteilt werden. — Die Zahl der auf Eichmanns Kommando ermordeten Juden wird verschieden hoch geschätzt, von dreiviertel bis auf vier oder fünf Millionen. Er war stolz auf seine Rolle bei der »Endlösung«, und nach dem herrschenden Gesetz war er im Recht. Wenn das Gericht in Israel wahr sprechen will, erklärt es sich für unzuständig. - Daß die formellen Gründe für das Verfahren unhaltbar sind, ist offenbar. Weder hat Eichmann in Israel gemordet, noch kann Israel wollen, daß die Ergreifung politischer Verbrecher in dem Asyl, das sie zu Recht oder Unrecht gefunden haben, zur allgemeinen Regel wird. Strafe ist
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ein Mittel, durch das ein bestimmter Staat in seinen Grenzen die Achtung vor den Gesetzen erzwingt, ihr Zweck ist Abschreckung, alle anderen Straf theorien sind schlechte Metaphysik. Anzunehmen, daß Strafe in Israel die möglichen Nachfolger Eichmanns abzuschrecken imstande sei, ist Wahnsinn. Was immer Eichmann in Israel geschehen wird, beweist die Ohnmacht, nicht die Macht der ihrer selbst und ihres Rechts bewußten Juden, die Anmaßung, nicht die Gewohnheit der staatlichen Autorität in Israel. Jeder weiß, daß man die totalitären Allüren, die an Benito und die Russen gemahnen, den Israelis im Hinblick auf New York noch einmal hingehen ließ. - Die inhaltlichen Gründe, die für den Justizakt angegeben werden, sind nicht weniger unzulänglich. Der Prozeß, so heißt es, solle die Jugend im eigenen Land und die Völker draußen über das Dritte Reich aufklären. Wenn jedoch solche Erkenntnis durch die gediegene Literatur, die in wissenschaftlichen wie in allgemein zugänglichen Werken der Kultursprachen vorliegt, nicht zu vermitteln ist, sondern die Aktualität, die ihr im Bewußtsein der gegenwärtigen und der künftigen Generationen zukommt, erst in Form neuester Prozeßberichte und internationaler Sensationen gewinnen soll, ist es schlecht um sie bestellt. Das Bewußtsein, auf das der Tod der Juden unter Hitler nur durch neue headlines Eindruck macht, hat wenig Tiefe, und die Erinnerung wird schlecht in ihm bewahrt sein. Die realen Folgen der prozessualen Reputation der Ausrottung, die politischen und sozialpsychologischen Auswirkungen auf die Völker in der Gegenwart sind nicht vorauszusehen. Wie bei der Jugend in Israel muß auch bei den freundlichen Massen in anderen Völkern, die man zu gewinnen hofft, die unbewußte Ahnung ein Hemmnis bilden, daß die Erschlagenen zum politischen Mittel, zu Taktik und Propaganda werden, sei es für einen noch so legitimen nationalen Zweck. Der Widerstand der guten gegen destruktive Kräfte wird gelähmt, wenn er sich geistiger Waffen bedienen soll, die beim Gegner sich von selbst verstehen. Strafprozesse aus politischer Berechnung gehören zum Arsenal des Antisemitismus, nicht des Judentums. — Die Berechnungen der israelischen Behörden sind falsch. Verfolgung, Massenmord sind Grundthemen der Weltgeschichte. Politische Systeme, die mit ihrer Hilfe zur Macht gelangten und sich aufrechthielten, verfielen nach der Niederlage durch den inneren
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oder äußeren Feind für eine kurze Zeit dem Abscheu der Völker, bis sie in ähnlicher Gestalt wiedererstanden. Jahrzehntelang hatte niemand zu Bonaparte sich bekennen dürfen, von der großen Revolution zu schweigen. Zur Zeit des Wirtschaftswunders unter Louis-Philippe kam dann der Sarg im Triumph nach Paris, und schließlich bestieg Napoleon der Infame den erneuerten Kaiserthron. Der Opfer waren Unzählige, und doch galt Frankreich am Ende des Jahrhunderts als die Hüterin der Freiheit. Die Gewalt des Vergessens ist allumfassend, mit der Ausbreitung des Verkehrs ist sie gewachsen, und der Prozeß wird ohnmächtig dagegen sein. Ein news value verdrängt den anderen aus dem Licht der Presse und des Rundfunks, während im Dunkel die unheilvolle Wirkung sich summiert. - Als letzten oder ersten Grund für den Prozeß, gleichsam als selbstverständlich menschliche Notwendigkeit hört man die Sühne nennen. Ich habe ein tiefes Mißtrauen für das Wort Sühne überhaupt, es scheint mir lichtscheue Regungen zu decken, einer fremden Welt zu entstammen, erinnert an germanische Vorzeit und Inquisition. Die Vorstellung aber, daß Eichmann seine Taten sühnen könne, nach menschlichem Urteil und Richterspruch, ist ein Hohn auf die Opfer, ein grauenvoll grotesker Hohn. Eher verstünde ich den eingestandenen Willen, Rache zu üben, so arm sie angesichts der Taten bleiben müßte. Hätte einer, der durch Hitlers Herrschaft Vater und Mutter verlor, den Schurken in Argentinien aufgespürt und ihn auf offener Straße umgebracht, er wäre kein Taktiker gewesen, sondern ein Mensch, den jeder verstehen müßte. Der Prozeß in Israel jedoch, wie raffiniert man ihn auch vorbereitet, ist einfältig und empörend zugleich. - Die Absicht, Eichmann unschädlich zu machen, sofern er an den Plänen internationaler Agenturen des Faschismus teilnahm, wäre durchaus legitim, der Wunsch aber, ihm etwas anzutun, verrät nicht bloß den Mangel an politischem Verständnis, sondern Grobheit des Gefühls. Kein Volk hat mehr erlitten als das jüdische, Leid ist in seinem Schicksal das Grundmotiv, und es hat aus dem Leid ein Moment der Dauer und der Einheit gemacht. Anstatt vor allem Bosheit und Gemeinheit zu erzeugen, hat sich das Leid in eine Art kollektiver Einsicht und Erfahrung umgesetzt. Leid und Hoffnung sind im jüdischen Volk untrennbar geworden. An einer Stelle seiner Geschichte haben die europäischen Völker es geahnt und die
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Qualen, die die Juden um jener ewigen Zukunft willen erlitten, von der sie nicht lassen wollen, durch ihr Bekenntnis zum gemarterten Erlöser in die Geschichte eingebildet. Juden sind nicht asketisch, sie haben das Leiden nicht angebetet, sondern erfahren. Mehr jedoch als bei anderen ist es mit Erinnerung an die eigenen Toten verknüpft; das Leiden macht sie nicht zu Heiligen, es verleiht nur dem Gedanken an sie die unendliche Zartheit, die des Trostes ewigen Lebens entraten kann. - Der Jude, dem angesichts des gefangenen Eichmann der natürliche Gedanke kommt, ihn leiden zu sehen, hat sich noch nicht auf sich selbst besonnen. Bei ihm verstößt der Wunsch nicht gegen seine Religion, sondern gegen alles, was er von der Geschichte mitbekommen hat. Das Unternehmen Eichmann ohne Not zu strafen läuft darauf hinaus, ihm etwas von dem anzutun, wodurch die Toten geadelt sind. - Den Politikern in Israel fehlt es nicht allein an Geist, sondern an Herz. Sie wissen und fühlen nicht, was sie tun. Ich plädiere auf Unzuständigkeit des Gerichts und Rückgabe Eichmanns an das Land, aus dem man ihn entwendet hat. Von dem Prozeß wird nichts Gutes kommen, weder für die Sicherheit und Stellung der Juden in der Welt noch gar für ihr Selbstbewußtsein. Der Prozeß ist eine Wiederholung: Eichmann wird zum zweiten Male Schaden stiften. Geist. - Das Moment des Inhalts am geistigen Ganzen ist abstrakt. Die Doktrin einer Religion, für sich genommen, besagt wenig über das, was sie ist. Torquemada und Victor Hugo bekannten sich zu derselben Lehre, die doch zugleich ein anderes, ihr eigener Widerspruch war. Religion in Deutschland heute bedeutet im einen Gläubigen die Zugehörigkeit zu einer starken Sache, ein Dach überm Kopf, nachdem der Nazismus eingestürzt ist, im anderen den Ersatz für eigenes Denken, den Grund, sich nicht zuviel um fremdes Leid und um die Weit zu kümmern, sondern beim eigenen Geschäft zu bleiben, im dritten das Motiv der Selbstgerechtigkeit. In wenigen noch ist die Anhänglichkeit an Religion gleich der Erinnerung an die Kindheit, Liebe zu den Eltern, die dahingegangen sind, eine Art Dankbarkeit. Sie kommen aus bürgerlichen, behüteten Häusern, aus der Art Wohlstand, die noch jung genug war, um nicht in Härte und Routine umzuschlagen. Bei denen, die daher kommen, ist Religion von Güte schwer zu unterscheiden,
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und die Juden aus dem kaiserlichen Deutschland, deren zürnender Gott, wie bei den anderen, Auge um Auge und Zahn um Zahn verlangt, haben auf Grund ihrer Religion nicht selten einen Sinn für den Glanz der Güte entfaltet, dessen die deutschen Christen, deren Gott doch die Liebe ist, zumindest nicht fähiger sind. — Andererseits ist es nicht weniger unwahr, dem Inhalt die Bedeutung für den Sinn des geistigen Gebildes abzusprechen. Das Kind, dem das Glück nicht wird, durch Wort und Gebärde der Mutter eine Lehre zu erfahren, die den Himmel nicht bloß als Feld für Raumraketen, sondern als Versprechen der Seligkeit erfährt, wird neue Freunde und Ersatz nur in verkümmerten Gestalten kennenlernen. Ausdruck ist vom Ausgedrückten nicht wahrhaft abzulösen. Nur im selbst abstrakten Reich der Wissenschaft — und auch da nur soweit sie selbst bloß eine Verrichtung ist, deren Sinn im stillen vorausgesetzt wird - lassen Form und Inhalt sich trennen, ohne je ein anderes zu werden. Logik an sich selbst ist unwahr ebenso wie das, was ihrer bloß bedarf und sie nicht hat. Wahr ist das Ganze — das uns letzten Endes sich entzieht und dadurch alles Geistige, wie wahr es sei, zugleich abstrakt und unwahr macht. Permanent education. - Die Menschheit wird noch erzogen. Erziehung heißt lernen, sich Regeln zu fügen, die zunächst von außen kommen und schließlich zu inneren werden sollen. Wenn sie ganz zu inneren geworden sind, werden sie, wie der aufrechte Gang, das Rechnen, die Beachtung der Gesetze automatisch befolgt. Was von der euro-amerikanischen Gesellschaft jetzt verlangt wird, ist, daß sie mit anderen Völkern und Zivilisationen konkurriert und schließlich in der Welt ein Mitglied wird. Indem das geschieht, muß sie in sich selbst den Individualismus einebnen, der weltgeschichtlich bloß ein Mittel zu der Technisierung war, die am Ende allen zugute kommt. Der Grund für die Kultur der Einzelnen fällt in steigendem Maße hinweg, sie weist auf Pharaonen und Sklavenhalter zurück. Je freier die Menschheit wird, desto weniger hat die Freiheit des Einzelnen einen Sinn. Das zu verkennen, war der Irrtum von Karl Marx. Sein System ist undialektisch. Bei der letzten Änderung, dem letzten großen Umschlag der Quantität, wo die Freiheit eines Teils der Gesellschaft in die aller umschlagen soll, bleibt trotz aller vielsagenden Worte die Qualität dieselbe.
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Die Freiheit aller Menschen ist die des Bürgers, der seine Fähigkeiten entfalten kann, ähnlich wie schon Goethe es sich dachte. Darauf, daß jene Fähigkeiten selbst zur Weise bürgerlicher Produktion, der Wissenschaft und Technik gehören, deren die Gesellschaft zu ihrem Wachstum und im Kampf mit der Natur bedarf, haben die Begründer des modernen Sozialismus nicht reflektiert. Sie waren im Grunde Idealisten und glaubten an die Selbstverwirklichung des absoluten Subjekts. Über Hegel sind sie zu Fichte als dem Metaphysiker der Französischen Revolution zurückgekehrt. Freiheit aber ist nicht ein Ende, sondern ein vorübergehendes Mittel in der Anpassung der Tierrasse Mensch an die Bedingungen ihrer Existenz. Der Zweck ihrer Erziehung ist wahrscheinlich nichts anderes als Fortzeugung bei geringstem Widerstand. Jedes System ist falsch, das von Marx nicht weniger als das von Aristoteles - wieviel Wahres sie beide auch gesehen haben.
Philosophie im Taschenbuch. — Die Bedeutung der Gedanken von Kant, Hegel, Nietzsche und den Dichtern für den Einzelnen steht im umgekehrten Verhältnis zur Zahl der jeweils auf den Markt geworfenen Exemplare ihrer Schriften. So wie das Schicksal und das Aussehen der Bände dem von Zeitungen näherrückt, so der Eindruck des Inhalts dem der neuesten Nachricht. Ja, die Nachrichten sind ernsthafter. Viele von ihnen haben Konsequenzen fürs Handeln - in des Wortes eigenster Bedeutung -, ja unter Umständen für die Einrichtung des Lebens, Änderung beruflicher Intentionen, politische Zugehörigkeit, Auswanderung. Aus den Philosophen folgt heute gar nichts mehr, weder für den wissenschaftlich Interessierten noch für den Durchschnittsleser, ihnen kommt die Funktion gängiger Romane und Filme zu. Man schweige von ihrer bildenden Kraft. Ein Text, von dem im Leben nichts abhängt, hinterläßt nicht die Art einer Spur, die mit anderen zu einer Denkungsart sich zusammenfügt. Massenauflagen von Philosophen beweisen ihre Harmlosigkeit. Zur Moralphilosophie Kants. - Kants Maxime, du sollst einen Menschen oder vielmehr die Menschheit in ihm, nie bloß als Mittel, sondern stets zugleich als Zweck gebrauchen, ist höchstes Moralprinzip. Wenn es aber keinhöheres gibt, was ist dann der »Zweck«? - Eben dieser, daß du stets so handeln sollst. Sobald man - wie Kant selber es tut - daraus die Folge zieht, die Welt so einzurichten, daß jeder so handeln könne, hat man aus dem Prinzip etwas herausgelesen, was nicht drin steckt. In Wahrheit führt es zu einem progressus ad infinitum, der immer nur sagt, daß der Zweck eben der Zweck des Menschen und nicht das Mittel sein dürfe. Was der Zweck sei, wird nicht gesagt, und wenn man die Veränderung der Welt als Zweck angibt, ist man aus dem Formalen, in dem Kant so gern verweilen möchte, in das Materiale übergegangen. Was bestimmt denn, wie die Welt aussehen müsse, damit jenes
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Handeln möglich sei? Gibt es da Unterschiede? Hat nicht Schiller recht, wenn er Kant dahin auslegt, daß der Mensch auch in Ketten frei sei - weil es eben bei der Maxime gar nicht auf den Inhalt ankommt? Man muß vom Formalismus zur Dialektik übergehen, auch in der Moralphilosophie ist im Grund die Folge schon vorausgesetzt: du sollst den Menschen als Zweck gebrauchen, weil jene Welt ebensosehr der Zweck ist wie der Mensch. Die Kantische Philosophie ist die sublimste Übersetzung des Christentums in die Sprache des liberalen Bürgertums. Die Kritik der reinen Vernunft begründet den Dualismus von Gott und der Welt sowohl als den von Ding an sich und Erscheinung wie von Idee und Erkenntnis; beide Gegensätze meinen eigentlich dasselbe, denn die Idee ist eben das, was im unendlichen Fortgang der Theorie sich als das Ding an sich enthüllen soll und daher ganz konsequent den Fortgang der Erkenntnis selber schon als leitendes Prinzip durchherrscht, in jedem Schritt des Denkens anwesend wie das Ding an sich in jeder Tatsache, die gegeben ist. (Das hat Schopenhauer gefühlt, als ihm das Wort »gegeben« zuwider war.) Die Kritik der praktischen Vernunft, der kategorische Imperativ, drückt das Gebot aus, daß man die Menschen nicht um ihrer selbst willen - das wäre Neigung —, sondern aus Achtung vor dem, was in jedem als Forderung lebendig ist, um Gottes willen achten solle. Die Kritik der Urteilskraft sucht die Frage zu beantworten, die Kant bis zu seinem Tode bewegte, wie beide, Transzendenz und Immanenz, Idee und Realität, Gott und diese Welt zusammenpassen, wie sie miteinander vereinbar sind. Das ist der Protestantismus, der angesichts dieser Welt Gott nicht mehr zu bestimmen vermochte, die Lehre vom unbekannten Gotte, dessen Existenz doch als der Grund für alles gelten soll. In der für Menschen hilfreichen Beschaffenheit der Welt, der im Grunde guten Ordnung wagte Kant, anders als einst die Scholastik, die Einheit nicht zu sehen (wenn auch die ins Unendliche verlegte gute Menschheit, die trotz allen Elends, aller Kämpfe und Kriege, ja mittels ihrer von der Geschichte verwirklicht werde, die List der Vernunft, die als Konkurrenzkampf säkularisierte Heilsgeschichte ist). - (Wie modern ist der Gedanke, daß die Konkurrenz der Völker - nach dem Muster der individuellen — zum Ewigen Frieden führe.) Nicht in der Ordnung als ganzer zeugt die Einheit von Vernunft und Wirklichkeit, nur in der Erkenntnisarbeit.
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der Beschaffenheit lebendiger Wesen, in der Kunst kann Einheit, Angemessenheit, Vollendung sich darstellen, Versöhnung gibt es nur als Bild von ihr. Und eben daher ist es konsequent, daß jener Schritt vom Imperativ zum Handeln, der Begriff der Menschheit als Zweck, im Gegensatz zum bloßen Mittel, ja der Begriff des Zweckes zugleich nicht konsequent und schlüssig ist. Wäre er's, Kants Philosophie führte zur Scholastik, zur Zeit, in der die Welt zu stimmen schien. Zwischen Armut und Überfluß. - Der Umstand, daß im allgemeinen nur Spießer und nach rückwärts blickende Mächte den Materialismus zu denunzieren pflegen, hat zur Folge, daß die anderen leicht gegen die Anprangerung ein Vorurteil haben und lieber dafür sind. Dabei ist nicht bloß an den Dialektischen Materialismus, sondern zunächst an den sogenannten Vulgärmaterialismus, ja an die Verhimmelung des »Fressens und Saufens« zu denken, das die Vertreter jener Theorie nicht weniger von sich wiesen als ihre Gegner. Heute, da die ganze Gesellschaft überall neben der Macht nur an den Lebensstandard denkt, wird das Recht der Ablehnung des Materialismus uns offenbar. Indem selbst die entwickelten Länder den Konsum, also eben das Fressen und Saufen einschließlich des Autofahrens, Fernsehens und der Haushaltungsmaschinen, zum Gott machen müssen, damit die Geschäfte gut gehen, vollziehen sie wider Willen die objektive Kritik an der ihnen seit je schon immanenten Philosophie, für die das Christentum wahrscheinlich nur eine Maske war. Wahr ist, daß ein Satter den Hungrigen, dem es schlecht geht und der leben will, nicht einen Materialisten schelten darf. Die Frage ist, ob dort, wo schon genug zu einem passablen Leben vorhanden ist, das Prinzip, es müsse immer besser und besser werden, nicht gefährliche Torheit ist. Man komme mir nicht mit dem »kulturellen Existenzminimum«. Das gilt nur, insofern das physiologische Minimum unter gegebenen historischen Verhältnissen schließlich dazu führt, daß auch dieses nicht mehr zu beschaffen ist; mit anderen Worten, ob das Christentum, das als Rationaliserung diente, nicht doch recht hat und die Menschen wirklich eine andere Bestimmung haben, anderes Glück erfahren können als das Wohlleben. Hier setzt die Verstrikkung ein. Zu diesem Glück sind sie wahrscheinlich nur dann fähig,
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wenn die höchsten materiellen plus freilich auch die kulturellen Voraussetzungen in der Gesellschaft wie der jeweiligen Familie gegeben sind. Die heutigen gegens dolce vita gerichteten literarischen und Filmprodukte sind deswegen so blöd, weil eine Million reicher Narren nichts dagegen beweist, daß Denken, Malen und Komponieren eine bestimmte Entwicklung materiellen Wohlstands des Ganzen voraussetzen, die freilich, wenn sie zu weit geht — und das scheint heute in der westlichen Welt der Fall zu sein -, auf die Kultur wieder zurückschlagen kann, vor allem, weil jedes Wort dann zum Betrug wird. Die Erfahrung, daß die sogenannten fortgeschrittensten Völker übers Ziel hinausgeschossen seien — davon daß sie in sich selbst Hunger, Elend, Verzweiflung dulden, soll hier gar nicht die Rede sein —, könnte einen zu Aristoteles zurückbringen und den mittleren Zustand zwischen Armut und Überfluß als richtigen erscheinen lassen, le juste milieu. Nietzsche und die Juden. — Nietzsche hat einen guten Blick gehabt. Den Juden eigne eine Art zudringlicher Vertraulichkeit an. Das ist wahr. Die sehr lange Zeit gemeinsamen Lebens inmitten der feindlichen Umwelt produzierte die Geste des Einverständnisses, das »Unter uns gesagt«, das die Rede eines Juden so leicht annimmt, auch wenn es nichts als Gleichgültiges zu sagen gibt. Zwischen dem formellen, gleichsam unbeseelten Sprechen und solcher Attitüde wird kein Übergang gemacht, es gibt keine Grade, nur das eine oder andere. Sprache gilt entweder denen, die draußen sind, Wesen, die sich nicht wie Menschen verhalten und zu denen doch gesprochen werden muß, wenn man leben will, oder einem aus der Zahl derer, zu denen man gehört und die ein Herz haben. »Unter uns« ist die erstarrte Wendung dafür, daß man jetzt in der Gemeinde unter Menschen spricht. Es bedeutet keineswegs, wie es im Deutschen klingt und auch heute von Juden mißverstanden wird: »zwischen dir und mir«, es meint nicht so sehr die beiden Redenden als das Volk, den Ernst und die Wahrheit. »Ich spreche jetzt so, wie man dort spricht, wo nicht gelogen wird.« — Aus eben der Wurzel, der die Vertraulichkeit entspringt, stammte, was Nietzsche als die »Gefahren der jüdischen Seele« erfahren hat, die »Unverschämtheit der Güte«, die schmarotzerische Anpassung. Die Juden, die Juden geblieben sind — nicht zu Verfolgern, son-
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dem zu Genossen der Opfer gemacht —, haben eine Neigung erweckt, mit denen zu sympathisieren, denen es schlecht geht. In solchem Mitleid liegt nicht bloß Selbstlosigkeit, sondern ebenso ein Gefühl der Zugehörigkeit, ganz abgesehen von der Befriedigung, der Gebende, der Obere, der Mächtigere zu sein. Das Einnisten aber in der Welt der anderen stammt aus der Gewohnheit, dort wo man überhaupt bleiben darf, sich »unter sich« zu fühlen, weil es nur ein Draußen oder Drinnen gibt und keinen Übergang. Wo immer Juden menschlich werden, verhalten sie sich wie unter denen, die Jahrtausende um eines gemeinsamen Gedankens willen den Haß der Welt erfahren haben; wenigstens hat ihr Verhalten, ihre Sprache diesen objektiven Sinn. Was sie selber dabei denken, ist nicht damit ausgemacht. Wie bei anderen Völkern vermag die Sprache ihre eigene Bedeutung zu bewahren, wenn die, die sie sprechen, ihr längst fremd geworden sind. Die französische Sprache trägt Humanität in sich, auch wenn Mörder sich ihrer bedienen, und die jüdischen Gesten enthalten die große Geschichte, auch wenn ein Gauner sie mitbekommen hat. Stadien des Mythos. - Die Menschen sind - von der bewußten Manipulation, die das sich bloß zunutze macht, ganz abgesehen - Objekte von Suggestion, und Autonomie ist ein Grenzbegriff. Die Stellung, die einer auf der Skala vom bloß passiven zum unabhängigen Denken und Handeln einnimmt, hängt nicht bloß von ihm selbst, sondern, von der Konstellation ab. Die alte Gnadenlehre kehrt auf höherer theoretischer Stufe wieder zurück. Der Unterschied im Charakter der amerikanischen und europäischen Bürger gründet vor allem darin, daß jene ihre Institutionen mit vernünftiger Überlegung, möglichst zweckentsprechend, geschaffen haben. Aus hochentwickelten Ländern Europas waren sie nach Amerika ausgewandert, zumeist infolge religiöser Konflikte, in denen sie selbst als die fortgeschrittenere Partei sich erwiesen, schließlich richteten sie sich ohne Fanatismus ihr eigenes Leben ein. Für solche zivilisatorische Fortgeschrittenheit ist es symbolisch, daß nach der Loslösung von England, nach Verwirklichung der Unabhängigkeit unmittelbar kein ernsthafter Konflikt und im dreiviertel Jahrhundert später nur ein einziger, der Bürgerkrieg, die Vereinigung der Einzelstaaten störte. Damit verglichen erscheint das Verhalten
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der europäischen Nationen während der letzten Jahrzehnte, trotz der Bestrebungen um Zusammenschluß, dazu noch angesichts der höchsten äußeren Gefahr, als eminent pathologisch. Die Reaktionen des Zusammenlebens zwischen Individuen wie zwischen Kollektiven war im alten Kontinent nicht so sehr durch Einsicht als durch Mythen vermittelt. Die Ehrfurcht vor Geschichte und Herkunft, die Hingabe an die Nation, alte metaphysische Begriffe, denen die religiöse Geschichte in der neuen Zeit sich zuwandte, sind Vorstufen der Rationalität, wie der Stammesgott die frühe Form des geistigen Gottes ist. Die Menschen haben keine Macht über sie. Zugleich aber sind die europäischen Ideen infolge des wissenschaftlich-technischen Prozesses innerlich ausgehöhlt und dienen gerade noch zur Verdeckung des nackten Kampfes um die Macht. Weil in Europa die Mythen nicht aufgelöst und doch veraltet sind, ist der Zynismus zur allgemeinen Weise des Verhaltens geworden, und eben deshalb setzen Bekenntnisse sich wesentlich als fanatische durch. Sie werden im Innersten nicht geglaubt, und die Wut darüber entzündet sich an dem, der demonstriert, daß man sie nicht zu glauben braucht. In Amerika dagegen ist das Künstliche des Mythos offenbar; anstatt der Rationalität vorherzugehen, ist er ihr gefolgt. Das Gesetz, der Staat, die Heimat wurden zu ewigen Ideen erhoben, und man weiß doch, daß ihre Gegenstände den Menschen, die sie lieben, zu verdanken sind. Sie werden als Produkte der geschichtlichen Arbeit erkannt. Aber der moderne Wirtschaftsvorgang verkürzt auch hier die Gedanken, und einmal könnten die Individuen und Massen aus Bequemlichkeit und Angst dem Fanatismus sich überlassen. Das wäre das Ende der Welt, die sich die westliche oder die freie nennt. Vielleicht aber werden mythische wie durch Vernunft bedingte Verhaltensweisen am Ende so eingeschliffen sein, daß es des vermittelnden Bewußtseins, welcher Art immer, nicht mehr bedarf und nur die mechanische Selbsterhaltung der Gattung übrigbleibt. Dem sind die Amerikaner näher als die Europäer, und es könnte sein, daß die Asiaten es vollenden werden, auch wenn ein gut Teil der Gattung inzwischen ausgerottet ist. Die europäisch-amerikanische Epoche hätte dann vornehmlich dazu gedient, die Maschinen bereitzustellen, die verlängerten Arme dieser Lebewesen, die sie anderen so gefährlich machen.
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Alle sind kriminell. - Die Erwartung, in der Welt, wie sie ist, friedlich leben zu dürfen, die Geste der Selbstverständlichkeit, mit der sogar sogenannte Intellektuelle als brave Bürger sich niederlassen, wenn sie zu Geld gekommen sind, sei es durch ihre Schreiberei, die eben dies Leben denunzierte, sei es durch reiche Heirat oder eine Erbschaft — solche Erwartung straft den Geist Lügen, der die Welt als das erkennt, was sie ist: die Perpetuierung der Unterdrückung. Die Menschengattung, die andere Tiergattungen frißt, die Völker, die andere hungern lassen, während die Kornspeicher bersten, die Ehrbaren, die neben den Gefängnissen leben, wo die Armen in Gestank und Elend vegetieren, weil sie es besser haben wollten oder es nicht recht verkraften konnten — alle sind kriminell, wenn crimen objektive Schandtat heißt. Die selbstsicheren Gesten, die erfahrene Überlegenheit oder auch die verlogene Bescheidenheit, die manche sich angewöhnt haben, wieviel weniger angemessen sind sie als die Hilflosigkeit des Phantasten, der sich schlechter zurechtfindet, je näher er die Welt kennenlernt. Als Realist leben kann nur ein Verworfener. Eitle Hoffnung. — Die Hoffnung, in der entfalteten, zivilisierten Gesellschaft die Gerechtigkeit einzuführen, ist in sich widerspruchsvoll. Dieselben wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, welche die Großen größer und die Kleinen kleiner machen, selbst wenn die Mehrzahl unter ihnen mehr zu essen bekommt, sorgen dafür, daß die Technik in einer Weise fortschreitet, die das, was die Kleinen zu bieten haben, entwertet und als gleichsam abstrakt betrachtet. Die Wirtschaft könnte sich auch so entwickeln, daß sie der Unabhängigkeit der Einzelnen zugute käme. Daß dies nicht stattfindet, bedeutet die Unmöglichkeit, anders zur Gerechtigkeit zu kommen als durch Steigerung der Ungerechtigkeit. Der Irrtum der gesellschaftlichen Optimisten, zu denen die Klassiker des Liberalismus nicht weniger gehören als Marx und die modernen Realisten, besteht darin, daß am Ende, wenn dann alles, ja die ganze Menschheit technisch durchgebildet wäre, wozu es gar nicht kommen kann, weil es bei den nationalen kollektiven Gegensätzen bleiben muß — daß dann über die konzentrierten Mittel der Beherrschung nicht mehr irgendwelche Großen, sondern die vereinte Weisheit aller Menschen verfügen könnte. Als ob Weisheit, Friedfertigkeit, Liebe
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und Erfahrung den Prozeß überstünden, der zu solcher furchtbaren Konzentration die Voraussetzung bildet! Von der theoretischen Unmöglichkeit ganz abgesehen, ist die Vorstellung auch moralisch widersinnig. Die gesteigerte Unterjochung der Natur läßt die idyllische Gesellschaft der Unterjochenden als Aberwitz erscheinen. Die Extrapolation von dem Prozeß des früheren Liberalismus aus, wo die Bürger zugleich mächtiger und unter sich selbst zunächst auch friedlicher, »zivilisierter« wurden, geht dem »unter sich« nicht auf den Grund. Sie waren privat zivilisierter, nicht im Geschäft, am häuslichen Herd, nicht auf dem Markt. In der wirtschaftlichen Realität ist ihnen jede Besserung abgerungen worden — und wenn ihnen keine Macht mehr etwas abränge, schwenkten sie in Wildheit oder Stumpfsinn oder beides - nicht in die Idylle der Freiheit ein. Einträgliche Beschäftigung. — Heute ist ein phantasievoller Mord, erst recht ein Massenmord - auch ohne Phantasie - in jedem Fall eine sichere Weise, für seine Familie zu sorgen. Wird man nicht gefangen, steigt man zum Heros oder Millionär oder zu beidem auf. Geht es schief, so werfen die Memoiren, die Publicity jeder Art immer noch mehr für die Angehörigen ab, als wenn man zu den Unbekannten zählte. Daß die Weiber des Schahs, die Kinostars und die Mörder sich in den mass media Raum und Zeit teilen, alle auf demselben Niveau wie Negerhäuptlinge und menschliche oder tierische Raumschiff-Fahrer, hat seinen guten Sinn. Sie füllen die Freizeit, die im selben Maß zu lang und zu sinnlos geworden ist, wie die Arbeit zu mechanisch wurde. Das eine ist die andere Seite des anderen. Täuschung. - Daß in Deutschland der Nationalsozialismus zur Herrschaft kam, ist erklärbar, wenn auch das, was er getan hat, unfaßbar ist. Der Jude, der zurückkam, um zu helfen, daß es nicht wieder geschieht, ist ein Tor, der manchen Deutschen, die gegen den Schrecken ihr Leben gaben, die Treue hielt. Daß er jedoch dableibt, nachdem er wahrnimmt, wie das Nachkriegsdeutschland auf den Leichenbergen bloß Geschäfte macht, politische und kommerzielle, wie es je nach Gebrauch die sogenannte Vergangenheit bewältigt oder stillschweigend als Exportreklame einsetzt, wie die Obermörder wieder oben sitzen oder ihre Pensionen beziehen
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und die Anstifter und Nutznießer aufs neue ihren Rebbach machen - daß er das sieht und nicht so aufschreit, daß man ihn sogleich mundtot oder ganz tot macht, sondern dabei noch mittut, ist der letzten Verachtung wert. Die bloß Geschäfte machen, können noch sagen, daß das Geld woanders schwerer für sie zu verdienen sei. Die machen keinen Hehl aus ihrem Motiv. Am schlimmsten sind die sogenannten Giftigen. Diese Herren, deren metier die Wahrheit sein soll, stärken durch ihre Wissenschaft das moralische Ansehen des Mörderlandes in der Welt oder geben ihm gar durch kritischen Tenor das heuchlerische Ornament der Freiheit, bis die nächste Wirtschaftskrise oder sonst ein Anlaß kommt und man die liberalistischen Verzierungen entfernt. Der intellektuelle Jude,der da mitmacht, verleugnet die Gemarterten mit jedem Wort, denn die Täuschung, daß ein Jude hier etwas ändern könne, der zu den Mördern sich gesellt, ohne daß sie ihn ans Kreuz schlagen, ist so offenkundig wie die böse Absicht dieses Volkes selbst. Ich weiß kein verhärteteres Kollektiv in der ganzen Welt. Und sie haben ihre Gefängnisse und Schlachthäuser, ihre Millionäre und ihr Heer, ihre Kirch en und ihren Geheimdienst - al s ob nichts geschehen wäre. Falsche Wichtigkeit. - Jene Mönche, die das irdische Leben für nidits achteten, in Särgen schliefen, um den Tod sich gegenwärtig zu halten wie die Juden, die an höchsten Feiertagen im Totenhemd in der Synagoge erscheinen, haben recht, was das irdische Leben betrifft. Daß ihr Begriff der Ewigkeit, in der sie den Lohn erwarteten, angesichts des Gedankens, nicht bloß des wissenschaftlichen, sondern des unverlogenen überhaupt, ein Wahn ist, vermag an der Wahrheit ihrer Grundansicht über das Dasein selber nichts zu ändern. Sie waren im Recht. Die ungeheure Wichtigkeit, mit der die Dinge des Tages, die großen und kleinen, heute genommen werden, bezeichnet den Zerfall der Zivilisation und liegt zuletzt auch den Händeln zwischen den Nationen, ja der inneren und äußeren Ungerechtigkeit, der Verabsolutierung der Macht zugrunde, ist vielmehr damit identisch. Die Wahrheit des Christentums tritt mit seiner Aushöhlung, seinem Herabsinken zur bloßen Ideologie an den Tag. Das Verschwindendessen, was in Europa Kultur hieß, ist eins mit der Verabsolutierung des Diesseits, die durch das Schwinden des Aberglaubens ans Jenseits entfesselt wird.
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Bei der Mehrzahl der herrschenden Christen war es immer schon so. Zur Geschichte der Autonomie. - Was Kant Autonomie nannte, bedeutet die in jedem Einzelnen angelegte Fähigkeit, das eigene Handeln so einzurichten, daß die Zielsetzung eines vernünftigen Zustandes der Menschheit darin aufgehoben ist. Wenngleich es Situationen geben kann, in denen der persönliche Vorteil, ja das eigene Leben mit der Rücksicht auf das Ganze in Konflikt kommen, so besteht der Widerstreit keineswegs notwendig, denn die richtige Beziehung zwischen den Menschen schließt die Selbsterhaltung, die Wahrnehmung der persönlichen Interessen ein. Das besagt jenes »zugleich« in der Formulierung des kategorischen Imperativs, nach welcher für einen Juden die anderen nie »bloß« Mittel, sondern auch Zweck sein sollen. Gar nicht läßt sich jedoch von vornherein bestimmen, daß das Verhältnis des Einzelnen zu den Kollektiven, denen er jeweils angehört, vor allem der Nation, harmonisch sein müsse. Im Gegenteil. Autonomie bringt es mit sich, daß die Beziehung zum sogenannten eigenen Volk unter dem Aspekt sowohl der endlichen wie der unendlichen Intentionen in jedem historischen Augenblick aufs neue in Frage gestellt wird. — Eben deshalb wird Autonomie in der Gegenwart immer weniger aktuell. Sie hat ein Moment der bürgerlichen Tradition gebildet, der Zeit, in der die Entfaltung der Gesellschaft davon abhing, daß viele Einzelne eigene., soweit wie möglich unabhängige Entschlüsse faßten. Auf Grund der technischen und weltpolitischen Vorgänge sind heute die Interessen innerhalb der Machtkonzentrationen so uniform geworden, daß die Bedeutung selbständiger Entscheidungen der vielen kein vorwärtstreibendes, notwendiges Moment mehr ist. Die bürgerliche Errungenschaft der Autonomie wird ins künftige Stadium nicht hineingenommen, sondern verkümmert, weil sie für das Wohlbefinden der Gesellschaft überflüssig wird. Sie erscheint zunächst als gefährlich, schließlich als Schrulle. Zu fragen bleibt, ob der Wohlstand, der solche Mittel entbehren kann, noch ein anderes Ziel als das der Naturgattung bildet. Die Antwort lautet: Nein. Der Wohlstand ist gar kein Ziel, sondern ein Effekt natürlicher Dynamik, die nur in ideologischer Verbrämung als »historische« im eigentlichen Sinn erscheint. Es gibt kein Ziel.
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Zur Metaphysik des Judenhasses. — Antisemitismus gehört ganz wesentlich zu den durch Zivilisation negierten primitiven Instinkten. Er wäre, nach Freuds früherer These, sadistischer Partialtrieb, nach der späteren unbeherrschte Destruktion. In Wahrheit gehört er unmittelbar zur unterdrückten, negativen Seite der ambivalenten Sexualität, der unsublimierten, barbarischen Promiskuität. Die Zivilisation gilt unbewußt als Inbegriff unbewältigter, verhaßter Verbote. Ganz deutlich wird es in den anderen Obszönitäten, auf Klosettwände gemalten antisemitischen Symbolen und Bildern, als deren enthüllendstes der Penis als Judennase fungiert. Dabei greifen die verschiedensten Triebregungen ineinander, auch die verschiedensten Stufen der Verdrängung, Lust am Obszönen, Sexualität, Wut auf Zivilisation schlechthin. Man will das Verbotene tun oder wenigstens hinausschreien - und noch dazu am tabuierten Ort, der durch Geruch die Assoziation erweckt. Bekenntnis zu dem, was man hassen muß, als dem Verhaßten. Die konformistische Revolte der Zukurzgekommenen. (18. Juli 1961) Zu Eichmann. - Der Gründe, warum der Eichmannprozeß nur Unheil wirken kann, sind viele. Allmählich sprechen sie sich herum. Einer, der nicht so offenkundig, aber desto realistischer ist, wird im Verhör offenbar. In der Periode des Untergangs der Demokratie, das heißt der Gegenwart und der nächsten Zukunft, bedürfen die Staaten im steigenden Maße der Leute, die eisernen Gehorsam leisten und von einem guten Maß unsublimiertem Sadismus getrieben sind. In der klassisch-bürgerlichen viktorianischen Periode betätigte Sadismus sich, verwandelt, im Konkurrenzkampf, der Gehorsam in der Anpassung an den Markt. Je mehr die Gesellschaft zur militärischen Bastion sich wandelt, desto kennzeichnender wird der Typ des schmallippigen, jugendlichen Unterführers. Beneidenswert sind die Völker, in denen es viele Eichmanns gibt. Man spürt, daß sie die Zukunft verkörpern. Und da soll der arme Staatsanwalt in Jerusalem den Weltgeist auf seine Seite ziehen I
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Sitten, höhere Kultur. - Die guten Dinge, die sich einmal dem Glauben verdankten, werden in der bürgerlichen Welt zur Prestigeangelegenheit, zur Reklame, zum bloßen Getue. Was sonst? Sie müßten von Rechts wegen verschwinden. Kunst selbst sinkt zur Bildung herab, wenn der letzte Schimmer des Glaubens an das Unglaubhafte aus ihr gewichen ist. »Kunst um der Kunst willen«, l'art pour l'art, war schon der Widerstand gegen die Auflösung im Bildungs- und Kulturbetrieb wie gegen den Positivismus, der dahintersteckt und Kunst als Freizeitsparte noch gelten läßt, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, Shakespeare, Goethe und Michelangelo als Entsteller von Tatsachen abzutun. Die Künstler des fin de siecle meinten nicht die Kunst als Zweck, sondern die Wahrheit, die keinen hat als den Grund, sich beim Schlechten, Schiefen, Unwahren nicht zu bescheiden. Sie wollten »es« wirklich sagen, und das »es« ist jeweils die Erfahrung, die das Ganze meint und vor dem öffentlichen Wissen sich nicht ausweisen kann. Auf Erfahrung gehen auch die Religionen zurück, sie sind zu gigantischen Apparaturen erstarrt, die teilweise noch funktionieren, Christentum und Islam. Der genaue Ausdruck jedoch, in dem Erfahrung erst zu sich selber kommt, erst wird, was sie ist, war Kunst. Die schönen Formen des Umgangs, alle guten Dinge, rühren auf gesellschaftlichen Umwegen davon her. Heute wird Kunst so restlos assimiliert, daß sie mit zahllosen anderen Instrumentarien der Wirklichkeit die Fähigkeit zur Erfahrung, den Rest von Naivität, von Glauben verschwinden läßt. Wenn die Menschen von höheren Dingen reden, pflegen sie die Augen pfiffig zuzukneifen, es sei denn, daß sie im Gegenteil die Augen vor Begeisterung aufreißen, um gleich losztischlagen. Beides bedeutet, daß sie sie nicht glauben. Die guten Dinge müßten verschwinden, das Reden davon aufhören und die Welt kalt scheinen, wie sie ist. Die Konsequenz der Kultur ist es, am Ende mit sich aufzuräumen, damit nicht bloß die Lüge übrigbleibt. Deutsche Politik. - Wenn unter Freiheit die des Rechts für jeden zu verstehen ist, in seinen Handlungen nur so weit eingeschränkt zu sein, als es für die Freiheit aller anderen notwendig ist, hat seit Beginn des 19. Jahrhunderts deutsche Politik nie einen eigenen Schritt vor anderen Ländern getan. In Deutschland sagte man das
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Wort und meinte etwas anderes. Man muß sich nur unterrichten, was jener Freiheit zustieß, als die Preußen die Befreiungskriege ja, so heißen sie noch heute — einmal gewonnen hatten, nach der Schlacht von Waterloo. Man lese selbst die Demokraten, Turnvater Jahn und seine Gesinnungsfreunde. Turnen, Marschkolonnen, Singen, Exerzieren und Volkskunde - das waren die Begriffe, die mit dem der Freiheit zusammenhingen. Seid einig, einig, einig, nicht die Achtung vor dem, der damit nicht einig ist, nannten sie mit dem Namen, der anderswo, zumindest bisweilen, vor allem das Gegenteil bedeutet hat. Die vielen Einzelnen, die seit Immanuel Kant es besser wußten, blieben seit diesem politisch suspekt bis an ihr Ende, das man in Deutschland so oft im Namen der Freiheit beschleunigt hat. Ja, der Nazismus hatte etwas von der Französischen Revolution: die Losung der Volksgemeinschaft, der Grande Nation, des verballhornten Übermenschen, wie schon die levee en masse auf Wilhelms Befehl, und was ihr im 19. Jahrhundert voranging. Aber all das geschah zu spät, und was sie aus eigenem dazutaten, war der Verlust des humanistischen Moments, des letzten Schimmers der Aufklärung. Freiheit, die auf der Welt im Schwinden begriffen ist, hatte die deutsche Politik erst gar nicht erreicht. Verschleierungen. - Die Angleichung der beiden Gesellschaftssysteme zeigt sich an unendlich vielen Stellen. Ein mächtiger immanenter Motor im Westen ist das Senken der Kaufkraft, die Inflation als Dauerphänomen. Sie bewirkt, daß die einen immer reicher und mächtiger werden - nämlich die, deren gesellschaftliche Position auf nutzbaren Sachwerten beruht - und die anderen immer abhängiger. Verschleiert wird der Prozeß durch drei Momente. Erstens durch das Steigen des Lebensstandards. In den Industrieländern essen die meisten mehr, wohnen und kleiden sich besser, verrichten kürzere und leichtere Arbeit als früher. Die meisten, nicht alle. Dafür werden sie aber in ihrem ganzen Leben, auch in der sogenannten Freizeit, vom ökonomisch-technischen Apparat bis in den letzten Wunsch und Gedanken hinein zu Funktionen gemacht, berechenbar und ausgerichtet. Zweitens durch die Macht der Gewerkschaften. Sie erfüllen die Aufgabe, Löhne und Gehälter den steigenden Preisen möglichst anzupassen und sie
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dadurch weiterhin zu steigern. Aus vielen Gründen ist ihre Bürokratie für den Gesamtprozeß der Wirtschaft so unentbehrlich wie irgendein anderes Monopol. Aber weder die Position ihrer Vertreter noch ihre Bauten und sonstiger Besitz sind kennzeichnend für die Verfügungsgewalt der einzelnen Menschen, in deren Namen sie sprechen. Deren Macht ist von der der wirklichen Lenker der Gesellschaft nicht weniger entfernt als vor hundert Jahren. Drittens durch die neuen Millionäre. Sie sind weniger ein Symbol der größeren Aufstiegsmöglichkeit als einer fast schon abgeschlossenen Anpassung der Hierarchie an den neuen Stand der Industrie. Der Unterschied zum Osten liegt in der größeren Breite des Zufalls und der Umwege. Sie wird in Zukunft weiter eingeengt, da man mit ihr Schritt halten muß. Entscheidend ist, daß auf Grund der Gewalt der Umstände das Ganze zugleich immer dirigierter und übermächtiger, das Leben immer planmäßiger und chaotischer, immer bequemer und unbequemer wird. Die Freiheit entschwindet nicht bloß, weil sie Feinde hat, sondern weil sie in der Welt ihren Sinn verliert. Was soll einer damit in der Massengesellschaft. Man bedarf ihrer nicht mehr, und das Selbstbewußtsein des Individuums weiß nichts mit ihr anzufangen. Marx und der Liberalismus. — Karl Marx hat von »der« kapitalistischen Gesellschaft gesprochen, die durch Aktion des Proletariats zu »der« kommunistischen werden müsse. Aber es geht nicht »die« Gesellschaft, sondern einzelne Staaten und Staatenblocks an. Insofern der Staat zum Überbau gehört, so steht der Überbau in höchst realer Wechselwirkung mit der Basis. Das Interesse am Fallen der Klassenschranken geht in der Periode nach dem Liberalismus ins Interesse am Steigen des Lebensstandards ein. Dieser aber hängt mit Macht und Ansehen der Nation zusammen, ja in steigendem Maße enthüllt er sich als ihr realer Sinn. Aus eben jenen menschlichen Energien, die meist die proletarische Solidarität zu erzeugen scheinen, aus dem Leiden am gesellschaftlichen Unterschied, dem Willen zum besseren, gerechteren Leben, zu liberte, egalite, fraternite ergibt sich durch die wirtschaftliche und politische Situation wie durch bewußten Einfluß derer, die am Hebel sitzen, nicht die richtige Gesellschaft, sondern die Volksgemeinschaft. Eben, weil die Staaten da sind, wird die Begeisterung nicht von der Losung
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»Proletarier aller Länder, vereinigt euch«, sondern durch den Ruf »AUons enfants de la patrie« und der Fanfare unseres Wilhelm »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche« hervorgerufen. Wir fassen uns unter den Arm, wir marschieren. Der Nationalsozialismus des Führers, der »Sozialismus im freien Lande« von Marschall Stalin bezeichnen die schlechte Identität, die bereits im Tanz um die Guillotine vorweggenommen war. Die Erfüllung als Rückfall anstatt als Rettung dessen, was ja schon einmal gut geworden war. Die Theorie von Marx war als Kritik des Liberalismus gemeint, sie war selbst liberale Kritik und verfällt der autoritären Gewalt der Geschichte. Gebet und romantische Liebe. - Das Gebet ist aus den Riten entstanden, es leitet vom Mittelalter zur neueren Zeit. Kirchlich-politische und mystische Tendenzen, wie sie in Savonarola sich ausdrükken, vor allem die Reformation, machen das Gebet des Einzelnen zu einem wesentlichen Moment der Religion. Die geschichtliche Funktion kultureller Phänomene offenbart sich im Rückblick. Das Gebet hat als psychologische Kraft zur Entfaltung des bürgerlichen Bewußtseins beigetragen und wurde selber durch die historischen Mächte, denen die bürgerliche Gesellschaft ihr Dasein verdankt, zum Element der Religion. Was noch nicht ist und erst werden soll, wird als ein Ewiges verklärt. Das Gebet, in dem ein Einzelner Gott nicht mehr um Regen oder Macht des Volkes, sondern um die Förderung der eigenen Ziele bittet, macht den Einzelnen zum Zweck des Unendlichen, zum unendlichen Zweck. Das tritt insbesondere hervor, wenn andere, die Frau, die Kinder für ihn beten. Was einmal nur für den allmächtigen, geistlichen oder weltlichen Herrscher galt, wird für den Bürger zur Regel. Er ist der Versorger und der Herr. Gebet und romantische Liebe haben eine ähnliche Vergangenheit. - Heute sind sie im Verfall, und nichts kündigt ihn deutlicher an als die Propaganda, die man für sie macht, die Lobpreisungen und der Anreiz, die ihnen gewidmet sind, die Sanktionen gegen den Skeptiker. Wenn er in der bloßen Negation verharrt, macht er in Wirklichkeit den Rückfall mit. Jetzt, da die Ohnmacht des Gebets wie die Nichtigkeit der Menschen zur trivialen Kenntnis geworden ist, an einen Anderen sich doch so hinzugeben, wie es im Gebet einmal für ihn gemeint war, jetzt, da die
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gesellschaftlichen, psychologischen Bedingungen der Liebe aufgedeckt und eingesehen sind, in deren vollem Bewußtsein in ihr aufzugehen - so wie es vor ihrer Verklärung in der bürgerlichen Welt nicht denkbar war, die Skepsis zurückzulassen, ohne zu vergessen, was zu ihr führte -, das ist der Widerstand gegen den falschen Fortschritt, den das Subjekt noch leisten kann. Er wird den Zerfall nicht aufhalten, er zeugt nur für das Richtige im Untergang. Staat Israel. - Durch Jahrtausende haben die Juden in den Verfolgungen um der Gerechtigkeit willen zusammengehalten. Ihre Riten, die Ehe und Beschneidung, Speisegesetze und Feste waren Momente des Zusammenhalts, der Kontinuität. Kein Machtstaat, sondern die Hoffnung auf Gerechtigkeit am Ende der Welt hieß Judentum. Sie waren ein Volk und das Gegenteil, der Vorwurf aller Völker. Jetzt beansprucht ein Staat, fürs Judentum zu sprechen, das Judentum zu sein. Das jüdische Volk, an dem das Unrecht aller Völker zur Anklage geworden ist, die Individuen, an deren Worten und Gebärden das Negative des Bestehenden sich selber reflektierte, sind nun selber positiv geworden. Nation unter Nationen, Soldaten, Führer, money-raisers für sich selbst. Wie einst das Christentum in der katholischen Kirche, nur weniger aussichtsreich, soll im Staat Israel das Judentum zunächst das Ziel erblikken; wie hat es doch im Triumph seines zeitlichen Erfolges im Grunde resigniert! Es bezahlt sein Fortbestehen mit dem Tribut ans Gesetz der Welt, wie sie ist. Wenn es auch Hebräisch zur Sprache hat, es ist die des Erfolgs, nicht die der Propheten. Es hat sich dem Zustand der Welt assimiliert. Wer von Schuld sich frei weiß, werfe den ersten Stein. Nur - es ist schade, durch solchen Verzicht kommt eben das aus der Well, was sich durch ihn erhalten sollte, eben wie im Sieg des Christentums. - Das Gute ist gut, nicht indem es siegt, sondern indem es dem Sieg widersteht. Möge die nationale Unterordnung unter das Gesetz des Bestehens kein so drastisches Ende nehmen wie die der Individuen im Europa Hitlers, Stalins, Francos und ihren überfälligen Nachfolgern. Das Ich als Funktion. - Das nicht-empirische Ich ist eine transzendental-logische Voraussetzung oder vielmehr eine Hypothese, das empirische eine gesellschaftlich bedingte, von jedem Indivi-
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duum stets wieder hervorzubringende, stets gefährdete Leistung im Daseinskampf. Ihr Sinn besteht ausschließlich darin, dem Menschen, der sonst wie andere Tiere auf Instinkt und augenblicklichen Eindruck angewiesen wäre, die Erfahrungen seiner Zivilisation wie des eigenen Lebens, die der Gattung noch nicht einverleibt und vererbbar sind, zur Verfügung zu stellen. Es bildet eine Art psychologischen Verdauungsorgans. Seine Funktion betrifft die Selbstbehauptung in der Natur, mittelbar die Einrichtung gesellschaftlichen Zusammenwirkens zu diesem Zweck. Auch sogenannte höhere Ziele, Moral und Utopie verdanken sich der Tendenz zur Organisation, der Notwendigkeit, sich einzugliedern. Die Nuancen der Entartung, Verselbständigung solcher Elemente in je einzelnen Menschen entsprechen der Erkrankung anderer Organe. Heiligkeit ist eine Fehlentwicklung. Leidensarten. — Nur in extremer Form ist das Leiden in jedem Einzelnen dasselbe. Sonst unterscheidet es sich nach dem, wie er selber beschaffen ist. Das hat das Mitleid zu erfahren, es ist — soweit es richtig ist — so differenziert wie das Leid selber. Die Weise des Schmerzes ist von der Weise der Liebe und der Sehnsucht nicht abzulösen. Herr Franco leidet anders als ein anständiger Mensch. Theorie des Gewissens. — Die Theorie des Gewissens, wie Freud sie entfaltet hat, stimmt nur für die pathologischen Fälle, sie erklärt das Handeln oder die Impulse zum Handeln, soweit sie auf einverleibten, verinnerlichten Vorschriften beruhen. Beim Sittengesetz von Kant hat ein anderes statt. Der moralische Antrieb existiert danach genauso in jedem Menschen und braucht keineswegs reflektiert zu sein. Es bedarf der Philosophie, um ihn, nachträglich, als Regel oder Vorschrift zu formulieren, nachträglich. denn die Tatsache existiert, seit es Menschen gibt. Weder Kant noch Freud jedoch haben den Ursprung moralischen Handelns im Einzelnen bezeichnet, es verdankt sich der Mimesis. Vornehmlich in kindlichen, zuweilen auch in späteren Phasen der Entwicklung wird die Geste der Generosität, der Liebe, der Freiheit, insbesondere der Freiheit von Rache so eindringlich erfahren, daß sie auf die Dauer ins Verhalten übergeht. Wahr ist, daß die Bedingungen dafür nicht bloß in der Situation, sondern auch in der Biographie
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des erfahrenen Subjektes liegen, daß - mit anderen Worten Wechselwirkung statthat, ja im Grund, so könnte man sagen, setzt die Erfahrung die Beschaffenheit, die durch sie erst entstehen soll, bereits voraus. Wer vermag die Liebe so zu lieben, daß sie zur seinen wird, der sie nicht schon besäße. Das sind die Spekulationen, mit denen die Theologie unter dem Begriff der Gnade sich abgegeben hat. Letzten Endes sind sie abwegig, weil sie, recht positivistisch und mythisch zugleich, das Neue, das Andere, das einer Konstellation historisch je und je entspringen kann, ohne doch aus ihr ableitbar zu sein, nicht zulassen wollen. Dabei entspricht die Begründung des Gewissens als moralischer Instanz in der mimetischen Fähigkeit recht genau dem Sinn des Neuen Testaments. Die Nachfolge, die das Leben des Christen auszeichnen soll, die Verehrung des göttlichen Stifters, aus der die Nachfolge entspringt, ist offenkundig ein mimetischer Prozeß. Er macht den Kern der christlichen Lehre aus. Regeln, Gesetze, Dogmen sind sekundär, ja, sie dürften dem Geist des Messias kaum angemessen sein, auch wenn er zuweilen in Imperativen gesprochen hat. Sofern Gewissen und moralisches Handeln zusammengehören, sind Vorschriften vergröbernde Erläuterung, nicht der Beweggrund. Wo sie dazu werden, beginnt die Jurisprudenz und die Philosophie. Der Einzelne. - Was der Einzelne in seiner Einzigkeit, seiner in Ewigkeit unwiederbolbaren Individualität, an der die ganze Geschichte der Welt, der Erde, der Menschheit mitbeteiligt ist, in Wahrheit bedeutet, enthüllt sich nur dem Blick, der diesen Einzelnen aus alter Erfahrung und in unendlicher Liebe trifft. Eben dies Einzige aber, das dem Liebenden sich offenbart, ist zugleich das, was in seiner Einzigkeit das Wesen des Anderen ausmacht. Die Wahrheit des Allgemeinen ist das Besonderste des Besonderen, und eben das Unnennbare ist das Allgemeinste, von dem auch das Tier nicht ausgeschlossen ist. Eine Anregung für die Sozialforschung. — Eine Studie über den Terror machen, aber nicht um sein Grauen zu denunzieren - das ist, guten und schlechten Gewissens, genügend getan worden —, sondern um seine Nützlichkeit für bestimmte gesellschaftliche Situationen darzutun. Erst wenn man zeigt, wie angemessen der Terror
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den Regierungen sowie der Bevölkerung ist, sobald aus wirtschaftlichen und außenpolitischen Gründen oder etwa, weil ein neues Regierungssystem sich einschleifen muß, es eines neuen und besonderen Reizes bedarf, erst dann wird der wahre geistige Stand der Gesellschaft offenbar. Die kleine Minderheit, die da geopfert wird, die angeblichen Verschwörer, die Verräter, die Kulaken, die Juden, die Fremden, die Kommunisten, die Liberalen — wie wenig fällt sie ins Gewicht, wieviel Vergnügen macht's den Massen, wie gern nehmen sie den Schauder mit in Kauf, wie genießen sie ihn, und wie betiächtlich ist die Ersparnis im Etat. Ich denke nicht an Bürgerkrieg, nicht an Algerien und eroberte Länder, wo der Terror unmittelbar notwendig, unumgänglich, gleichsam Notwehr ist, sondern an den angedrehten Terror als Regierungspraxis. Eine solche Studie tut not. Wahrheit in der Rede. — Wenn zwei diskutieren und ein Dritter zuhört, wird er nur so weit den Fakten und der simplen Logik trauen dürfen, um Partei zu nehmen, als es sich um Fakten oder Schlüsse handelt. Geht es um ein im geringsten Komplexeres, so bedarf es der Kenntnis der gesamten Gesinnung und deren Beziehung zum Thema, das in Frage steht, um über das Recht der Streitenden zu urteilen; ja, die These der wahrhaften, tieferen Gesinnung ist selbst dann noch wahrer, wenn sie, an Tatsachen gemessen, unrichtiger scheint. Wahrheit in der Rede kommt ja nicht dem losgelösten nackten Urteil zu, gleichsam als wäre es auf einen Zettel gedruckt, sondern dem im Urteil sich ausdrückenden, an dieser Stelle sich konzentrierenden, auf den bestimmten Gegenstand bezogenen Verhalten des Redenden zur Welt. Unendlich vielfältig sind die Weisen, unendlich abgestimmt die Grade, in denen er im Urteil gegenwärtig sein kann. — Das machen die Führer sich zunutze, indem sie von der Gesellschaft jenes Absehen von pedantischer Nachrechnung, jene Hingabe an ihr Urteil verlangen, die dem vertrauten Einzelnen gebührt, es ist die Karikatur, der Hohn auf die Liebe, die nicht blind, sondern sehend macht, ihr Ersatz. Die den Führern nachlaufen, sind nur scheinbar enthusiastisch. Im Grunde sind sie sich des nackten Sachverhaltes, der Verlogenheit, der erbärmlichen Natur des angeblichen Helden wohl bewußt. Er kommt ihnen in ihrem seelischen Haushalt gerade recht,
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paßt ihnen in den Kram, befreit sie von der Last der Zivilisation, obgleich und weil sie nicht zweifeln, daß er ein Popanz ist. Die Gefolgschaft gibt sich und anderen vor, sie glaube, ist aber jeden Glaubens bar. — Gefolgschaft ist das Gegenteil, der schlechte Widerspruch zu einem Verständnis, das den Glauben voraussetzt und die Unbedingtheit der Parteinahme zur Folge hat. Wie sehr sie dies Vorlaufen zum Tod bedingen mag, weist sie mit dem Fall des Führers als den Schein aus, der sie ist, und mit dem Tod der Geliebten als die wahre Vernunft. Gegen die Verdrängung des Todes. - Ich habe den Verdacht, daß eine richtigere Menschheit unendlich viel mehr im Bewußtsein des Todes leben würde. Alles erschiene in seinem Licht, ohne darum bitter zu schmecken, nur als ein relativierendes, die Dinge zurechtrückendes Moment. Die Verdrängung, die das gegenwärtige Stadium kennzeichnet, bewirkt die Fehlschätzung der Güter, die läppische Genügsamkeit, das Wichtigtun mit aufgeblähten Lappalien. Das meint nicht die Preisgabe der Lust. Im Gegenteil. So wie die romantische Liebe erst durch die Beziehung zum Tod die Süßigkeit gewann, so wird das Leben durch die Aufnahme des Gedankens an ihn zur Erfahrung des Lebens. Weit entfernt, daß die vergänglichen Inhalte in Verzweiflung verabsolutiert werden sollten; das ergibt sich im Gegenteil aus der Verdrängung. Indem sie angesichts ihrer Vergänglichkeit bestehen müssen, zieht vielmehr die Trauer in sie ein, die der Hingabe an sie die Wahrheit verleiht. Das meiste dessen, was den industriell fabrizierten Bedürfnissen gut und schön, gar amüsant heißt, würde als der Pofel empfunden, der es ist oder zu dem es im Kulturkonsum herabsinkt. Nicht wenig Nichtiges würde, ohne Pomp und Reklame, weiterhin der Gewohnheit dienen. Aber der irrsinnigen Gier, aus der Macht und Gewalt den furchtbaren Charakter annehmen, würde der Grund entzogen, der trotz und gemäß Schopenhauer für den blinden Willen besteht, die Täuschung der unverrückbaren, schlechthin gültigen Realität und der in ihr herrschenden Ordnung. Gewiß, es wäre denkbar, daß die Herrschaft, die Verfügung über Menschen im Bewußtsein der Vergänglichkeit, erst recht den Zauber gewinnen, wie jene Liebe, oder die Freiheit, oder das Vertraute schlechthin. Ich glaube es nicht. Was jene Mönche, die in Särgen schliefen, die
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Juden, die am Versöhnungstag das Totenhemd anziehen, dabei erfuhren, war nicht das zehrende Begehren des Ressentiments nach Genugtuung, sondern umgekehrt die Identität des Lebendigen. Auf einer höheren Stufe aber wiederholte die richtige Menschheil den alten Ritus, nach dem das Leben, das den Tod zu vergessen sucht, erst recht unter seiner Peitsche steht. Grenzfall Normalität. - Keine deutlichere Erfahrung der Relativität der Erscheinungswelt wie des eigenen, wahrnehmenden und fühlbaren Ichs als die radikale Verwandlung von Subjekt und Objekt, Wirklichkeit und eigener Person beim Versinken in Not, Krankheit, leiblichen und seelischen Schmerz. Was allzu leichtfertig durch den Hinweis auf Trunkenheit und Wahnsinn oder die verschiedenen Charaktere angedeutet wird, so als ob es ausgemacht wäre, daß es dabei sich um Schwankungen nicht-essentieller Momente oder um Grenzfälle handelte, wird in der eigenen Geschichte als die Hauptsache offenbar, daß eben die Normalität der Grenzfall ist. - Ja, sie dauert länger — so scheint es wenigstens -, sie bildet das Medium der Verständigung und was sonst noch dafürspricht, die tägliche Wirklichkeit und die ihr zugeordneten Emotionen seien das Wahre und Angemessene. Was spricht dafür? Das bißchen Dauer? Hat nicht die Not den Vorzug, die am Ende steht - oder die Nacht, die ihr folgt? Die Antwort ist zufällig. (Februar 1962) Brotgelehrtheiten. - Rei den Juden heißt es »Du sollst die Thora nicht als Pflug gebrauchen«, das heißt mit der Lehre nicht dein Brot verdienen. In der neueren Zeit ist dies auch nicht die Regel gewesen. Descartes und Spinoza treiben Philosophie nicht um Geld. In der französischen Aufklärung wurde man Schriftsteller, zur Zeit des deutschen Idealismus Professor. Der Einfluß auf den Inhalt ist offenkundig. Die Intellektuellen des 18. Jahrhunderts dienten der Emanzipation des Bürgertums und die deutschen Philosophen seiner Einrichtung im Bestehenden. Beides waren gesellschaftlich notwendige Prozesse, und deshalb war die Lehre fortschrittlich und behielt ihre Gültigkeit. Sie formulierte adäquat eine geschichtliche Konstellation. Die theoretischen Leistungen, die von der Gesell-
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schaft heute honoriert werden, dienen ausschließlich der Beherrschung, sei es der Natur oder der Menschen. Der Kulturkonsum gehört dazu, auch der auf höchstem Niveau. Eine kurze Zeit noch ist alles feil, selbst die Wahrheit. Aber weil sie, die nur ist, sofern sie allein um ihrer selbst willen gedacht wird, nur dann sich auftut, wenn die Geschichte ihrer bedarf, das heißt, wenn sie zu etwas dient, verwandelt sie sich in der verurteilten Gesellschaft in ihr Gegenteil, die Unwahrheit. Auch die anständigen Theaterstücke, von philosophischen Protesten, Analysen, Diagnosen, Interpretationen schon gar nicht zu reden, haben den Charakter der Ware angenommen, deren Konsum auf industriell erzeugten Bedürfnissen beruht, sie haften selbst dem Wort noch an, das im Schmerz darüber geschrieben ist. So wie das Exemplar einer Warengattung, das der Hersteller den Seinen zu Hause schenkt, von der Aura des Kaufladens umgeben ist, für den es bestimmt war, so wird der Bereich der Liebenden, wie wahr er sei, von der totalen Sinnlosigkeit mitbestimmt, die die vermarktete Sprache allein noch auszudrükken vermag. Mit der Thora zu pflügen war einst ein Widerspruch, heute besteht nicht einmal mehr der Unterschied, Gut und Böse. - Der Unterschied von Gut und Böse: wenn der Nachbar bös ist, kann, wie das Sprichwort sagt, der im Haus daneben nicht gut bleiben, er wird ihm ähnlich. Wenn jedoch der Nachbar gut ist, braucht der andere es ihm noch lange nicht nachzutun. Das ist die Soziologie der Moral. Wer gut ist, wird zum Märtyrer, selbst wenn es auf sublimste Weise sich vollzieht. Soweit einer leben will, so weit muß er bös sein und wäre es nur durch die Teilnahme an der Grausamkeit, durch die sich die Menschheit am Leben erhält. Die Konsequenz der Güte ist der eigene Untergang — oder das ewige Leben? - Ganz sicher nicht, wenn es einer im Sinn hat. Der Fluch ist die Wahrheit. — Wenn es möglich wäre, zehn, hundert, eine Million Jahre nach dem Tod, in irgendeinem Augenblick, in dem einer zu Staub, zu einem Wurm, zu Nichts geworden ist, das Ich und die Erinnerung zurückzuerlangen und den Tag der Liebe wiederzusehen, den er heute erlebt, und mit dem Nichts zu vergleichen, das er dann ist — wenn das möglich wäre, dann
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würde er die Sehnsucht nach dem Paradies empfinden, in das er niemals gelangen wird. Was er erführe, gilt im Leben schon für jeden Abend, jedes Ende, jeden vergehenden Moment des Glücks, und wer es weiß, nimmt die Erfahrung in die Erwartung des Erwachens und der Dauer mit hinein, die für die Spanne des Lebens im Gegensatz zum Nichts gestattet ist. Auf die künftige Liebe fällt ein Schatten, der Fluch, daß es kein Verweilen gibt, der Fluch der Vertreibung. Die Liebe, die dadurch blasser wird, verdient ihren Namen nicht. Die sich dagegen aufbäumt, ist eitel. Der Fluch ist die Wahrheit. Die Kulturkonsumenten. - Es gibt nicht bloß herabgesunkene, provinziell gewordene Kunst, es gibt auch herabgesunkene, halbgebildete Verhaltensweisen. Der Begriff des Kitsches ist zu gut dafür. Eine davon ist das Angaffen von Bildern mit Namen, das Anhören sogenannter guter Musik, das Einheimsen von Lektüre, kurz, die aneignende Rezeption halbverstandener Kulturprodukte auf Grund ihrer Geltung. Dazu gehört durchaus das Bewußtsein, vielmehr die Selbsttäuschung, man genieße sie. Die Vorstellung entsteht zumeist wohl aus narzißtischer Genugtuung, mit sowas Berühmtem oder Pikfeinem in Berührung zu stehen, während ein geschicktes Flickwerk mit demselben Stempel es genauso täte. Der Mechanismus ist der Begeisterung ähnlich, die das geistvolle Wort des Genies auslöst, ohne daß der damit Bedachte es von einer Trivialität zu unterscheiden wüßte, oder umgekehrt der Unfähigkeit, der Wahrheit im Munde des Genies, die dem Wortlaut nach der Trivialität des Spießers gleicht, auch nur anzumerken, was die beiden voneinander trennt. Die Rezeption der Kulturprodukte als Sammeln von Bildung, profitable Freizeitgestaltung - wieviel flacher ist sie als der unmittelbare Gebrauch, den die Feudalen davon machten, unter denen die meisten entstanden sind, Werkzeuge des Prestiges, pompöse Dekoration, oder als der Stolz der Kaufleute, die es den Feudalen nachtun wollten und sie rasch überflügelten Heute aber, wo Kulturproduktion längst sich selber aufhebt, den sogenannten Schützen der Vergangenheit nachzulaufen ist bloß die andere Seite, vielmehr ein System der Verrohung, Verbauerung, die das Schicksal Europas ist, eine Art armseliger Fetischisierung, Verdinglichung des Geistigen, das — eingespannt in Zweckzusam-
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menhängen - einmal seine Unabhängigkeit bewies und sogleich stirbt, wenn es zum Zweck erniedrigt wird. Die Massenbesuche der Museen und Theater gehören zu den harmlosen Vorübungen zur Massenverehrung anderer Art. Grand Guignol. — Das Publikum im Grand Guignol um die Jahrhundertwende hat wahrscheinlich der Zivilisation Ehre gemacht. Ein großer Teil hatte die Grausamkeit in sich nicht verdrängt, sondern so weit überwunden, daß die Reflexion darauf möglich war. Der Friede herrschte, und der Gedanke brauchte sich nicht mit dem wirklich Existierenden zu afsoziieren. Die Sensation besaß Distanz zur Realität. Je weniger zivilisiert ein Publikum, desto realistischer die Emotion angesichts der dargestellten Grausamkeit. Der übermäßige Abscheu vor bloß gespielten, dargestellten oder freiwillig ertragenen Schmerzen, wie etwa beim Roxkampf, läßt auf eine große unbewältigie Quantität von Grausamkeit im eigenen Innern schließen. Sie haben Angst, sich die verbotene Freude zu gestatten, und warten auf den passenden Vorwand, sie zu betätigen. Insgeheim aber sitzen sie stets auf der Lauer. Nicht wenige machen beim Gruselstück schon den Übergang zur Realität: »Ja«, sagen sie, »etwas daran ist wirklich wahr, es gibt viele solche Schurken, die ihr Opfer bei wachem Bewußtsein sezieren.« Der Teil des Publikums, der zu solchen Emotionen neigt, gleicht den Abstrich an Genuß, der aus dem Mangel, ihn sich einzugestehen, resultiert, dadurch wieder aus, daß der Reiz verdoppelt wird. Zu den Martern, die das Opfer erleidet, gesellt sich das Vergnügen, den Mörder als den Teufel angezeigt zu sehen, an dessen Stelle man in Wirklichkeit einmal selber quälen wird. Zur geheimen Lust gesellt sich die Vorlust; die übertriebene Wut gegen den gespielten Mord bezieht ihre Stärke aus dem Trieb, ihn wirklich zu begehen. Wahrscheinlich hat das Gefallen der Generation nach dem Zweiten Weltkrieg an starker literarischer Kost mehr mit solcher simplen Doppelbödigkeit zu tun als mit dem Vergnügen der habitues des Grand Guignol in den Zeiten, als der Erste noch nicht ausgebrochen war. Von der Psychoanalyse kuriert. ~ Die psychoanalytische Theorie, die als Theorie fragwürdige Kraft besitzt - ihre bedeutsamste Wir-
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kung war es, der Theorie neue Erfahrungen zu liefern —, beruht wesentlich auf der Übertragung. Der Patient gewinnt zum Arzt eine so bedeutsame Beziehung, daß beim Erwachsenen sich einstellt, was in solchem Umfang nur beim Kind und Jugendlichen die Regel ist: ein mimetisches Verhalten in allem Entscheidenden. Im Grund dient das Aufrollen der Kindheitsgeschichte, das Wiederzum-Kind-Werden, der Herstellung eben dieses Zustandes. Das Bedenkliche dabei ist nur, daß der Analytiker dem wahren Vater und erst recht der liebenden Mutter sich nicht gleichmachen kann. Es gibt die sogenannte Gegenübertragung, das heißt seine eigene Neigung zum Patienten, aber das ist ein kümmerlicher Ersatz. Die Psyche des Analytikers pflegt naturwissenschaftlich, pragmatistisch, rationalistisch im bedenklichen Sinn zu sein, und da gerade diese Nuance, die Intonation, die Gestik des Denkens und Fühlens mimetisch übernommen wird, ist es die Trockenheit, die bei aller Empfehlung der Freiheit gewöhnlich auf den Kurierten übergeht. Beim Beichtvater geht es zuweilen gar nicht so unähnlich zu. Kleine Tugendlehre, - Die Tugenden waren für die kleinen Leute; ich meine die kleinen Tugenden wie Freundlichkeit, Bescheidenheit, Ehrlichkeit, nicht Ritterehre, Tatendrang und Tapferkeit, die gehörten zu den Rittern und Kaufherren. Man lernt, was man braucht, und die kleinen Leute brauchten die kleinen Tugenden. Jetzt aber hören die kleinen Leute auf. Sie waren große Leute ohne viel Kapital, petits bourgeois, irgend für sich selber sorgend, schlechter als die großen, aber doch für sich. An ihre Stelle treten die Teilnehmer am Kollektiv, brauchbar für eine Funktion, jeder das Kollektiv darstellend, immer nur ein anderes als sich selbst. Das Selbst, so schwach es auch war, trug einmal die Tugenden, jetzt zählt nur noch der Spielraum zwischen höchst seltenen Grenzfällen der Brauchbarkeit für eine bessere Funktion und dem Versagen. Alles ist genormt. Je vielfältiger die Möglichkeiten der Freizeit, Museum, Fußball oder Ferienfahrt an die Adria, desto genormter sind die Teilnehmer. Der Tugenden bedarf es nicht mehr, du sollst nicht auffallen und funktionieren. C'est tout. Für den Elfenbeinturm. — Darf man sich über die Ordnung beklagen, von der man profitiert, deren Ruhe und Sicherheit vielleicht
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genau dem Unrecht zu danken ist - wenn auch nur zu einem kleinen Teil —, daß man sich als Schriftsteller denunziert? Gibt es Freiheit ohne Sdirecken - für die anderen —, für die Armen, die Schwachen, die Tiere? Der Schriftsteller, der publizieren kann, nimmt an den Bedingungen teil, die er verändern will. Weiß er, was die Folge wäre, wenn auch nur der kleinste Mißbrauch der Regierung durch seine Attacke verschwände, es könnte zum Guten oder zum Schlechten sein? Erst dort, wo er so sich exponiert, daß er des Schutzes verlustig geht, wie die Avantgarde der großen Aufklärung und - mehr noch - ihrer Vorläufer, nur in dem Maß, in dem er der Gesellschaft entsagt, hört die Kritik auf, sie zu schmükken. Heute und Gestern unterscheiden sich. Im 18. Jahrhundert diente Literatur einer Welt, die besser werden konnte, heute läuft jede Veränderung, die real noch zu erwarten steht, auf weiteren Zerfall hinaus. Der Gegner des totalitären Schreckens kann ihn nur beschleunigen. Die Philosophen der untergehenden Antike zogen sich aus der Öffentlichkeit zurück. So wie damals ist es zu spät. Über Erziehung. - Der Unterschied zwischen guter und schlechter Erziehung läßt zuweilen sich so erörtern, daß dort, wo die entscheidenden Bedingungen für die gute erfüllt sind, manches Beiherspielende noch aufgenommen wird. Zum Entscheidenden, das ja schon gegeben sein muß, gehören die Geborgenheit bei den Eltern, die Liebe und Intelligenz der Mutter, die aufrechte, der Tradition verbundene und zugleich unabhängige Gesinnung des Vaters, eben darum die Begriffe, für die er einsteht. So bedeutsam die subjektive Verfassung des Erziehers sein mag, die mit ihr in Wechselwirkung stehende objektive Lehre, der er zugehört, bestimmt durch ihre feinsten Nuancen, die sie in seiner Zeit, seiner sozialen Schicht, seinem individuellen Verständnis gerade angenommen hat, die Geistigkeit des Kindes. Dort, wo das höchste Bekenntnis der deutsche Patriotismus ist, wird ein anderer Mensch aufwachsen als im Glauben an die Einrichtung der Gerechtigkeit in der Welt als wirklich ersehntes Ziel; nicht bloß, weil der Inhalt ein anderer ist oder weil er jedem Wort und jeder Geste einen anderen Charakter verleiht. Die Bedingungen für eine gute Erziehung sind davon nicht unabhängig. Es kommt auch darauf an, wozu man sich bekennt. Die Juden in der Diaspora hatten zur
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Gerechtigkeit, zu Gott dem Gerechten als Höchstem sich bekannt und die Verfolgung erfahren. Nun aber mußten sie vor dem Unrecht nach Israel fliehen, und sie gründeten dort einen Staat. Wer vermöchte, was aus der immanenten Logik des Nationalismus der ganzen Welt, der Uniformierung der untereinander konkurrierenden Staaten notwendig sich ergab, den Juden vorzuwerfen. Wie man einmal zum Staatsbürger werden mußte, um innerhalb eines Landes mitmachen zu dürfen, muß man jetzt zum Staat werden, um innerhalb der Welt zu existieren. Nur tritt eben jetzt das Vaterland Israel an die Stelle der Gerechtigkeit, der bestimmte Patriotismus anstelle der verschwommenen Erwartung für die Menschheit. Ein Israeli könnte mich auf gut Hegelisch belehren, unsere tapferen Soldaten, Kibbuzim und Pioniere seien die bestimmte Negation des Ghettos, ohne die jene Hoffnung ein abstraktes Gerede, das Warten auf den Messias die schlechte Unendlichkeit sei. Dem kann ich nicht widersprechen, aber auch der Trauer mich nicht erwehren, daß es der Wiederholung des Zugs ins Heilige Land ohne den Anbruch der richtigen Zeit bedurfte, und die Angst nicht überwinden, daß die Verführung des Widerspruchs nicht weniger ausbleibt als beim preußischen Vorbild, mit dem Hegel sie demonstrierte. Formen des Egoismus. — Auch die guten Reaktionen der Menschen, noch die des differenzierten Einzelnen, sind eingelernt und dienen der Auseinandersetzung mit der Umwelt zugunsten der eigenen Person. Sie mögen so unselbstisch wie möglich sein, das Leben in Gefahr bringen, das eigene und das der anderen, um derentwillen es eingesetzt wird, getragen sind sie vom Impuls der Erhöhung, der Steigerung des Selbsts, das sich negiert. Ja, das eigene Selbst ist um so mehr das immanente Ziel, je besser die Handlung ist. Der Unterschied zu den schlechten Reaktionen liegt in der Art des intendierten Selbsts. Bei den schlechten ist es die Enge, die feste, dinghafte, sture Ichheit, bei den Guten das Ich, das in ein Leben umgeschlagen ist, das die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufgehoben in sich selber trägt. Die Reaktionen sind eingelernt und zugleich die Wahrheit, auf die alles Lernen sich letzten Endes beziehen muß.
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Zu einei- Theorie Freuds. — Die Theorie Freuds, daß die Mutter des jungen Knaben erste Liebe sei und der Mann noch dazu neige, in jeder Frau zugleich die Mutter zu sehen, klingt leicht wie eine Denunziation. Ich meine, er hat mehr recht, als noch er selbst es ahnte. Die höchste Liebe noch zur jüngsten Frau kann in sich, aufgehoben, die höchste Wiedergabe des Geschenkes sein, das einst das Kind von der liebenden Mutter erhielt. Ihr Blick auf den kaum geborenen Sohn strahlt in der Sehnsucht nach der Geliebten auf sie zurück. Der Liebende meint einzig die Geliebte, für die er jedes Hindernis besiegt; selbstvergessen, im Traum, im unbefleckten Wort, der Geste, erscheint die Mutter als Seele zugleich und Ziel seiner Liebe. Wo das nicht ist, wo sie nicht gegenwärtig ist und ahnungslos ersehnt zugleich, bleibt Liebe kraftlos und leer. Freud hat mehr recht, als der Liebende ahnt. Ratschlag für Lehrer. -BeimLehren in der Schule kommt viel darauf an, dem Schüler die Befriedigung zu gewähren, daß er durchs Gelernte mehr weiß, schlauer wird als andere. Das geht nicht durch Mahnen und Versprechen, dem man die Absicht anmerkt, das Pauken schmackhaft zu machen. Eher noch leistet es — vom Stoff abgesehen, der danach sein muß (List der Demagogentricks!) — der ehrliche Gestus der Solidarität, der Mitverschworenheit, das geistige Augenblinzeln, das Einverständnis gegen die Übermacht der Welt und der stille Hinweis, ihr ein Schnippchen zu schlagen. Mit dem Schauspielen, der Pxoutine aber ist es da nicht getan, das Vermögen der Einfühlung bei den Schülern ist unbewußt und unbestechlich. Der Lehrer, der es nicht ganz ehrlich meint, der nicht eins ist mit der Sache, dem Schüler und dessen Angst, bleibt besser beim Hergebrachten und am Ende bei der Autorität. Er kann besser pauken als erziehen - und auch das soll man nicht geringschätzen, solange er das Nützliche paukt. Abwehrmechanismen. — Der psychischen Mechanismen, den Schmerz über ein schlimmes Ereignis, das einen nicht selbst betrifft, abzuwehren, sind viele. Vom Schließen der Augen, von der Hand über den Augen oder gar des Lachens angesichts einer qualvollen Szene in Kino oder Theater bis zur Feststellung der Hinterbliebenen, daß der Verstorbene leider selbst daran schuld sei, läuft
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eine lange und differenzierte Reihe unwillkürlicher, unreflektierter Schutzreaktionen. Solchen Mechanismen verwandt ist die Tendenz des Gemeingeistes, das heißt des Publikums und seiner Kulturproduzenten, die traurige Geste wie das traurige Leid durch Übertreibung zu karikieren. Ein großer Teil des sogenannten Humors hat seit je davon gelebt. Wie die kleinste Nachlässigkeit in der Toilette einer schönen Frau, die geringste Platitüde eines hellen Geistes zum Ziel der Betrachter wird, so bricht beim leisesten Versprechen des Schauspielers in der todernsten Szene das Theater in wieherndes Gelächter aus, denn die Hingabe ans andere Leben, die Identifikation mit dem, was dem eigenen Trott zuwiderläuft, ist ihnen unnatürlich. Das sogenannte befreiende Gelächter denunziert die Hingabe ans fremde Leid als Zwang. Über Theorie und Praxis. - Die Lehre von Marx. Theorie und Praxis seien eins, ist schon in der Kantischen Philosophie beschlossen. Erkenntnis gilt dort als Produkt der Tätigkeit des Subjekts, die Welt als Resultat der Konstitution, und eben das Gemüt, das sie transzendental bestimmt und empirisch reflektiert, besorgt auch ihre praktische Verbesserung. Dieselben Ideen, die regulativ die Erkenntnis lenken, weisen praktischer Vernunft, dem Handeln die Richtung an. Reides steht unter demselben Zeichen, ist Auswirkung einer und derselben Kraft. Die Ansicht, die Erkenntnis, die sich selber oder gar die von ihr selber produzierte Welt hypnotisiert, fällt dem notwendigen Schein des eigenen Resultats, der allgemeinen Ideologie der Erfahrung zum Opfer wie das Subjekt, das die Geschichte, die von den Menschen gemacht wird, bloß als ein Schicksal betrachtet, in der Entfremdung verharrt. Marx verdankt Kant mehr noch als einst Max Adler gesehen hat. Gesundheitspolitik. — Der Arzt heute hat im allgemeinen ein Interesse daran, daß ein Mensch, der krank ist, gesund wird, jedoch keines, daß er gesund ist und nicht krank wird. Die sogenannte Standesehre vermag den Zustand höchstens zu verschleiern, nicht zu ändern, er ist in der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Lage der Mehrzahl von Ärzten begründet. Die psychologische Ausnahme bestätigt die Regel. Sie bestimmt auch das Verhältnis von Arzt und Heilmittel. Nicht bloß wird die Richtung, in der die Produktion
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medizinischer Chemikalien sich entwickelt, vom ärztlichen Interesse beeinflußt, sondern die vorhandenen Chemikalien, die der Erhaltung der Gesundheit dienen könnten, werden nur im bescheidenen Maß angewandt. Die pharmazeutische Industrie hat dabei manchen Vorteil im höheren Interesse des Bundes mit der Ärzteschaft zu opfern, und die Presse pflegt es, trotz der einträglichen Reklame, lieber mit dem Doktor zu halten. Die Publicity, die dem Nachteil der Gegenmittel gegen Cholesterin, der Überbewertung künstlicher Vitamine zuteil wird, von einem rezeptfreien schädlichen Schlafmittel ganz zu schweigen, ist unendlich umfassender als etwa die Aufklärung über das unnötige Leiden der Schlaflosigkeit von ungezählten Tausenden, die mangels des Konsums von Barbitursäure traurig, anfällig und leistungsunfähig werden. Die nicht unbegründeten Bedenken gegen Herzmittel, die, rechtzeitig konsumiert, den Herzinfarkt verhindern könnten, erscheinen unendlich gewichtiger als die Anzahl der gehetzten Menschen, die durch sie vor einer Katastrophe zu bewahren wären. Daß solche Beispiele zufällig, unexakt vergröbert sind, beweist eben das, wofür sie stehen, daß die Ärzteschaft nur wenig an inhaltlicher, ins einzelne gehender Aufklärung über Mittel zur Erhaltung der Gesundheit interessiert ist und lieber, versagend, von Diät redet als von den Pillen, die sie überflüssig machen. Sie kehren gegenüber dem Patienten den hohen Fachmann heraus, den modernen Magier, den ein Abgrund vom Laien trennt. Während bedauernswerte höhere Schüler, die in ihrem Leben nichts mit Physik zu tun haben, mit Algebra, analytischer Geometrie und gar Infinitesimalrechnung gequält werden, erfahren sie kein Jota von Methode und Funktion der Medizin. Der Kunde des Arztes soll nicht fragen und fordern, seine Rolle ist, zu leiden, er ist Patient. Der Arzt sucht nicht Klienten wie der Produzent die Abnehmer, er wird vielmehr gesucht; und je weiter die Gesellschaft fortschreitet, desto rascher der Rückschritt zum Privileg, je mehr die Rolle des praktischen Arztes mit der des Testmechanikers und Agenten von Operationsspezialisten identisch wird, desto ausschließlicher wird er zum Auftraggeber und zugleich zum Vertreter der Pharmazeuten. Dem Publikum gegenüber ist er omnipotent. Die Gesellschaft beschert ihm das Monopol. Die Milliarden gehen in die Bomben und Raketen, die Spitäler und die Schulen bleiben zu klein. Die Leiter können daher
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sehalten und walten, ohne dem freien Wettbewerb im Ernst ausgesetzt zu sein. Das Übermaß an Arbeit erspart die Phantasie. Der einzige Grund, die Menschen gesund zu halten, wäre der Umstand, daß die Vielzahl der Kranken schon lästig ist; aber die Ärzte sind davon so in Atem gehalten, daß sie nicht auch noch an die Gesunden denken können. Überdies tut die Masse der Wartenden trotz alledem auch gut. Die chinesische Sitte, daß einer seinen Arzt zu bezahlen hat, solange er gesund war, und damit aussetzte, wenn er krank wurde, war der feudale Wunschtraum des Bürgers, den er heute vergessen muß. Die Universitätsphilosophie und ihre Vertreter. - Lehrstühle in der philosophischen Fakultät, besonders der philosophische Lehrstuhl selbst, gewähren noch die Möglichkeit, differenzierte, kritische Wahrheit, Aufklärung relativ unbehindert, ohne Rücksicht auf Publikum, Verleger, Fortkommen und Behörden mit der Aussicht auf weitreichende Wirkung zu betreiben. Zur kritischen Wahrheit gehört der liebende Gedanke, die Sehnsucht nach dem, was anders ist, ja, sie sind miteinander identisch. Weil aber Wahrheit und Liebe seit Jesus Christus und lange vor ihm, seit es eine Gesellschaft gibt, störend und daher gefährlich sind, muß der Zugang zu philosophischen Lehrstühlen, besonders in Zeiten wie den gegenwärtigen, in Perioden des Zerfalls, des Rückgangs produktiver Phantasie, den Ungefährlichen reserviert bleiben, den Autoritären, den Kalten und Pedanten, den Zuverlässigen. Durch zwei Umstände vor allem ist in Europa dafür gesorgt. Durch die schlechte Bezahlung — nur beschränkte Geister lassen sich auf eine solche Karriere ein — und durch die Wachsamkeit der Fakultäten — sie lassen keinen heran, der nicht kuscht. Zwischen dem Gang der Universitäten und der Geschichte besteht eine prästabilierte Harmonie. Notwendige Eitelkeit. - Es ist wahr, ein Einzelner kann den Weltlauf nicht ändern. Aber wenn sein ganzes Leben nicht die wilde Verzweiflung ist, die dagegen sich aufbäumt, wird er auch nicht das unendlich Ideine, bedeutungslose, eitle, nichtige bißchen Gute zustande bringen, zu dem er als Einzelner fähig ist.
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Verdrängte Schuldgefühle. — Die kollektiven Schuldbekenntnisse in Deutschland nach dem Sturz des Nationalsozialismus waren schon deshalb falsch, weil der ungebrochene Begriff des Kollektivs, mit dem sie sich dabei identifizierten, das »Wir«, eben die Denkart bezeugte, die den Nationalsozialismus ermöglicht hatte. Ein Schuldgefühl jedoch ist wirklich vorhanden. Nur äußert es sich in der mangelnden Achtung der Regierenden und Regierten vor allem, was mit diesem Volk zu tun hat, im Zynismus, mit dem das Intrigenspiel der Macht ohne den leisesten Gedanken an irgendein Anderes getrieben wird, unangekränkelt von anständigen politischen Traditionen. Alle sind sich darüber einig, daß die großen Worte Phrasen sind, im besten Fall Erkennungsmarken. Das unantastbare Recht jedes Einzelnen, die Menschenwürde, der Staat als Diener auch des letzten Bürgers sind Erkennungsmarken weltfremder Philosophen, wenn nicht von Schlimmerem. Die Abwesenheit jedes nicht instrumentalen Gedankens, die Ersetzung der Idee des objektiv Richtigen durch die Konzeption, die jeweils den Aspirationen der Macht am angemessensten scheint, die hämische Geste gegen jeden anderen Gedanken, die Selbstverachtung, das ist der wahre Ausdruck des Schuldgefühls dieser Menschen. Fortzeugend muß das Böse, das geschehen ist, daher — wie es bei Schiller heißt — Böses gebären, trotz aller Opfer der Einzelnen, die ihm widerstanden und widerstehen; der Volksgeist ist finster wie
Schopenhauer als Optimist. - Schopenhauer war, im Entscheidenden, noch ein Optimist. Das Leiden der Welt haben auch die offiziellen Optimisten bis zu Leibniz und Hegel nicht geleugnet, nur das beruhigende Märchen dogmatischer Metaphysik hinzugedichtet. Kant allein hat das summum bonum als bloße Hoffnung dargestellt. Indem Schopenhauer die Verneinung des Willens zum Leben, also das Ende des Leidens, in einzelnen Fällen als metaphysische Realität gelten läßt, indem er, mit anderen Worten, so etwas wie eine Ursünde. nämlich die Abtrennung eines Einzelwillens von der Alleinheit und umgekehrt dessen Rückkehr ins Eine, die Versöhnung, auf Grund der Einsicht als Quietismus ans Ende des Systems setzt, fällt er in den optimistischen Dogmatismus zurück. Er meint im Grund, die Gier und Langeweile kommen
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nur dem Einzelwillen, nicht dem Willen schlechthin zu. Was aber heißt dann noch, daß ich von meinern Wesen auf das Ding an sich zu schließen fähig sei? Es ist wahr, daß seine positive Metaphysik die Erlösung nicht mit der eigenen Lehre identifiziert oder argumentierend gegen die Realität des Elends ausspielt, wie die anderen es tun, aber die Anwendung kategorialer Strukturen wie mein und dein intelligibler Charakter, Anfang und Ende, Schuld und Einheit auf eben das Jenseits, vor dem doch die Kategorien versagen, ist ein Traum, selbst wenn die Deutung des Inneren aller Wesen nach Analogie der Erfahrung des eigenen Innern ein wahrlich erhellender Gedanke ist. Schon Leibniz mit seinem Begriff der Begierde, dem appetit, der zusammen mit der Perzeption die Monade bestimmt, und noch Bergson mit dem elan vital und der evolution creatrice haben davon gelebt. Am deutlichsten tritt der metaphysische Optimismus Schopenhauers in seiner Übernahme des Mythos der Seelenwanderung hervor, wo nicht bloß ein verschiedenes transzendentes Schicksal der Einzelseelen, sondern die reale Möglichkeit eines erlösenden Ausgangs für bestimmte unter ihnen behauptet wird. Die Trennung vom Einen höre auf. Es gehört ein starker Glaube dazu, die Kategorie der Einheit für weniger scheinhaft zu halten als die der Vielheit, die Projektion des Alleinherrschers für realer als die der Aristokratie oder des Liberalismus. Ist die individuatio Resultat subjektiver Vermögen, dann ist die Einheit nicht weniger als die Vielheit ihr Produkt, und es hängt von historischen Bedingungen ab, was von beiden jeweils vorwiegend hypostasiert und was als bloßer Schein betrachtet worden ist. Nach der kritischen Philosophie sind beide notwendiger Schein, und der Glaube ans Ende der Trennung entspringt dem praktischen Interesse der Vernunft der gequälten Subjekte, die nicht zu fassen vermögen, daß die Erlösung aus dem unendlichen Unheil — nicht zu fassen ist. Was immer ein menschliches Wesen als Ende des Leidens sich träumt, Tod und Auferstehung, was immer es absolut setzt, himmlische und irdische Liebe, ist ein Nu der schlechten Unendlichkeit. Die gute Unendlichkeit ist - ein zweifelhaft philosophischer Trost. So behält schließlich Schopenhauer gegen sich selber recht. Das vierte Buch seines Hauptwerkes erweist sich als eine Entgleisung, ein lapsus, den die anderen drei zu widerlegen vermögen. Daß die Erfahrung der Quintessenz der
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Welt zum Quietiv wird, ist ein psychologischer, kein metaphysischer Prozeß. Das Leiden ist ewig. Naturgeschichte. — Wofür Menschen im besten Glauben, ja nach ihrem autonomen Urteil ihr Leben hinbringen und einsetzen, hat vergängliche, relative, höchste empirische Bedeutung, die sogenannten höheren Dinge nicht weniger als die materiellen, der physische Genuß und der Profit, brutale Sinnlichkeit der Macht. Das Opfern fürs Vaterland gehört bestenfalls in die Naturgeschichte. Wie Bienen, Ameisen oder sonstige Herdentiere gehören die Menschen zum Stamm, nur daß es vorläufig durchs flüchtige Bewußtsein vermittelt ist. Hält einer der Geliebten oder die Mutter den Kindern, der Sohn dem Vater die Treue, so entspricht es den wechselnden Sitten, wie zu anderen Zeiten, an anderem Ort die Tötung der Älteren. Das Spezifische daran ist Schein, nichts bleibt im sogenannten Höheren höher als im Niedrigen, es vergeht, als ob es nie gewesen wäre, wie die Menschheit und die Erde, auf der sie haust. In der Erinnerung der Menschen pflegt der Schurke, wenn er nur gewaltig genug war, unter dem Titel »der Große« länger zu dauern als der harmlose Tor, aber selbst der Schurke wie das Genie verfallen dem Vergessen, längst ehe die Menschheit auf natürlichem Weg hinuntergeht. Das Ende der individuellen Liebe. - Wer wen liebt oder noch liebt oder nicht mehr liebt und warum, machte einmal den Inhalt von Theaterstücken, Novellen, Romanen aus, die Meisterwerke waren. Heute ist die individuelle Liebe gesellschaftlich überholt, wenn auch nicht aufgehoben. Der Gegenstand ist daher herabgesunken, viel weiter als in den Zehnpfennigbüchlein, die es schon vor hundert Jahren gab und die noch ernst genommen wurden. Die Leser der Wochenschriften ahnen schon, es ist vorbei. Noch knallt man den sogenannten Partner nieder, wenn es kompliziert wird, schon, weil die Pistole locker sitzt; wahrgenommen wird es als Sensation, als etwas, das die Flüchtigkeit, das Vergessen schon an sich trägt, wenn es erfahren wird. Was einem etwas bedeuten soll, muß einen selber angehen, und das ist heute gerade noch die Laufbahn, der Erfolg, die Macht, das andere ist Beiwerk. Geschlechtliche Verbindung kann hineinspielen, sie selber ist kein Ziel mehr, das mehr meint
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als bloß sich, daher sind auch die Hemmnisse abgebaut, die Liebe ist schal und enterotisiert; sie wäre reif, geplant zu werden. Eine Schwäche der Theologie. — Die Versuche Tillichs und so vieler anderer, einen Rest von Theologie zu retten, indem sie von der tieferen Bedeutung, dem Sinn, den Worten reden, die der erfahrbaren Welt, insbesondere den menschlichen Handlungen zugrunde liegen sollen, werden in fortschrittlichen Ländern - nicht etwa in Frankreich und Deutschland — als Versuche der Glorifikation des Bestehenden durch das Jenseits zu einer Zeit, in der es dazu im Grunde zu spät ist, anerkannt und gelobt. Aber in ihnen enthüllt sich am Ende die Schwäche der Theologie. Soweit ein Anderes als das Bestehende sich sagen läßt, erscheint es vielmehr in seiner wahxen Negation. Nichts ist als das Bestehende, und eben dies ist im je nächsten Augenblick ein Nichts. Keine Handlung hat einen anderen Sinn als ihre Absicht und ihre Wirkung, und beide sind im Nichts in der Unendlichkeit, wie die ganze Erde im Universum. Die Schandtat und das Martyrium schwinden mit der flüchtigen Erinnerung, die sie noch unterscheidet, rasch ins Nichts, wie jeder solcher Unterschied und alles. Wahr ist die Angst und der Schmerz, den jene fürchtet, solange beide dasind, und dann ist es, als ob sie nicht gewesen wären. Gesellscliaftlich notwendiger Optimismus. - Nach dem Sinn des Christentums und der Regel weniger Mönchsorden bietet das Bestehende keinen Grund zur Freude. Es ist gekennzeiclmet durch Unrecht und grauenvolles Leid. Tag und Nacht sich dessen bewußt zu bleiben war selbstverständlich, das Schlafen in Särgen ein Symbol, der jüdischen Sitte ähnlich, am höchsten Feiertag das Totenhemd zu tragen. Der Gedanke an Glück war mit dem an die ewige Seligkeit eins, er bezog sich auf ein Anderes als die Welt, wie sie ist. Zu solcher Gesinnung bildet seit je das nationale Brauchtum den Gegensatz. Dienten im späten Rom die circenses dem Vergnügen als Lebenszweck, so haben die Völker der neueren Geschichte gesunde Fröhlichkeit stets hochgehalten. In veränderter Gestalt bilden die wackeren Leutchen, die in den Gemälden des Bauernbreugheis gefeiert werden, noch Ziel und Zweck der Massenmedien heute. Die Menschen positiv zu stimmen, froh und le-
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bensbejahend, ist die Aufgabe der Kultur, wie grauenvoll ihr Fundament, die Einrichtung der Erde, die heillose Keite der Geschichte und der Tod in Schmerz und Angst und Elend, immer sei. Ohne Optimismus der Regierten haben die Regierungen es allzu schwer. Die bejahende Gesinnung aber, in der das Grauen der Wirklichkeit nicht aufgehoben ist. dient bloß seiner Verewigung. Suum esse conservare. - »An sich« ist nichts gut oder auch nur besser als anderes, noch nicht einmal die sogenannte Nächstenliebe oder gar die Gerechtigkeit. Im Hinblick auf bestimmte Situationen jedoch gibt es Anständigkeit, Generosität, Hingabe, ja so etwas wie richtiges Verhalten, das freilich dem, was in der Regel so heißt, in der Regel zuwiderläuft. Das einzige Kriterium solcher Richtigkeit freilich ist das vergängliche Subjekt - um so vergänglicher, als es im Ernst richtig zu reagieren vermag. Der stoische Grundsatz suum esse conservare fordert unmittelbar sein Gegenteil, die Preisgabe des eigenen Selbsts - wenigstens sofern suum esse die wahre Vernunft bedeutet. Ihr Sinn besteht darin, mit dieser Welt nicht verträglich zu sein. Die Macht des Interesses. - Entscheidend heute ist die Interessenlage, das heißt die ständig wechselnde Konstellation der Aussichten auf Macht und Vorwärtskommen. Der Unterschied gegenüber anderen historischen Situationen liegt in der begrifflichen Klarheit und bewußten Ausschließlichkeit der Motive. Die Beziehungen zwischen einzelnen Menschen, Freundlichkeit, Gleichgültigkeit und Haß werden genau der Konstellation nach geregelt, widerstrebende Impulse oder gar Überzeugungen kommen schon gar nicht mehr auf; was nicht instrumental gemeint ist, erscheint notwendig als Ausfluß von Aberglaube, Schwäche, Provinzialität. Der entschiedene Rückgang jeder anderen Eigenschaft im gesellschaftlichen Umgang ist die notwendige Konsequenz. Dialektik der Aufklärung; die ewigen Werte sind leerer Wahn, und doch wird das Leben ohne zwecklose Treue so schal wie er selbst. Die Vermittlung des Interesses macht den Unterschied, aber nicht die bloß begriffliche, sondern die nicht völlig erhellte Verbindung von menschlicher Beziehung und Interesse, das als nicht reflektiertes vielleicht auch nicht bloß Interesse ist.
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Ausgeträumt. — Der Traum vom Messias, des Anbruchs der Gerechtigkeit auf Erden, der in der Diaspora die Juden zusammenhält, ist ausgeträumt. Er hat unendlich viele Märtyrer gefunden, unendliches Leid verursacht und Hoffnung gewährt. Jetzt sind die Verfolgten ohne Messias nach Zion gezogen, haben wie andere Völker ihre Nation und ihren Nationalismus etabliert, und das Judentum wurde zur bloßen Religion. Die in der Diaspora verbleiben, können sich entscheiden; sei es für Israel, für die Auflösung in der Nation, in die das Schicksal ihre Ahnen und sie selbst verschlagen hat, oder sie müssen als Juden provinziell werden, romantische Sektierer ohne geschichtliche Substanz. Die Diaspora ist eine Hinterwelt. Die Juden sind Überbleibsel. Ihre Situation ist der des Kommunismus und Sozialismus nicht unähnlich. Mit der ungerechten nationalistischen Gesellschaft haben die Sozialdemokraten längst ihren Pakt geschlossen, und die patriotischen Hierarchien der kommunistischen Reiche übertreffen an Starrheit die Form der Gesellschaft, an deren Stelle einmal das Reich der Freiheit treten sollte. Wer an die kritische Theorie sich hält, kann für eine der beiden Formen des Nationalismus sich entscheiden, den sogenannten kommunistischen oder den sozialdemokratischen des Bündnisses mit der Herrschaft, oder provinziell werden, romantischer Sektierer. Das Reich der Freiheit ist eine Hinterwelt. Die zur Theorie halten, sind Überbleibsel wie die Getreuen des Talmud und des messianischen Vertrauens. Liquidationen. - Nachdem die Wissenschaft und die Technik den Glauben und die ewige Seligkeit zerstörten, ist auch von der irdischen nicht viel übriggeblieben. Mit dem Hunger und der Arbeit wurde auch die Liebe eingeschränkt. Der bequemere Beischlaf ist ihr nicht günstiger als die Hörn & Hardarts der Gourmandise. Die Kirchen jedoch versuchen, der ernüchterten Welt sich anzupassen, sie sind nachsichtig gegen die Zweifelnden, bestehen nicht auf der Übernatur, geben den Himmel preis, der von Sputniks befahren wird, machen Gott zum Symbol, die Hoffnung zum Prinzip und das Paradies zur Legende. Was sie behalten wollen, ist die Ergänzung zur Gesetzlichkeit, die Leistung der Religion als Hilfe beim geordneten Zusammenleben. Doch indem die Absicht sichtbar wird, ist der Glaube schon vergangen, der Staat hat die Gesin-
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nung selbst zu regulieren, er muß zum totalitären werden, da die Religion erledigt ist. Ich traure dem Aberglauben vom Jenseits nach, weil die Gesellschaft, die ohne ihn auskommt, mit jedem Schritt, mit dem sie dem Paradies auf Erden näherrückt, von dem Traum sich entfernt, der die Erde erträglich macht. Im Genuß, im emphatischen Sinn war die Erinnerung ans Paradies noch gegenwärtig. Komische Alte. — Ältere Menschen entwickeln oftmals Vorlieben und Abneigungen, die für andere keinen Sinn haben, Anhänglichkeiten an Dinge und Verbältnisse, die zwecklos sind, Empfindsamkeiten ohne verständlichen Grund, sie werden, so heißt es, komisch, eigentümlich, man bedauert sie-im besten Fall. In Wahrheit gilt dasselbe von der Kultur schlechthin, sofern sie mehr sein soll als bloßes Mittel im Zusammenleben, Instrument gesellschaftlicher Beziehungen, des Verkehrs. Die Differenz von Sexus und Liebe, Verehrung und Gehorsam, Heroismus und Kollektivinteresse, die objektive Bedeutung solcher Differenz, ihr eigener und vermeinter sogenannter absoluter Sinn, ist eingebildet, und die es ernst meinen mit der Hingabe, selbstvergessen und ohne hochtrabende Phrasen vorn ewigen Wert, unterscheiden sich von jenen komischen Alten, von den characters, wie es auf amerikanisch heißt, nur dadurch, daß sie die Eigentümlichkeiten mit mehr Leuten teilen als jene; das ist alles. Das Glück aber und die Trauer sind bei beiden ernst, der Wahn ist ernst, wer nicht im Wahn lebt, ist ein Luftikus. Sozialer Wandel der Intellektuellen. — Zur Zeit der Aufklärung waren die Intellektuellen die Verkünder der Ideale, unter denen das Bürgertum zur Herrschaft kam. Zur Zeit seines Zerfalls repräsentieren sie die in den Mittelschichten überflüssig gewordenen, abgesprengten, verdinglichten bürgerlichen Eigenschaften, Freiheit des Urteils, Phantasie, Spontaneität. Als Funktionen von Experten, Spezialisten der arbeitsteiligen Managergesellschaft, erfahren sie eine Veränderung in Richtung auf ohnmächtige, geschichtlich überholte Opposition. Daß die einen oder anderen politischen Richtungen diesseits oder jenseits dieses oder jenes Professionellen zur Abschreckung oder Anziehung von Gefolgschaft sich
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ihrer bedienen, \ermag die Eigenschaften selbst nicht weniger anachronistisch zu machen, hier wie dort kommt es auf andere Züge des Charakters an — selbst bei den Oberen. Was in den sogenannten entwickelten Ländern die Intellektuellen liefern können, die kritischsten und aggressivsten nicht ausgenommen, ist Verzierung, Unterhaltung, Freizeitmaterial, es füllt Massenmedien und leere Wände und dient dem Lauf der Dinge, wie er ohnehin ist. Die Kirche ist die Maßnahme. - Die Kirche, die katholische und protestantische, hat durch die Jahrhunderte den Schaden kompensiert, den das Vorbild der Propheten und des Nazareners der Gesellschaft hätte antun können. Indem sie deren gefährliche Lehre usurpierte, bewahrte sie die Menschen davor, ihr nachzuleben, keine Götzen mehr anzubeten, die Gefangenen zu befreien und die Menschen zu lieben. Mit dem Bild des als Aufrührer Gehenkten hat sie Gerichtssäle und Folterkammern geschmückt, die Barbarei gesegnet, an der nicht teilzuhaben, die zu beenden, ja aus der zu fliehen und zu erlösen die Sehnsucht jener war. Die Kirche ist die Maßnahme, durch welche die Menschheit die Erfahrung des heillosen Elends ihrer Existenz zu überkompensieren unternahm, das Elend als Mittel der Seligkeit. Der Versuch ist zu Ende, die heutigen Lenker der Kirche erkennen den schlechten Widerspruch, sie sind im Grunde bereit, die Seligkeit, ja den Gott über den Sternen in Symbole umzufunktionieren. Die Gesellschaft, die einmal die christliche hieß, ist so stumpf geworden, daß die Erfahrung der Propheten sie nicht mehr bewegt. Diesseits des Ruhms. — Wie viele Menschen, die gebildet genug, produktiv genug waren, Großes zu vollbringen, sei es auf welchem Gebiete auch immer, das der Menschheit zugute gekommen wäre, mögen statt dessen ihre Zeit und Kraft dem Glück oder den Schwächen eines geliebten Wesens gewidmet haben und namenlos dahingegangen sein. Sie waren nicht weniger groß als die Herren von denen in Handbüchern der Geschichte, Kunst und Literatur zu lesen steht. Die Menschengattung ist nicht besser als ein Einzelner.
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Mit offenen Augen. - Der unzähligen furchtbaren Schmerzen, körperlichen und seelischen, vor allem körperlichen Martern bewußt sein, die jeden Augenblick in Zuchthäusern, Krankenhäusern, Schlachthäusern, hinter Mauern und ohne Mauern, auf der ganzen Erde gelitten werden, angesichts all dessen leben, heißt mit offenen Augen leben. Ohne solches Bewußtsein ist jede Entscheidung blind, jeder sichere Schritt irre, jedes Glück nicht wahr. Glück und Wahrheit aber sind eins, wie Wahrheit und Trauer — eben dies meint das Christentum, sofern es nicht von seinen Mitläufern verraten wird. Zur Krisentheorie. - Die Kritik der politischen Ökonomie hat mit der Änderung der historischen Situation gewiß ihre eigenen Mängel offenbart, nicht zuletzt, weil sie selber allzusehr des streng wissenschaftlichen Gestus sich befleißigte, den die vom Geist verlassenen Philologien brauchen, um im Zeitalter der Naturwissenschaft noch durchzukommen, nicht aber Theorie, die Wissenschaft einschließt, ohne doch in ihr aufzugehen. Gar nicht aber gehört zu ihren Mängeln, was überlegen die Fachleute, die Erben der Liberalisten, Apologeten der sogenannten sozialen Marktwirtschaft, jener Kritik entgegenhalten, die Krisentheorie sei überholt; anstatt zur Katastrophe zu treiben, wie die Kritik meist prophezeite, würden die Krisen schwächer, historisch bedeutungslos, beherrschbar. Weit gefehlt. Eben die Elemente der Konjunktur, durch die die Krise hintangehalten wird, die Kriegswirtschaft im Frieden, die Leistungen für die berühmten Unterentwickelten, in Wahrheit ein weiteres Moment der Kriegswirtschaft, vor allem aber die »blühende« Freizeit verschleiern nicht bloß die sich ausbreitende Krankheit der Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Form, sondern sind ihre Symptome. Wer immer geistige Organe hat, merkt es ihnen in jedem ihrer Teile an, sie sind ein Fieber, das den Charakter der Abwehr, nicht den der Heilung trägt; in ihrer Verbindung mit dem Ganzen zu erkennen und darzustellen ist ihre Aufgabe heute. Die Rolle der Arbeiterparteien. - In den entwickelten Staaten spielen die Arbeiterparteien eine ähnliche Rolle wie die unterentwickelten im concert des nations. Entweder müssen sie durch finanzielle Hilfe aus dem Überschuß bestochen, durch die überlegeneren Waf-
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fen, oder im Zaurn gehalten werden. Die Priviligierten, Gewerkschaftsbeamten oder eingesessene Krösusse haben den unmittelbaren Vorteil davon. Im Zeitalter der Verwaltung. — In der rationalistischen verwalteten Ära, auf die gesellschaftliches Leben sich zubewegt, werden persönliche Beziehungen, die nicht in jeder Einzelheit vom sozialen Mechanismus sich bestimmen lassen, sondern ihm zu widerstehen fähig wären, nicht bloß als gefährlich, sondern als sinnlos erscheinen. Wozu die Freundschaft, wenn jeder Schritt in Freizeit und Beruf, wenn Ziel und Mittel zweckentsprechend vorgezeichnet sind? Liebe hat den Grund verloren. Geschlechtliche Bedürfnisse werden längst vernünftig geregelt sein, ihre Steigerung zur Sehnsucht entbehrt des Motors, wie der Traum vom Schlaraffenland bei den Begünstigten im Wirtschaftswunder. Erotische Leidenschaft für einen einzelnen bestimmten Menschen, von Treue schon gar nicht zu reden, wäre nicht bloß pathologisch, Mangel an gesundem Appetit, Zwangsneurose oder Schlimmeres, sondern zugleich unanständig, Denken, Fühlen, Handeln auf Grund sexueller Fixierung anstatt vernünftiger Reflexion. Die Periode der Liebesgeschichten und Tragödien wird so entrückt sein, wie das Serail in Europa, die Polygamie, das Matriarchat, die Urhorde oder der Glaube, daß Gott wirklich über den Sternen thront. Sinnlose Negation. - Wer den katholischen Kult als kruden Aberglauben denunziert, pflegt es abzulehnen, bei öffentlichen und privaten Zeremonien mit den anderen sich zu bekreuzigen — aus Gründen der Gesinnung. So wird von ihm die Unterlassung, ja die unterlassene Geste nicht weniger als von den Anhängern fetischisiert. Als noch die Scheiterhaufen rauchten, war es anders. Der Widerstand galt der Schreckensherrschaft, die Weigerung war Signal für jeden, der das Bessere wollte, wie der nicht geleistete Hitlergruß im Dritten Reich. Je weniger Sanktionen hinter einem Glauben stehen, desto sinnloser wird seine Negation. Ideologien nach Marx. — Kritik der Gesellschaft denunzierte als Ideologie die Vorstellungen und kulturellen Formen, die als absolute, schlechthin gültige erschienen, in Wirklichkeit jedoch durch
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den Prozeß der Produktion und Reproduktion gesellschaftlichen Lebens in der je herrschenden historischen Form bedingt und sinnvoll waren. Ihre Funktion im Einzelnen darzulegen bedeutete Rechtfertigung und Kritik zugleich; sie hatten mitgeholfen, ein Neues zu verwirklichen, als es dem Früheren gegenüber der Fortschritt war, und halfen, es in Gang zu halten, nachdem es schon ein Besseres verhinderte. Für den Begriff des Einzelnen gilt nach der Marxschen Theorie die Rechtfertigung allein, Kritik dagegen beträfe nur Momente der Gesellschaft, die seiner Entfaltung Eintrag tun; nur insofern sind der Einzelne und seine Freiheit bürgerliche Ideologie, als sie im Bürgertum, im Gegensatz zum offiziellen Mythos erst noch beschnitten sind. Tatsächlich jedoch löst die Idee des autonomen Subjekts in der politisch-ökonomischen Analyse nicht weniger sich auf als der Mittelpunkt des Alls, den ehemals die Erde bilden sollte. Wie durch den Nachweis ihrer gesellschaftlichen und psychischen Bedingungen die Illusion des Mittelpunkts durchsichtig wird, so die des Subjekts als Substanz. Das fetischisierte Selbstbewußtsein herrscht in einem Abschnitt der Gattungsgeschichte, nach dem es erstarren und vergehen wird. Der Nachweis solcher Bedingtheit ist Kritik, wie die Analyse ideologischer Kategorien schlechthin und zugleich weitertreibende Kritik, denn von ihr wird eben ein Moment betroffen, das der Marxschen Lehre überall zugrunde liegt, insgeheim ihr die Richtung weist. Nicht mehr bloß die herrschende, sondern Gesellschaft, Menschheit in Vergangenheit und Zukunft, das Bestehende schlechthin, sind angeklagt, weil die Ideen, im Hinblick auf die allein es einmal noch gut werden könnte, selber Ideologien sind. Es bleibt das vergängliche Gedenken, die vergängliche Trauer allein. Krieg und Perversion. - In der perversen Pornographie der Sade und Masoch vermag Grausamkeit bewußt als Phantasie sich auszuleben und zum Genuß zu kommen. Die reale Schandtat macht von der Rationalisierung Gebrauch. In Zeiten des Kriegs, der solche Rationalisierung liefert, wie in Führerstaaten, verstummt die Perversion, die ihrer mächtig ist. Grausamkeit gegen den Feind, wie gegen die eigene Person, vermag sich auszuleben, wenn auch zumeist nicht zur Befriedigung zu kommen. Ihres sexuellen We-
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sens nicht bewußt, erstreckt sie gleichsam sich ins Unendliche, wird unersättlich. Kriegs- und Diktaturbegeisterte pflegen den Genuß nicht zu erfahren, je mehr sie auf ihre Rechnung kommen, desto gieriger werden sie. Erziehung zur Genußfähigkeit bildet ein entscheidendes Moment im aussichtslosen Kampf gegen die heraufziehende totalitäre Epoche der Welt. Utopie als Widersinn. — Helvetius und Schopenhauer lehrten, daß im Leben zwischen Schmerz und Langeweile das Pendel schwinge. Wenn aus solcher Alternative der Geist des Einzelnen noch ausbrechen kann, gilt der entscheidende Zusammenhang, der ihr zugrunde liegt, fürs Ganze wie fürs Individuum. Ohne Bedürfnis keine Lust, ohne Trauer kein Glück, ohne Tod kein Sinn. Je weniger die Versagung, desto trostloser die Wirklichkeit. Eben deshalb ist die Utopie ein Widersinn, die Idee des Reichs der Freiheit, die ihn überwinden wollte, frommer Selbstbetrug. Trotz allem bleibt nichts übrig als der Versuch, ihn zu verwirklichen. Am Ende gibt die Freiheit sich preis. Gesellschaft im Übergang. — Wenn große Philosophen, Kant vor allen, von Freiheit sprachen, meinten sie in erster Linie Selbstdisziplin, die praktische Anerkennung des je gesellschaftlich Notwendigen; nicht so sehr das Handeln nach dem eigenen Bedürfnis, der eigenen Lust. Je mehr jedoch Gesellschaft in Verwaltung übergeht, zuletzt in allgemein und bis ins kleinste vorgeschriebenen Verkehr, desto mehr kann auf philosophische Freiheit, jene Autonomie, verzichtet werden, desto mehr erweist sie sich als Übergang, wie bürgerliche Selbständigkeit überhaupt. Das einst mit ihr verbundene Handeln nach dem materiellen Interesse fällt entweder mit dem Vorgeschriebenen zusammen oder verliert den letzten Schein der Rationalität; es wird zur Hemmungslosigkeit, die Anstoß zu noch weiterem Ausbau der Verwaltung, planmäßigere Substitution von Freiheit durch genormte Freizeit gibt. Die mit dem technisch-ökonomischen Fortschritt abnehmende Tabuierung der Geschlechtlichkeit und Zunahme der Geburtenziffern, die nicht nur die Zwangsmaßnahmen, sondern die Administration schlechthin weitertreiben, sind ein Symbol des Prozesses. Freiheit als Willkür stimuliert eine geschichtliche Entwicklung, die die Frei-
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heit als Autonomie des Sinnes beraubt. Subjekt wird zum romantischen Begriff. Les extremes se touchent, - Die Blasphemie, daß les extremes se touchent, rührt ans Wesen der Welt. Eine jüdische Intellektuelle, über jeden Zweifel erhaben, lang nach der Rückkehr aus Amerika, schrieb en passant, die Mayoklinik habe sie an Auschwitz erinnert. Der Gegensatz von Rettung und Verdammnis gilt in der Wirklichkeit nicht absolut. Neueste Hospitäler, Test, Operation, Gehorsam des Objekt gewordenen Patienten, die von der überwundenen Zeit vor der Erfindung der Betäubung, ja der Gewalt der mittelalterlichen Jahrmarktsheiler als ihre Vorstufen historisch nicht abzulösen sind, bleiben mit neuesten Qualanstalten sachlich vermittelt durch Tierexperiment und Vivisektion. Wie weit der technische Fortschritt, der die Einpassung des Einzelnen ins Kollektiv notwendig mit sich bringt, mit dem Weg zur völkisch-totalitären Gesellschaft eins ist, den autonomen Einzelnen undenkbar und die Staaten als die Horden zu den Realitäten macht, wäre erst noch auszuführen. Es bedeutete, daß die Mayoklinik zur Bedingung von Auschwitz mitgehört. Les extremes se touchent. Historizität der Moral. - Moralisch hießen im letzten Jahrhundert die Verhaltensweisen, die einstmals durch die Religion garantiert, in der aufgeklärten, liberalistischen Ära gesellschaftlich erwünscht, ja notwendig waren, ohne durch Gesetze erzwungen zu sein. Dazu gehörte vornehmlich die Treue im Geschäft wie im privaten Umgang, in Ehe, Liebe, Freundschaft, ja dem Fremden gegenüber. Damals schon entbehrten sie des logischen Fundaments im Subjekt, des einsichtigen Motivs. Im Hinblick auf die Ehrlichkeit aus bloßer Moral hat einst Helvetius — oder ein ihm verwandter Denker - formuliert, wer einen Überreichen nicht bestehle, wäre die Entdeckung ausgeschlossen, sei verrückt. Nachdem im Rückgang des Liberalismus, in der mehr und mehr verwalteten Welt, die gesellschaftlichen Gründe für moralisches Verhalten schwächer werden, die konformen Reaktionen, das, was heute noch notwendig ist, sozusagen automatisch funktioniert, so daß jenseits sogleich die Kriminalität beginnt, ist Moral historisch geworden, Treue eine romantische Kategorie. Angesichts der allumfassenden Vergäng-
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liclikeit einem Menschen etwa ganz sich hinzugeben, die Glückseligkeit entgegen eigenen materiellen Interessen, ist ein aus dem Residuum früherer Gesellschaftsformen resultierender Wahn. Der Psychoanalytiker hat das letzte Wort. Moral bedarf der Heilung, Verzweiflung und Seligkeit bedürfen ihrer erst recht. Der Sinn des Lebens. - Unter dem, was der Sinn des Lebens genannt wird, pflegt eine über das eigene Dasein hinausreichende Bedeutung der Handlungen des Einzelnen verstanden zu werden. In der christlichen Religion lag das Ziel jenseits des irdisch-geistlichen Bereichs, eben im - Jenseits. Mit dem Zerfall der christlichen Ära wird die Stelle der theologischen Transzendenz in steigendem Maß von der Idee der Nation eingenommen. Das individuelle Leben gewinnt Sinn, sofern es sich auf das die Individualität überdauernde der Nation bezieht. Die christliche Zivilisation kehrt zum Gedanken des Judentums zurück, nur mit dem Unterschied, daß die Erfüllung des Begriffs der Nation nicht mehr gemein mit der Gerechtigkeit für alle Volker, dem Willen Gottes identisch ist, wie sehr in Friedens- und Kriegszeiten die Kirchen sich bemühen mögen, den Gegensatz zu verleugnen. In Wahrheit ist der über das eigene Leben hinausreichende Egoismus dabei, der Realität sich anzupassen, er gilt dem eigenen Stamm in seinen Händeln mit den übrigen. Selbst wenn die Stämme, die Nationen einmal sich einigen würden, bliebe er realitätsgerecht ans Bestehende gebunden, die Gattung, die allen übrigen Tierarten die gefährlichste ist und jeden Augenblick wieder in gegnerische Schwärme auseinanderfallen könnte. Mehr und mehr harmoniert, was Sinn des Lebens heißt, mit dem, was ohnehin da ist, die Menschen passen der Wissenschaft, dem Tatsächlichen sich an — selbst in ihrer Sehnsucht. Die Differenz von Individuum und Kollektiv wird überwunden zugunsten des Kollektivs, der Einzelne, der anders ist, verschwindet, wie das Andere verschwindet, das ihm einmal den Gegensatz zur Welt bedeutet hat. Modern man gets rid of his illusions and becomes reasonable i. e. he accepts and uses his reason as one of his natural Organs like his hands and feet, as an instrument. Der Rest ist Schweigen, nein, der Rest ist Nichts.
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Das Ende der praktischen Philosophie. — Mit dem Rückgang religiösen Glaubens fällt der Philosophie die Aufgabe zu, über das rechte Leben zu reflektieren. Kennzeichnend für die Epoche ist im Gegenteil, daß praktische Philosophie kontinuierlich an Bedeutung und Interesse abnimmt, ja daß zwischen dem theoretisch-philosophischen Gedanken und der Praxis immer weniger irgendeine Beziehung herzustellen ist. Bereits der Neukantianismus, von der Wiener Schule zu schweigen, Husserls Phänomenologie, die Fundamentalontologie und der auf sie sich berufende Existentialismus, wie sehr die einzelnen Autoren Hitler oder Castro dienen mögen, sind dem Sinne nach neutral, sogenannte erste Philosophien ohne notwendige Konsequenz bestimmter Verhaltensweisen. Nicht mit Unrecht erscheint Max Scheler, der es nicht lassen konnte, von Hartmann gar nicht zu reden, als zweit- oder drittrangig; von den offiziellen Positionen aus, bei Scheler der Phänomenologie, geht es nicht. Die Unmöglichkeit hat ihren gesellschaftlichen Grund. Das Gesetz der Epoche ist die Bejahung der Nation, sei es im Westen oder Osten, sei es des bereits bestehenden Totalitären oder dessen, was dahin übergeht. Praktische Philosophie setzte das autonome Subjekt nicht bloß voraus, sondern verlieh ihm die letzte Entscheidung, die heute allzu eng vorgezeichnet ist, als daß es noch der Spekulation bedürfte. Es kann einer höchstens vom eignen ins gegnerische Lager übergehen oder damit sympathisieren. Der Entschluß dazu bedarf des Politisierens, nicht der Philosophie, die einen neuen letzten Grad von Abstraktheit erreicht. Anstatt den Platz der Theologie einzunehmen, folgt sie ihr nach. Zum Begriff des Einzelnen. - Je mehr der Einzelne im Gegensatz zur Nation, zum Kollektiv überhaupt und entgegen dem Zug der Zeit zu bewahren, zu entfalten, zu kultivieren, in seiner Freiheit zu erhalten ist, desto weniger bedeutet der Einzelne, das Streben nach seiner materiellen Befriedigung, nach Macht um seiner selbst willen. Soweit es ihm ausschließlich um ihn selber geht, ist er Element der Masse und Konformismus, sich fügen, die adäquate Verhaltensweise. Noch im brutalen Führer, der den Mord befiehlt, erkennen sie sich selber, wie hart seine Herrschaft sein mag, er ist einer der Ihren; indem er fortwährend die vielen, das eigne Volk im Munde führt, meint er die eigene Position, und alle spü-
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ren es und stimmen ihm bei, er ist ihr eigenes Symbol. Der wahre Einzelne dagegen weiß mit anderen nicht so sehr im Verfolg der unmittelbaren Interessen sich einig als im Elend derer, die draußen stehen, der Kranken, Verfolgten, Verurteilten, Geächteten, von denen jeder im schmerzlich-verzweifelten Sinn ein Einzelner ist. In ihrem Gedenken fühlt und handelt er - letzten Endes aus eigener Furcht, die aber so mächtig werden kann, daß er sich hingibt und ihr Schicksal teilt. Furcht ist nicht edles Streben nach gutem Leben und Macht, auch sie kann wahrlich zum Konformismus führen, aber sie kann auch, wird sie reflektiert, den Konformismus durchbrechen und die Solidarität begründen, ohne die der Einzelne nicht denkbar ist. Das Phänomen der Beatles. - Der wild verzweifelte Enthusiasmus für die Beatles ist nicht unsympathischer als seine pseudokultivierte Verachtung. Jedenfalls fällt die Analyse des scheinbar kultivierten Verdammungsurteils leichter als die der Begeisterung. Nicht wenig Treffendes wurde darüber geschrieben, wenig jedoch, soweit ich weiß, im Zusammenhang mit der Hingabe ans Phänomen der vier Musikanten selbst. Daß sie von einem oder mehreren erfahrenen Produzenten genau geleitet sind, tut wenig zur Sache, es geht um die Struktur in ihren verschiedenen Momenten bis in jene Einzelheiten, die in der Regel keiner oder keine der Begeisterten zu formulieren vermag. Mir selber scheinen sie, unter vielem anderen, wie kaum ein anderes Ensemble die komplizierte Stellung der Jungen zum Besiehenden auszudrücken, dazu den Versuch, zugleich darin zu leben und ihm nicht ganz zu verfallen, die im Yeah, Yeah, wie in ihren Gesichtern sich ausdrückt. Wie sehr die wilde, übrigens bereits vergehende Massenreaktion an die Wirkung von Demagogen erinnert, ich bezweifle, ob die in beiden Fällen besonders Engagierten, ja die Art des Engagements identisch wären. Was nicht heißen soll, daß nur Gutes von solcher Einübung zu erwarten steht. Wir Nazis. — Immer wieder zu formulieren: das Schuldbekenntnis der Deutschen nach der Niederlage des Nationalsozialismus 1945 war ein famoses Verfahren, das völkische Gemeinschaftsempfinden in die Nachkriegsperiode hinüberzuretten. Das Wir zu bewahren
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war die Hauptsache. Aber man erklärte nicht einmal, »wir« hätten uns empören, wenigstens mit jenen verbinden sollen, die nicht mitmachten, die den Verfolgten halfen, aber wir hatten verständlicherweise Angst. Die Andern sind nicht die Nazis, sondern die Amerikaner und der Widerstand. Welch unendliche Kühle und Fremdheit haben die armseligen 20. Juli-Feiern gekennzeichnet. Das Schuldbekenntnis hieß vielmehr, »wir« und die Nazis gehören zusammen, der Krieg ist verloren, »wir« müssen Abbitte tun, sonst kommen wir nicht rasch genug wieder hoch. Erst wenn die Sieger Konsequenzen ziehen wollten, griff man zur unverschämten Lüge und behauptete das Gegenteil der Schuld, »wir« haben nichts davon gewußt, anstatt »wir« wollen es nicht wissen. Selbst noch das »Ich« stand für das »Wir«. Ich war kein Nazi, im Grunde waren wir's alle nicht. Das Wir ist die Brücke, das Schlechte, das den Nazismus möglich machte. Der Unterschied zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv wird eingeebnet, wer ihn bewahrt, steht draußen, gehört nicht zu »uns«, ist wahrscheinlich ein Kommunist. Als ob es dort nicht wenigstens genauso wäre. Wer in der Politik und vielen anderen Sparten von sich selbst spricht und die Landsleute als »sie« bezeichnet, erscheint, auch wenn die Hörenden es nicht realisieren, ihnen als Verräter — nur im Zufallsfall als anständiger Mensch.
Der Entronnene. - Menschen wie ich, nicht bloß im allgemeinen wie ich, sondern im spezifischen, also Juden, die aussehen und dachten wie Juden, wie mein Vater und meine Mutter und ich selber, wurden im Konzentrationslager, eben deshalb, weil sie so waren, zu Abertausenden am Ende jahrelanger furchtbarer Angst, nach unsäglichen Demütigungen, unvorstellbarer Zwangsarbeit, Schlägen und Martern langsam zu Tode gefoltert, weil sie so waren, wie mein Vater und meine Mutter und ich, weil sie aussahen und dachten wie Juden, jahrelang in furchtbarer Angst gehalten und schließlich zu Tode gemartert. Und ich soll mir etwas zugute tun auf das, was ich mache, soll mich, den in keiner Weise Besseren, amüsieren - wen soll ich amüsieren? - mich, den Juden, den Menschen, der noch da ist, der sich ja schließlich amüsieren kann, sich vorkommen, sich etwas auf sich einbilden, sich groß machen kann. Als ob nicht für jede Regung, jedes Wort, geschweige jede Tat, auf die ich mir etwas einbilden wollte, auch die NichtJuden zu Juden, zu Staatsfeinden und Intellektuellen gemacht und zum gleichen hundertfachen, qualvollen Tod verurteilt worden wären. Und jetzt, wo es nichts kostet, soll ich mich daran ergötzen. Ich soll an mir noch Befriedigung, Frieden finden, da mein Leben doch den sinnlosen, unverdienten Zufall, das Unrecht, die Blindheit des Lebens überhaupt bezeugt, da ich mich schämen muß, noch dazusein. Nächstenliebe und Egoismus. — Im Christentum sollte der Einzelne sich überwinden und aufheben, indem er aus Liebe zum Höchsten an die Nächsten und Niedersten sich hingab und preisgab. Die Reitung des Egoismus durch Hinweis auf das »wie dich selbst« am Ende des Gebots ist bloß ein Trick sophistischer Theologen, um dem Bestehenden sich anzubiedern. Autonomie des Subjekts im Sinn des Evangeliums ist eins mit seiner Negation.
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Das Subjekt in der Industriegesellschaft. - In der Industriegesellschafl, ja mit Beginn der modernen Wissenschaft, verwandelt sich der Sinn der Dialektik des Subjekts. Je mehr das Denken die Natur zu fassen sucht, desto mehr hat es ihr nachzugehen, nachzudenken, von der Bewölkung des Himmels durch naive Projektion »down to earth«, zur Erde herabzukommen. Jeder Schritt der Wissenschaft nach vorwärts und erst recht der Technik ist zugleich ein Akt der An- und Einpassung. Indem die Menschen die Natur beherrschen, werden individuelle Differenzen ihres Denkens von exaktem Wissen, das für alle eines und dasselbe ist, desavouiert. Wie sehr die Kollektive durch Machtinteressen gegeneinanderstehen, soweit die ihnen angehören, wissenschaftlich denken, soweit sie Technik üben, sind sie austauschbar. Die Entfaltung der Subjekte nach je verschiedenen Dimensionen, die Autonomie der vielen Einzelnen, ihre Konkurrenz, aus der die Autonomie ihr Recht bezog, war der Gesellschaft förderlich, um Wissenschaft und Technik zu entfesseln; mit dem Sieg der Technik, ja mit ihrem Fortschritt, mit der Herrschaft der Menschen über die Natur, mit ihrer Unabhängigkeit, ihrer Autonomie geht Autonomie zurück, negiert sich selbst. Was in der bürgerlichen Ära sich vollzieht, wird in der automatisierten Welt vollendet. Indem das Subjekt verwirklicht wird, verschwindet es. Zerfall der bürgerlichen Ehe.- In der jetzt zerfallenden Institution der bürgerlichen Ehe hat einst der Mann den Erwerb und die Frau den Haushalt besorgt. Der Mann galt als Ernährer, daher als Herr, die Frau als Passivum, als Gegenstand, sie mußte erhalten werden. Wie tief verkehrt das Urteil war, tritt jetzt hervor, denn nicht zuletzt durch die Veränderung der fraulichen Funktion hat Zivilisation Substanz verloren. Ihre unendlich nuancierte, meist subtilere und zugleich mehr aufreibende Arbeit als die des Gatten wird wie dessen eigene automatisiert, der Rest erscheint als bloße Quälerei. Die Frau wird gleichberechtigt, vielmehr gleichgeschaltet: dem, was längst nur Rückgang ist. Das verzerrt-verlogene Klischee des kostspieligen Weibes und der bösen Schwiegermutter ist im Grunde nur ein unbewußter Trost für die verlorene Möglichkeit von Glück, das zuweilen die Ehe in sich barg. Rückkehr heute jedoch ist unmöglich. Die Frau von damals ist dahin - wie die Liebe. Es lebe die
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ratio. Mit dein Schwinden der »Sorge der Hausfrau« werden die Männer noch kälter, und die Frauen tun es ihnen gleich. Für einen medizinischen Warentest. — In Amerika gibt es eine Verbraucherorganisation, die sich um die Qualitäten von Konsumartikeln und was damit zusammenhängt bekümmert und ihre kritischen und sonstigen Gedanken dazu dem Publikum mitteilt. Sie besitzt Laboratorien, um die angebotenen Waren zu prüfen, überhaupt, was zur rechten Urteilsbildung nottut. In anderen Ländern, auch in der Bundesrepublik, hat man, wenn auch sehr spät, das höchst vernünftige Unternehmen kopiert. Sehr viele Anregungen drängen sich auf, nicht zuletzt der Vorschlag, soweit er nicht etwa schon vorweggenommen ist, die Konsumenten gegenüber dem Fachmann zu stärken, etwa der Branche der Medizin. Es bedürfte der Berichte über die Leistungen der einzelnen Zweige der Praxis, offener Diskussion der guten oder schlechten, im Hinblick auf den Stand der Wissenschaft zu verbessernden Dienste, nicht zuletzt unabhängiger Berichte über die Spitäler und anderes mehr. Bis heute ist das alles durch den brutalen Widerstand der Zunft und ihr vorgeblicher Ethos, das die Verbraucher als zu dumm erklärt, unmöglich gemacht. Wie gerne täten Bierfabriken oder Konservenproduzenten dasselbe. Wie weit haben die Mediziner es gebracht, das Publikum als unmündig zu erklären und seine Orientierung nach Kräften mit hohlen Phrasen vom Vertrauensverhältnis and what not zu verhindern. Noch nicht einmal das geringste Mitspracherecht gegenüber der pharmazeutischen Industrie, etwa der Abfassung der Gebrauchsanweisung von Medikamenten, lassen sie zu. »Nach Anweisung des Arztes«, ist das letzte Wort, auf das mehr und mehr die Mitteilungen zu der Arznei sich reduzieren. Die Verbraucherorganisationen haben ein weites Feld in der Medizin — von der Belehrung, was der Patient den Zahnarzt erst fragen soll, ehe er ihm den großen Auftrag gibt, bis zur vergleichenden Mortalitätsstatistik bei den Chirurgen. Aber das bedürfte eines Kampfes, nicht geringer als der ums Negerstimmrecht. Trauer-Feier. — Feiern, die der Tradition entsprechen, werden noch immer veranstaltet; die daran teilnehmen, pflegen sie als lästige Verpflichtung auf sich zu nehmen. Das stillschweigende Einver-
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ständnis über die abgedroschenen Gebräuche verbindet die Anwesenden, die Redner zumeist eingeschlossen. Bei Bestattungen gesellt dazu sich noch die Überkompensation des Gedankens an den Tod oder gar des Bedauerns mit dem Verstorbenen. In der Regel äußert sie sich durch leicht verhüllte Bekundung der eigenen Überlegenheit. Etwa hätte der Dahingeschiedene länger leben können, doch er hat zuviel getrunken, geraucht, gearbeitet, nicht vernünftig gelebt, dem Arzt nicht gefolgt, irgend etwas zu wenig oder zuviel getan. War er sehr alt, so kann man ja schließlich nicht mehr verlangen. Die Trauer und die Sehnsucht um den Einen, der nun nicht mehr ist; selbst das geringste Leid erspart sich jeder, der ihm nicht am nächsten stand. Der wahre Konservative. — Der wahre Konservative ist vom Nazi und Neonazi nicht weniger weit entfernt als der wahre Kommunist von der Partei, die sich so nennt, nicht unähnlich dem Christen im Verhältnis zur Kirche zur Zeit der Reformation und Gegenreformation. Nazis und Parteikommunisten sind Diener niederträchtiger Cliquen, die nichts anderes wollen als die Macht und ihre endlose Ausdehnung. Ihre wahren Feinde, der Gegenstand ihres Hasses, sind keineswegs, wie sie behaupten, die Totalitären der Gegenseite, sondern die, denen es mit der besseren, der richtigen Gesellschaft ernst ist. Zwischen Achtung und Verachtung des Lebendigen verläuft die Trennungslinie, nicht zwischen dem sogenannten Links und Rechts, dem schon veralteten bürgerlichen Gegensatz. Die Cliquen mögen sich bekämpfen, wo ihre Interessen es fordern, ihre wirklichen Gegner sind die sich ihrer selbst bewußten Einzelnen. Im Apparat. — Das Bürgertum in der liberalistischen Periode war durch eine relativ große Zahl selbständiger Existenzen gekennzeichnet. Der ökonomische Prozeß bewirkte die Zusammenziehung der Macht in den Händen von Monopolen, heute in eine Anzahl von Rackets in den verschiedenen industriellen, fachmännischen, politischen Schichten, die über eine hierarchische Struktur zur straff geordneten Verwaltung treiben, die der automatisierten Gesellschaft entspricht. Im Westen wie im Osten geht es dann nur noch darum, welche oder welches der Rackets am Hebel sitzen. Aber
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selbst sie haben nur geringe Freiheit. Die Apparatur, von den integrierenden Konkurrenten abgesehen, beengt die Entfaltung eigener Produktivität. (September 1966) Für Amerika. - Wer im Westen, gar in den Vereinigten Staaten, nicht den Krieg in Vietnam, sondern um dessentwillen und wegen anderer schmerzlicher, grausamer Vorgänge, etwa der Rassenunruhen, die Staaten selbst schlechter als irgend andere Nationen hinstellt, widerspricht sich selbst. Daß er sich ausdrücken darf, ohne im Zuchthaus zu verkommen oder zu Tode gefoltert zu werden, verdankt er ihrer Existenz und Selbstbehauptung, ohne sie wäre die Welt zwischen östlichen und westlichen Hitlers bereits aufgeteilt. Er mag die bessere, die richtige Gesellschaft wollen, seine Kritik der bestehenden jedoch hat die Treue zu der Freiheit mit einzuschließen, die es zu bewahren und entfalten gilt, wenn die Gewalt, die er anklagt, nicht der ihm fremde Sinn seiner eigenen Rede sein soll. Zur Euthanasie. — So viele Ämter gibt es, und so viele Menschen, die an unheilbaren Krankheiten elend und schmerzvoll zugrunde gehen — in hochindustrialisierten Staaten - von anderen soll gar nicht die Rede sein. Die Mittel, in seligem Rausch oder schön und friedvoll, anstatt in qualvollem Todeskampf hinüberzugehen, sind vorhanden, unendlich wohltätige Mittel. Warum gibt es kein Amt, an das der unrettbar Leidende, zum Tode Bestimmte sich wenden kann, um einen Arzt zu ermächtigen, auf seinen Wunsch von ihnen Gebrauch zu machen? Der übliche Einwand, es könnten Verwandte und Ärzte Unfug treiben, ist nichtig, sie können den heutigen Rechtssätzen ohnehin zuwiderhandeln, und zwar noch leichter, wenn es aus Eigennutz, jedoch viel schwerer, wenn es aus Menschlichkeit geschieht. Der wahre Grund, warum nichts geschieht, liegt in der rückgängigen gesellschaftlichen Bedeutung der Autonomie des Subjekts und speziell dem mangelnden Interesse der medizinischen und sonstigen Rackets.
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Zur Kritik der politischen Ökonomie. — Die Lehre von Marx und Engels, daß durch den Kampf um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit schließlich die Vorgeschichte der Menschheit ein Ende nähme, ist armselig säkularisierter Messianismus, dem der authentische unendlich überlegen ist. Dagegen bedeutet die Kritik der politischen Ökonomie eine höchst vernünftige Grundlage des Verständnisses gesellschaftlicher Entwicklung. Weil der Liberalismus zu wirtschaftlichen Krisen führte, die er selbst nicht zu überwinden vermochte, wurden Zentralisation und Konzentration des Kapitals so weit gesteigert, daß die Rackets das Ganze mehr oder minder planmäßig dirigieren, die kapitalistischen in Auseinandersetzung untereinander und mit den Gewerkschaften, die zur Nation zusammengeschlossenen in Auseinandersetzung mit den anderen Nationen. Eben daher gleichen die westliche und die östliche Gesellschaft sich einander zunehmend an, wenngleich die im Osten herrschenden Rackets in ihrer wenig entwickelten Wirklichkeit so viel geringere Sicherheit genießen als die des kapitalistischen Westens, der eben aus diesem Grunde Kultur, wenn auch zerbröckelnd, vorerst noch zu bewahren vermag. Die Deutung der ökonomischen, politischen, kulturellen Phänomene ohne die präzisen Kategorien der Kritik bleibt oberflächlich. Die sogenannte Wirtschaftswissenschaft hat ihnen nichts an die Seite zu stellen. (13. November 1966) Zur Politik in der Bundesrepublik. — Zur Politik in der Bundesrepublik und dem Verhältnis der Massen zu ihr läßt viel Trauriges sich sagen. Daß allenthalben in Deutschland, keineswegs allein in der NPD, der Ruf nach dem starken Mann erklingt, anstatt bei noch so kritischer Einstellung zu Erhard ihm wenigstens zugute zu halten, daß er keiner ist, beweist den unausrottbaren Hang zum Führertum. Mag in anderen Ländern angesichts der steigenden Fragwürdigkeit der Demokratie, in ober-, über- und unterentwikkelten Ländern, aus höchst verschiedenen Ursachen, der Schrei nach Stärke nur die Sturheit der künftigen Gesellschaft verraten, in Deutschland bedeutet er zugleich das unbewußte und bewußte Trauern um die Zeit des Massenmords: Ein Volk, ein Reich, ein Führer.
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Die Gemeinschaft der Juden. - Das Judentum mit seinem Sichzusammenfinden in der Ausübung der Gebote, der durch den Gedanken Gottes vermittelten Idee des Volkes hat — zumindest bis zur Neugründung des israelischen Staats — an der Gemeinschaft einen Halt gewährt, der ebensowenig mit Naturalismus wie mit der Auferstehung des Individuums identisch war. Die unendlich verehrungswürdige Geschichte der Treue zum Bekenntnis im Angesicht von Haß und Verfolgung enthob die Juden des Ressentiments, das zutiefst die ihr Bekenntnis verratenden christlichen Massen erfüllt. Die relativ geringe Beteiligung der einzelnen Juden an Kriminalität ist eine der vielen Konsequenzen solchen Halts, eine andere die Fähigkeit zum Glück, in dem das Leid und die Trauer nicht vergessen sind. Keep smiling. — Unendlich viele Symptome bezeugen den Rückgang dessen, was einmal den Namen der Zivilisation trug. Nicht wenige beziehen sich auf die Einbildung, das in die psychische Substanz eingeprägte, gesellschaftlich respektierte Verhalten. Man denke an die Freundlichkeit des Einzelnen nicht mehr bloß gegen Standesgenossen, sondern den anderen schlechthin. Schon zu Beginn der bürgerlichen Ära überstieg die Forderung die Fähigkeit. Die nicht bloß äußerlich gemeinte, sondern wirklich verspürte Nähe war beim Adligen zu seinesgleichen in bestimmten Grenzen zur Natur geworden, von Bürger zu Bürger bereits der bloßen Geste nahe, also nur scheinbare Bildung; in der Periode der angeblichen Gleichberechtigung gesellschaftlicher Schichten, Altersgruppen und Geschlechter verflacht das ihr entsprechende Gefühl. In den Vereinigten Staaten ist der Prozeß anders als in Europa. Dort hat die Nähe, zumindest zwischen allen Weißen, eine große Tradition, letztlich eine unbewußte christliche, die in den Anfängen der Einwanderung begründet ist. Sie ging nie sehr tief, doch hat sie in gewisser Weise überlebt. In Europa, vor allem auf dem Kontinent, hatte Freundlichkeit zum anderen erst später sich eingebildet; heute breitet sich die allgemeine Kälte und Unansprechbarkeit schon erstaunlich aus. An die Stelle der Zivilisation tritt zweckbestimmtes Reagieren, unbehindert durch Emotion, wie es der gesellschaftlichen Dynamik gegenwärtig angemessen ist.
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Rezeptpflichtig. - Ein kleines Beispiel für die Gleichgültigkeit der Mediziner gegen die Leidenden sind die zahllosen Mittel gegen Erkältungen, Grippe und dergleichen. Die meisten enthalten neben Vitamin C auch noch Coffein. Nicht eines ist mir bekannt, das Barbiturale oder wenigstens ein Beruhigungsmittel einschließt, damit der Aime wenigstens schlafen kann. Die chemische Industrie hätte gewiß nichts dagegen, nur die Medizin: Um Gottes willen, so wenig wie möglich dem sogenannten Patienten überlassen; die Auswahl rezeptfreier Mittel ist ohnehin zu groß, die Kranken könnten ja dem Arzt gegenüber zu Subjekten werden, anstatt folgsam Objekte zu sein. Darunter litte ja nicht der Patient, wie die Medizin vorgibt, sondern das gute Geschäft. Wie wunderbar, daß man soviel durch die vorgebliche Süchtigkeit rationalisieren kann. Als ob ihr nicht leichter zu begegnen wäre als der Schlaflosigkeit bei Coffein und Vitamin C. Philosophie als Unterhaltung. — Wenn Kant damit recht hat, daß die Welt, da durchs subjektive Vermögen konstituiert, bloße Erscheinung ist, dann gilt dasselbe für den Unterschied von Erscheinung und Ding an sich, für deren Verhältnis zueinander, für intelligible und empirische Charaktere, für seine ganze Philosophie. Sie hebt sich auf, und recht behält der Positivismus. Philosophie ist Unterhaltung - wie Musik, eben daher aber auch ernster als Wissenschaft. Blick ins Konversationslexikon. - Kennzeichnend für die geistige Situation heute ist das Konversationslexikon. Seit fünfzig Jahren sind so viele Daten, Begriffe, Errungenschaften, vor allem auf technischen Gebieten, zu verzeichnen, daß die theoretisch bedeutsamen Kategorien nur noch in drastisch gekürzter Form präsentiert werden können. Die neu aufgenommenen Titel sind ohnehin nur von knappen Abrissen begleitet, Genaueres geht einzig den Fachmann an. Die Technik wirkt auf die gedanklichen Bereiche zurück. Wer etwas näher über historische, religiöse, philosophische Themen sich unterrichten will, benutze das entsprechende Handbuch oder die spezifische Monographie. Für sie gilt freilich dasselbe wie für das Lexikon. Man vergleiche moderne Nachschlagewerke der Zoologie und Brehms Tierleben. Je exakter die Kenntnis, desto weniger teil
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hat der Laie an ihr. Mit der Vermehrung wissenschaftlich garantierten Materials geht seine Beziehung zur Bildung zurück, je minutiöser beackert, desto enger das Blickfeld des Fachmanns, auf das in zunehmendem Maße seine Bildung sich reduziert. Geist löst sich auf. Wahre Kritik der praktischen Vernunft. - Immanuel Kant nennt das Überich die praktische Vernunft, um den Anschein zu erwekken, daß Moral den Menschen angeboren sei. Seine Theorie jedoch ist um kein Haar plausibler als der schlechte Glaube an Gottes Gebot. Vor der sogenannten reinen, das heißt theoretischen Vernunft und dem ihr zugehörigen Vermögen des Verstandes erscheint beides als bloße, höchst fragwürdige Vermutung, und der Mörder im kleinen wie im großen, der Führer, so sie Erfolg haben, sind so vernünftig wie der Heilige. Das ist die wahre Kritik der praktischen Vernunft. Gegen den Linksradikalismus. - Die Attacke gegen den Kapitalismus heute hat die Reflexion auf die Gefahr des Totalitären in doppeltem Sinn mit aufzunehmen. Ebenso wie der Tendenz zum Faschismus in kapitalistischen Staaten muß sie des Umschlags linksradikaler Opposition in terroristischen Totalitarismus bewußt sein. Eben davon konnte zur Zeit von Marx und Engels nicht gesprochen werden. Heute schließt ernste Resistenz gegen gesellschaftliches Unrecht notwendig die Bewahrung der freiheitlichen Züge bürgerlicher Ordnung mit ein, die nicht verschwinden, sondern im Gegenteil auf alle Einzelnen übergehen sollen. Andernfalls hat der Übergang zum sogenannten Kommunismus dem zum Faschismus nichts voraus, sondern ist dessen Version in industriell zurückgebliebenen Staaten, das raschere Aufholen der automatisierten Verhältnisse. Religion und Gesellschaft. - In der Thora redet der Ewige das Volk und den Einzelnen mit demselben Wort an. Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du, bezieht sich aufs Kollektiv wie aufs Individuum. Indem das Christentum jedem Menschen im Gegensatz zum Tier eine unsterbliche Seele zuschrieb, erhob es den Einzelnen zur entscheidenden Wesenheit. Der gegenwärtigen jüdisch-
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christlichen Kultur wäre die Aufgabe zugefallen, beides zusammenzubringen, Volk und Einzelnen, wer und wo sie seien, die anderen Völker und Einzelnen zu lieben und die Welt entsprechend den Geboten einzurichten. Anstatt dessen ordnet die sich automatisierende Gesellschaft die Individuen als autonome Subjekte ein und macht das Kollektiv, zunächst die Nation, zum Götzen. Der Ewige und sein Gebot lösen sich auf. Primat der Außenpolitik. - Daß Außenpolitik eine immer wichtigere Rolle im Bewußtsein der Menschen spielt, ist ein weiteres Moment im Prozeß der Reduktion des einzelnen Subjekts. Die Nationen sind wesentlich, um die kümmert sich der Mann, bevor er schlafen geht, nicht so sehr um die Beziehung zu Individuen, denen er selbst Gutes oder Schlechtes tun kann. Als Person ist er immer weniger, als Angehöriger eines Landes nimmt er teil an dem, was die Massenmedien diskutieren. Das ist einer der negativen Aspekte der Publizität, die der Person zu dienen intendiert. Der Tod auf dem Schlachtfeld symbolisiert, was in Krieg und Frieden unblutig in jedem Hause vor sich geht, das Schwinden des Subjekts. Indem es sich als total bedingt erfährt, kommt es als die Ohnmacht zu sich selbst, die es in der Gesellschaft kennzeichnet. Die Demokratie als ihr eigener Feind. — Je demokratischer eine Demokratie, desto gewisser negiert sie sich selbst. Wann immer ernsthaft kritische Perioden eintreten, werden die radikalen Kräfte von rechts und links der ihnen zustehenden demokratischen Rechte sich bedienen, um eine partikulare, vielmehr totalitäre Herrschaft herbeizuführen. Demokratie heißt die Staatsform nach dem Willen des Volkes. Der Wille des Volkes jedoch, soweit es so etwas gibt, hat mit Vernunft wenig zu tun, er neigt weit mehr zur Gefolgschaft als zur Autonomie, von den politischen Mechanismen, Wahltaktik und Manipulation ganz abgesehen. Wer immer die Demokratie bejaht, mißtraue ihr. Wie die Freiheit der Menschen, zu der sie gehört, war sie seit je ihr eigener Feind. Am selben Strang. — Der an die gesellschaftliche Entwicklung sich anpassende Mensch nimmt die der Realität, den Tatsachen und seinem Fortkommen entsprechenden Zwecke ernst, das übrige ist
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Allotria. Zum Fortkommen gehören zuweilen auch Geschlechtsvergnügen, Gymnastik, Freizeitgestaltung. Hingabe an anderes als Zweckbedingtes solcher Art scheint ihm Illusion, Neurose, Krankheit; er ist kalt. Die Jugend heute, protestierende Studenten, Gammler, Hippies, erscheint als Gegenteil, von Gefühlen, Sehnsüchten, Idealen beherrscht. Trotz allem repräsentiert sie dasselbe: die Sinnlosigkeit nicht positivistisch-pragmatischen Glaubens, die Entlarvung des Sinnes, jeden nicht instrumenteilen Sinnes als Romantik, Sentimentalität. Ihre Methoden symbolisieren die Verachtung der Liebe als Fetisch, sie denunziert das andere als traditionelles Geschwätz, sie bedeutet dessen Negation. Ihr Lärmen ist dieselbe Negation des nicht Realistischen wie die Abstraktheit, das Negative moderner Kunst, die Negation der Verklärung. Die Rebellion der Schulen und Hochschulen wie die der Malerei und Musik ist das Bekenntnis zum Realismus, den sie verneint. Zur Studentenbewegung. — Die rein psychoanalytische Erklärung der Pubertät bezieht sich, wenn ich nicht irre, auf die Vollendung der Hineinbildung der väterlichen Forderung in die seelische Substanz des Heranwachsenden. Er mißt nun den Vater an dessen eigener Moral und empört sich gegen ihn. - Ich meine, es wäre hinzuzufügen, falls Freud es nicht schon ausgesprochen hat, daß die physische und verstandesmäßige Kraft der Jungen, wenn sie ein bestimmtes Ausmaß erreicht hat, ähnlich wie bei vielen Tiergattungen die Verneinung der Abhängigkeit, die Loslösung vom Älteren bewirkt. - Eben dieses Moment wird um so entscheidender, je mehr die traditionellen Beziehungen in der Familie und damit das Gewissen zurückgehen. Glauben und Wissen. - Wer in noch so entfernter Weise an theologischer Tradition festhält, muß zugleich die Aufrichtigkeit besitzen, den Gegensatz solcher Treue nicht bloß zur Wissenschaft, sondern zum realitätsgerechten Denken schlechthin einzugestehen. Jedwede Behauptung, daß etwas so oder anders, hier oder dort, jetzt oder früher oder in Zukunft ist, bedeutet, daß ich oder andere es auf Grund zuverlässiger Quellen oder Berechnungen oder mit eigenen Augen feststellen und gegebenenfalls berichtigen können. Theologie steht im Gegensatz zur Erkenntnis, leitet sich aus Stu-
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fen des Bewußtseins her, in denen Wahrnehmung durch Instinkte, Impulse, Emotionen sich ergänzte, die den heutigen Stand der durch Maschinen bedienten Erfahrung nicht mehr angemessen sind. Erkenntnis ist letzten Endes zweckbedingt, Theologie will von irdischen Zwecken frei sein, sie ist niederer und höher als jede Art von Wissen. Nach Auschwitz. - Wir jüdischen Intellektuellen, die dem Martertod unter Hitler entronnen sind, haben nur eine einzige Aufgabe, daran mitzuwirken, daß das Entsetzliche nicht wiederkehrt und nicht vergessen wird, die Einheit mit denen, die unter unsagbaren Qualen gestorben sind. Unser Denken, unsere Arbeit gehört ihnen; der Zufall, daß wir entkommen sind, soll die Einheit mit ihnen nicht fraglich, sondern gewisser machen. Was immer wir erfahren, hat unter dem Aspekt des Grauens zu stehen, das uns wie ihnen gegolten hat. Ihr Tod ist die Wahrheit unseres Lebens, ihre Verzweiflung und ihre Sehnsucht auszudrücken, sind wir da. Der Gang der Philosophie. - Der Gang der Philosophie von der umfassenden theoretischen und praktischen Weltlehre zur armseligen Fachdisziplin ist die Repetition des Gangs der Religion und Theologie. In beiden Prozessen ereignet sich dasselbe, das Verschwinden einer bewußten Beziehung des Menschen zum Ganzen, ja der ernsthaften Bekümmerung um Leben und Welt. Alles löst in Teilkenntnissen und Teilreaktionen sich auf, ohne Reflexion auf irgendeine Relation der Teile zu dem, wovon sie Teile sind, es sei denn von »der« Wissenschaft als Profession. Der Weg ins Nichts - wahrscheinlich weil nichts anderes übrigbleibt. Der Mensch wird nun wirklich zum Tier - mag sein zum komplexen, geschickteren Tier. Mag sein. Ohne Illusion. - Die Wirklichkeit mit Verstand erkennen bezieht sich auch auf das Urteil über die Menschengattung. Ihr Unterschied gegenüber den Tieren betrifft ausschließlich die Biologie. Im Verhältnis zum Universum ist er entschieden irrelevant, das heißt gleich Null. Ein menschliches Genie ist durch besondere Begabung und Leistungen ausgezeichnet, wie eine Ameise, die zuerst ein bekömmliches Ziel wittert, einen Weg findet, der beim Aufstieg,
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Wohlsein, Überleben, Fortschritt der Art, des Stammes oder Häufleins eine Rolle spielt. Vom nächsten Planeten, der Milchstraße oder schon nach ein paar Jahrtausenden gesehen, ist die Differenz der Exemplare wie der Gattungen irrelevant, von dem Unendlichen, soweit der Begriff noch sinnvoll ist, gar nicht zu reden. Mit solchem Wissen beginnt das Selbstbewußtsein, sofern es Illusionen entsagt. Ende mit Schrecken. - Soweit ein Mensch den Begriff der Endlichkeit jedes lebenden Wesens ganz ernst zu nehmen vermag, erfährt er die Relativität seines eigenen Lebens, die letzten Endes unüberwindliche Nichtigkeit des Unterschieds zwischen sich selbst und jeder fühlenden Kreatur. Wer — mit Recht — darüber befriedigt ist, daß er im eigenen Schicksal nichts Furchtbares erleiden mußte, wird durch den Gedanken der Endlichkeit dazu gebracht, solche Dankbarkeit durch das Bewußtsein des Entsetzlichen im Leben und Sterben anderer gestern, heute und morgen zu beschränken und aufzuheben. Die Differenz entspringt lediglich der Hypostasierung des letztlich scheinhaften Ichs, der Verabsolutierung des Scheins, der selbst bei den Herdentieren, den Bienen- und Ameisenschwärmen verneint wird. Eben diese Einsicht vermöchte den Schrecken vor der Entwicklung menschlicher Gesellschaft zur Automatisierung, letztlich zur glatt funktionierenden Gesamtstruktur der Gattung zu kompensieren. Die Rationalisierung bedeutet beides: das Ende des Wahns und des Geistes. Ohne Liebe. — Die erotische Liebe verblaßt, mit ihr die positiven Beziehungen der Menschen untereinander schlechthin, wie zu allem nicht Zweckrationalen im Leben. Erotische Liebe war die Basis der Kunst, der Ideen eines Anderen als der empirischen Realität, die Basis der Phantasie. In der durch Liebe begründeten Familie erfuhr das Kind jenes Glück und jene Trauer, jene Sehnsucht, die - seit je schon selten genug - jetzt vollends zu Ende geht. Das materielle Bedürfnis wie die pragmatische Zusammenarbeit vermögen sie nicht zu ersetzen. Ohne Liebe, die letzten Endes dem Erotischen sich verdankte, gebiert Gemeinschaft das kollektive Bekenntnis, das zum Fanatismus tendiert.
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Zur Kritischen Theorie. — Das jüdische Verbot, Gott darzustellen, und das Kantische, in intelligible Welten auszuschweifen, enthalten zugleich die Anerkennung dessen, eben des Absoluten, dessen Bestimmung immöglich ist. Dasselbe gilt von der Kritischen Theorie, sofern sie erklärt, das Schlechte, zuvorderst in der Sphäre des Sozialen, dann aber auch in der des einzelnen Menschen, der des Moralischen, lasse sich bezeichnen, nicht jedoch das Gute. Der Begriff des Negativen, sei es das Relative oder das Böse, enthält in sich das Positive als seinen Gegensatz. Im Praktischen folgt aus der Denunziation einer Handlung als schlecht zumindest die Richtung der besseren Handlung. - Das Beharren auf dem Unterschied der Wahrheit der beiden Urteile beruht auf vielen Momenten, eines der wichtigsten liegt in der Beziehung zur Geschichte, zur Zeit überhaupt. Das Schlechte gilt wesentlich für die Gegenwart, das Gute hat jeweils als solches sich zu bewähren, die Bewährung vorwegzunehmen überschreitet die Fähigkeiten des Urteilenden, stellt die Verabsolutierung einer Hypothese dar-von der metaphysischen Unmöglichkeit abgesehen, mit der solche Verabsolutierung zusammenhängt. Die kritische Analyse der Gesellschaft bezeichnet das herrschende Unrecht; der Versuch, es zu überwinden, hat wiederholt zum größeren Unrecht geführt. Einen Menschen zu Tode zu quälen ist Untat schlechthin, ihn, wenn möglich zu retten, menschliche Pflicht. Will man das Gute als den Versuch, das Schlechte abzuschaffen, definieren, so läßt es sich bestimmen. Eben dies ist die Lehre der Kritischen Theorie, jedoch das Gegenteil, nämlich das Schlechte durch das Gute zu definieren, wäre - selbst in der Moral — eine Unmöglichkeit. Ad Pessimismus. — Die immanente Logik der gesellschaftlichen Entwicklung weist auf den Endzustand eines total technisierten Lebens hin. Die Herrschaft der Menschen über die Natur erreicht ein solches Ausmaß, daß der Mangel und damit die Notwendigkeit der Herrschaft von Menschen über Menschen verschwindet. Das Ende jedoch ist zugleich völlige Ernüchterung, das Erlöschen von Geist, soweit er vom Verstand als Werkzeug sich unterschied. Materielle Not war zugleich die Bedingung der Ungerechtigkeit, der Unterdrückung wie der Sehnsucht und der Phantasie. Die Menschengattung erfüllt ihre Bestimmung, indem sie den Status einer
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besonders geschickten, raffinierten Tierrasse erreicht, über die Wissenschaft gelangt sie zur Technik, Automatisierung, schließlich zur Aufnahme der exakten Verfahrensweisen in die psychologische Substanz, als erblich übertragbare Instinkte und Geschicklichkeiten. Der Prozeß kann durch Zwischenfälle unterbrochen werden; ihn abzulehnen, nicht mitzumachen, anstatt ihn voranzutreiben, wird schließlich der romantischen Torheit, dem Aberglauben gleichkommen, der Fehlentwicklung einzelner Exemplare der Gattung. All das gehört zur Dialektik der Aufklärung, dem Umschlag von Wahrheit in unbedingte Konformität mit der Sinnlosigkeit, mit der Realität schlechthin. Das Ende einer Illusion. - Freud lehrt, daß Kultur das Resultat von Subhmierung ist. Wenn er recht hat, ist der gegenwärtige Prozeß der Negation des Feigenblatts in Massenmedien, öffentlichen Darbietungen, ja bis zu einem weiten Maß in der Mode zugleich die Aufhebung der Kultur. Sexuelle Versagung befindet sich im Rückgang, bedarf nicht mehr der Überwindung durch transformierende Phantasie. Mit dem Verbot hört auch die Sehnsucht auf, mit ihr die Vorstellung, die Idee all dessen, was anders ist, am Ende die Liebe schlechthin. Nicht bloß die Religion, sondern der Geist fällt dem Instrumentalismus zum Opfer. Das Ende einer Illusion betrifft alles jenseits der nackten Realität. Kants Irrtum. - Nach Kants transzendentaler Theorie ist die dem Menschen bekannte Welt, in der sich nach seiner Vorstellung das eigene Leben wie das der anderen abspielt, die Welt der Erscheinung, das heißt ein Ordnungsprodukt menschlich-intellektueller Funktionen. Soweit ist er mit Hume, das heißt letzten Endes mit dem Positivismus, einig. Er meinte jedoch, und das ist für seine Philosophie entscheidend, Hume zu überwinden, indem er Erscheinung als Erscheinung des Wahren, des Intelligiblen erklärte, als ein Relatives, das von dem Absoluten zeuge. Er hat nicht darauf reflektiert, daß solche Behauptung selbst nur Vorstellung ist, denselben Kategorien sich verdankt wie die Erscheinung schlechthin, nur, daß die empirischen Aussagen biologisch-pragmatische Funktionen erfüllen, die spekulativen jedoch — und die Reziehung des Relativen zum Absoluten schlechthin ist bereits spekulativ - bei
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genauer Besinnung als inadäquat, irreal, als Spielerei innerhalb der Wirklichkeit sich erweisen. Kant selbst hat erklärt, der Gedanke müsse es sich versagen, »ins Reich des Intelligiblen auszuschweifen«. Seine Philosophie ignoriert das Verbot, wird unkritisch, wo immer sie wähnt, über bloße Erscheinung hinauszugehen, ja wo sie die Erscheinung nicht mehr erscheinungsirnmanent, das heißt nicht als abhängig von anthropologischen Prozessen und daher pragmatisch, sondern in ihrer Beziehung zu einem von Erscheinung Verschiedenen, Jenseitigen, und daher metaphysisch, darstellen will. Die Sehnsucht nach dem, was der instrumentellen Vernunft der Wissenschaft sich entzieht, läßt sich durch Wissenschaft, auch wenn sie als Metawissenschaft sich erklärt, nicht überwinden. Do ut des. - Es ist leicht und in den meisten Fällen wohl auch korrekt, freundlichen Menschen nachzusagen, ihre Freundlichkeit sei interessenbedingt. Dasselbe gilt jedoch auch für die eigene Freundlichkeit, unbewußt, halb bewußt und bewußt. Noch die romantische Liebe enthält die Tendenz, Erwiderung, letztlich Genuß und Befriedigung einzutragen. Nächstenliebe im Christentum war als Erfüllung des Gebots mit Erwartung von Belohnung, zumindest mit Angst vor Bestrafung des Ungehorsams verknüpft. — All dies vermag die Positivität der Freundlichkeit nicht auszulöschen. Noch die Ergebenheit des herrschaftlichen Dieners vermochte, wie sehr sie von außen diktiert war, auf sein Inneres zurückzuwirken. Der Umschlag ins Gegenteil erfolgt in jenen Fällen, wo bewußter Haß und latente Aggression hinter äußerer Liebenswürdigkeit sich verbergen. Unendlich viele Beziehungen sind solchem Umschlag nahe, ohne jedoch ihm ganz anheimzufallen. Es gilt, das Positive selbst in zweifelhaften Situationen noch als solches zu erkennen und womöglich zu entfalten. Das der Freundlichkeit zugrunde liegende Interesse wird in der mehr und mehr rational verwalteten Gesellschaft ohnehin zurückgehen, da spezifisch persönliche Beziehungen mehr und mehr an sozialer Bedeutung verlieren, weil das Verhalten durch zweckvolle Bestimmungen geregelt wird, die — zumindest der immanenten Logik des historischen Prozesses nach als Instinkte in die psycho-physiologische Substanz eingehen.
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Kunst als Ornament. — Warum die Kunst ins ornamental Abstrakte sich reduziert? Weil die Emotionen, die im 19. Jahrhundert in ihr den vollendeten Ausdruck fanden — man denke an Justinus Kerners Gedichte, aber auch an Musik, Malerei und Literatur schlechthin —, bereits überholt sind; sie gelten als romantisch und sentimental. Ihr Niedergang ist ein Symptom der geringeren Bedeutung, der geschichtlich notwendigen Negation des Einzelnen. Die solchem Prozeß entsprechende Gesinnung ist Positivismus, zu dem jetzt im Übergang die Verachtung, der Haß gegen Liebe und Trauer, gegen die nicht pragmatische Empfindung schlechthin, gehört. Der Widerwille ist historisch nicht weniger berechtigt als die ebenso dubiose Abkehr von Theologie und Religion. Antinomien der Kritischen Theorie. - Kritische Theorie heute hat sich mindestens so sehr auf das zu beziehen, was mit Recht Fortschritt, nämlich technischer Fortschritt, und seine Auswirkung auf Mensch und Gesellschaft heißt. Sie denunziert die Auflösung des Geistes und der Seele, den Sieg der Rationalität, ohne ihn schlicht zu verneinen. Kritische Theorie erkennt, daß Ungerechtigkeit mit Barbarei identisch ist, Gerechtigkeit dagegen von jenem technologischen Prozeß untrennbar ist, der die Menschheit zur raffinierten Tiergattung entwickelt, die den Geist zur Erscheinung ihrer Kindheitsperiode degradiert. Phantasie, Sehnsucht, Liebe, künstlerischer Ausdruck werden zu Momenten der Infantilität. Nicht nur die Naturwissenschaften, auch die Psychoanalyse bezeugen es heute schon. Differenz von Kritischer Theorie und Glaubensidee. - Meine Idee, angesichts der Wissenschaften wie der gesamten heutigen Situation den Begriff eines allmächtigen und allgütigen Wesens nicht mehr als Dogma, sondern als eine den Menschen verbindende Sehnsucht auszudrücken, so daß die grauenvollen Ereignisse, das Unrecht der bisherigen Geschichte nicht das endgültige, letzte Schicksal der Opfer sein dürfte, scheint der reforrnatorischen Lösung des Problems durch die zentrale Rolle der Glaubensidee nahezukommen. Der wesentliche Unterschied besteht darin, daß dem Glauben allzuviele schwer zu akzeptierende Vorstellungen, etwa die der
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Dreieinigkeit, zugemutet wurden, daß er mit einem kaum mehr anzuerkennenden Zwang behaftet ist und trotz allem wieder zum Dogma wurde. Daher die Tendenz zur religiös sich verstehenden Aggression. Jenseits von Ideologie. — Durch Hegel und andere vorbereitet, beginnt mit Marx eine neue Epoche philosophischen Denkens; nicht mehr um das Leben des Einzelnen, jedes Einzelnen, seine Beziehung zur empirischen und transzendenten Realität, seine Pflicht, seinen Sinn geht es, sondern um ein jeweiliges Kollektiv, die Gesellschaft, eine bestimmte Gesellschaft, ein Kollektiv oder mehrere Kollektive, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, was sie wollen und was sie sollen oder sollten; das Denken und Handeln des Subjekts gilt einer Mehrheit, letzten Endes der Politik. - Ohne deren Bedeutung zu verneinen, hat nach meiner Ansicht wahres Denken auch heute solcher Einschränkung entgegen sich kritisch zu verhalten, den Impuls der großen Philosophie nicht preiszugeben. Wie sozial bedingt die Reflexion des Einzelnen auch immer sei, wie sehr sie auf Soziales, auf politische Aktionen notwendig sich beziehen mag, sie bleibt Gedanke des Einzelnen, der nicht bloß Wirkung kollektiver Prozesse ist, sondern diese auch zum Gegenstand hat. Besinnung darauf gehört nicht weniger zur wenn auch höchst beschränkten Freiheit, zum Geist als die auf seine gesellschaftliche Bedingtheit, als seine Degradierung zur Ideologie, dem Namen, der den sogenannten Marxisten heute bereits zur Kennzeichnung ihres eigenen Bekenntnisses dient. Für den Nonkonformismus. - Die Erkenntnis, daß Gesellschaft sich auf dem Weg vom Liberalismus, für den die Konkurrenz der einzelnen Unternehmer kennzeichnend war, zur Konkurrenz von Kollektiven, der Aktiengesellschaften, kommerzieller und politischer Verbände und Blöcke befindet, hat nicht notwendig den Konformismus zur Folge. Die Bedeutung des Einzelnen ist im Schwinden begriffen, er vermag jedoch in Theorie und Praxis in die Entwicklung kritisch einzugreifen, indem er durch zeitgemäße Methoden zur Bildung unzeitgemäßer Kollektive beiträgt, die den Einzelnen in echter Solidarität zu bewahren vermögen. Die kritische Analyse der Demagogen wäre ein theoretisches, die Ver-
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einigung von Menschen, die sie psychologisch, soziologisch und technologisch durchschauen, ein praktisches Element des Nonkonformismus in der Gegenwart.
Dämmerung Notizen in Deutschland
Woher der düstre Unmut unsrer Zeit, Der Groll, die Eile, die Zerrissenheit? — Das Sterben in der Dämmerung ist schuld An dieser freudenarmen Ungeduld; Herb ist's, das langersehnte Licht nicht schauen, Zu Grabe gehn in seinem Morgengrauen. Lenau.
Vorbemerkung.
Dieses Buch ist veraltet. Die in ihm enthaltenen Gedanken sind gelegentliche Notizen aus den Jahren 1926 bis 1931 in Deutschland. Sie wurden in den Pausen einer anstrengenden Arbeit aufgezeichnet, ohne daß der Verfasser sich Zeit genommen hätte, sie zu schleifen. Daher sind sie auch ganz ungeordnet. Sie enthalten viele Wiederholungen, auch manchen Widerspruch. Der Bereich ihrer Themen ermangelt freilich nicht jeder Einheitlichkeit. Sie beziehen sich immer wieder kritisch auf die Begriffe Metaphysik, Charakter, Moral, Persönlichkeit und Wert des Menschen, wie sie in dieser Periode des Kapitalismus Geltung besaßen. Da sie der Zeit vor dem endgültigen Sieg des Nationalsozialismus angehören, betreffen sie eine heute schon überholte Welt. Probleme wie das der sozialdemokratischen Kulturpolitik, der mit der Revolution sympathisierenden bürgerlichen Literatur, der akademischen Zurichtung des Marxismus bildeten eine geistige Atmosphäre, die sich jetzt verzogen hat. Doch mögen die Einfälle des seiner Lebensart nach individualistischen Verfassers auch späterhin nicht ganz ohne Bedeutung sein. Deutschland, im Februar 1933.
Dämmerung. — Je windiger es um notwendige Ideologien bestellt ist, mit desto grausameren Mitteln muß man sie schützen. Der Grad des Eifers und des Schreckens, mit denen wankende Götzen verteidigt werden, zeigt, wie weit die Dämmerung schon fortgeschritten ist. Der Verstand der Massen hat in Europa mit der großen Industrie so zugenommen, daß die heiligsten Güter vor ihm behütet werden müssen. Wer sie gut verteidigt, hat seine Karriere schon gemacht; wehe dem, der mit einfachen Worten die Wahrheit sagt: neben der allgemeinen, systematisch betriebenen Verdummung verhindert die Drohung mit wirtschaftlichem Ruin, gesellschaftlicher Ächtung, Zuchthaus und Tod, daß der Verstand sich an den höchsten begrifflichen Herrschaftsmitteln vergreife. Der Imperialismus der großen europäischen Staaten hat das Mittelalter nicht um seine Holzstöße zu beneiden; seine Symbole sind durch feinere Apparate und furchtbarer gerüstete Garden beschützt als die Heiligen der mittelalterlichen Kirche. Die Gegner der Inquisition haben jene Dämmerung zum Anbruch eines Tages gemacht, auch die Dämmerung des Kapitalismus braucht nicht die Nacht der Menschheit einzuleiten, die ihr heute freilich zu drohen scheint. Monadologie. — Ein Philosoph hat einmal die Seele mit einem Haus verglichen, das keine Fenster hat. Die Menschen gehen miteinander um, sprechen miteinander, machen miteinander Geschäfte, verfolgen einander, ohne daß doch einer den andern sieht. Der Philosoph hat dann die Vorstellungen, die sich doch die Menschen gegenseitig von sich machen, damit erklärt, daß Gott jedem Einzelnen ein Bild von den andern in die Seele gelegt habe, das sich, ohne daß äußere Eindrücke hinzukämen, im Laufe des Lebens zum vollen Bewußtsein von Mensch und Welt entwickele. Aber diese Theorie ist fragwürdig. Das Wissen der Menschen voneinander scheint mir nicht von Gott zu stammen, ich meine viel-
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mehr, daß jene Häuser schon Fenster hahen, aber solche, die jeweils bloß einen kleinen und verzerrten Ausschnitt von den Vorgängen draußen ins Innere dringen lassen. Das verzerrende Moment besteht weniger in den Besonderheiten der Sinnesorgane als in der besorgten oder heiteren, ängstlichen oder eroberungslustigen, geduckten oder überlegenen, satten oder sehnsüchtigen, stumpfen oder wachen seelischen Einstellung, die in unserem Leben jeweils den Grund bildet, auf dem alle unsere Erlebnisse sich abzeichnen und der ihnen den Charakter gibt. Neben dem unmittelbar wirksamen Zwang des äußeren Schicksals hängt von diesem Grund die Verständigungsmöglichkeit zwischen den Menschen ab. Als Wahrzeichen für den allgemeinen Grad der Verständigung in der kapitalistischen Gesellschaft könnten zwei Bilder gelten." das Kind, zu seinem Ärger vom Spiel mit den Kameraden geholt, erstattet seinem kranken Onkel einen Besuch. Der Prince of Wales fährt am Steuer eines neuen Cabriolets an einer alten Frau vorbei. Ich kenne nur eine Art von Windstoß, der die Fenster der Häuser weiter zu öffnen vermag: das gemeinsame Leid. Roulette. — Die Systeme sind für die kleinen Leute. Die großen haben die Intuition; sie setzen auf die Nummern, die ihnen einfallen. Je größer das Kapital, desto größer die Chance, verfehlte Intuitionen durch neue wettzumachen. Den reichen Leuten kann es nicht passieren, daß sie zu spielen aufhören, weil ihnen das Geld ausgeht, und im Weggehen gerade noch hören, daß ihre Nummer jetzt, wo sie nicht mehr setzen können, gewinnt. Ihre Intuitionen sind zuverlässiger als die mühsamen Kalkulationen der Armen, die immer daran scheitern, daß man sie nicht gründlich durchprobieren kann. Entehrte Begriffe. - Ein angesehener Gelehrter, der mit dem Sozialismus sympathisiert, hörte bei einem wissenschaftlichen Tischgespräch einen unbefangenen Teilnehmer von Menschlichkeit sprechen. Er erglühte sogleich in edlem Zorn und wies den Ahnungslosen zurecht: Der Begriff der Menschlichkeit, der »Humanität«, sei durch die übelste kapitalistische Praxis, die ihn durch Jahrhunderte als Deckmantel benützte, entehrt und inhaltslos ge-
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worden. Anständige Menschen könnten ihn nicht mehr ernsthaft gebrauchen, sie hätten aufgehört, das Wort in den Mund zu nehmen. Ich dachte: »Ein radikaler Gelehrter! Nur - welcher Bezeichnungen für das, was gut ist, sollen wir uns dann noch bedienen dürfen? Sind sie nicht alle durch einen die schlechte Praxis verschleiernden Gebrauch ebenso entehrt wie der Ausdruck Humanität?« Einige Wochen später erschien ein Buch von diesem Gelehrten über die Wirklichkeit des Christentums. Zuerst war ich überrascht, dann fand ich: er hatte gar nicht das Wort, sondern die Sache verworfen. Unbegrenzte Möglichkeiten. - Das 20. Jahrhundert ist das Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten. Die Leistungen der Technik steigen täglich. Fähigkeiten, die man soeben noch als abnorm bestaunte, stehen unter dem Durchschnitt. Auch die menschlichen Produktivkräfte übertreffen sich selbst. Die Geschicklichkeit des Arbeiters ist seit hundert Jahren über alle Erwartungen gewachsen, der durchschnittliche Aufwand an Energie, Pünktlichkeit, Ausdauer des Einzelnen hat sich vervielfacht — nicht bloß in der Industrie, sondern auf allen Gebieten. Virtuose Leistungen auf dem Cello, die früher nur die größten Künstler zustande brachten und die an das Wunderbare grenzten, gehören heute zum festen Können jedes Schülers, der das Konservatorium verläßt. Nicht bloß im Sport, sondern wahrscheinlich audi im Versemachen werden die Blütezeiten der Vergangenheit übertroffen. Der Komponist spielt ironisch mit Melodien, die den Glanzpunkt einer alten Symphonie gebildet hätten. Ford macht in einem Tage neuntausend Automobile, und Kinder steuern sie durch den Verkehr New Yorks. Das Ungeheure ist alltäglich geworden. Jahrhunderte haben mit Grauen von der Bartholomäusnacht gesprochen, und das Martyrium eines Einzelnen bildet den Gegenstand einer ganzen Religion. Heute gehören die Bartholomäusnächte des Imperialismus ebenso wie der Heldenmut des Einzelnen, der ihnen widersteht, zum Alltäglichen, von dem die Presse unter »Vermischtes« berichtet. Der Sokratesse, Thomas Münzers und Giordano Brunos gibt es so viele, daß ihre Namen in den Lokalzeitungen untergehen. Wegen eines einzigen Jesus von Nazareth brächte man kaum
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besonderen Ärger auf. »Jerusalem, den soundsovielten: Der Führer des Aufstandes, über den wir kürzlich berichteten, wurde heute zum Tode verurteilt und sogleich hingerichtet.« Es gibt freilich Leute, die im Kino über >Sunny-Boy< Tränen haben, zur gleichen Zeit, wo im Dienste ihrer eigenen Besitzinteressen wirkliche Menschen langsam zu Tode gequält werden, nur weil sie im Verdacht standen, für die Befreiung der Menschheit zu kämpfen. Photographie, Telegraphie und Radio haben die Ferne zur Nähe gemacht. Das Elend der ganzen Erde spielt sich vor den Bewohnern der Städte ab. Man sollte meinen, es fordere sie jetzt zu seiner Abstellung heraus; doch gleichzeitig hat sich die Nähe in Ferne verwandelt, denn nun geht der Schrecken der eigenen Städte in dem allgemeinen Leiden unter, und man beschäftigt sich mit den Ehehändeln des Kinostars. Die Vergangenheit wird von der Gegenwart in jeder Hinsicht übertroffen. Die verräterischen Hände. — Bei Sylvesterveranstaltungen in gehobenen Weinlokalen und besseren Hotels pflegt unter den Gästen ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, Vertraulichkeit, Kameradschaft zu herrschen. Sie erinnern trotz des einfachen Anlasses an die harmonische Stimmung bei Naturkatastrophen, nationalen Freudentagen, Unglücksfällen, beim Ausbruch des Weltkrieges, sportlichen Rekordleistungen usf. Der Beginn des neuen Jahres wird als allgemein menschliche Sache aufgefaßt, als eines der majestätischen Ereignisse, bei denen wieder einmal offenbar wird, daß die Unterschiede zwischen den Menschen, vor allem zwischen reich und arm in Wirklichkeit belanglos sind. Die in dieser Nacht durch die Preisunterschiede der verschiedenen Vergnügungsstätten ohnehin gemilderte Vermischung erfährt freilich durch die Anwesenheit der Kellner noch eine weitere Einschränkung; im ganzen herrscht jedoch ein Geist der Gemütlichkeit, und um 12 Uhr sind alle in bedeutsamer Ausgelassenheit miteinander verbunden. Gerade zu dieser Zeit, als der Jubel seinen Höhepunkt erreichte, hatte die von ihrem vornehmen Freund eingeladene kleine Angestellte Wein auf ihr Kleid verschüttet. Während das Gesicht in Begeisterung strahlte und sich die allgemeine Fröhlichkeit darin spiegelte, fuhren ihre Hände in unbewtißtem Eifer fort, den
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Flecken zu entfernen. Diese isolierten Hände verrieten die ganze Festgesellschaft. Philosophische Gespräche im Salon. — Das Gebiet möglicher Er-
kenntnis ist unbegrenzt. Die Menschen, die sich mit der Wahrheit um ihrer selbst willen beschäftigen, vermögen unser Erstaunen über ihre sonderbaren und weithergeholten Themen leicht abzutun. Alles kann ja in irgendeiner Hinsicht wichtig werden. Trotzdem interessiert mich bei gelehrten Gesprächen in vornehmer Gesellschaft die Ursache der Wichtigtuerei häufig viel mehr als das in Rede stehende Problem. So bin ich dahintergekommen, daß ein gut Teil der Diskussionen hauptsächlich aus der persönlichen Konkurrenz und Reklamesucht der akademischen Teilnehmer zu erklären ist. Sie wollen zeigen, wie gut sie für ihre Aufgabe geeignet sind, durch Erziehung zu verdunkelnden Denkmethoden und durch Aufbringung fernliegender Fragen von den wirklichen Problemen abzulenken. Daher kommt es in diesen Gesprächen auch viel mehr auf die bloße Routine, auf das »Niveau« als auf den Inhalt an. Häufig erscheint bereits die bloße Verwirrung und Vernebelung der Wirklichkeit durch konfuse Ausdrucksweise als verdienstvoll. Der Grund des Interesses an dem besonderen Problem wird für gewöhnlich auch gar nicht angegeben. In irgendeiner Hinsicht kann ja, wie gesagt, alles wichtig werden, und im übrigen pflegt jeder der Diskutierenden nicht bloß bei der besonderen Wichtigkeit des betreffenden Themas, sondern auch bei den im Gespräch vorkommenden Namen und Begriffen etwas ganz anderes als die anderen im Auge zu haben. Wenn nur jeder für sich gut abschneidet und als besonders gescheit und brauchbar aus dem unblutigen Kampf hervorgeht. Manchmal — besonders wenn reiche Laien anwesend sind — erinnern derartige geistreiche Unterhaltungen an mittelalterliche Turniere, nur daß man sich ihnen nicht unmittelbar im Dienst und zum Ruhm schöner Frauen, sondern als Eignungstests für eine gute Karriere unterzieht. Die Parteilichkeit der Logik. - Wer irgendein Übel, eine Ungerechtigkeit, eine Grausamkeit, die zu dieser Gesellschaftsordnung gehört, mit dürren Worten feststellt, wird häufig zu hören bekom-
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men, daß man nicht verallgemeinern dürfe. Es wird auf Gegenbeispiele verwiesen. Aber gerade hier ist die Methode der Gegenbeispiele logisch unzulässig. Zwar ist die Behauptung, daß irgendwo Gerechtigkeit bestehe, durch den Nachweis eines einzigen Gegenbeispiels aus den Angeln zu heben, nicht aber umgekehrt. Die Anklage gegen ein Gefängnis, aus dem ein tyrannischer Direktor die Hölle macht, ist keineswegs durch ein paar Beispiele von Anständigkeit zu entkräften, aber die Leitung eines guten Direktors wird durch einen einzigen Fall von Grausamkeit widerlegt. Die Logik ist nicht unabhängig vom Inhalt. Angesichts der Tatsache, daß in der Wirklichkeit dem bevorzugten Teil der Menschen billig ist, was dem anderen unerreichbar bleibt, wäre eine unparteiische Logik so parteiisch wie das Gesetzbuch, das für alle das gleiche ist. Charakter und Avancement. - Daß in dieser Gesellschaft die Furchtbaren an der Spitze stehen, werden viele erkennen. Es ist allzu offenbar, daß gerade diejenigen Herrschaften sich oben halten, denen Hekatomben im Elend verkümmerten und erstickten Menschenmaterials als regelmäßiges Produkt ihres Daseins kaum eine oberflächliche Lüge, kaum eine heuchlerische Begründung der »Notwendigkeit« des unaufhörlichen Elends entlocken. Welche menschlichen Qualitäten müssen in einem Wettbewerb, bei dem die, welche Erfolg haben, so aussehen, entscheidend sein! Aber das Auge, das die Verhältnisse auf den höchsten Stufen der sozialen Rangordnung noch zu unterscheiden vermag, pflegt an Schärfe bei der Hinwendung auf die eigene Sphäre zu verlieren. Man nimmt stillschweigend an, daß mit abnehmender Quantität der Vermögen die moralische Qualität derer, die sich um sie streiten, zunimmt oder wenigstens die Gemeinheit geringer wird. Aber die kapitalistische Wirtschaft ist so organisiert, daß tatsächlich die größere Verwandtschaft mit der seelischen Verfassung derer an der Spitze auf jeder Stufe die größeren Chancen sichert. Richtiger noch als jener Glaube der kleinen Unternehmer zugunsten ihrer eigenen Moral wäre die entgegengesetzte Ansicht. Während oben das Verhältnis zwischen der ausbeutenden Person und der ausbeuterischen Tätigkeit höchst vermittelt sein kann, drük-
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ken sich auf den niederen Stufen die unmenschlichen Qualitäten notwendig unmittelbar in den Personen aus. Ein Millionär oder gar seine Frau können sich selbst einen sehr geraden und noblen Charakter leisten, sie können alle möglichen bewundernswerten Eigenschaften ausbilden. Je größer die Unternehmung, um so mehr läßt sie sogar einen gewissen Spielraum für »arbeiterfreundliche« und am Verhalten der Fachgenossen gemessen humane Maßnahmen zu, ohne daß sie unrentabel wird. Der kleine Fabrikant ist auch hier im Nachteil. Bei ihm sind schon persönlich ausbeuterische Züge vonnöten, um bestehen zu können. Diese »moralische« Benachteiligung wächst mit der Abnahme der Charge im Produktionsprozeß. Bei der Konkurrenz der Werkmeister untereinander trägt der am wenigsten moralisch Gehemmte, unter Umständen einfach der Brutalste, auf die Dauer den Sieg davon, d. h. er kann avancieren. Man denke, daß die gepflegte Hand eines Ministers, der eine geringe Ausführungsbestimmung des Strafvollzugs verfügt, noch einem »Schöngeist« gehören kann, und schaue sich die Zuchthausknechte an, die jene Bestimmung ausführen. Nein, die abnehmende Quantität des Übels, das man anrichten kann, schlägt nicht in die bessere Qualität des Charakters um. Wer auf den niederen Stufen gut besteht, erweist sich in der gleichen moralischen Ordnung als tüchtig wie die glücklicheren Trustmagnaten. Auch vom Untüchtigen und Untergehenden ist noch nicht gesagt, daß er aus größerer Zartheit versage, wenngleich ihm gegenüber wenigstens diese Frage am Platz ist. Im ganzen darf man sagen, daß trotz einiger oberhalb des wirklichen Proletariats existierender gesellschaftlicher Sphären, in denen eine gewisse Anständigkeit sich notdürftig eine Zeitlang über Wasser halten kann, das Avancement jedenfalls ein schlechtes Zeichen für moralische Skrupel bildet. Gewalt und Harmonie. - Die Ablehnung der Anwendung von Gewalt ist reiner als der Versuch, Gewalt durch Gewalt abzuschaffen. Der Pazifist ist seiner selbst sicherer, und wenn er selbst Gewalt erfährt, wird sie, die er verabscheut hat, ihn nicht widerlegen. Sein Leben ist harmonischer als das des Revolutionärs, und er kann diesem in manchen elenden Situationen wie das Licht in der Hölle
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erscheinen. Welcher Anblick: der Mann der Gewalt von seinem Gegner besiegt ohnmächtig am Boden liegend, jetzt selbst ebenso wie die von ihm Geführten ein erbarmungswürdiges Objekt fremder Gewalt, und der Engel, dem die Gewalt an sich immer das Schlechte war, imstande, ihm Hilfe zu leisten, da sein Prinzip ihn behütet hat! - Aber wie, wenn die Menschheit ohne die, welche zu allen Zeiten gewaltsam ihre Befreiung betrieben, noch tiefer in der Barbarei steckte? Wie, wenn es der Gewalt bedürfte? Wie, wenn wir unsere »Harmonie« durch den Verzicht auf tatkräftige Hilfe erkaviften? Diese Frage vernichtet die Ruhe. Aller Anfang ist schwer. - Aller Anfang ist schwer, und weil den meisten Menschen, wenn überhaupt, so nur ein einziges Mal die Aussicht, in eine bessere Lebenslage hineinzukommen, die Chance eines Anfangs geboten wird, so machen sie es schlecht und bleiben in ihrem Elend sitzen. Wer ohne Gewöhnung in einen Salon kommt, benimmt sich ungeschickt, und wehe, wenn auch noch fühlbar wird, daß er begierig ist dabeizusein. Die Freiheit, Selbstverständlichkeit, »Natürlichkeit«, die einen Menschen in gehobenem Kreis sympathisch machen, sind eine Wirkung des Selbstbewußtseins; gewöhnlich hat sie nur der, welcher immer schon dabeiwar und gewiß sein kann, dabeizubleiben. Die Großbourgoisie erkennt die Menschen, mit denen sie gern umgeht, die »netten« Menschen an jedem Wort. Aller Anfang ist schwer. Wenn man dem Lehrling ein Geschäft gibt, das er beim Gehilfen hundertmal gesehen hat, so macht er es trotzdem verkehrt, es sei denn, daß ihm die Identifikation mit dem Erwachsenen im Blute liegt wie dem begabten Hochstapler die Identifikation mit der guten Gesellschaft. Zieht man einen Unteren zu den Leistungen der Oberen heran, dann zeigt es sich leicht, daß er versagt. So wird die schon bestehende Rangordnung immer aufs neue bestätigt. Der Abhängige ist unbegabt. Dies wird noch dadurch kompliziert, daß der Anfang für jeden mit dem Alter immer schwerer wird und die, welche nicht schon in eine glückliche Situation hineingeboren oder jung hineingerutscht sind, fürs Leben dazu verdorben bleiben. Die Selfmade-Männer beweisen bloß die Regel. Aber sogar diese werden immer seltener, weil der Anfang immer noch schwerer wird, als er schon früher war.
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Von innen nach außen. - Das Kind in der bürgerlichen Familie erfährt nichts von ihrer Bedingtheit und Veränderlichkeit. Es nimmt ihre Verhältnisse als natürliche, notwendige, ewige hin, es »fetischisiert« die Gestalt der Familie, in der es aufwächst. Es entgeht ihm daher Wesentliches über seine eigene Existenz. Etwas Ähnliches gilt für die Menschen, die in der Gesellschaft in festen Beziehungen stehen. Mögen bestimmte Schichten der Arbeiter - sie sind nicht so groß, wie man zu glauben neigt — kraft der sozialistischen Theorie die Bedingtheit ihres Verhältnisses zu den Unternehmern durchschauen, so nehmen sie doch die Beziehungen innerhalb der eigenen Klasse als natürliche und selbstverständliche hin. Aber auch diese sind durch vergängliche gesellschaftliche Kategorien mitkonstituiert, was erst beim wirklichen Heraustreten aus ihnen ganz offenbar wird. Dazu genügt freilich nicht der eigene Entschluß, auch nicht die bloße Überlegung. Vielmehr bedarf es des entscheidenden Wandels der gesellschaftlichen Situation eines Menschen nach unten, seines Herausfliegens aus allen Sicherungen sozialer und menschlicher Art, um ein relatives Außerhalb gegenüber den grundlegenden gesellschaftlichökonomischen Beziehungen ins Bewußtsein zu bringen. Erst dann kann das Dasein wirklich den Glauben an die Natürlichkeit seiner Bedingungen verlieren und entdecken, wieviel gesellschaftlich bedingte Elemente noch in der Liebe, der Freundschaft, der Achtung, der Solidarität, die es genossen hat, enthalten waren. Es bedarf bestimmter Ereignisse, welche das Leben eines Menschen so verändern, daß es nicht wiedergutzumachen ist. Der Arbeiter, von seinen Kameraden beim Diebstahl ertappt, der angesehene Beamte, dem Unterschlagungen nachgewiesen worden sind, die Schöne, von den Pocken befallen und ohne genügende Mitgift, um die Narben unsichtbar zu machen, der Trustmagnat im Bankrott oder im Sterben mögen vielleicht einen ungetrübten Blick auf das werfen, was ihnen vorher selbstverständlich war. Sie sind im Begriff, die Grenze zu überschreiten. Zeit ist Geld. — Als ob es gleichgültig wäre, um welches Subjekt es sich handelte! Ob meine oder ob deine Zeit, ob die Zeit des Herrn Krupp oder eines Arbeitslosen: sie ist Geld. Es wird auch verschwiegen, wessen Geld und wieviel Geld, während es doch zum
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Beispiel klar ist, daß der Zeitverlust des Herrn Krupp sein eigenes Geld kostet und der Zeitverlust seiner Arbeiter - auch sein eigenes, Herrn Krupps eigenes Geld. Man wird hier einwenden: wenn ein Arbeiter der Kruppwerke Zeit verbummelt, so kostet es nicht Krupps Geld, sondern der Arbeiter fliegt auf die Straße und erfährt an sich selbst die allgemeine Richtigkeit von »time is money«. Aber erstens gilt dieser Einwand nur, wenn man den einen Arbeiter in Gegensatz zu allen übrigen bringt (eine allgemeine Verminderung des Arbeitstempos bei allen Arbeitern überhaupt müßte Krupps Profit verringern). Zweitens bedeutet die ursprüngliche Verlangsamung des Tempos. um derentwillen der einzelne Arbeiter auf die Straße fliegt, zunächst einmal einen Verlust des Werkes, und gerade die unendliche Kleinheit, die Belanglosigkeit dieses Verlustes für Krupp (im Gegensatz zu den Konsequenzen für den Arbeiter) wäre das ergiebige Thema einer philosophischen Abhandlung. Drittens wird durch den Einwand der Sinn des Wortes verdreht: ursprünglich bedeutet es: jede Minute kann für dich ergiebig sein, also wäre es dumm, eine zu vertrödeln; jetzt soll es heißen: wenn du nicht ordentlich schuftest, wirst du verhungern. Diese beiden Bedeutungen treffen auf zwei verschiedene Klassen zu, aber unter den Fittichen des Sprichworts haben beide Platz, sowohl der Fluch, unter dem das Leben des Arbeiters steht, als die Ermunterung für den Kapitalisten. »Zeit ist Geld« - es drängt sich die Frage nach einem Kriterium auf, wieviel Geld eine bestimmte Zeit wert ist. Als Hilfe, ein solches Kriterium zu finden, wäre vielleicht folgende Betrachtung geeignet. Ein Arbeiter, der sich ein Automobil mietet, um morgens noch rechtzeitig zur Arbeitsstätte zu kommen, ist dumm (Vergleich der Fahrtkosten mit seinem Taglohn), ein Erwerbsloser, der fünf Mark in der Tasche hat und ein Auto benutzt, um Zeit zu sparen, ist verrückt, aber schon ein mittlerer Prokurist wird anfangen, talentlos zu sein, wenn er seine Besuche nicht im Auto erledigt. Eine Minute im Leben des Erwerbslosen besitzt einen anderen Wert als eine Minute des Prokuristen. Es empfiehlt sich auszurechnen, das Leben von wieviel hunderten von Arbeitern zusammen den Wert des Tages eines kleineren Bankiers ergeben. Zeit ist Geld - aber was ist die Lebenszeit der meisten Menschen wert?
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Wenn man sich schon nicht scheut, so allgemein daherzureden wie ein Sprichwort, dann ist nicht Zeit Geld, sondern Geld ist Zeit, ebenso wie es Gesundheit, Glück, Liebe, Intelligenz, Ehre, Ruhe ist. Denn es ist ja erlogen, daß, wer Zeit hat, auch Geld hat, mit bloßer Zeit kann man sich kein Geld verschaffen, aber umgekehrt. Widerspruch. - Die Erde ist groß, zu groß für einen hungernden Chinesen, um dorthin zu gelangen, wo es etwas zu essen gibt, zu groß für einen deutschen Landarbeiter, um das Fahrgeld dorthin zu bezahlen, wo er bessere Arbeit findet. Die Erde ist klein. Wem die Mächtigen in den Ländern nicht hold sind, der findet keine Heimat, sie schenken ihm keinen Paß, vor dem ihre Beamten salutieren, und er wird, auf seiner Wanderschaft ertappt, nachts über andere Grenzen geschoben, in Länder, in denen er auch keine Stätte hat. Nirgends ist für ihn Raum. Wenn anständige Leute nachts eine Grenze passieren, geben sie am Abend vorher dem Kontrolleur des Schlafwagens Billet und Paß und äußern den berechtigten Wunsch, bei der Kontrolle nicht geweckt zu werden. Gott hat sie lieb. Der Hotelportier. — Der junge Mann nahm mit seiner Freundin in einem Luxushotel der Großstadt Wohnung. Beide waren ausgezeichnet angezogen, und es stand ihnen ein Wagen führender Marke zur Verfügung. Als er sich einschrieb, erklärte der junge Mann, drei Wochen zu bleiben, und übergab dem Portier den Schein für das große Gepäck. Die ersten acht Tage gingen ausgezeichnet vorüber. Das Paar blieb häufig in seinem Zimmer, machte einige Fahrten in die Umgebung und fiel wenig auf. Dann beging der junge Mann einen Fehler: er gab dem Portier für eine geringe Besorgung ein übermäßig hohes Trinkgeld. Dieser wurde stutzig, ging der Sache nach und entdeckte den Tatbestand. Der junge Mann war wegen einer Unterschlagung verfolgt. Am gleichen Abend wurde er verhaftet. In dem Hotel verkehrten Fürsten und Millionäre; der Portier bekleidete den Posten seit vielen Jahren. Sie und er hatten das richtige Maß. Dem jungen Mann erschien die freundliche Dienstfertigkeit des Portiers, die in Wahrheit Routine war, nicht als
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selbstverständlich, wie dem echten Mitglied der herrschenden Klasse. Er war die Fülle von Ehrerbietung, Liebenswürdigkeit, Beflissenheit, welche der Privilegierte in dieser sonst so furchtbaren Gesellschaft auf allen seinen Wegen erfährt, noch nicht gewohnt. Er verriet sich durch den dankbaren Impuls und durch die mangelnde Achtung vor dem Kleingeld, welch letztere selbst der großzügigste Reiche beweist. Wie sie im Leben des Einzelnen zustande kommt, ist von der Psychologie noch nicht aufgehellt. Sicher stellt sie eine Weisheit des objektiven Geistes dar. Sie wirkt wie eine geheime Konvention der Herrschenden, die Gerechtigkeit ihres Systems, in welchem der geringe über das Leben des Armen oft genug entscheidende Betrag für sie selbst keine Rolle spielt, dadurch zu beweisen, daß sie dem Armen gegenüber gerade diesen für sie nichtigen Betrag, gerade dieses Kleingeld heilig halten. Die Konvention lag dem jungen Mann noch nicht im Blut. »Etwas kann da nicht stimmen«, dachte der Portier, und er hatte recht. Der Gang der kapitalistischen Wirtschaft ist im Hinblick auf die Aktienkurse schwer vorauszusagen. Seine Einwirkung auf die menschliche Seele ist präzise zu berechnen. Ein Hotelportier geht selten fehl. Er entlarvt durch seinen Scharfblick freilich weniger die Unehrlichkeit des Gastes als die Ehrlichkeit des Hotels. Anmerkung: In Monte Carlo entscheidet die Überlegung des reichen Spielers, ob er noch eine Minute bleiben soll, über den Gewinn oder Verlust von vielen tausend Francs. Sie brauchen für ihn nichts zu bedeuten. Es ist gleichgültig, ob er noch einmal ein paar goldbedruckter Jetons auf den Tisch legt, es könnte die Zeit bis zum Diner knapp werden. Im Hinausgehen legt er vielleicht noch ein weiteres Jeton oder eine Note auf irgendeinen Spieltisch. Es macht nichts, ob sie verloren wird, sie ist gleichsam überzählig. Aber der Lakai, welcher sich bückt, wenn dem Spieler zuletzt ein Jeton hinunterfällt, ist sehr zufrieden, wenn er noch einen Franc bekommt. Würde er sich höflich für den Franc bedanken, wenn ihm die Bedeutung der Tausender im Leben der Herrschenden demonstriert wäre, indem er sie ebensooft als Trinkgeld erhielte, wie man sie ä fond perdu auf einen Spieltisch wirft? Das wäre ja gar nicht auszudenken! Übrigens ist mit dieser automatisierten Vorsicht am wenigsten der Lakai im Spielsaal gemeint. Der beurteilt den Kapitalismus heute noch nach den Spielern und glaubt am Ende, einmal müßten alle ihr Geld verspielen. Aber der Herr, welcher sich lieber die Mühe nimmt, in der Tasche
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nach einem Franc zu suchen, als ihm den überzähligen Jeton zu lassen, nimmt den Lakaien als Vertreter der Unterklasse überhaupt und hütet sich, ihn zu korrumpieren. Die, welche sich nicht hüten, sind unsichere Kantonisten. Sie verdienen Mißtrauen. Erziehung und Moral. - Häufig sind moralisch üble Qualitäten einfach darauf zurückzuführen, daß einer nicht gelernt hat, seine Lust in sozialer Weise zu befriedigen. Verstocktheit, Hartnäckigkeit des schlechten Charakters trotz liebevoller Mühe der anderen erscheint dann als Folge davon, daß er auch nicht zu lernen gelernt hat, d. h. im Lernen keine Lust zu finden vermag. Auch dieser Erziehungsfehler findet sich natürlich häufiger bei den niederen als bei den höheren Klassen; sie sind auch darin benachteiligt. Die Einsicht in diesen Zusammenhang vernichtet den Wunsch, sich an bösen Menschen zu rächen. Gefahren der Terminologie. — Beim Gang durch ein Irrenhaus wird der schreckliche Eindruck, den der Laie von dem Tobsüchtigen empfängt, durch die sachliche Feststellung des Arztes beschwichtigt, dieser Patient befinde sich in einem »Erregungszustand«. Durch die wissenschaftliche Einordnung wird der Schrecken über das Faktum gewissermaßen als unangebracht hingestellt. »Nun — es handelt sich eben um einen Erregungszustand.« Ebenso beruhigen sich manche Menschen bei der Feststellung des Übels überhaupt durch den Besitz einer Theorie, in der es aufgeht. Ich denke dabei auch an manche Marxisten, welche angesichts des Elends rasch dazu übergehen, es zu deduzieren. Man kann auch mit dem Begreifen zu rasch sein. Kategorien der Bestattung. — Sobald die Theorie eines genialen Mannes genügend Macht gewinnt, um zwangsläufig von sich reden zu machen, setzt die Arbeit ihrer Angleichung an das Bestehende ein. Unter anderem macht sich eine Menge Fachleute daran, die neuen Gedanken mit ihren wissenschaftlichen Absichten in Einklang zu bringen, indem sie die Begriffe der revolutionären Theorie in ihre Darstellungen gleichsam selbstverständlich einweben und ihren ideologischen Bestrebungen dienstbar machen. So entsteht der Anschein, als sei das Positive und Brauchbare
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bereits von diesen fortschrittlichen Denkern übernommen und bei ihnen besser aufgehoben als bei dem Autor oder seinen eigentlichen Schülern selbst. In den Ansichten der sogenannten »Orthodoxen« dagegen, welche sie mit Scheuklappen vor den Augen wiederholen, verliert die Lehre des Meisters durch die fortschreitende Veränderung der übrigen geistigen Welt ihren ursprünglichen Sinn. Starr festgehaltene Lehrsätze können dadurch, daß sich die Realität und mit ihr der allgemeine Erkenntnisstand anders strukturiert, schief, verkehrt oder wenigstens belanglos werden. Aber die heute beliebteste Form, eine Theorie unschädlich zu machen, ist nicht so sehr die Orthodoxie, sondern jene frisch-fröhliche Übernahme ihrer Kategorien in einen Zusammenhang, der dem Autor ganz zuwiderläuft. Im Gegensatz zum Autor, dem man, besonders wenn er tot ist, einen formalen Respekt entgegenbringt, werden die Orthodoxen, welche immerhin die Gedanken sorgfältig zu bewahren streben, als unfruchtbare, armselige Geister verachtet. Der Person des Schöpfers erweist man also größeren Respekt als dem Inhalt seiner Gedanken. Dies tritt besonders auffällig bei der Haltung gegenüber den revolutionären Vorkämpfern des bürgerlichen Geistes selbst zutage. Der Name derer, welche durch den Kampf gegen das Mittelalter in den Köpfen der Menschen Schrittmacher der bürgerlichen Ordnung waren und die auch nach dem Siege dieser Ordnung unbekümmert um die neuen Wünsche des ökonomisch zur Macht gekommenen Bürgertums weiter der geistigen Befreiung, der Wahrheit zu dienen strebten, hat allzu großen Glanz gewonnen, als daß man sie totschweigen könnte. So läßt man Voltaire, Rousseau, Lessing, Kant und ihre Nachfahren bis in die moderne Literatur und Wissenschaft hinein als große Köpfe, tiefe Denker und Feuergeister gelten, aber ihre Gesinnung, die Triebe und Motive, welche sie beseelten, der Sinn ihrer Lehren, ihre Unversöhnlichkeit mit dem herrschenden Unrecht werden zurückgewiesen und verlacht, für armselig, flach, einseitig erklärt, im Ernstfall verfolgt und ausgerottet, wo man sie antrifft. Hatte das Mittelalter die verstorbenen Autoren ketzerischer Ansichten in die Hölle verbannt, so ist der Hochkapitalismus darin toleranter, er verhimmelt Größe, Produktivität, Persönlichkeit,
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Potenz an sich und verwirft doch ihr Erzeugnis. Er idealisiert die bloßen Qualitäten. Die Bilder der philosophischen und literarischen Schriftsteller, deren wirkliche Anhänger das Bürgertum verlacht und schikaniert, finden Platz in seiner Ehrenhalle. Der Besucher des Pantheons in Paris mag sich wundern, die Kämpfer der Freiheit zugleich mit den Führern der Reaktion verehrt zu sehen. Die Manen dessen, der die verlogene Verehrung der Jeanne d'Arc gebrandmarkt hat, in einem Raum zu feiern, dessen Wände ihrer Heiligengeschichte gewidmet sind, erscheint als Hohn. Man feiert den Aberglauben zugleich mit denen, die uns davon befreien wollten. Protestierten wir, die Vertreter der herrschenden Geistigkeit würden uns darüber aufklären, daß Voltaire und die Heiligsprechung der Jeanne d'Arc, Robespierre und Chateaubriand sich wohl vertrügen. Der Formalismus des gegenwärtigen Denkens, sein Relativismus und Historismus, die Angleichung an das herrschende Bewußtsein, das bei jedem großen Gedanken sofort nach seinem Auftreten einsetzt, die Vergegenständlichung alles Lebens als Kapitel der Historie und Soziologie hat eine solche Gewöhnung herbeigeführt, die Inhalte anstatt ernst bloß noch ad nolam zu nehmen, daß sie sich alle mit den gegenwärtigen Zuständen, d. h. mit der kapitalistischen Ideologie vertragen. Es gibt in unseren Tagen einen zu historischer Einsicht ganz unfähigen Vielschreiber, der mit komischer Geschäftigkeit Bücher bequemen Formats über Bismarck und Napoleon Bonaparte, Wilhelm II. und Jesus von Nazareth schreibt und sich einbildet, alle besser zu verstehen als sie sich selbst. Er behält über sie die Oberhand wie der Totengräber am Ende über die Menschen. Was mit den meisten Menschen von dem Augenblick an, wo sie in ihrem Bett gestorben sind, bis sie im Grab liegen, passiert, hat mit den Unterschieden ihrer Existenz wenig zu tun. Die Kategorien der Bestattung sind nicht sehr zahlreich. Die Menschen mit den verschiedensten Charakteren und Zielen, mit den verschiedensten Leben werden im Tod Objekte eines primitiven Verfahrens. In den Büchern jenes Schriftstellers wird auf den verschiedenen Sinn des Lebens der von ihm behandelten Personen nicht mehr viel Wert gelegt. Die Tatsachen, d. h. das Geschehen, dessen Beziehung zum Leben seiner Helden er gerade noch bemerkt, werden gefällig dar-
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gestellt, aber die Kategorien der Bestattung sind auch hier nicht zahlreich. Für den Schriftsteller sind Napoleon und Bismarck eben große Männer wie für den Totengräber Karl Marx und Mister Miller tote Männer sind. Sie werden Objekte des Bestattungsverfahrens. Die Gegenwart triumphiert. Gerechtes Schicksal. — Die Ansicht, jeder verdiene sein Schicksal, die unter den verschiedensten philosophischen und unphilosophischen Formen auftritt, schließt nicht nur die Behauptung von der Hellsichtigkeit der blinden Natur, sondern auch die von der Gerechtigkeit des gegenwärtigen Wirtschaftssystems ein. »Die Hand, die samstags ihren Besen führt, wird sonntags dich am besten karessieren.« — O wie weit zurück liegen diese Zeiten! So weit, daß nach unserem psychologisch geschulten Bewußtsein das Motiv des Lords, der die Kammerzofe heiratet, weniger im Edelmut als in neurotischem Schuldgefühl besteht. Rein sind solche Akte nur noch in schlechten Kinostücken. Aber nicht bloß die Heirat, sondern schon das »Karessieren« wird heute keiner, der auf sich hält, der Dienstmagd überlassen. Die Bourgeoisie ist anspruchsvoll geworden, und sie verlangt von den Frauen, mit denen man schläft, daß sie total - im exakten Sinn des Wortes: mit Haut und Haaren - zur Luxusware geworden sind. Die Deklassierung der niederen sozialen Schichten betrifft durchaus auch die erotische Wertigkeit. Entsprechend gehört beim Mann die wirtschaftliche Stellung zur erotischen Potenz. - Einer, der in dieser Gesellschaft nichts ist, nichts hat, nichts kann, nichts wird, keine realen Chancen verkörpert, der hat auch keinen erotischen Wert. Die ökonomische Kraft kann die sexuelle geradezu ersetzen. Das schöne Mädchen mit dem alten Mann ist nur blamiert, wenn er nichts hat. Mit der Konsolidierung der Arbeiteraristokratie und der Uniformität der Gesellschaft wird vielleicht diese Grenze mehr nach unten rücken, aber um so schicksalhafter sein. Bridge. — Eine Bridgepartie mit Großbürgern setzt den Laien in Erstaunen. Er bewundert mit Recht die Qualitäten der Klasse, die dabei zum Ausdruck kommen: den Ernst, die Sicherheit, die
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Freiheit, die technische Überlegenheit, die Raschheit der Entschlüsse. Er bewundert, ebenfalls mit Recht, den wunderbar funktionierenden Mechanismus, kraft dessen dieselben intelligenten, geschulten, sicheren Menschen den armseligsten Blödsinn vorbringen, sobald das Gespräch auf gesellschaftlich wichtige Fragen kommt. Ihre Gescheitheit bringt es fertig, sich um ihres guten Gewissens willen in Dummheit zu verwandeln. Sie vermögen es. harmonisch zu leben. Wertblindheit. — Was es mit dem angeborenen Sinn für ästhetische Wertdifferenzen auf sich hat, lernte ich am Champagner kennen. Als Kind erhielt ich bei festlichen Gelegenheiten ein halbes Glas, das mit Respekt getrunken werden sollte. Ich fand nichts Besonderes dabei, ebensowenig wie das Dienstmädchen, das man gewöhnlich mit anstoßen ließ. Das Verständnis fehlte mir, bis ich eines Tages während einer langen Mahlzeit ohne besondere Aufmerksamkeit meinen Durst mit Champagner stillte; da entdeckte ich verwundert seinen besonderen Reiz. Das Dienstmädchen dagegen ist sicher wertblind geblieben. Grenzen der Freiheit. - Wie die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft sich fortwährend verwandelt, ohne daß doch die Grundlage dieser Gesellschaft, das Kapitalverhältnis, angetastet wird, befindet sich auch der kulturelle Überbau in stetiger Wandlung, während doch bestimmte Hauptstücke ohne wesentliche Veränderung weiter existieren. An den wandelbaren Anschauungen über Natur, Recht, Mensch und Gesellschaft ist daher auch eine verhältnismäßig radikale Kritik erlaubt, der Kritiker setzt sich, falls sie unzeitgemäß ist, bloß dem Vorwurf der Unwissenheit oder Überspanntheit aus. Dagegen sind jene Vorstellungen, die kraft ihrer schwer zu ersetzenden Rolle im psychischen Haushalt des Einzelnen einen wichtigen Bestandteil des Machtapparates der herrschenden Klasse bilden, tabu. Ein oberflächlicher Vergleich des Ernstes, der bei der Volkserziehung auf den Glauben an eine überirdische Macht und auf die Liebe zur Heimat gewandt wird, mit der Ausbildung anderer geistigen Kräfte, z. B. einem strengen Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit, läßt den erwähnten Unterschied sogleich erkennen. In puncto Volk und Religion versteht
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man keinen Spaß. Deshalb kannst du auch als Bürger eines vorerst liberalen Landes ohne ernsthafte Gefahr die ökonomischen Theorien des Marxismus zustimmend erörtern. Du kannst die berühmtesten Gelehrten, ja sogar Politiker und Industriegrößen des Landes abfällig behandeln, aber bei der ersten wirklich verächtlichen Bemerkung über Gott selbst oder gar das deutsche Vaterland und das Feld der Ehre, auf dem die Masse zu fallen bereit sein soll, wirst du gleich an dir selbst das unmittelbare Interesse, das der Kapitalismus an der Unberührtheit dieser Begriffe besitzt, erfahren. In Deutschland war im letzten Jahrhundert der Atheismus, sofern er in gewissen Grenzen blieb, fast erlaubt. Das hing noch mit den Kämpfen gegen den Feudalismus und mit der Selbstsicherheit des Aufschwungs zusammen; die Erlaubnis war nie ganz allgemein und ist rasch zurückgenommen worden. Heute steckt schon in dem Unwillen über den »Aufkläricht«, mit dem allen ernsthaften religionskritischen Schriften begegnet wird, die Drohung der Prügel oder des Totschlags, die den Feind der religiösen und nationalen Lüge bei Gelegenheit erwarten. Dazwischen gibt es eine nuancenreiche Skala juristischer und nichtjuristischer Strafen für den Sünder an den heiligsten Gütern. Man sollte erwarten, daß die Massen durch den verlorenen Krieg, in dem Millionen Menschen für nackte Kapitalinteressen geopfert und keine der den Helden und ihren Hinterbliebenen gemachten Versprechungen gehalten worden sind, durch jene Zeit der Lüge und des Mords gewitzigt wären, aber gewitzigt scheinen nur die Herren zu sein: sie verfolgen heute mit Feuer und Schwert alles, was die Bereitschaft der Massen zu einem neuen Krieg, zu einem neuen Aderlaß auch nur von ferne gefährden könnte. In dieser Verfolgung, in der schonungslosen Unterdrückung der entscheidenden Erkenntnisse sind die Kapitalisten jeder Spielart wahrhaftig miteinander einig, darin besteht eine Klassensolidarität, das große kulturelle Band. In die Werkstätten der Fabriken, in die Bergwerke, in die Büros werden die Proletarier schon vom Hunger getrieben; damit sie sich auf den Schlachtfeldern zu Millionen verstümmeln, erschießen, vergiften lassen, braucht man eine latente Begeisterung, welche ohne die fetischisierten und verschlungenen Begriffe von Volk und Kirche nicht aufrechtzuerhalten ist.
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Diese gehören unmittelbar zum Bestand des Systems, wer sich an ihnen vergreift, rührt an seine Grundfesten. Auf die Gemeinheit ist eine Prämie gesetzt. - Das kapitalistische System in der heutigen Phase ist die im Weltmaßstab organisierte Ausbeutung. Seine Aufrechterhaltung ist die Bedingung unermeßlicher Leiden. Diese Gesellschaft besitzt in Wirklichkeit die menschlichen und technischen Mittel, um das Elend in seiner gröbsten materiellen Form abzuschaffen. Wir wissen von keiner Epoche, in der diese Möglichkeit in solchem Ausmaß wie heute bestanden hätte. Nur die Eigentumsordnung steht ihrer Verwirklichung im Weg, d. h. der Umstand, daß der ungeheure Produktionsapparat der Menschheit im Dienste einer kleinen Ausbeuterschicht funktionieren muß. Die ganze offizielle Nationalökonomie, die Geisteswissenschaften und die Philosophie, Schule, Kirche, Kunst und Presse sehen es als eine Hauptaufgabe an, diesen ungeheuerlichen Tatbestand zu verdecken, zu verkleinern, umzulügen oder zu leugnen. Wenn man sich über die große gesellschaftliche Anerkennung irgendeiner offenkundig verkehrten Theorie oder z. B. über die Fortführung eines solchen Unfugs wie der gangbaren Geschichtsschreibung wundert und diesen Sachen auf den Grund geht, so stellt sich gewöhnlich heraus, daß auch noch die Ursache so geringfügiger Erscheinungen der Reaktion in der Ablenkung von jener Wahrheit besteht. Aber die Ideologie ist ein Spiegelbild der materiellen Basis. Ist diese durch den Tatbestand der nicht mehr zu rechtfertigenden Ausbeutung gekennzeichnet, so hat nur der, welcher an ihrer Fortsetzung mitwirkt, Belohnung zu gewärtigen. Doch die Verhältnisse sind sehr verschlungen. Eine veraltete, schlecht gewordene Gesellschaftsordnung erfüllt, wenn auch unter Entfaltung unnötiger Leiden, die Funktionen, das Leben der Menschheit auf einem bestimmten Niveau zu erhalten und zu erneuern. Ihre Existenz ist schlecht, weil eine bessere technisch möglich wäre; sie ist gut, weil sie die reale Form der menschlichen Aktivität darstellt und auch die Elemente einer besseren Zukunft einschließt. Aus diesem dialektischen Sachverhalt geht hervor, daß einerseits in einer solchen Periode der Kampf gegen das Bestehende zugleich als Kampf gegen das Notwendige und Nützliche erscheint, andererseits die
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positive Arbeit im Rahmen des Bestehenden zugleich positive Mitwirkung am Fortbestehen der ungerechten Ordnung ist. Weil die schlechte Gesellschaft wenn auch schlecht die Geschäfte der Menschheit besorgt, handelt der, welcher ihren Bestand gefährdet, unmittelbar auch gegen die Menschheit, ihr Freund erscheint als ihr Feind. Die schlechte Seite ist von der guten in der Realität nicht zu trennen, deshalb muß der Kampf gegen das Veraltete auch als Kampf gegen das Notwendige in Erscheinung treten, und der Wille zur menschenwürdigen Arbeit ist gezwungen, als Streik, als Obstruktion, als Kampf gegen die »positive« Arbeit aufzutreten, und umgekehrt bildet die Belohnung für ein sozial wichtiges Tun zugleich auch den Lohn für die Mitwirkung an dieser schlechten Ordnung. Die Verhältnisse sind so vertrackt, daß noch der Hunger der indischen Paria und die Dienste chinesischer Kulis zum Ausbeutungsfaktor englischer Textilarbeiter werden und daß die Arbeit an der Wissenschaft Bacons und Galileis heute der Kriegsindustrie zugute kommt. Es haben sich freilich feine Mechanismen dafür ausgebildet, welche Arbeit einen speziellen Wert gerade für das Faktum der Ausbeutung besitzt, und die Skala der Belohnungen entspricht in diesem verkehrten Zustand weniger dem wirklichen Wert einer Leistung für den Bestand der Menschheit als ihrer Bedeutung für die Fortdauer des alten Systems. Der Umstand, daß die Arbeit im Dienst der herrschenden Klasse in der Regel nützlich ist, verhindert nicht, daß es auch Leistungen gibt, die wenig oder gar nicht der Gesamtgesellschaft, dafür aber hauptsächlich oder ausschließlich der Aufrechterhaltung der schlechten Gesellschaft dienen. In dem Maß, in dem diese Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Form gefährdet ist, stehen gerade diese Leistungen besonders hoch im Kurs. Das gilt nicht bloß für die Kommandostellen der wirklichen Unterdrückungsapparate und für die ideologischen Werke großen Stils, für Militär, Polizei, Kirche, Philosophie und Nationalökonomie, sondern auch für die bloße Gesinnung. Der Markt für diese liegt in den feinen gesellschaftlichen Mechanismen, die sich zur Auswahl der Kandidaten für die einzelnen Arbeitsplätze vom Proletarier bis zum Minister ausgebildet haben. Das Spiel der »guten« Beziehungen ist hier von Bedeutung. Wer sie hat, gibt dadurch schon eine gewisse Garantie für seine Zuverlässigkeit. Das Sy-
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stem hat Organe dafür, um, wo es not tut, jede »gute« Tendenz zu berücksichtigen. Freilich wird auch der Preis des Willens noch nach seiner Nützlichkeit und den Reproduktionskosten bemessen. Der gute Wille des Dienstmädchens ist weniger wert als der eines Professors. Wirkliche Zuverlässigkeit höchsten Grades heißt bei alldem die unumstößliche, sture Entschlossenheit, den Bestand dieser um der Profitinteressen einer geringen Anzahl von Menschen willen aufrechterhaltenen Ordnung auch um den Preis neuer Meere von Blut und mittels jeder Untat zu verteidigen, und die damit verbundene Überzeugung, seine Pflicht zu tun. Wirkliche Zuverlässigkeit ist die absolute Bereitschaft, alle wichtigen Wertungen der herrschenden Klasse treu zu übernehmen, den, der sein Leben für die Verbesserung der Verhältnisse einsetzt, zu hassen und zu verleumden, jede ihn in den Schmutz ziehende Lüge zu glauben und zu verbreiten, seinen Tod als eine Erlösung zu begrüßen. Man sollte glauben, eine so gut ausgebildete Gesinnung fände sich nur selten, aber sie ist ziemlich allgemein. Jeder Gedanke, jede Sympathie, jede Beziehung, jede kleine und große Handlung gegen die herrschende Klasse bedeutet das Risiko eines persönlichen Nachteils, und jeder Gedanke, jede Sympathie, jede Beziehung, jede Handlung für sie, d. h. für den weltumspannenden Ausbeutungsapparat, bedeutet eine Chance. Menschen, welche es zu etwas bringen wollen, müssen sich schon beizeiten den Glauben anschaffen, nach dem sie dann mit gutem Gewissen so handeln können, wie es in der Realität gefordert wird, denn wenn sie es contre coeur tun, merkt man es ihnen an, und sie machen es schlecht. Das System wirkt bis in die feinsten Zweige der individuellen Seele hinein; es hat auf die Gemeinheit eine Prämie gesetzt. Zweierlei Tadel. - Das Kind und der Greis, beide sind ungeschickt, beide werden getadelt. Gegenüber beiden ist es die Frau, welche sich mit der Gesellschaft ineinssetzt und den Anstand vertritt. Das Geheimnis dieser Identifikation liegt in der Macht des Bestehenden. Die Frau verschreibt sich, zumindest unbewußt, immer dem Mächtigen, und im stillen erkennt auch der Mann diese Wertung an. Während das Kind gegen die Zurechtweisung der Mutter rebellieren darf, fügt sich daher der Greis beschämt dem Tadel der
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jüngeren Frau. In beiden Fällen geht die Ungeschicklichkeit aus physischer Schwäche hervor. In jenem aber kündigt sich die spätere Kraft, in diesem der Tod, die völlige Ohnmacht an. Aus dem Tadel der Frau mag das Kind eine Hoffnung lesen, der Greis entnimmt ihr mit Recht hauptsächlich die Verachtung. »Das unentdeckte Land . . .« - Die Stellung des Menschen erscheint gegenüber allen dumpfer lebenden Wesen unermeßlich bevorzugt, und diese Bevorzugung steigert sich mit der äußeren und inneren Freiheit des Einzelnen im Verhältnis zu den schlechter gestellten Teilen der Menschheit. In entscheidenden Zügen sind wir dasselbe wie die Tiere, ja wie alles Lebendige, und mögen uns als sein natürlicher Anwalt fühlen, wie der glücklich befreite Gefangene gegenüber den Leidensgenossen, die noch eingeschlossen sind. Aber unsere bevorzugte Stellung, unsere Fähigkeit, das Leiden des Lebendigen in uns selbst zu erleben, reicht nicht so weit, daß wir wirklich mit ihm eins werden oder es gar in uns erlösen könnten. Wir können das Dasein einzelner Wesen leichter machen, wir können aus der empirischen Einsicht einige praktische Konsequenzen ziehen, aber wir stehen dabei vor einem Meer von Dunkelheit, das durch kein Wort zu erhellen ist. Die Sprache hat die Wahl, ein endliches Werkzeug oder Illusion zu sein. Diese Einsicht ist eine bessere Waffe gegen den Fideismus als die Aufspreizung unseres fragmentarischen Wissens zur Erkenntnis der Totalität. Diese Aufspreizung ist leer, auch wenn sie den Kreuzzug gegen die Metaphysik predigt. Der Nachweis, daß jene Gebiete, von denen wir keine Erfahrung besitzen, nicht zu entdekken sind und daher auch keine Konsequenzen aus vorgeblichen Nachrichten über das Jenseits gezogen werden können, tritt an die Stelle des optimistischen Leugnens, daß uns Dunkelheit umgibt. Zur Lehre vom Ressentiment. — Ein feiner Trick: das System zu kritisieren soll denen vorbehalten bleiben, die an ihm interessiert sind. Die anderen, die Gelegenheit haben, es von unten kennenzulernen, werden entwaffnet durch die verächtliche Bemerkung, daß sie verärgert, rachsüchtig, neidisch sind. Sie haben »Ressentiment«.
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Demgegenüber sollte niemals vergessen werden, daß man ein Zuchthaus in keinem Fall und unter gar keinen Umständen kennenlernen kann, wenn man nicht wirklich und ohne Verkleidung als Verbrecher fünf Jahre dort eingesperrt war mit der Gewißheit, daß die goldene Freiheit, nach der man sich in diesen fünf Jahren sehnt, in einem nachträglichen Hungerleben besteht. Es wirkt wie ein stillschweigendes Abkommen der Glücklichen, daß man über diese Gesellschaft, die weitgehend ein Zuchthaus ist, nur diejenigen als Zeugen gelten lassen will, die es nicht verspüren. Absolute Gerechtigkeit. - Mit der irdischen Gerechtigkeit oder dem verdienten Schicksal kann es zwar sicher besser werden, als es ist, und dafür wird ja auch der geschichtliche Kampf geführt. Doch absolut in Ordnung kommen kann diese Sache nicht. Wem soll Gerechtigkeit werden, wer soll sein Schicksal verdienen? Die Menschen? — aber gehört nicht zu jedem Menschen sein Äußeres und Inneres, seine Nase, sein Kopf, seine Begabung, seine Erregbarkeit, seine Eifersucht, die Leere oder Fülle seines Geistes? Es besteht doch kein Zweifel darüber, daß Armut, Krankheit, früher Tod nicht in höherem Maße Schläge des Schicksals sind und daher von der Gerechtigkeit ausgeglichen werden müßten als ein häßliches Gesicht, schlechte Charakteranlagen und Ohnmacht des Geistes. Wer also, da selbst die »Persönlichkeit« ihm bloß »zugehört«, ist das Ich, das der Hilfe bedarf? Vauvenargues hat gegen Rousseau gesagt, Vermögensgleichheit könne durch den Hinweis auf natürliche Gleichheit nicht begründet werden, denn die Menschen seien in Wahrheit nicht gleich, sondern ungleich erschaffen. Vauvenargues hat damit die Verteidigung der Ungleichheit in der Gesellschaft begründet anstatt die Verbesserung der Natur. Die gesellschaftliche Umwälzung hat auch die »Natur« zu verändern. Aber was nach alledem immer problematischer wird, sind die Subjekte, denen Gerechtigkeit werden soll. Sie erscheinen schließlich als völlig abstrakte, aller wirklichen Eigenschaften entkleidete »reine« Iche. Die »radikale« philosophische Frage führt wie überall so auch hier ins Nichts, denn diese Iche sind wesenloser Schein oder vielmehr der Schein des Wesens. Das Substrat der durch die vollendete Gerechtigkeit zu bewirkenden Verände-
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rung ist unauffindbar. In der Wirklichkeit werden unter dem Titel der Gerechtigkeit ganz bestimmte Veränderungen, die man bezeichnen kann, gefordert - die absolute Gerechtigkeit ist ebenso unausdenkbar wie die absolute Wahrheit. Die Revolution braucht sich nicht darum zu kümmern. Nietzsche und das Proletariat. — Nietzsche hat das Christentum verhöhnt, weil seine Ideale aus der Ohnmacht stammten. Menschenliebe, Gerechtigkeit, Milde, das alles sollen die Schwachen in Tugenden umgelogen haben, weil sie sich nicht rächen konnten, besser noch, weil sie zu feig gewesen seien, sich zu rächen. Er verachtet die Masse, aber er will sie doch als Masse erhalten. Er will Schwäche, Feigheit, Gehorsam konservieren, um für die Züchtung seiner utopischen Aristokraten Raum zu gewinnen. Denen müssen natürlich andere die Toga nähen, damit sie nicht als Landstreicher herumgehen, denn könnten sie nicht vom Schweiß der Masse leben, müßten sie ja selbst an den Maschinen stehen. Die Dionysos-Dithyramben verstummten da von selbst. In der Tat ist Nietzsche höchst befriedigt, daß es die Masse gibt, nirgends erscheint er als wirklicher Gegner des Systems, das auf Ausbeutung und Elend beruht. Nach ihm ist es daher ebenso recht wie nützlich, daß die Anlagen der Menschen unter miserablen Bedingungen verkümmern, sosehr er für ihre Entfaltung beim »Übermenschen« eintritt. Nietzsches Ziele sind nicht die des Proletariats. Aber es kann sich merken, daß die Moral, welche ihm anempfiehlt, verträglich zu sein, nach diesem Philosophen der herrschenden Klasse nur Irreführung ist. Er selbst prägt den Massen ein, daß nur die Furcht sie abhält, diesen Apparat zu zerbrechen. Wenn sie dies wirklich verstehen, kann sogar Nietzsche dazu beitragen, den Sklavenaufstand in der Moral in proletarische Praxis zu verwandeln. Spielregeln. - Die Voraussetzung des Verkehrs eines ärmeren Bürgers mit der Großbourgeoisie besteht wesentlich darin, daß das Wichtigste, nämlich der Klassenunterschied zwischen ihm und ihr, nicht erwähnt wird. Der gute Ton fordert, daß nicht nur darüber geschwiegen wird, sondern daß man ihn durch Ausdruck und
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Benehmen geschickt verdeckt. Es muß so getan werden, als bewege man sich auf der gleichen sozialen Ebene. Der Millionär trägt das Seinige dazu bei. Fährt er in den Sommerferien nach Trouville und sein kleiner Bekannter in ein miserables Schwarzwaldnest, so wird der Millionär nicht sagen: »Sie können sich nichts anderes leisten«, sondern: »0, wir möchten auch einmal wieder in den schönen Schwarzwald«, oder: »Ich gehe ungern nach Trouville, der Betrieb dort ist mir zuwider, aber was wollen Sie -.« Der Ärmere hat dann zu erwidern: »Es ist wahr, ich freue mich wirklich auf den Schwarzwald!« Versichert er: »Auch ich möchte lieber nach Trouville, aber ich bin zu arm«, so wird er zunächst die Antwort erhalten: »Sie Schwindler«; beharrt er aber im Ernst darauf und nicht nur bei der Sommerreise, sondern bei jeder Gelegenheit, wo diese Antwort sachlich am Platze wäre, dann wirkt er gemein, und der Verkehr hört auf. Sollte er aber wirklich selbst nach Trouville fahren, obwohl er ganz im Ernste zu arm ist, so wird er merken, daß seine Freunde aus der Großbourgeoisie die Einkommensverteilung der kapitalistischen Ordnung als absolut gerechtes Maß der jedem erlaubten Triebbefriedigung ansehen. Wie kommt er dazu, wie »darf er« unter diesen Umständen nach Trouville fahren, warum geht er denn nicht in den Schwarzwald! Die Voraussetzung des Verkehrs ist die ideelle Verschleierung, aber strikt reelle Einhaltung und Anerkennung der Klassenlage. Da er für den ärmeren Teil meist von einem gewissen praktischen Nutzen ist oder vielmehr, da er sich einen solchen Nutzen erhofft, so verdrängt er gewöhnlich die klare Erkenntnis des Unterschiedes, zunächst innerhalb der Beziehung selbst, dann überhaupt. Sein Bewußtsein paßt sich seinem Handeln an. Weil die Menschen gern nach ihrem Glauben handeln, glauben sie in der Regel schließlich das, wonach sie handeln möchten. Kleinere Leute, die dauernd solchen Verkehr pflegen, vor allem Intellektuelle, haben in der Tat meist ein übergewöhnlich ideologisch verschlamptes Bewußtsein, sie leiden außer an den gängigen Harmonie-Illusionen ihrer Schicht noch an einer privaten Borniertheit — mögen sie im übrigen auch besonders begabt sein. Die Folgen der Verdrängung machen sich am Ende auch in ihrem übrigen Denken geltend, zuerst in der Vergrößerung der guten Eigenschaften ihrer großbour-
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geoisen Freunde. Hast du schon einmal einen solchen Mann mit guten Beziehungen getroffen, der die Damen und Herren nicht wenigstens »so nett« oder »so gescheit« gefunden hätte? Als »so ausbeuterisch« kann er sie nicht mehr erkennen. Der Verkehr hat seine Folgen für das Bewußtsein — um so größere, je intimer und aufrichtiger er ist. Archimed.es und die moderne Metaphysik. — Aus Interesse an seiner Wissenschaft vergaß Archimedes, daß um ihn herum gemordet wurde, und ging darüber zugrunde. Aus Interesse an ihrer Wissenschaft vergessen die heutigen Philosophen, daß um sie herum gemordet wird, und erklären die Kunde davon als Greuelgeschichten. Aber sie laufen keine Gefahr dabei. Denn nicht die gegnerischen, sondern ihre eigenen Truppen haben das Heft in der Hand. Wie die Figuren des Archimedes sind ihre Systeme Verteidigungsmaschinen für ihre Mitbürger. Aber im Gegensatz zu dem griechischen Gelehrten segeln sie unter falscher Flagge. Er hatte nicht behauptet, daß seine Wurfmaschinen Freund und Feind zugute kämen. Die moderne Metaphysik hält sich dagegen für eine Sache der Menschheit. Umschlag von Gedanken. — Das Bekenntnis zu moralischen Motiven, vor allem zu dem des Mitleids, das doch in ihrem Denken und Handeln als geheime Triebfeder wirkt, ist bei marxistischen Theoretikern nicht bloß aus Scham so verpönt, sondern auch weil sie die Erfahrung gemacht haben, daß diese Verkündigung an die Stelle der Praxis zu treten pflegt. Bewußt oder unbewußt nehmen sie an, daß der moralische Impuls entweder im wirklichen Handeln sich auswirke oder in Worten. Deshalb sind sie gegen diese so mißtrauisch. Aber sie geraten dadurch in eine ähnliche Gefahr wie bei ihrer Feststellung, daß die Wirklichkeit sich nur um die materiellen Güter drehe. Indem sie der Betonung, daß es auch andere Bedürfnisse und andere Qualitäten gebe als den Hunger und die Macht, durch den Hinweis auf die nüchterne Realität, in der sich alles um die Befriedigung der primitivsten Bedürfnisse dreht, begegnen, neigen sie dazu, die Bitterkeit dieser Feststellung in eine Apolo-
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gie zu verwandeln. Die Behauptung, daß in der gegenwärtigen Wirklichkeit das Ideelle nur die ideologische Verschleierung einer üblen materialistischen Praxis ist, schlägt dann leicht um in die Realitätsgerechtigkeit gewisser Journalisten und Reporter: »Laßt uns mit der Kultur zufrieden, wir wissen, daß das Schwindel ist.« Sie sind mit diesem Zustand ganz zufrieden und ausgesöhnt. Man kann nur dem Ganzen helfen. - Sei mißtrauisch gegen den, der behauptet, daß man entweder nur dem großen Ganzen oder überhaupt nicht helfen könne. Es ist die Lebenslüge derer, die in der Wirklichkeit nicht helfen wollen und die sich vor der Verpflichtung im einzelnen bestimmten Fall auf die große Theorie hinausreden. Sie rationalisieren ihre Unmenschlichkeit. Zwischen ihnen und den Frommen besteht die Ähnlichkeit, daß beide durch »höhere« Erwägungen ein gutes Gewissen haben, wenn sie dich hilflos stehenlassen. Skepsis und Moral. - Aus den von Marx entdeckten ökonomischen Gesetzen »folgt« nicht der Sozialismus. Gewiß, es gibt genug wissenschaftliche Voraussagen, die den Charakter höchster Wahrscheinlichkeit haben, z. B. daß morgen die Sonne aufgeht. Diese sind das Fazit eines ungeheuren Erfahrungsmaterials. Aber wer wird glauben, daß es um die Voraussage des Sozialismus so bestellt sei? Der Sozialismus ist eine bessere, zweckmäßigere Gesellschaftsform, deren Elemente in gewisser Weise im Kapitalismus vorhanden sind. Es bestehen im Kapitalismus »Tendenzen«, die auf einen Umschlag des Systems hintreiben. Das Erfahrungsmaterial, auf Grund dessen wir annehmen, daß die Tendenzen sich wirklich durchsetzen, ist sehr gering. Niemand vertraute sich ohne äußerste Gefahr der Brücke über einen Abgrund an, deren Konstruktionsprinzipien auf keine exakteren Erfahrungen begründet wären als der Eintritt des Sozialismus. — Diese ganze Erwägung kann trotz ihrer Richtigkeit sicher mit dem Beifall aller wohlwollenden bürgerlichen Freunde des Sozialismus ebenso wie mit der Duldung seiner Feinde rechnen. Man darf sich zu Marx bekennen, wenn man das nötige Maß von Skepsis hat. Aber Wohlwollen und Duldung verschwinden sofort, wenn
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wir dem Bild von der Brücke hinzufügen, daß es von dem Wagnis, an ihr anderes Ende zu kommen, abhängt, ob der erdrückend größere Teil der Ungerechtigkeit, der Verkümmerung menschlicher Anlagen, der Verlogenheit, der sinnlosen Erniedrigung, kurz, des unnötigen materiellen und geistigen Leidens verschwinden wird oder nicht, mit anderen Worten, daß man um den Sozialismus kämpfen muß. Die skeptisch einschränkende Anerkennung gegenüber der Marxschen Theorie, ihre pietätvolle Einordnung in die Geschichte der Philosophie wird von der Bourgeoisie gern gesehen, das Korrelat zu dieser kontemplativen Behandlung des Marxismus ist in der Praxis die Einrichtung im Bestehenden. Die Feststellung, daß aus der marxistischen Theorie der Sozialismus nicht »folgt«, auch wenn er an sich selbst wünschenswert sein sollte, wirkt ohne weiteren Zusatz als wissenschaftliche und moralische Begründung des Kapitalismus. Sie erscheint als Ausdruck der sozialen Skepsis. In Wirklichkeit aber folgt aus der Erklärung, daß Marx und Engels den Sozialismus nicht »bewiesen« haben, kein Pessimismus, sondern das Bekenntnis zur Praxis, deren die Theorie bedarf. Marx hat das Gesetz der herrschenden unmenschlichen Ordnung aufgedeckt und die Hebel gezeigt, die man ansetzen muß, um eine menschlichere zu schaffen. Was für die bourgcoisen Gelehrten ein Übergang von einem zum andern Systemglied ist, ein »Problem« wie andere auch, eine Sache, der sie bestenfalls durch einige verständnisvolle Seiten in einem Lehrbuch »gerecht« werden: die Lösung der Frage, ob die Klassengesellschaft weiterbesteht oder ob es gelingt, den Sozialismus an ihre Stelle zu setzen, entscheidet über den Fortschritt der Menschheit oder ihren Untergang in Barbarei. Wie sich einer zu ihr stellt, bestimmt nicht bloß das Verhältnis seines Lebens zum Leben der Menschheit, sondern auch den Grad seiner Moralität. Ein philosophisches System, eine Ethik, eine Morallehre, welche die veralteten, den Fortschritt hemmenden Eigentumsverhältnisse der Gegenwart, den Bestand der Klassengesellschaft und die Aufgabe ihrer Überwindung »einordnet«, ansiatt sich selbst mit dieser Aufgabe zu identifizieren, ist das Gegenteil der Moral, denn die Form, welche diese in der Gegenwart angenommen hat, ist die Verwirklichung des Sozialismus. Durch die skeptische Behandlung
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des Sozialismus dienen die Gelehrten der herrschenden Gesellschaftsordnung. Die Professoren und Literaten, die in der Welt, wie sie ist, Ermunterung, Anerkennung, Ehren genießen, sind gewiß in der »moralischen« Verurteilung eines kriminellen Raubs einig. Dem erlaubten Raub an unzähligen Kindern, Frauen, Männern in den kapitalistischen Staaten und noch mehr in den Kolonien schauen sie ganz ruhig zu und verzehren ihren Anteil an der Beute. Sie stützen das System, indem sie in »wissenschaftlicher« Sprache neben vielen anderen Problemen in kultivierten Büchern und Zeitschriften auch die Lehre von der sozialistischen Gesellschaft behandeln und mit einer skeptischen Wendung zur Tagesordnung übergehen. Es ist bekannt, daß die Bourgeoisie über alles »diskutieren« kann. Diese Möglichkeit gehört zu ihrer Stärke. Im allgemeinen gewährt sie Gedankenfreiheit. Nur wo der Gedanke eine unmittelbar zur Praxis treibende Gestalt annimmt, wo er in der akademischen Sphäre »unwissenschaftlich« wird, da hört auch die Gemütlichkeit auf. Die bloße Skepsis ist wesentlich ein Ausdruck dafür, daß die Grenzen der Theorie gewahrt bleiben. Das Gegenteil dieser Skepsis ist weder der Optimismus noch das Dogma, sondern die proletarische Praxis. Wenn der Sozialismus unwahrscheinlich ist, bedarf es der um so verzweifelteren Entschlossenheit, ihn wahr zu machen. Was ihm entgegensteht, sind nicht die technischen Schwierigkeiten der Durchführung, sondern der Machtapparat der Herrschenden. Wenn aber die Skepsis schlecht ist, so ist die Gewißheit um nichts besser. Die Illusion des naturnotwendigen Eintritts der sozialistischen Ordnung gefährdet das richtige Handeln kaum weniger als der skeptische Unglaube. Wenn Marx den Sozialismus nicht bewiesen hat, so hat er gezeigt, daß es im Kapitalismus Entwicklungstendenzen gibt, welche ihn möglich machen. Die an ihm Interessierten wissen, wo sie anzugreifen haben. Die sozialistische Gesellschaftsordnung wird von der Weltgeschichte nicht verhindert, sie ist historisch möglich; verwirklicht wird sie aber nicht von einer der Geschichte immanenten Logik, sondern von den an der Theorie geschulten, zum Bessern entschlossenen Menschen, oder überhaupt nicht.
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Heroische Weltanschauung. — Es gibt keine Weltanschauung, die heute den Zwecken der herrschenden Klasse geschickter entgegenkäme als die »heroische«. Die jungen Kleinbürger haben wenig für sich selbst zu gewinnen, aber für die Trusts alles zu verteidigen. Der Kampf gegen den Individualismus, der Glaube, es müsse der Einzelne sich opfern, damit das Ganze lebe, paßt genau zur heutigen Lage. Im Unterschied zum wirklichen Helden begeistert sich diese Generation nicht für ein klares Ziel in der Wirklichkeit, sondern für die Bereitschaft, es zu erreichen. Konnten die Herrschenden in Deutschland je Besseres erträumen, als daß die von ihnen selbst ruinierten Schichten ihre eigene Avantgarde bildeten und nicht einmal den kargen Sold, sondern das Opfer, mindestens Ergebenheit und Disziplin zum Ziele hätten! Wahrer Heroismus ist das leidenschaftliche, des eigenen Lebens nicht achtende Interesse an einem gesellschaftlich bedeutsamen Wert. Die heroische Weltanschauung macht im Gegensatz dazu das eigene Leben, wenn auch als ein zu opferndes, zu ihrem wichtigsten Thema. Die wirtschaftlichen Interessen, um welche ihre Bekenner das Leben verlieren sollen, dürfen freilich nicht ins Bewußtsein treten. Dafür bezieht sich ihr leidenschaftliches Bewußtsein unmittelbar auf das Opfer, d. h. auf Blut und Mord. Die Phantasie sieht davon ab, daß die Person des Phantasierenden selbst mit auf dem Spiel steht, jenseits des Unterschieds der Individuen schwelgt sie in Grausamkeit. Die Anhänger der Religionen des Opfers haben auch in der Praxis gewöhnlich mehr das Töten als das Getötetwerden im Auge, sie scheinen sich jenes mit der Bereitschaft zu diesem erkaufen zu wollen und legen jedenfalls keinen großen Wert auf diese subtilen Differenzen. Eine zukünftige, von Vorurteilen freiere Forschung als die heutige mag eines Tages entdecken, daß zu manchen Zeiten auch die Macht des Christentums über die Seelen auf seiner Beziehung zu Martyrien und Wunden beruhte und die Scheiterhaufen der Inquisition so eng zur Verehrung des Kreuzes gehörten wie die Revolver der Völkischen zu ihrer idealistischen Doktrin. Alle müssen sterben. - Alle müssen sterben - gewiß, aber nicht alle sterben gleich. Davon, daß die Reichen ihr Leben mit tausend Mitteln verlängern können, die den Armen nicht zu Gebote
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stehen, will ich gar nicht reden. Auch nicht davon, daß die Kunst der chirurgischen Kapazität nach den Tausendern geht, sondern einfach vom Sterben selbst. Zugegeben, daß die mehr oder minder schmerzhaften Todesursachen relativ gleich verteilt seien, so bestehen doch innerhalb der gleichen Krankheit bereits Unterschiede, die durch unterschiedliche Aufmerksamkeit in Behandlung und Pflege zustande kommen. Das wäre aber das Geringste! Eine einzige kleine Feststellung genügt, um die ganze Ideologie der Unparteilichkeit des Todes ins Wanken zu bringen. Man mache überall bekannt, daß die Hinterbliebenen derer, die in den nächsten vierzehn Tagen, gleichviel auf welche Weise, sterben, Zeit ihres Lebens anständig ernährt und gekleidet werden sollen. Dann wird nicht nur auf der ganzen Welt die Selbstmordstatistik in die Höhe schnellen, sondern eine respektable Anzahl Menschen, Frauen und Männer, werden diese Selbstmorde in einer Seelenruhe verüben, die jedem Stoiker Ehre machen könnte. Und nun ermiß, ob der Tod des Millionärs der gleiche ist wie der eines Proletariers! Das Sterben ist der letzte Teil des Lebens. Der arme Mann weiß in diesem letzten Teil, daß seine Familie dafür gezüchtigt werden wird, wenn er umkommt. Einer Arbeiterin werden beide Füße zerschmettert. Sie jammert eine Minute nach dem Unglück: »Jetzt kann ich nicht mehr arbeiten, mein armer Mann, meine armen Kinder, jetzt bin ich unnütz.« Sie denkt nicht an sich. — Eine Lady, die vom Pferde gefallen ist oder einen Autounfall erlitten hat, erlebt während ihres Krankenlagers andere Perspektiven, und die große Zahl ihrer Freunde braucht nicht um den Verlust des von ihr gestifteten Nutzens, sondern darf um den ihrer Persönlichkeit besorgt sein. Was nach dem Tod kommt, weiß ich nicht, aber was vor dem Tode liegt, spielt sich in der kapitalistischen Klassengesellschaft ab. Diskussion über die Revolution. - Der echte Bürger hat die Fähigkeit, alles objektiv zu betrachten, im Nachkriegsdeutschland sogar auch die Revolution. Indem er sie, oder vielmehr ihre politische Vorbereitung einmal objektiv in den Bereich seiner Gedanken zieht, erscheint sie wie irgendeine andere Tätigkeit innerhalb der vorhandenen gesellschaftlichen Wirklichkeit und wird entspre-
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chend beurteilt. Weil der Unternehmer in der kapitalistischen Produktion weniger über den Gebrauchswert seiner Waren als über geschickte Produktions- und Verkaufsmethoden nachdenkt, interessiert ihn bei der objektiven Beurteilung einer gesellschaftlichen Tätigkeit überhaupt weniger der Inhalt als die Ausführung. In Deutschland wirft man daher heute der revolutionären Partei mehr die schlechte Durchführung als das Ziel vor, dem man seit Kriegsende eine gewisse Chance gibt. Die Unfähigkeit der Führer wird gebrandmarkt. Dafür sind freilich nicht bloß die angeführten formalen Elemente des bürgerlichen Denkens, sondern auch viel handfestere Ursachen bestimmend. Nicht bloß beim linken Bürgertum, sondern in der Seele breiter gegenrevolutionärer Schichten, die nach einer gescheiterten proletarischen Aktion den Stab über deren Führung brechen, wird der Psychologe das geheime Schuldgefühl erkennen, daß man nicht selber mitgetan, und die unbewußte Wut darüber, daß es nichts geworden ist. Auch der ruchlose, tief im europäischen Leben begründete Glaube an den Erfolg als Gottesurteil spielt herein. Die Revolution ist schlecht, solange sie nicht gesiegt hat. Die Mängel der revolutionären Führung können in der Tat ein Unglück sein. Mag der politische Kampf gegen die Unmenschlichkeit der gegenwärtigen Zustände so schlecht wie nur möglich geleitet sein, er ist die Form, die sich der Wille zu einer besseren Ordnung in diesem historischen Augenblicke geben konnte, und er wird von vielen Millionen Unterdrückter und Gequälter auf der ganzen Erde so verstanden. Jedwede Mangelhaftigkeit der Führer hebt also die Tatsache nicht auf, daß sie der Kopf dieses Kampfes sind. Wer selbst in unmittelbarer Verbindung mit einer kämpfenden Partei ihren Kurs unter Umständen beeinflussen kann, derjenige also, dessen theoretische und kämpferische Gemeinsamkeit mit dieser Partei außer Zweifel steht, vermag vielleicht eine Zeitlang auch von außen her fruchtbare Kritik an der Führung ZAI üben. Aber eine proletarische Partei läßt sich nicht zum Gegenstand kontemplativer Kritik machen, denn jeder ihrer Fehler ist ein Produkt des Umstands, daß sie nicht durch wirksame Teilnahme besserer Kräfte davor bewahrt worden ist. Ob der kontemplative Kritiker
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durch eigene Tätigkeit in der Partei diese Kräfte verstärkt hätte, läßt sich nicht an seinen nachträglichen Äußerungen über die Handlungen der Partei ermessen, denn es bleibt ewig unausgemacht, ob seine Ansicht in der gegebenen Situation den Massen eingeleuchtet hätte, ob mit seiner theoretischen Überlegenheit auch die notwendigen organisatorischen Fähigkeiten verbunden waren — kurz, ob seine Politik überhaupt möglich war oder nicht. Der bereitliegende Einwand lautet, daß die Führer sich im Besitz aller Machtmittel der Partei befänden, der Apparat in der Partei den Einzelnen nicht aufkommen ließe und daher jeder Versuch der Vernünftigen von vornherein der Aussicht entbehre. Als ob nicht in jedem Augenblick der Geschichte ein politischer Wille entsprechende Hindernisse gefunden hätte, sich durchzusetzen! Heute mögen sie sich gerade vor dem Intellektuellen türmen; aber wer anders als die, welche die vorhandenen Mängel praktisch überwinden, vermöchte zu beweisen, daß sie unter Berücksichtigung aller Verhältnisse nicht noch die geringsten sind. Bürgerliche Kritik am proletarischen Kampf ist eine logische Unmöglichkeit. Die bürgerliche Denkweise ist dem Wirtschaftssytem angepaßt, mit dem sie entstanden ist. Bei der politischen Bewegung, welche die gegenwärtige Gesellschaftsform durch eine bessere zu ersetzen strebt, hört die Gültigkeit der herrschenden Denkgewohnheiten auf, weil sie nur in vielfach vermittelter und uneigentlicher Weise unter der Macht der ökonomischen Gesetze des Kapitalismus steht. Bei jeder schlecht geführten Unternehmung im Kapitalismus ist automatisch für Regulierung gesorgt. Die Feststellung, daß die Leitung unfähig sei, wird bewahrheitet, indem das Geschäft Bankrott macht und seine wirtschaftliche Funktion in Zukunft von anderen besser erledigt wird. Es gibt also einen objektiven, vom Kritiker unabhängigen Maßstab der Ausführung gesellschaftlicher Tätigkeiten. Er beruht darauf, daß überall, wo im kapitalistischen System für eine Arbeit Verwendung da ist, sich auch die Menschen finden, die sie in einer dem Stand der Produktionskräfte entsprechenden Weise tun. Wo ein Ausfall eintritt, findet sich sogleich Ersatz. Für die proletarischen Führer gilt aber diese Ersetzbarkeit keineswegs. Der Platz jener, welche erschlagen oder kampfunfähig gemacht sind, wird schlecht und recht aus den Rei-
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hen der Kämpfenden ausgefüllt, meist schlecht, denn der Gegner weiß die zu treffen, welche ihm gefährlich sind. Die Welt, in der die proletarische Elite heranwächst, sind keine Akademien, sondern Kämpfe in Fabriken und Gewerkschaften, Maßregelungen, schmutzige Auseinandersetzungen innerhalb oder außerhalb der Parteien, Zuchthausurteile und Illegalität. Dazu drängen sich keine Studenten wie in die Hörsäle und Laboratorien der Bourgeoisie. Die revolutionäre Karriere führt nicht über Bankette und Ehrentitel, über interessante Forschungen und Professorengehälter, sondern über Elend, Schande, Undankbarkeit, Zuchthaus ins Ungewisse, das nur ein fast übermenschlicher Glaube erhellt. Von bloß begabten Leuten wird sie daher selten eingeschlagen. Anmerkung: Es ist möglich, daß der revolutionäre Glaube in Augenblicken wie den gegenwärtigen sich schwer mit großer Hellsichtigkeit für Realitäten verträgt, ja, es könnte sein, daß die für eine Führung der proletarischen Partei unerläßlichen Eigenschaften sich jetzt gerade bei Menschen finden, die ihrem Charakter nach gerade nicht die feinsten sind. Stammt das »höhere Niveau« der bürgerlichen Kritiker, ihr feineres moralisches Gefühl nicht zum Teil aus ihrer Fernhaltung vom wirklichen politischen Kampf? Wäre aber diese Fernhaltung als allgemeine Maxime nicht das Todesurteil der Freiheit? Haben die Menschen mit »höherem Niveau« Grund, jene zu verdammen, die wirklich im Kampfe stehen?
Takt. — Es gibt ein untrügliches Mittel, den Takt eines Mannes zu erkennen. Bei jeder gesellschaftlichen Veranstaltung sind Frauen, welche sich weder durch ihren Einfluß, ihre Macht, die Sicherheit des Auftretens noch durch ihre Schönheit mit den sonst anwesenden Frauen messen können. Für solche unterlegenen weiblichen Teilnehmer pflegt die Veranstaltung ein Martyrium zu sein, besonders wenn ihr Mann, ihr Freund oder ihre Freundin aus ökonomischen oder erotischen Gründen stark bei der Unterhaltung beschäftigt ist. Sie haben das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, und verbreiten es so stark um sich, daß der Eintretende und erst recht der sich Verabschiedende leicht vergißt, ihnen die Hand zu reichen. Der Takt des gesuchtesten und geistreichsten Weltmanns erweist sich als eitles Blendwerk, wenn er dieses Ver-
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säumnis wirklich begeht; wer an solche Frauen das Wort richtet und sie in die Unterhaltung zieht, ist ihm auf seinem eigenen Gebiet überlegen. Diese Feststellung gilt mit entsprechenden Nuancen von Geselligkeiten auf den verschiedensten sozialen Stufen, soweit nämlich unter Takt etwas verstanden wird, zu dem nicht bloß Gewohnheit und Nachahmung, sondern auch Verstand und Güte gehören. Animismus. - Die Menschen machen die Erfahrung, daß ihre eigenen Bewegungen durch selbständige Antriebe von ihnen hervorgebracht werden. Gleich zu Beginn ihrer Geschichte übertragen sie diese Erfahrung nicht bloß auf die Bewegungen anderer Lebewesen, sondern auf das Geschehen überhaupt. Besser gesagt: sie übertragen diese Erfahrung nicht, sondern erleben alle Ereignisse unmittelbar als Willensakte nach der Art ihrer eigenen. Diesen Tatbestand haben unsere Philosophen seit langem erfaßt. Aber auch hier hat sich seit einigen Jahrzehnten eine Wandlung vollzogen. Während diese Erkenntnis im letzten Jahrhundert zur Lehre vom Animismus der Primitiven führte und dahin tendierte, die gegenwärtige Religion als letzten Rest jenes ursprünglichen psychischen Mechanismus zu kritisieren, wird sie heute dazu benützt, den Begriff der Kausalität zu diskreditieren. Das geistige Geschehen soll der Kausalität nicht unterliegen. Die religiösen Akte gelten als unbedingt, und die Wissenschaft ist bei ihrer Beurteilung disqualifiziert. Im übrigen mag es zweifelhaft sein, ob die animistische Theorie bei den Primitiven zutrifft. Die Ethnologen belehren uns vielleicht eines Besseren. Die Religion der getäuschten Massen im Kapitalismus entspricht ihr jedenfalls. Angesichts ihres Untergangs in der furchtbaren Wirklichkeit wünschen die Menschen, es möchte einer an dem Ganzen schuld sein und insgeheim eine gute Absicht dabei haben. Das Leiden hält diesen ps}'chischen Mechanismus der Allbeseelung trotz der Möglichkeit einer besseren Erkenntnis in Gang, und diejenigen, welche es verursachen, wissen Störungen fernzuhalten. Man erklärt daher besser die Lehre vom Animismus der Primitiven aus der Not der Gegenwart als die Gegenwart aus den Primitiven.
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Über die Formalisierung des Christentums. - Daß Jesus die Händler mit der Rute aus dem Tempel jagte, hat schon vielen Gewalttaten als theologische Begründung gedient. Merkwürdig, wie selten dabei erörtert wird, zu welchem Ende jene biblische geschah. Die Französische Revolution suchte den Mißbrauch des Christentums durch den Absolutismus blutig auszurotten. Im Weltkrieg mißbrauchten unsere Priester das Christentum als Hilfe bei der Ausrottung von Millionen Christen. Beide können sich auf jene biblische Episode berufen, aber jene Theologen, welche dabei nur auf die Frage, ob Gewalt erlaubt sei, achten, erwecken den Anschein, als ob es Jesus auf die Rutenhiebe und nicht auf den Tempel angekommen sei. Das sind gerade die rechten Christen! Glaube und Profit. — Die jüdischen Kapitalisten geraten über den Antisemitismus in hellen Aufruhr. Sie sagen, daß ihr Heiligstes angegriffen sei. Aber ich glaube, sie ärgern sich nur deshalb so namenlos, weil dabei etwas an ihnen getroffen wird, das keinen Profit abwirft und doch unmöglich geändert werden kann. Beträfe der gegenwärtige Antisemitismus die Religion und nicht »das Blut«, so würden sehr viele, die sich am tiefsten gegen ihn empören, dieses unrentable Heiligste »schweren Herzens« ablegen. Die Opferbereitschaft von Leben und Eigentum für den Glauben ist mit den materiellen Grundlagen des Ghettos überwunden worden. Die Rangordnung der Güter ist bei den bürgerlichen Juden weder jüdisch noch christlich, sondern bürgerlich. Der jüdische Kapitalist opfert vor der Gewalt, ebenso wie sein arischer Klassenkollege, zuerst den eigenen Aberglauben, dann das Leben anderer und ganz zuletzt sein Kapital. Der jüdische Revolutionär setzt in Deutschland wie der »arische« für die Befreiung der Menschen das eigene Leben ein. Entweder — Oder! - Ohne Geld, ohne wirtschaftliche Sicherung sind wir ausgeliefert. Damit ist gewiß eine furchtbare Züchtigung gemeint: herabziehende Plackerei, Versklavung unter kleine Geschäfte, Tag und Nacht gemeine Sorgen, Abhängigkeit von den niederträchtigsten Leuten. Nicht bloß wir allein, sondern auch alle, die wir lieben und für die wir die Verantwortung tragen, geraten mit uns unter das Rad des Alltags. Wir werden zum Gegenstand
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der Dummheit und des Sadismus; Gewalten, von deren Existenz wir im Glück keine Vorstellung hatten, gewinnen Macht über uns und ziehen mit unserem Leben auch unsere Gedanken ins Elend und in den Schmutz. Menschen, die unsere freien Absichten wenn nicht ehrlich, so doch aus kriecherischer Hochachtung vor unserer sozialen Stellung gelten ließen, bekennen jetzt triumphierend das Gegenteil, wie der Zuchthausdirektor bei dem Besucher mit guten Beziehungen eine Gesinnung, für deren Bekundung er dem Sträfling die kleinste Erleichterung entzöge, gelten läßt. Vollkommene Ohnmacht, Verkümmerung aller guten und Entwicklung aller schlechten Anlagen kennzeichnen unsere und der Unsrigen Existenz, wenn uns in dieser Gesellschaft die wirtschaftliche Sicherung verlorengeht. Dies alles ist gewiß richtig, und es würde reichlich den unwiderruflichen Entschluß begründen, das Herabsinken aus der Sicherheit mit allen Mitteln zu vermeiden. Aber prägt nicht dieser bewußte oder unbewußte Entschluß, die zähe Selbstverständlichkeit und der unbeugsame Wille des Besitzenden, sich in seiner Sicherheit zu erhalten, allen seinen Handlungen, selbst noch den unbekümmerten und großzügigen, den Stempel der Abgestorbenheit auf? Macht nicht diese Geborgenheit, die Gewißheit, sich auf alle Fälle in der Mitte der Gesellschaft zu erhalten und nie wirklich an ihre Grenzen zu stoßen, die Menschen zu Funktionen, die in allem Wesentlichen zu berechnen sind, deren Formel bis an ihr Lebensende fertig vorliegt? In allem Entscheidenden denken, fühlen, handeln sie als bloße Exponenten ihrer Eigentumsinteressen. Der Sinn ihres Lebens ist festgelegt, es hängt nicht von ihrer Menschlichkeit, sondern von einer Sache, von ihrem Vermögen und seinen immanenten Gesetzen ab. Zu einer Art wirklicher, selbständiger Menschen werden sie nur, wo sie spielen oder sonst gleichgültige Dinge tun. Aber auch dabei wird noch die Unselbständigkeit, die Abhängigkeit ihres übrigen Lebens offenbar. In der Art, wie diese Damen und Herren reisen, lieben, politisieren, Sport treiben, ihre Kinder erziehen, über ein Buch sprechen, scheint stets der Vorbehalt gemacht: »Mag dem sein, wie ihm wolle, ich bin gesonnen, mein Vermögen und meine Einkünfte nicht in Frage zu stellen.« Daher breitet sich um sie für den, der sie kennt, eine Atmosphäre grenzenloser Langeweile. Es ist ja gleichgültig,
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was in diesem Verkehr sich ereignet, im Grunde ist alles schon ausgemacht. Die Sphäre, in der sie allein eigene Impulse haben und Menschen sind, ist »privat« und daher für sie bloß abgeleitet, und wo die Wirklichkeit für sie anfängt, sind sie dagegen keine Menschen, sondern Funktionen ihres Kapitals und ihres Einkommens. Was für die Großen gilt, gilt auch für die Kleinen. Der Wille des Angestellten, nicht aus dem Betrieb zu fliegen, hat auf sein Leben mit der Zeit die gleiche auslöschende Wirkung. Alle eigenen Entscheidungen, selbst die Freiheit seiner Gedanken, müssen ihm auf Grund seines festen Entschlusses schließlich verlorengehen. So stehen wir zwischen der Gefahr, in die soziale Hölle zu versinken, und dieser Vergeblichkeit des Lebens. Man sollte glauben, es gebe einen richtigen Mittelweg, ein juste milieu, aber schon durch das geringste Lockern in der Entschlossenheit, sich oben zu halten, wird das Abgleiten dem Zufall anheimgestellt. Wie das Verharren einer wirtschaftlichen Unternehmung auf ihrer erreichten Größe nicht ihre Dauer, sondern ihren Rückgang, das Ausbleiben des Avancements des Angestellten nicht das Einnisten auf einem vorhandenen Posten, sondern die Gefahr der Entlassung bedeutet, so bildet der Verzicht auf die seelische Verhärtung heute nicht die Wahrung der Freiheit, sondern den Ruin. Politische Lebensregel. - Für den friedlichen Bürger gibt es eine gute politische Lebensregel, die ihm durch die Fährnisse des Klassenkampfes helfen kann. Sie lautet: verdirb es nicht mit der Reaktion! Sollte je einmal der Fall eintreten, daß die Arbeiter die Macht gewinnen, so wird es immer noch Zeit sein, ihnen gegenüber loyal zu erscheinen. Wenn du nicht gerade als politischer Führer der Reaktion groß hervorgetreten bist, sondern dich nur gut mit ihr gehalten hast, dann brauchst du in der Revolution nichts zu befürchten. Hast du dagegen während des inneren Friedens mit dem Proletariat sympathisiert oder auch nur verabsäumt, bei deinen Bekannten das Gegenteil kundzutun, dann könnte es im Fall eines offenen Bürgerkrieges leicht geschehen, daß man dich umbringt. Für den klugen, auf der Seinigen und sein eigenes Leben bedachten Bürger, besonders aber für den Intellektuellen, ist diese Regel eine zuverlässige Richtschnur in auf-
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geregten Zeiten. Wer Geld hat, braucht sich freilich auch hierum nicht zu kümmern. Er kann sich ruhig eine linke Gesinnung erlauben, wenn er nur rechtzeitig ins Ausland fährt. Metaphysik. - Was versteht man nicht alles unter dem Wort Metaphysik! Es ist so schwer, eine Formulierung zu finden, die allen gelehrten Herren mit ihren Ansichten über die letzten Dinge zusagt. Wenn du irgendeiner solchen pompösen »Metaphysik« mit einigem Erfolg zu Leibe gehst, werden sicher alle anderen erklären, daß sie unter Metaphysik schon immer etwas ganz anderes verstanden hätten. Doch scheint mir, daß Metaphysik in irgendeiner Weise die Erkenntnis des wahren Wesens der Dinge bezeichnet. Nun ist, nach dem Beispiel aller bedeutenden und unbedeutenden philosophischen und unphilosophischen Professoren zu schließen, das Wesen der Dinge so geartet, daß man es erforschen und in seinem Anblick leben kann, ohne in Empörung gegen das bestehende Gesellschaftssystem zu geraten. Der Weise, der den Kern der Dinge schaut, kann zwar aus dieser Schau alle möglichen philosophischen, wissenschaftlichen und ethischen Konsequenzen ziehen, er kann sogar das Bild einer idealen »Gemeinschaft« entwerfen, aber der Blick für die Klassenverhältnisse wird wenig geschärft. Ja, die Tatsache, daß man unter den vorhandenen Klassenverhältnissen diesen Aufschwung zum Ewigen nehmen kann, bildet je mehr eine gewisse Rechtfertigung der Verhältnisse, als der Metaphysiker diesem Aufschwung absoluten Wert zuerkennt. Eine Gesellschaft, in welcher der Mensch seiner hohen Bestimmung in so wichtigen Stücken zu genügen vermag, kann nicht sehr schlecht sein, wenigstens erscheint ihre Verbesserung nicht als besonders dringlich. Ich weiß nicht, wie weit die Metaphysiker recht haben, vielleicht gibt es irgendwo ein besonders treffendes metaphysisches System oder Fragment, aber ich weiß, daß die Metaphysiker gewöhnlich nur in geringem Maße von dem beeindruckt sind, was die Menschen quält. Gesellschaftsbau und Charakter. - Es wird heftig bestritten, daß die materielle Lage den Menschen bestimme, aber in den extremen Fällen tritt dieser Umstand so offen zutage, daß die Leug-
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nung ausgeschlossen ist. Wenn ein großzügiger und kluger Mensch zu Recht oder zu Unrecht ins Zuchthaus gesperrt wird, so daß sich während der Dauer von zehn Jahren sein Leben in den Zellen und Korridoren eines dieser furchtbaren Gebäude abspielt, dann reduzieren sich auch seine Bedürfnisse und Ängste, seine Interessen und Freuden immer mehr auf das winzige Maß dieses armseligen Daseins, Die Gedanken an das frühere Leben draußen verharren freilich quälend im Hintergrund, aber dies verschlägt nichts an der Tatsache, daß die geringste Schikane oder erfreuliche Abwechslung Gemütsbewegungen auslösen können, deren Stärke dem Außenstehenden nur schwer verständlich ist. Im Gegensatz zum Zuchthäusler spielt sich das Leben des Großkapitalisten auf solcher Höhe ab, daß Genüsse und Betrübnisse, die für andere Menschen große Schwankungen ihres Lebens bedeuten, belanglos werden. Weltanschauliche und moralische Vorstellungen spielen bei denjenigen die Rolle von Fetischen, denen die gesellschaftlichen Zusammenhänge nicht sichtbar sind; wer aber wie die Mächtigen Gelegenheit hat, die veränderlichen Bedingungen solcher Vorstellungen im Spiel der gesellschaftlichen Kräfte zu überschauen, ja an ihrer Aufrechterhaltung oder Veränderung teilzunehmen, dem löst sich der Fetischcharakter allmählich auf. Bei diesen Extremen, dem Trustherrn und dem Zuchthäusler, den Polen der Gesellschaft, wird man die Abhängigkeit der psychischen Reaktionen und der Bildung des Charakters von der materiellen Situation weitgehend zugestehen. In Wahrheit hängen aber die Unterschiede zwischen dem Charakter des kleinen Gewerkschaftsbonzen und einem Fabrikdirektor, zwischen einem Großgrundbesitzer und einem Briefträger ebensosehr mit ihrer Lage zusammen wie jener zwischen dem Sträfling und dem Mächtigen. Gewiß können wir nicht sagen, daß die Menschen gleich auf die Welt kommen, und wer weiß, wieviel individuelle Reaktionsnuancen wir bei der Geburt als Erbgut oder Erbübel miterhalten. Aber der Horizont, der jedem von uns durch seine Funktion in der Gesellschaft vorgezeichnet ist, die Struktur der Grundinteressen, die uns durch unser Schicksal von Kindheit an aufgeprägt wird, läßt sicher nur in den seltensten Fällen eine relativ ungebrochene Entfaltung jener individuellen Anlagen zu. Diese Chance besteht um so mehr, je höher die soziale Schicht ist, in der einer das Licht der
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Welt erblickt. Trotz der Abgeschlossenheit in den Zellen ist die psychologische Typologie der Strafgefangenen leicht zu zeichnen; das Zuchthaus nivelliert! Das gilt von Armut und Elend überhaupt. Die Geburt der meisten Menschen geschieht in ein Zuchthaus hinein. Gerade deshalb ist die gegenwärtige Gesellschaftsform, der sogenannte Individualismus, in Wahrheit eine Gesellschaft der Gleichmacherei und der Massenkultur, und der sogenannte Kollektivismus, der Sozialismus, im Gegenteil die Entfaltung der individuellen Anlagen und Unterschiede. Anmerkung: In der gegenwärtigen Gesellschaft gilt in Beziehung auf die individuelle Entwicklung folgendes Gesetz: je gehobener die Lebenssituation, um so leichter entfalten sich Intelligenz und jede andere Art von Tüchtigkeit. Die objektiven Bedingungen für die Entfaltung der gesellschaftlich wichtigen Eigenschaften sind auf den höheren sozialen Stufen günstiger als • auf den niederen. Im Hinblick auf die Erziehung in den Familien und Schulen versteht sich dies von selbst. Aber das Gesetz gilt auch für die Erwachsenen. So wird z. B. das Tagespensum eines größeren Kapitalisten schon durch den technischen und menschlichen Apparat, der ihm für alle seine Angelegenheiten, von der umfassendsten geschäftlichen Disposition bis zum Diktat eines belanglosen Briefes, zur Verfügung steht, vervielfacht. Der durch die so entstehende Überlegenheit bedingte Erfolg wirkt auf seine persönlichen Fertigkeiten, seine Routine, wieder zurück. Wenn er ursprünglich nur zehn Briefe verfaßte, während der Kleinbürger einen einzigen schrieb, so wird er schließlich in derselben Zeit fünfzehn bis zwanzig diktieren. Seine Geübtheit wächst gerade für die wichtigeren Funktionen, denn das Gleichgültige hat er an untergeordnete Kräfte abgegeben. So kann er im Entscheidenden Meister werden. Der kleine Mann plagt sich dagegen mit Kleinigkeiten ab, der Tag ist eine Reihe von unerquicklichen Besorgungen, und im Hintergrund droht das Elend. Dies gilt nicht bloß für die gesellschaftliche Leistung, sondern auch für die übrigen Eigenschaften der Person. Die Lust an billigen Vergnügungen, der bornierte Hang an kleinlichem Besitz, das hohle Gespräch über eigene Angelegenheiten, die komische Eitelkeit und Empfindsamkeit, kurz die ganze Armseligkeit der gedrückten Existenz brauchen sich dort nicht vorzufinden, wo die Macht dem Menschen einen Inhalt gibt und ihn entwickelt.
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Plattheiten. - Der Einwand, daß ein vernünftiger Satz einseitig grob, platt, banal sei, ist geeignet, den, der ihn ausspricht, zu beschämen, ohne daß eine Diskussion stattzufinden braucht. Es wird ja nicht behauptet, der Satz sei unrichtig oder auch nur schlecht bewiesen, der Angegriffene kann dem Gegner also nicht mit Argurnenten erwidern. Es wird ihm nur bedeutet, jedes Kind wisse längst, was er behauptet hat, übrigens weise der Sachverhalt noch eine Menge anderer Seiten auf. Was soll er gegen einen solchen Einwand vorbringen? Es besteht ja gar kein Zweifel darüber, daß die Sache auch andere Seiten aufweist, und was er gesagt hat, pfeifen also die Spatzen von den Dächern. Er ist geschlagen. Freilich: sollte sich diese kurze Erledigung auf eine Behauptung beziehen, welche die universelle Abhängigkeit der gegenwärtigen Zustände von der technisch unnötigen Aufrechterhaltung des Ausbeutungsverhältnisses feststellt oder sich auch nur auf einen bestimmten Teil dieses Abhängigkeitsverhältnisses bezieht, dann ist sie bloß eine Unverschämtheit; denn die gegenwärtigen Vorgänge in der Welt mögen immerhin auch andere Seiten aufweisen, keine ist so entscheidend wie diese, und von keiner ist es so wichtig, daß sie von allen verstanden werde. Wenn wirklich allgemein erkannt wäre, daß die Fortsetzung der Ausbeutung, welche nur einer kleinen Anzahl von Menschen zugute kommt, die Quelle des gegenwärtigen sozialen Elends ist, wenn jeder Zeitungsleser bei den Nachrichten über Kriege, Justizverbrechen, Armut, Unglück und Mord die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Ordnung als die Ursache solchen Unheils begriffe, wenn diese Plattheiten, die wegen des glänzend eingerichteten gesellschaftlichen Verdummungsapparates nicht einmal durchschnittlich welterfahrene Leute, geschweige denn unsere Gelehrten verstehen, sogar bis zum Verständnis der untersten Wächter dieser Ordnung drängen, dann wäre der Menschheit eine furchtbare Zukunft erspart. Natürlich kann die Beurteilung jedes gegenwärtigen geschichtlichen Ereignisses immer auch andere Seiten hervorheben als seinen Zusammenhang mit der Klassenherrschaft. Aber gerade auf die Erkenntnis dieses Zusammenhangs kommt es heute an. Es ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß die Abneigung gegen die Einseitigkeit, Grobheit, Plattheit, Banalität, ja
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schließlich überhaupt gegen Erklärung, Ableitung, Ursachenforschung, einheitliche Theorie der Angst entspringt, daß die gesellschaftliche Ursache des gegenwärtigen Rückschritts ins Licht des allgemeinen Bewußtseins komme. Auch diese Vermutung ist platt und einseitig. Gesundheit und Gesellschaft, - Versteht man unter Gesundheit die Abwesenheit von Behinderung oder Zwang, die in der eigenen Persönlichkeit begründet sind — eine nicht unbrauchbare Bestimmung dieses schwierigen Begriffs -, dann zeigt sich sogleich ein merkwürdiger Zusammenhang zwischen ihm und der Gesellschaft. Behinderung oder Zwang machen sich hauptsächlich dadurch bemerkbar, daß jemand die Aufgaben, die er notwendig zu seiner Existenz bewältigen muß, entweder gar nicht oder nur mit überdurchschnittlicher Entwicklung von eigenem Leid zu lösen vermag. Dies zeigt sich beim Arbeiter dadurch, daß er schlechter als seine Kollegen arbeitet und deshalb entlassen wird. Oder er bringt die Hand in die Maschine und wird verstümmelt. In dieser Sphäre, wo die Realität in Gestalt von Werkmeistern und gefährlichen Maschinen enge Grenzen um den Menschen zieht, ist man rasch unbrauchbar, minderwertig, psychisch krank. Der Unternehmer älteren Typs mit spekulativem Einschlag hat nicht nur überhaupt einen weiteren Raum, so daß er nicht so rasch anstößt, sondern es läßt sich faktisch schwer entscheiden, ob seine Unternehmungen im Einzelfall dumm oder genial seien. Ebenso hat es der moderne Unternehmer, der Trustdirektor, und zwar je mehr er sich auf eigenen Aktienbesitz zu stützen vermag, viel schwerer, für verrückt zu gelten, als einer seiner Arbeiter. Denn die Grenzen, an denen sich seine Verrücktheit - wir sehen vom Tobsuchtsanf all und ähnlichen »vulgären« Formen ab — als solche erweisen könnte, sind ungeheuer weit. Beim kommandierenden General, beim deutschen Kaiser, solange er an der Macht war, und erst recht bei der Weltregierung gibt es keine Möglichkeit zu entscheiden, ob ihr Regiment Wahnsinn oder Weisheit sei. Die Nicht-Gezeichneten. - Vor vierzig Jahren zeigte sich im Kapitalismus die Gerechtigkeit Gottes oder der Natur wenigstens noch darin, daß die Ausbeuter »gezeichnet« waren. Wer es sich ange-
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sichts des Hungers der Menschheit wohl sein ließ, hatte - gleichsam als Schandmal - einen dicken Bauch. Diese ästhetische Gerechtigkeit Gottes hat längst aufgehört. Nicht bloß die Söhne und Töchter der großen Kapitalisten, sondern sie selbst sind im Begriff, sehnige, schlanke Menschen zu werden, Vorbilder des Ebenmaßes und der Selbstbeherrschung. Der dicke Bauch ist ein Zeichen kleiner Leute geworden, denen es an Gelegenheit zu Sport und Massage fehlt. Gewöhnlich sind sie zu sitzender Lebensweise verdammt und bezahlen ihr bißchen Wohlergehen nicht bloß mit der Furcht vor dem Schlaganfall, sondern mit dem berechtigten Hohn des Proletariats. Rockefeiler ist mit seinen neunzig Jahren ein Golfspieler. Herrschaft der Kirche. — Der Leser eines historischen Werkes über Spätmittelalter oder Gegenreformation, dessen Blick der Zeile vorauseilt und vom unteren Teil der Seite das Wort »Zunge« und den Namen eines Mannes herausfaßt, ohne daß der Zusammenhang schon verstanden wäre, wird unwillkürlich ergänzen, daß dem Mann von der heiligen Inquisition die Zunge abgeschnitten worden sei. Stellt sich beim Weiterlesen dann heraus, es handle sich bloß darum, daß er deutscher Zunge war, so mag der Leser eine vorläufige Beruhigung empfinden, sein vorahnender Instinkt wird jedoch in nicht wenigen Fällen auf einer späteren Seite bestätigt werden. Buddhismus. — Unter einem bestimmten Gesichtspunkt erscheint der Urbuddhismus als besonders männliche Haltung. Er leitet dazu an, Güter, die nicht aus eigener Kraft erhalten werden können, zu verschmähen. Zu diesen Gütern gehört alles Wirkliche: Leben, Gesundheit, Reichtum, sogar das Ich. Der kleine Mann und die Philosophie der Freiheit. - Im Sozialismus soll die Freiheit verwirklicht werden. Die Vorstellungen darüber pflegen um so weniger klar zu sein, als doch das gegenwärtige System den Namen der »Freiheit« trägt und als liberales angesehen wird. Dabei macht jeder, der die Augen offen und wenig Geld in seinem Beutel hat, häufig genug Bekanntschaft mit diesem philoso-
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phischen Begriff. Er bittet z. B. einen Bekannten um Anstellung in seinem Geschäft. Das hat gar nichts mit Philosophie zu tun. Aber der Bekannte runzelt die Stirn und verweist auf die objektive Unmöglichkeit. Das Geschäft geht schlecht, er hat sogar viele Angestellte entlassen müssen. Der Bittsteller darf es ihm nicht übelnehmen, denn es steht ja nicht in seiner Macht, seine Freiheit reicht nicht so weit. Der Geschäftsmann ist von Gesetzen abhängig, die weder er noch irgendein anderer, noch eine von den Menschen hierzu beauftragte Macht mit Wissen und Willen entworfen hat, Gesetzen, deren sich zwar die großen Kapitalisten und vielleicht er selbst geschickt bedienen, deren Existenz aber als Tatsache hinzunehmen ist. Gute und schlechte Konjunktur, Inflation, Kriege, aber weiter auch die auf Grund der gegebenen Gesellschaftslage erforderlichen Eigenschaften von Dingen und Menschen werden durch solche Gesetze, durch die anonyme gesellschaftliche Bealität bedingt, wie die Umdrehung der Erde durch die Gesetze der toten Natur. Kein Einzelner vermag daran etwas zu ändern. Die bürgerliche Denkweise nimmt diese Wirklichkeit als übermenschlich hin. Sie fetischisiert den gesellschaftlichen Prozeß. Sie spricht von Schicksal und nennt es entweder blind oder versucht es mystisch auszudeuten; sie beklagt sich über die Sinnlosigkeit des Ganzen oder ergibt sich in die Unerforschlichkeit von Gottes Wegen. In Wahrheit hängen aber alle jene als zufällig empfundenen oder mystisch gedeuteten Erscheinungen von den Menschen und der Einrichtung ihres gesellschaftlichen Lebens ab. Deshalb können sie auch verändert werden. Wenn die Menschen ihren gesellschaftlichen Lebensprozeß bewußt in die Hand nähmen und an die Stelle des Kampfes kapitalistischer Konzerne eine klassenlose und planmäßig geleitete Wirtschaft setzten, dann könnten auch die Wirkungen des Produktionsprozesses auf die Menschen und ihre Beziehungen überschaut und reguliert werden. Bei dem, was heute im privaten und geschäftlichen Verkehr der Individuen als naturgegebene Tatsache erscheint, handelt es sich um undurchschaute Auswirkungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens im ganzen, also um menschliche und nicht um göttliche Produkte. Dadurch, daß diese Wirkungen des gesellschaftlichen Lebens unkontrolliert, ungewollt, unbewußt als Resultanten vieler ebenso
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über ihre Abhängigkeit wie ihre Macht unklaren Einzelwillen vorhanden sind, wird auch die Freiheit des Einzelnen in der Gegenwart in einem unerhört viel größeren Maß beeinträchtigt, als es nach dem Stand der vorhandenen Kräfte notwendig wäre. Wenn der um die Anstellung seines Bekannten gebetene Geschäftsmann diesen Wunsch mit dem Hinweis auf die Umstände, welche seine Erfüllung unmöglich machen, ablehnt, so meint er, auf etwas schlechthin Objektives, von ihm völlig Unabhängiges, auf die an sich seiende Wirklichkeit hinzudeuten. Da es auch allen anderen, einschließlich dem Bittsteller, so geht wie ihm, da ihnen allen die von ihnen selbst in ihrer gesellschaftlichen Tätigkeit geschaffene Wirklichkeit als etwas Fremdes, nach dem sie sich zu richten haben, gegenübertritt, so gibt es zwar viele Urheber, aber kein bewußtes und somit freies Subjekt der gesellschaftlichen Verhältnisse, und die Menschen müssen sich den Zuständen, die sie doch fortwährend selbst hervorbringen, als einem Fremden, Obermächtigen unterwerfen. Erkenntnisakte genügen freilich nicht, um diesen Zustand zu verändern. Der Fehler liegt nämlich keineswegs darin, daß die Menschen das Subjekt nicht erkennen, sondern darin, daß es nicht existiert. Es kommt darauf an, diesem freien, das gesellschaftliche Leben bewußt gestaltenden Subjekt zur Existenz zu verhelfen: dieses selbst ist nichts anderes als die ihr Sein selbst regelnde, rational organisierte sozialistische Gesellschaft. In der gegenwärtigen Gesellschaftsform gibt es zwar viele einzelne Subjekte, deren Freiheit durch die Unbewußtheit ihres Tuns arg beschnitten ist, aber keine die Wirklichkeit erzeugende Wesenheit, keinen einheitlichen Grund. Indem Religion und Metaphysik die gegenwärtige Existenz eines solchen Grunds behaupten, suchen sie die Menschen daran zu hindern, ihn aus eigner Kraft zu schaffen. Der gegenwärtige Mangel an Freiheit gilt selbstverständlich nicht für alle in gleicher Weise. Ein Moment der Freiheit ist die Übereinstimmung des Erzeugten mit dem Interesse des Erzeugenden. Zwar sind alle arbeitenden, ja sogar die nichtarbeitenden Menschen an der Erzeugung der gegenwärtigen Wirklichkeit beteiligtaber das Maß jener Übereinstimmung ist höchst verschieden. Diejenigen, bei denen sie in hohem Grad vorhanden ist, erscheinen in gewisser Weise für sie verantwortlich. Sie haben recht, wenn sie
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von »unserer« Wirklichkeit im pluralis majestatis reden; denn wenn sie die Welt auch nicht selbst erschaffen haben, so ist doch der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß sie sie gerade so eingerichtet hätten. Ihnen kann es ganz recht sein, daß die Erzeugung und Erhaltung der Wirklichkeit in der gegenwärtigen Gesellschaftsform blind vor sich geht. Sie haben Grund, das Produkt dieses blinden Prozesses zu bejahen. Sie fördern daher auch alle Legenden über seinen Ursprung. Für jenen kleinen Mann aber, dem die Bitte um Anstellung mit dem Hinweis auf die objektiven Verhältnisse abgeschlagen wird, ist es im Gegenteil überaus wichtig, daß der Ursprung dieser objektiven Verhältnisse ans Licht gebracht werde, damit sie ihm selbst nicht so ungünstig bleiben. Nicht bloß seine eigene Unfreiheit, sondern auch die der anderen wird ihm zum Verhängnis. Sein Interesse weist ihn auf die marxistische Erhellung des Begriffs der Freiheit. Eine alte Geschichte. — Es war einmal ein reicher junger Mann. Der war so bezaubernd liebenswürdig, daß alle Menschen ihn gern hatten. Und er bezeugte seine Liebenswürdigkeit nicht bloß seinesgleichen, sondern vornehmlich untergeordneten Personen. Kam er ins Geschäft seines Vaters, so plauderte er bezaubernd mit den Angestellten, und bei jedem Einkauf, den er in der Stadt machte, versetzte er durch sein geistreiches Gespräch den Verkäufer oder die Verkäuferin für den ganzen Tag in eine freundliche Stimmung. Die Feinheit seines Charakters zeigte sich in seinem ganzen Leben. Er verlobte sich mit einem armen Mädchen und sympathisierte mit armen Künstlern und Intellektuellen. Da geriet das Geschäft seines Vaters in Konkurs. An den ausgezeichneten Eigenschaften unseres Prinzen änderte sich nicht das geringste. Nach wie vor plauderte er bezaubernd bei seinen geringen Einkäufen, unterhielt die Beziehungen zu den Künstlern, und seine Braut trug er auf Händen. Aber sieh da, die Verkäufer ärgerten sich über ihn, weil er sie von ihren Geschäften abhielt, die Künstler entdeckten seinen Mangel an jeglicher Produktivität, und auch das arme Mädchen fand ihn unfähig und fade und lief ihm schließlich davon. Das ist eine alte Geschichte; es würde sich nicht lohnen, sie noch einmal zu erzählen, wenn man sie nicht regelmäßig falsch ver-
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stünde. Nicht der Prinz nämlich ist sich gleichgeblieben, und die anderen haben sich verändert — das wäre die gewöhnliche und oberflächliche Deutung —, sondern gleichgeblieben sind die anderen Menschen, während der geschäftliche Zusammenbruch des Vaters bewirkte, daß der Charakter unseres Prinzen einen völlig anderen Sinn bekam. Eine liebenswürdige Eigenschaft kann zur Blödheit werden, ohne daß sich etwas anderes an ihrem Träger ändert als das Bankkonto. Noch sinnfälliger und zugleich unheimlicher als in unserer Geschichte träte der Tatbestand hervor, wenn die Umwelt schon eine Zeitlang vom schlechten Geschäftsgang des Vaters erfahren hätte, während der junge Mann selbst noch gar nichts davon ahnte. Dann wäre aus einem begabten Prinzen ein Trottel geworden, ohne daß sich in seinem Bewußtsein das geringste verändert hätte. So wenig sind wir auf uns selbst gestellt. Uninteressiertes Streben nach Wahrheit. — Um den Satz zu prüfen, daß es ein reines, uninteressiertes Streben nach Wahrheit gebe, daß wir einen Trieb zur Erkenntnis besitzen ganz unabhängig von allen anderen Trieben, ist es gut, folgendes Gedankenexperiment anzustellen: Man streiche seine Liebe zu anderen Menschen, wie auch das eigene Geltungsbedürfnis bis in seine sublimsten Formen durch, man vernichte in Gedanken grundsätzlich die Möglichkeit jeder Art von Wunsch und damit irgendeines Schmerzes oder einer Freude, man fantasiere die völlige Desinteressiertheit an dem Schicksal der Gesellschaft und aller ihrer Mitglieder, so daß nicht bloß keine Liebe und kein Haß, keine Angst und keine Eitelkeit, sondern auch nicht der leiseste Funke von Mitgefühl oder gar Solidarität übrigbleibt, man setze sich also in die Rolle des als Gespenst erscheinenden Toten (nur mit dem Unterschied, daß man nicht bloß ohnmächtig wie ein Gespenst, sondern auch völlig beziehungslos zu Vergangenheit und Zukunft sei, also auch nicht einmal einen Grund zu spuken habe) - dann wird man finden, daß unter den Bedingungen des Gedankenexperiments eine unheimliche Gleichgültigkeit in Beziehung auf jede Art von Wissen sich einstellt. Die Welt erscheint wie der weibliche Körper dem Greis, dessen Triebe erloschen sind. Die Behauptung von dem interesselosen Streben nach Wahrheit — verschwistert mit
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dem Schwindel von den suprasozialen Persönlichkeiten - ist eine philosophische Täuschung, ideologisch wirksam gemacht. Ursprünglich mag die bürgerliche Lehre vom reinen Trieb nach Wahrheit als Gegensatz gegen die Unterordnung des Denkens unter religiöse Zwecksetzungen verkündet worden sein. Heute leugnen die kapitalistischen Professoren jede menschliche Regung bei ihrer Arbeit überhaupt, damit man nicht dahinterkommen soll, daß sie ihre Weisheit um der Karriere willen betreiben. Wenn es zwar kein uninteressiertes Streben nach Wahrheit gibt, so existiert doch so etwas wie ein Denken um des Denkens willen, ein fetischisiertes Denken, ein Denken, das seinen Sinn, Mittel zur Verbesserung menschlicher Verhältnisse zu sein, verloren hat. Man verwechsele es nicht mit der Freude an der Betätigung der Denkkraft, die im Rahmen fortschrittlicher geschichtlicher Strömungen den aufklärenden und höchst interessierten Geistern angehört. Es ist der Affe des richtigen Denkens und kann schon deshalb nicht als Streben nach Wahrheit gelten, weil es an ihre Stelle notwendig ein Phantom, die absolute, d. h. die überirdische Wahrheit setzen muß. Bürgerliche Moral. - Diese bürgerliche Moral funktioniert ausgezeichnet! Daß ein Herr jeden Tag einige tausend Mark ausgibt, aber dem Angestellten zwanzig Mark Gehaltserhöhung abschlägt, ist nicht unmoralisch, aber wenn ein revolutionärer Literat irgendwo ein paar hundert Mark verdient und sich eine gute Zeit davon macht, ja, daß er gar mit seinen radikalen Schreibereien, die immerhin einen anständigen Inhalt haben, regelmäßig Geld verdient und besser lebt als ein Handarbeiter - pfui Teufel, welche Gesinnungslosigkeit! Die deutsche Industrie ist nach Krieg und Inflation mächtiger als je, und von ihren Führern, ebenso wie von den Fürsten und Generälen ist kaum einer gefallen. Keine ihrer Versprechungen haben sie gehalten. Der grauenvolle Untergang der mittleren Volksschichten, der sich jetzt noch vor unseren Augen abspielt, setzt die von den Herrschenden verhängten Leiden fort. Der Glanz der feinen Leute ist nicht unmoralisch, sie können anständig, kultiviert, religiös und ethisch leben. Aber wenn die paar proletarischen Führer und Funktionäre, die jeden Tag Kopf und Kragen riskieren, nicht vor Hunger krepieren oder nicht
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wenigstens bei der nächsten Schießerei gegen die Arbeiter zu den Opfern gehören, dann sind sie Lumpen, die nur ihren persönlichen Vorteil suchen. Diese bürgerliche Moral funktioniert wirklich tadellos! Jeder, der sich für die Befreiung seiner Mitmenschen einsetzt, darf gewiß sein, am Ende seines Lebens als besonders eitles, ehrgeiziges, selbstsüchtiges, kurz, als ein ungewöhnlich mit menschlichen Schwächen behaftetes Individuum dazustehen. Die chronique scandaleuse der Revolutionäre ist die Kehrseite der Fürstenlegenden. Bürgerliche Moral und Religion sind nirgends so tolerant wie gegenüber dem Leben der reichen Leute und nirgends so streng wie gegenüber denen, welche die Armut beseitigen wollen. Revolutionäres Theater oder »Kunst versöhnt«. - Solange die deutsche Bourgeoisie nach dem Krieg aus einer Reihe von Gründen oppositionelles Theater noch gestattet, kann es keine umwälzende Wirkung ausüben. Gewiß spiegeln sich in ihm die wirklichen Kämpfe, und es ist nicht ausgeschlossen, daß es einmal dazu beitragen wird, die Atmosphäre der Aktion mit vorzubereiten. Dies hat aber das Theater mit vielen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft gemein. Der Grund, warum eine dauernde revolutionäre Wirkung des Theaters heute ausgeschlossen ist, liegt darin, daß es die Probleme des Klassenkampfes zu Gegenständen gemeinsamer Anschauung und Diskussion macht und dadurch in der Sphäre der Ästhetik eine Harmonie schafft, deren Durchbrechung im Bewußtsein des Proletariers eine Hauptaufgabe der politischen Arbeit ist. Menschen, die sich von der Plerrschaft anderer befreien wollen und die Frage dieser Befreiung zu gemeinsamer theoretischer Diskussion mit ihren Beherrschern stellen, sind noch unmündig. Die Bourgeoisie, der die Möglichkeit geboten wird, sich im Theater oder auf der Universität in den Interessen des Proletariats für kompetent zu halten, und die sich über das Los der Ausgebeuteten gemeinsam mit ihnen selbst empören darf, bekräftigt mit jedem Applaus ihre ideologische Übermacht. Jede individuelle oder kollektive Empörung, die vor der angegriffenen Autorität und gemeinsam mit ihr die Empörung zum Gegenstand macht, ist noch eine sklavische Empörung. Die Geschichte
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des gegenwärtigen Theaters und der pseudorevolutionären Theaterstücke gibt eine groteske Bestätigung dieses Sachverhalts. Wenn oppositionelle Stücke infolge der realen Situation einmal wirklich gefährlich werden könnten, haben die bürgerlichen Theater längst aufgehört, sie zu spielen; sie wissen warum. Zur Charakterologie. - Arbeitsfähigkeit, Schicksal, Erfolg hängen unter anderem in hervorragendem Maß davon ab, wieweit einem Menschen die Identifizierung mit den wirklich bestehenden Mächten gelingt. Sein Weg wird anders verlaufen, wenn er sich mit der bestehenden Gesellschaft einig fühlt und ihre Normen akzeptiert, als wenn ihm bloß die Identifikation mit oppositionellen Gruppen gelingt oder wenn er gar seelisch völlig isoliert bleibt. Weil die Gründe der charakterlichen Versdiiedenheit hauptsächlich in der Kindheit liegen, weil sich die entscheidenden Vorgänge in der Familie abspielen, so werden die wichtigsten psychischen Ursachen dafür, ob einer »auf dem Boden der Tatsachen steht«, ob er sich wesentlich einfügt oder rebelliert, in verschiedenen Epochen der Geschichte einander so ähnlich sehen wie die Familienverhältnisse in der Klassengesellschaft. Die Psychoanalyse kann daher bei einem gegebenen Fall begründete Schlüsse über die Entwicklung des betreffenden »Charakters« ziehen. Ihre Urteile betreffen aber nur die subjektive Seite der Handlungen und des »Charakters«. Von ihr aus gesehen können es ähnliche Ursachen sein, welche die Menschen in ganz verschiedenen historischen Epochen dazu gebracht haben, sich mit der gesellschaftlichen Schicht, der sie entstammten, zu identifizieren oder nicht zu identifizieren, d. h., es können ähnliche Ursachen sein, die sie »sozial« oder »asozial« machten. Die Psychologie vermag hier nicht zu differenzieren. Dagegen wechselt die objektive Bedeutung eines Lebens je nach der Beschaffenheit der Kollektivität, mit welcher sich jemand identifizieren lernt, und diese Beschaffenheit enthüllt sich nicht in der Psychologie, sondern durch die Analyse der gesellschaftlichen Situation im gegebenen historischen Augenblick. Die Beurteilung eines Menschen nach psychologischen Kategorien betrifft also nur eine - wenn es sich um Geschichte handelt, meist belanglose — Seite seiner Existenz, und die gegenwärtige Unsitte, historische Persönlichkeiten lediglich unter Be-
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griffe, welche der Psychologie, Biologie oder Pathologie entstammen, zu befassen, beweist die gewollte Gleichgültigkeit gegenüber der Bedeutung der historischen Persönlichkeit für die Entwicklung der Menschheit. Die beiden Gesichtspunkte lassen sich freilich nur sehr vorläufig auseinanderhalten. Die genaue Kenntnis der historischen Situation wird das psychologische Verständnis der Individuen, welche in ihr existiert haben, modifizieren und vertiefen; umgekehrt ist eine geschichtliche Aktion ohne die Psychologie der handelnden Personen nicht klar darzustellen. Wie für die Psychologie Robespierres nicht bloß die allgemeine Frage nach der gesellschaftlichen Rolle der Jakobiner, sondern auch das spezielle Problem, wieweit seine Handlungen jeweils der fortgeschrittensten Schicht innerhalb des Bürgertums zugute kamen, entscheidend ist, so wird umgekehrt sein Einfluß auf die historischen Ereignisse nur auf Grund seiner Instinkte und der Strebungen der von ihm geführten Massen zu verstehen sein. Wenn sich ein Mensch mit der Gesellschaft imperialistischer Trustmagnaten von 1928 oder mit dem deutschen Kapitalismus von 1880 oder mit der vorrevolutionären französischen Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts identifiziert hat, wenn sich einer gegenwärtig mit dem Kleinbürgertum, dem Standesadel oder dem Proletariat eins fühlt, so mag dies auf ganz ähnliche Kindheitserlebnisse zurückgehen, ähnlichen psychischen Tendenzen entsprechen. Ein Begriff des Charakters, welcher von den Verschiedenheiten der geschichtlichen Rolle jener Kollektivitäten keine Notiz nimmt und die Charaktere der sich mit ihnen identifizierenden Menschen deshalb zusammenwirft, weil alle die Kollektivität, in der sie aufgewachsen sind, bejahen, wäre ebenso leer wie ein Pazifismus, welcher einen Kolonialkrieg und den Aufstand in einem Zuchthaus gleichermaßen als Gewalt verdammte. Die Art, in der materialistische Geschichtstheorie und Psychologie einander bei der Darstellung geschichtlichen Lebens notwendig haben, ist freilich nicht die gleiche. Eine materialistische Geschichtsschreibung ohne genügende Psychologie ist mangelhaft. Psychologistische Geschichtsschreibung ist verkehrt. Die Gestrandeten. - Unter den besonderen Arten des Ressentiments ist die ohnmächtige Verbitterung der Gestrandeten des Le-
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bens hervorzuheben. Von dem verkalkten oder auch nur schwach gewordenen, mäßig wohlhabenden Familienvater, der seine mannigfachen Pflichten nicht mehr richtig erfüllen kann und darob von den Seinen en Canaille behandelt wird, führt über den armen alten Querulanten, der als Feuergeist begonnen hatte, eine Linie bis zu dem bramarbasierenden Insassen des Obdachlosenasyls. Es ist ihnen gemeinsam, mit dem Gedanken der Welteroberung begonnen und als triste Figuren geendet zu haben. Alle wettern sie gegen Welt und Gesellschaft im allgemeinen und gegen die Leute, mit denen sie es zu tun haben, im besonderen, und alle erfahren sie, daß ihre Empörung vor den Menschen überhaupt nichts wiegt. Aber wiegt sie tatsächlich nichts? Haben denn diese Menschen, deren jugendliche Pläne sich nicht erfüllt haben, die alten Erwartungen weniger genau mit den Erfahrungen des Lebens vergleichen können als die Tüchtigeren, die nicht bloß ihre Pläne, sondern auch ihr Herz der Wirklichkeit anpassen konnten, der Wirklichkeit, der sie nun tief verpflichtet sind? Bietet nicht gerade dieses Unvermögen der Anpassung, das einen ungetrübten Lebensabend vereitelt, eine gewisse Gewähr für ein ungetrübtes Urteil? Der Einwand, die Praxis habe ihnen unrecht gegeben, wäre nicht geistreicher als die Feststellung, durch den Justizmord hätte die Justiz die Beteuerung der Unschuld ihres Opfers widerlegt. Es wäre eine läppische Anwendung des Satzes, daß die Theorie durch die Praxis bestätigt werden müsse, wollte man den individuellen Erfolg in der bestehenden Gesellschaft als Kriterium für die Richtigkeit der Ansichten dessen ansehen, der ihn nicht hat. Die Ohnmacht des Gestrandeten ist heute nicht der Hauch eines Arguments gegen die Sachlichkeit seines Urteils, denn die Ordnung dieser Gesellschaft ist schlecht; wer an ihr zuschanden wird, ist nicht gerichtet. Anmerkung 1: Die Beichte des Ketzers auf dem Totenbett widerlegt keinen Satz seiner atheistischen Ansichten. Mancher Aufklärer hat in gesunden Tagen festgelegt, daß seine von Schmerz und Krankheit beeinflußten Reden nichts gelten sollten. Es ist eine uralte und infame Erfindung der herrschenden Klassen, daß die Wahrheit eines Satzes durch Blut-Zeugenschaft besiegelt Werden müsse. Die Furcht vor den Unterdrückungsmittem wurde da-
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durch zum Argument gegen die Wahrheit der freieren Geister gemacht. Aber nur das Stück bürgerlicher Sklavenwirtschaft in Sokrates, das historisch notwendig mit seiner Lehre verbunden war, nur das Ideologische an seiner Doktrin mag verhindert haben, daß er aus seinem Gefängnis entfloh und fragen konnte: Was hat mein Leben mit der Richtigkeit der Kritik an atheniensischen Zuständen zu tun? Anmerkung 2: »Den« Erfolg eines Lebens an dem, was einer am Schlüsse seines Lebens hat und ist, zu messen - welches Bündel von Verkehrtheiten! Der Schlußzustand des Daseins steht zu der Quantität richtiger Erwägungen und selbst zu den gelungenen Handlungen in einem völlig zufälligen Verhältnis. Es ist unmöglich, vom Ende aufs Ganze zu schließen. Hat einer tausend Ertrinkende aus den Fluten gezogen und ist bei der Rettung des Tausendundersten ertrunken, so darf man nicht folgern: »Er konnte nicht schwimmen, denn er ist ertrunken.« Gerade darum ist auch der Tod beim ersten Versuch kein Beweis. Über das äußere Schicksal des einzelnen Menschen pflegen in der Gegenwart weniger seine Qualitäten als blinde Zufälle zu entscheiden.
Verschiedene Kritik. - Eine der wichtigsten Funktionen der Religion besteht darin, durch ihre Symbolik den gequälten Menschen einen Apparat zur Verfügung zu stellen, mittels dessen sie ihr Leid und ihre Hoffnung ausdrücken. Es wäre die Aufgabe einer anständigen Religionspsychologie, an dieser Funktion das Positive vom Negativen zu unterscheiden, die richtigen menschlichen Gefühle und Vorstellungen von ihrer sie verfälschenden, aber auch durch sie mitbestimmten ideologischen Form zu trennen. Die religiöse Apparatur hat in der Geschichte keineswegs immer als Ablenkung von der irdischen Praxis gewirkt, sondern zum Teil selbst die Energien entwickelt, die heute diese Ablenkung entlarven. Die Idee einer dem Irdischen gegenüber unbedingten Gerechtigkeit ist im Glauben an die Auferstehung der Toten und an das jüngste Gericht enthalten. Sollte zugleich mit diesem Mythos auch jene Idee verworfen werden, so wäre die Menschheit eines vorwärtstreibenden Gedankens beraubt, der sich gegenwärtig freilich keineswegs als Glaube, doch als Kriterium sowohl gegen die herrschende Macht als auch gegen die Kirche im besonderen richtet. Die Kritik an der Religion als bloßer Ideologie besteht zu Recht.
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wenn dabei offenbar wird, daß die bisher religiös verkleideten Impulse, z. B. das Ungenügen an der irdischen Ordnung, heute in anderen Formen wirksam werden. Das Leben des Revolutionärs ist ohne weiteres diese Offenbarung selbst. Die Kritik des Bürgers an der Religion enthält aber zumeist keine Offenbarung. Sie ist vielmehr mit der Blindheit für jeden anderen Wert als seinen eigenen Profit fatal verquickt. Der bürgerliche Materialismus und Positivismus haben nicht weniger dem Profitinteresse gedient als der völkische Idealismus, der ihnen auf dem Fuße folgt. Soweit der materialistische Bürger den Massen das Jenseits auszureden suchte, hat sein Zeitalter dafür das ökonomische Motiv entfesselt, das sich zu seinem, zeitweise sogar zu ihrem eigenen Vorteil im Diesseits befriedigen konnte. Jener Atheismus war eine Weltanschauung der relativen Prosperität. Der völkische Idealismus paukt den Massen das Jenseits wieder ein, weil das ökonomische Motiv sich nicht mehr im Diesseits befriedigen kann. Aber er ist kein einfacher Rückfall in die vorbürgerliche Religiosität, denn das Jenseits existiert in ihm nur neben anderen vielfach widerspruchsvollen Ideologien. In der Hauptsache wird das Christentum heute nicht religiös, sondern als grobe Verklärung der bestehenden Verhältnisse gebraucht. Das Genie der politischen, militärischen und Wirtschaftsführer, vor allem die Nation, machen Gott den Rang streitig. Auch die Idee der Nation enthält einen produktiven Kern in verzerrter Gestalt. Die Liebe zu Volk und Land war seit der Aufklärung die Form, in der die überindividuellen gemeinsamen Interessen bewußt geworden sind. Sie setzte sich nicht bloß dem beschränkten Egoismus zurückgebliebener Bürger, sondern vor allem dem adligen Standesinteresse entgegen. Napoleon, nicht die Bourbonen, konnte sich ihrer gut bedienen. Heute sinkt der Begriff der Nation, welcher ursprünglich den Sinn für das Leben der Allgemeinheit einschloß, zum ideologischen Machtmittel in den Händen der verbündeten Schlotbarone, Junker und ihres Anhangs herab. Wie mit dem sinnentleerten, zum bloßen Träger kapitalistischer Moral entarteten religiösen Apparat lenken sie die Massen mit dem zum Fetisch gewordenen Namen der Nation, hinter dem sie ihre besonderen Belange verbergen. Demzufolge gilt hier das gleiche wie bei der Religion. Auch die Kritik an der Nation als
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zerfallendem Symbol besteht zu Recht, wenn dabei offenbar wird, daß die bisher national verkleideten Impulse, hier also das Gefühl der Solidarität mit der Allgemeinheit, gegenwärtig in anderen Formen wirksam sind. Die Kritik des Bürgers am Nationalismus pflegt beschränkt und reaktionär zu sein. Sie finden den positiven Kern, den der Nationalismus freilich verloren hat, nicht auf. Heute ist vornehmlich die internationale Solidarität der Ausgebeuteten die Gestalt, in der dieser Kern lebendig ist. Die Kritik an Religion und Nation wird erst durch ihren sozialen und geschichtlichen Index verständlich. Doch darf man dies nicht zu sehr beim Wort nehmen. Wenn auch solche Kritik ohne geschichtliche Analyse mangelhaft verständlich ist, enthält sie doch in jedem Fall einen prüfbaren Sinn. Das Bündnis der Kirche mit den Herrschenden bleibt z. B. nicht weniger Tatsache, ob es ein Bürger feststellt oder ein proletarischer Revolutionär — und zwar eine um so empörendere Tatsache, als es sich gegen das einzige Moment richtet, durch das die Kirche sich entschuldigen könnte: nämlich gegen die leidenden Menschen. Zur Psychologie des Gesprächs. - Kommt ein Mensch bescheidener Herkunft ausnahmsweise in die Lage, an einem Gespräch zwischen Personen von Rang und Ansehen teilzunehmen, so gibt er seinen Bemerkungen in der Regel häufiger die subjektive Form als die andern. Wie in den Reden des Kindes Vater und Mutter als Hauptpersonen der Welt erscheinen, nimmt auch der nicht ebenbürtige Unterredner häufig auf seinen privaten Lebenskreis Bezug. Er spricht seine Ansicht nicht als Feststellung eines Tatbestandes aus, sondern knüpft seine Reden an persönliche Mitteilungen an: »Ich bin der Meinung . . . ich hatte mir schon immer gedacht .. . vor einigen Tagen habe ich erst zu meiner Frau gesagt . . . mein Schwager, der den und den Beruf hat, erzählte mir . . . als ich neulich im Theater war . . .« Seine Bemerkungen stehen deutlich zu Vorkommnissen des eigenen Lebens in Beziehung. Gleichviel ob die glücklicheren Teilnehmer am Gespräch über die soziale Stellung ihres Partners unterrichtet sind oder nicht: sooft er das Wort ergreift, haben sie einen peinlichen Eindruck. Das Interesse an seiner Mitteilung wird durch das persönliche Vor-
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spiel enttäuscht und geschwächt, seine Umständlichkeit wirkt ermüdend, an seinen Worten haftet etwas vom Geruch der Stube. Wollten sie selbst es geradeso machen, dann wäre es noch lange nicht so peinlich. Denn die Stube der reichen und kultivierten Leute ist mit zunehmender Kapitalmacht immer mehr die Welt. Von den lebenden Größen der Politik, Wissenschaft und Kunst wissen sie nicht aus dritter Hand, sondern können objektiv von ihnen reden wie Eltern von Kindern, Hausfrauen von Dienstboten, Maschinisten von ihren Maschinen: sie wissen, was diese sind und was sie leisten. Auch ihr subjektives Erlebnis ist objektiv interessant. Ihr »ich denke« und »ich habe gehört« besitzt mehr Wert als die Bekenntnisse jenes Privatmannes. Dieser tut am besten zu schweigen. Die Ohnmacht der deutschen Arbeiterklasse. — Im kapitalistischen Wirtschaftsprozeß sinkt tendenziell, wie Marx gezeigt hat, die Zahl der beschäftigten Arbeiter im Verhältnis zur Verwendung von Maschinerie. Es wird ein immer kleinerer Prozentsatz des Proletariats wirklich beschäftigt. Diese Verringerung verändert auch die Wechselbeziehungen der einzelnen Schichten des Proletariats. Je mehr die zeitweise Beschäftigung überhaupt oder gar die andauernde und lohnende Beschäftigung eines Individuums zur seltenen Ausnahme wird, um so deutlicher wird sich Leben und Bewußtsein der beschäftigten ordentlichen Arbeiter von den in der Regel unbeschäftigten Schichten unterscheiden. Dadurch erleidet die Interessensolidarität der Proletarier immer mehr Einbußen. Gewiß gab es auch in den früheren Phasen des Kapitalismus vielfältige Schichtungen der Arbeiterklasse und verschiedene Formen der »Reservearmee«. Aber nur die unterste dieser Formen, das eigentliche Lumpenproletariat, eine relativ unbedeutende Schicht, aus der sich die Kriminellen rekrutierten, zeigte einen offensichtlichen qualitativen Gegensatz zum Proletariat als ganzem. Im übrigen bestand zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen in der Regel ein stetiger Übergang: wer ohne Arbeit war, konnte morgen wieder eingestellt werden, und wer Arbeit hatte, glich nach ihrem Verlust seinem unbeschäftigten Kollegen in den wichtigsten Zügen. Alle die Arbeitsfähigkeit betreffenden Unterschiede zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern, Kranken,
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Alten, Kindern und Gesunden konnten nicht verhindern, daß die Einheit der Arbeiterklasse auch in dem Schicksal ihrer Mitglieder zum Ausdruck kam. Daher war nicht bloß ihr Interesse an der Aufhebung der Kapitalherrschaft, sondern auch der Einsatz in diesem Kampf wesentlich der gleiche. Heute paßt der Name des Proletariats als einer Klasse, welche die negative Seite der gegenwärtigen Ordnung, das Elend, an ihrer eigenen Existenz erfährt, so verschieden auf ihre Bestandteile, daß die Revolution leicht als eine partikulare Angelegenheit erscheint. Für die beschäftigten Arbeiter, deren Lohn und langjährige Zugehörigkeit zu Gewerkschaften und Verbänden eine gewisse, wenn auch geringe Sicherheit für die Zukunft ermöglicht, bedeuten alle politischen Aktionen die Gefahr eines ungeheuren Verlusts. Sie, die regulären, ordentlichen Arbeiter, befinden sich im Gegensatz zu jenen, die auch noch heute nichts zu verlieren haben als ihre Ketten. Zwischen den in Arbeit stehenden und den nur ausnahmsweise oder vielmehr gar nicht Beschäftigten gibt es heute eine ähnliche Kluft wie früher zwischen der gesamten Arbeiterklasse und dem Lumpenproletariat. Heute ruht der eigentliche Druck des Elends immer eindeutiger auf einer sozialen Schicht, deren Mitglieder von der Gesellschaft zu völliger Hoffnungslosigkeit verdammt sind. Arbeit und Elend treten auseinander, sie werden auf verschiedene Träger verteilt. Dies heißt nicht etwa, es gehe den Arbeitenden gut, das Kapitalverhältnis ändere ihnen gegenüber seinen brutalen Charakter, die Existenz der Reservearmee drücke nicht mehr auf die Löhne; keineswegs: die Misere der Arbeitenden bleibt auch weiterhin Bedingung und Grundlage dieser Gesellschaftsform, aber der Typus des tätigen Arbeiters ist nicht mehr kennzeichnend für die, welche am dringendsten einer Änderung bedürfen. Es vereinigt vielmehr eine bestimmte untere Schicht der Arbeiterklasse, ein Teil des Proletariats immer ausschließlicher das Übel und die Unruhe des Bestehenden in sich. Diese unmittelbar und am dringendsten an der Revolution interessierten Arbeitslosen besitzen aber nicht wie das Proletariat der Vorkriegszeit die Bildungsfähigkeit und Organisierbarkeit, das Klassenbewußtsein und die Zuverlässigkeit der in der Regel doch in den kapitalistischen Betrieb Eingegliederten. Diese Masse ist schwankend, organisatorisch ist mit ihr wenig anzufangen. Den
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Jüngeren, die nie im Arbeitsprozeß standen, fehlt bei allem Glauben das Verständnis der Theorie. Der kapitalistische Produktionsprozeß hat es also mit sich gebracht, das Interesse am Sozialismus und die zu seiner Durchführung notwendigen menschlichen Eigenschaften zu trennen. Das ist das Novum, dessen Entwicklung sich jetzt freilich bis zum Beginn des Kapitalismus zurückverfolgen läßt. Eine verwirklichte sozialistische Ordnung wäre auch heute für alle Proletarier besser als der Kapitalismus, aber der Unterschied zwischen den gegenwärtigen Lebensbedingungen des ordentlich bezahlten Arbeiters und seiner persönlichen Existenz im Sozialismus erscheint ihm Ungewisser und verschwommener als die Gefahr von Entlassung, Elend, Zuchthaus, Tod, die er bei der Teilnahme an der revolutionären Erhebung, ja unter Umständen schon an einem Streik wirklich erwarten muß. Das Leben des Arbeitslosen dagegen ist eine Qual. Die auf Grund des ökonomischen Prozesses erfolgte Verteilung der beiden revolutionären Momente: des unmittelbaren Interesses am Sozialismus und des klaren theoretischen Bewußtseins, auf verschiedene bedeutende Schichten des Proletariats, drückt sich im gegenwärtigen Deutschland in der Existenz zweier Arbeiterparteien und außerdem durch das Fluktuieren großer Schichten von Erwerbslosen zwischen kommunistischer und nationalsozialistischer Partei aus. Sie verurteilt die Arbeiter zur faktischen Ohnmacht. Auf geistigem Gebiet findet sich die Ungeduld der Arbeitslosen als die bloße Wiederholung der Parolen der kommunistischen Partei. Die Prinzipien nehmen nicht durch die Menge des theoretisch verarbeiteten Stoffs eine zeitgemäße Gestalt an, sondern werden undialektisch festgehalten. Die politische Praxis entbehrt daher auch der Ausnutzung aller gegebenen Möglichkeiten zur Verstärkung der politischen Positionen und erschöpft sich vielfach in erfolglosen Befehlen und moralischer Zurechtweisung der Ungehorsamen und Treulosen. Weil nahezu jeder, der noch Arbeit hat, angesichts der Gewißheit, ins Elend der Arbeitslosigkeit hinabzusinken, der kommunistischen Streikparole nicht Folge leistet, weil sogar die Arbeitslosen vor dem furchtbaren Machtapparat, welcher zwar für den äußeren Gegner ungefährlich gemacht ist, aber bloß darauf wartet, im Innern »eingesetzt« zu werden und alle
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Waffen vom Gummiknüppel über die Maschinengewehre bis zum wirksamsten Giftgas in einem frischfröhlichen, ganz bestimmt unriskanten Bürgerkrieg zu probieren, hoffnungslos und phlegmatisch werden, sinken die besonderen Anweisungen der Partei vorerst oft zur Bedeutungslosigkeit herab, was notwendig auf die Zusammensetzung und Verfassung ihrer Führung den ungünstigsten Einfluß ausüben muß. Die Abneigung gegen die bloße Wiederholung des Prinzipiellen kann daher aus diesem Grund auch in den abgelegensten geistigen Bezirken, in Soziologie und Philosophie, noch eine auf Grund der Situation berechtigte Bedeutung haben: sie ist gegen die Vergeblichkeit gerichtet. Im Gegensatz zum Kommunismus hat der reformistische Flügel der Arbeiterbewegung das Wissen um die Unmöglichkeit einer wirksamen Verbesserung der menschlichen Verhältnisse auf kapitalistischem Boden verloren. Alle Elemente der Theorie sind ihm abhanden gekommen, seine Führung ist das genaue Abbild der sichersten Mitglieder: viele suchen sich mit allen Mitteln, selbst unter Preisgabe der einfachen Treue, auf ihren Posten zu erhalten; die Angst, ihre Stellung zu verlieren, wird nach und nach der einzige Erklärungsgrund ihrer Handlungen. Die immerhin noch bestehende Notwendigkeit, manche Reste ihres besseren Bewußtseins zu verdrängen, bedingt dann die stetige Bereitschaft dieser reformistischen deutschen Staatspolitiker, den Marxismus ärgerlich als überholten Irrtum abzutun. Jeder präzise theoretische Standpunkt ist ihnen verhaßter als dem Bürgertum. Die ihnen entsprechenden kulturellen Strömungen scheinen daher im Gegensatz zu der freilich ebenfalls ideologischen, aber oft wirklich tiefen und prägnanten bürgerlichen Metaphysik das einzige Ziel zu haben, alle bestimmten Begriffe und Ansichten zu verwirren, aufzulösen, in Frage zu stellen, kurz, zu diskreditieren, und alles mit der gleichen grauen Farbe des Relativismus, Historismus, Soziologismus anzuschmieren. Diese Ideologen der reformistischen Realpolitik erweisen sich insofern als Nachfahren des von ihnen vielfach bekämpften bürgerlichen Positivismus, als sie gegen die Theorie und für Anerkennung der Tatsachen sind; aber indem sie auch noch unsere Erkenntnis der Tatsachen relativieren und bloß dieses, das Relativieren oder das Fragen überhaupt, absolut setzen, üben sie auf den Unbefangenen die Wirkung des bloßen Miesmachens aus.
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Das Leben der Erwerbslosen ist die Hölle, ihre Apathie die Nacht, die heutige Existenz der arbeitenden Bevölkerung dagegen der graue Alltag. Die ihr entsprechende Philosophie mutet daher unparteiisch und illusionslos an. Als eine Art und Weise, sich mit dem schlechten Gang der Dinge abzufinden, neigt sie dazu, die irdische Resignation mit dem vagen Glauben an ein ganz unbestimmtes transzendentales oder religiöses Prinzip zu verbinden. An die Stelle kausaler Erklärung setzt sie das Aufsuchen von Analogien; soweit sie die marxistischen Begriffe nicht überhaupt verwirft, werden sie formalisiert und akademisch hergerichtet. Die Prinzipien dieser späten demokratischen Philosophie sind selbst noch ebenso starr wie die ihrer Vorgänger, aber dabei so abstrakt und zerbrechlich, daß ihre Autoren eine unglückliche Liebe zum »Konkreten« gefaßt haben, das sich doch nur dem aus der Praxis entspringenden Interesse erschließt. Das Konkrete ist ihnen der Stoff, mit dem sie ihre Schematismen füllen, er wird bei ihnen nicht durch die bewußte Parteinahme im geschichtlichen Kampf, über dem sie vielmehr zu schweben glauben, organisiert. Ebenso wie der Besitz der positiven Fähigkeiten, welche der Arbeiter durch seine Eingliederung in den kapitalistischen Arbeitsprozeß erwirbt, und die Erfahrung der ganzen Unmenschlichkeit dieses Prozesses in der Gegenwart auf verschiedene gesellschaftliche Schichten verteilt sind, so finden sich bei den linken Intellektuellen, angefangen von den politischen Funktionären bis zu den Theoretikern der Arbeiterbewegung, die beiden Momente der dialektischen Methode: Tatsachenerkenntnis und Klarheit über das Grundsätzliche, isoliert und zerstreut. Die Treue an der materialistischen Lehre droht zum geist- und inhaltlosen Buchstabenund Personenkult zu werden, sofern nicht bald eine radikale Wendung eintritt. Der materialistische Inhalt, d. h. die Erkenntnis der wirklichen Welt, ist dagegen im Besitz jener, welche dem Marxismus untreu geworden sind, und steht daher ebenso im Begriff, das einzige zu verlieren, was ihn auszeichnet: nämlich Erkenntnis zu sein; ohne das materialistische Prinzip werden die Tatsachen zu blinden Zeichen, oder sie geraten vielmehr in den Bereich der das geistige Leben beherrschenden ideologischen Mächte. Die einen erkennen zwar die bestehende Gesellschaft als schlecht, aber es
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fehlen ihnen die Kenntnisse, um die Revolution praktisch und theoretisch vorzubereiten. Die anderen könnten vielleicht diese Kenntnisse produzieren, aber sie ermangeln der fundamentalen Erfahrung von der dringenden Notwendigkeit der Änderung. Im Streit untereinander haben daher die Sozialdemokraten viel zuviele Gründe. Sie berücksichtigen peinlich genau alle Umstände, erweisen dadurch der Wahrheit und Objektivität eine Reverenz und beschämen ihre unwissenden Gegner durch die Vielfältigkeit der Gesichtspunkte. Die Kommunisten haben viel zuwenig Gründe, d. h. sie verweisen häufig anstatt auf Gründe bloß auf die Autorität. In der Überzeugung, die ganze Wahrheit für sich zu haben, nehmen sie es mit den einzelnen Wahrheiten nicht so genau und bringen ihre besserwissenden Gegner mit moralischer, notfalls auch mit physischer Gewalt zur Räson. Die Überwindung dieses Zustands in der Theorie hängt ebensowenig vom bloßen guten Willen ab wie die Aufhebung der sie bedingenden Spaltung der Arbeiterklasse in der Praxis. Beide werden in letzter Linie durch den Gang des ökonomischen Prozesses, der einen großen Teil der Bevölkerung seit der Geburt von den Arbeitsstätten fernhält und zu aussichtsloser Existenz verdammt, notwendig erzeugt und wiedererzeugt. Es hat keinen Sinn, sich bei der Feststellung der geistigen Symptome zu überheben und so zu tun, als ob der, welcher den Zustand konstatiert, sich den Folgen entziehen könnte. In beiden Parteien existiert ein Teil der Kräfte, von denen die Zukunft der Menschheit abhängt. Atheismus und Religion. - Das völlige Freisein von jedem Glauben an die Existenz einer von der Geschichte unabhängigen und sie doch bestimmenden Macht - dieser Mangel gehört zur primitivsten intellektuellen Klarheit und Wahrhaftigkeit des modernen Menschen. Aber wie schwer ist es, daraus nicht selbst wieder eine Religion zu machen! Solange die Schrecken des Lebens und des Todes, die den Boden der Seele für die positiven Religionen fruchtbar machen, durch die Arbeit einer gerechten Gesellschaft nicht klein geworden sind, wird sich auch der von Aberglauben freie Geist vor der Not in eine Stimmung flüchten, die etwas von der bergenden Ruhe des Tempels hat, mag auch der Tempel den Göttern zum Trotze errichtet sein. In einer Epoche, in der die mensch-
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liehe Gesellschaft noch nicht weiter ist als jetzt, gibt es auch in den fortgeschrittensten Menschen noch Bezirke, in denen sie Spießbürger sind. Soweit die Menschen sich nicht selbst helfen können, bedürfen sie der Fetische, und wären es die ihrer Not und Verlassenheit. Anmerkung: Gegen die philosophischen Diener der Religion sei gesagt, daß die Notwendigkeit, aus der Religionslosigkeit eine Religion zu machen, eine faktische und keine logische Notwendigkeit ist. Es gibt keinen logisch zwingenden Grund, an die Stelle des gestürzten Absoluten irgendein anderes Absolutes, an die Stelle der gestürzten Götter andere, an die der Anbetung die Leugnung zu setzen. Die Menschen könnten selbst heute schon die Religionslosigkeit vergessen. Aber sie sind zu schwach dazu. Der Wolkenkratzer. - Ein Querschnitt durch den Gesellschaftsbau der Gegenwart hätte ungefähr folgendes darzustellen: Obenauf die leitenden, aber sich untereinander bekämpfenden Trustmagnaten der verschiedenen kapitalistischen Mächtegruppen; darunter die kleineren Magnaten, die Großgrundherren und der ganze Stab der wichtigen Mitarbeiter; darunter — in einzelne Schichten aufgeteilt — die Massen der freien Berufe und kleineren Angestellten, der politischen Handlanger, der Militärs und Professoren, der Ingenieure und Bürochefs bis zu den Tippfräuleins; noch darunter die Reste der selbständigen Ideinen Existenzen, die Handwerker, Krämer und Bauern e tutti quanti, dann das Proletariat, von den höchst bezahlten gelernten Arbeiterschichten über die ungelernten bis zu den dauernd Erwerbslosen, Armen, Alten und Kranken. Darunter beginnt erst das eigentliche Fundament des Elends, auf dem sich dieser Bau erhebt, denn wir haben bisher nur von den hochkapitalistischen Ländern gesprochen, und ihr ganzes Leben ist ja getragen von dem furchtbaren Ausbeutungsapparat, der in den halb und ganz kolonialen Territorien, also in dem weitaus größten Teil der Erde funktioniert. Weite Gebiete des Balkans sind ein Folterhaus, das Massenelend in Indien, China, Afrika übersteigt alle Begriffe. Unterhalb der Räume, in denen millionenweise die Kulis der Erde krepieren, wäre dann das unbeschreibliche, unausdenkliche Leiden der Tiere, die Tierhölle in der
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menschlichen Gesellschaft darzustellen, der Schweiß, das Blut, die Verzweiflung der Tiere. Man spricht gegenwärtig viel von »Wesensschau«. Wer ein einziges Mal das »Wesen« des Wolkenkratzers »erschaut« hat, in dessen höchsten Etagen unsere Philosophen philosophieren dürfen der wundert sich nicht mehr, daß sie so wenig von dieser ihrer realen Höhe wissen, sondern immer nur über eine eingebildete Höhe reden; er weiß, und sie selbst mögen ahnen, daß es ihnen sonst schwindlig werden könnte. Er wundert sich nicht mehr, daß sie lieber ein System der Werte als eines der Unwerte aufstellen, daß sie lieber »vom Menschen überhaupt« als von den Menschen im besonderen, vom Sein schlechthin als von ihrem eigenen Sein handeln: sie könnten sonst zur Strafe in ein tieferes Stockwerk ziehen müssen. Er wundert sich nicht mehr, daß sie vom »Ewigen« schwatzen, denn ihr Geschwätz hält, als ein Bestandteil seines Mörtels, dieses Haus der gegenwärtigen Menschheit zusammen. Dieses Haus, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach eine Kathedrale ist, gewährt in der Tat aus den Fenstern der oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel. Bedürfnislosigkeit der Reichen. — Die Bedürfnislosigkeit der reichen Leute fordert folgenden Vergleich heraus: Ein Sterbender, der nicht mehr gehen kann, hat den Wunsch, noch einen Spaziergang im Garten zu machen. Der Onkel erklärt daraufhin der Tante, so daß es der Kranke hören kann, er selbst müsse arbeiten und schenke sich den Spaziergang. Die Bedürfnislosigkeit reicher Leute ist ruchlos, ruchloser noch als die Enthaltsamkeit des Onkels im Beispiel, denn dieser kann dem Kranken ja nicht die Gesundheit schenken. Symbol. - Ein Bettler träumte von einem Millionär. Als er aufwachte, traf er einen Psychoanalytiker. Der erklärte ihm, der Millionär sei ein Symbol für seinen Vater. »Merkwürdig«, antwortete der Bettler. Kain und Abel. - Die Geschichte von Kain und Abel ist die mythologisierte Erinnerung an eine Revolution, an eine Befreiungsaktion der Sklaven gegen ihre Herren. Die Ideologen deuteten den Auf-
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stand sogleich als Produkt eines Ressentiments: »— und es verdroß den Kain sehr, und es sank sein Antlitz.« Sollte die biblische Erzählung aber wörtlich zu nehmen sein, so Himmel schrie: »Höre nicht auf dieses Schreien; es schreit aus hätte Kain jenen Begriff erfinden können, als das Blut Abels zum Ressentiment.« Der Kampf gegen den Bürger.- In den Klassenkämpfen des 19. Jahrhunderts hat das Wort Bourgeois den Charakter einer tödlichen Kriegserklärung bekommen. Bürger bedeutete Ausbeuter, Blutsauger, und es sollte alle treffen, die an der Herrschaft der schlechten Gesellschaftsordnung interessiert waren. Dieser Sinn ist durch die Marxsche Wissenschaft bis ins einzelne geklärt und festgelegt worden. Aber auch die ganz reaktionären feudalen Gegner des Kapitalismus haben - einer Tradition aus der Romantik folgend - einen verächtlichen Sinn in das Wort Bürger gelegt. Die Reste solcher Ideologie sind von den völkischen Bewegungen aller Länder aufgenommen worden. Sie alle malen den Bürger ungefähr wie die Vorkriegsboheme als Schreckgespenst, sie stellen dem schlechten »bürgerlichen« Menschentypus der vergangenen Epoche, vor allem des 19. Jahrhunderts, den Typus des neuen Menschen der Zukunft entgegen. Dabei reden sie von Gegensätzen des biologischen Kerns, der Rasse, der Denkart usw. Dem Großkapital ist dieser zweite depravierende Sinn des Wortes Bürger, in dem vom Ökonomischen abgesehen wird, durchaus angenehm. Es benutzt die aristokratische Ideologie ebenso gerne wie die aristokratischen Offiziere. Durch den modernen Kampf gegen die »bürgerliche« Geisteshaltung wird gerade das große Kapital selbst aus der Diskussion gelassen. Die, welche über es verfügen, haben die von diesem Kampf betroffenen Lebensformen längst abgestreift. Kaum ein Charakterzug, durch den der kleine, um seinen Unterhalt kämpfende, pedantische, persönlich habgierige Bürger gewisser Perioden des vorigen Jahrhunderts gekennzeichnet war, trifft auf den Trustmagnaten und seine mondäne, »weltoffene« Umgebung zu. Jene peinlichen Eigenschaften sind in niedere, depossedierte Mittelstandsschichten, die sich in Verteidigungsstellung um ihr bißchen Lebensgenuß befinden, hinabge-
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rutscht. Die gute Gesellschaft lebt heute auf so hohem Niveau ihre Erwerbsquellen sind so sehr getrennt von den Persönlichkeiten, daß die Bewußtseinsformen kleinlicher Konkurrenz ganz wegfallen können. So läßt die Großbourgeoisie ihre Ideologen gerne diese Attacke gegen den Bürger reiten, den sie in Wirklichkeit durch die reale Kapitalskonzentration zugrunde richtet. Die Proletarier haben mit diesem Kampf gegen den »Bürger« nichts zu tun. Als der ökonomische Typus, den heute das Kapital ausrottet, herrschend war, mußten sie in ihm den Hauptfeind sehen. Heute sind diese Schichten, soweit sie nicht die völkischen Garden bilden, zu neutralisieren oder mitzureißen. Der Bourgeois bedeutet nach wie vor im proletarischen Sprachgebrauch den Ausbeuter, die herrschende Klasse. Auch in der Theorie geht der Kampf vor allem gegen diese Klasse, mit der es keine Gemeinsamkeit gibt. Wenn moderne Metaphysiker die Philosophiegeschichte soziologisch als Entwicklung des »bürgerlichen« Denkens zu kritisieren versuchen, so geschieht es keinesfalls der Züge wegen, die das Proletariat an ihr zu überwinden hat. Diese Ideologen möchten dabei nur die theoretischen Überreste aus der revolutionären Epoche des Bürgertums brandmarken und tilgen. Auch den Untergang der Mittelschichten bejaht das Proletariat aus anderen Gründen als das Kapital. Diesem kommt es auf den Profit und dem Proletariat auf die Befreiung der Menschheit an. Wir bedanken uns für eine Terminologie, nach der zwar die Eifersucht einer kleinen Bürgerin, die keine Zerstreuung hat, auf ihren Mann, nicht aber der Besitz eines Rolls-Royce der Ausdruck bürgerlichen Lebens ist. Erziehung zur Wahrhaftigkeit. - Die katholische Geistlichkeit hat stets dazu geneigt, ketzerische Gedanken den Menschen nicht groß anzukreiden, wenn man sie nur im Busen gut verschloß oder bloß dem Beichtvater offenbarte. Unsere bürgerliche Moral ist strenger: hegt einer revolutionäre Gedanken, soll er sie wenigstens aussprechen, auch dann oder gerade dann, wenn es zwecklos ist — damit man ihn deshalb verfolgen kann. Nicht seine Freunde, sondern seine Feinde machen sich in gutem Instinkt zu Propheten des revolutionären Muts. .
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Es kommt ihnen dabei nicht auf die Gedanken an, denn diese halten sie für verkehrt, sondern, wie sie sagen, auf die Erfüllung der Forderung, daß man »für seine Überzeugung steht«. Diese sadistische Pedanterie hat zwei Ursachen: den Willen des offenen Gegners nach Ausrottung der Revolution mit Stumpf und Stiel und den Neid des scheinbar mit ihr Sympathisierenden auf den, welcher die von ihm selbst um seines Fortkommens willen verdrängten Gedanken unverändert zu hegen wagt. Die bürgerliche Moral ist wie ein Schulmeister, der die bösen Buben nicht bloß mit Prügeln traktiert, wenn sie unartig sind, sondern auch noch verlangt, daß sie sich melden, wenn ihnen der bloße Gedanke an eine Unart durch den Kopf schießt. Erziehung zur Wahrhaftigkeit! Die in den Köpfen verschlossenen Gedanken bilden selbst eine unerlaubte Lust, die sich das brave Kind versagt; außerdem könnten sie in den Köpfen, wo sie verschlossen sind, reifen, um zu einem Augenblick hervorzubrechen, in dem der Schulmeister Mühe hätte, ihrer mit dem Rohrstock Herr zu werden. Wert des Menschen. - In der kapitalistischen Wirtschaft erfährt jeder erst auf dem Markt, was die Waren wert sind, die er produziert hat. Nicht seine persönliche Schätzung entscheidet über ihren Wert, sondern der anonyme Austauschapparat der Gesellschaft. Ganz unverkäufliche Waren sind Pofel. — Ebenso verhält man sich zu den Menschen. Was einer wert ist, wird durch den anonymen Apparat der Gesellschaft festgestellt. Freilich müssen wir noch hinzunehmen, daß die Geburt wesentlich mitspielt. Sie bildet eine Analogie zu Patent und Monopol. Aber ebenso wie bei einer Ware entscheidet über die Art, wie man einem Menschen entgegentritt, keine private Willkür, sondern sein Marktwert, d. h. der gesellschaftliche Erfolg, den ihm seine Geburt oder seine Tüchtigkeit verschafft haben, und neben dem Erfolg auch noch die Chancen, die er für künftige Erfolge mitbringt. Die Gesellschaft und nicht der Einzelne wertet. Oder vielmehr: fdie Wertungen des Einzelnen werden durch die Gesellschaft be'stimmt. Das geht so weit, daß in kleinen Unternehmungen der Chef seinen eigenen Angestellten weniger achtet als den Angestellten der Konkurrenz; jedenfalls wird er unsicher, wo die von
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ihm unabhängige Kontrolle des gesellschaftlichen Verwertungsapparates für Menschen nicht mehr eindeutig zugunsten seines Angestellten spricht. Es kann ja jede Ware in jedem Augenblick im Preis sinken. Dies vereinbart sich sehr wohl damit, daß ich sogar als armer Angestellter oder als Arzt ohne Patienten in engem Kreise ein gewisses bescheidenes Maß an Achtung genießen kann. Diese Achtung hängt im wesentlichen von der Überzeugung ab, daß in mir die gesellschaftlich wertvollen Eigenschaften vorhanden und nur durch gewisse »zufällige« Umstände in ihrer Geltung und Auswirkung beeinträchtigt seien. Im Hintergrund wirkt doch die heimliche Orientierung am Produktionsprozeß der kapitalistischen Gesellschaft bei der Schätzung mit. Daß man es zu nichts gebracht hat, verzeiht nur der Glaube, daß man es zu etwas hätte bringen können. — Es gibt einen geheimen, feststehenden, häufig unbewußten, aber tief eingesenkten Begriff von der Gerechtigkeit und Autorität der kapitalistischen Gesellschaft. Er bestimmt das zarteste Liebesverhältnis und konstituiert eine gemeinsame Geistigkeit von den Deutsdmationalen bis zur sozialistischen Bürokratie. Die Frau bei Strindberg. — In Strindbergs Theater erscheint die Frau als böses, herrschsüchtiges, rachgieriges Geschöpf. Dieses Bild stammt offenbar aus der Erfahrung eines im normalen Geschlechtsverkehr impotenten Mannes; denn in einer solchen Gemeinschaft pflegt die Frau sich so zu entwickeln, wie Strindberg sie darstellt. Seine Ansicht ist das Beispiel bürgerlicher Oberflächlichkeit, die anstatt den Dingen auf den Grund zu gehen, lieber alles der Natur oder vielmehr einem ewigen Charakter zuschreibt. Für die von Strindberg gemeinte Bosheit der Frau in letzter Linie die Impotenz des Mannes verantwortlich machen, hieße freilich in den gleichen Fehler verfallen wie Strindberg selbst, denn die Impotenz ebenso wie die Bewertung des normalen Verkehrs als die rechtmäßige Form der Lust ist selbst ein gesellschaftliches Produkt. Die Unfähigkeit des Mannes, die von der Frau gewünschte und gar von ihm selbst als Maß des männlichen Wertes anerkannte sexuelle Handlung zu vollziehen, rührt
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daher, daß er entweder vor der Ehe verbraucht oder überhaupt auf andere Formen der Befriedigung angewiesen ist; ebenso wie alle darauf bezüglichen abfälligen Wertungen erklärt sie sich aus der Geschichte der Gesellschaft und seinem Schicksal in ihr. Strindberg hat die böse Frau, den impotenten Mann, die Hölle, die sie in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick durchleben, in einem guten Spiegel festgehalten, aber er hat die Verhältnisse als biologische verewigt und daher nicht begriffen. Der »flachere« Ibsen ist ihm überlegen, weil er die ehelichen Schwierigkeiten bewußt mit einer vergänglichen Form der Familie und dadurch mit der Geschichte in Verbindung bringt. Macht, Recht, Gerechtigkeit. - »Macht geht vor Recht«, ist ein irreführendes Sprichwort, denn die Macht muß nicht mit dem Recht konkurrieren, sondern es ist ihr Attribut. Die Macht hat das Recht, die Ohnmacht braucht es. Soweit die Macht unfähig ist, ein Recht zu geben oder zu verweigern, ist sie selbst begrenzt, aber beileibe nicht durch das Recht, sondern durch andere Mächte, die ihr Abtrag tun. Dieser Tatbestand wird dadurch verschleiert, daß das geltende Recht im bürgerlichen Staat als Konvention zwischen den in ihm vorhandenen Mächten ein Eigenleben zu gewinnen scheint, besonders wenn es von einer gegenüber den verschiedenen bürgerlichen Parteien relativ neutralen Bürokratie getragen ist. Die Wahrheit tritt jedoch sogleich in Erscheinung, wenn die herrschenden Mächte oder vielmehr die Gruppen innerhalb der herrschenden Klasse unmittelbar einig sind, also dort, wo es gegen das Proletariat geht. Dann zeigt sich die Wirkung des Rechts, gleichgültig, wie es formuliert sein mag, als der genaue Ausdruck davon, wieweit ihre Macht reicht. Wenn die Anekdote des Müllers von Sanssouci nicht erlogen wäre, hätte dieser seinen Erfolg in letzter Linie der Gnade des Königs oder der Macht des Bürgertums verdankt — nicht dem Recht an sich. Dies gilt vom positiven Recht. Im Begriff der Gerechtigkeit werden dagegen jeweils die Forderungen der Unterdrückten zusammengefaßt. Er ist daher so schwankend wie diese selbst. Sein heutiger Inhalt meint in letzter Linie die Abschaffung der Klassen und damit freilich auch die Aufhebung des Rechts im darge-
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legten Sinn. Mit der Erfüllung der Gerechtigkeit verschwindet das Recht. Grade der Bildung. - Tritt einer mit schlechtem Anzug in einen Laden, eine Wohnung, ein Hotel, hat er gar auf einem Amt zu tun, so erfährt er, wie in seinem Leben überhaupt, unendlich weniger Freundlichkeit als der Gutgekleidete. Die bessere Welt erkennt ihn an den Kleidern, die sie ihm angezogen hat, sogleich als einen von draußen. Etwas Ähnliches gibt es auf dem Gebiet der »Kultur«. Wer kein Geld hat, sich Bücher zu kaufen, und keine Zeit, sie zu studieren, wer nicht in einem gehobenen kulturellen Milieu aufgewachsen ist, seine Sprache spricht, ist nach wenigen Worten zu erkennen. Und geradeso wie von dem Bettler, vor dem die kleine Hausfrau die Türe wieder zumacht, eine Reihe von Übergängen bis zu dem Intimen führt, den die feinste Gesellschaft unangemeldet empfängt, gibt es eine kontinuierliche Reihe von äußeren Zeichen, an denen die Grade der Zugehörigkeit zu den Gebildeten erkennbar sind. Bei dem Arbeiter und bürgerlichen Autodidakten versteht es sich von selbst, daß jedes ihrer Worte das Gepräge der Unzuständigkeit an sich trägt. Aber auch in sich selbst ist die Hierarchie der Gebildeten fein gegliedert. Wer gezwungen ist, die Bücher aus Bibliotheken zu entleihen, erhält sie erst lange nach dem Erscheinen und muß sie rasch zurückgeben. Er ist dem unterlegen, welcher sie kaufen kann, und dieser wiederum dem, welcher regelmäßig darüber Diskussionen pflegt. Wirklich orientiert sind nur die wenigen, die mit den Autoren selbst Umgang pflegen, viele Reisen machen, sich von Zeit zu Zeit in den geistigen Zentren der Welt aufhalten und erfahren, welche Probleme und Ansichten heute wichtig sind. Wie soll einer, der nicht auf dem engsten Spezialgebiet Fachmann ist, denn wissen, auf welche Besonderheit des Stils und der Auffassung es in einem belletristischen, wissenschaftlichen, philosophischen Werk gerade ankommt! Sind doch die zufälligen, undurchsichtigen Gründe, von denen dies abhängt, zum großen Teil blou aus Gesprächen mit den Auguren selbst zu entnehmen. Die Merkmale, an denen die mangelnde Bildung sichtbar wird, sind untrüglich. Auf hohen Stufen kann der Gebrauch eines Wortes.
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gerade darum, weil es allgemein in Mode ist, so banal wirken wie auf niederen Stufen ein schon veralteter Ausdruck. Auf die Kultivierten machen diese Zeichen der Unbildung einen ebenso peinlichen Eindruck wie ein schlecht sitzender Anzug auf eine empfindsame Dame. Als die bürgerliche Geistigkeit fortschrittlich war, mochten diese Geheimnisse des Verkehrs ein Moment des Fortschritts darstellen. Heute, wo die Inhalte gebildeter Gespräche, wie der kapitalistischen Geselligkeit überhaupt, von den Sorgen der Menschheit entfernt sind, haben diese Eigentümlichkeiten einen grotesken und erbitternden Charakter angenommen. Die Grade der zeitgemäßen Bildung haben völlig aufgehört, Stufen der Erkenntnis zu sein; sie bezeichnen Unterschiede einer eitlen, mit dem Anschein philosophischer Tiefe operierenden Routine. In dem, was sich in der sogenannten geistigen Welt abspielt, so beschlagen zu sein, daß es Verwandtschaft mit ihr verrät, das Tragen einer zeitgemäßen kulturellen Montur - bedeutet heute größere und endgültigere Entfernung von der Sache der Freiheit als ein gut sitzender Anzug aus richtigem Stoff. Diesen kann man ausziehen, jene Verwandtschaft bloß verleugnen. Liebe und Dummheit. — Die Freude des Dompteurs an der Anhänglichkeit eines Löwen wird unter Umständen durch das Wissen getrübt, daß die Dummheit der Bestie dabei ein wichtiger Faktor ist. Weil das steigende Bewußtsein ihrer Kraft die Verbindung zerstören müßte, ist ihre gegenwärtige Zärtlichkeit nicht besonders viel wert. Je mehr sich der Dompteur auf die Kunst seiner Dressur etwas einbilden kann, um so weniger braucht ihm die Zuneigung des Löwen zu schmeicheln. Wir wollen nicht aus Mangel an Intelligenz geliebt sein. Der Stolz mancher Herrschaften auf die Anhänglichkeit ihrer Dienstboten, der Krautjunker auf die ihrer Landarbeiter, karikiert das Selbstgefühl, welches aus dem Bewußtsein fließt, wirklich geliebt zu werden. Indikationen. — Der moralische Charakter der Menschen ist mit Sicherheit aus Antworten auf bestimmte Fragen zu erkennen. Diese Fragen sind für jede Epoche und meist auch für jede Ge-
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sellschaftsschicht verschieden. Sie beziehen sich keineswegs immer auf Gegenstände gleicher Größenordnung. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung war die Frage nach dem Christentum unter den Beamten bestimmter Teile des römischen Reiches entschieden ein solcher Schlüssel, in Deutschland 1917 schon die Frage nach der Qualität des Kartoffelbrotes. Im Jahre 1930 wirft die Stellung zu Rußland Licht auf die Denkart der Menschen. Es ist höchst problematisch, wie dort die Dinge liegen. Ich mache mich nicht anheischig zu wissen, wohin das Land steuert; zweifellos gibt es viel Elend. Aber wer unter den Gebildeten vom Hauch der Anstrengung dort nichts verspürt und sich leichtsinnig überhebt, wer sich in diesem Punkt der Notwendigkeit zu denken entzieht, ist ein armseliger Kamerad, dessen Gesellschaft keinen Gewinn bringt. Wer Augen für die sinnlose, keineswegs durch technische Ohnmacht zu erklärende Ungerechtigkeit der imperialistischen Welt besitzt, wird die Ereignisse in Rußland als den fortgesetzten schmerzlichen Versuch betrachten, diese furchtbare gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu überwinden, oder er wird wenigstens klopfenden Herzens fragen, ob dieser Versuch noch andauere. Wenn der Schein dagegen spräche, klammerte er sich an die Hoffnung wie ein Krebskranker an die fragwürdige Nachricht, daß das Mittel gegen seine Krankheit wahrscheinlich gefunden sei. Als Kant die ersten Nachrichten über die Französische Revolution bekam, soll er seinen gewohnten Spaziergang von da an geändert haben. Auch die Philosophen der Gegenwart wittern Morgenluft, aber nicht für die Menschheit, sondern für das scheußliche Gespensterreich ihrer Metaphysik. Zur Geburtenfrage. — Wer hätte nicht schon die moralische Erwägung angestellt, ob es gut sei, Kindern das Leben zu schenken oder nicht, und wer hätte nicht schon darauf geantwortet: Es kommt darauf an! »Es kommt darauf an«, bedeutet, daß eine reiche Frau, die niederkommt, einen zur Welt bringt, der Arbeit gibt, das arme Weib dagegen einen solchen, der sie nicht einmal bekommt. Also - schließt der malthusianische Philosoph — sollten sich die armen Leute in acht nehmen. Aber dieser Gedanke nimmt die falsche Richtung. Anstatt Millionen Uner-
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wünschter von der Welt fernzuhalten, sollte man ihnen gestatten, sie einzurichten. Solange freilich die Arbeit, welche jene nicht geben wollen, auch von diesen nicht getan werden darf, müssen sie draußen bleiben. Ihre Mütter verfluchen ihre Ankunft. Die Welt ist das Haus der herrschenden Klasse. Sie verschließt es den Zimmerleuten, welche es vergrößern und heller machen wollen. Das Eigentumsrecht jener hat sich also überlebt. Anmerkung: Es könnte als Widerspruch erscheinen, daß in den letzten hundert Jahren in der Regel gerade diejenigen, welche die Unmöglichkeit einer gerechteren und ausreichenderen Versorgung der Menschheit behaupteten, den Armen zwar die Einschränkung des Geschlechtsverkehrs, die moralische Verhütung, also die Askese empfahlen, aber Antikonzeptionsmittel und Abtreibung aufs schärfste bekämpften. Dies widerspricht sich j a nur, wenn es wirklich auf das Wohl der Menschen ankommt; jene braven Diener des Kapitals haben jedoch nur die Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse im Auge, und da erkennen sie instinktiv, daß der Genuß um seiner selbst willen, der Genuß ohne Begründung und Entschuldigung, ohne sittliche und religiöse Rationalisierung, eine noch größere Gefahr für diese zur Fessel gewordene Gesellschaftsform bedeutet als selbst die Vergrößerung des Heers der Arbeitslosen.
Sozialismus und Ressentiment. — Wie glänzend gelingt es doch, die auf Verwirklichung der Freiheit und Gerechtigkeit hintreibenden Motive zu verpönen, die von ihnen bestimmten Menschen zu verwirren und zu entmutigen! In Gesprächen über die Möglichkeit des Sozialismus kann man häufig den sachkundigen Gegner sagen hören, sein für den Sozialismus begeisterter Unterredner müsse erst noch die Wirklichkeit studieren. Er werde dann einsehen, daß es im Sozialismus für den Arbeiter auch nicht besser wäre als heute. Wahrscheinlich werde es dem zivilisierten Arbeiter — wenigstens dieser Generation - dann noch viel schlechter gehen als jetzt, er könne sein Leben lang dicke Bohnen essen. Vielleicht illustriert der überlegene Gegner seine Meinung noch durch den infamen Witz vom Baron Rothschild, der dem Sozialisten einen Taler schenkte und
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erklärte: »Seien Sie jetzt zufrieden, das ist viel mehr, als hei der großen Teilung auf Ihren Kopf entfiele.« Ist der junge Unterredner marxistisch geschult, so wird er ausführen, die Sozialisten erstrebten ja nicht die Teilung, sondern Vergesellschaftung und Umstellung der Produktion. Er wird vielleicht einen theoretischen Vortrag halten. Aber es kann auch passieren, daß er sagt, dann herrsche doch wenigstens Gerechtigkeit. In diesem Fall ist er verloren; denn jetzt hat er seine gemeine Gesinnung, sein ressentimentbeladenes Denken enthüllt: es kommt ihm also in erster Linie gar nicht auf materielle Besserung an, es sollen bloß die, welchen es heute erträglich geht, nicht mehr haben als er selbst. Hinter seinen Argumenien steckt bloß der Haß. Lieber will man das ganze Leben die dicken Bohnen essen, wenn nur der andere kein Beafsteak hat! — Der junge Sozialist wird vor diesem Vorwurf betreten schweigen und sich vielleicht gegen ihn verteidigen. Er ist verwirrt. Der allgemeinen Verpönung des Willens zur Freiheit und Gerechtigkeit, die den Titel des Ressentiments annimmt, ist er nicht gewachsen. Aber das harmlose Beafsteak, das von dieser verpönten Gesinnung mißgönnt wird, ist Symbol für Macht über Menschen, für Selbständigkeit auf dem Rücken des Elends. Die Gefahr, das Leiden, der Zwang, die Enge, die Unsicherheit, die Konzentration dieser negativen Momente des Lebens auf die ausgebeutete Klasse werden heute durch die Konzentration der positiven Momente auf die lächerlich geringe Anzahl der Freien bedingt. In den Schulbüchern erzählt die Bourgeoisie vom Idealismus der Helden, die lieber den Tod ertragen wollten als die Sklaverei, aber dem Sozialismus gegenüber ist sie materialistisch genug, dem Impuls zur Abschüttlung des Jochs, zur Abschaffung der Ungleichheit mit dem Hinweis auf die Unwahrscheinlichkeit materieller Verbesserungen zu begegnen. Die Liebe zur Freiheit wird nur in der verlogenen Gestalt des nationalistischen Chauvinismus kultiviert. Der Vertrag von Versailles verursacht tatsächlich unnötiges Elend, aber in Deutschland klagen ihn am lautesten diejenigen an, welche die kapitalistische Eigentumsordnung, die ihn ermöglicht, erbarmungslos aufrechterhalten. Diese Ordnung, in der Proletarierkinder zum Hungertod und
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die Aufsichtsräte zu Festessen verurteilt sind, erweckt in der Tat Ressentiment. Die Urbanität der Sprache. - Die Sprache ist ihrem Wesen nach verbindend, Gemeinschaft stiftend, urban. Die Formulierung einer Gegnerschaft ist der erste Schritt zu ihrer Überwindung. Es wird möglich, die Ursachen zu erörtern, mildernde Gesichtspunkte in Betracht zu ziehen. Die Sprache scheint kraft ihrer Allgemeinheit das Motiv der Gegnerschaft zum Problem für alle Welt zu machen. Sie stellt seine Berechtigung zur Diskussion. Die Übersetzung des Marxismus in den akademischen Stil wirkte im Nachkriegsdeutschland als ein Schritt, den Willen der Arbeiter zum Kampf gegen den Kapitalismus zu brechen. Die Professoren, als die berufenen intellektuellen Vertreter der Menschheit, belaßten sich mit dem Problem. Freilich war diese Übersetzung nur ein Schritt, denn seit aus viel realistischeren Ursachen die Arbeiter müde und ohnmächtig sind, bedarf man dieser vermittelnden Literatur nicht mehr und wird jene Übersetzer ebenso verwerfen wie die Vermittler in der wirklichen Politik. Am Begriff der Ideologie zeigt sich die Funktion der Übersetzung besonders deutlich. Kaum daß Marx ihn ausführlich erörtert hat. Er benutzte ihn gleichsam als unterirdische Sprengmine gegen die Lügengebäude der offiziellen Wissenschaft. Seine ganze Verachtung der gewollten und halbgewollten, instinktiven und überlegten, bezahlten und unbezalüten Verschleierung der Ausbeutung, auf der das kapitalistische System beruht, lag in diesem Begriff. Jetzt haben sie ihn sauber formuliert als Relativität der Erkenntnis, als Historizität geisteswissenschaftlicher Theorien und anderes mehr. Seine Gefährlichkeit hat er eingebüßt. Andererseits ist aber das Licht der Sprache unentbehrlich für den Kampf der Unterdrückten selbst. Sie haben Grund, die Geheimnisse dieser Gesellschaft an den Tag zu bringen und sie so verständlich, so banal wie möglich auszudrücken. Sie dürfen nicht ruhen, die Widersprüche dieser Ordnung in die öffentliche Sprache zu fassen. Die Verbreitung von Dunkelheit war stets ein Mittel in der Hand der Reaktion. Ihnen bleibt daher nichts übrig, als die Sprache davor zu bewahren, eine Allgemeinheit
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vorzutäuschen, die in der Klassengesellschaft nicht existiert, und sie so lange bewußt als Kampfmittel zu gebrauchen, bis die einheitliche Welt verwirklicht ist, von welcher her das Wort im Munde ihrer Kämpfer und Märtyrer heute schon zu erklingen scheint. Eine Kategorie von Großbürgern. - Im Verkehr mit Großbürgern, wenigstens einer bestimmten Kategorie, sollst du niemals um etwas bitten. Du mußt vielmehr immer so tun, als ob du in jeder Hinsicht zu ihnen gehörtest. Durch schlechte Behandlung erreichst du mehr als durch gute; denn diese erinnert sie immer an Untergebene und Abhängige, denen gegenüber ihnen die Verachtung oder wenigstens die Verweigerung im Blute liegt. Sie sind von früh auf gewohnt, ihr schlechtes Gewissen der beherrschten Klasse gegenüber durch Brutalität zu übertönen, und sobald sie dir gegenüber auch nur von Ferne in diese Einstellung hineinkommen, bist du verloren. Willst du etwas erreichen, so mußt du ihnen als einer der Ihren auf die Schulter klopfen können. Gewähren sie das, was du willst, so ist es gefährlich, dich zu bedanken, falls du auf weitere Gestaltung deiner Beziehung Wert legst. Die völlige Beherrschung der Kunst, im Kreise von Großbürgern sich frei und natürlich zu bewegen, ist noch einer der wenigen Wege zum Aufstieg der Tüchtigen. Anmerkung: Bei manchen Großagrariern, hauptsächlich deutschen und noch östlicheren, rührt die Brutalität gar nicht vom schlechten Gewissen, sondern daher, daß sie im Verkehr mit zivilisierteren Leuten ihre menschliche Minderwertigkeit gefühlt haben. In den Hintergründen ihres Bewußtseins dämmert der Gedanke, wie wenig sie wissen, können und sind. Diesen widerlegen sie dadurch, daß sie daheim mit der Peitsche regieren. Das Persönliche. — Persönliche Eigenschaften werden beim Fortkommen des Einzelnen zwar auch in Zukunft eine Rolle spielen. Aber ich kann mir eine Gesellschaft denken, in der die Stimme eines jungen Mannes oder die Nase eines Mädchens nicht über das Glück ihres Lebens entscheiden.
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Der gesellschaftliche Raum. - Um den Raum zu erkennen, in dem man sich befindet, tut es not, seine Grenzen zu erfahren. Bei Nacht, wenn wir die Wände des Zimmers, in das wir eintreten, mit den Augen nicht abzutasten vermögen, müssen wir an ihnen entlanggehen und sie mit den Händen prüfen. So erfahren wir, ob dieser Raum ein Salon mit seidenen Tapeten und großen Fenstern oder ein Gefängnis mit Steinmauern und einer Eisentüre ist. Solange sich einer in der Mitte der Gesellschaft aufhält, d. h. solange er eine geachtete Position einnimmt, nicht in Widerspruch zur Gesellschaft gerät, erfährt er von ihrem Wesen das Entscheidende nicht. Je mehr er aus der sicheren Mitte sich entfernt, sei es durch Verringerung oder Verlust seines Vermögens, seiner Kenntnisse, seiner Beziehungen — ob mehr oder weniger durch sein Verschulden, spielt kaum eine Rolle —, erfährt er praktisch, daß diese Gesellschaft auf der völligen Negation jedes menschlichen Wertes beruht. Die Art, wie in Zeiten des Aufstands die Schupo zuweilen mit den Arbeitern umspringt, ihre Kolbenstöße gegen den gefangenen Erwerbslosen, der Ton der Stimme, mit dem der Fabrikportier dem Arbeitsuchenden begegnet, das Arbeitshaus und das Zuchthaus enthüllen als Grenzen eben den Raum, in dem wir wohnen. Die zentraleren Stationen sind aus den mehr peripheren zu begreifen. Die Büros der gutgehenden Fabrik werden erst aus dem Arbeitssaal der Hilfsarbeiter in Zeiten der Rationalisierung und der Krise verständlich, und dieser Arbeitssaal, in dem es Gnade ist, schuften zu dürfen, bedarf zu seiner Erklärung des Rückgangs auf die bewaffnete Macht. In der unbestimmten Sorge des Angestellten stecken alle diese Momente, ob er sie sich klarmacht oder nicht, und sie bestimmen sein Leben. Die Ordnung, kraft welcher er aus seiner Stellung in die Not zu gleiten fürchten muß, wird in letzter Linie durch die Existenz von Granaten und Giftgasen zusammengehalten. Zwischen dem Stirnrunzeln seines Vorgesetzten und den Maschinengewehren besteht eine Reihe kontinuierlicher Übergänge, und jenes erhält durch diese sein Gewicht. Nicht bloß das, was die Gesellschaft selbst, sondern auch was in ihr die einzelnen Menschen sind, erkennt man in der Regel nur von außen. Das Grundlegende des Daseins einer geistreichen Frau erfährt man weniger aus dem Besuch in ihrem Salon als aus dem Besuch bei einem Erwerbslosen, ihr Wesen liegt nicht bloß in den
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Tiefen ihrer Seele, sondern auch in den Tiefen der Menschheit, der Duft ihrer liebenswürdigsten Gedanken wie das diskrete Parfüm ihres Interieurs enthält noch etwas vom Gestank der allmorgendlichen Kübelentleerung im Zuchthaus, das diese schlecht gewordene Ordnung mit aufrechterhalten hilft. Auch die Dame selbst ist nicht vor dem Verfall an die Mächte bewahrt, die das Ganze an der Grenze zusammenhalten, selbst wenn diese Mächte, ohne daß sie von ihnen zu wissen braucht, ihr heute dienen. Ein verfehlter Aktienkauf ihres Gemahls genügt. Ein Märchen von der Konsequenz. — Es waren einmal zwei arme Dichter. Schon in den fetten Zeiten hatten sie gehungert, jetzt aber in den mageren, da ein wilder Tyrann für seinen Hof Stadt und Land des letzten beraubte und jeden Widerstand grausam unterdrückte, waren sie im Begriff, ganz zu verkommen. Da vernahm der Tyrann etwas von ihrem Talent, lud sie an seinen Tisch und versprach beiden - erheitert durch ihre geistvolle Unterhaltung — eine beträchtliche Pension. Auf dem Rückweg dachte einer von ihnen an die Ungerechtigkeit des Tyrannen und wiederholte die bekannten Klagen des Volkes. »Du bist inkonsequent«, erwiderte der andere. »Wenn du so denkst, hättest du weiter hungern müssen. Wer sich mit den Armen einig fühlt, muß auch so leben wie sie.« Sein Kamerad wurde nachdenklich, pflichtete ihm bei und lehnte die Pension des Königs ab. Er ging schließlich zugrunde. Der andere wurde nach einigen Wochen zum Hof dichter ernannt. Beide hatten die Konsequenzen gezogen, und beide Konsequenzen kamen dem Tyrannen zugute. Mit der allgemeinen moralischen Vorschrift der Konsequenz scheint es eine eigene Bewandtnis zu haben: den Tyrannen ist sie freundlicher als armen Dichtern. Konfession. - Der Mensch wird gegenwärtig zum Objekt der Kirchen, wenn er ganz ohnmächtig ist: in der Armenpflege, im Hospital dritter Klasse, im Gefängnis. In lichteren Sphären der Gesellschaft hat man wenig Ahnung davon, wie da drunten noch vergangene Gestalten hausen, wie sie da geschäftig sind und Macht haben. Die Frage »Welcher Konfession?« sind nach der Schule bloß noch arme Teufel gewöhnt, sie müssen sich da; auskennen.
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Auch die Friedhöfe sind nach Konfessionen getrennt - eine Frage der Klassifikation von passiven Massen: Menschenmaterial. In einem Zeitungsbericht war das Wort »paritätisch« fett gedruckt. Ich wußte nicht, was da paritätisch, verteilt worden waiund dachte an Dividenden. Da las ich auf der nächsten Zeile: Krüppelheim und verstand sogleich, daß die Einteilung nach Konfessionen gemeint sei - die Einteilung von armen Krüppeln. Welcher Sturz seit den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges! Damals wurden Krüppel im Namen zweier Konfessionen gemacht, heute sind sie beide froh, wenn man sie bei der Heilung zuläßt. Der »leider« stabilisierte Kapitalismus. — Wenn bürgerliche Intellektuelle in den Fragen der revolutionären Theorie auch sonst überall kompetent sein mögen, in Fragen des Zeitpunkts der Revolution sind sie nicht kompetent. Dieser Zeitpunkt hängt mit von dem Willen der Menschen ab. Der Wille aber ist verschieden je nachdem, ob man in der gegenwärtigen Gesellschaft ein geistiges Leben führen darf oder ob einem alles versagt ist und man an ihr zugrunde geht. Ich habe gegenwärtig, in den Jahren 1927 und 1928, von »literarisch radikaler« Seite den Satz, daß der Kapitalismus auf lange hinaus wieder stabilisiert sei, niemals mit dem Ausdruck solcher Niedergeschlagenheit aussprechen hören, wie er etwa die Mitteilung eines persönlichen Mißgeschicks zu begleiten pflegt. Ich glaube entdeckt zu haben, daß häufig das Bewußtsein, mit der Feststellung dieser Stabilität eine lobenswerte Gefaßtheit und einen schönen Weitblick zu beweisen, eine ziemlich gewichtige Kompensation für den Sprechenden bildet. Es gibt ja für uns so viele Kompensationen - mit der Größe des Einkommens nehmen sie zu! Dienst am Geschäft. - Der theoretische Schwindel, dal die profitrafferische Tätigkeit von Generaldirektoren in der Gegenwart eine der Menschheit nützliche Sache sei, prägt sich bis in die kleinsten Züge des praktischen Lebens dieser Herrschaften aus Man muß gesehen haben, mit welcher Wichtigkeit sich diese Groüen zu einer »Sitzung« begeben, man muß den Ton kennen, in dem versichert wird, man habe noch »zu tun«. Mit welcher tiefen inneren Berechtigung besteigt ein solcher Herr den Schlafwagen erster Klasse,
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wenn er zu geschäftlichen »Verhandlungen« fährt! Sogar noch die Erholung, die sich der Vielgeplagte »einmal im Jahre« gönnt, oder die »kleine Zerstreuung« empfangen von der Gewichtigkeit seiner Geschäfte einen Zug von Billigkeit und gerechter Belohnung, ja sie selbst werden sozusagen als notwendige Atempausen zum Dienst am Gemeinwohl. Dabei handelt es sich doch in Wahrheit darum, daß jeder dieser Menschen auf Not und Elend, auf zermürbender und geisttötender Arbeit anderer Menschen sich ein gutes Leben macht, eine elegante Frau und schöne Kinder hält und sich alle Wünsche befriedigt. Wie ist es doch erlogen, daß es gerade auf diese privaten Dinge im Leben der Unternehmer nicht ankomme! Die Behauptung, von einer bestimmten Millionengrenze an raffe der Unternehmer nicht mehr für seinen persönlichen Verbrauch, ist bloße Erfindung. Ob er zehn oder zwanzig Millionen hat, macht sehr wohl einen Unterschied! Die Vergrößerung des Vermögens bedeutet im Gegenteil auf allen Stufen Erweiterung der Lustmöglichkeiten des Besitzers. Der Beichtum als Bedingung von Macht, Unabhängigkeit, Genüssen aller Art, das Kapital als Quelle phantastischer Triebbefriedigung ist der Zweck, um dessentwillen in der Gegenwart der Riesenapparat zur Aufrechterhaltung von Ungerechtigkeit und Elend, Kolonialgreueln und Zuchthäusern funktioniert. Die persönliche Befriedigung der Herren eine Kleinigkeit? Mag sein, um so empörender ist die Existenz der imperialistischen Gesellschaft dieser Kleinigkeit wegen! Die »Wichtigkeit«, das »allgemeine Interesse«, der »Dienst an der Sache«, die Unentbehrlichkeit des »Wirkens«, mit denen sie jeden ihrer Schritte umgeben, dieser aufdringliche Tatbestand hat etwas vom naiven Bild des primitiven Medizinmannes, der mit feierlicher Gebärde den Löwenanteil der Beute auffrißt. Nur ist dieser moderne Zauber noch ungeheuer viel verlogener. Das Ansehen der Person. - Wenn ein alter Bettler an die Tür kommt und erklärt, er habe in seiner Jugend das Radium oder den Erreger der Cholera entdeckt, sei aber durch widrige Umstände heruntergekommen, dann fragt es sich, ob wir naturwissenschaftlich genug gebildet sind, um seine Angaben sofort zu prüfen. Gesetzt, wir glaubten ihm und fänden in dem kurzen Gespräch, von dem früheren Geist sei keine Spur mehr zurückgebliehen. Dann
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erscheint uns das ganze als ein tragisches Schicksal. Werden wir später durch ein Lexikon belehrt, daß der Bettler bloß eine fixe Idee hatte, so verliert der Fall seine Bedeutung. Aber du lieber Gott, was hat sich denn verändert! Es steht da etwas in einem Lexikon, und einige Fachleute verbinden mit dem Radium in ihrem Gedächtnis gewisse Lebensdaten der Curies. Sonst ist doch — besonders wenn der alte Mann bloß einen kleinen Sparren hatte — in Beziehung auf ihn selbst gar nichts verändert. Er hat zwar in seiner Jugend die Entdeckung nicht gemacht, aber vielleicht andere ebenso geistreiche und gelehrte Überlegungen angestellt. Er ist vielleicht ein verkrachter Physikstudent, dessen Untersuchungen bloß durch einen Zufall keine Berühmtheit erlangten. Haben nicht überhaupt die meisten Menschen in ihrer Jugend das Zeug zu großen Entdeckungen? Was bleibt davon übrig, wenn nicht äußere Bedingungen dazukommen, die davor bewahren, alte Bettler zu werden! Nichts als eine Erinnerung, mit der ein solcher sich auf spreizt und die - wenn in der fable convenue der Lexika nichts davon verzeichnet steht — noch nicht einmal auf ihre Wahrheit geprüft werden kann. Ob der Bettler wahr gesprochen oder einer Wahnidee zum Opfer fiel, braucht für die Gegenwart gar keinen Unterschied auszumachen. Alles Persönliche, so wie es jetzt ist, könnte sich decken. Die bewußten Erinnerungen, ja, das gesamte bewußte Ich des Individuums ist an sich schon ein dünner Schleier über seinen jeweils vorhandenen Trieben und Strebungen. Ob dieser sich mit einigen Stellen jenes größeren Gewebes deckt, welches die Geschichtsschreibung hervorbringt, macht für die Existenz des lebendigen Menschen wenig aus. Er kann so arm an Geist und Körper sein wie der alte Bettler, ob er früher einmal, so wie er glaubt, ein Königreich erobert oder in Wirklichkeit Schweine gehütet hat. Die Eitelkeit der Gerippe in den Totengesprächen Lucians auf ihre ehemalige Schönheit und auf ihren Rang in der Welt ist komisch, weil sie sich im Hades befinden. Aber sollte die Grenze, welche das Alter von der Jugend, ja, den neuen Tag von dem zur Neige gegangenen trennt, nicht derselben Art sein wie der Tod? Gewiß läßt die Erfahrung, daß einer früher etwas geleistet, den Schluß zu, es sei auch gegenwärtig noch etwas mit ihm anzufangen; aber dies ist nur eine Wahrscheinlichkeit, der Schluß kann ebenso trügen wie der, welcher aus der früheren Anständig-
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keit eines Menschen seine heutige folgert. Sowohl die Triebe als auch die Begabung als erst recht die Gesinnung eines Menschen sind der Wandlung unterworfen; soweit sie sich nicht erhalten, ist der Gedanke, daß doch das Individuum an sich dasselbe geblieben sei, also die Idee der Einheit der Person, nur ein schwacher Grund dafür, dem. gegenwärtigen Menschen die Taten des früheren zuzurechnen. Oder, um meine Absicht positiv auszudrücken: der Bettler, welcher sich im Irrtum befindet, mag ebensowohl Anrecht auf die Zurechnung der Entdeckung haben wie der Geheimrat, an dessen Brust die Orden dafür glänzen. Menschheit. - Der große Bacon hat es dem Arzt zur Pflicht gemacht, die Qualen der Krankheit nicht bloß dann zu bekämpfen, wenn Linderung zur Gesundheit führt, sondern auch »um dem Kranken, wenn keine Hoffnung mehr besteht, einen sanften und friedlichen Tod zu verschaffen«. Aber in der bisherigen Geschichte hat die Pflicht seit je nur so weit gereicht wie der Glaube, daß ihr Versäumnis sich rächen könnte. Vor dem armen Mann, hinter dem keine Macht steht, zieht sich die Pflicht des Mächtigen in die dunklen Räume zurück, wo er alles nur mit seinem Gott ausmacht, und auf dem Totenbett gleicht der Reiche dem Armen dann in mancher Hinsicht, wenn sein Tod schon sicher ist. Mit dem Tod verliert er ja seine Beziehungen und wird zu nichts. Dies haben die stolzesten Könige Frankreichs an sich erlebt. Soweit der aufgeklärte Arzt nicht aus ökonomischem und technischem Interesse, sondern aus Mitleid dem einsam Sterbenden in den Stunden der letzten Not zu helfen versucht, erscheint er als Bürger einer zukünftigen Gesellschaft. Diese Situation ist das gegenwärtige Bild einer wirklichen Menschheit. Schwierigkeit bei der Lektüre Goethes. — »Wer nie sein Brot mit Tränen aß, wer nie die kummervollen Nächte auf seinem Bette weinend saß, der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.« Von dem Gedicht, in dem dieser Vers vorkommt, hat Goethe selbst gesagt, seine Wirkung erstrecke sich in die Ewigkeit, weil »eine höchst vollkommene, angebetete Königin« . . . »einen peinlichen Trost« aus ihm gezogen habe. Die unausgesprochene Voraussetzung für diesen Trost ebenso wie für die Wahrheit (des Verses
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besteht darin, daß die Personen auch andere Nächte und Tage kennen als die kummervollen. Die Voraussetzung ist eine heitere Existenz auf den Höhen der Menschheit, in der die Trauer so selten ist, daß sie einen edlen Schimmer erhält. Dadurch wird das Verständnis Goethes heute erschwert. »Geld macht sinnlich« (Berliner Spruchweisheit). - Die Liebe der Frau ist für den Ehemann eine schöne Sache. Nichts aber vermag der Liebe einer Frau mehr Abbruch zu tun als geschlechtliche Impotenz des Mannes. Vielleicht hat es Zeiten gegeben, in denen dieser Mangel ein nicht gutzumachendes Übel, Schicksal war. Heute sind sie jedenfalls vorbei: die geschlechtliche Potenz hat ihr Äquivalent. Leidet eine Frau unter der Müdigkeit des Mannes, so reise er mit ihr nach dem schönsten Ort der Welt, miete im besten Hotel ein Appartement und beweise ihr seine Potenz durch den Betrag, den er ausgibt. Geld macht sinnlich — und zwar nicht bloß im Sinn von begehrlich, sondern auch von begehrenswert. Wie die Folgen der geschlechtlichen Impotenz zu Hause die gleichen sind wie die des schlechten Einkommens, nämlich kleinliche, aufreibende Zwistigkeiten, so kann auch die ökonomische Macht unmittelbar an die Stelle der sexuellen treten. Die gegenwärtige Gesellschaft verteilt dieses Äquivalent freilich ebenso blind wie die Natur die angeborenen Fähigkeiten, die es weitgehend ersetzen kann. Das verlassene Mädchen. — Der vulgäre Verstand weist gern auf die »ewig« wiederkehrenden Situationen menschlichen Seins hin; sie würden von dem realen Geschichtslauf nicht berührt wie beispielsweise Geburt, Liebe, Leid, Tod. Sobald man aber solche Situationen an konkreten Fällen erörtert, reduziert sich diese ideologisch brauchbare Behauptung auf ihren abstrakten und nichtssagenden Inhalt. Welch besserer Typus eines solchen Bildes ließe sich ausdenken als das verlassene Mädchen! Hier scheint doch ein Motiv gegeben, das durch die Zeiten hindurch, unter allen möglichen Sprachen und Kostümen, von den primitiven Völkerstämmen über Fausts Gretchen bis zur Tragödie der kleinen Angestellten sich wiederholt. Aber dem ist nicht so. Wenn das Bild des verlassenen Mädchens schon zu einer Reihe von Kulturen wegen der dort herrschenden Verhältnisse wenig paßt, so ist es in der Gegenwart im
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allgemeinen bloß der untergehenden Schicht des Kleinbürgerturas zugeordnet. Zu seinen Voraussetzungen gehört die Möglichkeit der wirtschaftlichen Sicherung durch die Heirat, die Verpönung der außerehelichen Geburt, die Borniertheit der kleinbürgerlichen Mädchenerziehung. Mit dem Fortfall dieser Bedingungen bleibt von jener »ewigen Situation« vielleicht noch die Schädigung des weiblichen Narzißmus, wie bei vielen anderen Gelegenheiten, aber nichts von Gretchens Tragik. Eine Welt wie die gegenwärtige, in der als Pendant zum Schicksal des verlassenen Mädchens das Schicksal erwerbsloser junger Männer, deren verdienende Freundin sie im Stiche läßt, typisch zu werden beginnt, hat nur noch in zurückgebliebenen gesellschaftlichen Schichten Raum für jene verschwindende Figur. In der Großbourgeoisie ist sie kaum noch zu Hause. Setzen wir einigermaßen orientierte großbürgerliche Eltern voraus, dann erscheint die Verlassenheit der Million ärstochtcr als quantite negligeable. Die Damen der Großbourgeoisie goutieren die großen und riskanten erotischen Situationen, denen sie durch ihre gesellschaftliche Stellung überhoben sind, in den kultivierten französischen Romanen des ig. Jahrhunderts bei Balzac und Stendhal, ihre unglücklicheren kleinbürgerlichen Schwestern erleben sie noch in der Realität. Die Erinnerung an solche Gestalten wie das verlassene Mädchen vermag dann, wenn sie vergangen sind, freilich mit. einem Schlage den ganzen gesellschaftlichen Raum, oder vielmehr die gesellschaftliche Hölle, zu erhellen, deren Zeichen sie sind. Anmerkung: Auch das Verschwinden vieler anderer solcher »ewiger« Situationen für die ganze Gesellschaft zeigt sich im Leben der Großbourgeoisie schon im voraus. Ihre komischen Klagen über die »Verarmung« und »Entzauberung« des Lebens finden darin eine groteske Begründung. Man denke nur an den »armen« reichen Jüngling: während der junge Prolet und Kleinbürger in tausend Formen Gelegenheit hat, das »ewige« Gefühl, das » allgemeinmenschliche« Gefühl der Sehnsucht nach der fernen Geliebten kennenzulernen, muß er, dem nicht nur Auto und Flugzeug, sondern auch die Möglichkeit, seine Geliebte überallhin mitzunehmen, geboten ist, hier wie so oft darauf verzichten, diese menschliche Erfahrung richtig auszukosten. \
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Asylrecht. — Früher oder später wird das Asylrecht für politische Flüchtlinge in der Praxis abgeschafft. Es paßt nicht in die Gegenwart. Als die bürgerliche Ideologie Freiheit und Gleichheit noch ernst nahm und die ungehemmte Entwicklung aller Individuen noch als Zweck der Politik erschien, mochte auch der politische Flüchtling als unantastbar gelten. Das neuere Asylrecht gehörte zum Kampf des dritten Standes gegen den Absolutismus, es beruhte auf der Solidarität des westeuropäischen Bürgertums und seinesgleichen in zurückgebliebenen Staaten. Heute, wo das in wenigen Händen konzentrierte Kapital zwar in sich gespalten, aber gegen das Proletariat zur solidarischen und reaktionären Weltmacht geworden ist, wird das Asylrecht immer störender. Es ist überholt. Soweit die politischen Grenzen Europas nicht gerade den Interessendifferenzen von gegnerischen, mehrere Nationen umspannenden Wirtschaftsgruppen entsprechen, fungieren sie fast bloß als allgemeines ideologisches Herrschaftsmittel und als Reklamemittel der Rüstungsindustrie. Das Asylrecht wird vor den gemeinsamen Interessen der internationalen Kapitalistenldasse verschwinden, soweit es sich nicht um Emigranten aus Rußland oder um völkische Terroristen handelt. Hat ein Mensch aber die Hand gegen das Ungeheuer des Trustkapitals erhoben, so wird er in Zukunft keine B.uhe mehr finden vor den Krallen der Macht. Schlechte Vorgesetzte. — Damit sich einer als Vorgesetzter oder gar als Chef den Angestellten und Arbeitern gegenüber frei und selbstverständlich bewegen kann, so, wie es in Ordnung ist, muß er die Beziehungen zwischen sich und den von ihm Abhängigen als selbstverständlich betrachten. Dieses Verhältnis darf ihm nicht wirklich problematisch sein. Sonst ist er gehemmt, und die Untergebenen werden sehr rasch merken, daß er zum Vorgesetzten sich nicht eignet. Seine unausgesprochene Auffassung, daß die anderen ohne gerechten Grund unter schlechteren Lebensbedingungen stehen als er, wird von ihnen in dem Sinn akzeptiert, daß gerade an diesem Vorgesetztenverhältnis etwas nicht klappt. Darunter leidet die Arbeit. Die Menschen fungieren nur dann als gute Lohnarbeiter, wenn der, unter dessen Befehl sie es tun, durch sein ganzes Wesen die Unabänderlichkeit und Zweckmäßigkeit dieses Verhältnisses instinktiv zum Ausdruck bringt. Wer sich aber als Vorgesetzter der
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Unvernünftigkeit des Abhängigkeitsverhältnisses in der Gegenwart, seines Ursprungs aus der veralteten Klassengesellschaft bewußt ist, wer seine eigene Rolle als Kompagnon der Ausbeutung durchschaut, wird mit Recht als unsicher und gezwungen empfunden. Der Psychoanalytiker würde sagen, er bezeuge Schuldgefühle und daher aggressive Tendenzen. Und wirklich unterscheidet er sich ja von seinem gesünderen Kollegen darin, daß ihm das Aggressive seiner Existenz gegenwärtig ist. Es soll Frauen und Töchter großer Unternehmer geben, die den Papa in seinem Büro besuchen, ja die Fabrik besichtigen, ohne das geringste von ihrer mondänen Freiheit einzubüßen. Für diejenigen unter ihnen, die eine leise Hemmung befürchten, hat man jetzt ein treffliches Mittel gefunden: sie haben auch einen Beruf. Dem Schreibmädchen, dessen Vater erwerbslos ist und das morgen unter Umständen selbst auf die Straße fliegt, kann jetzt die Dame ruhig die Hand drücken und sogar »Freundschaft« mit ihr pflegen. »Auch ich tippe jetzt den halben Tag. Ich bin bei meinem Onkel im Büro. Ich verachte die Leute, die nichts arbeiten.« Es ist eine schöne Sache um die Freiheit im persönlichen Verkehr. Der Kapitalismus hat ganz recht, Hemmung und Unsicherheit auf den Index zu setzen. Nicht bloß die Beziehung des Vorgesetzten zum Untergebenen, nein, auch umgekehrt die Beziehung des Arbeiters zum Betriebsleiter, des Dieners zum Herrn und umgekehrt der Dame zur Zofe, des armen Literaten zum Bankier, der Waschfrau zum Golfhelden, des Sanitätsrates zum Armenhäusler — alle diese Beziehungen sollen den Stempel der Heiterkeit und Selbstverständlichkeit an sich tragen. Wenn Menschen verschiedener Klassen zueinander sprechen und sich die Hände drücken, muß man den lebhaften Eindruck haben: alles hat seine Richtigkeit. Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen. - Dieser Spruch aus der Bibel ist ein volkstümlicher Grundsatz. Er müßte lauten: Alle sollen essen und sowenig wie möglich arbeiten. Aber auch das ist noch viel zu allgemein. Die Arbeit zum Oberbegriff menschlicher Betätigung zu machen ist eine asketische Ideologie. Wie harmonisch sieht die Gesellschaft unter diesem Aspekt aus, daß alle ohne Unterschied von Rang und Vermögen - »arbeiten«! Indem die Sozialisten diesen Allgemeinbegriff beibehalten, macheti sie
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sich zu Trägern der kapitalistischen Propaganda. In Wirklichkeit unterscheidet sich die »Arbeit« des Trustdirektors, des kleinen Unternehmers und des ungelernten Arbeiters nicht weniger voneinander als Macht von Sorge und Hunger. Die proletarische Forderung geht auf Reduktion der Arbeit. Sie bezweckt nicht, daß in einer künftigen besseren Gesellschaft einer davon abgehalten werde, sich nach seiner Lust zu betätigen, sondern sie geht darauf aus, die zum Leben der Gesellschaft erforderlichen Verrichtungen zu rationalisieren und gleich zu verteilen. Sie will dem Zwang und nicht der Freiheit, dem Leid und nicht der Lust eine Schranke setzen. In einer vernünftigen Gesellschaft verändert der Begriff der Arbeit seinen Sinn. »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen«, wird aber heute insgeheim gar nicht mehr auf die Zukunft, sondern auf die Gegenwart bezogen. Der Satz verklärt die herrschende Ordnung: er rechtfertigt die Kapitalisten, denn sie arbeiten; er trifft die Ärmsten mit einem Verdammungsurteil, denn sie arbeiten nicht. Der Bourgeoisie gelingt es überall, einen ursprünglich von ihr selbst gefaßten revolutionären, von den Sozialisten in seiner Allgemeinheit festgehaltenen Gedanken mit der reaktionären Moral der herrschenden Klasse zu versöhnen. Aber das Wort zielt auf eine zukünftige Gesellschaft, und die Konsequenz aus ihm für die Gegenwart ist nicht etwa die Heiligung der Arbeit, sondern der Kampf gegen ihre heutige Gestalt. Ohnmacht des Verzichts. - Wenn du zu politischer Arbeit nicht taugst, wäre es töricht zu wälmen, daß dann doch deine persönliche Abkehr von der allgemeinen Ausbeutungsmaschine etwas bedeuten könnte. Deine Weigerung, fortan von der großen Menschenund Tierquälerei zu profitieren, dein Entschluß, Bequemlichkeit und Sicherheit aufzugeben, wird keinem Menschen und keinem Tier ein Leid ersparen. Auch wirksame Nachahmung durch genügend viele andere darfst du dir nicht versprechen; die Propaganda des persönlichen Verzichts, der individuellen Reinheit hat in der neueren Geschichte stets den Mächtigen dazu gedient, ihre Opfer von Gefährlicherem abzuhalten, und ist in Sektiererei verkommen. Die fortschreitende Einschränkung des Elends ist das Ergebnis langer weltgeschichtlicher Kämpfe, deren Etappen durch glückliche
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und unglückliche Revolutionen bezeichnet sind. Zur aktiven Teilnahme daran befähigt nicht das Mitleid, sondern Klugheit, Mut. Organisationskraft; jeder Erfolg enthält die Gefahr furchtbarer Rückschläge, neuer Barbarei, erhöhten Leidens. Fehlen dir jenr Qualitäten, so schaltet deine Hilfe für die Allgemeinheit aus. Die Einsicht in die Unwirksamkeit des individuellen Verzichts begründet oder rechtfertigt aber keineswegs das Gegenteil: Beteiligung an der Unterdrückung. Sie besagt nur, daß deine persönliche Reinheit für die wirkliche Veränderung belanglos ist: die herrschende Klasse wird dir keine Gefolgschaft leisten. Vielleicht aber begibt es sich, daß du trotz des Mangels einer rationellen Begründung die Freude an der Gemeinschaft mit den Henkern verlierst und die Einladung eines harmlosen alten Herrn zur Autofahrt in den Frühling abschlägst, weil man in den Zuchthäusern seiner Klasse einem gleichaltrigen Greis nach dreißig Jahren Zwangsarbeit die Begnadigung mit dem Hinweis verweigert, er könne in der Freiheit keine Arbeit finden und fiele der Armenpflege zur Last. Vielleicht verlierst du eines Tages einfach die Freude daran, auf dem Dachgarten des Gesellschaftsgebäudes spazierenzugehen, obgleich es ein ganz unbedeutendes Faktum ist, wenn du herabsteigst. Die gute alte Zeit. — Der Angriff auf den Kapitalismus ist immer dem Mißverständnis ausgesetzt, als nähme er frühere Gesellschaftsperioden stillschweigend in Schutz. Dies braucht keineswegs der Fall zu sein. Es ist Sache der Geschichtsforschung, Glück und Elend in den verschiedenen Zeiten festzustellen. Wahrscheinlich sind die Spannen des relativ friedlichen und fruchtbaren Zusammenlebens der Gesamtgesellschaft nach Raum und Zeit stark begrenzt gewesen, denn in der bekannten Geschichte war der Druck der Herrenklasse auf die Allgemeinheit mit wenigen Unterbrechungen äußerst grausam. Wer die Macht an empfindlicher Stelle zu treffen wagte, hatte immer den Verlust von Freiheit, Ehre, Leben zu erwarten, wahrscheinlich riß er auch die Seinen: Frau, Kinder, Freunde mit ins Verderben. Immer lag über der Gemeinheit, durch die sich die Macht am Leben hält, ein Schleier; wer ilm zu zerreißen versuchte, war zum Untergang bestimmt. Die Unterdrückung teilt der gegenwärtige Kapitalismus mit früheren Gesellschaftsformen. Wenn auch der Zeit des Abstiegs, in
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der eine Kultur zur Fessel wurde, jeweils eine Epoche des Aufstiegs und der Blüte vorherging, überwiegt doch in der Geschichte, soweit sie die Massen betrifft, das Leid. Die schlechten Seiten des Kapitalismus verbinden ihn mit der Vergangenheit. In der Kunst mag er ihr vielleicht nachstehen, in Lüge und Grausamkeit wetteifert er mit ihr. Seine großen zivilisatorischen Eroberungen aber weisen in die Zukunft. Relativitätstheorie und Pneumothorax stammen aus unseren Tagen, die Hölle von Guyana ist ein Erbe der Väter. Wandlungen der Moral. - Manche radikalen Schriftsteller schenken sich die Theorie. Sie glauben, wenn die grauenvolle Wirklichkeit dargestellt wäre, sei es in Form eines Abhubs aus illustrierten Zeitungen, also als bloße Reihe von »faits divers«, sei es in Gestalt krasser Einzelheiten oder in der Verhöhnung des schlechten Niveaus der reichen Leute, hätten sie schon genug getan. Ihre Schilderungen scheinen als Unterschrift stets den Vermerk zu tragen: »Kommentar überflüssig.« Sie haben wenig vom Umwandlungsprozeß der Ideologie erfahren und meinen, daß Ungerechtigkeit heute immer noch ein Argument gegen eine Sache sei. Sie akzeptieren stillschweigend den Harmonieschwindel vergangener Jahrzehnte, nach dem trotz verschiedener materieller Interessen ein gemeinsames Gewissen die Menschheit eine, und werden daher, anstatt Vorkämpfer einer neuen Realität zu sein, selbst zu Affen einer alten Ideologie. Die Moral, an welche sie appellieren, ist von der imperialistisch gewordenen Bourgeoisie längst abgelegt. Heute mag sie die der Ausgebeuteten sein, soweit es nicht schon gelungen ist, diese selbst mit den neuen moralischen Vorstellungen zu durchdringen. Diese aber verklären die Brutalität. Verantwortung. - Da heißt es immer: welch ungeheure Verantwortung lastet doch auf diesem oder jenem mächtigen Mann, was hängt alles von ihm ab, an wie viele Dinge muß er immer denken! Mitgefühl und Bewunderung mit den armen reichen Leuten geht so weit, daß man beinahe froh ist, nicht an ihrer Stelle zu sein. »Genieße, was dir Gott beschieden, entbehre gern, was du nicht hast, ein jeder Stand hat seinen Frieden, ein jeder Stand hat seine Last.« Haben die Mächtigen denn nicht noch weniger Frieden,
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tragen sie nicht noch mehr Lasten als der kleine Mann, der wenigstens nach der Arbeit mit Frau und Kindern einer relativ sorgenfreien Ruhe pflegt? Vielleicht ist das einmal cum grano salis wahr gewesen. Ich glaube es nicht. Heute jedenfalls ist es Schwindel. Wenn die Verantwortung eines Menschen nicht in der bloßen Tatsache bestehen soll, daß andere von ihm abhängen, sondern daß er möglicherweise die Folgen seiner Handlungen im eigenen Leben wirklich zu spüren bekommt, dann sind die kleinen Leute ungeheuer viel mehr mit ihr belastet als die Mächtigen. Die Nachlässigkeit, welche den Angestellten rasch um seine Stellung bringt, stürzt auch seine Familie ins Unglück. Ihm bieten sich täglich unzählige Möglichkeiten, Fehler, die sein und der Seinen Schicksal unheilvoll bestimmen können, zu begehen. Wie gering sind dagegen solche Möglichkeiten beim Kapitalmagnaten.' Selbst wenn dieser einmal eine verkehrte Entscheidung getroffen hat, wird sie nur selten eindeutig als Dummheit oder Leichtsinn erscheinen und häufig mit dem »Segen der Widerruflichkeit« gesegnet sein, kaum aber auf die Menschen, die er liebt, zurückfallen. Es stehen tausend Wege offen, sie zu reparieren. Auch kann er in schlechter Verfassung, d. h. bei zunehmender Wahrscheinlichkeit von Fehlern, Pausen machen, in denen andere für ihn einspringen, und die Qualität dieser anderen wird um so besser sein, je größer sein Kapital ist. Selbst wenn er sich ganz von den Geschäften zurückzieht, braucht es ihm keinen Nachteil zu bringen. Mit dem Vermögen wächst daher die Macht über andere Menschen, aber nicht die Sorge und Verantwortung; diese wachsen in der kapitalistischen Gesellschaft vielmehr in direktem Verhältnis mit der Ohnmacht und Abhängigkeit vom Kapital. In den Tagen der Mobilmachung und Kriegserklärung sammelten sich abends vor den Palästen der Fürsten und Minister Menschenmassen an, die ehrfürchtig zu den erleuchteten Fenstern aufblickten. »Was müssen diese Geschäftsträger des Weltgeistes jetzt für Gedankenlasten tragen!« Idi dachte schon damals an die realeren Sorgen in den Proletarierhäusern, aus denen die »Helden« kommen sollten. Und was hat sich nach dem Krieg gezeigt, den jene entfesselt haben ? Die Helden sind gestorben, aber die Großen, um deren Interesse der Krieg in Wahrheit sich drehte, haben selbst in Deutschland unermeßlich viel gewonnen. Wo zeigt sich ihre »Ver-
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antwortung«? — Vor Gott, dem Herrn! Der kleine Freiwillige aber, den man zum Krüppel geschossen hat, erfährt jeden Tag, daß die Angst seiner Eltern, ihn ziehen zu lassen, berechtigt war, denn anders hätte er sie vielleicht vor ihrem gegenwärtigen Elend und ihren Demütigungen bewahren können. Er hat seine Verantwortung in der Wirklichkeit zu tragen. Die Verantwortung der kapitalistischen Herren für ihre Taten in Krieg und Frieden behauptet die Religion — die der Ausgebeuteten zeigt sich in der irdischen Praxis. Freiheit der moralischen Entscheidung. — Bei Richard Wagner sind die Personen, die sich zur Schopenhauerschen Moral, zur Entsagung durch Mitleid bekehren, vor der Bekehrung stark und mächtig. Wagner wünscht das Mißverständnis auszuschließen, als bekehrten sich seine Helden aus Schwäche. Was ist das Mitleid eines Menschen schon wert, wenn er überhaupt nicht imstande ist, dreinzuschlagen. Auch der christliche Gott freut sich bekanntlich mehr über einen reuigen Sünder als über tausend Gerechte. Buddha war ein Königssohn - was wäre es für einen Paria Besonderes gewesen, ein asketisches Leben zu führen: er hat ja sowieso nichts zu essen! Buddha hielt ganz konsequent die niederen Kasten zunächst von der Mönchsgemeinde fern. Ins Bürgerliche übersetzt bedeutet dies alles, daß die Möglichkeit, moralisch zu sein, eine von der sozialen Geltung abhängige Variable darstellt. Wer selbst zu den Elenden gehört, ist in doppelter Weise vom Problem der Moralität ausgeschlossen. Erstens ist es für ihn keine »Frage«, sich mit dem Leid zu identifizieren, das »tat twam asi« angesichts der leidenden Kreatur ist für ihn keine »Erkenntnis«, sondern ein Faktum. Angesichts des Reichen dagegen gilt für den Armen der umgekehrte Satz: »Das bist du nicht.« Zweitens hat er nichts, auf das er verzichten könnte. Also: Moral und Charakter sind weitgehend Monopole der herrschenden Klasse. Ihren Mitgliedern steht die moralische Entscheidung in ganz anderer Weise als den Elenden frei. Arbeitsfreude. — Wenn ich weiß, daß einer gern oder widerwillig arbeitet, weiß ich noch nichts von ihm. Wer mit Begeisterung zehn Stunden Geschäftsbriefe stenographiert, die ihn nichts angehen, Buchhaltung macht oder am laufenden Band steht, ist — wenn es
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unmittelbar aus Werkfreude und nicht aus entfernten Motiven geschieht — kein erfreulicher Mensch. Wer einen geistigen Beruf hat oder gar unabhängig ist und abwechseln darf, gehört zu den Auserwählten. Es kommt vor, daß Unternehmer in besonders angespannten Zeiten, z. B. wenn die Bilanz ihres Profits gezogen wird, länger in den Büros bleiben als die Mehrzahl ihrer Angestellten. Dann pflegt der Chef zu sagen: »Die Angestellten haben keine Freude an der Arbeit. Ich verstehe das nicht. Ich könnte die ganze Nacht durcharbeiten, ohne müde zu werden.« Diese Gesinnung haben die Unternehmer nicht bloß in solchen Ausnahmezeiten, sondern im Grunde genommen das ganze Jahr hindurch. Die Angestellten können es ihnen nachfühlen. Anmerkung: In einer sozialistisclien Gesellschaft wird die Freude nicht aus der Natur der zu leistenden Arbeit hervorgehen. Dies anzustreben ist ganz reaktionär. Die Arbeit wird vielmehr deshalb gern verrichtet werden, weil sie einer solidarischen Gesellschaft dient. Europa und das Christentum. - Die Kluft zwischen den moralischen Maßstäben, welche die Europäer seit Einzug des Christentums anerkennen, und dem wirklichen Verhalten dieser Europäer ist unermeßlich. Daß es keine Schandtat gibt, welche die herrschende Klasse nicht als moralisch hinstellte, wenn sie ihren Interessen entspricht, versteht sich von selbst. Zwischen der Tötung von Millionen junger Leute im Krieg bis zum infamsten Meuchelmord am politischen Gegner gibt es keine Sdiurkerei, die man mit dem öffentlichen Bewußtsein nicht aussöhnte. Auch daß die beherrschten Klassen, von den fortgeschrittensten Gruppen abgesehen, der Verlogenheit ihrer Vorbilder folgen, ist zwar schwer verständlich, aber doch hinreichend allgemein bekannt. Besteht doch die Abhängigkeit dieser Klassen nicht allein darin, daß man ihnen zuwenig zu essen gibt, sondern daß man sie in einem erbärmlichen geistigen und seelischen Zustand hält. Sie sind die Affen ihrer Gefängniswärter, beten die Symbole ihres Gefängnisses an und sind bereit, nicht etwa diese ihre Wärter zu überfallen, sondern den in Stücke zu reißen, der sie von ihnen befreien will.
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All dieses ist bekannt, so bekannt, daß man beinahe der allgemeinen Suggestion zum Opfer fällt, nach der die wiederholte Feststellung des Zustands abgeschmackter erschiene als seine endlose Dauer. Wirkt doch die kritische Regel, das Alte nicht zu oft zu wiederholen, heute als ein Umstand mehr, um die Literatur davon abzuhalten, das Wichtigste auszusprechen, denn wie öde veraltete Weisheiten sonst abgeleiert werden mögen, das Salz der echten Verachtung enthält der kritische Hinweis auf die Bekanntheit eines mündlich oder schriftlich Dargestellten doch nur dann, wenn es sich über das Bestehende gerade dort empört, wo es am niederträchtigsten ist. Weniger bekannt ist schon der Umstand, daß nicht bloß die kleinen literarischen und wissenschaftlichen Größen der Klassengesellschaft, sondern auch die besonders Großen, soweit sie mit ihr im Einklang stehen, dort, wo die Anwendung ihrer Ansichten auf die Wirklichkeit zu ziehen wäre, notfalls jede wissenschaftliche und ästhetische Genauigkeit oder vielmehr die einfachste Anständigkeit in den Wind schlagen, um, koste es, was es wolle, den Konflikt mit der Gesellschaft zu vermeiden. Damit ist beileibe nicht gesagt, daß es ihnen bewußt wäre; ihr Gewissen ist sicher rein geblieben, aber was bedeutet das auch! Die Meister der feinen Methodik, der differenziertesten sprachlichen und logischen Apparatur, die Könige der Dichtkunst, Philosophie und Wissenschaft haben bloß gerade dort nicht aufgepaßt, wo ihre Grundsätze den Elenden zugute gekommen wären. Vom Dichter des Faust, der die Todesstrafe für Kindesmörderinnen beibehalten wissen wollte, von Hegel, der — mehr im Einklag mit seinen Grundsätzen als mit den Tatsachen - das liberalistische England bedauert, weil die Macht des Königs gegen das Parlament zu gering sei, es aber der Theorie und Praxis nach zum Vorbild empfiehlt, wenn es gilt, »die Armen ihrem Schicksal zu überlassen und sie auf den öffentlichen Bettel anzuweisen«, von Schopenhauer, dem Philosophen des Mitleids, der von den Versuchen, die Existenz der Arbeiterklasse erträglich zu gestalten, verächtlich spricht, aber »sogar die Großhändler« der »Führerklasse« beizuzählen wünscht, die »von gemeinem Mangel oder Unbequemlichkeit befreit bleiben« müsse —, von diesen Größen der Vergangenheit geht eine lange Reihe bis hinunter zu jenen Kreaturen, welche in ihren Büchern bewußt das pure Gegenteil von
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dem sagen, was sie insgeheim denken, um dann in der Verlegenheit »autre chose la litterature, autre chose la vie« zu bekennen und noch damit großzutun, wenn man sie in die Enge treibt. Aber, wohlgemerkt, nicht die Differenz zwischen den Lehren und dem Leben der Dichter und Denker ist hier entscheidend - sie ist interessant genug, aber in diesem Zusammenhang zu kompliziert, um Erwähnung zu finden -, sondern die Inkonsequenz auf ihrem eigenen Gebiet. Es mag sein, daß logische Widersprüche ein Werk nicht sprengen müssen, sondern zu seiner philosophischen Tiefe gehören. Dies ist selten der Fall — der hier bezeichnete Widersprach gehört aber nicht zur literarischen, sondern zur moralischen Tiefe seiner Autoren, er haftet ihrem Werk als Makel an. auch wenn es sonst Bewunderung verdient. Noch weniger als diese literarischen Tatbestände ist die alltägliche, zur Selbstverständlichkeit gewordene Lüge bekannt, die ein Wesensmerkmal des gegenwärtigen privaten Lebens ist. Daß die Christen vor fremdem Unglück heiter bleiben, daß sie nicht Abhilfe schaffen, wenn Ohnmächtigen Unrecht geschieht, sondern im Gegenteil selbst Kinder und Tiere quälen, daß sie ruhig an den Mauern vorbeigehen, hinter denen sich zu ihren Gunsten Not und Verzweiflung abspielt, daß es immer ein Unglück ist, in ihre Macht gegeben zu sein - und daß sie bei all dem als ihr göttliches Vorbild Tag für Tag ein Wesen anbeten, das sich ihrer Überzeugung nach für die Menschheit geopfert hat: diese Lüge kennzeichnet jeden Schritt des europäischen Lebens. Ich habe einmal gesehen, daß sich besonders Reiche und dahei auch besonders Fromme unter ihnen an einer der schönsten Stellen Europas, an einem strahlenden Tag, im Angesicht blütenbedeckter Berge und des tiefblauen Meeres, damit vergnügten, Tauben, die bis zu diesem Augenblick in dunklen Kästen gehalten waren, aus den Kästen aufscheuchen zu lassen, um die vom Licht Geblendeten, in den ersten Sekunden der Freiheit Taumelnden und Flatternden zu erschießen. Fiel ein Tier halb- oder ganz tot auf den umgebenden Rasen, so ergriff es ein dressierter Hund, flüchtete es sich verwundet auf die nahen Felsen, so kletterten ihm Burschen dahin nach. Hatte es das seltene Glück, unverletzt aufs Meer zu entkommen, so flog es nach kurzer Zeit in vertrauendem Instinkt und ohne das Ganze zu begreifen, zum Ausgangsort zurück und diente
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am nächsten Morgen den Spielen aufs neue. Dies ereignete sich Tag für Tag. Der beste Schütze wurde vom Fürsten des Landes feierlich belohnt. Einen Zuschauer fragte ich, ob die Taube das Symbol des heiligen Geistes sei. »Nein, nur die weiße«, erwiderte er. Aber am gleichen Abend wurde im Kino eine eigens für den Film unternommene Expedition in den Dschungel gezeigt. Die Szenen waren mit humoristischem Text versehen. Ein lebendiges Lamm wurde in eine Falle gebunden, um den Leoparden anzulocken. Er kam, zerriß das Lamm und wurde erlegt. Besonders die letzte Überschrift: »Jetzt geht Herr Leopard nichtmehr spazieren«, erweckte Lachen. Aber das Lamm ist ein religiöses Symbol. Die Wilden pflegen ihre heiligen Tiere, die Totemtiere, für gewöhnlich nicht zu fressen. Die Christen verleihen ihnen Symbolcharakter, sie verehren nicht sie selbst, sondern in ihnen oder durch sie die Gottheit, die Tiere werden daher in Wirklichkeit nicht geschont. Sie haben von der Sublimierung unserer Vorstellungen der Gottheit nichts profitiert. In dieser Kultur ist es lebensfremd, ihre Religion ernst zu nehmen, wie es auch lebensfremd ist, die nichtreligiösen Werte, Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit, ernst zu nehmen. Man muß die Anerkennung dieser Werte bloß als facon de parier verstehen, bloß den Mächtigen achten, aber den Armen und Ohnmächtigen in der Religion, d. h. im Geiste, verehren und in Wirklichkeit mit Füßen treten, man muß das Lamm auf die weiß-gelbe Fahne sticken und es im Dschungel für Kinobesucher in der Dämmerung auf den Tod warten lassen, den Herrn am Kreuze anbeten und ihn lebendig aufs Schaffott schleppen, man muß jedenfalls den verfolgen, der das Christentum mit den Lippen angreift, und ihn abhalten, seine Verwirklichung zu betreiben. Die Feststellung der Kluft zwischen den moralischen Maßstäben der Christen und ihrem wirklichen Verhalten wirkt dagegen als eine lebensfremde, absonderliche, sentimentale, überflüssige Behauptung, die nach Belieben als erlogen oder als sattsam bekannt gilt und mit welcher man vernünftige Europäer jedenfalls verschonen sollte. In diesem Punkt pflegen Juden und Christen einig zu sein. Das Kompromiß zwischen der Verwirklichung der Religion und ihrer unzweckmäßigen Abschaffung ist die Aussöhnung mit Gott durch die alles umspannende Lüge.
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Die Sorge in der Philosophie. - Sorge (Faust II, 5. Akt): »Hast du die Sorge nie gekannt?« Deutscher Philosoph 1929: »Einen Augenblick! Ja. Die Einheit der transzendentalen Struktur der innersten Bedürftigkeit des Daseins im Menschen hat die Benennung >Sorge< erhalten.« Gespräch über die Reichen. — A.: Wenn das Geld keine Rolle spielt, sind nicht bloß die privaten Vereinbarungen, sondern auch die juristischen Formalitäten bei der Ehescheidung keine große Angelegenheit. Durch eine kleine Schiebung bringt man die Sache vor einen Richter, der keine großen Geschichten macht. Es gibt keine Aufregung, keine wiederholten Vorladungen, keine endlosen Vertagungen. Das Finanzielle hat man schon vorher untereinander geregelt und lebt inzwischen mit Freund oder Freundin ruhig zusammen. Für die armen Leute ist die Scheidung dagegen eine Tortur, denn es geht ums Geld. Weil der Schuldiggesprochene den wirtschaftlichen Nachteil hat, müssen beide nach Beweisen gegeneinander suchen, die Verwandten und Bekannten werden hineingezogen oder mischen sich selbst hinein, alles Häßliche wird an die Öffentlichkeit gezerrt, es ist eine Hölle. Und dabei müssen sie unter Umständen bis zur Scheidung noch zusammenleben, die Kinder sind da, täglich gibt es Auftritte. Häufig aber kann man überhaupt nicht vor Gericht gehen, weil wegen der Armut von vorneherein keine Aussicht auf eine erträgliche Lösung besteht. Dann ist das Leben kurzerhand verpfuscht. B.: Wie leichtfertig du daherredest! Du weißt doch selber, welche Ehetragödien sich in reichen Familien abspielen. Oft genug enden sie mit Selbstmord. Auch daß dabei öffentlich keine schmutzige Wäsche gewaschen würde, ist unwahr. Häufig spricht die Stadt, jedenfalls die »Welt« von einer solchen Sache. Die reichen Leute müssen genauso leiden wie die armen. Gerade in diesen Fällen zeigt es sich, wie wenig das Wirtschaftliche mit dem inneren ! .eben der Menschen zu tun hat. Offenbar machst du dir gar keine Vorstellung davon, wieviel seelisches Elend es in diesen beneideten Kreisen gibt. Weil sich die Szenen hinter verschlossenen Türen oder überhaupt weniger geräuschvoll abspielen, glaubt man, daß es sie nicht gäbe. Du siehst die Welt viel zu einfach. A.: Natürlich müssen auch die Reichen leiden. (Sie haben immer-
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hin mehr Gegengifte.) Aber diese allgemeine Wahrheit habe ich ja gar nicht bezweifelt, ich wollte bloß feststellen, daß die Ehekonflikte in der Mehrzahl der Fälle infolge der Armut zu Torturen werden, während der Reiche in einer für die Armen unerreichbaren Weise damit fertig werden kann. Weil du dies nicht leugnen kannst, führst du eine Allgemeinheit ins Feld. Sobald man auf eine der unzähligen Segnungen, die das Geld mit sich bringt, hinweist, suchst du und die Deinen die Bedeutung der Sache, mag sie auch sonnenklar sein, zu verwischen. In diesem Fall ist es dir nicht recht, daß die Wirtschaft bis in die geheiligten innerseelischen Bezirke hineinspielt, aber genau dies ist die Wahrheit. Mag sein, daß auch deine Millionäre unter Eheschwierigkeiten seufzen, neun Zehntel meiner Hungerleider wären jedenfalls wenn nicht aus ihren Eheschwierigkeiten zu befreien, so doch darüber zu trösten, wenn sie mit ihnen tauschen dürften. Im übrigen solltest du das eine längst gemerkt haben: ich klage den Genuß nicht an. Die Schande dieser Ordnung liegt nicht darin, daß es einigen besser, sondern daß es vielen schlecht geht, obgleich es allen gut gehen könnte. Nicht daß es Reiche, sondern daß es angesichts der menschlichen Fähigkeiten heute Arme gibt, spricht ihr das Urteil. Das zwingt zur Vergiftung des allgemeinen Bewußtseins durch die Lüge und treibt diese Ordnung zum Untergang. Dankbarkeit. - Weitaus die meisten wirksamen Wohltaten vermögen im kapitalistischen System nur diejenigen zu erweisen, die viel Geld oder überhaupt Macht haben. Diese sind bewußt oder unbewußt an der Aufrechterhaltung dieser Eigentumsordnung interessiert. Dankbarkeit ist eine schöne Eigenschaft. Es verträgt sich schlecht mit ihr, den zu enttäuschen, der einem geholfen hat. Bedenkt man, daß Förderung, Hilfe, Wohlwollen in den weitaus zahlreichsten Fällen von den Reichen selbst oder von ihren mit der Aufrechterhaltung des Systems betrauten Funktionären erwiesen werden, so versteht man, warum ein nach vorwärts gerichtetes Verhalten, der Angriff und die Kritik gegen die herrschende Gesellschaftsform vor der Welt nicht bloß schädlich, sondern in den meisten Fällen auch moralisch häßlich erscheint. Um diesen Tatbestand ganz zu ermessen, muß man sich daran erinnern, daß die kritische und revolutionäre Einstellung ja nicht bloß in der Teil-
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nähme an Aktionen, sondern auch in der Annahme und Verkündigung bestimmter, gewöhnlich unbeliebter Theorien auf den verschiedensten Gebieten, ferner in der Auswahl des persönlichen Verkehrs, in den Sitten, in unzähligen kleinen Zügen des Lebensstils zum Ausdruck kommt. Überall unterscheidet sich der, dem es auf Verbesserung der menschlichen Verhältnisse ankommt, von dem gewünschten Durchschnitt, überall stößt er die Menschen vor den Kopf. Alle, die ihm Freundlichkeiten und Erleichterungen erweisen, werden immer aufs neue von ihm enttäuscht. Wer ihm hilft, muß erwarten, Ärger von ihm zu ernten, sofern er ihm nicht gegen jede Regel einmal gleicht. Der Fortschritt. — Der Munitionsfabrikant, sein Politiker und sein General erklären: »Es wird immer Kriege geben, solange die Welt besteht, es gibt keinen Fortschritt.« Dabei ist erstens der Wunsch Vater des Gedankens, und im übrigen soll diese Überzeugung auch bei den Massen erhalten werden. Das ist sehr verständlich - gleichsam offene, ehrliche Verdammung. Aber die literarischen Diener der Herrschaften haben auch noch die Unverschämtheit, mit dei Miene unparteiischer und um alle theoretischen Schwierigkeiten wissender Männer die Frage zu erheben: »Was heißt denn Fortschritt? Das Maß des Fortschritts kann doch nur die Annäherung an die Verwirklichung irgendeines einzelnen und relativ zufälligen Wertes sein. Unter einem solchen Gesichtspunkt die ganze Geschichte betrachten, hieße aber etwas Relatives verabsolutieren, etwas Subjektives hypostasieren, kurz, die Enge und Einseitigkeit in die Wissenschaft tragen.« Aus ihrer Wut gegen den sozialistischen Kampf um eine bessere Welt, der seine Hoffnung aus den Resultaten der früheren Kämpfe, vor allem aus den Revolutionen der letzten Jahrhunderte schöpft, machen sie dann ihre sogenannte Geschichtsphilosophie. Als ob es nicht klar wäre, welcher Fortschritt von den Sozialisten gemeint und von der Reaktion theoretisch und praktisch bekämpft wird: die Verbesserung der materiellen Existenz durch eine zweckmäßigere Gestaltung der menschlichen Verhältnisse! Für die Mehrheit der Menschen, ob sie es weiß oder nicht, bedeutet diese Verbesserung keineswegs bloß die Verwirklichung eines relativ zufälligen Werts, sondern das Wichtigste auf der Welt. Mag die Geschichte auf weite Strecken in dieser Hinsicht
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stagnieren oder zurückgehen, mag die Verschleierung dieses Tatbestands in den letzten hundert Jahren oft zum ideologischen Täuschungsmittel der Massen gebraucht worden sein, trotzdem ist die Rede vom Fortschritt klar und berechtigt. Wenn die Behauptung, daß unter ihrer Herrschaft ein Fortschritt sich vollziehe, im Munde der Herrschenden seit langem eine Lüge war, von der ihre Literaten heute selbst abrücken, so ist es offenbar, daß sie den Begriff aufgeben möchten, urn die Herrschaft zu erhalten, denn ebenso wie die anderen bürgerlichen Illusionen, wie Freiheit und Gleichheit, wirkt er heute kraft der geschichtlichen Dialektik nicht mehr als ideologische Verteidigung, sondern als Kritik an den vorhandenen Zuständen und als Aufmunterung zu ihrer Veränderung. Übrigens hängt im gegenwärtigen Augenblick von diesem Fortschritt im materialistischen Sinn, also von einer sozialistischen Neuorganisation der Gesellschaft, nicht bloß das nächste und unmittelbar erstrebte Ziel einer besseren Versorgung der Menschheit mit dem Notwendigsten ab, sondern auch die Verwirklichung aller sogenannten kulturellen oder ideellen Werte. Daß der gesellschaftliche Fortschritt nicht stattfinden muß, hat in der Tat seine Richtigkeit, daß er nicht stattfinden kann, ist eine plumpe Lüge, daß es aber einseitig wäre, die Geschichte der Menschheit an dem Maßstab zu messen, wieweit sie ihren Mitgliedern ein erträgliches Dasein bietet, ist wirklich bloß philosophisches Geschwätz. Anmerkung: Der gesellschaftliche Fortschritt ist jeweils eine historische Aufgahe, aber keine m}'stische Notwendigkeit. Daß der Marxismus die Theorie der Gesellschaft als Theorie der Wirklichkeit erklärt, ist sehr verständlich. Die Massen, die unter der veralteten Form der Gesellschaft leiden und von ihrer rationellen Organisation alles erwarten, haben wenig Sinn dafür, daß ihre Not unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit eine Tatsache neben vielen anderen und die Betrachtung der Welt aus diesem Gesichtspunkt eben bloß ein Gesichtspunkt ist. Wie sich um den einzelnen Menschen für ihn selbst die Welt zu drehen scheint, wie sein Tod für ihn mit ihrem Untergang zusammenfällt, so ist die Ausbeutung und die Not der Massen für sie die Not schlechthin, und die Geschichte dreht sich um die Verbesserung ihrer Existenz. Aber die Geschichte muß sich nicht danach richten, es sei denn, sie werde gezwungen.
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Der Idealismus des Revolutionärs. — Die Auffassung, der Marxismus propagiere einfach die Befriedigung von Hunger, Durst und Geschlechtstrieb des Individuums, läßt sich keineswegs durch die Behauptung widerlegen, daß er doch viel feiner, edler, tiefer, innerlicher sei. Denn die Empörung, Solidarität, Selbstverleugnung ist ebenso »materialistisch« wie der Hunger; der Kampf um die Verbesserung des Loses der Menschheit schließt Egoismus und Altruismus, Hunger und Liebe als natürliche Glieder von Ursachenketten ein. Freilich: die materialistische Theorie besitzt keinen logischen Beweisgrund für die Hingabe des Lebens. Sie bläut den Heroismus weder mit der Bibel noch mit dem Rohrstock ein, an die Stelle der Solidarität und der Erkenntnis von der Notwendigkeit der Revolution setzt sie keine »praktische Philosophie«, keine Begründung des Opfers. Sie ist vielmehr selbst das Gegenteil jeder solchen »idealistischen« Moral. Sie befreit von Illusionen, entschleiert die Realität und erklärt das Geschehen. Logische Beweisgründe für »höhere« Werte hat sie nicht, aber ganz gewiß auch keine Gründe dagegen, daß einer unter Einsatz des Lebens mithilft, die »niederen« Werte, d. h. ein materiell erträgliches Dasein für alle zu verwirklichen. Der »Idealismus« beginnt gerade dort, wo dieses Verhalten sich nicht mit einer natürlichen Erklärung seiner selbst begnügt, sondern nach der Krücke »objektiver« Werte, »absoluter« Pflichten oder sonst irgendeiner ideellen Rückversicherung und »Heiligung« greift, also dort, wo man die Umwälzung der Gesellschaft von der Metaphysik abhängig macht — anstatt von den Menschen. Die Person als Mitgift. — Der Anteil eines Menschen an den materiellen und geistigen Kulturgütern ist in der Gegenwart keineswegs durch seine Mitarbeit am gesellschaftlichen Lebensprozeß bedingt. Diese Bedingung besteht vielmehr nur für den, der nichts hat: er muß arbeiten, sonst darf er nicht leben. Wenn der Millionär arbeitet, geschieht es freiwillig, aus »höheren« Beweggründen, aus »edleren« und differenzierteren Ursachen, aus Charakter. Ob jemand in der einen oder anderen Lage ist, wird durch kein sinnvolles Gesetz bestimmt. Es ist bloße Tatsache, so wie es Tatsache ist, wer bei einem Sturmangriff von den Geschossen getroffen wird und wer weiterleben darf. Zwischen dem nicht einmal mit irgend-
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einer Geschicklichkeit ausgerüsteten »Ungelernten «und dem Trustherrn gibt es zahllose Stufen. Auf jeder höheren vermindert sich der Zwang zur Arbeit als Voraussetzung jeden Anspruchs, und außerdem nimmt die Annehmlichkeit der möglichen Arbeit, ihre befriedigende Eigenart, ihr Bildungswert für den Menschen zu. Diese Beschaffenheit der Gesellschaft hat zur Folge, daß die persönlichen Beziehungen merkwürdig verschieden sind. Ein Reicher bringt in eine Freundschaft oder in ein Liebesverhältnis sich selbst als einen vollen und freien Menschen ein. Ein Armer muß sogar die Gewährung des nackten Lebens, die Anerkennung, daß er ein richtiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft und kein Lump sei, stets aufs neue durch harte Mitwirkung am gesellschaftlichen Lebensprozeß erringen — was dazu noch häufig unmöglich ist. Er ist gebunden, er gehört sich viel weniger als der Reiche. Das Geschenk, das jemand durch Hingabe der eigenen Person einem geliebten Wesen machen kann, ist daher verschieden. Es unterscheidet sich nach der sozialen Stellung dessen, der es bringt. Außerdem aber auch nach der Stellung dessen, welcher es empfängt. Für den kleinen Mann enthält jede menschliche Beziehung mit seinesgleichen die Gefahr weiterer Entbehrungen und doppelte Arbeit. Schenkt er einer Frau aus der eigenen Klasse seine Liebe, so ist sein bescheidenes Leben durch weitere Einschränkung bedroht, die Beziehung eines Kapitalisten zu derselben Frau bietet diesem Gelegenheit zur Ausübung von Großmut und Vorurteilslosigkeit. Er läuft höchstens Gefahr für seine Eitelkeit: verbindet er sich mit Leuten aus der Unterklasse, so könnten sie ihn am Ende wegen seiner Stellung anstatt wegen seiner Seele schätzen. Das pflegt ihm peinlich zu sein. Die Klassengrundlage der Gesellschaft verfälscht unerkannt auch die Liebe. »Greuelnachrichten«. — Erfährt ein braver Bürger um 1930, daß ein von reinen Absichten geleiteter Mensch in seinem eigenen Land oder sonst irgendwo in der Welt von einer barbarischen Soldateska ergriffen, gemartert oder getötet worden sei, dann empört er sich meistens nicht über diesen Vorfall, sondern er wird dem Argwohn Ausdruck geben, daß diese Mitteilung aller Wahrscheinlichkeit nach übertrieben sei. Erfährt er weiter unwiderleglich genau, solches geschehe gestern, heute und morgen mit furchtbarer Regel-
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mäßigkeit, es gehöre notwendig zum System in seiner gegenwärtigen Phase hinzu, wird er ferner über den Zusammenhang der imperialistischen Weltpolitik mit den Zuchthäusern in Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Polen, mit dem Terror in den Kolonien unterrichtet, dann gerät er wirklich in leidenschaftliche Wut — aber nicht etwa gegen Urheber und Vollstrecker der unmenschlichen Taten, sondern gegen die, welche sie dem Dunkel entreißen. Wo um des nackten Profites willen die Träger der Menschlichkeit und des Geistes ganzer Länder ermordet, Gesellschaftsklassen in Schrecken und Verzweiflung gehalten, Völker aufs schmählichste unterjocht, ja ausgerottet werden, da verwandelt sich der bürgerliche Laie in einen kritischen Historiker peinlichster Genauigkeit, er fordert, trotz der modernen Abneigung gegen Kriterienfetischismus, Akribie in der Erkenntnis, er proklamiert im Gegensatz zur sonstigen Verhimmelung der Intuition genaue Feststellung der Einzelheiten als Wesen der Forschung und führt angesichts des vergossenen Blutes Klage gegen die einseitige Historie, gegen den für die Verfolgten parteiischen Bericht, gegen die Anstifter, aber nicht die Anstifter des Greuels, sondern gegen die Kameraden, die Partei, die Ideen jener, die von ihm betroffen sind, und am Ende gegen die Opfer selbst. Denn dieser einfache, harmlose, normale, sachliche, gut geratene liebenswürdige Herr, mit dem du da sprichst, erschrickt nur dann über den Tod im Bürgerkrieg, wenn der Tod nicht zum organisierten Schrecken seiner eigenen Klasse gehört, er ist nur dort leichtgläubig, wo es gilt, die Wut gegen das Proletariat zu schüren, er wird zum Menschen nur, wenn es einen Zaren und eine russische Oberklasse zu beweinen gilt, für die der Weltkrieg eine schlechte Spekulation gewesen ist. Der Arglose hält es in dieser Welt notwendig mit den Henkern, und dementsprechend reagiert auch das allgemeine Bewußtsein, die Schule, die Zeitung, die Wissenschaft, kurz der objektive Geist in seinen Funktionen und Funktionären — beileibe nicht mit heuchlerischer Überlegung — niemand braucht zu lügen -, sondern aus ehrlichem Instinkt. Zu Goethes Maximen und Reflexionen. — »Man kennt nur diejenigen, von denen man leidet.« Der Anwendung seiner Reflexion auf die gesellschaftlichen Klassen hätte Goethe sicher widerspro-
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chen, und doch trifft sie auf das Kapitalverhältnis zu. Indem die Proletarier unter der Kapitalistenklasse leiden, wird auch das menschliche Wesen dieser Herren von den Proletariern entschieden besser verstanden als von ihrem persönlichen Freundeskreis. Die Proletarier kennen die Unternehmer nur grob und einseitig, aber diese eine Seite ist die wichtigere, sie ist ganz ernst. Daher kommt es, daß die primitive Psychologie, die sich der Arbeiter von seinem Unternehmer bildet, der Gesichtspunkt des Fabriksaals, richtiger zu sein pflegt als die Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie. Wie gesagt hätte Goethe diese Deutung abgelehnt. »Mißgunst und Haß beschränken den Beobachter auf die Oberfläche«, heißt es in den gleichen Sprüchen, wo auch die obige Reflexion zu finden ist. Aber welche Folgen sollen aus diesem Satz gezogen werden, wenn das Fortbestehen einer Gesellschaft und der in ihr herrschende Typus Mensch ein Unglück für die Entwicklung der Menschheit geworden sind? Verkehren sich dann nicht die Begriffe in ihr Gegenteil, so daß die schlechte Oberfläche zum Kern und die Mißgunst hellsichtig wird? »Die Mängel erkennt nur der Lieblose . ..«, sagt Goethe selbst. Wenn nun aber die Mängel zum Wesen gehören ? — Goethes Politik hat sein Werk an manchen Stellen beeinträchtigt. Alles Phantasieren darüber, was er heute täte, ist müßig. Jedenfalls hat sein Blick zuweilen eine Kraft erreicht, welche auch die gegenwärtige Gesellschaft noch erhellen kann. »Manistnur eigentlich lebendig, wenn man sich des Wohlwollens anderer freut.« Das Leben in der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus ist demnach für die Mehrzahl der Menschen - der Tod. Die neue Sachlichkeit. - Das »Konkrete« ist Mode geworden. Aber was versteht man unter diesem Konkreten! Jedenfalls nicht das, was die Wissenschaften seit einigen hundert Jahren erforschen. Im Gegenteil! Den Wissenschaften schreibt man, unter dem Beifall ihrer bourgeoisen Vertreter, nur noch eine sehr untergeordnete Bedeutung für die Erkenntnis zu. Nicht auf die kausalen Zusammenhänge zwischen den Dingen soll es ankommen, nicht die Beziehungen will man kennenlernen, sondern gerade die Sachen abgesehen von den Beziehungen, sie selbst, ihre Existenz, ihr Wesen
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steht in Frage. Die Malereien der neuen Sachlichkeit, auf denen sauber von ihrer Umgebung abgehobene Gegenstände gemalt sind, lassen dieses Bemühen besonders gut erkennen. Sie sind nicht angekränkelt von den Finessen des französischen Impressionismus, die sich wesentlich aus der malerischen Einbeziehung des verbindenden Mediunis ergaben. Die allerorts in der Wissenschaft angestellte »Synthese« will gedankliche Verbindung von ursprünglich distinkt Erschautem sein - nicht Nachzeichnung der verschlungenen raum-zeitlichen Beziehungen in der Wirklichkeit. So gibt es in der Gegenwart auch eine Lehre vom Menschen. »Der Mensch« selbst, sein »Wesenhaftes« wird da beschrieben, sehr entschieden die Unterschiede seines Wesens gegenüber dem aller anderen Lebewesen festgestellt und schließlich, auf Grund solcher abgehobener Bestimmungen, seine Stellung in der Stufenordnung des »Kosmos« angezeigt. Diese neuartige, als Sachlichkeit drapierte Abstraktheit der Wissenschaft, die sich gegen den alten Formalismus so hochmütig als »Konkretheit« aufführt, zeigt große Ähnlichkeit mit dem Verhalten, das in der guten Gesellschaft von jedem »anständigen« Menschen gefordert wird. Ich soll nicht den wirklichen Beziehungen der Menschen nachspüren, keine die Realität betreffenden Vergleiche anstellen und Ursachenreihen entdecken. Vielmehr soll ich jeden Menschen nehmen, »wie er ist«, seinen Charakter, seine Persönlichkeit, kurz sein individuelles »Wesen« im Blick haben. Er selbst, gerade er selbst, abgesehen von den gemeinen raum-zeitlichen Verflechtungen, will als Substanz genommen sein. Die Beziehungen seien »unwesentlich«, belanglos, gehörten nicht zur Sache. Die »Persönlichkeiten« wollen für sich aufgefaßt sein und dadurch jenen Zug der Interessantheit und Tiefe, den man in der guten Gesellschaft einander vorgibt, bekommen. Mit der »Ganzheitsbetrachtung«, die seit neuestem auch die Physiologie metaphysisch reformiert, verträgt sich diese abstrakte Sachlichkeit sehr gut; sie ist ihre Kehrseite. Aber wie die neue philosophische Anthropologie bei der Bestimmung des Unterschiedes von isoliertem Menschen und isoliertem Tier davon abstrahiert, daß die nicht abstrakten Menschen die Tiere umbringen und ihre Leichen essen, was die tägliche Todesangst und Qual von Millionen Tieren bedingt, ebenso sollen wir davon abstrahieren, daß der Glanz dieser liebenswürdigen Frau
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durch das Elend armer Proleten ermöglicht wird. Wir sollen davon absehen, daß alle diese vornehmen Herrschaften jeden Augenblick nicht nur das Elend der anderen ausnützen, sondern es neu produzieren, um aufs neue davon leben zu können, und diesen Zustand mit jeder beliebigen Menge Blut anderer zu verteidigen bereit sind. Wir sollen vergessen, daß gerade, wenn sich diese Frau zum Diner ankleidet, die Menschen, von denen sie lebt, zur Nachtschicht rücken, und wenn wir ihr zarter die Hand küssen, weil sie über Kopfweh klagt, sollen wir davon abstrahieren, daß im Krankenhaus dritter Klasse auch für Sterbende nach sechs Uhr Besuche verboten sind. Wir sollen abstrahieren. Unseren Philosophen kommt es heute überall auf die Erkenntnis des Wesens an. Dazu sehen sie von allem Äußerlichen und Zufälligen, von der bloßen »faktischen« Verknüpfung ab. Die Fabrik, in der für die Herrschaften gearbeitet wird, das Krankenhaus, in dem man nach dieser Arbeit krepiert, das Zuchthaus, in das man diejenigen der Armen sperrt, die zu schwach waren, sich die der großen Welt vorbehaltene Lust zu versagen - all dies ist jener Dame freilich »äußerlich«. Es ist »platt«, sich darum zu kümmern. Es hat mit ihrer »Psyche«, ihrer »Persönlichkeit« nichts zu tun. Sie kann - davon abgesehen - fein, mild, geistreich, demütig, tief, schön oder auch zwiespältig, unsicher, gedrückt, disharmonisch, zaghaft, infantil sein. Kurz, sie kann ihr eigenes »Wesen« haben. Die moderne Lehre vom Menschen, »Charakterologie« und ähnliche Pseudowissenschaften halten sich nicht an die Außenseite der Dinge, sondern dringen bis zu ihrem Kern vor. Es gibt nur eine einzige Ausnahme. Soweit die Menschen auf einem Weg, der bei den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen illegal erscheint, zu ihren Einkünften kommen und nicht so viel Macht haben, dieser Illegalität zu spotten, hört ihr »Wesen« auf, eine aus sich zu begreifende Einheit zu sein. So weit ist es daher auch durchaus erlaubt, den Ursachenketten nachzuspüren. Gerade so weit und nur so weit soll der Ursprung der Existenz ein Licht auf ihren Inhalt werfen. Der »prächtige« Herr X, Generaldirektor und Sportsmann, hört sofort auf, prächtig zu sein, wenn er das Bekanntwerden einer Beamtenbestechung nicht mit einer noch größeren verhindern kann. Die Anzahl der Existenzen, die er ruiniert, spielt vorher keine Rolle.
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Lüge und Geisteswissenschaften. — Wer wollte heute die Geisteswissenschaften der Unwahrheit und Heuchelei zeihen! Sie schneiden aus dem unendlichen Bereich der Wahrheit nur gerade solche Sätze aus, die sich mit dem System der Ausbeutung und Unterdrückung vertragen. Es gibt ja so vieles, was die »Einsicht« fördert und zugleich nicht ungelegen kommt! Wirtschaftspsychologie. — Zur theoretischen Begründung der fortdauernden Notwendigkeit, unseren Kapitalherren die ungeheure Macht und Beute, die sie als immer erneute Rente von der Menschheit beziehen, in alle Ewigkeit zu belassen, gehört die Vorstellung, es bedürfe der Anreizung des »Wirtschaftsegoismus« aller Einzelnen, um die ganze Wirtschaft in Schwung zu halten. Aber man vergißt hinzuzufügen, daß der »Wirtschaftsegoismus« der erdrükkenden Mehrzahl aller schwer Arbeitenden im Zwang des Hungers besteht, während jene Herren für eine interessante und befriedigende, saubere und ungefährliche Arbeit in Palästen leben. Um den egoistischen Menschen so weit anzustacheln, daß er sich herbeiläßt, über ein Heer von Arbeitern und Angestellten zu gebieten, muß man ihm Automobile, feine Frauen, Ehren schenken und Sicherung bis ins zehnte Glied, dafür aber, daß er sich tagtäglich im Bergwerk unter fortwährender Lebensgefahr körperlich und geistig zugrunde richtet, ist regelmäßige Wassersuppe und einmal Fleisch in der Woche verlockend genug. Eine merkwürdige Psychologie! Kunstgriffe. — Schopenhauer hat in seiner eristischen Dialektik einen Kunstgriff nicht angeführt. Es ist der folgende. Will man die Geltung eines offenkundig mit der Erfahrung in Widerspruch stehenden und historisch erledigten Satzes beweisen, so mache man ihn zum Thema möglichst schwieriger und gelehrter Untersuchungen. Es entsteht dann der Eindruck, daß Gegenstände, über die man mit soviel Scharfsinn mündlich und schriftlich diskutiert, unmöglich Hirngespinste sein können. Solche Gegenstände sind heuie Willensfreiheit, Rangordnung der Werte, transzendenter Geist, Urgrund des Seins und viele andere mehr. Die brutale Behauptung, diese Sachen existierten wirklich, könnte in weiten Kreisen wenig fruchten. Man stelle sie also zunächst einmal als wichtige
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Probleme hin. Dies verleiht ihnen, besonders wenn man die Macht hat, sie zu Titeln von Vorträgen und Abhandlungen zu machen, den Anschein der Aktualität. Man suche dabei alle direkten Formulierungen zu vermeiden und setze z. B. statt der schlichten Frage nach dem Jenseits das tiefsinnige und neutraler lautende Thema: »Über die verschiedenen Arten und Stufen des Seins«. Für den Laien erscheint es damit leicht als ausgemacht, daß die Wirklichkeit, das Diesseits nur eine davon wäre; die Fachleute haben ihrerseits dann eine neue oder vielmehr alte, ihnen eigene Problematik. Der Nebel, in den sie sich dabei verlieren, ist zwar kein Jenseits, aber doch eine Traum- und Gespensterwelt. Wer den subtilen und rasch wechselnden Begriffsapparat, dessen sie sich bedienen, nicht beherrscht, erscheint als unkundig und unmaßgeblich, er hat nicht mitzureden. Ein weiterer und sehr verbreiteter Kunstgriff, der heute demselben Ziel dient wie der vorhergehende, setzt an die Stelle der alten und diskreditierten Beweise für Gott und Unsterblichkeit unversehens den sehr leicht zu erstattenden Beweis der Bedingtheit und Relativität der positiven Wissenschaft. Dieser wird stillschweigend so ausgelegt, daß es noch eine Menge anderer gleichberechtigter Erkenntnishaltungen gebe, und damit haben unsere Metaphysiker natürlich Oberwasser. Als ob man so nicht jede Wahnidee rehabilitieren könnte! Aus dem Umstand, daß wir nicht allwissend sind, wollen sie uns einen religiösen Strick drehen. Aber mit dem Schluß von unserer wissenschaftlichen Beschränktheit auf Gottes Existenz, mit diesem neuen Gottesbeweis ist es gerade so übel bestellt wie mit den übrigen. Solchen »Kunstgriffen« gegenüber empfiehlt sich die Antwort: Mit anständigen wissenschaftlichen Mitteln lassen sich eure Probleme nicht entscheiden. Dann wollen wir wenigstens wissen, welchen Sinn es hat, sie frisch zu erhalten. Eine gesellschaftliche Bedeutung muß der Zauber haben, sonst gäbe es keine Professuren dafür. Am Telefon. - Wenn du bei einem Bekannten zu Besuch bist und er wird ans Telefon gerufen, so erlebst du manchmal eine peinliche Überraschung. Während er dem Unterredner am anderen Ende der Leitung mit freundlicher Stimme antwortet, gibt er dir selbst Zeichen von Ungeduld. Er zeigt dir, wie langweilig und lä-
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stig ihm das Gespräch ist. Seine verbindliche Stimme, die du selbst oft genug auf die gleiche Weise zu hören bekamst, ist bloße Konvention: Dein Bekannter lügt am Telefon. Wenn du öfters bei diesem Bekannten zu Gast bist, wirst du erfahren, daß der Ton seiner Stimme ungeheuer nuancierbar ist. Es gibt eine Skala von der dienstbeflissenen Höflichkeit über die selbstverständliche Verbindlichkeit bis hinab zu der merkbaren Kundgabe leiser Ungeduld. Die Stimme eines Menschen am Telefon enthüllt seine differenzierten Beziehungen zur Welt besonders gut, denn am Telefon legt er alles in diese Äußerung. Die Entdeckung, daß die meisten der Beziehungen von seiner Seite aus unwahr sind, ferner die Erkenntnis, daß er gegen Menschen, die ihm nützlich sein können, ein völlig anderer ist als gegen solche, die im Gegenteil von ihm selbst etwas erwarten, veranlaßt dich vielleicht, über ihn nachzudenken oder gar mit ihm darüber zu sprechen. Dann wird es offenbar werden, daß der Zwang des Lebenskampfes die Beziehungen der Menschen regelt und das geringe Einkommen deines Bekannten sein Verhalten hinreichend erklärt. Die unbestrafte Ehrlichkeit, das freie, offene Benehmen, die Behandlung der Menschen nach ihren menschlichen Qualitäten ist ein Vorrecht der Millionäre, die keine weiteren Aspirationen haben. Leider machen auch sie nur selten Gebrauch davon. Absonderlichkeiten des Zeitalters. — Unter die Züge des gegenwärtigen Zeitalters, die einer künftigen Epoche besonders fern und absonderlich erscheinen mögen, gehört bestimmt die Prägung des Bildes unseres öffentlichen und privaten Daseins durch die Organisation des Liebeslebens. Man wird es einmal höchst merkwürdig finden, daß zu den wichtigsten Angaben über einen Menschen die Heirat, d. h. die Verpflichtung, dauernd eine bestimmte andere Person zu lieben, gehört hat, daß die markantesten Daten im Leben des Einzelnen solche waren, die mit der sexuellen Sphäre zusammenhängen, daß bei Versammlungen, Vergnügungen, öffentlichen Ereignissen ein bestimmter Mann mit einer bestimmten Frau zusammen erscheinen, ja, daß sie sogar nebeneinander bestattet werden - gerade bloß deshalb, weil sie miteinander geschlafen haben. Diese Prägung des gesamten Verkehrsbildes durch eine bestimmte physiologische Notwendigkeit wird zwar nicht als
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»unanständig« gelten, weil dieser Begriff dann selbst der Vergangenheit zugehört, aber sie mag doch ähnlich erfahren werden wie irgendeine zwanghafte Eigentümlichkeit dieses oder jenes Stammes von Primitiven. Die Menschen könnten versucht sein, sich dieses wie manchen andern Zugs ihrer Vergangenheit zu schämen. Der Charakter. - Man muß Glück haben in der Auswahl seiner Eltern - nicht bloß wegen des Geldes, sondern auch wegen des Charakters, den man mitbekommt. Wenn dieser auch nicht so weit angeboren ist, wie man meint, so wird er doch schon in der Kindheit erworben. So, wie man sich im ererbten Besitz von Sachen oder Kenntnissen befindet, kann man auch eine psychische Struktur mitbekommen, die zu einer fabelhaften Karriere befähigt, während andere zeitlebens unter Arbeitshemmungen von jedem Fortkommen, ja vom Glück ausgeschlossen sind. Die psychischen Unterschiede, die für das Leben so entscheidend werden können, müssen keineswegs auf ebenso große Unterschiede in der Kindheitsentwicklung zurückgehen. Kleine Ursachen, große Wirkungen - und umgekehrt! Bei scheinbar ganz verschieden verlaufenen Kindheiten kann Ähnliches herauskommen, unmerkliche Differenzen können entgegengesetzte Charaktere erzeugen. Kleine Erlebnisse können es entschieden haben, daß A seinen Aggressionstrieb in Raufereien, B in der Konstruktion von Maschinen auslebt. Bis vor kurzem schien die Entwicklung der Persönlichkeit noch durch eine schöne innere Notwendigkeit bestimmt. Jetzt erkennt man auch hier die Rolle der sinnlosen Kleinigkeit. Der Glaube an die geprägte Form, die lebend sich entwickelt, wird durch das Wissen um die kleinen Zufälle ersetzt. Mit seinem Fortschreiten gelangen die Menschen dazu, der Falschmünzerin Fortuna das Handwerk immer mehr zu legen und selbst das Bild der Menschheit zu bestimmen. Durch die Erziehung in einer vernünftigen Gesellschaft werden die Kinder es verlernen dürfen, bei der Auswahl ihrer Eltern vorsichtig zu sein. Bis dahin freilich ist die Verteilung der Charaktere fast so ungerecht und unzweckmäßig wie die der Vermögen.
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Zufälligkeit der Welt. - Es gibt keine Metyphysik, es ist keine positive Aussage über ein Absolutes möglich. Aber es sind Aussagen über die Zufälligkeit, Endlichkeit, Sinnlosigkeit der sichtbaren Welt möglich. Das auch in solchen Negationen noch fungierende Kriterium der Notwendigkeit, Unendlichkeit, Sinnhafligkeit darf dann aber nicht wie in der Kantischen Ideenlehre als Bürge der Existenz des Ewigen im menschlichen Gemüt aufgefaßt werden, sondern selbst wiederum bloß als menschliche Vorstellung. Selbst der Gedanke einer absolut gerechten und gütigen Instanz, vor welcher das irdische Dunkel, die Gemeinheit und der Schmutz dieser Welt vergehen und die von den Menschen unerkannte und mit Füßen getretene Güte bestehen und triumphieren mag, ist ein menschlicher Gedanke, der mit denen, die ihn fassen, stirbt und verweht. Dies ist eine traurige Erkenntnis. Ein Gedankenexperiment: Die Zufälligkeit des Wirklichen wird besonders deutlich, wenn wir dem Wunsch, so gut wie nur möglich zu leben, auf den Grund gehen. Wir können ihn auf vielfache Weise verstehen. Unter anderem so, daß ein Mensch alle Genüsse gekannt, alle Erkenntnisse gedacht, alle Künste geübt haben will und bei seinem Tode sagen möchte: »Ich kenne das Leben.« Aber was kennt er dann schon? Es wäre ja denkbar, daß er in einer anderen Welt erwachte, in der alle Genüsse, Erkenntnisse, Künste der gegenwärtigen nach Zahl und Art belanglos erschienen, und dann nach seinem Tode wieder in einer anderen und so fort in unzähligen verschiedenen Welten, von denen jede die Wichtigkeiten der anderen in den Schatten stellte. Dieses Gedankenexperiment läßt sein gegenwärtiges Wissen angesichts der Unendlichkeit des Möglichen so zusammenschrumpfen, daß der Unterschied zwischen der »Einfalt« der elendesten menschlichen Kreatur und seiner eigenen Gescheitheit in nichts zerfällt. Bekanntlich werden in der Relation zu einer unendlichen Größe alle endlichen ohne Unterschied unendlich klein, gleichviel, wie groß sie sind. Wir können jenen Wunsch auch so auffassen, daß ein Mensch gul, d. h. moralisch gut gelebt haben will. Aber er muß verstehen, daß sein Begriff von der Güte ein menschlicher Begriff ist und ein Augenblick kommen kann, in dem alle seine Vorstellungen sich verwandeln. Er muß verstehen, daß dieser Begriff von keiner überirdischen Macht geheiligt und in keiner Ewigkeit aufgehoben ist.
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Alles Bewußtsein kann sich verändern, ein ewiges Gedächtnis gibt es nicht. Der Unterschied des guten Lebens vom schlechten bezieht sich nur auf die Gegenwart. In ihr ist er entscheidend, aber sie ist auch allein die Form der Existenz. In ihr bedeutet der Unterschied von gutem und schlechtem Leben Befriedigung oder Versagung. Auch Freundlichkeit, Anständigkeit, Gerechtigkeit sind für den, der sie übt, Befriedigung seiner Triebe. Als irdische Mittel zum ewigen Zweck oder als Symbole mit tieferer Bedeutung verstanden, werden sie zu Illusionen. Das Leben hat ebensowenig wie die Erkenntnis tiefere Bedeutung. Nicht durch die Fortdauer der individuellen Existenz in einem Jenseits, sondern durch die Solidarität mit den Menschen, die im Diesseits nach uns kommen, sind wir an der Zukunft interessiert. Diese Einsicht ist dem Einwand von der Unvollständigkeit unseres Wissens ausgesetzt. Vielleicht ist ein ohnmächtiges und gequältes Leben, das voll von Güte war, nicht verloren, vielleicht hat es einen ewigen Morgen. Wir können es nicht wissen. Aber wir können auch nicht wissen, ob die Güte nicht fernerhin in der Hölle anstatt im Paradiese wandle und ob die Regierung der Ewigkeit nicht wirklich so schlecht sei, wie sie in der Zeitlichkeit erscheint. Die Zufälligkeit der Welt und unserer Erkenntnis von ihr oder die Unmöglichkeit der Metaphysik kommt darin zum Ausdruck, daß alle Aussagen, die das Zeitliche transzendieren, gleich berechtigt oder gleich unberechtigt sind. Wenn die Theologen eine Ewigkeit behaupten und zum Beweis für das vollkommene Wesen dieses Ewigen auf die Hoffnung in unserem Herzen deuten, so vergessen sie, daß die Angst und das Mißtrauen ebenso berechtigte Gründe zu Schlüssen über das Absolute bilden wie unser Vertrauen auf die göttliche Gerechtigkeit. Warum sollte die Hoffnung, in welcher die Gütigen sich von der Macht gewöhnlich betrogen sehen, nicht gerade dort zuschanden werden, wo die alleroberste Macht unmittelbar zu Worte kommt? Die Sinnlosigkeit der Welt straft die Metaphysik, d. h. ihre sinnvolle Deutung Lügen; aber sie vermag nur den irrezumachen, welcher aus Furcht vor irgendeinem Herrn und nicht aus Mitleid mit den Menschen ein menschliches Leben führt. Nach Raum und Zeit von uns entfernte menschliche Wesen können
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wir im Geiste lieben und glücklich wünschen, wie sie auch uns selbst verstehen könnten. Jenseits der Menschheit, diesem Inbegriff endlicher Wesen, gibt es aber kein Verständnis dessen, was uns heilig ist. Soweit die Menschen die Welt nicht selbst in Ordnung bringen, bleibt sie ein Spiel blinder Natur. Draußen im All wohnt nicht die Güte und Gerechtigkeit, das All ist dumpf und erbarmungslos. Die Menschheit als Ganzes gleicht in der sie umgebenden Nacht dem Mädchen von Lavaur, das nach einem Scheintod erwacht ist und alle Menschen ihrer Heimat erschlagen findet. Keiner nimmt an ihrem Erwachen Anteil, für keinen anderen hat ihr Leben Bedeutung. Niemand hört sie. Auch die Menschheit ist ganz allein. Ernste Lebensführung. - Je unermeßlicher der Abstand zwischen dem Leben der kapitalistischen Herren und der Arbeiter wird, desto weniger sollen die Unterschiede ans Licht treten. Bei gleichzeitiger Hebung von Tracht und körperlicher Erscheinung der oberen Proletarierschichten wird vom Mitglied der herrschenden Klasse verlangt, daß es nicht auffällig zeige, wieviel besser es ihm geht, welche lächerlich geringe Rolle die Höhe des Wochen Verdienstes eines Arbeiters oder Angestellten im Budget selbst eines kleinen Magnaten spielt. Soweit der Genuß der Herren nicht unmittelbar in Ausübung der Macht besteht, blüht er daher an verborgenen Orten. Während vor fünfzig Jahren das Haus des Unternehmers häufig neben der Fabrik errichtet war, bekommt der Arbeiter jetzt kaum noch die Garage mit dem Rolls-Royce zu sehen, der seinen Direktor in den Villenvorort bringt. Das Leben der Frauen und Töchter mit seinen Golf- und Tennisplätzen, Ski- und Ägyptenfahrten ist den Blicken der Ausgebeuteten so gut entzogen, daß der Herr die Lehre der harten Arbeit persönlich und in Zeitungen ungestört verkünden darf. Dem im Trustkapitalismus sich vertiefenden Unterschied der Existenz entspricht die Uniformierung des Lebens in der Offen tlichkeit. Nach der heute gültigen Ideologie ist der offene Genuß eines arbeitslosen Lebens fast ebenso verpönt wie der entschlossene Wille, das genußlose Leben der Proletarier durchgreifend zu verbessern. Wenn im Gesicht des Trustherrn ein Lächeln den sorgenvollen Ernst ablöst, ist es nicht das triumphierende Lächeln der früheren Herrenklasse, sondern eher
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ein Beispiel von Gottvertrauen, das ein Mann, der selbst besonders schwere Arbeit leistet, der Allgemeinheit gibt. Es besagt: wir alle sind gleichermaßen zur Arbeit geboren, nicht zum Genuß, aber keiner darf sich beklagen. Das Mitglied der Herrenklasse, das unbedenklich merken läßt, welch herrliches Leben inmitten des Elends oder vielmehr auf seinem Grunde möglich ist, gleicht dem Teilnehmer an einer Patrouille, der auf dem Weg hinter den feindlichen Linien sich räuspert und alle verrät. Er ist ein Mensch ohne Disziplin. Relativität der Klassentheorie. — Die Theorien entspringen den Interessen der Menschen. Dies bedeutet nicht, daß die Interessen das Bewußtsein verfälschen müßten; die Theorien werden sich vielmehr gerade dann, wenn sie richtig sind, nach den Fragen richten, auf die sie Antwort geben. Je nach dem, was uns in der Welt quält und was wir ändern wollen, wird sich das Bild gestalten, das wir uns von ihr machen. Schon in der Wahrnehmung, in der reinen Kontemplation, werden die Bilder unbewußt durch subjektive Faktoren mitbestimmt, bei der wissenschaftlichen Auffassung, welche immer im Zusammenhang mit einer bestimmten gesellschaftlichen und individuellen Praxis steht, ist die Interessenrichtung für die Strukturierung ihres Gegenstands sogar in höchstem Maße bestimmend. Die Erkenntnis dieses Umstandes ist in der Marxschen These der Einheit von Theorie und Praxis enthalten. Die von ihm gemeinte Praxis fällt im wesentlichen mit der politischen zusammen, und die Strukturierung des aus dieser Praxis entspringenden Weltbildes ist die Scheidung der Menschheit in gesellschaftliche Klassen. Diese müssen für alle, denen es hauptsächlich um die freie Entfaltung der menschlichen Kräfte und um Gerechtigkeit zu tun ist, als das entscheidende Strukturprinzip der Gegenwart erscheinen, weil von ihrer Aufhebung die Erfüllung jenes Strebens abhängt. Es gibt andere Unterscheidungen, andere Strukturprinzipien, die vom gleichen Interesse an der freien Entfaltung der Menschen und der Gerechtigkeit aus ebenso grundlegend erscheinen könnten wie die der gesellschaftlichen Klassen, z. B. der Unterschied zwischen Gesunden und Kranken. Die Menschheit wird von einer für den tätigen Beobachter der Welt gewöhnlich nicht sichtbaren Grenzlinie
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gespalten, welche ebenso ungerecht als die zwischen den Angehörigen verschiedener Klassen eine Reihe von Menschen von den Genüssen der Erde ausschließt und sie zu den schlimmsten Qualen verdammt: die Grenzlinie der Gesundheit. Die Güterverteilung welche durch die verschiedene Konstitution, die Empfänglichkeit für Bazillen, die Unfälle in Betrieb und Verkehr in der Welt bedingt wird, ist ebenso vernunftwidrig wie die Eigentumsverhältnisse in der Gesellschaft. Die Konsequenzen der beiden Sinnlosigkeiten sind gleich grausam, und es ließen sich ihnen noch andere die Menschheit spaltende Prinzipien an die Seite stellen. Trotzdem erweist sich die Unterscheidung gesellschaftlicher Klassen als den andern Gesichtspunkten überlegen, denn es kann gezeigt werden, daß zwar die Aufhebung der Klassen auch eine Veränderung der anderen Gegensätze mit sich bringt, nicht aber umgekehrt die Aufhebung der anderen Gegensätze die Abschaffung der Klassen. Die schweren Hemmungen, unter welchen die gegenwärtige Hygiene und Medizin vegetiert, sind nicht im entferntesten erkannt. Die imperialistische Gesellschaft, unter deren Herrschaft trotz dem tatsächlichen Überfluß an allem Notwendigen die Länder seufzen, daß sie zuviel Menschen haben, diese Gesellschaft, welche die Anlagen der weitaus meisten Menschen skrupellos ersticken läßt, gewährt für die Entwicklung der ungeheuren medizinischen Möglichkeiten keine wahre Freiheit mehr. Nicht bloß die herrschende Sexualmoral, sondern der latente Haß gegen die beherrschte Klasse, die Unfähigkeit, die gesunden Menschen zu ernähren, beeinträchtigen den Kampf gegen die Krankheit bis in alle Einzelheiten. Ferner erweist sich das ökonomisch-politische Prinzip auch dadurch als tiefgreifender denn das physiologische, daß die Machtvergötzung und das Konkurrenzprinzip der kapitalistischen Menschheit ein gut Teil der heute mit der Krankheit verbundenen Bitterkeit bedingt. Der Protestantismus mit seinem Glauben an die Wirklichkeit als Äußerung von Gottes Macht spielt hier seine eigene Rolle. Die Aufhebung der Klassen gilt somit als das entscheidende Prinzip — aber nur im Hinblick auf die umwälzende Praxis. Wegen der Irrationalität der Welt gilt dieser Vorrang nicht für jede Beurteilung der Gegenwart überhaupt. Wir können die Gegenwart freilich nicht interesselos betrachten, der politischen Praxis steht nicht die freie Kontemplation, die reine
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Schau gegenüber, sondern die Richtung unseres Blickes kann durch eine andere Praxis, durch andere Interessen, durch andere Leiden bestimmt sein, und vor der Wahrheit hat die Politik keinen Vorzug. Wer die lebendigen Wesen unter der Herrschaft des Unterschieds von Lust und Gesundheit auf der einen, Krankheit und Tod auf der anderen Seite sieht, mag dem Vorwurf der Müßigkeit unterliegen, nicht aber dem Einwand, daß dieser Unterschied weniger unermeßlich als der soziale sei. Vielleicht aber ist solche Betrachtung nicht so müßig, wie sie scheinen mag, sondern kann durch ihre aufhellende Macht selbst auch zu einer besseren Wirklichkeit beitragen, von deren unbestimmter Vorstellung sie in ihrem Ursprung ebenso motiviert ist wie die Theorie der Klassengesellschaft selbst. Auch sie setzt das Bestehende in seiner Ungerechtigkeit dem Licht des Denkens aus. Der Schrecken, der sich jenseits des Bewußtseins der Menschen, also im Dunkel, vollzieht, hat seine besondere Trostlosigkeit. Entsetzen über den Kindermord. - Wenn man das Entsetzen der heutigen Welt über Lustmorde, besonders über Angriffe auf Kinder erfährt, könnte man glauben, daß ihr das Menschenleben und die gesunde Entwicklung des Individuums heilig wäre. Doch abgesehen davon, daß der große Abscheu vor jenen Verbrechen meist seine besonderen psychischen Quellen hat, krepieren ja die Kinder an den Verhältnissen dieser heutigen Welt zu Hunderttausenden, und der Mehrzahl der Überlebenden macht man die Wirklichkeit zur Hölle, wobei sich gar kein Abscheu in den so leicht entflammten Herzen regt. Die Kinder der Armen sind im Frieden zukünftiges Material der Ausbeutung und im Krieg das Ziel der Sprengstoffe und Giftgase. Die Herren dieser Welt entsetzen sich sehr zu Unrecht. Profitinteressen. — Die Lehre, daß die Subjekte der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung stets nach ihren Interessen handelten, ist sicher falsch. Nicht alle Unternehmer handeln nach ihren Interessen, es pflegen nur die, welche es nicht tun, zugrunde zu gehen.
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Moralische Intaktheit des Revolutionärs. - Die Bourgeoisie »ist ein weiser Vater, der sein eigenes Kind kennt«. Wenn sie einem Revolutionär zu seinen Lebzeiten die moralische Intaktheit bestätigt, mögen sich ihre Gegner vor ihm in acht nehmen. Freie Bahn dem Tüchtigen. — Die gegenwärtige Gesellschaftsordnung bringt wirklich die Tüchtigsten an die Spitze. Die Forderung, der Tüchtigste müsse erst noch freie Bahn bekommen, ist längst überholt. Wo ist das Geschäftsgenie unter den Angestellten einer großen Fabrik, das nicht seine Kollegen bald hinter sich gelassen hätte? Die Unternehmer dieser Fabrik müßten ja so blind sein, daß der Bankrott ihnen sicher wäre. Das Wertgesetz setzt sich auch in Beziehung auf die »Persönlichkeiten« durch, der Kapitalismus besitzt glänzende Auswahlprinzipien für seine Leute. Das gilt nicht bloß für die Geschäfte. Gehe die Reihen der Direktoren von Kliniken und Laboratorien durch und überlege, ob sie ihrem Beruf nicht ausgezeichnet entsprechen — und das ist noch einer der schlechtentwickelten Zweige. Es gibt in der Tat eine kapitalistische Gerechtigkeit, die freilich, wie jede andere Gerechtigkeit, ihre Löcher hat, aber auch diese werden mit der Zeit noch repariert werden. Der Tüchtige wird - geringe Ausnahmen abgerechnet - belohnt. Man darf aber wohl fragen, worin denn diese Tüchtigkeit besteht: es ist der Besitz solcher Fähigkeiten, deren die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Form zu ihrer eigenen Reproduktion bedarf. Darunter fallen ebensowohl die Geschicklichkeit wie die Gesinnungstüchtigkeit des Handarbeiters, das Organisationstalent des Betriebsleiters wie die Erfahrung des reaktionären Parteiführers. Obgleich ihre Funktion im Lebensprozeß sehr abgeleitet ist, werden der gute Romanschreiber wie der große Komponist in der Regel anerkannt und belohnt. Sieht man davon ab, daß die Mehrzahl aller Menschen heute an der Entwicklung und Anwendung ihrer produktiven Kräfte gehemmt sind, so kann man sagen, daß verkannte Genies, alles in allem, Gestalten aus vergangenen Zeiten sind. Es gibt freilich mehr Talente als gute Stellungen. Aber die letzteren werden immerhin mit den »Würdigen« besetzt, und an der Spitze ist immer Platz. Die Tüchtigen werden, so gut es geht, berücksichtigt, gegen das persönliche Auswahlprinzip im Kapitalismus
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ist vom Standpunkt seiner eigenen Reproduktion aus wenig zu sagen, gerade in dieser Hinsicht herrscht trotz gegenwärtiger Schwierigkeiten, die den Nachwuchs betreffen, relative Ordnung. Aber diese Ordnung pflegt den Furchtbaren günstig zu sein. Man kann nicht behaupten, daß dieses System nicht die rechten Leute an die rechten Stellen bringe. Die Generaldirektoren machen ihre Sache ganz gut, und vielleicht finden sich welche, die den Posten sogar ihrer Tüchtigkeit allein zu verdanken haben, jedenfalls fiele es nicht ganz leicht, sie durch geschicktere zu ersetzen. Aber diese im heutigen Kapitalismus »Tüchtigen« sind auch darnach! Die in der gegenwärtigen Industrie, Wissenschaft, Politik, Kunst brauchbarsten sind nicht die fortgeschrittenen, sondern die großenteils in der Qualität ihres Bewußtseins und ihrer Menschlichkeit zurückgebliebenen Elemente. Diese Differenz ist eines der Symptome, wie sehr diese Gesellschaftsform überholt ist. Die Begründung der Abschaffung des Kapitalismus durch die Notwendigkeit eines der Produktivität günstigeren Auswahlprinzips ist verkehrt, weil sie die Kategorien des herrschenden ökonomischen Systems als Norm nimmt. Sie glaubt, es sei mit Reparaturen getan. Nicht damit die Tüchtigen an die erste Stelle kommen, d. h. uns beherrschen, müssen wir die Gesellschaft verändern, sondern im Gegenteil, weil die Herrschaft dieser »Tüchtigen« ein Übel ist. Menschliche Beziehungen. - Die wirtschaftliche Situation eines bestimmten Menschen entscheidet auch über seine Freundschaften. Das eigene Vermögen und Einkommen für sich selbst und die eigene Familie zu verwenden heißt sich selbst und nicht dem anderen die Vergnügungen des Lebens verschaffen. Echte, unmittelbare Beziehungen können dort nicht bestehen, wo die fundamentalsten Interessen der einen Seite denen der anderen entgegenstehen, und dies ist überall der Fall, wo bei ungleicher Lebenshaltung die Gemeinsamkeit des Vermögens und der Einkünfte verweigert wird. In der bürgerlichen Gesellschaft umreißt die Familie daher den Kreis unmittelbarer Beziehungen. Nur innerhalb der gesunden Familie betrifft Freud und Leid des einen tatsächlich den andern. Ohne identische materielle Interessen der Individuen haben sie Eifer-
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sucht, Neid und Schadenfreude mindestens zu verdrängen. Die gesellschaftliche Entwicklung zerstört daher mit der gesunden Familie innerhalb weiter Schichten, vor allem des Kleinbürgertums und der Angestellten, den einzigen Ort unmittelbarer Beziehungen zwischen den Menschen. Sie setzt dagegen innerhalb bestimmter Gruppen des Proletariats anstelle der naturwüchsigen und ihrer selbst weitgehend unbewußten Gruppen, als deren spätestes Zersetzungsprodukt die Kleinfamilie jetzt zugrunde geht, neue, bewußte, auf erkannte gemeinsame Interessen begründete Gemeinschaften. Diese werden nicht, wie die naturwüchsigen Verbände, von der Horde bis zur Kleinfamilie, als göttliche Institutionen verhimmelt. Die größte und deutlichste Einheit solchen Schlages wird durch die Solidarität der Schichten, welche an der Errichtung einer neuen Gesellschaft interessiert sind, gebildet. Das Entstehen dieser proletarischen Solidarität hängt vom gleichen Prozeß ab, der die Familie zerstört. In der Vergangenheit schienen Blut, Liebe, Freundschaft, Enthusiasmus zu gemeinsamen Interessen zu führen, heute führen die gemeinsamen revolutionären Interessen zu Liebe, Freundschaft, Enthusiasmus. Der Solidarität aller, welche an die Stelle der gegenwärtigen Ungerechtigkeit eine neue Gerechtigkeit setzen wollen, steht nicht wiederum die Solidarität, sondern die gemeinsam unterhaltene Macht der Herrschenden entgegen. Die Beziehungen zwischen diesen selbst sind nicht unmittelbar. Die Inhaber der großen Kapitalien können zwar im Salon den guten Ton wahren und sich »Freunde« nennen, aber ihre Kapitalien sind organisierte Kolosse, welche gegen die Personen ihrer Besitzer und deren Beziehungen selbständig geworden sind. Der Händedruck von zwei Magnaten bedeutet daher so wenig, daß man ihm nicht anmerkt, ob im gleichen Augenblick für die entgegengesetzten Interessen ihrer Kapitalien irgendwo Blut fließt. Ihre Beziehungen als Personen sind offenkundig gegenüber ihren von den anonymen Mächten des Kapitals bestimmten realen Übereinstimmungen oder Gegensätzen so belanglos geworden, daß bei der wärmsten Begrüßung die Warnung: »Ich werde dich ruinieren, wenn es not tut«, gar nicht mehr notwendig ist. Vielmehr bildet diese Selbstverständlichkeit die allgemeine Voraussetzung, auf Grund deren recht freundliche und im übrigen vorbehaltlose Beziehungen möglich sind. Die herr-
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sehende Ordnung, welche mit Vermögen und Einnahmen jedes Mitglieds der Großbourgeoisie unlöslich verknüpft ist, beruht heute auf so viel Not und Elend, daß man gar nicht auf die Idee kommen kann, es könnte eines unter ihnen zögern, ein Dutzend seiner »Freunde« zu ruinieren, um einen größeren Vermögensteil zu retten. Ihre private Gemeinschaft steht unter dieser leicht einschränkenden Bestimmung. Ihre gesellschaftliche besteht wesentlich, in der Niederhaltung des Proletariats. Geistige Leiden. - Körperlicher Schmerz ist schlimmer als geistiger. Diese Formulierung ist fragwürdig. Wie sollte man die entsprechenden Grade miteinander vergleichen, wie den geistigen Schmerz, der beim Menschen fast stets den körperlichen begleitet, gedanklich von ihm trennen können? Die Behauptung ist trotzdem wahr. Materielle Entbehrungen, leibliche Folter, Eingesperrtsein, Zwang zu schwerer körperlicher Arbeit, tödliche Krankheit, das sind realere Leiden als die edelste Trauer. Gewiß können die Nervenärzte mit Recht von dem gräßlichen Zustand und von den Selbstmorden psychisch leidender Personen sprechen, und wer weiß nicht, daß schon Langeweile in Verzweiflung treiben kann! Doch es sind ja weder die Nervenkrankheiten noch die Langeweile, die man uns als die wahren geistigen Schmerzen hinstellt. Man will uns vielmehr weismachen, daß nicht bloß die Armen und Hungrigen, sondern auch die Junker und Schlotbarone schwer leiden müssen oder daß gar mit zunehmender Bildung und Macht die geistigen Sorgen zunähmen und schließlich die körperlichen Leiden überträfen. Diesen Schwindel sollte kein armer Teufel mehr glauben! Wenn es auf die Sorgen ankommt, dann haben gewiß die Proletarier mehr davon zu tragen als die Kruppschen Direktoren; das Maß an spiritueller Bekümmerung dieser Herren trügen die Arbeitslosen gerne, wenn sie nur aus der gemeinsten Misere herauskämen. Auch unter den Sorgen pflegt ja noch die Angst vor körperlichem Elend aller Art am schwersten zu wiegen. Die geistigen Leiden der herrschenden Klasse sind ein Nichts gegen die wirkliche Not des Proletariats! Zwei Elemente der Französischen Revolution. Nicht daß die Französische Revolution, gemessen an dem. was in jenem historischen
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Augenblick materiell zu verwirklichen war, zu weit geschritten war und die Verwirklichung ihres Programms erst nach schweren Rückschlägen zum Inhalt einer langen Periode wurde, beschämt den mit ihr sympathisierenden Betrachter, sondern das Austoben gerade der nichtrevolutionären, sondern philiströsen, pedantischen, sadistischen Instinkte. Die subalterne Bosheit der kleinbürgerlichen Schichten, auf die sich die Revolution in der Praxis stützen mußte, verwandelte die Solidarität des Volks, auf die sie sich in der Theorie berief, gleich zu Anfang in eine Ideologie. Freilich stecken auch in ihr Antriebe, die nicht bloß über die feudale, sondern über die Klassengesellschaft überhaupt hinausweisen, aber sie sind mehr in den Schriften der Aufklärer als in dem eine Zeitlang zur Herrschaft gelangten sadistischen Kleinbürgertum zu finden. Ihm gegenüber mag es in der Tat als eine Erlösung erschienen sein, als die Vertreter der entwickelten Produktivkräfte, d. h. des zur Übernahme der Macht reifen Bürgertums nach dem Sturz Robespierres die Führung übernahmen. Durch eine unmittelbar an Hand der Aufklärungsphilosophie erfolgende Interpretation der Französischen Revolution wird die Wirklichkeit fast ebenso sehr entstellt wie durch die Unverschämtheit einer gewissen Romantik, welche die Arbeit der Guillotine nur abscheulich fand, weil sie nicht im Dienste der Bourbonen funktionierte. In der deutschen Gegenwart treten die beiden Elemente der Französischen Revolution, pedantisches Spießbürgertum und Revolution, als gesonderte historische Mächte auf. Die Kleinbürger und Bauern dürfen im Dienste der führenden Bourgeoisie revoltieren und nach dem Henker schreien, aber die auf Schaffung einer menschlicheren Welt gerichteten Kräfte sind jetzt verkörpert in der Theorie und Praxis kleiner Gruppen des Proletariats. Ihnen kommt es nicht auf die Guillotine, sondern wirklich auf die Freiheit an. Vom Unterschiede der Lebensalter. — Wenn ein erwerbsloser Arbeiter oder Angestellter das vierzigste Jahr überschritten hat, bekommt er heute schwer eine Anstellung. Ist er beschäftigt, so muß er die Entlassung befürchten. Die jüngere Konkurrenz arbeitet billiger und rationeller. Er wird ein wertloser, ungeschickter Alter. Er fällt allen zur Last.
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Wenn ein Kommerzienrat sechzig oder siebzig Jahre wird, gibt es im Betrieb eine Feier. Aus den Reden beim Diner geht hervor, wieviel die Arbeitskraft und die Erfahrung des verehrten Seniors für die Firma und den ganzen Wirtschaftszweig bedeuten. Die Eigenschaften der Lebensalter sind je nach der Klassenlage verschieden. Verpönte Affekte. — Kein Vorwurf entkräftet eine wissenschaftliche Darstellung so gründlich wie der, sie sei aus dem Äff ekt entstanden. Auch seit die Metaphysik neuestens einen jugendfrischen Angriff auf die Forderung der Wertfreiheit der Wissenschaft unternommen hat, bleibt doch der »Affekt« verpönt. Aber welcher Affekt wird von diesem Verdikt betroffen? Verwirft man etwa die pantheistische Begeisterung für die seiende Welt oder die Verehrung eines jenseitigen Ideenreichs oder die Verachtung der Massen und des Massenwohls oder die rückwärts gewandte Schwärmerei für Mittelalter und Altertum oder den Widerwillen gegen eine »negativistische« Einstellung oder das Pathos der Pflicht und des Gewissens oder die flammende Propaganda für Persönlichkeit, Innerlichkeit, Vitalität oder andere legitime Affekte? In Wirklichkeit ist im bourgeoisen Denken bloß der Affekt der Beherrschten gegen die Herrschenden verpönt. Es kommt freilich auch nicht selten vor, daß unsere Gelehrten untereinander in »Affekt« geraten und sich dies dann vorwerfen, wie ja überhaupt die Mitglieder der Bourgeoisie untereinander im Konkurrenzkampf leben. Aber der Feind, gegen dessen Affekte alle einig sind, ist der, an dessen Ausbeutung alle gemeinsam interessiert sind: die beherrschte Klasse. Die geforderte Affektlosigkeit der Erkenntnis, entsprungen aus dem Kampf der revolutionären bürgerlichen Intelligenz um theologiefreie Wissenschaft, zeigt sich heute vorwiegend als die ruhige Sachlichkeit dessen, der sich zum Bestehenden hinzurechnet, als der gute Ton des schon Arrivierten oder als die stille Beflissenheit dessen, der Aussicht hat, daß er es zu etwas bringt. Ein wenig Arroganz und »geniale« Schroffheit, ja sogar theoretische und abstrakte »Radikalität« wird gern verziehen. Zur Forderung der Affektlosigkeit gehört diejenige der Unparteilichkeit, der Objektivität. Auch sie stammt aus den Zeiten, in denen die bürgerliche Wissenschaft noch eine Vorkämpferin der
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Menschheit war, und hat ihre Heimat in der ehemals aggressiven Physik und Chemie. Die Abwendung der Naturforschung von den kirchlichen Autoritäten und ihr Rückgriff auf das Experiment waren selbst freilich äußerst parteiisch und affektiv. In den sogenannten Geisteswissenschaften, d. h. in der Lehre und Geschichte der menschlichen Zivilisation, bedeutet heute Unparteilichkeit keineswegs Parteinahme für den menschlichen Fortschritt wie bei den Physikern des 16. und 17. Jahrhunderts, sondern den Verzicht darauf, das in diesen Disziplinen Wichtigste, nämlich die Herrschaftsund Eigentumsverhältnisse, in die Mitte zu rücken, also eine durch die Abhängigkeit der Wissenschaft vom Kapital bedingte Horizontverengerung. Die offene Darlegung der in der Gegenwart um des Profits einer kleinen Minderheit willen aufrechterhaltenen Ungleichheit, die Erklärung des zu diesem Zweck funktionierenden Verdummungs- und Unterdrückungsapparates wären in der Tat parteiisch, und sie sind wirklich verpönt. Die Ahnung, daß hier Parteinahme gegen die herrschende Ordnung und Wissenschaftlichkeit nicht voneinander zu trennen sind, mag auch jenen philosophischen Bestrebungen Ansehen verschafft haben, welche die »Geistes«- oder »Kulturwissenschaften« in Gegensatz zur Naturforschung und schließlich in Gegensatz zur Wissenschaft überhaupt bringen möchten. Die Gründlichkeit und Unbeirrbarkeit der Forschung, welche das Bürgertum im Kampf gegen den Feudalismus als gesellschaftliche Aufgaben begriffen hatte, sollen aufhören, wo sie ihm selbst gefährlich sind. Die bezeichnete Affektlosigkeit und Unparteilichkeit der Unteren sind nicht bloß in der Wissenschaft, sondern auch in den alltäglichen Äußerungen das Merkmal der Zuverlässigkeit für die herrschende Klasse. Diese Charaktereigenschaften sind weit mehr als die Freiheit von sonstigen nicht gerade kriminellen Lastern Voraussetzungen des Erfolgs im kapitalistischen System. Es gibt einen besonderen Klang der Stimme, der die innere Freiheit von den unerlaubten Affekten verbürgt. Wer sein Kind für eine Laufbahn in diesem System erziehen will, sorge dafür, daß, wenn es erwachsen ist, seine Stimme dieses Klanges nicht entbehre! Schwierigkeit eines psychoanalytischen Begriffs. - Ob ein Revolutionär persönlich »realitätsgerecht« gelebt hat oder nicht, hängt
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vom Stand des Klassenkampfes ab. Bildete sein Leben eine Folge von übermäßigen Leiden, Mißerfolgen, schweren inneren und äußeren Krisen, Zuchthaus und Qualen jeder Art, so kann er ebenso gescheit, konsequent, nüchtern, tapfer gewesen sein wie im Glücksfall des endlichen Sieges. War seine Politik im Fall der Niederlage realitätsgerecht? Für das Leben des Proletariats entscheidet darüber die historische Zukunft; welche Instanz aber für den Kämpfer selbst? Der Analytiker könnte vielleicht erwidern, die Frage sei nicht so wichtig. Es käme jedenfalls nicht auf das objektive Leiden, sondern auf die innere Gesundheit an. Aber vermöchte der Kämpfende selbst oder gar ein anderer über ihn jeweils zu entscheiden, wieweit er gesund, neurotisch, mit sich einig oder mit sich zerfallen ist? Diese bürgerlichen Kategorien entsprechen ihrer eigenen Welt und nicht dem Kampf, der sie aus den Angeln heben soll. Durch Schaden wird man klug — mag sein, aber der sichere Weg ist der des Erfolgs, und wenn schon durch Schaden, dann durch den der anderen! Die Voraussetzung der sogenannten tüchtigen Männer auf den verschiedensten Gebieten liegt zum Teil darin, daß sie auf Grund von Glück und Erfolgen rasch in eine soziale Situation gekommen sind, die ihnen den richtigen Überblick über die Apparatur ihres Berufszweigs und einen selbstsicheren Zugriff gibt. Mißerfolg, Schaden macht dagegen ängstlich, und es gibt bekanntlich kein größeres Hemmnis des Lernens als die Angst. Das ist die Welt. — Betätigung in einer proletarischen Partei hat die Abschaffung der Ausbeutung zum Ziel. Die Stärkung dieser Partei bedingt aber mittelbar eine Verschärfung des Drucks auf die beherrschte Klasse und dazu noch den erbarmungslosen Kampf gegen alle, die der Sympathie mit ihr verdächtig sind. Je näher die Entscheidung rückt, um so furchtbarere Maßnahmen der Unterdrückung ergreifen die Herrschenden, der Bürgerkrieg selbst, auf den die Partei in der historischen Dynamik hingetrieben wird, enthält alle Scheußlichkeiten der Erde. Siegt die alte Ordnung, so beginnt der Terror und das endlose Grauen. Das alles haben diejenigen stets mit in Kauf nehmen müssen, denen es ernsthaft um die Verbesserung der Gesellschaft zu tun war. Die Handlung,
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mit der geholfen werden soll, ist verflucht, das Elend zu vermehren. Wenn das zynischste Mitglied der Herrenklasse dem asketischen Revolutionär vorwirft, er bedinge namenlose Leiden, hat er nicht einmal unrecht. Das ist die Welt. Gewerkschaftsbürokratie. - Daß die Ansichten von Gewerkschaftsfunktionären häufig viel reaktionärer sind als die bürgerlicher Demokraten, läßt sich gut verstehen. Jene Funktionäre sollen von den Unternehmern immer Vorteile für die Arbeiter herausholen. Wenn ihnen das nicht in erwünschtem Maß gelingt, bekommen sie Vorwürfe und enttäuschte Gesichter zu sehen. Von den Arbeitern werden sie zwar bezahlt, aber ihre Leistung ist kraft der Mechanik des ökonomischen Systems immer ungenügend. Wie sollten sie da nicht auf ihren unersättlichen, unruhigen, unbequemen Mandanten ärgerlich werden und für reformistische Theorien besonderes Verständnis haben, welche - mit Ausnahme von ihren Posten - die Ansprüche der Arbeiterklasse preiszugeben tendieren. Die Zurückgebliebenen. — Der Kapitalismus hat auf weiten Strekken der Erde mit der »Schlamperei «ein Ende gemacht. Die Schlamperei - das ist Schmutz, Aberglaube, Blödheit, Krankheit, Langsamkeit, Apathie. In der Fabrik kann man die Schlamperei nicht brauchen, und es ist daher eine Gesinnung über die zivilisierte Welt gekommen, in der sie überhaupt verachtet wird. Die Menschen haben Grund, diese Feindschaft zu bewahren und als Element in eine bessere Gesellschaft mit zu übernehmen. Auch sie wird freilich ihren Charakter dabei verändern. Heute hat nämlich auch dieser Zug von dem Ganzen der Gesellschaft her, zu dem er gehört, etwas Unmenschliches an sich. Er bedingt, daß der Rest von müheloser Lust, Friede, Sorglosigkeit immer unerbittlicher auf die kleine Schar der Privilegierten beschränkt wird. Nicht, als ob es eine gute alte Zeit der Gemütlichkeit gegeben hätte. Diese bestand in bloßer Stumpfheit, aber das letzte Aufräumen mit dem Schlendrian, der in den Winkeln der kapitalistischen Welt noch sein Leben fristet, verklärt jene Mängel durch seine Grausamkeit. Die Postkutsche war nicht romantisch, sondern ein Folterinstrument; der entlassene alte Werkmeister, bei dem es gemütlicher herging, war trotz des langsameren Arbeitstempos unter den verflos-
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senen Verhältnissen ein ebensolcher Quälgeist wie der neue unter den gegenwärtigen; die kleinen gemütlichen Ladengeschäfte und Wirtshäuser, die jetzt zugrunde gehen, waren zuletzt Brutstätten von Dummheit und Sadismus. Aber den Staub der Automobile, welche die Postkutsche ersetzen, schlucken heute die kleinen Leute, der alte Werkmeister muß elend zugrunde gehen, der langsame Ruin der schwachen Geschäfte ist eine Hölle mitten im modernen Wirtschaftsprozeß. Die Abschaffung der Schlamperei ist notwendig. Aber sie vollzieht sich unter einer ungeheuren Entwicklung von menschlichem Leid und unter Vernichtung bestimmter Lebenswerte. Die vom Staub der Autos freie Straße, das langsamere Tempo in der Werkstätte, die Gespräche mit dem Kunden und die Langeweile in den kleinen Läden werden denen teuer, die sie verlieren. Vorher war dies alles nichts, jetzt im Verschwinden, treten diese Züge ins Bewußtsein und leuchten als Güter, von denen man sich trennen muß, als verlorene Werte auf. Die Philosophen, deren Gedanken den in diesem Prozeß untergehenden sozialen Schichten entsprechen, klagen, daß »die Bilder und Ideen« sterben. Sie beurteilen die Vergangenheit von der Gegenwart aus und meinen, daß die Menschen diese Werte ehemals gefühlt hätten. Aber die Schmerzen, welche bei der konstanten Durchdringung der entwickelten Länder mit der kapitalistischen Produktionsweise gleichsam als endlose Wiederholung der Greuel ihrer Einführung erzeugt werden, machen jene Zustände erst zu Gütern, deren man die Unglücklichen beraubt, und daher zu den Bildern und Ideen, deren Tod die Philosophen betrauern. Die Philosophen täuschen sich also. Aber das Elend der Zurückgebliebenen, das der technische Fortschritt bedingt und aus dem ihre falschen Theorien hervorgehen, ist nicht weniger real als das Glück der zukünftigen Generationen, das er vielleicht später bedingt. Doppelte Moral. — Leitspruch für den Freund der bestehenden Ordnung: »Weh dem, der lügt.« Er kann nach, mit, von seiner Gesinnung leben. Leitspruch für den, der über die bestehende Ordnung erschrickt: »Weh dem, der nicht lügt.« Er kann nach, mit, an seiner Gesinnung zugrunde gehen.
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Zur Relativität des Charakters. — Ob Dschingis-Khan Sonette gedichtet hat, weiß ich nicht, aber er könnte ein bezaubernder Unterhalter gewesen sein. Jedenfalls haben ihn seine Vertrauten anders erfahren als besiegte Fürsten und Kriegsgefangene. Umgekehrt werden Dichter und Gelehrte, die in der Geschichte des kulturellen Fortschritts einen ehrenvollen Platz einnehmen, mit den jeweiligen Dschingiskhanen als ihren Gönnern an den zeitgemäßen Herrschaftsmethoden sich beteiligt und für die Beherrschten ihrer Epoche zu den Teufeln gezählt haben. Die moralischen Eigenschaften der Menschen sind relativ, sie hängen von der Lage, vor allem von der Klassenlage dessen ab, der sie erfährt. Doch erscheinen sie nicht bloß verschieden je nach der Beziehung, die wir zu ihnen haben, sondern sie sind es. Die Relativität, von der wir reden, ist nicht dieselbe wie z. B. die Abhängigkeit der Erscheinung eines Bildes, das je nach der Stellung des Beschauers größer oder kleiner aussieht, während es doch in Wirklichkeit gleich groß bleibt. Mit den festen Ausmaßen des menschlichen Wesens ist es nicht so weit her wie mit denen der uns umgebenden Dinge, wenngleich die Physik jetzt auch die Maße der Dinge von der Bewegung des Beobachters abhängen läßt. Der dem Künstler gegenüber feine und großzügige Mäzen kann den Arbeitern gegenüber wirklich ein Ausbeuter, die reizende Dame wirklich ein Quälgeist für ihre Kammerzofe sein, der ergebene Beamte ist sehr oft ein Tyrann in seiner Familie, die verschiedenen menschlichen Eigenschaften sind nicht bloß Aspekte für die verschiedenen von ihnen betroffenen Personen, sondern Realitäten, die in den Beziehungen selbst existieren. Die Erfahrung, daß dieser oder jener Mensch besser oder schlechter sei, als ich bisher gedacht, hängt gewöhnlich von irgendeiner Veränderung in meiner eigenen Lage ab; diese Veränderung bewirkt im anderen ein freundlicheres oder feindlicheres Verhalten. Du brauchst nur das große Los zu gewinnen, um die meisten Menschen als bessere zu erkennen. Bloß einige deiner früheren Freunde mögen nachträglich kleinlich und »gleich beleidigt« sein. Hast du schon einmal die Veränderung im Ton der Stimme bemerkt, wenn ein Bekannter entdeckt, du seist nicht, wie er bis jetzt geglaubt, wohlhabend, sondern arm und könntest am Ende etwas von ihm wollen? Hast du den Unterschied beobachtet, wie jeder
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seinen armen und wie seinen reichen Bekannten eine Gefälligkeit tut? Vor dem, der die Macht gewinnt, verwandelt sich die Mehrzahl der Menschen in hilfsbereite, freundliche Geschöpfe. Vor der absoluten Ohnmacht, wie sie bei den Tieren ist, sind sie Viehhändler und Metzger. Eine Neurose. - Es gibt Gedanken, welche die Arbeits- und Genußfähigkeit bis zu einem Grad hemmen, der an Krankheit grenzt. Die Psychologen werden sie daher für neurotisch erklären. Trotzdem sind sie wahr, und wenn viele sie hätten, und zwar immer hätten, stände es vielleicht besser um die Menschheit. Solche Gedanken sind die folgenden: Ich esse, und die erdrückende Mehrzahl der Menschen hungert, viele sterben an Hunger. Ich werde geliebt, unzählige werden gehaßt und gequält. Wenn ich krank bin, pflegen mich andere und wollen mir Hilfe leisten, die Mehrzahl der Menschen wird für eine Krankheit mit Beeinträchtigung der Stellung, mindestens kargerem Lohn, Vorwürfen, Spitalregime und Elend bestraft. In diesem Augenblick werden unzählige Menschen auf der Welt absichtlich gequält, gefoltert, körperlich und geistig umgebracht: Männer, Frauen, Kinder, Greise, Tiere — in unbeschreiblichem Leiden; mir geht es zufällig erträglich, zufällig nicht in Beziehung auf die Ursachen, sondern auf meinen inneren Wert: ich bin wie alle die anderen. So weit hat Tolstoi gedacht. Seine Ratschläge für Änderung waren schlecht, er hat die gesellschaftliche Ursache der Übel nicht klar erkannt und darum den Weg zu ihrer Abschaffung nicht gesehen. Aber gibt es überhaupt einen »Weg«? Und ist er nicht im voraus kompromittiert, weil die Menschheit denen, die auf ihm geblieben sind, nicht mehr helfen kann, wenn sie ankommt? Woher den Mut und die Kraft nehmen? Warten. - Im genauen Verhältnis zur sozialen Hierarchie steht das Wartenmüssen. Je weiter oben einer ist, um so weniger muß er warten. Der Arme wartet vor dem Fabrikbüro, auf dem Amt, beim Arzt, auf dem Bahnsteig. Er fährt auch mit dem langsameren Zug. Eine Verschärfung des Wartens ist es, wenn man dabei stehen muß; die letzte Wagenklasse in den Zügen ist gewöhnlich überfüllt, und viele stehen darin. Arbeitslose warten den ganzen Tag.
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Der Umstand, daß jede Minute, die ein Generaldirektor beim Bankier warten muß, ein schlechtes Zeugnis für seine Kreditfähigkeit ist, wird vielfach erörtert; dieses Wissen gehört zur Philosophie des kapitalistischen Geschäftsmannes. Das Warten, das in allen Epochen Lebensmerkmal der beherrschten Klasse war, wird in der bürgerlichen Gesellschaft weniger erörtert; dieses Wissen gehört nicht zum Geschäft der kapitalistischen Philosophie. Die meisten Menschen warten jeden Morgen auf einen Brief. Daß er nicht eintrifft oder eine Absage enthält, gilt in der Regel für die, welche ohnehin traurig sind. Je reicher dagegen der Adressat, um so freudigere Überraschungen bringt die Morgenpost, es sei denn, daß die wirtschaftliche Krise auch hieran rüttle und ihn in den sozialen Umschichtungsprozeß mit einbezöge. Das Unerforschliche. — Mag es sich mit der allgemeinen Abhängigkeit der Metaphysik von der Gesellschaft wie auch immer verhalten, gewiß ist, daß die Herren von der offiziellen Geistigkeit den Ast nicht absägen, auf dem sie sitzen. Schopenhauer, der sich selbst freilich ein Rentnerdasein leisten konnte und es weidlich ideologisch verklärte, hat doch erkannt, daß die Philosophieprofessoren seiner Zeit offen oder heimlich die Religion unterstützten, weil mittelbar ihre Klasse, unmittelbar das die Lehrstühle besetzende Ministerium der Religion nicht entraten konnte. Es ist ihm klar geworden, wie das Thema probandum, die Verträglichkeit der Religion mit dem erreichten Stande der Erkenntnis, gewollt oder ungewollt bis in die entferntesten Einzelheiten der Systeme hineinspielte. Aber daß die religiösen Vorstellungen nur einen kleinen Teil der vorschriftsmäßigen Denkweisen und Begriffe ausmachen, denen gegenüber die Philosophie aus den gleichen Ursachen tolerant, mindestens neutral ist, hat er außer acht gelassen. Heute braucht man nicht einmal auf den Inhalt einer philosophischen Theorie einzugehen, um die soziale Interessenlage ihres Urhebers darin zu erkennen; die Fragestellung und der mehr oder weniger gepflegte Ton ihrer Behandlung verrät schon den gesicherten Standort, zu dem sie gehört. Was für die Philosophie gilt, trifft für die »Geisteswissenschaften« im allgemeinen zu. Weder ihre Reden über Geist, Kosmos, Gott, Sein, Freiheit usw. noch auch ihre Äußerungen über Kunst, Stil, Persönlichkeit, Gestalt, Epoche,
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ja über Geschichte und Gesellschaft verraten Leid oder gar Empörung über das Unrecht oder Mitleid mit den Opfern. Sie können in dieser Hinsicht ganz objektiv bleiben, denn ihre materiellen Sorgen sind nicht die des größeren Teils der Menschheit. Wie sollten diese Leute den »überzeitlichen* Belangen der Menschen dienen, wenn sie noch nicht einmal ihre zeitlichen verstehen? Bei allen schwierigen Problemen, welche der Gedanke der Ewigkeit enthalten mag, werden ihn eher die Elenden in ihrer Verzweiflung als die dafür angestellten Beamten hervorbringen. Er hat die Eigentümlichkeit, in der naivsten, sinnlich gröbsten Hoffnung reiner und sublimer zu erscheinen als in der spiritualistischen Metaphysik und Theologie; diese bat ihn verfeinert, entsubstanzialisiert, aus dem Bereich der menschlichen Vorstellungen gehoben, um seinen Widerspruch zur Wirklichkeit mythologisch überwinden zu können, sie hat ihn den allzu stofflichen Wunschbildern der Beherrschten entrückt und den Zwecken der Herrschenden desto besser angepaßt. Seit einigen Jahrhunderten ist man daran, Gott nur als völlig transzendenten und schließlich als unerforschlichen Geist zu fassen. Dies hat vielleicht weniger damit zu tun, daß die Schrecken der Welt mit der Güte und Gerechtigkeit des allmächtigen Wesens schwer in Einklang zu bringen sind — für die Theologie war so etwas nie ein Kunststück —, sondern mit der Abneigung dagegen, Gerechtigkeit und Güte mit der Ehre, daß sie Gottes Eigenschaften seien, zu bekleiden. Diese Züge paßten wenig zum Bild der Herrschenden. Den Allmächtigen als finster und furchtbar hinzustellen wie die Mächtigen auf der Erde selbst war schwer, damit hätte man die Menschen zur Verzweiflung getrieben. So beraubte man Gott aller erkennbaren Eigenschaften und unterschied seine Wege ganz von den irdischen. Sie wurden so dunkel wie die Geschäftspraktiken der Fabrikanten, und Bankiers. Gerechtigkeit, Güte, Menschenfreundlichkeit haben im Kapitalismus einen kritischen Beigeschmack angenommen, unsere Metaphysiker denken nicht daran, sie zu idealisieren. Sie haben dafür die Wehrfreudigkeit. Vergessen. — Wenn einer ganz tief unten ist, einer Ewigkeit von Qual, die ihm andere Menschen bereiten, ausgesetzt, so hegt er wie ein erlösendes Wunschbild den Gedanken, daß einer komme,
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der im Licht steht und ihm Wahrheit und Gerechtigkeit widerfahren läßt. Es braucht Tür ihn nicht einmal zu seinen Lebzeiten zti geschehen und auch nicht zu Lebzeiten derer, die ihn zu Tode foltern, aber einmal, irgendwann einmal, soll doch alles zurechtgerückt werden. Die Lügen, das falsche Bild, das man von ihm in die Welt bringt, ohne daß er sich noch dagegen wehren könnte, sollen einmal vor der Wahrheit vergehen, und sein wirkliches Leben, seine Gedanken und Ziele, ebenso wie das ihm am Ende zugefügte Leid und Unrecht sollen offenbar werden. Bitter ist es, verkannt und im Dunkel zu sterben. Solches Dunkel aufzuhellen ist die Ehre der Geschichtsforschung. Selten haben die Historiker diese so entschieden vergessen wie in dem Bemühen der Gegenwart, den ehemals herrschenden Klassen und ihren Henkersknechten historisches »Verständnis« widerfahren zu lassen. Die Träume von Ketzern und Hexen, daß ein besseres und menschlicheres Jahrhundert auf sie zurückblicken möge, haben sich in der Tal »o erfüllt, daß unsere heutigen Gelehrten und Dichter davon träumen, in jene Dunkelheit zurückzukehren, aber nicht aus jugendlicher Sehnsucht, die Opfer zu befreien, sondern um jene gesegneten Zeiten der Gegenwart sachkundig als Muster vorzuhalten.
Nachwort des Herausgebers
Max Horklieimer hat die Arbeitskraft seines letzten Lebensjahres an die Vorbereitung der Publikation seiner Notizen aus den Jahren 1950 bis 1969 gewandt. Sie waren ursprünglich nicht für den Druck vorgesehen, und wie schon bei den übrigen Bänden der Werkausgabe hat Horkheirner lange gezögert, seine Zustimmung zur Veröffentlichung zu geben. Sein anfänglicher Widerstand gegen eine Publikation der Notizen entsprang ähnlichen Motiven, wie er sie in seinem Brief an den S. Fischer Verlag vom 5. Juni 1965 genannt hat, als die Wiederveröffentlichung der Essays aus der Zeitschrift für Sozialforschung zur Debatte stand: »Dialektik, wie sie von den Essays geraeint wird, hat in sich mit aufzunehmen, daß sie in Geschichte selbst miteinbezogen ist. Ihre eigenen Begriffe kennt sie als Momente der historischen Konstellation wie als Ausdruck jenes Willens zur richtigen Gesellschaft, der in verschiedenen historischen Situationen theoretisch und praktisch verschieden sich äußert und zugleich als derselbe sich erhält.«1 Diese kritische Selbstinterpretation gilt cum grano salis auch für die Notizen, denn wie kaum ein anderer Denker hat Horklieimer über die Historizität und damit über die Vergänglichkeit des philosophischen Gedankens Bescheid gewußt und Bescheid gegeben. Hier liegt wohl auch der Grund für seine erstaunliche publizistische Abstinenz, für seine Verachtung weltanschaulicher Proklamationen, die bei ihm mit einer geheimen bürgerlichen Aversion gegen das Schreiben und den ecrivain zusammenging. Mit dem antiliterarischen Ressentiment des Spießers hatte das freilich nichts gemein; Horkheimers Aversion kam aus dem Bewußtsein der Mitschuld dessen, der sich die Hände nicht schmutzig machen muß. Nicht umsonst hat Horkheimer dieses Thema in den Notizen variiert. Max Horkheiirier, Kritisdm Theorie, Bd. II. Frankfurt am Main 1968, S. XL
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Nachwort des Herausgebers
Daß die Notizen nicht für den Druck vorgesehen waren, hat ihnen auf der anderen Seite mehr als den meisten übrigen Texten Horkheimers den ihm eigentümlichen sprachlichen Duktus und in ihm die Originalität seines Denkstils bewahrt. Die oft eigenwillige syntaktische Struktur und die auf einen bewußt langsamen und sorgfältigen Gang des Gedankens eingestellte Zeichensetzung mögen bei der Lektüre zuweilen Schwierigkeiten bereiten; indessen kann man an ihnen wieder genaues Lesen lernen und wird zugleich damit vertraut gemacht, daß Ausdruck etwas mit Individualität zu tun hat. Auch inhaltlich wird man in den Notizen eine neue Qualität Horkheimerscher Texte entdecken. Außer der Dämmerung wüßte ich keine Arbeit Horkheimers zu nennen, in der seine spezifische Radikalität, ja Schroffheit des Denkens so authentisch zum Ausdruck käme wie in den Notizen. Als Beispiel für die Textdifferenz möchte ich auf den Eichmann-Aufsatz1 hinweisen, dessen »Rohfassung« sich in den Notizen findet. Der Rückzug auf die private Form der Notiz war einerseits Teil von Horkheimers Reaktionen aufs modische Engagement der nach ig45 auftretenden Gesinnungsphilosophien. Nach seiner großen literarischen Produktion in der Zeitschrift für Sozialforschung hat Horkheimer eigentlich nur noch Gelegenheitsarbeiten produziert, die freilich diese Bezeichnung weit hinter sich lassen. Die entscheidende Zäsur im Leben Horkheimers, die auch seine spezifischen Schreibhemmungen begründete, war allerdings der Sieg des Nationalsozialismus. Schon die Vorbemerkung zu dem Buch Dämmerung beginnt mit dem Satz: »Dieses Buch ist veraltet.« Nach dem Sieg des Nationalsozialismus gehörten für Horkheimer die Begriffe, um die die Notizen in Deutschland kreisten, der Vergangenheit an. Das Jahr 1935 war für Horkheimer der endgültige Schlußstrich unter die Gesellschaft des liberalen Bürgertums, und in der Folge begann für ihn auch die Idee seines quasi kontrapunktisch entwickelten Marxismus zu verblassen. Trotzdem hat Horkheimer im Grunde nicht resigniert. Bis in sein letztes Lebensjahr hat er in Vorträgen und Interviews die Unbeirrtheit seines 1 >Zur Ergreifung Eichmanns<, in: Max Horkheimer, Zur Kritik der instrurnentellen Vernunft, Frankfurt am Main 1967, S. 517-320.
Nachwort des Herausgehers
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kritischen Denkens bewahrt. Er war kein "Verfallstheoretiker; allerdings hat er erkannt, daß sich die geschichtlichen und die philosophischen Vorzeichen verändert haben. Dem S. Fischer Verlag und besonders der klugen Initiative von Frau Ilse Grubrich-Simitis ist es zu danken, daß Horkheimer seine Bedenken gegen eine Publikation der Notizen schließlich aufgab. Seine Bedingung war, daß ein Herausgeber mit ihm zusammen in Montagnola (Tessin), wo er seit seiner Emeritierung lebte, die Edition vorzubereiten habe. Nach einem Vorgespräch im Januar 1972 in Frankfurt fuhr ich Anfang März desselben Jahres zum erstenmal nach Montagnola und sah mit Horkheimer die Notizbücher durch. Es waren kleine Merkhefte, meist im DIN-A6Format, deren Seiten eng in Horkheimers winziger Schrift beschrieben waren, teils mit Kugelschreiber, teils mit Tintenstift. Das erste Problem war also das der Entzifferung, und der erste Schritt bestand darin, einen maschinenschriftlichen Text herzustellen. Diese Arbeit hat Frau Eva-Maria Herbig, Lugano, mit großer Sorgfalt gemeistert. Dann begann die eigentliche Arbeit mit Horkheimer. Sie fing meist am Spätnachmittag an und zog sich oft bis in die Nacht hinein, denn dies war Horkheimers liebste Arbeitszeit. Spät abends und nachts sind auch die Notizen niedergeschrieben worden, Nachtgedanken in mehrfacher Hinsicht. Das Leitmotiv der Notizen sind die gesellschaftlichen Paradoxien, die in der Epoche der Dialektik der Aufklärung und der Verfinsterung der Vernunft auch den theoretischen Gedanken in die Form des Paradoxons treiben. Sie entsprachen zugleich auf besondere Weise Horkheimers Sinn für das philosophisch Ungereimte der Wirklichkeit und seiner an ihr ausgebildeten Kunst der Wahrnehmung des Besonderen. Und mit psychologischer Konsequenz wich im Laufe der Arbeit und des Wiederlesens sein anfängliches Unbehagen an der Publikation der Lust an der Wahrnehmung und Formulierung des Widersprüchlichen und dem Wunsch, seine Beobachtungen auch anderen mitzuteilen. Im Zentrum der Notizen steht, wie schon in der Dämmerung, die Beobachtung der Auflösung der bürgerlichen Kultur. Horkheimer demonstriert sie vorzüglich an Themen der Philosophie wie Erkenntnistheorie, Dialektik und Positivismus, an Problemen der Religion und Theologie, an Judentum und Christentum, an Poli-
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tik und Autonomie, an der Psychoanalyse, der Medizin und mit besonderer Freude an den Medizinern. Andere Schwerpunkte bilden Soziologie und Marxismus und nicht zuletzt jene Begriffe, die ihm wohl das meiste bedeutet haben: Glück, Liebe und Trauer, Tod und Utopie. In den Bemerkungen gerade zu diesen Themen mag man so etwas wie das philosophische Testament Horklieimers sehen. Stärker soziologisch akzentuiert ist das hier wieder veröffentlichte Buch Dämmerung. Notizen in Deutschland, das 1954 unter dem Pseudonym Heinrich Regius im Verlag Oprecht & Helbling in Zürich erschienen war und seither nicht wieder aufgelegt wurde. Es handelt sich um Notizen, die Horkheimer während der Jahre 1926 bis 1931 in Deutschland aufgezeichnet hat: »Sie beziehen sich immer wieder kritisch auf die Begriffe Metaphysik, Charakter, Moral, Persönlichkeit und Wert des Menschen, wie sie in dieser Periode des Kapitalismus Geltung besaßen.«1 Zwischen den frühen und den späten Notizen liegt die Erfahrung des Faschismus und des autoritären Staatssozialismus. 1934 heißt es noch unter dem Titel Gesellschaftsbau und Charakter<, »die gegenwärtige Gesellschaftsform, der sogenannte Individualismus, [ist] in Wahrheit eine Gesellschaft der Gleichmacherei und der Massenkultur, und der sogenannte Kollektivismus, der Sozialismus, im Gegenteil die Entfaltung der individuellen Anlagen und Unterschiede«.2 In den Notizen von 1950 bis 1969 hat Horkheimer mit unorthodoxem soziologischen Blick die Konturen einer »Gesellschaft im Übergang« gezeichnet; in ihnen hat der kritische Pessimismus, der seiner Philosophie nie ganz fremd war, die Hoffnungen des Marxismus endgültig abgelöst. Die Hauptintention der editorischen Arbeit bestand darin, den Text der Notizen so getreu wie möglich wiederzugeben und insbesondere auch vor den Brüchen und Widersprüchen sich nicht zu scheuen, die Horkheimers Spätphilosophie gern nachgesagt werden. Diese Aufgabe ist im wesentlichen gelungen, und Horkheimers geduldige und unprätentiöse Mitarbeit hat den größten Anteil daran, daß dies Buch schließlich zustande gekommen ist. Da 1 Vgl. oben, S. 224. 2 Vgl. oben, S. 265.
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die Notizen als private Niederschrift konzipiert waren, mußten zunächst jene individuellen Abbreviaturen und syntaktischen wie stilistischen Eigentümlichkeiten lesbar gemacht werden, die unbedingt der Entzifferung bedurften. Trotz Zuhilfenahme einer großen Lupe, durch die Horkheimer den Originaltext mitlas, den er häufig mit kaustischem Witz glossierte, konnte nicht alles verifiziert werden. Textstellen, die auch dem Autor apokryph blieben, wurden nicht in die Druckfassung übernommen. Dasselbe gilt für Wiederholungen, sofern sie nicht als Variationen eines Themas angesehen werden konnten. Einige Notizen, die sich auf heute vergessene oder nebensächliche Tagesereignisse beziehen, wurden ebenso fortgelassen wie Bemerkungen, die unmittelbar privaten Charakter haben. Die Texteliminationen wurden im Einverständnis mit Horkheimer vorgenommen; Ergänzungen oder sachliche Korrekturen wurden vermieden. Die Anordnung der Texte folgt im wesentlichen der übrigens nicht immer rekonstruierbaren zeitlichen Reihenfolge der Niederschrift. Datierungen, die Horkheimer selber eingetragen hat, sind in Klammern dem betreffenden Text vorangestellt, die Datierung der Hauptabschnitte folgt den Jahreszahlen, die Horkheimer jeweils arn Beginn der einzelnen Hefte notiert hat. Die andere Hauptaufgabe der Edition war, die Notizen, nach dem Vorbild der Dämmerung, in der Druckfassung mit Überschriften zu versehen. Partiell hatte Horkheimer auch in den Notizen schon Überschriften formuliert. In der gemeinsamen Arbeit während des Jahres 1972 gelang es, die meisten der Überschriften zu fixieren. Die Schlußredaktion, in der die noch fehlenden Überschriften hätten ergänzt werden sollen, war für den September 1973 vorgesehen. Sie wurde durch Horkheimers Tod vereitelt. Ich habe versucht, diese Überschriften selber zu formulieren, sie sind im Inhaltsverzeichnis mit einem Stern bezeichnet. Zum Schluß möchte ich denjenigen danken, die mir die Zusammennarbeit mit Max Horkheimer ermöglichten und die das nicht immer einfache Geschäft der Redaktion erleichtern halfen. An erster Stelle habe ich dem S. Fischer Verlag für seine großzügige Unterstützung zu danken, besonders aber Frau Ilse GrubrichSimitis, ohne deren Initiative das Buch in der jetzt vorliegenden Form nicht mehr zustande gekommen wäre. Mein Dank gilt fer-
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ner den beiden Mitarbeiterinnen Horkheimers in Montagnola, Frau Dr. Hertha Dembitzer und Frau Charlotte Kluth, und nicht zuletzt der gastfreundlichen Aufnahme in der Casa Horkheimer durch Frau Margit Winter. Frau Ingeborg Meyer-Palmedo im S. Fischer Verlag habe ich für technische Hilfen zu danken. Dem Andenken Max Horkheimers möchte ich meine Arbeit an den Notizen widmen. Noch in unserem letzten Gespräch, das kurz vor seinem Tod am 26. Juni 1975 in Nürnberg stattfand, galt sein Interesse vor allem der Publikation der Notizen und der für den September in Montagnola geplanten Schlußredaktion. Anstelle der Zeilen, mit denen er wohl selber die Notizen begleitet hätte, möchte ich den Schlußsatz seiner Vorbemerkung zur Dämmerung hierhersetzen. Er kennzeichnet am besten Horkheimers eigene Einstellung zu diesem Buch: »Doch mögen die Einfälle des seiner Lebensart nach individualistischen Verfassers auch späterhin nicht ganz ohne Bedeutung sein.« München, Juni 1974.
Werner Brede