Nicolas Fargues
Nicht so schlimm
Roman
Sie sind jung und gutaussehend, sie haben zwei bezaubernde Kinder, Erfolg im B...
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Nicolas Fargues
Nicht so schlimm
Roman
Sie sind jung und gutaussehend, sie haben zwei bezaubernde Kinder, Erfolg im Beruf –und eine gewaltige Ehekrise. Auf jede erdenkliche Weise machen sie sich das Leben zur Hölle. Da liegt das Tagebuch mit den ausführlichen Berichten über außereheliche Abenteuer offen herum, da schwört man beim Leben der Kinder – und lügt. Und die wichtigste Kampfregel: Nichts, aber auch gar nichts jemals verzeihen. Bis er schließlich Alice trifft, die ihm im Restaurant ihre Telefonnummer zusteckt, und so etwas wie Liebe wieder möglich zu sein scheint. Doch um welchen Preis? Nicolas Fargues, Mitte dreißig, hat den Liebesroman seiner Generation geschrieben: schonungslos, einfühlsam, temporeich, leidenschaftlich.
Nicolas Fargues
Nicht so schlimm Roman
Deutsch von Frank Wegner
Rowohlt
Die Originalausgabe erschien 2006
unter dem Titel J´etais derriére toi
hei P.O.L éditeur, Paris
Redaktion Elisabeth Raether
1. Auflage Juli 2007
Copyright © 2007 by Rowohlt Verlag GmbH
Reinbek bei Hamburg
J´etais derriére toi Copyright
P.O.L. Léditeur, 2006
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Satz Legacy sent PostScript, InDesign,
bei Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978 3 498 02117 7
Für Emilia
Ero dietro di te: Weißt du, was das heißt? Ich war hinter dir. Sie saß nämlich während des Essens die ganze Zeit an einem Tisch hinter uns und hat mir zugesehen, ohne dass ich es gemerkt habe. Und was mir jetzt erst auffällt, der Satz hat ja eindeutig auch eine symbolische Bedeutung. Er könnte auch meinen: «Die ganze Zeit, all die Jahre, war ich hinter dir, ganz nah, und du hast mich nicht gesehen. Das mit uns beiden war doch klar, aber je des Mal haben wir uns verpasst. Jetzt bin ich hier, damit du Bescheid weißt, es liegt jetzt an dir, und du kannst dich hinterher nicht beschweren, du hättest von nichts gewusst und die Chance deines Lebens verpasst.» Oder, was meinst du? Der Kellner hat mir nach dem Essen mit der Rechnung ein Kärtchen gebracht, weißt du, so eins mit dem Namen, dem Logo und der Adresse des Restaurants. Vielleicht ist dir auch schon aufgefallen, dass in Italien solche Dinge immer sehr schön gemacht sind, sauberer Druck, gutes Papier, ein elegantes Logo und eine sorgfältig gewählte Typo. Man sieht, dass sich jemand Gedanken gemacht hat, die Italiener achten auf solche Dinge, im Gegensatz zu uns. Auf der Rückseite des Kärtchens stand mit Kuli: Ero dietro di te – Alice, auf Italienisch spricht man das Ali tsche aus, und eine Handynummer, die fangen in Italien immer mit 33 oder 34 an. Der Kellner hält mir grinsend das Kärtchen hin und will mir auf Italienisch erklären, was es damit auf sich hat. Ich nicke, verstehe aber nur jedes fünfte Wort. Ich wollte nicht zugeben dass ich kein Italienisch kann, das wäre mir zu peinlich gewesen. Also habe ich weiter genickt, aus Stolz. Bescheuert, so zu reagieren, oder? Wirklich bescheuert.
Der Kellner hat natürlich gemerkt, dass ich nichts ka piere, und sieht meinen Vater und meine Stiefmutter an, die beide Italienisch sprechen, um ihnen zu erklären, dass eine Frau am Tisch hinter uns mir ihre Telefonnummer geben wollte. Der Kellner fand das ziemlich lustig, er hat gar nicht mehr aufgehört zu grinsen. Aber sein Lächeln war überhaupt nicht spöttisch oder überheblich. Im Ge genteil, eher schüchtern, gerührt, erstaunt. Ein erstauntes Strahlen, genau. Er wurde fast rot, so verlegen war er, und so kühn und romantisch erschien ihm die Geste der Frau, mir einfach so ihre Telefonnummer zu geben. Das ist ja eigentlich so eine Situation, die man sonst nur aus dem Kino oder aus Büchern kennt, Und der Kellner erlebt so etwas bestimmt auch nicht jeden Tag. Daran habe ich gar nicht gedacht, weil es ja um mich ging weil die Worte auf dem Kärtchen an mich gerichtet waren. Aber für einen Unbeteiligten muss das Ganze ziemlich seltsam gewirkt haben, oder? Jedenfalls habe ich den Kellner gefragt, auf Englisch diesmal - ist dir übrigens schon mal aufgefallen, dass die Italiener auf die Frage «Do you speak English?» immer bescheiden «Just a little bit» antworten? Dschastelittelbit, mit einem kleinen Akzent, und dabei mit dem Zeigefinger und dem Daumen so machen. Sie sagen «Just a little bit», aber sie verstehen und sprechen viel besser Englisch als wir. Oder? Ist dir das schon mal aufgefallen? Also, der Kellner. Ich frage ihn in meinem besten Englisch, um ja keinen französischen Akzent zu haben - unser Akzent ist nämlich wirklich peinlich, wenn wir Englisch reden, oder? -, ich frage ihn also, ob die Frau noch da ist, wie sie aussieht, ob sie hübsch ist oder nicht, ich sage, er soll sie mir beschreiben, einfach nur so. Nur
zum Spaß, es war mir nicht wirklich wichtig. Ich wollte vor meinem Vater, meiner Stiefmutter und meinem kleinen Bruder nur ein bisschen den Coolen spielen. Und außerdem tat es mir gut, so zu plaudern, es lenkte mich ab. Weil es mir an diesem Abend so schlecht ging, das kannst du dir gar nicht vorstellen, wirklich. Es war schon über einen Monat her, dass Alexandrine mich betrogen hatte, aber ich war immer noch nicht darüber hinweg, es war schrecklich. Immer wenn ich sie ansah, musste ich daran denken; ich versuchte, nicht mehr daran zu den ken, aber nichts zu machen, das Ganze nahm gewaltige Dimensionen an, wurde fast pathologisch, ich ging auf dem Zahnfleisch, völlig ausgebrannt, Tag und Nacht tat mir der Magen weh, du weißt, was ich meine, wenn es hier wehtut und der Schmerz gar nicht mehr aufhört, wenn aus seelischer Not ein objektives körperliches Leiden wird, verstehst du? Das sind so Zustände, da kriegst du Antidepressiva verschrieben, Prozac oder so. Davor habe ich nie verstanden, warum die Leute Prozac nehmen. Weil es für mich eine Frage des Stolzes war, nicht zuzugeben, dass irgendetwas nicht stimmt - ich habe dann irgendwann selbst geglaubt, dass ich so etwas wie Probleme gar nicht kenne, mein Spruch war immer: Kein Problem -, weil ich hartnäckig darauf bestand, glücklich zu sein, und deshalb habe ich nie verstanden, was diese ganze Chemie soll, welchen Nutzen und welche Wirkung das haben soll. Ich konnte mir nie etwas darunter vorstellen, wenn die Leute von Depression und Unglück sprachen, diese ganzen Mittelchen, Psychologen und dieses ewige Gequatsche, das ist doch was für
Schwächlinge. lch habe darauf immer verächtlich, gereizt und ungeduldig reagiert. Ich verstand nicht, wie man unglücklich sein kann, ohne etwas dagegen zu unternehmen, wie man sich die Dinge derart zu Herzen nehmen, wie man schlagartig um zehn Jahre altern kann, wie einem plötzlich die Lust vergeht, zu lächeln. Ich dach te, dass die Leute, denen es schlechtgeht, sich mir ihrem Zustand abfinden und dass sie sich letztlich sogar ganz wohl fühlen mit ihrem Unglück, verstehst du? Also, ich habe zu keinem Zeitpunkt daran gedacht, mir Prozac verschreiben zu lassen, weil ich im Grunde ein überdimensionales Ego habe, irgendwie bekomme ich dann doch immer alles hin und falle immer wieder auf die Füße, was auch passiert. Aber heute weiß ich, dass es seelische Qualen gibt, die zu groß sind, unerträgliche Qualen, denen man sich ergibt. Ich habe verstanden, dass die westliche Medizin in der Lage ist, gegen diese Schmerzen bestimmte Moleküle einzusetzen, die das Leben erträglicher machen. Und dass es falsch wäre, auf diese Mittel zu verzichten, wenn man sie braucht, wenn man nicht mehr weiterweiß und keine Kraft mehr hat, wenn man damit weniger unglücklich ist. Man braucht sich deshalb gar nicht zu schämen. Nein, wirklich, ich verachte die Leute nicht mehr, die sich mit Medikamenten vollstopfen und keinen Hehl daraus machen, dass es ihnen schlechtgeht, das wäre zu billig. Sie tun, was sie können, das habe ich inzwischen verstanden. Ich weiß, dass sie ganz schön was mitgemacht haben, wenn sie diesen Punkt erreicht haben. Ich habe verstanden, dass es möglich ist, zu leiden, ohne das eigene
Leid abstrahieren zu können. Und übrigens verachte ich niemanden mehr. Diese ganze Geschichte hat mich menschlicher gemacht. Ich musste erst dreißig werden, um zu kapieren, dass ich wie alle anderen bin, dass wir alle dasselbe durchmachen und ich ein Idiot war, zu meinen, ich stehe über den Dingen. Meine Therapeutin hat schon bei der ersten Sitzung im Juni gesagt: «Jetzt blicken Sie nicht mehr auf die anderen herab, jetzt sind Sie mittendrin», wobei sie mittendrin betonte. Vorher dachte ich immer, ich hätte den anderen nichts zu erzählen. Aber ich war ziemlich froh, dass die anderen mir zuhörten, als ich dann doch jemanden zum Reden brauchte. Vorher habe ich über solche Dinge nicht gesprochen, verstehst du. Kein Problem, wie gesagt. Heute weiß ich, dass ich das Ganze nur überstanden habe, weil ich stundenlang mit Leuten gesprochen habe, die mehr oder weniger aufmerksam zugehört haben. Ja, ich rufe in die Runde: Vielen Dank, ihr anderen! Ihr habt mir das Leben gerettet, und bitte verzeiht mir, dass ich auf euch herabgeblickt habe, ich habe meine Lektion gelernt, garantiert, das wird nie wieder vorkommen! Ich habe nicht einmal mehr Hemmungen, auf ein höfliches, beiläufiges «Wie geht's?» zu antworten: «Sehr schlecht, es geht mir überhaupt nicht gut, ich muss dir was erzählen, hast du kurz Zeit?» Ich schäme mich nicht mehr – ich, der ich nichts mehr gefürchtet habe, als den harmonischen Eindruck, den ich auf andere machte, durch ausführliches Reden über mich und meine Probleme zu beschädigen –, ich schäme mich also nicht mehr, stundenlang zu reden wie jeder andere auch, den anderen mit meinen Geschichten auf die Nerven zu fallen, wie die anderen mir
mit ihren Geschichten auf die Nerven gefallen sind, als es ihnen schlechtging und ich ihnen noch weismachen wollte, dass bei mir alles in Ordnung ist und ich ihnen zugehört habe, wie sie mir jetzt zuhören, da es mir schlechtgeht. Ich habe jetzt auch kein Problem mehr, so zu tun, als gingen sie mir nicht auf die Nerven; ich weiß ja auch, dass mein Gerede dem einen oder anderen, den ich in letzter Zeit vollgequatscht habe, irgendwann lästig wurde, dir zum Beispiel, oder? Gehe ich dir auf die Nerven? Sicher nicht? Eigentlich ist es mir auch egal, ob man mir zuhört oder nicht. Ich rede halt. Und es bringt immer was, zu reden. Ich habe nämlich auch verstanden, was die anderen von einem erwarten; nicht etwa, dass du sie mit deinen Problemen in Ruhe lässt oder dass es dir immer gutgeht, im Gegenteil. Sie wollen die Maske fallen sehen, das Geständnis, dass du einer von ihnen bist, dass du genauso in der Scheiße sitzt wie sie. Das ist wahre Gleichheit, die wahre geteilte Menschlichkeit. Solange es dir gutgeht und du die anderen mit deinen Problemen in Ruhe lässt, sind sie fasziniert von dir. Aber du gehörst nicht dazu, du bist zu weit weg, dein Glück hält sie auf Abstand, es reizt sie und ficht sie an. Und sie mögen dich noch lieber, sind aufmerksamer und zeigen Mitgefühl, wenn du die Maske fallenlässt, nachdem sie lange gedacht haben, dass du über den Dingen stündest, und mit perverser Ungeduld den Tag erwartet haben, an dem du endlich auf die Schnauze fällst wie alle anderen. Wie auch immer, ich musste also erst dreißig werden, um zu leiden. Oder vielmehr, um zu kapieren, dass ich lei de wie jeder andere auch und dass meine angebliche
mentale Stärke, meine angebliche elegante Gleichgültig keit, der Abstand, den ich angeblich zu den Dingen hatte, dass all das rein theoretisch war, konzeptuell oder literarisch, und überhaupt keine Bedeutung mehr hat, wenn das Leben dir richtig einen reinwürgt. Ich bin im Grunde erst mir dreißig erwachsen geworden. Weißt du, ich hatte nie wirkliche Probleme. Ich habe kein frühkindliches Trauma erlitten und nichts objektiv Dramatisches erlebt. Ich bin weder verstoßen noch vergewaltigt oder geschlagen worden, meine Eltern haben sich nicht ständig über mich lustig gemacht, mein Vater hat keinen umgebracht, er saß nicht im Knast, war kein Säufer, meine Mutter ist nicht auf den Strich gegangen, um mich zu versorgen, ich habe nichts Schreckliches mit ansehen müssen, keinen Mord oder Völkermord, keine Deportation oder so was. Meine Geschichte ist völlig banal und bürgerlich: eine jüngere Schwester, Mama und Papa, die sich und uns lieben und respektieren und die eines Tages entscheiden, dass sie nicht mehr miteinander können, und sich trennen, Punkt. Ein Kind für jeden, viel Glück auch, und wir wollen immer daran denken, dass wir uns einmal geliebt haben und dass das Allerwichtigste das Wohlbefinden unserer Kinder ist. Ganz normales kleines Scheidungstrauma, Patchworkfamilie, die Schwermut eines verzärtelten Kindes, das Leben geht weiter, muss man kein Drama draus machen. Gut, jeder sieht, was er sehen will, aber mir kommt diese blöde Sache mit Alexandrine, wahrscheinlich lache ich eines Tages darüber, aber im Moment kommt mir das alles wie eine kleine Revolution vor. Aber vielleicht ist so
eine Revolution auch Teil des ganz normalen, banalen, unspektakulären Lebenswegs eines jeden Erwachsenen. So ist das Leben, wie es so schön heißt. Gar nicht schlecht, dieser Spruch, oder? Jedenfalls gibt es bei dieser Geschichte ein Vorher und ein Nachher. Findest du nicht, dass ich mich ein bisschen verändert habe? Ich habe mich natürlich nicht völlig verändert, klar, aber, ich weiß nicht, eine gewisse Traurigkeit in den Augen, das fällt nicht gleich auf, aber man ist nicht mehr derselbe, alles irgendwie schwerer, mehr Erfahrung. Findest du nicht? Ich weiß, wir sind letztlich ausnahmslos alle irgendwie gekränkte Kinder. Alle. Theoretisch sollten sich da deine ganzen Wehwehchen etwas relativieren. Dieses unbenannte Leiden aller, fast schon demütigend. Na ja, jedenfalls war es schrecklich, dass Alexandrine mich betrogen hatte, ein Albtraum: Die vier Wochen nach ihrer Rückkehr aus Kodong habe ich nicht mehr geschlafen, ich musste mich zwingen, zu essen, aufzustehen, zu duschen, mir etwas zum Anziehen rauszusuchen, mich vor dem Spiegel zurechtzumachen, weiter hübsch zu lächeln, um allen weiszumachen, ich sei okay. Nein, eigentlich stimmt das nicht, ich musste mich nicht zwingen. Das ging alles ganz automatisch, ich habe gar nicht richtig verstanden, was da passiert. Ich stand unter Schock, weißt du, wie ein Gebäude nach dem Erdbeben noch kurz stehen bleibt, ehe es einstürzt. Oder wie ein Hahn, dem man den Kopf abgehackt hat, noch zwanzig, dreißig Sekunden lang über den Hof rennt, bevor er einsieht, dass Wegrennen jetzt nichts mehr bringt, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Ich dachte, ich wäre stark, verstehst du, rostfrei, geländegängig, unverwüstlich, zu
stolz, um zu leiden. Aber dann, mit einem Mal, kein Stolz mehr, kein Abstand, keine Ironie mehr. Sondern Leben. Und wie alle, die zu stolz sind und vom Leben immer verschont geblieben waren, habe ich beim ersten Rückschlag völlig überreagiert. Ich habe weiter funktioniert, mich ganz normal verhalten, aber innerlich hatte ich abgeschaltet. Ich war besessen von der Vorstellung, wie meine Frau sich in ihrem Scheißhotelzimmer in Kodong von diesem Typen flachlegen lässt, der größer ist als ich, der mehr Mann ist als ich, schwarz, mehr Muskeln als ich, leidenschaftlicher als ich, der mit ihr Englisch spricht und der es ihr besorgt, ohne lange zu fackeln. Es war entsetzlich, ich habe den anderen was vorgemacht, gelächelt wie doof, damit sie nicht meinen, ich lasse mir die Butter vom Brot nehmen. Aber innerlich wäre ich fast durchgedreht, ich dachte, niemand auf der Welt ist so am Ende wie ich. So ging es mir, als ich an diesem Abend mit dem Kellner in dem Restaurant in Romanze sprach. Meine Verzweiflung hatte etwas Euphorisches, verstehst du? Al lerdings tat es mir auch wirklich gut, in Italien zu sein. Am Morgen war ich aus Paris gekommen, ich wollte nur übers Wochenende bleiben, ich dachte auch nicht, dass die Reise oder dass Italien mir irgendwas bringen würde. Aber mein Vater, den ich seit einem Jahr nicht gesehen hatte, hatte mir vorgeschlagen, während meines Aufenthaltes in Europa einen Abstecher nach Italien zu machen, er war kurz zuvor mit seiner Familie da hingezogen. Er hatte mir schon zwei, drei Monate vorher eine Mail geschrieben, damit wir uns nicht verpassen, denn er
weiß, wie das ist, wenn man mal in Europa ist: tausend Dinge erledigen, in einem unglaublichen Tempo Hunderte von Leuten sehen und keine Zeit für die Familie. Er wusste, dass es nicht gut um meine Ehe stand, er hatte geschrieben: Wenn du Anfang September mit Alexandrine in Paris bist, komm doch für ein Wochenende zu uns nach Romanze, um ein wenig auszuspannen, da werden wir umgezogen sein, ich habe ein Häuschen gefunden, in den Hügeln mit Blick über die Stadt. Da saß ich gerade in meinem Büro in Tanambo, am anderen Ende der Welt, mit ganz anderen Sorgen im Kopf, zerfressen von Schuldgefühlen. Es wird so im Juni gewesen sein, meine Beziehung mit Alexandrine steckte da schon in einer handfesten Krise. Ich selbst hatte Mitte Mai alles kaputt gemacht, nach Jahren der Treue, und mit zwei Kindern, indem ich mich auf Gassy eingelassen habe, eine Sängerin auf Durchreise, die so weit ging, die Hexenmeister ihres Dorfes zu Rate zu ziehen, um mich zu verführen, und wahrscheinlich hat der Zauber geholfen, denn im Nachhinein verstehe ich überhaupt nicht, was ich eigentlich an ihr gefunden habe, völlig absurd, diese Geschichte mit ihr. Ein leichtlebiges Mädchen also, das nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, das ich kaum kannte und das ich eines Tages, als meine Frau mit den Kindern im Zoo war und sich nicht träumen ließ, was ich da am anderen Ende der Stadt gerade veranstalte, in seinem Hotelzimmer küsste und verstohlen befummelte. Das Schlimmste ist nicht, dass ich mit einer anderen Frau herumgeknutscht oder ihre Brüste angefasst habe und ihr zwischen die Beine
gegangen bin. Sondern – du kennst die Geschichte schon, wir haben es ja allen erzählt: Zwei Tage danach erzähle ich Alexandrine von der Frau und teile ihr gleichzeitig mit, dass ich sie verlassen werde, nur um zwanzig Minuten später alles zurückzunehmen und um Verzeihung zu flehen. Ich überspringe jetzt mal ein paar Details, um dir zu ersparen, wie Alexandrine auf der Stelle zusammenbrach, als ich sie von meinem Entschluss in Kenntnis setzte, der furchtbare, offensichtliche Schreck in ihren Augen und auf ihrem Gesicht, als sie gerade einen Marmorkuchen für die Familie in den Ofen schieben wollte. Ich erzähle dir nicht, wie ich auf der Stelle sterben wollte, als ich sah, was ich ihr angetan hatte, wie mir plötzlich bewusst wurde, dass die Welt aus den Fugen geraten war und ich unser Vertrauen unwiederbringlich zerstört und ein regelrechtes Sakrileg begangen hatte; ich erspare dir, wie ich den sofortigen Untergang der Welt kommen und die Flammen aus der Hölle aufsteigen sah, es gibt dafür kein anderes Bild, der Albtraum wurde Wirklichkeit, du willst die entscheidenden fünf Sekunden, die es gedauert hat, die Worte auszu sprechen, ungeschehen machen, diese verhängnisvollen fünf Sekunden neu schreiben, damit alles wird wie vorher und das Ganze nur ein böser Traum war. Apropos Traum, ich erspare dir auch, was ich ein, zwei Wochen zuvor geträumt hatte. Träume sind wirklich sonderbar. Ich habe geträumt, dass Alex und ich uns anschreien, wir schreien gleichzeitig, die Augen hysterisch zusammengekniffen, wir schreien uns an und weinen aus Verzweiflung über ein unlösbares Missverständnis, wir sind wütend auf den anderen, aus irgendeinem Grund,
der im Traum keine Rolle spielt, ein schlimmer Grund jedenfalls, und ich bin schuld, wir schreien in einer unbe schreiblichen Kakophonie, als würde die Welt zu Ende gehen, umarmen uns dabei mit aller Kraft, wie zwei ver ängstigte Waisenkinder während eines Bombenangriffs den Tod erwarten, denn wir wissen beide, dass es keinen Ausweg gibt. Ich erinnere mich genau an diesen Traum, ich denke mir das nicht aus, ehrlich, dieser Traum ließ mich nachts im Ehebett hochschrecken, weil die Brutalität so deutlich spürbar war, so realistisch. Ich hatte am nächsten Morgen noch Gänsehaut, wirklich. Ich erspare dir all das, aber wir sind uns einig über den Ablauf der Ereignisse? So haben die anderen die Geschichte ja auch erzählt, oder? Du kannst mir ruhig sagen, wenn du meinst, dass ich etwas vergesse, irgendwas, ein zusätzliches Detail, das dir wichtig vorkommt und das ich deinem Eindruck nach weglasse, damit meine Version der Geschichte eingängiger wird. Wirklich, du kannst es mir ruhig sagen, nicht dass du denkst, ich möchte dich unbedingt auf meine Seite ziehen. Ich werde dir jedenfalls nicht erzählen, wie es letztlich zu dem Ausrutscher mit der Sängerin kam. Das ist sehr persönlich und würde außerdem Stunden dauern. Vor al lem will ich dich nicht nötigen, für mich Partei zu ergreifen, ich weiß, du magst Alex, ihr versteht euch gut, und sie wird dir ihre Version erzählen, schwierige Sache. Aber auch wenn dich das jetzt nicht weiterbringt, ich kann dir versichern, dass ich meine Gründe hatte. Natürlich. Es ist mir egal, ob ich wie der Dreckskerl dastehe, der alles ka
putt gemacht hat, aber das Ganze ist nicht einfach so passiert. Ich hatte meine Gründe, und wenn man Gründe hat, ist man weniger schuldig, oder? Auch wenn ich in dem Moment, als ich sah, was ich Alex angetan hatte, sofort ein schlechtes Gewissen hatte und mir kein einziger objektiver Grund mehr einfallen wollte. Wie auch immer, es lief überhaupt nicht gut, mein schlechtes Gewissen war gewaltig, weil ich sie angelogen und ihr gedroht hatte, sie wegen einer Frau zu verlassen, mit der ich lächerlicherweise nicht schlafen wollte, bis ich meine Frau nicht wirklich verlassen hatte; ich fühlte mich schuldig, weil mich ich weiß nicht was geritten hatte und ich innerhalb von fünf Sekunden unsere Geschichte zerstört hatte, nach all den Jahren ohne wirkliche Krise, mit den zwei Kindern. Nach einer schlaflosen Nacht, in der ich sie auf Knien anflehte, mir zu verzeihen und für immer bei mir zu bleiben, in der sie weinte und schrie, beschloss ich am Morgen, die nächsten zehn Tage nicht zur Arbeit zu gehen, um Alexandrine nicht mehr von der Seite zu weichen. Ich blieb Tag und Nacht bei ihr, auf dem Boden kauernd am Fuß des Bettes im Gästezimmer, wo sie nun schlief; ich tat kein Auge zu, ich verfolgte jede Bewegung, die sie im Schlaf machte, wenn sie aufwachte, schreckte ich hoch und sah zu ihr auf und wartete auf ihre ersten Worte, senkte die Lider, wenn sie mir mit einem Blick bedeutete, ich solle sie nicht ansehen; ich nickte nur noch, weil ich Angst hatte, dass allein der Klang meiner Stimme sie verletzen könnte, wenn ich etwas sagen wollte, bat ich um Erlaubnis; ich verließ das Zimmer, wenn sie es mir befahl, ich schämte mich, meine Freude zu zeigen, wenn sie mich bat, zu bleiben, ich ging im Flur
auf und ab und wartete auf ihre Anweisungen; ich wagte nicht, mich auf dem Sofa im Wohnzimmer auszuruhen, so sehr schämte ich mich, ich traute mich nicht, den Fernseher anzumachen, ein Buch aufzuschlagen und auch nur eine Sekunde an mich zu denken; ich sah nicht einmal mehr in den Spiegel, da ich den Anblick meiner elenden Ehebrechervisage nicht ertragen konnte; ich war Macbeth, nachdem er den König ermordet hatte, ich hatte die Unschuld auf dem Gewissen, und dafür würde ich bezahlen, wirklich, ich übertreibe nicht, so war es; die folgenden zweieinhalb Monate waren ein einziger Opfergang, das war beinahe schon Masochismus, und ich fand daran nichts Ungewöhnliches - daran, dass ich mir nicht gestattete, in ihrer Gegenwart zu weinen oder zu lachen, dass ich das Letzte war und mich allein aus Respekt vor ihrem Schmerz nicht vor das nächste Auto warf oder dass sie zu mir sagte: «Es gibt für mich nur eine Möglichkeit, dir das Leben zu versauen, wie du mir meins versaut hast: Ich bringe mich um. Aber diesen Gefallen werde ich dir nicht tun.» Ich fand, es war das Mindeste, dass sie mich wie einen Hund behandelte, ich wusste nicht mehr, wo es langging, sie war mein enttäuschtes Frauchen; ich hörte durch die Wand, wie sie in ihrem Zimmer stunden lang weinte und schluchzte, und wollte sterben, ich wollte jede Demütigung, Schläge ertragen, nur damit mir eine barmherzige Hand über die Haare oder die Wange streicheln würde, für ein Lächeln; und so zwang sie mich am Abend des Dramas, ein Küchenmesser in der Hand, die Sängerin anzurufen, um ihr irgendwelchen Unsinn zu erzählen und herauszufinden, ob sie noch in der Stadt war, denn dann hätte Alexandrine sie mitten in der Nacht
in ihrem Hotelzimmer aufgesucht, um ihr beide Beine zu brechen. Und als ich ihr am nächsten Morgen die zwanzig Pillen, die sie in ihrem Zimmer hatte schlucken wollen, mit Gewalt wieder aus dem Mund holte, biss sie mir bis aufs Blut in die Hand. Und eine halbe Stunde später warf sie vor meinen Augen alle Briefe ins Feuer, die wir einander in all den Jahren geschrieben hatten, und alle Fotos, Hunderte Fotos und Negative von all den gemeinsamen Jahren, und ich traute mich nicht, sie daran zu hindern. Und am übernächsten Tag ließ sie mir durch unsere sechsjährige Tochter, die wir bisher aus der Sache herausgehalten hatten, zwanzig Minuten lang Botschaften überbringen wie: «Papa, Mama hat gesagt, ich soll dich fragen, wie es Gassy geht», oder «Papa, Mama hat gesagt, ich soll dich fragen, wann du meinst, dich unser zu entledigen um dich ganz um Gassy kümmern zu können.» - «Papa, was heißt dich unser entledigen?» «Papa, wer ist denn Gassy?» Und am Samstag drauf, gegen Mittag, nachdem sie den ganzen Vormittag dasselbe Lied gehört hatte, Was du mir angetan hast, in dem eine Frau von ihrem Mann betrogen wird, rief sie eine Freundin an, die die Kinder holen sollte, und als die Kinder weg waren und wir allein im Haus, machte sie den CD-Spieler aus, hämmerte gegen die Tür zum Klo, wo ich mich eingeschlossen hatte, und schrie, ich soll sofort öffnen, worauf ich mich erhob, obwohl ich noch gar nicht fertig war, und die Tür öffnete, ich öffnete die Tür, weil ich nicht imstande war, mich Alex zu widersetzen, und weil ich es auch schon vor diesem ganzen Albtraum nicht gewohnt gewesen war, mich ihr zu widersetzen. Ich habe also mit heruntergelassener Hose die Tür geöffnet, wobei
ich mich schon gefragt habe, was hier eigentlich gerade abgeht, da stand sie, wie verwandelt, in der Hand einen Besenstiel aus Aluminium, von dem sie die Bürste abge nommen harte. Ihr Gesicht war so hasserfüllt, dass ich es kaum wiedererkannte, sie hielt den Besenstiel fest und sagte, offenbar noch das Lied in den Ohren, das sie zwi schen neun und zwölf bestimmt vierzigmal gehört hatte, sie sagte also, Augen und Mund grotesk verzerrt, sodass sie mir mit einem Mal ganz fremd war und ich dachte: «Du kennst Alex gar nicht, deine Frau ist eine Fremde», sie sagte: «Pass bloß auf, jetzt wirst du büßen.» Ich wusste sofort, was kommen würde, mein Herz raste gar nicht, weil ich instinktiv wohl immer erwartet habe, was jetzt passieren würde, vielleicht war es mir in all den Jahren sogar mehr oder weniger bewusst, denn was nun geschah, brachte unsere ganze Beziehung auf den Punkt: ihre aggressive Zerbrechlichkeit traf auf mein feiges Schuldgefühl. Ich habe also gar nicht erst versucht, auszuweichen oder mich zu verteidigen, stellte keine Fragen, ich machte ruhig meine Hose zu und ging auf sie zu. «Ich bin bereit», sagte ich und biss die Zähne zusammen, und sie fing an, mich regelrecht zu verprügeln, auf der Schwelle unserer Badezimmertür, mit dem Besenstiel, den sie so fest hielt, dass sie Blasen davon bekam, sie holte aus und schlug mir mit aller Kraft in den Nacken und gegen den Hals, sie hörte gar nicht mehr auf, mit ihrer Schwimmerinnenfigur, sie schlug mir wie eine Besessene gegen die Beine, die Hüfte, auf den Rücken, sie traf mich in die Eier, ins Gesicht, und bei jedem Schlag schrie sie Sachen wie: «Dreck», «Du bist das Allerletzte», «Mieses Stück Scheiße», «Elendes
Stück Scheiße», «Abschaum», «Verrecken sollst du wie eine dreckige Ratte», und ich habe mich nicht gewehrt, ich war zu sehr in meinem Schuldgefühl versunken, um die Schläge zu spüren und die Beleidigungen zu hören, ich vertagte den Schmerz sozusagen, ich konzentrierte mich auf das Geräusch, das entstand, wenn der hohle Aluminiumstab durch die Luft fuhr, und jedes Mal, wenn ich kurz in ihre wütenden Augen blickte, dachte ich: «Ich glaube, ich habe eine Verrückte geheiratet.» Als nach drei oder vier Minuten der Besenstiel in zwei Teile zerbrach, schleuderte sie mir die beiden Hälften ins Gesicht und ging meine kleine Schreibtischlampe aus Holz holen, um mir auch die voll ins Gesicht zu hauen. Der Schlag war so heftig, dass Glühbirne und Lampenschirm gleichzeitig zerbrachen, und die Bewegung so geschickt und kraftvoll, dass ich nicht mal Schmerzen hatte. In ihrem Eifer hob Alexandrine das weiße Kabel mit dem Stecker aus dem Scherbenhaufen auf und begann, mich auszupeitschen, zwei, drei Minuten lang, bis der Stecker schließlich auseinanderfiel, und dann wollte sie mir mit dem blanken Draht das Gesicht zerschneiden und schrie, dass ich nicht das Recht hätte, mich zu wehren, und dass sie mir mein beschissenes Engelsgesicht entstellen würde, damit kein Mädchen mich je wieder angucken würde – sieh mal hier, die Narbe über der Augenbraue, da, siehst du, wenn ich das Gesicht ins Licht halte? Da hat sie mit dem Kabel gut getroffen, und ich habe einen Monat lang allen erzählt, ich hätte im Garten einen Zweig ins Gesicht bekommen, um Alex zu decken. Ich habe die Narbe mit Aloe Vera ganz gut wegbekommen. Aloe Vera ist super für Narben, wusstest du das? Als der Draht so blutverschmiert war,
dass er ihr aus der Hand glitt, schlug sie mir mit der Faust zweimal gegen den Kiefer, boxte mir in den Magen, sodass es mich zu Boden warf, und trat mir gegen das Kinn, den Rücken und den Kopf. Die ganze Zeit machte ich keine Anstalten, mich zu wehren, wie ein Idiot, sie wollte mich entstellen, dass ich sterbe, und ich, zusammengekrümmt auf dem Fliesenboden, mir blieb die Luft weg wegen des Schlags in den Magen, das Gesicht geschwollen und mit roten Striemen überzogen, die rechte Augenbraue aufgeplatzt, das T-Shirt zerrissen und voller Blutflecken, ich dachte, dass ich das alles verdient habe und dass sie das Richtige getan hat, weil ich das Allerletzte bin; ich war bereit, zu sterben und mir mein beschissenes Engelsgesicht zertrümmern zu lassen. Nach sieben, acht Minuten fand sie dann, dass ich abstoßend genug aussah und meine Strafe bekommen habe, und ließ von mir ab, sie holte Atem, wartete dreißig, vierzig Sekunden und, wahrscheinlich weil sie selbst ge merkt hatte, dass sie etwas weit gegangen war, sagte ruhig: «Jetzt, da wir quitt sind, lass ich dir ein schönes, heißes Bad ein und werde dich pflegen.» Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich war, dass sie so liebevoll mit mir sprach und mich in der Badewanne einseifte und mich verarztete, du kannst dir nicht vorstellen, wie dankbar ich war, als sie meinte, wir sind quitt; ich dachte, dass ich angesichts der schlimmen Sachen, die ich getan hatte, noch ganz gut weggekommen war und dass ich auch dreimal so viel ausgehalten hätte. Das habe ich gedacht, du siehst, ich war auch nicht ganz bei mir. Aber ehrlich, so war es, das stimmt, was ich dir erzählt habe, ich habe nicht übertrieben.
Danach habe ich zwei Monate lang versucht, alles richtig zu machen, wirklich, ich habe mich geduckt und wie ein Köter gehorcht, ich habe mich vor ihr klein gemacht, aber es half nichts: Am nächsten Morgen war alles vergessen, das Badezimmermassaker und ihr «Jetzt sind wir quitt», keine barmherzige Hand mehr auf meinem Haar oder meiner Wange, kein Lächeln mehr. Ich beobachtete sie in der Hoffnung, dass sich etwas ändern, dass sie sich beruhigen würde, aber sie konnte mir einfach nicht verzeihen, dass ich zwanzig Minuten lang laut darüber nachgedacht hatte, sie für eine Halbprofessionelle zu verlassen, sie überhaupt zu verlassen, und nun brauchte sie mich als Zeugen ihres Leids und als Sündenbock, und jeden Tag musste ich für meinen Verrat büßen, und wie du weißt, macht Alex keine halben Sachen; mir war das Haus meines Vaters auf dem Hügel also ziemlich egal, ich hatte wirklich andere Sorgen als Italien und Romanze. Ich dachte nur, dass ich meinen Vater, seine Frau und meinen kleinen Bruder schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte, dass es einfacher wäre, wenn sie noch in Frankreich wohnen würden, und ich die Tausende Termine und Mittagessen in Paris gut organisieren müsste, um ein Wochenende lang nach Italien zu können. Natürlich habe ich nicht einen Moment lang auch nur geahnt, dass mein Leben sich noch am Abend meiner Ankunft dort verändern würde. Niedergeschlagen und ratlos brach ich dann am ersten Samstag im September nach Romanze auf. Alexandrine hatte mir mitgeteilt, dass ich allein fahren solle, weil sie
zum einen nur bedingt Wert darauf lege, meinen Vater und seine Frau zu sehen, und zum anderen, weil sie wäh rend dieses kurzen Aufenthaltes in Paris ohne die Kinder ein bisschen entspannen und ihre Schwester und Freun dinnen treffen wolle. Ich hatte ihr ohnehin nur der Form halber vorgeschlagen, mit nach Romanze zu kommen, ich wusste genau, dass sie überhaupt keine Lust haben würde, mitzukommen, aber sie hätte es mir sehr übel genommen, wenn ich nicht gefragt hätte. Siehst du, das ist noch so ein Beispiel dafür, wie verkorkst unsere Beziehung war: dass ich ihr vorschlage, mit nach Romanze zu kommen, nur damit ich mir hinterher nicht vorwerfen lassen muss, ich hätte nicht gefragt. Ich konnte nie einfach mit ihr sprechen; sie gab mir immer das Gefühl, dass ich das Falsche tat. Und auch das konnte ich ihr nicht sagen, sie schaltete auf stur, sobald ich irgendwas kritisierte. Ich will nicht, dass du meinst, ich sei egoistisch, weil ich dieses Wochenende in Romanze verbracht habe. Wirklich, ich will mich gar nicht besser machen, als ich bin, aber in unserer Beziehung habe ich es nie für nötig gehalten, auch mal an mich zu denken, weil ich immer Angst hatte, Alex wehzutun. Denn ich war verrückt nach Alexandrine, wirklich, ich war verrückt nach ihr, bis zum Schluss. Und da kann sie dir erzählen, was sie will - sie hat dir wahrscheinlich weismachen wollen, dass ich sie nie geliebt habe, stimmt's? Das hat sie doch gesagt, oder? - also, tut mir leid, da gibt's nichts zu deuten. Und sie weiß das ganz genau, ich habe sie geliebt wie verrückt. Dass ich ihr vorgeschlagen habe, mit nach Romanze
zu kommen, obwohl ich eigentlich gar keine Lust hatte, sie dabeizuhaben, macht ganz gut deutlich, wie wir beide getickt haben: Ich brauchte eine Atempause - auch dafür gibt es viele verschiedene Gründe, die werde ich dir jetzt nicht alle aufzählen, außerdem möchte ich nicht partei isch sein, ich will nichts Schlechtes über Alexandrine sa gen. Ich brauchte also aus verschiedenen, objektiv gesehen, glaube ich, guten Gründen eine Verschnauf pause, aber ich traute mich nicht, das offen zu sagen, weil ich Angst vor Alexandrines gekränktem Stolz hatte, der bei so was zu heftigen Reaktionen führen kann. Also log ich schließlich und tat das Gegenteil von dem, was ich wirklich dachte und wollte. Alexandrine spürte natürlich, dass ich nicht die Wahrheit sagte, was ich wiederum leugnete, weil ich keinen Streit wollte; das machte sie wahnsinnig, ich stritt weiter ab und sagte mit meiner sanftesten Stimme: Kein Problem, Schatz, wirklich, ich würde mich total freuen, und sie, machtlos, war am Ende wütend und beleidigt, weil ich gelogen hatte, und ich ließ demütig ihre Beleidigungen über mich ergehen und ertrug ihre düsteren Blicke, immer wieder. Ganz schön verkorkst, oder? Wer hat Schuld? Ich, der elende Lügner, der Alexandrine in den Wahnsinn treibt, oder Alexandrine, der Drachen, der mich terrorisiert? Ziemlich kompliziert, was? Die ewige Geschichte von der Henne und dem Ei. Auch wenn ich wahrscheinlich - bitte verzeih, dass ich hier so subjektiv argumentiere -, auch wenn ich wahrscheinlich mit einer etwas sanftmütigeren Frau weniger Schwierigkeiten gehabt hätte, ehrlicher und mehr ich
selbst zu sein. Na ja, da müsste man ins Detail gehen, unsere jeweilige Persönlichkeit und Geschichte genauer betrachten, Kindheit, Familie, Erziehung, die Traumata, aber das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Ich breche also Anfang September ziemlich geknickt nach Romanze auf, da waren die Schuldgefühle, die mich wegen meiner Untreue gequält hatten, schon übergangs los einem ungekannten Schmerz gewichen: dem, betrogen worden zu sein. Allein aus Rache, als Vergeltungsmaßnahme, und vielleicht auch, weil sie an dem Verrat, den ich begangen hatte, nicht zugrunde gehen wollte, hatte sich Alexandrine einen Monat vorher in ihrem Scheißhotelzimmer in Kodong von einem Mobalesen nicht nur küssen lassen, das kann ich dir sagen. Zumindest nicht nur auf den Mund. Entschuldige, das war geschmacklos - nein, nicht das mit dem Mobalesen ... Tut mir leid, entschuldige, ich bin wirklich daneben, was erzähle ich hier eigentlich? Das ist noch nicht einmal witzig, tut mir leid, aber ich sage das nur, um mit dem Ganzen fertig zu werden. Und außerdem wird man ja wohl noch einen Scherz machen dürfen, oder? Ich komme also ziemlich niedergeschlagen an, aber wenn man irgendwo in der Fremde ankommt, ist man ja immer erst mal ganz bezaubert. Weißt du, ich sehe dann all diese scheinbar belanglosen, in Wirklichkeit aber ent scheidenden Details. Wenn ich irgendwo gewesen bin und dann erzähle, woran ich mich erinnere, denken die Leute immer, ich sei naiv oder überheblich. Entschuldige, aber in Italien ist es wirklich so anders als hier. Doch, doch, ich übertreibe nicht, man muss gar nicht weit
reisen, wenn man in der Lage ist, etwas genauer hinzusehen. Keiner kann mir erzählen, Frankreich oder Italien, das sei Jacke wie Hose, nein, wirklich, ein Unterschied wie Tag und Nacht. Obwohl - und das soll jetzt keine billige Provokation sein - mir diese ganzen Museen und Sehenswürdigkeiten ziemlich egal sind, sogar die in Italien, wirklich, ich sage das nicht einfach so, ich will auch nicht wie ein Snob klingen. Es ist ja nicht so, dass mir das alles nicht gefällt. Ich habe natürlich riesigen Respekt vor diesen Dingen, das ist wirklich alles sehr außergewöhnlich. Ich meine sogar, ein Auge für Architektur, Malerei usw. zu haben. Ich habe so ein Gespür für Kunstgeschichte, ich kenne die Epochen, ich kann eine Fassade, einen Stil, ein bestimmtes Detail zeitlich einordnen; aber wenn ich das alles im Museum ehrfürchtig betrachten soll, mich nur mit kleinen Schritten vorwärts bewegen darf und darauf achten muss, ja keinen Lärm zu machen, um die anderen Besucher nicht zu stören, und jedes Gemälde wenigstens drei Minuten lang anstarren muss, weil man ja sonst sofort als Banause gilt, da sperrt sich etwas in mir, diese Verpflichtung, dieses Bemühte, dieser heilige Ernst, das langweilt mich einfach sofort. Giotto, die ganzen Fra Dingsbums, die Basiliken, diese Palazzo della Regina, Alto, die Bella Croce, der Goliath, die Flachreliefs von Schlag-mich-tot, die Deckenmalereien von Raffael und Konsorten, das ist schon alles sehr schön, aber mich interessiert das halt nicht. Mir gefallen andere Sachen an Italien. Meine Liebe zu Italien beginnt schon gleich mit der Ankunft - zehn Jahre war ich nicht in Italien gewesen -, mit dem Blick aus dem Flugzeugfenster. Ich sah die
italienischen Bäume, die italienischen Felder, Straßen und Fabriken da unten und dachte:«Ich werde zweiein halb Tage in Italien sein. Ich werde auf andere Gedanken kommen, weil ich die gewohnten Wege verlasse. Eine Reise, was für ein Glück: Zwei Tage lang werde ich Tausende Details entdecken, die außer mir niemanden interessieren, aber mir neuen Mut geben.» Weil ich ja wusste, dass in Italien alles ganz anders ist als in Frankreich, da kann mir keiner was erzählen, und das allein ist schon ein Abenteuer. Meine Neugier und meine Phantasie funktionieren ziemlich gut, da braucht es nicht viel, und das ist wirklich ein Glück. Vielleicht übertreibe ich, dass ich immer gleich so begeistert bin, aber mir gefällt das. Allein zu denken: «Jetzt bin ich in Italien», der Mythos Italien - ist ja schließlich nicht zu verachten, oder? -, ein fach woanders zu sein, das hat mir in dem Moment schon geholfen. Von da an kann man sich für alles begeistern, was einem begegnet, und aus dem Unbedeutenden, scheinbar Gewöhnlichen, dem Unpersönlichen wird ein Spektakel, das nicht enden will: die Farbe des Asphalts am Flughafen, der Glanz der Sonne, wie die Luft schmeckt, die ersten Italiener, die man trifft, Italiener in Italien, die Firmennamen auf den Schildern, die italienischen Marken, die Autos, die Automaten, weißt du, all diese Zeichen, die die gestalterische und wirtschaftliche Unabhängigkeit eines Landes bedeuten, wie der Flughafenbus aussieht, die aerodynamische Sonnenbrille des Busfahrers, der in Ruhe mir einem Kollegen plaudert. Wie der Fahrer das Lenkrad hält, in
den Rückspiegel sieht und die verschiedenen Knöpfe auf dem Armaturenbrett drückt, er ist einfach viel entspannter und gelöster als ein französischer Busfahrer. Und allein an der Sonnenbrille des Busfahrers, an seinen freien, formvollendeten Bewegungen, an der Lässigkeit dieses erstbesten Busfahrers in Italien lassen sich die wahren kulturellen Unterschiede erkennen, und zwar dort, wo niemand sie vermutet, und viel deutlicher als in einem Museum oder an irgendeinem skurrilen Brauch in einem sizilianischen Dorf. Weil man sofort denkt: Die Italiener sind einfach nicht so verklemmt wie wir, direkter, selbst bewusster, nicht so leicht aus dem Konzept zu bringen, sie stehen dazu, Südländer zu sein; es heißt ja, die Italiener ziehen immer eine Show ab, aber ich denke, dass sie einfach genussfähig sind und nicht die ganze Zeit darüber nachdenken, ob irgendjemand sagen könnte, sie seien unseriös; die Italiener sitzen nämlich nicht zwischen den Stühlen. Man denkt - zumindest habe ich das immer gedacht -, dass die Italiener trotz der Klischees, die bei uns so kursieren: die Angeberei, das ständige Gequatsche, die Mafia, Berlusconi, die unfähige Bürokratie, das schlimme Fernsehprogramm, Eros Ramazzotti, der Rassismus im Fußball, dass die Italiener trotz dieser Klischees im Gegensatz zu uns Charakter haben, Profil, Klasse, und sie fühlen sich einfach wohl in ihrer Haut. Es ist auch interessant, wenn man mal die Bedeutung der italienischen und der französischen Kultur vergleicht. Ich spreche jetzt nicht von Kultur im Sinne von Quattrocento, Dante oder Oper. Da können wir Franzosen natürlich nicht mithalten, die Italiener haben in der Kunst fünfhundert Jahre Vorsprung. Abgesehen vom
Impressionismus und der Philosophie haben wir ja wohl immer nur einfallslose und größenwahnsinnige Nachahmungen des italienischen Stils hinbekommen, oder? Ich spreche auch nicht von den Römern, das zählt nicht. Die Römer sind natürlich in der Geschichte der Menschheit unübertroffen, was Einfluss und Verbreitung betrifft. Nein, ich spreche von Popkultur, von der richtigen Kultur: Pasta, Vespa, Pizza, Espresso - kannst du mir einen Ort auf der Welt nennen, wo es das nicht gibt? Ich spreche von der Bedeutung italienischer Auswanderer in Amerika, im Film, Schauspieler und so. Den Charakter der Italiener kann man auch daran ermessen, welchen Platz sie in der amerikanischen Kulturgeschichte einneh men. Weil in Amerika keine Weicheikultur geduldet wird, nur was Schlagkraft und allgemeine Gültigkeit hat, wird übernommen. Und wir, abgesehen von Lafayette ... Vuit ton, Dior, Saint Laurent, Bocuse und Chateau-Margaux, na, gut Aber entschuldige mal, das ist keine Popkultur, das zählt nicht. Okay, wir hatten überall Kolonien; aber welche Bedeutung haben wir im «allgemeinen kollektiven Bewusstsein», wenn man das so sagen kann? Ich will Frankreich nicht schlechtmachen. Ich mag meine Heimat, ich bin ziemlich froh, Franzose zu sein, aber ich bin eben auch kritisch. Und ich will nicht, dass man uns etwas vor macht, wenn es um die Bedeutung unseres Landes in der Welt geht, das ist alles. Auch die Qualität unserer Küche. Ich weiß, ich gehe dir langsam auf die Nerven, aber ist dir schon einmal aufgefallen, dass es in Italien kaum schlechte Restaurants gibt? Dort ist das zahlenmäßige Verhältnis zwischen guten und schlechten Restaurants im Vergleich mit Frankreich genau umgekehrt. In Italien wird
man im Restaurant nicht nur freundlicher begrüßt, man kann eigentlich auch davon ausgehen, dass man gut essen wird. In der erstbesten Trattoria schmecken Pasta, Nachtisch, Kaffee und Meeresfrüchte, und das Fleisch ist perfekt zubereitet. Während in Frankreich die Brasserie um die Ecke ja wohl das Allerletzte ist: schlechtes Brot, der Salat ist quasi geschmacksneutral, die Sauce durchsichtig, matschige Pommes, Chlorwasser in der Karaffe, Desserts, die nach Kühlschrank schmecken, ekelhafter Kaffee und ein Kellner, der sich für was Besseres hält und dich keines Blickes würdigt, ist doch so, oder? Es ging mir also an diesem Abend in dem Restaurant nicht so schlecht. Die Nacht war mild, den ganzen Tag hatte die Sonne geschienen, am Morgen die Taxifahrt vom Flughafen, locker, entspannt. Das Haus meines Va ters hatte mich ziemlich positiv überrascht. Ich hatte ein normales Haus in einer normalen Straße mit normalem Blick erwartet. So ein schattiges Haus eben, mit einem Tabakladen unten, Ampeln, Autos, die am Bürgersteig parken, und Nachbarn. Aber es war ganz anders. Es war wie in Zimmer mit Aussicht, kennst du den Film? Man ist zu Fuß in zwei Minuten in der Stadt, aber es ist schon richtig ländlich, das Taxi setzt einen vor dem hohen gusseisernen Gittertor ab, als stünde man vor einem Schloss, man klingelt, das Gitter schiebt sich auf, und ein Weg, gesäumt von Zypressen, Weinstöcken und Obst bäumen, führt zu dem Haus aus dem 17. Jahrhundert mit dicken Mauern und einer großen Terrasse, von der aus man ganz Romanze überblickt, die roten Dachziegel, die
ockerfarbenen Fassaden, die Kuppeln der Kathedralen, den Palazzo, das Museum rechts und in der Ferne die Berge, das alles in einem mediterranen Spätsommerlicht und keine Wolke am Himmel. Unglaublich, ich konnte es gar nicht fassen, alles stimmte. Auch die Einkäufe, die mein Vater und ich auf dem Roller in der Stadt gemacht hatten, perfekt: der prosciutto, das Obst, der kleine Supermarkt in einem alten Kloster mir gewölbter Decke, die goldverzierte Bäckerei, die Gerüche, die hübschen Verpackungen, die Lebenslust, das ciao ciao der Verkäufer, die ganz offensichtlich nicht so kleinlich sind wie die bei uns. Meine Reise hatte ganz gut angefangen, das spürte ich irgendwie. Und am selben Abend im Restaurant besänftigten mich das italienische Stimmengewirr, die Gesten und Gesichter der Italiener - die im Gegensatz zu uns ja auf ihre Garderobe achten, die Schuhe, die Marken, das ist dir bestimmt auch schon aufgefallen, oder? Das Licht war warm und behaglich, ich betrachtete ruhig die Tischdecke, wie die Servietten gefaltet waren, die Teller, die Grissini in den Papiertüten, die Etiketten der Mineralwasserflaschen, das rosafarbene Fleisch, das der Kellner auf Holzbrettchen brachte, ich fühlte mich aufgehoben in dieser freundlichen, lebhaften, glücklichen, fast zuver sichtlichen Atmosphäre, ich hatte das Gefühl, dass man es hier gut mit mir meinte. Was ich sagen will: Auch wenn ich es in dem Moment nicht kapierte, eigentlich ging es mir gut. Also - du musst mir sagen, wenn ich vom Thema ab
schweife- der Kellner überreicht mir jedenfalls nach dem Essen ein Kärtchen mit der Telefonnummer einer Frau namens Alice. Er beschreibt sie mir nur vage, und ich habe überhaupt keine Ahnung, wen er meinen könnte. Ich erinnere mich an einen Tisch mir vielen Leuten, aber nicht an eine bestimmte Frau an dem Tisch. Nur halb im Ernst frage ich nach, ob sie hübsch gewesen ist, und er weiß immer noch nicht, was er sagen soll, also antwortet er nicht wirklich, die Situation macht ihn so verlegen, dass er nicht imstande ist, etwas Genaueres über sie zu sagen. Das war ein merkwürdiger Moment. Ich behaupte nicht, dass mir ständig irgendwelche Frauen ihre Telefonnummer auf den Tisch legen. Aber ich weiß, dass ich bei den Frauen ankomme, und ich hätte so was nicht für völlig ausgeschlossen gehalten. Ich denke sogar, dass ich unbewusst immer irgendwie mit dieser Art Bestätigung rechne, ich rechne damit, dass die Frauen Gefallen an mir zeigen. Ich war also nicht wirklich überrascht, wenn du verstehst, was ich meine? Moment, ich will jetzt nicht als Angeber dastehen, ich sage dir das einfach ganz offen. Natürlich hat mir das geschmeichelt, so was ist ja immer schmeichelhaft. Ich weiß auch, dass es ein Privileg ist, wenn einem unbekannte Frauen einfach so ihre Nummer dalassen, für mich ist das alles andere als selbstverständlich, das sage ich dir ganz deutlich. Aber ich war eben nicht ganz so verdattert wie der Kellner, mein Vater, seine Frau und mein kleiner Bruder. Die konnten es gar nicht fassen! Die sahen mich ganz ungläubig an, als wollten sie sagen: «Also wirklich, du machst Sachen! Dass es so etwas überhaupt gibt.» Vor allem, weil wir gerade, als der Kellner das Kästchen
auf den Tisch legte, über Schicksal und Zufall sprachen. Ich habe wahrscheinlich so etwas gesagt wie: «Es gibt keine Zufälle, ich glaube, dass alles, was uns widerfährt, eine Bedeutung hat», wirklich, das habe ich gesagt, mein Vater hat es mir neulich erst wieder erzählt, ich hatte es nämlich schon vergessen. Verrückt, oder? Also, eigentlich wollte ich sagen, dass bei solchen Sachen eben jeder nur seine eigenen Erfahrungen hat. Ich weiß es sehr wohl zu schätzen, dass ich den Frauen gefalle, ohne mich anstrengen zu müssen, aber ich vergesse auch immer wieder, dass das für die anderen etwas völlig Außergewöhnliches ist. Sie sahen mich jedenfalls staunend an, als wäre ich von einem anderen Stern. Ich fühlte mich zwar geschmeichelt, blieb aber cool, ich war jetzt nicht aus dem Häuschen, ich freute mich einfach, weil sich wieder einmal gezeigt hatte, dass ich gut ankam, ohne einen Finger rühren zu müssen, weiter dachte ich nichts. Das habe ich dann auch gesagt. Schließlich musste ich ja irgendwas sagen, ich habe wohl so eine Bemerkung gemacht wie: «Ach, nett, das ist ja wirklich originell. Aber die Arme, ich weiß gar nicht, warum sie denkt, dass ich ihr antworten würde. Die ist ganz schön mutig.» Und als ich das sage, bemerke ich, dass mich ihr Mut tatsächlich beeindruckt. In meiner unkritischen Begeisterung meinte ich natürlich sofort, dass so etwas nur in Italien passieren kann, ich dachte, dass nur eine Italienerin einem Typen, den sie sich ausgeguckt hat, einfach so ihre Telefonnummer gibt. Ich fand, das hatte Klasse. Ich habe nicht eine Sekunde so Sachen gedacht wie: «Die ist doch bestimmt eine Schlampe!» Das kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Im
Gegenteil, ich fand ihre Geste kühn, sexy, weiblich, italienisch. Dabei war ich überhaupt nicht bereit für so was. An dem Abend habe ich gedacht, dass ich sie niemals anrufen würde, auch wenn ich, als verhinderter Don Juan, immer irgendwie die Männer beneidet habe, die bei so was einfach angerufen hätten, um sich die Gelegenheit nicht entgehen zu lassen. Ich dagegen betrachtete das Ganze als Wertschätzung meiner Person, und es beruhigte mich, gehörnter Ehemann, der ich war, zu wissen, dass die Frauen sich für mich interes sierten, Punkt, aus, gute Nacht, Schluss mit lustig, du bist traurig und hast deine Eheprobleme, du kannst jetzt hier nicht so einen Scheiß machen, und außerdem traust du dich sowieso nicht, eine Telefonnummer auf dem Tisch, das hat vielleicht was, heißt ja aber noch nichts. Ich habe das Kärtchen dann, nach zwei, drei Minuten, auch schnell eingesteckt, eher aus einer Art narzisstischem Reflex als mit der Absicht, die Frau anzurufen– damit ich mir einbilden konnte, dass ich mir in diesen achtundvierzig Stunden in Romanze das Leben versüßen würde, mein Leben als treuer Ehemann, jahrelang, der dann betrügt, sich schuldig macht, betrogen wird, das nicht verkraftet, der eine Liebe zerstört hat und dann alles tut, um die Gunst seiner Frau wiederzuerlangen, deren Vertrauen er längst schon für immer verloren hat. Wir haben dann bald die Rechnung bezahlt, uns beim Kellner bedankt und sind zu Fuß nach Hause gegangen, und meine Sorgen kamen wieder. Ich hatte die ganze Zeit über an Alexandrine denken müssen, wie wir uns noch am Morgen gestritten hatten,
kurz bevor ich zum Flughafen los bin. Ich lasse die Gründe für diesen Streit jetzt mal aus. Um es kurz zu machen, könnte man sagen, ich habe den Mann ge geben, um sie zurückzuerobern, ich habe den Mobalesen gegeben, um mein Trauma aufzuarbeiten, jedenfalls habe ich dabei versagt. Nein, nichts Körperliches, nur was ich gesagt habe, ich wollte den Unnahbaren spielen, was mir dann um die Ohren gehauen wurde, weil mir das nicht entspricht. Aber auch da gibt es eine Vorgeschichte. Wir wohnten bei unseren besten Freunden; ich habe mich bei Gregoire ausgeheult und war in Tränen aufgelöst, als Alex und Lou früher als erwartet zum Abendessen zurückkamen. Ich habe mich bei Gregoire ausgeheult, weil es mir in dem Moment guttat, und dann habe ich nicht wirklich versucht, meine Tränen zu verbergen, als Alex und Lou hereinkamen, sozusagen als Botschaft an Alexandrine, vor Zeugen, damit sie endlich versteht, dass sie mir helfen muss, damit sie mir verzeiht und aufhört, sich zu rächen, weil sie sich mit ihrem Mobalesen zur Genüge gerächt hat und wir doch jetzt mal wieder nett zueinander sein könn ten, oder? Als Alex mich sah, wie ich da nur halbherzig meine Tränen wegwischte, warf sie mir einen bösen Blick zu, der ihre Wut über meine Indiskretion verriet, und Lou schlug ihr schnell vor, sozusagen als Deeskalationsmaß nahme, in ein Restaurant um die Ecke zu gehen. Ich war den Abend dann allein mit Gregoire; trotz der vorüberge henden Erleichterung dachte ich die ganze Zeit daran, was mir später blühen würde. Vielleicht habe ich auch deshalb nicht auf Alex gewartet und bin einfach ins Bett gegangen; am nächsten Morgen beschloss ich
jedenfalls, beleidigt zu spielen: um ihr zuvorzukommen, damit sie nicht beleidigt spielen könnte, und auch, um es mal mit einer neuen Methode zu probieren. Alex hat es natürlich überhaupt nicht gepasst, dass ich so unnahbar tue. Wir haben uns angemotzt, aber ich habe weiter den Mobalesen gespielt, indem ich einfach selbst ein bisschen daran geglaubt habe, und in meinem Eifer habe ich dann, sozusagen um glaubwürdig zu bleiben, die Tür hinter mir zugeknallt, als ich zum Flughafen losfuhr, mit einer gewissen Genugtuung, doch tief in mir hatte ich schon wieder ein schlechtes Gewissen, die weinende Alex in der Wohnung zurückzulassen, ohne mich zu verabschieden, weil ich aber eben einfach die Schnauze voll hatte. Wie auch immer, es passierte genau das Gegenteil dessen, was ich mir vorgestellt hatte. Man könnte wohl sagen, dass unsere Charaktere mal wieder nicht kompatibel waren, diese ewige Unmöglichkeit, mit einander zu reden. Jedenfalls fühlte ich mich deshalb in Romanze schlecht, und ich wollte mich bei Alexandrine für meinen bescheuerten Abgang entschuldigen und ihr sagen, dass ich ihr noch am selben Nachmittag teure Cremes bei Frati Artigiani gekauft hatte, dass es mir nicht gutgeht, ich sie aber wahnsinnig liebe, dass ich von nun an ein vorbildlicher Ehemann sein würde und, da sie mich mit solchem Nachdruck darum gebeten hatte, auch damit aufhören würde, wie ein kleiner Junge zu leiden, weil sie mich in Kodong mit einem Typen betrogen hat, der so anders ist als ich, mit seinem durchtrainierten Oberkörper, der mit ihr getan hatte, was ein Mann zu tun hat, weshalb ich mich ja so elend fühlte, und dass ich mich endlich wie ein verantwortungsvoller Erwachsener
verhalten und die ganze Sache auf die Reihe kriegen würde, dass sie nie wieder würde bedauern müssen, mir vertraut zu haben, und dass wir das ganze Leben doch noch vor uns hatten. Ich war voller Zuversicht und konnte es kaum erwarten, ihr von meinen guten Vorsätzen zu berichten, also bitte ich meinen Vater, der im Begriff ist, sich hinzulegen, mir sein Handy zu leihen; ich sage allen gute Nacht und ziehe mich auf die Terrasse zurück, ins Halbdunkel, unten die Lichter von Romanze und ringsum Zypressen, deren Umrisse sich gegen den Nachthimmel abzeichnen. Ich rufe in Paris an, Alex ist superabweisend, nichts zu machen, eineinviertel Stunden rechtfertige ich mich, aber vergebens, sie zerlegt jedes Argument, das ich vorbringe, bezeichnet mich als Lügner und setzt mir in strengem Ton auseinander, dass ich ein Monster bin, was ich, wie immer, schließlich einsehe; mir geht es noch schlechter als vorher, ich möchte sterben, schlimme Schuldgefühle quälen mich, und es erscheint mir völlig ausgeschlossen, dass sich jemals irgendwas ändert. Sie sagt, dass sie mir nichts mehr zu sagen hat und erst mal nachdenken muss, weil sie sich überhaupt nicht mehr sicher ist, ob sie mich noch liebt und unsere Beziehung überhaupt noch Sinn hat, und so endet unser Gespräch. Ich weiß genau, dass sie nicht so denkt, ich weiß, dass sie mich liebt und eine Trennung völlig ausgeschlossen ist, aber trotzdem fange ich an, leise zu weinen, weil ich das alles nicht mehr aushalte; seit dreieinhalb Monaten rächt sie sich jetzt, sogar noch mein Unglück darüber, dass sie mich mit ihrem Mobalesen betrogen hat, nimmt
sie mir übel, und dass ich sie darum gebeten habe, sanft mit mir umzugehen, damit ich das alles verkrafte. "Damit musst du allein zurechtkommen, ich bin nicht deine Mut ter oder dein Kindermädchen», hatte sie erst eine Woche zuvor mein Gejammer kommentiert; ich fühlte mich so einsam, ich wusste keinen Ausweg mehr, also weinte ich lautlos, einfach weil es mir guttat, ich hatte nämlich ver standen, dass man genau das tun muss, wenn man nicht mehr weiterweiß und es nicht mehr aushält und einem alles ausweglos vorkommt - auch Weinen habe ich erst mit dreißig gelernt, verstehst du? Ich weine und betrachte die Lichter von Romanze, die Zypressen, die Nacht und denke, wie bescheuert es ist, sich vor so einer Kulisse, die für die Liebe wie gemacht ist, mit der Frau, die man liebt, nicht zu verstehen. Ich bleibe noch eine halbe Stunde niedergeschlagen auf der Terrasse, bin völlig durcheinander und versuche, an nichts zu denken, um wieder ein bisschen zur Ruhe zu kommen, aber es nützt nichts. Das ist einfach alles zu viel, zum einen der hasserfüllte Blick, den Alexandrine immer auf mich werfen wird, und zum anderen muss ich mir die ganze Zeit ihr Lustgestöhne ausmalen, wie sie sich in ihrem Hotelzimmer in Kodong von ihrem Mobalesen vögeln lässt. Ich stelle mir vor, dass er dabei ganz ruhig war, beherrscht, abgeklärt, fast ein bisschen gleichgültig, sie hingegen völlig hin und weg durch den Reiz des Neuen und wegen seiner durchtrainierten Brust und perfekten Arme. Wie seit einem Monat vierzigmal am Tag versuche ich, mir einzureden, dass das keine so besondere Situation ist, dass in jedem Moment irgendwo
auf der Welt eine Frau ihren Mann betrügt und wir ja schließlich doch alle nur Tiere sind. Ich versuche, das rational anzugehen, indem ich mir sage, dass es nur der Kontakt zweier Körper ist, Haut, Blut, Schleimhäute mehr nicht Ich versuche, mir die Szene im Röntgenscanner vorzustellen, wo das Rot für die Stellen mit hoher Temperatur steht, zwei Skelette, die sich heftig gegeneinander bewegen, mit sehr langen Zahnwurzeln, morbide verzerrten Kiefern und leeren Augenhöhlen; ich versuche mir einzureden, dass man kein Drama daraus machen muss und doch eigentlich auch darüber lachen könnte, ich versuche mir einzureden, dass Alexandrine auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut ist und keine Gottheit, dass sie nicht die schönste Frau der Welt ist und auch nicht die aufregendste, dass es viele andere gibt, Milliarden von Frauen auf der Welt, und sie bloß eine davon ist, ich sage mir: «Warum lasse ich mir so zusetzen?», und dann: «Warum werfe ich mich vor ihr in den Staub, man kann doch nicht alles mit mir machen, verdammt.» Ich sage mir: «Hör doch auf, sie so zu verherrlichen» Ich versuchte verzweifelt, sie nicht so ernst zu nehmen, aber es hilft nichts, Alexandrine schüchtert mich ein, sie ist zu stark, zu groß, zu sehr Frau, kühl, distanziert, streng, hochmütig, klug, anspruchsvoll, unberechenbar, impulsiv, zu verspannt, zu herb, immer unzufrieden mit allem, stolz, aggressiv, nicht wirklich großzügig und sehr launisch, und ich habe viel zu lange schon darauf gewartet, dass sie zärtlich zu mir ist, als würde mich das dann erlösen, ich habe sie aus all diesen Gründen viel zu lange begehrt und so viel Qual und Leiden in Kauf genommen, und sie ist dabei
völlig unerreichbar geblieben, was mich nur noch unsicherer gemacht hat; unser Sex, da gab es nichts zu lachen, das war ein einziges Drama, es wurde zu einer absoluten Qual für mich, Alexandrine war da nie so locker, Alexandrine war bei überhaupt nichts locker. Ich stelle mir ihre Pussy vor, ich kenne die in- und auswendig und habe sie mehr als alles andere auf der Welt geliebt, stelle mir vor, wie ein anderer darin zugange ist, einfach so ohne Vorwarnung, nachdem sie über Jahre nur mir gehört hatte, in denen ich nie gedacht hätte, dass irgendwann jemand anders sie besitzen könnte, nicht mal für drei Nächte. Nicht sie, bitte nicht sie! Irgendeine andere, meinetwegen, mir egal, aber bitte nur nicht sie, also jedenfalls, sie nahm Sex immer sehr ernst. Genau das hat mich immer beeindruckt, dass sie da nicht entspannt war, aber ihre Strenge in allem hat mich auch gequält und unter Druck gesetzt. Diese ganze Anspannung, die im Lauf der Jahre zwischen uns entstanden war, hatte zu großen Teilen genau damit zu tun. Deshalb hat mich das umgehauen, wie dieser Dreckskerl von Mobalese sie so verrückt gemacht hat und sie alles dafür gegeben hätte, dass er sie noch ein einziges Mal anfasst. Nicht was er getan hat, fand ich schlimm - später hat sie sogar zugegeben, vielleicht auch nur um mir eine kleine Freude zu machen, dass es mit ihm gar nicht so klasse gewesen ist und dass ich im Grunde auch nicht so schlecht bin -, sondern dass er den Rausch des Neuen verkörpert hat, weil er nicht ich war. Ausgerechnet sie, das war das Brutale. Wenn sie danach wenigstens ein bisschen Mitgefühl mir gegenüber gezeigt hätte oder zärtlich oder etwas entspannter gewesen
wäre. Wenn sie sich dadurch ein bisschen beruhigt hätte und sie mich etwas freundlicher behandelt hätte. Aber ganz im Gegenteil: Sie war noch wütender als vorher. Sie verzieh mir nicht, dass ich sie drei Monate zuvor hatte verlassen wollen und ihr mit meinem Gejammer mutwillig ihre, wie sie es nannte, «reizende Eskapade» madig gemacht hatte, und vor allein, dass ich nicht dieser Typ war. Das hat mich richtig aus der Bahn geworfen, zu spüren, dass sie mich nicht mehr liebte. Denn es war ja gar nicht so sehr der Vorfall selbst, diese dramatische, schwindelerregende Dimension erhielt das Ganze erst durch den Umstand, dass gerade Alexandrine mit ihrer Persönlichkeit, ihrem Temperament, es so weit hatte kommen lassen. Indem sie mit diesem Typen bis zum Äußersten gegangen war, indem sie mir ihm nicht nur rumgeknutscht und ein bisschen gefummelt hatte, hatte sie sich mir gegenüber einen ziemlich großen psychologischen Vorteil verschafft. Natürlich bedeutet es nicht das Ende, wenn ein Paar sich mal ein bisschen voneinander entfernt. Aber in dem Fall war es das Ende, wirklich. Und das nicht nur, weil ich bei diesem Thema besonders empfindlich bin. Eine andere Frau, gewöhnlicher, lockerer, weniger beängstigend, in der Hinsicht entspannter, eine normalere Frau hätte mir viel weniger Schaden zugefügt, ich weiß, es ist bescheuert, das zu sagen, aber es stimmt. Ich hätte die Sache einfach hinnehmen können, ein bisschen schmollen, ruhig auch rumheulen. Dann hätten wir uns ausgesprochen, und ohne sich unbedingt ausdrücklich bei mir zu entschuldigen, hätte sie zeigen können, dass sie nur mich liebt, sie hätte mir ein bisschen Honig um
den Bart geschmiert, und das Ganze wäre mit einem anständigen Fick vom Tisch gewesen. Weil Alexandrine das aber alles immer so ernst nahm und einen so un geheuren Druck auf mich ausübte, hat sich diese banale Episode in meinem Kopf dann völlig unverhältnismäßig zu einem riesigen Drama ausgewachsen. Das alles ist bloß eine Frage der Dynamik, der Interpretation, es kommt drauf an, wie man sich zum anderen positioniert. Alexandrine, so weiblich, erwachsen, zu erwachsen, kühl, streng, so voller Zorn, so anspruchsvoll, unversöhnlich, beeindruckend und oft so rabiat, die mächtige, magnetisch anziehende Alexandrine mit ihrer ansteckenden Angst, Alexandrine, die mich im Lauf der Jahre in die Knie gezwungen hat, wie es davor und danach niemand getan hat, mich, der ich sonst so stark und stolz bin. Und sie wusste ganz genau, dass sie mit mir machen konnte, was sie wollte. Auch das war das Verkorkste in unserer Beziehung: Sie hat mit mir gemacht, was sie wollte, und ich habe es mit mir machen Lassen, aus Angst, dass sie mich ablehnen würde, wenn ich mich verteidige; ich dachte, es gefällt ihr, wenn ich gehorche, aber in Wirklichkeit hat es sie auf die Palme gebracht, dass ich ständig so weich und fügsam war und sie nie zu tut vordrang, sondern nur zu dem, als den ich mich ausgab, um ihr zu gefallen. Wir waren immer sehr eng und leidenschaftlich gewesen, niemals gleichgültig. Du musst wissen, in all den Jahren bin ich ihrer nicht überdrüssig geworden. Sogar die Kinder haben nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Sie, sie, sie, immer nur sie. Wie viel Zeit auch vergangen war, ich habe sie immer nur angeschaut wie ein kleiner Junge seine
Mutter. Ich war stolz, an ihrer Seite zu sein, ich fand sie schön in allem, was sie tat, ich habe jede ihrer Gesten bewundert: Ich dachte, dass sie die Frau ist, die sich auf der Welt am besten anzieht, die sich am besten schminkt, die stilvollste, die geschmackssicherste, die Frau mit dem größten Savoir-vivre, sie war die perfekte Gastgeberin, konnte ein Haus liebevoll einrichten, sie redete am gewandtesten, die klügste und rationalste Frau, geistreich und attraktiv, im Bett die Beste - umso mehr idealisiert, als sie von mir nichts wollte -, die beste Tänzerin, die beste Köchin und zudem die beste Mutter der Welt, obwohl ich Schwierigkeiten hatte, sie als Mutter zu sehen, so erregend fand ich sie immer, viel mehr noch als am ersten Tag, mit den Jahren wurde sie aufregender, und sie war es, die stets die besten Entscheidungen traf, und überhaupt habe ich immer sie für mich entschei den und reden lassen, weil ich so stolz war, an der Seite einer solchen Frau zu sein. Was sie vermasselte und was schiefgelaufen ist, ihr fortgesetztes Versäumnis, mir ihre Zuneigung zu zeigen, all die Fehler, die sie vom ersten Tag an hatte: Von morgens bis abends mäkelte sie an mir rum, verbesserte mich in allem, schuf gereizte Stimmung wie sonst niemand, machte jede Situation kompliziert, Einschüchterungen, kleine Sticheleien, sie beschuldigte mich völlig schamlos, ihre feindseligen Blicke, bei denen es mir kalt den Rücken runterlief, sie gab mir zu verstehen, dass ich in allem immer unrecht hatte, war nie zufrieden, immer unzufrieden, zu fordernd, kaum zärtlich, kaum je nette Worte, kaum liebevolle Blicke, sie war sprunghaft und unberechenbar, wusste selbst nicht, was sie wollte, ihr thronischer Pessimismus,
der Hochmut, ihre Brutalität und ihr bedrohlicher Zorn, kurzum, alles, was ich im Stillen an ihr beanstandenswert fand, habe ich nie zur Sprache gebracht, so sehr fürchtete ich, dass sie mir dann Vorwürfe macht; und wenn ich tatsächlich versucht hätte, sie zu kritisieren, dann hätte sie alles darangesetzt, mir zu beweisen, dass sie recht hat, und mich erschöpfte von vornherein die Aussicht auf Konflikt, sodass ich lieber sagte «Du hast recht» und mir selbst «Sie hat ja recht». So stolz ich von Natur aus auch bin und so überdimensioniert mein Ego auch ist, ich unterwarf mich ihr wie ein kleiner Junge sei ner Mutter. Und nach all den Jahren hatte mich das schließlich völlig ausgehöhlt, ohne dass ich es auch nur einen Moment gewagt hätte, anderen oder auch mir selbst einzugestehen, dass ich unglücklich war. Ich hatte beschlossen, glücklich zu sein und mich glücklich zu zeigen, ohne ein einziges Mal die Bedingungen dieses Glücks zu hinterfragen. Ich habe nicht einen Augenblick über meine persönliche Entwicklung und mein inneres Gleichgewicht nachgedacht, kein Problem, kein Problem, wie gesagt. All die anderen Paare kamen mir geradezu glanzlos vor, nicht so strahlend und leidenschaftlich und schön wie Alex und ich, aber um wie vieles ausgeglichener, aufgeräumter und sexuell ausgelassener. Um eine Figur aus Houellebecqs Plattform aufzugreifen: Wenn ich andere Paare, befreundete Paare betrachtet habe, wusste ich, dass sie vögeln, dass sie mit Liebe und Glück vögeln. Ich persönlich würde hinzufügen: «unbeschwert». Jetzt wirst du mir sagen: «Aber wie hast du dich nur in so eine Lage bringen können? Niemand hat dich dazu gezwungen. Für was wolltest du dich
eigentlich bestrafen, dass du dich so gequält und so zu rückgezogen hast?» Und du wirst sagen, dass schließlich auch ich meine Gefühle habe und keinen Grund, mich kleiner zu machen, als ich bin. Und ich würde antworten, ja, du hast recht, du hast absolut recht, aber dann müssten wir erst über Alex Persönlichkeit und ihre Geschichte sprechen, damit du verstehst, inwiefern auch sie von mir wie besessen war, inwiefern sie von mir abhängig war und deshalb aggressiv und wieso ich selbst glaubte, mich klein machen zu müssen, damit nämlich sie meinte, sie sei gar nicht so abhängig von mir. Und aus Rücksicht auf Alexandrine werde ich jetzt bestimmt keine Sachen über sie erzählen, weil sie das bestimmt nicht will. Diese ganze Geschichte war einfach völlig verkorkst und seltsam. Wie haben uns wie verrückt geliebt, aber auf völlig verkorkste Weise, und so haben wir einander viel Leid zugefügt. Das grenzte wirklich am Ende schon an Sadomasochismus, irgendeiner musste diese Höllensache beenden, findest du nicht? Meine Therapeutin hat die Sache vor kurzem ziemlich gut auf den Punkt gebracht, als sie sagte: «Unterm Strich waren Sie Projektionsflächen füreinander, und das hat Sie überfordert.» Ich weiß sehr wohl, dass diese Formulierung jemandem, der da nicht dringesteckt hat, jemandem «Normales» sozusagen, nicht unbedingt etwas sagt, ich weiß, dass ich dir die Sache so nicht wirklich verständlich machen kann. Also jedenfalls, ich will nicht ins Detail gehen, es würde Stunden dauern, das alles zu erklären. Ich will damit nur sagen, dass ich in Liebesdingen nicht
auf Streit programmiert bin, weißt du, genau das ist mein Problem. Denn ich weigere mich, menschliche Bezie hungen als Konflikt und Unterwerfung zu verstehen, vor allem in der Liebe, wobei es mit Alexandrine ja nichts an deres war. Ich wollte einfach nicht denken, dass auch die Liebe zu Alexandrine ein Krieg ist, und vielleicht ist es das, was sie von mir erwartet hat und was ich ihr nie gegeben habe: dass ich kämpfe wie ein Mann. Weißt du übrigens, was ich ihr am Vorabend ihrer Abreise nach Kodong gesagt habe? - weil ich die Sache mit dem Mobalesen intuitiv habe kommen sehen, ich habe das ganz zwangsläufig kommen sehen. Wir waren zu Hause in Tanambo, im Bad, ich habe ihr zugesehen, wie sie sich fertigmacht, ich hockte auf dem Boden und fand sie wahnsinnig scharf- bis zum Schluss war ich immer verrückt nach ihr gewesen. Sie hatte sich gerade ein Brazi lian waxing machen lassen - du weißt schon, untenrum fast völlig enthaart, auch die äußeren Schamlippen. Ich fand das natürlich keineswegs harmlos, sich so was ma chen zu lassen, zumal am Tag vor der Abreise in den Ur laub ohne mich und die Kinder, das hatte sie nämlich be stimmt nicht für mich gemacht, sie ließ mich ja seit drei Monaten nicht ran, wegen der Geschichte mit der Sänge rin, und weißt du, was ich zu ihr gesagt habe? Ich habe gesagt: «Alex, wenn du mich in Kodong betrügst, nach dem, was ich dir angetan habe, kann ich das sehr gut verstehen, das wäre wirklich das Mindeste.» Wie gesagt, in dem Moment wusste ich nicht mehr, was ich noch den ken oder sagen sollte, dass sie mir je verzeihen würde; ich war zu allem bereit, damit sie meinen Dolchstoß bloß
endlich vergessen und aufhören würde, mir Tag für Tag ein schlechtes Gewissen zu machen. Und dann muss ich feststellen, dass zwischen Worten und Taten, zwischen Vorstellung und Realität ein Riesenunterschied ist. Und dass ich nur ein Großmaul bin und in meinem Leben noch nicht so gelitten habe wie ab dem Tag Anfang August, als ich, eine Woche nach ihrer Rückkehr aus Kodong, zwischen zwei Basketballpartien mir den Kindern unten im Hof, mit rasendem Herz ihr Tagebuch durchblätterte und entdecken musste, dass sie sich einem anderen hingegeben hatte, der Englisch mit ihr gesprochen hat, dass sein athletischer Körper und sein Mund und sein Schwanz sie völlig verrückt gemacht haben, dass er jetzt gleichgültig tat und sie auf Nachricht warten ließ und ihr damit schlaflose Nächte bereitete, dass sie leide und Tag und Nacht durch die Straßen von Kodong laufen würde, um ihn zu finden. lch schlug das Notizbuch auf, das da ganz offen auf ihrem Schreibtisch rumlag, mit zitternden Händen, denn ich wusste, dass ich darin finden würde, was ich seit einer Woche ahnte und nicht wissen sollte, ich las darin, las Liebesschwüre, die einem anderen galten und die die Distanz ausdrückten, die zwischen uns beiden entstanden war, verliebte Worte, wie sie leidet, nicht mehr isst, nicht mehr schläft; ich las das, und in dem Moment dachte ich, ich breche zusammen, wirklich, ganz buchstäblich, ich dachte, ich breche zusammen, jetzt verstehe ich diesen Ausdruck und finde keine anderen Worte. Es ist wie eine Explosion im Brustkorb, gefolgt von einer Schockwelle, die dir bis in die Haarwurzeln geht, und es ist, als hätte man kein Blut mehr im Körper oder als hätte man so ein dumpfes Morphium bekommen, das
sich unaufhaltsam in deinen Venen ausbreitet. Innerhalb einer Sekunde war ich von Kopf bis Fuß wie aus Watte: Der blaue Himmel, die Bananenstauden im Garten, der Lärm der Kinder auf der Straße, die ganze Welt zerspringt plötzlich in deinem Kopf, oder eher du selbst wirst zerfetzt und die Welt tut so, als wäre nichts gewesen, die Welt mit dem Himmel, der weiter blau ist, die Bananenstauden, die sich langsam im Abendwind wiegen, und die Kinder aus der Nachbarschaft spielen Fußball. Das ist kein Spiel mehr, und du begreifst, dass man den Kopf in die Hände legen und vor Schmerz aufheulen kann, dass man alles um sich herum kaputt schlagen und sich vors erste Auto werfen kann, dass es das nicht nur im Kino gibt und die Schauspieler nichts erfunden haben. Du entdeckst die äußersten Gefühle, du merkst, dass du lebst und zerbrechlich bist, du vergisst diese fade Ironie, mit der du sonst großmäulig allen Problemen begegnest. Ich war mit den Kindern allein, die Sonne ging unter, wunderbare Dämmerung, der ganze Himmel feuerrot, Alexandrine war einkaufen, wie ein Zombie habe ich weiter mit den Kindern Basketball und Himmel und Hölle gespielt, damit ich mich nicht auf den Fußboden im Badezimmer lege und nie wieder aufstehe - ich habe da einen unverwüstlichen Überlebensinstinkt, wie gesagt. Ich bin wie irre unter dem Basketballkorb rumgesprungen, während es Nacht wurde, ich habe wie ein Irrer Witzchen gemacht, ich habe wie bescheuert gejubelt, wenn mein Sohn einen Korb geworfen hat und wenn meine Tochter ein ganzes Himmel und Hölle durchgesprungen ist - das war wohl meine Art, die Wirklichkeit zu leugnen; ich habe dann wie ein Irrer im Dunkeln weitergespielt, nachdem die Kinder
schon ins Haus gegangen waren, und auch, als ich aus dem Augenwinkel sah, dass Alexandrine zurück war, alle dreißig Sekunden rannte ich zur Wohnungstür, in der masochistischen Hoffnung, ihr ins Gesicht zu sehen, das ich wie ein Kranker liebte, das geistesabwesende Gesicht einer Ehebrecherin; ich glaube, das war die schlimmste Stunde meines Lebens. Weil ich nie dort gewesen war, hatte ich Kodong immer ohne besondere Leidenschaft be trachtet, bloß eine unter vielen Hauptstädten, die man mal bereisen kann, harmlose Postkartenidylle, irgendwelche geschmückten Tempel, vergoldete Buddhastatuen, Essen mit sehr viel Zitronengras und Faustkämpfe, bei denen Stöße mit Knie und Ellenbogen erlaubt sind, na ja, mir machte die Stadt dann natürlich plötzlich sehr zu schaffen. Ich habe angefangen, diese Stadt zu hassen, wie man ganz allein in seinem Kämmerchen sitzt und einen Rivalen hasst, der viel stärker ist und der einem eigentlich auch nichts Böses will und völlig gleichgültig ist gegen deinen erbärmlichen, kleinen Hass. Kodong war viel zu stark für mich, besonders von meinem gottverlassenen Loch Tanambo aus gesehen, siebentausend Kilometer entfernt, verstehst du. Es wäre etwas ganz anderes gewesen, wenn wir in Paris gewohnt hätten. Dann hätte ich mir einfach sagen können, dass sie sich eine kleine exotische Eskapade gegönnt hat. Aber stattdessen saß ich in Tanambo, und dort hat mir das mit Kodong sehr zu schaffen gemacht. Ich kenne diese riesigen asiatischen Städte: Singapur, Djakarta, Kuala Lumpur, ich bin ja schon mal da gewesen, sogar mit Ale xandrine zusammen, wir waren beide begeistert, wir fan den das alles toll. lch kenne diese Orte: Sie sind das
Herzstück des Planeten. Von Europa ausgesehen, selbst bezogen, wie wir hier leben, macht man sich das natürlich nicht klar. Aber wenn man vor Ort ist, versteht man auf der Stelle, dass hier alles anders ist, dass einem diese Städte nie richtig beschrieben worden sind oder man den Leuten, die einem davon erzählt haben, nicht wirklich Glauben geschenkt hat, man versteht sofort, dass man in Europa eigentlich aus der Welt gefallen ist. Das Ganze ist riesig, unfassbar urban, alles Hightech, modernistisch und runtergekommen zugleich, international, nicht nur die paar alten Säcke, die wegen der jungen Nutten kommen, überhaupt nicht, sondern junge anglo-amerikanische Auswanderer aus bestem Hause und gutaussehende Touristen, lauter junge Leute aus aller Welt, die da sind, um ein bisschen Party zu machen und das eigene Jung sein zu feiern, auf der Straße hört man alle Sprachen, die es gibt, weltbestes Essen da, es ist völlig romantisch, großartig, Kinofilmstimmungen, laute Kantinen mit Neon licht, riesige Einkaufszentren, Menschenströme, Lärm, Gerüche, Schwüle, Gewitterhimmel, mächtige, schwere, luftfeuchte tropische Smoghimmel, alles völlig maßlos, Orte, die wie gemacht sind für Abenteuer, für Zufallsbe kanntschaften und Leidenschaften, für sexuelle Leiden schaften, überhaupt alle erdenklichen Leidenschaften und Abenteuer, das sind Gegenden, die dein Leben verändern können, dich dein Leben ganz anders sehen lassen, das ist riesig, sage ich dir, ganz und gar riesig, und von Tanambo aus betrachtet das Herz des Planeten, sie bentausend Kilometer entfernt, das war einfach zu viel für mich. Wirklich sensationell, diese südostasiatischen Metropolen. Man muss da gewesen sein, um verstehen
zu können, in welchem Maß du dich klein und außen vor fühlst, wenn dich deine Frau da unten betrügt, während du mit deinem schlechten Gewissen in diesem Drecks loch sitzt. Und sie hat dieses Abenteuer ohne mich erlebt, in dieser Stadt, die mich genauso begeistert hat wie sie. Sich in Kodong vögeln zu lassen, das ist ja nicht nichts. Sie sind zusammen im Club gewesen, Rikscha und UBahn gefahren, sind Hand in Hand durch die Straßen gelaufen, einen Kopf größer als die anderen Passanten; sie schlief nicht mehr, weil sie auf seine Anrufe wartete, sie konnte nicht mal mehr essen und wurde schier verrückt vor Sehnsucht nach ihm, sie lebte nur noch dafür, ihn wiederzusehen, sie hat ihn fotografiert, nackt auf dem Bett in ihrem Zimmer, sie hat in ihr Tagebuch geschrie ben, dass sie sich während eines Shogankampfes auf der Toilette von ihm ficken lassen will, dass die Vorstellung sie erregt, sie hat es sich überall mit dem Kerl vorgestellt, für sie war er Kodong, die beiden haben da unten ich weiß nicht was getan, wie die Könige der Welt. Sie hat die Geschichte ihrer Leidenschaft ohne mich gelebt, sie war ganz verrückt nach dem perfekten Körper und der Gleich gültigkeit dieses Typen in ihrem klimatisierten Hotel zimmer, während draußen das Herz des Planeten schlug. Und egal, was ich heute über Kodong höre, über die neu esten Kinofilme, die du dir da auf der Straße innerhalb von fünfzehn Minuten für fünf Dollar auf DVD brennen lassen kannst, oder über die Fakes von ich weiß nicht welchen Supermarken: Bei Kodong denke ich nur noch an Alexandrine und ihren Mobalesen und wie sie auf Eng lisch wie zwei Starficker im Herzen des Planeten vögeln.
Kodong machte mir sehr zu schaffen, wie auch dieser Mobalese, der mir ja eigentlich nichts Böses wollte, dem war ich bestimmt völlig scheißegal, und wir hatten aus seiner Sicht ja auch nicht viel gemeinsam, außer dass er drei Nächte am Stück meine Frau in ihrem Hotelzimmer gevögelt hat. Mir ist bei der bloßen Erwähnung des Lan des Mobali, mit dem ich auch eigentlich nichts zu tun hatte, ganz übel geworden oder wenn ich irgendwo einen hünenhaften, hübschen, anglophonen Schwarzen gese hen oder irgendwelche RB-Stücke gehört habe, zu denen sie im Club rumgeknutscht hatten, und ganz besonders hei Spinning 2gether von Marronese Phunkers, das sie am Tag ihrer Rückkehr, noch bevor sie den Koffer auspackte, aufgelegt hat, mit ihrem abwesenden Blick, gleichgültig, in Gedanken noch immer da unten, mit ihrem mitleidigen Lächeln, das mir galt, mit ihren resignierten und zugleich verärgerten Seufzern, als erinnerte sie sich daran, wie er mit ihr auf der Tanzfläche in diesem Scheißsuperclub in Kodong so gut getanzt hatte. Ich sage das, weil auch ich, als sie an dem Tag ihre Sachen auspackte und etwas geistesabwesend die Hüfte wiegte, versucht habe, zu dem Stück zu tanzen; ich hatte nur eine Unterhose an, ich wollte ausgelassen sein und sie zum Lachen bringen, obwohl ich, ohne dass ich bis dahin einen Blick in ihr Scheißtagebuch geworfen hatte, da schon spürte, dass sie an einen anderen dachte und dass ihr vages Lächeln und das sehnsüchtige Seufzen nicht mir galten. Und als sie nochmal Spinning 2gether spielte und mir dabei zusah, wie ich, gehörnter Ehemann in Unterhosen auf dem tristen Fliesenboden unseres Esszimmers, mich anstrengte, ihr zu gefallen, und
verzweifelt versuchte, die schwarzen RB-Leute nachzuahmen, die sie sich stundenlang auf Brozasound TV anschaute, als sie mir bei meinen armseligen Bemühungen zusah, ihr zu gefallen und sexy zu wirken, und obwohl ich angestrengt lächelte, schon so eine schreckliche Ahnung in mir aufstieg, kam sie, ganz sicher aus Mitleid, auf mich zu und sagte: «Na los, tanz mit mir.» Ich habe gleich den herausfordernden Ton in ihrer Stimme bemerkt und gezittert wie ein gehörnter Ehemann, ich wusste, ohne zu wissen, mit einer animalischen Sinnesschärfe habe ich ihr sehnsüchtiges Lächeln und ihre wehmütigen Blicke verstanden, die einem anderen galten; ich wusste, dass es aussichtslos war, so gut mir ihr tanzen zu wollen wie er, ich wusste, dass das von vorneherein ganz aussichtslos war; gut, aber ich habe es dann trotzdem versucht, ich habe es gewagt, auf sie zuzutanzen und ihre Hand zu nehmen, ich, der gehörnte Ehemann, habe wie doof weitergelächelt und mich darangemacht, mit ihr zu tanzen. Und weißt du, was sie nach zehn Sekunden sagt? Sie machte sich sanft, aber entschieden mit einem Seufzen von mir los, wandte enttäuscht den Blick ab und sagte bloß: «Ach, lass.» Und weißt du, das Schlimmste an alledem war, dass ich, obwohl diese Worte mich völlig fertig gemacht haben, nicht aufgehört habe zu tanzen. Ein kleines bleiches Männchen, schuldig und betrogen, das in Unterhose auf dem Esszimmerfliesenboden rumtanzt wie ein eben geköpfter Hahn, der noch einmal über den Hühnerhof rennt, ganz genau so. Sie muss das Stück mindestens zwanzigmal gespielt haben. Und zwanzigmal musste ich ihre abwesenden Blicke und Seufzer
ignorieren, um nicht sofort loszuheulen, mich ihr zu Füßen zu werfen und sie anzuschreien, dass sie gesteht und mir von dem anderen erzählt, weil es zwecklos ist, zu leugnen, weil es völlig offensichtlich ist, dass sie sich verliebt hat und mir übelnimmt, in dieses Loch Tanambo heimkehren zu müssen, dass man das gleich daran gemerkt hat, wie sie aus dem Flugzeug ausgestiegen ist, als ich, der gehörnte Ehemann, ihr durch die Glasfenster des Flughafens von Tanambo zusah. Schwarze Sonnen brille, hochmütig, streng, sexy, kalt, undurchschaubar, deutlich schlanker, mit Klamotten, die ich noch nie an ihr gesehen hatte, wirkte sie wie ein melancholischer, schmollender R'n'B-Star, verschlossenes Gesicht, sie kam die Stufen der Gangway viel langsamer herunter als sonst, den Blick zu Boden, kein einziges Mal sieht sie zu den Glasfronten herüber, hinter denen ich mir den Kindern auf sie wartete, keine Eile, uns wiederzusehen, ganz langsam, als wäre sie lieber im Flugzeug geblieben, um wieder zurückzufliegen, zurück in den Rausch dieser beschissenen asiatischen Metropole, wo sie sich sexy Wäsche gekauft hat, um ihm zu gefallen, wo sie sich mit Zunge hat küssen lassen, die Brüste hat lecken lassen, die Pussy hat fingern lassen, sich auf Englisch in allen erdenklichen Stellungen drei Nächte am Stück in diesem beschissenen vollklimatisierten Hotelzimmer hat vögeln lassen, von diesem beschissenen Mobalesen, der sich anzieht und tanzt wie R Kelly und den auch sie in allen erdenklichen Stellungen angefasst, geküsst und gelutscht hat. Diese Geschichte mit dem «Tanz mit mir» und die mit dem Basketballspielen im Hof, das sind die schlimmsten Stunden meines Lebens gewesen. Schlimmer noch als
die Sache mir dem Lied, das ich ihr vorgesungen habe, auch an diesem legendären Tag ihrer Rückkehr; ich hatte mir vorgenommen, ihr dieses Lied vorzusingen, um mich zum x-ten Mal bei ihr für die Schweinerei von vor drei Monaten zu entschuldigen, von der ich mich offenbar langsamer erholte als sie, ein schönes portugiesisches Liebeslied, ich hatte Text, Aussprache und Melodie eine Woche lang in meinem Zimmer einstudiert und sang das Lied dann im Badezimmer für sie zur Begrüßung, ich, ge hörnter Ehemann, habe es ganz allein ihr vorgesungen, ich habe mir ein Herz gefasst, so gut es ging, und ihr di rekt in die Augen gesehen, den Tränen nahe, denn ich musste an das denken, was ich ihr angetan hatte; ich habe mit hoher Stimme á la Curtis Mayfield gesungen, weil sie mir irgendwann mal gesagt hatte, dass sie meine hohe Stimme mag, aber an dem Abend, weil sie wohl noch immer ganz verzückt von der Bassstimme ihres Mobalesen war - sie hatte in ihr Tagebuch geschrieben, dass sein «schwarzes» Timbre sie wahnsinnig macht und sicher auch weil ich nicht Curtis Mayfield bin, das muss man zugeben, an dem Abend jedenfalls gefiel ihr meine hohe Stimme plötzlich nicht mehr. Am Ende des Liedes hat sie laut gelacht, ein mitleidiges Lachen, das falsch klang wie nur was, und sagte mir, mit der Sanftheit des Gnadenstoßes: «Das war ganz hübsch, danke, wie lieb von dir, so kenn ich dich. Aber du solltest vielleicht versuchen, ein bisschen tiefer zu singen, das würde viel besser klingen.» Dieser Moment war noch schlimmer als der folgende Abend; ich hatte entschieden, sie zu einem romantischen Essen auszuführen, dann was zu trinken und zusammen tanzen zu gehen, um ihr zu zeigen, wie
sehr mir an ihr lag und daran, dass wir wieder glücklich sind, damit sie wieder an uns glaubt, und als ich dann Punkt Mitternacht in Tränen ausbrach, weil ich noch einmal all die schlimmen Dinge zur Sprache brachte, die ich ihr angetan hatte, reichte sie mir über den niedrigen Tisch hinweg, auf dem ihr Caipirinha und mein Kokoscocktail standen, ein Taschentuch, ohne mich dabei eines Blickes zu würdigen. Schlimmer auch als der Moment, als mir im Auto, auf dem Weg in den Club, eine Stunde nachdem wir die Bar verlassen hatten, ihr abwesendes Schweigen und ihr sehnsüchtiges Seufzen wieder zusetzten und ich sie mit der leisen, zuckersüßen Stimme des vermutlich Betrogenen zum dritten oder vierten Mal im Lauf des Abends fragte, ob auch wirklich alles in Ordnung sei, und sie sich mir dann mit eiskaltem Blick zuwandte, mich auf die Art ansah, mit der sie mich in die Knie zwingen konnte, und mich beschied: «Hör mal, du solltest besser aufhören, mich alle fünf Minuten zu fragen, ob alles okay ist, denn wenn das so weitergeht, kriege ich die Krise, und das würde übel enden. Also mach nicht alles kaputt. Wenn ich dir sage, dass es kein Problem gibt, dann gibt es auch keins.» Und schließlich auch schlimmer als der andere legendäre Samstag, als ich gegen Mittag neben ihr auf dem Bett saß - eine Woche zuvor war ich in ihrem blauen Reisetagebuch auf den Mobalesen gestoßen -, sehr weit auf meiner Bettseite, um sie nicht allzu sehr zu stören, aber auch weil ich jetzt ganz und gar verstand, was sie nach der Sache mit der Sängerin empfunden hatte und dass es folglich unmöglich war, dass sie mir jemals wieder verzeihen würde, als ich sie dann also anflehte, mir die Wahrheit zu sagen, mir zu
sagen, dass es da jemanden gab, dass ich aus ihrem Munde die Wahrheit hören müsste, denn auch wenn ich es schon längst wusste und mir sicher war, auch wenn ich Beweise hatte, ich konnte es doch nicht hundertprozentig glauben, wenn sie es mir nicht selbst sagte, denn noch schmerzhafter als die reine und ungeschönte Wahrheit war dieser Zweifel, der keiner mehr war. Und als ich dann hörte, wie sie mir einer fast sadistischen und rachsüchti gen Ruhe das fünfte Mal hintereinander das Offensicht liche leugnete, und weil ich mich inzwischen wie ein Lum pen aus Tränen und Leiden fühlte, habe ich schließlich zu einem absolut fiesen Mittel gegriffen, ganz übles Spiel von mir, das gebe ich zu. Ich war mit meinem Latein am Ende und sagte: «Schwöre beim Leben der Kinder, dass es da niemanden gegeben hat.» Und nach einem zwei, drei Sekunden langen Schweigen, das schon alles sagte, hate sie plötzlich dieses ununterdrückbare Lächeln der Erleichterung im Gesicht, das erste echte Lächeln seit ihrer Rückkehr, ein Lächeln, als wäre es ihr nun endlich erlaubt, ganz unverhohlen an ihren Mobalesen zu denken, und sie sagte: «Nein, das kann ich nicht, nicht die Kinder. Also ja, es gab da jemanden.» Sie sagte das ganz sanft und lächelte dabei glücklich und erleichtert, das war wie ein Kanonenschuss in mein Herz, und ich bin vom Bett gefallen und habe sofort zu heulen begonnen, wirklich, ich bin einfach auf den Rücken gefallen und habe «Neeeeiiiiiinl» gebrüllt, zwei- oder dreimal nacheinander, die Hände vors Gesicht gehalten, genau wie im Film, aber nicht inszeniert oder irgendwie theatralisch gemeint, ich habe nicht einen einzigen Augenblick daran gedacht, dass mein Verhalten und mein Schrei an eine schlechte
Szene in einer schlechten Fernsehserie erinnern könnten. Ich bin wirklich gefallen und habe losgeheult, ich wollte mir das Gesicht zerkratzen und mir die Haare ausreißen, und plötzlich kam es mir vor, als wären meine Wangen und die Stirn ganz blutleer. Zu viel Schmerz, sage ich dir, alles zu viel. Zu viele solcher schmerzhaften Kleinigkeiten, alle für sich genommen nichts Großes, aber insgesamt zermürben sie einen. Jetzt verstehst du also ein bisschen meinen Zustand auf der Terrasse meines Vaters, direkt nach diesem de primierenden Telefonat mit Alexandrine. Ich blicke auf Romanze und betrachte die Zypressen und versuche, an nichts zu denken, damit ich mich nicht in die dunklen Fluten des Fiume stürze. Und dann passiert etwas, das beweist, dass die Drehbuchautoren nichts erfinden. Es ist wirklich genau so passiert, ich übertreibe nicht. Ich sitze auf der Terrasse, es ist nach ein Uhr, ich beschließe, ins Bett zu gehen, ich stehe auf, habe das Telefon meines Vaters in der einen Hand und stecke die andere einfach so, ohne Grund, in die Tasche, und meine Finger berühren etwas, was ich schon wieder vergessen hatte: die Karte des Restaurants. Entschuldige diese Binsenweisheiten, aber ich muss es einfach sagen, das Leben ist verrückt, es gibt wirklich keine Zufälle im Leben. Nein, wenn man sich mal zwei Minuten lang auf die Abfolge der Ereignisse einlässt, kann man schon an Astrologie, Zauberei, deterministische Wissenschaften, okkulte Wissenschaften, was auch immer glauben. Kannst du dir vorstellen, dass mir das alles in nur zwei Tagen widerfahren ist? Am Tag zuvor war ich noch mit
Alexandrine in Paris, und anderthalb Tage später würde ich sie da wieder treffen, und wir würden gemeinsam zurückkehren nach Tanambo zu den Kindern und in unseren Alltag. Das war der einzige Zeitpunkt des ganzen Jahres, von Kodong Anfang Juli abgesehen, wo ich nicht mir ihr zusammen war. Und am ersten Abend des Jahres, den ich allein bin, bekomme ich diese Nachricht. Verrückt, oder? Findest du nicht? Ich meine, dass nicht ich entschieden habe, was ich dann tat. Während meiner Ehe habe ich meine Frau nicht ein einziges Mal betrogen und war immer nur ihr zugetan, allen Versuchungen habe ich widerstanden, bis keine an dere Frau mehr ernsthaft irgendwas versucht hat. Wobei es mir an Gelegenheiten nicht gefehlt hat. Erstens weiß ich also nicht, was ich ausgestrahlt habe, dass dieses Kärtchen dann auf meinem Tisch landete. Und zweitens habe ich keine Ahnung, was mich dazu gebracht hat, diese Frau dann auch wirklich anzurufen. Der Präzedenzfall mit der Sängerin in Tanambo? Dieses «Ich habe einmal am Verbotenen gekostet, jetzt will ich mehr davon»? Überlebensinstinkt? Ein Schutzengel? Rache? Stolz? Ein bisschen von allem? Ich kann nichts davon ganz ausschließen, vom heutigen Standpunkt aus betrachtet. Ich kann nur sagen, dass ich nicht lange überlegt habe und mit dem Telefon in der Hand zurück ins Haus und, um niemanden zu wecken, in den Waschraum gegangen bin und da zwischen dem Bügelbrett, Plastikwannen, Waschmittelkartons und der Wasch maschine stand. Selbst dieser fensterlose Schuppen, der nur von einer nackten Birne beleuchtet war, ist mir heute
eine wunderbare Erinnerung. Und dann habe ich ganz ruhig die Nummer gewählt, die auf dem Kärtchen stand. Es muss fünf- oder sechsmal geklingelt haben, bevor sie dranging. Ich dachte mir, dass eine Frau, die einem Unbekannten einfach so ihre Nummer dalässt, an einem Samstagabend um eins garantiert noch nicht schläft, dass für so jemanden die Nacht bestimmt gerade erst losgeht. Ich stellte mir vor, wie sie mit Freunden in irgendeiner lauten Bar steht und kaum verstehen würde, was ich sage. Ich reiße ja sonst nie irgendwen auf, aber in meiner Verzweiflung war ich zu allem bereit. Plötzlich war ich zuversichtlich, ich wollte spielen, prahlen, den Don Juan geben. Das Telefon klingelt fünf- oder sechsmal, ich denke, das hört sie nicht, wegen der Musik oder weil sie schon zu viel getrunken hat, ich warte darauf, dass ihre Mailbox sich einschaltet, um dann aufzulegen, und plötzlich geht doch jemand ran. Keine Technobässe im Hintergrund, kein Gehupe, keine lachenden Leute, nichts, kein Laut, nur das ängstliche pronto? einer Frau mit sehr heiserer und tiefer Stimme, die ich offensichtlich geweckt habe. Ich bleibe sehr beherrscht, sehr locker, klinge so gut es geht nach «männlich ruhig» und frage: «Alice? Do you speak English?» Sie antwortet «Just a little bit», ohne Akzent, ich sage ihr, dass ich der Typ aus dem Restaurant bin, dem sie zwei oder drei Stunden zuvor das Kärtchen hat bringen lassen. Überraschtes Schweigen, ich spüre ein überraschtes und etwas verlegenes Lächeln am anderen Ende der Leitung, und ich mache sofort weiter und frage sie, ob ich sie aufgeweckt habe. Sie sagt ja, ich entschuldige mich, sie sagt, ich brauche mich nicht entschuldigen, sie habe nur so tief geschlafen und
gedacht, das Telefon klingele in ihrem Traum und nicht in der Wirklichkeit, und dass sie sich frage, ob sie nicht immer noch träume, so tief sei sie eingeschlafen, als sie vom Restaurant nach Hause gekommen sei, und so wenig habe sie um diese Zeit mit einem Anruf gerechnet. So fängt unser Gespräch an, da ist jemand am anderen Ende der Leitung, weißt du, ein möglicher Gesprächs partner. Sie gesteht mir übrigens sofort ihre Verlegenheit, sie lacht und sagt: «Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, normalerweise mache ich so was gar nicht.» Ich, diesmal mehr so Tonlage «sanfter Verführer», sage ihr, dass ich das überhaupt nicht schlimm fand, sondern toll. Ich will jetzt hier nicht das ganze Gespräch wiedergeben, nur so viel: Wir haben zwanzig fünfundzwanzig Minuten lang gesprochen, uns dabei völlig unbefangen, sehr offen - mal Geplauder, dann wieder echtes Interesse am anderen - über zwei oder drei wesentliche Dinge ausgetauscht: Sie ist viel jünger als ich, eigentlich aus Monte, sie ist für dieses Jahr hergekommen, um an der Universität von Romanze Neuropsychologie zu studieren, sie spricht kein Wort Französisch, und ihr Freund wohnt in Monte, wohin auch sie in ein paar Tagen zurückkehren wird. Ich bin Franzose und zehn Jahre älter als sie - das erste Mal, dass ich mich alt gefühlt habe, komisches Gefühl, kann ich dir sagen -, bin verheiratet, habe zwei Kinder, lebe und arbeite am anderen Ende der Welt, bin auf Durchreise in Romanze, zu Besuch bei meinem Vater und seiner Frau und meinem kleinen Bruder, die ich nur einmal im Jahr sehe, ja, das waren die anderen am Tisch im Restaurant. Sie geht nicht weiter darauf ein, dass ich verheiratet bin und Kinder habe, sagt nur, dass man sich
das nicht vorstellen kann, wenn man mich so sieht, dass sie mich höchstens auf siebenundzwanzig geschätzt hät te. Ich sage ihr, dass ich sie vor meiner Abreise gern noch sehen würde, aber das sage ich eigentlich der Form halber, und im selben Moment frage ich mich, ob ich das wirklich will. Sie fragt mich, was ich am nächsten Tag vorhabe, ich sage, dass meine Eltern mit mir eine Tour ins Umland machen wollen, ich könnte sie nach meiner Rückkehr ja mal anrufen, ich bleibe ganz unverbindlich, denn ich weiß selber nicht so genau, was ich will, ich würde gern ins Bett gehen, ich verliere plötzlich die Lust und sage ihr das schließlich auch, dass sie nicht unbedingt auf meinen Anruf warten soll, dass ich mal sehen müsse, vielleicht Montag, bevor ich zum Flughafen fahre. Wir beenden das Gespräch ziemlich angeregt, aber mit einem sehr vagen Versprechen, ziemlich abrupt. Dann gehe ich in mein Zimmer, meine Sachen sind noch kaum ausgepackt, ich lege mich hin und mache die Augen zu. Zum ersten Mal ist die Verwirrung eine Zuflucht, sie vernebelt meinen Schmerz, ich schlafe ein. Am nächsten Morgen noch immer dieser spätsom merliche königsblaue Himmel. Es ist mild, das besänftigt mich. Aufstehen, Dusche, Morgen allerseits, Frühstück auf der Terrasse, toskanische Zypressen, ockerfarbene Fassaden und rote Dachziegel, Kaffee, Brot, Konfitüre, echte Ricore-Werbung, Italien gefällt mir. Bei Tisch erzähle ich, dass ich di
Wie ja überhaupt jeder, wirst du jetzt einwenden. Aber in ihrem Fall handelt es sich um DIE richtige Distanz, wenn du verstehst, was ich sagen will, die Distanz der bewussten Menschen. Wir scheinen jedenfalls eine ähnliche Vorstellung von richtiger Distanz und Bewusstsein zu haben. Ich will jetzt nicht übermäßig selbstzufrieden klingen, aber ich denke, dass das auch die richtige ist. Na ja, also ich meine, dass ich während des Gespräches spüre, wie sie mich abcheckt, so wie ich sie abchecke, mit genau der gleichen Wachsamkeit. Und bei der gegenseitigen körperlichen Anziehung, die ich spüre, bei dem oberflächlichen charmanten Geplänkel, merke ich doch, wie sie dabei ist, mich einzuordnen, dass sie die entscheidende Geschmacksverirrung bei mir sucht, mit der wachsenden Hoffnung allerdings, die eben nicht zu finden. Dass sie schüchtern, mit amüsierter Ungläubig keit, im Geiste Kästchen für Kästchen die Merkmale abhakt, die einen außergewöhnlichen Typen ausmachen, und überrascht feststellt, ihn gerade neben sich zu haben, hier und heute, auf diesem Platz, auf dieser Bank. Lebhafte Frau, lustig, aufmerksam, kritisch, nicht narzis stisch, die vergessen kann, dass sie toll aussieht, sehr schlagfertig, ohne davon ständig Gebrauch zu machen, nach und nach wird mir klar, wie schön ihr Gesicht ist. Komische Sache, dass man sich der Schönheit immer erst anschließend so richtig bewusst wird. Im Moment selbst, während des Gespräches, merkst du nur, dass da irgendwas passiert, was sich leicht anfühlt, du spürst, dass du dich gut fühlst, ohne so genau zu wissen, warum.
gegenüber Alexandrine erzähle, ihr nie wieder zu schrei ben, von meinem Bedürfnis, mich bei ihr zu entschuldi gen, ich schreibe, wie sehr ich sie schätze, obwohl ich so niederträchtig gewesen bin, und dass ich unsere schönen Erinnerungen nicht beschmutzen wollte, wie ich es leider getan habe. Am Tag drauf antwortet sie mir, dass ich sie verletzt hätte und dass sie versuche, mich zu vergessen, um wieder ein normales Leben zu führen, und sie warnt mich, dass sie meine Frau davon in Kenntnis setzen wird, falls ich ihr weiter schreiben sollte, dass ihr das leidtäte, sie mich aber nur so davon abhalten könne. Sie schließt mit einem ziemlich traurigen, pessimistischen Gedicht von Nazim Hikmet hast du von dem schon mal gehört? Und das Verrückte ist, am selben Abend, wirklich, genau an demselben Abend, so gegen zwei oder drei Uhr nachts, kommt Alex in mein Zimmer und rüttelt mich wach. In ihren Augen eine Mischung aus Panik, Zorn und tiefer, fast übernatürlicher Intuition. Sie sagt: «Schwör mir, dass du seit dieser SMS keinen Kontakt mehr mit ihr hattest. Schwör mir das auf der Stelle, beim Leben unserer Kinder.» Ich erwidere: «Und dafür hast du mich aufgeweckt?», wie ein Gottloser schwöre ich beim Leben unserer Kinder, sie geht, und ich schlafe wieder ein, zu angewidert von allem und seit langem schon zu verwirrt, um noch zu zittern oder auch nur die geringste Furcht zu empfinden. Alice habe ich verloren, und so denke ich wieder häufiger an den Mobalesen. Ob sie sich noch sehen, ver schweigt Alex mir. Aber ohne mit der Wimper zu zucken,
gesteht sie mir, dass sie irgendwann mit ihm telefoniert und ihm gesagt hat, wie sehr sie ihn liebt und wie verrückt sie nach seinem Körper ist, und dass sie sich ein paar Mails geschrieben haben. Ich habe drei Kilo abgenommen, ich schlafe nicht mehr, meine Frau will nicht mehr mit mir vögeln, das Parfum Chance, das sie sich da unten gekauft hat und das er vor mir auf ihrer Haut gerochen hat, kommt mir wie der Gipfel der Ironie und der Qual vor, ich lache nicht mehr, vorbei das mit dem ewig lächelnden und lockeren Typen, den man auf höchstens siebenundzwanzig schätzt, ich habe eine Erwachsenenvisage wie alle anderen auch, voller Sorgen. Ich sage Alex, dass ich die Kodong-Affäre noch immer nicht richtig einordnen kann, und sie, ob in meinem Interesse oder um ihrer persönlichen perversen Genugtuung willen, weiß ich nicht, schlägt mir eines Tages fast freundlich vor: «Also, wenn dir das guttut, wenn dir das irgendwie hilft, schreib ihm doch, ich gebe dir seine Mailadresse, wenn du willst.» Im Grunde denke ich, dass ich keine Lust habe, diesem Typen zu schreiben. Aber da ich in dieser ganzen Geschichte Alex Schritt für Schritt alles nachtue, wie ein Kind, das seiner Mutter nacheifert, stelle ich mir gar nicht die Frage, ob ich das will oder nicht, ihr Vorschlag ist natürlich der beste, wie immer. Und letztlich gibt sie mir ja freundlicherweise Gelegenheit, sanft Rache zu nehmen, diesen Typen end lich zu entzaubern, ihn dadurch wieder zu einem mensch lichen Wesen zu machen, meine irrationale Angst durch konkrete Worte zu vertreiben. Ich schreibe ihm dann eine sehr respektvolle Mail, sehr selbstkritisch, aber im Grunde berechnend. Im Großen und Ganzen sage ich, hallo,
wenn meine Frau sich für dich interessiert, dann bist du bestimmt ein prima Kerl. Ich habe ihr wehgetan, sie war verzweifelt, der Wandale in dieser Ehe bin ich, nicht du, wir kennen uns ja nicht, Alex ist eine erwachsene Frau, du hast ihr sehr gut getan, ich habe keinen Grund, auf dich sauer zu sein. Was auch immer ihr zusammen vorhabt, was auch immer eure Gefühle füreinander sein mögen, ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich sie mehr als alles andere auf der Welt liebe. Ich zeige Alex die Mail absichtlich nicht, bevor ich sie abschicke, was sie mir natürlich vorwirft. Dieser Austausch zwischen Ehemann und Liebhaber regt sie an, beunruhigt sie aber zugleich auch, und schließlich begreife ich, dass sie gar keinen authentischen Beweis meiner guten Absichten und meiner Gefühle für sie will, sondern durch meine Vermittlung wissen möchte, ob der Typ sie wirklich liebt. Er antwortet mir am nächsten Tag, so was wie Hallo, nice to get news from you, ich habe null Absicht, mich zwischen dich und Alex zu drängen, und ich gebe dir mein Wort, dass ich sie von nun an nur noch als gute Freundin betrachte. Alex, die am Tag zuvor nicht recht wusste, wie sie reagieren sollte, versteht, dass sie den Mobalesen gerade verloren hat. Ich sehe sehr wohl, dass sie traurig und enttäuscht ist, sie verbirgt ihre Enttäuschung, so gut sie kann, sie ist sauer auf mich: «Warum hast du ihm das gesagt?», fragt sie mich bloß. Und sie wagt nicht hinzuzufügen: «Jetzt habe ich ihn verloren. Bist du zufrieden? Ist es das, was du wolltest?» Irgendwann, ich bin am Ende meiner Kräfte und be reit, was auch immer zu unternehmen, um aus diesem
schmerzhaften Gefühlschaos zu kommen, treffe ich zu fällig einen Schweizer Reikimeister, der auf Durchreise in der Stadt ist. Du weißt nicht, was Reiki ist? Eine Therapie durch Handauflegen, verstehst du? Ich glaube, aus Indien. Wir unterhalten uns lange in meinem Büro, der Typ ist ein bisschen abgehoben, aber sehr menschlich, sehr offen, sympathisch, sanft, intuitiv. Ich erzähle ihm meine ganze Geschichte mir Alex, ich vertraue mich ihm an, ich sage, dass ich überhaupt keine Ahnung von seiner Lehre habe, dass ich auch eher ein rationaler Typ bin, aber dass ich Alternativen anerkenne und angesichts meines derzeitigen chronischen Unwohlseins mehr als bereit wäre, seiner Lehre Glauben zu schenken, wenn er denn denkt, er könne etwas für mich run. Tränen treten ihm in die Augen, er sagt, dass mein Zustand des Wartens und des Hoffens ihn bewege, und ja, er könne etwas für mich tun: eine Sitzung von fünfundfünfzig Minuten, kostet nichts, er könne mich verstehen, er tue das mir Vergnügen, eine Frage der Moral. Ich schlage den folgenden Tag vor, zur Mittagszeit in meinem Büro. Er sagt, zu Hause sei besser, die Umgebung sei wichtig, wegen der Schwingungen. Ich sage ihm, dass ich vorher meine Frau telefonisch benachrichtigen müsse. Ich rufe Alex an, sage: «Es stört dich doch nicht, wenn ich morgen Mittag jemand mitbringe, wegen einer ReikiBehandlung, oder? Und wenn er bei der Gelegenheit dann auch gleich noch zum Essen bleibt?» Sie antwortet mir freundlich, dass das mein Bier sei, dass das mein Zuhause sei, ich die Miete zahle und folglich machen könne, was ich will, wie ich ja auch sonst mache, was ich will, ohne ihre Meinung einzuholen. «Mir persönlich»,
fügt sie hinzu, «ist das völlig egal. Und was das Mittagessen anbelangt, wirst du mit dem vorliebnehmen müssen, was die Köchin euch zubereitet» Am Tag drauf komme ich also mit dem Schweizer Reikimeister in unser Esszimmer. Alex ist offensichtlich genervt und erwidert kaum seinen Gruß, verschwindet dann in die Küche, das Geschirr abtrocknen, zur Beruhigung ihrer Nerven. Der Typ steht auf, geht in die Küche und fängt, eher weil er mir helfen will als aus Neugier, ein Gespräch mit Alex an, deren feuriges Temperament sich ja sofort gezeigt hatte. Nach ein paar Minuten steht Alex in der Tür, völlig ent rüstet. Wie eine Kampfansage zeigt sie mit dem Finger auf den Typen: «Dieser Herr, den ich nicht kenne, betritt mein Haus und erlaubt sich, mich zu belehren. Findest du das normal?» Ich rechne sofort damit, dass die Situation eskaliert, und sehe abwechselnd Alex und den Reikimeister an: «Was? Bitte? Was ist los?» Alex ist außer sich: «Ich habe mich ganz höflich mit diesem Herrn hier unterhalten, und ohne dass ich ihn um seine Meinung gebeten hätte, sagt er zu mir: Wenn die Männer manchmal ein bisschen unbeholfen sind, dann muss man ihnen das nachsehen, so ist das nun mal. Mische ich mich etwa in irgendwas ein, was mich nichts angeht?» Sie ereifert sich: «Mische ich mich etwa in Ihr Privatleben ein?», fragt sie den Reikimeister. Ich sehe den Reikimeister an, er steht ganz verwirrt da in seinem weißen Kimono. «Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, das war nicht meine Absicht, es tut mir leid, wenn ich distanzlos war. Es stimmt, ich habe versucht, mich ein wenig zum Anwalt Ihres Mannes zu machen, das war vielleicht unbeholfen von mir, aber das war nicht gegen
Sie gemeint, lassen Sie es bitte nicht so auf, es bereitet mir nur Schmerz, Sie beide so unglücklich zu sehen, und ich hätte so gern etwas für Sie getan.» Rasierter Schädel, Blick wie ein bretonischer Spaniel: Er sieht wirklich wie ein guter Mensch aus. «Alex, beruhige dich, was ist denn los mit dir? Das ist bestimmt ein Missverständnis.» Ihre Stimme klingt jetzt drohend: «Ich habe dir gerade erklärt, was passiert ist. Es gibt kein Missverständnis. Der Herr hier ist sehr respektlos gewesen, und du lässt das einfach zu?» – «Warte, Alex, warte mal eine Sekunde.» – «Nein! Ich warte überhaupt nicht!», brüllt sie. Und dann: «Wir sind uns doch wohl einig, dass dieser Herr hier mich in meinem Hause respektlos behandelt hat?» Da ich für ihren Geschmack zu lange brauche, das Ausmaß der Situation zu erfassen, nimmt Alex eine dicke Salatschüssel aus Pyrex aus dem Geschirrständer und schmeißt sie mit aller Kraft auf den Boden. Vom Krach aufgeschreckt, kommen die Kinder in die Küche gelaufen. Es ist das erste Mal, dass Alex in ihrem Beisein so ausflippt. Ich versuche, die beiden zu beruhigen, während ich Alex mit Blicken anflehe, sich ihrerseits zu beruhigen, aber vergebens: Sie brüllt mich an, dass es eine Schande sei, zuzulassen, dass die eigene Frau beleidigt wird, und ohnehin sei es skandalös, mich behandeln und pflegen zu lassen, wo doch sie diejenige sei, die wie ein Hund leide, dass ich der schlimmste Egoist von allen sei, ein echtes Monster. Das hat sich wirklich genau so zugetragen, ich erfinde nichts hinzu und lasse nichts weg. Man muss sagen, dass Alex nicht ganz unrecht hatte. Aber was soll's, oder? Die Reiki-Behandlung habe
ich dann schließlich doch noch bekommen. Aber du wirst dir vorstellen können, wie entspannt ich war. Der Typ ist anschließend ganz freundlich zu Alex hin und hat ihr, tausendmal um Entschuldigung bittend, die gleiche Be handlung angeboten, aber sie hat natürlich abgelehnt. Als er ging, hat er kein böses Wort über Alex verloren, kein Urteil, keine Meinung. Aber sein Blick, entsetzt, geschockt und mitfühlend, war vielsagend. Kaum noch friedliche Momente, es ist unerträglich. Am 30. November bin ich mit Ivan zum Essen verabredet. Es ist das erste Mal, dass ich seit unserer Rückkehr aus Paris zweieinhalb Monate zuvor allein ausgehe. Ich hatte Alex in der Woche davor von dieser Verabredung erzählt und sie am Vortag und am Morgen des Tages selbst nochmal daran erinnert. Ich bin dabei, mich über Entenbrust und Dauphinkartoffeln Ivan anzuvertrauen, ich sage ihm, dass ich nicht mehr kann, dass ich nicht weiß, was ich mit Alex noch machen soll, dass ich mir selbst völlig abhandengekommen bin, dass ich nicht mehr ans Glück glaube und dass es mir guttut, ihm von meinen Sorgen zu erzählen, danke, dass ich hier mal durchatmen kann, mein Lieber, und dann, mitten beim Essen, Anruf von Alex. Ihre Stimme zittert, ich kann mir ihren Blick vorstellen: «Findest du das normal, einen Monat nachdem du mich das zweite Mal verlassen wolltest, mit einem Freund zum Essen auszugehen, dir einen netten Abend zu machen, als wäre nichts gewesen?» Ich stammele irgendwelche schlaffen Beteuerungen in meinem Idiotentonfall, und sie legt einfach wieder auf. Ich sehe Ivan an, erzähle ihm das
missratene Gespräch, er sagt aus Freundschaft zu Alex nichts, aber wie beim Reikimeister genügt ein Blick in seine Augen. Und da verstehe ich plötzlich, dass ich eine völlig abwegige Beziehung führe, dass niemand so irre ist wie ich, sich selbst das Leben so zu verkomplizieren, und dass das alles sofort ein Ende haben muss. Normalerweise wäre ich jetzt aufgesprungen, bevor ich aufgegessen hätte, noch vor dem Nachtisch hätte ich in Windeseile die Rechnung bezahlt, mich von Ivan verabschiedet und ihn gebeten, Verständnis zu haben für meine Situation, und wäre nach Hause gerast, um zu Alex zu sagen: «Aber was ist denn los, mein Schatz? Wo ist das Problem? Ich habe doch nur mit Ivan Entenbrust gegessen, und wir haben über dies und das geplaudert. Alles völlig harmlos, wirklich. Willst du darüber sprechen?» Diesmal sage ich ganz ruhig zu Ivan, sanft und übertrieben lächelnd, als rüstete ich mich zum finalen Angriff. «Hör mal, Ivan, hör mir mal gut zu: Nein, ich werde jetzt nicht aufstehen. Wir beide werden hier jetzt ganz in Ruhe weiteressen und uns ganz entspannt unterhalten, den Wein austrinken, uns Nachtisch bestellen und dann, warum nicht, auch noch den Schnaps aufs Haus trinken, in Ordnung? Wir machen das genau so, wie ich es dir gerade gesagt habe, und dann, aber erst dann, sagen wir einander gute Nacht, und ich fahre ganz lässig mit dem Auto nach Hause, okay?» So beenden wir dann auch das Essen, und das erste Mal spüre ich, dass ich so handeln und reden werde, wie ich denke. Ich verabschiede mich von Ivan, steige in den Wagen und beschließe, keine Angst zu haben, beschließe, dass mein Herz nicht rasen wird,
wenn ich vor der Haustür stehe, dass ich erhobenen Hauptes durch den Hof gehe, dass ich ungerührt das Haus betrete. Ich beschließe, dass ich selbst über mein Leben entscheide und dass es keinen Grund gibt, sich unglücklich zu machen, dass ich genug habe und dass ich, selbst wenn das nicht so einfach ist, von heute Abend an vor allem an mich selbst denken werde. Ich öffne die Haustür und sehe Alex auf dem Sofa, die zum millionsten Mal eine Erklärung erwartet, aber ich gebe ihr keine. Und sie bittet mich nicht, Platz zu nehmen, und auch wenn sie mich bäte, ich würde mich nicht setzen. Bestimmt hat es mit meinem entschlossenen Blick zu tun oder mit der Art, wie ich durch den Flur gehe, ich weiß es nicht, aber ich spüre, dass sie spürt, dass ich nicht so bin wie sonst, das heißt krankhaft fügsam. Ich sage kein Wort und gehe ruhig in Richtung Badezimmer - immer noch dieses Scheißbadezimmer -, ich spüre, wie sie sich hinter meinem Rücken still empört, und ich scheiß drauf. Badezimmer: Ich lasse mir Zeit, mache in aller Seelenruhe vor mich hin, knipse nur das Licht überm Spiegel an, nettere Atmosphäre so, drehe die Badewannenhähne auf, ziehe mich langsam aus, werfe eine schäumende Badetablette mit ätherischen Ölen ins lauwarme Wasser, die ganze Zeit das Plätschern aus den Hähnen, ich komme wieder zu Kräften, endlich geht es mir gut. Ich liege nicht mal zehn Minuten im Wasser und denke ruhig über meinen Entschluss nach, da geht die Tür auf. Es ist Alex. Natürlich hatte ich damit gerechnet, klar. Das erste Mal in all den Jahren unseres gemeinsamen Lebens bedecke ich mit der Hand schamhaft meinen Schwanz, als wäre zwischen uns nie
was gewesen. Ich drehe mich noch nicht einmal um: «Wolltest du was?» - «Ja. Wissen, was du hier abziehst.» Aber ihre Worte verhallen diesmal einfach, eine Despotin im Niedergang, panisch und unfähig, sich auf die neue Situation einzustellen, lächerlicher Popanz. «Nichts. Ich verlasse dich.» Es ist das dritte Mal in sieben Monaten, dass ich ihr das verkünde, aber wir beide, sie und ich, wissen, dass es diesmal Ernst ist. «Du verlässt mich?» – «Ja. Und sei so nett und geh jetzt raus und mach die Tür hinter dir zu, dass ich in Ruhe baden kann. Danke.» Am nächsten Morgen schicke ich als Erstes eine SMS an Alice, mit der Dringlichkeit des durch ein Wunder Ge heilten. Ich habe keine Zeit zu verlieren: «Me and my wife are separated since yesterday. 1 want to be in contact with you again.» Eine halbe Stunde später schicke ich eine Mail hinterher: «Du kannst diesen Brief meiner Frau zeigen, das ist mir völlig gleich. Ich kann nicht mehr, du fehlst mir, seit einem Monat schon will ich dir sagen, dass du mir irrsinnig fehlst, und dich um Verzeihung bitten.» Eine Stunde später rufe ich ganz außer mir in Monte an, sie geht ran: «Hast du meine SMS bekommen? Hast du meine Mail bekommen? Es tut mir leid, es tut mir so leid, rede wieder mit mir, ich bitte dich darum, ich tue dir auch nie wieder weh, ganz sicher nicht, du wirst das nicht bereuen, das garantiere ich dir, ich bin kein Engel, aber ich bin auch kein Dreckskerl, ich werde dir alles erklären, es tut mir leid, es tut mir so leid, ich brauche dich, ich träume von dir, ich lebe nur noch deinetwegen, ich bin nicht verrückt, natürlich habe ich ein
paar Probleme, aber die sind nicht unlösbar, ich will einfach nur glücklich leben, und ich weiß, was gut für mich ist, du bist gut für mich, entschuldige, bitte entschuldige.» Ich spüre, wie sie am anderen Ende lächelt, großes Glück. Auch für sie ist die Sonne wieder aufgegangen: «Warte mal, beruhige dich», sagt sie trotzdem, um Haltung zu bewahren. «Warte, ich antworte dir bald, das verspreche ich dir, beruhige dich, gib mir einfach ein bisschen Zeit, ich muss ein bisschen nachdenken, mach dir keine Sorgen, ich weiß, ich weiß schon alles, ich habe verstanden, ich küsse dich.» Und drei, vier Tage später wieder die Briefe, die unendlich süßen SMS, Romanze, Italien, die Bruschetta und abermals das Versprechen wilder Liebesnächte. In der Zwischenzeit ist Alex, das erste Mal überhaupt, seit wir zusammen sind, vor mir auf die Knie gegangen, sie hat mich unter Tränen angebettelt, dass ich bei ihr bleibe, sie hat sich ganz erbärmlich, mit der Küchenschürze um, vor mich hingeworfen und mir geschworen, dass sie meine Wut gut verstehen kann und um meinetwillen alles anders machen wird, sie hat gesagt, dass sie mich niemals mehr behandeln wird, als wäre ich ihr Eigentum, dass sie mich nie wieder tyrannisieren wird und erkannt hat, dass sie zu lange schon ihre Ängste auf mich projiziert, sie hat gesagt, dass sie mich mehr liebt als alles andere auf der Welt, dass sie mich immer schon für den schönsten Mann überhaupt gehalten hat, den klügsten, den sensibelsten, den unerreichbarsten, aber dass sie dafür irgendwie nie die richtigen Worte gefunden hat, dass sie alles anders
machen wird, weil sie es nicht zulassen kann, mich zu verlieren, dass es sie zerstören würde, mich zu verlieren. Es ist die schiere Panik, in zwei Tagen hat sie mir drei seitenlange Briefe geschrieben. Die Briefe sind niederschmetternd, Alex ist zweifelsohne aufrichtig, aber es ist zu spät, ich habe keine Geduld mehr, auf mein schlechtes Gewissen und mein Mitgefühl zu hören. Ich könnte aber doch. Ich könnte so leicht ein x-tes Mal einknicken und mir einreden, dass ich kein Recht habe, ein verzweifeltes Kind sitzenzulassen, das da vor seinem zerbrochenen Spielzeug sitzt, dass ich sie retten kann, dass ich dazu verpflichtet bin, ich, der ich das große Glück habe, nicht so an den eigenen Widersprüchlichkeiten zu leiden wie sie. Ohne weiteres könnte ich mich meinerseits auf die Knie schmeißen und mich wieder in die Höhle des Löwen begeben, aber es ist vorbei, die Welt ist zusammengebrochen, das Leben ist hart, das Leben ist eine Wanne voll Eiswasser, in das man dir eines schönen Tages den Kopf taucht, bis du es kapiert hast, das habe ich wohl verstanden, und was muss, das muss, Krieg ist Krieg, es gibt keinen Ausweg, keine Gefühle. Sie bricht mir das Herz, aber ich muss jetzt an mich denken, es geht um Leben und Tod. Sie oder ich, und ich werde es sein. Das ist fürchterlich, aber so ist es eben, ich habe keine Wahl. Man muss sich für die am wenigsten schlimme Lösung entscheiden, wie man so schön sagt. Anstelle des gewohnten «Mein Schatz» oder «Meine Liebe», des «Kein Problem» oder «Wie du willst» sage ich ihr, auch das zum allerersten Mal überhaupt, was Sache ist. Ich rede ein bisschen zu laut, ich rege mich ein bisschen zu sehr auf, ich verziehe das Gesicht,
ich muss mich ein bisschen überwinden, mich nicht lächerlich zu finden, ich zwinge mich um der Gesten willen, der Form, für die Galerie, und das erleichtert mich ungemein: «Ich habe genug davon. Du machst mich krank, und ich hab davon genug. Lass dich vögeln, von wem du willst, lass es dir von den schönsten Männern der Welt besorgen, das ist mir so was von egal, ich bin hier raus. Ich habe keine Lust mehr auf dich, du kotzt mich an. Und pass bloß auf, wenn du es noch einmal wagen solltest, mich anzurühren, wenn du mir noch einmal wehtun solltest, dann schlage ich zu, als wärst du ein Mann, ich geb dir einen Highkick auf die Fresse, bei dem du zwei Meter durch die Luft fliegst und dir den Schädel brichst. Glaub mir, ich habe überhaupt keine Skrupel, dir die Fresse zu polieren, wenn du es wagst, mich noch einmal anzufassen.» Das ist die Sprache, die sie versteht. Schlimmer noch: die sie liebt. Und das sagt sie mir auch, fast so etwas wie Verlangen in den verweinten Augen: «Ich liebe es, wenn du wütend bist.» Und ich stelle fest, dass ich viele Jahre meines Lebens damit verschwendet habe, einer Frau Zärtlichkeit und positive Energie zu geben und von ihr zu wollen, die mich zu sanft fand und nicht Manns genug. Ein Paradox, denn ich verstehe auch, dass sie dachte, sie könne alles mit mir machen, weil ich sie nie verlassen würde. Mehr als alles in der Welt fürchtete sie, mich zu verlieren, und konnte sich dabei nicht vorstellen, dass ich sie tatsächlich verlassen würde. Und auch weil sie dachte, mich nur halten zu können, indem sie mich «festsetzt», wie ihre Tante das nannte, Männer müsse man von Anfang an in den Griff kriegen, damit sie in der Beziehung schön gefügig sind. Mir fallen
einige Sätze von Alex ein: «Du musst es mit mir wie die kamerunische Fußballmannschaft machen, wenn sie dem Gegner auf dem Platz gegenüberstehen. Ich habe sie mal irgendwann im Radiointerview gehört. Sie hatten dem Gegner gerade eine richtige Packung gegeben und sagten darüber im Scherz zu den Journalisten: Wir haben sie zu unseren Frauen gemacht. Genau so musst du es mit mir machen.» Die Beziehung als Kampf, sage ich dir, bis ins Schlafzimmer. Ich glaube, dass das Ende unserer Geschichte vielleicht auch das Ergebnis eines lange verborgenen interkulturellen Konfliktes ist. Alex selbst hat mir das eines Abends mal gesagt: «Deine Geschichte mit Alice ist umso schmerzhafter für mich, als ich mir sage, dass ihr euch perfekt verstanden habt, weil ihr beide Weiße seid.» Und tatsächlich kann ich nicht umhin ziemlich naiv von mir, das gestehe ich ein - neuerlich weißen Frauen gegenüber Zärtlichkeit, Vertrauen und Solidarität zu verspüren, nachdem ich jahrelang auf sie herabgeblickt habe. Ich erinnere mich auch an diesen verstörenden Satz aus dem letzten Roman von Jean-Paul Dubois: «Weißt du, was Louise Brooks gesagt hat? Dass man sich als Frau nicht in einen Typen verlieben kann, der gut ist oder nett. Weil die Dinge so stehen, dass man immer nur die Arschlöcher liebt.» Ich frage mich, ob das auch auf Männer zutrifft. Hinsichtlich des Mobalesen muss ich an die Worte der Schriftstellerin Fabienne Kanor denken: «Der Mann, von dem du träumst, ist Neger. Dass deine Haut, dein Körper und dein Geschlecht den Ver stand verlieren.» In manchen Momenten glaube ich, dass Alex mich nie wirklich geliebt hat. Manchmal hat es ihr vielleicht gefallen, von mir geliebt zu werden, aber ohne
wirklich zu verstehen oder zu akzeptieren, dass ich sie liebe; weil sie aus vielen verworrenen und komplizierten psychologischen Gründen aufrichtig glaubte, so viel Liebe nicht verdient zu haben. Mir fallen die Refrains irgend welcher Popsongs ein: «Wenn du mich nicht liebst, dann liebe ich dich. Pass auf dich auf» - «Ich liebe dich, ich dich auch nicht.» Ich muss an das denken, was sie mir oft vorhergesagt hat, und das nicht unbedingt nur in stressigen Zeiten: «Eines Tages wirst du mich wegen einer Frau verlassen, die dir ähnlich ist. Da bin ich mir ganz sicher, du wirst schon sehen.» Ich glaube, sie hat mich dafür gehasst, dass ich nicht so unglücklich war wie sie. Sie sagt zu mir: «Liebst du mich nicht mehr?»- «Ja.» «Hasst du mich?» - «Nein.» Verrückt: Endlich gehöre ich mir selbst, aber ich erkenne mich nicht wieder. Ich ist ein anderer. Knapp einen Monat später bin ich in Südfrankreich, im Haus meiner Familie, meine beiden Kinder sind da, meine Mutter, ihr Mann, meine Schwester, ihr Freund und meine Großmutter. Es ist der 25. Dezember, früh am Morgen, der Himmel ist grau, und die anderen schlafen alle noch. Hundskälte draußen, und ich habe mir, was mein tropischer Teint nicht vermuten lässt, drei Tage zuvor in Paris eine Grippe eingehandelt, die ich so einigermaßen mit Paracetamol und Halstabletten im Griff habe. Ich habe gerade, wie jeden Morgen nach dem Aufstehen, hundert Liegestütze und hundert Situps gemacht, habe Brot und ein bisschen Obst gegessen und Mineralwasser getrunken, mir die Zähne geputzt, lange heiß geduscht, mich zurechtgemacht, mein Gepäck steht seit dem Vor
abend gepackt da. Mein Stiefvater kommt aus seinem Schlafzimmer, die Augen noch nicht richtig auf «Guten Morgen. Alles beisammen? Geht's los?» Er flüstert, um die Kinder nicht aufzuwecken, die nebenan schlafen. Er zieht sich an, schnelle Morgentoilette, wir verlassen das Haus, ich lege meinen Schal um, knöpfe meinen blauen Regenmantel zu, den ich mir am Tag nach meiner Ankunft bei La Halles gebraucht für fünf Euro gekauft hatte - nach zwei Jahren, die ich bei über 30 Grad gelebt habe, spüre ich wieder, was Winter ist und dicke Bekleidung -, öffne das Gartentor, mein Stiefvater lässt seinen Opel an, fährt ihn rückwärts auf die Straße raus, ich steige ein. Unterwegs ist überhaupt nichts los, und auch der Bahnhof von Faront ist völlig verwaist. Mein Stiefvater lässt mich auf dem Parkplatz raus, vielen Dank, Rafik, ich eile Richtung Avis-Schalter, wo mich eine Angestellte im roten Kostüm erwartet, ein bisschen müde, aber guter Dinge. «Frohe Weihnachten, frohe Weihnachten.» Dass nur wir beide in der Halle sind, verleiht der ganzen Szene etwas Surreales, wir könnten zwei Überlebende einer Nuklearkatastrophe sein, die, ohne dass sie selbst recht dran glauben, das Leben von früher nachspielen: Ich bin die Angestellte einer bekann ten Autovermietungsfirma, und du spielst den Kunden, okay? Ich habe von Tanambo aus alles mit einer gewissen Nervosität organisiert, und jetzt freue ich mich, dass alles verläuft wie geplant. Die erste Reise alleine seit Neuseeland vor fünf Jahren. Mein eigenes kleines Roadmovie, und ich bin mir bewusst, dass jede Kleinigkeit, die ich sehe oder erlebe, Teil meiner Erinnerung werden wird. Ich unterschreibe den
Mietvertrag, sie zieht meine Kreditkarte durch das Gerät und reicht mir den Schlüssel. «Gute Reise und frohe Weihnachten.» Ich bin ganz aufgeregt, zwinge mich aber, langsam zu gehen, um jeden einzelnen meiner Schritte auszukosten. Das Auto, das auf dem Parkplatz für mich bereitsteht, ist ein Renault Modus, der bislang nur, wie die Angestellte mir erläutert hat, 800 Kilometer gefahren ist. Piep, Hack: offen. Wie gewünscht, hat der Wagen einen CD-Spieler. Gott sei Dank. Da ich in Tanambo jeden Tag mit einem Land Rover Baujahr 1988 durch die Gegend fahre, inmitten von Autos, die auch nicht viel neuer sind, bin ich fasziniert, wie neu die Sitze riechen, und von der ganzen Technologie, den elektronischen Spielereien, dem digitalen Armaturenbrett, den Knöpfen, den ausgeklügel ten Sicherheits- und Kontrollvorkehrungen, der sanften Innenbeleuchtung, dem Komfort, den Materialien, der gedämpften Stille eines europäischen Autos des 21. Jahrhunderts. Ich lade mein Gepäck in den Kofferraum, ziehe meine Regenjacke aus, die ich auf die Rückbank lege, lasse aber den Schal um, wegen meiner Angina. Ich setze mich ans Steuer, lege die Straßenkarte und ein paar neue CDs auf den Beifahrersitz, in die Mittelkonsole ein paar Euromünzen, die VISA-Karte, Kaugummi, einen Streifen Lutschtabletten und Schokolade. Ich bemerke, dass sich der Duft meines Duschgels ausbreitet, schnalle mich an, stelle den Sitz ein, probiere ein paar Grundfunktionen des Autos aus, justiere die Rückspiegel, stelle die Heizung ein, fahre los: geschafft, der Film beginnt. Sonst niemand auf der Autobahn. Im CD-Spieler
nacheinander Caetano Veloso, Jorge Ben und Carlinhos Brown. Ich ganz allein in diesem leisen, neuen Auto auf der Autobahn, allein auf der Welt, es ist Weihnachten, Hundewetter, ich bin ein bisschen melancholisch, aber glücklich, ich bin wegen der letzten sechs Monate voll kommen ausgebrannt, aber glücklich. Glücklich, allein zu sein, in Frankreich zu sein, bei 130 Sachen die Namen der Badeorte vorbeirauschen zu sehen, jetzt, in der Nebensaison: Le Lavandou, Saint-Tropez, Saint-Raphael, froh, auf ein Glück zuzufahren, das endlich zum Greifen nahe ist. An diesem Weihnachtstag gehört die Straße ganz allein mir, und Straße und Himmel ähneln irgendwann den Halbtonmelodien von Veloso und Browns sonnigen Percussions. Oder eher ist es ihre Musik, die schließlich diesem ausgewaschenen Himmel und dem feuchten Asphalt ähnelt. Und auch meinem derzeitigen Geisteszustand, irgendwas zwischen Hoffnung und Melancholie. Die Musik meines Erwachsenwerdens. Ich habe mir die CDs eine knappe Woche zuvor bei der Fnac in Paris einfach nach Gefühl gekauft, und jetzt stelle ich fest, dass sie noch völlig frei von Konnotationen sind, die ersten Eindrücke, die darin eingehen werden, sind diese: ein neues Auto und eine leere Autobahn an der Cóte d'Azur im Winter, eine schmerzhafte Geschichte, die zu Ende geht, und vor mir eine Woche lang Glück und vielleicht noch länger. Es ist die Musik meiner Freiheit und meiner Selbsterneuerung, sie hat die Farbe, die ich ihr gebe, ist der Soundtrack eines wichtigen Kapitels meiner Geschichte. Denn das Erste, was ich zu tun beschlossen habe, als ich mein Leben verändern wollte, war, andere Musik zu hören. Nicht mehr Alex' RB, den ich eigentlich
nie so richtig gemocht habe, es ging nur darum, ihr zu gefallen. Jetzt die brasilianischen saudosistas Schnulzensänger, die einfach besser zu mir passen. Ich lerne wieder, mir selbst zu gehören. Ich fahre allein durch die Gegend, zwischen Hoffnung und Melancholie, und das ist genau richtig so, es soll gar nicht anders sein. Ich bin mir wohl dessen bewusst, dass das ein wichtiger Moment meines Lebens ist- Ich liebe das französische Mittelmeer, mein Zuhause. Wenn es trotz meiner vielen Reisen auf der Welt einen Ort gibt, an dem ich mich heimisch fühle, geborgen, wenn es einen Ort gibt, wo die Luft, das Licht und das Meer mir etwas bedeuten wie sonst nirgendwo, dann ist das ganz gewiss hier. Nizza, Monaco, Menton: Die Ortsnamen ziehen vorbei wie Metrostationen. Als ich über die Grenze bin, schreibe ich die erste SMS: «Sono in Italia!» Ich registriere kleine Veränderungen: Die Fahrbahn verengt sich, die Fahrt geht schneller und geschmeidiger, die Fahrbahnmarkierungen sind auffälliger, die Betonmauern in den Tunnels ungestrichen, die Neonfarben viel greller, mehr reflektierende Leitplanken am Straßenrand, von fern sehen die Ortschaften strenger und trauriger aus, mussolinihaft, die Raststätten werden zur Area servizio. Mautstelle: N'giorno signore, buon Natale, due cures per favore. San Remo, Imperia, Albenga, Savone. Ab Genua fahre ich Richtung Norden: Alessandria-Monte. Beim bloßen Anblick des Namens auf dem Autobahnschild macht mein Herz einen Satz. Es riecht nach Schnee draußen. Mautstelle, aree di servizio, buon giorno, buon Natale, vorrei un sandwich come questo e un caffe longo,
grave mille, ciao, Sie verlassen jetzt Ligurien, gute Reise, ich fühle mich europäisch, ich bin stolz, Europäer zu sein, im CD-Spieler unermüdlich Carlinhos Brown, Johnny Cash, Gaetano Veloso, Sergio Mendes, Maria Bethânia und dann plötzlich Monte, mein Herz explodiert förmlich. Mit einem Auge auf dem Stadtplan, ich fahre auf einer riesigen, düsteren, nicht enden wollenden Straße, und da, links, die Via N., ich fahre weitere zehn Minuten geradeaus durch eine zugeschneite, zeitlose, offenbar betuchte Geisterstadt, fahre geradeaus unter Straßenbahnoberleitungen hindurch und finde auf Anhieb mein Hotel, genau gegenüber vom Bahnhof, ich parke den Wagen. Das Hotel ist groß, geräumig, ruhig, menschenleer, gepolstert, lauwarm: gefällt mir sehr. An der Rezeption der Duft von Kölnischwasser und guter Küche. Man spricht französisch, reicht mir die Schlüssel, ich gehe in mein Zimmer hoch, auch die Gänge hier scheinen endlos zu sein, mir kommt das alles wie ein Traum vor. Das Zimmer hat eine sehr hohe Decke. Ich stelle meine Koffer ab. Auf dem Bett liegt eine rote Rose. Ich ziehe mich aus, dusche, lautes Fernsehen im Hintergrund, ich trockne mich ab, ziehe mir frische Sachen an, ich sollte ein bisschen schlafen, also ziehe ich mich wieder aus, bin aber zu aufgeregt, um wirklich schlafen zu können, also ziehe ich mich wieder an. Anderthalb Stunden später eine SMS: «Ich bin in der Hotellobby, ich komme hoch.» Ich bekomme vor Aufregung feuchte Hände. Ich warte drei Minuten an der Tür, mein Herz pocht schnell. Jetzt, der Moment ist gekommen, ich mache die Tür auf. Alice, genauso bewegt wie ich, sieht mich da im Türrahmen, bleibt auf dem Flur
stehen. Sie ist noch viel schöner als auf den Fotos, viel schöner als in meiner Erinnerung, viel schöner als vier Monate lang in meiner Phantasie. Sie ist blonder, viel feinere Züge, reifer, die Augen grüner und das Lächeln strahlender. Sie bleibt da auf dem Gang stehen, ich gehe auf sie zu, nehme sie in den Arm und halte sie fest. Danke für die Rose. Du darfst nicht vergessen, dass wir uns bis dahin ja nur ein einziges Mal gesehen hatten, im Sommer in Romanze. Aber mir kommt es trotzdem nicht falsch vor, der Winter, der Norden, der graue Himmel, die Grippe und die Wallklamotten ändern daran nichts: Wir sind's. Am folgenden Morgen, im Auto unterwegs Richtung Meer, öffnet Alice nach unserer schlaflosen Nacht nur manchmal die Augen und sieht mich an. Ihr Blick ist genau der gleiche - dieser ernste und intensive Ausdruck, verliebt, Misstrauen, das schwindet - wie sechs Monate zuvor, in der Nacht in ihrem Bett. Wir verbringen fünf Nächte in einem kleinen Hotel in Cinqueterre. Unser Zimmer befindet sich am oberen Ende eines labyrinthischen Treppenhauses. Wir sind praktisch die einzigen Gäste, es ist Nebensaison, alles zu, kein Mensch weit und breit, das Meer ist zugefroren, es regnet den ganzen Tag, aber das ist uns egal, es ist die schönste Woche unseres Lebens. Wir gehen zu unmöglichen Zeiten ins Bett, wir schlafen kaum, wir verpassen systematisch Hotelfrühstück und -mittagessen, um Punkt dreiundzwanzig Uhr gehen wir in die Küche runter und lassen uns ein Stück Brot geben und ein paar Scheiben Schinken abschneiden, die wir mit einem Bärenhunger an einer Tischecke kauernd sofort
verschlingen. Das Zimmer besteht aus einem riesigen, gemütlichen, weichen, rustikalen Bett, am Kopfende ist eine Lampe angebracht, und es gibt einen kleinen Tisch mit Spiegel. Unsere Taschen und Klamotten, alles liegt kreuz und quer verstreut, aber nichts außer uns beiden ist von Bedeutung. Wir haben einen tragbaren CD-Spieler dabei und Computerboxen, um Musik hören zu können. Draußen ein winziger Balkon und ein Kinopanoramablick auf eine stufenweise abfallende Felsenküste und das Mittelmeer, das zu dieser Jahreszeit aussieht wie die Ostsee. Man kommt sich vor wie in einer Berghütte. An zwei Abenden hintereinander fahren wir nach La Spezia, um ins Kino zu gehen. Die Küstenstraße ist eine von maritimen Kiefern gesäumte Serpentine, die ins Meer ragt. Nacht, alles menschenleer, Dauerregen und null Grad, und trotzdem erkenne ich mein sommerliches Mittelmeer. Wir sind allein auf der Welt, mit der Musik, der bläuliche Schimmer des beleuchteten Armaturenbretts und die Scheinwerfer der anderen Autos, die gelegentlich in diese mondlosen Nächte leuchten. Wir empfinden beide das Gleiche, die gleichen kostbaren Empfindungen. Wir machen jede Menge Fotos von uns. Wir essen in leeren Restaurants. Croissants, heiße Schokolade und frischgepressten Orangensaft an der Hotelbar. Eine sehr gut besuchte Pizzeria, riesengroß und modern, voller junger Sportler, mitten an einer menschenleeren Straße in La Spezia, gegen Mitternacht: L'Antica Pizzeria Da Mamma Ri. Wenn es sich mal ergibt, dann solltest du unbedingt hin, Superladen. Ich massiere Alice mit Zimtöl, sie macht für mich den Clown, wir amüsieren uns in unserem sehr eigenen Englisch, einem Südländer
Englisch. Den Rest der Zeit erzählen wir einander ernst unser Leben und machen Liebe. Drei-, vier-, fünfmal täglich, in aller Seelenruhe. Sie ist die erste unter den wenigen Frauen, mit denen ich gewesen bin, die die gleiche Auffassung vom Liebemachen hat wie ich: frei, kompromisslos, zärtlich, gierig, hingebungsvoll, narzisstisch. Unsere Phantasien ähneln sich. Und es ist auch das erste Mal, dass ich eine Frau zum Orgasmus bringe, und jedes Mal rührt mich das in einem Maß, wie du es dir nicht vorstellen kannst. Ich entdecke einen objektiven Zustand von Glück. Aber die Tage sind gezählt, und wir müssen zurück. Einhundertfünfzig Stunden Seite an Seite und nicht ein unschöner Moment, wirklich wahr. Weil wir auseinandergehen müssen, ist uns auf der Rückfahrt so elend, dass wir uns fast anpampen. Wir reden darüber, wann wir uns wiedersehen, fangen an zu planen, machen einander Versprechungen. Und in Monte gehen wir zur Fnac, um uns die Urlaubsmusik auf CD zu kaufen: Carlinhos Brown und Lhasa für sie, Carmen Consoli und Vasco Rossi für mich. Ich setze sie vor ihrem Haus ab, Via B., Punkt neunzehn Uhr. Ciao mio amore, ciao. We don't need to be sad, it's just the beginning of a beautiful and long story. Je t'aime. Te quiero. Ti amo. I love you. Ciao, ciao, ciao. Es ist schon Nacht, als ich die Stadt verlasse. An der ersten area servizio, an der ich halte, um Alice anzurufen, sind lauter Autofahrer in Abendgarderobe, die eilig noch Zigaretten und Alkohol kaufen, für die Feiern zum Capo d'Anno. Ich trage den blauen Regenmantel und Turnschu
he, Silvester gibt es dieses Jahr für mich ebenso wenig wie Weihnachten. Bloß ein schneller Kaffee für die Weiterfahrt, nach fünf Tagen ohne richtigen Schlaf. Ich habe alle Zeit der Welt. Ich fühle mich gleichzeitig elend und ruhig. Elend vor allem wegen der Trennung von Alex, nach all den gemeinsamen Jahren. Ich habe es getan, mein Gott, ich habe es wirklich getan. Das kommt mir völlig unwirklich vor. Und dieser endgültige Schritt in Richtung Freiheit ist paradoxerweise ein schwindel erregendes Gebirge aus Entsetzen und Schuldgefühlen, jeden Tag, wenn ich aufwache, aufs Neue. Elend, wenn ich an all die Schwierigkeiten denke, immerhin aber konkrete Schwierigkeiten, die da in Tanambo auf mich warten und die ich direkt angehen kann. Elend bei dem Gedanken an dieses banale Trennungsdrama, mit dem meine Kinder, genau wie ich in ihrem Alter, jetzt umgehen müssen. Elend bei dem unaufhaltbaren Auf und Ab des Lebens. Elend, weil Alice so plötzlich in meinem Leben aufgetaucht ist und ihre Abwesenheit mir brutal zusetzt. Elend wegen meiner unheilbaren Neigung, mich übergangslos von einer in die nächste Liebesbeziehung zu begeben. Ist es wirklich das, was ich will? Die Liebe? Und was ist die Liebe eigentlich? Wo beginnt und wie weit reicht die Autosuggestion? Wie kann ich wissen, ob ich Alice wirklich liebe? Momentweise denke ich, dass ich überhaupt nicht mehr in der Lage bin, jemanden zu lieben, dass ich mich schon völlig an Alex verausgabt habe. Dann wieder, wenn Alices Abwesenheit mich schmerzt und der Gedanke an sie mir guttut, dann denke ich, doch, ja, das heißt, ich liebe sie. Und warum sollte ich das preisgeben? Alles kommt mir mit Alice so
unvergleichlich viel einfacher vor, dass ich mich, über rascht von so viel Leichtigkeit, sogar frage, ob Liebe nicht auch zwangsläufig immer Leid bedeuten muss. Ruhig schließlich wie ein Mann, der sexuell erfüllt und zuversichtlich ist. Ich ahne, dass mein Leben sich fortan aufteilen wird in Tage, wo es läuft, und Tage, wo es nicht so läuft. Oder genauer in die, wo es nicht so läuft, und die, wo ich ein paar Stunden lang vergesse, dass es nicht so gut läuft. Ich denke, dass ich künftig ernsthaft auf mich aufpassen muss, damit ich nicht abstürze, ich muss handeln, unbedingt mehr lachen, ausgehen, lesen, mit meinen Kindern spielen, lebensfrohe, elanvolle Musik hören, Leute treffen, feiern, aufräumen, kochen, Sport treiben, dass ich mich stark ablenken muss, um, sooft es geht, zu vergessen, dass es nicht so gut läuft. Ich habe präzise Bilder für die Trennungsgeschichte mit Alex im Kopf zwei Holzplanken, die mit superstarkem Kleber aneinandergeleimt werden, der Kleber entfaltet langsam seine Wirkung, und kurz bevor die beiden Stücke endgültig eins geworden sind, greifen zwei starke Hände danach und reißen das Werk des Zimmermanns wieder auseinander - die brutale Trostlosigkeit der halbge trockneten, spitzen Kleberfetzen auf den unglückseligen Holzlatten und die Zeit, die sie glatt schmirgelt, doch der Kleber wird nicht ganz abzubekommen sein, und das Holz wird nie wieder aussehen wie vorher. Oder wie ich mit einer Pistole auf Alex schieße, sie schwankt und feuert mit einer Panzerfaust zurück, ich gehe mit aufgerissener Brust zu Boden und werfe schließlich die Atombombe. Ich: ein Krug in Scherben. Oder ein Auto, das gerade noch der Schrottpresse entkommen ist. Oder ein Haufen
toter Zellen, von denen sich einige erstaunlicherweise regenerieren. Ich muss an den Traum denken, den ich ein paar Nächte zuvor hatte: Alex und ich auf einem glitschigen Kai am Hafen von Faront, ein trüber, windiger Tag. Elegant gekleidet sitzt sie ganz unbekümmert in einem Schlauchboot. Ich krieche auf dem Bauch über den Kai und halte das Boot fest, denn der Wind kann es jeden Moment ins Wasser schleudern. Ich halte das Boot fest, weil Alex nicht schwimmen kann. Wir rutschen und schlingern, der Wind treibt uns immer schneller vorwärts, er zerrt an uns, es ist zugleich berauschend und gefährlich. Wir rutschen weiter, wir werden immer schneller, es ist jetzt schwieriger, die Bootsleine zu halten, ich versuche, Alex Zeichen zu geben, sie versteht mich nicht, sie ist noch immer ganz unbekümmert, noch immer ganz erhaben, und dann kann ich nicht mehr, der Wind ist plötzlich doppelt so stark, ich kann die Leine nicht mehr festhalten, und sie wird mir aus der Hand ge rissen. Panisch versuche ich wie ein Irrer zum Boot zu kommen, ich robbe, so schnell ich kann, über den Asphalt und schürfe mir den Bauch auf, aber das Boot rutscht viel schneller, als ich hinterherkomme, der Wind treibt es über den rauen, regennassen Boden, auf den Rand des Kais, auf das Wasser zu, Alex kriegt das gar nicht mit, sitzt da im Boot aufrecht wie eine Königin, mit erhobenem Haupt, ohne überhaupt zu merken, dass ich sie nicht mehr fest halte. Ich brülle ihr hinterher, dass sie rausspringen soll, ich schreie mich heiser, ich krieche mit blutigem Bauch hinterher, aber nichts zu machen: Sie hört mich nicht. Ich sehe hilflos zu, wie das Boot runterstürzt, es landet zwi schen der Kaimauer und dem Rumpf eines Segelbootes,
das dort ankert. Zum Glück schafft Alex es, sich an der Reling festzuhalten. Aber sie ist zu zwei Dritteln im Was ser. Ich beuge mich keuchend zu ihr hinab, reiche ihr mei ne Hand, um ihr ans Ufer zu helfen. Sie sieht mich hass erfüllt an, mit vorwurfsvoll überraschtem Blick, sie schlägt meine Hand weg, hievt sich mehr schlecht als recht selbst zurück auf den Kai. Ihre Klamotten sind zerrissen, triefend nass, stinken nach dem widerwärtigen Hafenwasser. Wie soll man das alles deuten? Hätte ich die Bootsleine fester halten sollen? Habe ich nicht laut genug geschrien? Habe ich Alex' blindes Vertrauen nicht verdient? Oder war der Wind einfach zu stark, das Boot zu zerbrechlich und der Rettungsversuch von vornherein zum Scheitern verurteilt Ich glaube, ich bin zu sensibel. Ich glaube, ich bin zu hochmütig. Ich glaube, dass Hochmut und Sensibilität ein Schwein aus mir gemacht haben. Ich glaube, dass ich es unterm Strich nicht verkraftet habe, betrogen worden zu sein. lch glaube, dass ich nicht vergessen sollte, dass ich es war, der in dieser ganzen Geschichte als Erster zuge schlagen hat, und am heftigsten. Aber ich glaube auch, erster Schlag hin oder her, dass das alles so kommen musste. lch glaube, dass ich mir das Leben gerettet habe. Sobald mir Alex' Bild in den Sinn kommt, unternehme ich enorme autosuggestive Anstrengungen: Nein, du kannst und darfst dich für sie nicht verantwortlich fühlen. Doch Logik und gesunder Menschenverstand können da nichts ausrichten: Eine so lange und enge Beziehung hat nichts mehr mit Vernunft und Einsicht zu tun - ich bin schuldig. Ich hatte das Recht nicht, etwas Derartiges zu tun. Nicht nach all der Liebe, die es zwischen mir und Alex gegeben hatte. Wir hatten einander zu viel versprochen, unsere
Einigkeit war so offenkundig, ich habe einen heiligen Pakt des Vertrauens gebrochen, nicht mehr und nicht weniger. Ich glaube, dass ich daran zugrunde gehen werde, dass ich Alex nach unserer großen Liebe verraten habe. lch frage mich ängstlich, ob ich sie nicht immer noch liebe. Ich glaube außerdem, dass sich die Geschichte in einer ganz einfachen Feststellung zusammenfassen lässt: Alex mit ihren Anforderungen und ihrem Charakter, das war mir zu viel. Dass ich nicht der war, den sie brauchte, dass ich es aber unbedingt sein wollte. Dass ich ihr schlussendlich nicht genug war, und dann habe ich alles hingeworfen, Schluss, aus. Dass man nicht mit einer Frau zusammenleben kann, vor der man Angst hat, die man noch im Schlafzimmer fürchtet. Dass das Leben nicht dazu da ist. Ich glaube, dass uns, weil wir uns sehr jung kennengelernt haben, unsere Unerfahrenheit teuer zu stehen gekommen ist. Ich muss an die schöne Formulierung eines Freundes in einem Brief neulich denken: «Ihr als Paar wart wie eine Allianz aus Rotfuchs und Löwin, ein so prachtvolles Duo! Aber ein unvorhersehbares und ein unvorhersehendes Gespann.» Ich denke: falschgetastet. Man könnte das alles als Bettgeschichte abhandeln, die nicht funktioniert hat, die Chemie hat nicht gestimmt, fertig. Ich glaube, ich werde ihr nie verzeihen, dass sie all die Jahre wissentlich solchen Druck auf mich ausgeübt hat, bei einem Thema, bei dem ich, und das wusste sie, sensibel reagiere. Ich glaube, dass man seinen Mann nicht liebt, wenn man ihn auf solche Weise behandelt. Manchmal denke ich: lch Armer, die hat mir ganz schön eingeschenkt. Manchmal habe ich auch Mitleid mit Alex, aber möchte mir auch
nicht vollends die Schuld geben. Ich glaube, dass ich nicht so gut und großzügig bin, wie ich immer dachte. Ich glaube, dass ich mir Dinge habe gefallen lassen, die sich außer mir niemand gefallen lassen würde. Ich glaube, dass solche Albträume anderen nicht widerfahren. Ich glaube, dass ich vielleicht gerade eine ganz banale Geschichte ziemlich übertreibe. Ich bin beunruhigt: Werde ich, wie die, die so was schon mal durchgemacht haben, mir zum Trost gesagt haben, eines Tages wieder Ruhe finden, inneren Frieden und Lebensfreude? Wird die Zeit meine Wunden heilen, wie es immer heißt? Werde ich mich eines Tages von alledem erholen? Ich muss an diesen Nietzsche-Satz denken: «Was nicht tötet, härtet ab.» Ich fahre auf einem Baustellenabschnitt der Autobahn Richtung Mailand weiter, ich fahre und fahre und fahre. Die Zeit vergeht, immer weniger Autos unterwegs, überall Warnleuchten, Lichtrampen, Warndreiecke, Blinklichter, illuminierte Leitplanken, Hinweisschilder aller Art: Nach achtzig Kilometern bin ich ganz allein auf der Welt, auf einer Autobahn, die auf eine einzige endlose Spur verengt ist, auf beiden Seiten Gitter und Schutzbanden aus Plas tik. Weil ich so müde bin, habe ich plötzlich den Eindruck, dass ich umstellt bin von schrecklichen, bedrohlich her umfuchtelnden Automatenmonstern, wie in den Schluss szenen dieser englischen Krimiserien aus den Sechzigern, weißt du, was ich meine? Ich kriege plötzlich Angst, wirklich, ich kriege es richtig mit der Angst zu tun, bekomme feuchte Hände, ich fahre zu schnell, ganz allein auf dieser Autobahn, ich bremse etwas ab, weil ich
fürchte, dass ich mich verfahren habe, ich halte vergebens Ausschau nach irgendeinem Lebenszeichen da draußen, ich habe den Eindruck, dass ich immer weiter Richtung Norden fahre, dass ich niemals ankommen und dass ich sterben werde. Und dann verschwinden die Monster plötzlich wieder, die Fahrbahn wird wieder breiter, ich habe den Baustellenabschnitt hinter mir gelassen. Ich fasse neuen Mut, als ich das Schild Alessandria-Genova prossima uscita sehe. Endlich wieder in südlicher Richtung fahren, endlich die See, end lich das Mittelmeer, ich bin gerettet. In Zukunft werde ich dieses tiefsinnige melantholische Stück von Carlinhos Brown immer mit den norditalienischen Autobahnen in der Nacht des 31. Dezember verbinden, ich höre das Lied in Endlosschleife während der Fahrt, ich würde es dir gern vorspielen: Argila. Ich habe absolut keine Ahnung, wovon der Text handelt, ich kann ja kein Portugiesisch. Carlinhos Brown, der aus Salvador de Bahia stammt, hat wahr scheinlich mit dem nördlichen Italien im Winter nicht so viel am Hut. Aber mir gefällt die Vorstellung, dass der Ton, der zunächst weich und unendlich verworren ist, dann aushärtet und sein Gleichgewicht findet, meinen Seelenzustand in dem Moment ganz exakt getroffen hat. Und außerdem steckt ja in Argila auch fragil, oder? Genau Mitternacht habe ich die Grenze in die andere Richtung überquert, ich fahre wieder etwas langsamer, mir gefällt es mir einem Mal, allein auf der Autobahn un terwegs zu sein. Weit, sehr weit entfernt zu meiner Linken, in Richtung Meer, bemerke ich die ersten Feuerwerke, die über kleinen französischen Ortschaften
hell aufscheinen, Die Leute feiern da fern an der Küste, und ich fahre noch immer zu schnell, und ich bin viel zu weit weg, um mit ihrem Glück wirklich etwas zu tun zu haben. Aber es ist trotzdem schön. Es ist kurz, ein bisschen lächerlich, aber es ist schön. Und dann, nach ein paar Minuten, nichts mehr: die schwarze Nacht und wieder nur die Scheinwerfer meines Autos. Und wenn du denkst, das war's jetzt aber, kommt immer noch ein Verspäteter, so, poff! Und dann wieder nichts mehr. Ich glaube, ich habe dem Silvesterfeuerwerk noch nie von so weit weg zugeschaut.
ENDE