Peter Frommelt Hubert Lösslein NeuroRehabilitation
Peter Frommelt Hubert Lösslein
NeuroRehabilitation Ein Praxisbuch für interdisziplinäre Teams Mit 108 Abbildungen und 92 Tabellen Mit Beiträgen von Ackermann, H., Bartolome, G., Beier, K., Blanco, J., Bockelbrinck, A., Christensen, A.-L., Demm, S., Deppe, W., Ebersbach, G., Ende- Henningsen, B., Evans, J., Fetter, M., Freivogel, S., Fries, W., Frommelt, P., Gauggel, S., Gehring, K., Goecker, D., Goldenberg, G., Groh-Bordin, C., Grötzbach, H., Hagedorn, A., Henningsen, H., Hermsdörfer, J., Hesse, S., Kischka, U., Kerkhoff, G., Koskinen, S., Kreutzer, J., Kühne, W., Küst, R., Kutzner, M., Lange, K.W., Legner, R., Liepert, J., Lösslein, H., Lucius-Hoene, G., Lüthi, H., Mäder, M., McGrath, J., Nerb, N., Niemann, H., Pfeiffer, G., Pössl, J., Rickels, E., Rijntjes, M., Rössler, J., Roth, R., Sarajuuri, J., Specht, U., Stöhrer, M., Sünkeler, I.H., Thöne-Otto, A., Thorbecke, R., Tucha, L., Tucha, O., Taylor, L., Vaney, C., von Cramon, Y., Walitza, S., Wedel-Parlow, F.-K., Weiller, C., Werner, C., Wissel, J., X., H.
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Dr. med. Peter Frommelt Asklepios Klinik Abt. Neurorehabilitation Hausstein 2 94571 Schaufling b. Deggendorf Bayern Deutschland
Hubert Lösslein † Geleitwort Prof. Anne-Lise Christensen, PhD, Dr. h.c. Professor em. Center for Rehabilitation of Brain Injury, University of Copenhagen
ÊSagen Sie uns Ihre Meinung zum Buch: www.springer.de/978-3-642-12914-8 Die erste Auflage des Titels erschien bei Blackwell Wissenschaft (Berlin), 1999 Die zweite Auflage erschien bei Thieme (Stuttgart), 2002 ISBN 978-3-642-12914-8 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science+Business springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literarturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Marga Botsch Projektmanagement: Natalie Brecht Lektorat: Maria Schreier Layout und Umschlaggestaltung: deblik Berlin Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg SPIN: 11819332 Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
Zur Erinnerung an Dr. Hubert Lösslein †
VII
Geleitwort Mit diesem Buch wird eine wissenschaftliche und umfassende Darstellung des heutigen Standes der Neurorehabilitation vorgelegt. Das Thema ist zum einen für diejenigen Personen von größter Bedeutung, die unter den Folgen von Gehirnschäden und neurologischen Erkrankungen leiden. Es ist zum anderen für ihre Familien und für die Gesellschaft wichtig, in der sie leben. Von dem Buch werden vor allem die verschiedenen Spezialisten, die in der Neurorehabilitation arbeiten, profitieren. Sie werden Einsichten in die ständig wachsenden Erkenntnisse der Neurowissenschaften und Neurorehabilitation gewinnen. Damit wendet sich das Buch gleichermaßen an Ärztinnen und Ärzte, an Therapeutinnen und Therapeuten und Fachkräfte der Pflege. Es geht in dem Buch nicht nur darum, Einblicke in Hirnfunktionen und ihre Störungen zu erhalten. Vielmehr geht es auch darum, die Erkenntnisse in die klinische Praxis zu übertragen, damit sie denjenigen Personen zugute kommen, die unter den Folgen einer Hirnverletzung oder einer neurologischen Erkrankung leiden. So erfahren die Leserinnen und Leser, wie therapeutische Ziele definiert werden und welche Therapiemethoden effektiv sind. Dabei sollten die Ergebnisse der Neurorehabilitation sowohl funktionelle Verbesserungen als auch eine Förderung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft umfassen. Der rote Faden, der sich durch das Buch zieht, ist die Tradition, in der die deutsche Neurorehabilitation von ihren Anfängen bis heute steht. So werden die Gedanken des Neurologen Kurt Goldstein und dessen psychologischen Kollegen Adhémar Gelb und sowie von Martin Scheerer aufgegriffen. Es wird auf die Theorien von Kurt Goldstein aufgebaut, der mit seinen Vorstellungen schon während und nach dem 1. Weltkrieg ein nachhaltiges Fundament für die Rehabilitation hirnverletzter Personen geschaffen hat. Seine Denkweise wird von Anne Harrington (2002) so charakterisiert: »Er war nicht länger bereit zu akzeptieren, dass die einzige Möglichkeit, einen Patienten mit einer Hirnverletzung zu verstehen, darin bestand, einige seiner Verhaltensweisen zu einer kurzen Liste vorsortierter Symptome zusammenzufügen und dabei alles andere außer Acht zu lassen. . . Schon als er während des Krieges mit Gelb zusammenarbeitete, hatte er bemerkt, dass man nach Ganzheit suchende Organismen mit Hilfe einer medizinischen Wissenschaft und Biologie, die in atomistischen Metaphern und Methodologien gefangen war, weder verstehen noch ihnen helfen konnte.« Der Einfluss von Goldstein auf die Neurorehabilitation der 90er Jahre des vergangnen Jahrhunderts zeigt sich in einer Einladung an Yehuda Ben Yishay (ein Student von Goldstein während seiner Zeit an der New Yorker Universität), einen Kurs für Neuropsychologen in Schaufling zu leiten. Sein Konzept einer ganzheitlichen neuropsychologischen Rehabilitation wurde von Peter Frommelt und Wolfgang Kühne in der Schauflinger Klinik umgesetzt. Sie gehörten auch zu den Gründungsmitgliedern der »European Group for Holistic Neuropsychological Rehabilitation«, zu der Zentren in Dänemark, Finnland, in den Niederlanden und das Oliver Zangwill Center in Cambridge gehören. In jährlich stattfindenden Treffen werden Ideen und Methoden der holistischen neuropsychologischen Rehabilitation ausgetauscht und kritisch bewertet. Projekte und Forschungen werden in einer interaktiven Atmosphäre präsentiert, von der alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer profitieren. Die Mehrheit der Autoren, die an diesem Buch mitgearbeitet haben, kommt aus Deutschland. Zwei Kapitel sind jedoch von Mitgliedern der »European Group for Holistic Neuropsychological Rehabilitation« die in Finnland und England arbeiten, geschrieben worden. So unterschiedlich die Autoren sind, freue ich mich dennoch feststellen zu können, dass sich die Gedanken einer ganzheitlichen Rehabilitation in vielen Kapiteln wiederfinden. Das Buch gibt damit einen umfassenden Überblick, der von den historischen Wurzeln bis zur Dokumentation und Qualitätssicherung reicht. Ich bin überzeugt, dass das Ziel dieses Buches erreicht wird, die Rehabilitation von Menschen mit einer Hirnverletzung oder einer neurologischen Erkrankung zu stärken. Gentofte, Juli 2010 Anne-Lise Christensen PhD, Dr. h.c., Prof. em. Center for Rehabilitation of Brain Injury, University of Copenhagen Member of the Board of Directors of SARAH Network of Rehabilitation Hospitals Honorary Member of the World Federation for NeuroRehabilitation Harrington A. Die Suche nach Ganzheit. Reinbek: Rowohlt Verlag; 2002.
IX
Vorwort Seit dem Erscheinen der 1. Auflage von NeuroRehabilitation sind über 10 Jahre vergangen. Es schien uns daher an der Zeit für eine Aktualisierung. Tatsächlich ist in der 2. Auflage ein nahezu komplett neues Buch entstanden, was die Entwicklungen im Fachgebiet der Neurorehabilitation widerspiegelt. Wir haben uns bemüht, allen in Klinik und Praxis tätigen sowie in Ausbildung befindlichen medizinischen und therapeutischen Fachkräften ein vielseitiges Arbeitsbuch zur Verfügung zu stellen. Das Buch ist interdisziplinär ausgerichtet; daher finden sich keine auf Berufsgruppen bezogenen Kapitel. Aus dem früheren, gelegentlich etwas chaotischen, insgesamt jedoch wohlwollenden Nebeneinander von Methoden hat sich eine ökonomisch konkurrierende Auseinandersetzung von therapeutischen Schulen entwickelt, in der es um den Nachweis von Effizienz und Wirtschaftlichkeit geht, aber natürlich auch um die Verteilung von Macht und Ressourcen. Man mag begrüßen, dass manches nun rationaler betrachtet wird als früher, und dass häufiger Fragen nach Sinnhaftigkeit und Effizienz gestellt und auch beantwortet werden. Andererseits fehlt oft die Zeit, einen Schritt zurückzutreten und das eigene Tun zu reflektieren. Die Möglichkeiten des kollegialen Austausches sind seltener geworden. Der Einzug von Behandlungsroutinen erschwert es, auf die Individualität der Patienten einzugehen, das »Narrativ« kommt zu kurz – deshalb nimmt es in diesem Buch einen etwas breiteren Raum ein. Wir hoffen mit diesem Buch einen Beitrag zu einer sachlichen Diskussion leisten zu können. Wir haben uns bemüht, viele Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Die evidenzbasierten Methoden z.B. der motorischen Rehabilitation werden ausführlich dargestellt. Gleichzeitig wird der Begriff »evidenzbasierte Medizin« vom Kopf wieder auf die Füße gestellt, indem dargelegt wird, dass die Erfahrung und Kompetenz des Therapeuten oder Arztes und seine Orientierung an den individuellen Patientengegebenheiten ebenso unentbehrlich sind wie die Auswahl der richtigen Methoden nach wissenschaftlichen Kriterien. In diesem Buch wird der Teamarbeit und der Zielsetzung in der Rehabilitation Raum gewidmet, vor allem aber der Persönlichkeit und Biographie der Patienten und dem Narrativ in der Neurorehabilitation. Die Beiträge der Herausgeber sind in Anpassung an diese Schwerpunkte sehr persönlich gehalten. Die wichtigsten Störungsbilder der Neurorehabilitation werden von kompetenten Autoren auf dem aktuellen Stand diskutiert. Zum Abschluss werden Aspekte der Messbarkeit, Qualität und Dokumentation ausführlich dargestellt. Das Erscheinungsdatum dieses Buches hat sich vonseiten der Herausgeber mehrfach verzögert. Holger Grötzbach hat sehr wesentliche Vorarbeit geleistet. Ihm gilt dafür unser besonderer Dank. Er musste dann aus Zeitmangel die Arbeit an diesem Buch einstellen und den Stab an Hubert Lösslein übergeben. Wir möchten uns bei unseren Autoren für ihre Langmut bedanken. Es war nicht einfach für sie, ihre Beiträge wiederholt zu aktualisieren. Unser Wunsch an die Autoren, ein praxisorientiertes und gut lesbares Buch zu liefern, wurde uns erfüllt. Frau Schreier hat für den Springer-Verlag die stilistisch recht heterogenen Kapitel sehr schön in ein einheitliches Raster gebracht, was die Orientierung und die Lesbarkeit erleichtern. Frau Botsch vom SpringerVerlag und ihren Mitarbeiterinnen Frau Bauer und Frau Brecht gilt unser besonderer Dank für ihre hervorragende Organisation und ihre Geduld mit Herausgebern und Autoren. Ohne die unermüdliche Hilfe von Frau Beate Ruderer, der »Staatssekretärin« dieses Buches, die schon die 1. Auflage auf den Weg brachte, wären wir verloren gewesen, wir danken ihr herzlich. Wir sind froh und dankbar, diese Arbeit nun zu einem guten Abschluss gebracht zu haben, und wir sind gespannt, ob die Leser unsere Freude an den Beiträgen teilen werden. Für Anregungen und Kritik sind wir sehr dankbar. Schaufling und Keutschach, im Mai 2010 Dr. Peter Frommelt Dr. Hubert Lösslein
Die Autoren Dr. med. Peter Frommelt ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin. Seit 1988 leitet er die Abteilung Neurorehabilitation in der Asklepios-Klinik Schaufling, b. Deggendorf. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Regensburg. Sein Hauptinteresse gilt den therapeutischen Prinzipien der Neurorehabilitation. Dazu gehören die Beschäftigung mit Teamorganisation und Zielsetzungsprozessen und die Umsetzung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) in die Praxis. Gemeinsam mit Wolfgang Kühne, ltd. klinischer Neuropsychologe in Schaufling, hat er die »European Group for Holistic Neuropsychological Rehabilitation« gegründet. In den letzten Jahren hat sich Dr. Frommelt besonders mit dem subjektiven Erleben von Patienten auseinandergesetzt und sich für einen narrativen Ansatz in Ergänzung zu einer biomedizinischen Herangehensweise eingesetzt. Sowohl in diesem Thema als auch in vielen anderen verbindet ihn mit Holger Grötzbach, MA ein jahrelanger Gedankenaustausch und eine enge wissenschaftliche und praktische Zusammenarbeit. Ab 2011 wird Dr. Frommelt er seine Tätigkeit in Berlin in eigener Praxis fortsetzen. Aus einer früheren kollegiale Zusammenarbeit von Dr. Frommelt mit Dr. Hubert Lösslein, ehemals Chefarzt der Klinik für Neurorehabilitation im Bezirksklinikum Mainkofen b. Deggendorf, hat sich in den letzten Jahren eine enge persönlichen Freundschaft entwickelt. Dr. Lösslein hat sich seit Jahren mit Fragen des Managments und der Qualitätssicherung in der Neurorehabiliation beschäftigt. Nur Dank des Eintritts von Dr. Lösslein als Mitherausgeber konnte das Buchprojekt zu einem guten Abschluss gebracht werden. Er war pragmatisch und schnell in der Lektorierung. Trotz seiner Erkrankung an Darmkrebs hat er bis in die letzte Woche vor seinem Tod an dem Buch gearbeitet. Er hatte gehofft, das fertige Buch in der Hand halten zu können. Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung. Er starb am 18. Juli 2010
XI
Inhaltsverzeichnis Grundlagen 1
1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.4 1.5 1.6
2
Kontextsensitive Neurorehabilitation: Einführung in die klinische Neurorehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . P. Frommelt, H. Grötzbach Kontextsensitive Neurorehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was heißt Kontextsensitivität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosomatische Fragen in der Neurorehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) . Der verwundete Geschichtenerzähler: Narration in der Neurorehabilitation . . . . . Praktische Arbeit in der Neurorehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielsetzungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autonomie vs. Selbstständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom klinischen zum therapeutischen Milieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teamorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hoffnung – eine unterschätzte Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evidenz- und narrativ-basierte Neurorehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die richtigen Wörter wählen: Sprache in der Neurorehabilitation . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.1.5 2.1.6 2.1.7 2.1.8 2.1.9 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7 2.3
Neurorehabilitation als politische und Managementaufgabe . . . H. Lösslein Neurorehabilitation als politische Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitationskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgabe der Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethische Grenzen der Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schaffung eines Finanzausgleichs zwischen den Kostenträgern und Öffnung der Behandlungssektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regelung der Zuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühe Entlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Förderung des bürgerlichen Engagements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vernetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufliche Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitation als Managementaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leadership . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Team . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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26 26 27 27 27 28 28 28 29 29 30 31 31 33 34
3
Historische Perspektiven der Neurorehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2
P. Frommelt Von der frühen Geschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . Wasser, Massagen, Strom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übungs- und Mechanotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aphasien und deren Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Krüppelfürsorge zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Vorläufer einer systematischen Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4
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36 38 40 42
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XII Inhaltsverzeichnis
3.3 3.4 3.5 3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.7 3.8
Der 1. Weltkrieg und der Aufbau von Hirnverletzten-Lazaretten . . . . . . . . . . Der 2. Weltkrieg und die Arbeit von Alexander Luria (1902–1977) . . . . . . . . . Die Nachkriegzeit seit 1945 und gegenwärtige Strömungen . . . . . . . . . . . . . Entwicklungen der letzten Jahrzehnte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holistische neuropsychologische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narrative und qualitative Ansätze in der Neurorehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . Neurobiologische Untersuchungen zur Plastizität des zentralen Nervensystems . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Epidemiologie neurologisch bedingter Behinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.7.1 4.7.2 4.8
I.H. Sünkeler Neurologische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ICF als Klassifikation und Grundlage der Definition »Behinderung« Schlaganfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirnverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multiple Sklerose (MS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Morbus Parkinson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuromuskuläre Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motoneuronerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Periphere Neuropathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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58 58 59 61 62 63 63 63 64 64
5
Neurobiologische Grundlagen der Plastizität des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . .
67
5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.1.6 5.1.7 5.1.8 5.1.9 5.2
B. Ende-Henningsen, H. Henningsen Neuroplastizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzepte zur neurobiologischen Grundlage von Neuroplastizität Vikariation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diaschisis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Redundanz (Unmasking) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aussprossung von Nervenendigungen (Sprouting) . . . . . . . . . Neurotrophe Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synaptische Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss der Umgebungsbedingungen (Enriched Environment) . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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68 68 69 69 70 72 73 74 75 76 77
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44 50 50 52 52
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6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.3 6.3.1 6.4 6.5
Funktionelle Bildgebung in der Neurorehabilitation . . . . . . . . . . . . . . M. Rijntjes, C. Weiller, J. Liepert Grundhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionserholung nach einem Schlaganfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plastische Veränderungen nach ZNS-Läsionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktivierungsstudien des motorischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionelle Bedeutung der Reorganisation – Korrelation mit der Funktionserholung Klinischer Befundeinsatz der funktionellen Bildgebung in der Rehabilitation . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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82 82 82 84 86 87 88 89
7
Hirnschädigung, Identität und Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.3
G. Lucius-Hoene, N. Nerb Die Hirnschädigung als subjektive Erfahrung . . . . . . . . . . . Hirnschädigung und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte des Identitätsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beeinträchtigung der Identitätsarbeit durch die Hirnschädigung Hirnschädigung und Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94 94 94 95 99
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XIII Inhaltsverzeichnis
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.4 7.5
Das Konzept »Biographie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autobiographische Erzählungen als Zugang zum Erleben von Betroffenen Erfahrungen der Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten und Funktionen literarischer Selbstberichte . . . . . . . . . Folgerungen für den Umgang mit hirngeschädigten Menschen . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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99 99 101 102 103 105
8
Interdisziplinäre Teamarbeit und Zielsetzung in der Rehabilitation . . . . . . . . . . . . .
107
8.1 8.1.1 8.1.2 8.2 8.3 8.4
J. Collicut McGrath, U. Kischka (Übersetzung: H. Lösslein) Prinzipien der Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . Patientenzentrierte Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . Der ganze Mensch: Interdisziplinäre Praxis . . . . . . . Praktische Durchführung der Zielsetzung . . . . . . Qualitätskontrolle des Zielsetzungsprozesses . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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108 108 109 111 112 113
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116 116 117 117 120 121 122
Erstes und zweites Leben – Ein narrativer Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
9 9.1 9.2 9.2.1 9.3 9.4 9.5 9.6
10
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Prinzipien der neuropsychologischen Rehabilitation . . S. Koskinen Sanna, J. Sarajuuri (Übersetzung: H. Lösslein) Neuropsychologische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . Moderne Ansätze in der neuropsychologischen Rehabilitation Ganzheitlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bausteine ganzheitlicher Programme . . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitation Schwerbetroffener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Harry X., H. Lösslein
B Beeinträchtigung von Funktionen, Aktivitäten und Teilhabe Mentale Funktion 11
Rehabilitation von Störungen der Exekutivfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
135
11.1 11.2 11.3 11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.3.5 11.4 11.5
J.J. Evans (Übersetzung: H. Grötzbach) Das dysexekutive Syndrom: Theoretische Konzepte Konsequenzen im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamentöse Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Restitutive Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompensatorische Therapie: Interne Strategien . . . . . Externe Hilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umgebungsveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapiestrategien in der Rehabilitation . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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136 136 137 137 137 139 140 141 142 142
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145
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146 146 146 149 149 150
12 12.1 12.1.1 12.1.2 12.2 12.2.1 12.2.2
Störungen der Aufmerksamkeit . . . . . . . . . H. Niemann, S. Gauggel Definition und Taxonomie der Aufmerksamkeit . Definition der Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . Taxonomie (Einordnung) der Aufmerksamkeit . . . . Neuronale Basis von Aufmerksamkeitsprozessen Neuronale Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XIV
Inhaltsverzeichnis
12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4 12.3.5 12.4 12.5 12.5.1 12.5.2 12.5.3 12.6 12.6.1 12.6.2 12.6.3 12.6.4 12.6.5 12.6.6 12.7 12.7.1 12.7.2 12.8 12.8.1 12.8.2 12.8.3 12.9
Aufmerksamkeitsstörungen bei ausgewählten neurologischen Erkrankungen Schädel-Hirn-Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaganfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multiple Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demenz vom Alzheimer-Typ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik von Aufmerksamkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlegendes Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exploration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhaltensbeobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Testverfahren und Fragebögen . . . . . . . . . . . . . . . . Testbatterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untertests der Testbatterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragebögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypothesengeleiteter Ansatz in der Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie von Aufmerksamkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Restitution gestörter Aufmerksamkeitsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompensation gestörter Aufmerksamkeitsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeitsnachweise und Therapieempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . Leitlinien für neuropsychologische Therapieverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meta-analytische Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Gedächtnisstörungen . . . . . . . A.I.T. Thöne-Otto, D.Y. von Cramon Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Therapie . . Funktionstherapie . . . . . . . . . . . Kompensationstherapie . . . . . . . . Integrative Behandlungsmethoden . Zusammenfassung und Ausblick . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . .
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150 151 151 152 153 153 153 154 154 155 155 156 156 157 157 161 161 162 162 163 165 166 166 166 167 167
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171
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172 172 174 175 183 184 186
14
Elementare visuelle Leistungen: Visus, Gesichtsfeld und verwandte Funktionen . . . .
189
14.1 14.1.1 14.2 14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.3 14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.4 14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.5 14.5.1 14.5.2 14.6
C. Groh-Bordin, G. Kerkhoff Relevanz zerebraler visueller Wahrnehmungsstörungen . . . . . . . . . . . . Neurovisuelle Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sehschärfe, Kontrastsehen, Visual Discomfort, Adaptation, Farbsehen . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assessment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fusion, Stereosehen, visuelle Belastbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assessment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homonyme Gesichtsfeldausfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assessment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurovisuelle Frührehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konjugierte Blickabweichung (Zuwendung von Augen und Kopf zu einer Seite) Okulomotorikstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit der neurovisuellen Therapieverfahren . . . . . . . . . . . . . . . .
190 191 191 191 193 193 195 195 195 196 197 197 197 198 203 203 203 204
13.1 13.2 13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.3 13.4
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XV Inhaltsverzeichnis
14.6.1 14.7
Angewandte Testverfahren und Geräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205 205
15
Höhere visuelle Funktionen: Neglect, Raumorientierung, Balint-Holmes-Syndrom und visuelle Agnosien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207
G. Kerkhoff, C. Groh-Bordin Neglect . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assessment . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnostik . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raumorientierungsstörungen . . . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assessment . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Visuelle Agnosien . . . . . . . . . . . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assessment . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Balint-Holmes-Syndrom . . . . . . . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assessment . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit der Therapieverfahren . Angewandte Testverfahren und Geräte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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208 208 210 211 212 214 214 214 214 216 216 217 217 217 217 218 218 219 221 221
16
Motorische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225
16.1 16.1.1 16.1.2 16.2 16.2.1 16.2.2 16.3 16.3.1 16.3.2 16.4 16.4.1 16.4.2 16.5 16.5.1 16.5.2 16.5.3 16.5.4 16.5.5 16.5.6 16.5.7 16.6
W. Fries, S. Freivogel Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der Organisation des willkürmotorischen Systems . Klinische Symptome und Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . Läsion des ersten (oberen) motorischen Neurons . . . . . . . . Besondere klinische Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunderhebung und Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinisch-neurologische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . Funktionsorientiertes Assessment . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traditionelle Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgabenorientierte Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tonusreduktion: Durchführung und Evidenz . . . . . . . . . . . Praktisches Vorgehen bei speziellen motorischen Problemen Medikamentöse Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apparative Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Experimentelle Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
226 227 227 232 232 235 236 236 237 239 239 240 242 242 243 251 252 254 257 259 259
15.1 15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4 15.2 15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.3 15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.4 15.4.1 15.4.2 15.4.3 15.5 15.5.1 15.6
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Motorische Funktion
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XVI
Inhaltsverzeichnis
17
Automatisierte motorische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
267
17.1 17.1.1 17.1.2 17.1.3 17.1.4 17.2 17.2.1 17.3 17.4
S. Hesse, C. Werner Rehabilitation der Arm- und Handfunktion MIT-Manus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mirror-Image Motion Enabler . . . . . . . . . . Bi-Manu-Track . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heimtraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gangrehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . Gangtrainer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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268 268 268 269 269 269 270 271 271
18
Funktionelle Elektrostimulation (FES) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
273
18.1 18.1.1 18.1.2 18.2 18.2.1 18.2.2 18.3
S. Hesse, C. Werner FES bei querschnittgelähmten Patienten Stand und Gang . . . . . . . . . . . . . . . . . Obere Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . FES bei hemiparetischen Patienten . . . . Stand und Gang . . . . . . . . . . . . . . . . . Obere Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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274 274 276 277 277 279 280
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281
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282 282 282 284 285 285 288 289 290 290 290 292
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293
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294 294 294 295 296 296 296 296 296 297 297 297 298 302
19 19.1 19.2 19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4 19.2.5 19.2.6 19.2.7 19.3 19.3.1 19.4
20 20.1 20.1.1 20.1.2 20.1.3 20.2 20.2.1 20.2.2 20.3 20.3.1 20.3.2 20.4 20.4.1 20.4.2 20.5
Technische Hilfsmittel . . . . . S. Hesse, C. Werner Hilfsmittelversorgung . . . . . . . Spezielle Versorgungsleitlinien . Rollstühle . . . . . . . . . . . . . . . . Gehhilfen . . . . . . . . . . . . . . . . Orthesen für die obere Extremität . Orthesen für die untere Extremität Adaptationshilfen . . . . . . . . . . Weitere Hilfsmittel . . . . . . . . . . Rechtliche Grundlagen . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . Praxishilfen . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ataxien: Assessment und Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Ackermann Pathophysiologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terminologische Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnostik von Koordinationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionelle Kompartimentalisierung des Kleinhirns . . . . . . . . . . . . . . . . Assessment: Klinische Skalen und apparative Verfahren . . . . . . . . . . . . . Klinische Skalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apparative Messverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamentöse und chirurgische Therapie von Koordinationsstörungen . Medikamentöse Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitation von Patienten mit Koordinationsstörungen . . . . . . . . . . . Pathophysiologische Rehabilitationsressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionelle Übungsbehandlung und physikalisch-medizinische Maßnahmen . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XVII Inhaltsverzeichnis
21
Handfunktionsstörungen: Assessment und Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
305
21.1 21.1.1 21.1.2 21.2 21.2.1 21.2.2 21.3 21.3.1 21.3.2 21.3.3 21.3.4 21.4 21.4.1 21.4.2 21.5
J. Hermsdörfer Grundlagen und Prinzipien . . . . . . . . . Störungshäufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation von Handfunktionen . . . . . Diagnostik, Problemerfassung . . . . . . Standardisierte Routineuntersuchung . . . Bewegungsanalysen . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physio- und ergotherapeutische Konzepte Repetitives aufgabenorientiertes Training . Neuromodulation . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie von Schreibstörungen . . . . . . . Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . Assessment-Skalen . . . . . . . . . . . . . . . Objektivierende Verfahren . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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306 306 306 310 310 312 314 314 315 319 320 321 321 321 323
22
Apraxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
329
22.1 22.1.1 22.1.2 22.1.3 22.2 22.2.1 22.2.2 22.2.3 22.3 22.4
G. Goldenberg Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ideatorische und ideomotorische Apraxie . . . Häufigkeit und Spontanverlauf von Apraxien . Alltagsrelevanz der Apraxien . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Untersuchung: Funktion . . . . . . . . Klinische Untersuchung: Aktivitäten . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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330 330 330 331 331 331 331 333 334 335
23
Rehabilitation bei Sprach- und Sprechstörungen: Grundlagen und Management . . .
339
23.1 23.1.1 23.1.2 23.1.3 23.1.4 23.2 23.2.1 23.2.2 23.2.3 23.2.4 23.3
H. Grötzbach Aphasien . . . . . . . . . . . Neurologische Grundlagen Diagnose . . . . . . . . . . . Aphasiesyndrome . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . Dysarthrophonien . . . . . Neurologische Grundlagen Diagnose . . . . . . . . . . . Dysarthrophoniesyndrome Therapie . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . .
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340 340 341 342 344 345 345 345 346 346 348
24
Schluckstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
351
24.1 24.1.1 24.2 24.2.1 24.2.2 24.2.3 24.2.4
G. Bartolome Schluckstörungen . . . . . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Eingangsuntersuchung . Apparative Zusatzuntersuchungen Ergänzende Diagnostik . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . .
352 352 356 356 357 360 361
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Funktionen der Sprache, des Sprechens, des Schluckens und der Atmung
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XVIII
Inhaltsverzeichnis
24.3 24.3.1 24.3.2 24.3.3 24.3.4 24.4 24.5
Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sofortmaßnahmen zur Sicherstellung der Ernährung und zum Schutz der Luftwege Tracheostoma, Trachealkanülen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionsfördernde Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patientenbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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361 361 361 363 363 368 370
25
Rehabilitation von Respirationsstörungen bei neuromuskulären Erkrankungen . . . .
373
25.1 25.2 25.3 25.3.1 25.3.2 25.4
A.G. Bockelbrink Neurologische Erkrankungen mit restriktiver Ventilationsstörung . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie bei (noch) nicht beatmungspflichtiger respiratorischer Insuffizienz Therapie bei beatmungspflichtiger respiratorischer Insuffizienz . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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375 375 377 377 378 381
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385
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386 387 387 388 390 390 390 392 392 393 394 394 394 396 397 397 397 397
27
Harninkontinenz und neurogene Blasenfunktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
401
27.1 27.1.1 27.1.2 27.2 27.2.1 27.2.2 27.2.3 27.3 27.3.1 27.3.2 27.3.3
M. Stöhrer, J. Pannek Neurophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Koordinierende Funktionsschleifen . . . . . . . . . . Unterer Harntrakt und autonomes Nervensystem . Neurogene Blasenfunktionsstörungen . . . . . . . Einteilung neurogener Blasenfunktionsstörungen Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harnwegsinfekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . Elektrostimulation und Neuromodulation . . . . . Eingriffe zur Veränderung der Blasenkapazität . . .
402 402 404 404 405 406 407 411 411 411 412
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Vestibuläre Funktionen 26 26.1 26.2 26.2.1 26.2.2 26.3 26.3.1 26.3.2 26.4 26.4.1 26.4.2 26.4.3 26.5 26.5.1 26.5.2 26.6 26.6.1 26.6.2 26.7
Rehabilitation vestibulärer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. Fetter Grundlagen der vestibulären Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einseitige vestibuläre Unterfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beidseitiger Vestibularisausfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paroxysmaler Lagerungsschwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie bei paroxysmalem Lagerungsschwindel ausgehend vom hinteren Bogengang . . Therapie bei paroxysmalem Lagerungsschwindel ausgehend vom horizontalen Bogengang Phobischer Schwankschwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Altersschwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Urologische und sexuelle Funktionen und Aktivitäten
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XIX Inhaltsverzeichnis
27.3.4 27.3.5 27.4
Autoaugmentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monitoring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
412 412 413
28
Sexualität bei chronischen neurologischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
415
28.1 28.1.1 28.2 28.2.1 28.2.2 28.3 28.3.1 28.4 28.5 28.5.1 28.5.2 28.5.3 28.5.4 28.5.5 28.6 28.6.1 28.6.2 28.7 28.7.1 28.7.2 28.7.3 28.7.4 28.7.5 28.7.6 28.7.7 28.7.8 28.8
D. Goecker, A. Hagedorn, K.M. Beier Sexuelles Erleben und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss neurologischer Erkrankungen auf die sexuelle Beziehung . . . . . Neuroanatomie der Sexualfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regulation der Sexualfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Störungen der Sexualfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nosologie sexueller Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung der sexuellen Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualanamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine körperliche Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurologische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurophysiologische Untersuchungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungen bei Erektionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hormonbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Somatische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung spezieller Probleme bei neurologischen Erkrankungen . Morbus Parkinson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multiple Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Querschnittlähmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sakrale Wurzelläsionen und periphere Mononeuropathien . . . . . . . . . Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schädel-Hirn-Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaganfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diabetische Polyneuropathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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416 416 417 417 417 419 419 420 422 422 422 422 424 424 424 424 425 427 427 428 429 431 431 433 433 434 435
Angehörige in der Rehabilitation: Beratung – Unterstützung – Perspektiven . . . . . . . .
441
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Teilhabe 29
J. Pössl, W. Kühne 29.1 Pychosoziale Konsequenzen für Partner und Familien . . . . . . . . . . . . . . 29.1.1 Familiäre Belastungen durch hirnorganisch bedingte Verhaltensauffälligkeiten 29.1.2 Fehlende Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1.3 Rollenveränderungen und Konflikte in den Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1.4 Probleme von Vätern und Müttern nach einer Hirnschädigung . . . . . . . . . . . 29.1.5 Probleme von Eltern hirnverletzter Jugendlicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1.6 Soziale Isolierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1.7 Veränderungen im Lebensstandard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1.8 Überlastungssymptome bei den Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1.9 Anpassungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1.10 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.2 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.2.1 Strukturiertes Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.2.2 Fragebögen und Problem-Checklisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.2.3 Psychopathometrische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.2.4 Beobachtung der Interaktion zwischen Patient und Angehörigen . . . . . . . . . 29.3 Interventionen für Partner und Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.3.1 Grundlegende Aspekte und Ziele der Angehörigenberatung . . . . . . . . . . . .
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XX Inhaltsverzeichnis
29.3.2 29.3.3 29.3.4 29.3.5 29.3.6 29.3.7 29.4 29.5 29.6
Angemessene Informationsvermittlung und psychische Stabilisierung . . . . . . . . . . . . . Förderung der Kommunikation zwischen Angehörigen und Professionellen . . . . . . . . . . Einbeziehung der Angehörigen in die Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angehörigenseminare und -gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategien der Verhaltensmodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterstützung bei Anpassungs prozessen als langfristigen Lern-und Problemlöseprozessen Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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30
Beschäftigung und berufliche Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma . . . . . . . . .
459
30.1 30.2 30.3 30.3.1 30.3.2 30.3.3 30.4 30.4.1 30.4.2 30.5 30.6 30.7 30.8
J.S. Kreutzer, S.R. Demm, L.A. Tylor (Übersetzung: H. Lösslein) Beschäftigungsquoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognostische Variablen und Indikatoren für die Rückkehr zur Arbeit Beschäftigungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traditionelle Modelle der beruflichen Wiedereingliederung . . . . . . . . Charakteristika der traditionellen beruflichen Trainingsprogramme . . . . Erfolg traditioneller Beschäftigungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begleitung am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charakteristika erfolgreicher Modelle der Begleitung am Arbeitsplatz . . Spezielle Aspekte der Begleitung am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . Erfahrungslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezifische Strategien für Beschäftigungsspezialisten . . . . . . . . . . Herausforderungen für die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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461 461 462 462 463 465 465 465 469 469 472 472 472
31
Fahreignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
475
31.1 31.2 31.3 31.3.1 31.3.2 31.3.3 31.3.4 31.3.5 31.3.6 31.3.7 31.3.8 31.4 31.5 31.6 31.7 31.8
J. Küst Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . Grundlagen der Beurteilung der Fahreignung Neuropsychologische Diagnostik . . . . . . . . . Neuropsychologische Leistungsfähigkeit . . . . . Psychische Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . Visuelle Wahrnehmungsfähigkeit . . . . . . . . . . Aufmerksamkeitsfunktionen . . . . . . . . . . . . . Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Planungs- und Problemlösestörungen . . . . . . . Ältere Kraftfahrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrverhaltensprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . Einsatz von Fahrsimulatoren . . . . . . . . . . . . Therapie der Fahreignung . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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476 477 479 479 480 481 481 481 482 482 482 482 483 484 484 485
32
Musiktherapie in der Neurorehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
489
32.1 32.1.1 32.1.2 32.1.3 32.2 32.2.1 32.2.2
J. Rössler Bedeutung der Musiktherapie . . . . . . . Therapiemethoden . . . . . . . . . . . . . . . Musiktherapie in der Frührehabilitation . . Indikationen für Musiktherapie . . . . . . . Interaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musik für bewusstseinsgestörte Patienten Musik bei Sprachverlust . . . . . . . . . . . .
490 490 490 491 491 491 494
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Musiktherapie
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XXI Inhaltsverzeichnis
32.3 32.3.1 32.4 32.5
Neurologische Musiktherapie . . . . . . . Rhythmische Akustische Stimulation (RAS) Schlussgedanken . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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496 496 498 498
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501
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C Frührehabilitation und diagnosespezifische Neurorehabilitation 33 33.1 33.1.1 33.1.2 33.1.3 33.2 33.2.1 33.3 33.3.1 33.3.2 33.4 33.4.1 33.4.2 33.5 33.6 33.6.1 33.6.2 33.6.3 33.6.4 33.6.5 33.6.6 33.6.7 33.6.8 33.7 33.7.1 33.8 33.8.1 33.9 33.9.1 33.9.2 33.9.3 33.10 33.11
Neurologische Frührehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . F.K. von Wedel-Parlow, K. Gehring, M. Kutzner Organisation der Frührehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phasenmodell der Frührehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikationen für die Frührehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anforderungen an eine Frührehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik in der Frührehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinisch-neurologischer Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Verlaufsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Probleme in der Frührehabilitation . . . . . . . . . Internistische Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurochirurgische und neurologische Komplikationen . . . . . . . Teamarbeit in der Frührehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen und Perspektiven der Therapie . . . . . . . . . . . . . Komastimulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie im Zustand minimaler Reaktionsfähigkeit . . . . . . . . . . Musiktherapie in der Frührehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiergestützte Therapie in der Frührehabilitation . . . . . . . . . . . . Mobilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie in der Phase wiederkehrender differenzierter Reaktionen Neurochirurgische Therapie während der Frührehabilitation . . . . Frührehabilitation desorientierter Patienten . . . . . . . . . . . . . . Situation der Angehörigen in der Frührehabilitation . . . . . . . Angehörige und Rehabilitationsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf, Dauer und Beendigung der Frührehabilitation . . . . . Vorhersage der Frührehabilitationsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitspolitische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgabenstellungen, Zuordnung und Abgrenzung der Phase B . . Aspekte von Leistungsrecht und Vergütungssystem . . . . . . . . . Politische und ethische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fortführung der Rehabilitation in Phase F . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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502 502 502 503 504 505 508 508 510 510 511 514 515 516 519 522 522 524 525 526 533 534 535 536 538 538 543 543 545 547 548 549
34
Assessment und Management medizinischer Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . .
557
34.1 34.1.1 34.2 34.2.1 34.2.2 34.2.3 34.3 34.3.1 34.4
W. Deppe Herz und Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thrombose und Thromboembolieprophylaxe . . . . . Thromboseprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thrombosediagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung: Manifeste Thrombose und Lungenembolie Lunge – Atemwege – Immunsystem . . . . . . . . . . . . Pneumonieprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stoffwechsel und Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . .
558 559 560 560 563 563 563 564 565
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XXII
Inhaltsverzeichnis
34.4.1 34.4.2 34.5 34.5.1 34.6 34.6.1 34.6.2 34.7 34.7.1 34.7.2 34.8
Posttraumatischer Stoffwechsel . . . . . . . . . . . . Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gastroduodenale Ulzera und Blutungen . . . . . Ulkusprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endokrinologische Komplikationen . . . . . . . . Hypophysenvorderlappen-Insuffizienz . . . . . . . . Störungen der Hypophysenhinterlappenfunktion . Heterotope Ossifikationen . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prophylaxe und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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565 565 569 570 570 571 572 573 575 575 576
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581
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583 584 585 586 586 587 587 588 590 592 592 592 593 594 594 595 596 597 597 598 599 599 601 601 602 603 603 604
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606 608
36
Neurotraumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
615
36.1 36.1.1 36.1.2 36.1.3 36.1.4 36.1.5 36.2 36.2.1 36.2.2
E. Rickels Grundbegriffe und Definitionen . . . . . . . . . . . . Schädel-Hirn-Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewusstlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amnesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diffuser Hirnschaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leichtes Schädel-Hirn-Trauma . . . . . . . . . . . . . . . Traumafolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung nach Verletzungen . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung in primäre und sekundäre Hirnschädigung
616 616 617 618 618 618 619 619 619
35
Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . W. Deppe 35.1 Die Entwicklung des kindlichen Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2 Erholung und Neuroplastizität nach kindlicher Hirnschädigung . . . . . . . . . . . . . . 35.2.1 Erholung und Reorganisation nach kindlichen Hirnschädigungen . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.2 Entwicklungsverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.3 Hirnverletzungen im Kindes- und Jugendalter und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . 35.3.1 Motorische und sensorische Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.3.2 Kognitive Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.3.3 Verhaltensveränderungen und psychische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.3.4 Outcome und Outcome-Prädiktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.4 Rahmenbedingungen und Prinzipien der Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter 35.4.1 Erwartungen und Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.4.2 Entwicklungspsychologische Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.4.3 Verhaltenstherapeutische Fundierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.5 Motorische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.5.1 Spastikbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.5.2 Physio- und Ergotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.5.3 Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.6 Kognitive Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.6.1 Trainingsprogramme mit kontextorientiertem Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.6.2 Phasen der kognitiven Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.7 Verhaltensrehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.8 Schulische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.9 Rehabilitation chronisch behinderter Kinder und Jugendlicher . . . . . . . . . . . . . . . 35.9.1 Stationäre Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.10 Betreuung und Freizeitgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.11 Familie und Elternarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.11.1 Psychosoziale Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.11.2 Eltern im Rehabilitationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.12 Struktur- und Prozessqualität in kinder- und jugendneurologischen Rehabilitationseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.13 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XXIII Inhaltsverzeichnis
36.3 36.4 36.4.1 36.5 36.6 36.6.1 36.6.2 36.6.3 36.6.4 36.7 36.8 36.9 36.10
Hirndruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versorgungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . Versorgungsprozedere bewusstloser Patienten Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Intensivtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generelle Prinzipien der Intensivtherapie . . . . Hirndruckmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirndrucktherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweitertes Monitoring . . . . . . . . . . . . . . . Komplikationen nach SHT . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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620 621 621 622 622 622 625 625 627 628 629 630 630
37
Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
633
37.1 37.1.1 37.1.2 37.2 37.2.1 37.2.2 37.2.3 37.2.4 37.2.5 37.2.6 37.2.7 37.2.8 37.2.9 37.2.10 37.2.11 37.2.12 37.2.13 37.2.14 37.2.15 37.2.16 37.2.17 37.2.18 37.2.19 37.2.20 37.3 37.3.1 37.3.2 37.3.3 37.3.4 37.4 37.5 37.5.1 37.5.2 37.6 37.7
P. Frommelt Schlaganfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ischämische Hirninfarkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirnblutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitation nach Schlaganfall . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die subjektive Welt des Schlaganfalls . . . . . . . . . . . . . . . Erwartungen an die Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontextsensitivität in der Schlaganfalltherapie . . . . . . . . . . Intensität der Therapien und klinische Behandlungspfade . . Rehabilitation auf der Stroke Unit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basale und erweiterte Aktivitäten des täglichen Lebens . . . . Depression und emotionale Labilität nach einem Schlaganfall Kognitive Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Visuelle Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sensomotorische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pusher-Symptomatik und posturale Kontrolle . . . . . . . . . . Therapie der Armparese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schulter-Arm-Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krafttraining nach einem Schlaganfall . . . . . . . . . . . . . . . Elektrotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie von sensiblen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Komplementäre oder alternative Therapien . . . . . . . . . . . Ermüdbarkeit und Schlaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Schlaganfallpatient zu Hause . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhalt der körperlichen Fitness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisation der Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfen für Angehörige von Schlaganfallpatienten . . . . . . . . Teilhabe am Arbeitsleben nach einem Schlaganfall . . . . . Dokumentation und Messverfahren . . . . . . . . . . . . . . . Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsökonomische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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38 38.1 38.1.1 38.1.2
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Rehabilitation bei Multipler Sklerose (MS) . . . C. Vaney, R. Roth Funktionsstörungen bei MS . . . . . . . . . . . . . . . . Müdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Koordinationsstörungen und Ataxie . . . . . . . . . . . .
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XXIV
Inhaltsverzeichnis
38.1.3 38.1.4 38.1.5 38.1.6 38.1.7 38.1.8 38.2 38.3 38.3.1 38.4
Spasmen und Paresen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sensibilitätsstörungen und Schmerzen . . . . . . . . Blasenstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionale Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen und Umgang mit der Diagnose »MS« Stationäre Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitationsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39 39.1 39.2 39.2.1 39.2.2 39.2.3 39.2.4 39.2.5 39.2.6 39.2.7 39.2.8 39.2.9 39.3 39.3.1 39.3.2 39.3.3 39.4 39.5
Rehabilitation neuromuskulärer Erkrankungen . . . . . . . . . G. Pfeiffer Neuromuskuläre Plastizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krafttraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausdauertraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Trainingstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elektrotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atemtraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrakturenprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfsmittel und Orthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerzlinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheits- und Rehabilitationsverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akutes Guillain-Barré-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurale Muskelatrophie (Charcot-Marie-Tooth) . . . . . . . . . . . . . . . Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der Rehabilitation bei neuromuskulären Erkrankungen . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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677 681 682 683 684 685 686 688 689 691
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40
Parkinsonkrankheit und Dystonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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40.1 40.1.1 40.2 40.2.1 40.2.2 40.2.3 40.2.4 40.3 40.3.1 40.3.2 40.3.3 40.3.4 40.3.5 40.3.6 40.3.7 40.4
G. Ebersbach, J. Wissel Funktionelle Anatomie und Physiologie der Motorikkontrolle in den Basalganglien Pathophysiologie von Parkinsonkrankheit und Dystonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Parkinsonkrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuropathologie und Neurochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dystonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinisches Spektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie der dystonen Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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739
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740 740 742 743 743
41 41.1 41.1.1 41.1.2 41.2 41.2.1
Epilepsien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . U. Specht, R. Thorbecke Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen der Epilepsie auf die Lebensqualität Diagnostik, Problemerfassung . . . . . . . . . . . Die ICF als konzeptueller Rahmen . . . . . . . . . . .
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XXV Inhaltsverzeichnis
41.2.2 41.2.3 41.2.4 41.2.5 41.2.6 41.2.7 41.3 41.3.1 41.3.2 41.3.3 41.3.4 41.3.5 41.3.6 41.4 41.5
Sozialmedizinische Bedeutung und Bewertung von Anfällen . . . . . . . . . . . . . . . Krankheitsverarbeitung, psychiatrische Komorbidität und Lebensqualität . . . . . . . Informationsbedürfnisse und Krankheitsselbstmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . Mangelnde körperliche Fitness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Leistungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufliche Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie, Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Coping und emotionale Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbesserung von epilepsiebezogenem Wissen und Krankheitsselbstmanagement . . Neuropsychologische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbesserung der körperlichen Fitness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führerscheinberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfen zur beruflichen Wiedereingliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Neuropsychologische Diagnostik: Ökologische Validität und Prognosen . . . . . . . . .
759
D Assessment und Dokumentation 42
K.W. Lange, L. Tucha, O. Tucha 42.1 Definition: Ökologische Validität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.2 Bestimmung der ökologischen Validität neuropsychologischer Tests . . . . . 42.2.1 Wirklichkeitsnähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.2.2 Wahrheitstreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.2.3 Outcome-Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.2.4 Probleme bei der Bestimmung der ökologischen Validität . . . . . . . . . . . . . . . 42.2.5 Beurteilung der ökologischen Validität neuropsychologischer Tests . . . . . . . . . 42.3 Faktoren, die die ökologische Validität beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . . . 42.3.1 Traditionelle diagnostische Sichtweise der Neuropsychologie . . . . . . . . . . . . 42.3.2 Erhaltene Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.3.3 Kontextfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.3.4 Krankheitsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.3.5 Emotionale Störungen und Persönlichkeitsänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . 42.3.6 Prämorbides Funktionsniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.3.7 Ungeeignete Normierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.3.8 Versuchsleiter-/Probandeneffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.3.9 Merkmale neuropsychologischer Tests und der Untersuchungssituation . . . . . 42.3.10 Auswahl neuropsychologischer Tests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.4 Notwendigkeit der Verwendung von Tests mit hoher ökologischer Validität 42.5 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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760 760 760 760 760 761 762 762 762 763 763 764 764 765 765 765 765 766 767 767
43
Dokumentation, Messung und Qualitätsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
771
43.1 43.2 43.2.1 43.2.2 43.2.3 43.2.4 43.2.5 43.3 43.3.1 43.3.2 43.3.3
H. Lüthi, J. Blanco, M. Mäder Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur der Dokumentation von Rehabilitationsprozessen Körperfunktions- und Körperstrukturebene (Diagnose) . . . . . Aktivitätsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Partizipationsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontextfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messung: Skalen und Messverfahren . . . . . . . . . . . . . . . Messverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assessmentskalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anforderungen an Messverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
772 773 773 775 775 775 775 776 776 777 778
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XXVI
Inhaltsverzeichnis
43.3.4 43.4 43.4.1 43.4.2 43.4.3 43.4.4 43.5 43.5.1 43.5.2 43.6 43.7
Messverfahren in der neurologischen Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messinstrumente für die Rehabilitation (Einteilung gemäß ICF) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messsysteme, die vorwiegend die Körperfunktions- und Körperstrukturebene berücksichtigen Messsysteme, die vorwiegend die Aktivitätsebene berücksichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . Messsysteme, die vorwiegend die Partizipationsebene berücksichtigen . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basis medizinischer Entscheidungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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778 779 779 779 782 783 783 785 786 786 786
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
791
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
795
Anhang
XXVII
Autorenverzeichnis Ackermann, Hermann, Prof. Dr. med., M.A.
Ebersbach, Georg, Priv.-Doz. Dr. med.
Gauggel, Siegfried, Prof. Dr.
Chefarzt Abteilung Neurologie Fachkliniken Hohenurach Immanuel-Kant-Str. 31 D-72574 Bad Urach E-Mail:
[email protected]
Chefarzt Kliniken Beelitz GmbH Neurologisches Fachkrankenhaus für Bewegungsstörungen/Parkinson Paracelsusring 6A 14547 Beelitz-Heilstätten E-Mail:
[email protected]
Universitätsklinikum der RWTH Med. Psychologie und Med. Soziologie Pauwelstr. 30 52074 Aachen E-Mail:
[email protected]
Bartolome, Gudrun, Dr.
Ende- Henningsen, Bettina, Dr. med.
Städt. Krankenhaus München-Bogenhausen Abteilung für Neuropsychologie Englschalkingerstr. 77 81925 München E-Mail:
[email protected]
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Am Eiskeller 58 21339 Lüneburg E-Mail:
[email protected]
Evans, Jonathan J., Prof.
Chefarzt Neuro-/ Muskuloskelettales Leistungszentrum Zürcher Höhenklinik Wald CH-8639 Faltigberg E-Mail:
[email protected]
University of Glasgow College of Medical,Vetinary and Life Sciences Gartnavel Royal Hospital 1055 Great Western Road Glasgow G12 0XH UK E-Mail:
[email protected]
Bockelbrink, Angelika, Dr. med.
Fetter, Michael, Prof. Dr. med.
Ärztin für Allgemeinmedizin und Rehabilitationsmedizin Leitende Ärztin der Stiftung Pfennigparade Barlachstr. 36c 80804 München E-Mail:
[email protected]
Ärztl. Leiter Zentrum für Neurologie und Frührehabilitation SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach Guttmannstr. 1 76307 Karlsbad-Langensteinbach E-Mail:
[email protected]
Blanco, Javier, Dr. med.
Freivogel, Susanna Christensen, Anne-Lise, Prof. PhD, Dr. h.c. Jahnsensvej 4 DK-2820 Gentofte Denmark E-Mail:
[email protected] Sarah Demm, PhD c/o J. Kreutzer
Deppe, Wolfgang, Dr. med. Dipl.-Biol. Chefarzt Neurologisches Rehabilitationszentrum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Klinik Bavaria Kreischa Zscheckwitz 1–3 01731 Kreischa E-Mail:
[email protected]
Praxis für Physiotherapie Freyastr. 16 CH-8212 Neuhausen E-Mail:
[email protected]
Fries, Wolfgang, Prof. Dr. med. Praxis für ambulante neurologische Komplexbehandlung und Nachsorge Pasinger Bahnhofsplatz 4 81241 München E-Mail:
[email protected]
Frommelt, Peter, Dr. med. Chefarzt der Abteilung für Neurologie Asklepios Klinik Schaufling Hausstein 2 D-94571 Schaufling E-Mail:
[email protected]
Gehring, Klaus, Dr. med. Ärztlicher Leiter Neurozentrum am Klosterforst Beethovenstr. 4 25524 Itzehoe E-Mail:
[email protected]
Goecker, David, Dr. med. Facharzt für Psychiatrie Psychotherapie Sexualmedizin Forensische Psychiatrie Regensburger Str. 4 10777 Berlin E-Mail:
[email protected]
Goldenberg, Georg, Prof. Dr. med. Chefarzt der Neuropsychologischen Abteilung Städt. Krankenhaus München Bogenhausen Englschalkinger Str. 77 81925 München E-Mail:
[email protected]
Groh-Bordin, Christian, Dr. phil. Dipl.-Psych. Diplom-Psychologe Klinische Neuropsychologie Universität des Saarlandes Campus 66123 Saarbrücken E-Mail:
[email protected]
Grötzbach, Holger, M.A. Leiter der Sprachtherapie Asklepios Klinik Schaufling Hausstein 2 94571 Schaufling E-Mail:
[email protected]
XXVIII
Autorenverzeichnis
Hagedorn, Antje, Dr. med. Fachärztin für Neurologie in der Abteilung für Urogynäkologie St. Hedwig-Krankenhaus Krausnickstr. 12a 10115 Berlin E-Mail:
[email protected]
Henningsen, Henning, Prof. Dr. med. Chefarzt der Abteilung für Neurologie Städt. Klinikum Lüneburg Bögelstr. 1 21339 Lüneburg E-Mail:
[email protected]
Kreutzer, Jeffrey S., Prof. Dr., PhD, ABPP, FACRM
Dr. Hubert Lösslein †
Rosa Schwarz Cifu Professor of Physical Medicine and Rehabilitation Professor of Neurosurgery and Psychiatry Virginia Commonwealth University Medical Center Director, Virginia Commonwealth TBI Model System Physical Medicine and Rehabilitation VCU PO Box 980542, Richmond, VA 23298-0542 USA E-Mail:
[email protected]
Lucius-Hoene, Gabriele, Prof. Dr.
Kühne, Wolfgang, Dipl.-Psych. Hermsdörfer, Joachim, Priv-Doz. Dr. EKN Entwicklungsgruppe Klinische Neuropsychologie Klinikum München-Bogenhausen Dachauer Str. 164 80992 München E-Mail: Joachim.Hermsdoerfer@extern. lrz-muenchen.de
Hesse, Stefan, Prof. Dr. med. Medical Park Berlin Humboldtmühle An der Mühle 2–9 13507 Berlin E-Mail:
[email protected]
Therapeutischer Leiter, Leiter Neuropsychologie Asklepios Klinik Schaufling GmbH Hausstein 2 94571 Schaufling E-Mail:
[email protected]
Küst, Jutta, Dr. rer. soc. Dipl.-Psych. Fachkompetenzleitung Psychologie Kliniken Schmieder Gailingen Auf dem Berg 78260 Gailingen E-Mail:
[email protected]
Kutzner, Michael, Dr. med. Kischka, Udo, Prof., MD FRCP Consultant in Neurological Rehabilitation Oxford Centre for Enablement (OCE) Nuffield Orthopedic Centre NHS Trust Hospital Windmill Road Oxford OX3 7LD Großbritannien E-mail:
[email protected]
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin ehem. Chefarzt des Neurologischen Zentrums Segeberger Kliniken GmbH Am Kurpark 1 23795 Bad Segeberg E-Mail:
[email protected]
Kerkhoff, Georg, Prof. Dr.
Lange, Klaus W., Prof. Dr.
AE Klinische Neuropsychologie Universität des Saarlandes, Fachrichtung Psychologie 66041 Saarbrücken E-Mail:
[email protected]
Lehrstuhl für Biologische, Klinische und Rehabilitationspsychologie Institut für Experimentelle Psychologie Universität Regensburg 93040 Regensburg E-Mail:
[email protected]
Koskinen, Sanna, Dr. Director of Brain injury rehabilitation unit Clinical neuropsychologist, LicPsych Käpylä Rehabilitation Centre Nordenskiöldinkatu 18 B P.O. Box 103 FI-00251 Helsinki, Finland E-Mail:
[email protected]
Liepert, Joachim, Prof. Dr. med. Ärztlicher Leiter Neurorehabilitation Facharzt für Neurologie Kliniken Schmieder Allensbach Zum Tafelholz 8 78476 Allensbach E-Mail:
[email protected]
Abt. für Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie Institut für Psychologie, Universität Freiburg Engelbergerstr. 41 79085 Freiburg E-Mail:
[email protected]
Lüthi, Hansjörg, MPH Qualitätsbeauftragter und wissenschaftlicher Mitarbeiter REHAB Basel Im Burgfelderhof 40 CH-4025 Basel E-Mail:
[email protected]
Mäder, Mark, Dr. med. Chefarzt REHAB Basel CH-4025 Basel E-Mail:
[email protected]
McGrath, Joanna Collicutt, Dr. Senior Lecturer in Psychology Programme Convenor MA in Psychology of Religion Heythrop College University of London London W8 5HN E-Mail:
[email protected]
Nerb, Nicole, Dr. phil. Dipl.-Psych. Abteilung für Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie Psychologisches Institut der AlbertLudwigs-Universität Freiburg Fahnenbergplatz 79085 Freiburg E-Mail:
[email protected]
Niemann, Hendrik, Dr. phil. Dipl.-Psych. Leiter der Abteilung für Neuropsychologie und Sozialdienst Neurologisches Rehabilitationszentrum Leipzig Muldentalweg 1 04828 Bennewitz E-Mail:
[email protected]
XXIX Autorenverzeichnis
Pannek, Jürgen, Prof. Dr. med.
Sarajuuri, Jaana, Dr.
Tucha, Lara, Dr. phil.
Chefarzt Neuro-Urologie Schweizer Paraplegiker-Zentrum Guido A. Zächstr. 1 CH-6207 Nottwil mailto:
[email protected]
Clinical neuropsychologist, LicPsych Director of the INSURE program Käpylä Rehabilitation Centre Nordenskiöldinkatu 18 B P.O.Box 103 FI-00251 Helsinki, Finland
[email protected]
Lehrstuhl für Klinische und Entwicklungs neuropsychologie Institut für Psychologie Universität Groningen Grote Kruisstraat 2/1 9712 TS Groningen Niederlande E-Mail:
[email protected]
Pfeiffer, Gustav, Prof. Dr. med. Chefarzt der Ateilung Weiterführende Neurorehabilitation m&i Fachklinik Bad Liebenstein Kurpromenade 2 36448 Bad Liebenstein E-Mail:
[email protected]
Pössl, Josef, Dr. phil. Dipl.-Psych. Städtisches Klinikum Bogenhausen Klinik für Neuropsychologie Englschalkinger Str. 77 81925 München E-Mail:
[email protected]
Specht, Ulrich, Dr. med. Leitender Arzt Rehabilitationsklinik für Anfallskranke Krankenhaus Mara gGmbH Epilepsie-Zentrum Bethel Maraweg 21 33617 Bielefeld
[email protected]
Stöhrer, Manfred, Prof. Dr. ehem. Chefarzt der urologischen Abteilung der BG Unfallklinik Murnau Prof.-Küntscher-Str.8 82418 Murnau E-Mail:
[email protected]
Rickels, Eckhard, Prof. Dr. med. Ltd. Arzt Neurotraumatologie Allgemeines Krankenhaus Celle Siemensplatz 4 29223 Celle E-Mail:
[email protected]
Rijntjes, Michel, Dr. med. Universitätsklinikum Freiburg Neurologie Breisacher Str. 64 79106 Freiburg E-Mail: michel.rijntjes@uniklinik-freiburg. de
Rössler, Jochen Musiktherapeut Klinik für Neurologische Frührehabilitation Bezirksklinikum Mainkofen 94469 Deggendorf E-Mail:
[email protected]
Roth, Regina Ergotherapeutin bc. NL Master of Medical Education (MMEbe) Abteilungsleitung Ergotherapie am Kantonsspital Glarus Kantonsspital Glarus Burgstr. 99 CH-8753 Mollis E-Mail:
[email protected]
Sünkeler, Ingrid, Dr. med. Stv. ärztliche Direktorin Fachklinik für Neurologie und Neurologische Rehabilitation BDH-Klinik Braunfels GmbH Hubertusstr. 3–7 35619 Braunfels E-Mail:
[email protected]
Thoene-Otto, Angelika, Dr. Dipl.-Psych. Neuropsychologin in der Tagesklinik für kognitive Neurologie Universitätsklinikum Leipzig Liebigstr. 16 04103 Leipzig E-Mail:
[email protected]
Thorbecke, Rupprecht, M.A. Comprehensive Care Programm Rehabilitationsklinik für Anfallskranke Krankenhaus Mara gGmbH Epilepsie-Zentrum Bethel Maraweg 21 33617 Bielefeld E-Mail:
[email protected]
Tucha, Oliver, Prof. Dr. Lehrstuhl für Klinische und Entwicklungs neuropsychologie Institut für Psychologie Universität Groningen Grote Kruisstraat 2/1 9712 TS Groningen Niederlande E-Mail: O.M.
[email protected] Tylor, Laura, PhD c/o J. Kreutzer
Vaney, Claude, Dr. med. Chefarzt Neurologische Rehabilitationsabteilung Berner Klinik Montana CH-3962 Montana-Vermala Schweiz E-Mail:
[email protected]
von Cramon, Detlef Yves, Prof. Dr. med. Direktor des Max-Planck-Institut für neurologische Forschung mit Klaus-JoachimZülch-Laboratorien der Max-PlanckGesellschaft und der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln Gleueler Str. 50 D-50931 Köln E-Mail:
[email protected]
Walitza, Susanne, Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Ärztliche Direktorin Universität Zürich Zentrum für Kinder- und Jungendpsychiatrie Neumusterallee 9 CH-8032 Zürich Schweiz E-Mail:
[email protected]
XXX
Autorenverzeichnis
von Wedel-Parlow, Friedrich-Karl, Dr. med. Dipl.-Psych. Chefarzt der Klinik für Neurologie DRK-Therapiezentrum Middelburg Middelburger Str. 1 23701 Süsel-Middelburg E-Mail:
[email protected]
Weiller, Cornelius, Prof. Dr. med. Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Universitätsklinikum Freiburg Breisacherstr. 64 79104 Freiburg E-Mail: cornelius.weiller@uniklinik. freiburg.de
Werner, Cordula, Dr. Medical Park Berlin Humboldtmühle An der Mühle 2–9 13507 Berlin
Wissel, Jörg, Prof. Dr. med. Ärztlicher Direktor und Chefarzt Neurologie Kliniken Beelitz GmbH Paracelsusring 6A 14547 Beelitz-Heilstätten E-Mail:
[email protected]
A
Grundlagen Kapitel 1
Kontextsensitive Neurorehabilitation: Einführung in die klinische Neurorehabilitation P. Frommelt, H. Grötzbach
–3
Kapitel 2
Neurorehabilitation als politische und Managementaufgabe – 23 H. Lösslein
Kapitel 3
Historische Perspektiven der Neurorehabilitation P. Frommelt
Kapitel 4
Epidemiologie neurologisch bedingter Behinderungen – 57 I.H. Sünkeler
Kapitel 5
Neurobiologische Grundlagen der Plastizität des Nervensystems – 67 B. Ende-Henningsen, H. Henningsen
Kapitel 6
Funktionelle Bildgebung in der Neurorehabilitation – 81 M. Rijntjes, C. Weiller, J. Liepert
Kapitel 7
Hirnschädigung, Identität und Biographie G. Lucius-Hoene, N. Nerb
Kapitel 8
Interdisziplinäre Teamarbeit und Zielsetzung in der Rehabilitation – 107 J. McGrath, U. Kischka (Übersetzung: H. Lösslein)
Kapitel 9
Prinzipien der neuropsychologischen Rehabilitation – 115 S. Koskinen Sanna, J. Sarajuuri (Übersetzung: H. Lösslein)
Kapitel 10
Erstes und zweites Leben – Ein narrativer Dialog Harry X., H. Lösslein
– 35
– 93
– 125
1
Kontextsensitive Neurorehabilitation: Einführung in die klinische Neurorehabilitation P. Frommelt, H. Grötzbach 1.1
Kontextsensitive Neurorehabilitation
–4
1.1.1 Was heißt Kontextsensitivität? – 4 1.1.2 Psychosomatische Fragen in der Neurorehabilitation – 7 1.1.3 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) – 8
1.2
Der verwundete Geschichtenerzähler: Narration in der Neurorehabilitation – 9
1.3
Praktische Arbeit in der Neurorehabilitation
1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5
Zielsetzungsprozess – 12 Autonomie vs. Selbstständigkeit – 13 Vom klinischen zum therapeutischen Milieu – 14 Teamorganisation – 16 Hoffnung – eine unterschätzte Therapie – 16
1.4
Evidenz- und narrativ-basierte Neurorehabilitation
1.5
Die richtigen Wörter wählen: Sprache in der Neurorehabilitation – 19
1.6
Literatur
– 21
– 12
– 17
4
1
Kapitel 1 · Kontextsensitive Neurorehabilitation: Einführung in die klinische Neurorehabilitation
Traditionell geht es in der Rehabilitation von neurologisch erkrankten Personen darum, gestörte Funktionen wiederherzustellen. Die kontextsensitive Rehabilitation stellt dem ein Konzept von Rehabilitation entgegen, in dem die Therapien in einen biographischen und sozialen Kontext eingebettet werden. Das Konzept findet Resonanz in dem Modell der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation. Der Zusammenhang zwischen den gesundheitlichen Beeinträchtigungen und dem biographischen sowie sozio-kulturellen Kontext erschließt sich aus den Erzählungen der Rehabilitanden. Mit dem narrativen Zugang wird auch die Autonomie der Rehabilitanden respektiert, indem die Rehabilitationsziele von ihnen selbst bestimmt werden. Kontextsensitiv zu therapieren bedeutet, Aufgaben alltagsnah und für die Rehabilitanden bedeutungsvoll zu gestalten. Sobald möglich, sollten nicht mehr nur Einzelelemente einer Aufgabe, sondern die gesamte Aufgabe geübt werden. Ebenso wichtig ist es, die emotionalen Kräfte, besonders die Hoffnung, zu stärken. Bei der Frage nach der richtigen Therapie kann auf die Ergebnisse der evidenzbasierten Medizin zurückgegriffen werden. Sie beruht auf drei Säulen: der wissenschaftlichen Analyse von Untersuchungen, der Sichtweise sowie Präferenzen der Patienten und den Erfahrungen der Ärzte und Therapeuten. Die Präferenzen basieren auf den Erzählungen der Rehabilitanden. Damit stellen narrative und evidenzbasierte Rehabilitation keine Gegensätze dar. Wörter sind verräterisch, mit ihnen sollte achtsam umgegangen werden. Bezeichnungen wie »der Aphasiker« oder »der Schädel-Hirn-Traumatiker« reduzieren Personen auf eine Schädigung. Statt zu etikettieren und zu reduzieren, sollte der Diskurs in der Neurorehabilitation einfühlsam, achtsam und frei von Jargon sein.
1.1
Kontextsensitive Neurorehabilitation
1.1.1
Was heißt Kontextsensitivität?
Der kürzlich verstorbene Neuropsychologe Mark Ylvisaker, der sich vor allem mit der Neurorehabilitation von Kindern und Jugendlichen beschäftigt hatte, erzählte einmal, dass sich ein hirnverletzter junger Mann bei ihm darüber beklagt habe, dass man in der Rehabilitation aus ihm, der im früheren Leben ein Dobermann gewesen sei, einen Pudel machen wolle. Der Gedanke, die Patienten im wörtlichen und übertragenen Sinn dort abzuholen, wo sie sich im wirklichen Leben befinden, wurde schon vor vielen Jahrzehnten von einigen Ärzten praktiziert, u.a. von dem von den Nazis in die Emigration getriebenen Ernst Haase. jTraditionelle Neurorehabilitation Um Ylvisakers Ansatz einer kontextsensitiven Rehabilitation im Gegensatz zur traditionellen Rehabilitation zu verstehen, sei der Hintergrund erläutert (Ylvisaker 2003). Das dominierende Konzept der neuropsychologischen Rehabilitation bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts war das eines kogni-
Näher betrachtet Ernst Haase: Protagonist einer kontextsensitiven Medizin Karl Stern, der vor seiner Emigration im Krankenhaus Berlin Moabit arbeitete, beschrieb seinen damaligen Oberarzt, Ernst Haase, der ebenfalls emigrieren musste, so:
»
Er war ein scharfsinniger Diagnostiker, glaubte aber wohl nicht an die absolute Trennung des ärztlichen Berufs von dem des Sozialfürsorgers. Sobald er eine neurologische Läsion diagnostiziert und lokalisiert hatte, wollte er wissen, wo die Kinder der Patienten ihr Abendessen erhalten würden. (…) In jedem einzelnen Falle, mochte es sich um einen Alkoholiker aus ›besserer Familie‹ handeln, der jetzt unter den Brücken schlief, oder um ein ostpreußisches Dorfmädchen, das bei der Prostitution und Kokain gelandet war, überall drang er sogleich zum Kern der psychologischen und sozialen Situation vor. (Stern 1954)
«
tiven Trainings einzelner Funktionen wie Aufmerksamkeit oder Gedächtnis. Dem lag ein modulares Modell geistiger Funktionen zugrunde, bei dem die einzelnen mentalen »Prozessoren« isoliert bei einer Hirnschädigung betroffen sein können. Man findet diese Auffassung auch heute noch in dem Begriff der Teilleistungsstörung. Die Strategie einer »process specific« neuropsychologischen Rehabilitation besteht darin, die jeweiligen spezifischen Funktionen, wie Aufmerksamkeit oder Gedächtnis, zunächst mit einfachen, dann mit schwierigen Aufgaben zu trainieren. Es gehe, so Sohlberg und Mateer (1989), um die repetitive Durchführung von hierarchisch aufgebauten Aufgaben, die sich auf umschriebene kognitive Komponenten beziehen. Die meisten sog. kognitiven Trainingsverfahren am Computer, die heutzutage angeboten werden, arbeiten nach dieser Strategie des prozessorientierten Trainings. Interessant ist, dass in der neuropsychologischen Rehabilitation mit dem modularen prozessorientierten Training ein Weg eingeschlagen wurde, der schon viele Jahre vorher von Sonderpädagogen als Sackgasse kritisiert worden war. Schon 1979 hatte der Sonderpädagoge Lester Mann seine Kollegen kritisiert, die nicht von der Idee abließen, »that they can train the mind in parts«. Und weiter formuliert er deutlich:
»
Cognitive constructs do not represent legitimate processes for training. (Mann 1979)
«
Der Schüler habe keinen Nutzen davon, dass man ihm isolierte Aufgaben für sein Gedächtnis oder logisches Denken gebe. Im Unterricht gehe es um das Trainieren der Fähigkeiten, die den Schülern helfen, ein produktives Leben zu führen. Man könne den Schülern helfen, sich etwas besser zu merken oder motorisch sicherer zu werden, dies jedoch nur mit Aufgaben, die sich an die Person richten.
5 1.1 · Kontextsensitive Neurorehabilitation
Fazit Das Konzept einer kontextsensitiven Rehabilitation knüpft an diese Auffassung an. Kontextsensitiv meint, in der Neurorehabilitation die Patienten in ihrer sozialen und biographischen Lebenswelt zu sehen und die Aufgaben und Therapien auf die Teilhabe an den verschiedenen Lebenswelten auszurichten.
jIdeengeschichte der kognitiven Psychologie kKontextualisierung kognitiver Funktionen Um diese Position richtig zu verstehen, ist ein kurzer Exkurs in die Ideengeschichte der kognitiven Psychologie notwendig. Hierzu muss man auf den Psychologen Lev Vygotskij zurückgehen, der die kindliche Aneignung von kognitiven Leistungen stets als sozial und kulturell vermittelt verstand. Nach seiner Auffassung gibt es kein Denken ohne einen sozio-kulturellen Bezug, es gibt kein a-kulturelles Gedächtnis. Die höheren psychischen Funktionen sind nicht auf neurobiologische Programme reduzierbar, sondern sind eingebettet und geformt durch den sozialen Kontext (Vygotskij 1992). Dass Vygotskij »resolut modern« sei, wie Metraux sagte, wird von einer Reihe von Psychologen geteilt. Zu ihnen gehört Jerome Bruner, der einer sozio-kulturellen Denkrichtung in der Psychologie zuzurechnen ist. Er schrieb:
»
Lernen und Denken sind stets situativ eingebettet in ein kulturelles Setting und sind abhängig von der Nutzung der kulturellen Ressourcen. (…) Die Kultur stellt uns die Werkzeuge zur Verfügung, um unsere Welt zu organisieren und sie in einer kommunizierbaren Weise zu verstehen. (Bruner 1996)
«
Die These einer sozio-kulturellen Kontextualisierung menschlicher Kognition wird durch aktuelle empirische Studien der Arbeitsgruppe Tomasello zur Ontogenese von Sprache und Denken gestützt:
»
From an evolutionary perspective, cognition is always situated. (Warneken u. Tomasello 2009)
«
Hier finden wir eine deutliche Abwendung von dem herrschenden Bild neuronal präformierter Areale für isolierte kognitive Funktionen. Tomasellos Arbeiten unterstreichen weiterhin, dass Gehirne keine Einzelwesen sind. Ihre Entwicklung beruhe stets auf dem Austausch mit anderen Gehirnen. Die meisten kognitiven Leistungen im realen Leben werden nicht individuell, sondern in Kooperation erbracht, das gilt von der Bäckerei bis zum Forschungsprojekt. Es sei daher wichtig, so die Auffassung einer Reihe von kognitiven Psychologen, sich mit dieser geteilten Intelligenz (»distributed cognition«) zu beschäftigen.
»
Kognition ist verteilt. Sie ist nicht nur in den Köpfen einzelner vorhanden, sondern Kognition ist etwas, was in Systemen umgesetzt ist, durch die Köpfe mit der physischen und sozialen Umwelt verbunden werden. (Smith u. Conrey 2009)
«
Fazit Dies ist ein wichtiger Hinweis für die Frage, ob wir in der Neurorehabilitation der Einzeltherapie den Vorrang geben sollten.
kKontextualisierung motorischer Funktionen Im Grunde ist die Trennung zwischen kognitiven und motorischen Funktionen künstlich, da im alltäglichen Handeln beide stets zusammenarbeiten, und bei der Erstellung dieses Textes sind die Finger auf der Tastatur genauso wichtig wie die Gedanken im Kopf. Auch motorisches Handeln ist dadurch geprägt, was der Handelnde beabsichtigt. Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass das Gehirn nicht an Muskeln interessiert ist, sondern an der Lösung von Aufgaben. Die Art der Aufgaben wiederum prägt die motorischen Fähigkeiten. Beispiel Mulder (2007) schildert einen Patienten, der durch einen Schlaganfall eine Hemiparese links erlitten hatte und nur mühsam gehen konnte. Dieser Patient war bis zu seinem Schlaganfall gerne Schlittschuh gelaufen. Auf den Vorschlag, es einmal mit den Schlittschuhen zu versuchen, ging er nur zögernd ein. Als er dann auf der Eisbahn stand, fuhr er los, nicht so schnell wie früher, jedoch sicher und ohne hinzustürzen.
Generell sei es in der Therapieplanung »wichtig, die Kluft zwischen Therapie- und Alltagskontext« so gering wie möglich zu halten (Mulder 2007). Man bezeichnet das Training von alltäglichen motorischen Handlungen, wie das Gehen oder das Benutzen von Besteck, als »task specific« (aufgabenspezifisch). In einer Reihe von Untersuchungen wird belegt, dass ein aufgabenspezifisches Training effektiver ist als eine Behandlung spezifischer Defizite wie der Spastik oder der Sensibilität (7 Kap. 37). jKontextsensitive Neurorehabilitation Es gibt gute Gründe, Kognition und Motorik als kontextualisiert zu betrachten, eingebunden in einen persönlichen und sozio-kulturellen Kontext. Der Gedanke einer Kontextualisierung menschlicher Funktionen liegt auch dem Modell der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) zugrunde, das von der Weltge-
sundheitsorganisation WHO entwickelt wurde (7 Kap. 1.1.3). Das Konzept einer kontextsensitiven Neurorehabilitation ist mit dem Modell der ICF nicht nur kompatibel, sondern gibt für das ICF-Modell auch theoretische und empirische Argumente. > Kontextsensitive Neurorehabilitation bedeutet, sich darum zu bemühen, alle therapeutischen Aufgaben in einen für den Rehabilitanden sinnvollen Kontext einzubinden.
Eine Reihe von Studien zeigt, dass sich Verbesserungen in bestimmten Funktionen nicht auf Alltagshandeln übertragen. Spitzer (2008) schildert in ihrer Bachelor-Arbeit ein Patientenbeispiel, das den Unterschied zwischen einem therapeutischen und einem alltäglichen Kontext beschreibt.
1
6
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Kapitel 1 · Kontextsensitive Neurorehabilitation: Einführung in die klinische Neurorehabilitation
Beispiel Von der Sprachtherapie zur Bäckerei Herr S. übt in der Sprachtherapie, wie er drei Semmeln in der Bäckerei kaufen kann. Die dafür benötigten Wörter übt die Logopädin intensiv, und er beherrscht die Wörter gut. Die Untersucherin begleitet ihn in eine Bäckerei. Die Verkäuferin spricht ihn sogleich an und sagt: »Wir haben da ein Sonderangebot. Möchten Sie zwei Nussschnecken für 1,60 €?« Trotz der auswendig gelernten Wörter kann Herr S. seinen Satz nicht mehr vorbringen. Die Frage nach den Nussschnecken hat ihn aus dem Konzept gebracht. Er kann dann jedoch mit Zeigen seinen Semmelwunsch mitteilen. Er reicht der Verkäuferin einen 10-€-Schein, worauf die Verkäuferin fragt: »Haben Sie es nicht kleiner?« Daraufhin war Herr S. ratlos.
Werden die bisherigen Elemente der Neurorehabilitation wie 4 Teilhabe, 4 ICF, 4 Zielsetzung und 4 Narration zusammengefügt, so lässt sich daraus ein Modell der kontextsensitiven Rehabilitation ableiten. . Tab. 1.1 gibt einen Über-
blick über die Unterschiede zwischen dem traditionellen und kontextsensitiven Vorgehen. Man wird in der konkreten Therapie selbstverständlich auch auf das Üben von isolierten Elementen zurückgreifen. Es sollte auch nicht der Eindruck entstehen, dass die genaue Analyse der neuroanatomischen und kognitiven Elemente von Funktionen überflüssig sei. Es sei vielmehr betont, dass wir die Einzelinformationen zusammenfassen, sie in den Kontext einer lebendigen Person bringen – kurz, dass wir ganzheitlich rehabilitieren sollten. Dies sollte mithilfe von Erzählungen geschehen, die wir erfahren, austauschen und neu formen können:
»
Geschichten bringen Sinn in ein großes, chaotisches und scheinbar widersprüchliches Gemenge von Informationen. (Greenhalgh 2004)
«
Das Konzept einer kontextsensitiven Neurorehabilitation hat viele Gemeinsamkeiten mit dem Modell einer holistischen neuropsychologischen Rehabilitation (7 Kap. 9). Für die Überlegenheit der kontextsensitiven gegenüber der traditionellen Rehabilitation gibt es eine Reihe von Arbeiten, allerdings keine großen, randomisierten Langzeituntersuchungen (Ylvisaker 2003).
. Tab. 1.1. Traditionelle und kontextsensitive Neurorehabilitation
Ziel und Konzept
Traditionell
Kontextsensitiv
Störungsspezifischer Fokus auf den zugrunde liegenden Schädigungen Ziel ist Wiederherstellung, wenn nicht möglich, Kompensation
Fokus auf dem alltagsnahen Handeln und dem Lösen von sinnvollen Aufgaben
Assessment Standardisierte Tests Testergebnisse dienen als Kontrolle der Therapieergebnisse Verwendung von Messinstrumenten zur Selbstständigkeit, z.B. Barthel-Index ohne Validität und Sensitivität Therapie
Modulares kognitives oder motorisches Training, »Spastikminderung«, »Gedächtnistraining« Hierarchischer Aufbau: zunächst Training elementarer Funktionen, danach Übergang zu Alltagshandlungen
Soll ökologisch valide und für den Rehabilitanden plausibel und relevant sein (7 Kap. 42) Tests als dynamische Testung durchführen, um das Rehabilitationspotenzial zu erkennen (Sternberg u. Grigorenko 2001). Kombination von quantitativen und qualitativen Assessments, Beobachtungen im Alltag und bei realen Arbeitsproben
Flexibles aufgabenspezifisches Lernen. Konkretpraktische Aufgaben dominieren, teilhabeorientiert (Fries et al. 2007) Früher Beginn mit Aufgaben, die den Alltag real oder virtuell beinhalten. Kognition, Sprache und Motorik in Aufgaben kombinieren
ICF
Orientiert an Wiederherstellung von Funktionen
Orientiert an Teilhabe und Aktivitäten
Setting
Mehr multidisziplinär, häufig stationär
Zunehmend ambulant im realen Kontext (7 Kap. 9)
Für Emotionen und Kognition sind unterschiedliche Therapeuten zuständig
Alle Teammitglieder sind an der narrativen Rekonstruktion des Selbst beteiligt Emotion und Kognition werden nicht als separate Systeme angesehen
Person und Selbst (personbezogener Kontext)
(modifiziert nach Ylvisaker 2003)
7 1.1 · Kontextsensitive Neurorehabilitation
jKontextsensitive Rehabilitation in der Praxis Jedes Team muss für sich herausarbeiten, was unter dem Ziel einer stärkeren Kontextsensivität an Veränderung in der Institution möglich ist. Eine kontextsensitive Rehabilitation ist nie schematisch, nicht primär an den Fortschritten im BarthelIndex oder FIM zu messen. Sie erfordert, sich narrativ auf die jeweilige Welt, auch mit ihren Widersprüchen, einzulassen. Die Klinik sollte nur so lange ein Ort der Neurorehabilitation sein, wie es der Hilfebedarf des Rehabilitanden erfordert. Wann der Übergang in eine ambulante Rehabilitation erfolgen sollte, ist von den lokalen Bedingungen abhängig. In ländlichen Regionen ist es oft schwierig, eine hinreichend dichte Nachbetreuung zu gewährleisten. Die ambulante Neurorehabilitation ist derzeit noch ein Problem; bis auf einige Ausnahmen ist sie fraktioniert und inkohärent (Lawrence 2002). Therapeuten, ambulanter Pflegedienst und Hausärzte sind kaum in Teams organisiert, und es fehlt an einer systematischen Nutzung und Koordination von nicht-professionellen Hilfen wie Freiwilligen, Vereinen, Nachbarn. Auch nicht-pharmakologische Therapien haben das Risiko von unerwünschten Wirkungen. Einige Menschen mit neurologischen Erkrankungen entwickeln eine Abhängigkeit von Therapien und stellen diese in den Mittelpunkt ihres Alltags. Sie reduzieren ihr Repertoire an sozialen Rollen, und sie verharren in einer unerfüllbaren Hoffnung auf endgültige Heilung (Wade u. Halligan 2007). Wir, die als Fachkräfte tätig sind, haben unseren Anteil an dieser Entwicklung eines »falschen Selbst«, indem wir Scheitern, Enttäuschungen, Versagen in unseren Erzählungen über die Rehabilitation kaum zur Sprache bringen. Auch als erfahrene Fachkräfte müssen wir unsere Grenzen eingestehen und mit Optimismus, jedoch nicht mit Illusionen arbeiten. Eine partizipative Beziehung zwischen Fachkräften und Rehabilitand sollte auch Themen wie Nichtwissen und Hilflosigkeit des Helfers ertragen.
1.1.2
Psychosomatische Fragen in der Neurorehabilitation
Eine dualistische Sichtweise mit ihrer Trennung zwischen somatischen und psychogenen Symptomen ist dann nützlich, wenn es darum geht, eine organische von einer nichtorganischen Ursache einer Erkrankung zu unterscheiden. Beispiel Bei der Epilepsie ist es wichtig, dissoziative von organischen Anfällen zu trennen, um die richtige Therapie einzuleiten.
Je mehr man sich von der Akutphase einer neurologischen Erkrankung entfernt, desto mehr nimmt die Frage, organisch oder nicht-organisch, an Bedeutung ab. In der Terminologie der ICF: Dort, wo wir uns hin zur Partizipation bewegen, ist es von untergeordneter Bedeutung, woher die Beeinträchtigungen rühren. Die Ermüdbarkeit und der diffuse Schwindel, die noch lange Jahre nach einem Hirntrauma vorliegen können, lassen
sich nur mit einem »Sowohl-als-auch«-Konzept verstehen: Es gibt sowohl eine organische Herkunft als auch einen persönlichen und externen Kontext für diese Beeinträchtigungen. Das, was wir unter psychosomatischer Medizin verstehen, ist damit ohne Schwierigkeiten mit dem ICF-Modell vereinbar. Der Verweis auf die Bedeutung des persongebundenen Kontexts in der ICF enthält ein psychosomatisches Krankheitskonzept. jOrganische vs. psychosomatische Beeinträchtigung Der öffentliche Diskurs über die Medizin wird von biomedizinischen Themen und Erklärungen beherrscht. Das, was man organisch erklären kann, ist legitim, ernst zu nehmen und sozial akzeptabel. Damit stellen die organisch-medizinischen Erklärungen für die meisten Patienten eine »ehrenhafte« Deutung ihrer Symptome dar. Erklärungen, die ihre Beschwerden in einen psychosomatischen Zusammenhang stellen, werden dagegen als Abwertung ihrer Person, als ein Nicht-Ernst-Nehmen erlebt. Das narrative Selbst vieler Patienten ist geprägt durch den biomedizinischen Diskurs in der Gesellschaft, den sie auf sich selbst übertragen. Psychogene Störungen aufzuweisen, wird als gleichbedeutend mit einer Disqualifikation als Simulant erlebt. Das Problem liegt darin, dass auch im sozialmedizinischgutachterlichen Diskurs eine Trennung von psychogenen und organischen Funktionseinschränkungen vorgenommen wird. Die somatische Beeinträchtigung wird eher als »harter Fakt« aufgefasst. Beispiel Ein Patient mit einer Multiplen Sklerose wird gutachterlich eine Ermüdbarkeit (Fatigue) eher als Leistungseinschränkung anerkannt bekommen, wenn zahlreiche Entmarkungsherde in der MR-Bildgebung sichtbar sind, als derjenige mit einer ebenso starken Ermüdbarkeit, dessen MR-Bild kaum Herde aufweist.
Oft wird im sozialmedizinischen und juristischen Diskurs der Begriff der zumutbaren Willenskraft genannt. Diese wird vorwiegend gegen denjenigen mit der angenommen psychogenen Symptomatik angewandt. Vor dem Hintergrund dieser ideologischen und faktischen Diskrimination psychogener Symptome ist es nicht erstaunlich, dass sich Patienten dagegen wehren, wenn ihre Beschwerden in die negative Kategorie des »Psychischen« eingeordnet werden. jPsychosomatisches Arbeiten Die Frage ist, wie wir in der Neurorehabilitation mit diesen Beschwerden umgehen können, die nicht organisch erklärbar sind. Es gibt dazu keine Untersuchungen, die uns einen Weg vorgeben. Die Vorschläge spiegeln die persönliche Sichtweise der Autoren dieses Beitrags. Wir haben es immer wieder als hilfreich empfunden, wenn wir den Schilderungen der Patienten achtsam begegnen. > Achtsam meint, dass wir uns als Zuhörer auf die Erzählung einlassen und uns nicht unter einem Interpretationsdruck fühlen.
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Kapitel 1 · Kontextsensitive Neurorehabilitation: Einführung in die klinische Neurorehabilitation
Als Zuhörer empfindet man sich dann in der Position eines Anthropologen, der in eine fremde Gedankenwelt eingelassen wird. Die Erzählung, mit ihren magischen und irrationalen Elementen, stellt mehr als einen Bericht des Patienten dar; sie ist ein Teil seines narrativen Selbst. Daher ist der Patient so verletzlich, wenn er spürt, dass seine Erzählung nicht ernst genommen wird. Ein Vertrauen baut sich dort auf, wo sich der Patient schwach zeigen kann, ohne auf Stärke zu stoßen, um ein Wort von Theodor Adorno zu variieren. Reagieren wir mit der Kraft der biomedizinischen Argumente, wird der Patient sich unverstanden zurückziehen. Eine interessante Überlegung kommt von der Philosophin Annemarie Mol (2002). Sie arbeitet in ihrem Buch »The body multiple« anhand ihrer Beobachtungen in Kliniken heraus, wie Patienten und Fachkräfte in der Praxis durch ihr Handeln dem Körper unterschiedliche Existenzformen, Ontologien, zuweisen. Der Körper, den wir in der Massage berühren, unterscheidet sich von dem Körper, über den wir bei der Visite sprechen. Die Plaques bei der MS haben für den Neuroradiologen eine andere Ontologie als für den Patienten. In diesem Sinn bedeutet psychosomatisch zu arbeiten, sich jeweils achtsam auf das einzulassen, was ist, mehrere Sichtweisen nebeneinander zuzulassen. Die Traurigkeit nach einem Schlaganfall hat mehrere Ontologien: eine somatische, die man mit Psychopharmaka beeinflussen kann, eine biographische oder eine soziale. Je nach Situation werden wir damit anders umgehen. Dieses Nebeneinander von Ontologien führe zwar zu Zweifeln, jedoch »obwohl nichts wirklich sicher ist, führt die permanente Möglichkeit des Zweifelns nicht zu einer permanenten Drohung von Chaos« (Mol 2002). In der rehabilitativen Arbeit geht es darum, über die unterschiedlichen Sicht- und Handlungsweisen der beteiligten Berufsgruppen hinweg, eine Kohärenz zu finden. Eine Handlungsweise, die Kohärenz zwischen den unterschiedlichen Herangehensweisen herstellen kann, ist die des Kümmerns. In dem Wort Kümmern sind der Kummer und die Sorge um den Kummer enthalten. Kümmern umfasst ein Ernst-Nehmen, ein Sich-Einlassen, eine nicht wertende Achtsamkeit. Und es beruht auf Erzählungen. Die Medizinhistorikerin Anne Harrington ist der Geschichte der psychosomatischen Medizin nachgegangen und fasst ihre Analyse zusammen:
» In the end, however, I always come back to the stories. They seemed key to me, first because they helped me better understand how to relate questions about the mind-body medicine. (…) The mind-story medicine is a deeply storied world. (Harrington 2008)
«
Fazit Dieser Satz gilt auch für die kontextsensitive Neurorehabilitation, zu der die psychosomatische Arbeit gehört: Sie ist eine Welt der Erzählungen. Wie es eine Literaturwissenschaft gibt, die eine Theorie zur Deutung von Texten liefert, so benötigen wir eine Theorie, mit 6
der wir die Erzählungen analysieren können. Ein solches theoretisches Modell stellt die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) dar.
1.1.3
Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)
Der dominierende Gedanke in der Neurorehabilitation war bisher, Funktionen wiederherzustellen. So gehe es zum Beispiel darum, die Handkraft zu steigern, einen grammatisch korrekten Satz zu bilden oder das Gleichgewicht zu verbessern. Rehabilitation wird damit als Fortsetzung einer medizinischen Behandlung mit anderen Mitteln gesehen. Das medizinische Modell der Rehabilitation findet sich in den therapeutischen Ausbildungen und in der Organisation der Rehabilitation wieder. Die Curricula sind stark störungsorientiert, und in der Versorgung der Rehabilitanden überwiegen klinisch-stationäre Einrichtungen. Eine Vernetzung mit der Lebenswelt der Betroffenen ist nur in Ansätzen vorhanden. Es hat jedoch schon vor vielen Jahren Stimmen gegeben, die sich für eine Erweiterung des Rehabilitationsbegriffs um eine soziale und biographische Dimension aussprachen (Jochheim 1958). Diese Dimensionen wurden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in das Modell der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) aufgenommen (WHO 2005). Das ICFModell stellt menschliche Funktionen und Aktivitäten immer in Bezug zu einer Person und seiner Lebenswelt (Frommelt u. Grötzbach 2005). Dadurch richtet sich der Blick in der Rehabilitation nicht mehr ausschließlich auf die Störungen, sondern auch auf die sozialen Rollen in Familie, Beruf und Gemeinschaft. > Anstelle der Funktion rückt die Person in den Mittelpunkt der Rehabilitation.
jEntstehensgeschichte der ICF Vor etwa 30 Jahren begann die WHO, eine spezielle Klassifikation für chronisch kranke Menschen und Menschen mit Behinderungen zu entwickeln. Das erste Ergebnis war die International Classification of Impairment, Disability and Handicap (ICIDH), im Deutschen Internationale Klassifikation der Schädigungen, der Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (Matthesius et al. 1995). In diesem Modell sah
man eine geradlinige Reihenfolge von der Krankheit über die Symptome (Schädigungen) zu den Einschränkungen der Aktivitäten des täglichen Lebens bis schließlich zu den Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Dieses Modell war fortschrittlich, da es das Leben außerhalb der Praxis zum Maß der Erfolge in der Rehabilitation machte. Die geradlinige Entwicklung von der Krankheit zur Beeinträchtigung der Teilhabe entsprach, wie die Kritiker anmerkten, jedoch nicht der Realität. Das Modell war zu starr und zu einfach. Daher wurde eine Weiterentwicklung, die ICF, veröffentlicht (deutsche Version 2005; WHO 2005).
9 1.2 · Der verwundete Geschichtenerzähler: Narration in der Neurorehabilitation
Die Sicht auf eine Person im Kontext bedeutet für viele Teammitglieder, die noch in traditionellen biomedizinischen Modellen zu denken gewohnt sind und auch so ausgebildet wurden, eine Umstellung. Sie führt auch zu einer Verunsicherung, denn es ist einfacher, als Therapieziel die Beseitigung einer Störung, sei es des Gedächtnisses oder der Schulterbeweglichkeit zu definieren, als zu beschreiben, welche Tätigkeiten durch die Therapie wieder ermöglicht werden sollen. Der Rahmen, in dem die klassischen Rehabilitationsmaßnahmen stattfinden, ist außerdem von der Lebenswelt der Rehabilitanden oft weit entfernt. Es ist daher für Teammitglieder häufig schwierig, sich ein Bild des Kontexts zu machen, in den der Patient nach dem Klinikaufenthalt zurückkehrt. . Abb. 1.1. Modell der ICF
jGrundgedanke der ICF Die ICF versteht eine Behinderung als das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen 4 einer Erkrankung und den Krankheitsfolgen einerseits und 4 der Persönlichkeit des Erkrankten und dessen sozialen und materiellen Kontexts andererseits. Die Wechselwirkung besagt, dass auch negative Kontextbedingungen zur Verstärkung von Krankheitsfolgen oder neuen gesundheitlichen Schäden führen können. Das Modell der ICF (. Abb. 1.1) besteht aus vier Komponenten, 4 zwei beziehen sich auf die Krankheitsfolgen und 4 zwei weitere auf den sozialen und persönlichen Kontext. Man achte darauf, dass die Pfeile in dem Modell in beide Richtungen zeigen. Eine Einschränkung der Partizipation kann damit zu einer Funktionsschädigung führen, z.B. ein sozialer Rückzug zu Immobilität.
Fazit Ein einfacher, vielleicht noch zu wenig genutzter Weg, sich ein Bild des sozialen, physischen und biographischen Kontexts zu machen, ist, den Patienten erzählen zu lassen. Im Narrativen werden die Bühne, die Kulisse und die Akteure des täglichen Lebens entfaltet. Die ICF ist eine Art Raster, eine geistige Landkarte, um die Inhalte einer Erzählung zu ordnen (Frommelt u. Grötzbach 2008).
1.2
Der verwundete Geschichtenerzähler: Narration in der Neurorehabilitation
Das Narrative öffnet den Einblick in die Gedankenwelt und das Erleben der Patienten. Das, was den Kern einer Person ausmacht, das Selbst, ist keine physische Realität wie das Gehirn oder die Hautfarbe, sondern ist im Kern eine – wenn auch nicht immer klare und widerspruchsfreie – Erzählung. Das Selbst, so der Psychologe Jerome Bruner (2002), »is a narrative art«. Bruner führt aus:
» Es gibt kein Selbst, das dort sitzt und wartet, dass es mit
jGrundbegriffe der ICF Die Grundbegriffe der ICF sind in . Tab. 1.2 erläutert.
Worten porträtiert wird. Ständig konstruieren und rekonstruieren wir unser Selbst, um auf die Situationen eingehen zu können, denen wir begegnen. Und wir tun dies unter Verwendung unserer Erinnerungen und unserer Hoffnungen und Befürchtungen hinsichtlich der Zukunft. (Bruner 2002)
jICF-Konzept in der klinischen Praxis Das Konzept der ICF mit seinen Komponenten und der Vorstellung einer ständigen Wechselwirkung zwischen Krankheitsfolgen und Kontext stellt für die klinische Arbeit einen intellektuellen Schlüssel zum Selbstverständnis der Ärzte und Therapeuten dar. Da sich die ICF nicht an eine einzelne Berufsgruppe richtet und die sozialen und medizinischen Herangehensweisen als grundsätzlich gleichwertig betrachtet werden, ist die ICF als gemeinsame Sprache über die Berufsgrenzen hinaus geeignet. Eine gemeinsame Sprache bedeutet nicht, die Einzelbegriffe der ICF verwenden zu müssen, sondern bedeutet, die Komponenten, wie z.B. Teilhabe und personaler Kontext, allgegenwärtig zu haben. Übersichten über die klinische Anwendung der ICF geben Rentsch und Bucher (2006), Frommelt und Grötzbach (2007a), Frommelt et al. (2005) sowie Grötzbach und Iven (2009).
jWesen der Erzählung Was sind Erzählungen? Sie sind keine Abbilder von tatsächlichen Ereignissen. Die Aufzählung von Ereignissen ist keine Erzählung. Der Antworten auf dem Fragebogen zur Anamnese liefern Daten, jedoch keine Erzählung. Manche Ärzte finden es einen Eingriff in ihre Interpretationshoheit, wenn Patienten ihre Beschwerden mit vermuteten Ursachen verknüpfen, die Kopfschmerzen mit der Halswirbelsäule oder den Schwindel mit dem Wetter. Damit wird schon ein weiteres Merkmal von Erzählungen erwähnt, die Konstruktivität. Erzählungen sind nie pure Wiedergaben dessen, was war. Sie deuten und werten Geschehnisse, und sie werden jeweils Situationen angepasst. Eine der wichtigsten Funktionen von Erzählungen im Allgemeinen und vor allem von Patientenerzählungen ist die Formung und Präsentation der eigenen Identität in Erzählungen. Eine der häufig gehör-
«
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10 Kapitel 1 · Kontextsensitive Neurorehabilitation: Einführung in die klinische Neurorehabilitation
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. Tab. 1.2. Grundbegriffe der ICF Begriff
Definition
Beispiel
Funktionsfähigkeit
Oberbegriff für nicht eingeschränkte Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Partizipation
Ein Patient mit einer hereditären Neuropathie besitzt die volle Funktionsfähigkeit in seinen mentalen und kommunikativen Funktionen und Aktivitäten
Behinderung
Oberbegriff für Schädigungen von Funktionen und Strukturen sowie Beeinträchtigungen der Aktivitäten und der Partizipation. Dieser Begriff der Behinderung ist nicht identisch mit dem in der deutschen Sozialgesetzgebung
Ein Patient mit einer Epilepsie ist durch seine Stigmatisierung trotz Anfallsfreiheit hinsichtlich seiner Partizipation am Arbeitsleben behindert
Körperstruktur
Anatomische Teile des Körpers Schädigung: die Beeinträchtigung einer Körperstruktur
Schädigungen des Rückenmarks und des Gehirns
Körperfunktionen
Die physiologischen Funktionen von Körpersystemen einschließlich psychologischer Funktionen. »Körper« bezieht sich auf den menschlichen Organismus Schädigung: die Beeinträchtigung einer Körperfunktion
Kraftminderung im linken Arm, Sensibilitätsstörungen in beiden Händen und im linken Bein unterhalb des Knies. Leicht ermüdbar und etwas depressiv
Aktivität
Durchführung einer Aufgabe oder Handlung durch eine Person. Man betrachtet die Handlungen des Einzelnen Beeinträchtigung: Schwierigkeiten, die ein Mensch haben kann, die Aktivität durchzuführen
Bedienen einer Tastatur, Greifen von Gegenständen aus Regalen, Gehen auf unsicherem Boden, Fensterputzen auf einer Leiter, soziale Kontakte pflegen
Partizipation (Teilhabe)
Das Einbezogensein in eine Lebenssituation Beeinträchtigung der Partizipation: ein Problem, das ein Mensch in Hinblick auf sein Einbezogensein erleben kann
Teilnahme am Arbeitsleben nur noch eingeschränkt, Patientin erlebt sich in ihrer Rolle als Mutter als beeinträchtigt, da sie oft müde und reizbar ist
Umweltfaktoren
Sie beziehen sich auf alle Aspekte der äußeren Welt, die Einfluss auf die Funktionsfähigkeit einer Person haben. Dazu gehören die physikalische und materielle Umwelt sowie das private und öffentliche soziale Netz. Barrieren sind negative Umweltfaktoren; Förderfaktoren mindern, wie der Name sagt, die Gefahr einer Behinderung
Personbezogene Faktoren
Kontextfaktoren, die sich auf Alter, Biographie, sozialen Status, persönliche Stärken und Einstellungen beziehen. Dazu gehören auch Selbstreflexion, Motivation, Hoffnung, Optimismus
Eine 27-jährige Patientin mit einer schubförmigen Multiplen Sklerose zeichnet sich durch Humor und Optimismus aus, trifft sich regelmäßig mit ihren Freunden, die zu ihr halten (Förderfaktoren des externen Kontexts)
Kontextfaktoren
Sie stellen den gesamten Lebenshintergrund eines Menschen dar. Die Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt. Die Kontextfaktoren können die Funktionsfähigkeit positiv als Förderfaktoren oder negativ als Barrieren beeinflussen. Man unterscheidet Kontextfaktoren auf der Ebene des Individuums und auf der Ebene der Gesellschaft. Nur die externen Kontextfaktoren sind in der ICF aufgegliedert und mit Codes versehen
Bei der Patientin Frau K. sind als externer Förderfaktor die Unterstützung durch die Familie zu nennen sowie die Akzeptanz und Hilfsbereitschaft, die sie von den Nachbarinnen erfährt. Ein negativer Umweltfaktor (Barriere) ist der begonnene Personalabbau in ihrer Firma. Positiv ist die Unterstützung durch ihren Chef. Sie ist von ihrer Persönlichkeit her (personbezogene Faktoren) optimistisch und verfügt über Durchhaltevermögen
Leistung und Leistungsfähigkeit
Leistung ist die tatsächlich beobachtete Aktivität oder Teilhabe. Leistungsfähigkeit bezieht sich auf die Leistung unter optimalen oder standardisierten Bedingungen. Die Begriffe »Leistung« und »Leistungsfähigkeit« sind in der ICF unscharf und werden uneinheitlich verwendet
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11 1.2 · Der verwundete Geschichtenerzähler: Narration in der Neurorehabilitation
ten Klagen von Patienten ist die, man habe sie nicht ernst genommen. Eine Erzählung nicht ernst zu nehmen bedeutet, die Identität, die Würde des Erzählers anzuzweifeln. Besonders dort, wo sich die Patientenerzählungen weit von der Vorstellung der Medizin entfernen, so bei den Erkrankungen ohne organisches Korrelat, entsteht bei den Patienten oft das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Die Äußerung, niemand habe ihnen zugehört, ist auch heute noch von nicht wenigen Patienten zu hören. > Eine Erzählung ist, ganz allgemein formuliert, die Darstellung eines Wandels in der Zeit. Nebeneinanderstehende Ereignisse werden durch einen Plot, einen Sinnzusammenhang miteinander verknüpft.
jHierarchie der Denkweisen Näher betrachtet Erzählung eines an Epilepsie erkrankten Arztes Ein ärztlicher Kollege, Allgemeinarzt, der erst spät mit etwa 50 Jahren an einer Epilepsie bei einer Hippocampus-Sklerose erkrankte, berichtete von seiner – medizinisch erfolgreichen – Epilepsie-Operation. Das Schlimmste sei die Visite durch den Professor nach der Operation gewesen. Er wollte so viel fragen, es sei jedoch nur um die MR-Bilder und das EEG gegangen. Mit der Psychologin, zu der er zur Testung einbestellt worden sei, habe er dann sprechen wollen, jedoch kurz darauf aufgegeben, da sie sehr offensichtlich zur Uhr sah, um mit der Testung beginnen zu können.
Man hat in dieser Erzählung den Eindruck, dass es sich nicht um ein persönliches Desinteresse an dem Patienten handelt, sondern um den Ausdruck einer Hierarchie der Denkweisen. Herrschend ist das neurologisch-biomedizinische Denken: 4 Ist die Operation gelungen? 4 Wie sind die Testbefunde? 4 Was zeigt das MRT? Eine »weiche« Medizin, wie es die narrative Medizin ist, steht in der Hierarchie der Denkweisen an unterer Stelle, so wie die Pflege hierarchisch unterhalb der ärztlichen Ebene steht. jBedeutung des erzählenden Gesprächs Die Bedeutung des Narrativen für die Beziehung zwischen Therapeut oder Arzt mit seinem Patienten formulierte die Internistin Rita Charon so:
»
Ja, Ärzte berühren Patienten und machen ziemlich außerordentliche körperliche Dinge mit ihnen, aber die Textualität und nicht die Körperlichkeit bestimmt die Beziehung. In der Tat sind wir auf dem falschen Weg, wenn wir versuchen, die medizinischen Beziehungen als auf Liebe, Zuneigung, Macht oder Ökonomie basierend zu definieren. Die Beziehungen basieren auf komplexen Texten, die zwischen Patient und Arzt ausgetauscht werden, Texte, die Worte, Schweigen, körperliche Befunde, Bilder, Messungen von körperlichen Befunden und vom Aussehen enthalten. (Charon 2006)
«
Der Neurologe Kurt Goldstein (1934) beschrieb die Erschütterung einer Person, die eine Hirnverletzung erlitt, als Katastrophenreaktion, als eine existenzielle Erschütterung, in der Menschen ihren Halt verlieren, sich ausgeliefert, hilflos und voller Angst fühlen (7 Kap. 37). Der Weg aus dem Katastrophenerleben führt über das Erzählen. Es sind nicht immer dramatische Geschichten mit einer Katastrophenreaktion. Wenn jedoch achtsam zugehört wird, so findet sich bei den neurologischen Patienten bestätigt, was Brody über die Allgemeinpraxis sagt:
» Patienten kommen zu Ärzten mit gebrochenen Geschichten genauso häufig wie mit gebrochenen Knochen. (Brody 2003)
«
Das Gespräch – auch das Selbstgespräch – dient dem Auffinden von Koordinaten, um die eigene Lage zu verorten und einen neuen Kurs festzulegen. Die Bedeutung des Narrativen in der Rekonstruktion des Selbst nach einer Hirnverletzung gibt die Literaturwissenschaftlerin Ruthann Knechel Johansen (2002) in den Aufzeichnungen über ihren Sohn Erik, der durch einen Autounfall ein sehr schweres Hirntrauma erlitt (7 Exkurs) wieder. Diese Erzählung führt uns vor Augen, dass wir daran arbeiten sollten, eine gemeinsame, mit den Patienten geteilte Geschichte zu schreiben. Ein Beispiel für diese Kunst, eine gemeinsame Geschichte zu schreiben, gibt der russische Neurologe und Neuropsychologe A.R. Luria. In seinem Buch mit dem deutschen Titel »Der Mann, dessen Welt in Scherben ging« beschreibt er den Soldaten Zasetzky, der 1943 eine schwere Hirnverletzung erlitt (Luria 2000). Aus 3000 Manuskriptseiten aus über 25 Jahren kondensiert er eine kommentierte Erzählung von 160 Seiten. Zur Frage, warum Zasetzky so extensiv schrieb, äußerte Luria:
» Diese Arbeit wurde die wichtigste Sache in seinem Leben. Der Sinn seines Lebens besteht darin, seine Geschichte aufzuschreiben und dadurch seine Erkrankung zu überwinden, sein Leben wieder aufzunehmen und ein Mann wie andere Männer zu werden. (Luria 2000)
«
Die Erzählung endet mit den Worten:
» Er bemüht sich, das wieder herzustellen, was unwiederbringlich ist, er bemüht sich, etwas Begreifliches aus all den Bruchstücken und Scherben zu machen, die aus seinem Leben zurückbleiben. Er ist an seine Erzählung zurückgekehrt und arbeitet weiter an ihr. Es gibt kein Ende. (Luria 2000)
«
> Das Narrative bedeutet, den Stimmen von Trauer, Angst, Verzweiflung, Hoffnung einen Raum zugeben. Im Gespräch können wir gemeinsam mit den Patienten versuchen, aus dem Unbegreiflichen Sinn zu machen, helfen, ein neues Kapitel in ihrer Biographie zu beginnen. Die Sprache ist metaphernreich, nah an den Erfahrungen und möglichst frei von Fachjargon.
12 Kapitel 1 · Kontextsensitive Neurorehabilitation: Einführung in die klinische Neurorehabilitation
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Näher betrachtet Bedeutung des Narrativen in der Rekonstruktion des Selbst Das, was Goldstein eine Katastrophenreaktion nannte, beschrieb die Literaturwissenschaftlerin Johansen mit den Worten:
» In den mentalen Orten, in denen Erik sich früher zu Haus gefühlt hat, wie zum Beispiel, wenn er AlgebraGleichungen löste, Geometrie beherrschte oder mathematische und physikalische Aufgaben löste, an diesen Orten wanderte er verwirrt umher und versuchte seinen Weg zu finden. Entmutigung und Depression lauerten im Schatten, als Erik sich bemühte, sich im Leben wieder zu orientieren. (Johansen 2002)
«
Sie findet eine metaphernreiche Sprache: Orte, Weg finden, im Schatten lauern. In einer Fachsprache würde diese nuancenreiche figurative Darstellung ihre Anschaulichkeit verlieren. Für die Rekonstruktion des Selbst verwendet die Mutter die Metapher des Hausbaus:
» Ich habe den Fortschritt Eriks in den Jahren nach dem Unfall als eine
Suche nach einem Haus, seinem Selbst-Haus gedeutet. (Johansen 2002)
«
Die Arbeitsteilung in Kliniken und in der Rehabilitation macht es oft schwer, das gesamte Haus zu sehen, da sich jeder nur für seine Räume zuständig fühlt. Die Person, mit den Worten Johansens das Selbst-Haus, gerät leicht aus dem Blick. Aus ihrer Erfahrung weist sie darauf hin, dass die Hirnverletzung eines Familienmitglieds »die statische Sicht auf das Selbst« infrage stellt. Daher
» ist eine Form der narrativen Therapie, in der die Familienmitglieder die Möglichkeit erhalten, über ihr Erleben der Auswirkungen des Traumas von so vielen Seiten wie möglich zu sprechen, absolut notwendig für den Rekonstruktionsprozess von jedem, der einbezogen ist. (Johansen 2002)
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Dabei umfasst das Narrative für sie poetische, spirituelle, philosophische Elemente, die in einer medizinisch-wissen-
schaftlichen Welt keinen Platz haben. Sie fasst zusammen:
»
Unsere Reise mit der Hirnverletzung macht das therapeutische Potenzial des Narrativen deutlich, nicht einfach für die Betroffenen selbst, sondern auch für die, die durch Beziehungen oder professionelle Verbindung sie dabei unterstützen, zu überleben und ihr Leben zu rekonstruieren. (Luria 2000, Johansen 2002)
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Am Ende kommt eine etwas überraschende Wende: Erik schreibt nach Jahren der Erholung einen Brief an seine Mutter, in dem er sich beklagt, das Buch behandle ihn wie ein Objekt und sei für ihn entmutigend. Zudem stellte er die Vorstellung infrage, seine Lebensgeschichte sei abgebrochen:
»
Mama, was unterbrochen war, waren deine Vorstellungen, was aus meinem Leben werden sollte. (Johansen 2002)
«
jBehinderung enthält Funktionsfähigkeit Auch wenn wir professionell in der Rehabilitation tätig sind, schützt das nicht vor kulturellen Stereotypen in unseren Köpfen. Diese Stereotypen sind Teil einer großen Erzählung der Rehabilitation, eines Diskurses, in den wir als Professionelle eingebunden sind. Zu diesem Diskurs gehört, wie auch in der ICF festgehalten, dass es eine Dichotomie zwischen Funktionsfähigkeit und Behinderung gibt. Der Behinderte kann, so dieser Diskurs, seine Behinderung bewältigen, Coping, er kann sie heroisch überwinden (»trotz des Schlaganfalls Komponist«).
Der wichtigste Aspekt des multikulturellen Narrativs der Behinderung liegt darin, dass der Diskurs verschoben wird von ‚Behinderung als Defekt‘ zu Behinderung als positiv bewertete Differenz. Diese Verschiebung ist dramatisch verschieden zu der medizinischen Orientierung. (Gray 2009)
Beispiel
Ziele orientieren die gemeinsame Arbeit von Patient und therapeutischem Team. Den Begriff des Ziels sollte man in der Rehabilitation nicht zu eng fassen: 4 Viele Ziele lassen sich ganz klar definieren, so das Ziel, wieder Treppenstufen steigen zu können. 4 Andere, mehr persönliche Ziele, können Patienten nicht so auf einen Punkt bringen. Der Begriff der Ziele lässt sich dann besser durch Begriffe wie Lebenswünsche, Streben nach etwas umschreiben.
Eine ältere Patientin mit einem Schlaganfall, die eine erhebliche Hemiparese links behalten hatte, sagte uns einmal, der Schlaganfall sei das Beste gewesen, was ihr im Leben passiert sei. Seit dem Schlaganfall widmet sie sich dem Schreiben und hat einige Bücher mit Gedichten und Erzählungen veröffentlicht. Sie beschrieb ihr Leben als ein Anderssein, als ein Leben unter veränderten Koordinaten.
Diese Sicht, die Behinderung als eine Alternative, eine Variation des Lebens zu sehen, lässt sich mit einer großen Erzählung mit der Überschrift »Behinderte Menschen gehören zur multikulturellen Variabilität« beschreiben:
»
«
1.3
Praktische Arbeit in der Neurorehabilitation
1.3.1
Zielsetzungsprozess
Eine häufige Antwort auf die Frage, was das Ziel der Rehabilitation sei, ist Gesundheit. Was soll man auch einem Arzt, dessen Thema Gesundheit ist, anderes antworten? Der Patient ist
13 1.3 · Praktische Arbeit in der Neurorehabilitation
nicht gewohnt, seine Vogel-Volière oder seinen Enkelsohn zum Thema eines Gesprächs mit dem Arzt zu machen. Daher sollte man nach der individuellen Semantik des Begriffs »Gesundheit« fragen: Was bedeutet gesund sein für Sie? Die Frage nach den Zielen wird von vielen Rehabilitanden schon in ihren Erzählungen beantwortet. Sie berichten von dem, was ihnen im Leben besonders Freude macht, was ihnen wichtig ist, sie berichten vom Enkelkind und von den Singvögeln, die sie jeden Morgen erfreuen. Ziele sollten vom Patienten und nicht vom Team ausgehen. Barnes und Ward bringen es auf den Punkt:
»
Es kann für einen jungen Mann ein besseres Ziel sein, eine Bierdose öffnen zu können als eine Tasse Tee kochen zu können. (Barnes u. Ward 2000)
«
Die aktive Einbeziehung des Patienten in den Rehabilitationsprozess ist eher die Ausnahme (Holliday et al. 2005). Das Praxis-Beispiel zeigt, wie eine solche Einbindung des Patienten aussehen könnte. Beispiel Zielsetzung in der klinischen Praxis Jeder Patient erhält bei der Aufnahme eine kurze Information durch den Arzt über den Zielsetzungsprozess. Zudem erhält er ein Formblatt, auf dem zum einen die langfristigen Ziele und zum anderen die Ziele für den Zeitraum der Rehabilitation in der Klinik eingetragen werden. Am nächsten Morgen trifft sich der Patient mit dem für ihn zuständigen Behandlungsteam. Der Patient wird durch den Arzt kurz vorgestellt, und anschließend stellen sich die Teammitglieder vor. Der Teamleiter, i.d.R. nicht der Arzt, führt das Gespräch und lenkt es auf die Frage, welche lang- und mittelfristigen Ziele der Patient mithilfe des Teams erreichen möchte. Diese Ziele werden auf dem erwähnten Zielformular eingetragen; am Ende des Gesprächs werden die Einträge dem Patienten nochmals mit der Frage vorgelesen, ob die Ziele richtig formuliert seien. Die Dokumentation über den Rehabilitationsverlauf in den verschiedenen Berufsgruppen soll sich an diesen Zielen ausrichten. Falls Ziele zu ändern sind, werden diese Veränderungen im Team besprochen und gelten dann für alle Teammitglieder (Bühler et al. 2005, Grötzbach u. Iven 2009).
jTop-down-Modell der Zielsetzung Bei den Rehabilitationszielen unterscheidet man langfristige von mittel- und kurzfristigen: 4 Die langfristigen Ziele beziehen sich auf die Partizipation, um den ICF-Begriff zu verwenden. Zielinhalte sind dabei die Rollen, die Lebenswünsche, so z.B. »Ich will für meine Familie da sein« oder »Ich möchte mein Leben in eine andere Richtung bringen«. Von diesen langfristigen Zielen lassen sich kurz- und mittelfristige Ziele ableiten. 4 Praktisch betrachtet, sind kurzfristige Ziele solche, die von Tag zu Tag oder von Woche zu Woche geändert werden; 4 mittelfristige Ziele sind solche, die in einer Zeitspanne von 3–4 Wochen, wie sie für die Rehabilitation in der Regel zur Verfügung steht, angestrebt werden.
Der von Frommelt und Grötzbach (2007b) vorgeschlagene Weg für den Zielsetzungsprozess (Top-down-Modell, . Abb. 1.2) sieht zu Beginn der Zielsetzung die Beschäftigung mit den langfristigen Zielen, den Lebenswünschen, den Teilhabezielen. Die Frage zu Beginn der Rehabilitation lautet: »Wo möchten Sie in 6 oder 12 Monaten wieder am Leben teilhaben?« Sind die Teilhabeziele festgelegt, so folgen auf Ebene der Aktivitäten und Funktionen die mittel- und kurzfristigen Ziele. Diese sollten sich stets an den übergeordneten Partizipationszielen orientieren. Als Merkspruch für die Formulierung von kurz- und mittelfristigen Zielen hat sich die SMART- (Specific-MeasuarableAchievable-Relevant-Timed) Regel bewährt: 4 Die Ziele sollten spezifisch für das Teilhabeziel sein, 4 die Zielererreichung sollte mess- oder beobachtbar sein, 4 die Ziele sollten erreichbar sein, 4 sie sollten Relevanz für den Rehabilitanden besitzen, und 4 sie sollten mit einer Zeitvorgabe verknüpft sein. Die Verwendung von präformierten Listen, aus denen man Ziele auswählt, entspricht nicht der hier vorgeschlagenen auf einem narrativen Verständnis beruhenden Individualität. jSelbstbeobachtung im klinischen Alltag Struhkamp (2004) hat als Anthropologin in einer Rehabilitationsklinik den Alltag beobachtet und dabei festgestellt, dass es in der Praxis viel komplexer zugehe als unsere Modelle zeigen. Manchmal werden Ziele mehr vom Patienten bestimmt, manchmal vom Therapeuten, manchmal gemeinsam. Dies erinnert daran, den konkreten klinischen Alltag immer wieder unter die Lupe zu nehmen. Wir glauben oft, die Ziele unserer Patienten zu verfolgen, doch in der Praxis ist es häufig unsere eigene Agenda, die wir vermitteln. ! Cave Ziele, die mit »Verbesserung von« formuliert werden, sollten kritisch betrachtet werden. Ausgehend von Zielen, die sich auf die Lebenswelt, die Teilhabe am Leben beziehen, werden nachgeordnet Ziele erarbeitet, die sich auf die Aktivitäten und die Funktionen beziehen. Die Ziele können sich gleichermaßen auf die Veränderung der Kontexte beziehen. Das Leitziel ist die Teilhabe (. Abb. 1.2).
1.3.2
Autonomie vs. Selbstständigkeit
Wenn wir über Selbstbestimmung und Selbstentfaltung von Rehabilitanden sprechen, so sind dies keine Begriffe, die zumindest noch vor 10 Jahren in der wissenschaftlichen Psychologie auf viel Resonanz stießen. Nur 10% der befragten Psychologen an Universitäten sympathisierten mit Themen wie Selbstverwirklichung oder persönlichem Wachstum (Mayne et al. 1994). Das sind mehr Themen für das Regal mit der Laienliteratur. Autonomie, Selbstbestimmung und Wachstum sind unabhängig von den Diagnosen und Behinderungen Grundthemen der Neurorehabilitation. In ICF-Begriffen geht es um die Stärkung von personbezogenen Faktoren.
1
14 Kapitel 1 · Kontextsensitive Neurorehabilitation: Einführung in die klinische Neurorehabilitation
Um die Autonomie bildlich zu umschreiben, verwenden wir auch die Metaphern des Weges mit Wegbegleitern und des Wachstums. Mit diesen Metaphern kann eine Brücke hergestellt werden zu Themen wie Hoffnung und Sinn des Lebens. Nicht wenige Patienten sehen rückblickend ihre Katastrophe als den Boden für persönliches Wachstum, als einen Gewinn an Autonomie. Sie sind stolz auf sich, den Schiffbruch überstanden und sich für einen neuen Kurs entschieden zu haben. So wie der stoische Philosoph, der über sich sagte:
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»
Erst als Schiffbrüchiger bin ich glücklich zur See gefahren. (Blumenberg 1979)
«
Fazit . Abb. 1.2. Top-down-Modell der Zielsetzung
> Die Selbstbestimmung, die Autonomie ist nicht zu verwechseln mit der Selbstständigkeit! Autonom handeln zu können bedeutet nicht, keine Hilfe in Anspruch zu nehmen, unabhängig von anderen zu sein. Autonomie beschreibt die innere Freiheit, sich für einen Kurs im Leben zu entscheiden, seinen eigenen Weg auch mit Gefährten und Helfern zu gehen. Menschen mit engen Beziehungen, also abhängig von anderen, fühlen sich autonomer als Personen, die isoliert leben. Es gibt viele Belege dafür, dass »Gesundwerden und Gesundbleiben« mehr mit Autonomie als mit Selbstständigkeit zu tun haben (Sheldon et al. 2003). Die vorherrschende Ideologie der Rehabilitation stellt die Selbstständigkeit und die Reduktion von Hilfebedarf in den Mittelpunkt, die Fortschritte werden mit Instrumenten zur Dokumentation der Selbstständigkeit bewertet. Die Auffassung, dass es in der Rehabilitation um Ausbau von Selbstständigkeit und den Abbau von Hilfebedarf geht, findet man bei Kostenträgern und in der Literatur gleichermaßen vertreten. Dagegen gibt es einige wenige Gegenstimmen, so die von Mieke Cardol:
» Autonomy is central to client-centred rehabilitation since it is a prerequisite for effective participation. We suggest that autonomy, conceived as a basis for participation, is the ultimate aim of rehabilitation. (Cardol 2001)
«
Sheldon, Williams und Joiner haben gezeigt, wie man über die Stärkung der Autonomie, sie nennen sie »self-determination theory«, Patienten helfen kann, »Eigentümer von nicht-angenehmem Verhalten« zu werden, also Widerstände gegen gesundes Verhalten zu überwinden. Der Begriff der Autonomie lässt sich mit der Metapher der persönlichen Navigation veranschaulichen (7 Kap. 37). Die Arbeit in der Neurorehabilitation kann mit der eines Lotsen verglichen werden. Kapitän bleibt der Patient. Die Lotsen können aus der Kenntnis der physischen Umweltbedingungen, der Fähigkeiten von Kapitän und Schiff einen Kurs empfehlen. Damit haben die Lotsen eine große Verantwortung, die Entscheidungen jedoch bleiben beim Kapitän.
Wird die Autonomie respektiert, so bedeutet dies, dass die Ziele eines Rehabilitanden nicht von den Professionellen, sondern von ihnen selbst bestimmt werden. Mit der Selbstbestimmung wird die paternalistische Zielsetzung zugunsten einer partizipativen aufgegeben (Grötzbach 2010). Partizipative Ziele können nur dann festgelegt werden, wenn sich die Professionellen auf die subjektive Welt eines Rehabilitanden einlassen.
1.3.3
Vom klinischen zum therapeutischen Milieu
»Inactive and alone«, so lautet der Titel einer Arbeit von Bernhard et al. (2004), mit dem sie das Ergebnis ihrer Beobachtungen von Schlaganfallpatienten auf einer Stroke Unit zusammenfassen. De Wit et al. (2005) haben in verschiedenen europäischen Ländern verglichen, wieviel Tageszeit zwischen 7 Uhr morgens und 17 Uhr am Nachmittag Schlaganfallpatienten durchschnittlich in Therapien verbringen. Es waren 23,4% der Zeit, eingeschlossen sind 6,4 % der Zeit für eigene Übungen. Auch hier lautete das Resümee:
»
Schlaganfallpatienten verbringen einen großen Teil ihres Tages in ihren Zimmern, inaktiv und ohne jegliche Interaktion. Die Evidenz dafür, dass eine intensivere Therapie das Outcome nach Stroke verbessert, wird in der Praxis der Rehabilitation nicht widergespiegelt. (de Wit et al. 2005)
«
Schon nach dem 1. Weltkrieg richtete man Schulen für hirnverletzte Soldaten ein (7 Kap. 3). Diese boten, wie eine normale Schule, mehrere Stunden Unterricht am Tag. Ganz aktuelle Entwicklungen greifen diesen Gedanken der Schule auf, indem sie Übungsgruppen bilden, eine Art Gehschule für Schlaganfallpatienten (van de Port et al. 2009). Dabei wird das Gehen durch Gehen geübt. Nach den vorliegenden Daten bringen intensiv durchgeführte, alltagsorientierte und aufgabenspezifische Übungsprogramme mehr als klassische 30-Minuten-Einzeltermine in der Physiotherapie (Wevers et al. 2009). >
»
«
Rehabilitation is design of learning situations. (Theo Mulder, Director of Research, Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences) – Rehabilitation bedeutet Gestaltung von Lernmöglichkeiten.
15 1.3 · Praktische Arbeit in der Neurorehabilitation
jKlinisches Milieu Auch in Rehabilitationskliniken haben die Abläufe in Vielem Ähnlichkeiten mit einem Akutkrankenhaus: Das Essen wird serviert, das Zimmer wird gereinigt; der Tagesablauf ist fest geregelt. Es wird für jeden einsichtig sein, dass eine Frührehabilitationseinrichtung die Infrastruktur einer Akut- oder Intensivstation aufweist. Betrachtet man den klinischen Alltag in verschiedenen Einrichtungen, so stellen sich einer kritischen Beobachtung einige Fragen: 4 Muss das Abendessen in der Phase der postakuten Rehabilitation schon um 18 Uhr eingenommen werden? 4 Müssen Pflegekräfte OP-Kleidung tragen? 4 Warum finden auch bei schönem Wetter die meisten motorischen Therapien im Gebäude und nicht auf einer Wiese statt? 4 Wo gibt es einen Blumengarten zum Betrachten und zur Arbeit für Interessierte? 4 Wo gibt es Tiere zum Streicheln oder einen Hund als Begleiter auf Spaziergängen? 4 Warum kann ein Patient nach einem Schlaganfall nicht selbst den Staub in seinem Zimmer wischen oder mithelfen, ein Essen zu kochen? Eine Reihe von ambulanten oder stationären Einrichtungen haben Schritte eingeleitet, um die Kulisse der Klinik durch ein lebendiges, abwechslungsreiches Szenenbild zu ersetzen. jTherapeutisches Milieu Es geht jedoch nicht nur um das räumlich-materielle Ambiente. Seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts gibt es in der Psychiatrie ein Bemühen, die soziale Atmosphäre von Stationen so umzugestalten, dass sie ein therapeutisches Milieu bieten. Dazu gehören Initiativen, 4 den sozialen Kontakt zu fördern, 4 Gefühlsäußerungen zuzulassen und 4 gemeinsame Aktivitäten wie Ausflüge und Freizeitunternehmungen. Es gibt für die Gestaltung eines therapeutischen Milieus keine Rezepte, keine festen Handlungsanleitungen. Ein Prinzip jedoch ist, die subjektive bürgerliche Identität der Rehabilitanden zu respektieren und sie nicht auf ihre neurologische Erkrankung zu reduzieren. Der begeisterte Jäger, wie man ihn nach einem Schlaganfall in einer ländlichen Rehabilitationsklinik in Bayern häufig findet, bleibt Jäger, auch wenn er nie mehr mit dem Gewehr auf einen Hasen anlegen wird. kAktives Einbeziehen der Familie Identitätsstiftend ist für die meisten Menschen, dass sie sich als Teil einer Familie erleben. Der Sinn des Lebens speist sich aus dieser Zugehörigkeit und Verpflichtung ihrer Familie gegenüber. Der Begriff der Familie sollte nicht zu eng gesehen werden. Die, wie es im Englischen heißt, »significant others«, die bedeutsamen anderen Menschen, können der Familie zugerechnet werden. Für die Arbeit in der Rehabilitation bedeutet das, die Rehabilitanden als Teil einer Familie zu sehen und – soweit die Rehabilitanden das wünschen – die Angehörigen
und Freunde aktiv einzubeziehen. Aktiv einzubeziehen ist wörtlich zu verstehen. Warum nicht den Ehemann einer Patientin anrufen, um mit ihm die Freude zu teilen, wenn die Patientin einen Sprung nach vorn gemacht hat? Sieht man nicht in vielen Einrichtungen Angehörige, die ratlos warten, um irgendjemanden zu sprechen, der ihnen über ihr betroffenes Familienmitglied Auskunft geben könnte? Sie wissen nicht, wen sie ansprechen sollen. In einer Reihe von Kliniken werden gemeinsame Gespräche zwischen Teams und Angehörigen verabredet, was für beide nützlich ist. Die aktive Einbeziehung von Angehörigen setzt eine Teamstruktur voraus, in der die Familien als zumindest virtuell dem Team angehörig angesehen werden. kSpiritualität Eine therapeutische Kraft, die nur in wenigen Rehabilitationsprogrammen einen festen Platz einnimmt, ist die Spiritualität. Unter Spiritualität wird nicht – um einem naheliegenden Missverständnis zuvorzukommen – die Zugehörigkeit zu einer Religion oder esoterischen Richtung verstanden. Vielmehr ist Spiritualität ein individuelles Suchen nach und Ringen mit dem Sinn des Lebens; sie umfasst ein Empfinden der Transzendenz, der Überschreitung der Grenzen des konkreten Hier und Jetzt. Spiritualität ist verbunden mit Wertvorstellungen, mit einem Zugehörigkeitsgefühl zu etwas, was als Gemeinschaft, Geist, Tugend oder Metaphysik keine materielle Substanz besitzt. Spiritualität schöpft aus den kulturellen Quellen von Religion und Traditionen. Selbst Skeptiker müssen zugeben, dass eine der erfolgreichsten Therapien auf einer spirituellen Basis beruht. Die größten Erfolge in der Behandlung der Alkoholkrankheit hat die Teilnahme am Programm der Anonymen Alkoholiker, eine spirituelle Vereinigung mit einem 12-Stufen-Programm zur Abstinenz (Galanter 2005). Die Frage nach dem Sinn ist eine spirituelle Frage. Sie kann nicht medizinisch beantwortet werden. Der psychologische Untergrund vieler Depressionen nach neurologischen Erkrankungen ist der Verlust an Sinn, das Empfinden, nicht mehr dazuzugehören und nur eine Last geworden zu sein. Der Verlust an Sinn ist eng verbunden mit dem Verlust an Hoffnung. Eine Verhaltenstherapie ist daher für eine Reihe von Patienten weniger hilfreich als eine sinnvermittelnde Therapie. Der Psychiater Viktor Frankl, der ein Konzentrationslager überlebte, hat aufbauend auf seiner Überlebensstrategie ein Konzept für eine sinnstiftende Therapie, die Logotherapie, entwickelt (Frankl 2008). Der Spiritualität in einer kontextsensitiven Therapie Raum zu geben, bedeutet nicht, eine spezielle Psychotherapeutin einzustellen, sondern vonseiten aller Teammitglieder offen für Fragen des Sinns zu sein und den Rehabilitanden auf seiner Wanderung auf der Suche nach Sinn zu begleiten. jAchtsamkeit im klinischen Alltag Was den Alltag in der Klinik angeht, können durch Achtsamkeit oft kleine, nicht aufwändige Veränderungen angeregt werden.
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16 Kapitel 1 · Kontextsensitive Neurorehabilitation: Einführung in die klinische Neurorehabilitation
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Beispiel Man denke an die Mahlzeiten in einer Klinik oder Ambulanz. Mahlzeiten sind mehr als »Essenszeiten«. Das gemeinsame Mahl hat eine lange symbolische Tradition. Man könnte zumindest einmal in der Woche Tische festlich decken, man kann die Angehörigen dazu einladen, selbst gebackenen Kuchen mitzubringen.
Die Gefahr bei solchen Vorschlägen liegt darin, dass sie sogleich ablehnende Reaktionen auslösen, wie die, das sei bei den schwerkranken Patienten doch nicht möglich, wie in einem Restaurant zu essen usw. Achtsamkeit bedeutet, für die eigene Station eigene Lösungen zu finden und dort, wo Routine und Gedankenlosigkeit Einzug gehalten haben, über Veränderungen nachzudenken.
1.3.4
Teamorganisation
Obwohl in keinem Klinikprospekt der Hinweis auf ein Team von Ärzten und Therapeuten fehlen dürfte, ist die professionelle Organisation im Gesundheitswesen allgemein und auch in der Rehabilitation durch separate Berufsausbildungen und Arbeitsfelder gekennzeichnet. Interdisziplinäre Ausbildungsgänge sind nur vereinzelt zu finden. Die Grenzen beruflicher Territorien haben eher historische und berufspolitische als inhaltliche Gründe. Beispiel Kognition und Sprache sind aufs Engste miteinander verbunden. Dennoch gibt es zwei, auch im ökonomischen Status, unterschiedliche Berufsgruppen, die Psychologie und die Logopädie, die nur in tatsächlich interdisziplinären Teams über ihre jeweiligen Grenzen hinweg zusammenarbeiten. Ein Neuropsychologe wies die Bitte, mit einer Patientin mit Aphasie zu arbeiten, mit den Worten zurück: »Was soll ich mit der Patientin anfangen, die kann mich ja nicht verstehen.«
jInterdisziplinäre Teamarbeit Zu einer erfolgreichen Neurorehabilitation gehört das Bemühen, inter- und nicht nur multidisziplinär zu arbeiten. In der interdisziplinären Arbeit besteht bei allen Teammitgliedern Bereitschaft und Interesse, die Grenzen zu den anderen Berufsfeldern zu überschreiten. Beispiel Dies kann bedeuten, dass die Pflegekräfte sich an der Sprachtherapie beteiligen, die Ergotherapeuten das Ankleiden gemeinsam mit den Psychologen trainieren, und dass Arzt und Physiotherapeut gemeinsam einen Befund erheben.
Prinzipien und Praxis der Teamarbeit sind von McGrath und Kischka in Kap. 8 dargestellt. Um interdisziplinär arbeiten zu können, müssen die institutionellen Möglichkeiten vorhanden sein, »das Management trägt auch Verantwortung für die Gestaltung der Rahmenbedingungen interprofessioneller Teamarbeit« (Antoni 2009). Die Geschäftsführung einer Rehabilitationsklinik ist gut beraten, wenn sie den Mitarbeitern
auch zeitlich und organisatorisch die Möglichkeit zu regelmäßigen Teamkonferenzen einräumt, da die Praxis zeigt, wie durch eine gute Teamarbeit Unzufriedenheit und Patientenbeschwerden reduziert werden können. Noch wenig praktiziert wird eine reale Einbeziehung von Patienten und Angehörigen in Teambesprechungen, wobei es dafür auch eine Reihe von praktischen Hindernissen gibt.
1.3.5
Hoffnung – eine unterschätzte Therapie
Spiritualität und Hoffnung gehören eng zusammen. In dem individuellen Koordinatensystem, in dem Menschen sich in ihrem Sein verorten, gibt die Spiritualität die Richtung vor und die Hoffnung, die Erwartung, dass bestimmte Konstellationen in Zukunft erreicht werden. Der Theologe Josef Pieper schrieb:
»
Die menschliche Existenz und alles unmittelbar ihr Zugehörige hat die Bauform der Hoffnung ,
«
und er zitiert seinen großen Meister Augustinus:
»
Die beiden Dinge töten die Seele: die Verzweiflung und die verkehrte Hoffnung. (Pieper 1957)
«
Weniger aus religiöser Sicht als vielmehr aus seiner langjährigen Erfahrung als Onkologe und als Leiter einer Abteilung für experimentelle Medizin an der Harvard Medical School zog Jerome Groopman für sich folgendes Resümee:
»
Viele Jahre lang am Krankenbett und am Labortisch habe ich den Einfluss Hoffnung für die Erkrankungen meiner Patienten verkannt. (Groopman 2004)
«
Hoffnung in der Medizin, so Groopman, entstehe dort, wo Personen das Empfinden haben, in irgendeiner Weise die bestehende Situation verändern zu können, wo sie sich nicht mehr völlig fremden Einflüssen ausgeliefert sähen. In dem Bild, die Hoffnung fange an zu blühen, ist zum Ausdruck gebracht, dass Hoffnung kein Alles-oder-Nichts-Phänomen ist. jPositive Psychologie Wohl den größten Zuwachs unter den Richtungen in der Psychologie hat die sog. positive Psychologie genommen. Sie beschäftigt sich im Gegensatz zur klassischen klinischen Psychologie nicht mit den Schwächen, sondern den Stärken von Personen, dem, was Menschen glücklich macht und ihnen zu einem guten Leben verhilft. Einer ihrer Sprecher, Martin Seligman, betont, dass es nicht um das Genießen und Wohlfühlen gehe, sondern darum, die eigenen Stärken im Leben entwickeln zu können und diese für überindividuelle Werte und Ziele einzusetzen (Seligman 2005). Eine neurologische Erkrankung kann das Selbst einer Person tief erschüttern und zugleich die Chance bieten, neue Stärken zu entwickeln und einen Prozess persönlichen Wachstums einzuleiten (7 Exkurs).
17 1.4 · Evidenz- und narrativ-basierte Neurorehabilitation
Die Ergebnisse ihrer Studien zur positiven Psychologie in der Rehabilitation fassen die italienischen Psychologen Delle
1.4
Evidenz- und narrativ-basierte Neurorehabilitation
Fave und Massmini so zusammen:
»
Rehabilitationsprogramme sollten zwei Zielen dienen. Sie sollten zum einen den Kontext bieten, der die Teilhabe am sozialen Leben fördert. Sie sollten zum anderen den Einzelnen solche Aktivitäten ermöglichen, die mit positivem Erleben verbunden sind und durch die persönliche Ressourcen aufgebaut werden. (Delle Fave u. Massimini 2003)
«
Näher betrachtet Aktuelle Erzählung eines Managers Ein 52-jähriger Manager einer großen Automobilfirma erlitt einen ischämischen Hirninfarkt mit einer gut reversiblen Hemiparese links. Ein Jahr nach Ende der Rehabilitation suchte er die Klinik wieder auf, um wie versprochen, über den Verlauf zu berichten. »Es geht mir so gut wie nie zuvor.« Er habe das halbe Jahr zu Hause genutzt, um über sich und das vor ihm liegende Leben nachzudenken. Dann habe er sich entschieden, sehr vieles zu ändern. Sich selbst, die Arbeit und seine Einstellung. Das erste, was er nach der Rückkehr an seinem Arbeitsplatz gesehen habe, seien etwa 2000 ungelesene E-Mails gewesen. Er habe sie alle, ohne auch nur eine zu lesen, gelöscht. Niemand habe sich anschließend beschwert. Wenn eine Aufgabe gut abgeschlossen worden sei, rede er mit seinem Team und gehe nach Hause. Früher habe er sich umgedreht und sei in das nächste Projekt eingestiegen. Jetzt genieße er den Erfolg erst einmal. Weiter habe er sich entschieden, die technischen Lösungen den Jüngeren zu überlassen, da könne er nicht mehr mithalten. Er konzentriere sich auf seine Stärke, die Personalentwicklung. Immerhin habe er vor Kurzem das Angebot bekommen, eine neue, noch größere Aufgabe zu übernehmen. Das werde er annehmen; die Wochenenden blieben jedoch, das habe er für sich ausbedungen, frei.
jPlacebo-Effekt Mit dem Wachstum des Gebiets der positiven Psychologie nahm auch die Anzahl von Arbeiten zu, die sich empirisch mit den Auswirkungen von Hoffnung auf Therapieergebnisse beschäftigen. Der vielleicht überzeugendste Beweis für die Wirksamkeit von Hoffnung ist der Effekt von Placebo-Präparaten. Die Erwartung hat auf das Ergebnis einen entscheidenden Einfluss. Wir halten eine Verordnung von Placebos ethisch für fragwürdig, da sie auf einer Täuschung beruht. Jede therapeutische und pharmakologische Intervention enthält Placebooder das Gegenteil davon, Nocebo-Effekte. Die Erwartung in die Therapie und das Erwecken positiver oder negative Gefühle durch die Therapie haben eine empirisch nachgewiesene Wirkung auf das Ergebnis (Lyubomirsky et al. 2005). Von Personen mit einem Diabetes haben diejenigen, die hoffnungsvoll in ihre Zukunft schauen, eine geringere Mortalität als andere ältere Personen mit Diabetes (Moskowitz et al. 2008). Daher sollten die Teammitglieder mit dem Wirkstoff Optimismus großzügig, jedoch nicht unrealistisch umgehen.
Dieses Buch bezeichnet sich selbst als ein Praxisbuch. Liest man die Programme von internationalen Kongressen der Neurorehabilitation oder Übersichtsarbeiten, so findet man dort ein Zukunftsbild, nach dem es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Neurorehabilitation sich ganz auf wissenschaftliche Erkenntnis gründen lasse. Man kann von einer manchmal fast religiös zu nennenden Verherrlichung der biomedizinischen Neurowissenschaften sprechen. Auch in der breiten Öffentlichkeit melden sich Experten zu Wort, die verkünden, dass neue Erkenntnisse der Hirnforschung die Pädagogik, Rechtsprechung und auch die Methoden der Regeneration nach Hirnverletzungen nachhaltig verändern werden. Anstelle des Begriffs der Neurorehabilitation wird häufig von »neurorestoration« gesprochen, um die neurobiologische Seite der Neurorehabilitation zu betonen. Unbestreitbar sind die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse und die wissenschaftlichen Studien eine unverzichtbare Grundlage klinischen Handelns. Wir benötigen randomisierte und kontrollierte Studien, die uns Auskunft darüber geben, ob eine therapeutische Technik einer anderen überlegen ist. Wir profitieren von den neuen Entwicklungen in den bildgebenden Verfahren, besonders der funktionellen Bildgebung, mit der wir die neuralen Korrespondenzen kognitiver Funktionen beobachten können. jKlinisches Handeln Die klinische Arbeit lässt sich jedoch nicht als angewandte Wissenschaft betrachten. Sie ist mehr, und sie ist anders als die Arbeit eines Wissenschaftlers. Auch die oft gehörte Aussage, Medizin in der Praxis sei eine Kombination aus Wissenschaft und Kunst ist problematisch, da sie eine Zweiteilung des Handelns annimmt. > Medizinisches und therapeutisches Handeln beruhen auf einer Verbindung von wissenschaftlichbasierten Erkenntnissen mit einer auf einer eigenen Logik beruhenden klinischen Urteilsfähigkeit.
Diese klinische Urteilskraft beruht auf einer stets auf den einzelnen Patienten bezogenen Fähigkeit, die Besonderheiten, den Kontext, die Erzählungen des Patienten in einer eher ganzheitlichen Weise zu erfassen. Sie beruht auf Erfahrung und Offenheit für Erfahrungen. Kathryn Montgomery charakterisiert in ihrer Monographie klinisches Handeln:
» Ärzte werden auch in Zukunft in der Fähigkeit individueller Entscheidungsfindung ausgebildet und geschätzt werden. Diese Entscheidungsfindung ist auf den einzelnen Patienten bezogen, sie ist offen für Details, flexibel und kann revidiert werden. Selbst wenn die letzte molekulare Funktion verstanden wird, wenn das gesamte Genom aufgeklärt ist, wenn Krebs heilbar ist, wird die Sorge um den kranken Menschen 6
1
18 Kapitel 1 · Kontextsensitive Neurorehabilitation: Einführung in die klinische Neurorehabilitation
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keine reine Umsetzung von Wissenschaft sein. Der einzelne Patient wird auch weiterhin klinischer Achtsamkeit und klinischer Interpretation bedürfen. (Montgomery 2006)
«
Dies bedeutet, dass man klinisches Handeln durch wissenschaftliche Erkenntnis auf Daten aus Meta-Analysen stützen kann, diese Daten jedoch nicht ohne Berücksichtigung der Besonderheiten im Einzelfall auf einen Patienten übertragen kann. Das individualisierte klinische Urteilen basiert stark auf narrativen Elementen, auf Erzählungen der Patienten, auf Fällen aus der Vergangenheit, die im kollektiven oder individuellen Gedächtnis von Fachkräften präsent sind. Montgomery sieht eine Entwicklung voraus, die wir heute in der Neurorehabilitation beobachten:
» Für einige sind die Tage des klinischen Urteilens gezählt. Für diese verspricht die evidenzbasierte Medizin mit ihrem Bezug zu den Ergebnissen klinischer Studien die notwendige Klarheit und Rationalität für klinische Entscheidungen sowie ein hohes Maß an Sicherheit, so dass man klinisches Urteilen nur als ein Hängenbleiben an alten Gewohnheiten und autoritären Haltungen bezeichnen kann. (Montgomery 2006)
«
An vielen Orten – auch von Klinikbetreibern – sieht man Bemühungen, die klinischen Abläufe in Berufung auf wissenschaftliche Ergebnisse zu standardisieren, sog. »clinical pathways« festzulegen. Dabei ist die Nähe zu industriellen Fertigungsprozessen nicht zu übersehen. Eine Auswertung der bisherigen Studien kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass für feste Behandlungspfade in der Schlaganfallrehabilitation kein Nutzen nachgewiesen werden kann (Teasell et al. 2009). jEvidenzbasierte Neurorehabilitation Die evidenzbasierte Medizin (»evidence based medicine«) hat sich in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts als eine Denkrichtung in der Medizin entwickelt, die sich für eine mehr methodisch-wissenschaftliche Basierung von Entscheidungsprozessen in der klinischen Medizin einsetzte. Sie wollte eine Demokratisierung medizinischer Entscheidungen, da anstelle der Expertenmeinung die Analyse der vorliegenden wissenschaftlichen Daten entscheiden sollte, welche Therapie richtig ist. Dabei haben die Pioniere der evidenzbasierten Medizin (EBM) von Anfang an betont, dass die Auswertung der wissenschaftlichen Literatur nur eine Säule der EBM sei. Die beiden anderen Säulen seien die Erfahrung des Arztes oder Therapeuten und die Stimme des Patienten, seine Präferenzen und Erwartungen (Sackett et al. 2000). kAuswertung der wissenschaftlichen Literatur Der wissenschaftliche Zweig der evidenzbasierten Medizin hat seinen Schwerpunkt in der systematischen und kritischen Auswertung der Literatur: 4 In der methodischen Qualität gelten randomisiert-kontrollierte (»randomized-controlled trials«, RCT) Studiendesigns als der Goldstandard. Liegen für eine Therapie positive Ergebnisse aus mehreren RCT vor, so erhält eine
solche Therapie eine höhere Evidenzstufe als eine Therapie mit nur einem oder keinem RCT. 4 Ein Verfahren zur Zusammenfassung mehrerer Studien sind Meta-Analysen, statistische Verfahren, mit denen die bisherigen Studien zu einer virtuellen Gesamtstudie zusammengelegt werden. Auch Meta-Analysen genügen oft einer methodenkritischen Bewertung nicht und sind damit von geringer Validität für die klinische Praxis (Coyne et al. 2010). Beispiel Ein Beispiel dafür, dass nicht nur einzelne Therapien sondern auch Organisationsformen wissenschaftlich untersucht werden können, ist die Organisation der Schlaganfallrehabilitation in speziellen Einrichtungen. Hätten nicht skandinavische und britische Neurologen randomisiert-kontrollierte Studien zum Vergleich einer herkömmlichen Schlaganfallbehandlung mit einer auf einer Spezialstation durchgeführt, gäbe es wohl keine Spezialstationen, Stroke Units.
Es gibt verschiedene Verfahren, um die Qualität der in der Literatur publizierten Studien zu bewerten und daraus Empfehlungen abzuleiten. Eine Einigung auf ein Verfahren wäre wünschenswert. Hier seien nur zwei Verfahren kurz skizziert: 4 In Australien haben Physiotherapeutinnen die PEDroSkala entwickelt, wobei PED für »Physiotherapy Evidence Database« steht (www.pedro.org.au; Maher et al. 2003). Diese Skala enthält elf Kriterien zur Bewertung einer Studie (7 Kap. 37). Die PEDro-Skala wird auch als Basis für die umfangreichste Auswertung der Literatur zur Schlaganfallrehabilitation von der kanadischen Arbeitsgruppe um Teasell verwendet (www.ebrsr.org; Teasell et al. 2009). 4 Ein anderes Verfahren zur Einstufung des Evidenzgrades ist das von einer kanadischen Arbeitsgruppe entwickelte GRADE-Verfahren (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation) (Schünemann 2009). Darin gibt es zwei Empfehlungsstufen: »starke Empfehlung« und »abgeschwächte Empfehlung«. In Deutschland werden vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) Richtlinien für die Bewertung von Leitlinien erstellt. Für die Neurorehabilitation ist der LeitlinienClearingbericht »Schlanganfall« relevant (Balzer et al. 2005). Unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation sind eine Reihe von Leitlinien und Evidenztabellen publiziert worden, die im Internet abrufbar sind (www.dgnr.de). Es gibt also eine große Anzahl von Ressourcen, um den aktuellen wissenschaftlichen Stand der Neurorehabilitation zu erfahren. Dies heißt nicht, dass die Unsicherheit in klinischen Entscheidungen damit aufgehoben ist (Griffiths et al. 2005). Die Ergebnisse von RCT und die daraus abgeleiteten Empfehlungen sind für die klinische Arbeit oft nicht übertragbar. Die Gründe sind vielfältig: 4 Die einzelnen Patienten in der Rehabilitation entsprechen nicht denjenigen, mit denen Studien durchgeführt werden,
19 1.5 · Die richtigen Wörter wählen: Sprache in der Neurorehabilitation
4 die Leitlinien sind uneinheitlich, 4 die Umsetzung ist nicht kostenneutral, und 4 die Ergebniskriterien beziehen sich auch in der Rehabilitationsforschung selten auf die langfristige gesellschaftliche Partizipation, um nur einige Schwierigkeiten zu nennen (Greenhalgh 2004). Damit soll nur noch einmal betont werden, dass eine evidenzbasierte Arbeitsweise und eine Patientenzentrierung keine Gegensätze sind, sondern sich ergänzen. Für die Neurorehabilitation bedeutet das auch, dass mehr Studien benötigt werden, in denen das Outcome für den Patientenalltag relevant ist, wie die Fähigkeit, eine Treppe sicher steigen oder eine Bestellung am Telefon aufgeben zu können. Als Outcome-Daten von Studien sind die Gehgeschwindigkeit oder das Ergebnis eines Aphasietests nur Surrogate, bei denen die Alltagsrelevanz für den Patienten unklar ist (7 Kap. 42). Einige Stimmen fordern, dass Leitlinien auch die möglichen Präferenzen der Patienten einbeziehen sollten (Aleem et al. 2009). kErfahrung der Ärzte und Therapeuten Es ist auch in der klinischen Medizin keineswegs so, dass die Fortschritte nur aus den wissenschaftlichen Zeitschriften stammen. In einer kritischen Betrachtung der Regelungen zur Verbesserung der Sicherheit von Patienten in der Medizin weisen Leape et al. (2002) auf die Anästhesie hin. Die Sicherheit dort beruhe nicht auf rein wissenschaftlicher Evidenz, sondern auf Hunderten von kleinen Veränderungen in Abläufen, verbesserter Technik und Ausbildung:
»
Dieses herausragende Ergebnis ist nicht auf eine einzelne Maßnahme zurückzuführen oder auf die Entwicklung eines neuen Narkosemittels oder etwa auf Erneuerungen im technischen Bereich, sondern durch die Umsetzung eines breiten Bandes an Veränderungsprozessen: Ausstattung, Organisation, Supervision, Training, Teambildung. Jedoch konnte für keines dieser einzelnen Elemente jemals nachgewiesen werden, das es einen Einfluss auf die Mortalität hat. (Leape et al. (2002)
«
Der Punkt, um den es in diesem Zitat geht, ist, zu verdeutlichen, dass die Weiterentwicklung und Verbesserung der Arbeit in der Neurorehabilitation ein sozialer Prozess ist, in dem es darum geht, therapeutische, organisatorische und personelle Entwicklungen gleichermaßen zu fördern. Daher stellen Leitlinien eine Orientierung für die Therapie dar; sie sollten jedoch nicht als eine dogmatische Lehrschrift behandelt werden, sondern als Instrumente, die von klugen Teams abwägend und achtsam umgesetzt werden. kStimme des Patienten Neben der Stimme der Wissenschaft und der Erfahrung des Therapeuten fehlt in dem Modell der EBM noch eine Stimme, die des Patienten. Ein Aufsatz von Guyatt et al. (2004), Protagonisten einer EBM, trägt den Titel »Patients at the centre: in our practice and in our use of language«. Die Ziele des Patienten einzubeziehen, seine Stimme anzuhören bedeutet, eine evidenz- und narrativ-basierte Neurorehabilitation zu be-
treiben. In diesem Verständnis ist es ein gemeinsamer Weg, ein gemeinsamer Entscheidungsprozess (»shared decisionmaking«) von Rehabilitand und Therapeut in der Festlegung von Zielen und Therapien. jZusammenfassung Unter diesem Aspekt, dass bei Entscheidungen die Perspektive des Patienten zu berücksichtigen ist, sind die zahlreichen Bemühungen, standardisierte Behandlungspfade in der Neurorehabilitation zu etablieren, kritisch zu sehen. Niemand wird bestreiten, dass ein standardisierter Plan für die Akutbehandlung des Schlaganfalls unerlässlich ist. Anders ist es in der postakuten Phase der Rehabilitation. Auch dort wird man Bausteine mit standardisierten Abläufen verwenden, z.B. zur Sekundärprävention. Dennoch ist zu warnen vor Vorstellungen, man könne die klinische Neurorehabilitation organisieren wie eine industrielle Fertigung, eine Vorstellung, die für einige Manager keineswegs abwegig ist. Die klinische Rehabilitation ist ein komplexes Handwerk, mit unterschiedlichen Wünschen und Ängsten, mit Patienten, die erwarten, dass man sich um sie kümmert, und die es verletzt, wenn sie »wie eine Nummer« behandelt werden. Patienten bringen ihre Geschichte mit in die Klinik oder Praxis, und es lohnt sich für beide, den Patienten und den Therapeuten, sich mit diesen Geschichten zu beschäftigen.
1.5
Die richtigen Wörter wählen: Sprache in der Neurorehabilitation
Die Sprache der Fachkräfte in der Rehabilitation entfernt sich oft von der Erfahrungswelt der Patienten. Der Harvard-Psychiater Arthur Kleinman, der seine an Alzheimer erkrankte Frau pflegt, kritisiert die Sprache der Fachkräfte, in der von kognitiver, emotionaler und behavioraler Unterstützung gesprochen wird, als technisch und die Erfahrungen verzerrend. Er empfinde seine Pflege als eine moralische Verpflichtung, als ein Einfühlen und als eine Solidarität (Kleinman 2009). Die Teammitglieder in der Neurorehabilitation benötigen ein fachsprachliches Repertoire wie andere Berufssparten. Zugleich sollten sie achtsam mit der Macht, die Wörter besitzen, umgehen. kReduzierung der Person Eine häufige Praxis ist, Patienten mit Krankheitsbezeichnungen zu kennzeichnen, z.B. als »der Hirntraumatiker«, »der Aphasiker«. In solchen Etiketten wird die Person auf eine Schädigung reduziert. Ein Aufkleben einer Etikette (Labelling) führt dazu, dass man Verhalten durch eine bestimmte Brille sieht. Manche Begriffe haben eine herablassende Konnotation; beispielhaft dafür ist die Formulierung, ein Patient sei »einfach strukturiert«. Die Sichtweise, eine Persönlichkeit sei »einfach strukturiert«, verrät eine soziale Überheblichkeit und zeigt ein mangelndes Bemühen an, auf die Person einzugehen. Andere Begriffe entstammen der Fachsprache und werden unkritisch, manchmal fast inflationär verwendet. Dazu
1
20 Kapitel 1 · Kontextsensitive Neurorehabilitation: Einführung in die klinische Neurorehabilitation
1
Näher betrachtet Wie Etikette unsere Wahrnehmung prägen Abelson und Langer (1974) haben folgendes Experiment durchgeführt: Sie haben einer Reihe von Psychotherapeuten der Yale Universität die gleiche Person entweder als Stellenbewerber oder als Patient vorgestellt. In einem Interview ging es um Fragen zur bisherigen Arbeit: 4 Bei der Vorstellung als Bewerber wurde die Person sowohl von den Verhaltenstherapeuten als auch von den Psychoanalytikern als anpassungsfähig eingeschätzt. 4 Wurde die Person als Patient vorgestellt, fanden die Verhaltenstherapeuten sie gut angepasst, während die Analytiker einen Behandlungsbedarf sahen.
gehört der Begriff »Demenz«, auch in Variationen wie »Sie hat eine leichte Demenz« oder »Jemand sei ein bisschen dement«. Abgesehen davon, dass der Demenzbegriff wissenschaftlich ein recht wackeliges Konstrukt ist, wird das Etikett anstelle der Beschreibung des situativen Verhaltens verwendet. Jeder kann im Übrigen dementes Verhalten von normalen Bürgern an Fahrkartenautomaten beobachten. Dazu gehören Ratlosigkeit, konkretistisches Denken, hilfesuchende Blicke an die Umstehenden und planloses Handeln nach Versuch und Irrtum. Auch ein demenzkranker Patient oder ein Patient mit einem schweren Hirntrauma und massiven kognitiven Beeinträchtigungen zeigt Variationen in seinem Verhalten, oft durch den Kontext erklärbar, in dem er sich befindet. Diese Kontextualisierung des Verhaltens bleibt in Begriffen wie »Depression«, »hirnorganisches Psychosyndrom« oder »Desorientiertheit« unbeachtet. Am Begriff des »hirnorganischen Psychosyndroms« lässt sich illustrieren, wie sich wissenschaftlich obsolete Begriffe hartnäckig halten. Der Begriff des Syndroms impliziert eine feste Konstellation von Symptomen, die bei dem Begriff nicht vorhanden ist. > Sprachlich achtsam sein, heißt auch, Zwischentöne von Wörtern zu hören.
kMedizinischer Paternalismus Nicht selten verwenden wir Begriffe, denen ein medizinischer Paternalismus anzumerken ist. Wenn jemand den medizinisch-therapeutischen Anforderungen nicht folgt, so wird er von Ärzten als »non compliant«, als Verweigerer oder von Therapeuten als »nicht motiviert« bezeichnet. In dieser Aussage ist ein versteckter Tadel enthalten, und es wird nicht gefragt, was die Gründe für diskrepante Vorstellungen von Patient und Therapeut sein könnten. kRisikohinweise Wenn wir die Patienten auf Risiken hinweisen, so können wir dies in einer direkten Aussage machen, »Ein hoher Cholesterinspiegel ist gefährlich«, oder in einem konditionalen Satz »Ein hoher Cholesterinspiegel könnte gefährlich sein«. Die konditionale Form regt mehr zum Nachdenken an als die direkte Form (Langer 2009).
kUnworte Um zu beschreiben, wie Menschen mit Erkrankungen umgehen, verwenden wir Begriffe wie »Krankheitsbewältigung«, so als ob wir mit Gewalt eine Erkrankung niedermachen könnten, oder »Krankheitsverarbeitung«, bei der man an eine Wurstherstellung denken kann. Dass Menschen durch Krankheiten wachsen können, sich gestärkt fühlen oder neue Perspektiven finden, ist diesen Begriffen kaum zu entnehmen. > Sprachlich achtsam zu sein, kann im Gespräch mit den Rehabilitanden heißen, eine erlebensnahe, metaphernreiche Sprache zu verwenden, und kann in der Teamarbeit heißen, in sich einer für alle verständlichen Sprache ohne Jargon zu verständigen.
kSprache in Entlassungsbriefen Am Ende einer Behandlung steht ein Abschlussbericht. So geht es im letzten Abschnitt dieses Kapitels auch um die Sprache von Briefen und Befundberichten. Die Freiräume, um Berichte zu schreiben, sind oft durch Vorgaben eingeschränkt. Entlassungsbriefe und Befunde sind i.d.R. an die nachbehandelnden Ärzte und Gutachter bei den Versicherungsanstalten gerichtet. Sie möchten aus den Briefen ein Bild des Rehabilitanden gewinnen und weitere Maßnahmen einleiten. In einer eigens durchgeführten Befragung von Gutachtern der Rentenversicherung baten wir sie, ihre Erwartungen an die Entlassungsbriefe zu äußern. Fast alle wünschten sich die Briefe so, dass aus ihnen ein Bild des Patienten entsteht (Frommelt et al. 2005). Ein Bild eines Patienten entsteht nicht aus der Aufzählung von aneinandergereihten Testbefunden. Viele Berichte bleiben in den Kategorien der Funktionen und lassen kaum Alltagsbezüge erkennen. Leider sind die Vorgaben zu den Inhalten von Entlassungsbriefen von Sozialversicherungen zumindest in Deutschland so, dass es schwierig ist, sich kurz und präzise zu fassen. Es ist zu erwarten, dass eine Revision Änderungen bewirkt. In der Sprache sollte auch in den Entlassungsbriefen auf Klarheit und Verständlichkeit geachtet werden. Unworte wie »beüben«, »Hirnleistung« oder »nicht rehabilitationsfähig« sollten auf eine Tabuliste kommen. Auch in den Briefen geht es um Aktivitäten und Teilhabe; diese kann man ohne Jargon beschreiben, und der personbezogene Kontext kann dadurch lebendig gemacht werden, dass man die Person kurz charakterisiert. Eine narrative Beschreibung darf einen floskelhaften psychopathologischen Befund ersetzen. Die Verwendung von Textbausteinen in Briefen entspricht einer industriellen Denkweise und sollte vermieden werden. Des Weiteren haben wir es zur Regel gemacht, die Entlassungsbriefe vor Absenden den Patienten zu lesen zu geben. Wenn die Rehabilitation auf Kooperation und Vertrauen beruht, sollten diese nicht vor dem Entlassungsbrief Halt machen.
21 1.6 · Literatur
1.6
Literatur
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1
22 Kapitel 1 · Kontextsensitive Neurorehabilitation: Einführung in die klinische Neurorehabilitation
1
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2
Neurorehabilitation als politische und Managementaufgabe H. Lösslein 2.1
Neurorehabilitation als politische Aufgabe
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7 2.1.8 2.1.9
Rehabilitationskosten – 24 Aufgabe der Rehabilitation – 24 Ethische Grenzen der Rehabilitation – 25 Schaffung eines Finanzausgleichs zwischen den Kostenträgern und Öffnung der Behandlungssektoren – 26 Regelung der Zuweisung – 26 Frühe Entlassung – 27 Förderung des bürgerlichen Engagements – 27 Vernetzung – 27 Berufliche Rehabilitation – 28
2.2
Rehabilitation als Managementaufgabe
2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7
Wirtschaftlichkeit – 28 Leadership – 29 Team – 29 Ziele – 30 Kommunikation – 31 Motivation – 31 Qualität – 33
2.3
Literatur
– 34
– 24
– 28
24 Kapitel 2 · Neurorehabilitation als politische und Managementaufgabe
2
In diesem Kapitel soll dargestellt werden, dass das medizinische Handeln in der Neurorehabilitation von äußeren Gegebenheiten mitbestimmt wird, die politisch zu gestalten und von medizinischer Seite mitzugestalten sind, und dass das Management zum Gelingen rehabilitativer Arbeit einen entscheidenden Beitrag zu leisten hat, um die multidisziplinären Teams funktionsfähig zu machen und zu erhalten. Neben der Performance hängen auch Lebensqualität und -zufriedenheit von Patienten, Mitarbeitern und Management vom Gelingen dieser Aufgaben ab.
kosten dürfen, sind zu beantworten. Mit der Beschränkung der Ressourcen mutieren sie von ökonomischen zu ethischen Fragen, die nicht willkürlich administrativ, z.B. durch die Beendigung der Kostenübernahme, entschieden werden sollten. Die ethischen Aspekte sind ohne die ökonomischen nicht zu beantworten, und die ökonomische Betrachtung muss die gesellschaftlichen Gesamtkosten kennen. Allerdings fehlen die Daten – bisher sind sie nur für den Schlaganfall bekannt (Erlanger Schlaganfallstudie) (Kolominski et al. 2002). Fazit
2.1
Neurorehabilitation als politische Aufgabe
Frommelt hat in seinem Beitrag formuliert, welche Forderungen Patienten an die Rehabilitation stellen dürfen (7 Kap. 1). Doch was bedeutet das für die Gesundheitspolitik und das Mangagement von Rehabilitationskliniken? Als Dienstleister in Sachen Rehabilitation agieren Ärzte/Therapeuten nicht im luftleeren Raum. Sie müssen sich an politischen, ökonomischen und administrativen Rahmenbedingungen orientieren. Die europäischen Länder organisieren die Gesundheitsversorgung höchst unterschiedlich, auch jene mit vergleichbaren ökonomischen Standards. Große Unterschiede gibt es besonders im Bereich der rehabilitativen Versorgung. Einige Grundvoraussetzungen sollten jedoch erfüllt sein, um ein sinnvolles Arbeiten möglich zu machen (im Folgenden kurz skizziert). > Diese Grundvoraussetzungen zu erfüllen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sie aus fachlicher Sicht zu definieren, ist Aufgabe der Ärzte/ Therapeuten.
2.1.1
Rehabilitationskosten
Patienten und Behandler, Kostenträger und Steuerzahler haben Anspruch auf Klärung der Frage, wieviel Rehabilitation kosten darf, sowohl in konkreten Zahlen als auch in Relation zu den anderen Bestandteilen des Gesundheitssystems. Das Leistungsspektrum und dessen Grenzen lassen sich anders nicht definieren. Lange schon ist klar, dass nicht alles, was medizinisch sinnvoll und machbar ist, auch finanzierbar ist. Die Wirtschaftskrise hat dies nochmals verdeutlicht, und die marktwirtschaftliche Ausrichtung der europäischen Regierungen lässt keinen Zweifel daran, dass dies auch in Zukunft so sein wird. Betten in der Frührehabilitation für 90-Jährige werden deshalb Utopie bleiben, auch wenn ausdrücklich betont wird, dass Alter ein schlechtes Kriterium für die Prognose ist und damit nicht ausschließlich über die Leistungserbringung entscheiden darf (7 Kap. 33). Die Fragen, z.B. 4 wieviel 10 Barthel-Punkte, 4 1 Tag in Phase C oder 4 eine berufliche Reintegration
Es ist Aufgabe der Fachleute in der Rehabilitation, ohne Beschönigung oder Dramatisierung zu zeigen, welche Leistungen mit welchem Budget leistbar oder eben nicht mehr leistbar sind, und was dies für die Patienten und das Sozialsystem bedeutet, z.B. welche Folgekosten zu erwarten sind. Leistungseinschränkungen hat das medizinische Team weder zu verantworten noch zu verschleiern, sondern alle Ärzte/Therapeuten handeln im Auftrag der Gesellschaft und müssen deren Vorgaben gegenüber den Patienten umsetzen und vertreten. Die Verantwortung für die Härten, die Leistungseinschränkungen mit sich bringen, trägt der Bürger, der Steuern sparen möchte, und die Partei, die Steuersenkungen oder niedrigere Krankenkassenbeiträge verspricht. Das allerdings sollte mit einiger Deutlichkeit gesagt werden.
2.1.2
Aufgabe der Rehabilitation
Im Konzept der ICF wird die Aufgabe der Rehabilitation in einem humanistischen Sinne als Hilfeleistung für Betroffene innerhalb eines Systems der sozialen Sicherheit beschrieben. > Rehabilitation soll einen behinderten Menschen befähigen, am Leben teilzuhaben und ggf. die Kontextfaktoren entsprechend günstig beeinflussen.
Zugrunde liegt die Idee der Solidargemeinschaft. Jeden von uns kann ein Schicksal ereilen, das medizinische Behandlung und Rehabilitation nötig macht, und deshalb zahlen alle Mitglieder gemeinsam für diese Leistungen und freuen sich, wenn ein anderer davon profitiert. Das Grundprinzip hat Karl Marx in Abwandlung eines Zitats von Platon und in einem weiteren Kontext kurz und präzise formuliert: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.« Er hat damals sicherlich nicht geahnt, wie gut sich sein Satz als Motto gerade für die Neurorehabilitation eignen würde. Die Idee der Solidargemeinschaft wird jedoch zunehmend infrage gestellt. Gilt etwa nur noch der erste Teilsatz »Jeder nach seinen Fähigkeiten« oder nur noch das Prinzip der Leistungsgesellschaft »Jedem nach seinen erworbenen Ansprüchen«, wie das bei den Rentenzahlungen oder dem Bezug von Arbeitslosenunterstützung der Fall ist? Soll nur noch derjenige unterstützt werden, der zuvor durch eigene Leistung in die Gemeinschaft investiert hat? Dann wäre die Frage zu klären: Was soll mit denjenigen geschehen, die nicht mehr fähig sind, etwas zu leisten, es vielleicht nie wieder sein werden, oder die dazu noch nie in der Lage waren?
25 2.1 · Neurorehabilitation als politische Aufgabe
Diejenigen, die sich zur Leistungsgesellschaft zählen, klagen über die Last, die auf den Schultern der arbeitenden und wohlhabenden Bevölkerung ruht, und unterstellen damit, ohne dies deutlich auszusprechen, dass es nützliche und weniger nützliche Mitglieder der Gesellschaft gibt, mehr noch, es wird versucht, einen Trennstrich zwischen beiden Gruppen zu ziehen. Rehabilitanten können sich dabei leicht auf der falschen Seite wiederfinden. Die Gedankenwelt der ICF hat man mit dieser Einstellung schon längst verlassen. Die Renten- und Unfallversicherer sehen die Aufgabe der Rehabilitation ökonomisch klarer: Rehabilitation vor Rente, d.h., die Rehabilitation soll verhindern, dass der Versicherer Rente zahlen muss, oder diese zumindest verringern. Im schlimmsten Falle zahlt er beides, Rehabilitation und Rente. > Soll die Ökonomie der Rehabilitation bewiesen werden, ist in der Tat das finanzielle Hauptargument für die Rehabilitation das Wiedererreichen der Arbeitsfähigkeit – gemessen in Arbeitseinkommen×Zeit.
In Zeiten eines übersättigten Arbeitsmarkts überzeugt dieses Argument weniger. Die Rehabilitanten werden auf dem Arbeitsmarkt nicht gebraucht. Sie konkurrieren mit anderen Arbeitssuchenden, und selbst wenn es ihnen gelingt, die Arbeit wiederaufzunehmen, verlieren sie diese oft nach kurzer Zeit. Es fehlen weniger die Produzenten als vielmehr die Konsumenten.
Ärzte greifen entschieden in die Familienstruktur ein, um die Pflege nach der Entlassung zu sichern, treffen Entscheidungen mit enormer finanzieller Tragweite für die Patienten und andere. Sie stellen im Interesse der Patienten finanzielle Forderungen an die Allgemeinheit, um die Rehabilitation zu ermöglichen. Dies alles tun Ärzte in bester Absicht und nach eigenen ethischen Vorstellungen, aber sind das auch allgemein gültige ethische Regeln? Die Rechtsprechung schwankt zwischen uneingeschränkter Befolgung des (mutmaßlichen) Patientenwillens einerseits und ebenso uneingeschränkter Pflicht zum Erhalt des Lebens andererseits. Wahlweise machen sich Ärzte der Körperverletzung oder des Totschlags schuldig. Selbst einschlägig erfahrene Juristen, die dazu vorsorglich befragt werden, geraten manchmal in die Schusslinie eifriger Richter. Befragt man Laien, äußern viele von ihnen, in einem schwer betroffenen Zustand nicht mehr leben zu wollen, den Ärzte bei den Patienten als Rehabilitationserfolg feiern, und die meisten dieser Patienten wiederum äußern sehr deutlich ihren Lebenswillen. Beispiel Ein Highlight auf die Problematik warf eine alte Dame, die entgegen ihrem Patiententestament reanimiert und erfolgreich rehabilitiert wurde. Ob das in ihrem Sinne gewesen sei? Ja, durchaus. Und ihr Patiententestament? Nein, beim nächsten Mal doch bitte keine Reanimation. Was also gilt?
Fazit Was erhalten bleibt, ist der persönliche Auftrag der Rehabilitanten im Sinne der ICF, d.h., ihnen die Teilhabe am Arbeitsleben oder einer anderen Tätigkeit zu ermöglichen. Schließlich sollte man nicht unterschätzen, dass Patienten und Rehabilitanten immer auch Konsumenten sind und damit Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor sichern, Arbeitsplätze die i.Ü. nicht exportierbar sind. Für Ärzte und Therapeuten ergibt sich die Aufgabe, eine starke Verteidigungsposition für die Patienten aufzubauen, um ihnen das Recht auf eine Rehabilitation im Sinne der ICF zu sichern. Wie aber steht es mit den Patienten, bei denen Teilhabe als Rehabilitationsziel sehr fragwürdig oder absehbar nicht erreichbar scheint?
2.1.3
Ethische Grenzen der Rehabilitation
Manche Ärzte denken und handeln, als gäbe es keine Grenzen für deren segensreiche Tätigkeit, andere dagegen quälen sich mit Zweifeln über die Berechtigung und den Sinn ihres Tuns. Beispiel Bei einem schwerst betroffenen Patienten taucht ein Patiententestament auf, das nicht anders zu interpretieren ist, denn als Wunsch, die Behandlung zu beenden. Multimorbide Patienten sterben nach langem Leidensverlauf oder überleben die Entlassung ins Pflegeheim nur um Tage.
Aufgrund der Komplexität und Verquickung ökonomischer und ethischer Aspekte, die in Deutschland und Österreich eine schlimme Vorgeschichte haben, verweigert sich die Öffentlichkeit bisher erfolgreich der Klärung solcher Fragen. Das hindert die Fragen nicht daran, sich täglich tausendfach aufs Neue zu stellen und Lösungen zu erzwingen. Die Medizinethik muss ihre Unschuld verlieren und konkret werden. Man kann sich um Antworten drücken, aber nicht um die Verantwortung. Fazit Es wird nicht möglich sein, Antworten auf Fragen zu Leben und Tod, Koma und Wert des Lebens sowie zur Attribution von Ressourcen zu finden, die alle Gruppen der Gesellschaft akzeptieren können. Schon religiöse Doktrinen verhindern das. Es muss dennoch möglich sein, ein juristisch-administratives Regelwerk aufzustellen, das Ärzten einen Entscheidungsrahmen gibt, in dem sie sich bewegen können. Wer sich aus prinzipiellen Gründen Güterabwägungen verweigert, die die Ressourcen des Gesundheitswesens sowie das Recht auf Leben und Gesundheit des Einzelnen in ein Verhältnis stellen, der akzeptiert sehenden Auges, dass diese Güterabwägungen in der Verhandlung zwischen Arzt (oder Verwaltung) und Krankenkasse getroffen werden – mit offenem Ausgang.
2
26 Kapitel 2 · Neurorehabilitation als politische und Managementaufgabe
2.1.4
2
Schaffung eines Finanzausgleichs zwischen den Kostenträgern und Öffnung der Behandlungssektoren
Die finanziellen Mittel sind begrenzt. Es muss deshalb eine ausgewogene Zuteilung nach inhaltlichen und ökonomischen Erfordernissen auf die stationäre, teilstationäre und ambulante Versorgung erfolgen, und zwar trägerübergreifend. Der finanzielle Ausgleich unter den Trägern muss nach medizinischen, rehabilitativen und volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten erfolgen – so wie es das SGB IX in Deutschland ursprünglich vorsah. Dazu müssen – wie bereits erwähnt – die gesellschaftlichen Gesamtkosten benannt werden können, damit klar wird, wer in dem großen Verschiebebahnhof zwischen Kranken- und Rentenversicherungen, privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen, Bund und Ländern, privaten und öffentlich-rechtlichen Krankenhäusern, stationärem und ambulantem Sektor die Gewinner und Verlierer sind. Alle Regelungen haben Schlupflöcher; deshalb sind sie so zu gestalten, dass sie sich nach Bedarf nachjustieren lassen. Nach Verabschiedung des SGB im Jahre 1976 entstanden viele neue Modelleinrichtungen in gemischter Trägerschaft. Diese sind mittlerweile in die Jahre gekommen, weitere kamen nicht hinzu. Unter den derzeitigen Bedingungen erweist es sich offensichtlich als zu schwierig, Verträge für neue Einrichtungen auszuhandeln. Rehabilitation scheint sich finanziell zu lohnen; anders lässt sich kaum erklären, warum Patienten in Kostenträgerschaft privater oder gesetzlicher Unfallversicherer weitaus bessere Rehabilitationsmöglichkeiten – stationär wie ambulant – eingeräumt bekommen als z.B. Krankenversicherte. Um die Vorteile zu sehen, muss allerdings das Leben nach der Rehabilitation in die Rechnung miteinbezogen werden, denn darum geht es im Ergebnis! Die Bilanz zugunsten der Rehabilitation würde noch günstiger ausfallen, wenn die Leistungen und Entbehrungen der pflegenden Angehörigen nicht so sträflich vernachlässigt würden. jKostentreibende Faktoren Besonders die ambulante und teilstationäre Rehabilitation sind unterfinanziert und werden deshalb nicht flächendeckend angeboten. Das treibt die Kosten, weil Patienten unnötigerweise stationär behandelt werden. Ebenfalls kostentreibend wirken sich die starren Grenzen zwischen stationärem und ambulantem Sektor aus. Die bisherigen Versuche, diese Grenzen zu öffnen, haben bescheidene Ergebnisse erbracht. Ambulante und poliklinische Leistungen sind für die Kliniken nicht wirtschaftlich genug, und die Öffnung der Kliniken für Niedergelassene, z.B. im Rahmen der integrierten Versorgung, ist bisher ebenfalls kein Erfolgsmodell.
2.1.5
Regelung der Zuweisung
Die Patienten müssen dem Behandlungssetting zugewiesen werden, das für ihr Krankheitsbild am besten geeignet ist,
ohne Rücksicht auf die Kostenträgerschaft, und die Behandlung muss gemeindenah erfolgen: 4 Instabile und multimorbide Patienten benötigen einen hohen medizinischen und pflegerischen Standard. 4 Patienten mit hohem Therapiebedarf benötigen stationäre Einrichtungen mit hoher Therapiedichte. 4 Mobile Patienten in der Phase der familiären und sozialen Reintegration benötigen teilstationäre Behandlung, solange sie einen hohen Therapiebedarf haben. 4 Immobile Patienten und solche mit niedriger Therapiefrequenz benötigen ambulante Angebote. > Ambulant bedeutet in der neurologische Rehabilitation häufig, dass sich Arzt und Therapeuten zum Patienten bewegen, nicht umgekehrt, sofern nicht die Logistik der Arztpraxis oder eines Therapiezentrums erforderlich ist.
Die Therapie sollte überwiegend zuhause unter Einbeziehung und Anleitung des sozialen Umfelds oder am Arbeitsplatz erfolgen. Nach Möglichkeit sollten alle diese Angebote gemeindenah sein. Soweit es nicht gelingt, alle Angebote in einer einzigen Einrichtung zusammenzufassen, was wohl nur in städtischen Ballungsräumen möglich ist, sollten ambulante Teams aus einem Zusammenschluss der therapeutischen, sozialen und ärztlichen Versorgungsteilnehmer gebildet werden. ! Cave Finanzielle Interessen der Anbieter wie der Kostenträger dürfen bei der Zuweisung keine entscheidende Rolle spielen – bzw. die Leistungsanreize müssen adäquat gesetzt werden. Derzeit bestehen große Unterschiede, wie finanziell »lukrativ« die Aufnahme verschiedener Patienten zu werden verspricht. Die Folge ist »Rosinenpickerei« als Geschäftsgrundlage mancher Kliniken. Der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Gewährung von »Rückflüssen« an die überweisenden Ärzte oder die zuweisenden Krankenkassen. > Die Patientenzuweisung sollte in Entscheidungskompetenz von Fachleuten und aufgrund ausreichend klarer Regeln erfolgen. Manche Probleme ließen sich umgehen, wenn die Verteilung der Patienten nach Dringlichkeit und freien Plätzen zentral durch eine neutrale Stelle erfolgen würde. Leistungskontrollen sind notwendig, der Verwaltungsaufwand darf jedoch die eigentliche Arbeit nicht behindern, und es muss klar sein, dass Skalen und Scores nur eine sehr ungenaue Abbildung des Einzelfalls ermöglichen. Die »Barthelitis« und das DRG-System in Deutschland mögen als warnende Beispiele dienen: 4 Der Barthel-Index in den Händen der Krankenkasse verführt dazu, ihn zum alleinigen Kriterium für die Dauer des Klinikaufenthalts zu machen. 4 Die DRG-Daten in den Händen der Klinikverwaltung verführen zur Einflussnahme auf Aufnahme und Entlassung von Patienten.
27 2.1 · Neurorehabilitation als politische Aufgabe
2.1.6
Frühe Entlassung
Die stationäre Behandlung ist teuer und entfernt die Patienten von zuhause. Sie befinden sich in einer artefiziellen und reizarmen Umgebung und sind während des größten Teils des Tages zur Untätigkeit verurteilt, da ihnen ihre alltäglichen Beschäftigungs- und Trainingsmöglichkeiten fehlen. > Stationär sollten die Patienten behandelt werden, die 4 akut behandlungsbedürftig sind, und/oder 4 ein Therapiesetting benötigen, das nur stationär angeboten werden kann, und/oder 4 das aufgrund fehlender häuslicher Versorgung benötigen.
Für einen Teil der stationär behandelten Patienten wäre durchaus eine teilstationäre oder ambulante Behandlung geeignet, wenn es diese gäbe. Vielfach steht dieser Behandlungsoption noch das Vorurteil gegenüber, man könne sich nur fern von zuhause »erholen«.
sie in ihren sozialen Bezügen und ersparen der Allgemeinheit enorme Kosten. Dafür sollten sie die Anleitung und Betreuung bekommen, die sie benötigen, und finanziell angemessen unterstützt werden. Viele Kliniken stellen sich der Aufgabe der Angehörigenanleitung, haben i.d.R. jedoch keine Möglichkeit, in der Zeit »danach« zu helfen, also dann, wenn die Not am größten ist. Fazit Die Erfahrung zeigt, dass die Bereitschaft zu einem unentgeltlichen Engagement groß ist und die Entsolidarisierung der Gesellschaft bei Weitem nicht so fortgeschritten ist, wie das häufig suggeriert wird. Die meisten Menschen verstehen, dass Hilfe für Schwache nur in einer Solidargemeinschaft möglich ist, und dass diese auf Geben und Nehmen beruht und durch ein finanzielles Polster nicht zu ersetzen ist. Es bedarf allerdings häufig einer Initialzündung, um z.B. eine Selbsthilfegruppe oder einen Pflegeverein ins Laufen zu bringen. Im weiteren Verlauf ist ein Coaching durch Professionelle sinnvoll, um die Aktivitäten zu lenken und zu koordinieren und ein »Einschlafen« zu verhindern.
Fazit Um frühe Entlassungen zu ermöglichen, müssen zunächst ambulante und teilstationäre Alternativen aufgebaut werden. Diese sind oft, aber nicht immer kostengünstiger, in einigen Aspekten aber überlegen und patientenfreundlicher. Das bedeutet auch, dass Vergütungsstrukturen für die Koordination und die Wegekosten geschaffen werden müssen. Das Vergütungssystem muss so beschaffen sein, dass weder überlange stationäre Behandlungen noch »blutige Entlassungen« begünstigt werden.
2.1.7
Förderung des bürgerlichen Engagements
Eine Reihe von Dienstleistungen kann auch von Laien erbracht werden, die, wenn sie sich der Aufgabe stellen, daraus auch Erfüllung und Befriedigung daraus ziehen können. Sie benötigen dazu Anleitung und Anerkennung vonseiten der bezahlten professionellen Helfer. Auch im Hinblick auf zu erwartende wirtschaftlich schwere Zeiten muss dieser Sektor dringend gefördert werden, um nicht mit leeren Händen dazustehen, wenn in Krisenzeiten dem öffentlichen Gesundheitssystem die Mittel (noch mehr) ausgehen. Die Möglichkeiten sind vielfältig: Sie reichen von der Gründung von Selbsthilfegruppen und Vereinen, z.B. für Betreuung oder ambulante Pflege, bis hin zu gemeinnützigen GmbHs, z.B. für die berufliche Wiedereingliederung, je nachdem, in welchem Ausmaß die Beteiligung von Professionellen erforderlich ist, und in welchem Umfang mit Geld umgegangen werden muss. Als Knotenpunkte der Vernetzung eignen sich bestehende Einrichtungen wie Kliniken oder Gemeinschaftspraxen, die das allerdings nicht nur für Gotteslohn leisten können, so interessant die Aufgabe auch ist. Auch die Unterstützung der pflegenden Angehörigen gehört in diesen Bereich. Angehörige bieten den Patienten i.d.R. die Versorgung mit der höchsten Lebensqualität, halten
2.1.8
Vernetzung
Viele Ressourcen werden aufgrund mangelnder Vernetzung vergeudet. Verantwortlich dafür sind 4 die Zersplitterung der Kostenträgerschaft, 4 die undurchlässige Aufteilung in ambulanten und stationären Sektor sowie 4 berufliche Zuständigkeiten. Ein besserer Weg besteht darin, die Stärken und Ressourcen der Nachbarn zu kennen und zu nutzen. Benachbarte Kliniken können z.B. davon profitieren, Logistik und personelle Kapazitäten auszutauschen und sich in Absprache zu spezialisieren. Vernetzung bedarf gegenseitigen Vertrauens und der Knüpfung von Geschäftsbeziehungen anstatt konkurrierender Abgrenzung. »Einzelkämpferpraxen« können ihre Leistungen erheblich verbessern, wenn sie in einem ambulanten Netzwerk interagieren, sich telefonisch und persönlich austauschen und sich Patienten zuweisen. Die verstreuten Einzelpraxen können sich durch die Versorgung vor Ort und ihre bessere Mobilität vorteilhaft einbringen. Größere Zentren wie Kliniken oder Gemeinschaftspraxen können als Knoten im Netzwerk fungieren und ihre aufwändigere Logistik anbieten. Dort können Fort- und Weiterbildung stattfinden und apparative Diagnostik wie Schluckdiagnostik und Bildgebung oder Spezialsprechstunden stattfinden. Multidisziplinäre Teams können ambulant oder teilstationär Therapieblocks von mehreren Disziplinen anbieten. Netzwerkaktivitäten werden leider i.d.R. nicht vergütet und sind somit »Privatvergnügen« engagierter Einzelner. Die Ökonomie der Vernetzung zeigen Praxisnetzwerke im Rahmen der integrierten Versorgung (Wambach et al. 2005) oder vernetzte Aktivitäten zur medizinisch-beruflichen Rehabilitation (z.B. SAV). In beiden Beispielen gibt es auch Kostenregelungen für Netzwerkaktivitäten.
2
28 Kapitel 2 · Neurorehabilitation als politische und Managementaufgabe
2.1.9
2
Berufliche Rehabilitation
Die Erfordernisse der beruflichen Rehabilitation werden von Kreutzer et al. (7 Kap. 30) treffend beschrieben. Stationäre Zentren der beruflichen Rehabilitation haben eine Berechtigung für einen beschränkten Kreis von Rehabilitanten, besonders im Bereich der Berufsfindung und Umschulung. Das Gros der Patienten benötigt jedoch eine ambulante Betreuung durch spezialisierte Therapeuten und Casemanager oder Arbeitsassistenten am Arbeitsplatz. Die Zersplitterung der Kostenträgerschaft erweist sich auch in diesem Bereich als außerordentlich nachteilig: Wenn die Kostenträgerschaft der Krankenkasse endet, entsteht ein Bruch, und die Kontinuität der Behandlung kann erst wieder aufgenommen werden, wenn die Finanzierung der beruflichen Wiedereingliederung geklärt ist. Beispiel Wie man es besser machen kann, zeigen in Deutschland gewerbliche Berufsgenossenschaften und private Unfallversicherer und ihre Dienstleister, weil Heilbehandlung, Rehabilitation und berufliche Wiedereingliederung in einer Hand sind.
holt sind. Dies entbindet die politisch Verantwortlichen – und ihre Wähler – jedoch nicht von ihrer Verpflichtung. Der Autor darf es sich jedoch leicht machen, denn es ist nicht Aufgabe der Probleme, sich an die herrschende Politik anzupassen, sondern umgekehrt. Gesamtgesellschaftliche Aufgaben sind politisch zu lösen. Ein Lied davon singt Barack Obama (2008) und dennoch wagt er zu sagen: »Yes, we can«. Es ist kein Wunder, dass mancher versucht, ihm das Gegenteil zu beweisen. Lösungsversuche allein durch marktwirtschaftliche Konkurrenz sind zum Scheitern verurteilt. Fazit Eine gute rehabilitative Versorgung findet man nicht durch die Orientierung an rein marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten. »Survival of the fittest« bedeutet in diesem Falle leider nicht »survival of the best (practice)«, denn wirtschaftliche Erfolgskriterien sind nicht gleichzusetzen mit inhaltlichen Erfolgskriterien. Die erhofften Einsparungen finden i.d.R. nicht statt, im Gegenteil, der öffentlichen Hand verbleiben die undankbaren und teuren Aufgaben, während Profite privatisiert werden.
2.2 Die Diskrepanz zwischen diesem Wunschkatalog und der bestehenden Rehabilitationsversorgung soll nicht im Detail analysiert werden, da dies den vorgegebenen Rahmen sprengen würde. Mängel sind jedoch offensichtlich (. Übersicht 2.1). . Übersicht 2.1. Mängel der bestehenden Rehabilitationsversorgung 1.
2.
3.
4.
5.
Die ambulante und teilstationäre Versorgung zulasten der stationären Versorgung zu vernachlässigen, ist nicht nur unökomisch, sondern auch ein Nachteil für Patienten, die davon mehr profitieren würden. Patienten aufgrund ihres Versicherungsverhältnisses und nicht aufgrund ihrer Indikation Einrichtungen zuzuweisen, ist unsinnig. Die Zeitdauer für die Rehabilitation im Voraus festzulegen, z.B. die bewährte 3-Wochen-Kur, ist nicht möglich. Die Entscheidung über die Rehabilitationsdauer fällt im Verlauf. Einfache Modelle wie das Phasenmodell der neurologischen Rehabilitation sind hilfreich, dürfen jedoch nicht in ihrer Definitionskraft überdehnt werden. Berufliche und soziale Rehabilitation gehören in aller Regel nicht in die Praxis, die Klinik oder ein »Versorgungswerk«, sondern an den Arbeitsplatz, in die Familie und in das sonstige soziale Umfeld.
Konzeptuell wären die o.g. Punkte rasch ausformuliert, sie müssen aber auch politisch umgesetzt werden. Man muss sich darüber im Klaren sein, wie schwierig die politische Konsensbildung ist, und auch darüber, dass deshalb die einmal gefun-
denen Kompromisse langfristig bestehen bleiben, auch dann, wenn sie sich als untauglich herausgestellt haben oder über-
Rehabilitation als Managementaufgabe
Die Zeiten haben sich gewandelt. In den Anfangszeiten der Neurorehabilitation, die in den deutschsprachigen Ländern nicht sehr weit zurückliegen, war für die Klinikleitungen die Freiheit groß, Neuland zu erobern. Visionäre Persönlichkeiten konnten viel erreichen. Die Freiräume sind eng geworden, und Managementqualitäten sind wichtiger denn je.
2.2.1
Wirtschaftlichkeit
Die Kosten im Gesundheitswesen werden weiterhin steigen, in Anlehnung an die wissenschaftliche Weiterentwicklung ebenso wie an die alternde Gesellschaft. Die Fragen der Steuerzahler und Kostenträger werden immer drängender werden: Bringen die Investitionen wirklich mehr Qualität, und lohnt sich das auch? Wird tatsächlich effizient gearbeitet, oder besteht noch Einsparpotenzial? Die Kostenentwicklung hat für die Kliniken zwei Konsequenzen: 4 Zum einen wird der Kostendruck nach innen nicht abnehmen, sondern weiterhin ansteigen, mit allen Unannehmlichkeiten, die das für Führungsebene und Mitarbeiter haben kann. 4 Zum anderen wird der Rechtfertigungsdruck nach außen immer größer; Kontrollversuche und Verwaltungsaufwand werden weiterhin zunehmen. Um das hohe Niveau in der Rehabilitation halten zu können, müssen sich Führungskräfte sehr intensiv mit den Auswirkungen der ökonomischen Entwicklung auf ihre Betriebe, besonders auf das Betriebsklima, beschäftigen, und sie müssen letzte Effizienzreserven heben, auf die Gefahr hin, dieses
29 2.2 · Rehabilitation als Managementaufgabe
»Tafelsilber« zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr zur Verfügung zu haben. > Wirtschaftliches Handeln darf dabei nicht allein Aufgabe von Geschäftsführung und Controlling sein, sondern muss in allen Unternehmensbereichen als Ziel implementiert und akzeptiert sein (zu den daraus entstehenden Zielkonflikten s.u.).
Wirtschaftlichkeit als Unternehmensziel muss langfristig angelegt sein und mit den übergeordneten Zielen, z.B. der Patientenversorgung, harmonieren. Eine eindimensionale Orientierung von Leistungsanreizen an kurzfristigen Einsparungen oder Gewinnen (Shareholder Value) ist deshalb verfehlt. Fazit Die kognitive Bewertung, die eine breitere Akzeptanz von Wirtschaftlichkeit ermöglicht, könnte lauten: Es geht nicht darum, durch Einsparungen die Qualität zu vermindern, sondern darum, mit den vorhandenen Mitteln durch klugen Umgang mit den Ressourcen die bestmögliche Qualität zu erreichen.
2.2.2
Leadership
Rehabilitation in Einrichtungen erfolgt nicht in einem geschützten Raum, sondern unter den Bedingungen 4 der Ökonomie, 4 der Verwaltung und 4 der Hierarchie.
Da es sich um eine komplexe multidisziplinäre Aufgabe mit sehr variabler Zielsetzung handelt, ist auch ein besonderes Management (Leadership) erforderlich. Die Ziele (s.u.) sind oft schwer zu definieren, teilweise widersprüchlich und schwer messbar. Leadership ist geprägt durch persönliche Eigenschaften der Leader. Wünschenswert sind: 4 Integrität, 4 Inspiration, 4 Leistungsorientierung, 4 Vision und 4 Entschlossenheit. Des Weiteren sind »soft skills« erforderlich, z.B.: 4 Teamorientierung, 4 Partizipation, 4 humane Orientierung, 4 Großzügigkeit und 4 Mitgefühl (Siegrist 2008). Leider decken sich diese Anforderungsprofile nicht immer mit den Kriterien, die bei der Auswahl der Führungskräfte den Ausschlag geben – neben Fachkompetenz sind dies in erster Linie Alphamerkmale wie 4 Durchsetzungsfähigkeit und 4 Inspiration.
Ein Assessment könnte z.B. mit dem Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (BIP) von Hossiep et al. (1998) vorteilhafter arbeiten. Das muss jedoch niemanden, der eine Führungsposition erreicht hat, davon abhalten, einige Aspekte zu berücksichtigen, die helfen, die Position besser auszufüllen. Menschen sind emotionale Wesen; sie haben Gefühle, über die es sich lohnt, nachzudenken (Hüther 2006). Es ist offensichtlich, dass Entwicklung von Visionen und Festlegen von Zielen zu den Führungsaufgaben gehören. Wer darin versagt, notwendige Entscheidungen nicht trifft oder grobe Fehlentscheidungen fällt, ist in der falschen Position. Die »soft skills« sind jedoch nicht weniger wichtig für die Performance einer Mannschaft, denn sie fördern das Betriebsklima, die Motivation und die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter. Auch die Kundenzufriedenheit hängt sehr davon ab, besonders natürlich in einem Dienstleistungsbetrieb mit ständigem Kundenkontakt wie einer Klinik. > Der Leader, dem es gut gelingt, Ziele zu setzen, diese auch zu erreichen, etwas zu leisten und dafür Anerkennung zu bekommen, der erreicht auch das Gefühl der Selbstwirksamkeit (»self efficacy«). Er wird dadurch mutiger, zupackender und inspiriert seine Mitarbeiter. Vorgesetzte sollten mit ihrem unmittelbaren Verhalten punkten, anstatt sich hinter ihren Führungsmodellen und -tools zu verschanzen!
Andererseits geht es darum, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, sich nicht an jeder Kleinigkeit festzubeißen und alles selbst entscheiden zu wollen. Verantwortung zu übernehmen heißt auch, Verantwortung zu delegieren. Mitarbeiter benötigen Freiräume, um anders denken, fühlen, handeln und entscheiden zu können. Es gibt selten nur eine Wahrheit und einen einzigen Weg zum Ziel. Am wenigsten werden Inkonsequenz und Unaufrichtigkeit geschätzt. Reputation und Integrität, die man einer Führungsperson zuschreibt, hängen sehr stark von ihrer aufrichtigen Kommunikation ab. Fazit Im Kontext der Rehabilitation ist die Fähigkeit, ein Team aufzubauen und zu führen, ganz entscheidend.
2.2.3
Team
Eine Klinik, die effektiv therapieren will, benötigt ein wirksames therapeutisches Milieu und das wiederum muss im Leitbild und in der Klinikkultur solide verankert sein. Das wichtigste Instrument in der Rehabilitation ist ein gutes und erfahrenes Team. Für geläufige rehabilitative Fragestellungen gibt es Behandlungsroutinen, die sich leicht vermitteln lassen, aber nicht jeder Patient kann mit einer Standarddiagnose aufwarten, und häufig ist ein angepasstes und interdisziplinär abgestimmtes Vorgehen erforderlich (7 Kap. 8).
2
30 Kapitel 2 · Neurorehabilitation als politische und Managementaufgabe
2
Das Team lässt sich nicht einfach durch Einstellung von erfahrenen Ärzten und Therapeuten zusammenkaufen, denn das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Nicht jeder Neuzugang ist auch gleich ein kompetenter Therapeut, auch wenn er/sie gute Zeugnisse mitbringt. Sowohl die Fachkenntnisse als auch der menschliche Umgang mit den Patienten müssen entwickelt werden. Dafür gibt es kein Standardcurriculum (auch wenn es hilfreich ist, für die Fachbereiche solche Curricula und Lernziele zu entwerfen); sie werden durch Erfahrung gelernt, von erfahrenen Peers innerhalb der Fachbereiche tradiert und in zahlreichen informellen und formellen Intervisionen vermittelt. Komplexer noch sind die vielfältigen Verflechtungen der interdisziplinären Zusammenarbeit, die als Insiderwissen von den Erfahrenen an die Neulinge weitergegeben werden, und die das Team ausmachen. Die Regeln dieses Systems sind so zahlreich, dass es kaum gelingt, sie detailliert in Schriftform aufzulisten; sie ändern sich auch mit dem Wachstum und der »Reife« eines Teams. Für manche Mitarbeiter gelten abweichende Regeln, z.B. in Abhängigkeit von ihrer Kompetenz. Diese als Dienstanweisungen formulieren zu wollen, wäre eine Sisyphusarbeit und würde mehr verwirren als klären. Es gibt jedoch Grundregeln, die das Entstehen eines funktionierenden Teams fördern, und diese müssen von der Leitung beherrscht, kommuniziert und gepflegt werden. Ebenso wie die Patienten in ihren Stärken – vor allem diesen! – und ihren Schwächen Anerkennung benötigen, benötigen die Therapeuten in ihren Stärken und ihren Schwächen – vor allem diesen! – Unterstützung. Sie benötigen Freiräume, um ihren Weg zu finden, Orientierung und wohlwollendes Interesse. Alles andere führt in leere Routine und im Laufe der Zeit in die innere Emigration. > Die Regeln werden am besten im Rahmen häufiger, aber kurzer Organisationsbesprechungen und v.a. themenzentriert im Rahmen der Patientenbesprechungen kommuniziert und eingeübt. Förderliche Haltungen sind: 4 Aufrichtigkeit, 4 Interesse, 4 Transparenz, 4 Fehlertoleranz und 4 Kritikfähigkeit.
2.2.4
Ziele
Um den Mitarbeitern Orientierung zu bieten, ist ein Leitbild erforderlich, das die Unternehmensziele klar formuliert. Die Ziele sind teilweise hierarchisch aufgebaut (. Übersicht 2.2), z.B. hat die Sicherheit der medizinischen Versorgung einen hohen Stellenwert, die Wirtschaftlichkeit möglicherweise ebenfalls, und sie können sowohl um die Zeit der Mitarbeiter als auch um finanzielle oder andere Ressourcen konkurrieren. Es ist nicht möglich, die Ziele für alle Eventualitäten auszuformulieren, auch wenn es sinnvoll ist, für Standardaufgaben Pathways zu formulieren. Es ist aber auch nicht sinnvoll, den
Mitarbeitern das Nachdenken über ihre Aufgaben abzunehmen. Allerdings ist es außerordentlich wichtig, mit ihnen über ihre Aufgabenerfüllung zu sprechen und sich ihre Lösungswege anzuhören. Zielerfüllung funktioniert in vielen Fällen nur als Gemeinschaftsaufgabe – wie z.B. beim wirtschaftlichen Handeln. ! Cave Es ist daher nicht zu empfehlen, eine strikte Aufgabenteilung vorzunehmen! Beispiel Strikte Aufgabenteilungen können folgendermaßen aussehen: 4 Der Geschäftsführer soll sich um die Einhaltung des Budgets kümmern, während der Chefarzt die Patientenversorgung sicherstellen soll. 4 Eine Therapieleitung soll alle organisatorischen Probleme lösen, und die Therapeuten sollen unbehelligt von solchen »Äußerlichkeiten« nur therapieren.
Der Effekt ist der, dass man sich angenehmen Aufgaben widmet, unangenehme Dinge oder die Schuld am Versagen jedoch delegiert. In den Augen der Mitarbeiter verwandelt sich die Leitung in eine mehrköpfige Hydra, deren Köpfe mit der Fähigkeit zum Nachwachsen begabt sind, und der man die Schuld für alles anlasten kann, was nicht funktioniert. > Ein gut funktionierendes Team kann mit geteilten Kompetenzen gute Arbeit leisten und Aufgaben flexibler und rascher lösen. Bewährt hat sich dabei der Leitsatz: Wenn nicht klar ist, wer zuständig ist, dann bist Du zuständig!
. Übersicht 2.2. Zielekatalog – gewichtet nach Priorität 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Sicherheit der Patientenversorgung im ärztlichen Zuständigkeitsbereich Sicherheit der pflegerischen Patientenversorgung Qualitativ und quantitativ hochwertige therapeutische Versorgung Mitarbeiterzufriedenheit Patienten- und Angehörigenzufriedenheit Qualität des Patientenservice Wirtschaftlichkeit Pflege der Außenkontakte – Zulieferer, Politik etc. Ökologisches Handeln
Über die Auswahl und Reihung der Ziele lässt sich trefflich streiten. Wichtig ist es dem Autor, darzustellen, dass bestimmte Ziele erfüllt sein müssen, bevor andere zum Zuge kommen. Die Sicherstellung der medizinischen Versorgung z.B. ist unabdingbar notwendig, um nicht Leben und Gesundheit der Patienten aufs Spiel zu setzen und sich der Gefahr der juristischen Verfolgung auszusetzen. Erst danach können sich Ärzte und Pflegepersonal um die sonstigen leiblichen Bedürfnisse
31 2.2 · Rehabilitation als Managementaufgabe
der Patienten kümmern – im Zusammenspiel der beiden Berufsgruppen eine Selbstverständlichkeit. Eine Klinik muss all diesen Zielen nachgehen, keines davon darf gänzlich vernachlässigt werden. Es ist jedoch nicht möglich, alle Ziele gleichzeitig zu verfolgen. Die Entscheidungsbäume sind dichotom – mit anderen Gewichtungen lässt sich schlechter umgehen (Gigerenzer 2007). Ziele müssen daher sequenziell abgearbeitet werden, um schließlich – jedes im richtigen Maß – in der Alltagsroutine widergespiegelt zu werden.
Die Mitarbeiter sollten genügend Vertrauen haben, um auch über Misserfolge und Fehler offen sprechen zu können – über die eigenen und über die der Leitung – um daraus zu lernen. Ein Verlust an Autorität ist daraus nicht zu befürchten, sofern es sich um echte Autorität handelt, die nicht auf Machtausübung, sondern auf Reputation und Anerkennung beruht. Informationen können auf verschiedenen Wegen kommuniziert werden: 4 mündlich, 4 schriftlich oder 4 per E-Mail-Verteiler.
Beispiel Es macht wenig Sinn, in einer Notfallsituation eine Diskussion über den Preis des Verbrauchsmaterials vom Zaun zu brechen, das im Abfall landet.
Ein Kostenbewusstsein sollte dennoch im Hinterkopf etabliert sein, z.B. indem Preislisten für Medikamente, Verbrauchsmaterial und apparative Leistungen allgemein zugänglich gemacht werden und patientenbezogene Ausgaben periodisch denjenigen mitgeteilt werden, die sie beeinflussen können. Glücklicherweise stehen die Ziele einer Klinik nicht nur in Konkurrenz zueinander, z.B. in Konkurrenz um Arbeitszeit und Geld, sondern sie können sich gegenseitig unterstützen: Erfolge in der Patientenversorgung gehören zu den stärksten Motivatoren und erzeugen Mitarbeiter- und Patientenzufriedenheit. Zufriedene Mitarbeiter sind leistungsstark und unabhängiger von Motivatoren wie Einkommen und Statussymbolen (der beste Parkplatz, das schönste Zimmer, die beste Ausstattung). Die Außenkontakte verbessern sich automatisch, wenn die Mundpropaganda der Patienten und Angehörigen die Klinik in einem guten Licht darstellt – nur die Konkurrenz wird weniger zufrieden sein.
2.2.5
Kommunikation
Menschliche Beziehungen, auch in einer Klinik, leben von der Kommunikation: 4 Von der Leitung wird erwartet, klare und erfüllbare Vorgaben zu machen und deren Erfüllung zur Kenntnis zu nehmen. Arroganz und Gesichtswahrerqualitäten werden nicht geschätzt. 4 Für die Mitarbeiter ist es wichtig, dass ihre Rückmeldungen gehört und ihre fachlichen Kommentare gewürdigt werden. Der Wissensschatz einer Klinik ist auf viele Köpfe verteilt, und die Verteilung kann nur gleichmäßiger gestaltet werden, wenn man dieses Wissen interdisziplinär teilt und von oben nach unten und umgekehrt weiterreicht. Die notwendige Haltung dazu ist 4 wohlwollendes Interesse, 4 aktives Zugehen auf die Mitarbeiter und 4 Fehlertoleranz im richtigen Ausmaß.
Besonders mündliche Informationen sind offen für Interpretationen. Das kann zu Entstellungen und Missverständnissen führen, aber auch zu sinnvollen Anpassungen, wenn Anweisungen, die an und für sich nicht durchführbar wären, »sinngemäß« an den Kontext angepasst werden (Sennett 2007). Der Wille des »Gesetzgebers« wird besser erfüllt, wenn im Sinne des »Gesetzes« und nicht nach seinen Buchstaben entschieden wird. E-Mails oder Dienstanweisungen, die an alle Mitarbeiter gleichzeitig gehen, erlauben solche Interpretationen nicht. Wenn sie falsch sind, dann sind sie falsch.
2.2.6
Motivation
Eigentlich sollte die Motivation der Mitarbeiter in einer Rehabilitionsklinik kein Thema sein, denn im Vergleich zu den meisten anderen Tätigkeitsbereichen bietet die tägliche Routine ein Höchstmaß an intrinsischer Motivation. Die Patienten erleben den Klinikaufenthalt als hochgradig sinnvoll und geben diesen Eindruck häufig und gerne an Therapeuten, ärztliches und Pflegepersonal weiter. Erstaunlicherweise trifft man dennoch in vielen Kliniken auf einen hohen Prozentsatz von demotivierten und ausgebrannten Mitarbeitern. Der Gallup Engagement Index (2008) stellt für Deutschland fest, dass 67% der Mitarbeiter emotional nur wenig an das Unternehmen gebunden sind, 20% haben innerlich schon gekündigt, und lediglich 13% empfinden eine echte Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen. (Der Autor möchte annehmen, dass die Zahlen in seiner Klinik besser ausgefallen wären.) Es gibt in der Neurorehabilitation spezifische demotivierende Faktoren, mit denen alle Klinikmitarbeiter umgehen müssen (. Übersicht 2.3). . Übersicht 2.3. Demotivierende Faktoren für Klinikangestellte 1. 2. 3. 4.
Verknappung der Ressourcen/Qualitätsrückgang Subjektive Überforderung/schlechte Bezahlung Mangelnde Aufstiegschancen Fehlende Anerkennung
jVerknappung der Ressourcen/Qualitätsrückgang In den letzten 15 Jahren hat sich im öffentlichen Bewusstsein wie auch im Selbstverständnis vieler Klinikmitarbeiter der
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32 Kapitel 2 · Neurorehabilitation als politische und Managementaufgabe
2
Eindruck der Verknappung der Ressourcen im Gesundheitswesen und eines damit einhergehenden Qualitätsrückgangs der Patientenversorgung tief verankert. Die Mitarbeiter erleben konkret einen schleichenden Personalabbau und infolge eine Leistungsverdichtung und den Verzicht auf Tätigkeiten, die als entbehrlicher, gelegentlich jedoch als »menschlich wertvoller« eingeschätzt werden, z.B. die Zeit, die man sich für Gespräche mit Patienten und den Austausch unter Mitarbeitern nimmt. Damit verbindet sich eine allmähliche Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen und das Gefühl, den einzelnen Patienten weniger Leistungen anbieten zu können als früher, während gleichzeitig mehr Patienten »durchgeschleust« werden. Obwohl objektiv die Patientenversorgung in der Rehabilitation um Klassen besser ist als z.B. vor 30 Jahren, ist der subjektive Eindruck ein ganz anderer. Mit dieser Entwicklung haben viele Mitarbeiter Probleme. Praxistipp Eine kognitive Umstrukturierung würde helfen. Nicht die Veränderung zum Vorjahr ist der Qualitätsmaßstab, sondern die Effizienz im Einsatz der vorhandenen Ressourcen. Für »höhere Mächte« kann man nichts. Der Bauer sollte sich keine persönlichen Vorwürfe machen, wenn ihm der Hagel die Ernte vernichtet hat.
jMangelnde Aufstiegschancen In einem modernen Unternehmen sollten Hierarchien flach sein, und die Mitarbeiter sollten Chancen haben, sich zu engagieren und aufzusteigen. Im Klinikbereich sind solchen Bestrebungen leider enge Grenzen gesetzt. Schon die Berufsausbildung sortiert die Mitarbeiter in Schubladen, innerhalb derer nur geringe Bewegungsmöglichkeiten existieren. In den therapeutischen Disziplinen kann meist nur ein Therapeut in Leitungsposition aufsteigen, und auch im Pflege- und ärztlichen Dienst sind die Beförderungsmöglichkeiten meist sehr begrenzt. > Aufstiegschancen im klassischen Sinne müssen ersetzt werden durch 4 den Erwerb von Verantwortung, 4 die darauf beruhende Reputation und 4 eine interessantere Tätigkeitsstruktur.
Die Mitarbeiter sollten vermittelt bekommen, dass ihr Mitdenken erwünscht ist, dass es ihnen möglich ist, eigene Projekte vorzuschlagen und durchzuführen, und dass sie von dem Gelingen ihrer Projekte auch persönlich profitieren können. Möglichkeiten dafür gibt es viele – diese reichen von der Ablauforganisation bei der Dokumentation über kleine EDVProjekte, Fortbildungsaktivitäten und Supervision bis hin zur Entwicklung neuer therapeutischer Ideen wie störungsspezifischer Gruppen. Praxistipp
jSubjektive Überforderung/schlechte Bezahlung Ein häufiges Denkmuster von im Sozialbereich Beschäftigten ist ein falsch verstandenes altruistisches Denken nach dem Muster »Wir tun unser Bestes für die Patienten«, wie es sich häufig in Klinikleitbildern widerfindet. Besonders giftig wird diese Idee im Kontext einer lange andauernden subjektiven Überforderung und schlechter Bezahlung, wie sie in vielen Berufsgruppen in der Klinik Realität sind – ein Königsweg in den Burn-out. Praxistipp Um im Klinikbereich Leistung zu bringen, ist es nicht erforderlich, sich für die Patienten aufzuopfern. Es genügt völlig, die eigene Leistungsfähigkeit zu entwickeln, sich in der Arbeit zu spüren und auf das Leuchten im Auge der Patienten zu achten.
Die Befriedigung entsteht auch dann, wenn etwas bewirkt wurde, was der Patient noch nicht positiv wahrnimmt, wofür er noch nicht dankbar sein kann, von dem man aber weiß, dass es ohne Bemühen von ärztlicher/therapeutischer Seite nicht zustande gekommen wäre. Diese handwerklich orientierte Arbeitseinstellung muss im Kollektiv verbalisiert und gefördert werden, dann entsteht daraus eine kontinuierlich verfügbare und sehr wirksame Kraftquelle und Motivation.
Wichtig ist es, diese Aktivitäten im Kontext der Unternehmensziele wahrzunehmen, zu dulden und zu fördern sowie in den organisatorischen Kontext einzubauen. Sind kleine finanzielle Boni möglich, sollten diese zeitnah ausgezahlt werden. Mündliche und authentische Anerkennung ist jedoch nahezu ebenso wirksam, wo Boni nicht möglich sind.
jFehlende Anerkennung Für Angestellte im Klinikbereich wird sich wohl auch in Zukunft das Einkommen nicht als herausragende Motivation eignen. Im öffentlichen Bewusstsein arbeiten sie im Bereich der »Soziallasten« zum Schaden der Ökonomie, denn die Herstellung von Computerspielen gilt als nützlicher als die Herstellung von Gesundheit, und überproportionale Gehaltssteigerungen sind schon deshalb nicht zu erwarten. Punktuelle, rasche und verdiente kleine Boni für besondere Leistungen wirken umso besser. Wenn diese erst mit 6 Monaten Verspätung und nach langen Diskussionen und Vergleichsberechnungen ausgeschüttet werden können, sollte man sie besser unterlassen. Corporate Social Responsibility (CSR) ist in vielen Unternehmen ein bloßes Schlagwort zur Kaschierung der Realität (Wieser 2005). In einer Rehaklinik lässt sich dagegen leicht darstellen, dass ethisches Handeln vorherrscht und Werte für die Gesellschaft geschaffen werden. CSR lässt sich als verbindendes Unternehmensziel benennen und ausbauen.
33 2.2 · Rehabilitation als Managementaufgabe
Praxistipp
Praxistipp
Die Motivation aufgrund von Mitarbeiterbindung und -entwicklung ist sozusagen kostenlos zu haben. Dazu bedarf es eigentlich nur der wohlwollenden Aufmerksamkeit der Vorgesetzten, die positive Entwicklungen bemerken und verbalisieren.
Hinweise, z.B. aus Dankesschreiben von Patienten und Angehörigen oder Presseberichten, sollten entsprechend publiziert werden, um zur Nachahmung anzuregen.
2.2.7
Qualität
Lob und Anerkennung sollten zwei Dinge im Auge haben:
4 die unmittelbare, erkennbare Leistung und 4 die Dauerhaftigkeit dieser Leistung (Scheitler 2005). Der zweite Aspekt betont die persönlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen eines Mitarbeiters und zeigt daher »die richtige Richtung«. Die meisten Mitarbeiter reagieren auf positive Aufmerksamkeit allmählich mit Eigeninitiave, unterbreiten eigene Vorschläge und vertiefen ihre Kenntnisse, wenn sie dazu ermuntert werden. Um keine Rivalitäten aufkommen zu lassen, muss die Förderung und Zuwendung transparent geschehen und sich an den publizierten Unternehmenszielen orientieren. > Geld allein bindet nicht, ein Gehalt ist rasch zu überbieten. Es ist dagegen sehr schwer, die Qualität einer umsichtigen Führung zu überbieten. Wer nicht lobt, wird auch nicht geliebt, und wo keine Liebe ist, ist auch keine wirkliche Bindung. Praxistipp Skeptiker unter den Vorgesetzten, die sich überlastet fühlen und keine Zeit für ihre Mitarbeiter haben, seien an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es langfristig außerordentlich effektiv und zeitsparend ist, wenn der Chef offene Türen hat, immer wieder aktiv und interessiert auf seine Mitarbeiter zugeht und sie motiviert.
Die Einsparung resultiert daraus, dass oppositionelles Trotzverhalten, interdisziplinäre Streitereien und Prinzipienreiterei immer weniger werden und organisatorische Eingriffe und Besprechungen weniger Raum einnehmen – ganz abgesehen davon, dass der Chef »seinen Laden« besser kennenlernt und selbst bessere Arbeit leisten kann. Beachtung verdient auch die Motivation durch die Reputation
4 einzelner Mitarbeiter, 4 einzelner Berufsgruppen und 4 des Gesamtunternehmens im eigenen Bewusstsein wie in der Öffentlichkeit und am Markt (CSR). Die Reputation bekommt man nicht geschenkt, aber zarte Pflänzchen können durch entsprechende Pflege wachsen.
Die Qualität der Neurorehabilitation bemisst sich an der Erreichung all der o.g. Ziele bzw. jenen Zielen, die eine Einrichtung formuliert, d.h. am wirschaftlichen, mitarbeiter- und prozessorientierten Outcome, und nicht allein am Patientenoutcome. Daher sollten für alle Bereiche wie z.B. Prozessabläufe, Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit immer wieder Nahziele formuliert werden (7 Kap. 43). Die angepeilte Qualität muss die vorhandenen Ressourcen einschränkend berücksichtigen. Für Außenstehende mag es Sinn machen, Äpfel mit Birnen zu vergleichen (Klinik A ist besser, da gehe ich hin; Klinik B ist zu teuer, die belegen wir nicht), betriebsintern sind jedoch die eigene Entwicklung und die eigenen Möglichkeiten meist bedeutsamer als der Vergleich mit Konkurrenzbetrieben – auch wenn ein Benchmarking hin und wieder erforderlich ist. Viele Daten werden durch Controlling und Wirtschaftsabteilung erhoben, in anderen Bereichen dürfte es genügen, in Abständen einen angepassten Fragenkatalog gemeinsam durchzugehen, um sich ein Bild über den Stand der Dinge zu machen und das Bewusstsein für die Problematik wieder zu schärfen. Die Probleme sind oft sehr wohl bekannt, der Fokus muss aber auf deren Veränderungen (erreichte wie geplante) gerichtet werden. Für eine Checkliste sollten die Ziele gut formuliert, d.h. konkret, erreichbar und messbar sein. Die Beschreibung eines Qualitätsziels beschreibt den Ist- und den Soll-Zustand. Standardisierte Instrumente, z.B. für eine Zertifizierung, sind naturgemäß allgemein formuliert und werden erst dann aussagekräftig, wenn sie arbeitsintensiv für die Situation eines Betriebs adaptiert werden. Sie binden deshalb oft mehr Energie als sie freisetzen und sind aufgrund des hohen Aufwands nur in größeren Abständen anwendbar, haben aber den Vorteil, dass sie ein Benchmarking ermöglichen (7 Kap. 43). Fazit Wenn das Management alles richtig gemacht hat, sollten nach einigen Jahren der Anpassung die Mitarbeiter mit ihrer Arbeit zufrieden sein, und die Patienten und ihre Angehörigen ebenfalls. Rückschläge sind möglich. Eine Atmosphäre der Kontrolle und des Misstrauens kann rasch das Gegenteil bewirken, die Mitarbeiter in Verschlossenheit, Scheinheiligkeit und innere Emigration treiben und das therapeutische Milieu schleichend vergiften. Diese Zeichen sollte man richtig deuten. Verantwortungsbewusstsein zeigt sich darin, wie stark sich jemand der Folgen dessen, was er tut, bewusst ist – und auch dessen, was er nicht tut (Mühleisen und Oberhuber 2005).
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34 Kapitel 2 · Neurorehabilitation als politische und Managementaufgabe
2.3
2
Literatur
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3
Historische Perspektiven der Neurorehabilitation P. Frommelt 3.1
Von der frühen Geschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts – 36
3.1.1 Wasser, Massagen, Strom – 38 3.1.2 Übungs- und Mechanotherapie – 40 3.1.3 Aphasien und deren Behandlung – 42
3.2
Die Krüppelfürsorge zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Vorläufer einer systematischen Rehabilitation – 44
3.3
Der 1. Weltkrieg und der Aufbau von Hirnverletzten-Lazaretten – 44
3.4
Der 2. Weltkrieg und die Arbeit von Alexander Luria (1902–1977) – 50
3.5
Die Nachkriegzeit seit 1945 und gegenwärtige Strömungen
3.6
Entwicklungen der letzten Jahrzehnte
– 52
3.6.1 Holistische neuropsychologische Rehabilitation – 52 3.6.2 Einführung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) – 52 3.6.3 Narrative und qualitative Ansätze in der Neurorehabilitation – 52 3.6.4 Neurobiologische Untersuchungen zur Plastizität des zentralen Nervensystems – 52
3.7
Schlussbemerkung
3.8
Literatur
– 53
– 53
– 50
36 Kapitel 3 · Historische Perspektiven der Neurorehabilitation
3
Die Geschichte der Neurorehabilitation als eigenständiger Bereich der Medizin ist etwa 100 Jahre alt. Eine umfassende medizinische und psychologische Rehabilitation für hirnverletzte Soldaten wurde noch im 1. Weltkrieg aufgebaut. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den mentalen Folgen der Hirnverletzungen wurde damals als Hirnpathologie bezeichnet, sie ist die Vorgängerin der heutigen Neuropsychologie oder kognitiven Neurologie. Die Zeit bis 1933 war wissenschaftlich sehr produktiv: Otfrid Foerster schrieb seine monumental-detailbessessenen Handbuchbeiträge zur Motorik, Kurt Goldstein das eher philosophische Grundlagenwerk einer holistischen Neurorehabilitation, »Der Organismus«. Nach dem 2. Weltkrieg wurde erst in den 60er Jahren das Werk des russischen Neurologen und Psychologen Alexander Luria rezipiert. Luria brachte nicht nur das Konzept einer kulturell-historisch geprägten Hirnfunktion in die Diskussion, sondern er öffnete das Fach auch hin zu einer narrativen »romantischen Wissenschaft«. In den letzten Jahrzehnten haben die experimentellen und bildgebenden Verfahren neue Einsichten in die Plastizität des ZNS gebracht. Die gesamte medizinische Rehabilitation erhielt mit der Einführung der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit und Gesundheit) erstmals ein international anerkanntes Konzept und eine eigenständige Nomenklatur. Eine umfassende Geschichte der Neurorehabilitation ist noch zu schreiben. In diesem Kapitel geht es darum, einige historische Wurzeln der heutigen Praxis darzustellen. Als eigenständiges Fachgebiet ist die Neurorehabilitation etwa 100 Jahre alt, verglichen mit anderen medizinischen Fächern also recht jung. Man kann die Geschichte der Neurorehabilitation wie eine Art Firmengeschichte erzählen, in der sich durch prägende Figuren aus kleinen Anfängen ein großer Betrieb entwickelt. Das wäre eine Geschichte der »Großen Nervenärzte«, wie die Biographiensammlung von Kolle (1956) heißt. In der Neurorehabilitation gibt es historisch bedeutende Persönlichkeiten wie Kurt Goldstein oder Alexander Luria, deren Wirkungsgeschichte allerdings eher durch Vergessen und Wiederentdeckung zu charakterisieren ist. Historisch ist die Neurorehabilitation auch nicht als Ideengeschichte zu verstehen, in der sich sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt bessere Ideen und wissenschaftliche Fortschritte entwickeln. Die Dinge sind verwobener. Losgelöst vom historischen und ökonomischen Kontext und ohne den jeweilig herrschenden »Zeitgeist« kann man das Fach nicht verstehen. Man darf nicht vergessen, dass die Ursprünge der Neurorehabilitation ein Nebenprodukt von Kriegen sind. Die institutionelle und konzeptuelle Entwicklung ist nicht geradlinig; sie ist lokal geprägt, und es gibt deutliche Unterschiede in den Systemen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die historische und aktuelle politisch-ökonomische Gründe haben. Auch die Entwicklung der Berufsgruppen in der Neurorehabilitation hat ihre eigene Geschichte, die mit berufspolitischer Taktik und Einflussnahme sowie Bedarfsdeckung zu tun hat und weniger mit inhaltlichen Konzepten (Gritzer u. Arluke 1985).
3.1
Von der frühen Geschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
Der Begriff Rehabilitation geht auf das lateinische Adjektiv »habilis« zurück, das fähig oder geschickt bedeutet. Rehabilitation hat eine doppelte Wortbedeutung: 4 Im medizinischen Sinn ist die Wiederherstellung von Funktionen und Fähigkeiten gemeint. 4 Im juristischen Sinn ist die Zurücknahme von fehlerhaften Urteilen und die Rückgabe entzogener Rechte beinhaltet. Auch der moderne Begriff der medizinischen Rehabilitation enthält diese zweite Bedeutung. Es geht nach heutigem Verständnis darum, wieder zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu befähigen. jRückblick in die Medizingeschichte kBronzezeitalter Homers Texte geben einen Einblick in das Leben des Bronzezeitalters im Mittelmeerraum um 1400–1200 v.Chr. Es gab wahrscheinlich noch keine Vorstellung von der Funktion des Gehirns – wohl aber des Geistes. Encephalon meinte einfach den Inhalt des Schädels. Die Psyche hatte damit nach damaligem Verständnis nichts zu tun. Homer berichtet in der Ilias über 114 verschiedene Verletzungen. Darunter finden sich Schilderungen wie Eumelus im Kampf seine Sprache einbüßte und wie Teucer, vom Pfeil getroffen, eine Nervenlähmung erlitt (Walshe 1997). kAntike Die griechische Antike war eine Welt der Gesunden und Starken. Es ging um eine Balance zwischen Körper und Seele, um Schönheit und Harmonie. Dieses Bild wird durch Krankheiten und schlimmer noch, durch Behinderung, Verkrüppelung oder Schwächlichkeit gestört (Sigerist 1944). Der Arzt bot seine Hilfe an. Wer zu schwach war, ging zugrunde. Mitleid mit dem Schwachen gehörte nicht zur Kultur. Die Bedeutung der griechischen Medizin besteht, wie es der Medizinhistoriker Sigerist formulierte, darin:
» Die Griechen haben die beiden größten Entdeckungen in der Geschichte der Medizin gemacht: nämlich, dass Krankheit ein natürlicher Vorgang ist und sich nicht von anderen physiologischen Vorgängen unterscheidet, und dass ferner dem menschlichen Körper eine natürliche Heilkraft angeboren ist, mit deren Hilfe er Verletzungen überwinden und das verlorene Gleichgewicht seiner Gesundheit wieder herstellen kann. (Sigerist 1954)
«
Bei Hippokrates gibt es ein eigenes Buch »Über Kopfwunden« mit einer genauen Schilderung der Wunden und deren Behandlung (Sigerist 1963). Eine organisierte Versorgung von Menschen mit Behinderungen gab es nicht. Sie waren auf familiäre Unterstützung angewiesen. Allerdings gab es in der Nachantike ein breites Therapiespektrum, so für die Behandlung von Lähmungen
37 3.1 · Von der frühen Geschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
(Creutz 1966). Meist begann die Behandlung mit einem Aderlass; daran schlossen sich physikalische Therapien wie Bäder, Massagen, Wärmepackungen mit heißem Meersand, Senfpflaster und diätische Maßnahmen an. Die Schriften des Arztes Soranus von Ephesus (1.–2. Jhdt. n.Chr.) sind durch den etwa 200 Jahre später lebenden Arzt Caelius Aurelianus überliefert. Bei ihm ist schon eine Einteilung in schlaffe und spastische Lähmungen zu finden. Neben der lokalen Behandlung mit Pflastern aus Wachs und Öl schildert er detailliert das Vorgehen bei Lähmungen:
»
Gelähmte Finger werden einzeln bewegt, nachdem man sie mit Wachs und den oben erwähnten Umschlägen erweicht hat. Ist die ganze Hand gelähmt, so braucht man bleierne Hanteln, an deren ihren Kräften angepasstem Gewicht sich die Kranken kräftig üben müssen. Wenn die Beine gelähmt sind, bringe man die Kranken dazu, dass sie aus eigenem Antrieb Streck- und Beugeübungen machen, aber mit der besonderen Weisung, dass sie nicht nur an sich passive Bewegungen machen lassen, sondern sich auch fest auf ihre Beine zu stützen bemühen. Dabei sind folgende Kunstgriffe zu beobachten. Wenn der Kranke liegt, ist an dem Bein eine Binde zu befestigen, von der ein Zipfel über eine darüber aufgehängte Rolle geführt wird. Jetzt wird von einem Gehilfen oder dem Kranken die Bewegung demonstriert, die bei angezogener Binde das Bein hebt, bei nachlassender senkt. (Creutz 1966)
. Abb. 3.1. Aus dem Manuskript »De generatione embryonis« von Ibn Sina (Avicenna). An der Schädelkalotte von rechts nach links. Die Hirnventrikel sind bezeichnete »sensus communis« (gesunder Menschenverstand), »fantasia« (Einbildungskraft), »imaginativa« (Vorstellungskraft) und »cogitativa seu estimativa« (Denken und Einschätzen) (aus Sudhoff 1913)
«
Die ersten Stehversuche soll der Patient aus einem Barbiersessel (»Sella tonsoria«) heraus unternehmen, dann mit einer Art Gehwägelchen üben. Um die Gangsicherheit zu üben, soll der Patient auf unebenen Boden ausgelegte Hölzer und künstliche Gräben überschreiten. Es gibt auch Anweisungen zur Behandlung der Sprachlähmungen. Der Patient solle sich zunächst das Wort, nach dem er suche, lebendig vorstellen, damit es aus der Tiefe hervorkomme. Auch die Schluckstörungen nach einem Schlaganfall wurden erkannt und behandelt. Aretaios von Kappadokien, der wohl im 2.–3. Jhdt. n.Chr. lebte, beschreibt den fehlenden Schluss der Epiglottis und empfiehlt, mit einer langen Röhre Honigtrank oder Saft über die Luftröhre hinweg in den Schlund hinabzusetzen. kOrientalische Medizin Bei diesem eurozentrischen Blick in die Medizingeschichte darf die außereuropäische, besonders die orientalische Medizingeschichte nicht außer Betracht gelassen werden. In einem Hauptwerk der ayurvedischen Medizin, dem Werk des Arztes Sushrutha, der Sushruta Samhita (350 n.Chr.), findet man als neurologische Krankheiten unter anderem die Hemiplegie, Epilepsie, Ischias und Geisteskrankheiten. Der Kopf wird als das Zentrum aller Sinne aufgefasst, und es werden zehn Hirnnerven beschrieben, die für die Sinne, Hören und Berührung zuständig sind. Die indischen chirurgischen Techniken waren so weit entwickelt, dass die Chirurgen der Ostindischen Kompanie im 18. Jahrhundert von den Indern die Technik der Rhinoplastik (Nasenoperation) lernten (Basham 2000).
Die arabische Medizin griff auf die Übersetzungen der medizinischen Schriften aus dem Sanskrit zurück und entwickelte die Medizin wissenschaftlich viel weiter als die noch immer Galen anhängende Medizin des Mittelalters. Einer der großen orientalischen Ärzte war der aus Persien stammende Abu Ali Sina (Avicenna, 980–1037). Er schrieb 156 Werke, teils persisch, teils arabisch. Das Hauptwerk mit dem deutschen Titel »Gesetze der Heilkunst« (Canon Medicinae) war die große Enzyklopädie der Medizin; sie war systematisch und didaktisch aufgebaut und gehörte bis in 17. Jahrhundert zu den Lehrbüchern europäischer Universitäten (Sournia 1986) (. Abb. 3.1). kMittelalter bis 18./19. Jahrhundert In Europa gab es seit dem Mittelalter eine Trennung zwischen äußeren und inneren Erkrankungen. Für die inneren war der Arzt, für die äußeren der Chirurg-Barbier zuständig. Daher durfte auch nur der Arzt Medikamente zur oralen Einnahme verschreiben. > Das Symbol des europäischen Arztes im Mittelalter war das Uringlas.
Man glaubte, der Urin entstehe aus einer Mischung der vier Körpersäfte: Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle. Zur Beurteilung gehörten 4 die Farbe, wobei bis zu 20 Farbtöne unterschieden wurden, 4 die Konzentration des Urins in 5 Stufen (je trockener die Säfte, desto weniger konzentriert der Urin), 4 der Geschmack (süß/sauer) und 4 das Sediment.
3
38 Kapitel 3 · Historische Perspektiven der Neurorehabilitation
3
Der Sitz der Krankheit entsprach den Schichten im Harnglas: Die oberste Schicht am Flaschenhals war dem Kopf zugeordnet, weiter nach unten folgten der Brustraum, der Bauchraum und die Harn- und Geschlechtsorgane (Engelhardt et al. 1987). Diese scholastische Medizin erntete sogleich Spott und Hohn. Der eher durch seine Liebeslyrik bekannte Francesco Petrarca (1304–1374) verfasste eine wütende Schrift gegen die akademische Aufgeblasenheit der Medizin (Contra medicam quaedam invectivae). In Italien gab es die Redensart »Er lügt wie ein Arzt«. > Die galenische Therapie hatte drei Teile: die Diät, die Pharmakotherapie und die Chirurgie.
Die Diät war die Mutter aller Therapien. Der Begriff umfasste nicht nur die richtige Ernährung, sondern Anstrengung und Schlaf, Bewegung und Ruhe, also das ganze Leben. An erster Stelle stand die Diät, und nur der Arzt durfte sie verordnen und entscheiden, ob die zweitrangigen Therapien wie Medikamente oder Chirurgie eingesetzt werden sollten. Die BarbiereChirurgen boten Aderlässe, Dampfbäder und die Reinigung des Körpers an, wobei das Wort »Reinlichkeit« im italienischen die Doppelbedeutung von Höflichkeit und Sauberkeit hatte (Pomata 1998). Fazit Das Thema der gesunden Lebensführung ist auch heute ein Thema in der Rehabilitation, oft allerdings mehr mit dem disziplinierenden Unterton des 19. Jahrhunderts, wie in dem Begriff »Patientenschulung« (. Abb. 3.2).
Die Behandlung war abhängig vom sozialen Stand des Patienten. Der Patient auf dem Land wandte sich zunächst an eine
weise Frau in der Nachbarschaft; die Frauen waren in der Familie für das Erkennen und Behandeln von Krankheiten zuständig. Die nächste Instanz waren Laienbehandler; dazu gehörten Frauen oder auch Hirten, Schmiede oder Scharfrichter, die sich die Volksmedizin selbst angeeignet hatten. Die nächste Stufe nahmen die, von den Ärzteorganisationen geprüften, Bader- und Handwerkschirurgen ein. Der Patient aus dem gehobenen Bürgertum suchte den Arzt oder sogar den Hofarzt auf. Es gab zwei medikale Kulturen, die Schulmedizin und die Volksmedizin, die sich in den Erfolgen keineswegs groß unterschieden. »Außerdem bot die Volksmedizin mit ihren volksnah-konkreten Anschauungsweisen viele Vorteile gegenüber den wissenschaftlich-abstrakten Lehren der Schulmedizin bei der Bewältigung der in gleicher Weise körperlichen wie seelischen, individuellen wie sozialen Bedrohung durch Krankheit« (Probst 1992). Das Grundkonzept der Medizin bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fasste Michel Foucault so zusammen:
»
Ganz grob gesprochen kann man sagen, dass sich die Medizin bis zum Ende des 18. Jahrhunderts viel mehr auf die Gesundheit als auf die Normalität bezog. Sie stützte sich nicht auf ein ‚reguläres‘ Funktionieren des Organismus, um zu untersuchen, wo es abgewichen ist, wodurch es gestört worden ist und wie es wiederhergestellt werden kann. Sie bezog sich eher auf Qualitäten der Kraft, der Geschmeidigkeit, der Flüssigkeit, die durch die Krankheit verloren gegangen sind und die wiederhergestellt werden müssen. Insofern konnte die medizinische Praxis der Lebensweise und der Diät einen wichtigen Platz einräumen. ... Hingegen orientiert sich die Medizin des 19. Jahrhunderts mehr an der Normalität als an der Gesundheit. Sie bildet ihre Begriffe und verordnet ihre Eingriffe unter Bezugnahme auf bestimmte organische Funktionen und Strukturen. (Foucault 1976)
«
Aus dem 19. Jahrhundert stammt das Konzept der heutigen Biomedizin, dessen Aufgabe die Normalisierung, die Beseitigung der Läsionen ist. Für chronische Erkrankungen ist dieses Konzept unzureichend, da weder eine Hirnverletzung noch eine Lähmung vollständig »normalisiert« werden können. Fazit Der alte Gedanke von Gesundheit als Funktionsfähigkeit wurde aufgegriffen in dem Konzept der Weltgesundheitsorganisation, der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) (WHO 2005).
3.1.1
. Abb. 3.2. Aus Jacopo Berengario da Carpi. Tractus perutilis et completus de fractura cranei (Venedig, 1535). Übersicht über die verschiedenen Formen von Hirntraumen
Wasser, Massagen, Strom
jBäder und warme Quellen Die Nutzung von Bädern und warmen Quellen gehört zu den ältesten Heilverfahren und den beliebtesten Vergnügungen der Menschheit. Die Römer bauten ihre Tempel in der Nähe von als heilkräftig erachteten Brunnen, und seit der Römerzeit erfreuen sich Thermen mit warmen Bädern großer Beliebtheit (Pfriemer u. Bedürftig 2001). Nirgendwo treffen Gesundheit,
39 3.1 · Von der frühen Geschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
Lebenslust und Frivolität so aufeinander. Im Badehaus ist der private Körper öffentlich. Ein Kommentator schrieb:
»
Da nun die mittelalterlichen Bäder, ebenso wenig wie die modernen, Orte zur Pflege christlicher Askese und kindlicher Unschuld waren, so gesellte sich zur Erhöhung der Freuden des Badelebens zum Wein und Gesang meistens noch das Weib. (Peters 1979)
«
Im Mittelalter konnten die Leute die Bäder noch genießen; 100 Jahre später, in der wilhelminischen Ära, wurde vor dem Schwimmen in gemischten Bädern besonders bei »stark libidinösen Neuropathen und schweren Onanisten« gewarnt (Cohn 1913). In Orten wie Aachen oder Spa entwickelte sich seit dem Mittelalter eine regelrechte Bäder- und Heilwasserindustrie. Aus dem heute belgischen Spa wurden im 18. Jahrhundert jährlich 250.000 Flaschen Wasser exportiert (Haneveld 1979). > Der Name Spa wurde synonym mit dem Wort Kur, und kein späterer Kurort kam ohne ein Heilwasser aus, bis sich später Luftkurorte hinzugesellten.
Das Aufblühen des Kurwesens im 19. Jahrhundert hat nicht etwa mit der Qualität der Heilwässer allein zu tun. Die Kurorte waren eine Art exterritoriales Gebiet in einer sonst reglementierten und prüden Gesellschaft. Die Kur war vielleicht auch eine Art Gegenbewegung gegen Tendenzen, den Körper zu disziplinieren und einzuschnüren (. Abb. 3.3). jMassagen In dem Wort Be-handeln findet sich ein Hinweis auf die Hände als eines der ältesten und wichtigsten diagnostischen und therapeutischen Instrumente. Die Massage wird bereits 1000 v.Chr. von dem ayurvedischen Arzt Sushruta erwähnt (Haneveld 1979). Über viele Jahrhunderte gehörte die Mas. Abb. 3.3. Heilkräftige Wannenbäder in Bad Pyrmont
sage in zahlreichen Variationen zum festen Repertoire medizinischer Therapien. Galen (129–199 n.Chr.) beschrieb ausführlich den medizinischen Nutzen. > Die Massage erlebte im 19. Jahrhundert einen Boom.
Bei dem berühmtesten Masseur, dem Niederländer Johann Georg Metzger in Amsterdam, gaben sich um 1884 die Königinnen und Adligen die Klinke in die Hand; dazu gehörte auch Kaiserin Elisabeth von Österreich (»Sissi«). Während bis heute die Massage in Deutschland und den osteuropäischen Ländern einen Platz in den ärztlichen Verordnungen behalten hat, ist sie in den USA und einigen westeuropäischen Ländern schon lange vom Tisch der Biomedizin verwiesen worden. Sie zählt dort zu den alternativen Therapien. Die Patienten ließen sich von dieser Abwertung nicht beeindrucken. In den USA stieg zwischen 1990 und 1997 die Anzahl der Massagen um 36% (Moyer et al. 2004). Die heilende Hand behauptet sich in einem technologisch aufgerüsteten Medizinbetrieb. Das Nadelöhr für die Anerkennung von Therapien in der Biomedizin ist heute die wissenschaftliche Evidenz. Diese sieht für die Massage nicht schlecht aus, wie das Ergebnis einer Meta-Analyse zeigt (Moyer et al. 2004): Massagen sind eine psychosomatische Therapie, sie lindern 4 einerseits Schmerzen und 4 andererseits Depressionen und Ängste. 2009 erschien zum Thema Massage eine bemerkenswerte Studie einer italienischen Arbeitsgruppe (Guzzetta et al. 2009). Sie fanden, dass durch eine Massage bei Frühgeborenen die Reifung des visuellen Systems beschleunigt wird. Fazit Die uralte Geschichte der Massage hat in der Neurorehabilitation noch keine abschließende Bewertung gefunden.
3
40 Kapitel 3 · Historische Perspektiven der Neurorehabilitation
3
kSport Unter den Therapieformen bei neurologischen Erkrankungen widmet Cohn (1913) auch dem Sport einen Abschnitt. Neben dem Kraftzuwachs, dem Zuwachs an Ausdauer und der Verbesserung der »psychomotorischen Ökonomie«, stellt er den Gewinn für die Psyche heraus: »eine Erziehung zur geistigen Konzentration und zur Umsicht, eine Weckung der Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart, ein Ansporn zu zielgerichtetem Handeln«. Er macht einige Einschränkungen für Personen mit »Sexualneurosen«. Radfahren, Reiten und Rodeln sei bei diesen Personen, besonders bei der Neigung zu Pollutionen, Ejaculatio praecox und Potenzschwäche zu verbieten. jStrom > Das 19. Jahrhundert war therapeutisch ein Jahrhundert der Elektrizität.
Man glaubte im 18. Jahrhundert, dass Elektrizität entweder im Überfluss oder im Mangel im Körper vorhanden sei. Selbst Nahrungsmittel wie Schokolade oder Wein galten als elektrisch geladen. Man probierte die Elektrisierung bei allen Erkrankungen aus, galvanisierte und faradisierte. »Zwar bedauerte man die Unkenntnis in der Neurologie, aber dies hielt die Ärzte im Eifer der Anwendung nicht zurück« (Leibbrand 1956). Der große Aufschwung der Elektrotherapie kam dadurch zustande, dass die Geräte industriell in großem Umfang produziert wurden. Der französische Neurologe Duchenne de Boulogne (1806–1875) war der Protagonist einer naturwissenschaftlichen Elektrodiagnostik und Muskelphysiologie. Der Arzt Robert Remak (1815–1865) entwickelte unter anderem gemeinsam mit Siemens Geräte zur Galvanisation, d.h. zur Gleichstrombehandlung, und er setzte sie nicht nur zur antispastischen und antiparalytischen Therapie, sondern auch bei Erkrankungen wie Morbus Parkinson und Tabes dorsalis ein (Remak 1858). Hauptfigur und Wegbereiter der heutigen Elektrophysiologie war Wilhelm Erb (1840–1921). In seinem »Handbuch der Elektrotherapie« (Erb 1882) schildert er die elektrodiagnostischen Techniken zur Prüfung der Nervenleitungen und der Muskelfunktionen. Bis sie von der modernen Elektromyographie abgelöst waren, wurden seine Methoden bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts verwendet und gehörten noch um 1980 zum Repertoire der Physiotherapie. Erb zeichnet eine selbstkritische Haltung aus; schon damals, wie übrigens heute noch, gehört die Elektrotherapie in der Neurologie nicht zu den wissenschaftlich gut belegten Gebieten. Er schreibt:
» So sind wir denn genötigt, die Mangelhaftigkeit der theoretischen Grundlagen unseres elektrotherapeutischen Wissens und Könnens offen einzugestehen. Wir müssen uns aber auch dabei vollkommen klar sein darüber, dass der etwa eintretende Erfolg einer auf physiologischer Grundlage aufgebauten Methode noch keineswegs die Richtigkeit dieser theoretischen Grundlage verbürgt. (Erb 1882)
«
Fazit In den physikalischen Abteilungen von Rehabilitationskliniken findet man auch heute hydroelektrische Bäder wie 4 das Stangerbad oder 4 die Vierzellenbäder. An der wissenschaftlichen Evidenz hat sich seit Erbs Zeiten nicht viel geändert. Die Patienten äußern jedoch, dass ihnen diese Therapien wohltäten.
In der Geschichte der Neurorehabilitation kann nicht unerwähnt bleiben, welche unheilvolle Anwendung die Elektrotherapie in der Behandlung vermeintlicher Simulanten, der »Kriegsneurotiker« fand. Mit Stromschlägen versuchte man, diese »Kriegszitterer« wieder zu vernünftigen und arbeitsamen Personen zu machen. Wie auch heute noch, waren die emotionalen Folgen der Kriegsteilnahme schwerer zu behandeln als die körperlichen. Es war Sigmund Freud, der sich vehement für die Psychotherapie anstelle der Elektrotherapie einsetzte (Eissler 1979).
3.1.2
Übungs- und Mechanotherapie
jWechsel von den passiven zu den aktiven Therapien Im 19. Jahrhundert hatten die verschiedenen Formen der Körperertüchtigung Aufschwung genommen. > Schweden war der Vorreiter in punkto Gymnastik und später auch im Training an Geräten, Mechanotherapie genannt. Der medizinische Ableger der Gymnastik war die Heilgymnastik oder medizinische Gymnastik.
kHeinrich Frenkel Als der Begründer einer neurologischen Physiotherapie kann der Schweizer Arzt Heinrich Frenkel (1860–1931) gelten (Danek 2004). Ein großes Thema in der Neurologie waren die Folgen der Neurolues, besonders der Tabes dorsalis mit der schweren Ataxie. Frenkel hat 1900 eine Monographie zur »Behandlung der tabischen Ataxie mit Hilfe der Übung« publiziert (Frenkel 1900). Jeder, der praktisch arbeitet, weiß, wie schwierig auch heute die Behandlung der ataktischen Störungen ist. In den Erläuterungen zu seinen Therapien beginnt Frenkel mit dem, was heute als Plastizität des Gehirns, bezeichnet wird:
»
Die wichtigste Eigenschaft des nervösen Systems ist dessen Übungsfähigkeit. … Die durch die besondere Organisation des menschlichen Gehirns gegebene Fähigkeit der Emancipation von der phylogenetischen Muskelanlage – die Übungsfähigkeit – ist eben eine spezifisch menschliche Eigenschaft und begründet die unendliche Übungsfähigkeit desselben. (Frenkel 1900)
«
Die Aufgabe bei der Ataxiebehandlung sei, die physiologisch zusammengehörenden Muskelgruppen »von einander so zu
41 3.1 · Von der frühen Geschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
. Abb. 3.4. Die Frenkel’schen Bodenbezeichnungen in der Medizinischen Poliklinik München, Pettenkoferstraße (Danek 2004)
emancipieren«, dass jeder einzelne Muskelteil funktionell ein selbständiges Individuum wird«. Er nennt seine Übungen kompensatorisch. Drei Dinge seien bei den Übungen wichtig: 4 ein Vorstellungsbild der Bewegung, 4 die Aufmerksamkeit auf die Aufgabe und 4 die häufige Wiederholung. »Die Übung ist die oft wiederholte, mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte Ausführung, resp. Versuch der Ausführung einer genau vorgestellten Aufgabe«. Frenkel analysiert die ataktischen Bewegungen bis ins Einzelne; man findet dazu Photographien in seinem Buch, und listet die Übungen Schritt für Schritt auf. Er nutzt externe Mittel; so findet sich in der Universitätsklinik in München noch ein Mosaikboden, auf den nach seinen Vorgaben Fußspuren für die Gangübungen markiert sind (. Abb. 3.4). Bei den Übungen für die Hände legt er Wert auf äußerste Präzision. Dafür nutzt er spezielle Übungsgeräte, die er selbst gebaut hat (. Abb. 3.5).
. Abb. 3.5. Ataxieübungen für die Hände (Goldscheider 1904)
Die Übungen im Barren hält er für wenig sinnvoll. Frenkel ist sehr genau und einfallsreich; so lässt er zum Balancieren Hüte aus Korb flechten. Er äußert sich auch zur Dosierung von Übungen. Die Intensität der Aufmerksamkeit auf die Übungen sei entscheidend, daher solle man die Dauer einer Einzelübung auf 4 Minuten begrenzen, oft reichten eine halbe oder eine Minute. Die Regel seien 2 Sitzungen pro Tag. Es gibt in der neurologischen Literatur seither kein vergleichbares Werk – so genau wie Frenkel hat niemand mehr die Physiotherapie bei Ataxie beschrieben. kAlfred Goldscheider Der Moabiter Arzt A. Goldscheider zeigt in seinem kleinen Übungsbuch eine Vielzahl von selbst konstruierten Übungsgeräten, eines, das »Amphitheater«, ist ein mehretagiges Gerät mit Zapfen, die wie Teller oder Kegel geformt sind (. Abb. 3.6) (Goldscheider 1904). kGustav Zander Die Vorläufer der heutigen Fitness-Studios waren »medikomechanische Institute«, oft riesige Säle voller Übungsgeräte. Das Ursprungsland der Heilgymnastik war Schweden (»Schwedisches System«), und auch die Übungsgeräte wurden von dem schwedischen Arzt Zander entwickelt und auf den Markt gebracht (. Abb. 3.7). kOtfrid Foerster Kein anderer Neurologe des 20. Jahrhunderts hat sich mit einer solchen Intensität und Produktivität in die Neurologie der Motorik vertieft, wie der in Breslau arbeitende Otfrid Foerster (1873–1941). Sein eigener Beitrag über die Muskulatur in dem von Bumke und ihm herausgegebenen 17-bändigen Handbuch der Neurologie (Bumke u Foerster 1935–1940) war 700 Seiten lang. Zur motorischen Rehabilitation – anschaulicher »Übungstherapie« genannt – gibt es von ihm
3
42 Kapitel 3 · Historische Perspektiven der Neurorehabilitation
3
. Abb. 3.6. Das »Amphitheater« von Goldscheider (1904). Der Patient hat die Aufgabe, die Teller und Zapfen mit dem Fuß in vorgegebener Reihenfolge zu berühren
mehrere umfangreiche Beiträge aus den Jahren 1916 und 1936 (Foerster 1916, 1936) (. Abb. 3.8).
. Abb. 3.7. »Zanders Apparat« zum Ellenbogenbeugen
> Foerster hat als erster ein neurochirurgisches Vorgehen bei schwerer Spastik vorgeschlagen und selbst durchgeführt. Bei der dorsalen Rhizotomie werden die Hinterwurzeln durchtrennt, um die spastikfördernden Afferenzen zu verringern. Diese Therapie wird auch heute noch erfolgreich durchgeführt (Farmer u. Sabbagh 2007).
Bei den zentralen Paresen schlägt Foerster den in . Übersicht 3.1 skizzierten Weg vor. Die kleinen Tricks, die Foerster preisgibt, zeigen, dass er die Patienten selbst behandelt hat. Es würde sich lohnen, Foersters Konzept der motorischen Rehabilitation einer empirischen Überprüfung zu unterziehen; dieses ist, soweit bekannt, noch nicht geschehen.
3.1.3
Aphasien und deren Behandlung
Der Beginn der systematischen Beschäftigung mit den Sprachstörungen bleibt mit dem Namen des französischen Arztes Paul Broca (1824–1880) verbunden, wenngleich schon 1825 der Franzose Jean-Baptiste Bouillard die Meinung vertreten hatte, dass das »legislative Organ« der Sprache in den Frontallappen zu finden sei (Jacyna 2000). > Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Zeit der Kartographen der Sprache.
Es wurden Zentren und deren Verbindungsstraßen gezeichnet und von anderen verworfen. Es würde zu weit führen, die Geschichte der Aphasiologie hier mehr als nur zu streifen (Tesak 2001), daher nur ein paar Anmerkungen zur Therapie.
. Abb. 3.8. Otfrid Foerster als Übungsleiter
3
43 3.1 · Von der frühen Geschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
. Übersicht 3.1. Behandlung bei zentralen Paresen nach Foerster (1916, 1936) 1.
2.
3.
4.
5.
6.
Passive Bewegungen in den Gelenken und Dehnung der Muskeln, die zur Kontraktur neigen: Das Prinzip besteht darin, die Insertionspunkte der gelähmten Muskeln möglichst nahe zusammenzubringen. Besonders solle auf man auf das Schultergelenk achten (. Abb. 3.8). Lagerung: Foerster legt großen Wert auf die Lagerung, um einer spastischen Kontraktur entgegenzusteuern. Er verwendet auch Schienen, um z.B. den Arm in Supination und die Finger in Streckung zu bringen. Aktive Bewegungsübungen: »Die wirksamste Waffe im Kampf gegen die Lähmungen … sind die willkürlichen Innervationsübungen« (Foerster 1936). »Das Grundprinzip ist hierbei wie bei aller Übungstherapie, dass der Kranke sämtliche Einzelbewegungen als solche immer wieder willkürlich intendiert.« Und dann findet man eine Empfehlung, die später in der Literatur nicht untersucht wurde. Je stärker der Willensimpuls des Patienten sei, desto größer die Gefahr extrapyramidaler Synergien. »Deshalb muss der Kranke ausdrücklich immer wieder ermahnt werden, sich nicht zu sehr anzustrengen.« Prinzip der homologen Mitbewegungen: Die Bewegungen auf der gelähmten Seite könnten dadurch angeregt werden, dass die Kranken die gegenseitigen Muskelgruppen gleichzeitig anspannen. Bei einer vollständigen Lähmung lässt er mit einer maximalen Willensanspannung die gesunde Seite bewegen. Später dann sollen beide gemeinsam angespannt werden und schließlich nur die kranke Seite. Minderung des Widerstands durch Antagonisten: Man solle die Dorsalflexion im Fuß im Sitzen bei entspanntem Gastrocnemius üben. Ausnutzung der Dehnungs- und sensibler Reflexe: Er löst z.B. eine Streckung der Finger dadurch aus, dass die Hand aktiv oder passiv gebeugt wird. Um eine Dorsalextension im Fuß auszulösen, streicht er leicht über die Fußsohle.
jAnfänge der Aphasietherapie kPaul Broca/Carl Wernicke Schon Broca hatte versucht, einem »aphemischen« Patienten, der weder sprechen noch schreiben konnte, Buchstaben vorzulegen, damit er diese zu Worten forme. Diese Therapie war erfolglos. Die anatomisch-lokalisatorisch arbeitenden Neurologen wie Carl Wernicke sahen wenige Chancen, das was zerstört war, durch eine Behandlung wiederherzustellen. Wernicke schreibt:
»
Hinsichtlich der motorischen Aphasien haben auch systematisch fortgesetzte Übungen meist nur einen geringen Nutzen. (Wernicke 1906)
«
Neben einigen spezialisierten Ärzten seien die Taubstummenlehrer am ehesten geeignet, die Patienten zu behandeln. kHermann Gutzmann Der Berliner Phoniater Hermann Gutzmann (1865–1922) kam aus der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und beschäftigte sich vorwiegend mit Sprechstörungen (Gutzmann 1896). Er hatte schon um 1900 ein Aufzeichnungsgerät für die Sprechstörungen entwickelt, ein Gerät, das er »Mr. Phonograph« nannte. Er kann als ein Begründer der Aphasietherapie gelten. Er wartete ein halbes Jahr, bis nach »Abklingen der stürmischen Symptome«, ehe er mit der Therapie begann. Seine Behandlung der Aphasien ist differenziert: Er achtet darauf, dass die Patienten die eingeübten Worte auch stets im Alltag aussprechen, wenn sie z.B. einen Tisch sehen. Er lässt die Patienten stets in Sätzen antworten, um »seine Wünsche und Ansichten in kleinen Sätzen zu äußern«. Er spricht sich für eine alltagsnahe Behandlung aus:
» Am besten wird die Behandlung in einer Privatklinik vorgenommen werden können, wo der Arzt den Patienten bei Tisch, beim Frühstück, bei Spaziergängen usw. zu spontanen Äußerungen anregen oder ihn in der Perzeption üben kann. (Gutzmann 1916)
«
Die damalige Begeisterung für die Übungstherapien übertrug sich auf die Behandlung von Sprachstörungen, der Wiener Phoniater Emil Froeschels sprach einmal von »Gehirngymnastik«. Wenn es Zentren gibt, so sollte man diese durch Übung stärken oder, wo das nicht möglich ist, neue Sprachzentren aufbauen. Fazit Dieser alte Gymnastikgedanke ist keineswegs in der Geschichte der Aphasietherapie verstaubt und vergessen, sondern findet seine Resonanz in den aktuellen Arbeiten zur intensiven Übungstherapie unter dem Namen der Constraint Induced Therapy (Pulvermüller et al. 2001).
Diese Therapie entspricht exakt dem, was Poppelreuter vorschlug:
» Es galt, den Patienten für mehrere Stunden des Tages intensiv zur Sprachproduktion bzw. zum Verstehen anzuregen. Also Sprechen, Sprechen und immer wieder Sprechen. « (Poppelreuter 1932/34)
Die Hilfsschullehrer, die im 1. Weltkrieg in die Therapie der hirnverletzten Soldaten einbezogen wurden, gingen individuell und »ohne schulmeisterische Kleinigkeitskrämerei« vor. Der Unterricht wird, so die Schilderungen aus der Berliner Schule für Kopfschussverletzte, anschaulich und alltagsnah ausgerichtet. Es gehe um die Pflege der »inneren Sprache, die auf der Anschauung aufbaut« (Rickel 1918). kKurt Goldstein/Adhémar Gelb Bei Goldstein (1919) und Gelb (1937) finden sich Beobachtungen in der Behandlung von Patienten mit einer Aphasie,
44 Kapitel 3 · Historische Perspektiven der Neurorehabilitation
3
die später die Grundlage für die Theorie der abstrakten und konkreten Haltung bilden. Goldstein schreibt über die Behandlung von Soldaten mit einer amnestischen Aphasie, am schwersten falle ihnen »die rein mechanische Einprägung eines Lehrstoffes« (Goldstein 1919). Mit dieser Annahme, dass vielen Patienten die Umstellung auf eine abstrakte Herangehensweise schwerfalle, hat Goldstein später die Schwierigkeiten beim Nachsprechen erklärt. Es ist intuitiv nicht einleuchtend, warum ein Satz wie »zwei mal zwei ist vier« für einen Patienten mit einer Aphasie schwierig sein soll. Goldstein erklärt es so, dass das Nachsprechen eines für den Patienten sinnlosen Satzes eine abstrakte Haltung verlange, die ihm nicht verfügbar sei (Goldstein 1971). Manchmal geht die Geschichte über Theorien hinweg, ohne sie empirisch oder theoretisch jemals kritisch zu überprüfen. So ist es auch mit Goldsteins Thesen zur Aphasie geschehen. jWeitere Entwicklung Unter den Autoren, die für die Rehabilitation von Sprachstörungen im weiteren 20. Jahrhundert wichtig sind, sind beispielhaft Luria aus der Sowjetunion (Luria 1970), Leischner (1987) und Weigl (1981) aus Deutschland sowie Goodglas und Kaplan (1972) aus den USA zu nennen. > Die große Zeit der Architekturzeichnungen der Sprachzentren, man denke an die Schemata Wernickes, war nach dem 2. Weltkrieg zunächst vorbei.
Mit dem Neurologen Geschwind aus den USA und den Psychologen Ellis und Young kamen die Diagramme von Konnektionen und Diskonnektionen dann wieder in Mode. Fazit In letzter Zeit gibt es, besonders aus der Aphasietherapie, Zweifel an dem heuristischen und therapeutischen Wert solcher Architekturmodelle der Sprache (7 Kap. 23). Die Arbeitsteilung in der Rehabilitation, ihre Professionalisierung, folgt historisch nicht immer rationalen Regeln, wie man es an der Logopädie zeigen kann. Wenn Denken und Sprache die engste denkbare Nähe miteinander haben, ist es nicht unbedingt rational, die dazugehörenden Fachgebiete aufzuteilen. Genau dies ist in der Trennung zwischen Logopädie und Neuropsychologie geschehen. Noch weniger ist es aus der Thematik heraus erklärbar, dass die eine Berufsgruppe akademisch und die andere, zumindest in Deutschland, auf der Ebene einer Berufsfachschule angesiedelt ist. Die Erklärung für diese Entwicklungen ist eine Geschichte von Macht, Einflusssphären und ökonomisch-politischen Entscheidungen. Für die USA haben das Gritzer und Arluke (1985) dargelegt.
3.2
Die Krüppelfürsorge zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Vorläufer einer systematischen Rehabilitation
Man sollte nicht vergessen, dass es über Jahrhunderte zahlreiche Stimmen gab, die Menschen mit einer Körperbehinderung eine Lebensberechtigung absprachen. Dazu gehörte auch Martin Luther, der schrieb, solche »Wechselkinder«
seien nur ein Stück Fleisch, eine »massa carnis«, da »keine Seele innen« sei. jSituation von körperbehinderten Menschen um 1900 Wie oben beschrieben, gab es schon früh eine Reihe von Therapien für neurologische Patienten, besonders mit Tabes. Es fehlte jedoch ein Versorgungssystem für Personen mit chronischen Erkrankungen. Es gab zwar eine gesetzliche Krankenversicherung, diese war jedoch nur für akute Krankheiten und nicht für die Folgen von Krankheiten, sog. statische Leiden zuständig. Damit waren Personen, die durch eine Rachitis oder Tuberkulose körperliche Behinderungen behielten oder durch eine Poliomyelitis gelähmt waren, ohne staatliche Hilfen. Sie wurden von den Kommunen in die Armenhilfe aufgenommen. Es waren im Wesentlichen kirchliche Einrichtungen, die sich um diese meist jungen Menschen kümmerten und sie förderten. Für bestimmte Gruppen von behinderten Kindern gab es allerdings auch staatliche Fördereinrichtungen. So wurde 1778 in Leipzig die erste Taubstummenschule eingerichtet, und Anfang des 19. Jahrhunderts wurde von Wilhelm Klein in Wien eine Blindenschule gegründet (Drovs 2000). Heinrich Pestalozzi (1746–1827) setzte sich für die Bildung und Bildbarkeit von Kindern mit geistiger Behinderung ein. Die Erkenntnis, dass diese behinderten Kinder gefördert werden können, war der Beginn des Fachs Heilpädagogik.
3.3
Der 1. Weltkrieg und der Aufbau von Hirnverletzten-Lazaretten
» Es gibt kein Krüppeltum, wenn der eiserne Wille vorhanden ist, es zu überwinden. « (Biesalski 1915) jErster Krüppel-Heil- und Fürsorge-Verein Im Jahr 1907 wandte sich der Berliner Orthopäde Konrad Biesalski mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit und forderte unter der Losung »Almosenempfänger zu Steuerzahler« den Aufbau einer öffentlichen Krüppelfürsorge. Bereits zwei Jahre vorher war auf Initiative der Orthopäden Albert Hoffa und Konrad Biesalski der Krüppel-Heil- und Fürsorge-Verein für Berlin-Brandenburg gegründet worden, dem als nationaler Dachverband die Gründung der Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge am 14.4.1909 folgte. Die heutige Deutsche Vereinigung für Rehabilitation versteht sich als Nachfolgeorganisation. Die Krüppelfürsorge war ein Arbeitsgebiet der neu entstehenden Orthopädie. Unter Biesalski als Herausgeber wurde 1908 die Zeitschrift für Krüppelfürsorge publiziert. Biesalski schreibt in dem Editorial der ersten Ausgabe:
»
Das letzte und höchste vermag die Krüppelfürsorge nur zu leisten, wenn sie nicht einseitig betrieben wird, sondern wenn es gelingt, alle ihr zugehörigen Berufe, den des Arztes, des Geistlichen, des Lehrers, des Verwaltungsmannes, des Armenpflegers, des Sozialpolitikers zu einer neuen organisatorischen Einheit zu verschmelzen. (Biesalski 1908, zit. bei Osten 2004)
«
45 3.3 · Der 1. Weltkrieg und der Aufbau von Hirnverletzten-Lazaretten
Näher betrachtet Sonderpädagogik vs. neuropsychologische Rehabilitation Die Heilpädagogik und später die Sonderpädagogik sind im Grunde auf dem gleichen Gebiet tätig wie die heutige neuropsychologische Rehabilitation, 4 die einen arbeiten mit Kindern, die von Geburt an mentale Funktionseinschränkungen aufweisen, 4 die anderen mit Menschen, die eine Hirnschädigung im Erwachsenenalter erleiden. Beide Fächer sind jedoch auch heute wissenschaftlich und in ihrer Berufsorganisation getrennt: Die eine gehört der pädagogischen und die andere der medizinischen Welt an. Diese Trennung hat mehr historisch-politisch-ökonomische als inhaltliche Gründe; sie hat mit dem Bemühen von Berufsgruppen, die Grenzen ihres Territoriums abzustecken, zu tun (Gritzer u. Arluke 1985).
An dem Beispiel der Sonderpädagogik kann man auch zeigen, wie eine wissenschaftliche Diskussion in einem Fach, hier der neuropsychologischen Rehabilitation, geführt wird, ohne dass die vorangehenden Arbeiten in dem anderen Fach, hier der »special education«, rezipiert werden. Das nennt man ein ahistorisches Vorgehen. Es gibt in der neuropsychologischen Rehabilitation eine Diskussion darüber, 4 ob man einzelne kognitive Funktionen wie Aufmerksamkeit oder Gedächtnis isoliert trainieren solle, oder 4 ob man alltagsnahe, sinnvolle Aufgaben geben solle.
gik ausgiebig über Jahrzehnte geführt, mit dem Ergebnis, dass die meisten Autoren ein solches funktionsorientiertes Training für wenig begründet und wenig praktisch sinnvoll hielten (Mann 1979). Mann schreibt am Ende seines 500 Seiten starken Buches:
»
Kognitives Training bedeutet, sich auf unsichere, nicht verifizierbare hypothetische Konstrukte einzulassen. ... Die dringende Aufgabe für uns ist, unsere Schüler in den Fähigkeiten zu trainieren, die für ein produktives Leben außerhalb der Schule notwendig sind. (Mann 1979)
«
Die Frage lautet, ob ein funktionsbezogenes oder ein aufgabenbezogenes Training nützlicher ist (Wilson 2003). Diese Diskussion wurde in der Sonderpädago-
Die Geschichte mit den grauen Stühlen Unser Fach hat viele Wege ausprobiert, so auch diesen Seitenpfad, von dem Wolfensberger (2001) berichtet. Er sei 1973 in die Abteilung für »Special Education and Rehabilitation« der Syracuse Universität im Staat New York gekommen. Dort sei ihm als Erstes aufgefallen, dass alle Stühle und Tische monoton grau angestrichen waren. Man sagte ihm, es handele sich um die Cruickshank Stühle, genannt nach dem ehemaligen Direktor der Abteilung, William Cruickshank (1915–1992). Die Geschichte dieser Stühle war folgende: Der emigrierte Alfred A. Strauss
(1897–1957) hatte in Frankfurt bei Kurt Goldstein gearbeitet. Er war mit Goldsteins und Gelbs Konzept der Hirnverletzungen vertraut und fand bei den Kindern in der Sonderschule ein konkretistisches Denken, eine extreme Ablenkbarkeit und eine Starrheit im Denken, alles Symptome, die er bei Hirnverletzten gesehen hatte. Obwohl bei keinem der Kinder tatsächlich eine Hirnverletzung nachgewiesen war, wurde ihnen die Diagnose »brain injury« verpasst. Die Eltern fühlten sich durch diese Diagnose entlastet. Das Konstrukt des »hirnverletzten
Fazit In diesen Worten findet sich der Faden der interdisziplinären Zusammenarbeit, der bis heute zu den organisatorischen Grundpfeilern der Rehabilitation gehört.
Für die Orthopäden Hoffa und Biesalski hatte die Fürsorge klare volkswirtschaftliche Ziele: Die behinderten Personen sollten arbeits- und erwerbsfähig werden. Biesalski vertrat die Meinung, dass 93% aller Krüppel wirtschaftlich selbständig gemacht werden könnten. jErste Rehabilitationsklinik Mit Geldern des philanthropischen Fabrikantenehepaars Oskar und Helene Pintsch wurde 1906 zunächst provisorisch und 1914 in einem Neubau eine große Institution zur Versorgung von orthopädisch und neurologisch behinderten Kindern und Jugendlichen errichtet, das Oskar-Helene-Heim.
Kindes« wurde so populär wie heute das Konstrukt der »ADHS«. Ein Nachfolger von Strauss in Syracuse war der oben erwähnte Cruickshank. Seiner Meinung nach war die Ablenkbarkeit das Hauptproblem dieser »hirnverletzten« Kinder. Daher ließ er alle Schulmöbel grau streichen, verbannte Anspitzer und Stifte vom Pult und ordnete an, dass die Lehrerinnen keinen Schmuck trugen. Gott sei Dank hat man in der Rehabilitation hirnverletzter Erwachsener die graue Farbe nie übernommen.
Dieses Heim kann als die erste deutsche Rehabilitationsklinik angesehen werden. Sie umfasste eine 4 4 4 4
orthopädische Klinik, Therapiezentrum, Schule und Werkstätten.
Nach dem Wunsch von Helene Pintsch sollte ein Wald mit einer Waldschule dazugehören, und die Klinik sollte mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus Berlin erreichbar sein. Von den Patienten waren 70% orthopädisch und 30% neurologisch betroffen. Die häufigsten neurologischen Diagnosen waren Poliomyelitis und infantile Zerebralparese. Der Erfolg der Klinik beruhte auf der Kombination von Orthopädie unter Biesalski und Pädagogik unter Hans Würtz (1875–1958). Es war ein eigentümliches pädagogisches Konzept:
3
46 Kapitel 3 · Historische Perspektiven der Neurorehabilitation
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4 an der Oberfläche viel Freiheit, Vielfalt und Lebendigkeit, 4 auf der anderen Seite eine elementare Geringschätzung des körperbehinderten Menschen, der nicht nur körperlich, sondern auch seelisch geschwächt sei und daher auch in speziellen Institutionen, nicht zuhause, untergebracht werden müsse. Die operative Orthopädie richtete sich auch an die neurologischen Patienten. So entwickelten Biesalski und Mayer die Technik der physiologischen Sehnenverpflanzungen, um Kontrakturen und Lähmungen auszugleichen (Biesalski 1923), und Foerster, wie schon erwähnt, die Rhizotomie der Hinterwurzeln zur Spastikminderung (Foerster 1909). jHirnverletzten-Lazarette
» Du, Held des heiligen Krieges, gewöhne dich an den Gedanken, dass Du ‚ein bisschen‘ verkrüppelt, aber doch der Alte geblieben bist; wenn du dich da hindurchgerungen hast, so hast du gewonnen und einen goldenen Schatz im Herzen, der dir bis an dein Lebensende ermöglicht, lachend und gottvertrauend weiterzupilgern. (Biesalski 1915)
«
Die Krüppelheime waren orthopädisch ausgerichtet und boten Werkstätten, in denen beispielsweise Einarmige als Schmiede ausgebildet wurden. Noch nie hatte ein Krieg so viele Kopfschussverletzungen verursacht. So berichtet der Hirnforscher von Economo (1876–1931), dass zu Beginn des Krieges bei einem Sturmlauf von 800 gefallenen Soldaten 600 an Kopfschüssen starben (Economo et al. 1918). Die Kon-
sequenz war die Einführung des Stahlhelms. Die große Zahl von hirnverletzten Soldaten, die Schätzungen liegen bei 250.000– 300.000, erforderte eigene Einrichtungen. Diese waren bemerkenswert umfassend ausgestattet. Das Hirnverletzten-Lazarett in Köln (Poppelreuter 1916) umfasste 4 eine klinische nervenärztliche Station mit enger Zusammenarbeit mit einem Chirurgen, 4 ein psychologisches Labor zur psychologischen Untersuchung und Prüfung der Leistungs- und Berufsfähigkeit, 4 eine Schule für Hirnverletzte mit speziell ausgebildeten Hilfsschullehrern, 4 Übungswerkstätten, 4 einen fachmännisch geleiteten gewerblichen Betrieb, z.B. eine kleine Fabrik oder Landwirtschaft, 4 eine Beratungsstelle für die Lazarettentlassenen zur sozialen Absicherung und Nachsorge. Eine Übersicht über die Hirnverletzten-Lazarette findet sich in . Tab. 3.1. Ein großer Fortschritt gegenüber der sonst dominierenden rein medizinisch orientierten Krankenversorgung lag darin, dass in den Lazaretten die medizinisch-chirurgische mit der psychologischen und beruflichen Rehabilitation räumlich und inhaltlich eng verbunden war. Wenn man den Ablauf im Frankfurter Lazarett anschaut, so war es selbstverständlich, die Verletzten nicht nur im psychologischen Labor zu untersuchen, sondern sie in die Werkstätten und in die Stadt zu begleiten. Die interessantesten Beobachtungen an ihrem berühmten Patienten Schneider machten Goldstein und Gelb, indem sie ihn in die Stadt begleiteten (Gelb 1937).
. Tab. 3.1. Einrichtungen für Hirnverletzte in Deutschland (soweit Belege auffindbar waren) Hirnverletzten-Lazarette
Ärztliche Leiter
Breslau
Viktor von Weizsäcker (1886–1957) als Nachfolger von Otfrid Foerster (Weizsäcker 1990)
Berlin
Arno Fuchs (1869–1945), Leiter der Berliner Schule für Kopfschussverletzte (Fuchs 1918)
Frankfurt/M.
Kurt Goldstein (1878–1965) emigrierte in die USA* und Adhémar Gelb (1887–1936) emigrierte nach Schweden (Goldstein 1919)
Graz
Fritz Hartmann (1871–1937), Schicksal unbekannt, bis 1934 Ordinarius in Graz
Halle, Landesheilanstalt Nietleben
Berthold Pfeifer (1871–1942) (Rohden 1919)
Jena
J.H. Schulz (1884–1970) (Schultz 1918)
Köln
Walther Poppelreuter (1886–1939) (Poppelreuter 1917)
München
Max Isserlin (1879–1941) emigrierte nach Großbritannien (Isserlin 1924, Peters 2002)
Wien
Constantin von Economo (1876–1931), Alfred Fuchs (1870–1927), Otto Pötzl (1877–1962) (Economo et al. 1918)
Wien Meidling, Sprachärztliche Abteilung
Emil Fröschel (1884–1872) emigrierte in die USA (Fröschel 1915)
* Es wurde vermerkt, ob die Leiter in der Nazi-Zeit emigrieren mussten
47 3.3 · Der 1. Weltkrieg und der Aufbau von Hirnverletzten-Lazaretten
kFörderung der geistigen Fähigkeiten Die Förderung der geistigen Fähigkeiten, heute neuropsychologische Therapie, lag hauptsächlich in den Händen von Hilfsschullehrern.
»
Diese bieten die Gewähr, dass alle pädagogischen Maßnahmen die sorgfältigste Individualisierung und doch die Erfassung der ganzen Persönlichkeit jedes Beschädigten zur Voraussetzung haben. … Zwischen ihm und seinem Schüler muss jede militärische Über- und Unterordnung fallen, soll das tiefere Eindringen in die heilungsbedürftige Psyche gelingen. (Fuchs 1918)
«
Die Schulen umfassten die Behandlung von Störungen der Sprache (. Abb. 3.10), des Rechnens, der Konzentration und des Denkens, als praktische Fächer kamen Stenographie, Handarbeit und heilpädagogisches Turnen hinzu. Das Konzept sah lebensnahe alltagspraktische Themen vor.
»
Es kommt hinzu, dass der Schüler sachlich wertvollen Stoffen eine viel größere Anteilnahme entgegenbringt als den rein formalen Übungen an gleichgültigem Material. (Ruthe 1918)
«
kErste psychologische Testung Zugleich hatte sich nach dem wichtigen Experimentalpsychologen Wilhelm Wundt eine praktische psychologische Diagnostik entwickelt, die sich in ihrem Programm ausdrücklich auf das medizinische Modell der Diagnostik bezieht. Während die Heilpädagogen die Schwierigkeiten der Schüler im Unterricht ohne große Testung zu erkennen glaubten, vertrat die Experimentalpsychologie die Auffassung, dass ihre Ergebnisse das Gleiche seien wie die Urinuntersuchung durch den Laborarzt; beide liefern naturwissenschaftlich exakte Ergebnisse (Moede 1917). Die psychologische Testung, so Moede, gehe stufenweise von den elementaren Sinnesfunktionen zu einfachen und komplexen Funktionen über. Dazu gehörten: 4 Aufmerksamkeit, 4 Begriffsbildung, 4 Gedächtnis, 4 Aussage, 4 Wille, 4 Kombination.
unter der Leitung von Kurt Goldstein (1878–1965) ein (. Abb. 3.9). Die Leitung des psychologischen Instituts hatte Adhémar Gelb (1887–1936) (. Abb. 3.11), mit dem Goldstein zahlreiche Arbeiten zur psychologischen Analyse des Verhaltens von hirnverletzten Personen publizierte. > In Goldsteins Konzept waren medizinischer, psychologisch-pädagogischer und Arbeitsbereich eine Einheit (Goldstein 1919).
Goldstein war in seiner gesamten Haltung zivil; er versuchte auf die Belastbarkeit der Patienten Rücksicht zu nehmen. Er wehrt sich gegen Poppelreuters Satz, dass der Arzt für das Schonen nicht zu sorgen brauche, das täten die Leute von selber. Bei jedem Verletzten wird eine psychologische Untersuchung durchgeführt, wobei er qualitativ die Vorgehensweise des Probanden analysiert. Er spricht sich ausdrücklich gegen eine quantitative Bewertung aus und kritisiert die Anwendung von Tests, die Normalpersonen vorgelegt werden. Die Schweregradabstufung in einem Test wie dem Intelligenztest von Binet sei unbrauchbar für einen hirnverletzten Probanden, da die Hierarchie der Aufgabenschwere gar nicht auf ihn anwendbar sei. Wenn man nur auf das Endergebnis eines Tests schaue, so erfahre man nichts über die zugrundeliegenden Schwierigkeiten. Um ein Symptom zu verstehen, ein Tester-
Fazit In diesem Modell findet sich eine Hierarchie kognitiver Funktionen, vom Elementaren zum Komplexen, die auch heute zum Kanon der kognitiven Neurologie gehört, wenngleich es seit Goldstein dazu verschiedentlich Gegenstimmen gibt.
Kaum Erwähnung in den Arbeiten zur Rehabilitation Hirnverletzter finden jene etwa 200.000 Soldaten, die psychisch schwer betroffen aus dem Krieg zurückkehrten (Stahnisch 2009). jHirnverletzten-Institut Eine therapeutisch und wissenschaftlich hervorgehobene Stellung nimmt das Hirnverletzten-Institut in Frankfurt/M.
. Abb. 3.9. Kurt Goldstein. Geboren 1878 in Kattowitz. Studium der Philosophie und Medizin. Mit dem Cousin, dem Philosophen Ernst Cassirer, lebenslang enger Kontakt. 1904 Assistent bei dem Neuroanatomen Ludwig Edinger in Frankfurt/M. 1907 Habilitation über Halluzinationen. 1916 bis 1933 Aufbau und Leitung des Instituts zur Erforschung der Folgeerscheinungen von Hirnverletzungen. 1919 auf dem Edinger Lehrstuhl Ordinariat für Neurologie. 1933 Wechsel an das Krankenhaus Moabit in Berlin. Dort als Mitglied des sozialistischen Ärzteverbandes bedroht und 1934 Flucht in die Niederlande. Dort Herausgabe seines Hauptwerks »Der Aufbau des Organismus« (1934). Zwangsemigration in die USA. Dort unter schwierigen privaten und beruflichen Umständen weiter wissenschaftlich produktiv. Starb 1965 in New York
3
48 Kapitel 3 · Historische Perspektiven der Neurorehabilitation
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. Abb. 3.10. Sprachtherapie im Hirnverletzten-Lazarett von Goldstein und Gelb. Wahrscheinlich liegt nach heutigen Begriffen eine Sprechapraxie vor. Der Soldat lernt das »b« durch die Bewegung des
Pfeiferauchens. Der geschriebene Buchstabe »b« erinnert ihn an die Pfeife (Goldstein, »Die Behandlung, Fürsorge und Begutachtung der Hirnverletzten« 1919)
gebnis richtig zu deuten, müsse man die Person, ihre Haltung, ihre Bemühungen, Verluste auszugleichen, verstehen.
durch eine Änderung seines Verhaltens an. Die Person vermeidet Situationen, die unüberschaubar sind oder als herausfordernd und fremd erlebt werden. Die Person sucht Halt und findet sie in dem, was als konkrete Haltung bezeichnet wird. Gemeint ist eine Fähigkeit, in alltäglichen Bezügen, gewohnten Bahnen im Leben klarzukommen. Die Dinge werden
» Symptome sind der Ausdruck einer Veränderung, die die gesamte Person des Patienten betrifft und ebenso der Ausdruck des Kampfes der veränderten Person, mit den Verlusten und den Anforderungen, denen die Person nicht mehr gewachsen ist, umzugehen. (Goldstein 1934)
«
kAnsatz von Goldstein und Gelb Worin liegt ideengeschichtlich die Bedeutung von Goldstein und Gelb? Zunächst darin, dass sie die wissenschaftliche Betrachtungsweise auf die Person, die eine Hirnverletzung erlitt, richteten und damit neue Einsichten in die Entstehung von Symptomen gewannen. Der Ausgangspunkt ist »Die Krankheit bedroht die Existenz eines Lebewesens« (Gelb 1937). Eine Hirnverletzung löst, und dies ist ein Zentralbegriff zum Verständnis dieser Personen, eine Katastrophenreaktion aus. Es gebe zwei Grundformen menschlicher Existenz, eine geordnete und eine ungeordnete »katastrophale«:
» In der geordneten Situation erscheinen uns die Leistungen konstant, ‚richtig‘, dem Organismus, dem sie zugehören, entsprechend, sowohl der Art nach wie der speziellen Individualität, wie den Umständen, in denen der Organismus sich befindet. Sie werden vom Menschen selbst mit dem Gefühl des Behagens, der Entspannung, der Angepasstheit an die Welt, der Freude erlebt. Die katastrophalen Reaktionen erweisen sich demgegenüber als ungeordnet, wechselnd, widerspruchsvoll, eingebettet in Erscheinungen körperlicher und seelischer Erschütterung. Der Kranke erlebt sich in diesen Situationen unfrei, hin- und hergerissen, schwankend, er erlebt eine Erschütterung der Welt um sich wie seiner eigenen Person. (Goldstein 1934)
«
Die Person mit einer Hirnverletzung versucht, aus der Katastrophensituation wieder in ein Gleichgewicht zu kommen, wieder in eine für sie erträgliche Lage. Der Organismus, so die These von Goldstein und Gelb, passt sich der Situation
. Abb. 3.11. Adhèmar Gelb. 1887 in Moskau geboren. Studium der Psychologie in München. Seit 1912 Assistent am Psychologischen Institut der Akademie für Sozialwissensschaften in Frankfurt/M. Seit 1916 Mitarbeit bei Kurt Goldstein am Hirnverletzten-Institut in Frankfurt/M. In den 20er Jahren, zusammen mit Goldstein, Herausgabe der umfangreichen Fallbeschreibungen »Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle«. 1929 Direktor des Frankfurter Psychologischen Instituts, 1931 Wechsel auf das Ordinariat in Halle. 1933 Entlassung wegen jüdischer Herkunft. Ruf an die Universität Stockholm konnte er wegen seiner Tuberkuloseerkrankung nicht antreten. 1935 Gastvorträge in Lund (Gelb 1937). Starb 1936 in Calw
49 3.3 · Der 1. Weltkrieg und der Aufbau von Hirnverletzten-Lazaretten
gesehen, so wie sie sind, und nicht in möglichen anderen Bedeutungen. Die abstrakte Welt, das Denken in Symbolen und Metaphern, die Fähigkeit zur Reflexion über das Gedachte und Gesagte sind erschwert. Der hirnverletzte Mensch schützt sich selbst dadurch, dass er das Leben konkret und praktisch angeht. Viele klinische Symptome, wie das Schwanken kognitiver Leistungen, können mit diesem Konzept erklärt werden. Beispiel Patienten mit einer Aphasie können in einem alltäglichen, emotional geführten Gespräch Wörter spontan herausbringen, die sie in der für sie abstrakten Aufgabe durch den Sprachtherapeuten nicht finden.
Die Polarisierung abstrakte vs. konkrete mentale Orientierung ist jedoch nicht als Schwarz-Weiß-Gegensatz zu sehen (Noppeney 2000). kLokalisationslehre Goldstein beherrschte und respektierte die für die klinische Arbeit notwendige Lokalisationslehre, wie sein (mit Crohn) verfasstes Buch zur Diagnostik der Hirngeschwulste zeigt (Goldstein u. Cohn 1932, Goldstein 1927). Diese für klinische Zwecke notwenige Kenntnis der funktionellen Neuroanatomie ist allerdings, so Goldstein und Gelb, nicht ausreichend, um Denken und Verhalten zu verstehen. Es bestehe
»
die unzutreffende Vorstellung, dass das Verhalten des Menschen im konkreten Einzelfalle sich aus einzelnen, mehr oder weniger isolierbaren Leistungen zusammensetze, aus Leistungen, die ihrerseits somatischen Einrichtungen und Vorgängen im Zentralnervensystem stückhaft zugeordnet seien. Man knüpft – mit gewissem Recht – die Sprachleistungen an die sog. ›Sprachregion‹, optisch-gnostischen an die ›höheren‹ und ›höchsten Sehzentren‹ usw. Unsere Analysen zeigten indessen, dass ein Leistungsgebiet wie das der Sprache höchst vielschichtig ist: In den einzelnen Sprachleistungen steckt nämlich, wie wir sahen, bereits der ganze Mensch insofern, als bestimmte Sprachleistungen nur bei einer ganz bestimmten Grundeinstellung des Menschen zur Umwelt zustande kommt. (Gelb 1937)
«
kWiederentdeckung von Goldsteins Arbeiten Die Wirkungsgeschichte von Goldstein und Gelb ist wechselhaft. Im Nachkriegsdeutschland waren sie wissenschaftlich abgeschrieben (Jung 1949, Bay 1950) oder weitgehend vergessen. Erst Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde das Konzept einer holistischen Behandlung von hirnverletzen Personen durch die amerikanischen Neuropsychologen Yehuda Ben Yishay, der noch bei Goldstein studiert hatte, und George Prigatano aufgegriffen (Prigatano 1999, Ben-Yishay u. Prigatano 1990). Die Wiederentdeckung von Goldstein ist noch nicht abgeschlossen. Vor kurzem schrieben die Psychologen Medved und Brockmeier, sie seien zufällig auf die Arbeiten von Goldstein gestoßen, und es sei für sie »a real disco-
very, an intellectual surprise« (Medved u. Brockmeier 2008). Bei der heutigen Rolle, die der funktionellen Bildgebung für die Neurorehabilitation von vielen Autoren zugesprochen wird, ist daran zu erinnern, dass der Entwurf von Landkarten des Gehirns nach dem 1. Weltkrieg in der Arbeit von Karl Kleist (Kleist, 1932–1934) einen Höhepunkt erreichte. Auf 1.000 Seiten analysiert er bei 276 Soldaten die gesamte aphasische und »hirnpathologische« neuropsychologische Symptomatik und ordnet jeder der Störungen einen Ort auf der zerebralen Landkarte zu. Die Metapher der Landkarte findet sich im Begriff des Brain Mapping wieder. Fazit Die Fragen, ob das Gehirn modular oder holistisch arbeite, wurden in den 20er Jahren gestellt, nach der Antwort wird immer noch gesucht, und vielleicht ist die Frage in ihrer Dichotomie falsch gestellt (Uttal 2001).
Auch die Geschichte der Neurorehabilitation ist eine Geschichte der Zwangsemigration. Wie in . Tab. 3.1 gezeigt, vertrieb Deutschland seine besten Köpfe. Wie dürftig jedoch das historische Gedächtnis nach dem Krieg war, zeigt, dass keine Rehabilitationsklinik nach einem würdigen Emigranten benannte wurde, dagegen nach dem Hitler-Verehrer Poppelreuter (Frommelt 2003). jBeschäftigung mit den Folgen von Hirnverletzungen Nur wenige beschäftigen sich mit den Folgen von Hirnverletzungen, so in Wien Birkmayer (Birkmayer 1951) oder in Heidelberg Viktor von Weizsäcker (Weizsäcker 1990). Schon Goldstein hatte sich dagegen gewehrt, ein Symptom als Ausdruck eines Defekts zu verstehen. Diesen Gedanken baut von Weizsäcker zu der Theorie des Funktionswandels um. > Unter Funktionswandel versteht von Weizsäcker eine Reorganisation der Funktionen nach einer Hirnschädigung, die dazu führt, dass Leistungen anders erbracht werden. Es handelt sich nicht nur um ein Minus an Funktionen, sondern um eine Umgestaltung, eine Reorganisation auf einem anderen Niveau.
Es »herrscht nicht das Prinzip, wonach einzeln Mosaike ausfallen«, sondern das Mosaik bleibt ein Bild, allerdings »primitiver« (Weizsäcker 1940, 1990). Eine Beobachtung von Leistungen aus dem realen Leben kann zeigen, auf welchen veränderten Wegen eine Leistung erbracht wird. Viktor von Weizsäcker hat als Nachfolger von Foerster in Breslau ein Hirnverletzten-Lazarett geführt. Er war ein Vertreter der Arbeitstherapie, wobei sein »Hauptbestreben war, sie möglichst bald unter die Gesellschaft gesunder Arbeitskameraden zurückzubringen« (Weizsäcker, »Über die Hirnverletzten« 1990, Hebel 1940). Von bleibender Aktualität sind seine Arbeiten zur Sozialmedizin, in denen er sich für die rechtliche Gleichstellung von somatischen und psychischen Verletzungsfolgen im Sozialrecht ausspricht. Klar äußert er sich zur Frage des sog. Rentenbegehrens oder der Rentenneurose:
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50 Kapitel 3 · Historische Perspektiven der Neurorehabilitation
» Ich glaube seit Jahren nicht mehr an die ›Renten‹-Neurose. « (Weizsäcker, »Klinische Vorstellungen« 1990).
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Seine Hauptbedeutung liegt auf der Ausarbeitung eines Konzepts einer humanistischen Medizin, die narrativ Biographie und sozialen Kontext einbezieht (Rimpau 2007).
3.4
Der 2. Weltkrieg und die Arbeit von Alexander Luria (1902–1977)
Im 2. Weltkrieg wurden auch in Großbritannien und der Sowjetunion Spezialeinrichtungen für die Rehabilitation hirnverletzter Soldaten geschaffen. Die Situation in der Sowjetunion zeichnet sich dadurch aus, dass die Psychologie, vor allem in der Arbeit von Lev Semyonovich Vygotsky, eine eigenständige Entwicklung im Vergleich zu Westeuropa eingeschlagen hatte. > Diese als kulturhistorische Schule der Psychologie bezeichnete Richtung verstand die Entwicklung der psychischen Fähigkeiten als eine Aneignung der jeweils historisch und kulturell vorhandenen Welt. Das Gehirn verfüge über eine biologische Ausstattung, die sich nur im sozialen Austausch entfalte.
Nach seiner Auffassung von der Organisation des Zentralnervensystems führte Vygotsky das Konzept der funktionellen Organisation ein. Er und Luria vertraten, wenn man so will, ein modifiziert holistisches Konzept der Gehirnfunktionen:
» Das Gehirn ist ein hoch differenziertes System, dessen Teile verantwortlich sind für das vereinte Ganze. « (Luria 1980) Das Verhalten beruhe auf einer Kooperation zwischen neuronalen Arealen. Wenn eine Funktion zerstört ist, so werden intakte pluripotente (vielseitig aktivierbare) neuronale Strukturen herangezogen. Luria grenzt sich gegen Goldstein ab, indem er ihm – unzutreffend – die Auffassung zuschreibt, alle Gehirnareale seien diffus zu gleichen Funktionen imstande, und er grenzt sich andererseits gegen die Lokalisationisten mit ihren Landkarten ab. jRehabilitationskonzept von Luria Das Prinzip der Rehabilitation sieht Luria darin, dass eine beschädigte Funktion mit anderen noch intakten Funktionen verknüpft wird. Diese Reorganisation geschieht wesentlich dadurch, dass Aufgaben gestellt werden, die intakte Funktionen anregen.
jetischen Motorik-Physiologie, wie denen von Bernstein und Anochin, sieht. Anochin (Anochin 1967) führt das Konzept des motorischen Handelns in sein Modell der Bewegung ein. Damit wird Bewegung nicht mehr als Bewegung an sich, sondern als motorisches Handeln mit einem angestrebten Handlungsziel verstanden. Dazu, so Anochins Hypothese, gebe es einen Analysator, der »in seinen Parametern dem Komplex der Merkmale und Qualitäten des bevorstehenden Ergebnisses entspricht« (Anochin 1967). Anochin entwirft ein Modell, mit dem die alte These des Neurologen Hughlings Jacksons (1925), das Gehirn sei nicht an Muskeln, sondern Bewegungen interessiert, erklärt wird. Die subjektive Bewertung eines Handlungsziels, die Bedeutung, die eine Aufgabe für eine Person hat, beeinflusst damit die Handlung selbst. Macht eine Aufgabe subjektiv Sinn, so die These, wird sie anders und effektiver ausgeführt als eine Aufgabe ohne persönlichen Bezug.
»
Ein Patient kann aufgrund seiner Lähmung die Fingerspitzen von Daumen und Zeigefinger nicht mehr als 10–15 mm aneinander annähern. Jedoch unmittelbar nach dieser Aufgabe ergreift er ohne große Schwierigkeiten einen Bleistift, dessen Druchmesser nicht mehr als die Hälfte des Abstandes beträgt. (Lenot’ev u. Zaporozhets 1962)
«
Das Rehabilitationskonzept von Luria (. Abb. 3.12) ist gekennzeichnet durch eine große Individualität der Behandlungen; er schildert den oft langen, experimentellen Weg bis zum Auffinden von kompensatorischen Funktionen. Er nutzt gerne die Sprache in Form einer Selbstinstruktion der Patienten oder in Form von Aufzeichnungen, um desorganisierte motorische oder kognitive Handlungen zu steuern. In der Diagnostik neuropsychologischer Störungen ging er qualitativ vor. Er nutzte auch die Methode des von Vygotsky entwickelten dynamischen Testens, bei dem der Untersucher Hilfestellung gibt, um das Lernpotenzial einzuschätzen. Neben der experimentell empirischen Wissenschaft gibt es bei Luria eine andere Seite, die er selbst als »romantische Wissenschaft« bezeichnet. Dabei wendet er sich den Lebensgeschichten von Personen zu und erzählt über sie, so über den Gedächtniskünstler oder den hirnverletzten Soldaten, »dessen Welt in Scherben ging« (Luria 2000). Oliver Sacks, der Erzähler neurologischer Geschichten, bezieht sich ausdrücklich auf Luria, übrigens auch auf Kurt Goldstein (Sacks 1987). Die Tradition Lurias wurde in der Neurorehabilitation besonders durch die Arbeit von Anne-Lise Christensen aus Kopenhagen fortgesetzt, die auch Lurias neuropsychologische Tests neu herausbrachte (Christensen et al. 2010).
Beispiel Wenn man, wie es schon Frenkel bei seinen Ataxieübungen getan hatte, auf dem Fußboden Markierungsstreifen zum Gehen auslegt, so aktiviert man das visuell-räumliche funktionale System, mit dessen Hilfe das Gehen des ataktischen Patienten deutlich verbessert wird.
Seine Theorie der Rehabilitation lässt sich besser verstehen, wenn man sie im Zusammenhang mit den Arbeiten der sow-
3.5
Die Nachkriegzeit seit 1945 und gegenwärtige Strömungen
Die Versorgung der hirnverletzten Soldaten des 2. Weltkriegs unterschied sich von der des 1. Weltkriegs durch die Entwicklungen in der Neurochirurgie. Sowohl in Deutschland unter Tönnis als auch in Großbritannien und den USA wurden
51 3.5 · Die Nachkriegzeit seit 1945 und gegenwärtige Strömungen
In Deutschland blieb die wissenschaftliche Entwicklung der neuropsychologischen Rehabilitation auch nach dem Krieg weit hinter den Entwicklungen in den angelsächsischen Ländern zurück. In der akademischen Welt gab es kaum Bemühungen, mit den zwangsemigrierten Neurologen oder Psychologen wieder Verbindung aufzunehmen. Man begnügte sich, das Verhalten der hirnverletzten Personen mit dem Bleuler’schen Begriff des hirnorganischen Psychosyndroms oder der Wesensveränderung zu belegen. Es gab weder in der Psychologie noch in der Neurologie, sieht man von Ausnahmen ab, ein großes Interesse an den neuropsychologischen und sensomotorischen Folgen von Hirnverletzungen. Ausnahmen sind die Arbeiten von Leischner (1987), von Bay zum Funktionswandel (1950), und später von Poeck (1982). 1948 wurde eine Arbeitsgemeinschaft für Hirntraumafragen gegründet, die spätere Gesellschaft für Hirntraumatologie und klinische Hirnpathologie. > Die spätere Einrichtung zahlreicher neurologischer Rehabilitationskliniken ging in Deutschland nicht mit einer wissenschaftlich-intellektuellen Entwicklung des Fachs parallel. . Abb. 3.12. Alexander Luria. 1902 in Kazan geboren. Studium der Sozialwissenschaften und Medizin in Kazan. Als Student Gründer einer psychoanalytischen Vereinigung in Kazan. 1924 Begegnung mit Lev Semyonovich Vygotsky, dessen kulturhistorische Auffassung der Psychologie einen bleibenden Einfluss auf sein Denken behielt. 1931 und 1932 Expeditionen nach Usbekistan mit der Fragestellung, wie sich kulturelle und sozioökonomische Bedingungen auf die kognitiven Funktionen auswirken. Danach als rassistisch diffamiert, verlässt er Moskau. Untersuchungen zur Aphasie. 1939 Aufbau einer Klinik für hirnverletzte Soldaten in Kisegach im Ural. Nach dem Krieg Übernahme einer Abteilung am Neurochirurgischen Institut. Wiederum Diffamierung. 1951 Verlust der Stelle. Nach Stalins Tod Aufblühen der wissenschaftlichen Arbeiten, Reisen, internationale Publikationen. Seit 1959 wieder am Burdenko Neurochirurgischen Institut in Moskau. 1973 Publikation seines großen Werks »The Working Brain«. Daneben Arbeiten zur »romantischen Wissenschaft« wie »The mind of a mnemonist« oder » Der Mann, dessen Welt in Scherben ging« (Luria, »The working brain« 1980; »The mind of a mnemonist: a little book about a vast memory« 1986)
Blickt man in das 1956 im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Hirntraumafragen herausgegebene Buch, so findet man sehr viele Beiträge zur sozialen Versorgung und zur Begutachtung, jedoch keine nennenswerte Auseinandersetzung mit den Inhalten der Rehabilitation oder einen Bezug auf Autoren wie Goldstein, Weizsäcker oder Zangwill (Rehwald 1956). Dagegen bezieht sich der Psychiater Panse in seinem Beitrag zur Begutachtung auf »das reinigende Gewitter« des Urteils des Reichsversicherungsamts vom 24.9.1926, das mit der Entschädigung von »Wunschtheorien«, den Unfallneurosen Schluss gemacht habe (Panse 1956) .Er bleibt bei der Auffassung, eine Unfallneurose sei grundsätzlich nicht mit dem schädigenden Ereignis begründbar. Das nicht unwichtige Kapitel der Begutachtung und der juristischen Bewertung von Hirntraumafolgen ist historisch noch nicht gut bearbeitet. In der Rehabilitation dominierte das Modell der Kurklinik, stationär und fern von städtischen Zentren. Aus der Nachkriegszeit stammt folgende Beschreibung einer Station für hirnverletzte Patienten:
neurochirurgische Zentren mit angeschlossenen Rehabilita-
tionseinrichtungen eingerichtet. In Großbritannien war es vor allem Oliver Zangwill (Zangwill 1947), der spätere Gründer der International Neuropsychological Society, der die erste neuropsychologische Rehabilitationseinheit aufbaute. Zangwill war ein Befürworter von kompensatorischen Strategien (»substitution«). Obwohl sehr versiert in der neuropsychologischen Diagnostik, war er skeptisch hinsichtlich der prognostischen Aussagekraft (Zangwill 1947). > In Deutschland war 1942 auf Betreiben führender Nervenärzte die Tätigkeit von Psychologen in den Sonderlazaretten für Hirnverletzte untersagt worden (Geuter 1984).
» In der Hirnverletzten-Fachstation wird er (der Hirnverletzte) sehr bald entneurotisiert. Er muss sich hier der Umgebung anpassen, er muss gehorchen, er kommt in geordnete Verhältnisse, über die er nicht zu bestimmen hat, er wird in einen Rhythmus von Ruhe, Abwechslung, Beschäftigung, Sport usw. eingespannt. (Lindenberg 1948)
«
Fazit Die 50er bis 70er Jahre waren in Deutschland, was die Neurorehabilitation angeht, bis auf Ausnahmen ohne wesentliche wissenschaftliche oder therapeutische Impulse. Die nur historisch und politisch zu begründende Schwerpunktsetzung auf den stationären Bereich unterscheidet Deutschland von anderen westlichen Ländern.
3
52 Kapitel 3 · Historische Perspektiven der Neurorehabilitation
Eine Übersicht über die Entwicklung der klinischen Neuropsychologie in Österreich findet sich bei Maly und Strubreiter (2006).
3
3.6
Entwicklungen der letzten Jahrzehnte
Seit den 80er Jahren hat sich die Neurorehabilitation in der Anzahl der Einrichtungen und im Behandlungsspektrum stark erweitert. Waren es nach dem Krieg vor allem die hirnverletzten Patienten, nehmen inzwischen die Patienten mit einem Schlaganfall den größten Anteil ein. Eine Entwicklungslinie der letzten Jahre hat Diller als »industrialization of rehabilitation« bezeichnet (Diller 1999). Es wurden Rehabilitationsphasen eingeteilt und diese mechanisch in Punktwerte von Assessment-Skalen übersetzt (Schupp 1996). Die Therapiedichte wird von den Leistungsträgern elektronisch erfasst. Die wissenschaftlichen Aktivitäten haben erheblich zugenommen, es gibt mehrere Lehrstühle für Neurorehabilitation. Einige Entwicklungen der letzten Jahre seien kurz skizziert.
3.6.1
Holistische neuropsychologische Rehabilitation
Der heute in New York arbeitende Neuropsychologe Yehuda Ben-Yishay (Ben-Yishay 1999), von Kurt Goldstein kommend, und die dänische Neuropsychologin Anne-Lise Christensen (Caetano u. Christensen 1999), von Alexander Luria kommend, können als die Begründer einer sog. holistischen Richtung der neuropsychologischen Rehabilitation gelten. Beide haben Therapieprogramme für Personen mit Hirnschädigung entwickelt, nach denen diese über 1–6 Monate in einem speziellen therapeutischen Milieu von Psychologen und anderen Therapeuten in Gruppen betreut werden. Dabei wird die Entfaltung der sozialen und emotionalen ebenso wie der kognitiven Fähigkeiten im sozialen Kontext einer Gruppe gefördert (7 Kap. 9). Die Anzahl der Zentren, die nach diesem Konzept arbeiten, hat in Europa in den letzten Jahren zugenommen.
3.6.2
Einführung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)
Die bereits in den frühen 80er Jahren von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eingeführte Klassifikation der Krankheitsfolgen, die International Classification of Impairment, Disability und Handicap (ICIDH), wurde im Jahr 2001 durch eine neue Klassifikation, die ICF, ersetzt. Sie wurde eingeführt, um die Probleme von Menschen mit chronischen Erkrankungen in einer einheitlichen Form zu dokumentieren und das rein biomedizinische Modell der Krankheiten durch ein bio-psycho-soziales Modell chronischer Erkrankungen zu ersetzen (WHO 2005). Das Modell wird von einigen als zu expertenorientiert und zu wenig an der subjektiven Sichtwei-
se der betroffenen Personen kritisiert (Frommelt u. Grötzbach 2005). In den letzten Jahren gibt es zwei unterschiedliche Strömungen, in denen die ICF in die klinische Arbeit implementiert wird: 4 Anhänger einer quantitativen Messung von Rehabilitationsverläufen versuchen, die ICF als Dokumentationsund Assessment-Instrument zu nutzen. 4 Eine andere Richtung wendet sich Quantifizierungsversuchen zu und versucht, das Konzept mit dem zentralen Ziel der Teilhabe in die Praxis zu übertragen (Fries et al. 2006).
3.6.3
Narrative und qualitative Ansätze in der Neurorehabilitation
Oben wurde auf die »romantische Wissenschaft« von Alexander Luria hingewiesen. Der Neurologe Oliver Sacks sieht diese Art von biographischer Annäherung an Menschen mit neurologischen Erkrankungen für sich als Vorbild (Sacks 2009). Eine Reihe von Autoren haben sich den letzten Jahren mit den unterschiedlichen Formen des Erzählens in der Medizin beschäftigt (Charon 2006). Diese Richtung der narrativen Medizin widmet sich den subjektiven Erfahrungen von Patienten und ihren Bemühungen, die durch die Erkrankungen entstandenen Brüche in ihrem Leben zu überwinden (7 Kap. 7). Erzählungen lassen sich nicht quantitativ auswerten; in den angelsächsischen Ländern haben daher qualitative Methoden in den sozialen und Gesundheitswissenschaften ihre Position in den letzten Jahren ausgebaut, in Deutschland hat sich besonders Lucius-Hoene mit der Analyse von narrativen Texten zur persönlichen Identität befasst (Lucius-Hoene u. Deppermann 2004). Eine Zwischenbilanz zur Umsetzung narrativer Konzepte in die Praxis der Neurorehabilitation findet sich bei Frommelt und Grötzbach (2008).
3.6.4
Neurobiologische Untersuchungen zur Plastizität des zentralen Nervensystems
Die Fähigkeit des Nervensystems, sich anzupassen, die eigenen Strukturen und Funktionen Anforderungen anzupassen, hat seit Ende des 19. Jahrhunderts die Neurologen fasziniert. Einige Autoren sehen in der Anpassungsfähigkeit das zentrale Merkmal des Nervensystems, der Mensch ist in den Worten von Theo Mulder »Der geborene Anpasser« (Mulder 2007). Mit der Entwicklung neuer neurobiologischer Verfahren und der Entwicklung von hochauflösenden bildgebenden Verfahren hat die Forschung zur Plastizität des Nervensystems in den letzten 30 Jahren zahlreiche neue Erkenntnisse gebracht. Die Arbeitsgruppe von Merzenich konnte in Tierversuchen belegen, dass »die kortikalen Landkarten dynamische Konstrukte sind, die durch Erfahrungen im Leben remodelliert werden (Mapping)« (Buanomano u. Merzenich 1998) (7 Kap. 6). Diese Plastizität beruht nicht nur auf einer Stärkung synaptischer Verbindungen, sondern schließt die Auflö-
53 3.8 · Literatur
sung und Neubildung von Synapsen ein, die Neubildung von Neuronen und die Veränderungen von Neurotransmittern (Butz et al. 2009). Eine Reihe von Forschungen beschäftigt sich mit der Frage, ob die Umgebungsbedingungen einen Einfluss auf die Plastizität des Gehirns haben. Tiere, die nach einer experimentellen Hirnschädigung in eine anregende Umgebung, z.B. einen Käfig mit Spiel- und Übungsmöglichkeiten (»enriched environment«) gebracht werden, unterscheiden sich in der neuronalen Regeneration erheblich von Tieren, die in einem leeren Standardkäfig versorgt werden (Sale et al. 2009). Die tierexperimentellen Ergebnisse sind in den letzten Jahren in die klinische Praxis eingeflossen; ein Beispiel ist das Konzept des intensiven Übens, Forced Use Training von Traub, das neuerdings als Constraint Induced Movement Therapy bezeichnet wird (Taub et al. 2006). Im Prinzip handelt es sich um ein Wiederaufgreifen der Übungstherapien des 19. Jahrhunderts, allerdings mit der Variation, dass die nicht paretische Hand eingebunden wird, um die kranke zum Greifen zu zwingen. Mit der Methodik der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) können übungsbedingte Veränderungen in der kortikalen Architektur nachgewiesen werden (Hodics et al. 2006).
3.7
Schlussbemerkung
Den roten Faden durch die Geschichte der Neurorehabilitation sucht man vergebens. Es gibt nicht den Ariadnefaden, sondern eine Unzahl von Fäden, die sich durch die Geschichte eines so jungen Gebiets wie der Rehabilitation von Menschen mit neurologischen Erkrankungen ziehen. Einige sind noch ganz kurz, andere lassen sich weit bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgen, viele scheinen blind zu enden. Die Arbeit in den Neurowissenschaften allgemein hat oft nur ein geringes historisches Gedächtnis ihres eigenen Fachs. Aus dem Werk großer Hirnforscher wie von Monakow entnimmt man das Bauteil Diaschisis, weil es gut Dinge in der funktionalen Bildgebung erklären kann, den Rest des 1.000-SeitenBuches von Monakow liest niemand mehr. Betrachtet man die Entwicklung der Forschung in den letzten Jahren, so könnte man meinen, dass es nicht schaden könnte, sich etwas mehr mit den konzeptuellen und theoretischen Konzepten, die in der Geschichte der Neurorehabilitation vor uns ausgebreitet liegen, zu beschäftigen. Für die praktische Arbeit wird man im Apraxietraining nicht die Frenkel-Geräte nachbauen, man kann jedoch aus dem Phantasiereichtum eines Frenkel schöpfen. Die Geschichte der Neurorehabilitation ist noch reich an zu Entdeckendem. 3.8
Literatur
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54 Kapitel 3 · Historische Perspektiven der Neurorehabilitation
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Neurologische Rehabilitation
4.2
ICF als Klassifikation und Grundlage der Definition »Behinderung« – 58
4.3
Schlaganfall
4.4
Hirnverletzung
4.5
Multiple Sklerose (MS)
4.6
Morbus Parkinson
4.7
Neuromuskuläre Erkrankungen
– 59 – 61 – 62
– 63
4.7.1 Motoneuronerkrankungen – 63 4.7.2 Periphere Neuropathien – 64
4.8
Literatur
– 58
– 64
– 63
58 Kapitel 4 · Epidemiologie neurologisch bedingter Behinderungen
4
In diesem Kapitel sollen die Auswirkungen neurologischer Erkrankungen auf den Alltag der Patienten beschrieben werden. Basis der Beschreibungen sind die 4 International Classification of Impairment, Disability and Handicap (ICIDH) (WHO 1980) und 4 International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) (WHO 2001) als international anerkannte Standards. Daten zu Inzidenzen und Prävalenzen für häufige neurologische Erkrankungen wie z.B. Schlaganfall, Morbus Parkinson, Multiple Sklerose oder Hirnverletzung existieren zwar, es gibt jedoch so gut wie keine flächendeckenden krankheits- und behinderunsspezifischen Erhebungen. Daher finden sich vor allem über den Langzeitverlauf dieser Erkrankungen nur wenige Angaben. Noch weniger Daten existieren zum dezidierten Verlauf und Schweregrad eintretender, die Teilhabe am Leben einschränkender Behinderungen. Die in . Tab. 4.1 aufgeführten Werte basieren auf einer Meta-Analyse aus den frühen 90er Jahren und sind in einigen Bereichen inkomplett, geben jedoch einen Anhaltspunkt über die Verteilung der verschiedenen neurologischen Krankheitsbilder (Jochheim 1999).
4.1
Inzidenz pro 100.000 Einwohner
Prävalenz der Behinderung pro 100.000 Einwohner
Schlaganfall
200
320
Subarachnoidalblutung
11
–
Schädel-Hirn-Trauma
280
160–200
Hirntumor
16
–
Multiple Sklerose
4
90
Morbus Parkinson
18
120
Motoneuronerkrankung
1,6–2
5,6
Guillain-Barré-Syndrom
1,2
–
Enzephalitis
14
–
Rückenmarkstrauma
1,6–4,8
–
Neurologische Rehabilitation
Die neurologische Rehabilitation ist ein wesentlicher Bestandteil in der Versorgung von Patienten mit Krankheiten des zentralen und peripheren Nervensystems. Mit Einführung der Disease Related Groups (DRG) in Deutschland verkürzen sich die akut-stationären Liegezeiten weiterhin kontinuierlich. Ein hoher Prozentsatz der akut neurologisch erkrankten Patienten wird daher in neurologischen Rehabilitationskliniken weiterbehandelt. Für Patienten mit Schlaganfall stehen umfangreiche Daten aus der Hessischen Qualitätssicherungserhebung mit einem Sechs-Monate-Follow-up zur Verfügung. Bei Morbus Parkinson und Multipler Sklerose muss auf Mitteilungen der Pflegeversicherung (. Tab. 4.1, Jochheim 1999) und Studien über die Lebensqualität zurückgegriffen werden. Untersuchungen über den Langzeitverlauf mit einer Beobachtungszeit von maximal 5 Jahren an Patienten mit einer Hirnverletzung geben Aufschluss über Ausmaß und Schwerpunkt der verbleibenden neurologischen Behinderungen (Hoffmann et al. 2002). Neben den epidemiologschen Daten sollen im Folgenden Verläufe neurologisch bedingter Behinderungen unter der besonderen Berücksichtigung von Lebensqualität, Depression und Identifikation von Prädiktoren dargestellt werden.
4.2
. Tab. 4.1. Inzidenzen neurologischer Erkrankungen, die zu schweren Behinderungen führen können
ICF als Klassifikation und Grundlage der Definition »Behinderung«
Unabhängig von der Ätiologie der Schädigung des Nervensystems werden internationale Klassifikationen verwendet, um die objektiven Ausfälle und die daraus folgenden Beeinträchtigungen zu beschreiben. Die erste internationale
Klassifikation wurde 1980 von der WHO unter dem Namen ICIDH (International Classification of Impairment, Disability and Handicap) entwickelt. Ziel war es, die unterschiedlichen Aspekte einer Erkrankung in ihren Auswirkungen zu erfassen, um individuelle Rehabilitationsziele zu definieren (WHO 1980). In den mehr als 20 Jahren ihrer Existenz hat die ICIDH jedoch nie den Stellenwert erreicht, der ihr zugedacht war. Die ICIDH wurde 2001 von der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health, WHO 2001) (. Abb. 4.1) abgelöst. Die ICF als länder- und fachübergreifende Sprache zur Beschreibung 4 des funktionalen Gesundheitszustands, 4 der Behinderung, 4 der sozialen Beeinträchtigung und 4 der relevanten Umgebungsfaktoren einer Person. Die englische Originalfassung wurde 2001 von der Weltgesundheitsorganisation verabschiedet. Die deutsche Übersetzung wird vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) publiziert (www.dimdi. de). In der ICF wird vor allem der gesamte Lebenshintergrund der Betroffenen berücksichtigt.
59 4.3 · Schlaganfall
jICF-Modell Definition Grundlage der ICF ist die Definition des Begriffs »funktionale Gesundheit«. Eine Person ist funktional gesund, wenn 5 ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereichs) und Körperstrukturen allgemein anerkannten Normen entsprechen (Konzept der Körperfunktionen und -strukturen), 5 sie nach Art und Umfang das tut oder tun kann, wie es von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet wird (Konzept der Aktivitäten), 5 sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in Art und Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Schädigungen der Körperfunktionen/-strukturen und Aktivitätseinschränkungen erwartet wird (Konzept der Teilhabe). Aus dieser Definition leitet sich der Begriff der Behinderung ab: Eine Behinderung (»disability«) liegt dann vor, wenn eine Beeinträchtigung in wenigstens einem Aspekt der funktionalen Gesundheit vorliegt (Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen, der Aktivitäten oder der Teilhabe).
Der Begriff der Behinderung ist nach der ICF somit einer Beeinträchtigung der funktionalen Gesundheit gleichzusetzen. Dieses Verständnis von Behinderung hat Eingang in das Sozialgesetzbuch gefunden. Der Behinderungsbegriff nach SGB IX (§2) besagt danach:
»
Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit (=Störung auf der Funktionsebene im Sinne der ICF) mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (=Teilhabekonzept der ICF) beeinträchtigt ist.
«
In welchem Ausmaß die Teilhabe eingeschränkt ist, hängt neben der Beeinträchtigung der Körperfunktion von sog. Kontextfaktoren ab. Diese sind 4 zum einen Umweltfaktoren (Hilfsmittel, soziales Umfeld und Unterstützung) und 4 zum anderen personenbezogene Faktoren (Alter, Geschlecht, Charakter, Lebensstil, Bildung/Beruf, Erfahrung). Besonders Umweltfaktoren können die Teilhabe erheblich einschränken (Barrieren) oder auch unterstützen (Förderfaktoren). Alle modernen Begriffsbestimmungen der Rehabilitation basieren auf dem ICF-Modell. Die Besserung der Funktionsfähigkeit auf Ebene der Teilhabe (Partizipation) bzw. der Aktivitäten ist für die Definition von Rehabilitationszielen
. Abb. 4.1. International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)
und die Evaluation von Therapieerfolgen maßgebend (Frommelt u. Grötzbach 2005). Im Austausch mit den sozial- und gesundheitspolitischen Gremien ist die Terminologie der Barrieren (hemmende Umweltfaktoren) und der Förderfaktoren (unterstützende Umweltfaktoren) ausgesprochen hilfreich, um die Bedürfnisse der Betroffenen zur Verbesserung der funktionalen Gesundheit zu verdeutlichen (Schuntermann 2002).
4.3
Schlaganfall
Die häufigste Erkrankung, die in Deutschland zu bleibenden Behinderungen führt, ist der Schlaganfall. Die jährliche Inzidenz beträgt im Erlanger Schlaganfallregister, das eine Kompletterfassung des Raum Erlangens über Jahre realisiert hat, 174/100.000 Personen. Erfasst wurden die zerebrovaskulären Ereignisse (Kolominsky-Rabas 1998). Diese Zahl gibt jedoch noch keine Auskunft über das Ausmaß der resultierenden neurologischen Behinderungen. In der Regel erhalten lediglich Patienten mit persistierenden neurologischen Defiziten im Anschluss an die Akutbehandlung eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme. jStationäre Rehabilitation bei Schlaganfall Anhaltspunkt über den prozentualen Anteil dieser Personen am Gesamtkollektiv der Schlaganfallpatienten gibt die Datenbank zur Externen Qualitätssicherung nach Schlaganfall in Hessen (Janzen u. Kugler 1998). Danach wurden im
Jahr 2004 insgesamt 20% der Patienten mit einer transitorisch ischämischen Attacke (TIA), einer intrazerebralen Blutung oder einem ischämischen Schlaganfall unmittelbar in eine stationäre neurologische Rehabilitation verlegt (. Tab. 4.2) (33,5% der Patienten mit Hirnblutung, 26,9% der Patienten mit ischämischem Schlaganfall) (http://www.gqhnet.de/Projekte/). Für die Bundesrepublik Deutschland (80 Millionen Einwohner) entspräche dieser Prozentanteil hochgerechnet 27.840 Patienten/Jahr, die wegen eines Schlaganfalls stationär rehabilitiert werden. Damit bildet die Gruppe der Patienten mit Schlaganfall in den meisten neurologischen Rehabilitationskliniken den größten Anteil. Wiederholte Rehabilitationsbehandlungen, die vom Hausarzt initiiert und beantragt werden, sind in dieser Zahl noch nicht berücksichtigt.
4
60 Kapitel 4 · Epidemiologie neurologisch bedingter Behinderungen
. Tab. 4.2. Unmittelbare Verlegung nach Akutbehandlung in eine stationäre neurologische Rehabilitation
4
2002
2003
2004
Ischämischer Schlaganfall
27%
25,1%
26,9%
Intrazerebrale Blutung
36%
29,0%
33,5%
Transitorisch ischämische Attacke (TIA)
2,5%
2,2%
Gesamtpopulation
19,0%
20%
. Tab. 4.3. Verweildauer von Schlaganfallpatienten in stationärer neurologischer Rehabilitation (2004)
Verweildauer in Tagen
BI<30 (n=480)
BI=30–70 (n=598)
BI>70 (n=2.069)
46
50
33
. Abb. 4.2. Barthel-Verlauf. Reha-Klinik – Aufnahme und Entlassung (Boxplot)
jVerweildauer Die mittlere Verweildauer der Schlaganfallpatienten in den Rehabilitationskliniken beträgt in Hessen 39 Tage, abhängig von der Schwere der Beeinträchtigung (. Tab. 4.3). In diesem Zeitraum sind – dargestellt anhand des Barthel-Index (BI) – deutliche Verbesserungen zu erzielen (. Abb. 4.2). jOutcome Auch bei schwer betroffenen Patienten, die mit Magensonde, Trachealkanüle und/oder Blasenkatheter aufgenommen werden, können während der stationären Rehabilitation Trachealkanüle und Blasenkatheter bei 50% der Patienten entfernt werden. Patienten mit beaufsichtigungspflichtiger Schluckstörung (26,5% bei Aufnahme in die Rehabilitationsklinik) bessern sich deutlich. Bei Entlassung besteht nur noch bei 13,2% der Patienten eine beaufsichtigungspflichtige Schluckstörung (http://www.gqhnet.de/Projekte/). jTeilhabe am alltäglichen Leben Ziel der Rehabilitation ist es, unabhängig vom zugrunde liegenden Schädigungsmuster, eine optimale Teilhabe des Betroffenen am Leben zu ermöglichen. Dieses Ziel hat nach der ICF Priorität, und es bestimmt letztlich den Therapieerfolg. Ob dieses Ziel im häuslichen Umfeld auch tatsächlich erreicht wird, wurde bisher nicht flächendeckend evaluiert. Duncan et al. (2002) konnten in einer prospektiven Multicenterstudie mit 288 Patienten nachweisen, dass bei Schlaganfallpatienten im Alter zwischen 45–90 Jahren eine leitliniengerechte Rehabilitation zu einem besseren funktionellen Outcome und somit zur einer höheren Selbständigkeit führt. Nach der ICF ist jemand behindert, der nach 6 Monaten im Bereich
. Abb. 4.3. Entlassung aus der stationären Rehabilitation
4 der körperlichen Funktion, 4 der geistigen Fähigkeit oder 4 der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Im Rahmen des hessischen Qualitätssicherungsprojekts wurden beim Schlaganfall Follow-up-Befragungen zu den Lebensumständen 6 Monate nach dem Akutereignis durchgeführt (. Abb. 4.3). Die Responderrate der teilnehmenden Kliniken
61 4.4 · Hirnverletzung
– überwiegend die damaligen 8 Stroke Units in Hessen – betrug 65% (Klinikrange 13–93%). 16.017 Datensätze aus den Jahren 1999–2003 wurden ausgewertet (Altersdurchschnitt 69 Jahre): 4 Knapp zwei Drittel der Befragten leben zuhause ohne fremde Hilfe. 4 Knapp ein Drittel benötigt zuhause Hilfe (18% bei der Toilettenbenutzung, 27% beim Ankleiden). 4 5% der Befragten leben in einem Pflegeheim. 4 Einen Antrag auf Pflegeleistung hatten 27% der Befragten gestellt (von Reutern et al. 2005). jLebensqualität In einer Marburger Studie wurden 183 Patienten in einem mittleren Alter von 66,6 Jahren in eine prospektive Studie eingeschlossen und 3, 6 und 12 Monate nach Schlaganfall zuhause nachuntersucht. Neben den Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens wurde die Lebensqualität sowie Inzidenz und Ausmaß von Depressionen erhoben. Ein Jahr nach dem Schlaganfall berichteten 66% der Patienten über eine herabgesetzte Lebensqualität, die schlechter eingeschätzt wurde als vor der Erkrankung. Der Short Form 36-Summenscore (SF 36) für physische Gesundheit war während der gesamten Beobachtungszeit im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung deutlich erniedrigt. Er blieb über 12 Monate auf dem niedrigen Niveau stabil. Der SF-36-Summenscore für mentale Gesundheit verschlechterte sich zwischen 6 und 12 Monaten signifikant. Ebenso zeigt der Depressionsscore in dieser Zeit eine signifikante Verschlechterung, ohne dass sich der neurologische Befund, gemessen mit der European Stroke Scale (ESS), änderte. Diese Ergebnisse sind am ehesten auf fehlende CopingMechanismen zurückzuführen. Positive Prädiktoren hinsichtlich einer subjektiv gut empfundenen Lebensqualität waren 4 männliches Geschlecht, 4 Fehlen von Diabetes mellitus und 4 normale Depressionsscores in den ersten Untersuchungen nach 3 und 6 Monaten (Sünkeler et al. 2002). jInkontinenz Kolominsky-Rabas et al. (2003) untersuchten im Erlanger Stroke Register die Folgen des Schlaganfalls auf die Urininkontinenz. Patienten mit Schlaganfall haben in der Akutphase eine komplette (41%) oder inkomplette Urininkontinenz (12%), nach 12 Monaten leiden jeweils 16% unter einer in- bzw. kompletten Urininkontinenz. Bemerkenswert erscheint, dass die Urininkontinenz prädiktiv hinsichtlich einer erneuten Krankenhausbehandlung ist: 47% der Patienten mit einer persistierenden Urininkontinenz und nur 5% der kontinenten Patienten wurden im Beobachtungszeitraum wiederum stationär behandelt. jAlter Bezüglich der zu erwartenden Behinderungen nach Schlaganfall fanden Kugler et al. (2003) anhand einer Analyse der Hessischen Schlaganfalldatenbank heraus, dass das Alter kein negativer Prädiktor für das Ausmaß der Verbesserung von Schädigung und Fähigkeitsstörung ist. Vielmehr stellt das Alter einen positiven Prädiktor für die Erholung von funktio-
nellen Defiziten in der Frühphase des Schlaganfalls dar. Hohes Alter ist demnach kein limitierender Faktor für eine Rehabilitationsindikation. jBehandlungskosten Ein Schlaganfall hat immense sozioökonomische Folgen, die nur annäherungsweise benannt werden können. Nach Kolominsky-Rabas et al. (2001) betrugen in der Erlanger populationsbasierten Schlaganfallstudie die Kosten im 1. Jahr über alle Schwerergade 33.762 DM (17.262 Euro). Bei Patienten, die sich 3 Monate nach Schlaganfall noch in einer Institution befanden, betrugen die mittleren jährlichen Kosten 73.839 DM (37.752 Euro). Rechnet man die Inzidenzzahlen des Erlanger Projekts hoch auf die deutsche Bevölkerung, ist von ca. 140.000 neuen Schlaganfällen/Jahr in Deutschland auszugehen. Die mittleren Behandlungskosten im 1. Jahr ansetzend (17.262 Euro), betragen die Kosten für neu aufgetretene Schlaganfälle in jedem Jahr 2,4 Milliarden Euro. Nicht eingerechnet sind die Folgekosten für die Patienten, die auch nach einem Jahr noch medizinische oder pflegerische Hilfe benötigen. Diese Zahlen unterstreichen zum einen die sozioökonomische Bedeutung des Schlaganfalls und machen zum anderen die Notwendigkeit einer optimalen akuten und rehabilitativen Versorgung deutlich. > Andere akute Erkrankungen des Nervensystems, die häufig direkt einer stationären Rehabilitation bedürfen und eine bleibende Behinderung zur Folge haben können, sind 4 Hirnverletzungen, 4 ZNS-Tumoren, 4 akute Polyradikulitis (Guillain-Barré-Syndrom), 4 Enzephalitis oder Enzephalomyelitis (MS), 4 akute Querschnittslähmungen und 4 Subarachnoidalblutungen als Sonderform der zerebrovaskulären Erkrankungen.
4.4
Hirnverletzung
Die Hirnverletzung ist eine Erkrankung, die in jedem Lebensalter dauerhafte Einschränkungen im körperlichen, kognitiven und sozialen Bereich bewirken kann. Grundsätzlich unterscheidet man eine leichte, mittelschwere und schwere Hirnverletzung. Diese Einteilung erfolgt in der Regel nach der initialen Glasgow Coma Scale (GCS). Definition Nach der Deutschen Gesellschaft für Neurologie liegt eine schwere Hirnverletzung (SHT) vor, wenn der initiale Glasgow Coma Scale Score 8–3 beträgt bzw. die posttraumatische Bewusstlosigkeit länger als 24 Stunden anhält. Die Inzidenz des schweren SHT wird in Deutschland auf ca. 15– 20 Patienten/100.000 Einwohner geschätzt. Beim leichten SHT beträgt die GCS 15–13, beim mittelschweren SHT 12–9 (www.dgn.org/leitlinien-der-dgn-2008-2.html).
4
62 Kapitel 4 · Epidemiologie neurologisch bedingter Behinderungen
4
jInzidenz von Hirnverletzungen Eine ausführliche Untersuchung zu Inzidenzen anhand von Studienanalysen und Diagnoseschlüssel-Auswertungen findet sich bei Cortbus und Steudel aus den späten 90er Jahren, Aussagen zu resultierenden Behinderungen enthält die Studie jedoch nicht (www.klinikundforschung.de/sup/schaedeltrauma/steudel.html). Es existieren nur zwei nationale flächendeckende Erhebungen aus Wales und Schottland, wobei das Register aus Wales eine extrem hohe Inzidenz der Hirnverletzung von 430 Patienten/100.000 Einwohner widergibt. Die höchste amerikanische Inzidenzrate berichtet Whitman mit 367/100.000 Einwohner. Nach Auswertung der ICD-Diagnoseverschlüsselungen für Deutschland ergibt sich eine Inzidenz von 340/100.000 Einwohner. Die Sterbefälle haben nach dieser Auswertung von mehr als 16.000 Fällen im Jahr 1972 auf 9.415 Fälle im Jahr 1996 abgenommen. Im Jahr 1996 liegt die Mortalität bei den über 75-Jährigen bei 24/100.000 Einwohner, bei allen jüngeren Gruppen zwischen 1,4–8,7/100.000 Einwohner. jBehandlung und nachfolgende Behinderungen Das National Center for Injury Prevention and Control (NCIPC) veröffentlichte 2003 einen Federal Report zu Inzidenz, Ursache, Schweregrad, nachfolgenden Behinderungen und Prävalenz der traumatischen Hirnverletzungen. Danach erlitten jährlich ca. 1.400.000 Bürger der USA eine traumatische Hirnverletzung, davon wurden 230.000 Personen mit einer Hirnverletzung im Krankenhaus behandelt und überlebten, 50.000 verstarben, bei 80.000–90.000 Personen resultierte eine Langzeitbehinderung (6,5% der Schädelhirnverletzungen). Nach Schätzungen haben in den Vereinigten Staaten damit 5.300.000 Bürger eine permanente, durch eine traumatische Hirnverletzung hervorgerufene Behinderung. Die Kosten für die Versorgung der Hirnverletzten betrugen 1985 in den USA 37,8 Billionen Dollar (www.cdc.gov/doc). jKrankenhausaufnahmen bei Hirnverletzungen Khan et al. (2003) beschreiben in ihrer Arbeit über die Rehabilitation von Patienten mit traumatischen Hirnverletzungen die Anzahl der Krankenhausaufnahmen wegen Hirnverletzungen von 150/100.000 Einwohner. Hierbei fehlen die leicht betroffenen Patienten, die ambulant bleiben. Mittelschwere bis schwere Schädeltraumen werden mit einer Inzidenz von 12–14/100.000 bzw. 15–20/100.000 Einwohnern aufgrund einer Literaturanalyse angegeben. Die Inzidenz der leichten Hirnverletzungen liegt bei 64–131/100.000. Männer sind 3bis 4-mal häufiger betroffen als Frauen. Bezüglich des Verlaufs beschreibt diese Studie die Amnesiedauer als besten Prädiktor für das Ausmaß der kognitiven und funktionellen Defizite. Katz (1992) fand heraus, dass Patienten mit einer anterograden Amnesie von weniger als 2 Wochen in 80% der Fälle eine gute Erholung zeigten, während Patienten mit einer Amnesie von 4–6 Wochen sich nur in 46% der Fälle von dem Trauma erholten. jOutcome bei leichten Schädel-Hirn-Traumen Nach Khan (2003) gehören 70–85% der Patienten der Gruppe eines leichten Schädelhirntraumas an. Die meisten Patienten
erholen sich innerhalb von 3–6 Monaten. 10–15% der Patienten hatten ein länger anhaltendes Postconcussion Syndrome mit 4 Kopf- und Nackenschmerzen, 4 Gleichgewichtsstörungen, 4 Hör- und Geschmackseinschränkungen, 4 Störungen von Aufmerksamkeit und Gedächtnis, 4 Schläfrigkeit und 4 Schlafstörungen (Ponsford et al. 2000). jTeilhabe am sozialen Leben Hoffmann et al. (2002) untersuchten den Langzeitverlauf von 240 Patienten, die akut in der Neurochirurgie des Clemenshospitals Münster aufgenommen wurden und z.T. dort auch frührehabilitiert wurden. Die mittlere Beobachtungszeit betrug 26 Monate, die maximale 5 Jahre. 66% der Patienten hatten ein schweres SHT, 23% ein mittelschweres und 11% ein leichtes SHT. Nur 16% der schweren, 27% der mittelschweren und 33% der leichten SHT-Patienten konnten ohne Einschränkungen zu ihren früheren sozialen Aktivitäten und in den Beruf zurückkehren. Lediglich 145 der beobachteten 240 Patienten kehrten in ihr familiäres Umfeld zurück. jLebensqualität Dijkers (2004) fand in einer Meta-Analyse zur Lebensqualität heraus, dass Patienten mit einer Hirnverletzung in nahezu allen erfassten Bereichen niedrigere Werte erzielen als die Normalbevölkerung. Betroffene berichten typischerweise über eine geringere Lebenszufriedenheit. Die Schwere des SHT ist nicht notwendigerweise ein Prädiktor für das subjektive Wohlbefinden. Fazit Fazit einer Consensus Conference 1999 (Neugebauer et al. 2002) war, dass viel Entwicklungsarbeit zur Evaluation geeigneter Messinstrumente erforderlich ist. Die Glasgow Outcome Scale (GOS) und der Short Form 36 (SF 36) scheinen die beste Basis, um Langzeitverläufe darzustellen. Diese müssen jedoch mit spezifischen, auf die Probleme der SHT-Patienten ausgelegten Erhebungen, kombiniert werden.
4.5
Multiple Sklerose (MS)
Die Enzephalomyelitis disseminata zählt zu der häufigsten neurologischen Erkrankung, die bereits im jungen und mittleren Erwachsenalter zu bleibenden Behinderungen führt. jPrävalenz und Inzidenz Die Prävalenz wird mit 90–95 Erkrankten/100.000 Einwohnern angegeben (Janssen-Roßmann 2000) (. Tab. 4.1). Die Inzidenz beträgt nach Haupts et al. (1994) 6,1/100.000 Einwohner. Die Verlaufsformen einer MS sind ausgesprochen variabel (schubförmig, primär oder sekundär chronisch-progredient) und prognostisch hinsichtlich Zeitpunkt und Ausmaß der neurologischen Behinderung nicht vorhersehbar. Nach Rodriguez et al. (1994) waren mehr als 50% der Er-
63 4.7 · Neuromuskuläre Erkrankungen
krankten nach einer medianen Krankheitsdauer von 15,4 Jahren vollschichtig arbeitsfähig. Eine norwegische Studie zeigte nach einer mittleren Krankheitsdauer von 7,8 Jahren, dass noch 47% der MS-Erkrankten ganztags arbeitsfähig waren (Midgard 1996). In einem Bochumer Kollektiv waren nach 7,6 Jahren noch 48% der Patienten vollzeitarbeitsfähig, 28% waren arbeitsunfähig (Janssen-Roßmann 2000). jLebensqualität Das Ausmaß der Beeinträchtigung durch die MS evaluieren besonders Studien zur krankheitsbezogenen Lebensqualität und deren Korrelation mit Depressionen und physischer Beeinträchtigung, letzteres gemessen mit der EDSS (Expanded Disability Status Scale) (Isaksson et al. 2002). So fanden Lobentanz et al. (2005) in einer Wiener Untersuchung von 504 Patienten mit MS, dass nahezu die Hälfte der Betroffenen eine milde bis schwere Depression hatten und über reduzierte Schlafqualität und Abgeschlagenheit berichteten. Der Lebensqualitätsindex war signifikant geringer als in der gesunden Kontrollgruppe. Negative Prädiktoren waren das Ausmaß der körperlichen Behinderung und die Schwere der Depression. Eine Studie der Mayo Clinic an 185 von 201 im Olmsted County lebenden MS-Patienten zeigte eine reduzierte gesundheitsbezogene Lebensqualität – evaluiert mit dem Lebensqualitätsbogen Short Form 36 (SF 36) – in den Domänen physische Funktionen, Vitalität und allgemeines Gesundheitsempfinden. Dagegen waren in diesem Kollektiv die Domänen Schmerz, emotionales Rollenverständnis, soziale Funktionen und intellektuelle Fähigkeiten im Vergleich zur Normalbevölkerung subjektiv nicht wesentlich beeinträchtigt (Pittock et al. 2004). Subakuter verlaufen in der Regel 4 die Muskelerkrankungen, 4 die degenerativen ZNS-Erkrankungen (z.B. Morbus Parkinson), 4 die meisten Polyneuropathien und 4 die spinoradikulären Erkrankungen, die häufig dauerhaft ambulant neurologisch rehabilitiert werden.
4.6
jKrankheitsverlauf Trotz komplexer medikamentöser Therapie führt die Erkrankung zu einer zunehmenden Beeinträchtigung der motorischen Funktionen und damit zu einer fortschreitenden Behinderung. Motorische Einschränkungen treten trotz medikamentöser Therapie mit L-Dopa nach 3–5 Jahren bei 50% der Patienten auf. Nach 10 Jahren sind mehr als 80% der Patienten in Form von motorischen Fluktuationen und Dyskinesien eingeschränkt (Dodel et al. 2001). Nach einer durchschnittlichen Krankheitsdauer von ca. 9 Jahren sind die Patienten auf fremde Hilfe angewiesen, nach ca. 14 Jahren wird der überwiegende Anteil der Patienten rollstuhlpflichtig oder bettlägerig (Dodel et al. 1997). jLebensqualität Unterschiedliche Studien zeigten, dass mit Auftreten von Fluktuationen und Dyskinesien die Lebensqualität sinkt, und die Behandlungskosten deutlich steigen (Dodel et al. 2001). In einer finnischen Untersuchung wurde die gesundheitsbezogene Lebensqualität mithilfe des Short Form 36 (SF 36) an 228 Patienten untersucht. Hier war – ähnlich wie bei der Multiplen Sklerose – das Ausmaß der Depression ein wesentlicher Prädiktor für die subjektiv empfundene Lebensqualität. Die Autoren sehen deshalb im rechtzeitigen Erkennen und Therapieren von Depressionen eine zusätzliche Behandlungsoption zur Verbesserung der Lebensqualität bei Parkinson (Kupio et al. 2000). jTeilhabe am alltäglichen Leben Eine Vereinfachung der Teilhabe am alltäglichen Leben sieht Pfisterer (2005) in der Optimierung der Behandlung von Blasenentleerungsstörungen, die bei 25–90% der Patienten vorliegen. Eine Verbesserung der Lebensqualität sei durch ein professionelles Kontinenzmanagement immer zu erreichen.
Neuromuskuläre Erkrankungen
4.7
Die Gruppe der neuromuskulären Erkrankungen ist sehr heterogen. Sie umfasst im Wesentlichen die in . Übersicht 4.1 aufgelisteten Erkrankungen.
Morbus Parkinson
Das idiopathische Parkinsonsyndrom ist eine chronischprogrediente neurodegenerative Erkrankung, die durch einen progressiven Verlust von dopaminergen Neuronen in der Substantia nigra verursacht wird. jInzidenz und Prävalenz Die Inzidenz beträgt 5–24/100.000 Einwohner, die Prävalenz 80–187/100.000 Einwohner. Dabei sind Inzidenz und Prävalenz deutlich altersabhängig. Bei den unter 50-Jährigen sind ca. 30/100.000 Einwohner erkrankt, bei den über 70-Jährigen 2.000/100.000 Einwohner (Dodel et al. 1997) und bei den über 65-Jährigen 1.800/100.000 Einwohner (Kompetenznetz Parkinson/Leitlinien der DGN).
. Übersicht 4.1. Neuromuskiuläre Erkrankungen 1. 2. 3.
4.7.1
Motoneuronerkrankungen (Amyotrophe Lateralsklerose, spinale Muskelatrophie) Periphere Neuropathien (erworben, erblich) Muskeldystrophien
Motoneuronerkrankungen
Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) Die Amyotrophe Lateralsklerose ist eine rasch progrediente Erkrankung der Motoneurone.
4
64 Kapitel 4 · Epidemiologie neurologisch bedingter Behinderungen
4
jPrävalenz Die weltweite Prävalenz liegt nach Carter (2006) bei 5– 7/100.000 Einwohnern, 10% der Fälle sind familiär bedingt, die Prävalenz ist steigend. Das Erkrankungsalter liegt zwischen 40–60 Jahren, mit einem mittleren Erkrankungsbeginn von 58 Jahren. Männer sind 1,5-mal häufiger betroffen als Frauen. Eine populationsbasierte Studie in Washington State zeigte ein 3-fach erhöhtes Erkrankungsrisiko bei Rauchern. Auch Glutamatkonsum erhöht das Erkrankungsrisiko (Carter 2006). jÜberlebensrate Prognostisch schlecht sei eine primär bestehende bulbäre Symptomatik oder eine pulmonale Dysfunktion. Junge Männer hätten die beste Prognose und eine höhere Lebenserwartung. Insgesamt liegt die 50%-Überlebensrate bei 2,5 Jahren nach Diagnosestellung, bei Patienten mit bulbären Symptomen nur bei einem Jahr. Die Fünf-Jahres-Überlebensrate liegt insgesamt bei 28%.
Spinale Muskelatrophie Alle Formen der spinalen Muskelatrophie haben als Ursache den Untergang der Vorderhornzellen. In der Regel ist der Erbgang autosomal-rezessiv. Die Prävalenz wird bei den Typen SMA II und III auf 4/100.000 Einwohner geschätzt, bei hoher Variation in demographischen Studien (Carter 2006). Die klinische Variabilität ist hoch, repräsentative Langzeituntersuchungen sind nicht bekannt.
4.7.2
Periphere Neuropathien
Neben den vielen Formen der hereditären motorischen und sensiblen Neuropathien (HMSN), die im klinischen Alltag eine untergeordnete Rolle spielen, ist die Prävalenz der Polyneuropathien
4 4 4 4
diabetogener, alkoholtoxischer, medikamententoxischer und entzündlicher
Genese (Guillain-Barré-Syndrom, chronisch-inflammato-
rische demyelinisierende Polyneuropathie) wesentlich höher. Zu den unterschiedlichen HMSN-Typen, die im Erwachsenenalter symptomatisch werden, gibt es keine populationsbasierten Inzidenzen und keine repräsentativen OutcomeDaten.
Diabetische Polyneuropathie Diabetes ist nach Kelkar (2005) die häufigste Ursache einer Neuropathie in der westlichen Welt. Dennoch sind Inzidenz und Prävalenz der Erkrankung nicht bekannt, die Angaben in den Veröffentlichungen variieren erheblich. Dies ist auch durch die fehlenden Übereinstimmungen hinsichtlich der Definition einer diabetischen Neuropathie begründet. Sicher ist lediglich, dass die Inzidenz mit der Dauer der Diabeteserkrankung steigt.
Dobretsov (2007) beschreibt die Neuropathie als häufigste Komplikation des Diabetes. Outcome und Lebensqualitätsuntersuchungen existieren über Patientenpopulationen mit Ulzera und diabetischem Fuß und dadurch bedingte Amputationen, nicht jedoch allgemein zur diabetischen Neuropathie.
Guillain-Barré-Syndrom (GBS) Die Polyradikulitis wird nach ihren Erstbeschreibern Guillain-Barré-Syndrom genannt. Es ist eine akute Polyneuropathie, bei der Hirnnerven mitbetroffen sein können. jOutcome Chio et al. (2003) verfolgten über 2 Jahre prospektiv 120 Patienten (Inzidenz 1,36/100.000 Einwohner). 5,8% der Patienten verstarben innerhalb von 30 Tagen. Ein schlechtes Zwei-Jahres-Outcome korrelierte mit axonaler Schädigung, einem Alter>50 Jahren sowie einer schweren Behinderung im Verlauf der Akuterkrankung. jLebensqualität Ebenfalls prospektiv untersuchten Forstberg et al. (2005) 42 Patienten (mittleres Alter 52 Jahre) über 2 Jahre. Behinderungs-, Aktivitäts- und Lebensqualitätsskalen wurden im Verlauf nach 2 Wochen, 2 Monaten, 6 Monaten, 1 Jahr und 2 Jahren erhoben. Nach 2 Jahren waren 12% der Patienten noch auf Hilfe bei den alltäglichen Verrichtungen angewiesen, 17% waren arbeitsunfähig. Die Lebensqualität war auch nach 2 Jahren noch eingeschränkt. Dornonville de la Cour (2005) untersuchte 40 Patienten (mittleres Alter 46 Jahre) 1–13 Jahre nach dem Auftreten eines GBS (im Mittel 7 Jahre) und verglich mit einer entsprechenden Kontrollgruppe. Unabhängig von der Follow-up-Zeit hatten 48% der Patienten noch Residuen der Neuropathie. Der physische Summenscore ergab, dass die subjektiv empfundene Lebensqualität der GBS-Patienten geringer war als die der Kontrollgruppe.
Chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) Die chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie tritt in der Regel subakut auf. Nach Lunn (1999) sind die Diagnosekriterien umfassend akzeptiert, epidemiologische Daten sind rar. Vier Regionen in England mit einer Population von 14.049.850 Bürgern wurden evaluiert. Danach liegt – bei großer Variabilität – die Prävalenz bei etwa 1/100.000 Einwohnern, nimmt man Verdachtsfälle hinzu bei 1,24/100.000 Einwohnern. 13% der Patienten benötigen Hilfe beim Gehen, 54% erhalten weiterhin medikamentöse Therapie.
4.8
Literatur
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4
5
Neurobiologische Grundlagen der Plastizität des Nervensystems B. Ende-Henningsen, H. Henningsen 5.1
Neuroplastizität
5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.1.6 5.1.7 5.1.8 5.1.9
Konzepte zur neurobiologischen Grundlage von Neuroplastizität – 68 Vikariation – 69 Diaschisis – 69 Redundanz (Unmasking) – 70 Aussprossung von Nervenendigungen(Sprouting) – 72 Neurotrophe Faktoren – 73 Synaptische Mechanismen – 74 Neurogenese – 75 Einfluss der Umgebungsbedingungen (Enriched Environment) – 76
5.2
Literatur
– 77
– 68
68 Kapitel 5 · Neurobiologische Grundlagen der Plastizität des Nervensystems
In weit höherem Maße als früher angenommen, besitzt das erwachsene menschliche Gehirn die Fähigkeit, sich neu zu organisieren. Neuronale Plastizität findet nicht nur als Anpassung auf veränderte Umgebungsbedingungen im Alltag und beim Lernen kontinuierlich statt, sondern auch als Reaktion auf umschriebene zentrale und periphere Läsionen. Über die neurobiologischen Mechanismen, die einer Reorganisation von zen-
tralen Strukturen und der Wiedererlangung verloren gegangener zerebraler Funktionen zugrunde liegen können, wurden in den letzen Jahren viele neue Erkenntnisse gewonnen. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, die Konzepte zusammenzufassen, die zur Erstellung theoretischer Grundlagen für die neurologische Rehabilitation von Bedeutung sind.
Neuroplastizität
5.1
5 Näher betrachtet Sonderpädagogik vs. neuropsychologische Rehabilitation Als Plastizität des Nervensystems wird dessen Fähigkeit beschrieben, in Reaktion auf funktionelle und morphologische Veränderungen modifizierte Organisationsstrukturen zu entwickeln. Zu den funktionellen Veränderungen zählt auch das Erlernen neuer Fertigkeiten, wie im Alltag geläufig (Pascual-Leone et al. 1994, Monfils et al. 2005). Die neuronale Plastizität des Gehirns ist ein kontinuierlich dynamischer Prozess. Es ist die Fähigkeit des Gehirns, seine eigene Struktur und Organisation den veränderten biologischen Grundlagen (z.B. Läsionen) und Anforderungen (z.B. Lernbedarf ) anzupassen. Dieses Konzept steht im Gegensatz zu den Lokalisationsstudien, die 1861 mit Broca begannen, als er die Sprachproduktion einem spezifischen Areal im frontalen dominanten Kortex zuordnete. Durch die zunehmend verfeinerten morphologischen, physiologischen und biochemischen Techniken wurde man sich vermehrt der Struktur des Gehirns und der
5.1.1
Verbindungen einzelner Hirnregionen untereinander bewusst. Um diese Komplexität zu erfassen, versuchte man, die Eigenschaften des Gehirns zu kompartimentieren. Ausdruck dieser Bestrebungen waren auch die Ansätze von K. Brodman (1909), der das Gehirn in 52 Regionen einteilte. Vereinfacht dargestellt ergaben die Beschreibungen dieser Regionen das Konzept klar abgegrenzter und nicht verformbarer Zentren, von denen man annahm, dass sie keine Regenerationsfähigkeit oder gegenseitige Kompensationsfähigkeit besaßen, dafür aber feste, unveränderbare Verschaltungen hatten. Diese strikte Lokalisations- und Irreversibilitätslehre hat bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein die Erwartungshaltung von Arzt und Patient nach einer Hirnläsion bestimmt. Die Erkenntnisse zur Neuroplastizität beruhen auf vielen wissenschaftlichen Einzelbeobachtungen, die ursprünglich in den Grundlagenwissenschaften ge-
Konzepte zur neurobiologischen Grundlage von Neuroplastizität
Als zugrunde liegende Mechanismen für die Reorganisation von Hirnfunktionen sind neuroanatomische, neurophysiologische, neurochemische, synaptische und rezeptorspezifische Modifikationen sowie Veränderungen der Expression von Genen vorstellbar. Darüber hinaus gibt es zunehmend Hinweise, dass auch die Neubildung von Nervenzellen aus neuronalen Vorläuferzellen (Neurogenese) für die Plastizität wichtig ist. Die Frage, wie groß der Anteil einzelner nachfolgend beschriebener Mechanismen für einen tatsächlichen Rehabilitationserfolg ist, muss derzeit noch offen bleiben. Neuroplastizität, wie sie sich klinisch ausdrückt, ist wohl stets das Ergebnis eines multifaktoriellen Geschehens, bei dem jeweils mehrere Mechanismen ineinandergreifen und gemeinsam die biologische Grundlage der Reorganisation neuronaler Strukturen darstellen.
macht wurden, ohne Zielsetzung im Hinblick auf die rehabilitative Therapie. Zur Plastizität des Gehirns können alle Mechanismen beitragen, die die strukturelle Organisation und Funktionsfähigkeit des Gehirns veränderten Anforderungen oder veränderten morphologischen Rahmenbedingungen anpassen. Auch in der Vergangenheit waren unerwartete klinische Verbesserungen nach Hirnläsionen immer wieder beobachtet worden. Retrospektiv betrachtet sind sie als Vorgänge neuronaler Plastizität zu interpretieren, jedoch konnten sie bei der vorherrschenden Hypothese von vorgegebenen festen Verschaltungen nicht als solche gedeutet werden. Die neuronale Plastizität des Gehirns ist ein kontinuierlicher, dynamischer Prozess. Es ist die Fähigkeit des Gehirns, seine eigene Struktur und Organisation an veränderte biologische Voraussetzungen (z.B. Läsionen) und neue Anforderungen (z.B. Lernbedarf ) anzupassen.
Viele Erkenntnisse über die neurochemischen, neurophysiologischen und neuroanatomischen Vorgänge, die einer neuronalen Neuorganisation zugrunde liegen können, wurden im Tierexperiment gewonnen. Mit der Fortentwicklung bildgebender und neurophysiologischer Verfahren wurden jedoch zunehmend Modelle entwickelt, die es erlauben, Vorgänge kortikaler Neuorganisation auch beim Menschen nachzuweisen. Für die Abschätzung des Therapieerfolgs bleibt allerdings ein wesentlicher Punkt zu berücksichtigen: Bei der neurologischen Rehabilitation ist eine positive Einstellung des Patienten zur Behandlung unerlässlich. Im Gegensatz zu anderen Therapien können neurorehabilitative Maßnahmen nicht einfach verabreicht werden. Die psychosozialen Aspekte im Umfeld der Rehabilitationsmaßnahme sind wesentliche Kofaktoren, deren Bedeutung tierexperimentell nicht erfasst werden können, und die auch unter den Bedingungen der Neurorehabilitation nur schwer zu standardisieren sind. Auch wenn in diesem Beitrag biologische Grundlagen für die
69 5.1 · Neuroplastizität
Rehabilitation beschrieben werden, bleibt dennoch immer zu berücksichtigen, dass eine Besserung ohne die angemessene Umgebung, Einstellung und persönliche Motivation des Patienten nicht erreichbar ist.
5.1.2
Vikariation
Definition Als Vikariation bezeichnet man den hypothetischen Vorgang, dass die Funktion eines zerstörten Hirnareals durch ein anderes Areal übernommen wird, das mit dieser Funktion vorher nichts zu tun hatte – Extrembeispiele dieser Vorstellung wären die Übernahme von Sehfunktionen durch den auditorischen Kortex oder die Übernahme von Tastempfindungen durch motorische Areale.
Diese Idee wurde von Hermann Munk (1887) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formal dargestellt. Sie ist heute im Wesentlichen als historisches Konzept anzusehen. Es gibt Beobachtungen aus neuerer Zeit, die in diesen Zusammenhang angestellt wurden, wenn auch auf weniger spektakulärer Ebene, als man es sich zu Munks Zeiten vorgestellt hatte. So zeigte Spear 1977, dass bei Katzen Nervenzellen im Gyrus suprasylvicus lateralis, die normalerweise auf spezifische visuelle Stimuli nicht reagieren, plötzlich auf solche Reize hin feuerten, wenn der primäre visuelle Kortex geschädigt war. Unklar ist jedoch, ob dieser Vorgang zu einer funktionellen Wiedererlangung von Sehfunktionen führte. Das Vikariationskonzept kann heute als abgelöst gelten durch das verwandte, jedoch wesentlich plausiblere und besser zu beweisende Konzept von Unmasking und Redundancy Recovery. > Das Konzept von Unmasking und Redundancy Recovery besagt, dass nach einer Läsion neuronale Verschaltungen reaktiviert werden können, die im ZNS zwar stets vorhanden, aber funktionell nicht aktiv waren (s.u.).
5.1.3
Diaschisis
Definition Diaschisis bedeutet, dass bei Traumatisierung eines Hirnareals zusätzliche, vom Läsionsort entfernt liegende Areale funktionell in Mitleidenschaft gezogen werden, die sich im weiteren Verlauf wieder erholen. Dieser Vorgang kann sich in der klinischen Symptomatik ausdrücken, die Symptomatik kann dadurch sogar dominiert werden.
Das Diaschisiskonzept wurde von dem Anatomen Constantin von Monakow (1905) geprägt. Dem Diaschisiskonzept liegt die Vorstellung zugrunde, dass bei der Traumatisierung
eines Hirnareals zusätzliche, vom Läsionsort entfernt liegende Hirnfunktionen funktionell in Mitleidenschaft gezogen werden, die sich jedoch im weiteren Verlauf wieder erholen. Die Erholung von nicht substanziell, sondern nur funktionell betroffenen Zentren wird als Substrat der klinischen Besserung angesehen (Seitz et al. 1999). Der Begriff Diaschisis hat im Laufe der Zeit eine Erweiterung erfahren. Zahlreiche unspezifische neurobiochemische, neuroelektrische und sonstige neurophysiologische Vorgänge, die im posttraumatischen Verlauf untersucht wurden, lassen sich zur Untermauerung dieses Konzepts heranziehen (Witte et al. 2000) (s.u.). Neuroimaging-Verfahren wie die Positronen-Emissions-Tomographie oder die funktionelle Kernspintomographie erlauben es mittlerweile, funktionelle Veränderungen im weiteren Umfeld von umschriebenen Hirnläsionen bildlich zu erfassen. Seither wurden Diaschisis-Phänomene immer öfter im Anschluss an zerebrovaskuläre Ereignisse, aber auch posttraumatisch, postiktal und bei zerebralen Raumforderungen gefunden. jDiaschisis-Phänomene Am häufigsten wurde die gekreuzte zerebelläre Diaschisis nach supratentoriellen Hirninfarkten beschrieben: Im Anschluss an einen supratentoriellen Hirninfarkt kann es zu reversiblen Verminderungen des regionalen Blutflusses und der metabolischen Aktivität in der kontralateralen Kleinhirnhemisphäre kommen, die von dem Hirninfarkt nicht substanziell betroffen ist (Lin et al. 2009). Selbst durch relativ kleine, subkortikale lakunäre Infarkte kann eine bedeutende Herabsetzung metabolischer Prozesse im kontralateralen Kleinhirn ausgelöst werden, so dass die zerebellär bedingte Symptomatik das klinische Bild bestimmt (Flint et al. 2006). Auch das umgekehrte Phänomen ist beschrieben, bei dem es im Anschluss an zerebelläre Läsionen zu vorübergehenden Perfusionsminderungen in kontralateralen supratentoriellen Regionen kommt (z.B. Saiguchi et al. 2001). Außerdem gibt es symmetrische transkallosale Diaschisis-Phänomene, z.B. im kontralateralen okzipitalen oder parietalen Kortex (Rizzo u. Robin 1996, Iglesias et al. 1996) und auch die ipsilaterale thalamische Diaschisis (Ogawa et al. 1997). Diese Muster wurden vorwiegend nach zerebrovaskulären Ereignissen gefunden. jPostiktale Veränderungen Darüber hinaus finden sich zahlreiche Beschreibungen postiktaler Veränderungen in Hirnregionen, die entfernt von einem epileptischen Fokus liegen. Magnetenzephalographische Untersuchungen der eigenen Arbeitsgruppe (Knecht et al. 1997) konnten bei Patienten mit fokalen Anfallsleiden aufzeigen, dass es ausgehend von aktiven epileptogenen Foci im Temporallappen zu einer hirnelektrischen Fernaktivität kam, die bei den Patienten zu somato-sensorischen Defiziten führten.
5
70 Kapitel 5 · Neurobiologische Grundlagen der Plastizität des Nervensystems
Näher betrachtet Erkenntnisse neurobiochemischer Untersuchungen
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Neurobiochemische Untersuchungen haben das DiaschisisKonzept untermauert. Mit der Magnetresonanzspektroskopie konnte posttraumatisch im Gehirn von Ratten eine transitorische neurometabolische Depression in Gehirnregionen nachgewiesen werden, die vom Läsionsort entfernt lagen – dort zeigte sich eine reversible Konzentrationsminderung des Neurometaboliten N-Acetylaspartat (Gasparovic et al. 2001). Bereits 1990 konnten Boyeson und Feeney bei Ratten zeigen, dass es nach einer unilateralen Läsion im sensomotorischen Kortex zu einer Konzentrationsdepression noradrenerger Transmittersubstanzen in der kontralateralen Kleinhirnhemisphäre kam. Durch lokale Infusion von Noradrenalin in diese zerebelläre Region war es möglich, die Transmitterkonzentration auszugleichen – dies bewirkte eine dauerhafte klinische Besserung der begleitenden Hemiparese, obwohl das Kleinhirn nicht substanziell-morphologisch geschädigt war. Gerade diese Erkenntnisse sind von potenzieller Bedeutung für die Rehabilitation, weil sie den Ansatz für eine mögliche pharmakologische Unterstützung des Rehabilitationsverlaufs nach Hirnläsionen in sich bergen (7 Kap. 5.1.7).
5.1.4
Redundanz (Unmasking)
Definition Als Unmasking oder Redundancy Recovery bezeichnet man die Fähigkeit des Gehirns, normalerweise nicht benutzte (latente, redundante) neuronale Verbindungen zu aktivieren, wenn die ursprünglichen Verschaltungen nicht mehr zur Verfügung stehen. Unmasking ist die wahrscheinlichste Ursache für die funktionelle Verschiebung und somit Plastizität von kortikalen Repräsentationsfeldern (. Abb. 5.2).
Merzenich et al. (1990, 1998) waren die Ersten, die den Ablauf kortikaler Plastizitätsvorgänge morphologisch dokumentieren konnten. Ihre Untersuchungen an Primaten (Jenkins et al. 1990, Xerri et al. 1998) belegen eindrucksvoll, wie sich kortikale Repräsentationsfelder nach peripheren Läsionen, aber auch durch Lernen, in ihrer Größe, Verteilung und funktionellen Besetzung anpassen (. Abb. 5.1). jSensible Differenzierungsfähigkeit Es ist bekannt, dass sich durch Training auch die sensible Differenzierungsfähigkeit verbessern kann. Allerdings musste bei den Untersuchungen an Primaten zunächst offen bleiben, ob eine Korrelation zwischen klinischer Leistungszunahme und Ausdehnung des kortikalen Repräsentationsareals bestand. Diese Korrelation konnte in einer Untersuchung bei professionellen Musikern (Streichern) mittels Magnetenzephalographie nachgewiesen werden (Elbert et al. 1995).
Beispiel Bei professionellen Musikern zeigte sich, dass die Finger der linken Hand, die die Saiten des Instruments drücken und damit während des Violin- oder Cellospiels sensibel gereizt werden, im somato-sensorischen Kortex ein größeres Areal in Anspruch nehmen als die entsprechenden Finger von altersgleichen Nichtmusikern. Zusätzlich bestand eine Korrelation zum Alter, in dem die Probanden mit dem Erlernen des Instruments begonnen hatten: Das kortikale Areal war umso größer, je jünger mit dem Spielen des Instruments begonnen worden war.
Anhand dieser Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass eine Veränderung des sensorischen Inputs plastische Veränderungen im sensorischen Kortex induzieren kann. jDifferenzierungsfähigkeit im motorischen und visuellen Kortex Vergleichbare Phänomene wurden auch im motorischen (Nudo et al. 1996a, Weiller et al. 1993), visuellen (Kaas et al. 1990) und auditorischen Kortex (Scheich 1991) sowie in subkortikalen auditorischen Strukturen (Irvine et al. 2003) beobachtet: Mittels motorisch und sensibel evozierter Potenziale wurde beim Menschen gezeigt, dass eine vorübergehende Denervierung des N. radialis zu Funktionsveränderungen in den dem N. medianus zugeordneten motorischen und sensiblen Feldern führt (Murphy et al. 2003). Diese Vorgänge können in jedem Alter auftreten. Die Geschwindigkeit, mit der die Größenverschiebung rezeptiver Felder zuweilen zu beobachten ist – bereits innerhalb weniger Minuten nach einer spezifischen Stimulation oder Denervierung – spricht dafür, dass es sich tatsächlich um die Ausnutzung bereits vorhandener, redundanter Verbindungen (Unmasking) handelt. Latent bereitstehende synaptische Verbindungen können beispielsweise durch eine Modulation GABA-erger Inhibitionsvorgänge innerhalb von Minuten aktiviert werden (Chen et al. 2002). Eine für die Neurorehabilitation entscheidende Frage lautet, welches Ausmaß die plastischen Vorgänge annehmen können, wenn zentrale Läsionen vorliegen. Beispiel Nudo et al. (1996b) untersuchten Eulenaffen nach umschriebenen ischämischen Infarkten im Handfeld des primärmotorischen Kortex. Sie konnten zeigen, dass sich die unverletzten Anteile des Repräsentationsfeldes der Hand unmittelbar nach dem Infarkt zunächst deutlich verkleinerten. Man könnte dies als eine Umkehrung von Unmasking bezeichnen. Durch Aufnahme eines gezielten funktionellen Trainings der Hand war dieser Prozess jedoch nicht nur rückgängig zu machen, sondern die Handrepräsentation expandierte in unverletzte Kortexregionen hinein, die zuvor dem Ellenbogen oder gar der Schulter zugeordnet waren. Diese Expansion des Handfeldes war von einer eindeutigen klinischen Besserung der Handfunktionen begleitet.
Auch beim Menschen gibt es Hinweise auf Redundancy Recovery nach ischämischen Hirnläsionen. Zahn et al. (2004)
71 5.1 · Neuroplastizität
. Abb. 5.1. Einfluss der sensiblen Stimulation umschriebener Hautareale auf die Repräsentation der Hand im sensorischen Kortex (Area 3b) bei erwachsenen Eulenaffen. A Sensibler Stimulationsmechanismus, bei dem der Affe mit den Fingerspitzen von Finger 2, 3 und 4 eine rotierende Scheibe berühren muss, um sein Futter zu erhalten. B Elektrodenverteilung im Handfeld der Area 3b. C Rekonstruktion der Kartographie des Handfeldes in Area 3b bei einem Eulenaffen, vor Beginn der sensiblen Stimulation. Die palmaren Hautareale sind
weiß (d distales, m mittleres, p proximales Fingerglied), die dorsalen behaarten Hautareale gepunktet dargestellt. D Elektrodenverteilung bei erneuter Vermessung des Handfeldes nach 135 Tagen sensibler Stimulation der Finger 2, 3 und 4 für 1,5 Stunden/Tag. E Rekonstruktion der Kartographie des Handfeldes nach sensibler Stimulation. Die kortikale Repräsentation der sensibel stimulierten Hautoberflächen an den Fingerspitzen (2d, 3d und 4d) hat sich deutlich vergrößert (Vergleich zwischen E und C)
5
72 Kapitel 5 · Neurobiologische Grundlagen der Plastizität des Nervensystems
untersuchten Schlaganfallpatienten mit globaler Aphasie im funktionellen Kernspin. Parallel zur klinischen Verbesserung des semantischen Wortverständnisses zeigten sich Aktivierungen in mehreren Regionen des Sprachzentrums, die ähnlichen sprachverarbeitenden Funktionen zugeordnet werden. Jaillard et al. (2005) wiesen bei Patienten mit umschriebenen Infarkten im primärmotorischen Kortex eine räumliche Verschiebung der Repräsentationsfelder für Fingerbewegungen nach, die im Verlauf von 2 Jahren immer deutlicher wurde.
5
Beispiel Der vielleicht eindrücklichste Hinweis auf Unmasking-Prozesse zeigt sich in Untersuchungen von früh erblindeten Menschen. Bei ihnen konnte nachgewiesen werden, dass das Lesen der Braille-Schrift – eines hochdifferenzierten taktil-sensorischen Stimulus – nicht nur die entsprechenden Areale des sensorischen Kortex aktiviert, sondern auch zu einer deutlichen Aktivierung von Teilen des visuellen Kortex im Okzipitalhirn führt (Cohen et al. 1997; Theoret et al. 2004). Umgekehrt kann eine Reizung des okzipitalen Kortex mittels transkraniellen Magnetstimuli bei Blinden taktile Sensationen in den Fingern hervorrufen (Ptito et al. 2008). Es ist anzunehmen, dass sonst latente Verbindungen zwischen visuellen und somatosensorischen Repräsentationsarealen genutzt werden, um die taktile Differenzierungsfähigkeit von blinden Personen zu erhöhen. Selbst bei sehenden Probanden, denen mehrere Tage lang die Augen verbunden wurden, konnte eine Aktivierung visuellkortikaler Areale bei Tastaufgaben kernspintomographisch nachgewiesen werden (Merabet et al. 2008). Diese kortikalplastische Veränderung war 24 Stunden nach Abnahme der Augenbinde nicht mehr nachweisbar – ein Zeichen dafür, dass unmasking-Prozesse kurzfristig stattfinden und reversibel sind.
5.1.5
Aussprossung von Nervenendigungen (Sprouting)
Prinzipiell ist jede Nervenzelle genetisch darauf programmiert, im Anschluss an eine Traumatisierung die ursprüngliche Anzahl von verloren gegangenen dendritischen bzw. axonalen Endigungen durch Aussprossung wiederherzustellen (Devor u. Schneider 1975). In der normalen embryonalen Entwicklung wird das Aussprossen von Endigungen aus der Nervenzelle durch eine Anzahl von Proto-Onkogenen (z.B. fos, jun) und anderen Regulationsproteinen gesteuert. Es ist bekannt, dass auch nach einer Traumatisierung von Nervenzellen die Expression von Transkriptionsfaktoren wie c-jun gesteigert wird, die gemeinsam mit dem Transkriptionsfaktor ATF3 in die Produktion neurotropher Faktoren involviert ist und das Wachstum von Neuronen induziert (Pearson et al. 2003). Dies ist eine Möglichkeit, wie das Aussprossen von Nervenendigungen und die Bildung neuer Rezeptoren angeregt wird (. Abb. 5.2). Für das periphere Nervensystem ist der Erfolg dieses Vorgangs, der im besten Falle zu einer vollständigen funktionellen Reinnervation führen kann, gut dokumentiert. Im zentralen Nervensystem führt der Prozess des Sproutings in vivo jedoch häufig nicht zu einer so erfolgreichen Funktionswiederherstellung wie in der Peripherie. Zahlreiche Gründe sind denkbar, die der erfolgreichen zentralen Reinnervation im Wege stehen: 4 Anders als im peripheren Nervensystem wurden im ZNS die Leitschienen bisher nicht nachgewiesen, an denen neu aussprossende Nervenendigungen entlangwachsen können, um zu ihrem Zielort zu gelangen. Die Bildung von aberranten synaptischen Verbindungen ist darum wahrscheinlicher und kann mit dem Restaurationsprozess interferieren.
Näher betrachtet Sensible Stimulierung bei Eulenaffen Die bahnbrechenden Untersuchungen von Merzenich et al. lieferten Anfang der 90er Jahre eine neue theoretische Basis für die Rehabilitation. Wegen ihrer großen Bedeutung sei das initiale experimentelle Modell hier ausführlicher beschrieben (Jenkins et al. 1990): Bei anästhesierten Eulenaffen wurde eine partielle Kraniotomie und Kartographie (Mapping) des sensiblen kortikalen Repräsentationsareals der Hand (Areal 3b) durchgeführt: Die freigelegte Gehirnoberfläche wurde fotografiert, anschließend wurden in dieses Areal einige 100 Mikroelektroden eingeführt und auf der Fotografie eingezeichnet. An diesen Elektroden konnten kortikal-neuronale Antworten auf periphere sensible Reize – in diesem
Fall Berührung der Fingerbeeren mit feinsten Glassonden – gemessen werden. Damit konnten die peripheren rezeptiven Fingerbeerenfelder ihren jeweiligen kortikalen Repräsentationen zugeordnet werden (. Abb. 5.1 B, C). Nach dieser Kartographie wurden die Fingerspitzen der dominanten Hand sensibel trainiert. Dies geschah durch eine klassische Konditionierung, indem der Affe nur dann Nahrungspellets erhielt, wenn er seine Fingerspitzen auf eine gerillte, kontinuierlich rotierende Aluminiumscheibe drückte. Diese Scheibe war für ihn jederzeit erreichbar. Sie war so angebracht, dass er sie nur mit zwei Fingern berühren konnte (. Abb. 5.1 A). Nach einer Lernperiode musste der Affe täglich
1,5–2 Stunden lang mit 2 Fingern auf die Scheibe drücken, um seinen Nahrungsbedarf zu decken. Er tat dies mit den Fingern II und III der rechten dominanten Hand. Diese differenzierte Stimulierung der Fingerspitzen wurde für 4,5 Monate beibehalten, danach wurde eine erneute kortikale Kartographie durchgeführt. Die kortikale Repräsentation der Fingerspitzen der Finger II und III hatte sich ungefähr um das 2- bzw. 3-fache ausgedehnt (. Abb. 1 D und E). Dieser Versuch lässt die Schlussfolgerung zu, dass sich durch Training eines bestimmten Hautareals die entsprechenden kortikalen Repräsentationsfelder vergrößern.
73 5.1 · Neuroplastizität
Dennoch gibt es im ZNS überzeugende Hinweise auf ein erfolgreiches Sprouting mit Wiederherstellung verloren gegangener Funktionen. Näher betrachtet Studien: Nervenaussprossung im Tierexperiment
. Abb. 5.2. Zwei mögliche Mechanismen, wie eine pyramidale Nervenzelle Eigenschaften, die ihrer eigenen Umgebung zugehören, auf benachbarte kortikale Felder übertragen könnte. a Sprouting von horizontalen Kollateralen in benachbarte Regionen, so dass Aktivität von der Pyramidenzelle Pb neue Neuronengruppen erreicht. Die schattierten Kreise repräsentieren synaptische Verbindungen Pb → Pa, das schattierte Dreieck stellt einen neuralen Wachstumskonus dar. c Unmasking bestehender synaptischer Verbindungen. Bestehende Pb → Pc-Verbindungen sind normalerweise nicht voll aktiv, da sie durch die gleichzeitige Aktivität eines über Neuron G laufenden Schaltkreises inhibiert werden. Durch Reduktion der Inhibition kommen funktionell »versteckte« horizontale Pb → Pc-Verbindungen zum Vorschein, deren Aktivität durch die Stärke der Inhibition dynamisch reguliert werden kann. Langzeitmodifikationen in der Aktivität dieser horizontalen Synapsen sind abhängig von der Frequenz, mit der diese Synapsen feuern: Hochfrequente Feuerungsraten führen zur Langzeitpotenzierung (LTP), vorausgesetzt, die Inhibition über G ist auf niedrigem Level, oder ein zusätzlicher Input erfolgt über aszendierende vertikale Fasern. Niederfrequente Feuerungsraten führen zur Langzeitdepression (LTD) der horizontalen Synapsenverbindungen
4 Die Bildung von Narbengewebe, ausgehend von Astrozyten und leptomeningealen Zellen im Bereich des Läsionsorts, kann eine Barriere für aussprossende Nervenendigungen bilden und zusätzlich verhindern, dass sie zu ihrem Bestimmungsort gelangen. In meningealen Fibroblasten, die in kortikales Narbengewebe einwandern, wurden Semaphorine nachgewiesen, die das Aussprossen von Neuronen direkt hemmen (Niclou et al. 2003). 4 Für eine vollständige Funktionswiederherstellung ist neben der Aussprossung von Nervenendigungen auch deren Remyelinisierung notwendig. Anders als im peripheren Nervensystem, wo die Schwann-Zellen das neu ausgesprosste Axon mit einer kontinuierlichen Myelinscheide versorgen, erfolgt im ZNS die Remyelinisierung durch Oligodendrozyten meist unvollständig (Woodruff u. Franklin 1997). Oligodendrozyten bilden zudem inhibitorische Proteine, die das axonale Wachstum hemmen können (Colello u. Schwab 1994).
Im visuellen Kortex von Katzen gelang es Darian und Gilbert (1994), die horizontale Aussprossung von intrakortikalen Axonen in ein deafferentiertes Gebiet hinein zu beweisen. Carlson-Kuhta et al. (1997) zeigten mithilfe der autoradiographischen Markierung kortikaler Projektionen, dass sich nach einer pränatalen oder neonatalen Teilresektion des frontalen Kortex von Katzen im partiell denervierten kontralateralen Nucleus ruber ein normal aussehendes Innervationsmuster neu ausbildete. Nach einer lokalen Markierung kortikaler Läsionsorte mit Mn2+, das in Neuriten anterograd transportiert wird, konnten Allegrini und Wiesner (2003) bei Ratten in vivo neu aussprossende kortikofugale und interhemisphärische Projektionen im Kernspin verfolgen. Holtmaat et al. (2006) beschrieben Vorgänge dendritischen Sproutings und neuer Synapsenbildung im somato-sensorischen Kortex von Ratten, abhängig davon, welchen sensorischen Erfahrungen die Tiere jeweils ausgesetzt waren. Auch im Hippocampus wurden im Tiermodell Sproutingvorgänge im Anschluss an Hirnverletzungen beschrieben (Norris u. Scheff 2009).
5.1.6
Neurotrophe Faktoren
Im Jahr 1948 führte Buecker ein Experiment durch, bei dem er Mäusesarkome in Hühnerembryos implantierte. Es stellte sich heraus, dass die Tumoren eine Substanz enthielten, die das Ganglienwachstum förderte. Die Substanz wurde einige Jahre später von Levi-Montalcini und Booker (1960) isoliert und Neural Growth Factor (NGF) genannt. Nachfolgend wurden das Nervenwachstum fördernde Eigenschaften für zahlreiche weitere Substanzen beschrieben (Thoenen 1995, Dechant u. Neumann 2002), z.B.: 4 GM-1-Ganglioside, 4 Neurotrophine, 4 Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF), 4 basic Fibroblast Growth Factor (bFGF) und 4 Glial-Cell-Derived Neurotrophic Factor (GDNF). Eine direkte neurotrophe und neuroreparative Wirkung wurde auch für den in der Angiogenese (Wachstum von kleinen Blutgefäßen) wirksamen Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF) beschrieben (Rosenstein et al. 2003). Neurotrophe Faktoren, in Kombination mit ihren korrespondierenden Antikörpern, regulieren während der embryonalen Entwicklung und auch im gesunden erwachsenen Organismus die Differenzierung, die Funktionsfähigkeit und das Überleben von spezifischen Neuronenpopulationen. Nach neuralen Läsionen spielen sie eine Rolle bei der Regeneration synaptischer Verbindungen (reaktive Synaptogenese) und bei Vorgängen neuronaler Plastizität.
5
74 Kapitel 5 · Neurobiologische Grundlagen der Plastizität des Nervensystems
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jSteuerung der Konzentration neurotropher Faktoren Die Konzentration neurotropher Faktoren im zentralen Nervensystem ist unter Normalbedingungen abhängig von der neuronalen Aktivität der beteiligten Nervenzellen und von dem Expressionsmuster der beteiligten Steuerungsgene. Das Genexpressionsprofil im jungen Gehirn ist anders als im gealterten Gehirn, wo Reparationsvorgänge langsamer und unvollständig ablaufen (Carmichael 2003). Die Wirksamkeit neurotropher Faktoren wird durch klassische Neurotransmitter wie Azetylcholin, Serotonin, GABA und Glutamat feingesteuert. Als weiterer Regulationsmechanismus dienen physiologische Stimuli. Näher betrachtet Experiment: Einfluss von visuellen Reizen auf die Konzentration neurotropher Faktoren Castren et al. (1992) konnten zeigen, dass die Konzentration von BNDF im visuellen Kortex durch die Exposition bzw. Deprivation von visuellen Reizen beeinflusst wurde. Im Tierexperiment ist es möglich, die negativen Folgen visueller Deprivation zu verhindern, indem man den visuellen Kortex mit NGF behandelt (Galuske et al. 1996). Die Behandlung mit Anti-NGF-Antikörpern hingegen verzögert in der embryonalen Entwicklung die Stabilisierung kortikaler Synapsen in der Sehrinde (Cellerino u. Maffei 1996).
Nach Hirnläsionen kommt es innerhalb von Stunden zu einer Mehrproduktion neurotropher Faktoren in dem die Läsion umgebenden Gewebe. Bei Kindern konnte gezeigt werden, dass eine hohe körpereigene Produktion von NGF nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma die Prognose hinsichtlich der neurologischen Defizite verbessert (Chiaretti et al. 2009). Am Beispiel von Hirninfarkten bei Ratten zeigten Kawamata et al. (1997), dass die frühe Applikation von bFGF (basic Fibroblast Growth Factor) eine Verkleinerung des Infarktareals bewirken konnte, während eine spätere Applikation die Größe des Infarkts unverändert ließ, aber trotzdem noch die funktionelle Erholung verbesserte. jTherapeutische Anwendung Eine therapeutische Anwendung von neurotrophen Faktoren wird seit Jahren nicht nur für akute zerebralen Läsionen, sondern auch bei neurodegenerativen und neuroimmunologischen Erkrankungen angestrebt (Schulte-Herbrüggen et al. 2007). Dennoch stehen der Behandlung von Patienten mit neurotrophen Faktoren noch viele ungelöste Probleme entgegen. Eine ungezielte Applikation neurotropher Substanzen verbietet sich wegen ihrer wahrscheinlichen Wirksamkeit nicht nur im geschädigten, sondern auch im gesunden Hirngewebe – mit unerwünschten potenziellen Folgen: 4 Die systemische und intrathekale Gabe von NGF und BNDF führte im Tierversuch zu massiven Hyperalgesien (Lewin et al. 1993, Groth u. Aanonsen 2002). 4 Die streng lokale Applikation in einem umschriebenen Hirnareal ist andererseits mit allen Risiken eines invasiven zerebralen Eingriffs verbunden.
Zudem wirken einzelne neurotrophe Faktoren sehr spezifisch auf bestimmte Zellpopulationen (Lu 2004), so dass erst bekannt sein muss, welche molekulare Verbindung in welchem Hirnzentrum (sensorischer Kortex, visueller Kortex etc.) optimal anzuwenden wäre. Schließlich wären Fragen der Dosierung und Applikationsdauer zu klären, wobei ein differenziertes Management neben den neurotrophen Substanzen auch deren spezifische Antikörper einzuschließen hätte, um neuronale Wachstumsprozesse gezielt in Gang setzen und unterbrechen zu können. Näher betrachtet Studien: Neurotrophinproduktion durch körperliches Training In diesem Zusammenhang sind neue Erkenntnisse aus Tierversuchen interessant, die belegen, dass die Neurotrophinproduktion in Gehirn und Rückenmark auch durch körperliches Training gefördert wird (Ying et al. 2005). Es konnte sogar eine vorbeugende Wirkung von lokomotorischem Training belegt werden: Ratten, die zuvor mehrere Wochen im Laufrad trainiert hatten, zeigten nach Induktion einer ischämischen Hirnläsion eine höhere Konzentration von NGF und BNDF am Läsionsort und signifikant kleinere Infarktvolumina als untrainierte Tiere (Ding et al. 2004). Obwohl nicht direkt auf den Menschen übertragbar, scheinen solche Erkenntnisse doch in ermutigender Weise auf den Nutzen körperlichen Trainings als präventive und rehabilitative Maßnahme hinzuweisen.
Fazit Körperliches Training stimuliert die Produktion von Neurotrophinen im Zentralnervensystem. Prophylaktisches körperliches Training verbessert – zumindest im Tiermodell – durch die erhöhte Bereitstellung neurotropher Faktoren den klinischen Verlauf nach Hirnläsionen.
5.1.7
Synaptische Mechanismen
Auf der synaptischen Ebene gibt es zahlreiche Ansatzpunkte für plastische Mechanismen nach ZNS-Läsionen. jNeubildung funktionsfähiger Synapsen Im Anschluss an eine Schädigung muss im angrenzenden Hirngewebe der läsionsbedingte Transmittermangel durch vermehrte Bildung und Freisetzung von Neurotransmittern und ggf. auch durch die Bildung neuer Rezeptoren teilweise ausgeglichen werden. Nach der Ausbildung neuer Nervenendigungen (Sprouting) in einem verletzen Gebiet muss es zur Neubildung funktionsfähiger Synapsen und Rezeptoren kommen, die zur Synthese, Freisetzung und Aufnahme von Neurotransmittern in der Lage sind. Verschiedenste Proteine, wie Zytokine und neurotrophe Faktoren, vermitteln solche Prozesse synaptischer Organisation durch 4 Steuerung der Neurotransmitterproduktion, 4 Rezeptordichte und 4 räumliche Verteilung von Synapsen (Lessmann et al. 2003).
75 5.1 · Neuroplastizität
traumatischen Erholung von Hirnfunktionen offenbar eine Näher betrachtet Studie: Proteinkonzentration nach Hirnläsionen In einer Studie an Ratten mit parietalen kortikalen Infarkten untersuchten Stroemer et al. (1995) die Konzentration von Proteinen, die mit dem Nervenwachstum assoziiert sind. In den an das Infarktareal angrenzenden Gebieten und auch kontralateral parietal kam es zuerst zu einem Konzentrationsanstieg von GAP-43, einem im axonalen Wachstumskonus vorhandenen Protein, und anschließend zu einer Konzentrationserhöhung von Synaptophysin, einem Kalzium bindenden Protein, das in synaptischen Vesikeln vorhanden ist – Indikatoren für neurales Sprouting, gefolgt von Synapsenbildung. Parallel dazu kam es zu einer Erholung motorischer Funktionen. Knott et al. (2006) konnten bei erwachsenen Mäusen elektronenmikroskopisch nachweisen, dass zwischen dem ersten Aussprossen von Nervenendigungen und der Bildung funktionsfähiger Synapsen ein Zeitraum von etwa 4 Tagen lag.
jSynaptische Plastizität Darüber hinaus ist die Funktion bereits existierender Synapsen sowohl im subkortikalen als auch im kortikalen Bereich in hohem Maße flexibel. Dafür wurde der Begriff der synaptischen Plastizität geprägt. Regulationsmechansimen, wie die Langzeitpotentiation (»long-term potentiation«, LTP) und Langzeitdepression (»long-term depression«, LTD) von synaptischen Verbindungen, sind in jüngerer Zeit als Substrat neuronaler Neuorganisation beschrieben worden (Barmashenko et al. 2003, Übersicht bei Feldman 2009) (. Abb. 5.2). Es handelt sich um Vorgänge, die dazu führen, dass neuronale Aktivität in stabilere strukturelle Verschaltungen umgewandelt wird: Hochfrequente elektrische Entladungen induzieren eine Koordination von prä- und postsynaptischen Elementen, so dass das Aktivitätsniveau einer Synapse für längere Zeit (Stunden, Tage oder auch deutlich länger) angehoben oder herabgesetzt wird. Die Morphologie der Dendriten einer Nervenzelle, ihre Anzahl, ihre elektrischen und chemischen Eigenschaften spielen eine wesentliche Rolle für die synaptische Regulation und für die Ausbildung interaktiver Synapsengruppen (Sjöström et al. 2008). Fazit Synaptische Mechanismen spielen nicht nur eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung neuronaler Schaltkreise in der präund postnatalen Entwicklungsphase, sie liegen offensichtlich auch den Gedächtnis- und Lernvorgängen zugrunde und ermöglichen vermutlich nach zerebralen Läsionen das Unmasking von redundanten neuralen Verbindungen.
jKlinische Beobachtungen Klinisch gibt es zunehmend Hinweise, dass die Erholung von Hirnfunktionen nach einer akuten Läsion in hohem Maße abhängig ist von der Konzentration von Neurotransmittern sowohl am Läsionsort als auch in Regionen, die vom Läsionsort entfernt liegen. Den Katecholaminen und ihrer Produktion im Locus coeruleus und Kleinhirn kommt bei der post-
besondere Bedeutung zu. Im Rattenhirn konnte demonstriert werden, dass noradrenerge Neuronen im Locus coeruleus unmittelbar nach einem Hirntrauma ihr Volumen vergrößern – ein Effekt, der mehrere Tage lang anhält (Fujinaka et al. 2003). Unter physiologischen Bedingungen geht eine erhöhte Vigilanz mit einer Mehrproduktion von Noradrenalin im Locus coeruleus einher. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass klinische Rehabilitationsmaßnahmen erfolgreicher sind, wenn die Patienten alert, motiviert und aktiv in ein Training involviert sind (Bach-y-Rita et al. 2002). Näher betrachtet Studien: Kombination von Katecholaminen und aktivem Traingsprogramm An Ratten demonstrierten Feeney et al. bereits 1982, dass nach einer umschriebenen Verletzung des sensomotorischen Kortex die Erholung motorischer Funktionen durch Stimulation mit Katecholaminen beschleunigt werden konnte. Studien mit Schlaganfallpatienten ergaben, dass der Erfolg motorischer und sprachtherapeutischer Rehabilitationsprogramme durch kurzzeitige Applikation von Amphetamin oder anderen Medikamenten, die die zentrale Noradrenalinkonzentration erhöhen, verstärkt werden konnte (WalkerBatson et al. 2002). Die Fallzahlen solcher Studien sind klein, und konkrete Empfehlungen für eine klinische Anwendung bei Patienten mit Schlaganfall oder Hirnverletzung können daraus nicht abgeleitet werden (Goldstein 2009). Von besonderer Wichtigkeit für die Rehabilitation ist jedoch die übereinstimmende Beobachtung – sowohl im Tierexperiment als auch bei der Behandlung von Patienten – dass Katecholamine nur dann funktionsverbessernd wirken, wenn ihre Gabe mit einem aktiven Trainingsprogramm kombiniert wird (Übersicht bei Martinsson u. Ekberg 2004).
Fazit Unter dieser Voraussetzung gibt es ermutigende Hinweise, dass eine katecholaminerge Medikation auch noch mehrere Wochen nach einem traumatischen Ereignis (z.B. Hirninfarkt) die Trainingsmaßnahmen dauerhaft positiv beeinflussen kann. Gleichermaßen von Bedeutung ist die Warnung, dass im Anschluss an akute Hirnläsionen auf Medikamente wie 4 Benzodiazepine, 4 Barbiturate, 4 Phenytoin und 4 Neuroleptika, die eine Blockade von zentralen Noradrenalin- und Dopaminrezeptoren bewirken, möglichst verzichtet werden sollte (Goldstein 2003).
5.1.8
Neurogenese
Bis in die 90er Jahre hinein ging man von der Annahme aus, dass es sich bei sämtlichen im ZNS von Wirbeltieren befindlichen Neuronen um ausgereifte Nervenzellen handele, die
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76 Kapitel 5 · Neurobiologische Grundlagen der Plastizität des Nervensystems
sich in einem postmitotischen Zustand befänden und sich somit nicht mehr teilen könnten. Dies ist mittlerweile widerlegt. Dass bestimmte Gehirnregionen auch im erwachsenen Alter noch neuronale Stammzellen enthalten, die sich bei Bedarf zu neuen reifen Nervenzellen ausdifferenzieren können, wurde erstmals 1997 tierexperimentell nachgewiesen.
5
Näher betrachtet Tierexperimente: Ausdifferenzierung neuer Nervenzellen Kempermann et al. (1997) zeigten, dass sich im Gyrus dentatus des Hippokampus von Mäusen neue Nervenzellen bildeten, wenn die Tiere in einer stimulierenden Umgebung mit vielerlei Lernmöglichkeiten gehalten wurden. Experimente von Scharff et al. (2000) belegten erstmals bei Zebrafinken, dass das Nachwachsen von Neuronen eine Rolle bei Lernprozessen spielt. Im Gehirn dieser Vögel existiert ein Singzentrum (»high vocal center«), in dem die »Strophen« der in früheren Lebensstadien erlernten Lieder gespeichert sind. Wurden bei erwachsenen Vögeln Teile des Singzentrums zerstört, so resultierte dies zunächst in einem Verlust der erlernten Lieder. Die betroffenen Vögel waren jedoch in der Lage, neue Strophen zu erlernen. Dies ging mit einer Neubildung von Neuronen aus Vorläuferzellen einher.
Mittlerweile finden sich bei erwachsenen Säugetieren Hinweise auf das Vorhandensein neurogenesefähiger Zellen nicht nur im Hippocampus, sondern auch 4 im Bulbus olfactorius (Moreno et al. 2009), 4 im Striatum, 4 in der Substantia nigra und 4 im Mandelkern (Gould 2007). > Neurogenese ist ein mehrschrittiger Prozess. Er umfasst 4 die Proliferation der Vorläuferzellen, 4 ihre Migration zu der Region, in der sie benötigt werden, 4 ihre Ausdifferenzierung zu reifen Nervenzellen und 4 ihren Einbau in vorhandene neuronale Schaltkreise, alles Vorgänge, die durch Genexpression gesteuert werden (Bruel-Jungerman et al. 2007).
Tierexperimentell konnte nachgewiesen werden, dass eine Neubildung von Neuronen durch ischämische Hirnläsionen getriggert wird, und dass Vorläuferzellen über längere Distanzen, z.B. vom Striatum zum Kortex, wandern können (Ohab et al. 2006) – vorzugsweise entlang der Blutgefäße (Thored et al. 2007). Dass neuronale Stammzellen auch im erwachsenen menschlichen Hippocampus vorhanden sind, wurde durch post-mortem-Analysen belegt (Eriksson et al. 1998). Eine Analogie zu den in anderen Säugerhirnen beschriebenen Vor-
gängen ist wahrscheinlich, wenn auch wegen methodischer Probleme bislang nicht direkt nachgewiesen. Fazit In einzelnen Gehirnregionen können lebenslang reife Neuronen aus Vorläuferzellen neu gebildet werden. Diese Fähigkeit zur Neurogenese ist wahrscheinlich in weit höherem Maße für neuroplastische Vorgängen verantwortlich als bisher angenommen.
5.1.9
Einfluss der Umgebungsbedingungen (Enriched Environment)
Aus empirischer Beobachtung ist lange bekannt, wie stark Rehabilitationserfolge nicht nur davon abhängen, was während der Trainingsmaßnahmen geschieht, sondern auch davon, wie die therapiefreie Zeit gestaltet ist. Persönliche Faktoren scheinen eine große Rolle zu spielen: 4 die persönliche Motivation des Patienten, 4 seine selbst gesteckten Ziele, 4 die Qualität seiner sozialen Kontakte, 4 berufliche und private Interessen sowie 4 die von ihm geforderte und gewollte Selbständigkeit in den Alltagsaktivitäten. Ablauf und Erfolg der in diesem Kapitel geschilderten Neuroplastizitätsmechanismen scheinen in starkem Maße von den Umgebungsbedingungen abzuhängen, in denen sich der Patient befindet. Dass das Umfeld (»environment«) einen entscheidenden Faktor für die Expression zerebraler Funktionen darstellt, wurde in den letzten Jahren tierexperimentell wiederholt bestätigt. Fazit Es ist schwierig, diese Erkenntnisse auf die Situation von Patienten zu übertragen. Noch schwieriger ist eine direkte Verifizierung beim Menschen – wegen der Komplexität und der ethischen Bedenken, die eine solche Studie involvieren würde. Uns ist nur eine Studie bekannt, die dies bisher versuchte (Barreca et al. 2003): Patienten mit schweren akuten Hirnverletzungen, die sich in einer stimulusreichen Umgebung befanden und zusätzlich ein multidisziplinäres Training erhielten, waren besser in der Lage, über Ja-/Nein-Reaktionen zu kommunizieren als Vergleichspatienten, die in einer Standard-Krankenhausumgebung behandelt wurden. Sicherlich können und sollen diese Erkenntnisse wie auch die Ergebnisse von Tierexperimenten zumindest als Anregung dienen, wenn es darum geht, Patienten bei der Gestaltung ihres weiteren Lebens außerhalb von Rehabilitationskliniken zu beraten.
77 5.2 · Literatur
Näher betrachtet Studien: Enriched Environment Unter dem Terminus Enriched environment wurden Bedingungen geschaffen, bei denen Labortiere in Käfigen mit großem Auslauf gehalten wurden, mit der Möglichkeit zur Interaktion mit artgleichen Tieren, einem vielfältigen Angebot von Materialien zur visuellen, taktilen und olfaktorischen Stimulation sowie der Möglichkeit zu selbständigem Nestbau und artgerechter Futterbeschaffung. Es bestätigte sich immer wieder, dass die so gehaltenen Tiere bei der Testung ihrer kognitiven und motorischen Fähigkeiten nach zerebralen Läsionen wesentlich besser abschnitten als die unter Standard-Laborbedingungen gehaltenen Vergleichstiere. Dies wurde z.B. bei Ratten im Anschluss an Hirninfarkte (Johansson 1996a) oder traumatische Hirnläsionen (Hamm et al. 1996) beschrieben. Soziale
5.2
Interaktion führte zu einer besseren Leistung als rein motorische Stimulation, am besten jedoch schnitten, ebenfalls in einer Hirninfarktstudie, diejenigen Ratten ab, deren Umgebungsbedingungen beides erlaubten (Johansson u. Ohlsson 1996). Selbst wenn die Tiere mit Verzögerung, 2 Wochen nach stattgehabtem Hirninfarkt, in die bereicherte Umgebung gebracht wurden, schnitten sie noch besser ab als Tiere ohne bereicherte Stimulation (Johansson 1996b). Auf der morphologisch-physiologischen Ebene wurden Korrelationen beschrieben zwischen Enriched Environment-Bedingungen und 4 Dicke des kortikalen Gewebes, 4 Anzahl von Synapsen, 4 Komplexität dendritischer Verzweigungen, 4 Neuronendichte und
Literatur
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4 Neurotransmitterkonzentration in postläsionalen Hirnarealen (Teather et al. 2002). Auch eine verbesserte Neurogenese wurde im Hippocampus erwachsener Mäuse unter stimulierenden Umgebungsbedingungen nachgewiesen (Herring et al. 2009). Im Enriched Environment gehaltene Versuchstiere zeigten in zahlreichen Hirnregionen eine höhere Konzentration neurotropher Faktoren als Vergleichstiere in Standardumgebung (Ickes et al. 2000). Dies war auch nach Hirnläsionen der Fall (Komitova et al. 2005). Dass die Umgebungsbedingungen auch beim gesunden Gehirn Einfluss auf die Komplexität der dendritischen Verzweigung und die synaptische Aktivität haben, konnte bei Primaten nachgewiesen werden (Kozorovitsky et al. 2005).
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78 Kapitel 5 · Neurobiologische Grundlagen der Plastizität des Nervensystems
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79 5.2 · Literatur
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5
6
Funktionelle Bildgebung in der Neurorehabilitation M. Rijntjes, C. Weiller, J. Liepert 6.1
Grundhypothese
– 82
6.2
Funktionserholung nach einem Schlaganfall
– 82
6.2.1 Plastische Veränderungen nach ZNS-Läsionen – 82 6.2.2 Aktivierungsstudien des motorischen Systems – 84
6.3
Sprache
– 86
6.3.1 Funktionelle Bedeutung der Reorganisation – Korrelation mit der Funktionserholung – 87
6.4
Klinischer Befundeinsatz der funktionellen Bildgebung in der Rehabilitation – 88
6.5
Literatur
– 89
82 Kapitel 6 · Funktionelle Bildgebung in der Neurorehabilitation
6
Es ist vielleicht gerechtfertigt zu sagen, dass die Befunde der funktionellen Bildgebung der letzten 10 Jahre bei Schlaganfallpatienten viele Gedanken der Rehabilitation auf eine neue neurobiologische Basis gestellt haben und dadurch der Rehabilitation Schwung, Interesse und neuen Enthusiasmus gebracht haben und auch Wege aufgezeigt haben, wie rehabilitative Techniken auf neurobiologischer Basis evaluiert werden könnten. Man versteht besser, was im Gehirn eines Schlaganfallpatienten vorgeht. Man »sieht« den ipsilateralen Kortex aufblitzen, wenn Mitbewegungen der gesunden Seite bei der Visite zu beobachten sind und kann vielleicht die Rückbildung der Diaschisis vermuten, wenn sich die Sprache innerhalb der ersten Woche plötzlich von einem auf den anderen Tag deutlich bessert. Gerade erst scheint die Zeit zu beginnen, in der Messungen am Patienten eine konkrete Anpassung der Behandlung bringen.
Grundhypothese
6.1
Die Grundhypothese ist seit Langem dieselbe. Patienten erholen sich von einem Schlaganfall, mehr oder weniger und z.T. erst nach langer Zeit, obwohl die den Funktionsausfall auslösende strukturelle Läsion unverändert bleibt. Annahme ist, dass eine Anpassung, Reorganisation oder Plastizität des verbliebenen Gehirns für diese Erholung verantwortlich ist. Erst durch die funktionelle Bildgebung war diese Frage in größerem Stil angehbar. jIn . Übersicht 6.1 sind die möglichen bildgebenden Verfahren zusammengefasst. . Übersicht 6.1. Bildgebende funktionelle Verfahren 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Positronen-Emissions-Tomographie (PET) Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) Computertomographie (CT) Einzelphotonen-Emissions-Tomographie (SPECT) Diffusions-Tensor-Bildgebung (DIT) Transkranielle Magnetstimulation (TMS) Steady-State-FDG-Untersuchungen
Die Ergebnisse zeigen, dass nicht nur junge Rattengehirne, sondern auch das alte menschliche, ja geschädigte Gehirn auch längere Zeit nach dem Schlaganfall über ein plastisches Potenzial verfügt, zumindest im motorischen und sprachlichen System (Chollet et al. 1991, Weiller et al. 1992, 1995). > Die Reorganisation des Gehirns ist individuell unterschiedlich (Weiller et al. 1993), korreliert mit der Funktionserholung (Liepert et al. 1998) und lässt sich durch Medikamente, Training und Rehabilitation beeinflussen (Musso et al. 1999, Pariente et al. 2001, Liepert et al. 2000).
Eine Funktionserholung ist durch verschiedene pathophysiologische Mechanismen möglich, so dass Prognose und Auswahl einer geeigneten Therapie davon abhängen. Nach Einschätzung der Autoren gibt es keine einzelne, entscheidende
Komponente der Funktionsrestitution. Restitution scheint durch eine neue Gewichtung der Verbindungen eines Netzes von Hirngebieten bedingt zu sein. Jedes dieser Gebiete mag für den einen oder anderen Aspekt der verloren gegangenen Funktion eine Rolle spielen, bedarf aber der zeitlich und räumlich kohärenten Unterstützung der anderen Hirngebiete, um eine ausgereifte Funktion zu ermöglichen (Weiller u. Rijntjes 1999). Letztlich brachten diese Studien viele neue Erkenntnisse über die Funktion des normalen Gehirns.
6.2
Funktionserholung nach einem Schlaganfall
Plastische Veränderungen sind ein weit verbreitetes Reaktionsmuster des Gehirns und kommen unter den verschie-
densten Bedingungen vor, 4 während des Lernens, 4 als Anpassung an den Gebrauch, 4 innerhalb von Minuten oder über Monate, 4 mit oder ohne Veränderung des Verhaltens innerhalb einer Modalität oder übergreifend (Kaas 1991, Merzenich et al. 1982, Elbert et al. 1995, Liepert et al. 1995, 1999; Classen et al. 1998, Ungerleider et al. 2002, Kaas et al. 1997, Rijntjes et al. 1997, 1999; Büchel 1998).
6.2.1
Plastische Veränderungen nach ZNS-Läsionen
Nach ZNS-Läsionen findet man plastische Veränderungen, 4 zum einen als passive Konsequenz des strukturellen Defekts (z.B. Diaschisis) und 4 zum anderen als Folge einer aktiven Intervention (z.B. während der Rehabilitation) (Weiller et al. 1993). Nicht nur bei motorischen Aktivierungsstudien mit PET und fMRT sind Veränderungen ersichtlich, sondern auch schon in Ruhe, und letztere beeinflussen erstere. jNekrosen Die im CT sichtbare Kolliquationsnekrose (Verflüssigung der nekrotischen Zellen) ist nur der offensichtlichste Teil der Ischämiefolgen. Das Periinfarktgewebe ist oft durch eine klinisch relevante selektive Parenchymnekrose oder einen selektiven Neuronenuntergang bei erhaltenem Stützgewebe (daher in morphologischen Verfahren nicht abbildbar, nur mit funktionellen PET- oder SPECT-Tracern [Radiopharmaka] [Nakagawara et al. 1997]) geschädigt, deren Ausmaß für die Aktivierbarkeit und Funktionsrestitution, vor allem von Aphasie oder Neglect entscheidend sein kann (Garcia et al. 1995, Weiller et al. 1993, Warburton et al. 1999). jDiskonnektionen Die Bedeutung von Diskonnektionen (Leitungsstörungen) lässt sich an einem Beispiel darstellen (. Abb. 6.1).
83 6.2 · Funktionserholung nach einem Schlaganfall
Beispiel Eine Patientin hatte einen embolischen Infarkt im Gyrus postcentralis links erlitten. Folge war eine Hypästhesie. Zusätzlich bestanden eine Hemiparese rechts und eine Leitungsaphasie, die durch die Läsion alleine nicht zu erklären waren. Mit der neu6
en Technik der Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI) (Hennig et al. 2003) kann der grobe Faserverlauf in der weißen Substanz dargestellt werden (. Abb. 6.1 b). Die subkortikale Ausdehnung der Läsion hatte auch die Pyramidenbahn erfasst, was die Hemiparese erklärte, und infolge zu einer Unterbrechung des Fasciculus arcuatus geführt, was die Aphasie erklärte.
a
b . Abb. 6.1 a, b. Patientin mit embolischem Infarkt und Hypästhesie rechts. Zusätzlich hat die Patientin eine Hemiparese rechts und eine Leitungsaphasie. Die Diffusions-Tensor-Bildgebung zeigt, dass der
subkortikale Anteil der Läsion auch die Pyramidenbahn und den Faszikulus arcuatus erfasst
6
84 Kapitel 6 · Funktionelle Bildgebung in der Neurorehabilitation
Eine strukturelle Diskonnektion dieser Art kann zu einer antero- oder retrograden Degeneration führen. Bei der Pyramidenbahn lässt sich der Beginn der Bahndesintegration schon in den ersten Tagen nach dem Insult mit DTI darstellen (Thomalla et al. 2003). Die Bedeutung der DTI für die Prognose war lange Zeit umstritten, jetzt aber kommt diesem
6
Darstellungsverfahren wieder mehr und mehr Bedeutung zu (Bülau et al. 1995, Binkofski et al. 1995). Als Maß für die Intaktheit des Tractus corticospinalis (und vielleicht auch anderer Bahnen) können die verschiedenen Techniken der Transkraniellen Magnetstimulation (TMS) gelten. Der frühzeitige Nachweis gut auslösbarer motorisch evozierter Potenziale (MEP) ist eng mit einer guten Funktionsrestitution assoziiert. Das Fehlen von MEPs schließt zwar eine langfristige Funktionsverbesserung nicht aus, macht aber eine rasche Remission der Symptomatik unwahrscheinlich (Catano et al. 1996, Heald et al. 1993, Timmerhuis et al. 1996). jFunktionelle Deaktivierung Auch die Bedeutung einer funktionellen Deaktivierung (Monakow-Diaschisis im weiteren Sinne) ist umstritten (Feeney u. Baron 1986, Seitz et al. 1994), scheint aber nach neueren Untersuchungen wieder an größerer Bedeutung zu gewinnen. Besonders in hypoperfundierten oder hypometabolen Gebieten, die über Fasern mit dem Infarktareal verbunden, aber nicht selbst infarziert sind, wird seit Längerem eine funktionelle Deaktivierung beschrieben (z.B. gekreuzte zerebelläre Diaschisis bei Infarkten der inneren Kapsel). Die Untersuchungen striatokapsulärer Infarkte in Ruhe zeigen nicht nur im Zerebellum und den Pedunculi cerebri (Waller-Degeneration) eine Hypoperfusion (Minderdurchblutung), sondern auch im/in 4 motorischen Kortex (M1), 4 dorsolateralen präfrontalen Kortex (DLPFC), 4 Gyrus cinguli, 4 Thalamus und 4 kortikalen Projektionsstellen striato-thalamo-kortikaler Regelkreise (Weiller et al. 1992) (. Abb. 6.2). In Ruhe fanden sich auch hyperperfundierte Gebiete, z.B. der dorsale prämotorische Kortex der nicht infarzierten Gegenseite. Diesem Gebiet wird in Aktivierungsstudien eine wichtige Rolle für eine mögliche Funktionssubstitution eingeräumt (Weiller et al. 1992, Seitz et al. 1998, Johansen-Berg et al. 2002). jDisinhibition motorischer Areale TMS-Untersuchungen zeigen in Übereinstimmung mit tierexperimentellen Studien, dass ein kortikaler Hirninfarkt zur Disinhibition motorischer Areale in der nicht-läsionierten Hemisphäre führen kann (Reinecke et al. 1999, Liepert et al. 2000, Manganotti et al. 2002, Shimizu et al. 2002). Diese Exzitabilitätssteigerungen sind besonders dann nachweisbar, wenn der Infarkt durch das Corpus callosum ziehende Fasern mitgeschädigt hat und somit auch die transkallosale Inhibition gestört ist (Boroojerdi et al. 1996, Niehaus et al. 2003).
. Abb. 6.2. Vergleich des Blutflusses in Ruhe zwischen 10 Patienten mit linksseitigem striatokapsulärem Infarkt und 10 Gesunden. Im standardisierten anatomischen Raum sind auf sagittalen, koronaren und transversalen Projektionen die Regionen dargestellt, die bei den Patienten in Ruhe eine signifikante Erniedrigung des Blutflusses aufweisen (p<0,001). Neben der Läsion im Striatum und der inneren Kapsel sowie dem Pedunculus cerebri (Degeneration der Pyramidenbahn) und dem gegenseitigen Zerebellum sind die Projektionsgebiete der striato-thalamo-kortikalen Regelkreise: lateraler präfrontaler Kortex, sensomotorischer Kortex und Thalamus
6.2.2
Aktivierungsstudien des motorischen Systems
Die Aktivierungsstudien bei Schlaganfallpatienten zeigen im motorischen System recht konsistente Befunde, bestehend aus einer 4 Ausdehnung der vorbestehenden Repräsentationen, 4 Verschiebung von primären zu sekundären Systemen und 4 Rekrutierung homologer Regionen in der gesunden Hemisphäre. Diese Reaktionen konnten sowohl in Tierexperimenten als auch beim Menschen beobachtet werden (. Abb. 6.3) (Darian-Smith et al. 1999, Fries et al. 1993, Liu u. Rouiller 1999, Nado 1997, Rouiller et al. 1998, Frost et al. 2003, Weiller et al. 1992, 1993; DiPiero et al. 1992, Seitz et al. 1994, 1998; Weder u. Seitz 1994, Binkofski et al. 1996, Dettmers et al. 1997).
85 6.2 · Funktionserholung nach einem Schlaganfall
. Abb. 6.3. Bei 10 Patienten mit linksseitigem striatokapsulärem Infarkt zeigten sich im Vergleich zu 10 Gesunden stärker aktivierte Gebiete bei Fingeropposition der rechten Hand. Die rechte Bildhälfte zeigt die linke geschädigte Hemisphäre, der obere Teil die lateralen Projektionen. Sichtbar sind eine starke bilaterale Aktivierung, ein
verstärkter Anstieg in den sekundären motorischen Gebieten (SMA, lateraler prämotorischer Kortex) und sensomotorischen Assoziationskortizes (Inselrinde, unterer Parietallappen) sowie in Gebieten, die mit Aufmerksamkeit und Intension verknüpft sind (dorsolateraler präfrontaler Kortex und Gyrus cinguli)
jBefunde bei motorischen Aktivitäten von Schlaganfallpatienten Wenn Schlaganfallpatienten motorische Aufgaben ausführen, zeigt sich in den meisten fMRT- oder PET-Studien ein weitverzweigtes Netz von Aktivierungen in beiden Hirnhälften: 1. Die Reorganisation beschränkt sich auf Gebiete, die auch bei Gesunden aktiv sind, allerdings meist unter komplexeren Bedingungen (Fink et al. 1997), vielleicht mit einer anderen Gewichtung. 2. M1 und dessen Hauptausflusstrakt in der geschädigten Hemisphäre scheinen bestimmende Faktoren für die Feinmotorik zu bleiben. Bei Läsionen des hinteren Teils des Crus posterior der inneren Kapsel ist ein robuster Befund die laterale Extension der Handrepräsentation in Richtung Gesichtsrepräsentation (Weiller et al. 1993, Nelles et al. 2001). Auch in TMS-Studien zeigt sich in Akutstadium und chronischer Phase nach dem Schlaganfall eine verminderte intrakortikale Inhibition in M1 der läsionierten Hemisphäre (Liepert et al. 2000, Manganotti et al. 2002). Es ist unklar, ob diese Disinhibition eher Folge der Schädigung oder Ausdruck eines Kompensationsmechanismus ist. 3. Der ipsilaterale Motorkortex in der gesunden Hemisphäre spielt nach Erachten der Autoren nur bei einer kleinen Zahl von Patienten eine entscheidende Rolle, wenn man auch die TMS-Studien berücksichtigt. In der Mehrzahl der Publikationen waren bei TMS der gesunden Hemisphäre keine oder nur mit maximaler Reizstär-
ke evozierbare MEPs ableitbar. Das Auftreten von MEPs war eher mit einem hochgradigen motorischen Defizit assoziiert (Benecke et al. 1991, Palmer et al. 1992, Turton et al. 1996, Netz et al. 1997). Allerdings wurde auch von Schlaganfallpatienten mit guter motorischer Restitution und ipsilateralen MEPs berichtet, die schon bei niedriger Reizintensität auslösbar waren (Caramia et al. 1996, Trompetto et al. 2000). Bei diesen wenigen Patienten mag es wirklich ungekreuzte kortikospinale Fasern geben. Anhand des Auftretens von Spiegelbewegungen in der gesunden Hand bei Schlaganfallpatienten dürfte die Quote etwa bei 10–15% liegen (Weiller et al. 1993, Rijntjes 1999). Der dorsolaterale prämotorische Kortex (PmD) scheint das konsistenteste ipsilaterale Areal bei der Funktionsrestitution zu sein (Weiller et al. 1992, 1993; Seitz et al. 1998, Johansen-Berg et al. 2002). Auch in der nicht-läsionierten Hemisphäre findet sich eine kortikale Disinhibition. Sie ist hinsichtlich ihrer pathophysiologischen und prognostischen Bedeutung wesentlich unklarer als die Disinihibition auf der infarzierten Seite. Sowohl eine Normalisierung der Inhibiton kann mit einem besseren motorischen Outcome korrelieren als auch eine persistierende Disinhibition ((Manganotti et al. 2002, Shimizu et al. 2002, Bütefisch et al. 2003). 4. Sekundäre motorische Gebiete der geschädigten Hemisphäre mit eigenen direkt absteigenden kortikospinalen Fasern (PmD, SMA) scheinen eine Substitution mit wahrscheinlich leicht modifizierter Funktion zu ermöglichen ((Dum u. Strick 1991, Fries et al. 1993, Weiller et al. 1992, Binkofski et al. 1995, Nudo 1997). Zusätzliche Ge-
6
86 Kapitel 6 · Funktionelle Bildgebung in der Neurorehabilitation
biete, die dem motorischen System zugeschrieben werden wie 5 BA 40 (Brodman area 40) im Parietallappen und 5 vorderer Teil der Insel bzw. frontales Operculum
6
finden sich in fast allen Studien (Weiller et al. 1992, 1993; Pantano et al. 1995, Dettmers et al. 1997, Cao et al. 1998, Seitz et al. 1998, Nelles et al. 1999, Marshall et al. 2000). Verstärkte Aktivierungen im dorsolateralen präfrontalen Kortex und Gyrus cinguli deuten auf den vermehrten Einsatz von Aufmerksamkeit und Intention hin (Weiller u. Rijntjes 1999). 5. Bei extern getriggerten, relativ raschen und kräftigen Fingerbewegungen zeigen Schlaganfallpatienten meist eine stärkere Aktivierung als Gesunde. Dies könnte eine stärkere Anstrengung reflektieren oder einer durch die Läsion induzierten Disinhibition entsprechen (Price et al. 1994, Witte et al. 1997, Liepert et al. 2000). Wird die Aufgabe der Maximalkraft angepasst, ist die kontrollierende Aktivierung oftmals geringer, oder die Patienten aktivieren nach einem anderen Muster (Dettmers et al. 1997), und die übersteigerte Aktivierung bildet sich im Verlauf zunehmend zurück (Ward et al. 2003).
6.3
Sprache
Die klassische Einstellung, dass Sprache ganz überwiegend in der linken Hemisphäre lokalisiert sei, wurde durch die modernen Bildgebungstechniken erneut infrage gestellt. Bei gesunden Probanden zeigen sich während verschiedener sprachlicher Aufgaben bilaterale Aktivierungsmuster im Tempo-
. Abb. 6.4. Verb-Generierungsaufgabe bei Gesunden (oben) und bei Patienten mit einer posterioren ischämischen Läsion, die sich von einer Wernicke-Aphasie erholt hatten (unten). Mit Erholung der
ral- und Frontallappen (Binder 1997, Warburton et al. 1999). Das motorische System ist mit seinen direkten aszendierenden und deszendierenden Verbindungen viel hierarchischer aufgebaut als das sprachliche System, das hauptsächlich im Assoziationskortex organisiert ist. Daher ist zu erwarten, dass sich das Reorganisationsmuster in beiden Systemen unterscheidet. Eine entscheidende Frage bei der Sprache ist auch heute, wie vor hundert Jahren, die der Rolle der rechten Hemisphäre (Lichtheim 1885, Marie 1926, Kinsbourne 1971, Zaidel 1985, Papanicolaou et al. 1988, Basso et al. 1989, Mesulam 1990, Cappa u. Vallar 1992, Guerreiro et al. 1995, Nagata et al. 1995, Price et al. 1995, Heiss et al. 1999). 1. Die frühen Steady-State-FDG-Untersuchungen bei Aphasikern zeigten einen Hypometabolismus in den sprachrelevanten Gebieten der linken Hemisphäre (Metter et al. 1981, Heiss et al. 1991). 2. Die rechtshemisphärische Aktivierung spielt definitiv eine Rolle in der Funktionserholung: Patienten, die sich von einer Wernicke-Aphasie durch einen großen linkshemisphärischen Infarkt, der das Wernicke-Areal und dessen Ausflussbahn, den Fasciculus arcuatus umfasste, erholt hatten, aktivierten während einer Verb-Generierungsaufgabe homologe rechtshemisphärische Gebiete zu Wernicke-, Broca- und dem dorsolateralen präfrontalen Kortex wie auch noch intakte linkshemisphärische Gebiete stärker als die Kontrollpersonen (. Abb. 6.4) (Weiller et al. 1995). 3. Aber auch linkshemisphärische Periinfarktgebiete können für eine Restitution genutzt werden (Karbe 1989, Price et al. 1995, Warburton et al. 1999). Dies zeigt, wie bedeutsam eine Thrombolyse gerade bei Aphasikern ist. Nach unserer Erfahrung gelingt es oftmals, gerade kri-
Funktion zeigen die Patienten eine stärkere bilaterale Aktivierung, vor allem rechtshemisphärisch
87 6.3 · Sprache
tische Gebiete im Temporal- und Parietallappen durch eine rasche Thrombolyse vor dem Infarkt zu retten und damit das Potenzial für eine erfolgreiche Rehabilitation zu verbessern oder zu erhalten. 4. Es scheint relativ evident, dass bei den meisten Menschen die linke Hemisphäre am besten für sprachliche Funktionen geeignet ist und daher auch in erster Instanz für die Funktionsrestitution genutzt wird (Heiss et al. 1999). Die wichtigere und unbeantwortete Frage ist, wieviel »linksseitiges Netz« ausreichend ist, ohne dass die rechte Hemisphäre rekrutiert werden muss (Rijntjes u. Weiller 2002). 5. Unklar bleibt, ob die rechtseitigen Aktivierungen eine Reaktivierung vorbestehender rechtshemisphärieller Sprachfunktionen darstellen, oder ob sie einer schrittweisen Entwicklung qualitativ unterschiedlicher Sprachfunktionen entsprechen.
6.3.1
Funktionelle Bedeutung der Reorganisation – Korrelation mit der Funktionserholung
Die genaue Beziehung zwischen Reorganisation und Funktionsrestitution ist nicht bekannt (Lemon 1993). Beispiel Eine abnormal starke Aktivierung in der nicht betroffenen Hemisphäre von Schlaganfallpatienten korreliert nicht notwendigerweise mit einer Funktionsverbesserung (Nelles et al. 1999). Patienten mit peripherer Fazialisparese haben eine größere Handrepräsentation des motorischen Kortex oder Patienten mit Hemispasmus facialis eine verkleinerte Repräsentation, ohne eine nachweisbare Veränderung der ja nicht gestörten Handfunktion (Rijntjes et al. 1997, Liepert et al. 1995).
Die letzten beiden Beispiele zeigen die dem Gehirn eigene Kompetetivität. Reorganisation mag auch schädlich sein. So wurde bei Amputierten eine Korrelation zwischen der Stärke der Reorganisation und der Intensität von Phantomschmerzen beschrieben, obwohl andere Studien dies nicht durchgehend bestätigen (Flor et al. 1995, Birbaumer et al. 1997, Dettmers et al. 1999).
Zeitlicher Zusammenhang Korrelative Hinweise für einen zumindest zeitlichen Zusammenhang zwischen Reorganisation des Gehirns und Erholung einer gestörten Funktion bieten longitudinale Studien (Ohyama et al. 1995, Price et al. 1995, Mimura et al. 1998, Nelles et al. 1999, Nelles et al. 2001, Marshall et al. 2000, Feydy et al. 2002, Ward et al. 2003). jLangsame Normalisierung Einige dieser Studien suggerieren eine langsame Normalisierung des Aktivierungsmusters während des Erholungsprozesses (Übersicht: Rijntjes 2006). Bei Aphasikern findet sich anfänglich eine rechtshemisphärische Aktivierung, die sich dann zugunsten der ursprüng-
lichen linkshemisphärischen zurückbildet (Saur et al. 2006). Diese Normalisierung kann durchaus eine stärkere Aktivierung als beim Gesunden darstellen, kommt aber von einem noch höheren Niveau während der akuteren Phase (Weiller et al. 1992, Calauti et al. 2001). Sicherer erscheint die Bedeutung einer Korrelation im chronischen Stadium, wenn der natürliche Erholungsprozess weitestgehend abgeschlossen ist und damit die zeitliche Abhängigkeit der Änderung des Aktivierungsmusters wegfällt. Einer der interessantesten Befunde in der letzten Zeit erscheint, dass auch in diesem Stadium Funktionsverbesserung und Reorganisation noch möglich sind. Bei Patienten, die vor vielen Jahren einen Schlaganfall hatten (z.T. bis 17 Jahre), kam es nach einer 2-wöchigen Constraint Induced Movement Therapy (CI) (Taub et al. 1994) zu einer Verbesserung der Funktion, die mit einer Vergrößerung des durch TMS stimulierbaren Areals über der Kopfhaut für den M abductor pollicis brevis einherging (Liepert et al. 2000). Auch nach so langer Zeit ist eine Modifikation der Hirnaktivierung noch möglich. Nach 6 Monaten waren die Trainingseffekte noch erhalten, aber die Erregbarkeit des Motorkortex hatte sich normalisiert. Diese temporäre Erhöhung der Exzitabilität könnte GABA-vermittelt sein (Liepert et al. 2001) und den zeitweisen Einsatz zentral stimulierender Substanzen in der Rehabilitation rechtfertigen. jKurzes Sprachverständnistraining Musso et al. (1999) untersuchten den Einfluss eines kurzen Sprachverständnistrainings auf die kortikale Reorganisation bei Patienten, die sich nach einem Infarkt des hinteren Temporallappens weitestgehend von einer Wernicke-Aphasie erholt hatten, während diese im Scanner lagen. Mit einem Exzerpt (Teilauszug) des Token Tests und 12 konsekutiven rCBF-Messungen mit PET wurde das Sprachverständnis abgeschätzt und die trainingsinduzierte Lernverbesserung mit den rCBF-Änderungen in Relation gesetzt. Die beste Korrelation fand sich im rechten hinteren Temporallappen, dem Homolog zum Wernicke-Areal. Diese Studie unterstützte die Hypothese, dass die rechte Hemisphäre zur Funktionserholung bei Aphasie beitragen kann. Es war die erste Studie, die eine Korrelation von zerebralen Aktivierungsmustern und physiologisch gemessenen Parametern bei Schlaganfallpatienten und damit einen positiven Effekt der Reorganisation zeigte. jGabe von Medikamenten Die Gabe von Medikamenten scheint die Rehabilitation unterstützen zu können (Small 1994, Goldstein 1995) und beeinflusst gleichzeitig die Hirnaktivierung: Eine Einzeldosis einer serotonergen Substanz kann funktionsspezifisch eine Hirnaktivierung, z.B. im motorischen Kortex, verstärken (Loubinoux et al. 1999). Beispiel In einer einfach-blinden, Plazebo-kontrollierten Studie im Crossover-Design verbesserte Fluoxetine die motorische Leistung bei Schlaganfallpatienten, einhergehend mit einem Anstieg in der aufgabenspezifischen Hirnaktivierung (Pariente et al. 2001).
6
88 Kapitel 6 · Funktionelle Bildgebung in der Neurorehabilitation
jZweiter Schlaganfall Korrelative Ansätze, auch wenn sie physiologische Parameter messen, können die Bedeutung der Reorganisation nicht beweisen, höchstens plausibel machen. Es gibt einige wenige, aber sehr interessante Fälle, in denen ein zweiter Schlaganfall die nach einem ersten Insult wiedergewonnene Funktion zunichte macht. Hierbei lässt sich auf eine mögliche kausale Bedeutung der Region, die durch den zweiten Infarkt zerstört wurde, für die Erholung der Funktion, die nach dem ersten Schlaganfall ausgefallen war, schließen (Fisher 1992, Guerreiro et al. 1995).
6
jTranskranielle Magnetstimulation (TMS) Ein anderer Ansatz, um die funktionelle Bedeutung von PEToder fMRT-Mustern zu untersuchen, ist der Einsatz der TMS (Siebner et al. 1998): Man stellt sich vor, die aktivierten Areale (oftmals über einen stereotaktischen Rahmen auf der Kopfoberfläche zu identifizieren) durch entsprechende TMS-Stimulation auszuschalten. Wird damit auch die untersuchte Funktion gestört (z.B. das Sprechen bei rTMS-Stimulation von Broca (Floel et al. 2003), ist eine direkte Beziehung von aktiviertem Gebiet und Funktion hergestellt. Es gibt sicher einige Einwände gegen dieses Vorgehen; insgesamt sollte es aber doch interessante Befunde liefern. Johansen-Berg et al. (2002) benutzte TMS bei Schlaganfallpatienten, um die Funktion von zuvor mit fMRT-identifizierten Hirnregionen zu stören: 4 Die Stimulation des ipsilateralen dorsalen prämotorischen Kortex (PmD) beeinflusste die motorische Funktion der weitgehend restituierten, ursprünglich gelähmten Hand, was auf eine funktionelle Bedeutung der Aktivierung dieser Region für die Funktionsrestitution hinweisen kann. 4 Ähnlich kann eine repetitive TMS-Stimulation über das homologe Broca-Areal in der rechten Hemisphäre bei Patienten mit einer Aphasie nach linkshemisphärischem Schlaganfall die Sprachfunktion wieder verschlechtern (Winhuisen et al. 2005).
6.4
Klinischer Befundeinsatz der funktionellen Bildgebung in der Rehabilitation1
Nur wenige Studien haben bisher versucht, dem Aktivierungsmuster einen prädiktiven Wert für die Prognose zuzuschreiben. Wie bei allen longitudinalen Studien ist eines der vielen methodischen Probleme die Abhängigkeit des BOLDSignals von der Leistung des Patienten. Daher wurde zunächst 1
Die Arbeiten, die diesen Text ermöglichten, wurden unterstützt durch: Alexander von Humboldt-Stiftung, Kuratorium ZNS, 5. Rahmenprogramm der EU, Fördermittel der Universitäten Essen, Jena und Hamburg; Deutsche Forschungsgemeinschaft (Einzelprojekte und Großgerätefördermaßnahme, Hochfeldtomographen), BMBF (Kompetenznetzwerk Schlaganfall, Einrichtung von Zentren zur Bildgebung in den klinischen Neurowissenschaften), VW-Stiftung.
ein passives Paradigma eingesetzt, das relativ unabhängig von der exekutiven Leistung des Patienten ist (z.B. passive Bewegung der Hand im Handgelenk durch den Untersucher, der neben dem Patienten im Scanner steht, oder das passive Lesen von Wörtern auf einem Bildschirm). Die passive Bewegung aktiviert bei Gesunden ein großes Netz zerebraler Regionen (M1, SMA und Zerebellum), das dem einer aktiven Bewegung nahezu identisch ist (Weiller 1996). > Bei Schlaganfallpatienten können passive Bewegungen als Aufgabe für fMRT-Untersuchungen genutzt werden, wenn die Bewegung noch nicht oder kaum aktiv möglich ist (Nelles et al. 1999).
In anderen Ansätzen wird das Niveau der individuellen Leistung während des Rehabilitationsprozesses konstant gehalten (z.B. immer 20% der Maximalkraft [Ward et al. 2003]) oder ein dreiseitig-parametrisches Design gewählt, in dem man die Leistung im Scanner, die Funktionsrestitution und die Schwierigkeit der Aufgabe kontrolliert. jSelektion der geeigneten Rehabilitationsmethode Eine der potenziell wichtigsten klinisch relevanten Einsatzgebiete der funktionellen Bildgebung ist die Selektion der geeigneten Rehabilitationsmethode aus dem Läsions- und dem Aktvierungsmuster. Zunächst ist zu prüfen, ob sich die therapeutischen Techniken in einzelne, einfach testbare Komponenten zerlegen lassen. Diese Komponenten werden bei gesunden Probanden anatomischen Strukturen zugeordnet. Der Defekt der entsprechenden Strukturen durch die Läsion selbst bzw. deren Ausflussbahn wird beim Patienten mittels Diffusions-Tensor-Imaging bestimmt und in Relation zum Funktionsausfall gesetzt. Aus dem Aktivierungsmuster kann unter Kenntnis von prämorbiden Techniken und Fähigkeiten auf die vom Patienten angewandte Strategie geschlossen werden, für die dann die optimale Therapie ausgewählt werden kann. Mit anderen Worten, die therapeutischen Strategien erfordern Aktivität in bestimmten Hirnregionen: Die Forced-Use-Therapie ist in ihrem Erfolg stark abhängig von der Integrität von M1 und dessen Ausflussbahn (s.u.). > Sensible Stimulation oder passive Bewegung sind wichtige Teile der Rehabilitation, solange noch keine selbstinduzierte Bewegung möglich ist (Johansen-Berg et al. 2002). Eine passive Bewegung aktiviert bei Gesunden ein großes Netz zerebraler Regionen nahezu identisch dem bei aktiver Bewegung (Weiller 1996) und könnte deshalb zur Bahnung benutzt werden. Hirnregionen, die Gesunde bei einer Bewegungsvorstellung aktivieren (z.B. inferiorer parietaler Kortex, ventrales Operculum der prämotorische Kortex, Insel) (Stephan et al. 1994) sind identisch mit dem Recovery-Netzwerk (Weiller et al. 1992), so dass auch die Bewegungsvorstellung Zugang zu einer Aktivierung von für die Funktionserholung wichtigen Hirnregionen verschaffen mag.
89 6.5 · Literatur
Näher betrachtet Studie: Forced-Use-Therapie Dreizehn chronische Schlaganfallpatienten wurden vor und nach einer 2-wöchigen Forced-Use-Therapie und nochmals nach 6 Monaten untersucht. Alle Patienten verbesserten die Handfunktion während des Trainings. Bei manchen verschlechterte sich die Funktion in den folgenden 6 Monaten, die meisten konnten den Zustand halten oder sogar durch den Gebrauch im täglichen Leben verbessern. Besonders die Aktivierungsveränderungen im motorischen Kortex (M1) der geschädigten Hemisphäre erscheinen interessant. In einer Gruppe ging die Funktionsverbesserung mit einem Anstieg des BOLD-Signals in M1 über die Zeit einher, in der anderen mit einem Abfall des Signals während des Trainings und einem konsekutiven Anstieg während der folgenden Sechs-Monats-Periode (Rijntjes
2003). Das heißt, eine Funktionsverbesserung kann mit einem Anstieg der Aktivierung oder mit einem mehr U-förmigen Verlauf einhergehen. Das Ergebnis dieser Forced-Use-Therapiestudie weist auf zwei mögliche Reorganisationsarten hin: 4 Der pathologische Hilfsmechanismus nutzt – entgegen der grundsätzlichen Hirnmaxime, ökonomisch zu arbeiten – maximalen Einsatz zur Funktionsrestitution unter forcierten Therapiebedingungen. 4 Der U-förmige Verlauf könnte eher dem natürlichen Lernverlauf entsprechen. Kortikale Exzitabilität und BOLD-Signal Interessanterweise ging bei der gleichzeitigen Messung der kortikalen Exzitabilität
jMechanismen der Restitution Die eigentlichen der Reorganisation und damit der Restitution zugrunde liegenden Mechanismen sind nicht bekannt (Lemon 1993); gleichzeitig sind sie aber fast das Interessanteste, was man aus der Restitution für die Organisation des normalen Gehirns lernen kann. Für einzelne Hirnfunktionen mag gelten, dass sie Hirnregionen zugeordnet sind, z.B. das visuelle Erfassen von Bewegung, das überwiegend V5 oder MT zugeordnet wird (Watson et al. 1993). Auch wenn es Verarbeitungsschwerpunkte für komplexere Fähigkeiten im Gehirn gibt, sind diese nur als weitverzweigte, oft bilaterale und parallel verarbeitende Netze zu verstehen, die räumlich und zeitlich kohärent zusammenarbeiten müssen, um eine ausgefeilte und ökonomische Funktion hervorbringen zu können (Mesulam 1981). Nach Erachten der Autoren kann man den Funktionsverlust nach Schlaganfall auch als ein Diskonnektionsphänomen ansehen. Funktionsrestitution würde dann der Rekonnektion oder vielleicht besser der Rekoordination innerhalb der verbleibenden Teile des Netzes entsprechen (Weiller u. Rijntjes 1999). jZusammenfassung Eine erfolgversprechende Forced-Use-Therapie braucht einen weitgehend intakten Motorkortex und Tractus corticospinalis. Nur in diesen Fällen kann man den Learned Non-Use durch Forced-Use überwinden und neu und bleibend lernen. In den anderen Fällen kann durch eine »unnatürliche« Kompensation zwar kurzfristig ein klinisch nicht unterscheidbares Resultat erzielt werden, aber in dem Fall handelt es sich um einen Substanzdefekt und nicht um »verlernten Gebrauch«. Das Verständnis solcher Mechanismen mag helfen, die individuell beste Therapietechnik auszuwählen und eine prognostische Abschätzung vornehmen zu können.
6.5
mit der TMS in der Gruppe, die einen Abfall des BOLD-Signals im primär motorischen Kortex aufwies, mit einer Zunahme der Exzitabilität nach der Therapie einher. Dagegen ging in der Gruppe, in der das BOLD-Signal während der Therapie einen Anstieg zeigte, die Besserung der Funktion mit einer Abnahme der Exzitabilität einher (Hamzei et al. 2006, 2008). Die meisten Patienten dieser »pathologischen« Gruppe waren nicht in der Lage, diese verbesserte Leistung im täglichen Leben aufrechtzuerhalten, sondern fielen nahezu auf das Niveau vor dem Training zurück. In dieser Gruppe war entweder M1 oder dessen Hauptausflusstrakt, der Tractus corticospinalis, in Teilen zerstört. Beide Strukturen waren in der Gruppe mit dem normaleren Muster erhalten.
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92 Kapitel 6 · Funktionelle Bildgebung in der Neurorehabilitation
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7
Hirnschädigung, Identität und Biographie G. Lucius-Hoene, N. Nerb 7.1
Die Hirnschädigung als subjektive Erfahrung
7.2
Hirnschädigung und Identität
– 94
– 94
7.2.1 Aspekte des Identitätsbegriffs – 94 7.2.2 Beeinträchtigung der Identitätsarbeit durch die Hirnschädigung
7.3
Hirnschädigung und Biographie
– 99
7.3.1 Das Konzept »Biographie« – 99 7.3.2 Autobiographische Erzählungen als Zugang zum Erleben von Betroffenen – 99 7.3.3 Erfahrungen der Angehörigen – 101 7.3.4 Besonderheiten und Funktionen literarischer Selbstberichte
7.4
Folgerungen für den Umgang mit hirngeschädigten Menschen – 103
7.5
Literatur
– 105
– 95
– 102
94 Kapitel 7 · Hirnschädigung, Identität und Biographie
Neurologie, Neuropsychologie und Psychiatrie beschreiben die Folgen einer zerebralen Schädigung auf der Ebene von Organläsionen, Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten, in der Bemühung um Objektivität ihrer Daten. Das folgende Kapitel hat demgegenüber zum Ziel, die Innenseite des Erlebens einer solchen Schädigung mit ihren Auswirkungen auf Identität und Biographie dazustellen. Ein Verständnis dieses »phenomenological field« (Prigatano 1999, 2004), der persönlichen Erfahrungsperspektive des Patienten, spielt eine zentrale Rolle für den Erfolg therapeutischer Maßnahmen und ist die Basis rehabilitativer und psychotherapeutischer Arbeit. Vor allem narrative Therapieansätze können bei der notwendigen Identitäts- und Biographiearbeit hilfreich sein.
7.1
7
Die Hirnschädigung als subjektive Erfahrung
Aus der Perspektive der betroffenen Menschen bedeutet das Auftreten einer akuten Hirnschädigung einen gravierenden Bruch in ihrem Leben. In der Literatur zur neuropsychologischen Rehabilitation wird diese Problematik oft als Identitäts- oder Biographiebruch beschrieben. So ist etwa die Rede von »the wounded soul« (Prigatano 1991) oder »the shattered self« (Miller 1993). Um die subjektive Erfahrungsbildung und das Selbsterleben eines Menschen zu beschreiben, bieten sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive die beiden Begriffe Identität und Biographie an. > Identität und Biographie lassen sich den persönlichen Faktoren zuordnen, die sich nach der ICF (International Classification of Functioning, WHO 2001) mit ihrem Einfluss auf den Bewältigungsprozess auf Aktivität und Partizipation auswirken. Dieser wiederum nimmt nach Gerdes und Weis (2000) eine zentrale Rolle im Rehabilitationsverlauf ein.
Die identitäts- und biographietheoretischen Überlegungen werfen folgende Fragen auf: 4 Warum und in welcher Weise kann eine Hirnschädigung gravierende Identitätsprobleme nach sich ziehen? 4 Wie kann sich die Identitätsproblematik auf die Bewältigung einer Hirnschädigung auswirken? 4 Welche Konsequenzen hat dies für die biographische Verortung? 4 Wie lässt sich der therapeutische Umgang mit Betroffenen gestalten? Betrachtet man Symptome und neuropsychologischen Defizite infolge einer Hirnschädigung in ihren Auswirkungen auf Identität und Biographie, gewinnen Verhaltensweisen und Probleme der Betroffenen oft eine neue Bedeutung und können als Ausdruck adaptiver und kompensatorischer Bemühungen und/oder als Nutzung verbliebener Ressourcen gewürdigt werden. Ohne die organische Grundlage des Geschehens zu ignorieren, kann eine solche Betrachtungsweise verständlicher machen, wie die Patienten sich darum bemühen, ihr Leben und
ihre Beziehungen zu ihrer Umwelt sinnvoll zu gestalten, Ordnung in ihrem Erleben herzustellen, und ihre veränderte Selbsterfahrung für sich verstehbar und erträglich zu machen. Aus dieser Perspektive lässt sich die Kluft zwischen klinischer und subjektorientierter Sichtweise verringern, und es können Folgerungen für die klinische Arbeit mit Patienten und auch für die Beratung von Angehörigen abgeleitet werden.
7.2
Hirnschädigung und Identität
7.2.1
Aspekte des Identitätsbegriffs
jIdentität als aktive psychische Synthetisierungsoder Integrationsleistung In der Tradition des symbolischen Interaktionismus und sozialen Konstruktivismus, die einen interpretativen, handlungsund interaktionsorientierten Identitätsbegriff vertreten (vgl. Abels 2006, Keupp et al. 1999, Straub 1991, 1998), lässt sich Identität als aktive psychische Synthetisierungs- oder Integrationsleistung (Straub 1998) beschreiben, mit der Menschen sich in ihrer alltäglichen Lebenspraxis ihrer persönlichen Kontinuität und Kohärenz zu vergewissern suchen. 4 Kontinuität bezieht sich auf die Erfahrung, dass wir uns trotz allen inneren und äußeren Wandels unserer Person und unserer Lebensvollzüge immer wieder als dieselben Menschen erkennen können. 4 Als kohärent erleben wir uns, wenn wir in der Vielfalt unserer Lebensumstände und Möglichkeiten der Selbsterfahrung das Gefühl der Einheit und Stimmigkeit unserer Person wahren können (Straub 1998). Diese Integrationsleistungen sind Voraussetzung unserer Handlungs- und Interaktionfähigkeit und damit auch der Möglichkeit, persönliche Autonomie erfahren und gestalten zu können. Diese Identität muss jedoch nicht auf einer einheitlichen Selbsterfahrung beruhen: Im Gegenteil, es ist gerade ein Ausdruck gelingender Identitätsherstellung, auch mit vieldeutigen und widerstrebenden Identitätsaspekten umgehen zu können (Krappmann 1969). jIdentitätsarbeit Die Frage nach der Identität als die klassische Frage »Wer bin ich?« und »Wer möchte ich sein?« steht eher selten im Mittelpunkt unseres Bewusstseins. Dennoch beschäftigen wir uns implizit oder explizit oft mit Überlegungen, was unsere Identität ausmacht: 4 Persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten, 4 Gruppenzugehörigkeiten, 4 soziale Rollen, 4 politische oder moralische Werthaltungen. Mit diesen Zuschreibungen begründen wir auch Handlungsorientierungen und Zielvorstellungen in unserer Lebensführung. In diesem Sinne dient Identität unserer sozialen Verlässlichkeit und begründet gleichzeitig unsere Erwartung an die anderen, diese Identitätsansprüche anzuerkennen.
95 7.2 · Hirnschädigung und Identität
Gilt eine verlässliche Identität einerseits in unserer Kultur als wichtiger Bestandteil einer Person, ist sie andererseits ein verletzliches Gut, das uns nicht gesichert und ein für allemal zur Verfügung steht. Da unsere Lebenspraxis von Diskontinuität, Krisen und der ständigen Konfrontation mit Neuem und anderen Menschen gekennzeichnet ist, bedarf auch die Herstellung oder Wahrung von Identität einer ständigen Identitätsarbeit. > In unseren alltäglichen Handlungen vollzieht sich Identitätsarbeit zum größten Teil unbewusst und ohne explizite Reflexion. Meist stellt sich Frage »Wer bin ich?« erst dann, wenn eine biographische Krise oder Umbruchsituation schwerwiegende und überdauernde Orientierungsprobleme auslöst.
jIdentitätskritische Lebensveränderungen Zu den identitätskritischen Lebensveränderungen gehört der Eintritt von gravierenden Krankheiten und Behinderungen. In besonders bedrohlichem Maße trifft dies für die eingetretene Hirnschädigung zu, weil sie nicht nur schwerwiegende Folgen für die Lebensführung in praktisch allen identitätsrelevanten Bereichen hat, sondern gleichzeitig auch dasjenige Organ in seiner Funktion beeinträchtigt, das die Aufgabe der kognitiven Anpassung und psychischen Bewältigung übernehmen muss. Diese Schädigung beeinträchtigt 4 Kompetenzen, 4 Motivation und 4 Affektregulierung, die grundlegende Voraussetzungen für die alltägliche Identitätsarbeit liefern müssen. Fazit Eine Hirnschädigung wird von den Betroffenen als besonders persönlichkeitsrelevant und ich-nah erlebt, weil sie identitätsrelevante Eigenschaften und Fähigkeiten in Mitleidenschaft zieht und gleichzeitig das für die psychische Bewältigung wichtigste Organ beeinträchtigt.
Identität als Gewordensein Aus der Vertrautheit mit unserer persönlichen Vergangenheit und Lebensgeschichte wissen wir, 4 wie wir uns aufgrund der Ereignisse, die uns im Leben widerfahren sind, entwickelt und verändert haben, 4 worin unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten bestehen, und 4 worauf wir uns mit uns selbst verlassen können. Auf diesem Bewusstsein unserer persönlichen Geschichte beruht unser Gefühl für Kontinuität als wichtige Stütze unserer Identität. Wir können heute an die Person anknüpfen, die wir gestern waren und ebenso im Gefühl leben, dass wir auch morgen dieselbe Person sein und über dieselben Kompetenzen und Gefühle verfügen werden (Schütz u. Luckmann 1982). jAuswirkungen einer Hirnschädigung Bei Menschen, die eine akute Hirnschädigung erlitten haben, ist häufig genau dieses Sicherheitsgefühl einer persönlichen Kontinuität von Person und Lebensgeschichte betroffen. Durch die oft schlagartig und unerwartet eintretende Erkrankung machen sie die Erfahrung, dass ihr Leben sich von einem Augenblick zum anderen völlig ändern kann. Neben den äußerlichen Brüchen und schweren Verlusten wie etwa 4 der körperlichen Integrität, 4 beruflicher und privater Rollen oder 4 ökonomischer Sicherheit tragen auch die unmittelbaren Hirnschädigungsfolgen zu einem Kontinuitätsbruch bei. kAmnestische Lücke Durch Bewusstlosigkeit und Koma kann eine amnestische Lücke entstehen, die eine Zeitspanne des Lebens und vor allem auch die Umstände der Erkrankung oder Traumatisierung regelrecht verschlucken kann und das Gefühl eines Lochs in der persönlichen Lebensgeschichte und kontinuierlichen Selbsterfahrung erzeugt (vgl. Heel 2004, Wendel 2003, Nochi 1997, 2000). Beispiel
7.2.2
Beeinträchtigung der Identitätsarbeit durch die Hirnschädigung
Die Auswirkungen einer Hirnschädigung auf die Identität können aus drei Dimensionen betrachtet werden (. Übersicht 7.1). . Übersicht 7.1. Dimensionen der Identität 1. 2. 3.
Identität als Gewordensein (zeitliche Dimension der Identität) Identität als Selbstverhältnis und Selbstvergewisserung (reflexive Dimension der Identität) Identität als soziale Aushandlung (soziale Dimension der Identität)
Besonders drastisch manifestierte sich dieses Problem bei einem jungen Mann, der sich im Rahmen einer langen depressiven Phase in suizidaler Absicht von einer Brücke stürzte, jedoch mit einer Hirnkontusion und weiteren schweren Verletzungen überlebte. Posttraumatisch litt er an einer amnestischen Lücke von über einem Jahr vor dem Unfall. Er befand sich danach in einer leicht gehobenen Stimmungslage und hatte nun große Mühe, mithilfe von Freunden und Tagebuchnotizen zu rekonstruieren, warum er sich damals hatte umbringen wollen. Seine damalige depressive Gemütslage war ihm emotional und in der Erinnerung nicht mehr zugänglich. Er hatte nun aber mit seinen gravierenden Behinderungen in der Gegenwart die Folgen einer unerklärlichen eigenen Handlung zu tragen. Bei einer anderen Patientin betrug die amnestische Lücke mehrere Jahre und löschte einen wichtigen Teil ihrer Lebenser6
7
96 Kapitel 7 · Hirnschädigung, Identität und Biographie
fahrung aus: Ihre Berufsausbildung, wichtige Auslandsreisen und das Eingehen einer Partnerschaft mit einem Menschen, der ihr nun regelrecht fremd war. Als schockierend erlebte sie es z. B., von den Ereignissen des 11. September 2001 einige Jahr später als etwas völlig Neuem zu erfahren und die kollektive Betroffenheit und gemeinsame Bewältigung missen zu müssen.
7
kAnterograde Amnesie Auch die anterograde Amnesie, die Schwierigkeiten, sich nach dem Unfall neue Ereignisse zu merken, kann zu dem Gefühl führen, dass die eigene Lebensgeschichte abhanden kommt. Da keine markanten Ereignisse erinnert werden können, erscheinen alle Tage in einem gleichen Einerlei, büßen ihre Kontur ein und verlieren sich in undifferenzierter Zeitlosigkeit. So kann das Gefühl einer Kontinuität in der Lebensgeschichte verloren gehen. Das Leben im Heute mit seinen Verlusten und Einschränkungen hat nichts mehr mit dem Gestern, der eigenen Person vor der Schädigung zu tun. kSinnkrise Auf der sicheren Verfügbarkeit der eigenen Geschichte basiert auch die Möglichkeit, sich selbst in die Zukunft zu projizieren. Gerade dies machen der Kontinuitätsbruch und Kompetenzverlust unmöglich: Welche Lebensmöglichkeiten in der Zukunft überhaupt noch offen sind, kann lange völlig ungewiss bleiben. Zumeist müssen die medizinischen Experten aus prognostischer Unsicherheit hier auch klare Aussagen verweigern. Zwischen erzwungener Geduld, Hoffnung und Resignation entsteht häufig das Gefühl eines Lebens im zeitlichen und sozialen Niemandsland, bedroht von den Ängsten vor einer wert- und freudlosen Zukunft. Der Eintritt einer solch gravierenden Schädigung kann das Sicherheitsgefühl in die Gerechtigkeit der Welt und die Folgerichtigkeit der Ereignisse erschüttern und als schwere Sinnkrise erfahren werden. Beispiel Ein Patient musste nach einem schuldlos erlittenen schweren Verkehrsunfall mit Schädel-Hirn-Trauma erleben, wie die gegnerische Versicherung erklärtermaßen jede juristische Möglichkeit nutzte, um ihre Entschädigungsverpflichtung abzuwehren und ihn durch eine Verzögerungstaktik zu zermürben. Auch persönliche Glaubenssysteme können betroffen sein, wie bei einem alten Herrn, der Zeit seines Lebens äußerst gesundheitsbewusst gelebt hatte und nun nicht akzeptieren konnte, dass er dennoch eine Aneurysmaruptur erleiden musste. Das Gefühl einer existentiellen Ungerechtigkeit dieses Ereignisses lähmte ihn so sehr, dass er kaum zu rehabilitativen Bemühungen zu bewegen war.
Identität als Selbstverhältnis und Selbstvergewisserung Auf der zweiten Ebene unserer Betrachtung besteht Identität aus unserer Vorstellung davon, was für ein Mensch man ist. Dieses Selbstverhältnis wird meist erst dann problematisch und reflexionsbedürftig, wenn wir uns in einer Krise fühlen. Dennoch ist unser ganzer Alltag von der Identitätsarbeit an
diesem Selbstverhältnis durchdrungen. Auch wenn sich dies nicht im Vordergrund unseres Bewusstseins abspielt, vergewissern wir uns ständig unserer Person. In jeder Lebenssituation, vor allem auch in sozialen Begegnungen, nehmen wir uns selbst wahr und integrieren diese Selbstwahrnehmung laufend in unser Bild von uns selbst. Diese Selbstwahrnehmungen betreffen verschiedene Bereiche unserer Person (nach Ottomeyer 1987), die in . Übersicht 7.2 zusammengefasst sind. . Übersicht 7.2. Selbstwahrnehmungen der eigenen Person 1.
2.
3.
4.
5.
Kognitive Selbstwahrnehmungen können etwa die Interpretation unserer momentanen Situation, unserer Ziele und Motive betreffen. Zu ihnen tritt die emotionale Selbstwahrnehmung, die uns unsere gefühlsmäßige Befindlichkeit wie Zufriedenheit oder Unsicherheit, ein positives Selbstwerterleben oder Scham und Befangenheit vermittelt. Aus Hinweisen unseres sozialen Umfelds leiten wir ab, ob unsere Handlungen den Erwartungen anderer entsprechen, und wie sie von ihnen bewertet werden. Die Wahrnehmung unserer Leistungen, der Folgen unserer Tätigkeiten schließlich geben uns Auskunft darüber, ob unser Handeln zu akzeptablen Resultaten führt, und welche Kompetenzen wir uns zuschreiben dürfen. Auch unsere Leiblichkeit wird unser Selbstgefühl positiv oder negativ beeinflussen; wir nehmen sie vor allem dann wahr, wenn sie durch Missempfindungen oder Versagenszustände unsere Pläne durchkreuzt.
Diese Wahrnehmungen durchdringen und beeinflussen sich wechselseitig und können zu kohärenten oder spannungsgeladenen Befindlichkeiten führen. Wir interpretieren sie mithilfe unserer Selbstwahrnehmung in der Vergangenheit und können daran unser vertrautes Selbstbild bestätigen oder nötige Modifikationen vornehmen. Identitätsaspekte, die bestimmte Lebensbereiche, Rollen oder Eigenschaften betreffen, können zu Teilidentitäten gebündelt werden; diese Teilidentitäten wie etwa unsere Identität 4 als Eltern oder 4 als Arbeitskollege können jeweils in sich kohärent, mit anderen Teilidentitäten aber durchaus in Spannung oder Widerspruch stehen (Keupp et al. 1999). > Mit dem Selbstbild sind immer auch idealisierte Projektionen, Wunsch-Selbste oder optionale Identitäten verbunden, die in die Zukunft weisen und als Ziel und Anreiz dienen. Diese Identitätsprojekte dienen als wichtige psychologische Ressourcen und Triebfedern für Veränderungsprozesse.
97 7.2 · Hirnschädigung und Identität
jAuswirkungen einer Hirnschädigung kAnfangsphase Für einen Menschen, der nach und nach an sich die Folgen einer Hirnschädigung erlebt, können die alltäglichen Selbstwahrnehmungen auf allen Ebenen problematisch bis katastrophal werden. In der Anfangsphase nach der Hirnschädigung werden das Ausmaß der Schädigung und die Veränderung der eigenen Person oft noch nicht oder nur auf die unübersehbaren Folgen beschränkt wahrgenommen. Hier machen sich oft auch noch keine Identitätsprobleme bemerkbar. Das gegenwärtige Selbst wird zwar als geschädigt oder krank erlebt; es besteht jedoch die unhinterfragte Gewissheit, im Prozess der Genesung die alten Kompetenzen und Lebensumstände wiederzugewinnen. Die in der Vergangenheit begründete Selbstwahrnehmung und die Zukunftserwartungen sind noch aufeinander bezogen und scheinen über die gegenwärtige Krise hinwegtragen zu können. So kann es zwar als durchaus schockierend erlebt werden, wenn einfachste Fähigkeiten wie z.B. das Leisten einer Unterschrift oder das Erkennen der Uhrzeit verloren gegangen sind. Es erscheint aber aufgrund des tief verwurzelten Vertrauens in die eigene Kompetenz und die Stetigkeit der vergangenen Selbsterfahrungen nicht vorstellbar, dass es sich um dauernde Verluste handeln könnte (vgl. LaBaw 1969, Osborn 1998). Durch die Abruptheit ihres Eintretens werden die Veränderungen als persönlichkeitsfremd (und daher auch oft als irrelevant) erlebt und können in ihren zukünftigen Auswirkungen noch nicht vorausgesehen und eingeschätzt werden. > In der Anfangsphase können die Hinweise und Warnungen professioneller Helfer in ihrer Tragweite meist noch nicht erkannt werden. Aus identitätstheoretischer Sicht erscheint es demnach plausibel und sinnvoll, wenn ein Patient die Schädigungsfolgen unterschätzt, während der externe Beobachter dies als mangelhafte Krankheitseinsicht und Verleugnung bewertet.
kBemühungen um Identitätswahrung Basieren diese Verkennungen der Krankheitsfolgen zum einen auf der unhinterfragten Kontinuitätserwartung der eigenen Person, geht zum anderen die Schädigung höherer zerebraler Funktionen meist mit erheblichen Verzerrungen der Selbstwahrnehmung und Realitätseinschätzung (»awareness deficit«) einher (Prigatano 1999, 2004). Aufmerksamkeitsstörung und Gedächtnisschwäche tragen ebenfalls dazu bei, dass Fehler in den Leistungen nicht wahrgenommen, in ihrer Bedeutung unterschätzt oder auch einfach wieder vergessen werden. Dies betrifft vor allem solche selbstkritischen Wahrnehmungen, die die Bemühungen um Identitätswahrung bedrohen könnten. In dem Bewusstsein, immer eine verlässliche und kompetente Person gewesen zu sein, werden solche negativen Erfahrungen, wenn sie überhaupt erfasst werden, in ihrer Wertigkeit als unbedeutend heruntergestuft oder uminterpretiert.
Beispiel Viele Patienten neigen dazu, schlechte Leistungen in der Testdiagnostik auf ungünstige Bedingungen der Untersuchungssituation oder auf eine vorübergehende Indisponiertheit zu attribuieren. Häufig erklären sie auch, in einem bestimmten Bereich schon vor der Schädigung sehr schwach gewesen zu sein (»Das hab ich auch in der Schule schon nicht gekonnt!«).
kZunehmende Störungseinsicht Mit zunehmender Störungseinsicht und Auseinandersetzung mit Anforderungen mehren sich jedoch die Defiziterfahrungen und die Wahrnehmung von Kompetenzverlusten, die auch immer weniger als vorübergehende Einbußen interpretiert werden können. Denkerschwernis und Konzentrationsschwäche machen es oft schwer zu verstehen, was gerade vor sich geht. Antriebsschwäche, rasche Stimmungs- und Leistungsschwankungen und die großen Schwierigkeiten, mit den komplexeren kognitiven Anforderungen eines normalen Alltags zurechtzukommen, führen zum Verlust der Orientierung und Sicherheit und beeinträchtigen das Selbstwertgefühl und das Vertrauen in die eigene Verlässlichkeit. Wichtige qualitative Aspekte der Identität, die auf Kompetenzen und Rollen des früheren Lebens aufbauten, erscheinen verloren. Die eigene Person kann als fremd und beschämend erlebt werden. Manche Patienten äußern dies in der Form: »Das bin ich nicht mehr, ich erkenne mich selbst nicht wieder. So, wie ich jetzt bin, möchte ich nicht sein.« Die anhaltende Angst, immer wieder mit neuen Lücken und Versagenserlebnissen konfrontiert zu werden, führt zu quälenden Zweifeln und dem Gefühl, den Halt in sich selbst verloren zu haben. Unsicherheit und Ratlosigkeit können zum Grundlebensgefühl werden. Prigatano (1999, 2004) erwähnt Frustration und Verwirrung als die am häufigsten von Patienten genannten Begriffe zur Beschreibung ihrer Befindlichkeit. Auch die (organisch bedingte) Veränderung der eigenen Emotionalität kann als sehr ich-fremd und verstörend erlebt werden. Um ein Identitätsgefühl bewahren zu können, spalten manche Patienten ihre Symptome in 4 solche, die sie als weniger identitätsbedrohend erleben und daher zu akzeptieren bereit sind, und 4 solche, die sie als inakzeptabel von sich weisen. jVerlust der alten Identität Die Wahrnehmung der eigenen Person vor und seit der Hirnschädigung klafft oft dramatisch auseinander und ist nicht zu integrieren. Wertgeschätzte Teilidentitäten, vor allem solche, die sich auf berufliche Rollen und Kompetenzen beziehen, müssen aufgegeben werden. Als Identitätsprojekt wird oft noch lange Zeit die Hoffnung genährt, wieder das alte, prämorbide Selbst und Lebensgefühl erlangen zu können. So kann es lange Jahre dauern, bis sich auch die Identitätsprojekte als Motivatoren der Identitätsarbeit von der verlorenen Vergangenheit lösen und an die neuen Gegebenheiten und Selbsterfahrungen anpassen können.
7
98 Kapitel 7 · Hirnschädigung, Identität und Biographie
Beispiel Ein Arzt kam während des ersten Rehaaufenthalts nach seinem Schädel-Hirn-Trauma langsam zu der Erkenntnis, dass er vorerst nicht wieder in den Beruf zurückkehren könne, und sah sich in seinen kurzfristigen Zukunftsphantasien in bitterer Ironie schon in der Rolle des Gärtners zuhause. Nach der Entlassung musste er dann fassungslos feststellen, dass auch diese Tätigkeit zu hoch gegriffen war: Körperliche Erschöpfung, Antriebsmangel und Planungsschwierigkeiten führten zu Resultaten seiner gärtnerischen Bemühungen, die er als armselig empfand.
Identität als soziale Aushandlung
7
Als soziale Dimension der Identität ist zu berücksichtigen, dass Identität immer der Anerkennung durch andere Menschen bedarf, um einen Menschen tragen zu können. Sie muss mit den wichtigen Menschen des Umfelds ausgehandelt werden; diese müssen bereit sein, Selbstverständnis und Selbstpräsentation zu stützen und die daraus abgeleiteten Ansprüche anzuerkennen. Zudem müssen wir selbst ein gewisses Maß an sozialer Verlässlichkeit garantieren können, um mit unserem Identitätsanspruch ernst genommen zu werden. Um das Gelingen unserer Identitätsentwürfe einschätzen zu können, müssen wir die Widerspiegelungen und sozialen Botschaften der anderen beachten können und richtig einschätzen. Ob wir z.B. als Experten für etwas auftreten können und ernst genommen werden oder in einem Kreise mit unseren Scherzen wohlgelitten sind, müssen wir aus den sozialen Signalen unserer Kommunikationspartner erschließen und brauchen dafür Erfahrung und Sensibilität. jAuswirkungen einer Hirnschädigung Eine Hirnschädigung kann sich auf die sozialen Möglichkeiten und Kompetenzen und damit auf die Chance einer Stützung von Identitätsansprüchen durch das soziale Umfeld auswirken. Zunächst fallen durch die Unterbrechung vorheriger Lebensbezüge oft viele soziale Zuwendungen aus, etwa, wenn durch den Verlust des Berufs und damit verbundener sozialer Kontakte die Anerkennung der eigenen Bedeutsamkeit ausbleibt. Damit können wichtige Bereiche des Selbstwertgefühls, die mit solchen geschätzten Stellungen verbunden sind, wegbrechen. Zudem sind Menschen nach einer Hirnschädigung aufgrund der Beeinträchtigung höherer zerebraler Leistungen oft in ihrer Kommunikationsfähigkeit erheblich beeinträchtigt. Die Verlangsamung in den Denkprozessen, Formulierungsnöte und Verlust der Schlagfertigkeit können zu dem Gefühl führen, als Gesprächspartner nicht mehr attraktiv zu sein. Die Erfahrung, zentrale Fähigkeiten verloren zu haben, z.B. die Fähigkeit, 4 einem Gespräch mit raschem Sprecher- und Themenwechsel folgen zu können, 4 Namen und Daten der anderen zu erinnern oder 4 die eigenen Affekte steuern zu können, wirkt zutiefst verunsichernd und führt häufig zu sozialem Rückzug, in der Angst, als Person von anderen nicht mehr ernst genommen werden zu können. Durch die vielen Misserfolge der eigenen Handlungen, die oft erst im Nachhinein
durch Hinweise anderer erkannt werden, kann die Sicherheit untergraben werden, sich selbst als sozial verlässliche und vernünftige Person behaupten zu dürfen. Beispiel Eine Patientin musste nach ihrer Hirnschädigung langsam feststellen, dass sie aufgrund ihrer anterograden Gedächtnisstörung nicht mehr sicher unterscheiden konnte, ob sie viele ihrer Handlungen wirklich ausgeführt oder sich diese nur vorgenommen und vorgestellt hatte. Auch bei der Aufnahme von Informationen konnte sie oft nicht unterscheiden, was sie an Fakten übermittelt bekommen hatte, und was sie selbst dazu assoziativ ausgestaltet oder geschlussfolgert hatte. So traute sie sich schließlich nicht mehr, gegenüber dominierenden und kontrollierenden Menschen ihres Umfelds im Konfliktfall ihre eigene Position durchzusetzen, da sie sich nie sicher sein konnte, die Ereignisse richtig erinnert zu haben und im Recht zu sein.
> Statt die eigene Person selbstbewusst in soziale Kontakte einbringen zu können, muss vielmehr Stigmamanagement (Goffman 1975) betrieben werden: Sozial problematische und beschämende Folgen einer Schädigung müssen vor anderen verborgen werden, um seinen sozialen Status nicht zu gefährden.
Zwischen eigener Selbstwahrnehmung, eigenen Identitätsansprüchen und dem, was die Menschen des Umfelds mit ihrer realistischeren Wahrnehmung der Schädigungsfolgen und Persönlichkeitsveränderungen zur eigenen Person rückspiegeln, bestehen häufig erhebliche und schockierende Diskrepanzen. Dass die eigene Selbsteinschätzung von den anderen nicht geteilt wird, vergrößert die Unsicherheit und Verwirrung. Der Rehabilitand erlebt sich oft in der beschämenden Situation, als erwachsener und vormals respektierter und kompetenter Mensch ständig Korrekturen, Kritik und den Ausdruck enttäuschter Erwartungen hinnehmen zu müssen. So sind die sozialen Beziehungen oft nicht mehr eine Ressource durch Bestätigung und Stützung des Selbstbilds, sondern Quelle von Kränkung und Konflikten. Die Betroffenen beschreiben etwa, dass das Label »hirnverletzt« zur Folge hat, nicht mehr ernst genommen zu werden und Kompetenzen abgesprochen zu bekommen (CampbellKorves 1991, Hill 1999). Defizite in der Fähigkeit zur Gestaltung sozialer Beziehungen bleiben von den Betroffenen häufig in ihrem Ausmaß unerkannt. Oft kann das eigene Verhalten nicht mehr selbstkritisch im Hinblick auf seine Sozialverträglichkeit beurteilt werden. Fazit Aufgrund der zerebralen Beeinträchtigung kann das Erkennen und Beachten sozialer Signale und die Bedeutung von Rückmeldungen erheblich behindert sein. Vor allem frontale Schädigungen können dazu führen, dass sich ein Mensch kaum in die Perspektive seines Gegenübers eindenken oder -fühlen kann, dadurch sozial wenig kompetent erscheint und als egozentrisch, 6
99 7.3 · Hirnschädigung und Biographie
überfordernd und unempathisch abgelehnt wird, ohne dass ihm selbst dieser Zusammenhang erklärlich ist. Die Gründe für ein solches Scheitern bleiben dann oft unklar, vermehren die Ratlosigkeit oder führen zu paranoid anmutenden Umdeutungen der Motive anderer.
Praxistipp Art und Ausmaß der Identitätskrise werden sich im Laufe des Genesungsprozesses immer wieder verändern, in Abhängigkeit von den Veränderungen 4 der Störungswahrnehmung, 4 der Lebenssituation mit ihren wechselnden Ansprüchen und Konfrontationen und 4 den Bewältigungsbemühungen.
Bedingungen der Identitätskrise Ob ein Mensch nach einer Hirnschädigung eine Identitätskrise durchleiden muss, welche Form und welches Ausmaß sie annimmt, hängt von vielen Faktoren ab. Zum einen entscheiden die klinischen Determinanten der Hirnschädigung selbst wie Lokalisation oder Umfang der Schädigung darüber. Dabei nimmt die Identitätsproblematik nicht unbedingt mit dem Schweregrad der Hirnschädigung zu: 4 Gerade weniger stark betroffene Patienten können aufgrund ihrer realistischeren Wahrnehmung geringerer kognitiver, emotionaler und leiblicher Veränderungen ganz besonders unter den Erfahrungen der Entfremdung und des Identitätsbruchs leiden. 4 Schwerere Auswirkungen der Schädigung auf Selbstwahrnehmung und Kritikfähigkeit können demgegenüber verhindern, dass massive Persönlichkeits- und Kompetenzveränderungen überhaupt als problematisch erlebt werden. Diese Beeinträchtigung der Störungswahrnehmung (»awareness of deficits«), die aufgrund ihrer hohen praktischen Bedeutung für Rehabilitationserfolg und Anpassungsfähigkeit an die Behinderungen ausführlich in der neuropsychologischen Literatur bearbeitet wird (Prigatano 1999, 2004; Prigatano u. Schacter 1991), resultiert
5 sowohl aus organisch bedingten kognitiv-emotionalen Veränderungen 5 wie auch aus psychologischen Bewältigungsversuchen und deren Voraussetzungen in der prämorbiden Persönlichkeit. Veränderungen der Affektivität können bei eher depressiver Grundstimmung Identitätskonflikte akzentuieren; genauso kann die gelegentlich vorherrschende gehobene Gestimmtheit dazu führen, dass den Defiziten wenig Bedeutung beigemessen und die Identität – in völliger Verzerrung der tatsächlichen Verhältnisse – als unbeschadet erlebt wird. > Von zentraler Bedeutung ist es, welche qualitativen Aspekte der eigenen Person und Lebenssituation vor der Erkrankung für die Identitätskonstitution wichtig waren und ob sie von der Schädigung betroffen sind. Beispiel Vor allem Menschen mit hohem beruflichem Engagement und hoher Leistungsmotivation können schwer unter den Antriebsproblemen oder unter kleineren Kompetenzverlusten leiden, die für andere kaum problematisch wären, weil sie für sie nicht wesentlich waren. Dafür erleben Letztere vielleicht körperliche Veränderungen als identitätsbedrohend.
7.3
Hirnschädigung und Biographie
7.3.1
Das Konzept »Biographie«
Während wir mit unseren Überlegungen zur Identitätsarbeit die Selbsterfahrung eines Menschen in den Blick nahmen, finden wir durch unseren zweiten Schlüsselbegriff der Biographe einen Zugang, wie die betroffenen Personen die Auswirkungen der Schädigung auf ihre Lebengeschichte verstehen. Beide Perspektiven sind miteinander verwoben: Das persönliche Gewordensein als eine der Grundlagen von Identität baut auf der Konstruktion der biographischen Erfahrung auf (7 Kap. 7.3.2). > Biographie bezeichnet nicht nur den Lebenslauf als Abfolge objektivierbarer Geschehnisse, sondern vor allem auch die subjektiven Interpretationen, mit denen ein Mensch aus seiner gegenwärtigen Perspektive und deren aktuellen Relevanzen und Zielsetzungen die Ereignisse und Erfahrungen seines Lebens in einen sinnhaften Zusammenhang bringt (Fuchs-Heinritz 2005, Straub 1998).
Über seine biographische Konstruktion, d.h. die Art, was ein Mensch für seine Lebensgeschichte hält, und wie er sie interpretiert, können wir verstehen, wie er die Widerfahrnisse und Entscheidungen seines Lebens einordnet und bewertet und daraus seine Zukunft zu gestalten sucht. Damit bietet sie auch Einblick in motivationale Zusammenhänge, die das Handeln des Menschen bestimmen.
7.3.2
Autobiographische Erzählungen als Zugang zum Erleben von Betroffenen
Im Rahmen der Biographieforschung (Fischer u. Kohli 1987, Griese u. Griesehop 2007, Fuchs-Heinritz 2005) werden biographische Dokumente und vor allem autobiographische Erzählungen als wissenschaftlicher Zugang zum Erleben der Menschen genutzt. Von Menschen mit Hirnschädigung lassen sich zwei verschiedene Arten von entsprechenden Selbstzeugnissen finden: 4 Zum einen wurden biographische Daten unter verschiedenen fachlichen Perspektiven im wissenschaftlichen Kontext erhoben und analysiert, meist auf der Basis narrativer Interviews (z.B. Jesch 2008, Lucius-Hoene 1997, Nerb 2008).
7
100
Kapitel 7 · Hirnschädigung, Identität und Biographie
4 Zum anderen veröffentlichen Betroffene unmittelbar in literarischer Form ihre Erfahrungen und richten sich damit an andere Betroffene, deren Angehörige und professionelle Helfer; darüber hinaus sprechen einige auch ein breites Publikum an.
7
jBiographiearbeit Die Besonderheit der biographischen und damit subjektiven Perspektive liegt genau darin, dass die Hirnschädigung nicht als isoliertes Ereignis, sondern eingebettet in die Gesamtbiographie des jeweiligen Menschen aufscheint. Die Erzählungen zeigen, wie die Betroffenen Biographiearbeit leisten, d.h., sich aktiv bemühen, das traumatische oder krankhafte Ereignis in ihre gesamte Lebensgeschichte zu integrieren und einzelnen Symptomen Bedeutung verleihen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Schicksale lassen sich in den Selbstdokumenten, seien sie in einem wissenschaftlichen Kontext (Breuning 2001, Heel 2004, Heel u. Wendel 2003, Lucius-Hoene 1995, 1997; Nerb 2008, Nochi, 1997, Schäfer 1999, Wendel 2003) oder als eigeninitiativ publizierte literarische Darstellung (Osborn 1998, Quinn 1998) entstanden, charakteristische Problemstellungen finden. So setzen sich alle Erzählungen von Betroffenen direkt oder indirekt mit dem Eintritt des schädigenden Ereignisses auseinander und beschreiben es zumeist als einen dramatischen Einschnitt. Der Bruch in der Erfahrungskontinuität aufgrund retro- und anterograder Amnesie wird von vielen Erzählerinnen und Erzählern als Gefühl der Leere thematisiert. Nochi findet für seine Untersuchungsgruppe dafür den Begriff »the void« (Nochi 1997). Das Schädigungsereignis betten die Betroffenen auf unterschiedliche, vielfältige Weise in ihre Gesamtbiographie ein. Beispiel Mit der Begründung, dass sein früheres Leben keinerlei Bedeutung mehr für ihn habe, stellt ein Erzähler den Verkehrsunfall, den er als »zweite Geburt« bezeichnet, an den Anfang seiner Lebensgeschichte. Im Anschluss daran schildert er ausführlich den nachfolgenden Rehabilitationsprozess, den er als »zweite Kindheit« beschreibt. Die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt regelmäßigen jährlichen Aufenthalte in einer Rehabilitationsklinik beschreibt er jeweils als Rückkehr in sein zweites Zuhause. Ein anderer Erzähler stellt in seiner Lebensgeschichte den beruflichen Aufstieg vom mittelmäßigen Schüler zum Manager eines großen Softwareunternehmens in den Vordergrund. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt, wird diese durch eine akute Hirnverletzung infolge eines Schlaganfalls abrupt beendet – und damit endet dann auch seine Lebenserzählung.
jTypische Biographiemuster kVorher-/Nachher-Vergleich Trotz individueller Vielfalt der Einbettung des traumatischen Ereignisses in die Lebensgeschichte lassen sich typische Muster unterscheiden. So stellen viele Betroffene in ihren Erzählungen ihr Leben vor dem Unfall ihrem gegenwärtigen Leben gegenüber (Nochi 2000, Schäfer 1999). Der Vergleich »vorher-nachher« sieht in den Erzählungen jedoch unterschiedlich aus:
1. Einige Erzähler und Erzählerinnen streichen das frühere Leben als erfüllt, produktiv und glücklich heraus und kontrastieren es mit dem negativ dargestellten gegenwärtigen Leben. 2. In anderen Fällen ist es jedoch das vergangene Leben, das negativ, z.B. als oberflächlich und falschen Zielen verhaftet, dargestellt wird und von einem zwar schweren, aber dennoch positiven gegenwärtigen Leben mit wichtigen neuen Werten und Erfahrungsmöglichkeiten abgelöst wurde:
»
Man lernt viel mehr, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Ich hab’ gelernt, dass es viele unwichtige Dinge gibt, wo sich andere Leute wahnsinnig darüber aufregen, und morgen oder in einer Woche schon ist es egal.
«
» Und man kann auch irgendwie Dankeschön sagen, weil man merkt, man ist jetzt viel zufriedener, man lebt viel intensiver, man ist so vielen Leuten voraus, die das nie kapieren, die nur einen 230er oder 260er Mercedes z.B. im Kopf haben. Und ich geh halt jetzt und sag: Schön, dass ich mich wieder bewegen kann. (Schneider et al. 1993)
«
3. Andere Betroffene stellen in ihrer Erzählung die vorhandene Kontinuität ihres Lebens trotz des Bruchs in den Vordergrund, indem sie z.B. zwischen der früheren und der heutigen Person eine stringente Entwicklungslinie aufzeigen oder hervorheben, was in ihrem Leben trotz der Hirnverletzung und ihren Folgen gleich geblieben und nach wie vor möglich ist (Lucius-Hoene 1997). > Auch innerhalb einer biographischen Konstruktion können bestimmte Lebensbereiche als kontinuierlich, andere als durchbrochen dargestellt werden (Nerb 2008).
kSelbstwertkrise Ein zweites durchgängiges Thema fast aller Selbstschilderungen ist die Selbstwertkrise, die durch die Erfahrungen von Defiziten, Inkompetenzen und den Zwang zur Aufgabe von Rollen und wichtigen Verantwortlichkeiten entsteht. Darüber hinaus schildern manche Betroffenen auch das Gefühl eines Verlusts ihres Selbst, wie weiter oben schon anklang. Ein solcher Selbstverlust kann in der Veränderung physischer und kognitiver Funktionen begründet sein und resultiert in einem Gefühl der Fremdheit dieser veränderten Person, die man selbst sein soll. Ebenso wirken auch retro- und anterograde Amnesien durch ihren Bruch des Kontinuitätsgefühls, da die erforderliche Neudefinition des eigenen Selbst ohne den erinnernden Zugang zum vergangenen Selbst erschwert ist (z.B. Campbell-Korves 1991). Manche Erzähler thematisieren auch einen Selbstverlust, der durch pathologische oder bizarre Verhaltensweisen entsteht, die sie als außerhalb ihrer Kontrolle erleben.
101 7.3 · Hirnschädigung und Biographie
kBewältigungsleistungen Auch Bewältigungsleistungen scheinen in den autobiographischen Erzählungen auf: 1. Wie auch andere chronisch Kranke (Fillip u. Aymanns 2003) nutzen manche Erzähler den Vergleich mit anderen Personen, denen es nach akuter Hirnverletzung noch viel schlechter geht, und verringern dadurch die eigene Tragik. 2. Andere betonen immer wieder die Normalität ihrer Lebenssituation, z.B. dadurch, dass sie auf individuelle Unterschiede zwischen allen Menschen verweisen und die eigenen Veränderungen dadurch relativieren. 3. Die Nutzung kulturell geprägter Sinnstiftungs- und Geschichtenmuster in der autobiographischen Erzählung (Roesler 2001) zur Deutung des Geschehens, z.B. 5 die religiöse Konversionserfahrung, 5 die Metapher des »Kampfs« zur Überwindung der Schädigungsfolgen oder 5 das Aufzeigen eines individuellen Reifungsprozesses weisen ebenfalls auf entsprechende Bewältigungsbemühungen hin. 4. Der Verlust von Lebensbereichen oder Handlungsfeldern wird von manchen kompensiert, indem sie andere Alltagsbereiche mit besonderer Wichtigkeit versehen (z.B. das Einhalten eines strengen Gesundheitsregimes) oder sich neue Aufgaben suchen, etwa ein ehrenamtliches Engagement für Leidensgenossen (Lucius-Hoene 1997).
7.3.3
Erfahrungen der Angehörigen
Autobiographische Erzählungen von Angehörigen, die ebenfalls im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen oder als eigene Publikationen vorliegen, machen deutlich, in welch großem Ausmaß die gesamte Familie von einer Hirnverletzung betroffen ist: 1. Auch hier steht häufig der plötzliche Einbruch des Traumas oder der Erkrankung am Beginn der Erzählung:
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One day, you and your family are hiking across a long, solid plain, when out of the sky comes a blazing meteor that just happens to hit one family member on the head. (Crimmins 2000)
«
»
Eines Tages wanderst du mit deiner Familie auf einer weiten, stabilen Ebene, wenn aus heiterem Himmel ein strahlender Meteor herunterkommt und zufällig auf dem Kopf eines Familienmitglieds einschlägt. (Übers. d. Autorin)
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2. In den meisten Erzählungen der Angehörigen ist der Umgang mit der veränderten Persönlichkeit des Partners ein zentrales Problem:
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TBI is like an incomplete death: you’ve lost a person, or parts of that person, but he’s still here. (Crimmins 2000)
«
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Ein Schädel-Hirn-Trauma ist wie ein unvollständiger Tod: Du hast eine Person verloren, oder Teile dieser Person, aber sie ist immer noch da. (Übers. d. Autorin)
«
3. Angehörige erleben die Veränderungen des Partners als schmerzlichen Verlust: Der Partner ist nicht mehr dieselbe Person, die er vor dem schädigenden Ereignis war. Damit ändern sich oft auch die Beziehung und die Fundamente der Partnerschaft grundlegend: Die Rollen verschieben sich, Gemeinsamkeiten und Verständigungsmöglichkeiten schwinden, schwere Aufgaben und Pflichten müssen übernommen werden (vgl. Hofstetter 2003, Pössl u. Mai 1996). Oft leiden die Angehörigen darunter, dass Außenstehende diesen Verlust nicht nachvollziehen können, da der Partner das Trauma ja »überlebt« hat. Wie der Patient sich selbst fremd sein kann, so berichten auch viele Angehörige von einem langsamen und schmerzlichen Abschied von dem Menschen, den sie vor der Schädigung gekannt haben und nun nicht wieder finden können. Für Eltern ist es oft besonders schwer, ihre Zukunftsprojektionen aufzugeben und zu akzeptieren, dass das Leben ihres Kindes sich ganz anders entwickeln wird als erwartet und erhofft (Carolusson 2003, Johansen 2002). 4. Neben dem eigenen Leiden zeigen die Lebenserzählungen der Angehörigen auch, welche vielfältigen Funktionen sie für ihre geschädigten Partner wahrnehmen müssen. In der Alltagsbewältigung leisten sie ihnen nicht nur praktische oder pflegerische Hilfestellungen, sondern übernehmen oft genau die beeinträchtigten Funktionen, die für die Bewältigungsleistungen erforderlich sind, z.B. 5 Selbst- und Umweltwahrnehmung und 5 Problemlösefähigkeiten. Für die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Identität der Betroffenen sind Angehörige von zentraler Bedeutung. Durch Unterstützung der Urteilsfähigkeit und das Spiegeln von Verhaltensweisen wirken sie der beeinträchtigten Selbstwahrnehmung der Betroffenen entgegen und fördern die Identitätsarbeit (Nerb 2008). Da die Angehörigen um die frühere Person des Betroffenen wissen, können sie zu seiner Kontinuitätserfahrung beitragen. Die Konfrontation mit der eigenen Veränderung durch den Partner oder die Partnerin kann von den Betroffenen jedoch auch als Bedrohung und Belastung erlebt werden. jVergleich der Lebenserzählungen zweier Partner Vergleicht man die Lebenserzählung des betroffenen Menschen mit der seines engsten Lebenspartners (Breuning 2001, Lucius-Hoene 1995, 1997; Nerb 2008), so erhält man einen Einblick in Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der jeweiligen Perspektive auf das Geschehen. Die vergleichende Analyse der Erzählungen vermittelt abgestimmte Techniken der Ehepartner zur Aufrechterhaltung und Funktionstüchtigkeit der gemeinsamen Lebenswelt. Dieser Einblick zeigt 4 die Herstellung eines neuen Wirklichkeitsverständnisses, 4 gemeinsame Sinnstiftungsprozesse und 4 partnerschaftliche Bewältigungsstrategien (Lucius-Hoene 1995, Breuning 2001, Nerb 2008).
7
102
Kapitel 7 · Hirnschädigung, Identität und Biographie
Häufig müssen die nicht betroffenen Partner aufgrund ihrer umfassenderen Realitätswahrnehmung aber auch eine übergreifende Perspektive einnehmen und gewissermaßen in zwei unterschiedlichen Wirklichkeiten leben, zwischen denen sie vermitteln müssen: 4 In einer geteilten solidarischen Welt lässt der Gesunde den hirngeschädigten Partner quasi als Person unversehrt und unverändert und stützt ihn in seinen früheren Rollen und seiner Identität als autonome Person, 4 während er ihn in einer äußeren Welt mit fremden Personen und Institutionen in der Wahrung seiner und der gemeinsamen Interessen als Behinderten beschreiben und vertreten muss (Lucius-Hoene 1997).
meisten romanhaften Darstellungen das Thema Hoffnung durch. Fast allen Betroffenen gelingt es, in ihren Erzählungen eine gelungene Bewältigung nach einem langen Weg an das Ende zu stellen. Diese gelungene Bewältigung beinhaltet meist gerade nicht, dass die betroffene Person wieder ist, wer und wie sie vor dem Unfall war, sondern beschreibt eine Transformation der eigenen Identität.
»
This new life is truly mine. I own it and I am earnestly trying to learn, as Dr. Chako advised, what God intends me to do with it. I was a happy woman before my injury, I am a happy one today. (Osborn 1998)
«
»
7.3.4
7
Besonderheiten und Funktionen literarischer Selbstberichte
Gegenüber den wissenschaftlich motivierten Sammlungen von autobiographischen Erzählungen Hirngeschädigter und ihrer Angehörigen weisen die literarischen Selbstberichte einige erwähnenswerte Besonderheiten auf. Die Zahl solcher sog. Pathographien (Hawkins 1999) oder »illness narratives« (Kleinman 1988, Frank 1995), in denen hirngeschädigte Menschen oder Angehörige von ihren Erfahrungen berichten, hat in den letzten Jahren stark zugenommen (Hofstetter 2003, Osborn 1998). Erfahrungsberichte von Betroffenen ergänzen oft auch die wissenschaftliche Literatur, um die Kluft zwischen objektiv-wissenschaftlicher Darstellung und persönlicher Leidensperspektive zu überbrücken (Dell Orto u. Power 2000, Judd 1999, Williams u. Kay 1991). jBesonderheiten der literarischen Selbstberichte 1. Eine wichtige Funktion dieser Pathographien besteht darin, dass die betroffenen Personen, die sich als Opfer der Krankheit erleben, mittels Erzählen wieder die Autorenschaft für ihr Leben übernehmen können (Frank 1995). Das Schreiben der eigenen Lebensgeschichte kann zu einem zentralen Vehikel der Selbstheilung werden (z.B. Hausmann 1988). Auch Luria (1975) schreibt über einen kriegshirnverletzten Patienten, dessen Leben er anhand einer langjährigen Begleitung und mithilfe von Tagebuchaufzeichnungen rekonstruierte:
» Writing was his one link with life, his only hope of not succumbing to illness but recovering at least a part of what had been lost. « » Schreiben war seine Verbindung zum Leben, seine einzige Hoffnung, sich der Krankheit nicht unterwerfen zu müssen, sondern wenigstens einen Teil des Verlorenen wiederzugewinnen. (Übers. d. Autorin)
«
2. Obgleich die einzelnen Autobiographien jeweils individuelle Schicksale repräsentieren, enthalten sie andererseits durch ihre für Hirnschädigungen spezifischen Themen allgemeine Gültigkeit und Bedeutung. So zieht sich in den
Dieses neue Leben ist wirklich meins. Es gehört mir, und ich bemühe mich, ernsthaft zu erfahren, wie Dr. Chako mir riet, was Gott möchte, dass ich damit anfangen soll. Ich war vor meiner Verletzung eine glückliche Frau, und ich bin heute eine glückliche Frau. (Übers. d. Autorin)
«
3. Die Erzähler und Erzählerinnen belegen ihre Willenskraft, mit ihren Beeinträchtigungen umgehen zu lernen, indem sie die häufig erlebten Wechsel von Hoffnung und Enttäuschung darstellen, die den Rehabilitationsverlauf mit seinen vielen Vor- und Rückschritten begleiten. Häufig beinhaltet dies auch das Erreichen eines Tiefpunkts, nach dessen Überwindung die Genesung weiter fortschreitet und in einer Transformation der eigenen Identität resultiert.
»
Many people ask me what has been the hardest thing for me. I could not have answered before. The fact that I can now, is a credit to my rehabilitation and indicative of my improvement. It’s acceptance, I will never again be the same person I was before my accident. It’s too bad, because I really loved that person. I remember who she was, the things she was able to do and how fast she did them. (...) I still have a very hard time accepting that new being within me. She is slow and different. I want to get away from her, but she is part of me. (Bryant 1992)
«
»
Viele Leute haben mich gefragt, was das Härteste für mich war. Vorher hätte ich darauf nicht antworten können. Die Tatsache, dass ich es jetzt kann, macht meiner Rehabilitation Ehre und zeigt meine Besserung an. Es ist Akzeptanz, ich werde nie wieder dieselbe Person sein, die ich vor meinem Umfall war. Das ist zu schlimm, weil ich diese Person wirklich geliebt habe. Ich erinnere mich daran, wer sie war, an die Dinge, die sie konnte und wie schnell sie sie konnte. (…) Es ist für mich immer noch sehr schwer, dieses neue Wesen in mir zu akzeptieren. Sie ist langsam und anders. Ich möchte sie loswerden, aber sie ist ein Teil von mir. (Übers. d. Autorin)
«
4. Die stetige Zunahme solcher Krankheitserzählungen zeigt, wie groß das Bedürfnis von Betroffenen ist, ihre spezifischen Erfahrungen mitzuteilen, z.B. 5 das Erwachen aus dem Koma, 5 Gedächtnis- und Erinnerungsverlust,
103 7.4 · Folgerungen für den Umgang mit hirngeschädigten Menschen
5 Persönlichkeitsveränderungen und 5 das mühsame Leben mit einem widerständigen Alltag. Gleichzeitig ist es meist ein wichtiges Ziel der Autoren, andere Betroffene und ihre Angehörigen zu ermutigen und zu motivieren, angesichts einer oft hoffnungslosen Prognose und eines unvorhersehbaren, mühsamen Rehabilitationsverlaufs nicht zu resignieren. Da die für eine akute Hirnverletzung spezifische Thematik meist auch in eine allgemeine Botschaft eingebettet ist, z.B. 5 die Stärke des Einzelnen, auch das schwere Schicksal zu meistern, 5 der Zusammenhalt innerhalb der Familie, 5 die Kraft der Hoffnung, 5 das Vermögen partnerschaftlicher oder mütterlicher Liebe usw., können diese literarischen Werke auch über den Kreis der Betroffenen hinaus ein breiteres Publikum ansprechen. Sicherlich lassen sich die in den Selbstschilderungen dargestellten Verläufe nicht auf die Erfahrungen aller Hirngeschädigten übertragen. Die Autoren der Erzählungen sind meist in ihren finanziellen, sozialen und Bildungsressourcen privilegiert und als Betroffene schon dadurch nicht repräsentativ, dass sie trotz bleibender Beeinträchtigungen zum Schreiben ihrer Lebensgeschichte in der Lage sind; einige Angehörige nutzen auch eine professionelle literarische Vorbildung (Crimmins 2000, Johansen 2002). Mehrere Erzählungen, wie etwa die eindringlich geschilderte Erfahrungsgeschichte von Claudia Osborn (Osborn 1998), wurden von betroffenen Ärzten oder Psychologen geschrieben, die die Perspektiven des professionellen Helfers und fachlicher Kompetenz mit der des Patienten verknüpfen und besonders eindringlich die Notwendigkeit betonen, die subjektive Sichtweise der Betroffenen bei der Behandlung zu berücksichtigen. (Beta 2000, Hill 1999, Osborn 1998). Fazit Obwohl es sich also bei den Autoren der Selbstberichte in literarischer Form um privilegierte Einzelfälle handelt, sind sie ein wichtiges Sprachrohr von hirnverletzten Personen und ihren Angehörigen. Die Selbstberichte vermitteln die dramatische Bedeutung des plötzlichen Einbruchs eines solchen Traumas und geben durch ihre Lebendigkeit und minutiösen, konkreten Schilderungen des erschwerten Alltags Einblick in die schwierige Situation nach einer Hirnverletzung. Damit machen sie das traumatische Ereignis, das ansonsten das Vorstellungsvermögen Nichtbetroffener übersteigt, annähernd vorstellbar.
7.4
Folgerungen für den Umgang mit hirngeschädigten Menschen
Aus den vorherigen Überlegungen ergibt sich, dass die Rehabilitation hirngeschädigter Menschen immer auch Identitäts- und Biographiearbeit ist (vgl. Heel u. Wendel 2003, Luci-
us-Hoene 2008a), die zu den verschiedenen Zeitpunkten in der allmählichen Auseinandersetzung mit dem Geschehenen auch verschiedene Möglichkeiten beinhaltet. Die Frage »Wer bin ich?« nach der Katastrophe der Hirnschädigung muss vom Patienten in vielen kleinen Teilschritten und Aspekten in der täglichen Auseinandersetzung mit seinen Defiziten und gravierenden Lebensveränderungen erarbeitet werden. Hier findet Bewältigung in kleinen Schritten statt und bedarf nach Maßgabe der momentanen psychischen Situation und der Möglichkeiten des Verstehens einer Würdigung und Unterstützung des individuellen Wegs vonseiten des sozialen Umfelds. Alle Interaktionen zwischen Patienten und anderen Menschen lassen sich als Aushandlungsprozess zwischen Fremdund Selbstwahrnehmung verstehen, in dem der Betroffene Fragen bearbeiten kann (. Übersicht 7.3). . Übersicht 7.3. Innere Fragenbearbeitung 4 Was für ein Mensch möchte ich sein, und was für ein Mensch kann ich mit meiner Schädigung sein?
4 Was für ein Mensch bin ich gewesen? Wie haben andere mich wahrgenommen? An was kann ich anknüpfen, und was ist unwiederbringlich verloren? 4 Was nehmen andere an mir wahr, und welche menschlichen wie auch Entwicklungsmöglichkeiten sehen sie für mich und meine Zukunft? Was erwarten sie von mir? 4 Was für ein Mensch möchte ich in Zukunft sein, und was kann ich davon realisieren? 4 Wie kann ich das Geschehene in meine Lebensgeschichte integrieren und Sinn darin finden?
Gerade weil es sich um einen Prozess handelt, der auf Widerspiegelung und Aushandlung durch die Menschen des Umfelds angewiesen ist, ist es besonders wichtig, dass die anderen sich ihrer Funktion darin bewusst sind. Der hirngeschädigte Patient bedarf zumindest phasenweise des Hilfs-Ichs und des Hilfsgedächtnisses seines sozialen Umfelds. Aufgrund seiner Erinnerungs- und Aufmerksamkeitsprobleme, seiner Schwierigkeiten, sich selbst in einer »abstract attitude« (Goldstein 1952) zu sehen, aus seinen neuen Erfahrungen Lehren und Schlussfolgerungen zu ziehen und Zukunftsvorstellungen zu entwickeln, braucht er die verstehende Mithilfe seiner Angehörigen und Therapeuten. Die Bewältigung kann wesentlich unterstützt werden, wenn Therapeuten bereit sind, die Begleitung dieser Identitätsarbeit als Teil ihrer Aufgabe zu verstehen und anzuerkennen. In den letzten Jahren wurden viele psychotherapeutische Konzepte entwickelt, die differenziert auf die besondere kognitive, emotionale und soziale Situation Hirngeschädigter abgestimmt sind (Barolin 2008, Hofmann-Stocker 1990, Judd 1999, Miller 1993, Prigatano 1986, 1999, 2004; zum Überblick s. Gauggel u. Schoof-Tams 2000, Grüwell 1999, Thun 1988).
7
104
Kapitel 7 · Hirnschädigung, Identität und Biographie
jNarrative Therapieansätze Während viele störungsbedingte Verhaltensprobleme gut durch neuropsychologisch fundierte verhaltensbezogene Interventionen angegangen werden können, eignen sich für die identitäts- und biographiebezogenen Probleme besonders narrative Therapieansätze (Frommelt u. Grötzbach 2008). > Narrative therapeutische Strategien (Angus u. McLeod 2004, Grossmann 2000, Heel u. Wendel 2003, Lieblich et al. 2004, Lucius-Hoene 2008b, Omer u. Alon 1997) zielen darauf ab, für das Erlebte im Zusammenhang mit der Schädigung Geschichten zu konstruieren oder zu rekonstruieren und sie in die biographischen Zusammenhänge einzubinden. Damit kann ein Gefühl von Kohärenz, Verstehbarkeit und Handlungsmächtigkeit erweckt werden.
7
Der Therapeut hilft dem hirngeschädigten Patienten mit seinen amnestischen Lücken, unverbundenen Erfahrungsfragmenten und Entmündigungserlebnissen, 4 das Geschehene wieder in einen sinnhaften Zusammenhang zu bringen, 4 sich selbst als Held und Handlungsträger seiner Geschichte zu sehen, 4 sich für neue Interpretationen und Handlungsoptionen zu öffnen und 4 emotionale Unterstützung und Zuversicht zu geben.
Hier können auch Informationen zum neuropsychologischen und medizinischen Hintergrund der erlebten Probleme eingebaut und gemeinsam biographische Sinnstiftungsmöglichkeiten entwickelt werden. jUnterstützung des Therapeutenteams Die Notwendigkeit, einen betroffenen Mensch in seiner Biographie- und Identitätsarbeit wahrzunehmen und zu stützen, beschränkt sich jedoch nicht nur auf das Angebot der Psychotherapeuten, die häufig von anderen Therapeuten und Ärzten den Auftrag delegiert bekommen, 4 Krankheitsbewältigung zu fördern, 4 ein realistisches Störungsbewusstsein herzustellen oder 4 eine dysfunktionale Krankheitsverarbeitung zu therapieren. Jede Interaktion kann für die Identitätsarbeit bedeutsam sein und Selbstwahrnehmung ermöglichen oder erschweren, Wertschätzung vermitteln oder Versagenserlebnisse vertiefen. Professionelle Helfer sollten sich in allen therapeutischen Zusammenhängen, gleich in welchem Funktionsbereich oder in welcher Art der Intervention, dieser Rolle bewusst sein (. Übersicht 7.4). . Übersicht 7.4. Aufgaben aller professionellen Helfer 1.
Beide Geschichten zum Geschehenen, die des Patienten aus der inneren Erlebnisperspektive und die des Therapeuten aus der äußeren Expertenperspektive, können sich in solchen Narrativen wechselseitig ergänzen und miteinander verschmelzen. Seine eigenen störenden und befremdlichen Verhaltensweisen im Licht der Neuropsychologie interpretieren zu können, kann dem Patienten helfen, sie zu verstehen und ihn von Selbstvorwürfen erlösen; ebenso kann deren Interpretation als Bewältigungsstrategie und Identitätsarbeit sein Gefühl von Würde wieder beleben und seine Akzeptanz stärken. > Ein therapeutisch wirksames Narrativ sollte dem Patienten vermitteln (vgl. Omer u. Alon 1997): 4 Dies ist meine eigene Geschichte, und ich bin der Held dieser Geschichte. 4 Die Geschichte hilft mir zu verstehen, was geschehen ist. 4 Obwohl es keinen »Weg zurück« gibt, hat diese Geschichte eine Zukunft.
Zahlreiche spezifische Strategien narrativer Therapien können gezielt eingesetzt werden, um den Patienten in seiner Bereitschaft und Fähigkeit zur Perspektivenübernahme zu fördern, um Metaphern, Bilder, Aphorismen, Slogans oder Schlüsselgeschichten zum Verständnis und zur Verhaltenssteuerung zu nutzen, fiktive Szenarien auszuprobieren und festgefahrene Problemwahrnehmungen zu öffnen. Narrative Therapieansätze, die dem Patienten behilflich sind, seine Erfahrungen wieder in eine kohärente und bedeutsame Geschichte zu organisieren, können die notwendige Identitäts- und Biographiearbeit besonders gut unterstützen.
2.
3.
4.
Sie sollten die Selbstwertproblematik und mögliche existentielle Verunsicherung des Patienten im Auge haben, wenn sie Aufgaben stellen, Kompetenzdefizite aufdecken und Symptome ansprechen müssen. Sie sollten Symptomäußerungen und Verhaltensweisen der Patienten immer auch unter der Perspektive reflektieren, wie weit sie Versuche von Selbstwerterhaltung, Kompensation oder Nutzung verbliebener Ressourcen sein könnten. Sie sollten medizinische Information in Erklärungsund Bedeutungszusammenhänge des individuellen Patienten übertragen können. Sie sollten ggf. auch für die existentiellen Fragen und die Trauer des Patienten als Gesprächspartner oder als Resonanzboden zur Verfügung stehen, soweit es ihnen möglich erscheint (vgl. Heel 2004, Wendel 2003, Lucius-Hoene 2000, 2005).
So kann die therapeutische Interaktion verlangen, zwischen den verschiedensten Funktionen und Ansprüchen wechseln zu müssen: vom Hilfs-Ich, das für den Patienten in seinem eingeschränkten Urteilsvermögen Entscheidungen treffen muss, 4 zum Anleiter, 4 zum Lehrer, 4 zum Kontrolleur, 4 zum Berater, 4 zum Spiegel, 4 zur stützenden und wertschätzenden Instanz oder 4 zum Diskussionspartner beim Entwurf von Zukunftsvisionen und Probe-Ichs.
105 7.5 · Literatur
> Biographie- und Identitätsarbeit der hirngeschädigten Patienten findet nicht nur in speziellen psychotherapeutischen Situationen statt, sondern ist Teil aller persönlichen Begegnungen in einem rehabilitativen Setting. Alle Partner der Patienten sollten sich in dieser Hinsicht ihrer eigenen Verhaltensund Umgangsweisen bewusst sein.
jAnforderungen an das therapeutische Team Auch den professionellen Helfern stellt sich die Aufgabe, sich angesichts der Schicksale ihrer Patienten mit der Angst vor eigenen Verlust- und Defiziterfahrungen auseinanderzusetzen und die Grundlagen ihrer eigenen Identitäts- und Biographiearbeit, ihrer Bereitschaft, Unvermeidliches zu akzeptieren, ihrer persönlichen und professionellen Überzeugungen und ihrer Werthaltungen zu reflektieren. Wie unverzichtbar diese Bereitschaft der Helfer ist, auch unter der zunehmenden Effizienz- und Konkurrenzorientierung der Institutionen mit ihren ehrgeizigen therapeutischen Zielen, nicht nur fachspezifische kompetente Hilfe zu leisten, sondern auch den existentiellen Hintergrund der Lage ihrer Patienten wahrzunehmen, wird in vielen Selbstzeugnissen betont. Betroffene wie Angehörige berichten immer wieder, wie wichtig es für sie war (und wie oft sie es vermissen mussten), in den medizinischen Institutionen nicht nur als Träger von mannigfaltigen Defiziten oder Problemen, sondern als Mensch mit Lebensgeschichte, Würde und Zukunftshoffnung gesehen zu werden.
7.5
Literatur
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7
106
7
Kapitel 7 · Hirnschädigung, Identität und Biographie
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8
Interdisziplinäre Teamarbeit und Zielsetzung in der Rehabilitation J. Collicut McGrath, U. Kischka (Übersetzung: H. Lösslein) 8.1
Prinzipien der Zielsetzung
– 108
8.1.1 Patientenzentrierte Praxis – 108 8.1.2 Der ganze Mensch: Interdisziplinäre Praxis
– 109
8.2
Praktische Durchführung der Zielsetzung
8.3
Qualitätskontrolle des Zielsetzungsprozesses
8.4
Literatur
– 113
– 111 – 112
108
Kapitel 8 · Interdisziplinäre Teamarbeit und Zielsetzung in der Rehabilitation
Innerhalb der Neurorehabilitation gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, was unter Zielsetzung zu verstehen ist. Dieses Kapitel wird sich hauptsächlich auf den Ansatz des Rivermead Rehabilitationszentrums beziehen: Dieser Ansatz ist patientenzentriert, interdisziplinär und bezieht sich nach dem ICFModell auf die Ebene der Teilhabe (Wade 2000).
8
In den letzten 20 Jahren haben sich Teamarbeit und Zielsetzung als Gütekriterien der Neurorehabilitation wie auch in anderen Gebieten der Gesundheitsversorgung etabliert (Kennedy et al. 1991, McGrath u. Davis 1992, Sturmey 1992, Webb u. Glueckauf 1994). Dabei wurden Prinzipien, die aus dem Personalmanagement der Wirtschaft stammten, auf klinische und ambulante Arbeitsfelder übertragen (Stenstrom 1994, Barraclough u. Fleming 1986). Grundlagen der meisten erfolgreichen menschlichen Aktivitäten sind 4 Methoden der Zielfindung, 4 geordnetes Hinarbeiten auf deren Erreichung und 4 Beurteilung der Fortschritte. Daher ist es kaum überraschend, dass diese Prinzipien überall angewendet werden. Dennoch gibt es Aspekte, die eine Zielplanung in der Neurorehabilitation besonders notwendig machen, möglicherweise bedeutsamer als spezifische therapeutische Maßnahmen: 1. Ein Aspekt betrifft das Ausmaß und die Komplexität der Probleme, die durch eine Schädigung des zentralen Nervensystems, besonders bei Hirntrauma, verursacht werden. Patienten mit schweren Hirnschäden haben gewöhnlich zahlreiche kognitive, soziale, emotionale und somatische Probleme, die nicht alle zur gleichen Zeit angegangen werden können. Dadurch können sich sowohl das Behandlungsteam als auch der Patient und seine Familie überfordert fühlen. Ein vernünftiges Konzept ist außerordentlich hilfreich für die Entscheidung, an welchen Bereichen man arbeiten möchte und in welcher Reihenfolge, um jedem Beteiligten das Gefühl zu vermitteln, die Dinge unter Kontrolle zu haben. 2. Ein weiterer Aspekt, dessen Bedeutung im Allgemeinen sehr viel weniger beachtet wird, ist die tiefgreifende Veränderung der Selbstwahrnehmung, die im Kontext der zahlreichen Einschränkungen entstehen kann. Patienten und ihre Familien kämpfen um den Erhalt, fürchten um den Verlust oder betrauern den Verlust der Person, die der Patient früher war (Kinney 2001, McGrath 2003). Jedes Rehabilitationsprogramm, das sich nicht dieses Themas annimmt, wird nur begrenzten Erfolg haben. Fazit In dieser Hinsicht ist die Zielplanung ein wertvolles Werkzeug, da es die Auswahl von Rehabilitationszielen in den Vordergrund stellt. Die Ziele können passend zur persönlichen Identität ausgewählt werden (McGrath u. Adams 1999).
8.1
Prinzipien der Zielsetzung
8.1.1
Patientenzentrierte Praxis
»
Es gibt Programme, aber es ist kein Projekt erkennbar. Es gibt keine Verbindung mit dem Sinn und Zweck meines Lebens.
«
Diese klare und scharfsichtige Beschreibung dessen, was in der Rehabilitation schief gehen kann, stammt bemerkenswerterweise von einem Patienten mit einer Wernicke-Aphasie. Manche Patienten mit einer Hirnverletzung besitzen eine geringe Frustrationstoleranz, sie ermüden leicht und können schwer motiviert werden. Wenn die Rehabilitation nicht auf Ziele gerichtet ist, die einen klaren Bezug zu ihren persönlichen Belangen haben, werden sie wenig Engagement und Compliance zeigen (McGrath u. Davis 1992). Zwar sind die Gründe für eine patientenzentrierte Arbeitsweise vorwiegend ethischer Art, es gibt jedoch auch ganz pragmatische Gründe für diesen Ansatz. > Patientenzentriert zu arbeiten heißt nicht, alles zu tun, was der Patient wünscht, besonders dann, wenn es nicht in seinem Interesse oder im Interesse anderer liegt. Es bedeutet vielmehr, der Sichtweise des Patienten das größte Gewicht in dem komplexen Prozess der Entscheidungsfindung für seine Behandlung und Versorgung zuzumessen. Patienten mit einer Hirnverletzung haben ihre Autonomie in vielen Lebensbereichen verloren. Es ist ein unverzichtbares Grundprinzip der rehabilitativen Arbeit, die Autonomie des Patienten soweit wie möglich wiederherzustellen.
Heutzutage nehmen die meisten neurologischen Rehabilitationsprogramme für sich in Anspruch, patientenzentriert zu sein. Oft bedeutet das lediglich, dass das Behandlungsteam über ein Set von Rehabilitationszielen entscheidet und dann den Patienten und seine Familie fragt, ob diese akzeptabel sind (z.B. McMillan u. Sparkes 1999). Eine tatsächliche Patientenzentrierung erfordert mehr als das, nämlich, dass ein Team sich in den Patienten hineinversetzt und die Welt aus dessen Perspektive betrachtet. Dazu gehören folgende Aspekte: 4 Motivation, die früheren Ziele und Werte des Patienten zu verstehen und die Frage »Warum?« zu stellen, um das Verhalten des Patienten zu verstehen: Wenn man versteht, welche Lebensbereiche für einen Menschen von Bedeutung sind, besitzt man den Schlüssel zum Verständnis seiner persönlichen Identität (Hooker 1999, Staudinger 1999, 2000). 4 Den Patienten in seiner Ganzheit wahrzunehmen: Dazu gehört, ihn in seiner eigenen Umgebung außerhalb der Rehabilitationseinrichtung kennenzulernen, Hausbesuche zu machen, ihn in seiner eigenen Kleidung zu sehen und nicht in den klliniküblichen Trainingsanzügen. 4 Die persönlichen Empfindungen des Patienten zu berücksichtigen, nicht nur seine Leistungen.
109 8.1 · Prinzipien der Zielsetzung
8.1.2
Der ganze Mensch: Interdisziplinäre Praxis
jMultidisziplinärer Ansatz
» Sie behandeln uns wie Teile von Menschen. « Diese Beschreibung eines anderen verbreiteten Problems von Rehabilitationsprogrammen stammt, im typischen Telegrammstil, von einem Patienten mit einer Broca-Aphasie. Kay und Silver (1989) führen das folgendermaßen aus:
»
An der Rehabilitation, besonders in den früheren Phasen, sind meist viele Fachbereiche beteiligt (...). Jeder gibt Lippenbekenntnisse zu einem interdisziplinären Vorgehen ab. Allerdings wird die Rehabilitation hirnverletzter Personen häufig beherrscht durch ein »Scheibchendenken«. Scherzhaft ausgedrückt: Der Physiotherapeut behandelt die unteren Gliedmaßen, der Ergotherapeut die oberen, der Sprachtherapeut das Gebiet von der Kehle bis zum Mund, der Psychologe das, was oberhalb des Mundes liegt, und die Schwestern alles, was dazwischen liegt. Teamsitzungen bestehen darin, dass jeder Fachbereich dem Rehabilitationsarzt über die Funktionen »seines« Körperteils berichtet, während alle anderen Aufmerksamkeit vortäuschen.
«
Dies ist eine Beschreibung eines multidisziplinären Ansatzes, bei dem die Berufsgruppen nebeneinander arbeiten, statt in einem interdisziplinären Konzept, in dem die Berufsgruppen an gemeinsamen Zielen arbeiten (McGrath u. Davis 1992). Wie bereits betont, können Ziele auf Ebene der Teilhabe nur durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erreicht werden. Der oben zitierte Patient nennt noch einen weiteren Punkt. Er beschreibt, wie es sich anfühlt, von einem multidisziplinären Team in Einzelteile zerlegt zu werden. Man fühlt sich nicht als ganzer Mensch. ! Cave Interdisziplinär bitte nicht mit multidisziplinär verwechseln! kKlinische Praxis Behandlerteams neigen dazu, multidisziplinär zu arbeiten, wenn man sie nicht entsprechend anregt. Dafür gibt es gute Gründe: 4 Die Grenzen zwischen den Berufsgruppen sind klar, und die therapeutische Arbeit, auch wenn sie technisch herausfordernd ist, bietet Sicherheit, Vertrautheit und Klarheit. 4 Die professionelle Distanz zum Patienten kann gewahrt werden, was emotionalen Schutz bietet. Die Patienten in der Neurorehabilitation sind häufig jung und kommen aus einem ähnlichen sozialen Hintergrund wie ihre Therapeuten. Sich darauf einzulassen, welche verheerenden Verluste diese Menschen erlitten haben, kann eine übergroße emotionale Belastung für die Mitarbeiter sein. Sich auf einen Arm oder ein Bein einzulassen, kann emotional leichter sein als sich auf einen ganzen Menschen einzulassen.
. Abb. 8.1. Vergleich: Multi- und interdisziplinäre Arbeit
jInterdisziplinärer Ansatz Möchte ein Behandlerteam dieser Tendenz widerstehen, die Dinge aus der Perspektive des Patienten sehen und ihn als ganzen Menschen behandeln, braucht es dazu unbedingt Weiterbildung und gegenseitige kollegiale Unterstützung. Interdisziplinäre Teamsitzungen funktionieren am besten, wenn Teamleiter und -mitglieder sich gegenseitig ermuntern und positive Rückmeldungen zu ihren Beiträgen geben. Es sollte eine Arbeitsatmosphäre geschaffen werden, die jeden Mitarbeiter darin unterstützt, Risiken auf sich zu nehmen und seine Meinung zu sagen (Roelofsen et al. 2001). Ein Vorteil der gemeinsamen Zielsetzung ist es, dass Teammitglieder sich gegenseitig emotional unterstützen können. Bei klinischen Problemen können sie auch wechselseitig neue Sichtweisen einnehmen, z.B. können sich Logopädin und Physiotherapeutin auf das Ziel einigen, der Patient solle einen kleinen Spaziergang mit seiner Frau machen und sich gleichzeitig mit ihr unterhalten. kEinbeziehung der Gefühle Es ist wichtiger, die Dinge aus der Perspektive des Patienten zu sehen als nur sein Verhalten zu beobachten. Die Herausforderung besteht darin, sich empathisch auf die Gefühle des Patienten einzulassen. Das emotionale Erleben von Patienten ist in der Rehabilitation eng verknüpft mit dem Setzen sinnvoller und lohnender Ziele, die wiederum in Beziehung zur persönlichen Identität der Patienten stehen. Eine zu langsame Annäherung an ein erstrebtes Ziel wird als frustrierend erlebt. Nicht zu wissen, welches die Ziele sind, oder wie der Zeitplan aussieht, wird als belastend und verwirrend erlebt. Die Aussicht, ein persönlich wichtiges Ziel nie
8
110
Kapitel 8 · Interdisziplinäre Teamarbeit und Zielsetzung in der Rehabilitation
erreichen zu können, löst Angst aus. Sich bewusst zu werden, dass ein angestrebtes Ziel unerreichbar sein wird, ist mit Trauer oder Depression verbunden (Carver u. Scheier 1990, McGrath u. Adams 1999). Der Zielsetzungsprozess kann dazu dienen, diese Gefühle zu lindern und zu beruhigen. Dazu helfen klare Informationen über erreichbare Ziele und Zeitplan. Diskrepanzen zwischen 4 den Bedürfnissen und Erwartungen des Patienten und 4 dem, was realistisch erreicht werden kann,
8
müssen offengelegt werden. Sich mit der daraus entstehenden Enttäuschung und Depression zu befassen, sollte dann wiederum zu einem Rehabilitationsziel werden (. Übersicht 8.1). Die Zielsetzung sollte folgende Aspekte erfassen: 4 Verhaltensänderungen, 4 Fähigkeiten, 4 Veränderungen der sozialen und physischen Umgebung und 4 Veränderungen im emotionalen Erleben. . Übersicht 8.1. Ziele der Rehabilitation 1.
2.
Befähigung des Patienten, Aktivitäten aufzunehmen, die mit sinnvollen und lohnenden Zielen verbunden sind, und dadurch die emotionale Belastung vermindern Unterstützung des Patienten, ein neues Gefühl seiner Identität zu entwickeln, die in einer Kontinuität mit der Vergangenheit steht, jedoch nicht in der Vergangenheit hängen bleibt
Aufbau eines Behandlungsteams jTeamleitung (Zentralinstanz) Der dargestellte Zielsetzungsprozess ist komplex und erfordert eine effiziente Koordination und kontinuierliche Supervision, um erfolgreich zu sein. Genau wie bei unseren persönlichen kognitiven Aktivitäten ist eine zentrale Exekutive notwendig. (Shallice u. Burgess 1991). Jede Teamsitzung sollte einen Teamleiter haben. Dieser Teamleiter sollte ein berufserfahrener, schon länger im Team tätiger Mitarbeiter sein, egal aus welchem Fachbereich. Jedes Rehabilitationsteam dürfte genügend solcher Mitarbeiter haben, die in der Lage sind, das Rehabilitationsprogramm eines Patienten zu koordinieren. Die Aufgabe des Leiters darf relativ zurückhaltend sein; sie kann auch darin bestehen, andere, weniger erfahrene Mitarbeiter zu unterstützen, die Zielsetzungsteams zu leiten. Es ist nicht immer notwendig, selbst aktiv den Prozess zu steuern. ! Cave Die Lenkung durch eine Zentralexekutive ist notwendig, um ein dysexekutives Syndrom im Team zu vermeiden. Dieses ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die therapeutischen Aktivitäten von den Zielen entfernen (McGrath u. Davis 1992).
jDemokratische Teamarbeit Das Team sollte Repräsentanten aller Berufsgruppen enthalten, die mit dem Patienten arbeiten, und alle Beiträge sollten als gleichermaßen wertvoll angesehen werden. Trotz der Notwendigkeit einer Leitung, sollten alle Entscheidungen ausgehandelt werden und die Zustimmung der Mehrheit finden. ! Cave Im Konfliktfall sollte den Wünschen des Patienten das größte Gewicht zugemessen werden!1 jUnverzichtbares Training Neue Mitarbeiter müssen in den Zielsetzungsprozess eingeführt werden und benötigen regelmäßige Auffrischungskurse (Elsworth et al. 1999). Sobald die Mitarbeiter mit der Zielplanung vertraut sind, sollten sie ermutigt werden, sich an der Weiterbildung anderer Mitarbeiter zu beteiligen. Das Team benötigt kontinuierliche Rückmeldungen der Mitglieder zu positiven und negativen Erfahrungen, mit der Zielsetzung, den Erfolg der gemeinsamen Arbeit einzuschätzen. Des Weiteren benötigen neue Mitarbeiter eine Orientierung sowohl zum praktischen Ablauf als auch hinsichtlich der Philosophie, die der patientenzentrierten Zielsetzung zugrunde liegt. Sie verstehen meist rascher die Praxis als die Philosophie, die jedoch weitaus wichtiger ist (für eine detaillierte Beschreibung des Rivermead-Prozesses, einschließlich Dokumentation, siehe Wade 1999). Wenn man die Philosophie richtig verstanden hat, entwickelt sich die Praxis ganz von selbst. Mitarbeiter, die die Philosophie verstehen, sind frei, »im Geiste des Gesetzes« zu handeln, anstelle sich sklavisch an »das Gesetz« zu halten, vor allem dort, wo Flexibilität gefordert ist. Praxistipp Zweifelt man an einer Entscheidung, sollte man sich eine einfache Frage stellen: »Ist die Entscheidung im Interesse des Patienten?«
Erfahrene Mitarbeiter benötigen ein spezielles Training für die anspruchsvolleren Aufgaben des Zielsetzungsprozesses. Dazu gehören: 4 Leitung der Teamsitzungen, wenn emotional belastete oder aggressive Familienmitglieder anwesend sind, 4 Umgang mit sehr komplexen Fällen, 4 Supervision neuer Teammitglieder und 4 Unterstützung von Patienten und Angehörigen, damit fertig zu werden, dass nur geringe Fortschritte in der Rehabilitation eintreten und daher nur bescheidene Ziele zu vereinbaren sind.
1
(Anm. d. Hrsg.: Auch ein Team kann irren. Der verantwortliche Arzt behält deshalb, auch aus rechtlichen Gründen, ein Vetorecht. Er sollte dennoch keineswegs automatisch die Teamleitung übernehmen.)
111 8.2 · Praktische Durchführung der Zielsetzung
Praktische Durchführung der Zielsetzung
8.2
Der Zielsetzungsprozess beinhaltet mehrere Stufen, die in . Übersicht 8.2 dargestellt sind.
. Tab. 8.1. Beispiel für unterschiedliche Einschätzungen von Patient und Behandlerteam Aussage des Patienten
Aussage des Behandlerteams
Funktionen
. Übersicht 8.2. Stufen des Zielsetzungsprozesses 1.
2. 3. 4.
Erfassung der Lebensbereiche und Aktivitäten, die dem Patienten am wichtigsten sind (Anm. d. Hrsg.: Partizipation im ICF-Modell) Festlegung der Therapieziele Überprüfung, ob die Therapieziele erreicht wurden Anpassung der Therapieziele und Setzung neuer Ziele
jErfassung der Lebensbereiche und Aktivitäten, die dem Patienten am wichtigsten sind Zum Konzept der Zielsetzung in Rivermead gehört der Life Goal Questionnaire (Davis et al. 1992, Wade 1999). Dieser Fragebogen wird dem Patienten innerhalb der 1. Woche nach Aufnahme vorgelegt und mit ihm durchgesprochen. In einem kurzen strukturierten Interview wird der Patient bzgl. einer Reihe von Lebensbereichen gefragt, welche Bedeutung diese für ihn haben, z.B. 4 Partnerschaft, 4 Familie, 4 selbständiges Wohnen und 4 Arbeit. Die Schlüsselfrage lautet: »Was macht für Sie das Leben lebenswert – oder hat es lebenswert gemacht?« Aus unserer Sicht ist der Patient, auch wenn er sonst noch kognitiv eingeschränkt ist, Experte darin, diese Fragen zu beantworten. Ein ähnlicher Fragebogen wird auch dem/den engsten Angehörigen vorgelegt. jFestlegung der Therapieziele Im ersten Zielplanungstreffen werden die Bereiche definiert, in denen der Patient Stärken oder Schwächen aufweist. Anhand des ICF-Modells werden Funktionen, Aktivitäten und Teilhabe in einer Tabelle festgehalten. Dabei werden Sichtweise des Patienten und die der Teammitglieder nebeneinander aufgelistet. Diese Einschätzungen stimmen oft überein, manchmal aber auch nicht (. Tab. 8.1). Basierend auf den Angaben des Patienten im Life Goal Questionnaire werden dann die Rehabilitationsziele festgelegt und notiert. Das professionelle Team liefert das Expertenwissen hinsichtlich der Einschränkungen der Funktionsfähigkeit, der aktuellen sozialen Situation und der Prognose. Die Sichtweise der Familie sollte ebenfalls miteinbezogen und schriftlich dokumentiert werden. Die Auswahl der Rehabilitationsziele ist also ein kooperativer Prozess, in dem Informationen aus verschiedenen Quellen zusammenfließen, um Ziele auszuhandeln, die sowohl realistisch als auch persönlich sinnvoll sind.
Sprache verwaschen
Dysarthrie
Kein Problem mit Beweglichkeit der Arme und Beine
Hemiparese links und Anosognosie
jPartizipative Zielsetzung Wenn an der Wiederherstellung von Funktionen gearbeitet wird, sollte man immer wieder die Frage »Warum?« stellen. Die Antwort sollte auf Ebene der Teilhabe (ICF-Modell) gegeben werden. Beispiel Ein Patient möchte gerne wieder gehen können. Warum? Weil er seinen Arbeitsplatz erreichen möchte, weil er attraktiv auf mögliche weibliche Partner wirken möchte, oder weil er mit seinem Sohn zu Hause Fußballspielen möchte? Der Erwerb von Funktionen ermöglicht es ihm, bestimmte Rollen oder Positionen in der Gesellschaft einzunehmen.
> Setzt man Rehabilitationsziele bzgl. der Teilhabe an sozialen Lebensbereichen, hat dies eine Reihe von Vorteilen. Man erkennt ausdrücklich die Bedeutung an, die eine Funktion oder eine Fähigkeit für einen Patienten hat. Damit bestärkt man das Selbstgefühl des Patienten.
Wenn von einem Patienten verlangt wird, schwierige, schmerzhafte oder für ihn überhaupt nicht einsichtige therapeutische Aufgaben auszuführen, z.B. Maßnahmen nach dem Bobath-Konzept, kann man eine Verbindung zwischen den aktuellen therapeutischen Aktivitäten und seinen Zukunftshoffnungen herstellen. Das gibt Ermutigung und Ansporn. Damit rücken Aktivitäten oder Veränderungen der Umgebung in den Blickpunkt der Rehabilitation, an die man sonst nicht gedacht hätte, die jedoch wichtig sind, um erwünschte Rollen wieder aufzunehmen (z.B. mit dem Sohn zum Fußballplatz fahren). Damit helfen Therapeuten, die in der Rehabilitation erworbenen Fähigkeiten in den Alltag zu übertragen. Wenn jedoch eine Fähigkeit nicht wiederhergestellt werden kann, sollte man über alternative Möglichkeiten nachdenken, um die angestrebten Rollen zu erreichen (z.B. Fertigkeiten im Umgang mit dem Computer) (ausführliche Diskussion zu diesen Aspekten s. McGrath u. Adams 1999). Das Erarbeiten von Rehabilitationszielen auf Ebene der sozialen Teilhabe erfordert die Kooperation innerhalb des professionellen Teams – eine interdisziplinäre Teamarbeit: Während »Gehen« hauptsächlich das Arbeitsfeld der Physiotherapie ist, betrifft »Ich möchte ein Vater sein, der mit seinem Sohn spielen kann« das gesamte Team.
8
112
Kapitel 8 · Interdisziplinäre Teamarbeit und Zielsetzung in der Rehabilitation
Es gibt in der Neurorehabilitation keinen Platz für den »Einzelkämpfer«. Es ist dennoch wichtig, festzulegen, welches Teammitglied an welchem Zielaspekt arbeitet. > Ziele beziehen sich auf später angestrebte Zustände, nicht auf Maßnahmen (McMillan u. Sparkes 1999). Beispiel »Herr X wird sich in der nächsten Woche 5-mal selbständig anziehen« ist ein Ziel, wogegen »Herr X soll am Anziehtraining teilnehmen« kein Ziel ist, sondern eine geplante Maßnahme. Die erste Aussage stellt den Patienten in den Mittelpunkt, die zweite das Handeln des Therapeuten. Ein weiteres Beispiel für ein angemessenes Ziel ist: »Herr X wird in 2 Wochen mit einem Stock allein von seinem Zimmer zum Frühstücksraum gehen.«
8
jSMART-Regel Bei der Zielsetzung sollte man generell der SMART-Regel folgen. > SMART steht für: 4 Specific: spezifisch, genau 4 Measurable: messbar, überprüfbar 4 Achieveable: erreichbar, realistisch 4 Relevant: relevant, für den Patienten bedeutsam 4 Timed: zeitlich geplant
Die SMART-Kriterien sollte man dennoch nicht zu eng fassen, um die Zielfindung nicht in den Bereichen zu behindern, in denen Ziele sich nicht leicht messen oder nicht in einen Zeitplan bringen lassen. Dies sind z.B. Ziele, die sich auf Beziehungen oder psychologische Vorgänge wie Emotionen beziehen. Die Verbesserung einer Beziehung kann nicht präzise 3 Wochen vorher festgelegt werden, so wie man z.B. vereinbaren kann, dass jemand sich ohne Hilfe duschen soll. Es sei nochmals betont, dass diejenigen Ziele, die sich auf Beziehungen und Psyche einer Person beziehen, genau so viel Bedeutung haben wie diejenigen Ziele, die sich auf körperliche Unabhängigkeit beziehen. Man sollte einen gewissen Grad von Unschärfe akzeptieren, wo Ziele in diesen »weichen« Bereichen geplant werden. Dennoch sollte man auch bei diesen Zielen alles daran setzen, sie so zu formulieren, dass sie gemessen werden können, z.B. könnte es für ein Paar das Ziel sein, ein Wochenende allein miteinander zu verbringen, ohne ernsthaft in Streit zu geraten. jÜberprüfung: Erreichen der Therapieziele Nach etwa 4 Wochen findet eine 2. Teamsitzung mit Patient und Angehörigen statt. Zunächst werden die bisherigen Therapieziele rekapituliert, um zu bestimmen, welche Ziele erreicht wurden, welche nicht erreicht wurden und welche sogar übererfüllt wurden. kMessung der Ziele Zur Messung von Zielen kann man in der Rehabilitation die Methodik des Goal Attainment Scaling (Zielerreichungs-
skalen) verwenden, obwohl die Anwendbarkeit in der Neurorehabilitation von Malec (1999) infrage gestellt wurde. Ein qualitativer Ansatz kann nützlich sein, um zu klären, aus welchen Gründen die Erreichung von Zielen gescheitert ist. Gründe für das Nicht-Erreichen von gesetzten Zielen können sein: 4 Das Potenzial eines Patienten wird vom Team über- oder unterschätzt. 4 Es mangelt an den notwendigen Ressourcen, z.B. Hilfsmittel, Wohnsituation. 4 Die therapeutische Praxis ist schlecht. 4 Es treten unvorhersehbare medizinische Komplikationen auf, z.B. Epilepsie, Infektionen. 4 Es gibt Veränderungen im sozialen Kontext, z.B. Scheitern einer Ehe, Arbeitslosigkeit. Es muss immer wieder geprüft werden, ob die Ziele für die aktuellen Belange des Patienten eine Bedeutung haben. Es ist möglich, dass ein Team sehr gut darin ist, Informationen vom Patienten zu sammeln, sich jedoch dann bei der Zielauswahl zu sehr darauf fokussiert und letztendlich aktuelle Belange und Ziele nicht miteinander in Einklang bringt. Eine solche Selbstüberprüfung des Behandlereteams liefert wertvolle Informationen. Sie befähigt gute Teams, in diesem anspruchsvollen und komplexen, jedoch außerordentlich wertvollen und lohnenden Zielsetzungsprozess noch besser zu werden. jAnpassung der Therapieziele Im nächsten Schritt werden in der Teamsitzung die bisher bearbeiteten Therapieziele je nach Therapieerfolg angepasst, und meist werden neue Ziele formuliert. Dieser 4-wöchentliche Rhythmus von Treffen, in denen das Erreichen der Therapieziele kontrolliert wird und neue Ziele formuliert werden, wird bis zur Entlassung des Patienten beibehalten1.
8.3
Qualitätskontrolle des Zielsetzungsprozesses
Der Zielsetzungsprozess, der an einer bestimmten Rehabilitationseinrichtung angewendet wird, sollte von Zeit zu Zeit einer Qualitätskontrolle unterzogen werden (. Übersicht 8.6). Die Fragen gelten gleichermaßen für den stationären wie für den ambulanten oder teilstationären Bereich. Es gibt keinen Grund, Prinzipien und Praxis der Zielplanung ausschließlich bei stationären Patienten einzusetzen. Patienten in ambulanter oder tagesklinischer Behandlung können davon ebenso profitieren.
2
Anm. d. Hrsg.: Die im deutschen Fallpauschalensystem für die Frührehabilitaton geforderten wöchentlichen Teamsitzungen können die hier beschriebenen Teamsitzungen mit Angehörigen und ggf. Patienten nicht ersetzen. In wöchentlicher Frequenz ist das weder personell leistbar noch sinnvoll.
113 8.4 · Literatur
. Übersicht 8.6. Fragen zur Qualitätskontrolle 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
8.4
Ist der Patient zufrieden mit der Arbeit seines Betreuungsteams? Sind die Angehörigen zufrieden? Sind die Teammitglieder zufrieden mit der Zusammenarbeit und den Ergebnissen der Arbeit? Entspricht die Arbeit den Qualitätsstandards, sind die Abläufe gut geregelt? Wie gut sind die Beziehungen zwischen den Berufsgruppen und die Kommunikation untereinander? Werden die Rehabilitationsziele inhaltlich gut definiert? Sind die Ziele klar und verständlich formuliert (SMART-Regel)? Sind die Rehabilitationsziele angemessen, zu leicht oder zu schwer? Wird dies regelmäßig überprüft?
Literatur
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jIn der deutschsprachigen Literatur finden sich Übersichten zu dem Thema bei: Frommelt P, Grötzbach H. Zielsetzung in der Schlaganfallrehabilitation. In: Dettmers C, Bülau P, Weiller C (Hrsg). Schlaganfallrehabilitation. Bad Honnef: Hippocampus; 2007; 121-133. Frommelt P, Grötzbach H. Einführung der ICF in die Neurorehabilitation. Neurol Rehabil 2005;11:171-178. Frommelt P, Grötzbach H, Ueberle M. NILS – Ein Instrument zur sozialmedizinischen Beurteilung auf der Basis der ICF in der Neurorehabilitation. Neurol Rehabil 2005;11:212-217. Bühler S, Grötzbach H, Frommelt P. ICF-basierte Zieldefinition in der Neurorehabilitation. Neurol Rehabil 2005;11:204-211.
8
9
Prinzipien der neuropsychologischen Rehabilitation S. Koskinen Sanna, J. Sarajuuri (Übersetzung: H. Lösslein) 9.1
Neuropsychologische Rehabilitation
9.2
Moderne Ansätze in der neuro psychologischen Rehabilitation – 116
9.2.1 Ganzheitlicher Ansatz
– 117
9.3
Bausteine ganzheitlicher Programme
9.4
Rehabilitation Schwerbetroffener
9.5
Zusammenfassung
9.6
Literatur
– 122
– 116
– 121
– 117
– 120
116
Kapitel 9 · Prinzipien der neuropsychologischen Rehabilitation
Hirnverletzte Patienten weisen häufig Einschränkungen in Kognition, Emotion und Verhalten auf. Sie haben Schwierigkeiten, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen und wieder ins Arbeitsleben zurückzukehren. Dabei ist zu beachten, dass es stets eine Interaktion gibt, zwischen 4 den persönlichen und kognitiven Eigenheiten, 4 der Lebensgeschichte einer Person vor dem Unfall und 4 den neuropsychologischen Veränderungen durch die Hirnschädigung. Nicht nur die Art der Hirnschädigung spielt eine Rolle, sondern auch welcher Teil des Gehirns betroffen ist. Die verschiedenen Ursachen einer Hirnschädigung führen zu unterschiedlichen Syndromen. Der Kliniker sollte diese kennen, um das neuropsychologische Assessment und die geeigneten Interventionen zu planen.
9.1
9
Neuropsychologische Rehabilitation
Neurowissenschaftlich beruht die Erholung von einer Hirnschädigung auf der neuronalen Plastizität. Definition Neuroplastizität bedeutet, dass Gehirnzellen nicht nur regenerieren, sondern auch ihre Funktionen anpassen können, um die Aufgaben zu übernehmen, die zuvor vom geschädigten Gewebe ausgeübt wurden (Stein 1995, 2000) (7 Kap. 5).
Eine Aufgabe der Rehabilitation besteht darin, die neuronale Wiederherstellung anzuregen. Wir müssen uns mit der Tatsache abfinden, dass in vielen Fällen die Erholung nach einer Hirnverletzung nicht vollständig ist. Für Patienten und Angehörige kann dies einen langen und leidvollen Weg bedeuten, bei dem sie lernen, mit den Folgen der Verletzung umzugehen. Die neuropsychologische Rehabilitation kann dabei eine entscheidende Unterstützung bieten. Sie basiert 4 einerseits auf den neurobiologischen Modellen der Hirnfunktion und deren Erholung, 4 andererseits auf der Kenntnis der Lebensgeschichte der Patienten. Die neuropsychologische Rehabilitation sollte immer auf einer sorgfältigen und umfassenden Untersuchung beruhen, in der sowohl die gesamte Symptomatik als auch Art und Ausmaß der Defizite begutachtet werden. Die Vorgeschichte des Patienten ist von essenzieller Bedeutung, um die Individualität des Patienten zu verstehen und einen glatten und ununterbrochenen Rehabilitationsverlauf zu gewährleisten. Ohne Kenntnis der Person des Patienten ist keine langfristige Zielsetzung möglich, und es kann nicht die geeignete Rehabilitationsstrategie gewählt werden. Hirnschädigungen unterscheiden sich hinsichtlich der Ätiologie und der Mechanismen, wie sie das Gewebe schädigen. Somit werden unterschiedliche Rehabilitationsformen
für unterschiedliche Patientengruppen und unterschiedliche Rehabilitationsphasen notwendig, um optimale Ergebnisse zu erreichen. Die Rehabilitationsstrategien müssen den kognitiven und persönlichen Ressourcen des Patienten angepasst werden. Daneben sollte sich der Therapeut in das Erleben des Patienten einfühlen, um zu spüren, was er nach einer Hirnschädigung erlebt. > Der Prozess der neuropsychologischen Rehabilitation beginnt mit dem Verständnis der subjektiven Erfahrungen des Patienten nach einer Hirnverletzung. Darüber können Frustration und Verwirrung des Patienten vermindert und der Weg durch die Rehabilitation gebahnt werden. Eine erfolgreiche neuropsychologische Rehabilitation baut auf dem Verständnis der Symptome auf und bietet Hilfe für den Patienten und seine Familie, mit den Einschränkungen umzugehen (Prigatano 1999, 2000, 2004).
Im Laufe der neuropsychologischen Rehabilitation verbessern sich 4 die kognitiven Einschränkungen, 4 das emotionale Befinden in der akuten und der chronischen Phase sowie 4 das psychosoziale Outcome (Carney et al. 1999, 2000, 2005). Praxistipp Die neuropsychologische Rehabilitation sollte dann beginnen, wenn die Einschränkungen erheblich die Aktivitäten des täglichen Lebens oder Teilhabe am Arbeits- und gesellschaftlichen Leben beeinträchtigen. Sie sollte so lange fortgesetzt werden, bis emotionaler und psychosozialer Status des Patienten gefestigt sind. Dieser Zeitpunkt ist vom Neuropsychologen, gemeinsam mit den Ärzten und dem Behandlungsteam, festzulegen.
9.2
Moderne Ansätze in der neuropsychologischen Rehabilitation
Neuropsychologische Rehabilitation kann als ein zielorientierter Prozess verstanden werden. Der Prozess ist abhängig 4 vom Erholungspotenzial des Patienten und einer geeigneten Umgebung (z.B. Frührehabilitation, postakute Rehabilitation, ambulante Rehabilitation, Versorgung zuhause oder in einem Pflegeheim), 4 von der Fähigkeit der Familie, die Sorge für die hirnverletzte Person zu übernehmen, 4 von den Erwartungen der Familie an das Ergebnis (Schmidt 1997) und 4 von den Einschränkungen durch die Sozialversicherung oder anderer Ressourcen. Schwerpunkte der neuropsychologischen Rehabilitation sind in . Übersicht 9.1 aufgeführt.
117 9.3 · Bausteine ganzheitlicher Programme
. Übersicht 9.1. Schwerpunkte der neuropsychologischen Rehabilitation 1. 2. 3.
Hilfe, um die Einschränkungen im Alltag zu kompensieren Unterstützung, um mit der veränderten Lebenssituation fertig zu werden Verbesserung der Funktionsfähigkeit und beruflichen Leistungsfähigkeit der Betroffenen
schen und umfassenden Rehabilitationsprogrammen für postakute Patienten von Yehuda Ben-Yishay (1985), George Prigatano (1986) und Anne-Lise Christensen (1992). Die Idee eines ganzheitlichen Ansatzes kann generell in der neuropsychologischen Rehabilitation angewendet und in unterschiedliche Settings implementiert werden, wobei die Phase der Wiederherstellung und die Schwere der Verletzung berücksichtigt werden müssen.
Bausteine ganzheitlicher Programme
9.3 jICF-Modell Die Neurorehabilitation sollte einen allgemein gültigen theoretischen und praktischen Hintergrund haben. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) bietet einen solchen Rahmen, um Funktions-
fähigkeit und Gesundheit zu beschreiben, und dient als eine universelle und standardisierte Sprache, die über verschiedene Berufsgruppen und Länder hinweg einheitlich verwendet wird (WHO 2001). In den letzten Jahren wurden einige ICF-CoreSets für neurologische Patienten sowohl in Akutkliniken als auch in frühen Postakuteinrichtungen erarbeitet (Ewert et al. 2005, Stier-Jarmer et al. 2005). Ferner wurde auch die Anwendbarkeit der ICF für Schädel-Hirn-Verletzte im postakuten Rehabilitationssetting untersucht (Koskinen et al. 1998). Angesichts der Interaktion von kognitiven, psychischen und Verhaltensaspekten nach einer Hirnverletzung wurde überzeugend dargelegt, dass diese Patienten eine umfassende neuropsychologische Rehabilitation benötigen. Diese sollte viele Facetten des hirnverletzten Individuums ansprechen und angemessene therapeutische Interventionen für die kognitiven, emotionalen und Beziehungsfähigkeiten anbieten und gleichzeitig helfen, das neue Selbst wahrzunehmen und zu verstehen.
9.2.1
Ganzheitlicher Ansatz
> In der Praxis der neuropsychologischen Rehabilitation müssen Patienten bei folgenden Herausforderungen unterstützt werden: 4 Lernen, die Natur ihrer neuropsychologischen Störungen zu verstehen, 4 Hilfe bei der Wiederherstellung gestörter kognitiver Fähigkeiten und verhaltensneurologischer Störungen, 4 Ausgleich der funktionellen Defizite, die durch die Hirnverletzung verursacht wurden, 4 Treffen von Entscheidungen, die die Lebensqualität der Patienten verbessern. Um diese Themenbereiche angemessen zu bearbeiten, sollte die neuropsychologische Rehabilitation ganzheitlich sein.
Der holistische Ansatz der neuropsychologischen Rehabilitation findet sich am klarsten in den wegweisenden systemati-
In . Übersicht 9.2 sind die wesentlichen Elemente ganzheitlicher neuropsychologischer Rehabilitationsprogramme aufgeführt. . Übersicht 9.2. Bausteine ganzheitlicher Rehabilitationsprogramme 1. 2. 3.
Schaffung eines therapeutischen Milieus Psychotherapie Kognitives Training in Einzel- und Gruppentherapie, unterstützt durch – Arbeitsversuche – Familienberatung – Therapeutische Unterstützung der Familien – Follow-up-Maßnahmen
jTherapeutisches Milieu Hirnverletzte Patienten sind oft verwirrt und frustriert. Um wirksam mit ihnen arbeiten zu können, muss man ihnen eine Umgebung anbieten, die hilft, ihre Verwirrung und Frustration zu mindern. Diese sollte beschützend, überschaubar und strukturiert sein, um ein Sicherheitsgefühl entwickeln zu können und Katastrophenreaktionen zu vermeiden. Das Rehabilitationsteam spielt die Hauptrolle bei der Frage, ob eine echte therapeutische Gemeinschaft entsteht oder nicht. Den Patienten sollte eine Umgebung geboten werden, in der sie offen sprechen können. Sie sollten darin unterstützt werden, sich mit den Therapeuten und miteinander über ihr Erleben auszutauschen, und zu lernen, mit ihren persönlichen Problemen zurechtzukommen. Ein therapeutisches Milieu zu etablieren, heißt eine therapeutische Allianz einzugehen. Therapeuten helfen in dieser Beziehung den Patienten, ihr persönliches Leid zu lindern, realistische Ziele zu erreichen, die ihre Anpassung an das Leben erleichtern. Sie unterstützten sie dabei, wieder einen Sinn in ihrem Leben zu finden. Ein therapeutisches Milieu bietet eine besonders gute Möglichkeit, Feedback zu erhalten und unterschiedliche Sichtweisen kennenzulernen, wie eine Hirnverletzung einen Menschen beeinträchtigt. In anderen Settings gelingt das weniger. In einem therapeutischen Milieu geht es darum, die sozialen Kompetenzen zu verbessern, um Autonomie und Arbeitsfähigkeit des Patienten zu erhalten. Viele klassische kognitive Defizite und Persönlichkeitsstörungen zeigen sich nur in Gruppensituationen, in der Interaktion mit anderen.
9
118
Kapitel 9 · Prinzipien der neuropsychologischen Rehabilitation
Näher betrachtet Historische Perspektiven
9
Kurt Goldstein darf in der Geschichte der holistischen neuropsychologischen Rehabilitation als der herausragende Pionier gelten. Er arbeitete während des 1. Weltkriegs mit hirnverletzten Soldaten und baute für sie in Deutschland eine rehabilitative Mustereinrichtung auf. Er stellte fest, dass Hirnverletzte eine Umgebung benötigen, die ihnen hilft, Katastrophenreaktionen zu vermeiden. Eine Katastrophenreaktion ist Ausdruck der Erfahrung der hirnverletzten Person mit dem Zusammenbruch der inneren oder äußeren Welt. Sie weist Merkmale schwerer Angst auf. Nach Goldsteins Ansicht ist es deshalb Aufgabe der Rehabilitation, dem hirnverletzten Individuum eine Umgebung zu schaffen, die die Gefahr von Katastrophenreaktionen vermindert. In einer derartigen Umgebung kann das Individuum erfolgreich an unterschiedlichen Therapien teilnehmen, die allmählich zu dem Ziel hinführen, einen neuen Sinn im Leben zu finden (Goldstein 1942, 1959). Yehuda Ben-Yishay hat sich viele von Goldsteins Ideen zu eigen gemacht und ein holistisches Rehabilitationsprogramm in einem therapeutischen Milieu entwickelt – das New York University Head Trauma Program – das es seit 1978 gibt. Schon zuvor hatte er Gelegenheit, den Gedanken der ganzheitlichen Rehabilitation bei israelischen Soldaten umzusetzen, die Anfang der 70er Jahre Kopfverletzungen erlitten hatten. In seinem ganzheitlichen Programm durchlaufen die Pa-
tienten intensive systematische therapeutische Interventionen. Das Programm ist dafür konzipiert, die Funktionsfähigkeit der Patienten wiederherzustellen, und sie zu lehren, mit intra- und interpersonellen Problemen zurechtzukommen. Die Interventionen sind auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten der hirnverletzten Patienten zugeschnitten (Ben-Yishay 1985, 2000, 2001). Das neuropsychologische Rehabilitationsprogramm, das Prigatano 1980 in Oklahoma und später, 1986, in Phoenix gründete, war durch die wachsende Rolle der Psychotherapie für Patienten und ihre Familienmitglieder geprägt. In Europa begann Anne-Lise Christensen (2000), die auch durch die Arbeit Lurias (1966) beeinflusst wurde, 1985 ein ganzheitliches Programm an der Universität Kopenhagen. Auf der Grundlage der bahnbrechenden Programme von Ben-Yishay, Prigatano und Christensen wurde in Europa eine Reihe ähnlicher Konzepte ins Leben gerufen. 2001 wurde aus Anlass des 10. Jahrestages des Intensiv-Reintegrationsprogramms für hirnverletzte Personen (IRP) an der Asklepios Klinik Schaufling die European Holistic Working Group gegründet, um Ideen auszutauschen, Ergebnisse zu vergleichen und neue Behandlungsansätze zu teilen. In Finnland begann 1993 am Käpylä Rehabilitationszentrum in Helsinki ein ganzheitliches Rehabilitationsprogramm. Bei INSURE (Individualized Neuropsycho-
jPsychotherapie Die Bedeutung der Psychotherapie im Prozess der neuropsychologischen Rehabilitation wurde erst allmählich klar und anerkannt (Borod 2000, Grawe 2007, Judd 1999, Prigatano 1991, Prigatano et al. 1994): 4 In der Akutphase nach Hirnverletzung überwiegen die physischen Bedürfnisse klar gegenüber den psychischen. 4 In einer späteren Phase, wenn die Patienten mit den Konsequenzen der Defizite zu ringen beginnen und darüber nachdenken, was ihre Hirnverletzung bedeutet und wie diese ihr gegenwärtiges und zukünftiges Leben beeinträchtigt, rückt das Potenzial der Psychotherapie in den Blickpunkt. Psychotherapie kann man auf verschiedene Weise definieren. Als Folge einer Hirnverletzung finden sich oft kognitive Probleme, für die eine traditionelle Psychotherapie in vielen Fällen wenig geeignet bzw. eingeschränkt wirksam ist, abhängig vom Verletzungsmuster (Moser 1999).
logical Subgroup Rehabilitation Program) handelt es sich um ein interdisziplinäres 6-Wochen-Rehabilitationsprogramm für ausgewählte Gruppen postakuter Schädel-Hirn-Verletzter. Kernpunkte des Programms sind neuropsychologische Rehabilitation und Psychotherapie (Kaipio et al. 2000). Unkontrollierte Studien und einige wenige kontrollierte Studien (Ben-Yishay et al. 1987, Christensen et al. 1992, Prigatano et al. 1994, Sarajurri et al. 2005) stützen die Effektivität eines systematischen ganzheitlichen neuropsychologisch orientierten Rehabilitationsprogramms. Zusammenfassende Übersichtsartikel von Cicerone et al. (2000, 2005) bilden die Basis evidenzbasierter Empfehlungen für die neuropsychologische Rehabilitation. Die Autoren haben den ganzheitlichen Ansatz als besonders erfolgversprechend und effektiv in der Rehabilitation postakuter Hirnverletzter herausgestellt. Ursprünglich wurden die ganzheitlichen Rehabilitationsprogramme für die Bedürfnisse von Patienten mit mittleren bis schweren Hirnverletzungen entwickelt. Bei INSURE haben wir herausgefunden, dass dieser Ansatz auch günstig ist, um Patienten mit leichten Hirnverletzungen zu psychosozialer Anpassung und Produktivität zu verhelfen. Heute kommen ganzheitliche Programme in vielen Rehabilitationszentren Patienten mit unterschiedlichen Ätiologien der Hirnschädigung zugute (Sarajuuri u. Koskinen 2006).
Definition Das Konzept der Neuropsychotherapie ist definiert als Anwendung neuropsychologischen Wissens in der Psychotherapie von Menschen mit Hirnfunktionsstörungen. Es ist schwerpunktmäßig verhaltenstherapeutisch ausgerichtet und beruht stark auf einem psychoedukativen Vorgehen gegenüber dem Patienten und seiner Familie (. Abb. 9.1).
Übergeordnetes Ziel der Psychotherapie ist es, dass die Patienten lernen, sich in ihrem eigenen besten Selbstinteresse zu verhalten (Prigatano et al. 1986, Prigatano 1991). Der Prozess beginnt mit der Herstellung einer therapeutischen Allianz zwischen Therapeut und Patient. In . Übersicht 9.3 sind die nach Prigatano wesentlichen Elemente einer Psychotherapie mit Hirnverletzten dargestellt.
119 9.3 · Bausteine ganzheitlicher Programme
müssen ihre eigenen Reaktionen gegenüber dem hirnverletzten Patienten verstehen. In dem Maße, in dem es ihnen gelingt, ihre Frustration und Gefühlsverwirrung abzubauen, können sie besser zur Rehabilitation beitragen (Prigatano 1999, 2004). Für Familienmitglieder ist es hilfreich, ihre Erfahrungen mit Mitgliedern anderer Patientenfamilien auszutauschen und zu lernen, wie andere mit Hirnverletzten umgehen.
. Abb. 9.1. Beziehungen zwischen Psychotherapie, Rehabilitation, kognitiver Rehabilitation und Neuropsychotherapie (Judd 1999)
. Übersicht 9.3. Elemente der Psychotherapie mit Hirnverletzten 1.
2.
3.
Zu Beginn sollte der Therapeut dem Patienten ein verständliches Erklärungsmodell darüber liefern, was passiert ist. Der Patient sollte neue Verhaltensweisen lernen, um seine soziale Kompetenz (Einsichtskomponente) zu verbessern. Psychotherapeut und Rehabilitationsteam sollten dem Patienten und seiner Familie Hoffnung vermitteln. Zugleich sollten sie realistisch bleiben und der Wahrheit ins Auge sehen.
kGruppenpsychotherapie Die Psychotherapie kann neben dem Einzelsetting auch im Gruppensetting erfolgen. Das Hauptziel der Gruppenpsychotherapie ist es, den Patienten zu helfen, ihr Gefühl sozialer Isolation aufzubrechen und ihre vorhandenen emotionalen und motivationalen Probleme zu erkennen. Weitere Ziele sind, den Patienten ein Verständnis zu vermitteln, wie ihre Hirnverletzung ihre zwischenmenschlichen Interaktionen beeinflusst und ihnen zu helfen, mit Konflikten in Gruppensituationen umzugehen. Je nachdem, was die Patienten erreichen, lassen sich Voraussagen treffen, was sie nach Entlassung aus der Rehabilitation leisten können (Prigatano et al. 1986). Zudem vermittelt die Gruppensituation auch Übereinstimmung, Unterstützung und Zusammengehörigkeitsgefühl. jBeteiligung der Familie und Familienberatung Aufgrund der lang anhaltenden und komplizierten kognitiven, emotionalen und Verhaltensstörungen sind viele Familienangehörige von Hirnverletzten überfordert und reagieren früher oder später sogar ärgerlich und feindselig gegenüber dem Patienten. Sie können nicht verstehen, warum sich die Patienten so benehmen und können auf deren Verhalten frustriert und irritiert reagieren. Ebenso wie die Patienten müssen die Familienmitglieder über die verschiedenen Folgen der Hirnverletzung aufgeklärt werden. Sie
jBeschützter Arbeitsversuch Die Rehabilitationsziele Produktivität und Berufstätigkeit hängen von vielen Faktoren ab, u.a. von der Schwere und den Folgen der Verletzung. Wenn man berufliche Ziele für einen Patienten für angemessen und praktikabel hält, erweisen sich individuell zugeschnittene und unterstützte Arbeitsversuche als hilfreich (Ben-Yishay et al. 1987, Wehman et al. 1995, 2003) (Kap. 30). Beschützte Arbeitsversuche sind wichtig, weil sie den Patienten erlauben, unmittelbar zu erleben, wie sich ihre Hirnverletzung auf ihre Arbeitsfähigkeit auswirken kann. Praxistipp Berufliche Beschäftigung kann jedoch nicht immer das Hauptziel nach einer Hirnverletzung sein. Der Begriff eines erfolgreichen Outcome sollte um die Fähigkeit erweitert werden, eine genügende Bandbreite unterschiedlicher Aktivitäten ausüben zu können. Arbeit darf die Zeit für Erholung nicht so weit einschränken, dass keine Energie mehr für Aktivitäten außerhalb der Arbeitsstunden bleibt.
jKognitive Rehabilitation Einschränkungen kognitiver Funktionen sind eine wesentliche Ursache der Behinderung nach Hirnverletzung. Kognitive Funktionen entstehen als Ergebnis der Zusammenarbeit mehrerer funktionaler Untersysteme, aufgelistet in . Übersicht 9.4. Kognitive Störungen kann man bei den in . Übersicht 9.5 aufgeführten Funktionen beobachten. Kognition und kognitive Defizite können nicht ohne die Konzepte von Emotion und Motivation betrachtet werden (Stuss et al. 1999, Prigatano 1999, 2004). . Übersicht 9.4. Untersysteme der kognitiven Funktionen 1. 2. 3. 4.
Unterscheidung von Informationen Auswahl relevanter Informationen Erwerb, Verständnis und Behalten von Informationen Ausdruck und Anwendung von Wissen in der passenden Situation
Traditionell wird die kognitive Rehabilitation als ein wichtiger Baustein der Rehabilitation hirnverletzter Patienten angesehen (Sohlberg u. Mateer 2001).
9
120
Kapitel 9 · Prinzipien der neuropsychologischen Rehabilitation
. Übersicht 9.5. Kognitive Funktionsstörungen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Aufmerksamkeit und Konzentration Wahrnehmung Lernen und Gedächtnis Exekutive Funktionen und Problemlösen Sprache und Kommunikation Praxie
Definition Kognitive Rehabilitation wird definiert als eine systematische und funktional ausgerichtete Leistung. Sie besteht aus therapeutischen Aktivitäten und beruht auf der Beurteilung und dem Verständnis der hirnorganisch bedingten Verhaltensdefizite des Patienten. Idealerweise sollten die Behandlungsmethoden experimentell erprobt und valide sein sowie auf aktuellen Theorien der Hirnfunktion beruhen.
9
jSpezifische Interventionen Die spezifischen Interventionen der kognitiven Rehabilitation verfolgen unterschiedliche Ansätze (. Übersicht 9.6). Eine umfassende Übersichtsarbeit über kognitive Rehabilitation (Cicerone et al. 2000, 2001) hat klar die Effektivität kognitiver Rehabilitation belegt. Ziel der kognitiven Rehabilitation ist die Funktionsfähigkeit der Menschen in ihrem Alltag, unabhängig von der Art der Intervention. . Übersicht 9.6. Interventionen der kognitiven Rehabilitation 1. 2. 3.
4.
5.
Wiederherstellung gestörter Funktionen über restitutives Training Verbesserung erhaltener, aber beeinträchtigter Funktionen Vermittlung von Kompensationsstrategien, um Beeinträchtigungen zu umgehen oder zu kompensieren, die sich nicht wiederherstellen lassen Einsatz externer Kompensationsmittel, z.B. Gedächtnishilfen, elektronischer Kalender, Handys, Kommunikatoren und Computer Stärkung der Selbstwahrnehmung, z.B. Bewusstsein und Verständnis für Ressourcen und Defizite entwickeln
kComputergestützte Interventionen In Übereinstimmung mit evidenzbasierten Empfehlungen können computergestützte Interventionen mit aktiver Therapeutenbeteiligung als Teil einer multimodalen Therapie kognitiver Störungen eingesetzt werden. Diese fördern die Einsicht in kognitive Stärken und Schwächen, helfen Kompensationsstrategien zu entwickeln und unterstützen den Transfer der Fähigkeiten in den Alltag (Cicerone et al. 2000, 2001). Die Neuropsychologie ist gefordert, neue Methoden
für Untersuchung und Therapie zu entwickeln und kritisch zu evaluieren. Um George Prigatano (2000) zu zitieren:
»
... neue Methoden für die Behebung gestörter höherer Hirnfunktionen sollten einer kontinuierlichen Weiterentwicklung unterliegen und sich gleichzeitig an den persönlichen Erfahrungen der Patienten orientieren und ihnen helfen, im Kontext zwischenmenschlicher Situationen Anpassungen an ihre neuropsychologischen Defizite zu treffen.
«
Aufgrund des Mangels an theoretisch und klinisch begründeter Software für kognitive Rehabilitation in finnischer Sprache haben die Autoren ein Projekt gestartet, das Werkzeuge für die computerbasierte kognitive Rehabilitation entwickelt. Die FORAMENRehab Kognitiv-Software ist ein Werkzeug kognitiver Rehabilitation, das als Teil eines ganzheitlichen neuropsychologischen Rehabilitationsansatzes genutzt wird. Die Software enthält Module, die für die Bereiche 4 Aufmerksamkeit, 4 Gedächtnis, 4 visuelle Wahrnehmung und 4 räumlich visuelle Funktionen entwickelt wurden. Das Modul für die Rehabilitation von Problemlösestrategien ist in Arbeit. Die klinischen Erfahrungen bzgl. der Anwendbarkeit von FORAMENRehab bei finnischen Hirnverletzten und Schlaganfallpatienten sind vielversprechend (Koskinen u. Sarajuuri 2002, www.intressi.com/foramen). Die Adaptierung unterschiedlicher Sprachversionen ist im Gange.
Rehabilitation Schwerbetroffener
9.4
Patienten mit schweren Hirnverletzungen leiden in der Akutphase unter kognitiven Defiziten, die durch Verwirrtheit und Desorientierung imponieren. Viele dieser Patienten zeigen auch affektive und Verhaltensstörungen entlang eines Kontinuums von agitiert/impulsiv bis zu depressiv/zurückgezogen. jRealitätsorientierung In der frühen Rehabilitationsphase können unterschiedliche Techniken zur Realitätsorientierung eingesetzt werden (McNeny u. Diese 1990, Thomas et al. 2003). Die Techniken zielen darauf ab, eine schlichte, voraussagbare und beruhigende Umgebung um den verwirrten Patienten zu schaffen. Ziele der Realtitätsorientierung sind in . Übersicht 9.7 aufgelistet. . Übersicht 9.7. Ziele der Realitätsorientierung 1. 2. 3.
Verbesserung des Bewusstseins für Zeit, Ort und Person Verbesserung der Angemessenheit der Reaktionen auf das Umfeld Verbesserung der Selbstwahrnehmung des Patienten
Ein Hauptelement der Behandlung ist die intensive Zusammenarbeit aller Beteiligten, die mit dem Patienten zu tun ha-
121 9.5 · Zusammenfassung
ben, d.h. dem gesamten Rehabilitationsteam und den Angehörigen des Patienten, um die Stetigkeit der Behandlung zu sichern. In einer gemeinsamen Arbeit wird dem Patienten ein Pfad aus der Desorientierung aufgezeigt. kKlassische Konditionierung Sehr schwere Verletzungen sind oft verbunden mit 4 schweren Verhaltensstörungen, 4 vermehrter Impulsivität, 4 Unbekümmertheit um soziale Regeln, 4 Enthemmung, 4 verminderter Einsicht und 4 gestörter Beobachtung des eigenen Verhaltens (Sohlberg u. Mateer 2001, Stuss u. Benson 1986). Diese Probleme entspringen gewöhnlich dem Kontrollverlust emotionaler Verhaltens- und Denkaspekte, häufig aufgrund einer Schädigung der Frontallappen. > Rehabilitation ist im Wesentlichen ein Prozess, der Menschen hilft, ihr Verhalten durch Erlernen neuer Fähigkeiten und Strategien zu ändern, um ihre soziale Behinderung infolge verlorener bzw. geschädigter Fähigkeiten zu vermindern.
Angewandt werden vor allem verhaltenstherapeutische Techniken wie die klassische Konditionierung. Diese Technik zielt auf Verhaltensänderung und Erwerb von Wissen durch Erfahrung ab. Konditionierende Methoden sind: 4 Stimuluskontrolle, 4 Reiz-Reaktions-Lernen und 4 kognitive Verhaltensmodifikation. Wenn solche Methoden in der Rehabilitation Hirnverletzter angewandt werden, um die Entwicklung sozialer und funktioneller Fähigkeiten zu fördern, müssen Therapeuten verstehen, wie Lernprozesse funktionieren und deren Einsatz in einem Rehabilitationssetting beherrschen (Wood 1990). kTransfer in den Alltag > Ein wichtiger Baustein des kognitiven Trainings ist das Training des Transfers in den Alltag, eng verbunden mit dem Training der sozialen Kompetenz.
Dazu gehören Heimübungsprogramme, die eine Generalisierung von Verhaltensänderungen fördern. Selbstkontrollfähigkeiten werden in unterschiedlichen Problemsituationen, z.B. in Schule, Freizeit und Familie geübt. Neben Verhaltensauffälligkeiten können diese Techniken auch für Patienten mit schweren Problemen bei Gedächtnis- und exekutiven Funktionen wirksam sein.
9.5
Zusammenfassung
jGanzheitliche Rehabilitationsprogramme Leitlinien und zusammenfassende Übersichtsarbeiten über die Rehabilitation hirnverletzter Patienten stellen einen Be-
darf an kontrollierten Studien über die Effektivität rehabilitativer Maßnahmen fest. Eine Forschung auf diesem Gebiet ist jedoch schwierig durchzuführen; nur selten gelingt es, im Rahmen klinischer Rehabilitation eine angemessene Stichprobengröße, passende Vergleichsgruppen und eine zufällige Aufteilung der Patienten in Rehabilitations- und Kontrollbedingungen zu erreichen. Da hirnnverletzte Patienten i.d.R. mehrere kognitive Einschränkungen haben, sollte die Ergebnisevaluation einen wichtigen Stellenwert haben und sich auf integrative Therapien richten, die die Wechselwirkung kognitiver, funktionaler und sozialer Behinderungen betonen und das Ziel verfolgen, Behinderung zu erleichtern. Den besten Zugang zu diesem Problem bieten ganzheitliche Rehabilitationsprogramme. Die bestehende Evidenz legt nahe, dass Personen, die integrierte kognitive und interpersonelle Therapien bekommen, die insgesamt größten Verbesserungen der Funktionsfähigkeit erreichen (Chsenut et al. 1999, Cicerone et al. 2000, 2005; Consensus conference 1999). jLebensqualität Ben Yishay und Daniels-Zide (2000) haben herausgestellt, dass die konventionelle Betrachtung der Rehabilitationsergebnisse in Begriffen wie 4 Rückkehr zu konkurrrenzfähiger Arbeit oder 4 Fähigkeit, arbeitsähnliche Aufgaben auszuführen, ungeeignet sind, um ein vollständiges Bild zu liefern. Sie zeigten, dass Patienten, denen es gelang, wieder eine reflektierende Selbstwahrnehmung zu entwickeln, d.h., ihre Ich-Identität wiederzufinden, eine bessere funktionelle und subjektive Anpassung an ihre Behinderung erreichten als Patienten, denen das nicht gelang. Indem wir beobachten, wie hirnverletzte Personen ihre innere Welt sehen, können wir sinnvolle Wege entwickeln, um zu messen, wie weit ein Patient sein Rehabilitationspotenzial ausschöpfen konnte. Darüber hinaus haben die Autoren festgestellt, dass wir ernsthaft beginnen sollten, darüber nachzudenken, Lebensqualitätsziele (QoL) wie auch valide Messwerkzeuge für das Erreichen der Ziele in der neuropsychologische Rehabilitation zu entwickeln. Näher betrachtet Studie: Neue Messinstrumente für QoL In diesem Zusammenhang sollte eine 2003 begonnene Multizenterstudie zur Kenntnis genommen werden, koordiniert von Professor Jean-Luc Truelle (von Seinbuechel et al. 2005), mit dem Ziel, neue Messinstrumente für QoL nach SchädelHirn-Trauma zu entwickeln. Die QOLIBRI-Studie wird von einem internationalen Konsortium von Fachgesellschaften (Euroacademia Multidisciplinaria Neurotraumatologica, European Brain Injury Society, National Brain Injury Research Training and Treatment Foundation und European Brain and Behaviour Society) durchgeführt.
Nach Evans und Ruff (1992) genügt es nicht mehr, das Rehabilitationsergebnis anhand der Verbesserung von
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Kapitel 9 · Prinzipien der neuropsychologischen Rehabilitation
4 Bewegungsausmaß, 4 Mobilität, 4 Gedächtnis usw. als einzige oder wichtigste Parameter für die Effektivität der Rehabilition zu messen. Stattdessen müssen Rehabilitationsund Gesundheitsdienste ganz allgemein den Einfluss ihrer Bemühungen für alle Akteure (Patienten, Familien und Kostenträger) messen. Die Untersuchung des langfristigen psychosozialen Outcome hat sich hauptsächlich auf die Sicht der Familie oder Pflegekräfte konzentriert, die gewöhnlich berichten, dass die Persönlichkeitsveränderung der hirnverletzten Person ihr größter Kummer ist (Brooks et al. 1987, Koskinen 1998). Weniger ist jedoch über das Rehabilitationsergebnis aus der subjektiven Sicht der hirnverletzten Personen bekannt. Ausnahmen sind Daten von Beurteilungsskalen, die den emotionalen Status des Patienten einschätzen, und das Ausmaß, in dem neuropsychologische Symptome überdauern (van Zomeren u. van den Burg 1985).
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jErweiterte Rehabilitation Gemeindezentrierte nicht-medizinische Dienste wie 4 Beratungsdienste, 4 Casemanagement, 4 persönliche Pflegeassistenten, 4 beschütztes Wohnen, 4 betreutes Wohnen, 4 Tagespflegedienste, 4 Unterstützung durch Peers und 4 betreute Arbeit sollten Komponenten der erweiterten Pflege und Rehabilitation sein. Hirnverletzte Menschen sollten während des gesamten Heilungsverlaufs Zugang zu Rehabilitationsdiensten haben, und das kann für viele Jahre nach dem Trauma der Fall sein. Vielfach überdauern die Folgen der Hirnverletzung in ursprünglicher oder veränderter Form die gesamte Lebensspanne, wobei neue Probleme häufig als Ergebnis neuer Anforderungen und im Alterungsprozess auftauchen. 9.6
Literatur
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Erstes und zweites Leben – Ein narrativer Dialog Harry X., H. Lösslein
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Kapitel 10 · Erstes und zweites Leben – Ein narrativer Dialog
Die Rehabilitation ist eine Episode zwischen dem ersten und dem zweiten Leben eines Patienten. Biographiearbeit (7 Kap. 7) erlaubt ein tieferes Verständnis für die Lebenssituation des Patienten. Sie ist bedeutsam für die Zielsetzung und die angewandten Strategien. Das Einlassen auf die Biographie des Patienten erfordert Interesse und manchmal etwas Geduld.
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jVorgeschichte Wir beide, Harry und ich, haben die neurologische Rehabilitation lange hinter uns gelassen. Vor 9 Jahren war Harry mein Patient, und ich selbst habe meinen Beruf vor 2 Jahren an den Nagel gehängt. Harry hält seither den Kontakt zur Klinik durch einen E-Mail-Briefwechsel. Wir duzen uns nicht; Harry hat mir jedoch gestattet, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen. Harry kann sich nicht so deutlich artikulieren, dass man ihn auf Anhieb verstehen könnte, und er ist durch eine schwere Ataxie in seiner Beweglichkeit sehr eingeschränkt. Daher führt er Gespräche gern in schriftlicher Form. Zunächst war Harry für mich vor allem »ein interessanter Fall«, und ich war beeindruckt, wie phantasievoll und energisch er sein zweites Leben anging. Ich fragte ihn, ob er bereit sei, für dieses Buch mit mir über seine Geschichte und die Rehabilitation zu sprechen. Er stimmte zu. Ich wollte mehr über Harry und seine Erfahrungen mit uns hören, aber natürlich möchten wir beim Schreiben auch den Leser miteinbeziehen, der uns nicht kennt. Deshalb finden sich Passagen im Dialog, die sich direkt an den Leser richten. Die Texte sind gekürzt und etwas geordnet, i.Ü. jedoch so übernommen, wie sie im E-Mail-Briefkasten erschienen. jE-Mail-Briefwechsel kAnfrage Sehr geehrter Herr X., ... wenn Sie möchten, würde ich gerne gemeinsam mit Ihnen ein Kapitel zu einem Buch über Neurorehabilitation beisteuern. Sie sind mir sehr lebhaft im Gedächtnis geblieben, und ich habe gehört, dass Sie nun wieder mitten im Leben stehen. Haben Sie Lust, per E-Mail ein paar Fragen zu beantworten? Lö Hallo Dr. Lösslein Ich finde es ist eine gute Idee. Was wollen Sie von mir erfahren? Ich mit meinem 41 Jahren bin ich nicht sooo alt, dass ich schon alles vergessen habe was mir in den letzten fast 9 Jahren passiert ist oder erlebt habe oder erleben dürfte. Ich freue mich, dass es Ihnen gut geht. Besonders freut mich, dass Sie an mich erinnern können. Harry
kEntwicklung der letzten Jahre Wie geht es Ihnen denn jetzt? Wir haben uns lange nicht gesehen. Lö Sehr gut, ich bin jetzt voll zufrieden mit meinem 2. Leben. Zu meinem 34. Geburtstag habe ich erfahren, dass ich nach 6
Hause müsste, weil meine Krankenvers. wollte die Kosten von der Wohngemeinschaft leider nicht übernehmen. Das war ein großes Haus nähe München mit ca. 13 Patienten. Dort könnte man länger bleiben oder man könnte hier lernen, dass man sich später mal selbst versorgen kann. Nach kurzem Überlegen habe ich gesagt, wenn ich nach Hause komme, dann sollen meine Mutter und ihr Lebensgefährte in ihr zweites Haus einziehen. Wenn ich nicht in eigener Wohnung leben dürfte, dann möchte ich abends, Feiertage und Sonntage alleine in meine 4 Wände sein. Meine Mutter hat gesagt, dass ist in Ordnung. Jetzt bereue ich es ein bisschen, sicher ich hätte dann viel weniger Geld gehabt. Selber sich versorgen zu müssen im eignem Haus – Wohnung in meinem Ort – in einer Stadt wäre vielleicht besser für mich gewesen. Wo ich wohne ist die Landschaft wunderbar und ruhig, aber man braucht unbedingt ein Auto. Andererseits hätte meine Mutter dann mich nicht zum Afrikaurlaub mitgenommen. Dann hätte ich meine sehr liebe Frau dort leider nicht kennen gelernt......... Ich habe zu Hause und draußen nur wenige Gegenstände für meine Behinderung umbauen lassen. Aber ich muss – musste auf viel verzichten, was ich mit meiner Behinderungen nicht mehr ausführen kann, wie Skifahren, Motorradfahren, Schwimmen, Joggen, vor allen das Fußballspielen. Aber ich verschwende keine sinnlose Zeit daran zu grübeln, sondern neue leichtere andere Ziele gesetzt, was ich erreichen kann. Bei mir ist immer was los, wenn ich nichts zu tun habe, suche ich irgendwas zu tun. Aber in Heimatland meiner lieber Frau in Afrika wurde mir klar, dass in diesen armen Länder – körpergehbehinderte Menschen haben es schwer ... In einer Hotelanlage geht es gut, aber draußen ist ein Wahnsinn … Harry ... Ich habe schon gehört, dass Sie verheiratet sind. Das freut mich sehr für Sie. Mich interessiert natürlich, wie es Ihnen mit Ihrer Frau geht, und ich bin auch neugierig, wie Sie sie kennengelernt haben. Ich stelle mir das nicht ganz einfach vor. Wie haben Sie sich denn mit Ihrer zukünftigen Frau verständigt? Lö 2004 habe ich mir ein teures (2400,- €) elektronisches Schreibgerät zugelegt. Es konnte auch eingegebene Sätze »sprechen«. Es hat damals mir viel »geholfen«. Einziger Nachteil war die Größe, wenn ich unterwegs war, war es zu groß und schwer. Dieses »heilige« Gerät hatte ich mitgenommen, als ich mit Mama Ende 2005 nach Afrika reiste. Im Hotel habe ich mich mit einer schönen afrikanischen Frau auf Englisch unterhalten bzw. englisch auf diesem Gerät geschrieben. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich eine feste Beziehung mit einer rumänischen Frau. Sie habe ich über eine Partnervermittlung kennen lernen. Aber ich war nicht sicher, dass sie nach einer Hochzeit mich nicht verlassen würde, und ich war nicht zufrieden mit unserem Sex. Das habe ich auch zu der afrikanischen Frau »gesagt«. Eigentlich wollte ich mit ihr was »anstellen«, habe sogar mit ihr getanzt, aber sie sagte mir, dass sie eine schöne und junge Frau für mich hat. Die ist ehrlich und treu. Ich habe ihr nur 6
127 10 · Erstes und zweites Leben – Ein narrativer Dialog
zugenickt, dann hat sie dieser Lady mit Handy gesagt, dass sie hier kommen soll. Danach sind wir alle drei in eine Disco gefahren. Meine Mama war zu diesem Zeitraum in dem 4 Tage Safari-Ausflug. Als sie von diesem Ausflug zurückkam, war ich bei dieser Frau. Im Hotel haben sie ihr gesagt, wahrscheinlich wurde ich entführt. Kurz danach sind wir beide im Hotel aufgekreuzt. Zuerst war Mama ganz baff. Sie machte sich große Sorgen, wenn diese Frau tatsächlich zu mir in Bayern käme, was würden die Leute sprechen? ... Es hat lange gedauert, dass Mama sich das vorstellen konnte. Jetzt bin ich mir sicher, dass Mama sie sehr lieb hat. Meine Frau wird mich nie verlassen. Wir beide gehen eher selten aus, weil bei Festen bekommen wir nur wenig Angespräch, weil ich mich nur mit Eingeübten gut unterhalten kann, darum wird uns dort oft langweilig. Ansonsten bin ich mit ihr glücklich. Meine liebe Frau hat schnell Deutsch gelernt, und sie versteht meine »Harry«-sprache sehr gut. Zuerst haben wir uns auf halb Deutsch und auf halb Englisch verständigt. Harry
Dem Leser mag deutlich geworden sein, warum wir diese Form des E-Mail-Dialogs gewählt haben. Harry war aufgrund seiner Dysarthrie und Ataxie zunächst nahezu verstummt, und er konnte sich nur sehr Zeit raubend mit einer Buchstabentafel bzw. deren elektronischer Variante verständigen. Nur »Trainierte« verstanden ihn verbal. Mit dem PC hatte er jedoch ein Medium entdeckt, das es ihm erlaubte, sich nahezu uneingeschränkt zu verständigen, und ich bin begeistert, wie er trotz seines Handicaps Kontakt knüpft. Das stimmt, dass ich mich verständlicher mit einem elektrischen Schreibgerät, wie PC, Laptop, Handy, Wörterbuch usw. verständigen kann. Vor allen in diesen Zeitraum zwischen 2001 und Mitte 2004. Seitdem verstehen mich »eingeübte Leute« gut bzw. sie können es zusammen reimen, was ich sage. Mit anderen Leuten nehme ich diese elektrischen Geräte her. Komisch ist, manche Leute verstehen mich sofort gut und andere gar nicht. Ich vermute, Leute die leicht Sprachen lernen können, verstehen mich gut, wie meine liebe Frau. Harry
kKrankheitsgeschichte Harry, für mich waren Sie gleich bei der Aufnahme eine Herausforderung, ein »interessanter Fall« mit einer ungewöhnlichen und noch unklaren Diagnose, und der Verlegungsbrief enthielt offensichtlich Ungereimtheiten. Das hat mein Interesse geweckt und meine diagnostischen Fähigkeiten herausgefordert. Ich erinnere mich, wie Sie kamen. Sie waren bewusstlos, dennoch wirkte Ihr Gesicht klug und sympathisch. Sie kamen alleine und ohne Angehörige, wirkten irgendwie schutzbedürftig und zerbrechlich. Über das Professionelle hinaus erweckten Sie in mir einen Impuls, Ihnen zu helfen … Vielleicht können Sie zunächst die Geschichte Ihrer Krankheit schreiben. Anschließend werde ich Ihnen meine Geschichte über Sie erzählen. Lö
Ich kann mich gut erinnern an meine letzte Brotzeit, als gesunder Mensch, mit meiner Mama und ihren schon verstorbenen Freund, in unser Esszimmer. Ich gab Ihnen meine ausgearbeitete Pläne, Bestellungen usw. und sagte, sie im Krankenhaus können mir sicher helfen und ich komme sicher in 2 Wochen wieder nach Hause. Ich bin am 13.04.2000 vormittags mit meiner Mutter ins Krankenhaus in S. selbst hoch gefahren. Ich habe mein gewünschtes Einzelzimmer bekommen. Mama hat meine Kleidung im Schrank gelegt und mir eine Telefonkarte gekauft. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein – bis ich wieder aus Koma aufgewacht bin. Die nächsten Zeilen hat meine Mama mir erst viel später erzählt. Die Krankenschwestern haben mir viel Beutelnahrung gegeben. Meine Mutter hat vermutet, dass die Schwestern mir ein Beruhigungsmittel gegeben haben, weil über die Osterfeiertage sind doch eher weniger im Dienst. Als meine Mutter am Karfreitag zu mir kam und mich ansprach, wurde sie unruhig und sie holte sofort eine Schwester her. Sie sagte zu ihr, dass ich ihr gar nicht gefalle. Weil ich kaum sprach und ich sah so bleich aus. Diese Schwester stimmte ihr sofort zu und mich gleich in die Intensivstadion verlegt. Dort stand plötzlich mein Herz still. Unser Pfarrer hat mich schon mit dem »Chrisam Öl gesalbt« und von mir schon verabschiedet – Er und meine Familie standen vor mir und hatten geweint um mich! Aber so einen Harry, der so zäh ist, den bringt man nicht leicht unter die Erde. Wahrscheinlich war es ein Geschenk von Gott, ich »von den Toten auferstehe«. Die Doktoren haben meinem »Hauptmotor« Gott sei Dank wieder zum Laufen gebracht. Mein Herzstillstand hat am 15.04.2000 aber meine Chefrolle leider beendet. Harry
Was Harry so trocken schildert, war natürlich hoch dramatisch. Harry litt unter einer Anorexie und wurde zum »Auffüttern« ins Kreiskrankenhaus eingewiesen. Leider übersah man das Risiko eines Refeeding-Syndroms. Er musste reanimiert werden und erlitt vermutlich einen hypoxischen Hirnschaden und ein metabolisches Koma. Aus der Akutklinik übernahmen wir ihn Wochen später, weiterhin komatös, zur Frührehabilitation. Bei Harrys Schilderung der Ereignisse fällt mir auf, wie verschieden wir diese frühe Phase erlebt hatten. Für Harry scheinen die 10 Wochen der Bewusstlosigkeit wie im Flug vergangen, für uns waren sie arbeitsintensiv und voller Zweifel. Wir hatten lange nicht an eine Erholung geglaubt und begannen uns schon damit abzufinden, dass Harry im Wachkoma bleiben könnte. Wäre Harry 30 Jahre älter gewesen, hätten wir wohl schon über einen Behandlungsabbruch nachgedacht. Ich konnte auch mit den Angehörigen nicht über die Problematik sprechen, denn ich sah sie kaum. Vermutlich waren sie mit dem Überlebenskampf des Betriebs beschäftigt, aber das erfuhr ich erst später. Damals hatte ich mich über ihr geringes Interesse gewundert.
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Kapitel 10 · Erstes und zweites Leben – Ein narrativer Dialog
kKomaerleben Harry, Sie lagen 10 Wochen im Koma. In Ihrer letzten Mail haben Sie diese Zeit so ziemlich übersprungen. Können Sie sich an irgendetwas aus dieser Zeit erinnern? Lö
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Gute Frage, ich weiß nicht genau, wo ich diese viele verrückten Träume hatte. Ich vermute im Koma. Als ich im Koma lag, weiß ich nicht, ob jemand mit mir gesprochen hat bzw. was mit mir gemacht hat. Ich kann mich daran erinnern, dass ich vor einen Tisch, der stand vor mein Zimmer in der Intensivstation, gesessen bin. Ich war damals »halbwach«. Daran auch das meine Schwester mich mit Rolli außen herum geschoben hat. Daran auch, dass meine Mutter mich mit Rolli außen herum geschoben hat, aber diesmal habe ich zu Mama laut gerufen, dass ist der falscher Weg. Aber ich weiß nicht ob es im Koma war. Ich vermute außer Koma. Im Koma habe ich viel geträumt, denke ich. Viel Unvernünftiges. Ich schwimm – tauchte innen in einem U-Boot. Innen war braunes Wasser drin und außen Luft. Ich habe keinen Ausgang gefunden ... 2. Traum. Ich lag im Sarg, der war auf einen Bett, der ist in einer kleinen Halle gestanden, ich war halb tot. Es waren viele Särge dort. Ich habe immer versucht aus dem Sarg zu steigen und aus der Halle gelangen ... 3. Traum. Ich wollte zu meinem Haus zu Fuß gelangen. Aber mein Haus hat an andere Stelle gestanden, vor dem Haus war ein Bach. Ich habe immer versucht eine Brücke zu bauen. Problem war, es waren viele Bäume dort. Ich kann mich gut erinnern. Ich saß im Rollstuhl an einem Tisch vor meinem Zimmer. Ich habe mit offenen Augen geträumt, dass ich in einem Zimmer im Krankenhaus eingesperrt wurde und niemand hat mich zugehört und geholfen. Danach habe ich wild herum geschrien – Als ich aufwachte nach ca. 2 Monate Koma war mein körperlicher Zustand genau so wie ein Baby nach der Geburt. Mein Gehirn wurden durch diesen Schicksalsschlag schon verschont, aber ein bisschen Hirn wurde durch den Blutmangel vernichtet, zwar auch mein liebstes Spielzeug dass fast endloses plaudern über jeden Schmarrn. Ich kann mich gut erinnern, dass ich einen Fernseher im Krankenzimmer wollte, aber ich könnte nicht sprechen und mich nicht gut bewegen. Meine Familie hat es nicht begriffen. Ich habe aber es immer versucht. Später hat mir die liebe Beate eine Buchstabentafel gegeben, damit könnte ich endlich meinem Wünsch aufschreiben. Harry
Das war neu für mich. Nach langen Wochen im Koma wurde Harry motorisch sehr unruhig und vegetativ instabil. Dass er während dieser Phase ein Oneiroid (traumaähnliches inneres Erleben) hatte, mit nach seiner Schilderung sehr quälenden Tagträumen, ahnten wir nicht. Wir hatten auch nicht den Eindruck, wir könnten erfolgreich mit ihm kommunizieren. Wir hätten ansonsten wohl vermehrt versucht, mit ihm in Kontakt zu kommen und beruhigend auf ihn einzuwirken.
Die »liebe Beate« wird in Harrys Leben noch eine wichtige Rolle übernehmen, in meinem Leben war sie die Chefsekretärin. Im Nebenberuf hat sie sich in ihrer freien Zeit in ihrer fröhlichen Weise rührend bedürftiger Patienten angenommen. Harry hat ihr das nie vergessen, heute noch führt er mit ihr einen regen Schriftwechsel. Ich beneide sie um ihre kommunikativen Fähigkeiten, ihr Talent, Zugang zu den Menschen zu finden und ihre fröhliche Art. Tatsächlich hat sie mir enorm viel geholfen, und aus ihren Gesprächen mit den Patienten hat sie mir manches berichtet, was für meine Arbeit wichtig war. kKrankheitsentstehung Harry, was mich jetzt interessiert sind zwei Dinge. Wie sind Sie eigentlich zu Ihrer Essstörung gekommen, und ist diese jetzt noch ein Problem für Sie? Anorexie bei Männern ist ja nicht so häufig. Wir haben Sie entlassen, ohne diesbezüglich etwas Weiteres zu unternehmen. Ich hoffe, das war in Ordnung. Damals hatten Sie aus unserer Sicht auch wichtigere Probleme. Lö Warum wurde ich »krank«? Das ist eine lange Geschichte. Dick werden oder sein, wollte ich gar nicht. Vor jeder Geburtstagfeier, vor Weihnachten, vor Ostern, vor Urlaube und vor Volksfeste habe ich vorher weniger gegessen, dass ich in diesen Zeitraum viel essen kann. Aber ich habe kein bisschen mehr gegessen. Nachdem habe ich nicht wieder zugenommen. Mein schlechtes Gewissen hat mich daran gehindert. Das war ein Teufelskreis. War eine Sucht. Da bin ich leider nicht wieder heraus gekommen! Viel später kam auch eine Brechsucht dazu. Weil ich immer versucht habe Allen es Recht zu machen. Wenn jemand mir essen gab und sagte er »iss alles auf«, dann habe ich alles aufgegessen, aber dann müsste ich mich übergeben. Doch ich habe immer wieder darauf geachtet, dass ich nicht so dünn werde. Dazu habe ich viele Braustabletten Magnesium und Calcium eingenommen. Ich habe viel gearbeitet teilweise auch sogar in der Nacht. Ich habe viel Kaffee ca. 5 große Tassen getrunken und auch viel geraucht ca. 1–2 Schachtel am Tag. Ab Januar 2000 habe eine Musiktherapie bekommen mit einer Therapeutin in S. Wir haben lange versucht mit Musik meine Brechsucht zu bekämpfen. Mein Gewicht hat Sie 2 x mal in der Woche kontrolliert. Dazwischen habe ich die letzte Woche im Februar in Ägypten Urlaub gemacht. Habe mir fest vorgenommen viel mehr essen zu wollen, ohne zu erbrechen. Aber dass misslang mir wieder. Irgendwas muss ich in Ägypten bekommen habe. Hepatitis A oder was anderes? Nach meinem Ägypten-Urlaub Anfang März fiel mein Gewicht plötzlich stark. Dann habe ich versucht mehr zu essen, ohne zu erbrechen. Diesmal hat oft funktioniert, trotzdem fielen meine Kilo herunter. Als mein Gewicht unter 44 kg fiel, hat mich die Musiktherapeutin sofort zum Doktor in S. geschickt. Der hat mein Blut abgenommen und mich auch körperlich untersucht. Meine »B-Werte« waren so hoch, sagte dann der Doktor zu mir und er könnte den Testbericht nicht glauben. Der Doktor hat mich gedrängt schnellstes ins Krankenhaus zu 6
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gehen. Ich habe eine sehr verantwortliche Stelle in unserm Familienbetrieb, habe ich dann erwidert. Da ich dachte – ohne mich geht es nicht weiter. Ich sagte zu ihm morgen werde ich mich im Krankenhaus behandeln lassen. Sehr gehofft habe ich – sie können mir endlich helfen ... Harry Harry, haben Sie jetzt noch eine Essstörung, oder ist die weg? Lö Ist weg Gott sei Dank, doch meine Mama meint, Sie ist nicht weg. Weil ich nicht dick geworden bin. Schlanke Menschen sind krank meint sie. Ich ernähre mich jetzt gesund und ich esse fast alles, wie Kuchen, Torten, Eisportionen und Pizzas. Ich habe später kein schlechtes Gewissen mehr! Harry
Ich dachte eigentlich, ich kenne Harrys Krankengeschichte, aber je mehr er berichtet, desto klarer wird mir, wie wenig ich über ihn weiß. Die Anamnese war natürlich sehr erschwert, er konnte ja auch nach dem Erwachen nur lautieren und nicht verständlich sprechen, und von den Angehörigen haben wir nicht sehr viel erfahren. Die Ersatzkommunikation mit der Buchstabentafel war sehr mühsam. Ich kannte seine Diagnose, seine Arztbriefe, seine Laborwerte, sein CCT, seinen neurologischen Befund, den Verlauf, ich wusste, wer ihn wie behandelt, was wir uns für Ziele für ihn ausgedacht hatten und wie er mitarbeitete. Von seinem früheren Leben wusste ich so gut wie nichts. Allerdings habe ich das damals auch nicht sehr vermisst. Wir hatten den Eindruck, dass wir auch ohne zusätzliche Informationen ganz gut vorwärts kamen. Wenn Patienten erkennbar »schwierig« waren, haben wir uns natürlich mehr bemüht, weitere Informationen zu gewinnen. Harry gehörte augenscheinlich nicht zu diesen »schwierigen« Patienten. Aber woran erkennt man schwierige Patienten? Leider hatten wir erst später die Routine eingeführt, die Teambesprechungen immer mit den Angehörigen und, soweit möglich, mit den Patienten durchzuführen. Das hatte uns die Arbeit enorm erleichtert, manche Fehler vermieden und das gegenseitige Verständnis gefördert. Harry hatte davon noch nicht profitieren können. Harry, ich muss gestehen, dass ich viel weniger von Ihnen weiß, als ich bisher dachte. Ich gewinne allmählich ein ganz anderes Bild von Ihnen ... Möchten Sie ein wenig von Ihrem Leben erzählen? Lö
kLebensgeschichte schon geschrieben Lebensstory für Sie ein bisschen um geschrieben. Vor meiner Geburt wurde mir schon klar, dass ich es nicht so leicht in meinem weitern Leben habe, weil meine Mutter hatte damals entscheiden müssen, wegen ein Problemchen in den Eierstöcken, ob ich über oder unter Erde kommen werde. Sie hat dann für mich, für den späteren ElChef, entschieden. Respekt. 6
Ich hatte eine schöne Kindheit. Zuerst ging ich in die Grundschule, weil damals gab es hier keinen Kindergarten. Am ersten Schultag war ich sehr enttäuscht, nicht vom Schulunterricht, sondern von meinen Mitschülern, weil keiner könnte »Watten« (das ist ein bayrisches Kartenspiel). Weil ich mit Kartenspielen nicht abgelenkt wurde und zu jener Zeit nicht schöne Frauen meinem Kopf verdreht haben, da habe ich die erste 4 Schuljahren recht gut gemacht, weil der ElChef ein schlaues Bübchen werden will später in die Realschule. Habe ich mich in den 5. und 6. Hauptschuljahren sehr angestrengt, um den Sprung zu schaffen. Dort hat man schon erkennt, dass mir die technische Fächer mehr liegen als der Bürokramfächer, vor allen die Diktate auswendig schreiben, buh. Den Start in die Realschule habe ich fast vermasselt, durch zwei sechsen in meinem geliebten Deutsch-Diktat und bei einer englischen Prüfung. Dieser Lehrer hat dann zu mir gesagt, dass ich lieber zurück in die Hauptschule gehen sollte. Aber dass kam mir nicht in die Tüte ... Mit meinem Glanzfächern, Mathe, Physik, Chemie, technisch Zeichen, Sport habe oft sehr guten Noten gehabt und dadurch meine nicht gute Fächer wieder heraus gerissen und immer gute Zeugnisse erhalten. In meiner Freizeit während der Schulzeit war ich fast immer zu Hause. Weil keine gleichalte Kindern in meiner Nachbarschaft waren. Fußballspielen war unser liebstes Hobby. Nach Hausaufgabe haben wir, zuerst mit meinem großen Bruder und später mit meinen kleinen Bruder, auf unseren kleinen Fußballplatz mit nur ein Tor, uns ausgetobt. Wir drei waren auch aktiv im unseren Sportverein lange gespielt. Seit 1978 bin ich zuerst aktiv, ab 1998 passiv dabei. Als ich ein Mofa, von meiner großen Bruder bekommen habe, dann bin manchmal fortgefahren. Plötzlich hat mich ein anderes Mofa mit einer Fahrerin überholt. Welche Pleite ... Sofort habe ich auch mein Mofa auffrisiert. Später habe ich auch einen Mofabiker kennen gelernt und sind gute Kumpel geworden. Wir sind oft herum gefahren, um zu Feste – Party gehen und Frauen anzuspinnen. In meinem Ort gab es seinerzeit 2 Gruppen, eine waren wie wir, die andere haben nur gesoffen, gepafft und einige leichte Drogen genommen. Wir haben auch manchmal 1–3 Bierchen zu uns genommen, aber nicht herum gesoffen und keine Drogen genommen. Als ich 16 Jahre alt war, habe das Leichtkraftmotorrad wieder vom großen Bruder »geerbt«. Mein Kumpel könnte sich das Bike leisten, aber nicht eine sehr teuere Haftpflichtversicherung, dank seines Können könnte er seinen Mofa viel schneller machen, es ging ca. 70 km/h, dann konnte mit uns auch weiter hin und her fahren. Wie ich meine Unschuld verloren habe ist eine kleine Geschichte wert. Mein großer Bruder hatte eine längere Beziehung mit einer schönen Frau. Sie hat Verwandte in meinem Ort und Sie kam manchmal zu ihnen. Als Sie wieder kam, hatte mein großer Bruder eine andere Beziehung und er wollte Sie nicht mehr haben. Ich habe Sie dann im Kino gesehen und mich gleich daneben gesessen. Und gleich zu reden angefangen, danach sind wir mit meinem Leichtkraftmotorrad 6
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Kapitel 10 · Erstes und zweites Leben – Ein narrativer Dialog
fortgefahren. Wir wollten in eine Disco gehen, aber Anfang der Woche waren alle zu. Mein Glück, hi. Hinter der Berufsschule auf einer Wiese ist es passiert. War es schön für mich? Ja –Nein, ich hätte viel mehr erwartet. Bei unserer Abschlussprüfung – Realschule war ich mit Ihr der Blickfang. Da ich habe Sie einfach mitgenommen. Ich war sehr stolz, weil Sie war wunderschön und 1,5 Jahre älter. Bis 17,5 Jahre hatte ich viele Freundin, aber nicht festes. Ich habe fast immer Schluss gemacht. Weil ich war ein »Jäger«, der immer wieder ein »neues Opfer« braucht. Wegen unseren Betrieb und vor allen der Führerscheinentzug meines Vaters dürfte ich schon früher Autofahren. Weil mein Vater, der Chef, müsste zu unseren Baustellen-Kunden fahren. Mein 1. Auto, roter Kadett, habe ich von verstorben Opa bekommen, war schon 10 J. alt, aber für das Autofahren zu lernen war es das Richtig. Aber das Autofahren zu dürfen war auch der Eintritt zu unserer Firma Tätigkeit. Seit Beginn hat es mir viel Spaß und Begeisterung bereitet. Jetzt kommen wir zu meiner Berufsgeschichte. Vor ca. 35 J. haben meine Mama und mein Vater mit sehr wenig Geld unsere Firma gegründet. Zuerst sind die Monteure mit einen geliehen Viehtransporter gefahren. Wir, mein großer Bruder und ich, haben unser Taschengeld mit Autowaschen oder mit Garagentore streichen verdienen müssen. Wir haben nur 0,25 Cent pro Auto oder Garagentore bekommen. Immer am Wochenende mussten wir bei uns arbeiten. Nicht in der Firma, sondern mein Vater hat immer was Neues vorgehabt um was zu bauen. Z.B. Pferdestall, Scheune und einen betonierten Misthaufen für unsere Pferde. Weil ich schon früher Autofahren dürfte, habe ich auch den Kundendienst, vor allen am Wochenende, gemacht. Dass war eine gute Verdienstmöglichkeit. War auch die Möglichkeit auch privat herum zu fahren. Es ging ganz einfach, ich hatte immer das Kundendienstwerkzeug und Arbeitsanzug im Kofferraum dabei. Mein 1. Motorrad habe ich mit sehr vielen Überstunden auch im Wochenende selber finanziert. Mein Vater wollte mir eine BMW schenken, aber mit 18 J. hatte ich eine andere im Sinn, nämlich kein »alter Männer« Motorrad, sondern ein kleines Rennmotorrad Yamaha, 250 ccm, war ein 2-Takter, da ging die Post ab ... Wenn mein Papa betrunken war, hat er mit Mutter oft gestritten und manch mal auch fest geschlagen. Ich war fast immer dabei. Meine Mutter und wir hatten immer Angst, wenn er betrunken nach Hause kam. Meine Schwester und mein junger Bruder waren damals so klein. Entweder waren Sie schon im Bett oder Sie haben das meistens nicht mitbekommen oder verstanden. Mein großer Bruder war oft im Heim von der Realschule. Meinem Vater müsste ich öfter und sehr unwillig, ins Wirtshaus fahren. Sein Bierverbrauch hat seine Leistung und Antrieb immer mehr vermindert, dann müsste ich seine Rolle als Chef, vor allen die technischen, immer mehr übernommen. Mein Vater hat aber mir über unseren Beruf viel gelernt. Als ich 15–17 Jahre alt gewesen war, hat er oft mich in der Nacht geholt, er könnte nicht mehr schlafen, dann hat er mir es gelernt Pläne zu zeichnen und zu berechnen, Angebote zu 6
schreiben und vieles mehr. Mir war es ganz Recht, weil ich dafür Geld bekam. Oktober 1987 dort ging meinem Vater sehr schlecht, vor allen wegen seinen Alkoholmissbrauch. Aus einer reiner Starrköpfigkeit – Dickschädel hat er sich im rechten Fuß eine starke Prellung zugezogen, dann wollte er sich nicht in einen Krankenhaus behandeln lassen. Ich vermute, dass er hat schon geahnt, dass sein defekter Körper eine mögliche Operation nicht aushalten würde. In der Tat war es sein Todesurteil, weil die Doktoren im Krankenhaus könnten nach dem kleinen Eingriff die Wunde nicht stillen. Nach 2 Woche haben Sie meine Mutter gefragt, ob sie sein Bein untern Knie entfernen können. Vielleicht können ihm dadurch retten. Meine Mutter hat nicht gewusst was sie sagen sollte. Wenn ihm ein Bein abgesäbelt wird, dann wird er mich später mal später umbringen oder mir immer vorhalten, dass er wegen mir ein Bein verloren hat. Solche Gedanken haben dort im Mama Kopf herum geirrt. Mama sagte trotzdem ja. Aber dass hilf nicht mehr ... Dann ging es sehr schnell. Er ist dann am 13.11.1987 gestorben. Als ich diese traurige Nachricht morgens früh bekommen habe war ich erleichtert. Weil ich während seinen längeren Krankenhausaufenthalt unseren Betrieb alleine die technische Dinge geführt und hat mir viel Freude gemacht. Weil ich könnte alles selber entscheiden. Welchen Materialen wir den Kunden anbieten. Wie man Kunden behandelt, zwar höflich und entgegenkommend. Eine Bank, wir hatten dort die meisten Schulden, wollte unsere Firma verkaufen lassen, weil sie meinten wir beide können es nicht mehr schaffen – Aber meine Mutter hat mir voll vertraut. Es war schwer, durch unseren Ehrgeiz und Durchhaltewille ging es doch weiter und hoch. Der Bauboom von 1989–1995 hat uns auch ein bisschen mitgeholfen. Zuerst haben unsere Kunden mir nicht ganz vertraut. Es war sehr schwer für mich, weil ich jetzt alles wissen von meinen zwei Berufen müsste. Aber ich habe es Allen gezeigt, mit viel Charme, Schlauheit, Höflichkeit und auch hart arbeiten unter Tag und teils auch in der Nacht. Dazwischen musste ich 2 Meisterprüfungen für Heizungsbau und Sanitäranlagen machen. Die Kurse waren meist abends. Ganz unerwartet kam der Musterbescheid von der Bundeswehr. Ich sollte ganz nach Norden verlegt werden. Ein Politiker hat sich darum gekümmert. Ich wollte gerne meinem Dienst an- und gleich wieder abtreten. Statt über die Wiesen/Felder im Trapp zu laufen ging in die 1. Meisterschule. Meine Mitschüler und die Lehrer haben mich wenig gehänselt, weil ich während des Unterricht und in den Mittagspausen oft was wichtiges, z.B. Baupläne zeichnen, LV ausfüllen und Angebote schreiben, gemacht habe. Trotzdem habe ich diese 2 Prüfungen gut bestanden. Im Jahr 1985 wollte ich diesmal eine feste Beziehung, wegen genannten Zeitmangel. Eine wunderschöne Freundin, Monika, habe ich sogar gefunden. Während dieser Beziehung mit Monika hat ganz langsam meine Magersucht angefangen. Dort habe ich mit meiner Mutter eine Schlankkur begonnen. Mit dem Willen und mit Ehrgeiz wie ich die Meisterschule und meine Tätigkeit im Be6
131 10 · Erstes und zweites Leben – Ein narrativer Dialog
trieb gemeistert habe, habe ich auch das Abnehmen gemeistert. Meine Freundin hat, nach 5 wirklich schönen Jahren, wegen unserer Firma mich verlassen. Weil sie könnte sich nicht vorstellen bei uns im Büro zu arbeiten. Ich wollte sie nicht verlieren und mein letzter Trumpf war einen Heiratsantrag ihr zu machen, aber sie hat mehr ihre Tätigkeit als Krankenschwester geliebt ... Übrigens sie hatte auch Dienst, als ich im Jahr 2000 mit dem Tod – Leben raufte ... Harry
Kann ich diesen langen Bericht den Lesern zumuten oder soll ich ihn kürzen? Ich entscheide mich für Ersteres. Wie ich Harry kenne, hat er sich genau überlegt, was er schreibt. Er macht nichts umsonst (im finanziellen wie im übertragenen Sinne). Das ist sein Leben, das Mofa, die Firma, der Vater, die Monika. Soll ich entscheiden, was für ihn wichtig ist? Harry schreibt, er hatte eine schöne Kindheit, und dann berichtet er über viele schwierige Situationen und schlimme Dinge. Mich beeindrucken seine innere Kraft und sein enormer Leistungswille. Harry ist Legastheniker, so weit ich weiß (er hat natürlich vor seiner Erkrankung besser – nein, richtiger – geschrieben). Dennoch hat er die Schule und die Berufsausbildung trotz großer Probleme in Deutsch und Fremdsprachen sehr erfolgreich gemeistert. Er wollte es allen zeigen, vielleicht auch uns, denn wir waren überrascht, was er nach seiner Erkrankung erreicht hat. kPersönliche Einschätzung Harry, ich bin sehr beeindruckt von Ihrer Offenheit, auch betroffen über die schlimmen Dinge, die Sie erlebt haben. Ich kann nur hoffen, dass ich mit meinen Fragen nicht zu aufdringlich war. Sie haben sich im Leben wirklich vieles hart erkämpfen müssen. Ich bewundere Ihren Mut und ihre Energie. Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, die vielleicht nicht so einfach zu beantworten ist. Sind Sie noch der »alte« Harry, oder sind Sie durch Ihre Erkrankung ein anderer geworden? Lö Meine Familie und das Personal und die Ärzte von den Krankenhäusern haben mir immer wieder gesagt, dass ich wieder fast gesund werde. Zuerst habe ich auch es geglaubt – besser gehofft ... bis Ende 2000. Gut, ich habe schnell erkennen müssen dass in meinem Kopf doch Teile schwerer beschädigt sind, darum werde ich nicht mehr der alte Harald. Meine Eigenschaften, Klugheit, Fleiß, Pünktlichkeit, Sturheit, sind noch vorhanden, aber meine Behinderung bremst mich sehr. Doch ich sehe jetzt, dass nur Arbeit nicht Alles im Leben ist. Jetzt kann ich im meinem sehr geliebten Beruf nicht mehr einsteigen. Habe ich andere Tätigkeiten gesucht und bin auch zufrieden. Ich stehe immer werktags um halb sechs auf. Sonst bin ich einfach »krank« ... Wenn ich ganz ehrlich bin, ich bin trotz meiner Behinderung mit meinem zweiten Leben voll zufrieden und glücklich. Wo ich wohne habe ich umbauen lassen, es waren nur wenige Sachen, dass ich mit meiner Gehbinderung fast ohne Hilfe 6
alles selber machen kann. Zur unserer Hochzeit, Juli 2008, haben wir einen Pool uns selber geschenkt. Der steht sehr nahe bei unsere Wohnung. Die Form und der nähe Standort vom Pool ist ideal für mich. Obwohl ich nicht mehr schwimmen kann, war ich diesen Sommer sehr oft drin. Im Wasser mache ich entweder »Krankengymnastik« oder nur faulenzen ... Ich bin der Typ, der alles zuerst alleine versucht, wenn es nicht geht, dann wird es entweder fallen gelassen oder eine Hilfe angenommen. Wenn ich alleine unterwegs bin oder im Amt, in die Therapien usw., wenn ich da ein Problem habe, kommt immer wer zu mir. Da kann man nichts dagegen sagen. Vielleicht nur einen Satz dazu, manchmal helfen Sie mir zu viel, so dass ich ohne diese Hilfe schneller fertig wäre – besser ausgeführt hätte. Harry
kVerbesserungsvorschläge Harry, wie waren Sie eigentlich mit unserer Klinik zufrieden? Was hätten wir denn besser machen können? Lö Ich wurde dort sehr gut behandelt. Habe alles bekommen. Mir hat nichts gefehlt. Alle Therapeuten haben mir viel geholfen. Wenn ich Noten vergeben sollte, dann wäre es Noten 1 und 2. Die Beate hat mir besonders viel geholfen, wenn ich Probleme gehabt hatte und nur mit kurz Gespräche über alles. Ich war in 7 verschieden Krankenhäuser, ich habe mich in allen wohl gefühlt – war sehr gerne dort. Dort wurde mir auch geholfen, wenn ich ein Anliegen hatte. Wegen meines Sprachproblems hatte ich dort ein Laptop und einen Drucker behalten dürfen. Per Fax könnte ich damals die meisten Dinge selbst lösen. Harry
kZukunftsperspektive Danke für das Kompliment. Wollen Sie einen Blick in die Zukunft riskieren – wie wird es Harry in 10 Jahren gehen? Lö Jetzt bin ich schon 9 Jahre »krank«. Man kann schon sagen, ich habe viel erreicht. Ich selbst oder meine Familie kennt nicht, welche Fortschritte ich in den vielen Jahren gemacht habe. Nur fremde Leute, die mich längere Zeit nicht sehen könnten, erkennen es. Mein großer Erfolg, mein erster war, dass ich noch gut weiter leben dürfte, hi. Bin mit einer wunderschönerbarerlieben Frau glücklich verheiratet. Trotz vieler Probleme und Hindernisse bin ich den sehr steilen Weg mit dem Vorhaben Wahnsinn/Heiratsvisum gegangen und nicht aufgegeben. Körperlich gesehen, wird es mir ein bisschen besser gehen und kleine Fortschritte weiter machen. Doch meine Therapeuten, Krankengymnastik und Ergo meinen, dass Sie meinen körperlichen Zustand nur aufrecht halten können. Meine Ergo sagt sogar, dass wir versuchen es aufrecht halten zu können, aber ist schwer. Meine Logo meint, wie ich auch, es wird immer voran langsam gehen und weitere kleine Fortschritte. 6
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Kapitel 10 · Erstes und zweites Leben – Ein narrativer Dialog
Ich selbst denke, dass ich immer besser – sicherer gehen kann, aber es geht nur langsam voran. Auch leicht uneben und leichte Steigungen könnte ich ohne Hilfsmittel gehen, wenn ich die Angst zum umfallen ausschalten könnte. Wenn mich was sehr aufregt, oder wenn ich stundenlang auf dem gleichen Ort sitzen muss, dann schlägt meine Spastik gnadenlos zu. Nach einiger Zeit ist es dann wieder vorbei ... Wie ich vorab auch gesagt habe. Werde ich in 10 Jahren und viel später auch zufrieden sein … Harry
kAmbulante Nachbetreuung
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Viele unserer Patienten können den Status nicht halten, den sie bei Entlassung hatten, vor allem dann, wenn sie nicht langfristig ambulante Therapien bekommen, und sie leiden sehr unter ihren Einschränkungen. Sie messen sich an ihren vorherigen Fähigkeiten, träumen ihre alten Träume weiter, leben ihre alten Konzepte weiter und stoßen ständig an ihre Grenzen. Harry, Sie sind der lebende Beweis, dass es auch anders geht. Wenn wir Ihr Erfolgsrezept destillieren und auf Flaschen ziehen könnten, würden wir draufschreiben »Resilienz«, das heißt Widerstandskraft. Damit könnten wir vielen Menschen helfen. Ich bin i.Ü. davon überzeugt, dass wir vielen Patienten besser helfen könnten, wenn wir sie über einen längeren Zeitraum noch zuhause nachbetreuen könnten. Wir erfahren in der Klinik zu wenig über unsere Patienten. Hausbesuche und Arbeitsplatzbesuche helfen ein wenig. Erst zuhause wird klar, was die Patienten wirklich benötigen, und ausgerechnet in dieser Situation stehen wir nicht mehr zur Verfügung. Was halten Sie davon? Lö Eine Nachbetreuung hätte mir fast nichts gebracht. Ich weiß nicht, ob eine Nachbetreuung für andere Patienten sinnvoll wäre. In meinem Kopf sind logisches Denken nicht durch meine Erkrankung verschwunden. Wenn ich ein Ziel nicht erreiche, dann gibts auch Umwege, die dauern länger, aber Sie führen doch zum Ziel. Zwar ist ein beschwerlicher Weg, aber alle Wege führen doch zu Rom. Ich habe doch viel Zeit dafür ... Mir geht es gut. Seit Wochen renovieren wir unsere Wohnung total. Wir wohnen während des Umbaus weiter dort, ist aber mit viel Arbeit und Schmutz verbunden, aber wir bekommen eine schöne Wohnung dafür. Gruß Harry
kLebensgestaltung Harry, ich danke Ihnen. Ich habe viel von Ihnen gelernt. So habe ich wieder einmal einsehen müssen, dass jeder von uns sein Leben selbst meistern muss. Wir können uns gegenseitig helfen und Anstöße geben, aber seinen Weg muss jeder selbst finden. Lö
Harrys Bericht macht Mut. Eine stabile, positive und in die Zukunft gerichtete Haltung ermöglicht Erfolge, die man zu-
nächst nicht für möglich gehalten hätte, und ist der Schlüssel zu Lebenszufriedenheit und Lebensqualität – trotz der Einschränkungen. Die Familien und Lebenspartner erkennen die Stärke einer derartigen Haltung und schätzen sie. Partnerschaft und Familie gewinnen dadurch an Intensität und Befriedigung. Wir, die wir in der Rehabilitation arbeiten, verbringen die Hälfte des Lebens mit unseren Patienten. Wir merken gar nicht mehr, dass es ständig andere Patienten sind. Wir ziehen einen großen Teil unserer Bestätigung aus dieser Arbeit und geben ihr einen Sinn für unser Leben. Im Leben unserer Patienten spielen wir eine andere Rolle. Sie sind den größten Teil ihres Weges alleine gegangen, ein Stück haben wir sie begleitet, danach haben sie wieder selbst über ihre Schritte und deren Richtung bestimmt. Wenn wir gut gearbeitet haben, denken sie manchmal freundlich an uns.
B
Beeinträchtigung von Funktionen, Aktivitäten und Teilhabe Mentale Funktion Kapitel 11
Rehabilitation von Störungen der Exekutivfunktionen – 135 J.J. Evans (Übersetzung: H. Grötzbach)
Kapitel 12
Störungen der Aufmerksamkeit H. Niemann, S. Gauggel
Kapitel 13
Gedächtnisstörungen – 171 A.I.T. Thöne-Otto, D.Y. von Cramon
Kapitel 14
Elementare visuelle Leistungen: Visus, Gesichtsfeld und verwandte Funktionen – 189 C. Groh-Bordin, G. Kerkhoff
Kapitel 15
Höhere visuelle Funktionen: Neglect, Raumorientierung, Balint-Holmes-Syndrom und visuelle Agnosien – 207 G. Kerkhoff, C. Groh-Bordin
– 145
11
Rehabilitation von Störungen der Exekutivfunktionen J.J. Evans (Übersetzung: H. Grötzbach) 11.1 Das dysexekutive Syndrom: Theoretische Konzepte 11.2 Konsequenzen im Alltag 11.3 Therapie 11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.3.5
– 136
– 137
Medikamentöse Therapie – 137 Restitutive Therapie – 137 Kompensatorische Therapie: Interne Strategien Externe Hilfen – 140 Umgebungsveränderungen – 141
11.4 Therapiestrategien in der Rehabilitation 11.5 Literatur
– 142
– 139
– 142
– 136
136
Kapitel 11 · Rehabilitation von Störungen der Exekutivfunktionen
Die theoretischen Konzepte der exekutiven Funktionen sind vielfältig und unterliegen einer stetigen Entwicklung. Die Rehabilitationsprogramme zur Behandlung dysexekutiver Störungen (. Übersicht 11.1) sind noch nicht ausreichend evidenzbasiert; es gibt jedoch zunehmend Hinweise darauf, dass eine Kombination von Restitutionstherapie und kompensatorischen Strategien für diejenigen Patienten signifikante Verbesserungen bringen kann, die sich aktiv an einem Rehabilitationsprogramm beteiligen können. Demgegenüber kann für andere Patienten eine Modifikation der physischen oder sozialen Umgebung nützlich sein. Für alle Patienten beginnt die Rehabilitation mit der Vereinbarung von praktischen, individuell ausgerichteten Rehabilitationszielen. Ziele sind die Verringerung der kognitiven Störungen und der Beeinträchtigungen von Aktivität und Partizipation des Patienten. Das Team muss zudem situationsspezifische Strategien (z.B. Checklisten, Hinweiskarten) entwickeln, die besonders für diejenigen Patienten wichtig sind, die Schwierigkeiten mit der Übertragung von Strategien von einer Bedingung auf eine andere haben. Aufgabe des Rehabilitationsteams ist es, eine Balance zwischen Störung, theoretisch begründeten Therapien, die auf eine Vielzahl von Situationen zutreffen, und mehr pragmatischen, funktionellen Ansätzen zu finden, um es Patienten mit einer Hirnschädigung zu ermöglichen, spezifische Aufgaben unter besonderen Bedingungen zu lösen.
11
11.1
Das dysexekutive Syndrom: Theoretische Konzepte
Definition Baddeley und Wilson (1988) greifen bei ihrer Definition des Syndroms auf die Arbeit von Rylander (1939) zurück, der folgende Auffälligkeiten bei Patienten nach einer Frontalhirnschädigung beschreibt: 5 Die Aufmerksamkeit der Patienten ist beeinträchtigt; es besteht eine leichte Ablenkbarkeit. 5 Die Patienten haben Schwierigkeiten, einen komplizierten Sachverhalt (abstraktes Denken) zu erfassen. 5 Die Patienten haben Probleme mit neuen Situationen, während sie alltägliche Routinearbeiten durchaus bewältigen können.
gabe des Frontalhirns mit dem Begriff Zielverfolgung. Er argumentiert, daß das Frontalhirn 4 sowohl an der Identifikation von »Zielen« oder Verhaltensregeln beteiligt sei 4 als auch an der Planung der Aktionen, um diese Ziele zu erreichen. Duncan vermutet, dass eine Frontalhirnschädigung einen Ziel-Neglect verursacht: Eine Person mit einer Hirnschädi-
gung kann nicht mehr erkennen, was sie erreichen möchte. Die Person kann zwar einen Plan entwickeln, jedoch gehen die Hauptziele während der Ausführung des Plans verloren, und die Handlungen stimmen nicht länger mit der Verfolgung der Ziele überein. Daraus resultiert zwar kein komplett zufälliges Verhalten, die Handlungen sind allerdings nicht mehr zielorientiert ausgerichtet. > Das dysexekutive Syndrom umfasst Schwierigkeiten in folgenden Bereichen: 4 Problemlösung, 4 Planung und Organisation, 4 Selbst-Monitoring, 4 Beginnen von Handlungen, 4 Fehlerkorrektur und 4 Verhaltenssteuerung.
11.2
In . Übersicht 11.1 sind die Störungen von Patienten mit einem dysexekutiven Syndrom beschrieben. . Übersicht 11.1. Exekutive Störungen und deren Konsequenzen im Alltag 1.
2. 3.
Baddeley (1986) prägte den Begriff dysexekutives Syndrom, um den Begriff Frontalhirnsyndrom zu ersetzen. Seine Absicht war es, sich von einer anatomisch basierten Beschreibung der kognitiven Störungen zu lösen. Außerdem wollte er den gemeinsamen kognitiven bzw. funktionellen Aspekt der unterschiedlichen Beeinträchtigungen, die nach einer Frontalhirnschädigung auftreten können, betonen. Er unterstrich die Bedeutung der Prozesse, die vom Frontalhirn gesteuert werden. Dazu gehört auch die zentrale exekutive Komponente des Arbeitsgedächtnismodells. In den Modellen von Luria (1966) und Norman, Shallice und Burgess (1991, 1996) (s. auch Shallice 1988) ist auch das Problemlösen eine Schlüsselfunktion des Frontalhirns. Duncan (1986) beschreibt die Auf-
Konsequenzen im Alltag
4.
5.
Die Patienten können impulsiv sein, es kann ihnen an Einsicht und Urteilskraft fehlen. Angehörige berichten oft, dass die Patienten nicht nachdenken, bevor sie handeln. Bei Unterhaltungen können sie sehr taktlos sein. Die Patienten sind unfähig, mit neuen Situationen umzugehen. Die Patienten scheinen nicht fähig zu sein, Dinge zu planen und zu organisieren. Die Patienten scheinen die Konsequenzen ihrer Handlungen nicht im Voraus zu bedenken – es gibt keine »Vorausschau«. Auf Feedback können sie nicht immer adäquat reagieren. Bei ausgeprägter Störung kommt es zu unkontrolliertem Verhalten, das auch verbale und physische Aggression sowie sexuelle Distanzlosigkeit einschließen kann.
Diese Funktionsstörungen führen fast unausweichlich zu erheblichen Problemen im Zusammenleben. Sie stellen daher eine besondere Herausforderung an die Rehabilitation dar (7 Kap. 30). In einer Metaanalyse der Faktoren, die eine Rückkehr in den
137 11.3 · Therapie
Arbeitsalltag beeinträchtigen, identifizierten Crepeau und Scherzer (1993) die exekutiven Störungen als Hauptprädiktor.
11.3
Therapie
Wie sollte das dysexekutive Syndrom behandelt werden? Ebenso wie bei vielen anderen kognitiven Beeinträchtigungen gibt es eine Reihe von Möglichkeiten (Wilson 2002) (. Übersicht 11.2). . Übersicht 11.2. Therapeutische Möglichkeiten des dysexekutiven Syndroms 1. 2. 3. 4.
Biologisch basierte Wiederherstellungsversuche (medikamentöse Behandlung) Ansätze zum Wiedererwerb (Restitution) Anwendung kompensatorischer Strategien (internale/mentale Strategien oder externe Hilfen) Umgebungsveränderungen
Die Wirksamkeit aller dieser Ansätze zur Behandlung des dysexekutiven Syndroms ist jedoch aufgrund fehlender Studien nur eingeschränkt nachgewiesen. Die vorhandenen Evidenzen werden im folgenden Abschnitt kurz dargestellt (Evans 2001, 2003, 2005; Turner u. Levine 2004).
11.3.1
Medikamentöse Therapie
Es gibt nur wenige Hinweise, dass eine medikamentöse Behandlung die exekutiven Funktionen bei Erwachsenen mit einer erworbenen Hirnschädigung verbessern könnte. Eine kleine Anzahl von Studien brachte jedoch erste vielversprechende Ergebnisse, die es wert sind, weiterverfolgt zu werden. Die beiden Neurotransmittersysteme, die hauptsächlich die Funktionen des Frontalhirns modulieren, sind 4 das dopaminerge System und 4 das noradrenerge System. Fazit Einige wenige Studien brachten Hinweise, dass die Gabe von Medikamenten bei der Behandlung von exekutiven Störungen erfolgreich sein könnte. In vielen Studien fehlen jedoch Kontrollbedingungen und der Nachweis einer Generalisierung. Daher gehört die Gabe von Medikamenten noch nicht zum Behandlungsstandard.
11.3.2
Restitutive Therapie
Problemlösetherapie (PST) Anhand mehrerer Studien über ein Training zum Wiedererwerb von Fähigkeiten konnte von Fortschritten bei der Verbesserung bestimmter Aspekte der exekutiven Funktionen berichtet werden. Diese Ansätze basieren auf der Annahme,
Näher betrachtet Studien: Medikamentöse Behandlung Es gibt Studien, die zeigen, dass sich durch die Gabe von Methylphenidat das Arbeitsgedächtnis und die Planungsfähigkeiten von Kindern und Erwachsenen mit einem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom verbessern lassen (Zusammenfassung s. Mehta et al. 2001). Methylphenidat erhöht die Konzentration des zur Verfügung stehenden Dopamins und Norepinephrins. Zudem gibt es Hinweise auf verbesserte exekutive Funktionen, wenn Bromocriptin (McDowell et al. 1998, Powell et al. 1996) und Amantadin (Kraus u. Maki 1997, van Rekum et al. 1995) verabreicht werden, die beide dopaminerg wirken. In einigen Studien, in denen der Alpha-2-Antagonist Idazoxan eingesetzt wurde, berichteten Sahakian et al. (1994) und Coull et al. (1996) bei einer kleinen Anzahl von Patienten mit einer Demenz vom frontalen Typ von einer Verbesserung der exekutiven Funktionen (Planen und Problemlösen). Die Leistungsverbesserungen zeigten sich bei einer Problemlöseaufgabe (ähnlich dem »Turm von Hanoi«). Einer Generalisierung der Verbesserung wurde jedoch nicht nachgegangen.
dass bestimmte kognitive Funktionen durch Aufgaben und Übungen so trainiert werden können, dass sie wieder mehr oder weniger normal funktionieren. Von Cramon et al. (1991) und von Cramon und Matthes von Cramon (1992) beschreiben einen Gruppentherapieansatz, den sie Problemlösetherapie (PST) nennen. > Ziel des Therapieansatzes ist es, die Patienten zu unterstützen, Probleme effektiver zu analysieren und im Gegensatz zu ihrem gewöhnlich impulsiven Handeln einen langsamen, kontrollierten und schrittweisen Lösungsweg zu entwickeln.
Ihr Therapieansatz baut explizit auf der Arbeit von d’Zurilla und Goldfried (1971) auf, die diesen Ansatz nutzten, um Erwachsenen mit psychiatrischen Problemen ein effektiveres Management ihrer Stimmungsschwankungen zu ermöglichen. Das eigentliche Ziel der Gruppentherapie besteht aus einer Verstärkung der Fähigkeit der Patienten, jeden Schritt einer Problemlösung gesondert auszuführen.
Cognitive Remediation Therapie (CRT) Die exekutiven Störungen werden als eines der Hauptdefizite bei Schizophrenie angesehen. In den vergangenen Jahren wurde eine Reihe von Studien zu der Frage durchgeführt, ob eine Therapie, die als Cognitive Remediation Therapie (CRT) bezeichnet wird, die kognitiven und sozialen Fähigkeiten von schizophrenen Patienten verbessern kann (Wykes et al. 1998, 1999, 2002; Penades et al. 2002, Bell et al. 2001). Die CRT setzt sich aus Übungen zusammen, die sich auf kognitive Flexibilität, Arbeitsgedächtnis und Planung konzentrieren (Delahunty u. Morice 1993). Das Therapieprogramm besteht aus 40 einstündigen Einzeltherapien, die 3- bis 5-mal/Woche durchgeführt werden.
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Kapitel 11 · Rehabilitation von Störungen der Exekutivfunktionen
Näher betrachtet Studien: Effekte der Problemlösetherapie
11
Von Cramon et al. (1991) verglichen eine Gruppe von Patienten (n=20), die eine Problemlösetherapie erhielten, mit einer Gruppe von Kontrollpatienten (n=17), die an einer Gedächtnis-Gruppentherapie teilnahmen. Mit der Kontrollgruppe wurde die Möglichkeit geprüft, ob Patienten eher von der allgemeinen Zuwendung und Gruppenaktivität profitierten als von den Aufgaben, die eine Verbesserung der exekutiven Funktionen zum Ziel hatten. Die Autoren konnten zeigen, daß die Patienten, die an der Problemlösetherapie teilnahmen, im Vergleich zu den Kontrollpatienten bessere Leistungen in allgemeinen Intelligenztests und in der Problemlösung (»Turm von Hanoi«) erzielten. Von Cramon et al. konnten auch eine gewisse Übertragung der Problemlösefähigkeiten von trainierten auf untrainierte Aufgaben nachweisen. Eine Übertragung auf Alltagssituationen ließ sich jedoch nicht feststellen. Rath et al. (2003) untersuchten ebenfalls den Effekt einer Problemlösegruppe. Sie verglichen die Ergebnisse von 27 Patienten, die an einem Problemlösetraining teilnahmen, mit einer Gruppe von 19 Pa-
tienten, die an einer Behandlung teilnahmen, die als konventionelle Therapie beschrieben wird. Die konventionelle Therapie, die aus einem generellen kognitiven Training und einer psychosozialen Therapie bestand, umfasste 24 Therapieeinheiten mit einer Frequenz von 2-3 Stunden/Woche. Die Problemlösegruppe hatte ebenfalls 24 Therapieeinheiten mit einer Frequenz von 1-mal 2 Stunden/Woche. Die Gruppenprogramme waren in 2 Blöcke mit jeweils 12 Einheiten aufgeteilt. 4 Der Schwerpunkt der ersten 12 Einheiten lag, wie Rath et al. es nennen, auf einer Problemorientierung. In dieser Phase wurden Punkte wie affektive Reaktionen sowie Haltung und Motivation gegenüber Problemen, die durch eine Hirnverletzung verursacht waren, angesprochen. 4 Der zweite 12-Einheiten-Block konzentrierte sich auf ein spezifisches Problemlösetraining, in dem die verschiedenen Problemlöseschritte ebenso wie bei von Cramon et al. im Vordergrund standen.
Fazit Patienten mit einer Schizophrenie, die neben anderen Symptomen auch exekutive Schwierigkeiten haben, könnten von einem Therapieprogramm mit kognitiven Übungen profitieren. Die Möglichkeiten, anhand von Untersuchungen generalisierbare und substanzielle Verbesserungen für das Alltagsleben aufzuzeigen, sind jedoch beschränkt.
Goal Management Training (GMT) Levine et al. (2000) beschreiben den Nutzen einer Goal Management Training (GMT) genannten Technik, die von Robertson (1996) entwickelt wurde. Die GMT-Technik geht auf Duncans (1986) Konzept des Ziel-Neglects zurück. Prinzip ist, dass Patienten mit einer Frontalhirnschädigung unfähig sind, Listen mit Zielen bzw. Teilzielen zu erstellen, wie Probleme zu lösen oder Ziele zu erreichen sind. Sie können außerdem Schwierigkeiten haben, den Weg zu einem Ziel oder Teilziel zu verfolgen. Das Training umfasst fünf Schritte, die zu Therapiebeginn für die Patienten definiert werden: 1. Einen Moment innehalten und überlegen, was man gerade tut. 2. Sich die Aufgabe klarmachen. 3. Sich die einzelnen Schritte für die Erledigung der Aufgabe überlegen. 4. Die einzelnen Schritte planen.
Das Ergebnis der Gruppentherapie wurde mit einer Vielzahl neuropsychologischer Tests, Fragebögen und einem Rollenspiel erhoben, in dem eine Problemlösesituation von unabhängigen Beurteilern bewertet wurde. Rath et al. zeigten, dass sich die Patienten der Problemlösegruppe im Gegensatz zu den Patienten der konventionellen Gruppe in folgenden Bereichen verbesserten: 4 im Wisconsin Card Sorting Test, 4 in Selbstbeurteilungsbögen zu Problemlösefähigkeiten, 4 im abstrakten Denken und emotionalen Verhalten sowie, vielleicht am wichtigsten, 4 in der Bewertung der Beurteiler im Rollenspiel. Die Verbesserungen hielten auch 6 Monate nach Entlassung an. Ein Nachteil dieser Studie ist es wiederum, dass eine Prüfung der Generalisierung auf das Alltagsleben fehlt.
Näher betrachtet Studien: Effektivität der CRT Wykes et al. (2002) haben die CRT mehrfach auf ihre Effektivität hin untersucht, wobei die CRT mit intensiv durchgeführter Ergotherapie verglichen wurde, um die Effekte unspezifischer Therapeutenkontakte zu kontrollieren. Das Ergebnis ihrer Studien ist, dass Patienten, die mithilfe des CRT behandelt werden, im Vergleich zu den Kontrollpatienten größere Fortschritte in einigen, allerdings nicht allen exekutiven Aufgaben zeigen, z.B. im Wisconsin Card Sorting Test und im SechsElemente-Test. Die CRT-Gruppe erreichte außerdem höhere Werte auf einer Skala zur Beurteilung der Selbstachtung. Es gab jedoch keine generellen Unterschiede zwischen den Gruppen in den sozialen Fähigkeiten. Gleichwohl gab es Anzeichen dafür, dass die CRT-Gruppe mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine Änderung der kognitiven Fähigkeiten erreichte, die Voraussetzung für eine Verbesserung der sozialen Fähigkeiten ist. In einer der neueren Studien gingen Wykes et al. (2002) der Auswirkung der CRT auf die Hirnfunktion nach, indem sie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) nutzten. Sie konnten zeigen, dass die CRT mit einem erhöhten Aktivitätslevel im rechten frontalen inferioren und im visuellen Kortex bilateral verbunden war, wenn eine Aufgabe für das Arbeitsgedächtnis durchzuführen war. Ein erhöhter Aktivitätslevel für diese Aufgabe war auch mit Verbesserungen in den Leistungen für andere Aufgaben des Arbeitsgedächtnisses verbunden.
139 11.3 · Therapie
5. Während der Ausführung der Schritte ist zu prüfen, ob man noch bei der Sache bzw. der beabsichtigten Handlung ist.
fördern als z.B. Gedächtnisfunktionen (Robertson 1999), da Elemente des Fähigkeitslernens mit Problemlösung und Zielverfolgung kombiniert werden.
Levine et al. (2000) konnten Verbesserungen bei drei Papierund Bleistiftaufgaben nachweisen, eine Generalisierung das Alltagsleben betreffend wurde jedoch nicht untersucht.
11.3.3
Selbst-Monitoring Das Selbst-Monitoring ist ein wichtiger Bestandteil des Problemlösens und der Verfolgung von Zielen. Obwohl es nicht einfach ist, dieses direkt zu messen, scheint diese Fähigkeit dennoch häufig als Folge einer Frontalhirnschädigung beeinträchtigt zu sein. Alderman et al. (1995) berichten über eine Selbst-Monitoring-Therapie (SMT), die bei einem männlichen Patienten durchgeführt wurde (7 Patientenbeispiel: Herr C.).
Kompensatorische Therapie: Interne Strategien
Eine Reihe von Therapien, die zum Ziel haben, Patienten mit exekutiven Schwierigkeiten zu fördern, könnten als interne Strategien bezeichnet werden, d.h., dass eine Person mentale Routinen oder Selbstinstruktionstechniken nutzt.
Selbstinstruktionstechnik Cicerone und Wood (1987) beschreiben eine Selbstinstruktionstechnik bei einem 20-jährigen Mann mit einer sehr schweren Schädel-Hirn-Verletzung (7 Patientenbeispiel: 20-jähriger Mann)
Patientenbeispiel: Herr C. Herr C. hatte als Folge einer Hypoxie eine Reihe von physischen, kognitiven und Verhaltensproblemen entwickelt. Er hatte soziale Normen nicht mehr beachtet und ihm fehlte der Antrieb. Er äußerte sehr häufig Dinge, die in der jeweiligen Situation nicht angemessen waren. Während der Mahlzeiten bat er ständig um etwas zu essen und zu trinken. Die Bitten erfolgten, während er noch aß. Da Therapien, die eine Verhaltensänderung zum Ziel hatten, erfolglos blieben, wurde die SMT durchgeführt. Sie umfasste einen 5-stufigen Prozess: In Stufe 1 wurde eine Baseline-Messung des unangemessenen Verhaltens von Herrn C. durchgeführt. Während Stufe 2 bekam Herr C. ein Zählgerät, mit dessen Hilfe er seine Bitten um Essen und Trinken festhalten sollte. Seine Zählung wurde am Ende mit der Zählung des Therapeuten verglichen, der Herr C. während der Mahlzeiten beobachtete. Wie vorauszusehen war, unterschied sich seine Zählung erheblich von der des Therapeuten. Daher wurde er in Stufe 3 dazu angehalten, jede Bitte konsequent zu notieren. Überraschenderweise wurden seine Zählungen immer exakter. In Stufe 4 wurde der Patient gebeten, seine Zählungen unabhängig vom Therapeuten durchzuführen. Er erhielt jedes Mal dann eine Vergünstigung, wenn seine Zählung zu mindestens 50% mit der des Therapeuten übereinstimmte. Zu Beginn waren seine Zählungen wenig exakt, im weiteren Übungsverlauf konnte er sich jedoch steigern. Schließlich wurde in Stufe 5 die unabhängige Zählung fortgesetzt. Zusätzlich wurden Vergünstigungen gewährt, wenn die Anzahl der unangemessenen Bitten abnahm. Dies führte zu einer erheblichen Reduktion des Verhaltensproblems. Die Reduktion war anhaltend; nach einem 4-monatigen Intervall war sie noch immer zu beobachten. Unklar bleibt jedoch, in welchem Ausmaß der Patient seine Selbst-Monitoring-Fähigkeiten verbessern konnte. Möglicherweise fand eine Verbesserung nur für die Verhaltensaspekte statt, auf die sich die Therapie konzentrierte.
Zusammenfassung Die beschriebenen Studien legen nahe, dass Therapien zum Wiedererwerb exekutiver Fähigkeiten einigen Nutzen haben können. In der Tat könnte die Wiedererwerbstherapie bei dysexekutiven Störungen die exekutiven Funktionen stärker
Patientenbeispiel: 20-jähriger Mann Der junge Mann konnte mit seiner Schädel-Hirn-Verletzung zwar ohne Unterstützung leben, unterbrach jedoch abrupt Gespräche und schien nicht nachzudenken, bevor er handelte. Cicerone und Wood führten den »Turm von London« als Trainingsaufgabe durch, wobei der Patient gebeten wurde, jeden Zug im Voraus zu bedenken und diesen zu kommentieren, während er ihn ausführte. In einer zweiten Phase wurde der Patient instruiert, seine Kommentare zu flüstern anstatt sie laut vor sich hin zu sprechen. Schließlich wurde er in einer dritten Phase gebeten, nur »zu sich selbst zu sprechen«, d.h., zu denken, während er handelte. Die Therapie führte zum Erfolg. Der Therapieeffekt zeigte sich auch, und dies ist vielleicht noch wichtiger, bei zwei nicht trainierten Aufgaben. Als Folge eines Generalisierungstrainings kam es auch zu Verbesserungen im allgemeinen Sozialverhalten, wie zwei unabhängige Beurteiler feststellten. Die simple Selbstinstruktionstechnik half dem Patienten, seine Handlungsschritte zu verlangsamen und anstatt impulsiv zu handeln, über jeden seiner Schritte im Voraus nachzudenken.
Interne Checkliste Von Cramon und Matthes von Cramon (1995) stellen die interne Checkliste vor, die regelmäßig als Kompensation für exekutive Störungen angewandt werden kann (7 Patientenbeispiel: Herr L.).
Problemlöseprozessmodell Das Problemlöseprozessmodell von Shallice und Burgess (1996) in Verbindung mit der Funktion eines überwachenden Aufmerksamkeitssystems unterstreicht die Bedeutung des Abrufs von Erfahrungen aus der Erinnerung. Bei der Lösung einer neuen Aufgabe oder eines neuen Problems kann die Strategie hilfreich sein, sich für das gegenwärtige Problem an frühere Erfahrungen mit einem ähnlichen Problem zu erinnern. Dritchel et al. (1998) konnten zeigen, dass Personen mit einer Hirnverletzung oft nicht in der Lage sind, an frühere Erfahrungen bei der Lösung eines praktischen Problems anzuknüpfen; z.B. können sie nicht sagen,
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140
Kapitel 11 · Rehabilitation von Störungen der Exekutivfunktionen
11.3.4
Externe Hilfen
Patientenbeispiel: Herr L.
11
Sie stellen den 33-jährigen Arzt, Herrn L. vor, der mit 24 Jahren eine Schädel-Hirn-Verletzung erlitt. Sie führte zu einem bilateralen Frontalhirnschaden. Trotz seiner Verletzungen konnte Herr L. seine Prüfungen erfolgreich ablegen. Er wurde jedoch als »unstet« in der Arbeit beschrieben, da er mehrfach zwischen Anstellungen in der Neurochirurgie, Pathologie und Pharmakologie wechselte. Probleme waren, dass ihm zum einen die Übersicht fehlte, zum anderen war er auf sehr genaue Vorgaben angewiesen. Aus Feedback konnte er keinen Vorteil ziehen, und er verbrachte viel zu viel Zeit mit alltäglichen Routinearbeiten. Sobald neue oder sich ändernde Situationen eintraten, war er unfähig, damit umzugehen. In der mit ihm durchgeführten Studie wurde er in einer Abteilung für Pathologie beschäftigt, die ihm einen geschützten Rahmen bot. Seine Aufgabe war es, typische Pathologiebefunde auszuwerten. Es fiel rasch auf, daß er in seinen Schlussfolgerungen für eine Diagnose sprunghaft war. Daher gab man ihm eine Reihe von Regeln bzw. Richtlinien für eine systematische Erstellung von Diagnosen vor. Diese Regeln wurden ihm zu Therapiebeginn in Form einer geschriebenen Checkliste zur Verfügung gestellt. Später lernte Herr L. diese Liste auswendig und konnte die Regeln daher ohne die Checkliste anwenden. Damit konnte Herr L. nicht nur seine Fähigkeit verbessern, eine korrekte Diagnose zu stellen, sondern auch, einen medizinischen Befund zu schreiben. Trotz dieser Fortschritte zeigten sich für andere, neue Aufgaben keine Verbesserungen.
4 wie ein Urlaub zu buchen ist, 4 wie auf eine Stellenanzeige zu reagieren ist, oder 4 wie eine Wohnung zu mieten ist. Näher betrachtet Studie: Training zum Abruf autobiographischer Erinnerungen Hewitt et al. (2000) vermuteten, dass Patienten mithilfe eines kurzen Trainings zum Abruf autobiographischer Erinnerungen ihre Fähigkeit, praktische Aufgaben zu lösen, verbessern würden. Das Training beinhaltete eine Illustration (mit Hinweiskarten) spezifischer autobiographischer Erfahrungen aus der Vergangenheit, um den Zugriff auf spezifische Gedächtnisinhalte zu erleichtern und aus der praktischen Anwendung der Karten die Lösung einer speziellen Aufgabe zu finden. Die Leistungen zweier Gruppen wurden verglichen, wobei eine Gruppe das Training erhielt, die andere dagegen nicht. Es zeigte sich, dass sich die trainierte Gruppe im Vergleich zur untrainierten Gruppe signifikant besser an spezifische Gedächtnisinhalte erinnern und effektiver auf acht hypothetische Situationen reagieren konnte, z.B. darauf, wie eine Geburtstagsfeier zu organisieren oder eine neue Wohnung zu finden ist.
Fazit Eine Therapie, in der ein Abruf von spezifischen autobiographischen Gedächtnisinhalten trainiert wird, kann für Programme zum Problemlösetraining hilfreich sein.
Der häufigste Rehabilitationsansatz von Gedächtnisstörungen besteht darin, auf den Nutzen externer Hilfen hinzuweisen, z.B. 4 Checklisten, 4 Tagebücher oder 4 elektronische Hilfsmittel.
Aufschreiben Externe Hilfen sind auch für Personen mit Planungs- und Organisationsstörungen nützlich. Für einige scheint das Aufschreiben von Dingen ein guter Schutz vor impulsivem Handeln zu sein. Bei anderen führt das Aufschreiben zum Nachdenken über verschiedene Lösungsmöglichkeiten und zum Abwägen der Vor- und Nachteile, die mit einer Lösung verbunden sind.
Checklisten Das Zerlegen einer Aufgabe in Teilschritte kann bei einer exekutiven Störung beeinträchtigt sein. In einigen Fällen hilft der Gebrauch von Checklisten. Der Fall des Arztes (Herrn L.), der seine Leistungen im Schreiben von Pathologiebefunden verbessern konnte, wurde im obigen Fallbeispiel bereits dargestellt. Auch er nutzte eine Checkliste. Da er die Checkliste jedoch internalisieren konnte, wurde seine Aufgabe, obwohl durchaus komplex, für ihn zur Routine. Burke et al. (1991) stellen weitere sechs Fallbeispiele vor, in denen der Einsatz von Checklisten half, Pläne effektiver aufzustellen und auszuführen.
NeuroPage Eine Form der exekutiven Störung ist die Unfähigkeit, eine Handlung zu beginnen. In solchen Fällen können Checklisten ebenfalls nützlich sein. Ihr Nutzen setzt allerdings voraus, daß sich der Betroffene mit der Checkliste beschäftigt und die vorgegebenen Schritte während seines Handelns beachtet. Daher wird eine Hilfe benötigt, die zuverlässig zum Start einer Handlung führt. Eine solche Hilfe scheint der NeuroPage zu sein. Es konnte gezeigt werden, dass dieses System bei Personen mit Gedächtnisstörungen und exekutiven Beeinträchtigungen zuverlässig funktioniert (Wilson et al. 1997, Wilson et al. 2000). Das System beruht auf einer drahtlosen Übertragungstechnologie und setzt voraus, dass der Betroffene einen Empfänger bei sich trägt. Dinge, die getan werden müssen, werden in einen Zentralcomputer mit NeuroPage-Software eingegeben. Der Computer sendet mithilfe eines Modems automatisch Nachrichten an einen Provider, der wiederum die Nachricht zum Empfänger des Betroffenen weiterleitet. Ein Piepston kündigt die Nachricht auf dem Empfänger an. Das NeuroPage-System wurde bei einer Patientin eingesetzt, die infolge eines geplatzten Aneurysmas einen Schlaganfall erlitten hatte (Evans et al. 1998) (7 Patientenbeispiel: Frau P.).
141 11.3 · Therapie
Patientenbeispiel: Frau P. Das Hauptproblem von Frau P. war es, Absichten in Handlungen umzusetzen. Sie war auch leicht ablenkbar und hatte Schwierigkeiten, eine Aufgabe bis zum Ende durchzuführen. Trotz unbeeinträchtigter Gedächtnisleistungen und einer intakten Intelligenz hatten die exekutiven Störungen und Aufmerksamkeitsdefizite von Frau P. erhebliche Auswirkungen auf ihren Alltag. Obwohl sie genau sagen konnte, was sie im Einzelnen zu tun hatte, musste sie dazu angehalten werden, viele Dinge zu erledigen, z.B. ihre Medikamente einzunehmen oder ihre Blumen zu gießen. Sie war sehr schnell ablenkbar. Wenn es ihr endlich gelang, eine Aufgabe zu beginnen, wurde sie in der Regel durch andere Dinge sehr schnell abgelenkt. Sie war dann nicht fähig, wieder zu ihrer ursprünglichen Aufgabe zurückzukehren. Daher kostete es sie immens viel Zeit, ihre Angelegenheiten zu erledigen. Eine Prüfung der Leistung von Frau P., eine Reihe von Alltagsaufgaben auszuführen, erbrachte in einem A-B-A-B-Studiendesign, dass der NeuroPage die Patientin sehr effektiv dabei unterstützte, Aufgaben zeitgerecht zu erledigen. Dies führte dazu, dass sich der Stress bei dem Ehemann von Frau P. signifikant reduzierte. Evans et al. (1998) bemerkten, dass der Erfolg des NeuroPage auf zwei Dingen beruhte: 4 Zum einen schien die externe Textnachricht für Frau P. wichtig zu sein. Sie rief offensichtlich ein Verhalten hervor, das durch eine intern gesteuerte Absicht nicht erreicht werden konnte. Dies stimmt gut mit Lurias Sicht überein, der die Bedeutung des Frontalhirns zur Verhaltenskontrolle durch inneres Sprechen hervorhob. 4 Zum anderen erhöhte der Piepston des Empfängers die Aufmerksamkeit von Frau P. so, dass es ihr leichter fiel, eine Aufgabe zu beginnen. Zudem half der Piepston, die Aufmerksamkeit während der Durchführung der Aufgabe aufrechtzuerhalten.
Praxistipp Bei der Nutzung einer aufmerksamkeitserregenden Technik ist jedoch zu beachten, dass sich eine Person an den Piepston gewöhnen kann und er dadurch seinen Effekt einbüßt. Diese Gefahr besteht vor allem dann, wenn der Ton sehr häufig eingesetzt wird. Daher ist es wichtig, die Häufigkeit des Piepstons so zu wählen, dass er seine aufmerksamkeitserregende Funktion behält.
11.3.5
Umgebungsveränderungen
> Menschen mit ausgeprägten exekutiven Störungen oder mit einer Kombination von exekutiven und anderen Störungen können weder interne noch externe Hilfen eine Unterstützung bieten. Für die Betroffenen ist es daher notwendig, über eine Änderung einiger Aspekte der physischen und sozialen Umwelt nachzudenken.
Näher betrachtet Studie: Externe Aufmerksamkeitssignale Manly et al. (2002) untersuchten ebenfalls die Auswirkungen eines externen Aufmerksamkeitssystems. In einer Studie wurden die Leistungen von Schädel-Hirn-Verletzten in einer Mehrfachaufgabe unter zwei unterschiedlichen Bedingungen evaluiert. Die Aufgabe, der Hotel-Test, war ähnlich aufgebaut wie der modifizierte Sechs-Elemente-Test (Wilson et al. 1996): Der Patient wird gebeten, 6 verschiedene Aufgaben auszuführen, u.a. eine prospektive Gedächtnisaufgabe, die in der Realität von einem Hotelmanager erledigt werden könnte, z.B. 4 das Erstellen von Rechnungen, 4 das Anfertigen von Namensschildern, 4 das Heraussuchen von Telefonnummern, 4 das Korrekturlesen einer Broschüre und 4 das Drücken eines Knopfes, um eine Tür zu öffnen. In beiden experimentellen Situationen wurden parallel zwei Versionen eingesetzt: 4 Bei der einen wurde in relativ langen Abständen zufällig ein externes Aufmerksamkeitssignal (ein Ton auf einem Tonband) präsentiert. 4 Bei der anderen wurde kein Ton präsentiert. Die Studie bestand aus einem kontrollierten Crossover. Wie die Ergebnisse zeigten, erzielten die Teilnehmer bessere Leistungen, wenn der Ton präsentiert wurde. Man nahm an, dass der aufmerksamkeitserregende Ton die Verbindung zwischen dem festgelegten Ziel und dem gegenwärtigen Verhalten verstärkte. Die Töne hatten keinen besonderen Einfluss auf den Beginn eines Aufgabenwechsels. Vielmehr schienen sie die Fähigkeit zu verbessern, das allgemeine Aufgabenziel aktiv in Erinnerung zu behalten. Dadurch war ein flexiblerer Aufgabenwechsel möglich.
Eine Form, die Umgebung zu modifizieren, besteht darin, mit der Familie, den Freunden und Kollegen zusammenzuarbeiten. Dabei kann die Beratung entscheidend für die Familie sein, um sowohl die Störung zu verstehen als auch ihr Verhalten gegenüber einem Betroffenen zu modifizieren (Falldarstellung s. O’Brien et al. 1988). Eine Kombination von Störungen kann manchmal zu einem problematischen Verhalten führen, z.B. zu 4 Aggressionen oder 4 stereotypem Verhalten. Ein solches Verhalten kann einen Betroffenen von der Rehabilitation ausschließen und eine schwerwiegende Belastung für Familie, Freunde und professionelle Helfer darstellen. In solchen Situationen ist es sehr häufig notwendig, eine hochstrukturierte Umgebung mit der Möglichkeit zu schaffen, ein häufiges Feedback zu geben, um dem Betroffenen bei der Schulung und Modifikation seines Verhaltens zu unterstützen. Die Arbeiten von Alderman et al. (Alderman u. Burgess 1990, 1994; Alderman u. Ward 1991) stellen Beispiele für den Einsatz von Modifikationstechniken vor. Sie wurden ur-
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Kapitel 11 · Rehabilitation von Störungen der Exekutivfunktionen
sprünglich in Zusammenarbeit mit Personen entwickelt, die unter einem komplexen Muster von neuropsychiatrischen Verhaltensstörungen litten, die sich sowohl auf das Gedächtnis als auch auf exekutive Funktionen auswirkten.
11.4
Therapiestrategien in der Rehabilitation
In den vorangegangenen Abschnitten wurde eine Reihe von Interventionsmöglichkeiten vorgestellt, die für die Therapie des exekutiven Syndroms infrage kommen. Die kognitive Rehabilitationswissenschaft ist jedoch noch nicht so weit, dass sie »Regieanweisungen« für die Therapie einer spezifischen Störung unter spezifischen Bedingungen geben könnte. Jede Therapie muss im größeren Rehabilitationskontext des jeweiligen Betroffenen gesehen werden, wobei psychologische, soziale und berufliche Kontextfaktoren des Rehabilitanden zu beachten sind. Im Folgenden werden einige praktische Dinge angesprochen, die bei der Therapie von exekutiven Störungen in Betracht zu ziehen sind.
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jMotivation Personen mit exekutiven Störungen haben häufig Probleme, ihre Störung wahrzunehmen. Daraus resultieren häufig Motivationsprobleme, deren Ausmaß bei der Therapieplanung berücksichtigt werden muss: 4 Für Patienten, die unfähig sind, sich auf diese Themen einzulassen, können Umgebungsmodifikationen – zumindest zu Anfang – die beste Lösung darstellen. 4 Für diejenigen, die in der Lage und auch willens sind, sich in ein Gespräch einzulassen, sollten während oder ggf. vor Beginn eines Therapieprogramms individuelle oder Gruppenangebote für die übrigen exekutiven Störungen durchgeführt werden, um die Einsicht zu fördern. Es würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen, alle Techniken zur Förderung der Einsicht vorzustellen. Es mag genügen, darauf hinzuweisen, dass in Informationsgruppen, die sich mit den Folgen einer Hirnschädigung beschäftigen (Wilson et al. 2000), mehrere Techniken eine Rolle spielen können, z.B. 5 Eigen- oder Fremdmonitoring, 5 Feedback und 5 psychotherapeutische Behandlungen. Der restitutive Ansatz von Rath et al. (2003) (s.o.) legt in der ersten Therapiephase mehr Gewicht auf Einstellung und Motivation als auf die Lösung eines Problems. Das letztendliche Ziel der Rehabilitation ist es, die Fähigkeitsstörung (»disability«) und das Handicap zu reduzieren, oder, um es in der gegenwärtigen Terminologie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auszudrücken, die Aktivität (»activity«) und Partizipation zu verbessern. Bisher mangelt es den meisten Studien, die sich mit der Therapieeffizienz vor allem des Wiedererwerbsansatzes beschäftigen, an Evidenz, die eine Übertragung von Verbesserungen auf den Alltag eines Patienten nachweisen. Dies unterstreicht, wie wichtig es
ist, jede individuelle Therapie in Übereinstimmung mit den persönlichen Zielen eines Betroffenen zu planen. > Motivation und Bereitschaft für eine Therapie werden vermutlich dann maximal sein, wenn der Patient erkennt, wie die Therapie der Erreichung persönlicher Ziele dient. Auf die Ziele kann man sich in einem Gespräch oder Vertrag mit den Rehabilitanden einigen.
jAbstraktes Denken Vor allem das eingeschränkte abstrakte Denken macht es für Patienten mit einer exekutiven Störung schwierig, Strategien spontan in neuen funktionellen Situationen anzuwenden. Aus diesem Grund ist eine Generalisierungstherapie ein äußerst wichtiger Bestandteil der meisten Therapieansätze. Unter bestimmten Bedingungen kann es für einen Patienten jedoch unmöglich sein, selbständig Strategien in neuen Situationen anzuwenden. So kann eine Checkliste für eine Aufgabe zwar eine Handlung und deren Durchführung erleichtern, für eine andere Aufgabe jedoch keinen Vorteil bringen. In diesem Fall mag helfen, so viele Situationen wie möglich festzulegen, in denen die Anwendung der Checkliste von Nutzen ist. Der Patient würde dann unterstützt werden, in jeder dieser Situationen die Checkliste anzuwenden. Eine Schulung von Angehörigen oder Betreuern in der Anwendung des Therapieprinzips kann ebenfalls hilfreich sein (7 Patientenbeispiel: Herr R.).
11.5
Literatur
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143 11.5 · Literatur
Patientenbeispiel: Herr R. Herr R. war ein Geschäftsmann, der sich infolge eines Verkehrsunfalls eine sehr schwere Kopfverletzung zugezogen hatte. Bei der Aufnahme ins Krankenhaus betrug der Wert auf der Glasgow Coma Scale 6 Punkte. Aus den Befunden geht die Dauer des Komas nicht klar hervor; die posttraumatische Amnesie bestand jedoch mindestens eine Woche. Die CT-Bilder zeigten eine diffuse axionale Schädigung und eine fokale, im rechten Frontallappen lokalisierte Kontusion. Ca. 2 Jahre nach dem Unfall wurde Herr R. in unser Rehabilitationszentrum zur intensiven neuropsychologischen Therapie (s. Wilson et al. 2000) überwiesen. Er war bis dahin nicht in der Lage, seine berufliche Tätigkeit, die Anleitung und Führung von Verkaufspersonal, wiederaufzunehmen. Er hatte Konzentrationsschwierigkeiten. Außerdem tendierte er zu Impulsivität, was auch Gesprächssituationen einschloss, bei denen er andere einfach unterbrach. Er war sich wohl bewusst, langsamer zu sein als vor seinem Unfall. Sein Sprechen war beeinträchtigt, und er hatte Gleichgewichts- und Koordinationsprobleme. Über seinen Zustand war er mehr als unglücklich. Die Überprüfung seiner kognitiven Fähigkeiten ergab Störungen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses (betroffen waren Langzeit- und Arbeitsgedächtnis) und des Schreibens. Die Beobachtungen des Rehabilitationsteams bestätigten seine Tendenz zur Impulsivität. Die Einsicht von Herrn R. gegenüber dem Impulsivitätsproblem war jedoch eingeschränkt. In der Tat war er schon vor seinem Unfall ein sehr impulsiver Mensch; er selbst schrieb seiner Impulsivität sogar einige seiner beruflichen Erfolge zu. Daher war es sehr leicht für ihn, jeden Hinweis auf seine unangemessene Impulsivität durch einen Verweis auf seine prämorbide Persönlichkeit zu relativieren. Das Behandlerteam vereinbarte eine Reihe von persönlichen Zielen mit Herrn R. Dazu gehörten ein besseres Verständnis der Ursache und Folgen seiner Hirnschädigung, die Rückkehr zu seinem Arbeitsplatz, die regelmäßige Teilnahme am Vereinssport sowie störungsspezifische Ziele (z.B. Entwicklung und Anwendung therapeutischer Strategien, um spezielle kognitive Beeinträchtigungen zu bewältigen). Herr R. erhielt Sprachtherapie, um seine Schreibfähigkeiten zu verbessern. Er wurde angeleitet, ein elektronisches Hilfsgerät (ein Nokia Handy) zu benutzen, um sein Gedächtnis in den Bereichen Planung und Erinnerung an zu erledigende Dinge zu entlasten.
Das Rehabilitationsteam legte jedoch als ein Hauptziel der Behandlung die Reduktion der Impulsivität von Herrn R. fest. Daher wurden Therapieansätze zum Umgang mit dem Problem der Impulsivität entwickelt. Um die Einsicht von Herrn R. in seine Probleme zu erhöhen, wurden Eigenwahrnehmung und Fremdbeurteilung genutzt, um Beispiele von impulsivem Handeln innerhalb von Einzel- und Gruppentherapien bewusst zu machen. Diese Beispiele wurden verglichen und in Einzeltherapien besprochen. Herr R. nahm an einer Informationsgruppe über Ursachen und Folgen einer Hirnschädigung teil, in der er angeleitet wurde, ein persönliches Tagebuch zu führen, das die Charakteristika und Folgen seiner Hirnschädigung zum Thema hatte. Zudem bekam Herr R. eine Hinweiskarte mit der Aufschrift »Stopp! Nachdenken!«, die er an seinem Handy befestigte. Damit sah er die Karte mehrmals täglich. Sie sollte ihm helfen, seine Aufmerksamkeit für längere Zeit auf eine bestimmte Angelegenheit zu lenken. Herr R. nahm an einer Aufmerksamkeits- und Planungsgruppe teil. In dieser Gruppe (Evans 2001) war es das Ziel, Problemlöseansätze zu erarbeiten. Dazu wurden Übungen durchgeführt, um die Hauptschritte bei einer Problemlösung zu illustrieren: 4 Problemidentifikation, 4 Definition von Zielen, 4 Erarbeiten möglicher Lösungen, 4 Evaluation von Lösungen, 4 Treffen von Entscheidungen, 4 Planen von Handlungsschritten, 4 Ausarbeitung von Handlungsplänen, 4 Prüfung des Fortschritts, 4 Evaluation des Ergebnisses. Es wurde eine schriftliche Anweisung zusammen mit einem Arbeitsblatt zur Verfügung gestellt, das die Teilnehmer nutzen konnten, um sowohl hypothetische als auch tatsächlich existierende Probleme anzugehen. Der Grund, Herrn R. mit diesem schriftlichen Material zu versorgen, war der, ihn zu ermutigen, seine Reaktionen auf bestimmte Situationen weniger impulsiv, sondern bedachter zu gestalten. Aus dem Gespräch über das beobachtete Verhalten ergab sich, dass Herr R. in Gesprächen manchmal impulsiv reagierte, weil er Sorge hatte, seinen Gesprächsbeitrag schlicht zu vergessen. Wegen seiner Gedächtnisprobleme tendierte er dazu, sofort zu sagen, was er im Sinn hatte. Damit erfolgten seine Beiträge nicht immer an den passenden Stellen des Gesprächs. Daher wurden Regeln er-
arbeitet, die ihm in solchen Situationen helfen konnten. Während eines Treffens machte er sich z.B. Notizen, die ihm als Erinnerungsstütze für Dinge dienten, die er später sagen wollte. Manchmal setzte er auch ein Diktiergerät ein, um kurz die Dinge aufzuzeichnen, die ihm wichtig waren. Zu seinen beruflichen Aufgaben gehörten die Anleitung und Führung von Verkaufspersonal. Wir befürchteten, dass die Impulsivität von Herrn R. seine Fähigkeit reduzieren würde, effektiv auf das zu hören, was seine Mitarbeiter zu ihm sagen würden. Daher erhielt Herr R. eine zusätzliche Therapie für aktives Zuhören. Die Verhaltensbeobachtung zeigte auch den Einfluss einer vorschnellen Ermüdung auf die Impulsivität. Wie viele andere Personen mit einer Hirnschädigung ermüdete Herr R. schneller als vor seinem Unfall. Sobald er jedoch müde war, nahm seine Impulsivität zu. Die Therapeuten erarbeiteten Strategien mit Herrn R., um der vorschnellen Ermüdung zu begegnen: Begrenzung seiner Arbeitszeit und ein Fitnesstraining, das langsam gesteigert werden sollte. Zunächst nahm Herr R. für einen Zeitraum von 10 Wochen täglich an dem Rehabilitationsprogramm teil. Danach war er für weitere 10 Wochen teilstationärer Patient, wobei er seinen Aufenthalt langsam von 3 Tagen auf einen Tag/Woche reduzierte. Gleichzeitig erhöhte er die Zeitdauer, die er an seinem Arbeitsplatz verbrachte. Im Beruf hatte Herr R. eine Reihe spezifischer Aufgaben zu erfüllen, z.B. die Entwicklung eines Trainingsprogramms für neue Mitarbeiter, die im Telefonverkauf arbeiteten. Dabei unterstützte ihn ein Kollege als Mentor, der vom Rehabilitationsteam eingewiesen wurde, Herrn R. bei der Anwendung der therapeutischen Strategien zu helfen. Mit Herrn R. wurde vereinbart, ein Tagebuch zu führen, in dem die Strategien aufgelistet wurden, die sich für eine spezifische berufliche Anforderung oder Situation (z.B. Geschäftstreffen, Schulung von Mitarbeitern oder Mitarbeitergespräche) als nützlich herausstellten. Zunehmend entwickelte sich eine langsam anwachsende Generalisierung von Strategien von der Rehabilitationseinrichtung zum Arbeitsplatz. Herrn R. gelang es nicht, wieder Vollzeit zu arbeiten. Er arbeitete zwar an 5 Tagen in der Woche, allerdings mit reduzierter Stundenanzahl. Herr R. konnte nicht mehr den gleichen Verantwortungsgrad wie vor seinem Unfall übernehmen. Seine Geschäftspartner berichteten jedoch, dass Herr R. entscheidende Impulse geben konnte.
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Kapitel 11 · Rehabilitation von Störungen der Exekutivfunktionen
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12
Störungen der Aufmerksamkeit H. Niemann, S. Gauggel 12.1 Definition und Taxonomie der Aufmerksamkeit 12.1.1 Definition der Aufmerksamkeit – 146 12.1.2 Taxonomie (Einordnung) der Aufmerksamkeit
– 146
– 146
12.2 Neuronale Basis von Aufmerksamkeitsprozessen – 149 12.2.1 Neuronale Netzwerke – 149 12.2.2 Zusammenfassung – 150
12.3 Aufmerksamkeitsstörungen bei ausgewählten neurologischen Erkrankungen – 150 12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4 12.3.5
Schädel-Hirn-Trauma – 151 Schlaganfall – 151 Multiple Sklerose – 152 Demenz vom Alzheimer-Typ – 153 Zusammenfassung – 153
12.4 Diagnostik von Aufmerksamkeitsstörungen 12.5 Neuropsychologische Diagnostik
– 153
– 154
12.5.1 Grundlegendes Vorgehen – 154 12.5.2 Exploration – 155 12.5.3 Verhaltensbeobachtung – 155
12.6 Neuropsychologische Testverfahren und Fragebögen 12.6.1 12.6.2 12.6.3 12.6.4 12.6.5 12.6.6
Testbatterien – 156 Untertests der Testbatterien – 157 Einzeltests – 157 Fragebögen – 161 Hypothesengeleiteter Ansatz in der Diagnostik Zusammenfassung – 162
12.7 Therapie von Aufmerksamkeitsstörungen
– 156
– 161
– 162
12.7.1 Restitution gestörter Aufmerksamkeitsfunktionen – 163 12.7.2 Kompensation gestörter Aufmerksamkeitsfunktionen – 165
12.8 Wirksamkeitsnachweise und Therapieempfehlungen 12.8.1 Leitlinien für neuropsychologische Therapieverfahren 12.8.2 Meta-analytische Studien – 166 12.8.3 Zusammenfassung – 167
12.9 Literatur
– 167
– 166
– 166
146
Kapitel 12 · Störungen der Aufmerksamkeit
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Aufmerksamkeitsstörungen, die eine der häufigsten kognitiven Störungen nach einer Schädigung oder Erkrankung des Gehirns sind. Nach einer kurzen Übersicht über wichtige Aufmerksamkeitstheorien und aktuelle Erkenntnisse über die neuronale Einbindung von Aufmerksamkeitsprozessen werden die zentralen Symptome einer Aufmerksamkeitsstörung beschrieben. Im Anschluss daran werden die Grundzüge der neuropsychologischen Diagnostik von Aufmerksamkeitsleistungen und therapeutische Ansätze zur Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen vorgestellt. Nicht berücksichtigt werden in diesem Kapitel der Neglect und Störungen der Aufmerksamkeit bei Kindern.
Aufmerksamkeit ist nicht nur von zentraler Bedeutung für andere kognitive Prozesse (z.B. Problemlösen und Gedächtnis), sondern auch eine notwendige Voraussetzung für erfolgreiches Handeln im Alltag und Berufsleben. Schon leichte Hirnschädigungen können zu einer Beeinträchtigung von Aufmerksamkeitsfunktionen führen. Deshalb überrascht es nicht, wenn Aufmerksamkeitsstörungen in der Rehabilitation neurologischer Patienten besondere Beachtung finden. Näher betrachtet Studie: Aufmerksamkeitsstörungen
12
Robertson et al. (1997) stellten bei einer Gruppe von Patienten nach rechtshemisphärischem Schlaganfall fest, dass eine verminderte Daueraufmerksamkeit mit einem schlechteren Ergebnis in der motorischen Rehabilitation einherging. Außerdem erwiesen sich Defizite in der Daueraufmerksamkeit während der Rehabilitation als prognostisch ungünstig für den Grad der Selbständigkeit 2 Jahre später. Eine vergleichbare Bedeutung hat das Aufmerksamkeitsniveau für das Erlernen von Gedächtnishilfen und deren Einsatz im Alltag bei neurologischen Patienten (Evans et al. 2003). Viele Patienten nehmen ihre Aufmerksamkeitsstörungen in der frühen Phase der Rehabilitation nicht genügend wahr und schätzen die Folgen für das Alltagsleben falsch ein (z.B. Allen u. Ruff 1989). Zahlreiche Untersuchungen (Brouwer et al. 1989, Gronwall 1977, Jacobs 1988, MacFlynn et al. 1984, McMillan u. Glucksman 1987, Thomsen 1984, van Zomeren u. van den Burg 1985) belegen, dass in Abhängigkeit von der Schwere des Schädel-Hirn-Traumas und dem Untersuchungszeitpunkt zwischen 30–75% der Patienten unter Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen leiden, und dass sich diese Störungen negativ auf den Grad ihrer Selbständigkeit auswirken.
In den nachfolgenden Abschnitten werden die für den Kliniker relevanten Aufmerksamkeitsprozesse vorgestellt, die neurobiologischen Grundlagen der Aufmerksamkeit erläutert und die klinische Symptomatik beschrieben, soweit sie sich im Hinblick auf die unterschiedlichen neurologischen Erkrankungen differenzieren lässt. Daran schließt sich eine Darstellung ausgewählter Untersuchungsverfahren und Behandlungsmethoden an.
12.1
Definition und Taxonomie der Aufmerksamkeit
12.1.1
Definition der Aufmerksamkeit
Näher betrachtet Studien: Erkenntnisse über die neuronale Einbindung der Aufmerksamkeit Aufmerksamkeitsprozesse spielen seit langer Zeit sowohl in der psychologischen Grundlagenforschung als auch in der klinischen Forschung eine wichtige Rolle. Neben experimentalpsychologischen Studien haben immer auch neurowissenschaftliche Untersuchungen grundlegende Erkenntnisse über die funktionelle Architektur und neuronale Einbindung der Aufmerksamkeit geliefert. Allerdings haben die unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen und Begrifflichkeiten eine Integration der empirischen Befunde und die Entwicklung einer allgemein akzeptierten Theorie der Aufmerksamkeit erschwert und erschweren diese heute noch. Unsere Darstellung ist deshalb notwendigerweise selektiv und beschränkt sich auf solche Arbeiten und Ergebnisse, die aus unserer Sicht für die klinische Praxis von theoretischer und praktischer Bedeutung sind. Ausführliche Übersichten zum Thema Aufmerksamkeit finden sich u.a. bei Kastner und Ungerleider (2000), Parasuraman (1998), Posner (1995) sowie Posner und Petersen (1990).
Definition Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit des Menschen, aus der Vielzahl der Sinneseindrücke und -informationen diejenigen auszuwählen, die sein Interesse finden und für die Planung und Durchführung von Handlungen von Bedeutung sind (Selektionsfunktion der Aufmerksamkeit). Eine wichtige Voraussetzung für diesen Selektionsprozess ist ein ausreichender Wachheitsgrad (Aktivierungsfunktion der Aufmerksamkeit); nur so können die relevanten Informationen überhaupt aufgenommen und zuverlässig verarbeitet werden.
12.1.2
Taxonomie (Einordnung) der Aufmerksamkeit
In der Literatur sind die Aktivierungs- und Selektionsfunktion als zentrale Komponenten der Aufmerksamkeit inzwischen weiter differenziert worden, so dass heute i.d.R. von fünf Komponenten der Aufmerksamkeit gesprochen wird (. Übersicht 12.1, . Tab. 12.1) (Parasuraman 1998, Posner u. Petersen 1990, van Zomeren u. Brouwer 1994). jAufmerksamkeitsaktivierung > Unter Aufmerksamkeitsaktivierung (Alertness) versteht man die Fähigkeit, eine Reaktionsbereitschaft herzustellen.
147 12.1 · Definition und Taxonomie der Aufmerksamkeit
. Tab. 12.1. Komponenten der Aufmerksamkeit Komponente
Definition
Alertness (Aufmerksamkeitsaktivierung)
Fähigkeit des Organismus, kurzfristig eine allgemeine Reaktionsbereitschaft herzustellen
4 Tonische Alertness
Allgemeine physiologische Aktivierung und Erhöhung der Reaktionsbereitschaft des Organismus
4 Phasische Alertness
Fähigkeit zur kurzfristigen Steigerung der Aufmerksamkeit im Hinblick auf einen Warnreiz
Daueraufmerksamkeit und Vigilanz
Fähigkeit, relevante Reize über einen längeren Zeitraum zu beachten und auf diese Reize zu reagieren Vigilanz ist die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung des Aufmerksamkeitsniveaus unter extrem monotonen Bedingungen (sehr geringe Auftretensrate kritischer Reize) Daueraufmerksamkeit ist die Fähigkeit, die selektive Aufmerksamkeit unter Einsatz mentaler Anstrengung (»mental effort«) willentlich und kontrolliert (»conscious volition«) aufrechtzuerhalten (hohe Auftretensrate kritischer Reize mit zusätzlicher perzeptueller Anforderung und/oder Gedächtnisanforderung)
Selektive Aufmerksamkeit (inkl. fokussierte Aufmerksamkeit und Orientierung)
Fähigkeit, bestimmte Merkmale einer Aufgabe oder einer Situation auszuwählen, schnell und zuverlässig auf die ausgewählten Reize zu reagieren und sich durch irrelevante oder unwichtige Reize nicht ablenken zu lassen
Geteilte Aufmerksamkeit
Fähigkeit, zwei oder mehrere Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen
Exekutive Aufmerksamkeit (inkl. Aufmerksamkeitswechsel)
Fähigkeit zur willentlichen Kontrolle und Steuerung von Informationsverarbeitungsprozessen (Flexibilität beim Aufmerksamkeitswechsel, Reaktionshemmung, Interferenz bei Informationsverarbeitung)
. Übersicht 12.1. Zentrale Komponenten der Aufmerksamkeit 1. 2. 3. 4. 5.
Aufmerksamkeitsaktivierung (Alertness) Daueraufmerksamkeit und Vigilanz Selektive (fokussierte) Aufmerksamkeit Geteilte Aufmerksamkeit Exekutive Aufmerksamkeit
Unterschieden werden eine tonische und eine phasische Komponente der Aufmerksamkeitsaktivierung: 4 Die tonische Alertness bezieht sich auf eine allgemeine physiologische Aktivierung der Reaktionsbereitschaft des Organismus. Diese Aktivierung unterliegt 5 sowohl langsamen zirkadianen Schwankungen mit Leistungsspitzen und -tiefs im Verlauf von 24 Stunden (z.B. reduzierte Aktivierung nach dem Mittagessen) 5 als auch bei situativen Anforderungen (z.B. erhöhte Aktivierung in Prüfungssituationen oder bei Kontrolltätigkeiten). 4 Als phasische Alertness wird die Fähigkeit einer kurzfristigen Steigerung der Aufmerksamkeit im Hinblick auf einen Warnreiz (z.B. Ampelsituation) bezeichnet.
jDaueraufmerksamkeit > Unter Daueraufmerksamkeit (»sustained attention«) versteht man die Fähigkeit, relevante Reize über einen längeren Zeitraum zu beachten und auf diese Reize zu reagieren.
Daueraufmerksamkeit ist also die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit gezielt (selektiv) mit Anstrengung (»mental effort«) und bewusster Kontrolle (»conscious volition«) aufrechtzuerhalten: 4 Treten die relevanten Reize sehr selten auf, spricht man von Vigilanz. Mit diesem Begriff wird das Aufrechterhalten eines gleichmäßig hohen Aktivierungsgrades über einen längeren Zeitraum (z.B. Stunden) bei geringem Auftreten kritischer Signale (niedrige Ereignisrate), also bei großer Monotonie verstanden. 4 Erscheinen die Reize häufig (hohe Ereignisrate) und stellen sie zusätzliche Anforderungen an die Wahrnehmung oder das Gedächtnis, handelt es sich um Daueraufmerksamkeit. ! Cave Bei der Daueraufmerksamkeit steht das Erbringen von Leistungen mit einer größeren kognitiven Beanspruchung im Vordergrund und nicht die Dauer der Aufmerksamkeitszuwendung per se. Der Unterschied zwischen Vigilanz und Daueraufmerksamkeit bezieht sich somit auf die Bedingungen, unter denen relevante Reize oder Ereignisse auftreten und verarbeitet werden müssen.
12
148
Kapitel 12 · Störungen der Aufmerksamkeit
jSelektive Aufmerksamkeit Die selektive Aufmerksamkeit (»orienting«) ist sicherlich der Aspekt der Aufmerksamkeit, der in den letzten Jahrzehnten am intensivsten erforscht wurde.
einem Zusammenspiel zwischen selektiver und exekutiver Aufmerksamkeit.
> Bei selektiver Aufmerksamkeit handelt es sich um die Fähigkeit, 4 bestimmte Merkmale einer Aufgabe oder Situation auszuwählen, 4 schnell und zuverlässig auf die ausgewählten Reize zu reagieren und 4 sich durch irrelevante oder unwichtige Reize nicht ablenken zu lassen.
> Unter exekutiver Aufmerksamkeit (»executive attention«) versteht man die Fähigkeit zur willentlichen Kontrolle und Steuerung bei der Verarbeitung von Informationen.
Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit erfolgt entweder durch externe (z.B. besonders hervorstechende Merkmale) oder durch interne Faktoren (z.B. Erwartung eines bestimmten Reizes). Die Ausrichtung der Sinnesorgane auf die Reizquelle muss dabei nicht immer offensichtlich (»overt«) sein – wie anhand einer Orientierungsreaktion erkennbar (Sokolov 1963) – sondern kann auch verdeckt (»covert«) erfolgen. Posner (1995) spricht in diesem Zusammenhang von Aufmerksamkeitsorientierung. Dabei handelt es sich um einen verdeckten kognitiven Prozess mit dem Reize im Raum wahrgenommen und ausgewählt werden. jGeteilte Aufmerksamkeit
12
> Als geteilte Aufmerksamkeit (»divided attention«) wird die Fähigkeit bezeichnet, zwei oder mehrere Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen, z.B. Unterhalten beim Autofahren oder Zuhören und Mitschreiben.
Wie gut diese Aufmerksamkeitsteilung gelingt, hängt vor allem von zwei Faktoren ab, 4 dem Automatisiertheitsgrad der beiden Aufgaben und 4 dem Ausmaß, inwieweit beide Aufgaben dieselbe kognitive Ressource (z.B. Sprache) beanspruchen. Beispiel Die Unterhaltung während einer Autofahrt bereitet meist keine Schwierigkeiten auf einer vertrauten Strecke, während eine Fahrt durch eine unbekannte Stadt wahrscheinlich immer wieder zu einer Unterbrechung der Unterhaltung führen wird. Genauso wird das Mitschreiben während eines Vortrags i.d.R. anstrengend sein, weil sowohl das Mitschreiben als auch das Zuhören auf das Sprachsystem als Ressource zugreifen. Erleichterungen können sich ergeben, wenn das Mitschreiben sehr trainiert ist, eine Kurzschrift beherrscht wird und das Vortragsthema vertraut ist.
Die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitsteilung wird i.d.R. mit einem Doppelaufgaben-Paradigma (»dual-task-paradigma«) untersucht und spielt vor allem bei den sog. Ressourcentheorien der Aufmerksamkeit eine wichtige Rolle (z.B. Kahneman 1973). Da bei der Verteilung der kognitiven Ressourcen auf zwei Aufgaben exekutive Fähigkeiten benötigt werden, es bei den Doppelaufgaben-Paradigmen gleichzeitig aber auch immer um die Selektion relevanter Reize geht, kommt es zu
jExekutive Aufmerksamkeit
Der Begriff »exekutive Aufmerksamkeit« wird erst seit einigen Jahren in der Aufmerksamkeitsliteratur verwendet und soll eine weitere Komponente der Aufmerksamkeit darstellen (z.B. Kane u. Engle 2002). Problematisch erscheint, dass der Begriff nicht einheitlich verwendet wird und die Abgrenzung zu den sog. exekutiven Funktionen schwierig ist (7 Kap. 11). Die exekutive Aufmerksamkeit bezieht sich vor allem auf die Fähigkeit, 4 störenden (interferierenden) Reizen keine oder nur wenig Beachtung zu schenken, 4 Reaktionen darauf zu hemmen (Inhibition) und 4 schnell auf wechselnde Zielreize zu reagieren (Umstellfähigkeit). Die exekutive Aufmerksamkeit ist für zielgerichtetes Handeln notwendig und verhindert, dass Reaktionen durch irrelevante Aspekte einer Aufgabe/Situation unterbrochen oder beeinträchtigt werden. Mit anderen Worten, die exekutive Komponente der Aufmerksamkeit ist an der Steuerung von Selektionsprozessen und der Verteilung von kognitiven Ressourcen beteiligt. jInformationsverarbeitungsgeschwindigkeit Zusätzlich zu den aufgeführten Komponenten wird in der Aufmerksamkeitsliteratur immer wieder auch der Begriff der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit verwendet. Es handelt sich dabei um die Geschwindigkeit, mit der kognitive Prozesse (z.B. Diskrimination von zwei unterschiedlichen visuellen Reizen) realisiert werden können. Salthouse (1996) postuliert zwei Mechanismen, die die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit beeinflussen: 4 Der Mechanismus der Zeitbegrenzung (»limited time mechanism«) führt dazu, dass aufgrund einer kognitiven Verlangsamung Verarbeitungsprozesse in einer vorgegebenen Zeit nicht beendet werden können. 4 Demgegenüber kommt es beim Mechanismus der Gleichzeitigkeit (»simultaneity mechanism«) dazu, dass durch die Verlangsamung auf einer basalen Verarbeitungsebene nicht rechtzeitig alle notwendigen Informationen zur Verfügung stehen, die für eine erfolgreiche Lösung komplexerer Aufgaben erforderlich sind. Beispiel Ein Arbeitstreffen findet in englischer Sprache statt. Einzelne Teilnehmer, deren Muttersprache nicht Englisch ist, werden nun wahrscheinlich mehr Zeit benötigen, um die Redebeiträge zu verstehen und sich selbst zu äußern. Die Folge ist, dass sie Teile der Diskussion verpassen und ihre Äußerungen unter Umständen zu spät kommen, da die anderen Gruppenmitglieder schon beim nächsten Thema sind.
149 12.2 · Neuronale Basis von Aufmerksamkeitsprozessen
Fazit Aufmerksames Handeln setzt einen ausreichenden Wachheitsbzw. Aktiviertheitsgrad voraus, damit aus der Vielzahl der Umweltreize und Informationen die wichtigen ausgewählt werden können. Wenn dies mit Anstrengung verbunden ist, spricht man von Daueraufmerksamkeit, während bei monotonen Aufgaben von Vigilanz gesprochen wird. Zur exekutiven Aufmerksamkeit gehören 4 die Verteilung der kognitiven Ressourcen (z.B. im Sinne der geteilten Aufmerksamkeit), 4 die Kontrolle bei Selektionsprozessen, aber auch 4 das schnelle und flexible Reagieren auf veränderte Anforderungen.
12.2
Neuronale Basis von Aufmerksamkeitsprozessen
Die meisten Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass Aufmerksamkeitsprozesse durch unterschiedliche und miteinander in Verbindung stehende neuronale Netzwerke realisiert werden (Fernandez-Duque u. Posner 2001). Belege für die Lokalisation der verschiedenen Netzwerke stammen aus Untersuchungen von Menschen mit umschriebenen Hirnschädigungen mit bildgebenden und elektrophysiologischen Verfahren sowie aus tierexperimentellen und neuropharmakologischen Studien (Parasuraman 1998).
12.2.1
Neuronale Netzwerke
Die drei heute postulierten Aufmerksamkeitsnetzwerke sind in . Übersicht 12.2 aufgelistet. Diesen drei Netzwerken lassen sich die fünf bereits beschriebenen Aspekte der Aufmerksamkeit zuordnen (. Tab. 12.2), wobei allerdings die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit unberücksichtigt bleibt. Im Folgenden wird
. Übersicht 12.2. Aufmerksamkeitsnetzwerke 1. 2. 3.
Alerting-Netzwerk Orienting-Netzwerk Executive-Control-Netzwerk
die neuronale Einbindung der Aufmerksamkeitsnetzwerke beschrieben, deren funktionaler Beitrag heute empirisch gut gesichert ist.
Alerting-Netzwerk Das neuronale Netzwerk für die Aufmerksamkeitsaktivierung (»alerting network«) reguliert 4 Alertness, 4 Vigilanz und 4 Daueraufmerksamkeit. Zum Alerting-Netzwerk gehören 4 der rechte dorsolaterale präfrontale Kortex, 4 das cholinerge basale Vorderhirn, 4 der Nucleus intralaminaris, 4 der Nucleus reticularis des Zwischenhirns, 4 der Locus coeruleus und 4 das retikuläre System im Hirnstamm (Posner u. Petersen 1990, Posner u. Raichle 1996, Sturm et al. 2004a). > Die subkortikalen Strukturen sind für die kortikale Aktivierung verantwortlich.
Unter den Neurotransmittern kommt dem Noradrenalin in diesem Zusammenhang eine wesentliche Bedeutung zu (Marrocco u. Davidson 1998, Posner u. Petersen 1990). Die stärkere Innervation der rechten Hemisphäre durch das aufsteigende noradrenerge System weist zusätzlich noch auf eine Lateralisierung des Aktivierungssystems hin. Eine Reduktion des Noradrenalins führt bei Menschen während der Bearbeitung
. Tab. 12.2. Komponenten der Aufmerksamkeit: Lokalisation und Neurotransmitter Komponente
Lokalisation
Neurotransmitter
Alertness (Aufmerksamkeitsaktivierung) Daueraufmerksamkeit und Vigilanz
Hirnstammanteil der Formatio reticularis, v.a. noradrenerge Kerngebiete, dorsolateraler präfrontaler und inferiorer parietaler Kortex der rechten Hemisphäre, intralaminare und retikuläre Thalamuskerne, anteriore Anteile des Gyrus cinguli
Noradrenalin
Selektive Aufmerksamkeit (inkl. fokussierte Aufmerksamkeit und Orientierung)
Inferiorer Parietallappen (»disengage«), Colliculi superiores (»shift«), posterior-lateraler Thalamus, besonders Pulvinar (»engage«) Inferiorer frontaler Kortex, v.a. der linken Hemisphäre (Inhibition?), frontothalamische Verbindungen zum Nucleus reticularis des Thalamus, anteriores Cingulum
Acetylcholin
Geteilte Aufmerksamkeit
Präfrontaler Kortex (bilateral), anteriore Abschnitte des Cingulums
Dopamin
Exekutive Aufmerksamkeit (inkl. Aufmerksamkeitswechsel)
Basalganglien
Dopamin
12
150
Kapitel 12 · Störungen der Aufmerksamkeit
von Aufgaben mit Anforderungen an die Daueraufmerksamkeit zu einem Fehleranstieg (»lapses of attention«) (Smith u. Nutt 1996). Läsionen im rechten präfrontalen Kortex beeinflussen nicht nur das Aktivierungsniveau negativ, sondern beeinträchtigen auch die phasische Alertness. Ungeklärt ist dagegen der Zusammenhang zwischen Aktivierung und Vigilanzreduktion (»vigilance decrement«). Rueckert und Grafman (1996) fanden bei Patienten mit rechtsseitigen orbitofrontalen Läsionen eine Zunahme der Fehlerrate im zeitlichen Verlauf.
Orienting-Netzwerk Das neuronale Netzwerk für die Selektion (»orienting network«) setzt sich zusammen aus 4 dem Parietallappen, 4 dem temporo-parietalen Übergangsbereich, 4 den superioren Colliculi und 4 dem frontalen Augenfeld (Posner u. Dehaene 1994). Näher betrachtet Bildgebungsstudien Bildgebungsstudien haben gezeigt, dass eine Verschiebung der visuellen Aufmerksamkeit ohne entsprechende Kopfoder Augenbewegung (»covert shifts«) zu einer metabolischen Aktivierung im Parietallappen führt. Darüber hinaus sind bei der Lokalisation von Objekten im Raum auch das okulomotorische und extrastriäre visuelle System beteiligt (Corbetta 1998, Mangun et al. 1998).
12
Executive-Control-Netzwerk Zum neuronalen Netzwerk für die exekutive Aspekte der Aufmerksamkeit (»executive control network«) gehören 4 mediale Anteile des Frontalhirns, einschließlich 4 des anterioren Gyrus cinguli und 4 des supplementär motorischen Areals (SMA). In diesen Gebieten führt die Bearbeitung von Aufgaben, bei denen der 4 der Umgang mit neuen Informationen oder Anforderungen, 4 die Handlungsplanung, -antizipation und -kontrolle, 4 die Fehlererkennung und 4 Konfliktbearbeitung verlangt werden, zu einer neuronalen Aktivitätssteigerung (Posner u. DiGirolamo 1998). Aber nicht nur frontale kortikale Hirnareale scheinen an der Realisierung der exekutiven Aufmerksamkeit beteiligt zu sein, sondern auch die subkortikal gelegenen Basalganglien (Beiser et al. 1997). Vermutlich nehmen die Basalganglien eine Schnittstellenfunktion wahr zwischen den exekutiven Anteilen der Aufmerksamkeit und der Aufmerksamkeitsaktivierung bzw. Daueraufmerksamkeit (Jackson et al. 1994, LaBerge 1990).
12.2.2
Zusammenfassung
Anhand der kurzen zusammenfassenden Darstellung der aktuellen Forschung wird deutlich, dass sich Aufmerksamkeitsfunktionen zumindest grob neuroanatomischen Strukturen zuordnen lassen. Andererseits sprechen die Daten aber auch dafür, dass sich diese Netzwerke überlappen und miteinander interagieren. Scheinbar widersprüchliche Ergebnisse liegen nicht selten an der experimentellen Untersuchungsmethodik, zum Teil aber auch an der Schwierigkeit, Aufgaben zu entwickeln, mit denen einzelne kognitive Funktionen in »reiner« Form untersucht werden können.
12.3
Aufmerksamkeitsstörungen bei ausgewählten neurologischen Erkrankungen
Art, Ausprägung und Verlauf von Aufmerksamkeitsstörungen als Folge einer Hirnschädigung oder Hirnfunktionsstörung hängen von mehreren Faktoren ab, von denen die Ätiologie nur einer ist. Bei einem Schädel-Hirn-Trauma stehen häufig diffuse Hirnläsionen unter Beteiligung des Hirnstamms im Vordergrund, während beim Schlaganfall über das betroffene Blutgefäß meist ein umschriebenes Hirnareal geschädigt ist, so dass aufgrund dieser verschiedenen Pathomechanismen unterschiedliche Störungen der Aufmerksamkeit zu erwarten sind. Zudem variiert die Symptomatik auch deshalb erheblich, weil das Störungsbild neben Ätiologie und Lokalisation der Hirnschädigung durch weitere Faktoren beeinflusst wird: 4 Schweregrad der Schädigung, 4 Komorbiditäten, 4 Medikamente, 4 Alter des Patienten und 4 Zeitpunkt des Krankheitsbeginns. Im Folgenden werden die charakteristischen Aufmerksamkeitsdefizite für vier Krankheitsbilder beschrieben (. Übersicht 12.3). . Übersicht 12.3. Charakteristische Aufmerksamkeitsdefizite für vier Krankheitsbilder 1. 2. 3. 4.
Schädel-Hirn-Trauma Schlaganfall Multiple Sklerose Demenz vom Alzheimer-Typ
Die ersten drei Krankheitsbilder spielen besonders in der neurologischen Rehabilitation eine große Rolle, während die letzte Gruppe aufgrund der Altersstruktur unserer Gesellschaft immer wichtiger wird.
151 12.3 · Aufmerksamkeitsstörungen bei ausgewählten neurologischen Erkrankungen
12.3.1
Schädel-Hirn-Trauma
störungen, wenn man vom Neglect absieht, eher vernachlässigt.
Bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma (SHT) wie auch bei Patienten mit anderen neurologischen Erkrankungen hängen Art und Ausprägung der Aufmerksamkeitsstörungen stark von Ort und Umfang der Läsion ab.
jStörungsbild Wenn posteriore Anteile des Parietallappens durch einen Schlaganfall in Mitleidenschaft gezogen wurden, fällt es den Patienten schwer, die Aufmerksamkeit von einem Reiz zu lösen (»disengage«) und einem neuen Reiz im kontraläsionalen Raum zuzuwenden. Besonders gravierend sind die Folgen bei rechtshemisphärischen Läsionen, da der rechte Parietallappen für beide Raumhälften und der linke Parietallappen nur für die rechte Raumhälfte zuständig sind. Strukturen im Mittelhirn (u.a. die Colliculi superiores) scheinen an der Verschiebung der Aufmerksamkeit (»attentional shift«) beteiligt zu sein, während Anteile des Thalamus (u.a. das Pulvinar) die Fokussierung auf einen Zielreiz steuern. Möglicherweise bleiben die Aufmerksamkeitsdefizite trotz einer Rückbildung der Neglectsymptomatik nicht nur bestehen, sondern wirken sich auch weiterhin ungünstig auf Alltagsaktivitäten aus. So berichten Lazar et al. (2007) von einer Patientin, bei der sich nach einem rechtsseitigen Schlaganfall der Neglect weitestgehend zurückgebildet hatte, die aber später erhebliche Probleme hatte, mehrere Aufgaben (Multitasking) gleichzeitig zu bewältigen. Auch McDowd et al. (2003) haben in einer Studie bei Schlaganfallpatienten Defizite sowohl in der geteilten als auch exekutiven Aufmerksamkeit festgestellt, die sich ungünstig auf die Alltagsaktivitäten der betroffenen Patienten auswirkten. Außerdem berichten viele Schlaganfallpatienten über eine erhöhte Ermüdbarkeit, die wahrscheinlich auf Läsionen im
jStörungsbild Nach der akuten Behandlungsphase und der Rückkehr ins Alltagsleben klagen die Patienten häufig über 4 kognitive Verlangsamung, 4 schlechte Konzentration, 4 die Unfähigkeit, zwei Dinge gleichzeitig tun zu können, 4 erhöhte Müdigkeit und 4 Irritierbarkeit (van der Naalt et al. 1999, van Zomeren u. van den Burg 1985). Solche Symptome werden auch von Patienten nach einem leichten SHT (Kontusion) berichtet und sind nicht nur bei
einem schweren SHT zu finden (. Tab. 12.3).
12.3.2
Schlaganfall
Für Patienten nach Schlaganfall existieren im Vergleich zu Patienten mit einem SHT bisher wenige Angaben zu Prävalenz und Art der Aufmerksamkeitsdefizite. Die Forschung hat sich vor allem auf die motorischen Folgen von Schlaganfällen konzentriert und die kognitiven Funktions-
. Tab. 12.3. Prozentuale Häufigkeit subjektiv erlebter kognitiver Beeinträchtigungen bei Patienten mit leichtem bzw. schwerem SHT Leichtes SHT1 6 Wochen nach dem Ereignis
Leichtes SHT1 1 Jahr nach dem Ereignis
Schweres SHT2 Kurz nach dem Ereignis
Schweres SHT3 2 Jahre nach dem Ereignis
n=145
n=131
n=62
n=57
Gedächtnisprobleme
8
4
49
54
Aufmerksamkeitsprobleme
8
3
31
33
Langsamkeit
-
-
34
33
Intoleranz gegenüber Geräuschen
-
-
26
23
Ermüdbarkeit
9
2
41
30
Schlafstörungen
15
2
39
25
Irritierbarkeit
9
5
36
39
Benommenheit
15
5
27
26
Antriebslosigkeit
-
-
25
23
Ängste
19
4
31
18
Kopfschmerzen
25
8
25
23
Beeinträchtigungen
1(Rutherford,
Merrett u. McDonald 1977, 1979), 2(van Zomeren 1981), 3(van Zomeren u. van den Burg 1985)
12
152
Kapitel 12 · Störungen der Aufmerksamkeit
Näher betrachtet Studien: Nachweis von Aufmerksamkeitsstörungen In Studien, bei denen SHT-Patienten mit Testverfahren oder experimentellen Aufgaben untersucht wurden, konnten Defizite in der selektiven, geteilten und exekutiven Aufmerksamkeit sowie Beeinträchtigungen der Daueraufmerksamkeit nachgewiesen werden (Millis et al. 2001, Parasuraman et al. 1991, Park et al. 1999, Robertson et al. 1997, Spikman et al. 1996). Die Vigilanz scheint insgesamt weniger betroffen zu sein. Während Spikman et al. (1996) zu dem Ergebnis kommen, dass eine verlangsamte Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit zusammen mit einem Defizit der exekutiven Kontrolle das Kernproblem der Patienten darstellt, vermuten Park et al. (1999), dass es sich primär um ein Defizit kontrollierter Aufmerksamkeitsprozesse handelt. In Abgrenzung von Salthouse (1996), der die kognitive Verlangsamung von der Anzahl der
12
beteiligten kognitiven Operationen abhängig macht, ist nach Ansicht von Park et al. der Typ der kognitiven Operationen entscheidend. Diese Auffassung wird durch die Ergebnisse von Robertson et al. (1997) zumindest indirekt unterstützt, wobei letztere auch die Auswirkungen der herabgesetzten Daueraufmerksamkeit auf Alltagsanforderungen belegen konnten. Die beschriebenen Aufmerksamkeitsstörungen finden sich bei allen Schweregraden des SHT (für schwere SHT siehe die Meta-Analyse von Mathias u. Wheaton 2007), also auch bei Patienten mit einem leichten SHT (z.B. Parasuraman et al. 1991), initial meist mit einem unterschiedlichen Ausprägungsgrad. Studie: Erholungszeiträume Hinsichtlich des Verlaufs bei leichten Schädel-Hirn-Traumen konnten Frencham et al. (2005) in ihrer Meta-Analyse
zeigen, dass sich die neuropsychologischen Defizite etwa 3 Monate nach dem Unfallereignis bei den meisten Patienten zurückgebildet hatten, wobei es bei einer kleinen Untergruppe durchaus zu einem protrahierten Verlauf kommen kann (Alexander 1995). Für Patienten mit einem mittelgradigen SHT nähert sich das kognitive Tempo nach 6–12 Monaten dem normalen Leistungsvermögen an, während sich das Defizit bei Patienten mit einem schweren SHT in der Regel stabilisiert (z.B. van Zomeren u. Deelman 1978). Diese Befunde sind mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten, da in den publizierten Verlaufsuntersuchungen meist nur zwischen kognitiven Domänen (z.B. Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Exekutivfunktionen) unterschieden wird und nicht zwischen verschiedenen Aufmerksamkeitskomponenten.
Näher betrachtet Literatur: Neglect
Näher betrachtet Studie: Heilungsverlauf
Im Zusammenhang mit dem Neglect gibt es allerdings eine umfangreiche Literatur, die sich auch mit Aufmerksamkeitsprozessen bei Schlaganfallpatienten befasst hat. Besonders einflussreich waren bisher die Arbeiten von Posner et al. (1984). Das Orienting-Netzwek, das für die Ausrichtung der Aufmerksamkeit im Raum verantwortlich ist, wurde bereits oben beschrieben.
Hinsichtlich des Heilungsverlaufs kommen Rasquin et al. (2004) in einer Follow-up-Untersuchung mit 196 Schlaganfallpatienten zu dem Ergebnis, dass 50% ihrer Stichprobe auch nach 1 Jahr noch unter den alltagspraktischen Folgen einer kognitiven Verlangsamung leiden.
Hirnstamm und im Thalamus zurückzuführen sind (Staub u. Bogousslavsky, 2001). Diese Symptomatik kann unabhängig von anderen kognitiven oder affektiven Störungen auftreten und selbst bei Patienten mit einem sehr guten Heilungsverlauf später mit Einschränkungen im Alltagsleben verbunden sein. Hochstenbach et al. (1998) fanden bei 70% der 229 von ihnen untersuchten Schlaganfallpatienten eine deutliche kognitive Verlangsamung. Im Unterschied dazu sind Bub et al. (1990) der Auffassung, dass zumindest bei Patienten mit einem rechtsseitigen Schlaganfall ein Defizit in der Daueraufmerksamkeit besteht, nicht aber eine generalisierte kognitive Verlangsamung.
12.3.3
Multiple Sklerose
Auftreten und Art der Aufmerksamkeitsdefizite hängt bei Patienten mit Multipler Sklerose vom Verlauf der Erkrankung ab (de Sonneville et al. 2002, Kujala et al. 1995, 1997). Amato et al. (2001) berichten in einer Verlaufsstudie von anfänglich vorhandenen Beeinträchtigungen im
4 verbalen Gedächtnis, 4 abstrakten Denken und 4 sprachlichen Leistungen. Bei einer weiteren Testung nach 10 Jahren waren auch Defizite in der Aufmerksamkeit und im kurzzeitigen räumlichen Gedächtnis nachweisbar. Näher betrachtet Studie: Erstes Auftreten von Aufmerksamkeitsdefiziten In der Studie von Foong et al. (1998) zeigten sich schon bei Krankheitsbeginn Defizite in der Aufmerksamkeit, die vor allem das kognitive Tempo (Paul et al. 1998), aber auch die selektive und exekutive Aufmerksamkeit betreffen können (Nebel et al. 2007).
Insgesamt muss bei MS-Patienten aufgrund des phasenhaften und fluktuierenden Krankheitsverlaufs bei unterschiedlich lokalisierten Erkrankungsherden von einer erheblichen Variabilität der Aufmerksamkeitsdefizite ausgegangen werden.
153 12.4 · Diagnostik von Aufmerksamkeitsstörungen
Subjektiv klagen die Patienten häufig über erhöhte Müdigkeit und Erschöpfung (Tartaglia et al. 2004). Penner et al. (2007) versuchten die Beziehung zu klären, zwischen
4 Ermüdbarkeit auf der einen Seite und 4 Depression, körperlichen Beeinträchtigungen, Persönlichkeit und Handlungskontrolle (»action control«) auf der anderen Seite. Während depressive Symptome sowohl bei der gesunden Kontrollgruppe als auch bei der MS-Gruppe mit erhöhter Ermüdbarkeit einhergingen, war die herabgesetzte Handlungskontrolle hinsichtlich der Ermüdbarkeit zwischen beiden Gruppen unterschiedlich. Die Autoren vermuten deshalb, dass der erhöhten Ermüdbarkeit bei MS-Patienten Aufmerksamkeits- und Motivationsdefizite zugrunde liegen.
12.3.4
Demenz vom Alzheimer-Typ
Bei Untersuchungen, die sich mit den kognitiven Störungen bei der Alzheimer-Demenz beschäftigen, stehen meist zwei Fragen im Vordergrund: 4 Welche kognitiven Symptome helfen bei der Früherkennung? 4 Wie verändert sich das kognitive Defizitmuster im Verlauf? Im Hinblick auf die erste Frage ist das sog. Mild Cognitive Impairment (MCI) von besonderem Interesse, da es sich wahrscheinlich um ein Vorstadium der Alzheimer-Demenz handelt. Näher betrachtet Studien: Beginn der Aufmerksamkeitsdefizite Bei Alzheimer-Patienten sind schon in einem frühen Stadium der Erkrankung Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit nachweisbar (Rizzo et al. 2000). In einer Übersichtsarbeit kommen Perry und Hodges (1999) zu dem Ergebnis, dass bei Alzheimer-Patienten nach einer initialen Phase mit Gedächtnisstörungen vor allem Aufmerksamkeitsdefizite im Vordergrund stehen. Diese Position wird auch von neueren Studien unterstützt. Nach Okonkwo et al. (2008) litten bereits 53% ihrer MCI-Probanden an einer Störung der geteilten Aufmerksamkeit, während einfache Aufmerksamkeitsleistungen kaum betroffen waren. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Belleville et al. (2007). In einer fMRI-Studie (Dannhauser et al. 2005) wurden die kortikalen Aktivierungsmuster von MCI-Probanden mit denen einer gesunden Kontrollgruppe bei der Bearbeitung einer Aufgabe zur geteilten Aufmerksamkeit verglichen. Bei beiden Gruppen wurden die gleichen Hirnregionen aktiviert, wobei die Aktivierung im präfrontalen Kortex bei der MCIGruppe reduziert war. Hinweise auf eine Störung der Daueraufmerksamkeit fanden Berardi et al. (2005). Ihre Alzheimer-Patienten im frühen Stadium fielen gegenüber einer gesunden Kontrollgruppe durch ein reduziertes Vigilanzniveau und einem schnelleren Vigilanzabbau bei einer Daueraufmerksamkeitsaufgabe (hohe Ereignisrate mit perzeptuell herabgesetzten Zielreizen) auf. Andere Aufmerksamkeitsleistungen (StroopTest und Trail-Making-Test) waren nicht betroffen.
12.3.5
Zusammenfassung
Unabhängig von der Ätiologie der Hirnschädigung sind vor allem Lokalisation und Ausmaß der Schädigung entscheidend, ob es zu einem spezifischen Aufmerksamkeitsdefizit kommt oder mehrere Aufmerksamkeitsprozesse betroffen sind. Während bei SHT-Patienten eher exekutive Komponenten der Aufmerksamkeit im Vordergrund stehen und die Vigilanz i.d.R. nicht beeinträchtigt scheint, sind bei Patienten mit einem rechtseitigen Schlaganfall die Aktiviertheit und besondere Formen der selektiven Aufmerksamkeit betroffen. Bei der Multiplen Sklerose und Alzheimer-Demenz spielt dagegen der Verlauf eine wesentliche Rolle. Bei allen vier Krankheitsbildern gibt es Hinweise, dass das kognitive Tempo oder die Daueraufmerksamkeit vermindert ist.
12.4
Diagnostik von Aufmerksamkeitsstörungen
In der neuropsychologischen Diagnostik geht es zunächst um die Feststellung der kognitiven Folgen der Hirnschädigung, wobei natürlich auch der Beurteilung der erhaltenen Funktionen unter rehabilitativen Gesichtspunkten eine große Bedeutung zukommt. Dies ist jedoch nur der erste Schritt, denn entscheidend ist die Frage, wie sich die kognitiven Beeinträchtigungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens und die schulische, berufliche und soziale Integration des Betroffenen auswirken. Auch diese Aspekte gilt es in einer neuropsychologischen Untersuchung zu erfassen. Aus diesem Grund orientiert sich die neuropsychologische Diagnostik an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die als länderund fachübergreifende einheitliche Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren einer Person dient (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2005) (7 Kap. 42). jICF-Modell Gemäß ICF erfolgt zuerst eine diagnostische Beurteilung auf der Ebene der Körper- und Organfunktionen. In Kapitel 1 der ICF (Mentale Funktionen) finden sich die in . Übersicht 12.4 aufgezeigten Kodierungen für Aufmerksamkeitsstörungen. Bis auf den Abschnitt b 1403 entspricht diese Einteilung den eingangs postulierten Aufmerksamkeitskomponenten. In einem zweiten diagnostischen Schritt werden dann die Auswirkungen der Funktionsstörungen auf die alltäglichen Aktivitäten und die Teilhabe der betroffenen Person am gesellschaftlichen Leben erfasst. Dies geschieht anhand von Selbst- oder Fremdbeurteilungsverfahren (Ratingskalen). Die Berücksichtigung der ICF hat jedoch nicht nur Konsequenzen für die Diagnostik, sondern auch für die Therapie. Bei einer Aufmerksamkeitsstörung sollte sich die Therapie deshalb nicht allein auf den Versuch beschränken, die gestörte Aufmerksamkeitsfunktion durch spezielle Therapiepro-
12
154
Kapitel 12 · Störungen der Aufmerksamkeit
. Übersicht 12.4. ICF-Kodierungen für Aufmerksamkeitsstörungen
. Übersicht 12.5. Gründe für eine neuropsychologische Untersuchung
1.
1.
2.
3.
4.
5. 6.
b 1400 Daueraufmerksamkeit: Mentale Funktionen, die sich in der Konzentration über eine geforderte Zeitspanne äußern b 1401 Wechsel oder Lenkung der Aufmerksamkeit: Mentale Funktionen, die die Umlenkung der Konzentration von einem Reiz auf einen anderen zulassen b 1402 Geteilte Aufmerksamkeit: Mentale Funktionen, die die gleichzeitige Fokussierung auf zwei oder mehr Reize zulassen b 1403 Mit anderen geteilte Aufmerksamkeit: Mentale Funktionen, die die Fokussierung auf denselben Reiz durch zwei oder mehr Personen zulassen, wenn z.B. ein Kind und ein Betreuer sich gemeinsam auf ein Spielzeug konzentrieren b 1408 Funktionen der Aufmerksamkeit, anders bezeichnet b 1409 Funktionen der Aufmerksamkeit, nicht näher bezeichnet
2.
3.
4.
Beurteilung des kognitiven Status zur Therapieplanung Verlaufsbeurteilung des Heilungs- und Therapieverlaufs, aber auch des Krankheitsverlaufs bei progredienten neurologischen Erkrankungen Beurteilung von alltagspraktischen Kompetenzen, Berufsfähigkeit und Fahreignung im Rahmen der rehabilitativen Nachsorge Begutachtungen, u.a. im Zusammenhang mit Leistungsansprüchen. In der Rehabilitation kann es außerdem durch Verhaltensbeobachtungen in den übrigen Therapiebereichen zu einem Untersuchungsauftrag kommen, z.B. wenn sich der Patient während der verschiedenen Therapien leicht ablenken lässt, sich nur kurze Zeit auf Aufgaben konzentrieren kann oder kaum Fortschritte macht
. Übersicht 12.6. Frageliste für die neuropsychologische Untersuchung
gramme wiederherzustellen; vielmehr sollten zusätzlich Kompensationsstrategien vermittelt werden, um die negativen Auswirkungen der Störung auf Aktivitäten und Teilhabe zu verringern.
12
Fazit Mit der ICF werden diagnostisches Vorgehen und Grundlage des therapeutischen Handelns erweitert, indem der Blick von der Organfunktion auf die Anforderungen und Aktivitäten des täglichen Lebens gelenkt wird, und als Ziel der Behandlung eine Verbesserung der sozialen Teilhabe eingefordert wird. Damit wird deutlich, dass tragfähige Aussagen über Einschränkungen der Aktivitäten und Teilhabe mithilfe der neuropsychologischen Diagnostik nur unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren möglich sind.
12.5
Neuropsychologische Diagnostik
12.5.1
Grundlegendes Vorgehen
jIndikationen für eine neuropsychologische Untersuchung Mögliche Anlässe für eine neuropsychologische Untersuchung sind in . Übersicht 12.5 zusammengefasst. Aus diesen Untersuchungsanlässen ergeben sich die jeweiligen Fragestellungen; eine Frageliste ist in . Übersicht 12.6 aufgeführt. Die Liste ist sicher nicht vollständig, und eine Störung der Aufmerksamkeit ist i.d.R. nur einer von mehreren Aspekten, der bei der Beantwortung der aufgeführten Fragestellungen eine Rolle spielt.
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Wie sehen die Aufmerksamkeitsleistungen aus? Wie gut ist die Belastbarkeit? Kann der Patient nach Hause zurückkehren? Kann der Patient in seinen Beruf zurückkehren? Müssen Veränderungen am Arbeitsplatz vorgenommen werden? Ist der Patient in der Lage, eine neue Tätigkeit zu erlernen? Ist der Patient in der Lage, ein Kraftfahrzeug sicher zu führen? Sind die neuropsychologischen Beeinträchtigungen auf das Unfallereignis zurückzuführen oder gibt es andere Faktoren mit ursächlicher Bedeutung?
jUntersuchung in der frühen Rehabilitationsphase In der frühen Rehabilitationsphase stehen häufig motorische, sensorische oder kognitive Einschränkungen des Patienten dem Einsatz standardisierter Verfahren entgegen, so dass im Klinikalltag eine gute Verhaltensbeobachtung, auch durch andere Berufsgruppen, und eine Fremdanamnese unverzichtbar sind. Die Verhaltensbeobachtung setzt eine enge Kooperation zwischen den verschiedenen an der Therapie beteiligten Berufsgruppen voraus. Organisationsstruktur und Architektur der Klinik können Verhaltensbeobachtungen unterstützen oder erschweren. Günstig ist es z.B., wenn Therapeuten stationszugeordnet arbeiten und Therapiezimmer sich direkt auf der Station des Patienten befinden. jUntersuchung in späteren Rehabilitationsphasen In späteren Rehabilitationsphasen erfolgt dann die quantitative Bewertung mit standardisierten Testverfahren. Damit
155 12.5 · Neuropsychologische Diagnostik
soll ein möglichst genaues Bild der Stärken und Schwächen eines Patienten gezeichnet und eine normative Beurteilung vorgenommen werden. Aber auch die standardisierte Untersuchung sollte durch Verhaltensbeobachtungen während der Testung, im Stationsalltag oder z.B. in berufsnahen Situationen ergänzt werden. Diese Beobachtungen zeigen vor allem die qualitativen Aspekte der Aufgabenbearbeitung. Informationen aus dem Stationsalltag oder anderen Situationen ermöglichen eine Einschätzung, inwieweit sich die kognitiven Einschränkungen behindernd auswirken oder nicht. Dazu ist ein Austausch im interdisziplinären Team notwendig. jAussagekraft und Zuverlässigkeit psychologischer Untersuchungsergebnisse Die Aussagekraft und Zuverlässigkeit psychologischer Untersuchungsergebnisse hängen neben der fachlichen Kompetenz des Untersuchers und den übrigen bereits genannten Faktoren entscheidend von der Kooperationsbereitschaft des Patienten ab. Es ist wichtig zu klären, ob der Patient verstanden hat, warum er sich der Untersuchung unterziehen soll, und welche Konsequenzen die Ergebnisse für ihn haben können. Da die meisten psychologischen Untersuchungsverfahren den Patienten fremd sind, sollte genügend Zeit für Fragen und Erläuterungen zur Fügung stehen. Nicht jeder Brückenschlag zwischen Testverfahren und Alltagsanforderung, wie er für den Fachmann auf der Hand liegt, muss auch den Patienten überzeugen. Selbst Verfahren, die mit einem ökologischen bzw. alltagsnahen Anspruch entwickelt wurden, z.B. der Fahrstuhltest aus der Testbattery of Everyday Attention (TEA) (Robertson et al. 1994), müssen Patienten nicht unbedingt plausibel erscheinen. Der Untersucher wiederum muss darauf achten, dass er bei seinen Bemühungen nicht unbegründet von den Testdurchführungsbestimmungen abweicht und damit die Validität der Ergebnisse gefährdet. Die neuropsychologische Untersuchung soll für Patienten eine hilfreiche Erfahrung und nicht ein notwendiges Übel sein. Für ihre Anstrengung und Kooperation sollten die Patienten einen Gegenwert erhalten, der darin bestehen kann, dass sie sich selbst besser verstehen lernen. Lezak (1995) spricht davon, dass die Untersuchung zu einer Verbesserung des Selbstwertgefühls beitragen kann, weil Patienten mit ihren Problemen ernst genommen werden und anhand der aus der Diagnostik gewonnenen Informationen eine Erklärung für ihre Probleme bekommen. jZusammenfassung Das diagnostische Vorgehen muss sich orientieren 4 am Untersuchungsanlass, 4 an der Fragestellung und 4 an der jeweiligen Rehabilitationsphase. Außerdem sind Belastbarkeit und sonstige Einschränkungen des Patienten zu berücksichtigen. Wenn dem nicht Rechnung getragen wird, ist eine Überforderung des Patienten vorprogrammiert, und die Validität der Ergebnisse ist u.U. infrage gestellt.
12.5.2
Exploration
Beim Explorationsgespräch zur Untersuchung von Aufmerksamkeitsfunktionen werden Informationen über die Probleme sowohl aus der Sicht des Patienten als auch aus Sicht der Angehörigen eingeholt. Ein Vergleich der beiden Perspektiven kann zudem Hinweise auf das Störungsbewusstsein geben, da bei einer großen Diskrepanz davon ausgegangen werden kann, dass der Patient bestimmte Probleme nicht richtig wahrnimmt. Eine Frageliste für die Exploration ist in . Übersicht 12.7 zusammengestellt. . Übersicht 12.7. Frageliste für die Exploration 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21.
12.5.3
Können Sie sich noch so gut konzentrieren wie vor der Erkrankung? In welchen Situationen hat sich ihre Konzentrationsfähigkeit geändert? Was haben Sie bisher unternommen, um mit dem Problem umzugehen? Waren Ihre Versuche erfolgreich? Sind Sie jetzt stärker ablenkbar? Was lenkt Sie jetzt besonders ab? Wie haben Sie bisher darauf reagiert? Können Sie mehrere Dinge gleichzeitig erledigen? Gelingt das so gut wie früher? Vermeiden Sie solche Situationen jetzt? Womit helfen Sie sich? Wie gut können Sie einem Gespräch folgen? Wie haben sich diese Veränderungen auf Ihr soziales Umfeld ausgewirkt? Wie haben Angehörige und Freunde darauf reagiert? Haben Angehörige und Freunde diese Veränderungen bemerkt? Haben Sie mit ihnen darüber gesprochen? Wie haben sich die Einschränkungen bei der Arbeit ausgewirkt? Was meinen Sie, ist das Ihren Kollegen schon aufgefallen? Hat es deshalb am Arbeitsplatz bereits Probleme gegeben? Wie sind Sie damit umgegangen? Wie haben sich diese Veränderungen auf Ihre Stimmungslage ausgewirkt?
Verhaltensbeobachtung
Verhaltensbeobachtung während der Untersuchung Der hohe Strukturiertheitsgrad der Untersuchungssituation und die leichte Verfügbarkeit von Testkennwerten verführt dazu, qualitative Aspekte bei der Diagnostik außer Acht zu lassen. Damit würde der Untersucher jedoch auf wertvolle Informationen verzichten. Auf Wünsche und Verhalten des Patienten, z.B.
12
156
4 4 4 4 4 4
12
Kapitel 12 · Störungen der Aufmerksamkeit
Pausenwünsche, unruhiges Verhalten, unkonzentrierter, fahriger Arbeitsstil, Verzögerungen zu Beginn der Aufgabenbearbeitung, ungewöhnliche Fehler bei der Aufgabenbearbeitung und Leistungseinbrüche im Verlauf der Untersuchung,
sollte unbedingt eingegangen werden, weil dahinter u.U. ein mangelndes Instruktionsverständnis, Testangst, eine eingeschränkte Belastbarkeit, aber vielleicht auch mangelnde Anstrengungsbereitschaft stecken können. Darüber hinaus sollte dokumentiert werden, wie der Patient die Aufgaben bearbeitet: 4 Geht er überlegt und strategisch vor? 4 Benötigt er zusätzliche Hinweise und Hilfestellungen? 4 Kann er diese nutzen? 4 Nimmt er Fehler spontan wahr? 4 Kann er sie korrigieren? 4 Mithilfe der Verhaltensbeobachtung während der Untersuchung können so ergänzende diagnostische Informationen hinsichtlich des Arbeitsstils und Leistungspotenzials des Patienten gewonnen werden. In der Rehabilitation sind diese Informationen wichtig, da sie meist mehr als die Normwerte Hinweise auf die gestörten kognitiven Prozesse und damit für das therapeutische Vorgehen geben. Aus diesem Grund sollte die Testung, selbst wenn es sich um computergestützte Aufgaben handelt, nicht von Hilfskräften durchgeführt werden. Auch die Unsitte, den Untersuchungsraum während der Bearbeitung einer Aufgabe zu verlassen, verbietet sich.
Verhaltensbeobachtung im Klinikalltag Die Verhaltensbeobachtung im Klinikalltag kann Anhaltspunkte dafür liefern, wie sich die in der Untersuchung festgestellten kognitiven Defizite im Alltag auswirken. In der Regel handelt es sich bei der Verhaltensbeobachtung um eine unsystematische Beobachtung. Zu einem diagnostischen Verfahren wird die Verhaltensbeobachtung, wenn sie systematisch und strukturiert durchgeführt wird. Ein solches Vorgehen setzt verhaltensanalytische Kenntnisse voraus, in das auch die anderen Klinikmitarbeiter eingebunden werden müssen. Dadurch ist es z.B. möglich, Informationen über die Time on Task zu erhalten (Wood 1986, Whyte et al. 1996). Die Time on Task gibt die Zeitdauer wieder, in der ein Patient seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Aufgabe richten kann, ohne sich ablenken zu lassen. Erfasst wird während einer definierten Zeiteinheit der Zeitanteil, den ein Patient für die festgelegte Aufgabe aufwendet.
Zusammenfassung Exploration, Angehörigenbefragung und Verhaltensbeobachtung, letztere während der Testung und im Klinkalltag, sind nicht nur eine Ergänzung der standardisierten Testverfahren, sondern sind manchmal die einzigen Informationsquellen, um in der Frühphase der Rehabilitation eine diagnostische Aussage zu treffen und Therapieschwerpunkte zu setzen. Darüber hinaus liefern diese Methoden Hinweise, inwieweit sich
der Patient seiner Probleme bewusst ist, und ob sich diese im Stationsalltag oder zuhause negativ auswirken oder nicht.
12.6
Neuropsychologische Testverfahren und Fragebögen
12.6.1
Testbatterien
Im deutschen Sprachraum wird in der klinischen Neuropsychologie häufig die Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) (Zimmermann u. Fimm 2007a, 2007b) eingesetzt. Daneben gibt es noch weitere Testbatterien, z.B. die neue Testbatterie für Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsfunktionen (WAF) von Sturm (2007). Beide Testbatterien sind computergestützt und unterscheiden sich in ihren Anforderungen und Normierungen voneinander, so dass sie sich je nach Fragestellung durchaus ergänzen. Der Test of Everyday Attention (TEA) von Robertson et al. (1994) ist ein Papier- und-Bleistiftverfahren, allerdings ohne deutsche Normierung, und der Aufmerksamkeits-Netzwerk-Test (ANT) von Gauggel und Böcker (2004) befindet sich noch in der Erprobungsphase.
Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) Die TAP enthält neben den Aufgaben zur Überprüfung der Aufmerksamkeit zusätzliche Tests, mit denen u.a. 4 Gesichtsfeldausfälle, 4 Auswirkungen eines visuellen Neglects, 4 visuelle Exploration und 4 Arbeitsgedächtnis untersucht werden können. Ergänzend zu den normierten Standardbedingungen besteht die Möglichkeit, Parameter zu variieren, um auffällige Leistungsmuster hypothesengeleitet zu analysieren. Inzwischen liegt außerdem eine separate Version für Kinder vor, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Die Subtests der TAP lassen sich den oben beschriebenen Komponenten der Aufmerksamkeit zuordnen. Die Normierungsstichproben sind für die einzelnen Untertests unterschiedlich groß (n=200–811) und decken den Altersbereich von 20–90 Jahren ab. Die Autoren (Zimmermann u. Fimm 2007a) haben zur Überprüfung der Validität ihrer Testbatterie mehrere Faktorenanalysen durchgeführt, allerdings mit unterschiedlichen Stichproben gesunder Probanden und mit verschiedenen Untertests bzw. Testparametern. Daher verwundert es nicht, dass die Anzahl der Faktoren ebenfalls variiert. Die Ladungen der Testparameter auf den jeweiligen Faktoren sind jedoch weitestgehend plausibel.
Testbatterie für Wahrnehmungsund Aufmerksamkeitsfunktionen (WAF) Die WAF von Sturm (2007) orientiert sich ebenfalls an der bereits beschriebenen Systematik der Aufmerksamkeitsprozesse. Insgesamt stehen sechs Verfahren zur Verfügung, mit denen folgende Fähigkeiten untersucht werden können:
157 12.6 · Neuropsychologische Testverfahren und Fragebögen
4 4 4 4 4
Alertness (WAFA), Vigilanz und Daueraufmerksamkeit (WAFV), selektive Aufmerksamkeit (WAFS), fokussierte Aufmerksamkeit (WAFF) und geteilte Aufmerksamkeit (WAFG) (. Tab. 12.4).
Die räumliche Aufmerksamkeit im Sinne von FernandezDuque und Posner (2001) kann mit einem separaten Verfahren (WAFR) überprüft werden. Außerdem können Vortests (WAFW) genutzt werden, um relevante Beeinträchtigungen der Wahrnehmungsfunktionen festzustellen, die eine Durchführung der Aufmerksamkeitstests ausschließen. Für die exekutive Aufmerksamkeit fehlen allerdings entsprechende Verfahren, da Sturm und Zimmermann (2000) im Unterschied zu Fernandez-Duque und Posner (2001) das Konzept der exekutiven Aufmerksamkeit für problematisch halten: Es sei nur schwer von den exekutiven Funktionen abzugrenzen. Außerdem seien exekutive Kontrollprozesse an der Selektion beteiligt und spielten auch bei der geteilten Aufmerksamkeit eine wichtige Rolle. Für jedes Testverfahren gibt es mehrere Subtests für die visuelle, auditive bzw. crossmodale Signalverarbeitung. Schließlich besteht die Möglichkeit, automatisierte und kontrollierte Verarbeitungsprozesse separat zu analysieren. Die Normstichprobe (n=295) umfasst den Altersbereich von 16–77 Jahren, wobei die Tests ab dem 8. Lebensjahr einsetzbar sind. Näher betrachtet Faktorenanalyse Eine Faktorenanalyse ergab drei Faktoren: 4 Selektivität mit den Tests WAFS, WAFF, WAFG und WAFR, 4 kurzfristige Intensität mit WAFA und 4 längerfristige Intensität mit WAFV. Bei dieser Faktorenlösung fällt auf, dass die räumliche Selektivität nicht einem separaten Faktor entspricht. Dass die WAF mit den Modellannahmen der verschiedenen Aufmerksamkeitsprozesse übereinstimmt, konnte außerdem mit einer konfirmatorischen Faktorenanalyse bestätigt werden. Unter rehabilitativen Gesichtspunkten ist zudem interessant, dass mit CogniPlus (Sturm 2009) auch ein theoriegeleitetes Therapieprogramm für Aufmerksamkeitsstörungen zur Verfügung steht.
Test of Everyday Attention (TEA) Der Test of Everyday Attention (TEA) wurde von Robertson et al. (1994) als Papier- und Bleistiftverfahren entwickelt, mit dem Anspruch, Patienten mit alltagsnahen, d.h. ökologisch validen, visuellen und auditiven Aufgabenstellungen zu untersuchen. Um diesen Anspruch zu untermauern, konnten die Autoren bei Schlaganfallpatienten zufriedenstellende Korrelationen zwischen den einzelnen Untertests des TEA und alltäglichen Aktivitätseinschränkungen nachweisen. Außerdem überzeugt die Testbatterie durch eine theoriegeleitete Konstruktion der Untertests, die zumindest für die Normierungsstichprobe mit einer Faktorenanalyse weitestgehend bestätigt
werden konnte. Die einzelnen Untertests beziehen sich auf folgende Faktoren: 4 selektive Aufmerksamkeit, 4 Flexibilität/Umstellungsfähigkeit, 4 Daueraufmerksamkeit und 4 Arbeitsgedächtnis. Die Normierungsstichprobe deckt mit 154 Probanden den Altersbereich von 18–80 Jahren ab. Zusätzlich enthält das Handbuch Kennwerte zu einigen neurologischen Störungsbildern, z.B. Schlaganfall und Schädel-Hirn-Trauma. Als Papierund Bleistiftverfahren ist der TEA flexibel einsetzbar (z.B. im Zimmer des Patienten) und mit 3 Parallelversionen für Verlaufsmessungen geeignet. Für Kinder gibt es eine separate Version, die auch ins Deutsche übertragen und normiert wurde (Manly et al. 2008).
Aufmerksamkeits-Netzwerk-Test (ANT) Eine weitere Testbatterie zur Überprüfung von Aufmerksamkeitsfunktionen ist der Aufmerksamkeits-Netzwerk-Test (ANT), der sich noch in der Erprobungsphase befindet (Gauggel u. Böcker 2004). Beim ANT handelt es sich um einen computergestützten Aufmerksamkeitstest, mit dem 4 Alertness (Aufmerksamkeitsaktivierung), 4 Orientierung (selektive Aufmerksamkeit) und 4 exekutive Aspekte der Aufmerksamkeit untersucht werden können. Die Aufmerksamkeitsfunktionen werden anhand einer Wahlreaktionszeitaufgabe erfasst. Der ANT basiert auf dem neuronalen Modell der Aufmerksamkeit von Posner (Fan et al. 2002). Vorläufige Ergebnisse (Beck et al. 2008) weisen den ANT als einen validen Aufmerksamkeitstest aus, dessen Kennwerte in einer Stichprobe hirngeschädigter Patienten für die Bereiche »Alertness« und »selektive Aufmerksamkeit« hoch mit den entsprechenden TAP-Untertests korrelierten. Die niedrigen Korrelationen zwischen den Kennwerten zur exekutiven Aufmerksamkeit führen die Autoren auf die unterschiedlichen Testanforderungen der beiden Verfahren zurück; beim TAP-Untertest sind u.a. bimanuale Reaktionen erforderlich. Zudem korrelierten die ANT-Parameter stark mit der Fremdbeurteilung der Aufmerksamkeitsleistungen durch die behandelnden Ergotherapeuten.
12.6.2
Untertests der Testbatterien
In . Tab. 12.4 ist eine knappe Beschreibung der zentralen Untertests der vier Testbatterien mit Zuordnung zu den fünf Aufmerksamkeitskomponenten zusammengestellt.
12.6.3
Einzeltests
Neben den im vorausgegangenen Abschnitt beschriebenen Testbatterien gibt es noch eine Reihe etablierter Einzeltests, mit denen ebenfalls Aufmerksamkeitsfunktionen untersucht
12
158
Kapitel 12 · Störungen der Aufmerksamkeit
. Tab. 12.4. Testbatterien zur Untersuchung von Aufmerksamkeitsstörungen Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP)
Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsfunktionen* (WAF)
Test of Everyday Attention (TEA)
Attentional Network Test (ANT)
1. Alertness Alertness: Visuelle Einfachreaktion mit und ohne Warnton; dadurch Differenzierung zwischen tonischer und phasischer Alertness
12
WAFA: Visuelle oder auditive Einfachreaktion mit oder ohne Warnreiz; dadurch Differenzierung zwischen tonischer und phasischer Alertness
Alertness-Bedingung: Der Proband muss auf einen überoder unterhalb eines Fixationskreuzes dargebotenen nach rechts oder links zeigenden Pfeil reagieren. Dieser Pfeil wird rechts und links entweder von je zwei Linien (neutrale Flanker) oder zwei in die gleiche Richtung (kompatible Flanker) oder zwei in entgegengesetzte Richtung zeigenden Pfeilen (inkompatible Flanker) flankiert. Unmittelbar vor dem Erscheinen eines Pfeils mit seinen Flankern wird bei einem Teil der Durchgänge ein Hinweisreiz (Stern) präsentiert, der den Probanden angibt, dass jetzt gleich der Pfeil mit seinen Flankern erscheinen wird. Berechnet wird die Differenz der Reaktionszeiten bei Durchgängen mit oder ohne Hinweisreiz
2. Vigilanz und Daueraufmerksamkeit Visueller Vigilanztest: Ein vertikaler Balken bewegt sich mit unterschiedlichen Amplituden nach oben/ unten. Zielreiz ist ein hoher Amplitudenausschlag des Balkens nach oben
WAFV: Reaktionen auf visuelle Reize, die selten (5%) an Intensität verlieren
Lottery: Auditiv werden Losnummern präsentiert, die aus 2 Buchstaben und 3 Ziffern bestehen. Sind die letzen beiden Ziffern identisch, sind die beiden Buchstaben aufzuschreiben
Akustischer Vigilanztest: Ein hoher und tiefer Ton wechseln kontinuierlich. Wenn 2 hohe/tiefe Töne hintereinander präsentiert werden, muss der Proband mit Tastendruck reagieren
WAFV: Reaktionen auf auditive Reize, die selten (5%) an Intensität verlieren
Elevator Counting: Durch das Zählen von Tönen ist das Stockwerk anzugeben, das ein symbolischer Fahrstuhl erreicht
Daueraufmerksamkeit: Konsekutive Darbietung von Reizen, die sich in 4 Dimensionen unterscheiden (Form, Farbe, Größe, Füllung). Reagiert werden muss, wenn der aktuelle Reiz in der Form mit dem vorigen übereinstimmt
WAFV: Reaktionen auf visuelle oder auditive Reize, die häufig (25%) an Intensität verlieren
6
159 12.6 · Neuropsychologische Testverfahren und Fragebögen
. Tab. 12.4 (Fortsetzung) Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung
Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsfunktionen*
Test of Everyday Attention (TEA)
Attentional Network Test (ANT)
Go/NoGo: Reaktion auf 2 von 5 ähnlichen visuellen Mustern
WAFS: In der visuellen Bedingung muss auf Helligkeitsveränderungen eines Kreises/ Quadrats reagiert werden. Auf 5 irrelevante Reize darf nicht reagiert werden (Kreis, Quadrat oder Dreieck ohne Helligkeitsveränderung, Dreieck heller oder dunkler) WAFF: Dem Probanden werden visuelle relevante Reize vor ablenkenden Reizen vorgegeben. Wenn 2 zuvor definierte Veränderungen der relevanten Reize hintereinander auftreten, soll der Proband reagieren; die übrigen Reize soll er ignorieren
Map Search: Zielreize sind Symbole (z.B. für Restaurants); sie sind auf einer präparierten Landkarte zu markieren
Orienting-Bedingung: Siehe Aufgabenbeschreibung oben. In dieser Bedingung erscheint der Hinweisreiz dort, wo anschließend der Pfeil mit seinen Flankern präsentiert wird. Die Probanden erhalten somit nicht nur Informationen über das unmittelbare Auftauchen des Pfeils, sondern auch über dessen genauen Präsentationsort (»spatial orienting«). Berechnet wird die Differenz der Reaktionszeiten bei den Durchgängen mit oder ohne örtlichen Hinweisreiz
Verdeckte Aufmerksamkeitsverschiebung: Der Proband muss auf einen visuellen Reiz reagieren, der links/rechts vom Fixationspunkt präsentiert wird. Zuvor erscheint in der Bildschirmmitte ein Pfeil, der nach links/rechts zeigt. In der validen Bedingung folgt der kritische Reiz auf der Seite, auf die der Pfeil gezeigt hat. In der invaliden Bedingung auf der Gegenseite
WAFR: Die räumliche Ausrichtung der Aufmerksamkeit wird an 4 bzw. 8 räumlichen Positionen in einer Posner-Paradigma ähnlichen Aufgabenstellung erfasst. Verwendet werden periphere (exogene) und zentrale (endogene) räumliche Hinweisreize
3. Selektive Aufmerksamkeit
4. Geteilte Aufmerksamkeit Geteilte Aufmerksamkeit: Visueller Zielreiz ist ein Quadrat, das in einer Matrix von Kreuzen abgebildet wird, die ständig ihre Position wechseln. Auditive Zielreize sind 2 gleich hohe/tiefe Töne hintereinander in einer Abfolge von hohen und tiefen Tönen
WAFG: Der Proband erhält Reize auf 2 visuellen bzw. 1 visuellen und 1 auditiven Kanal. Er soll beide Kanäle dahingehend überwachen, ob sich einer der Reize 2-mal hintereinander verändert
Telephone Search while Counting: Auf einem Blatt aus den »Gelben Seiten« müssen bestimmte Symbolkombinationen markiert und gleichzeitig die Tonabfolgen gezählt werden
5. Exekutive Kontrolle, Umstellungsfähigkeit Flexibilität: Anforderung sind kontinuierlich wechselnde Reaktionen auf Buchstaben bzw. Zahlen, die paarweise angeboten werden
Visual Elevator: In einem symbolischen Fahrstuhl müssen visuell präsentierte Stockwerke in wechselnd auf- und absteigender Abfolge gezählt werden
Exekutive Bedingung: Siehe Aufgabenbeschreibung oben. Berechnet wird die Differenz der Reaktionszeiten bei den Durchgängen mit kompatiblen und inkompatiblen Flankern
*Die Beschreibung beschränkt sich auf visuelle und/oder auditive Bedingungen. Die WAF-Untertests bieten eine Reihe weiterer Varianten
12
160
Kapitel 12 · Störungen der Aufmerksamkeit
. Tab. 12.5. Einzeltests zur Untersuchung von Aufmerksamkeitsstörungen Konstrukt
Verfahren
Anforderung
Selektive Aufmerksamkeit
Ruff 2&7 Selective Attention Test
Durchstreichaufgabe: Zielreize sind die Zahlen 2 und 7. Ablenkreize sind in der 4 automatischen Verarbeitungsbedingung: Buchstaben 4 kontrollierten Verarbeitungsbedingung: andere Zahlen Durchstreichaufgabe: Arbeitsblätter müssen zeilenweise abgesucht werden. Zielreize (Form A) sind Halbkreise mit dem Bogen nach oben, außerdem ist die Schwarz-/Weiß- Halbierung zu beachten. Ablenkreize sind Halbkreise mit anderer Ausrichtung
Alters-Konzentations-Test (2. Auflage)
12
Exekutive Kontrolle
Trail Making Test B
Auf einem Arbeitblatt müssen wechselnd Zahlen und Buchstaben in aufsteigender Reihenfolge verbunden werden
Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit
Progressiver Auditiver Serieller Additions-Test (PASAT)
Auditiv angebotene einstellige Zahlen müssen zur jeweilig vorhergegangenen Zahl addiert werden. Die Anzahl der Zahlen wird über 4 Durchgänge zunehmend erhöht
werden können. Sie sind in . Tab. 12.5 den zentralen Komponenten der Aufmerksamkeit zugeordnet. Auf eine Beschreibung klassischer Durchstreichtests, z.B. dem Aufmerksamkeits-Belastungs-Test d2 von Brickenkamp (2002) wird in diesem Abschnitt verzichtet, da sich hierzu in jedem Lehrbuch der psychologischen Diagnostik ausführliche Angaben finden. Dieser Abschnitt konzentriert sich auf die Darstellung einiger ausgewählter neuropsychologischer Verfahren.
samkeit) eines Probanden. Für den amerikanischen Sprachraum sind zahlreiche Normdaten veröffentlicht worden (z.B. Strauss, Sherman u. Spreen 2006, Tombaugh 2004). Bisher unveröffentlichte Normwerte mit einer deutschen Stichprobe (n=154) liegen für den Altersbereich von 20–90 Jahren vor (Fimm, persönliche Mitteilung).
Ruff 2&7 Selective Attention Test und Alters-Konzentrations-Test (AKT)
Beim Progressiven Auditiven Seriellen Additions-Test (Schellig et al. 2003) handelt es sich um eine für den deutschen Sprachraum adaptierte Computerversion der Paced Auditory Serial Addition Task (PASAT) von Gronwall (1977). Mit dem PASAT steht ein komplexes auditives Verfahren zur Verfügung, das im oberen Leistungsbereich differenziert, und mit dem Leistungen erfasst werden wie 4 die kontrollierte auditive Informationsverarbeitung und 4 kognitive Reaktionen unter Stress.
Der Ruff 2&7 Selective Attention Test (Ruff u. Allen 1996) ist ein theoretisch fundierter Durchstreichtest, der eine Differenzierung zwischen automatisierten und kontrollierten Verarbeitungsprozessen (Shiffrin u. Schneider 1977) erlaubt. Zurzeit kann bei dem Verfahren jedoch nur auf amerikanische Normen zurückgegriffen werden. Der Alters-Konzentrations-Test (Gatterer 2008) ist eines der wenigen Verfahren für die Untersuchung von Aufmerksamkeitsleistungen bei älteren Personen (60–90 Jahre), bei denen der Einsatz von Computern u.U. aufgrund ihrer mangelnden Vertrautheit mit dieser Technik nicht möglich ist. Zudem eignet sich der Test für die Untersuchung von Patienten mit Aphasie, für die der AKT separate Normen bereithält. Für Verlaufsmessungen stehen zwei Formen mit je drei Testvorlagen zur Verfügung. Der AKT differenziert eher im unteren Leistungsbereich. Bei der 2. Auflage wurde eine umfangreiche Neunormierung mit unterschiedlichen Stichproben durchgeführt (unabhängige ältere Menschen, Pflegeheimbewohner und Aphasiker).
Trail Making Test (TMT) Der Trail Making Test (TMT) (z.B. Reitan 1955) erfasst in der A-Version die visuelle Explorationsfähigkeit und in der B-Version zusätzlich die Umstellungsfähigkeit (exekutive Aufmerk-
Progressiver Auditiver Serieller Additions-Test (PASAT)
Der PASAT stellt aber auch Anforderungen an die geteilte Aufmerksamkeit, da
4 einerseits auf externe Reize geachtet werden muss und 4 andererseits das Arbeitsgedächtnis durch den Additionsvorgang gefordert wird. Der PASAT enthält Rechenaufgaben und kann daher bei Patienten mit einer Dys- und Akalkulie nicht eingesetzt werden. Der Test hat sich in zahlreichen Untersuchungen von Patienten nach Schädel-Hirn-Trauma bewährt (z.B. Gronwall u. Wrightson 1981, Stuss et al. 1989). Für den deutschen PASAT gibt es zusätzlich eine Kurzversion und eine Version für Kinder, letztere ist jedoch noch nicht normiert. Das Gleiche gilt für eine visuelle Variante, den Progressiven Visuellen Seriellen Additions-Test (PVSAT), der zusammen mit dem PASAT erschienen ist.
161 12.6 · Neuropsychologische Testverfahren und Fragebögen
12.6.4
Fragebögen
Zur Strukturierung des Explorationsgesprächs, aber auch zur Verlaufsbeurteilung eignen sich Fragebögen (Selbst- und Fremdbeurteilungen).
Fragebogen für erlebte Defizite der Aufmerksamkeit (FEDA) Der Fragebogen für erlebte Defizite der Aufmerksamkeit (FEDA) von Zimmermann et al. (1991) liegt in Selbst- und Fremdbeurteilungsform vor. Der Fragebogen besteht aus 27 Items, die auf einer 5-stufigen Likert-Skala bewertet werden sollen. Die Items lassen sich aufgrund faktorenanalytischer Untersuchungen drei Dimension zuordnen: 1. Ablenkbarkeit und Verlangsamung bei geistigen Prozessen, 2. Ermüdung und Verlangsamung bei praktischen Tätigkeiten und 3. Antriebsminderung. Näher betrachtet Studien: Validität des FEDA Die Validität des FEDA wurde u.a. mit Alzheimer-Patienten untersucht (Theml u. Romero 2001). Alzheimer-Patienten im frühen Stadium schätzten ihre Aufmerksamkeitsleistungen im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe in allen Dimensionen des FEDA schlechter ein. Die Trefferquote mit dem Gesamtpunktewert des FEDA lag bei 82%, wobei der Mini Mental State Test das Klassifikationsergebnis nicht verbesserte. Bei einer Therapiestudie (Eidenmüller et al. 2001) wurde der FEDA zusätzlich zu verschiedenen Aufmerksamkeitstests zur Verlaufsevaluation eingesetzt. Die spezifische Therapie der Aufmerksamkeitsdefizite führte jedoch zur keiner signifikanten Verbesserung der subjektiven Einschätzung. Ein Vergleich der Testwerte mit den Werten des FEDA vor Therapiebeginn ergab Hinweise auf eine Überschätzung der Aufmerksamkeitsleistungen. Aus der Sicht der Autoren war möglicherweise deshalb eine Verbesserung mit dem FEDA nicht mehr messbar.
Skala zur Erfassung von Aufmerksamkeitsdefiziten (SEA) Mit der Skala zur Erfassung von Aufmerksamkeitsdefiziten (SEA) (Volz-Sidiropoulou et al. 2007) steht ein neu entwickelter Selbst- und Fremdbeurteilungsfragebogen zur Verfügung. Der Fragebogen ermöglicht nicht nur die differenzierte Erfassung von Aufmerksamkeitsdefiziten, wie sie von hirngeschädigten Patienten berichtet werden, sondern erfasst auch in einer separaten Skala, ob und in welchem Umfang Patienten Strategien und Hilfen zur Kompensation von Aufmerksamkeitsproblemen einsetzen. Die ursprüngliche Version für das Selbstrating umfasste 33 Items, die auf einer 5-stufigen Skala bewertet werden konnten. Da manche Probleme einer Fremdbeurteilung nicht zugänglich sind, enthielt diese Version nur 30 Items. Der Strategiefragebogen umfasst 13 Items, die ebenfalls auf einer 5-stufigen Skala eingeschätzt werden.
In einer ersten Untersuchung mit einer großen Stichprobe neurologischer Patienten (n=202) erwiesen sich sowohl das Selbst- als auch das Fremdrating als sehr reliabel (r= .89 bis .97); demgegenüber fiel die Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdrating erwartungsgemäß deutlich niedriger aus (r= .34). Im oberen Bereich, also bei Patienten mit geringen Einschränkungen, differenzierte die SEA nicht gut genug, so dass eine Ergänzung weiterer geeigneter Items erforderlich war: Die aktuelle Version des SEA enthält sowohl für das Selbst- wie das Fremdrating 36 Items. Näher betrachtet Weitere Fragebögen im angloamerikanischen Raum Im angloamerikanischen Raum hat ein 14 Items umfassender Fragebogen von Ponsford und Kinsella (1991), der speziell für die Fremdbeurteilung durch Fachpersonal entwickelt wurde, eine gewisse Verbreitung erfahren. Sohlberg und Mateer (2001) empfehlen mit dem ATP II Attention Questionnaire eine auf 12 Items reduzierte Variante. Ein Instrument für aufmerksamkeitsbedingte Fehlhandlungen wurde mit dem Cognitive Failures Questionnaire (CFQ) von Broadbent et al. (1982) entwickelt, der in Selbst- und Fremdbeurteilungsform vorliegt. In einer Studie von Robertson et al. (1997) ergab sich vor allem zwischen Fremdbeurteilung und einem experimentellen Test zur Daueraufmerksamkeit (Sustained Attention to Response Task, SART) bei Patienten ein signifikanter Zusammenhang.
Die mangelnde Zuverlässigkeit der Selbstauskunft von hirngeschädigten Patienten im Vergleich zu gesunden Probanden (z.B. van Zomeren u. van den Burg 1985) zeigt eine der Grenzen auf, die mit dem Einsatz von Fragebögen verbunden sind. Eine ausschließlich summarische Auswertung der Fragebögen greift daher i.d.R. zu kurz und sollte durch eine genaue Analyse der einzelnen Items sowie eine Fremdbeurteilung ergänzt werden. Dies gilt besonders für Items, die auch andere kognitive oder affektive Veränderungen erfassen (z.B. »Es fällt mir schwer, bei Filmen die Zusammenhänge zu verstehen«, oder »Es kommt vor, dass mich nicht einmal meine Hobbys interessieren« [aus dem FEDA]).
12.6.5
Hypothesengeleiteter Ansatz in der Diagnostik
Mit einem hypothesengeleiteten Ansatz in der Diagnostik ist nicht der flexible Einsatz von Testverfahren in Abhängigkeit vom Störungsbild und Kontextfaktoren des Patienten im Unterschied zur Verwendung einer festgelegten Testbatterie gemeint, sondern es soll vielmehr ein Vorgehen bei widersprüchlichen Testergebnissen beschrieben werden. Aus den bisherigen Ausführungen dürfte klar geworden sein, dass es aufgrund konzeptioneller Unschärfen nicht immer gelingt, die Verfahren eindeutig einer Aufmerksamkeitskomponente zuzuordnen, oder dass sich Verfahren im Detail unterscheiden, obwohl sie vorgeben, dieselbe Aufmerksam-
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162
Kapitel 12 · Störungen der Aufmerksamkeit
Näher betrachtet Studie: Beurteilungen durch Fachpersonal Wie sehr Beurteilungen selbst durch Fachpersonal von deren Aufmerksamkeitskonzepten und den Beobachtungssituationen abhängig sind, zeigt eine Untersuchung von Ponsford und Kinsella (1991). In dieser Studie wurde die Aufmerksamkeit von hirngeschädigten Patienten durch Sprach- und Ergotherapeuten beurteilt. Die Übereinstimmung zwischen Beurteilern aus derselben Berufsgruppe war mit Korrelationen zwischen 0,91 und 0,93 sehr hoch. Dagegen lagen die Werte zwischen den beiden Berufsgruppen mit Werten zwischen 0,51 und 0,56 wesentlich niedriger. Diese Diskrepanz lässt sich erklären durch 4 die unterschiedlichen therapeutischen Settings (Ergotherapie: eher Gruppensetting mit höherer Ablenkung; Sprachtherapie: Einzeltherapie mit besserer Beobachtungsmöglichkeit), 4 unterschiedliche Aufgabenanforderungen (Ergotherapie: alltagspraktische Übungen; Sprachtherapie: Sprachübungen mit höheren Anforderungen an die Aufmerksamkeit) und 4 unterschiedliche Auffassungen zwischen beiden Disziplinen, was unter aufmerksamem Verhalten zu verstehen ist.
12
keitsdimension zu messen. Wenn man z.B. die kognitive Umstellungsfähigkeit anhand zweier Verfahren untersucht, ist es durchaus möglich, dass ein Patient in dem einen Test ein gutes Ergebnis und in dem anderen ein schlechtes Ergebnis erzielt. Um zu einer schlüssigen Interpretation zu kommen, bleibt dem Diagnostiker keine andere Wahl, als sich die Anforderungen der beiden Tests genauer anzuschauen und den Patienten zu seinem Vorgehen zu befragen. Beispiel Der TAP-Untertest »Flexibilität« und der Trail Making Test B messen beide die kognitive Umstellungsfähigkeit und werden daher der exekutiven Aufmerksamkeit zugeordnet. Da es in der klinischen Praxis durchaus vorkommt, dass Patienten nur in einem der beiden Tests einen niedrige Leistung erzielen, stellt sich die Frage, ob nun eine Störung in der Umstellungsfähigkeit vorliegt oder nicht. Bei der Klärung dieser Frage hilft eine genauere Analyse, worin sich diese beiden Verfahren unterscheiden. Eine schlechte Leistung im TAP-Untertest kann z.B. dadurch bedingt sein, 4 dass der Patient keine Strategie (z.B. mentales Vorsagen der sich abwechselnden Stimuluskategorien) eingesetzt hat, oder 4 weil zusätzlich eine Störung des Arbeitsgedächtnisses vorliegt. Beides spielt beim TMT B keine oder nur eine geringe Rolle, weil alle Informationen während der Bearbeitung einsehbar sind. Die Hypothese, ob eine Störung des Arbeitsgedächtnisses vorliegt, kann dann mit dem entsprechenden TAP-Untertest 6
überprüft werden. Zum Strategieeinsatz sollte der Patient im Anschluss an die Testbearbeitung befragt werden. Auf der anderen Seite kann ein schlechteres Ergebnis im TMT B damit zusammenhängen, dass bei dem Patienten zusätzlich die visuelle Explorationsfähigkeit gestört ist, die neben der Umstellungsfähigkeit für eine erfolgreiche Lösung des TMT B erforderlich ist, aber für die erfolgreiche Bearbeitung des TAP-Untertests keine Rolle spielt. In diesem Fall hilft das Ergebnis in TMT-Teil A weiter, beim dem nur die Explorationsfähigkeit im Vordergrund steht. Darüber hinaus können weitere Faktoren zu unterschiedlichen Ergebnissen beitragen: 4 Beim Untertest »Flexibilität« müssen zwei Tasten bedient werden, während der TMT B eine graphomotorische Komponente hat. 4 Beim TMT B müssen die richtige alphabetische Sequenzierung und die Zahlenreihe beachtet werden, was wiederum beim TAP-Untertest nicht erforderlich ist. Die hypothesengeleitete Analyse kann also zu dem Ergebnis führen, dass bei dem betreffenden Patienten nicht die kognitive Umstellungsfähigkeit gestört ist, sondern andere kognitive Prozesse. Dieses Ergebnis ist keinesfalls trivial, da sich daraus notwendigerweise auch eine andere therapeutische Schwerpunktsetzung ergibt.
12.6.6
Zusammenfassung
Für die differenzierte Untersuchung von Aufmerksamkeitsstörungen stehen inzwischen zahlreiche Testverfahren zur Verfügung, die auf der Grundlage moderner Aufmerksamkeitsmodelle und unter Berücksichtigung empirischer Befunde entwickelt wurden. Bei widersprüchlichen Ergebnissen sollte die klassifikatorische Urteilsbildung durch eine sorgfältige Analyse der Aufgabenanforderungen erweitert werden. Um den Einfluss von Kontextfaktoren und die Auswirkungen von Leistungsminderungen auf die Alltagsaktivitäten beurteilen zu können, sind Exploration, Selbst- und Fremdbeurteilung anhand von Fragebögen und Verhaltensbeobachtung notwendig. In der Regel kann der diagnostische Prozess erst dann als abgeschlossen gelten, wenn der Untersucher die Informationen aus allen genannten Quellen bei der Urteilsbildung und mit Blick auf die Therapieempfehlungen integriert hat.
12.7
Therapie von Aufmerksamkeitsstörungen
> Ziel einer neuropsychologischen Behandlung ist es, die kognitiven, emotionalen und motivationalen Störungen sowie die daraus resultierenden oder damit einhergehenden Beeinträchtigungen von Aktivitäten und Einschränkungen in der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu mindern oder sogar zu beseitigen.
163 12.7 · Therapie von Aufmerksamkeitsstörungen
Bei den therapeutischen Ansätzen in der neurologischen Rehabilitation wird im Wesentlichen zwischen Restitution und Kompensation unterschieden, wobei sich die beiden Ansätze im klinischen Alltag nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr ergänzen können: 4 Etwas vereinfacht steht hinter dem restitutiven Ansatz die Annahme, dass die beeinträchtigte Funktion (z.B. Laufen) durch eine spezifische Stimulation bzw. durch geeignete Übungen wiederhergestellt werden kann und es zu einer Restitution des betroffenen neuronalen Netzes kommt. 4 Beim kompensatorischen Therapieansatz geht es um den Ausgleich der beeinträchtigten Funktion durch den Einsatz von Strategien und/oder Hilfsmitteln. Wenn sich z.B. eine Lähmung durch Übung nicht ausreichend zurückbildet, wird der Patient diese Einschränkung wahrscheinlich durch die Benutzung eines Stocks kompensieren können.
12.7.1
Restitution gestörter Aufmerksamkeitsfunktionen
Aufmerksamkeitsfunktionen sind von zentraler Bedeutung für viele andere sensorische, kognitive und motorische Fähigkeiten. Schon aus diesem Grund ist die Hoffnung groß, dass man gestörte Aufmerksamkeitsfunktionen gezielt durch stimulierende Übungen wiederherstellen und damit gleichzeitig die rehabilitativen Bemühungen bei anderen Funktionsstörungen unterstützen kann. Näher betrachtet In ihrer Meta-Analyse ordnen Park und Ingles (2001) 26 Therapiestudien zu Aufmerksamkeitsstörungen dem restitutiven Therapieansatz zu, wobei Robertson und Murre (1999) mit ihren theoretischen Überlegungen zur restitutiven Funktionswiederherstellung einen Rahmen geliefert haben und verschiedene Formen der restitutiven Stimulationstherapie unterscheiden.
Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung von auf Restitution ausgerichteten Therapien ist es allerdings, dass die Schädigung des neuronalen Netzwerks nicht zu umfang-
reich und die Erkrankung nicht progredient ist. Ein neuronales Netzwerk, das weitgehend zerstört ist oder zunehmend weiter zerfällt, lässt sich auch durch gezielte Stimulationen vermutlich nicht wiederherstellen, da für eine Reaktivierung kein biologisches Substrat mehr vorhanden ist. Robertson und Murre (1999) postulieren neben der spontanen Funktionswiederherstellung und der unspezifischen Stimulation vier Prinzipien, die bei der restitutiven Behandlung von Bedeutung sind (s. auch Gauggel 2003) (. Übersicht 12.8).
Bottom-up- und Top-down-Stimulation Für die Therapie von Aufmerksamkeitsstörungen kommen besonders die Bottom-up- und die Top-down-Stimulation in Betracht, wobei sich die Methoden in den bisher publizierten
. Übersicht 12.8. Prinzipien der restitutiven Behandlung 1. 2. 3. 4.
Perzeptions-/datengesteuerte Stimulation (»bottomup«) Konzeptgesteuerte Stimulation (»top-down«) Stimulation durch Beeinflussung inhibitorischer und exzitatorischer Prozesse Stimulation durch Anregung der Aufmerksamkeit (Arousal)
Therapiestudien nicht immer eindeutig der einen oder anderen Stimulationsform zuordnen lassen und wahrscheinlich beide Formen zur Anwendung kommen. > Kennzeichnend für beide Ansätze ist, dass spezifische Aufgaben vorgegeben werden, mit denen wiederholt über einen längeren Zeitraum einzelne oder mehrere Aufmerksamkeitskomponenten trainiert werden.
jTherapieprogramm Aixtent Im deutschen Sprachraum gingen Sturm et al. bereits 1983 der Frage nach, ob sich Aufmerksamfunktionen durch ein stimulierendes Training verbessern lassen. Die positiven Ergebnisse führten schließlich zur Entwicklung des Therapieprogramms Aixtent (Sturm et al. 1994). Das computergestützte Training umfasste Aufgaben zu den Bereichen: 4 Alertness, 4 selektive Aufmerksamkeit, 4 geteilte Aufmerksamkeit und 4 Vigilanz. Näher betrachtet Studie: Wirksamkeit des Aixent-Programms Auf der Grundlage ihrer spezifischen Aufmerksamkeitsdefizite erhielten 38 hirngeschädigte Patienten in 2 Therapiephasen von jeweils 3 Wochen mit 14 Sitzungen zunächst für die am stärksten betroffene Aufmerksamkeitsfunktion ein Training, gefolgt von Übungen für die zweite betroffene Funktion. Signifikante spezifische Verbesserungen fanden sich vor allem in den Bereichen »Alertness« und »Vigilanz«. Bei der selektiven und geteilten Aufmerksamkeit kam es ebenfalls zu signifikanten Verbesserungen; vor allem führte das Alertnesstraining in diesen Bereichen zu einer Verkürzung der Reaktionszeiten. Die Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einem unspezifischen Therapieeffekt. Hinweise, dass mithilfe des Aixtent-Programms nicht nur spezifische Aufmerksamkeitsstörungen verbessert werden können, sondern diese Verbesserungen auch mit einer neuronalen Restitution verbunden sind, lieferte eine Einzelfallstudie (Sturm et al. 2004b). Die kombinierten PET- und fMRIUntersuchungen ergaben u.a. eine stärkere Aktivierung in frontalen und parietalen Kortexarealen der rechten Hemisphäre, von denen man annimmt, dass sie von zentraler Bedeutung für die Top-down-Kontrolle der Alertness sind.
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164
Kapitel 12 · Störungen der Aufmerksamkeit
jTherapieprogramm CogniPlus Mit dem Programm CogniPlus (Sturm 2009) steht nun ein neue Version des Aixtent-Programms zur Verfügung, dabei wurden die vorhandenen Übungen überarbeitet und erweitert: 4 Alertness, 4 Daueraufmerksamkeit und Vigilanz, 4 visuell-räumliche Aufmerksamkeit, 4 selektive Aufmerksamkeit, 4 fokussierte Aufmerksamkeit und 4 geteilte Aufmerksamkeit.
Beeinflussung inhibitorischer oder exzitatorischer Prozesse Bei der systematischen Beeinflussung inhibitorischer oder exzitatorischer Prozesse wird die Erkenntnis genutzt, dass die verschiedenen neuronalen Netzwerke interagieren und sich gegenseitig hemmen oder aktivieren können. Näher betrachtet Studien: Inhibitionsreduzierende oder -aktivierende Stimulation
12
Erste Studien weisen auf die positive Wirkung inhibitionsreduzierender oder -aktivierender Stimulation hin. In einer Untersuchung von Schindler et al. (2002) wurde zur Behandlung eines visuellen Neglects, bei dem auch Aufmerksamkeitsprozesse eine wichtige Rolle spielen, ein visuelles Explorationstraining durchgeführt, wobei die Kombination des Explorationstrainings mit einer vibratorischen Stimulation der Nackenmuskulatur das Ergebnis deutlich verbesserte.
Anregung der Aufmerksamkeit Die vierte Form der spezifischen Stimulation besteht darin, durch eine Anregung der Aufmerksamkeit (z.B. Arousal) eine Stimulation geschädigter Netzwerke zu erreichen. Eine Anregung der Aufmerksamkeit kann erfolgen durch 4 Psychopharmaka (z.B. Stimulantien), 4 verhaltenstherapeutische Techniken oder 4 eine Kombination von beidem. Bei der Durchführung auf Restitution abzielender Therapien darf jedoch nicht vergessen werden, dass es sich bei den Patienten um aktive Lerner handelt. Bei der Behandlung spielen daher weitere Aspekte eine Rolle: 4 Motivation, 4 Art und Intensität des Feedbacks, 4 früheres Wissen, 4 Kontext, 4 Transfer und Organisation des Gelernten. Zusätzlich gilt es, die Interaktion des Lerners mit seiner Umwelt, Beobachtungslernen, das Anbieten von Belohnungen/ Verstärkern, Zielsetzung, Selbsteffizienz und situatives Lernen zu beachten.
Zusammenfassung Restitutive Therapieansätze zielen auf eine Wiederherstellung der verloren gegangenen Funktion. Im Vordergrund stehen dabei vor allem repetitive und stimulierende Übungen. Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg dieses Therapieansatzes ist, dass das betroffene neuronale Netz durch die Erkrankung nicht vollständig zerstört wurde. Restitutive und kompensatorische Interventionen können sich gegenseitig ergänzen.
Näher betrachtet Pharmakologische Studien bei SHT-Patienten Inzwischen liegen die Ergebnisse mehrerer pharmakologischer Studien mit SHTPatienten vor, bei denen der Einfluss verschiedener Substanzen auf die kognitiven Funktionen untersucht wurde. In 2 aufwändigen randomisierten, verblindeten Cross-over-Placebo-Kontrollstudien (Whyte et al. 2004, Wittmott u. Ponsford 2009) führte die Gabe von Methylphenidat bei SHT-Patienten zu einer deutlichen Verbesserung des kognitiven Tempos und der selektiven Aufmerksamkeit. In der Studie von Whyte et al. verbesserte sich zudem das Arbeitsverhalten der Patienten; auch die pflegenden Angehörigen (»caregiver«) bewerteten die Aufmerksamkeit als signifikant verbessert. Einen sehr spezifischen Effekt konnten Pavlovskaya et al. (2007) mit derselben Substanz nachweisen. SHT-Patienten
fiel es schwer, die Aufmerksamkeit gezielt in das linke visuelle Halbfeld zu lenken (»attentional shift«). Durch die Gabe von Methylphenidat wurde die Unausgewogenheit erfolgreich behandelt. Tenovuo (2005) und Khateb et al. (2005) fanden eine Verbesserung der Vigilanz bzw. des kognitiven Tempos und der geteilten Aufmerksamkeit unter der Gabe verschiedener Acetylcholinesterasehemmern (u.a. Donepezil). Studie: Verhaltenstherapeutische Techniken Durch eine verhaltenstherapeutische Technik, der Darbietung von Warnreizen, konnten Robertson et al. (1998) die phasische Alertness anheben und so die Entdeckungsleistung von Neglect-Patienten deutlich verbessern.
Auch die Verpflichtung des Patienten, bestimmte Aufgabenziele zu erreichen, kann einen positiven Einfluss auf die Leistungen des Patienten haben (Gauggel u. Hoop 2003). Gauggel et al. (2001) verglichen in einem randomisierten Kontrollgruppen-Design den Effekt von spezifischen Zielvorgaben (z.B. »Verbessern Sie Ihre Reaktionszeiten im nächsten Durchgang um 20%!«) mit unspezifischen (z.B. »Geben Sie Ihr Bestes!«). Patienten mit Schlaganfall oder Hirntrauma, die konkrete und schwierige Ziele erhielten, konnten ihre Reaktionszeiten gegenüber Patienten, die unspezifische Zielvorgaben (z.B. »Verbessern Sie Ihre Leistung!«) erhalten hatten, signifikant verbessern.
165 12.7 · Therapie von Aufmerksamkeitsstörungen
12.7.2
Kompensation gestörter Aufmerksamkeitsfunktionen
Neben den auf Restitution von Funktionen abzielenden Interventionen ist der auf Kompensation ausgerichtete Behandlungsansatz eine zweite Säule in der neuropsychologischen Therapie. > Auf Kompensation ausgerichtete Interventionen kommen immer dann zum Einsatz, wenn eine Wiederherstellung der Funktion und damit des geschädigten neuronalen Netzwerks sehr unwahrscheinlich ist oder die kompensatorische Strategie schneller und einfacher umsetzbar und damit effizienter ist.
Bei den kompensatorischen Interventionen geht es nicht nur um 4 den Ausgleich der Funktionsdefizite durch den Einsatz noch intakter (verbliebener) Fähigkeiten, 4 das Erlernen neuer Fertigkeiten und Strategien oder 4 die Umstrukturierung der Umwelt (z.B. Einzelarbeitsplatz statt Großraumbüro), sondern auch um den emotionalen Umgang mit den Folgen der Schädigung. Letztendlich soll der Patient mithilfe des Therapeuten eine neue Lebensperspektive und neue Ziele entwickeln, trotz chronischer kognitiver und/oder motorischer Störungen. Patientenbeispiel: Patient mit schwerem SHT Die Autoren setzten bei einem Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma in der chronischen Phase (2 Jahre nach dem Unfallereignis) eine Technik zur Selbstinstruktion ein, um sein Aufmerksamkeitsverhalten zu verbessern. Bisherige Therapien waren ohne Erfolg geblieben. In der neuen Therapie lernte der Patient, Aufforderungen wie »Auch wenn es peinlich ist, wenn ich in einer Unterhaltung den Faden verliere, werde ich den Gesprächpartner bitten, die Information zu wiederholen«. Zunächst wurden die Instruktionen im therapeutischen Setting eingeübt und erprobt. Die positiven Erfahrungen des Patienten führten dazu, dass er die Selbstinstruktionen auch spontan in anderen Situationen nutzte. In der Abschlussuntersuchung konnte der Patient die Geschichten, die er über einen Kassettenrekorder gehört hatte, wesentlich besser widergeben. Nach 3 Monaten kehrte er an seinen Arbeitsplatz zurück, wo er auch 18 Monate später noch beschäftigt war. Trotz des Therapieerfolgs betrachtete der Patient seine Aufmerksamkeit allerdings weiterhin als eingeschränkt, so dass er bestimmte Aufträge am Arbeitsplatz aus Sorge vor Fehlern ablehnte. Die Studie zeigt trotz ihrer methodischen Schwächen, dass nach einer längeren Phase der Chronifizierung durch entsprechende Interventionen ein besserer Umgang mit kognitiven Defiziten erreicht werden kann, bis hin zur Rückkehr an den Arbeitsplatz. Allerdings schränken die Autoren ein, dass ihr Patient relativ leichte Defizite hatte und hoch motiviert war.
jTechnik zur Selbstinstruktion Das Vorgehen bei auf Kompensation ausgerichteten neuropsychologischen Interventionen wird anhand eines Patientenbeispiels von Webster und Scott (1983) deutlich. jToken Economy Näher betrachtet Studien: Effekt der Intervention »Token Economy« In einer Studie von Wood (1986) wurde bei zwei Patienten nach Schädel-Hirn-Trauma eine lerntheoretisch entwickelte Intervention eingesetzt, die Token Economy zur Erhöhung der Time on Task (Dauer der Aufgabenbearbeitung ohne Unterbrechung) eingesetzt. Zunächst wurde erfasst, wie häufig die Patienten bei Aufgaben abgelenkt waren. Nach der Baseline-Phase erhielten sie Wertmarken (»token«), wenn sie für eine vorher festgelegte Dauer ihre Aufmerksamkeit ohne Unterbrechung auf die Aufgaben richteten. Ab einer bestimmten Punktezahl konnten sie die Wertmarken gegen Verstärker eintauschen. In der Therapiephase kam es zu einer signifikanten Verbesserung. Allerdings wurde nicht überprüft, ob das gewünschte Verhalten nach Beendigung der Therapie aufrechterhalten wurde. In einer zweiten Studie, an der zwei weitere Patienten teilnahmen, konnten Generalisierungseffekte, d.h. eine Übertragung auf andere Aufgaben, nachgewiesen werden.
jTime Pressure Management (TPM) Näher betrachtet Studie: Effekt des Time Pressure Managements (TPM) Fasotti et al. (2000) verglichen in einer kontrollierten Studie das sog. Time Pressure Management (TPM) mit einem Konzentrationstraining bei Patienten mit schwerem SHT, um den Umgang mit dem verlangsamten kognitiven Tempo zu verbessern. Die Idee von TPM ist, dass die Patienten Strategien lernen, um für eine Aufgabe mehr Zeit zu bekommen. Zu diesen Strategien gehören 4 eine verbesserte Vorbereitung vor Beginn der Aufgabe, 4 eine Optimierung der organisatorischen Abläufe, 4 Veränderungen in der Umwelt und 4 die mentale Wiederholung der notwendigen Arbeitsschritte. Die Patienten verbesserten sich durch beide Interventionen, wobei allerdings TPM wirksamer war und außerdem zu Transfereffekten bei anderen Anforderungen führte.
jUmstrukturierung der Umwelt Schließlich bietet sich als weitere Intervention die Umstrukturierung der Umwelt des Betroffenen an, indem die Arbeit oder der Arbeitsplatz so gestaltet werden, dass es zu weniger Ablenkungen kommt und Fehler reduziert werden, z.B. durch 4 Sprechzeiten, 4 Einzel- statt Großraumbüro, 4 Strukturierung und Hierarchisierung von Aufgaben.
12
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Kapitel 12 · Störungen der Aufmerksamkeit
jZusammenfassung Bei einer auf Kompensation ausgerichteten Behandlung geht man davon aus, dass eine Funktionswiederherstellung nicht mehr realisiert werden kann und eine Verbesserung der Fähigkeiten des Patienten nur noch dadurch möglich ist, dass intakt gebliebene Systeme die Aufgaben geschädigter Systeme übernehmen. Im Vordergrund kompensatorischer Interventionen steht die Vermittlung von Erfahrungen mit dem Ziel der Adaptation an die vorhandenen kognitiven und/oder motorischen Einschränkungen. Dazu gehören 4 die Umstrukturierung der Umwelt, 4 die Entwicklung von neuen Strategien, um die gewünschten Ziele zu erreichen, 4 der effizientere Einsatz der verbliebenen kognitiven Ressourcen und 4 die Anpassung der Zielsetzungen an die veränderten Ressourcen. In der Therapie geht es also um die bewusste Auswahl von Aktivitäten, Lebenszielen und die Arbeit an diesen selbstbestimmten Zielen.
12.8
12
Wirksamkeitsnachweise und Therapieempfehlungen
Die Entwicklungen im Gesundheitswesen haben national wie international dazu geführt, dass für Behandlungsmethoden zunehmend striktere Wirksamkeitsnachweise verlangt werden. Bereits 2000 hat sich eine Kommission des American Congress of Rehabilitation Medicine mit der Entwicklung von evidenzbasierten Standards, Leitlinien und Empfehlungen für neuropsychologische Therapieverfahren befasst (Cicerone et al. 2000). Fünf Jahre später folgte ein Update derselben Kommission (Cicerone et al. 2005) für den Zeitraum von 1998 bis 2002. Für die Empfehlungen wurde keine meta-analytische Auswertung der Therapiestudien vorgenommen, sondern eine qualitative, bei der auch methodisch weniger gut kontrollierte Untersuchungen einbezogen wurden.
12.8.1
Leitlinien für neuropsychologische Therapieverfahren
jLeitlinien 2000 (Cicerone et al. 2000) Die Autoren kommen in ihrer ersten Arbeit (2000) nach der Durchsicht von 13 Studien zum Funktionsbereich Aufmerksamkeit, in denen primär auf Restitution ausgerichtete Therapieprogramme eingesetzt wurden, zu der Feststellung, dass neuropsychologische Therapieprogramme zur Verbesserung der Aufmerksamkeit wirkungsvoll sind. Die Effekte eines Aufmerksamkeitstrainings scheinen bei komplexen Aufgabenstellungen größer zu sein als bei sehr einfachen Aufgaben. Allerdings wird in der Stellungnahme betont, dass diese Schlussfolgerung auf einer schlechten Datenlage basiert und die Therapieeffekte insgesamt nicht sehr groß sind.
Die Leitlinie empfiehlt, dass die Interventionen spezifische Funktionstrainings unterschiedlicher Modalitäten mit unterschiedlichem Komplexitätsgrad und unterschiedlichen Reaktionsanforderungen umfassen sollten. Ferner sollten die Therapeuten die Leistung des Patienten kontinuierlich beobachten, Rückmeldungen geben und während des Trainings Lernstrategien vermitteln. jLeitlinien 2005 (Cicerone et al. 2005) In der aktuellen Übersicht von 2005 wurden fünf weitere Studien berücksichtigt. Aufgrund der neuen Datenlage wird jetzt als Leitlinie für die Therapie von Aufmerksamkeitsstörungen das Strategietraining als kompensatorische Methode für SHT-Patienten empfohlen. Die Autoren sehen darin keinen Widerspruch zu ihren früheren Schlussfolgerungen, in denen neben den Übungsaufgaben bereits die Notwendigkeit zusätzlicher therapeutischer Interventionen betont wird. Die Therapie basaler Aufmerksamkeitsfunktionen wie Alertness und Vigilanz wird als nicht wirksam bewertet, genauso wie spezifische Interventionen in der akuten Phase der Rehabilitation. Außerdem schlagen die Autoren vor, stärker psychopharmakologische Therapien bei der Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen zu überprüfen und mit kognitiven Ansätzen zu kombinieren.
12.8.2
Meta-analytische Studien
jMeta-Analyse von Rohling et al. (2009) Auf der Grundlage der Vorarbeiten der Kommission haben Rohling et al. (2009) die gesammelten Studien einer MetaAnalyse unterzogen. Nach einem Auswahlprozess blieben von 927 Artikeln 97 Arbeiten mit 115 Untersuchungen für alle kognitiven Funktionsbereiche (Aufmerksamkeit/Exekutivfunktionen, Raumkognition, Sprache, Gedächtnis und sonstige) übrig. Interventionsstudien für Aufmerksamkeits- und Exekutivstörungen wurden zusammengefasst, da sich nur 4 Studien mit letzteren befasst hatten. Wie Park u. Ingles (2001), auf deren Analyse noch näher eingegangen wird, halten auch Rohling et al. den Mangel an Kontrollgruppen-Designs in der neuropsychologischen Therapieforschung für ein großes Problem. 4 Allein bei den Kontrollgruppen ohne Intervention lag die Effektstärke (ES) für den Funktionsbereich der Aufmerksamkeit im Mittel bei 0,39, was für einen erheblichen Retest- oder Spontanremissionseffekt spricht. 4 Die bereinigte Effektstärke für die behandelten Patienten war mit einem Wert von 0,27 allerdings immer noch signifikant. Fazit Die Unterschiede zu den Ergebnissen von Park und Ingles (2001) sind nach Rohling et al. vor allem auf methodische Faktoren zurückzuführen. Eine Reanalyse der Daten von Park und Ingles führte zu Effektstärken auf vergleichbarem Niveau.
167 12.9 · Literatur
jMeta-Analyse von Park und Ingles (2001) Auf die Arbeit von Park und Ingles (2001) wird an dieser Stelle vor allem deshalb eingegangen, weil sich deren Meta-Analyse ausschließlich auf Studien (n=30) zur Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen beschränkte und die Autoren zwischen sog. Direct Training-Ansätzen (auf Restitution abzielende Interventionen) und Specific Skill-Ansätzen (auf Kompensation ausgerichtete Interventionen) unterschieden. Bei letzteren geht es nicht nur um die Entwicklung und Einübung kompensatorischer Fähigkeiten, sondern auch um das gezielte Üben der als relevant betrachteten alltagspraktischen Fähigkeit (z.B. Autofahren). An 57% der Studien nahmen ausschließlich Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma teil, bei 13% waren es Schlaganfallpatienten. Ein Drittel der Untersuchungen hatte gemischte Stichproben. Die Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma hatten vorwiegend schwere Verletzungen davongetragen. In über der Hälfte der Untersuchungen fand die Therapie mindestens ein Jahr nach dem Krankheitsereignis statt, so dass der Anteil an Spontanheilungen als gering eingeschätzt werden konnte. Über 60% der Patienten hatten eine ambulante Therapie. Die durchschnittliche Therapiedauer lag bei 31 Stunden. Computergestützte Therapieprogramme wurden in 50% der Fälle eingesetzt. In über 83% der Studien waren die Aufgaben im Schwierigkeitsgrad abgestuft. Rückmeldungen über Therapiefortschritte wurden in 77% der Studien gegeben. Die Anzahl der Aufgabentypen variierte erheblich und lag im Mittel bei über 7 Aufgaben. Fazit Die Ergebnisse der Studie waren ernüchternd. Sie zeigen, dass Studien ohne Kontrollgruppen äußerst problematisch sind. Bei den Untersuchungen ohne Kontrollgruppen waren die Effektstärken für alle Parameter außer der Stimmungslage signifikant, während bei den Studien mit Kontrollgruppen keine signifikanten Effektstärken nachgewiesen werden konnten. Nur für die Parameter aufmerksames Verhalten bzw. Fahrverhalten ergaben sich bedeutsame Veränderungen in jeweils einer kontrollierten Studie. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass es bisher nur wenige überzeugende Hinweise für den Direct Training-Ansatz bei Aufmerksamkeitsstörungen gibt, bei dem durch spezifische Stimulation auf die Regeneration von neuronalen Netzen abgezielt wird. Vielmehr würden die größeren Effektgrößen für die kompensatorischen Strategien in spezifischen Anforderungsbereichen sprechen (Kewman et al. 1985, Carter et al. 1988).
kFolgerungen für die klinische Praxis In diesem Zusammenhang prägten Park und Ingles für das therapeutische Vorgehen den Begriff des »neuropsychological scaffolding«. Sie meinen damit, dass der Therapeut für seine Interventionen einen Rahmen schaffen muss, der es dem Patienten erlaubt, eine gewünschte Fähigkeit schnell und effektiv zu lernen. Ohne einen solchen Rahmen gelänge es dem Patienten gar nicht oder aber zumindest weniger effizient, sein Ziel zu erreichen.
Praxistipp Für die therapeutische Praxis bedeutet dies: Die Behandlung sollte in Teilschritten erfolgen. Bevor man zum nächsten Schritt übergeht, muss durch repetitives Üben eine weitgehende Automatisierung sichergestellt werden. Systematische Rückmeldungen während der Übungen verbessern das Störungsbewusstsein der Patienten. Eine möglichst alltagsnahe Einübung gewährleistet dann auch den Transfer in den Alltag (Kewman et al. 1985).
Abschließend sei der interessierte Leser außerdem auf die Arbeiten von Wilson (2000) und Ylvisaker (2003) verwiesen. Wilson entwickelt in ihrem Artikel einen theoretischen Rahmen für kompensatorische Therapieansätze, während sich Ylvisaker dem Thema des Transfers von Therapierfahrungen in den Alltag widmet, einem Aspekt, dem bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.
12.8.3
Zusammenfassung
Therapien von Aufmerksamkeitsstörungen nach erwor-
benen Hirnschädigungen, besonders nach Schädel-HirnTrauma und Schlaganfall, haben sich als moderat wirksam erwiesen. Die meta-analytischen Untersuchungsergebnisse und auch klinische Erfahrungen sprechen im Augenblick eher für kompensatorische Ansätze, die durch alltagsnahe Komponenten ergänzt werden sollten, um den Transfer in den Alltag zu unterstützen. Bei Störungen der Alertness scheint eine stimulierende, auf Restitution abzielende Behandlung vielversprechend. Schließlich sollte der Pharmakotherapie bei der Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen mehr Beachtung geschenkt werden. Die Anzahl guter Therapiestudien ist immer noch zu gering, so dass es weiterhin aller Anstrengung bedarf, um die Datenlage zu verbessern. Außerdem fehlen Therapiestudien mit Patienten, deren Aufmerksamkeitsstörungen nicht durch einen Schlaganfall oder ein Schädel-Hirn-Trauma verursacht sind (Ausnahme s. Plohmann et al. 1998).
12.9
Literatur
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13
Gedächtnisstörungen A.I.T. Thöne-Otto, D.Y. von Cramon 13.1 Grundlagen
– 172
13.2 Neuropsychologische Therapie
– 172
13.2.1 Funktionstherapie – 174 13.2.2 Kompensationstherapie – 175 13.2.3 Integrative Behandlungsmethoden
– 183
13.3 Zusammenfassung und Ausblick 13.4 Literatur
– 186
– 184
172
Kapitel 13 · Gedächtnisstörungen
Die neuropsychologischen Therapiemethoden sind unterteilt in Funktionstherapie, Kompensationstherapie und integrative Behandlungsmethoden. Die Wirksamkeit der Funktionstherapie in der Behandlung von Gedächtnisstörungen ist umstritten. Allerdings steht ein reiches therapeutisches Inventar an Kompensationsstrategien zur Verfügung. Sie werden untergliedert in Methoden zur Reduktion der Gedächtnisanforderung, lerntheoretisch fundierte Methoden und externe Gedächtnishilfen und mit Blick darauf vorgestellt, für welche Patienten und welche Therapieziele sich welche Methoden eignen. Konzepte integrativer Behandlungsmethoden für Patienten mit Gedächtnisstörungen stecken noch in den Kinderschuhen. Hier werden zum einen Verfahren vorgestellt, die Kompensationsstrategien in einen erweiterten Kontext einbetten (verhaltensmodifizierende Techniken), zum anderen Ansätze, die den Patienten darin unterstützen, die tiefgreifenden Veränderungen, welche die Hirnschädigung für sein Leben bedeuten, zu verarbeiten und in sein Selbstbild zu integrieren (Selbsterhaltungstherapie, narrative Ansätze).
13.1
13
Grundlagen
Diagnostik und Therapie von Gedächtnisstörungen gehören zu den am besten untersuchten Bereichen der klinischen Neuropsychologie. In der Grundlagenforschung wurden in den vergangenen 15–20 Jahren ein beachtlicher Wissenszuwachs und ein besseres Verständnis von Gedächtnisfunktionen und deren Störungen erzielt. Dennoch ist der therapeutische Erfolg auf diesem Gebiet mehr als unbefriedigend, und Verfahren, von denen längst bekannt ist, dass sie für den Alltag der Patienten wenig oder gar keinen praktischen Nutzen bringen, werden weiterhin angewendet. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, die klassischen Verfahren der Gedächtnisrehabilitation hinsichtlich ihrer Möglichkeiten und Grenzen kritisch zu beleuchten und aktuelle Entwicklungen auf diesem Gebiet vorzustellen.
jEvidenzbasierung neuropsychologischer Therapie Zu der Frage, inwieweit sich die Kriterien der evidenzbasierten Medizin für die Qualitätssicherung der neuropsychologischen Therapie eignen, ist derzeit eine heftige Diskussion entbrannt (vgl. Zeitschrift für Neuropsychologie 2007). Da die Autoren überzeugt sind, dass auch aus methodisch sorgfältig durchgeführten Einzelfallstudien wichtige Empfehlungen für den Klinikalltag abzuleiten sind, werden hier auch eine Reihe von Arbeiten vorgestellt, die nicht den Kriterien der evidenzbasierten Medizin entsprechen. jLeitlinien für neuropsychologische Diagnostik und Therapie Die neuropsychologische Therapie von Gedächtnisstörungen setzt immer ein theoretisches Verständnis sowie eine sorgfältige Diagnostik gestörter und erhaltener Gedächtnissysteme und -prozesse voraus. Diese wird anderenorts ausführlich dargestellt (z.B. Thöne-Otto 2009). Besonders sei auf die von der Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) und
Näher betrachtet Kriterien für eine evidenzbasierte Therapie bei Gedächtnisstörungen nach Schlaganfall Ein Beispiel für die Problematik ist die Übersicht der Cochrane Collaboration zum Thema »Cognitive rehabilitation for memory deficits following stroke« (Nair u. Lincoln 2007). Bei ihrer Suche nach geeigneten Studien fanden die Autoren zunächst 188 Arbeiten zu diesem Thema. Aus diesen Arbeiten wurden alle ausgeschlossen, die 4 keine reine Schlaganfallstichprobe untersuchten, 4 keine eigene Komponente zur Behandlung von Gedächtnisstörungen enthielten, 4 keine Interventionsstudien waren und 4 bei denen es sich nicht um eine randomisierte Kontrollgruppenstudie handelte. Übrig blieben 7 Studien, die diese Kriterien erfüllten, von denen jedoch bei Durchsicht des vollständigen Artikels weitere 5 aus verschiedenen Gründen ausgeschlossen wurden. Damit erlauben nur 2 Studien nach den Kriterien der Cochrane Collaboration Aussagen zur Behandlung von Gedächtnisstörungen nach Schlaganfall (Doornhein 1998, Kaschel et al. 2002).
Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) gemeinsam verabschiedeten Leitlinien für die Neuropsychologische Diagnostik und Therapie von Gedächtnisstörungen hingewiesen (Diener et al. 2008). Dieses Kapitel beschränkt sich auf die Darstellung der Therapiemethoden.
13.2
Neuropsychologische Therapie
Im Akutstadium nach einer erworbenen Hirnschädigung werden Gedächtnisstörungen häufig von anderen neuropsychologischen Defiziten überlagert, vor allem von Aufmerksamkeitsstörungen. Zusätzlich führen Einschränkungen des Befindens wie 4 Schmerzen, 4 unruhiger Schlaf, 4 Probleme mit Nahrungsaufnahme und/oder Verdauung zu einer reduzierten Belastbarkeit, die sich wiederum auf die Gedächtnisleistungen auswirken kann. Gezielte therapeutische Maßnahmen sind daher vor allem im chronischen Stadium der Hirnschädigung gefordert. Auf diese soll im Folgenden eingegangen werden. jTherapieziele Die schwierige Frage der Therapieziele für Patienten mit Gedächtnisproblemen macht folgende Aussage einer Betroffenen deutlich: »Einer meiner liebsten, wertesten Freunde ist seit 8 Wochen an limbischer Enzephalitis (Entzündung mit Schwerpunkt im limbischen System) erkrankt und leidet seitdem an schweren Gedächtnisstörungen. Laut Aussagen der Ärzte muss mit diesem Status jetzt gelebt werden.« Die Einschätzung der Ärzte ist sicher richtig, dass bei Verletzung der für die Gedächtnisverarbeitung relevanten Fla-
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schenhalsstrukturen im Gehirn mit bleibenden schweren Gedächtnisstörungen zu rechnen ist. So wie die Aussage bei
der Betroffenen ankam, klingt allerdings mit, »da kann man nichts machen, damit müssen Sie sich abfinden«. Doch auch wenn eine Besserung der Gedächtnisstörungen oder gar eine Heilung, d.h. volle Funktionsfähigkeit nicht das Ziel ist, kann neuropsychologische Therapie den Patienten und Angehörigen eine Reihe von Angeboten machen, mit denen ihre Situation gebessert werden kann. Neben den individuellen Wünschen der Patienten und dem Zeitpunkt der Therapie (akute oder postakute Phase vs. chronisches Stadium) hängen Therapieziele vom Schweregrad der Gedächtnisstörung sowie von begleitenden neuropsychologischen Störungen ab, z.B. 4 Apathie, 4 Störung der Exekutivfunktionen oder 4 mangelnde Einsicht in die kognitive Beeinträchtigung. Nach dem ICF-Modell (International Classification of Functioning, Disability and Health) lassen sich auf Ebene der Funktionen die in . Übersicht 13.1 aufgelisteten Ziele formulieren. . Übersicht 13.1. Therapieziele bei Gedächtnisstörungen 1.
Verbesserung der allgemeinen Befindlichkeit mit Auswirkung auf die Gedächtnisleistung 2. Verbesserung der Orientierung 3. Verbesserung begleitender kognitiver Störungen 4. Reduzierung der Gedächtnisanforderungen 5. Verbesserung der Enkodierungs- und Abrufleistung 6. Vermittlung von domänenspezifischem Wissen 7. Nutzung von Gedächtnishilfen, die durch Dritte vorgegeben werden 8. Selbstständige Anwendung von Kompensationsstrategien Bezogen auf den persongebundenen Kontext der ICF ist ein weiteres Ziel: 9. Integration der Folgen der Hirnschädigung in ein neues Selbstkonzept
jMethoden der neuropsychologischen Therapie Die neuropsychologische Therapie unterscheidet drei grundlegende Behandlungsformen, aufgelistet in . Übersicht 13.2.
Bei der folgenden Darstellung des Methodeninventars der Therapie von Gedächtnisstörungen werden lange bekannte Methoden kurz erwähnt, während einige neuere Entwicklungen ausführlicher behandelt werden (. Abb. 13.1). . Übersicht 13.2. Behandlungsformen der neuropsychologischen Therapie 1. 2. 3.
Funktionstherapien Kompensationstherapien Integrative Behandlungsmethoden
kFunktionstherapie (Restitution) Mit dem Begriff »Funktionstherapie« oder »funktionelle Therapie« wird eine Behandlungsform umschrieben, bei der durch spezifische und neuropsychologisch begründete Übungen ein bestimmtes Verhalten verbessert oder optimiert werden soll. Charakteristisch für Funktionstherapien ist das direkte Üben (»drill and practice«) beeinträchtigter kognitiver Funktionen. Man geht davon aus, dass durch das Training elementarer kognitiver Funktionen oder Prozesse ein Leistungs- und Lernzugewinn erzielt werden kann, der zu funktionellen Verbesserungen führt. kKompensationstherapie Diese Behandlungsform dient dazu, die Bewältigungsfähigkeiten des Individuums aufzubauen bzw. zu verbessern, wenn eine Funktionsrestitution nicht mehr möglich ist. Kompensations- und Restitutionsansätze können auch parallel durchgeführt werden und müssen nicht notwendigerweise sukzessiv aufeinander folgen. Bei der Kompensationstherapie kommt vor allem den intakten kognitiven Fähigkeiten sowie dem engeren sozialen Umfeld eine wesentliche Bedeutung zu. kIntegrative Behandlungsmethoden Zusätzlich zu den Funktions- und Kompensationstherapien verwendet die klinische Neuropsychologie Methoden anderer psychotherapeutischer Verfahren, z.B. Methoden der Verhaltenstherapie bei Störungen exekutiver Funktionen, besonders der Handlungskontrolle, und adaptiert sie entsprechend der Bedürfnisse der Patienten. Häufig sind es übergreifende psychologische Aspekte, die aufgegriffen und behandelt werden.
. Abb. 13.1. Übersicht über Methoden der neuropsychologischen Therapie von Gedächtnisstörungen
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Kapitel 13 · Gedächtnisstörungen
13.2.1
Funktionstherapie
Training anderer kognitiver Funktionen jTraining der Aufmerksamkeitsleistung In der Frühphase kann das Training der Aufmerksamkeitsleistung die Gedächtnisleistung positiv beeinflussen. Sturm (1994, 2009) weist allerdings darauf hin, dass beim Training von Aufmerksamkeitsfunktionen die gezielte Auswahl der zu trainierenden Funktion für den Therapieerfolg von großer Bedeutung ist. Soll daher die Aufmerksamkeitsleistung verbessert werden, um positive Auswirkungen auf die Gedächtnisleistung zu erzielen, sollten statt eines unspezifisch ausgewählten Gedächtnistrainingsprogramms gezielte Trainingsaufgaben für einzelne Aufmerksamkeitsparameter eingesetzt werden.
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jRealitätsorientierungstraining Das Wiedererlangen der Orientierung zu Person, Situation, Ort und Zeit spielt besonders in der frühen Phase nach einer Hirnschädigung eine zentrale Rolle. Orientierende Hinweise sollten dem Patienten gut sichtbar verfügbar gemacht werden. Dazu gehört ein Kalender, auf dem der aktuelle Tag und das Datum markiert werden. Im Orientierungstraining sollte der Patient immer wieder auf diese Hilfen hingewiesen werden. Da viele Patienten in dieser Phase aus unterschiedlichen Gründen Probleme mit dem Lesen haben, sollte auf eine hinreichend große Schrift geachtet werden. Hilfreich ist auch, wenn die Informationen mit Bildern (z.B. Informationen zur Person neben einem Foto des Patienten) angereichert werden. Moffat (1992) betont, dass für den Erfolg des Orientierungstrainings vor allem der Einbezug in den klinischen Alltag als 24-Stunden-Realistätsorientierungstraining von Bedeutung sei. Aus diesem Grund ist es eine wesentliche Aufgabe der klinischen Neuropsychologen, Angehörige und Pflegepersonal in der Durchführung anzuleiten. ! Cave Der Neuropsychologe sollte unterscheiden, ob er die Orientierung des Patienten überprüfen oder trainieren will. Das Training sollte die unten dargestellten Prinzipien des fehlerfreien Lernens (Errorless Learning [Wilson et al. 1994]) und des verzögerten Abrufs (Spaced Retrieval [Schacter et al. 1985]) verbinden. Der Patient sollte zunächst in kurzen, dann in größer werdenden Abständen, nach zu übenden Informationen, z.B. dem aktuellen Tag oder Datum, gefragt werden. Er soll die Fragen jedoch nur dann beantworten, wenn er sich sicher ist. Falls nicht, sollte er auf die entsprechenden Hinweise aufmerksam gemacht werden und die richtige Antwort nachsprechen. Wichtig für die Therapie ist die Beschränkung der Therapieinhalte. Mit einem Patienten, dem die Orientierung in allen Qualitäten fehlt, sollten innerhalb einer Therapiesitzung nur wenige Informationen (z.B. nur Alter und Geburtsdatum) geübt werden. Wird der Patient mit zu viel Information konfrontiert, wird ihn dies eher verwirren.
jÜbendes Funktionstraining von Gedächtnisleistungen Das übende Funktionstraining der Gedächtnisleistung wird vor allem in Form computergestützter Trainingsprogramme durchgeführt. Nach Tam und Man (2004) spielen für die Akzeptanz der Programme folgende Faktoren eine Rolle: 4 Die Patienten können selbst den Fortschritt festlegen (»self-paced practice«). 4 Sie erhalten ein unmittelbares Feedback (»performance feedback«). 4 Es wird eine ansprechende visuelle Präsentation (»visual presentation«) geboten. 4 Das Training wird individuell betreut (»personalized training contents«). Brooks und Rose (2003) schlagen darüber hinaus vor, eine am PC gezeigte virtuelle Realität (VR) in die Behandlung von Gedächtnisstörungen einzubeziehen. Sie berichten über erste Ergebnisse, nach denen die durch das VR-Training erzielten Verbesserungen auch einen Transfer auf die Leistungen in der realen Welt zeigen. Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit des übenden Funktionstrainings Eine Reihe von Studien belegen, dass ein übendes Funktionstraining Arbeitsgedächtnisfunktionen verbessern kann (Vallat-Azouvi et al. 2009, Vallat 2005, Serino 2007). Diese setzen vor allem Aufgaben ein, die vom Charakter den in der Diagnostik eingesetzten Tests und experimentellen Aufgaben zum Arbeitsgedächtnis ähnlich sind (z.B. Informationen in einer anderen Reihenfolge widergeben). Inwieweit ein Alltagstransfer gegeben ist, muss aktuell offen bleiben. Zur Bedeutung des übenden Funktionstrainings für längerfristigeGedächtnisleistungen ist die Literatur uneinheitlich. Während Cicerone et al. (2005) eine eingeschränkte Effektivität des übenden Funktionstrainings für Gedächtnisfunktionen konstatieren, zeigen Hildebrandt et al. (2006, 2007) in einem Überblick, dass ein übendes Funktionstraining bei Patienten mit leichten bis mittelschweren Gedächtnisstörungen durchaus zu Leistungsverbesserungen führen kann. Dabei scheint es weniger auf die Art des durchgeführten Trainings als vor allem auf Intensität und Dauer des Trainings anzukommen. In den Leitlinien zur neuropsychologischen Therapie von Gedächtnisstörungen heißt es zur Frage des übenden Funktionstrainings:
»
Bei Patienten, bei denen die Diagnostik Hinweise auf eine erhaltene Konsolidierung gibt, und bei denen der Rehabilitationsverlauf noch offen ist, sollten internale Gedächtnisstrategien intensiv geübt werden, um die Enkodierungsleistung zu verbessern. Für die Wirkung eines übenden Funktionstrainings, bei dem möglichst viele Informationen »auswendig gelernt« werden (Diener et müssen, gibt es hingegen keine Evidenz. al. 2008)
«
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13.2.2
Kompensationstherapie
Kompensationsstrategien spielen in der Behandlung von Patienten mit Gedächtnisstörung die mit Abstand größte Rolle. Im Folgenden werden zunächst Methodenbeispiele vorgestellt, und es wird auf die Evidenz für die Wirksamkeit eingegangen. Anschließend erfolgen eine Einschätzung geeigneter Einsatzziele der Methoden, von wem sie eingesetzt werden (Therapeut/Angehörige vs. Patient) und eine differenzielle Indikationsstellung, für welche Patienten sich die Methoden eignen: 4 Zum einen gibt es eine Reihe von Verfahren, mit denen Therapeuten oder Angehörige die Gedächtnisstörung eines Patienten kompensieren können, selbst wenn dieser die Methoden nicht selbstständig nutzt. 4 Zum anderen gibt es Verfahren, die mit dem Ziel der selbstständigen Nutzung durch den Patienten eingesetzt werden. Die Frage, wer die Therapiemethoden anwendet, ist daher für die Beurteilung ihrer Effektivität von zentraler Bedeutung. Die hier beschriebene differenzielle Indikation basiert zum Teil auf empirischen Daten (Wilson 1992), vor allem jedoch auf langjähriger klinischer Erfahrung der Autorin. Der Schweregrad einer Gedächtnisstörung wird anhand des Indexes der verzögerten Reproduktion in der Wechsler Memory Scale-Revised (WMS-R, Wechsler 1987) operationalisiert. Bei der Indikationsstellung sind weitere kognitive Beeinträchtigungen zu bedenken, besonders
. Abb. 13.2. Kompensationstherapie: Methodenüberblick
4 Störungen der Exekutivfunktion und 4 Verminderung des Antriebs. Die in . Abb. 13.2 genannten Werte sind als Orientierungswerte, nicht als strikte Cut-off-Scores zu verstehen.
Reduzierung der Gedächtnisanforderungen Um die Anforderungen an das Gedächtnis im Alltag zu mindern, kann man Informationen, die üblicherweise im Gedächtnis gespeichert werden, nach außen verlagern, z.B. in optischer Form mit Hinweisschildern. Beispiel Schrank- oder Zimmertüren werden beschriftet. Nolan et al. (2001) berichten, dass demente Patienten ihre Zimmertüre leichter fanden, wenn der Name und ein Porträtfoto an die Tür geheftet wurden. Wichtige Notizen können an zentrale Orte geheftet werden, z.B. an die Wohnungstür, die Kühlschranktür oder den Badezimmerspiegel.
Eine zweite Möglichkeit, Anforderungen an Gedächtnisfunktionen zu reduzieren, bietet die Einbettung von Handlungen in täglich wiederkehrende Routinen. So kann es hilfreich sein, Schlüssel, Brille oder ähnliche Gegenstände immer am selben Ort aufzubewahren oder Medikamente regelmäßig mit den Mahlzeiten einzunehmen. Gibt es Probleme mit der persönlichen Hygiene (z.B. Duschen), sollten diese Verrichtungen täglich immer zur gleichen Zeit und in derselben Reihenfolge
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Kapitel 13 · Gedächtnisstörungen
durchgeführt werden. Der Patient muss sich dann nicht erinnern, ob er schon geduscht hat oder nicht. Zur Einführung solcher Routinen können verhaltenstherapeutische Techniken, vor allem ein Backward Chaining (Verkettung von Handlungsschritten) hilfreich sein. In . Übersicht 13.3 sind allgemeine Hinweise zur Reduzierung von Gedächtnisanforderungen bei der Therapiegestaltung zusammengefasst. . Übersicht 13.3. Reduzierung von Gedächtnisanforderungen bei der Therapiegestaltung 1.
Stabile Rahmenbedingungen
4 Räume, Zeit möglichst regelmäßig 2.
3. 4.
Aufbau der Therapiesitzung nach einem sich wiederholenden Grundschema 4 Gewohnheit ist wichtiger als Abwechslung 4 Was für den Therapeuten langweilig ist, kann für den Patienten genau richtig sein Wiederholung von Inhalten vergangener Sitzungen mit vorliegendem Material Am Ende der Stunde Wichtiges zusammenfassen und aufschreiben
Methoden zur Reduzierung der Gedächtnisanforderung
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Ziel. Durch die Reduzierung von Gedächtnisanforderungen soll es dem Patienten ermöglicht werden, in seinem Alltag ohne Rückgriff auf Gedächtnisinhalte selbstständig zu agieren. Anwender. Methoden zur Reduzierung der Gedächtnisanforderung werden von Therapeuten und Angehörigen eingesetzt. Weniger beeinträchtigte Patienten strukturieren häufig intuitiv ihren Alltag so um, dass sie weniger Gedächtnisanforderungen haben. Indikation. Für alle Patienten wichtig: Art und der Umfang der Anforderungsreduzierung müssen auf den individuellen Patienten abgestimmt werden.
Lerntheoretisch fundierte Methoden jErorrless Learning (Fehlerfreies Lernen) Seit den ersten Experimenten von Wilson et al. zum Errorless Learning wurde eine Reihe von Studien zum fehlerfreien Lernen durchgeführt (Überblick bei Clare u. Jones 2008). Dabei zeigte sich, dass die schwerer beeinträchtigten Patienten dann profitieren, wenn beim Lernen das Auftreten von Fehlern vermieden wird (Evans et al. 2000). Dabei spielen Motivation und eine aktive Lernhaltung eine wichtige Rolle (Brenner 2001). Tailby und Haslam (2003) modifizierten daher die fehlerfreie Lernbedingung, indem sie den Patienten einen semantischen Hinweis gaben, mit dessen Hilfe sie selbst die richtige Antwort finden konnten. Wenn der Patient die richtigen Antworten selbst herausfand, war der Lernerfolg besser als wenn sie vom Untersucher vorgegeben wurden. Daraus ergeben sich Konsequenzen für den Umgang mit Patienten mit Gedächtnisproblemen. Diese Patienten lernen anders!
Näher betrachtet Auf dem impliziten Gedächtnis basierende Lerntechniken Die Bedeutung des fehlerfreien Lernens ist aus der Lernbehindertenpädagogik lange bekannt. Seit Beginn der 90er Jahre werden diese Lernprinzipien jedoch auch für die Therapie hirnorganisch bedingter Gedächtnisstörungen eingesetzt. Theoretischer Hintergrund ist die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Gedächtnis. Besonders die Arbeitsgruppe um Glisky (1986) versuchte bereits kurz nachdem experimentelle Befunde zum erhaltenen impliziten Gedächtnis von Patienten mit einer Gedächtnisstörung bekannt wurden, diese erhaltene Gedächtnisfunktion auch für die Therapie nutzbar zu machen. Sie stießen dabei jedoch bald an Grenzen (Thöne u. Glisky 1995). Als einen Grund, warum sich das implizite Gedächtnis so schwer für das Erlernen von gezielter Information im Alltag nutzen ließ, diskutierten Baddeley und Wilson (1994) die mangelnde Fähigkeit des impliziten Gedächtnisses, Fehler zu identifizieren und daraus zu lernen. Wilson et al. (1994) führten zu dieser Annahme eine Reihe von Experimenten durch. Sie ließen Patienten mit Gedächtnisproblemen sowie gesunde ältere Probanden und jüngere Kontrollpersonen Worte lernen. Dabei führten sie eine fehlerhafte Lernbedingung ein, in der alle Versuchspersonen zunächst etwas Falsches lernten, das sie dann korrigieren mussten, und eine fehlerfreie Bedingung, in der stets direkt die richtige Antwort gelernt wurde. Die Ergebnisse dieses Experiments zeigten, dass alle Patienten mit Gedächtnisstörungen und die meisten gesunden Älteren besser lernten, wenn sie in der Lernphase keine Fehler machten. Junge Kontrollpersonen hingegen waren in der Lage, aus ihren Fehlern zu lernen und zeigten keinen Unterschied im Lernergebnis zwischen den beiden Bedingungen.
Das Prinzip des Errorless Learning widerspricht Alltagstheorien wie »Aus Fehlern wird man klug!« und sollte daher auch allen Mitgliedern des interdisziplinären Teams und Angehörigen vermittelt werden. > Bei Alltagshandlungen, die ein Patient neu erlernen will, man denke an die Reihenfolge beim An- und Ausziehen mit einem hemiparetischen Arm, ist darauf zu achten, dass die Patienten diese von Beginn an fehlerfrei üben.
Es kann erforderlich sein, die Aktivitäten zunächst vorzumachen, oder dem Patienten Hilfen an die Hand zu geben (z.B. eine Wegbeschreibung beim Wegelernen), um von Anfang an die richtigen Handlungsschritte anzuleiten. Erst wenn sich der richtige Ablauf auf diese Weise eingespielt hat, sollte der Patient die Schritte zunehmend selbstständig nachvollziehen. kFehlerfreies Lernen im Therapiealltag Versuch und Irrtum, ein bei Gesunden durchaus effektives Lernprinzip, ist für Patienten mit Gedächtnisstörungen keine hilfreiche Lernmethode, sondern beeinträchtigt vielmehr deren Lernen. Alle Teammitglieder sollten den Patienten helfen, fehlerhafte Handlungsschritte oder Informationen zu vermeiden.
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Beispiel Fragt man einen Patienten nach dem Namen des Therapeuten, und er antwortet nicht gleich, wird man nicht sagen »Raten Sie mal, vielleicht kommen Sie drauf!« oder ihm drei Namen zur Auswahl geben, aus denen er den richtigen erraten soll, sondern man wird ihn auffordern »Sagen Sie es nur, wenn Sie sich ganz sicher sind!« oder man gibt eine Hilfestellung, mit der der Patient mit großer Wahrscheinlichkeit auf den richtigen Namen kommt, z.B. »ein sehr häufiger Name mit ,M‘, der für einen alten Beruf steht« (Müller). Will man mit dem Patienten den Weg zum Therapieraum einüben, wird man ihn nicht ermutigen »Probieren sie einfach mal, ob sie den Weg alleine finden«, sondern ihm empfehlen »Gehen Sie nur los, wenn Sie sich ganz sicher sind, sonst zeige ich Ihnen den Weg gerne!«
jBackward Chaining (Verkettung von Handlungsschritten) Das Chaining-Verfahren (Smith 1999) ist eine Methode, um Fehler zu vermeiden, die sich für den Aufbau alltäglicher Routinen eignet. Dabei wird eine Handlung in einzelne Schritte untergliedert, die durch das Lernprogramm wie die Glieder einer Kette (»chain«) miteinander verknüpft werden. Beim Backward-Chaining wird die Handlung von hinten aufgebaut, also zunächst vom Therapeuten oder dem Angehörigen bis auf den letzten Schritt ausgeführt, zu dem der Patient dann aufgefordert wird. Ist der Patient sicher in der Durchführung dieses letzten Schrittes, kann die Unterstützung des Therapeuten jeweils um einen Schritt reduziert werden, bis der Patient schließlich lernt, eine vollständige Handlungskette durchzuführen. Beispiel Die komplexe Handlung »Zubereiten eines Obstsalats« lässt sich in folgende Teilschritte untergliedern: Obst auswählen – Obst schälen – Obst klein schneiden – Obst in Schüssel geben. Zunächst wird der Therapeut dem Patienten den Handlungsablauf vormachen. Im nächsten Schritt wird er das Obst auswählen, schälen und klein schneiden, und der Patient soll es in die Schüssel geben. Ist dieser Handlungsschritt sicher, übernimmt der Patient die nächste Aufgabe (Obst klein schneiden). Auf diese Weise wird die therapeutische Unterstützung reduziert, bis der Patient selbstständig einen Obstsalat zubereiten kann.
erforderlich. Schacter und Mitarbeiter (1985) konnten zeigen, dass ein Abruf in immer größeren Intervallen zu einem besseren langfristigen Behalten führt als in gleichbleibenden Abständen. In ihrer Untersuchung ließen sie 4 Patienten Namen zu Gesichtern erinnern, wobei die Namen zunächst in sehr kleinen (5 Sekunden), dann in immer größeren Abständen wiederholt wurden. Man versuchte auch, die Patienten dazu zu veranlassen, den Abruf in bestimmten Abständen eigenständig zu initiieren. Während alle 4 Patienten ihre Erinnerungsleistung gegenüber dem Ausgangswert vor dem Training verbessern konnten, erlernten nur 2 Patienten, die Strategie ohne Anstoß durch den Therapeuten einzusetzen. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass Kompensationsstrategien zwar erfolgreich von Therapeuten eingesetzt werden können, dass jedoch die Patienten diese nicht immer in Eigenregie anwenden. In letzter Zeit wurde diese Methode vor allem bei Patienten mit Morbus Alzheimer erfolgreich eingesetzt. Hochhalter et al. (2003) zeigten, dass die Patienten damit besser in der Lage waren, ihre Medikamenteneinnahme zu erinnern. Bourgeois et al. (2003) zeigten, dass Spaced Retrieval eingesetzt werden kann, um den Patienten die Nutzung externer Gedächtnishilfen zu vermitteln. Hawley und Cherry (2004) schließlich ließen Patienten mit dieser Methode Namen und Gesichter lernen und konnten sogar einen Transfer auf die Alltagssituation insofern zeigen, als die Hälfte der Patienten die realen Personen mit dem richtigen Namen ansprechen konnte. Charakteristika der auf dem impliziten Gedächtnis basierenden Lerntechniken Ziel. Vermittlung domänenspezifischen Wissens, Aufbau von Routinen. Anwender. Therapeuten; unter deren Anleitung Angehörige. Indikation. Mithilfe dieser Methoden können selbst schwer betroffene Patienten einzelne Informationen und neue Routinen lernen, allerdings sind i.d.R. zahlreiche Wiederholungen erforderlich.
Ein Verhalten, das über ein Backward-Chaining-Verfahren erworben wurde, ist in der Regel hyperspezifisch (Glisky et al.1989). Es eignet sich z.B. zum Erlernen von Routinen beim Ankleiden oder in der Körperpflege. Eine Übertragung auf andere Handlungsabläufe ist nicht zu erwarten. Dies ist dadurch zu erklären, dass jeder einzelne Verhaltensbaustein den Auslösestimulus für den nächsten Schritt in der Kette darstellt. Variationen der Abfolge oder der Elemente der Handlung führen daher notwendig zu einer Unterbrechung der Verhaltenskette.
jInternale Enkodierungs- und Abrufstrategien Traditionell hat sich die Gedächtnisrehabilitation auf solche Verfahren konzentriert, bei denen aus der Allgemeinpsychologie bekannt ist, dass sie die Enkodierung und den Abruf von Information verbessern. Man spricht von internalen Strategien und meint damit Strategien, bei denen die Gedächtnisleistung durch verdeckte, äußerlich nicht beobachtbare mentale Prozesse verbessert werden kann. Dies können verbale oder visuelle Strategien sein wie z.B. 4 visuelle Vorstellungen, 4 das Rhythmisieren von Information oder 4 die verbale Elaboration von Information, d.h. die systematische und intensive Auseinandersetzung mit Texten, wie es z.B. in der PQRST-Technik (Robinson 1970) vermittelt wird.
jSpaced Retrieval (Verzögerter Abruf) Sollen Patienten neue Informationen oder Alltagsroutinen lernen, so sind dafür in der Regel zahlreiche Wiederholungen
Bei der PQRST-Technik verschafft sich der Patient zunächst einen Überblick (Preview) und stellt Fragen zum Text (Question). Anschließend liest er den Text (Read), fasst ihn mit ei-
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Kapitel 13 · Gedächtnisstörungen
genen Worten zusammen (State) und überprüft anhand der Fragen, ob er ihn vollständig verstanden hat (Test). Die deutsche Adaptation wird als ÜFLA-Technik (Überfliegen, Fragen, Lesen, Antworten) bezeichnet. Diese Strategien zielen 4 einerseits auf eine multimodale Enkodierung ab (Engelkamp 1990, Paivio 1971), 4 andererseits fördern sie die semantische Verarbeitung, d.h. eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Information (Craik u. Lockhart 1972). Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit der internalen Strategien
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Die meisten Studien zu diesen Verfahren datieren aus den 80er und 90er Jahren (Überblick bei Benedict 1989, Thöne 1996). In den letzten 10 Jahren wurden kaum noch Untersuchungen publiziert. Eine Ausnahme ist die Arbeit von Kaschel et al. (2002), bei der Imaginationsstrategien über 10 Wochen in 30 Sitzungen vermittelt wurden. In einem randomisierten Kontrollgruppen-Design konnten die Autoren nachweisen, dass unter der Voraussetzung eines intensiven Trainings mit der Imaginationsstrategie bessere Gedächtnisleistungen in Alltagsaufgaben (Widergabe von Geschichten, Behalten von Terminen) zu erreichen sind als in der Kontrollbedingung. Auch Bußmann-Mork et al. (2000) betonen die Bedeutung der Trainingsintensität (5-mal wöchentlich 1 Stunde; insgesamt ca. 20 Stunden). Sie setzten eine semantische Kategorisierungsstrategie in Kombination mit der Spaced-Retrieval-Technik (s.o.) ein, um das Wortlistenlernen zu verbessern und erzielten damit auch einen Transfer auf ein besseres Behalten von Texten. Die Kombination aus semantischer Kategorisierungs- und Spaced Retrieval-Technik schien dabei einem alltagspraktischen Training mit einer Verbindung von PQRST-Technik und metakognitiven Elementen (s.u.) sowie einer Kontrollgruppe überlegen.
Für die Beurteilung der Wirksamkeit internaler Strategien in der Therapie muss das Ziel der Therapie betrachtet werden. In verschiedenen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass mithilfe solcher Strategien auch schwer betroffene Patienten domänenspezifisches Wissen erwerben können (Thöne u. Glisky 1995). Ob Patienten dann in der Lage sind, die Strategien im Alltag selbstständig einzusetzen, oder ob, wie Bussmann-Mork et al. (2000) postulieren, eine funktionelle Verbesserung erzielt werden kann, hängt von der Schwere der Gedächtnisstörung sowie von der Intensität des Trainings ab. Es bleibt allerdings die Einschränkung, dass sich im Alltag nur relativ wenige Situationen für den Einsatz solcher Strategien eignen. Positive Beispiele sind 4 das Lernen von Namen zu Gesichtern oder 4 das Erinnern relevanter Ziffernfolgen, z.B. die PIN-Nummer der Scheckkarte. Es sind Situationen, in denen der Patient die bewusste Entscheidung trifft, etwas behalten zu wollen. In einer solchen Situation, z.B. beim Lernen vor einer Prüfung, würden die meisten Menschen ohne Gedächtnisstörungen ebenfalls gezielte Strategien einsetzen, seien es externe Hilfsmittel oder
interne Lernstrategien. Entsprechend sind es vor allem junge Patienten mit geringen Beeinträchtigungen, bei denen die Chance für die Wiederaufnahme einer Ausbildung oder des Studiums besteht, die solche Lernstrategien besonders gut nutzen können. Für die meisten Patienten gilt jedoch, dass Situationen, in denen man sich bewusst entscheidet, Informationen behalten zu wollen, im Alltag eher die Ausnahme als die Regel sind (lohnt es sich z.B. einen Einkaufszettel oder den Inhalt eines Zeitungsartikels auswendig zu lernen?). Daher sollte jeder Therapeut kritisch prüfen, wieviel Therapiezeit er für die Vermittlung solcher Strategien verwendet. Charakteristika internaler Enkodierungsund Abrufstrategien Ziel. Vermittlung domänenspezifischen Wissens. Anwender. Therapeut/Angehörige. Indikation. Patienten jeden Schweregrades. Ziel. Erarbeitung komplexer verbaler Informationen. Anwender. Patient selbstständig. Indikation. Patienten mit leichten Gedächtnisstörungen und geringen zusätzlichen kognitiven Störungen, z.B. für junge Patienten, bei denen die Wiederaufnahme von Schule oder Ausbildung in Aussicht steht. Voraussetzung ist intensives Strategietraining.
Gruppenansätze: Problemlösetraining und metakognitives Training Die Einordnung von Problemlöseansätzen und metakognitivem Training in die hier gewählte Systematik ist nicht ganz eindeutig. > Unter metakognitiven Training werden Verfahren verstanden, mit denen die Selbstreflexion über das eigene Denken und Handeln gestärkt wird.
Diese Ansätze sind komplex und verbinden internale Enkodierungs- und Abrufstrategien und externe Gedächtnishilfen. Die Zuordnung zu Kompensationstherapien erfolgte, weil die Inhalte der Trainingssitzungen Gedächtnisanforderungen sind. Auch werden auf Basis einer Problemanalyse und mittels metakognitiver Reflexion gedächtnisspezifische Kompensationsstrategien erarbeitet. Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Studien, die vor allem in Einzeltherapien stattfanden, handelt es sich hier um eine Therapie, in der die soziale Interaktion in Gruppen genutzt wird. Im Gespräch in der Gruppe wird der Umgang mit der Erkrankung zum Thema. Unter diesem Aspekt könnten sie auch als integrative Behandlungsverfahren bezeichnet werden. Thöne (2000) hat die positiven Effekte von Gruppentherapien in der Neuropsychologie zusammengestellt (. Übersicht 13.4). Die in der Literatur beschriebenen Gruppenprogramme verbinden in unterschiedlicher Gewichtung 4 Ansätze eines Problemlösetrainings (Parente u. Stapleton 1993), 4 die Vermittlung von Strategie- und Störungswissen (Unverhau 1998) sowie
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. Übersicht 13.4. Positive Effekte von Gruppentherapien in der Neuropsychologie
Charakteristika der Gruppenansätze: Problemelösungstraining/metakognitives Training
1.
Ziel. Selbstständiger Einsatz von Kompensationsstrategien im Alltag. Anwender. Patient; gut geeignet für Gruppensettings. Indikation. Vor allem gering beeinträchtigte Patienten mit gutem Störungsbewusstsein.
2.
3.
4.
Soziale Vergleichsprozesse in der Gruppe können die Krankheitsbewältigung erleichtern. Die Patienten machen die Erfahrung, mit ihren Schwierigkeiten nicht allein zu sein. Die Gruppe bietet Möglichkeiten des Modellernens, wenn Patienten sich über ihre Erfahrungen mit dem Einsatz von Strategien austauschen. Der Austausch mit anderen kann die Reflexion über unterschiedliche Strategien, aber auch über individuelle Lernstile und Vorlieben anregen. Die Gruppe bietet für Therapeuten ein wichtiges Beobachtungsinstrument, da sie die Patienten in einer alltagsnäheren Situation erleben als in der Einzeltherapie.
4 alltagspraktische Übungen (Berg et al. 1991, Milders et al. 1995). Die Patienten üben nicht nur bestimmte Techniken zur Verbesserung ihrer Gedächtnisleistung, sondern lernen auch, welche Strategien in welchen Situationen hilfreich sind. Unverhau (1998) hebt darüber hinaus die Bedeutung individueller Lernstile und -gewohnheiten der Patienten hervor. Alle erwähnten Studien konnten einen Erfolg der Therapiegruppe gegenüber einer Kontrollbedingung nachweisen. Die Gruppenansätze weisen Gemeinsamkeiten auf, die in . Übersicht 13.5 aufgeführt sind. . Übersicht 13.5. Gemeinsamkeiten der Gruppenansätze 1.
2.
3.
Verbesserung der Problemlösefähigkeit: Die Patienten lernen, die Gedächtnisanforderungen unterschiedlicher Situationen zu analysieren, adäquate Strategien auszuwählen und den Erfolg der Strategien zu überprüfen. Verbesserung metakognitiver Fähigkeiten: Die Patienten lernen ihre eigenen Gedächtnisleistungen sowie ihre persönlichen Lernstile kennen. Darüber hinaus wird das Strategiewissen verbessert, indem verschiedene Gedächtnisstrategien wie z.B. Mnemotechniken oder externe Hilfen hinsichtlich ihrer Nützlichkeit kritisch geprüft werden. Aber: Ein besseres Strategiewissen führt nicht notwendig zu einem besseren Strategieeinsatz; dieser muss daher intensiv geübt werden. Anwendung von Strategien in Alltagssituationen: Da die vorgestellten Strategien in alltäglichen Situationen geübt und hinsichtlich ihrer Nützlichkeit überprüft werden, fällt der Einsatz auch außerhalb der Therapiesituation leichter.
Externe Gedächtnishilfen Unter externen Hilfen werden alle Hilfsmittel verstanden, mit denen Gedächtnisinhalte gespeichert bzw. ihr Abruf ermöglicht wird. Hierzu gehören die in . Übersicht 13.6 aufgelisteten Hilfsmittel. . Übersicht 13.6. Externe Gedächtnishilfen 1. 2. 3. 4. 5.
Notizbücher Erledigungslisten Kalender Wecker und andere Zeitgeber Elektronische Hilfen: – Mobile Organizer und Smartphones – Handys mit Kalenderfunktion – Aufnahmegeräte, z.B. Diktiergerät, Anrufbeantworter – Mobile Navigationssysteme
Prinzipiell lassen sich zwei Einsatzmöglichkeiten externer Hilfen denken: 4 Gedächtnishilfen für retrospektives Erinnern und 4 Gedächtnishilfen für prospektives Erinnern. kGedächtnishilfen für retrospektives Erinnern Ein Beispiel für eine solche Gedächtnishilfe ist ein Tagebuch. Dabei sind Angaben zu Tag und Uhrzeit für die Strukturierung hilfreich. Ein Problem ist allerdings, wie der Tagebuchschreiber auf die Eintragungen zurückgreifen kann. Üblicherweise greift man auf Erinnerungen über Schlüsselworte oder -erlebnisse zurück, die Erinnerungen an frühere Erlebnisse auslösen. Die chronologische Einordnung allein, wie sie ein normales Tagebuch darstellt, erlaubt keinen Abruf nach Schlüsselbegriffen. Dieser wiederum wäre zwar über Computer prinzipiell herstellbar, ein dem natürlichen Gedächtnis vergleichbares Netzwerk an Schlüsselbegriffen aufzubauen, erscheint jedoch mit dem heutigen Stand der Technik (noch) nicht realisierbar. kGedächtnishilfen für prospektives Erinnern Die zweite Funktion externer Hilfen besteht darin, an zukünftige Aufgaben oder Pläne zu erinnern. Dazu gehört das Einhalten vereinbarter Termine oder den Kauf eines Geburtstagsgeschenks nicht zu vergessen. Diese Funktion ist für die soziale Integration sehr wichtig. Zudem handelt es sich um eine komplexe kognitive Leistung, die in mehreren Phasen ab-
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Kapitel 13 · Gedächtnisstörungen
Näher betrachtet Prozesse des prospektiven Erinnerns und daraus resultierende Anforderungen an Gedächtnishilfen Ausgehend von dem Modell des prospektiven Erinnerns nach Ellis (1996) werden folgende Phasen des prospektiven Erinnerns unterschieden: 4 Enkodierung, 4 Speicherung, 4 Abruf im richtigen Moment bzw. in der richtigen Situation, 4 Ausführung und 4 Evaluation.
kEnkodierungsphase In der Enkodierungsphase muss die Information aufgenommen werden. Viele Angehörige kennen das Problem, dass Informationen bei Patienten gar nicht ankommen, scheinbar »zum einen Ohr rein, zum anderen gleich wieder rausgehen«. Gedächtnishilfen unterstützen die vollständige Aufnahme und tiefe Verarbeitung der Information durch den Patienten. Falls dies aufgrund der Schwere der Störung nicht sicher erlernbar ist, kann die Enkodierung durch Dritte geleistet werden, d.h., ein Angehöriger oder Therapeut gibt z.B. Termine für den Patienten in einen Kalender ein.
kSpeicherungsphase In der Speicherungsphase übernimmt die Gedächtnishilfe für den Patienten die
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Speicherung. Im Kalender wird notiert, was wann zu erledigen ist.
kZeit- oder ereignisbasierter Abruf Zentral für das Gelingen der Erinnerung ist der Abruf im richtigen Moment bzw. in der richtigen Situation. Daran scheitern viele traditionelle Merkhilfen wie ein Terminkalender in Buchform. Die Patienten vergessen, zum richtigen Moment nachzuschauen. Die Gedächtnishilfe sollte also möglichst in der Lage sein, durch ein Wecksignal zum richtigen Zeitpunkt anzuzeigen, dass etwas zu erledigen ist.
kAusführungsphase Es reicht natürlich nicht aus, dass der Patient daran erinnert wird, dass er etwas ausführen soll, er muss auch noch wissen, was es war. Diese Information muss ihm zur erfolgreichen Bewältigung der Ausführungsphase angezeigt werden. Kritisch ist, dass dieses so vollständig erfolgt, wie es für den Patienten erforderlich ist. Reicht für den Gesunden ein Stichwort für die Erinnerung, was zu erledigen ist, so sind für Patienten mit Gedächtnisstörungen häufig ausführlichere Informationen erforderlich. Auch muss sichergestellt werden, dass der Patient
läuft und bei der neben Gedächtnis- auch Aufmerksamkeitsund Exekutivfunktionen eine Rolle spielen (Kliegel et al. 2004). Aufgrund der Relevanz prospektiver Erinnerungsdefizite werden deren theoretische Grundlagen und die daraus abzuleitenden Anforderungen an Kompensationsmöglichkeiten in einem Exkurs im grauen Kasten ausführlicher erläutert. jNicht-elektronische Gedächtnishilfen Obwohl nicht-elektronische Gedächtnishilfen für Gesunde wie Patienten zu den am häufigsten eingesetzten Kompensationsstrategien zählen, gibt es dazu kaum Untersuchungen. Persönliche Vorlieben und Gewohnheiten spielen dabei eine zentrale Rolle und sollten in der Therapie berücksichtigt werden. Ein Austausch der Patienten untereinander, z.B. im Rahmen einer Gruppe, hat sich als positiv erwiesen, da die Anregungen anderer Patienten häufig eher akzeptiert werden als die des Therapeuten. Einige grundsätzliche Hinweise zur Nutzung externer Gedächtnishilfen sind in . Übersicht 13.7 zusammengefasst. In der Literatur finden sich einige Einzelfalldarstellungen, bei denen der Umgang mit einem Gedächtnisbuch erlernt wurde (Burke et al. 1994, Kime et al. 1996, Sohlberg u. Mateer
bei Unterbrechungen zu der Aufgabe zurückfindet und diese erfolgreich abgeschlossen wird.
kEvaluationsphase Schließlich folgt eine Evaluationsphase, in der zwei Arten von Problemen auftreten können: 4 Im ersten Fall konnte die Erledigung nicht erfolgreich ausgeführt werden, wenn z.B. jemand, der angerufen werden sollte, beim ersten Mal nicht erreichbar war. Dann muss der Prozess neu starten, also die Intention gefasst werden, den Anruf später zu erledigen. Dieses Verschieben von Erledigungen fällt vielen Patienten sehr schwer, selbst wenn sie zunächst den Termin noch erfolgreich erinnerten. 4 Der zweite Fall liegt an, wenn die Erledigung erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Dann ist es wichtig, dass die Absicht gelöscht wird, sonst wird sie erneut durchgeführt. Die Aufgabe einer Gedächtnishilfe muss es daher sein, das Verschieben von Terminen zu ermöglichen und dem Patienten die erfolgreiche Erledigung von Terminen anzuzeigen.
. Übersicht 13.7. Hinweise für die erfolgreiche Nutzung externer Gedächtnishilfen 1.
2.
3. 4.
Konsequenz: Nachdem der Patient verschiedene Merkhilfen ausprobiert hat, sollte er versuchen, sich auf einige wenige festzulegen und diese konsequent zu nutzen. Gibt es Notizen im Kalender, an der Pinnwand und auf dem Notizzettel, verliert er leicht den Überblick. Gewohnheit: Gewohnheit entlastet das Gedächtnis, daher sollte das Führen der Gedächtnishilfe zur Gewohnheit werden. Der Patient sollte stets etwas zu schreiben bei sich führen. In der Therapie sollte geübt werden, Notizen sofort zu machen und sich dafür Zeit zu nehmen (ggf. den Gesprächspartner um eine kurze Pause bitten). Ordnung: Zur späteren Einordnung ist es sinnvoll, Notizen mit Datum zu versehen. Klarheit: Vorhaben, die bereits erledigt sind, kennzeichnen!
181 13.2 · Neuropsychologische Therapie
1994). Sie weisen alle darauf hin, dass der Patient Schritt für Schritt an die Nutzung der Gedächtnishilfen herangeführt und der Umgang damit intensiv trainiert werden muss. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll auf die häufigsten nicht-elektronischen Gedächtnishilfen kurz eingegangen werden. Eine Zusammenstellung findet sich auch bei ThöneOtto und Walther (2007). kKalender Kalender gibt es in allen Größen und Ausführungen. Soll der Kalender auch als Tagebuch dienen, muss dafür hinreichend Platz vorgesehen werden (mindestens DIN A 5, pro Tag eine Seite). Viele Familien führen einen Wandkalender für Termine. Die Patienten sollten jedoch (zusätzlich) einen Kalender bei sich führen, um neue Termine oder Erledigungen unmittelbar eintragen zu können. Das Problem der Kalender ist, dass zwar alles Wichtige in ihnen steht, die Patienten sie jedoch nicht häufig genug und regelmäßig zur Hand nehmen und daher Termine verstreichen, ohne dass der Patient es mitbekommen hat. Das Führen des Kalenders muss daher als regelmäßige Routine eingeübt werden. kNotizzettel Sie sind beliebt, z.B. für Notizen am Telefon oder um sich einen Gedanken zu notieren. Selbstklebende Notizzettel können an zentrale Orte ins Blickfeld geheftet werden. Trotz ihrer weiten Verbreitung haben Notizzettel den großen Nachteil, dass sie sehr leicht verloren gehen. Hilfreicher ist es daher, Notizen immer in ein Buch oder gleich in den Kalender einzutragen. kNotizbuch Das Notizbuch kann verwendet werden wie die Notizzettel, die Verlustgefahr ist jedoch deutlich geringer. Allerdings sollten in dem Buch Notizen auf jeden Fall mit Datum versehen und ggf. als erledigt gekennzeichnet werden, da sie sonst sehr verwirrend sein können. kPinnwand Vorteil der Pinnwand ist, dass viele Informationen im Über-
blick gehalten werden können. Besonders für die Planung von Erledigungen bieten sich Pinnwände mit einer zeitlichen Untergliederung an, z.B. nach Wochentagen. Leider wird oft vergessen, Veraltetes regelmäßig auszusortieren und dort nur aktuelle Informationen aufzuhängen. Eine effiziente Nutzung einer Pinnwand verlangt daher ein hohes Maß an Disziplin. kKurzzeitwecker Kurzzeitwecker eignen sich besonders, um an die Erledigung verzögerter Intentionen nach kurzen Intervallen zu erinnern (z.B. Kuchen im Ofen). Patienten, die große Schwierigkeiten haben, nach einer Unterbrechung zu ihrer Tätigkeit zurückzufinden, können von einem Kurzzeitwecker profitieren, wenn sie sich angewöhnen, im Moment der Unterbrechung den Wecker zu stellen, um an die Beendigung der vorherigen Tätigkeit erinnert zu werden. Voraussetzung ist allerdings, dass die Person noch weiß, woran das Wecksignal erinnern soll.
Charakteristika nicht-elektronischer Gedächtnishilfen Ziel. Speicherersatz für retrospektive und prospektive Erinnerungen. Anwender. Angehörige bzw. selbstständig durch Patient. Indikation. Bei schwerer beeinträchtigten Patienten ist die Anwendung meist durch Angehörige erforderlich. Die Patienten müssen trainiert werden, die Hilfen regelmäßig zu beachten und die Aufgaben zu erledigen. Sind andere kognitive Funktionen intakt, kann der Gebrauch auch von schwer betroffenen Patienten als Routine gelernt werden. Leichter beeinträchtigte Patienten können lernen, die Hilfen selbstständig zu nutzen.
jElektronische Gedächtnishilfen Solange es elektronische Gedächtnishilfen gibt, wurde versucht, diese für den Einsatz bei Patienten zu nutzen. Ihre großen Nachteile waren lange Zeit Unübersichtlichkeit und komplizierte Bedienung. Inzwischen hat sich die Nutzerfreundlichkeit erheblich verbessert. Näher betrachtet Studien: Einsatzfähigkeit kommerziell verfügbarer elektronischer Gedächtnishilfen Thöne-Otto und Walther (2003) untersuchten die Einsatzfähigkeit kommerziell verfügbarer elektronischer Gedächtnishilfen bei Patienten. Sie verglichen dabei einen Palm-Organizer mit der Erinnerungsfunktion eines Handys. Patienten mit schweren Gedächtnisstörungen waren kaum in der Lage, die Bedienung der Geräte zu erlernen, während leichter beeinträchtigte Patienten dies mithilfe eines intensiven Trainings und patientengerechter Bedienungsanleitungen gelang. Wurden die Termine von Dritten in die Geräte eingegeben, so profitierten davon alle Patienten mit einer Verbesserung der Zuverlässigkeit in der Aufgabenausführung. Das Handy war dabei für schwerer betroffene Patienten einfacher zu bedienen als der Palm. Bei besseren kognitiven Voraussetzungen erwies sich die Handhabung des Palms als komfortabler. Die Autorinnen listen eine Reihe von Charakteristika auf, die die Geräte für Patienten ungeeignet machen (Schriftgröße, Tastengröße etc.). Vor allem die komplexe Dateneingabe (19 Schritte beim Palm, 13 Schritte beim Handy) ließ die Geräte für den Alltag ungeeignet erscheinen, es sei denn ein Therapeut oder Angehöriger übernahm die Termineingabe. Dieses Problem hat sich bei modernen Geräten deutlich verbessert. Einen PSION Palm-Organizer setzten Kim et al. (2000) für die Therapie von 12 Patienten mit Hirnschädigung ein. Sie wurden in der Nutzung trainiert und in den folgenden Wochen in Abständen angerufen, ob sie das Gerät weiterhin nutzten. 9 der 12 Patienten gaben an, dass sie das Gerät hilfreich fänden und 7 Patienten wollten es auch nach Ende der Studie weiterhin nutzen. Ein Patient war nicht in der Lage, die Bedienung des Geräts zu erlernen. Die beiden anderen Patienten, die das Gerät nicht für hilfreich hielten, gaben an, es nicht zu brauchen. Kritisch an dieser Studie ist, dass keinerlei quantitative Erfolgsparameter erhoben wurden (lediglich telefonische Interviewdaten).
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Kapitel 13 · Gedächtnisstörungen
Moderne elektronische Hilfen haben neben der reinen Kalenderfunktion oft eine Reihe zusätzlicher Funktionen, die nach Gewohnheit und Vorliebe des Patienten eingesetzt werden können. Beispiel Ein junger Patient mit schweren Gedächtnis- und Orientierungsproblemen nach Hypoxie kam zu uns in die Therapie und hatte einen Palm, auf dem zusätzlich ein Navigationsgerät mit Fuß- und Radwegen installiert war. Mit diesem Gerät traute sich der Patient auch weitere Radtouren in seiner Heimat zu, wo er sich ohne dieses nicht zurechtgefunden hätte. Darüber hinaus nutzte er die Diktierfunktion des Geräts als Erinnerungshilfe, da er Notizen lieber aufsprach als aufzuschreiben.
Ob und in welchem Ausmaß Patienten von diesen Hilfen profitieren können, ist stets im Einzelfall zu prüfen. Die Geräte sind bisher nicht im Heilmittelkatalog der Krankenkassen vorhanden. In begründeten Einzelfällen ist es uns jedoch bereits gelungen, eine Kostenübernahme zu erreichen, vor allem dann, wenn dadurch eine berufliche Wiedereingliederung in Aussicht stand. Da schwer betroffene Patienten die Anwendung kommerzieller Geräte nur begrenzt lernen können, wurden einige Studien auch mit patientengerechten Adaptationen durchgeführt.
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jPatientengerechte elektronische Gedächtnishilfen kNeuroPage Die ersten und wohl bekanntesten Untersuchungen sind die zum sog. NeuroPage (Hersh u. Treadgold 1994), einem einfachen, tragbaren Pagingsystem, das am Gürtel befestigt wurde. Termine des Patienten wurden bei diesem System von einem Betreuer in eine Computerdatenbank eingegeben. Von dort wurden sie zum vorgesehenen Zeitpunkt automatisch abgerufen und per Modem an eine Telefongesellschaft weitergegeben, die dann den Pager ansteuerte und ein Alarmsignal auslöste. Auf dem Display erschien eine Nachricht, was zu erledigen war. Näher betrachtet Studien: NeuroPage Nach den ersten positiven Ergebnissen (Wilson et al. 1997) konnten Wilson et al. (2001) inzwischen Daten von 143 Patienten berichten. Bei mehr als 80% der Patienten konnte die Ausführung von Alltagsaktivitäten signifikant verbessert werden. Bei den meisten war die Verbesserung auch 7 Wochen nach Trainingsende noch nachweisbar. Dies führen die Autoren darauf zurück, dass durch die Einführung des NeuroPage Alltagsroutinen aufgebaut werden konnten. Der große Erfolg des Systems führte dazu, dass es inzwischen im britischen Gesundheitssystem als Kompensationsmittel akzeptiert ist und die Kosten von den Versicherungen übernommen werden (Wilson et al. 2003).
Inzwischen wurden Pagingsysteme allerdings von Mobilfunkgeräten abgelöst, so dass diese Geräte heute am Markt nicht mehr erhältlich sind.
kHandy Wade und Troy (2001) entwickelten ein System, mit dem Patienten zu festgelegten Zeiten über Mobiltelefon Erinnerungsanrufe erhielten. Zu Beginn wurde jeweils darauf hingewiesen, dass dies ein Erinnerungsanruf sei, um Verwirrungen bei den Patienten zu vermeiden. Wurde der Anruf nicht entgegengenommen, wurde er zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt oder an Angehörige weitergeleitet. Es gab die Möglichkeit, dass die Patienten die Ausführung einer Erledigung durch Eingabe eines Codes bestätigten. In einer Studie mit 5 Patienten konnten alle Patienten mit der Erinnerungshilfe ihre Zuverlässigkeit für die ausgewählten Erledigungen verbessern. kTaschencomputer Wright et al. (2001) verglichen zwei Taschencomputer, einen mit Tastatur (Hewlett Packard HP 360 LX), einen im PalmFormat mit Touchpad (Casio E 10) (mit einem Stift wird direkt auf den Bildschirm geschrieben bzw. Tasten berührt) als Gedächtnishilfen für 12 Patienten. Das Eingabeinterface war speziell für die Patienten so gestaltet, dass die Tasteneingabe stets eindeutig war. So mussten die Patienten die Eingabeschritte nicht behalten, sondern konnten sie aufgrund der Bildschirmdarstellung erschließen. Auf beiden Geräten wurden vergleichbare Informationen an die Patienten gegeben bzw. von ihnen eingegeben. Beide enthielten eine Kalender- und eine Notizfunktion, die miteinander verlinkt werden konnten, um zu Terminen Notizen zu ergänzen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Patienten unterschiedliche Geräte bevorzugten. Patienten, die zahlreiche Termine eingaben, bevorzugten die Eingabe über die Tastatur, während Patienten, die das Gerät nur gelegentlich nutzten, das Palm-Format vorzogen. kVoice Organizer Verschiedene Studien (Broek et al. 2000, Hart et al. 2002, Mann 2002, Yasuda et al. 2002) berichten den Einsatz sog. Voice Organizer, digitale Diktiergeräte, die mit einem Alarm verbunden werden können und dann automatisch an die richtige Stelle spulen. Die Dateneingabe ist sehr leicht, da Patienten ihre Termine aufsprechen und ihre eigene Nachricht später wieder abhören können. Alle erwähnten Studien konnten zeigen, dass Patienten Aufgaben oder Termine, an die sie mithilfe des Voice Organizers erinnert wurden, besser erfüllten als diejenigen, für die keine Erinnerung erfolgte. Fazit Bei den in der Literatur beschriebenen Geräten muss die Dateneingabe meist von Dritten übernommen werden; nur weniger beeinträchtigte Patienten können diese selbst erlernen. Die Hauptfunktion der Geräte besteht darin, zu einem vorgegebenen Zeitpunkt das Startsignal für die beabsichtigte Handlung zu geben. Dazu wird ein Alarm ausgelöst, und die Nachricht erscheint auf einem Display oder wird akustisch dargeboten (Voice Organizer). Nur wenige Geräte erlauben ein Verschieben oder Vorziehen der Vorhaben oder geben ein Feedback an eine Betreuungsperson, ob eine Nachricht erfolgreich übermittelt 6
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und ausgeführt wurde. Dies aber ist für viele Angehörige ein entscheidendes Kriterium dafür, ob sie den Patienten mit einer solchen Hilfe in die Selbstständigkeit entlassen können oder nicht.
Charakteristika kommerziell verfügbarer elektronischer Gedächtnishilfen Ziel. Speicherersatz und Abrufinitiierung für verzögerte Intentionen. Anwender. Angehörige bzw. selbstständig durch Patient. Indikation. Bei schwerer beeinträchtigten Patienten ist oft die Dateneingabe durch Angehörige erforderlich. Leichter beeinträchtigte Patienten können lernen, die Hilfen selbstständig zu bedienen. Dazu ist jedoch oft eine hinreichende Trainingszeit erforderlich. Die mitgelieferte Bedienungsanleitung muss für die Patienten angepasst werden.
jZusammenfassung Als Fazit bleibt festzuhalten, dass Patienten mit leichten Gedächtnisstörungen durchaus in der Lage sind, den Umgang mit einer kommerziell verfügbaren elektronischen Gedächtnishilfe zu erlernen. Das Alter und die Vertrautheit mit der Nutzung der Geräte vor der Erkrankung spielen eine Rolle. Für schwerer gestörte Patienten bedarf es Anpassungen, z.B. 4 die Möglichkeit einer Spracheingabe, 4 die Anpassung von Schriftgröße und Signallautstärke sowie 4 eine interaktive Führung durch Handlungsabläufe.
13.2.3
Integrative Behandlungsmethoden
Im Rahmen der integrativen Behandlungsmethoden wird der Schwerpunkt von der gestörten Funktion im engeren Sinne auf die Alltags- und Lebensbewältigung des betroffenen Menschen gelenkt. Entsprechend sind komplexe therapeutische Verfahren erforderlich, bei denen es mehr um Teilhabeals um Funktionsziele geht. In den integrativen Ansätzen geht es auch darum, den Patienten zu helfen, akzeptieren zu lernen, was sich nicht rückgängig machen lässt und neuen Sinn in ihrem Leben zu finden.
Verhaltensmodifikation Verhaltenstherapeutische Maßnahmen spielen in der Behandlung von Gedächtnisstörungen eine wichtige Rolle (z.B. Cramon u. Matthes von Cramon 1994, Wenz u. Gallasch 1996) In einer Verhaltensanalyse ist zunächst zu untersuchen, in welchen Situationen Gedächtnisdefizite als beeinträchtigend und störend erlebt werden. Daneben sind die Bedingungen herauszufinden, unter denen bessere oder gar gute Gedächtnisleistungen möglich sind. Aus der Verhaltensanalyse lassen sich dann die entsprechenden Therapieziele ableiten. Häufig treten beim Training externer Gedächtnisstrategien Schwierigkeiten auf, die dazu führen, dass die Hilfen nicht effektiv genutzt werden. Dann gilt es festzustellen, woran ein effektiver
Einsatz scheitert, und wie ein Gelingen gewährleistet werden kann. Kime, Lamb und Wilson (1996) geben ein Beispiel für das verhaltenstherapeutische Training der Nutzung eines Gedächtnisbuches. Beispiel Eine Patientin erhielt eine Armbanduhr, die sie stündlich mit einem Wecksignal daran erinnerte, in ihr Gedächtnisbuch zu schauen. Therapeuten und Angehörige gaben ihr immer wieder Anstöße, Informationen darin zu vermerken, so dass sie, wann immer sie das Buch anschaute, wichtige Informationen fand. Dadurch wurde das Nachschauen im Buch »verstärkt« und zur Routine. Um zu kontrollieren, inwiefern die Patientin lernte, ihr Gedächtnisbuch zu nutzen, registrierten die Autoren, wie häufig sie aufgrund des Wecksignals in ihr Gedächtnisbuch schaute. Nachdem dies anfänglich gar nicht erfolgte, konnte durch Unterstützung des Therapeutenteams und der Angehörigen innerhalb von 21 Behandlungstagen eine Quote von 47% erreicht werden. Nach 64 Trainingstagen schaute die Patientin in 100% der Fälle ohne weitere Unterstützung beim Signal der Weckuhr in ihr Buch. Diese Routine konnte auch 13 Monate nach Entlassung der Patientin noch nachgewiesen werden.
Näher betrachtet Studien: Nutzung eines Gedächtnisbuches und Selbstmonitoring Ownsworth und McFarlane (1999) untersuchten zwei verschiedene Methoden, um Patienten in der postaktuen Phase nach einem Hirntrauma die Nutzung eines Gedächtnisbuches zu vermitteln. Es gab eine Gruppe, bei der aufgabenspezfisch das Führen des Gedächtnisbuches trainiert wurde (»diary only approach«). In einer zweiten Gruppe wurde das Führen des Gedächtnisbuches mit einem Selbstinstruktionstraining (»diary and self-instructional training«) kombiniert. Das Ziel lag darin, Kompensationstrategien über eine Verbesserung der Awareness und der Selbstregulation zu erzielen. Die Zuteilung zu den Gruppen erfolgte randomisiert. Die Ergebnisse zeigten, dass die Patienten, die zusätzlich ein Selbstinstruktionstraining erhielten, ihr Tagebuch häufiger für Eintragungen nutzten, weniger Gedächtnisprobleme berichteten und positivere Einschätzungen des Trainingseffekts abgaben. Die Autoren betonen, dass mit dem Einbezug von Selbstinstruktionen die ökologische Validität des Trainings verbessert werden konnte. In einer Einzelfallstudie beschreiben Dayus und van den Broek (2000) die Behandlung eines 49-jährigen Patienten, der 6 Jahre nach einer Subarachnoidalblutung Konfabulationen produzierte. Über einen Zeitraum von 51 Therapiesitzungen wurde der Patient angehalten zu notieren, wenn er sich korrekt äußerte, und er wurde für gute Leistungen verstärkt. Dadurch gelang es, die Konfabulationen zu reduzieren. Dies war auch 3 Monate nach Trainingsende noch zu beobachten und generalisierte in den Alltag des Patienten. Die Autoren folgern, dass ein Training der Selbstkontrolle (Selbstmonitoring) nicht nur Verhaltensauffälligkeiten, sondern auch Konfabulationen zu verbessern vermag.
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Kapitel 13 · Gedächtnisstörungen
Methoden zur Identitätsstärkung Eine erworbene Hirnschädigung und eine schwere Gedächtnisstörung verändern das Selbstbild der Patienten. Erfahrungen mit eigenem Versagen, Leben unter erlebnisarmen Lebensbedingungen durch die schweren mnestischen Störungen, Verletzung der personalen Kontinuität durch retrograde und anterograde Amnesie sind nur einige der Probleme, die Patienten bewältigen müssen. Nicht selten führt dies zu depressiven Reaktionen. Obwohl diese Zusammenhänge in der Klinik täglich zu beobachten sind, gibt es bisher in der Literatur kaum gezielte therapeutische Konzepte zur Identitätsstärkung.
Selbsterhaltungstherapie (SET) jBeschäftigung mit der Krankenund Lebensgeschichte Thöne (2000) beschreibt ein Gruppenprogramm für Patienten mit ausgeprägten Gedächtnisstörungen, in dem sie Aspekte der Selbsterhaltungstherapie (SET) (Romero u. Eder 1992, Romero 2004) anwendet, die für Patienten mit Alzheimer-Demenz entwickelt wurden. Romero und Eder zielen mit diesem Verfahren auf die Erhaltung des Selbst durch »das Bewahren von Kontinuität personaler Erfahrung und erlebnisvoller Lebensformen«. Thöne (2000) schlägt vor, zum Wiederaufbau bzw. Erhalt der personalen Kontinuität das Besprechen der eigenen Krankengeschichte zu nutzen, bei Patienten mit ausgeprägter retrograder Amnesie auch das Besprechen relevanter Ereignisse aus der eigenen Lebensgeschichte, an die sich der Patient nicht mehr erinnert (vgl.
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Tipp 3), zu nutzen. Das Wissen darüber, was mit ihnen passiert ist, und wie es zu der jetzigen Situation gekommen ist, gibt den Patienten mehr Sicherheit im Umgang mit ihrer Krankheit. Natürlich ist im Einzelfall zu entscheiden, ob diese intensive Beschäftigung mit der Erkrankung den Patienten entlastet, oder ob dadurch eine ohnehin auf die Krankheit eingeschränkte Wahrnehmung noch verstärkt wird und die Aufmerksamkeit eher auf andere Lebensaspekte gelenkt werden sollte. kAktualisierung relevanter Lebensereignisse für Patientenmit retrograder Amnesie Als Grundlage für die Beschäftigung mit der Kranken- und Lebensgeschichte ist es hilfreich, mithilfe der Angehörigen wichtige Daten und Informationen, wenn möglich angereichert durch Fotos, in einem Hefter zusammenzustellen. Diesen Hefter sollte der Patient stets bei sich führen. Durch wiederholtes Lesen in diesen Aufzeichnungen und das Gespräch darüber kann sich zum Teil die entsprechende Information einprägen. Zumindest aber lernen die Patienten oft, dass sie in ihrem Hefter die entsprechenden Informationen finden können. jWeltwissen Darüber hinaus lassen sich mit schwer betroffenen Patienten Gespräche über Tagesnachrichten (Tageszeitung) führen. Auch sie können interessante Ereignisse verfolgen, selbst wenn sie z.B. zur Fußballweltmeisterschaft nicht die Mann-
schaften und Ergebnisse im Einzelnen erinnern können. Darüber hinaus vermittelt das Gespräch über einen Zeitungsartikel (dies ist wichtiger als das mühsame Abfragen von Einzelinformationen des Artikels) den Patienten das Gefühl, wieder am sozialen Leben teilzunehmen. Werden die Angehörigen über das Gespräch informiert (z.B. mittels eines Gedächtnisbuches), können sie die Inhalte zuhause aufgreifen. Damit wird nicht nur das erworbene Weltwissen weiter vertieft, vielmehr ermöglicht ein solches Gespräch einen partnerschaftlichen Umgang, der das Selbstbewusstsein des Patienten stärkt.
Narrative Ansätze Mit der Frage, wie das Erlebnis von personaler Kontinuität nach einer Hirnschädigung erhalten bzw. wiederhergestellt werden kann, beschäftigt sich die Narrative Therapie, eine aus der systemischen Familientherapie entlehnte Methode (Lucius-Hoehne 2007, 2008; Heel u. Wendel 2002). Gedächtnis und Erinnern spielen dabei insofern eine zentrale Rolle, als die Erinnerung an die eigene Geschichte und das Anknüpfen an diesen Erinnerungen mehr ist als das bloße Wissen über Fakten aus der eigenen Biographie. Die Bedeutungsgebung von Fakten im Akt des Erinnerns tritt so in den Fokus des Forschungsinteresses.
Kombinierte Ansätze In der klinischen Praxis sind multimodale Behandlungsansätze, d.h. solche, bei denen verschiedene kognitive Funktionen, emotionale Probleme und Verhaltensänderungen zeitgleich behandelt werden, die Regel, doch fehlen weitgehend Studien zur Evaluation solcher komplexen Programme. Ein Programm, das Elemente aus 4 Verhaltenstherapie, 4 Neuropsychologie und 4 Selbsterhaltungstherapie verbindet, und zusätzlich Patienten und Angehörige einbezieht ist das von Kurz et al. (2008) beschriebene Programm KORDIAL. Es wendet sich an Patienten im frühen Stadium der Alzheimererkrankung. Ziele dieses manualisierten Therapieprogramms (Werheid u. Thöne-Otto, in Druck) sind 4 Verbesserung des Umgangs mit Gedächtnisdefiziten im Alltag, 4 Unterstützung bei der emotionalen Bewältigung der Erkrankung, 4 Stärkung des Selbstwertgefühls über Biographiearbeit sowie 4 Verbesserung der Kommunikation zwischen Patient und Angehörigen.
13.3
Zusammenfassung und Ausblick
jZusammenfassung Traditionell hatte Gedächtnisrehabilitation eine Verbesserung der beeinträchtigten Gedächtnisfunktionen zum Ziel. Dabei wurden Strategien eingesetzt, um Informationsaufnahme,
185 13.3 · Zusammenfassung und Ausblick
Näher betrachtet Studie: Intergration des hirnschädigenden Ereignisses in das eigene Leben Heel und Wendel (2002) führten insgesamt 24 narrative Interviews mit 12 hirngeschädigten Patienten durch. Die Betroffenen wurden durch offene Fragen zur Erzählung ihrer Lebensgeschichte angeregt, z.B.: »Wenn Sie sich jetzt als Person beschreiben würden, wie würden Sie sich denn beschreiben, und wie würden Sie denn auch die Geschichte hinter dieser Person beschreiben?«. In einer Längsschnittstudie wurden solche Interviews jeweils zu Therapiebeginn und -ende erhoben. Dabei konnte sehr deutlich gemacht werden, auf welch unterschiedliche Weise Menschen versuchen, unvorhersehbare Ereignisse im Nachhinein zu erklären. Im Rückblick erhielten Hirnverletzungen lebensgeschichtlich relevante Bedeutungen. Sie reichen von Narrationen, 4 die den kompromisslosen Wunsch thematisieren, die »alte Identität« trotz des Ereignisses niemals aufgeben zu wollen, über 4 sehr differenzierte Versuche, die vorangegangene Biographie an das aktuelle Erleben erzählerisch anzuknüpfen, hin zu 4 einerseits völliger Begriffslosigkeit für den postmorbiden Zustand und
4 andererseits der Angst, sich dem Verrücktwerden nicht entziehen zu können. Das folgende Zitat aus dem Interview mit einer Patientin mit schwerer retro- und anterograder Amnesie zeigt die zentrale Bedeutung der Gedächtnisstörung für Identitätsfrage:
»
… ich kann nichts mehr, ich weiß nichts mehr, ich weiß gar nichts mehr. Also ich ... 10 Jahre zurück, 20 Jahre zurück, das weiß ich nicht mehr. ... Morgen oder Übermorgen, oder am Tag darauf weiß ich nicht mehr, was ich gemacht habe. Verstehen Sie das? Und das ... das deprimiert mich, das macht mich fuchsig, weil ich möchte wissen, was los war. Ich möchte auch wissen, was ... dass wir zwei eben zum Beispiel meinen Sohn haben, auch wie ich ihn gekriegt habe, weiß ich nichts mehr. Wie ich meinen Mann mal kennen gelernt habe, weiß ich nichts mehr.
«
»
Wissen Sie, ich weiß nicht mehr, ob ich noch jemals was wissen kann, oder wenn ich das wissen kann, ob
Speicherung und Abruf zu verbessern. Auch wenn internale Lernstrategien bei Patienten die Behaltensleistung verbessern können, weiß man heute, dass diese Patienten anders lernen als Gesunde. Das Prinzip des Errorless Learning in Kombination mit übendem Wiederholen im Sinne eines Spaced Retrieval scheint für die schwerer betroffenen Patienten die Methode der Wahl, um ihnen gezielte Informationen zu vermitteln: 4 Allgemein gilt, dass übendes Funktionstraining vor allem in der frühen Phase nach einer Hirnschädigung indiziert ist. 4 In der postakuten Phase sollte bei Patienten mit erhaltenen Konsolidierungsleistungen ein Behandlungsversuch erfolgen, bei dem mit hoher Frequenz und Intensität gestörte Prozesse gezielt trainiert werden. 4 Darüber hinaus steht in der chronischen Phase die Vermittlung von Kompensationsstrategien im Zentrum. Bei den Kompensationsstrategien ist die Indikationsstellung von Therapiezielen und einzusetzenden Verfahren besonders vom Schweregrad der Gedächtnisstörung sowie begleitender neuropsychologischer Defizite abhängig. Bei den leichter gestörten Patienten liegt das Therapieziel darin, sie zu unterstützen, zu Experten für ihre eigene Störung zu werden. Die Patienten lernen mittels metakogni-
ich noch von dem, das Alte alles immer weiß. Und wenn das weg ist, also das ist für mich ... das ist grausam. (Heel u. Wendel 2002)
«
Diese Erzählpassage zeigt darüber hinaus, dass neben der retrospektiv-reflexiven Komponente von Identität auch die prospektive Komponente auf das Gedächtnis rekurriert, dass also die Möglichkeit, sich prospektiv zu entwerfen, Vorstellungen von sich als Person voraussetzt. Wissen um sich selbst als Person verweist wiederum auf die Erinnerungsfähigkeit. Um Zukunftsentwürfe oder -projekte zu entwickeln oder zu realisieren, bedarf es eines zumindest rudimentären Selbstverständnisses. Erinnerung erscheint dafür ein notwendiges Faktum zu sein. Die Ansätze von Heel und Wendel stellen zurzeit noch kein Therapiekonzept für Gedächtnisstörungen dar. In ihren Befunden fanden sich allerdings Hinweise dafür, dass autobiograpische Erzählungen, die das hirnschädigende Ereignis erzählerisch in das Leben integrieren, mit Therapieerfolg einhergehen. Insofern können sie als Anregung für den therapeutischen Umgang mit den Betroffenen amnestischen Patienten verstanden werden.
tiver Therapie und Problemlöseansätzen, Situationen hinsichtlich ihrer Anforderungen zu analysieren und Gedächtnisstrategien dahingehend zu beurteilen, ob sie sich für ihre Gedächtnisprobleme, die Anforderungen der Situation sowie ihre persönlichen Lernstile eignen. Internale Lern- und Abrufstrategien scheinen bei hinreichend intensivem Training geeignete Lernmethoden für diese Patienten zu sein. Sehr gut profitieren junge Patienten von solchen Lerntechniken, wenn es ihr Ziel ist, Schule oder Berufsausbildung wiederaufzunehmen. Darüber hinaus steht die Kompensation prospektiver Gedächtnisstörungen für die soziale Integration der Patienten im Vordergrund. Hier kommt dem effektiven Einsatz externer Gedächtnishilfen eine zentrale Bedeutung zu. Leichter gestörte Patienten können bereits heute von kommerziell verfügbaren elektronischen Gedächtnishilfen profitieren. Da viele Patienten bereits vor ihrer Erkrankung z.B. die Bedienung eines Mobiltelefons gewohnt sind, sollte in der Therapie mit dem Gerät, das der Patient bereits kennt, geübt werden, wie dieses als prospektive Erinnerungshilfe genutzt werden kann. Bei den schwerer beeinträchtigten Patienten gilt es, Angehörige zur Reduzierung von Gedächtnisanforderungen im Alltag anzuregen. Darüber hinaus können auch schwer betroffene Patienten einzelne domänenspezifische Informati-
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Kapitel 13 · Gedächtnisstörungen
onen oder neue Verhaltensabläufe erlernen, wenngleich dafür i.d.R. zahlreiche Wiederholungen erforderlich sind. Die Basis dafür ist die Vermeidung von Fehlern im Lernprozess. Für die Vermittlung domänenspezifischen Wissens hat sich der Einsatz traditioneller Elaborations- und Imaginationstechniken bewährt. Zu betonen ist noch einmal, dass die Patienten zu deren Anwendung im Lernprozess von Therapeuten oder Angehörigen angeregt werden müssen. Ein selbstständiger Einsatz oder gar ein Transfer auf neue Situationen ist bei den schwerer betroffenen Patienten nicht zu erwarten. Auch bei den schwerer beeinträchtigten Patienten ist die Kompensation prospektiver Erinnerungsleistungen für die soziale Integration von hoher Bedeutung. Daher spielen auch hier externe Hilfsmittel eine zentrale Rolle, wenngleich diese vor allem von den Angehörigen eingesetzt werden. Abschließend sind in . Übersicht 13.8 nochmals Leitlinien für die Behandlung von Gedächtnisstörungen (Diener et al. 2008) zusammengefasst. . Übersicht 13.8. Leitlinien für die Behandlung von Gedächtnisstörungen (Diener et al. 2008) 1. 2.
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3.
Am Anfang der Therapie, in der Frühphase, steht häufig das Orientierungstraining. Bei Patienten, bei denen die Diagnostik Hinweise auf eine erhaltene Konsolidierung gibt, und bei denen der Rehabilitationsverlauf noch offen ist, sollten internale Gedächtnisstrategien intensiv geübt werden, um die Enkodierungsleistung zu verbessern. Für die Wirkung eines übenden Funktionstrainings, bei dem möglichst viele Informationen »auswendig gelernt« werden müssen, gibt es dagegen keine Evidenz. Darüber hinaus sollte sich die Behandlung der Gedächtnisstörung an den Alltagsanforderungen des Patienten orientieren und für spezifische gedächtnisrelevante Situationen Kompensationsstrategien erarbeiten. Ob die Patienten lediglich lernen können, auf externe Hilfen, die sie von Angehörigen oder Pflegepersonen erhalten, adäquat zu reagieren, oder ob sie diese selbstständig nutzen können, muss im Einzelfall im Therapieverlauf entschieden werden.
jAusblick Eine Hoffnung für die Therapie liegt in einem verbesserten Einsatz moderner Telekommunikationsmedien. Obwohl sich dieser Bereich rasant entwickelt, zeigen neue Studien, dass für die Bedürfnisse hirngeschädigter Patienten spezifische Änderungen kommerziell verfügbarer Geräte erforderlich sind. Diese beziehen sich auf ein vereinfachtes Nutzerinterface, das einfache Ja-/Nein-Entscheidungen statt komplexer Menuesteuerungen anbietet. Gerade für schwerer beeinträchtigte Patienten bedarf es darüber hinaus einer interaktiven Führung durch auszuführende Handlungen, damit diese vollständig und zuverlässig zu Ende geführt werden können. Auch eine einfache Bedienung durch Angehörige muss bei der Konzipierung berücksichtigt werden.
Schließlich ist die neuropsychologische Therapie – nicht zuletzt durch die Anerkennung als wissenschaftlich begründetes Psychotherapieverfahren in Deutschland – aufgefordert, neben der Funktionsstörung eines Patienten den ganzen Menschen ins Zentrum zu rücken.
13.4
Literatur
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14
Elementare visuelle Leistungen: Visus, Gesichtsfeld und verwandte Funktionen C. Groh-Bordin, G. Kerkhoff 14.1 Relevanz zerebraler visueller Wahrnehmungsstörungen 14.1.1 Neurovisuelle Störungen
– 190
– 191
14.2 Sehschärfe, Kontrastsehen, Visual Discomfort, Adaptation, Farbsehen – 191 14.2.1 Klinik – 191 14.2.2 Assessment – 193 14.2.3 Therapie – 193
14.3 Fusion, Stereosehen, visuelleBelastbarkeit
– 195
14.3.1 Klinik – 195 14.3.2 Assessment – 195 14.3.3 Therapie – 196
14.4 Homonyme Gesichtsfeldausfälle
– 197
14.4.1 Klinik – 197 14.4.2 Assessment – 197 14.4.3 Therapie – 198
14.5 Neurovisuelle Frührehabilitation
– 203
14.5.1 Konjugierte Blickabweichung (Zuwendung von Augen und Kopf zu einer Seite) – 203 14.5.2 Okulomotorikstörungen – 203
14.6 Wirksamkeit der neurovisuellen Therapieverfahren 14.6.1 Angewandte Testverfahren und Geräte – 205
14.7 Literatur
– 205
– 204
190
Kapitel 14 · Elementare visuelle Leistungen: Visus, Gesichtsfeld und verwandte Funktionen
Laien und nicht wenige Fachleute verstehen unter dem Begriff Sehleistungen oft ein recht eingeschränktes Repertoire an Fähigkeiten, zu denen am häufigsten das Scharfsehen, die Farberkennung und das räumliche Sehen gezählt werden. Tatsächlich lassen sich unter diesem Begriff jedoch eine Fülle einzelner visueller Fähigkeiten zusammenfassen, derer man sich oft nicht bewusst ist, da sie meist automatisiert ablaufen. Der Existenz zahlreicher visueller Wahrnehmungsleistungen und darauf aufbauender visuomotorischer und motorischer Fähigkeiten wird man sich oft erst dann schmerzlich bewusst, wenn sie nach einer Hirnschädigung plötzlich nicht mehr wie gewohnt funktionieren. . Abb. 14.1 vermittelt einen Eindruck von der Vielfalt der uns zur Verfügung stehenden visuellen Wahrnehmungsleistungen sowie ihrer jeweiligen Funktion im Rahmen von Wahrnehmung, Kognition und Handeln. Aus dieser Fülle visueller Wahrnehmungsleistungen beim gesunden Menschen resultiert eine ebensolche Vielfältigkeit visueller Wahrnehmungsstörungen bei hirngeschädigten Patienten. In diesem Kapitel werden Assessment und Therapie elementarer visueller Wahrnehmungsstörungen beschrieben, in 7 Kapitel 15 werden sie für den multimodalen Neglect, Raumorientierungsstörungen, das Balint-Holmes-Syndrom, visuelle Agnosien und verwandte Symptome dargestellt. Am Ende beider Kapitel finden sich Angaben zur Evidenz der beschriebenen Therapieverfahren und eine Dokumentationsliste der empfohlenen Verfahren für Diagnostik und Behandlung.
14.1
14
Relevanz zerebraler visueller Wahrnehmungsstörungen
Die klinische Relevanz zerebraler Sehstörungen ist vielfach dokumentiert. So finden sich zentrale visuelle Wahrnehmungsstörungen und okulomotorische Störungen bei 20–40% der hirngeschädigten Patienten in Neurorehabilitationszentren (Kerkhoff 2000). Andere Autoren berichten (Gianutsos et al. 1988), dass sogar 50% der Patienten in speziellen Neurotraumazentren visuelle und okulomotorische Defizite aufweisen, die vorher meist nicht diagnostiziert worden waren, obwohl fast alle Patienten zuvor in anderen medizinischen Einrichtungen . Abb. 14.1. Übersicht über wichtige visuelle Wahrnehmungsleistungen und ihre Beziehung zu motorischen und kognitiven Fähigkeiten. Spezifische visuelle Leistungen, die für die übergeordnete Leistung wichtig sind (4 Kästchen), sind entlang der Pfeile angeordnet. Die Übersicht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll lediglich die Vielfalt visueller Teilleistungen und ihre Bedeutung für kognitive, motorische und sensorische Leistungen zeigen
untersucht wurden. Diese Zahlen zeigen, dass visuelle und okulomotorische Störungen – trotz der Fortschritte in der Diagnostik in den letzten Jahren – immer noch eine unterbewertete Rolle in der Neurorehabilitation einnehmen, weil 4 sie nicht oder zu spät erkannt werden, 4 diagnostische und therapeutische Verfahren zu wenig bekannt sind und 4 sie keiner spezifischen Berufsgruppe im Reha-Team eindeutig zugeordnet sind. Andere Untersuchungen zeigen, dass etwa 20% der Patienten in neurologischen Rehabilitationszentren homonyme Gesichtsfeldausfälle aufweisen, von denen wiederum 70% ein verbleibendes Restgesichtsfeld auf der blinden Seite von 5° oder weniger aufweisen (Kerkhoff 1999, Zihl u. von Cramon 1986). Etwa 50–70% dieser Patienten geben subjektiv visuell bedingte Lese- und Explorationsprobleme an, die sich in entsprechenden Tests auch objektivieren lassen (Kerkhoff et al. 1990). > Etwa 30% aller hirngeschädigten Patienten leider unter zerebralen visuellen Wahrnehmungsstörungen.
Näher betrachtet Outcome-Studien Outcome-Studien über den Verlauf hirngeschädigter Patienten in Abhängigkeit relevanter Krankheitsfaktoren belegen, dass Patienten mit Gesichtsfeldausfällen ein schlechteres Rehabilitationsergebnis aufweisen als Patienten ohne solche Ausfälle (Reding u. Potes 1990), und dass Gesichtsfeldausfälle erhebliche Probleme bei der beruflichen Wiedereingliederung der Betroffenen verursachen (Savir et al. 1977). Räumlich-perzeptive Wahrnehmungsstörungen sind bekanntermaßen mit Selbsthilfeproblemen in den Aktivitäten des täglichen Lebens (Tranfers, Essen, Anziehen der oberen Extremität) und dem Rollstuhlfahren assoziiert (Williams 1967). Diese exemplarische Auswahl zeigt, dass zentrale visuelle Wahrnehmungsstörungen und okulomotorische Störungen eine hohe Relevanz für den Rehabilitationsverlauf hirngeschädigter Patienten haben und daher systematisch diagnostiziert und behandelt werden sollten (Kerkhoff 2010).
191 14.2 · Sehschärfe, Kontrastsehen, Visual Discomfort, Adaptation, Farbsehen
. Tab. 14.1. Häufige zerebrale visuelle Störungen, deren Ätiologie und Läsionslokalisation Defizit
Ätiologie and Läsionslokalisation
Sehschärfe
Primäre Einbuße: bilaterale oder unilaterale postchiasmatische Läsion(en) Sekundäre Einbuße: exzentrische Fixation bei zerebraler Hypoxie, gravierende visuelle Explorationstörung, Fixationsstörung, Balint-Holmes-Syndrom
Kontrastsehen
Uni-, bilaterale oder diffuse posteriore Hirnläsionen, auch nach degenerativen Erkrankungen
Hell-Dunkel-Adaptation
Posteriore oder thalamische Läsionen; zerebrale Hypoxie, seltener nach Schädel-Hirn-Trauma
Farbsehen
Uni- oder bilaterale Läsionen des okzipito-temporalen Kortex (V4)
Visual Discomfort
Posteriore Hirnläsionen, oft assoziert mit Einbußen des Kontrastsehens und der Hell-DunkelAdaptation
Stereosehen und Entfernungswahrnehmung
Okzipitale Läsionen (V2): lokales Stereosehen Temporale Läsionen: globales Stereosehen Parietale Läsionen: 3D-Merkmale von Objekten, häufiger rechtshemisphärisch
Konvergente Fusion
Konvergenz-/Divergenzbewegungen: Mittelhirnläsionen Sensorische Fusion: okzipitale oder temporo-parietale Läsionen
Homonyme Gesichtsfeldausfälle/-störungen
Posteriorinfarkte, Blutungen, zerebrale Hypoxie, Tumoren entlang des gesamten postchiasmatischen Sehbahnverlaufs
Augenbewegungsstörungen: Konjugierte Blickabweichung
Große Mediateilinfarkte (MTI) parieto-temporal, häufiger und anhaltender rechts
Augenfolgebewegungsstörung
Unilaterale Läsionen parieto-temporal, frontal, zerebellär, Hirnstamm
2-D, 3-D zwei-/dreidimensional, V2 sekundärer visueller Kortex, V4 extrastriärer visueller Kortex (Farbzentrum)
14.1.1
Neurovisuelle Störungen
In . Tab. 14.1 sind die wichtigsten Ätiologien und assoziierten Läsionsareale neurovisueller Störungen zusammenfassend dargestellt. Die einzelnen Störungen werden in den folgenden Abschnitten detailliert beschrieben.
14.2
Sehschärfe, Kontrastsehen, Visual Discomfort, Adaptation, Farbsehen
14.2.1
Klinik
Sehschärfe Die Sehschärfe ist i.d.R. nach unilateralen Hirnläsionen nicht deutlich beeinträchtigt (Frisén 1980). Allerdings ist es durchaus möglich, dass diese in der Frühphase nach einem Schlaganfall um 20–30% unter dem maximal für den Patienten erreichbaren Wert liegt. Dafür können visuelle Fixations- und Explorationsprobleme sowie Störungen der Helladaptation (Folge: Blendgefühl) und des Kontrastsehens (Folge: Verschwommensehen) verantwortlich sein (Frisén 1980). Nach bilateraler Hirnschädigung kann der Visus deutlich bis hin zur zerebralen Blindheit (<2% Sehschärfe) reduziert sein. Des Weiteren können Tractusläsionen zu Visusreduktionen an einem oder beiden Augen führen (Savino et al. 1978).
> Nach einseitigen Hirnläsionen bleibt die Sehschärfe relativ unbeeinträchtigt, nach beidseitigen Hirnschädigungen kann sie dagegen gravierend beeinträchtigt sein.
jDynamische Sehschärfe Eine bisher in der Rehabilitation überhaupt nicht berücksichtigte Form der Sehschärfe ist die sog. dynamische Sehschärfe, die das Erkennen bewegter Zeichen oder Objekte meint. Diese ist wichtig, wenn sich entweder der Beobachter, das betrachtete Objekt oder beide bewegen. Im Alltag ist die Bedeutung der dynamischen Sehschärfe besonders für die Orientierung und Mobilität als hoch einzuschätzen, da nur so bewegte Personen, Fahrzeuge oder andere Objekte erkannt werden können. Ursachen für eine reduzierte dynamische Sehschärfe sind z.B. 4 beeinträchtigte Augenfolgebewegungen oder 4 Blickparesen, wie sie nach parieto-okzipitalen, Mittelhirn- oder Hirnstammläsionen auftreten können. Die Störung der Augenbewegungen behindert das Verfolgen bewegter Reize, so dass der fixierte Reiz nicht auf der Netzhaut stabil gehalten werden kann und infolgedessen nicht richtig erkannt wird.
14
192
Kapitel 14 · Elementare visuelle Leistungen: Visus, Gesichtsfeld und verwandte Funktionen
> Neben der Sehschärfe für statische Objekte ist auch die dynamische Sehschärfe für bewegte Objekte im Alltag wichtig.
Kontrastsehen Reduktionen der räumlichen Kontrastsensitivität sind häufig nach Hirnschädigung (>40%, Bulens et al. 1988) und werden von den Betroffenen meist in Form von Verschwommenoder Unscharfsehen beklagt. Manchmal wird in der Anamnese geäußert, dass für visuelle Tätigkeiten im Nahbereich (Lesen, Handarbeit, handwerkliche Tätigkeit) deutlich mehr Licht benötigt wird, um ausreichend scharf sehen zu können. Etwa ein Drittel aller hirngeschädigten Patienten leidet dauerhaft oder nach visueller Belastung unter Verschwommensehen. Dies beeinträchtigt alle Aktivitäten, die eine genaue Form- oder Objektwahrnehmung erfordern, besonders Lesen und Gesichtererkennung. Die Beschwerden treten verstärkt unter ungünstigen Lichtbedingungen auf (Dämmerung, ungenügende Raumbeleuchtung).
Visual Discomfort Homogene Muster und gedruckter Text können manchen Personen unangenehm erscheinen, wenn die Muster eine bestimmte Streifendichte (Ortsfrequenz) aufweisen. Das Betrachten dieser Muster führt zu Flimmererscheinungen und Kopfschmerzen (Visual Discomfort, Wilkins 1986). Die Folge ist eine rasche Ermüdung des Betroffenen. Beim Lesen kann man diese Erscheinungen verringern, indem man durch ein Zeilenlineal die benachbarten Linien abdeckt (. Abb. 14.2).
. Abb. 14.2. Verdeutlichung des Phänomens »Visual Discomfort« am Beispiel eines Linienmusters (A), eines Textes (B) und die Behebung des Phänomens durch eine Abdeckschablone (C)
Hell- und Dunkeladaptation
14
Beeinträchtigungen der Hell- oder/und Dunkeladaptation bei intakten vorderen Augenabschnitten kommen vor allem nach mediobasalen Posteriorinfarkten, Schädel-Hirn-Traumen sowie bei Patienten mit zerebraler Hypoxie vor (Zihl u. Kerkhoff 1990) vor und äußern sich wie folgt: 4 Patienten mit Beeinträchtigung der Helladaptation beklagen ein verstärktes Blendgefühl, meiden helle Beleuchtung und vertragen häufige Lichtwechsel subjektiv schlechter. 4 Patienten mit Beeinträchtigung der Dunkeladaptation berichten meist über Dunkelsehen oder vermehrten Lichtbedarf bei Tätigkeiten wie Lesen, Handarbeit oder Fernsehen. Beide Patientengruppen unterscheiden sich deutlich in ihrer subjektiven Beleuchtungspräferenz: 4 Blendempfindliche Patienten bevorzugen deutlich weniger Licht, 4 Patienten mit Dunkelsehen deutlich mehr Licht als gesunde Kontrollpersonen. Bei kombinierter Störung der Hell- und Dunkeladaptation bevorzugen die Patienten weniger Licht, da sich die Störung der Helladaptation meist gravierender auswirkt.
Praxistipp Ein normgerechter augenärztlicher Befund der vorderen Augenabschnitte schließt keineswegs eine Störung der Hell- und Dunkeladaptation als Folge einer Hirnschädigung aus.
Farbsehen Störungen des Farbsehens sind nach Hirnschädigung ver-
gleichsweise selten: 4 Sie betreffen entweder ein Halbfeld (selektiver Verlust der Farbwahrnehmung in einem Halbfeld, sog. Farbhemianopsie), 4 beeinträchtigen die foveale Farbtonunterscheidung (Probleme in der feinen Differenzierung ähnlicher Farbtöne) oder 4 bestehen in einem mehr oder weniger vollständigen Verlust der Farbwahrnehmung (Achromatopsie). Vergleichbare Störungen betreffen nach eigenen Erfahrungen weniger als 0,5% aller Patienten in Rehabilitationseinrichtungen (Kerkhoff et al. 1990) und sind nur dann von Bedeutung für den Patienten, wenn die Farbtonunterscheidung beruflich relevant ist.
193 14.2 · Sehschärfe, Kontrastsehen, Visual Discomfort, Adaptation, Farbsehen
Näher betrachtet Rückbildung der Störungen Systematische Untersuchungen über Verlauf und Rückbildung von Störungen in den vorgenannten vier Bereichen liegen bisher nicht vor. Nach eigenen Erfahrungen ist die Wahrscheinlichkeit einer spontanen Funktionserholung bei Adaptationsstörungen besonders gering – auch wenn sich die Patienten an die störenden subjektiven Probleme anpassen.
14.2.2
Assessment
Sehschärfe, Kontrastsehen, Hellund Dunkeladaptation jSehschärfe Zur Erfassung der Sehschärfe stehen zahlreiche standardisierte Sehschärfentafeln sowie Einzeloptotypen zur Verfügung (für Nähe und Ferne). jKontrastsehen Für die Erfassung des Kontrastsehens bieten sich mehrere Verfahren an: 4 Cambridge Low Contrast Gratings, 4 Regan Charts, 4 Vistech Charts, 4 Pelli-Robson-Chart. Eine genauere Beschreibung der Vor- und Nachteile dieser Verfahren sowie der Normwerte findet sich an anderer Stelle (Kerkhoff et al. 1994). jHell- und Dunkeladaptation Störungen der Hell- und Dunkeladaptation können mithilfe eines Perimeters (Tübinger Handperimeter) oder Mesoptometers erfasst werden. Orientierend kann mit einem Dimmer und einem handelsüblichen Luxmeter die subjektive Beleuchtungspräferenz untersucht werden (Details und Normwerte in Kerkhoff et al. 1994). Die Helladaptation kann auch über den sog. Foto-Stress-Test oder Blendungstest überprüft werden. Dabei wird die Erholungszeit erfasst, die der Patient nach Blendung mit einer hellen Lichtquelle benötigt, um die gleiche Leistung in einem Visus- oder Kontrastsehtest zu erzielen wie vor der Blendung. Praxistipp Beklagt ein Patient Verschwommensehen, muss neben der Sehschärfe auch das Kontrastsehen untersucht werden.
4 D-15-Test von Luneau, 4 FM-100-Test von Farnsworth oder 4 LM-70-Test von Luneau. Während der FM-100-Test die foveale Farbtonunterscheidung über einen großen Bereich des Farbspektrums prüft, misst der LM-70-Test die Farbtonunterscheidung in Abhängigkeit von der Farbsättigung. In den schwach gesättigten Farbproben fallen auch Patienten mit reduziertem Kontrastsehen auf. Der LM-70 ermöglicht darüber hinaus die Untersuchung der Graustufenunterscheidung. Eine weitere sehr detaillierte Untersuchungsmöglichkeit bietet das Munsell Book of Color, das zum einen herausnehmbare Farbplättchen enthält, die systematisch und getrennt nach Farbton, Sättigung und Luminanz variiert wurden, und zum anderen ein Set verschiedener Graustufen (Adresse in 7 Kap. 14.6.1). Damit lässt sich quantifizieren, welche der drei Dimensionen von einer Störung betroffen ist.
14.2.3
Therapie
Sehschärfe Systematische Therapieverfahren zur Steigerung der Sehschärfe (bei postläsionaler Reduktion der Sehschärfe) sind nicht bekannt. Erfahrungsgemäß ist es bei hirngeschädigten Patienten generell sinnvoll, eine objektive Bestimmung (Refraktometrie) zur Brillenkorrektur durchzuführen, da die bestehende Korrektur häufig unzureichend und nicht mehr aktuell ist oder bei einem eventuellen Trauma zerstört wurde. Lässt sich die Sehschärfe optisch nicht korrigieren, empfiehlt sich die Vergrößerung der Vorlagen beim Lesen. Liegt ein stabiler, deutlich reduzierter Visus vor, der durch optische Hilfen nicht gebessert werden kann, bieten sich verschiedene Methoden an, um dem Patienten das Lesen oder Naharbeit zu ermöglichen: 4 Bildschirmlesegeräte erlauben die stufenlose Vergrößerung von Texten und Bildern sowie Optionen zur Kontrastregulierung. Mit diesen Geräten ist es auch hochgradig sehbehinderten Patienten teilweise möglich, Bücher, Zeitungen und auch handgeschriebene Briefe zu lesen und so am alltäglichen Leben teilzunehmen. 4 Für die Arbeit am PC gibt es kommerzielle Software (z.B. Visulex), die über eine Lupenfunktion den am PC-Bildschirm dargebotenen Text stufenlos vergrößern kann, so dass die Arbeit an Textverarbeitungs-, Grafik-, oder Tabellenkalkulationsprogrammen auch für Sehbehinderte möglich ist. Dies kann für Patienten sinnvoll sein, bei denen eine berufliche Wiedereingliederung ansteht. Die Vergrößerungssoftware ist mit den meisten handelsüblichen Programmen zur Textverarbeitung, Tabellenkalkulation oder Grafikbearbeitung kompatibel.
Farbsehen
Kontrastsehen, Farbsehen, Visual Discomfort
Die Erfassung des Farbsehens kann mit der Farbperimetrie erfolgen (Beschreibung in Kerkhoff et al. 1994), die Erfassung der fovealen Farbtonunterscheidung mittels
Erprobte Behandlungsverfahren zur Verbesserung der gestörten Kontrastsensitivität sind bisher nicht bekannt, wenngleich eine Verbesserung der Kontrastsensitivität durch wie-
14
194
Kapitel 14 · Elementare visuelle Leistungen: Visus, Gesichtsfeld und verwandte Funktionen
derholte Übung sehr wahrscheinlich ist. Folgende Hilfen
bieten sich für den Alltag an: 4 Patienten mit dieser Störung profitieren von einer optimalen, blendfreien Arbeitsplatzbeleuchtung sowie einem Dimmer und lichtstärkeren Birnen bzw. Lichtquellen. 4 Patienten mit belastungsabhängigem Verschwommensehen sollten bei beginnender Verschlechterung der Sehqualität rechtzeitig Pausen einlegen. Werden diese Pausen zu spät begonnen, dauert die Erholung von den visuellen (Verschwommensehen) und somatischen Beschwerden (Augendruck, Kopfschmerzen) oft sehr viel länger. Jackowski et al. (1996) konnten mithilfe sog. Kantenfilter eine Verbesserung des Kontrastsehens sowie eine Abnahme der Blendempfindlichkeit bei Patienten mit traumatischer Hirnschädigung erzielen. Kantenfilter können das Verschwommensehen und Blendgefühl verringern. Diese Filter werden wie ein Brillenglas verwendet und sind in Optikfachgeschäften in den verschiedensten Farben und Typen erhältlich. Es empfiehlt sich, vor einem Kauf mit dem Patienten beim Opti-
ker die Palette der verfügbaren Filter anhand einer Sehschärfen- und einer Leseaufgabe praktisch auszuprobieren. Erprobte Therapieverfahren zur Verbesserung der gestörten Farbwahrnehmung sind nicht bekannt. Die Beeinträchtigungen im Sinne des Visual Discomfort lassen sich durch ein Zeilenlineal reduzieren (. Abb. 14.2). Praxistipp Einbußen des Kontrastsehens, der Hell- und Dunkeladaptation sowie des Visual Discomfort beeinträchtigen die visuelle Belastbarkeit der Patienten deutlich. Entsprechende Defizite sind daher auch in der beruflichen Wiedereingliederung zu berücksichtigen.
Zusammenfassung . Tab. 14.2 gibt nochmals einen zusammenfassenden Über-
blick über die Ursachen und Therapiemöglichkeiten der bisher beschriebenen visuellen Störungen.
. Tab. 14.2. Ursachen und mögliche Behandlungsansätze für Patienten mit postchiasmatisch bedingten Einbußen von Sehschärfe, Kontrastsehen, Hell- und Dunkeladaptation und visuellem Unwohlsein (Visual Discomfort) nach Hirnschädigung (SHT: Schädel-HirnTrauma)
14
Störung
Ursache
Beeinträchtigung im Alltag
Therapie
Sehschärfe reduziert
Zentral- oder Parazentralskotom aufgrund von Hypoxie oder bilateralen, postchiasmatischen Läsionen
Relative bis völlige Reduktion (20–100% Sehschärfe)
Größe, Kontrast und Beleuchtung verbessern durch Vergrößerungshilfen, Software oder Bildschirmlesegeräte
Sehschärfe reduziert
Exzentrische Fixation nach zerebraler Hypoxie
Relative Reduktion von bis zu 50%
Fixation verbessern, z.B. durch Üben von Zeigebewegungen auf einzelne Punkte (z.B. an der Wand)
Sehschärfe reduziert
Spasmodische (klebende) Fixation beim Balint-Syndrom
Massiv reduziert für Sehschärfentafel mit mehreren Zeichen, Verbesserung beim Betrachten einzelner Optotypen
Simultanwahrnehmung und visuelle Exploration verbessern
Sehschärfe reduziert
Instabile Fixation aufgrund eines Nystagmus´
Reduktion 20–40% bei kleinen Zeichen (Lesen!), Leseprobleme durch das subjektive »Hüpfen« der Linien
Nystagmus durch orthoptische oder pharmakologische Methoden beruhigen
Kontrastsehen gestört
Postchiasmatische Läsionen, Hypoxie, SHT, evt. auch bestehender Nystagmus
Subjektiv: Verschwommensehen Objektiv: Erkennung von Buchstaben, Objekten, Gesichtern erschwert
Größe, Kontrast und Beleuchtung verbessern, evt. Kantenfilter verwenden, Kontrastunterscheidung trainieren, Pausenmanagement verbessern
Helladaptation gestört
Postchiasmatische Läsion, Hypoxie, SHT
Blendgefühl beim Betrachten heller Flächen, weißen Papiers, im hellen Tageslicht, rasche Ermüdung bei Tätigkeiten, Kopfschmerzen, Augendruck
Helle Beleuchtung meiden, getönte Gläser verschreiben, Dimmer verwenden zur Einstellung individuell angenehmer Beleuchtung, kein Neonlicht verwenden
Dunkeladaptation gestört
Postchiasmatische Läsion, Hypoxie, SHT
Dunkelsehen, Lesen und Erkennen von Objekten ist schwieriger, rasche Ermüdung
Bei Bedarf indirekte, aber hellere Beleuchtung verwenden, Dimmer ebenfalls hilfreich
Visuelles Unwohlsein (Visual Discomfort)
Postchiasmatische Läsion, Hypoxie, SHT
Beim Betrachten regelmäßig wiederkehrender Linien/Streifenmuster (z.B Text, Bodenplatten, gestreifter Teppich/Stoff) kommt es zu Flimmererscheinungen, Kopfschmerzen, unangenehmen Nachbildern
Mit Zeilenlineal oder Schablone andere Zeilen beim Lesen verdecken, Vermeiden von Streifenmustern, sofern möglich, störende Vorlagen aus Blickfeld entfernen
195 14.3 · Fusion, Stereosehen, visuelleBelastbarkeit
14.3
Fusion, Stereosehen, visuelle Belastbarkeit
14.3.1
Klinik
Wir nehmen unsere Umwelt mit zwei Augen simultan wahr, die uns mit zwei unterschiedlichen sensorischen Eindrücken ihrer visuellen Umgebung versorgen. Die Vereinigung dieser beiden Eindrücke zu einem einzigen, verschmolzenen Bild wird durch den Mechanismus der Fusion geleistet. Die binokulare Fusion umfasst eine motorische Komponente, die sog. Vergenzbewegungen (Konvergenz und Divergenz), und eine nicht-motorische Komponente, die als sensorische Fusion bezeichnet wird (Verschmelzung beider Seheindrücke). Diese beiden Mechanismen sind die Voraussetzungen für Stereosehen. Störungen der motorischen und sensorischen Fusion treten häufig nach Schädel-Hirn-Traumen auf (Cohen et al. 1989). Etwa 30–50% dieser Patientengruppe weisen Einbußen der konvergenten Fusion auf. Näher betrachtet Rückbildung von Fusionsstörungen Über die Rückbildung von Fusionsstörungen ist wenig bekannt. Hart (1969) berichtet über 15 Patienten mit erworbenen Fusionsstörungen, von denen 6 keinerlei Rückbildungen zeigten und 5 nur eine partielle Spontanbesserung. Doden und Bunge (1965) notierten ebenfalls eine nur geringe Spontanremission der gestörten horizontalen Fusion. Eigene Erfahrungen zeigen, dass Patienten mit direkten (meist vaskulär bedingten) oder indirekten (meist traumatisch bedingten) Hirnstammläsionen eine vergleichsweise ungünstigere Prognose haben als Patienten mit kortikalen Schädigungen. Sensorische Fusionsstörungen treten nach eigenen klinischen Erfahrungen besonders nach temporoparietalen Läsionen auf (Stögerer u. Kerkhoff 1994), während die motorischen Fusionsstörungen meist auf direkte oder indirekte Hirnstammläsionen zurückgehen.
! Cave Fusionsstörungen bilden sich nur selten spontan zurück und sollten daher behandelt werden!
stärkere Prismen vor ein Auge des Patienten (Prismenbasis außen), bis dieser den fixierten Lichtpunkt doppelt sieht. Die Prismenstärke, unter der der Patient den Lichtpunkt gerade noch einfach gesehen hat, gibt die maximale konvergente Fusionsbreite an. Praxistipp Bei hirngeschädigten Patienten empfiehlt es sich, über die maximale Fusionsbreite hinaus auch qualitativ festzuhalten, ob es schon nach kurzer fusionaler Belastung (z.B. beim Lesen) zu Doppelbildern kommt.
Die Dauer der Fusionsleistung ist neben der Größe der Fusionsbreite mindestens ebenso wichtig. Die früher übliche Maßeinheit Prismendioptrie (pdptr) wurde durch die Maßeinheit cm/m ersetzt. Eine Prismendioptrie entspricht etwa 0,5 Sehwinkelgrad und dies entspricht wiederum 1 cm/m.
Stereosehen Zur Erfassung der Stereosehschärfe eignen sich beim Erwachsenen am ehesten 4 der Titmus-Test und 4 der TNO-Test. Mit beiden Testverfahren wird eine Schwelle der Stereosehschärfe ermittelt. Die Tests unterscheiden sich darin, dass 4 der Titmus-Test die lokale Stereosehschärfe erfasst, 4 der TNO-Test die globale, nicht auf wenige lokale Elemente bezogene Stereoskopie (Random Element Stereogramme). Die ersten 3 Items im Titmus-Test enthalten auch monokulare Tiefenreize, so dass sie gelegentlich irrtümlicherweise richtige Antworten erlauben, ohne dass der Proband tatsächlich stereoskopische Reize wahrnimmt. Nach eigenen Erfahrungen empfinden hirngeschädigte Patienten die Bearbeitung des TNO-Tests als schwieriger, sie dauert auch länger, die Leistung kann aber nicht durch monokulare Tiefenreize verzerrt werden. Praxistipp
14.3.2
Assessment
Fusion
Stereosehen ist u.a. wichtig für das Handeln im Nahbereich (Greifen, handwerkliche Tätigkeiten, Kochen, Handarbeiten, Zeichnen u.a.m.). Einbußen des Stereosehens behindern daher solche Tätigkeiten und lassen den Patienten »ungeschickt« erscheinen.
Fusionsstörungen können einfach und zuverlässig untersucht werden, mithilfe 4 einer Prismenleiste, 4 einer Bagolinibrille und 4 einem Maddoxkreuz.
Visuelle Belastbarkeit
Der Patient schaut während der Untersuchung durch eine Bagolinibrille, die zur Trennung der Seheindrücke des rechten und linken Auges führt, auf das Licht eines Maddoxkreuzes in 5 m Entfernung. Der Untersucher platziert dann immer
Fusionsgestörte Patienten haben fast immer eine deutlich reduzierte visuelle Belastbarkeit, die oft weniger als 30 oder nur 10 Minuten beträgt. Zur Erfassung dieser Einbußen bieten sich verschiedene pragmatische Methoden im klinischen Kontext an:
14
196
Kapitel 14 · Elementare visuelle Leistungen: Visus, Gesichtsfeld und verwandte Funktionen
4 Subjektive Angaben des Patienten: Befragen des Pati-
enten, wie lange (in Minuten) er lesen, am Bildschirm arbeiten oder fernsehen kann, bis es zum Verschwommensehen kommt. Dies korreliert oft mit der objektiven Lesedauer in Minuten. 4 Ermitteln der objektiven Lesezeit (in Minuten) bis zum Verschwommensehen. 4 Durchführen 1–2 kurzer Aufmerksamkeitstests vor und 30 oder 60 Minuten nach anstrengender visueller Tätigkeit (z.B. Kleindruck lesen oder Bildschirmarbeit). Ist die visuelle Belastbarkeit reduziert, ergeben sich beim 2. Test schlechtere Ergebnisse. 4 Visuell evozierte Potenziale: Patienten mit verminderter visueller Belastbarkeit zeigen auffällige Resultate (Zihl u. Schmidt 1989).
14.3.3
Therapie
Einbußen der konvergenten Fusionsbreite führen zu erheblichen Alltagsproblemen bei allen Tätigkeiten im Nahbereich, da diese meist eine ausreichend große (bezogen auf die Amplitude der Fusionsbreite) und lange Fusion erfordern (bezogen auf die Dauer, mit der die Fusion einer bestimmten Amplitude gehalten werden kann). Zu den relevanten Tätigkeiten gehören 4 Lesen, 4 Schreiben, 4 Bildschirmtätigkeit, 4 handwerkliche Arbeiten oder 4 Hausarbeit. Praxistipp
14
Patienten mit einer reduzierten Fusion sind oft nicht in der Lage, länger als 5–10 Minuten zu lesen.
Die wesentliche Grundidee der Fusionsbehandlung ist das schrittweise Anbieten von visuellen Reizen mit zunehmender Querdisparation (= seitlich versetzte Abbildung des gesehenen Reizes auf der Netzhaut des linken Auges im Vergleich zum rechten Auge). Diese Darbietungsart beinhaltet einen Vergenzimpuls für das okulomotorische System, was bedeutet, dass das Sehsystem versucht, über Fusion und Konvergenz der Augen Einfachsehen herzustellen. Über die Variation der Querdisparation in den dargebotenen Trainingsmaterialien kann eine Steigerung der Fusionsbreite erzielt werden. Eine praktische Anleitung zum Fusionstraining mit Fallbeispielen findet sich im Leitfaden von Stögerer u. Kerkhoff (1994). Behandlungsziele sind: 4 Steigerung der Fusionsbreite, 4 Verminderung der subjektiven Beschwerden und 4 Steigerung der visuellen Belastbarkeit für relevante alltägliche Tätigkeiten (s.o.).
Die Therapiedauer ist bei chronischen und akuten Patienten unterschiedlich: 4 Bei chronischen Patienten (Zeit seit der Erkrankung >6 Monate) haben sich wöchentlich 2 Sitzungen mit maximal 50-minütiger Dauer bewährt (Behandlungsplan in . Übersicht 14.1). 4 Für akutere Patienten ist es oft zweckmäßiger, mehrmals täglich für wenige Minuten mit der Prismenleiste oder dem Fusionstrainer zu üben, da diese Patienten nicht so lange belastbar sind. Näher betrachtet Outcome-Ergebnisse Nach eigenen Erfahrungen kommt es bei der Mehrzahl der behandelten Patienten (ca. 80%) innerhalb weniger Sitzungen (im Mittel 12) zu einer deutlichen Steigerung der Fusionsbreite und Verbesserung der visuellen Belastbarkeit. 4 Patienten mit zusätzlichen Okulomotorikstörungen (Paresen, Nystagmus) haben ein ungünstigeres Outcome als Patienten ohne solche begleitenden Störungen. 4 Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma zeigen meist keinen so großen Zuwachs der Fusionsbreite wie Patienten mit zerebrovaskulären Erkrankungen, profitieren aber im gleichen Ausmaß von einer verbesserten visuellen Belastbarkeit und verminderten subjektiven Beschwerden. Nach Behandlungsende bleiben die Leistungen stabil, sofern die Patienten die Fusion im Nahbereich benutzen, d.h., lesen, handwerklich oder am PC arbeiten sowie sonstige visuelle Tätigkeiten im Nahbereich ausführen.
> Ein Fusionstraining verbessert neben der Fusionsbreite auch das Stereosehen und die visuelle Belastbarkeit. . Übersicht 14.1. Behandlungsplan bei konvergenten Fusionsstörungen und beeinträchtigtem Stereosehen 1.
2.
6
Anamnese – Visuelle Ermüdungserscheinungen: – Augendruck – Rasche Ermüdung beim Lesen (nach durchschnittlich 10 Minuten) – Maximale Lesedauer, bevor es zu Verschwommensehen kommt – Verschlechterung der Fusionsbreite nach visuellen Tätigkeiten (Lesen, handwerkliche Arbeiten, PC-Arbeit) Art der Behandlung – Verbesserung der binokularen Fusion und Stereosehschärfe: – Anbieten dichoptischer Bilder mit steigendem Disparitätsgrad – Im Mittel 12 Behandlungssitzungen (Bereich: 8–20), je nach Belastbarkeit des Patienten 20- bis 50-minütige Behandlungsdauer
197 14.4 · Homonyme Gesichtsfeldausfälle
sichtsfeldausfällen; vgl. Zihl u. von Cramon 1985, 1986). Sel3.
4.
5.
Behandlungsergebnis und Nachuntersuchung – Mittlere Verbesserung der Fusionsbreite um 12 cm/m – Stabilität bei der Nachuntersuchung nach 10 Monaten – Leichte Verbesserung der Sehschärfe – 80% der behandelten Patienten profitieren von der Behandlung und spüren subjektiv eine Verbesserung, z.B. in der Lesedauer und eine Reduktion der Beschwerden Transfer im Alltag – Längere Lesedauer, bevor es zum Verschwommensehen kommt – Verminderung der visuellen Ermüdungserscheinungen – Besseres Stereosehen – Verbesserte Chancen der Patienten in der beruflichen Rehabilitation Ausschlusskriterien – Prämorbid schon bestehende Fusionsstörung – Permanente Doppelbilder mit einem Winkel >15° zwischen den Bildern des linken und rechten Auges
14.4
Homonyme Gesichtsfeldausfälle
14.4.1
Klinik
Homonyme Gesichtsfeld- und Quadrantenausfälle sind die häufigsten unilateralen Gesichtsfeldausfälle nach postchiasmatischer Hirnschädigung (ca. 50% der Patienten mit Ge-
tener sind
4 Ausfälle des Farb- und Formgesichtsfelds (zerebrale Amblyopie), 4 Zentral- oder Parazentralskotome sowie 4 zerebrale Blindheit (Kerkhoff 1999). Die häufigste ätiologische Ursache sind Infarkte oder Blutungen im Versorgungsgebiet der hinteren Hirnarterien, seltener eine zerebrale Hypoxie oder Schädel-Hirn-Traumen. In . Tab. 14.3 sind die Alltagsprobleme einer repräsentativen Stichprobe von Patienten einer neurologischen Rehabilitationsabteilung getrennt für verschiedene Arten von Gesichtsfeldausfällen zusammengefasst. Demnach sind Lese- und Explorationsstörungen bei etwa 60% der Patienten – je nach Art des Gesichtsfeldausfalls – die von den Patienten am häufigsten geschilderten Folgen.
14.4.2
Assessment
Homonyme Gesichtsfeldausfälle können quantitativ und qualitativ bei fast allen Patienten mit perimetrischen Methoden untersucht werden. Dabei empfehlen sich Projektionsperimeter, mit denen neben der statischen Perimetrie auch eine dynamische Perimetrie möglich ist (manuell oder computergesteuert), da rein automatische Gesichtsfelduntersuchungen bei hirngeschädigten Patienten erfahrungsgemäß häufig fehlerhafte Resultate liefern. Das einzige portable, quantitativ messende Perimeter (für ambulante Untersuchungen) mit akzeptablem Preis-Leistungs-Verhältnis wird von Oculus angeboten (Centerfield, 7 Kap. 14.6.1).
. Tab. 14.3. Restgesichtsfeld an der Skotomgrenze und Häufigkeit subjektiver Lese- und Explorationsprobleme bei postchiasmatischen, homonymen Gesichtsfeldausfällen (n=313) sowie hirngeschädigten Patienten ohne Gesichtsfeldausfall (n=141) Gesichtsfeldausfall (Stichprobenumfang)
Restgesichtsfeld (°)
Häufigkeit (%)
Leseprobleme (%)
Explorationsprobleme (%)
Hemianopsie links (61)
6,9
19,5
62
60
Hemianopsie rechts (96)
5,8
30,7
81
73
Hemianopsie bilateral (14)
12,4
4,5
69
57
Hemiamblyopie links (20)
6,6
6,4
50
20
Hemiamblyopie rechts (30)
6,4
9,6
68
17
Hemiamblyopie bilateral (23)
8,7
7,3
52
39
Quadrantenausfall links (27)
8,5
8,6
38
22
Quadrantenausfall rechts (21)
2,7
6,7
95
24
Parazentralskotom (21)
2,7
6,7
95
24
Kontrollpatienten (ohne Gesichtsfeldausfall, 141)
-
-
-
4
(modifiziert nach Kerkhoff 1999) Hemiamblyopie: beeinträchtigte Farb- und Formwahrnehmung bei relativ intakter Lichtwahrnehmung im Skotom; bei bilateralen Ausfällen ist jeweils das geringere Restgesichtsfeld in Grad angegeben
14
198
Kapitel 14 · Elementare visuelle Leistungen: Visus, Gesichtsfeld und verwandte Funktionen
Näher betrachtet Rückbildung von homonymen Gesichtsfeldausfällen Die Wahrscheinlichkeit einer spontanen Restitution geschädigter Gesichtsfeldareale ist in den ersten 3 Monaten nach der Hirnschädigung am größten (Zihl u. von Cramon 1985, Zhang et al. 2006); im 4–6. Monat nach der Schädigung nimmt sie schon deutlich ab, und nach 6 Monaten tritt keine nennenswerte spontane Gesichtsfeldrückbildung mehr auf, sofern die Grunderkrankung stabil ist (Zhang et al. 2006). Tritt eine Rückbildung ein, so ist das Ausmaß in peripheren Gesichtsfeldarealen größer als in foveanahen (aufgrund des kortikalen Vergrößerungsfaktors). Das Ausmaß der Gesichtfeldrestitution ist jedoch in den seltensten Fällen so groß, dass die assoziierten Beeinträchtigungen des Lesens und der visuellen Raumexploration dadurch behoben werden. Nach 6 Monaten ist eine Spontanremission des Gesichtsfeldausfalls bei stabiler Grunderkrankung sehr unwahrscheinlich.
Untersuchungsstandard ist
4 die Bestimmung der Ausdehnung des Gesichtfelds für unterschiedliche Intensitäten weißen Lichts und 4 die Vermessung des Farb- und Formgesichtsfelds.
14
Diagnostisch interessant sind vor allem auch die Angaben zum Restgesichtsfeld für Formreize, weil dieses mit dem Schweregrad der häufig assoziierten hemianopen Lesestörung korreliert (Zihl 1995). Eine detaillierte Beschreibung der perimetrischen Untersuchungstechniken, einschließlich möglicher perimetrischer Fehlerquellen findet sich an anderer Stelle (Kerkhoff et al. 1994). Hinweise zur perimetrischen Unterscheidung von neglectbedingten und tatsächlichen homonymen Skotomen finden sich in einer Übersichtsarbeit (Kerkhoff 2004). Kampimetrische Verfahren zur Gesichtsfelduntersuchung – etwa am PC-Monitor – können orientierend zur Gesichtsfeldprüfung verwendet werden, vermessen jedoch nur den inneren Gesichtsfeldbereich (ca. 15–20° pro Halbfeld) und können eine zum Skotom hin verlagerte Blickposition, wie sie häufig bei Patienten mit postchiasmatischen Gesichtsfeldausfällen auftritt (Barton u. Black 1998), nicht entdecken, da der Untersucher das Patientenauge während der Messung nicht auf eventuelle Blickverschiebungen hin kontrollieren kann. > Kampimetrische Verfahren (z.B. am Bildschirm) können nur einen orientierenden Eindruck über das zentrale Gesichtsfeld (ca. 15° pro Halbfeld) geben, liefern jedoch keine Informationen über die Peripherie der beiden Gesichtsfeldhälften.
14.4.3
Therapie
Kompensatorisches Gesichtsfeldtraining jVisuelles Explorations- und Lesestraining Hemianope Lesebeschwerden beruhen auf dem Wegfall foveanaher Gesichtsfeldareale, die als perzeptives Fenster für
den Lesevorgang wichtig sind. Die Größe dieses Fensters beträgt in westlichen Kulturen etwa 5 Buchstaben links von der Fixation und 8–13 Buchstaben rechts von der Fixation (McConkie u. Rayner 1975). Diese Differenz erklärt auch, warum Patienten mit rechtsseitigen homonymen Gesichtsfeldausfällen ein geringeres Lesetempo haben als Patienten mit linksseitigen Gesichtsfeldausfällen (Zihl 1995, Leff et al. 2000). Dagegen weisen Patienten mit linksseitigen Ausfällen eine erhöhte Lesefehlerzahl auf, die meist durch Probleme mit dem Zeilenwechsel sowie Auslassungen von Wörtern oder Anfangssilben bedingt ist (Kerkhoff et al. 1992). Eine ungenügende oder unökonomische visuelle Exploration liegt bei etwa 70% der Patienten mit homonymen Gesichtsfeldausfällen vor (Zihl 1995, Pambakian et al. 2000). Zeichen sind 4 zu kleine Suchbewegungen im blinden Halbfeld, 4 räumlich desorganisierte und unzusammenhängende Suche, 4 Auslassen relevanter Reize, vor allem im blinden Halbfeld und 4 erhöhte Suchzeit. Zeichnet man die Augenbewegungen der Patienten auf, finden sich darüber hinaus noch weitere Zeichen wie 4 vermehrtes Wiederaufsuchen von bereits abgesuchten Raumpositionen, 4 verlängerte Fixationszeiten und 4 ein insgesamt desorganisiertes Suchmuster (Pambakian et al. 2000). Diese Aspekte der Störung lassen sich deutlich reduzieren durch 4 eine Kombinationsbehandlung zur Verbesserung des sakkadischen Suchverhaltens im Skotom und 4 einem anschließenden Training visueller Suchstrategien auf großformatigen Suchvorlagen. Eine alltagsrelevante Verbesserung lässt sich bei über 90% der Patienten erzielen und bleibt auch nach Beendigung der Behandlung stabil (vgl. Kerkhoff et al. 1992, 1994; Zihl 1995, Pambakian et al. 2004) (Behandlungsfaktoren in . Übersicht 14.2). Fazit Die unökonomische und zeitaufwändige visuelle Exploration sowie das verlangsamte und fehlerhafte Lesen infolge eines homonymen Gesichtsfeldausfalls lassen sich durch kompensationsorientierte Gesichtsfeldbehandlungsverfahren bei über 95% der Betroffenen so wirksam behandeln, dass eine deutliche Verbesserung hinsichtlich visueller Aktivitäten und Teilhabe im Alltagsleben erzielt werden kann.
jSakkadisches Training Eine neue Variante des sakkadischen Trainings bei Gesichtsfeldausfällen haben Bolognini et al. (2006) kürzlich vorgestellt. Sie bieten zeitgleich zu den visuellen Zielreizen im blinden
199 14.4 · Homonyme Gesichtsfeldausfälle
. Übersicht 14.2. Relevante Behandlungsfaktoren
. Übersicht 14.4. Hemianopes Lesetraining
Günstige Behandlungsfaktoren 1. Rein okzipitale Läsionen ohne parietale Schädigungen 2. Gute Störungseinsicht
1.
Ungünstige Behandlungsfaktoren 1. Assoziierte periphere oder zentrale Seh- oder Okulomotorikstörungen 2. Geringe Einsicht des Patienten 3. Häufige Kopfbewegungen anstelle von Augenbewegungen zur blinden Seite 4. Bilaterale oder diffus disseminierte Hirnläsionen
2.
Nicht relevant für das Behandlungsergebnis sind Alter, Zeit seit der Hirnschädigung und Geschlecht.
Gesichtsfeldbereich auditive Reize an der gleichen Position an, die über Mechanismen einer crossmodalen Integration der visuellen und akustischen Reize zu einer rascheren Entdeckung und damit Kompensation im Alltag führen. Die Effekte dieses – technisch jedoch aufwändigeren Verfahrens – sind ähnlich wie die des oben beschriebenen Explorationstrainings. jHemianopes Lesetraining Ähnlich wirksam wie das visuelle Explorationstraining hat sich das hemianope Lesetraining erwiesen, das über die Darbietung von Fließtext zu einer okolumotorischen Kompensation der Lesestörung führt (Kerkhoff et al. 1992, Zihl 1995, Spytzina et al. 2007), die noch lange nach Behandlungsende stabil bleibt (Kerkhoff et al. 1992). Relevante Behandlungsfaktoren sind in . Übersicht 14.3 aufgelistet.
3.
4.
. Übersicht 14.3. Relevante Behandlungsfaktoren Günstige Behandlungsfaktoren 1. Restgesichtsfeld (je größer desto besser) 2. Regelmäßige Selbsttherapie der Betroffenen Ungünstige Behandlungsfaktoren 1. Assoziierte Alexie 2. Assoziierter Neglect
Therapieansätze zur Wiederherstellung blinder Gesichtsfeldbereiche wurden in den letzten Jahrzehnten vermehrt beschrieben (Kasten et al. 1998). Nach anfänglich optimistischen
tern und Zahlen, maximale Lesedauer asthenopische Beschwerden (Ermüdung) Art der Behandlung – Verbesserung der Lesesakkaden, um den blinden Bereich des »Lesefensters« auszugleichen – Lesen kurzzeitig angebotener einzelner Wörter – Lesen von Wörtern, die sich von rechts nach links bewegen (Fließtext), Moving-Window-Technik – Verbesserung des Lesescannings, Üben kognitiver Leseleistungen (z.B. Suche nach Tippfehlern oder Textstellen in einem Text; Textgedächtnis steigern), Üben funktionaler Leseleistungen (z.B. eingebettete Nullstellen in langen Zahlen lesen, Telefonnummern lesen/tippen) – Variation physikalischer und sprachlicher Merkmale, z.B. Wortlänge und Häufigkeit – Bildschirmposition (links, rechts, Mitte) – Anzahl der dargebotenen Wörter, Darbietungszeit; Komplexität des Textes, Instruktion (detailliertes vs. überblickartiges Lesen) Transfer im Alltag – Eigenständiges Lesen (Zeitung, Großdruckbücher, neben der Therapie eigene Manuskripte lesen) – Texteingabe am PC, Steigerung der visuellen Belastbarkeit Behandlungsergebnis und Nachuntersuchung – Steigerung der Lesegeschwindigkeit (um 200%) – 500% Reduktion der Lesefehlerzahl, verbesserte Lesesakkaden
. Übersicht 14.5. Sakkaden- und visuelles Explorationstraining 1.
Anamnese/Untersuchungen
– Standardisierte Diagnostik basaler (Sakkaden, Ex-
jZusammenfassung Eine Zusammenfassung der kompensatorischen Gesichtsfeldbehandlung, bestehend aus den wichtigsten Elementen des hemianopen Lesetrainings und des visuellen Explorationstrainings, geben . Übersicht 14.4 und 14.5
Restoratives Gesichtsfeldtraining
Anamnese/Untersuchungen
– Standardisierte Diagnostik inkl. – Texte – tachistoskopische Darbietung – kognitive Leseaufgaben (. Tab. 14.4) – Zeilensprung – Art der Lesefehler (Auslassungen, Ersetzungen) – spezielle Probleme beim Lesen von langen Wör-
2.
6
ploration, Extinktion) und funktional-alltagsrelevanter visueller Leistungen (z.B. Personenscanning, rasche Objektvergleiche, funktionales Gesichtsfeld, Objektgedächtnis) (. Tab. 14.4) – Anamnese: Fragen, z.B.: Eingeschränkter Überblick?, Anstoßen?, Unsichere Orientierung im Raum/Verkehr? Art der Behandlung – Steigerung der Amplitude und Geschwindigkeit der Sakkaden zum Skotom
14
200
Kapitel 14 · Elementare visuelle Leistungen: Visus, Gesichtsfeld und verwandte Funktionen
– Reduktion der sakkadischen Reaktionszeit, Blick-
3.
4.
14
vor Kopfbewegungen – Vermittlung einer systematischen, räumlich gut organisierten visuellen Suche auf großflächigen Vorlagen – Beginn der Suche immer im blinden Bereich – Verbesserung der Suchstrategien auf unterschiedlichsten Vorlagen – Üben funktional-alltagsrelevanter Leistungen, z.B. Überblick: Wie viele Personen sind da?, Sind beide Objekte gleich?, Wo waren die Objekte im Raum? (. Tab. 14.4) Transfer im Alltag – Orientierung in der Klinik, im eigenen Stadtviertel, neuer Umgebung – Bewältigen visueller Alltagsleistungen, z.B. Gegenstände auf Tisch oder im eigenen Zimmer finden – Eigenes Zimmer und Therapeutenzimmer finden – Dinge im Supermarkt finden – Straße überqueren – Öffentliche Verkehrsmittel verwenden – Weg nach Hause finden Behandlungsergebnis und Nachuntersuchung – Reduktion der Auslassungen, Steigerung der Suchgeschwindigkeit – Partielle Gesichtsfeldrückbildung (5–7°) bei 34% der Patienten, die jedoch nicht mit der Verbesserung der visuellen Exploration korreliert; deutliche Verbesserung in funktional-alltagsrelevanten Leistungen bei 95% der Patienten. Stabilität bei Follow-up nach 1,5 Jahren
Befunden zeigte sich in mehrfachen fehlgeschlagenen Replikationsstudien, dass es bei über 90% der trainierten Patienten trotz intensiver Therapie (mit bis zu 150 Trainingssitzungen) entweder zu keinem messbaren Gesichtsfeldzuwachs kommt (Reinhard et al. 2005, Schreiber et al. 2006, Nelles et al. 2001) oder der Nettogesichtsfeldzuwachs minimal ist (1–2°), wenn eine exzentrische Fixation und mögliche Blickbewegungen zum Skotom während der Perimetrie kontrolliert werden (vgl. Kerkhoff 2010). Die wichtigsten Elemente der restorativen Gesichtsfeldbehandlung sind in . Übersicht 14.6 zusammengestellt.
Vergleich: Kompensationsorientierte und restorative Gesichtsfeldbehandlung In . Tab. 14.4 sind die wichtigsten Unterschiede der kompensatorischen und restorativen Gesichtsfeldbehandlung zusammengefasst. Demnach profitieren mehr als 90% der Patienten von einem kompensationsorientierten visuellen Explorations- und Lesetraining, das den Bereich der Alltagsaktivitäten und die mögliche Teilhabe der Patienten in Alltag und Beruf deutlich verbessert. Bei einigen (10–20%) der »kompensatorisch« behandelten Patienten ergibt sich auch eine
. Übersicht 14.6. Restorative Gesichtsfeldbehandlung 1.
2.
3.
4.
Anamnese/Untersuchungen – Perimetrie, Prüfung der Erkennung kurzzeitig im Skotom gezeigter Reize – Suche nach Übergangszonen im Gesichtsfeld mit teilweise erhaltenen Sehresten, z.B. Entdeckung bewegter Lichtreize in bestimmten Bereichen; diese deuten am ehesten eine Gesichtsfeldrückbildung an Art der Behandlung – Verbesserung der sakkadischen Lokalisation an der Gesichtfeldgrenze – Vermeidung von Kopfbewegungen – Erkennung von Farbe, Form, Kontrast, Helligkeit oder Orientierung eines gezeigten Reizes – Anzahl der Behandlungssitzungen: 30–500 Stunden Transfer im Alltag – Relativ gering (Verbesserungen beim Lesen 6%) – Geringfügig verbesserte Awareness für die visuellen Alltagsprobleme Behandlungsergebnis und Nachuntersuchung – Mittlerer Gesichtsfeldzuwachs: netto 0–3°, Stabilität bei Nachuntersuchung, 90% der trainierten Patienten zeigen jedoch keinen Gesichtsfeldzuwachs – Vergleichsweise geringer Transfer auf Alltagsleistungen wie Lesen und Exploration im Alltag
kleine Gesichtsfelderweiterung – diese ist aber nicht die Ursache oder gar eine notwendige Vorbedingung für eine verbesserte Kompensation eines postchiasmatischen Gesichtsfeldausfalls (Kerkhoff et al. 1992). Erwähnenswert ist auch, dass ein entsprechendes Kompensationstraining nachweislich die berufliche Wiedereingliederung der Betroffenen erleichtert, Vergleichbares ist von einem restorativen Training nicht bekannt. Daher sollte die Durchführung eines restorativen Gesichtsfeldtrainings auf wenige ausgewählte Patienten beschränkt sein (Patienten mit erhaltenen »Sehinseln« im Bereich des Skotoms, ca. 5–10% der Patienten). Fazit Aus diesen Angaben ergibt sich, dass die kompensationsorientierte Gesichtsfeldbehandlung deutlich wirksamer (im Sinne der Verbesserung von Aktivitäten und Teilhabe der Patienten im Alltag) und kostengünstiger ist als die restorative Gesichtsfeldbehandlung und daher Therapiemethode der ersten Wahl für alle Patienten mit Gesichtsfeldausfällen sein sollte. In ausgewählten Einzelfällen kann sich dann später zusätzlich ein restoratives Gesichtsfeldtraining anschließen. Eine umgekehrte Behandlungsreihenfolge verhindert eine rasche Verbesserung von Alltagsleistungen, da hierfür eine Verbesserung okulomotorischer Strategien des Lesens und Absuchens unabdingbar sind.
201 14.4 · Homonyme Gesichtsfeldausfälle
. Tab. 14.4. Direkter Vergleich: Kompensatorisches und restoratives Behandlungsverfahren für Patienten mit homonymen Gesichtsfeldausfällen Kompensatorisches Gesichtsfeldtraining (Lesetraining, Sakkaden- und visuelles Explorationstraining)
Restoratives Gesichtsfeldtraining
Objektive Gesichtsfelderweiterung nach Therapie
+, 0–5° in einer Subgruppe von Patienten (ca. 10– 20%), keine Gesichtsfelderweiterung bei der Mehrzahl der Patienten (80–90%)
+, 2–5° in computerbasierter Kampimetrie, jedoch keine Gesichtsfelderweiterung (0°) in funduskontrollierten Gesichtsfeldtests
Objektive Verbesserung im Lesen nach Therapie
+++, ca. 25–100% Verbesserung in Lesetempo und Lesefehlerzahl nach ca. 25 Therapiestunden
+, ca. 6% Verbesserung im Lesetempo nach ca. 150 Therapiestunden
Objektive Verbesserung in der visuellen Exploration nach Therapie
+++, Reduktion der visuellen Suchzeit um ca. 20–30% und Verminderung der Auslassungen um 40%; Erweiterung des sakkadischen Suchfelds um ca. 20° im Skotom
?
Subjektive Verbesserungen in visuellen Alltagsaktivitäten nach Therapie
+++, große Verbesserungen in zahlreichen visuellen Alltagsaktivitäten (z.B. Lesen, Orientierung, Weg finden, Straße überqueren) bei 90% der behandelten Patienten
+, geringe Verbesserung in Alltagsleistungen
Anzahl der erforderlichen Therapiesitzungen
++, 25–50 Therapiestunden (für Lese- und Explorationstraining zusammen)
+++, 100–150 Therapiestunden erforderlich
Rückkehr in berufliche Tätigkeit nach Therapie
+++, Rückkehr in eine berufliche Tätigkeit bei>90% der behandelten Patienten
?
Kosten für Trainingsverfahren
++, ca. 1000–2000 Euro für Trainingssoftware
+++, 5000 Euro für Trainingssoftware
+ gering, ++ mittel, +++ hoch, ? nicht bekannt
Weiterentwicklung des Lese- und Explorationstrainings Wenngleich die in den letzten 15 Jahren etablierten Therapieverfahren zum Kompensationstraining (Lese- und Explorationstraining bei Gesichtsfeldausfällen) durchaus wirksam sind, konnten diese Methoden erheblich verbessert und erweitert werden. So fehlte in der Vergangenheit eine detaillierte Erfassung alltags- und berufsrelevanter Aufgaben »rund um das Lesen«, wie 4 das Lesen und Eintippen von Telefonnummern, 4 das überblickartige Lesen, 4 die Untersuchung von Textverständnis und -gedächtnis oder 4 lesebezogene Listenvergleiche. Für die Lesetherapie sollte es mehrere und noch wirksamere Behandlungsmöglichkeiten geben als die Fließtextdarbietung. Für den Bereich der visuellen Explorationsstörungen war es ebenso wünschenswert, umfangreiche diagnostische und therapeutische Verfahren gebündelt in einem System zur Verfügung zu haben, da dies bisher mit Aufgaben aus ganz unterschiedlichen Testsammlungen oder selbst erstellten Verfahren bewältigt werden musste. Schließlich ist in beiden Bereichen nicht zuletzt auch der Zusammenhang zwischen Einbußen in basalen Leistungen (z.B. Sakkaden) und funktional-alltagsrelevanten Aufgaben (z.B. rascher Abgleich von Alltagsobjekten) wichtig,
um bessere Vorhersagen über die Fähigkeiten, aber auch Probleme des Patienten in Alltag und Beruf zu ermöglichen. Inzwischen wurden zwei umfassende Diagnose- und Therapiesysteme entwickelt, READ und EyeMOVE, die vielen dieser Anforderungen entsprechen (vgl. Kerkhoff u. Marquardt 2009a,b). jREAD-Programm Beide Systeme vereinen die bewährten Behandlungstechniken des früheren ELEX-Systems, bieten darüber hinaus jedoch umfangreiche, innovative Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten, die lediglich konventionelle PC-Technologie erfordern (d.h. kein zusätzlicher Fernsehschirm). READ enthält 6 standardisierte und normierte Untersuchungsmakros zu allen Aspekten visuell bedingter Lesestörungen einschließlich funktionaler, alltagsnaher Leseaufgaben. Damit ist eine rasche und detaillierte Diagnostik möglich, in der auch schon unterschiedliche Therapiemethoden erprobt werden (. Übersicht 14.7). Therapiemodule existieren zu speziellen Lesestörungen, z.B. bei 4 Neglectdyslexie, 4 rechts- oder linksseitiger hemianoper Dyslexie, 4 kontrastbedingten Lesestörungen oder 4 Balint-Holmes-Syndrom. Eine ausführliche Darstellung des Programms findet sich in Kerkhoff u. Marquardt (2009a).
14
202
Kapitel 14 · Elementare visuelle Leistungen: Visus, Gesichtsfeld und verwandte Funktionen
. Übersicht 14.7. READ-Programm Basale Funktionen 1. Normierte Standardtests zu basalen und funktionalen Leseaufgaben (3 normierte Parallelversionen) 2. Differenzierung nach Fehlerklassen (Auslassung, Substitution, semantische/phonologische Fehler) 3. Berechnung von Kennwerten (»words per minute/ wpm«, »characters per second/cps«, Zeiten) 4. Zentrierter Einzelzeilen- bzw. Einzelworttext, Fließtext, Moving-Window-Technik (jeweils nur 1 Wort sichtbar) 5. Automatische Registrierung und Auswertung der Daten in exportierbarem Datenbankformat, graphische Ergebnisausdrucke (exportierbar) 6. Programmierbarer Editor zum Einlesen eigener Texte, Fotos, Videos, Töne/Sprache und zur Gestaltung eigener Aufgaben
14
Diagnostik- und Therapieaufgaben 1. Kurzscreening: Linksbündiger Lesetext, Einzelwortdarbietung, Textgedächtnis, tachistoskopische Einzelwortdarbietung links/rechts 2. Lesetextscreening: Texte linksbündig, beidseitig eingerückt, Einzelwortdarbietung zentral, Einzelwortdarbietung selbst- oder fremdgesteuert 3. Kognitives Lesescreening: Lesen und Textgedächtnis, Tippfehler finden, Bestellnummern vergleichen, Zahlensuchen, Telefonnummern lesen und eintippen 4. Tachistoskopisches Screening: Lesen kurzzeitig dargebotener Worte im linken und rechten Gesichtsfeld (Wortfrequenz kontrolliert), Lesen zusammengesetzter Wörter (z.B. Hausmeister), Wort-Extinktionstest (je ein Wort in jedem Halbfeld gleichzeitig dargeboten) 5. Therapiemodule: Lesen unter 6 verschiedenen Varianten: Wort/Text statisch oder bewegt, sequenzielle Einzelwortdarbietung, Darbietung einzelner Wörter im Zentrum des Gesichtsfelds u.a.m. Die verschiedenen Varianten dienen der Auswahl der besten Therapiemethode für den einzelnen Patienten 6. Zusätzlich: Buchstaben erkennen, standardisierte Lesetests unter hohem oder niedrigem Kontrast
jEyeMOVE-Programm Demgegenüber enthält das Programm EyeMOVE Diagnostikmodule zu 4 basalen Leistungen wie 5 Gesichtsfeldscreenings, 5 Sakkaden- und Explorationsaufgaben und 4 funktionalen alltagsrelevanten Aufgaben wie 5 funktionales Gesichtsfeld, 5 Personenscanning (Anzahl von Personen auf Vorlage rasch erfassen), 5 rasches Vergleichen von Instrumentenanzeigen und Preisen oder 5 Vergleich von Objekten.
Analog gibt es spezifische Therapiemodule für Patienten mit unterschiedlichen Formen von Hemianopsie, Quadrantenanopsie, Neglect oder Balintsyndrom. Mit den normierten Untersuchungssets zu funktionalen Lese- und Explorationsaufgaben lassen sich darüber hinaus zahlreiche alltags- und berufsrelevante »visuelle Skills und Handicaps« erfassen und anschließend behandeln (. Übersicht 14.8). Eine ausführliche Darstellung des Programms findet sich im Beitrag von Kerkhoff u. Marquardt (2009b). . Übersicht 14.8. EyeMOVE-Programm Basale Funktionen 1. Normierte Standardtests zu basalen visuellen Aufgaben (Gesichtsfeldscreening für weiße Reize, visueller Extinktionstest, visuelle Suchaufgaben) 2. Normierte Standardtests zu alltagsnahen funktionalen visuellen Aufgaben (Personenscanning, Abgleich von Instrumenten, Preis- und Zahlenvergleich, Listenvergleich, Objektsuche und Objektgedächtnis) 3. Automatische Registrierung und Auswertung der Daten, Vergleich mit Normpopulation (18–75 Jahre, Altersnormen für 3 getrennte Gruppen), graphische Ergebnisplots (exportierbar, rasche Ergebnisreporte) 4. Möglichkeit zur Erstellung eigener Übungen und Tests, Einlesen von Bilddateien, Videos, Audios etc. Diagnostik- und Therapieaufgaben 1. Kurzscreening: Gesichtsfeld, Sakkaden links/rechts, Extinktion, visuelles Suchen 2. Gesichtsfeldscreening: Gesichtsfeldprüfung mit weißen, grauen, farbigen, Form- und Bewegungsreizen 3. Alltagsscreening: Personenscanning, Instrumentenvergleich, Preis- und Zahlenvergleich, Listenvergleich, Objektsuche und -gedächtnis 4. Tachistoskopisches Screening: Rasches Erfassen visueller Reize im linken/rechten Halbfeld oder in verschiedenen Quadranten 5. Extinktionstest: Test zur Doppelsimultanstimulation in beiden Gesichtsfeldhälften 6. Therapiemodule: Gesichtsfeld- und Sakkadentraining mit beliebigen Reizen (Punkte, Wörter, Gesichter, Alltagsbilder etc.), beliebige Kombinationen mit akustischen Reizen und Videoclips möglich; Explorationstraining mit Vorlagen zum parallelen und seriellen Suchen (mit Zeiterfassung), optokinetische Stimulation isoliert oder mit Sakkadentraining und auditorischen Reizen (z.B. für Alertnesstraining), Explorationstraining mit alltagsnahem Therapiematerial (reale Objekte, Alltagsszenen, Straßenverkehr)
Zusammenfassen kann festgestellt werden, dass mit READ und EyeMove zwei umfassende und zeitgemäße Therapiesysteme zur Verfügung stehen, der Methoden nachweislich wirksam im Sinne der evidenzbasierten Neurorehabilitation sind (vgl. Kerkhoff 2010).
203 14.5 · Neurovisuelle Frührehabilitation
14.5
Neurovisuelle Frührehabilitation
Da der Frührehabilitation eine immer größere Rolle zukommt, und aufgrund des steigenden Kostendrucks die Behandlungszeiten für Patienten reduziert werden, ist eine frühestmögliche Aktivierung visueller und okulomotorischer Fertigkeiten in der Rehabilitation wichtig. Während krankengymnastische, logopädische oder ergotherapeutische Maßnahmen in der Frührehabilitation als notwendig akzeptiert werden, wird der Einfluss neurovisueller Defizite noch unterschätzt, oder man »wartet« auf die Remission entsprechender Defizite. Dabei kann oft schon mit einfachen Mitteln eine Förderung erzielt werden. Im Folgenden werden einige praktische Hinweise für therapeutische Maßnahmen am Krankenbett gegeben.
14.5.1
Konjugierte Blickabweichung (Zuwendung von Augen und Kopf zu einer Seite)
Etwa 30–50% der rechtshemisphärisch und ein etwas geringerer Prozentsatz der linkshemisphärisch geschädigten Patienten haben in den ersten 2 Wochen nach einem Mediainfarkt eine konjugierte Blickabweichung, meist zur Herdseite (De Renzi et al. 1982, Tijssen et al. 1993). Diese tonische Imbalance der Augen zu einer Seite beeinträchtigt Alltagsaktivitäten wie 4 Transfers (von Bett zu Stuhl, von Rollstuhl zu WC etc.), 4 Aufbau von Blickkontakt und somit nonverbale Kommunikation, 4 Essen oder auch Greifen nach Gegenständen im kontralateralen Halbraum. Die tonische Imbalance ist oft mit einem Neglect gekoppelt und erschwert zusätzlich die okulomotorische Exploration der kontralateralen Raum- und Körperhälfte. Eine ausreichende visuelle Exploration ist auch Voraussetzung für Fortschritte in anderen Therapien wie der Krankengymnastik oder der Sprachtherapie.
Schweregrade der konjugierten Blickabweichung De Renzi et al. (1982) haben eine einfache und klinisch praktikable Bewertung der konjugierten Blickabweichung vorgeschlagen, die in wenigen Minuten durchgeführt werden kann und keinen apparativen Aufwand erfordert. Dazu stellt sich der Untersucher ans Bettende des Patienten und teilt die Blickabweichung in 4 Schweregrade ein. Diese Einteilung ermöglicht eine rasche Schweregradbeurteilung der konjugierten Blickabweichung und eine Dokumentation des Therapieverlaufs. Grad 0 Spontane (und nach Aufforderung) normale Orientierungsreaktionen von Augen und Kopf nach links und rechts
Grad 1 Verzögerte kontraläsionale Zuwendebewegungen von Augen und/oder Kopf Grad 2 Kontraläsionale Zuwendebewegungen von Augen und Kopf nur nach verbaler Aufforderung Grad 3 Keine kontraläsionale Zuwendebewegungen von Augen und Kopf (weder spontan noch nach Aufforderung)
Auslösen von Augenfolgebewegungen Im Unterschied zu sakkadischen Blickbewegungen können Patienten mit einer konjugierten Blickabweichung und deutlichem Neglect leichter Augenfolgebewegungen zur kontraläsionalen Seite ausführen (auch wenn diese sakkadiert sein mögen, vgl. Rizzo u. Robin 1990). Dazu reicht es oft aus, ein Alltagsobjekt vor dem Patienten vom intakten zum nicht beachteten Halbfeld zu bewegen und dabei die Augen des Patienten zu beobachten. Alternativ können auch großflächige Folien, auf denen sich optokinetisch stimulierende Muster befinden, für die Auslösung von Folgebewegungen genutzt werden. Auf diese Weise lässt sich oft beobachten, bis zu welchem Exzentrizitätsgrad die Fixation des Patienten in das kontralaterale Halbfeld »gezogen« werden kann. Gegenüber sakkadischen Kompensationsstrategien liegt der Vorteil dieser Verfahren darin, dass der Patient nicht notwendigerweise bewusst seine Aufmerksamkeit in die vernachlässigte Raumhälfte orientieren muss, sondern die Orientierung reflexartig erfolgt. Praxistipp Zur Auslösung von Folgebewegungen am Krankenbett genügt ein Alltagsgegenstand (z.B. Orange, Tennisball), der vor dem Patienten langsam vom intakten Halbfeld in das weniger beachtete oder blinde Halbfeld bewegt wird. Dort sollte der Patient einige Sekunden mit dem Blick verweilen.
14.5.2
Okulomotorikstörungen
Zentrale und periphere Okulomotorikstörungen finden sich häufig bei Patienten im Stadium der Frührehabilitation (Straube u. Kennard 1996). In dieser Phase der Mobilisierung beobachtet man häufig 4 Doppelbilder, 4 Fusionsstörungen, 4 Verschwommensehen und 4 deutlich reduzierte visuelle Belastbarkeit.
Über die Steigerung der Fusionsbreite und deren Dauer wurde bereits berichtet. Folgende orthoptische Therapieansätze werden in dieser Phase oft mit gutem Erfolg eingesetzt: 4 Nystagmusberuhigung durch Prismenausgleich, 4 vorübergehende Okklusionsbehandlung, 4 Fusionstraining und 4 Training von Augenbewegungen (z.B. Folgebewegungen)
14
? ? Verbesserung der Folgebewegungen ja ja ja
? nicht bekannt/nicht untersucht
nein nein Augenbewegungen
nein
ja ca. 90% Lesetempo 50%, weniger Fehler ja ja ja nein nein GF-Lesetraining
ja
ja ca. 90% Suchzeit 30%, Fehler 50% ja ja ja ja ja GF-Exploration
ja
gering 0–5% 0–5°, je nach Exzentrizität ja ja ja ja nein GF-Restitution
ja
ja Normalisierung der konvergenten Fusion ja ja ja ja nein Fusionstraining
nein
ca. 18% im Kontrastest-Score ja ja ja nein nein nein Kantenfilter
14
In . Tab. 14.5 ist die Evidenz der Wirksamkeit der beschriebenen neurovisuellen Therapien gemäß Cochrane-Standard summarisch zusammengefasst. Darüber hinaus werden praktisch-klinische Wirksamkeit und Ausmaß des Therapieeffekts für relevante Alltagsleistungen bewertet, weil beides wichtige Informationen bzgl. des Alltagstransfers einer Therapiemaßnahme sind. Es ist offensichtlich, dass die meisten Studien im Bereich der Hemianopsiebehandlung durchgeführt wurden (vgl. Bouwmeester et al. 2007). Neben den eher methodisch orientierten Cochrane-Kriterien gilt es jedoch auch, inhaltlich-praktische Aspekte bei der Bewertung der therapeutischen Wirksamkeit zu berücksichtigen. So ist das Ausmaß des Behandlungseffekts im klinischen Alltag relevant (nicht im Sinne der statistischen Effektgröße, sondern im Sinne von »Wie selbständig wird der Patient durch die Therapie?«) sowie die Frage, ob sich Behandlungseffekte überwiegend in neuropsychologischen Tests widerspiegeln, oder ob es durch die Therapie nachweislich auch zu einer Verbesserung der Aktivitäten und Teilhabe am täglichen Leben kommt. Wenngleich es in den letzten 20 Jahren deutliche Fortschritte in der Entwicklung wirksamer Therapieverfahren für elementare zerebrale Sehstörungen gegeben hat, bedarf es in den nächsten Jahrzehnten weiterer Anstrengungen, um neue Therapieverfahren zu entwickeln und die bestehenden zu verbessern. Nach eigenem Erachten sollte der Schwerpunkt der zukünf-
Fallstudien Cochrane 3
6.
QuasiExperimente Cochrane 2b
5.
Kontrolliert Cochrane 2°
4.
Randomisiert Cochrane 1b
3.
Meta-Analyse Cochrane 1
2.
1a Evidenz aufgrund von Metaanalysen randomisierter, kontrollierter Studien 1b Evidenz aufgrund einer randomisierten, kontrollierten Studie 2a Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten Studie ohne Randomisierung 2b Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten, quasi-experimentellen Studie 3 Evidenz aufgrund gut angelegter, nicht-experimenteller deskriptiver Studien (z.B. Einzelfall-Kontrollstudien) 4 Evidenz aufgrund von Berichten und Meinungen von Expertenkreisen, Konsensuskonferenzen und/ oder klinischer Erfahrung anerkannter Autoritäten (ohne transparenten Beleg)
Therapie
1.
. Tab. 14.5. Vergleich: Wirksamkeit verschiedener Therapieverfahren bei elementaren zerebralen visuellen Störungen
. Übersicht 14.9. Cochrane-Standard zur Beurteilung der Wirksamkeit
Erfahrungen Cochrane 4
Ausmaß der Verbesserung
Wieviele Patienten profitieren (%)
In den vergangenen Jahren hat die Beurteilung der Therapiewirksamkeit medizinischer und neurorehabilitativer Behandlungsverfahren zunehmende Bedeutung erlangt, und es ist in Zukunft davon auszugehen, dass nur als wirksam erachtete Verfahren angewendet werden dürfen und nur dafür Kosten erstattet werden. Der Standard zur Beurteilung der Wirksamkeit wurde vom Cochrane-Institut in Form von 6 Stufen festgelegt (. Übersicht 14.9).
ca. 80%
Wirksamkeit der neurovisuellen Therapieverfahren
ja
14.6
?
Kapitel 14 · Elementare visuelle Leistungen: Visus, Gesichtsfeld und verwandte Funktionen
Transfer in den Alltag
204
205 14.7 · Literatur
tigen neurovisuellen Therapieforschung besonders auf der Verbesserung des Transfers von Therapieeffekten auf Aktivitäten und Teilhabe im Alltag liegen. Eine aktuelle Übersicht zur Frage der evidenzbasierten neurovisuellen Rehabilitation findet sich in Kerkhoff (2010).
14.6.1
Angewandte Testverfahren und Geräte
Die Testverfahren sind in der Reihenfolge der Kapitel aufgelistet. Alle Angaben sind besten Wissens, jedoch ohne Gewähr. Testverfahren und Geräte mit Herstellernachweis 1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
14.7
Sehtests: Sehschärfen- und Kontrastsehtests, Farbtests (D-15), Prismenleisten, Bagolinikreuz, Fusions-HomeTrainer nach Keller, Cheiroskop, Kopfstützen etc. Fronhäuser Medizintechnik GmbH, Hauptstr. 13, D-82008 München, Tel. 089-6655550, www.eyesfirst.eu Centerfield-Perimeter: Oculus GmbH, Münchholzhäuser Str. 29, D-35582 Wetzlar, Tel. +49 (0)641-2005-0, Fax +49 (0)641-2005-255 Munsell Book of Color: Macbeth Division of Kollmorgen Instruments Coporation, 405 Little Britain Road, New Windsor, NY 12553, Tel. (800) MACBETH, Tel. (914) 565-7660, Fax (914) 565-2511 Vergrößerungssoftware mit Lupenfunktion: z.B. (Visulex) c/o Firma Papenmeier, Fachbereich Reha-Technik, Postfach 1620, D-58032 Schwerte, Tel. 02304/897-0 Bildschirm-Lesegerät: z.B. Firma Reinecker Reha-Technik GmbH, Sandwiesenstr. 19, D-64665 Alsbach-Hähnlein, Tel. 06257/4897 oder 3073 Material für visuelles Explorationstraining: Das inzwischen vergriffene, ursprünglich von Münssinger und Kerkhoff (1995) entwickelte Therapiematerial zur Behandlung visueller Explorationsstörungen bei homonymen Gesichtsfeldausfällen und visuellem Neglect (Borgmann Verlag, Dortmund) ist in veränderter Form in das Therapieprogramm EyeMove eingebaut worden (s.u.) Standardisierte Diagnostik und Therapie bei visuell bedingten Explorationsstörungen: Programm EyeMove1. Firma MedCom, www.medicalcomputing.de; c/o J. Schuster, Fritz-Lange-Str. 2, 81547 München, Tel/Fax. +49 (0)89/65 14 435 Standardisierte Diagnostik und Therapie bei visuell bedingten Lesestörungen: Programm Read. Firma MedCom (s.o.).
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1
Hinweis: G. Kerkhoff ist an der wissenschaftlichen Entwicklung der Programme EyeMove und Read beteiligt.
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14
206
14
Kapitel 14 · Elementare visuelle Leistungen: Visus, Gesichtsfeld und verwandte Funktionen
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15
Höhere visuelle Funktionen: Neglect, Raumorientierung, Balint-Holmes-Syndrom und visuelle Agnosien G. Kerkhoff, C. Groh-Bordin 15.1 Neglect 15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4
– 208
Klinik – 208 Assessment – 210 Differenzialdiagnostik Therapie – 212
– 211
15.2 Raumorientierungsstörungen
– 214
15.2.1 Klinik – 214 15.2.2 Assessment – 214 15.2.3 Therapie – 214
15.3 Visuelle Agnosien
– 216
15.3.1 Klinik – 216 15.3.2 Assessment – 217 15.3.3 Therapie – 217
15.4 Balint-Holmes-Syndrom
– 217
15.4.1 Klinik – 217 15.4.2 Assessment – 218 15.4.3 Therapie – 218
15.5 Wirksamkeit der Therapieverfahren 15.5.1 Angewandte Testverfahren und Geräte
15.6 Literatur
– 221
– 219 – 221
208
Kapitel 15 · Höhere visuelle Funktionen: Neglect, Raumorientierung, Balint-Holmes-Syndrom und visuelle Agnosien
Einbußen höherer visueller Hirnfunktionen umfassen 4 den halbseitigen Neglect, 4 Raumorientierungsstörungen, 4 das Balint-Holmes-Syndrom und 4 die visuellen Agnosien. Neglectphänomene und Raumorientierungsstörungen treten nach einer Hirnschädigung vergleichsweise häufig auf (30–40% der Patienten mit einer rechtsseitigen Hirnschädigung, ca. 10% nach linksseitiger Schädigung), das Balint-Holmes-Syndrom und die visuellen Agnosien dagegen vergleichsweise selten (ca. 1–2% aller Patienten mit Hirnschädigung). Für die Behandlung des Neglects eignen sich in der Frühphase besonders Stimulationsverfahren (Bottom-up-Ansätze), da sie wirksamer sind und nur geringe Anforderungen an Einsicht und aktive Mitarbeit des Patienten stellen. Zu einem späteren Zeitpunkt sollten auch strategieorientierte Verfahren (Top-downAnsätze) eingesetzt werden. Eine medikamentöse Therapie kann die behaviorale Neglecttherapie unterstützen, jedoch nicht ersetzen. Für Raumorientierungsstörungen wurden wirksame systematische Therapieansätze in Form eines räumlich-perzeptiven und räumlich-konstruktiven Trainings beschrieben. Probleme des Wegelernens bei Patienten mit räumlich-topographischen Störungen können mit der Technik der Reaktionsverkettung behandelt werden. Bei Patienten mit Balint-Holmes-Syndrom kann – trotz ihrer ausgeprägten »räumlichen« Alltagsprobleme – durch individuell angepasste und sehr alltagsnahe Übungen eine Verbesserung ihrer Selbständigkeit im Alltag erzielt werden. Für die visuellen Agnosien existieren derzeit keine wirksamen Behandlungsverfahren.
rem wegen der fehlenden Einsicht (Unawareness) der Patienten und der vielfältigen Begleitstörungen. Daher weisen Neglectpatienten ein schlechteres Rehabilitationsergebnis auf als andere Patientengruppen und bedürfen intensiver stationärer und ambulanter Rehabilitation (Katz et al. 1999). Eine weitere Ursache dafür sind die meist ausgedehnten Läsionen, die zahlreiche neuronale Funktionskreise (parieto-temporal, Basalganglien, seltener lateral frontal) schädigen und damit eine Vielzahl assoziierter Störungen verursachen: 4 Hemiparese und Hemianopsie, 4 Sensibilitätsstörungen, 4 räumlich-perzeptive Probleme, 4 Aufmerksamkeitsdefizite, 4 emotionale Veränderungen (vgl. Kerkhoff 2004).
Visueller Neglect Patienten mit visuellem Neglect suchen überwiegend mit Augen- und Kopfbewegungen auf der intakten (ipsiläsionalen) Seite, haben eine nach ipsiläsional verlagerte, subjektive Geradeausrichtung im Raum und teilen Objekte häufig zu weit rechts (. Tab. 15.2). Sie übersehen Objekte, Personen und Hindernisse auf der kontraläsionalen Seite oder reagieren zu spät auf sie. Ihr visueller Überblick ist deutlich reduziert, und sie beginnen ihre Suche nach einer Person oder einem Gegenstand spontan fast immer auf der ipsiläsionalen Seite. Hier suchen sie wiederholt die gleichen Raumbereiche perseveratorisch ab. Neglectpatienten werden von Reizen in ihrer ipsiläsionalen Raumhälfte oft wie »magnetisch« angezogen, so dass es ihnen schwer fällt, ihren Blick relevanten Dinge in der anderen Raumhälfte zuzuwenden. Der visuelle Neglect kann alle visuellen Aufgaben betreffen, häufig ist auch das Lesen beeinträchtigt (Neglectdyslexie). jUnterschiedliche Bezugssysteme bei Neglect
15
15.1
Neglect
Raumbezogene Neglectphänomene Diese betreffen bestimmte Raum- oder Körpersektoren, z.B.
15.1.1
Klinik
Patient übersieht Objekte auf der kontraläsionalen Seite des Tisches, des eigenen Körpers. Dies sind die häufigeren Neglectphänomene.
Definition Neglect, Hemineglect oder halbseitige Aufmerksamkeitsstörung bezeichnen die Nichtbeachtung von Reizen in der Raum- oder Körperhälfte, die der geschädigten Gehirnhälfte gegenüberliegt, sowie den verminderten Einsatz der Extremitäten dieser Körperhälfte (Karnath 2006).
Ein Neglect kann in allen Sinneskanälen wie dem Sehen, Hören, Fühlen und Riechen auftreten, sich in der mentalen Vorstellung (repräsentational) oder bei Bewegungen des Arms oder Beins auswirken (motorischer Neglect). Voraussetzung für die Diagnose Neglect ist, dass eine primäre sensorische Beeinträchtigung (Hemianopsie, Hemianästhesie, periphere Hörstörung) oder ein motorisches Defizit (Hemiparese) als alleinige Erklärung für das festgestellte Defizit ausgeschlossen werden kann. Der Neglect gehört zu den schwer zu behandelnden Störungsbildern, unter ande-
Objektzentrierte Neglectphänomene
Diese betreffen jeweils die linke Seite perzeptueller Objekte als Ganzem, z.B. ein Gesicht, eine Pflanze. Die Vernachlässigung betrifft dann jeweils nur eine Hälfte des Objekts, und zwar unabhängig von der Position des Objekts im Raum (d.h. unabhängig davon, ob dieses links oder rechts vom Patienten positioniert ist). Der objektzentrierte Neglect ist seltener als der raumbezogene; beide Phänomene können aber gemeinsam auftreten (z.B. beim Textlesen).
Akustischer Neglect Hören erfüllt – vereinfach ausgedrückt – zwei wesentliche biologische Funktionen: 4 orten, von wo ein Geräusch (Ton, Sprache, Melodie) kommt (Wo, wohin?), und 4 das Geräusch erkennen/verstehen; es von anderen, ähnlich klingenden unterscheiden (Was?) (Recancone 2002).
209 15.1 · Neglect
. Tab. 15.1. Übersicht über die Ätiologie und Läsionslokalisation der beschriebenen Störungen Defizit
Ätiologie and Läsionslokalisation
Multimodaler Neglect
MTI parieto-temporal, Blutungen der Basalganglien, seltener nach dorsolateralen frontalen Läsionen, häufiger und schwerer nach rechts- versus linksseitigen Läsionen; auch im Rahmen degenerativer Prozesse in diesen Regionen
Visuell-räumliche Wahrnehmung
MTI parietal, parieto-okzipital, Basalganglien, häufiger und schwerer nach rechts- versus linksseitigen Läsionen
Visuelle Objekt- und Gesichterwahrnehmung
Bilaterale, seltener unilaterale rechtsseitige PTIs oder zerebrale Hypoxie mit bevorzugter Schädigung okzipito-temporal
Balint-Holmes-Syndrom
Bilateral parietale oder frontale Läsionen nach Grenzzoneninfarkten, Blutungen oder infolge diffuser Läsionen
MTI/PTI Mediateilinfarkt/Posteriorteilinfarkt
. Tab. 15.2. Übersicht über die häufigsten Neglectphänomene in den verschiedenen Modalitäten Art des Neglects
Definition und typisches Defizit
Sehen
Patient sucht mithilfe von Augen- und Kopfbewegungen vorwiegend in seinem ipsiläsionalen Halbraum oder der ipsiläsionalen Körperhälfte; Auslassungen kontraläsionaler Reize beim Schreiben, Lesen, Zeichnen, Halbieren von Linien, Essen, Tischdecken, Rollstuhlfahren und Gehen. Die subjektive Geradeausrichtung ist in der Akutphase oft nach ipsiläsional verschoben; veränderter Blickkontakt (aktiv, passiv)
Hören
Patient reagiert nicht auf Sprach- oder Umgebungsgeräusche aus der kontraläsionalen Raumhälfte bzw. lokalisiert diese falsch; Patient reagiert nicht oder verspätet auf Ansprache von kontraläsional, wendet sich nach ipsiläsional. Wenn mehrere Personen sprechen, wendet sich der Patienten der am weitesten ipsiläsional stehenden Person zu, unabhängig davon, wer gerade gesprochen hat; ipsiläsionale Abweichung der wahrgenommenen subjektiven Geradeausrichtung im vorderen Halbraum
Körper
Patient reagiert nicht auf Berührungsreize oder Schmerzreize (kalte/heiße Flüssigkeiten, eingeklemmte Finger im Rollstuhl oder in den Speichen des Rollstuhls); Fehllokalisation von Berührungen in der kontraläsionalen Körperhälfte (z.B. wird die Wirbelsäule oft an einer falschen Stelle wahrgenommen); als Mischung aus somato-sensiblem und repräsentationalem Neglect kann der körperbezogene Neglect (Body Representational Neglect) verstanden werden, bei dem der Patient auch mit geschlossenen Augen die kontraläsionale Körperhälfte vernachlässigt
Riechen
Gerüche, die ausschließlich dem kontraläsionalen Nasenloch angeboten werden, werden ignoriert; dies spielt im Alltag nur eine geringe Rolle, da sich Gerüche rasch in beiden Raumhälften verteilen und dann vom ipsiläsionalen Nasenloch wahrgenommen werden
Vorstellung
Patient beschreibt kaum kontraläsionale Details aus einer vorgestellten Szene (eigenes Krankenzimmer, Wohnzimmer in der eigenen Wohnung, Städte auf der Deutschlandkarte), kann jedoch bei Perspektivenwechsel (180° Rotation) durchaus solche Details beschreiben
Bewegen
Verminderter Gebrauch des kontraläsionalen Arms/Beins (nicht allein durch Parese verursacht!); Arm schwingt beim Gehen nicht mit und wird bei beidhändigen Aktivitäten (Tablett halten, Einkaufswagen schieben) nicht oder zu wenig eingesetzt
Diese beiden Aufgaben sind unterschiedlichen anatomischen Projektionssystemen im Gehirn zugeordnet (Romanski et al.
auslösen, zeigen Neglectpatienten oft keine sichtbare Orientierungsreaktion oder wenden sich fälschlicherweise der ge-
1999), die sich ähnlich wie im visuellen System im Sinne einer Arbeitsteilung als dorsales (Wo?) und ventrales (Was?) akustisches System entwickelt haben. Beide Funktionen können bei Neglectpatienten betroffen sein. Während Umweltgeräusche oder Stimmen bei Gesunden eine Orientierungsreaktion von Augen, Kopf und Oberkörper zur Schallquelle hin
sunden (ipsiläsionalen) Seite zu, obwohl sich die Schallquelle in der vernachlässigten Raumhälfte befindet. Dies betrifft die Lokalisation von statischen, aber auch dynamischen Schallquellen (z.B. Personen oder Fahrzeugen). Auch kann es im Gespräch mit mehreren Personen für den Patienten schwierig sein, herauszufinden, wer gerade spricht.
15
210
Kapitel 15 · Höhere visuelle Funktionen: Neglect, Raumorientierung, Balint-Holmes-Syndrom und visuelle Agnosien
Neuere Untersuchungen legen zwei unterschiedliche Subtypen des akustischen Neglects nahe (Bellmann et al. 2001): 4 Nach parietalen Läsionen kommt es offensichtlich eher zu einer Verdrehung des gesamten akustischen Raumes zur ipsiläsionalen Seite, 4 nach Basalganglienläsionen dagegen eher zu einer akustischen Extinktion (Bellmann et al. 2001).
Olfaktorischer Neglect Der olfaktorische Neglect bezeichnet die Vernachlässigung von Gerüchen in einer Raumhälfte bei intaktem primären Riechvermögen, d.h., es liegt keine Anosmie vor. Im Alltag ist der olfaktorische Neglect wenig relevant, da sich Gerüche rasch in beiden Raumhälften ausbreiten und dann wahrgenommen werden. So ist z.B. der Geruch von angebranntem Essen nicht nur punktuell wahrnehmbar, sondern verteilt sich rasch im ganzen Raum.
Somato-sensibler Neglect und taktiles Explorieren Im Unterschied zur geringen Bedeutung des olfaktorischen Neglects ist der somato-sensible Neglect für viele Alltagsbereiche relevant. Er liegt dann vor, wenn Patienten nicht auf kontraläsionale Berührungsreize reagieren, obwohl keine primäre Sensibilitätsstörung der betroffenen Körperhälfte vorliegt. Reaktionen auf schmerzhafte Berührungen bleiben oft aus. Beispiel Ein Patient fährt mit dem Rollstuhl links an einen Türrahmen oder eine Wand und klemmt sich das Bein ein, ohne eine Schmerzempfindung zu äußern. Gelegentlich wird auch der Ort der Berührung falsch zugeordnet (Allästhesie). Oft werden Berührungen der kontraläsionalen Körperhälfte fälschlicherweise der ipsiläsionalen Seite zugeordnet.
15
Beim taktilen Explorieren mit der intakten Hand (im Dunkeln oder bei geschlossenen Augen) wird im kontraläsionalen Halbraum wenig, unsystematisch oder gar nicht gesucht, dafür im ipsiläsionalen Raumbereich perseverierend immer wieder an den gleichen Positionen. Zusammenfassend werden die hier beschriebenen Phänomene auch als personaler Neglect bezeichnet, weil sie sich auf den eigenen Körper des Patienten und den Nah-/Greifraum beziehen.
Neglect des eigenen Körpers Eine weitere Subform des personalen Neglects ist der körperbezogene Neglect (Cocchini et al. 2001, Glocker et al. 2006). Dieser liegt vor, wenn der Patient den kontraläsionalen Arm oder Gegenstände in der Nähe seines eigenen Körpers nicht beachtet, z.B. 4 Essensreste am Mundwinkel, 4 Flusen am Pullover, 4 Schlüssel in der Hosentasche etc. Diese Neglectform findet sich sehr häufig bei akuten Neglectpatienten. So fanden die Autoren in einer unausgelesenen
Stichprobe von je 25 links- bzw. rechtshemisphärisch geschädigten Schlaganfallpatienten in mehr als 80% der rechtsseitig und 47% der linksseitig geschädigten Patienten kontraläsionale Defizite im Absuchen des eigenen Rumpfes in einem einfachen Test (Westentest; Glocker et al. 2006). Diese Form des BodyNeglects korreliert hoch mit Problemen im Selbsthilfebereich.
Neglect in der Vorstellung Der Neglect in der Vorstellung (repräsentationaler Neglect) beschreibt die Vernachlässigung von Reizen beim mentalen Absuchen innerer Vorstellungsbilder. Soll der Patient z.B. 4 beschreiben, welche Gegenstände auf der linken und rechten Seite seines Krankenzimmers stehen (ohne dass er sich gerade in diesem Zimmer aufhält!), 4 Stadtbezirke seiner Heimatstadt und deren Lage auf einer Karte aufzählen (links oder rechts von der Stadtmitte bzw. auf der Landkarte) oder 4 die Richtung eines nicht sichtbaren Gebäudes in der näheren Umgebung angeben, so ist er auf innere Vorstellungsbilder angewiesen. Auch für die Orientierung in großen Gebäuden (Krankenhaus, Kaufhaus) ist die räumliche Vorstellung hilfreich (Wo befindet sich der Fahrstuhl oder der Ausgang?). Verglichen mit dem visuellen Neglect gilt der repräsentationale Neglect als seltener: Nur etwa 25% der Patienten mit visuellem Neglect weisen einen repräsentationalen Neglect auf (Bartolomeo et al. 1994), wenngleich dies auch durch die unterschiedliche Schwierigkeit der Testverfahren mitbedingt sein könnte.
Extinktion > Extinktion bezeichnet ein Phänomen, bei dem unter doppelt simultaner Stimulation (DSS) der linken und rechten Körper-, Raum- oder Gesichtsfeldhälfte der weiter kontraläsional gelegene Reiz nicht mehr beachtet wird, bei einseitiger Darbietung hingegen dort richtig wahrgenommen wird (. Tab. 15.3). Extinktion findet sich häufig zusammen mit einem räumlichen Neglect; oft kann dieses als chronisches Symptom noch Jahre nach einem Schlaganfall nachgewiesen werden.
15.1.2
Assessment
Kölner Neglect-Test (NET) Für die Diagnostik des visuellen Neglects und der visuellen Extinktion steht im deutschen Sprachraum der Kölner Neglect-Test (NET) (Kessler et al. 1995) als deutsche Bearbeitung des Behavioral Inattention Tests zur Verfügung. Der NET umfasst insgesamt 15 Untertests, die sich zwei Kategorien zuordnen lassen: 1. Konventionelle Neglecttests, z.B.: 5 Linienhalbieren, 5 Durchstreichtest, 5 Zahlen kopieren,
211 15.1 · Neglect
. Tab. 15.3. Extinktion Art der Extinktion
Störung
Generelle Definition
Unfähigkeit, zwei gleichzeitig an verschiedenen Stellen im Raum bzw. am Körper dargebotene Reize (einer kontraläsional, einer ipsiläsional) wahrzunehmen. Per Definition muss die Verarbeitung einzeln dargebotener Reize an beiden Raumpositionen normal oder fast normal sein, um ein elementares sensorisches Defizit auszuschließen (z.B. eine Hemianopsie). Extinktion kann auch zwischen zwei Reizen in der gleichen Raum- und Körperhälfte auftreten
Sensorische Extinktion
Werden zwei visuelle, auditorische oder taktile Stimuli gleichzeitig dargeboten, »löscht« der ipsiläsionale den kontraläsional dargebotenen Reiz, d.h., letzterer wird nicht berichtet
Crossmodale Extinktion
Der kontraläsionale Stimulus von zwei gleichzeitig dargebotenen Reizen aus verschiedenen Sinneskanälen wird gelöscht (z.B. Gesicht von links, Berührung von rechts)
Motorische Extinktion
Bei beidseitigen Tätigkeiten (mit beiden Händen oder Füßen) »vergisst« der Patient häufig, seine/n kontraläsionale/n Arm/Hand/Fuß einzusetzen
5 Lesen, 5 Kopieren, 5 Zeichnen. 2. Alltagsrelevante Neglecttests, z.B.:
5 5 5 5 5 5 5 5 5
Uhr ablesen, Uhrzeit einstellen, Telefonnummer wählen, Adresse kopieren, Stadtplan lesen, Münzen zählen, Speisekarte lesen, Essen, Schreiben.
Praxistipp Besonders die funktionalen Alltagstests geben dem Therapeuten wertvolle Hinweise für die spätere Therapie.
Doppel-Simultan-Stimulation (DSS) Für die orientierende Diagnostik von Extinktionsphänomenen bieten sich die bekannten Verfahren zur Doppel-SimultanStimulation (DSS) an: Zunächst wird die Entdeckung eines einzelnen sensorischen Reizes im linken/rechten Halb-/Körperraum geprüft. Ist diese Leistung auf beiden Seiten intakt (>90% korrekt), kann der Therapeut mit der gleichzeitigen Stimulation an beiden Seiten fortfahren. Kommt es zu einem deutlich höheren Prozentsatz an nicht berichteten Reizen in der kontraläsionalen Raum- oder Körperhälfte, kann der Untersucher eine entsprechende Extinktion diagnostizieren. Genauere und quantitativ besser kontrollierte Verfahren zur Extinktion finden sich im EyeMove-Programm (7 Kap. 14).
Fremdbeurteilungsverfahren Neben der Erfassung testpsychologischer Kennwerte sind aber auch die Bewertung des spontan sichtbaren Alltagsver-
haltens sowie die Beurteilung der Awareness aufseiten des
Patienten besonders für die Prognose und Therapieplanung wichtig. Hier bietet sich der Beobachtungsbogen für Räumliche Störungen an (BRS; Neumann et al. 2007). Anhand dieses Bogens können die folgenden 7 Alltagsbereiche durch Fremdbeurteilung eingeschätzt werden: 4 visueller Neglect (5 Items), 4 auditiver Neglect (6 Items), 4 Neglect des eigenen Körpers (5 Items), 4 Neglect in der Vorstellung (3 Items), 4 räumlich-perzeptive Leistungen (5 Items), 4 Aufmerksamkeitsleistungen (7 Items), 4 Krankheitseinsicht (4 Items). Der BRS eignet sich darüber hinaus auch zur Verlaufsdiagnostik. Im Rahmen einer kontrollierten Therapiestudie des Neglects (Schindler et al. 2002) konnten neben den nachweisbaren objektiven Testveränderungen auch signifikante Veränderungen in den vom Pflegepersonal eingeschätzten Defiziten in einigen der o.g. Alltagsbereiche nachgewiesen werden.
15.1.3
Differenzialdiagnostik
Häufig bereitet die Differenzialdiagnostik elementarer sensorischer und motorischer Störungen, z.B. 4 einer Hemianopsie oder 4 einer Hemiparese, von neglectbedingten Beeinträchtigungen dieser Funktionen zumindest in der Frühphase einige Schwierigkeiten. Zur Unterscheidung einer echten Halbseitenblindheit von einer durch den Neglect vorgetäuschten finden sich detaillierte Hinweise an anderer Stelle (Kerkhoff 2004). In . Tab. 15.4 sind die wichtigsten Tipps für die Differenzialdiagnostik primärer visueller, akustischer, somato-sensibler und motorischer Defizite von neglectbedingten Störungen zusammengefasst.
15
212
Kapitel 15 · Höhere visuelle Funktionen: Neglect, Raumorientierung, Balint-Holmes-Syndrom und visuelle Agnosien
. Tab. 15.4. Differenzialdiagnostik: Neglect- oder extinktionsbedingte Defizite von elementar-sensorischen oder -motorischen Störungen Sensorisches/ motorisches Defizit
Differenzialdiagnostische Tests
Interpretation
Homonymer Gesichtsfeldausfall
Visuell evozierte Potenziale (VEP): normale P100Latenzen u. Amplituden? Spezielle Perimetrie (sehr variable Gesichtsfeldgrenzen bei unterschiedlicher Strategie des Untersuchers): Differenz>10° Ausdehnung?
Wenn ja → Gesichtsfeld intakt
Somato-sensorisch evozierte Potenziale (SEP): normale Latenzen und Amplituden? Verbessert die Hinwendung der Aufmerksamkeit zur kontraläsionalen Körperhälfte die Sensibilität?
Wenn ja → normale Sensibilität
Hemianästhesie
Einseitige Hörstörung
Reinton-Audiometrie Wird der Hörverlust durch Aufmerksamkeitszuwendung beeinflusst?
Hemiplegie/ Hemiparese
Transkranielle Magnetstimulation (TMS) des motorischen Kortex: »silent periods« im EMG nach TMS? Kann der Patient den scheinbar gelähmten Arm nach expliziter verbaler Aufforderung oder bei Anblick besser bewegen als ohne diese Aufforderung?
15.1.4
Therapie
Neglect und Extinktion
15
In der Neglecttherapie wurden in den letzten Jahren mehrere gut evaluierte und wirksame neue Verfahren entwickelt, deren Wirkmechanismen kurz zusammengefasst werden (s.u.). Während das klassische visuelle Explorationstraining als Topdown-Suchstrategie verstanden werden kann, sind die neueren Therapien als Bottom-up-Stimulationsverfahren zu verstehen. Über die Aktivierung eines sensorischen Kanals kann die zentrale Repräsentation des Körpers im Raum bei den Patienten beeinflusst werden, und zusätzlich verbessern sich auch reduzierte Aufmerksamkeitsleistungen (Sturm et al., im Druck). > 4 Top-down-Therapieverfahren des Neglects beinhalten das Erlernen einer kognitiv gesteuerten, systematischen Suchstrategie, mit dem Ziel der Reduktion der Auslassungen und einer rascheren Suche. Diese sind in der Akutphase noch nicht sinnvoll und überfordern den Patienten. In einer späteren Phase ist das Erlernen einer systematischen Suchstrategie dagegen durchaus sinnvoll. 4 Bottom-up-Therapieverfahren des Neglects haben zum Ziel, die fehlerhafte räumliche Orientierung des Patienten durch die gezielte Stimulation bestimmter afferenter Kanäle (wie Nackenmuskeln, visuelle Bewegungsreize, vesti6
Wenn ja → Verdacht auf neglectbedingte, scheinbare Skotome (d.h. weitgehend normales Gesichtsfeld)
Wenn ja → Verdacht eines somato-sensiblen Neglects bei weitgehend intakter Sensibilität Wenn normales Audiogramm → Nichtbeachtung akustischer Reize als neglectbedingt werten Wenn ja → Verdacht auf akustischen Neglect Wenn »silent periods« → Verdacht auf motorischen Neglect; wenn normale Ergebnisse → keine primärmotorisch bedingte Parese oder Plegie Wenn ja → Verdacht auf motorischen Neglect
buläre Stimulation) zu verbessern. Diese Verfahren bieten sich vor allem in der Akutphase an, da sie nicht das Erlernen einer kognitiven Strategie erfordern. Die Kombination beider Techniken sollte angestrebt werden, um das Behandlungsergebnis zu optimieren.
jWirkmechanismen der neuen Therapieverfahren in der Neglect- und Extinktionsbehandlung Verfahren, die sich für eine wirksame Neglecttherapie anbieten, sind in . Übersicht 15.1 aufgeführt. Eine ausführlichere Darstellung aller verfügbaren Neglecttherapien mit entsprechenden Quellenangaben findet sich in Kerkhoff (2004, aktualisiert Kerkhoff 2010). Für die Behandlung der häufigen und lange anhaltenden Extinktion gibt es bisher kaum etablierte Verfahren. kREAD-Programm Für die Therapie der Neglectdyslexie bietet sich das READProgramm mit zahlreichen Therapietechniken zur Verbesserung des Lesens an (Kerkhoff u. Marquardt 2009). Diese führen zu einer wirksamen Reduktion der Auslassungen und einer Steigerung des Lesetempos (Kerkhoff u. Marquardt 2009). kOptokinetische Stimulation mit Blickfolgebewegungen Verbesserung multimodaler Neglectdefizite durch die Aktivierung des visuellen und z.T. des vestibulären Kortex, aber
213 15.1 · Neglect
. Übersicht 15.1. Verfahren für eine wirksame Neglecttherapie 1. 2.
3. 4. 5. 6.
Optokinetische Stimulation (EyeMove-Programm1; Kerkhoff u. Marquardt 2009, Schröder et al. 2009) Spezielles Lesetraining zur Behandlung der NeglectLesestörung (READ-Programm; Kerkhoff u. Marquardt 2009) Prismenadaptation (Luauté et al. 2006) Training von Aufmerksamkeitsleistungen (Sturm et al. 2009, Thimm et al. 2009) Nackenmuskelvibration (Schindler et al. 2002) Visuelles Explorationstraining zur Vermittlung einer systematischen Suchstrategie
auch parieto-temporaler Hirnregionen beider Hemisphären. Signifikante und dauerhafte Verbesserung des visuellen und akustischen Neglects nach 5–20 Therapiesitzungen. Die Durchführung von aktiven Blickfolgebewegungen des Patienten ist wichtig für die Wirksamkeit des Verfahrens. Passive Stimulation ohne Folgebewegungen ist wirkungslos (Bottomup-Stimulationsverfahren, vgl. Kerkhoff et al. 2006, Schröder et al. 2009, Thimm et al. 2009, Keller et al. 2009). kVisuomotorische Prismenadaptation (PA) Ausnutzen des sensomotorischen Rekalibrierungseffekts nach Tragen (15 Minuten) eines Prismas (Blickverlagerung um 10–15° zur ipsiläsionalen Seite). Es kommt vermutlich zu einer Rekalibrierung der gestörten Raumorientierung durch die Verbesserung der Aufmerksamkeits- und Explorationsleistungen. PA aktiviert zerebelläre und parietale Hirnregionen bei Neglectpatienten (Bottom-up-Stimulationsverfahren). kAufmerksamkeitstraining Die Verwendung von Alertnessreizen führt zur besseren Ausrichtung der Aufmerksamkeit in den vernachlässigten Halbraum. Eine Steigerung der Daueraufmerksamkeit reduziert die nicht lateralisierten Aufmerksamkeitsdefizite bei Neglectpatienten. Durch das Training kommt es zu fronto-parietalen Mehraktivierungen (Bottom-up-Stimulationsverfahren, vgl. Thimm et al. 2009). kNackenmuskelvibration Die Vibration der kontraläsionalen Nackenmuskeln aktiviert das propriozeptive System, die Inselregion und den superioren temporalen Kortex. Die Vibration verbessert die visuellen und taktilen Explorationsleistungen und das subjektive Geradeausempfinden des Patienten im Raum (Bottom-upStimulationsverfahren, vgl. Schindler et al. 2002).
1
Anmerkung: G. Kerkhoff ist an der wissenschaftlichen Entwicklung der Programme Read und EyeMove beteiligt.
kPeriphere Magnetstimulation Die magnetische Stimulation der Hand ist absolut schmerzfrei und aktiviert den kontralateralen somato-sensorischen Kortex. Dies führt zu einer Aktivierung der geschädigten Hemisphäre und reduziert die taktile Extinktion und den körperbezogenen Neglect (Bottom-up-Stimulationsverfahren, vgl. Heldmann et al. 2000). kVisuelles Explorationstraining Entwicklung systematischerer Suchstrategien und dadurch Reduktion der Auslassungen in der visuellen Suche. Dadurch werden Verbesserungen der visuellen Exploration, des Lesens und ein partieller Transfer auf Alltagsleistungen erreicht (Topdown-Strategie, vgl. Kerkhoff 1998). kZusammenfassung Abschließend kann festgestellt werden, dass in den letzten Jahren einige neue und deutlich wirksamere Verfahren zur Neglectbehandlung entwickelt wurden. Wenngleich sich die Wirksamkeitsnachweise bisher meist auf den visuellen Neglect beschränken, so kann man davon ausgehen, dass viele der neueren Verfahren auch zur Behandlung des akustischen, somato-sensiblen und körperbezogenen Neglects geeignet sind. In Zukunft dürfte es auch zunehmend mehr um die Suche nach wirksamen Kombinationsbehandlungen gehen, die in der gleichen Behandlungszeit größere Behandlungsfortschritte ermöglichen. Eine Meta-Analyse (Cochrane Review) zur Wirksamkeit von Neglecttherapien von Bowen et al. (2002, 2007) kam zu dem Schluss, dass die dokumentierten Verbesserungen nach Neglecttherapie überwiegend auf der Ebene von Tests liegen, während die Wirksamkeitsnachweise auf Ebene der Aktivitäten und Teilhabe im Alltag (d.h. Alltagsleistungen) bisher noch vergleichsweise dürftig ausfallen (für einen aktuellen Überblick über die Langzeiteffekte verschiedener Behandlungsverfahren s. Luauté et al. 2006).
Unawareness Zur Verbesserung der Unawareness gibt es erste klinische Erfahrungen, die aber erst noch in kontrollierten Therapiestudien überprüft werden müssen (. Tab. 15.5). Gleichwohl ist dies mit einer der wichtigsten Bereiche der Therapieforschung, da ohne eine verbesserte Awareness der Transfer der durchgeführten Therapien im Alltag – trotz der jüngsten Fortschritte in diesem Bereich – sehr begrenzt ist. Praxistipp Der Neglect ist für Angehörige eine nur schwer verständliche Störung. Daher ist es wichtig, die Angehörigen darüber zu informieren, damit sie die Auswirkungen dieser Störungen verstehen. Hierzu bietet sich der Ratgeber Neglect – Leben in einer halbierten Welt an (Kerkhoff, Neumann u. Neu 2008), der als bebildertes Arbeitsbuch konzipiert ist und häufige Fragen in einfachen Worten beantwortet.
15
214
Kapitel 15 · Höhere visuelle Funktionen: Neglect, Raumorientierung, Balint-Holmes-Syndrom und visuelle Agnosien
. Tab. 15.5. Möglichkeiten zur Förderung der Einsicht bei Neglectpatienten Auswirkung
Förderungsmöglichkeit
Positiv
Wiederholte Informationen über die Krankheit, deren Ursachen und Folgen für die Angehörigen, Informationsbroschüre für Angehörige
Positiv
Sofortiges Feedback beim Auftreten von Alltagsproblemen in möglichst alltagsnahen Situationen (z.B. direkt nach Anstoßen mit Passant oder Zusammenstößen mit dem Rollstuhl)
Positiv
Dosierte Konfrontation mit absichtlich herbeigeführten, gescheiterten Situationen (nur sinnvoll bei längerem Patientenkontakt; z.B. Planung und Realisierung eines Ausfluges in der Stadt mit Verkehrsmitteln)
Positiv
Feedback über Probleme aus Alltags- statt aus Testsituationen
Wirkungslos
Medikamente, psychoanalytische Therapie zur Bearbeitung von Verdrängungstendenzen
Wirkungslos
Einmaliges verbal-abstraktes Erläutern des Neglects für den Patienten; besser ist wiederholtes Informieren des Patienten und der Angehörigen, möglichst mit anschaulichem Informationsmaterial, z.B. mit der Ratgeber-Broschüre »Neglect« (von Kerkhoff et al. 2008)
15.2
Raumorientierungsstörungen
15.2.1
Klinik
Störungen visueller Raumwahrnehmungsleistungen treten häufig nach Läsionen extrastriärer kortikaler und subkortikaler Hirnstrukturen auf, besonders nach Schädigung der rechten Großhirnhemisphäre (Hier et al. 1983). Angaben zur Inzidenz reichen von etwa 30–50% bei Patienten mit linkshemisphärischer Hirnschädigung und 50–70 % (variierend je nach Testverfahren) nach rechtshemisphärischen Hirnläsionen. Dabei wird eine Unterteilung vorgeschlagen in 4 räumlich-perzeptive Wahrnehmungsleistungen und 4 räumlich-kognitive Leistungen (syn. Raumoperationen) (Kerkhoff 2006).
15
Unter visuellen Raumwahrnehmungsleistungen können elementare perzeptive Leistungen verstanden werden, die für das Verhalten eines Individuums im Raum grundlegend sind, z.B. die subjektive visuelle Vertikale. Von diesen sollten Raumoperationen unterschieden werden, bei denen über die perzeptive Leistung hinaus (oder unabhängig von solchen elementaren Wahrnehmungsleistung) kognitiv-räumliche Operationen wichtig sind, z.B. ein mentaler Perspektivenwechsel beim Betrachten einer Szene. Die Bezeichnung dieser Basisleistungen als perzeptiv-räumliche Leistungen bedeutet keineswegs, dass diese keinen Einfluss auf das motorische Verhalten haben, oder umgekehrt durch motorisches Verhalten beeinflusst werden können. . Abb. 15.1 gibt einen Überblick über die wichtigsten Leistungen in beiden Kategorien.
Näher betrachtet Rückbildung räumlicher Störungen Über die Rückbildung räumlicher Störungen ist wenig bekannt. Meerwaldt und van Harskamp (1982) berichten über eine gute spontane Rückbildung visueller Raumrichtungsunterscheidungen. Lerneffekte aufgrund der häufigen Testwiederholungen sind jedoch eher zu vermuten. Hier et al. (1993) fanden bei 70% der untersuchten 41 Patienten eine Rückbildung der visuell-räumlichen und neglectspezifischen Leistungen. Auch hier ist jedoch bei den komplexeren Testverfahren (z.B. dem Mosaiktest) die gute Rückbildung partiell durch Lerneffekte (Testwiederholungseffekte) miterklärbar. In einer eigenen Stichprobe mit 140 Patienten fanden die Autoren auch noch 9 Monate nach dem Ereignis bei 75% der rechtshemisphärisch und 30% der linkshemisphärisch geschädigten Patienten beeinträchtigte visuell-räumliche Wahrnehmungsleistungen.
in Kerkhoff 2006) bietet sich für eine detaillierte Diagnostik das VS-Programm an (Kerkhoff et al. 1997). Für insgesamt 8 Standarduntersuchungen stehen inzwischen auch Cutoff-Werte von hirngesunden Kontrollprobanden zur Verfügung. Neben den Tests sollten auch Fremdanamneseverfahren und Alltagsbeobachtungen herangezogen werden, die mittels des standardisierten Beobachtungsbogens für räumliche Störungen (BRS) (Neumannn et al. 2007) in einem Profil über 7 Funktionsbereiche dargestellt werden können (7 Kap. 15.1.2).
15.2.3 15.2.2
Therapie
Assessment
Neben den bekannten klinischen Testverfahren wie der VOSPTestbatterie und dem BORB (zusammenfassende Darstellung
Spezifische Behandlungsansätze (. Tab. 15.6) für diesen Störungsbereich wurden zuerst als sog. Block-Design-Training beschrieben (Kerkhoff 2006). Nach dem Training räumlich-
215 15.2 · Raumorientierungsstörungen
. Abb. 15.1. Übersicht über räumlich-perzeptive Leistungen (A), wie sie auch im VS-Programm untersucht werden, sowie räumlich-kognitive Leistungen (B)
. Tab. 15.6. Therapieansätze bei räumlichen Störungen Behandlungsansatz
Therapeutisches Prinzip
Feedbackbasiertes Training räumlich-perzeptiver Leistungen
Verbesserung räumlicher Wahrnehmungsstörungen durch abgestuftes Training mit verbalem oder graphischem Feedback; Grundidee: Neukalibrierung der räumlichen Wahrnehmung
Optokinetische Stimulation (OKS) zur Verbesserung räumlich-perzeptiver Defizite
Verbesserung der Aufmerksamkeit für räumliche Ausdehnung und Raumorientierung (Hauptraumachsen) durch wiederholte Stimulation, Ausnutzung des aufmerksamkeitsfördernden Effekts optokinetischer Stimulation
Räumlich-konstruktives Training
Verbesserung räumlich-perzeptiver, räumlich-konstruktiver und planerischer Leistungen sowie der Selbsthilfeleistungen durch gestuftes Üben mit räumlich-konstruktivem Material (Tangram, Valenser Training, Mosaiktesttraining)
Alltagsorientierte Therapie
Direktes Üben problematischer »räumlicher« Alltagshandlungen (Rollstuhlfahren, Ankleiden, Mengen aufteilen, Paket packen, Wäsche zusammenlegen, Abstände im Alltag einschätzen)
Reaktionsverkettung und mnemonische Strategien zum Neuerlernen von Wegen in häuslicher Umgebung
Lange Wegstrecken werden in kurze Strecken aufgeteilt und durch Konditionierung geübt, dann später verkettet; evt. zusätzlicher Einsatz mnemonischer Gedächtnisstrategien
15
216
Kapitel 15 · Höhere visuelle Funktionen: Neglect, Raumorientierung, Balint-Holmes-Syndrom und visuelle Agnosien
konstruktiver Leistungen mit dem Mosaiktest ergaben sich in diesem Test, aber auch in Aktivitäten des täglichen Lebens wie Essen und Transfers signifikante Verbesserungen. Spezifische Therapieansätze zur Verbesserung der gestörten räumlichen Wahrnehmungsleistungen – unabhängig von der Neglectsymptomatik – existieren bisher nur in Ansätzen. Näher betrachtet Cross-over-Studie Die Autoren konnten in einer Cross-over-Studie mit 13 Patienten zeigen, dass sich die Patienten durch ein feedbackgestütztes Training der visuellen Unterscheidung von Raumorientierungen am PC signifikant verbesserten, und diese Verbesserungen auf andere Leistungen transferierten, wie 4 analoge Uhrzeitwahrnehmung, 4 horizontales Schreiben, 4 räumlich-konstruktive Leistungen und 4 räumliche Gedächtnisleistungen (vgl. Kerkhoff 2006a).
jTraining mit Tangram-Material Ein hinsichtlich seiner Effektivität evaluierter Ansatz zur Verbesserung räumlich-konstruktiver Leistungen ist das Training mit dem Tangram-Material (Bublak u. Kerkhoff 1995). Die Behandlung führt zu einer Verbesserung der 4 visuell-räumlichen Leistungen (Linienorientierung, subjektive Vertikale und Horizontale), 4 räumlich-konstruktiven Leistungen (Mosaiktest, Rey-Figur) und 4 räumlichen Gedächtnisleistungen (Rey-Figur aus dem Gedächtnis).
15
Das Material bietet sich am ehesten zur unterstützenden Behandlung bei Patienten mit mittelschweren Störungen an. Detaillierte Hinweise zur praktischen Durchführung und mögliche Probleme in der Therapie finden sich an anderer Stelle (Bublak u. Kerkhoff 1995). Ähnliche Verbesserungen lassen sich mit vergleichbaren Materialien für die räumlichkonstruktive Therapie erzielen, wie sie vielfach in der Ergotherapie eingesetzt werden. Näher betrachtet Einsicht in räumliche Störungen Ein in der Behandlung visuell-räumlicher Störungen wenig beachteter Aspekt ist die meist fehlende Einsicht in die Störungen und das fehlende Erleben der damit assoziierten Alltagsprobleme. Ähnlich wie in der Neglectbehandlung ist die mangelnde Einsicht oder das ungenügende Nachempfinden der Störungen ein wesentliches Hindernis für den Behandlungserfolg. Aus diesem Grund ist Feedback über die jeweiligen räumlichen Störungen wichtig in der Behandlung.
15.3
Visuelle Agnosien
15.3.1
Klinik
Störungen in der Erkennung von Gesichtern (Prosopagnosie) und Objekten kommen – als reine Störungen im Sinne einer Agnosie bei intakten visuellen Wahrnehmungsleistungen – im Kontext der Neurorehabilitation sehr selten vor. Häufig finden sich begleitende Einbußen der Aufmerksamkeit, elementare visuelle Störungen oder Benennstörungen. Erkennungsstörungen für Objektklassen lassen sich unterteilen in 4 apperzeptive Agnosien und 4 assoziative Agnosien (detailliert in Farah 2004). jApperzeptive Agnosien Unter apperzeptiven Agnosien versteht man Störungen in der Erkennung von Objekten auf einer perzeptiven Ebene, bei normalen visuellen Elementarleistungen. In ihrer schwersten Ausprägung (Formagnosie) sind die Patienten trotz erhaltener peripherer Sehleistungen nicht in der Lage, Grundformen wie Kreis, Dreieck oder Quadrat zu erkennen, voneinander zu unterscheiden oder abzuzeichnen. Bei der visuellen Agnosie im engeren Sinne werden solche elementaren Formen erkannt, die einzelnen Bestandteile eines Objekts können jedoch nicht zu einer kohärenten Objektrepräsentation integriert werden (daher im englischen Sprachraum auch als integrative visuelle Agnosie bezeichnet, vgl. Behrmann u. Williams 2007). Diese Patienten zeichnen z.B. Objekte Strich für Strich ab, sind aber nicht in der Lage, zu benennen, was sie gerade gezeichnet haben. jAssoziative Agnosien Patienten mit einer assoziativen Objektagnosie weisen eine korrekte perzeptive Erkennung von Gegenständen auf und können diese z.B. korrekt abzeichnen oder in perzeptuellen Matching-Aufgaben reüssieren. Sie können jedoch kaum noch Verknüpfungen zu den semantischen Aspekten des Objekts, z.B. Größe und Gewicht, Geschmack, Beweglichkeit, Lebendigkeit, Funktion herstellen. Störungen in der Erkennung von Gesichtern sind selten, im Erinnern von Gesichtern dagegen sehr viel häufiger. Die Patienten berichten entweder von einem Vertrautheitsverlust beim Betrachten von Gesichtern (teilweise auch dem eigenen Gesicht im Spiegel), oder sie klagen darüber, dass Gesichter optisch nicht mehr so klar, scharf und eindeutig erscheinen. Näher betrachtet Rückbildung der Störungen Über die Rückbildung von Störungen der Gesichter- und Objektwahrnehmung ist wenig bekannt. Da die betreffenden Patienten häufig, wenngleich nicht notwendigerweise, bilaterale okzipito-temporale oder diffus-disseminierte Schädigungen (oft anoxischer Genese) aufweisen, ist eine Spontanremission unwahrscheinlich.
217 15.4 · Balint-Holmes-Syndrom
15.3.2
Assessment
Die Untersuchung agnostischer Störungsbilder ist z.T. mit standardisierten Verfahren wie der Birmingham Object Recognition Battery oder der Visual Object and Space Perception Battery (VOSP) möglich. Zum Teil ist je nach Patient und Symptomatik auch Kreativität im eigenständigen Entwickeln geeigneter Tests erforderlich, da standardisierte und kommerziell erhältliche Verfahren rar sind (vgl. Farah 2004). Die Diagnostik solcher Störungen und besonders deren Abgrenzung von den assoziierten Defiziten (s.o.) sind zeitaufwändig. Da dieser Untersuchung im Rahmen der Rehabilitation nur eine untergeordnete Rolle zukommt, wird der Leser auf ausführlichere Darstellungen zu diesem Thema verwiesen (Kerkhoff et al. 1994).
15.3.3
Therapie
Behandlungsansätze für Patienten mit agnostischen Störungen sind nicht bekannt. Nach eigenen Erfahrungen ist die Behandlung der mit der Agnosie einhergehenden Defizite
(visuelle Exploration, Benennen) meist erfolgversprechender als das reine Üben in der Erkennung von Objekten oder Gesichtern (vgl. aber Behrmann et al. 2005): Bei einem Patienten mit deutlichen Objekterkennungsproblemen im Rahmen einer ungenügend kompensierten Hemianopsie, reduzierten Sehschärfe und eines gestörten Explorationsmusters beim Betrachten von Objekten konnte durch eine verbesserte okulomotorische Kompensation auch eine deutlich verbesserte Erkennung von Strichzeichnungen und Alltagsobjekten erzielt werden (Kerkhoff et al. 1997). Analoges lässt sich bei assoziierten Störungen der Objektbenennung vorstellen. Auch
hier sollte der therapeutische Weg über eine Aktivierung der Sprache gehen. Die Schwierigkeit in der Erkennung und Benennung von Objekten variiert jedoch schon bei Gesunden erheblich zwischen verschiedenen Objektklassen. Dem sollte in der Auswahl von geeignetem Therapiematerial Rechnung getragen werden. Praxistipp Realobjekte sind besser zu erkennen als farbige Zeichnungen und diese wiederum besser als Strichzeichnungen in schwarz-weiß.
15.4
Balint-Holmes-Syndrom
15.4.1
Klinik
Die Bezeichnung Balint-Holmes-Syndrom – oft synonym auch als Balintsyndrom bezeichnet – umschreibt einen Symptomkomplex aus 4 Simultanagnosie, 4 optischer Ataxie, 4 Raumverarbeitungsstörungen und 4 Blickbewegungsstörungen und tritt i.d.R. nach fokaler bilateraler parietaler, seltener auch nach bilateraler Stammganglienläsion oder bilateralen frontalen Läsionen auf (Kerkhoff u. Heldmann 1999). Auch nach diffus-disseminierten Schädigungen wurde dieses Syndrom beschrieben. In . Tab. 15.7 sind die wichtigsten Merkmale des Syndroms zusammengefasst.
. Tab. 15.7. Merkmale des Balint-Holmes-Syndroms Parameter
Defizit
Ätiologie
Bilaterale Posterior-Media-Grenzzoneninfarkte, Tumoren, zerebrale Hypoxie, Morbus Alzheimer, Schädel-Hirn-Trauma
Läsionslokalisation
Bilateral parieto-okzipital, selten bilateral frontal oder Stammganglien beidseits
Simultanwahrnehmung
Deutliche Einengung des visuellen Überblicks in beiden Halbfeldern bis hin zur Unfähigkeit, mehr als ein oder wenige Objekte visuell simultan zu erfassen
Optische Ataxie
Vorbeizeigen und -greifen mit einer oder beiden Händen nach visuell präsentierten Objekten; besonders ausgeprägt im kontralateralen Halbraum und in der Entfernung
Fixation/Augenbewegungen
Spasmodische (»klebende«) oder unruhige Fixation; visuelles Suchen im Raum gravierend gestört
Raumwahrnehmung, Raumrepräsentation, räumliches Gedächtnis
Gestörte Wahrnehmung von Entfernung, Distanz, Richtung und Position im Raum; gestörte längerfristige Speicherung solcher räumlicher Aspekte
Sehschärfe, Kontrastsehen, Gesichtsfeld, Stereosehen, Fusion
Sehschärfe für Einzelzeichen meist intakt, für Reihenzeichen aufgrund des gestörten Simultansehens oft reduziert; Kontrast- und Stereosehen sowie Fusion können intakt sein; assoziierte Gesichtsfeldausfälle sind häufig, jedoch nicht obligatorisch
Lesen, Schreiben, Zeichnen, visuelle Orientierung, Selbsthilfe
Oft hochgradig beeinträchtigt; Lesen von Einzelworten relativ erhalten; massive Orientierungsstörung im Raum; Anziehen, Transfers und Mobilität infolge der anderen Defizite deutlich beeinträchtigt
15
218
Kapitel 15 · Höhere visuelle Funktionen: Neglect, Raumorientierung, Balint-Holmes-Syndrom und visuelle Agnosien
Das klassische Balint-Holmes-Syndrom nach bilateralen parietalen Läsionen ist selten; die etwas weniger ausgeprägten Varianten besonders nach diffus-disseminierter Hirnschädigung (»minor forms« des Balintsyndroms) sind – besonders bei neurodegenerativen Erkrankungen – dagegen häufiger als berichtet. Etwa 30% der Patienten mit einer Alzheimer-Erkrankung zeigen Elemente eines Balint-Holmes-Syndroms. Näher betrachtet Rückbildung der Störungen Über die Rückbildung und Behandlung solcher Störungen ist wenig bekannt. Zihl u. Kennard (1996) berichten über 3 Patienten, die trotz intensiver Behandlung noch ausgeprägte Defizite v.a. in der visuellen Raumwahrnehmung aufwiesen und auf permanente Hilfe angewiesen waren. Die Autoren konnten in einer Einzelfall-Therapiestudie feststellen (Kerkhoff et al. 1997), dass das Ausmaß der Spontanremission auch über einen Zeitraum von 1–2 Jahren oft sehr gering ist und somit von bleibenden, behandlungsrelevanten Störungen auszugehen ist.
15.4.2
Assessment
Eine Untersuchung dieser Patienten ist i.d.R. ausgesprochen schwierig, weil alle Tests mit visuellem Anforderungscharakter,
4 4 4 4
15
Sehschärfentests, Intelligenztests, Aufmerksamkeitstests, Untersuchungen des Lesens und Schreibens,
oft nicht durchführbar oder schwer zu beurteilen sind. Dies zieht auch Fehldiagnosen nach sich. Die Sehschärfenüberprüfung bereitet erfahrungsgemäß Probleme, da der Patient auf Tafeln mit vielen Sehzeichen (Reihenoptotypen) Probleme hat, einzelne Zeichen zu fixieren und diese zu benennen. Hier kann durch die Verwendung einzelner Sehschärfezeichen (Einzeloptotypen) teilweise Abhilfe geschaffen werden. Ist auch dies nicht möglich, so kann manchmal über die Verwendung bewegter Streifenmuster mit einer definierten Streifenbreite überprüft werden, ob der Patient auf eine Streifenbreite einen optokinetischen Nystagmus zeigt. Ist dies der Fall, so spricht dies für ein weitgehend intaktes räumliches Auflösungsvermögen. Diese Prozedur funktioniert in der Nahdistanz meist besser als in der Ferne. Darüber hinaus sind systematische Verhaltensbeobachtungen in Alltagssituationen hilfreich. Oft zeigt sich dabei, dass der Patient durchaus kleine Details erkennen kann (z.B. Flusen auf dem Teppich), wenn sein Blick zufällig dort landet. Praxistipp Für die Untersuchung möglichst den Untersuchungstisch völlig frei räumen und nur 1–2 Objekte anbieten.
15.4.3
Therapie
Systematische Behandlungsansätze sind weitgehend unbekannt. Zihl u. Kennard (1996) berichten kursorisch über ein Training bei 3 Patienten, das aber aufgrund der schweren räumlichen Defizite wenig auf den Alltag generalisierte, so dass es zu keiner signifikanten Verbesserung der visuellräumlichen Orientierung im Alltag kam. Näher betrachtet Einzelfallstudie In einer kontrollierten Einzelfallstudie überprüften die Autoren (Kerkhoff u. Keller 1997) die Effektivität verschiedener Techniken zur Verbesserung 4 des Simultansehens, 4 der visuellen Exploration und 4 des Lesens. Innerhalb des Behandlungszeitraums konnten wesentliche Verbesserungen in diesen drei Bereichen erzielt werden, so dass sich der Patient am Ende der Behandlung selbständig im Alltag orientieren und wieder lesen konnte. Dieses günstige Behandlungsergebnis lässt sich sicher nicht in vielen Fällen mit Balint-Holmes-Syndrom erzielen, besonders, wenn zusätzliche diffus-disseminierte Läsionen oder gar eine progressive Erkrankung vorliegen. Trotzdem sollten die Möglichkeiten nicht unterschätzt werden, durch systematische Therapie in bestimmten Bereichen alltagsrelevante Verbesserungen, etwa im Lesen, in der Selbsthilfe oder in der Raumexploration zu erzielen (s.u.).
Hilfreiche Tipps für die Therapie jFixation In der Behandlung sollte zunächst versucht werden, die visuelle Aufmerksamkeit des Patienten (und damit meist auch die Fixation) durch Verwendung gut sichtbarer, farbiger Alltagsobjekte, z.B. Farbstift, Tennisball, zu gewinnen. Patienten mit Balintsndrom reagieren eher auf bewegte als auf statische Reize (optokinetische Muster lösen oft Folgebewegungen aus). Offensichtlich ist es mithilfe bewegter Reize eher möglich, die spasmodische oder unruhige bzw. wandernde Fixation zu lösen und wieder an ein neues Objekt zu binden. Selbst schwer gestörte Patienten mit Balintsyndrom können meist noch in bestimmten Bereichen des Raums Folgebewegungen durchführen. Mit dieser Technik gelingt es ohne großen apparativen Aufwand, den funktionalen Gesichtsfeldbereich zumindest kurzfristig zu erweitern. Zudem kann manchmal auch die Fixation auf ein zu ergreifendes Objekt gelenkt werden, was über verbale Kommandos meist nur bedingt erfolgreich ist. jGreifen Durch die Verbesserung der Fixation und der Folgebewegungen normalisieren sich meist auch die Greifleistungen (optische Ataxie), da die Patienten während des Greifakts den Zielgegenstand gar nicht oder ungenau fixiert haben. Lenkt der Therapeut die Aufmerksamkeit/Fixation des Patienten vor
219 15.5 · Wirksamkeit der Therapieverfahren
dem Greifen auf das Zielobjekt, verbessert sich meist die Greifleistung. Dies kann z.B. dadurch erreicht werden, dass man den Patienten ein spezifisches Objektmerkmal beschreiben lässt, das charakteristisch für das Objekt ist, z.B. die Farbe der Kappe eines Stifts, und nur bei genauer Fixation gesehen werden kann. jSimultansehen Die Störung des Simultansehens äußert sich meist so, dass von mehreren Objekten nur eines oder wenige beachtet werden, obwohl Sehschärfe und Gesichtsfeld durchaus ausreichend dafür wären. Nach eigenen Erfahrungen muss diese Störung ebenfalls spezifisch behandelt werden, da sie eine wichtige Voraussetzung für das Lesen ist (s.u.). Hierfür bieten sich am ehesten Alltagsobjekte an, die hinsichtlich ihrer Objektmerkmale auch für den Patienten deutlich unterscheidbar sind, z.B. Farbe, Größe, Form der Objekte. Der Patient soll zunächst einen Gegenstand beschreiben, anschließend danach greifen und den Blick zum nächsten Gegenstand bewegen. Kommt es schon mit zwei Objekten zum Ausblenden eines Gegenstands, bietet es sich an, den Patienten die Augen schließen zu lassen oder ihm kurz ein Blatt Papier vor die Augen zu halten. Die Anzahl der zu suchenden bzw. abzusuchenden Objekte sollte dann schrittweise gesteigert werden und anschließend auch die Ähnlichkeit der Objekte. jLeseübungen Lesen erfordert zusätzliche okulomotorische Kontrollprozesse. Im ersten Behandlungsschritt sollte die Dichte des Textes (Anzahl der Buchstaben pro Wort und der Wörter pro Seite) deutlich reduziert werden. In Extremfällen kann manchmal nur in einer Zeile gearbeitet werden. Es sollten kurze, geläufige Wörter verwendet werden. Idealerweise sollte zunächst nur ein Wort angeboten werden (um die Simultanagnosie zu umgehen). Im EyeMove-Programm (Kerkhoff u. Marquardt 2009) ist ein Therapiemodul enthalten, das die sequenzielle Darbietung einzelner Wörter an den jeweiligen Textpositionen erlaubt, um so den Patienten wieder an das Lesen einer Zeile, den Zeilensprung und schließlich eines ganzen Textes heranzuführen. Mit dieser Methode konnte in einer kontrollierten Einzelfallstudie bei einem Patienten mit Balint-Holmes-Syndrom ein weitgehend normales Lesen erzielt werden (Kerkhoff u. Marquardt 2009). jScheinbewegungen Viele Patienten mit Balintsyndrom berichten zeitweilig über Scheinbewegungen von Objekten. Dies kann durch die Schwierigkeit bedingt sein, korrekt zwischen eigenen Augenbewegungen und Bewegungen externer Objekte zu differenzieren. Praktisch äußert sich dies darin, dass das Orts- oder Positionsgedächtnis (Welche(s) Objekt/Person war wo?) meist deutlich gestört ist. Ein weiteres Behandlungsziel sollte deshalb die Verbesserung der Objekt-Positions-Relationen im zwei- und später im dreidimensionalen Raum sein.
Praxistipp Wenn Patienten über störende Nachbilder oder Scheinbewegungen von Objekten klagen, hilft manchmal die Aufforderung, für ein paar Sekunden die Augen zu schließen.
jAllgemeine hilfreiche Tipps Wenngleich es noch keine evidenzbasierten Studien zur Therapie von Patienten gibt, so können doch einige hilfreiche Tipps festgehalten werden (. Übersicht 15.2). . Übersicht 15.2. Allgemeine Therapietipps für Patientenmit Balint-Holmes-Syndrom 1.
2.
3.
4.
15.5
Jeder Patient ist anders, u.a. aufgrund der variablen Läsionen und verschiedensten Ätiologien. Deshalb lohnt es sich, individuell nach erhaltenen Leistungen zu suchen, auf denen man die Therapie aufbauen kann. Diese können sehr unterschiedlich sein, z.B. anderer Sinneskanal, Orientierung am eigenen Körper manchmal besser, Altwissen, kognitive Leistungen, Humor. Die Behandlung muss in den Alltag hinein ausgedehnt werden oder gleich in diesem Setting stattfinden, ansonsten profitiert der Patient nicht davon. Der Grad der Kompensationsfähigkeit hängt auch von der relativen Intaktheit kognitiver Leistungen ab, z.B. Altgedächtnis, Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeitsleistungen, Sprache, Exekutivfunktionen. Wenngleich viele Störungen aufgrund der ausgedehnten Schädigungen meist unverändert auf der Testebene persistieren, können manche Patienten sehr wohl lernen, im Alltag besser mit ihren Defiziten umzugehen. Dies kann z.B. durch die Verwendung anderer Sinneskanäle, anderer Lösungsstrategien, den Einsatz technischer Hilfen oder durch Hilfspersonen gelingen.
Wirksamkeit der Therapieverfahren
In . Tab. 15.8 ist summarisch die Evidenz bzgl. der Wirksamkeit der vorgeschlagenen Therapien gemäß Cochrane-Standard zusammengefasst (7 Kap. 14). Darüber hinaus werden – wie im vorangegangenen Kapitel auch – praktisch-klinische Wirksamkeit und Ausmaß der Therapieeffekte für relevante Alltagsleistungen im Sinne von Aktivitäten und Teilhabe bewertet. Es ist offensichtlich, dass die meisten neuen Therapieansätze im Neglect-Bereich wirksamer sind als das Explorationstraining. Trotzdem ist das visuelle Explorationstraining ein nach wie vor sinnvolles Therapieverfahren, um Neglectpatienten eine systematische Suchstrategie zu vermitteln. Kritisch anzumerken ist, dass Erfolge auf der Alltagsebene noch nicht immer dokumentiert werden, in den letzten Jahren jedoch in zunehmendem Umfang (vgl. Kerkhoff 2010). Es be-
15
15
ja
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
NEG-Exploration
NEG-Optokinetik
NEG-Vibration
NEG-Prismen
NEG-Aufmerksamkeit
Unawareness
Räumlich-perzeptive Defizite
Räumlich-konstruktive Defizite
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
ja
Randomisiert Cochrane 1b
ja
ja
nein
ja
ja
ja
ja
ja
Kontrolliert Cochrane 2a
ja
ja
nein
ja
ja
ja
ja
ja
Quasi-Experiment Cochrane 2b
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
Fallstudien Cochrane 3
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
Erfahrungen Cochrane 4
ca. 70%
ca. 70%
20–40 %, je nach Aufgabe
?
?
ca. 80%
ca. 80%
ca. 80%
ca. 60–80%
Wieviele Patienten profitieren (%)
20–50%, je nach Aufgabe
kurzfristig bessere Einsicht, nicht dauerhaft
++
+++
+++
+++
+
Ausmaß der Verbesserung
+geringe Verbesserung, ++ mittlere Verbesserung, +++ deutliche Verbesserung; NEG Neglecttherapie mittels Explorationstraining oder Optokinetik etc.
Meta-Analyse Cochrane 1a
Therapie
. Tab. 15.8. Vergleich der Wirksamkeit verschiedener Therapieverfahren bei Neglect und Extinktion
++
++
+
++
++
++
++
+
Alltagstransfer
220 Kapitel 15 · Höhere visuelle Funktionen: Neglect, Raumorientierung, Balint-Holmes-Syndrom und visuelle Agnosien
221 15.6 · Literatur
darf somit weiterer großer Anstrengungen in den nächsten Jahrzehnten, um neue Therapieverfahren zu entwickeln und die bestehenden so zu optimieren, dass der Transfer in den Alltag noch besser wird.
15.5.1
Angewandte Testverfahren und Geräte
Die Testverfahren sind in der Reihenfolge der Kapitel aufgelistet. Alle Angaben sind besten Wissens, jedoch ohne Gewähr. Testverfahren und Geräte mit Herstellernachweis 1.
Aufmerksamkeitstraining Aixtent: Phönix Software; http://www.phnxsoft.com 2. Novafon Schallwellengerät SK2: Erhältlich unter diesem Namen bei verschiedenen Anbietern im Internet (Name in Suchmaschine eingeben) 3. Prismen für die Prismenadaptation: Optique Peter, 79 Rue Seint-Pierre de Vaise, F-69009 Lyon, Frankreich, Tel. 0033/04784774, Fax 0033/0478836174, E-mail:
[email protected]; Preis für 1 Set bestehend aus Kopfstütze, Demonstrationsvideo, Manual, Brille mit 2 Prismengläsern mit +10° rechtsseitiger Prismendeviation. Alternativ im Optikerfachhandel anfertigen lassen 4. Therapieprogramm für Patienten mit Standardisierter Diagnostik und Therapie bei visuell bedingter Explorationsstörungen: EyeMove. Firma Medcom; http://www. medicalcomputing.de (s. Literaturverzeichnis, Kerkhoff u. Marquardt 2009b) 5. Diagnostik- und Therapieprogramm für Patienten mit visuell bedingten Lesestörungen: Programm Read. http://www.medicalcomputing.de (s. Literaturverzeichnis, Kerkhoff u. Marquardt 2009a) 6. Neuropsychologische Tests: Testzentrale Göttingen, Robert-Bosch-Breite 25, D-37079 Göttingen oder Pf. 3751, D-37072 Göttingen. E-mail: testzentrale@ hogrefe.de; www.testzentrale.de 7. TENS-Geräte zur Neglectbehandlung: Viele Sanitätshäuser und Apotheken bieten TENS-Geräte zum Verkauf oder Verleih an. Die Preise variieren deutlich 8. Standardisierte Diagnostik visueller Raumwahrnehmungsleistungen (VS-Programm): Mit Optokinetik, räumlichem Feedback-Training, räumlichen Gedächtnisund Transformationsaufgaben. Firma Medcom (s.o.) 9. VOSP-Visual Object and Space Perception Battery: Deutsche Bearbeitung, Hogrefe Verlag, Göttingen 10. BORB-Birmingham Object Recognition Battery: Riddoch JM u. Humphreys GW (1993), Psychology Press 11. BRS; Beobachtungsbogen für Räumliche Störungen: Neumann G, Neu J, Kerkhoff G (2007) BRS-Beobachtungsbogen für Räumliche Störungen. Hogrefe Verlag, Göttingen 12. Sehtests: www.eyesfirst.eu
15.6
Literatur
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15
222
15
Kapitel 15 · Höhere visuelle Funktionen: Neglect, Raumorientierung, Balint-Holmes-Syndrom und visuelle Agnosien
chologie. Praxis der Neurorehabilitation. Göttingen, Hogrefe; 1997. S. 98-107. Kerkhoff G, Münssinger U, Marquardt C. Sehen. In: von Cramon DY, Mai N, Ziegler W. Neuropsychologische Diagnostik. Weinheim: VCH; 1994. S. 1-38. Kerkhoff G, Heldmann B. Balintsyndrom und assoziierte Störungen. Anamnese – Diagnostik – Behandlungsansätze. Nervenarzt 1999;70:859-869. Kerkhoff G, Keller I, Ritter V, Marquardt C. Repetitive optokinetic stimulation with active tracking induces lasting recovery from visual neglect. Restorative Neurology and Neuroscience, 24:357-370. Kessler J, Weber E, Halber M. Kölner Neglect Test. Frankfurt/Main: Swets Test Services; 1995. Luauté J, Halligan P, Rode G, Rossetti Y, Boisson D. Visuo-spatial neglect: A systematic review of current interventions and their effectiveness. Neurosci Biobehav Rev 2006;30:961-982. Meerwaldt JD, van Harskamp F. Spatial disorientation in right-hemisphere infarction. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1982;45:586-590. Neumann G, Neu J, Kerkhoff G. BRS: Beobachtungsbogen für räumliche Störungen. Göttingen: Hogrefe; 2007. Recanzone GH. Where was what? – Human auditory spatial processing. Trends Cogn Sci 2002;6:319-320. Rizzo M, Robin DA. Visual search in hemineglect: what stirs idle eyes. Clin Vision 1992;Sci 7:39-52. Romanski LM, Tian B, Fritz J, Mishkin M, Goldman-Rakic PS, Rauschecker JP. Dual streams of auditory afferents target multiple domains in the primate prefrontal cortex. Nat Neurosci 1999;2:1131-1136. Schindler I, Kerkhoff G, Karnath HO, Keller I, Goldenberg G. Neck muscle vibration induces lasting recovery in spatial neglect. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2002;73:412-419. Schröder A, Wist ER, Hömberg V. TENS and optokinetic stimulation in neglect therapy after cerebrovascular accident: a randomized controlled study. Eur J Neurol 2008;15:922-927. Sturm W, Thimm M, Fink G, Küst J, Karbe H, Willmes K. Raum- vs. Aufmerksamkeitsbezogene Therapie bei Halbseiten-Neglect: ein Vergleich mit Hilfe von Verhaltens- und Bildgebungsdaten. J Neurol Neurochir Psychiatr 2009;10:56-60. Thimm M, Fink GR, Küst J, Karbe H, Willmes K, Sturm W. Recovery from hemineglect: differential neurobiological effects of optokinetic stimulation and alertness training. Cortex 2009;45:850-862. Zihl J, Kennard C. Disorders of higher visual functions. In: Brandt T, Caplan LR, Dichgans J, DIener HC, Kennard C. Neurological Disorders. Course and Treatment. San Diego: Academic Press; 1996. S. 201-212.
jWeiterführende Literatur Neglect: Kerkhoff G. Neglect und assoziierte Störungen. Göttingen: Hogrefe; 2004. (Ausführliche Übersicht über Diagnostik und Therapieverfahren des Neglects.) Raumorientierung: Kerkhoff G. Störungen der visuellen Raumorientierung. In: Karnath HO, Thier P. Neuropsychologie, 2. Aufl. Heidelberg: Springer; 2006. S. 177-184. Balint-Holmes-Syndrom: Karnath HO. Balint-Holmes-Syndrom. In: Karnath HO, Thier P. Neuropsychologie, 2. Aufl. Heidelberg: Springer; 2006. S. 225-238. Visuelle Agnosien: Goldenberg G. Visuelle Objektagnosie und Prosopagnosie. In: Karnath HO, Thier P. Neuropsychologie, 2. Aufl. Heidelberg: Springer; 2006. S. 128-139.
B
Beeinträchtigung von Funktionen, Aktivitäten und Teilhabe Motorische Funktion Kapitel 16
Motorische Rehabilitation W. Fries, S. Freivogel
Kapitel 17
Automatisierte motorische Rehabilitation S. Hesse, C. Werner
Kapitel 18
Funktionelle Elektrostimulation S. Hesse, C. Werner
Kapitel 19
Technische Hilfsmittel S. Hesse, C. Werner
Kapitel 20
Ataxien: Assessment und Management H. Ackermann
Kapitel 21
Handfunktionsstörungen: Assessment und Management J. Hermsdörfer
Kapitel 22
Apraxie – 329 G. Goldenberg
– 225
– 267
– 273
– 281
– 305
– 293
16
Motorische Rehabilitation W. Fries, S. Freivogel 16.1 Grundlagen
– 226
16.1.1 Motorik – 227 16.1.2 Prinzipien der Organisation des willkürmotorischen Systems
16.2 Klinische Symptome und Syndrome
– 232
16.2.1 Läsion des ersten (oberen) motorischenNeurons 16.2.2 Besondere klinische Bilder – 235
16.3 Verlauf und Prognose
– 227
– 232
– 236
16.3.1 Verlauf – 236 16.3.2 Prognose – 237
16.4 Befunderhebung und Diagnostik
– 239
16.4.1 Klinisch-neurologische Untersuchung – 239 16.4.2 Funktionsorientiertes Assessment – 240
16.5 Therapie 16.5.1 16.5.2 16.5.3 16.5.4 16.5.5 16.5.6 16.5.7
– 242
Traditionelle Konzepte – 242 Aufgabenorientierte Konzepte – 243 Tonusreduktion: Durchführung und Evidenz – 251 Praktisches Vorgehen bei speziellen motorischen Problemen Medikamentöse Therapie – 254 Apparative Methoden – 257 Experimentelle Verfahren – 259
16.6 Literatur
– 259
– 252
226
Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
Die Therapie willkürmotorischer Störungen hat sich in den letzten Jahren zunehmend von einem von »Schulen« geprägten Erfahrungswissen hin zu wissenschaftlich abgesicherten und evidenzbasierten Behandlungsstrategien entwickelt.
16.1
Grundlagen
Das willkürmotorische System setzt sich aus einem Netzwerk multipler kooperativer kortikaler Areale (motorische Exekutive [M1], prämotorische und supplementärmotorische Areale) und subkortikalen Strukturen zusammen. > Die Willkürmotorik kann als adaptives, d.h. lernfähiges und problemlösendes System angesehen werden, für das Regeln des motorischen und kognitiven Lernens gelten.
Nach Schädigung des ersten motorischen Neurons (Upper Motor Neuron Syndrome, UMNS) resultiert ein komplexes klinisches Bild mit einer Plus- und Minussymptomatik sowie adaptiven Veränderungen in Muskel- und Bindegewebe. Motorische Funktionsrestitution erfolgt auf der Grundlage neuronaler Plastizität. Das Ausmaß der Funktionserholung korreliert mit 4 dem Nachweis motorisch evozierter Potenziale (MEP), 4 dem initialen Schweregrad der Parese, 4 begleitenden neurologischen Defiziten (Hemianopsie und Neglect) und 4 Depression.
jPhysiotherapie Für eine formalisierte und standardisierte Befunderhebung liegt ein umfangreiches Repertoire an Messinstrumenten für die Erfassung von Störungen auf den Ebenen von Körperfunktion und Aktivität vor. Physiotherapie ist wirksam. Aus neurobiologischen und lerntheoretischen Grundsätzen abgeleitete Therapieverfahren haben – im Gegensatz zu traditionellen Therapieverfahren – in einer Vielzahl von Untersuchungen ihre Wirksamkeit belegt. Dies gilt für 4 das sog. Motor Relearning Programme (MRP), 4 aufgabenorientiertes Training, 4 die Constraint Induced Movement Therapy (CIMT), aber auch 4 technisch unterstützte Verfahren wie Laufbandtraining und EMG-getriggerte Elektrostimulation. Diese Ergebnisse haben Eingang in die Entwicklung von Leitlinien gefunden. Noch im experimentellen Stadium befinden sich Verfahren wie 4 mentales Training und 4 Interventionen, z.B. 5 die reversible lokale Anästhesie an der proximalen betroffenen Extremität oder der (ipsilateralen) nicht betroffenen Hand zur Verbesserung der Handfunktion, 5 die repetitive magnetische periphere Nervenstimulation oder 5 die somato-sensorische Stimulation mittels elektrischer Reizung.
Näher betrachtet ICF-Modell: Physiotherapie
16
Störungen der Willkürmotorik nach Schädigung des ersten Motoneurons – Upper Motor Neuron Syndrome (UMNS) – gehören zu den häufigsten neurologischen Symptomen nach fokalen Schädigungen des Zentralnervensystems (ZNS). Klinisch vorrangige Ursache ist der Schlaganfall, vor allem der ischämische Hirninfarkt. Die Häufigkeit von motorischen Störungen nach Schlaganfall wird zwischen 63% und 90% eingeschätzt (Wiesner et al. 1999, Kunesch et al. 1995, Nelles et al. 2002, Sommerfeld et al. 2004). Weitere Ursachen des UMNS sind das Schädel-HirnTrauma und neurochirurgische Eingriffe. Da Mobilität und Greiffunktionen für die Lebensqualität und vor allem für die gleichberechtigte Teilhabe am sozialen und beruflichen Leben – nach Sozialgesetzbuch SGB IX Ziel der Rehabilitation – von entscheidender Bedeutung sind, nehmen therapeutische Bemühungen um motorische Funktionen und Aktivitäten in
der neurologischen Rehabilitation einen breiten Raum ein. Physiotherapie hat dementsprechend eine vergleichsweise lange Tradition. Bereits 1936 machte Foerster konkrete Vorschläge zur motorischen Übungstherapie beim Pyramidenbahnsyndrom (Foerster 1936), die jedoch nicht weiterverfolgt oder entwickelt wurden. Unabhängig von diesen ersten Ansätzen bildeten sich in der Folge mehrere physiotherapeutische »Schulen« heraus. Auf dem Gebiet der motorischen Rehabilitation wird der Diskurs über Behandlungsmethoden und -erfolg in den letzten Jahren bestimmt von 4 der Forderung nach einer Evidence Based Medicine (EBM) und 4 der Ausrichtung der Rehabilitation an dem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF), eigentlich einem Krank-
heitsfolgemodell der Weltgesundheitsbehörde WHO (2001). Deshalb wird auch für die Physiotherapie zunehmend gefordert, dass die therapeutischen Verfahren auf einer (neuro)-wissenschaftlichen Grundlage beruhen und ihre Wirksamkeit in qualifizierten wissenschaftlichen Untersuchungen nachweisbar ist. Für eine Vielzahl moderner physiotherapeutischer Interventionen bei Hemiparese stehen inzwischen gut gesicherte Untersuchungsergebnisse mit einem hohen Evidenzgrad zur Verfügung. Auf Grundlage dieser Ergebnisse wurden bereits Leitlinien zur motorischen Rehabilitation nach Schlaganfall von den wissenschaftlichen Fachgesellschaften der Neurologie und neurologischen Rehabilitation (DGN, DGNR und DGNKN) entwickelt und veröffentlicht (Nelles et al. 2002, Noth et al. 2002, Freivogel u. Hummelsheim 2003).
227 16.1 · Grundlagen
16.1.1
Motorik
jEbene der Körperstruktur und Körperfunktion (ICF) Der Ausdruck Motorik umfasst eine beeindruckende Vielfalt äußerst unterschiedlicher Leistungen. Um zu präzisieren, welche motorischen Leistungen (auf welcher Ebene) jeweils mit den Begriffen »Motorik« und »motorisches Defizit« gemeint sind, ist es gerechtfertigt, für die Ebene von Körperstruktur und -funktion eine funktionsbezogene Taxonomie zur Klassifikation motorischer Leistungen – und entsprechend auch der Funktionsdefizite – zu verwenden, wie sie auch in der angelsächsischen Literatur benutzt wird. Die Kategorien der motorischen Leistungen sind in . Übersicht 16.1 zusammengefasst.
. Übersicht 16.2. Motorische Leistungen für die Aktivitäts- und Teilhabeebene (ICF) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
d 465 Selbständige und sichere Mobilität innerhalb des Hauses/der Wohnung d 465 Selbständige und sichere Mobilität außerhalb der Wohnung d 465 Zurechtkommen im Straßenverkehr d 470 Benutzung von Verkehrsmitteln als Fahrgast (öffentliche Verkehrsmittel) d 475 Benutzung von Verkehrsmitteln als Fahrer (Autofahren/Kraftfahreignung, Radfahren) d 430 Handhabung von Gegenständen (Anheben und Tragen, Aufnehmen und Greifen)
. Übersicht 16.1. Kategorien motorischer Leistungen 1.
2. 3. 4. 5. 6.
Posturale Motorik: Sicherung des Massenmittelpunkts über der Unterstützungsfläche unter statischen und dynamischen Bedingungen und Beibehaltung der korrekten Relation der Körpersegmente Lokomotion: Fortbewegung des Individuums im Raum (unter Wahrung der posturalen Stabilität) Greifmotorik: Aneignung von Objekten im Raum (unter Wahrung der posturalen Stabilität) Manipulation: Instrumenteller Einsatz der Hand zur Objektuntersuchung und -nutzung Emotionale Motorik: Kommunikation des emotionalen Status Blickmotorik: Visuelle Orientierung im Raum und Erfassung von Objekten
Diese Einteilung ermöglicht eine Differenzierung in der Beschreibung von funktionellen Defiziten und auch von therapeutischen Prozessen. Es ist davon auszugehen, dass die verschiedenen funktionellen Kategorien ein unterschiedliches neuronales Substrat haben. jAktivitäts- und Teilhabeebene (ICF) Art und Ausmaß der motorischen Behinderung muss in den Kategorien und Domänen der ICF abgebildet werden. Die Ausrichtung der motorischen Rehabilitation an der Teilhabe – inzwischen bereits gesetzlicher Auftrag der Rehabilitation in §4 SGB IX – verlangt Therapieverfahren, die alltags- und teilhabeorientiert sind; dafür sind entsprechende Messinstrumente zu entwickeln. Im Rahmen der motorischen Rehabilitation bedeutet die Umsetzung des gesetzlichen Auftrags, dass behinderte Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten wieder gleichberechtigt am sozialen Leben teilhaben können, d.h., 4 sich sicher fortbewegen, 4 sich selbst versorgen, 4 Gegenstände tragen und manipulieren. Die ICF, die ein Dokumentations- und kein Assessmentinstrument ist, beschreibt motorische Leistungen für die Aktivitäts- und Teilhabeebene in den in . Übersicht 16.2 aufgeführten Domänen.
> Für Aktivitäts- und Teilhabeleistungen ist oft auch eine Verbesserung auf Impairment-Ebene Voraussetzung; das Ergebnis der Interventionen, d.h., der Therapieerfolg muss sich aber auf Aktivitäts- und Teilhabeebene überprüfen lassen.
16.1.2
Prinzipien der Organisation des willkürmotorischen Systems
Funktionell-anatomische Organisation des kortikospinalen Systems Die präzentrale Hirnwindung gilt aufgrund von elektrischen Hirnreizungsexperimenten (Foerster 1934, Penfield u. Boldrey 1937) traditionell als 4 Sitz der Willkürmotorik und 4 Ursprung der Pyramidenbahn (primär motorischer Kortex, Area 4 nach Brodmann 1905). Die anterior dazu gelegene prämotorische Hirnrinde lässt sich anatomisch in mehrere zytoarchitektonisch unterscheidbare Areale gliedern. Neurophysiologische Untersuchungen der Aktivität einzelner Neurone während spezifischer Bewegungen zeigen, dass in jedem dieser Areale ebenfalls eine mehr oder weniger vollständige, somatotop gegliederte Repräsentation von Muskeln/Bewegungen, d.h. ein Homunkulus repräsentiert ist (vgl. Gentilucci et al. 1988, Luppino et al. 1991, Woolsey et al. 1952)). Daraus wurde das Konzept multipler, parallel und arbeitsteilig arbeitender kortikaler Areale abgeleitet (vgl. Strick 1988). Die modernen bildgebenden Verfahren (PET, fMRI), bei denen die regionalen neuronalen Aktivitätsänderungen bei willkürlichen Bewegungen gemessen und auf anatomische Strukturen abgebildet werden können, haben das Konzept eines kooperativen Netzwerks von multiplen, an der Planung, Ausführung und Kontrolle von Bewegungen beteiligten Hirnrindenarealen bestätigt (zur Übersicht s. Dettmers et al. 1997). Die an der motorischen Exekutive (Dettmers et al. 1995) beteiligten kortikalen Areale und die mit einer motorischen Aktion verbundene Planung und Kontrolle sind in . Übersicht 16.3 zusammengestellt.
16
228
Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
. Übersicht 16.3. An motorischen Aktionen beteiligte kortikale Areale Motorische Exekutive 1. Primärer motorischer Kortex (M1; entsprechend Area 4) 2. Primärer somato-sensorischer Kortex (SI; entsprechend Area 2, 1, 3) 3. Supplementär-motorisches Areal (SMA und prä-SMA; mesiale Area 6) 4. Prämotorischer Kortex (PM; dorsolaterale Area 6) 5. Zinguläre motorische Areale (Area 23c und 24) Planung und Kontrolle der motorischen Aktion 1. Superiorer und inferiorer parietaler Kortex (SPL und IPL; Area 5 und 7) 2. Sekundärer somato-sensorischer Kortex (SII) 3. Insulärer Kortex
Näher betrachtet Hypothese: Bewegungen zu Zielpunkten im Greifraum Sämtliche Areale konnten in tierexperimentellen Untersuchungen als Ursprung kortikospinaler Bahnen nachgewiesen werden, d.h., von ihnen kann das Alphamotoneuron direkt und/oder indierkt (via spinale Interneurone) adressiert werden (Toyoshima u. Sakai 1982). Eine interessante neue, beim Affen experimentell gut belegte Hypothese postuliert dagegen, dass der primärmotorische und der umgebende prämotorische Kortex den Greifraum um den Körper (»workspace around the body«) repräsentieren, genauer, dass die Aktivität der Neurone Bewegungen zu Zielpunkten in den Raumkoordinaten initiiert, unabhängig von der Ausgangsposition der Extremität, und nicht zu einer stereotypen Aktivierung jeweils der gleichen Muskeln am gleichen kortikalen Reizort führt (Graziano et al. 2002).
16
Subkortikale Systeme Neben der kortikalen motorischen Exekutive nehmen auch subkortikale Strukturen an der Koordinierung, Exekution und Kontrolle von Bewegungen teil. Diese Kerngebiete werden von der motorischen Hirnrinde meist über Axonkollaterale kortikospinaler Bahnen innerviert (Keizer u. Kuypers 1989). Nach einer Schädigung des motorischen Kortex oder der kortikospinalen Axone resultiert das Upper Motor Neuron Syndrome (s.u.), dessen funktionelle und klinische Ausprägung durch die Konvergenz der absteigenden Bahnsysteme und die komplexe Interaktion aktivierender und hemmender Einflüsse auf das Alphamotoneuron im Rückenmark bestimmt wird. . Tab. 16.1 gibt einen Überblick über die motorischen Kerngebiete, die das Rückenmark über direkte absteigende supraspinale Bahnen innervieren.
Näher betrachtet Struktur-Funktions-Analyse der motorischen Hirnrinde Klinisch-anatomische Untersuchungen nach erworbenen Hirnläsionen haben dagegen wenige Beiträge zur Struktur-Funktions-Analyse der motorischen Hirnrinde leisten können. Bei welcher Lokalisation und Ausdehnung einer Läsion des motorischen Kortex bzw. der Pyramidenbahn ein klassisches Pyramidenbahnsyndrom oder Upper Motor Neuron Syndrome (s.u.) auftritt, ist nicht bekannt (s. bereits Lewandowsky 1910). Auch neuere Arbeiten, in denen die Läsion in morphologisch bildgebenden Verfahren (CCT, MRI) anatomisch exakt erfasst und das motorische Funktionsdefizit quantitativ gemessen wurde, ergaben keinen Nachweis sicherer Zusammenhänge zwischen 4 Volumen der Läsion, 4 Lokalisation der Läsion, 4 betroffener Hemisphäre oder 4 Ausmaß der motorischen Funktionsstörung (Dromerick u. Reding 1995, Pantano et al. 1996). Wenn jedoch Hirnläsionsprofile, d.h. spezifische für die Motorik relevante Läsionsorte mit definierten begrenzten Läsionsgrößen in Beziehung gesetzt werden, lässt sich eine schwache, aber statistisch signifikante Korrelation zu MotorScores (Brunnstrom, FIM) finden (Chen et al. 2000). Darüber hinaus bleibt auch die Lokalisation spastischer Syndrome nach zerebralen Läsionen unklar. Die Annahme eines Spastikfelds (unmittelbar vor Area 4 gelegen) musste verworfen werden. Eine klare Zuordnung zwischen Hirnstrukturen und dem Entstehen von Spastik konnte auch in neueren, die moderne morphologische Bildgebung nutzenden klinisch-anatomischen Korrelationen nicht getroffen werden (Odwyer et al. 1996, Pantano et al. 1995).
Motorisches Lernen Definition
»
Motorisches Lernen ist die Summe von Prozessen, die durch Übung oder Erfahrung zu relativ stabilen neuronalen Veränderungen und als Folge davon zu geschickten motorischen Handlungen auch unter wechselnden Kontextbedingungen führt. (Shumway-Cook u. Woollacott 1995)
«
Motorische Fertigkeiten werden in Lernprozessen erworben und stützen sich z.T. auch auf präformierte zentrale Programme (Schlucken, Lokomotion). Motorischen Lernen ist weitgehend implizites Lernen, d.h., Lernen, bei dem nicht explizite Fakten, sondern das »Wie« eines Bewegungsablaufs gespeichert wird (Schmidt 1991, Shumway-Cook u. Woollacott 1995), und umfasst 4 Bewegungsprogrammierung, 4 Durchführung und 4 Kontrolle zielgerichteter motorischer Aktivität.
229 16.1 · Grundlagen
. Tab. 16.1. Subkortikale deszendierende Bahnsysteme Struktur
Lokalisation
Funktion
N. ruber
Mittelhirn
Der N. ruber erhält Afferenzen sowohl von der motorischen Hirnrinde als auch von den zerebellären Kernen. Von ihm gehen rubro-bulbäre und rubro-spinale Bahnen aus, die somatotop gegliedert sind. Sie gehören dem sog. lateralen absteigenden motorischen Bahnsystem an und sind funktionell v.a. an der Innervation der distalen Muskulatur (Handmotorik) beteiligt (Kuypers 1982)
Colliculus superior
Mittelhirn
Der Colliculus superior erhält neben dem direkten Eingang aus der Retina und dem visuellen Kortex auch direkte Afferenzen von der motorischen Hirnrinde (M1 und PM; [Fries 1985]). Aus den tiefen Schichten gehen gekreuzte tektospinale Bahnen hervor, die an der Steuerung visuell ausgelöster Greifbewegungen der oberen Extremität beteiligt sind (Werner 1993)
Formatio reticularis
Mittelhirn, Brückenregion und Medulla oblongata
Die Formatio reticularis medialis innerviert über sehr schnell leitende bilaterale retikulospinale Bahnen überwiegend die proximale Rumpfmuskulatur als Teil des medialen motorischen Bahnsystems. Die Afferenzen der Formatio reticularis sind zum einen Kollateralen der Pyramidenbahn selbst, zum anderen Verbindungen von Colliculus superior, Zerebellum und Vestibulariskernen (Wilson u. Peterson 1981)
Nucleus vestibularis
Brückenregion und Medulla oblongata
Die Vestibulariskerne sind Ursprung des (ipsilateralen) Tractus vestibulospinalis lateralis und des (bilateralen) Tractus vestibulospinalis medialis (Wilson u. Peterson 1981) Im Gegensatz zu den o.g. supraspinalen motorischen Kerngebieten stehen die Vestibulariskerne nicht unter direkter Kontrolle des motorischen Kortex. Sie erhalten direkte afferente Eingänge aus dem Labyrinth des Innenohrs (Gleichgewichtsorgan). Die funktionelle Bedeutung liegt in der schnellen Aktivierung der Antigravitationsmuskeln bei Otolithenreizung (Fries et al. 1993) und damit in der Sicherung der Körperstellung im Raum. Da in den Vestibulariskernen Gleichgewichtsinformationen mit visuellen und somato-sensiblen Informationen sowie Input aus dem Zerebellum verrechnet werden, sind die vestibulospinalen Bahnen grundlegend für die posturale Motorik. Vestibulospinale Bahnen werden zusammen mit den retikulospinalen Bahnen zum medialen motorischen deszendierenden Bahnsystem gezählt (Kuypers 1982)
> Die motorische Aktivität wird als Resultat eines Problemlöseprozesses verstanden, bei dem das System mit variablen Bewegungsabläufen ein konstantes Ergebnis anstrebt.
Jeder motorischen Handlung gehen voraus: 4 Motivation zu einer Aktivität (d.h. ein Handlungsantrieb), 4 Analyse der gegebenen Bedingungen (Körperposition, Raum, Objekte), 4 Handlungsplan und 4 entsprechender Bewegungsentwurf (d.h. ein Bewegungsprogramm). Dieser Bewegungsentwurf wird von kortikalen und subkortikalen motorischen Strukturen an das Rückenmark geleitet und durch den Muskel ausgeführt. Parallel zum ausgeführten Bewegungsprogramm wird eine Efferenzkopie angelegt und mit der Afferenz verglichen, die bei der erfolgreichen/nicht erfolgreichen Ausführung der Bewegung als intrinsisches Feedback ans ZNS zurückgemeldet wird. Das Bewegungsprogramm wird dementsprechend modifiziert und durch die Wiederholung weiter optimiert. Dieses Modell ist auch die Grundlage der Schematheorie von Schmidt (1991).
Es findet sich kein Hinweis darauf, dass Lernprozesse bei Personen mit neurologischen Defiziten grundsätzlich anders erfolgen als bei Gesunden (Majsak 1996). Daher sind die Modelle zum Bewegungslernen auch brauchbare Ansätze für die Rehabilitation. Als wichtige Faktoren beim Bewegungslernen gelten: 4 Motivation, 4 Wiederholung und 4 Rückmeldung, ob das Bewegungsziel erreicht wurde oder nicht. > Nur durch Rückmeldung und Wiederholung kann ein Bewegungsprogramm optimiert werden. Deshalb kommt der Repetition und der selbständigen, aktiven Bewegungsausführung eine zentrale Bedeutung in modernen Therapiekonzepten zu.
In einem motorischen Lernprozess werden verschiedene Phasen unterschieden: 4 die kognitive Phase (Erwerb), 4 die assoziative Phase (Retention) und 4 die autonome Phase (Transfer) (Fitts u. Posner 1967). Die unterschiedlichen Phasen verlangen ein unterschiedliches therapeutisches Vorgehen (7 Kap. 16.5).
16
230
Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
Grundlagen der motorischen Funktionsrestitution > Neuronale Plastizität, auch im erwachsenen Gehirn, gilt unbestritten als Grundlage jeder Funktionsverbesserung nach einer erworbenen Hirnschädigung (Mauritz 1994).
Die grundsätzlichen neurobiologischen Mechanismen der neuronalen Regeneration, neuronalen Reorganisation und neuronalen Plastizität als Grundlagen von Funktionsrestitution werden in Kap. 5 beschrieben. Welche neuronalen Mechanismen einer klinischen Funktionsverbesserung im Einzelfall tatsächlich zugrunde liegen, und warum es in machen Fällen zu keiner Funktionsverbesserung kommt, bleibt jedoch im klinischen Alltag noch immer im Dunkeln. Vor allem die funktionelle Bildgebung (fMRI, PET), aber auch die transkranielle Magnetstimulation (TMS) haben wesentliche Beiträge zu der Frage geleistet, welche Veränderungen sich in der Aktivierung neuronaler Netzwerke des motorischen Systems bei einer Funktionsstörung und -verbesserung darstellen, um daraus auf die Art der neuronalen plastischen Prozesse zu schließen, die der Funktionsverbesserung zugrunde liegen. Daraus haben sich drei wesentliche Modellvorstellungen über die der motorischen Funktionsrestitution zugrunde liegenden neuronalen plastischen Veränderungen im ZNS entwickelt (. Übersicht 16.4). . Übersicht 16.4. Modelle der neuronalen plastischen Veränderungen im ZNS 1.
2.
3.
16
Intra-areale Plastizität: Übungs-/schädigungsabhängige Reorganisation innerhalb des motorischen Kortex (M1) Inter-areale Plastizität: Reorganisation durch Funktionsübernahme nicht betroffener (prämotorischer) motorischer Areale (Konzept multipler, arbeitsteilig kooperierender motorischer Areale) Aktivierung ipsilateraler Strukturen: Reorganisation durch Areale der nicht betroffenen Hemisphäre und/ oder Aktivierung ipsilaterlaer kortikospinaler Bahnsysteme
jIntra-areale Plastizität Tierexperimentelle Untersuchungen an Primaten zeigten im postzentralen Kortex plastische Veränderungen in der Lokalisation der Fingerrepräsentation nach 4 rein taktiler Stimulation (Kaas 1991), 4 peripherer Nervendurchtrennung (Kaas 1991), 4 Hinterwurzeldurchtrennung (Jacobs u. Donoghue 1991) und 4 experimentellen ischämischen Infarkten im Motorkortex (Nudo u. Milliken 1996). Beim Menschen zeigte sich in ähnlicher Weise mithilfe der fokussierten transkraniellen magnetischen Kortexstimulation
eine Reorganisation der motorischen Handrepräsentation bei/nach 4 Blindenschriftlesern, 4 Plexusläsionen und 4 gesunden Probanden mit einem reversiblen peripheren Nervenblock (Brasil-Neto et al. 1993, Cohen et al. 1991, Pascual-Leone u. Torres 1993). Bei Experimenten zur Untersuchung des Zeitverlaufs solcher plastischen Veränderungen ergab sich ein Zeitraum von 20 Minuten, innerhalb dessen derartige plastische Veränderungen eintreten (Brasil-Neto et al. 1993). Dieser Zeitverlauf legt nahe, daß es sich eher um eine Umgewichtung synaptischer Effizienz bereits bestehender Synapsen oder um ein sog. Unmasking (Wall 1977) handelt und nicht um ein Aussprossen von neuen axonalen Endverzweigungen. Näher betrachtet Funktionsverbesserung durch intra-areale Plastizität Durch partielle Deafferentierung der oberen Extremität konnte auch bei Schlaganfallpatienten die Handrepräsentation in der betroffen Hemisphäre vergrößert werden (Ziemann et al. 1998); es kam auch zu einem Zuwachs an Handfunktion (Muellbacher et al. 2002). Ähnliche Ergebnisse einer Funktionsverbesserung der paretischen Hand erzielte auch die Maßnahme, die sensorische Afferenz von der gesunden, nicht paretischen Hand durch eine Lokalanästhesie auszuschalten (Floel et al. 2004). Die Befunde stützen insgesamt die Annahme, dass es in den untersuchten Fällen zu einer Funktionsverbesserung durch intra-areale Plastizität gekommen ist. Möglicherweise ist auch die Funktionsverbesserung bei Patienten mit zentralen Paresen durch repetitive periphere Magnetstimulation (mit Verbesserung von zielgerichteten Fingerbewegungen) (Struppler et al. 2003) ebenso wie durch somato-sensorische Stimulation mittels elektrischer Reizung des Medianusnervs (mit Verbesserung der Handkraft) diesen Mechanismen zuzuordnen (Conforto et al. 2001). Des Weiteren legen die Ergebnisse von Längsschnittuntersuchungen motorischer Funktionsrestitution mittels funktioneller Bildgebung die Schlussfolgerung nahe, dass der neuronale Prozess der Funktionserholung in der Reaktivierung der beschädigten Motorareale liegt (soweit das strukturell möglich ist) und somit eher Ausdruck einer intra-arealen Plastizität ist (Feydy et al. 2003, Ward et al. 2003).
jFunktionsübernahme bei multiplen motorischen Arealen Das Konzept multipler, parallel und arbeitsteilig funktionierender motorischer Hirnrindenareale hat zu der Hypothese geführt, dass die intakt gebliebenen motorischen Rindenfelder bei selektiver Schädigung einzelner oder weniger motorischer Rindenfelder oder deren efferenten Bahnsystemen motorische Funktionen in Teilen oder weitgehend übernehmen können (Stellvertretertheorie [Strick 1988, Fries et al. 1993]).
231 16.1 · Grundlagen
Näher betrachtet Funktionsverbesserung durch inter-areale Plastizität Sowohl experimentelle neurophysiologische Evidenz (Aizawa et al. 1991) als auch klinische Befunde von guter funktioneller motorische Restitution bei initialer Hemiplegie nach strategischen Infarkten im Bereich der Capsula interna, die jeweils nur den vorderen oder hinteren Schenkel der inneren Kapsel – und damit selektiv kortikospinale Bahnen von SMA oder M1 – lädieren (Fries et al. 1993), stützen diese These. Katamnestisch gute bis ausgezeichnete Ergebnisse funktioneller motorischer Restitution wurden nach neurochirurgischen Läsionen im Bereich des primär-motorischen Kortex (Ebeling et al. 1989) und der SMA (Rostomily et al. 1991) berichtet. Eine systematische Exploration durch TMS bei chronischen Schlaganfallpatienten, bei denen M1 oder dessen kortikospinaler Ausfluss geschädigt waren, es aber zu einer guten funktionellen Erholung gekommen war, ergab Hinweise, dass der ipsiläsionale ventrale prämotorische Kortex einenwesentlichen Anteil an der Funktionserholung hat (Fridman et al. 2004). Diese Befunde dienen als Argument für die Annahme einer inter-arealen Plastizität.
jAktivierung ipsilateraler Strukturen Die Untersuchung regionaler Hirnaktivität mit PET hat bei Patienten mit erlittenen Hirnschädigungen beim Versuch der Bewegungsinitiierung der ehemals paretischen Hand ein überraschendes Ausmaß an bilateraler Aktivierung gezeigt (Chollet et al. 1991, Weiller et al. 1992). Dabei kommt es nicht nur zu einer Aktivitätssteigerung der kontralateralen, betroffenen Hemisphäre, sondern auch der ipsilateralen, nicht betroffenen Hemisphäre. Diese Befunde wurden als Ausdruck einer ispilateralen Übernahme der Steuerung und Kontrolle von Bewegung nach Schädigung des zentralmotorischen Systems gedeutet. Eine bilaterale Aktivierung distaler Muskulatur nach transkranieller elektrischer Hirnreizung bei Patienten mit anatomisch nachgewiesener Unterbrechung der Pyramidenbahn, jedoch strikt kontralateraler Aktivierung distaler Muskulatur nach Reizung der nicht betroffenen Hemisphäre (Fries et al. 1991) deutet ebenfalls auf die Rolle ipsilateraler Bahnen der nicht betroffenen Hemisphäre hin. Etwa 10–15% der Pyramidenbahnfasern verlaufen ungekreuzt ipsilateral zur Ursprungshemisphäre im Rückenmark. Desgleichen kommt es bei 5–10% der gekreuzten kortikospinalen Bahnen zu einer Rückkreuzung nach ispilateral auf segmentalem Niveau. Ungeklärt ist die Beobachtung, daß es nach einer Hemisektion des Rückenmarks zu einer deutlichen motorischen Funktionsrestitution der Hemiparese kommen kann (Nathan u. Smith 1973). Im Gegensatz dazu kann jedoch bei einer weitgehenden oder kompletten Unterbrechung der kortikospinalen Bahnen auf Höhe der Capsula interna keine Funktionsrestiution beobachtet werden (Scheidtmann u. Fries 1996). jMotorische Restitution in der funktionellen Bildgebung Funktionelle Bildgebung (fMRI, PET) erlaubt, die zerebrale Aktivitätsverteilung nach einer erworbenen Hirnläsion
Näher betrachtet Hypothese: Hemmender Einfluss der ipsilateralen, nicht betroffenen Hemisphäre Die Hypothese, dass das Überwiegen der hemmenden Einflüsse der nicht betroffenen Hemisphäre die Funktionseinschränkung und das Ausmaß der Funktionsrestitution bestimmt, wurde aus den Ergebnissen von TMS-Untersuchungen entwickelt. Bei Schlaganfallpatienten zeigte sich in der transkraniellen Magnetstimulation eine abnorm erhöhte interhemisphärische Hemmung bei der Bewegungsinitiierung der paretischen Hand (Murase et al. 2004). Der (hemmende) Einfluss der ipsilateralen, nicht betroffenen Hemisphäre dient als Erklärungsmodell sowohl für die motorische Funktionseinschränkung als auch für die Prozesse der Funktionserholung nach Schlaganfall, konnte jedoch in einer anderen Studie nicht bestätigt werden (Werhan et al. 2003).
sichtbar zu machen, besonders auch unter der Bedingung, die funktionell betroffene Extremität zu bewegen (Calautti u. Baron 2003). Die Korrelation von Änderungen in der Aktivitätsverteilung mit dem Verlauf – und der durch Physiotherapie bedingten Funktionsverbesserungen – eröffnet die Möglichkeit, den neuronalen Ort und die Modalität der klinischen Funktionsverbesserung abzubilden. Die Hoffnung ist, damit ein neuronales Korrelat für die Wirkungsweise von Physiotherapie zu erhalten. Eine Reihe von kleineren Studien mit CIMT (s. Liepert et al. 2000) hat die Vorstellung bestärkt, dass die funktionelle motorische Verbesserung mit der Aktivierung kortikaler Areale einhergeht, die bei einer Willkürbewegung bei Gesunden normalerweise nicht aktiviert werden. Dazu gehören v.a. 4 prämotorische Areale, 4 temporale Areale und 4 ein größerer Anteil kortikaler Areale der ipsilateralen, nicht beschädigten Hemisphäre. Damit werden die Annahmen über neuronale Plastizität mit einer (ipsiläsionalen) inter-arealen Funktionsübernahme ebenso wie eine physiologisch so nicht vorkommende Aktivierung kontraläsionaler kortikaler Strukturen und deszendierender Bahnsystem zunächst bestätigt (Calautti u. Baron 2003). Die Heterogenität der angewandten Therapieverfahren und die technisch in der funktionellen Kernspintomographie notwendigen Einschränkungen in der Prüfung motorischer Leistungen – es können z.B. nicht dieselben Aufgaben durchgeführt werden wie in der motorischen Funktionstestung, sondern nur einfachste, stereotype und damit hoch überlernte und automatisierte Bewegungen – schränken die Aussagekraft ein. Zudem wurden überwiegend Patienten untersucht, die eine vergleichsweise gute motorische Funktionserholung erfahren hatten. Längsschnittstudien, die Patienten unterschiedlicher Schweregrade motorischer Defizite und unterschiedlicher Verläufe zu mehreren Zeitpunkten im Verlauf untersuchten, kamen zu dem Ergebnis, dass die Aktivierung »nicht physiologischer« Areale in der betroffenen und ipsilateralen Hemi-
16
232
Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
sphäre vom Schweregrad des motorischen Defizits abhängt: Je weniger die intendierte Bewegung ausgeführt werden kann, desto mehr »zusätzliche« Areale erscheinen und bleiben aktiviert, als Ausdruck einer kompensatorischen Aktivierung. Bei erfolgreichen Behandlungsverläufen mit guter motorischer Rückbildung ähnelt das Aktivierungsmuster im fMRI zunehmend dem Aktivierungsbild gesunder Versuchspersonen (Ward et al. 2003, Feydy et al. 2003). Dies könnte ein Argument für mehr intra-areale Plastizität sein. Näher betrachtet Neurotoxizität des zu frühen Übens In mehreren Studien konnte nachgewiesen werden, dass bei Ratten, denen experimentell ein Schlaganfall durch Unterbindung der mittleren Hirnarterie (A. cerebri media) oder durch Läsion des sensomotorischen Kortex verursacht worden war, durch ein frühes Training motorischer Aktivitäten – beginnend bereits 24 Stunden nach der Operation – das Volumen der zerebralen Läsion deutlich größer war als bei denjenigen, bei denen erst nach 7 Tagen mit dem Training begonnen wurde. Darüber hinaus war das Trainingsergebnis derjenigen Tiere, die später mit dem Training begannen, signifikant besser als bei denen, die unmittelbar postoperativ ein Training erhielten. Das überlebende Nervengewebe der unmittelbaren Nachbarschaft einer erworbenen Hirnschädigung ist in der frühen Phase nach der Schädigung (bei der Ratte innerhalb der ersten 15 Tage) besonders vulnerabel für einen weiteren Nervenzelluntergang durch forciertes übermäßiges Training der gelähmten Extremität (Risedal et al. 1999, Humm et al. 1998). Obwohl vergleichbare Untersuchungen bei Patienten fehlen und gänzlich unklar ist, ob und in welchem Umfang und für welche Zeiträume auch beim Menschen solche (schädlichen) Mechanismen vorkommen, mahnen die Befunde zur Vorsicht, und dazu, Patienten mit erworbenen Hirnschädigungen nicht zu früh und zu intensiv mit therapeutischen Interventionen zu überfordern.
16
16.2
Klinische Symptome und Syndrome
16.2.1
Läsion des ersten (oberen) motorischen Neurons
Werden kortikale motorische Neurone oder deren kortikospinale Axone geschädigt, resultiert kontralateral zur Seite der Läsion eine komplexe Symptomatik, das Upper Motor Neuron Syndrome (UMNS). Nach Jackson (1873, 1958) lässt es sich in Plus- und Minus-Symptome gliedern (. Tab. 16.2) (s.a. Steinpichler u. Real 2003). Im Verlauf kann es zusätzlich auch zu Änderungen im Muskel- und Bindegewebe führen (. Tab. 16.2). Die Komplexität des klinischen Bildes nach UMNS erklärt sich durch die Konvergenz kortikaler und subkortikaler deszendierender Bahnsysteme und der segmentalen peripheren und intraspinalen Afferenzen auf das spinale Alphamotoneuron.
> In welchem Ausmaß Plus- und Minus-Symptome auftreten, ergibt sich aus der Kombination erhaltener deszendierender Bahnen und segmentaler Strukturen.
jKlinisches Bild Das Bild des UMNS wird klinisch als spastische Bewegungsstörung bezeichnet und ist gekennzeichnet durch langsame und kleinräumige Willkürbewegungen mit einer sog. Massentendenz, d.h. einer überschießenden synergistischen Aktivierung. Beispiel Beim Versuch einer Dorsalfexion des Fußes zeigen sich eine gleichzeitige Hüft- und Kniebeugung sowie eine Aktivierung der Ellenbogen- und Handgelenkflexoren.
Auffallend sind zudem
4 ein verzögerter Bewegungsbeginn, 4 eine schlechte räumliche und zeitliche Organisation des Bewegungsablaufs sowie 4 eine vermehrte Kokontraktion während des Bewegungsablaufs (Conrad et al. 1984). > Die Massentendenz wird auch als spastisches Bewegungsmuster oder assoziierte Reaktion bezeichnet (Bobath 1976, Davies 1986).
. Tab. 16.2. Upper Motor Neuron Syndrome (UMNS) PlusSymptome
Afferent: disinhibierte spinale Reflexe: 4 Hyperreflexie 4 Klonus 4 Spastik 4 Flexorreflexe 4 Enthemmung vestibulospinaler Aktivität Efferent: veränderter supraspinaler Output: 4 Erhöhter Muskeltonus 4 Massentendenz 4 Kokontraktionen 4 Synkinesien, Mirror Movements
MinusSymptome
4 Kraftminderung 4 Verminderte Geschwindigkeit der Kraftentwicklung 4 Verminderte Dekontraktionsgeschwindigkeit 4 Verminderte Geschicklichkeit (»dexterity«) 4 Hohe Ermüdbarkeit
Adaptive Phänomene
Intrinsische Veränderungen des Muskels: 4 Änderung der Muskelfasertypen 4 Viskositätsänderung 4 Sarkomerverlust 4 Verkürzung der Muskel-Sehnen-Einheit 4 Elastizitätsänderung der Muskelfaszie
Ipsilaterale Symptome
Verminderte Geschicklichkeit (»dexterity«) der nicht betroffenen, ipsilateralen Hand
233 16.2 · Klinische Symptome und Syndrome
Plus-Symptome Plus-Symptome sind in . Übersicht 16.5 aufgelistet. . Übersicht 16.5. Plus-Symptome des UMNS 1. 2. 3. 4. 5.
Gesteigerte Muskeleigenreflexe Auslösbarkeit pathologischer Reflexe Pyramidenbahnzeichen, z.B. Babinskireflex Vermehrter muskulärer Widerstand bei einer passiven Bewegung Auftreten von Kloni, Kokontraktionen, Synkinesien und Massenbewegungen
jDefinition von »Spastik« Im klinischen Alltag werden Massenbewegungen, Synkinesien und Widerstand gegen passive Bewegung begrifflich nicht ganz scharf voneinander abgegrenzt als Spastik oder Tonuserhöhung bezeichnet. Auch die komplexe Interaktion zwischen Plus- und Minus-Symptomen führt zu einer inhaltlichen Verwirrung des Begriffs »Spastik«. > Die klinische Begrifflichkeiten: spastisches Syndrom und spastische Bewegungsstörung differenzieren nicht zwischen Plus- und Minussymptomatik des UMNS
Spastik ist nach der neurophysiologischen Definition nach Lance (1980) charakterisiert durch eine geschwindigkeitsabhängige Steigerung tonischer und phasischer Dehnungsreflexe und gesteigerte Sehnenreflexe infolge der Übererregbarkeit von Dehnungsreflexen als einer Komponente der Läsion des oberen motorischen Neurons. Spastik wird damit definiert als Zustand der gesteigerten Empfindlichkeit der Muskelspindeln auf schnelle Dehnreize und zählt zu den vorrangigen Plus-Symptomen nach Läsion des ersten Motoneurons. Lance fügte 1990 dieser Definition explitzit hinzu, dass Spastik eine gestörte Willkürbewegung und abnorme Haltung nicht miteinschließt (Lance 1990). Die Lance-Definition der Spastik ist weit akzeptiert. Gezeigt hat sich allerdings, dass tonische und phasische Dehnungsreflexe nur gering korrelieren (Fellows et al. 1993). Mit der Spastik assoziiert sind folgende weitere Phänomene: 4 Reflexirradiation, d.h. die Ausbreitung der Erregung auf benachbarte Muskeln; 4 verminderte reziproke Hemmung, d.h. die fehlende bzw. reduzierte gleichzeitige Dekontraktion des jeweiligen Antagonisten; 4 Klonus, d.h. eine durch den Dehnreiz ausgelöste repetitive muskuläre Aktivierung und Deaktivierung. jZuordnung der Hirnstrukturen zu Spastik Zu einer Spastik kommt es, wenn die durch die extrapyramidalen Bahnen (Tractus vestibulospinalis, Tractus rubrospinalis, Tractus reticulospinalis) vermittelte Aktivierung nach Schädigung kortikal deszendierender Bahnen überwiegt.
Eine isolierte Verletzung der Area 4 (primär-motorischer Kortex) und der aus diesem Areal deszendierenden kortikospinalen Fasern bewirkt nur eine Kraftminderung sowie eine Beeinträchtigung der distalen Fein- und Zielmotorik, aber keine Tonuserhöhung (Bucy 1942, Bucy et al. 1964, Ebeling et al. 1989). Darüber hinaus konnte eine sichere Zuordnung zwischen Hirnstrukturen und dem Entstehen von Spastik auch in neueren, die moderne morphologische Bildgebung benutzenden klinisch-anatomischen Korrelationen nicht getroffen werden (Pantano et al. 1995). Näher betrachtet Häufigkeit der Spastik nach Schlaganfall Die Häufigkeit der Spastik nach Schlaganfall wird mit 21– 38% der Fälle angegeben, abhängig von den verwendeten Messinstrumenten und der Chronizität (Zeitpunkt der Untersuchung nach Schlaganfall) (Watkins et al. 2002, Leathley et al. 2004, Sommerfeld et al. 2004). In der Untersuchung von Sommerfeld zeigte die Gruppe der nicht spastischen Patienten zwar signifikant bessere motorische und funktionelle Leistungen (ADL). Die Korrelation zwischen Spastik und Beeinträchtigung war jedoch gering und schwere Beeinträchtigungen kamen in beiden Gruppen in gleichem Ausmaß vor. Der exakte Einfluss einer Spastik auf die motorischen Leistungen ist schwierig zu bestimmen, da eine spastische Aktivierung auch dazu beitragen kann, funktionelle Aktivitäten wie z.B. das Gehen zu ermöglichen.
jNeurophysiologische Theorien zur Erklärung der Spastik Lange Zeit wurde als Ursache der Spastik ein zentral gesteigerter Antrieb auf die Gammamotoneurone vermutet, die ihrerseits die Empfindlichkeit der Muskelspindeln regulieren. Empfindlichere Muskelspindeln führen zwangsläufig zu einer Steigerung der Dehnungsreflexe. Dieses als Gammaspastik bezeichnete Konzept musste jedoch verworfen werden, weil durch mikroneurographische Untersuchung keine gesteigerte Aktivität und Erregbarkeit der Gammamotoneurone nachgewiesen werden konnte (Burke 1983). Das als Imbalance-Theorie bezeichnete Konzept (Eccles u. Lundberg 1959) geht davon aus, dass es bei kortikalen Läsionen zu einem Überwiegen tonisch-exzitatorisch deszendierender Bahnen kommt, die zu einer vermehrten Erregung des Alphamotoneurons und damit zu einer Tonuserhöhung führen. Ein Überwiegen tonisch-exzitatorischer gegenüber inhibitorischer Bahnen ist zwar weitgehend gesichert, doch wäre dies die einzige Ursache für eine Spastik, dürfte beim Ausfall aller deszendierenden Systeme auf die Rückenmarksebene keine Spastik auftreten. Die klinische Erfahrung zeigt jedoch, dass gerade bei Läsionen auf Rückenmarksebene spastische Phänomene deutlich ausgeprägt sind, aber erst mit einer Latenz von 2–3 Wochen auftreten. Dies hat zur Formulierung der sog. Sprouting-Theorie geführt (Benecke et al. 1983), die davon ausgeht, dass bei einem Ausfall der deszendierenden Axone die da-
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234
Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
durch am Alphamotoneuron »freigewordenen« Synapsenplätze durch erregende segmentale Afferenzen, besonders der Ia-Fasern besetzt werden. Damit wird das Gleichgewicht zugunsten erregender Einflüsse verschoben und so die leichtere Erregbarkeit des Alphamotoneurons begründet. Neuere elektronenmikroskopische Untersuchungen am Menschen werfen allerdings Zweifel an dieser Theorie auf (Noth 1996). Delwaide (Delwaide u. Schoenen 1984) geht davon aus, dass bei einer Spastik die sog. präsynaptische Hemmung des Alphamotoneurons vermindert ist. Als weiterer Faktor auf Ebene des spinalen Interneuronensystems wird eine Störung der rekurrenten RenshawHemmung vermutet. Die Renshaw-Zellen stehen unter supraspinalem Einfluss, so dass die hemmende Wirkung der Renshaw-Zelle bei Bedarf von supraspinalen Arealen aus variiert werden kann. Bei Ausfall dieser supraspinalen Einflüsse ist ein Verlust der normalen Renshaw-Funktionen denkbar. Betrachtet man das spinale Interneuronensystem als Ganzes, fließen darin nicht nur segmentale Afferenzen aus Muskelspindeln, sondern auch polysegmentale Afferenzen von Haut und Gelenken mit ein. Diskutiert wird, dass es deshalb zu einer Störung des normalen Gleichgewichts und damit zu einer Spastik kommt, weil bei einer Läsion kortikal deszendierender Systeme die Afferenzen aus der Körperpheripherie weiterhin unvermindert einströmen, supraspinale Afferenzen hingegen ausfallen (Conrad et al. 1984). Ursächliche Faktoren für die Spastik werden auch im Muskel selbst gesehen. Zum einen wird eine Veränderung der Muskelfasern (Zunahme von Typ-II-Fasern bei Abnahme von Typ-I-Fasern) diskutiert (Dietz u. Berger 1987), zum anderen eine Änderung der passiv-mechanischen Eigenschaften des Muskels (Hufschmidt u. Mauritz 1985). > Eine Tonuserhöhung (Widerstand gegen passive Bewegungen) wird bedingt durch: 4 erhöhte Reflexaktivität/Spastik, 4 intrinsische Veränderungen des Muskels und 4 Verkürzungen des Muskel-Sehnen-Apparats (O’Dwyer et al. 1996).
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Spastische Bewegungsmuster sind zu erklären durch: 4 erhöhte Reflexaktivität/Spastik, 4 intrinsische Veränderungen von Muskel und Muskel-Sehnen-Apparat, 4 überschießende Aktivierung vestibulo- und retikulospinaler Bahnen und 4 eine vom limbischen System vermittelte Erregung.
Minus-Symptome Minus-Symptome sind in . Übersicht 16.6 aufgelistet Das vorrangige Minus-Symptom ist die Parese. Neurophysiologisch stellt sich die Parese dar als verminderter exzitatorischer Antrieb auf den spinalen AlphamotoneuronenPool. Dies bewirkt eine verminderte Kraftentfaltung bei willkürlicher Aktivierung.
. Übersicht 16.6. Minus-Symptome 1. 2. 3. 4. 5.
Kraftminderung, d.h. Parese Beeinträchtigung selektiver Fingerbewegungen Unfähigkeit, schnell alternierende Bewegungen auszuführen Defizit, die Kraft rasch zu entwickeln Unfähigkeit, die Kontraktionskraft über einen längeren Zeitraum konstant zu halten (»motor impersistence«).
Beispiel Beim willkürlichen Faustschluss ist die Kraftentfaltung in den Dorsalextensoren der Hand zu gering. Bei posturalen Funktionen ist die Kraftentwicklung in den kleinen Glutäen während der Standbeinphase reduziert.
Neben der Kraftminderung gehört zu den Minus-Symptomen der verzögerte Bewegungsbeginn und die beeinträchtigte Fähigkeit zur schnellen Kontraktion und Dekontraktion (. Abb. 16.1). Die Fähigkeit zur schnellen sog. ballistischen Kraftentwicklung hat wesentliche Bedeutung für den Ablauf normaler Bewegungen. Ein schneller Kraftanstieg und eine rasche Dekontraktion sind Voraussetzung für die Ausführung von Zielbewegungen und schnell alternierenden Bewegungen (Diadochokinese), aber auch, um Störungen des Gleichgewichts prompt und adäquat zu kompensieren. jManifestation der Kraftminderung In welchem Ausmaß und in welcher Körperregion sich die Kraftminderung manifestiert, hängt im Prinzip vom jeweiligen Läsionsort ab: 4 Bei kortikalen Läsionen der lateralen Hemisphäre, bei Infarkten der mittleren Hirnarterie (Media-Infarkt) sind entsprechend des Homunkulus, d.h. der motorischen Repräsentation auf der Hirnrinde (Penfield u. Boldrey 1937) überwiegend die kontralaterale obere Extremität und vorrangig die distale Muskulatur betroffen, 4 bei Läsionen des Kortex der medialen Hemisphäre (Anterior-Infarkt) eher die kontralaterale Beinmuskulatur. Die Rumpfmuskulatur und die rumpfnahe Extremitätenmuskulatur sind i.d.R. geringer von Kraftminderung betroffen, weil sie über bilateral angelegte Bahnsysteme aktiviert werden (Lawrence u. Kuypers 1968).
Interaktion von Plus- und Minus-Symptomen Von wesentlicher klinischer Bedeutung ist die Frage, wie sich Plus- und Minus-Symptome in Bezug auf die Bewegungsfähigkeit eines Patienten gegenseitig beeinflussen: 4 Das Plus-Symptom Spastik setzt einer Willkürbewegung einen Widerstand entgegen und erfordert damit eine höhere Kraftentwicklung im jeweiligen Antagonisten. 4 Umgekehrt ermöglicht die spastische Aktivierung der Kniestrecker eine Stabilität während der Standbeinphase.
235 16.2 · Klinische Symptome und Syndrome
Adaptive Veränderungen in der betroffenen Muskulatur Im weiteren Verlauf führt das UMN-Syndrom zu intrinsischen und biomechanischen Veränderungen der betroffenen Muskulatur, bedingt durch 4 eine Änderung der Muskelfasern mit Zunahme der TypII-Fasern bei Abnahme der Typ-I-Fasern (Dietz u. Berger 1987) und 4 eine Änderung der passiv-mechanischen Eigenschaften des Muskels (Hufschmidt u. Mauritz 1985). Letztere führen zu Muskelverkürzungen und damit zu einer Einschränkung des aktiven und passiven Bewegungsausmaßes (ROM). Verminderte Elastizität und strukturelle Muskelverkürzungen (d.h. Abnahme der Zahl der Sarkomere) verstärken die nicht-neuronalen Komponenten einer Tonuserhöhung und müssen therapeutisch durch Muskeldehnungen reduziert werden. Ungeklärt ist, inwieweit es sich bei der Änderung der Muskelfasertypen um adaptive Phänomene handelt, und ob sie therapeutisch beeinflusst werden können oder sollen.
Ipsilaterale Funktionseinschränkungen
. Abb. 16.1. Kraftentwicklung beim Faustschluss bei einer Normalperson (A) und bei einem hemiparetischen Patienten (B). Zu beachten sind der unterschiedliche Zeitverlauf und die unterschiedliche Amplitude (Maßstab in B!) (Hummelsheim 1994, mit frdl. Genehmigung)
Eine Läsion des UMN führt zu einer messbaren Einschränkung der Geschicklichkeit (»dexterity«) der nicht (weniger) betroffenen ipsilateralen Hand (Carey et al. 1998). In der wissenschaftlichen Forschung wird jedoch der Einschränkung der motorischen Leistungsfähigkeit der ipsilateralen Hand nach einem Schlaganfall wenig Aufmerksamkeit geschenkt, da die Defizite klinisch nicht relevant sind (Sunderland 2000, Laufer et al. 2001).
16.2.2
Besondere klinische Bilder
Ataktische Hemiparese Näher betrachtet Studien: Zusammenhang zwischen Läsionsort und -ausdehnung und Schweregrad der Parese Ein sicherer Zusammenhang zwischen Läsionsort und -ausdehnung und dem Schweregrad der Parese hat sich jedoch in klinisch-anatomischen Studien bisher nicht nachweisen lassen. Auch neuere Arbeiten, in denen die Läsion in morphologisch bildgebenden Verfahren (CCT, MRI) anatomisch exakt erfasst und das motorische Funktionsdefizit quantitativ gemessen wurde, konnten keine sicheren Zusammenhänge zwischen Volumen der Läsion, Lokalisation der Läsion oder betroffener Hemisphäre und dem Ausmaß der motorischen Funktionsstörung nachweisen (Dromerick u. Reding 1995, Pantano et al. 1996, Chen et al. 2000).
Das gemeinsame Auftreten von Paresen und Ataxie in einer Extremität nach fokalen zerebralen Läsionen ist schon lange bekannt. Es handelt sich jedoch um eine seltene Störung. Die die Hemiparese begleitende Ataxie ist dabei nicht durch eine unmittelbare zerebelläre Funktionsstörung zu erklären. Naheliegend ist die funktionell-anatomische Erklärung, dass bei Läsionen der oberen Capsula interna und Corona radiata sowohl deszendierende kortikospinale Bahnen als auch die thalamokortikale Anteile der zerebello-thalamo-kortikalen Bahn betroffen sind (Danek et al. 1989). Ursächlich sind kleine (lakunäre) ischämische Infarkte in Capsula interna oder Pons (Gorman et al. 1998). Eine ähnliche Ätiologie hat das verwandte, ebenfalls seltene Dysarthria-clumsy-Hand Syndrome mit kleinen lakunären Infarkten im Kapselknie (Arboix et al. 2004).
Dystone Hemiparese Die Interaktion von Plus- und Minus-Symptomen darf aus diesem Grunde auch nicht auf die Sicht reduziert werden, dass das Ausmaß der Spastik das Ausmaß der funktionellen Beeinträchtigung bestimmt.
Bereits Lewandowsky (1910) beschrieb eine motorische Funktionsstörung, bei der die Hemiparese kombiniert mit dystonen (von ihm athetotisch genannten) Bewegungsstörungen auftritt. Dabei sollen Tiefensensibilität und Lagesinn erhalten sein. Bei Erwachsenen wird dieses Bild als Rarität beschrie-
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236
Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
ben, bei Kindern scheint diese Störung häufiger aufzutreten. Zahlen dazu liegen nicht vor.
Alien-Hand-Syndrom Dieses seltene Syndrom ist gekennzeichnet durch eine auffällige motorische Störung der Hand kontralateral zur Hirnläsion. > Beim Alien-Hand-Syndrom führt die betroffene Hand zielgerichtete Bewegungen und Handlungen aus, die vom Patienten nicht willentlich initiiert wurden. Sie können auch im Verlauf nicht kontrolliert oder modifiziert werden und sind vom Patienten nicht unterdrückbar.
Die Patienten fühlen sich häufig beschämt durch die »selbständigen« Handlungen der betroffenen Hand und versuchen, diese durch Festhalten mit der gesunden Hand zu unterbinden (Selbstrestriktion). Im Gegensatz zur Anosognosie erkennen die Patienten die betroffene Hand als ihre eigene, zu ihnen
gehörige Hand an, nicht aber die Intentionalität, die dem Handeln der betroffenen Hand zugrunde liegt. In einer Übersicht zum klinischen Bild und den zugrunde liegenden anatomischen Schädigungsmustern wird dieses Krankheitsbild einer Läsion des Corpus callosum und einer zusätzlichen Läsion des medialen prämotorischen Systems (SMA) zugeordnet (Biran u. Chatterjee 2004). Allerdings wird in Einzelfällen auch ein posteriores Alien-Hand-Syndrom beschrieben.
16.3
Verlauf und Prognose
16.3.1
Verlauf
Verlässliche Zahlen zu Inzidenz und Prävalenz der Hemiparese (Upper Motor Neuron Syndrome) liegen noch nicht vor. Bezogen auf den Schlaganfall lässt sich aus dem Bundesgesundheitssurvey von 1998 ein Anteil von mindestens 63% der
Näher betrachtet Meta-Analyse: Funktionserholung nach Schlaganfall
16
Hinsichtlich des Outcome zeigten in einer großen Literatürübersicht zum motorischen Outcome aus 174 Studien, von denen letztendlich nur 14 in die Meta-Analyse miteinbezogen wurden, 65% der Betroffenen eine Funktionserholung der unteren Extremität. Eine vollständige Funktionserholung von oberer und unterer Extremität ergab sich in 15% der Fälle. Der initiale Schweregrad der Paresen erwies sich als bester Prädiktor für den Verlauf (»odds ration«>4) (Hendricks et al. 2002): 4 Wenn nach einem Schlagafall die obere Extremität plegisch ist, verbleibt der initial hemiplegische Arm noch 6 Monate nach dem Ereignis bei 62% der Patienten ohne Funktion, 11,6% erleben eine komplette funktionelle motorische Wiedererholung (Kwakkel et al. 2003). 4 Wenn innerhalb der ersten 4 Wochen keine Zeichen der Funktionserholung eintreten (Griffkraft, ARAT), ist die Prognose für eine funktionelle Wiedererholung ungünstig.
jLangzeitstudie zur Gehfähigkeit Langzeitkatamnesen, die das Ergebnis der Rehabilitationsbemühungen im Langzeitverlauf nach Abschluss der Rehabilitation untersuchen, zeichnen ein uneinheitliches, in Teilen wenig optimistisches Bild. Die bereits aus dem Jahre 1984 stammende Studie zur Gehfähigkeit von Patienten mit Hemiparese, die aufzeigt, dass die aus der Rehabilitation als gehfähig entlassenen Patienten nach einem Jahr nur zu
16% tatsächlich selbständig das Haus verlassen, ist weithin bekannt, wenn auch ohne große Wirkung geblieben (Skilbeck et al. 1983). Hinsichtlich der Möglichkeiten und Wirksamkeit von ambulanter Physiotherapie nach Entlassung aus der Rehaklinik – im Rahmen der ambulanten Heilmittelerbringung – zeigte sich, dass im Verlauf eines halben Jahres der motorische funktionale Status (RMA und BI) gehalten werden konnte, im Vergleich zur Entlassung aus der Rehaklinik. Jedoch verließen fast 60% der Patienten unabhängig von der Durchführung von Physiotherapie nie oder nur 1-mal pro Woche das Haus, und dies bei hoher Behandlungsfrequenz (im Mittel 2,9-mal pro Woche). Als Grund für diese schlechten Ergebnisse kann vermutet werden, dass die angewandten Therapien nicht ausreichend aufgabenorientiert waren und in den Therapien nicht genügend alltagsorientiert geübt wurde. Denn obwohl die Gehfähigkeit für die Patienten ein vorrangiges Ziel ist, fanden 80% der ambulanten Behandlungen im Liegen, Sitzen oder im Vierfüßlerstand statt (Hesse et al. 2001).
jVergleich: Motor Relearning Programme und Bobath-Methode Bei einem Ein-Jahres-Follow-up fanden sich die funktionellen Leistungsverbesserungen nach einer 20-wöchigen Therapie statistisch in etwa erhalten. Individuell konnten sich einige der Patienten weiter verbessern, bei anderen kam es dagegen zu einer funktionellen Verschlechterung (Kwakkel et al. 2002).
In einem Ein- und Vier-Jahres-Followup einer randomisierten kontrollierten Studie zum Vergleich der Wirksamkeit der Behandlung mit dem Motor Relearning Programme und der Bobath-Methode zeigte sich eine deutliche Verschlechterung der motorischen Leistungen nach 1 und 4 Jahren, unabhängig von dem in der Rehabilitation angewandten Therapieverfahren (Langhammer u. Stanghelle 2003). Feys (2004) zeigte dagegen, dass Patienten, die initial ein repetives Training absolvierten, gegenüber der Vergleichsgruppe auch noch in einem Fünf-JahresFollow-up deutlich bessere Leistungen in den motorischen Tests zeigten, die allerdings ohne Einfluss auf die ADL-Leistungen blieben. Das Langzeitergebnis der Armfunktionserholung (Untersuchung nach 16 Wochen und 4 Jahren nach Schlaganfall) zeigte in einer Kohortenstudie mit 54 Patienten funktionelle Verbesserungen über die ersten 16 Wochen hinaus bei 19% der Patienten. Bei 24% setzte eine Verbesserung der Armfunktion erst nach Ablauf der ersten 16 Wochen ein, d.h., bei 43% erstreckte sich der Zeitraum der Funktionsverbesserung deutlich über die ersten 16 Wochen nach Schlaganfall hinaus. 43% blieben ohne Funktionserholung des Arms. Bei 57% kam es zu einer guten bis mittleren (»fair«) motorischen Funktionserholung. Eine gute Funktionsrückbildung war assoziiert mit dem Fehlen von Sensibilitätsstörungen (Broeks 1999). Zu qualitativ ähnlichen Ergebnissen kamen auch Kwakkel et al. (2003).
237 16.3 · Verlauf und Prognose
Schlaganfallbetroffenen mit motorischen Störungen extrapolieren (Wiesner et al. 1999). Die Häufigkeit von motorischen Beeinträchtigungen/Hemiparese nach Schlaganfall wird in anderen Untersuchungen mit etwas über 80% angegeben (Kunesch et al. 1995, Sommerfeld et al. 2004). Die Kenntnis über Verlauf und Prognose der motorischen Funktionserholung nach Schlaganfall ist noch immer begrenzt. Das grundsätzliche klinische Bild im Verlauf nach Schädigung des 1. Motoneurons wird paradigmatisch von Twitchell (1951) beschrieben. > Eine Vorhersage über die Aktiitäten 6 Monate nach dem Schlaganfall lässt sich bereits mit hoher Zuverlässigkeit nach 4 Wochen treffen. Eine Plegie des Beins in der 1. Woche und ein Persistieren der Plegie des Arms über die ersten 4 Wochen hinaus sprechen für ein schlechtes Outcome.
16.3.2
Prognose
Die Fülle der klinischen Verlaufs- und Therapiestudien in den letzten Jahren hat es ermöglicht, prognostische Faktoren zu isolieren, die Vorhersagen zu Verlauf und Outcome in der motorischen Rehabilitation ermöglichen. Sämtliche Untersuchungen wurden an Schlaganfallpatienten durchgeführt. Da es sich i.d.R. um Gruppenvergleiche mit eher kleinen Fallzahlen (Anzahl gleich oder meist deutlich kleiner als 100) und relativ heterogenen klinischen Zuständen handelte (trotz definierter Ein- und Ausschlusskriterien) kann eine individuelle Prognose nur mit Vorsicht gestellt werden. Anhand einer kritischen Literaturübersicht zu den prognostischen Faktoren für Gehfähigkeit und Wiederlangung von Alltagsaktivitäten kam man zu dem Ergebnis, dass derzeit noch ungenügende Evidenz vorliegt, um in der postakuten Phase, d.h. bei Entlassung aus der Stroke Unit, verlässliche Vorhersagen zum Outcome zu treffen (Meijer et al. 2003).
Demographie: Geschlecht und Alter Bezogen auf das Geschlecht werden auch in großen Untersuchungen keine Unterschiede für das funktionell-motorische Outcome angegeben (Jorgensen et al. 1999, Macciocchi et al. 1998). Allerdings beschreiben Langhammer u. Stanghelle in ihrer VierJahres-Katamnese, dass Frauen sowohl in ihrer gesundheitsbezogenen Lebensqualität als auch in ihrer häuslichen Selbständigkeit bezogen auf die Abhängigkeit von Hilfsmitteln schlechter abschnitten als Männer (Langhammer u. Stanghelle 2003). Hinsichtlich des Faktors Alter wird die Datenlage uneinheitlicher. Generell wird in großen Übersichten ein signifikanter Zusammenhang zwischen höherem Alter und schlechterem funktionellen Outcome festgestellt, allerdings auch mit geringer Vorhersagewahrscheinlichkeit (»odds ratio«) (Apelros u. Terent 2004, Macciocchi et al. 1998). Eine schlechtere Prognose hinsichtlich des Outcome wird mit zunehmendem Alter auch bedingt durch eine höhere Mortalität und eine höhere Komorbidität. Im Vergleich von Patienten nach sehr schwerem Schlaganfall mit gutem Outcome (31%) gegenüber
denen mit schlechtem (69%) zeigten sich in der Kopenhagen Stroke Study jüngeres Alter und die Anwesenheit eines Lebenspartners zuhause als günstige Faktoren (Jorgensen et al. 1999). In Therapiestudien zur Überprüfung der Wirksamkeit von Interventionen wird häufig das Alter als demographische Variable miterfasst. Dabei wird häufig kein Zusammenhang zwischen Alter und Prognose bzgl. der funktionellen motorischen Wiedererholung oder Therapieverlauf/-erfolg gefunden (Kwakkel et al. 2003, Winstein et al. 2004).
Lokalisation und Größe der Läsion Alte klinisch-anatomische Untersuchungen nach erworbenen Hirnläsionen konnten keine Beiträge dazu leisten, bei welcher Lokalisation und Ausdehnung einer Läsion des motorischen Kortex bzw. der Pyramidenbahn ein klassisches Pyramidenbahnsyndrom auftritt (Lewandowsky 1910). Auch neuere Arbeiten, in denen die Läsion in morphologisch bildgebenden Verfahren (CCT, MRI) anatomisch exakt erfasst und das motorische Funktionsdefizit quantitativ gemessen wurde, konnten keine sicheren Zusammenhänge zwischen Volumen der Läsion, Lokalisation der Läsion oder betroffener Hemisphäre und dem Ausmaß der motorischen Funktionsstörung nachweisen (Dromerick et al. 1995, Pantano et al. 1996). Eine Bezugnahme auf funktionell-anatomische Kriterien zeigte einen schwachen Zusammenhang zwischen Hirnläsionsprofil und funktionellem Outcome nach Schlaganfall, jedoch erneut nicht mit der relativen oder absoluten Läsionsgröße (Chen et al. 2000). Lediglich für eine spezielle Gruppe von isolierten Kapselinfarkten im Versorgungsgebiet der AchA (A. choroidea anterior) lässt sich eine Prognose mit günstigem Verlauf stellen, mit guter Funktionserholung auch der Handfunktionen, selbst wenn initial eine komplette Hemiplegie bestand (Fries et al. 1993). Eine Literaturübersicht über das funktionelle Ergebnis nach Infarkten im Versorgungsgebiet der lentikulo-striären Arterien, die die innere Kapsel miteinschließen, ergab z.T. widersprüchliche Aussagen zur Prognose, die sich jedoch auf unscharfe (anatomische) Kriterien in der Auswahl und Gruppierung der Patienten zurückführen lassen (Scheidtmann u. Fries 1996). Denn eine zusätzliche Schädigung des somatosensiblen afferenten Schenkels, z.B. bei kombiniertem Thalamus- und Capsula-interna-Infarkt, oder eine weitgehende bis komplette Läsion der deszendieren Bahnen aller motorischen Rindenfelder (Scheidtmann u. Fries 1996) schränkt die Möglichkeiten einer Funktionserholung stark ein. Fazit Aus der Beurteilung der Hirnschädigung in den bildgebenden Verfahren (CT, MR) kann keine Aussage zu möglichem Verlauf und Prognose hinsichtlich des funktionell-motorischen Outcome getroffen werden.
Schweregrad der motorischen Beeinträchtigung Der initiale Schweregrad der Paresen ist ein guter Prädiktor für den Verlauf: Je schwerer die Parese innerhalb der 1. Woche
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238
Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
nach Schlaganfall ist, desto schlechter ist das motorische Outcome zu erwarten. Dies wurde vor allem für die obere Extremität gesichert (Wade et al. 1983). Auch die Beurteilung der initialen Griffkraft nach Schlaganfall besitzt einen vergleichbaren prädiktorischen Wert (Sunderland et al. 1989). In neuen Studien wurde diese Aussage mit einer hohen Vorhersagewahrscheinlichkeit bestätigt (Hendricks et al. 2002, Kwakkel et al. 2003, Canning et al. 2004). In geringerem Ausmaß gilt die Feststellung auch für den initialen Paresegrad der unteren Extremität.
kann (mit Vorsicht) davon ausgegangen werden, dass die in . Übersicht 16.7 aufgeführten zusätzlichen neurologischen Symptome mit einem prognostisch ungünstigeren Verlauf assoziiert sind. . Übersicht 16.7. Zusätzliche neurologische Symptome und Outcome 1. 2.
Chronizität Die Frage, innerhalb welchen Zeitraums sich motorische Funktionsverbesserungen einstellen, ist prognostisch bedeutsam dafür, mit wieviel Funktionsverbesserung gerechnet werden kann. Allerdings sind die Angaben in der Literatur uneinheitlich. In älteren, aber auch neueren Untersuchungen wurde festgestellt, dass vor allem bzgl. der Funktionsverbesserung des Arms über eine 4-Wochen- bis 3-Monatsfrist hinaus mit keiner weiteren Funktionsverbesserung gerechnet werden kann (Bard u. Hirschberg 1965, Heller et al. 1987, Pantano et al. 1996, Kwakkel et al. 2003). In einer Kohortenstudie mit 4-Jahres-Follow-up erstreckte sich der Zeitraum der Funktionsverbesserung jedoch bei 43% der Patienten deutlich über die ersten 16 Wochen nach Schlaganfall hinaus (Broeks et al. 1999). In klinischen Therapiestudien wird die Wirksamkeit einer Interventionsmethode i.d.R. im chronischen Stadium untersucht, um auszuschließen, dass die gemessenen Behandlungseffekte auf Effekte der Spontanremission zurückzuführen sind. Relevante Funktionsverbesserungen durch spezifische Behandlung ließen sich auch im chronischen Stadium der Hemiparese jenseits von 6 Monaten nach Schlaganfall erzielen. Es erscheint daher nicht gerechtfertigt, aus der Chronizität einen negativen prognostischen Wert abzuleiten.
16
! Cave Viele Schlaganfallpatienten werden durch die Auskunft von Ärzten verunsichert, nach einem halben oder einem Jahr nach dem Schlaganfall sei nicht mehr mit einer weiteren Funktionsverbesserung zu rechnen. Solche Aussagen entbehren einer wissenschaftlich fundierten Grundlage.
Zusätzliche neurologische Defizite Es entspricht der klinischen Erfahrung, dass zusätzliche neurologische Störungen auf ein schlechteres motorisches Outcome schließen lassen als bei einer reinen Hemiparese/Hemiplegie (»pure motor stroke«). Die gegenwärtige Studienlage zu dieser Frage ist wenig schlüssig, mit eher noch niedrigem Evidenzniveau, da die Zielvariablen (von motorischen Defiziten auf Impairmentebene bis Aktivitäten des täglichen Lebens), die eingesetzten Messinstrumente, die Erfassung und Quantifizierung der zusätzlichen neurologischen Zeichen (Schweregrad/Ausmaß von Neglect, Apraxie etc.) und die Studiendesigns uneinheitlich und kaum vergleichbar sind. Dennoch
3.
4. 5.
Hemianopsie → ungünstigerer Verlauf (Haerer 1973, Han et al. 2002, Kwakkel et al. 2003, Patel et al. 2000) Neglect (und räumlich-konstruktive Störungen) → ungünstigerer Verlauf (Han et al. 2002, Appelros et al. 2002) Anosognie für motorische Beeinträchtigungen → eher ungünstigerer Verlauf (Hartman-Maeir 2001, Appelros et al. 2002) Apraxie → ungünstiger, aber auch günstiger Verlauf (Meijer et al. 2003, Pedersen et al. 2001) Somato-sensible Defizite → evt. ungünstigerer Verlauf (Han et al. 2002)
Depression Bei etwa 35% der Patienten, die einen Schlaganfall mit funktionellen motorischen Störungen erleiden, tritt eine klinische relevante Depression (DSM-IV) auf, und zwar unabhängig vom Ort der Hirnschädigung (links- oder rechtshemisphärisch) (Carson et al. 2000). In der Mehrzahl der Studien zeigt sich, dass Patienten mit Depression motorisch einen funktionell schlechteren Status aufweisen, initial ebenso wie bei Entlassung oder nach 6 Monaten (Paolucci et al. 2001, van de Weg et al. 1999). Allerdings kam es in der Gruppe der depressiven Patienten zu einem Zuwachs an funktionell-motorischen Leistungen parallel dem der Gruppe der nicht-depressiven Patienten (RMI, BI, FIM, RAP). Bei nur leicht- bis mittelgradigen Einschränkungen der Armfunktion fand Platz (2003) keine wesentliche Beeinflussung durch psychologische Faktoren. > Eine medikamentöse antidepressive Behandlung führt zu einer verbesserten motorischen Rückbildung im Vergleich zu (antidepressiv) unbehandelten Patienten und verbessert die depressive Symptomatik. Wegen des doppelten therapeutischen Effekts ist eine antidepressive Behandlung bei Schlaganfall indiziert.
Therapiewirksamkeit jTherapiemethode Therapeutische Strategien, die zur Behandlung in der motorischen Rehabilitation eingesetzt werden, haben einen jeweils unterschiedlichen Einfluss auf das Outcome und damit auf die Prognose. Eine Reihe von Untersuchungen belegt ein besseres Outcome durch spezifische Interventionen wie 4 repetitives Üben, 4 Motor Relearning Programme oder 4 Constraint Induced Movement Therapy
239 16.4 · Befunderhebung und Diagnostik
im Vergleich zu 4 konventioneller Physiotherapie oder 4 einer der neurophysiologischen Schulen (für die obere Extremität s. Woldag u. Hummelsheim 2002, Platz 2003).
Akutphase nach Schlaganfall) sowohl für die motorische (Impairment bezogene) als auch funktionelle (aktivitätsbezogene) Verbesserung in der oberen und unteren Extremität gesichert werden (Hendricks et al. 2002).
Placebo-Vergleichsstudien, d.h., den Patienten ohne oder mit einer definitiv wirkungslosenTherapie zu belassen, sind nicht mit dem Auftrag der Rehabilitation zu vereinbaren. Diese methodische Schwierigkeit wird umgangen, indem das zu überprüfende Verfahren als zusätzliches Verfahren (»add on«) gegen ein als wirkungslos angenommenes »add on« geprüft wird (Bütefisch et al. 1995, Feys et al. 1998, Winstein et al. 2004). Bei den in . Übersicht 16.8 aufgelisteten Behandlungsverfahren konnte die Wirksamkeit in mehreren Studien mit ausreichender Evidenz belegt werden; sie sind somit als prognostisch günstig einzuschätzen.
Beispiel
. Übersicht 16.8. Behandlungsverfahren mit belegter Wirksamkeit 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Aufgabenorientiertes Vorgehen und Motor Relearning Programme Repetition Krafttraining CIMT (Constraint Induced Movement Therapy) Laufbandtraining Biofeedback TES (therapeutische Elektrostimulation)
jTherapiedosis (Intensität/Dauer) Bei der Frage nach dem prognostischen Wert einer Behandlungsmethode interessiert neben der Frage nach dem Therapieverfahren auch die Frage, ob bei physiotherapeutischen Maßnahmen eine Dosis-Wirkung-Beziehung besteht. Eine Reihe von Studien (Sunderland et al. 1992, Feys et al. 1998, Sterr et al. 2002) geben Hinweise zu dieser Annahme. Der Dosiseffekt konnte allerdings nur für funktionell übende Therapieformen (Motor Relearning Programme, repetitives Training, aufgabenorientiertes Üben) nachgewiesen werden, nicht jedoch für traditionelle Therapieformen (Bobath) (Lincoln et al. 1999). Kwakkel hat mit einer Meta-Analyse der vorliegenden Studien (Kwakkel et al. 1997) einen kleinen, aber statistisch signifikanten Intensitätseffekt zeigen können, und zwar in Bezug auf neuromuskuläre, funktionelle und alltagsbezogene Parameter. Für diese Befunde liegt somit ein hoher Evidenzgrad (Ia) vor.
Bei plegischen Patienten erlauben Tibialis-MEP die Vorhersage von Verbesserungen der Beinmuskulatur und selbständigen Transferleistungen, aber nicht für selbständiges Gehen. MEP des M. vastus medialis haben keine prognostische Kraft (Hendricks et al. 2003).
Fazit Die Vorhersagegenauigkeit der MEP für das motorische Outcome scheint insgesamt deutlich höher zu liegen als die der Erfassung von klinischen Zeichen (Hendricks et al. 2002).
jFunktionelle Bildgebung von/in Motor Recovery In den vergangenen Jahren wurden vermehrt Anstrengungen unternommen, auch in der funktionellen Bildgebung Indikatoren und prognostische Faktoren zu identifizieren, die Aussagen über den Verlauf und den zu erwartenden Outcome ermöglichen. Fazit Eine prognostische Aussage anhand von Daten der funktionellen Bildgebung scheint noch nicht möglich (Feydy et al. 2002, Ward et al. 2003).
jNicht-ärztliches Expertenwissen Im Übrigen sollte nicht übersehen werden, dass auch das Expertenwissen der Physio- und Ergotherapeuten und selbst die intuitive Einschätzung der Patienten einen überraschend hohen Vorhersagewert haben. Näher betrachtet Vorhersagewert von Physio- und Ergotherapeuten In einer Untersuchung wurden anhand von völlig anonymisierten Daten von 29 Schlaganfallpatienten die Prognose anhand der RMA-Scores eingeschätzt. Beide Gruppen erzielten einen hohen Grad an »accuracy« in ihrer Vorhersage (Jones 1998). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine Untersuchung an 91 Schlaganfallpatienten, deren funktionell-motorisches Outcome in 6 Monaten von Physio- und Ergotherapeuten 2 und 5 Wochen nach Schlaganfall zutreffend vorhergesagt wurde, allerdings mit einer insgesamt etwas zu pessimistischen Tendenz (Kwakkel et al. 2000).
Fazit Die Behandlungsintensität bei übendem Vorgehen stellt für Verlauf und Prognose des Outcome einen nachgewiesenen prognostisch günstigen Faktor dar.
16.4
Befunderhebung und Diagnostik
Technische Indizes
16.4.1
Klinisch-neurologische Untersuchung
jMotorisch evozierte Potenziale (MEP) In einem systematischen kritischen Überblick über die Literatur konnte der prognostische Wert der MEP (Auslösbarkeit eines MEP nach transkranieller Magnetstimulation in der
Ziel der klinisch-neurologischen Untersuchung ist, offenkun-
dige und latente neuronale Funktionsstörungen zu erfassen und Syndromen zuzuordnen, um den krankhaften Prozess im
16
240
Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
Nervensystem zu lokalisieren. Sie dient der topischen Diagnostik und der Erfassung des Ausmaßes von Funktionseinschränkungen.
Routineuntersuchung Die klinische Routineuntersuchung zum UMNS umfasst die in . Übersicht 16.9 aufgelisteten Parameter. . Übersicht 16.9. Parameter der klinisch-neurologischen Untersuchung 1. 2. 3.
Reflexänderungen Tonusveränderungen Prüfung von – Kraft – Feinmotorik – Diadochokinese – Posturale Leistungen – Gang
Feinmotorische Leistungen werden erfasst durch 4 Ausführung des Spitzgriffs oder 4 Prüfung, ob und wie schnell die Fingerkuppen der Finger II–V auf die Kuppe des opponierenden Daumens gebracht werden können.
Die Untersuchung der Diadochokinese wird eingeordnet als Prüfung der Koordination, gibt aber auch Auskunft über Kontraktions- und Dekontraktionsgeschwindigkeit der Muskeln, da dabei ein rasches, alternierendes Aktivieren antagonistischer Muskelgruppen verlangt wird. Eine unzureichende Dauer der Kraftentwicklung wird als neurologisches Zeichen einer Motor Impersistence eingeordnet. In der Praxis beschränkt sich deren Prüfung auf die Gesichts- und Zungenmuskulatur (Augen zukneifen, Zunge herausstrecken für 15 Sekunden).
Apparative Messungen
16
jElektromyographie (EMG) Die Elektromyographie (EMG) spielt in der Beurteilung der zentralen Motorik nur eine untergeordnete Rolle. Das Oberflächen-EMG ermöglicht, das Ausmaß der Rekrutierung motorischer Einheiten unter definierten Anforderungen (z.B. Halten einer Federkraft von 5 kp) zu erfassen. Die Aktivierung motorischer Einheiten kann durch Berechnung der Fläche unter dem gleichgerichteten Summen-EMG quantifiziert werden. Durch Mehrkanalableitungen kann die Aktivität mehrerer antagonistischer Muskeln (oder Muskelgruppen) quantitativ, im zeitlichen Verhältnis zueinander erfasst vwerden. jTranskranielle magnetische Kortexstimulation (TMS) Die Technik der transkraniellen magnetischen Kortexstimulation (TMS) ermöglicht eine direkte, fokale Kortexstimulation. Der Erfolg der Kortexreizung besteht in einer von Reizort
und -stärke abhängigen fokalen Muskelzuckung und wird elektromyographisch (s.o.) im Zielmuskel registriert: 4 Die Zielvariablen sind Latenz und Amplitude der EMG-Antwort (motorisch evoziertes Potenzial, MEP). 4 Die Reizschwelle wird definiert als Prozentsatz der maximalen Leistung des Geräts. 4 Die Messung ermöglicht eine direkte flächige Kartierung (und Veränderung) vor allem des Handareals (Position C3 und C5 des 10-20-Systems) des primär-motorischen Kortex. 4 Zudem lässt sich die zentrale motorische Leitungszeit ermitteln und darüber der funktionelle Status der kortikospinalen Bahnsysteme (im Jargon: Pyramidenbahn). Fazit Die Wertigkeit der TMS liegt in der prognostischen Aussagekraft zur Funktionsrestitution (7 Kap. 16.1.2.4; zur Übersicht s. Hendricks et al. 2002, 2003) und der Erfassung plastischer Veränderungen im Motorkortex (Fridman et al. 2004).
16.4.2
Funktionsorientiertes Assessment
Neben der neurologischen Untersuchung müssen entsprechend der ICF 4 Körperfunktionen und -strukturen sowie 4 Aktivitäten mit motorischen Funktions- oder ADL-Skalen mit anerkannten validen Testinstrumenten erfasst werden. Nachfolgend wird eine Liste von gängigen, in der Literatur häufiger benutzten Skalen aufgeführt. Eine sichere Zuordnung der verschiedenen Messinstrumente zu den Kategorien der ICF (Körperstruktur/Körperfunktion – Aktivität – Partizipation) ist für die Mehrzahl der angeführten Verfahren, besonders, wenn es sich um komplexe Instrumente handelt, derzeit noch nicht möglich. Weitergehende Übersichten über Instrumente und Skalen zur quantitativen Erfassung motorischer Leistungen und kritische Wertungen finden sich bei Wade (1992) und Hesse (1994). Besonders sog. Stroke-Outcome-Skalen wurden einer kritischen Wertung unterzogen.
Körperstruktur/Körperfunktion jMRC-Kraftgrade Auf der Ebene von Muskeln wird zunächst die maximal mögliche, willkürliche Kraftentfaltung in einzelnen Muskeln auf Grundlage des Muskeltests erfasst. 5 4 3 2 1 0
Maximal möglicher Widerstand Mäßiger Widerstand Bewegung gegen die Schwerkraft Bewegung unter Ausschaltung der Schwerkraft Kontraktion ohne Bewegungseffekt Keine Kontraktion sichtbar oder palpabel
Diese Bewertung der Muskelkraft wurde für die Beurteilung peripherer Paresen entwickelt. In jüngerer Zeit wird sie auch für zentrale Paresen empfohlen (Wade 1992).
241 16.4 · Befunderhebung und Diagnostik
Im klinischen Alltag ist die Faustschlusskraft auch der apparativen Untersuchung zugänglich. Dazu wird ein sog. Handdynamometer verwendet. Mehrere Modelle mit unterschiedlicher technischer Zurüstung sind auf dem Markt erhältlich. Die Bedeutung der Messung der Handgriffkraft liegt in der Vorhersagekraft für die Wiedererholung der Handfunktion (Kwakkel et al. 2003). jMuskeltonuserhöhung kAshworth-Testung Spastische Tonuserhöhungen können klinisch mit der (modifizierten) Ashworth-Testung erfasst werden. Geprüft wird dabei – auf Grundlage der Definition von Spastik nach Lance (1980) – welcher Widerstand beim passiven Bewegen ausgelöst wird. Die von Ashworth (1964) vorgeschlagene Testung umfasst nur 5 Stufen. kBohannon-Skala Bohannon (1987) hat aufgrund der besseren Zuverlässigkeit eine Modifikation auf 6 Stufen vorgeschlagen. Der Widerstand wird nach der Bohannon-Skala wie folgt bewertet: 0 1 2 (1+) 3 (2) 4 (3) 5 (4)
Keine Tonuserhöhung Leichte Tonuserhöhung Leichte Tonuserhöhung: Widerstand auf ca. der Hälfte des Bewegungswegs Deutliche Tonuserhöhung: Widerstand auf dem gesamten Bewegungsweg Starke Tonuserhöhung: Passive Bewegung ist schwierig Passive (schnelle) Bewegung kaum möglich
Getestet wird i.d.R. in Flexions-Extensions-Richtung aller großen Extremitätengelenke. Bei speziellen Fragestellungen können auch andere Bewegungsrichtungen (z.B. Interkondylenabstand, s.u.) gewählt werden. Fazit Rigide und dystone Formen der Tonuserhöhung können mit der Ashworth-Testung nur unzureichend erfasst werden. Bei diesen Formen der Tonuserhöhung müssen die tonischen Muster beschrieben werden.
kTestung nach Tardieu Tardieu (Tardieu et al. 1954) hat vorgeschlagen, eine Tonuserhöhung durch passives Bewegen und spastische Komponenten durch die Bewegungsgeschwindigkeit zu erfassen. Die Testung erfolgt mit unterschiedlichen Bewegungsgeschwindigkeiten (modifiziert nach Gracies et al. 2000). V1 V2 V3
So langsam wie möglich (zur Erfassung pROM) Extremität wird der Schwere nach fallen gelassen So schnell wie möglich (schneller als Schwerkraft)
Erfasst wird, bei welcher Gelenkstellung und Geschwindigkeit ein Widerstand spürbar ist oder ein Klonus ausgelöst wird. Bei Kindern mit Zerebralparese ist die Inter-Rater-Reliabilität
(Definition, 7 Kap. 43) besser als mit der modifizierten Ashworth-Skala (Fosang et al. 2003). Definition 5 Range of Motion (pROM): Das passive Bewegungsausmaß (pROM) erfasst artikuläre Einschränkungen und Muskelverkürzungen und wird nach der Neutral-Null-Methode dokumentiert (z.B. Flexion/Extension im Hüftgelenk 900/100/00). 5 Range of Motion (aROM): Das aktive Bewegungsausmaß (aROM) erfasst die selektive Bewegungsfähigkeit und wird ebenfalls nach der Neutral-Null-Methode dokumentiert. 5 Interkondylenabstand: In Rückenlage wird der maximal mögliche Abstand zwischen den Femurkondylen (in cm) bei langsamer und schneller Abduktionsbewegung gemessen. Damit werden Muskellänge und Spastik der langen Hüftadduktoren erfasst.
Fazit Hypotonien als Folge zentraler Läsionen lassen sich mit diesen Skalen nicht objektivieren. Rigide und dystone Tonuserhöhungen können mit diesen Skalen nur unzureichend erfasst werden. Zusätzlich muss das tonische Muster beschrieben und das passiv mögliche Bewegungsausmaß geprüft werden. Eine apparative Erfassung der Spastik hat sich klinisch nicht durchgesetzt.
jMotorische Funktionsskalen Generalisierte Funktionstests, die alle Kategorien motorischer Leistungen umfassen, sind: 4 Rivermead Motor Assessment (Lincoln u. Leadbitter 1979), 4 Motor Function Assessment Scale (MFAS) (Freivogel u. Piorreck 1990). jPosturale Kontrolle Als Tests für die posturale Kontrolle bieten sich an: 4 Trunk Control Test (Wade 1992), 4 Bohannon-GGR-Test (Wade 1992), 4 Functional Reach Test (Shumway-Cook u. Woollacott 1995), 4 Berg Balance Scale (BBS) (Shumway-Cook u. Woollacott 1995), 4 Time-Up-and-Go-Test (Podsiadlo u. Richardson 1991). Apparativ kann die posturale Kontrolle mit Messplattformen (Diener u. Dichgans 1988, Hamid et al. 1991) und dynamischer Posturographie (Nashner et al. 1990) erfasst werden. Praxistipp Bei neurologischen Patienten kann die Posturographie Störungen der Gleichgewichtsregulation sensitiver aufzeigen als die klinischen Tests (Scherzer et al. 1996).
16
242
Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
jLokomotion Als Lokomotionsskalen werden eingesetzt: 4 FAC (Functional Ambulation Categories) (Holden 1984). 4 10-Meter-Test: Erfasst werden benötigte Zeit und Schrittzahl für 10 Meter (Perry 1992). 4 6-Minuten-Test/maximal mögliche Gehstrecke: Gemessen wird, wie weit ein Patient in 6 Minuten bei selbstgewähltem Tempo auf einem festgelegten Parcours gehen kann. Das Gehen darf für maximal 15 sec unterbrochen werden. Bei längerer Unterbrechung wird die bis dahin bewältigte Strecke berechnet. 4 Time-Up-and-Go-Test (Podsiadlo u. Richardson 1991). Computergestützte Ganganalysesysteme können Information über Abläufe und Kräfte beim Gehen liefern, die aus der bloßen Beobachtung nicht zu erhalten sind. Der technische Aufwand ist allerdings groß und die Datem mit einer Fülle von Einzelinformationen befrachtet (Rose u. Gamble 1994). Fazit Die computergestüzte Ganganalyse detektiert nicht, welches der entscheidende Parameter für die funktionelle Verbesserung der Gehfähigkeit ist. Das Gleiche gilt für die beobachtende Ganganalyse. Funktionelle Verbesserungen können mit dem 10-Meter-Test und dem 6-Minuten-Test klinisch zweifelsfrei erfasst werden.
16
jGreifen und Manipulation Diese funktionellen Tests erfassen motorische Leistungen auf den Ebenen von Körperfunktion und Aktivitäten: 4 Wolf Test: für leichte, mittlere und schwere Einschränkung (Bauder et al. 2001); 4 Action Research Arm Test (ARAT): für mittlere bis schwere Einschränkung (Wade 1992); 4 Frenchay Arm Test: für leichte bis mittlere Einschränkung (Wade 1992); 4 Box-and-Block-Test: für leichte bis mittlere Einschränkung (bei vorhandener Greiffunktion) (Wade 1992); 4 Nine-Hole-Peg-Test: für leichte Einschränkung (Wade 1992).
Aktivitätsskalen Aktivität kann auch durch ADL-Skalen (Activity of Daily Living) abgebildet werden. Am gebräuchlichsten sind: 4 Barthel-Index, 4 erweiterter Barthel-Index (EBI) und 4 FIM-Skala (7 Kap. 43). Zur Erfassung der Teilhabe werden weitere Assessments eingesetzt, z.B.: 4 Canadian Occupational Performance Measure (COPM) (George 2002), 4 Motor Activity Log nach Taub (MAL) (Bauder et al. 2001) oder 4 Interviews.
16.5
Therapie
16.5.1
Traditionelle Konzepte
Die traditionellen sog. neurophysiologischen Behandlungskonzepte sind im letzten Jahrhundert auf Basis der damals gültigen neurophysiologischen Erkenntnisse entwickelt worden. Die Technik der einzelnen Methoden (Bobath, PNF, Vojta) ist vom praktischen Vorgehen her unterschiedlich, geht aber auf die gleichen theoretischen Annahmen zurück. > Kerngedanke aller neurophysiologischen Konzepte ist die Förderung des somato-sensiblen Inputs zur Erzielung eines erwünschten motorischen Outputs.
Der Therapeut setzt den Input mit seinen Händen und fazilitiert damit das erwünschte Bewegungsmuster. Dieser Grundsatz gilt auch für einige in jüngerer Zeit entwickelten Konzepte (Affolter, fazioorale Therapie). jBobath-Konzept Kernstück des von Berta Bobath (1976) entwickelten Behandlungskonzepts ist: 4 Inhibition pathologischer Haltungs- und Bewegungsmuster und 4 Fazilitation normaler Bewegungen. Fazilitation und Inhibition erfolgen durch taktile und/oder propriozeptive Stimulation sog. Schlüsselpunkte wie 4 proximale Extremitätengelenke, 4 Halswirbelsäule, 4 Rumpf. Die Annahme ist, dass sich durch wiederholte Fazilitation der erwünschten Bewegungsabläufe die richtigen synaptischen Verbindungen im ZNS etablieren und damit die Voraussetzung für einen normalen Bewegungsablauf geschaffen wird. Werden stattdessen umgekehrt die unerwünschten pathologischen Bewegungsmuster benutzt, werden die falschen synaptischen Verbindungen ausgebildet und so das pathologische Muster im ZNS fixiert, d.h. eingeschliffen. Diese Vorstellung begründet auch das sog. 24-StundenKonzept. Dabei werden alle betreuenden Personen angewiesen, unerwünschte pathologische Bewegungen eines Patienten durch entsprechende Fazilitation zu kontrollieren. Selbständige Aktivitäten eines Patienten müssen so lange unterbleiben, bis ein normaler Bewegungsablauf bei einer normalen Tonusentwicklung möglich ist. Eine umfassende Anleitung zur Anwendung dieses Konzepts für Patienten mit Hemiplegie wurde von P.M. Davies (1986) verfasst. Fazit In jüngerer Zeit wird versucht, den Ergebnissen und Erkenntnissen der Motorikforschung, die das Konzept in vielen Punkten infrage stellt, dadurch gerecht zu werden, dass vermehrt auch zielorientierte Aufgaben und funktionelle Selbständigkeit des Patienten in den Vordergrund gestellt werden.
243 16.5 · Therapie
jPropriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF) Die Technik der Propriozeptiven Neuromuskulären Fazilitation wurde von Hermann Kabat und Margaret Knott (Knott u. Voss 1968) entwickelt. Ziel ist es, durch Stimulation der Proprio-, Extero- und Telerezeptoren die Leistungen des neuromuskulären Systems zu verbessern. Eingesetzt werden als manuelle Techniken
4 Stretch (Muskelspindelreiz) sowie 4 Zug und Druck (als adäquater Reiz für Gelenkrezeptoren). Als telezeptive Stimulation wird das verbal gegebene Kommando verstanden, durch das sich eine Muskelantwort intensivieren oder verringern lässt. Durch die Anwendung der verschiedenen Stimuli zur selben Zeit kommt es zu einer (zeitlichen) Summation, bei Anwendung über einen längeren Zeitraum zur Bahnung der motorischen Antwort. Die Stimulationen erfolgen in bestimmten vorgegebenen Bewegungsmustern. Die Muster orientieren sich an den Körperdiagonalen des Menschen und setzen sich aus komplexen dreidimensionalen Bewegungen zusammen, die der topographischen Anordnung synergistisch arbeitender Muskelgruppen entsprechen. Wird in einem diagonalen Muster ein Widerstand gesetzt, kommt es zu einem Overflow, d.h. einer Erregungsübertragung innerhalb der Muskelkette von stärkeren auf schwächere Muskeln. Diese Irradiation ist der gewünschte Effekt zur Aktivierung der abgeschwächten Muskeln. jVojta-Therapie Diese Behandlungsmethode wurde von Dr. Václav Vojta (1976) bei zerebral paretischen Kindern entwickelt. In jüngerer Zeit wird sie auch bei der Behandlung erwachsener Patienten mit erworbenen Bewegungsstörungen eingesetzt. Zentrales Element der Therapie sind die durch propriozeptive Reize (Periostreize, Muskelspindelreize) an bestimmten Körperstellen ausgelösten komplexen Bewegungsmuster des Reflexkriechens und Reflexumdrehens, die nach Vojta die Bausteine der Reflexlokomotion und die Grundlage für eine normale Bewegungsentwicklung darstellen. Annahme ist, dass es bei täglich mehrfacher Auslösung (durch Therapeut oder Angehörigen) dieser Reflexmuster zu einer Aktivierung der »blockierten« ZNS-Funktionen kommt, und im Weiteren dazu, dass diese Muster Bestandteile der Spontanmotorik werden. jAffolter-Konzept Das Affolter-Konzept wurde von Felicitas Affolter (1987) entwickelt. Im Mittelpunkt des Konzepts steht die Verbesserung der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung, die als grundlegend für motorische und kognitive Leistungen betrachtet wird. Bewegungsstörungen werden dem Grunde nach als taktile Wahrnehmungsstörungen betrachtet. Dementsprechend steht ein passives Führen zur Vermittlung von taktil-kinästhetischer Information im Vordergrund der Behandlung von Bewegungsstörungen. Die taktil-kinästhetische Information
wird anhand des Spürens alltagspraktischer Handlungsabläufe, die geführt durch den Therapeuten erfolgen, vermittelt. jPerfetti-Konzept Die Verbesserung der sensiblen Informationsaufnahme als Voraussetzung für die Verbesserung der Willkürmotorik spielt auch in dem von Perfetti (1997) entwickelten Behandlungskonzept eine zentrale Rolle. Beispiel 4 Die Hand des Patienten wird über unterschiedliche Oberflächen oder Objekte geführt. Dabei wird der Patient aufgefordert, die Empfindung zu interpretieren. 4 In einzelnen Gelenken werden gleiche Bewegungen unterschiedlichen Ausmaßes vorgegeben, z.B. große oder kleine Kreise im Schultergelenk, die der Patient erkennen muss.
Dieser kognitive Aspekt scheint für die Verbesserung der sensiblen Wahrnehmung von wesentlicher Bedeutung, da eine Differenzierung dieser Leistung bei nur passiver Applikation sensibler Reize nicht stattfindet. Offen ist, inwieweit sich dadurch motorische Leistungen verbessern lassen. jZusammenfassung Es gibt eine Vielzahl weiterer Behandlungskonzepte, die zum Teil Einzelaspekte (z.B. Förderung der Mundmotorik oder Manipulation einzelner Wirbelgelenke) ins Zentrum ihrer Bemühungen stellen, zum Teil auch ganzheitliche Ansätze (z.B. Feldenkrais) vertreten, sich aber alle unter dem Prinzip von Fazilitation/Inhibition oder Förderung der somato-sensiblen Afferenzen subsumieren lassen.
16.5.2
Aufgabenorientierte Konzepte
In letzter Zeit haben sich aufgrund neuer Erkenntnisse der Neurophysiologie und des motorischen Lernens aufgabenorientierten Konzepte entwickelt. Synonyme für dieses therapeutische Vorgehen sind die Begriffe task-orientierte, systemorientierte oder Motor-Relearning-Konzepte. Diese Konzepte haben sich in methodischen Studien zur Wirksamkeit als evidenzbasiert erwiesen. Kerngedanke des aufgabenorientierten Vorgehens ist das repetitive Üben motorischer Fertigkeiten unter Berücksichtigung skeleto-muskulärer und lerntheoretischer Aspekte. Im Mittelpunkt steht die selbständige aktive Bewegungsdurchführung des Patienten. Die therapeutische Aufgabe liegt darin, 4 die Alltagsanforderungen zu analysieren, 4 den Prozess des Übens zu strukturieren, 4 die skeleto-muskulären Bedingungen zu optimieren sowie 4 Hilfsmittel und Orthesen, die funktionelle Fertigkeiten ermöglichen, anzupassen. Im Gegensatz zu den traditionellen Verfahren fazilitiert der Therapeut nicht mehr mit seinen Händen einen erwünschten
16
244
Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
Bewegungsablauf, sondern stellt Anforderungen, die eine adäquate motorische Problemlösestrategie provozieren. > Zentral bei diesem Vorgehen sind 4 das repetitive Üben und 4 das kontinuierliche Steigern der Anforderungen (Shaping). Schlagwortartig wird dieses Vorgehen auch als »hands-off«-Konzeption bezeichnet, da die Fazilitation mittels der Therapeutenhände nicht mehr im Zentrum steht.
Beübt werden, auf Grundlage des individuellen Befunds, die betroffenen motorischen Leistungen der Kategorien 4 posturale Kontrolle, 4 Lokomotion, 4 Greifen und 4 Manipulation.
Beim aufgabenorientierten Vorgehen handelt es sich nicht um eine durch eine Einzelperson beschriebene therapeutische Technik, sondern um konzeptionelle Vorgaben, die im wissenschaftlichen Diskurs entstanden sind. Das praktische Vorgehen ist nicht in allen Einzelheiten festgelegt und kann sich in Abhängigkeit von aktuellen Forschungsresultaten modifizieren. Fazit In keiner Literaturübersicht konnte gezeigt werden, dass die traditionellen neurophysiologischen Verfahren in ihrer Wirksamkeit überlegen sind. Da sich das aufgabenorientierte Vorgehen dagegen als spezifisch wirksam erwiesen hat, müssen diese Konzepte in der motorischen Rehabilitation von Patienten mit zentralen Paresen vermehrt eingesetzt werden (Butler u. Darrah 2001). Im Folgenden wird auf Kernelemente und Durchführung des aufgabenorientierten Vorgehens eingegangen.
Näher betrachtet Studien: Wirksamkeitsnachweis für aufgabenorientiertes Training
16
Auch für die Physio- und Ergotherapie wird zunehmend gefordert, dass das therapeutische Vorgehen durch Wirksamkeitsstudien belegt ist. Im englischen Sprachraum werden seit Längerem Studien zur Wirksamkeit verschiedener therapeutischer Vorgehensweisen bei Patienten mit erworbenen zentral-motorischen Defiziten durchgeführt. Die erste Studie wurde 1970 von Stern et al. (1970) publiziert. Es folgten Studien von Logigian et al. (1983), Lord und Hall (1986), Dickstein et al. (1986) und Basmajian et al. (1987). in diesen Studien wurde die Wirksamkeit traditioneller neurophysiologischer Behandlungsmethoden (überwiegend Bobath; in der Studie von Stern auch PNF und z.T. auch die im englischen Sprachraum gebräuchlichen Methoden nach Rood und Brunnstrom) mit einem unspezifischen funktionellen Training oder mit Biofeedback verglichen. Die Arbeiten belegen grundsätzlich alle eine Verbesserung motorischer Fertigkeiten durch Physiotherapie. In keiner Studie zeigte sich jedoch eine bessere Wirksamkeit der neurophysiologischen Behandlungsmethoden. Langhammer und Stanghelle (2000) publizierten im Jahre 2000 eine randomisierte, kontrollierte Studie, in der sie die Wirksamkeit von Bobath mit dem aufgabenorientierten Behandlungsansatz verglichen. Sie teilten die Patienten, die mit einem ersten Schlaganfall in die Akutklinik eingeliefert wurden, rein zufällig in zwei Gruppen ein. In Bezug auf die moto-
rischen Defizite, Alter, Geschlecht und betroffene Seite waren die beiden Gruppen nicht unterschiedlich. Die eine Gruppe erhielt Physiotherapie nach der BobathMethode, die andere nach den Grundlagen des Motor-Relearning-Programms (aufgabenorientierter Behandlungsansatz) (Carr u. Sheperd 1987). Das therapeutische Vorgehen in beiden Gruppen wurde detailliert in einem Handbuch festgehalten. Resultat dieser Studie war, dass die Patienten der aufgabenorientierten Behandlungsgruppe bei Entlassung in den motorischen Leistungen signifikant besser waren als die der Bobath-Gruppe. Außerdem war die Zeit bis zur Entlassung in dieser Gruppe deutlich kürzer als in der Bobath-Gruppe. Mit dieser Studie konnte gezeigt werden, dass es für Patienten mit zentral-motorischen Defiziten neuere therapeutische Verfahren gibt, die wirksamer sind als die bisherigen – und zwar mit einer Studie, deren Design dem sog. Goldstandard entspricht, und deren Methodik im Gegensatz zu den früheren Studien zu keinerlei Kritik Anlass gibt. Die Autoren publizierten 2003 eine Follow-up-Studie dieser beiden Patientengruppen, 1 und 4 Jahre später (Langhammer 2003). Es zeigte sich, dass es unabhängig von der initialen Behandlungsmethodik in der häuslichen Umgebung zu einer raschen Verschlechterung der ADL-Leistungen und motorischen Funktionen und damit zu einer verstärkten Pflegeabhängigkeit kommt. Die Autoren
der Studie weisen auf einen großen Unterschied der Therapieintensität zwischen akuter Phase und Langzeitverlauf hin. Das Ergebnis der Studie könnte dahingehend interpretiert werden, dass 4 zum einen der Transfer motorischer Leistungen von der Therapiesituation in den Alltag problematisch ist, 4 zum andern, dass motorische Fertigkeiten nur dann stabil bleiben, wenn sie durch Alltagsanforderungen genutzt und Kraft, Ausdauer und posturale Kontrolle in ambulanter Physiotherapie regelmäßig trainiert werden. Systematische Reviews zur Wirksamkeit unterschiedlicher therapeutischer Verfahren liegen von verschiedenen Autoren (Paci 2003, Woods u. Duncan 1997, Platz 2003) vor. Zur Wirksamkeit der unterschiedlichen therapeutischen Methoden zur Behandlung von posturaler Kontrolle und Beinfunktion nach Schlaganfall liegt eine Meta-Analyse der Cochrane-Kollaboration von 1999 vor; wegen der Heterogenität der untersuchten Parameter hinsichtlich der Überlegenheit einer Methode konnten noch keine Aussagen getroffen werden (Pollock et al. 2003). Außerdem gibt es Meta-Analysen der Cochrane-Kollaboration für das Laufbandtraining (Moseley et al. 2003) und für die Wirksamkeit der Bobath-Methode in der Behandlung von Kindern mit infantiler Zerebralparese (Butler u. Darrah 2001).
245 16.5 · Therapie
Kernelemente des aufgabenorientierten Trainings jMotorisches Lernen Die aufgabenorientierte Übungstherapie stützt sich auf die Prinzipien des motorischen Lernens. Der Wiedererwerb motorischer Fertigkeiten nach zentralen Läsionen muss als motorischer Lernprozess verstanden werden. Dieser Lernprozess kann nach Fitts und Posner (1967) in unterschiedliche Anteile eingeteilt und vom therapeutischen Vorgehen her wie in . Übersicht 16.10 gestaltet werden. . Übersicht 16.10. Phasen des Lernprozesses bei motorischen Lernen 1.
2.
3.
Kognitive Phase: Unterstützung des Therapeuten ist essenziell. Externe therapeutische Informationen auf die wichtigsten Aspekte beschränken und wenig variieren Assoziative Phase: Vorsichtig variieren, gezieltes Feedback des Therapeuten, jedoch nicht nach jeder einzelnen Bewegungsdurchführung Autonome Phase: Regelmäßig variieren, Schwierigkeiten einbauen, Teilaspekte optimieren
kÜbungsanforderung > Da beim Bewegungslernen die Motivation zentral ist, ist es sinnvoll, 4 vorrangig die Funktionen zu trainieren, für die vonseiten des Patienten eine große Bereitschaft besteht, und 4 Übungssituationen zu wählen, bei denen der Bewegungserfolg für den Patienten ersichtlich ist.
Die Anforderungen müssen für den Patienten gerade noch zu bewältigen sein und je nach Leistung kontinuierlich gesteigert (Shaping) oder bei (wiederholtem) Misserfolg auch reduziert werden. Nur durch Wiederholung und Rückmeldung, ob ein Bewegungsziel erreicht wurde oder nicht, kann ein Bewegungsprogramm optimiert werden. Rückgemeldet wird dem ZNS, ob die gewählte Bewegungsstrategie erfolgreich/nicht erfolgreich war. Diese Reafferenz wird vom ZNS genutzt, um bei einem nachfolgenden Bewegungsablauf das Bewegungsprogramm und damit die muskuläre Aktivierung zu optimieren. Daher ist zur Optimierung eines Bewegungsablaufs die Wiederholung unabdingbar. kManuelle Unterstützung > Die manuelle Unterstützung des Therapeuten ist in der ersten Lernphase zulässig, sollte aber so gering wie möglich gehalten werden.
Eine Arbeit von Gordon (1968) zeigt, dass 4 die Performance in der Phase des Erwerbs (kognitive Phase) beim Führen besser ist,
4 Retention (Behaltensleistung, assoziative Phase) und Transfer (autonome Phase) jedoch deutlich schlechter
sind als beim Erlernen einer motorischen Fertigkeit ohne manuelle Führungshilfe. Carr und Shepherd (1982) gehen in ihrem Motor-RelearningProgramm davon aus, dass sich die manuelle Unterstützung beschränken sollte auf 4 das passive Positionieren, 4 die Vorgabe einer Bewegungsidee und 4 die passive Stabilisation nicht beübter Bewegungskomponenten. kFeedback Bewegungslernen erfolgt in erster Linie über intrinsisches Feedback zur Bewegungswahrnehmung und zum Bewegungserfolg. Neben dem intrinsischen kann auch externes Feedback zum Bewegungsablauf durch den Therapeuten oder auch Biofeedback erfolgen: 4 Externes Feedback kann in der Phase des Erwerbs (kognitive Phase) während der Durchführung erfolgen. 4 In späteren Lernphasen muss es mit Latenz erfolgen, um nicht mit internen Fehlererkennungsprozessen zu kollidieren (Majsak 1996). Die externe Rückmeldung zum Bewegungsablauf muss sich auf relevante Information beschränken und kann, wie eine neuere Arbeit zeigt, bei Patienten mit Schlaganfall auch das implizite Erlernen einer motorischen Sequenz verschlechtern (Boyd u. Winstein 2003). > Auch beim motorischen Lernen gelten die Grundsätze der psychologischen Lerntheorie (Taub et al. 1993). Daher sollte der Therapeut erfolgreiche Bewegungsabläufe verbal loben, um diese positiv zu verstärken. Die positive Verstärkung erfolgt in frühen Lernphasen während der Durchführung und konkret, in späteren Lernphasen mit Latenz und intermittierend.
kPausendauer Wesentlich ist neben der Wiederholungsanzahl und der Übungsdauer auch die Pausendauer: 4 Bei einfachen Bewegungen sollte die Pause nach einem Bewegungsdurchgang die Hälfte der Bewegungszeit betragen, 4 bei komplexen Bewegungen sollte die Pause bis doppelt solange dauern (Weiss u. Miltner 2001). Auch zur Frage, wie lange die Pausen zwischen den Therapiezeiten sein sollen, liegen Hinweise vor. Es ist davon auszugehen, dass eine Konsolidierung von erworbenen motorischen Fertigkeiten während des Nachtschlafs erfolgt (Walker et al. 2003). Ein ausreichend langer Nachtschlaf ist in Therapiephasen sinnvoll und notwendig.
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246
Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
jRepetition (repetitives Basistraining und Shaping) kObere Extremität Näher betrachtet Studien: Repetitives Training Bütefisch (1995) konnte in einer Studie mit einem multiple Baseline-/Cross-over-Design zeigen, dass der Zuwachs an motorischen Fertigkeiten in den Phasen, in denen repetitiv Hand- und Fingerflexoren/-extensoren trainiert wurden, signifikant größer war als in den Phasen, in denen die Patienten nach dem Bobath-Prinzip behandelt wurden. Die Bedeutung der häufigen Wiederholung einfacher stereotyper Bewegungen für die motorische Funktionserholung der oberen Extremität wurde in weiteren Studien untersucht (Feys et al. 1998) und bestätigt. Feys legte 2004 eine Follow-up-Studie vor, die aufzeigt, dass die positiven Effekte der Gruppe mit repetitivem Armbewegen (Drücken des Arms im Schaukelstuhl) auch nach 5 Jahren noch nachweisbar waren (Feys et al. 2004). Demgegenüber hat Woldag (2003) gezeigt, dass das isolierte repetitive Training komplexer Bewegungen der oberen Extremität einem funktionell orientierten Training nicht überlegen ist und weist damit auf die Notwendigkeit des Shapings bei komplexen Hand-Arm-Bewegungen hin.
Die Datenlage erlaubt jedoch noch keinen abschließenden Überblick zur Verbesserung funktioneller Fertigkeiten durch Krafttraining. Anzunehmen ist, dass Krafttraining dann effektiv ist, wenn es für die gewünschte Aktivität spezifisch ist (Ng u. Shepard 2000). Bestätigt wurde die Wirksamkeit eines spezifischen Krafttrainings auch für die obere Extremität (Winstein et al. 2004). Indirekt weist auch eine neue Arbeit von Canning (2004), in der gezeigt wurde, dass ein Kraftdefizit wesentlicher für das funktionelle Ergebnis ist als die Geschicklichkeit, auf die Wirksamkeit eines Krafttrainings hin. jMentales Training Das Training von motorischen Funktionen oder Aktivitäten über Bewegungsvorstellung wird als mentales Training, Imagery oder kognitives Training bezeichnet. Paresen und Plegien verhindern oft eine flüssige aktive Bewegungsausführung, während die kognitive Bewegungsvorstellung noch intakt sein kann (Johnson et al. 2002).
Mit Shaping ist die sukzessive Steigerung des Schwierigkeitsgrads einer motorischen Anforderung – in Abhängigkeit vom Bewegungserfolg – hin zur der funktionell erwünschten Fertigkeit gemeint.
> Bewegungsvorstellung aktiviert dieselben Hirnareale wie die tatsächliche aktive Ausführung (Page et al. 2001) und kann dadurch Bewegungsprogramme optimieren!
Beispiel
Im Sporttraining und bei Musikern wird mentales Training seit langem eingesetzt. In der Rehabilitation von zentralen Läsionen wird es erst seit wenigen Jahren ausprobiert.
Ist das Ziel das Trinken aus einer Tasse, müssen dazu zuerst folgende Elemente geübt werden: 4 Fingeröffnung, 4 Greifen, 4 Handgelenkstabilisation, 4 Stabilisation des Armgewichts und 4 Bewegung des Arms im Raum.
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Repetitives Krafttraining der Muskeln der unteren Extremität führt bei hemiparetischen Patienten zu 4 einem Kraftzuwachs (Weiss et al. 2000) und 4 einer Verbesserung von Ganggeschwindigkeit und Gehstrecke.
Erst wenn die einzelnen Elemente erlernt sind, ist die komplexe Bewegung möglich. Jedes Element stellt eine neue Anforderung dar und muss den Lernstufen entsprechend geübt werden. kUntere Extremität Für die untere Extremität konnte der Vorteil des isolierten Übens von Teilbewegungen zur Verbesserung der Gehfähigkeit (mit Ausnahme des Krafttrainings, s.u.) nicht belegt werden. Erfolgreicher ist das repetitive Üben des komplexen Bewegungsablaufs von Stand- und Spielbeinphase als Laufbandtraining oder Üben des Gehens an sich. jRepetitives Krafttraining > Krafttraining ist repetitives Üben von isolierten Bewegungen gegen kontinuierlich zunehmenden Widerstand. Auch dabei werden die Prinzipien des Shapings und der Repetition berücksichtigt.
Näher betrachtet Fallserie: Mentales Training In einer randomisierten kontrollierten Fallserie (n=13) zeigten die Patienten der Interventionsgruppe (Vorstellen aufgabenorientierter Bewegungen mit Tonband) im Action Research Arm Test (ARAT) und Fugl-Meyer-Test einen deutlich höheren Zuwachs (Page et al. 2001). Nach einem motorischmentalen Training von 2 Wochen bei akut betroffenen Schlaganfallpatienten verbesserten sich 9 von 10 Patienten im Motricity Index signifikant (Crosbie et al. 2004). Motor Imagery zuhause ohne therapeutiche Supervision verbessert die Leistung nur für die imaginierte (und parallel dazu physisch trainierte) Aufgabe (Dijkerman et al. 2004). Mentales Training kann auch eingesetzt werden bei Patienten, die noch nicht über die motorischen Fähigkeiten verfügen, selbst aktiv zu üben. Als Ergänzung zum aufgabenorientierten Vorgehen scheint es die funktionelle Erholung verstärkt zu fördern.
247 16.5 · Therapie
jSpiegeltherapie > Das Bild des weniger betroffenen und damit die vermeintliche Ansicht des betroffenen Arms im Spiegel ersetzt evt. einen propriozeptiven Reiz und könnte mithelfen, den prämotorischen Kortex zu rekrutieren (Altschuler et al. 1999, Seitz et al. 1998).
Stevens und Stoykov (2004) trainierten an 2 Patienten Handgelenk-, Greif- und Objektbewegungen mithilfe eines Spiegelkastens. Beide Patienten zeigten Verbesserungen in den klinischen Skalen sowie in der Bewegungsgeschwindigkeit, die auch nach 3 Folgemonaten noch erhalten waren. Nach einem Training mit Spiegel in Kombination mit kognitiver Therapie zeigten Patienten verbesserte selektive Bewegungen, Sensibilität und eine Verringerung des Muskeltonus (Miltner 2000). Die Spiegeltherapie ist nicht zu verwechseln mit dem sog. Spiegeltraining, das sich auf die Beobachtung stützt, dass prämotorische Neurone auch bei der Beobachtung von komplexen zielgerichteten Bewegungen aktiviert werden (Binkoski et al. 2004). Deshalb wird das Anschauen von zu erlernenden Bewegungen in der Bewegungstherapie miteingesetzt. Fazit Sinnvoll erscheint eine Kombination aus 4 Übungssequenz, 4 Pause und 4 Beobachten eines Bewegungsablaufs. Vorstellbar ist ein Training in Kleingruppen mit 3 Teilnehmern, wobei sich die Teilnehmer in Durchführung, Beobachtung und Pause abwechseln.
jRhythmisch-akustisch intendiertes Training Bei der Lokomotion bewirken externe Taktgeber Auslösung (Priming) und Synchronisation der Muskelaktivität. Dieses Prinzip scheint auch für funktionelle Fertigkeiten der oberen Extremität zu gelten (Whitall et al. 2000).
Skeleto-muskuläre Bedingungen und Hilfsmittelversorgung jSkeleto-muskuläre Bedingungen Tonuserhöhung und verminderte Aktivierung bei zentralen Paresen führen dazu, dass nicht der gesamtmögliche Bewegungsradius genutzt wird. Dies bewirkt im Laufe der Zeit muskuläre Verkürzungen und damit eine Einschränkung des passiven Range of Motion (pROM) (Odwyer et al. 1996). Ob es dadurch auch zu artikulären/kapsulären Bewegungseinschränkungen kommt, ist derzeit unbelegt. Durch eine jüngere Untersuchung wurde die Befürchtung widerlegt, dass unerwünschte Bewegungssynergien/assoziierte Reaktionen die Entwicklung von muskulären oder artikulären Kontrakturen begünstigen (Ada et al. 2001). Unabhängig davon gilt, dass Bewegungsradius und Muskellängen regelmäßig überprüft und das normale Bewegungsausmaß erhalten werden sollte.
kMuskellänge Behandlungsmaßnahmen zur Verbesserung der Muskellänge sind 4 Muskeldehnungen, 4 Dehnlagerungen, 4 Lagerung in Schienen und 4 zirkuläre Gipse. kBewegungsradius Zur Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit werden Techniken der Manuellen Therapie eingesetzt. Bei den Maßnahmen zur Optimierung der skeleto-muskulären Bedingungen kann selbstredend nicht mit einer »hands-off«-Konzeption gearbeitet werden. Ziel dieser für den Patienten i.d.R. passiven Maßnahmen ist es, optimierte Voraussetzungen für das aktive Üben funktioneller Fertigkeiten zu schaffen. jHilfsmittel Der Einsatz von Hilfsmitteln (Gehstöcke, Schienen etc.) ist dann sinnvoll, wenn dadurch funktionelle Ziele erreicht werden. Zur Verbesserung der Gehfähigkeit werden Orthesen, die oberes und/oder unteres Sprunggelenk (OSG/USG) passiv stabilisieren, in vielfachen Ausführungen angeboten. 4 Flexible Orthesen, die im oberen Sprunggelenk ein beschränktes Bewegungsspiel und damit eine Vorverlagerung des Unterschenkels zulassen, können nur bei geringer Tonuserhöhung eingesetzt werden. 4 Bei ausgeprägter Tonuserhöhung und besonders bei Varusfehlstellungen im USG müssen Orthesen im Rückfuß starr sein und USG/OSG passiv stabilisieren. Ein Abrollen wird durch eine Flexibilität im Zehengrundgelenk ermöglicht. 4 Orthesen zur Stabilisierung der Sprunggelenke beeinflussen Gangsicherheit und -geschwindigkeit positiv und sollten früh zur Erzielung einer selbständigen Gehfähigkeit eingesetzt werden (Chen et al. 1999, Kosak et al. 2000). jAlltags- und Funktionsorientierung Das ZNS kann als problemlösendes System betrachtet werden, das jeweils diejenigen Muskeln aktiviert, die unter den gegebenen Kontextbedingungen am geeignetsten sind, einen zielgerichteten Bewegungsablauf durchzuführen. Da, wie verschiedene Autoren (Rothwell 1994) gezeigt haben, bei unterschiedlichen Kontextbedingungen jeweils unterschiedliche Muskeln zur Bewältigung funktioneller Anforderungen aktiviert werden, ist das isolierte Üben von Bewegungen für eine Alltagsaktivität nicht ausreichend. Geübt werden muss eine Fertigkeit auch unter wechselnden, alltagsorientierten Rahmenbedingungen. Beispiel Das Greifen muss nicht nur als isolierte Flexion der Finger bei stabilisiertem Handgelenk, sondern auch konkret an Alltagsgegenständen mit unterschiedlichen Oberflächen im gesamten Greifraum geübt und der Alltagsgebrauch überprüft werden.
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248
Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
Die Auswahl der zu trainierenden Fertigkeiten muss unter dem Aspekt der Teilhabe anhand alltagsorientierter Ziele und Bedürfnisse des Patienten getroffen werden.
Durchführung und Evidenz des aufgabenorientierten Trainings jPosturale Kontrolle Definition Die posturale Kontrolle ist definiert als Stabilisation des Massenmittelpunkts über der Unterstützungsfläche bzw. bei dynamischer Bewegung als Antizipation von Schwerpunktlage und Unterstützungsfläche und Beibehaltung der korrekten Relation der Körpersegmente.
Die Stabilisation des Massenmittelpunkts bedingt eine fortlaufende Kompensation aller auf den Körper einwirkenden Kräfte. Jede willkürmotorische Handlung setzt für ihre optimale Durchführung nicht nur die für die jeweilige Zielbewegung notwendige Muskelaktivität voraus, sondern auch die Fähigkeit, den durch die intendierte Bewegung ausgelösten Impuls und die fortdauernd einwirkende Schwerkraft durch entsprechende antagonistische Muskelaktivität oder Kompensationsbewegungen auszugleichen. Bei einem erlernten Bewegungsablauf wird bei einer willkürmotorischen Handlung die dadurch zu erwartende Gleichgewichtsstörung antizipatorisch, d.h., im voraus kompensiert. Der Bewegungsablauf erscheint deshalb harmonisch. Treten unerwartete externe Kräfte auf, werden sie reflektorisch (d.h. nach Auftreten des Störeinflusses) durch Kompensationsbewegungen oder -kontraktionen ausgeglichen (Cordo u. Nashner 1982). Posturale Kontrolle setzt voraus, dass 4 Verschiebungen des Massenmittelpunkts erkannt und 4 vom ZNS in eine adäquate kompensatorische Muskelaktivierung umgesetzt werden; 4 die Kraftentwicklung der Muskulatur ausreichend ist, um Bewegungsimpulse und Schwerkraft zu kompensieren.
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kTraining der posturalen Kontrolle Zur Verbesserung der posturalen Kontrolle müssen entsprechende Anforderungen gestellt, wiederholt geübt und kontinuierlich gesteigert werden. Der Schwierigkeitsgrad der posturalen Kontrolle ist von verschiedenen Faktoren abhängig (. Übersicht 16.11). Der Schwierigkeitsgrad der Anforderungen wird diesen Vorgaben entsprechend systematisch und kontinuierlich gesteigert. Gefordert wird immer das selbständige Erhalten der posturalen Stabilität. Die Schwerpunktstabilisation muss durch den Patienten selbst erfolgen. ! Cave Wird ein Patient vom Therapeuten gehalten, sind nicht nur hinsichtlich der Unterstützung, sondern auch in Bezug auf die muskuläre Aktivierung völlig andere Bedingungen gegeben als bei der selbständigen aktiven Stabilisation des Patienten.
. Übersicht 16.11. Auf die posturale Kontrolle wirkende Einflüsse 1. Höhe des Schwerpunkts (Körperposition) 2. Größe der Unterstützungsfläche (Basis = Füße + Stützen) 3. Stabilität der Unterstützungsfläche (z.B. Wippe, Kreisel) 4. Beschaffenheit der Unterstützungsfläche (glatte oder raue Materialien, Schaumstoffunterlagen etc.) 5. Wechselnde Unterstützungsfläche bei dynamischen Bedingungen (Bewegungsübergänge, Lokomotion, Sprünge) 6. Bewegungsimpulse der Extremitäten und des Kopfes (intern generierte Kräfte) 7. Zusätzliche visuelle Fixation eines anfänglich stabilen, später beweglichen Ziels 8. Wechselnde Lichtverhältnisse 9. Zusätzliches Lösen kognitiver Aufgaben (z.B. rückwärts rechnen) 10. Plötzlich einwirkende externe Kräfte (z.B. Schubsen, plötzliche Hindernisse)
Ist die posturale Stabilität im Stehen nur bei großer Unterstützungsfläche möglich, ist es besser, Gehstützen einzusetzen als den Patienten an Hand oder Becken zu führen. Selbstverständlich muss jede Übungssituation so gestaltet werden, dass der Patient ausreichend gesichert ist, z.B. 4 Stehen zwischen zwei Bänken oder 4 Stehen in einem lockeren Fallschirmgurt. Wird eine Anforderung sicher bewältigt, wird der Schwierigkeitsgrad sukzessive gesteigert und posturale Anforderungen auch mit Lokomotion und Manipulation kombiniert. Näher betrachtet Wirksamkeit: Training der posturalen Kontrolle In mehreren Untersuchungen konnte bei diesem Vorgehen gezeigt werden, dass sich die muskuläre Aktivierung dem normalen Aktivierungsmuster annähert (Shumway-Cook et al. 1988, Hocherman et al. 1984) und es zu einer Verbesserung der posturalen Kontrolle kommt. In der Arbeit von Winstein et al. (1989) zeigte sich, dass eine verbesserte posturale Kontrolle im Stehen nicht automatisch zu einer verbesserten Kontrolle im Gehen führt. Dies weist darauf hin, dass posturale Kontrolle sukzessive unter den o.g. Vorgaben erarbeitet werden muss. Die Cochrane-Übersicht zur Evidenzbasierung verschiedener therapeutischer Strategien zur Verbesserung der posturalen Kontrolle blieb unschlüssig in Bezug auf das wirksamste Vorgehen. Dieses unbefriedigende Ergebnis lässt sich zurückführen auf den Vergleich hochgradig heterogener Instrumente zur Ergebnismessung und der Vermengung der Ebenen von Impairment, Disability und Partizipation (Pollock et al. 2003).
249 16.5 · Therapie
jLokomotion Angenommen wird, dass zentrale Bewegungsgeneratoren (Central Pattern Generators, CPG), die in Hirnstamm und Rückenmark vermutet werden, in der Lage sind, in zeitlich korrekter Reihenfolge alternierend die Muskeln der Standund Spielbeinphase zu aktivieren und dadurch die Lokomotion zu gewährleisten. kGehen auf dem Boden > »Gehen wird durch Gehen erlernt.« Daher ist der Schwerpunkt des task-orientierten Vorgehens das Üben des Gehens, mit dem Ziel, Gehen unter Alltagsbedingungen zu ermöglichen.
Dies setzt voraus, dass nicht nur ein Lokomotionsprogramm (Grillner 1981) durchgeführt wird, sondern auch die posturalen Anforderungen bei der Lokomotion (s.o.) (Winstein et al. 1989) bewältigt werden. Demzufolge ist das Gehen entsprechend der unter der posturalen Kontrolle beschriebenen Hierarchie der Anforderungen mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad zu üben: 4 Zunächst wird Gehen auf ebenem Boden (mit/ohne Hilfsmittel) und ohne visuelle oder akustische Ablenkung geübt, 4 anschließend auf unebenem Boden, bei schlechten Lichtbedingungen und kognitiven Zusatzanforderungen. Zusätzlich werden auch rhythmische Taktgeber eingesetzt, die die Synchronisierung der Muskelaktivität verbessern. kLaufbandtraining Als wichtiges Instrument zur Verbesserung der Gehfähigkeit hat sich das Laufbandtraining erwiesen. Die Überlegenheit des Laufbandtrainings mit repetitivem Üben von Stand- und Spielbeinphase zur Verbesserung der Gehfähigkeit gegenüber dem traditionellen Vorgehen mit vorbereitenden Maßnahmen im Sitzen und Stehen wurde durch Studien zum Laufbandtraining (Hesse et al. 1995) belegt. Laufbandtraining mit Gewichtsabnahme durch einen Fallschirmgurt bietet die Möglichkeit des repetitiven Übens von Stand- und Spielbeinphase auch bei defizitärer posturaler Kontrolle und insuffizienter Kraftleistung. Zu Beginn ist daher das repetitive Üben auf dem Laufbandtraining von Vorteil. In der Folge müssen im Sinne eines Shapings die Rahmenbedingungen kontinuierlich verändert und Gehen auch unter Alltagsbedingungen auf unebenem Gelände und bei wechselnder visueller und akustischer Ablenkung geübt werden. Geschwindigkeit und Ausdauer werden durch Laufbandtraining verbessert (Pohl 2002, Eich et al. 2004). Ein funktionsspezifisches Krafttraining (s.o.) kann ebenfalls Gehgeschwindigkeit und Ausdauer verbessern (Weiss et al. 2000). Geschwindigkeit und Ausdauer sind zentrale Parameter für die außerhäusliche Gehfähigkeit.
Näher betrachtet Studien: Laufbandtraining vs. Gehen auf dem Boden Kontrovers wird die Frage diskutiert, ob ein Laufbandtraining dem aufgabenorientierten Üben des Gehens auf dem Boden überlegen ist. In der Arbeit von Nilsson et al. (2001) wird eine Überlegenheit negativ beantwortet und in der Cochrane-Übersicht zur Evidenzbasierung (Moseley et al. 2003) für gehunfähige Patienten infrage gestellt. Eich et al. (2004) konnten jedoch in einer randomisierten Studie die Überlegenheit des aeroben Laufbandtrainings gegenüber einem nur auf dem Boden stattfindenden Gehtraining aufzeigen.Bei schwerer betroffenen Patienten kann durch die partielle Gewichtsentlastung mit Fallschirmgurtaufhängung zu einem früheren Zeitpunkt mit dem Laufbandtraining begonnen und ein besseres Ergebnis der Gehfähigkeit erzielt werden (Teasell et al. 2003, Hesse et al. 1995). Die Anzahl der Schritte (und damit die Repetition) ist i.d.R. größer als beim Gehen auf dem Boden. Therapeutisch unterstützt werden Rumpfextension, Gewichtsverlagerung zur betroffenen Seite sowie Stand- und Spielbeinphase des Patienten. Die therapeutische Hilfestellung wird so gering wie möglich gehalten und kontinuierlich abgebaut.
Beispiel Das Überqueren einer Straße verlangt eine Ganggeschwindigkeit von ca. 2,6 km/h und eine Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Umgebungsbedingungen und setzt deshalb eine weitgehende Automatisierung des Gehens voraus.
kLokomat und Gangtrainer Werner et al. (2002) konnten in einer randomisierten kontrollierten Studie mit Cross-over-Design bei nicht gehfähigen Patienten nach Schlaganfall zeigen, dass das Üben des Gehens mit dem Gangtrainer dem Laufbandtraining zumindest gleichwertig, die Hilfestellung durch den Therapeuten jedoch erheblich reduziert ist. Besonders bei schwerer betroffenen Patienten stellen sowohl Lokomat wie auch Gangtrainer eine erhebliche körperliche Entlastung des Therapeuten dar, da die Spielbeinphase durch die Maschine erfolgt (7 Kap. 17). jGreifen und Manipulation > Greifen und Manipulation sind die alltagsnotwendige Fähigkeit, Objekte zu ergreifen, zu halten, zu bewegen und zu manipulieren.
Diese Fähigkeit setzt nicht nur Hand-, Ellenbogen- und Schulterbewegungen voraus, sondern zum zielgenauen, schnellen Ergreifen eines Objekts ist auch die Integration visueller Information über Größe und Raumposition des Objekts notwendig. Gleichzeitig muss zum Erhalten der posturalen Stabilität die zur Kompensation der Armbewegung notwendige Muskelaktivität erfolgen. Die vielzähligen Bewegungsmöglichkeiten von Hand, Fingern und Arm können nach Platz (1999) funktionell wie folgt systematisiert werden: 4 Hand in unterschiedlichen Positionen ruhig halten (»steadiness«),
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250
Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
4 kleinere und größere Objekte greifen und manipulieren (»dexterity«), 4 Finger und Hand bei stabilisiertem Arm bewegen, 4 Objekt und Arm halten und präzise bewegen, 4 Arm schnell und zielgerichtet bewegen. Bewegungen des Greifens und der Manipulation können in Einzelsequenzen zerlegt und isoliert repetitiv geübt werden (Bütefisch et al. 1995, Feys et al. 1998). Dabei muss eine Rückmeldung über den Bewegungseffekt und eine kontinuierliche Steigerung der Kraftleistung oder des Schwierigkeitsgrads angestrebt werden. kIsoliertes Üben Ein isoliertes Üben komplexer zielgerichteter MehrgelenkBewegungen ist aufgrund der Arbeit von Woldag (2003) fraglich. Zu vermuten ist, dass die komplexen Bewegungen der Greif- und Manipulationsaktivitäten in ihre Einzelteile zerlegt und im Sinne eines Shapings die Komplexität schrittweise erarbeitet werden muss. kObjektbezogenes Üben Dem isolierten Üben von Bewegungen steht das objektbezogene Üben von Greif- und Manipulationsleistungen gegenüber, das sich in Studien als erfolgreich erwiesen hat (Taub et al. 2002, Sterr u. Freivogel 2003). Motorische Handlungen werden zu Beginn in eingelenkige Bewegungen zerlegt und ebenfalls isoliert repetitiv geübt, aber immer anhand von Objekten. Fehlende Aktivität zur Armstabilisation wird durch Unterlagerung oder Hilfestellung durch den Therapeuten kompensiert. Im Sinne des Shapings werden die Anforderungen sukzessive gesteigert und Aufgaben mit mehrgelenkigen Bewegungen sowie nachfolgend mit komplexen motorischen Handlungen gestellt.
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kConstraint-Induced-Movement-Therapie (CIMT) Die von Taub vorgeschlagene Constraint-Induced-Movement-Therapie (CIMT) bewirkt auch bei Patienten im chronischen Stadium nach Schlaganfall noch deutliche Verbesserungen von Greif- und Manipulationsleistungen in Test- und Alltagssituationen (Taub et al. 1993, Miltner et al. 1999). Motorisch sollten die Patienten 4 in der Lage sein, den betroffenen Arm ca. 20° zu heben und 4 in Hand- und Fingergelenken über eine Dorsalextension von mindestens 10° verfügen. 4 Kognitiv sollten die Patienten 4 den Sinn des Vorgehens und die Bewegungsaufträge verstehen können, 4 zur Therapie motiviert sein und 4 nicht depressiv sein. Die Taub-Therapie besteht aus einem 14 Tage (insgesamt 12 Therapietage) dauernden täglichen 6-stündigen Training. Neben dem Training tragen die Patienten während 90% ihrer restlichen Wachzeit eine Schiene am nicht betroffenen Arm. Dies soll die Patienten zwingen/auffordern (»forced-use«/
»constraint induced«), den betroffenen Arm soviel wie möglich im Alltag einzusetzen (Bauder et al. 2001). > Hintergrund des Vorgehens ist die Annahme, dass nur bei intensiver Aktivität der betroffenen Seite die erwünschte neuronale Umstrukturierung und die Überwindung des »erlernten Nichtgebrauchs« möglich ist.
In der Tat zeigt die Studie von Sterr et al. (2002) eine positive Korrelation zwischen Zeitdauer des täglichen Übens und der Verbesserung der motorischen Fertigkeiten. Während die Wirksamkeit des Taub-Trainings für Patienten mit leichten bis mittleren Paresen unbestritten ist, wird die Praktikabilität in einem Rehabilitationssetting aufgrund der Zeitvorgaben und der Einschränkung der Selbsthilfeaktivitäten durch die Restriktion des nicht betroffenen Arms immer wieder infrage gestellt. Näher betrachtet Studie: Handfunktionstraining In einer Studie mit A-B-Design und Follow-up (nach 4 Wochen), in der ein 90-minütges (5-mal wöchentlich während 3 Wochen), bzgl. Vorgehen und Inhalten an der Taub-Bewegungstherapie orientiertes Handfunktionstraining mit einer gleich langen traditionellen ergotherapeutischen Behandlung verglichen wurde, zeigte sich das Handfunktionstraining in allen erhobenen Parametern der traditionellen ergotherapeutischen Behandlung überlegen (Sterr u. Freivogel 2003).
Bei diesem Handfunktionstraining werden konkret an Objekten Bewegungssequenzen geübt, die für die funktionellen Ziele des Patienten relevant sind. Beispiel Soll ein Glas gegriffen und dazu die Fingerextension geübt werden, werden Dominosteine, Würfel etc., die umfallen oder weggeschoben werden müssen, eingesetzt. Arm und Handgelenk können dabei unterlagert und damit passiv stabilisiert werden.
Wesentlich ist, dass die Fingerextension durch eine Aufgabe (»task«) provoziert wird. Die Bewegung wird so visuell und/ oder akustisch rückgemeldet. Erfolgreiche Durchgänge werden vom Therapeuten im Sinne einer positiven Verstärkung verbal belobt, unerwünschte Kompensationsbewegungen durch entsprechende Änderungen der Aufgabenstellungen verhindert und der Schwierigkeitsgrad je nach Leistung des Patienten gesteigert. Gesteigert wird die Anforderung im o.g. Beispiel dadurch, dass zusätzlich eine Ellenbogenbewegung verlangt wird und letztendlich das volle Armgewicht aktiv stabilisiert und der Arm im Schultergelenk im vollen Bewegungsradius bewegt wird. Fällt die Leistung des Patienten ab, werden Pausen eingelegt und die Muskeln durch Dehnungen dekontrahiert. Die Befürchtung, dass es durch dieses therapeutische Vorgehen zu einer Steigerung der Spastik oder einer
251 16.5 · Therapie
Verschlechterung der Bewegungsqualität kommt, wurde widerlegt (Sterr u. Freivogel, 2004). Wesentlich für die funktionellen Verbesserungen scheint die Anzahl der Wiederholungen zu sein. Praxistipp Es ist darauf zu achten, dass während der Therapie eine ausreichende Anzahl von Übungsdurchgängen absolviert wird. Die Patienten werden darauf hingewiesen, mögliche Alltagsaktivitäten (z.B. Tür öffnen, Stuhl zurückziehen) mit der betroffenen Seite auszuführen und die betroffene Extremität auch bei bimanuellen Tätigkeiten (z.B. Essen) einzusetzen.
Näher betrachtet Studie: Wirksamkeit aufgaben-orientiertes Üben Das Armtraining, bei dem bei Patienten mit leichten Paresen defizitäre Komponenten wie 4 Armruhe, 4 Fingergeschwindigkeit, 4 Manipulationsfähigkeit und 4 Zielgenauigkeit trainiert werden, erwies sich gegenüber der Kontrollgruppe als überlegen, und der Effekt war auch nach einem Jahr noch nachweisbar (Platz et al. 2001). Studie: Trainingsvergleich In einer randomisierten kontrollierten Studie wurde der Effekt eines aufgabenorientierten Trainings, eines spezifischen Krafttrainings und eines konventionellen Vorgehens verglichen (Winstein et al. 2004). Sowohl die Patienten der Gruppe des aufgabenorientierten Trainings wie auch die mit dem spezifischen Krafttraining waren im Fugl-Meyer-Score und der isometrischen Kraftleistung signifikant besser als die Patienten der Gruppe mit dem konventionellen Vorgehen. Im Follow-up nach 9 Monaten waren die Patienten der aufgabenorientierten Gruppe in Bezug auf die isometrische Kraftleistung auch den Patienten der Gruppe mit dem spezifischen Krafttraining deutlich überlegen (Sterr et al. 2002).
jArmtrainer Bei schwer betroffenen Patienten werden in jüngerer Zeit zum Üben von isolierten Bewegungssequenzen auch Armtrainer eingesetzt, z.B. (7 Kap. 17): 4 MIT-Manus-Roboter, 4 MIME-Roboter, 4 Bi-Manu-Track.
16.5.3
Tonusreduktion: Durchführung und Evidenz
jTonusreduzierende Maßnahmen Muskeltonus wird definiert als Widerstand beim passiven
Bewegen. Muskeltonus setzt sich aus neuralen (Spastik) und
Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit der Armtrainer In mehreren randomisierten kontrollierten Studien (für MITManus und MIME) konnte eine Funktionsverbesserung nachgewiesen werden, und zwar gegenüber einem »sham«-Training (2 Studien) oder einer traditionellen Physiotherapie (Bobath). In dieser Studie konnte eine verbesserte selektive Beweglichkeit (Fugl-Meyer), Kraft und Reichbewegung erzielt werden; nach 6 Monaten war auch eine Wirkung für Alltagskompetenz (FIM) nachweisbar (Lum et al. 2002).
biomechanischen Faktoren (Muskelverkürzung) zusammen. Die in . Übersicht 16.12 aufgelisteten Interventionen führen zu einer kurzzeitigen Reduktion der Spastik im Sinne einer verminderten muskulären Aktivierung nach einem schnellen Dehnreiz der Muskelspindeln (Spastik). . Übersicht 16.12. Interventionen für eine kurzzeitige Reduktion der Spastik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Langsame Muskeldehnungen Dehnen unter Gewichtsbelastung (Stützen/Stehen) Zirkuläre Gipse Lagerungsschienen Reziprokes Bewegen, z.B. Fahrrad-Bewegungstrainer Wärme- und länger andauernde Kälteanwendungen Elektrostimulation des Antagonisten
Muskeldehnungen, Dehnlagerungen, zirkuläre Gipse und Lagerungsschienen adressieren auch die biomechanischen Faktoren der Tonuserhöhung und zielen auf den Erhalt der Muskellänge (Odwyer et al. 1996). Die ursprüngliche Annahme, dass es durch eine Tonusreduktion direkt zu einer Verbesserung der Parese kommt, hat sich nicht bestätigt (s.o.). Darüber hinaus zeigt eine neue Arbeit von Sommerfeld et al. (2004), dass nur 19% aller Schlaganfallpatienten nach 3 Monaten eine Spastik zeigen. > Aufgrund der Datenlage muss es als überholt gelten, die Reduzierung der Spastik ins Zentrum der physiotherapeutischen Bemühungen zu stellen. Zweckmäßiger erscheint es, auf die muskulären Verkürzungen zu fokussieren (Odwyer et al. 1996) und das funktionelle Üben in den Mittelpunkt der Therapie zu stellen.
jMedikamentöse Spastiktherapie Möglichkeiten der medikamentösen Intervention zur Behandlung der Spastik sind in 7 Kap. 16.5.5.1 beschrieben. jChirurgische Intervention Eine Spastikreduktion ist durch eine orthopädisch-chirurgische Verlängerung des Muskel-Sehnen-Apparats eines spastisch verkürzten Muskels möglich. Die selektive dorsale Rhizotomie (DREZ) unterbricht selektiv im Hinterhorn die
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Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
Ia-Afferenzen zum spinalen Alphamotoneuron und reduziert dadurch die Spastik. Dieses Verfahren wurde bereits 1913 von Otfried Foerster vorgeschlagen (Foerster 1913). Im Gegensatz zu den USA ist die Anwendung in der Bundesrepublik Deutschland nicht verbreitet (Mertens u. Sindou 2001).
16.5.4
Praktisches Vorgehen bei speziellen motorischen Problemen
Schlaffe Hemiparese Im Vordergrund steht das funktionelle, zielorientierte Üben alltagsrelevanter Bewegungsabläufe wie 4 Sitzen, 4 Drehen, 4 Aufstehen, 4 Stehen oder 4 Greifen nach den Grundsätzen des aufgabenorientierten Vorgehens (s.o.). Zur Verbesserung der Muskelkraft können manuelle oder apparative Widerstände eingesetzt werden. Sind die Paresen so ausgeprägt, dass kein Bewegungseffekt erfolgt, können die Extremitäten passiv stabilisiert werden oder auch Armtrainer eingesetzt werden, mittels derer sich der Bewegungsversuch auf nur eine Bewegungskomponente beschränkt. Bei willkürlich nicht aktivierbaren Muskeln ist es sinnvoll, die Aktivität auch durch posturale Aufgaben auszulösen, für: 4 die obere Extremität durch Stützen (auf Hand oder Unterarm), 4 die untere Extremität durch Stehen mit Gewichtsübernahme auf der betroffenen Seite.
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Die willkürliche Aktivierung kann auch durch bewusste Bewegungsvorstellung, Spiegeltraining oder Biofeedback-Techniken unterstützt werden. Die Rumpfkontrolle wird durch Sitzen auf mobilen Unterstützungsflächen (Wippen, Schaumgummi) – ohne passives Halten des Therapeuten – plus Arm- und Kopfbewegungen verbessert. Obsolet ist ein passives Bewegen des Rumpfes zur Bewegungsanbahnung. kUntere Extremität Ein Schwerpunkt der Behandlung der unteren Extremität ist das Gehtraining. Dazu gehören 4 das Üben des Gehens auf dem Laufband mit entsprechender Gewichtsabnahme durch einen Fallschirmgurt und 4 das Gehen und Treppensteigen unter Alltagsbedingungen. Bei mangelnder Stabilität ist für das Gehen auf ebenem Boden ein Handstock oder eine Unterarmstütze sowie ggf. eine Orthesen- oder Schienen-Schuh-Versorgung (z.B. Valenser Schiene) notwendig.
Obsolet ist das Anbahnen des Gehens in niedrigen Ausgangsstellungen oder das Verbieten des Gehens, solange es nicht im physiologischen Muster stattfindet. kObere Extremität Die obere Extremität wird mit Aufgaben aus dem Selbsthilfebereich geübt, ggf. mit 4 Forced-Use-Ansatz (Taub et al. 1993), 4 repetitivem Greifen in unterschiedlichen Unterarmstellungen, 4 Fördern reaktiver Aktivität durch Werfen und Fangen von Gegenständen (Bälle, Kissen, Luftballons) und 4 bilateralen Aktivitäten (spiegelsymmetrische und asymmetrische Aufgaben). Bei nicht ausreichender Handgelenkstabilisation, aber vorhandener Aktivität der Fingermuskulatur kann eine Unterarmfunktionsschiene zur Erlangung der Greiffunktion sinnvoll sein (zur Prävention der schmerzhaften Schulter s.u.).
Spastische Hemiparese Zu dem vorherig aufgeführten Vorgehen müssen zusätzlich Maßnahmen zur Tonussenkung und Erhaltung der Muskellänge eingesetzt werden. Tonussenkende Maßnahmen sind 4 langsame Muskeldehnungen, 4 Dehnlagerungen in Schienen, 4 zirkuläre Gipse, 4 Dehnen unter Gewichtsbelastung (z.B. Stehen, Stützen), 4 reziprok alternierendes Bewegen (Fahrrad-Bewegungstrainer), 4 großflächige, haftende Berührungsreize (z.B. JohnstonSplints), 4 thermische Reize (Wärme und länger andauernde Kälteanwendungen) sowie 4 Elektrostimulation der Antagonisten. Zur Erhaltung der Muskellänge müssen bei Patienten mit spastischen Paresen – auch im Langzeitverlauf – regelmäßig Muskeldehnungen ausgeführt werden. Zum Rehabilitationsauftrag gehört deshalb auch die Instruktion und Kontrolle von Dehnungen und Dehnlagerungen. Eingesetzt werden die aus der Orthopädie bekannten Techniken. Gedehnt werden müssen schwerpunktmäßig die Muskeln, die durch die Massetendenz vermehrt aktiviert werden: 4 M. rectus abdominis, 4 M. pectoralis, 4 M. biceps brachii, 4 Handgelenkbeuger, 4 M. iliopsoas, 4 M. quadriceps, 4 Mm. ischiocrurales, 4 Wadenmuskulatur. Ausgeprägte tonusbedingte Fehlstellungen im oberen oder unteren Sprunggelenk müssen – zur Gewährleistung einer planen Unterstützungsfläche während der Standbeinphase – durch eine entsprechende Innenschuhversorgung (Unterschenkel-
253 16.5 · Therapie
orthesen) korrigiert werden. Bei leichter Spastik ist eine Schienenversorgung (z.B. Thönnisen-Schiene) ausreichend. kOperative Interventionen Funktionsbehinderungen tonisch verkürzter Muskeln können auch durch operative Verfahren reduziert werden, z.B. durch 4 Fasziotomien, 4 Verlängerungsoperationen, 4 Tenotomien, 4 Transpositionen. ! Cave Verlängerungsoperationen dürfen – besonders nach Schädel-Hirn-Trauma – nicht zu früh durchgeführt werden, da aufgrund des remissionsbedingten Rückgangs der Tonuserhöhung Überkorrekturen resultieren können. kMedikamentöse Therapie Ziel der medikamentösen Beeinflussung der Tonuserhöhung ist es, die Dosierung so zu wählen, dass es zu keiner Funktionsbeeinträchtigung kommt, denn die Reduktion der Spastik kann eine darunterliegende Parese enthüllen. Neben den oral oder intrathekal verabreichten und systemisch wirkenden Antispastika werden in jüngerer Zeit vermehrt lokal wirkende Substanzen in die funktionsbehindernden Muskeln injiziiert. Zur Anwendung kommen Botulinumtoxin und Phenol (s.u.).
Schwere spastische Tetraparese Bei ausgeprägter Tonuserhöhung aller Extremitäten reduziert sich das aktive Üben auf die Mithilfe bei alltagsrelevanten Funktionen wie 4 Drehen, 4 Aufsitzen, 4 Körperpflege, 4 Transfer Bett/Rollstuhl/Toilette. Daneben steht der Erhalt der passiven Beweglichkeit (Gelenkbeweglichkeit und Muskellänge) zur Erleichterung von Pflege und Selbsthilfe im Vordergrund. Neben den schon erwähnten Maßnahmen zur Tonussenkung werden vor allem langsame Muskeldehnungen und Lagerungen eingesetzt. Bei spastisch-rigider Tonuserhöhung ist eine Tonusverminderung erreichbar durch: 4 Vertikalisierung (Stehen auf dem Stehbrett, im Freistehbarren oder Sitzen im Rollstuhl), 4 Bauchlage oder 4 vestibuläre Stimulationen (z.B. Schaukeln in Hängematte). > Der tonussenkende Effekt der Vertikalisierung ist durch labyrinthäre Reflexe erklärbar. Entscheidend hinsichtlich des tonussenkenden Effekts sind Stellung sowie Bewegung des Kopfes im Raum.
Liegen artikuläre Einschränkungen vor, können manuelle Techniken zur Gelenkmobilisation eingesetzt werden.
Schulter-Arm-Syndrom Gekennzeichnet ist das Schulter-Arm-Syndrom durch 4 Schmerzen im Schultergelenk, 4 Schmerzen und Schwellung der Hand, 4 Veränderung von Hauttemperatur, -turgor und -farbe. Die Ursache des Schulter-Arm-Syndroms, das als sympathische Reflexdystrophie bewertet wird, ist nicht vollständig geklärt. Neben vaskulären/metabolischen Faktoren werden Subluxationen im Glenohumeralgelenk und Traumatisierungen des Kapsel-Band-Apparats als begünstigende mechanische Faktoren des Schultergelenks angesehen. Zur Prävention und Therapie des Schulter-Arm-Syndroms muss der Lymphabfluss begünstigt, passiver Zug des Kapsel-Band-Apparats des Schultergelenks vermieden und eine Kompression und Traumatisierung der Rotatoren verhindert werden. Der Lymphabfluss kann begünstigt werden durch 4 Hochlagern des Arms, 4 Lagerungsschienen des Handgelenks in leichter Dorsalflexion, 4 passives und aktives Bewegen sowie 4 Lymphdrainage und anschließendes 4 Wickeln mit Kompressionsverbänden. Der Zug im Schultergelenk kann vermindert werden durch 4 Armschlingen (am geeignetsten ist die Harris-Schlinge), 4 Lagerung auf dem Rollstuhltisch und 4 Gewichtsabnahme bei Lagerungen, Stehversuchen etc. ! Cave Zur Verhinderung von Kompressionen der Rotatoren sind zu vermeiden: 4 Passive Bewegungen über 600 Flexion im Schultergelenk (wegen der i.d.R. gestörten Bewegungsmechanik zwischen Schulterblatt und Oberarm im Schultergelenk) bei Eigentraining als auch bei therapeutischen Übungen, 4 Lagerung auf der betroffenen Seite und 4 Stützen bei nicht ausreichender aktiver Stabilisation des Schultergelenks.
Pusher-Symptomatik Unter dem Begriff Pusher-Syndrom hat Davies (1986) eine vor allem nach rechtshirniger Schädigung zu beobachtende motorische Auffälligkeit beschrieben, die darin besteht, dass die Patienten eine deutliche Gewichtsverlagerung zur betroffenen Körperseite hin machen, und beim Versuch, die Schwerpunktlage entsprechend zu korrigieren, aktiv dagegendrücken, sog. »pushen«. Karnath (2000) sieht die Ursache der Pusher-Symptomatik in einer zentral-vestibulären Schädigung, die zu einer Störung der Wahrnehmung der subjektiven Vertikalen führt. Lösslein und Kolster (2001) schlagen vor, das Pusher-Syndrom als Neglect-Phänomen einzuordnen und zu behandeln. Die Patienten empfinden sich subjektiv dann als vertikal, wenn die vertikale Achse zur betroffenen Seite (im Mittel 18°) verschoben ist.
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254
Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
! Cave Die Pusher-Symptomatik muss von einem Defizit der posturalen Kontrolle abgegrenzt werden!
4 Druckempfindung, 4 Wahrnehmung passiver Bewegungen, 4 Stereognosie.
Bei defizitärer posturaler Kontrolle setzt der Patient Bewegungen der Extremitäten zur Herstellung einer Gleichgewichtslage ein, während er sie bei der Pusher-Symptomatik umgekehrt dazu nutzt, um die Gleichgewichtslage zu verlassen.
Trainiert werden kann mit der Paarvergleichsmethode, bei der immer zwei Reize angeboten werden, und der Patient z.B angeben muss, 4 welche Oberfläche rauer ist, 4 welcher Druck stärker ist, 4 welcher Ellenbogen mehr gebeugt ist,
> Eine Pusher-Symptomatik zeigt sich nur bei Vertikalisierung (Sitz und Stand).
kTherapie Vorgeschlagen wird ein 4-stufiger Behandlungsplan, bei dem der Patient die folgenden Lernstufen durchläuft (Brötz et al. 2002): 4 Erkennen der gestörten Wahrnehmung der vertikalen Körperposition, 4 visuelle Exploration des Raums (und des Körpers), 4 aktive Korrektur der Körperposition und 4 Beibehalten der korrigierten Körperposition bei gleichzeitiger Durchführung anderer Aktivitäten. Der Patient muss sich früh in vertikale Positionen begeben und lernen, die Diskrepanz zwischen subjektiver und objektiver Vertikalität über das visuelle System zu erkennen. Zur Orientierung können vertikale Strukturen im Raum (Fenster, Türrahmen, Bilder), akustische und visuelle Rückmeldung eingesetzt werden. Möglich sind auch auch Posturographie-Systeme, bei denen dem Patienten visuell rückgemeldet wird, wo sich der Körperschwerpunkt befindet, oder zwei Personenwaagen, auf denen gleichzeitig mit jedem Fuß die gleiche Gewichtsbelastung erzielt werden muss. Ziel ist immer, über die visuelle (oder auch taktile) Rückmeldung die »falsche« Wahrnehmung der Schwerpunktlage zu korrigieren.
Hemiparese und Neglect
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Ein Behandlungsansatz beim Neglect-Phänomen ist die multimodale Stimulation. Man geht davon aus, dass es durch therapeutisch gesetzte taktile propriozeptive und visuelle Reize zu einer verbesserten Aufmerksamkeit und dadurch zu einer Verminderung des Neglect-Phänoms kommt. Selbsthilfeaktivitäten und pflegerische Maßnahmen werden bewusst von der vernachlässigten Seite her und bei visueller Aufmerksamkeit durch den Patienten durchgeführt. Ein anderer Behandlungsansatz ist die vibratorische Stimulation der Nackenmuskulatur (mit 100 Hertz). Vibrationen der betroffenen Körperseite führen zu einer Minderung des Neglect-Phänomens (Karnath 1994).
Somato-sensible Defizite bei Hemiparesen Bei einem Sensibilitätstraining müssen alle unterschiedlichen sensiblen Modalitäten trainiert werden: 4 Rauigkeitsunterscheidung, 4 Zwei-Punkte-Diskrimination, 4 Lokalisation taktiler Reize,
und auch mit Übungen aus dem Perfetti-Konzept (Perfetti 1997). Mit Einzelreizen kann die Lokalisation von Berührungsreizen verbessert werden. > Sensibilitätstraining stellt eine Form des Lernens dar und kann logischerweise nur dann erfolgreich sein, wenn von außen eine Rückmeldung über die Richtigkeit der vom Patienten gemachten Angaben erfolgt. Eine rein passive Applikation von Sensibilitätsreizen führt weder zu einer Verbesserung der Sensibilität noch der feinmotorischen Leistung.
16.5.5
Medikamentöse Therapie
Medikamentöse Therapie der Spastik jOrale antispastische Therapie Die Wirkung aller für die Behandlung der Spastik zugelassenen oralen Medikamente liegt außer für die Substanz Dantrolene, die blockierend an der Muskelendplatte angreift, darin, die Erregbarkeit der Alphamotoneurone unspezifisch zu hemmen. Eine unmittelbare Funktionsverbesserung kann durch antispastisch wirkende Medikamente nicht erzielt werden. ! Cave Wenn die Spastik mit einer Parese kombiniert ist, verstärkt die Wirkung dieser Medikamente die Parese. Bei systemischer (oraler) Gabe treten störende zentrale Nebenwirkungen in Form von Müdigkeit und Benommenheit auf, die die Wirksamkeit übender Therapieverfahren in der Rehabilitation durch negative Beeinflussung der Aufnahmefähigkeit sowie der neuronalen Plastizität herabsetzen können. Deshalb müssen Indikation und zu erwartender therapeutischer Effekt sorgfältig abgewogen werden. > In großen klinischen Studien (Noth 1991, Benecke 1987, Young u. Delwaide 1981) wurde eine muskelrelaxierende Wirkung nachgewiesen für 4 Baclofen, 4 Tizanidin, 4 Diazepam, 4 Tetrazepam, 4 Memantine, 4 Phenothiazine und 4 Dantrolen.
255 16.5 · Therapie
Mittel der ersten Wahl sind Baclofen und Tizanidin, aufgrund der relativ geringen Nebenwirkungen und des relativ geringen sedierenden Effekts. Bei Patienten mit schwerer Spastik und Unruhezuständen eignen sich die Benzodiazepine und Phenothiazine wegen der dabei erwünschten sedierenden Nebenwirkung dieser Medikamente. Wenn die Spastik nicht anders zu beherrschen ist, kann Dantrolen eingesetzt werden – wegen der potenziellen Hepatotoxizität und der Verstärkung der Parese jedoch nur unter strenger Indikation. ! Cave Eine Funktionsverbesserung kann alleine durch diese Medikamente nicht erzielt werden (Corston et al. 1981, Lapierre et al. 1987, Bes et al. 1988), auch nicht durch Steigerungen der Dosierung mit entsprechend stärkerer spasmolytischer Wirkung. jIntrathekale Baclofen-Therapie Eine regionale spinale Applikation vermindert die unerwünschten Nebeneffekte antispastischer Medikamente. Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit des intrathekalen Baclofen Die intrathekale kontinuierliche Infusion von Baclofen zur Therapie einer schweren Spastik ist eine durch prospektive Studien gesicherte effektive Behandlungsmöglichkeit einer oral nicht zu beherrschenden Muskelspastik (Müller et al. 1987, Latash et al. 1989, Ochs et al. 1989). Auch nach langjähriger intrathekaler Therapie lässt die antispastische Wirkung kaum nach (Penn et al. 1989). In einer randomisierten, doppelblinden, Placebo-kontrollierten Cross-over-Studie an 21 Patienten mit schwerer Hemispastik nach Schlaganfall konnte gezeigt werden, dass 50 μg Baclofen als Bolus gegeben eine deutliche Verminderung der Spastik bewirken. Funktionelle Tests wurden in dieser Studie nicht durchgeführt.
Da es in seltenen Fällen zu schweren Nebenwirkungen der intrathekalen Baclofen-Therapie kommen kann, soll die Indikation streng gestellt und die Bolustestung und Implantation der Pumpen nur in speziellen Zentren durchgeführt werden. Nur die Patienten, die mit Krankengymnastik und oraler medikamentöser Therapie nicht ausreichend behandelbar sind, und die eine schwere Muskelspastik an mehreren Extremitäten aufweisen und eine Botulinum-Toxin-Therapie somit nicht infrage kommt, sind geeignete Patienten für eine intrathekale Baclofen-Therapie. Da bei ausreichender spasmolytischer Wirkung auch die Paresen verstärkt werden, profitieren diejenigen Patienten am meisten, die weitgehend immobilisiert sind, und bei denen wegen der Spastik hochgradige funktionelle Behinderungen vorliegen.
jBotulinum-Toxin Botulinum-Toxin blockiert die Impulsübertragung an der Muskelendplatte und führt im injizierten Muskel zu einer reversiblen Denervierung von ca. 3 Monaten. Daher ermöglicht das Botulinum-Toxin eine wirksame lokale Behandlung der Spastik, ohne die zentralen Nebenwirkungen oraler Antispastika in Kauf nehmen zu müssen. Indikation für die Behandlung der Spastik mit Botulinum-Toxin ist die relativ lokalisierte Muskelspastik, z.B. bei 4 starkem Adduktorenspasmus, 4 spastischem Spitzfuß oder 4 Kontraktur der Fingerbeuger. Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit von Botulinum-Toxin A In kontrollierten Studien, bei denen in erster Linie die Ashworth-Skala, aber auch funktionelle Tests wie das Ausmaß der aktiven Hüftabduktion bei Patienten mit Adduktorenspasmus als Zielparameter eingesetzt wurden, zeigten sich sowohl der Muskeltonus als auch funktionelle Parameter durch die Botulinum-Toxin-A-Behandlung gebessert (Burbaud et al. 1996, Hesse et al. 1998, Bakheit et al. 2000, van Kuijk et al. 2002). In einer randomisierten doppelblind durchgeführten Studie zum Vergleich von Botulinum-Toxin Typ A mit der Phenolblockade des N. tibialis an Patienten mit spastischem Spitzfuß war die Botulinum-Toxin-A-Therapie der Behandlung mit Phenolinjektionen überlegen (Kirazli et al. 1998).
Praxistipp Für den Einsatz von oralen Antispastika, Baclofen-Pumpe und Botulinum-Toxin liegen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) vor (Noth u. Dietz 2002) vor.
jChemische Neurolyse mit Phenol Eine alternative Möglichkeit der lokalen medikamentösen Behandlung der Spastik stellt die lokale chemische Neurolyse mit Phenol dar (Bakheit 2001). Sie ist ebenfalls der oralen Gabe von Antispastika (Diazepam, Tizanidine, Baclofen) überlegen, da sie nur auf die vom Nervenblock betroffene, nicht auf die gesamte Muskulatur wirkt, und die zentral-sedierenden Nebenwirkungen und die zentrale Gewöhnung (Wirksamkeitsverlust bei längerer Einnahme) fehlen. Die Wirkdauer beträgt mehrere Monate. Generell ist die Methode sicher und nebenwirkungsarm. ! Cave Da das akkurate Platzieren eines Nervenblocks mit Phenol eine präzise Injektionstechnik erfordert, sollte die chemische Neurolyse nur von Ärzten angewandt werden, die mit dieser Technik vertraut sind.
16
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Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
Komplikationen sind:
4 Bindegewebsverletzungen, 4 intramuskuläre Hämatome, 4 Entwicklung eines ischämischen Gangräns (bei intravasaler Injektion in der oberen Extremität; selten). Praxistipp Die häufigste unerwünschte Wirkung nach Blockaden gemischter Nerven sind schmerzhafte Dysästhesien im sensiblen Versorgungsbereich der Nerven.
lässt sich z.B. durch einen N.-tibialis-Block die Gehfähigkeit verbessern (Arendzen et al. 1992, Bakheit et al. 1996). jLokale Behandlung der Spastik: Botulinum-Toxin vs. Phenol Beide Substanzen haben sich als hoch wirksam für das angestrebte Behandlungsziel erwiesen. Bei der Abwägung, welche Substanz eingesetzt werden sollte, spielen daher praktische klinische Fragen und ökonomische Aspekte eine entscheidende Rolle. Praxistipp
Indiziert sind Nervenblockaden bei
4 funktionellen Behinderungen, 4 hygienisch/pflegerischen Einschränkungen oder 4 Hautmazerationen durch die Spastik, z.B. bei 5 spastischer Schulteradduktion, 5 eingekrallter Hand/eingeschlagenem Daumen, 5 erschwerter Pflege im Urogenitalbereich bei Adduktorenspastik, 5 schwerer Spitzfußstellung (poplitealer Block), 5 schwerer Spastik der Hüftadduktoren (ObturatoriusBlock). Bei schweren spastischen Kontrakturen wie nach einer hypoxischen Hirnschädigung oder Hirntrauma können Nervenblockaden mit seriellen Gipsen kombiniert werden. Nervenblockaden können auch bei Patienten mit leichter Spastik sinnvoll sein. Bei einer leichten Extensorenspastik mit Spitzfußstellung
Wegen der besseren Handhabbarkeit der Injektionen wird dem Botulinum-Toxin bei der oberen Extremität eher der Vorzug gegeben, bei der unteren Extremität ist Phenol oft besser einsetzbar (Bakheit 2001).
In . Tab. 16.3 werden die Vorzüge von Phenol bzw. Botulinum-Toxin unter verschiedenen Gesichtspunkten gegenübergestellt.
Adjuvante (unterstützende) Pharmakotherapie in der physiotherapeutischen Übungsbehandlung Für die Auswirkung von Pharmaka auf die motorische Funktionsrestitution, d.h. das Wiedererlernen motorischer Fertigkeit nach Läsionen des motorischen Kortex liegen im Tierexperiment eine Fülle gut gesicherter experimenteller Daten vor.
. Tab. 16.3. Gegenüberstellung der chemischen Neurolysen mit Phenol und Botulinum-Toxin
16
Phenol-Block
Botulinum-Toxin
Wirkungseintritt
Sofort
Nach einer Woche
Wirkdauer
Länger (mehrere Monate)
Kürzer (2–3 Monate)
Injektionstechnik
Präzise Lokalisation notwendig
Einfach
Behandlung großer Muskeln
Kein Problem
Dosisproblem
Intramuskuläre Injektion
Hohes Risko lokaler Nebenwirkungen
Geringes Risiko lokaler Nebenwirkungen
Behandlung ganzer Muskelgruppen (z.B. Beugespastik der Hand und Finger)
Blockade eines Nervs reicht aus (z.B. N. medianus)
Injektion in viele Muskeln notwendig
Schwere spastische Kontraktur
Nerv wegen Fehlhaltung nicht immer erreichbar
Injektion in den Muskelbauch i.d.R. möglich
Behandlung bei zusätzlichen neuromuskulären Erkrankungen oder neuromuskulär wirksamen Medikamenten
Möglich
Nicht möglich
Dauer des Eingriffs
10–20 Minuten
10–20 Minuten
Preis für chemische Substanz
Gering
Hoch
(modifiziert nach Glenn u. Elovic 1997)
257 16.5 · Therapie
Auch in klinischen Untersuchungen wurde für einige Substanzen, die auf das noradrenerge System im ZNS einwirken, geprüft, inwieweit sich die Wirksamkeit der physiotherapeutischen Übungsbehandlung bei Hemiparese nach Schlaganfall durch die gleichzeitige Gabe des Medikaments verbessern ließ. Näher betrachtet Studien: Auswirkungen von Medikamenten auf das Wiedererlernen motorischer Fähigkeiten In einem standardisierten experimentellen Design (Rat Beam Walking Model; Feeney 1998) wurde an Ratten geprüft, wie das Wiedererlernen der motorischen Fertigkeit, über einen dünnen Vierkantstab zu laufen, durch verschiedene, i.d.R. systemisch gegebene Medikamente verändert wird. Im Vergleich zur unbehandelten Kontrollgruppe verkürzte sich die Anzahl der Versuche, die für das Wiederlernen der Fertigkeit notwendig waren, bei Gabe von 4 katecholaminergen Substanzen, 4 cholinergen Substanzen und 4 Ca-Antagonisten. Verzögert war das Wiedererlernen bei Gabe von 4 GABA-Agonisten, 4 Butyrophenonen, 4 Phenothiazinen, 4 Phenytoin, 4 Barbituraten, 4 Alpha1-/Alpha2-Agonisten und 4 Äthylalkohol (Goldstein 2003). Wesentlich ist, dass die Gabe von Medikamenten alleine oder die Zeit alleine keine Verbesserung der motorischen Fertigkeiten erbrachten. Das therapeutische Prinzip liegt also in einer medikamentösen Unterstützung der physiotherapeutischen Übungsbehandlung. Der Effekt scheint im Wesentlichen auf einer Verbesserung der neuronalen Plastizität durch eine Erhöhung des Angebots an intrazerebralem Norardenalin zu beruhen (Feeney 1998).
jAmphetamine Für den Einsatz von Amphetaminen (i.d.R. Methylphenidat) liegt eine Reihe von Studien vor. Nachdem sich zunächst in sehr kleinen, nicht kontrollierten Studien ein positiver Effekt hatte zeigen lassen (Crisostomo et al. 1988, Walker-Batson et al. 1995), konnten nachfolgende kontrollierte Studien keinen sicheren Nachweis eines spezifischen positiven Einflusses auf die motorische Verbesserung in der physiotherapeutischen Übungsbehandlung mehr erbringen (Grade et al. 1998, Sonde et al. 2001). Der Cochrane Review konnte nach kritischer Sichtung der Literatur die Wirksamkeit von Amphetaminen zur motorischen Funktionserholung nach Schlaganfall nicht schlüssig belegen und verweist auf die erhöhten Nebenwirkungsrisiken (Martinson et al. 2004).
Fazit Eine adjuvante Pharmakotherapie mit Amphetaminen kann derzeit nicht empfohlen werden, 4 zum einen wegen der potenziellen Nebenwirkungen, 4 zum anderen, weil Amphetamine in der Bundesrepublik Deutschland dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen
jL-Dopa In einer randomisierten prospektiven Doppel-Blind-Studie wurden für die Gabe von 100 mg L-Dopa jeweils vor der Physiotherapie signifikante Verbesserungen in dem Zuwachs an motorischen Leistungen gegenüber der Placebo-Gruppe nachgewiesen (Scheidtmann et al. 2001). Der positive Effekt von L-Dopa auf die physiotherapeutische Behandlung ließ sich vor allem auch für alltags- und teilhabebezogene motorische Leistungen nachweisen wie 4 Ganggeschwindigkeit, 4 Gehstrecke, 4 Treppensteigen und 4 motorische Anteile der ADL-Leistungen im Barthel-Index (Scheidtmann 2004). Fazit Da L-Dopa in der untersuchten Dosierung ein außerordentlich nebenwirkungsarmes Medikament ist, kann es für die adjuvante Pharmakotherapie in der motorischen Rehabilitation empfohlen werden.
jAndere Substanzen Einige Substanzgruppen zeigten hoffnungsvolle Ansätze in der adjuvanten Pharmakotherapie, vor allem Antidepressiva (Dam et al. 1996, Pariente et al. 2001), aber auch z.B. die Substanz L-thyreodops (Miyai et al. 2000), jedoch bisher ohne ausreichend gesicherten Wirkungsnachweis. Es ist zu erwarten, dass die medikamentöse Unterstützung der Übungsbehandlung in den kommenden Jahren zu einem festen und gut gesicherten Bestandteil im Behandlungsregime der motorischen Rehabilitation werden wird.
16.5.6
Apparative Methoden
jElektrostimulation Der Einsatz von Elektrostimulation in der motorischen Rehabilitation kann in zwei Kategorien eingeteilt werden: Funktionelle Elektrostimulation (FES) und Therapeutische Elektrostimulation (TES): 4 Bei der FES wird eine Muskelkontraktion ausgelöst, um durch die Stimulation eine Aktivität zu ermöglichen, z.B. bei der Stimulation des Flexorreflexes zur Verbesserung des Gehens. Diese Stimulation wird also (im Prinzip) kontinuierlich eingesetzt. 4 TES ist eine therapeutische Strategie, um durch die Stimulation das funktionelle Defizit nach der Stimulation zu verbessern.
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Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
Zur therapeutischen Elektrostimulation (TES) wurden mehrere Verfahren entwickelt. Sie unterscheiden sich in der Art der Reizapplikation: 4 passive Reizung mit einem vorprogrammierten Schema, 4 Reizauslösung durch eine willkürlich intendierte Muskelaktion, die über EMG-Elektroden registriert wird und ein Triggersignal für die Reizauslösung abgibt (EMG-getriggerte Elektrostimulation) oder 4 zu einer geringen Gelenkpositionsveränderung führt, die den elektrischen Reiz auslöst (Positional Feedback Stimulation Training, PFST). Zusätzlich wird auch die Transkutane Elektrische Nervenstimulation (TENS), ursprünglich für die Schmerztherapie entwickelt, eingesetzt. Einen Überblick über die Verfahren und deren Charakteristika gibt . Tab. 16.4. Praxistipp Am gebräuchlichsten ist die EMG-getriggerte Elektrostimulation an der oberen Extremität.
In diesem Verfahren werden kleine, durch (erfolglose) Willküraktivierung des paretischen Arms ausgelöste EMG-Signale, meist in den Hand- und Fingerextensoren am Unterarm verstärkt, die eine Elektrostimulation dieser Muskelgruppe auslösen und somit zu einem »Bewegungserfolg«, d.h. eine Näher betrachtet Cochrane Review: Wirksamkeit der TES
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In einer systematischen Übersicht (de Kroon et al. 2002), analog zum Cochrane Review, wurden 6 RKS zur Wirksamkeit von TES bewertet. In 4 der 6 Studien wurde eine Verbesserung des motorischen Defizits berichtet (Zielvariablen in allen Studien: Griffkraft oder Fugl-Meyer-Score). Die Effektstärke wurde für 3 Studien zwischen 0.55 und 1.46 angegeben. Der Einfluss von Elektrostimulation auf funktionelle Fähigkeiten (ARAT), d.h. auf Aktivitätsebene, wurde nur in 2 Studien untersucht. Davon berichtete nur eine Studie einen positiven Effekt.
Hand- und Fingerextension führen. Art und Ausmaß der Bewegung sind dabei allerdings von den Stimulationsparametern und nicht von der Bewegungsintention abhängig. Fazit Insgesamt muss Elektrostimulation als wirksam für eine Verbesserung auf Impairment-Ebene (Motor Control) bewertet werden. Eine Überlegenheit gegenüber anderen Therapieverfahren konnte nicht festgestellt werden. Ob Verbesserungen der oberen Extremität auf Aktivitätsebene dadurch erzielt werden können, lässt sich derzeit noch nicht feststellen. Eine Kombination von EMG-getriggerter ES und bilateralem Training erweist sich für Handgeschicklichkeit und Reaktionsschnelligkeit als besser als TES allein (Caraugh u. Kim 2002).
kElektrostimulation bei schmerzhaftem SchulterArm-Syndrom In einem Cochrane Review mit einer Meta-Analyse aus 4 analysierten Studien mit insgesamt 170 Patienten konnte ein positiver Effekt von Elektrostimulation auf den schmerzfreien Bereich passiver Bewegung festgestellt werden, jedoch nicht auf das Auftreten von Schmerzen selbst. Der Schweregrad der glenohumeralen Subluxation konnte vermindert werden, allerdings gab es keine Auswirkungen auf den Grad der Spastik oder der funktionellen motorischen Wiedererholung (Price u. Pandyan 2004). jBiofeedback Eine Methode der motorischen Funktionsverbesserung liegt darin, dem Patienten unmittelbar Rückmeldung über technisch gemessene physiologische Parameter der Muskelaktivität zu geben, mit dem Ziel und der Aufgabe, diese technischen Zielgrößen durch »Herumprobieren« zu verändern und einer vereinbarten Soll-Zielgröße anzunähern. In zwei Bereichen hat diese Technik in der motorischen Rehabilitation Anwendung gefunden: 4 EMG-Biofeedback bei Hemiparese und 4 Posturographie-Biofeedback bei Instabilität des aufrechten Stands (unterschiedlicher Genese). Das EMG-Biofeedback hat therapeutisch zum Ziel, den spastischen Muskeltonus zu senken. In weiteren EMG-Biofeed-
. Tab. 16.4. Methoden der therapeutischen Elektrostimulation Verfahren
Charakteristika des Reizgeräts
Neuromuskuläre Elektrostimulation EMG-getriggerte Elektrostimulation
Reizparameter können unabhängig eingestellt werden
Positional Feedback Electrical Stimulation (PFST) Transkutane Elektrische Nervenstimulation (TENS)
Frequenz, Amplitude und Reizdauer können angepasst werden
Art der Stimulation
Auslösung der Stimulation
Zyklische Reizung
Vorprogrammiert, durch Knopfdruck
Zyklische Reizung
EMG-Signal durch Willkürintention
Zyklische Reizung
Positionsveränderung im Gelenk durch Willkürintention
Kontinuierliche oder »burst«-Reizung
Vorprogrammiert durch Knopfdruck
259 16.6 · Literatur
back-Prozeduren war das Ziel für die Patienten, die über audiovisuelle Systeme rückgemeldete EMG-Aktivität in den Zielmuskeln willkürlich zu beeinflussen und sie einer Vergleichsaktivität anzunähern. Als Vergleichsaktivität wird z.B. die homologe Muskulatur der nicht betroffenen Extremität genommen. In einem Shaping-Verfahren wird zunächst die EMG-Aktivität des paretischen Arms elektronisch verstärkt, um nahe an die Zielaktivität heranzukommen. Auf diese Weise konnten ganze motorische Handlungen, z.B. ein Glas zu ergreifen, es an den Mund zu bringen und daraus zu trinken, geübt werden. Näher betrachtet Studie: Wirksamkeit von EMG-Biofeedback Während in einer randomisierten Studie zur Wirksamkeit von Funktionsverbesserungen der unteren Extremität bei Schlaganfallpatienten keine klinisch signifikanten Änderungen im Ergebnis gegenüber Physiotherapie alleine nachweisbar waren (Bradley et al. 1998), zeigte sich das EMG-Biofeedback in einer im gleichen Zeitraum erschienenen Meta-Analyse überlegen gegenüber konventioneller Physiotherapie alleine, gemessen an der Fähigkeit zur Fußhebung, geringer jedoch hinsichtlich Schrittlänge und Ganggeschwindigkeit (Moreland et al. 1998). Für die obere Extremität führte das EMG-Biofeedback, verglichen mit einer Placebo-Behandlung, zu einer statistisch signifikanten Verbesserung des Bewegungsausmaßes (Range of Motion), nicht aber in Alltagsfähigkeiten (aus einem Glas trinken) (Armagan et al. 2003).
jAkupunktur Akupunktur wird nach der Lehre der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) durch Setzen von Nadeln an spezifischen Akupunkturpunkten zur Reduzierung von Spastik eingesetzt, mit dem Ziel, nach einem Schlaganfall eine Funktionsverbesserung des paretischen Arms zu erreichen. Näher betrachtet Meta-Analysen: Wirksamkeit der TCM In zwei großen systematischen Literaturübersichten wurden insgesamt 9 bzw. 14 randomisierte kontrollierte Studien bewertet. Insgesamt konnte in beiden Meta-Analysen keine gesicherte positive Wirksamkeit, d.h. kein Effekt auf die funktionelle motorische Rehabilitation nach Schlaganfall nicht nachgewiesen werden (Park et al. 2001, Sze 2002). Die Anwendung von Akupunktur in der motorischen Rehabilitation lässt sich als rational rechtfertigen.
Die neuen Therapieverfahren befinden sich derzeit noch in einer experimentellen Phase, werden möglicherweise aber in Zukunft in das Repertoire der Behandlungsmethoden in der motorischen Rehabilitation aufgenommen. jAdjuvante Pharmakotherapie Die Prinzipien der adjuvanten Pharmakotherapie in der krankengymnastischen Behandlung sind in 7 Kap. 16.5.5.2 beschrieben. Unter den gegenwärtig in der Prüfung befindlichen Substanzen hat das L-Dopa die besten Aussichten auf einen regulären Einsatz in der motorischen Rehabilitation, da die Wirksamkeit in einer randomisierten Doppel-Blind-Studie bereits nachgewiesen wurde und die Nebenwirkungen in der verwendeten Dosis sehr gering sind (Scheidtmann et al. 2001, Scheidtmann 2004). Der »off-label«-Gebrauch des Medikaments erfordert die ausdrückliche Einwilligung der Patienten. jRegionale vorübergehende Anästhesie Eine Funktionsverbesserung der paretischen Hand nach UMN-Läsion lässt sich nach reversibler Lokalanästhesie von Oberarm und Schulter des betroffen Arms erreichen (Muellbacher et al. 2002). Ähnliche Ergebnisse einer Funktionsverbesserung der paretischen Hand nach Schlaganfall ließen sich auch nach Lokalanästhesie der gesunden, nicht paretischen Hand erzielen (Floel et al. 2004). Durch partielle Deafferentierung der oberen Extremität mittels proximalen reversiblen ischämischen Nervenblocks kann bei Schlaganfallpatienten nicht nur die Handrepräsentation in der betroffen Hemisphäre vergrößert werden (Ziemann et al. 1998), sondern auch ein funktioneller Zuwachs an Handfunktion erzielt werden (Muellbacher et al. 2002). Ähnliche Ergebnisse einer Funktionsverbesserung der paretischen Hand nach Schlaganfall erzielte auch die Maßnahme, den sensorischen Eingang von der gesunden, nicht paretischen Hand durch eine Lokalanästhesie auszuschalten (Floel et al. 2004). jRepetitive periphere Magnetstimulation und somato-sensorische Stimulation Funktionsverbesserungen bei Patienten mit zentralen Paresen lassen sich auch durch repetitive periphere Magnetstimulation (mit Verbesserung der zielgerichteten Fingerbewegungen) (Struppler et al. 2003) ebenso wie durch somatosensorische Stimulation mittels elektrischer Reizung des Medianusnervs (mit Verbesserung der Handkraft) (Conforto et al. 2001) erzielen. 16.6
16.5.7
Experimentelle Verfahren
Die im Rahmen der Grundlagenforschung zur neuronalen Plastizität durchgeführten Untersuchungen eröffnen neue Therapieverfahren zur Behandlung motorischer Störungen nach Läsion des UMN, die jedoch klinisch noch nicht überprüft und validiert worden sind. Ausreichend gesicherte Daten zur klinischen Wirksamkeit liegen deshalb noch nicht vor.
Literatur
Ada L et al. Do associated reactions in the upper limb after stroke contribute to contracture formation? Clin Rehabil 2001;15:186194. Affolter F. Wahrnehmung, Wirklichkeit und Sprache. VillingenSchwenningen: Neckar-Velag; 1987. Aizawa H, Inase M, Mushiake H, Shima K, Tanji J. Reorganization of activity in the supplementary motor area associated with motor learning and functional recovery. Exp Brain Res 1991;84: 668-671.
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Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
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Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
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Kapitel 16 · Motorische Rehabilitation
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16
17
Automatisierte motorische Rehabilitation S. Hesse, C. Werner 17.1 Rehabilitation der Arm- und Handfunktion 17.1.1 17.1.2 17.1.3 17.1.4
MIT-Manus – 268 Mirror-Image Motion Enabler Bi-Manu-Track – 269 Heimtraining – 269
17.2 Gangrehabilitation 17.2.1 Gangtrainer
– 270
17.3 Zusammenfassung 17.4 Literatur
– 269
– 271
– 271
– 268
– 268
268
Kapitel 17 · Automatisierte motorische Rehabilitation
Automatisierte motorische Rehabilitation meint den Einsatz intelligenter Maschinen in der Rehabilitation der oberen und unteren Extremität nach ZNS-Läsionen. Dieser neue Ansatz geht u.a. davon aus, dass 4 eine positive Korrelation zwischen der Intensität der Therapie und dem motorischen Outcome vorliegt (Kwakkel et al. 1999), 4 sich aufgabenspezifische repetitive Ansätze wie Laufbandtherapie (Hesse et al. 1994) als überlegen erwiesen, 4 jedoch der damit verbundene hohe Personalaufwand den wissenschaftlich begründeten Wunsch nach möglichst viel Therapie im Klinikalltag begrenzt. Intelligente Maschinen sollen daher helfen, die Therapieintensität zu steigern und Therapeuten von der anstrengenden manuellen Arbeit wie dem Setzen der Füße auf dem Laufband zu entlasten. Weitere Vorteile sind die Gewährung einer standardisierten Therapie und die Dokumentation des Therapieverlaufs als Beitrag zur Qualitätssicherung.
17.1
Rehabilitation der Armund Handfunktion
Die große Herausforderung an die automatisierte motorische Rehabilitation der oberen Extremität ist die enorme Vielfalt der Bewegungen der Schulter-, Ellenbogen-, Hand- und Fingergelenke. Der Wunsch nach einer möglichst »naturgetreuen«, komplexen Übungsfolge, die einen erfahrenen Therapeuten simuliert, stößt trotz aller technischer Fortschritte an die Grenzen des Machbaren. Eine Einschränkung der zu übenden Bewegungen ist derzeit noch unumgänglich.
17.1.1
a
b . Abb. 17.1 a, b. Ungehinderte Schulter- und Ellenbogenbewegung in der Horizontalen: a MIT-Manus- und b MIME-Roboter
MIT-Manus 17.1.2
17
Hogan et al. (1999) entwickelten am Massachusetts Institute of Technology (MIT) den sog. MIT-Manus, einen Roboterarm, der eine ungehinderte Schulter- und Ellenbogenbewegung in der Horizontalen gestattet (. Abb. 17.1). Der Unterarm wird in einer Armschale unterstützt. Eine Impedanzkontrolle mit fortwährender Registrierung der Positions- und Kraftdaten dient der Simulation der erfahrenen Therapeutenhand und soll eine ruckfreie, möglichst gleichmäßige Bewegungsausführung gewährleisten.
Mirror-Image Motion Enabler
Burgar et al. (2002) der Stanford University wählten einen bilateralen proximalen Ansatz; sie entwickelten den sog. Mirror-Image Motion Enabler (MIME). Die Bewegungen des nicht-betroffenen Schulter-Ellenbogen-Gelenks dienten dabei als Vorlage (sog. »master«), denen die betroffene Seite (sog. »slave«) spiegelbildlich folgte (. Abb. 17.1). Der bilaterale Ansatz zielte auf eine interhemisphärische Fazilitation via transkallosaler Fasern.
Näher betrachtet Studie: MIT-Manus
Näher betrachtet Studie: Mirror-Image Motion Enabler (MIME)
Eine kontrollierte Studie mit 78 akuten Schlaganfallpatienten konnte eine signifikante Kraftverbesserung der Schulterund Ellenbogenmuskulatur (45 Minuten Therapie/Tag für 7 Wochen) nachweisen; die Arm- und Handfunktionen unterschieden sich dagegen nicht relevant (Krebs et al. 1999). Der Fugl-Meyer-Index (0–66) als Maß der motorischen Kontrolle verbesserte sich im Mittel um 5 in der Roboter- und um 4 in der Kontrollgruppe; die initialen Werte waren unter 10.
Eine randomisierte Studie mit 27 chronischen Schlaganfallpatienten zeigte, dass eine 1-stündige Therapie mit dem Gerät an 24 Tagen über 2 Monate einer Bobath-Behandlung gleicher Intensität überlegen war (Lum et al. 2002). Dabei verbesserte sich nicht nur die Kraft der Schulter-EllenbogenMuskulatur signifikant mehr, sondern auch die motorische Kontrolle in der Robotergruppe.
269 17.2 · Gangrehabilitation
17.1.3
Bi-Manu-Track
Die Autoren-Arbeitsgruppe entwickelte den sog. Bi-ManuTrack (. Abb. 17.2), der das bilaterale Üben zweier distaler Bewegungen erlaubt: Flexion und Extension im Handgelenk sowie Drehbewegungen im Unterarm (Hesse et al. 2003). Für einen distalen statt proximalen Ansatz in der Rehabilitation der oberen Extremität nach Schlaganfall sprachen bildgebende Befunde, die eine Konkurrenz von Extremitätenabschnitten um plastische Hirnterritorien zeigten. Entsprechend wiesen Muelbacher et al. (2002) sogar nach, dass eine regionale Anästhesie der Schultergürtelmuskulatur die Handfunktion von Schlaganfallpatienten signifikant verbessern konnte. Weiteres Argument für einen distalen Ansatz ist die größere kortikale Repräsentation der Hand und Finger. Mit dem Bi-Manu-Track kann der Patient die beiden distalen Bewegungen passiv und aktiv mit der jeweils erforderlichen Unterstützung üben; eine Impedanzregelung sichert eine ruckfreie Bewegung. Geschwindigkeit, Amplitude und die zu überwindenden Widerstände können seitengetrennt individuell eingestellt werden. Drei Therapiemodi sind möglich: 4 passiv-assistierte Bewegungen, v.a. zur Tonusminderung; 4 aktiv-passive Bewegungen, d.h., die nicht-betroffene führt die betroffene Hand zur Fazilitation der paretischen Extremität; 4 aktiv-aktive Bewegungen, d.h., der Patient muss die betroffene Hand je nach individuellen Fähigkeiten willkürlich miteinsetzen.
17.1.4
17
Näher betrachtet Studien: Bi-Manu-Track Eine erste offene Studie mit 24 schwerst betroffenen chronischen Patienten zeigte eine relevante Minderung der Spastik des Handgelenks und der Finger sowie in Einzelfällen eine Funktionsverbesserung der oberen Extremität nach einer 3-wöchigen täglichen Therapie von 20 Minuten (Hesse et al. 2003). An einer nachfolgenden randomisierten Untersuchung nahmen 44 akute Schlaganfallpatienten teil, die entweder täglich mit dem Bi-Manu-Track oder mit einer Elektrostimulation der paretischen Handstrecker für jeweils 6 Wochen übten. Im Ergebnis schnitt die Robotergruppe bzgl. der motorischen Kontrolle (. Abb. 17.3) und der Kraft signifikant besser ab; der Muskeltonus unterschied sich in beiden Gruppen nicht. Interessanterweise verbesserten sich nicht nur distale, sondern auch proximale Funktionen. Wahrscheinlichste Erklärungen des überlegenen Therapieergebnisses sind die höhere Repetition (12.000 vs. 1800 Wiederholungen) und der bilaterale Ansatz (Werner et al. 2004).
Der Patient soll zwei mit einer Stange verbundene Griffe umfassen, so dass die nich-betroffene die betroffene Extremität führt. Drei Freiheitsgrade können isoliert oder kombiniert, z.B. bei der Beschreibung eines Kreises, geübt werden: 4 Schulterabduktion und -adduktion, 4 Ellenbogenextension und -flexion sowie 4 Handgelenkextension und -flexion.
Heimtraining 17.2
Für die Therapie zuhause eignen sich Kurbelgeräte oder passive Geräte wie das sog. Nudelholz, die das bilaterale Üben einer Schiebe- und Ziehbewegung in der Horizontalen und eine Rotation erlauben.
Gangrehabilitation
Das Geradeausgehen mit gleichbleibender Geschwindigkeit ist relativ stereotyp und somit für eine Automatisierung gut geeignet. Wesentliche technische Herausforderung ist jedoch
. Abb. 17.2 a, b. Bi-Manu-Track für die bilaterale passive und aktive Therapie: a Pro-/ Supination im Unterarm und b Flexion/Extension im Handgelenk
a
b
270
Kapitel 17 · Automatisierte motorische Rehabilitation
seitlicher Richtung zyklusphasengerecht mittels am Gurt ansetzender und mit dem Getriebe verbundener Seile. Ganganalytische Untersuchungen zeigten, dass hemiparetische Patienten auf dem Gangtrainer im Vergleich zur Laufbandtherapie symmetrischer und weniger spastisch gingen. Die Sagittalbewegungen der großen Beingelenke und die Muskelaktivierung der relevanten Beinmuskeln in der Standbeinphase waren dagegen ähnlich. Näher betrachtet Studien: Gangtrainer GT I . Abb. 17.3. Mittelwerte und Standardabweichung des Fugl-Meyer-Scores als Maß der motorischen Kontrolle der Armtrainer- (A) und der Elektrostimulationsgruppe (B) zu Studienbeginn, nach 6 Wochen und nach 3 Monaten
die zu bewegende Masse des gesamten Körpers, was solide Lösungen und kräftige Antriebe erfordert.
17.2.1
Gangtrainer
jElektromechanischer Gangtrainer »GT I« Hesse und Uhlenbrock (2003) entwickelten einen elektromechanischen Gangtrainer. Anlass der Entwicklung war u.a. der hohe körperliche Einsatz der Therapeuten während der Laufbandtherapie, z.B. beim Setzen der paretischen Füße (. Abb. 17.4). Der gurtgesicherte Patient steht auf zwei Fußplatten, deren von einem Planetengetriebe gesteuerte Bewegung die Stand- und Schwungbeinphase simuliert. Ein Servomotor, der die Umlaufgeschwindigkeit des Getriebes konstant hält, unterstützt den Patienten. Daneben steuert das Gerät die für das Gehen wesentlichen Rumpfbewegungen in vertikaler und
An einer sog. Baseline-Treatment-Studie nahmen 14 nicht gehfähige, chronische (>6 Monate post ictum) Schlaganfallpatienten teil. Zwölf Patienten konnten ihre Gehfähigkeit und Muskelaktivierung während der 4-wöchigen Periode, in der die Therapie auf dem Gangtrainer (jeden Werktag 20 min) zusätzlich erfolgte, deutlich verbessern. An einer A-B-A- bzw. B-A-BStudie (A: 2 Wochen Gangtrainer, B: 2 Wochen Laufband) nahmen 30 hemiparetische, nicht gehfähige Patienten teil. Im Vergleich erwies sich der Gangtrainer hinsichtlich der Verbesserung der Gehfähigkeit zumindest als gleichwertig; deutlich geringer jedoch war der Arbeitsaufwand für die Therapeuten auf dem Gangtrainer (Werner et al. 2002). Jüngst abgeschlossen wurde die multizentrische DEGAS (Deutsche Gangtrainerstudie), an der 155 akute, nicht gehfähige Schlaganfallpatienten teilnahmen. Die Patienten wurden per Los einer von zwei Gruppen zugeteilt: 4 Gruppe A erhielt jeden Werktag 20 min Gangtrainer plus 25 min Physiotherapie und 4 Gruppe B 45 min Physiotherapie. Inhalt der Physiotherapie war das wiederholte Üben von Stand und Gang. Nach 4 Wochen schnitt Gruppe A in beiden primären Variablen, der Gehfähigkeit und der ADL-Kompetenz, signifikant besser ab. Das Follow-up 6 Monate später bestätigte das Ergebnis eines überlegenen Ergebnisses des kombinierten Ansatzes (Werner et al. 2004).
. Abb. 17.4 a, b. Automatisierte Gangrehabilitation: a Gangtrainer GT I, b Lokomat®
17
a
b
271 17.4 · Literatur
jLokomat® Einen anderen Ansatz verfolgt der sog. Lokomat®, der von Colombo et al. (2001) vornehmlich für die Behandlung paraparetischer Patienten in Zürich entwickelt wurde (. Abb. 17.4). Die Autoren strebten gleichfalls eine Entlastung der Therapeuten auf dem Laufband an. Das Gerät besteht zum einen aus einem motorgetriebenen Laufband mit geregelter Gewichtsentlastung zur Gewährung der Standbeinphase. Zusätzlich tragen die Patienten eine bis zum Becken reichende Orthese, die im Knie und Hüftbereich mit steuerbaren Motoren zur Sicherung der Schwungbeinphase ausgestattet ist. Das Sprunggelenk wird passiv geführt. Näher betrachtet Studien: Lokomat® Erste Untersuchungen an paraparetischen Patienten zeigten, dass die Kinematik der großen Beingelenke in der Sagittalebene der von Gesunden entsprach, und dass die Patienten mit der Orthese länger und mit höherer Geschwindigkeit als auf dem manuell unterstützten Laufband üben konnten. Erste klinische Studien mit akuten hemiparetischen bzw. chronischen paraparetischen Patienten zeigten ein gleichwertiges Ergebnis, wenn die Therapie auf dem Lokomat® mit der Physiotherapie (Hemiparese) bzw. der Laufbandtherapie mit und ohne funktionelle Elektrostimulation (Paraparese) verglichen wurde (Field-Fote et al. 2004, Husemann et al. 2004).
. Abb. 17.5. Roboterlaufsimulator »Haptic Walker«
17.4 jRoboterlaufsimulator Im Experimentalstadium befinden sich noch eine robotergestützte Aufhängung und ein robotergestützter Gangtrainer, die beide am Fraunhofer Institut IPK Berlin in Kooperation mit der Autoren-Arbeitsgruppe realisiert werden (. Abb. 17.5). Für die Aufhängung wählte die Gruppe eine Seilkinematik mit 7 an einem speziellen Gurt ansetzenden Seilen. Programmierbare Antriebe steuern die Bewegung der Seile. Für die Lokomotion wurde das Prinzip der sog. Programmable Foot Plates gewählt, so dass die Patienten zukünftig unterschiedliche Laufsituationen (z.B. Ebene, Treppe auf und ab) und auch Perturbationen (z.B. Ausrutschen auf der Banane) repetitiv üben können. Ein sog. Graphic User Interface erlaubt auch dem technisch weniger versierten Anwender eine leichte Bedienung und Einstellung der jeweils gewünschten Trajektorien.
17.3
Zusammenfassung
Zukünftige technische Innovationen werden sich mit einer
Steigerung der zu übenden Freiheitsgrade, ggf. unter Einbeziehung des gesamten Körpers, dem Einsatz ausgefeilter Sensorik und der Kombination mit virtueller Realität befassen. Explizit sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese Therapieform nicht auf einen Ersatz der Therapeuten zielt, sondern vielmehr auf deren Entlastung und Bereicherung ihres beruflichen Umfelds und natürlich einer Verbesserung des funktionellen Outcome.
Literatur
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17
272
Kapitel 17 · Automatisierte motorische Rehabilitation
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17
18
Funktionelle Elektrostimulation S. Hesse, C. Werner 18.1 FES bei querschnittgelähmten Patienten 18.1.1 Stand und Gang – 274 18.1.2 Obere Extremität – 276
18.2 FES bei hemiparetischen Patienten 18.2.1 Stand und Gang – 277 18.2.2 Obere Extremität – 279
18.3 Literatur
– 280
– 277
– 274
274
Kapitel 18 · Funktionelle Elektrostimulation
Die Funktionelle Elektrostimulation (FES) ist eine Sonderform der Reizstromtherapie zentral paretischer Muskulatur mit niederfrequenten Strömen (<100 Hz). Ziel ist die Wiederherstellung motorischer Funktionen, z.B. der Steh- und Gehfähigkeit von querschnitt- oder halbseitig gelähmten Patienten. Grundvoraussetzung ist eine zentrale Parese, d.h., das periphere Motoneuron ist intakt, andernfalls ist die externe Erregbarkeit der Muskulatur nicht gegeben. Weitere allgemeine Ausschlusskriterien sind 4 offene Wunden im Stimulationsbereich, 4 Knochenfrakturen und 4 ausgeprägte Gelenkkontrakturen der stimulierten Extremitäten. Im Folgenden wird die FES bei querschnittgelähmten und hemiparetischen Patienten dargestellt, unter besonderer Berücksichtigung klinisch praktikabler Ansätze zur Wiederherstellung bzw. Verbesserung der Steh- und Gehfähigkeit sowie der Funktion der oberen Extremität.
18.1
FES bei querschnittgelähmten Patienten
18.1.1
Stand und Gang
Das Prinzip der FES zur Wiederherstellung der Steh- und Gehfähigkeit paraplegischer Patienten wurde Ende der 70er Jahre eingeführt (Kralj u. Bajd 1989). Mittels einer 4-KanalOberflächenstimulation (20–25 Hz, 0,25 ms, biphasische Rechteckimpulse, 0–150 mA) werden beide Mm. quadriceps zum Stehen stimuliert, während zum Schreiten ein Fluchtreflex und die direkte Reizung der Dorsalflexoren des Sprung-
gelenks mittels Stimulation des N. peroneus genutzt werden (. Abb. 18.1). Der für das Gehen erforderliche Wechsel zwischen Stimulation 4 des M. quadriceps (zur Sicherung der Standbeinphase) und 4 des N. peroneus (zur Initiierung der Schwungbeinphase) wird vom Patienten über Schalter selbst gesteuert (Openloop-Technik). Closed-loop-Techniken, d.h. eine Steuerung der Stimulatoren über Sensoren wie Akzelerometer oder Gelenkwinkelmesser und implantierbare Systeme konnten sich bisher nicht durchsetzen.
Vorgehensweise jInformationsgespräch In einem vorbereitenden Gespräch wird der Patient darauf hingewiesen, dass die FES an der Tatsache der Querschnittlähmung nichts ändert und in ihrer derzeitigen Form keine praktikable Mobilitätshilfe im Alltag ist, sondern dass es sich lediglich um ein übendes Verfahren handelt. Als Vorteile werden genannt: 4 funktioneller Zugewinn, 4 Kreislauftraining (über 3- bis 4-fache Zunahme der Beinmuskeldurchblutung), 4 verbesserte Thermoregulation, 4 Prophylaxe von Kontrakturen, Thrombosen, Druckgeschwüren und Osteoporosen, 4 Auftrainieren der Muskulatur, 4 Anregung der Blasen-Darm-Tätigkeit und 4 psychologischer Effekt. Ein möglicher Nachteil ist die nach eigenem Erachten vorübergehende Zunahme der Spastik, vor allem Beugespasmen im Bauch- und Rückenbereich.
. Abb. 18.1 a, b. Paraplegischer Patient, Niveau Th8, legt die FES-Elektroden an (a) und übt das FES-assistierte Gehen (b)
18
a
b
275 18.1 · FES bei querschnittgelähmten Patienten
jBehandlung Entschließt sich ein Patient zur Behandlung, hat sich das in . Übersicht 18.1 dargestellte Vorgehen bewährt. . Übersicht 18.1. Behandlungsschritte 1. 2. 3. 4.
Sofortiges FES-assistiertes Stehtraining im Stehgestell Ergänzende zyklische Stimulation Stehen mit Rollator FES-gestütztes Gehen
kSofortiges FES-assistiertes Stehtraining im Stehgestell Der Patient beginnt sofort mit einem täglichen Stehtraining in einem modifizierten Stehgestell, in dem er die Unterarme aufstützen kann (anfängliche Gewichtsbelastung der Beine 50–60%). Für das Aufstehen und Hinsetzen verfügen die Geräte über separate Modi. Beim Stehen ist darauf zu achten, dass der Rumpf aufgerichtet und die Hüfte extendiert wird, was ggf. durch Druck auf die Beckenschaufeln von hinten bzw. eine entsprechende Positionierung der Füße zu unterstützen ist. Steht der Patient zu sehr flektiert, verläuft das Lot des Körperschwerpunkts vor den Knien und erzeugt eine zusätzliche Beugetendenz. Begleitend wird eine konsequente Bauchlagerung empfohlen. Zur tonischen Dehnung spastisch verkürzter Muskeln sollten die Füße beim Stehen leicht nach außen gedreht und ggf. ein Holzblock zwischen die Füße gesetzt werden (Dehnung der Adduktoren). Auch sollte die Ferse vollen Bodenkontakt haben (Dehnung der Plantarflexoren, ggf. noch unterstützt durch einen kleinen Keil unter dem Vorfuß). Praxistipp Zu Beginn der Behandlung können besonders bei Patienten mit höheren Läsionen hypotone Kreislaufreaktionen auftreten, weswegen der Rollstuhl immer hinter dem Patienten stehen sollte. Gegebenenfalls sind eine eng gewickelte, breite Leibbinde oder gängige Antihypotonika einzusetzen. Tetraplegische Patienten tolerieren i.d.R. das FES-assistierte Stehen aufgrund der Kreislaufdysregulation nicht.
kErgänzende zyklische Stimulation Das Stehtraining wird ergänzt durch eine zyklische Stimulation (3-Sekunden-Zyklen) der Oberschenkelstrecker im Liegen, täglich für 20–30 Minuten, 2-mal/Tag. kStehen mit Rollator Kann der Patient ca. 10 Minuten ohne Unterbrechung im Gestell stehen, wird anschließend das Stehen im Rollator geübt, wobei bis zu 90% des Körpergewichts auf den Beinen getragen werden sollten.
kFES-gestütztes Gehen Steht der Patient ca. 5–10 Minuten im Rollator, kann das FESgestützte Gehen angeschlossen werden. Voraussetzung ist ein ausreichender Flexorreflex, wobei es anfangs schwierig sein kann, den richtigen Auslösepunkt im Bereich des N. peroneus zu finden. Praxistipp Erfahrungsgemäß sollte die Rundelektrode nicht unmittelbar hinter dem Fibulaköpfchen, sondern 1–2 cm in Richtung Kniekehle platziert werden. Dabei ist allerdings eine zusätzliche Stimulation des N. tibialis wegen der damit verbundenen Plantarflexion zu vermeiden.
Die Handhabung der Schalter (solange gedrückt wird, wird der Fluchtreflex ausgelöst und sistiert die Stimulation der Kniestrecker) erlernen die Patienten rasch. Bei unzureichender Bodenfreiheit kann zusätzlich eine Sprunggelenkorthese verordnet werden. Ein anfängliches Überschneiden der Beine erfordert, dass das Schwungbein von einem Therapeuten nach außen gesetzt wird. Weitere zu Beginn erforderliche Hilfen sind das Festhalten des Rollators und das Mitführen des Rollstuhls zum sofortigen Hinsetzen. Praxistipp Mit der Zeit kann die Flexorantwort habituieren, was immer höhere Stromstärken erfordert. In diesen Fällen empfiehlt sich zur Fokussierung des Reizes eine kleinere Elektrode oder eine höherfrequente Reizung des N. peroneus mit 60 Hz (Malezic u. Hesse 1995).
! Cave Die FES ist keine Hilfe für die Alltagsmobilität! Die berichteten maximalen Gehstrecken liegen in einem Bereich von wenigen bis zu 400 Metern; der energetische Mehraufwand beträgt dabei im Vergleich zum Gesunden das 3- bis 4-Fache. Treppensteigen oder das Überwinden von Hindernissen gelingt nur den wenigsten Patienten. jKombination mit anderen Therapien kFES und Lokomotionstherapie Die FES kann mit der Lokomotionstherapie auf dem Laufband kombiniert werden. Der FES-vermittelte Fluchtreflex erleichtert den Therapeuten das Setzen des paretischen Beins in dessen Schwungbeinphase. Die zyklusphasengerechte Steuerung der Stimulation übernimmt entweder der Therapeut mittels Schalter, oder die Patienten tragen Einlegesohlen mit Fußkontaktschaltern. Im Falle eines initialen Kontakts mit dem Vorfuß können diese jedoch schwer zwischen Stand- und Schwungbeinphase unterscheiden. Neuentwicklungen sind der Einsatz von Beschleunigungssensoren, um zwischen Stand- und Schwungbeinphase zu unterscheiden, und eine telemetrische Übertragung des Signals.
18
276
Kapitel 18 · Funktionelle Elektrostimulation
Näher betrachtet Untersuchungen: Wirksamkeit der FES Eine eigene Nachuntersuchung ergab entsprechend, dass 14 von 15 paraplegischen Patienten das FES-gestützte Gehen im Laufe eines Jahres wegen fehlender Praktikabilität aufgaben (Hesse et al. 1998). 13 Patienten führten die zyklische Stimulation im Liegen und das FES-assistierte Stehen fort. Als Vorteile nannten sie u.a. 4 eine verbesserte Muskeltrophik, 4 eine verbesserte Thermoregulation und 4 eine verbesserte körperliche Fitness. Vielversprechend ist der Einsatz der FES bei inkomplett betroffenen Patienten, wo nach eigenen Erfahrungen und denen von Stein et al. (1999) eine von der FES unabhängige Verbesserung der Gehfähigkeit zu erwarten ist. So benutzen 8 tetraparetische Patienten die FES einseitig für das jeweils schwächere Bein, um im Gehbarren, auf dem Laufband oder am Rollator das selbständige Gehen zu üben. Nach im Mittel 6 Wochen hatte sich die Gehfähigkeit mit der FES deutlich gebessert, mit einer Zunahme der Ganggeschwindigkeit um 25,6%. Auch konnten die Patienten nun ohne FES besser am Rollator gehen (mittlere Zunahme der Ganggeschwindigkeit/ maximale Gehstrecke +33,3%/+163,6%), da sie nach Therapieende in der Lage waren, das schwerer betroffene Bein mit ausreichender Bodenfreiheit vorzusetzen. d.h., es war ein Carry-over-Effekt nachzuweisen.
kFES und elektromechanischer Gangtrainer Eine Alternative zum Laufband ist der elektromechanische Gangtrainer GT I mit zwei Fußplatten, deren von einem Planetengetriebe gesteuerte Bewegungen die Gangzyklusphasen simulieren. Somit gelingt die Unterscheidung zwischen Standund Schwungbeinphase anhand der Getriebebewegung sicher, was wiederum eine zyklusphasengerechte Stimulation z.B. der Kniestrecker (M. quadriceps und M. biceps femoris) in der Standbeinphase erlaubt (. Abb. 18.2). Der Gangtrainer GT I kann mit einem voll programmierbaren 8-Kanal-Stimulator (Motion Stim 8, Krauth & Timmermann®) kombiniert werden. Dies erlaubt, die Stimulationssequenz eines jeden Kanals innerhalb des Gangzyklus beliebig zu wählen. Beispiel
18
Möglich ist auch die Stimulation der Mm. gluteus medius und maximus zur Förderung der Hüftstabilität in der Standbeinphase und des N. peroneus bzw. des M. tibialis anterior in der Schwungbeinphase.
Para- und tetraparetische Patienten (ASIA C und D) konn-
ten ihre Gehfähigkeit unter einer 4-wöchigen Therapie mit Gangtrainer und FES deutlich verbessern (Hesse et al. 2004). Gleichzeitig verbesserte sich die Aktivierung der Beinmuskeln während des Gehens sowohl hinsichtlich der Amplitude als auch des zeitlichen Musters (. Abb. 18.3).
. Abb. 18.2. Paraparetischer Patient übt mit FES das Gehen auf dem Gangtrainer GT I
18.1.2
Obere Extremität
Das sog. Free-Hand-System erlaubte tetraplegischen Patienten mit erhaltener Funktion der Schultergürtelmuskulatur und des M. biceps brachii das Greifen und Loslassen von Gegenständen oder die Manipulation einer PC-Tastur (Taylor et al. 2002). Implantierte Elektroden mit Empfänger stimulierten die dafür erforderlichen Fingerbeuger und -strecker; Bewegungssensoren im Schultergelenkbereich steuern die Stimulation mittels willkürlicher Bewegungen des Schultergelenks. Näher betrachtet Free-Hand-System Trotz guter klinischer Ergebnisse ist das System nicht mehr auf dem Markt verfügbar. Das Querschnittzentrum Heidelberg, Ansprechpartner Dr. Rupp, ist weiterhin auf dem Gebiet forschungsaktiv, wobei die Kollegen auch über eine Steuerung der Stimulation mittels Brain Computer Interface nachdenken (Rupp u. Gerner 2007). Letzteres greift die mit der Bewegungsintention verbundene Änderung der Hirnaktivität (Frequenzänderung im fokalen EEG bzw. Auftreten des sog. Bereitschaftspotenzials) als Steuersignal auf.
277 18.2 · FES bei hemiparetischen Patienten
a
b . Abb. 18.3 a, b. Gemittelte und auf den Gangzyklus bezogene EMG-Aktivität eines paraparetischen Patienten vor (a) und nach (b)
18.2
FES bei hemiparetischen Patienten
18.2.1
Stand und Gang
Ein-Kanal-Stimulationsgeräte 1961 wurden von Liberson et al. (1961) Stimulationsgeräte zum Ausgleich einer Fußheberparese (»drop-foot«) eingeführt. Eine größere Bodenfreiheit in der Schwungbeinphase und ein initialer Fersenkontakt sind die unmittelbaren Vorteile. Bei diesen Ein-Kanal-Stimulationsgeräten wird die Reizung über einen Fersenschalter gesteuert. Der Stromkreis wird geschlossen, sobald die Ferse in der beginnenden Schwungbeinphase angehoben wird (. Abb. 18.4). In der anschließenden Standbeinphase sistiert die Stimulation bei erneutem Fersenkontakt. In der Praxis haben sich batteriebetriebene, streichholzschachtelgroße Kleingeräte (monopolarer Elektrodensatz, selbstklebende Elektroden 5×5 cm) und die Steuerung über Fersenkontaktschalter bewährt. Entweder
einer 4-wöchigen Therapie mit Gangtrainer und FES. Zu beachten sind Zunahme der Muskelaktivität und Normalisierung des EMG-Musters
werden beide Elektroden auf den Muskelbauch des M. tibialis anterior geklebt, was jedoch nicht selten zu einer unzureichenden Antwort führen kann, oder eine der beiden Elektroden wird in Höhe des Fibulaköpfchens zur direkten Stimulation des N. peroneus befestigt. Praxistipp Für den täglichen Gebrauch sind die Patienten und deren Angehörige in die Handhabung einzuweisen, wobei besonders darauf hingewiesen werden soll, die meist empfindlichen Kabel des Fersenkontaktschalters am Schuhrand nicht zu drücken bzw. bei Überlänge nicht versehentlich darauf zu treten. Statt Kabel ist eine telemetrische Datenübertragung möglich, auch können Trägheitssensoren die Fußkontaktschalter ersetzen.
18
278
Kapitel 18 · Funktionelle Elektrostimulation
. Abb. 18.4. Peronealstimulation: Auslösung der Fußhebung erfolgt mittels eines in den Schuh gelegten Schalters
. Abb. 18.5. Implantierbares System der funktionellen Elektrostimulation des N. peroneus
Näher betrachtet Studien: STIMuSTEP- und ActiGait-System Näher betrachtet Studien: Ein-Kanal-Stimulationsgeräte Klinische Untersuchungen aus England zeigten, dass hemiparetische Patienten die FES selbständig einsetzen konnten und ihre Ganggeschwindigkeit mit der FES nach 3 Monaten Therapie signifikant gesteigert hatten (Burridge et al. 1997). Die Ganggeschwindigkeit ohne FES dagegen war unverändert geblieben. An indirekten Effekten hatten mehrere offene Studien über eine anhaltende Tonusminderung und ein verbessertes Gangbild mit Zunahme der Hüft- und Knieflexion berichtet.
jSTIMuSTEP- und ActiGait-System Alternativen sind die Versorgung mit einer Sprunggelenkor-
18
these oder die subkutane Implantation eines Peronealstimulators. In Europa werden zwei CE-zertifizierte Systeme angeboten: 4 das STIMuSTEP-System aus England und 4 das ActiGait-System (. Abb. 18.5) aus Deutschland.
Mehr-Kanal-Stimulationsgeräte Mehr-Kanal-Stimulationsgeräte sind aufgrund des technischen Aufwands nur für den klinischen Einsatz geeignet. Am besten haben sich programmierbare 8-Kanal-Stimulatoren bewährt (z.B. MotionStim 8, Krauth & Timmermann oder Reha-Stim, Hasomed). Eingestellt werden können: 4 Stimulationsfrequenz und -dauer, 4 Stromstärke sowie
Für das englische System berichteten Kottink et al. (2007) in einer randomisiert kontrollierten Studie mit 29 chronischen Schlaganfallpatienten, dass die Versorgung mit dem System zu einer höheren Ganggeschwindigkeit 6 Monate nach Studienbeginn führte (Kottink et al. 2007). Der prozentuale Zugewinn betrug 23%; die Kontrollgruppe hatte ihre Orthese beibehalten. Für das ActiGait liegt eine Verlaufsbeobachtung an 15 Patienten vor. Die Akzeptanz war gut, und die Patienten konnten ihre Gehfähigkeit und maximale Gehstrecke um 10–15% steigern (Burridge et al. 2007).
4 Form der spannungskonstanten Rechteckreize (monooder biphasisch). Üblich sind biphasische, spannungskonstante Rechteckreize mit
4 einer Dauer von 0,1–0,5 ms, 4 einer Frequenz von 20–30 Hz und 4 Stromstärken bis 50 mA. Anzahl der Stimulationskanäle, Reizelektrodenpositionen und Stimulationssequenzen innerhalb des Gangzyklus sollten statt eines fest vorgegebenen Reizschemas auf die persönlichen Bedürfnisse des Patienten abgestimmt werden. Gängige Stimulationsorte sind in . Übersicht 18.2 aufgeführt. Die Sequenz innerhalb der Ganganalyse richtet sich an Muskelaktivierungscharts aus (Hesse 2007).
279 18.2 · FES bei hemiparetischen Patienten
. Übersicht 18.2. Stimulationsorte In der Schwungbeinphase 1. N. peroneus 2. M. rectus femoris In der Standbeinphase 1. M. gastrocnemius 2. M. quadriceps 3. M. biceps femoris 4. Mm. gluteus medius und maximus
folgt anschließend die Stimulation (monophasische Exponentialpulse, 0,5 ms Dauer, Frequenz wählbar von 20–160 Hz) derselben Muskelgruppe (. Abb. 18.6). Die Intensität (bis 80 mA) wird dabei so eingestellt, dass eine gut sichtbare Handgelenkdorsalflexion erreicht wird. Oberflächenelektroden dienen dabei sowohl der Ableitung der Muskelaktivität als auch der Stimulation. Praxistipp Es ist darauf zu achten, dass die Stimulation nicht ausschließlich passiv erfolgt (wozu die Patienten bei selbständigem Gebrauch neigen), oder dass die Schwelle zu niedrig eingestellt wird. Wird rein passiv stimuliert, lässt die Aufmerksamkeit der Patienten nach, und der fazilitatorische Effekt einer geringen muskulären Vorinnervation schwindet. Daher ist zumindest zu Beginn eine therapeutische Begleitung unerlässlich, und im weiteren Verlauf sind Kontrollen angezeigt.
Unmittelbarer Effekt der Stimulation ist eine Verbesserung des Gangmusters, ersichtlich u.a. an einem besseren Abrollverhalten beider Füße, mittelbar führt die Mehr-Kanal-Stimulation zu einer größeren Verbesserung der Gehfähigkeit. Nachteilig sind jedoch 4 der hohe technische Aufwand, 4 Probleme mit Elektrodendislokationen, Kabelbrüchen und 4 eine unzureichende Detektion der Gangzyklusphasen in der Ebene.
Näher betrachtet EMG-initiierte Elektrostimulation In einer Vergleichsuntersuchung erwies sich die therapeutisch begleitete EMG-initiierte Elektrostimulation der krankengymnastischen Therapie nach dem PNF- bzw. Bobath-Konzept als überlegen hinsichtlich der Verbesserung der ArmHand-Funktion (Hummelsheim et al. 1997). Darüber hinaus zeigte sich unter der Stimulationsbehandlung eine Spastikminderung (Kraft 1992, de Kroon 2005). Auch zur Therapie des Schulter-Hand-Syndroms wird die FES eingesetzt. In einer Vergleichsuntersuchung konnten motorische Funktion des Arms, Schulterschmerzen und Subluxationsstellung der Schulter durch eine zusätzlich zur regulären Therapie eingesetzte Stimulation von M. deltoideus und M. supraspinatus (1,5–6 Stunden täglich für 6 Wochen) besser beeinflusst werden als durch alleinige krankengymnastische Behandlung (Vuagnat u. Chantraine 2003, Wang 2007).
jKombination mit anderen Therapien Die Mehr-Kanal-Stimulation kann mit dem elektromechanischen Gangtrainer GT I kombiniert werden; aufgrund der geführten Bewegung ist die Detektion von Stand und Schwung mittels einer Lichtschranke kein Problem.
18.2.2
Obere Extremität
Zunehmend verbreitet sind Geräte zur EMG-initiierten Stimulation der Hand- und Fingerstrecker: Die Patienten werden aufgefordert, z.B. die Handstrecker selbstständig zu aktivieren. Wird eine zuvor eingestellte Schwelle überschritten,
a
b
. Abb. 18.6 a, b. EMG-getriggerte Elektrostimulation: Die mittlere Elektrode greift die vorhandene Muskelaktivität ab, die beiden äußeren reizen den Handgelenkstrecker
18
18
280
Kapitel 18 · Funktionelle Elektrostimulation
18.3
Literatur
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19
Technische Hilfsmittel S. Hesse, C. Werner 19.1 Hilfsmittelversorgung
– 282
19.2 Spezielle Versorgungsleitlinien 19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4 19.2.5 19.2.6 19.2.7
– 282
Rollstühle – 282 Gehhilfen – 284 Orthesen für die obere Extremität – 285 Orthesen für die untere Extremität – 285 Adaptationshilfen – 288 Weitere Hilfsmittel – 289 Rechtliche Grundlagen – 290
19.3 Anhang 19.3.1 Praxishilfen
19.4 Literatur
– 290 – 290
– 292
282
Kapitel 19 · Technische Hilfsmittel
Integraler Bestandteil der neurologischen Rehabilitation sind technische Hilfsmittel wie 4 Rollstühle, 4 Orthesen, 4 Gehstöcke, 4 Hilfen in Bad, Toilette und Haushalt, 4 Kommunikationshilfen und v.a. (Bestmann 2001).
. Übersicht 19.1. Allgemeine Empfehlungen 1.
2. Diese können dazu beitragen, behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen bzw. zu sichern, oder sie soweit wie möglich unabhängig von der Pflege zu machen (vgl. SGB IX §55). Schwerpunkt des Kapitels ist die Versorgung von Schlaganfallpatienten. Nicht besprochen werden Hilfsmittel für Sehen, Hören und kognitive Beeinträchtigungen.
> SGB IX §31 Abs. 1 besagt: Hilfsmittel umfassen Produkte, die im Einzelfall notwendig sind, um 4 einer drohenden Behinderung vorzubeugen, 4 den Erfolg der Heilbehandlung zu sichern oder 4 eine Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens auszugleichen, soweit sie nicht allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens sind.
19.1
Hilfsmittelversorgung
In . Übersicht 19.1 sind allgemeine Empfehlungen für die Hilfsmittelversorgung zusammengefasst.
19.2
Spezielle Versorgungsleitlinien
19.2.1
Rollstühle
Der Rollstuhl ist ein Fortbewegungsmittel und nicht eine Sitzgelegenheit für den ganzen Tag. Ein nicht angepasster Rollstuhl ist nicht nur nicht hilfreich, sondern behindert den Patienten zusätzlich. Es gibt keinen »Durchschnittspatienten«; daher kann es auch keinen Rollstuhl geben, der für alle Patienten passend ist. Angehörige und das soziale Umfeld sind in die individuelle Versorgung miteinzubeziehen. Beispiel
19
4 Nützlich ist eine pannensichere Bereifung aus Soft-Vollgummi, falls Angehörige die Reifen des Rollstuhls nicht regelmäßig aufpumpen und ggf. warten können. 4 Höhenverstellbare Schiebegriffe sind von Nutzen, falls der betreuende Angehörige sehr groß ist, oder wenn mehrere Angehörige unterschiedlicher Körpergröße regelmäßig den Rollstuhl schieben. 4 Besondere Engpässe in der Wohnung, z.B. eine schmale Tür zur Toilette oder zum Badezimmer, sind bei der Festlegung der Gesamtbreite des Rollstuhls zu berücksichtigen.
6
3. 4.
5.
6.
Die Versorgung mit Hilfsmitteln soll medizinisch ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Von gleichartig wirkenden Hilfsmitteln ist im Rahmen der Indikationsstellung das nach Art und Umfang dem Gebot der Wirtschaftlichkeit entsprechende zu verordnen. Soviel Unterstützung wie nötig, aber so wenig wie möglich. Neben den nötigen auszugleichenden Funktionseinschränkungen des Patienten sind die verbliebenen Fähigkeiten zu berücksichtigen. Rechtzeitig vor der Entlassung mit der Hilfsmittelversorgung z.B. von Pflegehilfsmitteln beginnen. Vor einer Verordnung sollten Patienten das jeweilige Hilfsmittel ausprobieren können (eigenes kleines HM-Depot in der Klinik oder Leihgeräte von ortsansässigen Firmen). Bei Bedarf sollte der Umgang mit einem Hilfsmittel vom Patienten und/oder betreuenden Angehörigen geübt werden. Betreuende Angehörige sind in die Hilfsmittelversorgung einzubeziehen. Im Zweifelsfall einen Hausbesuch zusammen mit dem Patienten, seinen Angehörigen und den Therapeuten oder der Hilfsmittelfirma durchführen; bewährt hat sich die Anlage eines standardisierten Protokolls (. Übersicht 19.3, Checkliste für Wohnungsbegehung) mit konkreter Aufgabenverteilung (wer kümmert sich um was?). Kostenbewusstsein signalisieren. Wichtig ist zu klären, ob der Patient das Hilfsmittel tatsächlich im Alltag nutzen wird und warum ggf. ein teureres statt eines preiswerteren Hilfsmittels notwendig ist.
4 Für Aktivitäten außerhalb der Wohnung können Umrüstungen bzw. Anbauten für den Rollstuhl (z.B. Elektrozusatzantrieb, Kraftverstärker, Treppenlifter) erforderlich werden, die nur bei ausgewählten Modellen oder auch nur bei bestimmten Sitzbreiten oder Ausstattungsvariationen möglich sind.
Empfehlungen für die Rollstuhlmaße Im Prinzip muss ein Rollstuhl passen »wie ein Schuh«, d.h., er darf weder zu klein noch zu groß sein. Leider werden die Rollstühle für Personen mit einer Hemiparese oft zu groß bemessen, in der irrigen Meinung, dass 4 die Größe nicht so wichtig sei, 4 die Fortbewegung nicht behindern werde oder 4 es für die Patienten sogar bequemer sei. Aber genau das Gegenteil ist der Fall! kSitzbreite Eine ausreichende Sitzbreite muss dem Patienten ein bequemes Sitzen ohne Drücken der Seitenteile ermöglichen. Andererseits wird das Antreiben der Greifreifen umso schwerer, je größer der Abstand zwischen benötigter Sitzfläche und Greifreifen ist, die Arme also abgespreizt werden müssen. Empfohlen wird die geringste Sitzbreite für den Patienten.
283 19.2 · Spezielle Versorgungsleitlinien
kSitztiefe Empfohlen wird eine Sitztiefe, die eine gute Oberschenkelauflage und guten Bodenkontakt der gesamten Fußsohle bei angelehntem Oberkörper ermöglicht, so dass der Patient mit dem nicht betroffenen Bein mittrippeln kann. Meist wird aber eine zu große Sitztiefe gewählt. Der Patient muss dann, um den Boden nicht nur mit den Zehenspitzen zu erreichen, als Kompensation auf dem Sitz nach vorne rutschen. kSitzhöhe Auch die Sitzhöhe muss so gewählt werden, dass das nicht betroffene Bein einen guten Bodenkontakt zum Mittrippeln hat. Eine zu hohe, aber auch zu niedrige Sitzhöhe erschwert ebenso wie eine zu große Sitztiefe das Fahren und führt zu einem kompensatorischen Nach-vorne-Rutschen des Patienten. Sitzkissenhöhe und das vom Patienten normalerweise getragene Schuhwerk sind natürlich zu berücksichtigen. kRückenhöhe Empfohlen wird eine Rückenbespannung, die unter dem Schulterblatt endet, um die notwendige Bewegungsfreiheit für den Arm zum Antreiben des Greifreifens zu ermöglichen. Eine zu hohe Rückenlehne behindert, ohne größeren Sitzkomfort zu bieten. kSeitenteilhöhe Sehr oft wird die Seitenteilhöhe vernachlässigt, obwohl eine falsche Höhe für Beschwerden im Schulterbereich, Rumpf und in den Armen verantwortlich sein kann: 4 Zu hohe Seitenteile (weitaus häufiger!) erschweren das Antreiben des Greifreifens und führen häufig zu unphysiologischen Haltungen durch Verdrehen und Schrägneigen des Oberkörpers. 4 Zu niedrige Seitenteile (auch in Verbindung mit einem Therapietisch) ermöglichen keine entspannte Lagerung des paretischen Arms.
Mindestausstattung des Rollstuhls Für hemiparetische Patienten ist eine bestimmte Mindestausstattung zur sicheren und effizienten Nutzung des Rollstuhls erforderlich: 4 Der Rahmen muss einen senkrechten vorderen Abschluss haben und darf auch nicht V-förmig nach innen zulaufen, um ein Mittrippeln und sichere Transfers zu ermöglichen. 4 Da hemiparetische Patienten den Rollstuhl bei Barrieren (Bordsteinkanten) nicht selbstständig ankippen können, sind Schiebegriffe und Ankippbügel für die Begleitperson notwendig. 4 Die Beinstützen müssen zwei getrennte Fußplatten – möglichst mit getrenntem Wadenband – haben. Außerdem müssen sie zur Seite schwenkbar und komplett abnehmbar sein, um bei seitlichen Transfers keine Verletzungs- oder Sturzgefahr für den Patienten und eine eventuelle Hilfsperson zu bieten. Das Entriegeln und Abnehmen bzw. Wiederanbringen einer Beinstütze sollte der Patient selbstständig mit der nicht betroffenen Hand durchführen können. Die Beinstütze für das nicht betrof-
fene Bein sollte nur dann am Rollstuhl befestigt werden, wenn der Patient eine längere Strecke geschoben wird, weil sie sonst beim Mittrippeln stört. 4 Die Seitenteile müssen abnehmbar sein. Als sehr praktisch haben sich Seitenteile erwiesen, die zusätzlich nach hinten schwenkbar sind. So ist ein sicherer seitlicher Transfer gewährleistet, und der Patient kann das Seitenteil einfacher wieder einsetzen. Für die meisten Patienten sind lange Armlehnen günstig. 4 Da die Sitzfläche von Rollstühlen aus einer dünnen und festen Nylonbespannung besteht, ist ein Sitzkissen erforderlich, um Scheuerstellen an der Unterseite der Oberschenkel durch die Vorderkante der Sitzbespannung zu vermeiden und eine großflächige Druckverteilung zu erzielen. Meist ist ein flaches Schaumstoffkissen mit Bezug ausreichend, das mit Klettbändern am Sitz befestigt wird und zum Falten des Rollstuhls einfach entfernt werden kann. Fertig gepolsterte Sitzflächen sind weniger geeignet, da die Vorderkante meist nicht ausreichend mit Polsterung versehen ist und der Sitz beim Falten des Rollstuhls stark beansprucht wird und schneller verschleißt.
Sinnvolle Ausstattungsvarianten des Rollstuhls 4 Gegenüber Standardrollstühlen sind Leichtmetallrollstühle aus Aluminium um mehrere Kilos leichter; somit sind sie beweglicher und bieten Transportvorteile, z.B. im Auto. Diese Indikation im Hilfsmittelverzeichnis gilt auch, wenn nicht der Patient, sondern Angehörige Transportaufgaben übernehmen. Ein Aktivrollstuhl (d.h. ein Leichtgewichtstuhl, der auf die Maße und Fähigkeiten des Patienten abgestimmt ist) wird dann eingesetzt, wenn die Einstell-/Anpassungsmöglichkeiten eines Standardrollstuhls nicht ausreichen. Dies ist z.B. bei kleinen, zierlichen Patientinnen, aber auch bei sehr großen Patienten mit entsprechender Beinlänge oft der Fall. 4 Um einen Rollstuhl leichter verladen zu können, ist es günstig, wenn die Hinterräder mittels Steckachsen abnehmbar sind. Steckachsen gehören inzwischen bei vielen Rollstühlen schon zur Grundausstattung. 4 Einige Patienten benötigen eine unterschiedlich starke Unterstützung der verschiedenen Wirbelsäulenbereiche. Mittels mehrerer Klettverschlüsse kann die anpassbare Rückenbespannung variiert werden, um so ein ermüdungs- und schmerzfreies Sitzen zu ermöglichen. 4 Höhenverstellbare Schiebegriffe sind bei Größenunterschieden von Patient (und damit Rollstuhl) und Begleitperson angezeigt. 4 Bei Subluxation der paretischen Schulter oder SchulterArm-Syndrom, aber auch bei Vernachlässigung des betroffenen Arms wegen eines Neglects ist ein Therapietisch zur Lagerung des Arms wichtig (richtige Seitenteilhöhe!). Jedoch sollte nicht jeder Hemiparesepatient routinemäßig einen Tisch bekommen, da dieser oft nur schwer selbstständig aufgesteckt und wieder entfernt werden kann. 4 Bei einer Versorgung mit Therapietisch müssen die Bremshebel verlängert werden, damit der Patient die
19
284
Kapitel 19 · Technische Hilfsmittel
Bremsen weiterhin selbstständig auf beiden Seiten bedienen kann. Für den seitlichen Transfer muss die Verlängerung abnehm- oder wegklappbar sein. 4 Zum Schutz der paretischen Hand ist z.B. bei Neglectpatienten manchmal ein Speichenschutz sinnvoll, um ein unbeabsichtigtes Abrutschen der Hand in die Speichen zu verhindern. 4 Kann der Patient kurze Strecken mit einem Handstock zurücklegen, sollte er den Handstock am Rollstuhl mitführen können (Stockhalterung). 4 Wird der Patient im Rollstuhl transportiert (über eine Treppe mit/ohne Treppenlifter, mit einem Behindertentransport [»Telebus«]), ist die Sicherung des Patienten im Rollstuhl mit einem Sicherheitsgurt erforderlich. Viele Patienten bevorzugen einen separaten Gurt, der nicht ständig am Rollstuhl verbleibt.
Meist unnötige Ausstattungsvarianten 4 Ein Einhandantrieb ist nur dann sinnvoll, wenn der Patient das nicht betroffene Bein (z.B. nach Amputation) nicht einsetzen kann. Bessere Alternative ist in diesem Fall jedoch ein elektrischer Zusatzantrieb oder ein E-Rollstuhl. 4 Eine Einhandbremse bietet Patienten mit einer schweren brachiofazialen Hemiparese zwar einen besseren Bedienkomfort, ist jedoch kritisch zu hinterfragen, wenn ein Patient den Rollstuhl auf beiden Seiten, ggf. mithilfe einer Bremshebelverlängerung, anbremsen kann. Die beidseitige Lösung mindert das Risiko des sog. Learned Non-Use und fördert die Wahrnehmung der betroffenen Seite. 4 Trommelbremsen sind nur bei sehr bergigem Gelände für die Begleitperson erforderlich. 4 Höhenverstellbare Beinstützen zur Hochlagerung der Beine sind meist wenig effektiv. Besser ist es, die Beine in liegender Position hochzulagern, oder die Beine auf der Sitzfläche eines Stuhls o.Ä. zu lagern. 4 Eine Verstellung der Rückenlehne nach hinten ermöglicht keine ausreichende Oberkörperentlastung und damit Entspannung. Für eine Ruhephase ist der Transfer ins Bett besser. 4 Der Einsatz des Sicherheitsrads als Kippschutz ist sorgfältig abzuwägen. Zwar kann so ein Kippen des Rollstuhls nach hinten verhindert werden (z.B. durch Sich-fallen-Lassen beim Hinsetzen); andererseits besteht die Gefahr, dass der Rollstuhl bei Bodenunebenheiten oder niedrigen Kanten mit dem Sicherheitsrad aufsetzt und hängen bleibt.
19
! Cave Die sog. Hemiplegiker-Armlehne ist ungeeignet, da der betroffene Arm in einer unveränderbaren Position gelagert wird und somit vom Patienten nicht in Handlungen, z.B. als Haltehand, einbezogen werden kann bzw. bei spastischen Paresen die betroffene Extremität nicht in/auf der Armlehne verbleibt. Bei Neglectpatienten wird die Vernachlässigung des Arms durch die Positionierung am Rande des Blickfelds noch verstärkt.
b
a
c
. Abb. 19.1a–c. Verschiedene Gehhilfen. a Ein-Punkt-Stock mit anatomischem Handgriff, b Vier-Punkt-Stock, c Deltarad
19.2.2
Gehhilfen
Sie dienen der Verbreiterung der Unterstützungsfläche, z.B. 4 Unterarmgehstützen, 4 4-Punkt-Gehstützen, 4 Stöcke (am besten mit anatomischen Griff), 4 Rollatoren und 4 Deltagehräder (. Abb. 19.1). Für Hemiparesepatienten wird immer wieder diskutiert, dass der Gebrauch von einseitigen Gehstützen auf der nicht betroffenen Seite ein asymmetrisches Gangmuster mit Rumpfseitneigung fördert. Als Konsequenz werden empfohlen: 4 Hirtenstäbe (Griff in Brusthöhe), 4 hohe Einstellung von Gehstöcken (Referenz ist der Trochanter major) oder 4 Verzicht auf Gehstöcke. Dagegen spricht die größere Sturzgefahr. Näher betrachtet Ganganalytische Studien Ganganalytische Studien konnten keinen Einfluss der Art oder Höhe der Gehstütze auf Gangsymmetrie, Rumpfkinematik und Aktivierungsmuster verschiedener Bein- und Rumpfmuskeln nachweisen (Tyson 1994). Unabhängig von der Art und Höhe mindern Stöcke im Vergleich zum Gehen ohne Stock die Gewichtsübernahme um ca. 15%. Die Aktivitäten ausgewählter Beinmuskeln unterscheiden sich nicht, mit Ausnahme des M. gluteus medius (. Abb. 19.2), dessen Aktivität durch den Gebrauch des Stocks mit der nicht betroffenen Hand gemindert wird. Gangsymmetrie und Rumpfkinematik blieben unverändert.
285 19.2 · Spezielle Versorgungsleitlinien
. Abb. 19.2. Aktivität des M. gluteus medius eines hemiparetischen Patienten ohne/mit verschiedenen Stockmodellen. Zu beachten ist die Aktivitätsminderung des Muskels bei Gebrauch von Stöcken
Bei älteren Patienten mit Gangstörungen (z.B. PNP, Ataxien) haben sich 4 Rollatoren und 4 Deltagehräder
. Abb. 19.3. Schulterorthese (Omo Neurexa®) für die Therapie der schmerzhaften Schulter mit Subluxation
Unabhängig vom Typus der jeweiligen Orthese gelten die in . Übersicht 19.2 aufgeführten Überlegungen, deren Berück-
(in verschieden Ausführungen, z.B. mit zusätzlicher Sitzgelegenheit und Einkaufskorb) bewährt, wobei das Greifen mit der paretischen Hand ggf. durch eine Griffverdickung erleichtert werden kann. Der 4-rädrige Rollator bietet bei größerer Unterstützungsfläche mehr Sicherheit als das 3-rädrige Deltagehrad, das jedoch wendiger ist.
19.2.3
Orthesen für die obere Extremität
sichtigung eine für den Patienten geeignete Versorgung gestattet. Jedes Modell sollte anhand dieser Kriterien beurteilt werden, es wird keinem speziellen Modell der Vorzug gegeben (. Abb. 19.4). . Übersicht 19.2. Überlegungen für eine patientengerechte Versorgung 1.
In der Therapie des Schulter-Hand-Syndroms hemiparetischer Patienten empfehlen sich Orthesen, bestehend aus 4 einer Schulterkappe, 4 einer Ober- und Unterarmmanschette und 4 verbindenden Zügeln (Zorowitz 1995). Die Orthesen zielen auf eine Repositionierung des Humeruskopfes, auch können sie die Gangstabilität hemiparetischer
2.
Patienten sichern helfen (. Abb. 19.3). ! Cave Bei längerem Gebrauch ist die Förderung einer Beugespastik zu bedenken.
19.2.4
3.
Orthesen für die untere Extremität
Sprunggelenkorthesen Hauptindikationen sind
4 ein Hängenbleiben mit dem Fuß in der Schwungbeinphase, 4 eine unkontrollierte Vorverlagerung der Tibia in der Standbeinphase und 4 eine Inversionsfehlstellung des Fußes.
4.
Wie groß ist der Plantarflexionsstopp (zu prüfen als mechanischer Widerstand in Richtung Plantarflexion)? Dessen Ausmaß ist relevant für die Sicherung der Bodenfreiheit in der Schwungbeinphase. Zu beachten ist, dass ein übermäßiger Plantarflexionsstopp eine Knieflexion in der initialen Standbeinphase begünstigt, weswegen er gerade so groß sein soll, dass der Patient nicht im Schwung hängen bleibt. Wie groß ist der Dorsaflexionsstopp, dessen Ausmaß relevant ist für die Vorverlagerung der Tibia (und damit des Körperschwerpunkts) in der Standbeinphase? Zu beachten ist, dass ein übermäßiger Dorsalflexionsstopp eine Kniehyperextension und eine verkürzte Schrittlänge begünstigt. Inwieweit verhindert die Orthese eine Pro- bzw. Supination im unteren Sprunggelenk? Dessen Sicherung ist vor allem bei Patienten mit einer spastischen Equino-Varus-Fehlstellung von Bedeutung und hängt vorwiegend davon ab, inwieweit die Ferse bzw. das Sprunggelenk umfasst sind und ggf. diagonale Zügel (z.B. vom äußeren Fußrand zum Malleolus medialis bei Supinationsneigung) zusätzlich angebracht werden können. Kosmetische Belange, Gewicht und Handhabung, z.B. inwieweit dem Patienten ein selbständiges Anund Ablegen der Orthese möglich ist.
19
286
Kapitel 19 · Technische Hilfsmittel
jOrthesenmodelle Beispielhaft werden zwei in Deutschland gängige Orthesenmodelle sowie das Prinzip der dynamischen Orthesen (. Abb. 19.4) vorgestellt, 4 der Heidelberger Winkel (HW) und 4 die Valenser Schiene (VS). kHeidelberger Winkel (HW) Der HW besteht aus einer relativ starren, durchgängigen Einlegesohle aus Leder und einem dorsalen 2 cm breiten Metallbügel, der in Wadenhöhe mit einer Manschette abschließt. Dieser verhindert lediglich ein Hängenbleiben mit dem Fuß im Schwung (Minderung der Plantarflexion), wohingegen eine Inversionsfehlstellung nicht und die Vorverlagerung der Tibia in der Standbeinphase (Minderung der Dorsalflexion) nur gering verhindert werden.
on wird weiter durch eine Rückholfeder unterstützt, deren Zug mittels einer Schraube von außen eingestellt werden kann. Für Schlaganfallpatienten mit mäßig bis starker EquinoVarus-Fehlstellung eignet sich die VS. Selbst ein ausgeprägter spastischer Spitzfuß mit starkem Inversionszug kann noch korrigiert werden. Zusätzlich wird die passive Dorsalflexion kontrolliert, so dass eine geordnete Gewichtsvorverlagerung ermöglicht wird. Praxistipp Die Orthese kann von den meisten Patienten ohne Hilfe an- und abgelegt werden, wobei der Schuh nicht ausgezogen werden muss. So kann der Patient problemlos zwischen Gebrauch (z.B. für draußen) und Nichtgebrauch (z.B. in der Wohnung) wechseln
Praxistipp Das Hilfsmittel wird im Schuh getragen, so dass die Schuhe eine Nummer größer gewählt werden sollten. Druckstellen treten vorwiegend im Fersenbereich auf.
kValenser Schiene (VS) Bei der VS wird ein medial getragener Metallbügel mithilfe eines ca. 3 cm breiten, rechtwinklig abgehenden Sohlenplättchens von außen in eine an der Schuhsohle befestigten Hülse eingesteckt. Die Fixierung erfolgt durch zwei Ledermanschetten, die eine im Knöchel-, die andere im Wadenbereich. Die VS besitzt ein Gelenk, das sich in Höhe der anatomischen Gelenkachse befinden soll. Das Gelenk bietet einen präzisen Stopp in Richtung Plantar- und Dorsalflexion. Das Bewegungsausmaß kann allerdings nicht von außen verstellt werden; mögliche Änderungen sind dem Orthopädiemechaniker vorbehalten. Der Widerstand in Richtung Plantarflexi-
kSchuhwerk Für beide Modelle empfehlen sich als Schuhwerk feste Rahmenhalbschuhe mit Ledersohle und Gummiabsätzen. Die Ledersohle erlaubt es, bei angestrebter minimaler Bodenfreiheit ggf. ohne großen Widerstand gering über den Boden schleifen zu können. Der Absatz mindert im Falle eines Vorfußkontakts die mit dem anschließenden vollen Sohlenkontakt verbundene rasche Dehnung der Plantarflexoren und trägt einer eventuellen Sehnenverkürzung (langjähriger Gebrauch von Schuhen mit Absätzen) Rechnung. Praxistipp Bei Zehenverkrampfung (im Rahmen der Extensorensynergie) bietet sich eine retrokapitale Abstützung im Fußbett an.
19
a
b
c
. Abb. 19.4 a-c. Verschiedene Orthesenmodelle für das Sprunggelenk. a LIC-Schiene, b Valenser Schiene, c Scotch-Cast®-Innenschuh
287 19.2 · Spezielle Versorgungsleitlinien
kMaterialien: Scotch-Cast oder Kunststoff Individuell angefertigte Orthesen sind aus Scotch-Cast als intermediäre Lösung (Pohl u. Mehrholz 2006) oder aus Kunststoff als dauerhafte Lösung verfügbar. Die Sohle ist dem natürlichen Fußbett angepasst (mit Unterstützung v.a. subtalar bzw. im Bereich der Metatarsalia IV und V). Die Orthese endet supramalleolär; Klettverschlüsse verhindern ein Herausrutschen des Fußes. In Kunststoffschienen können Gelenke mit einem definierten Plantar- oder Dorsalflexionsstopp eingebaut werden. Die Orthesen werden in den Schuhen getragen, sind schnell anzuziehen und sind sehr leicht. Zu beobachten sind Druckstellen aufgrund der Härte des verwendeten Materials. a
Näher betrachtet Ganganalysen mit/ohne Orthese Ganganalytische Untersuchungen hemiparetischer Patienten mit und ohne Orthese unterstützen die folgenden Aussagen: 4 Patienten gehen mit einer Orthese signifikant schneller, sicherer und effizienter, d.h., das Sturzrisiko ist gemindert, und die Patienten verbrauchen weniger Energie pro zurückgelegter Wegstrecke (Hesse 1996, de Wit 2004, Pohl u. Mehrholz 2006). 4 Bei einer Inversionsfehlstellung mit Risiko des Supinationstraumas gehen die Patienten mit Schiene symmetrischer, belasten das paretische Bein mehr, treten besser auf und rollen länger ab (Hesse 1996) (. Abb. 19.5). 4 Die Orthese führt zu keiner Zunahme der Spastik; die Spastik der Plantarflexoren ist bei angelegter Schiene gemäß dem dynamischen EMG der Wadenmuskulatur sogar geringer (Hesse 1999). 4 Die Orthese mindert die Aktivität des M. tibialis anterior (. Abb. 19.6), was bei längerem Gebrauch eine Inaktivitätsatrophie des Muskels begünstigen könnte (Hesse 1999). 4 Die Orthese bewirkt eine geschwindigkeitsunabhängige Fazilitation des M. quadriceps, die es dem Patienten wiederum erlaubt, in der Standbeinphase mehr Gewicht auf das paretische Bein zu übernehmen (Hesse 1999).
b
Knie- und mehrgelenkige Beinorthesen Knieorthesen bieten sich bei Knieinstabilität mit paresebedingtem Kollaps bzw. einer Kniehyperextension im Mittstand (entweder paresebedingt oder als Folge der Extensorenspastik) an. Therapeuten wenden häufig ein, dass die Orthese es dem Patienten erschwere, die muskuläre Kniesicherung zu erlernen; ggf. sind diese Bedenken gegen einen im Einzelfall zu erzielenden funktionellen Gewinn abzuwägen. Praxistipp Beim Sitz der Orthese ist immer darauf zu achten, dass die Orthese nicht verrutscht bzw. sich verdreht, so dass die Höhe der Gelenkachse nicht mit der anatomischen übereinstimmt.
c . Abb. 19.5 a–c. Abrollspuren eines links-hemiparetischen Patienten: a barfuß, b nur mit Schuhen, c mit Valenser Schiene
jSchienenschellenapparate Bei querschnittgelähmten Patienten werden zur Wiederherstellung von Stehfähigkeit und Gehen im Durchschwunggang Schienenschellenapparate verordnet. Sie umfassen eine Sohle mit Hülse zur Sicherung des Sprung- und Kniegelenks in 90 bzw. 180° mit Entriegelungsmechanismus für das Kniegelenk, enden wahlweise im Bereich des oberen Ober-
19
288
Kapitel 19 · Technische Hilfsmittel
a
b
19
. Abb. 19.6 a, b. Roh-EMG (links) und Hüllkurve (rechts) von M. tibialis anterior, M. gastrocnemius und M. vastus lateralis a beim Barfuß-Gehen und b beim Gehen mit Valenser Schiene, bei gleicher
Gehgeschwindigkeit. Zu beachten sind die Fazilitation der Aktivität des Oberschenkelstreckers und die Minderung der Aktivität des M. tibialis anterior bei Gebrauch der Schiene
schenkeldrittels, mit Sitzpelotte oder Beckengurt. Vor einer definitiven Versorgung mit den teuren Orthesen sollte ein probatorisches Anlegen von dorsalen Gipsschalen erfolgen, auch zur Einschätzung des möglichen funktionellen Gewinns und der Bereitschaft des Patienten, die Orthese längerfristig zu tragen, denn erfahrungsgemäß benutzen nur wenige Patienten mit einer Läsionshöhe oberhalb Th10 die Hülsenapparate ein Jahr nach Versorgung (Milkenberg 1981).
19.2.5
jGangorthesen Eine neue Alternative sind Gangorthesen (RGO, Sohle, Hülse mit Beckengurt), die bei Gewichtsverlagerung zum Standbein hin das gegenseitige Bein über einen Baudenzug mittels Hüftflexion nach vorne schwingen. Dadurch kann der Patient statt im Durchschwunggang reziprok gehen, wobei der Energieaufwand und somit die Anstrengung für den Patienten geringer ist als mit einem konventionellen Hülsenapparat (Bernardi 1995). Die Mehrzahl der Patienten kann damit frei stehen. Nachteile sind die hohen Kosten und eine geringe Compliance (<25% 2 Jahre nach Versorgung).
Adaptationshilfen
Hilfen zum Anziehen 4 Bei Patienten mit geringer Rumpfstabilität kann ein Strumpfanzieher zum Anziehen von Strümpfen oder ggf. auch Strumpfhosen sinnvoll sein. 4 Je nach Stehfähigkeit des Patienten ist bei der Wohnraumbegehung darauf zu achten, dass dort, wo der Patient sich zuhause anzieht, Möglichkeiten zum Festhalten/Anlehnen bestehen oder geschaffen werden.
Hilfen im Bad 4 Zur Erleichterung des Badewannenein und -ausstiegs dienen Badewannenlifter, ggf. mit Drehscheibe und Rückenlehne. 4 Bei weniger schwer betroffenen Patienten hilft ein Badebrett mit Griff auf der nicht betroffenen Seite. 4 Eine Antirutschmatte und ein oder mehrere Haltegriffe (Länge ca. 30 cm) an der Wand sind nützlich. 4 Für die Dusche empfiehlt sich ein Duschschemel mit oder ohne Hygieneausschnitt, am besten ohne Rollen
289 19.2 · Spezielle Versorgungsleitlinien
4 Für den Essbereich haben sich Schnabeltassen, Tellerranderhöhungen, Griffadaptionen (Verdickung bzw. Schienung) bewährt. 4 Auch Greifzangen o.Ä. können für Personen, die sich nicht sicher bücken können, eine Hilfe sein.
Sicherheit im Haushalt
. Abb. 19.7. Toilettensitzerhöhung mit Haltegriffen
zur Erhöhung der Sicherheit; ideal sind ein schwenkbarer Duschsitz mit Montage an der Wand und ein Haltegriff (Länge 30–50 cm) auf der nicht betroffenen Seite.
Hilfen in der Toilette Für hemiparetische Patienten, die innerhalb der Wohnung bereits wieder gehfähig sind, empfiehlt sich eine Toilettensitzerhöhung ohne Armlehne (. Abb. 19.7), um die Rumpfaufrichtung zu fördern; für paraparetische Patienten dagegen ein Schwenkstützgriff, ggf. mit zusätzlichem Griff an der Wand. Der Toilettenpapierhalter kann am Schwenkstützgriff montiert werden. Letztere Variante ist i.d.R. auch für hemiparetische Patienten zu empfehlen, die auch zum Toilettengang noch auf den Rollstuhl angewiesen sind.
Hilfen im Haushalt 4 Für hemiparetische Patienten ist die Verordnung eines Nagelbretts als Hilfe zum Festhalten und einer Antirutschfolie zur Lagerung des betroffenen Arms angezeigt. 4 Bei funktioneller Einhändigkeit bietet der Fachhandel eine Vielzahl von Hilfsmitteln an (z.B. Kartoffelschäler, elektrische Dosenöffner, Flaschenöffner, Bügelscheren etc.). Praxistipp Zu beachten ist, dass die Kosten i.d.R. nicht oder nur anteilig von der Krankenkasse übernommen werden. Gleiches gilt auch für die vom Handel angebotene höhenverstellbare, rollstuhlgerechte Küche.
4 Zur Minderung der Sturzgefahr des Patienten hat es sich bewährt, Türschwellen und Teppichläufer zu entfernen. 4 Lichtschalter sollten auf erreichbarer Höhe montiert sein. 4 Fenster und Heizungskörper sollte der Patient ggf. nach Modifikation selbstständig betätigen können, wobei sich kommerziell angebotene Aufsätze nur bedingt bewährt haben. 4 Möbel sind so umzustellen, dass bei Rollstuhlpflichtigkeit Platz geschaffen wird, wohingegen bei sturzgefährdeten gehfähigen Patienten die Möbel eher eng zu stellen sind. 4 Zur Sicherung des Transfers hat sich eine Sitzerhöhung des Lieblingssessels (z.B. mit einem Kissen) bewährt. 4 Die Betthöhe ist an die Rollstuhlhöhe anzupassen; die Matratze sollte nicht zu weich sein. Griffe oder Galgen sind bei sicherem Transfer nach Möglichkeit zu vermeiden. 4 Telefon, Lichtquelle und Kleidung sollten für den Patienten in erreichbarer Nähe sein, jedoch ohne Kabelsalat. 4 Vor allem für den nächtlichen Toilettengang hat sich ein Toilettenstuhl ohne Rollen oder eine Urinflasche mit Halterung bewährt.
19.2.6
Weitere Hilfsmittel
Pflegebett Ein Pflegebett, ggf. mit Antidekubitusmatratze und Inkontinenzunterlage, erleichtert die Pflege schwer betroffener Patienten zuhause.
Kipptisch, Stehpult und Stehrollstuhl zwecks Vertikalisation Nicht selbständig stehfähige Patienten können in vielerlei Hinsicht von einer Stehmöglichkeit zuhause profitieren. Vorteile sind u.a. 4 Kontraktur-, Dekubitus-, Thrombose- und Pneumonieprophylaxe, 4 Kreislauftraining, 4 Anregung vegetativer Funktionen und 4 psychologische Gründe. Erster Schritt ist die Verordnung eines Stehpults für zuhause, dessen Handhabung Therapeuten und Angehörige übernehmen. Toleriert der Patient die Vertikalisation nicht von Beginn an, kann auch über die vorübergehende Verordnung eines Kipptisches in Absprache mit der Krankenkasse und bei Zusicherung einer mindestens 3-mal wöchentlichen Therapie nachgedacht werden. Andernfalls ist eine relevante Verbesserung der Kreislaufsituation nicht zu erwarten. Ist der Patient z.B. nach spinalem Trauma aktiv und kann sich selbst transferieren, so ist im Weiteren die Verordnung eines Stehrollstuhls zu überdenken.
19
290
Kapitel 19 · Technische Hilfsmittel
Inkontinenzhilfen . Übersicht 19.4. Rechtliche Grundlagen für die Verordnung von Hilfsmitteln
4 Einlagen, Windeln, Katheter (transurethral als Verweil-
oder Einmalkatheter, suprapubisch), Beutel und Kondomurinale sind in Absprache mit der Pflege zu verordnen. 4 Fäkalkollektoren eignen sich nur für bettpflichtige Patienten, die nicht in den Sitz mobilisiert werden. 4 Analtampons als Lösung für in den Sitz mobilisierte Patienten müssen nach 2–3 Stunden dringend entfernt werden. Angehörige, Pflegedienst und Hausarzt sind entsprechend zu instruieren.
1.
2. 3. 4.
Hüftprotektoren Oberste Priorität hat die Verbesserung der Gehfähigkeit und -sicherheit, auch unter Einsatz von Orthesen des Sprung- und Kniegelenks, Stöcken, Rollatoren oder Deltagehrädern (s.o.). Liegt unverändert eine hohe Sturzgefahr vor, so mindert die Verordnung von Hüftprotektoren das Risiko der Schenkelhalsfraktur (Kannus 2006), vor allem bei gleichzeitigem Vorliegen einer Osteoporose. Die Compliance im Alltag ist allerdings ein Problem.
19.2.7
Rechtliche Grundlagen
Als rechtliche Grundlagen für die Verordnung von Hilfsmitteln in der BRD für gesetzlich versicherte Patienten dienen die Sozialgesetzbücher mit ihren entsprechenden Paragraphen (. Übersicht 19.4).
19.3
Anhang
19.3.1
Praxishilfen
5. 6. 7.
SGB V (gesetzliche Krankenversicherung) – §33 Hilfsmittel – §128 Hilfsmittelverzeichnis SGB VII (gesetzliche Unfallversicherung) – §31 Hilfsmittel SGB XI (gesetzliche Pflegeversicherung) – §40 Pflegehilfsmittel und technische Hilfen SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) KHV (Kommunikationshilfenverordnung) BGG (Behindertengleichstellungsgesetz) Hilfsmittelrichtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen
Das Hilfsmittelverzeichnis (im Netz nach Eingabe des Begriffs in gängige Suchmaschinen) ist untergliedert in 33 Produktgruppen, u.a. 4 Mobilitätshilfen (Produktgruppe PG 22), 4 Orthesen (PG 23), 4 therapeutische Bewegungsgeräte (PG 32), 4 Inkontinenzhilfen (PG 15) sowie 4 Adaptions- (PG 2) und Kommunikationshilfen (PG 16). Zusätzlich werden Pflegehilfsmittel (z.B. Pflegebetten) gelistet.
Die . Übersichten 19.3 bis 19.5 geben orientierende Empfehlungen für die Praxis. . Übersicht 19.3. Checkliste für Wohnungsbegehung
19
1. Außerhalb der Wohnung – Auto aus- und einsteigen – Parkmöglichkeit – Wegstrecke – Aufgang zum Haus (Geländer, Stufen) – Lage der Wohnung (Einkaufszentrum, Praxis, Fahrstuhl) – Kontaktperson (Nachbarn, Hausmeister, Verwandte) – Briefkasten 2. Wohnung allgemein Sinnvoll ist die Anfertigung einer Skizze. Für alle Räume gilt abzuklären: – Bodenbeläge (alle Teppichläufer entfernen, Stolpergefahr) – Breite der Türen (rollstuhlgerecht) – Türschwellen entfernen (mit Vermieter abklären, wird von Krankenkasse nicht übernommen) – Vorhandene Stufen (Rampe)
6
– – – – – – – –
3.
Treppen (Treppenlifter) Bedienung von Heizkörpern und Lichtschaltern Gangbreite Scharfe und gefährliche Ecken und Kanten Sicherungskasten erreichbar Fensterhöhe Haustür/Schloss leicht zu öffnen/schließen Sprechanlage vorhanden Bad/Toilette – Bodenbelag (Teppichläufer) – Rollstuhlgerecht/Wegstrecke – Transfermöglichkeiten – Badewanne (Badebrett, Badewannenlifter, Haltegriff ) – Dusche (Rutschfolie, Duschklappsitz bzw. Hocker, Haltegriff ) – Temperaturregler bei Durchlauferhitzer (bei Sensibilitätsstörungen) – Armaturen einhändig bedienbar
291 19.3 · Anhang
– Notrufanlage neben dem Bett empfehlenswert – Bettposition – Nächtlicher Toilettengang (Toilettenstuhl ohne Rollen,
– Waschbecken (alles erreichbar: Schrank, Pflegebe-
4.
5.
darf, Wasserhahn) – Hocker, Schemel zur Sicherheit – Spiegelhöhe – Steckdosen – Toilette freistehend/erreichbar, Spülung (HM: Toilettensitzerhöhung ohne Armlehnen, Sicherheitsgriff auf nicht betroffener Seite) – Alle nicht festmontierten Regale entfernen (Sicherheit) Küche (Skizze) – Art der Küche (unterfahrbar, höhenverstellbar) – Bedienung von Kühlschrank, Herd, Waschmaschine, Gefrierschrank, Spülmaschine – Alle wichtigen Geräte ausprobieren bzw. öffnen lassen – (Geschirr aus dem Schrank holen, Herd bedienen, Wasser aufsetzen, Wasserhahn bedienen) – Evt. Abklemmen von elektrischen Geräten erforderlich oder ggf. auch Zeitschaltuhr für den Herd – Transportmöglichkeiten – Temperaturregler – Abstellflächen (Arbeitsflächen vorhanden) – Häufig benötigte Teile in erreichbare Höhe stellen Schlafzimmer – Lichtquelle und Telefon am Bett – Betthöhe/evt. Pflegebett
Urinflasche mit Halterung)
– Lagerung – Schränke erreichbar (häufig benötigte Kleider umstellen)
– Ggf. Möglichkeiten zum Festhalten beim Anziehen 6.
7.
8.
9.
(Hose hochziehen) Wohnzimmer – Sitzen am Tisch möglich – Evt. festes Sitzkissen als Erhöhung im Lieblingssessel – Bedienung TV/Radio Balkon/Terrasse – Türbreite – Schwelle Sonstiges – »Mobiler Mittagstisch« – Notfallpiepser – Sozialdienst/-station Eventuell – Behindertenführer – Selbsthilfegruppe – Rollende Werkstatt – Ambulante Therapien – Freizeitgestaltung
. Übersicht 19.4. Neuheiten 1.
2.
Individuell angefertigte Orthesen aus Scotch-Cast als intermediäre und schnelle Lösung in der Klinik; entsprechende Teams sind einzurichten. Keine zögerliche Verordnung von Orthesen oder Stöcken, eine Verschlechterung des Gangmusters ist gemäß ganganalytischen Untersuchungen nicht zu befürchten.
3.
4.
Schulterorthesen mit Schulterkappe, Oberarm- und Unterarmmanschette finden zunehmend Verwendung in der Therapie der schmerzhaften Schulter nach Schlaganfall. Kommunikationshilfen mit schrift- oder bildgestützter Eingabe und Sprachausgabe dienen der Unterstützung alltäglicher Kommunikation bei Dysarthrie, Sprechapraxie und Aphasie.
. Übersicht 19.5. Empfehlungen auf einen Blick Allgemeine Empfehlungen 1. Die am häufigsten verordneten Hilfsmittel für hemiparetische Patienten dienen der Förderung der Mobilität (z.B. Rollstühle, Stöcke, Orthesen), der Kompetenz in Bad (z.B. Haltegriffe), Toilette (z.B. Toilettensitzerhöhung) und Haushalt (z.B. Nagelbrett). 2. Rechtzeitig an die Hilfsmittelversorgung denken und in der Klinik bereits die Hilfsmittel ausprobieren! 3. Als in der Neurorehabilitation tätiger Arzt sich Kompetenz in Fragen der Hilfsmittelversorgung aneignen; wichtig dabei ist, die Einordnung der verschiedenen auf dem Markt angebotenen Hilfsmittel nach funktionellen Gesichtspunkten.
6
4.
5.
Hilfsmittel dienen nicht nur der Kompensation von Defiziten, sondern sie sollen dem Patienten auch die Möglichkeit bieten, möglichst früh selbständig aktiv zu üben. Sich im Verlauf der Rehabilitation immer wieder fragen, ob der Patient das verordnete Hilfsmittel noch benötigt. Keine unnötige Abhängigkeit schaffen!
Spezielle Empfehlungen 1. Bei Schulterschmerz eines hemiparetischen Patienten an die Möglichkeit der Versorgung mit einer Schulterorthese denken! 2. Rollstühle müssen passen »wie ein Schuh«; es gibt keine Standardversorgung.
19
292
Kapitel 19 · Technische Hilfsmittel
3.
4.
5.
6.
19.4
19
Stöcke frühzeitig verordnen! Der Patient muss sich sicher fühlen. Art und Höhe des Stocks haben keinen Einfluss auf das Gangmuster. Noch geht der Patient mit einem Stock, gleich welcher Höhe oder Art, »schlechter« als ohne Stock. Sprunggelenkorthesen nach funktionellen Gesichtspunkten beurteilen! Wesentliche Kriterien sind das Ausmaß des Dorsal- und Plantarflexionsstopps, die Minderung einer Inversionsfehlstellung und kosmetische Überlegungen. Hauptindikationen sind Hängenbleiben mit dem Fuß (Plantarflexionsstopp), übermäßige Vorverlagerung der Tibia in der Standbeinphase (Dorsalflexionsstopp) und Inversionsfehlstellung. Individuell angefertigte Orthesen aus Scotch-Cast als intermediäre und schnelle Lösung in der Klinik; entsprechende Teams sind einzurichten. Mit Sprunggelenkorthesen gehen Patienten sicherer und qualitativ besser, eine Spastik wird nicht provoziert;
Literatur
Bernardi M, Canale I, Felici F, Macaluso A. Ergonomy of paraplegic patients working with a reciprocing gait orthosis. Paraplegia 1995;33:458-463. Bestmann A, Lingnau ML, Staats M, Hesse S. Phasenspezifische Hilfsmittelversorgung in der neurologischen Rehabilitation. Die Rehabilitation 2001;40:1-6. de Wit DC, Buurke JH, Nijlant JM, Ijzerman MJ, Hermens HJ. The effect of an ankle-foot orthosis on walking ability in chronic stroke patients: a randomized controlled trial. Clin Rehabil 2004;18:550-7. Hesse S, Lücke D, Jahnke MT, Mauritz KH. Gait function in spastic hemiparetic patients walking bearfoot, with firm shoes, and with an ankle-foot orthosis. Int J Rehab Res 1996;19:133-141. Hesse S, Werner C, Konrad M, Kirker S, Berteanu M. Non-velocity-related effects of a rigid double-stopped ankle-foot orthosis on gait and lower limb muscle activity of hemiparetic subjects with an equinovarus deformity. Stroke 1999;30:1855-1861. Kannus P, Parkkari J. Prevention of hip fracture with hip protectors. Age Ageing 2006;35 Suppl 2: ii51-ii54. Milkenberg R, Reid S. Spinal cord lesions and lower extremity bracing: an overview and follow-up study. Paraplegia 1981;19:379-85. Pohl M, Mehrholz J. Immediate effects of an individually designed functional ankle-foot orthosis on stance and gait in hemiparetic patients. Clin Rehabil 2006;324-330. Tyson SF, Ashburn A. The influence of walking aids on hemiplegic gait. Physiother Theory Pract 1994;10:77-86. Zorowitz RD, Idank D, Ikai T, Hughes MB, Johnston MV. Shoulder subluxation after stroke: a comparison of four supports. Arch Phys Med Rehabil 1995;76:763-771.
7.
8.
9.
somit ist bei berechtigter Indikation keine zögerliche Verordnung angezeigt. Eine orthetische Versorgung des Kniegelenks, sei es zur Minderung einer Hyperextension oder einer übermäßigen Flexion in der Standbeinphase, hat sich noch nicht durchgesetzt. Hilfsmittel für Bad, Toilette und Haushalt am besten im Rahmen eines Hausbesuchs gemeinsam mit Patient und Angehörigen klären! Checklisten für den Hausbesuch verwenden. Die Verordnung von Kommunikationshilfen ersetzt keine sprachtherapeutische Intervention. Die Kommunikationshilfe muss von beruflich qualifizierten Fachleuten individuell an den Patienten angepasst und der Umgang trainiert werden. Dies sollte unter Einbindung von Angehörigen im Rahmen eines Kommunikationstrainings geschehen.
20
Ataxien: Assessment und Management H. Ackermann 20.1 Pathophysiologische Grundlagen
– 294
20.1.1 Terminologische Abgrenzungen – 294 20.1.2 Differenzialdiagnostik von Koordinationsstörungen – 294 20.1.3 Funktionelle Kompartimentalisierung des Kleinhirns – 295
20.2 Assessment: Klinische Skalen und apparative Verfahren 20.2.1 Klinische Skalen – 296 20.2.2 Apparative Messverfahren
– 296
– 296
20.3 Medikamentöse und chirurgische Therapie von Koordinationsstörungen – 296 20.3.1 Medikamentöse Therapie – 296 20.3.2 Operative Therapie – 297
20.4 Rehabilitation von Patienten mit Koordinationsstörungen 20.4.1 Pathophysiologische Rehabilitationsressourcen – 297 20.4.2 Funktionelle Übungsbehandlung und physikalisch-medizinische Maßnahmen – 298
20.5 Literatur
– 302
– 297
294
Kapitel 20 · Ataxien: Assessment und Management
Die Literatur zur Rehabilitation ataktischer Bewegungsstörungen stützt sich vornehmlich auf Untersuchungen an Patienten mit Multipler Sklerose (ausführliche Behandlungsvorschläge in Urbscheit u. Oremland 1995, Gill-Body et al. 1997). Die Wirksamkeit funktioneller Übungsbehandlungen bei degenerativen Krankheitsbildern oder fokalen Läsionen (Tumor, Infarkt) wurde bisher nur im Rahmen von Einzelfallstudien untersucht. Vor dem Hintergrund dieser – zugegebenermaßen spärlichen – Datenlage darf aber angenommen werden, dass ein uneingeschränkter »therapeutischer Nihilismus« in Bezug auf die Rehabilitation von Ataxien nicht angebracht ist: Durch intensive Übungsbehandlungen lässt sich, auch bei unverändertem neurologischen Befund (Impairment-Ebene nach ICF-Modell) (Schuntermann 2007), u.U. die Selbständigkeit im Alltag erheblich verbessern (Disability-Ebene). Stand- und Gangunsicherheit scheinen auf diese Maßnahmen eher anzusprechen als Koordinationsstörungen der oberen Extremitäten. Schließlich müssen funktionelle Übungsbehandlungen durch eine adäquate Hilfsmittelversorgung ergänzt werden.
20.1
Pathophysiologische Grundlagen
20.1.1
Terminologische Abgrenzungen
Der Begriff der Ataxie (gr. a-táxis; Unordnung) wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet. Definition Einer der Definitionen zufolge ist unter Ataxie eine Beeinträchtigung der Bewegungskoordination zu verstehen, die sich nicht auf Paresen bzw. Tonusveränderungen der Muskulatur, Lagesinnstörungen oder einschießende unwillkürliche motorische Abläufe zurückführen lässt (Patten 1996).
Den Ataxien in diesem Sinne liegt eine Dysfunktion des Kleinhirns und/oder der entsprechenden afferenten bzw. efferenten Bahnsysteme zugrunde. Deshalb lassen sich ataktische Störungsmuster der Motorik auch bei extrazerebellären Läsionen beobachten, z.B. können lakunäre Infarkte der Capsula interna oder der Basis pontis, wenn neben der Pyramidenbahn auch die Verbindungen des Frontallappens zum Kleinhirn betroffen sind, eine sog. ataktische Hemiparese hervorrufen (Mohr 1986).
20
> Zwei der häufigsten Ursachen einer Ataxie, 4 die Multiple Sklerose und 4 das Schädel-Hirn-Trauma, weisen als Prädilektionsort der pathologischen Veränderungen nicht das Kleinhirn selbst, sondern das Brachium conjunctivum (Pedunculus cerebelli superior, oberer Kleinhirnstiel) auf, durch das vor allem efferente zerebelläre Projektionen zum Thalamus ziehen (z.B. Mennel 1997).
Im Gegensatz zu dem skizzierten pathophysiologischen Konzept der Ataxie wird der Begriff »Ataxie« auch als eine nosologische Entität verwendet, die hereditäre und nicht-erbliche Erkrankungen des Kleinhirns und seiner afferenten bzw. efferenten Verbindungen mit dem Leitsymptom einer progredienten Koordinationsstörung umfasst (Klockgether u. Timmann 2007, Klockgether 2008). > Nicht unter diesen Begriff einer Ataxie fallen umschriebene Läsionen des Kleinhirns, z.B. Tumoren, Infarkte oder multifokale Erkrankungen wie Multiple Sklerose, auch wenn ataktische Bewegungsmuster im Vordergrund stehen sollten.
In der Literatur werden Koordinationsstörungen der unteren Extremitäten aufgrund spinaler (Hinterstrangerkrankungen) oder peripher-neurogener Erkrankungen (Polyneuropathie), die sich als Stand- und Gangunsicherheit äußern und maßgeblich durch eine Beeinträchtigung der Tiefensensibilität bedingt sein dürften, ebenfalls den Ataxien zugeordnet (Gilroy u. Meyer 1979). Darüber hinaus ist gelegentlich bei Läsionen des Stirnhirns eine als frontale Ataxie (Bruns’ ataxia) bezeichnete Veränderung der Körperhaltung und des Gangbilds zu beobachten (Adams u. Victor 1977). Die sog. optische Ataxie ist durch eine Beeinträchtigung zielgerichteter, visuell kontrollierter Armbewegungen charakterisiert und tritt vor allem im Rahmen eines Balint-HolmesSyndroms nach bilateraler okzipito-parietaler Schädigung auf (Karnath 2006). Fazit Die aktuelle neurologische Terminologie verwendet den Begriff »Ataxie« meist zur Beschreibung degenerativer Erkrankungen des Kleinhirns und seiner Bahnen. Dieses Kapitel bezieht sich weitergefasst auf Ataxien im Sinne einer distinkten Bewegungsstörung, die bei unterschiedlichen Erkrankungen beobachtet werden kann. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf ataktische Bewegungsstörungen bei Läsionen und Erkrankungen des Kleinhirns und der zerebrozerebellären Bahnsysteme.
20.1.2
Differenzialdiagnostik von Koordinationsstörungen
Eine Vielzahl hereditärer wie auch erworbener Erkrankungen kann mit einer Degeneration des Kleinhirns und dessen afferenten oder efferenten Bahnen einhergehen und eine ataktische Bewegungsstörung hervorrufen (Klockgether u. Timmann 2007, Klockgether 2008). Vereinfacht lassen sich drei ätiologische Gruppen unterscheiden (. Übersicht 20.1). Die wichtigsten symptomatischen Varianten, die differenzialdiagnostisch weiter abgeklärt werden müssen, sind in . Übersicht 20.2 zusammengefasst.
295 20.1 · Pathophysiologische Grundlagen
. Übersicht 20.1. Formen einer ataktischen Bewegungsstörung 1. 2. 3.
Hereditäre Formen Sporadische (idiopathische) Formen Symptomatische Formen
. Übersicht 20.2. Mögliche Ursachen einer ataktischen Bewegungsstörung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Alkoholabusus Medikamente (Antiepileptika, Lithium, Nitrofurantoin, Zytostatika) Exposition gegenüber Schwermetallen und Lösungsmitteln Tumorerkrankungen (paraneoplastische Kleinhirndegeneration) Schilddrüsenunterfunktion Spezifische Antikörper (immunvermittelte Ataxien) Gastrointestinale Störungen (Malabsorption)
jIdiopathische Ataxie Finden sich weder Anhaltspunkte einer symptomatischen Genese noch Hinweise auf eine hereditäre Erkrankung, dann wird von einer idiopathischen oder sporadischen Ataxie des Erwachsenenalters gesprochen. jSymptomatische Formen Koordinationsstörungen können sowohl bei umschriebenen Läsionen, z.B. 4 Blutung, 4 Ischämie, 4 Tumor, 4 Abszess, als auch bei multifokalen Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose auftreten, wenn Kleinhirn oder zerebro-zerebelläre Projektionsbahnen mitbetroffen sind. Auch an toxische oder metabolische Ursachen zerebellärer Dysfunktionen muss gedacht werden (. Übersicht 20.2). Neben der Anamnese stützt sich die Diagnose auf Bildgebung und Labordiagnostik.
20.1.3
Funktionelle Kompartimentalisierung des Kleinhirns
Praxistipp Bei einem akuten Beginn von Koordinationsstörungen ist auch eine Entzündung des Kleinhirns, eine Zerebellitis, in Erwägung zu ziehen.
jHereditäre Ataxien Hereditäre Ataxien können einen autosomal-dominanten oder autosomal-rezessiven Erbgang aufweisen. Die progredient verlaufenden autosomal-dominanten Formen werden unter der Bezeichnung spinozerebelläre Ataxie (SCA) zusammengefasst, obwohl 4 einerseits pathologisch-anatomisch nicht immer das Rückenmark miteinbezogen ist und 4 andererseits die einzelnen Varianten in unterschiedlichem Ausmaß auch mit degenerativen Veränderungen des Hirnstamms oder supratentorieller Strukturen vergesellschaftet sein können. Inzwischen ist es gelungen, mehr als 25 unterschiedliche Genloci bei SCA zu identifizieren. Abgegrenzt werden diese Formen von den sehr seltenen autosomal-dominanten episodischen Ataxien, die sich u.a. durch kurz andauernde Phasen einer Stand-/Gangunsicherheit und einer Dysarthrie auszeichnen. Die Friedreich-Erkrankung (FRDA) ist die häufigste Form einer autosomal-rezessiv vererbten Ataxie, bedingt durch die Expansion einer GAA-Sequenz des Genoms. Neben der FRDA sind eine Reihe weiterer autosomal-rezessiver Konstellationen bekannt, z.B. die Abetalipoproteinämie oder die zerebrotendinöse Xanthomatose, die in der Regel ebenfalls einen progressiven Verlauf bei relativ frühem Krankheitsbeginn aufweisen.
In gewissen Grenzen können aus der Symptomatik zerebellärer Funktionsstörungen Rückschlüsse auf das Verteilungsmuster der zugrunde liegenden Schädigung gezogen werden (Dichgans 1984): 4 Eine Läsion des Kleinhirnvorderlappens führt in erster Linie zu einer Gangataxie und einem anterior-posterior betonten Schwanken im Romberg-Versuch (Standataxie). 4 Die zerebellären Sprech- und Stimmstörungen (ataktische Dysarthrie) dürften topographisch dem paravermalen Kortex kaudal der Fissura prima, einer Zielregion akustischer Projektionen, zuzuordnen sein (Ackermann u. Hertrich 2000, Ackermann et al. 2007). 4 Eine Funktionsstörung der weiter lateral gelegenen Anteile der Kleinhirnhemisphären oder der zugeordneten zerebellären Kerngebiete ruft eine ipsilaterale Dysmetrie und einen ipsilateralen Intentionstremor der oberen Extremitäten hervor. 4 Okulomotorischen Defiziten liegt meist eine Läsion des Flocculus (Blickhalte- und -folgestörungen) oder des Unterwurms (Sakkadendysmetrie) zugrunde. Auch die Beeinträchtigung der posturalen Kontrolle von Kopf und Oberkörper (Rumpfataxie) weist auf eine Dysfunktion unterer Wurmanteile hin (Überblick in Abele u. Klockgether 2005).
20
296
Kapitel 20 · Ataxien: Assessment und Management
20.2
Assessment: Klinische Skalen und apparative Verfahren
20.2.1
Klinische Skalen
jInternational Cooperative Ataxia Rating Scale (ICARS) Zur semiquantitativen Erfassung des klinischen Schweregrades zerebellärer Ataxien wurde die International Cooperative Ataxia Rating Scale (ICARS) eingeführt (Trouillas et al. 1997). Dieses Instrumentarium weist zwar eine sehr hohe Inter-Rater-Reliabilität auf (Storey et al. 2004), aber die psychometrische Überprüfung der ICARS konnte Inkonsistenzen des Skalenaufbaus nachweisen, z.B. bilden bei SCA-Patienten die vier ungleich gewichteten Test-Untereinheiten 4 Stand/Gang, 4 zielgerichtete/alternierende Extremitätenbewegungen, 4 Artikulation/Phonation, 4 Okulomotorik nicht die vier Dimensionen ab, die sich aus einer Faktorenanalyse der Expertenurteile ableiten lassen (Schmitz-Hübsch et al. 2006a). Bemerkenswerterweise führte die Validierung der ICARS an Patienten mit fokaler zerebellärer Läsion (Tumor, Infarkt) zu besseren psychometrischen Ergebnissen als bei degenerativen Erkrankungen (Schoch et al. 2007). jScale for the Assessment and Rating of Ataxia (SARA) Als alternatives Verfahren wurde die Scale for the Assessment and Rating of Ataxia (SARA) entwickelt und an einer großen Gruppe von SCA-Patienten evaluiert (SchmitzHübsch et al. 2006b). jKlinische FRDA-Skala Des Weiteren steht eine klinische Skala zur Verfügung, die auf die spezifischen Symptome der FRDA ausgerichtet ist (Subramony et al. 2005). Auf zerebelläre Erkrankungen zugeschnittene validierte Instrumente zur Erfassung der Tätigkeiten des alltäglichen Lebens oder der Partizipationsmöglichkeiten liegen bisher nicht vor.
20.2.2
20
Apparative Messverfahren
jKraftmessplattformen Eine Reihe apparativer Messverfahren erlauben die Registrierung bewegungsphysiologischer Parameter bei Patienten mit einer Ataxie. Mithilfe von Kraftmessplattformen lassen sich die Schwankungen des Körperschwerpunkts im Zeitverlauf (Posturographie) erfassen (Diener et al. 1984). Neben der Untersuchung pathophysiologischer Fragestellungen und der Dokumentation von Therapieeffekten kann – ergänzt durch auditives oder visuelles Biofeedback – dieses Verfahren auch für Koordinationsübungen herangezogen werden, z.B. um die Verlagerung des Körperschwerpunkts zu trainieren (Davide et al. 2000).
jOptoelektronische/elektroakustische Methoden Optoelektronische (z.B. ELITE, BTS/Italien) oder elektroakustische Methoden (z.B. CMS 50, Zebris/Deutschland)
ermöglichen eine Darstellung der Bewegungstrajektorien relevanter Körperabschnitte, z.B. während des Finger-Nase-Versuchs oder beim Gehen (Ferrarin et al. 2005). Optoelektronische und elektromagnetische Techniken ermöglichen auch die Darstellung von Lippen- und/oder Zungenexkursionen während des Sprechvorgangs (Ackermann u. Hertrich 2000, Ackermann et al. 2007). jAkzelerometer/Goniometer Als weniger aufwendige Messysteme können alternativ Akzelerometer (Beschleunigungsmessung, z.B. Okajima et al. 1990) oder Goniometer (Registrierung von Gelenkpositionen, z.B. Ramos et al. 1997) zur Erfassung bewegungsphysiologischer Parameter herangezogen werden. Am meisten scheinen Patienten mit hereditärer Ataxie unter Beeinträchtigungen der Lokomotion zu leiden (D’Ambrosio et al. 1987). Ohne allzu großen Aufwand lässt sich der Bewegungsablauf beim Gehen mit Hilfe von an den Schuhen angebrachten Drucksensoren untersuchen (Bäzner et al. 2000). jElektronystagmographie Beeinträchtigungen der Kontrolle von Augenbewegungen lassen sich bei Ataxiepatienten mithilfe der Elektronystagmographie dokumentieren.
20.3
Medikamentöse und chirurgische Therapie von Koordinationsstörungen
20.3.1
Medikamentöse Therapie
jMedikamente mit anti-ataktischer Wirkung 4 Ausgehend von der Serotonin-Hypothese zerebellärer Funktionsstörungen wurde der Serotonin-Präkursor L-5Hydroxytryptophan (HT) auf seine Wirksamkeit bei Ataxien untersucht. Die Studien führten zu diskrepanten Ergebnissen, und es ist keine alltagsrelevante Besserung der Beschwerden unter dieser Medikation zu erwarten (Klockgether u. Timmann 2007). 4 Eine Alternative könnte der anxiolytisch wirksame 5HT1A-Rezeptor-Agonist Buspiron sein: Eine randomisierte und Plazebo-kontrollierte Studie (19 Patienten, rein zerebellärer SCA-Phänotyp) dokumentierte eine signifikante Verbesserung der Koordinationsstörungen unter diesem Medikament. Allerdings scheinen diese Effekte keine Alltagsrelevanz aufzuweisen. Trotzdem ist ein Behandlungsversuch zumindest bei SCA-Patienten vertretbar. 4 Bei Multisystematrophien mit vorwiegend zerebellärer klinischer Konstellation wird der Einsatz von Amantadin diskutiert (Klockgether 2008).
297 20.4 · Rehabilitation von Patienten mit Koordinationsstörungen
jIn den Krankheitsprozess eingreifende Medikamente 4 Neben diesen Medikamenten mit – erhoffter – symptomatischer anti-aktaktischer Wirkung wurden bei einigen erblichen Kleinhirnerkrankungen pharmakologische Maßnahmen erprobt, die mehr oder minder in den eigentlichen Krankheitsprozess eingreifen, z.B. 5 Idebenone bei FRDA, 5 Vitamin E bei Abetalipoproteinämie und 5 Chenodeoxycholsäure bei zerebrotendinöser Xanthomatose. 4 Acetazolamid kommt bei episodischen Ataxien eine prophylaktische, d.h. Attacken verhindernde Wirkung zu (Klockgether 2008). 4 Bei symptomatischen Ataxien, z.B. infolge eines Hypothyreoidismus, lässt sich durch eine adäquate Behandlung der Grunderkrankung u.U. eine Besserung der ataktischen Bewegungsstörungen erreichen. jMedikamente mit Tremor reduzierender Wirkung 4 Zahlreiche Medikamente wurden schon zur Therapie des zerebellären Tremors eingesetzt (vgl. Spieker 2005), eine Symptomatik, die Patienten im Alltag erheblich behindern kann. Behandlungsversuche mit 5 Propranolol, 5 Carbamazepin, 5 Clonazepam oder 5 Topiramamt 4 scheinen keine zufriedenstellende Besserung der Bewegungsstörung zu bewirken. 4 Der Einsatz von Isoniazid (INH), das den Abbau des Transmitters GABA hemmt, wird nicht mehr empfohlen. 4 Auch Valproat und Baclofen gelten als unwirksam (Klockgether 2008).
wurde, durch elektrische Stimulation des Zerebellums selbst eine Verbesserung der Ataxie der oberen Extremitäten zu erreichen (vgl. Morgan 1980).
20.4
Näher betrachtet Datenlage Die meisten Studien zur neurorehabilitativen Therapie ataktischer Bewegungsstörungen stützten sich auf Patienten mit Multipler Sklerose (Brown u. Kraft 2005). Bisher wurden auch nur bei dieser Erkrankung kontrollierte randomisierte Untersuchungen zur Wirksamkeit der krankengymnastischen Übungsbehandlung durchgeführt (Mills et al. 2007). Darüber hinaus konnten eine Reihe von Kasuistiken eine Verbesserung der Aktivitäten des täglichen Lebens unter rehabilitativen Maßnahmen dokumentieren, z.B. bei 4 paraneoplastischer zerebellärer Degeneration (Sliwa et al. 1994, Liu et al. 2000, Perlmutter u. Gregory 2003), 4 Kleinhirnatrophie infolge einer Lithium-Intoxikation (Izzo u. Brody 1985) und 4 Vitamin-E-Mangel (Battista et al.1998). An Patienten mit hereditären Ataxien wurden zwar die Möglichkeiten und Grenzen motorischen Lernens untersucht (z.B. Loffe et al. 2006), neurorehabilitative Therapiestudien liegen allerdings bei diesen Erkrankungen bisher nicht vor. Auch die Behandlung von Koordinationsstörungen nach Kleinhirnund Hirnstamminfarkten fand bisher kaum Aufmerksamkeit.
20.4.1 20.3.2
Operative Therapie
Wenn ein zerebellärer Tremor die Aktivitäten des alltäglichen Lebens erheblich beeinträchtigt und sich medikamentös nicht hinreichend kontrollieren lässt, dann ist ein funktionell-neurochirurgischer Eingriff in Erwägung zu ziehen. Eingriffe scheinen erfolgversprechender zu sein als die zur Verfügung stehenden Pharmaka. 4 Stereotaktische Verfahren, 5 die Thalamotomie oder 5 die Tiefenhirnstimulation, 4 wurden zur Behandlung des zerebellären Tremors bei der Multiplen Sklerose eingesetzt (Thompson 2002), in Einzelfällen auch bei SCA-Patienten (z.B. Shimojima et al. 2005). Diese Eingriffe sind erheblich erfolgreicher als die zur Verfügung stehenden Pharmaka. Allerdings sprechen ataktische Bewegungsstörungen weniger gut an als Tremorformen anderer Ätiologie (Klockgether 2008). 4 Die Hochfrequenzstimulation des Nucleus subthalamicus scheint besser zu wirken als die elektrische Reizung thalamischer Strukturen (Herzog et al. 2007). Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch versucht
Rehabilitation von Patienten mit Koordinationsstörungen
Pathophysiologische Rehabilitationsressourcen
Näher betrachtet Untersuchungen an subhumanen Primaten Im Tierexperiment weisen umschriebene zerebelläre Läsionen meist eine gute Prognose der motorischen Defizite auf, z.B. kommt es bei subhumanen Primaten nach einseitiger Kleinhirnschädigung ohne Beteiligung der Kerngebiete im Verlauf weniger Wochen zu einer weitgehenden Rückbildung der Bewegungsstörungen (Urbscheit u. Oremland 1995).
jPrognose beim Menschen In Übereinstimmung mit diesen Befunden konnte auch bei Patienten, die sich einer nahezu vollständigen Resektion einer Kleinhirnhemisphäre unterziehen mussten, eine weitgehende Erholung aller neurologischen Ausfälle beobachtet werden (z.B. Daum et al. 1993). Auch zerebelläre Schlaganfälle (2–3% aller zerebralen Durchblutungsstörungen) weisen eine günstige Prognose auf,
20
298
Kapitel 20 · Ataxien: Assessment und Management
sofern die Patienten nicht an Komplikationen der Akutphase wie Hirnstammkompression oder Hydrozephalus versterben (Kelly et al. 2001). Ischämien gehen mit einer besseren Rückbildung der Ausfälle einher als hämorrhagische Infarkte. Bei getrennter Betrachtung der einzelnen Kleinhirnarterien finden sich die ausgeprägtesten Beeinträchtigungen der Aktivitäten des täglichen Lebens nach Durchblutungsstörungen im Versorgungsgebiet der A. cerebellaris superior. Bei unilateralen Läsionen des Zerebellums dürften kontralaterale Strukturen stellvertretend Leistungen übernehmen. Darüber hinaus ist auch vorstellbar, dass die nachfolgenden Reorganisationsvorgänge die Großhirnrinde miteinbeziehen (vgl. Ackermann u. Ziegler 1992; Grips et al. 2005). Besonders bei Multipler Sklerose und Multisystemdegenerationen können aber die Kompensationsmöglichkeiten von Koordinationsstörungen durch zusätzliche Paresen oder Lagesinnstörungen limitiert sein. Näher betrachtet Wirksamkeit rehabilitativer Maßnahmen Die Wirksamkeit einer funktionellen Übungsbehandlung bei progredienten Ataxien und chronisch-residualen Koordinationsstörungen wird sowohl vonseiten der Therapeuten als auch der Neurologen eher zurückhaltend eingeschätzt bzw. sogar rundweg bestritten (z.B. Sage 1984). Allerdings vermögen intensive rehabilitative Maßnahmen, einschließlich Hilfsmittelversorgung, auch ohne wesentliche Änderung des neurologischen Befunds (Funktionsstörungen) eine für den Patienten relevante Verbesserung der Selbständigkeit im Alltag (Aktivitäten und Funktionen) herbeizuführen (Izzo u. Brody 1985, Sliwa et al. 1994, Jones et al. 1996). Darüber hinaus kommt der Übungsbehandlung die Aufgabe zu, Komplikationen wie z.B. Gelenkkontrakturen oder bronchopulmonale Infekte zu verhindern. Verlaufsuntersuchungen bei Patienten mit Schädel-HirnTrauma deuten darauf hin, dass motorische Defizite nach Schädigung der oberen Kleinhirnstiele eine schlechtere Prognose aufweisen als ataktische Symptome aufgrund einer Rindenatrophie (Kotsoris u. Volpe 1987). Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass bei Erkrankungen, die in erster Linie mit einem Zellverlust der Kleinhirnrinde einhergehen, z.B. toxische oder paraneoplastische zerebelläre Degenerationen, rehabilitative Maßnahmen erfolgversprechender sind als bei der Multiplen Sklerose, die oft Demyelinisierungsherde im Brachium conjunctivum als Ursache der Ataxie aufweist.
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Funktionelle Übungsbehandlung und physikalisch-medizinische Maßnahmen
Dysmetrie/Intentionstremor der oberen Extremitäten 4 Bei leichter Ataxie der oberen Extremitäten werden Übungen zur Feinmotorik der Finger empfohlen, z.B. 5 die Manipulation kleinerer Gegenstände oder 5 das Arbeiten mit Knetmasse (Wolf 1985).
4 Unter Umständen kann der weniger betroffene Arm die kontralaterale Extremität bei Alltagsverrichtungen unterstützen (Smith 1998). Zur Behandlung ataktischer Schreibstörungen stehen entsprechende Trainingsprogramme zur Verfügung (Mai u. Marquardt 1999). 4 Das Koordinationstraining bei ausgeprägterer Ataxie der oberen Extremitäten sieht zwei Behandlungsstufen vor: 5 Zunächst wird versucht, meist beginnend im Bereich der distalen Muskulatur, die Ausführung von »single joint«-Exkursionen durch repetitive Übungen zu verbessern. 5 Danach sollten die »auftrainierten« Einzelbewegungen in ein komplexes, sich über mehrere Gelenke erstreckendes Bewegungsmuster integriert werden (vgl. Smith 1998). Es ist jedoch bisher unklar, über welche Mechanismen das angesprochene Koordinationstraining eine Verbesserung der Koordination von Bewegungsabläufen bewerkstelligen soll. 4 Patienten mit ataktischer Dysarthrie vermögen u.U. durch Verlangsamung des Sprechtempos die Verständlichkeit sprachlicher Äußerungen zu erhöhen (Yorkston u. Beukelman 1981). Denkbar wäre, dass sich über einen vergleichbaren »trade-off« von Bewegungsgenauigkeit und -schnelligkeit auch die Dysmetrie der oberen Extremitäten beeinflussen lässt. ! Cave Es ist zu beachten, dass die Ermüdung der betroffenen Muskulatur ataktische Bewegungsstörungen verstärken kann (Erickson et al. 1989). 4 Das Ausmaß der Ataxie zielgerichteter Exkursionen der oberen Extremitäten wird von der Anzahl zu kontrollierender Gelenke (Freiheitsgrade) beeinflusst. Durch eine Fraktionierung von Bewegungssequenzen, z.B. das Führen des Löffels zum Mund in drei abgesetzten Schritten, lässt sich gelegentlich wieder eine selbständige – wenn auch mühsame und zeitaufwendige – Nahrungsaufnahme und Körperpflege bewerkstelligen (Gillen 2000). 4 Da zielgerichtete Armbewegungen mit antezipatorischen Reaktionen der Körperachse einhergehen, die einer Auslenkung des Körperschwerpunkts entgegenwirken, kann bei Ataxiepatienten mit herabgesetzter Rumpfstabilität versucht werden, Dysmetrie und Tremor der oberen Extremitäten über die Kräftigung der Stammmuskulatur und das Training posturaler Mechanismen zu dämpfen (Stoykov et al. 2005). 4 Auch durch adäquate Lagerung des Oberkörpers, Anlehnen der Schulter oder Aufstützen der Ober- und Unterarme lässt sich das Greifen verbessern (Gillen 2000, 2002). 4 Bei einem Patienten, der ein geschlossenes Schädel-HirnTrauma erlitten hatte, konnte durch verhaltenstherapeutische muskelrelaxierende Maßnahmen in Verbindung mit Biofeedback (auditive und visuelle Rückmeldung der Aktivität der Mm. flexor und extensor carpi radialis) eine alltagsrelevante Verbesserung der Ataxie beider oberer Extremitäten erreicht werden (Guercio et al. 1997). Diese Studie deutet auch darauf hin, dass u.U. mehrere verschie-
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dene Verfahren bei der Behandlung ataktischer Symptome kombiniert werden sollten. 4 Der Anstieg der Körpertemperatur kann eine Beschwerdezunahme bei Patienten mit Multipler Sklerose hervorrufen, Kühlung eine entgegengesetzte Wirkung entfalten (Brown u. Kraft 2005). Diese Effekte scheinen sich auch auf die ataktischen Bewegungsstörungen dieser Erkrankung zu erstrecken. Nach lokaler Kälteapplikation (Einlegen von Unterarm/Hand in eine Wanne mit Eiswasser, Dauer 45–60 sec) war bei Patienten mit zerebellärer Symptomatik, »ohne relevante Paresen oder Sensibilitätsstörungen der Arme«, über einen Beobachtungszeitraum von 45 min hinweg eine signifikante Dämpfung von Dysmetrie und Intentionstremor (Finger-Nase-Versuch) zu beobachten. Positive Auswirkungen waren auch im Bereich der Alltagsaktivitäten zu bemerken, z.B. beim Schreiben, beim Führen eines Glases zum Mund oder bei der Selbstkatheterisierung (Albrecht et al. 1998). Eine leichte Absenkung der Körpertemperatur, z.B. durch Verwendung von Kleidungsstücken mit kühlender Wirkung, scheint bei Patienten mit Multipler Sklerose auch die körperliche Ausdauer zu erhöhen (Woyciechowska et al. 1994). 4 Manche Patienten entwickeln nach einem Schädel-HirnTrauma erst mit mehrmonatiger Verzögerung ataktische Bewegungsstörungen. Diesem sekundären Leistungsabfall gehen oft motorische Komplikationen voran, z.B. die extreme Fixierung aller Gelenke durch Kokontraktion antagonistischer Muskelgruppen. Denkbar ist, dass sich in diesen Fällen durch spezielle Übungsbehandlung eine Verbesserung der motorischen Kontrolle erreichen lässt (Mai u. Marquardt 1999). Die Möglichkeiten, die Ataxie der oberen Extremitäten über eine Modifikation oder Verstärkung des reafferenten Feedbacks günstig beeinflussen zu können, scheinen jedoch eher begrenzt zu sein (Morgan 1980). Näher betrachtet Erfahrungen: Behandlung der Koordinationsdefizite bei Multipler Sklerose Erfahrungen zur Rehabilitation ataktischer Bewegungsstörungen wurden bisher vor allem bei Patienten mit Multipler Sklerose gewonnen (7 Kap. 38). Die Koordinationsdefizite scheinen sich therapeutisch weniger gut beeinflussen zu lassen als andere motorische Beeinträchtigungen wie z.B. die spastischen Paresen (Scheinberg u. Smith 1994). Andererseits schränkt eine begleitende Ataxie die Möglichkeiten der Rehabilitation zentraler Lähmungen ein (Kraft 1989).
Stand- und Gangataxie > Tragen zerebelläre Dysfunktionen zur Stand- und Gangunsicherheit bei Multipler Sklerose bei, sollte man den Probanden von Bauchlage ausgehend in zunehmend aufrechtere Körperpositionen (Vierfüßlerstand, Knien etc.) bringen (Brar u. Wangaard 1985).
Hinter diesem Therapiekonzept steht die Vorstellung, dass der breitbasige Stand bzw. Gang des Ataxiepatienten einer »unreifen« Stufe der kindlichen Entwicklung posturaler Leistungen entspricht, die im Verlauf der Behandlung in adulte Lokomotionsmuster überführt werden muss. Daten zur Wirksamkeit dieses Verfahrens liegen bisher nicht vor. jMehrstufige Übungsserie nach Frenkel Frenkel (1900) hat bei Patienten, die zumeist an einer Tabes dorsalis litten, eine nach Schwierigkeitsstufen geordnete Übungsserie entwickelt (zielgerichtete Beinbewegungen im Liegen und Sitzen, Stand- und Lokomotionstraining), die auch zur Rehabilitation der ataktischen Gangunsicherheit bei Multipler Sklerose empfohlen wird (Scheinberg u. Smith 1994). Näher betrachtet Behandlungskonzept nach Frenkel (1900) Das Frenkel’sche Behandlungskonzept scheint allerdings auf gestörte Hinterstrangfunktionen zugeschnitten und somit nicht uneingeschränkt auf zerebelläre Funktionsstörungen übertragbar zu sein (»compensation for loss of proprioception«; vgl. Smith 1998). Eine Verlaufsuntersuchung bei einer Gruppe von Patienten mit primär und sekundär chronischer Multipler Sklerose ohne nennenswerte Tiefensensibilitätsstörungen konnte aber eine signifikante Besserung klinischer Parameter der Stand- und Gangsicherheit im Verlauf eines 4-wöchigen Physiotherapieprogramms, das sich vor allem auf »Frenkel’s exercises« stützte, dokumentieren (Armutlu et al. 2001). Es zeigten sich jedoch keine Änderungen im Knie-Hacke-Test und bei Prüfung der Diadochokinese der unteren Extremitäten. Der Einsatz von Druckschienen hatte über die funktionelle Übungsbehandlung hinaus keinen zusätzlichen therapeutischen Effekt.
jAtaxie-Übungsprogramm Urbscheit und Oremland (1995) haben ein detailliertes AtaxieÜbungsprogramm vorgestellt, das auf Patienten mit relativ schweren, aber stabilen Läsionen des Zerebellums zugeschnitten ist und die Therapie posturaler Leistungen in den Mittelpunkt stellt. Je nach individuellem Profil der neurologischen Defizite bzw. der Fähigkeitseinschränkungen werden trainiert: 4 Kopfkontrolle, 4 Rumpfstabilität, 4 Aufrichten aus dem Liegen, 4 Transferleistungen, 4 Standsicherheit und 4 Gangablauf. Diese Veröffentlichung beinhaltet eine Vielzahl überaus nützlicher praktischer Anregungen zum Umgang mit Ataxiepatienten, z.B. 4 sinnvolle Hilfestellungen vonseiten des Therapeuten, 4 adäquate Lagerung des Körpers, 4 Abstimmung der einzelnen Behandlungsschritte aufeinander und 4 Möglichkeiten einer Kompensation von motorischen Defiziten.
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Näher betrachtet Studien: Einfluss physiotherapeutischer Maßnahmen Ein Cochrane Review aus dem Jahre 2007 identifizierte drei kontrollierte randomisierte Studien, die den Einfluss physiotherapeutischer Maßnahmen auf die Koordinationsstörungen von Patienten mit Multipler Sklerose untersuchten (Mills et al. 2007). Allerdings war die Auswahl der Probanden in nur einer dieser drei Veröffentlichungen auf Patienten beschränkt, die vornehmlich an einer Ataxie litten (Armutlu et al. 2001). Krankengymnastische Übungsbehandlungen (Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation und Frenkels Koordinationsübungen), teilweise in Verbindung mit speziellen Schienen, von denen eine Stimulation propriozeptiver Rezeptoren erwartet wurde, führten zu einer Verbesserung einer Reihe von Parametern der Stand- und Gangsicherheit (Therapiedichte: 3 Tage/Woche über 4 Wochen hinweg). Demgegenüber zeigte sich kein signifikanter Einfluss der Behandlung auf die Extremitätenmotorik. Ob allerdings physiotherapeutische Maßnahmen zu länger anhaltenden Therapieeffekten bei Patienten mit Multipler Sklerose führen, muss bislang noch offen bleiben (Wiles et al. 2001).
Untersuchungen zur Gleichgewichtsregulation Mithilfe einer Messplattform kann man an aufrecht stehenden Probanden die Veränderungen biomechanischer und elektromyographischer Parameter nach gezielter Perturbation des Gleichgewichts bestimmen, z.B. durch Modifikation des visuellen und vestibulären Inputs oder durch Variation der Auslenkung der Standfläche (Allison 1995). Unter Verwendung dieser Methode erfolgten umfangreiche Untersuchungen zur Pathophysiologie der Gleichgewichtsregulation, die auch in die Rehabilitation der Standataxie Eingang fanden (Horak et al. 1997). Gill-Body et al. (1997) haben auf Grundlage einer klinischen und apparativen Evaluation der posturalen Leistungen bei 2 Patienten mit Gangunsicherheit (Resektion eines mittelliniennahen zerebellären Astrozytoms bzw. Kleinhirnatrophie bei zerebrotendinöser Xanthomatose) ein jeweils individuell angepasstes, 3-stufiges Übungsprogramm entwickelt, das die Regulation des aufrechten Stehens und Gehens mit zunehmend schwierigeren Anforderungen konfrontierte.
Praxistipp Eine Variante dieses stufenförmigen Vorgehens, das auf prinzipiell stehfähige Patienten zugeschnitten ist und bei Probanden mit Schädel-Hirn-Trauma erprobt wurde, dient der Ganganbahnung. In folgender Reihenfolge werden trainiert: 4 Sequenzierung lokomotorischer Bewegungsabläufe im Sitzen, 4 Regulierung der aufrechten Körperhaltung auf einer Plattform und 4 Gangablauf unter assistierten Bedingungen (Balliet et al. 1987).
Praxistipp
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Besonders bei Patienten mit Multipler Sklerose scheint Hippotherapie einen günstigen Einfluss auf zerebelläre Koordinationsstörungen zu haben (Barolin u. Samborski 1991)
jKardiovaskuläres Training Die eingeschränkte Mobilität der Patienten mit Stand- und Gangunsicherheit kann zu einer Minderung der respirato-
Ziele waren unter anderem, die Integration der verschiedenen afferenten Kanäle des Gleichgewichtssystems zu verbessern und den Einsatz alternativer motorischer Strategien zu unterstützen, z.B. können Probanden mit Kleinhirnpathologie visuelle Information zur posturalen Kontrolle heranziehen (Bronstein et al. 1990). Nach 6-wöchiger ambulanter Behandlung berichteten beide Patienten eine Besserung ihrer Beschwerden, und die Ergebnisse kinematischer Bewegungsanalysen deuteten auf eine Zunahme der Gangsicherheit und -stabilität hin. Allerdings zeigte nur einer der beiden Probanden einen relevanten Leistungszuwachs bei klinischen Gleichgewichtstests. Diese Messeinrichtungen ermöglichen auch ein posturales BiofeedbackTraining: Der Proband muss durch gezielte willkürliche Verlagerung des Rumpfes unter visueller Rückkoppelung die Position des Körperschwerpunkts auf der Standplattform mit einer Zielvorgabe zur Deckung bringen (Battista et al. 1998).
rischen und kardiovaskulären Leistungsfähigkeit führen.
In diesen Fällen lassen sich u.U. durch eine Trainingstherapie auf dem Fahrradergometer körperliche Ausdauer und ventilatorische Funktionen deutlich steigern (Fillyaw u. Ades 1989).
Hilfsmittelversorgung Ataktische Koordinationsstörungen beeinträchtigen vor allem Mehr-Gelenk-Bewegungen und lassen sich deshalb durch Fraktionierung von Bewegungsabläufen und Immobilisierung proximaler oder distaler Extremitätensegmente, z.B. Anlehnen, beeinflussen (s.o.). Ähnliche Effekte konnten auch durch Anpassung von Schienen, z.B. an den Handgelenken, erzielt werden (Gillen 2000). jSturzgefahrprophylaxe 4 Liegt bei einem Patienten mit Ataxie Sturzgefahr vor, dann sollte er je nach Schweregrad der Störung mit Gehhilfen (Stock, Unterarmgehstützen, Rollator) oder Rollstuhl versorgt werden (7 Kap. 19; zum Einsatz von Rollatoren vgl. Morgan 1980, zur Anpassung eines elektrischen Rollstuhls vgl. Gillen 2002). Um die Stabilität von Hilfsmitteln zu erhöhen, ist es u.U. sinnvoll, zusätzliche Gewichte anzubringen (Brar u. Wangaard 1985). 4 Darüber hinaus sollte der Patient explizit zu einer breitbasigen Lokomotion angehalten werden.
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Beispiel Näher betrachtet Studien: Applikation von Gewichten und erhöhtem Widerstand Holmes (1939) berichtete erstmals, dass sich die Diadochokineseleistung von Patienten, die an einer Kleinhirnfunktionsstörung litten, besserte, wenn sie während alternierender Pronations-/Supinationsbewegungen ein Gewicht in den Händen hielten. In Übereinstimmung mit dieser Beobachtung registrierten Chase et al. (1965) eine Abnahme des zerebellären Intentionstremors unter erhöhter muskulärer Aktivität der Unterarmbeuger. Eine daran anknüpfende klinische Studie konnte durch die Befestigung von Bleigewichten (480–600 g) an den Handgelenken bei jeweils einer Untergruppe von Patienten mit Multipler Sklerose (2/10), FRDA (5/8) oder zerebellärer Degeneration (3/5) eine alltagsrelevante Befundverbesserung erreichen (Hewer et al. 1972, Morgan 1980). Allerdings scheinen diese Maßnahmen lediglich bei mäßig ausgeprägten Koordinationsstörungen erfolgversprechend zu sein – und es darf keine ausgeprägtere Parese vorliegen (Morgan 1980). Gelegentlich kommt es unter diesen Maßnahmen allerdings zu einer Zunahme der Dysmetrie. Durch das Tragen einer Bleiweste lässt sich u.U. auch eine verbesserte Rumpfstabilität erreichen (Perlmutter u. Gregory 2003). Allerdings ist dabei leider eine rasche Ermüdung der Muskulatur zu erwarten. Als eine sehr aufwendige Alternative zur Applikation von Gewichten wurde versucht, Dysmetrie und Tremor der oberen Extremitäten durch Armschienen zu dämpfen. Diese Hilfsmittel sind so konstruiert, dass sie über entsprechend adjustierte Verbindungselemente den Bewegungen im Ellenbogen- und Handgelenk einen erhöhten Widerstand entgegensetzen (»viscous damper«; Morgan 1980, Michaelis 1993). Ähnliche Effekte können in Einzelfällen auch durch eng anliegende Kleidungsstücke oder elastische Bandagen erzielt werden (vgl. Okajima et al. 1990).
Mit einer Esshilfe ließ sich der Pflegeaufwand im Rahmen der Nahrungsaufnahme bei einem jungen Mann mit schwerer Ataxie des linken Arms und kontralateraler spastischer Parese nach Schädel-Hirn-Trauma deutlich reduzieren: Der Patient hielt den Stiel des Löffels zunächst im Mund, um ihn auf diese Weise mit Speisen zu beladen, und setzte ihn anschließend auf einem mit zwei Magneten bestückten Halter ab. Diese Art der Fixierung erlaubte es dem Patienten dann, den Löffel so zu adjustieren, dass er mit dem Mund die entsprechenden Speisen aufnehmen konnte (Yuen 1993). Im Fall einer posturalen Instabilität des Kopfes wird die orale Nahrungsaufnahme u.U. durch Anlage einer weichen Halskrause erleichtert (Wolf 1985).
Das Prinzip der Dämpfung von Tremoroszillationen durch Applikation erhöhten Widerstands gegen die Bewegung der entsprechenden Extremität lässt sich auch auf Esshilfen anwenden. Michaelis (1993) konstruierte z.B. einen Löffelhalter, der sich auf dieses Prinzip stützt (weitere Informationen zu kommerziell angebotenen Verfahren bei Smith 1998). Allerdings kann durch Einsatz mechanischer oder elektrischer Esshilfen nicht immer eine suffiziente Nahrungszufuhr gewährleistet werden (Einset et al. 1989). Und schließlich ziehen viele Patienten es vor, von einem anderen Menschen anstelle einer Maschine gefüttert zu werden (Smith 1998).
Zusammenfassung In . Übersicht 20.3 sind die Therapiestrategien bei ataktischen Bewegungsstörungen zusammengefasst.
. Übersicht 20.3. Allgemeine Therapiestrategien bei ataktischen Bewegungsstörungen 1.
4 Manchmal lässt sich eine Gangataxie auch dadurch günstig beeinflussen, dass Gewichte direkt an den unteren Extremitäten im Bereich der Knie oder Knöchel angebracht werden (Morgan 1975). Alternativ ist eine Erhöhung des Bewegungswiderstands durch in Form einer Acht um das Bein geschlungene Bänder in Erwägung zu ziehen (Keane et al. 1993). jErgonomische Anpassungen In Grenzen lässt sich die ataktische Beeinträchtigung von Alltagsaktivitäten durch ergonomische Anpassungen z.B. von Besteck, Essgeschirr, Küchengeräten beeinflussen. Auch rutschfeste Unterlagen oder die Verwendung manuell weniger anspruchsvoller Varianten von Haushaltsgegenständen, z.B. elektrische Zahnbürsten, können hilfreich sein (Smith 1998). Durch mechanische Self-Feeding-Systeme lässt sich u.U. auch noch bei schweren zerebellären Koordinationsstörungen der oberen Extremitäten eine selbständige Nahrungsaufnahme erreichen (Wyckoff u. Mitani 1982, Bach et al. 1990, Wyckoff 1993, Yuen 1993).
2. 3.
4.
5.
Gang- und Standataxie lassen sich effektiver behandeln als Koordinationsstörungen im Bereich der oberen Extremitäten. Im Vordergrund steht das Training von Alltagsbewegungen. In der Therapie sollte ein Kompromiss zwischen Bewegungsgenauigkeit und -schnelligkeit gefunden werden. Der Schwierigkeitsgrad der Bewegungsausführung steigt mit der Anzahl der beteiligten Gelenke und den posturalen Anforderungen. Bei schweren Ausprägungsgraden einer Ataxie kann eine mechanische Dämpfung versucht werden.
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20
21
Handfunktionsstörungen: Assessment und Management J. Hermsdörfer 21.1 Grundlagen und Prinzipien
– 306
21.1.1 Störungshäufigkeit – 306 21.1.2 Klassifikation von Handfunktionen
– 306
21.2 Diagnostik, Problemerfassung
– 310
21.2.1 Standardisierte Routineuntersuchung 21.2.2 Bewegungsanalysen – 312
21.3 Therapie 21.3.1 21.3.2 21.3.3 21.3.4
– 310
– 314
Physio- und ergotherapeutische Konzepte – 314 Repetitives aufgabenorientiertes Training – 315 Neuromodulation – 319 Therapie von Schreibstörungen – 320
21.4 Dokumentation
– 321
21.4.1 Assessment-Skalen – 321 21.4.2 Objektivierende Verfahren – 321
21.5 Literatur
– 323
306
Kapitel 21 · Handfunktionsstörungen: Assessment und Management
Handfunktionsstörungen umfassen eine Vielzahl unterschiedlicher Defizite beim Einsatz der Hände. Diese reichen von Einschränkungen geschickter Präzisionsleistungen bis zur Unfähigkeit, die Hand für einfache Halteaufgaben zu benutzen. Handfunktionsstörungen sind eine typische Folge vieler Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems. In der Diagnostik erlauben Bewegungsanalysen neue Einblicke in die individuellen Charakteristika einer Störung. Für die Behandlung existieren neben etablierten Konzepten eine Reihe neuer Ansätze, deren Wirksamkeit momentan intensiv evaluiert wird.
21.1
Grundlagen und Prinzipien
21.1.1
Störungshäufigkeit
Handfunktionsstörungen gehören zu den häufigsten Folgen erworbener Hirnschädigungen. Handfunktionen umfassen sehr unterschiedliche Tätigkeiten.
Es haben sich jedoch Dichotomien etabliert, anhand derer unterschiedliche Aspekte von Handfunktionen durch zwei gegensätzliche Merkmale klassifiziert werden können, dargestellt in . Übersicht 21.1. . Übersicht 21.1. Dichotomien für die Klassifikation von Handfunktionen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Feinmotorik vs. Grobmotorik Präzisionsgriffe vs. Kraftgriffe Elementare vs. komplexe Bewegungen Sensorik vs. Motorik Taktile Exploration vs. sensomotorische Integration Closed-loop- vs. Open-loop-Kontrolle Feedback- vs. Feedforward-Mechanismus Reaktive vs. prädiktive Kontrolle Planung vs. Kontrolle Kontrollierte vs. automatisierte Bewegungsausführung
Beispiel 1. 2. 3. 4. 5.
Halten, Greifen und Manipulieren eines Gegenstands Gebrauch von Werkzeugen Identifikation eines Objekts durch Tastbewegungen Schreiben mit der Hand Bedienung von Tastaturen bis hin zum virtuosen Spiel eines Pianisten
21.1.2
Klassifikation von Handfunktionen
Es existiert kein allgemein akzeptiertes Prozessmodell für Handfunktionen; dementsprechend fehlen vollständige Klassifikationen von Handfunktionen bzw. deren Störungen.
jGrob- und Feinmotorik Allgemein verbreitet ist die Differenzierung von Grob- und Feinmotorik. Die Unterscheidung ist dabei unscharf und richtet sich meist nach dem Kraftaufwand und den beteiligten Gelenken: 4 Kräftige und proximale Bewegungen werden eher als grobmotorisch angesehen, 4 Fingerbewegungen mit geringem Kraftaufwand dagegen als feinmotorisch. jPräzisions- und Grobgriffe In eine ähnliche Richtung geht die Klassifikation der Handgriffe, die für Objektmanipulationen eingesetzt werden.
Näher betrachtet Störungshäufigkeit In zwei Stichproben von 400 und 272 Patienten, die nach 4 zerebrovaskulären Erkrankungen, 4 Schädel-Hirn-Traumen oder 4 anderen nicht degenerativen Hirnschädigungen
21
in unserer neuropsychologischen Rehabilitationsklinik behandelt wurden, lag die Zahl der Patienten, bei denen eine Störung im Gebrauch der Hände festgestellt wurde, bei 65 bzw. bei 76% (Hermsdörfer et al. 1994, Prosiegel 1988). Derartige Angaben zur Störungshäufigkeit sind allerdings sehr grob, da sie zum einen von der Patientenstichprobe, zum anderen von der Definition der Handfunktionen abhängen. So wurden bei den gestörtenHandfunktionen mit eingeschlossen:
4 Auffälligkeiten in Apraxietests, 4 Defizite bei räumlich-konstruktiven Aufgaben und 4 Vernachlässigungen beim Einsatz der Hände (motorischer Neglect). Aber selbst bei einer Beschränkung auf »rein« sensomotorische Funktionsbereiche bleibt der Begriff »Handfunktion« vage. Für die zweite Stichprobe (n=272) wurden die Störungshäufigkeiten in drei sensomotorischen Leistungsbereichen erfasst: 4 Elementare Arm-, Hand- und Fingerbewegungen waren bei 50% der Patienten betroffen. 4 Einbußen der sensiblen Wahrnehmung fanden sich bei 30% der Patienten. 4 Basale manuelle Alltagsaktivitäten konnten von 20% der Patienten auch
bei der Verwendung von Hilfsmitteln nicht selbständig durchgeführt werden (Hermsdörfer et al. 1994). Sensomotorische Störungen beim Schreiben mit der Hand wurden in der Stichprobe separat erfasst. Dabei zeigte sich, dass Bewegungsstörungen auf der Körperseite der dominanten Hand in nahezu allen Fällen mit Schreibstörungen einhergingen und häufig Schreibstörungen als selektive Beeinträchtigung auftraten (bei 12% der Patienten). Angesichts der Vielfalt von Handfunktionen ist es wenig verwunderlich, dass die Ergebnisse der Outcome-Studien in einem weiten Bereich zwischen Funktionsrestitution bei 5% der behandelten Patienten bis hin zu 52% schwanken (Ada et al. 1994).
307 21.1 · Grundlagen und Prinzipien
Grundsätzlich können dabei Präzisions- und Grobgriffe unterschieden werden (Napier 1956, Cutkosky u. Howe 1990): 4 Bei typischen Präzisionsgriffen haben nur die Innenseiten der Finger Kontakt mit dem Objekt. Dies ermöglicht zum einen sehr präzise Bewegungen, zum anderen werden sensible Informationen maximiert, da die Dichte der Hautrezeptoren an den Fingerspitzen besonders hoch ist. 4 Bei Grobgriffen wie dem Faustgriff umschließt die Hand das Objekt. Sie hat dann eine maximale Kontaktfläche, wodurch hohe Kräfte auf das Objekt ausgeübt werden können. jElementare vs. komplexe Bewegung Bei Bewegungen ist eine Differenzierung anhand der Komplexität sinnvoll; so sind z.B. repetitive Tappingbewegungen mit dem Zeigefinger hinsichtlich der Biomechanik und den Genauigkeitsanforderungen der Ansteuerung einfacher als koordinierte Fingerbewegungen beim Schreiben mit der Hand. jSensorik vs. Motorik Neben den offensichtlichen motorischen Funktionen hat die Hand bedeutende sensorische Funktionen. Sie dient zum einen der bewussten Wahrnehmung von Objekteigenschaften durch Tasten. Klinisch wird diese Leistung mit der Stereognosieprüfung erfasst. Versuche an Gesunden haben gezeigt, dass sich bestimmte Handbewegungen – sog. exploratorische Prozeduren – Objekteigenschaften zuordnen lassen (Lederman u. Klatzky 1996); zur Wahrnehmung der Oberflächenstruktur werden z.B. laterale Bewegungen der Finger eingesetzt. Die bewusste Identifikation von Objekten und zugehörigen physikalischen Eigenschaften ist dabei nur ein Aspekt der sensorischen Wahrnehmungsleistungen der Hand. jTaktile Exploration vs. sensomotorische Integration Eine äußerst wichtige Funktion ist die automatisierte Regulation motorischer Funktionen auf der Basis eintreffender sensorischer Informationen. Diese Form der sensomotorischen Integration ist essenzieller Bestandteil alltäglicher manueller Aktivitäten. jClosed-loop- vs. Open-loop-Kontrolle Bewegungen können anhand der involvierten Kontrollmechanismen klassifiziert werden. In der neurologischen Routinediagnostik werden nicht beeinflussbare Reflexbewegungen und Willkürbewegungen differenziert. Zur Charakterisierung funktionaler Willkürbewegungen hat sich die Gegenüberstellung von offenen (»open loop«) und geschlossenen (»closed loop«) Kontrollschleifen als hilfreich erwiesen: 4 Eine Bewegung, die als »open loop«, also ohne sensorische Rückmeldung, durchgeführt wird, ist nach dem Start nicht mehr beeinflussbar. Häufig wird dieser Bewegungsmodus auch als ballistisch bezeichnet. 4 Im Gegensatz dazu stehen Bewegungen, die mit ständiger visueller oder propriozeptiver Rückmeldung durchgeführt werden. Die Notwendigkeit von Rückmeldungen hängt in der Regel von den Genauigkeitsanforderungen ab. Reine ballistische Bewegungen sind in der Praxis allerdings selten; selbst sehr schnelle Zielbewegungen (Bewegungszeit ca.
250 ms) werden von visuellem Feedback während der Bewegung beeinflusst (Spijkers 1995). Ebenso wurde entgegen früheren Annahmen festgestellt, dass Zielbewegungen bereits kurz nach dem Start korrigiert werden können (Desmurget u. Grafton 2000). jFeedback- und Feedforward-Mechanismen/ Reaktive vs. prädiktive Kontrolle Eng mit dem Closed- und Open-loop-Konzept verwandt ist die Unterscheidung von Feedback- und Feedforward-Mechanismen bzw. reaktiver und prädiktiver Kontrolle. Während Feedback bzw. reaktive Mechanismen auf sensorischen Rückmeldungen basieren, bedeutet Feedforward bzw. prädiktive Mechanismen, dass die Konsequenzen der Handlung vorhergesehen und damit in der aktuellen Bewegungsplanung berücksichtigt werden können. Zur Beschreibung dieser Fähigkeit wurde das Konstrukt der internen Modelle (genauer: Feedforward-Modelle) eingeführt (Wolpert et al. 1995, Wolpert u. Flanagan 2001). Beispiel Die verschiedenen Mechanismen können anhand der bei alltäglichen Objektmanipulationen eingesetzten Griffkräfte verdeutlicht werden: Erhöht sich das Gewicht eines gegriffenen Gegenstands unerwartet, oder entspricht die Oberfläche des Gegenstands nicht den Erwartungen (z.B. glatt statt rau), so wird die Griffkraft reaktiv sehr schnell (70–140 ms) angepasst (Johansson 1996, Johansson u. Westling 1988). Bereits beim nächsten Heben desselben Objekts wird auf Basis der zuvor akquirierten sensorischen Information die Griffkraft präzise auf die physikalischen Objekteigenschaften abgestimmt. Wird ein bekanntes Objekt gegriffen und angehoben, so ist die Griffkraft bereits beim ersten Objektkontakt antizipatorisch den Eigenschaften angepasst (Gordon et al. 1993). Entsprechend dem internen FeedforwardModell werden dabei nicht nur die Objekteigenschaften antizipiert, sondern auch die dynamischen Lasten, die aus der Bewegung resultieren (Flanagan u. Wing 1997, Flanagan u. Johansson 2002, Delevoye-Turrell u. Wing 2004). Studien an neurologischen Patienten legen nahe, dass die unterschiedlichen Mechanismen unabhängig voneinander gestört sein können (Hermsdörfer et al. 2004, Nowak et al. 2002).
jPlanung vs. Kontrolle Die oben beschriebenen Kontrollmechanismen können auch zur generellen Differenzierung von motorischer Planung und motorischer Kontrolle herangezogen werden. Ein aktuelles Modell betont die unterschiedliche Verarbeitung von visueller Information zur Bewegungsplanung gegenüber räumlicher visueller Information zur Online-Kontrolle (Glover 2004). Daneben werden in dem Modell unterschiedliche zeitliche Rahmen und auch separate neuronale Repräsentationen im parietalen Kortex postuliert. jKontrollierte vs. automatisierte Bewegungsausführung Ein verwandtes, am motorischen Lernen orientiertes Konzept unterscheidet zwischen kontrollierten und automatisierten Bewegungen:
21
308
Kapitel 21 · Handfunktionsstörungen: Assessment und Management
4 Zum Erlernen einer neuen Bewegung muss diese zunächst unter ständiger Kontrolle ausgeführt werden. 4 Im weiteren Verlauf sinkt die Notwendigkeit von sensorischem Feedback. Die Bewegungen werden automatisiert und zunehmend ökonomischer. Störungen der Handfunktion sind oft mit einem Wechsel von automatisierter hin zu kontrollierter Bewegungsausführung verbunden (7 Kap. 21.3.4).
Funktionelle Neuroanatomie von Handfunktionen > Die neuronale Verschaltung der menschlichen Hand- und Fingermuskulatur mit dem motorischen Kortex ist durch eine Besonderheit gekennzeichnet, die nur bei Primaten und distaler Muskulatur so häufig und deutlich auftritt: Viele Neurone des motorischen Kortex innervieren direkt über lange Axone die spinalen Motoneurone der jeweiligen Zielmuskeln.
Diese kortiko-motoneuronalen Verbindungen sind beim Neugeborenen selten; sie entwickeln sich innerhalb der ersten Lebensmonate. Anzahl und Effizienz dieser Faserverbindungen erhöhen sich etwa parallel zur Entwicklung unabhängiger und schneller Finger- und Handbewegungen (Armand et al. 1996, Müller u. Hömberg 1992). Man nimmt daher an, dass die kortiko-motoneuronalen Verbindungen eine wesentliche Stütze für die geschickten feinmotorischen Handfunktionen des Erwachsenen sind. Sie ermöglichen einen sehr schnellen, direkten und differenzierten Zugriff des motorischen Kortex auf Hand- und Fingerbewegungen. Derartige direkte Steuerungs- und Kontrollmechanismen scheinen für die hervorragenden manuellen Fertigkeiten des Menschen von großem Nutzen – vielleicht sogar Voraussetzung – zu sein. Die Gehirnaktivität während feinmotorischer Aktionen ist aber keineswegs auf den motorischen Kortex und seine kortikospinalen Verbindungen beschränkt, sondern umfasst eine Vielzahl weiterer kortikaler und subkortikaler Regionen mit indirekten Leitungsbahnen. . Tab. 21.1 gibt einen groben Überblick über die Hirnstrukturen, die zur Planung und Ausführung zielgerichteter Handfunktionen einen Beitrag liefern, und führt vermutete Funktionen auf. Die Zuordnungen beruhen auf 4 neurophysiologischen tierexperimentellen Befunden, 4 Messungen der Gehirnaktivität gesunder Probanden mittels Positronenemissionstomographie (PET) oder funktioneller Kernspintomographie (fMRT), 4 Studien zu Verhaltensänderungen nach lokalisierbaren Hirnschädigungen (Andersen et al. 1997, Rizzolatti et al. 1998, Freund et al. 2005, Milner u. Goodale 2006, Nowak et al. 2007, Lewis 2006).
21
Es muss beachtet werden, dass die Einteilung in . Tab. 21.1 sowohl hinsichtlich der involvierten Hirnareale als auch hinsichtlich der zugeordneten Funktionen sehr grob ist: 4 Einerseits sind innerhalb der aufgeführten Strukturen funktionelle Untereinheiten abtrennbar,
4 andererseits wurden weniger gut untersuchte bewegungsrelevante Hirnareale wie der Thalamus als zentrale Schaltstelle afferenter und efferenter Bahnen übergangen, ebenso auch Kerne im limbischen System oder im Hirnstamm. 4 Weder zeitliche Aspekte noch Lateralität der Aktivierung wurden berücksichtigt. Ebenso wenig sind neuronale Korrelate komplexer Komponenten wie exekutive Kontrolle oder Belohnungssysteme aufgeführt.
Zuordnung pathologischer Symptome > Komplexität, Parallelverarbeitung, Redundanz, Plastizität und Kompensationspotenzial im sensomotorischen System einerseits sowie die Heterogenität der individuellen Anatomie und der Hirnschädigung andererseits lassen eine eindeutige Vorhersage der pathologischen Symptome aufgrund des Orts der Hirnschädigung meist nicht zu.
4 Großvolumige Schädigungen der motorischen Areale, wie sie z.B. bei Infarkten der mittleren Hirnarterie auftreten können, führen zu Paresen, Plegien und Spastiken. 4 Fokale Schädigungen des Pyramidenbahnsystems sind in vielen Fällen mit einer guten Erholung verbunden, allerdings bleiben oft chronische Feinmotorikstörungen bestehen, z.B. Einschränkungen unabhängiger Fingerbewegungen (Lang u. Schieber 2004). 4 Weitere primärmotorische Symptome wie Tremor und Dystonie treten nach Schädigungen subkortikaler Systeme auf. 4 Rigidität und Akinese sind mit Erkrankungen der Basalganglien assoziiert, Ataxie typischerweise mit Erkrankungen des Klein- oder Stammhirns (Conrad u. CeballosBaumann 2005). 4 Eine Verlangsamung der Bewegungsausführung ist eine nahezu generelle Folge von Schädigungen im sensomotorischen System. 4 Isolierte Schädigungen im prämotorischen oder parietalen Kortex können zu Störungen von Greifbewegungen führen, die nicht mit Paresen verbunden sind (Dettmers et al. 2003, Binkofski et al. 1998). 4 Läsionen im somato-sensorischen Kortex oder periphere Deafferentierung führen zu Handfunktionsstörungen, die v.a. bei komplexeren Bewegungen durch visuelles Feedback nicht vollständig kompensiert werden können (Gordon et al. 1995, Nowak et al. 2003). 4 Störungen unterschiedlicher Aspekte der Bewegungsplanung, wie Anpassung und Antizipation, wurden nach Schädigungen sensomotorischer und parietaler Areale sowie der Basalganglien und des Zerebellums beobachtet (Raghavan et al. 2006, Nowak et al. 2007, Geisseler 2005, Hermsdörfer et al. 2004). 4 Störungen in der Verarbeitung von sensorischem Feedback bei zielgerichteten Bewegungen wurden dem sensomotorischen und dem parietalen Kortex sowie dem Zerebellum zugeschrieben.
309 21.1 · Grundlagen und Prinzipien
. Tab. 21.1. Funktionelle Neuroanatomie von Handfunktionen (Beispiele) Hirnareal
Handfunktion
Primärer motorischer Kortex (M1)
Ansteuerung der Muskulatur Kontrolle der Parameter zielgerichteter Bewegungen (Richtung, Amplitude, Geschwindigkeit etc.)
Primärer sensorischer Kortex (S1)
Wahrnehmung und Verarbeitung somato-sensorischer Signale von Haut, Sehnen, Gelenken und Muskulatur
Supplementärmotorisches Areal (SMA) und cingulärer Kortex
Kontrolle von Bewegungsparametern (vgl. M1) Auslösen selbst initiierter Bewegungen Koordination bimanueller Bewegungen
Prämotorischer Kortex (PM)
Kontrolle von Bewegungsparametern (vgl. M1) Initiierung von Bewegungen bei externen Stimuli Selektion von Handgriffen entsprechend den Objekteigenschaften (Größe, Form, Orientierung etc.) beim Greifen Repräsentation beobachteter Handlungen durch Mirror-Neuronen (Spiegelneuronen)
Hinterer Parietallappen (PL)
Kontrolle von Bewegungsparametern (vgl. M1) Integration visueller, somato-sensorischer und akustischer Informationen (multimodaler Assoziationskortex) Transformationen von Zielpositionen zwischen verschiedenen Koordinatensystemen (z.B. retinalem, schulterfestem, gelenkwinkel-bezogenem System) Automatische Aktivierung und Kontrolle ziel- und objektbezogener Handlungen Anpassung von Handgriffen an die Objekteigenschaften (vgl. PM) Verarbeitung von Werkzeug-Objekt-Beziehungen (vgl. PM) Repräsentation von Köperstellungen
Basalganglien (BG)
Skalierung von Beschleunigungen und Kraftamplituden Verarbeitung visueller und sensorischer Information zur Bewegungskontrolle (sensomotorische Integration) Sequenzierung von Bewegungskomponenten Motorisches Lernen (vgl. KH)
Kleinhirn (KH)
Vergleich von geplanter und tatsächlicher Bewegungsausführung und Korrektur bei Abweichungen (vgl. M1) Antizipation der Kräfte, die bei Bewegungen entstehen (Dynamik) Bestimmung von Bewegungsprogrammen für intendierte Bewegungsziele (inverse Modelle) (vgl. PL) Bestimmung der aus Bewegungen resultierenden sensorischen Signale und dynamischen Lasten (Feedforward-Modelle) Motorisches Lernen (vgl. BG)
4 Läsionen des posterioren Parietalkortex können zu optischer Ataxie führen. Dabei kommt es zu teilweise groben Ungenauigkeiten bei Zielbewegungen, vor allem dann, wenn sich das Ziel im peripheren Gesichtsfeld befindet (Rossetti et al. 2003, Perenin 2003). 4 Apraxien bei imitierten Bewegungen sind vor allem mit Läsionen des inferioren parietalen Kortex assoziiert, während Apraxie bei Pantomime mehr mit inferioren frontalen Läsionen einhergeht (Goldenberg et al. 2007, Goldenberg u. Karnath 2006). 4 Das seltene Störungsbild der Anarchischen Hand oder Alien-Hand-Syndrom ist gekennzeichnet durch nicht intendierte Handlungen der betroffenen Hand, die mit der anderen Hand interferieren können (Della Sala et al. 2005). Dies wurde vor allem bei mittelliniennahen frontalen Läsionen beobachtet.
> Zu der unklaren Zuordnung von Läsionsort zu gestörter Funktion kommt, dass Planung und Ausführung von Bewegungen untrennbar von weiteren Leistungen des ZNS abhängen, wie 4 Motivation, 4 Intention, 4 Aufmerksamkeit, 4 prozeduralem Gedächtnis, 4 posturaler Kontrolle, 4 visueller Wahrnehmung etc. Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es nicht gelingen kann, unterschiedlichen Hirnstrukturen klar definierte Funktionen zuzuordnen. Für die klinische Rehabilitation bedeutet dies, dass selbst eine theoretisch exakte Kenntnis der von einer Hirnschädigung betroffenen Strukturen nur sehr ungenaue Vorhersagen 6
21
310
Kapitel 21 · Handfunktionsstörungen: Assessment und Management
über die tatsächlichen Funktionsstörungen erlaubt. Die Bedeutung der funktionellen Neuroanatomie für Handfunktionsstörungen kann deshalb nicht darin liegen, die Untersuchung zu ersetzen, sie kann dem Therapeuten jedoch Hypothesen über die Funktionsstörungen liefern, die dieser dann in der Untersuchung überprüfen kann.
21.2
Diagnostik, Problemerfassung
Die diagnostische Untersuchung von Handfunktionsstörungen soll differenzierte Aussagen zum individuellen Störungsbild liefern. Zur Eingrenzung des Defizits sollte das Ausmaß der Störung bei unterschiedlichen Leistungsaspekten der Handfunktion erfasst werden, z.B. von 4 Gelenkbeweglichkeit, 4 Kraft, 4 Sensibilität oder 4 Koordination. ! Cave Wichtig ist es, gestörte von erhaltenen Funktionen abzugrenzen und Hinweise darauf zu erhalten, unter welchen Bedingungen Bewegungen misslingen. Die o.g. dichotomen Einteilungskriterien liefern Anhaltspunkte, welche Faktoren das Auftreten einer Störung bestimmen könnten. Bei der Untersuchung sollten die drei von der World Health Organization in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit vorgeschlagenen Beschreibungsebenen 4 der Körperfunktionen und -strukturen, 4 der Aktivitäten und 4 der Partizipation (Teilhabe) berücksichtigt werden (ICF, WHO 2005) (. Übersicht 21.2).
21.2.1
Standardisierte Routineuntersuchung
Hermsdörfer et al. (2004) haben eine standardisierte Prozedur zur orientierenden Untersuchung von Handfunktionsstörungen vorgeschlagen, bei der eine Vielzahl unterschiedlicher Leistungsaspekte berücksichtigt wird. Bei dieser ScreeningUntersuchung werden nach einem einführenden Interview 4 die prämorbide Handpräferenz festgestellt, 4 eine Auswahl elementarer Bewegungen und Handgriffe beurteilt, 4 die Sensibilität geprüft und 4 einige funktionale Aktivitäten untersucht. Anschließend folgen 4 kurze quantitative Messungen und 4 eine orientierende Apraxieprüfung. Die Untersuchung ist damit sehr umfassend, wobei die einzelnen Teilbereiche relativ oberflächlich geprüft werden und die Diagnostik im Bedarfsfall erweitert werden muss. Die Aufgaben variieren im Schwierigkeitsgrad so stark, dass die Untersuchung auch bei sehr unterschiedlichen Störungsgraden sinnvolle Resultate liefert.
. Übersicht 21.2. Zuordnung der Handfunktionsstörungen nach dem ICF-Modell (WHO 2005)
Praxistipp
1.
In der Regel werden unimanuelle Leistungen immer, d.h. auch bei Patienten mit unilateralen Hirnschädigungen, auf beiden Körperseiten untersucht: 4 Zum einen kann anhand der Leistung der nicht betroffenen Hand das Aufgabenverständnis abgesichert werden, 4 zum anderen kann auch diese Hand selbst nach unilateraler Hirnschädigung in ihrer Funktion beeinträchtigt sein.
2.
3.
21
Zerebrale Läsionen führen selten zu einer isolierten Störung der Handfunktion. In der Regel sind vielfältige Funktionen betroffen, von denen viele den Gebrauch der Hände beeinträchtigen können. In der Untersuchung muss daher abgeklärt werden, in welchem Maß 4 zusätzliche sensomotorische Funktionsstörungen (z.B. Rumpf- und Kopfstabilisation), 4 Defizite im visuellen System (z.B. Gesichtsfeld, Raumwahrnehmung, Okulomotorik, Neglect), 4 Defizite bei kognitiven Leistungen (z.B. Planen, Problemlösen, Gedächtnis) oder 4 fehlende Initiative und Aufmerksamkeit zu einer Störung der Handfunktion beitragen.
Pathophysiologische Merkmale von Handfunktionsstörungen, z.B.Lähmungen, verminderte Gelenkbeweglichkeit oder reduzierte sensible Wahrnehmungsschwellen werden der Ebene der gestörten Körperfunktionen zugeordnet. Die Beschreibung dieser Schädigungen erlaubt oft nur sehr ungenaue Vorhersagen über die tatsächlichen Störungen handmotorischer Aktivitäten, diese sollten direkt erfasst werden, z.B. beim Ergreifen von Gegenständen oder Schreiben mit der Hand. Gestörte Partizipation beschreibt die aus den Schädigungen und Aktivitätseinschränkungen resultierende Behinderung in Alltag und Beruf eines Patienten. Eine Schreibstörung z.B. kann auch bei geringer Ausprägung ein erhebliches Hindernis für eine berufliche Rehabilitation sein.
Da diese Defizite meist subtiler sind als diejenigen kontralateral zur Läsion, können sie der Aufmerksamkeit des Untersuchers und des Patienten leicht entgehen (Jones et al. 1989, Hermsdörfer u. Goldenberg 2002).
311 21.2 · Diagnostik, Problemerfassung
Interview Ein wesentlicher Bestandteil der Untersuchung ist ein strukturiertes Interview, in dem der Patient zu seinen subjektiven Beschwerden befragt wird. Dabei soll er konkret die manuellen Tätigkeiten angeben, bei denen die Schwierigkeiten am deutlichsten hervortreten bzw. am wenigsten auffallen. Weitere Themen des Interviews sind: 4 Lateralität der Störung, 4 Kraftreduktion, 4 Ungenauigkeiten und Ungeschicklichkeiten beim Greifen und Manipulieren von Gegenständen, 4 spezifische Probleme bei beidhändigen Tätigkeiten, 4 Einschränkungen der Dauerleistungsfähigkeit und 4 Schreibstörungen. Der Patient wird auch nach Schmerzen und sensiblen Reizerscheinungen befragt. Beide Symptome können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein und unterliegen in besonderem Maß der subjektiven Bewertung. Sensible Reizerscheinungen wie 4 Missempfindungen (Parästhesien) oder 4 Überempfindlichkeiten (Hyperästhesien) sind häufige Begleiterscheinungen zerebraler Läsionen (Hermsdörfer et al. 2004) und können die sensomotorische Rehabilitation beeinträchtigen. Schließlich soll in dem Interview das individuelle Handicap differenziert erfasst werden.
Untersuchung elementarer Bewegungen und Handgriffe Die 10 elementaren Bewegungen, die in der Screening-Untersuchung geprüft werden, sind in . Übersicht 21.3 aufgezeigt. Einbezogen sind 4 einerseits Bewegungen, die bei einer Parese oft wenig auffällig sind (z.B. Innenrotation im Schultergelenk), 4 andererseits werden schnelle Wechselbewegungen geprüft (z.B. Diadochokinese), die sehr sensitiv sind, um gestörte und normale Bewegungsfunktionen voneinander abzugrenzen (Hermsdörfer et al. 1994). Im Übergangsbereich zwischen Schädigungen und Funktionseinschränkungen schlagen die Autoren die Untersuchung von 4 isolierten Handgriffen vor (. Übersicht 21.3). Indem der Untersucher dabei Widerstand auf gegriffene Objekte ausübt, kann er beurteilen, ob der Patient die Griffkraft dem Widerstand anpasst.
Prüfung der Sensibilität Eine orientierende Untersuchung sensibler Leistungen sollte fester Bestandteil der Handfunktionsdiagnostik sein (Mai 1988). Für ein Screening wurden 5 Sensibilitätstests vorgeschlagen, die elementare und funktionale Wahrnehmungsleistungen erfassen (. Übersicht 21.3). Die Tests werden mit geschlossenen Augen durchgeführt: 4 Die Berührungswahrnehmung wird mit einem weichen Pinsel auf der palmaren Fläche der distalen Fingerglieder untersucht.
. Übersicht 21.3. Untersuchung zerebraler Handfunktionsstörungen Elementare Bewegungen 1. Anteversion in der Schulter 2. Außenrotation in der Schulter 3. Innenrotation in der Schulter 4. Ellenbogenextension 5. Ellenbogenflexion 6. Supination 7. Dorsalextension im Handgelenk 8. Diadochokinese (Pro- und Supination) 9. Selektive Fingerbewegungen 10. »Laufen« mit Zeige- und Mittelfinger Klassifikation: 0/1/2/3 – keine, leichte, mittlere, schwere Bewegungsstörung Handgriffe 1. Hakengriff 2. Faustgriff 3. Lateralgriff 4. Präzisionsgriff Klassifikation: 0/1/2/3 – keine Störung, Griff möglich/ Griffkraft leicht gestört, Griff nicht exakt und/oder Kraft deutlich gestört, Griff nicht möglich Sensibilität 1. Berührungswahrnehmung 2. Zwei-Punkte-Diskrimination 3. Lokalisation 4. Reproduktion passiver Bewegungen (Schulter, Ellenbogen, Handgelenk, Daumen und Zeigefinger) 5. Stereognosie Klassifikation: 0/1/2 – keine, manchmal, häufig Fehler Funktionale Leistungen (uni- und bimanual) 1. Elektrostecker ein- und ausstecken 2. Glas greifen und zum Mund führen 3. Löffel zum Mund führen 4. Münzen vom Tisch aufnehmen 5. Schreiben 6. Handtuch zusammenlegen 7. Mit Lineal Strich ziehen 8. Mit Messer und Gabel schneiden 9. Mit der Schere Figur ausschneiden 10. Schleife binden Klassifikation: 0/1/2/3 – ohne, mit geringen, mit großen Schwierigkeiten ausführbar, unmöglich
4 Die Prüfung der 2-Punkte-Diskrimination erfolgt am Zeigefinger in einem 10-mm-Abstand. Bei diesem Abstand können auch ältere gesunde Kontrollpersonen zwei Stimulationspunkte von einem einzelnen sicher unterscheiden.
21
312
Kapitel 21 · Handfunktionsstörungen: Assessment und Management
4 Der Test zur Lokalisationswahrnehmung untersucht die Fähigkeit, taktil stimulierte Finger entweder zu benennen oder auf einer sichtbaren Skizze der Hand zuzuordnen. 4 Zur Prüfung der Kinästhesie bewegt der Untersucher Schulter-, Ellenbogen-, Hand- und Fingergelenke in unterschiedliche Stellungen. Der Patient hat die Aufgabe, die Position auf der kontralateralen Körperseite zu imitieren. 4 Die Stereognosie-Prüfung testet die Fähigkeit, Objekte durch Tasten zu erkennen.
Funktionale Leistungen Zur Beurteilung funktionaler Aktivitäten wurden 5 uni- und 5 bimanuelle Alltagstätigkeiten zusammengestellt, die vom Patienten in einem möglichst realen Kontext durchgeführt werden sollen. Die Auswahl umfasst grob- (Elektrostecker) und feinmotorische Tätigkeiten (Münzen) (. Übersicht 21.3). Bimanuelle Leistungen werden 4 zum einen bei symmetrischen Handlungen untersucht (Handtuch), 4 zum anderen werden asymmetrische Handlungen bei Tätigkeiten überprüft, die ein Festhalten von nur einer Hand verlangen (Strich), oder die Anforderungen an die Geschicklichkeit beider Hände stellen (Schleife). Diese Bewegungen liefern u.U. ein unvollständiges Bild der Funktionseinschränkungen eines Patienten. Der Untersucher sollte daher zusätzlich Tätigkeiten überprüfen, die für den Alltag des Patienten relevant sind, oder die für einen Patienten eine deutliche subjektive Einschränkung darstellen. Mit einer 5-minütigen Schriftprobe wird in der Routineuntersuchung die Schreibleistung untersucht. Neben dem quantitativen Maß »Zahl der Wörter in 5 min« kann die Dauerleistungsfähigkeit in diesem Zeitrahmen beobachtet werden. Weitere quantitative Messungen, die neben der Dokumentation des Verlaufs auch zur Abgrenzung gestörter und normaler Leistung dienen, sind 4 die Bestimmung der Maximalkraft im Faustgriff und 4 die Zielaufgabe am Steckbrett. Praxistipp Vorteil einer standardisierten Untersuchung ist die zunehmende Routine des Untersuchers. Die Durchführung benötigt auf diese Weise weniger Zeit, und die Aufmerksamkeit des Untersuchers wird nicht durch Überlegungen zur Untersuchungsabfolge gebunden.
21.2.2
21
Bewegungsanalysen
Neue Methoden der Bewegungsanalyse haben das diagnostische Spektrum bei Handfunktionsstörungen erheblich erweitert. Diese Methoden basieren auf der direkten Messung von Bewegungen und Kräften. Im einfachsten Fall wird ein einzelnes Signal erfasst, wie 4 der Winkel einer isolierten Gelenkbewegung oder 4 die im Faustgriff produzierte Griffkraft.
Klinisch kommen beide Messmethoden bei der Bestimmung
4 des maximalen Gelenkspielraums mit Goniometern und 4 der Maximalkraft mit Handdynamometern schon länger zum Einsatz. Während dabei jedoch nur diskrete (Maximal-)Werte bestimmt werden, werden bei Bewegungsmessungen die Signale kontinuierlich registriert. Die Signale werden dazu mit technischen Sensoren gemessen; das zeitlich veränderliche Ausgangssignal wird mit einer hohen Abtastrate (z.B. 200 Messwerte/Sekunde) in einem Computer erfasst. Der Original-Zeitverlauf des Messsignals kann dann rekonstruiert und analysiert werden. Im Folgenden werden 3 Messund Analysemethoden vorgestellt, die besonders dazu geeignet sind, funktionale manuelle Aktivitäten zu erfassen (. Übersicht 21.4). . Übersicht 21.4. Mess- und Analysemethoden für manuelle Aktivitäten 1. 2. 3.
Regulation der Fingerkräfte Schreiben Messung freier Hand-/Armbewegungen im 3-dimensionalen Raum
Regulation der Fingerkräfte Die Regulation der Fingerkräfte, die beim Greifen und Manipulieren von Gegenständen produziert werden, ist ein fundamentaler Aspekt feinmotorischer Handfunktionen. Griffkräfte werden i.d.R. gegen starre Gegenstände aufgewandt. Änderungen der Griffkräfte führen dann zu keinen Bewegungen der Finger und sind damit visuell nicht oder nur grob durch Hautverfärbungen oder -verformungen (z.B. durch Muskelanspannung) wahrnehmbar. Griffkräfte können aber ohne großen Aufwand mit geeigneten technischen Sensoren gemessen werden. Damit können die typischen Charakteristika normaler Kraftregulation bei Patienten überprüft werden. > Die Stärke der Griffkraft und die Präzision der zeitlichen Regelung bei Objektmanipulation sind äußerst sensitive Parameter zur Erfassung feinmotorischer Störungen bei unterschiedlichen Hirnschädigungen (Hermsdörfer et al. 2004, Nowak u. Hermsdörfer 2002, 2004).
Neben der verdeckten Messung der Kräfte bei Objektmanipulation kann eine Griffkraft als Feedback zusammen mit einer Zielkraft graphisch auf einem Computerbildschirm dargestellt werden. Dies ermöglichen z.B. Trackingaufgaben, die das Verfolgen einer zeitlich variablen Zielvorgabe durch Justierung der Griffkraft bzw. deren graphischer Darstellung erfordern. Mit diesen Methoden können überprüft werden: 4 Präzision der Kraftkontrolle beim Tracking, 4 Einfluss von visuellem Feedback (bei Abschaltung), 4 schnellstmögliche Kraftsprünge und -wechsel sowie 4 Maximalkraft.
313 21.2 · Diagnostik, Problemerfassung
Diese unterschiedlichen Leistungen können unabhängig voneinander gestört sein (Hermsdörfer u. Mai 1996). Damit ist es möglich, Teilleistungen der feinmotorischen Kraftkontrolle isoliert zu prüfen. Die differenzierte Beschreibung der Störung kann einen wesentlichen Beitrag zur Planung der Therapie liefern.
Schreiben Schreiben ist auch in Zeiten computergestützter Textverarbeitung eine wesentliche Funktion der (dominanten) Hand. Zur Analyse der motorischen Bewegungsabläufe beim Schreiben werden die 2-dimensionalen Bewegungen eines Schreibstifts registriert. Dies geschieht mit graphischen Tabletts. Diese Computer-Eingabegeräte sind technisch sehr weit entwickelt und relativ preiswert. Die 2-dimensionalen Ortskoordinaten des Schreibstifts werden kontinuierlich vom Computer erfasst, so dass im Nachhinein die Schriftspur rekonstruiert werden kann. Das Wesentliche an der Analyse von Schreibbewegungen ist aber die Berechnung von Geschwindigkeiten und Beschleunigungen. Diese Parameter beschreiben die Kinematik der Bewegung (Mai u. Marquardt 1995, 1998). Die Schreibbewegungen routinierter Schreiber sind durch bestimmte kinematische Charakteristika geprägt: 4 Betrachtet man z.B. die Auf- und Abstriche einzelner Buchstaben anhand der Bewegungen in vertikaler Richtung, so ist der Geschwindigkeitsverlauf in einem derartigen Segment typischerweise durch ein glockenförmiges Profil gekennzeichnet, d.h., es besitzt ein singuläres Maximum, zu dem die Kurve zunächst glatt ansteigt und danach wieder auf Null abfällt (Mai u. Marquardt 1995) (. Abb. 21.1 a). Dieses Geschwindigkeitsprofil ist unabhängig von individuellen Variationen wie z.B. der Buchstabenhöhe. 4 Ein anderes Charakteristikum automatisierter Schreibbewegungen ist eine extrem hohe Wiederholgenauigkeit in den Geschwindigkeits- und Beschleunigungsverläufen gleicher Buchstaben. Das Geschwindigkeitsprofil des Patienten in . Abb. 21.1 B ist dagegen durch einen unregelmäßigen Verlauf, deutlich niedrigere Maxima und eine geringe Wiederholbarkeit bei der Buchstabenkombination gekennzeichnet. Eine zentrale Frage bei der Diagnostik von Schreibstörungen sollte sein, ob die Charakteristika automatisierter Bewegungen auffindbar sind. Diese Analyse (. Abb. 21.1) ist nicht auf das Schreiben von Sätzen oder Wörtern beschränkt; vielmehr können mit den gleichen kinematischen Kriterien einfache Buchstabenkombinationen, elementare Schreibbewegungen bis hin zu bedeutungslosen Kritzeleien analysiert werden.
Messung freier Hand-/Armbewegungen im 3-dimensionalen Greifraum Die Messung freier Hand-/Armbewegungen im 3-dimensionalen Greifraum stellt besondere Ansprüche an die Messmethodik. Geräte und Sensoren, die zur Bewegungsmessung eingesetzt werden, dürfen die Bewegung selbst nicht behindern. Bei geeigneten Messsystemen werden Marker an den entsprechenden Körperstellen befestigt und deren räumliche Positionen gemessen (Allrad u. Stokes 1995, Hermsdörfer 2002).
. Abb. 21.1. Kinematische Analyse von Schreibbewegungen: Registrierte Schriftspur und Geschwindigkeit der Vertikalkomponente (VY) bei der wiederholt geschriebenen Buchstabenkombination »ll«. a Leistung eines gesunden Probanden. b Leistung eines Patienten nach einer traumatischen Hirnschädigung (nach Marquardt u. Mai 1998)
In . Abb. 21.2b wird das Resultat einer 3-dimensionalen Bewegungsmessung am Beispiel von Zielbewegungen bei einer gesunden Kontrollperson und zwei Patienten veranschaulicht: Ausgehend von einer Ruheposition vor dem Körper sollte die Hand wiederholte Male rasch nach vorne bewegt werden. Mit der Zeigefingerspitze sollte dabei eine kleine Zielscheibe, die an einem leichten Ständer 30 cm vor der Startposition befestigt war, berührt werden. Die Bewegungen wurden mit einem Bewegungsmesssystem auf Ultraschallbasis registriert (CMS-50, Fa. Zebris, Isny). Dabei wurden kleine Ultraschallsender (Marker) auf dem dorsalen Handgelenk und auf dem distalen Zeigefingergelenk befestigt. In der Abbildung sind die Bewegungen durch den Bewegungspfad in der Sagittalebene (von der Seite gesehen) und durch die zugehörige Absolutgeschwindigkeit charakterisiert. Die Analyse konzentrierte sich auf den Marker am Handgelenk. Beispiel Verläufe von Bewegungsparametern (. Abb. 21.2) Die Bewegung einer gesunden Kontrollperson (Norm) mit der rechten Hand ist durch die kinematischen Charakteristika routinierter Zielbewegungen gekennzeichnet: Die Hand wurde auf einem glatten, nahezu geraden Bewegungspfad zu der Zielscheibe geführt, das Geschwindigkeitsprofil besitzt einen glockenförmigen, glatten Verlauf und die Variabilität der Bewegungsausführung war sehr gering, wie die fast identischen Kurven für die drei Einzelbewegungen belegen. 6
21
314
Kapitel 21 · Handfunktionsstörungen: Assessment und Management
Unter den Graphiken der Kontrollperson ist die Kinematik einer linksseitigen Zielbewegung bei einem Patienten (P21m) nach Schlaganfall im Bereich der rechten mittleren Hirnarterie dargestellt. Im Vergleich zur Kontrollperson erscheinen die Bewegungspfade in der Sagittalprojektion stärker gekrümmt. Wie den Geschwindigkeitsprofilen zu entnehmen ist, dauerten die Bewegungen erheblich länger, die Maximalgeschwindigkeiten waren nur halb so hoch und die Profile waren asymmetrisch mit einer deutlich verlängerten Bremsphase am Ende der Bewegung während der Annäherung an die Zielscheibe. Ganz anders verlaufen die Bewegungsparameter bei Patientin P18w, deren rechte Hand nach einer Blutung in Bereichen des linksseitigen Hirnstamms motorisch beeinträchtigt war. Die Bewegungspfade sind in einem hohen Maße irregulär, mit häufigen Richtungswechseln und unterscheiden sich für die drei Einzelbewegungen erheblich. Die Geschwindigkeitsprofile sind stark unregelmäßig. Die Bewegungsdauer war im Vergleich zur Kontrollperson verlängert, allerdings wurden nahezu vergleichbare Maximalgeschwindigkeiten erreicht. Diese Verläufe der Bewegungsparameter korrespondieren mit dem klinischen Symptom einer Ataxie bei Patientin P18w, im Gegensatz zu der eher paretischen Störung bei Patient P21m.
Prinzipien der kinematischen Bewegungsanalyse
21
aus resultierenden neuen Möglichkeiten in der Diagnostik von Handfunktionsstörungen veranschaulicht werden (. Übersicht 21.5) (Levin 1996, Hermsdörfer 2002). > Trotz der Vorteile bilden Bewegungsanalysen immer nur Teilaspekte einer Funktionsstörung ab. Eine offene orientierende Untersuchung des Patienten ist daher unumgänglich.
21.3
Therapie
21.3.1
Physio- und ergotherapeutische Konzepte
Es existiert eine Vielfalt unterschiedlicher Verfahren zur Therapie von Handfunktionsstörungen. Häufig folgt die Behandlung etablierten physiotherapeutischen Therapiekonzepten. Ein im deutschsprachigen Raum weit verbreitetes traditionelles Verfahren ist das Bobath-Konzept (Davies 1992). Die Behandlung basiert auf neurophysiologischen Prinzipien. Zentrale Ziele sind 4 die Förderung des somato-sensiblen Inputs und 4 die Fazilitation eines normalen motorischen Outputs.
Mit den Beispielen normaler und gestörter Schreib- und Zielbewegungen (. Abb. 21.1, 21.2) sollten einige Prinzipien der kinematischen Bewegungsanalyse demonstriert und die dar-
Zur Behandlung nach Bobath existiert ein reichhaltiges deutschsprachiges Buchmaterial (Friedhoff u. Schieberle 2002, Paeth-Rohlfs 2007, Geisseler 2005). Andere physiothe-
. Abb. 21.2. Bewegungsanalyse von Zielbewegungen (aus Hermsdörfer 2002). Ausgehend von einer Startposition vor dem Körper sollte eine Zielscheibe mit der Zeigefingerspitze »getroffen« werden. Links oben Messaufbau mit Messaufnehmer (CMS-50) und Marker an Handgelenk und Zeigefinger. Kurvenverläufe: Sagittalprojektion des Bewegungspfads des Handgelenks (jeweils links) und zugehö-
rige Absolutgeschwindigkeit V (rechts). Je 3 Einzelmessungen sind übereinander gezeichnet und durch unterschiedliche Linientypen markiert. Nur die Hinbewegung bis zur Berührung der Scheibe ist dargestellt. Norm Leistungen einer gesunden Kontrollperson. P21m Patient nach Mediateilinfarkt. P18w Patientin nach Hirnstamm-Blutung
315 21.3 · Therapie
. Übersicht 21.5. Prinzipien der kinematischen Bewegungsanalyse 1.
2.
3.
4.
Die graphischen Darstellungen von Bewegungsabläufen in Form von zeitlichen Verläufen der kritischen Parameter bilden Bewegungen und Bewegungsdetails auf eine bedeutend differenziertere und sensitivere Art ab als dies mit direkter visueller Beobachtung möglich ist. Die übereinander gezeichneten Parameterverläufe für mehrere unabhängige Einzelbewegungen (. Abb. 21.2) liefern ein objektives und klares Bild über die intraindividuelle Variabilität der Bewegungen, die dem Beobachter sonst nur intuitiv zugänglich ist. Bewegungscharakteristika wie das glockenförmige Geschwindigkeitsprofil bei Schreib- und Zielbewegungen hängen nicht von Bewegungsdetails wie Start- und Endposition, Bewegungsrichtung oder -amplitude ab. Derartige invariante Charakteristika routinierter Bewegungen vereinfachen die Abgrenzung gestörter Funktionen. Dies betrifft in der Diagnostik nicht nur die Differenzierung von normaler und gestörter Handfunktion, sondern auch die intraindividuelle Suche nach erhaltenen Leistungen (7 Kap. 21.3.4). Mit Bewegungsmessungen kann eine wichtige Forderung an die Diagnostik von Funktionsstörungen realisiert werden: die objektive und differenzierte Erfassung und Dokumentation funktionaler Leistungen (7 Kap. 21.4).
rapeutische Behandlungskonzepte, die in der Therapie neurologischer Handfunktionsstörungen angewandt werden, sind 4 die Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF) (Myers 1989), 4 das FBL-Konzept nach Klein-Vogelbach (Suppé u. SpirgiGantert 2007) oder 4 die Spiraldynamik (Larsen u. Schneider 2007). In 7 Kapitel 16 wird eingehender auf die traditionellen physiotherapeutischen Konzepte und die neueren evidenzbasierten Alternativen eingegangen. Neuere Therapieverfahren wie 4 die neurokognitive Rehabilitation nach Perfetti (Perfetti 1997, 2006) oder 4 das Verfahren nach Affolter (Affolter 2006) beziehen neben perzeptiven auch kognitive Prozesse verstärkt in die Behandlung mit ein. jNeurokognitive Rehabilitation nach Perfetti Perfetti betrachtet Rehabilitation als einen Lernprozess unter pathologischen Bedingungen. Er geht davon aus, dass der Körper des Menschen ein komplexes System ist, das in seiner
Ganzheit über eine variable und hoch entwickelte motorische Organisationsfähigkeit verfügt. Ein zentrales therapeutisches Ziel ist es, den Patienten zu befähigen, durch die Interaktion mit der Umwelt unterschiedliche Informationen (z.B. taktile, kinästhetische, räumlich-zeitliche Informationen) einzuholen, um der Außenwelt einen Sinn zuzuweisen. Dazu wurden eine Reihe von Aufgaben und speziellen Übungsmaterialien erstellt, die in ihrer Anwendung und Komplexität variabel sind. Die Übungen werden in unterschiedlichen Graden durchgeführt, wobei der Patient lernt, bestimmte pathologische Elemente zu kontrollieren (z.B. abnorme Reaktion auf Dehnung, abnorme Irradiationen, elementare Schemata). Ziel ist es, den Patienten zu einer fragmentierten, adaptierten und variablen Bewegung zu befähigen. jAffolter-Konzept Affolter stellt die taktil-kinästhetische Wahrnehmung – das Spüren – in den Vordergrund. Der Therapeut führt Arme und Körper des Patienten passiv, so dass dieser mit seiner Umgebung interagiert. Es wird Wert darauf gelegt, dass es sich um eine alltagsnahe Situation handelt, die dem Patienten möglichst individuell angepasst ist. Das Affolter-Konzept wird v.a. bei Kindern und sehr schwer betroffenen Erwachsenen eingesetzt. > Der Anwendungsbereich der unterschiedlichen Konzepte ist sehr breit und richtet sich meist nicht nach einer konkreten Indikation. Die klassischen Verfahren bieten jedoch auch bei schweren motorischen Störungen einen Behandlungsansatz.
Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit der Physiotherapie (7 Kap. 16) Es existieren nur wenige Studien zur Wirksamkeit der klassischen Therapieformen. In den seltenen vergleichenden Studien wurden die Konzepte teilweise kritisch analysiert (Nelles et al. 2003, van Peppen et al. 2004).
21.3.2
Repetitives aufgabenorientiertes Training
In letzter Zeit wurden vermehrt Therapiekonzepte vorgestellt und evaluiert, deren zentraler Bestandteil ein häufiges wiederholtes Üben gestörter Bewegungen, Bewegungskomponenten oder komplexerer Handlungsaufgaben ist. Wie im Folgenden gezeigt wird, wurden dabei sehr unterschiedliche Ansätze gewählt, die sich u.a. in folgenden Faktoren unterscheiden: 4 Komplexität der trainierten Aufgabe, 4 Chronizität der Patienten und 4 spezifischen Trainingsumständen.
Constraint-Induced-Bewegungstherapie Eine Therapieform, die in letzter Zeit intensiv evaluiert wurde, ist die CIM-Therapie (Constraint Induced Movement Therapy), die auf das Konzept des erlernten Nichtgebrauchs zurückgeht. Danach lernen Patienten mit Hemiparese nach
21
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Kapitel 21 · Handfunktionsstörungen: Assessment und Management
Schlaganfall den Einsatz der akut dysfunktionalen Hand dauerhaft zu vermeiden, und sie behalten diese Gewohnheit auch dann bei, wenn elementare Funktionen wiederhergestellt sind (Taub et al. 1993). Um dieses Verhalten zu modifizieren, wird der Einsatz des nicht betroffenen Arms während des größten Teils des Tages eingeschränkt (»constraint«, z.B. durch eine Schiene oder Armbinde), wodurch der verstärkte Gebrauch der beeinträchtigten Körperseite »erzwungen« werden soll. Diese Restriktion wird für 2 Wochen aufrechterhalten und an den Werktagen von einem intensiven 6-stündigen Training begleitet, in dem einfache, meist alltagsnahe Bewegungen unter Anweisung eines Therapeuten repetitiv geübt werden. Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit der CIM-Therapie
21
Diese Therapie führte in mehreren Studien zu nachweisbaren Verbesserungen der Handfunktion auf der betroffenen Körperseite, die auch in Follow-up-Messungen mehrere Monate nach der Therapie erhalten waren (Sterr u. Freivogel 2003, Buder et al. 2001, Miltner et al. 1999, Taub et al. 1999) (7 Kap. 16). In einer multizentrischen Studie mit 222 Patienten konnten signifikante Verbesserungen bei chronischen Schlaganfallpatienten durch CIM-Therapie nachgewiesen werden, die auch nach einem Jahr noch Bestand hatten (Wolf et al. 2006). Im Zusammenhang mit dem funktionalen Zugewinn konnten hirnorganische Reorganisationsvorgänge nachgewiesen werden (Liebert et al. 2000, Hamzei et al. 2006, Schaechter et al. 2002). Die spezifische Wirksamkeit der therapeutischen Intervention in Form der Einschränkung der nicht paretischen Seite wurde allerdings auch infrage gestellt. Im Vergleich mit einer vergleichbar intensiven Therapie, bei der beide Hände eingesetzt wurden, zeigten sich nur partielle Vorteile für die CIM-Therapie (van der Lee et al. 1999). Die Autoren vermuteten daher, dass der wesentliche Faktor mehr in der Trainingsintensität als in einem spezifischen Wirkmechanismus bestehen könnte (van der Lee 2001). Auch die oben erwähnte multizentrische Studie lässt diese Hypothese offen, da die Kontrollpatienten meist keine oder nur selten ambulante Therapien erhielten. Indirekte Unterstützung der Hypothese ergibt sich aus Studien, die eine Reduktion der täglichen Therapiedauer auf 3 Stunden prüften. Wie bei einem Intensitätseffekt zu erwarten, war das Ausmaß der (immer noch vorhandenen) Verbesserung geringer als bei einem 6-stündigen Training (Sterr et al. 2002). Bei einer zeitlichen Verlängerung der Therapie konnten aber die Leistungsrückstände kompensiert werden (Dettmers et al. 2005). Dies ist vor allen Dingen für die Organisation von Rehabilitationseinrichtungen ein bedeutsamer Befund, da sich ein tägliches 6-stündiges, intensiv betreutes Training nur sehr schwer realisieren lässt. Als nachteilig sind die relativ hohen motorischen Voraussetzungen für das Training anzusehen (z.B. mindestens 10° Handgelenkextension), was die Zahl geeigneter Patienten erheblich einschränkt. In letzter Zeit wurde versucht, den Trainingsansatz auch bei schwer betroffenen Patienten anzuwenden (Bonifer et al. 2005, Selzer et al. 2007). Die negative Korrelation zwischen Schwere des motorischen Defizits und Effizienz therapeutischer Interventionen ist allerdings, vor allem bei chronischen Patienten, ein generelles Problem (Hesse et al. 2004, Parry u. Lincoln 1999).
Repetitive Bewegungen Repetitives Training beinhaltet die hochfrequente Durchführung einer beschränkten Anzahl von Bewegungen, die patienten-spezifisch zusammengestellt werden. Näher betrachtet Studien: Repetitive Bewegungen In mehreren Studien an paretischen Patienten wurden Erfolge bei einem täglichen (2-mal ca. 20 min) mehrwöchigen Training einfacher Handgelenkbewegungen berichtet (Hummelsheim 1998, Bütefisch et al. 1995). Das repetitive Training schnellstmöglicher Handgelenkextensionen wurde der Schwere der Parese und dem Trainingsverlauf angepasst, und die Interventionen reichten von geführten Bewegungen bis hin zu Belastung durch zusätzliche Gewichte. Das Training führte zu einer signifikanten Steigerung der Kraft und Beschleunigung der trainierten Bewegung sowie der Maximalkraft. Die Verbesserung war jedoch nicht auf die Bewegungsparameter der trainierten Bewegung beschränkt, sondern äußerte sich auch bei der Beurteilung der Handfunktion mit der Rivermead Motor Assessment Scale. Interessanterweise fand die gleiche Arbeitsgruppe keinen spezifischen Effekt des repetitiven Trainings, wenn komplexe Bewegungen, z.B. Greifen und Transportieren von Objekten bei hoher Genauigkeitsanforderung praktiziert wurden (Woldag et al. 2003).
Armfähigkeitstraining Von einem signifikanten Leistungszuwachs wurde bei einer als Armfähigkeitstraining bezeichneten Methode berichtet, die vor allem bei weniger stark betroffenen Patienten eingesetzt werden kann (Platz et al. 2001, Platz 2006, Minkwitz u. Platz 2004, Platz 2004). Dieses Training beinhaltet das repetitive Üben einiger basaler Fähigkeiten (z.B. Arm ruhig halten, schnelle Arm- und Fingerbewegungen), die mittels Faktorenanalysen voneinander abgegrenzt wurden (Motorische Leistungsserie, 7 Kap. 21.4). Von den Autoren wurde auch ein spezifisches Training bei schweren Paresen vorgeschlagen.
Krafttraining Auch ein Krafttraining, welches die Patienten oft von sich aus praktizieren, kann als repetitves Training einer Teilleistung verstanden werden. Die Konsequenzen eines isolierten Maximalkrafttrainings am paretischen Arm werden aufgrund vermuteter negativer Wirkungen auf Kokontraktion und Spastik kontrovers diskutiert. In entsprechenden Untersuchungen konnte allerdings ein derartiger Zusammenhang nicht belegt werden (Bourbonnais et al. 1997, Miller u. Light 1997, Ada et al. 2006). Näher betrachtet Studie: Krafttraining In einer Studie, in der ein aufgabenorientiertes Bewegungstraining und ein zusätzliches auf Kraftaufbau gerichtetes Training mit einem Standardtraining verglichen wurden, führten beide Trainingsformen zu einer relativen Verbesserung in einigen Leistungsaspekten, die aber im Langzeitverlauf für die Gruppe mit aufgabenspezifischem Training stabiler waren (Winstein et al. 2004).
317 21.3 · Therapie
Bilaterales Training Es scheint nahe liegend, den nicht betroffenen Arm in das Training des betroffenen Arms mit ein zu beziehen. In verschiedenen Untersuchungen wurde ein derartiges bilaterales repetitives Training mit positiven Ergebnissen evaluiert (Whitall et al. 2000, Mudie u. Matyas 2000). Schlaganfallpatienten praktizierten simultan mit ihrem paretischen und nicht paretischen Arm einfache Bewegungen. Die Ergebnisse einiger Patienten legen nahe, dass dieses Training einem unilateralen Training der betroffenen Hand und einem Führen der betroffenen Hand mit der nicht betroffenen (bekannte Praxis in Physio- und Ergotherapie) überlegen sein könnte (Mudie u. Matyas 2000). Allerdings fehlen Studien an größeren Patientengruppen und mit adäquaten Kontrollgruppen, um Wirksamkeit und Indikation des bilateralen Trainings zu beschreiben. Näher betrachtet Studien: Bilaterales Training In einigen Studien zeigte sich keine spezifische Überlegenheit von bilateralen Trainingsverfahren (Tijs u. Matyas 2006, Lewis u. Byblow 2004). Bei einem bilateralen Training des paretischen Handgelenks mit Unterstützung durch einen mechanischen Antrieb (s.u.) wurden erhebliche Verbesserungen von Armbeweglichkeit und Kraft berichtet, die unabhängig vom Paresegrad waren (Hesse et al. 2005).
Feedback- und VR-gestütztes Training Eine Anzahl von Trainingsansätzen basiert auf der technischen Messung körpereigener Signale und auf deren Darstellung in Form von akustischem oder visuellem Feedback. Auf diese Weise können körpereigene Aktivitäten auf alternativen Kanälen (z.B. visuellem Kanal bei sensorischen Defiziten) wahrgenommen werden. Zusätzlich kann das Feedback zur Formulierung von Trainingsaufgaben und Steigerung der Motivation genutzt werden. In einer komplexen Form kann ein Feedback auch die Aufgabenleistung mitteilen (»knowlegde of result«). jEMG-Feedback Das klassische Bewegungsfeedback besteht in der Messung der Muskelaktivität mittels Elektromyographie (EMG-Feedback). Meist soll mithilfe der akustischen Rückmeldung die Aktivität der Agonisten gesteigert, die der Antagonisten gesenkt werden.
Näher betrachtet Studie: Feedback über direkte Messungen In einer eigenen Studie registrierten die Autoren die Griffkraft, die in einem Präzisionsgriff zwischen Daumen und Zeigefinger produziert wurde und gaben sie als visuelles Feedback auf einem Computerbildschirm wider. Ziel war es, die Beeinträchtigungen der Kraftkontrolle bei Patienten mit Feinmotorikstörungen durch repetitives Training zu reduzieren (Kriz et al. 1995). Die Patienten wurden mit einer Trackingaufgabe trainiert, die anhand einer dynamischen Zielvorgabe auf dem Bildschirm langsame Kraftzunahmen und -abnahmen sowie statische Phasen beinhaltete. Wie die Analyse der Trackingfehler belegte, verbesserten sich 9 der 10 Patienten im Verlauf von 10-wöchentlichen Trainingssitzungen. Die meisten von ihnen erreichten den Bereich normaler Leistungen bzw. näherten sich diesem an. Diese Leistungszunahme konnte auf nicht trainierte Trackingaufgaben transferiert werden.
jVR-gestütztes Training Auf einem visuellen Feedback basiert auch ein Trainingsansatz, der in einer VR-Umgebung (virtuelle Realität) ausgeführt wurde (Merians et al. 2002, Merians et al. 2006). Näher betrachtet Studien: VR-gestütztes Training Patienten mit distal betonten Paresen trugen einen Spezialhandschuh, mit dem die Fingerbewegungen gemessen wurden. Die Messsignale wurden in eine realistisch dargestellte Hand auf einem Computer-Monitor umgesetzt. Diese Hand sollte dann unterschiedliche repetitive Aufgaben bewältigen, mit denen verschiedene Bewegungsaspekte trainiert wurden (z.B. Klavier spielen für unabhängige Fingerbewegungen). Neben der hohen Motivation der Patienten, die in subjektiven Angaben bestätigt wurde, war ein wesentlicher Vorteil des VR-Trainings, dass die Anforderungen sukzessive dem aktuellen Leistungsniveau angepasst werden konnten. Die Patienten verbesserten sich in einem 2-wöchigen Training in allen trainierten Bewegungsaspekten sowie in einem funktionalen Handtest. Mangels vergleichbar intensiver Kontrolltherapien ohne VR-Training bleibt aber die Frage offen, welcher Anteil am Erfolg auf diese spezifische Intervention zurückzuführen war.
Studie: Upper Limb Exerciser Näher betrachtet Studien: EMG-Feedback Studien zu EMG-gestützten Trainingsverfahren kamen häufig zu positiven Ergebnissen (Crow et al. 1989, Glanz et al. 1995, Wolf et al. 1989), obwohl in einer Meta-Analyse keine eindeutige Evidenz für Verbesserungen festgestellt wurde (van Peppen et al. 2004).
jFeedback über direkte Messung von Kraft und Bewegung Über EMG-Ableitungen hinaus kann die direkte Messung von Kraft und Bewegung als Feedback eingesetzt werden.
Hermsdörfer et al. (2004) evaluierten in einer Studie die Wirksamkeit eines käuflichen Systems, das ebenfalls ein videospielartiges Bewegungstraining bietet (Upper Limb Exerciser, E3000, Biometrics). Bei einem repetitiven Training von Bewegungen in Handgelenk und Ellenbogen zeigten sich deutliche Leistungszunahmen in den trainierten Aufgaben; allerdings war der Transfer auf vergleichbare Bewegungsaufgaben außerhalb der trainierten Aufgaben gering und unter den einzelnen Patienten heterogen.
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Kapitel 21 · Handfunktionsstörungen: Assessment und Management
Fazit Da statistisch gut abgesicherte Studien an größeren Patientengruppen fehlen, kann das Potenzial des Feedback-Einsatzes in VR-Bewegungsaufgaben noch nicht bestimmt werden. Die Ergebnisse einzelner Studien sind aber meist positiv (Broeren et al. 2007, Valvoda et al. 2003). Wichtig scheint, dass Konzepte des motorischen Lernens berücksichtigt werden (Cirstea et al. 2006). Im Rahmen der Telemedizin kann die Nutzung von VRTrainingssystemen unter Anbindung an digitale Datennetze zukünftig die Möglichkeit zu einem häuslichen supervidierten Training bieten (Broeren et al. 2006, Carey et al. 2007, Deutsch et al. 2007).
Spiegeltraining Der Therapieansatz eines Spiegeltrainings verbindet 4 visuelles Feedback und 4 bilaterales Training auf eine außergewöhnliche Weise. Der Patient sitzt an einem Tisch, auf dem ein Spiegel in einer Sagittalebene zwischen Kopf und Schulter der betroffenen Seite aufgestellt ist. Sieht der Patient in den Spiegel, sieht er ein Spiegelbild seines nicht paretischen Arms etwa an der räumlichen Position des paretischen Arms. Bei bilateralen Übungen erhält der Patient damit ein visuelles Feedback der normalen Bewegungen des nicht paretischen Arms anstelle der gestörten Bewegungen des paretischen Arms. Näher betrachtet Studie: Spiegeltraining In der Pilotstudie an 9 Patienten war dieses Spiegeltraining einem vergleichbaren Training ohne Spiegel überlegen (Altschuler et al. 1999). Erste weiterführende Studien zum Spiegeltraining werden aktuell durchgeführt; generalisierbare Ergebnisse liegen aber noch nicht vor (Sathian et al. 2000, Stevens u. Stoykov 2004).
lung und Beobachtung in einem Training nahe (Binkofski et al. 2004). Erste Ergebnisse sprechen dafür, dass sich Bewegungseinschränkungen durch wiederholte bewusste Bewegungsbeobachtungen reduzieren lassen (Ertelt et al. 2007). Besonders hilfreich wäre mentales Training, wenn dadurch in einer plegischen Phase ohne aktive Bewegungsfähigkeit die Funktion so fazilitiert werden könnte, dass sie schneller und weitreichender zurückkehrt. Für diese Wirkungsweise von mentalem Üben fehlen allerdings noch gesicherte Evidenzen.
Robotik-gestütztes Training Es gibt mehrere Vorschläge zum Einsatz von mechanischen Antrieben in der Therapie von Armparesen. Diese Roboter können Armbewegungen entweder gänzlich aktiv führen, oder sie wirken unterstützend und korrigieren abnormale Bewegungsausführungen. Die Anwendung dieser Techniken bei repetitivem Training von zielgerichteten Bewegungen führte in den involvierten Gelenken zu spezifischen Funktionsverbesserungen, die sich in entsprechenden Leistungsscores abzeichneten (Volpe et al. 2000, Ferraro et al. 2003, Masiero et al. 2007). Der Transfer auf Alltagsfertigkeiten konnte allerdings nicht eindeutig belegt werden (Kahn et al. 2006, Prange et al. 2006). Es wurde auch ein bilateraler Trainingsmodus realisiert, bei dem die Bewegungen der nicht paretischen Hand gemessen und anhand dieser Vorgabe die paretische Hand des Patienten simultan mechanisch bewegt wurde (Lum et al. 2002). Nach anfänglichen Vorteilen war aber zum Follow-up-Zeitpunkt keine Überlegenheit mehr zu einem konventionellen Training feststellbar (Lum et al. 2006). Demgegenüber führte das Training mit einem mechanischen Antrieb, der einfache Gelenkbewegungen (Handgelenkflexion/-extension und Pro/Supination) aktiv führte und unterstützte, oder auch variable Widerstände erzeugte, zu deutlichen und anhaltenden Verbesserungen (Hesse et al. 2005).
Sensorisches Diskriminationstraining Mentales Training Das mentale Training gestörter Bewegungen ist aus mehreren Gründen ein naheliegender therapeutischer Ansatz. Zum einen ist mentales Training im Sportbereich erfolgreich, zum anderen konnten Messungen der Hirnaktivität belegen, dass die Ausführung und Vorstellung motorischer Aktionen von sehr ähnlichen kortikalen Netzwerken unterstützt wird (Stephan et al. 1998). Es scheint daher möglich, dass Patienten durch Imagination einer besseren Bewegungsausführung ihre (reale) Bewegungsstörung reduzieren können (Miltner et al. 1998, Mulder 2007). Die Ergebnisse einiger Studien bestärken diese Annahme (Cosbie et al. 2004, Dijkerman et al. 2004, Page et al. 2005, 2007).
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Bewegungsbeobachtung Da die Beobachtung von Bewegungen über das sog. Spiegelneuronen-System ebenso wie die Bewegungsvorstellung eine Gehirnaktivität bewirkt, die in Teilen der einer tatsächlichen Ausführung entspricht, liegt eine Kombination von Vorstel-
Sensorische Defizite sind eine häufige Folge von Hirnschädigungen. Sie treten in Kombination mit motorischen Defiziten, seltener auch isoliert, auf. Ein direktes Training sensorischer Leistungen scheint naheliegend, zumal funktionelle Leistungen in hohem Maß von der Sensibilität abhängen. Die Reorganisation des sensorischen Kortex durch sensorisches Training gehört in den klassischen tierexperimentellen Befunden zur kortikalen Plastizität (Jenkins et al. 1990). Ein direktes Training der somato-sensorischen Wahrnehmung wurde bisher nur selten evaluiert. Zwar fand sich eine erhebliche Verbesserung der trainierten Leistungen, so etwa bei der Diskrimination unterschiedlicher Materialien, Oberflächen oder Gewichte; die Generalisierung auf nicht trainierte sensorische und motorische Leistungen scheint jedoch gering zu sein. Ein auf Transfer ausgerichtetes Training mit motorischen Trainingselementen steigerte allerdings den Transfer und führte zu funktionellen Verbesserungen (Carey u. Matyas 2005). Die Perfetti-Therapie beinhaltet derartige Komponenten. Ein Lese-Training von Braille-Schrift bzw. das
319 21.3 · Therapie
Erkennen braille-artiger Zeichen führte bei Patienten mit Schreibkrampf (Zeuner et al. 2002) wie auch mit Störungen der Feinmotorik nach Schlaganfall (Freund 2005) zu Verbesserungen der sensorischen und motorischen Leistungen.
Zusammenfassung Die Ergebnisse der im Überblick dargestellten Studien lassen den Schluss zu, dass ein repetitives Training beeinträchtigter motorischer Leistungen im Allgemeinen zu einer Reduktion des Defizits führt (Liepert et al. 2003, Kwakkel et al. 2004, Platz 2003, Steultjens et al. 2003, van Peppen et al. 2004, Wolf et al. 2006). Trotz der häufigen Wiederholung einer oder einiger weniger Aufgaben wird meist eine hohe und andauernde Motivation der Patienten berichtet. > Wichtige Kriterien, die bei der Anwendung einer Trainingsform überprüft werden müssen, sind 4 der Transfer von Leistungszugewinnen auf nicht trainierte Bewegungen und vor allem auf funktionale Alltagstätigkeiten sowie 4 die Retention eines Zugewinns über den Zeitraum des Trainings hinaus. Der Einfluss von Faktoren wie Trainingsintensität und -spezifität oder Art des Feedbacks auf diese Kriterien muss geklärt werden.
Eine vergleichende Beurteilung der unterschiedlichen Trainingsansätze ist angesichts der Heterogenität der Studien nicht möglich. Weitere Untersuchungen sollten möglichst konkrete Indikationen feststellen, wobei der Schwere der Funktionsstörung eines Patienten und dem Grad der Chronifizierung besondere Bedeutung eingeräumt werden sollte. Im groben Überblick der unterschiedlichen Trainingsmethoden hat es den Anschein, dass bei leicht bis moderat betroffenen Patienten im subakuten Zustand die größten Funktionszugewinne zu erzielen sind. Daher ist die Entwicklung effizienter Ansätze für schwer betroffene chronische Patienten von besonders großem Interesse. Insgesamt sprechen die bisherigen Ergebnisse und die hohe Zahl unterstützender wissenschaftlicher Untersuchungen dafür, dass das repetitive Training gestörter sensomotorischer Leistungen bisher in der Therapie vernachlässigt wurde. Trotz der noch unzureichend eindeutigen Indikationen können herkömmliche Therapien durch repetitive Elemente erweitert werden, wobei die Wirksamkeit im individuellen Fall kritisch überprüft werden muss.
21.3.3
Neuromodulation
Eine andere Gruppe therapeutischer Ansätze beruht auf der Modulation neuronaler Strukturen. Das umfasst die Stimulation oder Inhibition von 4 Muskeln, 4 Nervenbahnen, 4 Rezeptoren oder 4 zentralen Strukturen des Nervensystems.
Muskuläre Elektrostimulation Eine traditionelle Methode ist die elektrische Stimulation der Muskulatur, die direkt zur Bewegungsauslösung führt. Therapiemethoden, die auf der Muskelstimulation beruhen, scheinen vor allem dann attraktiv, wenn schwere Paresen Bewegungen komplett oder weitgehend verhindern. Dabei ist die Funktionelle Elektrostimulation (FES), die der dauerhaften Herstellung funktioneller Bewegungssynergien dient, von einer temporären therapeutischen Stimulation zum Zweck der Reduktion einer Bewegungsstörung abzugrenzen. Näher betrachtet Studien: Muskuläre Elektrostimulation In einer Übersicht gut kontrollierter Studien zur therapeutischen Muskelstimulation bei Schlaganfallpatienten mit Armparesen wird deren Effekt als positiv angesehen (de Kroon 2002). Im Vergleich zweier unterschiedlicher Techniken der Muskelstimulation war eine EMG-initialisierte Elektrostimulation, bei der erst beim Erreichen einer festgesetzten Schwelle von Muskelaktivität die Stimulation ausgelöst wird, einer extern ausgelösten Muskelstimulation überlegen (Hummelsheim et al. 1996, 1997). Die Autoren vermuteten, dass bei der EMG-initialisierten Stimulation die präzise zeitliche Koppelung des ausgehenden Motorkommandos mit den sensorischen Afferenzen der Bewegung zur Wiederherstellung normaler Bewegungsmuster beiträgt. Allerdings war die EMG-initialisierte Stimulation nicht effektiver als ein ebenso untersuchtes repetitives Willkürtraining. In einigen Studien wurde allerdings eine derartige Überlegenheit eines stimulations-gestützten Trainings berichtet, wobei die Autoren vor allem bei einer Kombination der Trainingsansätze Erfolge berichten (Cauraugh u. Kim 2002, Cauraugh et al. 2000, Bhatt et al. 2007). Insgesamt stützen die meisten Studien zur EMG-initialisierten Stimulation deren Wirksamkeit, wobei die Umsetzung von funktionellen Zugewinnen auf den Alltag kritisch betrachtet werden muss (Bolton et al. 2004, de Kroon et al. 2002). Eine extern getriggerte funktionale Elektrostimulation wurde bei temporärer Anwendung untersucht, um eine Verbesserung durch ein repetitives Stimulationstraining beurteilen zu können. Derartige Anwendungen auf Greifbewegungen durch die Stimulation von Finger- und Handgelenkmuskulatur führten auch bei schwer betroffenen Patienten zu Funktionsverbesserungen (Popovic et al. 2003, Santos et al. 2006).
Periphere und zentrale Stimulation bzw. Inhibition Untersuchungen zur Wirkung peripherer und zentraler Stimulation auf motorische Verhaltensmaße und neurophysiologische Parameter bei gesunden Probanden und einseitig betroffenen Schlaganfallpatienten führten zu einem Modell der Stimulationswirkung (Floel u. Cohen 2006, Hummel u. Cohen 2006). jModell der Stimulationswirkung Nach dem Modell der Stimulationswirkung führt eine Stimulation, die die Aktivität in der betroffenen Hemisphäre eines
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320
21
Kapitel 21 · Handfunktionsstörungen: Assessment und Management
Schlaganfallpatienten erhöht, zu einer Besserung des kontralateralen Defizits. Einen ebenso positiven Effekt hat eine periphere Stimulation des betroffenen kontralateralen Arms bzw. der Hand. In der nicht betroffenen Hemisphäre führt dagegen eine Aktivitätsminderung zu einer Leistungsverbesserung der kontraläsionalen Handfunktion. Grundlage dieses Effekts ist vermutlich eine Minderung der pathologisch erhöhten Inhibition der betroffenen durch die nicht betroffene Hemisphäre. Schließlich führt nach dem Modell auch eine Verminderung der peripheren Aktivität auf der nicht betroffenen Seite zu einer Minderung des kontralateralen Defizits. Für alle vier Konstellationen finden sich Evidenzen aus Untersuchungen von Patienten mit Schlaganfall: 1. Stimulation der betroffenen Hemisphäre: Eine direkte elektrische Stimulation (anodaler Gleichstrom) des motorischen Kortex der betroffenen Hemisphäre der Patienten führte zu einer moderaten Reduktion motorischer Defizite, die sich bei einfachen manuellen Aufgaben und im Jebsen-Test äußerte (Hummel et al. 2005, 2006). 2. Stimulation der nicht betroffenen Hemisphäre: Eine Minderung der neuronalen Aktivität in der nicht betroffenen Hemisphäre wurde durch eine kathodale Gleichstromstimulation oder durch eine niedrigfrequente repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) erreicht (Fregni et al. 2005, Mansur et al. 2005). Beide Verfahren führten zu einer Funktionsverbesserung der paretischen Hand. Positive Effekte von rTMS der nicht betroffenen Hemisphäre konnten auch durch kinematischen Messungen der Greiffunktion objektiviert werden (Nowak et al. 2007). 3. Periphere kontraläsionale Stimulation: Die elektrische Stimulation von hauptsächlich sensorischen Fasern peripherer Nerven führte nach Beendigung im paretischen Arm zu einer Erhöhung der Maximalkraft und zu einer Leistungsverbesserung in einem Funktionstest (JebsenTest, Conforto et al. 2002, 2007; Wu et al. 2006). Günstige Effekte wurden auch bei einer flächigen Stimulation der Hautoberfläche der Hand berichtet (Dimitrijevic et al. 1994). Eine gemischte sensorische und motorische Stimulation des Medianusnervs wurde durch repetitive Magnetstimulation erreicht. Diese Stimulation führte bei Patienten zu einer direkten Reduktion der Spastik in der Arm- und Handmuskulatur und zu einer verbesserten Bewegungsfunktion (Struppler et al. 2003). 4. Periphere ipsiläsionale Stimulation: Entsprechend dem Konzept einer Funktionsverbesserung durch periphere Minderaktivierung auf der nicht betroffenen Seite führte eine Anästhesie der ipsiläsionalen, nicht betroffenen Hand zu einer Funktionsverbesserung auf der paretischen Körperseite (Floel et al. 2004, Voller et al. 2006, Bjorkman et al. 2004a, b). Zusätzlich zu den manuellen motorischen Leistungen wie Tappingbewegungen und Produktion der Maximalkraft verbesserten sich die sensorischen Diskriminationsleistungen.
Näher betrachtet Studien: Kortikale Stimulation Die Untersuchungen zur kortikalen Stimulation und zur gezielten Deafferentierung sind bisher experimenteller Natur, und ein verbreiteter therapeutischer Einsatz ist noch nicht absehbar. In den vorgestellten Studien wurde der positive Effekt meist direkt nach der Stimulation festgestellt. Für eine therapeutische Eignung muss aber mit entsprechenden Therapiestudien eine andauernde Wirkung und darüber hinaus ein Generalisierung auf Alltagstätigkeiten demonstriert werden.
jWeitere Verfahren Zu erwähnen ist noch die gezielte Stimulation neuronaler Kerngebiete durch implantierte Mikroelektroden. Tiefenhirnstimulation wird mittlerweile bei Patienten mit Morbus Parkinson im fortgeschrittenem Stadium angewandt, wobei i.d.R. der Nucleus subthalamicus die Zielstruktur ist (Kopper et al. 2003, Bötzel u. Krack 2003). Die Stimulation kann die typischen Parkinsonsymptome
4 Akinesie, 4 Tremor, 4 Rigidität erheblich reduzieren; Abnormalitäten in der Feinmotorik, z.B. überhöhte Griffkräfte, können allerdings zunehmen (Fellows et al. 2006, Nowak et al. 2006). Neben Morbus Parkinson wird Tiefenhirnstimulation bei schwerem essenziellem Tremor und bei manchen Dystonien eingesetzt. Darüber hinaus hat die Anwendung dieser Methode aber noch experimentellen Charakter. Ein weiterer Faktor, dessen zukünftige Bedeutung momentan nicht absehbar ist, aber zunehmend untersucht wird, ist die medikamentöse Unterstützung der Therapien bei sensomotorischen Defiziten (Feeney et al. 2004, Scheidtmann 2004).
21.3.4
Therapie von Schreibstörungen
Für die Therapie von Schreibstörungen wurde von Mai et al. ein Ansatz entwickelt, der auf dem Abbau motorischer Fehlstrategien und der Suche nach erhaltenen Leistungen basiert (Mai u. Marquardt 1994, 1998, 1999; Fürholzer et al. 2005). Dabei wird davon ausgegangen, dass Schreibbewegungen gesunder Erwachsener hoch automatisierte sensomotorische Leistungen darstellen, deren Ausführung keiner bewussten Kontrolle unterliegt. Sensomotorische Beeinträchtigungen infolge einer Hirnschädigung und peripheren Verletzungen, u.U. aber auch nur die bewusste Zuwendung können zu einer Störung der automatischen Bewegungsabläufe führen. Die Betroffenen reagieren mit einem Wechsel zu kontrollierter Bewegungsausführung. Dabei entwickeln sie oft inadäquate Kompensationsstrategien, die eine Schreibstörung zusätzlich verstärken. Beim Versuch des Schreibens 4 setzen viele Patienten ungewöhnliche Finger- und Handgelenkbewegungen ein,
321 21.4 · Dokumentation
4 wenden deutlich überhöhte Kräfte zum Halten des Schreibstifts auf und 4 üben zuviel Druck auf die Schreibunterlage aus. jTherapeutischer Ansatz: Suche nach erhaltenen Leistungen Bei manchen Patienten können jedoch überraschend gute Leistungen beobachtet werden, wenn die Schreibbedingungen verändert werden. In der Untersuchung werden daher durch systematische Variation der Bedingungen erhaltene Leistungen gesucht, die dann zum Ausgangspunkt eines Trainings gemacht werden können. Durch die Registrierung der Schreibbewegungen mit einem graphischen Tablett und der kinematischen Analyse kann die Suche erheblich vereinfacht werden (7 Kapitel 21.2.2). Die Untersuchungsbedingungen, unter denen erhaltene Leistungen entdeckt werden können, variieren interindividuell sehr stark: Die Tatsache, ob ganze Wörter, Silben, elementare Schreibbewegungen oder nur Kritzeleien generiert werden, kann zu ganz unterschiedlichen motorischen Schreibleistungen führen. Andere Variationsmöglichkeiten betreffen 4 die Stifthaltung, 4 die Sitzposition oder 4 den Einsatz proximaler Gelenke beim Schreiben (Schenk et al. 2004). Dies kann bis zu der Instruktion gehen, die Schreibunterlage statt auf einem festen Tisch auf den Oberschenkeln abzustützen, so dass ein überhöhter Druck aus dem Arm deutlicher wahrgenommen wird. Auch eine veränderte Stifthaltung gehört zu den typischen Interventionen im Training. Die Modifikation der Stifthaltung führt zu einer massiven Minderung des übermäßigen Schreibdrucks (Baur et al. 2006). Das Training geht dann von einer auf diese Weise gefundenen individuellen Lösung aus. In erster Linie geht es darum, die übertriebene Selbstkontrolle zu reduzieren und dadurch automatisierte Bewegungen erst wieder zu ermöglichen. Wichtig erscheint vor allem, das Training individuell den Ausgangsleistungen des Patienten anzupassen. Das Schreibtraining wurde bei Patienten mit Schreibkrampf eingesetzt. In den meisten Fällen konnten Patienten nach dem Training wieder mit ihrer Hand schreiben (Mai u. Marquardt 1994, Schenk et al. 2004). Auch bei Patienten mit sensomotorischen Störungen nach einem Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Trauma konnte das Training erfolgreich durchgeführt werden (Mai u. Marquardt 1995). Dabei ist bei den Patienten mit ZNS-Schädigungen der mögliche Einfluss primärer sensomotorischer und aphasischer Störungen zu beachten und abzugrenzen. Praxistipp Die Suche nach erhaltenen Leistungen als therapeutischer Ansatz ist nicht auf Schreibstörungen der dominanten Hand beschränkt, sondern kann auf andere Handfunktionsstörungen ausgedehnt werden.
21.4
Dokumentation
Zur Quantifizierung von Handfunktionsstörungen wurde eine große Anzahl unterschiedlicher Verfahren entwickelt. Diese Messinstrumente können anhand der Beschreibungsebene (Körperfunktionen und -strukturen versus Aktivitäten) und anhand von Testgütekriterien (z.B. objektiv versus subjektiv) klassifiziert werden. In . Tab. 21.2 sind einige der Messinstrumente und deren wesentliche Charakteristika zusammengefasst, wobei weder Skalen zur Erfassung allgemeiner Bewegungs- und Muskelfunktionen noch krankheitsspezifische Beurteilungsskalen (Conrad u. Ceballos-Baumann 2005) berücksichtigt wurden.
21.4.1
Assessment-Skalen
4 Mit Beurteilungs- oder Assessment-Skalen werden Bewegungsaufgaben (Items) anhand eines Scores subjektiv vom Untersucher beurteilt. Dem in . Übersicht 21.3 vorgestellten Vorschlag zur Untersuchung zerebraler Handfunktionsstörungen ist ein 3- bis 4-stufiger Score beigefügt, mit dem die Leistungen quantifiziert werden können. 4 Viele allgemeine Skalen zur Erfassung sensomotorischer Defizite nach Hirnschädigung beinhalten Teile, die auf Handfunktionsstörungen – meist auf Ebene der Funktionsschädigungen – abzielen (vgl. Sektionen für obere Extremität in Rivermead Motor Assessment und Fugl-Meyer-Skala). 4 An Aktivitäten orientierte Assessment-Skalen basieren meist auf der Beurteilung von Objektmanipulationen (z.B. funktionale Leistungen, . Übersicht 21.3, Action-Research-Arm-Test oder Allensbacher Feinmotoriktest). 4 Das Canadian Occupational Performance Measure (COPM) ist ein strukturiertes Interview, anhand dessen Aussagen auf Partizipationsebene gewonnen werden.
21.4.2
Objektivierende Verfahren
jZeitmessungen bei standardisierten Bewegungsaufgaben Im Bestreben, die Untersuchungsergebnisse von Handfunktionsprüfungen zu objektivieren, wurden einige Tests vorgeschlagen, in denen die Leistung anhand von Zeitmessungen bei standardisierten Bewegungsaufgaben beurteilt wird (z.B. Schreiben eines Satzes oder Reißverschluss schließen im Jebsen-Test, Überblick in McPhee 1987). Zeitmessungen können angewandt werden, um den individuellen Therapieeffekt bei besonders relevanten oder spezifisch trainierten Tätigkeiten (7 Kap. 21.3) zu überprüfen. Alternativ zur benötigten Zeit wurden auch andere Parameter wie »Zahl der Fehler« oder »Zahl durchgeführter Aktionen pro Zeiteinheit« verwendet. Ein typisches Beispiel sind Steckbretter (z.B. Purdue Pegboard, Lafayette Instruments), bei denen die Stifte gezählt werden, die innerhalb einer Zeiteinheit (z.B. 30 sec) erfolgreich in die vorgesehenen Bohrungen gesteckt werden.
21
322
Kapitel 21 · Handfunktionsstörungen: Assessment und Management
. Tab. 21.2. Methoden zur Dokumentation von Handfunktionsstörungen Name
Referenz
Leistungen
Bewertung
Canadian Occupational Performance Measure (COPM)
Law et al. (1990), dt. George (2002)
Zufriedenheit bei Tätigkeiten (Selbsteinschätzung)
strukturiertes Interview (max. 10 Punkte)
Rivermead Motor Assessment – Armfunktion
Lincoln u. Leadbitter (1979), dt. Hummelsheim (1998)
15 Items (elementare und funktionale Arm- und Handbewegungen)
2-stufiger Score (0/1)
Fugl-Meyer-Skala, obere Extremität
Fugl-Meyer et al. (1975)
32 Items (aktive und passive elementare Bewegungen und Handgriffe)
3-stufiger Score (0–2)
Motorischer Funktionstest nach Wolf (WMFT)
Wolf et al. (1989), dt. in Bauder et al.( 2001)
18 Items (elementare und funktionale Arm- und Handbewegungen)
6-stufiger Score und Zeitmessung
Standardisierte Routineuntersuchung zerebraler Handfunktionsstörungen
Hermsdörfer et al. (1994)
24 Items (elementare und funktionale Bewegungen und Handgriffe, ohne Sensibilität)
4-stufiger Score (0–3)
Action-Research-Arm-Test
(Lyle 1981), dt. Pinkowski (2001)
19 Items (Objektmanipulationen)
4-stufiger Score (0–3)
Allensbacher Feinmotoriktest
Neidhart (1993)
15 Items (feinmotorische Tätigkeiten)
5-stufiger Score (0–4)
Arm-Motor-Ability-Test
Kopp et al. (1997)
13 Items (manuelle Alltagstätigkeiten)
2- bis 3-stufiger Score
1. Beurteilungsskalen
2. Quantifizierende Funktionstests Jebson-Test
Jebsen et al. (1969)
7 Items (Objektmanipulationen)
Zeitdauer
Steckbrett
Lezak (1981)
1 Item (Stifte stecken)
Zahl der Stifte pro Zeit
Box-and-Block-Test
Mathiowetz et al. (1985), dt. Pinkowski (2001)
1 Item (Blöcke umordnen)
Zahl pro Zeit
Schoppe (1974)
7 Items (Testaufgaben)
Zeitdauer, Fehler etc.
Goniometrie
Wynn-Parry (1981)
Gelenkbewegungen
Maximale Gelenkwinkel (typisch)
Handdynamometrie
Mathoiowetz et al. (1985), Harth u. Vetter (1994)
Kraftproduktion
Maximale Griffkraft im Faustgriff (typisch)
Analysen feinmotorischer Griffkräfte
Nowak u. Hermsdörfer (2003), Nowak et al. (2004), Hermsdörfer u. Mai (1996)
Produktion von Griffkräften im Präzisionsgriff und bei Objektmanipulation
Kräfte, zeitliche Parameter, Fehler etc.
Analyse von Schreibbewegungen
Marquardt et al. (2004), Marquardt u. Mai (1994)
Schreib- und Zeichenbewegungen
Bewegungsparameter der 2-dimensionalen Stiftkoordinaten
3-dimensionale Bewegungsanalyse
Hermsdörfer et al. (2004), Hermsdörfer (2002)
Freie Bewegungen (z.B. Tapping, Zielbewegungen, Greifen)
Geometrische und kinematische Bewegungsparameter
3. Apparative Verfahren Motorische Leistungsserie 4. Analysen
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323 21.5 · Literatur
Praxistipp Tests wie die Aufgabe am Steckbrett können zum Vergleich mit Normwerten oder zur groben Dokumentation eines Therapieerfolgs verwendet werden.
jMotorische Leistungsserie Ein apparativer Test, der bei zerebralen Handfunktionsstörungen eingesetzt, ursprünglich aber zur Auswahl von Berufsbewerbern entwickelt wurde, ist als Motorische Leistungsserie (MLS) (. Tab. 21.2) bekannt. Die MLS prüft mehrere faktorenanalytisch bestimmte Basisleistungen (z.B. Tappingaufgaben) und bestimmt Parameter wie Dauer oder Zahl der Fehler. Angesichts der Kritik an dem Verfahren (z.B. Mai et al. 1993) und den Möglichkeiten, die die moderne Bewegungsanalysen bieten (s.u.), erscheint die MLS heutzutage im Kosten-Nutzen-Verhältnis eher ungünstig. jSensibilität Für eine einfache Dokumentation der Sensibilität genügt es festzustellen, ob eine bestimmte Wahrnehmungsleistung gestört ist oder nicht (. Übersicht 21.3). Soll ein Defizit quantifiziert werden, so erfolgt dies meist anhand psychophysikalischer Verfahren (Übersicht in Mai 1988). ! Cave Es ist zu beachten, dass die Prüfung sensibler Wahrnehmungsleistungen durch Aphasie oder Aufmerksamkeitsstörung erschwert sein kann. jHanddynamometer Die Messung maximaler Gelenkwinkel (ROM) und maximaler Griffkräfte mit Handdynamometern gehört in der Handchirurgie zum Standardrepertoire bei Outcome-Dokumentationen. Während bei zerebralen Handfunktionsstörungen die Relevanz von ROM-Messungen gering einzustufen ist (Mai 1988), wurde für die Maximalkraft eine hohe Korrelation mit dem Ausmaß der Funktionseinschränkung festgestellt (Sunderland et al. 1989, Boissy et al. 1999). ! Cave Zu beachten ist allerdings, dass im Einzelfall erhaltene Maximalkräfte keine gesicherten Aussagen über andere Leistungen zulassen (Hermsdörfer u. Mai 1996). jBewegungsanalysen Bewegungsanalysen liefern objektive Parameter, die die Leistungen in den jeweiligen Aufgaben beschreiben (. Tab. 21.2) (Shepherd u. Carr 1995, Hermsdörfer 2002). Beispiel Objektive Parameter bei den Zielbewegungen in . Abb. 21.2 sind: 4 Bewegungsdauer, 4 Maximalgeschwindigkeit und 4 Geradlinigkeit der Bewegung.
Diese objektiven Kennwerte sind bewegungsnah. Sie sind leicht verständlich und lassen Rückschlüsse auf die Bewegungsausführung zu. Das Vorhandensein von Normwerten für eine Auswahl besonders sensitiver Arm- und Handbewegungen ermöglicht die schnelle Beurteilung des Schweregrads in unterschiedlichen Bewegungsaspekten (Hermsdörfer 2002). Anhand von Bewegungsmessungen können Handfunktionsstörungen präzise und alltagsnah dokumentiert werden.
21.5
Literatur
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324
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Kapitel 21 · Handfunktionsstörungen: Assessment und Management
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Kapitel 21 · Handfunktionsstörungen: Assessment und Management
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21
22
Apraxie G. Goldenberg 22.1 Grundlagen
– 330
22.1.1 Ideatorische und ideomotorische Apraxie – 330 22.1.2 Häufigkeit und Spontanverlauf von Apraxien – 330 22.1.3 Alltagsrelevanz der Apraxien – 331
22.2 Diagnostik
– 331
22.2.1 Anamnese – 331 22.2.2 Klinische Untersuchung: Funktion – 331 22.2.3 Klinische Untersuchung: Aktivitäten – 333
22.3 Therapie
– 334
22.4 Literatur
– 335
330
Kapitel 22 · Apraxie
Apraxien sind eine häufige Folge linkshirniger Läsionen. Sie sind meist von Aphasie und nicht selten auch von einer rechtsseitigen Hemiplegie begleitet. Sowohl ihre Relevanz für Aktivität und Teilhabe im Alltag als auch Notwendigkeit und Möglichkeiten der Therapie müssen vor diesem klinischen Hintergrund gesehen werden. Dieses Kapitel beschränkt sich auf die Gliedmaßenapraxie.
22.1
Grundlagen
> Das Leitsymptom der Apraxie sind motorische Fehlhandlungen, die nicht auf eine elementare motorische Behinderung zurückgeführt werden können.
Die einfachste und klarste Abgrenzung gegen elementare motorische Störungen ist, dass von der Apraxie auch die zur zerebralen Läsion ipsilateralen Extremitäten betroffen sind.
mann unterschied zwischen einer Bewegungsvorstellung und der Fähigkeit, diese Vorstellung in motorische Aktionen umzusetzen: 4 Bei der ideatorischen Apraxie soll die Bewegungsvorstellung fehlerhaft sein, 4 bei der ideomotorischen Apraxie hingegen die Umsetzung der an sich richtigen Vorstellung in die Bewegung. Diese Unterscheidung erfasst nicht, ob ideatorische und ideomotorische Apraxie verschiedene Arten von Aktionen betreffen oder zu verschiedenen Arten von Fehlern führen. Entsprechend haben die Begriffe ideatorisch und ideomotorisch verschiedene und einander teils widersprechende Interpretationen erfahren. Besser als über Klassifikationen zu streiten, ist es, zu untersuchen und zu dokumentieren, welche Gesten und Handlungen die Patienten ausführen können und welche nicht. . Tab. 22.1 gibt einen Überblick über die Manifestationen der Apraxie und deren Untersuchung.
Praxistipp Wenn die gegenseitigen Extremitäten gelähmt sind, kann man die Apraxie überhaupt nur an der nicht gelähmten ipsilateralen Extremität nachweisen.
Der Apraxie liegen im Allgemeinen Läsionen der sprachdominanten linken Hemisphäre zugrunde. Sie ist daher häufig mit einer Aphasie verbunden. Statistisch korreliert die Schwere der Aphasie mit der Schwere der Apraxie, sie sind aber voneinander unabhängige Folgen der linkshirnigen Läsion. Es gibt aphasische Patienten, die keine Apraxie haben und, wenn auch seltener, apraktische Patienten, die keine Aphasie haben.
22.1.1
Ideatorische und ideomotorische Apraxie
Diese Unterteilung geht auf theoretische Überlegungen Liepmanns (Liepmann 1908, Goldenberg 2003) zurück. Liep-
22.1.2
Häufigkeit und Spontanverlauf von Apraxien
jHäufigkeit Apraxien sind keineswegs selten. Ein gestörtes Imitieren von Gesten lässt sich bei etwa einem Drittel bis der Hälfte aller Patienten mit linkshirnigen Läsionen nachweisen (De Renzi et al. 1982). Der Anteil steigt auf zwei Drittel, wenn nur aphasische Patienten untersucht werden (De Renzi et al. 1982, Goldenberg 1996). Störungen der Pantomime von Objektgebrauch sind etwa ebenso häufig (Barbieri u. De Renzi 1988, Goldenberg et al. 2003, 2007b). 20% aller linkshirnig geschädigten Patienten und 30–50% der Patienten mit Aphasie machen Fehler bei einfachen Aufgaben des Werkzeuggebrauchs wie Hämmern oder Schrauben (De Renzi et al. 1982, Goldenberg u. Hagmann 1998b; Goldenberg u. Spatt, in Druck), und rund 40% der aphasischen Patienten versagen bei einfachen mechanischen Problemen (Goldenberg u. Hagmann 1998b).
. Tab. 22.1. Von der Apraxie betroffene Handlungen und deren klinische Prüfung
22
Handlung
Klinische Prüfung
Imitieren von Gesten
Der Untersucher zeigt eine Geste vor, die der Patient nachmachen soll
Symbolische Gesten (Embleme)
Der Patient wird aufgefordert, Gesten mit festgelegter symbolischer Bedeutung auszuführen, z.B. »lange Nase« oder »militärischer Salut«. Die Bedeutung der Geste wird verbal vorgegeben
Pantomime von Objektgebrauch
Der Patient zeigt, wie man ein vertrautes Objekt gebraucht, ohne es tatsächlich in die Hand zu nehmen. Die Aufforderung erfolgt verbal, kann aber durch Zeigen des Objekts verdeutlicht werden
Werkzeug- und Objektgebrauch
Handlungen mit vertrauten Objekten werden tatsächlich ausgeführt
Mechanisches Problemlösen
Entdecken alternativer Einsatzmöglichkeiten vertrauter Objekte (z.B. eine Münze zum Schrauben, eine Zange zum Hämmern); Entdecken der Funktion unbekannter Werkzeuge
331 22.2 · Diagnostik
jSpontanverlauf Diese Häufigkeitsangaben stammen vorwiegend von Patienten, die kurz nach Eintritt der Hirnschädigung untersucht wurden. Verlaufsuntersuchungen an Schlaganfallpatienten zeigen eine beträchtliche Spontanbesserung für Gesten auf Kommando und für das Imitieren von Gesten. Nur mehr die Hälfte der Patienten, die in diesen Untersuchungen im 1. Monat nach dem Insult apraktisch waren, sind es auch noch nach 3 Monaten und nur mehr 20% nach einem Jahr (Basso et al. 1987, Kertesz u. Ferro 1984). Es gibt keine systematischen Studien zur Frage, ob sich auch der Werkzeuggebrauch in diesem Ausmaß verbessert. Eigene klinische Erfahrung sprechen für eine Spontanbesserung im Umgang mit einfachen, vertrauten Werkzeugen. Dagegen dürfte sich die Fähigkeit, mechanische Probleme zu lösen und komplexe und neuartige Handlungen durchzuführen, auch über einen längeren Zeitraum kaum spontan bessern (Goldenberg et al. 2001, Goldenberg u. Hagmann 1998a).
22.1.3
Alltagsrelevanz der Apraxien
> Bei der Beurteilung der Alltagsrelevanz der Gliedmaßenapraxie muss man sich vergegenwärtigen, dass die betroffenen Patienten als Folge der oft großen linkshirnigen Läsionen fast immer eine Aphasie und nicht selten auch eine rechtsseitige Hemiparese haben. Es kann schwer sein, die Auswirkungen der Apraxie auf Alltagshandlungen von denen anderer Störungen abzugrenzen.
Gestörtes Imitieren wird relevant, wenn in Krankengymnastik oder Ergotherapie an Bewegungen und Stellungen der Gliedmaßen gearbeitet wird. Die Unfähigkeit, bedeutungsvolle Gesten und Pantomimen von Objektgebrauch auszuführen, beschränkt die Möglichkeit aphasischer Patienten, sprachliche Defizite zu kompensieren. Die Alltagsrelevanz einer Störung im Gebrauch alltäglicher Objekte erscheint evident, aber der Zusammenhang zwischen dem Versagen in der Testung und in Aktivitäten des täglichen Lebens ist nicht geradlinig: 4 In der Untersuchung wird meist der isolierte Gebrauch von einzelnen Objekten (bzw. Werkzeug-Objektpaaren) geprüft, und der einzige Zweck ihres Gebrauchs ist die Demonstration dieses Gebrauchs: Selten werden beim Hämmern tatsächlich Werkstücke aneinandergefügt, und die Benutzung des Fernglases enthüllt meist keine lohnenden Ausblicke. 4 Aktivitäten des täglichen Lebens verlangen meist die Koordination mehrerer Aktionen mit mehreren Objekten, und ihr Zweck liegt jenseits des Objektgebrauchs: Der Zweck des Kochens ist nicht der Gebrauch von Herd und Geschirr, sondern die Zubereitung einer Mahlzeit. Außerdem beschränkt sich die Prüfung des Objektgebrauchs oft auf vertraute Objekte, während man in Alltagshandlungen nicht selten mit neuen oder ungewohnten Aufgaben und Geräten konfrontiert wird, z.B. beim 5 Zubereiten eines neuen Gerichts,
5 Öffnen der Verschlüsse von industriegefertigten Waren oder 5 Bedienen technischer Geräte. Alltagshandlungen stellen daher Ansprüche an Vorausplanen, Überblick behalten und Problemlösen, die in der klinischen Apraxieprüfung üblicherweise ausgeblendet werden. Tatsächlich haben bei komplexen Alltagshandlungen, vor allem wenn sie ungewohnte und komplizierte Aufgaben beinhalten (z.B. Verpacken eines Geschenkpakets, Bedienung eines ungewohnten Typs von Kassettenrekorder), auch Patienten mit rechtshirnigen oder frontalen Läsionen Probleme, die Tests des einfachen Objektgebrauchs anstandslos zu bewältigen (Goldenberg et al. 2007a, Hartmann et al. 2005, Schwartz et al. 1998, 1999). Näher betrachtet Studien: Apraxieprüfung vs. ADL Die Suche nach statistischen Korrelationen zwischen klinischer Apraxieprüfung und Selbständigkeit in Aktivitäten des täglichen Lebens führte zu widersprüchlichen Ergebnissen: Dem Fehlen jeglichen Zusammenhangs in einigen Studien (Buxbaum et al. 1998, Walker u. Lincoln 1991) stehen hoch signifikante Korrelationen in anderen Studien gegenüber (Bjorneby u. Reinvang 1985, Goldenberg u. Hagmann 1998a). Dabei ist zu bedenken, dass signifikante Ergebnisse durch den parallelen Einfluss der Läsionsgröße auf die Schwere der Apraxie und die Schwere der Alltagsstörung vorgetäuscht, aber auch durch eine rasche Besserung in der leichteren Aufgabe des einfachen Objektgebrauchs verschleiert werden können.
22.2
Diagnostik
22.2.1
Anamnese
Da viele Patienten mit Apraxie auch eine Aphasie haben, sind anamnestische Angaben zu den Auswirkungen der Apraxie oft schwer zu erheben. In der Fremdanamnese mit Angehörigen oder Pflegepersonen kann man aber hören, dass sich Patienten bei Alltagshandlungen »dumm« anstellen und z.B. versuchen, Suppe mit der Gabel zu essen oder aus eine geschlossenen Zahnpastatube Zahnpasta auszupressen. Selten findet man Patienten, die selbst beklagen, dass sie im alltäglichen Werkzeuggebrauch Schwierigkeiten haben und z.B. lange nachdenken und ausprobieren mussten, bis sie herausfanden, wie Messer und Gabel zu verwenden sind, oder wie man eine Flasche öffnen kann (Goldenberg 2007). Bei aphasischen Patienten mit Apraxie kann den Angehörigen aufgefallen sein, dass die Patienten nicht imstande sind, durch Gesten ihre Wünsche kenntlich zu machen.
22.2.2
Klinische Untersuchung: Funktion
Rechnet man Testbatterien und Summenscores, die Leistungen bei Gesten auf Kommando, Imitation und wirklichen Ob-
22
332
Kapitel 22 · Apraxie
jektgebrauch zusammen, verwischen die Unterschiede und Dissoziationen zwischen den verschiedenen Manifestationen der Apraxie. Es ist sinnvoller, jede dieser Leistungen einzeln zu prüfen und zu dokumentieren.
Imitieren von Gesten Imitieren wird üblicherweise so geprüft, dass der Untersucher dem Patienten gegenübersitzt, und der Patient unmittelbar nach Ende der Demonstration mit der Imitation beginnt. Der eindrucksvollste Nachweis der Imitationsstörung gelingt mit einfachen Handstellungen: 4 Beim Imitieren der Handstellungen machen Normalpersonen und auch Patienten mit rechtshirnigen Läsionen so gut wie keine Fehler, während apraktische Patienten eindeutig abweichende Gesten produzieren. 4 Beim Imitieren von Fingerstellungen haben auch Patienten mit rechtshirnigen Läsionen Probleme, während andererseits den apraktischen Patienten Fingerstellungen oft besser gelingen als Handstellungen (Goldenberg 1996, Goldenberg u. Strauss 2002). 4 Bei apraktischen Patienten führen die Sequenzen von mehreren Handstellungen bei kombinierten Gesten, bei denen sowohl die Stellung der Hand relativ zum Körper als auch die Stellung der Finger definiert sind, zu höheren Fehlerraten. Sie erhöhen aber auch die Unsicherheit der Abgrenzung zwischen eigentlich apraktischen Fehlern, anderen Fehlerursachen und der Spannbreite des Normalbefunds (Canavan et al. 1989, De Renzi et al. 1980, Goldenberg 1996).
Die Prüfung des Imitierens von Fußstellungen ist aufwändig, weil Untersucher und Patienten Schuhe und Strümpfe ausziehen sollten, um eine verlässliche Beurteilung zu erhalten: 4 Das Imitieren von Fußstellungen ist bei Patienten mit linkshirnigen Läsionen ebenso schwer betroffen wie das Imitieren von Handstellungen, bereitet aber auch Patienten mit rechtshirnigen Läsionen Schwierigkeiten (Goldenberg u. Strauss 2002). Praxistipp Bedeutungslose Gesten eignen sich besser zur Prüfung des Imitierens als bedeutungsvolle, denn die bedeutungsvollen Gesten können verstanden und von ihrer Bedeutung her aus dem Gedächtnis reproduziert werden. Damit prüft man das Verständnis für die Bedeutung von Gesten und deren Ausführung, aber nicht unbedingt das Imitieren der Form der Geste.
22
jBedeutungsvolle Gesten auf Aufforderung Bei der Prüfung bedeutungsvoller Gesten gibt der Untersucher die Bedeutung der Geste vor, und der Patient muss die dazu passende Geste produzieren. Die Bedeutung der Geste kann sprachlich oder nicht sprachlich vorgegeben werden. Um die Geste des Hämmerns zu evozieren, kann man sagen: »Zeigen Sie mir, wie man hämmert!« oder einen Hammer zei-
gen. Die Aufgabe, die Benutzung eines Objekts zu zeigen, ohne es tatsächlich in die Hand nehmen zu dürfen, stellt auch bei nicht sprachlicher Vorgabe des Objekts Ansprüche an Sprachverständnis und abstraktes Verhalten. Ohne Verständnis der verbalen Erklärung würde kaum ein Patient auf die Idee kommen, die Bewegung des Hämmerns zu machen, wenn der Untersucher einen Hammer hochhebt. Naheliegender wäre wohl ein Versuch, den Hammer zu nehmen oder zu benennen. Auch die Aufforderung, eine symbolische Geste (z.B. eine »lange Nase«) zu demonstrieren, ist abstrakt, weil die Geste nicht in den Kontext der Untersuchung passt und eventuell sogar – wie im Beispiel der »langen Nase« – soziale Regeln der aktuellen Kommunikation verletzt. Erfahrungsgemäß gibt dieser Teil der klinischen Apraxieprüfung daher am ehesten Anlass zu Zweifeln, ob der Patient die Aufgabe auch wirklich verstanden hat und seine Leistungen als Maß für die Apraxie bewertbar sind. Anders als für die Wörter der Sprache gibt es für Gesten kein Lexikon, in dem deren Bedeutung und Form allgemeinverbindlich festgelegt sind. Eine intuitive Beurteilung, ob die Geste insgesamt richtig, zögerlich und ungenau oder falsch ist, dürfte jedoch zumindest schwere Apraxien verlässlich von Normalbefunden trennen. Für wissenschaftliche Untersuchungen sind Protokolle erforderlich, in denen die einzelnen Merkmale der angestrebten Geste explizit aufgeführt sind und deren Vorhandensein oder Fehlen registriert werden kann (Goldenberg et al. 2003, 2007b; Roy et al. 1998).
Objektgebrauch Die Objekte sollten für den einhändigen Gebrauch vorbereitet sein (z.B. der Nagel bereits im Holz steckend, das Papier zum Schneiden durch den Untersucher passend gehalten). Die Fehler apraktischer Patienten gehen über die normale Ungeschicklichkeit der nicht dominanten linken Hand weit hinaus: Die Patienten »schrauben« mit dem Hammer statt zu schlagen, halten den Kamm verkehrt und gehen mit der geschlossenen Schere auf das Papier los (De Renzi u. Lucchelli 1988, Goldenberg 2007, Poeck 1983). ! Cave Bei der Prüfung des Gebrauchs einzelner vertrauter Werkzeuge muss man darauf achten, apraktische Fehler von den Behinderungen einer begleitenden rechtsseitigen Hemiparese zu unterscheiden. Für einen ersten Einblick in komplexe Aktionen mit mehreren Objekten und mehreren Handlungsschritten eignet sich z.B. die Aufgabe, Papier zu lochen und in einen Ordner zu heften. Dabei kann man die Auslassung notwendiger Handlungsschritte beobachten, wenn die Patienten z.B. versuchen, das ungelochte Papier auf der Spange des Ordners zu fixieren. Es kommt auch vor, dass Patienten im Zusammenhang der Handlungsfolge einzelne Schritte grundsätzlich falsch durchführen – z.B. den Locher auf das Papier stellen und niederdrücken, anstatt das Papier in seinen Schlitz einzuführen, dieselben Schritte aber richtig ausführen, wenn ihnen nur die dazu
333 22.2 · Diagnostik
benötigten Gegenstände – also Papier und Locher – zur isolierten Demonstration ihres Zusammenspiels gegeben werden. Anscheinend bringt die zusätzliche Belastung der Planung der gesamten Handlungsfolge auch die Durchführung der einzelnen Handlungsschritte durcheinander.
Mechanisches Problemlösen Mechanisches Problemlösen wird benötigt, um die Funktion von unbekannten Werkzeugen zu erkennen (Goldenberg u. Hagmann 1998b, Heilman et al. 1997), oder um herauszufinden, welche Werkzeuge als Alternative verwendet werden können, wenn das gewohnte Werkzeug für eine Aufgabe fehlt (Heilman et al. 1997, Roy u. Square 1985). Um dies zu prüfen, kann man z.B. die Patienten mit einer einzudrehenden Schraube konfrontieren und statt eines Schraubenziehers einen Hammer, ein Messer und eine Zange zur Auswahl anbieten. Nur das Messer lässt sich auch zum Schrauben verwenden. Bei der Übertragung solcher Testergebnisse auf den Alltag der Patienten muss man jedoch bedenken, dass Probleme im Alltag mindestens ebenso sehr von einer geschickten Anwendung von Versuch und Irrtum abhängen wie von der Fähigkeit, von der Struktur eines Objekts auf seine möglichen Funktionen zu schließen (Hartmann et al. 2005).
22.2.3
Klinische Untersuchung: Aktivitäten
Während die klinische Diagnose der Apraxie einfach ist und bei einiger Erfahrung auch ohne standardisierte Normwerte einigermaßen verlässliche Ergebnisse liefert, ist die Beurteilung der dadurch verursachten Behinderung zeitaufwändiger und anfällig für kontroverse Interpretation und Spekulation.
Kommunikative Gesten Die Beurteilung, ob Patienten mit Apraxie behindert sind, kommunikative Gesten zur Kompensation einer gleichzeitig bestehenden Aphasie einzusetzen, wird dadurch erschwert, dass der Einsatz gestischer Ausdrucksmittel von der Schwere der Aphasie und der Einstellung des Patienten gegenüber seiner sprachlichen Behinderung abhängt. Patienten mit guter sprachlicher Ausdrucksfähigkeit sehen keine Notwendigkeit, auf gestischen Ersatz auszuweichen. Patienten mit schweren Aphasien lehnen es manchmal ab, sich durch gestischen Ausdruck als sprachbehindert und »nicht normal« auszuweisen und verzichten eher auf die Kommunikation als Gestik und Mimik zu nutzen. Wenn Patienten mit Aphasie spontan keine Gesten einsetzen, bedeutet das daher nicht unbedingt, dass sie durch die Apraxie daran gehindert werden. Verlässlicher für die Beurteilung einer Apraxie ist die Beobachtung, dass kommunikative Gesten undifferenziert oder stereotyp sind und den intendierten Inhalt nicht vermitteln können. Allerdings muss auch hier eingeschränkt werden, dass es keine Normwerte für die Qualität kommunikativer Gesten als Sprachersatz gibt. Spontane Gesten von Normalpersonen dienen der Unterstreichung und Ergänzung des sprachlichen Ausdrucks, sie ersetzen Sprache jedoch nicht
(McNeill 1992). Solche sprachbegleitenden kommunikativen Gesten können trotz Apraxie gut erhalten sein (Lausberg et al. 2000) und auch zur interpersonalen Dynamik der Kommunikation beitragen. Sie reichen jedoch nicht aus, um die sprachliche Übermittlung von Inhalten zu ersetzen. Näher betrachtet Studie: Spontaner Gebrauch von Gesten zur Kompensation der Apraxie Zur Frage, ob die Ergebnisse der klinischen Apraxieprüfung eine Vorhersage des spontanen Gebrauchs von Gesten zur Kompensation der Apraxie erlauben, gibt es widersprüchliche Ergebnisse (Borod et al. 1989, Feyereisen et al. 1988, Rose u. Douglas 2003). Eine eigene, noch nicht publizierte Studie (Hogrefe, Goldenberg u. Ziegler, in Vorbereitung) zeigte jedoch einen sehr engen Zusammenhang zwischen dem Erfolg in der klinischen Prüfung der Pantomime des Objektgebrauchs und der Diversität und Verständlichkeit von sprachersetzender Gesten bei dem Versuch, eine im Video gezeigte Szene nachzuerzählen.
Aktivitäten des täglichen Lebens Die Beobachtung von Alltagshandlungen apraktischer Patienten liefert reichliche Belege für die Behinderung durch die Apraxie. Dabei wächst die Fehlerrate mit der Anzahl der Möglichkeiten, Fehler zu machen: 4 Komplexe Aktionen mit mehreren Handlungsschritten und mehreren Objekten wie z.B. Zähneputzen oder Kaffeekochen sind fehleranfälliger als Aktionen mit wenigen Schritten und wenigen Objekten wie Kämmen oder Nägel einschlagen. 4 Die Präsenz von Objekten, die für die Aktivität nicht gebraucht werden, stellt eine zusätzliche Möglichkeit für Fehlhandlungen dar. 4 Hoch vertraute Tätigkeiten mit konstantem Ablauf (z.B. Essen) sind weniger fehleranfällig als seltener durchgeführte, in deren Verlauf auch mechanische Probleme gelöst werden müssen (z.B. handwerkliche Tätigkeiten). 4 Die Auswahl der richtigen Bedienungselemente technischer und elektronischer Geräte stellt oft noch zusätzliche Anforderungen an das Sprach- und Symbolverständnis (Hartmann et al. 2005). Klassifikation und Messung von einzelnen Fehlern in Alltagshandlungen sind eine notorisch schwierige Aufgabe, die anfällig für den Einfluss der Theorien und Erwartungen der Untersucher ist (Goldenberg et al. 2001). Für eine verlässliche und quantifizierbare Dokumentation in der klinischen Praxis ist es besser, sich nicht auf die Fehler, sondern auf die Handlungsziele zu konzentrieren und festzuhalten, ob diese ohne Hilfe erreicht werden oder nicht. Komplexe Handlungen können in Teilhandlungen aufgeteilt werden, wobei man sich davor hüten sollte, allzuweit in die Mikrostruktur eines Handlungsablaufs vorzustoßen. Die Beschränkung auf die harten Daten »Erfolg« und »Misserfolg« führt zu ziemlich verlässlichen Bewertungen (Foundas et al. 1995, Goldenberg et al.
22
334
Kapitel 22 · Apraxie
2001, Goldenberg u. Hagmann 1998a, Schwartz et al. 2002), die brauchbar sind, um Therapieindikation und Therapieerfolge zu kontrollieren.
22.3
Therapie
Therapieerfolge bei Apraxie bleiben meist auf die geübten Tätigkeiten beschränkt. Es macht daher keinen Sinn, »die Apraxie« zu therapieren zu wollen. Gegenstand der Therapie sollten konkrete Handlungen in einem alltagsnahen Kontext sein, und Therapieziele sollten mit Bezug auf den bleibenden Alltag der Patienten definiert und überprüft werden. Allerdings lassen sich methodische Prinzipien formulieren, die für alle Einsatzgebiete der Apraxietherapie gelten: 4 Lernen durch Erfolg, 4 Führen, mitmachen und imitieren. > Die zwei wichtigsten therapeutischen Einsatzgebiete sind 4 das Gestentraining und 4 das Training von Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) und Werkzeuggebrauch.
Methodische Prinzipien jLernen durch Erfolg Wenn man apraktische Patienten mit komplexen Alltagsaufgaben konfrontiert, können korrigierbare Abweichungen vom richtigen Handlungsverlauf zu Katastrophenreaktionen und zum Abbruch führen. Eigene Erfahrungen zeigen, dass Hilfe an kritischen Stellen, die ausreicht, um einmal erfolgreich die ganze Handlung durchzuführen, einen dramatischen Effekt auf künftige Versuche haben kann. Der Erfolg gibt den Patienten die Zuversicht, die nötig ist, um beim nächsten Mal nicht gleich aufzugeben, sondern eine Korrektur des Fehlers zu versuchen. jFühren, mitmachen und imitieren In der Apraxietherapie gibt es immer wieder Situationen, in denen man den Patienten vorzeigen will, wie kritische Abschnitte einer Handlung richtig durchgeführt werden. Die Patienten sollen dann die vorgemachte Handlung selbst durchführen. Die meisten apraktischen Patienten haben aber eine Störung des Imitierens und sind daher durch diese Art des Lernens zunächst überfordert: 4 Die Anweisung sollte zunächst durch direktes Führen der Hand gegeben werden. 4 In einer nächsten Stufe kann der Therapeut sich neben den Patienten setzen und die Bewegungen gleichzeitig mit ihm machen. 4 Vorzeigen und nachmachen von Handlungen sind letzte Stufen der Unterstützung, bevor sie ganz weggelassen werden können.
Gestentraining
22
Ziel des Gestentrainings ist es, den Patienten nicht sprachliche Zeichen als Ersatz für den sprachlichen Ausdruck zu
vermitteln. Dieser Aspekt der Apraxietherapie ist besonders eng mit einer Aphasie und deren Begleitstörungen verbunden. Einerseits gibt die Schwere der Aphasie die Indikation für das Gestentraining, andererseits beeinträchtigt sie den Erfolg des Gestentrainings, wobei dieser negative Einfluss möglicherweise weniger auf die Sprachstörung an sich als auf eine begleitende allgemeine Störung des Umgangs mit Zeichen und Symbolen (Asymbolie) zurückgeht (Coelho u. Duffy 1987, Goldenberg et al. 2003, Vignolo 1990). Näher betrachtet Studien: Erlernbarkeit kommunikativer Gesten Eine Reihe von Studien belegt, dass aphasische Patienten mit Apraxie die Ausführung kommunikativer Gesten erlernen können (Code u. Gaunt 1986, Coelho u. Duffy 1990, Maher u. Ochipa 1997, Pilgrim u. Humphreys 1994, Smania et al. 2000). Der Therapieerfolg besteht aber zunächst nur darin, dass die Patienten die gelernten Gesten auf Aufforderung produzieren können. Die Patienten sind nicht imstande, ungeübte Gesten selbst zu erfinden, wenn sie kommunikativ benötigt werden, und auch der spontane Einsatz der erlernten Gesten außerhalb der Therapie kann nicht als selbstverständlich angenommen werden. Die Auswahl der einzuübenden Gesten sollte daher auf die Kommunikationsbedürfnisse der Patienten abgestimmt sein. Auch ist es sinnvoll, Angehörige in die Therapie einzubeziehen und nicht nur die Geste, sondern die ganze kommunikative Situation, in der die Geste angewendet werden soll, einzuüben.
Training von ADL und Werkzeuggebrauch Die Notwendigkeit und Wirksamkeit eines ADL-Trainings für apraktische Patienten ist empirisch belegt (Donkervoort et al. 2001, Goldenberg u. Hagmann 1998a, van Heugten et al. 1998), doch dürfte der Therapieeffekt auf den unmittelbaren Inhalt der Therapie beschränkt bleiben: Das Training einer Aktivität (z.B. Zähneputzen) verbessert diese Aktivität, hat aber keinerlei Einfluss auf den Erfolg bei anderen Aktivitäten (z.B. Pullover anziehen). Therapieerfolge können nicht nur auf die trainierte Aktivität, sondern auch auf das Umfeld und den Zeitraum der Therapie beschränkt sein. Bei Nachuntersuchungen von erfolgreich therapierten Patienten zeigte sich, dass erlernte Aktivitäten wieder fehlerhaft ausgeführt wurden, wenn sie in der Zwischenzeit nicht regelmäßig praktiziert wurden (Bergego et al. 1994, Donkervoort et al. 2001, Goldenberg u. Hagmann 1998a). Die neuropsychologische Rehabilitation sollte daher mit den Angehörigen abgestimmt und in den Alltag des Patienten integriert werden. jTop-down- vs. Bottom-up-Training Neuropsychologische Therapieansätze können als »top down« oder »bottom up« klassifiziert werden (Rossetti et al. 2005): 4 Für das Erlernen komplexer Alltagsaktivitäten von Patienten mit Apraxie bestünde ein Top-down-Ansatz darin, den Patienten allgemeine Grundsätze des Objektgebrauchs beizubringen, die sie flexibel auch für neue und schwierige Aktivitäten einsetzen können.
335 22.4 · Literatur
Näher betrachtet Strategietraining: Top-down-Ansatz Ein expliziter Top-down-Ansatz für das ADL-Training bei Apraxie wird als Strategietraining von einer holländischen Gruppe favorisiert (Donkervoort et al. 2001, Geusgens et al. 2006, van Heugten et al. 1998). Die Strategien, die die apraktischen Patienten erlernen, bestehen z.B. im 4 Verbalisieren oder Niederschreiben der Handlungsschritte oder 4 Anordnen von Bildern der einzelnen Handlungsschritte. Nach diesem Ansatz behandelte Patienten zeigten im Barthel-Index und in einer standardisierten Beobachtung der ADL-Selbständigkeit eine stärke Verbesserung als Patienten mit einer konventionellen, vorwiegend auf motorische Behinderungen konzentrierte Ergotherapie, doch verschwand der Gruppenunterschied bei einer Nachuntersuchung nach 5 Monaten.
Vergleich: Wirksamkeit von Topdown- und Bottom-up-Training Goldenberg et al. (2001) verglichen die Wirksamkeit eines Top-down- und Bottom-up-Trainings komplexer Aktivitäten
des täglichen Lebens (z.B. Kaffeekochen, Bedienen eines Kassettenrekorders) in einem Cross-over-Design, in dem die Patienten hintereinander beide Trainingsmethoden für dieselben Aktivitäten erhielten: 4 Der Top-down-Ansatz wurde als Explorationstraining charakterisiert. Dabei sollten die Patienten lernen, aus strukturellen Eigenschaften der verwendeten Gegenstände auf ihre möglichen Funktionen zu schließen. Sie wurden angeleitet, Gegenstände mit gleicher oder verschiedener Funktion zu vergleichen (z.B. ein Brotmesser mit einer Säge und einem Streichmesser, um die funktionelle Bedeutung der Zähne klarzumachen) oder sie mit besonderer Betonung der funktionell wichtigen Merkmale zu zeichnen. 4 Der Bottom-up-Ansatz war ein direktes Training. Damit sollte eine Routine für den Ablauf der Aktivität eingeübt werden. Die Patienten wurden zunächst mit maximaler Hilfe durch die ganze Aktivität geführt, und die Hilfe wurde schrittweise mit
4 Ein Bottom-up-Ansatz beschränkt sich darauf, durch Einüben und Wiederholen einzelner Aktivitäten Routinen einzuschleifen, die automatisch ablaufen, wenn die betreffende Aktivität im Alltag gefordert wird.
22.4
Literatur
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zunehmender Selbständigkeit der Patienten reduziert. Kritische Passagen wurden auch außerhalb der ganzen Aktivität geübt, aber es wurden keine Aktionen durchgeführt, die nicht in der Aktivität vorkamen. Die Ergebnisse waren eindeutig: Das Explorationstraining war wirkungslos, während das direkte Training zu einer Reduktion der Fehler und Hilfsbedürftigkeit führte. Goldenberg et al. (2001) hatten den Eindruck, dass die Patienten die im Explorationstraining gewonnenen Einsichten nicht auf die praktische Durchführung der Aktivität anwenden konnten. Es gelang ihnen nicht, eine Verbindung zwischen den Aufgaben des Sortierens und Zeichnens von Objekten und der Aufgabe ihres praktischen Gebrauchs herzustellen. Es kann diskutiert werden, ob diese Unfähigkeit direkt mit der Apraxie zusammenhängt oder eine Folge der begleitenden Aphasie und einer damit verbundenen Störung des abstrakten oder konzeptuellen Denkens ist (Goldenberg et al. 2003, Vignolo 1990).
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336
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Kapitel 22 · Apraxie
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B
Beeinträchtigung von Funktionen, Aktivitäten und Teilhabe Funktionen der Sprache, des Sprechens, des Schluckens und der Atmung Kapitel 23
Rehabilitation bei Sprach- und Sprechstörungen: Grundlagen und Management – 339 H. Grötzbach
Kapitel 24
Schluckstörungen G. Bartolome
Kapitel 25
Rehabilitation von Respirationsstörungen bei neuromuskulären Erkrankungen – 373 A.G. Bockelbrink
– 351
23
Rehabilitation bei Sprachund Sprechstörungen: Grundlagen und Management H. Grötzbach 23.1 Aphasien 23.1.1 23.1.2 23.1.3 23.1.4
– 340
Neurologische Grundlagen Diagnose – 341 Aphasiesyndrome – 342 Therapie – 344
23.2 Dysarthrophonien 23.2.1 23.2.2 23.2.3 23.2.4
– 340
– 345
Neurologische Grundlagen – 345 Diagnose – 345 Dysarthrophoniesyndrome – 346 Therapie – 346
23.3 Literatur
– 348
340
23
Kapitel 23 · Rehabilitation bei Sprach- und Sprechstörungen: Grundlagen und Management
Nach Schätzungen erkranken in Deutschland jährlich zwischen 20.000 und 40.000 Personen neu an einer Sprachstörung oder Aphasie (Huber et al. 2006). Auf etwa doppelt so viele Personen wird die Anzahl derjenigen geschätzt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt unter einer Aphasie leiden (Huber et al. 2006). Hinter der Inzidenz- und Prävalenzrate verbergen sich einschneidende und häufig auch lang anhaltende Konsequenzen für die Betroffenen: Liegen Störungen des Sprachverständnisses, der Wortfindung (Semantik), des Satzbaus (Syntax) oder der Lautkombination (Phonologie) vor, gelingen Unterhaltungen entweder gar nicht mehr oder nur noch eingeschränkt. Da Aphasien in der Regel mit Lese- und Schreibstörungen (Alexien und Agraphien) verbunden sind, treten auch Probleme in der Schriftsprache auf. Diese kann daher nicht als Ersatz für die gestörte Lautsprache verwendet werden. Eine Aphasie ist außerdem häufig mit einer Zahlenverarbeitungsstörung (Akalkulie) kombiniert, die dazu führt, dass es zu Schwierigkeiten mit dem Rechnen, dem Lesen der Uhr oder im Umgang mit Geld kommen kann.
23.1
Aphasien
Definition Aphasien werden als Beeinträchtigungen des Sprachsystems definiert, die nach abgeschlossenem Spracherwerb als Folge einer Hirnschädigung auftreten (Huber et al. 2006, Wehmeyer u. Grötzbach 2010).
23.1.1
Neurologische Grundlagen
kHändigkeit und Lateralisierung von Sprache Zwischen der Händigkeit und der Lateralisierung von Sprache besteht ein enger Zusammenhang (McCarthy u. Warrington 1990): 4 Bei mehr als 90% der Rechtshänder ist die Sprache in der linken Hirnhälfte lokalisiert. 4 Für die Linkshänder gilt, dass bei ca. 70% ebenfalls die linke Hirnhälfte sprachdominant ist. Bei 15% ist die Sprache jedoch rechts lokalisiert und bei weiteren 15% beidhemisphärisch. > Eine Aphasie resultiert somit in der weitaus größten Anzahl der Fälle aus einer linkshemisphärischen Läsion. Der seltene Fall einer gekreuzten Aphasie (»crossed aphasia«) liegt vor, wenn eine rechtshemisphärische Läsion bei einem Rechtshänder zu einer Sprachstörung führt (Wehmeyer u. Grötzbach 2010).
kSprachverarbeitungszentren Die klassischen Zentren der Sprachverarbeitung sind 4 das Broca-Areal im posterioren Anteil der 2. und 3. Stirnwindung links (Broca 1861) sowie 4 das Wernicke-Areal im hinteren Anteil der 1. Windung des linken Schläfenlappens (Wernicke 1874). Die beiden Zentren sind durch den Fasciculus arcuatus miteinander verbunden.
Die Beeinträchtigungen erstrecken sich auf die Bereiche 4 Semantik (Wortfindung), 4 Syntax (Satzbau), 4 Phonologie (Lautkombination), 4 Morphologie (Wortbildung) und 4 Lexikon (Wortspeicherung). Sie sind sowohl in der Sprachproduktion als auch im Sprachverständnis beobachtbar. Ist eine Aphasie mit einer Alexie oder Agraphie kombiniert, so kommt es in der Schriftsprache i.d.R. zu ähnlichen Fehlern wie in der Lautsprache. Aufgrund der Beeinträchtigungen 4 in der Sprachproduktion, 4 im Sprachverständnis, 4 im Lesen und Schreiben sind Aphasien als multimodale Störungen charakterisiert (Huber et al. 1997). Je nach Kombination und Schweregrad aphasischer Symptome ergeben sich unterschiedliche Aphasiesyndrome. > Aphasien sind abzugrenzen von 4 einer Sprechapraxie, 4 einer Dysarthrophonie (Sprechstörung) sowie 4 angeborenen oder während der Sprachentwicklung auftretenden Störungen (Huber et al. 1997).
kLäsionsorte und Aphasiesyndrome 4 Führt eine Schädigung der A. cerebri media links zu einer umfassenden Läsion der Sylvischen Furche bis tief in die weiße Substanz, so kommt es zu einer globalen Aphasie (Huber et al. 2006). 4 Eine Broca-Aphasie entsteht, wenn eine Läsion über das Broca-Areal hinaus auch untere Teile des motorischen Rindenfeldes, die vordere Insel sowie die darunterliegende weiße Substanz umfasst (Huber et al. 2006). 4 Wernicke-Aphasien beruhen auf Läsionen des WenickeAreals, wobei häufig auch der Gyrus angularis und supramarginalis sowie der Übergang zum Okzipitallappen betroffen sind (Huber et al. 1975). 4 Läsionen im Gyrus angularis, im unteren Anteil des Parietallappens, im Temporallappen und im temporo-parietalen Grenzgebiet werden für die Entstehung der amnestischen Aphasie verantwortlich gemacht (Huber et al. 2006). 4 Eine Unterbrechung des Fasciculus arcuatus führt zu einer Leitungsaphasie (Tesak 1997). Diese Sonderform der Aphasie tritt im klinischen Alltag selten auf. 4 Zu weiteren Sonderformen der Aphasie kommt es, wenn die Sprachzentren durch Läsionen von den jeweils umgebenden Hirnarealen getrennt sind (Rapcsak u. Rubens 1994). Die dadurch bedingte Isolation der Sprachareale führt zu transkortikalen Aphasien:
341 23.1 · Aphasien
5 Eine transkortikal-motorische Aphasie entsteht, wenn der supplementär-motorische Kortex bzw. der Frontallappen anterior zum Broca-Areal betroffen ist (Tesak 1997). 5 Eine transkortikal-sensorische Aphasie resultiert aus Läsionen im temporo-parietalen Bereich, wobei das Wernicke-Areal ausgespart bleibt (Tesak 1997). 5 Sind Broca- und Wernicke-Areal sowie der Fasciulus arcuatus intakt, ihre Verbindungen zu den umliegenden Hirnarealen jedoch unterbrochen, kommt es zu einer gemischt-transkortikalen Aphasie (Schnider 1997). Praxistipp Im Vergleich zur Leitungsaphasie sind die transkortikalen Aphasien im klinischen Alltag häufiger.
4 Aphasische Störungen treten jedoch nicht nur aufgrund kortikaler, sondern auch aufgrund subkortikaler Läsionen auf (Tesak 1997). Besonders Schädigungen 5 des anterolateralen Thalamus, 5 des Hypothalamus, 5 der Basalganglien, 5 des vorderen Striatums links und 5 der Capsula interna können Aphasien verursachen. Praxistipp Die subkortikalen Aphasien unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Prognose von den kortikalen Aphasien.
4 Zu sprachlichen Auffälligkeiten kann es auch nach Schädigungen prä- und mediofrontaler Hirnareale sowie nach rechtshemisphärischen Läsionen kommen (Myers 1997).
23.1.2
Diagnose
Hinweise auf das Vorliegen einer Aphasie liefern die Anamnese sowie Störungen der Sprachproduktion und des Sprachverständnisses (Wehmeyer u. Grötzbach 2010). Zur Trennung aphasischer von nicht-aphasischen Störungen wird der Token Test verwendet (Orgass 1976a, 1976b). Dieser Test, der in Aufbau, Durchführung und Auswertung sehr einfach ist, führt auch zur Bestimmung des Schweregrads einer Aphasie. jAphasietests Zur Bestimmung aphasischer Symptome und Syndrome stehen eine Reihe von Aphasietests zur Verfügung (. Tab. 23.1), die sich in Aufbau und Umfang erheblich voneinander unterscheiden (vgl. Beushausen 2007). Ihnen sind jedoch zwei Dinge gemeinsam: 4 Zum einen sind alle Tests (mit einer Ausnahme) psychometrisch abgesichert. 4 Zum anderen sind sie ökologisch nicht valide. Damit kann von den Testleistungen nicht auf die sprachlichen Fähigkeiten im Alltag geschlossen werden. Um die Auswirkungen auf den Alltag dennoch beurteilen zu können, sind einige Messinstrumente entwickelt worden, die in . Tab. 23.2 zu sehen sind (vgl. Grötzbach 2008a). Obwohl ein großer Teil der Messinstrumente schon vor Jahren publiziert wurde, liegt für keines von ihnen eine psychometrische Absicherung vor (. Tab. 23.2). Damit beschränkt sich die psychometrisch abgesicherte Aphasiediagnostik bislang nur auf die Erfassung gestörter sprachlicher Funktionen. > Eine verlässliche Beurteilung sprachlicher Aktivitäten wie 4 die Fähigkeit, eine Unterhaltung beginnen, 4 auf Fragen antworten oder 4 einen Anruf entgegennehmen zu können, ist somit nicht möglich.
. Tab. 23.1. Tests zur Bestimmung aphasischer Symptome und Syndrome Messinstrument
Akronym
Autor(en)
Gütekriterien vorhanden?
Ökologisch valide?
Aachener Aphasie Test
AAT
Huber et al. (1983)
ja
nein
Aachener Aphasie Bedside Test
AABT
Biniek (1993)
ja
nein
Aphasie Check Liste
ACL
Kalbe et al. (2002)
ja
nein
Aphasie Schnell Test
AST
Kroker (2002)
ja
nein
Bielefelder Aphasie Screening
BIAS
Richter et al. (2006)
ja
nein
Kurze Aphasie Prüfung
KAP
Lang et al. (1999)
ja
nein
Lexikon-Modell-Orientierte Diagnostik
LeMo
deBleser et al. (2004)
nein
nein
Orgass (1976a, 1976b)
ja
nein
Token Test
23
342
23
Kapitel 23 · Rehabilitation bei Sprach- und Sprechstörungen: Grundlagen und Management
. Tab. 23.2. Tests zur Bestimmung der Auswirkungen einer Aphasie auf den Alltag Messinstrument
Akronym
Autor(en)
Gütekriterien vorhanden?
Amsterdam-Nijmegen Everyday Language Test
ANELT
Blomert et al. (1984)
nein
Assessment Protocol of Pragmatic-Linguistic Skills
APPLS
Gerber u. Gurland (1989)
nein
Communicative Abilities in Daily Living
CADL
Holland (1980)
nein
Communicative Activity Log
CAL
Pulvermüller et al. (2001)
nein
Communicative Effectiveness Index
CETI
Schlenck u. Schlenck (1984)
nein
Functional Communicative Profile
FCP
Sarno (1969)
nein
23.1.3
Aphasiesyndrome
Auf der Grundlage des Aachener Aphasie Tests (Huber et al. 1983) wird zwischen vier Aphasie-Standardsyndromen und vier Sonderformen unterschieden (. Übersicht 23.1). . Übersicht 23.1. Aphasien: Standardsyndrome und Sonderformen Standardsyndrome 1. Globale Aphasie 2. Broca-Aphasie 3. Wernicke-Aphasie 4. Amnestische Aphasie
schend korrekte (Ein- bis Zwei-Wort-)Äußerungen gebildet werden. Dies kann selbst dann der Fall sein, wenn die Spontansprache sonst nur aus Automatismen besteht. kSprachverständnis Das Sprachverständnis ist meist schwer beeinträchtigt. In einer Unterhaltung versuchen die Patienten daher oft, aus dem Kontext oder der Mimik und Gestik eines Gesprächspartners den Sinn des Gesagten zu erraten. Lesen und Schreiben sind i.d.R. ebenfalls schwer gestört. > Eine globale Aphasie kann mit einer Sprechapraxie und einer Dysarthrophonie verbunden sein.
Broca-Aphasie Sonderformen 1. Transkortikal-motorische Aphasie 2. Transkortikal-sensorische Aphasie 3. Gemischt-transkortikale Aphasie 4. Leitungsaphasie
Globale Aphasie kSprachproduktion Die Äußerungen bestehen oft nur aus wenigen, ständig wiederkehrenden sinnlosen Silben oder Wörtern, die gegen die Intention eines Sprechers produziert werden (Sprachautomatismen). Inhaltswörter (Nomen, Verben, Adjektive) treten selten auf. Vereinzelt lassen sich Wörter erkennen, in denen jedoch häufig Laute hinzugefügt, ausgelassen, umgestellt oder ersetzt werden. Diese lautlichen Fehler werden als phonematische Paraphasien bezeichnet. Manche Patienten sprechen in einer stockenden, abgehackten Weise mit einer erheblichen Sprechanstrengung, andere produzieren flüssig ständig dieselben Automatismen (»recurring utterances«). Eine grammatische Verbindung zwischen den Automatismen oder den wenigen Wörtern existiert so gut wie nie. Da Intonation, Mimik und Gestik i.d.R. erhalten sind, können Patienten affektive Inhalte wie z.B. Freude, Ärger oder Überraschung ausdrücken. In besonderen Situationen wie z.B. bei einer Begrüßung oder einem Wutanfall, können manchmal völlig überra-
kSprachproduktion Die Spontansprache der Patienten ist im Wesentlichen durch häufige Auslassungen grammatischer Wörter (z.B. Artikel, Pronomen, Konjunktionen) und Endungen gekennzeichnet. Die Auslassungen sind jedoch nicht unsystematisch. Vielmehr hängt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein grammatisches Wort produziert wird, u.a. von seiner Betonung (Goodglass et al. 1967), seiner silbischen Struktur (Goodglass u. Berko 1960) und seiner Position im Satz ab (Wales u. Kinsella 1981). Die Tilgung der grammatischen Wörter und Endungen und die damit verbundene Vereinfachung der Satzstruktur wird als Agrammatismus bezeichnet (Kleist 1914). Im Vergleich zur ungestörten Sprache werden weniger Verben produziert, die im Deutschen gewöhnlich im Partizip Perfekt (z.B. »gegangen«) oder im Infinitiv (z.B. »gehen«) erscheinen (de Villiers 1974). Je schwerer ein Patient gestört ist, desto mehr sind seine bedeutungsmäßig zusammenhängenden Äußerungen auf einige wenige Wörter reduziert (Goodglass u. Geschwind 1976). In den schwersten Fällen bestehen Äußerungen nur noch aus Ein- bis Zwei-Wort-Sätzen. Die Kürze der Sätze und das Fehlen der grammatischen Wörter führen zu dem Eindruck, als ob die Patienten in einer Art von Telegrammstil sprächen. Trotz der syntaktischen Vereinfachung ist die Reihenfolge der Wörter in den Äußerungen nicht vollkommen willkürlich: In der Regel wird eine feste Reihenfolge aus Nomen plus Verb gebildet (z B. »Doktor gerufen ... Krankenhaus
343 23.1 · Aphasien
gefahren«). Die so mitgeteilten Gedanken lassen sich häufig ohne Mühen verstehen. Phonematische Paraphasien kommen i.d.R. häufiger vor als Verwechselungen von Wörtern (semantische Paraphasien). kSprachverständnis Im Alltag scheint das Sprachverständnis der Patienten intakt zu sein. Bei sorgfältiger Prüfung zeigt sich jedoch, dass die grammatischen Wörter auch im Sprachverständnis gestört sind (Schwarz et al. 1980). Lesen und Schreiben sind ebenso wie die Spontansprache durch Auslassungen grammatischer Wörter gekennzeichnet. > Die Broca-Aphasie kann von einer Sprechapraxie und einer Dysarthrophonie begleitet werden.
Wernicke-Aphasie kSprachproduktion Die Spontansprache der Patienten ist flüssig (Goodglass et al. 1964), wobei die Wörter häufig durch phonematische Paraphasien gestört sind. Treten mehrere in einem Wort auf, entsteht ein phonematisch bedingter Neologismus (z.B. »Bluck« statt »Haus«). In den seltensten Fällen lassen die phonematischen Neologismen aufgrund der stark veränderten Lautstruktur einen Rückschluss auf die jeweiligen Zielwörter zu. Neben den phonematischen Veränderungen treten oft semantische Paraphasien auf. Dabei wird ein gesuchtes Wort irrtümlich durch ein semantisch naheliegendes ersetzt (enge semantische Paraphasie: z.B. »Bett« statt »Tisch«) oder durch ein Wort, das zu dem gesuchten in keinem Zusammenhang steht (weite semantische Paraphasie: z.B. »Blume« statt »Tisch«). Je mehr sich phonematische Neologismen und weite semantische Paraphasien häufen, desto inhaltsleerer werden die Äußerungen. > Ist die Spontansprache über weite Strecken aufgrund von phonematischen oder semantischen Paraphasien beeinträchtigt, dann wird je nach Art der vorherrschenden Paraphasie zwischen einer Wernicke-Aphasie mit phonematischem Jargon und einer Wernicke-Aphasie mit semantischem Jargon unterschieden (Huber et al. 2006).
Patienten mit einer Wernicke-Aphasie produzieren häufig lange und verschachtelte Sätze, die grammatisch oft falsch sind. Typischerweise kommt es zu Satzverschränkungen, Satzabbrüchen, falschen Beziehungen in der Verb-Objekt-Struktur und zum fehlerhaften Gebrauch von grammatischen Wörtern und Endungen. Diese werden sehr viel häufiger durch falsche Formen ersetzt als ausgelassen. Seit Kleist (1914) werden die syntaktischen Störungen der Patienten als Paragrammatismus bezeichnet und dem Agrammatismus der Patienten mit einer Broca-Aphasie gegenübergestellt. Häufig spricht ein Patient mit Wernicke-Aphasie sehr viel. Selbst auf Fragen, die nur eine kurze Antwort verlangen, reagieren die Patienten mit einem oft kaum zu unterbrechenden Redestrom (Logorrhoe). Es kann zur wiederholten Verwendung einer identischen Äußerung kommen, die jeweils kontextadäquat ist (sprachliche Stereotypie). Stellenweise beginnen Äußerungen mit einer
wortwörtlichen Wiederholung des von einem Gesprächspartner zuvor Gesagten (Echolalie). kSprachverständnis Das Sprachverständnis ist i.d.R. beeinträchtigt. Dies kann im Alltag jedoch verborgen bleiben, wenn der Sinn des Gesagten aus der jeweiligen Situation ableitbar ist. Lesen und Schreiben sind i.d.R. ähnlich wie die Spontansprache gestört.
Amnestische Aphasie kSprachproduktion Die Spontansprache der Patienten ist flüssig, Satzmelodie (Prosodie) und Artikulation sind nicht beeinträchtigt (Poeck et al. 1974). Phonematische Paraphasien und syntaktische Fehler sind selten. Semantische Paraphasien treten jedoch gehäuft auf, sie stehen bei dieser Form der Aphasie im Vordergrund. Häufig wird ein gesuchtes Wort zur Bezeichnung eines Objekts, einer Handlung oder einer Person nicht gefunden. Es kann vorkommen, dass sich die Wortfindungsstörungen auf eine bestimmte Kategorie wie z.B. auf Möbel oder Früchte beschränken, oder dass sie verstärkt bei Nomen oder Verben auftreten (McCarthy u. Warrington 1990). Der Redefluss der Patienten gerät dann ins Stocken, und es sind verschiedene Verhaltensweisen erkennbar, mit denen die Patienten auf ihre Wortfindungsstörungen reagieren: 4 So kann ein gesuchtes Wort durch eine Umschreibung oder ein Füllwort (»das Dingsbums«) ersetzt werden, 4 die Wortfindungsstörung kann an einen Gesprächspartner mit der Frage »Wie heißt das noch mal?« weitergegeben werden, oder 4 es werden allgemein sprachliche Floskeln (»Sie wissen schon, was ich meine«) verwendet. Stehen keine derartigen Kompensationsstrategien zur Verfügung, dann bricht eine Äußerung an der Stelle ab, an der die Wortfindungsstörung auftritt. kSprachverständnis Das Sprachverständnis ist im Alltag unauffällig. Auch Lesen und Schreiben sind nur leicht gestört.
Transkortikale Aphasien Das gemeinsame Symptom der transkortikalen Aphasien ist, dass die Nachsprechleistungen im Vergleich zu allen anderen sprachlichen Leistungen herausragend gut erhalten sind (Huber et al. 1983). Zudem werden typischerweise nur wenige spontane Äußerungen gebildet. kSprachproduktion/-verständnis 4 Bei der transkortikal-motorischen Aphasie ist neben dem guten Nachsprechen auch das Sprachverständnis relativ intakt. Die Spontansprache ist jedoch nicht flüssig; grammatische Wörter und Endungen werden ausgelassen, und es kann eine dysprosodische und angestrengte Sprechweise vorliegen. 4 Die transkortikal-sensorische Aphasie umfasst eine Störung des Benennens, Lesens, Schreibens sowie des Sprachverständnisses. In der Spontansprache kann es zu seman-
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Kapitel 23 · Rehabilitation bei Sprach- und Sprechstörungen: Grundlagen und Management
tischen und phonematischen Paraphasien, zum Paragrammatismus sowie zur Echolalie kommen. 4 Eine gemischt-transkortikale Aphasie liegt vor, wenn alle sprachlichen Leistungen bis auf das Nachsprechen schwer beeinträchtigt sind.
Leitungsaphasie Die Leitungsaphasie entspricht in ihrem klinischen Bild dem Gegenteil der transkortikalen Aphasie: Im Vergleich zu allen anderen sprachlichen Leistungen ist das Nachsprechen besonders schwer gestört (Huber et al. 1983). Damit sind Benennen, Lesen, Schreiben und Verstehen gut erhalten. Im Alltag fällt die schwer gestörte Nachsprechleistung nur selten auf. Sie ist i.d.R. erst bei einer formalen Prüfung feststellbar.
Subkortikale Aphasien Bei Aphasien, die durch subkortikale Läsion verursacht werden, variiert die aphasische Symptomatik je nach Läsionsort (Cappa u. Wallesch 1994): 4 Bei einer Schädigung des Thalamus zeigen sich typischerweise die Symptome einer transkortikal-sensorischen oder einer gemischt-transkortikalen Aphasie. 4 Symptome einer transkortikal-motorischen Aphasie treten bei kombinierten Läsionen der vorderen Capsula interna und des vorderen Striatums auf. 4 Ein beeinträchtigtes Sprachverständnis ist die Folge einer Schädigung des temporalen Marklagers. > Gemeinsam ist den subkortikalen Aphasien, dass ihnen eine günstige Prognose für die Wiederherstellung der sprachlichen Funktionen gegeben wird (Schnider 1997).
Die Bedeutung der subkortikalen Strukturen für die Sprachverarbeitung ist noch nicht geklärt: 4 Einerseits wird vermutet, dass die aphasischen Symptome nach einer subkortikalen Läsion eine Minderaktivierung der mit ihnen verbundenen kortikalen Sprachareale widerspiegeln (Caplan 1987). 4 Andererseits wird davon ausgegangen, dass die subkortikalen Strukturen spezifisch zur Sprachverarbeitung beitragen (Schnider 1997).
23.1.4
Therapie
Trotz einer immer noch vorhandenen Skepsis gegenüber der Wirksamkeit von Aphasietherapie (Grond et al. 2004) liegt inzwischen eine Reihe von Belegen dafür vor, dass Aphasietherapie effektiv ist (vgl. Bhogal et al. 2003a, 2003b; Robey 1998). Sie ist jedoch nur dann effektiv, wenn 4 sie hochfrequent (mit ca. 10 Therapiestunden pro Woche) für einen begrenzten Zeitraum (8–10 Wochen) durchgeführt wird (Bhogal et al. 2003a, 2003b), 4 die sprachlichen Anforderung an die Patienten kontinuierlich gesteigert werden (»shaping«-Prinzip), 4 die sprachlichen Übungen in einen für die Patienten sinnvollen Kontext eingebettet werden (Grötzbach 2008b).
Mithilfe einer hochfrequent durchgeführten Therapie lassen sich auch dann noch sprachliche Fortschritte erreichen, wenn der Beginn einer Aphasie schon Jahre zurückliegt (Schlenck u. Perleth 2004). > In den Leitlinien zur Behandlung von Aphasien wird daher ein Intervallkonzept favorisiert, das aus einem regelmäßigen Wechsel zwischen hochfrequenten Therapiephasen und Therapiepausen mit einer Dauer von bis zu 6 Monaten besteht (Bauer et al. 2002).
jHochfrequente Therapie Um eine hochfrequente Therapie realisieren zu können, stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung (Grötzbach 2004): 4 Die erste Möglichkeit ist, die Frequenz der Einzeltherapien pro Tag zu erhöhen. Da sich dies nur mit einer großen Zahl von Therapeuten umsetzen lässt, ist die erste Möglichkeit aufgrund der ökonomischen Zwänge wenig realistisch. 4 Die zweite Möglichkeit besteht aus einer verstärkten Nutzung von Gruppentherapien, für die detaillierte Beschreibungen hinsichtlich Zielsetzung, Aufbau und Evaluation vorliegen (Masoud 2009). Über die Effektivität von Gruppentherapien ist jedoch nur wenig bekannt. Die bislang vorliegenden Belege deuten darauf hin, dass Gruppentherapien zwar zu funktionellen sprachlichen Fortschritten, nicht jedoch zu Verbesserungen sprachlicher Aktivitäten führen (Teasell et al. 2010). 4 Die dritte Möglichkeit ist, Patienten in die Nutzung PCbasierter Therapieprogramme einzuführen. Inzwischen gibt es ein halbes Dutzend Programme, die sich sowohl für den klinischen als auch für den häuslichen Bereich eignen (s. Wehmeyer u. Grötzbach 2010). Die Programme unterscheiden sich zum Teil erheblich im Preis, in der Anzahl sowie im Schweregrad der Aufgaben. Ihre Effektivität ist jedoch ebenfalls unklar. Einige Ergebnisse sprechen dafür, dass sie zu funktionellen Verbesserungen beitragen (Lange et al. 2008, Sünderhauf et al. 2008). 4 Die vierte Möglichkeit ist, den Patienten Eigenübungsaufgaben mitzugeben. Diese können aus bereits publizierten (Stadie u. Schröder 2008, Tesak 2007, Wehmeyer u. Grötzbach 2010) oder selbst entwickelten Aufgaben bestehen. Es gibt allerdings keine Untersuchung darüber, wie effektiv Eigenübungsaufgaben sind. 4 Die fünfte Möglichkeit besteht schließlich darin, Angehörige oder Laien als Ko-Therapeuten in die Aphasietherapie einzubinden. Dies hat im angloamerikanischen Raum zwar schon eine längere Tradition (Teasell et al. 2010), in Deutschland wird diese Möglichkeit jedoch (noch) nicht systematisch genutzt. Entsprechend gering ist das Wissen über die Wirksamkeit von Laienhelfern in der Aphasietherapie. jTeilhabe-orientierter Therapieansatz Trotz der Effektivitätsnachweise für eine hochfrequent durchgeführte Aphasietherapie verbleiben die beiden Probleme, dass sich sprachliche Verbesserungen
345 23.2 · Dysarthrophonien
4 häufig nur in der Therapiesituation und damit nur unter optimalen Bedingungen zeigen (mangelnder Transfer der Verbesserungen in den Alltag), 4 auf therapierte Bereiche oder therapierte Items beschränken. Nicht-therapierte Bereiche oder nicht-therapierte Items verbessern sich i.d.R. nicht (mangelnde Generalisierung). Um den beiden Problemen zu begegnen, geht es in den neuen Ansätzen der Aphasietherapie (Coopmanns 2007, Grötzbach 2008b, Lamprecht 2007) nicht mehr nur um eine bloße Reduktion sprachlicher Symptome. Vielmehr werden von Therapiebeginn an auch die sprachlichen Aktivitäten berücksichtigt wie z.B. die Fähigkeit, 4 eine Reise zu buchen, 4 eine Telefonauskunft einzuholen oder 4 einkaufen zu gehen. In den neuen Ansätzen ist eine Reduktion aphasischer Symptome (z.B. eine Verringerung der Anzahl phonematischer Paraphasien) nur dann gerechtfertigt, wenn sie zu einer Verbesserung sprachlicher Aktivitäten beiträgt. Dadurch wird die Teilhabe von Personen mit einer Aphasie am Leben in der Gesellschaft sehr viel stärker betont als in den rein funktionell-orientierten Therapieansätzen. Allerdings liegen zur Wirksamkeit der teilhabe-orientierten Ansätze noch keine Belege vor.
23.2
Dysarthrophonien
Definition Dysarthrophonien sind definiert als Sprechstörungen, die aufgrund einer Läsion im ZNS oder einer neuromuskulären Erkrankung auftreten (Gröne 2009, Ziegler et al. 1998).
Bei der Ausführung von Sprechbewegungen ist die Kontrolle von Kraft, Bewegungstempo und Bewegungsumfang gestört. In der Regel sind die folgenden drei Bereiche betroffen: 4 Artikulation, 4 Sprechatmung und 4 Stimmgebung. Zur Erfassung dieser drei Störungen müsste korrekterweise der Begriff Dysarthropneumophonie verwendet werden. Dies hat sich im Alltag jedoch nicht durchgesetzt. Verkürzend werden häufig synonym die Begriffe Dysarthrie oder Dysarthrophonie verwendet. Die Bezeichnung »motorische Aphasie« für eine Sprechstörung ist jedoch falsch. > Dysarthrophonien können isoliert oder in Verbindung mit einer Aphasie oder einer Dysphagie auftreten.
23.2.1
Neurologische Grundlagen
kUrsachen Den Dysarthrophonien kann zugrunde liegen: 4 eine zerebrovaskuläre Hirnschädigung, 4 ein Schädel-Hirn-Trauma oder 4 eine entzündliche bzw. degenerative Erkrankung des ZNS (Darley et al. 1975). kLäsionsorte Ist besonders der Hirnstamm mit den Hirnnerven V (N. trigeminus), VII (N. facialis), IX (N. glossopharyngeus) und XII (N. hypoglossus) betroffen, so resultieren schwere Formen der Sprechstörung. Weitere Läsionsorte umfassen das Kleinhirn, das extrapyramidale System, die kortikalen Gesichtsareale sowie die Verbindungen zwischen dem Gesichtsareal und den entsprechenden Hirnnervenkernen im Hirnstamm (Ziegler et al. 1998). Zusätzlich können, vor allem nach einem Schädel-Hirn-Trauma, lokale Schädigungen der Sprechorgane vorliegen wie z B. eine Verletzung der Zunge, der Lippen, des Kiefers oder der Stimmlippen.
23.2.2
Diagnose
jDysarthrophonietests Zur Diagnose von Dysarthrophonien liegen die Frenchay Dysarthrie-Untersuchung (Enderby 1991) sowie das Münchner Verständlichkeits-Profil (MVP) (Ziegler et al. 1992) vor (s. auch Schubert 2007). Die Frenchay Dysarthrie-Untersuchung besteht neben einer Verständlichkeitsbeurteilung aus den Untertests 4 Reflexprüfung, 4 Funktion des Gaumensegels (Velum), 4 Atmung, 4 Beurteilung der Stimme sowie 4 Lippen-, Kiefer- und Zungenbewegungen. Beim Münchner Verständlichkeits-Profil (MVP) werden auf einem Computerbildschirm isolierte oder in einen Trägersatz eingebettete Zielwörter dargeboten. Diese sind vom Patienten zu lesen. Zu jedem Zielwort gehört eine Menge von Alternativwörtern, in denen je ein Phonem verändert ist. Gezählt wird, wie häufig die Identifikation eines Zielworts unter Vorgabe der Alternativwörter durch einen Fremdbeurteiler gelingt. Die Fehlidentifikationen geben zusätzlich Hinweise darauf, welche Laute in ihrer Bildung besonders beeinträchtigt sind. jHNO-Untersuchung Zur Diagnose der Dysarthrophonien gehört zusätzlich zur neurologischen Untersuchung eine HNO-Untersuchung, um Bewegungsstörungen der Sprechorgane zu erfassen (Vogel 1998). Dazu werden eingesetzt: 4 die (Lupen-)Laryngoskopie, 4 die Stroboskopie sowie 4 die (flexible) Nasenendoskopie.
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Kapitel 23 · Rehabilitation bei Sprach- und Sprechstörungen: Grundlagen und Management
Untersucht werden Lippen, Kiefer, Zunge, Velum, Pharynx und Kehlkopf. Dabei ist das Schwingungsverhalten der Stimmlippen von besonderem Interesse. Die Untersuchung wird in Ruhe und bei intendierten Bewegungen durchgeführt. Außerdem findet eine Prüfung der Reflexe statt. jSprachtherapeutische Diagnostik Die sprachtherapeutische Diagnostik umfasst neben einer Beurteilung der Spontansprache eine Untersuchung 4 der Artikulation (mit Aufgaben wie Nachsprechen und Silbenwiederholungen), 4 der Stimmgebung (mit Aufgaben wie Sprechlautstärke, Stimmeinsatz und Stimmqualität), 4 der Sprechatmung (mit Prüfung der Phonemhaltedauer) sowie 4 der Prosodie (mit Aufgaben zum Wort- und Satzakzent). > Differenzialdiagnostisch ist die Dysarthrophonie von der Aphasie zu trennen. Dazu kann der Token Test (Orgass 1976a, 1976b) verwendet werden. Die Sprechstörungen sind außerdem von einer Sprechapraxie sowie von peripher bedingten Sprechoder Stimmstörungen abzugrenzen (Wirth 1991).
23.2.3
Dysarthrophoniesyndrome
Die Dysarthrophonien können nach lokalisatorischen oder symptomatologischen Gesichtspunkten klassifiziert werden (Gröne 2009). Die folgende Beschreibung ist an den Symptomen orientiert, da sie bereits erste Hinweise auf eine Therapie enthalten (s. auch Nebel u. Deuschl 2008).
Spastische Dysarthrophonie Die Symptome der spastischen Dysarthrophonie sind im klinischen Alltag sehr häufig (Ziegler u. von Cramon 1987). Sie bestehen in der Phonation aus einer überwiegend gepressten Stimme und einer unangepassten Sprechlautstärke. In der Artikulation kommt es aufgrund einer eingeschränkten Beweglichkeit der Zunge zu ungenau gebildeten Vokalen und Konsonantenverbindungen. Eine ausgeprägte Spastik der Stimmlippen führt zu einem erhöhten Verbrauch an Sprechluft. Äußerungen werden daher häufig schon nach 2 oder 3 Silben unterbrochen, um neu Luft zu schöpfen. Dadurch entsteht eine abgehackte, zur Monotonie neigende Satzmelodie (Prosodie).
nasalierte Aussprache. Wegen des Luftverlustes müssen oft (inadäquate) Sprechpausen gesetzt werden.
Ataktische Dysarthrophonie Die unkoordiniert ablaufenden Öffnungs- und Verschlussbewegungen der Stimmlippen führen zu einer rauen, zeitweise gepressten Stimme. Auffällig sind unkontrollierte Änderungen der Sprechlautstärke sowie Tonhöhenschwankungen. Es kommt zu Störungen bei der Kontrastierung von stimmhaften und stimmlosen Konsonanten, und Laute werden oft unwillkürlich gedehnt oder gekürzt. Die Sprechweise ist durch eine Verlangsamung sowie eine ungleichmäßige Betonung charakterisiert. Es können Pausen zwischen Silben auftreten.
Rigid-hypokinetische Dysarthrophonie Als Folge einer eingeschränkten Beweglichkeit der Stimmlippen ist die Stimme sowohl rau als auch behaucht. Liegt ein Tremor des Larynx und der Stimmlippen vor, kommt es zu einem Stimmzittern. Phasenweise kann es zu einer stimmlosen Phonation kommen. Zusätzlich sind unkontrollierte Tonhöhen- und Lautstärkeänderungen möglich. Die Sprechlautstärke ist in der Regel zu leise, lautes Rufen gelingt nicht. Bei der Bildung von Konsonanten entsteht eine Geräuschbildung. Die Sprechgeschwindigkeit ist leicht erhöht und kann im Verlauf einer Äußerung noch zunehmen. Das Setzen eines Wort- bzw. Satzakzentes ist nicht möglich. Die Sprechweise wird dadurch monoton.
Hyperkinetische Dysarthrophonie Das Schwingungsverhalten der Stimmlippen ist aufgrund periodisch oder irregulär auftretender unwillkürlicher Bewegungen beeinträchtigt. Dadurch entsteht eine irreguläre Phonation, bei der sich Tonhöhe und Lautstärke unwillkürlich verändern. Außerdem können Stimmabbrüche oder ein Stimmschwund auftreten. Die Qualität der Stimme ist überwiegend rau. Sowohl die Vokale als auch die Konsonanten sind nur ungenau gebildet. Die Sprechgeschwindigkeit ist verlangsamt.
Gemischte Dysarthrophonie Eine gemischte Dysarthrophonie liegt vor, wenn sich eine Symptomatik nicht einem der beschriebenen Syndrome zuordnen lässt, z. B. bei gleichzeitigem Auftreten von ataktischen und spastischen Elementen.
Hypotone Dysarthrophonie
23.2.4
Aufgrund eines eingeschränkten oder aufgehobenen Verschlusses der Stimmlippen ist die Stimme behaucht und die Sprechlautstärke zu leise. Lautes Rufen gelingt nicht mehr. Bei einer reduzierten Beweglichkeit der Vorder- und Hinterzunge ist die Artikulation der Vokale und Konsonanten nur noch näherungsweise (approximierend) möglich. Dadurch ergibt sich eine zu hohe Sprechgeschwindigkeit. Da häufig eine schlaffe Lähmung des Gaumensegels (Velum) vorliegt, entweicht beim Sprechen Luft über die Nase. Die Folge ist eine
Da bei einer Dysarthrophonie ähnlich wie bei einer peripheren Artikulationsstörung oder einer Dysphonie Stimmgebung und Lautbildung beeinträchtigt sind, lassen sich Elemente aus der Stimm- und Artikulationstherapie auf die Behandlung der Dysarthrophonie übertragen. Die Ziele und Übungen müssen jedoch in Hinblick auf die allgemeinen körperlichen oder kognitiven Auswirkungen der Grunderkrankung adaptiert und variiert werden (Giel 2009, Gröne 2009, Schubert 2007).
Therapie
347 23.2 · Dysarthrophonien
jPositionierung/Haltung Die einer Dysarthrophonie zugrunde liegende Erkrankung wirkt sich oft auch auf andere Bewegungen des Körpers aus, so dass neben der Atem-, Stimm- und Sprechmuskulatur auch die Bewegungen von Rumpf und Extremitäten (spastisch, hypoton, ataktisch, rigid, hypokinetisch, hyperkinetisch) verändert sind. Eine möglichst aufrechte, symmetrische Körperhaltung mit Kopf- und Kieferkontrolle, ggf. in Zusammenarbeit mit der Physiotherapie, ist eine Voraussetzung für die Therapie. Äußere Hilfen wie Kissen, Schaumstoffpacks oder Kieferkontrollgriff sowie vorbereitende Übungen zur Kopfund Kieferkontrolle werden individuell eingesetzt. jAtmung Ziele und Übungen zur Arbeit an der Atmung werden von einigen Autoren (Brügge u. Mohs 2009, Schubert 2007, Vogel 1998) im Zusammenhang mit Stimmstörungen beschrieben. jArtikulation Durch vorbereitende mundmotorische Übungen werden Lippen-, Zungenspitzen- und Zungenrückenbewegungen hinsichtlich Genauigkeit, Ausmaß, Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit und Gleichmäßigkeit verbessert. Eine Beweglichkeit der Artikulationsorgane ist Voraussetzung für eine korrekte Artikulation und damit für eine bessere Verständlichkeit. Orofaziale Übungen verbessern die orale Selbstwahrnehmung und -kontrolle. Sie erleichtern den Zugriff auf motorische und sensorische Informationen, die sowohl für isolierte mundmotorische Bewegungen als auch für das Sprechen notwendig sind. Zur Verfügung stehen vorbereitende sensorische Stimuli wie 4 Dehnung, 4 Vibrationen, 4 thermale Reize, 4 Widerstand sowie passive und aktive Übungen. ! Cave Es sollte darauf geachtet werden, dass Bewegungen nicht mit größtem Ausmaß und höchster Kraft, sondern in ökonomischen Sprechbewegungen ausgeführt werden (Prinzip der minimalen Aktion). Ebenso hat die Qualität einer Bewegung (Bewegungsgenauigkeit) stets Vorrang vor quantitativen Kriterien (z.B. Schnelligkeit). kIsolierte Lautarbeit Die isolierte Lautarbeit orientiert sich an der Markiertheitstheorie: 4 Bei den Vokalen ist eine Steigerung von offenen Monophtongen (a/o/u/ä/ö/ü) über geschlossene (e/i) bis hin zu den Diphtongen (au/eu,äu/ai,ei) möglich. 4 Bei den Konsonanten bietet es sich an, erst Nasale (m/n/ ng), dann Plosive (p,b/t,d/k,g) und später Frikative (f, w/ s, sch/ch/h) und Liquide (l/r) zu trainieren. Schrittweise kann von der ersten über die zweite zur dritten Artikulati-
onszone und von stimmhaften zu den an Spannung zunehmenden stimmlosen Konsonanten gearbeitet werden. Anschließend können Kontrast-, Gleit- und silbendiadochokinetische Übungen als Übergang zur Wortebene dienen. 4 Mit Wörtern lässt sich die artikulatorische Schwierigkeit von kurzen Wörtern mit CVC- (Konsonant-Vokal-Konsonant-)Struktur bis hin zu Mehrsilbern und Wörtern mit Konsontantenverbindungen steigern. 4 Bei der Arbeit mit Sätzen und Texten sollen artikulatorische Fähigkeiten stabilisiert, aber auch Atemtechniken und prosodische Leistungen berücksichtigt werden. jProsodie Die prosodischen Elemente setzen sich zusammen aus 4 dem von Pausenlängen abhängigen Takt (Rhythmus), 4 den Veränderungen von Tonhöhe, Lautstärke und Artikulationsdauer (Betonung) sowie 4 den wahrnehmbaren Veränderungen der Grundfrequenz beim Ausdruck von Stimmungen und Gefühlen und den steigenden und fallenden Sprechmustern, z.B. bei Fragen oder Antworten (Intonation). > Die Prosodie leistet einen wesentlichen Beitrag zur Verständlichkeit und verdient daher neben der Arbeit an den drei Funktionskreisen eine besondere Berücksichtigung.
Eine Verbesserung hinsichtlich Atemökonomie und Tonhöhenmodulation sowie eine fortschreitende Krankheitsverarbeitung haben oft direkten Einfluss auf die Prosodie. Unterstützend können Frage- und-Antwort-Sätze, Übungen zum Wort- und Satzakzent sowie variable intentional gefärbte JaNein-Dialoge eingesetzt werden. jKompensatorische Strategien Die Entscheidung für den Einsatz eines alternativen Kommunikationssystems ist unabhängig von der Prognose der Sprechstörung und richtet sich nach den verbalen Ausdrucksmöglichkeiten eines Patienten. Als technische Kommunikationsmittel stehen bei wenig beeinträchtigten kognitiven und handmotorischen Funktionen elektronische Sprechhilfen wie z.B. der »Canon Communicator« oder der »Lightwriter« zur Verfügung (Schubert 2007). Ansonsten können individuell erstellte Kommunikationstafeln oder -bücher mit Symbolen, Bildern, Buchstaben, Zahlen, Wörtern oder Phrasen eingesetzt werden. Die Kontrolle der Sprechgeschwindigkeit oder die Reduktion des Sprechtempos kann über den sprechbegleitenden Einsatz einer Art Metronom, eines Pacing-boards, oder durch ein (Finger-)Tapping erleichtert werden, das bei den Patienten beliebt ist. Externe Hilfen erfordern Training. Nur sicht- und hörbare Erfolge macht sie für Patienten und Angehörige akzeptabel. Indirekt lassen sich Auswirkungen auf die Sprechfertigkeit eines Patienten feststellen, wenn der Druck, verständlich sprechen zu müssen, reduziert wird. Das lässt sich wahrscheinlich auf eine Verringerung der körperlichen Anstrengung zurückführen.
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Kapitel 23 · Rehabilitation bei Sprach- und Sprechstörungen: Grundlagen und Management
jGruppentherapie Ähnlich wie in der Aphasietherapie dient die Gruppenarbeit mit sprechgestörten Patienten der Therapiemotivation, dem gegenseitigen Verständnis und dem Transfer der trainierten Fähigkeiten. Ein zusätzlich wichtiger Aspekt in der Dysarthrophonietherapie ist das ständige Feedback der anderen, um eine realistische Selbsteinschätzung zu erhalten. Oft entsteht erst durch Rückmeldung und gemeinsame Erfahrungen die Einsicht, dass die Verständlichkeit durch reduziertes, angepasstes Sprechtempo unmittelbar erhöht werden kann. In der Gruppe können gegenseitige Interviews, Rollenspiele, Theaterstücke, Gespräche, Quiz oder Reden ausprobiert werden.
23.3
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23
24
Schluckstörungen G. Bartolome 24.1 Schluckstörungen 24.1.1 Grundlagen
– 352
24.2 Diagnostik
– 356
24.2.1 24.2.2 24.2.3 24.2.4
– 352
Klinische Eingangsuntersuchung – 356 Apparative Zusatzuntersuchungen – 357 Ergänzende Diagnostik – 360 Zusammenfassung – 361
24.3 Therapie
– 361
24.3.1 Sofortmaßnahmen zur Sicherstellung der Ernährung und zum Schutz der Luftwege – 361 24.3.2 Tracheostoma, Trachealkanülen – 361 24.3.3 Funktionsfördernde Therapie – 363 24.3.4 Behandlungsmethoden – 363
24.4 Patientenbeispiele 24.5 Literatur
– 370
– 368
352
24
Kapitel 24 · Schluckstörungen
Das Kapitel vermittelt nach einer kurzen Darstellung der wichtigsten ätiologischen Faktoren einen Einblick in die physiologischen und pathophysiologischen Grundlagen der Dysphagie. Es folgt eine Darstellung der klinischen und apparativen Diagnostik bei Schluckstörungen. Ein ausführlicher Therapieteil informiert zunächst über die klinische Ernährung und die Trachealkanülenversorgung bei schluckgestörten Patienten. Anschließend werden verbreitete Therapieverfahren vorgestellt. Zur Veranschaulichung sind dem theoretischen Teil zwei Fallbeispiele angefügt. Im letzten Abschnitt wird auf der Grundlage verschiedener Studienergebnisse die Wirksamkeit der Dysphagietherapie besprochen.
Im Verlauf der letzten Jahre hat sich die Bedeutung der Diagnostik und Therapie von Schluckstörungen innerhalb der Neurorehabilitation deutlich gewandelt. In Kliniken, Pflegeinstitutionen und im Bereich der ambulanten Versorgung wird zunehmend die Notwendigkeit einer differenzierten Diagnostik und gezielten Therapie des Störungsbildes erkannt und die Voraussetzungen für die Versorgung dieser Patienten geschaffen. Eine Ursache für das Umdenken sind die gravierenden Folgekomplikationen einer Schluckstörung. Zu den möglichen Folgen, die es zu vermeiden bzw. zu minimieren gilt, zählen: 4 Malnutrition, 4 Dehydratation, 4 Aspirationspneumonie, 4 Abhängigkeit von Sondenernährung oder/und Trachealkanülen, 4 eingeschränkte Lebensqualität und 4 hohe Kosten für das Gesundheitssystem.
24.1
Schluckstörungen
Definition Schlucken wird definiert als Bewegungsvorgang zum Transport von Nahrung, Speichel oder anderen Substanzen aus der Mundhöhle in den Magen. Dabei muss durch einen zeitgerechten Verschluss des Kehlkopfes der Schutz der tiefen Atemwege gewährleistet sein.
Als Synonym für Schluckstörungen wird der Begriff Dysphagie verwendet (gr. dys; erschwert, phagia; essen). Eine Unterteilung der Schluckstörungen erfolgt nach der Lokalisation: 4 Die oropharyngeale Dysphagie bezeichnet Beeinträchtigungen des Schluckens im Mund-Rachen-Raum. 4 Die ösophageale Dysphagie charakterisiert Störungen des Transports in der Speiseröhre. Die vielfältigen Ursachen von Schluckstörungen lassen sich in drei Hauptkategorien unterteilen (. Übersicht 24.1). Die häufigste Ursache von Schluckstörungen ist neurogen bedingt, durch Erkrankungen
. Übersicht 24.1. Ursachen von Schluckstörungen 1. 2. 3.
4 4 4 4
Störungen der sensomotorischen Steuerung des Schluckvorgangs (neurogene Dysphagie) Strukturelle Veränderungen der am Schluckvorgang beteiligten Organe und benachbarten Strukturen Neuropsychologische, psychogene Ursachen
des Zentralnervensystems, der Hirnnerven, des neuromuskulären Übergangs oder der Muskulatur (Prosiegel u. Buchholz 2006, SchröterMorasch 2006).
Die größte Wahrscheinlichkeit an einer Dysphagie zu erkranken, tritt beim Schlaganfall auf. In der Akutphase sind über 50%, in der chronischen Phase 25% der Schlaganfallpatienten betroffen (Barth et al. 2002).
24.1.1
Grundlagen
Normaler Schluckvorgang Schlucken zählt zu den häufigsten Bewegungsvorgängen unseres Muskelapparats. > Im Wachzustand schlucken wir durchschnittlich 1-mal/Minute, nur während des Tiefschlafs setzen Speichelproduktion und Schlucken fast vollständig aus (Pehl 2006, Dodds et al. 1990).
An dem komplexen, exakt koordinierten Bewegungsmuster sind etwa 50 Muskelpaare beteiligt. Deren sensomotorische Steuerung erfolgt über 4 6 Hirnnervenpaare: 5 N. trigeminus, 5 N. facialis, 5 N. glossopharyngeus, 5 N. vagus, 5 N. hypoglossus, 5 N. accessorius; 4 die 3 oberen Zervikalnerven und 4 spezielle Zentren und Faserverbindungen im Hirnstamm und Großhirn. Das Schluckprogramm läuft nicht starr ab, sondern die Bewegungen werden durch sensorische Kontrollmechanismen moduliert und reguliert. Muskelkraft, Bewegungsamplitude und zeitliche Koordination sind abhängig vom Bolusvolumen und der Nahrungskonsistenz. Definition Unter Bolus versteht man die zum Schlucken vorbereitete Nahrung.
353 24.1 · Schluckstörungen
Obwohl das Schlucken ein einheitlicher Vorgang ist, der sekundenschnell abläuft, hat sich zum besseren Verständnis der Physiologie die Unterteilung in verschiedene Schluckphasen bewährt. Am häufigsten wird das 3-Phasen-Modell in . Übersicht 24.2 verwendet (Bartolome u. Neumann 2006, Dodds et al. 1990). . Übersicht 24.2. Phaseneinteilung des Schluckvorgangs 1.
Über das durchschnittliche Bolusvolumen pro Schluck Flüssigkeit finden sich in der Literatur unterschiedliche Angaben. Einschließlich altersbedinger Abweichungen variieren die Werte zwischen 8,5 und maximal 25 ml. Übereinstimmend wird bei breiigen Konsistenzen die durchschnittliche Menge pro Schluck mit 5–7 ml angegeben (Hannig 1995, Hamlet et al. 1996, Nilsson et al. 1996).
Orale Phase
4 Orale Vorbereitungsphase 4 Orale Entleerungsphase 2. 3.
Praxistipp
Pharyngeale Phase Ösophageale Phase
jPräorale Phase Manche Autoren fügen eine präorale Phase hinzu, da bereits die Wahrnehmung der Nahrung und Nahrungszuführung die Schluckbereitschaft steigern und physiologische Prozesse wie Speichel- und Magensaftsekretion fördern. jOrale Phase Die orale Phase gliedert sich in zwei Abschnitte: 4 orale Vorbereitungsphase oder Kauphase und 4 orale Entleerungsphase. kOrale Vorbereitungsphase Die Vorbereitungsphase dient der Zerkleinerung und Einspeichelung der Nahrung. Sie vermittelt durch die Aufnahme sensibler/sensorischer Reize (fühlen, schmecken, riechen) den Genuss am Essen und Trinken. Während des Kauvorgangs schiebt die Zunge den Bolus immer wieder zwischen die Molaren (Backenzähne), dort wird er mit Unterstützung rotatorischer Kieferbewegungen zerkleinert. Gleichzeitig kontrahieren sich die Lippen- und Wangenmuskeln und verhindern damit ein Abgleiten von Speiseteilchen in die seitlichen Mundtaschen. Normalerweise bleibt während des Kauvorgangs der Eingang in den Rachenraum ungeschützt. Deshalb können Nahrungspartikel 4 in die Valleculae, paarig, taschenförmig vertiefte Verbindungsräume zwischen Zungengrund und Epiglottis, oder 4 in die Sinus piriformes, paarig, taschenförmige Vertiefungen im Hypopharynx, die durch Anheftung des unteren Schlundschnürers am Ringknorpel geformt werden, fallen, ohne dass dies als pathologisch zu bewerten ist (. Abb. 24.1, 24.7). Bei Konsistenzen, die nicht gekaut werden müssen, also Flüssigkeiten oder breiige Nahrung, wird durch Senken des Velums an die gehobene Hinterzunge der Eingang zum Rachenraum verengt und damit ein vorzeitiger Bolusaustritt verhindert. Bei großen Bolusvolumen wird nur ein Teil der Nahrung schluckfertig vorbereitet und die verbleibenden noch inhomogenen Reste bis zum nächsten Schluck in den seitlichen Mundhöhlen gelagert.
Zu Ende der oralen Vorbereitungsphase wird die Speise auf der Zungenschüssel gesammelt, wobei sich die vorderen und lateralen Zungenränder an die Alveolen (Zahndamm) der oberen Vorderzähne drücken. > Die Dauer der Kauphase hängt von den Essgewohnheiten ab.
kOrale Entleerungsphase Die orale Entleerungsphase (Dauer ≤1 sec) beinhaltet den Weitertransport des Bolus im Mundraum bis zum Eintritt in den Oropharynx. Zu Beginn hebt sich die mediale Vorderzunge gegen den vorderen Gaumen, eine anschließende Rollbewegung des Zungenkörpers schiebt die Nahrung am Gaumendach entlang. Gleichzeitig bleiben die Lippen geschlossen, und die Wangenmuskulatur kontrahiert sich. Genau zum richtigen Zeitpunkt senkt sich rampenförmig die Hinterzunge, so dass der Bolus in den Oropharynx gleiten kann. Die orale Phase endet mit der Auslösung des Schluckreflexes. Damit es zur Schluckreflexauslösung kommt, muss immer ein Bolus vorhanden sein. Beispiel Versuchen Sie schnell 4-mal hintereinander zu schlucken! Können Sie 4-mal den Schluckreflex auslösen?
Für die Schluckreflextriggerung benötigen 4 ältere Personen mindestens 0,34 ml Bolusvolumen, 4 jüngere mindestens 0,16 ml (Shaker et al. 2003). Über den Sitz der Triggerzonen gibt es differierende Meinungen (Miller 1999). Es können Haupt- und Nebenareale unterschieden werden: Übereinstimmend gilt 4 bei jüngeren Personen der vordere Gaumenbogen als eines der Haupttriggerareale, 4 im höheren Lebensalter (>60 Jahre) erfolgt die Reflexauslösung meist erst nach Kontakt des Bolus mit der Zungenbasis (Robbins 1996). > Die Bewegungen der oralen Phase können willkürlich gesteuert werden, laufen aber weitgehend automatisiert ab.
jPharyngeale Phase Die pharyngeale Phase (Dauer ≤1 sec) beginnt mit der Triggerung des Schluckreflexes bei gleichzeitigem reflektorischem
24
354
Kapitel 24 · Schluckstörungen
24
. Abb. 24.1. Orale Phase. 1 Zunge. 2 Gaumen. 3 Valleculae. 4 Epiglottis. 5 Stimmlippen. 6 Luftröhre. 7 Sinus piriformes. 8 Speiseröhre
Atemstopp. Durch Hebung des Gaumensegels und Kontraktion des oberen Rachenmuskels wird der Epipharynx abgeschlossen und ein Eindringen von Nahrung in den Nasenraum verhindert. Sobald das Bolusende den Zungengrund erreicht hat, kommt es zu einer kräftigen Rückwärtsbewegung der Zungenbasis an die Rachenhinterwand. Nahezu zeitgleich hebt sich der Kehlkopf, der im Ruhezustand dicht an der Rachenhinterwand liegt, nach vorne oben und schafft dadurch Platz für die pharyngeale Boluspassage. Drei Verschlussmechanismen schützen die oberen Luftwege vor Fremdkörpern: 4 der Stimmlippenschluss, 4 der Taschenfaltenschluss und 4 das Senken des Kehldeckels. Wellenförmige Kontraktionen der Rachenmuskeln schieben den Bolus nach unten (. Abb. 24.2, 24.6). Die Nahrung wird im Rachen mit einer Geschwindigkeit von 9–25 cm/sec transportiert (Hannig 1995). Die pharyngeale Phase endet mit der Boluspassage durch den oberen Speiseröhrensphinkter. > Ein störungsfreier Verlauf erfordert eine zeitgerechte und ausreichend weite Öffnung des oberen Speiseröhrenmuskels. > Obwohl die Bewegungskette der pharyngealen Phase reflekorisch gesteuert wird, können bestimmte Komponenten willkürlich beeinflusst werden.
jÖsophageale Phase Die ösophageale Phase (Dauer 4–20 sec) umfasst den Transport in der Speiseröhre bis zur Passage durch den unteren Speiseröhrensphinkter in den Magen. Unterschieden werden primäre, sekundäre und tertiäre Peristaltik: 4 Die primäre Peristaltik ist Teil des Reflexgeschehens und befördert den Bolus mit einer Geschwindigkeit von 2– 4 cm/sec. 4 Sekundäre peristaltische Wellen dienen der Reinigung und werden durch einen lokalen Dehnungsreiz ausgelöst, z.B. durch liegengebliebene Nahrungsreste oder Reflux aus dem Magen.
. Abb. 24.2. Pharyngeale Phase. 1 Velumhebung. 2 Epiglottissenkung. 3 Stimmlippen-, Taschenfaltenschluss. 4 Zungenbasis-RachenAbschluss. 5 Kontraktion der Rachenmuskulatur. 6 Geöffneter Speiseröhreneingang
Näher betrachtet Sphinkteröffnungsstörungen Gerade in diesem komplexen neuromuskulären Geschehen zeigen sich auffallend häufig Beeinträchtigungen. Bei über 40% der neurogenen Dysphagien treten Sphinkteröffnungsstörungen auf (Bartolome u. Neumann 1993). Der obere Speiseröhrenmuskel (oberer Ösophagussphinkter, OÖS) besteht aus quergestreiften Muskelfasern und formt eine Muskelschlinge, deren ventraler Teil am Ringknorpel des Kehlkopfgerüsts inseriert. Im Ruhezustand bleibt der Speiseröhreneingang geschlossen. Kurz vor Beginn der Sphinkteröffnung (200 ms) erfolgt reflektorisch gesteuert eine Relaxation (Ekberg u. Olsson 1995). Die Entspannung des oberen Ösophagussphinkters und die Hebung von Zungenbein und Kehlkopf nach vorne führen zu einer Aufdehnung dieser Muskelschlinge um ca. 6 mm (Lang u. Shaker 1994). Während die Hyoid-Larynx-Hebung nach superior konsistenz- und altersabhängig stark variiert, bleibt die Anteriorbewegung mit 12–13 mm relativ stabil (Ishida et al. 2002). Die initiale OÖS-Öffnung erfolgt immer vor Ankunft des Bolus (Kendall et al. 2003). Die Feinanpassung der Öffnungsweite an die entsprechende Bolusgröße geschieht dann über spezifische Druckrezeptoren (Logemann 1995). Der Bolusdruck wird durch vier Komponenten erzeugt, 4 das Eigengewicht, 4 die Schubkraft der Zunge, 4 die pharyngeale Kontraktion und 4 den Unterdruck und damit 4 die Sogwirkung im Hypopharynx. Der Unterdruck entsteht im Zuge der Raumerweiterung durch die Anteriorbewegung des Kehlkopfs. Zusammenfassend wird dieser Mechanismus als sog. Saugpumpenstoß des Pharynx bezeichnet (Jacob et al. 1989, McConnel et al. 1988).
4 Gelegentlich kann es, besonders bei älteren Menschen oder bei autonomen Neuropathien, zu stehenden Kontraktionen kommen; diese sog. tertiäre Peristaltik führt häufig zu Behinderungen des Speisetransports. Während der muskuläre Anteil des Oropharynx bis einschließlich oberer Ösophagussphinkter aus quergestreiften Skelettmuskeln besteht und vom somatischen Nervensystem
355 24.1 · Schluckstörungen
gesteuert wird, haben distaler Ösophagus und unterer Ösophagussphinkter glatte Muskulatur, die vom vegetativen Nervensystem innerviert wird. > Eine willkürliche Beeinflussung der ösophagealen Motilität ist nicht möglich. Daher sind Erkrankungen der Speiseröhre Übungsverfahren nicht zugänglich; es werden medikamentöse und chirurgische Behandlungsmethoden eingesetzt.
Gestörter Schluckvorgang Störungen dieses komplexen, zeitlich fein aufeinander abge-
stimmten Geschehens können sich in unterschiedlicher Ausprägung zeigen. > Prinzipiell ist zwischen pathologischer Symptomatik und deren pathophysiologischer Ursache zu unterscheiden. Die Symptomatologie (z.B. Aspiration) bestimmt das Ausmaß der Schluckstörung und die Therapieindikation. Die pathophysiologische Ursache (z. B. gestörte Kehlkopfhebung) bildet die Grundlage für die Therapieplanung (Bartolome 2006).
Die Störungen können einzelne oder mehrere Phasen gleichzeitig betreffen. Besonders bei neurogenen Dysphagien finden sich meist mehrfache Beeinträchtigungen, die sich auf verschiedene Stadien des Schluckakts auswirken. In . Übersicht 24.3 sind pathologische Symptome und deren pathophysiologische Ursachen beschrieben. . Übersicht 24.3. Pathologische Symptome und pathophysiologische Ursachen Pathologische Symptome 1. Leaking (Entgleiten) 2. Pharyngeales Pooling (Auffangen) 3. Residuen (Reste): oral, laryngeal oder/und pharyngeal 4. Penetration 5. Aspiration Pathophysiologische Ursachen 1. Gestörte Oralmotorik 2. Verspätete/fehlende Schluckreflexauslösung 3. Unvollständiger velopharyngealer Abschluss 4. Unvollständiger Zungenbasis-Rachen-Abschluss 5. Eingeschränkte Hyoid-Larynx-Hebung 6. Reduzierte Pharynxkontraktion 7. Eingeschränkter laryngealer Verschluss 8. Gestörte OÖS-Öffnung
jLeaking Als Leaking bezeichnet man das unkontrollierte Entgleiten des Bolus aufgrund einer gestörten Oralmotorik. jPharyngeales Pooling Pharyngeales Pooling bedeutet das Auffangen von Bolusteilen im Rachen vor der Schluckreflextriggerung (prädeglutitiv).
. Abb. 24.3. Residuen (Zunge, Valleculae, Sinus piriformes)
Ursache ist meist eine verspätete oder fehlende Schluckreflexauslösung.
jResiduen Residuen, also Bolusreste können aus verschiedenen Gründen nach dem Schlucken (postdeglutitiv) im Mund- oder Rachenraum liegen, z.B. bei 4 ungenügender Zungenhebung verbleiben Reste auf der Zunge, 4 eingeschränkter Zungenbasisretraktion können Bolusresiduen in den Valleculae und 4 unzureichender OÖS-Öffnung in den Sinus piriformes liegen (. Abb. 24.3). jPenetration Penetration bezeichnet das Eindringen von Fremdsubstanzen entweder in die Nase (nasale Penetration) oder in den Kehlkopfeingang (laryngeale Penetration). Der Penetration können verschiedene Ursachen zugrunde liegen, sie kann sich vor, während oder nach der Schluckreflexauslösung ereignen (prä-, intra- oder postdeglutitiv). So kann es z.B. bei unzureichender Kehlkopfanteriorbewegung und unvollständiger Epiglottiskippung zu intradeglutitiven laryngealen Penetration kommen (. Abb. 24.4). jAspiration Die Aspiration ist die bedrohlichste Komplikation der Dysphagie und bezeichnet das Eindringen von Fremdsubstanzen in die Luftwege unterhalb der Stimmlippen. Auch die Aspiration kann durch unterschiedliche Pathomechanismen verursacht werden und vor, während oder nach der Schluckreflexauslösung erfolgen (prä-, intra- oder postdeglutitiv) (. Abb. 24.5). Beispiel Aufgrund einer gestörten OÖS-Öffnung verbleidende Residuen in den Sinus piriformes können, sobald der Kehlkopf seine Ruheposition erreicht hat, in den Kehlkopfeingang überlaufen und 6
24
356
Kapitel 24 · Schluckstörungen
24.2.1
Klinische Eingangsuntersuchung
> Eine Screening-Untersuchung soll die Dysphagie/Aspiration ausreichend sicher bestätigen (Sensitivität) bzw. ausreichend sicher ausschließen (Spezifität).
24
Für valide Diagnoseverfahren wird eine Sensitivität von >80–90% und eine Spezifität von >50% gefordert. Es gibt bisher keinen einzelnen Test, der diese Forderungen erfüllt (Doggett et al. 2001). Dies erscheint nicht verwunderlich, da der Schluckvorgang im Verborgenen abläuft und somit die klinische Inspektion an ihre Grenzen stößt. Man unterscheidet zwischen Aspirationsschnelltets und einer ausführlichen klinischen Schluckuntersuchung (KSU). . Abb. 24.4. Laryngeale Penetration
Aspirationsschnelltests Aufgrund der relativ hohen Sensitivität und Spezifität können zwei kombinierte Schnelltests empfohlen werden (Prosiegel et al., 2008; Ramsey et al. 2003), 1. der 50-ml-Wasser-Test kombiniert mit der Untersuchung der Sensibilität im Pharynxbereich (Marina u. Pron 2000, Kidd et al. 1993) und 2. der 50-ml-Wasser-Test kombiniert mit der Pulsoxymetrie (Lim et al. 2001). > Das Beurteilungskriterium für die Schnelltests lautet: Ist ein oder sind beide Untertests positiv (nicht normal), besteht ein hohes Aspiratonsrisiko.
. Abb. 24.5. Prädegluditive Aspiration
bei der folgenden Einatmung postdeglutitiv aspiriert werden. Als besonders gefährlich gilt die Aspiration von saurem Magensaft bei Refluxkrankheit der Speiseröhre. Letzteres betrifft Fälle mit kombiniert vorliegender oropharyngealer und ösophagealer Dysphagie.
24.2
Diagnostik
Die Diagnostik umfasst mehrere Aspekte: 4 Beurteilung der Fähigkeit des Patienten zu einer ausreichenden Nahrungszufuhr und Klärung, ob eine ergänzende oder vollständige Sondenernährung notwendig ist, 4 Indikation für evtl. Sofortmaßnahmen zum Schutz der tiefen Atemwege, z.B. Anpassung einer geblockten Trachealkanüle, 4 Analyse der Störungen als Basis für die Therapieplanung, 4 Überprüfung der Effektivität therapeutischer Strategien (Aviv et al. 2002).
! Cave Kontraindikationen für die Aspirationsschnelltests sind 4 bereits bekannte Aspirationszeichen, 4 pathologische Lungenbefunde und 4 schwere Bewusstseinsstörungen. Die Aspirationsschnelltests können auch vom Pflegepersonal, das speziell instruiert wurde, durchgeführt werden; die Tests geben allerdings keine Information über die Störungsursache. j50-ml-Wasser-Test/Sensibilität im Pharynxbereich Beim 50-ml-Wasser-Test werden sukzessive je 5 ml Wasser getrunken. ! Cave Aspirationshinweise und zugleich Abbruchkriterien sind: 4 Husten, 4 Atemnot oder 4 Veränderungen der Stimmqualität nach dem Schlucken. Zur Überprüfung der Sensibilität im Pharynxbereich tupft man mit einem Wattestäbchen je einmal leicht an die rechte und linke Pharynxwand. Der Patient soll beurteilen, ob er Berührung gespürt hat, und ob es Seitenunterschiede gibt. > Es wird nicht die Würgereflexauslöung bewertet!
357 24.2 · Diagnostik
j50-ml-Wasser-Test/Pulsoxymetrie Die Pulsoxymetrie ist eine unblutige Messung des arteriellen Sauerstoffgehalts. Nach Bestimmung der Baseline (2 min messen, Mittelwert zwischen höchstem und niedrigstem Wert bestimmen) wird während des Wassertests gemessen. > Als pathologisch gilt ein Sauerstoffabfall >2%, als Abbruchkriterium gilt ein O2-Abfall >5%.
Klinische Schluckuntersuchung (KSU) Für die ausführliche klinische Schluckuntersuchung, die auch die Störungsursachen hinterfragt, ist spezielles Fachwissen erforderlich. Die KSU sollte deshalb von Logopäden durchgeführt werden. Leider gibt es bisher noch keine einheitliche Vorgehensweise (Mathers-Schmid et al. 2003) (. Abb. 24.6). Die meisten in der Literatur beschriebenen Leistungen einer KSU umfassen die in . Übersicht 24.4 aufgelisteten Punkte. . Übersicht 24.4. Leistungen einer KSU 1. 2. 3.
Anamneseerhebung und Erfassung relevanter Daten aus der Krankengeschichte Untersuchung der am Schluckvorgang beteiligten Organe Direkte Schluckprobe (Perry u. Love 2001, Murray 1999, Bartolome 2006, Logemann 1998, Murry u. Carrau 2006)
jAnamnese Der Fragenkatalog bezieht sich auf Zeichen, die auf eine Schluckstörung hinweisen können, z.B. 4 Husten, 4 Verschlucken, 4 Liegenbleiben von Nahrung im Mund, 4 Steckenbleiben im Hals, 4 Kloßgefühl, 4 Ausspucken von Speichel oder/und Nahrung, 4 Vermeiden von bestimmten Nahrungsmitteln. jFunktionsprüfung Die Funktionsprüfung der am Schluckvorgang beteiligten Organe beinhaltet 4 die visuelle und manuelle Bewertung der Oralmotorik, 4 die taktile Prüfung der Berührungsempfindung und 4 die auditive Kehlkopfbeurteilung. Die Organe der Oralmotorik werden in drei Modalitäten untersucht: 4 im Ruhezustand, 4 bei reflektorischen Bewegungen und 4 bei willkürlich intendierten Bewegungen.
4 Geschwindigkeit und Bewegungsfluss, 4 Richtigkeit der Auswahl und Folge von Bewegungen sowie 4 evtl. Hyperkinesen. Zur Überprüfung der oralen Berührungsempfindung werden mit einem Wattehärchen Reize im Mundraum gesetzt. Bei der auditiven Kehlkopfprüfung gilt als wichtigster Dysphagieparameter die gurgelnde Stimmqualität. Liegen Fremdkörper, z.B. Speichel- oder Nahrungsreste auf den Stimmlippen, kommt es meist zu deutlichen Klangveränderungen. jDirekte Schluckprobe In der direkten Schluckprobe wird zunächst das Speichelschlucken geprüft. Falls möglich, schließen sich Probeschlucke mit 1/3 bis zu einem Teelöffel, gegebenenfalls bis zu einem Esslöffel Nahrung und Flüssigkeit an. Bewährt hat sich die Götterspeise, die Flüssigkeit sollte man anfärben. Die Beurteilungskriterien umfassen: 4 Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme, 4 Mundschluss, 4 Kieferschluss, 4 Kauen und 4 Kehlkopfhebung. Des Weiteren wird auf Hustenreaktionen geachtet und unmittelbar nach jedem Schluck eine Stimmprobe durchgeführt. Eventuell verbliebene Nahrungsreste, die auf eine gestörte Schluckeffizienz hinweisen, kontrolliert man durch Inspektion des Mundraums. Zur Überprüfung pharyngealer Residuen wird der Patient zum Rachenreinigen und Ausspucken aufgefordert. Praxistipp Bei nicht kooperationsfähigen Patienten lassen sich klinisch lediglich die oralmotorischen Reaktionen auf verschiedene sensorische Stimuli beobachten. Zur direkten Prüfung des Schluckvorgangs ist in diesen Fällen die flexible Videoendoskopie zu empfehlen. Diese Methode kann auch bei schwer beeinträchtigten Patienten am Krankenbett durchgeführt werden (s.u.).
> Patienten mit Sensibilitätsstörungen im Kehlkopfund Luftröhrenbereich aspirieren häufig unauffällig, d.h. ohne Hustenreflex. Diese sog. stille Aspiration betrifft etwa 60% der Fälle (Smith et al. 1999).
kZeichen einer Aspiration Anhand der in . Übersicht 24.5 aufgelisteten klinischen Zeichen lässt sich eine Aspiration erkennen.
24.2.2
Apparative Zusatzuntersuchungen
Bewertet werden:
4 Oberflächenbeschaffenheit, 4 Form und Lage einzelner Strukturen, 4 Bewegungsradius,
Die Eingangsuntersuchung ermöglicht eine Bewertung der oralen Vorbereitungs- und oralen Phase, jedoch nur eine grobe Einschätzung der pharyngealen Funktionen. Für eine Dif-
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358
Kapitel 24 · Schluckstörungen
störung erfolgt die Untersuchung entweder nur als Speichelschluck oder nach Einnahme verschiedener Nahrungskonsistenzen, wobei z.B. unter Zugabe von Methylenblau oder Lebensmittelfarben eine deutliche Kontrastierung erfolgen kann (Schröter-Morasch 2005).
24
Allerdings kann mit der Videoendoskpie nicht der gesamte Schluckverlauf beobachtet werden, da auch bei endonasaler Technik mit Einsetzen der Reflexphase die Sicht durch die Velumhebung behindert wird (»white out«) (Kidder u. Langmore 1994, Schröter-Morasch 2006). Die wichtigsten Beurteilungskriterien der FEES und TOES sind in . Übersicht 24.6 zusammengefasst.
. Abb. 24.6. Klinische Schluckprüfung: Schluckkontrollgriff. A Zeigefinger am äußeren Mundboden → Dauer der oralen Transportphase. B Mittelfinger am Zungenbein → Zungenbeinhebung. C Ringfinger am Schildknorpel, kleiner Finger am Ringknorpel → Kehlkopfhebung
. Übersicht 24.5. Klinische Zeichen für eine Aspiration/Penetration 1. 2. 3. 4.
Plötzliche Veränderungen der Stimmqualität, gurgelnd oder rau → Penetration oder Aspiration Husten und Räuspern → Penetration oder Aspiration Plötzliche Atemgeräusche, Atemnot → Aspiration: Husten unterstützen, sofort Hilfe herbeirufen! Atemstopp, Zyanose → lebensbedrohliche Aspiration: Husten unterstützen, sofort Hilfe herbeirufen!
. Übersicht 24.6. Beurteilungskriterien der FEES und TOES 1. 2.
3. 4. 5.
Strukturelle Veränderungen des Pharynx und Larynx Neurologische Symptome des Pharynx und Larynx (Tonusveränderungen, Bewegungsstörungen, Sensibilitätsdefizite) Penetration, Aspiration, Residuen Spontane Reaktionen des Patienten (Räuspern, Husten) Effektivität der laryngealen und pharyngealen Reinigungsfunktion durch absichtliches Husten, Rachenreinigen, Ausspucken
> Die transstomatale Untersuchung ist das einzige endoskopische Verfahren, das eine Aspiration direkt nachweist. Allerdings sind bei der transstomatalen Positionierung des Endoskops die supralaryngealen und pharyngealen Strukturen nicht sichtbar.
ferenzialdiagnose sind apparative Zusatzuntersuchungen
notwendig.
Videoendoskopie Die Videoendoskopie ermöglicht die direkte Beobachtung von Strukturen und Funktionen des laryngo-pharyngealen Bereichs (. Abb. 24.7). Es stehen zwei Untersuchungsmethoden zur Verfügung, die alle mit einer Videoaufzeichnung kombinierbar sind: 4 Die transorale Endoskopie bei Schluckstörungen (TOES) (Schröter-Morasch 2006) verwendet ein starres Lupenlaryngoskop mit einer 90°-Winkeloptik, das bis hinter das Velum vorgeschoben wird. 4 Bei der transnasalen Untersuchung (Flexible Endoscopic Evaluation of Swallowing, FEES) (Lanmore 2001, Bastian 1991) wird ein flexibles Endoskop über die Nase bis in den Epipharynx eingeführt. 4 Als erweiterte Anwendungsmöglichkeit der FEES ist noch die transstomatale Untersuchung zu nennen (Gallenberger u. Schröter-Morasch 1999), die bei Patienten mit Tracheostoma angewendet werden kann: Ein flexibles Endoskop wird durch das Tracheostoma in die Luftröhre geschoben, und die Stimmlippen werden mit Blick nach oben beobachtet. Je nach Ausprägungsgrad der Schluck-
Näher betrachtet Studien: Videoendoskopie Mehrere Studien bestätigen, dass die Videoendoskopie von den meisten Patienten gut vertragen wird (Aviv et al. 2005). Das Verfahren kann deshalb wiederholt werden und eignet sich für das regelmäßige Therapiemonitoring. Lediglich in seltenen Fällen kann wegen eines gesteigerten Würgereizes oder Angst vor Einführung des Instruments die Untersuchung nicht durchgeführt werden. Vereinzelt treten vagale Reaktionen auf.
jSpezielle Sensibilitätsprüfung Gelingt es während der Standarduntersuchung nicht, sensible Reaktionen des Patienten zu beobachten, z.B. Husten bei Aspiration, erfolgt eine spezielle Sensibilitätsprüfung der laryngealen Strukturen durch 4 taktile Berührungsreize mit der Endoskopspitze (Schröter-Morasch 2006) oder 4 Applikation von kurzen Luftdruckstößen. Für Letzteres wird ein spezielles Zusatzgerät benötigt (Avi u. Murry 2005).
359 24.2 · Diagnostik
. Abb. 24.7. Videoendoskopie. 1 Epiglottis. 2 Vallecula. 3 Taschenfalte. 4 Stimmlippe. 5 Sinus piriformis
! Cave Bei einer pharyngo-laryngealen Sensibilitätsstörung fehlen die Schutzmechnismen. Es besteht ein erhöhtes Aspirationsrisiko (Setzen et al. 2001, Setzen et al. 2003, Aviv et al., 2002)!
Videofluoroskopie/Hochfrequenzkinematographie Die radiologische Funktionsdiagnostik erfasst den funktionellen Ablauf des gesamten Schluckvorgangs von der Mundhöhle bis zum Eintritt in den Magen (. Abb. 24.8). Darin ist dieses Untersuchungsverfahren den anderen genannten Methoden überlegen. Die Mehrzahl der dynamischen Untersuchungen wird heute mit der Videofluoroskopie mit 25 Bildern/sec durchgeführt. Dafür werden ein normaler Röntgendurchleuchtungsplatz und die Technik des Frame-Grabbing (Bildübertragung) benötigt. Mit der Röntgenkinematographie, einem technisch aufwändigeren und kostspieligeren Verfahren, ist eine um den Faktor 6,6 bessere örtliche Auflösung bei 50–200 Bildern/sec möglich. Die Hochfrequenzröntgenkinematographie wird für spezielle Fragen und wissenschaftlich benutzt (Jones 2003). Der Schluckakt wird in beiden Ebenen, in seitlicher Einstellung und frontaler Projektion, dokumentiert. Die Wahl des Kontrastmittels erfolgt nach klinischer Einschätzung der Aspirationsneigung. Praxistipp Bei aspirationsgefährdeten Patienten beginnt man die Untersuchung mit einem kleinen Bolusvolumen, etwa 1– 3 ml eines ionischen, dünnflüssigen Kontrastmittels, z.B. IMERON®. Geringe Mengen dieses annähernd iso-osmolaren Kontrastmittels werden nach Aspiration in der Lunge vollständig resorbiert (Wuttge-Hannig u. Hannig 2006).
. Abb. 24.8. Röntgenanatomie. 1 Zunge. 2 Velum. 3 Zungenbein. 4 Epiglottis. 5 Stimmlippen. 6 OÖS (Kontrastmittelstau). 7 Trachea. 8 Ösophagus
Kommt es bei diesen Eingangsschlucken zu keiner Aspiration, kann nachfolgend je nach individueller Fragestellung eine Bariumsulfatsuspension mittlerer Viskosität verwendet werden, die besser an den Schleimhäuten haftet und z.B. die Beurteilung des Pharynx in der Erschlaffungsphase erleichtert. ! Cave Bis in die Lunge aspirierte Bariumpräparate können zu Verklebungen der Alveolen führen! Sofern es die individuelle Situatuion erlaubt, wird das Trinken von Flüssigkeiten mit 1, 3, 5 und 10 ml Volumen geprüft, und es werden mit Kontrastmittel durchmischte breiige und auch feste Nahrung zugeführt (Dobrinski 1999).
Zusammenfassung Da in der Röntgenuntersuchung der gesamte Schluckvorgang dargestellt wird, ist eine lückenlose Analyse möglich.
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Kapitel 24 · Schluckstörungen
Dies ermöglicht neben der Erfassung 4 morphologischer Auffälligkeiten, 4 pathologischer Symptome und deren 4 pathophysiologischer Ursache auch 4 die Einschätzung der Gefährdung des Patienten und 4 die Bewertung der Effektivität therapeutischer Maßnahmen. Allerdings kann die Untersuchung wegen der Strahlenexposition nicht beliebig oft wiederholt werden. Die genannten drei Untersuchungsverfahren bilden i.d.R. die Standarddiagnostik bei aspirationsgefährdeten Patienten und dienen als Grundlage für die Erarbeitung eines Therapieplans.
24.2.3
Ergänzende Diagnostik
Bronchoskopie Die Bronchoskopie ist ein ergänzendes Verfahren mit hohem klinischem Stellenwert. Unter Lokalanästhesie wird eine flexible Optik über die Nase bis in die Lunge vorgeschoben. Somit können entzündliche Reaktionen sowie Art und Menge des aspirierten Materials unmittelbar erfasst werden. Darüber hinaus ermöglicht das Verfahren, Materialen direkt aus dem Bronchialsystem zu entnehmen und die Atemwege von aspiriertem Material zu befreien. Eine Bronchoskopie eignet sich auch für Patienten mit Trachealkanülen, vor allem für die Kontrolle der Kanülenlage und evt. kanüleninduzierter Schädigungen der Trachea (Gallenberger u. Schröter-Morasch 1999).
Manometrie Die Manometrie wird zur Diagnostik ösophagealer Motilitätsstörungen, aber auch zur Bestimmung pharyngealer Druckverhältnisse angewendet. Es werden Druckanstiege und Abfälle an verschiedenen Punkten registriert. Bei der oropharyngealen Dysphagie führt man die Manometrie vor allem zur Einschätzung der Erfolgsaussichten von chirurgischen Eingriffen (z.B. Myotomie des oberen Speiseröhrenmuskels) durch (Pehl 2006).
ph-Metrie Die ph-Metrie ist ein Diagnoseverfahren zur Beurteilung des krankhaften Zurückfließens von Magensaft in die Speiseröhre (gastro-ösophagealer Reflux). Die Methode misst den Säuregehalt im Ösophagus, der sich durch den Reflux verändert. ! Cave Durch die Aspiration von säurehaltigem Magensaft sind Patienten mit oropharyngealer Dysphagie und begleitender Refluxerkrankung besonders gefährdet.
Pulsoxymetrie Die Pulsoxymetrie, d.h. die unblutige Messung des arteriellen Sauerstoffgehalts wird als alleiniges Verfahren zum Nachweis einer Aspiration kontrovers diskutiert (Colodny 2000, Zaidi et al. 1995, Sherman et al. 1999, Leder 2000), kann aber in Kombination mit dem 50-ml-Wassertest empfohlen werden (7 Kap. 24.2.1.1).
. Tab. 24.1. Interdisziplinäre Diagnostik der Dysphagie
Klinische Eingangsuntersuchung Screening-Verfahren
Apparative Zusatzdiagnostik
Ergänzende Diagnostik
Diagnostik
Inhalt
Fachdisziplin
Aspirationsschnelltests
50-ml-Wassertest kombiniert mit Aufzeichnung der O2-Sättigung oder Prüfung der pharyngealen Sensibilität → Beobachtung indirekter Aspirationshinweise
Logopädie, speziell geschulte Pflege
Klinische Schluckuntersuchung
Anamnese, Überprüfung schluckrelevanter oralmotorischer Bewegungen, Schluckprüfung → Beobachtung einzelner Schluckparameter und indirekter Aspirationshinweise
Logopädie
Videoendoskopie
Dynamisch bildhafte Darstellung des Schluckvorgangs → Beobachtung prä- und postdeglutitiver Vorgänge, auch Speichelschluck, keine Sicht intradeglutitiv
HNO, Phoniatrie
Videofluoroskopie, Röntgenkinematographie
Dynamisch bildhafte Darstellung des Schluckvorgangs → Beobachtung prä-, intra- und postdeglutitiver Vorgänge, Speichelschluck nicht beurteilbar
Radiologie
Bronchoskopie
Wie Videoendoskopie, zusätzlich Absaugmöglichkeit von Fremdsubstanzen
Pneumonologie
Manometrie
Aufzeichnung der Druckverhältnisse
Gastroenterologie
Kombinierte Radiomanometrie
Aufzeichnung der Druckverhältnisse kombiniert mit dynamisch bildhafter Darstellung der Schluckfunktion
Gastroenterologie, Radiologie
ph-Metrie
Aufzeichnung des Säuregehalts
Gastroenterologie
361 24.3 · Therapie
24.2.4
Zusammenfassung
In . Tab. 24.1 sind die Verfahren zur Diagnostik einer Dysphagie übersichtlich zusammengefasst.
24.3
Therapie
24.3.1
Sofortmaßnahmen zur Sicherstellung der Ernährung und zum Schutz der Luftwege
Sondenernährung Drohen aufgrund der Aspiration pulmonale Komplikationen, oder sind die Patienten durch die Schluckstörung von Mangelernährung oder Exsikkose bedroht, muss die Nahrungszufuhr je nach Schweregrad der Dysphagie entweder ergänzend oder vollständig nonoral erfolgen. Die Möglichkeiten sind in . Übersicht 24.7 zusammengefasst. . Übersicht 24.7. Möglichkeiten der Nahrungszufuhr 1. 2.
Parenterale Ernährung (umgeht den Magen-DarmTrakt), z.B. intravenöse Infusionen Enterale Ernährung (nutzt den Magen-Darm-Trakt) – Nasogastrale Sonde – PEG (perkutan endoskopische Gastrostomie) – Jejunostomie
jParenterale Ernährung Die parenterale Ernährung, das heißt die intravenöse Verabreichung lebensnotwendiger Substanzen, sollte wegen des erhöhten Komplikationsrisikos möglichst nur über einen kurzen Zeitraum erfolgen. Bei Patienten, deren Schluckstörung über die Akutphase hinaus persistiert, entscheidet man sich deshalb frühzeitig für die Nahrungszufuhr mittels Sonde. jEnterale Ernährung Die enterale Ernährung, d.h. die Gabe von Nährsubstraten in den Magen-Darm-Trakt über eine Sonde, stellt eine physiologisch angepasste Form der Ernährung dar. Man unterscheidet zwei Sondenarten, 4 die transnasale Sonde (über den Nasen-Rachen-Raum) und 4 die perkutane Sonde (durch die Bauchdecke). kNasogastrale Sonde Ist eine kurzfristige Sondenernährung vorhersehbar (14 Tage bis ca. 4 Wochen), wird die nasogastrale Sonde gelegt. Zu bedenken sind 4 die mechanische Behinderung des Schluckens durch die Lage der Sonde im Rachen, 4 das Risiko von Druckulzera, 4 ein erhöhtes Refluxrisiko und 4 evt. Fehlplatzierungen beim Einführen (Huggins et al. 1999).
kPEG-Sonde Bei voraussichtlich längerfristiger non-oraler Ernährung empfiehlt sich die frühzeitige Anlage einer PEG-Sonde (perkutane endoskopische Gastrostomie). Da die PEG-Sonde Magen- und Bauchwand verbindet, bleibt der oropharyngeale Raum verschont. Die Anlage erfolgt heute meist unter Lokalanästhesie endoskopisch kontrolliert (Dauer etwa 15 min). Nachteile bei der PEG-Sonde sind u.a. Wundinfektionen und als seltene Komplikationen Blutungen, Dislokationen, Ulzera und Verwachsungen. Eine bestehende Refluxsymptomatik kann durch die Sondennahrung sogar noch verstärkt werden. kJejunostomie Bei stark refluxgefährdeten Patienten wird die Sonde ins Duodenum oder Jejunum platziert, disloziert jedoch häufig in den Magen. Die chirurgisch angelegte Feinnadelkatheterjejunostomie erfolgt nur in speziellen Fällen. ! Cave Trotz non-oraler Ernährung kann weiterhin eine Aspiration vorliegen (Speichel, Sekret, Magenrefluat). Praxistipp Die nasogastrale Sonde sollte bei Dysphagiepatienten nur für die kurzzeitige klinische Nahrungszufuhr verwendet werden (14 Tage bis 4 Wochen). Bei absehbar längerfristiger non-oraler Ernährung empfiehlt sich die Anlage einer PEG-Sonde.
24.3.2
Tracheostoma, Trachealkanülen
> Besteht eine lebensgefährliche Speichelaspiration, muss eine Tracheotomie (Luftröhrenschnitt) durchgeführt und eine Trachealkanüle eingesetzt werden. Ziel der Tracheotomie ist die Vermeidung von Aspirationen.
Kommt es dennoch zum Eindringen von Speichel oder Nahrung in die Trachea, oder besteht eine starke Verschleimung der Trachea, kann über die Kanüle abgesaugt werden.
Trachealkanülen Man unterscheidet die in . Übersicht 24.8 aufgelisteten Kanülengrundformen. . Übersicht 24.8. Kanülengrundformen 1. 2.
3.
Einfache Kanüle Blockbare Kanüle mit – Niederdruckballon – Druckausgleichsballon – Subglottischer Absaugung – gefensterte blockbare Kanüle Sprechkanüle
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362
24
Kapitel 24 · Schluckstörungen
jEinfache Trachealkanüle Die einfache Trachealkanüle besteht aus einem gebogenen Rohr. Es gibt Varianten mit zwei gebogenen Röhren, einer Außenkanüle und einer kleinlumigeren Innenkanüle. Letztere erleichtert die Reinigung, da sie leicht herausnehmbar ist. Da zwischen Außenkanüle und Trachealwand ein schmaler Zwischenraum frei bleibt, kann aspiriertes Material in die unteren Luftwege gelangen. Praxistipp Für schluckgestörte Patienten mit Aspiration bietet diese Kanüle keinen Schutz. Sie wird ggf. zur stufenweisen Dekanülierung eingesetzt, um die Möglichkeit des trachealen Absaugens zu erhalten.
jBlockbare Trachealkanüle Zum Schutz vor Aspiration muss eine blockbare Trachealkanüle verwendet werden. Durch Aufblasen einer Manschette wird der Raum zwischen Kanüle und Luftröhrenwand verschlossen. Dies verhindert eine lebensbedrohliche Aspiration, schützt jedoch nicht gänzlich vor Mikroaspirationen. Das aspirierte Material staut sich über der Manschette, und bei ausreichend weitem Tracheostoma kann es zum Teil nach außen treten. Ein- und Ausatmung erfolgen ausschließlich über die Kanüle. Die Stimmlippen können damit nicht mehr in Schwingungen versetzt werden. Somit bedeutet eine geblockte Trachealkanüle den Verlust der Stimme. Geblockte Trachealkanülen gibt es in unterschiedlichen Ausführungen. Niederdruckballon. Mit der Einführung des sog. Niederdruckballons konnten die Trachealwandschäden, die durch den Manschettendruck entstanden sind, erheblich reduziert werden. Druckausgleichsballon. Als besonders schonend für die Trachealwand haben sich die Kanülen mit einem zusätzlichen Druckausgleichsballon erwiesen. Bei Druckspitzen, z.B. beim Husten, kann die Luft in einen äußeren Ausgleichsballon entweichen. Subglottische Absaugvorrichtung. Bei Patienten mit ausgeprägtem Speichelaufstau empfiehlt sich eine geblockte Kanüle mit subglottischer Absaugvorrichtung. Diese besitzt einen zusätzlichen feinen Schlauch, der oberhalb des Cuffs endet (. Abb. 24.9). Dadurch kann mittels Pumpe entweder kontinuierlich oder intervallmäßig mit einer Spritze Sekret, das sich oberhalb des Cuffs aufgestaut hat, abgesaugt werden. Durch das regelmäßige Absaugen des Materials wird das Pneumonierisiko reduziert (Smulders et al. 2002, Hess 2005). Gefensterte blockbare Kanüle. Die gefensterte blockbare Kanüle besitzt eine Öffnung in der Außenkanüle, dadurch wird Luft in Richtung Glottis geleitet. Die Innenkanüle ist geschlossen. Bei Sprechversuchen wird die Innenkanüle entfernt und die äußere Kanülenöffnung beim Ausatmen mit dem Finger oder einem Ventil verschlossen. Damit können
. Abb. 24.9. Blockbare Kanüle mit Druckausgleichsballon und subglottischer Absaugung
kurze Unterhaltungen geführt werden. Allerdings ist durch das Entfernen der Innenkanüle der Aspirationsschutz trotz Blockung aufgehoben. jSprechkanüle Die Sprechkanüle besitzt ebenfalls eine Fensterung und am Ausgang eine Ventilklappe. Diese öffnet sich bei der Einatmung und schließt beim Ausatmen. Somit kann die Luft bei der Exspiration durch das Kanülenfenster strömen und die Stimmlippen in Schwingungen versetzen. Praxistipp Die Sprechkanüle bietet keinen Aspirationsschutz. Sie wird bei schluckgestörten Patienten meist temporär im Rahmen einer Dekanülierung verwendet.
jNachteile/Komplikationen von Trachealkanülen Medizinische Komplikationen bei Kanülenträgern sind 4 eine vermehrte Schleimproduktion, 4 eine erhöhte Infektanfälligkeit und 4 bei geblockten Trachealkanülen die Gefahr der Tracheomalazie (Erweichung des Knorpels). Letztere konnte zwar durch die neuen Kanülenballons erheblich reduziert werden, ist aber bei langer Anlage weiterhin vorhanden. Allgemeine Nachteile sind: 4 Der Hustenstoß ist abgeschwächt. 4 Die Befeuchtung der Einatemluft über die Nasenschleimhäute entfällt. 4 Tracheotomie und geblockte Kanüle erschweren den Schluckvorgang: Durch die Fixierung der Trachea an der vorderen Halshaut und die Kanülenblockung wird die Kehlkopfhebung erschwert. 4 Da die Einatemluft Mund- und Nasenräume umgeht, wird die Aufnahme von Geruchsreizen behindert. Die Schluckfrequenz ist vermindert (Seidl et al. 2002). 4 Es kommt zu Koordinationsstörungen des laryngealen Verschlusses (Schröter-Morasch 2006).
363 24.3 · Therapie
Fazit Aus diesen Gründen wird bei dauergeblockten Patienten häufig empfohlen, keine Ess- und Trinkversuche durchzuführen. Die bisherige Meinung, dass eine Trachealkanüle die Schluckfunktion signifikant verschlechtern würde, konnte allerdings widerlegt werden (Donzelli et al. 2005, Terk et al. 2007). Besonders die geblockte Kanüle mit Absaugvorrichtung eignet sich für kontrollierte Ess- und Trinkversuche, da der Raum über der Blockung abgesaugt und ausgespült werden kann. Zur Sicherheit erfolgt anschließend ein tracheales Absaugen, da auch eine Blockung nicht 100%ig vor Aspiration schützt. Bei geblockter Trachealkanüle sind also weder ein striktes Ess- und Trinkverbot noch eine vollständige Oralisierung zu befürworten!
24.3.3
Funktionsfördernde Therapie
Ziel der Dysphagietherapie ist die Wiederherstellung bzw.
Verbesserung der Schluckfunktion. Deshalb sind übende Behandlungsverfahren das Mittel der Wahl. Es haben sich verschiedene Therapien etabliert, die kontrovers diskutiert werden. Erst in jüngster Zeit wurden auf Basis von Literaturrecherchen nach den Kriterien der Evidence Based Medicine (EBM) Leitlinien zur Behandlung neurogener Schluckstörungen erstellt (Prosiegel et al., 2008). Allerdings ist die MetaAnalyse bisheriger Studien zur Schlucktherapie ernüchternd. Es gibt kaum Wirksamkeitsnachweise im Sinne randomisierter kontrollierter Studien (RCT). Eine stattliche Anzahl an Studien mit anderen gut angelegten Designs weisen jedoch positive Effekte bei bestimmten Interventionen nach (7 Kap. 24.4, Exkurs). Einige verbreitete Therapieverfahren seien kurz vorgestellt.
Fazio-orale Therapie jTherapie des fazio-oralen Trakts (FOTT) Die sog. Therapie des fazio-oralen Trakts (FOTT) nach Coombes versteht sich als ganzheitlicher Therapieansatz, der auf den Prinzipien des Bobath-Konzepts basiert (NusserMüller-Busch 2007, Seidl et al. 2007). Die Therapie umfasst die vier Bereiche 4 Nahrungsaufnahme, 4 Mundhygiene, 4 nonverbale Kommunikation und 4 Sprechen. Die Behandlung konzentriert sich u.a. auf 4 Tonusregulierung, 4 Körperhaltung und 4 Vermittlung von Reizen verschiedener Modalitäten im Gesichts- und oralen Bereich. jOrofaziale Regulationstherapie (ORT) Die orofaziale Regulationstherapie (ORT) nach Morales (1998) wird vorwiegend bei Kindern und inzwischen auch bei Erwachsenen mit neurologisch bedingten orofazialen Störungen eingesetzt. Um Bewegungen zu mobilisieren,
wird u.a. mit Berührung, Druck, Zug und besonders mit Vibration gearbeitet. Die Reizapplikation erfolgt sowohl an den Extremitäten als auch unmittelbar im orofazialen Bereich. Bei Bedarf werden zur Förderung der Lippen- und Zungenbewegungen Gaumenplatten mit Stimulationsknöpfen eingesetzt. Fazit Beide Verfahren haben zum Ziel, vielfältige Störungen des orofazialen Trakts, einschließlich der Schluckstörungen, zu behandeln. Leider findet die pharyngeale Schluckphase, die immerhin bei etwa 90% der neurologisch bedingten Schluckstörungen betroffen ist (Bartolome et al. 1997) kaum Beachtung. Daher können FOTT und ORT nicht als umfassende Dysphagietherapien eingesetzt werden. In der Akutphase und der Frührehabilition schluckgestörter Patienten ist eine stimulative Vorgehensweise sinnvoll und vielfach über einen gewissen Zeitraum die einzig mögliche therapeutische Strategie. Sobald die Patienten genügend wach und kooperationsfähig sind, sollte die ganzheitliche Stimulationsbehandlung durch gezielte schluckspezifische Übungen ersetzt werden.
Funktionelle Dysphagietherapie (FDT) Die funktionelle Dysphagietherapie (FDT) basiert auf einer funktionsorientierten übenden Vorgehensweise (Bartolome 2006, Logemann 1998, Cichero et al. 2006, Murry u. Carrau 2006, Huckabee et al. 1998). Es wird nach Strategien gesucht, um das gewünschte funktionelle Ergebnis, d.h., sicheres und effektives Schlucken zu erreichen. Therapeutisches Ziel ist nicht zwingend die natürliche Bewegungsfolge. Gelingt es nicht, durch Stimulationen und Motilitätsübungen ein physiologisches Schlucken anzubahnen, werden kompensatorische und adaptive Strategien eingesetzt. Ausgehend von der Schluckpathologie, der Grunderkrankung des Patienten und seinen Bedürfnissen wird ein Therapieprogramm maßgeschneidert. Wichtig für die spezifische Therapieplanung und Verlaufskontrolle ist neben der klinischen Beobachtung die genaue Analyse durch instrumentelle Verfahren (Danke u. Kaider 1997). Dazu zählen vor allem die Videoendoskopie und die Videofluoroskopie. In . Tab. 24.2 sind die vorgestellten Therapieverfahren im Vergleich dargestellt.
24.3.4
Behandlungsmethoden
Die Behandlungsmethoden lassen sich in drei Schwerpunkte untergliedern (. Übersicht 24.9). . Übersicht 24.9. Schwerpunkte der Behandlungsmethoden 1. 2. 3.
Restituierende Maßnahmen Kompensatorische Techniken Externe Hilfen im Sinne einer Adaptation
24
364
Kapitel 24 · Schluckstörungen
. Tab. 24.2. Verbreitete Therapieverfahren im Vergleich Fazio-orale Therapie
Funktionelle Dysphagietherapie
Methoden
4 FOTT nach Coombes 4 ORT nach Morales
Wahl verschiedener Therapietechniken nach interdisziplinärer Diagnostik
Therapieschwerpunkt
Störungen der fazio-oralen Funktionen
Oropharyngeale Schluckstörungen
Therapieverfahren
4 Überwiegend stimulative Verfahren
4 Restituierende Verfahren (sensomotorisches Training der Schluckmuskulatur) 4 Kompensationsstrategien (Verhaltensänderungen) 4 Adaptive Maßnahmen (externe Hilfen)
Wirkungsnachweis
4 Eine quasi-experimentelle Pilotstudie zur FOTT 4 Einige deskriptive Studien
4 Eine randomisiert kontrollierte Studie 4 Einige quasi-experimentelle Studien ohne Randomisierung 4 Mehrere methodisch hochwertige nicht-experimentelle Studien
Therapeutische Fachgebiete
Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie, Rehabilitationspflege
Logopädie
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Restituierende Maßnahmen Die restituierenden Maßnahmen dienen der partiellen oder vollständigen Wiederherstellung der gestörten sensomotorischen Funktionen. Außerhalb des Schluckvorgangs werden für die Nahrungsaufnahme erforderliche Zielbewegungen und Bewegungsmuster geübt. Viele Verfahren wurden der Physiotherapie entlehnt und den Erfordernissen der Schlucktherapie angepasst, z.B. 4 Behandlung nach Bobath (Bobath u. Bobath 2005, Davies 1995), 4 Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF) nach Kabat (Voss et al. 1988) etc. Ziele der restituierenden Maßnahmen sind
4 die neuromuskulären Voraussetzungen für physiologisches Schlucken zu schaffen und 4 die Vorbereitung bestimmter kompensatorischer Schlucktechniken. > Bezüglich der oralen Schluckphase umfassen die restituierenden Maßnahmen vor allem 4 das Training der Oralmotorik und 4 die Schluckreflexstimulation; bezüglich der pharyngealen Phase beinhalten sie 4 die Verbesserung des Verschlusses der oberen Luftwege und 4 Übungen zur Kehlkopfhebung sowie zur Aktivierung der pharyngealen Kontraktion.
jVorbereitende passive Stimulation Bei schweren Bewegungsstörungen werden vorbereitend unterschiedliche Hautreize in der Mundhöhle, im Rachen und an der Gesichtshaut appliziert, wie z.B. 4 Pinseln, 4 Eisanwendungen,
4 4 4 4
Muskeldehnungen, Tapping (kurzzeitiges, schnelles manuelles Klopfen), Streichungen, manuelle oder elektrische Vibrationen.
Ziel ist es, dass die darauffolgende Bewegung leichter ausge-
führt werden kann. Während der Stimulationen bleibt der Patient passiv, unmittelbar anschließend erfolgt die willkürliche Bewegung, die vom Therapeuten anfangs noch durch Führung oder Widerstand unterstützt werden kann. Beispiel Eine Übungssequenz zur Förderung des Mundschlusses bei hypotoner oraler Muskulatur kann folgendermaßen konzipiert werden: Tonuserhöhung: a) Mit den Fingerspitzen um den M. orbicularis oris tappen. b) Mit dem Eisstab je 3-mal jede Seite der Lippenränder kurz bestreichen. c) Mit dem Spatel Oberlippenmitte, rechts und links kurz nach kranial dehnen (Quick Stretch 1 sec). Mobilisation: a. Falls keine aktive Mitarbeit möglich ist, Lippen durch Druck auf Oberlippenmitte passiv schließen. b. Bei aktiver Mitarbeit die Lippen gegen Widerstand (Spatel drückt nach kranial) schließen lassen. Praxistipp Vorbereitende passive Stimulationen sind nur bei schweren Bewegungsstörungen sinnvoll. Ziel ist immer die selbstständige aktive Bewegung durch den Patienten (»hands-off«-Konzeption).
365 24.3 · Therapie
jFunktionelles Training > Das Training zur Verbesserung der Oralmotorik beinhaltet 4 Übungen zum Lippenschluss, 4 Kauübungen und die Anbahnung differenzierter Zungenbewegungen zur Förderung der oralen Boluskontrolle und des Bolustransports. Dazu gehören: 4 Seitwärtsbewegungen der Zunge, 4 die Zungenschüsselbildung (Anheben der seitlichen Zungenränder), 4 das Heben der Zunge gegen den harten Gaumen und 4 das Nach-Hinten-Drücken der Zungenwurzel (Veis et al. 2000). Letzteres ist entscheidend um den ZungenbasisRachen-Abschluss zu erreichen.
kStörungen der Schluckreflexauslösung 4 Bei Störungen der Schluckreflexauslösung wird versucht, durch Intensivierung der sensorischen Afferenzen die Reflextriggerung zu erleichtern, z.B. durch 5 thermale Stimuli wie Eislutschen oder 5 die Berührung reflexauslösender Zonen mit einem gekühlten Metallstab. 4 Bei der sog. Thermosondenstimulation (Lazzara et al. 1986) wird durch mehrmaliges Bestreichen mit einem eisgekühlten Larynxspiegel die Basis der vorderen Gaumenbögen stimuliert. Nachgewiesen wurde eine schnellere Reflexauslösung für den darauffolgenden Schluckakt; über Langzeiteffekte ist jedoch nichts bekannt (Rosenbek et al. 1996, Sciortino et al. 2003). 4 Eine Stimulation der Propriozeptoren ist z.B. möglich durch 5 Erhöhung der Viskosität der Speisen oder 5 kurzen Druck des Löffels auf die Zungenmitte. 4 In manchen Fällen ist ein Saug-Schlucken wirksam: Der Patient wird aufgefordert, die Lippen geschlossen zu halten und dabei mit Zunge und Kiefer kräftige Pump- und Saugbewegungen durchzuführen. 4 Die Bereicherung durch gustatorische, olfaktorische und visuelle Reize sollte man nicht vergessen. Vor allem ein saurer Geschmack kann den Schluckreflex anregen (Logemann et al. 1995, Pelletier u. Lawless 2003). kStimmbandschluss Da sich in der pharyngealen Phase Luft- und Speisewege kreuzen, ist der Verschluss der oberen Luftwege für den Schluckakt wichtig. Ermöglicht wird dieser Sicherungsmechanismus durch einen Atemstopp. Ziel der Übungen ist der Stimmbandschluss. 4 Diesen kann man z.B. durch verschiedene Spannungsübungen erreichen (Logemann 1998). 4 Bei der sog. Druck-Stoß-Übung umgreift der Patient in sitzender Position die seitlichen Stuhlkanten und hält
etwa 5 sec lang fest den Atem an, während das Gesäß nach unten gedrückt wird. Anschließend wird diese Spannung z.B. durch den Vokal »a« oder durch einen kurzen Hustenstoß gelöst. kKehlkopfhebung Des Weiteren ist für einen ungestörten Bolustransport im Rachen die Kehlkopfhebung nach vorne entscheidend: 4 Zur Kräftigung der suprahyoidalen Muskulatur empfiehlt sich die Shaker-Übung: Im Liegen wird der Kopf 3-mal 1 Minute lang gehoben und anschließend 30-mal im Wechsel gehoben und gesenkt. Diese Übung sollte 3mal täglich wiederholt werden. Shaker konnte nach 6-wöchiger Übungsdauer eine Verbesserung der Kehlkopfhebung und der Öffnung des oberen Ösophagussphinkters nachweisen (Shaker et al. 1997, Shaker et al. 2002). 4 Die Kehlkopfhebung kann außerdem durch Zungenrückenhebung, geübt werden, z.B. durch 5 Ansaugen der Zunge an den Gaumen, 5 Bildung von palatalen Konsonanten (g, k) oder 5 Tonhöhenvariationen von Vokalen (Bartolome 1999). kIndirekte Aktivierung der Rachenmuskeln Kontraktionen der Rachenmuskeln sind nicht direkt willkür-
lich steuerbar. Da die oberen Rachenmuskeln an vielen Bewegungsmustern beteiligt sind, gibt es die Möglichkeit zur indirekten Aktivierung: 4 Bei der Zungenhalteübung (Masako-Manöver) soll der Patient während des Schluckens (ohne Nahrung) die Zungenspitze mit den Lippen/Vorderzähnen festhalten. Durch die Verkürzung der Zunge kommt es kompensatorisch zu einer verstärkten Vorwölbung der oberen Rachenmuskeln (Fujui u. Logemann 1996). 4 Bei Saug- und Blasübungen sowie bei Vokalübungen in Falsettstimme kommt es ebenfalls zu pharyngealen Kontraktionen. Perlmann (Perlman et al. 1989) fand mittels EMG-Ableitungen eine hohe Aktivität des M. pharyngeus superior beim Sprechen des Wortes »HAWK« (engl., helles offenes »o«), wobei das »k« besonders betont wird. 4 Nützlich ist auch ein modifiziertes Valsalva-Manöver (starkes Pressen nach maximaler Inspiration), bei dem ein hartes »k« mehrere Sekunden lang gehalten wird. Näher betrachtet Neuromuskuläre Elektrostimulation Über den Effekt von neuromuskulärer Elektrostimulation (biphasischer 80-Hz-Strom) der vorderen Halsmuskeln auf die Schluckreflextriggerung und andere Schluckparameter gibt es sehr widersprüchliche Ergebnisse (Logemann 2007).
kÜbungsprogramm Das motorische Training sollte möglichst mehrmals täglich durchgeführt werden. Kooperationsfähige Patienten erhalten deshalb individuelle schriftliche Übungsprogramme zum selbständigen Training. An der Stimulationstherapie bei
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Kapitel 24 · Schluckstörungen
nicht kooperationsfähigen Patienten sind verschiedene therapeutische Berufsgruppen zu beteiligen, um eine ausreichende Wiederholungsfrequenz zu gewährleisten. Falls möglich, werden auch die Angehörigen zu Kotherapeuten angeleitet (Bartolome 2006). jZusammenfassung Zusammenfassend sind die Trainingsziele der restituierenden Therapiemethoden nochmals in . Übersicht 24.10 aufgelistet. . Übersicht 24.10. Trainingsziele restituierender Therapiemethoden Orale Schluckphasen 1. Lippenab-/adduktion, Re-/Protraktion 2. Kieferab-/adduktion, Lateralisation, Rotation 3. Zungenschüssel 4. Zungenelevation, Lateralisation, Rotation 5. Wangenadduktion Pharyngeale Schluckphase 1. Schluckreflexauslösung 2. Zungenbasisretraktion 3. Rachenkontraktion 4. Kehlkopfhebung 5. Kehlkopfverschluss
Kompensatorische Methoden Die kompensatorischen Methoden verändern die Schluckphysiologie und ermöglichen dadurch ein effektives oder/ und aspirationsfreies Schlucken. > Kompensatorische Methoden sind: 4 Variationen der Kopfhaltung, um mithilfe der Schwerkraft den Bolusweg umzuleiten, und 4 spezielle Schlucktechniken.
Die kompensatorischen Techniken beinhalten neu zu erlernende Strategien, die auch dann ein aspirationsfreies Schlucken ermöglichen, wenn sich die primären sensomotorischen Defizite nicht oder nur unzureichend verbessern. Die Techniken werden direkt während des Schluckens angewandt. jModifikation der Kopfhaltung Einfach durchzuführen und schnell zu erlernen sind Modifikationen der Kopfhaltung. Man versucht, die Richtung der Boluspassage mithilfe der Schwerkraft zu steuern: 4 Bei Störungen der oralen Phase kann bei einigen Patienten eine Kopfneigung nach vorn die prädegluditive Aspiration verhindern, da die Nahrung in dieser Position nicht vor der Reflexauslösung in den Rachen gleitet. Durch die Beugung des Kopfes kommt es zusätzlich zu einer besseren Epiglottisneigung nach vorn, und die Valleculae bilden ein größeres Auffangbecken (Welch et al. 1993, Shanan et al. 1993).
4 Gibt es Probleme mit dem oralen Bolustransport nach hinten empfiehlt sich die Kopfextension. Das Kinn wird kurzzeitig gehoben, um die orale Phase zu beschleunigen. Sofort anschließend schluckt der Patient. 4 Andere Kopfhaltungen verändern den Rachenraum und werden bei Störungen der pharyngealen Phase angewandt. Bei pharyngealer Hemiparese wird der Kopf zur kranken Seite gewendet. Das Abdrehen einer Rachenhälfte leitet den Bolus über die gesunde Seite (Tsukamoto 2000). 4 Liegt eine kombinierte Hemiparese der Zunge und des Rachens vor, ist die Lateralflexion (seitliche Neigung) zur gesunden Seite nützlich. Dadurch wird der Bolus bereits im Mundraum auf der gesunden Seite gesammelt und über diese dann abgeschluckt (Logemann et al. 1989, Rasley et al. 1993). 4 In Ausnahmefällen ist bei manchen Patienten mit hypopharyngealen Residuen eine Liegehaltung erleichternd. Diese Position verhindert das Überlaufen in den Kehlkopfeingang. Allerdings müssen die Patienten fähig sein, durch Nachschlucken den Rachen zu reinigen (Drake et al. 1997). jSchlucktechniken Schlucktechniken sind komplexe Bewegungsmuster, die meist lange geübt werden müssen, bis der Transfer auf die alltägliche Situation der Nahrungsaufnahme gelingt. Das Erlernen der Schlucktechniken erfordert ein täglich mehrmaliges und manchmal über Wochen dauerndes Training. Zur Unterstützung sind meist zusätzliche Übungen notwendig, z.B. 4 laryngeale Adduktionsübungen beim supraglottischen Schlucken oder 4 Larynxelevationsübungen bei der Mendelsohn-Technik. In . Tab. 24.3 sind die Schlucktechniken zusammengestellt. kSupraglottisches Schlucken Beim supraglottischen Schlucken nach Larsen (1973) versucht der Patient, durch willkürliches Atemanhalten während des Schluckens die Stimmlippen zu schließen. Nach dem Schlucken wird gehustet oder forciert ausgeatmet, um evtl. in den Kehlkopfeingang penetrierte Nahrungspartikel zu entfernen. kSuper-supraglottische Schlucken Im Unterschied dazu verbessert das super-supraglottische Schlucken durch sehr kräftiges Atemanhalten (Pressen) den Verschluss von Taschenfalten und Epiglottis (Ohmae et al. 1996). > Indiziert sind diese beiden Techniken bei intradeglutitiver Aspiration aufgrund von laryngealen Adduktionsstörungen oder zur Prävention bei prädeglutitiver Aspiration.
kMendelsohn-Technik Mithilfe der Mendelsohn-Technik, einer Methode die von Dr. Mendelsohn entwickelt wurde (McConnel et al. 1988, Kahrilas et al. 1991), kann die Öffnung des oberen Speiseröhrenein-
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. Tab. 24.3. Schlucktechniken Schlucktechniken
Ziel
Durchführung
Supraglottisches Schlucken
Stimmbandschluss
Atem anhalten, schlucken, abhusten
Super-supraglottisches Schlucken
Taschenfaltenschluss
Forciert Atem anhalten, schlucken, abhusten
Kräftiges Schlucken
Erhöhung der Zungenbasisretraktionskraft
Schlucken mit kräftiger Zungenrückwärtsbewegung
Mendelsohn-Technik
Zeitliche Verlängerung der Kehlkopfhebung und Verbesserung der OÖS-Öffnung
Schlucken, dabei bleibt die Zunge mindestens 2 sec gegen den Gaumen gepresst, loslassen
. Abb. 24.10. Kehlkopf in Ruhestellung
. Abb. 24.11. Kehlkopfhebung während der Mendelsohn-Technik
gangs willkürlich beeinflusst werden. Dabei wird mit Beginn der Schluckreflexauslösung die Zunge etwa 2 sec gegen den Gaumen gepresst. Dadurch wird der Kehlkopf länger oben gehalten und der obere Speiseröhreneingang länger aufgedehnt (. Abb. 24.10, 24.11).
4 Anpassungen der Nahrungskonsistenz, um den Bolustransport zu verbessern, und 4 spezielle Ess- und Trinkhilfen, um die Nahrungsaufnahme zu erleichtern.
> Die Methode eignet sich bei postdeglutitiver Aspiration aufgrund der unzureichenden Öffnung des oberen Ösophagussphinkters.
Kuhlemeier et al. (2001) konnten nachweisen, dass durch Konsistenzanpassung der Nahrung (dünnflüssig, dick, ultradick) und die geeignete Wahl der Darreichungsform (Löffel, Tasse) bei 95% der untersuchten dysphagischen Patienten ein aspirationsfreies Schlucken ermöglicht wurde. . Tab. 24.4 gibt Vorschläge zur diätetischen Anpassung.
Praxistipp Besonders wegen anatomischer Unterschiede sind die kompensatorsichen Maßnahmen nicht bei allen Patienten gleichermaßen erfolgreich. Neben der sorgfältigen Indikationsstellung sollte deshalb der Effekt mittels Videoendoskopie oder Videofluoroskopie überprüft werden.
jExterne Hilfen Externe Hilfen dienen der äußeren Adaptation d.h. Anpassung an die Behinderung, z.B.:
kEss- und Trinkhilfen Spezielle Ess- und Trinkhilfen werden individuell angepasst: 4 Bei schwer gestörter Zungenmotorik erleichtert ein Schiebelöffel den oralen Bolustransport. Dies ist ein Löffel mit einer speziellen Schiebeleiste, um die Nahrung zur Hinterzunge zu bringen. 4 Beim Ramsey-Feeder (Ramsey 1986), einer für Erwachsene entwickelten Saugflasche, kann der orale Transport ebenfalls umgangen werden.
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Kapitel 24 · Schluckstörungen
. Tab. 24.4. Anpassung der Nahrungskonsistenz
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Pathomechanismus
Bevorzugte Nahrungskonsistenz
Eingeschränkte Kaufunktion
Breiige, flüssige Nahrung
Verzögerte Reflextriggerung
Angedickte Flüssigkeiten, breiige Nahrung, extreme Temperatur, stimulierender Geschmack
Gestörte orale Boluskontrolle
Angedickte Flüssigkeiten, breiige Nahrung
Eingeschränkter oraler Rücktransport
Flüssigkeiten, minimal angedickt oder dünn
Reduzierter laryngealer Verschluss
Angedickte Flüssigkeiten, breiige Nahrung
Eingeschränkte pharyngeale Kontraktion
Flüssig oder alternierend flüssig und fest
Verdickungsmittel zum Andicken von Flüssigkeiten: Quick&Dick, Pfrimmer-Nutricia GmbH&Co.KG, 91058 Erlangen; Resource Thicken Up, Novartis Nutrition GmbH, 81329 München; Clinutren Instant Thickener, Nestlé Clinical Nutrition GmbH, 60523 Frankfurt; Thick&Easy, Fresenius Kabi, 61346 Bad Homburg
4 Wichtig ist auch das richtige Trinkgefäß. Dabei sollte man darauf achten, dass die Öffnung hinreichend weit ist, um auch mit nach vorn gebeugtem Kopf trinken zu können. Für einige Patienten ist ein sog. Trucker-Becher geeignet. Die Becher für die Fernfahrer erleichtern Patienten mit einer Ataxie das Trinken.
24.4
Patientenbeispiele
Die folgenden zwei Fallbeispiele zeigen unterschiedliche Dysphagieschweregrade und geben einen Einblick in das diagnostische und therapeutische Vorgehen.
Patientenbeispiel: Prädeglutitive Aspiration Anamnese Ein 60-jähriger Patient berichtet ein Jahr nach linksseitigem Thalamusinfarkt bei sonst guter Restitution der rechtsseitigen armbetonten Parese über rezidivierende Bronchitis und unerklärliche Fieberschübe. Die Ernährung erfolgt vollständig oral. Als subjektive Beschwerden gibt der Patient lediglich an, dass er langsamer esse als früher. Untersuchung Die logopädische Eingangsuntersuchung zeigt bei der Überprüfung isolierter oralmotorischer Bewegungen keine Einschränkungen der Bewegungsamplitude. Wechselbewegungen von Lippen und Zunge sind jedoch verlangsamt und intermittierend durch diskrete apraktische
Fehler unterbrochen. Bei der Prüfung der Berührungsempfindung kommt es erst nach Stimulation des seitlichen Hypopharynx zur Würgereflexauslöung. Während der direkten Schluckbeobachtung mit verschiedenen Nahrungskonsistenzen wird einmal ein Hustenreiz beobachtet, gelegentlich klingt die Stimmqualität gurgelnd, palpatorisch lässt sich eine verzögerte Reflexauslösung feststellen. Die Videoendoskopie dokumentiert vermehrte Speichelansammlungen in den Valleculae. In der Röntgenkinematographie kommt es bei größeren Bolusvolumina flüssiger Konsistenzen zur prädegluditiven Aspiration. Verursacht wurde die Aspiration durch eine gestörte orale Boluskontrolle und eine verzögerte Schluckreflexauslö-
sung. Bei nachfolgenden Versuchen in Anteflexion des Kopfes und mit kleineren Bolusvolumen unterbleibt die Aspiration. Therapie In diesem Fall entfällt eine langwierige funktionelle Therapie. Der Patient wird mit der Anleitung zu thermaler Stimulation, Zungenkoordinationsübungen und dem Hinweis auf die genannte Kompensation entlassen. Nachkontrolle Bei der Kontrolluntersuchung nach 6 Monaten berichtet der Patient, es seien keine pulmonalen Infektionszeichen mehr aufgetreten, und er habe konsequent die Hinweise zur Kopfneigung und Einnahme kleinerer Schlucke beachtet.
369 24.4 · Patientenbeispiele
Patientenbeispiel: Kombinierte intra- und postdeglutitive Aspiration Anamnese Ein 41-jähriger Patient entwickelt postoperativ nach Entfernung eines Kleinhirnbrückenwinkeltumors eine schwere Dysphagie. Wegen fehlender Spontanremission muss 4 Wochen später eine PEG angelegt werden, um die Ernährung sicherzustellen. Untersuchung Die klinische Basisuntersuchung beschreibt eine periphere Gaumensegelheberparese rechts und eine eingeschränkte Zungenkraft. Die Stimmqualität klingt permanent gurgelnd, der Patient muss intermittierend sein Sputum ausspucken. Bei diesem Schweregrad erfolgt die direkte Schluckbeobachtung nur im Leerschluck, die Palpationsprobe lässt auf eine reduzierte Kehlkopfhebung schließen. In der Videoendoskopie zeigt sich ein massiver Speichelstau in beiden Sinus piriformes mit Überlauf in den Kehlkopfeingang und in subglottische Regionen, bei fehlendem Hustenreiz. Willkürliches Husten ist gut möglich und effektiv, der Kehlkopfeingang wird frei. Es zeigen sich reguläre Bewegungen der Stimmlippen. Analog zu diesen Vorbefunden dia-
gnostiziert die Röntgenkinematographie eine schwere intra- und postdegluditive Aspiration. Wegen der inkompletten Kehlkopfhebung nach ventral kommt es zur intradegluditiven Aspiration und aufgrund einer subtotalen Parese der Rachenmuskeln und der unzureichenden Öffnung des oberen Speiseröhrensphinkters zur postdegluditiven Aspiration. Therapie Zu Beginn der funktionellen Therapie, in der 7. postoperativen Woche, besteht eine schwerste Aspirationsgefährdung mit Verdacht auf beginnendes pulmonales Infiltrat rechts basal. Die Therapieschwerpunkte umfassen als restituierende Maßnahmen 4 Zungenkräftigungsübungen zur Erhöhung des Bolusdrucks, 4 Velumelevationsübungen, 4 die indirekte Aktivierung der pharyngealen Kontraktion und 4 das Training der Kehlkopfhebung. 4 Zur Kompensation erlernt der Patient 4 die Mendelsohn-Technik, kombiniert mit supraglottischem Schlucken sowie
4 Hochräuspern der pharyngealen Residuen und Nachschlucken. Nun beginnen die ersten Schluckversuche mit gleitfähiger breiiger Nahrung. Nach 3,5 Monaten täglicher Schlucktherapie, die durch selbständiges Training ergänzt wird, kann sich der Patient aspirationsfrei voll oral ernähren, die PEG wird entfernt. Abschlussuntersuchung Wie die Abschlussuntersuchungen zeigen, muss zur Vermeidung der Aspiration nur noch die Mendelsohn-Technik mit Nachschlucken angewandt werden. Die Bewegung ist inzwischen soweit automatisiert, dass sie mühelos durchgeführt werden kann. Diätetische Einschränkungen beziehen sich noch auf krümelige, faserige oder klebrige Konsistenzen. Nachkontrolle Die Kontrolle ein ½ Jahr nach Entlassung bestätigt den Erfolg, es sind keine pulmonalen Aspirationszeichen nachweisbar. Die kompensatorische Strategie ist nach Angaben des Patienten auf kräftiges Schlucken mit Nachschlucken reduziert.
Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit der funktionellen Dysphagietherapie Plastische Veränderungen des menschlichen Schluckkortex sind für den Spontanverlauf nach Großhirninfarkten nachgewiesen (Hamdy et al. 1998). Es existiert noch kein Nachweis, dass die funktionelle Dysphagietherapie die Plastizität beeinflusst. Nach einer Cochrane-Übersicht (Bath et al. 2002) zur Dysphagietherapie bei Schlaganfall-Patienten der Akutphase kamen die Autoren zu dem Schluss, dass es weder einen Nachweis der Wirksamkeit noch der Unwirksamkeit von Dysphagietherapie gibt. Dagegen zeigte eine randomisierte kontrollierte Studie (Carnaby et al. 2006) zum Effekt der Schlucktherapie in der akuten Schlaganfallphase, dass sich nach intensiver Schlucktherapie (5-mal/ Woche) signifikant mehr Patienten wieder normal ernähren konnten als nach Standard-Schlucktherapie (3-mal/Woche) und »usual care«.
Es gibt eine Reihe von nicht randomisierten Studien, nach denen sich 55–80% der sondenabhängigen Patienten nach einer Dysphagietherapie wieder vollständig oral ernähren können, einschließlich der Untergruppen mit chronischen Dysphagien (Bartolome et al. 1997, Horner et al. 1991, Huckabee et al. 1999, Neumann et al. 1995, Prosiegel et al. 2002). Darüber hinaus existieren eine stattliche Anzahl von Studien mit kleinen Patientengruppen, die bei bestimmten Pathologien den positiven Effekt einzelner Maßnahmen auf die Schluckphysiologie nachweisen konnten (Fujui u. Logemann 1996, Haberfellner et al. 2001, Kahrilas et al. 1991, Kuhlemeier et al. 2001, Ohmae et al. 1996, Rasley et al. 1993, Rosenbeck et al. 1996, Shaker et al. 2002, 1997; Sciortino et al. 2003, Huckabee et al. 2005, Lazarus et al. 2002, Easterling et al. 2005). Insgesamt besteht noch ein großer Bedarf
an methodisch hochwertigen Studien zur Wirksamkeit der Dysphagietherapie. Für den Praktiker stellt sich die Frage, wie der Erfolg von Schlucktherapie im klinischen Alltag überprüft werden kann. Zur klinischen Outcomemessung sind spezielle Dysphagiescores geeignet, z.B. der validierte Bogenhausener Dysphagiescore (BODS) (Bartolome 2006). Zusätzlich kann die Schweregradeinteilung der apparativen Diagnostik hinzugezogen werden. Die am häufigsten verwendete validierte Penetrations-Aspirationsskala (PAS) von Rosenbek et al. (1996) eignet sich sowohl für die Videoendoskopie als auch für die Videofluoroskopie. Darüber hinaus gibt es einen speziell für Dysphagiepatienten entwickelten Lebensqualitätsfragebogen (SWAL-QOL/SWAL-CARE) (McHorney et al. 2002).
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Kapitel 24 · Schluckstörungen
24.5
Literatur
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Kapitel 24 · Schluckstörungen
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25
Rehabilitation von Respirationsstörungen bei neuromuskulären Erkrankungen A.G. Bockelbrink 25.1 Neurologische Erkrankungen mit restriktiver Ventilationsstörung – 375 25.2 Diagnostik 25.3 Therapie
– 375 – 377
25.3.1 Therapie bei (noch) nicht beatmungspflichtiger respiratorischer Insuffizienz – 377 25.3.2 Therapie bei beatmungspflichtiger respiratorischer Insuffizienz
25.4 Literatur
– 381
– 378
374
25
Kapitel 25 · Rehabilitation von Respirationsstörungen bei neuromuskulären Erkrankungen
Dieses Kapitel befasst sich mit der respiratorischen Insuffizienz bei neuromuskulären und progredienten neurologischen Erkrankungen. Atemtherapie und Beatmung sind für viele dieser Patienten ein essenzieller Bestandteil der neurologischen Rehabilitation. Bei kompetenter Aufklärung und Einleitung wird Beatmung mit individuell adaptierten Methoden von neurologischen Patienten gut akzeptiert und kann die Lebensdauer z.B. von Duchenne-Patienten auf 50 Jahre und mehr verlängern. Bei richtiger Durchführung werden gesundheitliche Stabilität und Lebensqualität wesentlich verbessert.
jMethoden und Ziele der respiratorischen Rehabilitation Bei vielen neurologischen Erkrankungen gilt es zunächst einmal daran zu denken, dass auch die Atemmuskulatur in ihrer Funktion beeinträchtigt sein könnte. Falls dies der Fall ist, soll der Patient diese zusätzliche Diagnose nicht als Schock erleben, sondern vor allem als Chance, sein Befinden anhaltend zu verbessern (Hein et al. 1999, Lule et al. 2008). Eine positive Einstellung zu Atemtraining und vor allem zur Beatmung kann am ehesten erzielt werden, wenn sich der Aufwand für die neue Therapie in Grenzen hält und der Patient seine Lebensgewohnheiten nicht oder nur unwesentlich umstellen muss. Daher müssen in jedem einzelnen Fall die individuellen Gegebenheiten genau eruiert werden: 4 Wie ist die Betreuungssituation? 4 Schläft ein Partner im gleichen Raum? 4 Ist der Patient überzeugter Bartträger, und ist eine Atemmaskenanpassung schwierig? 4 Muss vor Anpassung einer Ganzgesichtsmaske erst das Gebiss saniert werden? Der beatmete Patient sollte nach Möglichkeit selbst zum Fachmann für seine Beatmung werden, sich mit der Funktion seiner Geräte auskennen und – falls er sie nicht selbst bedienen kann – imstande sein, seine Helfer adäquat anzuweisen. Mit ihm zusammen werden Art und Umfang der Beatmung festgelegt. Ebenso wird gemeinsam mit dem Patienten die Ausstattung besprochen: 4 Sind zwei Respiratoren nötig? 4 Soll eine Gerätehalterung am Rollstuhl angebracht werden? 4 Wie funktioniert die Beatmung auf Reisen? 4 Kann das Atemgerät am Arbeitsplatz oder in der Schule benutzt werden? 4 Sind Betreuer erforderlich? 4 Muss eine Rufanlage installiert werden, um bei Geräteausfall rasche Hilfe zu gewährleisten? 4 Wie viele Schlauchsysteme sind erforderlich, um die regelmäßige Schlauchreinigung durchführen zu können, oder werden Einwegsysteme verwendet? 4 Wie wird die Atemmaske gereinigt und aufbewahrt? All diese Detailfragen müssen vorab gelöst werden, damit nach der Rückkehr nach Hause keine Stresssituationen entstehen. Nur dann wird die Beatmung als Gewinn empfunden
werden. Prinzipien der Beatmungsrehabilitation sind in . Übersicht 25.1 zusammengefasst, Ziele in . Übersicht 25.2.
. Übersicht 25.1. Prinzipien der Beatmungsrehabilitation 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Individuelle Auswahl der Beatmungsmethoden Angemessene Hygiene Angemessene Ausstattung Ambulant vor stationär (Kontrollen, Erkrankung, Adaption) Hinführung zur Selbstverantwortung Atemschwäche ist nur ein kleiner Teil der Behinderung → anzheitliche Rehabilitation Bei progredienten Erkrankungen: 4 Frühbeatmung im stabilen Stadium 4 Laufende Adaption der Beatmung
. Übersicht 25.2. Ziele der medizinischen und therapeutischen Rehabilitation von Beatmungspatienten 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Optimierung der Beatmungssituation – Minimierung des Aufwands Selbstverantwortlicher Umgang mit Beatmung Größtmögliche Selbstständigkeit Erfülltes Privatleben (Sinngebung, Hobbys) Berufliche (Wieder-)Eingliederung Selbstgewählte und selbstbewältigte Wohnform
Näher betrachtet Historischer Kontext Die Erhaltung der Atmung ist seit Jahrtausenden ein ärztliches Ziel. Bereits in alten ägyptischen Schriften wird beschrieben, dass Schilfrohre zur Freihaltung der Atemwege in die Trachea eingeführt wurden. Paracelsus schloss 1530 einen Blasebalg an ein Rohr an, um einen Patienten künstlich zu beatmen, und bereits 1876 erfand Woillez die erste Eiserne Lunge. Infolge der Polioepidemien der 20er und 50er Jahre wurden die Bemühungen um die Langzeitbeatmung intensiviert. So konnten dank der seit 1950 verfügbaren Drägerlunge und verschiedener Respiratoren für die Trachealbeatmung Polioerkrankte, die nicht von der Beatmung entwöhnt werden konnten, überleben (Dönhardt u. Piening 1963, Lassen 1953). Allerdings war Leben mit Beatmung aufgrund des Pflegeaufwands lange Zeit nur innerhalb des Krankenhauses möglich. Erst 1969 wurde in der Bundesrepublik mit der außerklinischen Langzeit- und Heimbeatmung begonnen. Die Stiftung Pfennigparade in München errichtete damals eine Rehabilitationseinrichtung, Schulen, Werkstätten und Wohnungen für schwerstbehinderte und dauerbeatmete Polioüberlebende. Ab 1975 wurden dort auch neuromuskuläre und später auch querschnittgelähmte Beatmete aufgenommen. Aus dieser Betreuung beatmeter Kinder und Erwachsener entstand 1984/85 das erste Konzept für die respiratorische Rehabilitation neurologischer Patienten (Bockelbrink 1991) (. Abb. 25.1).
375 25.2 · Diagnostik
Schmerzen und der deshalb notwendigen Umlagerung begründet. Bereits beim Auftreten einzelner Symptome (. Übersicht 25.3) muss daher intensiv nach einer Ateminsuffizienz gefahndet werden. . Übersicht 25.3. Symptome der chronisch-respiratorischen Insuffizienz
. Abb. 25.1. Kinderstation des Schwabinger Krankenhauses in München in den 50er Jahren
25.1
Neurologische Erkrankungen mit restriktiver Ventilationsstörung
> Eine restriktive Ventilationsstörung ist bedingt durch: 4 Schwäche oder Lähmung der Atemmuskulatur, z.B. bei neuromuskulären Erkrankungen oder hoher Querschnittslähmung (Annane et al. 2002, Rideau et al. 1981), 4 Störung des Atemantriebs, z.B. bei Undine-Syndrom, Hirnstammtrauma oder -blutung, oder 4 behinderte Thoraxausdehnung, z.B. bei Thoraxdeformationen wie schweren Skoliosen (Ward et al. 2005).
In . Tab. 25.1 sind Erkrankungen mit restriktiver Ventilationsstörung zusammengestellt.
25.2
Diagnostik
jAnamnese Allein durch sorgfältige Befragung des Patienten und ggf. seiner Angehörigen oder Pflegepersonen kann mit über 80%iger Sicherheit die Diagnose der respiratorischen Insuffizienz gestellt werden (Mellies et al. 2002). Zu bedenken ist allerdings, dass die Atemmuskulatur meist langsam an Kraft verliert, so dass der Patient sich an die ebenso allmählich auftretenden Symptome gewöhnt und diese auch oft anderen Ursachen zuschiebt. Ein unruhiger Schlaf wird z.B. mit den durch eine zunehmende Skoliose bedingten
1. Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen, Alpträume) 2. Morgendlicher Kopfschmerz 3. Müdigkeit und Einnicken am Tage 4. Abgeschlagenheit, Konzentrationsstörungen, zunehmender Leistungsabfall 5. Sichtbarer Einsatz der auxiliären Atemmuskulatur 6. Tachypnoe 7. Dyspnoe, z.B. beim Sprechen 8. Hartnäckige Bronchialverschleimung 9. Rezidivierende oder persistierende respiratorische Infekte 10. Stimmveränderungen 11. Tachykardie, Palpitationen 12. Persistierende Ödeme (durch Cor pulmonale) 13. Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust 14. Rezidivierende Gastritiden 15. Nervosität, Hyperhidrosis, Tremor 16. Depressionen, Angstzustände 17. Kopf-, Nacken- und Gliederschmerzen 18. Reaktive Polyglobulie 19. Sehstörungen, Schwindelanfälle 20. Synkopen 21. Zyanose
jLungenfunktion Die Lungenfunktionsprüfung gibt erste Hinweise auf das Vorliegen einer restriktiven Ventilationsstörung: 4 Bei Patienten mit progredienten Erkrankungen kann sie im frühen Stadium gut zur Verlaufskontrolle genutzt werden. Bei einer Einschränkung ≤50% des Sollwerts der Vitalkapazität (VK) muss eine intensive Diagnostik eingeleitet werden. 4 Bei Kindern nimmt die Vitalkapazität zunächst in Abhängigkeit vom Körperwachstum zu, hält sich dann einige Zeit auf gleichem Niveau, um schließlich durch kontinuierliche Abnahme die zunehmende Schwäche der Atemmuskulatur anzuzeigen (Bach 1992, Winterholler et al. 1997). Eine plötzliche Verminderung der VK ist nicht immer ein Hinweis auf respiratorische Insuffizienz. Die Ursache dafür kann ebenso ein Atemwegsinfekt sein wie ein beengendes Korsett. Bei einem unserer Patienten musste lediglich die Pelotte am Rollstuhl verändert werden, um wieder um 15% höhere Werte zu erreichen. Meist werden wiederholte Messungen der VK bzw. der FVK unmittelbar hintereinander empfohlen, um die bestmög-
25
376
Kapitel 25 · Rehabilitation von Respirationsstörungen bei neuromuskulären Erkrankungen
. Tab. 25.1. Erkrankungen mit restriktiver Ventilationsstörung Erkrankungen
Krankheitsbilder
Neuromuskuläre Erkrankungen
25
Erkrankungen des ZNS und des peripheren Nervensystems
ALS
Erkrankungen der Vorderhornzellen
4 Muskelatrophien 4 Poliomyelitis
Erkrankungen der peripheren Nerven
4 Hereditäre Neuropathien (HMSN) 4 Guillain-Barré-Syndrom 4 Progrediente Polyneuropathien
Störung der neuromuskulären Übertragung
Myasthenia gravis
Muskelerkrankungen
4 Muskeldystrophien (Duchenne, Becker, 4 Gliedergürtel) 4 kongenitale Myopathien
Muskelspeichererkrankungen
Glykogenosen
Erkrankungen des ZNS Erkrankungen des Gehirns
4 4 4 4 4 4
Erkrankungen des Rückenmarks
4 Querschnittlähmung 4 Tumoren 4 Syringomyelie
Schädel-Hirn-Trauma Gehirntumoren Meningoencephalitis Leukodystrophien Undine-Syndrom Multiple Sklerose
Veränderungen des Skelettsystems Osteogenesis imperfecta Idiopathische Skoliose
lichen Werte zu halten, da die Compliance bei zunehmender Vertrautheit mit dem Spirometer steigt. Praxistipp Bei neuromuskulären Patienten zeigt sich jedoch oft ein umgekehrter Effekt: Mit zunehmender Wiederholung der Testung werden die gemessenen Werte schlechter. Daher ist eine niedrige FVK meist kein Zeichen der Obstruktion, sondern (da i.d.R. unmittelbar nach der VK gemessen) symptomatisch für die Erschöpfung der Atempumpe.
jBlutgasanalyse Im Kapillarblut aus dem hyperämisierten Ohrläppchen misst man O2- und CO2-Gehalt des Blutes sowie die im fortgeschrittenen Stadium auftretende respiratorische Azidose. Da die Atmung im Schlaf flacher ist als am Tag, wird die nächt-
liche Blutgasmessung – ggf. mit Polysomnographie – in allen
unklaren oder grenzwertigen Fällen erforderlich sein (Inkley et al. 1974). Bei pathologischen Tagwerten kann man Patienten diese Prozedur allerdings ersparen. Das Gleiche gilt besonders bei progredient erkrankten Patienten, die bereits eindeutige Symptome bei noch grenzwertigen Blutgaswerten aufweisen und die Unbequemlichkeit des Krankenhausaufenthalts vermeiden wollen. Praxistipp Die Pulsoxymetrie alleine ist kein Entscheidungsparameter für die Einleitung der Beatmung, da, abgesehen von der frühkindlichen respiratorischen Insuffizienz mit gestörter Atemmechanik und oft zusätzlicher Lungendysplasie, die Hyperkapnie meist vor der Hypoxie auftritt (Miller et al. 1988).
377 25.3 · Therapie
jSonstige Verfahren Die vereinzelt propagierte Messung des Mundverschlussdrucks ist nicht unbedingt erforderlich. Auch ZwerchfellEMG und spezielle Ergometerverfahren für Körperbehinderte haben ihre Berechtigung zwar in akademischen Studien, nicht aber in der breiten Anwendung.
4 trainieren die Atemmuskulatur, 4 verhindern bzw. lösen Atelektasen und 4 dienen in Kombination mit Inhalationen mit physiologischer NaCl-Lösung oder Mukolytika der Sekretlösung und -mobilisation. Praxistipp
25.3
Therapie
25.3.1
Therapie bei (noch) nicht beatmungspflichtiger respiratorischer Insuffizienz
Eine prophylaktische Beatmung bei progredienten Erkrankungen ist unsinnig. Im Gegenteil wird man versuchen, die Eigenatmung so lange wie möglich zu erhalten (Bach et al. 1997, Respiratory Care of the Patient with Duchenne Muscular Dystrophy 2004).
Physiotherapie Zur Frühbehandlung der respiratorischen Insuffizienz gehören alle Maßnahmen der Physiotherapie zur/zum 4 Erhaltung der Thoraxelastizität, 4 Förderung der Atemtiefe sowie 4 Sekretmanagement. Kinder sind durch Schwimmen und Tauchen, Singen und
Blasinstrumente oder Gruppentherapien mit Pustespielen am ehesten zu motivieren (. Abb. 25.2).
Atemtherapiegeräte Auch Atemtherapiegeräte mit verstellbarem inspiratorischem und exspiratorischem Widerstand haben bei regelmäßiger Anwendung – optimal sind 2-mal täglich 10–15 min – ihre Berechtigung. Atemtherapiegeräte
. Abb. 25.2. Atemtherapiegruppe
Bei Duchenne-Buben, die unweigerlich beatmungsflichtig werden, muss es nicht Aufgabe der Therapeuten sein, die Kinder um jeden Preis zum täglichen Training zu zwingen und die kostbare Lebenszeit, in der sie sich noch relativ gut bewegen können, zu schmälern, um des fragwürdigen Zieles willen, die Beatmung, die über Jahrzehnte zu ihrem Leben gehören wird, eventuell einige Monate hinauszuzögern. Bei diesen Kindern akzeptieren wir auch den eher sporadischen Einsatz dieser Geräte, vor allem bei Infekten (allerdings ist dann oft die Versorgung mit einem Inhaliergerät wirtschaftlicher).
> Alle Trainingsmethoden haben dann ihre Berechtigung verloren, wenn die Atempumpe so erschöpft ist, dass sie Entlastung durch Beatmung benötigt.
Mechanische Abhusthilfe Auch bei nicht beatmungspflichtigen Patienten ist der Hustenstoß oft so geschwächt, dass es bei respiratorischen Infekten zu lebensbedrohlicher Verlegung der Atemwege durch Bronchialsekret kommen kann. Frühzeitig ist daher die Versorgung mit einem mechanischen Abhustgerät zu erwägen (Geiseler u. Winterholler 2008). Bei nicht-invasiv beatmeten Menschen kann dieses Gerät helfen, die Anlage eines Tracheostomas zu vermeiden (. Abb. 25.3).
25
378
Kapitel 25 · Rehabilitation von Respirationsstörungen bei neuromuskulären Erkrankungen
Der Betroffene kann in diesem stabilen Zustand ohne zeitlichen Druck informiert werden, in Ruhe seine Entscheidung über die Beatmung treffen und zusammen mit seinem Arzt unter verschiedenen Beatmungsmethoden wählen.
Nicht-invasive Beatmung
25
Die nicht-invasive Beatmung ist im Allgemeinen die Methode der Wahl (Lloyd-Owen et al. 2005, Mellies et al. 2005, Tuggey u. Elliott 2004). Obwohl die bewährten Unterdrucksysteme wie Kürass oder die einfache Eiserne Lunge (die früheren Modelle arbeiteten mit Über- und Unterdruck – ein wesentlicher Grund dafür, dass die Bronchialtoilette auch ohne Tracheostoma recht gut funktionierte) ebenso wie der Beatmungsgürtel noch verfügbar sind, werden heute im Grunde nur noch Überdrucksysteme zur Neueinstellung benutzt. Meist wird man mithilfe von Nasen- oder Nasen-Mund-Masken beatmen, zum Teil auch über Mundstücke. Vor- und Nachteile der einzelnen Beatmungsmethoden sind in . Tab. 25.2 beschrieben. . Abb. 25.3. Mechanische Abhusthilfe wird an der Therapiepuppe für kleine Patienten vorgeführt
25.3.2
Therapie bei beatmungspflichtiger respiratorischer Insuffizienz
jBeatmungsindikation Die Befindlichkeit des Patienten steht immer an erster Stelle. Bei Leistungsabfall, Schlafstörungen und anderen wegweisenden Symptomen, aber scheinbar noch normalen Blutgaswerten bringt der Versuch der stundenweisen Beatmung oft überraschend positive Resultate. Beatmungsindikationen sind in . Übersicht 25.4 aufgeführt.
jAtemmasken kNasenmaske Eine Nasenmaske ist auch für neuromuskulär erkrankte Patienten meist ausreichend. Allerdings kann es bei zunehmender Schwäche der orofazialen und pharyngealen Muskulatur zu erheblicher Leckbildung und sogar zum Erstickungstod am Respirator kommen (Eagle et al. 2002) (. Abb. 25.4). Praxistipp Der Patient kann nicht eindringlich genug auf die Notwendigkeit regelmäßiger Kontrollen, aber auch akuter Gas-Checks bei auffälliger Befindlichkeitsverschlechterung oder respiratorischen Infekten hingewiesen werden (Tuggey et al. 2004).
. Übersicht 25.4. Beatmungsindikationen 1. 2. 3.
Symptome der respiratorischen Insuffizienz mit Beeinträchtigung der Lebensqualität PCO2 ≥43–45 mmHg und/oder PO2 ≤60–65 mmHg Nachvollziehbarer Wunsch des Patienten
Bei chronisch progredienten Erkrankungen soll Beatmung nicht prophylaktisch, also ohne medizinische Notwendigkeit, angewandt werden, wohl aber vor dem Eintreten schwerer, irreversibler oder lebensbedrohlicher Symptome (Paditz et al. 2000). Der Patient soll beatmet werden, bevor ein instabiles Stadium – z.B. ein lebensbedrohlicher Infekt mit Atemversagen – eintritt (Bockelbrink 1991, Wollinsky et al. 2002). > Frühbeatmung im stabilen Stadium heißt: 4 Unabhängigkeit vom Respirator so lange wie möglich, 4 Unterstützung durch den Respirator so früh wie nötig.
Nur selten werden industriell gefertigte Masken auf Dauer genügen: Sie sind meist undicht, verursachen Hautreizungen und Druckstellen. Daher sollten Nasenmasken i.d.R. nach Maß angefertigt werden. Die zusätzlich rezeptierte Fertigmaske dient als Ersatzmaske in Notfällen (Birnkrant et al. 1998). kMünchner Atemmaske/Nasen-Mund-Kombimaske Besonders sicher ist in schwierigen Fällen mit Leckageproblemen die Münchner Atemmaske (. Abb. 25.5), die absolut dicht angepasst werden kann, mittels Zahnschienen ohne Halteband sicher hält und dennoch ohne Zuhilfenahme der Hände entfernt werden kann (Bockelbrink 1993). Männer bemängeln aber, dass ein Bart abgenommen oder zumindest sehr kurz geschnitten werden muss. Auch ist für Patienten mit sehr langen Beatmungszeiten das Tragen außer Haus unattraktiv. Eine gute Alternative bildet die Nasen-Mund-Kombimaske (. Abb. 25.6), die als Nasen- oder Nasen-Mund-Maske verwendbar ist.
379 25.3 · Therapie
. Tab. 25.2. Vor- und Nachteile verschiedener Beatmungsmethoden Nasenmaske
Mundmaske
Mundstück (»Pfeife«)
Münchner Atemmaske
Nasen-MundKombimaske
Trachealbeatmung
Beatmungsleistung in %
bis 100%*
bis 100%**
50–100%***
100%
100%
100%
Ohne Handfunktion erlernbar
nein
nein
ja
ja
nein
nein
Sprechprobleme
nein
ja
nein
gering
ja
i.d.R. nur bei geblocktem Cuff
Gesteigerte Infektionsgefahr
nein
nein
nein
nein
nein
nein
Absaugen möglich
nein
nein
nein
nein
nein
ja
Gefahr der Tracheomalazie, Gefäßarrosion
nein
nein
nein
nein
nein
ja
*Je nach Passform; häufig Probleme durch Entweichen der Beatmungsluft durch den Mund oder bei respiratorischen Infekten mit erschwerter Nasenatmung. **Bei Schwäche der orofazialen Muskulatur häufig Leckbildung, Aerophagie. ***Nur zur Beatmung im Wachzustand, überwiegend unterstützend zur Eigenatmung (assistierende Beatmung mit niedriger Triggergrenze)
Praxistipp Die Einleitung der nicht-invasiven Beatmung kann stationär, aber auch ambulant erfolgen. Das ambulante Vorgehen ermöglicht es dem Patienten, die Beatmung zuhause in Ruhe einzuüben und sich allmählich an die erforderlichen Beatmungszeiten zu gewöhnen. In akuten Fällen kann die Beatmung zunächst mit Fertigmasken begonnen werden, welche dann als Ersatzmasken in den Händen des Patienten verbleiben (s.o.). Durch diese Methode kann die Zeit bis zur Fertigstellung der individuell angepassten Maske schon therapeutisch genutzt werden.
jBeatmungsdauer Bei vielen Patienten genügt, zumindest zunächst, die intermittierende Beatmung für wenige Stunden täglich, z.B. nach dem Mittagessen oder im häufigsten Fall während der Nacht. Bei einer Progredienz der Erkrankung muss natürlich auch die Beatmungsdauer verlängert werden. So wird bei 4 Muskeldystrophie Duchenne, 4 ALS und 4 anderen rasch progredienten Erkrankungen im Krankheitsverlauf immer eine 24-Stunden-Beatmung erforderlich werden. Da Atemmasken in der Öffentlichkeit ungerne getragen werden und – ähnlich wie bei der hohen Querschnittlähmung – mit der Atemkraft auch die Hustenfähigkeit verloren geht, ist für diese Patienten die Beatmung über ein Tracheostoma die Methode der Wahl.
Trachealbeatmung Die Überlebensdauer vieler neurologischer Patienten mit intermittierender nicht-invasiver Beatmung könnte um Jahre bis Jahrzehnte verlängert werden, wenn rechtzeitig ein Tra-
. Abb. 25.4 a, b. a Nasenmaske, b Nasenmaske in der Anwendung mit zusätzlichem Kinnband
25
380
Kapitel 25 · Rehabilitation von Respirationsstörungen bei neuromuskulären Erkrankungen
25
. Abb. 25.5. Münchner Atemmaske
. Abb. 25.6. Nasen-Mund-Kombimaske
cheostoma angelegt würde (Bach u. Alba 1990, Prats et al.
werden: Ist die Erkrankung progredient, oder sind in absehbarer Zeit Komplikationen zu erwarten, die eine erneute Tracheostomie erfordern werden, ist es meist sinnvoll, dem Patienten die Wiederholung des – dann schwierigeren – Eingriffs zu ersparen, zumal gut aufgeklärte Patienten gut mit dem Stoma zurechtkommen.
2004). Da Hygiene- und Pflegeaufwand deutlich geringer sind als allgemein angenommen (Pflegestandards sind bei der Verfasserin erhältlich) und Komplikationen selten auftreten, gibt es keinen Grund, die Trachealbeatmung unnötig lange hinauszuzögern, wenn eine Indikation dafür besteht (Bockelbrink 1995) (. Übersicht 25.5). . Übersicht 25.5. Indikationen für Trachealbeatmung 1. 2. 3. 4. 5.
Unzureichende Maskenbeatmung Dysphagie mit Aspirationsgefahr Chronisch starke Bronchialsekretion mit insuffizientem Hustenstoß Notwendigkeit der Dauerbeatmung Kosmetische Gründe, um eine »unsichtbare« Beatmung in der Öffentlichkeit durchführen zu können
jMaterialbedarf bei Heimbeatmung Bei weitgehender Respiratorabhängigkeit wird stets ein zweiter Respirator rezeptiert, um Notsituationen und Krankenhausaufenthalte zu vermeiden. In . Übersicht 25.6 sind die notwendigen Materialien für die Heimbeatmung zusammengestellt. . Übersicht 25.6. Materialbedarf bei Heimbeatmung (IPPV) 4 (1–) 2 Respiratoren 4 Aktiver Befeuchter für die Nacht (verringerte Infektionshäufigkeit)
jUnzureichende Maskenbeatmung Oft halten Patient und Arzt viel zu lange an der Maskenbeatmung fest, obwohl diese erkennbar nicht mehr ausreicht: Die Blutgase sind oft noch ausreichend, aber die o.g. Symptome der respiratorischen Insuffizienz treten wieder auf, besonders 4 verminderte Belastbarkeit, 4 Zunahme der Bronchialsekretion und 4 gehäuft auftretende und langwierige Atemwegsinfekte (Perrin et al. 2004). Praxistipp Häufig ist zu beobachten, dass durch die verbesserte Belüftung der Lunge und die effektivere Bronchialtoilette nach Anlegen eines Tracheostomas bei neurologischen Patienten die Häufigkeit von Infekten sogar abnimmt (z.B. bei Kindern mit SMA Typ I).
Das Wiederverschließen eines Tracheostomas, das ohne zwingende Indikation angelegt wurde, muss genau überlegt
4 Ggf. passive Befeuchtung für den Tag 4 Medikamentenvernebler zur Therapie respiratorischer Infekte
4 Schlauchsysteme zum Wechseln (evt. verschiedene Längen für Rollstuhl und Bett)
4 Atemmaske und Ersatzmaske (Konfektion) oder 3 Trachealkanülen, evt. mit Aufbewahrungsbehältern aus Edelstahl (auch viele Einwegkanülen sind mehrfach verwendbar), 1 Ambubeutel und 2 Absauggeräte: ein leistungsstarkes Standgerät und ein mobiler Akkuabsauger 4 Batterie zur Absicherung bei Stromausfall (ggf. Rollstuhlbatterie) 4 Ggf. Alarmverstärker für Respiratoralarm, wenn Pflegeperson erforderlich und nicht immer im selben Raum 4 Rufsystem mit Notruf (Sensor- oder Blase-SaugKlingel)
381 25.4 · Literatur
25.4
Literatur
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25
B
Beeinträchtigung von Funktionen, Aktivitäten und Teilhabe Vestibuläre Funktionen Kapitel 26
Rehabilitation vestibulärer Störungen M. Fetter
– 385
26
Rehabilitation vestibulärer Störungen M. Fetter
26.1 Grundlagen der vestibulären Rehabilitation 26.2 Einseitige vestibuläre Unterfunktion
– 386
– 387
26.2.1 Diagnostik – 387 26.2.2 Therapie – 388
26.3 Beidseitiger Vestibularisausfall
– 390
26.3.1 Diagnostik – 390 26.3.2 Therapie – 391
26.4 Paroxysmaler Lagerungsschwindel
– 392
26.4.1 Diagnostik – 392 26.4.2 Therapie bei paroxysmalem Lagerungsschwindel ausgehend vom hinteren Bogengang – 393 26.4.3 Therapie bei paroxysmalem Lagerungsschwindel ausgehend vom horizontalen Bogengang – 394
26.5 Phobischer Schwankschwindel 26.5.1 Diagnostik – 394 26.5.2 Therapie – 396
26.6 Altersschwindel 26.6.1 Diagnostik – 397 26.6.2 Therapie – 397
26.7 Literatur
– 397
– 397
– 394
386
26
Kapitel 26 · Rehabilitation vestibulärer Störungen
Die vestibuläre Rehabilitation ist ein effektives Verfahren für Patienten mit Schwindel und Gleichgewichtsstörungen unterschiedlicher Ursache. Dieses Kapitel bietet eine Darstellung der wichtigsten Schwindelerkrankungen und zeigt die verschiedenen Möglichkeiten einer Therapie auf. Wichtig ist eine Differenzierung des vorliegenden Krankheitsbildes, die anhand charakteristischer anamnestischer Angaben und spezifischer Untersuchungsbefunde häufig möglich ist. Die Übungen in der vestibulären Rehabilitation führen zu einer vestibulären Kompensation und einer funktionellen Erholung der vestibulo-okulären und vestibulo-spinalen Reflexe. Auf Funktionsebene tritt eine Besserung der subjektiven Schwindelwahrnehmungen auf, auf Aktivitätsebene erreichen die Betroffenen einen Zuwachs an Mobilität. Für eine vertiefende Darstellung sei das aktuell herausgegebene Buch »Vestibular Rehabilitation« von Susan J. Herdman (2007) empfohlen.
Näher betrachtet Historischer Kontext Vor 70 Jahren wurden Schwindelpatienten von Dandy durch bilaterale Durchschneidung der vestibulären Nerven »behandelt«. Bis vor 20 Jahren erhielten Schwindelpatienten in der Regel vestibulär dämpfende Medikamente; es wurde strenge Bettruhe verordnet und im Übrigen darauf hingewiesen, dass sie wohl mit den Beschwerden leben müssten. Dies hat sich in den letzten Jahren wesentlich geändert. Operative Maßnahmen werden, sofern sie überhaupt noch erforderlich sind, mit geringstmöglichem Eingriff durchgeführt, vestibulär dämpfende Medikamente werden nur noch kurz und in der Initialphase akuter vestibulärer Erkrankungen zur Reduktion der vegetativen Begleiterscheinungen eingesetzt. Der wesentliche Fortschritt in der Rehabilitation vestibulärer Störungen konnte durch die Entwicklung spezifischer vestibulärer Trainingsprogramme erzielt werden, die auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Funktionsweise und die plastische Veränderbarkeit des vestibulären Systems nach Läsionen beruhen. In diesem Kapitel werden diese modernen Konzepte vorgestellt und verschiedene auf das jeweilige Krankheitsbild abgestimmte vestibuläre Trainingsformen für die wichtigsten vestibulären Erkrankungen exemplarisch dargestellt.
26.1
Sie ziehen sich sozial zurück und schränken ihren Bewegungsund Aktionsradius ein. Obwohl die Ursachen meist harmlos und nicht lebensbedrohend sind, haben vestibuläre Störungen häufig weitreichende Konsequenzen. Diese werden hervorgerufen durch ein komplexes Geflecht von Wechselwirkungen, die in . Abb. 26.1 dargestellt sind. Glücklicherweise kann mit einer vestibulären Rehabilitation i.d.R. eine wesentliche Verbesserung der Beschwerden erzielt werden. Wie bei allen therapeutischen Maßnahmen ist eine möglichst präzise diagnostische Einordnung des Beschwerdebildes Voraussetzung für eine erfolgreiche vestibuläre Rehabilitation. Die Therapieoptionen richten sich nach verschiedenen diagnostischen Gruppen, die in . Tab. 26.1 zusammengefasst sind. In den folgenden Kapiteln werden spezifische Therapiemaßnahmen bei den wichtigsten vestibulären Krankheitsbildern dargestellt (. Übersicht 26.1). Die jeweilige Behandlung richtet sich nach der Diagnose (. Tab. 26.1).
. Tab. 26.1. Behandlungsoptionen der unterschiedlichen Krankheitsbilder Diagnose
Behandlungsoptionen
Einseitige vestibuläre Unterfunktion
Adaptation, Substitution (Habituation)
Bilateraler Vestibularisverlust
Substitution, Adaptation
Paroxysmaler Lagerungschwindel
Befreiungsmanöver (Semont, Epley)
Phobischer Schwankschwindel
Desensibilisierung
Übersteigerte Bewegungsempfindlichkeit
Habituation
Grundlagen der vestibulären Rehabilitation
Patienten mit Erkrankungen des Gleichgewichtssystems beklagen vielfältige Symptome: 4 Dreh- und Schwankschwindel mit oder ohne Provokation, 4 Scheinbewegungswahrnehmungen bei Eigenbewegung, 4 Gleichgewichtsstörungen, 4 gestörte Raumorientierung, aber auch 4 vegetative Symptome wie 5 Übelkeit, 5 Schwitzen, 5 Tachykardie und 5 Tachypnoe.
. Abb. 26.1. Wechselwirkungen zwischen Symptomen, Bewegungsstörung und Verlust der normalen Lebensführung
387 26.2 · Einseitige vestibuläre Unterfunktion
. Übersicht 26.1. Vestibuläre Krankheitsbilder 1. 2. 3.
26.2
Ein- und beidseitige vestibuläre Unterfunktion Paroxysmaler Lagerungsschwindel Phobischer Attacken-Schwankschwindel
Einseitige vestibuläre Unterfunktion
Näher betrachtet Vestibuläres System: Klassisches Modellsystem für plastische Lernvorgänge im ZNS Die einseitige vestibuläre Unterfunktion ist das klassische Beispiel für die Entwicklung moderner vestibulärer Rehabilitationsprogramme. Das vestibuläre System ist hinsichtlich der anatomischen Strukturen und funktionellen Abläufe eines der am besten erforschten sensomotorischen Regelkreise. Zudem ist dieses System seit Jahrzehnten klassisches Modellsystem für plastische Lernvorgänge im Zentralnervensystem. Aus diesen Forschungen wurden sehr früh konkrete Vorschläge entwickelt, wie diese Erkenntnisse zur Behandlung von Patienten mit vestibulären Unterfunktionen eingesetzt werden können. Die Behandlungsverfahren waren initial noch unspezifisch (Cawthorne 1944, Cooksey 1946). In den letzten Jahren ist es jedoch gelungen, die Verfahren zu verfeinern und ihre Wirksamkeit wissenschaftlich zu belegen (Herdmann et al. 1995, Horak et al. 1992, Shepard et al. 1993, Szturm et al. 1994).
26.2.1
Diagnostik
Symptome bei einseitigem vestibulären Funktionsverlust sind
in . Übersicht 26.2 beschrieben. . Übersicht 26.2. Symptome bei einseitigem vestibulären Funktionsverlust 1. 2. 3. 4.
Spontannystagmus zur gesunden Seite Höhenschielen mit tiefer stehendem Auge auf der betroffenen Seite Drehung der Sehachse (Verrollung) zur betroffenen Seite Fallneigung und Auslenkung der subjektiven Vertikalen zur betroffenen Seite
Praxistipp Störungen der statischen vestibulären Funktion nach einseitiger Läsion erholen sich i.d.R. spontan und weitgehend innerhalb von 8–14 Tagen und bedürfen keiner Therapie (Fetter et al. 1988, Precht 1986). Der Zeitpunkt des Verschwindens der Symptome fällt mit der Erholung der zentralen tonischen Feuerrate zentralvestibulärer Neurone auf der deafferenzierten Seite zusammen (Cremer et al. 1998, Yagi u. Markham 1984).
jDynamische Folgen Viel schlechter regenerieren die dynamischen Folgen einseitiger vestibulärer Läsionen (Fetter u. Zee 1988). Aufgrund des einseitig fehlenden vestibulären Eingangs wird das als Zügelsystem (»push-pull«) aufgebaute vestibuläre System asymmetrisch: Im Vergleich zu Bewegungen zur kranken Seite kommt es bei Drehbewegungen des Kopfes zur gesunden Seite zu stärkeren Reizantworten. Dies führt zu einer drastischen Reduktion des vestibulo-okulären Reflexes v.a. zur kranken Seite. Für den Betroffenen äußert sich dies dadurch, dass rasche Kopfdrehbewegungen nicht mehr zu einer ausreichenden Gegendrehung der Augen führen, um die Kopfbewegung auszugleichen und die Umwelt auf der Netzhaut stabil zu halten. Die Betroffenen nehmen Scheinbewegungen (Oszillopsien) und Bildverschiebungen wahr. kTest Diagnostisch kann das vestibuläre Defizit mit einfachen Mitteln am Krankenbett abgeklärt werden: Der Untersucher setzt oder stellt sich vor den Patienten und bittet ihn, seine Nase oder ein raumstabiles Blickziel geradeaus zu fixieren. Dann dreht er den Kopf des Patienten sehr rasch etwa 10–15° nach rechts oder links und beobachtet die Augenposition am Ende der raschen Kopfdrehbewegung. 4 Ist der vestibulo-okuläre Reflex intakt, schaut das Auge immer noch exakt auf die Nase des Untersuchers und hat sich relativ dem Kopf entgegengedreht; die Blickachse ist im Raum stabil geblieben. 4 Wird bei ausgefallenem Labyrinth der Kopf zur betroffenen Seite gedreht, ist die Reflexantwort verringert. Das Auge wird nicht weit genug entgegengedreht und bewegt sich ein Stück mit dem Kopf mit. Am Ende der Kopfdrehbewegung fixiert das Auge nicht mehr die Untersuchernase und muss einen korrigierenden sakkadischen Blicksprung zur Untersuchernase machen. Praxistipp Diese Korrektursakkade ist leicht zu sehen und identifiziert eindeutig ein vestibuläres Defizit. Die Technik lässt sich soweit verfeinern, dass damit die Funktion jedes einzelnen Bogengangs untersucht werden kann (Cremer et al. 1998).
26
388
Kapitel 26 · Rehabilitation vestibulärer Störungen
Ähnliche Störungen dynamischer Reizantworten finden sich auch im vestibulo-spinalen System. Sie führen zu 4 Gangunsicherheit mit breitbasigem Gangbild, 4 seitlichen Ausfallschritten, 4 Gangabweichungen und 4 schwankendem Gang.
26
In der Folge vermeiden die Patienten rasche Kopf- und Körperbewegungen, da diese destabilisierend wirken.
. Übersicht 26.3. Zentrale Erholungsmechanismen auf Zellulärer Ebene bei einseitigem vestibulären Funktionsverlust 1. 2.
Näher betrachtet Regeneration der dynamischen vestibulären Funktionen Die Regeneration dieser dynamischen vestibulären Funktionen ist abhängig von retinalen Fehlersignalen, also der Bewegung des Netzhautbildes bei Kopf- und Körperbewegungen (Fetter et al. 1988, Miles u. Eighmy 1980). Das ZNS versucht dieses Fehlersignal zu minimieren, indem es – über das Kleinhirn vermittelt – die synaptische Übertragungseffizienz plastisch anpasst und damit die verminderte vestibuläre Reflexantwort steigert. Dies ist die neuronale Grundlage für die plastisch adaptiven Fähigkeiten des vestibulären Systems. Es gibt eine Vielzahl von Publikationen, die zeigen, dass dieser Erholungsvorgang ganz wesentlich von zwei Faktoren abhängt, 4 dem visuellen Eingang (Lieferant des Fehlersignals) und 4 der Aktivierung des Systems über Kopf- und Körperbewegungen (Courjon et al. 1977, Fetter et al. 1988, Lacour et al. 1976). In Dunkelheit gibt es keine vestibuläre Adaptation. Ebenso verhindert bzw. prolongiert Immobilisierung diesen Erholungsprozess.
26.2.2
Therapie
Es gibt zahlreiche Mechanismen, die bei einseitigem vestibulären Funktionsverlust zur Erholung beitragen, aufgeführt in . Übersicht 26.3. jSubstitution Ein weiterer Mechanismus der vestibulären Erholung ist die Entwicklung von Strategien, um den Verlust der vestibulären Funktion zu ersetzen. Sensorische Nackenafferenzen (zerviko-okulärer Reflex) tragen im gesunden Zustand zu etwa 10% zur Reizantwort (gegengerichtete Augenbewegung) bei Kopfbewegungen bei. Durch Erhöhung der synaptischen Effizienz kann dieser Anteil auf etwa 50% gesteigert werden (Bronstein u. Hood 1986, Kasai u. Zee 1978). Gleichfalls können das Blickfolge- und visuelle Fixationssystem im niederen Frequenz- und Geschwindigkeitsbereich ebenso wie sakkadische Augenbewegungen zur Blickstabilisierung beitragen (Herdmann et al. 1993, Kasai u. Zee 1978, Leigh et al. 1994). Da die visuelle Blickstabilisierung in Dunkelheit wegfällt, sind diese Strategien höchst störanfällig. All diese Mechanismen können nicht vollständig den Verlust des vestibulären Eingangs erset-
3. 4. 5.
Erholung des peripheren vestibulären Rezeptors auf zellulärer Ebene Verminderung des Ungleichgewichts der zentralen tonischen Entladung in den vestibulären Kerngebieten durch Wiederaufbau der tonischen Aktivität der deafferentierten Seite über verschiedene, nur z.T. verstandene neuronale Prozesse (verminderte zerebelläre Inhibition, Verstärkung alternativer Eingänge an den multimodalen vestibulären Kernneuronen, z.B. spinale und visuelle Eingänge) Denervierungssupersensitivität Axonales Aussprossen Zentrale vestibuläre Adaptation durch Steigerung der synaptischen Übertragungseffizienz vom 1. auf das 2. vestibuläre Neuron
zen, da diese Systeme in niedrigen Frequenzbereichen (bis 1 Hz) arbeiten. Bei Aktivitäten wie Gehen oder Rennen treten Frequenzen bis 20 Hz auf, diese kann nur das vestibuläre System bieten. jHabituation Schließlich dürfte auch die Habituation eine Rolle spielen, um die Symptome bei bestimmten Bewegungen zu reduzieren. Eine Habituation tritt bei wiederholter Exposition auf und wird als übergeordneter, zentraler Mechanismus gedeutet. Ob dieser bei der Erholung nach einseitigen vestibulären Läsionen eine Rolle spielt und welche neuronalen Mechanismen für diese Effekte verantwortlich sind, ist noch weitgehend unklar. In . Übersicht 26.4 sind die Ziele der vestibulären Rehabilitation zusammengefasst. . Übersicht 26.4. Ziele der vestibulären Rehabilitation 1.
2.
3. 4.
Verminderung der Stand- und Gangunsicherheit und Verbesserung des Gleichgewichts während Bewegungen Verminderung von Scheinbewegungswahrnehmungen und damit Verbesserung des Sehens während Kopfbewegungen Verbesserung der Funktionsfähigkeit im Alltag Verminderung des sozialen Rückzugs
389 26.2 · Einseitige vestibuläre Unterfunktion
plexeren Situationen und in unterschiedlichen situativen Kontexten ausgeführt, z.B. im Stehen, beim Gehen, beim
Praxistipp Je früher eine Therapie beginnt, umso wirksamer ist sie (Bles et al. 1983, Shepard et al. 1993). Vestibulär dämpfende Medikamente verzögern den Erholungsvorgang und können das letztlich erreichbare Erholungsniveau reduzieren, verhindern die Erholung jedoch nicht gänzlich. Wird die Therapie ambulant durchgeführt, was in chronischen Stadien meist möglich ist, soll neben der vom Physiotherapeuten überwachten Therapie auch ein häusliches Trainingsprogramm angeboten werden.
Vestibuläre Trainingsprogramme Es gibt verschiedene vestibuläre Trainingsprogramme, die eingesetzt werden können, wobei die Grundprinzipien sehr ähnlich sind: Die Übungen zielen darauf ab, adaptive Erholungsvorgänge anzuregen. Vor allem sollen die vestibulären Reflexe (vestibulo-okulärer und vestibulo-spinaler Reflex) verbessert und damit die erzeugten Reizantworten normalisiert werden. Dies ist sowohl im Tiermodell als auch bei Patienten mit akutem einseitigem vestibulärem Funktionsausfall möglich (Pfaltz 1983, Szturm et al. 1994). Zur Abrundung eines vestibulären Rehabilitationsprogramms, das in erster Linie die Adaptation stimulieren soll, sollte immer auch ein Programm gehören, das Substitution anregt. Visuelle und somato-sensorische Eingänge werden zusammen mit dem vestibulären Eingang stimuliert und integriert. Dies gelingt am besten durch kontextspezifische Aufgaben wie rasche Kopfbewegungen und gleichzeitige Fixation eines erdstationären Blickziels oder allgemein Bewegungssportarten. Ideal ist Tischtennis, da rasche Bewegungen (vestibuläre Reize) unter visueller Fixation bzw. Blickfolge des Balls erfolgen und zudem somato-sensorische Eingänge zielgerichtet miteinander verrechnet werden. jAdaptation > Die aussichtsreichste Maßnahme, um eine Adaptation zu stimulieren, ist das möglichst frühzeitige Hervorrufen eines Fehlersignals. Das Zentralnervensystem wird versuchen, die Fehlermeldungen zu minimieren, indem die vestibulären Reflexantworten verstärkt werden.
Der beste Stimulus scheint der zu sein, Kopfbewegungen mit einem visuellen Input zu kombinieren. Die alleinige visuelle Stimulation, z.B. mit einem optokinetischen Stimulus, ist zwar ebenfalls wirksam, aber bei Weitem nicht so effektiv wie die vorgenannte Methode (Miles u. Eighmy 1980). 4 Einfachstes Übungsprinzip ist die Fixation eines festen Zielpunkts bei gleichzeitigem Hin- und Herdrehen des Kopfes (oder Auf- und Ab- oder seitlichem Nicken). 4 Diese Technik kann in späteren Trainingsphasen mit einem entgegenbewegten Zielpunkt verschärft werden, auch kann zwischen punktförmigen Blickzielen und großflächigen (optokinetischen) Reizen variiert werden. 4 Nach initialer Durchführung der Übungen im Sitzen werden in späteren Stadien die Übungen in zunehmend kom-
Gehen mit zusätzlichen Bewegungen der Arme. 4 Adaptation benötigt Zeit. Während früher lange Trai-
4 4
4 4
ningszeiten propagiert wurden (z.T. mehrere Stunden (Demer et al. 1989) haben neuere Untersuchungen ergeben, dass eine vestibuläre Adaptation auch durch regelmäßige (initial 3- bis 5-mal/Tag), jedoch jeweils nur kurze Trainingseinheiten von 1–2 min (Collewijn et al. 1983, Pfaltz 1983) angeregt werden kann. Das ist für Patienten hilfreich, da sie in der frühen Krankheitsphase durch die Trainingsmaßnahmen zunächst eine Verschlechterung ihrer Symptome erleben. Die Adaptation des vestibulo-okulären Systems ist kontextspezifisch. Es ist deshalb ratsam, die Übungen zu variieren. Die Adaptation ist z.B. frequenzabhängig (Lisberger et al. 1983). Würde man nur mit einer einzigen Frequenz stimulieren, würde es auch nur bei dieser Frequenz zu einer Adaptation kommen, nicht aber im übrigen Frequenzband. Der Patient sollte die Kopfbewegungen mit vielen unterschiedlichen Frequenzen durchführen. Ebenso sollten Kopfdrehrichtung und dabei eingenommene Kopfposition möglichst häufig variiert werden, um einen optimalen Trainingserfolg zu erzielen. Die Adaptation wird durch aktive Kontrolle verbessert. Konzentration auf die Aufgabe ist wichtig; Ablenkung sollte vermieden werden. Das Training sollte so gesteigert werden, dass die Patienten immer bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gefordert werden: Bei der Fixationsaufgabe bei bewegtem Kopf sollte die Kopfgeschwindigkeit jeweils so weit gesteigert werden, bis der Patient beginnt, das Blickziel aus seinem zentralen Blickfeld zu verlieren. Andererseits sollten die Patienten, vor allem in der akuten Erkrankungsphase, nicht überfordert werden, um keinen Trainingsabbruch zu riskieren.
jSubstitution Zur Förderung der Substitution sollten Gleichgewichtsübungen mit/ohne visuelle bzw. mit/ohne somato-sensorische Eingänge durchgeführt werden, z.B. durch Stehen auf Schaumgummi. Das Reduzieren sensorischer Eingänge oder deren Alteration zwingt den Patienten, die verbliebenen Eingänge verstärkt zu benutzen: Das vestibuläre System z.B. kann durch das Stehen auf Schaumgummi mit geschlossenen Augen isoliert gefordert werden. Voraussetzung für Substitution ist die gute Funktionsfähigkeit der alternativen sensorischen Eingänge. Gerade bei älteren Patienten ist dies nicht immer der Fall (z.B. durch Katarakt, diabetische Retinopathie, Polyneuropathie), was die vestibuläre Rehabilitation durch Substitution erschwert. jZusammenfassung Abschließend sind die wesentlichen Elemente eines vestibulären Trainingsprogramms in . Übersicht 26.5 exemplarisch dargestellt (adaptiert nach Brandt u. Büchele 1983, Strupp et al. 1998).
26
390
Kapitel 26 · Rehabilitation vestibulärer Störungen
. Übersicht 26.5. Vestibuläres Trainingsprogramm nach einseitigem Labyrinthausfall
26
1.–3. Tag 1. Medikamentöse Behandlung des akuten Schwindels mit Übelkeit und Erbrechen mit vestibulären Suppressantien (z.B. Dimenhydrinat-Suppositorien) 2. Bettruhe 3. Kopf ruhig halten und möglichst wenig bewegen 4. Augen schließen 5. Wenig essen, genügend Flüssigkeit (Tee, Mineralwasser)
2.
ab 4. Tag 1. Medikamente gegen Schwindel absetzen 2. Bettübungen im Liegen oder Sitzen: a. Einen Gegenstand im Raum oder an der Wand ansehen. Dann die Augen rasch auf andere Gegenstände im Raum richten (Sakkaden) und dort kurz verharren. Mit den Augen ganz nach rechts, links, oben und unten blicken b. Lesen, am besten Zeitung mit großer Schrift c. Einen Kugelschreiber oder Bleistift langsam vor den Augen hin- und herbewegen und versuchen, mit den Augen zu folgen d. Rasche Kopfbewegungen (Kopfschütteln). Kopf nach rechts/links und nach oben (in den Nacken legen) oder unten (Kinn auf die Brust) bewegen bzw. seitlich neigen, dabei einen Gegenstand im Auge behalten, der sich in 1 m Entfernung befindet 3. Übungen, um das Gleichgewicht im Sitzen und Stehen zu erlernen: Gehen mit offenen und geschlossenen Augen mit einer Begleitperson
ab 2. Woche 1. Gleichgewichtsübungen mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad
ab 5.–7. Tag 1. Wiedererlernen des aufrechten Standgleichgewichts: a. Vierfüßlerstand (auf Knien und Armen), dabei versuchen die Knie und Arme eng zusammenzubringen b. Versuchen, sich im Knien aufzurichten c. Zunächst beim aufrechten Stehen an der Wand oder an einem Stuhl festhalten, dann versuchen für einige Sekunden, später für Minuten, frei zu
stehen, mit offenen und geschlossenen Augen, später auch mit dem Kopf im Nacken d. Üben zu gehen, zunächst an der Wand entlang, dann zunehmend freies Gehen im Flur Übungen zur Gleichgewichtsregulation und Anpassung von Augenbewegungen bei gleichzeitigen Bewegungen des Kopfes und der Augen a. Verfolgen eines schwingenden Pendels mit den Augen. Wiederholung dieser Übung bei gleichzeitigem Schütteln des Kopfes mit zunehmender Geschwindigkeit b. Übungen auf einem Hocker mit Gerät (Seil, Ball, Keule) unter Anleitung eines Therapeuten (z.B. Hin- und Herwerfen eines Balls von einer Hand in die andere bei gleichzeitigem Verfolgen des Balls mit den Augen) c. Freies Umhergehen bei gleichzeitigem Bewegen des Kopfes in alle Richtungen
Im Liegen: a. Rollübungen um die eigene Körperlängsachse b. Rollübungen kopfüber c. Rollübungen zur Seite Im Sitzen: a. Übungen auf dem Boden b. Sitzübungen auf großem Medizinball unter Anleitung eines Therapeuten Im Stand: a. Einbeinstand mit normaler Kopfhaltung und Kopf im Nacken b. Übungen auf Schaukelbrett c. Rasches Gehen um Hindernisse d. Balanceübungen (Seil, Schwebebank, Schwebebalken) e. Tischtennis f. Fahrradfahren
26.3
Beidseitiger Vestibularisausfall
Patienten Oszillopsien bei Kopfbewegungen und ausgeprägte Gleichgewichtsstörungen, besonders im Stehen und Gehen,
26.3.1
Diagnostik
bei manchen Patienten aber auch schon im Liegen. Im Gehen kommt es zu Relativbewegungen des Netzhautbildes, so dass die Patienten Schwierigkeiten haben, klar zu sehen, Straßenschilder zu lesen oder Personen zu erkennen. Aufgrund dieser Symptome vermeiden die Patienten Bewegungen und ziehen sich aus dem sozialen Leben zurück.
Ein beidseitiger Vestibularisausfall führt meist nicht zu Drehschwindel oder Nystagmus, sondern zu einer Stand- und Gangunsicherheit, besonders in Dunkelheit und auf unebenem Gelände. Häufigste Ursache sind ototoxische Therapien, z.B. mit Aminoglykosiden wie Gentamycin. Aufgrund des ausgefallenen vestibulo-okulären Reflexes beklagen die
391 26.3 · Beidseitiger Vestibularisausfall
Näher betrachtet Studie: Wirksamkeit einer vestibulären Rehabilitation bei einseitiger Unterfunktion Die Wirksamkeit einer vestibulären Rehabilitation bei einseitiger Unterfunktion ist mittlerweile eindeutig nachgewiesen. Neben zahlreichen anekdotischen Hinweisen aus der früheren Literatur (Cawthorne 1944, Cooksey 1946, Herdmann et al. 1995, Horak et al. 1992, Shepard et al. 1993, Szturm et al. 1994), die alle einen positiven Effekt eines überwachten vestibulären Rehabilitationsprogramms auf das funktionelle Ergebnis bei Patienten mit einseitiger vestibulärer Minderfunktion nahelegten, konnten Strupp et al. (1998) in einer prospektiven klinischen Studie zeigen, dass ein spezifisches vestibuläres Trainingsprogramm die vestibulo-spinale Kompensation bei Patien-
26.3.2
ten mit akuter einseitiger vestibulärer Läsion signifikant verbessert: Das Training wurde nach Beginn der Symptomatik über 4 Wochen durchgeführt. Die ersten 5–7 Tage wurde stationär unter Anleitung einer Krankengymnastin therapiert. Anschließend erhielten die Patienten schriftliche Instruktionen und 3 Videos à 10 min. Die Patienten waren angehalten, die auf den Videos gezeigten Übungen 3-mal/Tag durchzuführen und jeweils anschließend noch weitere 10 min nach den schriftlichen Instruktionen zu üben. Vor allem waren die Patienten aufgefordert, diejenigen Bewegungsabläufe zu trainieren, die am deutlichsten Schwindelsymptome pro-
vozierten. Als Kontrollgruppe wurden Patienten mit gleicher initialer Symptomatik herangezogen. Sie wurden auch aufgefordert, sich möglichst viel zu bewegen, erhielten allerdings kein spezifisches Trainingsprogramm. Während die Normalisierung der okulären Verrollung der Augenachse und der subjektiven Vertikalen (beides Zeichen statischer Otolithenasymmetrie) keinen Unterschied zwischen Therapie- und Nichttherapiegruppe zeigte, war die Standsicherheit (kumulative Bewegung des Körperschwerpunkts) in der Therapiegruppe 30 Tage nach Symptombeginn hoch signifikant (p<0,001) von 16,9+6,1 m/min in der Nichttherapiegruppe auf 3,2+1,9 m/min verbessert.
Therapie
Bei Patienten mit beidseits ausgefallenem vestibulären System zielt die Therapie in erster Linie auf Substitution durch das Einüben von alternativen Strategien über visuelle und somato-sensorische Eingänge, um die Körper- und Blickstabilisierung zu verbessern, vorausgesetzt, diese Systeme sind intakt. Deswegen müssen diese Systeme bei der Untersuchung genau geprüft werden: 4 Sehschärfe, 4 Gesichtsfelder, 4 Sensibilität, besonders der Lagesinn. Typischerweise haben die Patienten ein breitbasig-ataktisches Gangbild (Seemannsgang), das sich massiv verschlechtert, wenn sie aufgefordert werden, beim Gehen den Kopf hin- und herzudrehen oder die Augen zu schließen. Die Drehung erfolgt meist en bloc. Um den Blick zu stabilisieren, entwickeln Patienten unterschiedliche Strategien. Dazu gehören: 4 veränderte Sakkadenamplitude, 4 Korrektursakkaden, 4 Modifikation der Blickfolge, 4 zentrales Vorprogrammieren von kompensatorischen Augenbewegungen (Black et al. 1987, Cohen 1992). Praxistipp Das Training sollte nicht eine spezifische Strategie hervorheben, sondern Situationen schaffen, in denen die Patienten die für sie am besten geeignete Strategie selbst entwickeln können. Eine einfache Strategie, die Patienten meist selbst unbewusst entwickeln, ist das Anschalten des Lichts beim nächtlichen Aufstehen.
Näher betrachtet Studien: Visuelle und vestibuläre Eingänge Studien haben gezeigt, dass initial vor allem visuelle Eingänge benutzt werden. Im Laufe der Erholung verlassen sich die Patienten dann zunehmend auf somato-sensorische Informationen (Bles et al. 1983). Beide Eingänge können jedoch aufgrund ihres Arbeitsbereiches in niederen Frequenzen den vestibulären Eingang nicht vollständig ersetzen. In der Therapie geht es darum, die verbliebene vestibuläre Funktion zu steigern und alternative Mechanismen zu trainieren, um Blickstabilität und Körpergleichgewicht während Kopfbewegungen zu gewährleisten. Weiterhin geht es darum, den häuslichen und beruflichen Kontext so einzurichten, dass die Sturzgefahr gemindert wird.
Vestibuläre Trainingsprogramme Die vestibulären Trainingsprogramme für Patienten mit beidseitigem Vestibularisausfall basieren im Wesentlichen auf den bereits beschriebenen Prinzipien für den einseitigen Ausfall, werden aber durch zusätzliche Trainingsmodalitäten ergänzt. Um die Blickstabilisierung bei Kopf- und Körperbewegungen zu verbessern, werden drei verschiedene Ansätze genutzt, dargestellt in . Übersicht 26.6. jStrategien, die die zentrale Vorausprogrammierung nutzen kTraining mit vorgestellten Blickzielen Zunächst wird ein reales Blickziel fixiert, dann die Augen geschlossen und der Kopf langsam hin- und herbewegt, mit dem Versuch, nach wie vor das vorgestellte Blickziel zu fixieren. Ein gelegentliches Öffnen der Augen dient der Überprüfung, ob die Augen immer noch auf das reale Blickziel gerichtet sind. Nacheinander werden alle Raumrichtungen geübt; Kopfgeschwindigkeit und Bewegungsamplitude werden unter wiederholter Erfolgskontrolle allmählich gesteigert.
26
392
Kapitel 26 · Rehabilitation vestibulärer Störungen
. Übersicht 26.6. Verbesserung der verbliebenen vestibulären Funktion 1.
2.
26
3.
Fixation eines erdstationären Blickziels bei gleichzeitigen Kopfbewegungen in alle Richtungen; zunehmende Geschwindigkeit der Kopfbewegungen Vermehrte Nutzung des langsamen Blickfolge- und des sakkadischen Systems Aktive kombinierte Kopf-Augen-Bewegungen zwischen unterschiedlichen Blickzielen: Während der Kopf mit den Augen geradeaus zunächst auf das erste Blickziel gerichtet ist, wird zuerst ein sakkadischer Blicksprung zum neuen Blickziel ausgeführt und anschließend der Kopf möglichst rasch ebenfalls zum neuen Blickziel bewegt; die Augen sollten auf dem neuen Blickziel fixiert bleiben
kGleichgewichtstraining Zur Verbesserung des Gleichgewichts werden Stand- und Gangübungen eingesetzt, die allmählich im Schwierigkeitsgrad gesteigert werden (. Übersicht 26.7). . Übersicht 26.7. Gleichgewichtsübungen in Stand und Gang 1.
2.
3.
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6.
7.
Stehen mit zunehmend enger Fußstellung unter gleichzeitigem, zunächst kurzem, dann immer längerem Schließen der Augen und mentaler Vorstellung der Umgebung Ist der Engstand erreicht, kann man in Zentimeterschritten versuchen, dieselbe Übung allmählich bis zum Tandemstand weiterzuentwickeln; zunächst mit seitlich ausgestreckten Armen, dann mit eng anliegenden Armen und schließlich mit über der Brust gekreuzten Armen Als weitere Erhöhung des Schwierigkeitsgrads werden dann die obigen Übungen auch auf Schaumgummi durchgeführt. Cave: Diese Übung ist vielen Patienten mit beidseitigem kompletten Vestibularisausfall nicht mehr möglich! Gehen entlang einer Wand mit möglichst wenig Abstützung, zunehmend engere Beinhaltung, schließlich Versuch des Seiltänzergangs Übung wie unter 4., mit gleichzeitiger Bewegung des Kopfes in verschiedene Richtungen bei Fixation eines stationären Blickziels Übung wie unter 5., mit gleichzeitiger Ablenkung durch lautes Rechnen (100-7 ...) und wechselnder Fixation unterschiedlicher stationärer Blickziele Freies Gehen mit zunehmend rascheren Kehrtwendungen
26.4
Paroxysmaler Lagerungsschwindel
26.4.1
Diagnostik
Der paroxysmale Lagerungsschwindel ist die häufigste Ursache für Drehschwindel aufgrund einer peripher-vestibulären Störung. Schuknecht (1969) beschrieb als erster den potenziellen Mechanismus: Durch Traumen oder degenerative Vorgänge lösen sich Otolithen aus ihrer Verankerung in der Makulamembran des Otolithenorgans, gelangen der Schwerkraft folgend i.d.R. in den hinteren Bogengang (in aufrechter und liegender Position die tiefste Stelle des Bogengangssystems) und machen diesen schwerkraftempfindlich. Praxistipp Der Schwindel ist charakterisiert durch kurze Drehschwindelattacken bei Einnahme bestimmter Kopfpositionen.
Typische Auslösemechanismen sind:
4 4 4 4
Hinlegen ins Bett, Drehen im Bett, Vornüberbeugen oder Kopf in den Nacken legen.
Zwischen den Attacken klagen die Patienten häufig über eine Gangunsicherheit, die auch noch Stunden bis Tage nach erfolgreicher Behandlung andauern kann. Näher betrachtet Ursache: Kupulolithiasis Bis vor etwa 10 Jahren wurde lediglich eine Behandlungsart des paroxysmalen Lagerungsschwindels empfohlen. 1980 wurde das sog. Brandt-Daroff-Manöver beschrieben. Diese Übungstherapie beruhte auf der Vorstellung, dass die Ursache der Erkrankung eine Kupulolithiasis sei, d.h. ein Anhaften der Otolithen an der Kupula, die diese schwerkraftempfindlich machen. Man glaubte, durch möglichst häufige, jedoch unspezifische Lagerungsmanöver das Otolithenmaterial mechanisch von der Kupula entfernen zu können. In jüngerer Zeit konnte diese wenig spezifische Therapie durch neue Erkenntnisse in der Pathophysiologie wesentlich verbessert werden. Zahlreiche typische Merkmale des paroxysmalen Lagerungsschwindels konnten anhand des Kupulolithiasis-Konzepts nicht erklärt werden.
Ursache: Kanalolithiasis Anstelle nimmt man heute eine Kanalolithiasis an. Diese ist gekennzeichnet durch frei flottierendes Otolithenmaterial im langen Arm des betroffenen Bogengangs, das sich bei Lageänderung jeweils an die tiefste Stelle im Bogengang bewegt, und das dann wie ein Spritzenstempel die Endolymphe bewegt und damit die Kupula auslenkt und aktiviert.
Die Kanalolithiasis erklärt sämtliche Merkmale des paroxysmalen Lagerungsschwindels (. Übersicht 26.8).
393 26.4 · Paroxysmaler Lagerungsschwindel
. Übersicht 26.8. Merkmale des paroxysmalen Lagerungsschwindels 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Latenz zwischen Lagerung und Beginn des Nystagmus Dauer von weniger als 1 Minute Vertikal rotierender Nystagmus Nystagmusumkehr nach Wiederaufrichten Ermüdbarkeit Lagerungs-, kein Lagenystagmus (Brandt et al. 1994b)
jDeliberationsmanöver Basierend auf der Hypothese der Kanalolithiasis wurden sog. Deliberationsmanöver (Befreiungsmanöver) entwickelt, die darauf abzielen, das Otolithenmaterial und damit den Schwindelauslöser wieder aus dem Bogengangssystem zu entfernen. Semont et al. (1988) beschrieben als Erste ein solches Deliberationsmanöver, das 1992 von Epley und 1993 nochmals von Herdman et al. eine Modifikation erfuhr. Wenn diese Manöver richtig angewandt werden, kann ein einmaliges Durchführen bereits zu Beschwerdefreiheit führen. kAuswahl des Deliberationsmanövers Entscheidend für die gezielte Auswahl des Deliberationsmanövers ist die eindeutige Identifikation des betroffenen Bogengangs. Dies ist durch die diagnostische Lagerung unter gleichzeitiger Beobachtung des ausgelösten Nystagmus möglich: Da die isolierte Stimulation eines Bogengangs bei Lagerungsschwindel Augenbewegungen in der Ebene des Bogengangs in den Kopfkoordinaten auslöst (Fetter u. Sievering 1995), kann anhand der Nystagmusrichtung der betroffene Bogengang eindeutig bestimmt werden. Um die rechte Seite zu testen, wird der Kopf in aufrecht sitzender Position zunächst um 45° nach links gedreht und dann rasch auf die rechte Seite gelagert. Für die linke Seite geht man umgekehrt vor. 4 Ist der Nystagmus vertikal rotierend, mit Schlagrichtung nach oben und rotatorischer Komponente mit dem oberen Pol zum unten liegenden Ohr, so ist der hintere Bogengang des unten liegenden Labyrinths betroffen. 4 Ist der Nystagmus horizontal rotierend, handelt es sich um eine horizontale Bogengangsvariante, die ein anderes Deliberationsmanöver erfordert. Diese Nystagmusvariante lässt sich am besten in Rückenlage auslösen, indem der Kopf rasch 90° nach rechts bzw. links gedreht wird (Ohr nach unten). 4 In beide Richtungen lassen sich Nystagmus und Schwindel auslösen, da die Otolithen sich sowohl in die eine als auch die andere Richtung bewegen können. In der Regel ist die Seite betroffen, die, wenn unten liegend, die stärkeren Symptome verursacht.
Die Nystagmusrichtung ist abhängig davon, ob die Ursache eine Kanalolithiasis oder eine Kupulolithiasis ist: 4 Bei der Kanalolithiasis des horizontalen Bogengangs ist der Nystagmus geotrop (schlägt zum unten liegenden Ohr, also zur Erde) und klingt ab. 4 Bei der sehr viel selteneren Kupulolithiasis ist der Nystagmus apogeotrop (von der Erde weg) und lange anhaltend. > Ein Lagerungsschwindel ausgehend vom vorderen Bogengang ist wohl extrem selten und wurde bisher nur als transientes Phänomen nach Deliberationsmanövern beschrieben.
26.4.2
Therapie bei paroxysmalem Lagerungsschwindel ausgehend vom hinteren Bogengang
jSemont-Manöver Ähnlich wie bei der diagnostischen Lagerung beginnt das Manöver in aufrecht sitzender Position. Der Kopf wird 45° von der betroffenen Seite weggedreht. Der Patient wird dann rasch in Kopfhängelage auf die betroffene Seite gelagert (ca. 105°). In dieser Position bleibt der Patient für etwa 3 min. Dann erfolgt eine möglichst rasche Umlagerung um 195° auf die andere Seite, wobei der Kopf während der gesamten Umlagerung 45° von der betroffenen Seite weggehalten wird. Nach der Umlagerung bleibt der Patient wieder für etwa 3 min in dieser Position. Anschließend wird er langsam wieder in die aufrecht sitzende Position gebracht (. Abb. 26.2). Praxistipp In der aufrecht sitzenden Position lässt sich der Behandlungserfolg sofort messen: Zeigt sich ein Nystagmus, der in die entgegengesetzte Richtung des initialen Nystagmus schlägt (nach unten), ist die Deliberation nicht gelungen und muss wiederholt werden.
jEpley-Manöver Der Patient sitzt auf einem Bett. Noch aufrecht sitzend wird der Kopf 45° zur betroffenen Seite gedreht und dann nach hinten in eine 105°-Kopfhängelage gelagert (Schulter auf einem Kissen, so dass der Kopf leicht nach hinten überstreckt ist). Der Patient bleibt etwa 30 sec in dieser Position. Ohne den Kopf anzuheben, wird dieser 90° auf die andere, nicht betroffene Seite gedreht, und nach einer erneuten Pause von etwa 30 sec werden Körper und Kopf in dieselbe Richtung um die Körperlängsachse um weitere 90° zur nicht betroffenen Seite gerollt. In dieser Position bleibt der Patient erneut für etwa 30 sec und richtet sich dann langsam seitlich in die aufrecht sitzende Position auf (ohne vorher in die Rückenlage zu rollen) (. Abb. 26.3).
26
394
Kapitel 26 · Rehabilitation vestibulärer Störungen
26
. Abb. 26.2. Semont-Manöver für den linken hinteren Bogengang (M. Pirker, Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
26.4.3
Therapie bei paroxysmalem Lagerungsschwindel ausgehend vom horizontalen Bogengang
Der Patient liegt auf dem Rücken; der Kopf ist so gedreht, dass das betroffene Labyrinth nach unten zeigt. Der Kopf wird langsam um 90° zur nicht betroffenen Seite gedreht (Nase zeigt nach oben). In dieser Position bleibt der Patient etwa 15 sec oder bis zum Abklingen des Schwindels. Dann wird der Kopf weiter zur nicht betroffenen Seite gedreht, bis das betroffene Labyrinth nach oben zeigt. Auch diese Position wird etwa 15 sec beibehalten oder bis der Schwindel abklingt. Der Patient rollt dann mit dem Körper in dieselbe Richtung bis in Bauchlage; die Nase zeigt jetzt nach unten. Nach erneutem Halten für etwa 15 sec werden der Körper in Rückenlage und der Kopf in die ursprüngliche Ausgangslage weiter gedreht. Nach einer erneuten Wartezeit richtet sich der Patient wieder auf. Anschließend wird er instruiert, für den Rest des Tages in aufrechter Position zu bleiben, z.B. durch das vorübergehende Tragen einer orthopädischen Halskrause (. Abb. 26.3).
26.5
Phobischer Schwankschwindel
26.5.1
Diagnostik
Der phobische Schwankschwindel ist in spezialisierten Schwindelambulanzen nach dem paroxysmalen Lagerungsschwindel die zweithäufigste Schwindelform, wird aber außerhalb solcher Ambulanzen bisher aus Unkenntnis noch zu selten diagnostiziert. Charakteristisch für den phobischen Schwankschwindel ist die Kombination 4 eines subjektiven Schwankschwindels mit 4 subjektiver Stand- und Gangunsicherheit bei Patienten mit normalem neurologischem Befund, objektiv weitgehend normaler Standsicherheit, die sich unter schwierigen Bedingungen (verschärfter Romberg) sogar weiter normalisiert, und eher zwanghafter Personlichkeitsstruktur. Die monosymptomatische subjektive Störung des Gleichgewichtgefühls ist an das Stehen und Gehen gebunden und wird
nur selten im Sitzen und so gut wie nie im Liegen beklagt. Bewegungen (Joggen oder Rennen) sowie Ablenkung verbes-
395 26.5 · Phobischer Schwankschwindel
. Abb. 26.3. Epley-Manöver für den linken hinteren Bogengang (M. Pirker, Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie, Universitätsspital Zürich, mit freundlicher Genehmigung)
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Kapitel 26 · Rehabilitation vestibulärer Störungen
sern i.d.R. die Symptomatik, meist ist auch Radfahren besser möglich als ruhiges Stehen. Daneben berichten viele Patienten, dass der Schwindel sich durch Alkoholgenuss bessert. (Organische Störungen würden sich verschlechtern!) Die Symptomatik zeigt attackenartige Verschlechterungen, die mit und ohne erkennbare Auslöser auftreten, mit und ohne begleitende Angst und Panik. Das Fehlen erkennbarer Auslöser und der Schwindel ohne Begleitangst lassen sowohl den Patienten als auch gelegentlich den Arzt an der Diagnose einer psychogen-funktionellen Störung zweifeln (Brandt et al. 1994a). Die Arbeitsgruppe um Brandt und Die-
terich in München hat sechs Kriterien für die Diagnose eines phobischen Schwankschwindels herausgearbeitet (Brandt et al. 1994a, Huppert et al. 1994), die in . Übersicht 26.9 dargestellt sind.
26.5.2
Therapie
Die wichtigste therapeutische Maßnahme ist es, den Patienten mittels einer sorgfältigen klinischen und apparativen Untersuchung sowie einer Erklärung des Mechanismus von
. Übersicht 26.9. Kriterien für die Diagnose des phobischen Schwankschwindels 1.
2.
3.
4.
Der Patient klagt über Schwankschwindel und subjektive Stand-/Gangunsicherheit bei normalem neurologischem Befund und unauffälligen Gleichgewichtstests. Der Schwindel wird als fluktuierende Unsicherheit von Stand und Gang beschrieben, mit attackenartiger Fallangst ohne Sturz, z.T. nur als unwillkürliche Körperschwankung für den Bruchteil einer Sekunde. Während oder kurz nach diesen Attacken werden (häufig erst auf Befragen) Angst und vegetative Missempfindungen angegeben, wobei die meisten Patienten auch über Schwindelattacken ohne Angst berichten. Die Attacken treten oft in typischen Situationen auf, die auch als externe Auslöser anderer phobischer Syn-
5.
6.
drome bekannt sind (Brücken, Autofahren, leere Räume, große Menschenansammlungen im Kaufhaus oder Restaurant). Im Verlauf entsteht eine Generalisierung mit zunehmendem Vermeidungsverhalten auslösender Reize. Patienten mit phobischem Schwankschwindel zeichnen sich meist durch zwanghafte Persönlichkeitszüge und eine reaktiv depressive Symptomatik aus. Der Erkrankungsbeginn lässt sich häufig auf eine initial organische vestibuläre Erkrankung (z.B. ausgeheilte Neuropathia vestibularis oder paroxysmaler Lagerungsschwindel) oder besondere Belastungssituationen zurückverfolgen.
Näher betrachtet Hypothese: Illusionäre Wahrnehmungsstörung Hypothetisch haben Brandt und Dieterich (1986) den subjektiven Schwankschwindel als illusionäre Wahrnehmungsstörung erklärt. Nach dieser Hypothese kommt es bei den betroffenen Patienten zu einer Störung des sog. Raumkonstanzmechanismus mit teilweiser Entkoppelung der Efferenzkopie für aktive Kopfund Körperbewegungen. Unter normalen Umständen nimmt man beim freien aufrechten Stand selbsterzeugte feine Körperschwankungen oder willkürliche und unwillkürliche Kopfbewegungen nicht als Beschleunigungen wahr. Die Umwelt wirkt während der aktiven Bewegungen als ruhend, obwohl dauernd retinale Bildverschiebungen durch Relativbewegungen (Videokameraeffekt) entstehen. Diese Raumkonstanz wird hypothetisch dadurch erhalten, dass mit dem Willkürimpuls zu Beginn einer Bewegung gleichzeitig eine adäquate Parallelinformation zur Identifikation ausgesandt wird. Diese Efferenzkopie (nach von Holst u. Mittelstaedt 1950) stellt möglicherweise ein
durch frühere Bewegungserfahrung geeichtes sensorisches Erwartungsmuster bereit, das dann die durch die Bewegung ausgelöste aktuelle Sinnesinformation so interpretiert, dass Eigenbewegungen gegenüber einer stationären Umwelt wahrgenommen wird. Fehlt diese Efferenzkopie, z.B. wenn wir mit dem Finger von außen den Bulbus bewegen, so kommt es zu Scheinbewegungen der Umwelt (Oszillopsien). Der phobische Schwankschwindel wird entsprechend dieser Hypothese so erklärt, dass die Schwindelsensationen, die die Patienten beklagen, durch transiente Störungen der Abstimmung zwischen Efferenz und Efferenzkopie, d.h. zwischen erwarteter und ausgeführter Bewegung entstehen. Hypothese: Zentraler Komparator Alternativ könnte die Störung auch in einem ebenfalls hypothetischen zentralen Komparator liegen, der das Efferenzkopiesignal mit den eingehenden sensorischen Informationen abgleicht. Auch Gesunde können solche leichten Schwin-
delsensationen ohne Begleitangst im Zustand starker Müdigkeit erfahren, wenn sich Unterschiede zwischen willkürlichen Kopfbewegungen und unwillkürlichen Schwankungen vermischen. All diese neuronalen Abgleichmechanismen arbeiten mit biologischen Signalen, die selten perfekt sind, ein Rauschen ist auch beim Gesunden vorhanden, wird aber i.d.R. nicht wahrgenommen. Achtet man bei großen sakkadischen Blicksprüngen auf die übrigen Gegenstände im Raum, wird man bei genauer Beobachtung feststellen, dass es zu leichten Relativverschiebungen kommt (Rauschen/Ungenauigkeiten im Komparator). Der Patient nimmt diese partiellen Ungenauigkeiten durch die angstbelegte ständige Kontrolle (verstärkte Introspektion) und Überprüfung der Gleichgewichtsregulation zunehmend bewusst wahr. So wird im Sinne eines Teufelskreises durch zunehmende Beachtung eine zunehmende Wahrnehmung sensomotorischer Regelvorgänge gebahnt, die sonst unbewusst ablaufen (Brandt 1996).
397 26.7 · Literatur
Angst, an einer organischen Erkrankung zu leiden, zu entlasten. Um dies zu erreichen, ist häufig auch eine zerebrale Bildgebung erforderlich. Als Nächstes wird dann ein vestibuläres Trainingsprogramm eingeleitet, das der Patient i.d.R. selbst durchführen kann. Ziel ist es, eine selbst kontrollierte Desensibilisierung zu erreichen. Gut geeignet sind Bewegungssportarten wie 4 Tischtennis, 4 Federball, 4 Tennis, d.h., Sportarten, die es erfordern, bei gleichzeitigen raschen linearen und Drehbewegungen ein Ziel visuell zu erfassen. Das Training sollte spielerisch geschehen, abgestimmt auf die persönlichen Vorlieben, mit langsam steigendem Schwierigkeitsgrad, damit die Patienten lernen, wieder auf ihre vestibulären Reflexe zu vertrauen und das Gleichgewicht wieder zu automatisieren bzw. das angestrengte, ständig bewusst kontrollierte Gleichgewichthalten zunehmend ins Unterbewusstsein zu verdrängen.
Näher betrachtet Studie: Wirksamkeit des Trainingsprogramms Brandt et al. (1994a) konnten in einer katamnestischen Studie zeigen, dass allein mit diesen Maßnahmen 72% der Patienten innerhalb weniger Tage bis Wochen beschwerdefrei waren oder eine deutliche Verbesserung erfuhren. Dies entspricht auch unseren Erfahrungen. Nur in seltenen Fällen, bei starker phobischer Komponente oder ausgeprägter Angststörung, ist eine professionelle Verhaltenstherapie bzw. länger dauernde Psychotherapie sowie der Einsatz einer anxiolytischen Medikation, i.d.R. mit einem serotinergen Medikament (SSRI), erforderlich (z.B. Paroxetin, Sertralin) (Frommberger et al. 1993).
26.6
Altersschwindel
26.6.1
Diagnostik
Schwindelsymptome treten bei älteren Menschen häufiger auf. Dennoch gibt es den Altersschwindel als solchen nicht. Der Begriff ist eher als Sammeltopf für unterschiedliche und teilweise gleichzeitig auftretende Schwindelformen und -ursachen zu sehen. Kommen verschiedene Ursachen zusammen, wird die Behandlung relativ schwierig: 4 Bei älteren Menschen ist häufig das Sehvermögen beeinträchtigt, was die Raumorientierung wesentlich beeinträchtigen kann. 4 Auch die Nervenzellen im Gleichgewichtsorgan gehen im Alter zurück, so dass Bewegungen und Lageveränderungen nicht mehr so gut wahrgenommen werden können. 4 Im Rahmen von Polyneuropathien ist bei älteren Menschen häufig die Sensibilität der Haut-, Muskel- und Gelenkrezeptoren vermindert.
4 Hinzu kommen nicht selten kardiovaskuläre Erkrankungen wie Herzinsuffizienz oder zerebrale Durchblutungsstörungen (z.B. subkortikale vaskuläre Enzephalopathie). 4 Schließlich ist bei älteren Menschen häufig die Mobilität vermindert, so dass die Reflexe, die ein Stolpern und Fallen verhindern könnten, nicht mehr genügend gefordert sind und damit in ihrer Wirksamkeit nachlassen.
26.6.2
Therapie
Zunächst sollten gut behandelbare Schwindelursachen geklärt und behandelt werden (z.B. gutartiger Lagerungsschwindel). Liegen jedoch mehrere Störungen gleichzeitig vor, ist auch im Alter ein Gleichgewichtstraining angezeigt. Dabei ist es ganz wichtig, dass nicht zu früh Gehhilfen benutzt werden. Der Gleichgewichtssinn gewöhnt sich schnell an diese Stütze, die Gangunsicherheit wird damit eher gefördert als verbessert. Auch im Alter wird ein Trainingsdefizit durch jede Form von Bewegung und Sport abgebaut und gleichzeitig das Gleichgewichtsempfinden geschult. Besonders Ballsportarten sind eine gute Möglichkeit, den Gleichgewichtssinn zu trainieren. Ansonsten gibt es auch für diese Patientengruppe zahlreiche Trainingsprogramme. Praxistipp Ganz aktuell wurde zusammen mit der Geriatrischen Klinik im Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart und der Psychosomatischen Klinik des Bürgerhospitals in Stuttgart ein Trainingsleitfaden erstellt, der die vorgeschlagenen Übungen mit zahlreichen Bildbeispielen erläutert. Dazu gehören: 4 Übungen im Sitzen und im Stand, 4 Gehübungen auf unterschiedlichem Untergrund, 4 Übungen mit Luftballon, Seil, Handtuch, Zeitung u.a., die sich im Schwierigkeitsgrad allmählich steigern. Ein Trainingseffekt setzt dann ein, wenn Übungen als schwierig empfunden werden. Nur so wird sich das Gleichgewicht allmählich verbessern. Der Leitfaden kann in der Geriatrischen Klinik des Robert-Bosch-Krankenhauses in Stuttgart angefordert werden.
26.7
Literatur
Black FO, Peterka RJ, Elardo SM. Vestibular reflex changes following aminoglycoside induced ototoxicity. Laryngoscope 1987;97:582586. Bles W, Vianney de Jong JM, de Wit G. Compensation for labyrinthine defects examined by use of a tilting room. Acta Otolaryngol 1983;95:576-579. Brandt T. Phobic postural vertigo. Neurology 1996;46:1515-1519. Brandt T, Büchele W. Augenbewegungsstörungen. Stuttgart, New York: Gustav Fischer Verlag; 1983. Brandt T, Daroff RB. Physical therapy for benign paroxysmal positional vertigo. Arch Otolaryngol 1980;106:484-485.
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26
Kapitel 26 · Rehabilitation vestibulärer Störungen
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B
Beeinträchtigung von Funktionen, Aktivitäten und Teilhabe Urologische und sexuelle Funktionen und Aktivitäten Kapitel 27
Harninkontinenz und neurogene Blasenfunktionsstörungen – 401 M. Stöhrer, J. Pannek
Kapitel 28
Sexualität bei chronischen neurologischen Erkrankungen – 415 D. Goecker, A. Hagedorn, K.M. Beier
27
Harninkontinenz und neurogene Blasenfunktionsstörungen M. Stöhrer, J. Pannek 27.1 Neurophysiologie
– 402
27.1.1 Koordinierende Funktionsschleifen – 402 27.1.2 Unterer Harntrakt und autonomes Nervensystem
– 404
27.2 Neurogene Blasenfunktionsstörungen – 404 27.2.1 Einteilung neurogener Blasenfunktionsstörungen – 405 27.2.2 Diagnostik – 406 27.2.3 Therapie – 407
27.3 Harnwegsinfekt 27.3.1 27.3.2 27.3.3 27.3.4 27.3.5
– 411
Operative Maßnahmen – 411 Elektrostimulation und Neuromodulation – 411 Eingriffe zur Veränderung der Blasenkapazität – 412 Autoaugmentation – 412 Monitoring – 412
27.4 Literatur
– 413
402
27
Kapitel 27 · Harninkontinenz und neurogene Blasenfunktionsstörungen
Harninkontinenz ist das herausragende Leitsymptom einer neurogen gestörten Blasenfunktion. Wegen der sozialen Problematik einer Harninkontinenz ist eine Behandlung auch dann erforderlich, wenn die Ursache nicht geklärt oder nicht therapiert werden kann. Grundsätzlich kann jede Schädigung der nervalen Steuerung der Blase vom ZNS bis zur Peripherie zu einer Blasenfunktionsstörung führen. . Übersicht 27.1 zeigt, bei wie vielen neurologischen Erkrankungen die Harninkontinenz ein Symptom sein kann. Die laienhafte Annahme, dass Inkontinenz überwiegend mit Belastungsinkontinenz gleichzusetzen sei und morphologische Ursachen das Hauptproblem seien, ist sicherlich falsch. Selbst bei älteren Patienten, bei denen sehr häufig morphologische Veränderungen zur Harninkontinenz führen, sind Steuerungsprobleme, z.B. bei Durchblutungsstörungen des Gehirns, eine mindestens ebenso häufige Ursache (Hald u. Bradley 1982, Schultz- Lampel u. Thüroff 1997, Grigoleit et al. 2006). Außerdem ist bei neurogenen Störungen mit einer erheblichen Dunkelziffer zu rechnen, da die Symptomatik nicht immer sehr ausgeprägt ist und viele Patienten gar nicht erst einen Arzt aufsuchen.
. Übersicht 27.1. Neurologische Krankheitsbilder, die eine neurogene Blasenfunktionsstörung bedingen können (Hald u. Bradley 1982) Hirnorganische Erkrankungen 1. Demenz 2. Morbus Parkinson 3. Multiple Sklerose 4. Tumoren 5. Entzündliche Erkrankungen 6. Zerebrovaskuläre Erkrankungen 7. Schädel-Hirn-Trauma 8. Enzephalopathien Erkrankungen des Rückenmarks 1. Verletzungen 2. Gefäßkrankheiten 3. Tumoren 4. Myelodysplasien 5. Entzündliche Erkrankungen (Myelitis, Arachnoiditis) 6. Amyotrophe Lateralsklerose Periphere Neuropathien 1. Trauma 2. Missbildungen des Spinalkanals 3. Tumoren des Conus medullaris und der Cauda equina 4. Guillain-Barré-Syndrom 5. Bandscheibenprolaps 6. Herpes zoster 7. Tethered-Cord-Syndrom 8. Tabes dorsalis 9. Verletzungen des peripheren Nervensystems bei chirurgischen Interventionen, z.B. – radikale Hysterektomie – abdominosakrale Rektumamputation
Neurologisch ist die Art einer Blasenfunktionsstörung meist nicht genau diagnostizierbar. Von urologischer Seite ist eine Diagnose der Blasenfunktion über urodynamische Untersuchungsverfahren möglich. Sie ist jedoch kompliziert und aufwändig und erfordert eine Spezialisierung des Urologen (Bemelmans 1997, Kramer et al. 1997, Ippisch et al. 1997).
27.1
Neurophysiologie
Die praxisnahe Darstellung von Ostergard (1985), die auf dem Konzept von Bradley et al. (1974) beruht, ist der folgenden Übersicht zugrunde gelegt (. Abb. 27.1). Nach Bradley kann man von vier miteinander verbundenen Funktionsschleifen ausgehen, deren jeweilige Funktion von der Unversehrtheit der restlichen Schleifen abhängt. Für einen geordneten Ablauf des Miktionsreflexes ist eine koordinierte und ausgewogene Zusammenarbeit dieser vier Schleifen erforderlich.
27.1.1
Koordinierende Funktionsschleifen
jSchleife 1: Großhirn – Hirnstamm Schleife 1 umfasst Regionen des Frontallappens und der Formatio reticularis des Hirnstamms. Zusätzliche Impulse kommen vom Kleinhirn und den Basalganglien. > Schleife 1 koordiniert die willentliche Kontrolle des Miktionsreflexes.
Verschiedene Krankheiten können diese Funktionsschleife unterbrechen oder verändern, z.B.: 4 Morbus Parkinson, 4 Multiple Sklerose, 4 Hirntumoren, 4 Schädel-Hirn-Traumen, 4 zerebrovaskuläre Erkrankungen sowie 4 lokale Erkrankungen des unteren Harntrakts. Praxistipp Schleife 1 ist intakt, wenn Detrusorkontraktionen willentlich unterbrochen werden können. Die Untersuchung zum Nachweis der Intaktheit ist die urodynamische Untersuchung.
jSchleife 2: Hirnstamm – spinales Miktionszentrum Die 2. Schleife verbindet die Formatio reticularis des Hirnstamms über spinale Bahnen mit dem sakralen Miktionszentrum im Bereich S2–S4. Sensorische Afferenzen führen von der Blasenmuskulatur zum Hirnstamm, einige davon ziehen am sakralen Miktionszentrum vorbei direkt zum Hirnstamm. > Schleife 2 ist für eine ausreichend lange Kontraktion des Detrusors verantwortlich, um eine völlige Entleerung der Blase zu erreichen.
403 27.1 · Neurophysiologie
a
b
c
. Abb. 27.1. Steuerung der Blasenentleerung nach Ostergard, basierend auf dem Konzept von Bradley. a Verlauf von Schleife1 (Frontalhirn – Hirnstamm) und Schleife 2 (Hirnstamm – sakrales Mik-
tionszentrum. b Verlauf von Schleife 3 (Blase – sakrales Miktionszentrum – äußerer Schließmuskel). c Verlauf von Schleife 4 (Frontalhirn – sakrales Miktionszentrum).
Auswirkungen auf die Funktion von Schleife 2 haben u.a. 4 Verletzungen, 4 raumverdrängende Prozesse am Rückenmark und 4 entzündliche Erkrankungen wie Multiple Sklerose.
> Schleife 3 steuert das koordinierte Verhalten von Detrusor und urethraler Muskulatur und eine entsprechende Relaxierung des quergestreiften Sphinkters bei Kontraktion des Detrusors. Eine Einflussnahme durch Schleife 4 ist möglich.
Praxistipp Ist Schleife 2 völlig unterbrochen, ist eine willentliche Einleitung der Miktion nicht mehr möglich. Sie ist intakt, wenn die Aufforderung an den Patienten zur Entleerung der Blase mit einer Detrusorkontraktion beantwortet wird. Die Überprüfung von Schleife 2 kann ebenfalls durch eine urodynamische Untersuchung erfolgen.
Störungen können auftreten bei
4 4 4 4 4
Multipler Sklerose, Querschnittlähmung, raumverdrängenden Prozessen des Rückenmarks, peripheren Neuropathien (z.B. Diabetes mellitus) sowie lokalen Erkrankungen der ableitenden Harnwege. Praxistipp
jSchleife 3: Blase – sakrales Miktionszentrum – Sphincter externus urethrae Die 3. Schleife hat ihren Beginn an den sensorischen Afferenzen des Detrusors. Diese ziehen zum entsprechenden Nukleus im sakralen Miktionszentrum. Interneurone beeinflussen dort die benachbarten Kerne des motorischen Pudendusanteils. Dieser zieht zur quergestreiften Muskulatur des Sphincter externus urethrae.
Wenn bei einer Detrusorkontraktion der Sphincter externus nicht relaxiert, kommt es zu einer funktionellen Obstruktion und einer entsprechenden Verlängerung der Miktionszeit. Die Unversehrtheit dieser Schleife ist mit aufwändigen neurophysiologischen Untersuchungstechniken prüfbar.
27
404
Kapitel 27 · Harninkontinenz und neurogene Blasenfunktionsstörungen
kSchleife 4: Zerebrum – spinales Miktionszentrum Die 4. Schleife läuft von der Großhirnrinde zum Nucleus pudendus im sakralen Miktionszentrum. > Schleife 4 ermöglicht eine willentliche Beeinflussung des quergestreiften Anteils des Sphincter externus urethrae.
27
Schleife 4 kann bei raumverdrängenden Prozessen in diesem Bereich beeinträchtigt sein, z.B. bei 4 zerebralen oder spinalen Tumoren, 4 Schädel-Hirn-Trauma, 4 Multipler Sklerose, 4 zerebralen Gefäßerkrankungen und 4 lokalen Erkrankungen des unteren Harntrakts. Praxistipp Eine Läsion dieser Schleife kann den Verlust der willentlichen Kontrolle des Sphincter externus urethrae zur Folge haben. Die Funktion diese Schleife kann elektromyographisch durch willentliche Kontraktionen des Sphincter externus urethrae überprüft werden.
27.1.2
Unterer Harntrakt und autonomes Nervensystem
Die Kontrolle des unteren Harntrakts erfolgt durch den sympathischen und parasympathischen Anteil des autonomen Nervensystems (Hald u. Bradley 1982, Ostergard 1985, de Groat 1993) (. Abb. 27.2).
jSympathisches Nervensystem Der sympathische Anteil für die Funktion des unteren Harntrakts entspringt im Bereich der Segmente Th10–12 bis L2. Er hat sowohl alpha- als auch betaadrenerge Fasern. Beide finden sich mit unterschiedlicher Verteilung sowohl in der Blase als auch in der Urethra: 4 Die betaadrenergen Fasern ziehen primär zum Detrusor und sind in der Urethra nur in geringer Anzahl nachweisbar. 4 Die alphaadrenergen Fasern enden vorrangig in der Harnröhre. Die sympathischen Fasern sind anatomisch dem N. hypogastricus zuzuordnen: 4 Der alphaadrenerge Anteil stimuliert die Kontraktion des Blasenhalses und der Harnröhre und führt zu einer Relaxation des Detrusors. 4 Der betaadrenerge Anteil relaxiert die Harnröhre und den Detrusor. Das sympathische Nervensystem wirkt hemmend auf die Übertragung in den parasympathischen Ganglien. Es kommt zu einer Interaktion der beiden Komponenten des autonomen Nervensystems am Endorgan. jParasympathisches Nervensystem Das parasympathische Nervensystem entspringt im sog. sakralen Miktionszentrum (S2–S4). Die parasympathischen Fasern sind in ihrem anatomischen Verlauf dem N. pelvicus zugeordnet. Er setzt die Kontraktion des Detrusors in Gang und hemmt die Kontraktion der glatten urethralen Muskulatur.
27.2
Neurogene Blasenfunktionsstörungen
Neurogene Blasenfunktionsstörungen führen sowohl zu einer Störung der Speicher- als auch der Entleerungsphase der Blase. Praxistipp Von erheblicher Bedeutung für die Klinik einer neurogenen Blasenfunktionsstörung ist der Hinweis, dass es sich zwar gelegentlich um ein Problem der Blasenentleerung handelt, im Wesentlichen aber die Speicherphase betroffen ist.
. Abb. 27.2. Organisation der vegetativen Innervation zwischen unterem Harntrakt und Rückenmark
Da auf die Entleerung der Blase im tageszeitlichen Ablauf nur eine geringe Zeitspanne entfällt, ist die Speicherphase mit ihren weit über 23 Stunden weitaus mehr auf die Intaktheit des Systems angewiesen (Störungen der Speicherphase werden dem System durch Sekundärschäden eher gefährlich als Störungen der Entleerungsphase). Kommt es in der Speicherphase bereits bei geringen Volumina zu einem schnellen Druckanstieg, ist eine Kompression der intramuralen Harnleiterabschnitte über längere Zeiträume die Folge. Daraus ent-
405 27.2 · Neurogene Blasenfunktionsstörungen
steht ein zunehmender Rückstau in den oberen Harntrakt. Aufgrund einer Sensibilitätsstörung und anfänglich nur geringer klinischer Symptome kann sich so unbemerkt eine irreversible Schädigung des oberen Harntrakts entwickeln (McGuire et al.1997, Stöhrer et al. 1994).
27.2.1
Einteilung neurogener Blasenfunktionsstörungen
Klinisch sinnvoll ist eine Einteilung neurogener Blasenfunktionsstörungen in zwei generelle Gruppen: 4 Störungen eines passiven Hochdrucksystems und 4 Störungen eines aktiven Hochdrucksystems. jPassives Hochdrucksystem (areflexive Blase) Liegt eine Läsion des spinalen Miktionszentrums oder eine Unterbrechung des von dort zur Blase ziehenden Reflexbogens vor, kommt es meist zu einer Hypo- oder Areflexie des Detrusors. Die verbleibende Restkontraktilität reicht nicht zu einer Öffnung des Blasenhalses und zum Ingangsetzen einer Miktion. Die Folgen sind 4 eine hohe Restharnbildung und 4 eine chronische Überdehnung. Hinzu kommt häufig eine abgeschwächte oder nicht vorhandene Sensibilität, so dass ein Überlaufen nicht selten ist (Überlaufinkontinenz). Die hohen passiven Drücke führen zu einer Detrusorwandveränderung, damit langfristig zu einem Reflux und einer Beeinträchtigung der Nierenfunktion (. Abb. 27.3). Bei Vorliegen einer Meningomyelozele oder anderer angeborener Leiden mit gleichzeitiger Sphinkterinsuffizienz kann zur Überlaufkomponente zusätzlich eine Belastungsinkontinenz hinzukommen. > Die Progredienz von Folgeschäden bei Vorliegen eines passiven Hochdrucksystems ist deutlich langsamer als bei einem aktiven Hochdrucksystem.
jAktives Hochdrucksystem (Reflexblase) Zugrunde liegt eine Störung der Innervation oberhalb des spinalen Miktionszentrums (S2–S4). Der Reflexbogen von diesem Zentrum zur Blase ist intakt, so dass ungesteuerte, ungehemmte Detrusorkontraktionen provoziert werden können. Eine willkürliche Beeinflussung des Miktionsvorgangs ist nicht mehr möglich. Es kommt zu sehr unterschiedlichen Detrusordrücken, die sowohl von der Höhe der Läsion als auch vom vegetativen Gesamtzustand abhängen. Zunächst tritt als Folge der gesteigerten Aktivität ein Trainingseffekt am Detrusor auf, der zu einer Erhöhung der Blasenwandspannung bereits in der Füllphase führt (Low-Compliance-Blase). Damit kommt es sehr früh zu einem Aufstau des oberen Harntrakts (. Abb. 27.4). Eine zusätzliche Rolle spielt eine häufig gleichzeitig vorhandene Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie. Bei Anstieg des Blaseninnendrucks durch eine zunehmende Kontraktion des
. Abb. 27.3. Entwicklung bei passivem Hochdrucksystem (areflexive Blase); zunehmende Blasenwandüberdehnung mit Sekundärschäden am unteren Harntrakt bei unbehandeltem Patienten
Detrusors kontrahiert sich auch der Sphinkterverschluss spastisch. Damit wird eine Entleerung nahezu unmöglich. Entleert werden kann bei dieser Form der funktionellen Blasenentleerungsstörung nur dadurch, dass der quergestreifte Sphincter externus seine spastische Kontraktion nicht so lange aufrechterhalten kann wie der glatte Detrusormuskel. Durch den Tonus des Detrusormuskels kann der immer wieder kurzfristig erschlaffende externe Sphinkter überwunden werden. Damit tritt eine stakkatoartige, allerdings nicht ausreichende Miktion ein. Durch den Trainingseffekt kommt es zu einer Hypertrophie der Detrusormuskulatur. Dies führt schon in der Füllphase der Blase zu einem erheblichen Druck auf den in der Blasenwand gelegenen Anteil der oberen Harnwege. Wenn man sich vor Augen hält, dass der Urin täglich über 23 Stunden in der Blase gespeichert wird, wird deutlich, wie groß die Gefährdung des oberen Harntrakts durch die ständige Druckerhöhung ist. Die bei der Reflexblase auftretende Harninkontinenz wird als Reflexinkontinenz bezeichnet.
27
406
Kapitel 27 · Harninkontinenz und neurogene Blasenfunktionsstörungen
27.2.2
Diagnostik
jAnamnese Bei der Diagnostik neurogener Blasenstörungen ist die Anamnese von großer Bedeutung. Dazu gehören Fragen nach Erkrankungen und Verletzungen am Rückenmark, Gehirn oder nach Eingriffen im kleinen Becken. Eine genaue Beschreibung der subjektiven Symptome und der Miktions- und Defäkationsgewohnheiten ist notwendig, dazu gehört auch ein Miktionsprotokoll mit Aufzeichnungen der Blasenentleerung und der Beschwerden. Zu den Fragen gehören: 4 Können Sie die Harnentleerung willkürlich unterdrücken? 4 Wann und wie häufig kommt es zu einer unwillkürlichen Blasenentleerung? 4 Ist diese mit einem Harndrang verbunden?
27
Des Weiteren sollten Fragen zu Sexualität, Medikamenten mit neurotroper Wirkung und Alkoholkonsum gestellt werden. jHarnflussmessung Restharnüberprüfungen sollten wiederholt werden, mindes-
tens 3- bis 4-mal. Eine einfache Harnflussmessung (Uroflowmetrie) kann im Zusammenhang mit den anamnestichen Angaben bereits wertvolle Hinweise geben. jNeurologische Untersuchung Bei der neurologischen Untersuchung werden geprüft: 4 Sensibilität, 4 Tonus des Analschließmuskels sowie dessen willkürliche Kontraktion und Relaxation, 4 Glutealreflex, 4 Analsphinkterreflex, 4 Bulbocavernosusreflex und 4 Kremasterreflex, 4 Cauda-Symptomatik. . Abb. 27.4. Aktives Hochdrucksystem (Reflexblase); schnelle Entwicklung bei hyperkontraktilem Detrusor; Ausbildung einer LowCompliance-Blase; Entwicklung der Folgeschäden bei unbehandelter Form; fast immer Vorliegen einer Detrusor-Spinkter-Dyssynergie
Eine Aussage zu Art und Ausmaß einer neurourologischen Störung kann erst nach einer urodynamischen Untersuchung mit simultaner Röntgenkontrolle gemacht werden. Individuelle therapeutische Maßnahmen können nur auf Basis dieser Untersuchung erfolgen (Kramer et al. 1997).
> Während bei der areflexiven Blase fast immer hohe Restharnmengen vorliegen, muss bei der Reflexblase keine Restharnbildung vorhanden sein.
jUrodynamische Untersuchung Eine video-urodynamische Untersuchung sollte unter möglichst physiologischen Bedingungen stattfinden, besonders dann, wenn eine Überaktivität des Detrusors vorliegt. Ansonsten könnten Artefakte provoziert werden, die eine Beurteilung unmöglich machen. Die Untersuchung sollte nach den Richtlinien der International Continence Society (ICS) durchgeführt werden: Die Füllgeschwindigkeit z.B. sollte langsam sein, die Füllflüssigkeit auf Körpertemperatur angewärmt (Abrams et al. 2003, Ippisch et al. 1997).
! Cave Fehlende Restharnbildung mit effizienter Blasenentleerung gleichzusetzen wäre ein Fehler, der fatale Folgen haben könnte, denn die hohen Drücke in der Speicherphase, sekundär auch die erhöhten Drücke bei der Entleerung, sind das eigentliche Problem der Reflexblase.
407 27.2 · Neurogene Blasenfunktionsstörungen
Lebensqualität kann nur vom Patienten selbst und aus seiner
individuellen Situation beurteilt werden. Der Arzt kann dem Patienten nur Möglichkeiten anbieten, aus denen er seine Entscheidung trifft (Stöhrer et al. 1994). Das bedeutet, dass bei Patienten mit neurogener Blasenfunktionsstörung grundsätzlich ein Kompromiss zwischen Notwendigkeiten aus ärztlicher Sicht und individuell Akzeptablem aus Patientensicht erforderlich ist. Beispiel
. Abb. 27.5. Sekundärveränderungen mit erheblicher Auswirkung auf die urodynamische Aufzeichnung wegen der hohen Druckverluste in den oberen Harntrakt. Daher ohne zusätzliche Videographie keine ausreichend sichere Beurteilungsmöglichkeit
> Wichtig ist eine simultane videographische Aufzeichnung des Miktionsvorgangs, da nur dadurch Sekundärveränderungen wie Divertikel, Refluxe oder Veränderungen der Blasenwand darstellbar sind (. Abb. 27.5).
Bei einem massiven Reflux in die oberen Harnwege kommt es z.B. zu einer Absorption des Drucks im oberen Harntrakt, so dass ohne gleichzeitige videographische Darstellung des Druckverlustes im Detrusor erhebliche Fehlbeurteilungen zustande kommen würden (Ippisch et al. 1997). Verschiedene Provokationstests erlauben weitere Schlüsse: 4 der Carbacholtest kann Hinweise auf eine mögliche periphere Denervierung geben, 4 der Eiswassertest auf das Vorliegen einer Reflexblase.
27.2.3
Therapie
Die Therapie einer neurogen bedingten Harninkontinenz richtet sich primär nach der auslösenden Ursache. Handelt es sich z.B. um einen vorübergehenden Schaden nach Bandscheibenoperation, stehen andere Maßnahmen im Vordergrund als bei Vorliegen einer kompletten Querschnittlähmung. Kann man die auslösenden Ursachen nicht beseitigen, ist zumindest die Harninkontinenz zu therapieren. > Das übergeordnete Ziel der Therapie ist – gerade bei einem so bedeutsamen Symptom wie Harninkontinenz – die Lebensqualität, oder in den Begriffen der ICF die Teilhabe an Lebensbereichen.
Auch wenig invasive therapeutische Maßnahmen wie das intermittierende Selbstkatheterisieren werden von einigen Patienten nicht akzeptiert. Man sollte zumindest versuchen, den Patienten zu überzeugen, einen zeitlich limitierten Probeversuch über z.B. 3 Monate durchzuführen. Viele Patienten lassen sich überzeugen, dass alle anderen Maßnahmen langfristig eine noch wesentlich größere Einschränkung der Lebensqualität mit sich bringen. Dieses Beispiel mag erläutern, dass beide Seiten voneinander lernen müssen.
jTherapieziel Ein Hauptziel der therapeutischen Maßnahmen ist es, die Speicherfunktion der Blase wiederherzustellen. Möglich ist dies nur, wenn die Wandspannung in der Speicherphase niedrig ist bzw. die Drücke bei Blasenfüllung im physiologischen Bereich liegen. Dies bedeutet für den Patienten sowohl eine ausreichende Blasenkapazität als auch eine ausreichende Kontinenz, vor allem aber einen Schutz des oberen Harntrakts. Auch die Entleerung sollte bei möglichst geringem Widerstand erfolgen. Eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie sollte soweit reduziert werden, dass die Entleerungsdrücke in einem akzeptablen Bereich erfolgen. Das bedeutet bei einer normalen Compliance in der Speicherphase Entleerungsdrücke, die nicht über 80 cm H2O hinausgehen. Beide Zielgrößen können nur durch eine Verringerung der funktionellen infravesikalen Obstruktion und/oder durch eine Dämpfung der Detrusorüberfunktion in die erforderliche Größenordnung gebracht werden. Beim passiven Hochdrucksystem mit hoher Restharnbildung ist meist nur eine Verbesserung des infravesikalen Abflusses möglich. jTherapiekonzept Ein Therapiekonzept, das ein langfristiges Gleichgewicht zwischen Speicherung und Entleerung anstrebt, setzt eine Spezialisierung und große Erfahrung voraus. Allzu häufig wird aus Angst vor einer Schädigung des oberen Harntrakts operativ übertherapiert, mit möglichen negativen Folgen für die Lebensqualität und Mobilität. Die Autoren konnten bei über 4.000 Patienten in mehr als 20 Jahren zeigen, dass bei adäquater Behandlung keine wesentliche Einschränkung der Lebenserwartung durch urologische Folgeerkrankungen eintritt.
Konservative Maßnahmen Die konservativen Möglichkeiten bei neurogener Blasenfunktionsstörung erlauben es, etwa 70% der Patienten mittel- bis langfristig erfolgreich zu therapieren (. Übersicht 27.2).
27
408
Kapitel 27 · Harninkontinenz und neurogene Blasenfunktionsstörungen
Fazit . Übersicht 27.2. Konservative Maßnahmen bei neurogenen Blasenfunktionsstörungen 1. 2. 3. 4.
27
Ausdrücken der Blase Harnableitung durch Dauerkatheter Intermittierender Katheterismus Blasentraining (Triggern)
jAusdrücken der Blase Obsolet ist ein Ausdrücken der Blase, z.B. nach Credé, wie es teilweise auch heute noch praktiziert wird. Der Druck von außen auf die Blase erfolgt in einer Größenordnung, die den verschlossenen Blasenhals, der sich bei einer hypo- oder areflexiven Blase nicht aktiv trichterförmig verformen kann, gewaltsam aufsprengt. Die Drücke in der Blase übersteigen 100 cm H2O. Damit ist trotzdem häufig keine vollständige Entleerung zu erreichen. Kinder und Jugendliche mit angeborener Missbildung der Wirbelsäule wie z.B. bei Meningomyelozele und Spina bifida occulta, die jahrelang nach diesem Konzept behandelt wurden, weisen nach Erfahrung der Autoren häufig erhebliche Veränderungen sowohl der Blase als auch der oberen Harnwege auf, mit teilweise 4 exzessiven Stauungsnieren, 4 massivem Reflux und 4 frühzeitig reduzierter Nierenfunktion (. Abb. 27.6).
Ein Ausdrücken der Blase kann nur dann als effizient angesehen werden, wenn der Patient mit niedrigen Drücken restharnfrei entleeren kann. Dies ist fast nie der Fall.
jHarnableitung durch Dauerkatheter Der transurethrale Dauerkatheter hat nur noch selten in ganz speziellen Fällen Bedeutung. Er ist, vereinfacht ausgedrückt, als Bankrotterklärung des Therapeuten zu betrachten. Allenfalls ist diese Form der Harnableitung postoperativ zum Offenhalten der Harnröhre für einen kurzen Zeitraum oder auf Intensivstation nach akutem Polytrauma bei nicht möglicher suprapubischer Punktion (z.B. Blutgerinnungsstörung) noch zu vertreten. Wenn überhaupt erforderlich, dann sollte bei Liegezeiten von mehr als 2 Tagen grundsätzlich ein Silikon-Katheter eingesetzt werden, der wöchentlich gewechselt werden muss. Nach heutigen Erkenntnissen bieten bereits nach einer Woche Schleimablagerungen auf dem Katheter Bakterien einen Schutz (Biofilm). Sie sind damit durch eine antibiotische Therapie nicht mehr zu erreichen. Fazit Eine suprapubische Harnableitung ist ebenfalls nicht optimal, aber mittelfristig gelegentlich erforderlich. Sie ist auch dann indiziert, wenn aus technischen Gründen der intermittierende Katheterismus über begrenzte Zeiträume nicht möglich ist. Polytraumatisierte Querschnittsgelähmte, die auf Intensivstation bilanziert werden müssen, sind mit dieser Technik adäquat versorgt. Man sollte diese Form der Harnableitung so bald wie möglich durch den intermittierenden Katheterismus ersetzen. Auch der suprapubische Katheter verursacht eine entzündliche Reizung der Blasenschleimhaut, obwohl die Harnröhre selbst unberührt bleibt. Eine Harnwegsinfektion wird sich daher etwas später einstellen als beim transurethralen Katheter. Sie ist aber mittel- und langfristig nicht vermeidbar. Aufgrund der entzündlichen Reizung der Blasenschleimhaut durch den Fremdkörper sind auch Refluxe trotz Dauerableitung nicht selten.
jIntermittierender Katheterismus > Bei hypo- oder akontraktiler Blase mit hohen Restharnmengen sowie bei unphysiologisch stark ausgeprägter Detrusorhyperaktivität ist der intermittierende Katheterismus derzeit als Therapie der Wahl zu betrachten, wobei bei Letzterer zuvor eine medikamentöse Dämpfung der Blase erforderlich ist.
. Abb. 27.6. Meningomyelozelen-Kind nach Verlust der linken Niere durch chronische Pyelonephritis mit Hydronephrose (funktionslos). Massive Schädigung der verbliebenen Restniere und erhebliche Sekundärveränderungen am Detrusor; Zustand nach mehrjährigem Auspressen der Blase nach Credé
Infrage kommen alle Patienten, die in der Lage sind, diese Methodik zu verstehen und technisch durchzuführen. Sie können jahrelang mehrmals täglich katheterisiert werden, ohne eine Schädigung der Harnröhre und des oberen Harntrakts zu riskieren. Bei einer entsprechenden Technik sind Harnwegsinfektionen vermeidbar. Es ist sinnvoll, Patienten, die für diese Therapie infrage kommen, 2–3 Tage zu trainieren. kAseptische Technik Die im angloamerikanischen Bereich praktizierte hygienische (clean) Technik mit Infektraten von über 50% ist zwar in der
409 27.2 · Neurogene Blasenfunktionsstörungen
! Cave Die höchste Infektrate in unserem Krankengut haben Patienten, die ihre Katheter mit Leitungswasser glätten und ohne Desinfektion arbeiten. Dass in Mischbatterien großer Wohnhäuser reichlich pathogene Keime sein dürften, ist jedem klar, der die Konstruktion derartiger Installationen kennt. Vor allem aber ist bei einer funktionellen Störung von Speicherung und Entleerung der Blase ein Harnwegsinfekt wesentlich schwieriger zu behandeln als bei einem gesunden Patienten, der sich z.B. über eine Erkältung eine Cystitis zugezogen hat. Sekundärveränderungen wie Reflux und Pseudodivertikel können bei einem Infekt eine langwierige antibiotische Behandlung mit hoher Rezidivquote verursachen.
. Abb. 27.7. Mittlere jährliche Infektrate bei drei- bis sechsmaligem täglichem intermittierenden Selbst-katheterismus. Gruppe a: Männer mit chlorhexidinhaltigem Gleitmittel und Desinfektion des Orefiziums. Gruppe b: Frauen mit Gleitmittel und Desinfektion des Meatus externus. Gruppe c: Frauen ohne Gleitmittel und Desinfektion des Meatus externus (nach: Djamali, R. W.: Die Infektinszidenz beim intermittierenden Selbstkatheterismus. Technisch relevante Fakten. Ergebnisse einer retrospektiven Studie. Dissertation 1995, LMU München)
Lage, Stauungen des oberen Harntrakts zu verhindern, sie erscheint den Autoren jedoch nicht günstig, da mehr als die Hälfte dieser Patienten eine antibiotische Dauerprophylaxe benötigt. Die Autoren proklamieren daher eine aseptische Technik, wobei die Infektraten ohne antibiotische Prophylaxe unter 10% liegen (Lapides et al. 1976, Grigoleit et al. 2006, Stöhrer et al. 2009). kKatheter Bei Patienten, die sich selbst katheterisieren, ist erkennbar, dass aseptisches Vorgehen keinen Mehraufwand verursacht und sich durch eine äußerst geringe Infektrate sowohl gesundheitlich als auch finanziell bezahlt macht (. Abb. 27.7). Ideal sind Einmalkatheter in Sets mit guter Gleitfähigkeit. kDesinfektion Zur Desinfektion des Harnröhrenausgangs verwendet man eine schleimhautverträgliche Lösung (z.B. Octenisept®, Betaisodona®). Heute zur Verfügung stehende Gleitmittel enthalten teilweise Chlorhexidin, was neben der Erhöhung der Gleitfähigkeit eine zusätzliche Sicherheit bedeutet, da damit evt. in die Harnröhre eingeschleppte Keime zerstört werden. Beim größeren Teil der Patienten ist ein zusätzliches Lokalanästhetikum nicht erforderlich.
kFrequenz Die Frequenz des intermittierenden Katheterismus sollte etwa 4- bis 5-mal täglich betragen. In Einzelfällen bei erhöhter Flüssigkeitszufuhr oder bei notwendiger Entlastung des oberen Harntrakts nach Auftreten von Stauungszeichen können vorübergehend höhere Frequenzen erforderlich werden. kAnwendung für Kinder Für Kinder mit angeborenen Missbildungen ist der intermittierende Katheterismus unter den genannten Aspekten leicht zu erlernen, wenn das Vorgehen entsprechend vermittelt wird und die Kooperation zwischen Eltern, Kind und Therapeut gut ist. kIndikation Die Indikation zum intermittierenden Katheterismus stellt sich heute nicht nur bei hypo- und akontraktilem Detrusor, sondern auch bei Neurogener Detrusorhyperaktivität (Reflexblase), die durch anticholinerge Substanzen in eine hypo-, bzw. akontraktile Blase umgewandelt wird. Die Behandlung erfolgt dann wie bei einer akontraktile Blase, wobei weitere Faktoren, z.B. die eingeschränkte Gebrauchsfähigkeit der Hände, limitierend sind. jBlasentraining (Triggern) Bei Patienten mit »Reflexblase« wurde früher durch einen Triggermechanismus die Detrusorkontraktion provoziert (Opitz 1984, Rossier 1974). Das Triggern kann in Form des Beklopfens eines entsprechend sensiblen Areals (z.B. perivesikal) erfolgen. Bei dieser Art der Detrusor Aktivierung kommt es allerdings meist zu sehr hohen Blasendrücken, so das langfristig eine Schädigung des oberen Harntraktes in Kauf genommen werden muss. > Diese Technik ist bei fehlender Detrusoraktivität nicht praktikabel. Die Indikation zu dieser Art der Blasenentleerung besteht nur bei vorhandener Reflexaktivität und unter video-urodynamischer Kontrolle der Effizienz.
27
410
Kapitel 27 · Harninkontinenz und neurogene Blasenfunktionsstörungen
Medikamentöse Therapie Es gibt zahlreiche Medikamente, die sich in irgendeiner Form direkt und indirekt auf Speicherung und Entleerung der Blase auswirken. Ungewollt sind Nebenwirkungen beim Einsatz von 4 Psychopharmaka, 4 herz- und blutdruckwirksamen Medikamenten oder 4 Medikamenten, die im Bereich der nervalen Steuerung ansetzen (Antiparkinson-Mittel).
27
Diese Medikamente führen häufig zu Restharnerhöhungen bis hin zum Harnverhalt. jAnticholinerge Medikamente Gezielte medikamentöse Einflussnahme erfolgt derzeit wohl am effektivsten bei der Detrusordämpfung. Die meisten dieser Medikamente wirken anticholinerg, teilweise auch zusätzlich kalziumantagonistisch und spasmolytisch. In den letzten Jahren konnte in großen Doppel-Blindstudien die Wirksamkeit dieser Substanzen wie: 4 Oxibutynin, 4 Trospiumchlorid, 4 Propiverin-Hydrochlorid 4 Tolterodin nachgewiesen werden. Inzwischen sind zusätzlich Substanzen mit selektiverem Wirkungsspektrum auf die Rezeptoren auf den Markt gekommen (Darifenacin, Fesoterodin, Solifenacin). Zur Effizienz dieser Substanzen bei neurogener Blasenfunktionsstörunger gibt es noch keine Evidenz basierten Ergebnisse. Sie führen zu einer erheblichen Dämpfung des Detrusors, wobei individuelle Unterschiede bezüglich der Verträglichkeit bestehen (Wyndaele et al. 2001). > Anticholinerge Nebenwirkungen treten individuell unterschiedlich fast immer auf. Mundtrockenheit als erste Nebenwirkung und Zeichen einer ausreichenden Dosierungshöhe wird, wenn damit Kontinenz erreicht werden kann, fast immer akzeptiert.
Treten schwerwiegende Akkommodationsstörungen auf, ist die Dosis allerdings zu reduzieren. Einzukalkulieren ist bei einer Detrusordämpfung immer eine erhebliche Restharnerhöhung, die allerdings bei Patienten benötigt wird, die sich selbst katheterisieren. In diesen Fällen wird die Reflexblase in eine areflexive umgewandelt, so dass während der Speicherphase Kontinenz besteht. Einige anticholinerge Substanzen wurden intravesikal in Form einer Instillation nach dem Katheterisieren erfolgreich eingesetzt. Als generelle Indikation kommen infrage: 4 alle Formen der motorischen Urgeinkontinenz sowie 4 »Reflexinkontinenz.« ! Cave Voraussetzung für den Einsatz bei motorischer Urgeinkontinenz ist der Ausschluss einer mechanischen infravesikalen Obstruktion, z.B. Prostatahypertrophie (Novara et al. 2008).
jNeuere Verfahren der medikamentöser Detrusor Dämpfung (Botulinum-A Toxin) Die Substanz wird seit 1998 auch in Therapie der neurogenen Detrusorhyperaktivität eingesetzt (Stöhrer et al. 1999). Die Anwendung erfolgt transurethral durch Injektion in den Detrusor. Es kommt zu einer reversiblen chemischen Denervierung der Rezeptoren mit sieben bis neun Monaten Wirkung. Der Effekt tritt meist nach 1-2 Wochen auf und führt zu einer kompletten Unterdrückung der Detrusoraktivität. Das bedeutet, der Patient muss seine Blase durch konsequenten intermittierenden Selbstkatheterismus (4-5 mal tägl.) entleeren. Nebenwirkungen sind bisher kaum aufgetreten und wenn reversibel (generalisierte Muskelschwäche bei Überdosierung). Ansonsten sind bisher keine Nebenwirkungen bekannt. Bei konsequentem Katheterisieren sind die Patienten in den Intervallen kontinent. Auch nach mehr als 10-jähriger Anwendung ist bisher kein Wirkverlust aufgetreten (bei mehr als 12 Jahren follow up). Die Therapie ist trotz inzwischen mehr als 300 Publikationen weltweit noch nicht zugelassen. Sie wird allerdings aufgrund der hervorragenden Ergebnisse von den meisten Versicherungen übernommen. jSpastikhemmende Medikamente Medikamente zur Dämpfung einer Spastik der quergestreiften Muskulatur wie z.B. Baclofen sind bei Patienten mit spastischen Lähmungen weit verbreitet. Die Wirkung auf den externen Sphinkter zur Verbesserung einer Detrusor-SphinkterDyssynergie ist allerdings minimal und meist nicht ausreichend, um die Entleerung wesentlich zu verbessern. Auch andere Medikamente mit Wirkung auf die quergestreifte Muskulatur wie z.B. Diazepam sind allenfalls marginal wirksam. jMidodrin/Alpha1-Blocker Andere Substanzen, die im Blasenhalsbereich ansetzen, z.B. durch Stimulierung oder Blockierung der Alpharezeptoren, wie Midodrin, besonders aber die ständig größer werdende neue Generation von Alpha1-Blockern sind auch bei Patienten mit neurogener Blasenfunktionsstörung gelegentlich hilfreich, z.B. 4 Tamsulozin, 4 Doxazosin, 4 Alfuzosin. Der Einsatz von Alpha1-Blockern ist sinnvoll bei inkompletten Läsionen mit nicht öffnendem Blasenauslass. Man verwendet sie inzwischen sehr häufig bei einer Prostatahypertrophie. Durch eine Blockierung der Alpharezeptoren wird der Blasenauslasswiderstand reduziert. Die Blase kann ohne erhöhten Druck speichern und sich entleeren, so dass eine Entwicklung von Stauungsnieren vermieden wird. ! Cave Als Nebenwirkung von Alpharezeptorenblockern kann eine störende Hypotonie auftreten. Durch den intermittierenden Selbstkatheterismus ist die Indikation für Alpharezeptorenblocker eingeschränkt. Der Selbstkatheterismus ist hinsichtlich Lebensqualität und Kontinenz die Methode der Wahl.
411 27.3 · Harnwegsinfekt
Die medikamentöse Stimulation des Detrusors ist aufgrund der damit verbundenen Nebenwirkungen selten erfolgreich. Sie ist theoretisch sinnvoll bei einer noch vorhandenen Restaktivität des Detrusors, die nicht ausreicht, um den Blasenhals zu öffnen. Die zusätzliche Gabe von Alpha1-Blockern wäre in diesem Falle möglich. jDauer der Pharmakotherapie Zur Frage der Dauer der Pharmakotherapie existieren kaum gesicherte Erkenntnisse. Die anticholinerge Therapie zur Detrusordämpfung kann über Jahre ohne besondere Probleme durchgeführt werden.
Nicht-medikamentöse Versorgung der Harninkontinenz Ein Teil der Patienten mit neurogener Blasenfunktionsstörung hat trotz medikamentös und operativ erreichter Verbesserungen unwillkürliche Harnabgänge: 4 Bei männlichen Patienten können diese meist mit relativ großer Sicherheit durch eines der modernen Einmalkondomurinale versorgt werden (Wyndaele et al. 2010). Diese Versorgung ist hygienisch einwandfrei, sozial akzeptabel und einfach zu handhaben. Urinale für Frauen sind zwar auf dem Markt, ihre Effizienz hält sich allerdings sehr in Grenzen. Meist sind sie anatomisch nicht geeignet, oder sie führen zu Druckstellen. 4 Nur bei immobilen, im Schambereich rasierten Patientinnen kommt ein Aufkleben von Beuteln um die Scheide infrage. 4 Tamponartige Urinale sind zwar für mobile Patientinnen geeignet, können jedoch bei ungünstigen anatomischen Verhältnissen zu Druckgeschwüren führen. 4 Für viele Patientinnen bleibt nur die altbekannte Windelversorgung, wobei es erhebliche Unterschiede in der Qualität gibt. Aus langjähriger Erfahrung sollten die Windeln ein Trockengel enthalten, so dass die Feuchtigkeit nicht mit der Haut in Berührung bleibt. Sie sollten auch, und dies ist leider von der Industrie noch nicht genügend berücksichtigt, einen ansäuernden Zusatz enthalten, da damit einerseits das bakterielle Wachstum reduziert werden kann und andererseits die Geruchsbelästigung deutlich geringer ist.
27.3
Harnwegsinfekt
Generell gilt, dass eine erfolgreiche langfristige Infektfreiheit nur erreicht werden kann, wenn die Blasenfunktion soweit wie möglich in den physiologischen Bereich gerückt wird. > Eine Infekttherapie ist nur dann erforderlich, wenn eine erhöhte Temperatur und eine erhebliche Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens vorliegen. Eine Harnwegsinfektprophylaxe kann durch Ansäuern des Harns durchgeführt werden.
Die Erfahrungen mit ansäuernden Maßnahmen wie z.B. LMethionin oder Cranberrysaft bei erwachsenen Patienten
sind klinisch gut. Viele Patienten sind subjektiv mit einer derartigen Prophylaxe sehr zufrieden. In einer Langzeitstudie konnten Günther et al. (2002) nachweisen, dass damit eine signifikante Reduktion der Infektinzidenz möglich ist.
27.3.1
Operative Maßnahmen
Nicht-neurogene Veränderungen an Harnröhre und Blasen-
hals sind urologisch zu behandeln. Zu berücksichtigen ist dabei das Zusammenwirken von urologischen und neurologischen Funktionsstörungen, die sich gegenseitig verstärken können. jBlasenhalskerbung Eine Einengung im Blasenhalsbereich ist bei einer Reflexblase meist sekundär durch eine kompensatorische Detrusorhypertrophie bedingt. In diesen Fällen ist es nicht sinnvoll, eine Blasenhalskerbung durchzuführen. Bei Frauen wird damit ein wesentlicher Kontinenzmechanismus reduziert. Beseitigt man die Spastik des Sphincter externus bzw. reduziert man die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, ist auch die Einengung am Blasenhals reversibel. jSphinkterotomie Bei Patienten mit konservativ nicht behandelbarer DetrusorSphinkter-Dyssynergie ist die Inzision des externen Sphinkters (Sphinkterotomie) bei 12 Uhr noch immer ein Standardverfahren (Reynard et al. 2003, Stöhrer et al. 1994). Nachuntersuchungen bei mehr als 3.000 operierten Patienten zeigen 4 eine Verbesserung der Blasenkapazität des maximalen Miktionsdrucks sowie 4 eine Verbesserung der Compliance (Stöhrer et al. 1990). Dementsprechend wird die Reflexinkontinenz ebenfalls deutlich verbessert. Da ein Absenken des Widerstands im Sphincter-externus-Bereich auf Werte unterhalb des Normbereichs in der Praxis fast nie erreicht wird, ist dadurch erklärt, dass eine Belastungsinkontinenz bei entsprechender operativer Technik als Komplikation äußerst selten ist. Der Eingriff ist nicht aufwändig und kann bei fehlendem Erfolg mehrmals wiederholt werden. Die Ergebnisse mit der Lasersphinkterotomie haben gegenüber der konventionellen elektrischen Inzision Vorteile bzgl. einer geringeren Morbidität und einer geringeren Blutungsneigung gezeigt.
27.3.2
Elektrostimulation und Neuromodulation
Eine Elektrostimulation sowohl der Blase als auch des Beckenbodens wurde immer wieder versucht. Katona hat 1958 über sehr gute Ergebnisse berichtet (Katona 1958). Auch Hagerty et al. (2007) berichten über Erfolge bei Kindern mit angeborener Missbildung der Wirbelsäule und neurogener Blasenfunktions-
27
412
Kapitel 27 · Harninkontinenz und neurogene Blasenfunktionsstörungen
27.3.3
Eingriffe zur Veränderung der Blasenkapazität
jEingriffe zur Absenkung erhöhter intravesikaler Drücke Bei Vorliegen eines aktiven Hochdrucksystems mit ständig steigenden intravesikalen Drücken und Abnahme der Kapazität wurden bei Erfolglosigkeit einer medikamentösen Therapie und anderer Maßnahmen häufig diese Eingriffe praktiziert: 4 eine Ausschaltung der Blase oder 4 eine Ersatzblase durch Darmanteile.
27 . Abb. 27.8. Operativer Situs bei Durchführung einer Autoaugmentation, die Muskelschicht am Blasendach ist bereits weitgehend abpräpariert
störung. Es gibt derzeit auf dem Markt Geräte, die sowohl Möglichkeiten zur Dämpfung von Blase oder Beckenboden als auch zur Stimulation bieten. Interessant ist der Einsatz der Elektrostimulation sicherlich für inkomplette Läsionen mit Detrusorhypokontraktilität. Neue Verfahren werden derzeit getestet, mit der Möglichkeit einer Neuromodulation über implantierbare Geräte, die extradural entsprechende Wurzeln stimulieren oder dämpfen können. Derartige Verfahren dürften in den nächsten Jahren sicherlich wichtiger Bestandteil konservativer oder wenig invasiver Maßnahmen werden. Eine Stimulation der motorischen Vorderwurzeln im Bereich des sakralen Miktionszentrums ist unter bestimmter Voraussetzung möglich und erfolgreich. Da es sich um einen relativ großen Eingriff handelt, ist die Indikation sorgfältig abzuwägen. Er ist am ehesten indiziert bei Patientinnen, die eine hohe komplette Querschnittläsion haben, und die praktisch nur durch ein Kondomurinal versorgt werden können. Diese Patientinnen, die ständig einnässen, profitieren zweifellos von dieser Technik (Kutzenberger 2007, Sauerwein u. Bersch 1990, Stöhrer et al. 2009). Sowohl Brindley als auch Tanagho haben elektrostimulierende Verfahren entwickelt (van Rey u. Heesackers 2008, Sauerwein u. Bersch 1990). Das von Brindley ist derzeit am meisten verbreitet. Das Prinzip beruht u.a. darauf, die Reflexblase in eine areflexive Blase unzuwandeln. Dies geschieht bei kompletter Querschnittslähmung über Durchtrennung der motorischen Hinterwurzeln. Die dann schlaffe Blase wird durch einen Impulsempfänger, der unter der Bauchdecke liegt, aktiviert, wobei Stromstärke und Dauer für jede angeschlossene Wurzel geregelt werden können. Es ist davon auszugehen, dass diese Verfahren in den nächsten Jahren weiterentwickelt werden.
Sowohl die Entfernung der Blase und der komplette Ersatz durch Darmanteile als auch das Aufklappen der Blase mit Interposition einer aufgeklappten Darmschlinge wurden durchgeführt. Fazit Da der Darm kein idealer Ersatz für Blasengewebe ist und die Palette der möglichen Nebenwirkungen von unangenehmen Schleimabsonderungen über Probleme der Stuhlentleerung bis zu Spätfolgen mit maligner Entartung reicht, sollten diese Verfahren nur in außergewöhnlichen Fällen eingesetzt werden.
27.3.4
Autoaugmentation
Eine Alternative ist die Vergrößerung der Kapazität und die Reduktion der intravesikalen Drücke durch ein künstliches Divertikel. Dieser Eingriff wurde erstmals von Cartwright und Snow bei einem Kind und von den Autoren bei einem erwachsenen Querschnittsgelähmten durchgeführt (Gurocak et al. 2007, Stöhrer et al. 1994). Durch Entfernung eines muskulären Anteils im Bereich des Blasendachs (ca. 20–25%) wird unter Verbleib der Mukosa ein Windkessel geschaffen, der die Drücke absorbiert und zu einer Verbesserung der Compliance sowie einer Vergrößerung der Kapazität führt (. Abb. 27.10). Fazit Die seit 1989 vorliegenden Ergebnisse haben für etwa zwei Drittel der Patienten eine erhebliche Verbesserung der Lebensqualität gebracht. Die Mehrzahl der Patienten muss nach diesem Eingriff den intermittierenden Katheterismus durchführen.
27.3.5
Monitoring
Praxistipp Über die European Association of Urology und auch den Arbeitskreis »Urologische Rehabilitation Querschnittsgelähmter« sind Richtlinien zu erhalten, wie Patienten mit neurogener Blasenfunktionsstörung im Alltag unterstützt werden sollten ((Burgdörfer et al. 2007, Stöhrer et al. 2009).
413 27.4 · Literatur
Bei Patienten in Alten- und Pflegeheimen bereitet die Versorgung der Harninkontinenz häufig logistische Probleme: 4 Zu wenig und mit der speziellen Problematik nicht vertrautes Personal ist häufig nicht in der Lage, pflegeaufwändige Maßnahmen durchzuführen, z.B. 5 ein konsequentes Toilettentraining (regelmäßige assistierte Toilettengänge; zweckmäßige, einfach zu handhabende Kleidung; Toilettenstuhl im Zimmer; Motivation der Patienten usw.) oder 5 einen sachkundigen intermittierenden Katheterismus (Grigoleit et al. 2006). 4 Das Anlegen eines Kondomurinals bei Männern ist weithin unbekannt. 4 Windeln, die Flüssigkeit nicht absorbieren und lange nicht gewechselt werden, sind Brutstätten für Keime, die im Anogenitalbereich immer vorhanden sind. So darf es nicht verwundern, wenn gelegentlich aus »Verzweiflung« ein Dauerkatheter gelegt wird, der wiederum zu einem Circulus vitiosus zwischen Inkontinenz und Infekt, und letztlich zum vorzeitigen Ableben führt. Vorschläge zur Harnableitung in Pflege- und Altersheimen sind . Übersicht 27.3 zu entnehmen. . Übersicht 27.3. Harnableitung in Pflegeund Altersheimen 1. 2.
3. 4. 5.
6.
Windeln: Absorbierende Zusätze Einmal-Kondomurinale: Bei restharnfreier Blasenentleerung besser als alle Katheter, Wechsel täglich Transurethrale Dauerkatheter: Indikation selten; Wechsel wöchentlich; Material: Silikon Suprapubischer Dauerkatheter: Wechsel alle 3 Wochen, ersetzt den transurethralen DK Einmalkatheter: Methode der Wahl bei erhöhtem Restharn; bei aseptischen Vorgehen und guter Materialwahl kaum Probleme Toilettentraining: Beste Methode bei guter Motivation und Compliance (vorausgesetzt kein Restharn)
In Abhängigkeit vom Grad der funktionellen Störung sind regelmäßige Kontrolluntersuchungen in einem spezialisierten Zentrum erforderlich, wobei vor allem bei Patienten mit einer Neurogenen Detrusorhyperaktivität (Detrusorhyperreflexie) jährliche urodynamische Kontrolluntersuchungen im Vordergrund stehen.
Praxistipp Harnkontrollen, 1- bis 2-mal pro Quartal bzw. risikoabhängig, sowie regelmäßige halbjährliche sonographische Kontrollen des oberen Harntrakts zum Ausschluss von Stauungszeichen werden insbesondere bei Detrusorhyperaktivität empfohlen. Diese Routinekontrollen können vom niedergelassenen Urologen oder Hausarzt übernommen werden.
27.4
Literatur
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27
414
27
Kapitel 27 · Harninkontinenz und neurogene Blasenfunktionsstörungen
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28
Sexualität bei chronischen neurologischen Erkrankungen D. Goecker, A. Hagedorn, K.M. Beier 28.1 Sexuelles Erleben und Verhalten
– 416
28.1.1 Einfluss neurologischer Erkrankungen auf die sexuelle Beziehung
28.2 Neuroanatomie der Sexualfunktionen
– 417
28.2.1 Regulation der Sexualfunktionen – 417 28.2.2 Störungen der Sexualfunktionen – 417
28.3 Nosologie sexueller Funktionsstörungen
– 419
28.3.1 Einteilung der sexuellen Funktionsstörungen – 419
28.4 Sexualanamnese
– 420
28.5 Klinische Untersuchungen 28.5.1 28.5.2 28.5.3 28.5.4 28.5.5
– 422
Allgemeine körperliche Untersuchung – 422 Neurologische Untersuchung – 422 Neurophysiologische Untersuchungsverfahren – 422 Untersuchungen bei Erektionsstörungen – 424 Hormonbestimmungen – 424
28.6 Behandlungsmöglichkeiten 28.6.1 Sexualtherapie – 424 28.6.2 Somatische Behandlung
– 424
– 425
28.7 Behandlung spezieller Probleme bei neurologischen Erkrankungen – 427 28.7.1 28.7.2 28.7.3 28.7.4 28.7.5 28.7.6 28.7.7 28.7.8
Morbus Parkinson – 427 Multiple Sklerose – 428 Querschnittlähmung – 429 Sakrale Wurzelläsionen und periphere Mononeuropathien Epilepsie – 431 Schädel-Hirn-Trauma – 433 Schlaganfall – 433 Diabetische Polyneuropathie – 434
28.8 Literatur
– 435
– 431
– 416
416
Kapitel 28 · Sexualität bei chronischen neurologischen Erkrankungen
Eine Vielzahl neurologischer Erkrankungen kann über Läsionen des zentralen und peripheren Nervensystems die Sexualität beeinflussen, andererseits führen die unterschiedlichen neurologischen Symptome und deren Behandlung (z.B. Medikamente) ebenfalls zu sexuellen Funktionsstörungen. Die psychosozialen Grundbedürfnisse nach Akzeptanz, Nähe und Geborgenheit, die in besonderem Maße durch sexuelle Kommunikation erfüllt werden, erlangen bei krankheitsbedingter Hilfebedürftigkeit eine wesentlich größere Bedeutung. Eine sexuelle Funktionsstörung beeinträchtigt nicht nur die sexuelle Lusterfahrung oder die Reproduktion, sondern auch die Beziehung in besonderer Weise. Ein umfassender Behandlungsansatz erfordert daher die Berücksichtigung der Beziehungsdimension.
28 28.1
Sexuelles Erleben und Verhalten
Das menschliche sexuelle Erleben und Verhalten beruht auf einem Zusammenspiel von 4 somatischen Faktoren (z.B. Hormone), 4 psychischen Faktoren (z.B. Besonderheiten der inneren Stimmung: entspannt oder angespannt sein) und 4 sozialen Faktoren (Besonderheiten des Umfelds, der Kultur und Gesellschaft, der Beziehung zum Partner, aber auch der beruflichen oder finanziellen Situation (Beier et al. 2005). Darum ist die Sexualität des Menschen nur als bio-psychosoziales Phänomen wirklich verstehbar. Die Sexualität weist drei unterschiedliche Dimensionen auf, die ganz verschiedene Funktionen erfüllen (. Übersicht 28.1).
. Übersicht 28.1. Dimensionen der Sexualität 1. 2. 3.
Beziehungsdimension Fortpflanzungsdimension Lustdimension
jBeziehungsorientierte Dimension Der Mensch ist ein Beziehungswesen und hat von Beginn seines Lebens an unabweisbare Grundbedürfnisse nach Annahme, Sicherheit und Geborgenheit, die nur in Beziehungen erfüllt werden können. Bereits im Kindesalter werden konkrete körperliche Erfahrungen des Angenommenwerdens gemacht, z.B. das schützende Halten des Säuglings beim Stillen. Dies ist ein Urbestand menschlicher Beziehungsgestaltung, die noch in keiner Weise angewiesen ist auf die Geschlechtsorgane, sondern eine tiefe Zufriedenheit ermöglicht, die sich durch Haut- und Blickkontakt, überhaupt durch Sinneseindrücke, ergibt. Erst später – ab der Pubertät – kommen Erfahrungsmöglichkeiten mit den Geschlechtsorganen hinzu, was aber nichts daran ändert, dass es weiterhin auch um Erfüllung psychosozialer Grundbedürfnisse nach Annahme, Nähe, Sicherheit und Geborgenheit geht, nun auch durch die sexuelle Beziehung und auch unter Einbeziehung der Geschlechtsorgane.
> Sexualität ist ein Bereich des menschlichen Lebens, in dem der Mensch am intensivsten mit anderen in Beziehung tritt. Sie ist durch eine grundsätzliche Partnerbezogenheit gekennzeichnet und auf WirBildung angelegt.
Die meisten Menschen beantworten die Frage, warum sie eine Beziehung eingehen wollen, nicht damit, dass sie sexuelle Lust, sondern die Qualität einer Beziehung erleben wollen. Daher verdient besonders die beziehungsorientierte Dimension bei der sexualmedizinischen Diagnostik und Therapie Beachtung. jReproduktive Dimension Diese Dimension ist nur zur Zeit der Fortpflanzungsfähigkeit aktuell: für die Frau zwischen Pubertät und Menopause, für den Mann zwischen Pubertät und dem Ende seiner sexuellen Aktivität. Sie ist nicht nur zeitlich, sondern auch zahlenmäßig begrenzt. Sie folgt dem Alles-oder-Nichts-Prinzip, sie kann nicht graduell realisiert werden und ist fakultativ. jSexuelle Lustdimension Es besteht eine Fülle von Möglichkeiten des Lustgewinns durch den sexuellen Akt, wofür es eine unendliche Vielfalt von Vorlieben und Wünschen gibt. Zwischen Phantasie und Wirklichkeit sollte keine allzu große Kluft bestehen – eine kleine wird es immer geben. Es geht dabei stets um persönliche Wünsche und Vorstellungen, die in einer sexuellen Beziehung mit dem Partner/der Partnerin abgeglichen werden müssen, damit jeder Zufriedenheit erlangen kann. Dazu müssen sich die Partner gut verstehen und austauschen können, denn die Gewichtung der Dimensionen von Sexualität ist bei jedem Menschen unterschiedlich und mit Sicherheit nicht identisch mit der des Partners. Fazit Das spezifisch Menschliche an unserer Sexualität ist die Einbettung in Sprache und Kultur. Sexualität ist daher ein wesentlicher Bestandteil menschlicher Kommunikation. Den vielfältigen Funktionen der Sexualität kommen nicht nur individuell, sondern auch kulturell unterschiedliche Bedeutungen zu.
28.1.1
Einfluss neurologischer Erkrankungen auf die sexuelle Beziehung
Neurologische Erkrankungen führen zu vielfältigen psychosozialen Belastungen und üben einen erheblichen Einfluss auf die sexuelle und partnerschaftliche Beziehung aus: 4 Veränderungen von Körperfunktionen oder Körperbild, z.B. aufgrund von Inkontinenz, Lähmungen, Koordinationsstörungen: Diese können das Selbstwertgefühl negativ beeinflussen und dazu führen, sich subjektiv als weniger attraktiv zu erleben und die Sexualität direkt und indirekt beeinflussen. 4 Auswirkungen auf Zeugungsfähigkeit und Fertilität, z.B. nach Querschnittverletzungen: kann zu einer Verunsi-
417 28.2 · Neuroanatomie der Sexualfunktionen
cherung und Entwertung des männlichen und weiblichen Selbstbilds führen. 4 Fehlvorstellungen, z.B. hinsichtlich des meist überschätzten Risikos sexueller Aktivitäten bei Zustand nach Hirninfarkt; gegenseitige Fehlvorstellungen hinsichtlich der konkreten sexuellen Wünsche des Partners. 4 Psychische Erkrankungen, z.B. Depression, Angsterkrankungen. 4 Veränderte Rolle in Beruf und Familie, z.B. Entwicklung vom Versorger zum Versorgten.
Sympatikusaktivierung, z.B. bei sexuellen Versagens-
ängsten, kann jedoch auch eine sexuelle Erregung verhindern. Die somatische nervale Versorgung wird vom N. pudendus geleistet. Fazit Zusammenfassend wird angenommen, dass es sich bei der Regulation der Sexualfunktionen beider Geschlechter, vergleichbar mit der Regulation der Blasenfunktion, um einen sakralen Reflexbogen handelt, der zentral kontrolliert wird (Sipski 2001).
Individuelle Bewertungen der eigenen Sexualität führen
dazu, dass Patienten unterschiedlich auf krankheits- oder behandlungsbedingte Einschränkungen ihrer Sexualität reagieren. Der eine kann unter einer neu aufgetretenen sexuellen Funktionsstörung in hohem Maße leiden, ein anderer nimmt diese eher als schicksalsgegeben hin, wieder ein anderer reagiert sogar erleichtert, weil sich nun ein Grund bietet, nicht mehr sexuell aktiv sein zu müssen. Dabei spielen die bisherigen sexuellen Erfahrungen eine maßgebliche Rolle. Menschen, die bisher überwiegend Beglückung in sexueller Aktivität empfunden haben, werden eher geneigt sein, Sexualität als wichtigen zwischenmenschlichen Erlebensbereich fortzuführen, während andere, die mit Intimität Unangenehmes verbinden und (oder sekundär) eine Abneigung entwickelt haben, froh sind, dass in diesem Lebensbereich Ruhe eintritt.
28.2
Neuroanatomie der Sexualfunktionen
28.2.1
Regulation der Sexualfunktionen
Das Gehirn ist als Steuerungszentrale der Sexualität zu verstehen, das sexuelle Erregung verstärkt oder unterdrückt, z.B. durch visuelle Stimulierung, Gerüche, nicht-genitale Berührung, Gefühle und Erinnerungen (McKenna 1998, Steers 2000). Ein anatomisch abgrenzbares zerebrales Erregungszentrum ist bisher nicht bekannt. Die funktionale Bildgebung zeigt, dass bei sexueller Erregung und Aktivität verschiedenste kortikale und subkortikale Hirnareale rekrutiert werden, wobei besonders der visuelle Kortex und das limbische System eine Rolle spielen (Rees et al. 2007). Auf spinaler Ebene bildet 4 der thorakolumbale sympathische Grenzstrang von Th11–L2 das psychogene Erektionszentrum, 4 das parasympathische Kerngebiet in den sakralen Segmenten S2–S4 das reflektorische Erektionszentrum (Beier et al. 2005, McKenna 1998, Steers 2000). Im Hypothalamus finden Sympathikus und Parasympathikus eine erste Integration. In vielen Organen wirken diese beiden vegetativen Subsysteme antagonistisch. Auf den Ablauf der sexuellen Reaktionen wirken sie komplementär: Vereinfacht kann man sagen, dass diese initiiert und (orgastisch) beendet werden von einem kurzzeitigen sympathikotonen Übergewicht (Beier et al. 2005). Eine übermäßige
28.2.2
Störungen der Sexualfunktionen
Es wird geschätzt, dass Beeinträchtigungen der Erektion zu 10–19% auf Nervenschädigungen zurückzuführen sind (Junemann et al. 1994): 4 Patienten mit traumatischen Querschnittlähmungen zeigen neben den motorischen und sensiblen Ausfällen fast immer Beeinträchtigungen der Sexualfunktionen (Fisher et al. 2002): 5 Eine spinale Läsion oberhalb von Th10 führt zum Verlust der psychogenen Erregung, eine reflektorische Erregung (penile und klitorale Erektion und Lubrikation) ist jedoch möglich. 5 Eine sakrale Läsion führt oft zum völligen Verlust von Erektion und Lubrikation. In 25% der Fälle ist jedoch eine psychogene Erektion möglich (Birbaumer u. Schmidt 1996) (. Tab. 28.1). 4 Bei einem lumbosakralen Bandscheibenmassenprolaps mit Blasen- und Mastdarmstörungen treten sehr häufig gleichzeitig Erektions- und Lubrikationsbeeinträchtigungen auf. Da bilaterale Funktionsverluste bei lumbosakralen Radikulopathien selten auftreten, sind die sexuellen Funktionen meist weitgehend erhalten (Fugl-Meyer u. Fugl-Meyer 1999). 4 Bei 30–60% der Patienten mit Diabetes mellitus kommt es im Laufe der Erkrankung zu sexuellen Funktionsstörungen (Feldman et al. 1994, Khatib et al. 2006). 4 Läsionen des zentralen und peripheren Nervensystems werden bei der Multiplen Sklerose als direkte bzw. indirekte (Mit-)Ursache für sexuelle Funktionsstörungen bei beiden Geschlechtern vermutet (s.u.). 4 Die Lokalisation von traumatischen Hirnverletzungen entscheidet über Art und Ausmaß der sexuellen Funktionsbeeinträchtigungen, wobei der genaue Pathomechanismus jedoch meist unklar bleibt (Aloni u. Katz 1999). 4 Wie bei Hirnverletzungen gibt es keine Übereinkunft in der Literatur über die Ursache(n) abnehmender sexueller Aktivität nach einem Schlaganfall. Es ist am ehesten von einer multifaktoriellen Genese auszugehen, wobei besonders bei neueren Studien die Bedeutung der Partnerschaft aufgezeigt werden konnte (Cheung 2002, Giaquinto et al. 2003, Korpelainen et al. 1998). 4 Als neurologische Ursachen sexueller Funktionsstörungen werden bei Patienten mit Epilepsie eine Beeinträchti-
28
418
Kapitel 28 · Sexualität bei chronischen neurologischen Erkrankungen
gung limbischer Funktionen (Morrell 1991) und endokrine Veränderungen (Lambert 2001) vermutet, letztere besonders im gonadotropen Regelkreis und in der Prolaktinbildung. 4 Auswirkungen auf die Sexualität bei Patienten mit Morbus Parkinson lassen sich auf drei wichtige Dopaminsysteme zurückführen:
5 das hypothalamisch-hypophysäre System mit Störungen der endokrinen Funktionen (u.a. Hyperprolaktinämie), 5 das motorische dopaminerge System mit Bewegungseinschränkungen und 5 das limbische System mit Auswirkungen auf das sexuelle Erleben (. Tab. 28.2).
. Tab. 28.1. Zusammenfassung der neuronalen Kontrolle der Genitalreflexe beim Mann Erektion
Emission und Ejakulation
Orgasmus
Afferenzen
Von Glans penis und umliegenden Geweben zum Sakralmark (im N. pudendus)
Von äußeren und inneren Geschlechtsorganen zum 4 Sakralmark (Nn. pudendi und splanchnicus pelvinus) und 4 Thorakolumbalmark (Plexus hypogastricus); 4 Afferenzen von Skelettmuskulatur
Vorhanden, wenn mindestens ein afferenter Eingang intakt (von Genitalien zum Sakraloder Thorakolumbalmark, von Skelettmuskulatur zum Sakralmark)
Vegetative Efferenzen
4 Parasympathisch sakral 4 Sympathisch thorakolumbal (psychogen)
Sympathisch thorakolumbal (reflektorisch und psychogen)
28
Somatische Efferenzen
Zu Mm. bulbo- und ischiocavernosi; Beckenbodenmuskulatur
Sakralmark komplett zerstört
Bei 25% vorhanden (psychogen), thorakolumbal
Emission bei 20% vorhanden
Vorhanden
Sakralmark inkomplett zerstört
Bei 90% der Patienten vorhanden
Bei 70% vorhanden
Vorhanden
Rückenmark im oberen Thorakal- oder Zervikalmark komplett zerstört
Bei 90% der Patienten vorhanden (reflektorisch)
Fast nie vorhanden (weniger als 5%)
Fast immer
Inkomplett zerstört
Bei annähernd 100% vorhanden
Bei etwa 30% der Patienten vorhanden
Fast immer
(nach Birbaumer und Schmidt 1996)
. Tab. 28.2. Beeinflussung der Sexualität durch Dopaminsysteme Dopaminsystem
Auswirkungen auf die Sexualität
Dopaminerge Verschaltungen zwischen Hypothalamus-Hypophysen-System und Hauptkontrollzentrum der endokrinen Drüsen, welches auch die Freisetzung von Geschlechtshormonen regelt
Durch Veränderung der hormonellen Situation
Basalganglien im Mittelhirn, die eine wichtige Rolle bei der Bewegungsabstimmung spielen
Durch die erschwerte Realisierung von Wünschen und Vorstellungen aufgrund von Bewegungseinschränkungen (Hypo- und Akinese), Zittern (Tremor) oder erhöhter Muskelanspannung (Rigor), die alle geeignet sind, die aktive Ausgestaltung von sexuellen Wünschen zu behindern
Verbindungen zwischen Mittelhirn, Großhirn und sog. Limbischen System
Durch Veränderungen der Gefühlswelt und Wahrnehmungsinhalte, die auch dazu führen können, dass Angst und depressive Verstimmungen zunehmen – ungünstige Voraussetzungen, um sich auf sexuelle Begegnungen einzulassen
(Beier et al. 2005)
419 28.3 · Nosologie sexueller Funktionsstörungen
28.3
Nosologie sexueller Funktionsstörungen
In der sexualmedizinischen Praxis sind sexuelle Funktionsstörungen (. Tab. 28.3) die mit Abstand bedeutsamste Gruppe der sexuellen Störungen – unabhängig davon, ob eine zusätzliche körperliche oder psychische Erkrankung vorliegt. Sexuelle Funktionsstörungen manifestieren sich in 4 Beeinträchtigungen des sexuellen Erlebens und Verhaltens sowie 4 ausbleibenden, reduzierten oder unerwünschten genitalphysiologischen Reaktionen.
28.3.1
Einteilung der sexuellen Funktionsstörungen
jDSM-IV/ICD-10 Zu den sexuellen Funktionsstörungen werden auch Störungen der sexuellen Appetenz und Befriedigung sowie Schmerzen im Zusammenhang mit dem Geschlechtsverkehr gezählt. Neben der Diagnose sind weitere Kriterien zu berücksichtigen (. Tab. 28.4). Darüber hinaus fordert DSM-IV für die Vergabe einer Diagnose, dass die Störung einen deutlichen Leidensdruck oder zwischenmenschliche Schwierigkeiten verursacht (Kriterium B) und nicht auf eine psychische Störung, (ausschließlich) eine körperliche Krankheit oder substanzbedingte Wirkungen zurückzuführen ist (Kriterium C).
. Tab. 28.3. Kategorisierung der sexuellen Funktionsstörungen in DSM-IV (5) und ICD-10 (100) DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders)
ICD-10 (International Classification of Diseases)
1. Störung der sexuellen Appetenz Störung mit verminderter sexueller Appetenz (302.71)
Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen (F52.0)
Störung mit sexueller Aversion (302.79) Gesteigertes sexuelles Verlangen (F52.7)
Sexuelle Aversion (F52.1)
2. Störung der sexuellen Erregung Störung der sexuellen Erregung bei der Frau (302.72) Erektionsstörung beim Mann (302.72)
Versagen genitaler Reaktion (F52.2) Männer: Erektionsstörungen; Frauen: Mangel oder Ausfall der vaginalen Lubrikation
3. Orgasmusstörung Weibliche Orgasmusstörung (302.72) Männliche Orgasmusstörung (302.74)
Orgasmusstörung (F52.3)
Ejaculatio praecox (302.75)
Ejaculatio praecox (F52.4)
4. Störungen mit sexuell bedingten Schmerzen Dyspareunie, nicht aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors (302.76)
Nichtorganische Dyspareunie (F52.6)
Vaginismus, nicht aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors (306.51)
Nichtorganischer Vaginismus ((F52.5)
. Tab. 28.4. Kriterien dür die Ausprägung sexueller Funktionsstörungen Kriterium
Ausprägung
Beginn
4 Lebenslang (primär): seit Beginn der sexuellen Erfahrung bestehend 4 Erworben (sekundär): erst nach symptomfreier Phase aufgetreten
Kontext
Generalisierter Typus (bei allen Partnern und Praktiken) oder situativer Typus (partner-, praktik- bzw. situationsabhängig)
Ätiologie
Aufgrund psychischer oder kombinierter Faktoren (bei Überwiegen medizinischer Faktoren wird entsprechende Kategorie kodiert)
28
420
Kapitel 28 · Sexualität bei chronischen neurologischen Erkrankungen
. Tab. 28.5. Kategorisierung der sexuellen Funktionen nach ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit)
28
ICF
Definition der Funktion
Funktionen der sexuellen Erregungsphase (b 6400)
Funktionen, die das sexuelle Interesse und die sexuelle Erregung betreffen
Funktionen der Vorspielphase (b 6401)
Funktionen, die die Vorbereitung des Geschlechtsverkehrs betreffen
Funktionen der Orgasmusphase (b 6402)
Funktionen, die das Erreichen eines Orgasmus betreffen
Funktionen der sexuellen Entspannungsphase (b 6403)
Funktionen, die die Befriedigung nach einem Orgasmus und damit einhergehende Entspannung betreffen, inkl. Funktionsstörung wie unbefriedigender Orgasmus
Sexuelle Funktionen, anders bezeichnet (b 6408) Sexuelle Funktionen, nicht näher bezeichnet (b 6409)
jICF-Modell Die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) unterscheidet sich in einigen Punkten von DSM-IV und ICD-10 (. Tab. 28.5). In der ICFKlassifikation werden 4 Funktionen kategorisiert, keine Funktionsstörungen, 4 Appetenz und sexuelle Erregung zusammengefasst und 4 zusätzlich die Phasen Vorspiel und Entspannungsphase unterschieden. jUnterscheidung von Dysfunction und Disorder Ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung erlebt sexuelle Funktionsbeeinträchtigungen, ohne damit irgendwelche diagnostischen Kriterien zu erfüllen. Nach Heiman (2002) sind insgesamt 10–52% der Männer und 25–63% der Frauen von sexuellen Funktionsbeeinträchtigungen betroffen: 4 Führen diese Funktionsbeeinträchtigungen zu einem deutlichen Leidensdruck oder zu zwischenmenschlichen Problemen, so sind diese Beeinträchtigungen jedoch als eine medizinisch relevante und behandlungsbedürftige Funktionsstörung (Disorder) zu werten. 4 Nur wenige Studien messen tatsächlich sexuelle Funktionsstörungen und legen dabei anerkannte Kriterien (besonders die der international gültigen Klassifikationssysteme, z.B. DSM-IV) zugrunde. Insofern wird viel häufiger über die Prävalenz sexueller Funktionsbeeinträchtigungen (Dysfunctions) berichtet (die nicht notwendigerweise mit Leidensdruck verbunden sein müssen) als über Funktionsstörungen (nur diese sind von medizinischem Interesse).
28.4
Sexualanamnese
Neben den Angaben über die Sexualstörung auf Symptomebene bedarf es ausreichender Informationen über das konkrete sexuelle Erleben und Verhalten des Patienten bzw. des Paares. Dabei sind sowohl die Phantasieebene (se-
Näher betrachtet Studie: Funktionsbeeinträchtigung vs. Funktionsstörung Wie sehr sich Funktionsbeeinträchtigungen und -störungen prozentual unterscheiden können, zeigen die Ergebnisse einer Studie (Schäfer et al. 2003): Bei den 40- bis 49-Jährigen gaben 19,4% eine Erektionsbeeinträchtigung an, bei den 50- bis 59-Jährigen 47,0%, bei den 60- bis 69-Jährigen 63,3% und bei den 70- bis 79-Jährigen sogar 81,9%. Berücksichtigt man den Leidensdruck, hatten jedoch nur 8,8% der 40- bis 49-Jährigen eine Erektionsstörung, 23,2% der 50- bis 59-Jährigen, 31,3% der 60- bis 69-Jährigen und 27,2% der 70- bis 79-Jährigen.
xuelle Phantasien während der Selbstbefriedigung und im Rahmen sexueller Kontakte mit dem Partner) als auch die Verhaltensebene (Art, Weise und Häufigkeit sexueller Kontakte und von Selbstbefriedigung) zu explorieren. Eine vollständige sexualmedizinische Diagnostik umfasst überdies Fragen zur Erfüllung psychosozialer Grundbedürfnisse und zu kommunikativen Fähigkeiten des Patienten bzw. des Paares. > Der richtige Zeitpunkt, um über Sexualität und Partnerschaft zu sprechen, ist ganz individuell festzulegen. Es gilt die Regel: Niemals das Thema aufzwingen, jedoch grundsätzlich eine Gesprächsbereitschaft signalisieren, so dass zu einem späteren Zeitpunkt das Angebot leichter wahrgenommen werden kann.
Die Einbeziehung des Partners/der Partnerin – sofern vorhanden – ist von enormer Bedeutung, nicht nur, weil diese wichtige Informationen über spezielle Schwierigkeiten, Verhaltensweisen oder Bedürfnisse des Erkrankten mitteilen, sondern auch, um Ängste und Vorbehalte abzubauen und ein neues Zusammenspiel im Sinne beider Partner und orientiert an ihren jeweiligen Bedürfnissen zu ermöglichen. Praktische
421 28.4 · Sexualanamnese
Tipps sowie ein Leitfaden für die Sexualanamnese sind in den . Übersichten 28.2 und 28.3 zusammengestellt. . Übersicht 28.2. Praktische Tipps für die Sexualanamnese 1.
2.
3.
4.
Die Gesprächssituation darf dem Arzt/Therapeuten nicht unangenehm sein. Sobald der Patient spürt, dass diesem die Situation peinlich ist, werden ihm weitere Auskünfte zu seiner Sexualität ebenfalls peinlich sein, und er wird den Arzt/Therapeuten mit weiteren Details »verschonen« wollen. Für die Geschlechtsorgane sind gebräuchliche und neutrale Bezeichnungen zu verwenden, z.B. Brust, Scheide, Schamlippen, Penis, Vorhaut, Selbstbefriedigung usw. Sucht der Arzt/Therapeut von sich aus das Gespräch mit dem Patienten, ist es von Vorteil, dem Patienten zu vermitteln, dass man über besondere sexualmedizinische Kenntnisse verfügt. Man kann ein Gespräch über Sexualität z.B. mit folgenden Worten einleiten: »Viele Patienten berichten, dass dieses Medikament (oder diese Krankheit) zu sexuellen Schwierigkeiten führen kann. Wie sieht es bei Ihnen aus?« Oftmals bestehen große Vorbehalte, nach Masturbationsgewohnheiten zu fragen. Hier kann es hilfreich sein, einfach vorauszusetzen, dass alle Menschen masturbieren, und die Frage folgendermaßen zu formulieren: »Wie oft befriedigen Sie sich in der Woche (am Tag, im Monat) selbst?«
. Übersicht 28.3. Leitfaden: Sexualanamnese 1.
2.
6
Spontanangaben des Patienten: Wie wird die Symptomatik geschildert, welche Klagen werden vorgebracht? Was ist der Auslöser der Konsultation? Welche Ursachenhypothesen berichtet der Patient? Welche Lösungsmöglichkeiten wurden bisher unternommen? Exploration der sexuellen Störung: Um welche Art der Störung handelt es sich (z.B. Störung der Appetenz, Erregung, Orgasmusfähigkeit?) Unter welchen Umständen tritt sie auf (situativ oder generalisiert)? Ist der Beginn primär (lebenslang) oder sekundär (erworben)? Gab es Veränderungen in der Häufigkeit sexueller Aktivitäten? Treten bei sexueller Aktivität Schmerzen auf? Liegt ein Leidensdruck vor? Sexuelles Erleben und Verhalten einschließlich möglicher sexueller Funktionsstörungen sind für die Zeit vor und nach der Erkrankung zu explorieren. Wie sieht das konkrete sexuelle Verhalten bei der Selbstbefriedigung, bei extragenitaler Interaktion (z.B. Streicheln, Schmusen, Kuscheln) und bei genitaler Stimulation (z.B. Petting) und Geschlechtsverkehr (z.B. Koitus) aus?
3.
Exploration der drei Dimensionen von Sexualität: Wird (und wie wird) ein Zusammenhang zwischen Sexualität und Beziehung gesehen (Beziehungsdimension)? Welche Bedeutung hat die Fortpflanzungsfähigkeit, besteht ein Kinderwunsch (Fortpflanzungsdimension)? Welcher Stellenwert wird der genital-sexuellen Lust und dem Orgasmuserleben eingeräumt (Lustdimension)? 4. Sexuelle Präferenzstruktur: Wie sieht die sexuelle Orientierung (präferiertes Geschlecht: männlich und/ oder weiblich) aus, die sexuelle Ausrichtung (präferiertes Alter: Kinder, Pubertierende, Jugendliche, Erwachsene, Greise), die sexuelle Neigung (präferierte Art und Weise: Typ, Objekt, Modus etc.)? Liegen paraphile Erlebensmuster, z.B. Sadismus, Exhibitionismus, Voyeurismus usw. vor? 5. Sexuelles Erleben und Verhalten: Welches Selbstkonzept hat der Patient (z.B. hetero- oder homosexuell, normal, außergewöhnlich, Macho usw.)? Wie sehen die sexuellen Phantasien bei der Selbstbefriedigung und bei sexuellen Kontakten mit dem Partner aus? Wie wird partnerschaftliche Sexualität gelebt? Wie oft und auf welche Art erfolgt Masturbation? 6. Lebensgeschichtliche und soziosexuelle Entwicklung: Gesamtatmosphäre in der Familie, Erleben der Pubertät, Missbrauchserfahrungen, familiäre und berufliche Entwicklung? 7. Beziehungsentwicklung: Fragen nach der ersten, weiteren und der jetzigen Beziehung. Was kennzeichnet(e) die Beziehungssituation(en)? 8. Somatische Anamnese: Allgemeine medizinische Anamnese. Liegen internistische Risikofaktoren für Erektionsstörungen vor (z.B. Nikotinabusus, Diabetes, Hypercholesterinämie, Hypertonie)? Zeitpunkt des Beginns der Erkrankung(en): angeboren oder erworben, vor oder nach soziosexueller Erfahrungsbildung? Bisherige Behandlungsversuche? Aktuelle und frühere Medikation? Gibt es krankheits- und behandlungsbedingte Auswirkungen auf die Sexualität? Einstellung zu der Erkrankung: Bewältigungsstrategien, Selbstakzeptanz, Motivation zur Rehabilitation, Selbstwertgefühl, Körperschema, Verleugnung, Verdrängung oder andere Abwehrmechanismen? 9. Psychiatrische Anamnese: Welche psychiatrischen Erkrankungen lagen in der Vergangenheit vor? Sind aktuell psychische Einschränkungen zu beobachten (z.B. kognitive Defizite, Affektlabilität, Depression, psychotisches Erleben, Ängste usw.)? 10. Personenbezogener und sozialer Kontext: Bildungsstand, Beruf, soziale Ressourcen: familiäre Einbindung, Qualität der Partnerschaft, wichtige Freundschaftsbeziehungen?
28
28
422
Kapitel 28 · Sexualität bei chronischen neurologischen Erkrankungen
28.5
Klinische Untersuchungen
Defizite sollten möglichst dem Versorgungsgebiet einzelner oder mehrerer Nerven (besonders dem N. pudendus) oder
28.5.1
Allgemeine körperliche Untersuchung
dem der sakralen Dermatome zugeordnet werden.
Bei der allgemeinmedizisch-internistischen körperlichen Untersuchung am entkleideten Patienten ist darauf zu achten, ob ein normaler männlicher oder weiblicher Habitus besteht und sich Hinweise auf Erkrankungen ergeben, welche die sexuellen Funktionen beeinflussen könnten. Bezüglich einer (potenziellen) hormonellen Störung sind zu registrieren: 4 sexuelle Entwicklung, 4 Körpergröße und -gewicht, 4 Auftreten einer Galaktorrhoe oder Gynäkomastie, 4 Zeichen einer veränderten Pigmentation und 4 abnorme Verteilung des Haarwuchses.
jPrüfung der Motorik Bei der Prüfung der Motorik sind die lumbosakralen Myotome von diagnostischer Bedeutung (M. sphincter ani als Kennmuskel S3–5). Der Untersucher muss sich folgendende Fragen beantworten: 4 Passen die Paresen zum vermuteten spinalen Niveau? 4 Ist die willkürliche Kontraktion des M. sphincter ani möglich? 4 Liegt eine Spastik vor? Falls ja, nur an den Beinen oder auch an den Armen? Auch der Muskeltonus des M. sphincter ani ist zu beurteilen.
Eine verminderte Mobilität, die neuromuskulär oder durch Schädigung der Gelenke verursacht wird, kann häufig das Repertoire sexueller Aktivitäten eines Patienten einschränken. Gegebenfalls ist eine gynäkologische bzw. urologische Untersuchung durch entsprechende Fachärzte erforderlich.
28.5.2
Neurologische Untersuchung
Sofern die anatomische Zuordnung der Störung nicht bereits aus der Vorgeschichte bekannt ist, lässt sich mithilfe der Anamnese und klinisch-neurologischen Untersuchung meist eine ungefähre Lokalisation erreichen. Ggf. liefern CT oder MRT eine Lokaldiagnose. Vereinfacht dargestellt, ist eine Zuordnung zu folgenden Strukturen anzustreben: 4 Gehirn, 4 Zervikal-/Thorakalmark, 4 Lumbosakralmark/Kaudaregion, 4 Beckenplexus/peripheres Nervensystem.
Praxistipp Bei einer Spastik des M. sphincter ani findet sich eine überschießende Kontraktion nach Dehnung mit dem Finger.
jReflexprüfung Neben den routinemäßig untersuchten Eigen- und Fremdreflexen sind weitere Reflexe zu berücksichtigen: 4 Kremasterreflex (L1/L2): Bestreichen der Oberschenkelinnenseite führt zur ipsilateraler Hodenanhebung. 4 Bulbokavernosusreflex (S2–3): Druckstimulation der Glans penis verursacht eine Kontraktion des M. bulbocavernosus. 4 Analreflex: Bestreichen der Perianalregion führt zu ipsilateraler Sphinkterkontraktion. ! Cave Bei der Reflexprüfung auf Seitendifferenzen achten!
Praxistipp Neurologische Symptome weisen den Weg zur anatomischen Lokalisation. Bei der Untersuchung muss besonders der Anogenitalbereich inspiziert und auf sensible und motorische Störungen hin untersucht werden. Überdies sind sensible und motorische Querschnittsyndrome zu beachten und die Kennmuskeln der lumbosakralen Myotome zu untersuchen. Häufig besteht eine kombinierte Blasen- und Mastdarmfunktionsstörung.
jSensibilitätsprüfung Im Anogenitalbereich ist eine detaillierte Sensibilitätsprüfung erforderlich (spürt der Patient z.B. das Eindringen des Fingers bei der analen Untersuchung?). Gleichzeitig sollte eine gründliche Inspektion und Palpation des Urogenital- und Analbereichs erfolgen. Die Untersuchung erfolgt in Linksseitenlage (bei einem rechtshändigen Untersucher). Zur Inspektion des Analbereichs müssen die Gesäßbacken gespreizt werden. Sensible
28.5.3
Neurophysiologische Untersuchungsverfahren
Routinemäßig eingesetzte Verfahren und weitere, in der neurologischen Routinediagnostik jedoch nicht etablierte Verfahren, sind in . Übersicht 28.4 aufgeführt. > Neurophysiologische Untersuchungsverfahren zur Abklärung organisch bedingter Störungen der Sexualität erfassen fast ausschließlich das somatische Nervensystem. Die Diagnostik des für die Sexualfunktionen so wichtigen vegetativen Nervensystems ist im Rahmen der Routineverfahren jedoch leider sehr begrenzt. Neurophysiologische Untersuchungen können organische Schäden, z.B. nach Entbindungen oder bei neurologischen Erkrankungen objektivieren. Betroffenen Frauen werden mitunter vorschnell psychogene Erklärungsmodelle für ihre sexuellen Probleme vermittelt. Hinweise auf körperliche Ursa-
423 28.5 · Klinische Untersuchungen
. Übersicht 28.4. Neurophysiologische Untersuchungsverfahren Routinemäßig eingesetzte Verfahren 1. Elektromyographie des M. sphincter ani externus 2. Elektrisch stimulierte Latenz des N. pudendus 3. Somato-sensibel evozierte Potenziale im Innervationsgebiet des N. pudendus Nicht etablierte Verfahren 1. Penile sympathische Hautantwort 2. Magnetisch evozierte Potenziale des Analsphinkters und der Blase 3. Corpus-cavernosum-EMG 4. Elektrische Messung des Bulbokavernosus- und Analreflexes 5. Bestimmung der urethro-analen Latenzzeit und der urethralen sensiblen Latenz (Vodusek 2001)
chen, besonders wenn diagnostisch nachgewiesen, führen
dazu, dass diese Frauen sich zum ersten Mal mit ihren sexuellen Problemen ernst genommen fühlen. In vielen Fällen ist jedoch bisher eine ursächliche Behandlung der Problematik nicht möglich. Hier gilt es, gemeinsam mit dem Patienten nach Hilfsmöglichkeiten (z.B. erektionsfördernde Medikamente) zu suchen oder gemeinsam mit dem Patienten bzw. dem Paar Strategien zu entwickeln, um trotz vorhandener Einschränkungen dennoch sexuelle Zufriedenheit zu erlangen. > Der Einsatz elektrophysiologischer Untersuchungsverfahren ist vor allem dann sinnvoll, wenn bereits eine Vorstellung über den möglichen anatomischen Ort einer neurologischen Läsion besteht.
Elektromyographie des äußeren Analsphinkters Diese gering invasive Untersuchung dauert etwa eine halbe Stunde. Mit der Nadelmyographie des äußeren Analsphinkters (Sphinkter-EMG) lassen sich neurogene Schädigungen nachweisen. Dabei werden selektiv die quergestreiften Muskeln von M. puborectalis und M. sphincter ani externus untersucht. Dies ermöglicht eine indirekte Beurteilung des N. pudendus, des Plexus lumbosacralis und auch der weiter proximal gelegenen sakralen Nervenwurzeln. Darüber hinaus können direkt muskuläre Schäden und Defekte des Analsphinkters diagnostiziert werden, welche häufig nach vaginalen Entbindungen und Senkungen des Beckenbodens zu finden sind. kPraktische Durchführung 4 Zunächst erfolgt eine Untersuchung in Ruhe, um ggf. eine pathologische Spontanaktivität als Hinweis auf eine floride neurogene Schädigung beobachten zu können. 4 Danach erfolgt die Einzelpotenzialanalyse bei leichter Willküraktivierung.
4 Anschließend wird die Reflexaktivierung beim Husten und digitaler Dehnung geprüft. 4 Zuletzt wird die Reaktion nach Aufforderung des Patienten zum Stuhlpressen untersucht. kErgebnisinterpretation Der erfahrene Untersucher kann anhand von pathologischer Spontanaktivität sowie Veränderungen der Potenzialgröße und -konfiguration eine neurogene Schädigung nachweisen: 4 Beim Pressversuch kann eine Kontraktion der Sphinkteren auf eine Fehlkoordination hinweisen, wie sie sich ebenfalls bei sexuellen Funktionsbeeinträchtigungen zeigen kann. Allerdings finden sich aufgrund der Untersuchungsbedingungen, die vom Patienten häufig als unangenehm erlebt werden, oft Artefakte, die sich mit Geduld und Einfühlungsvermögen jedoch meist beseitigen lassen. 4 Bei Frauen, die neben einer Beeinträchtigung der sexuellen Funktionen zusätzlich an Inkontinenz leiden, finden sich bedingt durch Geburtstraumen oft Mischformen von muskulärer und neurogener Schädigung.
Elektrisch stimulierte Pudenduslatenz Eine weitere Aussage über das Funktionsniveau des N. pudendus erlaubt die Messung der elektrisch stimulierten Pudenduslatenz (Pudendal Nerve Terminal Motor Latency, PNTML). Empfehlenswert ist die Kombination mit einem EMG des Analsphinkters. Die Untersuchung ist zwar unangenehm, jedoch nicht schmerzhaft. kPraktische Durchführung Zur Durchführung der Untersuchung wird eine spezielle Elektrode, die sog. St. Marks Pudendal Electrode benutzt. Der Finger des Untersuchers wird mit der darauf aufgeklebten Elektrode bei Frauen in die Vagina (Tetzschner et al. 1997, Wiesner u. Jost 2001) und den Analkanal (Kiff 1984), bei Männern nur in den Analkanal eingebracht. Die vaginale Untersuchung ermöglicht Zusatzinformationen über den Zustand der Blaseninnervation. Die Reizung erfolgt am distalen Ende der Elektrode (entsprechend der Fingerspitze des Untersuchers) und somit möglichst nah am Ursprung des N. pudendus. Die Ableitung erfolgt am proximalen Teil, der am Analsphinkter bzw. am Beckenboden anliegt. kErgebnisinterpretation Bei allen peripheren Läsionen kann die Latenzzeit, für die Normwerte existieren, verzögert sein.
Somato-sensibel evozierte Potenziale des N. pudendus Die Ableitung kortikaler und spinaler SEP nach Stimulation des N. pudendus (Haldeman et al. 1982) erlaubt Aussagen sowohl über den peripheren als auch über den zentralen Anteil des sensiblen Teils des N. pudendus. Die kortikale Antwort liefert die Gesamtlatenz der afferenten Leitungsbahnen aus dem Pudendus-Innervationsgebiet.
28
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Kapitel 28 · Sexualität bei chronischen neurologischen Erkrankungen
kPraktische Durchführung Bei sexuellen Funktionsstörungen erfolgt die Stimulation durch eine klitoral aufgeklebte Oberflächenelektrode (indifferente Elektrode im Bereich der Oberschenkelinnenseite) bzw. Ringelektroden am Penis sowie durch beidseitige perianale Elektroden. Die Ableitung erfolgt spinal und kortikal über dem somato-sensorischen Kortex (Cz+2 cm) mit Oberflächen- oder Nadelelektroden. Es handelt sich um ein Averaging-Verfahren; üblicherweise werden ca. 200 Stimulationen aufsummiert und gemittelt. kErgebnisinterpretation
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Verlängerungen der Latenzen treten sowohl bei peripheren Läsionen als auch bei zentralen Demyelinisierungsherden
auf. Die Untersuchung erlaubt es, die Integrität schnell leitender Fasern und deren zentrale Weiterleitung zu beurteilen. Das Verfahren ist nicht belastend für den Patienten. Es ermöglicht eine Objektivierung von Sensibilitätsstörungen, allerdings keine Lokalisationsdiagnostik. Fazit Ebensowenig wie die anderen bereits vorgestellten Verfahren ermöglicht auch diese Methode keine Beurteilung des autonomen Nervensystems. Das autonome Nervensystem ist elektrophysiologisch praktisch nicht zu beurteilen. Die einzige (außerhalb von Speziallabors) verfügbare diagnostische Möglichkeit stellt die penile sympathische Hautantwort dar, die aber nicht standardmäßig eingesetzt wird, und für die es bei Frauen keine äquivalente Untersuchung gibt. Das autonome Nervensystem ist in der Routinediagnostik praktisch nicht zu beurteilen!
Sympathische Hautantwort Bei der Messung der sympathischen Hautantwort werden Hautwiderstandsmessungen nach Applikation eines elektrischen oder akustischen Reizes durchgeführt. Dabei werden die postganglionären sympathischen Fasern erfasst. Das Verfahren ist populärwissenschaftlich als Teil des sog. Lügendetektors bekannt. Auch eine penile Ableitung ist möglich. Für Frauen existiert kein etabliertes Untersuchungsverfahren. > Dies ist zurzeit das einzige Routineverfahren, mit dem die Funktion des vegetativen Nervensystems direkt geprüft werden kann. Allerdings wird dabei lediglich der Sympathikus erfasst, der Parasympathikus entgeht diesem Messverfahren. Fazit Klinisch beschränkt sich der Einsatz hauptsächlich auf die Diagnostik erektiler Funktionsbeeinträchtigungen. Gelegentlich wird das Verfahren ebenfalls zur Erfassung autonomer Neuropathien bei Diabetikern eingesetzt. Problematisch ist, dass sich bei bis zu 20% der Gesunden keine penile sympathische Hautantwort erhalten lässt. Verwertbar sind daher nur eindeutige Latenzverlängerungen, nicht jedoch ein nicht darstellbares Potenzial.
28.5.4
Untersuchungen bei Erektionsstörungen
4 Das Corpus-cavernosum-EMG (CC-EMG, Ableitung der elektrischen Aktivität der Schwellkörpermuskulatur, ähnlich dem EKG am Herzen) kann Auskunft über das Vorliegen einer kavernösen Neuropathie geben, z.B. als Folge einer autonomen Neuropathie bei Diabetes mellitus (Jiang et al. 2003). 4 Die Doppler- bzw. Duplexsonographie untersucht die penile Blutversorgung. 4 Mithilfe der SKAT-Testung (Injektion von vasoaktiven Medikamenten in den Schwellkörper) oder alternativ mit der intraurethralen Applikation (MUSE) kann die kavernöse Funktionsfähigkeit beurteilt werden. Praxistipp Bei vorhandener Erektionsfähigkeit (unabhängig davon, ob es sich um morgendliche reflexive oder psychogene Erektionen handelt) erübrigt sich i.d.R. eine Untersuchung der kavernösen Funktionsfähigkeit.
28.5.5
Hormonbestimmungen
Bei Männern kann bei Hypogonadismus, bei Frauen nach beidseitiger Ovariektomie eine Hormonsubstitution indiziert sein. Unklar ist, ob eine Substitution des bei älteren Männern natürlicherweise reduzierten Testosteronspiegels eine dauerhafte Verbesserung der Erektionsfähigkeit bewirkt (Saad et al. 2007). Auch Patienten sowohl mit hypo- als auch hyperthyreoter Stoffwechsellage berichten über ein vermindertes sexuelles Verlangen. Prolaktin- und Testosteron-Bestimmungen können bei beiden Geschlechtern sinnvoll sein, wenn sich anamnestisch oder klinisch Hinweise für eine hormonelle Störung ergeben. Bei der Anamnese sind u.a. zu berücksichtigen: 4 Alter, 4 Geschlecht, 4 Medikation, 4 Menstruationszyklus und 4 Tageszeit.
28.6
Behandlungsmöglichkeiten
28.6.1
Sexualtherapie
Neuere Untersuchungen der Psychoneuroendokrinologie und Psychoneuroimmunologie lassen eine stammesgeschichtlich angelegte innere Programmierung vermuten. Sie verfolgt die Erfüllung von Grundbedürfnissen nach Nähe, Wärme, Geborgenheit, Sicherheit und Akzeptanz, besonders auch in existenziell verunsicherten Lebensphasen wie Krankheit (Pert 1999). Diese Bedürfnisse finden sich bei allen Menschen über alle Kulturgrenzen hinweg und ganz gleich welcher
425 28.6 · Behandlungsmöglichkeiten
Gesellschaftsordnung; sie bestimmen elementar die Paarbeziehung. Im Rahmen der Sexualtherapie wird die partnerschaftliche Sexualität als potentes Vehikel zur Erfüllung psychosozialer Grundbedürfnisse genutzt (Beier u. Loewit 2004). Hierfür sind neue – von den Partnern verabredete – Intimerfahrungen zu erzielen, um Sexualität in einem erweiterten Sinnzusammenhang zu erleben. Der Fokus der therapeutischen Arbeit rückt damit häufig weg vom sexuellen Symptom eines Partners hin zur partnerschaftlichen Beziehung selbst. Das Paar erlebt sich wieder als eine partnerschaftliche Einheit, in der das sexuelle Symptom rasch an Bedeutung verliert und damit letztlich in der Ausprägung geringer wird oder ganz verschwindet. Für Rat suchende Paare bedeutet dies, dass sie 4 erleben, wie es möglich ist, miteinander über sexuelle Probleme und Wünsche zu sprechen, 4 sich mit ihren Schwierigkeiten und Empfindungen angenommen fühlen und diese nicht schamhaft zu verbergen suchen, 4 Informationen erhalten, die ihre »sexuelle Weltanschauung« ergänzen oder korrigieren, 4 sich selbst helfen können, indem sie ihr sexuelles Verhaltensrepertoire erweitern und dadurch neue Möglichkeiten finden, Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit und Akzeptanz zu erfüllen, 4 in ihrem Selbstwertgefühl durch eine Erfüllung der Grundbedürfnisse trotz aller Behinderungen gestärkt werden, 4 lernen, auf mögliche ablehnende Reaktionen des Partners angemessen zu reagieren. > Sexualtherapie ist nicht individuums-, sondern paarzentriert und verwendet Elemente aus verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren, vor allem verhaltenstherapeutische Techniken. Praxistipp Eine sexualtherapeutische Behandlung umfasst selten mehr als 15–20 Paarsitzungen. Mitunter ermöglichen bereits wenige Beratungsgespräche eine wesentliche und ausreichende Hilfestellung.
Bei speziellen Erkrankungen sind Gruppenangebote besonders effektiv, wenn es gelingt, neben der Vermittlung von Wissen auch auf die praktischen Probleme im Zusammenhang mit der speziellen Erkrankung einzugehen. Anderson und Cole (1975) haben bereits vor einigen Jahrzehnten hilfreiche Merksätze formuliert, die jedoch nichts an ihrer Aktualität eingebüßt haben (. Übersicht 28.5). Auch wenn viele Probleme nicht gelöst werden können und körperliche wie psychische Beeinträchtigungen oftmals unverändert fortbestehen, hilft es den Betroffenen, wenn ihren sexuellen Wünschen und Vorstellungen Aufmerksamkeit geschenkt wird. Meist gelingt es ihnen, wenn sie erst einmal eigene Grenzen akzeptiert haben, neue Möglichkeiten
. Übersicht 28.5. Merksätze für sexuelle Zufriedenheit 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Ein steifer Penis oder eine feuchte Vagina machen noch keine solide Partnerschaft. Harninkontinenz ist nicht gleichbedeutend mit genitaler Inkompetenz. Verlust der Sensibilität ist nicht gleichbedeutend mit Verlust von Gefühlen. Unfähigkeit sich zu bewegen bedeutet nicht Unfähigkeit zu gefallen. Die Anwesenheit von Deformitäten ist nicht gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Bedürfnissen. Die Unfähigkeit zu gestalten ist nicht gleichbedeutend mit der Unfähigkeit zu empfangen. Der Funktionsverlust der Genitalien ist nicht gleichbedeutend mit dem Verlust der Sexualität.
und Perspektiven für ihr Sexualleben zu entdecken und zu entwickeln.
28.6.2
Somatische Behandlung
Aus sexualmedizinischer Sicht dienen die somatischen Therapieoptionen nicht ausschließlich der Wiederherstellung einer isolierten Funktion, sondern dem übergeordneten Ziel, sexuelle Zufriedenheit innerhalb einer Paarbeziehung zu verbessern. Sofern eine Partnerschaft besteht, sind daher die Indikationen für somatische Therapien immer gemeinsam mit dem Paar zu stellen. Die zahlreichsten Behandlungsoptionen finden sich für Erektionsstörungen. Bei sexuellen Funktionsstörungen gilt es zunächst, soweit vorhanden, die körperliche und/oder psychische Grunderkrankung zu behandeln und unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu berücksichtigen: 4 Antihypertensiva führen, u.a. bedingt durch die Blutdrucksenkung, verbreitet zu Erektionsstörungen. 4 Alpha-Rezeptorenblocker können gelegentlich einen Priapismus durch Blockade der inhibitorischen sympathischen Erektionsmechanismen verursachen. 4 Antidepressiva, besonders die häufig angewandten selektiven Serotonin-Reuptake-Hemmer (SSRI), können zu verminderter sexueller Appetenz, Erregungs- und Orgasmusstörungen führen. Weitere Medikamente mit negativen Auswirkungen sind: 4 Neuroleptika, 4 Lipidsenker und 4 Histamin-2-Rezeptor-Antagonisten. jHormonsubstitution 4 Eine verminderte sexuelle Appetenz kann bei Frauen durch Schmerzen beim Geschlechtsverkehr bedingt sein. Ursache kann eine mangelnde Lubrikation bei Östrogenmangel sein. Gleitmittel und/oder eine lokale Hor-
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28 4 4
Kapitel 28 · Sexualität bei chronischen neurologischen Erkrankungen
monapplikation bieten eine wirkungsvolle und einfache Behandlung. Androgenmangel kann sowohl bei Männern (z.B. bei Hypogonadismus) als auch Frauen (z.B. nach beidseitiger Ovariektomie) zu einer Minderung der sexuellen Appetenz führen und ebenfalls mit einer Hormonsubstitution behandelt werden. Bei einer Hyperprolaktinämie können zur Appetenzsteigerung Prolaktinhemmer verordnet werden, z.B. Bromocriptin (Pravidel®), Lisurid (Dopergin®), Metergolin (Liserdol®) u.a. Der α2-Rezeptor-Blocker Yohimbin mit zentralem und peripherem Angriffspunkt kann über eine Unterstützung der genitalen Erregungsmechanismen bei beiden Geschlechtern zu einer sekundären Libidosteigerung führen. Das in Deutschland zur Nikotinentwöhnung zugelassene Bupropion (Zyban®) ist ein Antidepressivum mit libidosteigernder Wirkung bei Gesunden. Erektionsstörungen können mit Phosphodiesterase-5Hemmern (Viagra®, Cialis®, Levitra®) behandelt werden. Über eine kavernöse Relaxation der glatten Muskeln kommt es zu einem vermehrten Bluteinstrom in die Schwellkörper und damit zu einer Erektion. Häufige Nebenwirkungen sind: 5 Kopfschmerzen, 5 Gesichtsrötung, 5 Rhinitis und 5 leichte Blutdrucksenkung. 5 Vorübergehend kann ein verändertes Farbensehen auftreten, selten ein schmerzhafter Priapismus. 5 Bei Einschränkungen der Nieren- und Leberfunktion ist eine Dosisanpassung erforderlich.
! Cave Phosphodiesterase-5-Hemmer sind kontraindiziert bei 4 kardiovaskulären Erkrankungen (arterielle Hypertonie, Zustand nach Herzinfarkt, Herzrhythmusstörungen) und 4 in Kombination mit blutducksenkenden Nitraten und Alpha-Blockern. Praxistipp Viagra® und Levitra® sind 30–60 Minuten vor dem Geschlechtsverkehr einzunehmen. Cialis® kann flexibler gehandhabt werden und wirkt bis zu 36 Stunden nach Einnahme erektionsfördernd.
> Phosphodiesterase-5-Hemmer führen nur bei psychischer sexueller Erregung zu einer Erektion und steigern nicht primär das sexuelle Verlangen. Nur ein kleiner Teil der PDF-5-Anwender setzt die Medikation tatsächlich fort – möglicherweise wegen falscher oder zu hoher Erwartungen bezüglich einer Verbesserung des sexuellen Erlebens (Rosen et al. 2004).
jErektionsfördernde Maßnahmen kMedikation 4 Apomorphin (z.B. Uprima®, Ixense®) wirkt als DopaminRezeptor-Agonist im zentralen Nervensystem. Apomorphin ist ein Morphin-Abkömmling, aber ohne eine schmerzlindernde und euphorisierende Wirkung. Bei einer Gabe von 2–6 mg ist eine Verbesserung des Erektionsvermögens zu beobachten (Mulhall et al. 2001, Thomas 2002). Eine häufige und stark dosisabhängige Nebenwirkung ist Übelkeit. 4 Der nicht-selektive Alpha-Rezeptorblocker Phentolamin zeigt sich wirksam in oraler Dosierung von 40–80 mg bei milder bis moderater erektiler Dysfunktion. Auch bei längerer Anwendung ist eine ausreichend gute Verträglichkeit gegeben (Padma-Nathan et al. 2002). 4 Eine Injektion von vasoaktiven Substanzen in den Schwellkörper (Papaverin, Phentolamin, Prostaglandin E1), jeweils als Monotherapie oder in Kombination, kann hohe lokale Wirkstoffkonzentrationen bei geringer systemischer Belastung erzielen. Die Schwellkörper-Autoinjektionstherapie (SKAT) erlaubte Mitte der 80er Jahre erstmals eine nicht-prothetische Behandlung organischer Erektionsstörungen. Prostaglandin E1 ist nebenwirkungsarm, heute Mittel der Wahl bei der SKAT, und kann außerdem intraurethral (d.h. nicht-invasiv) appliziert werden. Als Nebenwirkungen können ein Priapismus und langfristig eine kavernöse Fibrose (nur bei der SKAT) auftreten. 4 Mit Aufkommen der gut wirksamen Phosphodiesterase5-Hemmer hat die SKAT etwas an Bedeutung verloren. kVakuumpumpe Mit einer Vakuumpumpe lässt sich in einem Hohlkörper, der relativ luftdicht über den Pars pendulans penis gestülpt wird, ein Unterdruck erzeugen. Dieser bewirkt einen venösen Bluteinstrom in die Schwellkörper. Nach Erreichen einer Erektion wird über die Peniswurzel ein Gummiring gestülpt, um den Blutrückstrom zu verhindern. Ein Gummiring kann ebenfalls bei noch vorhandener Erektionsfähigkeit zur Verlängerung der Erektionsdauer verwendet werden. Praxistipp Die Patienten benötigen ausführliche Instruktionen zur Anwendung der Vakuumpumpe und müssen in den meisten Fällen mehrfach üben.
kOperative Verfahren Als ultima ratio gelten heute chirurgisch-rekonstruktive Verfahren (Revaskularisationschirurgie, Venenchirurgie und Penisprothesen). Aufgrund der hohen Komplikationsrate werden diese Behandlungsoptionen nur in spezialisierten Zentren durchgeführt. Bei Männern mit Ejaculatio praecox kann eine Medikation mit selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) eine Behandlungsoption darstellen.
427 28.7 · Behandlung spezieller Probleme bei neurologischen Erkrankungen
28.7
28.7.1
Behandlung spezieller Probleme bei neurologischen Erkrankungen Morbus Parkinson
Erst seit einigen Jahren finden verschiedene sexuelle Dysfunktionen als Begleitsymptome des idiopathischen Morbus Parkinson in der Forschung Beachtung (Brown et al. 1999, Quinn et al. 1983, Singer et al. 1989). Nur in vereinzelten Studien wurde allerdings untersucht, welche sexuellen Funktionen beeinträchtigt sind (Basson 1996, Brown et al. 1999). Die Angaben zur Häufigkeit sexueller Funktionsstörungen von betroffenen Männern und Frauen schwanken zwischen 35–87,5%, was allerdings an der fehlenden Operationalisierung der Variable »Funktionsstörung« und der fehlenden Unterscheidung zwischen Funktionsbeeinträchtigung und -störung liegen dürfte. Über mögliche Einflussfaktoren auf die Sexualität der Betroffenen wie 4 Krankheitssymptomatik, 4 Medikamente, 4 ggf. chirurgische Maßnahmen, 4 soziale und psychische Faktoren liegen widersprüchliche Ergebnisse vor (Basson 1996, Brown et al. 1999, Courty et al. 1997, Korpelainen et al. 1998, Sczasz 1989, Wermuth u. Stenager 1992). Gerade bei jüngeren Patienten (unter 51 Jahren) werden eher Depression und Arbeitslosigkeit und keine organischen Ursachen für eine unbefriedigt erlebte Sexualität vermutet (Jacobs et al. 2000).
Beratung und Therapie Parkinson-Betroffene reagieren zunächst ratlos auf die Veränderungen ihrer Sexualität und wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Auch fällt es – trotz der Liberalisierungstendenzen in unserer Gesellschaft – den meisten Menschen weiterhin schwer, sexuelle und/oder partnerschaftliche Verunsicherung selbst gegenüber dem Partner zum Thema zu machen. Unternimmt ein Patient dennoch den Versuch, das für ihn belastende Problem anzusprechen, stößt er meist auf jene Unsicherheit, die er von sich selbst schon kennt – auch bei den betreuenden Ärzten, zumal diese in ihrer Aus- und Weiterbildung i.d.R. nicht auf derartige Gespräche vorbereitet sind. Patienten erleben es daher als hilfreich, ermutigt zu werden, Veränderungen in ihrer Partnerschaft und Sexualität wahrzunehmen und offen anzusprechen (Beier 2000). Bei bestehender Unzufriedenheit über die sexuelle und/ oder partnerschaftliche Situation ist die Klärung folgender Fragen hilfreich: 1. Gibt es einen Zusammenhang mit der Krankheit Morbus Parkinson, oder bestanden die Probleme bereits vor der Diagnosestellung? 2. Wirken sich bestimmte Parkinsonsymptome negativ auf das sexuelle Erleben und Verhalten aus? 3. Besteht ein Zusammenhang mit Parkinsonmedikamenten? 4. Gibt es ungeklärte Fragen oder unterschiedliche Vorstellungen in der Partnerschaft? Die Einbeziehung des Partners/der Partnerin erleichtert die Beantwortung dieser Fragen (7 Patientenbeispiel).
Näher betrachtet Studie: Morbus Parkinson und Sexualität In einer Studie des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité (Boxdorfer 2000, Lüders 2000) wurde sowohl bei Männern als auch bei Frauen mit Morbus Parkinson eine Zunahme sexueller Funktionsstörungen festgestellt (erfasst nach den Kriterien von DSM-IV und daher nur als Störung gewertet, wenn eine funktionelle Beeinträchtigung in Verbindung mit subjektivem Leidensdruck und Unzufriedenheit angegeben wurde). Bei den betroffenen Männern war dieser Anstieg besonders auffällig: Während vor Diagnosestellung weniger als 10% eine Appetenz-, Erregungs- oder Orgasmusstörung beklagten, waren dies nach der Erkrankung 50%. Bei den Frauen stieg die Häufigkeit von 10% auf 30% an. Die durchschnittliche Erkrankungsdauer betrug 10 Jahre. Besonders bemerkenswert war, dass auch bei den Partnern der betroffenen Patienten ein signifikanter Anstieg von sexuellen Funktionsstörungen und bei allen Betroffenen und allen Partnern eine starke
Abnahme der sexuellen Zufriedenheit festzustellen war: Während vor Diagnosestellung ungefähr 90% der Befragten mit ihrer Sexualität zufrieden waren, sank dieser Prozentsatz auf unter 60%. Als maßgebliche Ursache für ihre veränderte Sexualität gaben die Betroffenen in erster Linie Parkinsonsymptome an. Dies galt sowohl für die betroffenen Frauen als auch für die Männer, wobei die Frauen etwas häufiger die Auffassung vertraten, dass bei ihnen Depressionen und Ängste zu einer Veränderung ihres sexuellen Erlebens und Verhaltens beigetragen haben könnten. Etwa ein Drittel der betroffenen Frauen und zwei Drittel der Männer sahen einen Zusammenhang zwischen Medikamenteneinnahme und Veränderungen ihrer Sexualität: 4 Bei den Levodopa-Präparaten wurde v.a. Madopar® genannt, 4 bei den Dopaminagonisten Pergolid (Parkotil®) und Bromocriptin (Pravidel®, Kirim®).
Es wurden jedoch für jeweils dasselbe Medikament sowohl Verbesserungen als auch Verschlechterungen der sexuellen Funktionen berichtet. Da viele ältere Parkinsonpatienten noch zahlreiche andere Medikamente einnehmen oder an Depressionen leiden, können diese sich zusätzlich negativ auf das sexuelle Erleben und Verhalten auswirken. Hinsichtlich der Partnerschaft wurde sowohl von den Männern als auch von den Frauen angegeben, dass der Austausch von Zärtlichkeiten, die Mitteilung von Gefühlen wie überhaupt die Kommunikation seit der Diagnosestellung abgenommen hätten. Dabei blieb jedoch sowohl bei den Erkrankten als auch bei ihren Partnern der Wunsch nach einer gemeinsamen Gestaltung des Alltags unverändert bestehen; beide äußerten allerdings zunehmende Befürchtungen, den Erwartungen ihres Partners nicht gerecht werden zu können.
28
428
Kapitel 28 · Sexualität bei chronischen neurologischen Erkrankungen
Es gilt, die in . Übersicht 28.6 zusammengestellten Behandlungsoptionen zu prüfen. . Übersicht 28.6. Behandlungsmöglichkeiten bei Morbus Parkinson 1.
2. 3.
28
4.
Spezifische Behandlung der Parkinsonsymptome, die sich auf das sexuelle Erleben und Verhalten hinderlich auswirken Umstellung der Medikation, falls diese die Sexualität beeinflusst, falls möglich Verbesserung der partnerschaftlichen Kommunikation (z.B. gegenseitige Mitteilung von Wünschen und Vorstellungen) Einsatz von Hilfsmitteln oder Medikamenten zur Behandlung sexueller Funktionsstörungen wie z.B. Phosphodiesterase-5-Hemmer (Hussain et al. 2001)
Patientenbeispiel: 76-jähriger Mann mit Morbus Parkinson Die 73-jährige Ehefrau eines 76 Jahre alten Parkinson-Betroffenen bat um Unterstützung. Seit 9 Jahren bestehe die Parkinsonerkrankung bei ihrem Ehemann, mit dem sie seit über 50 Jahren verheiratet sei. Bei einem stationären Aufenthalt wegen einer Bandscheibenproblematik kam es zur Verschreibung eines neuen Dopaminagonisten. Nachdem ihr Mann nun wieder zuhause lebe (und auf ihre Pflege angewiesen sei), falle ihr eine enorm gesteigerte sexuelle Appetenz auf: Sie könne sich nirgendwo hinsetzen und letztlich auch nicht in seine Nähe kommen, ohne dass er beginne, an ihr »herumzufummeln« (sie am Busen oder zwischen den Beinen anzufassen versuche), was sie deutlich störe, zumal sie sich auf ihre pflegerischen Tätigkeiten konzentrieren müsse. Ihrem Mann kämen diese sexuellen Anbahnungsversuche aufgrund der enormen Häufigkeit ebenfalls »unheimlich« vor, und er erlebe es wie einen »Zwang« und als nicht zu sich gehörig. Die behandelnde Neurologin habe empfohlen, den Ehemann »ins Heim« zu geben, was wiederum für die Ehefrau überhaupt nicht infrage komme (»Er ist mein Mann, ich liebe ihn«). Als sich dies im Paargespräch bestätigte und auch der Ehemann eine Reduktion seiner sexuellen Impulsdynamik ausdrücklich wünschte, wurde eine antiandrogene Medikation empfohlen und in Zusammenarbeit mit der behandelnden Neurologin erfolgreich umgesetzt.
28.7.2
Multiple Sklerose
Die Multiple Sklerose ist die häufigste chronische neurologische Erkrankung junger Menschen in den westlichen Industrienationen. Der Beginn liegt meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr – teilweise mit folgeschweren Auswirkungen auf die Bildung einer Partnerschaft, die Gründung einer Familie und die berufliche Karriere (Green et al. 2007). Die Erkrankung äußert sich durch eine Vielzahl von motorischen, sensorischen und kognitiven Symptomen. Es sind zudem verschiedene Verlaufsformen bekannt, so dass der
Krankheitsverlauf im Einzelfall weitgehend unvorhersehbar ist. Verschiedene Funktionsstörungen des autonomen Nervensystems, 4 gastrointestinale und genitale Funktionen, 4 Miktion, 4 Orthostase, 4 Schlaf, 4 Transpiration, beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen (Forbes et al. 2006, Haensch u. Jorg 2006). Die Erstdiagnose einer Multiplen Sklerose ist in der Vorstellung der Betroffenen nach wie vor gleichbedeutend mit dem baldigen Verlust der Gehfähigkeit und einer verkürzten Lebenserwartung. Näher betrachtet Studie: Prävalenz sexueller Funktionsstörungen Die Angaben zur Prävalenz sexueller Funktionsstörungen sind uneinheitlich und reichen bei Frauen von 5–52%, bei Männern von 23–80% (Jonsson 2003). In der Studie des Berliner Instituts für Sexualmedizin (Babinski 2000, Goecker 2000) zeigt sich ebenfalls ein deutlicher Anstieg von – mit Leidensdruck verbundenen – sexuellen Funktionsstörungen, v.a. 4 vermindertes sexuelles Verlangen und 4 Aversionsstörungen, sowohl bei den betroffenen Männern und Frauen als auch bei den jeweiligen Partnern. Eine andere Untersuchung bestätigt diese Ergebnisse (Schmidt 2005).
Sexuelle Funktionsstörungen sind
4 einerseits im Zusammenhang mit fortschreitender Krankheit und Krankheitsdauer, physiologischen Faktoren wie genitalem und extragenitalem Sensibilitätsverlust sowie motorischen Beeinträchtigungen zu sehen (Lattman et al. 1998), 4 andererseits jedoch im Zusammenhang mit signifikant erhöhten depressiven und ängstlichen Symptomen im Vergleich zu gesunden Probanden (Zorzon et al. 1999). Harninkontinente MS-Patienten berichten zu 66% über Erektionsstörungen im Vergleich zu 42% der übrigen MS-Patienten (Goecker 2000). Der Nachweis einer nächtlichen, reflektorisch bedingten penilen Tumeszenz bei Männern mit MS wird als Hinweis für eine eher psychogene als organisch bedingte erektile Dysfunktion gewertet (Staerman et al. 1996). Einschränkend gilt jedoch, dass normale nächtliche Erektionen auch bei neurogen bedingter erektiler Dysfunktion zu finden sind (Kirkeby et al. 1988). Lediglich 15% der Befragten berichten einen Zusammenhang zwischen Medikamenteneinnahme und unspezifisch veränderter, d.h. sowohl verschlechterter als auch verbesserter Sexualität, wobei Glukokortikoide, Spasmolytika und Interferone am häufigsten genannt wurden (Babinski 2000, Goecker 2000). Ähnlich den oben geschilderten Ergebnissen der Studie bei Parkinsonpatienten schildern MS-Patienten partnerschaft-
429 28.7 · Behandlung spezieller Probleme bei neurologischen Erkrankungen
liche Veränderungen, die sich durch einen verminderten Austausch von Zärtlichkeiten, Mitteilung von Gefühlen und Empfindungen äußern. Der Wunsch, die Beziehung fortzusetzen und den Alltag gemeinsam zu gestalten, bleibt bestehen. > Eine Abnahme des sexuellen Verlangens und eine verminderte sexuelle Zufriedenheit lassen sich am ehesten auf partnerschaftliche Faktoren zurückführen, die sich oftmals in einem sexuellen Rückzug zeigen. Inwieweit verminderte sexuelle Funktionen zu einer Abnahme der sexuellen Aktivität und partnerschaftlichen Intimität führen, wird wesentlich dadurch mitbestimmt, wie ein Paar mit den Symptomen der Erkrankung umgeht und welche Bewältigungsstrategien es nutzt (Tierney u. McCabe 2005).
Beratung und Therapie Näher betrachtet Beratungsbedarf Offensichtlich besteht in der Betreuung von MS-Erkrankten ein großer Bedarf an Beratung: 86% der Patienten geben Informations- und Aufklärungsbedarf hinsichtlich sexueller Funktionsstörungen im Rahmen der Erkrankung an (Babinski 2000, Goecker 2000). Die Wirklichkeit sieht anders aus: Nur ein Drittel der Männer und ein Zehntel der Frauen haben von ärztlicher Seite hinsichtlich sexueller Fragen Unterstützung erfahren. Ebenfalls von Bedeutung ist die Einbeziehung des Partners: 46% der MS-betroffenen Frauen und 36% der MSbetroffenen Männer wünschen sich Paargespräche zum Thema Sexualität.
Die Multiple Sklerose ist eine Erkrankung, die besondere Bewältigungsstrategien verlangt. Eine wechselnde Symptomatik führt dazu, dass die Betroffenen sich selbst und auch Angehörigen gegenüber in »Beweisnot« geraten, weil ihre Symptome fluktuieren und daher schnell als »rein seelisch« interpretiert werden. Dies führt zu einer Verunsicherung bezüglich der Signale aus dem eigenen Körper, und wie diese nahestehenden Menschen mitgeteilt werden sollen. Sexuelle Funktionsstörungen führen zu einer weiteren Verunsicherung beider Partner. Körperliche Funktionseinschränkungen, besonders auch die sexuellen, mindern das Gleichwertigkeitsgefühl des betroffenen Partners. Paare integrieren die Krankheit auf verschiedenste Weise in ihre Beziehung: 4 Die Krankheit kann als gemeinsame Aufgabe angegangen werden, 4 sie kann zum dominierenden Familienthema werden, 4 sie kann auch ein einseitiges Thema des Erkrankten oder aber 4 zum Nicht-Thema im Sinne gemeinsamer Verleugnung werden. Um die jeweilige partnerschaftliche Situation eines MS-Patienten zu verstehen, ist der Partner bei der sexualmedizinischen
Behandlung frühzeitig einzubeziehen. Die Behandlung nutzt vorhandene partnerschaftliche Ressourcen, um das Vertrauen füreinander zu stärken und den Partnern zu helfen, eine verlässliche, Sicherheit und Geborgenheit vermittelnde Beziehung trotz der Erkrankung zu gestalten (7 Patientenbeispiel). > Sexuelle Appetenzminderung und verminderte sexuelle Zufriedenheit lassen sich bei der Multiplen Sklerose am ehesten auf partnerschaftliche Faktoren zurückführen, die sich u.a in einem sexuellen Rückzug des Partners bzw. der Partnerin oder auch des Betroffenen selbst zeigen. Inwieweit verminderte sexuelle Funktionen tatsächlich zu einer Abnahme der sexuellen Aktivität und partnerschaftlichen Intimität führen, wird im Wesentlichen dadurch bestimmt, wie ein Paar mit den Symptomen der Erkrankung umgeht, und welche Bewältigungsstrategien es nutzt (McCabe 2004).
Patientenbeispiel: 55-jähriger Mann mit Multipler Sklerose Der 55-jährige MS-Betroffene war seit 20 Jahren erkrankt (chronisch-progrediente Verlaufsform) und bereits auf einen Rollstuhl angewiesen. Er hatte vor einem Jahr eine 8 Jahre jüngere, ebenfalls an MS erkrankte Partnerin kennengelernt (diese war seit 15 Jahren erkrankt, schubförmiger Verlauf, Gehfähigkeit weitgehend erhalten) und beklagte sich jetzt über eine verminderte sexuelle Appetenz seiner Freundin seit ihrem letzten Schub. Diese verwies auf die erforderlich gewordene Interferon-Behandlung, die zu einer Reduzierung ihres sexuellen Verlangens geführt habe. Der Partner schilderte in überschwänglichen Worten, dass man vor ihrem letzten Schub »gigantischen Sex« gehabt habe, wobei er – mit ihrem Wissen – wegen einer Erektionsstörung auf Phosphodiesterasehemmer zurückgreifen musste. In unfreundlicher Wortwahl kommentierte er ihre Einwendungen, dass die sexuellen Zusammenkünfte nicht immer nach ihrem Geschmack gewesen seien (»Dann musst du dir eben einen andren suchen!«). Besonders hatte sie Vorbehalte gegenüber den von ihm besonders gewünschten analen Praktiken, was er wiederum entwertend aufgriff (»Dann muss ich eben in den Puff gehen!«). Erst nach der Vermittlung der Beziehungsdimension von Sexualität (die vor allem der Mann als völlig neues Konzept von Sexualität begreifen musste), war es der Frau möglich geworden, eigene Wünsche und Bedürfnisse gegenüber dem Partner zu formulieren und die Appetenzminderung nicht mehr auf die Interferongabe zurückzuführen. Sie hatte den letzten Schub und die notwendig gewordene Medikation als (schützende) Begründung gegenüber seinen sexuellen Wünschen bewusst genutzt.
28.7.3
Querschnittlähmung
Verletzungen des Rückenmarks betreffen meist jüngere Menschen (Männer häufiger als Frauen) und bewirken – stark abhängig davon, ob die Läsion komplett oder partiell ist – Läh-
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Kapitel 28 · Sexualität bei chronischen neurologischen Erkrankungen
mungen und Sensibilitätsausfall unterhalb des spinalen Querschnittsegments. In den ersten Wochen nach dem Ereignis kann ein spinaler Schock zu einer Paralyse der Blasen- und Rektummuskulatur führen. Aufgrund venöser Stauungen kann ein Priapismus entstehen. Wenn die Reflexaktivität nach einigen Wochen zurückkehrt, verbessern sich die betroffenen Körperfunktionen, das Ausmaß späterer Einschränkungen ist in diesem Stadium jedoch nur schwer vorhersagbar. Beeinträchtigungen, die länger als 6 Monate bestehen, haben allerdings keine große Aussicht auf Veränderung (Kolodny et al. 1979). Patienten mit traumatischen Querschnittlähmungen zeigen neben den motorischen und sensiblen Ausfällen fast immer Beeinträchtigungen der Sexualfunktionen (Fisher et al. 2002).
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jEjakulation Trotz Sensibilitätsminderung im Bereich der Genitalien oder Verlust der Kontrolle über die Beckenbodenmuskulatur kann es bei beiden Geschlechtern zu orgasmusartigem Erleben kommen. Die Ejakulation ist allerdings häufig gestört, was sich daraus erklärt, dass sie aus zwei Komponenten besteht, Emission und Expulsion: 4 Die Emission hat die (aus erhaltenem Hodendruckschmerz abschätzbare) Funktionsfähigkeit der sympathikotonen Efferenzen des Thorakalmarks zur Voraussetzung, 4 die Expulsion die des parasympathikotonen sakralen Sexualzentrums. jErektion Erektionen, wenn auch oft labile und nicht koitustaugliche, sind insgesamt relativ häufig möglich: 4 In 90% der Fälle erfolgt bei Erhalt des Sakralmarks eine reflektorische Erektion bei taktiler Stimulation des Penis (Birbaumer u. Schmidt, 1996). Diese Erektionen halten i.d.R. nur sehr kurz an und führen nicht zu angenehmen körperlichen Gefühlen bei dem betroffenen Mann. 4 Psychogene Erektionen sind bei Erhalt des thorakalen sympathikotonen Zuflusses bei ca. jedem 4. Mann möglich (. Tab. 28.1). Diese Erektionen werden durch sexuell erregende Phantasien induziert und nicht durch direkte Stimulation des Penis. Sie halten länger an als reflektorische, sind nicht immer vollständig und durch taktile Stimulation nicht auszubauen. > Männer mit einer hohen Querschnittlähmung weisen zwar eine höhere Erektionsfähigkeitsrate auf, jedoch eine geringere Ejakulationsfähigkeitsrate.
Bekannt ist auch die exzessive Aktivierung des autonomen Nervensystems bei sexueller Erregung von Männern mit Querschnittlähmungen oberhalb des 4. Brustwirbels. Diese ist gekennzeichnet durch einen plötzlichen Blutdruckanstieg mit 4 klopfenden Kopfschmerzen, 4 Schweißausbrüchen und 4 kardialen Symptomen. jFertilität Vor allem bei Männern kommt hinzu, dass die Fertilität nach einer Rückenmarksverletzung beeinträchtigt sein kann: Ent-
weder durch eine Verringerung der Spermatogenese (Brown et al. 2006) oder – bei normalem Spermienbefund durch mechanische Probleme wie retrograde Ejakulation. Frauen mit Querschnittlähmungen weisen dagegen nur eine geringe Reduktion ihrer Fertilität auf, wenn auch bei einer Schwangerschaft zusätzliche Komplikationen (z.B. Harnwegsinfektionen) auftreten können. Bei Frauen sind eher Fragen der Kontrazeption zu diskutieren, weil orale Kontrazeptiva die Gefahr einer Thrombose zusätzlich erhöhen können und die Nutzung von »Spiralen« limitiert ist, da eine fehlerhafte Positionierung aufgrund des Sensibilitätsverlusts von der Frau nicht wahrgenommen wird. jSexuelle Aktivität Frauen, die vor dem 18. Lebensjahr eine Rückenmarksverletzung erleiden, haben ein erhöhtes Risiko, im Erwachsenenalter kein aktives Sexualleben zu haben (Ferreiro-Velasco et al. 2005, Fugl-Meyer u. Fugl-Meyer 1999). Die Literatur der vergangenen 20 Jahre fokussiert bei Frauen den Einfluss der Nervenschädigungen auf sexuelle Erregung und Orgasmuserleben (Forsythe u. Horsewell 2006): Hauptsächlich werden für sexuelle Funktionsstörungen verantwortlich gemacht: 4 Stuhl- und Harninkontinenz, 4 Spastik, 4 verminderte vaginale Lubrikation sowie 4 Dysregulation des autonomen Nervensystems. Analog zur penilen Erektion scheint bei Frauen der Erhalt des Thorakalmarks für die psychogene Lubrikation und das Sakralmark für eine reflektorische Lubrikation von Bedeutung sein (Sipski et al. 2001). Neuere Studien berücksichtigen das Alter und besonders die Partnerschaftsqualität für eine erfolgreiche sexuelle Rehabilitation (Forsythe u. Horsewell 2006). > Frauen mit Querschnittläsionen berichten zwar oftmals eine deutliche Abnahme der Häufigkeit partnerschaftlicher sexueller Aktivität sowie eine verminderte Orgasmusfähigkeit – dies muss jedoch nicht zwangsläufig mit einer reduzierten sexuellen Zufriedenheit einhergehen (Matzaroglou et al. 2005).
Beratung und Therapie Patienten mit einer Querschnittlähmung realisieren oftmals erst nach der Entlassung aus der Rehabilitationsklinik Veränderungen ihrer Sexualität. Die größte Sorge gilt dann der sexuellen Befriedigung des Partners/der Partnerin und erst an zweiter Stelle werden Sorgen über die eigene sexuelle Befriedigung genannt. Daher kommt der Einbeziehung des jeweiligen Partners in Sexualberatung und -therapie eine besondere Bedeutung zu (Fisher et al. 2002). Ziel der Sexualberatung ist es, über nicht-koitale Formen der sexuellen Kommunikation zu informieren und die Patienten darin zu unterstützen, neue, sexuell reizvolle Hautareale (z.B. Lippen, Ohrläppchen, Brustwarzen, Achseln usw.) an sich zu entdecken sowie ggf. eine Umbewertung und Veränderung sexueller Praktiken anzustreben.
431 28.7 · Behandlung spezieller Probleme bei neurologischen Erkrankungen
Näher betrachtet Studien: Stellenwert der partnerschaftlichen Dimension Eine Studie von Phleps et al. (2001) verdeutlicht ebenfalls den großen Stellenwert der partnerschaftlichen Dimension. Bei partnerschaftlich gebundenen Männer mit Querschnittläsionen (Durchschnittsalter 50 Jahre, Dauer der Erkrankung durchschnittlich 25 Jahre) findet sich kein Zusammenhang von erektiler Dysfunktion, genitaler Sensibilität und Orgasmusfähigkeit mit sexueller Zufriedenheit. Jedoch korrelierten Beziehungsqualität und empfundene sexuelle Befriedigung der Partnerin positiv mit der eigenen sexuellen Zufriedenheit. Auch Reitz et al. (2004) fanden keine signifikante Korrelation von erhaltenen sexuellen Funktionen und sexueller Zufriedenheit, jedoch korrelierten sexuelle Zufriedenheit mit Gehfähigkeit, Partnerschaftsqualität, psychischem Wohlbefinden und positivem Körperbild.
4 Bei Harn- bzw. Stuhlinkontinenz sind Blase und Mastdarm vor der sexuellen Aktivität zu leeren. 4 Patienten mit liegendem Dauerkatheter müssen Techniken erlernen, um Vaginalverkehr mit Katheter durchzuführen zu können: Frauen können den Katheter mit Klebestreifen am Bauch befestigen; Männern hilft es, den Katheter an den Penis zu legen und ein Kondom überzuziehen. 4 Falls eine Verbesserung der Erektion gewünscht wird, stehen prinzipiell mit Phosphodiesterase-5-Hemmern, SKAT und Vakuumpumpe wirksame Behandlungsoptionen zur Verfügung (Deforge et al. 2005, Ramos u. Samso 2004), wobei aus sexualmedizinischer Sicht der Grundsatz einer paarbezogenen Verordnung weiterhin gilt. PDF-5-Hemmer scheinen selbst bei Patienten mit kompletten Querschnittläsionen Wirkung zu zeigen (Derry et al. 2002) und bei Frauen ebenfalls zu einer Reduktion sexueller Funktionsstörungen zu führen (Sipski 2001).
28.7.4
Sakrale Wurzelläsionen und periphere Mononeuropathien
4 Männer mit lumbosakralen Radikulopathien leiden oftmals unter Schmerzen beim Vaginalverkehr. Auch die Ejakulation kann verzögert und schmerzhaft sein. Gelegentlich treten Erektionsstörungen auf. Da bilaterale Funktionsverluste selten auftreten (mit Ausnahme von Wirbelfrakturen im unteren Thorax- oder Lumbalbereich), sind die sexuellen Funktionen meist weitgehend erhalten. 4 Bilaterale Schädigungen in allen S2- bis S5-Wurzeln oder Nerven führen zu einer Tröpfelejakulation, da zwar die Samenemission erhalten ist, aber eine Parese der Mm. bulbo- und ischiocavernosi vorliegt. In einem solchen Fall ist eine Reflexerektion nicht möglich, allerdings sind die psychogenen Erektionsmechanismen noch intakt.
4 Der einseitige Verlust aller sakralen Nerven führt zu einer ipsilateralen genitalen Anästhesie. Die sexuellen Funktionen sind i.d.R. jedoch nicht beeinträchtigt, da die Innervation der anderen Seite für eine normale genitale Reflexantwort hinreichend ist (Fugl-Meyer u. Fugl-Meyer 1999). 4 Eine Verletzung der Cauda equina kann, abhängig von der Ausdehnung der Läsion, zu einem Verlust der Lubrikation und Erektionsfähigkeit führen, zu einer tröpfelnden Ejakulation, zu Anorgasmie und zu Dyspareunie (Podnar et al. 2002). 4 Bei einem lumbosakralen Bandscheibenmassenprolaps mit Blasen- und Mastdarmstörungen treten sehr häufig auch gleichzeitig Erektions- und Lubrikationsbeeinträchtigungen auf (Fugl-Meyer u. Fugl-Meyer 1999). > Je früher ein akutes Cauda-equina-Syndrom bei lumbalem Bandscheibenprolaps (chirurgisch) behandelt wird, desto weniger sexuelle Funktionsstörungen sind zu erwarten (Shapiro 2000).
4 Periphere Mononeuropathien des N. pudendus oder dessen Nervenästen sind besonders bei Frauen nicht ungewöhnlich. Diese Nervenläsionen können zu starken Schmerzen führen und einen Koitus unangenehm oder sogar unmöglich machen (Lundberg 1992). Praxistipp Beratung und Therapie entsprechen im Wesentlichen der Vorgehensweise bei Querschnittläsionen.
28.7.5
Epilepsie
Beeinträchtigungen der sexuellen Funktionen zeigen sich bei männlichen und weiblichen Epilepsiepatienten besonders in Form von verminderter sexueller Appetenz und Erregbarkeit. Als neurologische Ursachen sexueller Funktionsstörungen werden eine Beeinträchtigung limbischer Funktionen (Morrell 1991) und endokrine Veränderungen im gonadotropen Regelkreis und bei der Prolaktinbildung diskutiert (Lambert 2001). Frauen mit Epilepsie verzeichnen häufiger unregelmäßige Menstruationszyklen und eine vorzeitige Menopause als gesunde Frauen (Lambert 2001). Antiepileptische Medikamente können über eine Zunahme des Sexual-Hormon-Bindungs-Proteins (SHGB) zu einer Abnahme von bioaktiven Sexualhormonen führen und somit eine verminderte Libido, sexuelle Erregbarkeit und Fruchtbarkeit zur Folge haben (Herzog et al. 2004, Penovich 2000). > Lamotrigin bildet unter den Antiepileptika eine Ausnahme und führt nicht zu einer Erhöhung von SHGB (Herzog et al. 2004). Die stimmungsstabilisierende Wirkung und die gute allgemeine Verträglichkeit führen nicht nur zu einer Verbesserung der Lebensqualität, sondern ebenfalls der sexuellen Funktionen (Gil-Nagel et al. 2006).
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432
Kapitel 28 · Sexualität bei chronischen neurologischen Erkrankungen
Näher betrachtet Studien: Prävalenz von sexuellen Funktionsbeeinträchtigungen
28
Die Häufigkeit von sexuellen Funktionsbeeinträchtigungen variiert je nach Studie von 14–66% (Morrell 1991). Andere Studien (Duncan et al. 1997, Jensen et al. 1990) zeigen dagegen sowohl für Männer als auch für Frauen mit Epilepsie keine Einschränkungen im sexuellen Erleben und Verhalten verglichen mit der gesunden Normalbevölkerung. In einer Studie des Berliner Instituts (Raber, in Vorbereitung) wurden mithilfe von Patientenselbsthilfeorganisationen 229 Betroffene und 116 Partner befragt. Bei mehr als 50% der Betroffenen lag der Erkrankungsbeginn vor Aufnahme soziosexueller Kontakte bzw. sogar vor Eintritt
in die Pubertät. Die männlichen EpilepsieBetroffenen, die vor Aufnahme soziosexueller Kontakte erkrankten, wiesen eine signifikant geringere Prävalenz sexueller Funktionsstörungen auf. Möglicherweise fällt es diesen Männern leichter, mit körperlichen und psychischen Funktionsbeeinträchtigungen umzugehen. Betroffene mit einer Temporallappenepilepsie, besonders bei rechts-temporalem Herd, berichten über eine verminderte sexuelle Appetenz (Daniele et al. 1997). Frauen mit primär generalisierten und fokalen Anfällen schildern eine verminderte sexuelle Erregbarkeit und sexuelle Befriedigung, wobei
Nach erfolgreicher Epilepsieoperation berichten viele Patienten ein befriedigenderes Sexualleben (Christianson et al. 1995), selbst wenn eine antiepileptische Medikation beibehalten wurde. Je nach Lokalisation des operierten Herdes bestehen jedoch Unterschiede: 4 64% der Patienten schildern nach einer Temporallappenoperation eine Verbesserung ihres Sexuallebens, 4 mehr Patienten haben eine Verbesserung nach rechtsseitigen Operationen als nach linksseitigen, 4 nur 25% der Patienten berichten Verbesserungen nach Operationen in anderen Hirnarealen (Baird et al. 2003). Praxistipp Selten kann eine Hyperventilation bei sexueller Aktivität einen epileptischen Anfall auslösen. Noch seltener kann ein Anfall durch genitale Stimulation oder Orgasmus ausgelöst werden. Abgesehen von diesen Ausnahmen sind sexuelle Aktivitäten für Personen mit einer Epilepsie jedoch generell ungefährlich. Eine Beratung hilft, unberechtigte Ängste zu relativieren.
jSexuelle Erregung im Rahmen eines Anfalls Einige Patienten mit fokaler Epilepsie berichten von genitalen Symptomen im Rahmen des Anfalls, jedoch ohne dabei tatsächlich eine angenehme sexuelle Erregung zu verspüren. Es werden klitorale Wärme, anale oder vaginale Kontraktionen sowie Penetrationen empfunden bzw. sogar »erlebt«, allerdings auch unangenehme genitale Schmerzattacken oder ein heißes Gefühl in der Vagina (Lundberg 1992). Erektion, Lubrikation, Ejakulation oder Orgasmus können ebenfalls Teil eines epileptischen Anfalls sein. Bei einer Temporallappenepilepsie, seltener bei Frontallappenepilepsie, kann es zu genitalen Automatismen kommen wie Befummeln und Kratzen der Genitalorgane und Masturbation, an welche sich die Patienten postiktal nicht er-
4 Frauen mit fokalen Anfällen zusätzlich sexuelle Ängste, Dyspareunie und Vaginismus angeben und 4 Frauen mit generalisierten Anfällen eher Anorgasmie (Morrell 1996). Die Betroffenen erleben ihre Erkrankung häufig als wenig kontrollierbar und stigmatisierend, neigen zu sozialem Rückzug und leben seltener in einer Partnerschaft. Bei männlichen Epilepsiepatienten liegt die Eheschließungsrate um 59% niedriger als in der Normalbevölkerung, bei Frauen um 83% (Dandsky et al. 1980). Verheiratete Patientinnen bekommen weniger Kinder als durchschnittlich erwartbar.
innern. Genitale Automatismen sind bei Männern weitaus häufiger als bei Frauen zu beobachten (Dobesberger et al. 2004). Komplexe sexuelle Verhaltensänderungen bei Temporallappenepilepsie wie 4 Transvestitismus, 4 Fetischismus und 4 Exhibitionismus sind in Einzelfällen beschrieben worden und können unter antiepileptischer Medikation oder Operation reversibel sein.
Beratung und Therapie Patienten mit Epilepsie reagieren erleichtert, wenn sie erfahren, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind. Bei der Beratung ist zu berücksichtigen, dass besonders ein Erkrankungsbeginn während einer bereits bestehenden Partnerschaft zu Verunsicherungen und ungeklärten Fragen bei beiden Partnern führen kann. In dem Fall können präzise Informationen über Erkrankung und Medikation im Zusammenhang mit Sexualität, Partnerschaft und Familienplanung hilfreich sein. Nach genitalen Automatismen sollte sowohl der Patient als auch der Partner explizit befragt werden, da diese schambesetzt sein können. kMedikation 4 Ältere Antiepileptika können über eine hepatische En-
zyminduktion sekundär zu einem erniedrigten Testosteronspiegel und damit besonders bei männlichen Betroffenen zu sexuellen Funktionsstörungen führen. In dem Fall kann eine Testosteronsubstitution und/oder eine medikamentöse Umstellung auf nicht-enzyminduzierende Medikamente indiziert sein, z.B. 5 Gabapentin, 5 Lamotrigin, 5 Vigabatrin und 5 Topiramat (Herzog et al. 2004).
433 28.7 · Behandlung spezieller Probleme bei neurologischen Erkrankungen
4 Wenn bei Frauen ein Kinderwunsch besteht, empfiehlt sich als Medikation Lamotrigin. Im Vergleich zur häufig verwendeten Valproinsäure sind darunter weder kindliche Spaltbildungen noch eine fertilitätsmindernde Ausbildung polyzystischer Ovarien bekannt geworden. Zudem führt Lamotrigin nicht zu einer Gewichtszunahme. 4 Bei einer Medikation mit Carbamazepin ist die praktisch immer bestehende Sedierung zu bedenken, die u.a. zu einer Minderung der Libido führen und die Compliance für die Medikamenteneinnahme erheblich herabsetzen kann. Eine langsame Aufdosierung (Steigerung um 100 mg alle 3 Tage) führt zu einer deutlich besseren Akzeptanz.
28.7.6
Schädel-Hirn-Trauma
Nach Schädel-Hirn-Verletzungen sind oftmals zu beobachten: 4 verminderte sexuelle Appetenz, 4 Erregungs- und Orgasmusstörungen sowie 4 verminderte Koitusfrequenz (Kreuter et al. 1998). Dabei ist von einem multifaktoriellen Geschehen auszugehen (Aloni et al. 1993). Sensible, motorische und kognitive Defizite als Folge der Hirnverletzungen durch posttraumatisch erforderlich gewordene Medikamente, psychische Reaktionen und soziale Veränderungen machen Veränderungen im sexuellen Erleben und Verhalten naheliegend. Berücksichtigt werden müssen auch hormonelle Veränderungen nach Verletzungen des Hypothalamus bzw. der Hypophyse (Muniyappa et al. 2005). Überdies können Läsionen der Sprachzentren die partnerschaftliche Kommunikation wesentlich beeinträchtigen, zu sozialem Rückzug und zu Minderwertigkeitsgefühlen führen (Hibbard et al. 2000). Männer mit Schädel-Hirn-Verletzungen leiden eher als Frauen darunter, nach der Erkrankung die geschlechtstypische Rolle am Arbeitsplatz, in der Ehe und Kindeserziehung nicht mehr gemäß ihren Vorstellungen erfüllen zu können (Gutman u. Napier-Klemic 1996). Aloni et al. (1993) beobachteten, dass Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma in der frühen Phase der Rehabilitation seltener über sexuelle Funktionsstörungen berichten als im weiteren Krankheitsverlauf. Sie folgerten daraus, dass später auftretende sexuelle Funktionsbeeinträchtigungen auf reaktive Verhaltensänderungen zurückzuführen sind. Sandel et al. (1996) fanden ebenfalls eine Abnahme der sexuellen Erregbarkeit im langfristigen Krankheitsverlauf. Die Lokalisation der Hirnverletzung entscheidet mitunter über Art und Ausmaß der sexuellen Funktionsbeeinträchtigungen: 4 Patienten mit Frontallappenläsionen berichteten insgesamt über eine höhere sexuelle Zufriedenheit und weniger sexuelle Dysfunktionen als Patienten mit anderweitig lokalisierten Hirnverletzungen (Sandel et al. 1996). 4 Linksseitige Temporallappenverletzungen sind mit verminderter sexueller Appetenz und Depression assoziiert. 4 Lundberg (1992) fand nach Schädigungen von dienzephalen, medio-fronto-basalen und temporo-limbischen
Strukturen sowohl ein abweichendes Sexualverhalten mit Disinhibition und Hypersexualität (gesteigerter sexueller Appetenz) als auch eine Abnahme der sexuellen Bedürfnisse und eine verminderte erektile Funktion. 4 Bilaterale Läsionen der medialen Temporallappenanteile, z.B. nach Trauma, Herpes-simplex-Encephalitis oder paranaoplastischer Enzephalopathie, können zu gesteigerter sexueller Aktivität (z.B. Masturbation) führen.
Simpson et al. (1999) fanden bei 6,5% der Patienten ein sexuell übergriffiges Verhalten. Die häufigsten Fehlverhalten waren inadäquate Berührungen und Anfassen, gefolgt von Exhibitionismus und offensichtlich aggressivem Sexualverhalten. Besonders Patienten mit Frontal- und rechtsseitigen Temporallappenläsionen zeigen ein vermindertes Bewusstsein für sexuell adäquates Verhalten.
Beratung und Therapie Neben sexuellen Funktionsstörungen sind bei Patienten mit Schädel-Hirn-Verletzungen sexuell inadäquate Verhaltensweisen zu beobachten. Dem Betroffenen helfen klare Grenzsetzungen und das Aufzeigen adäquater und befriedigendender Möglichkeiten, seine Sexualität zu leben. So kann es erforderlich sein, dem Patienten zu erklären, dass sein Verhalten unangebracht ist, und ihm gleichzeitig Alternativen anzubieten, z.B. im Schlafzimmer zu masturbieren anstatt auf der Straße. Einheitliche Vereinbarungen von Familienmitgliedern, Therapeuten und Ärzten bzgl. des Umgangs mit einem inadäquaten Verhalten geben dem Betroffenen Halt und Orientierung.
28.7.7
Schlaganfall
Ebenso wie bei traumatischen Hirnverletzungen gibt es in der Literatur keine Übereinkunft über die Ursache(n) abnehmender sexueller Aktivität nach einem Schlaganfall. Einige Autoren betonen die Bedeutung von Läsionen in anatomisch umschriebenen Hirnarealen, andere verweisen auf psychologische und interpersonelle Faktoren. Ungeklärt bleibt ebenfalls die Frage, ob eher bei Läsionen der rechten oder linken Hemisphäre sexuelle Funktionsstörungen zu beobachten sind. Uneinheitliche Ergebnisse gibt es überdies hinsichtlich eines Zusammenhangs von nach Schlaganfall häufig beobachtbaren Depressionen und sexuellen Funktionsbeeinträchtigungen. Angesichts dieser widersprüchlichen Ergebnisse ist am ehesten von einer multifaktoriellen Genese auszugehen, wobei besonders bei neueren Studien die Bedeutung der Partnerschaft aufgezeigt werden konnte (Cheung 2002, Giaquinto et al. 2003, Korpelainen et al. 1999). Der Austausch von (sexuellen) Zärtlichkeiten und erotischer Nähe nimmt nach einem Schlaganfall erheblich ab, ebenfalls die Dauer von Vorspiel und Geschlechtsverkehr (Sjörgen et al. 1983). Die Mehrzahl der weiblichen und männlichen Patienten schildert eine Appetenzminderung, eine deutlich reduzierte Koitusfrequenz und jeweils etwa die Hälfte einen verzögerten oder ausbleibenden Orgasmus (Giaquinto et al. 2003). In wei-
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434
Kapitel 28 · Sexualität bei chronischen neurologischen Erkrankungen
teren Studien werden Erektionsbeeinträchtigungen mit einer Häufigkeit von 50–65% angegeben (Aloni et al. 1993, Boldrini et al. 1991, Monga et al. 1986, Sjörgen et al. 1983). Neben einer verminderten Erektionsfähigkeit berichten Männer nach einem Schlaganfall gehäuft über eine sekundäre Ejaculatio praecox (Boldrini et al. 1991, Bray et al. 1981). Frauen schildern dagegen in 25–50% der Fälle eine verminderte Lubrikation (Aloni et al. 1994, Monga et al. 1986). Sexuelle Beeinträchtigungen wie 4 Appetenzverlust, 4 Abnahme der Koitusfrequenz, 4 Erregungs- und Orgasmusschwierigkeiten sowie 4 Abnahme der sexuellen Zufriedenheit
28
sind ebenfalls bei Patienten ohne oder mit nur geringen sonstigen Funktionseinschränkungen zu beobachten (Cheung 2002). Bereits die Befürchtung negativer Folgen eines Schlaganfalls für die Sexualität kann dann zu tatsächlichen Funktionsschwierigkeiten führen. Umgekehrt äußern sowohl Patient als auch Partner die Befürchtung, die sexuelle Aktivität könne einen erneuten Schlaganfall auslösen (Giaquinto et al. 2003). Patienten und Partner vertreten mitunter die Ansicht, ein Sexualleben stehe nur gesunden Menschen zu. Die Mehrheit der Partner berichtet, dass sie nicht mit einer kranken Person Sex haben wollen und beschämt seien, ihren behinderten Partner nackt zu sehen, was sie wiederum davon abhalte, sexuelle Aktivitäten überhaupt erst aufzunehmen (Giaquinto et al. 2003). Die partnerschaftliche Kommunikation kann zusätzlich durch eine Aphasie wie auch kognitive Defizite beeinträchtigt sein und somit der Vermittlung psychosozialer Grundbedürfnisse von Nähe, Geborgenheit und Zuneigung entgegenstehen. Ein Drittel der Patienten zeigen etwa 3 Monate nach dem Schlaganfall Symptome emotionaler Instabilität. Ein Zusammenhang mit abnehmender sexueller Appetenz und Koitusfrequenz wird vermutet (Choi-Kwon u. Kim 2002). Motorische Defizite und Inkontinenz können ebenfalls die partnerschaftliche Sexualität beeinträchtigen. Vormals erotische Zonen verlieren aufgrund sensibler Defizite an Bedeutung für die sexuelle Stimulierung. Bei halbseitigen Wahrnehmungsstörungen (Hemineglect) wird der Partner bei Aufenthalt auf der betroffenen Seite zudem nicht wahrgenommen.
Beratung und Therapie Motorische und sensible Defizite können das Erlernen alter-
nativer Sexualpraktiken und die Entdeckung neuer erogener Zonen erfordern. Die antihypertensive Medikation bei Patienten mit Schlaganfall beeinträchtigt zusätzlich die Erektionsfähigkeit und im Falle von Beta-Blockern ebenfalls die sexuelle Appetenz. Bei Beratungsgesprächen sind mangelndes Wissen über Sexualität im Zusammenhang mit Schlaganfall, Stereotypien, sexuellen Mythen und verzerrte Auffassungen zu beachten.
28.7.8
Diabetische Polyneuropathie
Die Häufigkeit von Erektionsstörungen ist bei Patienten mit Diabetes (Khatibe et al. 2006, Smith 1981) deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung (Feldman et al. 1994, Schäfer et al. 2003) und nimmt mit dem Alter überproportional zu. Bei ca. 12% der männlichen Personen mit einem Diabetes mellitus ist eine Erektionsstörung das erste Symptom der Erkrankung (Terhorst 1992). Sie kann bei ausgeglichener Stoffwechsellage remittieren und bei schlechter erneut auftreten. Bei den meisten Patienten setzen die Erektionsstörungen allmählich mit nachlassender Rigidität ein und können innerhalb von 6–12 Monaten in einen vollständigen Verlust der Erektion übergehen. Die Ejakulationsfähigkeit kann trotz unvollständiger Erektion erhalten bleiben (Zettl u. Hartlapp 1997), jedoch verbunden mit dem erhöhtem Risiko einer retrograden Ejakulation (Fedele 2005). Pathophysiologisch wird von einer kombinierten Neuround Vaskulopathie (Stief et al. 1997) sowie einer Abnahme der Stickoxidkonzentration in den Endothelzellen ausgegangen (Aring et al. 2005, Brodsky et al. 2001). Eine erhöhte Reizschwelle führt u.a. dazu, dass nur noch durch eine intensive sexuelle Stimulation eine Erregung aufgebaut oder ein Höhepunkt erlangt werden kann. Im Gegensatz zu Männern scheinen bei Frauen 4 Alter, 4 Krankheitsdauer und 4 Stoffwechsellage weniger eindeutig mit sexuellen Funktionsstörungen zu korrelieren. Häufig werden jedoch verminderte sexuelle Appetenz, Erregungsstörungen und sekundäre Anorgasmie berichtet (Muniyappa et al. 2005). Patientinnen mit komplikationsreichem Krankheitsverlauf leiden häufiger an sexuellen Funktionsstörungen (Enzlin et al. 1998, 2002). Eine Anorgasmie entwickelt sich i.d.R. schrittweise über mehrere Jahre (Jensen 1981). Verminderte genitale Sensibilität und Lubrikation sowie vaginale Infektionen können zu Schmerzen beim Geschlechtsverkehr führen und so die Entwicklung sexueller Lustlosigkeit bzw. sexueller Aversion unterstützen. Überdies wird ein Zusammenhang zwischen verminderten Testosteron- und Östrogenwerten als Folge der Erkrankung und sexuellen Funktionsstörungen vermutet (Muniyappa et al. 2005). Frauen mit Typ-I-Diabetes sind signifikant häufiger von sexuellen Funktionsbeeinträchtigungen (71%) betroffen als Frauen mit Typ-II-Diabetes (42%) (Doruk et al. 2005). Erstere scheinen jedoch keine verminderte Fruchtbarkeit aufzuweisen, trotz 4 späteren Beginns der Menarche, 4 früher einsetzender Menopause und 4 häufigerer Menstruationsunregelmäßigkeiten (Zarzycki u. Zieniewicz 2005). Bei beiden Geschlechtern kann eine Diabetes assozierte Blasenfunktionsstörung die Sexualität beeinträchtigen. Diese ist gekennzeichnet durch verminderte Sensibilität der Blase,
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vermehrtes Blasenvolumen und dadurch bedingt verminderte Kontraktilität des Detrusors (Fedele 2005).
Beratung und Therapie Die Grunderkrankung ist vorrangig zu behandeln, und eine ausgeglichene Stoffwechsellage ist anzustreben (Aring et al. 2005). Sexuelle Funktionsstörungen nehmen dennoch häufig einen progredienten Verlauf. Die sexualmedizinischen Interventionen unterscheiden sich in ihren Grundzügen nicht von der Behandlung anderer Patienten, d.h., dem Paar – und nicht dem einzelnen Patienten – werden therapeutische Optionen angeboten, einschließlich medikamentöser Möglichkeiten (oral: z.B. Sildenafil; als Schwellkörperinjektion: Prostaglandin etc.) bzw. apparativer Hilfen (Vakuumpumpe, Penisprothese): 4 Bei der Verordnung von Phosphodiesterase-5-Hemmern ist zu beachten, dass 5 sie weniger wirksam sind als bei nicht-diabetischen Männern (Safarinejad 2004), 5 die anfängliche Wirksamkeit mittelfristig deutlich abnimmt (Penson et al. 2003) und 5 die Anwendung häufig wegen kardiovaskulärer Begleiterkrankungen eingeschränkt ist. 4 Bei Lubrikationsstörungen sind Gleitmittel und lokale Östrogenpräparate hilfreich. 4 Ggf. ist bei beiden Geschlechtern der Hormonstatus zu überprüfen.
28.8
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Kapitel 28 · Sexualität bei chronischen neurologischen Erkrankungen
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437 28.8 · Literatur
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28
B
Beeinträchtigung von Funktionen, Aktivitäten und Teilhabe Teilhabe Kapitel 29
Angehörige in der Rehabilitation: Beratung – Unterstützung – Perspektiven – 441 J. Pössl, W. Kühne
Kapitel 30
Beschäftigung und berufliche Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma – 459 J.S. Kreutzer, S.R. Demm, L.A. Tylor (Übersetzung: H. Lösslein)
Kapitel 31
Fahreignung J. Küst
– 475
29
Angehörige in der Rehabilitation: Beratung – Unterstützung – Perspektiven J. Pössl, W. Kühne 29.1 Pychosoziale Konsequenzen für Partner und Familien 29.1.1 Familiäre Belastungen durch hirnorganisch bedingte Verhaltensauffälligkeiten – 442 29.1.2 Fehlende Informationen – 442 29.1.3 Rollenveränderungen und Konflikte in den Familien – 443 29.1.4 Probleme von Vätern und Müttern nach einer Hirnschädigung 29.1.5 Probleme von Eltern hirnverletzter Jugendlicher – 444 29.1.6 Soziale Isolierung – 444 29.1.7 Veränderungen im Lebensstandard – 445 29.1.8 Überlastungssymptome bei den Angehörigen – 445 29.1.9 Anpassungsprozesse – 445 29.1.10 Überblick – 446
29.2 Diagnostik 29.2.1 29.2.2 29.2.3 29.2.4
– 442
– 444
– 446
Strukturiertes Gespräch – 446 Fragebögen und Problem-Checklisten – 447 Psychopathometrische Verfahren – 448 Beobachtung der Interaktion zwischen Patient und Angehörigen
29.3 Interventionen für Partner und Familien
– 448
– 448
29.3.1 Grundlegende Aspekte und Ziele der Angehörigenberatung – 448 29.3.2 Angemessene Informationsvermittlung und psychische Stabilisierung – 449 29.3.3 Förderung der Kommunikation zwischen Angehörigen und Professionellen – 450 29.3.4 Einbeziehung der Angehörigen in die Therapien – 452 29.3.5 Angehörigenseminare und -gruppen – 452 29.3.6 Strategien der Verhaltensmodifikation – 453 29.3.7 Unterstützung bei Anpassungs prozessenals langfristigen Lernund Problemlöseprozessen – 453
29.4 Nachsorge
– 454
29.5 Zusammenfassung 29.6 Literatur
– 455
– 455
442
Kapitel 29 · Angehörige in der Rehabilitation: Beratung – Unterstützung – Perspektiven
Aus dem Tagebuch der Ehefrau eines Schlaganfallbetroffenen:
»Ich bin so traurig und habe Angst. R. macht Fortschritte, aber er ist so deprimiert und will sich keine Mühe geben, die kleinste Anstrengung nimmt ihn völlig mit, es ist fast, als wäre ihm alles egal. Ich mache mir solche schrecklichen Sorgen, dass ihn das alles verändert hat, dass er nicht mehr derselbe ist wie vorher. ... Was ist, wenn es nicht besser wird? Was mache ich dann? Wenn es mir gelingt, ihm Mut zu machen, helfe ich ihm damit überhaupt, oder ist es ohnehin sinnlos? Ich bin todmüde und glaube, ich schaffe das alles nicht, und ich habe entsetzliche Angst. Es ist, als ob sich eine Falltür geöffnet hätte und wir alle hineingefallen wären, und jetzt stürzen wir immer tiefer und tiefer hinab. (McCrum 2000)
«
29
»Brain damage is a family affair« schrieb MD. Lezak (1988). Unter dieser Überschrift wies sie darauf hin, welche massiven Veränderungen eine Hirnschädigung plötzlich in die bisherigen Lebensgewohnheiten und Alltagsabläufe von Familien bringen kann. Eine Hirnschädigung betrifft nicht nur den Patienten, sondern beeinflusst die ganze Familie. Für die Angehörigen beginnt eine Zeit langfristiger Belastungen. Sie schwanken zwischen Hoffen und Bangen, Angst und Zuversicht, haben viele offene Fragen.
»Hinter fast jedem chronisch kranken oder behinderten Menschen stehen kompetente, hilfreiche, oft aber auch erschöpfte, überforderte und verunsicherte Angehörige.« (von Kardorff u. Schönberger 2005) Die Belastungen der Familien während des oft langen Weges der Rehabilitation zu vermindern ist eine anspruchsvolle Aufgabe für Professionelle. Diese Aufgabe ist nach Überzeugung der Autoren lohnend und herausfordernd zugleich. Sicherlich gibt es keine Patentrezepte. Dafür sind Familien, ihre Mitglieder und Strukturen zu unterschiedlich und die individuellen Folgen einer spezifischen Hirnschädigung zu vielfältig. Aus vorliegenden Studien und eigenen langjährigen Erfahrungen in der Arbeit mit Angehörigen sollen aber einige Hinweise und Empfehlungen gegeben werden. Dabei beziehen sich die Autoren meist auf die Angehörigen von Menschen mit Schädel-Hirn-Trauma oder Schlaganfall.
29.1
Pychosoziale Konsequenzen für Partner und Familien
29.1.1
Familiäre Belastungen durch hirnorganisch bedingte Verhaltensauffälligkeiten
In den ersten Wochen und Monaten steht für die Angehörigen häufig die Sorge um die körperliche Verfassung des Patienten im Vordergrund, z.B. bei 4 Beeinträchtigungen in den Alltagsaktivitäten, 4 Körperpflege und Ernährung, 4 reduzierter Mobilität und
4 Notwendigkeit von Hilfsmitteln wie Rollstuhl mit resultierenden Anpassungen der Wohnsituation etc. Im langfristigen Verlauf werden meist kognitive Leistungseinbußen, emotionale Veränderungen und resultierende Verhaltensprobleme, z.B. 4 Aggressivität, 4 Depression, 4 Antriebsmangel, 4 mangelndes Taktgefühl, 4 unvorhersehbare und rasche Stimmungsschwankungen, als die größere Belastung erlebt. Die psychischen Auffälligkeiten und Persönlichkeitsveränderungen, die nach einer Schädigung des Gehirns auftreten können, stellen die Angehörigen vor eine Vielzahl von Problemen (Brooks u. McKinlay 1983, Jungbauer et al. 2003, Kreutzer et al. 1994, Marsh et al. 1998, Peters et al. 1990, Ponsford et al. 2003, Tarter 1990). Manche Angehörige berichten, keinen emotionalen Zugang zu ihrem hirngeschädigten Partner mehr zu finden. Häufig wird ein egozentrisches oder wenig einfühlsames Verhalten der Patienten beschrieben. Diese erkennen oder berücksichtigen kaum mehr die Bedürfnisse und Belastungen ihrer Angehörigen (fragen z.B. nicht mehr nach deren Befinden). Einige Patienten zeigen dependente oder regressive Verhaltensweisen. Bei manchen Patienten kommt eine reduzierte Frustrationstoleranz oder eine gesteigerte Reizbarkeit hinzu, was sich in plötzlichen Wutausbrüchen oder raschen Stimmungswechseln äußert. »Kritik verträgt er nicht mehr, er nimmt alles sofort persönlich und reagiert darauf, indem er den anderen einfach generell schlecht macht. Zudem ist er seit dem Unfall mit einer gewissen Sturheit ausgestattet«, äußert eine Ehefrau. Soziale Verhaltensauffälligkeiten verändern die Beziehung völlig und können für die Angehörigen zu peinlichen Situationen führen (z.B. durch enthemmtes und impulsives Handeln, Distanzlosigkeit, sexuelle Anzüglichkeiten). Viele Familienmitglieder reagieren darauf mit Scham, Rückzug oder Wut. Besonders die Unvorhersehbarkeit des Verhaltens und die Instabilität der Emotionen verunsichern und zermürben viele Angehörige langfristig (Müller 2009, Wood et al. 2005). »In den ersten Monaten der Reha war ich einfach froh über jeden sichtbaren Fortschritt. Was mich dann nach seiner Heimkehr aus der Klinik besonders bedrückt hat, das waren seine zunehmende Gereiztheit und seine Ungeduld. Im Beisein von Freunden und Verwandten konnte er sich meist noch zusammenreißen, aber wenn wir alleine waren, dann wurde er oft laut und ungerecht zu mir. Damit konnte ich überhaupt nicht umgehen, so war er auch vor dem Unfall nicht gewesen«, berichtet die Partnerin eines Schädel-HirnVerletzten.
29.1.2
Fehlende Informationen
Die nicht direkt und beständig sichtbaren mentalen Folgen einer Hirnschädigung sind für die Angehörigen und für viele andere Personen im privaten oder beruflichen Umfeld des
443 29.1 · Pychosoziale Konsequenzen für Partner und Familien
Patienten schwierig zu verstehen und einzuordnen (Lenz u. Jungbauer 2008, Willer u. Linn 1993). Wenn keine körperlichen Einschränkungen (mehr) erkennbar sind, ist es besonders irritierend für die Umgebung, wenn die betroffene Person überraschend anders handelt oder reagiert als zuvor. Die Familie benötigt verständliche Informationen über die alltagsbezogenen Auswirkungen der individuellen Hirnschädigung und ihren Zusammenhang mit der Verletzung oder Erkrankung (DePompei u. Zarski 1989, McMordie et al. 1991). Ansonsten kann es zu Fehlinterpretationen, Vorwürfen oder überhöhten Erwartungen kommen. Beispiel Gedächtnisstörungen werden als fehlendes Bemühen und Unzuverlässigkeit bewertet, Antriebsminderungen mit einer mangelnden Anstrengungsbereitschaft verwechselt.
Den Angehörigen ist oft nicht klar, dass auch die Aufnahme von aktuellen Alltagsinformationen, das Lernen neuer Sachverhalte oder das Planen von Handlungen erschwert sein können. Bei Patienten mit Sprachstörungen wird deren kognitives Leistungsniveau von den Angehörigen oft unterschätzt. Die Patienten erleben dies häufig als kränkend, fühlen sich gleichzeitig ohnmächtig und unverstanden, was ihrerseits zu wütenden oder aggressiven Reaktionen führen kann. Fazit Insgesamt ist der Informationsbedarf der Angehörigen oft höher als von den Professionellen vermutet. Die Art, Menge und Aktualität der Informationsvermittlung verlangt von den Mitarbeitern große Flexibilität und Einfühlungsvermögen hinsichtlich des aktuellen Wissensbedarfs und der emotionalen Verarbeitungsfähigkeit der jeweiligen Familienmitglieder.
29.1.3
Rollenveränderungen und Konflikte in den Familien
Häufig kommt es zu bedeutsamen Veränderungen der Rollenverteilung innerhalb der Familien nach der Hirnschädigung eines Mitglieds (Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e.V. 2008, Gan u. Schuller 2002, Gosling u. Oddy 1999, Jungbauer et al. 2003, Leathem et al. 1996). Viele Alltagsaufgaben, die der Erkrankte aktuell (und evt. auch langfristig) nicht mehr bewältigen kann, müssen neu verteilt werden. Oft übernehmen die Angehörigen (zumindest zeitweise) die volle Verantwortung für finanzielle und rechtliche Angelegenheiten. Sie erleben dies meist als Belastung oder sogar Überforderung, einige jedoch auch als Herausforderung und Kompetenzerweiterung. Die Patienten selbst geraten dabei aber in eine stärker passiv-abhängige (Zuschauer-) Rolle, die für viele zuvor aktive oder dominante Personen schwer auszuhalten ist. Vielfältige Spannungen können die Folge sein, wenn die veränderte Rollenverteilung nicht als eine notwendige und sinnvolle funktionale Anpassung akzeptiert werden kann. Dass diese rationale Sichtweise gerade
bei hirngeschädigten Patienten mit einer unzureichenden Einsicht in ihre Situation zunächst oft fehlt und erst schrittweise erarbeitet werden muss, darauf sei bereits an dieser Stelle hingewiesen. Näher betrachtet Studien: Belastung der Partnerinnen vs. Belastung der Mütter von Hirnverletzten In einigen Studien wurde gefunden, dass Partnerinnen von Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma stärker belastet sind als Mütter (oder Väter) hirnverletzter Jugendlicher (Perlesz et al. 1999, Verhaeghe et al. 2005). Als Ursache wird angenommen, dass Mütter bzw. Eltern die aus früheren Jahren vertraute Rolle als Betreuer wieder aktivieren, Eheleute jedoch mit einer neuen Rollenvermischung zwischen Helfer und Partner konfrontiert sind. Außerdem können sich die Eltern gegenseitig unterstützen, während Ehepartner ggf. die Verantwortung für die Familie plötzlich alleine tragen müssen. Andere Untersuchungen konnten jedoch keine markanten Unterschiede in der Ausprägung der Belastung zwischen Ehefrauen und Müttern von Hirnverletzten innerhalb des ersten Jahres finden (Ponsford et al. 2003).
Besonders bei einer traditionellen Verteilung der Aufgaben können Belastungen auftreten, wenn der »Ernährer« der Familie aus dem Berufsleben ausscheiden muss und dann keine andere aktive Rolle in der Familie mehr ausfüllt. Gan et al. (2006) beschreiben, dass die Hirnverletzung einer Ehefrau oder Mutter eine größere Belastung bzw. Irritation für das Familiensystem bewirke als wenn der Mann betroffen sei. Durchgängig zeigen die Untersuchungen, dass sich das familiäre Zusammenleben nach einem Hirntrauma oder Schlaganfall schwieriger gestaltet und die Zufriedenheit mit der Partnerschaft abnimmt (Gan et al. 2006, Hämmerling u. Wendel 2006, Kravetz et al. 1995, Peters et al. 1990). Dies gilt in besonderem Maße auch für die Initimität und Sexualität (7 Kap. 28). Verschiedene Studien (Tate et al. 1989, Thomsen 1984, Wood u. Yurdakul 1997) berichten von einer überdurchschnittlichen Scheidungsrate nach einem SchädelHirn-Trauma (bis zu 80%), andere bestätigen diese Daten jedoch nicht (Florian u. Katz 1991). Häufig erleben die Angehörigen starke Ambivalenzen, z.B. Zuneigung zum Patienten und gleichzeitig Distanz wegen seiner Veränderungen. Lezak (1978) beschreibt eindrücklich das moralische Dilemma zwischen 4 dem Pflichtgefühl gegenüber dem behinderten Ehepartner einerseits und 4 dem Wunsch nach Verwirklichung eigener Bedürfnisse andererseits. Sie weist auf die Gewissenskonflikte und die Sorge vor sozialer Stigmatisierung bei denjenigen Partnern hin, die eine Trennung in Erwägung ziehen. Bei älteren Ehepaaren scheint die Beziehung den Belastungen nach einem Schlaganfall eher standzuhalten (Evans et al. 1994, Hämmerling u. Wendel 2006). Je länger die Beziehung bereits besteht, desto wahrscheinlicher ist ein Zusammenbleiben der Partner.
29
444
Kapitel 29 · Angehörige in der Rehabilitation: Beratung – Unterstützung – Perspektiven
29.1.4
Probleme von Vätern und Müttern nach einer Hirnschädigung
Die Erziehung von Kindern stellt für viele Personen mit einer Hirnverletzung eine große Schwierigkeit und oft eine Überforderung dar (Lenz u. Jungbauer 2008, Verhaeghe et al. 2005). Einige können die Erziehung nicht mit der notwendigen Konsistenz und Flexibilität steuern, 4 reagieren einerseits schnell gereizt und unberechenbar, 4 andererseits rigide und nicht umsichtig genug.
29
Die Kinder sind dann irritiert und verstehen das inkonsistente Verhalten nicht. Der Status und die Autorität des betroffenen Elternteils werden dadurch beschädigt. Der gesunde Elternteil gerät in eine schwierige Vermittlerposition, um für die Bedürfnisse der Kinder und für die Position des Partners eine neue lebbare Form zu entwickeln. Dies ist jedoch nicht immer möglich und zumutbar. Gerade bei Familien mit kleinen oder noch schulpflichtigen Kindern sind im langfristigen Verlauf vermehrt Trennungen der Partner zu beobachten. Die Trennung erfolgt oft erst mehrere Jahre nach der Hirnschädigung, wenn deutlich wird, dass die Beeinträchtigungen entgegen der anfänglichen Hoffnung als bleibende Behinderung angesehen werden müssen und die daraus resultierenden Belastungen für die Familie nicht mehr tragbar sind.
29.1.5
Probleme von Eltern hirnverletzter Jugendlicher
Viele junge Patienten sind nach einer meist unfallbedingten Hirnverletzung (wieder) stark auf die Unterstützung durch ihre Eltern angewiesen. Die Heranwachsenden befinden sich dabei in dem Dilemma, 4 einerseits mehr Hilfe von den Eltern zu benötigen, 4 andererseits jedoch so weit wie möglich (wieder) selbstständig werden zu wollen. Sowohl für die Eltern als auch für die Jugendlichen passen aber nun die sonst üblichen Vergleichsmodelle, z.B. 4 »Wie machen es denn andere Familien?« oder 4 »Was hat sich bei den älteren Geschwistern bewährt?«, und die Maßstäbe der »normalen« Entwicklung von Jugendlichen nicht mehr zuverlässig, die zuvor als Referenzen für eigenes Handeln genutzt wurden. Daraus resultiert eine Verunsicherung bei den Eltern, wieviel Unterstützung oder Schutz notwendig ist, und was der Betroffene selbständig bewältigen kann: 4 »Kann ich unserem Sohn wieder eigene Unternehmungen mit dem Fahrrad, Sport und Ausflüge mit Freunden, Reisen etc. zutrauen?« 4 »Wo stecken Gefahren, die er selbst nicht erkennt?« 4 »Bin ich zu vorsichtig oder überbehütend?«
Gleichzeitig können Konflikte mit den verletzten Jugendlichen entstehen, die das Gleiche tun wollen wie die Gleichaltrigen, es aber verletzungsbedingt nicht mehr können oder dürfen (z.B. Moped oder Auto fahren, Alkohol trinken). Probleme und persönliche Erfahrungen von schädelhirnverletzten Jugendlichen bei der Suche nach individuellen Lösungen ihres Dilemmas werden bei Schneider et al. (1993) anschaulich dargestellt. Bei hirnverletzten Jugendlichen machen sich die Eltern häufig zusätzlich Vorwürfe, die Erziehung der Geschwister zu vernachlässigen, und die Geschwister ihrerseits entwickeln ähnliche Ambivalenzkonflikte. Bereits das Offenlegen dieser Konflikte und das Einbeziehen der Geschwister in das Gespräch können helfen, die Angehörigen von dem moralischen Dilemma, das mit diesen Fragen verbunden ist, zu entlasten.
29.1.6
Soziale Isolierung
Ein häufiges Problem bei allen Erkrankungen und Verletzungen des Gehirns stellt langfristig die soziale Isolierung der betroffenen Familien dar (Kreutzer et al. 1990, Thomsen 1984). Oftmals ziehen sich Freunde und Bekannte nach anfänglichem Mitgefühl und Interesse wieder zurück, besonders wenn emotionale Beeinträchtigungen offenkundig werden oder der Umgang mit dem Erkrankten zu schwierig oder unangenehm für sie wird. Diese Entwicklung wird durch Verhaltensauffälligkeiten des Patienten (z.B. Impulsivität, Distanzlosigkeit gegenüber Besuchern) und Einbußen in der Kommunikationsfähigkeit (Sprach- und Sprechstörungen, Konzentrationsprobleme im Gespräch etc.) verstärkt. Wenn Patienten tagsüber betreut werden müssen oder viel pflegerische Unterstützung benötigen, fehlt den Angehörigen oft die Zeit und Energie, bisherige Kontakte zu erhalten oder neue aufzubauen. Manchmal vermeiden Familien auch aktiv Außenkontakte, weil sie andere nicht mit ihrer Situation belasten wollen oder schlechte Erfahrungen gemacht haben (z.B. Vorwürfe und Unverständnis von Bekannten). Die Kernfamilie rückt dagegen oft enger zusammen. Wenn es den Angehörigen gelingt, sich trotz der Belastungen eigene Freiräume zu erhalten und die Aufrechterhaltung von Freundschaften zur psychischen Stabilität der ganzen Familie zu nutzen, ist dies langfristig hilfreich. Wenn dagegen die Teilnahme am »Leben draußen« immer mehr verkümmert, fallen damit auch Entlastungsmöglichkeiten und Lernchancen weg. Selbsthilfegruppen können der Gefahr der Isolierung zumindest teilweise entgegenwirken und gegenseitige Unterstützung und sozialen Austausch bieten. Angehörige können ermutigt werden, eine Selbsthilfegruppe zu initiieren, wenn es in ihrer Region bislang keine gibt.
445 29.1 · Pychosoziale Konsequenzen für Partner und Familien
Praxistipp Konkrete Unterstützung erhalten Angehörige u.a. von 4 SEKON, den Selbsthilfekontaktstellen, oder 4 NAKOS, der nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (www.nakos.de). Auch das Internet bietet zunehmend Kontaktmöglichkeiten und fachlichen Austausch unter Betroffenen, z.B. 4 www.schlaganfall-hilfe.de 4 www.hannelore-kohl-stiftung.de 4 www.forum-gehirn.de 4 www.schaedel-hirnpatienten.de 4 www.not-online.de 4 www.fragile.ch 4 www.sht-lobby.at
29.1.7
Veränderungen im Lebensstandard
Bei berufstätigen Patienten ist nach einer schweren Erkrankung oder Verletzung des Gehirns eine Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit gefährdet. Selbst wenn der Wiedereinstieg gelingt, muss meist mit einer Verringerung des beruflichen Leistungsvermögens und mittelfristig des beruflichen Status gerechnet werden. Damit sind finanzielle Einbußen und ein Verlust an Lebensstandard für die gesamte Familie verbunden (7 Kap. 30, McMordie u. Barker 1988). Zur Minderung des Einkommens kommen oft noch Kosten für die Patientenbetreuung hinzu (Medikamente, Arzt- und Pflegekosten, Umbau der Wohnung etc.). 29.1.8
Überlastungssymptome bei den Angehörigen
Die langfristigen Belastungen können zu einer chronischen Überforderung der Angehörigen führen, die sich in depressiven, ängstlichen oder psychovegetativen Symptomen äußern kann, z.B. 4 Kopfschmerzen, 4 ständige Müdigkeit, 4 Bluthochdruck und 4 Schlafstörungen. Ferner wird die Anfälligkeit für körperliche Erkrankungen erhöht. 29.1.9
Anpassungsprozesse
Die Auseinandersetzung der Angehörigen mit den psychosozialen Konsequenzen einer Hirnschädigung in ihrer Familie versuchten einige Autoren ähnlich einer individuellen Krankheitsverarbeitung in Phasen zu beschreiben (z.B. Schock, Verleugnung, Depression, Anpassung). Lezak (1986) schildert den Anpassungsprozess in sechs Phasen ohne nähere Zeitangaben:
Näher betrachtet Untersuchungen: Belastung der Angehörigen Noch immer gültig sind die Ergebnisse von Brooks (1991), der zeigte, dass auch 7 Jahre nach dem Ereignis der Hirnverletzung bei der überwiegenden Mehrzahl der untersuchten Angehörigen (89%) eine hohe Belastung festzustellen war. Ein Viertel der Angehörigen litt unter einer depressiven oder ängstlichen Symptomatik und benötigte psychologische Beratung oder Therapie. Der Anteil von Angehörigen mit einer behandlungsbedürftigen Depression oder anderen Überlastungssymptomen betrug auch in anderen Studien 25–50% (Gervasio u. Kreutzer 1997, Gillen et al. 1998, Kreutzer et al. 1994, Marsh et al. 1998, Mintz et al. 1995). Ähnliche Ergebnisse erbrachten Untersuchungen zur Situation der Angehörigen von Schlaganfallpatienten (Anderson et al. 1995, van Heugten et al. 2006, Jönnsson et al. 2005, Stein et al. 1992, Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe 2006, Williams 1993). Als besondere Risikofaktoren wurden identifiziert: 4 Hilfsbedürftigkeit bzw. Abhängigkeit der Patienten, 4 Alter der Betroffenen und 4 fehlende Unterstützung durch weitere Familienmitglieder (McCullagh et al. 2005). Gefährdet sind auch jene Familien und ihre Mitglieder, die starr an früheren (Leistungs-)Maßstäben sowie Lebenszielen festhalten und dabei wenig Flexibilität in Richtung einer Adaptation an das nicht rückgängig zu machende Hirnschädigungsereignis entwickeln. Kritische Entwicklungen werden darüber hinaus bei bereits prämorbid bestehenden psychischen Beeinträchtigungen bei Familienmitgliedern (z.B. Persönlichkeitsstörungen, Suchtmittelabhängigkeiten, affektive Störungen) und konfliktreichen Interaktionsmustern in der Familie beobachtet. Bei der großen Mehrzahl der betroffenen Familien handelt es sich jedoch nicht um psychisch labile Personen bzw. um problematische Beziehungen, sondern um Menschen, die plötzlich Belastungssituationen ausgesetzt sind, bei denen die bisher üblicherweise angewandten Bewältigungsstrategien nicht mehr funktionieren.
4 Phase I: Wenn nach der anfänglichen existenziellen Un-
gewissheit auf der Intensivstation das Überleben des Patienten ärztlicherseits als gesichert gilt, sei die Familie sehr erleichtert. 4 Phase II: Die langsame oder nur teilweise Rückbildung der Störungen erzeuge dann aber Unsicherheiten und Zukunftsängste. 4 Phase III/IV: Wenn längerfristig Fortschritte ausbleiben, können sich zunehmend Entmutigung, Verzweiflung und depressive Verstimmungen einstellen (»Schock einer enttäuschten Hoffnung auf Wiederherstellung von Normalität«). 4 Phase V/VI:Die bleibenden Beeinträchtigungen beim Patienten zwängen die Angehörigen schließlich zur Trauerarbeit (V), welche eine Neuorganisation der familiären Verhältnisse ermöglichen könne (VI). Diese letzte Stufe einer gelungenen Anpassung werde allerdings nicht immer erreicht.
29
446
Kapitel 29 · Angehörige in der Rehabilitation: Beratung – Unterstützung – Perspektiven
Solche Phasenmodelle verdeutlichen die Komplexität und die zeitliche Ausdehnung psychischer Reaktionen der Angehörigen auf kritische Ereignisse. Sie entsprechen jedoch keineswegs durchgängig den individuellen Verarbeitungsmustern, vor allem nicht hinsichtlich der postulierten Abfolge. In der Praxis ist immer wieder zu sehen, wie unterschiedlich die Familien reagieren. Ihre Reaktionen können auch kurzfristig, d.h. von Tag zu Tag oder von Woche zu Woche variieren, sich wiederholen oder persistieren. Kritische Anmerkungen zu den Phasenmodellen und Überlegungen zu ihrer Weiterentwicklung finden sich bei Rape et al. (1992). > Vonseiten der Autoren wird dafür plädiert, sehr aufmerksam und offen für die große Reaktionsvielfalt der Familien zu bleiben anstatt diese (künstlich) in Phasenmodelle einordnen zu wollen.
29
Von Kardorff und Schönberger (2005) weisen darauf hin, dass Angehörige bei der Bewältigung der neuen Lebenssituation primär auf eigene und familiäre Vorerfahrungen mit Krankheiten und Krisen zurückgreifen. Diese sehr unterschiedlichen lebensgeschichtlich erworbenen Haltungen, Kompetenzen und Lösungsmuster sind für die familiären Anpassungsprozesse wohl von entscheidender Bedeutung. Diese gilt es zu erfragen, zu erkennen, zu berücksichtigen und evt. zu
erweitern. In . Übersicht 29.1 sind die häufigsten psychosozialen Belastungen für Angehörige zusammengestellt.
29.1.10
Überblick
. Tab. 29.1 gibt einen Überblick über Literaturbeiträge, die
die typischen Belastungen für Angehörige bei spezifischen Erkrankungen eines Familienmitglieds zusammenfassen und auf notwendige Themen der Angehörigenberatung verweisen.
29.2
Diagnostik
29.2.1
Strukturiertes Gespräch
Unter den Zeitbeschränkungen der klinischen Praxis bildet oftmals ein strukturiertes Gespräch mit Patient und/oder Angehörigen das initiale Vorgehen, um die jeweiligen familiären Bedingungen zu erfassen und einen ersten Eindruck von den vorhandenen Problemen und Ressourcen der Angehörigen zu erhalten. Das Gespräch sollte möglichst nicht als Abfragen einer Checkliste erfolgen, sondern den Familien genügend
. Übersicht 29.1. Belastungsfaktoren und Problembereiche für die Angehörigen hirngeschädigter Patienten 1. Schockartige Erlebnisse aus der Akutphase können traumatisierend wirken (z.B. Nachricht vom Unfall, Ängste um das Überleben eines Nahestehenden, Nichtansprechbarkeit der Patienten, befremdliche Durchgangssymptome, negative Prognosen). 2. Eine Reihe von Defiziten und Störungen (z.B. Verhaltensänderungen, Awarenessprobleme, Neglect, Problemlösestörungen) sind schwer zu verstehen. Der Einfluss der Hirnschädigung auf Probleme bei der Alltagsbewältigung oder auf innerfamiliäre Konflikte ist den Beteiligten zunächst oftmals unklar. 3. Viele Angehörige sind sich über Form und Ausmaß der notwendigen Hilfe für die Betroffenen nicht sicher. Versagens- und Schuldgefühle entstehen, wenn Angehörige glauben, für mangelnde Fortschritte (mit-)verantwortlich zu sein. 4. Im Umgang mit Sprach- und Sprechstörungen fühlen sich viele Angehörige sehr hilflos. Der fehlende oder stark erschwerte verbale Austausch wird als großer Verlust für die Beziehung erlebt. 5. Auf eine erhöhte Reizbarkeit und Aggressivität des Patienten sind die Angehörigen nicht vorbereitet und erleben diese Reaktionen als erhebliche Belastung und Enttäuschung ihrer Anstrengungen. Wesensänderungen (z.B. Antriebsminderungen, Verlust von Interessen, emotionale Indifferenz, unreifes oder unangemessenes Verhalten) bewirken eine Entfremdung zwischen den Familienmitgliedern.
6. Änderungen in der Rollenverteilung oder die Vermischung zwischen Helfer- und Partnerrolle rufen Spannungen hervor. Die erneute Abhängigkeit hirnverletzter Jugendlicher von den Eltern ist konfliktbeladen. 7. Die Übernahme der alleinigen Verantwortung für die Versorgung der Familie überfordert viele Angehörige. Aus der Überlastung können vegetative oder psychosomatische Beschwerden resultieren. 8. Einschränkungen eigener Bedürfnisse und Wünsche führen mit der Zeit zu zunehmenden Frustrationserlebnissen und depressiven Verstimmungen. Gewissenskonflikte entstehen bei der Bewahrung eigener Freiräume, vor allem bei Trennungsabsichten. 9. Neuropsychologische Störungen, psychische Auffälligkeiten und die zeitaufwändige Versorgung bzw. Betreuung der Patienten können zur sozialen Isolierung der gesamten Familie führen. Nach anfänglicher Anteilnahme ziehen sich viele Freunde und Bekannte wieder zurück. 10. Nach einer Hirnschädigung ist die Rückkehr in das Berufsleben oft nicht oder nur noch teilweise möglich. Eventuell ist auch die Berufstätigkeit von Angehörigen gefährdet. Der Verlust an Lebensstandard muss auch psychisch verarbeitet werden. 11. Die Zukunftsperspektiven bleiben lange Zeit unsicher. Pläne oder Erwartungen müssen ggf. revidiert werden. Zukunftsängste nehmen zu.
447 29.2 · Diagnostik
. Tab. 29.1. Literaturbeiträge über typische Belastungen für Angehörige Zielgruppe
Literatur
Angehörige von Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma
Brooks (1991), Florian u. Katz (1991), Perlesz et al. (1999), Williams u. Kay (1990)
Schwierigkeiten in der Alltagsbewältigung für Partner oder Eltern hirngeschädigter Patienten: authentische Schilderungen von Betroffenen
Pössl u. Mai (2002)
Auswirkungen verschiedener neuropsychologischer Störungen und Verhaltensauffälligkeiten auf den privaten Alltag
Goldenberg et al. (2002)
Angehörige von Patienten mit Schlaganfall
Evans et al. (1991), van Heugten et al. (2006), Jungbauer et al. (2003), Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe (2006)
Angehörige von aphasischen Patienten
Dorze und Brassard (1995), Kotten (1996), Pfleiderer u. Bongartz (1995)
Angehörige von ParkinsonErkrankten
Diebel (2006)
Angehörige von dementen Patienten
Gruetzner (1992), Günther et al. (1992)
Angehörige von Patienten mit Huntington-Krankheit
Jarka u. Schütz (1989)
Angehörige von Patienten mit Multipler Sklerose
Henze (2009)
Angehörige von EpilepsieErkrankten
Schmidt (2002)
. Übersicht 29.2. Gesprächsthemen mit den Angehörigen 1.
2.
3.
4.
5.
6.
Kenntnisstand, Beobachtungen und subjektives Erleben der Angehörigen bzgl. der Folgen der Hirnschädigung, z.B.: – Welches sind derzeit die wesentlichen Probleme? – Wie geht es Ihnen mit der aktuellen Situation? Belastungen und Beschwerden der Angehörigen, ihr Umgang mit der/dem Erkrankten, ihre Erwartungen an die Rehabilitation, z.B.: – Was belastet Sie besonders? – Was stärkt Sie/gibt Ihnen Hoffnung? – Welche Ziele haben Sie für die Rehabilitation? – Was sollte im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen? Veränderungen des Familienlebens durch die Auswirkungen der Hirnschädigung, z.B. bzgl. – Kommunikationsmustern und – Rollenverteilungen (prämorbid – jetzt) Wohnsituation, z.B. – behindertengerechte Ausstattung – Lift – Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel – Einkaufsmöglichkeiten Ausmaß und Qualität der sozialen Unterstützung, z.B. durch – andere wichtige Bezugspersonen – aktuelle Nutzung von Hilfsdiensten – Zugang zu externen Unterstützungsquellen Sofern die Informationen nicht vom Patienten oder aus anderen Quellen (z.B. Vorberichten) erhoben werden können: – Ausbildung und Beruf des Patienten? – Freizeitaktivitäten und Hobbies? – Spezifische Interessen? – Begabungen, Stärken, Abneigungen? – Ggf. neurologische oder psychiatrische Vorerkrankungen? – Alkohol- oder Drogengebrauch?
Fragebögen und Problem-Checklisten
Raum geben, um auch ihr subjektives Erleben der Situation mitteilen zu können.
29.2.2
> Die Einbeziehung der Angehörigen in den Rehabilitationsprozess sollte als eine »Ermächtigung zum Sprechen« (Wendel 2005) zusammen mit einer expliziten Würdigung ihrer wesentlichen Rolle für die Rehabilitation vermittelt werden.
Für die häufigsten Probleme, mit denen die Angehörigen hirngeschädigter Patienten konfrontiert sind, wurden Checklisten entwickelt, die als Fragebogen oder im Interview einsetzbar sind. Ein Beispiel ist die Problem Checklist im Rahmen des Head Injury Family Interviews (Kay et al. 1995). In der Checkliste sind 43 Items zusammengestellt, die sowohl neuropsychologische Störungen, z.B. 4 Verlangsamung, 4 Ablenkbarkeit, 4 Vergessen, 4 Wortfindungsprobleme etc.
Im Gesprächsverlauf sollten nach Möglichkeit die in . Übersicht 29.2 aufgelisteten rehabilitationsrelevanten Bereiche angesprochen werden (vgl. Kay et al. 1995). Selbstverständlich muss darauf geachtet werden, dass der Aufbau einer therapeutischen Beziehung zur betreffenden Familie Priorität hat. Entsprechend sind manche Fragen u.U. erst im späteren Behandlungsverlauf zu stellen.
29
448
Kapitel 29 · Angehörige in der Rehabilitation: Beratung – Unterstützung – Perspektiven
als auch psychische Auffälligkeiten bei den Patienten umfassen, z.B. 4 Reizbarkeit, 4 Ängstlichkeit, 4 Depression.
29
Die Angehörigen sollen jedes Item sowohl nach dem Grad der Ausprägung als auch nach der für sie resultierenden subjektiven Belastung beurteilen. Im deutschen Sprachraum hat sich die Version für Angehörige der Marburger Kompetenz-Skala (MKS) von Gauggel et al. als systematische Erhebungshilfe bewährt. Ähnliche Listen finden sich bei Willer und Linn (1993) oder Serio et. al. (1997). In eine andere Richtung gehen die Items des Caregiver Burden Index (Williams 1993) oder des Questionnaire on Ressources and Stress (Minnes et al. 2000). In beiden Fragebögen werden typische Stressoren aufgelistet wie z.B. 4 Abhängigkeit des kranken Partners, 4 Zukunftssorgen oder 4 Einschränkungen eigener Bedürfnisse. Die Angehörigen werden gebeten, zu beurteilen, ob diese Belastungen auch für sie zutreffen. Einen Überblick über Instrumente, mit denen die Probleme der Angehörigen von Schlaganfallpatienten erfasst werden können, geben Visser-Meily et al. (2005). Fazit Diese standardisierten Listen, die vorwiegend für den Einsatz in Studien entwickelt wurden, geben einen guten Überblick über mögliche relevante Gesprächsinhalte mit den Angehörigen. In der klinischen Praxis ist deren Anwendung aber oft umständlich und nur mit Einschränkungen möglich. Eine Reihe von Fragebereichen trifft nicht oder nur modifiziert auf den jeweiligen Patienten und dessen Angehörige zu. Die Themen sind komplex, erfordern häufiges Nachfragen und lassen sich mit vorgegebenen Antwortkategorien meist kaum erfassen.
29.2.3
Psychopathometrische Verfahren
Für die Diagnostik von depressiven Verstimmungen oder von anderen Befindlichkeitsstörungen bei den Angehörigen werden psychopathometrische Verfahren verwendet, die ursprünglich für Patienten mit psychischen Erkrankungen entwickelt wurden. Als Beispiel sei das Beck-Depressions-Inventar genannt, das in der Studie von Stein et al. (1992) eingesetzt wurde. Als ein mehrere Symptombereiche umfassendes psychiatrisches Inventar seien das Brief Symptom Inventory (Gervasio u. Kreutzer 1997, Kreutzer et al. 1994) oder die Symptom Checklist-90-Revised (Gillen et al. 1998) angeführt. Der Vorteil dieser klinischen Verfahren liegt in ihrer Standardisierung und ihrer Verfügbarkeit als Diagnostikinstrument. Über die Art der Belastung, z.B. 4 Hilflosigkeit in der Kommunikation mit dem aphasischen Partner, 4 Angst vor aggressiven Episoden, 4 Enttäuschung über den Verlust bestimmter Zukunftsperspektiven,
ist damit aber keine Aussage möglich, da der Inhalt der Items auf die Situation von Angehörigen mit chronischen Belastungen durch eine Hirnschädigung in der Familie nur teilweise zutrifft. Schließlich werden Instrumente eingesetzt, die spezifisch auf mögliche Funktionsstörungen von Familien ausgerichtet sind, beispielsweise das Family Assessment Device. Ein Überblick über solche Verfahren findet sich bei DePompei und Zarski (1990). Da die Anwendung dieser Diagnostikverfahren sehr aufwändig ist (z.B. Befragung mehrerer Familienmitglieder), ist es allerdings fraglich, ob sie in der klinischen Praxis Verwendung finden können. Weiterhin erscheint nicht klar, ob die erfassten Störungen der Familienstruktur eine kurzfristige Folge der aktuellen Belastungen sind oder wirklich eine langfristige Änderung repräsentieren. Probleme bereitet auch die Vermischung von Beziehungsstörungen mit spezifischen Interaktionsproblemen, die durch neuropsychologische Beeinträchtigungen auftreten (z.B. Kommunikationsprobleme bei Aphasie).
29.2.4
Beobachtung der Interaktion zwischen Patient und Angehörigen
Beobachtungen im Aufnahmegespräch oder im Rehabilitationsverlauf, wie Patient und Angehörige miteinander kommunizieren und umgehen, können eine wichtige diagnostische Informationsquelle für die nachfolgende Beratung bilden. Daraus lassen sich sowohl Ressourcen als auch ggf. Schwierigkeiten der Familie ableiten, welche für die erfolgreiche Rehabilitation beachtet werden sollten. Um die Interaktion besser zu verstehen und fördern zu können, lassen sich in der Rehabilitation mit Zustimmung aller Beteiligten auch gezielt entsprechende Situationen herstellen. De Langen-Müller und Genal (1996) haben für aphasische Patienten und ihre Angehörigen gezielt kommunikative Szenarien entwickelt, in denen diese unter Anleitung die veränderte Kommunikation üben können. Beobachtungen und Rückmeldungen durch Professionelle werden zur Unterstützung der Kommunikation systematisch genutzt.
29.3
Interventionen für Partner und Familien
29.3.1
Grundlegende Aspekte und Ziele der Angehörigenberatung
Für eine erfolgreiche Rehabilitation ist i.d.R. die aktive Einbeziehung der Angehörigen unverzichtbar. Die persönlichen Kontaktmöglichkeiten zwischen Rehabilitationsteam und Angehörigen können jedoch wegen den manchmal großen Entfernungen und zeitlichen Limitationen auf beiden Seiten sehr begrenzt sein. Mit Einverständnis der Patienten ist aber meist zumindest eine telefonische Kommunikation mit den Angehörigen möglich und hilfreich. Dabei sollten die Professionellen i.d.R. die Initiative ergreifen und aktiv den ersten Schritt auf die Angehörigen zugehen. Damit kann auch ggf.
449 29.3 · Interventionen für Partner und Familien
die Scheu von Angehörigen verringert werden, die unsicher sind, in welchem Umfang ihre Anliegen Inhalt der Rehabilitation sein können. Die Familien sollten ermutigt werden, ihre Ressourcen selbstbewusst zu nutzen, aber auch Fragen, Unsicherheiten und Probleme offen anzusprechen. Die Professionellen benötigen dabei ein hohes Maß an Flexibilität, Einfühlungsvermögen in sehr unterschiedliche familiäre Konstellationen sowie die Fähigkeit, medizinische und psychologische Sachverhalte alltagsnah und verständlich zu vermitteln. Im Wesentlichen werden in der Literatur die in . Übersicht 29.3 aufgeführten Interventionsbereiche beschrieben (Evans et al. 1988, Kreutzer et al. 1990, 2002; Visser-Meily et al. 2005). . Übersicht 29.3. Therapeutische Interventionsbereiche 1.
2.
3. 4. 5. 6. 7.
Informationsvermittlung und Aufklärung der Angehörigen über neurologische und neuropsychologische Störungsbilder mit deren Auswirkungen auf den Alltag, möglichst verbunden mit Empfehlungen zum hilfreichen Umgang damit (z.B. Nutzung von gedächtnisstützenden Hilfen) Beratung (z.B. bzgl. Heben, Lagern oder Inkontinenzversorgung) und organisatorische Unterstützung hinsichtlich der häuslichen Pflege (Buijssen 1996) Sozialrechtliche Beratung Vermittlung von Strategien der Verhaltensmodifikation an die Angehörigen Emotionale Entlastung durch Angehörigengruppen oder individuelle psychotherapeutische Interventionen Familientherapeutische Interventionen oder Methoden einer Paartherapie Vernetzung mit anderen Betroffenen, Selbsthilfegruppen oder Beratungsdiensten in Wohnortnähe
Bei der konkreten Auswahl und individuellen Abstimmung der Interventionen stehen die in . Übersicht 29.4 aufgelisteten Ziele im Vordergrund (Wendel 2005). Die konkrete Vorgehensweise bei der Angehörigenbetreuung hängt sehr von der jeweiligen Rehabilitationsphase ab. . Übersicht 29.4. Ziele der Interventionen für Patient und Angehörige 1.
2.
3.
Förderung von Sicherheit und Stabilität in einer krisenhaften Ausnahmesituation, besonders in Akutphase und Frührehabilitation Einleitung und Unterstützung eines gelingenden adaptiven Arrangements mit den Erkrankungsfolgen: »professionelle Begleitung in eine neue Realität« (Kardorff u. Schönberger 2005), bei einem veränderten Zukunftsentwurf Etablierung eines möglichst hohen Maßes an subjektiv erlebter Handlungsfähigkeit aufseiten der Angehörigen
29.3.2
Angemessene Informationsvermittlung und psychische Stabilisierung
jInformationsvermittlung Während der Akutversorgung und Frührehabilitation sind verständliche Informationen über medizinische Sachverhalte, aktuelle Behandlungen und anvisierte Ziele wesentlich. Durch Transparenz und Offenheit (z.B. Beteiligung der Angehörigen an Teamkonferenzen) wächst das Verständnis der Angehörigen für den Weg der Rehabilitation und ihre eigenen Beteiligungsmöglichkeiten. > Mit Hoffnung nicht sparen! Prognostische Aussagen sollten bei aller Vorsicht und Realitätsnähe unbedingt auch Elemente von Hoffnung enthalten.
Viele Professionelle haben eine Scheu vor (zu) optimistischen Aussagen. So fühlen sich viele Angehörige durch eher skeptische frühe Prognosen mit negativem Inhalt (z.B. wahrscheinlich Pflegefall, bleibende Schwerbehinderung) zusätzlich belastet und in ihren Anstrengungen entmutigt. Manche Angehörige berichten später aber auch über eine Trotzreaktion, z.B.: »Wir wollten uns mit dieser Perspektive nicht abfinden und haben alles daran gesetzt, ein besseres Ergebnis zu erreichen.« Die Informationen der Ärzte und Therapeuten sind ein Angebot, das die Angehörigen natürlich auch ablehnen können. Informationen über voraussichtlich langfristig zu erwartende Beeinträchtigungen werden manchmal von den Familien als Enttäuschung oder Bedrohung ihrer Hoffnungen aufgefasst. Ungünstige Prognosen werden ggf. bekämpft oder als vorzeitiges Aufgeben ihres Angehörigen interpretiert. jPsychische Stabilisierung Angehörigenbetreuung bedeutet in der ersten Zeit vor allen Dingen Krisenbewältigung, die bei Cope und Wolfson (1994) praxisnah dargestellt ist. Priorität haben Maßnahmen, die zur Stabilisierung der Betroffenen beitragen. Bei Beginn rehabilitativer Maßnahmen ist es für viele Familienmitglieder notwendig, die schockartigen Ereignisse der ersten Zeit verarbeiten oder wenigstens darüber sprechen zu können. Zu den belastenden Themen gehören 4 Nachricht vom Unfall oder 4 Selbstvorwürfe, diesen nicht verhindert zu haben; 4 existenzielle Ängste um das Überleben eines Nahestehenden, 4 die befremdlichen Symptome komatöser Zustände, 4 vergebliche Bemühungen, den Dialog wieder aufzunehmen, 4 negative Prognosen. kMaßnahmen für Angehörige In den ersten Wochen kann es für manche Angehörige sehr hilfreich sein, aktiv in die Patientenversorgung einbezogen zu sein, um etwas tun zu können, was den Betroffenen fördert und die erlebte eigene Ohnmacht reduziert. Es kann genügen, mit dem Betroffenen regelmäßig körperlichen Kontakt herzustellen, mit ihm/ihr zu sprechen, etwas vorzulesen oder gemeinsam die bevorzugte Musik zu hören. Anderen Angehöri-
29
450
29
Kapitel 29 · Angehörige in der Rehabilitation: Beratung – Unterstützung – Perspektiven
gen, die z.B. durch tägliche Patientenbesuche überlastet erscheinen, kann es helfen, wenn ihnen klinikfreie Tage ärztlicherseits quasi »verordnet« oder ausdrücklich erlaubt werden (ohne Gewissensbisse). Sie sollten ihre alltäglichen Routinen und bisherigen Interessen zumindest teilweise wieder aufnehmen können, in der Gewissheit, den Patienten gut versorgt zu wissen und über aktuelle Entwicklungen jeweils zeitnah informiert zu werden. Im weiteren Rehabilitationsverlauf rückt die Auseinandersetzung mit den psychosozialen Konsequenzen und die zukünftige Alltagsbewältigung immer mehr in den Vordergrund. Für die Angehörigenbetreuung gilt es deshalb, Wege zu finden, die Familien in ihrer Anpassung an die veränderten Lebensverhältnisse zu unterstützen. Unzutreffende Vorstellungen über den weiteren Verlauf der Wiederherstellung nach einer Hirnschädigung lassen Erwartungen entstehen, deren Nichterfüllung ständige Frustrationserlebnisse zur Folge haben können. Viele Angehörige sehen in der Rehabilitation vorwiegend Trainings- und Übungsprogramme. Nur unzureichend ist ihnen bewusst, dass Rehabilitation auch die Vermittlung von kompensatorischen Strategien umfasst, um mit dem verbliebenen Leistungspotenzial möglichst viel zu erreichen und die Umgebungsbedingungen den Beeinträchtigungen anzupassen. Wenn manche Angehörige auch Jahre nach einer Hirnschädigung große Hoffnungen primär in medizinische Heilungsprozesse setzen, braucht es viel Geschick, sie auch für hilfreiche kompensatorische Problemlösestrategien und notwendige Adaptationsprozesse zu gewinnen. Der zusätzliche Hinweis auf die lebenslange Plastizität des Gehirns eröffnet Zukunftsoptionen, ohne dass daraus ein naiver Optimismus im Sinne eines »Alles ist möglich« abgeleitet wird. > Ein grundlegendes Ziel der Angehörigenberatung ist es, bei den Angehörigen das Verständnis für die rehabilitativen Maßnahmen, deren Zielsetzungen und Grenzen zu verbessern. (Dieser Punkt bleibt in den meisten Beiträgen in der Literatur unerwähnt.)
kPsychologische Betreuung Konkretere Ansatzpunkte für die psychologische Betreuung von Angehörigen, die im Rahmen einer Rehabilitationseinrichtung umgesetzt werden können, ergeben sich aus den Erfahrungsberichten von Partnern bzw. Eltern hirngeschädigter Patienten, die in einem »Ratgeber« zusammengestellt sind (Pössl u. Mai 2002). In der Anspannung der ersten Zeit vergessen viele Angehörige, auf ihre eigene Befindlichkeit zu achten. In der Rehabilitation stehen fast ausschließlich die Beschwerden der Patienten im Mittelpunkt. In dem Bemühen, alles allein meistern zu wollen (oder zu müssen), kümmern sich Angehörige häufig zu spät um Hilfe für sich selbst. Viele befürchten, Verwandten, Freunden oder Klinikmitarbeitern zur Last zu fallen oder Rollenerwartungen nicht gerecht zu werden. Für Angehörige kann es hilfreich sein, sich anhand bestimmter Fragestellungen über die eigene innere Einstellung klarer zu werden (. Übersicht 29.5).
. Übersicht 29.5. Fragestellungen zur inneren Klärung 1. 2. 3. 4. 5.
Welche Hilfe benötigt der Patient tatsächlich von mir? Wie geht es mir persönlich mit der aktuellen Situation? Woraus schöpfe ich selber Kraft? Was hilft mir bzw. was brauche ich in Zeiten von Niedergeschlagenheit und ständiger Überforderung? Wie sieht es mit meinen eigenen Bedürfnissen bzw. Freiräumen aus?
Im Vordergrund der psychotherapeutischen Arbeit stehen 4 familienstützende Beratung, 4 familientherapeutische Interventionen und 4 ggf. auch systemische Kurzzeittherapien. Eine weitergehende psychotherapeutische Behandlung, wie sie von manchen Autoren vorgeschlagen wird (Maitz u. Sachs 1995, Rüger et al. 1992, Stolz 1997), ist aus zeitlichen und personellen Gründen in vielen Rehabilitationskliniken kaum realisierbar. Die Klinik sollte allerdings bei Bedarf zu einer entsprechenden ambulanten Psychotherapie oder Familienberatung in Wohnortnähe motivieren und dann den Kontakt zu geeigneten Therapeuten möglichst konkret vorbereiten und anbahnen. Einige grundlegende Leitlinien für die Beratung sind in . Übersicht 29.6 zusammengefasst.
29.3.3
Förderung der Kommunikation zwischen Angehörigen und Professionellen
Da der Informationsstand der Angehörigen, ihr Umgang mit den Erkrankungsfolgen und ihre Erwartungen an die Professionellen sehr unterschiedlich sind, müssen Fachkräfte in einem gemeinsamen ressourcengesteuerten Dialog individuell passende Lösungswege erarbeiten (von Kardorff u. Schönberger 2005). Angestrebt werden: 4 Erweiterung des Handlungsrahmens für Angehörige, 4 Vermittlung von Orientierung und Sicherheit sowie 4 Unterstützung bei der gezielten Suche nach passenden Informationen und Hilfen. Auch existenzielle Fragen der Angehörigen, z.B. 4 »Was wird aus meinem Leben?« 4 »Wie kann ich emotional mit dieser Behinderung meines Familienmitglieds einen Weg finden?«, können zum Thema werden und sollten »erlaubt« sein. Für die in der Rehabilitation Tätigen bedeutet der Dialog mit den Angehörigen eine inhaltliche und zeitliche Herausforderung. Auf prognostische Fragen, z.B. 4 »Wie lange dauert es noch?« 4 »Was ist wieder erreichbar?«,
451 29.3 · Interventionen für Partner und Familien
. Übersicht 29.6. Ansatzpunkte für die Angehörigenbetreuung 1. Förderung des Verständnisses für die Rehabilitation als Lernprozess: Lernen bedeutet nicht nur Training, sondern auch Anpassung an bleibende Beeinträchtigungen 2. Aufklärung über die Auswirkungen neuropsychologischer Störungen auf den Alltag; Beseitigung von Missverständnissen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit bzw. der Einbußen 3. Beschreibung möglicher Veränderungen im Erleben und Verhalten nach einer Hirnschädigung; Entwicklung passender Reaktionen und Abbau dysfunktionaler Antworten aufseiten der Angehörigen 4. Ursachen für Aggression und Reizbarkeit aufseiten der Betroffenen besprechen (z.B. Überforderung, Erschöpfung, Bevormundungen, ständiges Korrigieren) 5. Anleitung der Angehörigen, eine möglichst konstante Alltagsstruktur sicherzustellen, da Planbarkeit und Vorhersehbarkeit von Abläufen die psychische Stabilität der Verletzten oft fördern und zur Entspannung des Familienlebens beitragen 6. Erarbeitung von Strategien, die Selbständigkeit der Betroffenen zu bewahren; Risiko bei der Vergrößerung des Handlungsspielraums ausreichend klein halten, aber nicht pauschal verhindern 7. Relativierung der einseitigen Beziehung »Helfer– Hilfebedürftiger« und der Schonhaltung gegenüber den Betroffenen; Klärung der Frage, ob bestimmte Hilfestellungen noch notwendig sind 8. Problematisierung der Therapeutenrolle, die von den Angehörigen oftmals zu unkritisch übernommen wird 9. Befinden der Angehörigen zum Thema machen; Ermutigung geben, über eigene Sorgen, Beschwerden und Enttäuschungen zu sprechen; auch negative Gefühle gegenüber den Betroffenen »erlauben« 10. Hilfe bei der Organisation von Unterstützung für die Angehörigen: Gibt es Ressourcen, die bisher nicht genutzt wurden? Sind Bedenken gegenüber fremder Hilfe vorhanden? 11. Ansätze für einen Freiraum der Angehörigen erarbeiten; Gewissenkonflikte zum Thema machen 12. Bewältigung des Alltags als gemeinsamen Lernprozess aller Familienmitglieder verstehen lernen 13. Neuorientierungen erarbeiten, realisierbare Teilziele entwickeln; Misserfolge nicht nur negativ bewerten, denn auch daraus kann gelernt werden
die für viele Familien von großer Bedeutung sind, können Professionelle oft lange Zeit keine eindeutige Antwort geben. Dem Bedürfnis der Angehörigen nach einer klaren Zukunftsperspektive stehen über mehrere Monate vorsichtige, vage und oft unterschiedliche prognostische Antworten von Kli-
nikseite gegenüber. Kliniker sollten sich nicht scheuen, fachlich begründete Unsicherheiten bei Prognosen und Vorläufigkeiten hinsichtlich der zu erwartenden Alltagsauswirkungen und des zukünftig noch Erreichbaren mit den Angehörigen offen zu teilen und nachvollziehbar zu erklären. Eine mögliche Strategie besteht auch darin, zunächst den Informationsstand der Angehörigen zu erfragen und dann mehrere mögliche Szenarien (»schlimmstenfalls«, »wahrscheinlich«, »bestenfalls«) zu skizzieren. Das lässt Raum für Hoffnung und Realismus. jProbleme in der Kommunikation Es kann vorkommen, dass die Vorstellungen, 4 was für den jeweiligen Patienten das Beste ist, und 4 wie es erreicht werden kann, zwischen Angehörigen und Therapeuten bedeutend auseinandergehen. Beispiel 4 Während in den Therapien eine möglichst große Selbständigkeit des Patienten angestrebt wird, sieht die Ehefrau eine umfassende versorgende Hilfe für ihren behinderten Mann als notwendig an. 4 Eltern setzen häufig sehr auf schulorientierte Übungsprogramme, um das körperliche und geistige Leistungsniveau der jugendlichen Patienten wieder auf das prämorbide Niveau zu heben. Demgegenüber wird die Entwicklung von kompensatorischen Hilfsstrategien oder die Modifizierung der schulischen/beruflichen Ziele als Kapitulation vor den Problemen oder als akzeptierende Resignation missverstanden.
Umgekehrt können Klinikmitarbeiter die Wünsche der Familienmitglieder nach Mitwirkung falsch verstehen und als Einmischung oder Kontrolle fehlinterpretieren. Gelegentlich werden aber auch die Patienten mit einer »Reparaturerwartung« an die Rehabilitation abgegeben. Enttäuschte Hoffnungen können zu indirekten oder auch direkten Vorwürfen an die Mitarbeiter führen (z.B. nicht genügend zu tun, zu wenige Therapien durchzuführen etc.). Derartige Probleme in der Kommunikation und Zusammenarbeit von Klinikmitarbeitern und Angehörigen wurden in einigen klinischen Erfahrungsberichten ausführlich beschrieben (McLaughlin u. Carey 1993, McNeny u. Wilcox 1991, Shaw u. McMahon 1990). Fazit Teammitglieder sollten sehr sensibel für die Erwartungen, Bedürfnisse und auch die Belastungsgrenzen (z.B. durch Berufstätigkeit, Kinderversorgung) der Angehörigen sein. Wenn ein Team den Angehörigen das authentische Gefühl vermittelt, verstanden und einbezogen zu sein, werden fruchtlose Grundsatzdiskussionen oder Vorhaltungen oft vermieden. Ausgangspunkt einer guten Zusammenarbeit sollten stets konkrete Problemsituationen und die Suche nach akzeptablen Lösungen sein.
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452
Kapitel 29 · Angehörige in der Rehabilitation: Beratung – Unterstützung – Perspektiven
29.3.4
Einbeziehung der Angehörigen in die Therapien
In den meisten Fällen bewährt sich eine »Politik der offenen Türen« für die Angehörigen, in der diese sich eingeladen fühlen, je nach ihren zeitlichen Möglichkeiten bei Therapien beobachtend oder auch aktiv beteiligt dabeizusein. Voraussetzung ist natürlich, dass der Patient damit einverstanden ist. Einschränkungen können dann notwendig sein, wenn der Patient durch die Anwesenheit der Angehörigen zu sehr abgelenkt oder angespannt ist. Angehörige können aus der Beobachtung des Therapeutenverhaltens Hinweise für die Erweiterung des eigenen Handlungsrepertoires ableiten (Modelllernen) und in ihren eigenen Unterstützungsmöglichkeiten sicherer werden; denn eine von den Angehörigen immer wieder geschilderte Schwierigkeit ist die Unsicherheit über das Ausmaß notwendiger Unterstützung für die Patienten. Angehörige übersehen manchmal das Bedürfnis der Betroffenen nach Selbständigkeit und Erprobung ihrer verbliebenen Fähigkeiten und Ressourcen. Manche Angehörige behalten zu lange die gegenüber Kranken übliche Schonhaltung bei. Hilfreicher ist eine aufmerksame Unterstützung des Wiedererprobens von alltagsbezogenen Aktivitäten, wobei durch eine umsichtige Vorgehensweise Risiken oder Gefahren begrenzt werden. Während die Patienten in den ersten Wochen bei fast allen basalen Alltagsverrichtungen (Waschen, Ankleiden, Essen) auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen sind, ändert sich die Hilfsbedürftigkeit im Laufe der Wiederherstellung. Aus diesem Grund ist es grundsätzlich ratsam, sich bei den Betroffenen zu erkundigen, ob eine bestimmte Hilfestellung noch gebraucht wird. > Vorrangig geht es darum, das Leistungsniveau der Patienten adäquat einzuschätzen, Über- oder Unterforderungen zu vermeiden sowie angemessene Hilfsstrategien zu entwickeln.
Häufig ist nicht klar, wie man am besten hilft. Wie kann man als Partner oder als Elternteil bei Gedächtnisdefiziten, Orientierungsstörungen oder Sprachstörungen effektiv helfen? Angehörige wollen nachvollziehbar in die Lage versetzt werden, erfolgreich helfend tätig zu werden. Die potenziell negativen Begleiterscheinungen einer von den Angehörigen übernommenen Kotherapeutenrolle müssen aber ebenfalls thematisiert werden, z.B. 4 Bevormundung des Patienten, 4 Überlastung der Angehörigen oder 4 Angehörige als »Dauerkritiker« im Erleben der Patienten.
29.3.5
Angehörigenseminare und -gruppen
jAngehörigenseminare Eine systematische Einbeziehung der Familie in den Rehabilitationsprozess stellt den Idealfall dar. Ein Hindernis besteht oft in der großen Entfernung zwischen Rehabilitationsein-
richtung und Wohnort der betroffenen Familien. Als wichtiger Baustein in der Arbeit mit Angehörigen werden daher spezielle Seminare für Angehörige gesehen, die beispielsweise an einem Freitagnachmittag oder an einem Wochenende organisiert werden können (Bongartz u. Pfleiderer 1995). Auch von der Hannelore-Kohl-Stiftung-ZNS werden Seminare zur Anleitung und Unterstützung von pflegenden Angehörigen angeboten. Praxistipp Bei der Planung von Angehörigentreffen ist zu beachten, dass Angehörige erfahrungsgemäß bei der Initiierung des Gruppenprozesses zunächst einen themenoder sachorientierten Einstieg bevorzugen, bevor sie im weiteren Verlauf ihre persönlichen Erfahrungen und Probleme ansprechen können.
In den Seminaren werden den Angehörigen zunächst überblickartig Informationen über die Folgen einer Gehirnschädigung sowie mögliche therapeutische Vorgehensweisen, evt. mit vorher angekündigten Themenschwerpunkten, vermittelt .Im Anschluss werden meist individuell abgestimmte Beratungen mit einzelnen Therapeuten angeboten, die spezifische Fragen der Angehörigen zu ihrem Patienten aufgreifen. jAngehörigengruppen Regelmäßige Angehörigengruppen schaffen zusätzlich über den Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen eine emotionale Entlastung. Dabei kommen therapeutische Wirkungen in Gruppen zum Tragen (Yalom 1992). Dies gilt z.B. für die Erkenntnis, dass andere Familien mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Die Gruppen können dadurch der Entwicklung von Versagens- und Schuldgefühlen entgegenwirken, gerade in der Spätphase, in der die Kräfte der Angehörigen nachzulassen beginnen. Der Austausch mit anderen kann dazu beitragen, dass diese Erschöpfung und die Probleme, mit der veränderten Situation zurechtzukommen, nicht als persönliches Scheitern, sondern angesichts des Geschehenen als verständlich und typisch beurteilt werden. Dies ist von Bedeutung, da die Angehörigen im Gegensatz zu den Patienten zunächst meist wenige Kontaktmöglichkeiten mit anderen Betroffenen haben. Die Angehörigentreffen bieten den Teilnehmern somit Vergleichsmöglichkeiten. Für die Teilnehmer bieten die Gruppen eine Gelegenheit, abseits von Hektik und Zeitdruck im Klinikbetrieb Fragen zu stellen und Unsicherheiten besprechen zu können. Die Informationsvermittlung zu den möglichen Auswirkungen einer Hirnschädigung muss in der Gruppe nicht im Vortragsstil stattfinden, sondern kann anhand von konkreten Alltagsbeispielen aus dem Teilnehmerkreis erfolgen (Oxenham et al. 1995).
453 29.3 · Interventionen für Partner und Familien
Beispiel Problemlösestörungen werden erst begreifbar, wenn entsprechende Schwierigkeiten im Alltag aufgetreten sind: 4 Termine nicht eingehalten, 4 Entscheidungen verschoben, 4 Unternehmungen unzureichend geplant.
In den Gruppen kommen oft auch Fragen nach den Erfahrungen anderer Familien auf: 4 Sollen sich Angehörige hirnverletzter Personen als Vermittler oder »Brückenbauer« einschalten, wenn die früheren Freunde nicht mehr so oft zu Besuch kommen? 4 Wie können neue Lebensperspektiven und befriedigende Betätigungen mit dem Erkrankten entwickelt werden, wenn die Rückkehr in das Berufsleben nicht mehr wahrscheinlich ist? 4 Was kann man bei depressiven Verstimmungen der Patienten tun? Wenn für solche Fragen auch keine ad-hoc-Lösungen zur Verfügung stehen, so können in Anlehnung an die Lösungen anderer Familien doch Ideen und Konzepte mit den Angehörigen entwickelt werden, die dann konkret ausprobiert werden müssen. > Werden Patienten ambulant oder teilstationär behandelt, sind Angehörigengruppen für Therapeuten eine wichtige Informationsquelle, inwieweit die Übertragung in den Alltag gelingt. In einem solchen Setting ist deshalb eine regelmäßige Teilnahme an den Angehörigentreffen auch über die Entlassung der Patienten hinaus sinnvoll.
Eine ausführliche Beschreibung und Evaluation eines ambulanten Interventionsprogramms zur Unterstützung der Angehörigen ist bei Smith und Godfrey (1995) zu finden. Konzeptionelle Überlegungen für die Durchführung von Elterngruppen bei jugendlichen Patienten fassen Pössl und Mai (1996) zusammen.
29.3.6
Strategien der Verhaltensmodifikation
Wichtig ist es auch, die Veränderungen im sozialen Verhalten und emotionalen Erleben anzusprechen, die direkt oder indirekt aus einer Schädigung des Gehirns resultieren können. Den Angehörigen werden Strategien der Verhaltensmodifikation vermittelt, die sie in die Lage versetzen sollen, mit den verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten oder Leistungsdefiziten besser umzugehen (Jacobs 1989, Willer u. Linn 1993): Auslösende Bedingungen für überschießende Ärgerreaktionen können erarbeitet werden, um diese dann besser vermeiden zu können, z.B. 4 Überforderungen, 4 Erschöpfung, 4 Gefühl, übergangen worden zu sein, 4 Frustrationen nach Fehlern oder Pannen, 4 Orientierungsprobleme oder 4 wiederholte Kritik oder Zurechtweisungen.
Wege zur Entspannung oder Ablenkung eines übererregten Patienten können erprobt sowie klares und einfühlsames Feedback geübt werden. Oft ist es wichtig zu ermöglichen, dass einer der beiden Beteiligten den emotional »aufgeheizten« Raum verlassen kann, um zunächst »abzukühlen« und weitere Eskalationen zu vermeiden. Angehörige sollten lernen, solche Ausbrüche nicht zu persönlich zu nehmen, und in diesen Situationen längere Diskussionen oder Konfrontationen zu vermeiden, um die Erregung des Patienten nicht weiter zu steigern. Die Umstände aggressiver Reaktionen können erst dann sachlich erörtert werden, wenn sich alle Beteiligten beruhigt haben. Praxistipp Für aphasische Patienten und deren Angehörige wurde ein differenziertes verhaltensorientiertes Training in Kleingruppen entwickelt (DeLangen-Müller u. Genal 1996). Dabei üben Dyaden (Paareinheiten) von Patienten und Angehörigen Kommunikationssituationen und erhalten anschließend Rückmeldung sowie Verbesserungsvorschläge von anderen Betroffenen und Therapeuten.
29.3.7
Unterstützung bei Anpassungsprozessen als langfristigen Lernund Problemlöseprozessen
Anpassung an bleibende Beeinträchtigungen heißt für alle Beteiligten, Mittel und Wege zu finden, die Lebensverhältnisse, Rollen und Aufgaben innerhalb der Familie oder Partnerschaft neu zu ordnen sowie eine lebbare Balance zwischen den Bedürfnissen des Erkrankten und denen der Angehörigen zu entwickeln. Für die Bewältigung des Alltags gibt es jedoch keine einfachen Patentrezepte, die von professioneller Seite vorgegeben werden könnten. Die Lösung muss im Einzelfall mit den Patienten und Angehörigen erarbeitet werden. Die Lösungsideen der Familien haben dabei Vorrang vor den Rezepten der Therapeuten. Die Frage nach dem richtigen Ausmaß an Unterstützung bleibt manchmal eine Gratwanderung. Hilfestellungen sind für Menschen mit einer erlittenen Hirnschädigung in bestimmten Situationen notwendig und sinnvoll, in anderen jedoch nicht. Beispiel Ist beim Einkaufen ein Vergleich von Angeboten verschiedener Geschäfte vorteilhaft, sind Personen mit Gedächtniseinbußen auf Unterstützung angewiesen; dies umso mehr, je höher die Geldbeträge sind. Bei routinemäßigen Einkäufen in vertrauten Läden dagegen kann eine solche Hilfe überflüssig sein.
Generell sollte man darauf achten, wie sich Pannen oder Fehlschläge schlimmstenfalls auswirken können. Viele Versuche, die Selbständigkeit von Menschen mit neuropsychologischen Einbußen zu erhöhen, sind mit dem Risiko des Scheiterns verbunden. Dieses Risiko sollte man möglichst minimal halten,
29
454
29
Kapitel 29 · Angehörige in der Rehabilitation: Beratung – Unterstützung – Perspektiven
kann es jedoch nicht komplett vermeiden. Jedes Scheitern kann schließlich auch eine Lernchance bieten! Über die Metapher der Navigation kann Familien z.B. vermittelt werden, dass es darum geht, gemeinsam einen neuen Kurs zu finden und bisherige Ziele dahingehend zu überprüfen, ob sie noch erreichbar sind. Mit diesem inneren Bild der Seefahrt kann die von der Hirnverletzung betroffene Crew angeregt werden, sich von Stürmen oder Flauten nicht entmutigen zu lassen, sondern mit Flexibilität, Geduld sowie dem Rat von kundigen Lotsen ihr Lebensschiff durch Untiefen und an Klippen vorbei zu neuen Zielen zu steuern. Manche Familien können auf diese Art in den Prozess der (narrativen) Rekonstruktion ihres Lebens und die Neu-Rahmung des Ereignisses einsteigen (Johansen 2002). Angehörige sollten darin unterstützt werden, rechtzeitig ein passendes Maß für ihre Helferrolle zu finden und ihr Leben nicht nur auf die möglichst optimale Bewältigung der behinderungsbedingten Alltagsschwierigkeiten einzuengen (Pössl u. Mai 2002, Wingruber 1995). Manche Angehörige brauchen für die (Wieder-)Aufnahme eigener Interessen und Aktivitäten, Hobbies und Außenkontakte einen Anstoß von außen, z.B. durch andere Mitglieder einer Angehörigengruppe oder einen entsprechenden ärztlich-therapeutischen Hinweis. Die gezielte Erhebung und Nutzung von familiären und institutionellen Ressourcen in Wohnortnähe kann zur Entlastung von pflegenden Angehörigen beitragen. Fazit Ärzte und Therapeuten sollten sich ihrer Grenzen bewusst bleiben. Sie haben i.d.R. keine eigenen Erfahrungen im tagtäglichen Umgang mit den verschiedenen Handicaps. Familien sollten mittels Unterstützung der Professionellen mit kreativen Ideen nach originellen Lösungen suchen. Angehörigenbetreuung ist als ein gemeinsamer Problemlöseprozess zu verstehen. Diesen Prozess sollten Klinikmitarbeiter mit ihrem fachlichen Wissen und ihrer Einfühlung in die Situation der Familien engagiert unterstützen. Die Familien ihrerseits sollten ermutigt werden, ihr »Expertenwissen« über die Lebensgeschichte und Ressourcen der erkrankten Person, die Unterstützungsmöglichkeiten und Belastungsgrenzen der Familie sowie die Hilfsoptionen ihres sozialen Netzwerks in diese gemeinsame Arbeit einzubringen.
29.4
Nachsorge
Den betroffenen Familien gelingt es langfristig unterschiedlich gut, sich mit den veränderten Lebensverhältnissen zu arrangieren. Die Literatur ist fokussiert auf die negativen Konsequenzen für die Angehörigen und berichtet leider wenig über Familien, die eine erfolgreiche Anpassung erreicht haben (s. Perlesz et al. 1999). Aufgabe der Resilienzforschung im Allgemeinen und der Suche nach Ressourcen im individuellen Fall ist es, erfolgreiche Bewältigungsstrategien zu entdecken und diese effektiver anzuwenden. Die Autoren möchten auch auf manche überraschenden Positivaspekte einer Hirnverletzung hinweisen. Betroffene oder Familien berichten
nicht selten, dass sie nun intensiver und achtsamer leben. Es sei ihnen schlagartig bewusst geworden, wie verletzlich und gefährdet das Leben sei, und wie wertvoll z.B. der erlebte familiäre Rückhalt sei. Daraus erwächst für manche eine veränderte Lebensqualität, die neben Einschränkungen auch positive Aspekte enthalten kann. Beispiel In extremen Einzelfällen beobachteten die Autoren positive Effekte bei männlichen Patienten, die ihre Familie vor der Hirnschädigung durch Aggressivität, Promiskuität oder Suchtverhalten stark belastet hatten und nun nicht mehr den Antrieb aufbringen, diese exzessiven Verhaltensweisen zu verfolgen (Schellhorn u. Pössl 2002).
Übereinstimmend findet sich in den Studien jedoch die Schlussfolgerung, dass ein Bedarf an psychosozialer Unterstützung für die Familien auch mehrere Jahre nach dem Ereignis besteht (Hämmerling u. Wendel 2006, Hoofien et al. 2001, Knight et al. 1998, Kolakowsky-Hayner et al. 2001, Koskinen 1998), wobei Art und Ausmaß der notwendigen langfristigen Unterstützung zwischen den Familien beträchtlich variiert. Die größte Belastung für die Familien bleiben Störungen im Erleben und Verhalten (Douglas u. Spellacy 1996, Hoofien et al. 2001, Knight et al. 1998, Kolakowsky-Hayner et al. 2001, Koskinen 1998). Nach Erfahrung der Autoren bedürfen Verhaltensauffälligkeiten grundsätzlich einer neuropsychologischen Weiterbehandlung nach der stationären Rehabilitation, die die Angehörigen miteinschließen muss. Leider verfügen viele Psychotherapeuten über zu wenig Erfahrung mit den Folgen einer Hirnschädigung. In diesem Fall wirkt es sich nachteilig aus, dass eine ambulante psychotherapeutische Behandlung durch Neuropsychologen derzeit in der Gesundheitsversorgung nicht vorgesehen ist. Als entscheidend für eine erfolgreiche langfristige Anpassung wird in vielen Studien das Vorhandensein eines sozialen Unterstützungssystems beurteilt (Kolakowsky-Hayner et al. 2001, Kosciulek u. Pichette 1996, Yeates 2009). Dieses kann entweder aus einem Netzwerk von Verwandten, Bekannten oder Freunden bestehen oder durch professionelle Dienste gewährleistet sein (Smith et al. 2006). Anders als z.B. bei AIDS- oder Suchterkrankungen gibt es noch kein ausreichendes ambulantes Netzwerk von speziellen Beratungsstellen für hirngeschädigte Patienten. Praxistipp Für Demenzerkrankte gibt es durch die Deutsche Alzheimer Gesellschaft erfolgreiche lokale Initiativen, engagierte Laien für stundenweise Betreuungsaufgaben in den Familien der Erkrankten zu qualifizieren, so dass die Angehörigen entlastet werden.
455 29.6 · Literatur
Fazit Die derzeitigen unzureichenden Bedingungen in der Nachsorge hirngeschädigter Patienten machen deutlich, dass der Koordination und Organisation der weiterführenden Maßnahmen durch die Rehabilitationsklinik eine große Bedeutung zukommt. Eigene Erfahrungen haben aber auch gezeigt, dass in der Mehrzahl der Fälle eine kurzfristige Beratung oder die Vermittlung von weiterführenden Adressen durchaus hilfreich waren. Vonseiten der Autoren wird empfohlen, dass die letztbehandelnde Institution ein sog. Case-Management übernehmen sollte, da diese Einrichtung mit dem Patienten und seinen familiären Lebensverhältnissen am besten vertraut ist. Bei Bedarf können von dieser Institution aus dann auch weitere Therapien organisiert werden.
29.5
Zusammenfassung
Die Angehörigen hirngeschädigter Patienten sind neben den Belastungen, die eine langwierige Erkrankung eines Familienmitglieds generell mit sich bringt, mit einer Reihe besonderer Problembereiche konfrontiert. Die vielfältigen neurologischen und neuropsychologischen Störungen haben zur Folge, dass die Patienten in der Selbstversorgung und vielen Alltagsverrichtungen über einen längeren Zeitraum auf die Hilfe ihrer Angehörigen angewiesen sind. Damit kann es zu einer Umverteilung der Rollen in der Familie kommen, die für alle Beteiligten nicht einfach zu verarbeiten ist. Im Falle von Sprach- oder Sprechstörungen kommen Schwierigkeiten im kommunikativen Austausch zwischen den Familienmitgliedern hinzu. Verhaltensauffälligkeiten und Änderungen in der Persönlichkeit stellen die Beziehung auf eine harte Probe. Erschwerend ist, dass manche Patienten keine Einsicht in ihre Störungen und vor allem in deren Auswirkungen auf den familiären Alltag haben. Häufig droht langfristig eine soziale Isolierung der gesamten Familie. Die Gesamtheit der vielschichtigen Belastungen führt oft zur Überforderung und zu psychischen oder auch körperlichen Beeinträchtigungen der Angehörigen selbst. Im Rahmen der rehabilitativen Maßnahmen sollte die wesentliche Zielsetzung der Angehörigenbetreuung vor allem darin liegen, auf kritische Entwicklungen bei der Rückkehr in den Alltag angemessen vorzubereiten. Angehörige benötigen eine verständliche und praxisnahe Aufklärung über die Auswirkungen neuropsychologischer Störungen auf das Familienleben, besonders zu Veränderungen im Verhalten und Erleben der Betroffenen. Grundlegend ist die Anleitung der Angehörigen, wie eine sinnvolle Hilfe gestaltet werden kann, um die Selbständigkeit der Patienten so weit wie möglich zu bewahren. Dies beinhaltet ebenso eine Relativierung der einseitigen Helferbeziehung. Für die emotionale Entlastung bieten sich Angehörigengruppen an, in denen eigenes Befinden und eigene Bedürfnisse thematisiert werden können. Einen besonderen Schwerpunkt in Hinblick auf die Zukunft bildet die Notwendigkeit, Freiräume für die Angehörigen zu schaffen. Die Anpassung der betroffenen Familien an die veränderte Lebenssituation bedeutet einen langfristigen Lernvor-
gang, in dem eine lebbare Balance zwischen den Bedürfnissen der Erkrankten und denen der Angehörigen entwickelt werden muss.
29.6
Literatur
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30
Beschäftigung und berufliche Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma J.S. Kreutzer, S.R. Demm, L.A. Tylor (Übersetzung: H. Lösslein) 30.1 Beschäftigungsquoten
– 461
30.2 Prognostische Variablen und Indikatoren für die Rückkehr zur Arbeit – 461 30.3 Beschäftigungsmodelle
– 462
30.3.1 Traditionelle Modelle der beruflichen Wiedereingliederung – 462 30.3.2 Charakteristika der traditionellen beruflichen Trainingsprogramme – 463 30.3.3 Erfolg traditioneller Beschäftigungsmodelle – 465
30.4 Begleitung am Arbeitsplatz
– 465
30.4.1 Charakteristika erfolgreicher Modelle der Begleitung am Arbeitsplatz – 465 30.4.2 Spezielle Aspekte der Begleitung am Arbeitsplatz – 469
30.5 Erfahrungslehren
– 469
30.6 Spezifische Strategien für Beschäftigungsspezialisten 30.7 Herausforderungen für die Zukunft 30.8 Literatur
– 472
– 472
– 472
460
Kapitel 30 · Beschäftigung und berufliche Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma
Dieses Kapitel beschreibt die Herausforderungen bei der Rückkehr ins Arbeitsleben und die Elemente einer erfolgreichen beruflichen Rehabilitation nach einer Hirnverletzung. Im ersten Teil werden Studien über berufliche Prognosen in den USA und Europa vorgestellt, anschließend Studien, die den Einfluss neuropsychologischer, verhaltensneurologischer und demographischer Faktoren auf die Teilhabe am Arbeitsleben aufzeigen, und im dritten Teil werden Aspekte der traditionellen Modelle beruflicher Unterstützung in der beruflichen Rehabilitation vorgestellt und miteinander verglichen. Dieses Kapitel endet mit einer Diskussion über Themen, die bei der Entwicklung erfolgreicher Programme zu berücksichtigen sind, besonders Patienteneigenschaften und rehabilitative Ressourcen.
Eine Hirnverletzung führt häufig zu erheblichen kognitiven und emotionalen Problemen. Viele Überlebende kämpfen über Jahre, um ihr früheres Leben wiederaufzunehmen. Trotz der Fortschritte in der Medizin und konzeptioneller Weiterentwicklungen in der Rehabilitation bleibt die Rückkehr in eine konkurrenzfähige Beschäftigung eine schwierige Herausforderung, besonders für Personen mit mittelschweren und schweren Verletzungen. Arbeitslosigkeit oder die Wiederaufnahme der Arbeit zu reduzierten Bedingungen beeinträchtigen Selbstvertrauen und Wohlbefinden, führen zu finanziellen Einschränkungen und einer verminderten sozialen Integration (Bell u. Sandel 1998). In vielen Gesellschaften ist Arbeit für Erwachsene ein wichtiges Identitätsmerkmal, wobei ein besseres Gehalt und angesehenere Tätigkeiten zu einer
Näher betrachtet Studien: Beschäftigungsquoten vor und nach dem Ereignis »SHT«
30
Brooks et al. (1987) In Glasgow führten Brooks et al. (1987) eine Langzeitstudie zur Frage der Beschäftigung nach SHT durch. Stichprobenartig wurden 134 schwer verletzte Patienten, die in einer neurochirurgischen Klinik aufgenommen worden waren, 2 und 7 Jahre nach dem Unfall untersucht. Vor dem Unfall hatten 81% mindestens in Teilzeit gearbeitet. Nach dem Unfall war der Großteil der Gruppe arbeitslos. Die Beschäftigungsraten lagen zwischen 28–41% in den ersten 7 Jahren nach dem Unfall. Thomsen (1984) beschrieb eine Arbeitslosenrate von 87% bei 40 dänischen Patienten mit einer schweren Hirnverletzung, die er 10–15 Jahre nach dem Unfall untersuchte. van der Naalt et al. (1999) Bei der beruflichen Wiedereingliederung von Patienten mit leichtem SHT geben die Untersuchungen ein etwas optimistischeres Bild. Van der Naalt et al. (1999) aus den Niederlanden verfolgten den Verlauf bei 67 Patienten mit leichtem bis mittelschwerem SHT über einen Zeitraum von 12 Monaten. Ein Jahr nach dem Unfall waren 73% der Patienten an ihren früheren Arbeitsplatz zurückgekehrt, wenngleich viele erhebliche verhaltensneurologische Probleme schilderten. Sander et al. (1996) vs. Brooks (1987) und Rappaport et al. (1989) Untersucher in den USA berichteten ähnliche Ergebnisse. In einer prospektiven Längsschnittstudie beschrieben Sander et al. (1996) die Beschäftigungsrate nach SHT, wobei sie Daten aus vier regionalen Traumazentren verwendeten. In einer Stichprobe wurden 613 aufeinanderfol-
gende Aufnahmen erfasst, überwiegend Menschen mit mittelschweren und schweren Verletzungen. Ungefähr die Hälfte dieser Patienten (51%) war vor dem Unfall berufstätig. Diese Quote der vor dem Unfall Berufstätigen war erheblich niedriger als die 86- bis 100%-Quoten, die andere Untersucher berichtet hatten (Brooks 1987, Rappaport et al. 1989). Querschnittsanalysen ergaben Beschäftigungsquoten von 17–25% innerhalb von 4 Jahren nach dem Unfall. Eine Längsschnittstudie nur derjenigen Patienten, die vor dem Unfall berufstätig waren, zeigte Beschäftigungsraten von 38% bei der ersten, 24% bei der zweiten und 38% bei der dritten Nachuntersuchung. Stambrook et al. (1990) Stambrook et al. (1990) zeigten eine höhere Beschäftigungsquote bei 50 Patienten mit einem schweren SHT auf, die vor dem Unfall vollzeitig berufstätig waren. Im Durchschnitt 4 Jahre nach dem Unfall waren 55% der Patienten an Arbeitsplätze zurückgekehrt, die auf gleichem Niveau wie vor dem Unfall anzusiedeln waren. Rappaport et al. (1989) beschrieben Beschäftigungsquoten bei 63 Patienten mit einem schweren SHT im Mittel 8,7 Jahre nach dem Unfall. In dieser Studie waren vor dem Unfall alle Patienten berufstätig, während zum Nachuntersuchungszeitpunkt nur noch 39% beschäftigt waren. Darüber hinaus waren 11% der Patienten in akademischen Berufen tätig, nach dem Unfall war keiner mehr beschäftigt. Englander et al. (1992) Die Untersuchungen bei leicht Hirnverletzten geben mehr Anlass zu Optimismus. So verfolgten Englander et al. (1992)
den Verlauf von 77 Patienten, die mit einem leichten SHT in Krankenhäuser aufgenommen wurden. Drei Monate nach dem Unfall waren 88% von ihnen an den Arbeitsplatz oder in die Schule zurückgekehrt, und nur 16% berichteten über verhaltensneurologische Symptome. Ruffolo et al. (1999) Im Gegensatz dazu lag die Wiedereingliederungsquote in einer Untersuchung von Ruffolo et al. (1999) unter 50%. Diese Autoren berichteten über eine Stichprobe von 50 Patienten mit leichter Hirnverletzung nach Verkehrsunfall; die Nachuntersuchung erfolgte 6–9 Monate nach dem Unfall. Alle Patienten waren vor dem Unfall berufstätig; lediglich 42% kehrten danach wieder in die Arbeit zurück. 12% kehrten an eine Arbeitsstelle mit gleichem Niveau wie vor dem Unfall zurück, und bei 30% wurden die Arbeitsbedingungen verändert. Dikmen et al. (1994) In der Untersuchung von Dikmen et al. (1994) von 213 Patienten mit einem leichten SHT lagen die Wiedereingliederungsquoten nach einem Monat bei 25%, nach 6 Monaten bei 63%, nach 12 Monaten bei 80% und nach 24 Monaten bei 83%. Ganz ähnlich lagen die Ergebnisse in einer Untersuchung von Stambrook et al. (1990): Von 26 Patienten mit einem leichten Schädel-Hirn-Trauma kehrten 87,5% an einen Arbeitsplatz mit ähnlichem Niveau wie vor dem Unfall zurück.
461 30.2 · Prognostische Variablen und Indikatoren für die Rückkehr zur Arbeit
höheren sozialen Anerkennung führen. Folglich können Überlebende einer Hirnverletzung ihre Erholung als unzureichend und unbedeutend sehen, ebenso die Gesellschaft. Darüber hinaus sind die meisten Hirnverletzten jung. Anstelle eines Lebens als Gehaltsempfänger und Konsument sehen viele einer lebenslangen Abhängigkeit von Familienmitgliedern und staatlichen Unterstützungsprogrammen entgegen (Yasuodo et al. 2001).
30.1
Beschäftigungsquoten
Europäische Forscher waren unter den Ersten, die eine hohe Arbeitslosigkeitsrate von Personen mit einer schweren Hirnverletzung beschrieben (Oddy u. Humphrey 1980, Thomsen 1974,1984; Wedell et al. 1980).
. Übersicht 30.1. Zur Arbeitsunfähigkeit beitragende Faktoren 1.
2.
3. 4.
5.
Fazit Insgesamt kommen Untersucher in Europa und den Vereinigten Staaten zu ähnlichen Wiedereingliederungsquoten bei Personen mit den unterschiedlichen Schweregraden einer Hirnverletzung: 4 Bei Personen mit mittelschwerem und schwerem SHT ergaben die Untersuchungen im Abstand von 2–15 Jahren nach dem Unfall eine Quote von ≤40%. 4 Bei Personen mit leichtem SHT liegt die Rückkehrquote innerhalb eines Jahres nach dem Unfall i.d.R. bei 70–80%. Die Schwere der Hirnverletzung ist offensichtlich von überragender Bedeutung für die berufliche Prognose.
30.2
Prognostische Variablen und Indikatoren für die Rückkehr zur Arbeit
Anhand von Symptomchecklisten, standardisierten Tests und Testbatterien wurden Faktoren identifiziert, die zur Arbeits-
unfähigkeit beitragen (. Übersicht 30.1). Brooks (1987) z.B. setzte neuropsychologische und verhaltensneurologische Tests ein, um Voraussagen über die Rückkehr an den Arbeitsplatz zu treffen. Die sicherste Prognose lieferten neuropsychologische Tests aus den Bereichen 4 Gedächtnis, 4 Aufmerksamkeit und 4 räumlich-konstruktive Fähigkeiten. Prognostisch bedeutsame verhaltensneurologische Parame-
Einschränkung kognitiver Funktionen: Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis (Brooks et al. 1987, Devany-Serio u. Devens 1994, Dikmen et al. 1994, lp et al. 1995, McMordie et al. 1998) Emotionale und Persönlichkeitsschwierigkeiten (Brooks et al. 1987, Ezrachi et al. 1991, Sander et al. 1997, Serio u. Devens 1993, Stambrook et al. 1990) Substanzmissbrauch (Sander et al. 1997) Körperliche Einschränkungen: Verlangsamung und Koordinationsstörungen (Ezrachi et al. 1991, Ip et al. 1995, McMordie et al. 1990, Serio u. Devens 1993) Begrenzte Wahrnehmung hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten und Eignung für verschiedene Berufe (Ben-Yishay et al. 1987, Ezrachi et al. 1991, Sherer et al. 1998).
Im Mittel 16 Monate nach dem Unfall waren 33% der Patienten beschäftigt. Mittels des Neurobehavioral Functioning Inventory (Kreutzer et al. 1996) wurden die Faktoren identifiziert, die zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen unterscheiden. Bei beiden Gruppen wurde der Anteil von Patienten berechnet, die angaben, die erfassten Probleme würden »oft« oder »immer« auftauchen: 4 Berufstätige Patienten berichteten relativ wenige verhaltensneurologische Probleme. Die am häufigsten berichteten Schwierigkeiten waren: 5 Ungeduld (21%), 5 Ermüdbarkeit (20%), 5 Kopfschmerzen (16%), 5 verlangsamte Lesegeschwindigkeit (14%) und 5 Schwierigkeiten beim Treffen von Entscheidungen (13%). 4 Arbeitslose Personen (35–50%) schilderten folgende Probleme:
5 5 5 5 5 5 5
Frustration, Ungeduld, verlangsamte Lesegeschwindigkeit, Ermüdbarkeit, Ablenkbarkeit, Unruhe und verlangsamtes Lernen.
ter waren
4 Probleme der Affektregulation, 4 schlechte Körperhygiene und 4 Depressivität. jUnterscheidende Faktoren zwischen Berufstätigen und Arbeitslosen Ein Jahrzehnt später untersuchten Sander et al. (1997) 138 aufeinanderfolgend ins Krankenhaus aufgenommene Patienten mit mittelgradigen und schweren Verletzungen.
Zudem berichtete die Mehrzahl der Arbeitslosen über erhebliche Langeweile (52%) und verlangsamte Beweglichkeit (50%).
30
462
Kapitel 30 · Beschäftigung und berufliche Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma
Näher betrachtet Follow-up bei arbeitslosen Personen Witol at al. (1996) berichteten über die wahrscheinlich längste Untersuchung zum beruflichen Follow-up. 97 arbeitslose Personen wurden in einem Intervall von 5–9 und 10–35 Jahren nach dem Unfall untersucht. Angewandt wurde der Neurobehavioral Functioning Inventory. Hinsichtlich der am häufigsten genannten verhaltensneurologischen Charakteristika waren die beiden Gruppen bemerkenswert ähnlich. Häufig genannte Probleme waren 4 Vergesslichkeit, 4 Verlangsamung 4 emotionale Kontrolle und 4 Verlangsamung im Denken, Lesen, Schreiben und Bewegung.
30
Überdauernde emotionale Schwierigkeiten betrafen 4 Ungeduld, 4 Langeweile, 4 Frustration und 4 das Gefühl, missverstanden zu werden. Die Teilnehmer der Studie wurden auch gebeten, die hauptsächlichen Hindernisse für die Wiederaufnahme der Arbeit zu nennen. In beiden Follow-up-Gruppen wurden die Gedächtnisprobleme als wichtigste Hindernisse genannt. Zu beiden Zeitpunkten waren fehlende Beförderungsmöglichkeiten für ein Viertel beider Stichprobengruppen ebenfalls von großem Belang.
jDemographische und verletzungsabhängige Variablen Untersucher haben die demographischen und verletzungsabhängigen Variablen identifiziert, die mit der Beschäftigung nach Schädel-Hirn-Trauma in Zusammenhang stehen. jZusammenfassung Insgesamt haben Untersucher in Europa und den Vereinigten Staaten eine hohe Arbeitslosigkeitsrate bei Patienten festgestellt, die nach einem Schädel-Hirn-Trauma ins Krankenhaus aufgenommen worden waren, besonders nach mittelschwerer bis schwerer Hirnschädigung. Die Beschäftigungsraten nach dem Unfall lagen erheblich niedriger als davor und blieben es in vielen Fällen über Jahre. Es wurde eine Reihe von neuropsychologischen und verhaltensneurologischen prognostischen Faktoren identifiziert: Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis, der Aufmerksamkeit, der emotionalen Kontrolle sowie Verlangsamung und Schwierigkeiten im Problemlösen stellen die größten Hindernisse der beruflichen Leistungsfähigkeit dar. Alter und Beschäftigungsniveau vor dem Unfall sind die besten Prädiktoren für die Rückkehr in die Arbeit.
Näher betrachtet Studien: Prädiktoren für die berufliche Wiedereingliederung Negative Prädiktoren Stambrook et al. (1990) untersuchten den beruflichen Status von 105 mäßig bis schwer hirnverletzten Personen. Negative Auswirkung auf die Rückkehr in die Arbeit haben 4 ein niedriger initialer Wert auf der Glasgow Coma Scale, 4 ein höheres Alter und 4 gröbere körperliche und kognitive Einschränkungen. Positive Prädiktoren Cifu et al. (1997) fanden verschiedene Faktoren, die die Rückkehr in die Arbeit ein Jahr nach dem Unfall vorhersagen. Alle Faktoren beziehen sich auf die Schwere der Verletzung. In einer Stichprobe von 132 früheren Patienten einer stationären Rehabilitationsklinik waren positive Prädiktoren für die berufliche Wiedereingliederung: 4 kürzere Dauer des Komas und der posttraumatischen Amnesie, 4 niedrige Werte auf der Glasgow Coma Scale bei Aufnahme und 4 höhere Werte in Functional Independent Measure (FIM) und Disability Rating Scale (DRS). Gute und schlechte Prädiktoren Anhand einer Stichprobe von 40 Patienten, die in stationärer Rehabilitation waren, beschrieben Keyser-Marcus et al. (2002) in einer aktuelleren Untersuchung Prädiktoren für die Rückkehr in die Arbeit 1–5 Jahre nach dem Unfall. Das Alter war der beste Prädiktor für Beschäftigung bis zu 4 Jahre nach dem Unfall. Im 1./2./3. und 5. Jahr nach dem Unfall erlaubte das berufliche Niveau vor dem Unfall eine gute Voraussage über die Rückkehr in die Arbeit. Keine guten Prädiktoren waren 4 Ausbildungsgrad, 4 Dauer der stationären Rehabilitation, 4 FIM- und DRS-Entlassungswerte. Jedes dieser Messinstrumente zeigte nur die Prognose der jeweiligen jährlichen Nachuntersuchung innerhalb des 5-Jahre-Zeitraums. Im Ergebnis sind Alter, Arbeitsfähigkeit und Ausmaß der Berufstätigkeit vor dem Unfall die stärksten Prädiktoren für eine Rückkehr in die Arbeit in den ersten 5 Jahren nach dem Unfall.
Reihe von Ansätzen der beruflichen Rehabilitation sind erfolgreich für Personen mit einer Hirnverletzung eingesetzt worden. Die Ansätze variieren in den Dimensionen, die in . Übersicht 30.2 dargestellt sind.
30.3.1 30.3
Traditionelle Modelle der beruflichen Wiedereingliederung
Beschäftigungsmodelle
Es folgt eine ausführliche Beschreibung der traditionellen Modelle und des Modells der Begleitung am Arbeitsplatz. Eine
Früher wurde versucht, Beschäftigungsmodelle, die für Personen mit mentaler Retardierung und psychiatrischen Erkrankungen entwickelt wurden, für Hirnverletzte zu adaptieren.
463 30.3 · Beschäftigungsmodelle
. Übersicht 30.2. Unterscheidungsmerkmale der beruflichen Rehabilitationsprogramme Zielgruppen 1. Angebote für Menschen aus unterschiedlichen Diagnosegruppen oder nur für eine Diagnosegruppe, z.B. geistig Behinderte 2. Angebote nur für einen Schweregrad oder für unterschiedliche Schweregrade Art und Umfang des Trainings vor der Wiedereingliederung 1. Drei bis 12 Monate intensives Training vor der Wiedereingliederung 2. Wenig oder kein Training vor der Wiedereingliederung und Konzentration auf das Training vor Ort nach der Wiedereingliederung Art und Umfang des Assessments 1. Assessment-Methoden 2. Simulierte Arbeit oder Arbeitserprobung, einschließlich ehrenamtlicher Tätigkeit 3. Quantitative Evaluation kognitiver und schulischer Fähigkeiten 4. Assessment von beruflichen Interessen mit Standardinstrumenten 5. Beobachtung von Verhaltensmustern und sozialen Interaktionen 6. Interviews mit dem Patienten, der Familie und früheren Arbeitgebern 7. Dauer, Intensität und Ort des Assessments 8. Anreise in ein spezialisiertes Assessment-Center ist erforderlich. Einige sind stationäre Einrichtungen und erfordern 7–28 Tage Aufenthalt für die Evaluation 9. Verwendung von Beobachtungen zuhause und Familieninterviews
> Die beiden am häufigsten eingesetzten traditionellen Beschäftigungsmodelle sind Train-andPlace-Programme und beschützende Werkstätten. Train-and-Place- (Trainieren und Einsetzen-)Modelle betonen 4 ein eingehendes Assessment, 4 Training und Berufsvorbereitung vor dem Einsatz, 4 ohne/mit nur geringer Nachbetreuung nach dem Einstieg1. Beschützende Werkstätten konzentrieren sich auf 4 das Training am Arbeitsplatz (On-the-Job-Training) und 4 eine langfristige intensive Supervision.
Von Klienten in beschützenden Werkstätten wird erwartet, dass sie dauerhaft fachliche Supervision benötigen. Diese bei1 Anmerkung des Übersetzers: Dieses Modell ähnelt den berufsfördernden Maßnahmen in deutschsprachigen Ländern.
Intensität und Dauer der Supervision und Follow-up 1. Dauer des Follow-up variiert von unter einem bis zu mehreren Jahren 2. Job-Coaches ermöglichen eine Supervision vor Ort von mehreren Stunden bis zu mehreren Tagen pro Woche Aufgabenbereich der Beschäftigten mit einer Hirnverletzung 1. Die Veränderung des Aufgabenbereichs aufgrund der persönlichen Interessen kann eingeschränkt sein oder ähnlich den Möglichkeiten von nicht behinderten Beschäftigten 2. Die Erwartungen an die Leistung können ähnlich oder geringer als diejenigen bei nicht behinderten Beschäftigten sein 3. Die Gelegenheiten zum beruflichen Aufstieg können beschränkt oder nicht beschränkt sein Löhne und Sozialleistungen 1. Löhne und Sozialleistungen können gleich oder geringer sein als bei den nicht behinderten Beschäftigten Ausmaß der Ausgrenzung bzw. Integration in die Gemeinschaft 1. Die Anzahl behinderter Beschäftigter in einer Firma kann zwischen 1–100% variieren 2. Behinderte Beschäftigte können in separaten Arbeitsbereichen oder neben nicht behinderten Beschäftigten tätig sein
den traditionellen Modelle werden aktuell für die berufliche Rehabilitation eingesetzt (Beschreibung und Vergleich der beiden Modelle, s.u.).
30.3.2
Charakteristika der traditionellen beruflichen Trainingsprogramme
Die charakteristischen Merkmale der traditionellen beruflichen Trainingsprogramme sind in . Übersicht 30.3 auf einen Blick zusammengefasst. jZielgruppe Nur ein kleiner Teil behinderter Menschen kann an traditionellen beruflichen Trainingsmaßnahmen teilnehmen. Typischerweise stehen sie den Personen mit schwersten Einschränkungen zur Verfügung. Beschäftigte mit einer Hirnverletzung arbeiten gemeinsam mit geistig und psychisch Behinderten.
30
464
Kapitel 30 · Beschäftigung und berufliche Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma
. Übersicht 30.3. Charakteristika der traditionellen beruflichen Trainingsprogramme 1. 2. 3. 4. 5. 6.
30
Zielgruppe Betonung auf Berufstätigkeitsvorbereitung Selektives Screening und Assessment vor dem Einsatz Dauer und Intensität der Supervision Bezahlung, Sozialleistungen und Aufgabenbereich Ausgrenzung bzw. Eingliederung in die Gemeinde
die Fähigkeiten der Patienten einzuschätzen, reale Arbeitsplatzaufgaben zu erledigen. Mitarbeiter beobachten die Patienten in diesen Arbeitserprobungen in den beruflichen Rehazentren und sammeln Informationen über Produktivität, Arbeitsverhalten und zwischenmenschliche Fähigkeiten. Dieser Assessmentprozess dauert i.d.R. einige Tage bis Wochen. Die Teilnehmer an den traditionellen beruflichen Rehabilitationsprogrammen haben meist nur wenige einfache berufliche Wahlmöglichkeiten, z.B. 4 Gastronomie, 4 pflegerische Tätigkeiten oder 4 Bürotätigkeiten.
jBetonung auf Berufstätigkeitsvorbereitung Im Train-and-Place-Modell verwenden die Betreuer einen Großteil ihrer Bemühungen vor dem beruflichen Einsatz darauf, die Fähigkeiten der Klienten zu entwickeln. Zu den gebräuchlichen Techniken gehören: 4 simulierte Arbeitserfahrung, 4 Papier-, Bleistift- und Computertätigkeiten, um kognitive Fähigkeiten zu verbessern, 4 Work hardening, d.h. Belastungserprobung, um Kraft und Ausdauer zu stärken, 4 psychologische Beratung und Training sozialer Fähigkeiten, 4 Entwicklung kompensatorischer Strategien.
Entsprechend werden Fragebögen zum beruflichen Interesse deshalb i.d.R. als irrelevant angesehen und selten eingesetzt.
Die Patienten erhalten ein 3- bis 12-monatiges Training. Manche der Beschäftigten pendeln täglich von Zuhause zum Trainingszentrum. In anderen Fällen leben die Klienten im Trainingsinstitut, das wie ein Internat organisiert ist. In geschützten Settings wird ein intensives Training vor Ort durchgeführt.
jBezahlung, Sozialleistungen und Aufgabenbereich Da viele Beschäftigte in beschützenden Einrichtungen schwer behindert sind, beschränken sich deren Aufgaben meist auf einfache repetitive Tätigkeiten. Die Firmen arbeiten oft nicht gewinnorientiert oder erhalten Subventionen von staatlicher Seite. Zu den Tätigkeiten gehören z.B. 4 Versandtätigkeiten, 4 Sortier- und Verpackungstätigkeiten.
jSelektives Screening und Assessment vor dem Einsatz Zahlreiche berufliche Rehabilitationsprogramme haben nur begrenzte Ressourcen und benutzen Screening-Verfahren, um diejenigen zu identifizieren, die am meisten von dem Angebot profitieren. Zum Screening gehören 4 die Bestimmung der kognitiven und schulischen Fähigkeiten sowie 4 die Untersuchung von Emotion und Verhalten. Leider wird ein hoher Prozentsatz von Hirnverletzten durch das Screening ausgeschlossen. Diese Programme sind oft nicht hilfreich für Menschen mit 4 verhaltensneurologischen und körperlichen Problemen, 4 Anfällen, 4 Enthemmung, 4 Gedächtnisstörungen oder 4 Mangel an Initiative. Ein Assessment vor dem Arbeitseinsatz, wie es häufiger in der Arbeitsplatzauswahl im Train-and-Place-Modell eingesetzt wird, dient der weiteren Quantifizierung der Fähigkeiten des Beschäftigten und ist Grundlage der Arbeitsplatzanpassung. Simulierte Arbeitsumgebungen werden oft geschaffen, um
jDauer und Intensität der Supervision In beschützenden Werkstätten benötigen viele der dort Tätigen mit schweren Behinderungen eine lange und intensive Supervision. Die Supervisoren sind oft 100% der Zeit mit am Arbeitsplatz. Im Train-and-Place-Modell werden keine speziellen Vorbereitungen für eine Supervision nach dem Einsatz getroffen. Normalerweise bekommen Mitarbeiter mit einer Hirnverletzung die gleiche Supervision und das gleiche Vor-Ort-Training wie gesunde Beschäftigte.
Die Bezahlung liegt im Allgemeinen weit unterhalb der Minimallöhne und wird i.d.R. an der Leistung und nicht an der Arbeitszeit bemessen. Meist gibt es keine Sozialleistungen wie Kranken- oder Arbeitsunfähigkeitsversicherung. Es gibt nur geringe Chancen für Aufstieg oder Wechsel in andere, reizvollere Positionen. Die Klagen von Beschäftigten in beschützten Werkstätten lauten z.B.: 4 »Ich bin gelangweilt durch diesen eintönigen Job, die Arbeit hat keinen Sinn.« 4 »Die Leute hier sind wirklich eigenartig, ich kann sie nicht mehr um mich herum ertragen.« Im Train-and-Place-Modell erhalten die Beschäftigten Löhne und Sozialleistungen ähnlich wie Gesunde. In einigen Fällen werden die Löhne auch staatlich oder durch Sozialversicherungsleistungen unterstützt. jAusgrenzung bzw. Eingliederung in die Gemeinde Beschützende Werkstätten liegen meist in einem eigenen Gebäude in einer Industriezone. Außer mit dem Fachpersonal haben die behinderten Beschäftigten wenig oder keinen Kon-
465 30.4 · Begleitung am Arbeitsplatz
. Abb. 30.1. Leistungen einer individualisierten Arbeitsplatzbegleitung
takt mit der sonstigen Öffentlichkeit. Sie bleiben während der
Arbeitszeit i.d.R. an den Arbeitsplätzen. Im Train-and Place-Programm haben die Beschäftigten nach Abschluss der Trainingsmaßnahme die gleichen Möglichkeiten für soziale Kontakte und Teilhabe am Leben in der Gemeinde wie andere Beschäftigte.
30.3.3
Erfolg traditioneller Beschäftigungsmodelle
> Für zahlreiche traditionelle Beschäftigungsmodelle wird der Erfolg eher daran gemessen, wie viele Wiedereingliederungen stattgefunden haben, und weniger daran, wie viele Beschäftigte ihren Job behalten haben.
Beschäftigte, die das Train-and-Place-Programm absolvieren, finden vielleicht eine Tätigkeit, haben aber Schwierigkeiten, diese Beschäftigung langfristig aufrechtzuerhalten. Viele Beschäftigte in beschützenden Werkstätten geben sich mit ungünstigeren Arbeitsbedingungen zufrieden, z.B. 4 Langeweile, 4 Zusammenarbeit mit Mitarbeitern, die Verhaltensprobleme zeigen, 4 niedrige Bezahlung und 4 Mangel an Aufstiegsmöglichkeiten. Einige Beschäftigte verlieren ihren Job aufgrund 4 häufiger Fehler, 4 unangemessenen Verhaltens oder 4 mangelnder sozialer Fähigkeiten. > Eine Übersicht traditioneller Train-and-Place-Programme zeigte, dass weniger als 5% der Absolventen, die als geeignet für die berufliche Wiedereingliederung eingestuft wurden, imstande waren, ihren Job über ein Jahr zu halten (Ben-Yishay et al. 1987, Renzaglia u. Hutchins 1988).
30.4
Begleitung am Arbeitsplatz
Als Reaktion auf die Klagen der Hirnverletzten über die Schwächen traditioneller Beschäftigungsmodelle wurde ein individualisierter Ansatz der Arbeitsplatzbegleitung entwickelt. Ursprünglich war dieses Modell für Personen mit psychischen und geistigen Behinderungen geschaffen worden. In den 80er Jahren begannen Fachleute der beruflichen Rehabilitation, diesen Ansatz für Personen mit einer schweren Hirnverletzung zu adaptieren (Kreutzer u. Morton 1988, Wehman et al. 1988, 1990)2. Begleitende Beschäftigungsprogramme legen ihren Schwerpunkt gewöhnlich auf die Unterstützung der Menschen, eine lohnende Tätigkeit zu finden und zu behalten. Job-Coaches oder Beschäftigungsspezialisten leisten den größten Teil der Tätigkeiten mit den Klienten. Die Elemente der individualisierten Arbeitsplatzbegleitung sind in . Abb. 30.1 dargestellt.
30.4.1
Charakteristika erfolgreicher Modelle der Begleitung am Arbeitsplatz
Die charakteristischen Merkmale erfolgreicher Modelle der Begleitung am Arbeitsplatz sind in . Übersicht 30.4 auf einen Blick zusammengefasst. jZielgruppe Das Programm ist i.d.R. konzipiert für Beschäftigte mit 4 schweren Behinderungen sowie 4 psychologischen, Verhaltens- und somatischen Problemen.
2 Anmerkung des Übersetzers: In Deutschland finden sich Parallelen am ehesten in Trägerschaft der gesetzlichen Unfallversicherung, z.B. im Bereich des neuropsychologischen Case-Managements. Konzepte wurden u.a. im SAV e.V. (Stationär ambulanter Verbund) entwickelt.
30
466
Kapitel 30 · Beschäftigung und berufliche Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma
. Übersicht 30.4. Charakteristika erfolgreicher Modelle der Begleitung am Arbeitsplatz 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
30
Zielgruppe Holistisches Assessment von Klient, häuslicher Umgebung und Arbeitsplatz Minimales Training vor dem Einsatz Betonung einer langfristigen Betreuung, Interventionen während des Einsatzes Aufgabenbereich der Beschäftigten Einstellung unter Konkurrenzbedingungen, Löhne und Sozialleistungen Ausmaß der Ausgrenzung
In dem Konzept legt man Wert darauf, den Menschen, die ansonsten unfähig wären, eine Beschäftigung aufrechtzuerhalten, intensives Training und Begleitung anzubieten. Es sind meist Menschen mit schwersten Behinderungen. Dieses berufliche Rehabilitationsprogramm ist entweder nur für Hirnverletzte gedacht oder unterschiedliche Zielgruppen werden parallel betreut. Es werden keine Klienten wegen psychischer Gesundheit, Verhaltens- oder medizinischer Probleme vom Programm ausgeschlossen. Stattdessen werden Interventionsmöglichkeiten vor und während des Einsatzes vorgehalten. Ein interdisziplinäres Team begleitet die Klienten, um deren Bedürfnissen nach Unterstützung in den Bereichen Rehabilitation, medizinische Versorgung und psychische Gesundheit gerecht zu werden. jHolistisches Assessment von Klient, häuslicher Umgebung und Arbeitsplatz Um die Fähigkeiten, Interessen und Grenzen eines Klienten zu verstehen, beantworten Klient und Familienmitglieder eine Reihe von Fragebögen. Interviews mit dem Klienten und seiner Familie werden sowohl im Rehabilitationszentrum als auch zuhause geführt. Es werden Informationen zur Einbeziehung der Familie und zu sozialen Unterstützungsnetzen gesammelt. Eine neuropsychologische Untersuchung dient der Identifizierung kognitiver und schulischer Fähigkeiten sowie emotionaler und verhaltensneurologischer Funktionen. Probleme mit Drogen oder Alkohol werden erfasst (Kreutzer et al. 1990). Um die Anforderungen und Eigenschaften des Arbeitsplatzes zu verstehen, besucht der Job-Coach jede potenzielle Arbeitsstelle und führt eine Arbeitsplatzanalyse durch. Beobachtungen und Interviews mit Arbeitgebern und Arbeitskollegen dienen der Faktengewinnung. Besondere Anstrengungen werden unternommen, um folgende Faktoren genauestens festzustellen: 4 Zuständigkeitsbereich, 4 Ausmaß von Kundenkontakten und Kontakten mit Arbeitskollegen, 4 Sicherheitsrisiken und 4 Ausmaß an verfügbarer Supervision.
Ein optimaler Beschäftigungsplan wird entwickelt, in dem die Informationen aus allen Quellen zusammengeführt werden. Dieser Plan enthält auch Empfehlungen hinsichtlich möglicher Beschäftigungshindernisse. jMinimales Training vor dem Einsatz Relativ wenig Wert wird auf die Entwicklung von arbeitsbezogenen Fähigkeiten gelegt, bevor der Klient die bezahlte Beschäftigung aufnimmt (Wehman 1990). Die Daten aus den Programmen zeigen z.B., dass im Durchschnitt 32–36 Stunden vorberufliches Training angeboten werden (Wehman et al. 1995). Ein vorberufliches Training konzentriert sich nicht auf spezielle arbeitsplatzbezogene Fähigkeiten. Vielmehr nehmen die Klienten an Diskussionen und Rollenspielübungen teil, bei denen folgende Themen bearbeitet werden: 4 Arbeitsplatz, 4 Bewerbung, 4 Arbeitsverhalten, 4 Einstellungen und 4 Kommunikation mit Mitarbeitern. jBetonung einer langfristigen Betreuung, Interventionen während des Einsatzes Lern- und Gedächtnisprobleme hindern die Klienten oft sehr, ihre Fähigkeiten aus dem Training vor dem Einsatz zu generalisieren (Fawber u. Wachter 1987). Um die Effektivität des Trainings zu optimieren, implementieren die Arbeitsplatzbetreuer Verhaltens- und kognitive Rehabilitationsprogramme am Arbeitsplatz (Kreutzer et al. 1988, Wehman 1991, Wehman u. Kreutzer 1990). Während der ersten 6 Einsatzmonate erhalten die Klienten id.R. 150–200 Trainingsstunden durch den Job-Coach (Wehman et al. 1995). Strategien wie 4 Selbstbeobachtung, 4 Einstudieren und 4 Verstärkung werden genutzt, um Fähigkeiten zu vermitteln und dabei zu helfen, diese zu generalisieren (Wehman et al. 1989). Kompensatorische Strategien für häufige verhaltensneurologische Probleme am Arbeitsplatz werden in . Tab. 30.1 aufgezeigt. Typischerweise ist der Arbeitsplatz eine wechselhafte Umgebung, da Personal, Aufgabenbereiche und auch der Belastungsdruck wechseln. Arbeitsassistenz und Interventionen ändern sich mit dem Auftreten neuer Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten. Hauptaufgabe des Job-Coaches ist die langfristige Begleitung; dieses ist die wichtigste Maßnahme, um das langfristige Verbleiben am Arbeitsplatz zu gewährleisten. Die Rückmeldungen von Klient, Supervisor und Rehabilitationsteam bestimmen die Intensität der JobCoach-Aktivitäten. Zu Beginn muss der Job-Coach möglicherweise den gesamten Arbeitstag mit den Klienten verbringen, um 4 Probleme zu identifizieren, 4 Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln, 4 direkte Rückmeldung zu geben und 4 die Belastungen der Klienten zu vermindern.
467 30.4 · Begleitung am Arbeitsplatz
. Tab. 30.1. Interventionen und Kompensationsstrategien für verhaltensneurologische Probleme Probleme
Intervention/Kompensatorische Strategie
Körperliche Probleme Ermüdbarkeit, Schwierigkeiten beim Heben schwerer Gegenstände, motorische Verlangsamung
4 4 4 4 4 4 4
Kognitive Probleme Reduzierte Aufmerksamkeit/ Konzentration
4 Nur an einer Aufgabe arbeiten 4 Klienten bei Wechsel der Aufgaben instruieren, aufzuschreiben, was sie getan haben, um Dinge nicht doppelt zu tun oder zu vergessen, wenn die Aufgabe wieder aufgenommen wird 4 Minimieren von Lärm und Ablenkung (z.B. Ohrstöpsel, um Lärm zu blockieren; Arbeit mit dem Blick auf eine Wand eher als auf einen Flur oder ein Fenster; Arbeitsplatz aufgeräumt halten) 4 Beschäftigte ermutigen, langsam zu arbeiten und regelmäßig auf Fehler zu überprüfen 4 Regelmäßige Pausen einplanen, um die Aufmerksamkeit zu refokussieren 4 Beschäftigte ermutigen, das Selbst-Coaching zu nutzen (die Arbeit zu kommentieren, um den Fokus auf die vorliegende Aufgabe zu richten)
Verlangsamte Lernfähigkeit, Vergesslichkeit
4 4 4 4 4
Kommunikationsprobleme Wortfindungsschwierigkeiten, Probleme in der Sprachproduktion, Probleme und Schwierigkeiten im Verständnis von Instruktionen
4 4 4 4 4 4 4
Verlangsamte mentale Prozesse Verlangsamtes Lesen, Schreiben, Denken, Sprechen und Lernen
4 4 4 4
Planungs- und Organisationsprobleme
4 Klienten unterstützen, sich zunächst einen »Schlachtplan« für eine effektive Strategie anzulegen, bevor sie sich an eine Aufgabe machen 4 Klienten ermuntern, sich selbst zu testen, bevor sie eine Aufgabe beginnen, indem sie sich selbst fragen, wie sie die Aufgabe erledigen werden 4 Regelmäßig die Leistungen beobachten und die Selbstkontrolle bestärken 4 Klingelzeichen oder ein anderes Signal in unterschiedlichen Intervallen geben, um an die Selbstkontrolle zu erinnern 4 Strukturierte Problemlösung unterrichten, um neue Probleme durchzuarbeiten (z.B. Problem definieren, alternative Lösungen suchen, jede der Lösungen auf pro und contra prüfen, die beste Alternative auswählen und das Ergebnis bewerten)
6
Regelmäßige Pausen einplanen Arbeit zu den Zeiten bester Leistungsfähigkeit, besonders bei geistig anspruchsvollen Tätigkeiten Effektive Organisation des Arbeitsplatzes Schlafhygiene unterstützen Medikation (Schlafmittel und Stimulantien) überprüfen Auf Gewichtsbegrenzungen beim Heben achten Aktivitäten schrittweise organisieren, so dass genügend Zeit für den Übergang von einer Aufgabe zur anderen bleibt 4 Extrazeit einplanen, um die motorische Verlangsamung auszugleichen
Verwendung von Gedächtnisbüchern, Kalendern, Checklisten, Wecker, To-do-Listen anregen Gedächtnistechniken und Techniken der bildhaften Vorstellung unterrichten Klienten ermuntern, Informationen auswendig zu lernen, die sie behalten sollen Klienten die Schritte auflisten lassen, die sie für die Durchführung einer Aufgabe benötigen Aufgaben in kleine Schritte zerlegen, wobei jeder neue Schritt erst dann eingeführt wird, wenn der vorangehende bewältigt wurde 4 Klienten die Instruktionen für die Erledigung einer Aufgabe wiederholen lassen und häufig die Abläufe überprüfen 4 Klienten ermuntern, Informationen auf Band aufzuzeichnen und wieder abzuhören 4 Nach Gelegenheiten für praktisches »hands on learning« (Lernen durch Zupacken) suchen Training in kommunikativen Fähigkeiten anbieten Modell für effektive Kommunikationsfähigkeiten anbieten Sorgfältiges Zuhören unterrichten Verwendung von Gesten ermuntern, um die Kommunikation zu verstärken Klienten ermuntern, andere zu bitten, langsam zu sprechen Klienten ermuntern, um Klärung zu bitten, wenn sie verwirrt sind Klienten unterrichten, dass sie andere bitten können, ihnen kurze Instruktionen mit einfachen Sätzen zu geben und nach jeder Teilnachricht eine Pause zu machen 4 Klienten ermuntern, Informationen, die sie erhalten, zu wiederholen, um sicherzugehen, dass sie diese richtig verstanden haben 4 Klienten bei Wortfindungsschwierigkeiten ermuntern, das gesuchte Wort zu umschreiben Zusätzliche Zeit ermöglichen, um Aufgaben zu erledigen und neue Aufgaben zu lernen Arbeitsauftrag in kleinere Gruppen von Unteraufgaben aufteilen Klienten, die langsam sprechen, extra Zeit geben und andere ermuntern, das Gleiche zu tun Langsam lernenden Personen wichtige Informationen wiederholen
30
468
Kapitel 30 · Beschäftigung und berufliche Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma
. Tab. 30.1 (Fortsetzung) Probleme
Intervention/Kompensatorische Strategie
Persönlichkeit, Stimmung und Verhaltensprobleme Rechthaberisches Verhalten und Probleme, Ärger zu kontrollieren
4 4 4 4 4 4
Depression, Angst, Spannung und Stress
4 4 4 4 4 4 4 4 4
Mangel an Durchhaltevermögen, Initiative und Motivation
4 Klienten in der Selbstbeurteilung ihrer Leistungen unterrichten 4 Klienten helfen, realistische klare Ziele und Erwartungen zu entwickeln 4 Arbeitsplan mit Verpflichtungen entwickeln, die den Fähigkeiten der Klienten angemessen sind 4 Klienten helfen, die Schritte aufzuzeichnen, die notwendig sind, um eine Aufgabe fertigzustellen 4 Selbst-Coaching (Selbstmanagement) lehren 4 Klienten ermuntern, ihre Aufgaben zu kommentieren 4 Positives Feedback geben 4 Klienten häufig Hinweise geben
Zwischenmenschliche Probleme
4 4 4 4 4
30
Selbstmonitoring von Emotion und Verhalten unterrichten Selbstsicherheitstraining anbieten Ärgermanagement und Impulskontrolltraining anbieten Konfliktlösestrategien unterrichten Häufiges und konstruktives Feedback geben Selbst ein Modell für gutes Management von Ärger und Konfliktlösung sein
Selbstmonitoring von Stimmungen unterrichten Stressmanagement und Entspannungstraining anbieten Häufig konstruktive Rückmeldung geben Klienten helfen, realistische klare Ziele und Erwartungen aufzustellen Regelmäßige Pausen einplanen Regelmäßig mit den Klienten das Stressniveau prüfen Nach Prioritäten ordnen Bedenken, dass es zum Scheitern führen kann, zu früh zu viel anzupacken Klienten ermuntern, Unterstützung von außen zu suchen (z.B. Unterstützung von Familie und Freunden, Selbsthilfegruppen) 4 Klienten ermuntern, sozial-psychiatrische Hilfen in Anspruch zu nehmen (z.B. Einzeltherapien, Familientherapie, Umstellung von Medikation)
Training sozialer Fähigkeiten anbieten Kommunikative Fähigkeiten unterrichten Rollenspiele anbieten, um angemessen soziale Situationen zu bewältigen Selbst ein Modell für gutes soziales Verhalten sein Häufige und konstruktive Rückmeldung geben
Je besser die Arbeitsaufgaben bewältigt werden, desto weniger wird der Job-Coach benötigt, und die Zeit für direkte Interventionen reduziert sich. Nach Stabilisierung der Beschäftigung, i.d.R. etwa nach 6 Monaten, sind für die Arbeitsplatzbegleitung nur noch ca. 1–3 Stunden/Monat erforderlich. Auch Schwierigkeiten außerhalb der Arbeitsumgebung können eine Beschäftigung beeinflussen. Teile einer langen Liste von Problemen, die sich auf den Erhalt des Arbeitsplatzes auswirken (Kreutzer et al. 1991, Sander et al. 1997), sind 4 Familienkonflikte, 4 Alkoholmissbrauch, 4 Depression und 4 Fahruntauglichkeit. Um die Auswirkungen äußerer Faktoren zu eliminieren oder zu begrenzen, werden den Beschäftigen zudem Möglichkeiten angeboten, fachpsychologische Unterstützung, Freizeitaktivi-
täten, Suchtbehandlung oder Gelegenheiten zu sozialen Kontakten wahrzunehmen. jAufgabenbereich der Beschäftigten Das Rehabilitationsteam ermuntert die Klienten, sich vor dem Arbeitseinsatz verschiedene Beschäftigungsmöglichkeiten zu überlegen und sich aufgrund von Interessen und Fähigkeiten für bestimmte Tätigkeiten zu bewerben (Wehman et al. 1990). Einmal eingestellt, sind die Erwartungen an ihre Leistungsfähigkeit vergleichbar denjenigen an andere Beschäftigte, und die hirnverletzten Beschäftigten haben die gleichen Chancen wie die nicht verletzten Vergleichspersonen. jEinstellung unter Konkurrenzbedingungen, Löhne und Sozialleistungen Die Klienten werden in demselben Bewerbungsverfahren eingestellt wie andere Beschäftigte (Wehman et al. 1991). Man erwartet von ihnen, dass sie eine Standardbewerbung abge-
469 30.5 · Erfahrungslehren
ben und ein Interview bestehen. Ein Job-Coach kann die Klienten unterstützen, indem er ihnen hilft, die Bewerbungsunterlagen auszufüllen, für Fahrmöglichkeiten sorgt oder die Klienten mit Rollenspieltechniken für das Interview vorbereitet. Weiterhin erhalten Beschäftigte mit Behinderung die gleiche Bezahlung und Sozialleistungen wie andere Mitarbeiter (Wehman et al. 1989). In einer neuen Längsschnittstudie mit mittelgradig bis schwer Hirnverletzten betrug der Stundenlohn durchschnittlich 5,25 US$ (3,35–11,99 $) (Wehman et al. 2003). jAusmaß der Ausgrenzung Den Klienten wird geholfen, Jobs in ihrer Heimatgemeinde zu finden und zu behalten. Sie arbeiten in örtlichen Betrieben mit Mitarbeitern, von denen die meisten nicht behindert sind (Wehman et al. 1993). Um Ausgrenzung zu vermeiden und die Eingliederung in die Gemeinde breit gefächert zu unterstützen, arbeiten nur wenige Klienten bei einem Arbeitgeber.
30.4.2
Spezielle Aspekte der Begleitung am Arbeitsplatz
Andere Eigenheiten der Arbeitsplatzbegleitung sind in . Übersicht 30.5 zusammengefasst und nachfolgend beschrieben. jAbstimmung zwischen Arbeitswunsch und Arbeitsplatz Die Erfahrung zeigt, dass die Beschäftigten letztlich bei Arbeiten scheitern, die sie als sinnlos, abwertend oder langweilig empfinden. Um ein solches Scheitern zu vermeiden, werden alle Anstrengungen unternommen, um eine für die Ziele, Interessen und Fähigkeiten der Klienten ideale Beschäftigung zu finden. In der Arbeitsplatzbegleitung wird den Klienten ein Job nicht einfach nach Verfügbarkeit zugeteilt. Vielmehr wird Wert darauf gelegt, den Klienten die Möglichkeit zu einer informierten Entscheidung zu geben. Basierend auf einer Arbeitsplatzanalyse werden den Klienten die vorhandenen Jobs umfassend erklärt, und sie werden ermuntert, unter diesen zu wählen. Um den Auswahlerfolg zu verbessern, verbringen Job-Coaches erhebliche Zeit damit, die Interessen der Klienten herauszubekommen und ein weites Spektrum von Beschäftigungsmöglichkeiten zu finden. Da die Unterstützung der Familie von unschätzbarem Wert ist, werden alle Anstrengungen unternommen, die Familienmitglieder in diesen Abstimmungsprozess einzubeziehen. . Übersicht 30.5. Spezielle Aspekte der Arbeitsplatzbegleitung 1. 2. 3. 4.
Abstimmung zwischen Arbeitswunsch und Arbeitsplatz Beratung von Mitarbeitern und Arbeitgebern Garantie für die Erfüllung der Arbeitsleistung Eingehende laufende Bewertung der Ergebnisse
jBeratung von Mitarbeitern und Arbeitgebern Vor dem Einsatz unterrichtet der Job-Coach die Mitarbeiter und Arbeitgeber über die Auswirkungen einer Hirnschädigung sowie die Stärken und Schwächen des Klienten. Diese Beratung zielt darauf ab, die häufig anzutreffenden negativen Stereotypen und Einstellungen gegenüber Personen mit Behinderungen zu überwinden. Während des Einsatzes fungiert der Coach als Verbindungsmann zwischen Klient, Mitarbeitern und Arbeitgeber: Er hält die Kommunikation aufrecht, spricht rechtzeitig potenzielle Probleme an und vermittelt zwischen Arbeitgeber und Klient. jGarantie für die Erfüllung der Arbeitsleistung Alle Anstrengungen werden unternommen, um den Arbeitgeber nicht in die Situation zu bringen, dass wesentliche Arbeitsaufgaben unvollständig ausgeführt werden, weil der Klient die Leistungsstandards nicht schafft. Während der Jobsuche wird die Zusage gegeben, dass die geforderte Aufgabe erledigt wird. Um diese Zusage einzuhalten, muss der JobCoach möglicherweise Hand in Hand mit dem Klienten arbeiten, um bestimmte Arbeitsziele zu erreichen. Diese Art von Intervention ist i.d.R. nur zu Beginn des Einsatzes notwendig. jEingehende laufende Bewertung der Ergebnisse Fortlaufende Datensammlung und Analyse sind wichtige Komponenten des Modells der Arbeitsplatzbegleitung. Sie sind hilfreich für die Weiterentwicklung des Programms und verbessern die Effizienz und Ergebnisqualität (Wehman et al. 1995). Eine sorgfältige regelmäßige Beobachtung der Fortschritte der einzelnen Klienten wie auch eine kritische Bewertung des Programms sind essenziell, um den Erfolg der Arbeitsplatzbegleitung aufrechtzuerhalten. Die erhobenen Daten umfassen 4 Schwere des Schädel-Hirn-Traumas, 4 Alter, 4 Zeit seit der Verletzung, 4 Beschäftigungsstatus und 4 Löhne. Zusätzlich werden folgende Informationen gesammelt: 4 Zeitdauer und Arten der Interventionen, 4 Leistungen von Arbeitgebern und Klienten sowie deren Zufriedenheit, 4 Gründe für einen Abbruch der Beschäftigung, 4 Faktoren, die eine erfolgreiche berufliche Wiedereingliederung stützen, und 4 Niveau der Stabilität der Beschäftigung.
30.5
Erfahrungslehren
Die Erfahrungen der letzten 15 Jahre brachten wichtige Erkenntnisse für Forscher und Kliniker. Die Hinweise in . Übersicht 30.6 sind Ergebnisse ausgedehnter klinischer Erfahrung und Forschung. Wer beabsichtigt, ein Programm der unterstützten Beschäftigung einzurichten, sollte diese berücksichtigen.
30
470
Kapitel 30 · Beschäftigung und berufliche Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma
. Übersicht 30.6. Empfehlungen für ein Programm der unterstützten Beschäftigung 1. 2. 3. 4. 5. 6.
7.
30
Einige Klienten tun sich leichter als andere Verhaltensneurologische und emotionale Probleme beeinträchtigen die Arbeitsleistung massiv Ein holistischer Ansatz ergibt wahrscheinlich die besten Ergebnisse Alkohol- und Substanzmissbrauch treten häufiger nach erfolgreicher Arbeitsaufnahme auf Einfache Tätigkeiten und Arbeit in Familienbetrieben bieten die besten Erfolgsaussichten Finanzielle Benachteiligungen können die Chancen auf eine Rückkehr zum Arbeitsplatz erheblich beeinträchtigen Unterstützte Beschäftigung ist kosteneffektiv
jEinige Klienten tun sich leichter als andere Erfolgreiche Klienten sind tendenziell älter, haben klar umschriebene berufliche Interessen und gute zwischenmenschliche Fähigkeiten. Erfolgreiche Klienten haben außerdem relativ intakte motorische und visuelle Fähigkeiten, und sie sind fähig, über längere Zeitabschnitte unabhängig zu arbeiten. Sie benutzen regelmäßig kompensatorische Strategien in ihrer häuslichen Umgebung. jVerhaltensneurologische und emotionale Probleme beeinträchtigen die Arbeitsleistung massiv Eine Übersicht über die Ergebnisdaten zeigt, dass der größte Teil der Arbeitsabbrüche nichts mit dem Mangel an arbeitsplatzbezogenen Fähigkeiten zu tun hat (Sale et al. 1991, Wehman et al. 1993). Dagegen führen unangemessenes zwischenmenschliches Verhalten, Unzuverlässigkeit und Unpünktlichkeit sowie andere verhaltensneurologische Schwierigkeiten häufig zur Beendigung der Beschäftigung. Psychische Belastungen beeinflussen ebenso die Arbeitsleistung. Stress und Angst steigen oft unmittelbar vor und zu Beginn des Arbeitsverhältnisses an. Häufige Ursachen für den Stress der Klienten sind 4 Ermüdbarkeit, 4 Notwendigkeit, neue Fähigkeiten zu erlernen, 4 Auseinandersetzung mit neuen Personen und 4 Angst vor Versagen. jEin holistischer Ansatz ergibt wahrscheinlich die besten Ergebnisse Obwohl die Begleitung am Arbeitsplatz wichtig ist, hängt der Erfolg des Programms auch von der Verfügbarkeit anderer Dienstleistungen ab. Psychische Erkrankungen, Familienprobleme, finanzielle Sorgen und Beförderungsprobleme können jede noch so erfolgreiche Unterstützung vor Ort untergraben. Um Probleme zu beheben, sollten die Job-Coaches ihre Klienten aufmerksam beobachten. Zu den Leistungen gehören 4 Case-Management, 4 Familien- und Psychotherapie,
4 Medikamenteneinnahme und 4 Suchttherapie. Auch an die Unterstützung bei der Beförderung und in finanziellen Angelegenheiten sollte gedacht werden. jAlkohol- und Substanzmissbrauch treten häufiger nach erfolgreicher Arbeitsaufnahme auf Probleme mit Alkohol und illegalen Drogen können die Arbeitsleistung und den Erhalt des Arbeitsplatzes erheblich beeinträchtigen. Näher betrachtet Alkoholprobleme Die Forschung in den USA zeigt, dass 25–46% der Überlebenden eines schweren Schädel-Hirn-Traumas nach dem Unfall mäßig bis schwer trinken (Kolakowsky-Hayner et al. 2002, Kreutzer et al. 1990, 1996; Sander et al. 1997). Tatsächlich fanden die Autoren, dass Erwerbstätige mit einer Hirnverletzung 2-mal so häufig Alkohol tranken wie vergleichbare Arbeitslose und dass sie fast 2-mal so häufig als schwere Trinker einzustufen waren wie die Vergleichsgruppe (Sander et al. 1997).
Eine erfolgreiche Beschäftigung bietet einen größeren Zugang zu Geld, Mobilität und damit zu Alkohol. Ironischerweise kann man neue Probleme schaffen, wenn man Menschen hilft, an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Um Menschen zu helfen, ihre Jobs zu behalten, werden Prävention, Beratung und Unterstützung bei Suchtproblemen empfohlen. jEinfache Tätigkeiten und Arbeit in Familienbetrieben bieten die besten Erfolgsaussichten Die Begleitung am Arbeitsplatz war äußerst erfolgreich, Menschen einfache Tätigkeiten z.B. in 4 Wachdiensten, 4 Büros, 4 Gastronomie oder 4 Anlerntätigkeiten zu vermitteln und diese zu behalten (Wehman et al. 1988). Der Erfolg in Berufen, die eine lange Ausbildung und anspruchsvolle Fähigkeiten erfordern (z.B. Juristen, Buchhalter, Mediziner und Informatiker) ist sehr fraglich. Familienbetriebe bieten die besten Chancen für Hirnverletzte, um ins Arbeitsleben zurückzukehren. Familienmitglieder bieten tendenziell eine besonders unterstützende Arbeitsumgebung an, sie haben ein größeres Verständnis für persönliche und verhaltensneurologische Probleme und erlauben flexiblere Arbeitszeiten. jFinanzielle Benachteiligungen können die Chancen auf eine Rückkehr zum Arbeitsplatz erheblich beeinträchtigen Wehman et al. (1995) fanden die folgenden finanziellen Fehlanreize, die die Motivation zur Wiedereingliederung reduzieren:
471 30.5 · Erfahrungslehren
4 4 4 4
verminderte Entschädigung in Gerichtsverfahren, Verlust des Krankengeldes, Verminderung oder Verlust des Verletztengeldes, Verminderung des Nettoeinkommens, nach Abzug von Beförderungskosten, Kosten für Versorgung der Familie, Kleidung und andere Aufwendungen, 4 schlechte Bezahlung. Um Motivation und Leistungen zu optimieren, müssen solche Aspekte direkt mit dem Klienten besprochen werden. jUnterstützte Beschäftigung ist kosteneffektiv Untersuchungen zeigen, dass das individualisierte berufliche Unterstützungsmodell ein kosteneffektives Rehabilitationsverfahren für Personen mit einer traumatischen Hirnschädigung ist. Tatsächlich steigert sich die Kosteneffizienz dieses Programms mit jedem Jahr, und vom 4. Jahr an übersteigen die Gewinne die Kosten (Kregel et al. 2000).
Näher betrachtet Studie: Kosteneffizienz des unterstützen Beschäftigungsmodells In einer jüngst veröffentlichen Studie untersuchten Wehmann et al. (2003) die Kosten für eine unterstützte Beschäftigung und die Effizienz dieser Programme. 61 Personen mit mäßigem bis schwerem SHT wurden untersucht. Alle nahmen zwischen August 1985 und August 1999 mindestens an einem Einsatz mit Arbeitsplatzunterstützung teil, mit einer mittleren Beschäftigungsdauer von 42 Monaten. Während der Beschäftigung betrug das Bruttoeinkommen im Mittel 26.130 US$, die Kosten für die Arbeitsplatzunterstützung betrugen im Mittel 10.349 US$. Also war der Verdienst der hirnverletzten Personen deutlich höher als die Kosten, die sie während des Beschäftigungsprogramms verursachten.
. Tab. 30.2. Strategien für Arbeitsbetreuer Strategien
Vorschläge
Aufbau einer Beziehung zwischen Job-Coach und Klient
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Arbeitsplatzanalyse
4 4 4 4 4
Anbieten einer Unterstützung vor Ort
4 Bei der Arbeitsplatzanpassung helfen 4 Bei der Entwicklung kompensatorischer Strategien zum Ausgleich kognitiver Defizite helfen 4 Lernstrategien der Klienten zeigen lassen
Hilfe beim Problemlösen
4 Persönliche Probleme identifizieren und bei der Lösung helfen 4 Zwischenmenschliche Probleme identifizieren und prüfen, ob Vorgesetzte unterstützen und kompetent sind 4 Regeln am Arbeitsplatz unterrichten 4 Unterrichten der Fähigkeit, Ärger zu managen 4 Unterrichten der Fähigkeit, Stress zu managen
Anbieten einer langfristigen Unterstützung
4 4 4 4
Ziele und Erwartungshaltung der Klienten identifizieren Klienten über die Erwartungen am Arbeitsplatz unterrichten Klienten erlauben, zu entscheiden, welche Art von Arbeit ihnen wertvoll ist Klienten helfen, realistische Ziele zu setzen Frühere Tätigkeiten der Klienten analysieren Fähigkeiten und Fertigkeiten identifizieren, die erfolgversprechend sind Körperliche Einschränkungen festlegen Energieniveau einschätzen Mögliche Probleme im Vorhinein identifizieren Kognitive Fähigkeiten wie Gedächtnis und Aufmerksamkeit untersuchen
Prüfen, ob der Arbeitsplatz gesund ist Interaktion zwischen den Mitarbeitern beobachten Mitarbeiterfluktuation erfragen Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter prüfen Unterstützung am Arbeitsplatz identifizieren, z.B. schriftliche Arbeitsanweisungen, Beziehung unter den Arbeitskollegen und Verfügbarkeit von Supervisoren 4 Mögliche Hindernisse für einen Erfolg identifizieren
Gute Beziehung zu Arbeitgebern entwickeln Leistung der Klienten beobachten und beurteilen, Leistungsdaten notieren Feedback von den unmittelbaren Vorgesetzten der Beschäftigten holen Prompt auf Anrufe der Arbeitgeber reagieren
30
472
Kapitel 30 · Beschäftigung und berufliche Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma
30.6
Spezifische Strategien für Beschäftigungsspezialisten
In einer jüngst erschienen Arbeit haben Yasudo et al. (2001) Vorschläge gemacht, um die unterstützten Beschäftigungsmodelle noch zu verbessern. In . Tab. 30.2 sind Empfehlungen für Beschäftigungsspezialisten und Job-Coaches zusammengestellt.
30.7
30
Herausforderungen für die Zukunft
Die hohen Arbeitslosenzahlen sind für viele hirngeschädigte Menschen ein ernstes Problem. Die Kosten der Arbeitslosigkeit sind sowohl aus finanzieller wie auch psychosozialer Sicht hoch. Die Erfahrung mit individualisierten Modellen der Arbeitsplatzunterstützung im Rahmen der beruflichen Rehabilitation hat geholfen, Grundlagen und Techniken zu identifizieren, mit denen sich Beschäftigungsmöglichkeiten verbessern lassen. Die entscheidenden Faktoren, die zum Erfolg dieser Programme beitragen, sind 4 die langfristige Begleitung vor Ort am Arbeitsplatz und 4 das Angebot umfassender Dienste, die sich an den individuellen Bedürfnissen der Klienten orientieren. Für Rehabilitationsfachkräfte, die erfolgreiche Beschäftigungsmodelle aufbauen wollen, bleibt eine Reihe von Herausforderungen (. Übersicht 30.7). Es besteht Hoffnung, dass diese Herausforderungen mit gemeinsamen Bemühungen in den nächsten Jahren bewältigt werden können. . Übersicht 30.7. Herausforderungen für erfolgreiche Beschäftigungsmodelle 1. 2. 3.
4.
5. 6.
Bereitstellung von Mitteln für eine lang dauernde unterstützende berufliche Begleitung Finden einer sinnvollen Arbeit für Personen, die ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten haben Wiedereingliederung auch für Menschen mit sehr schweren physischen, verhaltensneurologischen, kognitiven und sensorischen Behinderungen wie Erblindung, Tetraparese und Frontalhirnsyndrom Zugangsberechtigung zu beruflicher Unterstützung auch für Menschen, die ihre Tätigkeit wechseln wollen Abbau negativer Vorurteile gegenüber Behinderten in der Öffentlichkeit Hilfe für Menschen, nach erfolglosen Arbeitsversuchen neue Lebensziele zu entwickeln
30.8
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30
31
Fahreignung J. Küst 31.1 Rechtliche Rahmenbedingungen
– 476
31.2 Grundlagen der Beurteilung der Fahreignung 31.3 Neuropsychologische Diagnostik 31.3.1 31.3.2 31.3.3 31.3.4 31.3.5 31.3.6 31.3.7 31.3.8
– 479
Neuropsychologische Leistungsfähigkeit – 479 Psychische Leistungsfähigkeit – 480 Visuelle Wahrnehmungsfähigkeit – 481 Aufmerksamkeitsfunktionen – 481 Aphasie – 481 Gedächtnis – 482 Planungs- und Problemlösestörungen – 482 Ältere Kraftfahrer – 482
31.4 Fahrverhaltensprobe
– 482
31.5 Einsatz von Fahrsimulatoren 31.6 Therapie der Fahreignung 31.7 Ausblick
– 484
31.8 Literatur
– 485
– 483
– 484
– 477
476
Kapitel 31 · Fahreignung
Durch neurologische Erkrankungen können Schädigungen von Funktionen entstehen, welche die Kraftfahreignung einschränken. Eine Aufgabe der neurologischen Rehabilitation besteht deshalb in dem Erhalt oder der Wiedererlangung der Fahreignung. Neben dem Erhalt der Mobilität ist das Autofahren auch häufig eine Quelle des Selbstbewusstseins und erlaubt eine Wiedereingliederung in Beruf und Gesellschaft. Bislang lag der Fokus der Forschung und auch der klinischen Praxis überwiegend auf dem Versuch der Vorhersage der Fahreignung aufgrund diagnostischer Untersuchungen und klinischer Urteilsbildung. Dagegen wurden bisher nur wenige Untersuchungen zum tatsächlichen Fahrverhalten nach Hirnschädigungen oder auch zur Therapie der Fahreignung durchgeführt. Mit der zunehmenden Diskussion über die funktionelle Unabhängigkeit behinderter Menschen und deren Integration in die Gesellschaft muss der Schwerpunkt auch im Bereich der Fahreignung von einer reinen Diagnostik hin zum Erhalt der Fahreignung verlagert werden.
31
Näher betrachtet Studien: Fahreignung nach Hirnschädigungen Angesichts der Relevanz der Fahreignung nach Hirnschädigungen ist die empirische Kenntnis über Unfallhäufigkeit oder über kognitive Voraussetzungen für die Teilnahme am Straßenverkehr erstaunlich gering. Daten über Unfallhäufigkeiten oder darüber, wie viele Patienten die Fahreignung wiedererlangen, liegen kaum vor. Systematisch werden Daten in Ländern mit einer Meldepflicht nach neurologischen Erkrankungen erhoben. Follow-up-Untersuchungen zeigen, dass ca. 30–50% der hirngeschädigten Patienten ihre Fahreignung wiedererlangen (Brouwer u. Withaar 1997, Fisk et al. 1998, Hopewell u. Price 1985, Shore et al. 1980, van Zomeren et al. 1987). Befragungen von neurologischen Patienten ergaben, dass ca. 30–50% ohne entsprechende Diagnostik wieder Auto fahren (Dettmers 2001, Hannen et al. 1998). Schultheis et al. (2002) verfolgten einige Jahre lang 47 Patienten mit einem Schädel-Hirn-Trauma nach positiver Beurteilung der Fahreignung. Im Unterschied zu anderen Studien konnte neben der Selbstauskunft der Patienten auch auf offizielle Quellen, z.B. über Unfallhäufigkeiten oder Verstöße gegen Verkehrsregeln, zugegriffen werden. Dabei ergaben sich im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe nur geringfügige Unterschiede. Qualitative Analysen des Fahrverhaltens neurologischer Patienten ergaben allerdings Fahrprobleme in vielen Bereichen (Lundquist u. Rönnberg 2001). Häufig auftretende Probleme waren u.a. 4 unzulängliche Einschätzung der Position des Fahrzeugs (Wahrnehmung der Fahrzeuggröße, Position auf der Straße, im Kreisverkehr, schlechtes Spurhalten), 4 mangelnde Aufmerksamkeit (z.B. gegenüber Fußgängern, bei Verkehrsschildern und Ampeln), 4 mangelnder Überblick an freien Kreuzungen, 4 häufiges Fragen um Rat, 4 Schwierigkeiten, selbstständig Lösungen für komplexe Situationen zu finden. Auch erfahrene Fahrer wirkten teilweise wie Fahranfänger.
31.1
Rechtliche Rahmenbedingungen
In den rechtlichen Rahmenbedingungen schlägt sich das Bemühen nieder, die Sicherheit im Straßenverkehr im Interesse des Gemeinwohls und den Anspruch des Einzelnen auf Teilnahme am Straßenverkehr abzuwägen. Die Bestimmungen zur Fahreignung nach Hirnschädigungen sowie die Mindestanforderungen, die an die Leistungsfähigkeit gestellt werden, sind international sehr unterschiedlich: 4 Es gibt Länder mit Meldepflicht und Bestimmungen zur Erneuerung des Führerscheins wie auch 4 Länder, bei denen die Meldung freiwillig ist, jedoch geregelte Verfahrensweisen zur Überprüfung bestehen. In der BRD werden die maßgeblichen Bestimmungen in der zum 1. Januar 1999 eingeführten Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (FahrerlaubnisVerordnung, FeV) aufgeführt (Bundesgesetzblatt Nr. 55 Teil I 1998). Demnach besteht eine Vorsorgepflicht des Patienten:
»
Wer sich infolge körperlicher oder geistiger Mängel nicht sicher im Verkehr bewegen kann, darf am Verkehr nur teilnehmen, wenn in geeigneter Weise Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht gefährdet. Die Pflicht zur Vorsorge … obliegt dem Verkehrsteilnehmer selbst oder einem für ihn Verantwortlichen. (§2 Abs. 1 FeV)
«
Im Weiteren wird ausgeführt, dass die rechtsverbindliche Abklärung nur durch die zuständige Verwaltungsbehörde erfolgen kann, so dass eine Untersuchung z.B. im Rahmen einer Rehabilitationsmaßnahme nur einen informellen Charakter haben kann. Zur Begutachtung kann die Behörde Sachverständige auswählen und beauftragen. Sinnvoll wäre jedoch eine verbesserte rechtliche Stellung der bereits erhobenen Untersuchungsergebnisse z.B. aus den Rehabilitationsmaßnahmen, da in der Neurologie die klinische Beurteilung eine hohe Fachkompetenz voraussetzt (Lewrenz u. Püschel 2001). Die Beurteilung der Fahreignung geschieht immer in einem Spannungsfeld: 4 Auf der einen Seite steht das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Therapeut, 4 auf der anderen Seite die Sicherheit. jAufklärung des Patienten Vielen Patienten ist nicht bewusst, dass ihre neurologische Erkrankung eine Auswirkung auf ihre Fahreignung haben kann. Zur Aufklärung des Patienten gehören Hinweise auf seine Eigenverantwortlichkeit und auch auf mögliche versicherungs- und strafrechtliche Konsequenzen. Im Rahmen der Behandlung muss der Arzt den Patienten über Mängel der Fahreignung informieren. Versäumt er dies, kann dies einen Behandlungsfehler darstellen. In jedem Fall muss die Aufklärung des Patienten schriftlich in der Krankenakte dokumentiert werden. Der Arzt kann nach entsprechender Abwägung der zu schützenden Rechtsgüter, wie der Schweigepflicht, und nach entsprechender Aufklärung des Patienten die Verkehrsbehörde verständigen (Geppert 2002, Rieger 1995). Die Mel-
477 31.2 · Grundlagen der Beurteilung der Fahreignung
dung an eine Behörde setzt voraus, dass intensive Bemü-
hungen, den Patienten vom Lenken eines Fahrzeugs abzuhalten, gescheitert sind, und dass eine schwerwiegende Gefahr für die Öffentlichkeit von dem Fahrzeuglenker ausgeht. Für die Beurteilung ist es wichtig, ob der Patient zu eigenverantwortlichem Handeln in der Lage ist (zur Vertiefung Peitz u. Hoffmann-Born 2005, Neumann-Zielke 2004).
umzugehen. Oft ist es sinnvoll, das Aufklärungsgespräch zusammen mit Angehörigen zu führen. In einigen Einrichtungen wird die Aufklärung über mögliche Einschränkungen der Fahreignung und die rechtlichen Rahmenbedingungen vom Patienten unterschrieben (Rieger 1995). Patienten können so eher die Tragweite dieser Problematik erkennen. Ein Nachteil dieser Vorgehensweise besteht darin, dass die therapeutische Arbeit anschließend erschwert sein kann.
Fazit Die rechtlichen Vorgaben zur Verfahrensweise im Umgang mit der Fahreignung hirngeschädigter Menschen sind unzureichend und bedürfen dringend klarer Richtlinien (Bülau u. Steinmeyer 1995, Geppert 2001, Grote u. Bock 1980, Mönning et al. 1997, Neumann-Zielke 2004).
jÜberprüfung der Fahreignung Die Beratung der Patienten dahingehend, ob sie sich an die entsprechende Behörde wenden sollen, wird durch die unterschiedliche Umsetzung der Bestimmungen in der Praxis erschwert. Mehrheitlich wird von der Verwaltungsbehörde eine Überprüfung, z.B. durch 4 eine medizinisch-psychologische Untersuchung, 4 eine Fahrverhaltensprobe oder 4 eine Begutachtung durch einen verkehrsmedizinisch qualifizierten Facharzt veranlasst, sofern sie Kenntnis von Zweifeln an der Fahreignung erhält. Dies wird offenbar von Verwaltungsbehörde zu Verwaltungsbehörde unterschiedlich gehandhabt. Patienten, die den Gang zur Verwaltungsbehörde unternommen haben, berichten teilweise, dass die in der Rehabilitationsklinik erhobenen Befunde akzeptiert wurden und lediglich eine Fahrverhaltensprobe z.B. bei notwendigen technischen Umbauten durchgeführt wurde. Andere Behörden informierten Patienten (fälschlicherweise), dass die Fahreignung ohne die Eigenmeldung des Patienten weiterhin gegeben gewesen wäre. Praxistipp Für die klinische Praxis ist zu empfehlen, dass der Patient (bzw. der Therapeut) Kontakt mit den entsprechenden Verkehrsbehörden aufnimmt, um deren Verfahrensweise z.B. mit erhobenen Befunden oder bereits durchgeführten Fahrverhaltensproben zu erfragen.
jDokumentation des Aufklärungsgesprächs Häufig fehlen in Rehabilitationskliniken einheitliche Standards im Umgang mit dem Thema »Fahreignung«. Im Rahmen der Sicherung der Prozessqualität sollten die diagnostischen und therapeutischen Aufgaben verteilt und auch festgelegt werden, wer den Patienten über mögliche Einschränkungen der Fahreignung aufklärt und in welcher Form dies dokumentiert wird. Die Letztverantwortung liegt beim behandelnden Arzt. Bei Vermutung einer mangelnden Einsichtsfähigkeit des Patienten kann es unterschiedliche Strategien geben, damit
31.2
Grundlagen der Beurteilung der Fahreignung
Maßgeblich ist die sog. Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen (§2 Abs. 2 Nr. 3 StVG, StVR 1999). Dieser Begriff ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, so dass zur Beurteilung und Konkretisierung der Eignung Leitlinien notwendig sind. Der Gemeinsame Beirat für Verkehrsmedizin beim Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und beim Bundesministerium für Gesundheit hat das Gutachten Krankheit und Kraftverkehr und das Psychologische Gutachten Kraftfahreignung in den aktuellen Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (Bundesanstalt für Straßenwesen 2000) zusammengeführt. Diese Leitlinien haben keinen Gesetzesrang und sind nicht verbindlich. Sie geben lediglich Hinweise auf mögliche Beurteilungskriterien. Die zur Beurteilung wichtigen Aspekte werden in §46 der FeV erläutert:
» Erweist sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5, oder 6 vorliegen (…). Erweist sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis noch als bedingt geeignet, (…) schränkt die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis soweit wie notwendig ein oder ordnet die erforderlichen Auflagen an (…). (§46 FeV)
«
jFahrerlaubnisklassen In Anlage 4 der FeV werden häufig vorkommende Krankheiten und damit verbundene mögliche Einschränkungen der Eignung entsprechend der beiden Gruppen von Fahrerlaubnisklassen (. Tab. 31.1) aufgelistet und Hinweise zu Auflagen oder Beschränkungen gegeben (. Tab. 31.2). Grundlage der Beurteilung ist i.d.R. ein ärztliches Gutachten; bei Zweifeln wird ein medizinisch-psychologisches Gutachten erforderlich. > Bei neurologischen Erkrankungen sind zur Beurteilung des Einzelfalls spezielle Kenntnisse notwendig; eine verkehrsmedizinische Weiterbildung allein reicht nicht aus (Lewrenz u. Püschel 2001).
jFahreignung bei neurologischen Erkrankungen In den Leitlinien (Bundesanstalt für Straßenwesen 2000) (. Tab. 31.2) entspricht die Auflistung der Krankheiten und Mängel für das Fachgebiet der Neurologie nicht immer dem aktuellen wissenschaftlichen Stand (z.B. die Einordnung der
31
478
Kapitel 31 · Fahreignung
. Tab. 31.1. Gruppeneinteilung der neuen Fahrerlaubnisklassen (vgl. Anlage 3 zu §6 Abs. 7 FeV) Gruppe 1
Gruppe 2
Führer von Fahrzeugen der Klassen A, A1, B, BE, M, L und T (entspricht etwa PKW und LKW bis 3,5 t)
Führer von Fahrzeugen der Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E und Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung (entspricht LKW ab 3,5 t und Personenbeförderung)
Anmerkung: Diese Aufteilung zeigt, dass es bei der Beurteilung der Fahreignung nicht – wie weit verbreitet – um die Unterscheidung zwischen privatem und beruflichem Gebrauch des Fahrzeugs geht, sondern darum, welche Art von Fahrzeug genutzt wird und ob Personen befördert werden sollen
. Tab. 31.2. Zusammenstellung der wichtigsten Informationen zu Krankheiten und Fahreignung entsprechend Anlage 4 und den Begutachtungsleitlinien Gruppe 1
Gruppe 2
Erkrankungen und Folgen von Rückenmarksverletzungen/Erkrankungen der neuromuskulären Peripherie
31
Eignung
Abhängig von der Symptomatik Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung: Bei fortschreitendem Verlauf Nachuntersuchungen
Anmerkung
Fahrtauglichkeitsrelevante Einschränkungen ergeben sich v.a. aus dem Kontrollverlust bzw. Lähmung der Beine und höhenabhängig der Arme, so dass z.B. Lenkung und Pedalbedienung betroffen sein können. Zu prüfen sind entsprechende technische Umbauten des Fahrzeugs
Keine Eignung
Morbus Parkinson und andere extrapyramidale Erkrankungen, einschließlich zerebellärer Syndrome Keine Eignung
Eignung
Eignung: bei leichten Fällen und erfolgreicher Therapie Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung: Nachuntersuchungen in Abständen von 1, 2 und 4 Jahren
Anmerkung
Neben motorischen Leistungseinbußen sind je nach Krankheit auch kognitive Defizite zu erwarten, so dass neben der neurologischen auch eine neuropsychologische Untersuchung notwendig sein kann
Kreislaufabhängige Störungen der Hirntätigkeit Eignung
Nach erfolgreicher Therapie und Abklingen des akuten Ereignisses ohne Rückfallgefahr Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung: Nachuntersuchungen in Abständen von 1, 2 und 4 Jahren
Keine Eignung
Anmerkung
In den Leitlinien werden besonders die Beurteilung des Einzellfalls und die Notwendigkeit einer erfolgreichen Therapie hervorgehoben. Zu beachten sind bei motorischen Störungen die »Sicherheitsmaßnahmen für körperbehinderte Kraftfahrer« (Anlage 43) sowie Anlage 6 bei Schäden am optischen System. Besonders wichtig ist die Feststellung des Grundleidens, um die Wiederholungsgefahr beurteilen zu können. Bei Vorliegen relevanter neurologischer/neuropsychologischer Ausfälle soll die Beurteilung frühestens nach Abschluss der Rehabilitationsmaßnahme erfolgen
Schädel-Hirn-Verletzungen oder Hirnoperationen ohne Substanzschäden Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung: Bei Rezidivgefahr Nachuntersuchung
Eignung
I.d.R. nach 3 Monaten Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung: Bei Rezidivgefahr Nachuntersuchung
Anmerkung
Die Frist von 3 Monaten kann unterschritten werden, wenn diagnostisch abgesichert keine neuropsychologischen Defizite mehr bestehen
6
479 31.3 · Neuropsychologische Diagnostik
. Tab. 31.2 (Fortsetzung) Gruppe 1
Gruppe 2
Substanzschäden durch Verletzungen oder Operationen Eignung
Unter Berücksichtigung von motorischen und neuropsychologischen Defiziten Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung: Bei Rezidivgefahr Nachuntersuchung
Anmerkung
Zur Beurteilung der Fahreignung v.a. der Gruppe 2 wird in den Leitlinien in jedem Fall zusätzlich zur neurologischen Untersuchung nachdrücklich eine neuropsychologische Untersuchung empfohlen
Unter Berücksichtigung von motorischen und neuropsychologischen Defiziten Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung: Bei Rezidivgefahr Nachuntersuchung
Anfallsleiden Eignung
Ausnahmsweise, wenn kein wesentliches Anfallsrisiko mehr besteht, z.B. 1 Jahr anfallsfrei Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung: Jährliche Nachuntersuchungen
Ausnahmsweise, wenn kein wesentliches Anfallsrisiko mehr besteht, z.B. 5 Jahre anfallsfrei ohne Therapie Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung: Jährliche Nachuntersuchungen
Anmerkung
Um die Fahreignung bei Anfallsleiden beurteilen zu können, muss zunächst eine genaue Abklärung des Anfallsleidens geschehen. Die Leitlinien differenzieren dann relativ genau, ob und zu welchem Zeitpunkt die Fahreignung gegeben ist. So ist die Fahreignung z.B. gegeben, wenn der Betroffene 1 Jahr anfallsfrei geblieben ist und kein wesentliches Risiko mehr besteht. Für Gruppe 2 ist die Fahreignung aufgrund der hohen Belastung mehrheitlich nicht gegeben. Ausnahmen sind nach 5 Jahren Anfallsfreiheit ohne Medikamente oder nach einem Anfall ohne Hinweise auf eine Epilepsie oder andere hirnorganische Erkrankung nach 2 Jahren
Chronische hirnorganische Psychosyndrome (aus Psychische Störungen 7.2) Leicht (Schwer: keine Eignung für Gruppe 1 und Gruppe 2) Ausnahmsweise ja Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung: Nachuntersuchung
Eignung
Ja, in Abhängigkeit von Art und Schwere Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung: Nachuntersuchung
Anmerkung
Zur Beurteilung der Fahreignung bei demenziellen Erkrankungen (vgl. Mix et al. 2004)
Neuropsychologische Leistungsfähigkeit
Encephalomyelitis disseminata als Erkrankung des Rückenmarks oder auch die Kategorie des Morbus Parkinson).
31.3.1
Fazit
Ein von Michon (1987) entwickeltes Modell wurde von der Gruppe um van Zomeren und Brouwer (Brouwer 2002, van Zomeren et al. 1987) für die Neuropsychologie adaptiert. Es beschreibt drei Ebenen, die beim Fahren zusammenwirken (. Übersicht 31.1) (weitere Modellvorstellungen s. Groeger 2000).
Allgemein orientieren sich die Beurteilungen der Eignung oder bedingten Eignung an der Forderung nach einem stabilen Leistungsniveau auch in Belastungssituationen sowie der Vermeidung der Gefahr des plötzlichen Leistungsversagens. Bei Rückenmarksverletzungen und auch bei peripheren Nervenverletzungen steht die Prüfung technischer Umbauten im Vordergrund. Bei Schädel-Hirn-Verletzungen sind vor allem die neuropsychologischen Einschränkungen für die Beurteilung der Fahreignung wesentlich. Begleiterkrankungen und Einflüsse der Medikation spielen eine wichtige Rolle. Entsprechende Einschränkungen müssen daher berücksichtigt werden (Brunnauer et al. 2004, Laux 2002).
31.3
Neuropsychologische Diagnostik
Die Beurteilung der psychischen bzw. neuropsychologischen Leistungsvoraussetzungen wird erschwert durch den Mangel an empirischen Belegen und theoretischen Modellen.
. Übersicht 31.1. Modell der Fahreignung 1.
2.
3.
Operationale Ebene: Basale Wahrnehmungs- und Reaktionsleistungen, z.B. Spur halten, einem parkendem Auto ausweichen; hoher Zeitdruck Taktische Ebene: Vorbereitende Handlungen während des Fahrens, z.B. Abstand vergrößern, langsam an Kreuzungen heranfahren; leichter Zeitdruck Strategische Ebene: Entscheidungen hinsichtlich Fahrtroute, Tageszeit etc.; üblicherweise vor der Fahrt, kein Zeitdruck
31
480
31
Kapitel 31 · Fahreignung
Führt man sich neuropsychologische Defizite nach Hirnschädigungen vor Augen, so kann dieses sicherlich stark vereinfachte Modell zeigen, dass an der Fahreignung nicht nur Aspekte der visuellen Wahrnehmung und Aufmerksamkeit beteiligt sind, obwohl diese in der Begutachtungspraxis, aber auch der Forschung häufig den Schwerpunkt darstellen. Des Weiteren lassen sich aus der Betrachtung der taktischen und strategischen Ebene auch Kompensationsmöglichkeiten ableiten. Brouwer (2002) beschreibt Fahreignung auch als eine Form von Expertenwissen. Die Fertigkeit, Auto zu fahren, wird erworben und durchläuft unterschiedliche Stadien. Zu Beginn sind viele Aspekte des Fahrens noch auf einer deklarativen und rein verbalen Ebene; mit Routine wird dieses Wissen zunehmend in das prozedurale Gedächtnis verlagert. Eine größere Fahrerfahrung kann die negativen Folgen einer Hirnschädigung auf die Fahreignung reduzieren. Untersuchungen über Aufmerksamkeit und Fahreignung betonen die Bedeutung der geteilten Aufmerksamkeit (Brouwer u. Withaar 1997, van Zomeren et al. 1987, 1988). Hier ergeben sich auch im praktischen Fahrverhalten die meisten Unterschiede zwischen gesunden Kontrollgruppen und hirngeschädigten Patienten. Vor allem der hohe Zeitdruck, der bei den meisten Anforderungen an die geteilte Aufmerksamkeit besteht, zeigt deutliche Zusammenhänge mit der Fahrqualität (Brouwer et al. 2002). In der Gesetzgebung finden sich Hinweise auf Beurteilungskriterien kognitiver Funktionen in Anlage 5 der FeV (Beurteilung der Anforderungen an Fahrer der Gruppe 2). An diese Fahrer werden hinsichtlich 4 Belastbarkeit, 4 Orientierungsleistung, 4 Konzentrationsleistung, 4 Aufmerksamkeitsleistung und 4 Reaktionsfähigkeit besondere Anforderungen gestellt. Diese Begriffe finden keine Entsprechung in aktuellen kognitiven Modellen und werden auch nicht weiter operationalisiert.
31.3.2
Psychische Leistungsfähigkeit
In den Begutachtungsleitlinien finden sich weitere Ausführungen zu den Anforderungen an die psychische Leistungsfähigkeit (vgl. Leitlinien 2.5), jedoch bleibt auch diese Zuordnung zu neuropsychologischen Funktionen unklar. Die Auswirkungen dieser mangelnden Spezifizierung werden offensichtlich, wenn man die Verfahren unterschiedlicher Testbatterien zur Überprüfung der Fahreignung vergleicht, z.B. 4 die Verkehrspsychologische Testbatterie von Schuhfried und 4 die Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung-Mobilität (TAP-M) von Zimmermann u. Fimm. Hier finden sich teilweise nur geringe Übereinstimmungen in den überprüften Funktionen. > Die wichtigsten Beurteilungsgrundlagen der psychischen Leistungsfähigkeit sind 4 eine Ausgewogenheit zwischen Schnelligkeit und Sorgfaltsleistung sowie 4 eine Stabilität der psychischen Leistungen (Schubert et al. 2002).
Man geht davon aus, dass eine Eignung besteht, wenn die Mindestanforderungen erfüllt werden, wobei die Frage nach der Verursachung psychischer Leistungsmängel nicht im Vordergrund steht. So müssen außerdem z.B. Reaktionsverlangsamungen als Folge einer antikonvulsiven Medikation berücksichtigt werden. In . Tab. 31.3 werden die Mindestanforderungen beschrieben. Fazit Problematisch erscheint der Mangel einer empirischen Grundlage für die Festlegung dieser Grenzwerte. Die Mindestanforderungen werden als normgerechtes psychisches Leistungsniveau definiert. Auch die Berechnung altersunabhängiger Normen erscheint aufgrund der Ungerechtigkeit gegenüber älteren Verkehrsteilnehmern problematisch; auch hier wären empirisch belegte kritische Cut-off-Werte wünschenswert.
. Tab. 31.3. Mindestanforderungen an die psychische Leistungsfähigkeit Gruppe 1
Gruppe 2
Prozentrang 16 (bezogen auf altersunabhängige Normwerte) in allen eingesetzten Leistungstests oder Ausgleich durch stabile Leistungen in den anderen Verfahren, so dass eine Mängelkumulation ausgeschlossen ist Bei Grenzwertunterschreitungen: Kompensationspotenzial durch Erhebung weiterer Verfahren und Fahrverhaltensprobe Bei bedingter Eignung: Auflagen und Beschränkungen, z.B.: bestimmte Höchstgeschwindigkeit, festgelegte Lenkzeiten, nur in bestimmtem festgelegten Umkreis (vgl. FeV, Anlage 9, S. 2280ff )
Besondere Verantwortung, erhöhte Anforderungen an die Aufmerksamkeit und Konzentration (Kommentar) Prozentrang 33 in der Mehrzahl der Verfahren, aber mindestens PR 16 in allen Verfahren Kompensationsmöglichkeiten und Fahrverhaltensprobe (vgl. BAST 2000, Abs. 2.5, 2.6., S. 6ff )
481 31.3 · Neuropsychologische Diagnostik
31.3.3
Visuelle Wahrnehmungsfähigkeit
Bei der visuellen Wahrnehmung des Verkehrsgeschehens ist sowohl die Wahrnehmungsgenauigkeit als auch die Wahrnehmungsgeschwindigkeit von Bedeutung. Die Anforderungen an das Sehvermögen werden in Anlage 6 der FeV aufgeführt (geändert FeVÄndV, Bundesgesetzblatt 2002). Die wichtigsten Bestimmungen werden in . Tab. 31.4 angeführt. Bei Gesichtsfeldeinschränkungen werden keine Kompensationsmöglichkeiten vorgesehen, z.B. durch schnelles und genaues Explorationsverhalten. Inzwischen gibt es jedoch vermehrt Untersuchungen, die belegen, dass sich die Fahrleistung von Patienten mit einer Hemianopsie mit gut kompensierten Explorationsleistungen nicht von der Fahrleistung gesunder Autofahrer unterscheidet (Schulte et al. 1999, Zangemeister 2001). Weitere Störungen der visuellen Wahrnehmung, deren Steuerung oder Verarbeitung werden nicht erwähnt, sollten bei der Beurteilung der Fahreignung jedoch immer berücksichtigt werden. Dazu gehören 4 Basisfunktionen der Raumwahrnehmung, 4 räumlich-konstruktive Leistungen, 4 Dämmerungssehen, 4 Kontrastsehen und 4 visueller Neglect, wobei bei letzterem eine Eignung i.d.R. nicht gegeben ist (van Zomeren et al. 1987).
31.3.4
Aufmerksamkeitsfunktionen
Die häufigsten neuropsychologischen Störungen bei neurologischen Erkrankungen sind Defizite in unterschiedlichen Aufmerksamkeitsfunktionen. Deren Beurteilung ist nur durch standardisierte Testverfahren möglich. Die Eigenwahrneh-
mung der Patienten ist oft unzureichend. Sowohl in Anlage 5 als auch in den Begutachtungsleitlinien werden die relevanten Aufmerksamkeitsfunktionen nicht ausreichend operationalisiert. Es empfiehlt sich daher als diagnostisches Vorgehen, die Aufmerksamkeitsfunktionen entsprechend aktueller neuropsychologischer Modelle mit den dazu geeigneten und unter Aspekten der Testgütekriterien entwickelten Verfahren zu untersuchen (Sturm et al. 2000). Gerade in Grenzfällen, wenn die Aufmerksamkeitsleistungen überwiegend den Mindestanforderungen entsprechen, jedoch auch Defizite bestehen, ist die Gewichtung dieser Defizite problematisch. Vor allem die Arbeiten von van Zomeren (1987) und Brouwer (2002) zeigen, dass Anforderungen an die geteilte Aufmerksamkeit besonders bedeutsam sind. Zur Absicherung ist bei grenzwertigen Befunden immer eine praktische Fahrverhaltensprobe erforderlich.
31.3.5
Aphasie
In den Begutachtungsleitlinien werden keine weiteren neuropsychologischen Funktionsbereiche ausgeführt. In Abhängigkeit von Art und Lokalisation der Schädigung und den zu bewältigenden Fahraufgaben sind jedoch individuell sicherlich weitere Funktionsbereiche zur Beurteilung heranzuziehen (Golz et al. 2004). Das Vorliegen einer Aphasie alleine schränkt die Fahreignung nicht ein (Hannen et al. 1998). Besteht z.B. noch eine Alexie und muss der Patient häufig in ihm unvertrauten Gegenden fahren, so ist dies sicherlich eine größere Einschränkung, als ginge es lediglich um Fahrten innerhalb eines bekannten Umfelds. Weiterhin ist abzuklären, ob der Patient sich in nicht vorhersehbaren Situationen helfen kann. Eine Entscheidung kann nur im Einzelfall, abhängig von Schweregrad und Art der Störung, getroffen werden.
. Tab. 31.4. Anforderungen an das Sehvermögen Gruppe 1
Gruppe 2
Zentrale Tagessehschärfe
Bei Beidäugigkeit: 0,5/0,2 Bei Einäugigkeit: 0,6
1,0/0,8 (Zulässige Korrektur +/-8 Dioptrien)
Gesichtsfeld
Normales Gesichtsfeld eines Auges oder gleichwertiges beidäugiges Gesichtsfeld mit horizontalem Durchmesser von mindestens 120°; besonders muss das zentrale Gesichtsfeld bis 30° normal sein. Insgesamt sollte das Gesichtsfeld jedes Auges an mindestens 100 Orten geprüft werden. Bei unklaren Defekten oder Zweifel an den Mindestanforderungen: Prüfung an manuellem Perimeter nach Goldmann Marke III/4
Normales Gesichtsfeld, geprüft mit einem automatischen Halbkugelperimeter, das mit einer überschwelligen Prüfmethodik das Gesichtsfeld bis 70° nach beiden Seiten und bis 30° nach oben und unten untersucht. Insgesamt sollte das Gesichtsfeld jedes Auges an mindestens 100 Orten geprüft werden. Alternativ: Manuelles Perimeter nach Goldmann mit mindestens 4 Prüfmarken an jeweils mindestens 12 Orten pro Prüfmarke
Beweglichkeit
Bei Beidäugigkeit: Kein Doppeltsehen im zentralen Blickfeld bei normaler Kopfhaltung Bei Einäugigkeit: Normale Augenbeweglichkeit
Ausschluss bei Doppeltsehen im Gebrauchsblickfeld, d.h. 25° Aufblick, 30° Rechts- und Linksblick, 40° Abblick
31
482
Kapitel 31 · Fahreignung
31.3.6
Gedächtnis
Inwieweit Gedächtnisstörungen die Fahreignung beeinflussen, hängt 4 zum einen von Art und Ausmaß der Störung ab, 4 zum anderen von den zu bewältigenden Fahraufgaben des Patienten. Die gleiche Störung kann bei hohen Anforderderungen wie dem Führen eines LKW im Fernverkehr andere Auswirkungen haben als beim Fahren im Umkreis des vertrauten Wohnorts. Bei demenziellen Entwicklungen ist die Fahreignung langfristig nicht gegeben. Neben den kognitiven Fähigkeiten ist vor allem das Verhalten im Alltag zur Urteilsbildung wichtig, die auch die Aussagen der Angehörigen miteinbeziehen sollte. Als eine der wichtigsten Auflagen sind engmaschige Nachuntersuchungen erforderlich (Mix et al. 2004).
31.3.7
31
Planungs- und Problemlösestörungen
Planungs- und Problemlösestörungen oder eine reduzierte kognitive Flexibilität können vor allem in Kombination mit einer reduzierten Selbstwahrnehmung und einem mangelnden Störungsbewusstsein zu deutlichen Problemen führen, z.B. in wenig strukturierten Situationen. Besonders problematisch ist eine bestehende Leistungsbeeinträchtigung im Zusammenhang mit einem mangelnden Störungsbewusstsein. Für die Beurteilung und auch Einsichtsbildung empfiehlt es sich gerade in diesem Fall, eine praktische Fahrverhaltensprobe durchzuführen und auch die Angehörigen einzubinden. Eine große Gefahr in der verkehrsmedizinischen Begutachtung besteht darin, die Kriterien der Leitlinien ohne Berücksichtigung der spezifischen Anforderungen bei neurologischen Erkrankungen umzusetzen. Fazit Die in den Leitlinien vorgegebenen Begutachtungskriterien können nur der Orientierung dienen. Sie sind weder ausreichend spezifiziert noch ausreichend belegt, um sie ähnlich einer Checkliste zu nutzen. Nach neurologischen Erkrankungen bedarf es zur Beurteilung der psychischen Leistungsfähigkeit einer umfassenden neuropsychologischen Untersuchung (Golz et al. 2004).
31.3.8
Ältere Kraftfahrer
Auswirkungen auf die Fahreignung haben können, zum anderen durch die einzunehmenden Medikamente die psychische Leistungsfähigkeit einschränken (Holte u. Albrecht 2004). Bei der Beurteilung der Fahreignung müssen besonders bei älteren Patienten Aspekte wie 4 Multimorbidität, 4 Medikation und 4 normale altersbedingte Veränderungen der Leistungsfähigkeit berücksichtigt werden. Auch die Kompensationsmöglichkeiten älterer Kraftfahrer sind limitiert. Besonders die Zunahme an altersbedingten Sehstörungen, die nicht korrigierbar sind (z.B. Linsentrübungen), führen zu der Forderung der Deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft regelmäßiger Überprüfungen bereits ab dem 40. Lebensjahr, aber auch der Aufnahme des Dämmerungssehens in die FeV.
31.4
Fahrverhaltensprobe
Untersuchungen zur Prognose, also zur ökologischen Validität (7 Kap. 42) der neuropsychologischen Diagnostik bezüglich der Fahreignung haben ergeben, dass eine zuverlässige Beurteilung des Einzelfalls nur eingeschränkt möglich ist (Niemann u. Döhner 1999, van Zomeren et al. 1988). In einer Untersuchung von Hannen et al. (1998) hatten 58% einer Gruppe neurologischer Patienten eine praktische Fahrverhaltensprobe bestanden, anhand der Testdiagnostik und personenbezogenen Variablen konnten jedoch maximal 73% korrekte Prognosen getroffen werden. Die prognostische Validität einer Testung kombiniert mit einer Fahrprobe ist weitaus höher (Schultheis et al. 2002). jPraktische Durchführung der Fahrverhaltensprobe Die Durchführung einer praktischen Fahrverhaltensprobe sollte 4 hinsichtlich der Fahrtstrecke standardisiert stattfinden, 4 das mutmaßliche Problemverhalten erfassen und 4 eine Beurteilung verschiedener Fahrverhaltenskategorien durch Fahrlehrer und Neuropsychologen einschließen. Zu den Fahrverhaltensmerkmalen gehören u.a. (Golz et al. 2004, Sömen 1990): 4 Beachtung der Verkehrsregeln, 4 Einhalten des Sicherheits- und Seitenabstands, 4 Spurwechsel.
Besonders ältere Menschen sind auf die Nutzung eines KFZ zum Erhalt der Mobilität angewiesen. Alterskorrelierte Leistungseinbußen wie 4 reduziertes Dämmerungssehen, 4 eingeschränkte Beweglichkeit oder 4 allgemeine Verlangsamung
Abschließend sollten Patient, Fahrlehrer und Neuropsychologe eine Gesamtbewertung z.B. in Form von Schulnoten abgeben. So können auch mögliche Probleme der Selbstwahrnehmung des Patienten durch unterschiedliche Einschätzungen widergespiegelt werden.
wirken sich auch auf die Fahrleistung aus. Zusätzlich nehmen mit dem Alter Häufigkeit und Anzahl von Erkrankungen zu, die zum einen, wie eine neurologische Erkrankung, direkte
> Der Vorteil von Fahrverhaltensproben besteht darin, dass das tatsächliche Verhalten (z.B. auch Risikoverhalten) beobachtet wird.
483 31.5 · Einsatz von Fahrsimulatoren
Näher betrachtet Selbsteinschätzung der Patienten Häufig wird argumentiert, dass auch die Einsicht des Patienten in mögliche Probleme beim tatsächlichen Fahren verbessert wird. Eigene Erfahrungen sprechen jedoch eher dagegen. Bei einer praktischen Fahrverhaltensprobe hatten nach Urteil der Fahrlehrerin und der Neuropsychologin 72 bzw. 70% der Patienten bestanden, in der Selbsteinschätzung bewertete jedoch keiner der Patienten seine Fahrverhaltensprobe als gescheitert.
Die Ergebnisse der Fahrverhaltensprobe sollten in Zusammenhang zu den testpsychologischen Befunden gesetzt und in einem schriftlichen Bericht dokumentiert werden. In . Übersicht 31. 2 werden Empfehlungen für die Fahrverhaltensprobe gegeben. . Übersicht 31.2. Empfehlungen für die Fahrverhaltensprobe 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Auswahl einer Fahrschule mit Erfahrung im Umgang mit Behinderten/behindertengerechten Umbauten Dauer: (60) 90 Minuten; bei längerer Fahrpause: Eingewöhnungsfahrt Unterschiedliche Verkehrsbedingungen bzw. Strecken: Land-, Stadt- und Autobahnabschnitte Unterschiedliche Situationen: Fahrbahnwechsel, Vorfahrtsregelungen Standardisierter Katalog zu beobachtender Fahrverhaltenskategorien Individuelle Fahraufgaben: Tanken, Einkaufen, selbstständige Routenplanung, Dual-Task-Situationen
jEinsatz in der Therapie In der Therapie der Fahreignung sind Fahrsimulatoren ein Instrument, um individuelle Strategien für kritische Situationen gefahrlos wiederholt zu üben. Fahrsimulatoren erlauben, den Komplexitätsgrad stufenweise zu erhöhen. Eigene Untersuchungen mit einem interaktiven Fahrsimulator (Fahrsimulator im Neurologischen Rehabilitationszentrum Godeshöhe/ Bonn, Fa. STN Atlas Elektronik, Bremen) zeigen vonseiten der Patienten eine hohe Akzeptanz des Simulators (Wolbers et al. 2001). Auch bestätigten eigene Untersuchungen die Ergebnisse anderer Autoren zur Fahreignung von Patienten mit Hemianopsie: Das Fahrverhalten von Patienten, die erfolgreich in der Kompensation ihres Gesichtsfeldausfalls waren, unterscheiden sich nicht von dem Fahrverhalten einer gesunden Kontrollgruppe. Eigene Erfahrungen haben zudem gezeigt, dass der Fahrsimulator vor allem Hinweise auf Kompensationsmöglichkeiten gibt und damit erlaubt, individuelle Strategien zu entwickeln. jKompensation Beispiel Ein spontaner Einsatz von Kompensationsstrategien ist die Aussage gerade älterer Kraftfahrer, dass sie es vermeiden, bei Nacht oder in der Dämmerung zu fahren.
Kompensationsmöglichkeiten bei Eignungsmängeln werden
auch durch den Gesetzgeber eingeräumt:
» Kompensationen durch besondere menschliche Veranlagung, durch Gewöhnung, durch besondere Einstellung oder durch besondere Verhaltenssteuerungen und – umstellungen sind möglich. Ergeben sich im Einzelfall in dieser Hinsicht Zweifel, kann eine medizinisch-psychologische Begutachtung angezeigt sein. (Anlage 4 FeV)
«
31.5
Einsatz von Fahrsimulatoren
Die Grenzen praktischer Fahrverhaltensproben bestehen darin, dass kritische Situationen im Straßenverkehr nicht planbar sind. Auch werden erfahrungsgemäß praktische Fahrverhaltensproben erst bei einer hohen Chance, diese auch zu bestehen, durchgeführt. Fahrsimulatoren sind sowohl für die Diagnostik als auch für die Therapie eine wichtige, wenn auch noch nicht weit verbreitete Ergänzung (Galski et al. 1997, Lundqvist et al. 1997, 2000). jEinsatz in der Diagnostik Durch die kontinuierliche Rückmeldung des Fahrverhaltens konnten in einer Untersuchung die Fahrfähigkeit und Fahrsicherheit verbessert und so ein therapeutischer Nutzen belegt werden (Ivancic u. Heseth 2000). Diagnostisch wurde ein Fahrsimulator z.B. zur Ermittlung des Unfallrisikos bei Patienten mit Morbus Alzheimer eingesetzt (Rizzo et al. 1997). Die Ergebnisse der Fahrsimulatoruntersuchung in Kombination mit neuropsychologischen Ergebnissen konnten in einer weiteren Untersuchung die Fahreignung zu 85% korrekt vorhersagen (Lundqvist et al. 2000).
Auch für den Bereich der Kompensationsmöglichkeiten bestehen nur geringe theoretische und empirische Grundlagen. Beobachtet man das Fahrverhalten neurologischer Patienten, so finden sich Strategien wie 4 die Antizipation bestimmter Ereignisse, so dass mehr Zeit für Entscheidungen eingeplant wird, 4 eine generell langsamere Fahrweise, wodurch der Abstand vergrößert wird, oder 4 die Verlangsamung des Tempos bei Gesprächen. Auch das Interesse des Patienten am sicheren Fahren wird als wichtiger Faktor berichtet (Lundqvist u. Rönnberg 2001). kKompensation bei neuropsychologischen Einschränkungen Eine Möglichkeit der Kompensation von Eignungsmängeln besteht durch Auflagen und Beschränkungen wie z.B. 4 bestimmte Fahrzeugarten, 4 technische Vorrichtungen, 4 Nachuntersuchungen oder 4 Umkreis- und Tageszeitbeschränkungen.
31
484
Kapitel 31 · Fahreignung
Gerade bei neuropsychologischen Einschränkungen empfiehlt es sich, über Umkreis- (z.B. bei Lern- und Gedächtnisdefiziten) oder Geschwindigkeitsbeschränkungen (z.B. bei Verlangsamungen) nachzudenken. Es gibt jedoch keine Untersuchungen, die es erlauben, zu entscheiden, ob z.B. eine leichte Verlangsamung durch eine Einschränkung bis zu 100 km/h und unter Ausschluss von Autobahnen kompensierbar ist. Dies muss wiederum durch eine praktische Fahrverhaltensprobe in Zusammenhang mit der neuropsychologischen Diagnostik entschieden werden. kKompensation bei motorischen Einschränkungen Für die Kompensation von Eignungsmängeln aufgrund motorischer Einschränkungen steht eine Vielfalt von Möglichkeiten zur Fahrzeugumrüstung zur Verfügung wie z.B. 4 die Umlegung des Gaspedals oder 4 der Einbau von Transferhilfen (Lempp u. Kühler 2004).
31
Der Fahrer muss in einer Fahrverhaltensprobe mit einem amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfer für den Straßenverkehr (aaSoP) nachweisen, dass er den Umgang mit dem umgerüsteten Fahrzeug beherrscht. Vor allem bei stark automatisierten Bewegungsabläufen ist dafür ein gut erhaltenes Lernvermögen erforderlich. Bis zur Klärung und Umrüstung des Fahrzeugs besteht bei Bewegungsbehinderungen keine Fahreignung (Küst 2006).
31.6
Therapie der Fahreignung
Die Therapie der Fahreignung darf nicht als eindimensionales Training betrachtet werden. Auch die Aufklärung über die rechtlichen Rahmenbedingungen sowie die informelle Abklärung der fahrrelevanten körperlichen und kognitiven Leistungsfähigkeit sind ein Teil der Therapie. Wichtigste Ausgangspunkte für die Therapieplanung sind die praktische Fahrverhaltensprobe und andere Untersuchungsergebnisse. Motivation oder Stand der Krankheitsverarbeitung des Patienten werden häufig nicht mitbeachtet, wodurch der Umgang mit dem Thema der Fahreignung zusätzlich erschwert wird. > Das Therapieziel muss nicht immer die uneingeschränkte Fahreignung darstellen, ein realistisches Ziel könnte auch die Fahrfähigkeit unter Auflagen und Beschränkungen sein (Schale 2004).
jTherapieansatz auf operationaler Ebene Ein wesentlicher Bestandteil der Therapie der Fahreignung ist die neuropsychologische Funktionstherapie, die störungsspezifisch auf der Ebene des neuropsychologischen Defizits ansetzt. In dem vorgestellten Modell Michons (1978) ist dieser Ansatz am ehesten auf der operationalen Ebene einzuordnen. Besonders bei dieser Interventionsform sollte der Erfolg durch eine praktische Fahrverhaltensprobe evaluiert werden, da eine Generalisierung auf das Fahrverhalten nicht als gesichert angenommen werden kann.
jTherapieansatz auf taktischer Ebene Eine weitere Möglichkeit, eher auf der taktischen Ebene des Fahrverhaltens anzusetzen, stellen Fahrstunden dar. Dafür kommen vor allem Fahrschulen mit Erfahrung im Umgang mit behinderten Verkehrsteilnehmern und behindertengerecht umrüstbaren Fahrzeugen infrage. Auch hier sollten die Trainingsinhalte von den in Fahrverhaltensprobe und Diagnostik erhobenen Problembereichen abgeleitet und an die individuellen Fahraufgaben angepasst werden. Die Patienten werden in den Fahrstunden geschult, Hinweisreize für kritische Situationen zu entdecken, und ein risikoreduzierendes taktisches Verhalten wird verstärkt (Brouwer et al. 2002). Bei der zu erwartenden technischen Weiterentwicklung werden Fahrsimulatoren in Zukunft eine große Rolle spielen, da sie die Möglichkeit bieten, Trainingsinhalte sehr individuell zu gestalten und auch beliebig oft zu wiederholen, z.B. 4 den Spurwechsel bei dichtem Verkehr oder 4 die Auffahrt auf die Autobahn. jTherapieansatz auf strategischer Ebene Eine besondere Bedeutung bei der Therapie kommt der strategischen Ebene zu. In Kombination mit anderen Maßnahmen können individuelle störungsspezifische Strategien erarbeitet werden. Beispiel 4 Bei Problemen der längerfristigen kognitiven Belastbarkeit könnten eine Routenplanung mit vorgegebenen Pausen oder eine Planung hinsichtlich der Tageszeit sinnvoll sein. 4 Eine individuelle störungsspezifische Strategie bei Gedächtnisstörungen könnte darin bestehen, dass ein Fahrer während des Fahrens nicht mehr Radio hört oder sich ein Navigationssystem anschafft.
jErneute Evaluation Als Abschluss der therapeutischen Maßnahmen sollte erneut eine Fahrverhaltensprobe zur Überprüfung des Erfolgs durchgeführt werden. Scheitert die Therapie, muss an der Einsichtsbildung des Patienten und einer Anpassung der Lebensumstände an die fehlende Fahreignung gearbeitet werden. Auch der freiwillige Verzicht auf den Führerschein könnte am Ende dieses Prozesses stehen (Schale und Küst 2009).
31.7
Ausblick
In diesem Kapitel konnten viele Themen nur oberflächlich dargestellt werden. Zur Beurteilung der Fahreignung ist neben der neurologischen bzw. neuropsychologischen Fachkompetenz und der Erfahrung in der Beurteilung der Fahreignung auch ein aktueller Kenntnisstand der Forschung dringend erforderlich. Einzelfallentscheidungen können immer nur individuell erfolgen, abhängig von Schweregrad und Verlauf der Störung. Der Erhalt der Teilnahme am Straßenverkehr sollte eine hohe Priorität erhalten, da Behinderungen so leichter überwunden werden können.
485 31.8 · Literatur
31.8
Literatur
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31
B
Beeinträchtigung von Funktionen, Aktivitäten und Teilhabe Musiktherapie Kapitel 32
Musiktherapie in der Neurorehabilitation J. Rössler
– 489
32
Musiktherapie in der Neurorehabilitation J. Rössler 32.1 Bedeutung der Musiktherapie
– 490
32.1.1 Therapiemethoden – 490 32.1.2 Musiktherapie in der Frührehabilitation 32.1.3 Indikationen für Musiktherapie – 491
32.2 Interaktionen
– 490
– 491
32.2.1 Musik für bewusstseinsgestörte Patienten 32.2.2 Musik bei Sprachverlust – 494
32.3 Neurologische Musiktherapie
– 496
32.3.1 Rhythmische Akustische Stimulation (RAS)
32.4 Schlussgedanken 32.5 Literatur
– 498
– 498
– 491
– 496
490
Kapitel 32 · Musiktherapie in der Neurorehabilitation
Musiktherapie gibt es in der Neurorehabilitation in Deutschland schon seit mehr als 20 Jahren, und sie hat sich als Ergänzung zu den funktionellen Therapien etabliert. Dazu beigetragen hat sicherlich die zunehmende wissenschaftliche Erforschung der Wirkweise von Musiktherapie vor allem in den USA, aber auch in Europa, z.B. am Deutschen Zentrum für Musiktherapieforschung an der Fachhochschule Heidelberg. Sie ist heute ein »integraler Bestandteil der medizinischen Rehabilitation, besonders der Frührehabilitation von Patienten, die unter den Folgen eines schweren erworbenen Hirnschadens leiden« (Gadomski 2004).
Als Musiktherapeut ist man darauf angewiesen, die Persönlichkeit des Patienten zu kennen und zu berücksichtigen, um ihn mit aktiver und rezeptiver (als Zuhörer) Musiktherapie zu fördern, zu unterstützen und zu begleiten. Wie die Musiktherapie gestaltet wird, und welche Ziele sie hat, ist zunächst von den Folgen der Erkrankung bestimmt. Die Therapie wird jedoch maßgeblich von der aktuellen Stimmungslage des Patienten, seinen Erlebnissen, musikalischen Vorkenntnissen und Vorlieben, im Grunde von der gesamten persönlichen Erfahrungswelt des Patienten beeinflusst:
»
Es ist der Mensch, der Musik hört, nicht das Ohr oder das Gehirn. (Tüpker 2004)
32.1
32
Bedeutung der Musiktherapie
Über Musik findet man zu den in der Wahrnehmung ihrer Umwelt meist stark eingeschränkten Patienten der Frührehabilitation häufig einen beeindruckenden Zugang, der auf anderem Wege nicht möglich ist. In den 10 Jahren musiktherapeutischer Praxis in einer Klinik für Neurologische Frührehabilitation konnten bei nahezu allen Patienten, die dazu in der Lage waren, deutlich sichtbare Reaktionen auf Musik beobachtet werden: 4 Verzweiflung und Trauer, 4 Freude und Begeisterung, 4 Motivation und motorische Aktivierung, manchmal aber auch 4 empörte Ablehnung. Musik ist bei allen Menschen ein untrennbarer Teil des Lebens, sei es als 4 aktives Hobby, 4 bewusstes Hörerlebnis oder 4 sublime Beeinflussung in Filmen, Supermarkt oder Werbung. Lebensabschnitte, Erlebnisse und Situationen aller Art sind häufig mit der dabei gehörten Musik verbunden. Sobald diese erklingt, ruft sie schöne oder traurige Erinnerungen wach.
32.1.1
Therapiemethoden
So unterschiedlich wie die Menschen selbst sind auch ihre Erfahrungen, Emotionen und Assoziationen mit und durch Musik. Dies verspricht für die Therapie 4 einerseits eine spannende und abwechslungsreiche Vielfalt musikalischer Präferenzen, 4 andererseits ist eine Vorhersage über die individuelle Wirkung einer bestimmten Musik und die Reaktionen darauf schwierig und nur bei guten Kenntnissen der Biographie des Zuhörers annähernd möglich. Beispiel Der eine Patient mag sich von Johann Strauss aktiviert und motiviert fühlen, beim anderen erreicht man damit das Gegenteil.
«
> Der große Einfluss von Emotion und Persönlichkeit des Patienten auf die individuelle Therapiegestaltung macht es vor allem in der Frührehabilitation schwer, standardisierte diagnose- bzw. symptombezogene Therapiemethoden zu entwickeln. Näher betrachtet Funktionelle Musiktherapie Für die funktionelle Musiktherapie gibt es wichtige Forschungsansätze, die, basierend auf der neurologischen Musiktherapie von Michael Thaut (2004), die Wirkung rhythmisch akustischer (Freedland et al. 2005) bzw. pulsierend auditiver Stimulation (Mainka 2005) bei neurologisch erkrankten Patienten bestätigen konnten. Mittels rhythmischer Begleitung sind deutliche Verbesserungen z.B. des Gangbildes möglich. Diese Ergebnisse tragen zur Akzeptanz der Musiktherapie als gleichgestellte Therapieform innerhalb der funktionellen Therapien bei und helfen der Musiktherapie, sich vom Stigma der »Wohlfühlecke« zu befreien. Die Musiktherapie gewinnt im multi- bzw. interdisziplinären Team der Neurorehabilitation eine neue funktionelle Zielsetzung (Bamborschke u. Bülau 2003).
32.1.2
Musiktherapie in der Frührehabilitation
Eine der herausragenden Stärken der Musiktherapie bei Patienten der Frührehabilitation bleibt es aber, Emotionen auszulösen, nonverbal Wohlbefinden zu erzeugen und eine Atmosphäre zu schaffen, die vom Therapiealltag wohltuend ablenken kann. > Nachweislich kann Musiktherapie bei Erwachsenen nach schwerer Erkrankung durch traumatische bzw. anoxische Hirnschädigung oder Schlaganfall positive Stimmungsveränderungen fördern (Magee u. Davidson 2005).
Dies ist umso wichtiger, als die Patienten der Frührehabilitation meist einen längeren Krankenhaus- und Rehabilitationsaufenthalt hinter und noch vor sich haben und nicht selten davon hospitalisiert und demotiviert werden. Nachvollziehbar ist das sehr, werden sie doch bei allen Alltagsaktivitäten in
491 32.2 · Interaktionen
ihren sozialen Aktivitäten und durch häufige Schmerzen permanent mit ihrer Erkrankung und den daraus entstandenen geistigen und körperlichen Einschränkungen konfrontiert. Besonders dann, wenn verbale Interventionen an ihre Grenzen stoßen (Kächele 2005), wird in der Musiktherapie durch das gemeinsame Hören der Lieblingsmusik therapeutisches Verständnis für den Patienten vermittelt, und beim gemeinsamen Improvisieren können Stimmungen erzeugt und Emotionen transportiert werden. > In Kenntnis dieser motivierenden, aktivierenden, Entspannung bietenden, Angst abbauenden und z.T. nonverbal psychotherapeutisch ausgerichteten Qualitäten kann sich die Musiktherapie speziell dann als wichtig erweisen, wenn eine Therapiezieländerung für multimorbide Patienten nach schwerem Schlaganfall zu einer eher palliativen, medizinisch und menschlich optimalen Behandlung (Wormland et al. 2008) notwendig ist.
32.1.3
Indikationen für Musiktherapie
Sofern der Patient die Musiktherapie nicht bewusst ablehnt, gibt es viele Indikationen für Musiktherapie in der neurologischen Rehabilitation, dargestellt in . Übersicht 32.1.
einem Leitsatz von Bettina von Arnim folgend: »Musik ist die Vermittlung des geistigen Lebens zum Sinnlichen.«
32.2
> Musiktherapie ist eine interaktive Therapieform, auch wenn der Patient nicht ansprechbar ist oder sich völlig passiv verhält.
Ausgehend davon, dass die Wahrnehmung und Verarbeitung von Musik als komplexe Gestalt aus 4 Rhythmus, 4 Harmonie, 4 Melodie, 4 Klangfarbe und 4 Dynamik sich nicht in bestimmten Hirnregionen lokalisieren lässt, sondern in vielen Hirnregionen repräsentiert ist (Spitzer 2002), erscheint eine Kontaktaufnahme über Musik auch bei schwersten Hirnschädigungen sinnvoll, besonders dann, wenn eine verbale Kommunikation nicht möglich ist (Gustorff 2005).
32.2.1 . Übersicht 32.1. Indikationen für Musiktherapie in der Neurorehabilitation 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Bewusstseinsstörungen Wahrnehmungsstörungen Antriebsstörungen Unruhe Depressive Stimmungslage Emotionale Labilität Aphasie Eingeschränkte Therapiemotivation
Dieses Kapitel bietet einen Einblick in die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten der Musiktherapie, abgeleitet aus den in 10 Jahren gesammelten Erfahrungen in einer Klinik für Neurologische Frührehabilitation. Wichtig erscheint es, den interaktiven und kommunikativen Aspekt der Musiktherapie hervorzuheben. Wissenschaftlich fundierte Ergebnisse spielen beim Musikhören (7 Kap. 32.2.1.2) und in der Neurologischen Musiktherapie (7 Kap. 32.3) eine größere Rolle. Der Anspruch, dass Musiktherapie eine gültige und von Rückschlägen freie Methode ist, ist natürlich nicht zu erheben. Jeder Musiktherapeut muss seine Arbeitsweise selbst finden. Dem Autor erscheint es allerdings wichtig, den Patienten in der interdisziplinären Teamarbeit 4 emotional zu erreichen, 4 psychisch und physisch zu fördern und 4 dessen Ressourcen zu wecken,
Interaktionen
Musik für bewusstseinsgestörte Patienten
Bei schwer bewusstseinsgestörten bzw. komatösen Patienten sind die direkten Einflussmöglichkeiten auf kognitive und motorische Funktionen sehr begrenzt. Es kommt zunächst darauf an, dem Patienten ein Bewusstsein für sich selbst und seine Umwelt zu vermitteln. Die Umwelt der Patienten in der Klinik besteht für sie zunächst aus undefinierbarem Stimmengewirr, Geräuschen, Gerüchen, Bewegungen und Berührungen in der unbekannten Umgebung eines Mehrbettzimmers. > Für schwer bewusstseinsgestörte Patienten bieten sich neben funktionellen Therapieformen an: 4 eine basale Stimulation zur Anregung primärer Körper- und Bewegungserfahrungen auf sensorischer Ebene sowie 4 Musiktherapie auf auditiver und emotionaler Ebene.
Einfache musikalische Mittel Um musikalisch mit einem schwer betroffenen Patienten der Frührehabilitation in Kontakt zu treten, bedarf es keiner virtuosen Beherrschung eines Instruments, sondern der Fähigkeit, die Reaktionen des Patienten zu erkennen, aufzugreifen und mit einfachen musikalischen Mitteln zu erwidern. Auch bei Patienten mit Minimal Response oder im Wachkoma kann man Reaktionen beobachten (. Übersicht 32.2). Zwar sind die Reaktionen selten bewusst gesteuert, sondern eher als auditorischer oder motorischer Reflex einzuordnen, trotzdem sind es die einzigen Reaktionsformen, die
32
492
Kapitel 32 · Musiktherapie in der Neurorehabilitation
. Übersicht 32.2. Reaktionen auf Musiktherapie 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Augenbewegungen Lidschluss Bewegungen der Extremitäten und des Kopfes Muskeltonus Atemgeräusche Atemrhythmus
diesen Patienten im Moment zur Verfügung stehen (Gustorff 2005). Aktivierungsstudien zeigen, dass auch im Wachkoma komplexe Stimuli komplexe Aktivierungsmuster hervorrufen können. Beispiel Mit wenigen Tönen auf einem Saiteninstrument oder mit der eigenen Stimme kann der Therapeut im Atemrhythmus des Patienten die Ein- und Ausatmung mit einem jeweils anderen Ton musikalisch hervorheben, um dann kleine Melodien zu erfinden, die der vermuteten Stimmungslage des Patienten entsprechen.
32
jEntwicklung von einfacher zu komplexer Interaktion Die rhythmisch-klangliche Resonanz (Rehm 2009) kann eine erste Dialogform in der Frühphase der neurologischen Rehabilitation sein. Praxistipp Um die eventuell noch vorhandenen basalen Wahrnehmungspotenziale nicht zu überfordern, sollten musikalische Angebote eindeutig identifizierbar, klar strukturiert und überschaubar gestaltet werden (Herkenrath 2005).
Dies ist eine besonders anspruchsvolle intime Interaktion, die gelegentlich von Unsicherheit begleitet ist, wenn die Reaktionen des Patienten nicht eindeutig sind und seine Bewusstseinslage nicht klar ist. Häufig lässt sich beobachten, dass 4 die Atemfrequenz des Patienten sich spürbar ändert, 4 der Patient den Kopf zur Schallquelle wendet, 4 der erhöhte Muskeltonus bei spastischen Lähmungen sich kurzzeitig etwas lockert. Dies mag an der musikalischen Performance oder auch nur an der menschlichen Nähe liegen. Die Verbindung von Musik und Emotion bietet eine Interaktionsform an, 4 welche die eingeschränkten Fähigkeiten der Patienten berücksichtigt, 4 in der sich deren reduzierte Äußerungsformen sinnvoll integrieren lassen und 4 in der emotional-kommunikative Annäherung möglich ist.
Im Vordergrund steht der Aufbau einer Beziehung zum Patienten, in der das Gefühl von Sicherheit vermittelt wird, indem vorurteilsfrei und voraussetzungslos mit den beim Patienten beobachtbaren Reaktionen umgegangen wird (Gustorff 2005), und in welcher der Patient erkennen kann, dass er mit seiner minimalen Interaktion auf seine Umwelt Einfluss hat. Eine ganzheitliche Annäherung an den Patienten, die sich von einer partiell-funktionellen, auf motorische und neuropsychologische Defizite bezogenen Sichtweise abhebt, ist ein zentraler Grundsatz der Musiktherapie. Ein stabiles Vertrauensverhältnis, das von verbaler und nonverbaler Kommunikation gestützt wird, ist eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Rehabilitation (Schönebaum 2003). > In der musiktherapeutischen Arbeit mit schwer betroffenen Patienten gilt folgender Grundgedanke: Unter der Prämisse einer vorhandenen Eigenkompetenz verfügt der Mensch im Wachkoma über Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Reaktionsfähigkeiten, die es ihm erlauben, sich im Rahmen seiner reduzierten Möglichkeiten interaktiv an der Musiktherapie zu beteiligen (Herkenrath 2005). Reaktionslosigkeit, z.B. im Wachkoma, ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit Wahrnehmungs- oder Erlebnislosigkeit. Diese Annahme erfordert es, dem Patienten das unbedingte Gefühl der Akzeptanz zu vermitteln (Jochheim 2004).
Die wichtigsten Ziele der Musiktherapie mit schwer bewusstseinsgestörten Menschen in der Frührehabilitation sind in . Übersicht 32.3 formuliert. In einer Fallstudie ist die Entwicklung von einer einfachsten hin zu einer komplexen Interaktion beschrieben (7 Patientenbeispiel: Frau L.). . Übersicht 32.3. Ziele der Musiktherapie in der Frührehabilitation 1. 2. 3. 4.
Dialog- und Beziehungsaufbau Wahrnehmungsförderung Angstabbau und psychische Stabilisierung Ressourcenaktivierung (Rehm 2009)
Musikhören Da die Patienten der Frührehabilitation lediglich ein Drittel des Tages mit Therapie verbringen (Särkämö et al. 2008), könnte man mit regelmäßigem Musikhören eine zusätzliche und kostengünstige Förderung anbieten. Dies ist jedoch nur bedingt sinnvoll (. Übersicht 32.4). Wie der Leser sicher aus eigener Erfahrung bestätigen kann, ist man nicht ständig in Stimmung, Musik zu hören, und die Musikauswahl schwankt je nach eigener Gemütslage. Hinzu kommt, dass Patienten in der Frührehabilitation schon ständig einer irritierenden akustischen Stimulation ausgesetzt sind. Aus eigener Kraft einen Ort und Zeit für Entspannung zu finden, ist nicht möglich. Es ist nicht damit getan, das Radiogerät am Nachttisch neben dem Bett ein- und nach einer halben Stunde wieder auszuschalten.
493 32.2 · Interaktionen
Patientenbeispiel: Frau L. Frau L. kam als junge Frau nach einem Verkehrsunfall mit schwersten SchädelHirn-Verletzungen zur Rehabilitation. Die Diagnose lautete Wachkoma mit beginnenden Regenerationszeichen. Beim ersten Kontakt im Zimmer, einem geräuschvollen Vier-Bett-Zimmer mit intensiv überwachungspflichtigen Patienten, machte Frau L. einen wachen, aber teilnahmslosen, apathischen Eindruck und zeigte keine erkennbare Reaktion auf verbale Ansprache. Im Musiktherapieraum wurde am nächsten Tag versucht, im Rhythmus der Atmung mit klar strukturierten Melodietönen die Aufmerksamkeit der Patientin zu wecken. Bereits in der 1. Therapiestunde drehte Frau L. nach kurzer Zeit ihren Kopf zur Schallquelle hin, wirkte sehr wach, schien konzentriert, und ihre starre Mimik entspannte sich sichtlich im Laufe der Therapieeinheit. In der 2. Stunde reagierte sie wieder eindeutig auf das musika-
lische Angebot. Erfreut über diese Reaktion beschloss ich, die Therapie mit einem Lied zu beenden, wofür sich Frau L. mit einem Lächeln und kleinen, aber definierten Bewegungen zur Musik mit ihrer weniger paretischen Hand bedankte. Die weiteren Therapiestunden verliefen ähnlich: Die Mimik von Frau L. wurde eindeutiger und ihre Bewegungen zur Musik strukturierter, so dass sie mimisch und gestisch Zustimmung und Ablehnung besser signalisieren konnte. Schon bald wurde ihr Mann eingeladen, um beim gemeinsamen Hören von Musik ein Gefühl vertrauter Zweisamkeit zu ermöglichen, was im Stationsalltag kaum möglich ist. Der erste gemeinsame »Tanz«, also leichtes Bewegen der gegenseitig gehaltenen Hände zur Musik, war für alle Beteiligten ein bewegendes Ereignis. Im Verlauf der Rehabilitation verbesserte sich Frau L. in allen Funktionen, auch die stärker betroffene Körperhälfte gewann zu-
nehmend an Funktion, und erste Stehversuche versprachen Erfolg. Die Musiktherapie gestaltete sich immer aktiver; Frau L. setzte ihre Stimme kreativ und artikuliert ein, und ihre Hände waren ihr bei einfach strukturierten Improvisationen mit leicht zu spielenden Instrumenten aus dem Orff-Instrumentarium (z.B. Glockenspiel, Handtrommel, Leier) kein allzu großes Hindernis mehr. Ein selbst gesetztes Ziel war das Spielen einfacher Akkorde auf der Gitarre, welches sie ehrgeizig verfolgte und erreichte. Die Musiktherapie hatte Frau L. geholfen, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren und wieder eine soziale Interaktion aufzubauen. Ihrer eigenen Auskunft nach hatte die Musiktherapie in den späteren Phasen der Rehabilitation dazu beigetragen, ihre Stimmung zu stabilisieren und ihre Motivation für die Therapien zu stärken.
Näher betrachtet Studie: Musikhören
. Übersicht 32.4. Regeln für das Musikhören in der Neurorehabilitation
In einer finnischen Studie (Särkämö et al. 2008) konnte bestätigt werden, dass sich Schlaganfallpatienten besser erholen, wenn sie täglich Musik hören. Unabhängig von der Art der Musik lassen sich Verbesserungen der Gedächtnisleistung, der Konzentrationsfähigkeit und der Stimmung der Patienten nachweisen. Außerdem waren die Teilnehmer der Patientengruppe, die täglich Musik hören durfte, nach der 6 Monate dauernden Testphase weniger verwirrt und depressiv als die Teilnehmer der Kontroll- und Sprachgruppe, die herkömmliche Therapien erhielten bzw. Hörbücher zur Verfügung hatten. Es gibt wissenschaftliche Daten, dass Musikhören einen positiven Einfluss auf kognitive Fähigkeiten und emotionale Befindlichkeiten hat, vorausgesetzt, die Musik entspricht dem Geschmack des Patienten oder ist von ihm selbst ausgewählt (Särkämö et al. 2008).
1.
> »Das unkontrollierte, ständige Berieseln mit Musiken aller Qualitäten, schlimmstenfalls in Form auditiver Stimulation über Kopfhörer, führt zwangsweise zu einer unkontrollierbaren Überflutung neuronaler Netzwerke, deren Nutzen in keiner Arbeit zweifelsfrei belegt werden konnte.« (von Wild 2005)
jMusikauswahl Informationen über musikalische Vorlieben und Abneigungen geben die Angehörigen gerne. Durch Beobachten des Patienten während der Musikrezeption kann der Therapeut emotionale Reaktionen, die zu
2. 3. 4.
Der Patient sollte möglichst selbst entscheiden, ob er Musik hören möchte oder nicht. Der Patient selbst oder der Therapeut sollte die Musik in Kenntnis seines Musikgeschmacks auswählen. Unkontrollierte Berieselung sollte vermieden werden. Lautstärke und Dauer sollten vom Patienten selbst bestimmt werden.
erwarten und auch zu begrüßen sind, rechtzeitig aufgreifen. Musik, die mit Erinnerungen besetzt ist (Spitzer 2002), kann unkontrollierbare Emotionsausbrüche zur Folge haben. Um solche zu vermeiden, sind Fingerspitzengefühl bei der Musikauswahl, Kenntnisse der Biographie und eine Einschätzung der aktuellen Gefühlslage gefragt. Zu berücksichtigen ist dies auch beim Einsatz sog. musikalischer »Hausapotheken«, da sie allgemein zusammengestellt sind und häufig nicht der individuellen musikalischen Erfahrungswelt entspringen. Praxistipp Als Einstieg einer rezeptiven Therapieeinheit bietet sich ein emotional möglichst neutrales Musikstück an und zum Ausklang ein freudvolles, positives Schlusslied.
32
494
Kapitel 32 · Musiktherapie in der Neurorehabilitation
Patientenbeispiel: Herr H. Herr H. ist ein ca. 70 Jahre alter Patient, dem man ansehen konnte, dass er schon viele Schicksalsschläge erlebt hatte. Traumatische Erfahrungen im 2. Weltkrieg, große Not bei der anschließenden Flucht und ein mittelloser Neubeginn in Deutschland prägten ihn. Die langjährig geleistete Pflege seiner Frau bis zu deren Tod und mehrere rechts- und linkshemisphärische Schlaganfälle bestimmten die vergangenen Jahre seines Lebens. Nach einem erneuten Schlaganfall kam er zur Frühehabilitation in unsere Klinik. Die ausgeprägte Hemisymptomatik, ein starker linksseitiger Neglect, eine kortikale Sehschwäche und eine massive Dysphagie waren eine therapeutische und pflegerische Herausforderung, da nicht jeder Mitarbeiter der äußerst mürrischen Art und den leicht ungehobelten Umgangsformen von Herrn H. gewachsen war. Es hieß, der Patient sei unkooperativ,
32
schlecht gelaunt, nicht orientiert und aggressiv; aus Sicht der Physio- und Ergotherapeuten war er »austherapiert«. Um Herrn H. kennenzulernen und mir ein eigenes Bild von ihm zu machen, lud ich ihn zur Musiktherapie ein. Auf die Frage, wie es ihm denn gehe, und ob er mit der Betreuung zufrieden sei, antwortete er überraschend konkret, dass er alle sehr hilfsbereit und nett finde, er aber überhaupt keine Lust habe, diesen ganzen »Therapiezirkus« mitzumachen, weil es nichts bringe und es besser sei, wenn es bald vorbei wäre mit seinem Leben, in dem er schon so viel mitmachen musste. Im anschließenden Gespräch stellte sich heraus, dass er früher einmal begeisterter Musiker war und sich besonders im Jazz sehr gut auskannte. Das Angebot, gemeinsam Musik zu hören, nahm Herr H. mit Tränen in den Augen gerne an, und er bereicherte die Musikauswahl mit einer
jGemeinsames Musikhören Gemeinsames Musikhören ist eine sehr persönliche Angelegenheit (7 Patientenbeispiel: Herr H.). Die Reaktionen, die man beim gemeinsamen Musikhören erfährt, sind vielfältig und reichen von Gleichgültigkeit bis zu völliger Hingabe an die Musik. Fast immer aber entsteht ein Gefühl der Nähe zum Patienten, und man nimmt an dessen Welt zunehmend Anteil. Nicht selten entstehen Gespräche über Sorgen oder Ängste, und die Patienten teilen mit den
Vielzahl von Vorschlägen. Wir trafen uns fast täglich, um gemeinsam Musik zu genießen und über das Leben jetzt und früher zu sprechen. Weinen und Lachen gehörten wie selbstverständlich dazu. Herr H. entspannte sich beim Hören der Musik so sehr, dass er seinen extremen Neglect bis über die Mittellinie nach links auflösen konnte. Funktionelle Besserungen standen jedoch nicht im Vordergrund, sondern vielmehr, dass in seinem von Traumata und Multimorbidität gezeichnetem Leben kleine Oasen von Freude und Genuss geschaffen wurden. Im weiteren Verlauf seiner kurzen Rehabilitation ließ sich Herr H. sogar zu schwungvollen rhythmischen Improvisationen am Schlagzeug überreden, und er entwickelte sich zu einem schrulligen, aber sanften und angenehmen Patienten, dessen Wunsch nach Ruhe und Frieden von vielen akzeptiert wurde.
ihnen zur Verfügung stehenden Kommunikationsmöglichkeiten ihre Dankbarkeit über die erlebte Musikstunde mit (7 Patientenbeispiel: Frau T.).
32.2.2
Musik bei Sprachverlust
Die Entwicklung und Verarbeitung von Sprache und Musik zeigen viele Gemeinsamkeiten. Beides sind kulturübergrei-
Patientenbeispiel: Frau T. Frau T. ist eine sehr gepflegte, gebildete ältere Dame. Ihre Motorik regenerierte nach einer linksseitigen Gehirnblutung rasch, sie zeigte sich jedoch sehr ablenkbar und unruhig bei gleichgültiger Stimmungslage. Wegen einer schweren Amnesie und vorbestehender demenzieller Entwicklung wusste sie ihren eigenen Namen nicht mehr. Die Kommunikation war bestimmt von einer Wernicke- Aphasie mit phonematischen und semantischen Paraphasien bei erheblich gestörtem Sprachund Situationsverständnis. Personen bzw. Gesichter des Personals konnte sie sich ebenso wenig merken wie die Zusammensetzung des gerade verzehrten Mittagessens. Die einzige Person, die sie erkannte, war ihr Ehemann. Da sie immer gern getanzt hatte und bis zur Erkrankung ein lebensfroher Mensch gewesen war, sollte in der Musiktherapie versucht werden, alte Gefühle zum Schwingen zu bringen.
Alte Schlager aus den 30er, 40er und 50er Jahren quittierte Frau T. mit einem freundlichen Lächeln; ansonsten rutschte sie unruhig auf dem Stuhl hin und her. Nennenswerte Erfolge konnten in den ersten beiden Therapiestunden nicht erzielt werden, bis Frau T. in der 3. Therapieeinheit plötzlich bei einem eher zufällig ausgewählten Lied begann, ihre Beine im Takt der Musik zu bewegen. Lachend setzte sie ihren Sitztanz beim nächsten Lied fort und summte die Melodie mit. Den nachfolgenden Musikstücken hörte sie aufmerksam zu; sie war nicht unruhig, sondern in die Musik versunken. Zu Ende der Stunde stimmte sie mit sicherem Text und erkennbarer Melodie in das gesungene Abschiedslied mit ein. Am Nachmittag des gleichen Tages begrüßte sie mich überraschend als »Herr Dirigent«, was sie am nächsten Morgen wiederholte. Offenbar konnte sie mich trotz ihrer massiven
Gedächtnisprobleme mit Musik in Verbindung bringen – ein Zeugnis der Verknüpfung von Emotion und Erinnerungsvermögen. Die darauffolgenden Stunden verliefen ähnlich fröhlich mit Tanzen, Hören und Singen, jedoch formulierte Frau T. immer häufiger Fragen zu ihrer Situation. Allmählich schien sie ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass sie sich auf ihr Gedächtnis nicht mehr verlassen konnte und sich in einem Krankenhaus befand. Sie wollte wissen, wie es denn jetzt weitergehen solle. Dabei wirkte sie traurig und verzweifelt. Obwohl ein konstruktives Gespräch wegen ihrer Aphasie nicht möglich war, schien sie in »ihrem« Musiktherapeuten eine wichtige Bezugsperson zu sehen und suchte häufig Trost, der im gemeinsamen Hören von Musik und Händehalten leicht zu geben war.
32
495 32.2 · Interaktionen
fende, akustische Phänomene, deren kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten in der Sprache die Phoneme, bei der Musik die Töne sind. Nach phonologischen und grammatikalischen bzw. harmonischen, melodischen und rhythmischen Gesetzmäßigkeiten lassen sich damit entweder Wörter und Sätze oder Harmonien und Melodien bilden (Sallat 2009). Sowohl mit Sprache als auch mit Musik lassen sich Informationen und Gefühle vermitteln, vor allem aber können dadurch Menschen miteinander verbal oder nonverbal kommunizieren. Melodie, Rhythmus und Dynamik sind zugleich wichtige sprachliche und musikalische Parameter. Dies sind Gründe, um bei verlorenen sprachlichen Fähigkeiten Musik als Kommunikations- bzw. Interaktionsmedium zu wählen.
testen, selbst wenn sie vorher noch nie ein Instrument gespielt haben. > Die musiktherapeutische Improvisation ist für manchen Patienten die einzige Möglichkeit, mit anderen hörbar in Beziehung zu treten und zu interagieren (Magee 2005). Diese neuartigen kommunikativen Erfahrungen lindern den Druck, unter dem Aphasiepatienten in Gesprächssituationen permanent stehen (Baumann 2004).
Spielerisch lassen sich musikalisch Erfahrungen machen, die wichtige Komponenten der Kommunikation darstellen:
» Auf den anderen (…) hören, Impulse von ihm aufnehmen Näher betrachtet Studien: Musikalische Elemente in der Sprachtherapie Studien zur sprachtherapeutischen Unterstützung von Patienten mit Aphasie durch musikalische Elemente gibt es schon seit den 70er Jahren, z.B. die Melodische Intonationstherapie (MIT) nach Helm (1979). Besonders bei Aphasien mit relativ gutem Sprachverständnis, aber gestörter Sprachproduktion setzt MIT mit melodischer und rhythmischer Stimulation zur Förderung phonematisch-artikulatorischer Störungen an. Für die meisten Patienten der Frührehabilitation stellt die MIT einen zu hohen kognitiven Anspruch und ist eher für Patienten in einer späteren Rehabilitationsphase geeignet.
> In der Frührehabilitation spielt die Musik bei Menschen mit Aphasie die Rolle eines Mediums zur nonverbalen Kommunikation (Baumann 2004).
Musiktherapeutische Improvisation Da eine Aphasie häufig von einer Apraxie (7 Kap. 22) begleitet wird, sind auch gestische Ausdrucksmöglichkeiten i.d.R. sehr eingeschränkt. In dem Fall kann die musiktherapeutische Improvisation ein möglicher Kanal sein, einen kommunikativen Austausch zu finden, der auf verbalem Weg nicht funktioniert. Der Patient kann das »so schmerzlich Vermisste, das so abrupt Verlorene wenigstens in Teilaspekten wiedererleben, den Verlust ein Stück weit kompensieren« (Baumann 2004). Musikalische Fertigkeiten sind nicht erforderlich. Ausgangspunkt eines musikalischen Dialogs kann 4 das Klopfen auf den Tisch, 4 das Anschlagen eines Tons auf dem Xylophon oder 4 das Zupfen einer Harfensaite sein, das auch mit eingeschränkten motorischen Fähigkeiten möglich ist. Ästhetische Kriterien stehen im Hintergrund, was nicht heißt, dass die gemeinsame Improvisation vom Musiktherapeuten nicht doch in eine ansprechende musikalische Form gelenkt wird. Es ist oft beeindruckend, mit welcher Offenheit Aphasiepatienten (im Gegensatz zu den meisten Gesunden) staunend die verschiedenen Möglichkeiten zur Klangproduktion aus-
und eigene einbringen«, Pausen einfügen und auf nonverbale Signale achten. Das Experimentieren mit diesen für die meisten neuen Mitteln »macht Mut, sich für neue, ungewöhnliche Wege der Verständigung zu öffnen und dient somit indirekt dem Ausbau des nonverbalen Verhaltensrepertoires. (Baumann 2004)
«
Praxistipp Improvisieren lässt sich auch mit der Stimme, und das kann zu sehr emotionalen Erfahrungen bei Patient und Therapeut führen. Erfahrungsgemäß ist die Hemmschwelle allerdings höher als beim Spielen auf dem Instrument.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie mühelos manche Aphasiker, die aus eigenem Antrieb kein verständliches Wort produzieren können, ganze Liedstrophen verständlich und melodisch mitsingen. Leider bedeutet die Fähigkeit, Liedtexte widerzugeben, nicht unbedingt, dass andere sprachliche Funktionen auch wiederkehren. Der Abruf automatisierter Melodien und Texte durch das Singen bekannter Lieder ist jedoch ein wichtiger Motivationsfaktor für die ihrer Ausdrucksfähigkeit beraubten Patienten (Baker 2005) und kann eine große Unterstützung der sprachtherapeutischen Betreuung sein (7 Patientenbeispiel: Herr B.). ! Cave Es ist enorm wichtig für die Patienten, dass man versucht, sie zu verstehen (Jochheim 2004). Obiger Patient konnte dadurch eine positive Erfahrung in einem Bereich machen, der vom Schlaganfall am schlimmsten betroffen war: Ausdruck durch Bewegung und Stimme.
Sing-/Improvisationsgruppen Musik hat einen sozialen Aufforderungscharakter . Neben Aphasiepatienten lassen sich daher auch Patienten mit gestörtem Eigenantrieb z.B. in eine Sing- bzw. Improvisationsgruppe integrieren. 4 Zum einen ist es leichter, in der Gruppe zu singen bzw. zu spielen, und der Patient fühlt sich vom Therapeuten nicht kontrolliert;
496
Kapitel 32 · Musiktherapie in der Neurorehabilitation
Patientenbeispiel: Herr B. Herr B., Jahrgang 1952, kam nach einem ausgedehnten linksseitigen Mediainfarkt zur Frührehabilitation. Freundlich nickend und sehr distinguiert wirkend erschien sein Sprachverständnis besser als es war. Neben einer globalen Aphasie zeigte sich eine massive Apraxie, die ein Umsetzen einfacher Bewegungen, Ausdrucksbewegungen und den Umgang mit Alltagsgegenständen stark behinderte. Wegen der schweren Sprechapraxie konnte Herr B. weder willkürlich phonieren noch artikulieren. Das Ausblasen einer Kerze stellte ihn vor eine unlösbare Aufgabe. In der Musiktherapie sollten nonverbale und verbale Ausdrucksmöglichkeiten mit Herrn B. erarbeitet werden. Motiviert und begeistert nahm er dieses Angebot an; er freute sich über die Musik und staunte bei der 1. Therapiestunde über die vielen Instrumente. Der Versuch, ihn in der nächsten Musiktherapie aktiv auf einem der Instrumente spielen zu lassen, scheiterte an der
Apraxie. Weder ein Führen noch ein selbst initiiertes Spielen waren möglich, was uns beide sehr enttäuschte. Herr B. war sehr niedergeschlagen. Wir einigten uns unter Verwendung aller noch vorhandenen Kommunikationsformen darauf, in den folgenden Therapien ausschließlich Musik zu hören und diese nach Möglichkeit zu genießen. Das klappte gut und machte große Freude. Nach einiger Zeit des Musikhörens begann Herr B. damit, seinen linken, nicht gelähmten Arm wegen der Apraxie etwas ungelenk, aber doch erkennbar zur Musik zu bewegen. Sichtlich erfreut weitete er die Bewegung auf den Oberkörper aus und schunkelte schließlich versunken zur Musik. Nach dieser Stunde wollte Herr B. mir etwas mitteilen, indem er um sich zeigte, verzweifelt nach der richtigen Gestik suchte und mich fragend ansah. Mit viel Phantasie sowie intensivem verbalem und nonverbalem Nachhaken fanden wir, was er suchte: das Akkordeon. Mit Freudentränen in den
Augen forderte er mich auf, darauf zu spielen, was ich mutig versuchte. Sofort bewegte Herr B. sich wieder intensiv zur Musik, pustete laut umher und fand schließlich zu seiner Stimme. Dann sang er lautstark die Melodie mit. Es war ihm endlich gegönnt, zwar noch nicht artikulierend, aber willkürlich über seine Stimme zu verfügen. Später erfuhr ich, dass er selbst einmal Akkordeon gespielt hatte. Die folgenden Stunden verbrachten wir mit Musikhören und Singen bei variierender Artikulation. Nicht nur Lieder, auch abwechselnd improvisierte Melodien entstanden und wurden von einer positiven Atmosphäre getragen. Herr B. konnte im Verlauf der Rehabilitation sicherer zwischen den einzelnen Vokalen unterscheiden, eine adäquate Ja-/Nein-Kommunikation ließ sich erarbeiten und bei Entlassung in die Anschlussheilbehandlung sprach er bereits auf Ein- bis Zwei-WortEbene.
32 4 zum anderen macht es in der Gruppe mehr Spaß, und man kann sich auch mal zurückziehen, ohne dass es große Auswirkung auf das musikalische Gesamtergebnis hätte. Die Singgruppe ist eine gute Möglichkeit, »aktive und unterhaltsame Förderung sozialer und kommunikativer Bedürfnisse anzubieten« (Rössler 2004), und bietet Raum für kreatives Ausprobieren. Die dabei erwachende Musikalität vieler Teilnehmer ist sehr anrührend. Die Erfahrung der Patienten, trotz aller krankheitsbedingten Einschränkungen eine freudvolle und amüsante halbe Stunde zu erleben, ist ein kleines Stück sozialer und zweckfreier Normalität, die in der Klinik leider allzu oft fehlt.
teilnehmen. Im Kreis sitzend werden z.B. Lieder gesungen, Musik gehört und thematisch aufeinander bezogene Gegenstände von einem zum nächsten Teilnehmer weitergereicht und von jedem benannt. Ohne Berührungsängste mit schwerst pflegebedürftigen Menschen verstehen es die Kinder, mit ihren Liedern und Kreisspielen, ihrer ansteckenden Fröhlichkeit und Unbefangenheit, die Patienten zu animieren. > Patienten reagieren sehr positiv auf Kinder. Selbst ein Patient mit sehr geringem Eigenantrieb fühlt sich zum Mitmachen motiviert, Aphasiepatienten gelingt es leichter, Spielfiguren zu benennen und der Neglect kann überraschend weit aufgelöst werden (Heinritz 2006).
Praxistipp Beim Spielen auf verschiedenen Instrumenten lassen sich leicht funktionelle Gesichtspunkte berücksichtigen: Der Patient kann z.B. die paretische Hand mit einem Schlägel zum Glockenspiel führen oder einfach nur vorsichtig zur Musik bewegen. Der Therapeut sollte auf die richtige Sitzposition der Patienten achten und bei Neglectpatienten deren Position im Raum bedenken.
jIntegrierte Kinder-Patienten-Gruppe In Zusammenarbeit mit einem Kindergarten findet 1-mal/ Woche im Musiktherapieraum eine integrierte Kinder-Patienten-Gruppe statt, an der 8 Kinder, 2–4 Patienten der Frührehabilitation, eine Erzieherin und der Musiktherapeut
32.3
Neurologische Musiktherapie
32.3.1
Rhythmische Akustische Stimulation (RAS)
> Neurologische Musiktherapie ist der Teil der Musiktherapie, der die Musik einsetzt, um die funktionellen motorischen Therapien zu ergänzen.
In diesem Zusammenhang ist besonders die von der Arbeitsgruppe um Thaut (2004) ausgearbeitete und wissenschaftlich evaluierte Rhythmisch Akustische Stimulation (RAS) zu nennen. Die Evidenz für die Wirksamkeit des RAS ist hoch (Bolay 2005).
497 32.3 · Neurologische Musiktherapie
Patientenbeispiel: Frau S. Frau S. ist eine sehr freundliche, aufgeschlossene Frau von 64 Jahren und kam nach einem massiven linkshemisphärischen Mediainfarkt zur Frührehabilitation. Symptomatisch bestand neben gravierenden motorischen Ausfällen der gesamten rechten Körperhälfte eine sehr hartnäckige globale Aphasie. Außerdem war sie durch eine ausgeprägte ideomotorische und ideatorische Apraxie in ihren Alltagsaktivitäten empfindlich eingeschränkt. In der Musiktherapie sollten vor allem ihre verbalen und nonverbalen Kommunikationsmöglichkeiten unterstützt, ihre soziale Integration gefördert und ihre schwankende Therapiemotivation erhalten und stabilisiert werden. Mit ihrer wunderschönen Singstimme bei treffsicherer Intonation konnte Frau S. während der Therapie nicht nur den Musiktherapeuten sehr beeindrucken. Ihr bekannte Textpassagen sang sie gut verständlich mit. Durch ihre Fröhlichkeit und Spontaneität beim Musizieren weckte sie große Hoffnungen auf eine baldige Besserung ihres sprachlichen Ausdrucks. Diese Hoffnungen bestätigten sich jedoch nur in sehr geringem Maße, was
sich bis heute trotz intensiver logopädischer Betreuung nur unwesentlich gebessert hat. Hinzu kam eine häufig depressive Stimmungslage. Mit kontinuierlicher ambulanter Physio- und Ergotherapie konnten die motorischen Defizite von Frau S. soweit verbessert werden, dass sie sich allein im Rollstuhl fortbewegen und einfache Alltagstätigkeiten bewältigen kann. Kurze Gehstrecken von ca. 20–30 Metern kann sie mithilfe eines Stocks zurücklegen. Da Musiktherapie im ambulanten Bereich bisher nicht abgerechnet werden kann, hatte Frau S. seit dem Rehaaufenthalt keine Musiktherapie erhalten. Um die Motivation von Frau S. zu stärken und bessere Behandlungsergebnisse in ihrer Mobilität zu erreichen, wurde 1-mal/Woche eine interdisziplinäre Physio- und Musiktherapie begonnen. In der Hoffnung, dass Frau S. zumindest ihr asymmetrisches und arhythmisches Gangmuster modifizieren konnte, begleitete der Musiktherapeut Frau S. im Rhythmus ihrer langsamen Schritte – in diesem Fall mit rhythmisch akkordischem Gitarrenspiel.
Vor allem der Musikrhythmus ist bei dieser Methode von Bedeutung, es geht um die therapeutischen Auswirkungen auf Gangparameter wie 4 Geschwindigkeit, 4 Gangrhythmus, 4 Schrittlänge und 4 Symmetrie (Freedland et al. 2005). Bereits das Klicken eines Metronoms verbessert die Bewegungsbereitschaft des motorischen Nervensystems; man kann sagen, dass der akustische Takt rhythmische Bewegungen steuert und optimiert. Der Bewegungsablauf wird harmonischer und somit ökonomischer (Mainka 2009). Menschen passen ihre Bewegungen oft spontan bestimmten Rhythmen an – wer sich selbst schon einmal beim Klopfen zum Takt der Musik ertappt hat, kann dies nur bestätigen. Es gibt wahrscheinlich eine relativ direkte sensomotorische Ankoppelung durch Synchronisationsprozesse (Entrainment) an rhythmisch-akustische Muster (Bolay 2005). Dieser sog. Magneteffekt (Mainka 2009) funktioniert auch, wenn sich z.B. die Frequenz des akustischen Stimulus ändert, ohne dass man dies bewusst wahrnehmen müsste (Mainka 2005). Ein Rhythmus, der in einen musikalischen Kontext eingebettet ist, wird schneller wahrgenommen und entsprechend antizipiert, als ein isolierter rhythmischer Stimulus wie er vom Metronom kommt.
Sehr schnell und sichtlich fröhlich stellte sich Frau S. auf die neue Therapiesituation ein und konnte sich sogar leichten rhythmischen Variationen der Musikbegleitung anpassen, so dass in kurzer Zeit ein relativ gleichmäßiger Gang- und Begleitrhythmus gefunden wurde. Das Gangbild erschien entspannter, die Schritte wirkten automatisierter und dadurch natürlicher. Der Physiotherapeut konnte schon bei der ersten interdisziplinären Therapie die Fazilitation reduzieren, so dass er statt mit beiden Händen nur noch mit einer Hand leicht am Rumpf die Bewegungen von Frau S. kontrollieren musste. Die Gehstrecke verlängerte sich von ca. 30 m auf 40 m und konnte in den darauffolgenden Therapiestunden ausgedehnt werden. Nach der Therapie bedankte sich Frau S. mit einem Lied, das sie den Therapeuten vorsang. Nicht nur die rhythmische Stimulation bewirkte den Erfolg, sondern auch die Motivation durch die Musik. Auch wenn nachweislich schon ein Metronom stimulierend wirkt, so macht das Bewegen zu echter Musik sehr viel mehr Spaß.
> Musikgestütztes Gangtraining (Mainka 2009) kann interdisziplinär von Musiktherapie, Physiotherapie und Pflege durchgeführt werden (7 Patientenbeispiel: Frau S.). Praktische Durchführung:
4 Zunächst begleitet der Therapeut den Patienten rhythmisch in dessen eigener Schrittfrequenz, der Basisfrequenz. 4 Im Verlauf der Therapie variiert der Therapeut das Tempo seiner Begleitung und lässt den Patienten zunehmend nach dem von ihm vorgegebenen Takt gehen. Näher betrachtet Studie: Instrumentalspiel bei Schlaganfallpatienten In einer Studie wurde nachgewiesen, dass Schlaganfallpatienten signifikante Fortschritte in ihren motorischen Leistungen erreichen, wenn sie zusätzlich zur herkömmlichen Therapie auf einem Instrument spielen. Patienten, die keine musikalischen Vorkenntnisse hatten, zeigten nach 3 Wochen täglichen Übens auf dem Klavier oder elektronischen Schlagzeug deutliche Verbesserungen von Geschwindigkeit, Präzision und Bewegungsfluss. Auch Alltagsaktivitäten wurden nach dem Instrumentaltraining besser ausgeführt (Schneider et al. 2007).
32
32
498
Kapitel 32 · Musiktherapie in der Neurorehabilitation
32.4
Schlussgedanken
Eine besondere Herausforderung beim Verfassen dieses Textes war es, zum einen Formulierungen, zum anderen einen Sprachstil zu finden, der für ein medizinisch-therapeutisches Fachbuch passend ist. Die in der täglichen Arbeit mit Patienten erlebten zwischenmenschlichen Erfahrungen und die emotionale Atmosphäre, die oft mit Musik entsteht, lassen sich schwer in Worte fassen. Häufig sind es subjektive Eindrücke, die eine gelungene Musiktherapie bezeugen. Diese lassen sich schwer in ein objektivierbares, wissenschaftlich fundiertes Raster einfügen. Die Freude, die man mit Musiktherapie vermitteln kann, das Gespräch, das viele nach der Therapie suchen, die versteckte Trauer, die sich dann oft zeigt, und das Gefühl, im Musiktherapieraum aufgehoben zu sein und mit all den Folgen der Erkrankung akzeptiert zu werden, sind meines Erachtens sehr wichtige motivierende Faktoren für eine erfolgreiche Neurorehabilitation. Um Freude, Gesprächsbereitschaft, Trauerarbeit und Akzeptanz zu vermitteln, muss man kein Musiktherapeut sein. Doch genau diese tragenden Lebensaspekte sind zentrale Ziele der therapeutischen Arbeit mit Patienten, und der Therapeut kann und muss sich die Freiheit nehmen, um diese zu erreichen.
32.5
Literatur
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C
Frührehabilitation und diagnosespezifische Neurorehabilitation Kapitel 33
Neurologische Frührehabilitation – 501 F.K. von Wedel-Parlow, K. Gehring, M. Kutzner
Kapitel 34
Assessment und Management medizinischer Komplikationen – 557 W. Deppe
Kapitel 35
Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter W. Deppe
Kapitel 36
Neurotraumatologie E. Rickels
Kapitel 37
Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall – 633 P. Frommelt
Kapitel 38
Rehabilitation bei Multipler Sklerose (MS) C. Vaney, R. Roth
Kapitel 39
Rehabilitation neuromuskulärer Erkrankungen G. Pfeiffer
Kapitel 40
Parkinsonkrankheit und Dystonie G. Ebersbach, J. Wissel
Kapitel 41
Epilepsien – 739 U. Specht, R. Thorbecke
– 581
– 615
– 711
– 673
– 695
33
Neurologische Frührehabilitation F.K. von Wedel-Parlow, K. Gehring, M. Kutzner 33.1
Organisation der Frührehabilitation
33.1.1 33.1.2 33.1.3
Phasenmodell der Frührehabilitation – 502 Indikationen für die Frührehabilitation – 502 Anforderungen an eine Frührehabilitation – 503
33.2
Diagnostik in der Frührehabilitation
33.2.1
Klinisch-neurologischer Befund
33.3
Dokumentation
33.3.1 33.3.2
Skalen – 508 Neuropsychologische Verlaufsdiagnostik
33.4
Medizinische Probleme in der Frührehabilitation
33.4.1 33.4.2
Internistische Komplikationen – 511 Neurochirurgische und neurologische Komplikationen
33.5
Teamarbeit in der Frührehabilitation
– 502
– 504
– 505
– 508 – 510
– 510 – 514
– 515
33.6
Grundlagen und Perspektiven der Therapie
33.6.1 33.6.2 33.6.3 33.6.4 33.6.5 33.6.6 33.6.7 33.6.8
Komastimulation – 519 Therapie im Zustand minimaler Reaktionsfähigkeit – 522 Musiktherapie in der Frührehabilitation – 522 Tiergestützte Therapie in der Frührehabilitation – 524 Mobilisierung – 525 Therapie in der Phase wiederkehrender differenzierter Reaktionen – 526 Neurochirurgische Therapie während der Frührehabilitation – 533 Frührehabilitation desorientierter Patienten – 534
33.7
Situation der Angehörigen in der Frührehabilitation
33.7.1
Angehörige und Rehabilitationsplanung
33.8
Verlauf, Dauer und Beendigung der Frührehabilitation
33.8.1
Vorhersage der Frührehabilitationsdauer
33.9
Gesundheitspolitische Aspekte
33.9.1 33.9.2 33.9.3
Aufgabenstellungen, Zuordnung und Abgrenzung der Phase B Aspekte von Leistungsrecht und Vergütungssystem – 545 Politische und ethische Aspekte – 547
33.10
Fortführung der Rehabilitation in Phase F
33.11
Literatur
– 549
– 516
– 535
– 536
– 538
– 538
– 543
– 548
– 543
502
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
Neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation (Phase B) vereint Akut- und Rehabilitationsmedizin zur Behandlung neurologisch Schwerstbetroffener, z.B. mit Wachkoma (apallischem Syndrom). Sie beginnt nach der Stabilisierung der Vitalfunktionen so früh wie möglich in spezialisierten Behandlungseinrichtungen. Das Ziel besteht darin, bei den Ausfällen des Nervensystems erste Funktionen wiederzuerwecken und die Kranken zur späteren weiterführenden Anschlussrehabilitation zu befähigen. Dazu stimmen Ärzte und ihr multiprofessionelles Team eigens entwickelte Vorgehensweisen aus der breiten Spannweite von Intensivmedizin bis zu hochspeziellen Rehabilitationsmethoden aufeinander ab.
. Übersicht 33.1. Phasenmodell der neurologischen Rehabilitation in Deutschland 1. 2.
3.
4.
33.1
33
Organisation der Frührehabilitation
Die neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation hat sich in den vergangenen Jahren zu einem noch nicht überall flächendeckenden Routineverfahren entwickelt. Ursprüngliches Ziel war die notwendige Weiterversorgung schwer Hirnverletzter. Nach dem bundesweiten Ausbau der Rettungsund Intensivmedizin und der neurochirurgischen Versorgung bleiben in Deutschland immer noch 4.500 Menschen von den jährlich 280.000 Schädel-Hirn-Verletzten pflegebedürftig (Statistisches Bundesamt 1995). Um diese Zahl zu senken, und um für die Betroffenen eine erträgliche Lebensqualität zu erreichen und den Umfang deren nötiger Pflege zu vermindern, wurden spezielle Stationen geschaffen, in denen neurologisch schwerstbetroffene Patienten akut- und ggf. intensivmedizinisch und zugleich schon rehabilitativ behandelt werden können. Von den Hirnverletzten werden etwa 5% in Abteilungen für neurologische Frührehabilitation versorgt (Rickels et al. 2006). Vorsichtigen Schätzungen zufolge profitieren etwa drei Viertel der dort behandelten Patienten von einer solchen Behandlung (Dauch 2000) (7 Kap. 33.8). > Früh bedeutet in der Namensgebung nicht den besonders frühen Rehabilitationsbeginn eines bereits mobilisierten Patienten, sondern vielmehr die individuell früheste Behandlungsphase eines schwer beeinträchtigten und völlig auf fremde Hilfe angewiesenen Kranken.
33.1.1
Phasenmodell der Frührehabilitation
Mit dem Phasenmodell entstanden 4 die neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation, synonym Phase B (VDR 1994, BAR 1995), bei den Berufsgenossenschaften Ib (Berufsgenossenschaften 1996) und 4 die nachfolgende postprimäre Rehabilitation (Phase C). Einen Überblick über die Phasen gibt . Übersicht 33.1. Erste Schritte der Rehabilitation sollen gemäß §39 SGB V (2001) schon während der Akutbehandlung als einzelne begleitende frührehabilitative Leistungen eingeleitet werden, vor allem Physiotherapie und multimodale Stimulation. Eine Überwachung durch Monitoring von Vitalparametern ist zu
5.
6.
7.
Phase A: Akutbehandlungsphase Phase B: Behandlungs-/Rehabilitationsphase, in der noch intensivmedizinische Behandlungsmöglichkeiten vorgehalten werden müssen Phase C: Behandlungs-/Rehabilitationsphase, in der die Patienten bereits in der Therapie mitarbeiten können, sie aber noch kurativmedizinisch und mit hohem therapeutischen und pflegerischen Aufwand betreut werden müssen Phase D: Rehabilitationsphase nach Abschluss der Frühmobilisation (medizinisch-berufliche Rehabilitation im bisherigen Sinn) Phase E: Behandlungs-/Rehabilitationsphase nach Abschluss einer intensivmedizinischen Rehabilitation – nachgehende Rehabilitationsleistungen und berufliche Rehabilitation Phase F: Behandlungs-/Rehabilitationsphase, in der dauerhaft unterstützende betreuende und/oder zustandserhaltende Leistungen erforderlich sind Phase G: Betreutes und begleitendes Wohnen. Aufsuchende Hilfe im medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Bereich. Diese Phase findet seit einigen Jahren ergänzend zum Phasenmodell Eingang in den Sprachgebrauch, ist aber nicht offiziell eingeführt
Beginn der eigentlichen Frührehabilitation (Phase B) meist noch erforderlich. Insofern sollten in der Versorgungskette erstbehandelnde und weiterversorgende Klinik möglichst eng zusammenarbeiten. Im Idealfall sollte ein fließender Übergang von der Akut- und Intensivmedizin zur Frührehabilitation stattfinden.
33.1.2
Indikationen für die Frührehabilitation
In der Häufigkeitsverteilung der behandelten Diagnosen hat sich inzwischen – spezielle neurochirurgische Frührehabilitationseinrichtungen ausgenommen – der Schwerpunkt deutlich von den traumatischen zu den nicht-traumatischen Ursachen, vor allem Schlaganfällen, verschoben. Die Frührehabilitation ist abgegrenzt durch die in . Tab. 33.1 aufgeführten Übernahmekriterien. Es werden alle Schäden des zentralen und des peripheren Nervensystems behandelt, sofern Rehabilitationspotenzial erkennbar ist. Ausgeschlossen bleiben lediglich progrediente degenerative Krankheiten wie Alzheimer-Demenz. Bei einzelnen degenerativen Erkrankungen wie der Amyotrophen Lateralsklerose kann es im Einzelfall eine Indikation geben; allerdings ist für die Aufnahme ein klar definierbares Behandlungsziel zu fordern.
503 33.1 · Organisation der Frührehabilitation
. Tab. 33.1. Frührehabilitation (Phase B) und postprimäre Rehabilitation (Phase C) Aufnahmekriterien in die neurologische Frührehabilitation (Phase B)
Aufnahme-/Verlegungskriterien in die postprimäre Rehabilitation (Phase C)
Akutversorgung abgeschlossen
Keine intensivmedizinische Überwachung mehr
Aktuell keine Operation erforderlich
Mitarbeit in Therapien für 30 Minuten möglich
Keine (drohende) Hirndrucksteigerung
Teilmobilisierung (z.B. 2 Stunden im Rollstuhl)
Keine Sepsis, keine Osteomyelitis
Unselbständigkeit ohne Krankenpflege
Nicht mehr kontrolliert beatmet
Kooperationsfähigkeit
Herz/Kreislauf im Liegen stabil
Evtl. zeitlich begrenzte Aufsichtsbedürftigkeit
Unfähig zur kooperativen Mitarbeit
Keine Weglauftendenz
Voll von pflegerischer Hilfe abhängig
Keine aggressiven Durchbrüche
I.d.R. Sondenernährung notwendig
Kleingruppenfähigkeit (3–5 Personen)
I.d.R. Blasen-/Darm-Inkontinenz
Kommunikationsfähigkeit (evtl. Hilfsmittel)
Evtl. Gefährdung durch psychische Störung
Pflegebedarf unter 4–5 Stunden/Tag
Bestehende Begleiterkrankungen dürfen eine Mobilisierung nicht verhindern
Bestehende Begleiterkrankungen dürfen eine Mobilisierung nicht verhindern
(Bundesarbeitsgemeinschaft medinisch-beruflicher Rehabilitationszentren, BAR 1994)
Keine Einschränkungen darf es geben bei schwersten Hirnschäden wie dem Locked-in-Syndrom, wo zumindest Kommunikationswege erprobt werden können. Ein Sonderfall sind zervikale Querschnittsyndrome, die besser in Querschnittzentren mit deren speziellem Fachwissen behandelt werden sollten (Dietz 2001). In einigen Frührehabilitationsabteilungen ist die Übernahme beatmeter Patienten möglich. Bei diesen muss eine klare Rehabilitationsperspektive erkennbar sein, z.B. dass 4 wie beim Guillain-Barré-Syndrom die Beatmung nur überbrückend erfolgt, oder 4 wie bei manchen Stammhirnläsionen eine Heimbeatmung anzustreben ist. Allgemein müssen schwierige und auch unerwartete bedrohliche Zustände in diesen Abteilungen beherrscht werden. Die Aufgabenstellung ist jedoch nicht primär die intensivmedizinische Behandlung kritischer akuter Erkrankungen. Dies ist in der Zusammenarbeit mit Akutkliniken zu berücksichtigen, und die Zusammenarbeit muss entsprechend eng sein.
33.1.3
Anforderungen an eine Frührehabilitation
Milieu für gezielte Förderung Für eine erfolgreiche Frührehabilitation ist ein geeignetes Milieu erforderlich, das nur auf speziell dafür angepassten Stationen gewährleistet werden kann. Trotz Überwachungs- und
eventuell sogar Beatmungspflicht müssen die Betroffenen bestmöglich von störenden und irritierenden Reizen abgeschirmt werden, die auf Intensivstationen unvermeidlich sind. Andererseits sind Monotonie und Reizarmut normaler Krankenstationen nachteilig für die zerebrale Reorganisation nach Schädigung (Bienstein u. Fröhlich 1991). > Für eine erfolgreiche Frührehabilitation ist ein angemessenes Milieu erforderlich, das nur auf speziell angepassten Stationen gewährleistet werden kann. Das heißt, dass Frührehabilitation in speziellen Abteilungen mit geeignetem Umfeld und speziell geschultem Personal zu erfolgen hat.
So wünschenswert der Beginn einzelner rehabilitativer Maßnahmen schon in Akutabteilungen ist, wird doch in der Regel eine Akutstation nicht das erforderliche Milieu bieten können, um über die ersten Anfänge hinaus eine systematische gezielte Förderung über den gesamten Wochenverlauf zu gewährleisten. Ähnliches gilt für desorientierte Patienten: Nach Möglichkeit sollten sie nicht auf allgemein-psychiatrische Stationen mit deren völlig anderen Krankenspektrum und Setting verlegt werden, sondern in eine geeignete Frührehabilitationsabteilung (7 Kap. 33.6.7). Wie weiter unten erörtert wird, entwickeln sich in den letzten Jahren aus den Neurowissenschaften abgeleitete Prinzipien, die speziell in der Frührehabilitation die Behandlung in einer spezialisierten, gezielt fachlich ausgerichteten Abteilung erfordern.
33
504
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
! Cave Die Abteilungen für allgemeine Frührehabilitation haben in der Regel ein breiteres, aber anders geartetes Leistungsspektrum und sind daher nicht den Spezialeinrichtungen für neurologische Frührehabilitation gleichzusetzen. Charakterischerweise sind die Patienten in der neurologischen Frührehabilitation schwerstgradig in ihrer Kooperationsfähigkeit eingeschränkt; Bewusstsein, mentale und Kommunikationsleistungen sowie selbstbestimmte Beweglichkeit sind höchstgradig beeinträchtigt.
Personalstruktur
33
Die Frührehabilitation wird normalerweise auf eigenen Stationen durchgeführt. Wenige Zentren bevorzugen die Verteilung der schwergeschädigten Patienten auf Wachzimmer mehrerer Stationen in der Absicht verbesserter Integration in den Alltag. In der Regel haben die Stationen rund 20 Betten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft medizinisch-beruflicher Rehabilitationszentren (BAR 1994) hat den Personalbedarf für eine solche Station mit 20 Betten definiert. Der Personalbedarf sollte zumindest annäherungsweise in dem geschilderten Umfang gedeckt werden. Die empfohlene hohe Zahl von Pädagogen ist noch Ausdruck der Zeit, als überwiegend sehr junge Menschen in der Frührehabilitation behandelt wurden; das Therapeutenteam sollte heute dem veränderten Alters- und Diagnosespektrum angepasst werden, beispielsweise hat sich die Einbeziehung von Musiktherapeuten bewährt (7 Kap. 33.6.4.1). Eine Übersicht über den Personalschlüssel gibt . Tab. 33.2.
Bauliche Struktur Die Station sollte gut überschaubar sein, so dass akute Krisen bei Patienten rasch erkannt werden. Für alle Betten muss ein Monitor, Sauerstoff und Absaugmöglichkeit verfügbar sein, ggf. das Equipment für Beatmungsplätze, der Patient sollte aber nicht durch Geräte eingeengt werden. Spezialisierte Teams für videoendoskopisch gestützte Schlucktherapie und Trachealkanülenmanagement sowie auf Spastikbehandlung mittels Casts, Botulinumtoxin und Handhabung von Baclofenpumpen sind erforderlich. Die Station sollte groß genug sein, so dass der Patient auch außerhalb des Betts genügend Platz findet. Das Waschen sollte möglichst bald nicht mehr im Bett stattfinden, entsprechend große Baderäume sind vorzusehen. Unverzichtbar ist eine ausreichende Zahl von Therapieräumen auf oder nahe der Station, um die oft stark ablenkbaren Patienten einzeln behandeln zu können, auch um gegebenenfalls Snoezel-Techniken anzuwenden (7 Kap. 33.6.3.4). Auch in diesen Räumen dürfen die meist wahrnehmungsgestörten Patienten nicht durch Stationslärm und Enge irritiert werden; z.B. wurde für Krankengymnastik außerhalb des Betts ein Platzbedarf von 5–6 m2 pro Patient ermittelt (Voss 1993). Wünschenswert ist ein direkter Ausgang ins Freie, idealerweise z.B. durch Zugang zu einem Lichthof, in dem sich
. Tab. 33.2. Personalbedarf für eine Frührehabilitationsstation mit 20 Betten Fachpersonal
Stellenschlüssel
Leitender Arzt
1
Stellvertretender Arzt
1
Assistenzärzte
3
Stationshilfe
1,5
Schreibkraft
1,5
Sozialarbeiter
1,67
Krankengymnasten
6,67
Ergotherapeuten
6,67
Logopäden
4
Psychologen
1,67
Physikal. Therapeut
1,67
Pädagogen o.a. (s. Anm. im Text)
3,33
(Bundesarbeitsgemeinschaft medinisch-beruflicher Rehabilitationszentren, BAR 1994)
die Patienten unter Überwachung aufhalten können. Ein unkontrolliertes Weglaufen sollte baulich erschwert werden. > Praktische Erfahrungen aus inzwischen 20 Jahren belegen ebenso wie neueste Forschungsergebnisse die Notwendigkeit von Spezialstationen für neurologische Frührehabilitation.
33.2
Diagnostik in der Frührehabilitation
In zwei Studien in England und den USA wurde Mitte der 90er Jahre festgestellt, dass die Diagnose Anhaltender vegetativer Zustand (Persistent Vegetative State, im Deutschen früher synonym Apallisches Syndrom), bei rund 40% der dort untersuchten Fälle in der Rehabilitationsklinik binnen weniger Tage revidiert werden musste (Childs et al. 1993, Andrews et al. 1996). Der Prozentsatz dürfte inzwischen allgemein niedriger liegen. Die Erfahrung hat aber gelehrt, dass selbst traumatologisch und rehabilitativ erfahrene Ärzte in Einzelfällen, besonders nach Trauma, anfangs einen persistierenden vegetativen Zustand nicht sicher von einem passageren akinetischen Mutismus mit potenziell guter Remission unterscheiden können. Mit der Verbreitung der Frührehabilitation ist es auch in Akutkliniken seltener geworden, dass Patienten vorschnell als nicht rehabilitationswürdig eingestuft werden. Andererseits hat der Fortschritt der funktionellen Bildgebung gezeigt, dass sogar Patienten, die keine reproduzierbare Reaktion zeigen, teilweise intakte kortikale Teilfunktionen haben
505 33.2 · Diagnostik in der Frührehabilitation
(Schiff et al. 2002, Posner et al. 2007). Dies stellt auch den erfahrenen Kliniker vor erhebliche neue Herausforderungen an die Präzision der Diagnostik. Nach den neueren Untersuchungsergebnissen lässt sich das frühere Konzept des Apallischen Syndroms im Sinne des Ausfalls aller kortikalen Funktionen nicht mehr halten, da auch bei als apallisch eingestuften Patienten kortikale Teilfunktionen vorhanden sein können. Der Begriff Vegetativer Zustand (im Englischen gängig, aber teils als diskriminierend empfunden) oder Wachkoma (im Deutschen inzwischen mehr verbreitet) ist angemessener. > Sämtliche Untersuchungen, die in der Frührehabilitation zur Prognosefindung eingesetzt werden, dienen der Überprüfung der kortikalen Funktionen und der von und zum Kortex führenden Bahnsysteme.
Prognostisch negative Prädiktoren sind 4 die fehlende Reaktivität auf Außenreize, 4 das Fehlen von Hirnstammreflexen und 4 das Auftreten zerebraler Myoklonien (Lance-Adams-Syndrom). Besondere Bedeutung wird dem Blinkreflex zugeschrieben (7 Kap. 33.2.1.3). Ebenso sollte das eventuelle Vorliegen pathologisch enthemmter Reflexe beachtet werden: 4 Schnauzreflex, 4 Palmomentalreflex und 4 Greifreflex. Im Rehabilitationsverlauf hat ein erhaltener bzw. wiederkehrender Schlaf-Wach-Rhythmus prognostisch eine positive Aussagekraft (Valente et al. 2002).
Befunderhebung 33.2.1
Klinisch-neurologischer Befund
An vorderster Stelle steht die in regelmäßigen Abständen wiederholte ausführliche Erhebung des klinisch-neurologischen Befunds. Besonders sollten die vegetativen und motorischen Reaktionen auf Außenreize aller Modalitäten (akustisch, visuell, taktil, olfaktorisch) erfasst und dokumentiert werden.
Der klinisch-neurologische Befund ist in jedem Fall nicht nur am Aufnahmetag an einem eventuell erschöpften Patienten, sondern in den Folgetagen mehrfach in wechselnden Situationen zu erheben. In . Übersicht 33.2 ist eine Checkliste für die klinisch-neurologische Befunderhebung nach Ende der Akutphase zusammengestellt.
. Übersicht 33.2. Checkliste für die klinisch-neurologische Untersuchung 1. Enthemmte Hirnstammreflexe und Automatismen – Korneomandibularreflex, Palmomentalreflex, Nackenbeuge-Abdominal-Reflex u.a. – Glabellareflex: Vorhandensein, Erschöpflichkeit – Pyramidenbahnzeichen – Beuge- und Strecksynergien 2. Vegetatives System (Atmung, Kreislauf, Schwitzen) – Pathologisches Atemmuster? Im Verlauf wechselnd? – Vegetative Enthemmung? – Variabilität/Beinflussbarkeit der Enthemmung? – Regelhafte Veränderungen auf spezifische Außenreize, v.a. Angehörige? 3. Pupillen- und Blickmotorik – Pupillen, Pupillomotorik – Optischer Schutzreflex auf Licht, Gegenstände? – Blickkontakt: Häufigkeit, Dauer? – Blickzuwendung, Blickfolge: Häufigkeit, Dauer? – Blickwechsel zwischen zwei Stimuli? – Blick in die Richtung, in die der Untersucher deutet? – Blick auf verbale Aufforderung? 4. Reaktion auf Sinnesreize – Reaktion auf Tastreize (Hyp-/Anästhesie, Hyperpathie/Allodynie?) – Reaktion auf Geruchsstoffe, eventuell Geschmacksstoffe – Reaktion auf akustische Reize – Reaktion auf visuelle Reize 6
5. Muskel- und Gelenkzustand – Muskeltonus: in Ruhe, bei passiver Dehnung, eventuell bei Eigenaktivität – Muskeldehnungsreflexe – Myoklonien, Faszikulationen o.ä.? – Gelenkbeweglichkeit (Neutral-Null-Methode) – Schmerz bei Berührung oder Bewegung von Gelenken (Ossifikation?) 6. Spontanmotorik – Spontane Lage im Bett – Spontanbewegungen, Muster? – Qualität der Motorik, Koordination – Apraxie? 7. Beeinflussbarkeit motorischer Reaktionen – Motorik auf Schmerz-/Tastreiz: Parese, Seitendifferenz? – Motorik bei geführten Bewegungen: Tonusveränderungen, Gegenhalten? – Motorik auf Aufforderung: Greifen? Loslassenkönnen? Weitere Fähigkeiten? 8. Schlucken und Lautbildung – Speichellaufen, Speichelschlucken – Lautbildung: Phonation, Artikulation, Sinnhaftigkeit – Sprachinhalte (s.u.) 9. Erfassbare Bewusstseinslage – Reaktion auf unangenehme Reize – Reaktion auf Sprache/Aufforderungen – Affektlage erkennbar?
33
506
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
– Affekt beeinflussbar (überraschende, lustige, traurige Reize)? – Spontanverhalten, Antrieb, Tempo – Anteil der Phasen von Wachheit und Zuwendungsfähigkeit im Tagesverlauf 10. Kommunikation und Sprache – Symbol- oder Sprachverständnis – Mimische, gestische, lautsprachliche Äußerungen – Inhalte
Kontinuierliche Beobachtung
33
Schon der Aufnahmebefund in der Rehabilitation berücksichtigt die Beobachtung des Patienten durch Personal und Angehörige, da das Verhalten des Patienten bei schwerer Hirnschädigung oft inkonstant und situationsabhängig ist. Für den weiteren Verlauf ist kontinuierliche Beobachtung und Erfassung des Verhaltens entscheidend. Alle Beteiligen sollten mindestens wöchentlich befragt werden. Nicht selten zeigen sich erste differenzierte vegetative oder motorische Reaktionen nur gegenüber Angehörigen. Diese sollten zu genauer Beobachtung ermutigt werden. Dadurch können sie eine aktive Aufgabe übernehmen und im Gespräch mit dem Personal lernen, Schilderungen der Regungen des Patienten von Deutungen zu unterscheiden. Ärzte, Pflege und Therapeuten müssen regelmäßig ihre Beobachtungen austauschen. Die Erarbeitung eines konsistenten Urteils wird durch regelmäßige gemeinsame Ermittlung der Scores auf geeigneten Skalen erleichtert (7 Kap. 33.3.1).
Zusatzverfahren Hinsichtlich der Zusatzverfahren ist vorauszuschicken, dass sie allenfalls prognostische Hinweise liefern können, dass aber – wenigstens zum aktuellen Zeitpunkt – die klinische Verlaufsbeobachtung durch das Rehabilitationsteam die größte prognostische Aussagekraft besitzt (. Übersicht 33.3). . Übersicht 33.3. Zusatzverfahren der neurologischklinischen Diagnostik 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Serumspiegel Evozierte Potenziale Blinkreflex EEG Schnittbildverfahren (CCT, MRT) Funktionelle Bildgebung
jSerumspiegel Die Bestimmung der Serumspiegel der Neuronenspezifischen Enolase (NSE) und des Proteins S-100 ist in der Akutphase aussagekräftig und gehört daher eher zum Leistungs-
11. Kognitive Funktionen, falls schon erkennbar – Gedächtnis: Unterscheidbare Reaktion auf verschiedene Angehörige? – Merkfähigkeit: Wiedererkennen von Teammitgliedern? – Orientierung: Neglect o.ä. Störungen? – Stimmungslage: Angst? 12. Skalen – Glasgow Coma Skala bei Aufnahme – Koma-Remissions-Skala – Early Functional Abilities – Rancho Los Amigos LCFS – Weitere Skalen nach Präferenz der Untersucher
spektrum der primär versorgenden Akutkrankenhäuser. Nach hypoxischer Hirnschädigung deutet die Erhöhung bis zu 3 Tagen nach dem Ereignis auf eine ungünstige Prognose hin (Rosen et al. 2001), während der weiteren Frührehabilitation spielen diese Parameter dann keine Rolle mehr. jEvozierte Potenziale Evozierte Potenziale sind eine wertvolle Hilfe für die Abschätzung des potenziellen Outcomes: Somato-sensorisch evozierte Potenziale (SEP) ermöglichen die beste Prognose. Sie sind in den Fällen besonders präzise, in denen supratentorielle Läsionen nicht-traumatischer Genese vorliegen (Dinkel 2000): 4 Beidseits fehlende kortikale Antworten sind mit einer schlechten Prognose verbunden. Die Spezifität liegt sehr hoch und wurde in Studien mit nahezu 100% für hypoxische Hirnschädigungen und über 98% bei SchädelHirn-Traumen ermittelt. 4 Für das Schädel-Hirn-Trauma lässt sich nach Komadauer von über einer Woche eine positive Prognose bei beidseits erhaltenen, eine negative bei beidseits ausgefallenen SEP relativ sicher vorhersagen (Amantini 2005). Voraussetzung für die Interpretation ist stets, dass lokale oder ausgeprägte isolierte axonale Schäden im Verlauf der sensiblen Bahnen nicht die Aussagemöglichkeit einschränken. Im Zweifelsfall wird man sich nicht nur auf die SEP-Befunde stützen, sondern EEG und, wenn möglich, weitere Parameter wie Mismatch Negativity (s.u.) hinzuziehen. In Einzelstudien hat sich die überlegene Aussagefähigkeit durch kombinierte Untersuchungen gezeigt. Akustisch evozierte Potenziale (AEP) dienen neben der Überprüfung von Akustikusläsionen (z.B. durch Frakturen oder durch ototoxische Aminoglykosid-Antibiotika) vor allem der Überprüfung der Hirnstammintegrität. Dabei gilt der Verlust der im Hirnstamm generierten Welle V als prognostisch ungünstig quoad vitam. Visuell evozierte Potenziale (VEP), bei geschlossenen Augen und fehlender Kooperation auch mit Blitzbrille ableitbar, erlauben Aussagen über die Funktion von Nervus und Tractus
507 33.2 · Diagnostik in der Frührehabilitation
opticus sowie der Sehbahn. Zur Vorhersage des Outcome
sind die VEP nicht etabliert. In einer kürzlich veröffentlichten spanischen Studie fand man immerhin bei 22 Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma, dass sich die Prognose mit SEP und VEP besser stellen ließ als bei Hinzuziehen von AEP oder MMN (González-García et al. 2007). Soweit verfügbar, ist für die Abschätzung kognitiver Leistungsfähigkeit die Ableitung ereigniskorrelierter Potenziale wünschenswert. Besonders die Mismatch Negativity (MMN) als Ausdruck ereigniskorrelierter Veränderung hat sich als diagnostischer und prognostischer Parameter bewährt. Allerdings wurde von Fällen berichtet, bei denen Hirnverletzte aus ungeklärten Gründen keine oder andere ereigniskorrelierte Veränderungen als die MMN boten und sich danach gut erholten, so dass, wie oben erwähnt, stets weitere Befunde hinzuzuziehen sind. jBlinkreflex Der Blinkreflex (auch Orbicularis-oculi-Reflex, OOR) ist vor allem bei Hirnstammläsionen aussagekräftig (Schönle u. Schwall 1993). Der Blinkreflex kann elektrophysiologisch gemessen werden; er ist aber fast immer auch klinisch prüfbar. Entscheidend ist die Habituation: 4 Während ein einzelner bedrohlicher Reiz eine Schreckreaktion (mit Blinkreflex) auslöst, tut dies eine Serie von Reizen beim Gesunden nicht, da die fehlenden schädlichen Folgen der Reize ausbleiben. Es handelt sich also um eine einfache klassische Konditionierung. 4 Bei schwersten Hirnstammläsionen bleibt die Reaktion aus, weil der Reflexkreis ausgefallen ist. 4 Bei vielen Patienten im Wachkoma ist der Reflex auslösbar, doch bleibt die Habituation aus: Es kommt kein Lernprozess zustande, und die Patienten zeigen auch auf lange Reizserien unerschöpfliche stereotype Reaktionen (s. Schönle 2000). jEEG Das EEG wird zur Epilepsiediagnostik verwendet, aber auch zur differenzialdiagnostischen Abklärung von Bewusstseinsstörungen. Bei schweren Hirnstörungen kann ein nonkonvulsiver Status ohne EEG übersehen werden. Bestimmte EEGBefunde haben prognostische Bedeutung: 4 Ein Burst-Suppression-Muster ist ein negativer Prädiktor 4 Das sog. Alpha-Koma unterscheidet sich vom normalen Alpha-EEG dadurch, dass die Alpha-Tätigkeit ein frontales Amplitudenmaximum oder diffuse Ausbreitung über die Hirnregionen aufweist, und dass die Reagibilität auf äußere Reize fehlt. Diese Konstellation spricht für eine ungünstige Prognose. 4 Eine Reagibilität auf externe Stimuli ist als prognostisch günstig anzusehen (Zschocke 2002). In solchen Fällen ist ein Kommunikationsaufbau mittels Neurofeedback erfolgversprechend (Ayers 1999). 4 Bei Vorliegen einer mittelschweren bis schweren Allgemeinveränderung ist vor allem der Zeitverlauf zu berücksichtigen.
» Generell ist die Diagnose umso günstiger, je variabler sich das EEG zeigt, und je deutlicher schlafähnliche Potenzialmuster das Koma-EEG prägen (...). Je undifferenzierter und flacher das EEG bei einem apallischen Syndrom, desto ungünstiger ist die Prognose. (Zschocke 2002)
«
kKombiniertes Vorgehen Ein kombiniertes Vorgehen mit Analyse von EEG und evozierten Potenzialen erhöht in der Regel die Treffsicherheit erheblich. Trotz dieser hohen diagnostischen Sicherheit sollte ein Verzicht auf Fortführung von rehabilitativen Maßnahmen nicht allein von neurophysiologischen Untersuchungsbefunden und schon gar nicht von einer einzelnen Messung abhängig gemacht werden. Vielmehr muss das Prozedere unter Berücksichtigung der klinischen Situation entschieden werden. Allerdings bietet das neurophysiologische Monitoring wertvolle Entscheidungsgrundlagen. Der Nachweis vorhandener Potenziale belegt, dass funktionsfähige Strukturen erhalten sind und Erholung möglich ist. Höchste prognostische Sicherheit lässt sich durch die Zusammenschau von klinischen und Zusatzbefunden erlangen. Eine Arbeitsgruppe zur Prognose der hypoxämischen Hirnschädigung nach Reanimation hat nach Meta-Analyse von zwölf Studien folgern können, dass die in . Übersicht 33.4 zusammengestellte Befundkonstellation ein günstiges Outcome äußerst unwahrscheinlich macht (Wijdicks et al. 2006). . Übersicht 33.4. Befundkonstellation als Prädiktor für ungünstiges Outcome 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Fehlende Pupillenreaktion auf Licht Fehlende Kornealreflexe Fehlende Reaktion auf Schmerzreize Anhaltende Myoklonien Ausfall von N20 in SEP beidseits Erhöhter NSE-Spiegel
jSchnittbildverfahren Schnittbildverfahren sind gut für diagnostische, aber nur begrenzt für prognostische Aussagen nutzbar. kKranielle Computertomographie (CCT) Die kranielle Computertomographie (CCT) ist wegen kurzer Untersuchungszeiten und einfacher Verfügbarkeit auch für beatmete Patienten unverändert wichtig zur Abklärung, vor allem bei Verschlechterung der Bewusstseinslage und neu auftretenden neurologischen Defiziten. Besonders aussagekräftig ist das CCT bei 4 Blutung, 4 Hirnödem, 4 Hirndruck, 4 Hydrozephalus oder 4 Raumforderung. Auch Abszesse lassen sich mittels CCT gut darstellen.
33
508
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
Finden sich nach zerebraler Hypoxie diffuse Hypodensitäten in den Stammganglien, eventuell sogar mit Verstreichen der Mark-Rinden-Grenze, so ist die Prognose in der Regel als schlecht anzusehen (Goodwin 1998). kMagnetresonanztomographie (MRT) Die Magnetresonanztomographie (MRT) erlaubt die bessere Darstellung von Weichteilstrukturen, vor allem 4 Marklager 4 Stammganglienregion, 4 Mittelhirn und 4 Medulla oblongata.
33
Ferner zeigen sich Schrankenstörungen früher und deutlicher. Prognostisch ungünstig sind bilaterale Hirnstamm- bzw. Mittelhirnläsionen und bilaterale Thalamusinfarkte. Darüber hinaus ist auf bilaterale Läsionen in homonymen Kortexarealen zu achten, die zu schlecht kompensierbaren Störungen führen können, z.B. zu Pseudobulbärparalyse oder BalintSyndrom. Ferner kann die MRT kleine strategische Läsionen z.B. in den langen Bahnen aufzeigen, die zu schweren therapieresistenten Störungen führen können. Auch für kognitive Leistungen gibt es strategische Areale, in denen kleine Defekte schwere, teilweise irreversible Störungen bewirken können, z.B. in Hippocampus oder Gyrus angularis (Benson u. Cummings 1992). Speziell für die Rehabilitation ist von Bedeutung, dass früher unzureichend definierte Störungen wie PusherSyndrom und Neglect bildmorphologische Korrelate haben (Karnath 2003). kSchnittbilddiagnostik Dennoch lassen in vielen Fällen Ort und Größe der in CCT oder MRT erfassten Einzelläsionen keine detaillierte Prognose zu. Dies gilt besonders für höhere kognitive Funktionen: 4 Bilaterale Frontalhirnläsionen lassen in der Regel schwere Verhaltensstörungen erwarten, je nach Läsionsschwerpunkt können Mutismus oder Enthemmung auftreten; die individuelle Ausprägung ist aber nicht exakt vorhersagbar. 4 Eine ausgedehnte Läsion einer Hemisphäre kann anfangs zu schweren Störungen führen, die manchmal im Verlauf aber gut kompensiert werden, so dass in manchen Fällen weder der klinische noch der neuroradiologische Ausgangsbefund mit dem Rehabilitationsergebnis korreliert. Trotz ausgedehnter Läsionen erlebt man häufig erstaunliche Ergebnisse. Anhand der strukturellen Bildgebung kann man Hindernisse und Grenzen der Restitution erkennen, ohne aber deterministisch ein Rehabilitationspotenzial auszuschließen. Systematische statistische Studien über Langzeitprognose und Rehabilitationspotenzial bei bestimmten Läsionsbildern in CCT oder MRT sind bisher kaum verfügbar, vielleicht auch wegen der Vielfalt möglicher Kombinationen von Lokalisation und Umfang der Defekte (Zafonte 1995).
Verlaufskontrollen mit CCT oder MRT sind bei vielen Patienten zum Ausschluss von Sekundärkomplikationen wie Hygromen und Hydrozephalus erforderlich. In diesem Fall sind Bildgebung und gegebenfalls lumbale Druckmessung (im Einzelfall auch das EEG) deutlich sensitiver als der klinische Verlauf, zumal sichere klinische Hirndruckzeichen nicht erst abgewartet werden sollten. Insofern ist eine neurologische Diagnostik in der Frührehabilitation im gleichen Umfang zu gewährleisten wie in der Akutklinik. Röntgeninstitute mit CCT und MRT (mit Nachtbereitschaft) müssen in der Nähe der Frührehabilitationseinrichtung verfügbar sein (Voss 1993). Fazit Die konventionelle Schnittbilddiagnostik ist für eine vollständige ursächliche Klärung des klinisch-neurologischen Syndroms hilfreich, doch für den prognostischen Einsatz ist sie nicht gut geeignet.
jFunktionelle Bildgebung Die funktionelle Bildgebung hat für die neurologische Frührehabilitation entscheidende neue Einsichten gebracht (Kobylarz u. Schiff 2004), auf die weiter unten einzugehen ist. Für den Alltag der Frührehabilitation stehen die Verfahren noch nicht zur Verfügung, daran wird sich kurzfristig noch nicht viel ändern. Neben Kosten- und Standortfragen ist zu bedenken, dass für schwerstbetroffene Patienten die Untersuchungszeiten und -bedingungen meist nicht zumutbar sind. Bedeutsam werden könnte der Hinweis, dass eine verminderte Glukose-Utilisation bei schweren Hirnschäden in bestimmten Hirnregionen mit verminderter (Benzodiazepin-)Rezeptor-Dichte korreliert, was möglicherweise prognostische Bedeutung hat (Beuthien-Baumann 2005).
33.3
Dokumentation
Die Dokumentation in der Frührehabilitation umfasst regelmäßige Befundung von ärztlicher, pflegerischer und therapeutischer Seite. Die Befunde müssen zur Therapieplanung unbedingt regelmäßig gemeinsam besprochen werden. Die Intervalle sind nach den individuellen Gegebenheiten festzulegen, mindestens alle 1–2 Wochen, anfangs und bei Auffälligkeiten häufiger. Zusätzlich ist der Verlauf auf geeigneten Skalen zu erfassen. Skalen und Einzelbefunde ergänzen einander: 4 Der frei formulierte Befund muss Einzelprobleme würdigen. 4 Die Anwendung der Skalen muss den Therapieverlauf objektiv erfassen.
33.3.1
Skalen
Für den Ausgangsbefund bei komatösen Patienten ist die Glasgow Coma Scale (GCS) zu verwenden (Teasdale u. Jennett 1974). Zur Verlaufsbeurteilung finden im deutschen und
509 33.3 · Dokumentation
jKoma-Remissions-Skala Die Koma-Remissions-Skala KRS versucht, bei schwerst Hirngeschädigten das Wiederkehren von Reaktionen auf sensorische Reize zu erfassen. Dafür ist die Skala gut geeignet, zumal sie zugleich einen standardisierten Untersuchungsgang vorgibt (BAR 1993).
. Übersicht 33.5. Skalen für die Verlaufskontrolle 1. BI Barthel-Index, mit verschiedenen Varianten wie EBI und FRB (Mahoney u. Barthel 1965) 2. EFA Early Functional Abilities (Heck et al. 2000) 3. FIM Functional Independence Measurement (Granger et al. 1986) 4. KRS Koma-Remissions-Skala (BAR 1993) 5. CRS-R JFK Coma Remission Scale Revised Form (kein Bezug zu KRS) (Kalmar 2005) 6. CNC Coma-/Near-Coma Scale (Giacino et al. 1991) 7. DRS Disabilitiy Rating Scale (Rappaport et al. 1970) 8. Rancho-LCFS Rancho Los Amigos Level of Cognitive Functioning Scale (Hagen et al. 1980) 9. SEKS Skala Expressive Kommunikation und Selbstaktualisierung (Zieger 2004) 10. SSP Western Neuro Sensory Stimulation Profile (Ansell u. Kennan 1989) 11. SMART Sensory Modality Assessment and Rehabilitation Technique (Fleminger 1999)
jSMART Das Londoner Royal Hospital for Neuro-Disability hat mit SMART ein neues diagnostisches System für Patienten im Wachkoma vorgelegt, das Skalen, aber auch Verhaltensbeobachtung umfasst und dafür Protokollbögen vorsieht, auch für Beobachtungen von Angehörigen. Dieses System wirkt sehr gut ausgearbeitet und verdient mehr Beachtung, ist aber aufwändig und kostspielig (Gill-Thwaites 1999, zit. in Wilson 2005).
englischen Sprachraum vorrangig die in . Übersicht 33.5 aufgelisteten Skalen Verwendung.
Anwendung der Skalen Dem Verlauf angepasst werden verschiedene Skalen nacheinander eingesetzt. Der Weg von der Komaremission zur Selbständigkeit ist weit: Patienten, die auf der KRS die maximale Punktezahl erreichen, erhalten zu diesem Zeitpunkt zunächst fast immer nur die minimale Punktezahl im FIM. Günstiger ist der Vergleich von EFA und FIM, die einen (schmalen) Überlappungsbereich haben, so dass Punktwerte im oberen Bereich der EFA-Skalen niedrigen FIM-Punktwerten entsprechen. Praxistipp Die hier referierenden Kliniken entschlossen sich daher im Jahre 2000 unabhängig voneinander, die Skalen 4 KRS, 4 EFA und 4 FIM als Basis der Verlaufsdokumentation anzuwenden.
jEFA-Skala Die EFA-Skala wurde im deutschen Sprachraum speziell für die Frührehabilitation entwickelt und deckt nach inzwischen schon mehrjährigen Erfahrung den Remissions- und Frührehabilitationsverlauf bei schweren Hirnschäden besser ab als andere Skalen, die für andere Zwecke entwickelt wurden (Heck 2000). Ähnliche Erfahrungen wurden in Dänemark gemacht (Heck 2007). Die EFA-Skalen erfassen die meisten relevanten Aspekte der Frührehabilitation, die Skalenstufen sind ähnlich wie bei den FIM-Skalen nachvollziehbar operationalisiert. Die Skalen sind aufgeführt in . Tab. 33.3. jFIM und Barthel-Index FIM und Barthel-Index wurden nicht primär für die Frührehabilitation, sondern für geringer geschädigte Patienten entwickelt. Kognitive Funktionen erfasst nur der FIM, der für leichter Betroffene ein ideales Erfassungsinstrument ist. Im deutschen Sprachraum wurde ein Frühreha-BarthelIndex (FRB) entwickelt, um Aspekte der Frührehabilitation zu erfassen. Dieser besteht eigentlich aus zwei unterschiedlichen Skalen, 4 der Skalierung von Alltagsfähigkeiten nach dem BarthelIndex (Disability-Ebene) und 4 der Angabe organischer Defizite wie Trachealkanülenpflicht (Impairment-Ebene). Sofern die Patienten nicht beaufsichtigungspflichtig verwirrt sind, werden kognitive Komponenten nicht erfasst (Schönle
. Tab. 33.3. Skalen der Early Functional Abilities (EFA) Vegetative Stabilität
FO-Stimulation, Mundhygiene
Tonusanpassung
Umsetzen, Transfers
Taktile Information
Wachheit
Schlucken
Kopfkontrolle
Stehen
Visuelle Information
Lagerungstoleranz
Zungenbeweglichkeit, Kauen
Rumpfkontrolle
Willkürmotorik
Akustische Information
Ausscheidungsverhalten
Mimik
Fortbewegung, Mobilität im Rollstuhl
Situationsverständnis Kommunikation
(auszugsweise nach Heck et al. 2000, Wiedergabe mit frdl. Genehmigung d. Verf.)
33
510
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
1995). Trotz dieser methodischen und inhaltlichen Beschränkungen wird der Index in Deutschland von den Kostenträgern verlangt. Für die Verständigung mit den Kostenträgern hat sich der Frühreha-Barthel-Index als robust und hilfreich erwiesen, so dass wir für diese Zwecke den Verlauf zusätzlich mit diesem Index protokollieren. Die übrigen genannten Skalen werden in den Zentren im deutschen Sprachraum in unterschiedlichem Maße benutzt. Da die Quellenliteratur zu vielen Skalen schlecht zugänglich ist, empfehlen sich die ausführlichen Übersichten von Masur (2000) und Schädler et al. (2006). jHandhabung in der Praxis In der Praxis werden je nach Schweregrad der Störungen die Skalen KRS, EFA und FIM benutzt. Bei EFA und FIM werden die einzelnen Unterskalen von unterschiedlichen Berufsgruppen erfasst: 4 Die Pflege bewertet Aspekte wie Wachheit und Ausscheidungsverhalten, 4 die Physiotherapie die motorischen Aspekte, 4 die Logopädie Schlucken und Sprechen, 4 Ergotherapie, Psychologie und Musiktherapie verschiedene kognitive Aspekte.
33
Die Ergebnisse der Auswertung werden nach Aufnahme und dann alle 1–2 Wochen in der interdisziplinären Fallkonferenz von der zuständigen Berufsgruppe vorgetragen. Meist lässt sich ein Konsens über die Bewertung herstellen; diskrepante Einschätzungen werden besprochen: 4 Kleinere Diskrepanzen sind zu tolerieren, 4 größere Diskrepanzen (mehr als ein Skalenpunkt in EFA oder FIM) bedürfen klärender Debatten. Einerseits kann hinreichende Interrater-Reliabilität nur durch dauernde Rückmeldung erhöht werden, andererseits dürfen tatsächliche Diskrepanzen nicht übergangen werden. Solche Diskrepanzen ergeben sich dann, wenn Fortschritte in der Therapie nicht in den Pflegealltag eingehen, oder wenn sehr unterschiedliche Behandlungsmethoden angewandt werden, was trotz aller Teamarbeit nicht völlig vermeidbar ist. Nach eigener Erfahrung sollte der Patient für die Weiterverlegung aus der Frührehabilitation in der Regel eine Phase erreicht haben, in der bereits mit FIM oder Barthel-Index Besserungen nachzuweisen sind. Dies entspricht in den meisten Fällen dem Erreichen von hohen Punktwerten in den EFASkalen oder Werten über Null im Frühreha-Barthel-Index.
33.3.2
Neuropsychologische Verlaufsdiagnostik
Um Kommunikations- und Reaktionsfähigkeit sowie spontane Verhaltensweisen der Patienten erfassen zu können, ist neben Skalen, Teambesprechungen und ärztlichen Untersuchungen eine neuropsychologische Verlaufsdiagnostik notwendig. Bei reaktionslosen Patienten stößt diese an Grenzen. Auch in frühen Remissionsphasen lassen sich testpsycholo-
gische Verfahren nicht anwenden, häufig lassen sich jedoch schon unterscheidbare Funktionsbereiche erfassen, z.B. 4 perzeptuelle Leistungen, 4 Situationsverständnis und 4 Merkfähigkeit. Für Schwerstgeschädigte sind auch heute noch die Arbeiten Lurias hilfreich (Luria 1966, 1970, 1990). Neben der Funktionsdiagnostik ist systematisierte Verhaltensbeobachtung bei Verhaltensstörungen sinnvoll. Gegebenenfalls sollten wiederkehrende unerwünschte Verhaltensweisen definiert werden, deren Häufigkeit erfasst wird, um sie eventuell verhaltenstherapeutisch zu beeinflussen (7 Kap. 33.6.7).
33.4
Medizinische Probleme in der Frührehabilitation
Die Patienten sollen zwar in stabilem Zustand in die Frührehabilitation übernommen werden, dennoch treten anfangs noch häufig Komplikationen auf. Da definitionsgemäß Schwerstgeschädigte behandelt werden, sind nicht alle Komplikationen im Rahmen der Frührehabilitationsstation beherrschbar. Für häufig auftretende Probleme muss die Frührehabilitationsstation ausgerüstet sein, für seltene bedrohliche und für fachfremde Komplikationen muss eine enge Kooperation mit anderen Abteilungen sichergestellt sein. jVerlegungsrate In der kleineren der berichterstattenden Kliniken zeigt die Statistik, dass fast ein Sechstel der Patienten während der durchschnittlich 6–8 Wochen dauernden Behandlungszeit in Phase B vorübergehend in eine andere Fachabteilung verlegt werden muss. Dieser Anteil blieb über 12 Jahre sehr konstant. In anderen Kliniken ist diese Verlegungsrate bei etwas anderem Patientengut niedriger, aber doch erheblich (Bertram u. Brandt 2007). Eine Statistik aus der Klinik in Middelburg ist in . Tab. 33.4 dargestellt. jVerlegungsgründe Überwiegend handelt es sich um internistische und neurochirurgische Probleme. Zwar wird in allen Frührehabilitationsabteilungen versucht, internistische Komplikationen vor Ort zu behandeln, doch sollte in Extremsituationen wie bei drohendem septischem Schock die bestmögliche Versorgung auf einer akutmedizinischen Intensivstation sichergestellt werden. Die Analyse der Verlegungsgründe in der erwähnten Statistik ergab, dass bei Verlegungen in die Innere Medizin schwere septische Komplikationen über die Hälfte ausmachten, daneben sind nennenswert Lungenembolien und selten Myokardinfarkte. Die Verlegungen in die Neurochirurgie erfolgten ganz überwiegend zur Shuntanlage bei entstehendem Hydrozephalus, daneben wegen Revisionsbedarf bei chronischen Subduralhämatomen, seltener aus anderen Anlässen (s.u.).
511 33.4 · Medizinische Probleme in der Frührehabilitation
. Tab. 33.4. Verlegungen von einer Frührehabilitationsstation in andere Abteilungen Ziel bei Verlegung
Anteil an verlegten Patienten
Chirurgie/andere operative Gebiete
17%
Innere Medizin
31%
Neurochirurgie
29%
kTherapeutische Maßnahmen Eine Kontrolle mit Harnteststreifen ist wenig aufwendig, so dass sie routinemäßig mindestens wöchentlich anzuwenden sind und gegebenenfalls Urinkulturen veranlasst werden müssen. Antibiotika setzen wir konsequent nur bei Auftreten zusätzlicher Symptome ein, dann aber nach den meist bereits verfügbaren Resistogrammen, was zum Einsparen unnötiger Antibiotika geführt hat.
Chronischer Durchfall
Neurologie
2%
Psychiatrie
14%
Ein in letzten Jahren zunehmendes Problem ist chronischer Durchfall mit Nachweis von Clostridium-difficile-Toxin. Dies ist meist Folge der Antibiotikatherapie, was die Notwendig-
Absolute Anzahl verlegter Patienten
Anteil Verlegter an der Gesamtzahl
keit einer disziplinierten Antibiose in der Frührehabilitation unterstreicht.
68 von insgesamt 420 Patienten
16,2% von allen 420 Patienten
Erbrechen
(Daten: Therapiezentrum Middelburg 2000–2002)
33.4.1
Internistische Komplikationen
Infekte der Luftwege Auf internistischem Gebiet sind Probleme der Luftwege vorrangig. Viele tracheotomierte Patienten haben eine leichte chronische Tracheobronchitis, die zu Pneumonie und Atelektasenbildung führen kann. kTherapeutische Maßnahmen Obligatorisch sind Hygiene beim Absaugen, Sekretverflüssigung mit Mukolytika, Vernebeln und Einsatz von Filtern (sog. »feuchten Nasen«). In der Rehabilitationsstation muss die Keimsituation regelmäßig genau erfasst werden. Die Patienten schleppen viele verschiedene fakultativ pathogene Hospitalismuskeime von den zuweisenden Intensivstationen ein. Der Einsatz von Antibiotika muss wegen längerer Liegezeiten und erhöhter Resistenzgefahren bei diesen meist schon vorbehandelten Patienten sparsam und gezielt erfolgen, auch wenn im Einzelfall zunächst Probleme auftreten. Die Frührehabilitationsstationen haben hierbei eine zunehmende Verantwortung angesichts der rapide zunehmenden Zahl von hochresistenten Keimen (MRSA u.a.) infolge des breiten Antibiotika-Einsatzes in der Erstversorgung der Patienten.
Harnwegsinfekte Ähnliches gilt für Harnwegsinfekte. Dabei gilt es in erster Linie, zunächst die prophylaktischen Möglichkeiten auszuschöpfen: 4 ausreichende Flüssigkeitszufuhr, 4 konsequente Blutzuckerbehandlung und 4 Harnansäuerung (L-Methionin, Ascorbinsäure, Preiselbeersaft). Alle Prophylaxe reicht jedoch häufig nicht aus.
Ein weiteres häufiges Problem ist das Erbrechen. Die Klärung ist im Einzelfall oft schwierig. Ursachen können sein: 4 Hirndruck, 4 Störungen des Vestibulärapparats, 4 Störungen des autonomem Nervensystems, auch 4 Reflux und 4 andere gastrointestinale Störungen. > Erstaunlich ist die relativ geringe Häufigkeit von Aspirationspneumonien bei ausgeprägtem Erbrechen. Häufiger und wegen meist geringer Initialsymptome bedrohlicher ist die sog. stille Aspiration von Speichel und Mageninhalt.
Für die Prophylaxe ist es neben den genannten Maßnahmen entscheidend, die Angehörigen über die Gefahr der stillen Aspiration aufzuklären. Erfahrungsgemäß werden heimlich sehr viel mehr Fütterungsversuche durchgeführt als zugegeben. Da Aspirationspneumonien mit Latenz auftreten, wird der Zusammenhang von Laien nicht bemerkt. Zum Glück sind die Akutkliniken seit Einführung der Stroke Units achtsamer geworden, so dass die früher beliebte kritiklose Joghurt-Fütterung kaum noch rückgängig gemacht werden muss. kTherapeutische Maßnahmen Häufig ist bei Brechreiz Besserung durch Hochlagern von Kopf und Oberkörper zu erreichen, was aber bei kontinuierlicher Sondengabe für den Patienten lästig. Wegen Dekubitusgefahr muss die Lagerung jedoch wechseln, und eine dauernd erhöhte Seitenlage ist nicht zumutbar. Lohnend ist nach Erfahrung der Autoren die genaue Analyse der Medikation, besonders hinsichtlich der Wechselwirkungen und Verträglichkeit mit der Sondennahrung (s.u.). Die Gabe von Antiemetika oder Prokinetika kann über längere Zeit nötig sein. Vorzugsweise sollte das Prokinetikum Domperidon verwendet werden, das praktisch nicht ins ZNS übertritt. Dagegen ist Metoclopramid als Dopaminantagonist nicht nur für das Schlucken ungünstig: Das
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512
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
Medikament zeigt bei Hirngeschädigten relativ häufig weitere extrapyramidale Nebenwirkungen, die allerdings von Dosis und Dauer abhängen. Bei starkem Erbrechen kann kurzzeitig Ondansetron gegeben werden, das ebenfalls erhebliche extrapyramidale und weitere Nebenwirkungen haben kann, aber sehr viel wirksamer ist als ältere Antiemetika, so dass niedrige Einzeldosen ausreichen können. Im Alltag wenig berücksichtigt wird die diabetische Gastroparese, die häufig schon im Frühstadium eines Diabetes mellitus auftreten kann. Bei Gastroparese kann ein Versuch mit Erythromycin sinnvoll sein, das motilitätssteigernd wirkt.
33
Praxistipp Es wird empfohlen, Informationen bei den Sondenkostherstellern anzufordern (z.B. Broschüre »Medikamentengabe über Sonde« von Fa. Fresenius, ähnlich auch von anderen Herstellern). Neu erscheint 2010 ein Buch zur Sondenapplikation von Medikamenten (Flock 2010).
! Cave Mit Phenytoin lässt sich über Sonde kein therapeutisch wirksamer Spiegel aufbauen.
Sondennahrung
Schluckstörungen/Aspirationsgefahr
Die heute verfügbare Sondenkost ist gut verträglich. Ein Präparatewechsel ist nur noch selten nötig, am ehesten bei hochosmolarer Kost und manchmal bei Diabetiker-Nahrung. Als physiologischere Vorgehensweise wird von manchen Autoren eine Bolusgabe empfohlen. Andere Autoren sehen jedoch keinen nachweisbaren Vorteil in der Bolusgabe (Denkal 1995). Auch der von manchen Autoren behauptete psychologische Vorteil von alltagsnahen Mahlzeiten durch Bolusgabe erscheint den Autoren unbewiesen und in der Praxis nicht bemerkbar. In der Regel wird die Sonde heute über eine Pumpe verabreicht. Dies erscheint im Regelfall bzgl. Erbrechen und anderer Komplikationen am günstigsten (Denkal 1995, Finestone 1998). Bei einer hohen Frequenz von Therapiestunden bedarf es allerdings einer minutiösen Planung des Tagesablaufs in der Frührehabilitation.
jAnlage einer PEG-Sonde Schluckstörungen und Aspirationsgefahr erfordern in der Frühphase meist eine Tracheotomie und die Anlage einer Magensonde. Die Anlage einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG-Sonde) sollte frühzeitig erfolgen. Eine nasale Sonde ist nicht nur bei Schluck- und Sprechtraining hinderlich, sie kann Brechreiz triggern und ist überdies potenzielle Schiene für Erbrechen. Die Applikation der Sondenkost über nasale Sonde darf nur als Bolus erfolgen, was ebenfalls Erbrechen begünstigt. Selten muss bei hartnäckigem Erbrechen eine jejunale Sonde gelegt werden. Oft disloziert jedoch deren Sondenspitze bei längerer Verwendung.
Medikamentengabe per Sonde Medikamentengabe per Sonde ist in den meisten Fällen problemlos. Die bedeutsamen Ausnahmen sind leider immer noch zu wenig bekannt: 4 Phenytoin wirkt wegen Substratkonkurrenz mit Sondenkost im Darm über Sonde unsicher und erreicht in vertretbarer Dosierung per Sonde nie ausreichende therapeutische Spiegel. Theoretisch wäre eine bessere Wirksamkeit bei stundenlangen Sondenpausen erreichbar, dies ist aber bei mehrmals täglich erforderlicher Gabe nicht praktikabel. 4 Bei Gabe von Carbamazepin über Sonde werden von den Herstellern aufgelöste, nicht retardierte Tabletten empfohlen, kein Saft und keine Retardtabletten. 4 Bei Levodopa ist das Problem der Substratkonkurrenz ebenfalls bekannt, und zwar nicht nur bei Sondengabe, woraus bei einer Koinzidenz von Hirnverletzung und Morbus Parkinson erhebliche Probleme resultieren. 4 Probleme sind auch bekannt bei Sondengabe von Rifampicin. 4 Bei anderen Pharmaka ist die Wirksamkeit vom pH-Wert abhängig (Probst 1997).
jAnlage eines Tracheostomas Wenn ein längerer Verlauf absehbar ist, sollte neben einer PEGSonde ein konventionelles chirurgisches Tracheostoma mit mukokutaner Anastomose angelegt werden. Die zurzeit weit verbreitete Punktionstracheotomie ist zwar problemlos anzulegen, aber es kommen vermehrt Wundheilungsstörungen und Blutungen vor. Ein so angelegtes Stoma verschließt sich in Minuten bis Stunden, wenn sich unruhige Patienten absichtlich oder unabsichtlich die Kanüle herausziehen, was durchaus häufig vorkommt. Bei längeren Verläufen muss die Punktion dann ohnehin in eine chirurgische Tracheotomie umgewandelt werden, was für die Patienten einen zusätzlichen Eingriff bedeutet. Der später notwendige chirurgische Stomaverschluss wird von den Patienten dagegen nicht als gravierend empfunden und lässt sich von geübten Chirurgen kosmetisch befriedigend lösen. Praxistipp Ein plastisch angelegtes Tracheostoma ist zu empfehlen, um einen akzidentellen Stomaverschluss zu verhindern.
Ziel der weiteren Rehabilitation ist es natürlich, Tracheotomie und PEG möglichst bald wieder rückgängig zu machen. Dazu dienen gezielte fazio-orale und Schlucktherapie. jUrsachen für beeinträchtigtes Schlucken Medikamentöse Einflüsse können das Schlucken stören. In erster Linie ist daran zu denken, dass sich verschiedene Subs-
513 33.4 · Medizinische Probleme in der Frührehabilitation
tanzklassen ungünstig auf den Schluckvorgang auswirken können, z.B. 4 Sedativa, 4 Dopaminantagonisten wie Metoclopramid, 4 Anticholinergika und 4 Aminogykoside (Prosiegel 1997). Umgekehrt kann bei einzelnen Patienten, auch solchen ohne myasthenes Syndrom, die Gabe eines Cholinesterasehemmers wie Pyridostigmin den Schluckablauf verbessern. Die Anwendung ist allerdings durch die verstärkte Bronchialsekretion und das potenzielle Auftreten von Faszikulationen eingeschränkt. Tierexperimentelle Daten legen den Einsatz von dopaminergen Substanzen nahe (Bieger 1993), die in den USA auch teilweise Verwendung finden (Zasler 2006). Die späten Schluckaktphasen werden durch den störenden Trachealtubus beeinträchtigt (Seidl et al. 2002). Bei einem aktiven Patienten dichten geblockte Tuben ohnehin nicht ausreichend ab, und die Sprechklappen bei vorübergehend entblockten Tuben werden nicht von allen Patienten toleriert. Daher werden möglichst bald, zumindest für Teile des Tages, kurze ungeblockte Tuben verwendet, die weniger behindern. Sehr praktisch sind ungeblockte Tuben, in die ohne Tubuswechsel wahlweise ein Sprecheinsatz oder ein Universaladapter für Insufflation o.Ä gesteckt werden kann (z.B. von der Fa. Tracoe). Nur bei unsicherem weiterem Verlauf wird das Tracheostoma später durch eine Platzhalterkanüle oder einen StomaButton offen gehalten; letzteres wird durch die verbesserte Diagnostik jedoch seltener erforderlich. Stoma-Buttons sind je nach Typ unangenehm oder dislozieren leicht, bei dauerndem Stomabedarf können Epithesen (der Haut angepasste Verschlüsse) angefertigt werden.
enten nach Schädel-Hirn-Trauma finden sich häufig Sensibilitätsstörungen der Mundhöhle, nicht selten in Form einer starken Überempfindlichkeit. Seltener findet sich eine reine Hypästhesie, häufig eine Kombination aus Hypästhesie und Allodynie bzw. Hyperalgesie. Ein erstes Therapieziel muss die Desensibilisierung sein, dann folgt die Aktivierung von Funktionen. Es sollte auch an die Hinzuziehung eines Zahnarztes gedacht werden. Die Autoren konnten bei einigen Patienten feststellen, dass sich nach Zahnsanierung nicht nur die orofazialen Funktionen, sondern auch die Tetraspastik und Kooperation besserten.
Vegetative Dysregulationen Eine Vielzahl der schwer betroffenen Patienten zeigen zum Teil krisenhafte vegetative Dysregulationen mit 4 Schwitzen, 4 Hypersalivation, 4 Hyperthermie, 4 Tachykardie, 4 Tachypnoe und 4 (bei längerem Bestehen) Katabolismus (Intensivkachexie) auf dem Boden eines erhöhten Sympathikotonus. Abhängig vom Läsionsort, besonders bei Beteiligung des Hypothalamus, können diese spontan auftreten. Andere Patienten, meist Schädel-Hirn-Verletzte mit diffusem axonalen Trauma, können wochenlang unter einer Dysautonomie leiden, teils mit gleichzeitigen oder nachfolgenden dystonen Störungen (Baguley 1999, Blackman 2004). Auch bei anderen Patienten können vegetative Dysregulationen auftreten, häufig durch externe Reize und nicht zuletzt getriggert oder verstärkt durch Überforderung. Praxistipp
jDarstellung des Schluckakts Als Standard hat sich in der Frührehabilitation praktisch überall die transnasale Laryngo-Pharyngoskopie mit Videodokumentation des Schluckakts durchgesetzt. Die Endoskopie sollte im Behandlungsverlauf vor allen wesentlichen Entscheidungen wiederholt werden, also vor Einsatz von Sprecheinsätzen und ungeblockten Kanülen wie auch vor Beginn und während des Schlucktrainings. Nachteil ist, dass der Schluckakt selbst in der Pharyngoskopie nicht sichtbar ist. Notfalls lassen sich manche Zweifelsfälle klären, wenn man gefärbte Flüssigkeiten und Speisen verwendet und nach der Schluckprobe gefärbte Sekrete über das Tracheostoma absaugen kann. Für einen standardisierten Untersuchungsablauf ist eine enge Kooperation mit dem behandelnden Logopäden wichtig (7 Kap. 24). Wenn weiterhin Zweifel bestehen, muss die Möglichkeit bestehen, auf eine Videofluoroskopie bzw. Röntgenkinematographie zurückgreifen zu können. Diese Verfahren sind jedoch für Patient und Untersucher aufwändig und nicht überall kurzfristig verfügbar.
Sensibilitätsstörungen Das Erarbeiten von Sprechen und Schlucken erfordert meist eine vorbereitende Therapie im orofazialen Bereich. Bei Pati-
Vorrangig gilt es immer, mögliche Auslösefaktoren zu erkennen und möglichst auszuschalten. Auch muss geprüft werden, ob exzitatorisch wirksame Pharmaka appliziert werden, die diese Reaktionslage unterhalten.
kMedikation Zur Dämpfung vegetativer Enthemmung können Symphatholytika zum Einsatz kommen. In der Praxis wird von den Autoren zunächst Propranolol verabreicht. In der englischsprachigen Literatur werden kardioselektive Betablocker empfohlen. Nach den Erfahrungen im deutschen Sprachraum werden jedoch die vegetativ dämpfenden Effekte von Propranolol bevorzugt, da hiermit im Gegensatz zu kardioselektiven Betablockern eine zusätzliche sedierende Medikation oft entbehrlich ist. In ähnlicher Weise kann kurzzeitig Clonidin eingesetzt werden, doch wegen der sehr stark dämpfenden Wirkung von Clonidin muss dieses Medikament sparsam kalkuliert verabreicht werden. Alternativ hat z.B. Moxonidin eine geringere ZNS-Wirkung, so dass darauf umgestellt werden kann.
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Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
Sedierende Psychopharmaka kommen angesichts der ungünstigen ZNS-Effekte in jedem Fall erst nachgeordnet in Betracht. Oft ist eine polypragmatische Medikation unvermeidbar, um zu starke Nebenwirkungen zu umgehen. Im Bedarfsfall sind Präparate zu bevorzugen, die ein günstigeres Nebenwirkungsprofil und kürzere Halbwertszeiten für eine bessere Steuerbarkeit haben, bei den Neuroleptika z.B. Pipamperon oder Melperon, bedarfsweise sehr niedrig dosiert Risperidon, Quetiapin oder Olanzapin, und bei den Benzodiazepinen am ehesten Lorazepam. Neuere sedierende Antidepressiva wie Mirtazapin haben weniger unerwünschte vegetative und anticholinerge Nebenwirkungen und können ebenfalls in Betracht kommen. Vereinzelt kann ein Versuch mit Carbamazepin oder Valproinsäure hilfreich sein (Beresford et al. 2005). Erste Erfahrungen mit Melatonin und vor allem mit dem seit kurzer Zeit verfügbaren Agomelatin (zugleich Melatonin-Agonist und Antidepressivum) erscheinen vielversprechend (eigene Beobachtung), jedoch liegen für diese Patientengruppe noch keine sytematischen Beobachtungen vor. Praxistipp
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Für erforderliche Sedierung sind vorrangig geeignet: 4 Melperon, 4 Propranolol, 4 Clonidin, 4 Risperidon, Quetiapin oder Olanzapin in sehr niedrigen Dosen, 4 Lorazepam, 4 Mirtazapin und möglicherweise Agomelatin. Bei sehr vielen Patenten hilft bei vegetativer Enthemmung und Erregungszuständen in den frühesten Phasen das Aufsetzen. Die Aufrichtung kann in Herzbettlagerung begonnen werden und kann dann an der Bettkante fortgesetzt werden, auch bei beatmeten Patienten (7 Kap. 33.6.2.3). In jedem Fall muss der teilweise deutlich erhöhte Flüssigkeits- und Kalorienbedarf substituiert werden.
Hormonelle Störungen In den letzten Jahren wurde vermehrt auf häufige hormonelle Störungen nach Hirnschäden hingewiesen, nach SchädelHirn-Trauma wurden Hypothalamus-Hypophysen-Störungen bei 30% oder mehr der Patienten festgestellt (Samadani et al. 2005). Besonders ein TSH-Ausfall kann durch Hypothyreose ein Koma vortäuschen oder verlängern, so dass bei Aufnahme routinemäßig das TSH kontrolliert wird. Insgesamt sind klinisch relevante Störungen in Phase B seltener zu sehen als in den Statistiken der Akutphase dargelegt. Die häufig monatelange Amenorrhöe auch nach nicht-traumatischen Hirnschäden belegt aber die Bedeutung hormoneller Veränderungen.
Osteoporose Leicht übersehen wird auch eine Osteoporose, die meist durch Mobilisierung und Medikation beherrschbar wird. Es ist belegt, dass bei lange stationär behandelten Patienten trotz Substitution zu einem nicht unerheblichen Anteil Vitamin-DHypovitaminosen auftreten können (Thomas 1998). Im Verdachtsfall ist eine orientierende Diagnostik wie z.B. Knochendichtemessung zu empfehlen.
Heterotope Ossifikation Bei mindestens 10% der Patienten mit schwerem Polytrauma, aber auch bei einzelnen Patienten ohne Trauma, entwickelt sich eine periartikuläre bzw. heterotope Ossifikation. Diese beeinträchtigt fast immer den weiteren Verlauf; bei Diagnosestellung in der Frührehabilitation ist der über Wochen bis Monate fortschreitende Ossifikationsprozess schon nicht mehr aufzuhalten. Es muss palliativ behandelt werden, da die bisher bekannten Maßnahmen zur Verhinderung der Ossifikation nur in der Anfangsphase greifen.
Dekubitalulzera Dekubitalulzera der Haut entstehen bei angemessener prophylaktischer Pflege selten und lassen sich gegebenenfalls mit intensiver Therapie beheben. Manchmal werden sie von Patienten mitgebracht, die vor der Erstversorgung lange bewusstlos gelegen haben. In seltenen Einzelfällen, wenn Patienten mit extremen vegetativen Dysregulationen und Unruhezuständen die Lagerung auf einer Wechseldruckmatratze nicht tolerieren, kann die Lagerung auf einer festen Matratze eine kalkulierte Gratwanderung mit dem erhöhten Risiko der Entwicklung von Druckgeschwüren sein. Besteht bereits ein Dekubitus, sollte ein solcher Versuch jedoch sofort beendet werden. Die Zusammenarbeit mit plastischen Chirurgen empfiehlt sich, manchmal ist eine schnelle operative Deckung sinnvoller für den Verlauf als langwierige konservative Wundbehandlung.
33.4.2
Neurochirurgische und neurologische Komplikationen
Auf neurochirurgischem und neurologischem Gebiet sind die weitaus häufigsten Komplikationen in der Frührehabilitation die Entwicklung einer symptomatischen Epilepsie und eines Hydrozephalus, letzterer meist bedingt durch Malresorption.
Epileptische Anfälle Epileptische Anfälle treten häufig erstmals in der Frührehabilitation auf. Die Häufigkeit von sog. Spätanfällen (mehr als 7 Tage nach gedecktem Schädel-Hirn-Trauma) ist abhängig vom Schweregrad der Schädel-Hirn-Verletzung und soll über ein Drittel der schwer geschädigten Patienten, d.h. mit einem initialen GCS-Score unter 8–10 betreffen (Grosswasser 1996). Nach einem offenen bzw. penetrierenden Trauma liegt die Rate noch höher (Yablon 1995), so dass viele Neurochirurgen eine routinemäßige Prophylaxe bevorzugen (Greenberg 1997). Wiederholte EEG-Kontrollen und Verhaltensbeobach-
515 33.5 · Teamarbeit in der Frührehabilitation
tungen sind erforderlich, da fokale Anfälle auch im Schlaf auftreten können. Auch bei anderen schweren Hirnschäden ist das Auftreten von Anfällen häufig; die Angaben schwanken aber stärker, abhängig von der Erhebung, z.B. bei Schlaganfällen von 3–67% (Camilo u. Goldstein 2004). Auch im Wachzustand können Frontal- oder Temporallappenanfälle der Beobachtung entgehen, wenn motorische Entäußerungen fehlen oder von anderen Bewegungssstörungen überdeckt werden. Da die Vielfalt der Anfallsmuster unterschätzt wird, ist eine regelmäßige Schulung im Team mit Videobeispielen nützlich. Bei Verdacht auf einen Anfall sollte das Personal eine Videoaufnahme machen, sofern nicht die Möglichkeit eines Video-EEG-Monitorings besteht. > Die Indikation zur Behandlung ist bei symptomatischen Anfallsleiden in der Regel nach dem ersten Auftreten von Spätanfällen bzw. nach zwei Frühanfällen zu stellen.
kMedikation Bevorzugt wird Valproinsäure oder Levetiracetam verwendet, das im Notfall schnell aufdosiert werden kann. Wenn die Ein- oder Umstellung langsam erfolgen kann, ist Lamotrigin vorzuziehen, da es als nicht sedierend gilt. Unterschiedliche Einschätzungen gibt es zum Nutzen von Carbamazepin, das bei manchen Patienten sedierende Nebeneffekte und relativ oft Hyponatriämien bewirkt. Praxistipp Von Phenytoin sollte auf ein anderes Antiepileptikum umgestellt werden, da seit Jahrzehnten negative Effekte auf die kognitiven Funktionen bekannt sind (Zasler et al. 2006). Phenytoin vermeiden die Autoren auch wegen der unsicheren Applikation über Sonde und der riskanten nicht-linearen Eliminationskinetik.
Hyponatriämien Hyponatriämien sind in der Frührehabilitation nicht selten festzustellen: Bei Serumspiegeln ≤120 mmol/l kommt es zu Antriebs- oder gar Vigilanzminderung; bei diesen Symptomen sollte differenzialdiagnostisch danach gesucht werden, zumal die Diagnostik einfach ist und häufig Zusatzdiagnostik wie CCT-Kontrollen entbehrlich macht. Häufigste Ursache ist die unzureichende Natriumzufuhr wegen der durchweg kochsalzarmen Sondenkost (was immer noch nicht allen Akutkliniken bekannt ist), oft verstärkt durch Salzverlust bei Schwitzen u.a. Weitaus seltener, aber zu bedenken sind hypophysäre Störungen (siehe oben) oder Medikamentenwirkung z.B. durch Carbamazepin. kTherapeutische Maßnahmen Zur Behandlung der Hyponatriämie reicht fast immer die zusätzliche Gabe von Kochsalz (über die Magensonde oder als Kochsalzkapseln, in seltenen Fällen kann kurzzeitig ein Mineralokortikoid (Fludrocortison) hinzugegeben werden.
Hydrozephalus Die Entstehung eines Hydrozephalus sollte bei klinischem Verdacht durch 4 CCT oder 4 MRT, 4 lumbale Druckmessung und 4 probeweises Liquor-Ablassen abgeklärt werden, bei gut dokumentiertem EEG-Verlauf kann auch eine EEG-Verschlechterung ein frühes Warnzeichen sein. Eine Indikation zur Shuntanlage sollte wegen der nicht unbedeutenden Komplikationsrate genau abgewogen werden. Neben der eindeutigen Indikation bei einem zerebralen Druckanstieg ist eine operative Vorstellung nach eigener Erfahrung auch bei grenzwertigen Hirndruckwerten sinnvoll, wenn es im klinischen Verlauf nach einer deutlichen Besserung zum Stagnieren oder gar zur Verschlechterung von Vigilanz oder Funktionen kommt. Schwierig ist die Beurteilung indessen, wenn von Anfang an keine Besserungsdynamik feststellbar war, da die Unterscheidung von Hydrocephalus e vacuo nach Resorptionsvorgängen und Hydrocephalus malresorptivus in der Frühphase häufig schwierig ist (s. auch unten zu neurochirgischen Aspekten).
Unruhezustände und Spastik Oft ist eine Schmerztherapie erfolgreich, um Unruhezustände und Spastik zu beherrschen. Erster Schritt muss die Analyse der Schmerzursache sein; bei Bewusstseinsgestörten ist dies jedoch oft problematisch. kMedikation Pragmatisch ist es meist sinnvoll, zuerst zu überprüfen, ob peripher wirksame Analgetika oder die abwechselnde Gabe von peripher und zentral wirksamen Analgetika ausreichen. Je nach Schmerzursache sind Antiepileptika wie Gabapentin oder Thymoleptika wie Mirtazapin oft in geringen, nebenwirkungsarmen Dosen erfolgreich. Opioide wie Tramadol zeigen bei Hirngeschädigten vermehrt Nebenwirkungen; bei starken Schmerzen wird daher inzwischen die Kombination der deutlich besser verträglichen Fentanyl-Pflaster mit DurchbruchschmerzBehandlung durch kurz wirksames Hydromorphon oder kurz wirksames Oxycodon bevorzugt, z.B. vor Transfers oder anderen Maßnahmen.
33.5
Teamarbeit in der Frührehabilitation
jInterdisziplinäres Behandlungsteam > Zwei Besonderheiten sind für die Therapie in der neurologischen Frührehabilitation maßgeblich: 4 Alle Berufsgruppen müssen als Team bei der Therapieplanung zusammenarbeiten. 4 Die Pflege nimmt Teil an der Therapie und hat dadurch eine hervorgehobene Bedeutung.
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Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
Die Behandlung in der neurologischen Frührehabilitation muss sich stets am individuellen Schädigungsmuster und am aktuellen Zustand des Patienten orientieren. Zwar gibt es typische Verläufe in der Remission schwerer Hirnschäden (Katz u. Mills 1999), beim einzelnen Patienten sind jedoch die individuellen Besonderheiten zu erfassen und zu berücksichtigen. Im Vergleich zu den weiterführenden Rehabilitationsphasen zeichnet sich die Frührehabilitation durch eine besonders enge Verzahnung aller Berufsgruppen innerhalb eines interdisziplinären Teams aus, in dem der therapeutischen Pflege eine herausgehobene und gleichsam verbindende Rolle zukommt. Dies wird inzwischen in Deutschland auch durch die hohen Anforderungen der Kostenträger an spezielle therapeutische Pflege anerkannt. Sinnvollerweise wird der Patient durch ein überschaubares Team betreut, das sich zusammensetzt aus 4 den festen Bereichspflegekräften, 4 einem festen zuständigen Arzt und 4 den Bezugstherapeuten der unterschiedlichen Fachrichtungen.
33
Dieses Team tagt nach Aufnahme des Patienten, um die bestehenden Defizite und ersten Ansatzpunkte für eine Förderung zu ermitteln und die vorläufigen Schwerpunkte der Behandlung individuell festzulegen. In der Folge sind Teamkonferenzen in regelmäßigen Abständen (möglichst jede Woche, mindestens alle 2 Wochen) nötig, um den Verlauf anhand der unterschiedlichen Untersuchungsbefunde zu erfassen und in geeigneten Skalen (7 Kap. 33.3.1) zu dokumentieren, vor allem aber, um die gemeinsamen Behandlungsziele für den nächsten Behandlungszeitraum zu bestimmen. Wie oben skizziert hat es sich bewährt, dass die Dokumentation der Alltagsfunktionen von unterschiedlichen Berufsgruppen vorbereitet wird, so z.B. 4 Vegetativum und Körperpflege vom Pflegepersonal, 4 Selbstversorgung von den Ergotherapeuten, 4 Schlucken und Sprechen von den Logopäden, 4 Sensomotorik von der Physiotherapie und 4 Kognition von Neuropsychologen, Ergo- und Musiktherapeuten. jEinbindung der Angehörigen Es hat sich bewährt, die Angehörigen schon früh fest in die Betreuung miteinzubinden, aus zwei Gründen: 4 Nur durch Informationen von den Angehörigen lässt sich ein Abgleich mit früheren Verhaltensweisen des Patienten erreichen. 4 Durch Zusammenarbeit werden gut gemeinte, aber unerwünschte Handlungen der Angehörigen vermieden. Die Anwesenheit z.B. des Ehepartners bietet einen viel stärkeren Anreiz für den Patienten als dies durch ein dem Patienten zunächst relativ fremdes Teammitglied zu erreichen wäre. Diese neueren Forschungsergebnisse (s.u.) sollten für eine bessere Motivation des Patienten genutzt werden. Da aber die Fähigkeit zu geteilter Aufmerksamkeit oft gering ist, bewirkt die Anwesenheit von Angehörigen in Therapiestunden eher
eine Ablenkung. Daher sollten Angehörige kontrolliert und in begrenztem Umfang kontrolliert zu Abstimmung und Anleitung in einzelne Therapieeinheiten einbezogen werden. Ansonsten sollte sich die Anwesenheit von Personal und Angehörigen abwechseln, was für die Patienten mehr Kontaktzeiten und weniger Ablenkung ermöglicht (7 Kap. 33.7).
33.6
Grundlagen und Perspektiven der Therapie
Die Therapieansätze der Frührehabilitation wurden in den letzten Jahrzehnten pragmatisch weiterentwickelt. Grundlage war die Beobachtung erfolgreicher Verläufe bei schwerst Hirngeschädigten. Die Therapieprinzipien wurden zunächst aus der allgemeinen neurologischen Rehabilitation übernommen, wegen der begrenzten Kooperationsfähigkeit auch der Frühförderung von Kindern entlehnt (z.B. Basale Stimulation, Affolter). Inzwischen gibt es genügend eigenständige Erfahrungen in der neurologischen Frührehabilitation, und es existieren eigenständige Therapieansätze. Die entscheidenden Impulse dafür kommen inzwischen aus der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung; die Umsetzung in die Praxis ist jedoch noch lückenhaft. Einen wichtigen Ansporn brachten vor über 20 Jahren die Erkenntnisse über Neuroplastizität (Jenkins u. Merzenich 1987), die deutlich machten, dass durch Training direkte strukturelle Veränderungen im motorischen Kortex erzielt werden können; in der Folge gelang der Nachweis der Möglichkeit des neuronalen Wachstums auch im adulten Hirn. Für die Therapie war relevant, dass die Neuroplastizität positive Veränderungen ermöglichte, bei fehlendem Training aber auch nachteilige Veränderungen nachgewiesen wurden (7 Kap. 5). Der von Taub (Taub u. Berman 1966, Taub et al. 2006) und anderen Autoren formulierte Hinweis auf erlernten NichtGebrauch (Learned Non-Use) förderte direkt die Entwicklung des forcierten Trainings (Forced Use). Die daraus folgenden Prinzipien repetitiven motorischen Übens finden inzwischen breite Anwendung, in der Frührehabilitation jedoch meist begrenzt als unterstütztes Gehtraining auf dem Laufband u.Ä., wohingegen das forcierte Taub-Training der Hand und ähnliche Maßnahmen (Constraint Induced Movement Therapy) in der Frührehabilitation aufgrund der kognitiven Einschränkungen kaum einsetzbar sind. Überdies wird diskutiert, ob sehr intensives Constraint Induced-Training in der Frühphase der Reorganisation des geschädigten Hirns überhaupt nützlich oder sogar ungünstig sein könnte (Dromerick et al. 2009). Anzumerken ist grundsätzlich, dass es sich hierbei teilweise um behavioristische Konzepte handelt, mit der Postulierung linearer Input-Output-Relationen. Motorische Therapien, die sich bei kooperativen und einsichtigen Patienten sehr wirksam einsetzen lassen, aber kognitive und motivational-affektive Aspekte kaum explizit berücksichtigen, sind bei schwerst hirngeschädigten Patienten kaum einsetzbar (s.u.).
517 33.6 · Grundlagen und Perspektiven der Therapie
jEntwicklung von Rehabilitationskonzepten In der Frührehabilitation ist ein alle Lebensbereiche umfassendes Rehabilitationskonzept nötig. Leider sind derartige Konzepte nicht so gut operationalisierbar und standardisierbar wie therapeutische Einzelmaßnahmen. Daher muss man zunächst die Erfahrungen mit erprobten Therapieformen nutzen, die den Anspruch des 24-Stunden-Konzepts haben wie neuere Bobath-Therapie-Formen, und die sich im Prinzip durchaus entsprechend neuen Erkenntnisse modifizieren lassen Die bisweilen vertretene Reduktion der Evidenz ausschließlich auf randomisierte Studien zu isolierten einzelnen Interventionen greift zu kurz (Dick 2007, Müller 2007) und ist für die Frührehabilitation ebenso wenig hilfreich wie der Prinzipienstreit zwischen Therapie-Schulen. Randomisierte Studien sind in diesem Bereich nur selten möglich, u.a. 4 da sich kaum homogene Gruppen bilden lassen, 4 Verblindung und Placebo-Kontrolle kaum möglich sind, und auch 4 ein A-B-A-Design aufgrund der raschen und variablen Verlaufsdynamik scheitert (s.u.). Umso wichtiger ist es, angemessene Outcome-Studien zu komplexen Therapieprogrammen zu entwickeln. jKomplexe Therapieprogramme In den letzten Jahren ist zunehmend Einsicht in die Restitutionsprozesse nach Hirnschäden gewonnen worden. Durch den Fortschritt in der funktionellen Bildgebung ist die Funktionsweise von Hirnregionen, die nicht zu den primären sensorischen und motorischen Kortexarealen gehören, besser zu verstehen. Dies betrifft vor allem 4 die mittelliniennahen Strukturen, 4 den präfrontalen Kortex und 4 um die Inselregion gelegene Kortexareale. Bei Untersuchungen zur Restitution von Hirnfunktionen hat sich nachweisen lassen, dass im Erholungsverlauf bestimmte sekundäre motorische Kortexareale neue Funktionen übernehmen können (Ward u. Cohen 2004). > Zwei Ergebnisse sind für die Frührehabilitation bedeutsam: 4 die Entdeckung der Spiegelneuronen (Rizzolatti 1987, 2004; Kohler 2002) und 4 das zunehmende Verständnis der Bedeutung sozialer Wahrnehmung, Affektsteuerung und Motivation für das Zustandekommen von Handlungen (Bauer 2006).
kSpiegelneuronen Gut bekannt ist die Funktion der Spiegelneuronen im präfrontalen Kortex: Bei Beobachtung bestimmter Handlungen zeigen sie die gleiche Aktivität wie wenn die Handlung selbst ausgeführt wird. Dabei ist die Aktivität nicht nur für Handlungen, sondern auch für Handelnde spezifisch: 4 Im Tierversuch reagieren die Spiegelneuronen bei Affen auf bewegte Hände, nicht jedoch auf Apparate oder Vor-
richtungen, die die gleichen Handlungen unpersönlich ausführen (Gallese 1996, Buccino 2006). 4 Im Tierversuch und beim Menschen zeigte sich, dass emotionale Äußerungen anderer Personen gleichartige Reaktionen erzeugen. Schafe, denen man Fotos der Gesichter fremder Schafe zeigte, zeigten auf zufriedene oder gestresste Gesichter entsprechend ein beruhigtes oder unruhiges Verhalten (Tate 2006). 4 Nach neueren Untersuchungen wirkt sich auch beim Menschen das Erkennen der Mimik anderer Menschen auf das Verhalten aus. Dies wurde als soziales Signalsystem gedeutet: Ob ein Handeln erwünscht oder unerwünscht ist, kann man an den mimischen Reaktionen anderer Menschen erkennen; und in sozialen Gruppen ist es sinnvoll, sich an Erfahrungen und Präferenzen anderer Gruppenmitglieder zu orientieren (Bodini 2004). Für die Frührehabilitation könnten diese Erkenntnisse bedeutsam werden. Buccino et al. (2006) formulierten Überlegungen, wie solche Erkenntnisse über Spiegelneuronen in die Neurorehabilitation einzubringen sind. Wie erwähnt ist anzunehmen, dass sekundäre motorische Areale Funktionen übernehmen können, die sie zuvor nicht hatten (Ward u. Cohen 2004). Daran anknüpfend fragten Buccino et al. (2006), ob nicht vermehrt latente Strukturen reaktiviert werden könnten, in der Erwartung, dass trotz strategischer Hirnläsionen vorher erlernte Aktivitäten wieder trainiert werden können, statt wie bisher die in der Neurorehabilitation meist üblichen kompensatorischen Strategien einzuüben. kMentales Training Einen weiteren Ansatz haben Mulder und de Vries vorgestellt (2007). Sie weisen auf die Bedeutung des mentalen Trainings hin, das im Leistungssport längst gängig ist (Sharma 2006). Erste Studien weisen darauf hin, dass sich mentales Training auch in Teilbereichen der Rehabilitation anwenden lässt. Besonders für Patienten, deren Bewegungsfähigkeit noch eingeschränkt ist, könnte der Einsatz von Imagination und Imitation zur Erhaltung und Wiederherstellung der Bewegungsfähigkeit beitragen. Die Autoren betonen, dass die vorliegenden Ergebnisse nicht homogen sind und eher annehmen lassen, dass nicht ein einziges einheitliches und einfaches Spiegelneuronensystem involviert ist, so dass sich ein standardisiertes Therapieverfahren nicht oder zumindest noch nicht definieren lässt. Dennoch betonen sie, dass durch Beobachtung oder innere Vorstellung Neuronensysteme aktiviert werden, die weitgehend identisch sind mit denen, die bei Bewegungsausführung aktiv sind. Eine Einschränkung ist jedoch laut Mulder, dass nach den Forschungsergebnissen nur früher erlernte Fähigkeiten aktiviert werden können, Ungewohntes dagegen nur durch Imaginationsverfahren offenbar nicht erlernt wird. jKriterien für die Therapieplanung Für die Frührehabilitation lassen sich aus diesen Überlegungen Kriterien formulieren, an denen sich die Weiterentwicklung der Therapie orientieren sollte. Bei schwerst hirngeschä-
33
518
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
digten Patienten sind nicht nur Motorik und Objektwahr-
nehmung gestört, sondern auch 4 Vigilanz, 4 Aufmerksamkeit, 4 Zuwendungs- und Kontaktfähigkeit sowie 4 affektive Stabilität. Das Angehen dieser Defizite dürfte auch die Fähigkeit begünstigen, motorische Leistungen zu erbringen. In . Übersicht 33.6 werden einige Aspekte dargestellt, die in Zukunft vermehrt bei der Therapieplanung berücksichtigt werden sollten. . Übersicht 33.6. Aspekte der Therapieplanung 1. 2. 3. 4. 5. 6.
33
Enriched Environment Emotion und Motivation Soziale Einbindung Kognition Einsatz von Imitation und Imagination Sinn- und Zielorientierung
kEnriched Environment Die Klinikumgebung auf Wachstationen bringt für Patienten wenig ansprechende Anreize, dagegen durch Monitoring und Geräte viele Störreize, so dass für die wenigen sinnvollen Reize der notwendige Signal-Rausch-Abstand kaum gegeben ist. Die früher eingesetzten Verfahren der Komastimulation gehen in dieser Umgebung oft unter. Die Wirksamkeit kann erhöht werden, wenn man die Umgebung für die Patienten ansprechender gestaltet, d.h., sie mit sinnvollen Reizen für die Patienten anreichert. Sowohl in Tierversuchen wie auch in klinischen Studien ließ sich nachweisen, dass die Wirksamkeit von Konditionierungs- oder Stimulierungsverfahren durch ein solches Enriched Environment erhöht werden kann (Passineau 2001, Maegele u. Lippert-Grüner 2005, Lippert-Grüner 2007a, Fan 2007). kEmotion und Motivation Bei Erwachen aus schweren Bewusstseinsstörungen zeigt ein großer Teil der Patienten als Erstes vegetative und affektive Reaktionen, dies auch schon dann, wenn differenzierteres Bewusstsein noch nicht wiedererlangt ist. Dies kann als Ausdruck tieferer Bewusstseinsschichten gedeutet werden (Damasio 1999) oder Ausdruck wiederkehrender Hirnleistungen sein, während andere Hirnfunktionen noch gestört sind. Häufig zeigen die Patienten deutliche Reaktionen auf Therapieansätze, die ihre Emotionen ansprechen, und sie gewinnen daraus Motivation zu weiterführender Mitarbeit. Zwei bereits erprobte Therapieansätze dieser Art sind 4 die Musiktherapie (Jochims 2006) (7 Kap. 33.6.4.1, Kap. 32) und 4 die tiergestützte Therapie (Böttger 2005) (7 Kap. 33.6.4.2).
kSoziale Einbindung Dass emotionale und soziale Aspekte auch bei schwerer Hirnläsion bedeutsam sind, hat Bekinschtein (2004) bei einem jungen Mann, der auf Ansprache reagierte, zeigen können, dass dieser nur auf Ansprache der Mutter eine signifikant vermehrte Aktivierung in der Amygdala zeigte. Dass Patienten mit schweren Störungen Geborgenheit und Zuwendung benötigen, ist nicht neu. Dass die Zuwendung aber auch die Reorientierung fördern kann, ist ein Gedanke, der sich aus der Erforschung des Spiegelneuronensystems herleiten lässt. Bodini et al. (2004) haben diese Tatsache für Schlaganfallpatienten dargelegt; der Ansatz hat aber vermutlich auch für andere Patienten Gültigkeit. Argumentiert wird, dass das Beobachten emotionaler Regungen bei anderen Menschen das Verhalten des Beobachters beeinflusst. In sozialen Zusammenhängen kann das Erleben fremder Emotionen zur Leitlinie für eigenes Handeln werden: Wie oben angedeutet können fremde Emotionen warnen und den Beobachter an Fehlhandlungen hindern oder aber bei sinnvollen Aktionen positive Rückmeldung bedeuten und begünstigend wirken (Damasio 1999, Adolphs u. Damasio 2003, Bauer 2006). Gemäß diesen Überlegungen sind rein behavioristische Stimulationskonzepte zu überwinden und der Patient entsprechend seiner Erfahrungswelt anzusprechen, was z.B. von Zieger (2004) als Anspruch formuliert wird, einen Dialogaufbau zu erreichen. Praxistipp Diese Erkenntnis hat für die Frührehabilitation die Konsequenz, das therapeutische Handeln zu überdenken, das nicht nur fachlich qualifiziert, sondern auch ermutigend sein sollte. Auch die Rolle der Angehörigen ist zu überdenken (7 Kap. 33.7.1).
kKognition Patienten sind auch in frühen Rehabilitationsphasen nicht nur als passives Objekt zu behandeln. Die hohe Bedeutung kognitiver Aspekte für die Therapie hat eine Arbeitsgruppe in Südchina demonstrieren können. Tang et al. (2005) verglichen die konventionelle neurorehabilitative Physiotherapie mit einem neu entwickelten Ansatz, genannt Problem-Oriented WilledMovement Therapy, wonach Therapieprogramme nach individueller Erfassung der kognitiven Defizite und Stärken festgelegt werden. Bei Schlaganfallpatienten erwies sich diese Therapieform hinsichtlich des motorischen Outcome als überlegen, obwohl im kognitiven Outcome kein Unterschied zur konventionellen Therapie gefunden wurde. Dies lässt sich sicher nicht auf Schwerstbetroffene im Übergang zum minimal bewussten Zustand übertragen, sollte aber für Patienten bedacht werden, die sich den Kriterien der nachfolgenden Rehabilitationsphase C nähern.
519 33.6 · Grundlagen und Perspektiven der Therapie
kEinsatz von Imitation und Imagination Die Mehrzahl der Frührehabilitationspatienten zeigt in den ersten Restitutionsphasen keine oder kaum gezielte Motorik. Stimulationsprogramme versuchen zwar allgemein zu aktivieren, zeigen aber nicht den Weg zu gezielten Bewegungen. Physiotherapeutische Mobilisationsversuche folgen meist einem einheitlichen durchaus sinnvollen Vorgehen, nämlich der Förderung einzelner Bewegungen und der Aufrichtung, die für weitere Fortschritte wichtig ist (Elliott 2004). Wie oben erwähnt sollten imaginative und imitative Verfahren in die Therapie einbezogen werden. Die Präsentation kompletter Bewegungsabläufe durch Therapeuten setzt hinreichende Vigilanz und Aufmerksamkeit voraus. Die Vigilanz ist bei vielen Patienten zeitweise vorhanden, die Aufmerksamkeit muss gezielt angesteuert werden: 4 Störreize sollten eliminiert werden. 4 Die Blickzuwendung des Patienten sollte verfolgt werden. 4 Wegen der geringen Belastbarkeit sollten zu Anfang kurze und klare Sequenzen angestrebt werden. Buccino (2006) empfiehlt Bewegungssequenzen, da Bewegungen in den bisherigen Therapiekonzepten in zu kleine Komponenten aufgespalten werden, wodurch die Betroffenen die Gesamtheit und den Sinn der Bewegungssequenz nicht nachvollziehen können. Dies gilt besonders in der Frührehabilitation; wegen der geringen Belastbarkeit werden auch Schluck-, Sprach- und andere Therapien in Komponenten zerlegt, die isoliert für Patienten oft abstrakt, unverständlich und wenig motivierend sind. Das zielgerichtete Handeln des Patienten wird häufig wenig gefördert, es gibt nur Bewegungstrajektorien ohne Ziel. Dies ist möglicherweise nicht sinnvoll, da intransitive, ziellose Bewegungen wahrscheinlich über andere neuronale Netzwerke gesteuert werden als gezielte (Desmurget 1997). Es ist nicht hinreichend überprüft, ob Übungstransfers von einem System zum anderen möglich sind, jedoch sind Zweifel angebracht. > Beim imaginativen Ansatz muss der Patient zunächst nichts leisten, sondern nur die vorgeführte Handlung verstehen, was ein einfacherer und deutlicherer Input ist, der im günstigen Falle zu einem inneren Nachvollzug anregt, bei wiederkehrender Motorik auch zu einem aktiven Imitieren.
Für die Frührehabilitation sind diese Ansätze noch kaum entwickelt, in der Rehabilitation bei mittelschweren Schlaganfällen hat der praktische Einsatz aber bereits begonnen, und positive Effekte lassen sich nachweisen (Ertelt et al. 2007). Neben dem direkten Einsatz am Bett sind Video- und Spiegeltherapie in Erprobung, daneben auch der Einsatz von virtueller Realität (Broeren 2004, 2007). Es erscheint durchaus plausibel, dass diese Ansätze in der Frührehabilitation in geeigneter Modifikation ihren Einsatz finden können. Nach eigener Einschätzung erfüllen auch neuere Ansätze in der Musiktherapie die referierten Kriterien (s.u.).
jSinn- und Zielorientierung Wenn auch noch wenige praktikable Methoden vorgestellt werden können, so zeichnet sich doch eine neue Ausrichtung der Therapien ab. Nicht mehr Einzelreize, sondern Orientierung der Therapie an den Lebenserfahrungen und dem Umfeld des Patienten stehen im Zentrum (7 Kap. 1). Therapieangebote müssen für den Patienten einen erkennbaren Sinn und Nutzen haben, und sie sollten in einen sinnvollen Rahmen gestellt werden. Bettlägerigkeit stellt keine Alltagssituation dar, und die Therapieinhalte sind gerade bei stark eingeschränkten Patienten leider oft abstrakt und isoliert wie etwa »Eisstimulation« oder »Funktionsanbahnung in der betroffenen oberen Extremität«. Der Patient versteht die Absicht nicht und bleibt unter Umständen dadurch in Passivität. Auch die sog. geführten Bewegungen werden von vielen Schwerbeeinträchtigten nicht begriffen. Vielmehr sollten die erreichbaren Ziele problem- und patientenorientiert formuliert werden, z.B. »Radio ausschalten lernen«. Für Teilschritte sollten motivierende Ziele und positive Verstärker gefunden werden. Dies erfordert viel Erfahrung und genaue Kenntnis des Patienten. Ein überschaubares konstantes Therapeutenteam ist nötig, und selbst für Erfahrene ist die Zielfindung eine Herausforderung. Wie Buccino (2006) betont, sind Überlegungen über zukünftige Therapieformen spekulativ und nicht empirisch überprüft. Es ist jedoch zu hoffen, dass sich die Therapie in den nächsten Jahren weiterentwickelt. In den nachfolgenden Abschnitten wird versucht, den bisherigen State of the Art zu referieren; angesichts der vielversprechenden Forschungsergebnisse ist es jedoch wichtig, nicht auf dem bisherigen Stand stehenzubleiben.
33.6.1
Komastimulation
Die meisten Patienten sind bei Übernahme in die Frührehabilitation nicht bei vollem Bewusstsein. Nach Abschluss der Akutbehandlung finden sich bei vielen Patienten 1–4 Wochen nach schwerer Hirnschädigung bei intakten vegetativen Funktionen noch kaum erkennbare Reaktionen auf Reize. Das Auftreten eines Schlaf-Wach-Rhythmus ist ein Zeichen wiederkehrender vegetativer Regulation. Die Fähigkeit zur Kontaktaufnahme fehlt oder ist gering. Diese Patienten leben in einer Extremsituation mit 4 Isolation, 4 Wahrnehmungsstörung und Orientierungslosigkeit, 4 Verunsicherung und Angst, 4 Behinderung und Abhängigkeit (Zieger 1997). jReaktionen auf Außenreize In den letzten Jahren wurden zunehmend Erkenntnisse über das sog. Covert Behaviour dieser Patienten gewonnen, d.h. über die Fähigkeit, mit durchaus differenzierten reizangepassten (»verdeckten«) vegetativen oder somatischen Reaktionen auf Außenreize zu antworten. Die Reizantworten können über verschiedene (neuro-)physiologische Parameter mit Monitoringsystemen erfasst werden, z.B.
33
520
4 4 4 4 4 4
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
Hautwiderstand, Herzfrequenz, Atemfrequenz, Augenbewegungen, EEG oder Oberflächen-EMG (Lippert-Grüner 2002b).
Anhand dieser Parameter konnte belegt werden, dass Patienten schon im komatösen Stadium auf verschiedene Reize, sogar auf unterschiedliche Besucher am Krankenbett, reproduzierbar unterschiedlich reagieren (Zieger 1997). Somit ist davon auszugehen, dass eine selektive Reaktions- und sogar Diskriminationsfähigkeit schon früh wiederhergestellt sein kann. Diese Erkenntnis führte zu der Frage, ob bereits in diesem Stadium Reaktionen therapeutisch beeinflussbar sein könnten. Bisher konnte die Frage, ob Stimulationsmaßnahmen den Heilungsverlauf günstig beeinflussen und die Komadauer verkürzen können, nicht mit letzter Sicherheit beantwortet werden. Die Fallzahlen sind häufig zu klein, die Stimulationskonzepte sind nicht vergleichbar, und es fehlen Kontrollgruppen. Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit der sensorischen Stimulation
33
Lombardi konnte noch 2002 in einer Meta-Analyse für die Cochrane Collaboration an 68 Patienten keinen systematischen Wirksamkeitsbeleg der sensorischen Stimulation finden (Lombardi et al. 2002). Seit Längerem liegen aber bereits Untersuchungen vor, die positive Effekte von Stimulationsbehandlungen belegen (LeWinn 1978, Doman 1993, Schiff 2000, Vanier 2002). Dabei zeigte sich eine Überlegenheit der multisensorischen Therapie gegenüber unimodalen Reizangeboten (Wilson 1996a, 1996b) und Vorteile einer systematisierten Therapie.
Intense Multi Sensory Stimulation (IMS) Bei der Intense Multi Sensory Stimulation (IMS) wurden komatösen Patienten täglich über mehrere Stunden hinweg konstante einfache Reize in mehreren Sinnesmodalitäten präsentiert (Doman 1993). Belegt ist eine zumindest kurzdauernde Wirksamkeit mit Erreichen höherer Bewusstseinsstufen in der Gruppe der Behandelten im Vergleich zur unbehandelten Kontrollgruppe. Eine Verbesserung des Outcome ist allerdings fraglich (Dobkin 1996). Als inhaltliche Kritik dieses Verfahrens ist anzuführen, dass unter Berücksichtigung der massiv eingeschränkten Wahrnehmung, Belastbarkeit und Aufmerksamkeitsspanne der Patienten eine Reizüberflutung mit Überwiegen der negativen Effekte möglich ist. Trotz der belegten Wirksamkeit wird diese Stimulationsform wegen der genannten Nachteile in den den Autoren bekannten Kliniken kaum noch angewendet.
Multimodale Frühstimulation (Multimodal Early Onset Stimulation, MEOS) Für den deutschen Sprachraum legten Lippert-Grüner et al. (2000, 2002a) mit der multimodalen Frühstimulation (Multi-
modal Early Onset Stimulation, MEOS) ein Konzept zur multisensorischen Stimulation vor. Dabei werden täglich Stimulationen in einem A-B-A-Design durchgeführt, und zwar in zwei unterschiedlichen Blöcken: 4 taktile, propriozeptive und vestibuläre Stimulationen (Block I) oder 4 orofaziale, visuelle und akustische Stimulationen (Block II). Ein Block umfasst eine Stunde Stimulationen mit Pausen von jeweils 10 Minuten: 4 Als taktile Stimulation werden thermische Anwendungen oder Massagen appliziert. 4 Zur propriozeptiven und vestibulären Stimulation erfolgen passive Bewegungen des Kopfes, der Extremitäten und des Körpers. 4 Als orofaziale Stimulation dienen taktile Reize im Mundbereich, als gustatorische Stimulation Geschmacksstoffe, als olfaktorische Stimulation Gerüche. 4 Als visuelle Stimulation werden farbige Luftballons oder farbige Lichter gezeigt. 4 Akustische Stimulation besteht aus vertrauter Musik oder Alltagsgeräuschen. Grundsatz ist die Vermeidung von aversiven Reizen, die zu einem Rückzug der Patienten führen können. Währenddessen erfolgt eine standardisierte Verhaltensbeobachtung von 4 Mimik, 4 Lautäußerungen, 4 Aufmerksamkeit, 4 Motorik und 4 vegetativen Reaktionen. Nach den bisherigen Auswertungen zeigten sich die auffälligsten Veränderungen bei taktiler und akustischer Stimulation. Als häufigste Reaktionen zeigten sich 4 in tiefen Komastadien mit Glasgow Coma Score (GCS) 3–4 Veränderungen von Herzfrequenz und Hautwiderstand, 4 in flacheren Komastadien (GCS 5–7) Augenbewegungen und mimische Reaktionen. Nach diesen ersten Studien hat die Arbeitsgruppe sowohl in Tierversuchen wie in der klinischen Anwendung positive Effekte der Frühstimulation finden können (Lippert-Grüner 2002b, 2007a, 2007b).
Basale Stimulation Das schon länger angewandte Konzept der Basalen Stimulation wurde von Fröhlich (2003) für frühkindlich hirngeschädigte Kinder entwickelt und später für die Behandlung hirnverletzter Erwachsener modifiziert (Bienstein u. Fröhlich 2003). Auch bei der Basalen Stimulation werden regelmäßig Reize in allen Sinnesmodalitäten angeboten. Betont wird aber nicht die Menge der Reizdarbietungen, sondern die Bedeutsamkeit der Reize. Diese sollen auf den Patienten und seine Situation abgestimmt werden:
521 33.6 · Grundlagen und Perspektiven der Therapie
4 Bei Körperwahrnehmungsstörungen können z.B. großflächige Massagen als Reize eingesetzt werden. 4 Zur Stimulation der Diskriminationsfähigkeit werden unterschiedliche Gegenstände in die Hand gelegt. Bei den Reizen sollte kontrolliert werden, ob sie als unangenehm empfunden werden. Praktisch vorteilhaft ist bei diesem Ansatz, dass viele konkrete Empfehlungen für die Behandlungspflege entwickelt und von etlichen Anwendern in Deutschland in der Praxis erprobt wurden. Systematische Untersuchungen zu Effekten dieses Ansatzes scheinen jedoch immer noch nicht vorzuliegen.
Snoezelen Auch außerhalb des deutschen und englischen Sprachraums wurden in den letzten Jahren unabhängig voneinander spezielle Stimulationsprogramme entwickelt und erprobt (Dolce u. Sazbon 2002, Domingos 1999). Eine intensive Mischung stark anregender wie auch beruhigender Reize bietet das in den Niederlanden entwickelte Snoezelen, das jedoch wegen der besonderen Gefahr der Reizüberflutung in der Frühphase nach Hirnverletzung nur gezielt unter guter Überwachung eingesetzt werden sollte (Hulsegge u. Verheul 1986).
Praktische Anwendung der Stimulation Einige der vorgeschlagenen Ansätze sind in der jeweils vorgeschlagenen Form nur schwer in die Alltagspraxis zu integrieren. Im klinischen Alltag wird versucht, eine dem Patient angepasste systematische Stimulation in Anlehnung an die Basale Stimulation durchzuführen: 4 Jeder Patient erhält mehrmals täglich für jeweils zunächst nur 5–10 Minuten eine multimodale Stimulation. 4 Bei zunehmender Belastbarkeit werden die Stimulationsphasen verlängert, meist ist aber die Aufmerksamkeit nur bis maximal 20 Minuten zu halten. 4 Auf angemessene Ruhezeiten ist zu achten. Nach Lernsequenzen können Ruhezeiten der Konsolidierung des Gelernten dienen (Albert 2009); gerade in dieser Phase erschwerten Lernens ist die Gefahr der retrograden Interferenz zwischen verschiedenen Inhalten besonders groß. ! Cave Eine Häufung von Therapien in wenigen Vormittagsstunden ist eine Gefahr in vielen Kliniken und sollte durch gute Planung ebenso vermieden werden wie mehrstündige Pausen ohne Anreize zwischen isolierten Therapieeinheiten. Auch die Reizgebung sollte geplant sein: 4 Zunächst beschränkt sich die Stimulation auf wenige definierte Reize, die oft angeboten werden. 4 Bei Besserung werden die Reize deutlicher der Situation des Patienten, seinen Beschwerden und eventuellen Präferenzen angepasst. 4 Alle Reize sollen leicht zu identifizieren sein, mit (potenziell) erkennbarer Bedeutung für den Patienten.
Die Einbeziehung der Stimulation in die ohnehin stattfindende Basispflege ist zweckmäßig. Angehörige sollten einbezogen werden, da der Patient sie am ehesten wiedererkennen dürfte. Hier bedarf es mitunter besonderer Aufklärung über die extrem kurze Aufmerksamkeitsspanne des Patienten, mit dem deutlichen Hinweis, dass »viel« eben nicht viel hilft. jStimulation durch Angehörige In den frühen Remissionsphasen sind vegetative Erregungszustände bei den Patienten häufig. Diese sind nicht selten durch Angehörigenbesuch ausgelöst. Meist ist die Erregungsphase für den Patienten äußerst unangenehm. Angehörige können in dieser Lage durch wenige klare Reize zur Entspannung beitragen, z.B. durch regelhaft eindeutige Berührung anstatt wechselnder streichelnder Bewegungen. Auch Beruhigung kann den Wert einer sinnvollen Stimulation bekommen, wenn der Patient aus der vegetativen Erregung befreit werden kann. Bei anderer Gelegenheit kann er dann wieder aktiver und selektiver stimuliert werden. jStimulation durch Pflege Die Einbeziehung der Pflege in die Stimulation ist vorteilhaft. Es wird gleichzeitig gepflegt und therapiert, die Wahrnehmung füreinander kann bei Pflegeperson wie Patient gleichermaßen verbessert werden. Die Grundpflege bietet ohnehin starke sensorische Reize. Wegen der vielfältigen Aufgaben im Pflegeprozess sind jedoch nicht alle Reize in die systemische Stimulation integrierbar. Schwester oder Pfleger werden einzelne Reize auswählen und bei der Ansprache des Patienten auch verbal hervorheben. Die Reize sollen alle Sinne ansprechen, inhaltlich zueinander passen und für den Patienten eine Bedeutung haben. Beispiel Beim Waschen kann man hervorheben: 4 den Geruch oder Geschmack von Seife und Zahnpasta, 4 das Hören laufenden Wassers und 4 das Spüren des Frotteehandtuchs. Praxistipp Wichtig ist, dass der Patient Zeit zur Vorbereitung hat. Erfahrene Pflegekräfte und Therapeuten haben für therapeutisches Umlagern 15–20 Minuten und für Aufsetzen und Anziehen eine Stunde veranschlagt (Bihlmayr 1996, Carroll 1996).
jStimulation durch Therapeuten Neben Pflege und Angehörigen beteiligen sich zweckmäßigerweise die Therapeuten aller Fachgebiete an der Stimulation: 4 In der Physiotherapie werden Reize bei der (passiven) Mobilisierung und beim Aufrichten gegeben, 4 in der Ergotherapie beim Waschen oder Anziehen. 4 In der Neuropsychologie werden Reize zur Förderung von Wahrnehmungs- und Diskriminationsvermögen erprobt.
33
522
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
4 In der Logopädie kommen Verfahren der orofazialen Stimulation hinzu. Anhand von Teambesprechungen ist sicherzustellen, dass die Schwerpunkte inhaltlich und zeitlich miteinander koordiniert sind. Auf die zusätzlichen Möglichkeiten pharmakologischer und apparativer Stimulation wird weiter unten eingegangen. jZusammenfassung Komastimulation ist ein 24-Stunden-Konzept. Eingesetzt werden multimodale Reize, angepasst an das individuelle Zustandsbild des Patienten. Alle Mitglieder des therapeutischen Teams müssen in gleicher Weise mitwirken.
33.6.2
33
Therapie im Zustand minimaler Reaktionsfähigkeit
Möglichst frühzeitig, eigentlich schon bei Reduktion der Sedierung, sollte die eigene Aktivität des Patienten gefördert werden. Manche Patienten beginnen z.B. zu brummen oder zu nesteln. Solche Aktivitäten sollten nicht unterbunden, sondern als Autostimulation und Informationssuche verstanden werden. Die Lernfähigkeit schwerstgestörter Patienten wird vermutlich unterschätzt. In einer Studie konnten Patienten nach Schädel-Hirn-Trauma gegen Ende der Akutphase bei Glasgow Coma Scale-Scores zwischen 6 und 9 bereits lernen, auf Aufforderung die Bettdecke wegzuschieben (Shiel et al. 1993). Schon komatöse Patienten zeigen vegetative Reaktionen auf verschiedene Situationen und Personen. Der Übergang vom Koma zu einem minimal reaktionsfähigen Zustand (s.u.) wird nicht immer direkt im Spontanverhalten des Patienten sichtbar, wie bekannte Studien zu Fehldiagnosen belegen.
. Übersicht 33.7. Kriterien des Minimally Conscious State Begrenzte, aber klare Reproduzierbarkeit einer oder mehrerer der folgenden Verhaltensweisen 1. Befolgen einfachster Aufforderungen 2. Gestische oder verbale Ja-/Nein-Antworten 3. Erkennbare Wortäußerungen 4. Gezieltes reizkontingentes Verhalten, z.B.: – Adäquates Lachen/Weinen auf passende Reize – Laut- oder Wortäußerungen als unmittelbare Reaktion auf bestimmte Redeinhalte – Gezieltes Greifen in Richtung von bestimmten Gegenständen – Berühren und Festhalten von Dingen, das sich deren Form und Beschaffenheit anpasst – Blickfolgebewegungen oder Blickfixation, die gezielt direkt bewegten Objekten folgen
dromdiagnose mit definierten Kriterien festzulegen (Giacino et al. 2002), die in . Übersicht 33.7 (freie Übersetzung nach Giacino et al. 2002) dargestellt sind. Nach den neuesten Forschungsergebnissen wäre ein nicht unbeträchtlicher Teil der bisher als »apallisch« eingestuften Patienten dieser Diagnose zuzuordnen. Auch andere Autoren berichteten, dass etliche der nach einigen Wochen als »apallisch« klassifizierten Patienten in Wahrheit minimal reaktionsfähig sind (Pilon u. Sullivan 1996).
! Cave Zu beachten ist, dass der Zeitverlauf der Wiedererlangung minimaler Reaktionsfähigkeit extrem variabel ist, z.B. wird über erste Reaktionen und Kommunikationsansätze mittels Augenbewegungen 4 Monate nach Schädel-Hirn-Trauma berichtet (Andrews 1993).
Näher betrachtet Studien: Fehldiagnosen Andrews et al. (1996) fanden, dass selbst in einer Spezialabteilung 43% der Diagnosen eines persistierenden vegetativen Status revidiert werden mussten. Wilson et al. (2002) kamen beachtenswerterweise auch 2002 noch zu ähnlichen Ergebnissen. Eigene Beobachtungen an rund 3.000 schwerstbetroffenen Frührehabilitationspatienten und über 100 LangzeitWachkoma-Heimbewohnern haben die Autoren gelehrt zu differenzieren: Von Patienten, die zunächst als nicht reaktionsfähig zu klassifizieren waren, bieten deutlich über 10% im längeren Verlauf wiederholt vereinzelte reizkontingente Reaktionen oder seltene spontane Aktivitäten bis zum Sprechen einzelner verständlicher Wörter.
jMinimal bewusster Zustand Diese Erkenntnisse haben führende Fachvertreter dazu veranlasst, in einem Konsensuspapier 2002 den minimal bewussten Zustand (»minimally conscious state«) als neue Syn-
33.6.3
Musiktherapie in der Frührehabilitation
Für die Musiktherapie bietet sich in der neurologischen Frührehabilitation ein sinnvolles Aufgabenfeld, das noch in Entwicklung ist. Die vegetativen und emotionalen Reaktionen auf Musik lassen sich gut beobachten, vermutlich haben sie Bedeutung über Beruhigung und Entspannung hinaus. Einzelne Patienten reagieren mit Lachen oder Tränen auf inhaltlich lustige oder traurige Inhalte. Auffällig ist, dass sie nicht auf einen lustigen oder traurigen Tonfall bei unsinnigen oder affektiv neutralen Inhalten reagierten. Ähnliche Beobachtungen hat auch Schönle berichtet (1994). Die Autoren vermuten, dass in den beschriebenen Fällen hochdifferenzierte Reaktionen vorliegen, bei Patienten, die sonst reaktionslos wirken. Diese Form der Ansprache könnte für die Rehabilitation von schwerst Hirngeschädigten wichtig sein. Die bisherige
523 33.6 · Grundlagen und Perspektiven der Therapie
Näher betrachtet Ergebnisse funktioneller Bildgebung
. Übersicht 33.8. Bedeutsame Faktoren der Musiktherapie
Mit funktioneller Bildgebung lässt sich inzwischen Covert Activity bei minimal bewusstem Zustand und Wachkoma unterscheiden (Boly 2005). Es wurde nachgewiesen, dass auch bei einzelnen Patienten im Wachkoma funktionelle Kortexaktivität nachweisbar sein kann (Owen 2005, 2006). Patienten, die nach den etablierten Kriterien in einem länger anhaltenden Wachkoma waren, zeigten in einer Studie auf Nennung ihres Namens Reaktionen, die in der späten AEP-Komponente P300 messbar waren (Perrin 2006). Gedanke dazu ist nach langjährigen eigenen klinischen Beobachtungen: Es gibt nicht nur ein oder zwei Syndrome, sondern zwischen massiver Hirnstörung mit eigentlichem Wachkoma und mäßig schwerer Hirnschädigung gibt es ein Kontinuum von Zustandsbildern, so dass möglicherweise auf lange Sicht nicht mehr von distinkten Syndromen zu reden sein wird, sondern von einem Kontinuum mehr oder minder ausgeprägter Zuwendungsfähigkeit. Die angesprochenen neueren Ergebnisse funktioneller Bildgebung deuten darauf hin, dass es wahrscheinlich individuell unterschiedliche Muster von erhaltenen und gestörten Funktionen gibt, was auf längere Sicht auch die Nomenklatur beeinflussen wird. Dabei geht es nicht vorrangig um eine Taxonomie, sondern darum herauszufinden, welche Zustandsbilder in welcher Form therapierbar sind.
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Näher betrachtet Kernbewusstsein In seinem Modell nimmt Damasio (1999) eine von ihm Kernbewusstsein genannte basale Bewusstseinsebene an, die aus dem gleichzeitigen Erleben äußerer Ereignisse und innerer Gefühlszustände entsteht und sich ins Gedächtnis einprägt. Nach seiner Vorstellung kann es ohne Affekte kein Kernbewusstsein und ohne Kernbewusstsein überhaupt kein Bewusstsein geben. Diese Ansicht ist umstritten (Gazzaniga 1999); unumstritten ist jedoch, dass über Musik und Affekte besonders gut Erinnerungen evoziert werden können.
Rehabilitationstherapie ist sehr auf die Förderung kognitiver und motorischer Funktionen ausgerichtet. Bei schwerst Hirngeschädigten sind die Einflussmöglichkeiten auf diesen Gebieten begrenzt. Es bleiben daher im Wesentlichen nur Einzelstimuli und mehr oder minder passives Durchbewegen. Gegenüber der bisherigen Rehabilitationstherapie kann Musiktherapie sowohl Gefühle wie auch Erinnerungen ansprechen und damit zur Wiedergewinnung von Selbstbewusstsein und Bewusstsein von der Außenwelt beitragen. Bedeutsame Faktoren der Musiktherapie sind in . Übersicht 33.8 zusammengefasst. jRichtungen der Musiktherapie Musiktherapie in der Neurorehabilitation wurde bisher gern vorrangig als Mittel zur Beruhigung und Therapie depressiver Zustände betrachtet und war im klassischen Sinn vorwiegend psychotherapeutisch ausgerichtet, oder aber sie wurde als
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Musik erreicht Patienten schon auf niedrigem Aktivitäts- und Vigilanzniveau. Die Augen müssen nicht geöffnet sein, was z.B. bei akinetischem Mutismus ein Kommunikationshindernis sein kann. Laute Musik erreicht v.a. im unteren Frequenzbereich den ganzen Körper ohne direkten Körperkontakt, was besonders bei wahrnehmungsgestörten oder stark erregbaren Patienten vorteilhaft sein kann. Aktive Arbeit an Instrumenten ermöglicht die Anbahnung gezielter Handlungen mit den Händen. Musik spricht unmittelbar Emotionen an, sie hat Aufforderungscharakter, und zugleich kann sie Erinnerungen wecken. Musik ist im Vergleich zu anderen Stimulationsmöglichkeiten eine hochstrukturierte Information, sie stellt aber dennoch kaum Anforderungen an Sprachverständnis, räumliche Vorstellung sowie andere eventuell gestörte kognitive Funktionen. Musik ist emotionale Sprache und fördert emotionale Kommunikation; sie kann damit den Kommunikationsaufbau fördern. Musik, Affekt und Aktivität sind eng miteinander verbunden. Musik kann bei Antriebsmangel ein wirksames therapeutisches Mittel sein. Musik spricht Emotionen an, über die bei schwerer Hirnschädigung nicht verbal oder anderweitig kommuniziert werden kann. Auf diesem Weg können emotionale Aspekte des Krankseins sehr früh therapiert werden, was allerdings besondere Erfahrung und Verantwortung vonseiten des Therapeuten erfordert.
Dialogangebot »jenseits des Wortes« verstanden (Gustorff 2000). Weitgehend unabhängig dazu hat sich eine strikt funktionell ausgerichtete Musiktherapie entwickelt, die z.B. den günstigen Einfluss von Rhythmen auf die Qualität der Motorik nutzt (Thaut 1996), und sich auch bei schweren Gangstörungen überraschend gut bewährt hat. Erfolge sind bei Morbus Parkinson belegt (Freedland et al. 2005). Nicht nur für motorische Störungen, sondern auch für Aphasien gibt es einzelne gut dokumentierte objektivierbare Effekte funktioneller Musiktherapie (Jungblut 2005). Zwischen diesen Polen ist als dritter und entscheidender Einfluss die Auswertung der Erfahrungen zu nennen, die Musiktherapeuten in der langjährigen Arbeit mit schwerst Hirngeschädigten erworben haben (Jochims et al. 2003). Es hat sich gezeigt, dass Musik einige Patienten besser und differenzierter erreicht als andere Stimulationsformen. Manche Patienten sind in der Musiktherapie zu mimischen, gestischen oder gezielten motorischen Reaktionen in der Lage, die ihnen außerhalb der Therapie nicht möglich sind (Jochims et al. 2003).
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Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
Diese integrative Richtung der Musiktherapie ist vermutlich die Therapieform, die bereits am stärksten durch aktuelle Forschungsergebnisse beeinflusst wird, die den erwähnten praktischen Erfahrungen eine Richtung weisen können. Musik zu hören erscheint uns leicht, Musik zu verfolgen erfordert jedoch den Einsatz komplexer Hirnfunktionen. Musik zu hören erfordert ebenso wie Musik zu machen das Verfolgen längerer Sequenzen, die über die Einzelaktion hinausgehen. Solche Sequenzen werden durch Rhythmen strukturiert. Rhythmen fördern das Aufrechterhalten von Aufmerksamkeit, welche die Wahrnehmung der Variationen über die Zeit erleichtert (Ligeti u. Neuweiler 2007). Dies ist gerade bei schwer Hirngeschädigten mit ihrer beeinträchtigten Aufmerksamkeit hilfreich. Die auf dem Markt verbreitete strukturlose Entspannungsmusik ist daher für schwer Hirngeschädigte nicht ratsam (Jochims 2005). > Musiktherapie bedeutet Aktivierung, nicht »Berieselung«.
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Kotchubey et al. (2005) konnten zeigen, dass komplexe musikalische Angebote das Hirn wirksamer stimulieren als einfache Töne. Besondere Beachtung verdient die Erkenntnis, dass zumindest bei Musikern nachgewiesen wurde, dass Spiegelneuronensysteme im Frontalhirn die gleiche Aktivierung beim Hören von Klaviermusik zeigen wie beim Klavierspielen (Kohler 2002). Höhere Leistungen in der Musikperzeption scheinen mit neuralen Aktivitäten früher Stadien der Handlungsplanung und Handlungsinitiierung identisch zu sein (Kölsch 2005). Musiktherapie erscheint damit ein geeignetes Verfahren, um den von Mulder und de Vries (2005) empfohlenen Einsatz von Imagination und Imitation in idealer Weise zu realisieren. jZusammenfassung Musikhören ist bei schweren Hirnschäden möglich: Musik kann Gefühle wecken, motivieren und erste eigene Aktivitäten zum Beispiel auf Schlaginstrumenten anregen. Musik kann aber Gefühle auch derart ansprechen, dass schwer Hirngeschädigte ihre emotionale Kontrolle verlieren, gerade auch durch frühere Lieblingsmusik. Bei Schwerstgestörten erinnert Musiktherapie besonders deutlich daran, dass wir alle bei diesen Patienten oft ohne Auftrag und ohne Einverständnis der Betroffenen arbeiten (Jochims 2005). Musiktherapie ist nicht nebenbei zu leisten, sondern verlangt besondere Kenntnis und Verantwortung. Die Autoren erachten daher den Einsatz qualifizierter Musiktherapeuten in der Frührehabilitation nicht als Luxus, sondern als unverzichtbar.
33.6.4
Tiergestützte Therapie in der Frührehabilitation
Ähnlich wie durch das Erleben von Musik lassen sich auch durch das Erleben von Tieren sehr gut Affekte, Gefühle und Gedächtnisfunktionen ansprechen. Geeignete Tiere bieten und suchen Zuwendung und Nähe ohne weitere Ansprüche und vermitteln unmittelbar Lebendigkeit. Tiere wurden schon
. Abb. 33.1. Tiergestützte Therapie (mit Einverständnis und auf ausdrücklichen Wunsch des jungen Mannes, Phase-F-Heim im Therapiezentrum Middelburg 2007)
früher zur Unterstützung der Therapie eingesetzt, so bereits vor 100 Jahren bei Epilepsiekranken in den Betheler Anstalten und bei Kriegsverletzten in einem Rekonvaleszenten-Hospital in New York ab 1942 (Haller 2005). Der Einsatz von Tieren ist inzwischen in Pflegeheimen und in der Palliativmedizin verbreitet, im englischen Sprachraum auch in Kliniken, in deutschen Kliniken bisher nur stellenweise (Claus 2003). Auch bei der tiergestützten Therapie wurde in Einzelfällen bei Personen mit einer Aphasie eine spezifische Wirksamkeit dokumentiert; es fanden sich nicht nur subjektive, sondern auch in Aphasietests (wenngleich geringe) messbare Effekte (Macauley 2006). Ernstzunehmende Bedenken hinsichtlich der Hygiene sind zu beachten, lassen sich aber durch geeignete Maßnahmen adäquat berücksichtigen (Schwarzkopf 2003, Jofré 2005). Dies wurde in einzelnen Krankenhäusern exemplarisch vorbildlich angegangen (Otterstedt 2003, Böttger 2005, Böttger 2007b) (. Abb. 33.1). Am einfachsten ist der Tierbesuch außerhalb der Krankenstation, in geeigneter Umgebung und unter Aufsicht, zumal es für die Sicherheit der Patienten sehr kleine Transportmonitore gibt. Die Tiere müssen nicht nur tierärztlich untersucht, sondern für die Therapie geeignet sein. Eigene Erfahrungen zeigen, dass eigens erzogene Hunde durchaus Freude an der therapeutischen Begegnung haben und dies den Patienten auch vermitteln können. ! Cave Auf Stressreaktionen der Tiere ist zu achten! Gerade bei minimal reagierenden oder zuvor als »apallisch« beurteilten Menschen sind im Kontakt mit geeigneten Tieren reproduzierbar reizkontingente Reaktionen beobachtbar, die über rein vegetative Veränderungen hinausgehen. Über die Beeinflussung von Herz- und Atemfrequenz hinaus reagieren die Patienten vor allem mit 4 Blickzuwendung, 4 Blickfolgebewegung und 4 Zuwendung des Rumpfes,
525 33.6 · Grundlagen und Perspektiven der Therapie
manchmal werden ein spontanes oder nach geführter Bewegung übernommenes Streicheln oder ähnliche Handbewegungen sichtbar. Eine Evaluation der Tiertherapie durch größere Studien steht noch aus und sollte bei der wünschenswerten weiteren Verbreitung dieser Therapieform möglich werden.
33.6.5
Mobilisierung
jMobilisierung im Liegen Bei manchen zerebral geschädigten Patienten entsteht trotz aller Bemühungen eine Spastik. Schon 1927 wies Lord Brain nach, dass sich eine experimentell erzeugte Beugespastik der Arme beim Affen durch Bauchlagerung in überwiegenden Strecktonus überführen lässt (Brain 1927). Vermutlich fördert eine dauernde Rückenlage zumindest das Muster der einsetzenden Tonuserhöhung. Auch das übliche Anlagern zur Seite, zwar im Pflegealltag als Seitenlage bezeichnet, ist häufig nur eine Variante supinierter Rückenlage. Praxistipp Häufige Lagewechsel einschließlich der Bauchlage sind anzustreben.
Generell sollten alle Faktoren minimiert werden, die eine Tonuserhöhung begünstigen, z.B. ständige akustische, visuelle und somato-sensorische Reize, besonders jedoch Schmerzreize. Beispiel Ein Schmerzen erzeugender Dekubitus kann eine Anti-Dekubitus-Matratze erforderlich machen. Angesichts der gestörten Gleichgewichts- und Rumpfkontrolle sowie Raumwahrnehmung der meisten Patienten wird grundsätzlich versucht, auf Wechseldruck- oder Luftmatratzen zu verzichten. Oft lässt sich beobachten, wie vegetative Erregung und spastische Tonussteigerung bei geringen Bewegungen auf der Matratze zunehmen. Der überstreckte Hinterkopf findet auf der weichen Matratze keinen Halt. Für die Patienten kann das zeitweilige Sitzen oder Liegen auf der Bodenmatte erleichternd sein, in Einzelfällen sogar in der Hängematte.
Ein befriedigender Kompromiss zwischen Dekubitusprophylaxe und stabiler, angenehmer Lagerung ist trotz der Vielzahl technischer Möglichkeiten nicht immer möglich. jMobilisierung im Sitzen und Stehen In jedem Fall sollte der Patient rasch aus dem Bett mobilisiert werden. Nach vegetativer Stabilisierung sollte der dauernde Aufenthaltsort des Patienten nicht mehr das Krankenbett sein, ebensowenig ein wackeliger Rollstuhl (Davies 1996). Auch das Stehen sollte schnell angestrebt werden, denn es trainiert Kreislauf und Körperkontrolle und ist eine gute Spitzfußprophylaxe.
Das Aufsetzen sollte schonend, aber so früh wie möglich erfolgen, sobald keine Kontraindikationen wie Hirndruck mehr bestehen. Eine unkomplizierte Beatmung hindert erfahrungsgemäß nicht am Aufsetzen. Eine arterielle Hypotonie oder Tachykardie können initial Hinderungsgründe sein, so dass erste Aufsetzversuche langsam unter apparativem Monitoring und in ärztlicher Anwesenheit erfolgen sollten. Spezielle Herzbetten mit differenzierten Einstellungsmöglichkeiten erleichtern ein früh beginnendes, stufenweise schonendes Orthostase-Training. Strümpfe höherer Kompressionsklasse sind ebenfalls hilfreich. Entsprechend ist beim Auf- und Umsetzen in einen Lehnstuhl und schließlich beim Stehen zu verfahren. Praxistipp Kompakte netzunabhängige Monitore ermöglichen eine lückenlose Überwachung bei den ersten Versuchen. In der Anfangszeit sollte die Sitzdauer je nach kardiovaskulärer Belastbarkeit 10–15 Minuten nicht überschreiten, die Stehdauer nur wenige Minuten. Die Aufmerksamkeitsspanne ist in der Übergangsphase zur Frührehabilitation ohnehin nicht länger, so dass die Patienten selbst bei unauffälligen Blutdruck- und Pulswerten erschöpft sind und von längerer Belastung nicht profitieren.
kStehbett/Stehbrett Über die Wertigkeit von kippbaren Stehbetten und Stehbrettern besteht Uneinigkeit in Literatur und Praxis (Davies 1996, Gill-Body 1995). Einige Autoren empfinden das (wenn auch langsame) Hochkippen im Stehbett alltagsfremd und unangenehm. Deshalb erscheint es besonders ungeeignet für Patienten mit deutlichen Raumwahrnehmungsstörungen, die viele somato-sensorische Spürimpulse benötigen. Bei ausgewählten Patienten ohne dieses Störungsmuster kann ein Stehbett jedoch von großem Nutzen sein, besonders da mit frei wählbaren Neigungswinkeln und Winkelgeschwindigkeiten gearbeitet werden kann. kStehpult Bei weiterer Stabilisierung des Zustands ist das Aufstellen in einem Stehpult sehr viel hilfreicher; der Patient kann die Arme ablegen, und das Abstützen an Knien und Becken ist erlaubt. Dadurch entfällt 4 zum einen das Abstützen nur der Körperrückseite, das von der gespürten Information wenig Variation zur Rückenlagerung bietet, 4 zum anderen das bei Stehbetten meist nötige Anschnallen, so dass mehr Freiheit für Oberkörper und Arme entsteht. In der Praxis wird versucht, die Patienten früh zu Aktivitäten auf dem Pult zu animieren. Die gleichzeitige Behandlung am Stehpult durch Physio- und Ergotherapie erleichtert die schonende Aufrichtung und ermöglicht eine sinnvolle Arbeitsteilung. Während der Physiotherapeut die Haltung kontrolliert,
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Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
übt der Ergotherapeut mit dem Patienten auf dem Pult z.B. das Wegschieben (oder auch Wegblasen) eines kleinen Ballons. Dies trägt zur Angstreduzierung und Normalisierung des Muskeltonus bei. So kann sehr früh auf einfachster Stufe alltagsnah behandelt werden. Nach eigenen Erfahrungen ist keine andere Therapie vergleichbar wirksam, um Spitzfüße zu verhindern und zu korrigieren (gebenenfalls in Kombination mit Schienen und anderen Maßnahmen, 7 Kap. 33.6.4.8). Praxistipp In Anpassung an den täglichen Therapieplan sollte das Aufsetzen und spätere Stehen mehrmals täglich nach entsprechenden Erholungsphasen erfolgen: 4 Das Stehen wird zunächst passiv mit zwei bis drei, manchmal auch mehr Hilfspersonen ermöglicht. Hilfreich sind dorsale Schienen an den Beinen. 4 In späteren Phasen der Frührehabilitation sollte die Sitzdauer je nach individuellen Umständen mehrmals täglich bis über eine Stunde betragen, die Stehdauer mehrmals täglich bis über eine Viertelstunde.
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jBewegungsbad Wenn möglich, sollte der schwer geschädigte Patient möglichst frühzeitig auch ins Bewegungsbad gebracht werden. Mit einiger Sorgfalt ist das auch bei tracheotomierten Patienten möglich. Bei Inkontinenz wird die Hygiene durch eine fest anliegende Neopren-Hose gewährleistet. Das Bewegungsbad bewirkt 4 eine offensichtlich angenehme sensorische Stimulation, 4 ein Kreislauftraining und 4 eine meist länger anhaltende Dämpfung von vegetativer Erregung und erhöhtem Muskeltonus.
Mögliche Komplikationen beim Mobilisieren
trolle beiträgt. Hinzu kommt, dass die aufrechte Körperposition vigilanzverbessernde Effekte hat. Dieser in der klinischen Praxis seit Jahren beobachtete Effekt wurde inzwischen in einer kleinen kontrollierten Studie belegt (Elliott 2004). jOrthostatischer Blutdruckabfall Ein großes Problem sind häufig auftretende orthostatische Blutdruckabfälle. Deswegen müssen beim Aufsetzen die Beine gewickelt oder Stützstrümpfe getragen werden. Vegetativ dämpfende Medikation trägt zur Blutdrucksenkung bei, wird aber durch die Mobilisierung häufig entbehrlich. Die zusätzliche Gabe von Fludrocortison kann aber sinnvoll sein. jSensorische Deprivation Auch bei häufiger Therapie und Pflege liegt der Patient in frühen Phasen den größten Teil der Woche regungslos im Bett, in einer Umgebung, die für den Patienten arm an sinnvollen Reizen ist. Hier kann ein Verlernen stattfinden, wie Untersuchungen zu sensorischer Deprivation nahelegen (Cohen u. Taylor 1972). Um dem entgegenzuwirken, gibt es folgende Möglichkeiten: 4 Schaffung einer stimulierenden Umgebung (z.B. persönliche Gegenstände und Bilder am Bett, an den Wänden und auch an der Decke, eigene Musik, eigenes Parfüm), 4 Stimulations- und Trainingsverfahren, mit denen der Patient zusätzlich zur Therapiezeit üben kann. (Die individuelle Belastbarkeit ist natürlich zu berücksichtigen.) In den frühen Phasen sind das motorische Üben und die Behandlung der Spastik eingebettet in das Gesamtkonzept. Von einem isolierten Training von Teilfunktionen sind jedoch folgende Wirkungen nicht zu erwarten: 4 ein Erlernen physiologischer Bewegungsabläufe, 4 eine Zunahme selektiver Funktionen oder 4 ein Einfluss auf die teilweise sehr komplexe individuelle Symptomatik.
jSchwindel Aufsetzen, Aufstellen und Bewegungsbad bedeuten eine starke vestibuläre Reizung. Schon bei Patienten mit leichterem Schädel-Hirn-Trauma ist Schwindel ein häufiges Symptom, vermehrt gilt dies für Schwerbetroffene. Schwer geschädigte Patienten leiden dabei häufig unter 4 Schwindel, 4 Nystagmus, 4 Erbrechen und 4 begleitenden vegetativen Entgleisungen.
Nach eigenen Beobachtungen spricht allerdings in vielen Fällen auch eine ausgeprägte Tetraspastik nicht grundsätzlich gegen repetitive motorische Übungen. Vermutlich können sie dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn auf schon geübte Elemente zurückgegriffen werden kann und deren Ausführung in wechselnden Bewegungsmustern modifiziert wird.
Dies sind jedoch bemerkenswerterweise keine Kontraindikationen für das Aufsetzen. Vielmehr erweisen sich diese Symptome oft als abhängig von Lagewechseln auch im Liegen, und häufig bessern sie sich durch Aufsetzen. Dazu könnte auch die bessere visuelle Fixation im Sitzen beitragen (Mann 1996). Ein dauerhaftes Liegen kann die Raumorientierung verschlechtern. In Rückenlage sieht der Patient überdies (oft tagelang) nur die konturlose weiße Zimmerdecke, die nicht zu Orientierung und Lagekon-
Sobald sich Reaktionen und Aktivitäten des Patienten differenzieren, werden vom therapeutischen Team stärker individualisierte Schwerpunkte der weiteren Therapie erarbeitet. Die weitere Behandlung lässt sich nicht mehr einheitlich darstellen; angewandt werden die Behandlungsprinzipien der jeweiligen Fachgebiete. Weitere Informationen finden sich in den entsprechenden Kapiteln.
33.6.6
Therapie in der Phase wiederkehrender differenzierter Reaktionen
527 33.6 · Grundlagen und Perspektiven der Therapie
jFestlegen der kurz- und langfristigen Ziele Bei stärker differenzierten Therapien ergibt sich mehr noch als in der frühen Behandlungsphase die Gefahr, dass ein gemeinsames Behandlungskonzept verloren geht. Auf dieser Stufe gewinnt die Strukturierung der regelmäßigen Teamkonferenzen noch mehr an Bedeutung. Sinn einer Teamkonferenz aller beteiligten Berufsgruppen ist nicht etwa, erst nach Informationen zu fragen. Die Dokumentation muss schon vor der Konferenz schriftlich auf strukturierten Verlaufsbögen erfasst werden, die dann als Grundlage für die Aussprache dienen. Inhalte der Konferenzen sind zunächst die kurze präzise Darstellung der erhobenen Befunde und der Zielsyndrome, dann aber vor allem die genaue inhaltliche und auch zeitliche Planung und Abstimmung der weiteren therapeutischen Maßnahmen. Das gemeinsame Festlegen der kurz- und längerfristigen Ziele ist unbedingt erforderlich. Es gilt zu verhindern, dass z.B. bei Basaler Stimulation, balneotherapeutisch und medikamentös eine Senkung des (erhöhten) Muskeltonus erreicht werden soll, dieser aber in der Physiotherapie zur Mobilisierung dringend erforderlich ist. Eine grobe Bestimmung kann meist anhand sehr einfacher Fragen erfolgen (. Übersicht 33.9).
probt werden (Kemper u. Bach 2005). Durch sorgfältige Beobachtung können erste nicht automatisierte Reaktionen erfasst werden. Häufig lassen sich anfangs nur Zeichen von Lust und Unlust beobachten, die über rein vegetative Antworten wie etwa Schmerzreaktionen hinausgehen und selektiv erfolgen, z.B. das unterschiedliche Reagieren auf die Anwesenheit unterschiedlicher Personen. Darauf aufbauend wird versucht, verlässliche Ja-/Nein-Antworten zu erarbeiten. Dies erfordert das Erkennen einfacher motorischer Muster, die stabil und zugleich variierbar sein müssen. Obwohl es innerhalb der Remission recht typische Ausdrucksphänomene gibt, sind die individuellen Möglichkeiten bei jedem einzelnen Patienten neu zu erfassen und zu berücksichtigen. Ein einheitlicher Kommunikationsaufbau nach starrem Schema ist nicht sinnvoll. Im Einzelfall kann der willkürliche Lidschluss durch spontane Lidbewegungen überlagert sein, der Händedruck kann bei Loslasshemmung oft nicht variiert werden. Dann ist nach anderen Wegen zu suchen, wie 4 Kopfbewegungen, 4 Brummen oder 4 EEG-Biofeedback (Ayers 1999).
. Übersicht 33.9. Richtungsweisende Fragen für das Festlegen der Ziele
Existiert ein brauchbarer Code, wird er allen Behandlern und den Angehörigen mitgeteilt und von allen einheitlich genutzt.
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Bessert sich der Zustand des Patienten schnell? Bessert er sich langsam oder insgesamt nur wenig? Wird der Patient kommunikationsfähig werden? Wird er alternative Strategien für das Sprechen brauchen? Wird er voll mobilisiert werden können? Wird er auf Rollstuhl und Hilfsmittel angewiesen bleiben? Wird der Patient selbständig im Alltag werden? Wird er zu Hause oder im Heim leben?
Praxistipp In der Praxis hat es sich bewährt, den verabredeten Code für jeden sichtbar auf einer Tafel an der Wand am Kopfende des Patientenbetts zu vermerken.
Medikamentöse Therapie in der Frührehabilitation Anhand solcher Fragen lässt sich nach wenigen Wochen fast immer die grobe Richtung erkennen. Nach diesen grob ermittelten Perspektiven sollten die Teilziele festgelegt werden. Dies gelingt nach einigen Jahren praktischer Erfahrung besser, ist aber immer noch schwierig, zumal man sich nicht in feste Routinen retten kann. Keine Berufsgruppe kommt mit einer ausreichenden spezifischen Vorbildung in die Frührehabilitation, auch Ärzte nicht. Viele Therapiekonzepte wurden für wesentlich geringer gestörte Patienten entwickelt und sind nur bedingt übertragbar. Anfängern muss man z.B. immer wieder klarmachen, dass Schwergeschädigte nicht standardisiert von der Neglect-Seite aus angesprochen werden können, weil das nicht immer ihre Wahrnehmung fördert, sondern eher meist ignoriert wird oder gar irritierend wirkt. Inzwischen gibt es in allen Berufsgruppen genügend erfahrene Kräfte, aber auch der Erfahrene ist angehalten, das individuelle Störungsmuster jedes Patienten immer wieder neu zu analysieren.
Kommunikationsaufbau Die Möglichkeiten eines Kommunikationsaufbaus müssen bei jedem Patienten von den Therapeuten aktiv ermittelt und er-
Medikamente werden in der neurologischen Frührehabilitation vor allem gezielt bei folgenden Problemen eingesetzt: 4 Beherrschung vegetativer Krisen und Erregungszustände, 4 Behandlung internistischer Probleme, 4 Besserung oder zumindest Beschleunigung der Restitution der Hirnfunktion, 4 Behandlung und Prophylaxe von Krampfanfällen, 4 Dämpfung der Spastik. Besondere Überlegungen erfordern in der Frührehabilitation v.a. 4 die häufig auftretenden Erregungszustände sowie 4 die sich oft entwickelnde Spastik.
jErregungszustände Bei den Erregungszuständen sollte stets zunächst nach Auslösern gesucht werden. Häufig helfen 4 die Ausschaltung von Störreizen, 4 die Schaffung einer ruhigen Atmosphäre oder 4 ein lauwarmes Bad.
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Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
kMedikation Die Analgetika-Gabe bei Schmerzen kann ausreichend sedierend sein (Browning 1996). Die einmalige oder seltene Gabe von Sedativa sollte nicht dogmatisch vermieden werden, besonders, wenn man die Erregungszustände als Ausdruck eines Stresszustands mit sympathikotoner Reaktionslage und entsprechend überhöhten Katecholaminspiegeln versteht. Bei Hirngeschädigten ist im Einzelfall allerdings bei Sedativa oft eine lang anhaltende Wirkung mit Überhang zu beobachten. Bei Erregungszuständen sollte daher in jedem Falle eine verhaltenstherapeutische Analyse von Patientenreaktionen und Umgebungsreizen versucht und über Möglichkeiten der Modifikation nachgedacht werden. Ist dies erfolglos, oder entwickelt sich eine anhaltende Erregung, so können auch Antidepressiva eingesetzt werden. Ein dämpfendes Antidepressivum wie Doxepin ist nach eigenen Erfahrungen gegen Erregungszustände wie auch niedrig dosiert als Schlafmittel bewährt. Eine Sonderstellung unter den Serotonin-Reuptake-Hemmern hat Trazodon: Es hatte sich früher bei schwersten motorischen Unruhezuständen anderen Substanzen überlegen erwiesen, hat aber zumindest im Tierversuch motorisches Lernen behindert (Hummelsheim 1998). Inzwischen wird daher vorrangig Mirtazapin verwendet, das zwar weniger wirksam, aber hinsichtlich der Nebenwirkungen weitaus günstiger erscheint. Bei ausgeprägt agitiert-wahnhaften Erregungszuständen ist es nach sorgfältiger Abwägung der Indikation im Ausnahmefall vertretbar, sehr niedrig dosiert hochpotente Neuroleptika einzusetzen. Üblicherweise wird in diesen Situationen auf atypische Neuroleptika zurückgegriffen, z.B Risperidon (Schreiber 1998), Quetiapin oder Clozapin. Gerechtfertigt ist ein solches Vorgehen, wenn ein dopaminerger Überschuss die Rehabilitation praktisch unmöglich macht. Klassische Neuroleptika sollten nur bei Versagen anderer Alternativen in Betracht gezogen werden, da z.B. der negative Effekt von Haloperidol auf zerebrale Restitutionsprozesse seit Jahrzehnten bekannt ist (Feeney 1982). In späteren Restitutionsphasen mit inadäquatem, aber höher differenziertem Verhalten ist immer wieder kritisch zu prüfen, woraus die Unruhe resultiert. Häufig finden sich in dieser Phase schwere Wahrnehmungs- oder Orientierungsstörungen. Deren ausführliche Analyse im Team führt zu produktiveren Lösungen als eine eskalierte Medikation, die wiederum die zugrunde liegende kognitive Störung meist verstärkt. Fazit Mit den genannten Maßnahmen ist es bei den meisten Patienten gelungen, den Einsatz von Medikamenten drastisch einzuschränken, die nach heutigem Kenntnisstand für die Reorganisation des geschädigten Zentralnervensystems ungünstig sind. Gegenüber der früher oft praktizierten ungezielten Gabe von Sedativa bedeuten kontinuierliche Verhaltensbeobachtung und Anpassung der Therapie einen erheblich höheren Aufwand. Dieser erscheint aber gerechtfertigt.
jVerbesserung der Vigilanz Zur Besserung von Vigilanz und Antrieb kommen in der Frührehabilitation aktivierende Substanzen sehr viel häufiger zum Einsatz als in anderen Bereichen der Medizin. Zugrunde liegen die Kenntnisse über die Bedeutung anregender (und dämpfender) Transmittersysteme. Dies betrifft vorrangig die Katecholamine Dopamin, Noradrenalin und Serotonin. kMedikation Levodopa sowie dopaminerge oder noradrenerge Transmitter
anregende Medikamente sind ebenfalls seit Jahrzehnten verfügbar. Dementsprechend gibt es langjährige Erfahrungen mit Versuchen, sie z.B. nach Schädel-Hirn-Trauma einzusetzen. Näher betrachtet Studien: Dopaminerge oder noradrenerge Transmitter anregende Medikamente Erstaunlicherweise ist die Studienlage schlecht. Anfangs wurde die Frührehabilitation vorwiegend fernab der Universitäten durchgeführt, die Patientenkollektive waren klein und heterogen, und die Pharmahersteller fördern Studien mit den patentfreien älteren Präparaten nicht. Als weitere Probleme nennt Tenuovo (2006) 4 schlechte Vergleichbarkeit verschiedener Hirnläsionen, 4 variable Verläufe, 4 unvermeidliche Ko-Medikation, 4 unkalkulierbare individuell unterschiedliche Reaktionen auf die Präparate und 4 messtheoretische Probleme, da zerebrale Veränderungen schwieriger zu erfassen sind als Herzfrequenzen oder Enzyme. Dennoch können Meta-Analysen inzwischen zumindest eine schwache Evidenz zusammentragen (Tenovuo 2006, Matsuda 2005, deMarchi 2005, Lombard u. Zafonte 2005). Die breiteste Erfahrung gibt es für den Einsatz von Amantadin. Die Substanz ist NMDA-Antagonist und beeinflusst den Dopaminstoffwechsel. Amantadin wird seit Jahren in diversen Ländern breit eingesetzt. In einer Literaturauswertung wurden zumindest fünf brauchbare Studien und eine offene Fallserie gefunden, die die Wirksamkeit belegen (Leone 2005), ferner ließ sich in einer PET-Studie die Verbesserung der Exekutivfunktionen direkt zeigen (Kraus et al. 2005). In geringerer Zahl gibt es Studien zur Wirkung von 4 Levodopa und 4 dopaminergen Substanzen wie Bromocriptin und Selegilin sowie 4 Kombinationstherapien mit Levodopa und Amantadin.
In den hier berichterstattenden Kliniken wird die Kombination von Levodopa und Amantadin seit über 10 Jahren bei über 2.000 Patienten praktiziert. Besserung von Vigilanz und Exekutivfunktionen werden häufig im zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der Therapie beobachtet, da diese aus verschiedenen Gründen nicht bei allen Patienten zu einem standardisierten Zeitpunkt beginnen kann. Der Effekt spiegelt sich als »Sprung« in den verwendeten Skalen EFA und FIM,
529 33.6 · Grundlagen und Perspektiven der Therapie
wobei die vorgenannten methodischen Probleme für solche offenen Fallserien besonders gelten. Praxistipp Normalerweise besteht die Therapie aus Tagesdosen von 200 mg Amantadin und 200 mg Levodopa; in dieser Dosierung ist die Therapie relativ sicher.
Mit fortschreitender Besserung zeigt sich bei einigen Patienten eine zunehmende Erregung, dann muss die Medikation abgesetzt werden, erweist sich dann zu diesem Zeitpunkt auch meist als bereits entbehrlich. Ähnliche Erfahrungen wurden aus den USA berichtet (Kraus u. Maki 1997). Näher betrachtet Andere Stimulantien Im englischen Sprachraum stärker verbreitet als bisher im deutschen ist der Einsatz von Ephedrin und Methylphenidat (Siddall 2005). Methylphenidat erscheint geeignet, da es dopaminerg und noradrenerg wirksam ist und in anderen Indikationen erprobt. Für Schädel-Hirn-Trauma sind aber die bisherigen Studienergebnisse noch uneinheitlich (Napolitano 2005), auch gibt es für Hirnverletzte noch keine eindeutigen Dosierungsrichtlinien. (Zasler 2006). Ähnlich uneinheitlich ist die Lage bei Amphetaminen, eine Literaturanalyse für die Cochrane Collaboration fand 2003 für Schlaganfälle keine eindeutige Tendenz (Martinsson 2003). Eine alternative Substanz ist das nicht-amphetaminartige Analeptikum Modafinil; in einer Übersichtsarbeit wurden dazu allerdings vereinzelt ermutigende, letztlich aber widersprüchliche Studienergebnisse referiert (Ballon u. Feifel 2006). In zwei gut dokumentierten Einzelfällen wurde neu drastische Besserung bei Wachkoma durch Zolpidem berichtet, die Relevanz ist zwangsläufig noch offen (Brefel-Courbon 2007). Auf den Wunsch von Angehörigen wurde einzelnen schwerst Hirngeschädigten Zolpidem verabreicht, ohne bisher eindeutige Effekte zu erleben.
jVerbesserung des Antriebs Antriebsmangel kann verschiedene Ursachen haben. Bei
kommunikationsgestörten Patienten sind depressive Zustände schwer zu erfassen. Die hohe Rate der Post-stroke-Depression um 40% bei Patienten mit schwereren Schlaganfällen dürfte ihre Entsprechung bei anderen schweren Hirnschäden haben (Bogousslavsky 2002). kMedikation In der Frührehabilitation ist aus der bisherigen Literatur eine gute Wirksamkeit für trizyklische Antidepressiva wie das antriebssteigernde Nortriptylin beschrieben. Ist vor allem eine Antriebssteigerung gewünscht, bietet sich erfahrungsgemäß Reboxetin an, welches als reines Noradrenergikum typischerweise keine vegetativen Nebeneffekte zeigt.
Wegen geringerer Nebenwirkungen und Arzneimittelinteraktionen wird vorrangig das SSRI-Antidepressivum Citalopram verwendet, das als antriebsneutral gilt und nach eigenen Erfahrungen auch seltener zu einem serotoninergen Syndrom führt als andere, früher verwendete SSRI-Antidepressiva. Von anderer Seite wird aufgrund der Studienlage Sertralin empfohlen (Alderfer 2005). Auf das neue vielversprechende Agomelatin, das melatonin-agonistisch und antidepressiv wirkt, ist ebenfalls hinzuweisen, allerdings gibt es bisher noch keine breiten Erfahrungen mit dem Einsatz bei Hirngeschädigten. Praxistipp Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass Serotoninergika wahrscheinlich einen direkten Effekt auf die Verbesserung von Exekutivfunktionen haben, auch ohne depressive Ausgangslage (Jorge 2010).
jVerbesserung kognitiver Fähigkeiten kMedikation Aus theoretischen Gründen erscheint der Einsatz von Cholinergika bei Hirnschäden zur Besserung der kognitiven Leistungsfähigkeit sinnvoll, besonders angesichts der hohen Rate von Orientierungs- und Merkfähigkeitsdefiziten bei Hirnverletzten (Zasler 2006). Seit einigen Jahren stehen Cholinesterase-Antagonisten mit deutlich günstigerem Nebenwirkungsprofil zur Verfügung; ihr Einsatz in der Frührehabilitation ist noch nicht gängig. Erste Studien deuten aber an, dass sich damit Aufmerksamkeit, Tempo und Lernfähigkeit bei den Patienten bessern können (Tenovuo 2006).
Apparative Stimulationsverfahren Neue Perspektiven für die Verstärkung der Stimulation ergeben sich aus der Forschung der letzten Jahre, seit die gezielte apparative Stimulation einzelner Hirnregionen möglich geworden ist. Diese beschränkt sich nicht mehr nur auf Bewegungsstörungen. Vor allem in Japan wurde bei schweren Hirnschäden die Rückenmarks- und Stammhirnstimulation zu rehabilitativen Zwecken eingesetzt (Yamamoto et al. 2003, 2005a, 2005 b). Umfangreichere Ergebnisse liegen zur Tiefenhirnstimulation vor (Mehdorn 2005, Shivitz et al. 2006); diese wird allerdings nicht überwiegend in der Frührehabilitation eingesetzt. Ferner gibt es Versuche mit einer Vagusstimulation (Smith et al. 2005) sowie mit einer Stimulation des N. medianus zur Anregung der Motorik im Koma (2005). Noch ist nicht absehbar, ob Stimulationsverfahren in näherer Zukunft breitere Anwendung finden werden. Leichter in den klinischen Alltag zu integrieren ist die Transkranielle Magnetstimulation (TMS), die allerdings naturgemäß nur gezielt zur Verstärkung von Einzelfunktionen einsetzbar ist (Liepert 2005, Baumer et al. 2006, Weingarden u. Ring 2006).
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Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
. Abb. 33.2. Algorithmus der Spastiktherapie
Fazit
33
Zu beachten ist, dass Medikamente nur dann spezifische Verbesserungen begünstigen, wenn zugleich eine spezifische Rehabilitationstherapie durchgeführt wird. Das günstige Zusammenwirken von Medikation und Übungstherapie ist aber so offensichtlich, dass die Therapeuten in den hier berichterstattenden Kliniken teilweise die entsprechende Medikation anmahnen. Es ist zu hoffen, dass in Zukunft Rehabilitationstherapien, Medikation und auch elektrische oder magnetische Stimulationsverfahren für schnellere und bessere Therapieerfolge synergistisch wirksam werden.
Therapie der Spastik Prophylaxe und Therapie von Spastik nehmen einen derart
großen Raum in der Frührehabilitation ein, dass sie bei nahezu allen Patienten ein Teil des täglichen Behandlungsplans sein müssen. Grundlagen der Behandlung sind immer die adäquate Pflege und Therapie. Praxistipp Basismaßnahmen sind in jedem Fall: 4 häufige Veränderungen der Lagerung mit 4 Vermeidung einer dauernden gleichförmigen Rückenlagerung, 4 frühzeitige Mobilisierung zu Sitz, Stand und Aktivität sowie 4 tonussenkende Anwendungen und Verfahren der physikalischen Therapie.
An vorderster Stelle steht grundsätzlich die Beseitigung von Auslösefaktoren, wie sie in . Übersicht 33.10 aufgeführt werden. Die spastische Bewegungsstörung wird vermittelt durch 4 Effekte auf die spinale Reflexsteuerung: verantwortlich für Plus-Symptome wie 5 Reflexsteigerung, 5 Massenbewegungen oder 5 Erhaltungsstörungen,
. Übersicht 33.10. Mögliche Auslöser für Spastik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Ermüdung Schnelle Bewegungen Schmerzen Obstipation Angst Erhöhter afferenter Einstrom Heiße/kalte Raumtemperatur Beeinträchtigtes Allgemeinbefinden
4 Effekte auf die mechanische Muskelfunktion: verantwortlich für Minus-Symptome wie 5 Unbeweglichkeit oder 5 Ermüdbarkeit (Dietz 2002). Dies ist bei der Therapie zu beachten, wie in . Abb. 33.2 dargestellt. jMedikamentöse Therapie Eine umschriebene Spastik sollte nach Möglichkeit lokal behandelt werden, um nicht den Tonus dort zu senken, wo dies gar nicht gewünscht ist. Prinzipiell wird versucht, bei den kognitiv noch stark beeinträchtigten Patienten so wenig orale Antispastika wie möglich einzusetzen, zumal nach eigenen Erfahrungen das Profil der Haupt- und Nebenwirkungen bei den meisten verfügbaren Präparaten nur eine enge therapeutische Breite bei den Patienten zulässt: 4 Bei vielen schwerst hirngeschädigten Patienten beeinträchtigt Baclofen die Aufmerksamkeit bereits in so niedrigen Dosierungen, bei denen noch keine Wirkung auf die Spastik erkennbar ist. 4 Eine Ausnahme ist der Einsatz von Dopaminergika (z.B. Pramipexol) in der Behandlung einschießender Spasmen, wodurch im Einzelfall potenziell sedierende Muskelrelaxanzien eingespart werden können. Insgesamt muss jedes eingesetzte Medikament individuell ein- und ausdosiert werden. In . Übersicht 33.11 sind orale Antispastika und deren Wirksamkeitsbereiche aufgelistet.
531 33.6 · Grundlagen und Perspektiven der Therapie
. Übersicht 33.11. Ansatzpunkte oraler Antispastika Ansatz zentral 1. Baclofen 2. Tizanidin 3. Memantine 4. Benzodiazepine 5. Tolperison Ansatz peripher 6. Dantrolen
Erweiterte Spastiktherapie Bei differenzialtherapeutischem Einsatz der in der Frührehabilitation gebräuchlichen Verfahren der erweiterten Spastiktherapie wie 4 Redressionsgips, 4 Botulinumtoxin A, 4 intrathekales Baclofen sind die unterschiedlichen Effekte der einzelnen Verfahren auf die verschiedenen Ausdrucksformen des spastischen Syndroms zu beachten. Für alle Verfahren ist ein klares Behandlungsziel zu fordern, z.B. 4 Vermeidung von Schmerzen, 4 Erleichterung von Pflege und Hygiene, 4 Erleichterung von Lagerung und Transfer, 4 Vorbereitung einer gezielten Übungsbehandlung (z.B. Spitzfußbehandlung) (Huber 1998). Die alleinige Behandlung einer Fehlstellung aus »kosmetischen« Gesichtspunkten ist abzulehnen. Einen Überblick über Möglichkeiten einer erweiterten Spastiktherapie bietet . Übersicht 33.12. . Übersicht 33.12. Erweiterte Spastiktherapie 1. Neuere Antiepileptika (z.B. Gabapentin) 2. Dronabinol 3. Repetitive Magnetstimulation (an Rückenmark oder Extremitätenmuskulatur) 4. Serielle (Redressions-)Gipse und Schienen 5. Botulinumtoxin intramuskulär 6. Phenol 5% (3,5–10%) intramuskulär oder perineural 7. Baclofen intrathekal 8. Phenol 5% (3,5–10 %) intrathekal 9. Neurochirurgische Maßnahmen (dorsale Rhizotomie, faszikuläre Neurotomie) 10. Orthopädische Maßnahmen (Tenotomie, Myotomie u.Ä.)
jBeeinflussung der viskoelastischen Spastikkomponente Das Anlegen von redressierenden zirkulären Kunststoffgipsen (z.B. Soft-Cast bzw. Scotch-Cast der Fa. 3 M) ist angezeigt zur Beeinflussung der viskoelastischen Spastikkomponente. Abhängig davon, 4 ob das betroffene Gelenk in Fehlstellung fixiert ist, d.h. eine physiologische Gelenkposition erst wiederhergestellt (redressiert) werden muss, oder 4 ob bereits eine Mobilisierung in die physiologische Gelenkposition möglich ist, diese also nur erhalten werden muss, erfolgt die Versorgung 4 entweder mit einem geschlossenen rigiden Hard-Cast (Scotch-Cast) 4 oder mit einer geöffneten Soft-Cast-Schiene (mit HardCast-Verstärkung) (Schuren 1998). Üblicherweise wird nicht mehr als eine Extremität in einem geschlossenen rigiden Kunststoffgips versorgt, gegebenenfalls ergänzt durch eine semirigide Schiene an einer anderen Extremität. Im Einzelfall kann aber wegen sich stark unterschiedlich entwickelnder Tonusverhältnisse die Versorgung beider Seiten erforderlich sein, was in der Regel aber nur an unteren Extremitäten praktikabel ist. Praxistipp Die Wechselintervalle für rigide Kunststoffgipse betrugen früher 7–10 Tage, inzwischen wird – je nach Befund – auch mit wesentlich kürzeren Intervallen von 2–4 Tagen gearbeitet.
! Cave Oberste Gebote im Umgang mit redressierenden Gipsen sind 4 klare, gemeinsam abgesteckte Behandlungskonzepte und -ziele (Gipsen nicht als Selbstzweck!), 4 sorgfältige Kontrolle der trophischen Verhältnisse (Cave: Ödem, Rötung, feuchte Kammer), 4 Abpolstern druckgefährdeter Regionen, 4 gewissenhafte Nachkontrolle des neu angelegten Gipses und 4 standardisierte, möglichst bildgestützte Dokumentation. jBeeinflussung der neuromuskulären Komponente kBotulinumtoxin A Zur Beeinflussung der neuromuskulären Komponente hat sich der Einsatz von Botulinumtoxin A bewährt. Besonders zu beachten ist der zusätzliche günstige Effekt bei Spastik-assoziierten Schmerzen, die oft ein Therapieproblem bei Physiotherapie und Redressieren darstellen.
33
532
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
Häufig sind es einzelne Muskeln, die durch spastische Dauerkontraktion die Fehlstellung unterhalten, und die aufgrund ihrer Hypertrophie schon vom Aspekt her gut zu identifizieren sind.
Auch für Botulinumtoxin gilt, dass es nur dann optimal wirken kann, wenn es genau abgestimmt und eingebettet in die übrigen Behandlungsformen eingesetzt wird (Barnes 2001, Ward et al. 2003).
Beispiel
kIntrathekales Baclofen Intrathekales Baclofen (ITB) ist indiziert bei anderweitig nicht beherrschbarer generalisierter Spastik und besonders gut wirksam bei reflektorisch oder spontan einschießenden und teils schmerzhaften Spasmen. Es zeigt eine vergleichbar gute Wirksamkeit bei 4 supraspinaler Spastik nach schwerer Schädel-Hirn-Verletzung wie 4 spinaler Spastik bei Querschnittspatienten (Becker 1997, Meythaler 1997).
Erkennbar hypertrophierte Muskeln sind: 4 bei hohem Flexionstonus im Ellenbogengelenk: 5 M. biceps brachii, 5 M. brachialis und 5 M. brachioradialis; 4 bei volarflektiertem Handgelenk: 5 M. flexor carpi ulnaris; 4 beim Pes equinovarus: 5 M. soleus, 5 M. gastrocnemius und 5 M. tibialis posterior.
33
Da innerhalb der spastischen Muskeln in den allermeisten Fällen keine homogene Überaktivität, sondern ein Nebeneinander von spastisch aktiven und inaktiven »Inseln« vorliegt, gilt eine EMG-gesteuerte Injektion als wünschenswert, sofern es der Zustand des Patienten zulässt (Brin 1997). Alternativ kann über eine Ultraschall-gestützte Injektion nachgedacht werden, die besonders bei tiefer gelegenen Muskeln die Nadellage gut dokumentieren lässt. Die anschließende Lagerung in einer Schiene zur Erhöhung der Dehnungsaktivität ist sinnvoll (Reiter 1998). Dadurch wird die Botulinumtoxin-Aufnahme in den Muskelzellen verbessert, dadurch Substanz eingespart, und mögliche Nebenwirkungen werden vermindert. Wegen ähnlich gezielter Unterstützung der Wirkung wird nach der Injektion auch eine Elektrostimulation der behandelten Muskulatur empfohlen. Im Verlauf einer längerfristig angelegten Behandlung zeigt sich, dass in bestimmten Fällen Wiederholungsinjektionen notwendig sind, bei denen – anders als bei der Indikation »Dystonie« – das Injektionsprotokoll immer dem aktuellen Befund und Therapieziel angepasst und daher meist gewechselt werden muss. Der Einsatz sollte nicht zu spät und nicht zu niedrig dosiert erfolgen, da eine wirksame Botulinumtoxinbehandlung oft z.B. serielles Gipsen überhaupt erst ermöglicht bzw. optimiert. ! Cave Zu berücksichtigen sind 4 die mögliche Verstärkung einer Wahrnehmungsstörung, 4 der unzureichende Effekt auf Spasmen und Kloni, 4 die Verstärkung einer Pronationstendenz bei singulärer Behandlung des M. biceps brachii oder einer Ulnardeviationstendenz bei Behandlung der Hand- und Fingerbeuger. Eine Kontraindikation kann sich bei Verdacht auf das zusätzliche Vorliegen einer periphernervösen Läsion ergeben.
Man macht sich zunutze, dass im Vergleich zur oralen Medikation hundert- bis tausendfach höhere Liquorspiegel bei auf ein Zwanzigstel reduzierten Plasmaspiegeln erreicht werden. Dadurch werden systemische Nebenwirkungen wie 4 Sedierung, 4 kognitive Einschränkungen oder 4 gastrointestinale Probleme entscheidend vermindert (Ochs 1995). Als Indikationen gelten: 4 funktionell unzureichende orale Therapie, 4 intolerable Nebenwirkungen, 4 einschießende Spasmen, 4 Schmerzen und 4 Pflege-/Hygieneprobleme, v.a. bei Adduktorenspastik der Beine. Praxistipp In der Praxis wird bei generalisierter Spastik unter Beachtung der Kontraindikationen frühzeitig ein intrathekaler Bolustest mit 50–100 μg Baclofen durchgeführt.
Die Indikation zur Implantation einer Baclofen-Pumpe lässt sich anhand der durch das gesamte Team beobachtbaren Effekte ableiten. Adäquate Nachsorge (Physio-, Ergotherapie) und Verhinderung von Komplikationen müssen sichergestellt sein (Gehring 2002) (Implantation der Baclofen-Pumpen, 7 Kap. 33.6.6). kIntrathekales Phenol Zu intrathekalem Phenol gibt es in der Literatur Wirksamkeitsbelege für den Einsatz vorrangig bei schwerer Paraspastik (Jarrett 2002). Zu den Vorteilen der Behandlung zählt vor allem die im Vergleich zu Botulinumtoxin wesentlich länger wirksame Beeinflussung der Spastik von durchschnittlich 13 Monaten (Iwatsubo 1994). Diese Möglichkeit wird allerdings bisher im deutschen Sprachraum kaum genutzt.
533 33.6 · Grundlagen und Perspektiven der Therapie
kNeurochirurgische Verfahren Neuere neurochirurgische Verfahren zur Spastikbehandlung werden in 7 Kap. 33.6.7 vorgestellt. Als letzte Möglichkeit bleibt bei Versagen aller anderen Maßnahmen die Operation von Kontrakturen durch Orthopäden oder Chirurgen. Generell sollten während der Frührehabilitationsphase allerdings nur zwingend notwendige Eingriffe erfolgen, weil der Rehabilitationsverlauf unterbrochen und der Patient durch die andere Umgebung und andere Therapien aus der aktuellen Entwicklung herausgerissen wird.
33.6.7
Neurochirurgische Therapie während der Frührehabilitation
Neurochirurgische Interventionen können während der Frührehabilitationsphase bei den in . Übersicht 33.13 aufgelisteten Indikationen nötig werden. . Übersicht 33.13. Indikationen für neurochirurgische Eingriffe 1. 2. 3. 4. 5.
Neurochirurgische Verfahren zur Spastikbehandlung Implantation von Shuntsystemen bei Hydrozephalus Kranioplastik nach osteoklastischer Trepanation Intervention bei (chronischem) Subduralhämatom Interventionen bei Duradefekten oder ähnlichen Problemen
Neurochirurgische Verfahren zur Spastikbehandlung jDorsale Rhizotomie/faszikuläre Neurotomie Aus der Vielzahl neurochirurgischer Verfahren zur Spastikbehandlung haben die dorsale Rhizotomie (Albright 1995) und die periphere selektive faszikuläre Neurotomie (Msaddi 1997, Feve 1997, Decq 2000) eine gewisse Bedeutung. Beide Verfahren werden unter EMG-Monitoring zur intraoperativen Stimulation (und damit Abschätzung der zu erwartenden Behandlungsergebnisse) durchgeführt. 4 Für die dorsale Rhizotomie konnte gezeigt werden, dass untere und obere Extremitäten gleichermaßen beeinflusst werden können, in der Regel wird sie lumbal durchgeführt. 4 Die faszikuläre Neurotomie wird in der Regel als 3/4- bis 4/5-Neurotomie durchgeführt, was im Gegensatz zur kompletten Neurotomie die Vorteile dosierbarer Tonusreduktion sowie nahezu fehlender Neurombildung bietet. Erreicht wird damit letztlich ein dauerhaftes, dem Botulinumtoxin-Effekt vergleichbares Behandlungsergebnis, so dass dieses Verfahren möglicherweise eine Alternative für Patienten darstellt, die auf Botulinumtoxin ansprechen, aber lebenslang regelmäßiger Wiederholungsinjektionen bedürfen. Die Planung von Rhizotomie oder Neurotomie erfordert eine enge Zusammenarbeit von Frührehabilitation und speziali-
sierter operativer Neurochirurgie, was derzeit an nur wenigen Standorten geleistet werden kann. jImplantation von Baclofen-Pumpen Auch die Implantation von Baclofen-Pumpen bei therapierefraktärerer Spastik erfolgt durch Neurochirurgen. Nach Möglichkeit sollten programmierbare Pumpen verwendet werden. Auch nach genauer Austestung durch Bolusgaben ist nicht exakt vorherzusagen, wie ausgeprägt die Wirkung der intrathekalen Baclofengabe über Pumpe ist. Nicht selten werden bei Dauergabe veränderte Dosen benötigt. Dabei ist die hohe Wirkpotenz zu bedenken: Auch eine nur geringfügig zu hohe Baclofenmenge kann einen sehr schlaffen Muskeltonus bewirken und damit die Willkürmotorik stören. Bei den preiswerteren gasdruckbetriebenen Konstantfluss-Pumpen muss in solchen Fällen die Pumpe wiederholt komplett entleert und mit neuer Verdünnung beschickt werden, was aus Gründen der Hygiene und der Zumutbarkeit ungünstig ist (Ochs 1995).
Shunt-Anlage bei Hydrozephalus Die Entwicklung eines in der Regel durch Malresorption entstehenden Hydrozephalus ist in der Frührehabilitation ein nicht seltenes Phänomen, das frühzeitig erkannt werden muss (s.o.). Die Häufigkeit ist hoch nach Subarachnoidalblutungen und Parenchymblutungen mit Ventrikeleinbruch, niedriger bei anderen Diagnosegruppen. Aus verschiedenen Gründen werden permanente Ventrikel-Shunt-Systeme meist nicht im Rahmen der primären Operationen eingebaut, und danach nur dann, wenn sich eine eindeutige Indikation ergibt. An den meisten Zentren hat sich in dieser Problemstellung eine gute Zusammenarbeit zwischen Neurochirurgie und Frührehabilitation entwickelt; die Patienten werden zur Shuntversorgung in die Neurochirurgie transferiert und nach wenigen Tagen in die Rehabilitation zurückverlegt. Die Anlage erfolgt heute in der Regel als ventrikulo-peritoneales Shunt-System über ein (möglichst rechtsseitiges) frontales Bohrloch. Es gibt eine Vielzahl von Shuntsystemen (Aschoff 1999a). Nach dem Öffnungsdruck unterscheidet man Nieder-, Mittel- und Hochdrucksysteme, dabei solche ohne und solche mit nicht-invasiver Verstellbarkeit des Öffnungsdrucks. Neuerdings gibt es auch metallfreie Systeme, die MRT-Kontrollen erlauben. Eine Besonderheit sind zusätzliche Systeme, die nicht nur den intrakraniellen Druck, sondern auch den Einfluss der Schwerkraft bei Kopftieflage erfassen. Die Shuntsysteme sind Fremdmaterial im Körper; nach dem Eingriff besteht erhöhte Infektionsgefahr. Durch geeignete Maßnahmen der Neurochirurgen sind in den letzten Jahren Shuntinfektionen selten geworden. Die Patienten sollten dennoch gut weiterverfolgt werden, da die selten auftretende Ventrikulitis zunächst sehr unspezifisch und vor allem ohne Nackensteife verlaufen kann.
Kranioplastik nach osteoklastischer Trepanation Eine weitere routinemäßige Aufgabe ist die Kranioplastik nach vorheriger osteoklastischer Trepanation. Neben der
33
534
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
Shunt-Anlage ist die Kranioplastik der häufigste neurochirurgische Eingriff bei Rehabilitationspatienten (von Wild 1999). Es gibt bisher keine einheitlichen Regeln, was den Zeitpunkt der Kranioplastik angeht. Eine klare Indikation ergibt sich bei 4 zunehmendem Prolaps oder 4 in der Bildgebung deutlich werdenden intrakraniellen Massenverschiebungen, besonders hinsichtlich mittelliniennaher Strukturen wie dem Corpus callosum (Gottlob 2002). Bei stark eingefallener Knochenlücke ist die Entscheidung oft komplexer und vorrangig vom Neurochirurgen zu treffen, da die Deckung zu Subduralergüssen infolge intrakraniellen Unterdrucks führen kann; deshalb sollte dieser Zustand nicht erst eintreten. Einzelne Patienten profitieren bei stagnierendem Verlauf von der Deckung, was seit vielen Jahren als Syndrome of the Trephined in der Literatur diskutiert wurde (Dujovni 1999). Offenbar stellen nach Kranioplastik Veränderungen in Gefäßund Gewebedruck günstigere Bedingungen für die Gewebeperfusion her (Winkler 2000). Andererseits kann man beobachten, dass durchaus nicht alle Patienten von der Kranioplastik klinisch eindeutig profitieren.
33
Näher betrachtet Zeitpunkt der Kranioplastik Die Erfahrungen sprechen dafür, die Kranioplastik nicht zu lange aufzuschieben, wobei aktuell trotz aller Fortschritte im Verständnis der Mechanismen noch kein idealer Zeitpunkt definiert ist. Nur in sehr seltenen Ausnahmefällen kann die Kranioplastik bereits vor Verlegung in die Frührehabilitation erfolgen. Da nach eigenen Erfahrungen in den ersten Wochen häufig rekurrente Infekte und andere Umstände den Eingriff verzögern, wird man sich bei gutem Rehabilitationsfortschritt eventuell dazu entschließen, den erfolgreichen Verlauf nicht durch eine kurzfristige Verlegung in ein anderes Milieu und einen nicht völlig risikofreien Eingriff zu unterbrechen, und den Eingriff zunächst aufzuschieben. In Deutschland scheint sich von neurochirurgischer Seite mehrheitlich die Empfehlung durchzusetzen, die Kranioplastik nach rund 3 Monaten vorzunehmen, wofür es aber offenbar noch keine Studien mit größeren Fallzahlen gibt. Klinische Aspekte sollten bei der Entscheidung jedoch vorrangig sein. In jedem Fall sollte das individuell bestmögliche Prozedere frühzeitig mit dem vorbehandelnden Neurochirurgen abgestimmt werden.
haben, besonders bei Vorliegen mehrerer Störungen. Die Zahl dieser Patienten ist hoch. Entsprechende Bilder entstehen vor allem nach 4 Hirntraumata nach Verkehrsunfällen, 4 Aneurysmablutungen aus der A. communicans anterior und 4 hypoxischen Hirnschäden, daneben sind Patienten mit schweren rechtsposterioren Läsionen nicht selten kaum orientierungsfähig. Solange diese Patienten immobil sind, lassen sie sich mit einem enormen zeitlichen Aufwand auf den normalen Frührehabilitationsstationen behandeln. Die dort liegenden überwachungsbedürftigen Patienten werden gestört, und die desorientierten Patienten sind unter Umständen gefährdet, sich an den technischen Einrichtungen zu verletzen. Das Pflegepersonal leistet bei diesen Patienten oft Erstaunliches; im Extremfall ist aber sedierende Medikation und/oder Gurtfixierung trotz sorgfältiger Analyse von Auslösern und Vermeidungsmöglichkeiten nicht vermeidbar. Dies ist immer nur für kurze Zeit zu legitimieren. Trotz aller therapeutischen Bemühungen ist manchmal die Verlegung in geschlossene psychiatrische Abteilungen nicht abzuwenden (. Tab. 33.4). Einige Kliniken haben spezielle Stationen für desorientierte Patienten eingerichtet. Es gibt zwei Varianten: 4 geschlossene Stationen, die einen richterlichen Beschluss erforderlich machen (Betreuung oder Einweisung), 4 halboffene Stationen mit Überwachungsmöglichkeiten, die aber bei mobilen Patienten unzureichend sein können.
Aufbau von Stationen für desorientierte Patienten Vorbilder schon bestehender Stationen
Beide Konzepte wurden in den Kliniken in Bad Segeberg und Middelburg erprobt. Als Vorbild dienten ursprünglich schon bestehende Stationen wie in Bad Wildungen und Holthausen, daneben aber auch sog. Memory-Stationen in der Gerontopsychiatrie (von Wedel-Parlow 1995). Das Konzept für die Stationen basierte auf den in . Übersicht 33.14 dargestellten Prinzipien. . Übersicht 33.14. Prinzipien für den Umgang mit desorientierten Patienten 1.
2.
33.6.8
Frührehabilitation desorientierter Patienten
3. 4.
Ein immer noch nicht befriedigend gelöstes Problem in der Frührehabilitation stellen Patienten dar, die 4 sehr schwere Störungen von Gedächtnis, Merkfähigkeit und Orientierungsfähigkeit oder 4 schwere Störungen von Exekutivfunktionen,
Patienten mit Störungen des explizitem Gedächtnisses und der Merkfähigkeit können in anderen Bereichen lernfähig sein. Prinzipien der Verhaltenstherapie erlauben oft eine ausreichende Lenkbarkeit trotz Verhaltensstörungen. Der Aufbau der Station ermöglicht ein Gruppenleben, das ein angemessenes Sozialverhalten fördert. Der Behandlungsablauf wird zur Förderung der Reorientierung alltagsnah gestaltet.
Es werden nicht mehr als zehn Patienten in einer Station behandelt, wobei die richtige Zusammensetzung der Gruppen
535 33.7 · Situation der Angehörigen in der Frührehabilitation
wichtig ist. In Middelburg werden die Gruppen inzwischen gezielt aus wenig und stark kognitiv Gestörten sowie Patienten mit schwerer Aphasie gemischt. Diese profitieren besonders stark von der informellen Kommunikation in der Gruppe und bewirken oft, dass sich Patienten mit Desorientiertheit und Anosognosie der Tatsache innewerden, dass sie Behinderte unter Behinderten sind. Alle Patienten nehmen gemeinsam die Mahlzeiten ein, die absichtlich nicht fertig portioniert sind, und beteiligen sich im Rahmen der individuellen Möglichkeiten vorher und nachher an den Haushaltsarbeiten. In Gruppen dieser Größe lassen sich in der Regel bis zu drei Schwerstgestörte mit Störungen der mnestischen und/ oder exekutiven Funktionen integrieren, die nach den BARKriterien noch Phase B zuzuordnen sind. Diese sind meist nicht zu mehr als wenigen Minuten Kooperation in Therapiesituationen fähig und schon gar nicht zur Teilnahme an Gruppentherapie, können aber häufig bald in alltagsnahen Gruppensituationen »mitschwimmen«, sich an anspruchslosen Alltagsgesprächen beteiligen und kleinste sinnvolle Tätigkeiten ausführen wie z.B. Besteck einsammeln. Diese Patienten sind besser hierfür zu motivieren als für Therapiesitzungen, deren Sinn sie nicht sehen. Voraussetzungen sind 4 zum einen ausreichend große Sonderräume für Gruppen und Rückzugsmöglichkeiten, 4 zum anderen eine gute Besetzung mit motivierten und fortbildungsbereiten Fachkräften. Diese versuchen, die Woche alltagsnah zu gestalten, z.B. mit Küchenarbeiten, Freizeitaktivitäten und therapeutisch sinnvollen Spielen. Angestrebt wird ein täglich gleicher Ablauf mit regelmäßigem Rhythmus, der sich einprägen soll. Solche Maßnahmen berücksichtigen immer, dass auch Menschen mit schwersten Störungen des expliziten Gedächtnisses wieder Gewohnheiten bilden können, und dass bei ihnen einzelne Funktionen (z.B. episodisches oder motorisches Lernen) erhalten sein und genutzt werden können. Ferner werden Prinzipien der Verhaltensmodifikation, vor allem operante Konditionierung, vom gesamten Team einheitlich eingesetzt. Dies erfordert eine systematische Verhaltensbeobachtung, Auswertung und Absprachen, in die nach Möglichkeit auch die Angehörigen einbezogen werden sollen (Prigatano 1999, Schoof-Tams 2000, Thöne 2000) (neuropsychologische und therapeutische Aspekte, . Kap. 9, 12 und 13).
33.7
Situation der Angehörigen in der Frührehabilitation
Die Rolle der Angehörigen ist in der Neurologischen Frührehabilitation gewichtiger als in anderen Arten von Rehabilitation und Krankenhausbehandlung (mit Ausnahme der Pädiatrie). Für viele schwergeschädigte und amnestische Patienten sind die vertrauten Angehörigen die einzigen Menschen, die sie überhaupt erkennen können. Angehörige können Geborgenheit vermitteln und damit Angst und Stressreaktionen mindern. Sie kennen persönliche
Eigenheiten und Vorlieben des Patienten, die dem Rehabilitationsteam zu Beginn der Therapie nicht bekannt sind. Sie helfen dem Personal bei der Schaffung einer persönlichen Atmosphäre im Krankenzimmer, die dem Patienten anhand von Bildern und Objekten die Reorientierung erlaubt. Ein Plüschtier am oder im Bett ist auch für manche erwachsene Patienten sehr tröstlich. Für die Tiertherapie sind geeignet-geschulte Tiere vorzuziehen (7 Kap. 33.6.4.2), wohingegen die Hunde von Wachkoma-Patienten zu deren großer Enttäuschung oft nicht auf sie reagieren. Schwierigkeiten zwischen Team und Angehörigen treten am häufigsten zu Behandlungsbeginn auf und werden meist allmählich überwunden. Der möglichst enge regelmäßige Austausch mit den Angehörigen fördert gemeinsame Erfahrungen und damit eine ähnliche Sichtweise bei Team und Familie. Das gibt den Angehörigen einen Halt und eine Aufgabe zu einem Zeitpunkt, wo sie noch hilflos vor einem schwergeschädigten Menschen stehen. Die Verlegung von der Intensivstation in die Frührehabilitation stellt die Familie vor neue Anforderungen. Überwogen zuvor Katastrophenreaktion, Verzweiflung und Trauer, so tritt an die Stelle des täglichen Bangens um Einzelsymptome jetzt Ungewissheit (Mackay 1997, Ponsford 1995). Die Bewältigung des Schicksalsschlags erfolgt bei den Angehörigen höchst unterschiedlich. Die Reaktionen der Angehörigen spiegeln ihre individuellen Fähigkeiten wider, mit Konflikten umzugehen. Wir konnten häufig die in . Übersicht 33.15 aufgeführten Reaktionsweisen beobachten. Sie lassen sich vereinfacht mit Begriffen beschreiben, die z.T. der Neurosenlehre entlehnt sind. . Übersicht 33.15. Reaktionsweisen der Angehörigen 1. 2. 3. 4. 5.
Leugnen der Defekte oder der Prognose Regression auf kindliches, hilfloses Verhalten Verschiebung Aktionismus Reaktionsbildung
jLeugnen der Defekte oder der Prognose Dieses Leugnen ist zu Beginn zu respektieren, wenn die Familie gegen die vollständige Veränderung der Lage die alte, intakte Struktur verteidigt. Es ist meist ein Symptom von seelischer Überforderung und nicht sofort durch Intervention von ärztlicher oder therapeutischer Seite abstellbar. Durch regelmäßigen engen Kontakt und wiederholte einfühlsame Aufklärung sollte dieses Stadium nach einigen Tagen bis Wochen überwunden werden. Einige wenige Menschen sind dazu nicht imstande und weichen der Konfrontation mit der Realität oder der Sicht des Teams anhaltend aus, im Extremfall sogar über Monate. jRegression auf kindliches, hilfloses Verhalten Auch dieses Verhalten kommt vor allem zu Anfang vor. Es ist ebenfalls ein Ausdruck von Überforderung und sollte ent-
33
536
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
sprechend einige Tage bis wenige Wochen toleriert werden. Durch Kontakt und Stützung ist diese Phase erfahrungsgemäß meist im Verlauf zu überwinden. Sehr selten versucht sich ein Angehöriger auf Dauer jeglicher Verantwortung zu entziehen; wenn überhaupt, scheint dies eher bei Männern der Fall zu sein. jVerschiebung Sehr oft und anhaltend setzen sich Angehörige nicht mit dem zentralen Problem auseinander, sondern verschieben die Auseinandersetzung auf andere Themen und Personen. Damit werden vor allem die Schwestern und Pfleger belastet, die als die (vermeintlich) Schwächeren für viele kleine Dispute herhalten müssen. Dazu gehören auch Versuche, Teammitglieder gegeneinander auszuspielen. Gängig sind Vorwürfe, jeder handhabe Waschen, Absaugen usw. anders. Stets sollte die Angst und Unsicherheit gesehen werden, die in solchen Auseinandersetzungen sichtbar wird. Die Einbeziehung der Angehörigen in den Stationsalltag hilft hier meist zu einer realistischen Sichtweise. Manchmal müssen den Angehörigen auch in klärenden Gesprächen Grenzen gesetzt werden.
33
jAktionismus Die Rettung in Aktivität ist als Bewältigungsmechanismus positiver zu bewerten. Aktionismus kann aber auch ziellos oder gar destruktiv wirken. Manche Angehörige stellen sich als »Kämpfernaturen« dar und erreichen damit viel für den Betroffenen. Sie fühlen sich dadurch bestätigt und übertreiben, vor allem wenn Beeinträchtigungen beim Betroffenen zurückbleiben. Sie drohen sich zu übernehmen und können sehr schnell »abstürzen«. Wichtig ist es, einen guten Kontakt mit den Angehörigen aufzubauen und ihren Aktionismus in sinnvolle Bahnen zu lenken. jReaktionsbildung Dieser von Freud verwendete Begriff bezeichnet Reaktionen, die Unlust erzeugende Impulse ins Gegenteil verwandeln. Ein Beispiel dafür ist übertriebene Zuneigung als eine Reaktion auf aggressive Impulse. Bei Angehörigen schwer zerebral Geschädigter findet sich bisweilen ein übereifriges und überbeflissenes Verhalten. Besonders bei diesen Angehörigen ist auf eine mögliche Überforderung zu achten. Bei gutem Kontakt lässt sich meist das richtige Maß mit der Zeit gemeinsam finden. Vorsichtig sollte man auch sein, wenn das Personal von Angehörigen überreichlich beschenkt wird; dahinter können durchaus ambivalente Haltungen stehen, dies muss allerdings nicht zwangsläufig der Fall sein.
33.7.1
Angehörige und Rehabilitationsplanung
> Zwei Leitlinien sind für den Umgang mit den Angehörigen hilfreich: 4 Informationen und Fragemöglichkeiten geben! 4 Aufgaben und (nach Möglichkeit) Perspektiven geben!
Informationen Eine wesentliche Voraussetzung für den angemessenen Umgang mit gestörten Patienten ist eine realistische Sichtweise. Diese wird durch umfassende und verständliche Aufklärung erreicht. Eine Meta-Analyse von Befragungen von Angehörigen in den USA ergab, dass 90–100% der Angehörigen Hirnverletzter als wichtigstes Bedürfnis das nach genauer Information über Zustand und Prognose angeben (Mackay 1997). Deshalb sollten die Angehörigen regelmäßig, mindestens wöchentlich, Informationen über die Einschätzungen des Teams erhalten. Dabei ist es erforderlich, dass Einschätzungen im Team abgestimmt sind, um nicht durch widersprüchliche Angaben eine zusätzliche Belastung zu erzeugen. Gute Erfahrungen wurden in den Kliniken der Autoren gemacht mit einer vom Stationsteam selbst verfassten Broschüre mit Informationen über typische Krankheitssymptome und deren Pflege und Therapie. Die Broschüre verdeutlicht den Angehörigen auch, dass die Patienten nach einem Konzept behandelt werden und nicht nach individueller Willkür. Nach Möglichkeit sollte jeder Patient mitsamt nächsten Angehörigen einen eigenen Ansprechpartner im Team erhalten, der von sich aus aktiv Kontakt hält. Ein Aushang am Bett des Patienten sollte über betreuenden Arzt, Pflegegruppe und zuständige Therapeuten informieren. Die nahen Angehörigen erhalten einen detaillierten Fragebogen über Patient und Familie, der fast immer genau ausgefüllt zurückgegeben wird und den Einstieg in die Zusammenarbeit erleichtert. Gute Erfahrungen mit (überraschend ähnlichen) Informationsmitteln wurden auch aus einer amerikanischen Rehabilitationsklinik berichtet (Mackay 1997). Praxistipp Es empfiehlt sich, nicht nur auf Nachfrage Informationen zu geben, sondern immer wieder aktiv auf die Angehörigen zuzugehen. In der größeren der berichtenden Kliniken hat es sich bewährt, dass ein erfahrener Arzt die Angehörigen regelmäßig alle 2 Wochen zu festen Gesprächsterminen einlädt.
Fazit Schwieriger ist es herauszufinden, wie man angemessen mit einem schwerstgeschädigten Menschen umgehen soll. Zum Glück wächst bei den meisten Angehörigen mit der Zeit eine angemessene Haltung mit der Behandlungsdauer, der Faktor Zeit ist für diese Entwicklung sehr bedeutsam.
jTherapiegruppen für Angehörige Eine oder mehrere angeleitete Angehörigengruppen gehören zum therapeutischen Grundangebot einer Frührehabilitationsstation. Besonders empfehlenswert ist das Anbieten einer themenzentrierten Gruppe, die denjenigen Angehörigen den Kontakt erleichtert, die nicht über ihre seelische Verfassung reden möchten. Zusätzlich kann in einer solchen Gruppe Wis-
537 33.7 · Situation der Angehörigen in der Frührehabilitation
sen über zweckmäßigen Umgang mit dem Patienten und Pflegetechniken während und nach dem Klinikaufenthalt vermittelt werden. Dieses Vorgehen scheint sich auch in anderen Kliniken bewährt zu haben. Die Kontaktaufnahme zu Selbsthilfeverbänden betroffener Angehöriger sollte nach Möglichkeit gefördert werden: Häufig sind andere Angehörige mit längerer Erfahrung die beste Hilfe, besonders für die Zeit nach dem Krankenhaus. Praxistipp Der Umgang mit schwer zerebral geschädigten Personen und deren Angehörigen beinhaltet Konfliktthemen, die das Team vor dauernde Anforderungen und Belastungen stellt. Für möglichst alle Berufsgruppen, in jedem Fall aber für die Pflege, muss psychologische Betreuung und Supervision verfügbar sein.
Aufgaben und Perspektiven Wie oben beschrieben ist es zunächst unumgänglich, mit den mehr oder minder adäquaten spontanen Reaktionen der Angehörigen umzugehen. Gemeinsame Aufgabe von Team und Angehörigen ist es, diesen Zustand zu überwinden. Möglichst schnell sollten die Angehörigen aus dem nur passiven Erleiden herausgeholt und in das therapeutische Milieu einbezogen werden. Nach eigenen Erfahrungen hat es sich nicht bewährt, die Grenzen zwischen Team und Angehörigen zu verwischen, indem man vorbehaltslos Mitwohnen (Rooming-in) anbietet oder Angehörige ohne Fachkenntnisse als Ko-Therapeuten einsetzt. Diese Sichtweise ist nicht dogmatisch zu verstehen; bei schweren Krisen, zumal bei vital bedrohlichen, sollten Angehörige auch vor Ort übernachten können. Diese Möglichkeit sollte jedoch punktuell bleiben und nicht Dauereinrichtung sein. Rooming-in ist in Kinderkliniken sinnvoll, doch hirngeschädigte Erwachsene sind keine Kinder. Das Ziel der neurologischen Rehabilitation ist vermehrte, nicht verminderte Selbständigkeit. Beabsichtigt ist keine Ausgrenzung, sondern eine sinnvolle Grenzziehung, die vor allem auch für die Angehörigen wichtig ist. Viele Angehörige neigen dazu, sich zu übernehmen. Sie vernachlässigen ihr eigenes Leben, Familie und Sozialleben und verausgaben in kurzer Zeit alle seelischen Kräfte. Dies tun sie oft in der verzweifelten Hoffnung, damit das Geschehene ungeschehen machen zu können, und ohne zu bedenken, wie sie so viel Einsatz über Wochen und Monate durchhalten wollen. Wir greifen in solchen Fällen ein, und bemerkenswerterweise haben wir uns bisher in vielen hundert Fällen mit solchen Angehörigen (fast) stets einigen können. Oft berichten Angehörige, dass sie durch eigene Ansprüche, (vermutete) Patientenwünsche und sozialen Druck von Familie und Bekannten derart überfordert sind, und dass sie dankbar sind, wenn ihnen von anderer Seite Grenzen gesetzt werden.
jArbeitsteilung: Sozialer Bezug und Funktionstherapien Angehörige haben entscheidende Bedeutung als vertraute, Geborgenheit und Zuflucht gebende Menschen. Ihre bloße Anwesenheit kann den Patienten eine Lebensperspektive geben, in der Gewissheit, nicht aufgegeben und verlassen zu sein. Näher betrachtet Erfahrungen: Sozialer Bezugsrahmen Ohne genaue Statistiken erstellt zu haben, ergibt sich der Eindruck, dass mit schwersten Hirnschäden allein gelassene Menschen vergleichsweise schlecht zu rehabilitieren sind. Dass nach anfänglichem Erwachen späte Rückzüge in Mutismus bis hin zum Sterben folgen, haben die Autoren nur in solchen Fällen, dafür jedoch wiederholt erlebt. Die praktische Erfahrung, dass für die Restitution nach schwersten Hirnschäden ein fördernder sozialer Bezugsrahmen erforderlich ist, wird durch neue Forschungsergebnisse bekräftigt (7 Kap. 33.6.2.3).
Entscheidend ist es, diese Erkenntnis den Angehörigen zu vermitteln und ihnen Wertschätzung für ihre unverzichtbare Rolle zu zeigen. Zugleich ist jedoch eine sinnvolle Arbeitsteilung nötig. Die Patienten sind anfangs in den Funktionstherapien oft ablenkbar und ermüdbar, ihre Reaktionen sind nicht vorhersehbar und erfordern von erfahrenen Therapeuten immer wieder Entscheidungen unter wechselnden Bedingungen. Wichtig ist es, für die Angehörigen Aufgaben im Tagesablauf zu finden, um ihnen das Gefühl der Hilflosigkeit zu nehmen. Vorrangig bleibt es, aufgrund der Fachkenntnisse und der fortlaufenden Einzelfallanalyse realistische Ziele und daraus abgeleitet Teilziele im Rehabilitationsverlauf zu finden. Das Rehabilitationsteam muss immer wieder Stand und Perspektiven mit den Angehörigen besprechen. Die Angehörigen kennen den Patienten am besten, werden sich aber zwangsläufig an seiner früheren Person orientieren. Was dagegen seine neuen Perspektiven betrifft, haben viele keine realistischen Vorstellungen. > Was die Perspektive des Patienten betrifft, sind bei Angehörigen häufig zwei Lösungsversuche zu finden, 4 das Denken in Extremen und 4 das Hoffen auf Wunder.
kDenken in Extremen Angesichts der häufig zögerlichen Verläufe werden die Erwartungen oft in Richtung auf Extreme maximiert. SchwarzWeiß-Denken verhindert das differenzierte Wahrnehmen der unterschiedlichen »Grautöne«, die für die Verläufe nach schweren Hirnschäden charakteristisch sind. Dies erfordert viel Geduld bei Aufklärung und Überzeugungsarbeit. Dabei sind die Wünsche der Angehörigen zu respektieren. Meist brauchen sie allerdings erst einmal Hilfe, um sich über ihre
33
538
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
Wünsche und Erwartungen klar zu werden. Viele schwanken lange zwischen den Extremen. Die neuerdings von manchen Experten propagierte Ermittlung des »mutmaßlichen Willens« der Betroffenen durch Angehörige überfordert diese in sehr vielen Fällen, da fast immer frühere Äußerungen der Betroffenen und Einstellungen der Angehörigen nicht frei von Mehrdeutigkeiten oder Widersprüchlichkeiten sind, wie auch die Terri-Schiavo-Debatte gezeigt hat (Quill 2005).
33
kHoffen auf Wunder Es wird erwartet, dass Fortschritte durch Wundermittel erlangt oder beschleunigt werden können, sei es durch Therapeuten, Medikamente oder Operationen. Sehr viele Angehörige hoffen auf alternative Heilweisen. Wichtig ist es, Vertrauen aufzubauen, damit das nicht heimlich geschieht. Es ist immer wichtig, für Anliegen offen zu sein, da viele Arten intensiver Beschäftigung mit schwerst Bewusstseinsgestörten hilfreich sein können. Zugleich sollte aber deutlich gemacht werden, dass alle Therapiemaßnahmen aufeinander abgestimmt sein sollten, was sich häufig auch erarbeiten lässt. Darum ist anzustreben, möglichst mit den Angehörigen gemeinsam zu ermitteln, ob alternative Heilweisen der Situation angemessen sind. Zweifellos haben Angehörige Anspruch darauf, im wohlverstandenen Interesse des Patienten ernstgenommen zu werden, wenn sie ergänzende Heilversuche wie z.B. Akupunktur oder Homöopathie wünschen. Soweit in der Klinik niemand einschlägige Kenntnisse hat, sollte man sich mit den Vertrauenspersonen der Angehörigen auseinandersetzen, um gemeinsam transparente Kriterien zu finden. Andererseits gibt es Ratgeber ohne jegliche Kenntnis von Hirnschäden, und mit der Versprechung ganzheitlicher Heilweise werden manchmal erstaunlich plump mechanistische Maßnahmen propagiert. Unterschiede in den Erwartungen können nur überwunden werden, wenn Rehabilitationsteam und Angehörige sich informieren und austauschen, wenn die Beobachtungen der Angehörigen aufgegriffen werden, und wenn ihr Umgang mit dem Patienten regelmäßig besprochen und strukturiert wird. Dies bedeutet, dass erfolgreiche Kooperation mit Angehörigen in der Regel keine Personalkapazität einspart, sondern eher mehr verlangt. jArbeit an Perspektiven Für den weiteren Verlauf ist es entscheidend, mit den Angehörigen eine Perspektive zu finden, wie es nach der stationären Rehabilitation weitergehen soll. Auch dabei kommt den Angehörigen wieder die entscheidende Rolle zu. Nur sie werden dauerhaft den Heilungsprozess begleiten. Unter diesem Leitgedanken sollten sie während des Aufenthalts zunehmend in Pflege und Therapie einbezogen werden und die wesentlichen Abläufe wie Ernährung, Transfers und Körperpflege erlernen. In der Abschlussphase vor Entlassung empfiehlt es sich in geeigneten Fällen, Angehörige eine Woche im Patientenzimmer wohnen und möglichst viele Pflegemaßnahmen eigenständig durchführen zu lassen. Auf diese Weise werden etliche Angehörige im Verlauf zunehmend in den Therapieprozess einbezogen und zu größtmöglicher Selbständigkeit geführt.
Die Zusammenarbeit der Angehörigen mit dem Team soll idealerweise im Verlauf zunehmen, die unterschiedliche Perspektive aber nicht geleugnet werden. Vielmehr sollte die Perspektive von Patient und Angehörigen die stationäre Abschlussphase strukturieren: 4 Geht es nach Hause oder ins Heim? 4 Wo werden Hilfsmittel eingesetzt werden müssen? Ein nennenswerter Teil der Frührehabilitationspatienten wird zunächst in die weiterführende Rehabilitation (Phase C) verlegt, ein kleinerer Teil aber direkt nach Hause oder in ein Heim entlassen. Die Entlassungsplanung erfordert eine enge Absprache zwischen Team und Angehörigen. > Bei einer Entlassung nach Hause empfiehlt es sich dringend, schon 6–8 Wochen vor dem geplanten Datum mit den Angehörigen detailliert die Planung zu besprechen. Dies kann dazu führen, dass eine solche Planung schon kurz nach Aufnahme in die Frührehabilitation erforderlich wird. Insofern ist die Arbeit mit den Angehörigen immer auch Arbeit an der Perspektive.
33.8
Verlauf, Dauer und Beendigung der Frührehabilitation
33.8.1
Vorhersage der Frührehabilitationsdauer
Ein häufiges Missverständnis, vor allem auch bei Sachbearbeitern von Kostenträgern, ist die Erwartung, schon bei Übernahme in die Frührehabilitation Verlauf und Dauer exakt vorhersagen und festlegen zu können. Dieser Wunsch lässt sich jedoch nicht erfüllen. Notwendige Diagnostik und prognostische Möglichkeiten sind in 7 Kap. 33.2 dargestellt; damit kann das Rehabilitationspotenzial jedoch grundsätzlich abgeschätzt werden, aus methodischen Gründen aber nicht Verlauf und Dauer notwendiger Behandlung bei schweren Hirnschäden. Dies ist in verschiedenen Statistiken belegt. In einer neueren Studie (Poon 2005) waren 4 Alter, 4 initialer GCS-Score (Glasgow Coma Score) und 4 initialer FIM-Score voneinander unabhängige Prädiktoren, mit denen sich bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma das Outcome nach einem Jahr mit Wahrscheinlichkeiten über 80% voraussagen ließ – mit einer bedeutsamen Einschränkung: Mit dem FIM-Score ließ sich nur ein gutes oder mäßig gutes Outcome voraussagen, nicht aber ein weniger gutes (Poon 2005). Dies mag zum einen sicher an Bottom-Effekten des FIM liegen, der den unteren Leistungsbereich unzureichend erfasst. Doch handelt es sich nicht nur um ein messtheoretisches Problem: Bei sehr schweren Verläufen ist initial die Prognose anhand des klinischen Befunds zwangsläufig schwierig. Konkret lässt sich sagen:
539 33.8 · Verlauf, Dauer und Beendigung der Frührehabilitation
von Schock und Diaschisis ausdrücken mag, dann kommt es zu zunehmender Besserung, was durch eine Phase des Kurvenanstiegs mit positiver Beschleunigung dargestellt ist. Nach relativ steilem Anstieg lässt dann der Leistungszuwachs pro Zeiteinheit ab, so dass die Kurve abflacht und sich asymptotisch einem stabilen Endzustand nähert. Dieser in . Abb. 33.3 illustrierte sigmoide Verlauf wurde schon vor Jahren als neurologisches Modell der Restitution vorgestellt (Katz 1997).
Frührehabilitationsverläufe
Neurologisches Modell der Restitution
Zur Illustration wird eine kleine Fallserie aus der kleineren der referierenden Abteilungen vorgestellt (. Abb. 33.4). Anhand einer größeren Fallzahl hat Dauch (2000) ähnliche Verläufe zeigen können. Zur besseren Übersichtlichkeit ist die Darstellung auf zwölf Patienten beschränkt. Dargestellt ist der Summenscore der EFA-Skala, der regelmäßig alle 2 Wochen in Teamkonferenzen ermittelt wurde. Die minimale Punktezahl ist 20, die maximale 100. Wie oben erwähnt entspricht die maximale Punktezahl nicht der völligen Remission, sondern relativ niedrigen Werten in der FIM-Skala (oder im Barthel-Index). Sichtbar ist der zunächst zögerliche, dann beschleunigte Zuwachs. Ein Abflachen der Kurve ist nicht zu sehen, da die Rehabilitation danach in Phase C weitergeführt wird, dann aber wegen zu erwartender Ceiling-Effekte nicht mehr mit der EFA-Skala, sondern mit FIM dokumentiert wird.
Erholung nach Schädigung des Nervensystems scheint generell nicht einem linearen Zeitgang zu folgen, sondern einer nicht-linearen Dynamik, die sich am ehesten durch eine logistische Funktion darstellen lässt. Graphisch zeigt sich diese als sigmoide Kurve: Initial ist der Verlauf flach, was Phasen
> Nach heutigem Kenntnisstand muss eine ausreichend lange Behandlungsdauer gewährt und finanziert werden, wenn ein positiver Verlauf zu erkennen oder zu erwarten ist.
. Abb. 33.3. Verlaufskurve der neurologischen Restitution. Logistische Funktion (Sigmoid) (Wikimedia Commons, GPL)
4 Wer sich schon initial gezielt bewegen kann, wird dies nach einem Jahr vermutlich noch besser können. 4 Wer aber initial im Koma liegt, wird möglicherweise im Koma verbleiben, über günstigere Verläufe sind keine sicheren Aussagen möglich.
. Abb. 33.4. Frührehabilitationsverläufe (12 der ersten 14 konsekutiven Aufnahmen Anfang 2007, DRK-Therapiezentrum Middelburg 2007)
33
540
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
Näher betrachtet Nachweis: Wirksamkeit der neurologischen Frührehabilitation
33
Größere Statistiken über die Wirksamkeit der neurologischen Frührehabilitation wurden erst in den letzten Jahren vorgelegt, da es diese Therapieform erst seit wenigen Jahren flächendeckend gibt. Weitere detailliertere Analysen zum Beleg und zur Quantifizierung des Nutzens wie auch zur Wirksamkeit einzelner Therapiemaßnahmen sind notwendig. Schwierig ist dabei aus ethischen Gründen der Nachweis einer spezifischen Wirksamkeit der gesamten Rehabilitation im Vergleich zu Spontanverläufen ohne Therapie, wohingegen Einzelmaßnahmen durch geeignete Studiendesigns überprüfbar sind. Der Nutzen der Frührehabilitation ist grundsätzlich nicht mehr umstritten, mangels ausreichender direkter Vergleichsstudien sind Vergleiche mit Statistiken vor Einführung der Frührehabilitationsstationen möglich, diese sind aber methodisch wie auch hinsichtlich der Resultate sehr heterogen (Dolce u. Sazbon 2002); ferner wurde das Gesundheitswesen auch in anderen Aspekten verändert, z.B. im Rettungsdienst und durch Stroke Units. Die Wirkung einzelner Therapieverfahren ist belegt (Lippert-Grüner 2007, Zieger u. Hildebrandt 1997), zum Langzeiteffekt sind aber bisher nur sehr wenige systematische Ergebnisse verfügbar (z.B. Ashley et al. 1997a). Vergleiche kleiner Gruppen von Patienten ohne und mit Frührehabilitation zeigen positive Effekte der Frührehabilitation hinsichtlich späterer Kosteneinsparungen für Versicherungen (Ashley et al. 1997b).
Prognosekriterien für die Rehabilitationsdauer Die Prognosekriterien wurden in früheren Jahren recht unterschiedlich beurteilt (Ashley 1997b, Good 1994). Für eine Entscheidung werden die in . Übersicht 33.16 aufgeführten Kriterien genutzt. Fazit Grundsätzlich gilt, dass die Prognose bei Patienten mit SchädelHirn-Trauma günstiger, bei Patienten mit hypoxischen Hirnschäden deutlich weniger günstig ausfällt. Allerdings gibt es inzwischen auch bei nicht-traumatischen Hirnschäden etliche Fälle signifikanter Besserung auch noch nach Monaten. Die langjährigen Erfahrungen haben dazu geführt, dass sich im deutschen und englischen Sprachraum folgende Zeiträume für die Rehabilitation durchgesetzt haben: 4 bis zu 12 Monaten bei Patienten im traumatischem Wachkoma, 4 bis zu 3 Monaten bei Patienten im nicht-traumatischen Wachkoma. 4 Bei Kindern und Jugendlichen sind deutlich längere Zeiträume vorzusehen. Diese Empfehlungen gelten wohlgemerkt für initiale Wachkoma-Zustände und müssen nach dem Verlauf adaptiert werden. Bei eindeutiger Besserung im Verlauf kann die individuelle Behandlungsdauer länger sein.
Näher betrachtet Studien: Vorhersage des Rehabilitationszeitraums Vor allem bei Patienten im Wachkoma sind in jedem Falle angemessene Beobachtungszeiträume unter laufender Therapie einzuplanen. Dazu gibt es aus den 90er Jahren eine Studie aus den USA (Multi-Society Task Force on PVS 1994). Ausgewertet wurden Verläufe von Patienten, die einen Monat nach Ereignis noch im Wachkoma waren. Ähnliche Ergebnisse erbrachten andere Auswertungen in USA und Europa (Heindel u. Laub 1996, Katz 1997, Zandbergen 1998, van der Naalt 1999, Dolce u. Sazbon 2002, Livingston 2005, Poon 2005). Demnach sind bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma, die einen Monat nach Trauma ein Wachkoma boten, nach einem Jahr mehr als die Hälfte bei vollem Bewusstsein und fast ein Viertel nur noch mäßig bis gering behindert. Der Anteil der Patienten, die volles Bewusstsein erlangen, nimmt auch nach 6 Monaten noch weiter zu, nach mehr als einem Jahr ändert sich der Anteil kaum noch. Weniger günstig stellte sich die Situation bei Patienten im nicht-traumatischen Wachkoma dar. Der Anteil der Patienten, die volles Bewusstsein wiedererlangten, änderte sich nach mehr als 3 Monaten nur noch gering. Aus heutiger Sicht ist anzumerken, dass selbst eine speziell einberufene internationale Task Force Anfang der 90er Jahre eine Gruppe von lediglich ca. 170 Patienten analysierte, die ein nicht-traumatisches Koma boten, ohne dass dieses näher differenziert wurde (Multi-Society Task Force on PVS 1994). Die Statistik war sorgfältig erarbeitet, wird aber seit nunmehr über 15 Jahren immer wieder zitiert (z.B. Posner 2007). Die Daten entstanden Anfang der 90er Jahre, zu einem Zeitpunkt, als die Frührehabilitation vorrangig für Traumapatienten entwickelt war und andere Frühbehandlungs- und Stroke-Unit-Konzepte nicht allgemein verbreitet waren. Angesichts der Fortschritte bedarf es dringend neuerer Statistiken auf der Basis heutiger Therapiekonzepte. Inzwischen gibt es allein in den eigenen Kliniken über die letzten 15 Jahre ein Vielfaches an Fällen, die noch nicht systematisch ausgewertet sind, die jedoch günstigere Outcome-Ergebnisse erwarten lassen.
. Übersicht 33.16. Prognosekriterien für den Rehabilitationszeitraum 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Diagnose, Art und Ausmaß von primären Läsionen sowie Komplikationen Alter, prämorbider Allgemeinzustand, vorbestehende Erkrankungen Initialbefund (Glasgow Coma Scale) und Dauer des Komas, soweit bei Beatmeten abgrenzbar Schwere Störungen oder Ausfalle in EEG und evozierten Potenzialen Befund bei Aufnahme Tendenz im klinischen Verlauf Tendenz in Rating-Skalen wie EFA, KRS und FIM
541 33.8 · Verlauf, Dauer und Beendigung der Frührehabilitation
jOutcome und Spektrum der behandelten Diagnosegruppen Längst ist die Frührehabilitation nicht mehr nur Behandlungsort für junge Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma im Wachkoma wie in den Anfangsjahren (Lipp u. Schlaegel 1996). Vielmehr gehören Hirnverletzte in der Frührehabilitation nach neueren Erhebungen überwiegend höheren Altersgruppen bis zur Mitte der 7. Lebensdekade an, wobei es Unterschiede zwischen den Kliniken gibt (Rickels et al. 2006). Die nach Einführung der Frührehabilitation beobachteten guten Erfolgsquoten bei jüngeren Hirnverletzten führten schnell dazu, dass auch ältere Menschen aus unterschiedlichsten neurochirurgischen und neurologischen Diagnosegruppen zugewiesen wurden. Kriterien für das Outcome zeigt . Tab. 33.5. Das Spektrum der behandelten Diagnosegruppen ist in allen Kliniken ähnlich. Vorrangig werden inzwischen vaskuläre Läsionen behandelt, Schädel-Hirn-Traumen machen nur
noch ein Sechstel bis ein Zehntel der Zielgruppe aus. Dabei werden allerdings im Detail unterschiedliche Schwerpunkte der einzelnen Zentren deutlich. Dies ist bei der Analyse der Outcome-Statistiken zu beachten. Das Outcome variiert dementsprechend etwas mehr, ebenso die Behandlungsdauer. Ein relativ stabiler primärer Endpunkt ist, dass die Übernahme in Phase C erfolgt, da es hierfür definierte Kriterien gibt. Diese Kriterien erreichen 33–59% der Behandelten, was angesichts der schweren Schädigungsbilder ein positives Ergebnis ist und für die Wirksamkeit der Frührehabilitation spricht. Dies liegt sicherlich auch an 4 den Fortschritten der Akutmedizin, 4 dem Rückgang schwerer Verkehrsunfälle und 4 der konsequenteren Frühbehandlung. Grundsätzlich sind aber positive Behandlungseffekte der Frührehabilitation anzunehmen, da die Eingangskriterien für
. Tab. 33.5. Outcome in verschiedenen Rehabilitationskliniken Bad Segeberg 20061
Middelburg 20062
Seesen 20063
AGNF 20064
Multicenter 20025
Heidelberg 2001–20066
253
185
149
1.862
1.280
907
Verweildauer (Tage)
37
46
65
–
64
50
Alter (Mittelwert)
63
63
63
–
61
–
Phase C
51
34
59
41
33
55
Pflege
32
33
31
41
47
31
Akutklinik
9
16
9
15
14
8
Tod
8
15
1
3
6
3
Ischämie
30
28
43
43
30
–
Intrazerebrale Blutung
14
22
20
16
15
–
Hirntrauma
8
16
10
11
16
–
Hirnhypoxie
13
13
8
8
10
–
8
9
4
5
8
–
12
4
4
–
4
–
3
1
2
3
3
–
7
9
14
14
–
Patientenzahl
Entlassungswege %
Diagnosen %
SAB Polyneuritis Tumor Andere 1 2 3 4
5 6
12
Neurologisches Zentrum (Chefarzt Prof. Dr. J.M. Valdueza) der Segeberger Kliniken, Bad Segeberg (persönl. Mitteilung) DRK-Therapiezentrum Middelburg (Chefarzt Dr. F.K. v. Wedel-Parlow) (eigene Daten) Klinik für Frührehabilitation (Chefarzt Prof. Dr. M. Holzgraefe) der Asklepios Kliniken Schildautal, Seesen (persönl. Mitteilung) AGNF Arbeitsgemeinschaft Neurologische Frührehabilitation in Niedersachsen und Bremen (persönl. Mitteilung Dr. H.P Neunzig, Jesteburg, als Sprecher der AGNF) Multizentrische Erfassung im Jahr 2002 in 9 deutschen Kliniken (nach Hoffmann et al. 2006) Kliniken Schmieder, Speyererhof, Heidelberg (nach Bertram u. Brandt 2007)
33
542
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
auch das Altersspektrum gewandelt: Über die Hälfte der Behandelten ist inzwischen im Rentenalter, so dass die provokante Frage erlaubt ist, inwieweit diese Patienten überhaupt in nennenswertem Maße von der Phase B profitieren können. Wie sich in den vergangenen Jahren zunächst in vielen Einzelfällen, dann aber auch in Statistiken feststellen ließ, profitieren ältere und alte Patienten eindeutig von Phase B. . Abb. 33.5. Frührehabilitation und Umfeld
die Phasen B und C definiert sind und der Übergang in Phase C eine Zustandsbesserung voraussetzt. Da die Behandlung u.a. durch DRG- und OPS-Kriterien (s.u.) zudem weitgehend vereinheitlicht ist, ist zu vermuten, dass unterschiedliche Prozentzahlen auch durch Unterschiede im Patientenspektrum bedingt sind, unter anderem durch unterschiedliche Überweisungspräferenzen der Akutkliniken. Dies gilt z.B. für Middelburg als Klinik mit traditionell sehr hohem Anteil gezielt zugewiesener schwerstgeschädigter, oft beatmungspflichtiger Patienten, verdeutlicht durch vergleichsweise höhere Komplikationsquoten.
33
jOutcome und soziales Umfeld Im Gegensatz zu Phase C lässt die Entlassung in Pflegeheime weniger Rückschlüsse auf erreichte Fortschritte zu, da dies stark vom sozialen Umfeld abhängt: Insgesamt weist der Vergleich der Statistiken darauf hin, dass Frührehabilitationskliniken ihre Behandlungsergebnisse nur in Grenzen selbst beeinflussen können, da sie von den Gewohnheiten zuweisender Kliniken abhängen, ebenso wie von den Möglichkeiten der Weiterversorgung nach Entlassung (. Abb. 33.5). jOutcome und Lebensalter Ein bemerkenswertes Resultat ergab sich hinsichtlich des Lebensalters der Behandelten. Wurde die Frührehabilitation vor nunmehr 25 Jahren für junge Patienten mit Schädel-HirnTrauma geschaffen, so hat sich mit dem Krankheitsspektrum . Abb. 33.6. Outcome und Lebensalter (Entlassungswege 2006, Frührehabilitation des Neurologischen Zentrums Bad Segeberg)
> Bei Hirntraumapatienten hängt der Rehabilitationserfolg nicht oder wenig vom Alter ab (Zieger 1998). Auch bei dem durchschnittlichen Diagnosespektrum zeigen allgemeine und mitgeteilte Erfahrungen (Bertram u. Brandt 2007) sowie aktuelle Statistiken der referierenden Kliniken Bad Segeberg und Middelburg, dass der positive Erfolg der Frührehabilitation im höheren Lebensalter ebenso erreicht wird (. Abb. 33.6). Praxistipp Durchgängig lässt sich feststellen, dass der Übergang in Phase C bei allen Altersgruppen bis zum 8. Lebensjahrzehnt von einem ähnlich hohen Prozentsatz der Behandelten erreicht wird, und selbst jenseits des 80. Lebensjahres noch von 38% der betagten Patienten.
Zwar steigt mit dem Alter stark die Zahl derjenigen, die in Pflegeeinrichtungen gehen; dies ist bei zunehmender Komorbidität zu erwarten, bedeutet aber nicht in jedem Fall ein schlechtes Behandlungsergebnis: Auffälligerweise ist der Übergang in Pflegeheime im 7. Lebensjahrzehnt am geringsten. Erfahrungsgemäß haben viele Patienten dieser Altersgruppe besonders viel Unterstützung durch nicht mehr berufstätige, aber vitale Ehegatten oder Partner sowie durch erwachsene Kinder, so dass Betroffene und Umfeld die größten Anstrengungen machen, ein Leben daheim zu erreichen.
543 33.9 · Gesundheitspolitische Aspekte
. Abb. 33.7. Behandlungsdauer und Lebensalter (Behandlungsdauer 2006, Frührehabilitation des Neurologischen Zentrums Bad Segeberg)
Dies unterstreicht die hohe Bedeutung des Umfelds für den Rehabilitationserfolg. Das höhere Lebensalter beeinflusst auch die Behandlungsdauer nicht wesentlich und verlängert sie erst ab der 8. Lebensdekade um einige Tage (. Abb. 33.7). Auch dies entspricht dem Eindruck aus der praktischen Erfahrung, sollte jedoch statistisch auf Basis der Daten weiterer Kliniken näher untersucht werden.
. Übersicht 33.17. Phasenmodell der neurologischen Rehabilitation in Deutschland (BAR 1995) 1. 2.
3.
Fazit 4 Bis zur Hälfte der Patienten in Phase B erreichen im Behandlungsverlauf Phase C, was als Behandlungserfolg zu werten ist. 4 Entgegen früheren Annahmen ist der Therapieerfolg bei Betagten bis zum 8. Lebensjahrzehnt ähnlich hoch wie bei Jüngeren. 4 Bis zur zweiten Hälfte der 9. Lebensdekade scheint die Behandlungsdauer betagter Patienten nicht wesentlich anzusteigen.
33.9
Gesundheitspolitische Aspekte
33.9.1
Aufgabenstellungen, Zuordnung und Abgrenzung der Phase B
Die Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, kurz BAR-Empfehlungen (1995), sind gültige und praxiserprobte Richtschnur für Phase B. Ihre Stärke ist die Darstellung der Zusammenhänge und Zuordnung der geeigneten Behandlungsphasen. Zur Erinnerung seien die Phasen nochmals in . Übersicht 33.17 aufgeführt.
Phase B jAbgrenzung der Phase B Phase A wird durch die ICD-orientierte Diagnostik und Therapie, gegebenenfalls mit Intensivbehandlung, bestimmt. Der Behandlungsbedarf wird durch die akute Erkrankung bestimmt, wie sie in der ICD (International Classification of Diseases) abgebildet ist.
4.
5.
6.
7.
Phase A: Akutbehandlungsphase Phase B: Behandlungs-/Rehabilitationsphase, in der noch intensivmedizinische Behandlungsmöglichkeiten vorgehalten werden müssen Phase C: Behandlungs-/Rehabilitationsphase, in der die Patienten bereits in der Therapie mitarbeiten können, aber noch kurativmedizinisch und mit hohem therapeutischen und pflegerischen Aufwand betreut werden müssen Phase D: Rehabilitationsphase nach Abschluss der Frühmobilisation (Medizinisch-berufliche Rehabilitation im bisherigen Sinn) Phase E: Behandlungs-/Rehabilitationsphase nach Abschluss einer intensivmedizinischen Rehabilitation; nachgehende Rehabilitationsleistungen und berufliche Rehabilitation Phase F: Behandlungs-/Rehabilitationsphase, in der dauerhaft unterstützende betreuende und/oder zustandserhaltende Leistungen erforderlich sind Phase G: Betreutes und begleitetes Wohnen; aufsuchende Hilfe im medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Bereich. Diese Phase findet seit einigen Jahren ergänzend zum Phasenmodell Eingang in den Sprachgebrauch, ist aber nicht offiziell eingeführt
Der Übergang in Phase B findet statt, sobald bei den schwerstgradigen und langwierigen Verläufen hochkomplexer neurologischer Krankheiten eine genügende Stabilität und Belastbarkeit erreicht ist, um mit einer systematischen und komplexen Rehabilitation zu beginnen. Nach ihrer historisch getrennten Entwicklung und Spezialisierung finden Akutund Rehabilitationsmedizin in Phase B eine gemeinsame Anwendung. Dabei ist ein flexibles Zusammenwirken akut- und rehabilitationsmedizinischer Maßnahmen typisch.
33
544
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
Die Betroffenen verlassen Phase B, wenn sie die Eingangskriterien von Phase C erlangen; das bedeutet, dass die Zielkriterien für Phase C auf einem Kontinuum zwischen den Eingangskriterien von Phase B und Phase C liegen. Die rehabilitativ ausgerichtete Zielplanung tritt im Verlauf immer mehr hervor: Mit dem Übergang zu weiteren Rehabilitationsphasen, möglichst schon in Phase B beginnend, muss sich die Beandlung zunehmend an der ICF (International Classification of Functioning) orientieren, die die wiederherzustellenden Funktionen beschreibt. Diese Zwitterstellung führte zu dem eigens für die Neurologie entwickelten Phasenmodell (VDR 1995, BAR 1995, Berufsgenossenschaften 1996).
33
> Zur spezifischen Besonderheit von Phase B gehört, dass unter dem intensiv- und kurativmedizinischen Schutz rehabilitative Manöver möglich werden, die für den Wiederaufbau von Eigenaktivität notwendig sind, gleichzeitig aber eine Destabilisierung des Krankheitszustands und eine Auslösung gesundheitlicher Komplikationen provozieren könnten. Beispiele dafür sind: 4 Schluckaufbautraining trotz drohender Aspiration, 4 gezielte Reize zur basalen Stimulation trotz überschießender vegetativer Dysregulationen, 4 therapeutische Lagerungs- und Bewegungsmaßnahmen trotz möglicher Auslösung von drastisch verstärkter Spastik, Bewegungssynergismen und somatopsychischen Entgleisungen.
jLeistungsrechtliche Probleme mit den Kostenträgern Die Koppelung der Bedingungen akutmedizinisch behandlungspflichtig und Schwerstgeschädigten-Neurorehabilitation als Kennzeichen von Phase B bringt leistungsrechtliche Probleme mit sich. Diese Bedingungen können unterschiedlich, asynchron und fluktuierend ausgeprägt sein. Die Phasenzuordnung orientiert sich sowohl an den jeweiligen Phasenkriterien als auch an der Nichterfüllung der Kriterien der nachfolgenden Phase. Diese Operationalisierung durch eine Negativdefinition (»Einordnung in Phase B, wenn Phase C noch nicht erreicht ist«) gewährt auch in problematischen Fällen eine Entscheidungshilfe. Beispiel Das ist der Fall bei 4 Patienten mit absaugpflichtigem geblocktem Tracheostoma und erforderlichem Monitoring, 4 noch nicht stabil zum Sitz mobilisierten Patienten oder 4 nach einer Pneumonie noch intermittierend sauerstoffabhängigen Patienten.
Solche Patienten würden bei wörtlicher Auslegung durch das Raster der Phasenkriterien fallen, weil auf sie zufällig keiner der in der Liste genannten Begriffe direkt zutrifft.
! Cave Bei Phasenübergang von B zu C ist die grundsätzliche Bedingung zu beachten, dass die C-Eingangskriterien stabil und vollständig erreicht sein sollten. Diese Regel kann nicht durch die Verwendung von Skalen umgangen werden. Bewertungsskalen sind nur begrenzt hilfreich, solange sie uneinheitlich angewandt werden, und sie können keinesfalls die klinische Beurteilung ersetzen. Beispiel Ein Frühreha-Barthel-Index (FRB) bis 30 ist ein Phase-B-Aufnahmekriterium lt. OPS 8-552 im Fallpauschalensystem. Die FRBGrenzkriterien werden jedoch in den Bundesländern und von Medizinischen Diensten der Krankenkassen (MDK) uneinheitlich bewertet (FRB 20–30). Es ist ärztliche Aufgabe, die Behandlung des Patienten in der geeigneten Rehabilitationsphase zu vertreten, auch gegenüber etablierten Routinen. (Statt des FRB wird in einigen Bundesländern der FIM verwendet.)
jEntlassung aus Phase B Die Entlassung aus Phase B erfolgt 4 in die Rehabilitation der Phase C, 4 in Pflege bzw. in die Phase F, 4 in Akutbehandlung (endgültig oder als Pendelfall, z.B. zur Metallentfernung bei Begleitverletzungen), oder 4 bei Behandlungsende durch Tod. Praxistipp Meist endet Phase B mit dem Erreichen der nächsthöheren Rehabilitationsphase C oder bei ausgeschöpftem Rehabilitationspotenzial und Stagnation mit Übergang in die Pflege.
Das Ende wird in Einrichtungen nach §108/109 SGB V leistungsrechtlich auch durch die Beendigung der akutstationären Behandlungsnotwendigkeit ausgelöst (zu den Widersprüchlichkeiten dieses Kriteriums s.o.). Für den Behandlungsabbruch wegen Stagnation werden die Beurteilungszeiträume immer kürzer, teils aufgrund der gewachsenen Erfahrungen, teils aber auch durch Auswirkungen von 4 Aufnahmedruck, 4 DRG-Auswirkungen und 4 restriktiven Kostengenehmigungen. Entlassene aus den Phasen A und B müssen deshalb aus der Pflege nicht selten in Phase B eingewiesen werden. jLeistungen zur Frührehabilitation während der akutstationären Behandlung Abzugrenzen von Phase B sind Leistungen zur Frührehabilitation, die im Einzelfall bereits während der akutstationären Behandlung im Krankenhaus begleitend erforderlich werden und zum frühestmöglichen Zeitpunkt einsetzen. Diese wur-
545 33.9 · Gesundheitspolitische Aspekte
den mit Einführung des SGB IX und der ICF ebenfalls im Jahr 2001 in §39 Abs. 1 Satz 3 SGB V als Pflicht des Krankenhauses ohne Aufgabenerweiterung aufgenommen. Mit dieser Formulierung war nach dem damals vorausgegangenen Votum des Sachverständigenrates für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (Sondergutachten zur Entwicklung des SGB IX 1995) und der GKV-Spitzenverbände (Anhörung zum SGB IX) der grundsätzliche Anspruch gemeint, dass schon während der akutstationären Behandlung einzelne rehabilitative Aktivitäten beginnen, im Hinblick auf 4 rechtzeitige Beachtung der rehabilitativen Aspekte, 4 Anwendung einzelner Maßnahmen wie Physiotherapie sowie 4 Einleitung und sachgemäße Steuerung von nachgeschalteten Rehabilitationsleistungen und 4 Komponenten zur Befähigung des Patienten zur anschließenden Rehabilitation im Sinne der Teilhabe (Fuchs 2005). Damit war nicht die Frührehabilitation im Sinne einer komplexen Behandlungsmaßnahme angesprochen; dieser Begriff von Frührehabilitation kommt im SGB V nicht vor. Inzwischen wurden geriatrische und fachübergreifende Einrichtungen als Phase-A-Frührehabilitation eingerichtet und im Vergütungssystem mit eigenen OPS-Ziffern berücksichtigt. > In der Neurologie gilt nach wie vor, dass sich für die Versorgung von Patienten mit erworbenen Schwerstbehinderungen die Phase B direkt an Phase A, ohne eine solche institutionelle Zwischenschaltung, anschließt.
jZusammenfassung 4 Phase B folgt auf die ausschließlich akute Behandlung, sobald bei beginnender gesundheitlicher Stabilisierung die Belastbarkeit für die gleichzeitige systematische und komplexe Rehabilitation erreicht ist. 4 Charakteristisch für Phase B sind im Gegensatz zu Frührehabilitationsformen anderer Fachgebiete: 5 Kooperationsunfähigkeit durch Verlust der selbstbestimmten motorischen und psychischen Steuerung, 5 resultierende Schwerstbetroffenheit und 5 erforderliche multiprofessionelle Behandlung mit großem Aufwand. 4 Phase C schließt sich an, sobald die Eingangskriterien hierfür vollständig und stabil erreicht sind.
33.9.2
Aspekte von Leistungsrecht und Vergütungssystem
> Phase-B-Einrichtungen befinden sich größtenteils in Rehabilitationskliniken. Sie sind leistungsrechtlich nach §108/109 oder nach §111 SGB V zugelassen.
Von den insgesamt 3.124 Betten zählen lt. einer Länderumfrage des BMGS 11% zum §111 SGB V (BMGS 2004). Im Bereich des §111 SGB V gilt die Vergütung nach dem Tagespflegesatz. Leistungsrechtlich entscheiden im Einzelfall nicht die an der Behandlung beteiligten Ärzte, sondern die Kostenträger (auch nach aktueller Finanzlage) unter Zuhilfenahme des (nur im Ausnahmefall spezialisierten) MDK darüber, ob, welchem Patienten, in welcher (z.B. heimatnahen) Einrichtung und wie lange eine Rehabilitationsbehandlung gewährt wird. In den Einrichtungen wurden die Rahmenbedingungen und Vorgehensweisen durch die Vorgaben, die für die Einrichtungen nach §108/109 SGB V besonders durch die Neuerungen des DRG-gestützten Fallpauschalensystems (s.u.) gelten, ebenfalls beeinflusst.
DRG-gestütztes Fallpauschalensystem Für die Einrichtungen nach §108/109 SGB V hat die Einführung des Fallpauschalenentgeltsystems Veränderungen, verschärfte Grenzziehungen bei Behandlungsbeginn und -ende und auch Probleme mit sich gebracht. Das DRG-System (Diagnosis Related Groups) auf Basis der Krankheitsdiagnose (ICD) ist aus methodischen Gründen nicht darauf ausgelegt, die individuell sehr unterschiedlichen und vielgestaltigen funktionellen Auswirkungen, Verlaufsformen, Begleitkomplikationen und Verlaufszeiten neurologischer Erkrankungen direkt in die Bewertung einzubeziehen. Es kann Aufwand und Dauer einer funktionsbezogenen Behandlung nicht korrekt abbilden. Dazu wären funktionsbezogene Kriterien (Function Related Groups) besser geeignet, die allerdings erst entwickelt werden müssten, möglichst orientiert an den Funktionsdiagnosen (ICF). Zur Adaptation wurden Korrekturen eingeführt, wie 4 Veränderungen des Operationen- und Prozedurenschlüssels, 4 weitere DRG-Ziffern und 4 Öffnungsregelungen; für eine Übergangsphase wurde auch die befristete Herausnahme einzelner Einrichtungen von Jahr zu Jahr neu ermöglicht. Der Prozedurenkatalog enthält seit 2005 eine gesonderte, jährlich modifizierte OPS-Ziffer für die Anforderungen an Schnittstellen, personelle Qualifikationen und Leistungen der neurologisch/neurochirurgischen Frührehabilitation. Anforderungen nach Stand des Jahres 2007 sind in . Übersicht 33.18 aufgeführt (auszugsweise nach DIMDI, Deutsches Institut für Dokumentation 2007). In das OPS-Vorschlagsverfahren für das Jahr 2008 wurde von einer Arbeitsgruppe der Frührehabilitationseinrichtungen mehrerer Bundesländer zusätzlich ein detaillierter Katalog der therapeutischen Pflegeleistungen eingebracht, die zusammen mit den von Therapeuten erbrachten Behandlungen die geforderten 300 Minuten im Tagesdurchschnitt erfüllen (Hagen et al. 2007). Aktuelle DRG-Ziffern und außerhalb des Katalogs zu vergütende Ausnahmen sind in . Übersicht 33.19 dargestellt.
33
546
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
. Übersicht 33.18. Mindestvoraussetzungen für Phase-B-Behandlung laut OPS Ziffer 8-552
. Übersicht 33.19. DRG in der neurologischen Frührehabilitation (2007)
1.
1.
Fachärztliche Leitung
– Facharzt für Neurologie, Neurochirurgie, physika-
2.
3.
33
4.
lische und rehabilitative Medizin oder Kinder- und Jugendmedizin, mit der Zusatzbezeichnung Neuropädiatrie – Mindestens 3-jährige Erfahrung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation – Neurologischer oder neurochirurgischer Sachverstand ist kontinuierlich eingebunden Standardisiertes Frührehabilitations-Assessment – Feststellung und Beurteilung funktioneller Defizite in mindestens 5 Bereichen – Frührehabilitations-Barthel-Index (Schönle 1995) maximal +30 Punkte bei Behandlungsbeginn Multiprofessionelles Team – Pflege inkl. aktivierend-therapeutischer Pflege durch besonders geschultes Pflegepersonal – Therapiebereiche: Physiotherapie/Krankengymnastik, Physikalische Therapie, Ergotherapie, Neuropsychologie, Logopädie/fazioorale Therapie – Insgesamt 300 Tagesminuten Therapie und tägliche therapeutische Pflege für die Dauer der Behandlung Wöchentliche Teambesprechung – Mit Behandlungsergebnis und -plan
jÖffnungsregelungen Viele Phase-B-Einrichtungen werden inzwischen auf jährlichen Antrag einzeln oder auch bundeslandsweise (z.B. in Bayern) als »Besondere Einrichtung« aus dem Fallpauschalensystem herausgenommen. Diese Regelungsweise war ursprünglich nur für die Einführungsphase des Fallpauschalensystems vorgesehen. Eine wirtschaftlich begründete Gefährdung des vorhandenen Versorgungsangebotstands von Phase B ergibt sich daraus, dass die Sicherung des fallbezogenen Entgelts für die nach der Aufenthaltsdauer bemessenen Kosten von den jeweiligen Verhandlungen mit den Kostenträgern abhängt und somit nicht garantiert ist. Eine weitere Gefährdung entstünde, wenn Akutkliniken der Versuchung erlägen, eine zusätzliche vergütete Weiterbehandlung durch Gründung einer eigenen Phase B zu schaffen, ohne jedoch die Erfordernisse von rehabilitativem Umfeld, Erfahrungspotenzial und Qualitätsvoraussetzungen im gleichen Maß sicherzustellen wie die vorhandenen PhaseB-Fachkliniken. Die Erfahrungen mit dem DRG-basierten Vergütungssystem sind noch abzuwarten. Einige Phase-B-Einrichtungen haben es mit den o.g. Sonder- und Öffnungsregelungen schon als praktikabel bewertet. Die DGNR (Deutsche Gesellschaft für Neurorehabilitation) und andere neurologisch-rehabililitative
2.
Vergütung nach dem Fallpauschalenkatalog – B42A Frührehabilitation bei Erkrankungen und Störungen des Nervensystems <27 Tage, ohne Beatmung >95 h – (mit neurologischer Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls) – B42B Frührehabilitation bei Erkrankungen und Störungen des Nervensystems <27 Tage, ohne Beatmung >95 h (ohne neurologische Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls) Vergütung außerhalb des Fallpauschalenkatalogs (Öffnungsklausel) – B43Z Frührehabilitation >27 Tage oder mit Beatmung >95 h – A43Z Wachkoma und Locked-in-Syndrom – W40Z Polytrauma – B61Z Akute Erkrankungen/Verletzungen des Rückenmarks – Anerkennung als »Besondere Einrichtung« (zeitlich befristet, jährliche Neuverhandlung) (Bertram u. Brandt 2007)
Fachgesellschaften und Arbeitsgemeinschaften streben Nachbesserungen im vorhandenen DRG-System, in erster Linie aber alternative Lösungen an (DGNR 2006). > Ein Erhalt der Einrichtungen nach §108/109 und §111 SGB V nebeneinander wird allgemein befürwortet, solange beide leistungsrechtlichen Zulassungsformen parallel existieren.
Als alternative Lösungen werden diskutiert: 4 Favorisiert wird vor allem die Ausgliederung der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation aus dem DRG-Katalog in Analogie zur Psychiatrie. Bis dahin wird übergangsweise der Weg der jährlichen Herausnahme als besondere Einrichtung angestrebt, solange diese Regelung noch existiert. 4 Eine tageweise Vergütung im Sinne der Bundespflegesatzverordnung wird von vielen Seiten als geeigneter angesehen. 4 Ein Vergütungssystem für Phase B auf Basis von FRG (Function Related Groups) analog zu Regelungen in den USA und Australien (Bertram u. Brandt 2007) wäre eine mögliche Alternative, jedoch müssten diese FRG in Deutschland erst entwickelt werden. Die Mitarbeit bei entsprechendem Auftrag des für die Fallpauschalenregelung zuständigen Gesetzgebers wurde von den neurologisch-rehabilitativen Fachgesellschaften bereits vor Jahren signalisiert.
33
547 33.9 · Gesundheitspolitische Aspekte
33.9.3
Politische und ethische Aspekte
jPolitische Aspekte Die Frührehabilitation ist teuer und muss ihren Aufwand angesichts des zunehmenden Kostendrucks im Gesundheitswesen rechtfertigen. In den letzten 20 Jahren ist die Aufenthaltsdauer drastisch gesunken, in den meisten Zentren um die Hälfte oder noch stärker. Dies bildet Qualitätsverbesserungen ab, liegt aber auch an früheren Behandlungsabbrüchen, weil die Erfahrungen eher erlauben, bei fehlendem Fortschritt die intensive Therapie zumindest vorläufig zu beenden. Für solche Fälle sind in Deutschland in den letzten Jahren Einrichtungen der Rehabilitationsphase F geschaffen worden, wo die Rehabilitation im Pflegeheim fortgeführt werden kann, soweit dies zuhause nicht möglich ist. Dadurch ist die durchschnittliche Verweildauer für Erwachsene allgemein auf wenige Wochen gesunken. Der Anteil von Behandlungszeiten über 4–5 Monate ist inzwischen in der Frührehabilitation älterer Erwachsener nicht sehr hoch, in Einzelfällen ist jedoch eine längere Behandlungsdauer notwendig. Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind aus vielen Gründen längere Zeiten sinnvoll: Wesentlich dabei sind 4 zum einen die bessere Regeneration, die sich in einem besseren Outcome zeigt, und 4 zum anderen die Notwendigkeit, nach der Hirnläsion für mehrere Jahrzehnte neue Lebensperspektiven zu schaffen. Dies darf in der gesundheitspolitischen Situation nicht vergessen werden. Unter Kostendruck wird an jedem Behandlungstag geknausert, für die Betroffenen – und die Gesellschaft – geht es indessen um die bestmöglich erreichbare Lebensqualität für die nachfolgenden Jahre bis Jahrzehnte. Bei der Abwägung solcher Aspekte sind folgende Argumente zu bedenken: 4 Es handelt sich um schwerkranke bzw. schwerstgeschädigte Menschen. 4 Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Versicherten ist verschwindend gering. 4 Für sie gibt es keine vergleichbare Alternative zur stationären Rehabilitation. 4 Anderen Erkrankten wird mehrjähriger und hoher Aufwand (Dialyse, Transplantation) auch nicht vorenthalten. Eine systematische Rehabilitation und Pflege derart schwer geschädigter Patienten ist initial nur stationär möglich. In der neurologischen Frührehabilitation geht es darum, zunächst günstige Bedingungen für die Reorganisation des Hirns/Nervensystems zu schaffen; dies ist nur in einer hinsichtlich Art und Menge der Außenreize geregelten Umgebung möglich. Des Weiteren geht es darum, trotz schwerer Hirnschädigung ein systematisches Lernen und Üben zu ermöglichen. Dies erfordert Zeit. Die Dauer einer solchen Therapie lässt sich nicht wesentlich unter ein bestimmtes Mindestmaß kürzen, ohne Sinn und Qualität der Therapie insgesamt zu verspielen. Man kann zwar die Arbeit des Personals intensivieren, es gibt aber physiologische Belastbarkeitsgrenzen der Patienten, und Grenzen der Lernfähigkeit, die selbst für Gesunde gelten.
Wie in der Lernpsychologie belegt ist, kann zu stark forciertes oder zu sehr massiertes Lernen den Lernfortschritt verhindern. Frührehabilitation bei schwer Hirngeschädigten kann man nicht beliebig beschleunigen, durchrationalisieren und abkürzen. Vergleichbare Beschleunigungsgrenzen finden sich im Schulwesen. Niemand schlägt ernsthaft vor, die Schulzeit auf 4 Jahre zu begrenzen. Entsprechend sinnwidrig wäre es, die durchschnittliche Dauer der Frührehabilitation auf 6 Wochen zu begrenzen. Folgen wären schlechtere Behandlungsergebnisse und entsprechend über Jahre anhaltend höhere Folgekosten. Es darf nicht vergessen werden, dass nach Ablauf der ersten Monate sogar bei weiterhin als (nach bisherigen Kriterien) »apallisch« eingestuften Menschen die Lebenserwartung etliche Jahre beträgt (Minderhoud 1985, Minderhoud 2003), entsprechend länger bei besserem Outcome. jEthische Aspekte Auch Menschen im Wachkoma haben Anspruch auf eine vollwertige Behandlung. Von moraltheologischer Seite wird darauf hingewiesen, dass im christlichen Menschenbild der Mensch nicht nur durch seine Intellektualität definiert ist, sondern als Einheit von Seele und Leib. Leibliche Grundbedürfnisse des Menschen sind Hunger und Durst, sie zu stillen gebietet die Achtung der Menschenwürde. Aus theologischer Sicht gehört somit Ernährung grundsätzlich zu den Mitteln, die hinsichtlich der Lebenserhaltung verhältnismäßig sind. Dagegen können im Einzelfall Maßnahmen unverhältnismäßig sein, die eher schaden oder nicht mehr sicher nützen (Kieltyka 2006). Ähnlich wird von evangelischer Seite gewarnt, den Anspruch auf selbstbestimmtes Leben absolut zu setzen und nur noch »gelingendes« Leben als vollwertig anzusehen. Menschen, die wegen Behinderung ihr Leben nicht autonom gestalten können, haben das Recht auf Unversehrtheit und angemessene Behandlung (Schneider-Flume 2002). Letztlich haben die Patienten ein Recht darauf, dass ihre Defizite so gut behandelt werden, wie dies mit heutigem Kenntnisstand möglich ist. Auch dann wird ihr Leben nicht einfach sein. Man sollte sich bemühen, sich die Situation neurologisch schwer behinderter Menschen vorzustellen. Solche Menschen zwingen uns zu bekennen, wie viel oder wenig Respekt wir überhaupt vor dem Leben anderer Menschen haben. Unsere Haltung dazu hat der amerikanische Rehabilitationsneurologe N.D. Zasler schon 1996 in folgende Worte gefasst:
» Quality of life must be seen first from the standpoint of the patient and second from the standpoint of the family. Clinician opinions should rank tertiary, with payor opinions last. Severe disability may seem poor quality of life to one person, but seem quite acceptable to another given the potential options including VS (vegetative state) and/or death.
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»
Übersetzt: Lebensqualität muss in erster Linie vom Standpunkt des Patienten aus gesehen werden, in zweiter Linie vom Standpunkt der Familie aus. Die Meinung des Arztes soll6
548
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
te an dritter Stelle stehen, und die des Kostenträgers an der letzten Stelle. Eine schwere Behinderung mag für den einen Menschen ein armseliges Leben bedeuten, für den anderen Menschen aber durchaus akzeptabel erscheinen, wenn er an die möglichen Alternativen denkt, nämlich vegetativer Zustand und/oder Tod. (Zasler 1996)
«
33.10
Fortführung der Rehabilitation in Phase F
Sollte im Verlauf der Frührehabilitation eine Stagnation über mehrere Wochen anhalten, erscheint die Beendigung von Phase B und die Weiterverlegung des Patienten in eine PhaseF-Einrichtung angezeigt. Dort werden im Grunde sämtliche Therapieverfahren und -inhalte, die in der Frührehabilitation erfolgreich erprobt und erfahren wurden, in abgestufter Frequenz fortgeführt. > In Phase F wird eine Frequenz von 8 Übungstherapien pro Woche angestrebt.
33
jPhase-F-Einrichtungen In Phase-F-Einrichtungen haben sich Funktionseinheiten von 12–24 Betten in Ein- oder Zwei-Bett-Zimmern bewährt, eine Isolationsmöglichkeit für Patienten mit Problemkeimbesiedelung muss vorgehalten werden. Auf Stationsebene sollten wenigstens ein gemeinschaftlich genutzter Therapieraum, ein Gemeinschaftsraum sowie ein Snoezel-Raum zur Verfügung stehen. Sämtliche der innerhalb der Frührehabilitation eingesetzten Therapieverfahren und Diagnostikmethoden sind weiterhin verfügbar. Übungstherapien und Therapiepflege im Rahmen einer Phase-F-Einrichtung sollten unter fachärztlicher neurologischer Leitung stattfinden, idealerweise durch einen Neurologen mit Rehabilitationserfahrung. Eine enge Kooperation mit Haus- und Fachärzten stellt das Therapiemanagement für begleitende Erkrankungen und Therapieprobleme sicher. Im Bereich der Facharztgruppen sind besonders die Gebiete HNO, Urologie und Chirurgie zu berücksichtigen. > Die besondere Kompetenz von Phase-F-Einrichtungen in Abgrenzung zu üblichen Pflegeheimen, aber auch zu Phase-B-Einrichtungen oder Akutstationen liegt in den Bereichen 4 Management von Trachealkanülen und Beatmung, 4 Dekubitusprophylaxe, 4 Wundmanagement und 4 Umgang mit vegetativen Dysregulationen und Tonusanomalien.
jStrukturmodell Die Pflegeplanung orientiert sich an den Aktivitäten und existenziellen Erfahrungen des Lebens (AEDL) (Roper 1976, 1987). Dieses Strukturmodell postuliert, dass die Realisierung der Lebensaktivitäten Einfluss hat auf Leben und Gesundheit, diese aber auch wiederum davon abhängen, wie Men-
schen mit existenziellen Erfahrungen des Lebens umgehen können, die sie im Zusammenhang mit der Realisierung ihrer Lebensaktivitäten machen. Selbsterfahrungsberichte und Beobachtungen von Angehörigen und Betreuern schildern ein verändertes Erleben von Menschen im sog. Wachkoma (Zieger 2002a), z.B. 4 Illusionen, 4 Verkennungen und Täuschungen, 4 ein bizarres Körperselbst, 4 »ver-rückte Körperproportionen« oder 4 Out-of-body-Erfahrungen. Pflege- wie Therapiekräfte sollten Erfahrungen im Bereich der nonverbalen Kommunikation besitzen. Signale wie Mimik,
Gestik oder Körperhaltung müssen – im biographischen Kontext – erkannt und verstanden werden. Früh in Kontakt mit den Angehörigen und Betreuern erfassen die Bezugspflegekräfte im Rahmen eines halbstandardisierten Interviews Lebensgeschichte, Erfahrungen und Ansichten des Betroffenen. Die in . Übersicht 33.20 dargestellten Merkmale sind daher als Qualitätskriterien einer hochwertigen Betreuung von Wachkoma-Patienten festzuhalten (Bienstein 2001). . Übersicht 33.20. Qualitätskriterien der Betreuung von Patienten im Wachkoma 1. 2.
3. 4. 5. 6.
Gleichberechtigung: Akzeptierende und wertschätzende Einbeziehung aller Beteiligten Kompetenz: Fähigkeiten, Rhythmen, Grenzen und Entwicklungspotenziale des Betroffenen erkennen und darauf eingehen können Transparenz: Alle Entscheidungen sind allen Beteiligten zugänglich und nachvollziehbar Kontinuität: Durchgehendes Beziehungsangebot und Beständigkeit Kooperation: Vernetzung und integrative Zusammenarbeit Regelmäßigkeit hinsichtlicht der Tages- und Gesamtabläufe
Diese Kriterien sind in personen-, prozess- und strukturbezogenen Qualitätskategorien überprüfbar. Zur Ermittlung von Gefahrenpotenzialen ist eine standardisierte Dokumentation etabliert: 4 Braden-Skala zur Ermittlung der Dekubitusgefährdung (einmal pro Monat) (Braden 1987), 4 Bewegungsanalyse zur Ermittlung der Kontrakturgefährdung (einmal pro Monat), 4 Ernährungszustand zur Ermittlung von Gefahrenpotenzialen im Bereich Ernährung inkl. Sondennahrung und damit verbundener Aspirationsgefahr (einmal pro Monat), 4 EFA-Skala zur Evaluation der Pflege- und Therapieplanung (einmal pro Monat) (Heck 1996). Im Gegensatz zu den Abläufen in üblichen Pflegeheimen sollten – wie sonst nur im Krankenhaus üblich – regelmäßige
549 33.11 · Literatur
wöchentliche Visiten stattfinden, gemeinsam oder getrennt durch Neurologen und Hausarzt. Einmal monatliche Teamkonferenzen mit Teilnahme aller pflegerisch und therapeu-
tisch Tätigen geben Gelegenheit, den Verlauf zu erfassen. Mehr als in der vorgeschalteten Phase B steht jetzt neben dem rehabilitativen Anspruch von Förderung und Wiedererlangen der Selbständigkeit und Unabhängigkeit auch das Wohlbefinden des Betroffenen im Zentrum der therapeutischen Zielsetzung. Methodisch finden fünf unterschiedliche Ebenen der Hilfestellung Anwendung, aufgelistet in . Übersicht 33.21. . Übersicht 33.21. Ebenen der Hilfestellung in Phase F 1. 2. 3. 4. 5.
Für den Betroffenen handeln Den Betroffenen führen und leiten Den Betroffenen unterstützen Für eine Umgebung sorgen, die einer positiven Entwicklung förderlich ist Den Betroffenen und/oder seine persönlichen Bezugspersonen anleiten, beraten, unterrichten und fördern
jLeitgedanke von Phase F Die Stärke einer Phase-F-Einrichtung ist besonders der längerfristige Bezugs- und Therapierahmen in vertrauter Umgebung durch die Organisation mit Bezugspflegekräften und -therapeuten sowie die Einbindung der Angehörigen. Als Leitgedanke ist zu fassen: »Menschliches Leben, Handeln und Bewusstseinsentwicklung geschehen durch Bindung und Beziehung zu anderen Menschen« (Krohwinkel 1998). Der Mensch wird in seiner Ganzheit und Individualität von Körper, Geist und Lebensgeschichte betrachtet, und die Therapiepflege orientiert sich daher an den individuellen Fähigkeiten, Bedürfnissen, Ressourcen und Problemen. Aus dieser Einstellung heraus wird es möglich, Wachkoma-Patienten als Menschen mit ihrer ganz individuellen Lebensgeschichte und Lebenserfahrung zu betrachten. Sie haben ein »absolutes Recht auf Integration und Teilnahme am Zusammenleben mit anderen Menschen« (Zieger 2002b). ! Cave Wichtig bleibt herauszustellen, dass es sich bei Phase F keineswegs um eine Sackgasse oder Endphase handelt. Diese Patienten sind keine »Sterbenden« oder gar »Hirntoten«. Die Rückkehr in andere Rehabilitationsphasen ist im Sinne einer Intervallbehandlung jederzeit möglich, wenn sich aufgrund des Verlaufs ein neuer Therapieauftrag oder ein neues Therapieziel ergibt.
Praxistipp Besonders beachtenswert erscheint eine gesetzliche Änderung, nach der seit 1.4.2007 die Therapiepflege innerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherungen anzusiedeln ist. Dies bedeutet einen entsprechend geringeren Beitrag, der von der Pflegekasse zu leisten ist, was zu einer erheblichen finanziellen Entlastung der Angehörigen führt.
33.11
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33
Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
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Kapitel 33 · Neurologische Frührehabilitation
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34
Assessment und Management medizinischer Komplikationen W. Deppe 34.1 Herz und Kreislauf
– 558
34.1.1 Therapieempfehlungen
– 559
34.2 Thrombose und Thromboembolieprophylaxe
– 560
34.2.1 Thromboseprophylaxe – 560 34.2.2 Thrombosediagnostik – 563 34.2.3 Behandlung: Manifeste Thrombose und Lungenembolie
34.3 Lunge – Atemwege – Immunsystem 34.3.1 Pneumonieprophylaxe
– 563
– 564
34.4 Stoffwechsel und Ernährung 34.4.1 Posttraumatischer Stoffwechsel 34.4.2 Ernährung – 565
– 565 – 565
34.5 Gastroduodenale Ulzera und Blutungen 34.5.1 Ulkusprophylaxe
– 569
– 570
34.6 Endokrinologische Komplikationen
– 570
34.6.1 Hypophysenvorderlappen- Insuffizienz – 571 34.6.2 Störungen der Hypophysenhinterlappenfunktion
34.7 Heterotope Ossifikationen 34.7.1 Diagnostik – 575 34.7.2 Prophylaxe und Therapie
34.8 Literatur
– 576
– 575
– 573
– 572
– 563
558
Kapitel 34 · Assessment und Management medizinischer Komplikationen
Medizinische Komplikationen sind in der neurologischen Rehabilitation häufig. Sie können alle Organsysteme betreffen. Ursächlich sind zentral-vegetative Regulationsstörungen aufgrund von Hirnschädigung, Multimorbidität, Mangelernährung und eine eingeschränkte Mobilität. Besonders schwerwiegend ist das Syndrom der autonomen Dysfunktion mit kardiovaskulärer Instabilität und schwerer motorischer und psychischer Erregung. Eine entscheidende Bedeutung in der Vorbeugung vieler Komplikationen kommt neben der Thromboseprophylaxe der ausgewogenen, bedarfsgerechten und verträglichen Ernährung und der ausreichenden Flüssigkeitszufuhr zu. Dabei ist nach vielen Hirnschädigungen ein deutlich erhöhter Energiebedarf aufgrund einer katabolen Stoffwechsellage zu berücksichtigen. Nach traumatischen Hirnschädigungen, Blutungen und Tumoren führen häufig endokrine Störungen aufgrund einer oft unerkannten Hypophysenschädigung zu lang anhaltenden gravierenden Folgen. Ein Hormonscreening erscheint bei dieser Patientengruppe während der Rehabilitation sinnvoll, eine differenzierte Substitutionstherapie gelegentlich erforderlich. Schwierig in Folgeschäden und Behandlung sind heterotope Ossifikationen in der Muskulatur, wie sie nicht selten nach Querschnittslähmungen und schweren Hirnschädigungen auftreten. Bei Risikopatienten sollte eine Prophylaxe mit Indomethacin erfolgen.
34
Das Gehirn ist nicht nur das zentrale Kontrollorgan von Sensorik und Motorik, sondern greift steuernd und regulierend auch in sämtliche Organfunktionen ein, um die Homöostase im Körper aufrechtzuerhalten und an externe Leistungsanforderungen anzupassen. Es verwundert daher nicht, dass nach Hirn- und Rückenmarksschädigungen Störungen anderer Organfunktionen häufig sind und die neurologische Rehabilitation erheblich komplizieren können. Hinzu kommen 4 Multimorbidität vieler neurologischer Patienten und 4 erhöhte Erkrankungsrisiken durch die meist deutlich verminderte Mobilität. Näher betrachtet Studie: Komplikationsrate In einer großen prospektiven Studie mit ca. 1.000 Patienten in der Rehabilitation nach Schlaganfall fand sich bei 75% mindestens eine medizinische Komplikation, die klinisch symptomatisch war (Roth et al. 2001) (. Tab. 34.1). Die Komplikationen verteilen sich über eine große Spanne von Krankheiten und Beschwerden. Die häufigsten nicht-neurologischen oder psychiatrischen Komplikationen sind 4 Harnwegsinfekte, 4 muskulo-skelettale Schmerzen, 4 Stürze, 4 Dehydratation und 4 Arzneimittelreaktionen. Auch nach anderen Schädigungen wie schweren SchädelHirn-Traumata oder Rückenmarksverletzungen ist die Komplikationsrate sehr hoch, wie die Erfahrungen in der neurologischen Frührehabilitation zeigen. Zudem sind noch Störungen zu berücksichtigen, die erst verzögert oder durch wenig eindeutige Symptome offenbar werden wie z.B. hormonelle Dysregulationen.
. Tab. 34.1. Häufigkeit medizinischer Komplikationen nach Schlaganfall Komplikation
Roth et al. (n=1.029) in %
Andere Studien in %
Harnwegsinfektionen
30,5
7–28
Gelenk- oder Weichteilschmerzen
14,2
4–30
Dehydratation
10,0
Arzneimittelreaktionen
9,4
Elektrolytstörungen
7,8
Anämien
6,0
Mangelernährung
4,7
Dekubitus
4,3
3–18
Tiefe Venenthrombosen
4,1
1–4
Pneumonien
4,0
7–21
Kardiale Arrhythmien
3,2
Gastroenteritiden
3,2
Gastrointestinale Blutungen
3,1
Angina pectoris
2,9
Lungenembolien
1,1
Stürze (mit Verletzung)
10,5
1–10
Depressionen
13,0
1–50
Epileptische Anfälle
1,5
1–5
Anteil von Patienten mit Komplikationen insgesamt
75,0
40–96
(Roth et al. 2001)
34.1
Herz und Kreislauf
Jedes schwerere Schädel-Hirn-Trauma, jede größere Hirnblutung und jeder schwerere Hirninfarkt lösen eine ausgeprägte, nicht selten bis in die Phase der Frührehabilitation anhaltende Stressreaktion aus. Dabei kommt es meist zu einem deutlichen Anstieg der Katecholaminkonzentrationen im Blutplasma, v.a. von Noradrenalin (Clifton et al. 1981, Cruickshank et al. 1987, Hörtnagl et al. 1980, Myers et al. 1981) und etwas verzögert zur Erhöhung des Kortisolspiegels. Neben der Stressreaktion spielt auch die Lokalisation der Läsion und eine dadurch bedingte Reizung oder Schädigung vegetativer Zentren eine Rolle. Bei Hirnstamminfarkten wurden im Durchschnitt substanziell höhere Noradrenalinkonzentrationen im Plasma ge-
559 34.1 · Herz und Kreislauf
funden als bei supratentoriellen Infarkten (Myers et al. 1981). Besonders häufig führen auch Läsionen 4 im Hypothalamus (Ncl. paraventricularis), 4 im orbitofrontalen Kortex oder 4 in der Inselrinde (Orte der kortikalen Regulation von Sympathikus und Parasympathikus) zu katecholaminvermittelten Herz-Kreislauf-Komplikationen (Labi 1996). Die Aktivierung des sympathischen Nervensystems ist in der Akutphase fraglos eine sinnvolle biologische Reaktion und trägt v.a. zur Gewährleistung einer ausreichenden Hirnperfusion und zerebralen Sauerstoffversorgung bei. Doch darüber hinaus zeigen zahlreiche Patienten nach 4 Schlaganfall, 4 Subarachnoidalblutung oder 4 Schädel-Hirn-Trauma (SHT) nicht nur einen permanent erhöhten Blutdruck, sondern auch Herzrhythmusstörungen und Myokardischämien bis hin
zum manifesten Herzinfarkt auch ohne vorbestehende Herzerkrankung (Dimant u. Grob 1977, Myers et al. 1982, Übersicht bei Talman 1985). Beispielsweise fanden sich bei 11% von 230 Schlaganfallpatienten und auch bei SHT-Patienten erhöhte CK-MB-Werte mit korrespondierenden EKG-Veränderungen als Hinweis auf eine akute Myokardschädigung (Cruickshank et al. 1987, Norris et al. 1979). Die häufigsten EKG-Veränderungen sind 4 QT-Verlängerungen, 4 ST-Senkungen, 4 T-Wellen-Inversionen, 4 U-Wellen und 4 ST-Hebungen (Talman 1985). Auch wenn der größte Teil dieser Veränderungen passager ist, tragen Herzrhythmusstörungen und kardiale Ischämien zu einem nicht unerheblichen Teil zu Mortalität und Morbidität der akuten und postakuten Phase bei. Es liegt daher auf der Hand, dass Patienten in der Frührehabilitation nicht nur einer engmaschigen neurologischen, sondern auch einer ebenso sorgfältigen kardiovaskulären Überwachung und Behandlung bedürfen. jSyndrom der autonomen Dysfunktion Bei Patienten mit schwerer zerebraler Schädigung, die längere Zeit komatös waren, zeigt sich oft ein erneuter deutlicher und länger anhaltender Noradrenalinanstieg in frühen Remissionsphasen (Hörtnagl et al. 1980). Korrespondierend dazu findet sich nicht selten ein Zustandsbild, das sich am besten als autonome Dysfunktion (Rossitch u. Bullard 1988) oder paroxysmale autonome Instabilität (Blackman et al. 2004) bezeichnen lässt. Das Syndrom der autonomen Dysfunktion (Syndrom der paroxysmalen autonomen Instabilität) ist durch die in . Übersicht 34.1 aufgelisteten Symptome gekennzeichnet.
. Übersicht 34.1. Symptome bei einem Syndrom der autonomen Dysfunktion 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Tachykardie Arterielle Hypertonie Starkes Schwitzen Muskeltonuserhöhung und Spasmen Motorische Unruhe, u.U. Myoklonien Tachypnoe und gesteigerte Bronchialsekretion
Das Syndrom der autonomen Dysfunktion ähnelt klinisch dem Alkoholentzugssyndrom und geht wie dieses mit stark erhöhten Noradrenalinspiegeln einher. Dabei kommt es nicht selten zu lebensbedrohlichen Zuspitzungen. Pathophysiologisch werden diskutiert, 4 einerseits die paroxysmale Erregung di- und mesenzephaler vegetativer Regulationskerne und 4 andererseits ein Verlust hemmender di- oder mesenzephaler Einflüsse auf die spinale vegetative Regulation (Baguley et al. 2008). Häufig, aber nicht immer lassen sich exo- oder endogene Auslöser finden, wie 4 Schmerz, 4 zu viele/zu starke sensorische Reize oder 4 Angstgefühle. Die Symptomatik kann auch durch ein tatsächliches Entzugssyndrom nach intensivmedizinischer Langzeitbehandlung mit Benzodiazepinen, Barbituraten oder Opiaten mitverursacht sein.
34.1.1
Therapieempfehlungen
jSympathikotone Regulationsstörungen Für die Therapie sympathikotoner Regulationsstörungen werden entsprechend der zugrunde liegenden Pathophysiologie in erster Linie β-Sympathikolytika empfohlen. Damit lassen sich Herzfrequenz und Blutdruck erheblich senken (Robertson et al. 1983). Auch der Anteil von Patienten mit CK-MBErhöhung konnte um über drei Viertel vermindert werden (Cruickshank et al. 1987). ! Cave In der Frührehabilitation sollten vermieden werden: 4 Vasodilatanzien wie Nitropräparate und Dihydralazin sowie 4 Kalziumantagonisten (außer Nimodipin), da sie potenziell hirndrucksteigernd wirken (Hayashi et al. 1988).
34
560
Kapitel 34 · Assessment und Management medizinischer Komplikationen
> Eine Blutdrucksenkung sollte bei Schlaganfallpatienten in der Akut- und Postakutphase nur schonend erfolgen, um die zerebrale Perfusion nicht zusätzlich zu gefährden. Eine medikamentöse Blutdrucksenkung ist daher in der Akutphase erst bei Werten von systolisch >200mm Hg oder diastolisch >120 mmHg geboten (Yatsu u. Zivin 1985, Oliveira-Filho et al. 2003).
jParoxysmale autonome Instabilität 4 Bei der Behandlung der paroxysmalen autonomen Instabilität kommen zunächst β-Sympatholytika zum Einsatz. Bei schwereren Ausprägungen hat sich ähnlich wie bei Entzugssyndromen die Anwendung von Clonidin bewährt, das mit einem zentralen Angriffspunkt den erhöhten Sympathikotonus senkt. Clonidin ist bei i.v.-Gabe über Perfusor sehr gut steuerbar, hemmt zusätzlich die gesteigerte Bronchialsekretion, lässt den Atemwegswiderstand relativ unbeeinflusst (Vorteile gegenüber β-Sympathikolytika) und hat eine leicht analgetische und muskeltonussenkende Wirkkomponente. Praxistipp Als Bedarf ergibt sich gewöhnlich eine Dosis von 0,02– 0,06 mg/h (je nach Körpergewicht); bei krisenhaften Zuspitzungen sind jedoch kurzzeitig auch Dosen von bis zu 0,3 mg/h im Einzelfall möglich.
34
! Cave Gegen einen lang dauernden Einsatz von Clonidin sprechen die häufige Entwicklung von Darmatonien bis hin zum paralytischen Ileus sowie tierexperimentelle Befunde, die eine verschlechterte Erholung nach zerebraler Schädigung unter Clonidin zeigen (Goldstein u. Davis, 1990). 4 Ferner werden Opiate, Benzodiazepine (Diazepam, Midazolam) und Bromocriptin zur Behandlung empfohlen (Übersicht bei Lemke 2004 und Kishner et al. 2006). 4 Als ultima ratio kommt auch die frühe intrathekale Behandlung mit Baclofen über eine Medikamentenpumpe in Betracht (Becker et al. 2000). Praxistipp In jedem Fall ist ein individualisiertes Vorgehen erforderlich.
jPostapallische Remissionsphasen In postapallischen Remissionsphasen, in denen psychoreaktive Auslösefaktoren wie Angst eine größere Bedeutung gewinnen, lassen sich mit guter Wirksamkeit niedrigpotente Neuroleptika wie Levomepromazin oder Chlorprothixen einsetzen. Wegen der besseren Steuerbarkeit und einer intrinsischen peripher-sympathikolytischen Wirkung ist ihnen der
Vorzug gegenüber Benzodiazepinen zu geben, sofern nicht unerwünschte Wirkungen wie zerebrale Krampfanfälle ihren Einsatz begrenzen. Neben der Pharmakotherapie sind nicht-medikamentöse Maßnahmen wie z.B. 4 spezielle Lagerungen (Flektion, Bauchlage), 4 beruhigende vestibuläre Reize (z.B. ruhiges Schaukeln in einer Hängematte), 4 Regulation des sensorischen Inputs und Musiktherapie von ebenso großer Bedeutung (Freivogel et al. 1997).
34.2
Thrombose und Thromboembolieprophylaxe
jHäufigkeit und Risikoassessment Tiefe Beinvenenthrombosen (TVT) und daraus entstehende Lungenembolien stellen besonders bei Patienten in frühen Rehabilitationsphasen oder bei multimorbiden Patienten eine der häufigsten und gefährlichsten Komplikationen dar. Mehrere Studien ergaben bei Schlaganfallpatienten ein Risiko für TVT ohne Prophylaxe von 50–72%, für eine Lungenembolie von 13–20% (McCarthy u. Turner 1986, Hamilton et al. 1994, Kelly et al. 2004, Kamphuisen et al. 2005). Bei polytraumatisierten Patienten beträgt die TVT-Inzidenz zwischen 50–65%, bei Rückenmarksverletzungen zwischen 39–90% und in gemischten neurochirurgischen Patientenpopulationen zwischen 20–50% (Geerts et al. 1994, Attia et al. 2001), wenn mit verschiedenen gefäßdiagnostischen Verfahren auch klinisch nicht apparente Thrombosen erfasst werden. > Eine Lungenembolie ist die häufigste Todesursache bei neurochirurgischen und mit etwa 15% eine der Haupttodesursachen bei Patienten nach akut überstandenem Schlaganfall (Hamilton et al. 1994).
Generell ist das Risiko für eine tiefe Beinvenenthrombose und eine Lungenembolie für Patienten nach Hirninfarkt oder intrazerebraler Blutung mindestens so hoch wie für Patienten mit schwereren internistischen Erkrankungen der gleichen Altersgruppe (Thromboembolic Risk Faktors Consensus Group 1992). Patienten mit einer Hemi- oder Paraplegie gehören zur höchsten Risikogruppe (. Tab. 34.2). Wichtig für die Beurteilung des individuellen Risikos sind neben Erkrankungsschwere und Grad der Immobilität eine Anamnese und Untersuchung bzgl. früherer Thrombosen, familiärer Belastung u.a. Bei jungen Schlaganfallpatienten ist an die Möglichkeit einer spezifischen Gerinnungsstörung zu denken. Eine zusammenfassende Risikoeinschätzung ist anhand von . Übersicht 34.2 möglich.
34.2.1
Thromboseprophylaxe
Zur Thromboseprophylaxe stehen sowohl physikalische als auch pharmakologische Methoden zur Verfügung.
561 34.2 · Thrombose und Thromboembolieprophylaxe
. Tab. 34.2. Inzidenz von tiefen Beinvenenthrombosen und tödlichen Lungenembolien nach Risikogruppen Geringes Risiko
Mittleres Risiko
Hohes Risiko
Tiefe Beinvenenthrombose (gesamt)
<10%
10–40%
40–80%
Proximale Bein- oder Beckenvenenthrombose
<1%
1–10%
10–30%
Tödliche Lungenembolie
<0,1%
0,1–1%
1–10%
Risikogruppen
Alter >40 Jahre und geringes Trauma oder kleiner invasiver chirurgischer Eingriff, geringe motorische Behinderung, voll mobilisiert, keine weiteren Risikofaktoren Alter <40 Jahre, rasch volle Mobilisierung, keine weiteren Risikofaktoren
Mittelgradige motorische Behinderung nach zerebraler Ischämie oder Blutung, rollstuhlmobilisiert, keine weiteren Risikofaktoren Schweres Trauma oder schwere internistische Erkrankung (Herz, Lunge, Entzündung, Malignom) ohne weitere Risikofaktoren Geringe motorische Behinderung oder geringes Trauma, aber positive Thromboseanamse oder erhebliche Risikofaktoren
Frische (erste Wochen) Hemi- oder Paraplegie Jede Hemi- oder Paraplegie bei zusätzlich weiteren Risikofaktoren (Poly-)Trauma mit Oberschenkeloder Beckenfrakturen Schweres Trauma oder schwere internistische Erkrankung bei positiver Thromboseanamnese oder erheblichen Risikofaktoren Nach größeren abdominellen, Hüft- oder Beckenoperationen
(modifiziert nach Thromboembolic Risk Factors Consensus Group 1992)
. Übersicht 34.2. Wichtige Faktoren zur individuellen Risikoeinschätzung für TVT und Lungenembolien Patientenabhängige Faktoren 1. Mittleres und höheres Lebensalter 2. Adipositas 3. Varikosis der Beinvenen 4. Frühere TVT oder Lungenembolie 5. Gesteigerte Blutgerinnung, z.B. Antithrombin-IIIMangel, Protein-C- oder Protein-S-Mangel, Antiphospholipid-Antikörper-Syndrom 6. Schwangerschaft 7. Östrogenbehandlung Erkrankungen mit hohem Thromboserisiko 1. Mittelgradiges oder schweres Trauma (v.a. intraabdominelle oder Verletzungen der unteren Extremitäten 2. Schlaganfall oder intrakranielle Blutung 3. Lähmungen der unteren Extremitäten 4. Herzinsuffizienz 5. Malignom, v.a. abdominelles Malignom 6. Infektion, v.a. Wundinfektion, Harnwegsinfekt, Pneumonie, Sepsis 7. Polyzytämie 8. Paraproteinämie 9. Nephrotisches Syndrom
jPhysikalische Verfahren Die physikalischen Verfahren wie 4 Hochlagerung der Beine, 4 Kompressionsverbände, 4 Kompressionsstrümpfe und 4 krankengymnastische Übungen haben als Ziel: 4 Verminderung des venösen Blutvolumens, 4 Aktivierung der Muskelpumpe und 4 Erhöhung des venösen Rückstroms aus den Beinen. > Lediglich die relativ aufwändige intermittierende pneumatische Unterschenkelkompression erreicht jedoch eine vergleichbare Senkung des Thromboserisikos (nicht jedoch des Lungenembolierisikos) wie die medikamentöse Prophylaxe mit Heparin (Clagett u. Reisch 1988, Pambianco et al. 1995).
Der Vorteil der physikalischen Verfahren liegt vor allem darin, dass sie kein erhöhtes Blutungsrisiko bedingen. Dies ist besonders für Patienten in der Akutphase nach intrakraniellen oder spinalen Blutungen bedeutsam (Geerts et al. 2008). 4 Eine Thromboseprophylaxe mit Kompressionsstrümpfen allein empfiehlt sich nur für die Gruppe mit geringem TVT-Risiko. 4 Synergistisch zur medikamentösen Prophylaxe bewirken Kompressionsstrümpfe bei Patienten mit mittlerem oder hohem TVT-Risiko eine zusätzliche Risikoreduktion um etwa ein Drittel (Lassen et al. 1991, Nurmohamed
34
562
Kapitel 34 · Assessment und Management medizinischer Komplikationen
et al. 1996, Levine et al. 1996) und sollten routinemäßig durchgeführt werden (Dt. Gesellschaft für Phlebologie 1999), wobei bei Schlaganfallpatienten kontroverse Ansichten bestehen (Mazzone et al. 2003, Dennis 2004, André et al. 2006). Praxistipp Kompressionsstrümpfe gibt es in vier verschiedenen Kompressionsklassen. Sie sollten individuell angemessen und angefertigt werden (Dt. Gesellschaft für Phlebologie 2004, Schwaller u. Geng 2005).
jMedikamentöse Prophylaxe 4 Die medikamentöse Prophylaxe mit subkutan injiziertem niedrig dosiertem Heparin (aus Schweinedarmmukosa) 2–3×5000 IE reduziert das Risiko von TVT und tödlichen Lungenembolien um etwa zwei Drittel (Collins et al. 1988, McCarthy u. Turner 1986). 4 Als vergleichbar oder sogar besser wirksam haben sich die niedrigmolekularen Heparine (LMWH) erwiesen, die aufgrund längerer Halbwertszeit und höherer Bioverfügbarkeit den Vorteil der nur 1-mal täglichen Injektion haben (Thromboembolic Risk Factors Group 1992, Hamilton et al. 1994, Hillbom et al. 2002, Worley et al. 2008). Sie sind zudem kostengünstiger.
34
Das Blutungsrisiko ist unter einer Low-dose-Heparinprophylaxe sowohl bei Schlaganfallpatienten (McCarthy u. Turner 1986) als auch bei neurochirurgischen Patienten nach Kraniotomie (Cerrato et al. 1978) nicht nennenswert erhöht. ! Cave Ein Problem kann bei einzelnen Patienten (<1%) eine allergische Reaktion in Form einer heparininduzierten Thrombozytopenie sein, die eine Umstellung auf eine andersartige Prophylaxe notwendig macht. Praxistipp Niedrigmolekulare Heparine in gewichtsadaptierter Dosierung bilden gegenwärtig den Kern der evidenzbasierten Prophylaxe (1-mal tägliche Anwendung s.c.) Auch zur Therapie einer manifesten tiefen Beinvenenthrombose oder Lungenembolie sind sie anstelle einer intravenösen Heparin-Dauerinfusion bei 2-mal täglicher subkutaner Applikation äquivalent wirksam.
4 In letzter Zeit deutet sich auch ein gutes Nutzen-RisikoVerhältnis, eventuell sogar eine Überlegenheit für das neuartige Antithrombin-potenzierende Pentasaccharid Fondaparinux und ähnliche Substanzen an (Buller et al. 2003, 2004, Weitz u. Bates 2005), so dass es in den amerikanischen Leitlinien als gleichwertige Prophylaxe angeführt wird (Geerts et al. 2008).
. Tab. 34.3. Handlungsempfehlungen zur Thromboseprophylaxe Niedriges Risiko
Mittleres Risiko
Hohes Risiko
Kompressionsstrümpfe
Niedrigmolekulares Heparin 1×täglich s.c. + evt. Kompressionsstrümpfe
Niedrigmolekulares Heparin 1×täglich s.c. + Kompressionsstrümpfe oder Niedrigmolekulares Heparin 2×täglich s.c. + Kompressionsstrümpfe oder Orale Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonist, INRZielwert 2,0–3,0
4 Bei Patienten mit hohem TVT-Risiko ist die Risikoreduktion mit niedrig dosierten Heparinen noch nicht befriedigend. Hier bietet sich zunächst die Kombination mit Kompressionsstrümpfen oder der intermittierenden pneumatischen Unterschenkelkompression an (Frim et al. 1992). Darüber hinaus muss aber auch unter sorgfältiger Risiko-Nutzen-Abwägung eine höher dosierte LMWH-Behandlung oder eine orale Antikoagulation mit Vitamin K-Antagonisten (Cumarinen) erwogen werden. ! Cave Kontraindikationen für Vitamin-K-Antagonisten sind: 4 frischer Hirninfarkt (Gefahr der sekundären Einblutung!), 4 intrakranielle oder spinale Blutung, 4 frisches Schädel-Hirn-Trauma, 4 spinales Trauma und 4 persistierende arterielle Hypertonie. Handlungsempfehlungen zur Thromboseprophylaxe sind in . Tab. 34.3 zusammengefasst.
Über die Dauer der Thromboseprophylaxe bei immobilisierten oder teilmobilisierten neurologischen Patienten liegen leider keine evidenzbasierten Erkenntnisse vor. Sie muss anhand des individuellen Risikoassessments und erreichten Mobilisierungsgrads sowie der aktivierenden Therapien im Bereich der Beine (Physiotherapie, Motomed u.a.) bestimmt werden. ! Cave Bei der Thromboseprophylaxe ist zu berücksichtigen, dass in der ersten Zeit nach einem Trauma oder einem Schlaganfall die Menge gerinnungsaktiver Substanzen im Blut besonders hoch ist und mit der Zeit abnimmt, das inhärente Risiko also sinkt.
563 34.3 · Lunge – Atemwege – Immunsystem
34.2.2
Thrombosediagnostik
Ein nicht unwesentliches Problem im klinischen Alltag ist die rechtzeitige Erkennung einer manifesten Beinvenenthrombose. In Screening-Studien mit Jod-125-markiertem Fibrinogen zeigte sich, dass nur 40–50% aller tatsächlichen TVT mit den typischen klinischen Zeichen 4 Schmerz, 4 Schwellung, 4 Überwärmung, 4 Verfärbung einhergehen und dann meist schon ein Spätstadium anzeigen (Dalen et al. 1986). Entsprechend treten viele Lungenembolien ohne wesentliche klinische Vorzeichen auf. Umso wichtiger ist es für den klinischen Alltag, gefährdete Patienten routinemäßig (z.B. bei den täglichen Visiten) auf Thrombosezeichen zu untersuchen und auch geringe Hinweise auf eine TVT oder Lungenembolie ernst zu nehmen. Ergibt sich ein Thromboseverdacht, muss der Patient rasch weiter untersucht werden. Zur Verfügung stehende Untersuchungen sind in . Übersicht 34.3 aufgelistet. . Übersicht 34.3. Untersuchungsmöglichkeiten bei Verdacht auf Thrombose 1.
2.
3.
4. 5.
6.
34.2.3
D-Dimer-Untersuchung: Hohe Sensitivität, aber geringe Spezifität, geringe Kosten. Kann gut als Screening-Test bei klinisch nur vagem Verdacht eingesetzt werden Dopplersonographie (mit B-Mode-Darstellung): Nicht-invasiv, schnell verfügbar, ausreichende Sensitivität (>85%) nur für proximale Thrombosen Verschlussplethysmographie: Nicht-invasiv, relativ einfach durchführbar, Empfindlichkeit ähnlich wie bei Dopplersonographie Phlebographie: Höchste Diagnosesicherheit, invasiv, relativ aufwändig, meist nur verzögert verfügbar Ventilations-/Perfusions-Szintigraphie: Zur Diagnostik einer Lungenembolie. Unbefriedigende Sensitivität, hoher Zeitaufwand CT-Pulmonalisangiographie: Hohe Spezifität, befriedigende bis gute Sensitivität in der LungenembolieDiagnostik, meist rasch verfügbar und schnell durchführbar
Behandlung: Manifeste Thrombose und Lungenembolie
> Für die Therapie ist besonders wichtig, dass die Gefahr einer Lungenembolie bei proximalen TVT (V. poplitea oder höher) mit 40–50% (!) ganz wesentlich höher ist als bei reinen Unterschenkelvenenthrombosen mit ≤1%.
4 Nachdem über Jahrzehnte die PTT-kontrollierte kontinuierliche intravenöse Behandlung mit unfraktioniertem Heparin die Therapie der Wahl war, ergibt sich in jüngerer Zeit auch in der Behandlung manifester TVT oder Lungenembolien eine Evidenz für die Überlegenheit der LMWH (Enoxaparin, Nadroparin oder Dalteparin) mit 2mal täglicher körpergewichtsadaptierter subkutaner Gabe (Übersicht bei Segal et al. 2007). Bei mindestens gleicher Wirksamkeit zeigen die LMWH ein deutlich geringeres Blutungsrisiko und eine niedrigere Mortalität und sind erheblich kostengünstiger. Als gleichwertige Alternative kommt auch das Pentasaccharid Fondaparinux in Betracht (Buller et al. 2003, 2004; Weitz u. Bates 2005). 4 Nach der initialen Therapie mit einem LMWH über etwa eine Woche wird der Übergang auf eine orale Antikoagulation mit einem Vitamin-K-Antagonisten für weitere 3–6 Monate empfohlen, wobei bei einem INR-Wert von 2–3 das günstigste Nutzen-Risiko-Verhältnis besteht. 4 Eine Weiterbehandlung mit LMWH hat sich als ebenso wirksam und sicher erwiesen (Segal et al. 2007). ! Cave Eine systemische Thrombolysetherapie bei proximaler TVT oder Lungenembolie ist bei neurologischen und neurochirurgischen Patienten angesichts der Blutungsrisiken meist kontraindiziert! 4 Bei hohem Lungenembolierisiko und/oder wiederholten TVT kommt ggf. das Einsetzen eines V.-cava-Schirms in Betracht. > Eine Immobilisierung in den ersten 8–10 Tagen nach Diagnosestellung (Phase der wandständigen Thrombuskonsolidierung) wird heute streng nur noch für proximale TVT gefordert, nicht jedoch für reine Unterschenkelvenenthrombosen.
34.3
Lunge – Atemwege – Immunsystem
Abgesehen von direkten Verletzungen im Rahmen von Polytraumata wie 4 Lungenkontusion, 4 Hämatothorax, 4 Pneumothorax spielen in der Akutphase nach schweren Hirnschädigungen schwere Funktionsstörungen wie das 4 neurogene Lungenödem und 4 ARDS (Adult Respiratory Distress Syndrome) eine große Rolle; ein hoher Anteil der frühen Mortalität ist darauf zurückzuführen. In der späteren Rehabilitation können ebenfalls schwere pulmonale Komplikationen auftreten. Verantwortlich dafür sind die Folgen der akuten Stressreaktion wie
34
564
Kapitel 34 · Assessment und Management medizinischer Komplikationen
4 Minderdurchblutung, 4 Hypermetabolismus sowie 4 geschwächte Immunabwehr. Risikofaktoren für Lungenerkrankungen sind in . Übersicht 34.4 zusammengestellt. . Übersicht 34.4. Risikofaktoren für Lungenerkrankungen in der Rehabilitation 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Bettlägerigkeit Besiedelung mit Problemkeimen Schluckstörungen mit (häufig stiller) Aspiration Tracheostoma Veränderungen des Lungengerüsts infolge einer Langzeitbeatmung Lang dauernde parenterale Ernährung Asthma bronchiale Lungenemphysem
Bezüglich der gestörten Immunabwehr nach schwerer Hirnverletzung zeigen mehrere Untersuchungen 4 eine gestörte T-Lymphozyten-Proliferation, 4 eine T-Helferzellen-Aktivierung, 4 eine Interleukin-2-Rezeptor-Expression sowie 4 eine Störung der neuroglialen Immunkompetenz hin (Melossi et al.1991, Quattrocchi et al. 1991).
34
Dabei scheint die sympathische Überaktivierung im Rahmen der Stressantwort die entscheidende Mediatorrolle zu spielen (Prass et al. 2006). Es kann daher nicht erstaunen, dass Pneumonien und Sepsis sowohl nach Schädel-Hirn-Trauma (Kalisky et al. 1985, Hansen et al. 2008) als auch nach Schlaganfall (Langhorne et al. 2000, Katzan et al. 2003) mit an der Spitze der schwerwiegenden medizinischen Komplikationen stehen. Bei Schlaganfallpatienten werden auch die häufigen (auch unentdeckten!) Schluckstörungen mit rezidivierender Aspiration verantwortlich gemacht (Martino et al. 2005).
34.3.1
Pneumonieprophylaxe
Der sorgfältigen Pneumonieprophylaxe kommt eine hohe Bedeutung in der neurologischen Rehabilitation zu. In . Übersicht 34.5 sind Maßnahmen für die Pneumonieprophylaxe in der neurologischen Rehabilitation zusammengestellt. Ergibt sich klinisch der Verdacht auf eine manifeste bakterielle Pneumonie, z.B. durch 4 Atemprobleme, 4 Husten, 4 Fieber, 4 Auskultationsbefund, 4 granuläre Leukozytose, 4 BSG- oder CRP-Erhöhung,
. Übersicht 34.5. Pneumonieprophylaxe in der neurologischen Rehabilitation 1.
2.
3.
4. 5.
6.
Bei tracheotomierten Patienten sorgfältige Pflege und regelmäßiger (mindestens alle 4–5 Tage) steriler Wechsel der Trachealkanüle, »feuchte Nase« zur Befeuchtung, Anwärmung und Filterung der Atemluft Bei bronchotrachealem Sekretstau medikamentöse Mukolyse durch Inhalationen mit und evt. systemische Gabe von N-Acetylcystein, bei tracheotomierten Patienten steriles tiefes endotracheales Absaugen (»so oft wie nötig – so wenig wie möglich«), ggf. Bronchiallavage mit 10 ml physiologischer NaClLösung Mehrmals tägliche Atemgymnastik mit Thoraxvibrationsmassage (evt. Vibrax-Gerät), Ausstreichen der Interkostalräume (von dorsal nach ventral), Dehn- und Drainagelagerungen, aktivem Atemtraining (soweit möglich) Frühzeitige enterale Ernährung, u.U. über PEG-Sonde Bei schluckgestörten Patienten Vermeidung von Aspiration durch Schlucktraining, geeignete Nahrung und Überwachung bei der Nahrungsaufnahme, ggf. Anlage einer PEG-Sonde Bei chronisch-obstruktiven Atemwegserkrankungen Inhalation mit β2-selektiven Sympathomimetika über Vernebler
sollte auch bei noch fehlendem Erregernachweis (Sputum, Blutkulturen) nicht mit dem Beginn einer Breitspektrum-Antibiose gezögert werden. jKomplikationen bei tracheotomierten Patienten Eine besondere Komplikation bei tracheotomierten Patienten ist die Entwicklung einer Trachealstenose oder einer Tracheomalazie. Die Häufigkeit von funktionell wirksamen Stenosen über 50% des Trachealquerschnitts wird mit 14–20% angegeben (Kramer et al. 1986, Law et al. 1993, Richard et al. 1996), die von Trachealgranulomen und lokalen Tracheomalazien liegt noch darüber (Law et al. 1993). Die Läsionen entwickeln sich fast immer oberhalb des Tracheostomas (Glottis, subglottisch). ! Cave Besondere Vorsicht ist vor dem definitiven Tracheostomaverschluss geboten. Es ist darauf zu achten, ob beim Abkleben des Tracheostomas oder mit zunehmendem Spontanverschluss Atemprobleme wie 4 Dys- und Tachypnoe, 4 Stridor, 4 inspiratorische Einziehungen oder gar Zeichen für eine Hypoxämie auftreten.
565 34.4 · Stoffwechsel und Ernährung
Als Standard in der neurologischen Frührehabilitation ist eine endoskopische Untersuchung, die über das noch offene Tracheostoma relativ problemlos durchgeführt werden kann, zu fordern. Die Behandlungsmöglichkeiten reichen von wiederholten Aufdehnungen (Bougieren) bis hin zu aufwändigen chirurgisch-rekonstruktiven Eingriffen. Manchmal ist es sinnvoll, in Erwartung einer spontanen Konsolidierung das Tracheostoma noch eine Zeitlang über eine kleinere Kanüle (Montgomery-Röhrchen) offen zu halten, wenn überwiegende Mund- und Nasenatmung wieder möglich sind.
34.4
34.4.2
Ernährung
jErnährungszustand Die in . Übersicht 34.6 aufgelisteten Parameter sind nützlich, um den Ernährungszustand eines Patienten zu erfassen.
Stoffwechsel und Ernährung
Näher betrachtet Erkrankungs- und bedarfsangepasste Ernährung Fragen nach der adäquaten, d.h. erkrankungs- und bedarfsangepassten Ernährung spielten lange Zeit in der neurologischen Rehabilitation eine eher untergeordnete Rolle. Es erstaunt daher nicht, wenn sich im Verlauf bei einem hohen Prozentsatz von Schlaganfallpatienten (35–50%) deutliche Zeichen einer Mangelernährung fanden (Finestone et al. 1995, Davalos et al. 1996). Nach schwerem SHT lag der Anteil von Patienten mit Zeichen der Mangelernährung im 2. Monat nach dem Trauma in einer aktuellen schwedischen Studie bei über 50% (Krakau et al. 2007). Mangelernährte Patienten sind erheblich infekt- und dekubitusgefährdeter und zeigen einen deutlich schlechteren Rehabilitationsverlauf als Patienten in ausreichendem Ernährungszustand (Davalos et al. 1996). Frühe ausreichende Ernährung ist wesentlich für ein gutes Outcome (Härtl et al. 2008).
34.4.1
als Ursache für die Entwicklung einer Mangelernährung eine große Rolle. Bei Schlaganfallpatienten fanden sich in vielen unterschiedlichen Studien bei 25–67% Schluckstörungen (Übersicht bei Martino et al. 2005), bei Kindern nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma sogar 68% (Morgan et al. 2003).
Posttraumatischer Stoffwechsel
Durch die starke und häufig lang anhaltende posttraumatische Stressreaktion des Organismus mit Sympathikusaktivierung und Hyperkortisolismus kommt es zum gesteigerten Metabolismus und Katabolismus mit 4 Glykogenolyse, 4 Lipolyse und 4 Proteolyse (Kaufman et al. 1987). Der überschüssige Stickstoff wird zu etwa 90% als Harnstoff ausgeschieden, die Stickstoffbilanz ist negativ. Ausmaß und Dauer des Eiweißabbaus sind bei neurotraumatologischen Patienten besonders schwerwiegend und stehen in eindeutiger Beziehung zur Schwere der Hirnverletzung (Gadisseux et al. 1984). So wurden bei schwer Hirnverletzten Stickstoffausscheidungen von 20–35 g/Tag gemessen (normal um 6 g), was nur noch von den Werten schwerer Verbrennungspatienten übertroffen wird (Clifton et al. 1984, Gadisseux et al. 1984, Brain Trauma Foundation 2000). Bezüglich des Kohlehydratstoffwechsels besteht eine diabetische Stoffwechsellage mit verminderter Insulinausschüttung und Hyperglykämie. Darüber hinaus spielen Schluckstörungen
. Übersicht 34.6. Parameter zur Erfassung des Ernährungszustands 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Körpergewicht (in Relation zur Körperlänge) Body-Mass-Index Trizeps-Hautfaltendicke (Maß für Fettspeicher) Gesamteiweiß im Serum Albumin im Serum (HWZ 20 Tage) Transferrin im Serum (HWZ 8 Tage)
jBerechnung des Energiebedarfs Der tatsächliche Energiebedarf lässt sich näherungsweise berechnen. Der Ruheenergiebedarf (REE) (Grundumsatz+10%) für die gesunde erwachsene Person wird nach der Formel von Harris-Benedict ermittelt (. Tab. 34.4). Trauma- oder Erkrankungsschwere und körperlicher Aktivität des Patienten lässt sich durch Multiplikation mit Trauma- und Aktivitätsfaktoren Rechnung tragen. > Ruheenergieverbrauch (REE) nach Harrison-Benedict: Beim Mann: REE = 66 + 13,75 + 0,5 L - 6,76 A (kcal/Tag) Bei der Frau: REE = 655 + 9,56 W + 1,85 L - 4,68 A (kcal/Tag) W Gewicht in kg, L Länge in cm, A Alter in Jahren
Die angegebenen Traumafaktoren beruhen auf empirischen Untersuchungen, wobei klare Daten nur zu neurotraumatologischen und neurochirurgischen Patienten vorliegen (Clifton et al. 1984, Gadisseux et al. 1984, Long et al. 1979). Für schwer hirnverletzte Patienten ergibt sich damit ein Energiebedarf im Bereich von 40–60 kcal/kg/Tag. > Wichtig ist, dass der Hypermetabolismus nicht nur unmittelbar nach dem auslösenden Trauma besteht, sondern im Verlauf noch zunimmt und über Wochen anhalten kann (Gadisseux et al. 1984, Krakau et al. 2007), und damit für Patienten in der Frührehabilitation eine durchaus wesentliche Rolle spielt.
Bei Schlaganfallpatienten hat sich erstaunlicherweise keine nennenswerte Erhöhung des Ruheenergieumsatzes gezeigt (Finestone et al. 2003). Dem vergleichsweise noch stärker erhöhten Proteinumsatz muss durch eine entsprechend hohe Zufuhr an Aminosäuren oder Proteinen Rechnung getragen
34
566
Kapitel 34 · Assessment und Management medizinischer Komplikationen
. Tab. 34.4. Abschätzung des Energieverbrauchs frührehabilitativer Patienten Trauma-/Aktivitätsfaktor
Patienten/Krankheitsbilder
Faktor
Energieverbrauch (kcal/Tag) = REE×M-Faktor×T-Faktor Mobilitätsfaktor M
4 Bettlägerige Patienten 4 Mobilisierte Patienten
4 1,1–1,2 4 1,3–1,4
Traumafaktor T
4 4 4 4
4 1,3–2,5 4 1,3–2,0 4 1,1–1,3
Nach Schädel-Hirn-Trauma (je nach Schweregrad) Nach schwerem Polytrauma (ohne SHT) Nach mittelschwerer bis schwerer Operation Nach Infektion: – leicht – mittel – schwer 4 Nach Schlaganfall
4 4 4 4
1,0–1,2 1,2–1,4 1,4–1,8 1,0–1,1
(modifiziert nach Puchstein 1994)
werden. Sie sollte zwischen 1,5–2,5 g/kg/Tag (etwa 15–22% der Gesamtkalorienzufuhr) betragen (Kaufman et al. 1996, Brain Trauma Foundation 2000). Dennoch lässt sich auch damit meist keine positive Stickstoffbilanz erreichen. Neben der ausreichenden Zufuhr von 4 Kohlehydraten, 4 Fetten und 4 Aminosäuren bzw. Proteinen
34
muss die Ernährung auch bezüglich der Elektrolytzufuhr ausgewogen und angepasst sein und den gesteigerten Bedarf an Spurenelementen und Vitaminen decken. Bezüglich des tatsächlichen Bedarfs an Spurenelementen (Eisen, Zink, Kupfer, Jod, Mangan, Fluor, Chrom, Selen, Molybdän) herrscht noch viel Unsicherheit; es ist inzwischen jedoch klar, dass viele Komplikationen und Mangelsyndrome von Intensivpatienten auch auf eine unzureichende Versorgung mit Spurenelementen, besonders 4 Zink, 4 Kupfer, 4 Selen und 4 Eisen zurückzuführen sind (Puchstein 1994). Ähnliches gilt für den Vitaminbedarf, wobei im Hyperkatabolismus vor allem ein erhöhter Bedarf an Thiamin (Vitamin B1) besteht. Ferner ist eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr eine
wichtige Vorbedingung für die Erholung des Organismus und die Vermeidung von Komplikationen. Dehydratationen stellten in der Studie von Roth et al. (2001) eine der häufigsten Komplikationen nach Schlaganfall dar. > Der Flüssigkeits- (Wasser-)Bedarf wird oft unterschätzt: 4 Jugendliche und Erwachsene haben einen täglichen Bedarf von 30–40 ml/kg (Dt. Gesellschaft für Ernährungsmedizin 2003) und 4 Kinder von 50–120 ml/kg (Kretz 2002), mit zunehmendem Lebensalter abnehmend.
Praxistipp Bei ausschließlicher Sondenernährung ist die Wasserzufuhr bei herkömmlichen Sondennahrungen mit 80% des Nahrungsvolumens anzusetzen. Es ist selbstverständlich, dass die Flüssigkeitszufuhr bei hohen Außentemperaturen, Fieber oder starkem Schwitzen entsprechend zu erhöhen ist.
Enterale und parenterale Ernährung Praxistipp Eine bedarfsgerechte und angepasste Ernährung ist sowohl enteral als auch parenteral möglich. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die enterale der parenteralen Ernährung grundsätzlich überlegen ist.
Bei enteraler Ernährung 4 bleiben die Blutglukosewerte meist niedriger, 4 kommt es zu einer geringeren Flüssigkeitseinlagerung, 4 bleibt die regulative Funktion der Enterohormone bestehen, 4 bleibt die Abwehrfunktion des Darms aufgrund des weitgehenden Erhalts der physiologischen Darmflora gewährleistet, und folglich ist die Rate an septischen Komplikationen deutlich geringer als bei parenteral ernährten Patienten (Moore et al. 1992, Puchstein 1994). Ferner scheint die Entwicklung von Stressulzera weniger häufig zu sein (Pingleton u. Hadzima 1983). > Die enterale Ernährung sollte schon in der Akutphase begonnen werden, wenn keine schwerwiegenden Kontraindikationen vorhanden sind – je früher, desto besser das Outcome (Taylor et al. 1999, Perel et al. 2007).
567 34.4 · Stoffwechsel und Ernährung
Eine enterale Ernährung ist heute auch bei schluckgestörten und schwer bewusstseinsgestörten Patienten zuverlässig, schonend und komplikationsarm möglich und verbessert eindeutig den Rehabilitationserfolg (James et al. 2005). Neben Verbesserungen der Materialien für nasogastrale Sonden (Silikonkautschuk, Polyurethan statt PVC) hat vor allem die Technik der perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG) dazu beigetragen. Sie ermöglicht die komplikationsarme Anlage einer dauerhaften Ernährungssonde (Sondenhaltbarkeit etwa 1 Jahr) und vermeidet die Nachteile einer nasogastralen Sondenernährung wie 4 mögliche Verletzungen und Drucknekrosen im Naso-, Pharyngo-, Ösophagealbereich, 4 sensorische Irritationen und 4 Behinderung einer Schlucktherapie. Sobald sich die Notwendigkeit einer vielwöchigen Sondenernährung abzeichnet, sollte daher eine PEG-Anlage erfolgen.
Sondenernährung Für die angepasste Sondenernährung stehen zahlreiche Fertigpräparate unterschiedlicher Zusammensetzung zur Verfügung (. Tab. 34.5). Dabei können auch besondere Probleme wie 4 begleitende Leber- und Pankreasfunktionsstörungen oder 4 Maldigestions-/Malabsorptionssyndrome mit entsprechend angepassten Nahrungszusammensetzungen (Oligopeptide, mittelkettige Fettsäuren) adäquat berücksichtigt werden. Bei den Standardnahrungen ergeben sich wenige Unterschiede zwischen den verschiedenen Herstellern. Wichtiger ist die Wahl zwischen ballaststofffreien und ballaststoffhaltigen sowie zwischen isokalorischen (1 g≈1 kcal) und hochkalorischen (1 g≥1,2 kcal) Nahrungen. Letztere kommen besonders bei Patienten in Betracht, die in der posttraumatischen katabolen Stressphase einen erhöhten Energiebedarf haben oder bereits einen erheblichen Gewichtsverlust erlitten haben. Eine gewisse Rolle spielt auch die Osmolarität der Nahrung. Nahrungen mit einer Osmolarität von deutlich über 300 mosm/ l binden relativ viel Wasser im Darm und können bei empfindlichen Patienten zu Verdauungsproblemen führen. Praxistipp Fertige Sondennahrung ist eindeutig der Krankenhausküche oder zu Hause hergestellter (»home-made«) pürierter bzw. homogenisierter Nahrung vorzuziehen. Nur definierte und bilanzierte Sondennahrungen garantieren langfristig eine ausreichende und ausgewogene Zufuhr von Spurenelementen und Vitaminen und sind hygienisch ausreichend sicher (Dt. Gesellschaft für Ernährungsmedizin 2003).
Bezüglich des Ernährungsrhythmus ergeben sich bei hirnverletzten Patienten keine Vorteile für die (physiologischer erscheinende) Bolusgabe gegenüber der kontinuierlichen Ap-
plikation (Rhoney et al. 2002). Dies liegt wahrscheinlich an der verzögerten Magenentleerung und Refluxhäufigkeit bei vielen hirngeschädigten Patienten (Ott et al. 1991, Saxe et al. 1994). ! Cave Die Indikation zur parenteralen Ernährung ergibt sich in der Frührehabilitation nur noch, wenn klare Kontraindikationen gegen eine enterale (Sonden-)Ernährung bestehen. Diese sind vor allem 4 rezidivierendes, sonst unbeherrrschbares Erbrechen, 4 gastrointestinale Blutungen, 4 Ileus und 4 ausgeprägte Malassimilation. Wird eine parenterale Ernährung über einen längeren Zeitraum (>3 Tage) notwendig, sollte diese nur über einen zentral-venösen Zugang erfolgen. jKomplikationen bei der Sondenernährung kHyperglykämie/Diabetes mellitus Komplikationen in der Ernährung sind häufig schon durch eine Modifikation der Nahrungszusammensetzung zu vermeiden oder zu beheben. Bei andauernder Hyperglykämie oder bei bekanntem Diabetes mellitus sollte der Kohlehydrat- zugunsten des Fettanteils der Nahrung vermindert werden. Tritt kein ausreichender Effekt ein, so ist die Insulingabe unverzichtbar. Eine dauerhafte Hyperglykämie verschlechtert die Erholungsaussichten nach zerebralen Ischämien und Blutungen (Pulsinelli et al. 1983, Woo et al. 1990, Yip et al. 1991). kDiarrhoe Ein häufiges Problem der Sondenernährung ist die Diarrhoe. Behebbare Ursachen können sein: 4 eine zu hohe Osmolarität der Sondennahrung (für zusätzliche Flüssigkeitszufuhr sorgen, z.B. mit Tee, evt. Nahrung wechseln), 4 zu schnelle und unregelmäßige Zufuhr (Bolusgaben verlängern oder kontinuierlich ernähren), 4 zu niedrige Temperatur der Nahrung, 4 bakterielle Verunreinigungen (sauberes Arbeiten!), 4 Laktoseunverträglichkeit oder 4 ein zu hohes Angebot an langkettigen Fettsäuren. Auch bestimmte Medikamente (z.B. Antibiotika, Antazida, Digitalispräparate) sind als Auslöser in Erwägung zu ziehen. kRezidivierendes Erbrechen Schwerer behandelbar erweist sich meist ein rezidivierendes Erbrechen. Als Ursachen kommen infrage: 4 Störungen des Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts, 4 Hirndruck und Hirnstammläsionen, 4 persistierende autonome Dysfunktion, 4 Vaguserregung mit Hyperperistaltik und/oder Pylorospasmus, 4 Magenatonie und Magenhypomotilität mit verzögerter Entleeerung,
34
568
Kapitel 34 · Assessment und Management medizinischer Komplikationen
. Tab. 34.5. Sondennahrung Sondennahrung (100 ml)
Kohlenhydrate (g)
Eiweiße (g)
Fette (g)
Energie (kcal)
Osmolarität (mosm/l)
Fresubin original
13,8
3,8
3,4
100
250
Isosource standard
13,6
4,0
3,3
100
203
Nutricomp Standard
13,8
3,8
3,3
100
250
Nutrison Standard
12,3
4,0
3,9
100
260
Osmolite
13,6
4,0
3,4
100
244
Sondalis Iso
13,0
4,0
4,0
100
?
Fresubin original fibre
13,8
3,8
3,4
100
250
Isosource Faser
13,6
3,8
3,4
100
232
Jevity
14,1
4,0
3,5
105
249
Nutricomp Standard Fibre
13,8
3,8
3,3
100
250
Nutrison MultiFibre
12,3
4,0
3,9
100
280
Osmolite mit Ballaststoff
12,2
4,0
3,4
95
262
Sondalis Plus
13,0
4,0
4,0
100
?
Osmolite Plus
15,8
5,6
3,9
120
293
Fresubin energy
18,8
5,6
5,8
150
330
Nutricomp Energy
18,8
7,6
5,0
150
?
Nutrison Energy
18,5
6,0
5,8
150
400
Sondalis Energy
18,0
6,0
6,0
150
?
Osmolite HiCal
20,4
6,3
4,9
150
392
Isosource Energy
20,0
5,7
6,2
160
298
Jevity Plus
15,1
5,6
3,9
120
361
Fresubin energy fibre
18,8
5,6
5,8
150
310
Isosource Energy Faser
20,2
4,9
5,5
150
330
Nutrison Energy Multifibre
18,5
6,0
5,8
150
335
Jevity HiCal
20,1
6,4
4,9
152
397
Frebini original
12,5
2,5
4,4
100
180
Frebini original fibre
12,5
2,5
4,4
100
185
Nutrini
12,3
2,8
4,4
100
215
Isokalorisch-ballaststofffrei
Isokalorisch mit Ballaststoffen
Hochkalorisch-ballaststofffrei
34
Hochkalorisch mit Ballaststoffen
Spezielle Kindernahrung
6
569 34.5 · Gastroduodenale Ulzera und Blutungen
. Tab. 34.5 (Fortsetzung) Sondennahrung (100 ml)
Kohlenhydrate (g)
Eiweiße (g)
Fette (g)
Energie (kcal)
Osmolarität (mosm/l)
Nutrini Multifibre
12,3
2,8
4,4
100
215
PediaSure mit Ballaststoff
11,2
2,8
5,0
100
289
Isosource junior
17,0
2,7
4,7
120
284
Frebini energy
18,8
3,8
6,7
150
275
Frebini energy fibre
18,8
3,8
6,7
150
285
Nutrini Energy
18,5
4,1
6,7
150
320
Nutrini Energy MultiFibre
18,5
4,1
6,7
150
320
PediaSure Plus
16,7
4,2
7,4
150
273
Spezialnahrung bei Maldigestion/Malresorption Novasource Peptide
12,5
3,8
3,9
100
315
Nutricomp Peptid
16,8
4,5
1,7
100
?
Nutrini Pepti
13,7
2,8
3,9
100
295
Nutrison MCT
12,6
5,0
3,3
105
265
Peptisorb
17,6
4,0
1,7
100
455
Salvipeptid liquid MCT
14,0
5,0
3,0
100
?
Survimed OPD
15,0
4,5
2,4
100
350
Fresubin HP energy
17,0
7,5
5,8
150
300
4 (Sub-)Ileus, 4 bestimmte Medikamente (z.B. Dopaminergika, Digitalisglykoside) und 4 psychische Einflüsse. Bei Hyperperistaltik, Pylorospasmus und autonomer Dysfunktion kann eine veränderte Platzierung der Ernährungssonde im Duodenum sehr hilfreich sein. Für die symptomatische Behandlung kommen peripher und zentral wirksame Dopaminantagonisten mit properistaltischer Wirkung in Betracht, wie 4 Metoclopramid, 4 Domperidon, auch 4 Neuroleptika, 4 Antihistaminika vom H1-Typ (z.B. Dimenhydrinat und Betahistidin) oder 4 Erythromycin. kDarmatonie/paralytischer (Sub-)Ileus Zur Behandlung einer Darmatonie und des paralytischen (Sub-)Ileus (z.B. auch beim spinalen Schock) haben sich Pyridostigmin (4- bis 6-stündlich i.m. oder i.v.) und Dexpanthenol i.m. oder i.v. bewährt, ggf. in Kombination.
Praxistipp Bei andauerndem rezidivierendem Erbrechen oder Reflux (häufig bei Kleinkindern) und Versagen medikamentöser Maßnahmen und Langzeiternährung sollte man 4 eine PEG mit jejunalem Schenkel (PEG/PEJ) zur teilweisen jejunalen Ernährung anlegen oder 4 als ultima ratio eine Jejunostomie und rein jejunale Ernährung mit einer hoch aufgeschlossenen Sondennahrung erwägen.
34.5
Gastroduodenale Ulzera und Blutungen
Bei Hirnverletzten entwickeln sich häufiger als bei anderen Intensivpatienten (außer Verbrennungen) Schleimhautläsionen im oberen Magen-Darm-Trakt (Kamada et al. 1977, Larson et al. 1984). Für die Pathogenese wird die Stressreaktion des Organismus verantwortlich gemacht; die genaue Entstehungsweise ist bisher nur unzureichend aufgeklärt. Nur bei einem Teil der Patienten besteht eine Hypersekretion von Säure oder Pepsin (McClelland et al. 1971, Stannard et al. 1988).
34
570
Kapitel 34 · Assessment und Management medizinischer Komplikationen
Von größerer Bedeutung scheint eine Schwächung der Schleimhautbarriere zu sein, die rasch auftritt, da die Magenmukosa äußerst empfindlich gegen Ischämie und Hypoxie ist (Menguy et al. 1974). Im neurorehabilitativen Bereich spielt neben der stress- auch die medikamentös induzierte Ulkusgenese eine große Rolle. Kennzeichnende Faktoren für Risikopatienten sind in . Übersicht 34.7 aufgeführt. . Übersicht 34.7. Risikofaktoren für gastroduodenale Ulzera und Blutungen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Frisches Trauma (z.B. SHT) (<4 Wochen) Gerinnungsstörung (INR >1,5 oder <50.000/mm³ Thrombozyten) Anhaltende Stressreaktion (z.B. schwere autonome Dysfunktion) Frühere Ulkusanamnese Helicobacter-pylori-Besiedelung Glukokortikoidtherapie Medikation mit nichtsteroidalen Antiphlogistika, besonders bei älteren Patienten (>60 Jahre)
Näher betrachtet Notwendigkeit der medikamentösen Ulkusprophylaxe
34
Es ist jedoch umstritten, ob alle genannten Risiken eine medikamentöse Ulkusprophylaxe erforderlich machen. Amerikanische Leitlinien empfehlen die Stressulkusprophylaxe lediglich bei maschinell beatmeten Patienten und bei Gerinnungsstörungen (ASHP 1999). Keine klare Evidenz besteht vor allem für eine medikamentöse Ulkusprophylaxe bei Patienten, die mit Glukokortikoiden oder nichtsteroidalen Antiphlogistika behandelt werden. Dem Nutzen der Risikominderung für gastrointestinale Blutungen stehen unerwünschte Wirkungen wie z.B. eine erhöhte Pneumonierate unter H2-Antagonisten gegenüber (Daschner et al. 1987, Driks et al. 1987, Tryba 1987, Marciniak et al. 2009).
34.5.1
Ulkusprophylaxe
Für die Ulkusprophylaxe stehen neben einer Bekämpfung stressauslösender Faktoren zahlreiche Pharmaka mit unterschiedlichen Wirkprinzipien zur Verfügung. 4 Antazida binden aufgrund ihrer Pufferkapazität Säure und fördern die lokale Prostaglandinsynthese. 4 Pirenzepin hemmt als muskarinerges Anticholinergikum die Magensaftproduktion. 4 H2-Rezeptorenblocker hemmen die Säureproduktion stärker als Pirenzepin, sind häufig aber erst in Kombination mit Antazida effektiv (Stoutenbeek u. Zandstra 1994). 4 Protonenpumpen-Hemmer können die Säureproduktion praktisch vollständig zum Erliegen bringen. 4 Sucralfat wirkt nicht pH-anhebend, sondern bildet einen schützenden Film über die Magenschleimhaut, hemmt
die Pepsinaktion, fördert die Prostaglandinbildung und -freisetzung und stimuliert die Mukosaregeneration (McCarthy 1991). Näher betrachtet Studie: Wirksamkeit der Pharmaka für die Ulkusprophylaxe Befriedigend wirksam haben sich in einschlägigen Studien vor allem folgende Medikamentengruppen erwiesen: 4 H2-Blocker, 4 Protonenpumpen-Hemmer und 4 Sucralfat. Nachdem mehrere Studien für eine Gleichwertigkeit der Substanzen (Cook et al. 1996) und einen Vorteil von Sucralfat bzgl. der Pneumoniehäufigkeit sprachen (Driks et al. 1987, Tryba 1987), ergab eine große Studie mit 1.200 Patienten eine Überlegenheit von Ranitidin gegenüber Sucralfat bzgl. der Reduktion gastrointestinaler Blutungen (relatives Risiko 0,44) (Cook et al. 1998) bei gleicher Pneumonieinzidenz. Für eine Überlegenheit der Protonenpumpen-Hemmer in der Stressulkusprophylaxe gibt es bisher keine klare Evidenz, wenngleich sie eine deutlich potentere und anhaltendere pH-Wert-Senkung des Magensafts bewirken (Conrad et al. 2005, Morris et al. 2002). Sie erscheinen jedoch überlegen in der Behandlung manifester gastroduodenaler Ulzera (Yeomans et al. 2006). Nach Ende der Akutphase und bei Fehlen von Risikofaktoren kann bei kompletter enteraler Ernährung die medikamentöse Ulkusprophylaxe beendet werden (Tryba und Cook 1997).
34.6
Endokrinologische Komplikationen
> Störungen der Hypophysenfunktion kommen nach Hirnverletzungen und nicht-traumatischen Hirnblutungen in erstaunlicher Häufigkeit vor. Bei Autopsien nach Schädel-Hirn-Trauma und Subarachnoidalblutung fanden sich bei über der Hälfte der Fälle Verletzungen von Hypothalamus und Hypophyse (Crompton 1963, Gade et al. 1990). Aber auch Ischämien können zu hypophysären Schädigungen führen.
Während früher bei SHT-Patienten endokrinologische Störungen eher selten diagnostiziert wurden, ergeben neuere Untersuchungen, die auf routinemäßig durchgeführten Hormonuntersuchungen und endokrinologischen Funktionstests beruhen, ein ganz anderes Bild (Übersicht bei Schneider et al. 2007b). Nicht nur in der Akutphase, sondern auch 3 Monate nach einem Schädel-Hirn-Trauma unterschiedlichen Schweregrades zeigen zwischen 33–56% der Patienten eine Störung der Hypophysenvorderlappen- (HVL-)Funktion, nach einer Subarachnoidalblutung 37%. Ein Jahr oder länger nach SHT sind es immer noch zwischen 25–68% (Lieberman et al. 2001, Agha et al. 2004a, Bondanelli et al. 2004, Aimaretti et al. 2005, Leal-Cerro 2005, Schneider et al. 2006). Betroffen sind beson-
571 34.6 · Endokrinologische Komplikationen
. Tab. 34.6. Prävalenz von Störungen der Hypophysenvorderlappenfunktion nach Schädel-Hirn-Trauma und Subarachnoidalblutung Zeit (Monate)
Gesamt
ACTH
TSH
STH (GH)
Gonadotropine
Tanriverdi et al. (2006) SHT (n=52)
Akut (<24 h) 12
57% 51%
10% 19%
6% 6%
20% 37%
42% 8%
Agha et al. (2004) SHT (n=102)
6–36
28%
13%
1%
18%
12%
Aimaretti et al. (2005) SHT (n=70)
3 12
33% 22%
9% 7%
6% 6%
23% 20%
17% 11%
Bondanelli et al. (2004) SHT (n=50)
12–64
54%
0%
10%
28%
14%
Schneider et al. (2006) SHT (n=78)
3 12
56% 36%
19% 9%
8% 3%
9% 10%
32% 21%
Leal-Cerro et al. (2005) SHT (n=170)
>12
25%
6%
6%
6%
17%
Aimaretti et al. (2005) SAB (n=32)
3 12
47% 37%
3% 6%
9% 9%
25% 22%
9% 6%
ders stark das somatotrope Hormon STH (Wachstumshormon) und die Gonadotropine (. Tab. 34.6). Bei einem Teil der Betroffenen treten Defizite der Hormonproduktion erst verzögert nach der Akutphase auf, so dass eine Diagnostik während der Rehabilitation besonders wichtig erscheint. Erstaunlicherweise konnte in mehreren Studien keine Korrelation zur Schwere des SHT (gemessen mit dem GCS) festgestellt werden.
34.6.1
HypophysenvorderlappenInsuffizienz
jACTH-/TSH-Mangel Die Folgen einer HVL-Insuffizienz können vielfältig sein und sich mit anderen typischen SHT-Folgen vermischen. Relativ leicht erkennbar als Ausdruck eines ACTH- oder auch TSHMangels sind 4 arterielle Hypotonie, 4 Hyponatriämie oder 4 Hypoglykämie. Dagegen können Symptome wie 4 Adynamie, 4 Müdigkeit, 4 Muskelschwäche oder 4 Schwindel als nicht-hormonell bedingte und nicht weiter behandelbare »normale« Folgen eines SHT verkannt werden. Auch kognitive und psychische Störungen wie 4 Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprobleme, 4 Schlafstörungen,
4 Depressivität und 4 Angst können durch eine Hypophyseninsuffizienz (mit)verursacht sein. ! Cave Rasch lebensbedrohlich kann vor allem ein ACTH-Mangel werden (Cohan et al. 2005)! jGonadotropinmangel Eine verminderte Gonadotropinausschüttung führt eher schleichend zu Symptomen. Die Betroffenen leiden unter Dys- oder Amenorrhoe bzw. Impotenz, verminderter Libido und im weiteren Verlauf langsamem Verlust der sekundären Geschlechtsbehaarung und Hypogonadismus (. Übersicht 34.8). jSTH- (Wachstumshormon-)Mangel Die häufigen Störungen der Somatotropin- (Wachstumshormon-)Ausschüttung machen sich im Erwachsenenalter eher verdeckt in Form einer andauernden katabolen Stoffwechsellage (mangelnde Proteinsynthese, Insulinresistenz, Hyperglykämie) durch Muskelschwäche und eine verminderte Knochendichte bemerkbar. Ferner werden Störungen der Herzfunktion und eine erhöhte kardiovaskuläre Mortalität beschrieben (Beshyah u. Johnston 1999, Colao et al. 2004). Noch gravierender sind die Auswirkungen im Kindes- und Jugendalter, wo es zu einer Wachstumsverzögerung oder gar einem Wachstumsstillstand kommen kann. Genaue Kontrollen der Wachstumskurve sind deshalb in der Rehabilitation nach einer Hirnschädigung (und auch noch danach) im Kindesalter unerlässlich.
34
572
Kapitel 34 · Assessment und Management medizinischer Komplikationen
. Übersicht 34.8. Symptome der Hypophyseninsuffizienz
. Übersicht 34.9. Richtlinien für die Behandlung einer Hypophysenvorderlappen-Insuffizienz
1.
1.
2.
3.
4.
ACTH-Mangel: Arterielle Hypotonie, Hyponatriämie, Hypoglykämie, Adynamie, Müdigkeit, Schwindel, Kollapsneigung, Muskelschwäche, Aufmerksamkeitsund Gedächtnisstörungen, Depressivität, Angst TSH-Mangel: Adynamie, Müdigkeit, psychomotorische Verlangsamung, Konzentrationsstörungen, verminderte kognitive Leistungsfähigkeit, Kälteempfindlichkeit, trockene Haut, Obstipation STH- (Wachstumshormon-)Mangel: Bei Kindern und Jugendlichen Wachstumsminderung oder -stillstand, bei Erwachsenen Muskelschwäche, Herzinsuffizienz, Osteoporose, Hyperglykämie (Insulinresistenz), Proteinabbau Gonadotropin- (FSH-, LH-)Mangel: Libidoverlust, Dys- oder Amenorrhoe, Impotenz, Infertilität, Muskelschwäche
Diagnostik
34
Angesichts der Häufigkeit von HVL-Funktionsstörungen einerseits und ihrer zunächst oft geringen und unklaren klinischen Manifestation andererseits sind Screening-Untersuchungen nach jedem Schädel-Hirn-Trauma und jeder Subarachnoidalblutung während der Rehabilitation angemessen. Folgendes Vorgehen erscheint dabei rational: 4 Bei Aufnahme eines Patienten nach SHT oder SAB routinemäßig Bestimmung von Kortisol (morgens), TSH, fT3 und fT4 im Serum, bei deutlicher Erniedrigung Durchführung eines Stimulationstests. 4 Bei erniedrigten Werten erfolgt zusätzlich eine Untersuchung der STH- (GH-)Antwort mit dem Glukagon-Stimulationstest sowie eine Bestimmung der altersabhängigen Werte von FSH, LH, Estradiol (Frauen) und Testosteron (Männer). 4 Bei deutlich erniedrigten Werten sind weitere Funktionstests (GnRH-Test, Insulintoleranztest) erforderlich (Schneider et al. 2007a). 4 Wegen des häufig verzögerten Auftretens einer HVL-Insuffizienz sollte das Prozedere 3–6 Monate nach dem Trauma, auch bei initial unauffälligen Werten, nochmals durchgeführt werden. 4 Unabhängig davon empfiehlt sich eine einschlägige endokrinologische Diagnostik jederzeit bei Auftreten typischer Symptome einer HVL-Störung.
Therapie Für die Behandlung lassen sich die in . Übersicht 34.9 zusammengefassten Richtlinien geben (in Anlehnung an Estes u. Urban 2005, Agha u. Thompson 2006, Ho et al. 2007).
2.
3.
4.
34.6.2
Ein mehr als grenzwertiger ACTH- oder TSH-Mangel sollte in jedem Fall behandelt werden, d.h., auch dann, wenn noch keine klaren klinischen Symptome bestehen. Ein deutlicher Wachstumhormonmangel im Kindesalter muss behandelt werden, wenn er länger als 3– 6 Monate fortbesteht. Ein schwerer Somatotropinmangel im Erwachsenenalter sollte symptomabhängig behandelt werden, wenn er länger als 6–12 Monate besteht. Ein Gonadotropinmangel sollte symptomabhängig behandelt werden, wenn er länger als 6 Monate besteht
Störungen der Hypophysenhinterlappenfunktion
Die Hypophysenhinterlappen- (HHL-)Funktion kann in zweierlei Weise gestört sein: 4 Zum einen kann es zu einer Verminderung bzw. einem gänzlichen Versiegen des antidiuretischen Hormons (ADH) kommen. Für einen daraus entstehenden Diabetes insipidus werden Inzidenzen von bis zu 26% in der Akutphase und 3–7% im Langzeitverlauf nach mittelschwerem und schwerem SHT beschrieben (Agha et al. 2004b, Boughesy et al. 2004, Agha et al. 2005). 4 Das umgekehrte Bild einer überschießenden ADH-Freisetzung wird als Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH) bezeichnet und konnte in 13–14% in der Akutphase nach SHT gefunden werden, mit spontaner Besserung bei allen Patienten innerhalb von 6 Monaten (Agha et al. 2004b, 2005). Ein SIADH findet sich gelegentlich auch nach ZNS-Infektionen und Tumoren. ! Cave Vom SIADH zu unterscheiden ist das symptomatisch ähnliche, aber ätiologisch und in der Behandlung andersartige Cerebral Salt Wasting Syndrome (CSWS)!
Diabetes insipidus In . Übersicht 34.10 sind die Leitsymptome des Diabetes insipidus beschrieben. . Übersicht 34.10. Leitsymptome des Diabetes insipidus 1. 2. 3.
Erhebliche Polydipsie (bei nicht Bewusstseinsgestörten) Hypernatriämie und erhöhte Serumosmolarität (>300 mosm/l) Polyurie mit stark verdünntem Urin (Urin-/Plasmaosmolarität <2)
573 34.7 · Heterotope Ossifikationen
jDiagnostik Bestehen Zweifel an der Diagnose, so hilft der Durstversuch, bei dem nach 8 Stunden Flüssigkeitskarenz die Urinosmolarität nicht wesentlich ansteigt, die subkutane Injektion des ADH-Analogon Desmopressin (Minirin®) dann jedoch eine rasche Urinkonzentrierung bewirkt. jTherapie 4 Desmopressin (DDAVP) ist auch die Therapie der Wahl. Mögliche Verabreichungen sind:
5 die subkutane Gabe, 5 die intranasale Applikation als Spray und 5 die Gabe in Tablettenform 1- bis 3-mal täglich. 4 Wegen der schlechten Bioverfügbarkeit (20–30%) und damit ungenügenden Steuerbarkeit der enteralen Applikationsform sollte allerdings dem Nasenspray oder Injektionen der Vorzug gegeben werden. Die Dosis ist in jedem Fall anhand von 5 Serumnatrium, 5 Urinmenge und 5 Flüssigkeitsbilanz 5 insgesamt individuell anzupassen. Sie muss zudem häufig kontrolliert werden.
. Übersicht 34.11. Klinische Symptome des SIADH 1. 2. 3. 4. 5.
Inappetenz Übelkeit und Erbrechen Adynamie Arterielle Hypotonie Zerebrale Krampfanfälle
sammelt, der normalerweise mindestens 80% der Einfuhr ausmacht. Beim SIADH liegt diese Menge deutlich darunter, ferner liegt die Urinosmolarität über der Serumosmolarität. jTherapie 4 Die Behandlung des SIADH besteht im Wesentlichen in einer Flüssigkeitsrestriktion (ca. 10–15 ml/die/kgKG) bei ausreichender Na-Zufuhr. 4 Schwere Hyponatriämien (<125 mmol/l) erfordern jedoch zusätzlich eine Korrektur durch kontrollierte (nicht mehr als 1–2 mmol/l/h und 12 mmol/l/die ausgleichen!) Infusion von hypertoner NaCl-Lösung über einen großvolumigen venösen Zugang oder ZVK. 4 Medikamente haben sich nur in Einzelfällen als wirksam erwiesen (Diringer u. Zazulia 2006).
Praxistipp Erfahrungsgemäß zeigt ein posttraumatischer Diabetes insipidus im Verlauf meist eine Besserung, so dass sich Dosiseinsparungen oder schließlich ein gänzlicher Verzicht auf die medikamentöse Behandlung ergeben.
Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH) Die Ursache der exzessiven und nicht angepassten hypothalamisch-hypophysären ADH-Produktion und -Sekretion beim SIADH ist bisher nicht klar. Erhöhter Hirndruck scheint eine Rolle zu spielen (Chesnut 1993). Auch bestimmte Medikamente können ein SIADH auslösen oder verstärken, z.B. 4 Carbamazepin 4 Oxcarbazepin, 4 Serotonin-Reuptakehemmer, 4 Morphin, 4 Vincristin und 4 Cyclophosphamid (Labi 1996). > Das Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH) zeichnet sich v.a. durch eine persistierende Hyponatriämie von <130 mmol/l und eine verminderte Plasmaosmolarität (<280 mmol/l) aus.
In . Übersicht 34.11 sind die klinischen Symptome des SIDH zusammengefasst. jDiagnostik Die Diagnose lässt sich durch eine rasche Wassereinfuhr von etwa 20 ml/kgKG in 15 Minuten sichern (nicht bei schwerer Hyponatriämie!). Danach wird über 5 Stunden der Urin ge-
Aufgrund der guten Spontanremission ist meist nur eine Behandlung über wenige Wochen notwendig. jDifferenzialdiagnostik: Cerebral Salt Wasting Syndrom Beim selteneren CSWS besteht ebenfalls eine Hyponatriämie, die allerdings auf einem massiven renalen Natriumverlust aufgrund einer mangelnden Na-Reabsorption im proximalen Tubulus beruht. Verantwortlich ist dafür wahrscheinlich die vermehrte Ausschüttung von Atrial Natriuretic Peptide (ANP) und Brain Natriuretic Peptide (BNP) (Tisdall et al. 2006). Praxistipp Im Gegensatz zum SIADH kommt es beim Cerebral Salt Wasting Syndrome durch renalen Wasserverlust (zusammen mit Na) zu einer Hypovolämie und Polyurie (differenzialdiagnostische Kriterien!). Entsprechend darf die Behandlung nicht wie beim SIADH in einer Flüssigkeitsrestriktion bestehen, sondern es müssen im Gegenteil Wasser und Natrium übernormal zugeführt werden, bei erheblicher Hyponatriämie auch als Infusion von hypertonen NaCl-Lösungen.
34.7
Heterotope Ossifikationen
Die früher auch als Myositis ossificans oder periartikuläre Ossifikation bezeichnete Neubildung von Knochen in Weichteilgewebe stellt eine der langfristig für die Rehabilitation schwerwiegendsten Komplikationen dar.
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Kapitel 34 · Assessment und Management medizinischer Komplikationen
Definition Eine heterotope Ossifikation (HO) ist die Neubildung von Knochen in Weichteilgewebe (Muskel, Bindegewebe) in der Umgebung großer Gelenke nach vorangegangener direkter traumatischer oder neurogener Schädigung (Hirn- oder Rückenmarksverletzung oder -erkrankung) (. Abb. 34.1).
Histologisch handelt es sich um eine echte enchondrale Ossifikation, die zur Ausbildung eines lamellären Knochens mit Havers-Kanälen, Blutgefäßen und Markräumen führt. Betroffen von HO sind immer große, vor allem proximale Gelenke (Hüfte, Knie, Schulter, Ellenbogen). Die Inzidenz liegt nach Querschnittlähmungen besonders hoch bei 15–50% (Banovac et al. 2001, van Kuijk et al. 2002). Davon kommt es bei ca. 20% der Betroffenen zu bedeutsamen Einschränkungen der Gelenkbeweglichkeit, bei bis zu 10% zu weitgehender Gelenkversteifung (Garland 1991).
rausgestellt (Garland 1991, Stockhammer et al. 1992, van Kuijk et al. 2002). . Übersicht 34.12. Prädisponierende Faktoren für eine neurogene heterotope Ossifikation 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Komplette Querschnittlähmung Lange Komadauer und Wachkoma Schwere Spastik, bei SHT-Patienten Tetraspastik Gelenknahe Frakturen, Luxationen oder Weichteilverletzungen, osteosynthetische Eingriffe Dekubitalulzera im Bereich größerer Gelenke Harnwegsinfektionen Venöse Thrombosen
> Bei hemiparetischen Patienten sind überwiegend, aber nicht ausschließlich die paretischen Extremitäten von HO betroffen (Garland et al. 1980).
jPrädispositionsfaktoren Als besondere Prädispositionsfaktoren für neurogene HO haben sich die in . Übersicht 34.12 aufgeführten Faktoren he-
jPathogenese Die Entstehung der heterotopen Ossifikationen ist bisher nicht abschließend geklärt. Es gibt zahlreiche Hypothesen, welche
. Abb. 34.1 a–d. 16-jährige Patientin mit einer kompletten Querschnittlähmung in Höhe Th4. a Computertomogramm der linken Hüfte:
Ausgedehnte heterotope Ossifikation, b Querschnitt in Höhe proximales Darmbein, c Höhe Mitte Hüftgelenk, d Höhe Trochanter femoris
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575 34.7 · Heterotope Ossifikationen
Faktoren die Metaplasie von Muskelzellen und Fibroblasten zu Chondro- und Osteoblasten triggern. Angeführt werden 4 Regulationsstörungen des Elektrolyt-und Eiweißhaushalts, 4 starke lokale pH-Schwankungen im Gewebe mit wechselnder Ausfällung und Auflösung von Kalziumsalzen, 4 spastisch bedingte Dauerkontraktionen der Muskelfasern (mit evt. lokaler Azidose), 4 wiederholte Mikrotraumatisierungen der Muskulatur und 4 starke vegetative Enthemmung (autonome Dysfunktion). Eine Schlüsselrolle könnten immunpathologische Vorgänge spielen, denn es ist erwiesen, dass am Anfang der Ausbildung von HO eine lokale Entzündung steht. Neuerdings verdichten sich auch Hinweise auf eine wichtige Rolle endokriner Faktoren, da nach Hirnverletzungen Veränderungen im Knochenstoffwechsel und eine beschleunigte Knochenheilung gefunden werden konnten (Morley et al. 2005, Trentz et al. 2005, Andermahr et al. 2006). Möglicherweise wird dabei ein zentral freigesetzter Osteogenesefaktor wirksam (Toffoli et al. 2008). jSymptomatik Klinische Symptome treten frühestens 4 Wochen nach dem Trauma auf, im Mittel nach 2 Monaten (Garland 1991). Praxistipp Frühe Symptome von HO sind: 4 muskuläre Schmerzen, 4 gelenknahe Schwellungen, 4 evt. lokale Überwärmung und Rötung (DD: Osteomyelitis, Thrombose!). Erst danach fallen auch Bewegungseinschränkungen auf, die häufig progredient sind.
Der Ossifikationsprozess schreitet fort und erreicht seine maximale Aktivität nach 3–6 Monaten. Ein Fortschreiten der röntgenologisch erfassbaren Veränderungen über einen 6monatigen Verlauf hinaus wird nur selten beobachtet. Eine enzymatisch und szintigraphisch messbare Aktivität kann allerdings noch über einen wesentlich längeren Zeitraum persistieren (Garland 1988). Sie wird für die hohe Rezidivrate nach frühen operativen Resektionen der HO verantwortlich gemacht. Die Folgen heterotoper Ossifikationen können je nach Lokalisation und Ausmaß schwerwiegend sein, dargestellt in . Übersicht 34.13.
34.7.1
. Übersicht 34.13. Folgen der heterotopen Ossifikation 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Weitgehende Bewegungseinschränkung im Bereich der betroffenen Extremität, u.U. Standunfähigkeit Lagerungsprobleme (Liegen, Sitzen) mit Pflegeschwierigkeiten und Dekubitusgefährdung Gelenkkapselschrumpfungen mit sekundärer Einsteifung Sehnen- und Muskelverkürzungen Nerven- und Gefäßkompressionsschäden Entwicklung einer Inaktivitätsosteoporose mit Frakturgefahr
Kuijk et al. 2002). Sie kann daher als Screening-Parameter eingesetzt werden, besitzt jedoch eine geringe Spezifität und korreliert quantitativ nicht gut mit dem Ausmaß der Krankheitsaktivität. Eine höhere Sensitivität als die alkalische Phosphatase scheint nach neueren Untersuchungen die Kreatinphosphokinase zu besitzen (Singh et al. 2003, Sherman et al. 2003). Die beste, wenngleich aufwändige Methode zur Früherkennung und Verfolgung der Krankheitsaktivität mit hoher Sensitivität ist die 3-Phasen-Knochenszintigraphie: Nach der Injektion von 99m-Tc-Methylendiphosphonat ist 4 eine Anreicherung in den beiden frühen Phasen (Minutenbereich) ein besonders sensitiver Indikator für eine beginnende HO, 4 eine Anreicherung in der Spätphase (Knochenphase, Stundenbereich) erst 2–4 Wochen später zu sehen (Freed et al. 1982). Erst ab diesem Zeitpunkt zeigen Röntgenaufnahmen gelenknahe Verkalkungen im Weichteilmantel, die im Verlauf an Ausdehnung und Dichte zunehmen. Schon vorher kann der Ultraschall HO als Inseln hoher Echogenität im Muskel erfassen.
34.7.2
Prophylaxe und Therapie
jPassives oder aktives Bewegen Ob neben der Beeinflussung prädisponierender Faktoren (s.o.) überhaupt eine wirksame Prophylaxe und Frühbehandlung der HO möglich ist, konnte bisher nicht zweifelsfrei gesichert werden. Umstritten ist auch, ob passives oder aktives Bewegen die Entstehung und Progression von HO durch Mikrotraumatisierungen fördert (Furman et al. 1970) oder im Gegenteil die Gelenkbeweglichkeit erhält, ohne dabei die HOBildung zu beeinflussen (Garland et al. 1982). Wahrscheinlich kommt es auf die Qualität der Bewegung an.
Diagnostik
Die alkalische Serum-Phoshatase ist bei der Mehrzahl der Patienten bereits zu einem frühen Zeitpunkt, d.h. meist vor der klinischen Diagnosestellung, erhöht (Garland 1991) und bleibt dies gewöhnlich bis zum Ende des Ossifikationsprozesses (van
! Cave Da bei vielen neurologischen Patienten (Wachkoma, Querschnittlähmung) die Schmerzhemmung ausgeschaltet ist, kann es bei pflegerischen Maß6
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Kapitel 34 · Assessment und Management medizinischer Komplikationen
nahmen oder in der Physiotherapie zu Mikrotraumatisierungen kommen. Bei HO-gefährdeten Patienten empfiehlt sich daher dringend eine entsprechend vorsichtige Vorgehensweise beim Durchbewegen der Extremitäten unter Beachtung der Schutzreaktionen des Patienten. jMedikamentöse Behandlung Medikamentös wird eine frühe Behandlung mit Biphosphonaten, speziell Etidronat, empfohlen. Biphosphonate hemmen die Kalziumphosphat-Präzipitation und blockieren die Umwandlung von amorphem Kalzium in Ca-Hydroxyapatit, einer der letzten Schritte der Knochenbildung. Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit von Biphosphonaten Trotz experimentell einwandfrei erwiesener Wirkung auf die sekundäre Ossifikation von Weichteilgeweben blieben klinische Studien widersprüchlich (Übersicht bei Garland 1991). Wahrscheinlich kommt es sehr auf eine ausreichend hohe (10–20 mg/kg/d) und lange Dosierung (6 Monate) an. Frühzeitig angewandt lässt sich die HO-Entwicklung zumindest reduzieren (Finerman u. Stover 1981, Garland 1991).
! Cave Etidronat darf bei Kindern und Jugendlichen, die noch im Knochenwachstum sind, nicht angewandt werden!
34
Näher betrachtet Studien: Prophylaktischer Effekt von Indomethacin In den 80er Jahren zeigten mehrere Studien einen prophylaktischen Effekt von Indomethacin und anderen nichtsteroidalen Antiphlogistika (NSA) auf HO nach Hüftgelenkersatz (Ritter u. Sieber 1985, Schmidt et al. 1988). In der bisher einzigen Doppelblindstudie mit frisch querschnittsgelähmten Patienten zeigte sich eine deutliche Reduktion der HO-Inzidenz nach prophylaktischer 3-wöchiger Gabe von 75 mg Indomethacin (Banovac et al. 2001) ab der 3./4. Woche nach dem Trauma, so dass diese relativ risikoarme Behandlung zumindest nach Rückenmarktrauma durchaus empfohlen werden kann.
jOperative Behandlung Bei manifesten, ausgeprägt bewegungsbehindernden HO lässt sich zumindest in Einzelfällen nach dem Abklingen der HO durch Übungsbehandlung das Bewegungsausmaß erheblich verbessern; in der Regel hilft jedoch nur die sorgfältige chirurgische Resektion der funktionell einschränkenden Knochenspangen und -einlagerungen. Wesentliche Probleme sind jedoch der Zeitpunkt der Operation und eine hohe Komplikationsrate, sodass eine wohl überlegte Indikationsstellung und Risiko-Nutzen-Abwägung erfolgen müssen. Die Beobachtung einer hohen Rezidivrate nach früher Operation führte zu der Empfehlung, HO nur in einem reifen Zustand zu resezieren. Das bedeutet (Stockhammer et al. 1992):
4 Normalisierung der alkalischen Serum-Phosphatase, 4 keine pathologische Aktivität mehr in der Knochenszintigraphie, 4 röntgenologische Zeichen eines reifen Knochens. Dennoch ist die Rezidivrate hoch (Übersicht bei Chalidis et al. 2007), und Komplikationen wie starker intraoperativer Blutverlust und postoperative Blutungen, Infektionen und Frakturen sind häufig (van Kuijk et al. 2002). Näher betrachtet HO: Komplikationen/Rezidive Garland et al. (1980, 1989) stellten bei querschnittsgelähmten Patienten unabhängig vom Operationszeitpunkt als wesentlichen Prädiktor für ein schlechtes Langzeitergebnis (Komplikationen, Rezidive) eine präoperativ stark eingeschränkte Gelenkbeweglichkeit fest. Bei hirnverletzten Patienten erwies sich der Grad der neurologischen Behinderung (motorisch und kognitiv) als entscheidender Prädiktor für den langfristigen Operationserfolg. Patienten mit relativ guter selektiver Beweglichkeit und minimalen kognitiven Einschränkungen zeigten kaum Rezidive, während in der Gruppe mit schwerer motorischer Behinderung trotz präoperativ reifer HO fast alle Patienten ein Rezidiv entwickelten.
Garland (1988) leitet daraus die Empfehlung ab, mit der Indikationsstellung zur Operation zu warten, bis neurologische Remission und Reorganisation weitgehend abgeschlossen sind, d.h. in der Regel nach etwa 12 Monaten. Zur Senkung des Rezidivrisikos empfehlen sich die postoperative Gabe von Etidronat über 3 Monate (Garland 1991) oder eine postoperative fraktionierte lokale Bestrahlung mit 5×2 Gy (SautterBihl et al. 2001).
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35
Neurorehabilitation im Kindesund Jugendalter W. Deppe 35.1
Die Entwicklung des kindlichen Gehirns
35.2
Erholung und Neuroplastizität nach kindlicher Hirnschädigung – 584
35.2.1
Erholung und Reorganisation nach kindlichen Hirnschädigungen – 585 Entwicklungsverläufe – 586
35.2.2
– 583
35.3
Hirnverletzungen im Kindes- und Jugendalter und ihre Folgen – 586
35.3.1 35.3.2 35.3.3 35.3.4
Motorische und sensorische Funktionsstörungen – 587 Kognitive Funktionsstörungen – 587 Verhaltensveränderungen und psychische Störungen – 588 Outcome und Outcome-Prädiktoren – 590
35.4
Rahmenbedingungen und Prinzipien der Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter – 591
35.4.1 35.4.2 35.4.3
Erwartungen und Antworten – 592 Entwicklungspsychologische Besonderheiten – 592 Verhaltenstherapeutische Fundierung – 593
35.5
Motorische Rehabilitation
35.5.1 35.5.2 35.5.3
Spastikbehandlung – 594 Physio- und Ergotherapie – 595 Hilfsmittel – 596
35.6
Kognitive Rehabilitation
35.6.1 35.6.2
Trainingsprogramme mit kontextorientiertem Ansatz Phasen der kognitiven Rehabilitation – 598
35.7
Verhaltensrehabilitation
35.8
Schulische Rehabilitation
35.9
Rehabilitation chronisch behinderter Kinder und Jugendlicher – 601
35.9.1
Stationäre Rehabilitation
– 594
– 597
– 599 – 599
– 601
– 597
35.10
Betreuung und Freizeitgestaltung
35.11
Familie und Elternarbeit
35.11.1 35.11.2
Psychosoziale Probleme – 603 Eltern im Rehabilitationsprozess
35.12
Struktur- und Prozessqualität in kinder- und jugendneurologischen Rehabilitationseinrichtungen – 606
35.13
Literatur
– 608
– 602
– 603 – 604
583 35.1 · Die Entwicklung des kindlichen Gehirns
Schädigungen des Nervensystems im Kindes-und Jugendalter zeigen in vielen Belangen Besonderheiten. Akute Verletzungen und Erkrankungen des Gehirns treffen auf ein Organ, dessen funktionelle Organisation und strukturelle Reifung noch in vollem Gange sind, angeborene Schädigungen setzen von vornherein erschwerte Rahmenbedingungen für die Entwicklung. Die Rehabilitationsziele müssen sich immer am Entwicklungsstand des Kindes oder Jugendlichen orientieren. Die Inhalte der Behandlung dürfen nicht nur auf die möglichst weitgehende Restitution eines prämorbiden Funktionsniveaus ausgerichtet sein, sondern sollten auch Wiederherstellung oder Förderung eines möglichst hohen Entwicklungspotenzials zum Gegenstand haben. Die Methoden müssen kind- und jugendgerecht, d.h. dem kognitiven und emotionalen Entwicklungsniveau des Kindes oder Jugendlichen angepasst sein und seine psychosozialen Bedürfnisse und Ressourcen zentral berücksichtigen. Hilfreich sind eine konsequente entwicklungspsychologische und verhaltenstherapeutische Orientierung. Besondere Bedeutung kommt bei Kindern und Jugendlichen der kognitiven Rehabilitation und der Behandlung von Verhaltensstörungen und psychosozialen Problemen zu, da diese gerade nach traumatischen Hirnschädigungen häufig sind und die Langzeitprognose entscheidend bestimmen. Weiterhin muss Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter familienorientiert geschehen, denn die Familie ist das zentrale Beziehungsund Erlebnisfeld eines Kindes und Jugendlichen. Zentrale Aufgabe in der kinder- und jugendneurologischen Rehabilitation ist schließlich auch die Wiedereingliederung in Schule, Ausbildung und Gruppe der Gleichaltrigen.
35.1
Die Entwicklung des kindlichen Gehirns
Der überwiegende Teil der Entwicklung des menschlichen Gehirns spielt sich vor der Geburt ab: 4 Die Neuronenpopulationen der Hirnrinde erreichen ihren Zielort im Prozess der Migration im Wesentlichen bis zum Ende des 2. Trimenons. Die Grundlagen für die kortikalen Repräsentationen und die spätere Arbeitsteilung und Konnektivität sind festgelegt (Sur u. Rubenstein 2005). 4 Im 3. Trimenon wird ein großer Teil der neuronalen Verbindungen hergestellt. Dendriten wachsen, und Synapsen bilden sich in großer Zahl und Vielfalt aus; die Gyrierung schreitet voran und wird vollendet, und die Myelinisierung beginnt. Bereits in dieser Zeit ist das Gehirn vielen exogenen Einflüssen ausgesetzt, die seine Entwicklung mitbestimmen können: So beeinträchtigen Alkohol, viele Drogen und manche Pharmaka die Neurogenese genauso wie anhaltender mütterlicher Stress die Neuronenmigration und das Dendritenwachstum behindern (Eliot 1999a, Rothenberger u. Hüther 1997, Eliot 1999b). Die unterschiedlichen klinischen Schädigungsmuster bei infantilen Zerebralparesen lassen sich inzwischen recht eindeutig mit schädigenden Einwirkungen in ganz bestimmten
Näher betrachtet Erwachsenenrehabilitation vs. Kinder- und Jugendlichenrehabilitation: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen Bis ins 18. Jahrhundert hinein sehen Kinder auf Bildern und Gemälden eigentümlich fremdartig aus. Sie blicken ernst und sehen aus wie kleine Erwachsene. Die kindlichen Körperproportionen werden vernachlässigt. Die Malerei spiegelt damit die jahrhundertelange kulturelle und gesellschaftliche Betrachtung des Kindes als eines kleinen Menschen wider, bei dem es nur galt, ihn zum Erwachsenen zu machen. Erst in der Aufklärung (Rousseau, Pestalozzi u.a.) wurde dem Kind eine eigene Natur zugesprochen und die Kindheit als eigenständiger Entwicklungsabschnitt mit spezifischen Merkmalen und eigenen Gesetzmäßigkeiten anerkannt. Daraus entwickelten sich im 19. und 20. Jahrhundert Pädagogik, Entwicklungspsychologie und Kinderheilkunde als selbstständige Wissenschaftsgebiete. Kranke Kinder können nicht wie kranke Erwachsene behandelt werden. Daher kann auch neurologische Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter nicht Erwachsenenrehabilitation in verkleinertem Maßstab sein. Diese hat vielmehr ihre eigenen Ziele, Inhalte und Methoden. Zwar baut diese auf den Erkenntnissen und Erfahrungen der Rehabilitation Erwachsener auf, doch muss sie stets die besonderen Entwicklungsaspekte des Kindes- und Jugendalters im Blick haben. Eine Schädigung in diesem Alter trifft auf ein Gehirn, dessen anatomische Reifung und funktionelle Organisation noch nicht abgeschlossen sind, und auf einen Menschen, dessen kognitive, emotionale und soziale Entwicklung noch in vollem Gange ist.
Phasen der prä- und perinatalen Hirnentwicklung in Verbindung bringen (Krägeloh-Mann et al. 1995, 1999, 2001). Trotz der vorgeburtlichen Dynamik ist die Hirnentwicklung nach der Geburt bei Weitem nicht abgeschlossen. Synaptogenese und Ausbildung der neuronalen Netzwerke befinden sich noch in vollem Gange. Die Myelinisierung als wesentliche Grundlage für effizienten Informationstransfer und koordinierte Aktion schreitet jetzt erst richtig voran. Besonders die ersten 2 Lebensjahre weisen eine hohe Dynamik auf (Giedd et al. 1996, Reiss et al. 1996). Die Entwicklungsund Lernprozesse in Kindheit und Jugend korrelieren hirnstrukturell zu Anfang mit der Neubildung, in späteren Phasen mit der Stärkung häufig genutzter und der Reduktion wenig genutzter Verbindungen. jSynaptogenese Die Synaptogenese ist zunächst durch eine Überproduktion gekennzeichnet, auf die regelhaft eine Plateauphase, dann im mittleren bis späten Kindesalter und in der Adoleszens eine Phase des Einschmelzens bestehender Synapsen folgen (Rakic et al. 1986, Bourgeois u. Rakic 1993, Casey et al. 2000). Aus Tierversuchen ist bekannt, dass der zeitliche Verlauf dieser Strukturbildungsprozesse mit sensiblen Entwicklungsphasen einhergeht (Prägung) (Singer 1982, 1985).
35
584
Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
> Viele Entwicklungsschritte sind nur in einem eng umschriebenen Zeitfenster möglich. Wenn in diesem Zeitfenster keine adäquate Interaktion zwischen Umwelt und Gehirn stattfindet, geht der entsprechende Entwicklungsschritt unwiderruflich verloren. Beispiel Eine Amblyopie (Schwachsichtigkeit) bei schielenden Kindern durch zentrale Unterdrückung eines Auges ist nur dann reversibel, wenn spätestens bis zum 8.–10. Lebensjahr ein entsprechendes Sehtraining stattfindet. Auch die stark beeinträchtigte und in späteren Lebensjahren nur unzureichend korrigierbare psychosoziale Entwicklung von Kindern, die in den ersten Lebensjahren vernachlässigt wurden (Kaspar-Hauser-Syndrom), ist sicherlich zu einem großen Teil auf eine mangelnde Ausdifferenzierung neuronaler Netzwerke infolge mangelnder Anregungen (Reizdeprivation) in einer sensiblen Entwicklungsphase zurückzuführen.
chenden Organisation neuronaler Netzwerke mit einer veränderten Kortexdicke führen (Shaw et al. 2006b, Gogtay et al. 2004, Rapoport u. Gogtay 2008). In letzter Zeit ist zunehmend klarer geworden, wie psychosoziale Faktoren, die aus der Entwicklungspsychologie und -psychopathologie als störungsrelevant und risikobildend bekannt sind, auf die kindliche Hirnentwicklung einwirken können. Dabei sind die Stresshormone der Hypophysen-Nebennieren-Achse die entscheidenden Mediatoren. Sie hemmen u.a. die Bildung neurotropher Faktoren und führen dadurch zu einem verminderten axonalen und Dendritenwachstum und zu einer herabgesetzten Synaptogenese (Rothenberger u. Hüther 1997). Mit der modulatorischen Wirkung kortikotroper und noradrenerger Hormone ist in ähnlicher Weise auch nach strukturellen Hirnschädigungen zu rechnen (Mirescu u. Gould 2006).
35.2
35
Die Prozesse der Synaptogenese und des anschließenden adaptiven Zurechtschneidens (engl. Pruning) des neuronalen Netzwerks laufen in verschiedenen Hirnarealen und funktionellen Systemen zeitlich sehr unterschiedlich ab (Chugani et al. 1987, Huttenlocher 1997, Casey et al. 2000): 4 Der Gipfel der Synapsendichte wird im auditorischen Kortex bereits nach 3 Monaten erreicht. 4 Im visuellen Kortex erfolgt zwischen dem 2.–4. Lebensmonat zunächst eine Verdoppelung der Synapsendichte, mit etwa 1 Jahr wird ein Maximum erreicht. Danach beginnt der Abbau, bis Ende des 1. Lebensjahrzehnts etwa das adulte Niveau erlangt ist. 4 Im frontalen Kortex wird bis ins 2. Lebensjahr hinein eine doppelt so hohe Synapsendichte wie im visuellen Kortex aufgebaut. Darauf folgt eine mehrjährige Plateauphase; erst mit 5–7 Jahren beginnt das Pruning, bis mit etwa 16 Jahren die adulten Verhältnisse etabliert sind. 4 Als letztes Areal scheint der dorsolaterale präfrontale Kortex auszudifferenzieren, der mit höheren kognitiven Funktionen in Verbindung zu bringen ist. Ähnlich differenziell verläuft auch der Myelinisierungsprozess. > Individuelle Unterschiede im zeitlichen Ablauf von Synaptogenese und Pruning scheinen wesentlich für die unterschiedliche Intelligenzentwicklung und Ausbildung besonderer Fähigkeiten zu sein (Garlick 2002, Shaw et al. 2006a).
jStörungen der Synaptogenese Ferner mehren sich Befunde, dass psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters wie 4 dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) oder 4 einer früh beginnenden Schizophrenie veränderte neuroplastische Prozesse zugrunde liegen, die fokal (ADHS) oder global (Schizophrenie) zu einer abwei-
Erholung und Neuroplastizität nach kindlicher Hirnschädigung
jAktuelle Thesen Hinsichtlich der Erholung und Neuroplastizität nach einer kindlichen Hirnschädigung werden zwei unterschiedliche Thesen vertreten. k1. These: Kennard-Prinzip > Hirnverletzungen im Kindes- und Jugendalter haben eine bessere Prognose und führen zu weniger starken Behinderungen als vergleichbare Verletzungen im Erwachsenenalter.
Diese These wird Margaret Kennard zugeschrieben (KennardPrinzip), die in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts fand, dass unilaterale Läsionen des motorischen Kortex bei jungen Affen zu geringeren Funktionseinbußen führten als bei adulten Tieren (Kennard 1938). In jüngerer Zeit findet das Kennard-Prinzip Unterstützung durch die Beobachtungen an Kindern nach epilepsiechirurgischen Eingriffen. Bei kleineren Kindern führen ausgedehnte Resektionen von Hirnarealen oft zu erstaunlich geringen funktionellen Ausfällen, sowohl bzgl. motorischer als auch sprachlicher und anderer kognitiver Fähigkeiten (Verity et al. 1982, Chugani et al. 1996). Die theoretische Basis für ein besseres Erholungspotenzial hirnverletzter Kinder wird in einer deutlich höheren Plastizität des kindlichen Gehirns und besseren Fähigkeit zur neuronalen Reorganisation gesehen. k2. These: Vulnerabilitätshypothese > Das kindliche Gehirn ist vulnerabler als das erwachsene Gehirn (Vulnerabilitätshypothese). Grundgedanke ist, dass zumindest schwerere Hirnverlet-
zungen wesentliche anatomische und physiologische Grundlagen der Hirnentwicklung selbst nachhaltig stören können und damit langfristig zu stärkeren Störungen führen als bei einer fortgeschritteneren Hirnentwicklung (Snow u. Hooper
585 35.2 · Erholung und Neuroplastizität nach kindlicher Hirnschädigung
1994). In jüngerer Zeit haben tierexperimentelle Untersuchungen dieser eher pessimistischen Sicht Unterstützung verliehen (Perry u. Cowey 1982, Passingham et al. 1983, Kolb u. Whishaw 1989). Zwar zeigte sich in der frühen Phase nach der Schädigung häufig eine raschere und bessere Erholung, doch in einer längerfristigen Beobachtung bis zum Abschluss der Entwicklung wurde der Abstand zum entsprechenden normalen Funktionsniveau eher größer.
35.2.1
Erholung und Reorganisation nach kindlichen Hirnschädigungen
Es ist methodisch nicht einfach, die Problematik aufgrund klinischer Untersuchungen und Beobachtungen zu klären. Hirnschädigungen sind zu unterschiedlich und unterliegen zu vielen Einflussfaktoren, als dass eine strenge Fallparallelisierung in verschiedenen Altersgruppen oder ein epidemiologisch fundierter Vergleich einwandfrei möglich wären. Dennoch gibt es inzwischen einige Befunde, die auf Besonderheiten in der Erholung und Reorganisation nach kindlichen Hirnschädigungen hinweisen. jAphasie Alajouanine und Lhermitte (1965) fanden 6 Monate nach einer akuten Hirnschädigung bei initial schwer aphasischen Kindern eine vollkommene Erholung bei etwa einem Drittel, nach einem Jahr eine weitgehende Erholung bei drei Vierteln. Dies ist ein deutlich besserer Verlauf als bei Aphasien des Erwachsenenalters. jHandlungs-IQ Woods und Carey (1979) lieferten Hinweise dafür, dass linkshemishärische Hirnschädigungen im 1. Lebensjahr die sprachliche Entwicklung kaum beeinträchtigen. Hingegen fanden Riva u. Cazzaniga (1986) nach linkshemisphärischen Schädigungen im 1. Lebensjahr eine dauerhafte Verminderung sowohl des Verbal- als auch des Handlungs-IQ im HAWIK. Rechtshemisphärische Schädigungen zeigten unabhängig vom Alter eine selektive Verminderung des Handlungs-IQ. jVisuo-konstruktive Aufgabe Kinder mit einem prä- oder perinatalen Hirninfarkt zeigten bei einer visuo-konstruktiven Aufgabe (Rey-Osterrieth-Figur) im Alter von 6–8 Jahren ausgeprägte Defizite, unabhängig davon, ob es sich um eine rechts- oder linkshemisphärische Schädigung handelte (Akshoomoff et al. 2002). jMotorik Nach einer Hemisphärektomie mittels transkranieller Magnetstimulation zeigten jung operierte Kinder eine deutlich bessere Aktivierung der ipsilateralen Pyramidenbahn als spät operierte Kinder (Benecke et al. 1991). Passend dazu ist bei pränatal erworbenen ausgedehnten Hirninfarkten die Funktionsfähigkeit der kontralateralen Extremitäten häufig durch eine gute ipsilaterale Kontrolle gesichert, die sich frühzeitig entwickelt.
Näher betrachtet Studien: Outcome bei Kindern und Jugendlichen Für schädelhirnverletzte Kinder und Jugendliche liegen nur wenige wirklich verwertbare Daten über eine mögliche Altersabhängigkeit des Erholungsprozesses vor. Die untersuchten Kohorten sind meist relativ klein und zudem nicht repräsentativ. Klonoff et al. (1977) verglichen eine größere Gruppe von Kindern zwischen 2½ und weniger als 9 Jahren mit einer Gruppe von Kindern zwischen 9–15 Jahren (alle Schweregrade) und konnten neurologisch und neuropsychologisch keine signifikanten Unterschiede im 5-Jahres-Outcome finden. Levin et al. (1982) sahen bei Patienten mit vergleichbar schwerem SHT (GCS, Komadauer) ein besseres Outcome bei Gedächtnis- und anderen kognitiven Funktionen für die Adoleszentengruppe (13–19 Jahre) im Vergleich zu Kindern (2– 12 Jahre). In einer weiteren retrospektiven Untersuchung (Levin et al. 1992) an einer größeren Population von etwa hundert 0- bis 15-Jährigen mit schwerem SHT, die mit einer großen Gruppe erwachsener Patienten (n=676) verglichen wurde, zeigte nach 6 Monaten und 1 Jahr die Gruppe der 5- bis 10-Jährigen mit Abstand das beste Outcome (gemessen mit der Glasgow Outcome Scale), gefolgt von der Gruppe der 11- bis 15-Jährigen, während das Ergebnis für die 0- bis 4-Jährigen noch schlechter war als für die erwachsenen Patienten. In der weiteren Analyse zeigte sich allerdings, dass die Ergebnisse zum großen Teil die Traumaschwere widerspiegeln, mit einem hohen Anteil sehr schwerer Verletzungen bei kleinen Kindern. Bei einer Untersuchung des Langzeitoutcome nach mehr als 6 Jahren und Teilung der Stichprobe in zum Unfallzeitpunkt 0- bis 7-Jährige einerseits und 9- bis 16-Jährige andererseits fanden Verger et al. (2000) für die Gruppe der Jüngeren ein signifikant schlechteres Outcome bei Intelligenzentwicklung und visuo-konstruktiven Leistungen, das auch einer Korrektur nach Traumaschwere standhielt. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Anderson et al. (2005b) in einer sehr detaillierten prospektiven Untersuchung.
jZusammenfassung Für eine zusammenfassende Bewertung ergibt sich angesichts der Datenlage gegenwärtig ein sehr differenziertes Bild. Trotz der unbestreitbar hohen Plastizität des sich entwickelnden kindlichen Gehirns kann man nicht einfach davon ausgehen, dass Hirnschädigungen im Kindes- und Jugendalter per se eine bessere Prognose haben als solche in einem späteren Lebensalter. Schon gar nicht lässt sich eine lineare Alterskorrelation erkennen, nach dem Motto: Je jünger das Kind, desto besser die Erholungsaussichten. Die vorliegenden Daten und Erfahrungen deuten vielmehr darauf hin, dass Hirnschädigungen in einem frühen Alter (1. bis 2. Lebensjahr) besonders schwer verlaufen, und dass das Gehirn eher diffuse und multilokuläre als fokale Schädigungsmuster zeigt (Kraus et al. 1987, Rivara 1984). Auch ein noch sehr plastisches Gehirn ist jedoch auf ein Netzwerk mit genügend intakten Maschen angewiesen, um sich neu und anders zu organisieren. Ferner ergibt sich, dass die Erholungsaussichten im Hinblick auf die betroffenen Funktionen sehr differenziell be-
35
586
Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
trachtet werden müssen. Es scheint wesentlich zu sein, ob eine Schädigung in das Zeitfenster der dynamischen Entwicklung einer Fähigkeit fällt. Schädigungen funktioneller Systeme, die sich rasch entwickeln und früh ausreifen, wie z.B. das visuelle System, zeigen ein geringeres Erholungspotenzial als Schädigungen der Systeme, die sich über einen langen Zeitraum entwickeln und ausdifferenzieren, wie z.B. Sprache und sprachabhängige Fähigkeiten. Bei Letzteren scheint die lang anhaltende erhöhte Plastizität tatsächlich zu vergleichsweise besseren Erholungsmöglichkeiten im Kindesalter zu führen. Bezüglich anderer kognitiver Funktionen ist die empirische Datenlage unzureichend. Ein konstanter empirischer Befund ist jedoch, dass der Handlungs-IQ nach kindlichen Hirnschädigungen eine schlechtere Erholungstendenz zeigt als der Verbal-IQ (Chadwick et al. 1981b, Jaffe et al. 1992, 1995; Max et al. 1998b, Anderson et al. 2001, 2005b). Motorische Funktionen sind in dieser Betrachtung intermediär anzusiedeln. Das motorische System reift beim Menschen etwa bis zum 9. Lebensjahr aus. Entsprechend sollten bis zu diesem Zeitpunkt noch bessere Erholungsmöglichkeiten gegeben sein, was mit vielen der empirischen Daten übereinstimmt.
35.2.2
35
Entwicklungsverläufe
Bei allen Betrachtungen zur Erholungsdynamik muss man stets auch an die alterstypischen normalen Entwicklungsfortschritte denken. Für eine vollständige Restitution nach einer Hirnschädigung muss ein Kind nicht nur sein prämorbides Funktionsniveau wieder erreichen, sondern zusätzlich den Rückstand wettmachen, der in der Zwischenzeit im Verhältnis zu den in ihrer Entwicklung vorangeschrittenen Gleichaltrigen entstanden ist. Das bedeutet, dass zumindest über einen begrenzten Zeitraum hinweg eine Zunahme der normalen Entwicklungsgeschwindigkeit (Entwicklungsbeschleunigung) erforderlich ist. Darin liegt eine zusätzliche Herausforderung für das sich reorganisierende Gehirn, die nicht immer bewältigt wird. Nach einer kindlichen Hirnschädigung sind modellhaft fünf verschiedene Entwicklungsverläufe möglich (. Übersicht 35.1, . Abb. 35.1). Alle fünf Entwicklungsverläufe können nach kindlichen Hirnschädigungen beobachtet werden. Dabei sind in unterschiedlichen Funktionsbereichen (z.B. Motorik und kognitive Funktionen) durchaus unterschiedliche Verlaufskurven möglich.
35.3
. Übersicht 35.1. Mögliche Entwicklungsverläufe nach einer kindlichen Hirnschädigung 1.
2.
3.
4.
5.
Das prämorbide Funktionsniveau wird wieder erreicht, und durch eine zeitweise Zunahme der Entwicklungsgeschwindigkeit gewinnt das Kind wieder Anschluss an die Entwicklung der Gleichaltrigen. Das Kind erreicht das prämorbide Funktionsniveau wieder, aber die Entwicklungsgeschwindigkeit nimmt nicht zu, so dass längerfristig ein Entwicklungsrückstand bleibt. Das prämorbide Niveau wird wieder erreicht, doch durch die Schwere der Hirnschädigung sind wichtige Entwicklungsvoraussetzungen verloren gegangen, so dass sich die Entwicklungsgeschwindigkeit verlangsamt und der Entwicklungsabstand zur Gruppe der Gleichaltrigen längerfristig immer größer wird. Das prämorbide Funktionsniveau wird nicht wieder erreicht, und die Entwicklung bleibt dauerhaft schwer beeinträchtigt; der Abstand zu den gleichaltrigen Kindern vergrößert sich stark. Aufgrund organischer Vorgänge und Komplikationen (z.B. Apoptose, Epilepsie) oder auch Maladaptationen (z.B. im Sozialverhalten) treten nach anfänglicher Erholung sekundäre Verschlechterungen des Funktionsniveaus ein.
treffen als bei Erwachsenen (Kraus et al. 1987, Rivara 1984, Adelson u. Kochanek 1998). In der Rehabilitation muss sich das Augenmerk daher meist auf ein ganzes Ensemble von Problemen mit Mischbildern von sensorischen, motorischen, kognitiven und Verhaltensstörungen richten.
Hirnverletzungen im Kindesund Jugendalter und ihre Folgen
Im Unterschied zum Erwachsenenalter, in dem der Schlaganfall die häufigste akute Schädigung des Zentralnervensystems ist, haben im Kindes- und Jugendalter durch äußere Gewalteinwirkung bedingte Verletzungen mit Abstand die größte Bedeutung für die neurologische Akutrehabilitation. Multifokale Hirnschädigungen sind dabei deutlich häufiger anzu-
. Abb. 35.1. Mögliche Entwicklungsverläufe nach einer akuten Hirnschädigung im Kindesalter: 1 Völlige Restitution. 2 Erholung, aber dauerhaftes Verbleiben eines konstanten Entwicklungsrückstands. 3 Erholung, aber zunehmender Entwicklungsrückstand gegenüber Gleichaltrigen. 4 Erholung ohne Wiedererreichen des prätraumatischen Entwicklungsstandes, keine wesentliche weitere Entwicklung. 5 Sekundäre Verschlechterung nach anfänglicher Erholung
587 35.3 · Hirnverletzungen im Kindes- und Jugendalter und ihre Folgen
Näher betrachtet Epidemiologische Daten In den westlichen Industrieländern sind Hirnverletzungen die häufigste Todesursache bei Kindern und Jugendlichen und eine wesentliche Quelle für erworbene, oft schwere und lebenslange Behinderungen. Sie zeigen einen deutlichen Altersgipfel zwischen 15–24 Jahren und einen weniger stark ausgeprägten Gipfel bei Kindern unter 6 Jahren (Levin et al. 1992, Masson et al. 2001). Von Wild und Wenzlaff (2005) fanden in Deutschland eine jährliche Inzidenz von 321 SHT/100.000 Einwohner. Davon waren 28% Kinder im Alter von 0–15 Jahren, während ihr Bevölkerungsanteil 16,5% beträgt. In den USA wurden Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts jährliche Inzidenzen von etwa 230 SHT/100.000 für Kinder bis 14 Jahren und 294/100.000 für Jugendliche von 15– 19 Jahren berichtet (Kraus et al. 1990). Davon waren in der Altersgruppe von 0–18 Jahren 83–85% als leicht (Glasgow Coma Score 13–15), 5–7% als mittelschwer (GCS 9–12) und 8–12% als schwer (GCS<9) einzustufen (Kraus et al. 1986, Hooper et al. 2004). Die Mortalität lag bei 6%. Jungen sind annähernd doppelt so häufig betroffen wie Mädchen. Der Anteil schwerer SHT war bei Säuglingen relativ hoch (13%), sank dann bis 14 Jahre kontinuierlich ab, um im Jugend- und jungen Erwachsenenalter wieder hochzuschnellen. Die Mortalität bei Säuglingen ist doppelt so hoch wie bei Kindern zwischen dem 2.–6. Lebensjahr und 3-mal höher als bei Kindern zwischen dem 6.–12. Lebensjahr (Kriel et al. 1989, MaierHauff et al. 1993, Engberg u. Teasdale 1998, Sosin et al. 1995).
35.3.1
Motorische und sensorische Funktionsstörungen
Motorische Funktionsstörungen
Näher betrachtet Untersuchung: Prozentuale Häufigkeit von Schädigungen In der methodisch bisher besten Untersuchung an 56 überwiegend schwer hirnverletzten Kindern (0–12 Jahre) fanden Poggi et al. (2000) Visusminderungen bei 55%, Gesichtsfelddefekte bei 41% und partielle oder vollständige Optikusatrophien bei 21% der Kinder. 50% aller Kinder zeigten eine Konvergenzstörung, 41% Fixationsprobleme, 43% einen Strabismus, meist mit Doppelbildern. Ein Nystagmus fand sich bei 21% der Kinder, eine Blickfolgestörung (meist Sakkadierung) bei 39%. Bezüglich der Optikusschädigungen und Okulomotorikstörungen stimmen die Angaben weitgehend mit denen von Jacobi et al. (1986) überein, die eine Serie von etwa 200 Kindern mit schwerem SHT untersuchten. Die Daten weisen auf die Wichtigkeit hin, Störungen des Sehens und der Augenbewegungen in der neurologischen Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen sorgfältig zu diagnostizieren und in die Therapie einzubeziehen.
jStörungen des Hörens Für Störungen des Hörens nach Hirnverletzung liegen noch wenige gesicherte Daten vor. Jacobi et al. (1986) fanden eine Häufigkeit von 7% der vorübergehenden und 4% der permanenten Hörschädigungen nach schwerem kindlichem SHT. Vartiainen et al. (1985) sowie Cockrell und Gregory (1992) berichten dagegen von 22% bzw. 16% der Kinder mit Schallleitungsstörungen und 18% bzw. 13% mit Schallempfindungsstörungen nach SHT. Drei Fünftel der Betroffenen behielten die Störung.
35.3.2
Kognitive Funktionsstörungen
Störungen der Motorik finden sich bereits zu Ende der Akut-
phase praktisch nur bei schwer hirnverletzten Kindern (GCS<9) (Wallen et al. 2001, Anderson et al. 2006). Dabei sind grob- und feinmotorische Funktionen, obere und untere Extremitäten in gleicher Weise betroffen. Die wesentliche Erholungsdynamik findet bei motorischen Störungen in den ersten 6 Monaten statt; nach mehr als einem Jahr können meist keine signifikanten Verbesserungen mehr beobachtet werden (Wallen et al. 2001, Jaffe et al. 1995). Bei differenzierter Betrachtung zeigt sich, dass besonders grobmotorische (z.B. Laufen, Gleichgewicht) und geschwindigkeitskritische (z.B. Schreiben) Leistungen stark beeinträchtigt bleiben (Chaplin et al. 1993, Kuhtz-Buschbeck et al. 2003, Katz-Leurer et al. 2008).
Sensorische Funktionsstörungen jStörungen des Sehens und der Augenbewegungen Bei den Schädigungen sensorischer Systeme spielen ähnlich wie im Erwachsenenalter Seh- und Okulomotorikstörungen eine prominente Rolle. So zeigen die häufigen frontalen Schädel-Hirn-Traumen oft eine Orbitamitbeteiligung.
Für die weitere Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen erweisen sich in der Mehrzahl kognitive Störungen und Verhaltensveränderungen als die gravierendsten Traumafolgen.
Leichte Hirnverletzungen Bereits nach leichten Schädel-Hirn-Traumen (GCS 13–15) lassen sich über Wochen und Monate kognitive und Verhaltensstörungen finden (Chadwick et al. 1981a, Gentilini et al. 1985, Dikmen et al. 1986, Polissar et al. 1994, Teasdale u. Engberg 1997, Hawley 2003, Hooper et al. 2004, Anderson et al. 2004, Taylor et al. 2008). Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Kinder bereits vor dem Unfall neuropsychologische oder Verhaltensauffälligkeiten zeigte, z.B. Lernbehinderungen und Aufmerksamkeitsdefizitstörungen, die zu einem erhöhten Unfallrisiko führen. Beim leichten SHT kommt es regelmäßig im Laufe von Monaten zur vollständigen Rückbildung der Störungen. In keiner methodisch fundierten Verlaufsuntersuchung ließen sich dauerhafte kognitive Beeinträchtigungen nach leichtem SHT nachweisen (Jaffe et al. 1992, Fay et al. 1993, Anderson et al. 1997, Ewing-Cobbs et al. 1998b, Anderson et al. 2004, Anderson u. Catroppa 2005).
35
588
Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
Mittelschwere/schwere Hirnverletzungen
jSprache
Für mittelschwere und schwere Hirnverletzungen sind vorübergehende oder dauerhafte kognitive Störungen die Regel.
Störungen der Sprache sind eine weitere häufige Folge einer traumatischen Hirnschädigung im Kindes- und Jugendalter. Allerdings zeigen sie bei Kindern selten die aus dem Erwachsenenalter bekannten typischen Aphasiemerkmale; sie entziehen sich der üblichen Aphasieklassifikation.
jIntelligenzleistung Bezüglich der Intelligenzleistung ist nach einem schweren SHT im Mittel mit einem Abfall um etwa eine Standardabweichung (entsprechend 15 IQ-Punkten in der üblichen Normierung) zu rechnen, nach einem mittelschweren SHT mit einem Abfall um etwa 10 Punkte (Jaffe et al. 1992, Anderson et al. 2000, 2004). Angewandt wird der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest; nach dem der Handlungs-IQ anfälliger ist als der Verbal-IQ (Chadwick et al. 1981b, Jaffe et al. 1992, Max et al. 1998b). jGedächtnisleistungen Intakte Gedächtnisleistungen sind eine wesentliche Voraussetzung für Wissenserwerb und schulisches Lernen. Sowohl nach mittelschweren wie schweren Hirnverletzungen finden sich sehr häufig Gedächtnisstörungen. Dabei zeigt sich besonders das Langzeitgedächtnis betroffen, während Aufgaben zur kurzfristigen Merkfähigkeit auch von schwer hirnverletzten Kindern und Jugendlichen deutlich besser bewältigt werden (Anderson et al. 2000). Visuell-räumliche Gedächtnisleistungen erweisen sich störanfälliger als sprachliche (Levin et al. 1982, Anderson et al. 2000).
35
jExekutive Funktionen Von der frühen Kindheit bis in die späte Adoleszenz zeigen exekutive Funktionen wie 4 Aufmerksamkeitssteuerung, 4 Arbeitsgedächtnis, 4 Handlungsplanung, 4 Problemlösungsvermögen, 4 logisch folgerichtiges Denken, 4 kognitive Flexibilität, 4 Impulskontrolle und 4 Selbstregulation eine kontinuierliche Entwicklungsdynamik. Störungen innerhalb dieser Leistungen sind wohl aufgrund der Häufigkeit der Schädigung frontaler Hirnstrukturen fast regelhafte SHTFolgen, deren Auswirkungen auf das alltägliche Verhalten und die soziale Interaktion besonders groß sind (Ylvisaker u. Feeney 2002, Levin u. Hanten 2005, Nadebaum et al. 2007, Cook et al. 2008). Anderson und Catroppa (2005) fanden ein sehr unterschiedliches Betroffensein verschiedener exekutiver Funktionen nach kindlichem SHT und eine besondere Vulnerabilität junger Kinder. Bei insgesamt relativ guter Erholungsdynamik zeigten sich die stärksten bleibenden Einbußen bei kognitiver Flexibilität und Verarbeitungsgeschwindigkeit. Cook et al. (2008) beschreiben nach schwerem SHT bleibende Probleme in Handlungskontrolle und Selbstregulation bei der Lösung alltagspraktischer Aufgaben.
> Charakteristische Züge kindlicher posttraumatischer Sprachstörungen: 4 Fehlende spontane Sprachproduktion bis hin zum Mutismus, 4 verlangsamte, zögerliche und unterbrochene Sprechweise, 4 kurze Sätze, 4 Wortschatzverarmung, 4 Wortfindungsprobleme bei meist 4 gut erhaltenem Sprachverständnis (Dennis 1989, Levin 1991).
Ebenso gravierend für die Kommunikationsfähigkeit sind die nach schweren Schädel-Hirn-Traumen auch im Kindes- und Jugendalter nicht selten zu findenden Dysarthrien und Sprechapraxien. Mehrere Forscher plädieren dafür, kindliche Sprach- und Sprechstörungen nicht in erster Linie anhand der Ergebnisse formaler Sprachtests zu betrachten, sondern die übergreifenden Aspekte der kommunikativen Kompetenz im Alltag, beim Erzählen und beim Textverständnis in den Mittelpunkt zu stellen (Dennis u. Barnes 1990, Chapman et al. 1995). Bei strukturierten Untersuchungen derartiger Anforderungen und Sprechsituationen fanden sie deutliche Defizite sogar bei Kindern, die in standardisierten Sprachtests wieder normale Leistungen zeigten (Chapman et al. 1998, EwingCobbs et al. 1998a). Als Ursache dafür zeigen sich in einem hohen Prozentsatz zentrale auditive Wahrnehmungsstörungen (Cockrell u. Gregory 1992, Flood et al. 2005).
35.3.3
Verhaltensveränderungen und psychische Störungen
Unterschätzt und zu wenig beachtet wurden in der neurologischen Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen lange Zeit Veränderungen des Erlebens und Verhaltens und das Auftreten eindeutiger psychischer Störungen. Persönlichkeits- und Verhaltensveränderungen 4 zeigen eine hohe Persistenz, 4 überdauern häufig andere funktionelle Störungen und 4 bestimmen in vielen Fällen den Langzeitverlauf nach einer schweren Hirnschädigung. In systematischen Elterbefragungen wurden 3 Monate, 1 Jahr und länger als 2 Jahre nach mittelschwerem und schwerem SHT bei mehr als zwei Dritteln aller Patienten Verhaltensprobleme berichtet; selbst nach leichtem SHT waren es bis zu 40% (Rivara et al. 1994, Hawley 2003, Hooper et al. 2004). Besonders häufig wurden genannt: 4 Ungeduld, 4 Reizbarkeit,
589 35.3 · Hirnverletzungen im Kindes- und Jugendalter und ihre Folgen
4 Wutausbrüche, 4 Launenhaftigkeit und 4 Streitereien. Bei den leicht verletzten Kindern waren die Probleme nach einem Jahr deutlich rückläufig, bei den mittelschwer verletzten Kindern nur geringfügig, und bei den schwer hirnverletzten Kindern war dagegen sogar noch eine Zunahme zu erkennen. In Kontrollgruppen rein orthopädischer Unfallpatienten wird nur eine Inzidenz zwischen 10–15% gesehen (Brown et al. 1981, Lehmkuhl u. Thoma 1990).
Externalisierende/internalisierende Störungen Externalisierende (nach außen gerichtete) Störungen sind deutlich häufiger als internalisierende, es dominieren Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS). Während sich bei Kindern mit leichtem SHT ein hoher Anteil vorbestehender ADHS von 20–30% findet (Brown et al. 1981, Max et al. 1997, Gerring et al. 1998, Bloom et al. 2001), kam es in den vorliegenden Studienpopulationen zu einer posttraumatisch neuen ADHS (sekundäre ADHS) ausschließlich bei Kindern mit mittelschwerem und schwerem SHT mit einer Inzidenz von 15–40% (Max et al. 1998c, Gerring et al. 1998, Bloom et al. 2001, Max et al. 2005, Levin et al. 2007). Der Häufigkeit nach folgen 4 Störungen des Sozialverhaltens, 4 Depressionen (20–30%), 4 Zwangsstörungen und 4 Angststörungen (15–30%) (Max et al. 1997, Bloom et al. 2001, Grados et al. 2008). > Internalisierende Störungen sind bei jüngeren, externalisierende bei älteren Kindern und Jugendlichen häufiger (Geraldina et al. 2003).
Zwei Jahre nach einem schweren SHT zeigten in einer prospektiven Studie etwa 40% der Kinder im Alter von 5–14 Jahren nach DSM-IV-Diagnosekriterien eine dauerhafte Persönlichkeitsveränderung, die meist Merkmale umfasste wie 4 affektive Labilität, 4 Enthemmung, 4 Aggressivität und 4 Apathie (Max et al. 2000). Praxistipp Während internalisierende Störungen wie Angst und Depressionen im Verlauf eine relativ gute Erholungstendenz zeigen (>60%), sind externalisierende Störungen sehr dauerhaft (Max et al. 1997, Bloom et al. 2001, Max et al. 2006, Cole et al. 2008), was auch auf den organischen Kern dieser Störungen hinweist.
jDepressive Zwangs- und Angststörungen Internalisierende wie externalisierende Störungen können den Rehabilitationsverlauf stark beeinflussen. Depressive
Zwangs- und Angststörungen führen meist zu einem starken Rückzug des Kindes oder Jugendlichen und zu einem mehr oder minder ausgeprägten Vermeidungsverhalten.
Das Kind wirkt lustlos bis apathisch, spielt und bewegt sich weniger, klagt häufiger über Schmerzen oder andere Befindlichkeitsstörungen, sucht wenig Kontakt zu anderen und lehnt Kontaktangebote anderer Menschen ab. Auch Appetitlosigkeit, mangelnde Nahrungs- oder Flüssigkeitsaufnahme bis hin zur Verweigerung von Essen und Trinken finden sich als Ausdruck einer ausgeprägten posttraumatischen Depression. Ängste sind vor allem sozialer Natur oder körperbezogen. Häufig sträuben sich Kinder gegen Berührungen und einfache Manipulationen an ihrem Körper, wie sie für viele Therapien und auch die Pflege unerlässlich sind. Sie klagen über Schmerzen auch bei sonst nicht schmerzhaften Bewegungen oder Untersuchungen. Kleinere Kinder klammern sich stark an ihre Eltern oder andere Vertrauenspersonen, so dass eine Kontaktaufnahme und therapeutische Arbeit mit dem Kind meist nur in deren Gegenwart möglich ist. Zwangsgedanken kreisen meist um Krankheit, körperliche Integrität und Verlustbefürchtungen, es treten häufig Wasch- und Kontrollzwänge auf (Grados et al. 2008). jAufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen beeinträchtigen vor allem die Möglichkeiten des Kindes zu 4 Konzentration, 4 angemessener Reizverarbeitung, 4 Handlungsvorbereitung und -kontrolle sowie 4 sozialer Interaktion. Das Kind ist sehr reizoffen und stark ablenkbar. Aufträge und Anforderungen werden häufig nicht richtig verstanden. Gerade von außen vorgegebene (fremdbestimmte) Aufgaben werden nur über kurze Zeit befolgt, neue Reize in der Umgebung des Kindes sind attraktiver und ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, die ursprüngliche Handlung wird abgebrochen. Die zusätzlich meist vorhandene Hyperaktivität bewirkt eine ständige Unruhe und Umtriebigkeit. Die Kinder haben einen großen Bewegungsdrang, können nicht stillsitzen, laufen oft ziellos umher und zeigen überschießende und dysproportionierte Bewegungen, eine relativ plumpe Grobmotorik sowie Defizite in der feinmotorischen Koordination. Es liegt auf der Hand, dass gerade die schulischen Leistungsmöglichkeiten dieser Kinder stark eingeschränkt sind, auch dann, wenn die Intelligenzleistungen durch die Hirnverletzung nicht gravierend gemindert sind. Zu den schulischen Leistungsproblemen kommen soziale Integrationsprobleme hinzu. Die Wahrnehmung sozialer Signale (z.B. Mimik und Gestik anderer Kinder) und sozialer Situationen ist häufig unzureichend. Durch mangelnde exekutive Kontrolle brechen Handlungsimpulse sofort durch und können zu sozial unverträglichen Handlungen führen (Impulskontrollstörung). Das ADHSKind erfährt die Ablehnung der Gleichaltrigen und wird sozial zunehmend ausgegrenzt.
35
590
Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
35.3.4
Outcome und Outcome-Prädiktoren
Outcome Alle vorliegenden Studien weisen auf die Persistenz z.T. gravierender neurologischer und vor allem kognitiver Defizite bei der Mehrzahl mittelschwer und schwer hirnverletzter Kinder im mittel- und langfristigen Verlauf hin (. Abb. 35.2).
Outcome-Prädiktoren jKlinische Indikatoren Zur Prognose des Erholungsverlaufs nach einem SHT werden verschiedene frühe klinische Indikatoren vorgeschlagen, z.B. 4 Komatiefe (GCS), 4 Dauer der Bewusstseinsstörung, 4 Dauer der posttraumatischen Amnesie (PTA) oder 4 Klassifikationen mittels zerebralem CT oder MRT.
Ein besonderer Wert oder gar eine Überlegenheit bildgebender Befunde lässt sich dabei durchgängig nicht erkennen (Levin et al. 1992, Pohlmann-Eden et al. 1997, Max et al. 2000, Blackman et al. 2003). Entgegen den Erwartungen ist es bisher nicht gelungen, die Lokalisation umschriebener Hirnschädigungen mit bestimmten Störungsmustern (z.B. neuropsychologisch) überzeugend zu korrelieren (Slomine et al. 2002, Anderson et al. 2004, Max et al. 2005). Subkortikale Läsionen scheinen jedoch bei kleinen Kindern besonders häufig mit einem ungünstigen Outcome verbunden zu sein (Bonnier et al. 2007). > Bei Kindern erwies sich die Dauer der posttraumatischen Amnesie, gemessen mit dem Children’s Orientation and Amnesia Test (Ewing-Cobbs et al. 6
Näher betrachtet Studien: Outcome bei mittelschwer und schwer hirnverletzten Kindern
35
In einer großen Kohortenuntersuchung von etwa 180 Patienten mit schwerem SHT im Alter zwischen 6 Monaten und 20 Jahren befanden sich nach einem Jahr 16% im Wachkoma (Glasgow Outcome Scale 2), 16% waren schwer (GOS 3), 19% mäßig behindert (GOS 4), und 48% zeigten eine gute Erholung (GOS 5) (Boyer u. Edwards 1991). Dieses Ergebnis änderte sich bis zum 3. Jahr nur noch geringfügig. Nach einem Jahr waren 46% ohne Hilfsmittel gehfähig, 27% mit Hilfsmittel, 21% waren komplett rollstuhlgebunden. In anderen Untersuchungen findet sich eine ähnliche Relation von etwa zwei Dritteln aller Kinder mit gutem bis moderatem Outcome nach schwerem SHT und einem Drittel mit einem schlechten Outcome (Filey et al. 1987, Thakker et al. 1997). Anderson et al. (2005b) beschrieben dagegen ein besseres 30-Monats-Ergebnis, nach dem weniger als 20% der Kinder mit schwerem SHT ein schweres Defizit beibehielten. Mit einem methodisch hochwertigen mehrdimensionalen Fall-Kontroll-Studiendesign untersuchten Jaffe et al. (1995) eine Kohorte von 72 Kindern zwischen 6– 15 Jahren über einen Zeitraum von 3 Jahren nach SHT (. Abb. 35.2). Die Kinder mit mittelschwerem und schwerem SHT (n=32) wiesen auch 3 Jahre nach dem Trauma noch klar erkennbare Defizite in fast allen Leistungsbereichen auf, d.h. bei 4 Grob- und Feinmotorik, 4 Handlungs- und Verbal-IQ, 4 Gedächtnis, 4 Problemlösen und 4 Verhaltensbeurteilung durch die Eltern (Fay et al. 1994).
Die Erholung war ein Jahr nach dem Trauma in fast allen Funktionsbereichen abgeschlossen. In anderen Untersuchungen, darunter auch solchen an Kindern und Jugendlichen, die eine längere stationäre Rehabilitationsbehandlung erhielten, finden sich bei einigen Patienten bedeutende Verbesserungen im kognitiven Bereich auch noch jenseits des ersten Jahres nach Trauma (Chadwick et al. 1981, Boyer u. Edwards 1991, Anderson et al. 2004, Fay et al. 2009). Anderson et al. (2005a) stellen die relativ stärksten Beeinträchtigungen bei Gedächtnisfunktionen fest. Bezüglich sprachlicher Störungen zeigen Kinder mit leichtem und mittelschwerem SHT nach 12 Monaten keine Auffälligkeiten mehr, während bei schwer hirnverletzten Kindern im Gruppenmittel deutliche Defizite verbleiben, die sich auch im weiteren Verlauf nicht wesentlich bessern (EwingCobbs et al. 1987, 1997; Campbell u. Douglas 1990). Verhaltensstörungen zeigen sich bei Kindern nach schwerem SHT besonders persistent und können sich im Verlauf noch verschlechtern, wie Langzeitbeobachtungen zeigen (Fay et al. 2009). In einer Studie zur schulischen Reintegration fanden Ewing-Cobbs et al. (1998b), dass 2 Jahre nach einem schweren SHT nur 27% der untersuchten 6- bis 15-jährigen Kinder (n=33) ihre Schullaufbahn normal fortgesetzt hatten, während 52% zumindest zeitweise eine Förderbeschulung (Sonderbeschulung) benötigten. Im Gegensatz dazu besuchten in einer von van Heugten (2006)
untersuchten Kohorte (n=31) 3 Jahre oder mehr nach schwerem SHT 54% eine Regelschule wie vorher oder gingen einer regulären Berufsausbildung nach. Mehrere Autoren haben sich mit dem Verlauf bei Kindern und Jugendlichen beschäftigt, die über mehrere Wochen komatös oder im Wachkoma-Zustand blieben (Kriel et al. 1993, Heindl u. Laub 1996). In der gut definierten Stichprobe von Kriel et al. (1993) mit 60 Patienten (0– 18 Jahre) starben über einen Zeitraum von 8 Jahren 13%, 22% blieben im Wachkoma, 18% zeigten nonverbale soziale Reaktionen (»minimally responsive state«) und 47% zumindest eine basale sprachliche Kompetenz, 25% konnten sich selbstständig oder mit Hilfsmitteln wieder fortbewegen. Die Patienten mit traumatischen Hirnschädigungen hatten ein deutlich besseres Outcome (25% verstorben oder weiterhin im Wachkoma) als diejenigen mit hypoxischen Schäden (75% verstorben oder im Wachkoma). Nach 6 Monaten im Wachkoma gelangte noch etwa die Hälfte der traumatisch geschädigten Patienten, jedoch nur ein Viertel der hypoxischen Patienten wieder zu einer Form von Bewusstsein. Auch nach einem Jahr erwachten noch einige wenige Patienten (5%) aus dem Wachkoma. Im Vergleich zu den publizierten Daten für Erwachsene ist insgesamt eine deutlich bessere Prognose bei Kindern und Jugendlichen zu erkennen (Braakman et al. 1988, Levin et al. 1991, Sazbon u. Groswasser 1990).
591 35.4 · Rahmenbedingungen und Prinzipien der Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter
ganz entscheidend zum mittel- und langfristigen Outcome bei (Yeates et al. 1997, Taylor et al. 2001, Anderson et al. 2003, 2005a; Max et al. 2005). jParaklinische Prognoseparameter Ähnlich wie bei Erwachsenen erweisen sich auch bei Kindern die somato-sensibel evozierten Potenziale (SEP) als wichtigster paraklinischer Prognoseparameter. Dabei zeigt sich im Akut- und Langzeitverlauf 4 sowohl ein hoher positiver prädiktiver Wert bilateral normaler SEP für eine gute Erholung (GOS 4–5) 4 als auch ein hoher prädiktiver Wert bilateral fehlender SEP für einen ungünstigen Verlauf (Tod oder Wachkoma) (Beca et al. 1995, Carter et al. 1999, De Meirleir u. Taylor 1987, Pohlmann-Eden et al. 1997).
. Abb. 35.2. Erholungsverlauf unterschiedlicher kognitiver Funktionen nach mittelschwerem (gestrichelte Linien) und schwerem (durchgezogene Linien) Schädel-Hirn-Trauma. Mit verschiedenen neuropsychologischen Testverfahren wurden die Leistungen etwa 3 Wochen nach Ende der posttraumatischen Amnesie (t=0), nach 1 Jahr und nach 2½–3 Jahren gemessen. Aufgetragen sind die Abweichungen in den Leistungen von nach Alter, Bildungsgrad, gesundheitlichen Risikofaktoren und sozioökonomischem Status gleichen Kontrollpersonen (Durchschnitt=0), graduiert in Standardabweichungen des Verfahrens (nach Jaffe et al. 1995, a und b modifiziert unter Verwendung der Daten von Anderson et al. 2004)
1990), als bester einzelner Outcome-Prädiktor, gefolgt von der Dauer der Bewusstseinsstörung (gemessen als Zeit bis zum Wiedererreichen eines GCS von 15) (McDonald et al. 1994).
jGlasgow Coma Scale Der initiale GCS erweist sich als noch brauchbarer Prädiktor, wenngleich auch bei einem niedrigen initialen GCS von 3–5 noch ein großer Teil der Kinder im Alltag wieder unabhängig werden kann (Thakker et al. 1997). Ältere Kinder und Jugendliche zeigen bei gleicher Traumaschwere im Gruppenmittel besonders im Bereich kognitiver Funktionen ein besseres langfristiges Outcome als jüngere Kinder (Levin et al. 1982, Verger et al. 2000, Slomine et al. 2002, Leblanc et al. 2005, Anderson et al. 2005b). jPsychosoziale Faktoren Neben biologischen und traumaspezifischen Faktoren tragen aber auch psychosoziale Faktoren wie 4 das prätraumatische Funktions- und Anpassungsniveau des Kindes, 4 ein ungünstiges familiäres Umfeld und 4 der sozio-ökonomische Status
Allerdings wird in der Gesamtschau aller vorliegenden Daten zu einem geringen Anteil (um 2%) auch von Kindern berichtet, bei denen es trotz initial bilateral fehlender SEP noch zu einer guten bis moderaten Erholung im Langzeitverlauf gekommen war (Beca et al. 1995, Carter et al. 1999, Wohlrab et al. 2001). Eine besondere Rolle könnte zukünftig Biomarkern zukommen, z.B. 4 der Neuronen-spezifischen Enolase (NSE), 4 dem basischem Myelinprotein (MBP) und 4 dem Serumprotein S100B (Hergenroeder et al. 2008), die auch bei Kindern relativ hohe positive und negative prädiktive Werte zeigen (Berger et al. 2007)
35.4
Rahmenbedingungen und Prinzipien der Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter
Ein Schädel-Hirn-Trauma, ein Tumor, ein Infarkt oder eine andere schwere Erkrankung des Zentralnervensystems sind unerwartete und äußerst einschneidende Ereignisse im Leben eines Kindes oder Jugendlichen und seiner Familie. Mehr noch als bei einem älteren Menschen rufen sie Erschrecken und Fassungslosigkeit hervor und werfen tiefgreifende Fragen nach dem »Warum« auf. Die Unbeschwertheit der Kindheit und Jugend ist jäh unterbrochen, hoffnungsvolle Lebensperspektiven sind plötzlich radikal infrage gestellt, Selbstwertgefühl und Lebensfreude stürzen in sich zusammen. Die unmittelbare Angst um das Überleben wird abgelöst durch die Furcht vor einer bleibenden körperlichen oder geistigen Behinderung, durch die Sorge, die eingeschlagene Schullaufbahn oder Ausbildung nicht fortsetzen zu können, nicht mehr in der Lage zu gewohntem Spiel und Sport zu sein und nicht zuletzt durch die Angst, von anderen nicht mehr geliebt, geschätzt und akzeptiert zu werden.
35
592
Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
35.4.1
Erwartungen und Antworten
In dieser Situation sind die Erwartungen der dazu fähigen Kinder und Jugendlichen und der Eltern an die Möglichkeiten und Ergebnisse der Rehabilitationsbehandlung riesig. Rehabilitation soll die beschädigten Lebensmöglichkeiten wiederherstellen, gelähmte Beine wieder laufen lassen und ungeschickten Händen wieder Geschicklichkeit verleihen. Die verwaschene und um Worte ringende Sprache soll wieder verständlich und differenziert, das durcheinandergeratene Gedächtnis wieder zuverlässig und die Orientierung sicher werden. Lesen, Schreiben und andere schulische Leistungen sollen so gut wie vorher möglich sein. Der Alltag soll wie gewohnt, glatt und ohne Hilfe funktionieren. Kurz: Geschehenes soll möglichst ungeschehen gemacht werden. Damit sind die am Rehabilitationsprozess professionell Beteiligten einem enormen Anspruch und Erwartungsdruck ausgesetzt. Eine wichtige Aufgabe ist es daher, die Eltern schon zu Rehabilitationsbeginn 4 einerseits um die explizite Formulierung ihrer Erwartungen und Hoffnungen zu bitten und 4 andererseits das Ausmaß der Hirnschädigung, Möglichkeiten und Grenzen der Rehabilitation, inhaltliche Vorgehensweisen, Zeithorizonte und wahrscheinliche Entwicklungen intensiv zu besprechen.
35
Dabei kommt es zunächst vor allen Dingen darauf an, die relative Ergebnisoffenheit der Rehabilitationsbehandlung herauszustellen. Prognostische Aussagen sollten mit größter Zurückhaltung gehandhabt werden, denn sie haben sich schon häufig als falsch erwiesen, zumal sie immer auf Statistiken beruhen und nie den vorliegenden Einzelfall ganz erfassen können. Auch wenn dies nicht immer einfach zu vermitteln ist, zahlt es sich gerade bei schwer geschädigten Patienten langfristig aus, verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten zu skizzieren und den Eltern unterschiedliche Szenarien nahezubringen, auf die man eventuell später zurückgreifen kann. Im weiteren Verlauf ist es neben der selbstverständlichen zeitnahen Information der Eltern über vorhandene Entwicklungen und mögliche Komplikationen sowie der Aufklärung über das weitere therapeutische Vorgehen immer wieder wichtig, deren eigene Verlaufseinschätzungen und aktuelle Erwartungen zu erfragen. Ein zu weites Auseinanderklaffen von Eltern- und Therapeutenerwartungen schafft gravierende Probleme für die Behandlung und muss unbedingt in gemeinsamen Gesprächen thematisiert und nach Möglichkeit aufgelöst werden.
35.4.2
Entwicklungspsychologische Besonderheiten
Die rehabilitative Arbeit mit Kindern und Jugendlichen muss eine Vielzahl entwicklungsphysiologischer und -psychologischer Besonderheiten berücksichtigen. Therapieübergreifend sind dabei vor allem die kognitiven Konzepte und emotionalen Muster zu beachten, mit denen Kinder und Jugendliche je nach Alter sich selbst, ihre Umwelt und die durch
Unfall, Krankheit und Behinderung völlig veränderte Lebenssituation wahrnehmen und verarbeiten. Im Vergleich zum erwachsenen Patienten ergeben sich daraus Erschwernisse und andere Randbedingungen für das therapeutische Vorgehen. In . Übersicht 35.2 sind einige Probleme genannt. . Übersicht 35.2. Probleme der hirngeschädigten Kinder und Jugendlichen 1.
Begrenzte Aufmerksamkeitsspanne und konzentrative Belastbarkeit im Kindesalter 2. Geringe Frustrationstoleranz 3. Fehlende oder nicht ausreichende Zeitvorstellungen 4. Kindlicher Mangel an Zusammenhangswissen und Abstraktionsfähigkeit und damit fehlende Einsichtsfähigkeit in die Ursachen von Krankheit und Behinderung und die Notwendigkeiten der Behandlung 5. Fehlattribution von Krankheit und Klinikaufenthalt, z.B. das Erleben von Kranksein als Bestrafung für eigenes Fehlverhalten 6. Mangelnde Fähigkeit zur verbalen Kommunikation über das Krankheitserleben 7. Angst vor schmerzhaften oder unangenehmen Maßnahmen am eigenen Körper (die in der vorangegangenen Zeit meist tatsächlich erlebt wurden) 8. Verlust von Geborgenheit und Vertrauen 9. Gefühl von Ausgeliefertsein und Fremdbestimmung 10. Selbstwert- und Selbstbildprobleme (besonders bei Jugendlichen)
Therapiegestaltung Besondere Herausforderungen stellen sich für die Therapiegestaltung. Kinder und z.T. auch Jugendliche befinden sich nicht freiwillig und aus eigener Einsicht in der Rehabilitation. Sie erleben die Rehabilitationsklinik zunächst einmal als groß, fremdartig, unübersichtlich und häufig auch bedrohlich. Sie wünschen sich nach Hause, in die Geborgenheit der eigenen Familie und des Freundeskreises, die gewohnte Umgebung der elterlichen Wohnung, des eigenen Zimmers und Betts, der eigenen Welt der Spielsachen, Stofftiere, Bücher, CDs und Videos. Stattdessen begegnen sie einer Vielzahl fremder Menschen, Erwachsenen wie Gleichaltrigen, mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften und sollen in einer zunächst kaum anheimelnden Umgebung leben. Zudem sehen sie sich mit einer Fülle von Anforderungen und Erwartungen konfrontiert, die nicht ihren eigenen Wünschen und Handlungsimpulsen entsprechen und wenig mit ihrer gewohnten Lebenswirklichkeit zu tun haben. Wesentliche Aufgabe von Therapeuten, Pflegenden, Erziehern und Ärzten ist es, in dieser Situation Vertrauen aufzubauen, Geborgenheit zu vermitteln und Motivation zu wecken. Die bei Kindern und Jugendlichen wenig vorhandene intrinsische Motivation muss durch extrinsische Motivation ersetzt werden. Therapien müssen Spaß machen! Damit stellen sich hohe Anforderungen an die Therapeuten, deren fachspezifische Kompetenz sich mit einem hohen Maß an Einfüh-
593 35.4 · Rahmenbedingungen und Prinzipien der Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter
lungsvermögen in kindliches Fühlen und Denken, Phantasie und Einfallsreichtum verbinden muss. Praxistipp Gute Therapeuten müssen auch gute Animateure sein!
Gerade im Kleinkindalter sollten die Therapien spielerisch gestaltet werden. Die funktionellen Behandlungsziele sind darauf zu untersuchen, wie sie in spielerischer Weise umgesetzt werden können. Dazu eignet sich besonders die Arbeit mit bekannten Spielmaterialien, z.B. 4 Bausteinen oder -klötzen, 4 Knetmasse, 4 Fingerfarben, 4 Puzzlespielen, 4 Spielgeräte, z.B. Schaukel oder Wippe, 4 Gestaltung von Spielhandlungen und 4 Rückgriff auf kindliche Rollenspiele. Der therapeutischen Arbeit kommen die kindliche Bewegungsfreude, Neugierde und Nachahmungslust sehr zugute. Es gilt, diese Aspekte kindlichen Verhaltens bei der Therapiegestaltung planvoll zu nutzen.
. Abb. 35.3. Spielerische Förderung von Streck- und proximalen Aktivitäten bei einem Kind mit armbetonter spastischer Hemiparese (am Spiegel mit Rasierschaum)
Beispiel In der krankengymnastischen Therapie lassen sich Rumpftonisierung und -kontrolle sowie verbesserte Streckeraktivitäten an den Armen durch Spiele und Spielhandlungen entwickeln, in denen große Quaderkissen aufeinander gestapelt werden (»Burg bauen«), oder indem in hoher Ausgangsposition mit Fingerfarben in Kopfhöhe und darüber gemalt wird (. Abb. 35.3). Gut nutzen lässt sich auch das Interesse von Kindern und Jugendlichen für moderne Medien. So kann man gerade mit älteren Kindern gut am PC-Bildschirm arbeiten. Durch ansprechend gestaltete spielerische Programme lassen sich damit vor allem neuropsychologische und logopädische Therapien sinnvoll unterstützen.
35.4.3
Verhaltenstherapeutische Fundierung
Leider lässt sich nicht jede Therapie durchgängig als Spiel gestalten. So gehören gerade zur Physiotherapie auch unangenehme Elemente, die manchmal sogar an die Schmerzgrenze gehen. Um die Therapiebereitschaft des Kindes auch über einen längeren Zeitraum zu erhalten, ist der planvolle Einsatz bewährter verhaltenstherapeutischer Methoden in der Therapiegestaltung äußerst sinnvoll (Deppe u. Keller 1999). Lerntheoretische und verhaltenstherapeutische Prinzipien sollten in der Kinder- und Jugendlichenrehabilitation nicht nur der Behandlung psychischer Störungen dienen, sondern den ganzen Rehabilitationsprozess begleiten und strukturieren: 4 Wichtig ist zu allererst eine transparente Gestaltung der Therapieanforderungen und des Therapieablaufs. Es
empfiehlt sich, der Therapiestunde einen festen, wiederkehrenden Ablauf zu geben.
4 Bei Kindern im Vorschul- und frühen Schulalter oder bei Patienten mit ausgeprägten kognitiven Störungen ist der Einsatz von Ritualen mit wiederkehrenden gemeinsamen Handlungen sehr sinnvoll. Sie haben einen hohen Signalcharakter und helfen dem Kind erheblich bei der Reizdiskrimination. 4 Im Therapieablauf können Anforderungen und Belohnungen genauso wie spielerische und nichtspielerische Sequenzen im Sinne einer operanten Konditionierung geschickt gekoppelt bzw. abgewechselt werden. Belohnungen sind starke Motivationsanreize und verbessern entscheidend die Compliance. Bereits ein Lob ist ein sehr wirksamer sozialer Verstärker. 4 Spiel- und Spaßelemente nach der Bewältigung von Anforderungen in der Therapie wirken als Handlungsverstärker. Gegebenenfalls lassen sich in Absprache mit den Eltern auch materielle Verstärker (z.B. ein Abziehbild) therapeutisch einsetzen. 4 Bei jüngeren Kindern oder schwer geistig beeinträchtigten Patienten empfiehlt es sich, die Therapiestunde in kleine Abschnitte (5–10 Minuten) zu gliedern, nach denen jeweils eine Belohnung folgt. 4 Bei älteren Patienten mit ausreichender Zeitvorstellung lassen sich Anforderung und Belohnung auch in der Weise koppeln, dass die ersten zwei Drittel oder drei Viertel der Therapiestunde nach den inhaltlichen Vorgaben des Therapeuten verlaufen, während nach erfolgreicher Be-
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594
Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
wältigung der verbleibende Teil nach den Wünschen des Kindes oder Jugendlichen gestaltet wird. 4 Besonders bewährt haben sich auch Token-Programme, bei denen die Bewältigung einer umschriebenen einzelnen Anforderung zunächst symbolisch mit einem Token (z.B. Papierchip) belohnt wird. Am Ende der Therapiestunde können dann die gesammelten Token gegen eine tatsächliche Belohnung (z.B. einen Luftballon oder ein gemeinsames Spiel) eingetauscht werden, wobei eine Mindestzahl an Token erforderlich ist.
35.5
Motorische Rehabilitation
In der motorischen Rehabilitation wird besonders augenfällig, wie sehr Rehabilitationsziele und -methoden vom Entwicklungsstand des Kindes abhängen. Um angemessene Ziele festzulegen, sind sowohl die genaue Kenntnis der alterstypischen motorischen Entwicklungsschritte als auch die Kenntnis der individuellen motorischen Entwicklung des zu behandelnden Kindes unbedingte Voraussetzungen. jTherapeutisches Vorgehen Das therapeutische Vorgehen hat sich darüber hinaus nicht nur an den vorhandenen motorischen Defiziten zu orientieren, sondern muss auch den kognitiven Entwicklungsstand und die durch die Hirnschädigung entstandenen kognitiven, emotionalen und Verhaltensprobleme berücksichtigen.
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> Bei schädelhirntraumatisierten Kindern kompliziert sich die motorische Rehabilitation zudem häufig durch begleitende knöcherne Verletzungen mit entsprechenden Bewegungseinschränkungen (Polytrauma).
Auf eine genaue Untersuchung der Wahrnehmung und Behandlung von Wahrnehmungsstörungen ist besonderes Augenmerk zu richten: 4 Viele Kinder zeigen Körperschemastörungen, die zu Bewegungsunsicherheit, Vernachlässigung einzelner Extremitäten und Abstimmungsproblemen in der Bewegungskoordination führen. 4 Bei kleineren Kindern finden sich häufig Störungen der Hand-Hand- und Auge-Hand-Koordination. 4 Visuelle Wahrnehmungsstörungen können zu zusätzlichen Problemen bei der Bewegung im Raum führen. Gezielte propriozeptive, taktile, vestibuläre und auch visuelle Wahrnehmungsanregung und -förderung sollten damit ein Schwerpunkt gerade am Anfang der motorischen Rehabilitation sein. Für Kinder eignet sich dabei besonders das Konzept der Sensorischen Integration (Ayres 2002, Doering u. Doering 1996, Fisher et al. 2002). In der Frührehabilitation hat sich neben originär physiotherapeutischen Ansätzen zur propriozeptiven Stimulation das Konzept der Basalen Stimulation
(Büker et al. 1999, Nydahl u. Bartoszek 2000) sehr bewährt, das ursprünglich für schwer geistig behinderte Kinder entwickelt wurde.
35.5.1
Spastikbehandlung
Wie bei Erwachsenen sind Muskeltonuserhöhungen auch bei Kindern mit erworbenen als auch angeborenen ZNSSchädigungen ein großes Problem. > In der Frühphase nach akuter Schädigung findet man bei Kindern häufig Mischbilder von Spastik und Rigor (Rigido-Spastizität) oder gar einen dominierenden Rigor (Freivogel 1997, Russell et al. 1998).
jLagerungsmaßnahmen Pathophysiologisch enthemmte tonische Nacken- und Labyrinthreflexe spielen eine große Rolle, so dass therapeutisch Lagerungsmaßnahmen sehr wirksam sind. Tonusreduzierend wirken 4 die Bauchlage, 4 evt. die seitliche Bauchlage und 4 verschiedene Formen der Vertikalisierung wie 5 Sitz (mit leicht flektiertem Kopf) im Rollstuhl, 5 Aufrichtung im Stehbett oder 5 Stand im Stehständer. Im weiteren Remissionsverlauf zeigt die rigide Komponente der Tonuserhöhung meist eine gute Rückbildung. Die weitere Behandlung der Spastik ähnelt der im Erwachsenenalter. Auch bei Kindern und Jugendlichen sind passive und aktive Dehnungsbehandlungen wichtig. Sobald die Patienten dazu in der Lage sind, sollten möglichst viele aktive Dehnübungen stattfinden, die gerade bei kleineren Kindern sinnvoll in spielerische Handlungen zu integrieren sind. jBotulinumtoxin Auch bei Kindern bewährt sich die Anwendung von Botulinumtoxin zur fokalen Spastikbehandlung sehr. Typische Indikationen nach akuter Hirnschädigung sind 4 die Beugespastik im Arm und an der Hand sowie 4 der spastische Spitz- oder Spitz-Klump-Fuß. Botulinumtoxin hat inzwischen auch einen großen Wert in der Behandlung der Spastik bei infantiler Zerebralparese (ICP) erlangt (Graham et al. 2000, Heinen et al. 2001, 2006; Molenaers et al. 2004) und stellt eine der wenigen evidenzbasiert gesicherten Behandlungsmethoden der ICP dar. Viele Funktionen bei ICP-Kindern wie z.B. ein stabiler freier Sitz, Stand oder Gang lassen sich unter begleitender Behandlung mit Botulinumtoxin physiotherapeutisch wesentlich besser anbahnen und stabilisieren. Eine Botulinumtoxin-Behandlung lässt sich sinnvoll und effektiv mit einer progressiven Redressionsgips-Behandlung verbinden (Lehmkuhl et al. 1990, Freivogel 1997).
595 35.5 · Motorische Rehabilitation
jIntrathekales Baclofen Bei einer schweren generalisierten Spastik, die auch nach längerem Rehabilitationsverlauf und unter Einsatz systemisch gegebener Antispastika keine Besserung zeigt, kommt als ultima ratio zur 4 Besserung der Pflegefähigkeit, 4 Lagerung im Rollstuhl, 4 Minderung von Schmerzen sowie 4 ggf. Erleichterung und Verbesserung der Willkürbeweglichkeit die intrathekale Gabe von Baclofen über eine implantierte Medikamentenpumpe in Betracht (Meythaler et al. 1999, Motta et al. 2007, Hoving et al. 2009, Dam et al. 2009). Auf jeden Fall muss jedoch vorher die intrathekale Gabe individuell auf Wirkung und Nebenwirkungen durch Bolusgabe nach Lumbalpunktion oder kontinuierlich nach Anlage eines subduralen Spinalkatheters ausgetestet werden. Nach derart sorgfältiger Austestung wurde bisher bei etwa 75% aller getesteten Patienten die Indikation zur Pumpenimplantation gestellt. Die Wirkung auf die unteren Extremitäten ist meist besser als auf die Arme. Eine Kombination mit lokaler BotulinumtoxinBehandlung ist möglich.
35.5.2
Physio- und Ergotherapie
jKlassische Behandlungskonzepte Auch in der motorischen Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen gelangen klassische krankengymnastische Behandlungskonzepte wie Bobath-Therapie, PNF oder auch Vojta-Therapie zum Einsatz. Sie müssen jedoch sehr flexibel gehandhabt werden. Es ist wenig gewonnen mit einer vom Konzept her vielleicht sinnvollen therapeutischen Maßnahme, die vom Kind aber nicht angenommen wird und vielleicht sogar zu genereller Ablehnung der Physiotherapie führt. jMotorisches Lernen Sinnvoll ist ein Vorgehen, das den natürlichen Bewegungsdrang des Kindes aufnimmt und diesen gezielt in funktionell förderliche Bahnen lenkt. Damit sind für Kinder gerade die neueren Konzepte der motorischen Rehabilitation besonders geeignet, die sich unter dem Obergriff Motorisches Lernen zusammenfassen lassen (Freivogel 1997, Mulder u. Hochstenbach 2001). Sie betonen die aktive Bewegung, sind am übergreifenden Bewegungsprogramm orientiert und stellen ganzheitliche und sinnhafte Bewegungsabläufe in den Mittelpunkt, z.B. 4 Krabbeln, 4 Aufstehen, 4 Laufen, 4 Greifen. Dem Kind (oder Jugendlichen) werden in spielerischer oder alltagsbezogener Weise Bewegungsanforderungen und -aufgaben vermittelt, die posttraumatisch defizitäre Bewegungs-
. Abb. 35.4. Kind mit infantiler Zerebralparese im Gangtrainer
programme aktivieren und das Gehirn zur motorischen Reorganisation anregen. Für das motorische Lernen ist der repetitive Charakter der Übungen besonders wichtig. Auch bei Kindern lässt sich sehr vorteilhaft das Gehen auf dem Laufband (mit und ohne Gewichtsentlastung) hochrepetitiv üben. Noch effektiver ist die Ganganbahnung und -stabilisierung mit dem Gangtrainer nach Hesse unter Gewichtsentlastung und flexibler Rumpfführung möglich (Schindl et al. 2000) (. Abb. 35.4). jConstrained-Induced-Movement-Therapie Verstärkt wird in letzter Zeit auch das Konzept der Constrained-Induced-Movement- (Forced-Use-)Therapie (Taub et al. 1993, Taub et al. 2006) bei Kindern mit Halbseitenlähmungen eingesetzt. Es bedarf jedoch einer Anpassung und sorgfältigen Vorbereitung mit kindgerechten Erklärungen. Bei entsprechender Therapiegestaltung und Verstärkung durch das Umfeld lassen sich die Kinder nach unserer Erfahrung erstaunlich gut auf die Therapie ein (. Abb. 35.5). Erste Daten sprechen für ähnlich gute Erfolge, wie sie aus der Rehabilitation erwachsener Schlaganfallpatienten bekannt sind (Taub et al. 2004, Naylor u. Bauer 2005, Eliasson et al. 2005, Gordon et al. 2005). Die Wirksamkeit ist allerdings differenziert zu sehen, da neben der Restriktion des nicht betroffenen Arms vor allem die Therapieintensität der wesentliche Wirkfaktor zu sein scheint und eine gleich intensive bimanuelle Therapie ähnliche Therapieeffekte für den Alltagsgebrauch erbringen kann (Deppe et al. 2009).
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Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
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. Abb. 35.5. Constraint-Induced-Movement-Therapie bei einem Kind mit hemiparetischer Zerebralparese
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jSchreibtraining Im Rahmen der motorischen Rehabilitation von Schulkindern und Jugendlichen spielt das Schreiben eine wichtige Rolle. Sobald die grob- und feinmotorischen Voraussetzungen dafür annähernd geschaffen sind, sollte ein spezielles Schreibtraining im Rahmen der Ergotherapie, Logopädie oder Schule begonnen werden, das auch mit Hausaufgaben außerhalb der Therapie kombiniert werden kann. Unter Umständen ist auch ein Umtrainieren von der stärker beeinträchtigten dominanten Hand auf die jetzt funktionell bessere nicht-dominante Hand notwendig. Praxistipp Kann mit einem Schreibtraining nach einer gewissen Zeit keine ausreichende Schreibgeschwindigkeit erreicht werden, so sollte das Schreiben mit einer angepassten Tastatur am PC geübt werden.
35.5.3
Hilfsmittel
Eine große Rolle in der motorischen Rehabilitation von Kindern spielen funktionserleichternde Hilfsmittel. 4 Sprunggelenkorthesen in verschiedenen Ausführungen können das Gehen entscheidend verbessern, indem sie zu einer besseren Gewichtsübernahme auf das Fußgewölbe und zur Sicherung der Standbeinphase verhelfen sowie
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eine günstigere Einstellung des Körperschwerpunkts bewirken. Im Kindesalter treten vor allem bei angeborenen Störungen häufig Knickfußfehlstellungen auf. Hier bewähren sich Ringorthesen nach Baise (1996), da sie das untere Sprunggelenk sehr gut fassen und die Vorfußbeweglichkeit erhalten. Den taktilen und propriozeptiven Input vom Fußgewölbe her verbessern Einlagen oder sprunggelenkumfassende Orthesen nach Nancy Hylton (Hylton u. Allen 1997, Radtka et al. 1997). Sie tragen nach unserer Erfahrung gerade bei wahrnehmungsgestörten Kindern zu einer dynamischen muskulären Fußstabilisierung und damit zu einem besseren Gangbild bei. Sowohl in der Phase der Ganganbahnung und -stabilisierung als ggf. auch als dauerhaftes Hilfsmittel bewähren sich Rollatoren. Sie gewähren Stabilität und tragen wesentlich zur Symmetriebildung beim Laufen bei. Wegen der besseren Rumpfaufrichtung wird Rückwärtsrollatoren (»posterior-walker«) meist der Vorzug vor einem Vorwärtsrollator gegeben. Gehstützen sollten erst dann eingesetzt werden, wenn der junge Patient genügend Sicherheit erreicht hat und eine befriedigende Rumpfaufrichtung und Symmetrie erzielt sind. Ein gutes therapeutisches Hilfs- und Fortbewegungsmittel zugleich, das von Kindern sehr gern angenommen wird, ist das Therapiefahrrad in Dreiradausführung. Es ermöglicht eine Kräftigung der Beinmuskulatur, fördert Rumpfaufrichtung und Rumpfkontrolle, verbessert die Körpersymmetrie und trainiert gleichzeitig die visuellräumliche Wahrnehmung und die visuo-motorische Koordination. Zur Verbesserung der Handfunktion bei einer Beugespastik am Arm kann (u.U. im Zusammenhang mit einer Botulinumtoxin-Behandlung) die Anpassung einer volaren Handfunktionsschiene mit gesonderter Fassung des Daumens hilfreich sein. Bei ataktischen Störungen bewähren sich auch bei Kindern Griffverdickungen und ggf. andere Anpassungen am Essbesteck. Rollstuhlanpassungen bedürfen im Kindes- und Jugendalter erheblicher Sorgfalt. Großer Wert ist angesichts der Unreife der Wirbelsäule und einer häufig ausgeprägten Rumpfhypotonie auf die Rumpfstabilisierung durch eine stabile körpernahe Sitzgestaltung und evt. zusätzliche Pelotten zu legen. Bei schwer geschädigten Patienten ist die individuelle Anformung einer Sitzschale notwendig. Bei guter Rumpfstabilisierung sollte ein Rollstuhl für Kinder so aktiv wie möglich gestaltet werden und dem Kind eine selbstständige Fortbewegung ermöglichen. Bei vielen Patienten bringt eine zusätzliche Antriebshilfe (E-motionRollstuhl) eine beträchtliche Ausweitung des Bewegungsradius. Kinder und Jugendliche mit schweren motorischen Einschränkungen, aber ausreichender kognitiver Kompetenz profitieren sehr von der Versorgung mit einem Elektrorollstuhl. Besonders wichtig ist der Elektrorollstuhl für Kinder mit fortschreitenden neuromuskulären Erkrankungen wie Muskeldystrophien oder spinalen Muskel-
597 35.6 · Kognitive Rehabilitation
atrophien. Bei jeder Neuanpassung eines Rollstuhls ist das gezielte Training für die geschickte Benutzung ein wichtiges Element der Rehabilitationsbehandlung.
35.6
Kognitive Rehabilitation
Im Mittelpunkt der kognitiven Rehabilitation stehen bei Kindern ähnlich wie bei Erwachsenen Störungen 4 der Aufmerksamkeit, 4 der visuellen Wahrnehmung, 4 des Gedächtnisses, 4 der Sprache und 4 exekutiver Funktionen. Besonders die Störungen der bei Kindern ohnehin noch nicht gut entwickelten Aufmerksamkeitsfunktionen stellen ein wesentliches Problem dar.
35.6.1
Trainingsprogramme mit kontextorientiertem Ansatz
Aus der Erwachsenenrehabilitation ist bekannt (7 Kap. 12), dass sich Defizite in den verschiedenen Aufmerksamkeitsfunktionen durch spezifische Trainingsprogramme bessern lassen. Auf diesen Erfahrungen beruhen auch die therapeutischen Bemühungen im Kindes- und Jugendalter. Auch mit Kindern lassen sich Aufmerksamkeitstrainings am PC mit entsprechenden Software-Programmen durchführen. Die Schwierigkeit besteht ähnlich wie bei anderen neuropsychologischen Trainingsprogrammen darin, ob und wie weit Trainingseffekte in das Verhalten in anderen Kontexten (Schule, Alltag) generalisieren und wie lange sie andauern. Erfahrungen mit rein kognitiv orientierten Trainingsprogrammen bei Kindern mit ADHS stimmen diesbezüglich wenig optimistisch (Abikoff 1991, Döpfner 1996). Der Alltagstransfer scheint sich erst durch zusätzliche verhaltenstherapeutische Maßnahmen wie Verstärkereinsatz und Kontingenzmanagement (genaue Festlegung durchgängiger Umfeldreaktionen auf wichtige Verhaltensweisen) im gesamten Umfeld des Kindes erreichen zu lassen (Mateer et al. 1996). Damit ist ein Kardinalproblem neuropsychologischer Therapieansätze im Allgemeinen berührt, das sich im Kindesalter noch verschärft darstellt. Gängige neuropsychologische Trainingsprogramme sind meist 4 spezifisch (d.h. auf eine bestimmte kognitive Teilfunktion zugeschnitten), 4 isoliert (d.h. zeitlich und örtlich auf die Therapiesituation beschränkt) und 4 abstrakt (d.h. sie arbeiten mit symbolhaftem und virtuellem Material, z.B. Bildmaterial, Papier- und Bleistiftaufgaben, PC-Bildschirmprogramme).
dagegen konkret und kontextorientiert. Es ist daher nicht verwunderlich, dass erkennbare Verbesserungen in der Therapie sich häufig nicht im Alltag und in der konkreten Problembewältigung wiederfinden lassen. > Will neuropsychologische Therapie im Kindes- und Jugendalter erfolgreich sein, so muss sie sich umfassend an den altersspezifischen kognitiven Kompetenzen von Kindern orientieren. Die Therapie muss alltagsbezogen sein und sollte konkrete Probleme und bekannte Zusammenhänge aus der Lebenswelt des Kindes aufnehmen. Praxistipp In diesem Sinne empfiehlt es sich, mit Materialien zu arbeiten, die dem Kind bereits vertraut sind (z.B. Spielzeug oder Bücher) und kognitive Probleme in alltäglichen Aktivitäten zu bearbeiten, z.B. beim Anziehen, Zeichnen, Basteln, Lesen oder Einkaufen.
Zwar geht ein solches Vorgehen zu Lasten der Spezifität des Trainings, doch bildet die Ganzheitlichkeit die entscheidende Voraussetzung für den beabsichtigten Alltagstransfer und die Generalisierung von Therapieeffekten (Ylvisaker u. Szekeres 1998). Ein solcher Kontext-sensitiver Ansatz ist der traditionellen kognitiven Rehabilitation überlegen (Ylvisaker et al. 2005). Bei der üblichen Arbeitsteilung in der Rehabilitation erwachsen daraus wesentliche Aufgaben für 4 Ergotherapie, 4 Erzieher/Sozialpädagogen und 4 Schule, die in enger Abstimmung und Zusammenarbeit mit den vor allem diagnostisch und planerisch tätigen Neuropsychologen behandelt werden sollten. Ylvisaker und Szekeres (1998) haben einige Regeln für die kognitive Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter aufgestellt, die diese Überlegungen komprimieren und darüber hinaus therapeutische Handlungshinweise geben ( . Übersicht 35.3). . Übersicht 35.3. Regeln für die kognitive Rehabilitation im Kindesalter 1.
2.
3.
Sie sind damit artefiziell und liegen oft weit von der Lebenswirklichkeit und den Alltagsproblemen gerade von Kindern entfernt. Kindliches Wahrnehmen, Denken und Handeln ist
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Beachte die Hierarchiefolge der normalen kognitiven Entwicklung: vom Konkreten zum Abstrakten, von Kontextabhängigkeit zu Kontextunabhängigkeit, von unwillkürlicher zu kontrollierter Informationsverarbeitung. Hilf Kindern, prätraumatisches Zusammenhangswissen wiederzuerlangen und neues Zusammenhangswissen zu erwerben. Unterstütze Kinder dabei, Informationen schneller und effizienter zu verarbeiten.
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Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
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35.6.2
Hilf Kindern, die Kapazität ihres Arbeitsgedächtnisses zu erweitern, indem Du ihnen in sinnvollen Aufgaben Schemata zur Informationsorganisation vermittelst. Stelle sicher, dass das Erlernen kognitiver Fähigkeiten und kompensatorischer Strategien sowie die externe Unterstützung durch das Umfeld des Kindes ausgewogen sind. Beachte, dass das Kind nicht nur Kompetenzen in artefiziellen Übungsaufgaben, sondern auch in Alltagszusammenhängen entwickelt. Beachte, dass Kinder ihre Probleme und Ziele selbst erkennen und definieren und ihre Handlungen selbst organisieren können. Stelle sicher, dass alle Erwachsenen, die mit dem Kind zu tun haben, wissen, wie sie dem Kind sinnvolle Unterstützung zum Lernen und Üben geben können. Ein Zuwenig wie ein Zuviel sind zu vermeiden.
Phasen der kognitiven Rehabilitation
In der kognitiven Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen mit länger anhaltenden Bewusstseinsstörungen ist ein phasenspezifisches Vorgehen notwendig, das dem Ablauf der kognitiven Reorganisation und Reintegration Rechnung trägt. In Anlehnung an Gerstenbrand (1967) und Ylvisaker und Szekeres (1998) lassen sich grob drei Phasen unterscheiden (. Übersicht 35.4).
35
. Übersicht 35.4. Phasen der kognitiven Reorganisation und Reintegration 1. 2. 3.
Frühphase (Wachkoma und frühe Komaremission) Mittlere Phase (späte Komaremissionsstadien) Späte Phase (Reintegrationsstadium)
jFrühphase (Wachkoma und frühe Komaremission) In dieser Phase herrscht Unsicherheit über die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Patienten. Verbale Aufforderungen werden nicht konsistent befolgt, und es besteht keine stabile Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit. Ziel in dieser Phase ist es, die zerebrale Reorganisation durch kontrollierte sensorische Stimulation (Wood 1991, 1993; Wilson 1996) anzuregen. Auch hier ist die Kontextabhängigkeit wichtig. Sensorische Stimuli sollten möglichst vertraut und alltagsbezogen sein und dem Kind ein Anknüpfen an frühere Erfahrungen ermöglichen (assoziative Wahrnehmungsanregung). Es ist daher sehr wichtig, dass Eltern oder andere Angehörige des Kindes/Jugendlichen in dieser Phase präsent sind und durch ihre Stimmen, ihren Anblick und ihren Geruch Wahrnehmungsassoziationen wachrufen und Vertrautheit herstellen. Auch vertraute Stofftiere oder Spielzeug, Lieblingsmusik, weniger intensiv auch
Bilder unterstützen in dieser Phase die Wahrnehmungsreorganisation. Ein weiteres Ziel ist der basale Kommunikationsaufbau. Nonverbale Signale des Patienten wie 4 Blickkontakt, 4 Atembeschleunigung, 4 leichte Handbewegungen u.a. sind aufzunehmen und antwortend zu verstärken. Es ist nach nonverbalen motorischen Ausdrucksmöglichkeiten zu suchen, die eine zunehmend zuverlässige Ja-/Nein-Verständigung etablieren. jMittlere Phase (späte Komaremissionsstadien) In diesem Stadium nehmen die Patienten ihre Umwelt wieder sicher wahr, befolgen zuverlässig einfache Aufforderungen und können verbal oder nonverbal (z.B. Ja-/Nein-Code) über einfache körper-, alltags- und eigenbezogene Sachverhalte und Wünsche kommunizieren. Aufmerksamkeit, konzentrative Belastbarkeit, Orientierung und Gedächtnis sind jedoch noch erheblich gestört, abstrakte und komplexere Zusammenhänge werden nicht verstanden, das Denken ist stark verlangsamt, und die Impuls- und Handlungskontrolle ist deutlich vermindert, wenn nicht aufgehoben. Behandlungsziele sind in dieser Phase vor allem, 4 die Orientierung in allen Dimensionen (persönlich, situativ, räumlich und zeitlich) zu verbessern, 4 die kommunikativen Fähigkeiten auszubauen (verbal oder nonverbal), 4 Handlungskompetenz im Alltag wiederherzustellen (ADLTraining) und 4 Problemlösefähigkeiten, Handlungsplanung und -kontrolle wieder anzubahnen. Auch in dieser Phase erweisen sich Alltags- und Kontextbezug als wesentliche Erfolgsgaranten der Therapie. jSpäte Phase (Reintegrationsstadium) Kinder und Jugendliche, die dieses Stadium erreichen, sind wieder orientiert und können in Alltagssituationen planvoll und zielgerichtet handeln. Kognitive Defizite lassen sich jetzt stärker auf einzelne Leistungsbereiche beziehen wie Sprache, Gedächtnis und Lernen oder visuell-perzeptive und -konstruktive Fähigkeiten. Die kognitive Rehabilitation ist in dieser Phase ausgerichtet auf 4 Vergrößerung der Selbstständigkeit, 4 Wiedererlangen von situationsangepassten Handlungsstrategien und -routinen, 4 Veränderungsfähigkeit und Flexibilität, bei älteren Kindern und Jugendlichen auf die Wiedergewinnung von 4 Abstraktionsvermögen, 4 Regeleinsicht und 4 Welterklärungskonzepten.
599 35.8 · Schulische Rehabilitation
Kulturelle Basisfähigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen), schulisches Wissen und schulische Leistungen werden zunehmend bedeutsam. Ein weiteres Rehabilitationsziel besteht aber auch darin, dass Kinder und Jugendliche auf voraussichtlich bleibende Leistungseinschränkungen vorbereitet werden, Einsicht in ihre Grenzen gewinnen und soweit wie möglich kompensatorische Strategien erlernen.
35.7
Verhaltensrehabilitation
Die Behandlung problematischen Verhaltens stellt einen wichtigen Teil neurologischer Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter dar. Verhaltenstherapeutische Methoden sind am besten geeignet, belastende Verhaltensweisen zu vermindern und ein funktional angemesseneres Verhalten aufzubauen. Besonders bewähren sich Verhaltenstherapien bei den häufigen Störungen von Impuls- und Handlungskontrolle und Sozialverhalten (Warschausky et al. 1999). Dabei erweisen sich wiederum bevorzugt zwei Verfahren als wirksam: 4 die operante Konditionierung und 4 die differenzielle Verstärkung (Slifer et al. 1993, Slifer et al. 1996, Deppe u. Keller 1999). Diese können auch in der Frührehabilitationsphase bei noch desorientierten und agitierten Patienten erfolgreich eingesetzt werden (Slifer et al. 1997). Wichtig sind ein intensiver Informationsaustausch und genaue Absprachen im gesamten Behandlungsteam, um 4 Auslöser, 4 Verstärker und 4 aufrechterhaltende Bedingungen
jMedikamentöse Unterstützung Bei Kindern mit posttraumatischer Aufmerksamkeitsdefizitund Hyperaktivitätsstörung sollte neben dem Einsatz der Verhaltenstherapie auch eine Behandlung mit Psychostimulanzien erwogen werden. Positive Erfahrungen dazu liegen aus zwei doppelblinden, Placebo-kontrollierten Studien zum einen an erwachsenen Patienten (Gualtieri u. Evans 1988), zum anderen an Kindern (Mahalick et al. 1998) vor. 4 Nach unserer Erfahrung hat die Behandlung mit Methylphenidat bei vielen aufmerksamkeits- und auch antriebsgestörten Kindern und Jugendlichen zu deutlichen Verbesserungen der Aufmerksamkeit und der Therapiecompliance geführt. Vorteilhaft ist der rasche Wirkungseintritt, so dass innerhalb weniger Tage über die Wirksamkeit des Behandlungsversuchs entschieden werden kann. Wichtig ist allerdings eine ausreichende Dosierung von 0,3–1,0 mg/kg, verteilt auf zwei Einzeldosen morgens und mittags (oder Gabe eines Retard-Präparats). Posttraumatische zerebrale Krampfanfälle stellen bei suffizienter antikonvulsiver Behandlung keine Kontraindikation dar (Wroblewski et al. 1992). 4 Bei Kindern oder Jugendlichen mit ausgeprägten Impulskontrollstörungen und erheblich aggressivem Verhalten kommt bei Versagen verhaltenstherapeutischer Maßnahmen eine Behandlung mit Risperidon in Betracht, das zu einer besseren Reizfilterung und Verhaltenskontrolle führt und unter vergleichbaren Neuroleptika in der Anwendung bei Kindern und Jugendlichen das beste RisikoNutzen-Profil zeigt (Fava 1997, Aman u. Gharabawi 2004, Pandina et al. 2006).
35.8 des Problemverhaltens genau zu eruieren und es dann durch abgestimmtes Vorgehen und ein hohes Maß an Konsequenz mit speziellen verhaltenstherapeutischen Interventionen zu reduzieren. Token-Programme (7 Kap. 35.4.3) können dabei sehr hilfreich sein, u.U. auch ergänzt durch indirekte Bestrafung in Form von Token-Abzügen (Response-cost-Verfahren). Neben der Verhaltensregulation ist es in der psychologischen Therapie wichtig, die Defizite in der Wahrnehmung sozialer Signale (z.B. Mimik und Gestik anderer Menschen) und sozialer Situationen zu bearbeiten, die häufig mit übergreifenden Defiziten der visuellen Wahrnehmung nach Hirnschädigungen zusammenhängen. Praxistipp Zum Verhaltensaufbau haben sich nach unserer Erfahrung Kleingruppen zum sozialen Kompetenztraining (Petermann u. Petermann 2000, 2003, 2005) bewährt. Probleme können im unmittelbaren Miteinander mit anderen Kindern/Jugendlichen bearbeitet und alternative Verhaltensweisen eingeübt werden.
Schulische Rehabilitation
Die kognitive Rehabilitation ist naturgemäß stark mit der schulischen Rehabilitation verwoben. Zu jeder qualitativ anspruchsvollen Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter gehört daher die enge Zusammenarbeit von Therapeuten (besonders Neuropsychologen und Logopäden) und Lehrern. Die schulische Leistungsfähigkeit kann durch eine Vielzahl kognitiver Probleme beeinträchtigt sein. Zu nennen sind besonders 4 Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, 4 Beeinträchtigungen der visuellen Wahrnehmungsverarbeitung, 4 Störungen des Sprachverständnisses und der expressiven Sprache sowie 4 Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörungen. Die standardisierten neuropsychologischen Testbefunde geben wichtige Hinweise für die im Unterricht zu erwartenden Probleme und den Förderbedarf. Dennoch lässt sich aus der neuropsychologischen Beurteilung nicht ohne Weiteres die schulische Leistungsfähigkeit folgern. Häufig überschätzen neuropsychologische Leistungstests das schulische Leistungsvermögen, denn sie stellen sehr
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600
Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
umschriebene Anforderungen in einer klar strukturierten Situation und einem reizarmen Umfeld. Im Schulunterricht ist dagegen die kontinuierliche Aufnahme, Verarbeitung und Wiedergabe von Informationen unter bestimmten Tempoanforderungen und in einer sehr ablenkungsreichen und wechselnden Umgebung erforderlich. Weitere wesentliche Einflussfaktoren sind die beschriebenen typischen posttraumatischen Verhaltensprobleme wie 4 Impulskontrollstörungen, 4 Hyperaktivität, 4 verminderte Frustrationstoleranz, 4 Antriebs- und Motivationsschwäche. Psychometrische Tests müssen daher ergänzt werden durch
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individuelle Beobachtung und Erfassung von Lernverhalten und Lernerfolg in realen Unterrichtssituationen, wie sie während der stationären Rehabilitation am besten durch eine klinikeigene Schule gewährleistet werden können. Im ambulanten Rahmen ist ersatzweise ein enger Austausch zwischen Lehrern und Therapeuten und evt. die Betreuung durch einen Schulpsychologen erforderlich. Für die Beurteilung der schulischen Leistungsfähigkeit eines Kindes oder Jugendlichen und für die Ermittlung des individuellen schulischen Förderbedarfs sind besonders die in . Übersicht 35.5 aufgelisteten Fragen wichtig (in Anlehnung an Farmer et al. 1996). Schulische Rehabilitation muss Antworten auf diese Fragen suchen und bemüht sich auf deren Grundlage um eine individuelle Förderung des hirngeschädigten Kindes oder Jugendlichen. Das Spektrum reicht von basaler Wahrnehmungsförderung über handlungs- und alltagspraktisch ausgerichteten Einzelunterricht, ganzheitlich-themenzentrierte Förderung in der Kleingruppe (2–4 Schüler) bis hin zu altersund schulstufenspezifischem Unterricht in klassenverbandsähnlichen Strukturen. Endpunkt der schulischen Rehabilitation in der Klinik ist die Wiedereingliederung in eine Heimatschule. Es ist eine wesentliche Aufgabe der Klinikschule, aufgrund der eigenen Beobachtungen und Einschätzungen eine möglichst genaue Schulprognose abzugeben und eine Empfehlung für die weitere Beschulung auszusprechen. Manchmal ist allein schon aufgrund der Dauer von Akutbehandlung und Rehabilitation eine Fortsetzung der Schullaufbahn in der ursprünglichen Klasse wenig sinnvoll. Die Rückversetzung um eine Jahrgangsstufe gibt dem Patienten die Möglichkeit, sich unter erleichterten Bedingungen wieder an die regulären schulischen Anforderungen anzupassen und Anschluss an die ursprünglichen Leistungen zu gewinnen. Häufig ist allerdings aufgrund der Schwere der Hirnschädigung und ihrer Folgen ein Schulformwechsel notwendig, um den veränderten Fähigkeiten und Leistungsgrenzen des Patienten gerecht zu werden und ein schulisches Scheitern zu vermeiden. Es kommt darauf an, die Gründe für diesen häufig schmerzvollen Wechsel mit dem Patienten und seinen Eltern genau zu besprechen und die Planung gemeinsam vorzunehmen. Dabei kann es nützlich sein, dass infrage kommende Schulen noch während des Klinikaufenthalts gemeinsam besucht und kennengelernt werden.
. Übersicht 35.5. Beurteilung des individuellen schulischen Förderbedarfs 1. Sind die Lernprobleme des Kindes vorrangig zurückzuführen auf Aufmerksamkeitsstörungen, sprachliche Verständnisprobleme, Gedächtnisbeeinträchtigungen oder Minderungen der kognitiven und psychomotorischen Leistungsgeschwindigkeit? 2. Wie hoch ist die Aufmerksamkeitskapazität des Kindes/Jugendlichen? Kann die Aufmerksamkeit genügend fokussiert werden, und ist die Aufmerksamkeitsteilung auf mehrere Aktivitäten gleichzeitig möglich? Welche Umfeldbedingungen verbessern die Aufmerksamkeitsleistung des Kindes? 3. Welche Rolle spielen Präsentationsweise und Inhalt des Lernstoffs (mündlich oder schriftlich, Fakten vs. persönlich relevante Informationen, gegliedert oder unstrukturiert)? 4. Welches ist das höchste sprachliche Niveau (z.B. Abstraktionsgrad, Zahl von Aufgabenschritten, Konjunktive), das der Schüler noch ohne Hilfe versteht? 5. Ist der Schüler in der Lage, sich gegenüber seinen Mitschülern verständlich mitzuteilen? 6. Wirken sich sensorische oder motorische Beeinträchtigungen auf die schulische Leistungsfähigkeit aus? Kann der Schüler in ausreichendem Tempo und mit Ausdauer schreiben? Sind besondere Hilfen erforderlich (z.B. PC oder Laptop)? 7. Gibt es Unterschiede zwischen frühem und spätem Abruf neu zu lernender Inhalte? 8. Kann der Schüler selbstständig Lösungsansätze entwickeln und Aufgaben in Teilschritte zerlegen? 9. Wo liegen die besonderen Stärken und Schwächen des Kindes/Jugendlichen? In welchen Bereichen sind besondere Erfolgserlebnisse möglich? Wo droht ein Scheitern? 10. Welche Strategien oder Umfeldmodifikationen erleichtern dem Kind/Jugendlichen das Lernen? 11. Welche Interventionen bewähren sich bei Verhaltensproblemen des Kindes? Welche Verstärker lassen sich zur Verhaltensänderung einsetzen? 12. Sind den Eltern die schulischen Leistungsprobleme Ihres Kindes bewusst? Können sie angemessen damit umgehen? Welche Hilfen brauchen sie?
Für die schulische Wiedereingliederung ist es sehr hilfreich, wenn sich auch die aufnehmende Heimatschule auf den Patienten und seine besonderen Probleme und Bedürfnisse nach einer Hirnschädigung vorbereitet. Häufig sind aufgrund einer körperlichen Behinderung (z.B. Mobilitätseinschränkungen) besondere Hilfen zu organisieren. Jedem Schüler kann es helfen, wenn sich ein Lehrer (Tutor), der mit den Unfall- oder Krankheitsfolgen eingehend vertraut gemacht wurde, zumindest in der Anfangszeit besonders um ihn kümmert und bei auftretenden Problemen helfend und vermittelnd ein-
601 35.9 · Rehabilitation chronisch behinderter Kinder und Jugendlicher
greift (Clark 1996). Auch Schulpsychologen können in diesem Sinne unterstützend tätig werden.
. Übersicht 35.7. Versorgungsnetzwerk
Fazit
1. 2.
Auch nach der stationären Rehabilitation ist es bei schwer geschädigten Patienten anzustreben, dass Schule und Ärzte wie ambulante Therapeuten miteinander in Verbindung bleiben, um auftretende Probleme möglichst frühzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken.
3. 4.
35.9
Rehabilitation chronisch behinderter Kinder und Jugendlicher
Neurologische Rehabilitationseinrichtungen für Kinder und Jugendliche befassen sich neben akut erworbenen Schädigungen (meist in Form von 4- bis 8-wöchigen Kinderheilbehandlungen) auch mit der rehabilitativen Behandlung von jungen Patienten mit angeborenen oder sehr früh erworbenen Schädigungen des Nervensystems, von denen einige auch fortschreitenden Charakter haben. Typische Krankheitsbilder sind in . Übersicht 35.6 zusammengefasst. . Übersicht 35.6. Angeborene oder sehr früh erworbene Schädigungen des Nervensystems 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Infantile Zerebralparesen (ICP) Myelomeningozelen (MMC) und assoziierte Fehlbildungen Muskeldystrophien und andere hereditäre Muskelerkrankungen Spinale Muskelatrophien und spastische Spinalparalysen Heredoataxien Hereditäre sensomotorische Polyneuropathien Epilepsien (mit Teilleistungstörungen) Entwicklungsstörungen unklarer Ätiologie
Rehabilitationsziele und Vorgehensweise unterscheiden sich dabei in wesentlichen Punkten von der Rehabilitation akut erworbener Schädigungen. Das Ziel ist nicht die möglichst weitgehende Wiederherstellung eines unversehrten prämorbiden Zustands, sondern die graduelle Verbesserung, manchmal auch nur der Erhalt von körperlichen und geistigen Funktionen und Aktivitäten, Selbstständigkeit, sozialer Integration und Lebensqualität. Die stationäre Rehabilitation hat sich dabei in einen vieldimensionalen Prozess der kontinuierlichen Entwicklungsförderung einzufügen. Diese Arbeit wird von vielen verschiedenen Personen und Institutionen in einem Versorgungsnetzwerk geleistet (. Übersicht 35.7).
5. 6. 7.
8.
35.9.1
Eltern und Familie Ambulant betreuende Hausärzte, Kinderärzte, Neurologen und Orthopäden Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) Ambulanten Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden und Psychologen Frühförderstellen Kindergärten, darunter Kindergärten für Körperbehinderte, Integrations- und Sprachheilkindergärten Regelschulen (u.U. mit Integrationsstatus) und Sonderschulen für Körperbehinderte, Lernbehinderte und geistig Behinderte Selbsthilfegruppen
Stationäre Rehabilitation
Trotz dieses umfangreichen Netzwerks hat die stationäre Rehabilitation auch bei chronischen Schädigungen einen wichtigen Stellenwert und kann Aufgaben erfüllen, die von den anderen Institutionen nicht in gleicher Weise geleistet werden können. Stationäre Rehabilitation bedeutet zunächst Therapieintensivierung. Durch tägliche Therapien in verschiedenen Bereichen können in kürzerer Zeit nachhaltige Veränderungen erzielt werden. Durch die enge Abstimmung der beteiligten Therapeuten im Rehateam untereinander, die ambulant so nicht möglich ist, lassen sich klare und umgrenzte Behandlungsziele definieren, die multidisziplinär angegangen werden können. Beispiel Dieses Vorgehen bewährt sich in der Behandlung von Kindern mit ICP, bei denen neben einer zentralen Bewegungsstörung mit oft ausgeprägter Spastik häufig weitere komplexe Störungen der Körperwahrnehmung, der visuellen Wahrnehmung und anderer kognitiver Leistungen, der Mundmotorik und des Sprechens bestehen.
jEntwicklungsförderung Die intensive multidisziplinäre Behandlung unter stationären Bedingungen ist in der Lage, wichtige Schritte gerade in der motorischen Entwicklung anzubahnen und zu stabilisieren, z.B. 4 Lagewechsel, 4 Stützen, 4 freies Sitzen, 4 Stehen, 4 Laufen, 4 Bewegungsübergänge, 4 gezieltes und ökonomisches Greifen, 4 Hand-Hand-Koordination und 4 Auge-Hand-Koordination.
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602
Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
In der stationären Behandlung ist es auch gut möglich, neue Therapieformen auszuprobieren und in das Behandlungskonzept zu integrieren, z.B. 4 Botulinumtoxin-Injektionen, 4 repetitives Üben auf Laufband/mit Gangtrainer oder 4 Constraint-Induced-Movement-Therapie. Dabei wirkt die Arbeit in der stationären Behandlung umso besser fort, je enger die Rückkoppelung mit den anderen Partnern im Versorgungsnetzwerk ist. jNachbehandlung orthopädischer Eingriffe Ganz wichtig ist eine stationäre Rehabilitationsbehandlung nach orthopädischen Korrekturoperationen. Es geht dann darum, die neu gewonnene passive Beweglichkeit in aktive Bewegung umzusetzen. Häufig gestaltet sich dies schwieriger als vonseiten der Operateure und auch der Eltern angenommen wird. Viele Kinder sind gerade nach größeren Operationen (z.B. Mehr-Etagen-Eingriffen) aufgrund erlittener Schmerzen und einer längeren Immobilisierung sehr ängstlich und empfindlich und wehren bereits Berührungen ab. Ferner haben die meisten Patienten Schwierigkeiten, die neuen Bewegungsmöglichkeiten und Tonusverhältnisse in ihr gewohntes Körperbild zu integrieren.
35
jNeuversorgung mit Hilfsmitteln Die Neuversorgung mit Hilfsmitteln und die Überprüfung bestehender Versorgungen sind weitere wesentliche Aufgaben der stationären Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schädigungen. In der engen Zusammenarbeit zwischen kinderneurologisch und -orthopädisch erfahrenen Ärzten, Therapeuten und Orthopädietechnikern während der stationären Rehabilitation bestehen optimale Möglichkeiten zur funktionsdienlichen Hilfsmittelversorgung, ausgehend von einer kontinuierlichen und nicht nur punktuellen (Sprechstunde!) Beobachtung des Kindes. In den Therapien können die neuen Hilfsmittel erprobt und ggf. modifiziert werden. Ferner können Eltern in die effektive Anwendung eingewiesen werden. Damit ist ein funktionsverbessernder Hilfsmitteleinsatz auch im nachstationären Alltag des Kindes weitgehend abgesichert. jADL-Training Ein wichtiges Therapiefeld ist die Förderung der Selbstständigkeit im Alltag (ADL-Training). Viele Eltern chronisch behinderter Kinder unterschätzen die Möglichkeiten ihrer Kinder und versorgen sie in einem nicht notwendigen Umfang. Hier lassen sich oft wichtige Funktionen entwickeln wie 4 Lagetransfers, 4 Waschen und Anziehen, 4 selbstständiges Essen oder Zähneputzen. Allerdings bedürfen solche Interventionen einer guten psychologischen Vorbereitung bei Kind und Eltern, da sie häufig als starker Eingriff in das etablierte familiäre Miteinander empfunden werden.
jBeratung und Unterstützung der Eltern Im Falle der Mitaufnahme während der stationären Rehabilitation bestehen auch vielfältige Möglichkeiten, Eltern gezielt in Fragen der Therapie, Pflege und Erziehung sowie bei wichtigen entwicklungsrelevanten Entscheidungen (z.B. Einschulung) oder der familiären Bewältigung von Krankheit und Behinderung zu beraten und zu unterstützen. Eltern können beobachtend oder aktiv an Therapien teilnehmen und dabei wichtige Einsichten für ihr eigenes Handeln gewinnen und die Durchführung bestimmter Therapiesequenzen erlernen. Sie können ferner wichtige Hinweise für das alltägliche Handling ihres Kindes erhalten. Praxistipp Bei motivierten und differenzierten Eltern hat sich in unserer Praxis die therapeutische Erarbeitung von Hausübungsprogrammen bewährt, um die ambulanten Therapien zu unterstützen und zu ergänzen.
jPsychologische/pädagogische Beratung und Therapie In der psychologischen und pädagogischen Beratung und Therapie kann gezielt auf die manchmal schwerwiegenden Verhaltensprobleme behinderter Kinder und die damit verbundenen familiären Beziehungsstörungen eingegangen werden. Ziele sind ein vertieftes Verhaltensverständnis seitens der Eltern und verhaltenstherapeutisch fundierte Modifikationen des Erziehungs- und Interaktionsverhaltens, die ein besseres, weniger belastendes Miteinander aller Familienmitglieder ermöglichen.
35.10
Betreuung und Freizeitgestaltung
Zusammen mit dem Pflegedienst ist es Aufgabe von Sozialund Heilpädagog(inn)en sowie Erzieher(inne)n, das Umfeld für die Rehabilitation so günstig wie möglich zu gestalten und Kinder und Jugendliche in ihrer persönlichen Entwicklung auch unter den schwierigen Bedingungen nach einem Unfall, einer schweren Krankheit oder bei einer chronischen Behinderung optimal zu fördern und zum Bewältigungsprozess von Krankheit und Behinderung beizutragen. Weitaus stärker als in der Erwachsenenrehabilitation muss die Freizeit von Kindern und Jugendlichen aktiv gestaltet werden und kann sich nicht auf bloße Angebote zur freiwilligen Teilnahme beschränken (. Übersicht 35.8). Neben diesen Aufgaben in der Freizeitgestaltung sind Krankenschwestern und -pfleger wie auch Erzieher(inn)en und Sozialpädago(inn)en oft die wichtigsten unmittelbaren Ansprechpartner der Kinder und Jugendlichen. Zu ihnen baut sich häufig ein besonderes Vertrauensverhältnis auf. Sorgen und Probleme werden ihnen gegenüber nicht selten eher und offener geäußert. Daraus erwächst für sie eine besondere Verantwortung für die Patienten, die jedoch stets in Rückkoppelung mit dem gesamten Rehateam wahrgenommen werden sollte.
603 35.11 · Familie und Elternarbeit
35.11.1 . Übersicht 35.8. Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen 1.
2.
3.
4.
5. 6. 7.
8.
35.11
Freizeitangebote und Aktivitäten müssen gut auf die altersspezifischen Fähigkeiten und Interessen von Kindern und Jugendlichen abgestimmt sein. Sie sollen für jede Altersstufe breit genug sein und den Patienten entsprechend ihrer unterschiedlichen Neigungen eine Auswahl bieten. Sie müssen die unterschiedlichen körperlichen und geistigen Behinderunggrade berücksichtigen und auch schwer behinderten Patienten ausreichend Möglichkeiten bieten. Sie sollen das Erreichen der Rehabilitationsziele unterstützen und dementsprechend viele Möglichkeiten zu Bewegung und Anregung kognitiver Prozesse bieten. Sie sollen die Ressourcen der Patienten entwickeln und deren Kreativität und Phantasie fördern. Sie sollen Spaß machen und die Therapiemotivation verbessern. Sie sollen Sozialverhalten und soziale Integration der Patienten fördern. Interaktiven Beschäftigungen (Spiele, Ballsportarten, gemeinsames Kochen u.a.) ist daher genügend Raum im Verhältnis zu passiven Angeboten (z.B. Fernsehen, PC, Musikhören, Kino) zu geben. Außenaktivitäten (gemeinsame Ausflüge, gemeinsame Einkaufsfahrten, Gaststätten-, Kino-, Theaterund evt. Discobesuche sowie die Teilnahme an besonderen Veranstaltungen (Musik, Volksfeste u.Ä.) sind wichtige therapeutische Elemente auf dem Weg zu selbstständigem Handeln, sozialer Reintegration und zur Vorbereitung auf die Zeit nach der Rehabilitationsbehandlung außerhalb einer klinischen Schonatmosphäre.
Familie und Elternarbeit
Eltern und Familie bleiben auch nach einem Unfall oder bei einer anderen schweren gesundheitlichen Schädigung der wichtigste soziale und psychische Bezug des Kindes oder Jugendlichen. Die Unterstützung durch Eltern, Geschwister und andere Angehörige ist ein wesentlicher Faktor für psychophysische Erholung, Rehabilitationserfolg und Reintegration. Auch Jugendliche und junge Erwachsene, die sich schon mehr oder minder von Ihren Eltern abgenabelt haben, sind plötzlich wieder stark auf die ursprünglichen familiären Beziehungen angewiesen und erfahren insofern auch eine Regression auf ein früheres Entwicklungsstadium. Umfang und Art der Ressourcen der Familie sind mitentscheidend über den Rehabilitationserfolg. Sie müssen daher von Anfang an erfasst und überlegt in die Rehabilitationsplanung einbezogen werden.
Psychosoziale Probleme
Die psychosozialen Auswirkungen von kindlichen Hirnschädigungen auf die Familie sind neben dem unmittelbaren Stress nach dem Akutereignis besonders im Langzeitverlauf zu erkennen. Bei allen Familienmitgliedern können Reaktionen auftreten, z.B. 4 depressive Reaktionen, 4 Angstsymptome, 4 Impulskontrollprobleme, 4 Essstörungen, 4 Alkoholmissbrauch und 4 psychosomatische Störungen wie 5 Schlafprobleme, 5 Kopfschmerzen, 5 Magen-Darm-Störungen und 5 Infektanfälligkeit. Aufgrund der Konzentration der Eltern auf das kranke Kind fühlen Geschwisterkinder sich häufig zurückgesetzt und reagieren mit Verhaltensstörungen oder körperlichen Symptomen. Die familiäre Kommunikation verarmt, wenn sich alles nur noch um das kranke oder behinderte Familienmitglied dreht. Konflikte zwischen den Eltern brechen auf und führen nicht selten sogar zu Trennung und Ehescheidung. Hinzu können finanzielle Belastungen durch häufige Fahrten zum Krankenhaus, mögliche Arbeits- und Verdienstausfälle und durch Kosten für Haus- und Wohnungsumbauten zur besseren Versorgung des behinderten Kindes sowie Pflegeaufwen-
Näher betrachtet Studien: Familiäre Belastung Wie zu erwarten ist die familiäre Belastung eindeutig von der Traumaschwere abhängig. Rivara et al. (1992, 1994) fanden 3 Monate nach einem SHT deutlich erhöhte familiäre Stressparameter in allen Dimensionen. Ein Jahr nach SHT zeigte sich in der Gruppe der leicht und mittelschwer Verletzten eine Normalisierung, während in den Familien der schwer hirnverletzten Kinder eine Zunahme der Belastung erkennbar wurde, die auch noch nach 3 Jahren anhielt (Rivara et al. 1996). In ähnlicher Weise zeigte sich in den Familien schwerverletzter Kinder eine Verschlechterung 4 der intrafamiliären Beziehungen, 4 der familiären Zufriedenheit und 4 der familiären Kompensationsressourcen (Coping-Möglichkeiten). Wade et al. (1998, 2002) kamen grundsätzlich zu ähnlichen Ergebnissen, jedoch schätzten die Familien subjektiv ihre Belastung weniger schwer ein als sich unter Benutzung vorgegebener Kriterien ergab. Am wichtigsten für eine erhöhte familiäre Belastung scheinen die schulischen Probleme, psychischen Veränderungen und Verhaltensauffälligkeiten des verletzten Kindes zu sein (Max et al. 1998a, Prigatano u. Gray 2007). Die Wahrnehmung externer Unterstützung spielt ebenfalls eine große Rolle (Aitken et al. 2009).
35
604
Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
dungen kommen, die nicht von der Pflege- oder Krankenversicherung abgedeckt werden. Noch wichtiger als Prädiktor für die mittel- und langfristige Belastung und Anpassungsfähigkeit der Familie erweist sich jedoch die Funktionsfähigkeit der Familie vor dem Trauma (Rivara et al. 1994, 1996; Max et al. 1998a). Familien, die schon vor dem Trauma psychosozial stärker belastet waren, sind deutlich weniger in der Lage, die zusätzlichen Probleme durch ein hirnverletztes Kind aufzufangen, und zeigen eine bedrohliche Verschlechterung ihrer Funktionsfähigkeit. Prätraumatisch gut funktionsfähige Familien können hingegen die zusätzliche Belastung vergleichsweise gut kompensieren. Näher betrachtet Studie: Lebensqualität nach einem Hirntrauma In einer Studie zur Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen nach einem Hirntrauma fanden Stancin et al. (2002) ungefähr 4 Jahre später keinerlei Assoziation zwischen der Traumaschwere und der Lebensqualität, jedoch eine deutliche Auswirkung kindlicher Verhaltensprobleme und familiärer Belastungen vor dem Trauma.
Diese Studienergebnisse weisen darauf hin, wie wichtig es im Rehabilitationsprozess ist, die innerfamiliären Ressourcen zu stärken, Fehlanpassungen entgegenzuwirken und, wo erforderlich, frühzeitig externe psychosoziale und materielle Hilfen zu mobilisieren. Die genaue Anamneseerhebung sollte bereits zu Beginn der Rehabilitation die in . Übersicht 35.9 zusammengefassten Punkte berücksichtigen.
35
35.11.2
Auf der Grundlage dieser Informationen lässt sich die Elternarbeit planvoll und zielgenau gestalten. Sie darf nicht nur das Spezialgebiet bestimmter Berufsgruppen sein (Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter), sondern muss in je unterschiedlicher Weise vom gesamten Rehateam getragen werden. Angehörige wenden sich in ihrem Bedürfnis nach Prognoseeinschätzungen und in ihrer Suche nach Perspektiven und Hilfe bei der Traumabewältigung nicht nur an Ärzte und Psychologen, sondern – oft aufgrund von unausgesprochenen Hemmschwellen – ebenso sehr an Pflegekräfte und Therapeuten. Einschätzungen der familiären Situation und Gespräche über die Kommunikation mit den Angehörigen werden daher in Teamkonferenzen genauso thematisiert wie unmittelbar patientenbezogene Einschätzungen und Planungen. Auch Pflegende und Therapeuten sollten in der Elternarbeit zumindest basal geschult sein, damit sie in der Lage sind, den Fragen der Eltern und möglichen Konflikten mit ihnen kompetent gegenüberzutreten. Die Teilnahme der Eltern und ggf. auch der einsichtsfähigen jungen Patienten an den sie betreffenden Teamkonferenzen macht die therapeutische Arbeit transparent, vermittelt den Eltern ein Gefühl von Kompetenz und Mitbestimmung, erleichtert den Informationsaustausch und verhindert Spaltungsprozesse im Team. Thesenhaft lassen sich einige Forderungen für die Elternarbeit aufstellen (. Übersicht 35.10). . Übersicht 35.10. Thesen für die Elternarbeit 1. 2.
. Übersicht 35.9. Fragen zur Familienanamnese 1. Wie sieht die Familienstruktur aus? Eltern zusammen oder getrennt lebend, Geschwister, Stiefeltern und -geschwister, Rolle von Großeltern und anderen Verwandten u.Ä.? 2. Welche Stellung hat das betroffene Kind in der Familie? Wer steht ihm besonders nahe? 3. Wie sehen die Geschwisterbeziehungen aus? 4. Wie waren die Beziehungen des Kindes zu Gleichaltrigen? 5. Hatte das Kind vor dem Unfall Verhaltens- und/oder Schulprobleme? 6. Welche Kommunikations- und Problemlösungsstile herrschen in der Familie? 7. Wie verstehen sich die Eltern miteinander? Gibt es Ehekonflikte? 8. Welchen anderen Konflikten und Belastungen ist die Familie ausgesetzt? 9. Wie sehen die materiellen Grundlagen der Familie aus? Welchen finanziellen Belastungen unterliegt sie? 10. Welche Beziehungen hat die Familie nach außen? Von wem kann sie Unterstützung erfahren?
Eltern im Rehabilitationsprozess
3. 4. 5. 6.
Eltern sind gleichberechtigte Partner im Rehabilitationsprozess Eltern sind an allen wesentlichen Entscheidungen zu beteiligen Eltern müssen sich als Handelnde erfahren können Unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven müssen akzeptiert werden Traumabewältigung braucht Zeit Das kranke Kind ist nicht die ganze Familie
jEltern sind gleichberechtigte Partner im Rehabilitationsprozess Eltern sind aufgrund der lebenslangen Kenntnis die primären Experten für ihr Kind. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass das Kind eine schwere Verletzung oder Krankheit erlitten hat, die professionelle Hilfe erforderlich macht. Viele Konflikte entstehen dadurch, dass Eltern ihre Kompetenz für ihr eigenes Kind durch Ärzte, Pflegende und Therapeuten infrage gestellt sehen (und Ärzte, Pflegende und Therapeuten diese tatsächlich auch nicht selten infrage stellen). Solche Konflikte müssen unter allen Umständen vermieden werden, indem die elterliche Erfahrung und das elterliche Wissen um das Kind immer wieder bewusst gewürdigt, die Wünsche und Anregungen von Eltern ernst genommen werden und Eltern konkrete Möglichkeiten erhalten, ihre Kompetenz ihrem Kind zugute kommen zu lassen.
605 35.11 · Familie und Elternarbeit
jEltern sind an allen wesentlichen Entscheidungen zu beteiligen Wichtige medizinisch-therapeutische Maßnahmen im Rehabilitationsverlauf, besonders solche, die mit invasiven und folgenreichen Eingriffen verbunden sind, sind schon aus rein rechtlichen Gründen nur mit Einwilligung der Erziehungsberechtigten zulässig. Auch bei weniger gewichtigen Vorhaben wie z.B. diagnostischen Maßnahmen oder Ansetzen von Medikamenten sollten die Eltern jedoch nach Möglichkeit vorher informiert und über Sinn und Zweck der Maßnahme und mögliche Risiken aufgeklärt werden. Aufgeklärte Eltern werden den Rehabilitationsprozess besser unterstützen als solche, die das Gefühl haben, ständig übergangen zu werden. Sie werden Ärzten, Pflegenden und Therapeuten auch eher einen Vertrauensvorschuss für ihr weiteres Handeln gewähren, der für eine sinnvolle Zusammenarbeit über einen längeren Behandlungszeitraum unabdingbar ist. jEltern müssen sich als Handelnde erfahren können Die Situation nach einem Unfall oder bei einer schweren Krankheit, die eine hoch spezialisierte medizinische Behandlung und Pflege erforderlich machen, ist für Eltern und andere Angehörige durch eine extreme Ohnmacht geprägt. Sie müssen das Handeln professionellen Helfern überlassen und sehen ihr Kind Maßnahmen und Vorgängen ausgesetzt, die sie häufig nicht verstehen. Dennoch spüren sie gerade jetzt das Bedürfnis, ihrem Kind aktiv zu helfen. Der Übergang von der Akut- in die Rehabilitationsklinik bietet die Chance, diesem Bedürfnis Raum zu geben. Das aktive Einbeziehen der Eltern und anderer Angehöriger ist eine ganz wesentliche Hilfe für die Traumabewältigung in der Familie. Es ist Aufgabe des Rehateams, Eltern aktive Handlungsmöglichkeiten zu geben. So können Angehörige auch bei schwer geschädigten Patienten je nach ihren Möglichkeiten und Wünschen Tätigkeiten der Grund- und u.U. auch Behandlungspflege (z.B. Absaugen, Inhalationen, Lagerung) übernehmen, in Techniken der basalen Stimulation eingearbeitet werden oder krankengymnastische, ergotherapeutische und logopädische Therapiesequenzen erlernen, die sie auch außerhalb der regulären Therapien anwenden können. Angehörige können so zu kompetenten Ko-Therapeuten werden. jUnterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven müssen akzeptiert werden Eltern eines schwerkranken Kindes sind keine unbeteiligten und objektiven Beobachter. Sie leiden mit ihrem Kind und betrachten sich als Anwalt des Kindes. Sie leben in der Furcht vor den möglichen dauerhaften Folgen der erlittenen Schädigung und brauchen Hoffnung, um diese schwierige Zeit in ihrem eigenen Leben durchstehen zu können. Sie werden daher jede noch so kleine und vielleicht zufällige Zustandsänderung registrieren und wenn irgend möglich als günstiges Zeichen werten. Umgekehrt wird jede erkennbare Verschlechterung den Ruf nach sofortigem Eingreifen provozieren. In diesem schwankenden Zustand zwischen Hoffen und Bangen werden auch ärztliche und therapeutische Botschaften häufig nicht in ihrer Differenziertheit wahrgenommen, sondern
nach Hoffnungsschimmern oder Menetekeln durchsucht. Ärzte, Pflegende und Therapeuten müssen sich auf diese andere Perspektive einstellen, die häufig nicht ihrer eigenen Wahrnehmung des Patienten entspricht. Davon unabhängig sollten sie sich bewusst sein, dass Patienten gerade in der Frührehabilitation (Wachkoma, frühe Remissionsstadien) gegenüber vertrauten Personen häufig Reaktionen zeigen, die vom Behandlungsteam (noch) nicht gesehen werden. Es ist also wichtig, im Verhältnis zu Eltern und anderen Angehörigen nicht in ein »Entweder-Oder« zu verfallen (nach dem Motto: Wer hat recht?), sondern ein »Sowohl-Als auch« der Wahrnehmungsperspektiven zuzulassen und in das eigene Handeln und Denken einzubeziehen. jTraumabewältigung braucht Zeit Die Konfrontation mit den unmittelbaren und langfristigen Folgen der Gesundheitsschädigung eines Kindes stellt die Eltern vor schwere Aufgaben, die nur in einem mehrmonatigen, wenn nicht mehrjährigen Anpassungsprozess zu bewältigen sind. Kompliziert wird dieser Prozess oft durch explizite oder uneingestandene Schuldvorwürfe an sich selbst oder andere Personen und Institutionen. Ähnlich wie im Sterbe- und Trauerprozess (Kübler-Ross 1975) werden dabei häufig verschiedene Phasen durchlaufen: 4 Abwehr und Verleugnung, 4 Zorn und Aufbäumen, 4 Verhandeln, 4 Depression, 4 Sich-Fügen (Akzeptanz). Auch wenn dieser Verlauf nicht chronologisch zu sehen ist und immer wieder ein Wechsel von Einstellungen eintreten kann, so ist die Kenntnis der damit verbundenen Gefühle und Handlungsweisen doch sehr hilfreich in der Arbeit mit Eltern, deren Kinder keine rasche Genesung zeigen, und die sich auf eine dauerhafte Behinderung oder gar Pflege ihres Kindes einstellen müssen. Typische Konflikte, die daraus im Rehabilitationsverlauf erwachsen, sind 4 das Nichtwahrhaben-Wollen und Verleugnen ungünstiger Einschätzungen und Schlussfolgerungen des Rehateams, 4 das Verlangen nach mehr und anderen Therapien, 4 Zweifel an der Kompetenz der Pflegenden und Behandelnden und 4 die angestrengte Suche nach alternativen Therapieformen mit oft magischem Charakter. Es erfordert viel Geduld, Gesprächsbereitschaft und Zeit, diese Konflikte auszuhalten, die häufig damit verbundenen Vorwürfe zu ertragen und dennoch die therapeutische Beziehung aufrechtzuerhalten und konstruktive Lösungen zu erarbeiten. Wichtigstes Gebot dabei ist, nutzlose und nicht weiterführende Konfrontationen zu vermeiden. Hilfreich kann es im Einzelfall sein, andere Angehörige (z.B. Großeltern) oder Vertrauenspersonen der Familie (z.B. Hausarzt), die etwas mehr Distanz zu dem Geschehen haben, zur Unterstützung
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606
Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
und Klärung von Konflikten in den Rehabilitationsprozess einzubeziehen.
medizinisch-wissenschaftlicher Fachgesellschaften (AWMF) anerkannt wurde (Deppe et al. 2006).
jDas kranke Kind ist nicht die ganze Familie Für das langfristige Wohlbefinden und Gedeihen der Familie und gerade auch das Wohl des kranken Kindes ist es essenziell, dass das gesamte System »Familie« funktionsfähig bleibt, jedes einzelne Mitglied sich mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen ernst genommen erlebt und die Beziehungen der einzelnen Familienmitglieder untereinander im Gleichgewicht bleiben. Gerade Geschwisterkinder leiden häufig stark an ihrer plötzlich untergeordneten Rolle (Brooks 1991). Es ist daher eine wichtige Aufgabe der Elternarbeit in der Rehabilitation, darauf hinzuwirken, dass sich der Blickwinkel der Eltern (häufig besonders der Mutter) langsam wieder weitet und auch die anderen Kinder, den Ehepartner und das eigene Wohlbefinden wieder erfasst. Eltern, die während der Rehabilitationsbehandlung in der Klinik mitaufgenommen sind, sollten ermuntert werden, zunächst tageweise, später auch mehrere Tage zu ihrer Familie zurückzukehren. Es bewährt sich auch, mehrere Familienangehörige im Wechsel in die Betreuung in der Klinik einzubeziehen. Eltern sollten auch ermutigt werden, eigene Interessen und Hobbies wieder zu pflegen. Es ist wichtig, dass die Rehabilitationsklinik nicht nur patienten- und krankheitszentrierte Gesprächsangebote in Form von Elterngruppen macht, sondern auch Freizeitangebote bereitstellt, die Eltern Entspannung, körperlichen und seelischen Ausgleich und vorübergehenden Abstand zu der Fülle der Probleme ermöglichen.
jBauliche Struktur Baulich muss die Klinik vor allem ausreichend groß sein und viel Platz für Spiel, Sport und Freizeitaktivitäten bieten. Kinder und Jugendliche haben, selbst wenn sie krankheitsbedingt eingeschränkt sind, ein weit höheres Bewegungsbedürfnis als Erwachsene. 4 Die Stationen sollten viele Freiflächen, Gruppenräume und Spielmöglichkeiten umfassen. 4 Zur Mitaufnahme und -unterbringung von Eltern oder evt. anderen Angehörigen müssen ausreichende Möglichkeiten vorhanden sein, wobei die Entscheidung über eine gemeinsame (Rooming-in) oder getrennte Unterbringung von Eltern und Kind vom Alter und individuellen Gegebenheiten abhängig gemacht werden sollte. 4 Große Bedeutung kommt den Außenanlagen der Klinik zu, die viel Bewegungsmöglichkeiten bieten sollten, inklusive Sport- und Spielplatz mit behindertengerechten Geräten und Klettermöglichkeiten.
Fazit
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Elternarbeit bleibt, auch wenn sie gut läuft, eine anspruchsvolle und kräftezehrende Aufgabe für das gesamte Behandlungsteam. Konflikte lassen sich nicht immer vermeiden und sollten möglichst sachlich, einfühlsam und mit dem nötigen Hintergrundwissen ausgetragen werden. Durch raschen und häufigen Informationsaustausch kann sich das Rehateam dabei gegenseitig helfen und stärken und vermeiden, dass durch (meist unbewusstes) Agieren Parteilichkeiten und Konflikte in das Team hineingetragen werden. Dennoch ist eine externe Teamsupervision zusätzlich hilfreich und entlastend, um mit diesen Risiken fertigzuwerden.
35.12
Struktur- und Prozessqualität in kinder- und jugendneurologischen Rehabilitationseinrichtungen
Kliniken oder Klinikabteilungen, die sich der neurologischen Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen widmen, müssen besondere strukturelle und personelle Anforderungen erfüllen, um den formulierten hohen inhaltlichen Ansprüchen gerecht werden zu können. Im Rahmen der Fachgesellschaft für Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter wurde daher eine Leitlinie für die stationäre neurologische Rehabilitation entwickelt, die wichtige Standards der Struktur- und Prozessqualität definiert und von der Arbeitsgemeinschaft
jPersonelle Struktur Umfangreich sind die Anforderungen an die personelle Besetzung und Qualifikation. Alle Mitarbeiter in einer Klinik der Kinder- und Jugendrehabilitation müssen ein besonderes Verständnis für die körperliche, geistige und seelische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben oder dieses durch hausinterne Weiterbildung rasch erwerben. 4 Auf ärztlicher Leitungsebene sollten neben besonderer Erfahrung mit den zu behandelnden Krankheitsbildern eingehende Kenntnisse in folgenden Bereichen vorhanden sein: 5 Entwicklungsneurologie und -psychologie, 5 neurologische Rehabilitationsmedizin, möglichst 5 Kinder- und Jugendpsychiatrie oder 5 Psychotherapie. 4 In der Pflege wird die Kompetenz v.a. durch einen hohen Anteil an Krankenschwestern bzw. -pflegern mit Vollausbildung und an Kinderkrankenschwestern gesichert. Gute Voraussetzungen für die Arbeit in der Kinder- und Jugendrehabilitation bringen auch Heilerziehungspfleger mit. 4 Im physio- und ergotherapeutischen Bereich ist es wichtig, dass in der Klinik neben den üblichen neurorehabilitativen Behandlungsmethoden besondere Kompetenz in einigen kinderspezifischen Verfahren vorhanden ist, wie 5 Kinder-Bobath-Therapie, 5 Vojta-Therapie, 5 Sensorische Integration. 4 In der Logopädie ist besondere Erfahrung notwendig in der 5 Sprachentwicklungsdiagnostik und -therapie, 5 Behandlung faziooraler Störungen, 5 Dysarthrietherapie und 5 Diagnostik und Behandlung von Lese- und Rechtschreibstörungen.
607 35.12 · Struktur- und Prozessqualität in kinder- und jugendneurologischen Rehabilitationseinrichtungen
4 Bei den Psychologen wird Kompetenz vorausgesetzt in der 5 Entwicklungspsychologie und -psychopathologie, 5 neuropsychologischen Diagnostik und spezifischen Befundbewertung im Kindes- und Jugendalter und daraus resultierenden Entwicklungsprognosen. 5 Daneben sollten Psychologen in der Kinder- und Jugendlichenrehabilitation verhaltenstherapeutisch ausgebildet sein. 4 Aus den Ausführungen zur Betreuung und Freizeitarbeit ergibt sich, dass Erzieher und Sozialpädagogen im Stellenplan einer kinder- und jugendneurologischen Klinik eine ganz besondere Berücksichtigung erfahren müssen. 4 Der hohen Bedeutung der schulischen Rehabilitation ist durch entsprechend qualifizierte Lehrer Rechnung zu tragen. Eine Rehabilitationseinrichtung für Kinder und Jugendliche sollte in jedem Fall über Lehrer der verschiedensten Schultypen von Sonderschule bis Gymnasium verfügen. 4 Um eine optimale Abstimmung von kognitiver, sprachlicher, motorischer und schulischer Rehabilitation zu gewährleisten, müssen die Lehrer möglichst weitgehend in das Rehateam integriert sein. Daher ist einer eigenen Krankenhausschule (in staatlicher Trägerschaft oder als staatlich ermächtigte Ersatzschule in Klinikträgerschaft) mit fest angestellten Lehrern eindeutig, vor allen anderen Formen der Beschulung, der Vorzug zu geben. 4 Sehr förderlich für die Reintegration von Jugendlichen, die sich bereits in einer Berufsausbildung befinden, ist ein arbeits- und berufstherapeutischer Bereich. Bereits während der medizinischen Rehabilitation können dort Belastungserprobungen stattfinden, die reale Bedingungen des Arbeitsprozesses nachbilden und so eine Beurteilung gestatten, ob und in welchem Umfang die körperliche und geistige Belastungsfähigkeit in Bezug auf die Wiederaufnahme der Ausbildung oder des Berufs noch eingeschränkt sind, oder ob die Fähigkeit zur Aufnahme einer neuen Berufsausbildung (u.U. unter geschützten Bedingungen) besteht. jQualität des Rehabilitationsprozesses Neben einer guten baulichen und personellen Infrastruktur ist auch eine hohe Qualität des Rehabilitationsprozesses von besonderer Bedeutung für erfolgreiche kinder- und jugendneurologische Rehabilitationsbehandlungen. Die Abläufe in der Rehabilitationseinrichtung sollten für alle Beteiligten (auch Patienten und Eltern) klar strukturiert, transparent und verlässlich sein. Als Kernanforderungen ergeben sich: 4 Bereits vor Beginn der Rehabilitation sollten genügend Informationen über den Patienten eingeholt werden, um die Behandlung gut vorauszuplanen. 4 Klare Aufnahmeprozeduren, eine möglichst umfassende Anamneseerhebung und gründliche Untersuchungen ermöglichen und erleichtern die Festlegung konkreter und realistischer Rehabilitationsziele.
4 Von den Eltern und/oder den Patienten selbst sind am Anfang detailliert Erwartungen, Ziele und Wünsche für die Rehabilitation zu erfragen. 4 Der Einsatz standardisierter Assessmentverfahren zu Funktionen und Aktivitäten schafft eine valide Grundlage für Schweregradeinschätzungen und Therapieplanung. 4 Spätestens nach einer Woche sollte das multidisziplinäre Rehabilitationsteam die Ergebnisse von Untersuchungen und Assessments, Eltern- und Patientenerwartungen und erste Verlaufsbeobachtungen austauschen können. Auf dieser Grundlage erfolgt die gemeinsame Festlegung konkreter Rehabilitationsziele und -schwerpunkte. 4 Im Rehabilitationsverlauf ist auf eine beständige interdisziplinäre Abstimmung zu achten und die Kommunikation gegenüber Patienten und Eltern kontinuierlich zu gewährleisten. 4 Regelmäßige Verlaufsbesprechungen dienen bei längeren Behandlungen oder interkurrenten Problemen der Anpassung und Neuausrichtung von Rehabilitationszielen und ggf. der Modifizierung der Behandlungsmethoden. 4 Zur Sicherung eines optimalen Rehabilitationserfolgs auch nach Ende der stationären Behandlung ist die Berücksichtigung von Kontextfaktoren notwendig, z.B. soziale Situation und Belastung von Eltern und Familie sowie Verfügbarkeit von Unterstützungsmöglichkeiten. 4 Rechtzeitig vor Ende der Rehabilitation sind Entlassung und Wiedereingliederung sorgfältig zu planen. Dazu sind Kontakte mit den Weiterbehandlern, sozialpädiatrischen Zentren, Kindergärten, Schulen, Ausbildungsbetrieben, Berufsbildungswerken, Jugendämtern und Versicherungsträgern notwendig und wichtig. 4 Nach der Entlassung sind Krankheitsgeschichte, Entwicklungs- und Sozialanamnese, Untersuchungsergebnisse, Behandlungsverlauf, Entlassungsstatus, diagnostische Bewertungen, sozialmedizinische Einschätzung und konkrete Entlassungsempfehlungen in einem detaillierten Entlassungsbericht niederzulegen. jICF-Modell Als Hilfsmittel und Rahmen für die Strukturierung des Rehaprozesses, interne Kommunikation und Zusammenarbeit mit Versicherungsträgern eignet sich auch in der Kinderrehabilitation die International Classification for Functioning, Disability and Health (ICF). Inzwischen liegt englischsprachig auch eine Anpassung für Kinder und Jugendliche vor (ICF-CY) (WHO 2008). Für die Zwecke der neurologischen Rehabilitation wurde von einer Arbeitsgruppe deutscher und schweizerischer Rehabilitationsmediziner eine ICF-Checkliste für Kinder und Jugendliche erarbeitet (Spranger et al. 2007, Deppe 2008), die 180 wesentliche ICF-Items aus den Bereichen 4 Struktur, 4 Funktion, 4 Aktivitäten, 4 Partizipation und 4 Kontextfaktoren
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Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
zusammenstellt und eine Bewertung der Betroffenheit und Relevanz für die Rehabilitationsbehandlung ermöglicht. Weitere Instrumente wie das Goal Attainment Scaling (GAS) können die Evaluation von Rehabilitationserfolg und -verlauf wesentlich verbessern (Maloney et al. 1978, Donnelly u. Carswell 2002, McDougall u. Wright 2009) und sollten zukünftig verstärkt zum Einsatz gelangen.
35.13
35
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Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
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Kapitel 35 · Neurorehabilitation im Kindes- und Jugendalter
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35
36
Neurotraumatologie E. Rickels 36.1
Grundbegriffe und Definitionen
– 616
36.1.1 36.1.2 36.1.3 36.1.4 36.1.5
Schädel-Hirn-Trauma – 616 Bewusstlosigkeit – 617 Amnesie – 618 Diffuser Hirnschaden – 618 Leichtes Schädel-Hirn-Trauma
36.2
Traumafolgen
36.2.1 36.2.2
Einteilung nach Verletzungen – 619 Einteilung in primäre und sekundäre Hirnschädigung
36.3
Hirndruck
36.4
Versorgungsablauf
36.4.1
Versorgungsprozedere bewusstloser Patienten
36.5
Operative Therapie
36.6
Intensivtherapie
36.6.1 36.6.2 36.6.3 36.6.4
Generelle Prinzipien der Intensivtherapie Hirndruckmessung – 625 Hirndrucktherapie – 625 Erweitertes Monitoring – 627
36.7
Komplikationen nach SHT
36.8
Ergebnisse
– 629
36.9
Prävention
– 630
36.10
Literatur
– 618
– 619
– 620
– 630
– 621
– 622
– 622
– 628
– 622
– 621
– 619
616
Kapitel 36 · Neurotraumatologie
»Das Schädel-Hirn-Trauma ist Haupttodesursache bei allen forensischen Sektionen (27%), aber auch die am meisten übersehene Todesursache (34%).« (Hodgson et al. 2000) »Bei 122 am Unfallort verstorbenen Patienten ist mit 82% der Kopf die Haupttodesursache.« (Biewener et al. 2000) Bereits diese beiden Zitate dokumentieren die unterschätzte Bedeutung des SHT. Die Versorgung von Schädel-Hirn-Traumen hat in Mitteleuropa einen hohen Standard erreicht, trotzdem bleibt das SHT die Haupttodesursache für Kinder und junge Erwachsene. Es sind die jungen, aktiven Leute, die Schädel-HirnVerletzungen erleiden. Mit dem Unfall beginnt nicht nur der Leidensweg des Patienten, sondern auch der seiner Familie. Neben dem menschlichen Leid sind gesundheitsökonomische Fragen zu bedenken. Während die Langzeitergebnisse bei schwerem SHT recht gut dokumentiert sind, weiß man wenig über die Ergebnisse beim leichten und mittleren SHT. Es fehlen halbwegs plausible Kostenabschätzungen der Folgekosten nach SHT.
36.1
Grundbegriffe und Definitionen
36.1.1
Schädel-Hirn-Trauma
Bei einem Schädel-Hirn-Trauma wirken kurzfristig Kräfte mit den beiden Komponenten Translation und Rotation: 4 Der lineare Bewegungsanteil entlang der Achsen wird Translation genannt, während 4 jede Winkelbewegung als Rotation beschrieben wird.
36
Die Fixierung des Kopfes am kraniozervikalen Übergang führt aus Translation und Rotation zu einer angulären Bewegung, d.h. einer Rotationsbewegung um die Schädelbasis. Infolge tritt die maximale Beschleunigung an der Oberfläche des Hirns und weniger im Zentrum auf, und damit sind Strukturen mit unregelmäßigen, fast felsartigen Oberflächen, wie sie an der Schädelbasis im Frontotemporalbereich vorkommen, am gefährlichsten (Ommaya 1977). In der Konsequenz heißt dies, Verletzungen in der Tiefe des Gehirns resultieren aus Kräften mit 4 hoher Geschwindigkeit, 4 hoher Beschleunigung und 4 langer Dauer; oberflächliche Verletzungen resultieren aus
4 kleinen Geschwindigkeiten, 4 hoher Beschleunigung und 4 kurzer Dauer (van Dellen u. Becker 1988).
Näher betrachtet Epidemiologie Trotz aller Fortschritte in Diagnostik und Therapie ist das Schädel-Hirn-Trauma noch immer die Haupttodesursache der unter 45-Jährigen (Jennett 1996) und bemerkenswerterweise die Haupttodesursache der Kinder unter 15 Jahren (Starmark et al. 1988). Frühere Schätzungen, die von 800 Schädel-Hirn-Verletzten pro 100.000 Einwohner ausgingen, sind sicherlich zu hoch gegriffen. Neuere Untersuchungen (Rickels u. Bock 2002) zeigen, dass in der Bundesrepublik Deutschland mit ca. 267.000 Schädel-Hirn-Verletzten pro Jahr aller Schweregrade zu rechnen ist. Dies entspricht einer Inzidenz von 332 Verletzten pro 100.000 Einwohner. Hierbei bilden die Leichtverletzten mit 90,9% (302/100.000) natürlich die Majorität. Mittelschwere Verletzungen sind bei 3,9% (13/100.000) festzustellen und schwere Schädel-HirnTraumen bei 5,2% (17/100.000). Erwartungsgemäß zeigt die Geschlechtsverteilung, dass Männer mit 58,4% häufiger verunfallen als Frauen (41,6%). Ein Drittel aller Verletzungen treten im Alter bis zum 30. Lebensjahr auf (Rickels u. Bock 2002). Während man noch in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts von mehr als 50% Verkehrsunfällen als Ursache von Schädel-Hirn-Traumen ausging (Jennett et al. 1977), sind jetzt nur noch 27,3% aller SchädelHirn-Traumen durch Verkehrsunfälle bedingt. Mit 52,5% ist der Sturz die häufigste Ursache des Schädel-Hirn-Traumas. Interessant ist auch die Feststellung, dass in Deutschland 45,3% aller Unfälle mit dem Notarzt oder Hubschrauber in die Klinik kommen, obwohl die schweren und mittelschweren Verletzungen deutlich unter 10% liegen (Rickels u. Bock 2002). Zwar können 57% aller Patienten schon nach 3 Tagen wieder entlassen werden, und nur 3% bleiben länger als 3 Wochen stationär; doch ist für die Betrachtung der Kosten nach SchädelHirn-Trauma wichtig, dass auch bei leichten Verletzungen 69% aller Patienten nach der Klinikentlassung arbeits- bzw. schulunfähig waren (Rickels u. Bock 2002). Nur noch 15% aller Verletzungen geschehen während der Arbeitszeit, und bei nur 27% kann Alkohol nachgewiesen werden. Derzeit sind noch über 7.700 Tote in Deutschland pro Jahr durch Schädel-Hirn-Verletzungen zu beklagen (Statistisches Jahrbuch 1998). Dies sind jedoch nur 0,9% aller Schädel-Hirn-Verletzten. Dabei verstirbt mehr als die Hälfte der Verletzten vor dem Erreichen des Krankenhauses. Wichtig bei der Betrachtung des Versorgungsablaufs von Schädel-HirnTraumen ist die Feststellung, dass Neurochirurgen in maximal 10% aller Schädel-Hirn-Verletzungen involviert werden (Schatzmann et al. 1998), Neurologen und Chirurgen also die Mehrzahl der SHT-Patienten betreuen müssen. Ca. 60–70% aller Polytraumen haben ein schweres Schädel-Hirn-Trauma (Nardi et al. 1999, Regel et al. 1995). Nur ein verschwindend geringer Anteil der Schädel-Hirn-Verletzten hat Thorax- (6,8%), Abdomen- (1,9%) oder Beckenverletzungen (2,1%) (Rickels u. Bock 2002). Von den 270.000 Schädel-Hirn-Traumen pro Jahr, ca. 10% sind mittelschwere und schwere Fälle (. Abb. 36.1). Es gibt einen hohen Anteil von Kindern und alten Menschen.
617 36.1 · Grundbegriffe und Definitionen
36.1.2
Bewusstlosigkeit
Definition Bewusstlosigkeit ist gleich Koma. Bewusstlos ist ein Patient, der auf Ansprache und/oder Schmerzreiz keine Reaktion zeigt. (Abgrenzung gegenüber dem Schlafenden!)
jNeuere Einteilung der Schädel-Hirn-Verletzungen kDauer der Bewusstlosigkeit Entscheidend für die Prognose und Schwere einer SchädelHirn-Verletzung ist die Dauer der Bewusstlosigkeit. Dies spiegelt sich in der Einteilung von Frowein (1976) und deren Modifizierungen wider (z.B. nach White und Likavec 1992) wie auch in der neueren Einteilung im Greenberg Handbook of Neurosurgery (2001), wenn auch die Angaben über die Dauer der Bewusstlosigkeit bei den einzelnen Autoren schwanken. Leichtes SHT Mittleres SHT . Abb. 36.1. Patientin mit sehr schwerem Schädel-Hirn-Trauma
Definition Ein direkt offenes SHT ist definiert als durchgehende Verletzung von der Kopfschwarte durch den Schädelknochen und mit Duraverletzung, so dass Hirnwasser abfließen kann und eine Verbindung zur Außenwelt besteht. Als indirekt offenes SHT werden Verbindungen zwischen dem extra- und intrakraniellen Raum über die Nebenhöhlen bei Schädelbasisfrakturen bezeichnet.
Näher betrachtet Alte Einteilung der Schädel-Hirn-Verletzungen Die alte Einteilung der Schädel-Hirn-Verletzungen in 4 Commotio cerebri, 4 Contusio cerebri und 4 Compressio cerebri beschrieb die Schwere anhand der morphologischen Beeinträchtigung: 4 Die Commotio hat keine morphologischen Folgen. 4 Die Contusio zeigt Hirnveränderungen. 4 Die Compressio ist Folge weiträumiger Zerquetschungen des Hirns. Der offensichtliche Nachteil dieser Einteilung der SchädelHirn-Verletzung ist, dass es sich um eine pathologisch-anatomische Einteilung handelt und sie damit in der Akutsituation wenig hilfreich ist. Deshalb sollte auf diese Klassifikation verzichtet werden.
Schweres SHT
Bewusstlosigkeit 5–60 Minuten Bewusstlosigkeit mehr als 5 bzw. 60 Minuten bis zu 24 Stunden Bewusstlosigkeit mehr als 24 Stunden
Der Nachteil dieser Einteilungen ist, dass die Dauer der Bewusstlosigkeit sich ja am Beginn der Behandlung nicht absehen lässt, und diese Einteilung für die Schwereabschätzung zu diesem Zeitpunkt wenig hilfreich ist. kGlasgow Coma Scale Zwar gibt es mehr als 18 gängige Komaskalierungen (Braakmann et al. 1986, Marion u. Cartier 1994, Nygren et al. 1986, Starmark et al. 1988); im klinischen Alltag hat sich jedoch die Glasgow Coma Scale durchgesetzt (Teasdale u. Jennett 1974). Auf Ansprache oder Reiz werden gewertet, 4 die beste verbale Antwort, 4 die beste motorische Antwort und 4 das Augenöffnen. Die maximal erreichbare Punktezahl sind 15 Punkte, Minimum sind 3 Punkte (. Abb. 36.2). Die Glasgow Coma Scale gibt immer wieder Anlass zu Kritik, da die Beurteilung durch den Einzelnen doch sehr variieren kann und die eminent wichtige Licht- und Pupillenreaktion nicht geprüft wird. Für den täglichen Einsatz hat sie sich aber als gängiges Verständigungsmittel über die Schwere der Verletzung und auch als Prädiktor des Ergebnisses gut bewährt. Per Definition wird der Schwere eines SHT eine bestimmte Punktezahl zugeteilt. Schweres Schädel-Hirn-Trauma Mittelschweres Schädel-Hirn-Trauma Leichtes Schädel-Hirn-Trauma
3–8 Punkte 9–12 Punkte 13–15 Punkte
36
618
Kapitel 36 · Neurotraumatologie
artige Schäden in der weißen Substanz von Patienten fanden, die nach einem Schädel-Hirn-Trauma starben, ohne dass makroskopische Läsionen festgestellt worden waren. Davon ausgehend brachten Gennarelli et al. (1982) den Begriff Diffuse Axonal Injury in die Klinik ein, als pathologische Ursache für ein Koma ohne Massenverschiebung im CT. In der Magnetresonanztomographie (MRT) lassen sich bei vielen dieser Patienten kleine Läsionen nachweisen. Besonders Hirnstammläsionen verursachen ein prolongiertes Koma und beidseitige Hirnstammschäden sind prognostisch schlecht (Firsching et al. 2001). Daher erscheint es sinnvoll, bei Patienten mit einem prolongierten Koma eine MRT-Untersuchung durchzuführen. Die bisherigen Untersuchungen weisen darauf hin, dass die MRT für Patienten mit Hirnstammläsionen prognostisch nützlich ist. Andererseits zeigten diese Untersuchungen auch, dass diffuse Schäden nicht nur im Hirnstamm, sondern auch im subkortikalen Marklager auftreten können. . Abb. 36.2. Ausschnitt aus dem Divi-Notarzt-Protokoll mit Glascow Coma Scale, Extremitätenbewegung und Pupillenweite mit Lichtreaktion
36.1.3
36.1.5
Definition
Amnesie
Das leichte Schädel-Hirn-Trauma ist definiert als traumainduzierte Alteration des mentalen Status durch Schlag gegen den Kopf, der eine kurze Bewusstlosigkeit hervorrufen kann, aber nicht muss1.
> Die Amnesie ist ein führender Parameter für die Schwere einer Verletzung.
36
Die posttraumatische Amnesie ist sensitiver als die Bewusstlosigkeit für den Nachweis eines Traumas. Ein Schlag auf den Kopf kann ohne Bewusstlosigkeit toleriert werden, aber eine Amnesie tritt dennoch auf, ein Phänomen, das von Boxern bekannt ist. Russel und Nathan (1946) haben den Zusammenhang zwischen Amnesie und Schwere der Verletzungen untersucht. Hierbei zeigte sich, dass Patienten 4 mit leichtem Schädel-Hirn-Trauma bis zu einer Stunde an einer posttraumatischen Amnesie leiden, 4 mit moderaten Verletzungen bis zu 24 Stunden und 4 mit schweren Verletzungen mehr als einen Tag. Während die posttraumatische Amnesie gut mit dem Schweregrad der Verletzung korreliert, ist dies für die retrograde Amnesie nicht so eindeutig nachweisbar. Fazit Die Korrelation zwischen Dauer der posttraumatischen Amnesie und Outcome ist höher als die Korrelation mit dem Schweregrad (Dikmen u. Levin 1993, van Dellen u. Becker 1988, van der Naalt et al. 1999).
36.1.4
Leichtes Schädel-Hirn-Trauma
Der anschließenden bis maximal 1 Stunde andauernden Bewusstseintrübung folgt die vollständige funktionelle Wiederherstellung, d.h., eine im Rehabilitationsverlauf nachweisbare Störung mentaler Funktionen lässt an der Diagnose »leichtes SHT« zweifeln. Das Ziel der Notfallbehandlung muss es sein, das ca. 1% der Patienten herauszufiltern, die zwar primär als leichtes SHT eingestuft werden, jedoch dann im weiteren Verlauf eine neurochirurgische Intervention benötigen (Culotta et al. 1996). Ca. 15% der Patienten mit einem leichten SHT geben nach einem Jahr noch Beschwerden an. Während jedoch die Beschwerden in der frühen posttraumatischen Phase mit der Schwere der Verletzung korrelieren, gewinnt man den Eindruck, dass in der Spätphase eher Personen mit leichteren Verletzungen leiden (Alexander 1995). > Vorherrschendes Symptom der Schädel-Hirn-Verletzung ist die Bewusstseinsstörung. Die Glasgow Coma Scale ist eine gängige Einteilung der aktuellen Schwere der Hirnverletzungsfolgen.
Diffuser Hirnschaden
Beschleunigungsvorgänge des Gehirns können zu Zerreißungen der Axone führen. Nach Strich (1956) fand Oppenheimer (1968) solche Läsionen in Höhe des Aquädukts und setzte sie in Beziehung zu Tiefe und Dauer des Komas. Adams und Graham (1977) konnten 1977 nachweisen, dass sich der-
1
Experimentelle Daten sowie Befunde nach Flugzeugabstürzen zeigen, dass Verletzungen des Schädels auch ohne direkten Impact möglich sind; jedoch wurden solche Verletzungsmuster bei anderen Traumaursachen bisher noch nicht nachgewiesen.
619 36.2 · Traumafolgen
36.2
Traumafolgen
36.2.1
Einteilung nach Verletzungen
Die Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas lassen sich in verschiedene Verletzungen einteilen, aufgelistet in . Übersicht 36.1. . Übersicht 36.1. Mögliche Verletzungen bei einem Schädel-Hirn-Trauma 4 4 4 4
Verletzungen der Weichteile Verletzungen des Knochens Verletzungen der Gefäße Verletzungen der Hirnsubstanz
kWeichteilverletzungen Bei den Weichteilverletzungen handelt es sich um 4 z.T. heftig blutende Kopfplatzwunden, 4 Galeahämatome, 4 Skalpierungsverletzungen und 4 Einschlüsse von Fremdkörpern (z.B. Glas). kKnöcherne Verletzungen Die knöchernen Verletzungen betreffen 4 die Kalotte mit Berstungs- und Trümmerfrakturen (. Abb. 36.3), 4 die Schädelbasis sowie 4 Gesicht und Unterkiefer. kGefäßverletzungen Durch ein Schädel-Hirn-Trauma können Verletzungen der großen Gefäße, vor allem Dissektionen der A. carotis auftreten. Venenverletzungen führen zu einer bedrohlichen Abflussbehinderung, Verletzungen an den kleineren arteriellen Gefäßen zu 4 epi- und subduralem Hämatom, 4 Subarachnoidalblutung oder 4 intrazerebraler Blutung. kVerletzungen der Hirnsubstanz Eine Zerreißung der Dura führt zu 4 Liquorleck, 4 Pneumatoenzephalus, 4 Hirnprolaps.
36.2.2
Einteilung in primäre und sekundäre Hirnschädigung
Die Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas lassen sich zudem in einen primären oder sekundären Hirnschaden einteilen: 4 Der primäre Hirnschaden entsteht aufgrund direkter oder indirekter Krafteinwirkung. Die traumabedingte neurale Gewebezerstörung ist weitestgehend irreversibel. 4 Zusätzlich kommt es infolge der primären Schädigung zu einem sekundären Schaden, bedingt durch die physiologische Antwort auf das Trauma.
. Abb. 36.3. Impressionsfraktur nach Axthieb (von Prof. Piek zur Verfügung gestellt)
Die Kaskade der Schadensentwicklung, beginnend mit der Zerreißung der Blut-Hirn-Schranke und von Gefäßen führt zu einem primär vasogenen Ödem. Die Kompression der Mikrogefäße verursacht ein Versiegen der Blutversorgung und damit den Mangel an Sauerstoff und Glukose für den Energiestoffwechsel. Da die überwiegende Anzahl der membranstabilisierenden Pumpsysteme aber ATP-abhängig ist, kommt es zu 4 Verlust der Ionenhomöostase und zu einem Natrium- und somit Wassereinstrom in die Zelle, 4 Depolarisation und Glutamateinstrom, 4 Aktivierung der Phosphorlipasen mit Lipidperoxidierung, 4 Membranzerstörung, 4 Bildung von freien Radikalen und 4 Desaggregation der Zellstruktur. Alle diese Vorgänge münden im Zelluntergang. Um den Beginn dieser Kaskade zu stoppen, ist es notwendig, sobald wie möglich die Sauerstoffversorgung des Gehirns bei suffizientem Blutdruck sicherzustellen, da die vorhandene Datenlage eindeutig zeigt, dass auch eine nur kurzzeitige Verminderung der Oxygenierung und des Blutdrucks die Pathophysiologie der sekundären Hirnschädigung in Gang setzt und das Langzeitergebnis beeinflusst (Bouma et al. 1992, Bouma u. Muizelaar 1990, Chesnut et al. 1993) (. Abb. 36.4). > Die Gewebezerstörung durch das Trauma bedingt den primären Hirnschaden. Die nachfolgende pathologische Antwort mündet in den sekundären Schaden. Ziel der Therapie ist die Minderung des Schadens.
36
620
Kapitel 36 · Neurotraumatologie
36
. Abb. 36.4. Kaskade der Hirnschädigung (»cascade of brain damage«) (modifiziert nach Hall, Traystmann 1993)
36.3
Hirndruck
Das Gehirn ist mehr als alle anderen Organe von der kontinuierlichen Versorgung mit Sauerstoff und Glukose und damit von der suffizienten Blutversorgung abhängig. ! Cave Die Zeit, die das Gehirn nach einem Herzstillstand bei erfolgreicher Reanimation überlebt, liegt bei 8 Minuten!
Der Schädel umschließt als knöcherne und damit nicht veränderbare Hülle den Schädelinhalt. Dieser besteht neben dem Gehirn aus den Kompartimenten Hirnwasser (Liquor) und dem versorgenden Blut (. Abb. 36.5). Dehnt sich ein Kompartiment aus (z.B. durch Blutung oder Hirnödem), so kann das nur auf Kosten der anderen Kompartimente geschehen. Gehirn und Liquor sind nur sehr beschränkt komprimierbar, also wird der Druck im Schädel (intrakranieller Druck, ICP) bei einer Blutung in den Kopf zu einer Minderung der Durchblutung führen. Deshalb müssen akute
621 36.4 · Versorgungsablauf
. Abb. 36.5. Verhältnis von Hirn, Blut und Liquor. Im rechten Bild verändert sich das Verhältnis durch die Hirnschwellung zu ungunsten des Liquors und der Hirndurchblutung
Raumforderungen, vor allem intrakranielle Blutungen, sofort operiert werden. Die Hirndruckkurve steigt nicht linear (. Abb. 36.6), sondern exponentiell. Eine Blutung wird am Anfang nur zu einer geringen Hirndruckerhöhung führen. Die gleiche Blutmenge kann aber bei einem bestehenden Hirndruck dann eine sehr gefährliche Hirndrucksteigerung verursachen. ! Cave Die Patienten können anfänglich wach sein, dann aber schnell eintrüben und sterben (Talkand-Die-Patient) (Marshall et al. 1983)! Da es für den Erstbehandler nicht klar ist, ob es sich um einen Patienten handelt, der in der Tat keine wesentliche Verletzung hat, oder um einen Patienten, bei dem der eben beschriebene Mechanismus vorliegt , der sich also in einem sog. freien Intervall befindet, ist es notwendig, diese Patienten engmaschig zu überwachen.
36.4
Versorgungsablauf
Zu der Frage, in welche Klinik ein Patient mit Schädel-HirnTrauma gebracht werden sollte, gibt . Übersicht 36.2 einen Überblick der erforderlichen Untersuchungsmaßnahmen. . Übersicht 36.2. Versorgungsablauf 1. 2. 3.
Leichtes SHT: CT und/oder Überwachung Mittleres SHT: CT und Intensivüberwachung Schweres SHT: CT und Intensivtherapie, wenn möglich Verlegung in ein Zentrum
kLeichtes Schädel-Hirn-Trauma Nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie sollte ein Patient mit leichtem Schädel-Hirn-Trauma in ein Krankenhaus gebracht werden, das zumindest 24 Stunden am Tag in der Lage ist, eine Röntgenaufnahme von Kopf und HWS durchzuführen und diese von einem Arzt beurteilen zu lassen. Des Weiteren sollte der Patient zumindest eine Nacht überwacht werden, d.h.,
. Abb. 36.6. Der Anstieg des Hirndrucks ist nicht linear; kleine Volumenzunahmen führen zu großen Hirndrücken
4 Bewusstseinslage, 4 Pupillenweite und 4 Lichtreaktion sollten in regelmäßigen Abständen geprüft werden. kMittelschweres Schädel-Hirn-Trauma Ein Patient mit mittelschwerem Schädel-Hirn-Trauma sollte in eine Klinik gebracht werden, die 24 Stunden am Tag die Möglichkeit einer CT-Untersuchung hat, die eine Intensivstation besitzt, und die in der Lage ist, zumindest in kurzer Zeit einen Neurochirurgen zu konsultieren. kSchweres Schädel-Hirn-Trauma Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma und primär offenen Schädel-Hirn-Verletzungen gehören in eine Klinik, die einen 24-stündigen neurochirurgischen Dienst mit Operationsbereitschaft vorhält. kPolytraumen Polytraumatisierte Patienten mit einem Schädel-Hirn-Trauma sollten nicht über längere Strecken mit inadäquater Oxygenierung und mangelndem Blutdruck transportiert werden. Zur Stabilisierung der kardiopulmonalen Situation sollte das nächste geeignete Krankenhaus angefahren und der Patient dann nach Stabilisierung weiterverlegt werden.
36.4.1
Versorgungsprozedere bewusstloser Patienten
jAufnahme 4 Bei der Aufnahme komatöser Patienten, d.h., auch von Patienten, die sediert und beatmet sind, werden zuerst Oxygenierung und Blutdruck optimiert. 4 Bei Verdacht auf eine Minderbelüftung ist unmittelbar eine Thoraxaufnahme indiziert.
36
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Kapitel 36 · Neurotraumatologie
jStabilisierung/Inspektion 4 Parallel zur Stabilisierung erfolgt eine Inspektion des Kopfes mit der Suche nach 5 Kopfschwartenverletzungen, 5 Frakturen oder 5 Hirnaustritt. 4 Ein kurzer Blick in die Augen zeigt die Pupillenweite, und ob eine deutliche Seitendifferenz vorliegt. Liegt eine einseitige Mydriasis vor, oder finden sich andere fokale neurologische Zeichen, ist eine kraniale Computertomographie (CCT) absolut dringlich.
36
jCT-Diagnostik Neurochirurgischerseits muss – besonders bei Hinweis auf eine fokale Neurologie – nach einem Trauma auf die absolute Dringlichkeit der CT-Diagnostik hingewiesen werden: 4 Ergibt sich bei der Erstuntersuchung kein Hinweis auf eine vital bedrohliche Blutung großer Gefäße in Bauch, Becken oder Thorax, so ist der nächste Schritt die Computertomographie des Kopfes. Zweckmäßigerweise sollte diese heutzutage mittels Spiral-CT erfolgen, mit dem zeitsparend Aussagen gemacht werden können über 5 Neurokranium, 5 Gesichtsschädel, 5 Halswirbelsäule sowie 5 Thorax und 5 Abdomen. 4 Wenn sich im Erst-CT kleinere Läsionen oder ein nicht operationswürdiger Befund, z.B. ein sub- oder epidurales Hämatom von ≤1 cm zeigen, sollte während der ersten CT der Zeitpunkt für die Kontroll-CT bestimmt werden. Zweckmäßigerweise sollte die nächste Kontrolle bei diesen Patienten spätestens in 8 Stunden erfolgen, da die schnellen Rettungszeiten dazu geführt haben, dass eine Blutung oder raumfordernde Kontusionen beim ErstCCT noch nicht in vollem Ausmaß abgebildet werden. Wird nicht routinemäßig ein zweites CCT durchgeführt, wiegt man sich in einer falschen Sicherheit. ! Cave Bei der CT-Diagnostik muss beachtet werden, dass die CT-Bildgebung nicht direkt mit dem neurologischen Ergebnis korreliert. Es ist nicht zulässig, vom Verletzungsmuster im CT auf das neurologische Ergebnis zu schließen: 4 Zum einen können sich deletäre kleine Läsionen (z.B. im aufsteigenden aktivierenden retikulären System) im CT gar nicht darstellen, 4 zum anderen können auch große raumfordernde Blutungen gut kompensiert werden. > Bei pathologischem Erst-CT ist nach 4–6 Stunden ein Kontroll-CT angezeigt, zumindest am nächsten Tag, wenn der Patient nicht eindeutig neurologisch beurteilbar ist.
In . Tab. 36.1 ist das Versorgungsprozedere eines bewusstlosen Patienten zusammenfassend beschrieben.
36.5
Operative Therapie
jOP-Indikationen Durch die operative neurochirurgische Therapie müssen in der Initialphase nach einem Trauma die akut lebensbedrohlichen Blutungen ausgeräumt werden. Diese sind im Wesentlichen 4 epidurale Hämatome, bedingt durch Zerreißung der meningealen Gefäße oder Blutung aus dem Knochen (. Abb. 36.7), 4 subdurale Blutungen (. Abb. 36.8) sowie 4 raumfordernde Kontusionsblutungen (. Abb. 36.9, 36.10). Epidurale oder subdurale Blutungen sind fast immer, besonders bei komatösen Patienten, eine vitale Bedrohung und somit OP-Indikationen mit absoluter Dringlichkeit. Beim epiduralen Hämatom beträgt die Letalitätsrate bei wachen Patienten bis 5%, bei komatösen Patienten 25–71%; die Letalitätsrate beim akuten subduralen Hämatom beträgt 50%) (Dent et al. 1995, Heinzelmann et al. 1996, Russel u. Smith 1961, Sarvadei et al. 1995). Schädelbasisfrakturen mit einer Liquorrhoe (Liquorleck) werden, falls der Hirnwasserfluss persistiert, operiert, wenn es der Allgemeinzustand des Patienten gefahrlos zulässt. Bei diesen Verletzungen wurden in den letzten Jahren keine Akutoperationen mehr angesetzt. Der Riss der Dura an der Schädelbasis muss operativ verschlossen werden. Auch knöcherne Imprimate können im Intervall gehoben werden, solange nicht Knochenstücke in das Hirn penetrieren und es akut gefährden.
! Cave Frühe und zu komplexe unfallchirurgische Versorgungen können durch den Blutverlust zur Minderperfusion führen. Noch bedrohlicher sind die dabei auftretenden Gerinnungsstörungen!
36.6
Intensivtherapie
36.6.1
Generelle Prinzipien der Intensivtherapie
Da der Zeitpunkt der Verlegung von der Intensivstation in die Frührehabilitation immer flexibler gehandhabt wird und sich die Therapie der Intensivstation in der Rehaklinik immer mehr der Behandlung in der Akutklinik annähert, werden im Folgenden generelle Therapieprinzipien der Intensivbehandlung nach SHT skizziert. 4 Patienten sollten das Grundmonitoring jeder Intensivtherapie erhalten, d.h. eine kontinuierliche Überwachung von Herzfrequenz, Blutdruck und Temperatur. Einer invasiven Blutdruckmessung ist eindeutig der Vorzug zu geben. 4 Um neurologische Veränderungen erkennen zu können, ist es wünschenswert, die Sedierung möglichst flach zu halten. Andererseits wird ein Patient, der mit der Beat-
623 36.5 · Operative Therapie
. Tab. 36.1. Prozedere: Versorgung eines bewusstlosen Patienten Maßnahmen
Parameter
Sicherung der Vitalfunktion
Atmung Blutdruck Rhythmusstörungen
Prüfung der Erweckbarkeit
Anrufen Schmerzreiz → Schwereabschätzung nach GCS
Orientierender Hirnnervenstatus (Bulbusstellung)
Pupillenweite und Lichtreaktion Puppenkopfphänomen Kornealreflex, Trigeminusreize Grimassieren auf Schmerzreize Schluck- und Hustenreflex
Meningismus
SAB → Computertomogramm → Fieber → Meningitis? Abszess? → Leukos
Körperliche Untersuchung, falls nicht im Reanimationsraum durchgeführt und dokumentiert
Wunden am Kopf? Hirnaustritt? Blutung aus Nase, Mund oder Ohren? Liquorrhoe? Prellmarken am Thorax? (Thoraxtraumen? → Rhythmusstörung? Verschattung, Erguss, Pneu im Rö-Thorax?) Abdomen? (Abwehrspannung?; im Zweifel Sonographie) Becken stabil? Rücken, Wirbelsäule (Hat der Patient vor Intubation Arme und Beine bewegt?; Rö-HWS bei Trauma obligatorisch; im Zweifel auch BWS, LWS) Extremitäten (Frakturen? Rö?) Einstichstellen → Drogen? Hautabschürfungen Hämatome (alte und neue?; falls ja, Gerinnungsstörung abklären)
. Abb. 36.8. Akutes subdurales Hämatom mit massiver Mittellinienverlagung, koaguliertem und z.T. nicht koaguliertem Blut . Abb. 36.7. Akutes epidurales Hämatom mit typischer linsenförmigen Kontur und Mittellinienverlagerung
36
624
Kapitel 36 · Neurotraumatologie
. Abb. 36.9. Raumfordernde Kontusionen müssen ggf. operiert werden
mungsmaschine kämpft, hustet oder sich aufregt, einen höheren Hirndruck haben. Man sollte Sedierung und Analgosedierung so wählen, dass diese möglichst flach und kurz wirksam ist. 4 Der blutdruckstabile Patient sollte mit leicht erhobenem Oberkörper, Hochlage max. 30°, gelagert werden, um den venösen Abfluss aus dem Kopf zu erleichtern. Der Kopf sollte in einer strikten Neutrallage liegen, um das Abdrücken der großen Halsvenen zu vermeiden.
4 Der Patient sollte neben dem erwähnten arteriellen Zugang einen zentral-venösen Katheter haben, um sicher den zentral-venösen Druck messen zu können. 4 Der Patient sollte mit einer Magensonde versorgt sein und einen Urinkatheter haben. 4 Traumatisierte und damit auch schädelhirnverletzte Patienten haben einen hohen Kalorienbedarf. Ab dem 1. Intensivtag sollte eine Ernährung angestrebt werden, die 20–50% oberhalb des Ruheenergieumsatzes eines gleichgewichtigen Patienten liegt (Piek 1999). Vitamine und Spurenelemente sollten in ausreichender Zahl substituiert werden. Eine frühzeitige (ab 3. Tag) Ernährung über die Magen- bzw. Duodenalsonde ist anzustreben (Piek 1999). 4 Die Beatmung soll die suffiziente Oxygenierung des Hirns sicherstellen. Dazu sind Beatmungsparameter einzustellen, die eher eine »luxuriöse« Beatmungssituation darstellen. Eine Sättigung im arteriellen Blut von mindestens 96% ist anzustreben. Ein PEEP bis 10 mmHg bedingt i.d.R. keine Erhöhung des Hirndrucks. Die routinemäßige Hyperventilation ist nicht mehr zeitgemäß. Die Daten zeigen, dass durch die Hyperventilation zwar der Hirndruck reduziert werden kann, dadurch aber auch eine Reduktion der Durchblutung in Kauf genommen wird (Muizellar et al. 1991). 4 Bei Hämoglobin, Hämatokrit und Elektrolyten sollten Normalwerte angestrebt werden. Es ist außerdem täglich eine Bestimmung der Serumosmolarität zu verlangen. Serumosmolaritäten ≥320 mosm schränken die Wirksamkeit von osmotischen Diuretika ein (Trost et al. 1992); ggf. müssen aber während einer Intensivtherapie kurzzeitig Werte von 360 mosm toleriert werden. 4 Thrombozytenwerte unter 100.000 sind zu korrigieren. Die plasmatische Gerinnung sollte im Normbereich sein,
36
a
b . Abb. 36.10 a, b. CT-Aufnahmen a kleine frontale Kontusion, b Befund nach komplexer Versorgung
625 36.6 · Intensivtherapie
da sich Gerinnungsveränderungen im Hirn wesentlich schneller und negativer auswirken als in anderen Körperregionen. 4 Ob die mäßige Hypothermie zu einer Verbesserung der Ergebnisse nach SHT führt, ist derzeit noch nicht abschließend geklärt; Körpertemperaturerhöhungen sind aber zu vermeiden (Clifton et al. 1993). Ist eine direkte Temperaturmessung im Hirn nicht durchzuführen (z.B. mit dem Neurotrend®), so ist bei der Kühlung der Patienten zu bedenken, dass das Gehirn als letztes Erfolgsorgan mit einer Temperaturerniedrigung antwortet. 4 Die Blutzuckerwerte sollten normwertig sein. Aus der Infarkttherapie ist bekannt, dass höhere Glukosewerte mit einem schlechteren Outcome korrelieren. 4 Sollte sich eine längere Beatmung abzeichnen, ist frühzeitig eine Tracheotomie durchzuführen. Damit kann eine Kehlkopfschädigung vermieden werden, und der Patient ist leichter von der Beatmung zu entwöhnen.
36.6.2
Hirndruckmessung
Sollten Aufnahmebefunde oder andere Gründe dafür sprechen, dass mit einer Gefährdung des Patienten durch eine Hirnschwellung zu rechnen ist, muss die Indikation zu einer Hirndruckmessung großzügig gestellt werden. Auch wenn streng genommen, der »evidence based«-wissenschaftliche Nachweis fehlt, muss man doch davon ausgehen, dass die Hirndrucktherapie das Ergebnis verbessert (American Guidelines 1995), da eine Erhöhung des Hirndrucks zu einer Minderung der Hirnperfusion führen muss und deshalb zu vermeiden ist (Marshall et al. 1983). Zur Hirndruckmessung wird in den Vereinigten Staaten hauptsächlich die Ventrikeldrainage verwandt (Goldstandard): 4 Vorteil der Ventrikeldrainage ist, dass man hirndrucktherapeutisch auch Liquor ablassen kann. 4 Nachteile der Ventrikeldrainage sind neben dem höheren Infektionsrisiko, dass die Ventrikel durch den Hirndruck noch nicht ausgepresst sein dürfen, um punktierbar zu sein. Die Katheter mit einem Mikrodruckaufnehmer werden intraparenchymal, subdural oder auch epidural implantiert. Alle Katheterarten haben Vor- und Nachteile. Es ist anzuraten, dass man sich innerhalb einer Klinik auf ein System einigt. Die Absolutwerte des Hirndrucks sind dabei von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend ist, dass man Veränderungen des Hirndrucks erkennt. Die Anlage einer Hirndrucksonde stellt einen so kleinen Eingriff dar, dass er auch auf Station bei nicht transportfähigen Patienten durchgeführt werden kann. jMessung der Hirndurchblutung Da die Hirndurchblutung unter normalen Bedingungen auf der Intensivstation nicht zu messen ist, muss man als Hilfsgröße den zerebralen Perfusionsdruck (CPP) nehmen.
> Der zerebrale Perfusionsdruck ist die Differenz zwischen dem mittleren arteriellen Blutdruck (MAP) und dem Hirndruck (ICP): CPP = MAP - ICP Der CPP sollte 60 mmHg nicht unterschreiten. Praxistipp Um den zerebralen Perfusionsdruck rechnerisch ermitteln zu können, muss man einen gemeinsamen Referenzpunkt haben. Dementsprechend muss mit dem Druckaufnehmer für den arteriellen Blutdruck entgegen der üblichen Praxis nicht auf Herzhöhe, sondern auf Ohrhöhe gemessen werden. Dies ist wichtig bei Patienten mit Oberkörperhochlage, da sonst die hydrostatische Differenz zwischen Herzhöhe und Ohrhöhe berücksichtigt werden muss.
Derzeit gibt es zwei Prinzipien der Hirndrucktherapie, 4 eine CPP-gesteuerte Hirndrucktherapie (Bouma et al. 1991, 1992; Bruce et al. 1973, Marion et al. 1991, McGraw 1989, Rosner u. Daughton 1990) und 4 das sog. Lundschema (Grände et al. 1997) mit Reduktion des zerebralen Perfusionsdrucks durch Gabe von antihypertensiven Medikamenten und Vasokonstriktoren. Eine Aussage über die Effektivität beider Therapieschemata steht noch aus; eine vergleichende Studie ist bisher nicht unternommen worden. Das CPP-Schema geht davon aus, dass die zerebrale Perfusion von den Größen Blutdruck und Hirndruck beeinflusst wird. Alle klinischen Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Erniedrigung des zerebralen Perfusionsdrucks ≤60 mmHg über Zeiträume von länger als 6 Minuten eindeutig mit schlechteren Ergebnissen korreliert (Charash et al. 1994, Chesnut et al. 1993). Dementsprechend muss man bei einer Erniedrigung des zerebralen Perfusionsdrucks erst fragen, ob der Blutdruck ausreichend ist. Wurde genügend Volumen (Ringer-Laktat-Lösung ist leicht hypoosmolar!) angeboten, ist ggf. eine Katecholamintherapie angezeigt. Sollte der Blutdruck ausreichend sein, muss man zu einer Senkung des Hirndrucks greifen. 36.6.3
Hirndrucktherapie
Auf jeder Intensivstation sollte ein Algorithmus festgelegt werden, nach dem eine Behandlung erhöhten Hirndrucks erfolgt (. Abb. 36.11): 4 Die erste Frage bei erhöhtem Hirndruck ist, ob es sich um ein Sedierungsproblem handelt. 4 Die zweite Frage ist, ob die Hirndruckerhöhung Ausdruck einer chirurgisch therapierbaren Raumforderung ist. Im Zweifelsfall sollte ein CT durchgeführt werden, um 4 eine Blutung, 4 ein Hygrom oder 4 eine Infarzierung ggf. chirurgisch angehen zu können.
36
626
Kapitel 36 · Neurotraumatologie
36
. Abb. 36.11. Algorithmus der Hirndrucktherapie (Neurochirurgische Intensivstation der Medizinischen Hochschule Hannover) (aus Rickels, 2003)
627 36.6 · Intensivtherapie
jMedikamentöse Therapie 4 Zur Senkung des Hirndrucks stehen neben Sedativa hyperosmolare Lösungen und Puffer zur Verfügung: 5 Mannitol 20%, 5 Sorbitol 40%, 5 NaCl (z.B. 10%), 5 TRIS-Puffer 14,7%, 5 Barbiturate. 4 Während in den Vereinigten Staaten und in den meisten europäischen Zentren die Mannitol-Therapie als die einzige Therapie angesehen wird, gibt es jedoch auch andere Notfalloptionen. 4 Das sehr wirksame Sorbitol, ebenfalls ein mehrwertiger Zucker, wurde aus der Regeltherapie herausgenommen, weil es durch das Mannitol eine theoretische, sehr geringe Möglichkeit einer Fruktoseintoleranzreaktion gibt. Glycerol sollte nicht verwandt werden, da es direkt im geschädigten Gewebe verbleibt und dort Wasser ansammelt (König et al. 2001). Praxistipp Alle osmotisch wirksamen Substanzen müssen als Bolus bzw. Kurzinfusion gegeben werden, um einen möglichst großen Gradienten zu erreichen.
4 In der Rettungsmedizin hat sich die Small Volume Resuscitation bewährt, in der ein geringes Volumen von 7,5 bzw. 10%igem NaCl gegeben wird. Auch in der Hirndrucktherapie zeigt eine geringe Volumengabe (125 ml) mit 10%igem NaCl eine sehr gute Wirkung. Diese Wirkung hält z.T. länger an als bei Mannitol (Schatzmann et al. 1998). 4 Eine weitere Therapieoption ist die Gabe von TRIS-Puffer (Gaab et al. 1990). Die Wirkung ist nicht direkt bekannt. Man nimmt an, dass der Puffer zu einer direkten pH-Normalisierung in den Zellen führt, und dass es dadurch zu einer Rückverteilung von Wasser kommt. Das Medikament zeigt eine hohe Wirksamkeit und ist im Einzelfall eine Therapieoption. 4 Seit Jahren ist die Gabe von Barbituraten in der Hirndrucktherapie bekannt. Dadurch wird der Sauerstoffbedarf des Hirns deutlich gesenkt. Damit sinkt auch deutlich die Durchblutung, und es kommt zu einer Hirndruckverminderung. Ein endgültiger Beweis, dass mit dieser Therapie eine Verbesserung des Endergebnisses erreicht werden kann, steht ebenfalls aus. Die Barbituratsedierung wird bis zur Unterdrückung jeglicher Hirnaktivität (»burst supression«) durchgeführt. Zweckmäßigerweise sollte diese Therapie deshalb unter kontinuierlicher EEG-Aufzeichnung (dafür reichen 4 Kanäle) durchgeführt werden. Nebenwirkung dieser Therapie ist eine erhöhte Infektanfälligkeit.
Für weitere medikamentöse Therapieansätze (Kalziumund NMDA-Antagonisten, Steroide einschließlich der Lazaroide) konnte, anders als in der Werbung behauptet, in klinischen Studien kein neuroprotektiver Effekt bewiesen werden. Deren Verwendung entspricht daher einem individuellen Heilversuch und nicht einer wissenschaftlich begründeten Therapie. > Es ist wichtig, einen Algorithmus der Hirndrucktherapie für die eigene Klinik zu entwickeln. Erscheint die Hirndruckentwicklung nicht beherrschbar, sollte die Kraniektomie erwogen werden.
Sollten alle medikamentösen Versuche der Hirndrucksenkung nicht ausreichen, ist relativ frühzeitig die Möglichkeit einer Kraniektomie in Abhängigkeit von der Gesamtprognose zu erwägen. Dabei sollte es sich um eine ein- oder beidseitige, möglichst große Trepanation handeln (Minimum 14 cm). Die Dura muss eröffnet werden, um eine Druckentlastung zu ermöglichen. Praxistipp Die Phase der akuten Hirndrucksteigerung ist nach Tagen überwunden. Sollte sich binnen 24 Stunden keine weitere Hirndruckerhöhung bei dem Patienten zeigen, kann man mit einem Aufwachversuch beginnen. Wird der Patient nicht wacher, dann ist zuerst mit einem Überhang zu rechnen. Die Halbwertszeit von Sedativa ist bei Schädel-Hirn-Verletzten verlängert (Hallbach et al. 2002). Dann kann eine toxikologische Analyse Aufklärung liefern.
36.6.4
Erweitertes Monitoring
jBulbus-jugularis-Katheter Der Bulbus-jugularis-Katheter ermöglicht eine globale Abschätzung der Sauerstoffextraktion des Gesamthirns (Fortune et al. 1994, Roertson et al. 1992). Die direkte Messung des Gewebesauerstoffpartialdrucks (ptiO2) gibt Informationen über die Sauerstoffversorgung, jedoch nur in einem sehr kleinen Areal um die Messsonde. Mit der Mikrodialyse ist es erstmals möglich, direkt vor Ort gewonnene biochemische Parameter in die Überlegungen einzubeziehen. In der derzeitigen wissenschaftlichen Diskussion besteht jedoch noch Uneinigkeit über den Ort der Platzierung dieser Sonden (ipsi-/kontralateral oder penumbranah) sowie über Normal- und kritische Werte. Dementsprechend sind aus den abgelesenen Werten noch keine direkten Handlungsanweisungen abzuleiten. Sie eignen sich damit nicht zur Routinediagnostik. jKernspintomographie Sollten sich neurologische Störungen wie Wachheitsstörungen nicht erklären lassen, dann empfiehlt es sich, eine Kernspintomographie durchzuführen. Auch wenn sich daraus keine direkten therapeutischen Konsequenzen ergeben, erklären die Kernspinaufnahmen die oft kleinen, aber für den Pa-
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Kapitel 36 · Neurotraumatologie
tienten durchaus bedeutsamen Läsionen im Sinne einer Diffuse Axional Injury, vor allem im Bereich des Hirnstamms (Firsching et al. 2001). Diese Untersuchung ist ggf. durch elektrophysiologische Untersuchungen zu ergänzen.
36.7
Komplikationen nach SHT
Mögliche Komplikationen nach SHT sind in . Übersicht 36.3 aufgeführt. . Übersicht 36.3. Mögliche Komplikationen nach SHT 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Hirnnervenstörungen Posttraumatische Anfälle Gefäßfisteln Liquorzirkulationsstörungen Liquorkissen Liquoraustritt aus Nase/Ohr Hygrome und chronisch-subdurale Hämatome Infektionen Vestibulärer Schwindel und Schwerhörigkeit Knochendeckelreimplantation
fund bedarf der operativen oder endovaskulären Therapie, da die sich entwickelnde Protrusion zum Sehverlust führt. In Ausnahmefällen kann es zu massiven Blutungen kommen. jLiquorzirkulationsstörungen Nach jedem Trauma mit nachgewiesener morphologischer Schädigung kann es im weiteren Verlauf zu einer Liquorzirkulationsstörung kommen. Bei jeder neurologischen Verschlechterung muss ein sich entwickelnder Hydrozephalus mittels CT ausgeschlossen werden. Oft ist nach schweren Schädel-HirnTraumen eine Hirnatrophie zu beobachten, die ggf. schwierig von einer Erweiterung der Liquorräume zu unterscheiden ist. Ob sich eine neurochirurgische Behandlungsnotwendigkeit bei einer Liquorzirkulationsstörung ergibt, ist i.d.R. nur durch Verlaufsbeobachtungen eindeutig festzustellen. Voraussetzung für die Anlage eines liquorableitenden Systems (z.B. ventrikulo-peritonealer Shunt) ist eine absolute Infektfreiheit, da es sich um das Einbringen von Fremdmaterial handelt. Besteht die dringende Notwendigkeit einer Liquorableitung, während der Patient noch an einer Infektion leidet, muss eine externe Drainage angelegt werden. Eine sog. externe Ventrikeldrainage, verbunden mit einem handelsüblichen Auffangbehältnis, sollte als geschlossenes System behandelt werden. Praxistipp
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jHirnnervenstörungen Durch ein SHT werden am häufigsten Riechstörungen (N. olfactorius), am zweithäufigsten Gesichtsmuskelstörungen (N. facialis), daneben auch andere Hirnnervenstörungen verursacht: 4 Augenmuskelstörungen, 4 Sehnervstörungen, 4 Störungen der Sensibilität oder 4 Schmerzen im Gesicht. Die Behandlung ist in aller Regel konservativ, nur der Sehnerv wird ggf. in der Akutphase dekomprimiert. jPosttraumatische Anfälle Ob sich nach einem Trauma eine Epilepsie entwickeln wird, ist nicht abzusehen; die Wahrscheinlichkeit ist jedoch zu gering, um eine Prophylaxe zu rechtfertigen. Deshalb raten sowohl die Leitlinien der Brain Trauma Foundation, der AANS (1995) und auch die Cochrane-Analyse von einer Prophylaxe ab (www.cochrane.org). Diese ist jedoch indiziert, wenn es im Verlauf zu Anfällen kommt. jGefäßfisteln Einrisse der an der Schädelbasis fixierten Gefäße können zu Gefäßfisteln führen. Am häufigsten ist ein Einriss der A. carotis beim Durchtritt durch den Sinus cavernosus. Diese Fistelbildung fällt durch eine Protrusio bulbi und eine Chemosis auf. Führendes Symptom ist das »Maschinengeräusch«, das beim Auskultieren auf dem ipsi- oder kontralateralen Auge oder über der Schläfe deutlich zu hören ist. Bei Verdachtsdiagnose ist eine Angiographie indiziert. Dieser z.T. verzögert auftretende Be-
Es hat sich gezeigt, dass die durch Drainagen bedingten Meningitiden in den ersten 10–14 Tagen nach der Implantation verschwindend selten sind, solange an dem System nicht manipuliert wird. Nach ca. 14 Tagen sollte mit dem Operateur Kontakt aufgenommen werden, um den Termin für einen Systemwechsel zu besprechen.
jLiquorkissen Liquorkissen im Bereich der chirurgischen Versorgung sollten zu einem abwartenden Verhalten führen. Nur wenn eine deutliche Größenzunahme festzustellen ist und die Haut deutliche Spannungszeichen zeigt, ist eine neurochirurgische Intervention angezeigt. In dem Fall können eine Lumbaldrainage mit Abpunktion des Kissens und ein Kompressionsverband helfen. Länger bestehende große Liquorkissen bedürfen jedoch der Eröffnung des Hautlappens und der Suche nach dem Leck. jLiquoraustritt aus Nase/Ohr Frontobasale Verletzungen können zu Duraeinrissen und damit zum Liquoraustritt aus Nase oder Ohr führen. Dieser Liquorfluss tritt selten erst in der Rehabilitationsphase auf. In dem Fall gilt es, gezielt nach dem Austrittsort zu fahnden, da basale Verletzungen mit Liquoraustritt eine Infektionseintrittsstelle sind. Ebenso wie nach dem Eindringen von Fremdkörpern in das Neurokranium kann es noch nach längerer Zeit zu Infektionen mit Abszessen oder Empyemen kommen. Sonst nicht erklärbare Infektionshinweise sollten zu einem CT mit Kontrastmittel und einer Liquorpunktion führen.
629 36.7 · Komplikationen nach SHT
jHygrome und chronisch-subdurale Hämatome Eine weitere Ursache für eine neurologische Verschlechterung kann die Ausbildung von posttraumatischen Hygromen oder verspätet auftretenden chronisch-subduralen Hämatomen sein. Auch hier ist das CT wegweisend. Eine OP-Indikation ergibt sich dann, wenn ein raumfordernder Effekt auftritt, der sich vor der Mittellinienverlagerung schon durch das Abflachen der Gyri zeigt. Liegt eine Raumforderung vor, muss eine neurochirurgische Entlastung durchgeführt werden. ! Cave Die raumfordernden Hygrome sind zu unterscheiden von der Hirnatrophie. Bei diesen Patienten ergibt sich eine Diskrepanz zwischen äußerer Hülle und Hirnvolumen. Dieser Raum wird durch Flüssigkeit aufgefüllt. Eine chirurgische Intervention kann aber dieses Missverhältnis nicht verändern! Nur wenn eine Flüssigkeitsansammlung raumfordernd ist, besteht neurochirurgischer Handlungsbedarf! jInfektionen im Bereich der Wunde und des Knochendeckels Kopfwunden neigen aufgrund der guten Durchblutung der Kopfhaut kaum zu Wundinfektionen. Eine deutlich erhöhte Infektionsrate zeigen jedoch 4 großflächige Skalpierungsverletzungen, 4 Ablederungen der Haut und 4 offene Verletzungen, und natürlich kann sich trotz aller Bemühungen nach jedem operativen Eingriff eine Infektion ausbilden. Bei Vorliegen der klassischen Entzündungszeichen mit 4 berührungsempfindlicher, glasig angeschwollener Kopfhaut, 4 Rötung und 4 Fluktuation ist die Diagnose einfach. Dann wird es auch zu einer Erhöhung der Entzündungsparameter kommen. In dem Fall ist eine chirurgische Sanierung notwendig. Schwieriger festzustellen sind 4 kleinere Infektionen im Bereich der Kaumuskulatur, 4 Knocheninfektionen, aber auch 4 subdurale Infektionen, da auch die Entzündungsparameter oft nicht wesentlich erhöht sind. Bei Verdacht einer geringen Infektion kann eine Antibiotikatherapie mit einem gut knochengängigen Medikament versucht werden. Praxistipp Besonders Knocheninfektionen können noch nach Jahren immer wieder zu aufbrechenden und sich wieder verschließenden Fistelbildungen führen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass i.d.R. nur eine chirurgische Sanierung mit Entfernung des Knochendeckels und Anfrischen der Knochenränder langfristig erfolgreich ist.
jVestibulärer Schwindel und Schwerhörigkeit Felsenbeinfrakturen bedürfen im Regelfall keiner neurochirurgischen Versorgung. Sie können aber Ursache für vestibulären Schwindel und Schwerhörigkeit sein. Dann ist eine ärztliche Hals-Nasen-Ohren-Abklärung zu empfehlen. jKnochendeckelreimplantation Viele Patienten müssen nach einer schweren Verletzung und Dekompressionskraniotomie ohne wieder implantierte Knochendeckel in die Neurorehabilitation verlegt werden. Die frühzeitige Reimplantation des Knochendeckels ist wünschenswert, weil das Gehirn dann besser geschützt ist. Nach dem Einsetzen des Knochendeckels kommt es oft zu deutlichen neurologischen Verbesserungen. Man nimmt an, dass sich die auf den Kortex einwirkenden Druckverhältnisse nach der Implantation wieder physiologischen Gegebenheiten nähern und sich infolgedessen die Durchblutung verbessert. Andererseits ist auch die Reimplantation eines oder mehrerer Knochendeckel ein durchaus zeitfordernder, belastender Eingriff mit einer großen Wundfläche, den man einem Gehirn zumutet, das sich gerade von einer schweren Schädigung erholt. Dementsprechend muss der Zeitpunkt für die Reimplantation individuell in Zusammenarbeit mit den Neurochirurgen bestimmt werden. ! Cave Bei einer neurologischen Verschlechterung, auch in der Rehaphase, muss ein kraniales CT durchgeführt werden!
36.8
Ergebnisse
jPrognose Es ist nahezu unmöglich, anhand des neurologischen Befunds bei der Erstuntersuchung eine Prognose des Endergebnisses zu stellen (Meredith et al. 1995, Pal et al. 1989, Nygren et al. 1986, Sarvadei 1997, Signorini et al. 1999). Gutachterlich ist eine Einschätzung der Unfallfolgen oft erst ein Jahr nach dem Unfall möglich. Relativ zuverlässige Prädiktoren sind 4 die schlechteste motorische Antwort anhand der GCS am Unfalltag, 4 die Pupillenreaktion (Braakmann et al. 1986) und 4 die Dauer des Komas. jMortalität Bei schweren Schädel-Hirn-Verletzungen wird die Mortalität zwischen 40% (Murray et al. 1999) und 52% (Jennett et al. 1977) angegeben. Für die Patienten, die mit einem schweren SHT die Klinik erreichen, ist bei 43% mit einem guten Ergebnis (keine oder leichte Behinderung) zu rechnen (Murray et al. 1999). Bei diesen Abschätzungen ist jedoch der oft recht unterschiedliche Beobachtungszeitraum von Studien zu beachten. Die überwiegende Anzahl der Studien beginnt im Schockraum oder auf der Intensivstation, so dass die große Anzahl der Toten, die am Unfallort oder auf dem Transport versterben, nicht eingerechnet wird (Rickels u. Bock 2002).
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Kapitel 36 · Neurotraumatologie
jEinfluss von Mehrfachverletzungen In der wissenschaftlichen Diskussion ist weiterhin der Einfluss von Begleitverletzungen auf das Ergebnis der SchädelHirn-Verletzungen umstritten (Meixensberger u. Roosen 1998, Unterberg et al. 1999). Jedoch wird die Mortalität bei einem Polytrauma schon durch ein mit mittleres SHT verdoppelt (McMahon et al. 1999). Diese Diskussion leidet daran, dass die Schwere der Mehrfachverletzung in den Studien nicht einheitlich definiert wird. Es wäre sinnvoll, die in der Traumatologie übliche ISS-Klassifikation (Injury Severity Score, Baker et al. 1974) zu nutzen und ein Polytrauma erst dann als solches zu definieren, wenn zur Kopfverletzung ein zusätzliches Verletzungsmuster von mindestens 16 ISS-Punkten hinzukommt. Bei dieser Vorgehensweise zeigt sich der deutliche Einfluss der Mehrfachverletzung auf das Endergebnis (Gobiet 1995, Lehmann et al. 1997): 4 Patienten mit einem isolierten SHT haben danach eine Letalität von 27%, 4 Patienten mit einem SHT in Verbindung mit anderen Verletzungen eine Letalität von 46% (Lehmann et al. 2001). Noch unübersichtlicher wird die Situation bei leichten Traumen. Es gibt keinen Überblick darüber, ob alle Patienten mit als leicht eingestuften Traumen auch problemlos wieder ihre alten Aktivitäten aufnehmen können (van der Naalt et al. 1999).
36.9
36
Prävention
Die WHO vermutet, dass Traumen in den nächsten 25 Jahren von Platz 12 der Todesursachenstatistik auf Platz 2 aufrücken werden. Dies ist hauptsächlich durch die Verkehrsentwicklung in den jetzt noch unterentwickelten Gebieten bedingt. Schädel-Hirn-Traumen werden dementsprechend eine rasante Steigerung erfahren, vor allem, da der Weg der Motorisierung über das Moped zum Auto führt. Zur Prävention wird immer wieder die Forderung nach einer Geschwindigkeitsreduktion im Straßenverkehr gefordert. Die Entwicklung in Deutschland zeigt jedoch, dass die Sachverhalte komplizierter sind. Während in fast allen Ländern der Straßenverkehr Hauptursache der Schädel-Hirn-Verletzungen ist, nimmt in dem einzigen Land, in dem man über weite Strecken so schnell fahren kann, wie man will, der Anteil der Verkehrsunfälle bei den Schädel-Hirn-Traumen rapide ab und hat jetzt noch einen Anteil von 27% (Rickels u. Bock 2002). Fazit Schädel-Hirn-Traumen verursachen nach vorsichtigen Berechnungen gesamtgesellschaftliche (nicht nur Kosten für den jeweiligen Versicherungsgeber) Kosten von ca. 28 Milliarden € /Jahr (Rickels u. Bock 2002). Die derzeitige Fokussierung im Gesundheitswesen auf ökonomische Aspekte wird hoffentlich zeigen, dass verstärkte Anstrengungen in Prävention, Standardisierung und Rehabilitation von Schädel-Hirn-Traumen notwendig sind.
Näher betrachtet Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen Präventionsmaßnahmen zeigen Wirksamkeit. In Taiwan konnte die Todesfallrate durch Verkehrsunfälle innerhalb kürzester Zeit halbiert werden, da Mediziner auf die Einführung einer Helmpflicht für Moped- und Motorradfahrer drängten. Sicherheitsvorkehrungen in Autos können effektiv vor Schäden bewahren. So publizierte z.B. das United States Departement of Transportation schon 1977, dass bei Unfällen mit einem VW-Käfer mit Automatikgurten 0,5 Tote/ 1.000.000 Einwohner zu beklagen waren, bei Unfällen mit einem VW-Käfer ohne Automatikgurte jedoch 1,5 Tote, und dass mittels Sicherheitsgurten und Airbags 9.000– 12.000 Menschenleben und 100.000–200.000 schwere Verletzungen/Jahr in den USA verhindert werden konnten (US Departement of Transportation: News Release 1977) (Kein Autor 1995, Chiu u. Yeh 1997, Bruce et al. 1973).
36.10
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36
632
Kapitel 36 · Neurotraumatologie
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36
37
Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall P. Frommelt 37.1
Schlaganfall
– 635
37.1.1 37.1.2
Ischämische Hirninfarkte Hirnblutungen – 639
37.2
Rehabilitation nach Schlaganfall
37.2.1 37.2.2 37.2.3 37.2.4 37.2.5 37.2.6 37.2.7 37.2.8 37.2.9 37.2.10 37.2.11 37.2.12 37.2.13 37.2.14 37.2.15 37.2.16 37.2.17 37.2.18 37.2.19 37.2.20
Grundlagen – 641 Die subjektive Welt des Schlaganfalls – 643 Erwartungen an die Rehabilitation – 644 Kontextsensitivität in der Schlaganfalltherapie – 645 Intensität der Therapien und klinische Behandlungspfade – 646 Rehabilitation auf der Stroke Unit – 646 Basale und erweiterte Aktivitäten des täglichen Lebens – 647 Depression und emotionale Labilität nach einem Schlaganfall – 648 Kognitive Funktionen – 650 Sprache und Sprechen – 652 Visuelle Funktionen – 653 Sensomotorische Rehabilitation – 653 Pusher-Symptomatik und posturale Kontrolle – 655 Therapie der Armparese – 655 Schulter-Arm-Schmerzen – 656 Krafttraining nach einem Schlaganfall – 656 Elektrotherapie – 657 Therapie von sensiblen Störungen – 657 Komplementäre oder alternative Therapien – 658 Ermüdbarkeit und Schlaf – 658
37.3
Nachsorge
37.3.1 37.3.2 37.3.3 37.3.4
Der Schlaganfallpatient zu Hause – 659 Erhalt der körperlichen Fitness – 660 Organisation der Nachsorge – 661 Hilfen für Angehörige von Schlaganfallpatienten
37.4
Teilhabe am Arbeitsleben nach einem Schlaganfall
37.5
Dokumentation und Messverfahren
37.5.1 37.5.2
Dokumentation – 663 Messverfahren – 664
37.6
Gesundheitsökonomische Aspekte
37.7
Literatur
– 635
– 641
– 659
– 666
– 663
– 665
– 661
– 662
634
Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
Der Schlaganfall ist die häufigste Erkrankung in der Neurorehabilitation. Die Folgen eines Schlaganfalls sind komplex, da sie sensomotorische, kognitive, emotionale und soziale Bereiche umfassen. Viele Untersuchungen belegen, dass es wichtig ist, so früh wie möglich mit der Rehabilitation nach einem Schlaganfall zu beginnen. Auch Jahre nach einem Schlaganfall sind mit speziellen Übungsverfahren noch Fortschritte möglich. Dieses Kapitel beschäftigt sich auch mit der subjektiven Seite eines Schlaganfalls, mit dem Erleben eines Schlaganfalls und mit dem Umgang mit den Folgen. Nicht die Beseitigung einzelner Funktionsdefizite ist das Ziel einer Rehabilitation nach einem Schlaganfall, sondern das Ziel ist, den Betroffenen die Fähigkeiten zu vermitteln, die ihre Autonomie stärken und ihnen die Teilhabe an den von ihnen angestrebten Lebensbereichen ermöglichen.
jHerangehensweisen in der Schlaganfallrehabilitation Näher betrachtet Selbstbeobachtungen von Brodal (1973)
37
Der norwegische Neurologe und Neuroanatom Alf Brodal erlitt mit 72 Jahren einen Hirninfarkt im hinteren Schenkel der inneren Kapsel mit einer leichten Hemiparese links. Seine Selbstbeobachtung und neuroanatomischen Überlegungen veröffentlicht er in einem Fallbericht (Brodal 1973). Er ist erstaunt, Schwierigkeiten zu erleben, die er neuroanatomisch nicht erwartet hatte. So sei seine Schrift unflüssig geworden, fast krakelig. Nicht nur die motorische Seite des Schreibens erlebt er als beeinträchtigt, sondern auch die sprachliche. Er benötige mehr Worte, um einen Gedanken auszudrücken. Obwohl er sich von seiner Halbseitenlähmung links weitgehend erholte, empfindet er seine motorischen und geistigen Funktionen auch nach Monaten noch nicht als normal. »Wenn der Patient nach außen so erscheint wie er vorher war, ist es ihm selbst schmerzhaft bewusst, dass er das nicht ist.« Seine Interpretation klingt aktuell: Das zentrale Nervensystem sei einerseits sehr spezialisiert, andererseits weit vernetzt. Die Vorstellungen der »Lokalisationisten«, die jeder Funktion einen Ort im Gehirn zuordnen, und die der »Holistiker«, die das Gehirn stets als Ganzes in Aktion sehen, seien durchaus miteinander kompatibel. Die Auswirkungen erleben die Betroffenen, wie Brodal, in einem breiten Spektrum von geistigen und motorischen Alltagsaufgaben. Sie entgehen jedoch häufig dem Untersucher, wenn er den Patienten davon nicht erzählen lässt.
Die Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall sollte zwei Herangehensweisen verbinden, 4 eine wissenschaftliche, evidenzbasierte und analytische Herangehensweise sowie 4 ein auf das Erleben und die Person des Schlaganfallpatienten gerichtetes narratives Vorgehen. Der Patient ist ein »verwunderter Geschichtenerzähler« (Frank 1992). Die Bilder der Magnetresonanztomographie erzählen nicht die Geschichte des Patienten. Das, was dem analytischen Blick als klein erscheinen mag, wie eine Lakune im MRT, kann für den Patienten einen tiefen Einschnitt in seinem Alltag bedeuten (Norring 2005).
kSituationsbeschreibung in der Metaphorik der Seefahrt Die Psychologen Sternberg und Spear-Swerling (1998) haben die Metapher der persönlichen Navigation vorgeschlagen, um damit die Fähigkeiten zu beschreiben, die es uns ermöglichen, das Leben erfolgreich zu meistern. Dazu gehören nicht nur kognitive Fähigkeiten, sondern auch Durchhaltevermögen, Risikobereitschaft oder die Fähigkeit, Hilfe anzunehmen. Die Metapher bringt zum Ausdruck, dass der Patient den Zielhafen bestimmt, die Fachkräfte sind die Lotsen. An Bord sind die Angehörigen, Freunde, alle die helfen können, das Schiff auf Kurs zu halten. Und: Der Schiffbruch bedeutet nicht immer Untergang, sondern – von vielen Patienten so erlebt – die Chance, einen neuen Kurs im Leben einzuschlagen. »Erst als Schiffbrüchiger bin ich glücklich zur See gefahren«, zitiert Hans Blumenberg (1979) einen stoischen Philosophen. Jeder Schlaganfallpatient hat seine eigene Geschichte und Zukunft. In der Neurorehabilitation sollte diese persönliche Navigation in den Mittelpunkt gestellt werden. Heißt dies, die wissenschaftliche Fundierung der Rehabilitation zu verlassen? Keinesfalls. kVerbindung der Herangehensweisen Die Schlaganfallrehabilitation sollte aus dem breiten Reservoir an wissenschaftlicher Erkenntnis schöpfen, sie sollte die Methodik und Ergebnisse der evidenzbasierten Medizin nutzen. Die kritische Auswertung der Literatur zur Schlaganfallrehabilitation, wie sie beispielhaft von der kanadischen Gruppe um Teasell (Teasell et al. 2009) durchgeführt wird, war auch für diesen Beitrag eine wichtige Basis zu therapeutischen Empfehlungen. Über die Schwierigkeit, diese wissenschaftliche Herangehensweise mit der Kunst der persönlichen Navigation zu verbinden, schreibt die Sprachtherapeutin Hinckley:
»
Die Wissenschaft der Therapie lässt sich gut lernen, die Kunst, erfolgreich in der Therapie zu sein, erfordert mehr als einen ‚objektiven Therapeuten‘. (Nakano u. Hinckley 2010)
«
jWissenschaftliche Evidenz in der Schlaganfallrehabilitation Die umfangreichste Datenbank mit fast 1.000 eingeschlossenen randomisiert-kontrollierten Studien zur Schlaganfallrehabilitation wurde von der kanadischen Arbeitsgruppe Evidence-based Review of Stroke Rehabilitation – EBRSR unter Leitung von Robert Teasell eingerichtet. Die Ergebnisse stehen im Internet zur Verfügung (ebrsr.com). Die Bewertung der einzelnen Studien erfolgt nach einer einfachen und transparenten Bewertung, der Physiotherapy Evidence Database, PEDro, die von dem Centre for Evidence Based Physiotherapy in Australien entwickelt wurde (Bhogal et al. 2005). Die Bewertung von Studien erfolgt nach 10 Kriterien, für jedes erfüllte Kriterium wird ein Punkt vergeben. Die maximale Punktezahl beträgt damit 10 (. Übersicht 37.1). Je nach Anzahl und Qualität der vorliegenden Studien wird eine ebenfalls einfache und transparente Form der Zusammenfassung zu Evidenzgraden (Levels) verwendet, die sich an die Bewertung der United States Agency for Health
635 37.1 · Schlaganfall
Care Policy and Research (AHCPR) anlehnt. Da auch andere Bewertungssysteme zur wissenschaftlichen Evidenz vorliegen, kommt es auch in Leitlinien zu unterschiedlichen Empfehlungen. Dieses kanadische Verfahren hat den Vorteil, umfassend und leicht zugänglich zu sein, daher wird im Folgenden überwiegend auf deren Ergebnisse mit der 3-teiligen Skala der Evidenz Bezug genommen. Bei der Bewertung wurde die Qualität der Studien nach der PEDro-Skalierung berücksichtigt. Die Autoren weisen darauf hin, dass es bei widersprüchlichen Studien oft schwierig gewesen sei, eine Bewertung festzulegen. Der Leser solle ein kritischer Konsument ihrer Daten und Ergebnisse sein. kPEDro-Skala Anhand der PEDro-Skala (verkürzte Darstellung) wird die methodische Qualität von Studien bewertet (Teasell et al. 2008, Review 1). Für jedes Kriterium, das eine Studie erfüllt, wird ein Punkt vergeben. Maximal sind 10 Punkte für eine Arbeit zu vergeben. Aus der Punktebewertung mit der PEDro-Skala leiten die Autoren eine Einstufung des Evidenzgrades für die jeweiligen therapeutischen Maßnahmen ab (. Übersicht 37.1). jDaten zum Schlaganfall Jährlich ereignen sich in Deutschland etwa 179.000 Schlaganfälle, das bedeutet 219 pro 100.000 Einwohner. Bei Männern über 55 Jahren liegt die Inzidenz bei 681 pro 100.000, bei Frauen 619 pro 100.000 (Lierse et al. 2005). Zur Klinik und Akutbehandlung des Schlaganfalls sei auf die Lehrbücher verwiesen, besonders die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (Diener et al. 2005). Eine Berechnung von Saver (2006) (. Tab. 37.1) gibt eine Vorstellung davon, wie viele Neuronen, Synapsen und myelinisierte Fasern bei einem Schlaganfall verloren gehen. Die Schätzungen zur Gesamtzahl von Neuronen im menschlichen Gehirn liegen bei etwa 130 Milliarden. Im Großhirn vermutet man 157 Billionen Synapsen und etwa 135.000 km myelinisierte Nervenbahnen. Der Verlust von 1,2 Milliarden Zellen durch einen Schlaganfall erscheint sehr hoch, macht allerdings nur 1% der geschätzten Gesamtzahl von Neuronen aus. Die neuronale Reorganisation nach einem Schlaganfall wird in 7 Kapitel 5 und 6 dargestellt.
37.1
Kriterien 1. Randomisierung 2. Verdeckte Verteilung auf Therapiezweige 3. Gruppen in Kernmerkmalen und Prognoseindikatoren vergleichbar 4. Studienteilnehmer sind nicht über die Art ihrer Therapie informiert (Teilnehmer sind »blind«) 5. Therapeuten/behandelnde Ärzte sind »blind« hinsichtlich der Therapie 6. Bewerter der Ergebnisse sind »blind« 7. Angemessene Anzahl von Patienten, d.h. im Followup 85% derjenigen, die randomisiert wurden 8. Intention-to-treat-Analyse, um auch Daten von Patienten zu berücksichtigen, die aus der Studie ausschieden 9. Ein Vergleich der Gruppen wurde für mindestens ein Outcome-Kriterium durchgeführt 10. Studie enthält Angaben zur Effektstärke und Variabilität für mindestens ein Outcome–Kriterium Bewertung 1. 9–10 Punkte: 2. 6–8 Punkte: 3. 4–5 Punkte: 4. unter 4 Punkte:
sehr gute (»excellent«) Qualität gute (»good«) Qualität ausreichende (»fair«) Qualität mangelhafte (»poor«) Qualität
Evidenzgrade Davon werden Evidenzgrade (wie beí der United States Agency for Health Care Policy and Research – AHCPR) in fünf Stufen abgeleitet. Die höchste Evidenz l gilt, wenn mehrere gute randomisiert-kontrollierte Studien (RKT) vorliegen. 1. 1a Starke (»strong«) Evidenz: mindestens zwei ausreichende (PEDro 4–5) RKT 2. 1b Mäßige (»moderate«) Evidenz: mindestens eine ausreichende RKT 3. 2 Begrenzte (»limited«) Evidenz, mindestens eine nicht-randomisierte Studie 4. 3 Konsensus, jedoch keine Evidenz, niedrigste Stufe, keine Studien vorliegend 5. 4 Widersprüchliche (»conflicting«) Evidenz: zwei RKT widersprechen sich
Schlaganfall
Unter dem Begriff »Schlaganfall« werden verschiedene Gefäßerkrankungen des Gehirns zusammengefasst, in erster Linie ischämische Hirninfarkte und intrazerebrale Blutungen (. Übersicht 37.2).
37.1.1
. Übersicht 37.1. Bewertung von Studien zur Schlaganfallrehabilitation mit der PEDro-Skala
Ischämische Hirninfarkte
Die ischämischen Hirninfarkte lassen sich nach Gefäßterritorium und nach Ätiologie klassifizieren (. Übersicht 37.2, 37.3).
. Tab. 37.1. Geschätzter Verlust von Neuronen und Nervenbahnen nach einem typischen Media-Infarkt Substanzverlust
Anzahl
Verlust von Neuronen
1,2 Milliarden
Verlust von Synapsen
8,3 Billionen
Verlust myelinisierter Fasern
7.140 km
(Saver 2006)
37
636
Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
. Übersicht 37.2. Klassifikation von Schlaganfällen (Gorelick u. Ruland 2010)
. Übersicht 37.3. Klinische Klassifikation von Hirninfarkten nach OCSP
Ischämische Hirninfarkte 1. Artherothrombotische Verschlüsse großer Arterien, Verschlusserkrankungen großer intra- und extrakranieller Arterien, auch mit Hypoperfusion 2. Zerebrale Embolien von proximalen Emboliequellen (Arterien, Herz, auch venös bei z.B. Vorhofseptumdefekt) 3. Verschlüsse kleiner penetrierender Arterien (kleine, tief gelegene Infarkte und Lakunen) 4. Kryptogener Schlaganfall, bei dem die Pathogenese ungeklärt bleibt 5. Nicht-artherosklerotischer Hirninfarkt mit definierter Pathogenese, z.B. Thrombophilie, Hämoglobinämie, Vaskulitis
1.
Intrazerebrale Blutungen 1. Einblutung in Hirninfarkt, z.B. bei embolischen Infarkten 2. Subarachnoidalblutung bei Aneurysma 3. Intraparenchymale Blutung, häufig hypertensive, dann vor allem in Putamen, Thalamus, Pons, Kleinhirn andere Ätiologien, z.B. Antikoagulation 4. Amyloidangiopathie
Eine Mischform stellen die hämorrhagischen Hirninfarkte dar, bei denen es zu einer Einblutung in einen Hirninfarkt gekommen ist. Unter den ischämischen Hirninfarkten
37
lassen sich diejenigen der großen Arterien, die makroangiopathischen, von denen der kleinen Arterien, den mikroangiopathischen, unterscheiden: 4 Typisch für die makroangiopathischen Infarkte sind ischämische, in der Bildgebung dreieckig erscheinende Areale; man spricht auch von Territorialinfarkten. 4 Typisch für die mikroangiopathischen Ischämien sind Lakunen, kleine runde ischämische Areale von bis zu 15 mm Durchmesser. Es gibt auch größere mikroangiopathische Infarkte, so im subkortikalen Marklager oder in der Pons. Bei einer chronischen Mikroangiopathie kommt es zu multiplen und konfluierenden Entmarkungen, die besonders periventrikulär auftreten; sie werden als Leukoaraiose bezeichnet. jKlinische Klassifikation Ein grobes, jedoch reliables Instrument zur klinischen Klassifikation von Hirninfarkten ist die Einteilung des Oxfordshire Community Stroke Projects (OCPS)(Dennis et al. 1993), in der vier Typen unterschieden werden (. Übersicht 37.3). Diese Einteilung erfolgt primär nach klinischen Kriterien und erlaubt eine erste Einordnung eines Hirninfarkts schon zu einem Zeitpunkt, wo sich im Computertomogramm noch kein Infarkt demarkiert.
2. 3. 4.
Partielle anteriore Syndrome; dazu gehören die Territorialinfarkte der A. cerebi media und größere subkortikale Infarkte Komplette anteriore Syndrome, z.B. vollständiger Infarkt des gesamten Mediastromgebiets Vertebrobasiläre Syndrome Lakunäre Syndrome
jAnatomie: Territorien der Hirnarterien Da die A. cerebri media (Acm) (. Abb. 37.1) das größte Gefäßterritorium versorgt und dort die größte Anzahl von Hirninfarkten auftritt, seien ein paar Hinweise zur Anatomie gegeben. Die Acm ist mit einem Baum vergleichbar, dessen Stamm aus der A. carotis interna abgeht. Im Anfangsteil ist die Acm 18 bis 25 mm lang und hat einen Durchmesser von 2,4 bis 4,6 mm. Aus diesem Hauptstamm gehen etwa 5–17 dünne Äste ab, die lentikulostriatalen Äste, die die subkortikalen Kerngebiete und die weiße Substanz versorgen. Radiographisch wird der Hauptstamm der Acm in vier Abschnitte aufgeteilt: 4 M1 bezeichnet den Anfangsteil mit dem Abgang der lentikulostriatalen Äste, 4 M2 ist der insuläre Anteil, 4 M3 das operkuläre Segment bis zum Ende der sylvischen Furche und 4 M4 das kortikale Segment mit dem Abgang der großen parietalen und temporalen Äste. Die großen kortikalen Äste werden uneinheitlich eingeteilt. Neau und Bogousslavsky (2001) unterscheiden 12 Äste, die sich einfach merken lassen, wenn man sich die Anatomie von anterior nach posterior vor Augen hält: 4 Frontal sind es zwei Äste: R. orbitofrontalis und R. praefrontalis. 4 Zentral sind es der R. praecentralis und der R. centralis. 4 Parietal sind es drei Äste: R. parietalis anterior, R. parietalis posterior und R. angularis. 4 Die restlichen fünf Arterien versorgen die lateralen Anteile des Temporallappens : R. temporo-occipitalis, R. temporalis posterior, R. temporalis medialis, R. temporalis anterior und R. temporo-polaris. > Vereinfacht lassen sich diese fünf Gefäßterritorien zusammenfassen in 4 lentikulostriatale Äste, 4 operkulofrontale Äste, 4 zentrale Äste, 4 parietale und 4 temporale Äste. Pathogenetisch gibt es eine erhebliche Diskrepanz zwischen
den Infarkten in den anterioren und posterioren Ästen: Fast doppelt so häufig ist die Ursache für posteriore Infarkte kar-
637 37.1 · Schlaganfall
. Abb. 37.1. Kortikale Territorien der drei Hirnarterien. Darstellung der Äste der A. cerebri media, A. cerebri anterior und A. cerebri posterior (Nieuwenhuys et al. 1991)
dial-embolisch (34%) als bei den anterioren Infarkten (19%) (Neau u. Bogousslavsky 2001). Bei einem Infarkt der temporalen Äste mit Aphasie ohne Hemiparese liegt fast immer eine embolische Genese zugrunde, und man sollte ggf. nach einem intermittierenden Vorhofflimmern fahnden.
A. cerebri media-Infarkte Bei Acm-Infarkten ist zu beachten, dass eher selten einzelne Äste isoliert betroffen sind. Meist umfassen die Infarkte mehrere Äste: 4 Bei einem kompletten Infarkt der Acm, der überwiegend kardial-embolischer Pathogenese ist, kommt es zu einer kontralateralen schweren Hemiparese, zu einem homonymen Gesichtsfeldausfall nach kontralateral, zu einer globalen Aphasie bei linksseitigen und zu einem visuellräumlichen Neglect bei rechtsseitigen Läsionen. Weitere Symptome sind Apraxien und mangelnde Einsicht in die Erkrankung (Anosodiaphorie oder Anosognosie). 4 Bei anterioren Media-Infarkten sind die Hauptsymptome eine kontralaterale brachio-fazial betonte Hemiparese und eine Hemihypästhesie. Sprachsystematisch sind bei linkshemisphärischen Läsionen nicht-flüssige Aphasien typisch und bei rechtshemisphärisch eine Dysprosodie mit einer monotonen Sprechweise. 4 Bei den posterioren Infarkten der Acm sind die motorischen Ausfälle meist vorübergehend; dagegen treten ausgeprägte sprachliche und neuropsychologische Ausfälle auf: bei linkshemisphärischen Infarkten meist eine globale oder Wernicke-Aphasie, bei rechtshemisphärischen
. Abb. 37.2. Lentikulostriatale Gefäße zu den Stammganglien führend (Nieuwenhuys et al. 1991)
neben Neglect-Symptomen akute Verwirrtheitszustände mit visuellen Halluzinationen, Agitiertheit, ständigem Stöhnen und Verlust eines Tag-Nacht-Rhythmus. . Tab. 37.2 gibt eine Übersicht über die Symptome territorialer
Infarkte der Acm. jSubkortikale Infarkte Verglichen mit einem Baum sind die kortikalen Äste der Acm kräftig und bilden die Krone. Am Stamm gehen 5–7 Äste ab, die sich insgesamt in etwa 26 lentikulostriatale Endäste aufteilen (Pullicino 1993). Wenn einer dieser Endäste thrombosiert, entsteht eine Lakune. Ist ein lentikulostriataler Ast an seinem Anfangsteil verschlossen, entsteht ein subkortikaler striatokapsulärer Infarkt. Pullicino legt Wert darauf, den kleinen bis 15 mm im Durchmesser großen lakunären lentikulostriatalen Infarkt von dem größeren striatokapsulären, oft kommaförmigen zu unterscheiden, der über 20 mm groß ist. Die Versorgungsgebiete dieser Infarkte sind 4 der vordere Schenkel der inneren Kapsel, 4 das Centrum semiovale mit der Corona radiata, 4 der N. lentiformis mit Putamen und Pallidum und der Hauptteil des N. caudatus. Das bisherige Konzept der Pathophysiologie von Lakunen und der Mikroangiopathie wird von einigen Autoren infrage gestellt (Geyer u. Gomez 2009). . Abb. 37.2 zeigt die lentikulostriatalen Gefäße, . Tab. 37.3 zeigt die klinischen Korrelate von Infarkten der lentikulostriatalen Gefäße.
37
638
Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
. Tab. 37.2. Übersicht über die Symptome territorialer Infarkte der A. cerebri media Gefäßäste
Klinische Symptomatik
R. orbitofrontalis
Selten isoliert auftretend. Disinhibition im Verhalten Broca-Aphasie nur dann, wenn ausgedehnter Infarkt, meist mit Beteiligung subkortikaler Strukturen
R. praefrontalis
Keine Parese. Eigeninitiative und exekutive Funktionen beeinträchtigt
R. praecentralis
Proximal betonte Parese des Arms, Schwierigkeiten im Wechsel motorischer Muster (Luria 1980), Verlust der »kinetischen Melodie«, motorische Impersistenz (Unfähigkeit, eine motorische Aufgabe, z.B. Händedruck, zu halten), motorische Perserveration, motorische Persistenz (z.B. Einhalten einer merkwürdigen Körperstellung). Transkortikal motorische Aphasie mit geringer Sprachproduktion, lakonischen Äußerungen, gutem Sprachverständnis und gutem Nachsprechen
R. centralis
4 Brachiofaziale Parese, auch isoliert nur einzelne Finger paretisch, gelegentlich Ataxie, vorrübergehende Dysarthrie 4 Bei bilateralen Ischämien sog. operkuläres Syndrom mit supranukleärer Parese der Sprech- und Schluckmuskulatur (Foix-Chavany-Marie)
R. parietalis anterior
Selten isoliert betroffen. Sensible Störungen der Hand (Cheiro-orales Syndrom), sensible Hemisymptomatik, Leitungsaphasie. Gelegentlich bei rechtsseitigen Infarkten »Acute Hemiconcern« (Bogousslavsky u. Caplan 2001), ständiges Reiben, Berühren, Beachten des linken Arms
R. parietalis posterior
Selten isoliert. Kontralaterale Hypästhesie, jedoch nicht die gesamte Seite. Neglect-Symptome bei rechtsseitigen Läsionen
R. angularis
4 Linksseitig: ausgedehnte kognitive Störungen, u.a. Gerstmann-Syndrom: Akalkulie, Agraphie, Finger-Agnosie und Rechts-Links-Unterscheidung beeinträchtigt 4 Rechtsseitig: räumlicher Neglect, topographische Orientierungstörungen, konstruktive Apraxie
Rr. temporales
4 Links: Wernicke-Aphasie und Hemianopsie oder obere Quadrantenanopsie 4 Rechtsseitig: akuter Verwirrtheitszustand, Neglect-Symptome, Störungen musikalischer Fähigkeiten 4 Bei bilateralen Infarkten kortikale Taubheit
. Tab. 37.3. Übersicht über subkortikale Infarkte der A. cerebri media, A. cerebri anterior und A. choroidea anterior
37
Gefäß
Lokalisation
Klinische Symptomatik
A. cerebri media
Vorderer Schenkel der inneren Kapsel
Dysarthrie, motorische Hemisymptomatik, oft proximal betont
Centrum semiovale
Rein motorische Hemisymptomatik, unterschiedliche neuropsychologische Symptome
Größere striatokapsuläre Infarkte
Hemiparese, Aphasie, Neglect
A. choreoidea anterior
Hinterer Schenkel der inneren Kapsel
Sensomotorische Hemisymptomatik, homonyme Hemianopsie, bei Lakune ataktische Hemiparese
A. cerebri anterior
N. caudatus, A. recurrens Heubner, vorderer Schenkel der inneren Kapsel
Infarkte des N. caudatus: Verhaltensauffälligkeiten mit psychomotorischer Verlangsamung, auch Hyperaktivität, Störungen exekutiver Funktionen, Dysarthrie, motorische Hemisymptomatik, oft mit dystonen oder hyperkinetischen Komponenten
639 37.1 · Schlaganfall
jSubkortikale Mikroangiopathie Bei langjährigem arteriellen Hypertonus oft in Verbindung mit einem Diabetes mellitus Typ II kommt es zu einer progredienten Mikroangiopathie der subkortikalen Arterien. Im MR-Bild sieht man z.B. in Flair-gewichteten Aufnahmen fleckige und konfluierende Hyperintensitäten, gemischt mit lakunären Läsionen periventrikulär und in den Stammganglien. Diese vaskulären Veränderungen in der weißen Substanz werden als Leukoaraiose bezeichnet. Die subkortikale Mikroangiopathie wird auch als subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie oder bei ausgeprägter Form als BinswangerEnzephalopathie bezeichnet. Das klinische Bild ist charakteristisch: Diese Patienten zeigen einen kleinschrittig-ataktischen Gang, manchmal auch schleifend wie bei einer Parkinson-Erkrankung, daher auch die Beschreibung als »lower-body Parkinsonism«. Die Gleichgewichtsreaktionen sind eingeschränkt, und die Patienten sind sturzgefährdet. Es ist lohnend, auf diese charakteristische Gangstörung zu achten, die auch viele ältere Patienten ohne einen manifesten Schlaganfall aufweisen, da es eine einfache und wirksame Kompensation gibt. Praxistipp Gangtraining für Patienten mit subkortikaler Gangstörung: Diesen Patienten ist oft überraschend gut dadurch zu helfen, dass man ihnen beim Gehen einen Rhythmus vorgibt, z.B. ein Wanderlied oder Marschmusik (Thaut et al. 2007, Schauer u. Maurtiz 2003). Um die Gleichgewichtskontrolle zu verbessern, ist ein Schubstraining (Jöbges et al. 2004) geeignet. Die Patienten lernen, sich vor einem Sturz aufzufangen.
A. cerebri posterior-Infarkte jThalamus-Infarkte Zum Versorgungsgebiet der A. cerebri posterior gehören neben den Okzipitallappen die medialen Temporallappen mit dem Hippokampus und der Thalamus, der auch aus der A. communicans posterior versorgt wird. . Tab. 37.4 gibt eine Übersicht über die Symptome bei Thalamus-Infarkten. jOkzipitale Infarkte Bei okzipitalen Infarkten sind die kontralateralen Hemianopsien bekannt, dabei sei erinnert, dass der primäre visuelle Kortex (striataler Kortex, V1, Brodmann Area 17) medial ober- und unterhalb der Fissura calcarina am medialen Rand der Okzipitallappen liegt. Die visuellen Informationen werden vereinfacht dargestellt auf zwei Hauptwegen okzipital verarbeitet: 4 Ventral werden die Informationen auf die Frage »Was oder wer ist das?« bearbeitet. Gestalt, Farbe, Gesichter werden ventral rekonstruiert und mit Erinnerungen verglichen. 4 In den dorsalen Arealen des Okzipitallappens werden Antworten auf die Frage »Wo ist das Objekt? Ist es ruhend
. Tab. 37.4. Übersicht über Symptome von Thalamus-Infarkten Infarktgebiet
Klinische Symptomatk
Laterale Infarkte
Meist lakunär. Zunächst Parästhesien, oft auf Körperteile begrenzte sensible Ausfälle. Später halbseitige Schmerzen Motorisch kontralaterale Hemiataxie, gelegentlich Astasie (Verlust der posturalen Kontrolle beim Stehen)
Mediale Infarkte
Bewusstseinstrübung, kognitive Ausfälle, vertikale Blickparese nach oben Bei bilateralen medialen Thalamusinfarkten Bild einer »thalamischen Demenz«
oder bewegt?« generiert. Die dorsalen Anteile des Okzipitallappens dienen der Wahrnehmung von Ort, Bewegung und Orientierung von Objekten im Raum. . Tab. 37.5 gibt eine Übersicht über die Symptome bei okzipi-
talen Infarkten. Zu den Hirnstamm- und Kleinhirninfarkten sei auf die Lehrbücher (Hamann et al. 2002, Bähr et al. 2009) und das Standardwerk von Bogousslavsky und Caplan (2001) verwiesen.
37.1.2
Hirnblutungen
Bei den nicht-traumatischen Hirnblutungen lassen sich zwei Hauptformen unterscheiden: 4 die Einblutungen in das Hirnparenchym und 4 die Subarachnoidalblutungen.
Intrazerebrale Blutungen Bei den intrazerebralen Blutungen mit Einblutung in das Parenchym liegt meist ein arterieller Hypertonus mit einer Ruptur eines intrakraniellen Gefäßes (Quereshi et al. 2009) vor. Die hypertensiven Hirnblutungen treten in bestimmten Hirnarealen typischerweise auf, dazu gehören die Stammganglien (Elijovich et al. 2008). Eine weitere Hauptursache von intrazerebralen Blutungen sind Gefäßmalformationen, nach denen bei atypisch gelegenen Blutungen intensiv gesucht werden muss. Es gibt nicht selten klinisch stumme Mikroblutungen (»microbleeds«), die im MRT mit der Gradienten-Echo T*2Wichtung sichtbar gemacht werden (Koennecke 2006).
Subarachnoidalblutungen und andere spezielle Formen von Schlaganfällen Die Subarachnoidalblutungen (SAB) durch die Ruptur eines Aneurysmas stellen etwa 1–7% aller Schlaganfälle. Obgleich es sich bei Aneurysmen wahrscheinlich in der Mehrzahl um angeborene Gefäßveränderungen handelt, sind Rauchen, Bluthochdruck und abnormer Alkoholkonsum Risiken, die zum Entstehen, Wachsen und zur Ruptur beitragen können
37
640
Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
. Tab. 37.5. Übersicht über Symptome von okzipitalen Infarkten der A. cerebri posterior Infarktgebiet
Klinische Symptomatik
Primärer visueller Kortex und Sehstrahlung
4 Homonyme Hemianopsie oder Quadrantenanopsie 4 Bilateral: Kortikale Blindheit (bei nur 25% permanent) 4 Visuelle Halluzinationen im hemianopen Feld
Dorsale Bahnen
4 Links: Selten Störung der Bewegungswahrnehmung 4 Rechts: Konstruktive Apraxie, topographische Orientierungsstörungen
Ventrale Bahnen
4 Links: Alexie ohne Agraphie, Anomie für Farben. 4 Rechts: Prosopagnosie
Bilaterale Läsionen
Simultagnosie, Unfähigkeit eine gesamte visuelle Szene wahrzunehmen. Balint-Syndrom: Simultagnosie, visuelle Ataxie, Blickapraxie
(Feigin u. Findlay 2006). Die Behandlung des Aneurysmas kann durch eine neurochirurgische Operation mit Abklemmung des Halses des Aneurysmas geschehen, oder sie kann neuroradiologisch durch Einführen von Spiralen (Coiling) geschehen, die zur Obliteration des Aneurysmas führt. Bei etwa der Hälfte aller Patienten mit einer SAB sind ein Jahr nach der Blutung noch erhebliche Einschränkungen in den Alltagsaktivitäten vorhanden, davon bei 50% Gedächtnisprobleme, bei 40% depressive Störungen, und bei 14% Sprachund Sprechprobleme (Hackett u. Anderson 2000). Das Auftreten eines verzögerten Hirninfarkts (»delayed cerebral ischemia«), z.B. infolge von Gefäßspasmen, ist für die Prognose ungünstig. Je schwerer die Blutung war, desto höher ist das Risiko einer Rezidivblutung, die bei etwa 7% aller Patienten auftritt. Eine häufige Komplikation ist auch das Auftreten eines Hydrocephalus communicans durch eine gestörte Liquorresorption.
37
jBlutungen aus Aneurysmen der A. cerebri anterior Da die häufigste Lokalisation eines Aneurysmas die frontal gelegene A. cerebri anterior ist, sind besonders bei den Patienten mit einer zusätzlichen Ischämie frontale Schädigungsmuster zu befürchten. Danach können auch ohne motorische Symptome neuropsychologische Störungen auftreten, wie 4 Adynamie, 4 Gedächtnisstörungen, 4 Entscheidungsprobleme oder 4 Schwierigkeiten mit exekutiven Funktionen. Ein charakteristisches Symptom bei vasospastischen Infarkten der A. cerebri anterior sind Paramnesien; die Patienten glauben, sich zu Hause zu befinden, packen ihre Sachen für die Arbeit und sind in Kliniken gefährdet, wegzulaufen. Ein häufiges Problem ist eine gesteigerte Ermüdbarkeit, die selbst bei sonst guter Erholung kognitiver Funktionen (s.u.) persistiert. Selbst wenn keine Komplikationen auftreten und keine neurologischen Ausfälle mehr vorliegen, sind zahlreiche Patienten in ihren Aktivitäten und ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Powell et al. (2004) fanden bei fast der Hälfte dieser Personen mit neurochirurgisch »gu-
ten Ergebnissen« eine erhöhte Abhängigkeit von der Unter-
stützung anderer, eine lange Arbeitsunfähigkeit, eine bedrückte Stimmung und immer wiederkehrende Gedanken an die Blutung. Bemerkenswert war in dieser Untersuchung, dass gedrückte Stimmung und Arbeitsunfähigkeit keinen Zusammenhang zeigten. Diese und andere Studien zeigen, dass die Rehabilitation nach einer SAB auch dann sinnvoll ist, wenn keine »harten« Ausfälle vorhanden sind. Powell et al. (2004) fügen einen wichtigen Hinweis hinzu: Eine Reihe von Patienten erlebte es positiv, ihr Leben in Richtung auf geringe Leistungsanforderungen zu ändern. jBlutungen aus Aneurysmen der A. communicans anterior Nach Blutungen aus Aneurysmen der A. communicans anterior treten nicht ganz selten schwere und dauerhafte amnestische Syndrome auf, häufig ohne weitere Ausfälle. jBelastbarkeit nach Subarachnoidalblutung Es gibt keine medizinischen Kriterien, nach denen man die körperliche Belastbarkeit nach einer Subarachnoidalblutung präzise festlegen kann (Schmid-Elsässer 2006). Die globale Belastbarkeit ist bei zahlreichen Patienten reduziert, so dass man die sozialmedizinischen Empfehlungen nur individuell geben kann. Den Patienten wird nach einer Blutung aus einem Aneurysma lediglich geraten, Extremsport und Aktivitäten wie Bungee-Springen, Achterbahnen u.Ä. zu meiden, während andere Aktivitäten ohne Bedenken ausgeübt werden können. Bei einer Nachuntersuchung von Patienten, deren Aneurysma erfolgreich geklippt worden war, fanden sich bei 10% neue Aneurysmen und bei 8% Aneurysmen, die bei der früheren Angiographie erst im Nachhinein erkennbar waren (van der Schaaf et al. 2005).
Vaskulär bedingte kognitive Einschränkungen Viel Unklarheit gibt es um die verschiedenen Formen der vaskulär bedingten Einschränkungen kognitiver Funktionen. Mit der Einführung des Begriffs der vaskulären kognitiven Be-
641 37.2 · Rehabilitation nach Schlaganfall
einträchtigung (Cognitive Vascular Decline) durch Hachinski et al. 2006, Erkinjuntti u. Gauthier 2009 ist die lange als verpönt geltende Diagnose der zerebrovaskulären Insuffizienz wiederbelebt worden. Gemeint sind Formen kognitiver Beeinträchtigung mit zunehmender Vergesslichkeit, Verlangsamung oder verminderter Urteilskraft, die noch nicht zu deutlichen Einschränkungen der Alltagsfähigkeiten geführt haben. Die vaskuläre Demenz ist die schwere Form der vaskulär-kognitiven Beeinträchtigung mit erheblichen sozialen und beruflichen Einschränkungen (Gertz et al. 2002). Es mehren sich die Befunde, die die dichotome Trennung von vaskulärer und Alzheimer-Demenz infrage stellen. Neuropathologische Befunde zeigen häufig eine Koinzidenz von vaskulären und Alzheimer-Veränderungen (Schneider et al. 2007, Savva et al. 2009). In der Demenzliteratur häufen sich Stimmen, die vor dem unkritischen Gebrauch der Diagnose Demenz warnen, so Whitehouse und George (2009) sowie Trachtenberg und Trojanowski (2008). Die Gefahr, so wird zu Recht argumentiert, besteht, dass man den biographischen oder situativen Zusammenhang von Verhalten nicht mehr wahrnimmt. Es besteht die Gefahr, dass mit dem Label eine Person nicht mehr als Person mit einer Geschichte wahrgenommen wird. Die Rehabilitationsteams sind stattdessen angehalten, genau zu betrachten, welche Schwierigkeiten und welche Potenziale ein Patient aufweist. An die Stelle der »Demenz« tritt die Person (Kitwood 2008).
37.2
Rehabilitation nach Schlaganfall
37.2.1
Grundlagen
In . Übersicht 37.4 sind die Grundregeln der Schlaganfallrehabilitation zusammengestellt. . Übersicht 37.4. Die zehn Gebote der Schlaganfallrehabilitation 1. Früh beginnen, später nicht aufhören 2. Die Intensität der Behandlung verbessert das Ergebnis 3. Ziele mit langfristiger und alltagsrelevanter Orientierung setzen 4. Evidenzbasiert therapeutisch arbeiten 5. Die Patienten zu Wort kommen lassen – die narrative Rehabilitation 6. Schlaganfallrehabilitation ist interdisziplinäre Teamarbeit 7. Angehörige einbeziehen 8. Schlaganfallrehabilitation heißt, einem neuen Schlaganfall vorbeugen 9. Keine stationäre Rehabilitation ohne Nachsorge 10. Die positive Psychologie nutzen
k1. Früh beginnen und auch später nicht aufgeben Zahlreiche tierexperimentelle und klinische Belege, allerdings nicht alle, weisen darauf hin, dass die Therapieergebnisse nach
einem Schlaganfall umso besser sind, je früher mit der Rehabilitation begonnen wird (Heiss u. Teasell 2006). Es gibt einige Befunde, wonach der Versuch der Übungsbehandlung noch während der akuten Schlaganfallphase, d.h. in den ersten 48 Stunden das Outcome verschlechtern kann. Daher sollte die Rehabilitation in den ersten Tagen nach dem Schlaganfall beginnen. Dann gilt das Motto »time is brain recovery« (Heiss u. Teasell 2006). So früh wie möglich sollte mit der Mobilisation des Patienten begonnen werden; das Bett ist nicht der ideale Ort für die Schlaganfallrehabilitation. > Prinzip der Schlaganfallrehabilitation: Früh beginnen, intensiv behandeln, sinnvolle Aufgaben geben.
Häufig wird bezweifelt, ob sich eine Therapie in der späten chronischen Phase eines Schlaganfalls überhaupt lohne. Nach 3 Monaten, so hieß es früher, seien nur noch minimale Fortschritte zu erzielen. Diese These kann aufgrund von klinischen, bildgebenden und experimentellen Daten als überholt gelten. Auch Monate oder Jahre nach einem Schlaganfall sind alltagsrelevante Verbesserungen zu erzielen; die Plastizität des Gehirns ist nicht nach wenigen Wochen erschöpft (Richards et al. 2008, Classen et al. 1998). Rijntjes et al. (2009) trainierten die Handfunktion bei Patienten, deren Schlaganfall 2 Jahre zurücklag, täglich 2 Stunden lang über 4 Wochen – mit deutlichem Erfolg. k2. Die Intensität der Behandlung verbessert das Ergebnis Fasst man die bisherigen Studien zusammen, so spricht die Mehrzahl für einen Zusammenhang zwischen höherer Intensität und einem besseren Ergebnis (Teasell et al. 2005a, 2009; Rodgers et al. 2003, Fang et al. 2003, Kwakkel et al. 1997, Coote u. Stokes 2001, Goodwin u. Sunderland 2003). Besonders deutlich zeigte sich das beim Gangtraining und in der Aphasietherapie. Man kann allerdings nicht sagen, dass eine Verdoppelung der Therapiedichte auch zu einer Verdoppelung des Therapieerfolges führt (s.u.). Ausreichende Ruhezeiten zwischen den Therapien dienen der Erholung und der mentalen »Nachbereitung«. Die Frequenz, mit der das Gehen oder das Greifen und Hantieren in der Rehabilitation geübt werden, ist immer noch weitaus zu niedrig, wenn man die Ergebnisse der experimentellen Forschung umsetzen wollte (Lang et al. 2009). k3. Ziele mit langfristiger und alltagsrelevanter Orientierung setzen Das Modell der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) (WHO 2005, Frommelt u. Grötzbach 2005) erweitert die medizinische Perspektive der Personen mit einem Schlaganfall um die soziale und biographische Perspektive. Die ICF eignet sich, um die Ziele der Rehabilitation zu formulieren. Dabei stehen die langfristigen Ziele an erster Stelle, die die Teilhabe an verschiedenen Lebensbereichen ermöglichen. Das ist ein Fortschritt zum traditionellen Vorgehen, bei dem die Beseitigung von Funktionsstörungen (»Besserung von ...«) als Ziele formuliert wurden. Abgeleitet von den langfristigen Teilhabezie-
37
642
Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
len werden erst in einem zweiten Schritt die kurz- und mittelfristigen Ziele, die sich auf Funktionen und Aktivitäten beziehen, erarbeitet (Bühler et al. 2005, Frommelt u. Grötzbach 2007a, Rentsch u. Bucher 2005). Man kann dieses Vorgehen auch als Top-Down bezeichnen: Man beginnt mit den großen Lebenszielen und leitet von denen zu den Alltagszielen über. Die langfristigen Ziele sind stets gemeinsame Ziele des Patienten und seines interdisziplinären Teams. Die Schlaganfallrehabilitation hat auch die Aufgabe, die Barrieren zu beseitigen, die einen Betroffenen zu einem Behinderten machen (Bühler et al. 2005).
37
k4. Evidenzbasiert therapeutisch arbeiten Der Grundgedanke der Gründer einer evidenzbasierten Medizin war, den therapeutischen Entscheidungen den verfügbaren wissenschaftlichen Kenntnisstand zugrunde zu legen. Im Gegensatz zu der geläufigen Auffassung, dass man sich unter einer evidenzbasierten Medizin nur auf die Studienlage zu stützen habe, gehört zum ursprünglichen Prinzip einer evidenzbasierten Medizin, dass man die Stimme des Patienten und eigene professionelle Erfahrungen einbeziehen muss (Charon u. Wyer 2008, Herxheimer u. Ziebland 2008). Eine so verstandene evidenzbasierte Rehabilitation ist ein Prozess, in dem die wissenschaftlichen Erkenntnisse mit den Bedürfnissen und Vorlieben des Rehabilitanden abgewogen und ausgehandelt werden. Die narrative Evidenz aus den Erzählungen des Patienten und die wissenschaftliche Evidenz sind komplementär und keine Gegensätze (Greenlagh 2005, Charon u. Wyer 2008). Tate (2006) bezeichnet es zu Recht als einen Mangel, die wissenschaftliche Evidenz in der Rehabilitation auf quantitative Studien zu beschränken. Die qualitativen Methoden, wie beobachtende Studien, sind demgegenüber zu Unrecht ins Abseits gedrängt worden, anstatt sie als Ergänzung der quantitativen Methoden zu betrachten. Wade (2002) gibt zur Frage der Wirksamkeit von Therapien zu bedenken, dass vielleicht zu sehr auf einen Zusammenhang zwischen spezieller Therapie und einem direkt darauf zurückzuführenden Effekt geachtet wird. Er stellt die Vermutung auf, dass es auch die Veränderungen der Einstellungen, der Erwartungen und des Gefühls der Autonomie sein können, die Veränderungen bei Patienten bewirken. Vielleicht sei es auch der Enthusiasmus und der Kontakt mit freundlichen Therapeuten, der für die Wirksamkeit von Therapien verantwortlich sei. k5. Die Patienten zu Wort kommen lassen – die narrative Rehabilitation Die Stimme des Patienten und seine Individualität haben es in der Schlaganfallbehandlung schwer sich durchzusetzen. Die Standardisierung der Therapien und damit die Normierung, z.B. in Form von Clinical Pathways, greifen um sich. Für Individualität und Eigensinn ist dabei wenig Platz. Im Narrativen geht es darum, dem Individuellen, dem Erleben und den Lebenswünschen der Betroffenen einen Raum zu geben. Sie finden sich in den Erzählungen der Patienten (Charon 2006). Fragebögen können das Zuhören nicht ersetzen. Patienten mit einem Schlaganfall haben viel zu erzählen, auch wenn es an der Sprache fehlt. Selbst bei Patienten mit
einer Aphasie ist oft die narrative Kompetenz erhalten (Frommelt u. Grötzbach 2008). Zu einer narrativ orientierten Rehabilitation gehört auch eine Abkehr von einer paternalistischen Haltung – als wüssten Ärzte/Therapeuten, was für den Patienten gut ist. k6. Schlaganfallrehabilitation ist interdisziplinäre Teamarbeit McGrath (7 Kap. 8) legt dar, was interdisziplinäre Teamarbeit bedeutet. Die Qualität der Teamarbeit hat einen Einfluss auf die Ergebnisse der Rehabilitation, wie Strasser et al. (2005) zeigten. Kennzeichen erfolgreicher Schlaganfallteams sind: klare Arbeitsorganisation mit einer Teamleitung, Einbeziehung der Pflegekräfte, Einbeziehung der Patienten selbst, Orientierung an gemeinsamen Zielen über die Berufsgrenzen hinweg, interdisziplinäre Zusammenarbeit und Anerkennung der Teamarbeit durch die Klinikleitung. Wenn ein Patient keine Fortschritte macht, wenn die Arbeit mit ihm schwierig ist, sollten sich Teams, wie es in der Sonderpädagogik schon immer üblich ist, zunächst fragen, was sie selbst falsch machen. Praxistipp Tipps für Reha-Teams: 4 Jeder Mitarbeiter, der neu in ein Schlaganfall-Team kommt, sollte einen Tag als Patient verbringen. 4 Eine Teamleitung sollte klar erkennbar sein. 4 Keinen Fachjargon verwenden, für alle im Team verständlich formulieren. 4 Die Pflege in das interdisziplinäre Team integrieren. Jeder sollte vermittelt bekommen, dass seine Beiträge wertvoll sind!
k7. Angehörige einbeziehen Angehörige sind einerseits die wichtigste soziale und emotionale Stütze für viele Betroffenen, andererseits sind sie selbst erheblichen Belastungen ausgesetzt. Viele Patienten benötigen dauerhaft Pflege, Betreuung oder Unterstützung durch ihre Angehörigen. Dabei wird die emotionale Belastung meist subjektiv höher bewertet als die körperliche. Angehörige benötigen Informationen, emotionale Entlastung, und sie benötigen praktische Anleitung. Nicht alle Beziehungen sind stützend oder belastbar, wenn ein Partner einen Schlaganfall erleidet. Dennoch gilt die Regel, dass Pflegekräfte oder Ärzte sich neutral verhalten sollten, nicht Partei ergreifen oder die Angehörigen zurecht- oder zurückweisen sollten. Wenn sich Angehörige zu viel in die Therapien einmischen oder den Patienten zu viel Hilfestellung geben, ist das zunächst Ausdruck ihrer Motivation und damit eine gute Gelegenheit, ihre Aktivität in sinnvolle Bahnen zu lenken. Die Teammitglieder sollten nicht warten, bis die Angehörigen mit Fragen kommen, sondern sie sollten aktiv von sich aus mit ihnen Kontakt aufnehmen. Schon ein Anruf der Klinik in der ersten Woche nach der Aufnahme kann den Angehörigen ein Stück Sorge nehmen.
643 37.2 · Rehabilitation nach Schlaganfall
k8. Schlaganfallrehabilitation heißt, einem neuen Schlaganfall vorzubeugen Eine der großen Sorgen von Personen, die einen Schlaganfall überlebt haben, ist es, erneut einen Schlaganfall zu erleiden. Sekundärprophylaxe in der Rehabilitation bedeutet, mit Informationen und praktischen Tipps den Patienten ein Nachsorge- und Vorbeugungspaket mit auf den Weg zu geben. Neben der medizinischen Ursachenklärung mit medikamentöser Prophylaxe gehören dazu Ernährung und Bewegung sowie der Umgang mit Stress und Empfehlungen für das Arbeitsleben. Die Praxis der Patientenschulung legt oft zu viel Gewicht auf das Wissen und zu wenig auf das praktische Erproben. Patienten sollten schon in der Klinik lernen, die »Treppe zu ihrer Freundin zu machen« und sie dem Aufzug vorzuziehen, oder in der Küche selbst zu kochen, anstelle nur Vorträge über richtige Ernährung zu hören. Zur Sekundärprophylaxe gehört auch, die Zeichen eines erneuten Schlaganfalls zu kennen. In einer kanadischen Studien wussten nur 52% der Patienten in der Rehabilitation ein Warnzeichen zu benennen (Koenig et al. 2007). Nicht unterschätzen sollte man die Beispielfunktion von Teammitgliedern und »Peers« in Patienten- und Angehörigengruppen. k9 . Keine stationäre Rehabilitation ohne Nachsorge Die jetzige Organisation der Schlaganfallrehabilitation weist einen Bruch und eine Lücke in der Versorgung nach Abschluss der stationären Rehabilitation auf. Wie eine Studie aus Bayern zeigt, führt die stationäre Rehabilitation zu eindeutigen Verbesserungen körperlicher Funktionen und der seelischen Stabilität. Innerhalb eines Zeitraums von 6 Monaten nach der Entlassung gehen diese Erfolge nicht nur weitgehend verloren, sondern viele Patienten geraten in einen motorisch und emotional schlechteren Zustand als zu Beginn der stationären Rehabilitation (Neubauer u. Ranneberg 2005, Grötzbach 2007). Zumindest in Deutschland besteht noch keine koordinierte Nachbetreuung von Schlaganfallpatienten nach der Entlassung aus der Rehabilitationsklinik. Die Möglichkeiten der Kliniken zu einer Mitbewirkung an der ambulanten Nachsorge sind beschnitten, die Kooperation und Kommunikation zwischen den ambulant tätigen Therapeuten und den betreuenden Ärzten ist oft unzureichend bis nicht vorhanden. Notwendig wäre es, auch die ambulante Versorgung in Teams zu organisieren (Lawrence 2002). Ein gutes Beispiel für eine Nachsorge nach Schlaganfall stellt das von Rentsch und Mitarbeitern. (Rentsch 2005) aufgebaute Luzerner Modell der häuslichen Betreuung nach einem Schlaganfall dar. Wie die Erfahrungen anderer Länder mit einer frühen Entlassung nach Hause (»early supported discharge«) zeigen, kann durch eine gute ambulante Rehabilitation ein besseres Langzeitergebnis erzielt werden als durch eine intensive stationäre Phase ohne adäquate Nachsorge (Langhorne et al. 2005). In der BRD existieren nachahmenswerte Konzepte v.a. im Rahmen des Case Management in Trägerschaft privater und gesetzlicher Unfallversicherer. Ein Grund liegt sicherlich
darin, dass diese Träger ein wirtschaftliches Interesse daran haben, die Unfallfolgen gering zu halten. k10. Die positive Psychologie nutzen In den letzten 20 Jahren hat sich eine Richtung in der wissenschaftlichen Psychologie entwickelt, die sich als positive Psychologie bezeichnet. Anstelle einer Ausrichtung auf die Mängel und Defizite im menschlichen Verhalten beschäftigt sich die positive Psychologie mehr mit den Stärken und Tugenden, den Ressourcen einer Persönlichkeit und den fördernden Kontextbedingungen, um ein produktives, als sinnvoll und befriedigend erlebtes Leben zu ermöglichen (Staudinger u. Kunzmann 2005, Auhagen 2004, Lopez u. Snyder 2009). Durch einen Schlaganfall kann krisenhaft auch ein persönliches Wachstum angestoßen werden. Patienten formulieren dies so: Sie sähen das Ereignis als eine Chance, ihrem Leben einen neuen Kurs zu geben, mehr Zeit und Zuwendung ihrer Familie zu schenken, jeden Tag als ein Geschenk zu empfinden. Emmons (1999) nennt die Fähigkeit, nach einem schweren Verlust wieder Sinn im Leben zu finden, spirituelle Intelligenz. Im Umgang mit den depressiven Reaktionen nach einem Schlaganfall sollte man bedenken, dass der Verlust von Sinn und spirituellem Halt genauso eine Rolle spielen können wie neurobiologische Faktoren (Gainotti et al. 1997). Es besteht die verbreitete Meinung, man solle Optimismus und Hoffnung nur vorsichtig dosiert an Patienten herantragen. Dahinter steht die Befürchtung, ein Zuviel an Optimismus würde nur zu noch größerer Enttäuschung führen, wenn die angestrebten Ziele nicht erreicht werden. Die Studien sprechen dafür, dass diese Sorge unberechtigt ist, dass vielmehr die »Medikamente« Hoffnung und Aufmunterung großzügig, jedoch nicht ohne die Realität zu verleugnen, verteilt werden sollten (Snyder et al. 2002). Eine aktuelle Studie an 840 Schlaganfallpatienten zeigte, dass zwischen dem Zuwachs an positiven Emotionen und dem funktionalen Fortschritte ein enger Zusammenhang besteht (Seale et al. 2010).
37.2.2
Die subjektive Welt des Schlaganfalls
Kirkevold (2002) hat sich mit dem subjektiven Erleben von Schlaganfallpatienten befasst und fand einige charakteristische Phasen im Verlauf nach dem akuten Ereignis: Die erste Phase ist gekennzeichnet durch das Erleben einer Katastrophe, durch eine existenzielle Verunsicherung. Die nachfolgende Phase ist eine Zeit des Kämpfens; die Patienten sind emotional hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und der Sorge, hilfsbedürftig zu bleiben. Es folgt die Phase der Zuversicht, wenn der Patient Fortschritte erlebt und überzeugt ist, es gehe zu Hause so gut weiter. Die Phase nach der Rückkehr nach Hause ist häufig durch Enttäuschung darüber gekennzeichnet, dass sich die Erfolge in der Klinik nicht ohne Weiteres auf den eigenen Alltag übertragen lassen. Die letzte Phase ist die, in der Patienten sich mit ihrem veränderten Körper arrangieren und eine neue Mitte im Leben finden. Sie finden
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Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
ein neues Established Self (7 Kap. 8) – ein neues und passendes Selbstbild und Selbstbewusstsein. Es war der große Neurologe Kurt Goldstein, der sich als Erster dem Erleben von Personen mit einer Hirnverletzung zuwandte (Goldstein 1934). Er beschrieb die Reaktion auf eine Hirnverletzung als Katastrophenreaktion. Sie stehe im Gegensatz zu dem, was er als ein geordnetes Erleben bezeichnete. Dieses zeichne sich »durch ein Gefühl der Aktivität und der Leichtigkeit, des Behagens, der Entspannung, der Angepasstheit an die Welt, der Freude« aus. Der Gegensatz dazu sei das »katastrophale« Erleben:
»Der Erkrankte erlebt sich in dieser Situation hin- und hergerissen, schwankend, er erlebt eine Erschütterung der Welt um sich wie seiner eigenen Person.« (Goldstein 1934)
37
Diese Katastrophenreaktion kann sich in einem Wechsel zwischen Angst, Wut und Niedergeschlagenheit ausdrücken. Die Katastrophenreaktion hat nichts mit einem erregten Agieren, für das man den Begriff Katastrophieren verwendet, zu tun. Sie ist das Empfinden einer Fremdheit sich selbst gegenüber. Die Patienten finden sich, wie es die Schriftstellerin Susan Sontag (2003) ausdrückte, in einem fremden Land wieder. In der Klinik sucht der Patient als Fremder nach Hinweisen, wie er sich zu verhalten hat, was von ihm wohl erwartet wird. »Jeder versuchte einfühlsam und verständnisvoll zu sein, jedoch meine Unabhängigkeit zu verlieren und Rohmaterial für den Job vieler Leute zu werden, war ein Schock für mein Gefühl von Normalität«, schrieb der Soziologe Cant (1997) über seinen eigenen Schlaganfall. Mit dem Zuwachs an Funktionen korreliert ein Zugewinn an Selbstvertrauen (Vickery et al. 2009). Das Vertrauen in den eigenen Körper wiederzugewinnen ist für den Betroffenen genauso wichtig wie die Wiedererlangung von objektiv erkennbaren Funktionen. Man spricht landläufig von »den Opfern eines Schlaganfalls«, doch damit wird man den Kranken nicht gerecht. Sie betrachten sich selbst keineswegs nur als Opfer, sondern sehen ihre Situation differenzierter und konkreter. Die Verluste waren »persönlich und machten nur Sinn im Zusammenhang mit ihrer persönlichen Biographie« (Alaszewski et al. 2004). Der Bezugsrahmen, nach dem Therapeuten den Schweregrad einer Beeinträchtigung einstufen, ist nicht identisch mit dem Maßstab der Patienten. Im lebensgeschichtlichen Kontext kann eine Sprachstörung, die ein Therapeut als leicht klassifiziert, als katastrophal empfunden werden. »Professionelle sind wahrscheinlich am erfolgreichsten, wenn sie den Schlaganfallpatienten vermitteln, dass sie den Willen und die Fähigkeiten haben, den lebensgeschichtlichen Kontext zu berücksichtigen« (Alaszeweski et al. 2004).
37.2.3
Erwartungen an die Rehabilitation
Patienten erwarten zunächst, dass etwas mit ihnen geschieht, dass sie Therapien erhalten und nicht untätig auf ihrem Zimmer sitzen. Eine Arbeit von Röding et al. (2003) mit dem Titel
Näher betrachtet Interviews: Empfinden des eigenen Körpers nach einem Schlaganfall Oft erleben Betroffene den eigenen Körper als fremd. Kvigne und Kirkevold (2003) haben Frauen zur Frage interviewt, wie sie ihren Körper nach dem Schlaganfall erleben. Die Erzählungen der Interviewten haben die Autorinnen thematisch geordnet: 4 Der aspontane Körper: Für jede kleine Aufgabe verlangt der Körper Aufmerksamkeit, kaum etwas geht noch »mit links« von der Hand. 4 Der verletzliche und abwehrschwache Körper: Der Körper kann sich im Erleben nicht gegen neue Störungen wehren, er wird empfindlicher gegenüber vielen Formen von Störungen. 4 Der unzuverlässige und treulose Körper: Plötzlich verlässt den Körper die Kraft, oder ein gesuchtes Wort steht auf einmal nicht mehr zur Verfügung. 4 Der fordernde Körper: Die Patienten benötigen mehr Zeit für ihre alltäglichen Aufgaben, »alles erfordert die doppelte Zeit«. 4 Der eingrenzende Körper: Der Körper kann nicht mehr Handarbeiten verrichten, den Garten versorgen oder Auto fahren. Es sind nicht nur die fehlenden Funktionen, sondern auch die Ermüdbarkeit, die Grenzen setzen in Aktivitäten. 4 Der abhängige Körper: Für viele Betroffenen ist es emotional belastend, auf die Hilfe von anderen Personen angewiesen zu sein. 4 Der auffällige Körper: »So gehe ich nicht unter die Leute.« Ein Rollstuhl ist nicht nur ein technisches Hilfsmittel, sondern ein soziales Symbol für Hilflosigkeit.
»Frustriert und übersehen« kennzeichnet das Erleben junger Schlaganfallpatienten in der Rehabilitation. Nicht nur in Dänemark, wie bei Lewinter und Mikkelsen (1995), sondern auch hier in Deutschland sind Patienten mit der Intensität der Therapien häufig nicht zufrieden. Interessant ist allerdings auch, dass viele Patienten die Einzelphysiotherapie als bedeutsam für sich ansahen, nicht jedoch Übungen, die in den Alltag eingebaut waren. Das ist eine Herausforderung für die kontextorientierte Rehabilitation, deren Sinn den Patienten vermittelt werden muss. Entscheidend ist aus der Sicht der Betroffenen, dass sie sich ernst genommen und respektiert fühlen (Mangset et al. 2008). Wenn Patienten den Regeln oder Erwartungen des Teams nicht entsprechen, werden sie rasch als »nicht motiviert« etikettiert. Vielleicht sollte man den Begriff der Motivation aus dem Sprachgebrauch der Neurorehabilitation streichen, wie Maclean et al. (2002) vorgeschlagen haben; zumindest sollten die Begriffe mangelnde Motivation oder mangelnde Compliance ein selbstkritisches Nachdenken der Teammitglieder auslösen. Dahinter steckt häufig die Fehleinschätzung: Wir wissen, was gut für den Patienten ist.
645 37.2 · Rehabilitation nach Schlaganfall
37.2.4
Kontextsensitivität in der Schlaganfalltherapie
Näher betrachtet Anekdote von Luria (1963) Das Konzept der kontextsensitiven Therapie erhellt eine Anekdote von Luria (1963): Luria gab Patienten mit einer Armparese unterschiedliche Aufgaben. Die erste Aufgabe war, den paretischen Arm so hoch wie möglich anzuheben; die zweite, mit dem Arm so hoch wie möglich auf eine Regalwand zu greifen; die dritte, einen Apfel, der sehr hoch auf einem Regal lag, mit dem gelähmten Arm herunterzuholen. Fast alle Teilnehmer dieses kleinen Experiments konnten den Arm zum Apfel höher heben als bei den anderen beiden Aufgaben.
Kontextsensitivität bedeutet, dass Aufgaben für den Übenden in einem Bedeutungszusammenhang mit seinem Leben stehen, dass sie an Alltagsaktivitäten anknüpfen, und dass sie so bald wie möglich als ganzheitliche Aufgaben erprobt werden. Im Englischen wird im Sinn von kontext-sensitiv der Begriff »task-specific training« verwendet. In . Übersicht 37.5 sind die Prinzipien einer kontext-sensitiven Rehabilitation zusammengefasst. Eine Reihe von Autoren (Blake et al. 2006, Nudo 2003) haben im Tierexperiment gezeigt, dass es für eine funktionale Reorganisation günstig ist, wenn Aufgaben durch den Input von limbischen und paralimbischen Arealen als »bedeutsam« gekennzeichnet werden. Die funktionale Reorganisation ist effektiver bei Aufgaben, die eine Bedeutung für die Tiere haben (Bayona et al. 2005). Für die klinische Arbeit gilt: Das Gehen lernt man durch das Gehen, das Sprechen durch das Gespräch.
Es gibt inzwischen eine Reihe von Belegen für die Wirksamkeit kontext-sensitiver Therapien (Ylvisaker et al. 2007, Feeney u. Ylvisaker 2006, Braga et al. 2005, Teasell et al. 2009) (. Tab. 37.6). . Übersicht 37.5. Kennzeichen einer kontext-sensitiven Therapie (Ylvisaker et al. 2005) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Aufgaben knüpfen an persönliche Ziele an und sind für den Übenden sinnvoll Aufgaben sind alltagsnah gestaltet Handlungen als Ganzes einüben, z.B. Gehen oder Kaffeekochen als vollständige Abläufe Möglichst viele Übungen in natürlichem Kontext, in der Wohnung, im Kaufhaus, bei der Arbeit Den wichtigsten Kontext, die Familie, einbinden Wiederholen ohne zu wiederholen, d.h. Aufgaben in unterschiedlichem Kontext üben
> Kontext-sensitive Therapie heißt: 4 Sinnvolle Aufgaben stellen. 4 Trainieren: das Gehen durch Gehen, das Sprechen durch Gespräche, die mentalen Funktionen durch reale Aufgaben. 4 Wiederholen ohne zu wiederholen, den Kontext wechseln.
Zu den kontext-sensitiven Verfahren zählt auch die Methode der »subject-performed task«. Sie ist recht einfach, da sie darin besteht, den Patienten Aufgaben selbst auswählen und ausprobieren zu lassen (Nadar u. McDowd 2008). Die Ergebnisse zeigen, dass Patienten, die an selbstgewählten Aufgaben üben, bessere Erfolge haben als diejenigen, denen Standardaufgaben vorgegeben werden.
. Tab. 37.6. Untersuchungen zur Wirksamkeit kontext-sensitiver Aufgaben (»task-specific training«) bei Patienten mit einer Hirnschädigung Aussagen
Literatur
Kortikale Reorganisation bei sinnvollen Aufgaben umfangreicher (in funktionaler Magnetresonanztomographie, fMRI)
Classen et al. (1998)
Bei täglichem 15-minütigem Üben von Alltagsfunktionen der Hand langanhaltende kortikale Reorganisation
Page (2003)
Randomisierte Studie bei Patienten mindestens ein Jahr nach einem Schlaganfall verglich alltägliche Greifbewegungen mit künstlichen Greifaufgaben. Kontext-sensitives Lernen deutlich überlegen
Dean u. Shepherd (1997)
Gehen durch Gehen zu trainieren ist erfolgreicher als Tonus oder Haltung zu üben
Hesse et al. (2003), Langhammer u. Stanghelle (2003)
Constraint Induced Movement Therapy (CIMT): Repetition verbunden mit kontext-sensitiven Aufgaben. Für Patienten mit schon vorhandener Handfunktion nützlich
Foley et al. (2008, Review 10)
37
646
Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
37.2.5
Intensität der Therapien und klinische Behandlungspfade
jTherapieintensität und Outcome Hinsichtlich der Intensität sei daran erinnert, dass Patienten in der stationären Rehabilitation 72% ihrer wachen Zeit ohne therapeutische Aktivitäten verbringen (De Wit et al. 2005). Führt eine höhere Therapiefrequenz zu besseren Erfolgen? Die Meta-Analysen lassen keine generellen Schlussfolgerungen zu. kZusammenhang bei motorischen Funktionen Für die motorischen Funktionen gibt es allerdings gute Belege, dass eine höhere Übungsfrequenz zu besseren Ergebnissen führt, Evidenzgrad 1a (Teasell et al. 2009). Der Frage, ob eine Verkürzung der stationären Behandlung durch eine höhere Therapiefrequenz erreicht werden kann, ist eine Studie nachgegangen (Jette et al. 2005). Patienten, die unter einer Stunde Physiotherapie erhielten, hatten eine mittlere Aufenthaltsdauer von 21,4 Tagen, die mit einer täglichen Therapie von 1,5 Stunden hatten eine Aufenthaltsdauer von 16,9 Tagen, die mit über 1,5 Stunden von 15,5 Tagen. Die britischen Leitlinien zur Schlaganfallrehabilitation (Intercollegiate Stroke Working Party 2008) geben eine pragmatische Empfehlung, der man sich anschließen kann: »Patienten sollten so viele Therapien erhalten, wie sie für ihre Bedürfnisse erforderlich sind und von ihnen toleriert werden können«. Patienten sollten die Gelegenheit erhalten, Alltagsaufgaben wiederholt zu üben. Auch Hilfspersonen und Laien können die Patienten beim Üben erfolgreich unterstützen. Lässt man Schlaganfallpatienten zusätzlich zur üblichen Therapie 30 Minuten lang das Aufstehen aus dem Sitzen mit einer Hilfsperson üben, so verbessert das deutlich die Fähigkeit, sich allein umzusetzen (Britton et al. 2008).
37
kZusammenhang bei sprachlichen Funktionen Zwar gibt es eine Reihe von Arbeiten, die für die Aphasietherapie zeigen, dass eine höhere Frequenz zu einem besseren Ergebnis führt, dennoch ist die Evidenzlage nicht eindeutig (Teasell et al. 2009). In einer randomisierten Studie zum Zusammenhang von Therapiehäufigkeit und Besserung der sprachlichen Funktionen fanden Bakheit et al. (2007) einerseits, dass 1,5 Stunden pro Woche mehr bringen als 0,6 Stunden, dass jedoch mit mehr als 4 Stunden einige Patienten überfordert waren. Die Obergrenze des Übens, jenseits derer eine zusätzliche Therapie keinen Erfolg bringt, ist nicht erforscht. kOff-line-Learning Bei allem Üben darf man nicht vergessen, dass es auch ein sog. Off-line-Learning gibt, eine Konsolidierung von Erlerntem in Erholungsphasen (Siengsukon u. Boyd 2008). Es scheint, dass durch Therapiepausen und durch hinreichenden Schlaf nicht nur motorische, sondern auch kognitive Funktionen stabilisiert werden. Im klinischen oder ambulanten Alltag dürfte sich die Frage des Zuviels an Therapien selten stellen, denn eher hört man Klagen der Patienten über zu wenige Behandlungen.
Daher sollte in der Praxis schon großer Wert darauf gelegt werden, dass ein Patient mit einer Hemiparese häufig das Gehen übt und ein Patient mit einer Aphasie nicht auf seinem Zimmer vor dem Fernseher sitzt, sondern in ein Gespräch mit anderen Patienten einbezogen ist (Meinzer et al. 2007). kEarly Supported Discharge (ESD) In Großbritannien und skandinavischen Ländern hat man in den letzten Jahren versucht, die Dauer der stationären Rehabilitation zu verkürzen und durch eine ambulante Therapie zu ersetzen; diese Programme werden als Early Supported Discharge (ESD) bezeichnet. Vorausgesetzt, ein interdisziplinäres Reha-Team steht zur Verfügung, sind die funktionalen Ergebnisse des ESD vergleichbar mit denen der stationären Behandlung (Teasell et al. 2008, Review 7). Eine ambulante Fortsetzung der Therapien bringt einen eindeutigen Gewinn in Funktionen und Aktivitäten für die Patienten; die erhoffte Kosteneinsparung bleibt jedoch oft aus. Zur notwendigen Dauer der Therapie gibt es wenig Gesichertes. Eine italienische Gruppe hat Patienten, die in der stationären Rehabilitation keine Fortschritte mehr gemacht hatten, wiederholt ambulante Blöcke von 4–12 Wochen Dauer mit intensiver Ergotherapie und Physiotherapie über 2 Jahre geboten. Alle konnten zu Beginn der Studie nicht selbständig gehen. Nach 6 Monaten konnten 18%, nach 9 Monaten 36%, nach 12 Monaten 64% und nach 24 Monaten 74% selbständig gehen (Dam et al. 1993). In der ambulanten Therapie profitieren Patienten von Instruktionen zu Eigenübungen (Hausaufgaben) (Studenski et al. 2005). jStandardisierte Behandlungspfade Große Erwartungen wurden in die Einführung von standardisierten Behandlungspfaden, »clinical pathways«, gesetzt. In der Akutversorgung auf der Stroke Unit sind solche Richtlinien von unbestrittener Bedeutung. In der postakuten Behandlung haben sich diese Behandlungspfade nicht nur als ineffektiv gezeigt, sondern auch als möglicherweise nachteilig für die Patienten (Teasell et al. 2008, Review 6). Wahrscheinlich sind Komplexität und Individualität der Behinderungen nach einem Schlaganfall nicht in Ablaufschemata abzubilden. Die allgemeinen Regeln für die Schlaganfallrehabilitation, wie sie oben dargestellt sind, werden damit nicht infrage gestellt.
37.2.6
Rehabilitation auf der Stroke Unit
Patienten, die auf spezialisierten Schlaganfallstationen, Stroke Units, aufgenommen werden, haben eine bessere Überlebenschance und erreichen langfristig mehr Funktionen als Patienten, die auf einer Normalstation im Krankenhaus aufgenommen werden (Stroke Unit Trialist Collaboration 2006, Indredavik 2004, Audebert et al. 2004). Stroke Units vermindern das Risiko von Komplikationen und damit die Mortalitätsrate (Govan et al. 2007). Organisatorisch sollte ein spezialisiertes Team in einer strukturell eigenständigen Station für die Akutbehandlung von Schlaganfallpatienten zuständig sein. Eine Umfrage unter
647 37.2 · Rehabilitation nach Schlaganfall
europäischen Stroke Unit-Experten ergab die höchste Übereinstimmung hinsichtlich der unerlässlichen Kriterien einer Stroke Unit: 4 eigene Organisation mit einem multidisziplinären Team, 4 speziell geschulte Pflegekräfte, 4 24 Stunden CT-Verfügbarkeit, 4 Thrombolyse-Therapie, 4 Doppler- und Duplexsonographie, 4 EKG-Monitoring (Leys et al. 2007). Nach Teasell et al. (2005b) sollte eine Stroke Unit wie eine Art Trainingscamp gestaltet sein, und die Patienten sollten möglichst wenig Zeit im Bett liegend verbringen. Bernhardt et al. (2004) fanden in Melbourner Stroke Units, dass im Durchschnitt nur 12,8% des Tages in therapeutischen Aktivitäten verbracht wurden, und dass die Patienten zu 88,5% des Tages im oder neben dem Bett verbrachten. jSchlüsselelemente von Stroke Units Die rehabilitativen Schlüsselelemente von Stroke Units sind besonders klar in den britischen Leitlinien zur Schlaganfallversorgung herausgestellt (Intercollegiate Stroke Working Party 2008): 4 Die Behandlung erfolgt nach festgelegten, möglichst evidenz-basierten Richtlinien, in einer organisatorisch eigenständigen Station. Die pflegerischen und ärztlichen Mitarbeiter müssen in Schlaganfallmedizin fortgebildet sein und die notwenige akutmedizinische Versorgung einschließlich der Thrombolyse in gut koordinierter und zeitgerechter Weise gewährleisten. 4 Jede Stroke Unit sollte als eigenständiges Team organisiert sein, mit Kenntnissen über den Schlaganfall und in der Neurorehabilitation. Zum Team gehören 5 Neurologe, 5 Pflegekräfte, 5 Physiotherapeuten, 5 Ergotherapeuten, 5 Diätberater, 5 Psychologen, 5 Sozialarbeiter. 5 Jedes Team sollte kontinuierlich Fortbildungsprogramme für alle Mitglieder anbieten. 4 Jedes Stroke Unit-Team sollte eng mit anderen klinischen und sozialen Diensten zusammenarbeiten. Zwischen den Institutionen sollten einheitliche 5 Dokumente, 5 Nomenklatur und 5 Assessment-Instrumente 5 verwendet werden. Patienten sollten bei Verlegungen mitentscheiden und die Kopien ihrer Verlegungsbriefe erhalten können. 4 Jede Stroke Unit sollte sich an klinikübergreifenden Dokumentations- und Qualitätssicherungsprogrammen beteiligen, um die eigenen Ergebnisse mit denen anderer Einrichtungen vergleichen zu können. Die Meinungen der Patienten und ihrer Angehörigen sollten einbezogen werden:
»Personen, die einen Schlaganfall erlitten haben, und ihre Angehörigen sollten mit ihrer Meinung einbezogen werden in die Planung, die Entwicklung, die Umsetzung und die Kontrolle der Arbeit von Stroke Units. Die Betroffenen sollten regelmäßig informiert werden, wie ihre Beiträge die Arbeitsweise beeinflusst haben. (Department of Health 2007)
«
4 »Die Zielsetzung steht im Zentrum einer effektiven und effizienten Rehabilitation« (Intercollegiate Stroke Working Party 2008): 5 Die Wünsche und Erwartungen jedes Patienten sollten erhoben und berücksichtigt werden. 5 Patienten sollten am Prozess der Zielsetzung beteiligt werden, es sei denn, sie möchten dies nicht oder sind aufgrund ihrer kognitiven und sprachlichen Einschränkungen nicht dazu imstande. 5 Patienten sollten Hilfestellung beim Prozess der Zielsetzung erhalten. 4 In der Therapie sollten sich die verschiedenen Teammitglieder auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen und dem Patienten gleichlautende Instruktionen geben. Der Patient sollte die Möglichkeit erhalten, so oft wie möglich zu üben oder sich an Aktivitäten zu beteiligen, soweit es medizinisch vertretbar ist. 4 Patienten mit einem akuten Schlaganfall sollten so früh wie möglich – soweit es der klinische Status erlaubt – mobilisiert werden. Patienten sollten so früh wie möglich im Bett aufgesetzt werden (Diserens et al. 2006, National Institute for Health and Clinical Excellence 2008). 4 Emotionale Bedürfnisse der Patienten wahrnehmen. Mitglieder von Stroke-Teams sollten eine Sensibilität für Ängste und Niedergeschlagenheit bei den Patienten entwickeln. 4 Angehörige einbeziehen. Es wurde schon darauf hingewiesen, auf die Angehörigen zuzugehen, und nicht zu warten, bis sie sich bei dem Stroke-Team melden. Angehörige dürsten nach Informationen und Hinweisen, wie sie dem Betroffenen helfen können. Wenn der Patient gehen kann, soll er mit seinen Angehörigen gehen; wenn er seine linke Seite vernachlässigt, sollen die Angehörigen den linken Arm passiv bewegen und den Arm streicheln. Die medizinischen Komplikationen sind bei Deppe (7 Kap. 34) dargestellt.
37.2.7
Basale und erweiterte Aktivitäten des täglichen Lebens
jTraining der basalen Aktivitäten Der klinische Alltag bietet eine Fülle von neuropsychologischen Aufgaben, und es wäre wünschenswert, wenn das Training der basalen Selbständigkeit von den Pflegekräften gemeinsam mit anderen Berufsgruppen geplant oder durchgeführt würde. Das Ankleiden, Waschen und die Nahrungsaufnahme sind komplizierte erlernte Handlungen, bei denen mehrere motorische, kognitive und visuelle Funktionen ko-
37
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Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
operieren müssen. Beim Ankleiden ist eine räumliche Analyse Voraussetzung, um einen Arm in der richtigen Richtung in einen Ärmel einzuführen. Jedes Ankleiden erfolgt nach einem Plan und erfordert exekutive Funktionen. Zum Erlernen von Alltagsaktivitäten wie dem Anziehen ist es nützlich, einen detaillierten Plan mit den einzelnen Schritten zu erstellen, an den sich alle Therapeuten und Pflegekräfte halten. Das Ankleiden eines Hemdes kann man in zehn Schritte gliedern, die Punkt für Punkt im Training abgehakt werden. ! Cave Zu beachten ist beim Training, dass bei einer Hemiparese oft beide Seiten betroffen sind. Das Zuschnüren der Schuhe mit einem Einhand-Schnürsenkel gelingt daher oft mit der ipsilateralen, »gesunden« Hand nicht (Poole et al. 2009). Das Erlernen der Aktivitäten des täglichen Lebens wie Ankleiden und Waschen, Essen und Trinken ist eine Kernaufgabe der Rehabilitation. Daher macht es keinen Sinn, wenn Pflegekräfte diese Aufgaben dem Patienten abnehmen, vielleicht sogar in der Vorstellung, die »richtige Therapie« fange an, wenn der Patient in eine andere Etage »zur Therapie« gebracht wird. jTraining der erweiterten Aktivitäten Zu den erweiterten Aktivitäten des täglichen Lebens gehören Tätigkeiten wie 4 Haushaltsführung, 4 Autofahren und 4 Freizeitgestaltung.
37
Diese Tätigkeiten erlernt man am besten dadurch, dass man sie möglichst naturalistisch übt. Goldenberg (7 Kap. 22) hat am Beispiel von apraktischen Störungen gezeigt, dass man alltägliche Abläufe, wie das Kaffeekochen, besser lernt, wenn man sie als ganze Aufgabe und nicht in Einzelschritten einübt. Es gibt eine starke Evidenz (1a), dass durch die Vermittlung von Strategien die Auswirkung einer Apraxie auf Alltagsaktivitäten vermindert werden kann (Teasell et al. 2009).
37.2.8
Depression und emotionale Labilität nach einem Schlaganfall
jEmotionale Labilität Beispiel Herr B., ein 75-jähriger Landwirt, hat vor einer Woche einen Schlaganfall mit einer leichten Hemiparese links erlitten. Als die Krankenschwester ihn nach den Enkelkindern fragt, bricht er in Tränen aus, entschuldigt sich zugleich dafür. Die Tochter berichtet, sie habe den Vater noch nie so viel weinen gesehen, sonst sei er immer robust und humorvoll gewesen. Ein Wort genüge, und er breche in Tränen aus.
Diese leichte Anregbarkeit von Weinen und Traurigkeit wird in der Literatur als »emotionalism«, vielleicht am ehesten als emotionale Labilität zu übersetzen, bezeichnet (Calvert et al. 1998). Das als pathologisches Weinen bezeichnete Verhalten
ist im Gegensatz dazu dadurch gekennzeichnet, dass die Tränen nicht von Gefühlen der Traurigkeit begleitet sind. Pathologisches Lachen, Weinen und Schreien kann ineinander übergehen, teilweise getriggert durch Sprechversuche; die Ausdrucksformen können sich auch gleichzeitig zeigen. In ausgeprägter Form verursacht dies einen hohen Leidensdruck. SSRI wirken oft in niedriger Dosierung. Eine andere emotionale Reaktion auf einen Schlaganfall ist die oben erwähnte Katastrophenreaktion, meist nach linkshemisphärischer Schädigung. Eine scharfe Grenze zwischen »emotiononalism« und Depression gibt es nicht. Es ist zu bedenken, dass auch der Begriff der Depression eine Konstruktion ist, die vielfältige klinische Varianten umfasst. jDepression Die Angaben über die Häufigkeit von Depressionen nach einem Schlaganfall gehen weit auseinander. Nach den Daten des Schlaganfallregisters Erlangen zeigten in der Akutphase 34% der Schlaganfallpatienten depressive Symptome, nach 12 Monaten waren es 32% (Kolominsky-Rabas et al. 1998). Die Mortalität von Patienten mit einer postapoplektischen Depression ist in einem 10-Jahres-Zeitraum 3,4-fach höher als bei Patienten ohne Depression (Turner-Stokes et al. 2002, Jorge et al. 2003). Depressionen nach einem Schlaganfall unterscheiden sich in einer Reihe von Aspekten von den Depressionen, die bei Personen mit psychiatrischen depressiven Erkrankungen gefunden werden, wenngleich beiden das Erleben von Hilflosigkeit und der Verlust an Freude und Zuversicht gemeinsam ist (Gainotti et al. 1997). Schuldgefühle und Selbstvorwürfe finden sich bei Schlaganfallpatienten seltener, auch suizidale Gedanken sind selten. Die Depressionen nach einem Schlaganfall können viele somatisch erscheinende Facetten haben. Nicht selten manifestieren sie sich als somatische Symptome wie Kopfschmerzen oder Schwindelempfindungen. Der Leidensdruck der Depressionen ist nicht zu unterschätzen, allein dies rechtfertigt eine Behandlung. Hinzu kommt, dass sie den Rehabilitationsverlauf enorm verlängern können, aufgrund der eingeschränkten Fähigkeit zur Mitarbeit. Es ist Aufgabe eines Schlaganfall-Teams, auch den versteckten Zeichen einer Depression, wie Rückzug oder Reizbarkeit, Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Team, das zuhört und gut beobachtet, hat wenige Schwierigkeiten, Angst oder Depressivität zu bemerken. Die Angehörigen geben dazu wertvolle Hinweise. Das gut ausgebildete Team wird ohne Fragebögen und standardisierte Assessments depressive Symptome erkennen. Eine Übersicht und Bewertung der Assessment-Instrumente geben Salter et al. (2007). jErklärungsmodelle für die Depression Die Sichtweisen auf die Entstehung der Depression gehen weit auseinander. Auf der einen Seite stehen Autoren, die neurochemische Veränderungen als entscheidend ansehen (Robinson et al. 2005), auf der anderen Seite finden sich Stimmen für ein mehr psychologisches Erklärungsmodell (Gainotti et al. 1997). Wilz und Barskova (2007) haben empirisch
649 37.2 · Rehabilitation nach Schlaganfall
Näher betrachtet Beeinflussbarkeit der Depression Der Frage, ob die Rehabilitation die Depressivität mindern kann, und wie der Verlauf nach der Entlassung ist, gingen Neubauer und Ranneberg (2005, Grötzbach 2007) in Bayern nach. In einer Kohorte von Schlaganfallpatienten zeigten bei Aufnahme in die stationäre Rehabilitation 25% der Patienten eine erhebliche Depressivität, gemessen mit dem Hospital Anxiety and Depression Survey (HADS). Bei der Entlassung war der Anteil auf 11% gesunken. In einer Nachuntersuchung 6 Monate nach Entlassung war dieser Anteil schwer depressiver Patienten auf 38% angestiegen. Dieser auch von anderen Autoren beschriebene Anstieg der Depressivität in den ersten 6–12 Monaten nach einem Schlaganfall ist schwer mit einem rein biologischen Erklärungsmodell vereinbar. Als Erklärungen könnten sich anbieten, dass evt. die während der stationären Behandlung häufig verordneten Antidepressiva abgesetzt oder nicht weiter eingenommen wurden, oder dass die Konfrontation mit Defiziten, die den Patienten während der stationären Behandlung erspart blieben, zu Enttäuschung und Depression führten.
zeigen können, dass ein bio-psycho-soziales Modell geeignet ist, die Entwicklung von depressiven Störungen zu erklären. Die Depressivität nach einem Schlaganfall ist eben beides, ein neurologisches und ein psychologisches Geschehen, trennen kann man diese nicht. Die Diskussion um die Lokalisation von Depressionen hält an, sie ist jedoch ohne Relevanz für die klinische Rehabilitation. Größe und Schwere des Schlaganfalls sind nicht ausschlaggebend für die Schwere der Depression. > Die Depression bei Patienten mit einem Schlaganfall kann in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten. Eine depressive Episode kann Ausdruck finden in 4 Klagen über Kopfschmerzen, 4 Schwindel, 4 Schlafstörungen, 4 erhöhte Erschöpfbarkeit und 4 Klagen über Gedächtnisstörungen.
Therapie bei depressiven Störungen Wie kann man Personen helfen, die nach einem Schlaganfall mutlos, ängstlich und weinerlich werden? Zunächst spricht Vieles für die Wirksamkeit nicht-pharmakologischer Hilfen (Evidenz 1a) (Teasell et al. 2009). Eine gemeinsam von allen Teammitgliedern getragene psychologische Unterstützung kann die Entwicklung depressiver Störungen verhindern oder lindern. > Treffend haben Pössl und Schellhorn (2002) das Grundprinzip formuliert: Das gesamte Behandlungsteam muss antidepressiv arbeiten.
jPraktische Hinweise für die nicht-medikamentöse Therapie kVerstehender Zugang Wenn die Patienten zeitweise in Tränen ausbrechen, hilft es ihnen oft, wenn man die Traurigkeit und das Weinen als einen normalen Vorgang bezeichnet, um mit einem Verlust oder einer Lebenskrise fertig zu werden. Damit wird einer Selbststigmatisierung (»ich bin ein nervliches Wrack«) und der Scham entgegengewirkt. Zu einem guten therapeutischen Milieu gehört, dass sich die Patienten ihrer Gefühlsäußerung nicht schämen müssen. jSelbstvertrauen und Selbstwirksamkeit (»self efficiacy«) stärken Dies geschieht durch hinreichend herausfordernde und erreichbare praktische Ziele (Locke 2002). Das Lob sollte mehr der Anstrengung als dem Ergebnis gelten. Lob und Freude sollte man freizügig mit den Patienten und den Angehörigen teilen. Ein Telefonanruf bei dem Ehepartner eines Patienten muntert beide auf. jDie Elemente der positiven Psychologie nutzen (Auhagen 2004, Snyder et al. 2002) Optimismus und Hoffnung vermitteln, den Blick auf die Stärken und nicht nur auf die Defizite richten. Man sollte lieber in Kauf nehmen, dass Erwartungen enttäuscht werden, als dass man vermeidet, Zuversicht und Hoffnung zu vermitteln. Hoffnung ist eine Heilkraft. Auch die Religiosität und Spiritualität gehören zu dem »psychologischen Kapital«, das in der Rehabilitation von Schlaganfallpatienten bisher kaum untersucht wurde. In der psychosomatischen Rehabilitation gaben 30% der Patienten an, dass sie sich von Gott in ihren Problemen unterstützt fühlen (Murken 2002, Schowalter et al. 2003). kAktivitäten und soziale Kontakte fördern Es gilt die Regel Theo Mulders (2004): »Rehabilitation is design of learning situations.« Man kann in einer Klinik die Patienten mit gleichem Hobby zusammenbringen, so die Fußball-Fans oder die Blumen- und Gartenfreunde, man kann gemeinsam singen und musizieren, man kann Kinder und Tiere in die Klinik bringen. Es sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt beim Herausfinden antidepressiver sozialer Aktivitäten. kHumor nutzen Eine Rehabilitationsklinik ist wohl kaum ein Land des Lächelns. Humor untergräbt das griesgrämig Bedrückte, das dem Team besonders bei Patienten mit rechtshemisphärischen Läsionen begegnet. Jedes Teammitglied sollte versuchen, seine Patienten einmal am Tag zum Lächeln zu bringen! kDie Identität bewahren Ein Landwirt bleibt trotz eines Schlaganfalls in seinem Herzen ein Landwirt. Depressivität entsteht häufig aus einem Empfinden des Absturzes, des aus dem Leben-gerissen-Seins, der Diskontinuität. Wenn die Teammitglieder dem Patienten vermitteln, dass sie in ihm die Person wahrnehmen und respek-
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Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
tieren, die er trotz des Schlaganfalls geblieben ist, helfen sie ihm bei dem Erleben einer Kohärenz seines Lebens. Der Medizinbetrieb ist leider so eingerichtet, dass Menschen auf eine Diagnose reduziert werden, was ihre Identität schwächt. Identität stellt sich in der Geschichte und den Geschichten dar, die Patienten mitbringen. kEin therapeutisches Milieu gestalten Die soziale Atmosphäre einer Einrichtung soll dazu beitragen, dass Humor, Lebendigkeit, Aktivitäten und eine Offenheit für Gefühlsäußerungen den Alltag prägen. Zum therapeutischen Milieu gehört auch die Architektonik. Die räumliche Gestaltung kann viel dazu beitragen, die soziale Isolierung zu verhindern. In der Rehabilitation sollte tunlichst dem Rückzug der Patienten in ihre Zimmer entgegengewirkt werden. Dazu kann eine Art Foyer, in dem sich die Patienten entspannt aufhalten und gleichzeitig das Geschehen auf der Station beobachten können, beitragen. Vielerorts wird leider der Wischfestigkeit der Böden mehr Bedeutung zugemessen als der sozialen Innenarchitektur. kErfahrungen aufschreiben oder erzählen Erste Erfahrungen zeigen, dass Schreibgruppen für Patienten mit einem Schlaganfall helfen, ihre Situation innerlich in eine Ordnung zu bringen (Hartke et al. 2007). Für viele Schlaganfallpatienten ist die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken, eingeschränkt. Für diese Patienten können Erzählgruppen hilfreich sein. In der Klinik des Autors wird regelmäßig eine Gesprächsgruppe »Lebenserzählungen« angeboten, in der die Patienten biographische und aktuelle Themen unter Gesprächsführung eines Psychologen austauschen.
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kDie Angehörigen einbeziehen Die Depressivität der Betroffenen macht oft die Angehörigen selbst hilflos. Es ist für die Angehörigen und auch die Patienten zunächst entlastend, wenn die Fachkräfte das depressive Verhalten entstigmatisieren. Dies kann man machen, indem man erläutert, dass Trauer und Niedergeschlagenheit normale menschliche Reaktionen auf einen Verlust sind. Das Weinen und die Tränen werden zunächst in einen Rahmen gemeinsamen Verstehens gestellt und nicht als psychiatrische Erkrankung tituliert. Mit den Angehörigen wird gemeinsam überlegt, welche Gegengewichte auf die Lebenswaage gelegt werden können, um die Traurigkeit nicht überwiegen zu lassen. Die Frage an die Angehörigen ist, was aus ihrer Erfahrung geeignet wäre, Lebensmut oder Lebenssinn zu stärken. jPharmakotherapie Dort, wo auf der Waage die Gegengewichte an Mut und Lebensfreude nicht ausreichen, sollte die Pharmakotherapie – um im Bild der Waage zu bleiben – das Gewicht der Depressivität erleichtern. Man sollte die Schwelle, ein Antidepressivum zu verordnen, niedrig halten, da eine schwere Depression den gesamten Heilungsverlauf beeinträchtigt. Aus der Sicht der EBRSR-Gruppe spricht die Evidenz (Stufe 1a) für eine Verordnung von Antidepressiva bei Patienten, die noch keine klinischen Zeichen einer Depression zeigen (Teasell et al. 2009).
Hackett, Anderson und House (2009) kamen in einer Meta-Analyse zu anderen Schlüssen: Die Wirksamkeit einer antidepressiven Pharmakotherapie ist nur niedrig, »odds ratio« 0,47 gegenüber Placebo. Die Häufigkeit von unerwünschten Wirkungen ist weitaus höher, »odds ratio« 1,96.
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Antidepressiva sollten mit Vorsicht bei Patienten mit anhaltenden depressiven Symptomen verwendet werden, da wir wenig über die Risiken wissen, wie Epilepsie, Stürze oder delirante Symptome. (Hackett, Anderson und House (2009)
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Wenn man pharmakologisch behandeln will, stehen Serotonin-Reuptake-Hemmer (SSRI) an erster Stelle. Unter den trizyklischen Antidepressiva ist die Wirkung für Nortriptylin belegt. Für folgende Präparate liegen Wirksamkeitsbelege vor: 4 Citalopram: 10–40 mg/Tag, 4 Sertralin: 50 mg/Tag, 4 Fluoxetin: 20 mg/Tag, 4 Nortriptylin: 75–125 mg/Tag. Wegen der besseren Verträglichkeit im Vergleich zu den klassischen Antidepressiva und wegen der geringeren Nebenwirkungen ist den SSRI der Vorzug zu geben. Nach Abwägen der verschiedenen SSRI kamen Turner-Stokes et al. (2002) zu dem Ergebnis, Sertralin als Mittel der ersten Wahl einzusetzen. Argumente waren, dass Sertralin keine Interaktion mit Antikoagulantien eingehe und wirksam bei der emotionalen Labilität sei. Die Wirkung der Medikation beginnt in der Regel nach 2–4 Wochen. Man sollte auch nach einer emotionalen Stabilisierung die Medikation noch für ein halbes Jahr fortsetzen. Zu den Nebenwirkungen kann hier nicht im Detail eingegangen werden; wichtig ist folgender Hinweis: Sowohl die trizyklischen Antidepressiva als auch die SSRI können das Sturzrisiko erhöhen. Möglicherweise wirken einige SSRI, wie Fluoxetin, besser auf die emotionale Labilität als auf die depressiven Symptome (Choi-Kwon et al. 2006).
37.2.9
Kognitive Funktionen
Hinsichtlich der Klassifikation und Beschreibung der kortikalen neurokognitiven Symptome hat sich in den letzten 100 Jahren wenig geändert. Daher spricht man auch heute von einer Wernicke- oder Broca-Aphasie. Zu den klassischen heute als neurokognitiv oder neuropsychologisch, früher als hirnpathologisch bezeichneten Syndromen gehören 4 Aphasien, 4 Apraxien, 4 Agnosien, 4 visuell-konstruktive Störungen und 4 das Spektrum der Neglect-Phänomene und 4 der kortikalen Sehstörungen. Weiterhin zählen dazu die Symptome einer gestörten Körperwahrnehmung wie die Misoplegie, die Wut und Abneigung gegen den eigenen gelähmten Arm (Critchley 1979).
651 37.2 · Rehabilitation nach Schlaganfall
jErkennen von neuropsychologischen Syndromen Die Voraussetzung für die Erkennung von neuropsychologischen Syndromen ist eine gute Beobachtung durch die entsprechend geschulten Teammitglieder, da Störungen in Untersuchungssituationen oft nicht zu erkennen sind, da sie erst bei komplexeren Alltagsanforderungen auftreten. In jedem Fall sollte man die CT- oder NMR-Bilder des Schlaganfalls nutzen, um aus der Lokalisation Hypothesen über mögliche neuropsychologische Symptome abzuleiten, auch wenn im Einzelfall oft Lokalisation und Störungsbild nicht übereinstimmen (Bogousslvavsky u. Caplan 2001). Einige Symptome, wie Alexien oder eine Prosopagnosie, werden von den Patienten spontan nicht berichtet; hier kann die Lokalisation des Schlaganfalls die entscheidenden Hinweise geben. ! Cave Zu beachten ist die große Variabilität in dem Verhältnis vom Ort der Schädigung und neuropsychologischem Symptom. So führt ein Infarkt im N. caudatus bei einem Patienten zu schweren exekutiven Störungen, bei einem anderen sind nur flüchtige sensomotorische Ausfälle vorhanden. Einige dieser Syndrome, wie die vielfältigen Neglect-Formen oder Aphasien, sind häufig, andere, wie visuelle Agnosien, selten. Von Unerfahrenen wird häufig der Fehler gemacht, zu erwarten, dass die kortikalen Syndrome lehrbuchmäßig und konstant auftreten. Das ist nicht der Fall. Ein Patient mit einer Prosopagnosie hat nicht bei allen Gesichtern Schwierigkeiten, und seine Störung kann situativ schwanken. Es wird für die Diagnose einer Apraxie oder Akalkulie fälschlich angenommen, dass sich eine solche Störung ständig zeige. Dieses Schwanken in den kognitiven Funktionen, dazu gehören selbstverständlich auch die sprachlichen Funktionen, ist ein Phänomen, das nicht motivational zu erklären ist. Man sollte sich zur Regel machen, kortikale Störungen nicht nur im Untersuchungszimmer, sondern auch im Alltag zu beobachten. Man wird feststellen, dass viele Aufgaben in natürlichen Situationen, die dem Patienten vertraut sind, oft besser gelingen als im Kontext einer Untersuchung. Näher betrachtet Anekdote von der gebratenen Ente Anekdotisch hat Grötzbach (2009) erzählt, wie stark die subjektive Relevanz einer Aufgabe das Ergebnis beeinflusst. So erzählt er von einem Hotelchef mit einer schweren Aphasie, der große Schwierigkeiten beim Benennen von Objekten hatte. Beim Verlassen des Behandlungsraums verkündete er ohne zu Zögern: »Wir gehen jetzt zum Chinesen und essen gebratene Ente.« Empirisch ist belegt, dass Neglect-Symptome kontextabhängig auftreten (Bowen et al. 1999).
jNeuropsychologische Untersuchung Ein Goldstandard für die neuropsychologische Untersuchung existiert nicht. Die Testung muss im Einzelfall hypothesengeleitet anhand der beobachteten bzw. aufgrund der Lokalisation zu erwarteten Ausfälle erfolgen. Eine gute klinische Übersicht
über klinische Untersuchung kognitiver Funktionen bieten Strub und Black (1993), Hodges (1994) und Danek (2006), ein 5-Minuten-Screening-Verfahren ist das Montreal Cognitive Assessment (MoCA) (Nasreddine et al. 2005), das in einer deutschen Version im Internet herunterladbar vorliegt. Die Aufgabe von Teams besteht darin, das Handeln des Patienten im Alltag zu beobachten und hinsichtlich gelungener und nicht gelungener Handlungssequenzen zu analysieren. Walker und andere (2004) zeigen dieses Vorgehen am Beispiel des Ankleidens. Sie analysierten anhand von VideoAufnahmen die Fehler, die Patienten beim Ankleiden machten und ordneten diese kognitiven Funktionen zu. Beispielsweise hatten die Patienten, die ihre paretische Hand nicht in die Öffnung des Ärmels einfädeln konnten, Störungen in visuell-räumlichen Funktionen. Die Patienten, die vergaßen, das T-Shirt über die paretische linke Schulter zu ziehen, zeigten im Test deutlich einen visuellen Neglect. Die neuropsychologische Testung erfolgte hypothesenorientiert anhand der Beobachtungen in alltäglichen Aktivitäten. Im klinischen Alltag begegnet man häufiger den eher diffusen kognitiven Symptomen, wie verminderte Konzentrations- und Merkfähigkeit. jPatientenbefragung Fragt man Patienten selbst, welche Schwierigkeiten sie hinsichtlich ihrer geistigen Leistungsfähigkeit haben, so kommt sehr häufig die Antwort, sie fühlten sich rascher ermüdet, verlangsamt, und Tätigkeiten, die sie vor dem Schlaganfall »mit links« gemacht hätten, würden wie ein Berg vor ihnen liegen. Hochstenbach et al. (2005) haben Patienten und Angehörige danach befragt, welche kognitiven Einschränkungen sie im Alltag wahrnehmen (. Tab. 37.7). Ein Teil der Alltagsschwierigkeiten von Patienten lässt sich Störungen ihrer exekutiven Funktionen zuordnen. Zu den exekutiven Funktionen gehören 4 die Fähigkeit, zielgerichtet zu planen und zu handeln, 4 die Fähigkeit, sich auf neue Aufgaben und Situationen umzustellen, 4 Durchhaltevermögen und 4 die Fähigkeit, bei Schwierigkeiten, eine andere Strategie zu wählen. Diese Fähigkeit zur raschen Navigation durch den Alltag ist bei etwa der Hälfte der Schlaganfallpatienten beeinträchtigt (Zinn et al. 2007, 7 Kap. 11). Auch diese Einschränkungen treten in Alltagsaufgaben oft deutlicher in Erscheinung als in der Testdiagnostik.
Therapie kognitiver Störungen nach einem Schlaganfall (. Tab. 37.8) Die Rehabilitation aller kognitiven Störungen sollte alltagsnah und in einen für den Patienten sinnvollen Kontext eingebettet sein (Frommelt u. Grötzbach 2007b). Man sollte auch in der Therapie berücksichtigen, dass sehr viele kognitive Leistungen nicht auf der Arbeit eines einzelnen Gehirns, sondern auf der Zusammenarbeit mehrerer Menschen beruhen. Daher kann es therapeutisch nützlich sein, kollaborative Aufgaben,
37
652
Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
. Tab. 37.7. Häufigkeit von Klagen über kognitive Einschränkungen von Patienten und Angehörigen Funktionen
% der Patienten
% der Angehörigen
Vergesslichkeit
61
59
Geistige Verlangsamung
56
64
Mangelnde Konzentration
55
54
Unfähigkeit, zwei Dinge zugleich zu erledigen
53
64
Aphasie
32
40
Orientierungsstörungen
20
27
Bewusstseinsstörungen
7
Apraxie
Bereich
Beurteilung
Aufmerksamkeit
4 Begrenzte Evidenz (2), dass computergestütztes Training die Aufmerksamkeitsleistung verbessert 4 Begrenzte Evidenz (2), dass Anhören von Musik nach eigener Auswahl Gedächtnis und Aufmerksamkeit verbessern
Gedächtnis
Starke Evidenz (1a), dass Training kompensatorischer Gedächtnisstörungen, z.B. imaginative Verfahren, externe Hilfen, wirksam ist
18
Exekutive Funktionen
Es gibt keine Studien mit Schlaganfallpatienten, die eine Aussage zulassen
6
9
Apraxie
Schwierigkeiten beim Schreiben
56
53
Starke Evidenz (1a) spricht für kompensatorische und alltagsorientierte Therapien (»Kaffekochen übt man durch das Kaffeekochen)
Schwierigkeiten beim Lesen
48
48
Schwierigkeiten beim Telefonieren
27
34
Schwierigkeiten mit Bankangelegenheiten
22
33
Schwierigkeiten, das Fernsehprogramm zu verfolgen
24
25
(Hochstenbach et al. 2005)
37
. Tab. 37.8. Evidenz für die Wirksamkeit kognitiver Rehabilitation nach einem Schlaganfall (auf der Basis von randomisiert-kontrollierten Studien (RKT)
man denke an das Kochen oder eine Bürotätigkeit, zu stellen. Oft ist es sinnvoll, Strategien zum Umgang mit Einschränkungen zu vermitteln. So konnte ein Training, bei dem in 10 Stunden Strategien zum Umgang mit Zeitdruck vermittelt werden, Patienten helfen, Alltagsaufgaben schneller zu erledigen (Winkens et al. 2009).
(Teasell et al. 2009)
enten, die Belastung dosiert und langsam zu steigern, und dann, wenn sie sich benommen fühlen oder einen Kopfdruck verspüren, eine Pause zu machen. Das Konzept hinter diesen Empfehlungen ist, dem Patienten die Kontrolle über seine subjektive Belastung zu überlassen, also seine Selbstachtsamkeit und Selbstwirksamkeit zu stärken. Die klinische Erfahrung zeigt – und es gibt keine Studien dazu – dass allein die Beruhigung, dass sich die Symptome mit der Zeit legen, den Patienten hilft. Man kann dem Patienten die Ermüdbarkeit auch so erklären: Der Organismus benötige viel Energie, um im Inneren wieder Aufbauarbeit zu leisten, daher seien weniger Kräfte vorhanden, nach außen wirksam zu sein.
Praxistipp
37.2.10
Für das Training kognitiver Funktionen lassen sich einige pragmatische Empfehlungen geben: 4 Alltagsnahe Aufgaben stellen, die für den Patienten sinnvoll erscheinen. 4 Aufgaben sollten Zielen auf der Ebene von Teilhabe dienen. 4 Aufgaben hinreichend schwer, jedoch lösbar. Schweregrad ständig anpassen. 4 Hausaufgaben geben, ähnlich wie in der Schule. Klare Aufträge, deren Erledigung überprüfbar ist.
In dem Beitrag von Grötzbach (7 Kap. 23) werden die Prinzipien der Therapien von Sprach- und Sprechstörungen dargestellt. Weist ein Patient keine Aphasie auf, wird häufig eine Lesestörung übersehen. In einer Übersichtsarbeit kritisiert Cherney (2004) die üblichen Leseübungen mit Papier und Bleistift oder am Computer. Sie schlägt vor, anstelle von Übungen mit kleinen Textabschnitten zusammenhängende, also alltägliche Texte durch eine spezielle Form des Vorlesens, Oral Reading for Language in Aphasia (ORLA), zu üben. Der Nutzen eines narrativen Ansatzes, nicht nur für die Sprachtherapie, besteht nicht nur darin, sich von isolierten Übungen hin zu sinnvollen Texten zu bewegen, sondern auch darin, dass die auch noch so bruchstückhaften Erzählungen an die Person des Patienten heranführen und Therapeut und Patient
Wenig gesicherte Erkenntnisse liegen über die diffusen kognitiven Funktionsstörungen vor. Empfohlen wird den Pati-
Sprache und Sprechen
653 37.2 · Rehabilitation nach Schlaganfall
in einer besonderen Art und Weise verbinden. Dieser narrative Ansatz in der Sprachtherapie findet aktuell zunehmendes Interesse (Hinckley 2010, Holland 2010, Hersh 2010). Die wichtigsten Ergebnisse der EBRSR-Gruppe sind in . Übersicht 37.6 zusammengefasst . Übersicht 37.6. Evidenz in der Sprachtherapie (Teasell et al. 2009) 1.
2. 3.
4. 5.
6.
7.
8.
Sprachtherapie ist dann wirksam in der Aphasiebehandlung, wenn sie in den ersten 3 Monaten intensiv erfolgt. Ausgebildete Laien können eine wirksame Unterstützung darstellen (Evidenz 1a). Konversationsgruppen und Anleitung der Angehörigen zum Gespräch mit dem Betroffenen sind nützlich (Evidenz 1b). Sie tragen dazu bei, dass aphasische Patienten am Leben in der Gesellschaft teilhaben können. Forced-Use-Aphasietherapie kann die sprachlichen Funktionen verbessern (Evidenz 1b). Training am Computer verbessert sprachliche Funktionen (Evidenz 1a), jedoch nur fraglich die Aktivitäten (Evidenz 2). Kontext-sensitive (»task-specific«) Aufgaben verbessern semantische und phonologische Aktivitäten (Evidenz 1b). Durch eine transkraniale Magnetstimulation kann bei einigen Patienten mit einer Aphasie die Wortfindung verbessert werden (Evidenz 2). Piracetam kann in Verbindung mit einer Sprachtherapie die sprachlichen Funktionen verbessern (Evidenz 1a).
37.2.11
Visuelle Funktionen
Über die Prävalenz von Gesichtsausfällen nach einem Schlaganfall ist wenig bekannt. In der Bevölkerung über 50 Jahren liegt sie bei 0,8% (Gilhotra et al. 2002). Bei 86% aller Schlaganfallpatienten fanden Ciuffreda et al. (2007) Störungen der Okulomotorik. Diese und andere Autoren berichten von einer hohen Erfolgsquote der, wie sie in den USA genannt wird, optometrischen Rehabilitation. Zu den Techniken gehören 4 ein Training von Augenbewegungen, 4 das Einüben von Sakkaden, 4 die Verwendung von Prismen und 4 Leseübungen (Khan et al. 2008). Zur Behandlung von Gesichtsfeldausfällen und NeglectSymptomen siehe Groh-Bordin und Kerkhoff (7 Kap. 14 und 15). Auch bei nukleären und peripheren Augenmuskelparesen ist ein Training mit etwa 100 Übungswiederholungen am Tag erfolgreich (Kawahira et al. 2005). In . Übersicht 37.7 ist die aktuelle Evidenz der Therapie von visuellem Neglect zusammengefasst.
. Übersicht 37.7. Aktuelle Evidenz in der Therapie des visuellen Neglects (Teasell et al. 2009) 1.
2. 3.
4.
5. 6. 7.
Früh mobilisieren ist günstig zur Minderung der Neglect-Symptomatik (Cumming et al. 2009). Ein Training der visuellen Exploration in den Neglect-Sektor ist wirksam (Evidenz 1a). Aktivierung der Gliedmaßen auf der vernachlässigten Seite verbessert den Neglect. Am Computer sind Aufgaben in einer virtuellen Realität nützlich, nicht jedoch ein reines visuelles Scanning (Evidenz 2). Transkutane Nervenstimulation und Vibration der Nackenmuskulatur können in Verbindung mit einem Training visueller Exploration den Neglect mindern (Evidenz 1b). Prismen und bilaterale Halbfeld-Abdeckungen können den visuellen Neglect mindern (Evidenz 1a). Abdecken der Augen (rechtes Gesichtsfeld) verbessert visuellen Neglect nach links (Evidenz 1a). Transkranielle Magnet- und anodale Elektrostimulation können möglicherweise den visuellen Neglect vermindern (Evidenz 2).
37.2.12
Sensomotorische Rehabilitation
Gehen Für viele Patienten ist nach einem Schlaganfall das wichtigste Ziel, wieder gehen zu können. Ob sie dieses Ziel erreichen, hängt stark von anderen Funktionsstörungen ab. Vergleicht man Patienten mit einem gleichen Schweregrad einer Hemiparese, so machen diejenigen rascher motorische Fortschritte, die keine oder nur geringe kognitive oder visuelle Einschränkungen zeigen. Das Maximum der Gehfähigkeit wird von den meisten Patienten nach etwa 3 Monaten erreicht. Eine Reihe von Studien belegt, dass auch 6 bis 18 Monate nach einem Schlaganfall durch eine Physiotherapie alltagsrelevante Verbesserungen der Gehfähigkeit zur erreichen sind (Green et al. 2002). Dobkin (2004) folgert aus diesen Studien, dass es sich zu jedem Zeitpunkt nach einem Schlaganfall lohne, eine Auffrischung durch Physiotherapie auszuprobieren. Wenn Patienten einen oder zwei Monate nach einem Schlaganfall die Rehabilitationsklinik verlassen, können etwa 40% noch nicht sicher gehen. Wichtig ist es, das Gangtraining zu Hause fortzusetzen. Zu Hause lebende Patienten mit einer Hemiparese haben ein 4-faches Risiko zu stürzen und ein 10-faches Risiko, sich den Schenkelhals zu brechen, verglichen mit einer Gruppe gesunder Personen (Dobkin 2004). Außerdem können diese Patienten nur langsam gehen. > Die normale Ganggeschwindigkeit gesunder Erwachsener beträgt etwa 130 cm/sec. Die durchschnittliche Gehgeschwindigkeit, die Patienten mit einer Hemiparese nach 6 Monaten erreichen, liegt 6
37
654
Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
bei nur etwa 25 cm/sec. Um selbständig außerhalb des Hauses gehen zu können, ist eine Ganggeschwindigkeit von etwa 80 cm/sec notwendig.
So wie es keine Belege dafür gibt, dass eine physiotherapeutische Methode einer anderen überlegen ist (Pollock et al. 2008), ist es wider Erwarten nicht erwiesen, dass eine der modernen Trainingsmaschinen und Roboter bessere Ergebnisse erbringen als ein traditionelles physiotherapeutisches Arbeiten (Bogey u. Hornby 2007, Hesse 2007). Es gibt zumindest Hinweise darauf, dass ein Gangtraining in der Gruppe nicht zu schlechteren Ergebnissen führt als eine Einzeltherapie (English et al. 2007). Praktische Empfehlungen zum Training der Lokomotion gibt . Übersicht 37.8. . Übersicht 37.8. Empfehlungen zur Wiederherstellung der Mobilität (Teasell et al. 2009)
37
1. Gehen und Treppensteigen üben, nicht »Spastik vermindern« oder »Symmetrie einüben« – Motto: »Das Gehen lernt man durchs Gehen« (Evidenz 1a). 2. Mindestens 1 Stunde täglich Gangtraining (Jette et al. 2005). Es besteht eine Evidenz 1a, dass eine höhere Intensität zu besseren Ergebnissen führt. 3. Krafttraining der Beine verbessert Gehstrecke und kardiovaskuläre Kondition (Evidenz 1a). 4. Laufbandtraining mit oder ohne Gewichtsentlastung in der Einschätzung der EBRSR-Gruppe noch nicht durch Evidenz gesichert (Evidenz 4). 5. Funktionelle Elektrostimulation oder EMG-Biofeedback verbessern hemiplegischen Gang (Evidenz 1a). 6. Fußstützen des Rollstuhls nur für den Transport verwenden. Im Sitzen beide Beine auf den Boden aufsetzen. Den Rollstuhl mit den Füßen antreiben. Jede aktive Bewegung ist gut. 7. Am Esstisch auf einem Stuhl und nicht in einem Rollstuhl sitzen. 8. Hausaufgaben, d.h., Aufgaben zum Selbstüben geben. Aufgaben sollten präzise und mit Übungsfrequenz und Zielgrößen gestellt werden. 9. Rückwärtsgehen üben, z.B. 3-mal in der Woche für 30 Minuten (Yang et al. 2005). 10. Musik als Taktgeber nutzen, um das Gehen mit dem Rhythmus zu synchronisieren (7 Kap. 32). 11. Wenn die Patienten noch sturzgefährdet sind, sollten sie einen mechanischen Hüftschutz tragen. Alle Teammitglieder beteiligen sich an den Gehübungen – jeder Schritt bringt den Patienten voran!
Orthesen und Schuhversorgung Bei einer Hemiparese kommt es nach einer anfänglich schlaffen Lähmung zu einer charakteristischen Fehlhaltung des Fußes. Es entsteht eine Kombination von Supination und Plantarflexion, so dass die Fußspitze in der Schwungphase
gegen den Boden zeigt und bei Aufsetzen zunächst der vordere Außenrand des Fußes aufgesetzt wird. Dies wird auch als Equinovarus-Fehlhaltung bezeichnet. Damit ist die Gefahr gegeben, mit der Fußspitze am Boden hängen zu bleiben und zu stolpern. Allein aus Sicherheitsgründen sollte man daher Hilfsmittel einsetzen, um das Hängenbleiben zu vermeiden. Die einfachste Methode ist, die Sohle an der Fußspitze zu glätten, entweder durch Überkleben des Sohlenprofils oder indem man einen Schuhmacher die Schuhspitze glatt arbeiten lässt. Dies genügt meist nicht, da die unzureichende Dorsalflexion im Sprunggelenk den Abstand zwischen Boden und Fußspitze auf ein gefährliches Minimum reduziert. Daher ist es sinnvoll, früh eine Orthese oder einen Schuh zu verordnen. Die Bedenken hinsichtlich einer Atrophie der Fußmuskulatur und der Fußheber sind unberechtigt, wie Untersuchungen von Hesse (2007) zeigen. In einigen kleinen Studien konnte gezeigt werden, dass die Anpassung von Orthesen für den paretischen Fuß die Gangparameter verbessert (Fatone et al. 2009, Pohl u. Mehrholz 2006). Bei den Sprunggelenkorthesen sind die dynamischen Modelle günstiger, bei denen durch eine Feder oder Gummizüge eine Beweglichkeit im Sprunggelenk erhalten bleibt. kSchuhversorgung Viele Patienten tragen ungeeignete Schuhe; sie sind zu weich in der Sohle und im Oberteil und geben zu wenig Halt im Fersenteil. Einige Punkte sind bei der Schuhversorgung von Patienten mit einer Hemiparese zu berücksichtigen (Lord et al. 2001): 4 Der Schuh sollte einen hohen und stabilen Schaft haben, um Stabilität für das Sprunggelenk zu bieten und der spastischen Supinationsneigung entgegenzuwirken. 4 Die spastische Plantarflexion des Fußes (EquinovarusFehlstellung) sollte durch den Schuh vermindert werden, damit die Fußspitze nicht an kleinen Hindernissen hängen bleibt. 4 Die Sohlenspitze sollte geglättet sein, um ein Hängenbleiben der Fußspitze zu verhindern (Tyson u. Cross 2003). 4 Die Schuhsohle sollte breit und das hintere Fersenteil abgerundet sein. 4 Der Schuh sollte einhändig bedient werden können. kOrthesen (7 Kap. 19) Orthesen haben die Aufgabe, ausgefallene oder eingeschränkte Funktionen zu kompensieren. Hauptsächlich soll die Plantarflexion verhindert werden; einige Orthesen versuchen auch, die Supination auszugleichen. Entgegen einer oft gehörten Meinung verhindern sie nicht den muskulären Aufbau, sondern verbessern Stand und Gang (Pohl u. Mehrholz 2006). Dafür stehen zwei Grundmodelle zur Verfügung, starre und dynamische Orthesen: 4 Die starren Orthesen, also die klassischen Peroneusschienen, halten das Sprunggelenk über den Gangzyklus in einer Neutralstellung; sie erlauben keine Plantar- oder Dorsalflexion im Sprunggelenk. 4 Die dynamischen Orthesen arbeiten mit elastischen oder Federmechanismen. Wenn der Fuß in Plantarstellung
655 37.2 · Rehabilitation nach Schlaganfall
geht, werden eine Feder oder Gummizüge gedehnt und lösen eine Fußhebung aus. Praxistipp Für Patienten mit einer Hemiparese sind dynamische Orthesen vorzuziehen, da sie mehr Spielraum für Eigenaktivität lassen. Wenn man ein Modell auswählen will, sollte man neben der Funktion auf die Leichtigkeit der Bedienung und den Tragekomfort, also wesentlich auf die Meinung des Patienten, achten.
37.2.13
Pusher-Symptomatik und posturale Kontrolle
jPusher-Symptomatik Unter dem Pusher-Symptom versteht man das Verhalten von Patienten mit einer Halbseitenlähmung, in jeder Position auf die gelähmte Seite zu drücken. Versucht man, sie in eine senkrechte Haltung zu bringen, so leisten sie Widerstand. Zur Einstufung des Pusher-Symptoms steht eine einfache Skala, die Scale for Contraversive Pushing, mit drei Merkmalen zur Verfügung (Brötz et al. 2004). Als Erklärung für das PusherSymptom wird angenommen, dass bei diesen Patienten ein zweites Gravitationssystem, neben dem visuell-vestibulären, betroffen ist. Die subjektive posturale Vertikale ist um etwa 18° zur gelähmten Seite gekippt, während die visuelle Vertikale keine Kippung zeigt. Zur Therapie hat die Tübinger Gruppe einige praktische Hinweise gegeben (Brötz et al. 2004) (. Übersicht 37.9). . Übersicht 37.9. Hinweise zur Therapie des PusherSymptoms 1. 2. 3.
4.
5.
Die Behandlung sollte in aufrechter Position stattfinden. Die erhaltene visuelle Fähigkeit zur Einschätzung der Vertikalen wird genutzt. Übungen zur Wahrnehmung der Körperposition: Vergleich der eigenen Position mit Vertikalen in der Umgebung. Übungen zur selbständigen Änderung der Körperposition. Es werden Aufgaben gegeben, die eine Verlagerung der Position zur gesunden Seite hin erfordern. Die gerade Körperhaltung automatisieren. Aufgaben geben, bei denen die Aufmerksamkeit von der Körperhaltung weggelenkt wird. Der Patient lernt, dennoch die senkrechte Position beizubehalten.
jPosturale Kontrolle Nach Beginn der Rehabilitation dauert es im Mittel 11 Tage, bis ein Patient mit einer schweren Hemiparese imstande ist, frei zu sitzen. Während der Rehabilitation beträgt die Sturzfrequenz etwa 1–2 Stürze/100 Patienten-Tage, d.h., auf einer
Station mit 30 Patienten stürzt jeden dritten Tag ein Patient (Pérennou u. Bronstein 2005). Die Rehabilitation soll die Sturzgefahr mindern. Vereinfacht dargestellt werden drei Strategien verwendet, um ein Hinstürzen zu vermeiden. Die durch Ausgleiten oder Anstoßen verursachte Veränderung der Köperposition bezeichnet man als Perturbation. Wird man in der anterior- (bauchwärts) posterioren (rückenwärts) Achse perturbiert, nutzt man meist eine Hüftgelenkstrategie zum Ausgleich, bei einer seitlichen Perturbation zunächst eine Sprunggelenkstrategie. Diese Strategien helfen allerdings nur bei leichten Perturbationen; wird die Gefährdung größer, verwendet man Auffangschritte. Durch ein sog. Schubstraining kann der Patient diese Auffangschritte erlernen (Jöbges et al. 2004). Eine andere Trainingsmöglichkeit stellt die Posturographieplattform dar, bei der die Patienten auf einer Messplattform verschiedene Auslenk- und Balanceaufgaben mit einer ständigen ComputerRückmeldung durchführen. Allerdings scheinen diese technisch unterstützten Übungen nicht wirkungsvoller als eine übliche Physiotherapie (Yelnik et al. 2008). Ein Gleichgewichtstraining ist wirksam (Evidenz 1a), allerdings gibt es keine Belege für die Überlegenheit eines Trainingsverfahrens. Zur Untersuchung und Dokumentation stehen verschiedene Skalen zur Verfügung. Eine neue Skala, die Postural Assessment Scale for Stroke (PASS) (Pérennou u. Bronstein 2005) umfasst gegenüber der Berg-Skala (Blum et al. 2008) und dem Tinetti-Test (Tinetti 1986) auch das Sitzen und Liegen. Zur Rehabilitation von vestibulären Störungen sei auf den Beitrag von Fetter (7 Kap. 26) verwiesen.
37.2.14
Therapie der Armparese
Für das Training der Armfunktion gilt die Regel: Früh und intensiv mit der Therapie beginnen. Der Funktionsverlust der Finger und der Hand nach einem Schlaganfall beruht hauptsächlich auf dem Verlust an Kraft und Geschicklichkeit, nicht auf der Spastik (Kamper et al. 2006). Zu den Therapieformen sei auf den Beitrag von Hermsdörfer (7 Kap. 21) verwiesen. Die 2009 erschienenen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologische Rehabilitation (Platz u. Roschka 2009) stellen den aktuellen Stand dar; die wichtigsten Empfehlungen daraus und aus der kanadischen EBSR-Gruppe (Foley et al. 2008, Review 10) sind in . Übersicht 37.10 dargestellt. jConstraint Induced Movement Therapy Die Methode des erzwungenen Gebrauchs durch Ruhigstellung des gegenseitigen Arms (Constraint Induced Movement Therapy, CIMT) besticht durch ihre einfache Grundidee und die sehr guten Belege der Wirksamkeit bei Patienten mit chronischen Lähmungen und etwas Willkürbeweglichkeit in der Hand. Der weniger betroffene Arm wird dabei ruhiggestellt, und der betroffene Arm sollte durch Übungen bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit herausgefordert werden (Sterr et al. 2006). Eine Übungsphase von nur 2 Wochen genügte bei Patienten mit einer leichten bis mittelschweren Armparese, um eine Verbesserung zu erreichen, die noch
37
656
Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
. Übersicht 37.10. Therapie der Armparese nach Schlaganfall (Platz u. Roschka 2009, Teasell et al. 2009) 1. Mindestens täglich 30 Minuten spezifische Therapie der Armlähmung. 2. Keine der physiotherapeutischen »Schulen« ist anderen überlegen. Es gibt keinen Beleg für die Überlegenheit der Bobath-Methode. 3. Das repetitive Üben von Teilbewegungen ist in der Wirksamkeit fraglich. 4. Nicht nur den mehr betroffenen Arm trainieren, sondern beide Arme in die Übungen einbeziehen. 5. Eigentraining mit etwa 90 Minuten pro Tag unter therapeutischer Supervision empfohlen. 6. Eine medizinische Trainingstherapie zur Konditionsverbesserung wird empfohlen. 7. Ein Arm-Basis-Training (Platz et al. 2001) oder ein Arm-Fähigkeitstraining (Platz et al. 2005) werden empfohlen. 8. Die verschiedenen Verfahren der Constraint Induced Movement Therapy (CIMT) sind für jene Patienten zu empfehlen, die schon eine aktive Handfunktion aufweisen. 9. Ein mentales Training mit Vorstellung der Armfunktionen ist nach den deutschen Leitlinien für 10–30 Minuten täglich zu empfehlen; auch die EBRSR-Gruppe sieht eine Evidenz 1a. 10. Eine EMG-getriggerte oder funktionelle Elektrostimulation ist nur bei bestimmten Untergruppen zu empfehlen (s. Platz u. Roschka 2009, Mellink et al. 2008). 11. Eine Schienenversorgung verbessert weder die Handfunktion noch beugt sie einer Kontraktur vor.
37
nach 2 Jahren nachweisbar war (Wolf et al. 2008). In der praktischen Durchführung sah das ursprüngliche Konzept vor, dass 6 Stunden Therapien pro Tag durchgeführt werden müssen und die Restriktion der weniger betroffenen Hand 90% der Wachzeit über 2 Wochen durchzuhalten sei. Praxisnähere Varianten mit einer nur 2-stündigen Therapie und einer Restriktion über 5–6 Stunden sind jedoch auch wirksam. Die Entwicklung dürfte dahin gehen, dass ein Teil des Trainings am Computer durchgeführt wird, wie das von Taub, dem Pionier der CI-Therapie, beschriebene AutoCITE (automated CI therapy extension) (Taub et al. 2005). jSpiegeltraining Ein neuer Ansatz in der Therapie der Armlähmung ist das sog. Spiegeltraining oder Spiegeltherapie. Während der Therapie wird ein Spiegel vor die Körpermitte gestellt. Dieser Spiegel steht so, dass die Spiegelfläche nach rechts oder links in Richtung des weniger betroffenen Arms gerichtet ist und der Patient im Spiegel den Eindruck bekommt, sein gelähmter Arm werde bewegt, obwohl er in Wirklichkeit nur das Spiegelbild seines weniger betroffenen Arms sieht (Rothganel et al. 2007). Die neurophysiologischen Grundlagen dieser Therapie
sind noch nicht klar und die Wirksamkeit noch unsicher (Ezendam et al. 2009).
37.2.15
Schulter-Arm-Schmerzen
Etwa die Hälfte aller Patienten mit einer Hemiparese entwickelt eine meist schmerzhafte Bewegungseinschränkung in der Schulter auf der paretischen Seite (Turner-Stokes et al. 2002, Conrad u. Herrmann 2009). Je stärker die Parese, desto größer das Risiko von Schulterproblemen. Das glenohumerale Hauptgelenk zeigt nur ein eine geringe knöcherne Führung, die kleine Gelenkfläche wird durch Knorpel vergrößert. Eine Aufgabe der an der sog. Rotatorenmanschette beteiligten Muskeln ist, den Humeruskopf im Gelenk zu stabilisieren, besonders ihn nicht nach oben zum Akromion hin verschieben zu lassen. Bei einer schlaffen Parese wird der Arm durch die Muskeln nicht mehr im Gelenk gehalten, und es kommt zu einer Subluxation im Schultergelenk. Das Gewicht des Arms zerrt an den Nerven- und Gefäßsträngen. Wenn die Spastik einsetzt, überwiegen die Innenrotatoren, besonders der M. subscapularis. Daher ist besonders die Außenrotation eingeschränkt. Der Humeruskopf wird nach anterior verlagert, damit kann es zu einer Einklemmung der Rotatorenmanschette (Impingement) kommen. Verschiedene Mechanismen, die noch nicht gut nachvollziehbar sind, führen dazu, dass es zu einer schmerzhaften Schultergelenksteife kommt. Als Komplikation kommt es bei einigen Patienten zu einem sog. Schulter-ArmSyndrom mit teigiger Schwellung der Hand und Schmerzen im gesamten Arm. Man rechnet das Schulter-Arm-Syndrom zu den komplexen regionalen Schmerzsyndromen, wobei der Pathomechanismus noch weitgehend unklar ist. jTherapie bei Schulter-Arm-Schmerzen Es gibt einige Belege (Evidenz 2), dass Schlingen die Subluxation vermindern können. Eine vorsichtige passive Bewegung im Schultergelenk lindert den Schulterschmerz (Evidenz 1b). Dabei sollte das Schulterblatt auch bewegt werden. Sobald eine Willkürbewegung möglich ist, sollten die Patienten ermuntert werden, beide Arme zu bewegen. Denn im Gegensatz zu Gesunden, die ihre Arme 8–9 Stunden am Tag bewegen, bewegen Patienten mit einem Schlaganfall ihren betroffenen Arm nur 3 Stunden täglich und den weniger betroffenen nur 6 Stunden pro Tag (Lang et al. 2007). Einige therapeutische Empfehlungen aus der neuen Leitlinie »Schmerzhafte Schulter nach einem Schlaganfall« von Conrad und Herrmann (2009) und aus den EBRSR-Analysen (Teasell et al. 2009) sind in . Übersicht 37.11 zusammengestellt.
37.2.16
Krafttraining nach einem Schlaganfall
In der Vergangenheit wurde Krafttraining bei Patienten, die eine Hemiparese erlitten hatten, vermieden, weil man annahm, durch Widerstandsübungen würde die Spastik gestei-
657 37.2 · Rehabilitation nach Schlaganfall
. Übersicht 37.11. Therapieempfehlungen bei schmerzhafter Schulter und Schulter-Arm-Syndrom nach Schlaganfall 1. 2. 3.
Zur Vorbeugung sollten heftige und schmerzhafte Bewegungen wie Zug am Arm vermieden werden. Eine kontinuierliche passive Bewegung im schmerzfreien Radius ist zu empfehlen. Schlingen und das Schultergelenk stützende Hilfsmittel wie ein Rollstuhltisch können nützlich sein. Eine aktuelle Meta-Analyse kommt allerdings zu dem Schluss, dass es keinen Nachweis für den Nutzen der Lagerung gibt (Borisova u. Bohannon 2009).
Spezielle Empfehlungen für das Schulter-Arm-Syndrom 1. Orale Kortikoide, z.B. 40 mg Prednisolon täglich über 2 Wochen. Cave: Magenblutung bei gleichzeitiger Einnahme von Acetylsalicylsäure. 2. Kohlsensäure-Bäder, Kältepackungen und Manuelle Lymphdrainage (Anselstetter et al. 1999) (allerdings keine Evidenz). 3. Tetrazepam 50 mg zur Nacht wirkt oft gut schmerzlindernd (keine Evidenz).
gert. Diese Annahme ist überholt. Pak und Patten (2008) haben die bisherigen Studien ausgewertet und kommen zu folgender Antwort: In keiner der Studien wurde eine Steigerung des Muskeltonus durch Krafttraining festgestellt. Man darf beispielsweise den Patienten einen Ball zum Zusammendrücken geben, selbst wenn die Finger sich in einer spastischen Beugestellung befinden (7 Kap. 16). Durch ein Krafttraining können auch Ganggeschwindigkeit und damit die Gangsicherheit verbessert werden. Weiter
gibt es Belege dafür, dass sich der Kraftzuwachs auf Selbstvertrauen und Aktivitäten des täglichen Lebens positiv auswirkt (Flansbjer et al. 2008). Für die klinische Praxis haben Pak und Patten (2008) die in . Tab. 37.9 aufgelisteten Empfehlungen zusammengestellt. > Keine Angst vor Krafttraining: Willkürbewegung besiegt Spastik. Ein Krafttraining bessert nicht nur die Funktionen, sondern auch die Depressivität (Evidenz 1a) (Teasell et al. 2009).
37.2.17
Elektrotherapie
In der Phase, in der keine oder eine nur geringe Willkürbewegung in Arm- oder Beinmuskeln möglich sind, wird häufig eine Elektrotherapie eingesetzt (s. Übersicht in 7 Kap. 18). Ein Beispiel für die Stimulationsparameter der Hand gibt . Übersicht 37.12. Falls eine geringe willkürliche Anspannung eines Muskels möglich ist, kann man die ausgelöste Muskelaktivität durch einen Elektroimpuls auf den gleichen Muskel so verstärken, dass eine deutliche Bewegung ausgelöst wird. Dies ist das Verfahren der elektromyographisch getriggerten Elektrostimulation (EMG-NEMS). Man sollte mindestens 20 Minuten täglich EMG-getriggert stimulieren (Barth et al. 2008).
37.2.18
Therapie von sensiblen Störungen
Etwa drei Viertel aller Patienten mit einem Schlaganfall weisen Störungen in der Sensibilität auf (Sullivan u. Hedman 2008). Von den klassischen sensiblen Qualitäten Berührung, Lage, Schmerz und Temperatur ist die Berührungsempfindung am meisten betroffen. Sensible Ausfälle treten häufiger
. Tab. 37.9. Parameter für das Krafttraining für Patienten mit einer Hemiparese nach einem Schlaganfall Trainingsparameter
Empfehlung
Höhe des Widerstands bei Krafttraining
60–80% des bei einer Wiederholung maximal erreichten Wiederstands
Art der Übungen
Nicht nur Kraft steigern, sondern auch die Geschwindigkeit, z.B. beim Gehen und Greifen
Anzahl der Wiederholungen
8 bis 10, maximal 12 pro Übungsaufgabe
Anzahl der Übungsaufgaben
3 pro Übungsstunde mit jeweils 8–10 Wiederholungen
Anzahl der Trainingseinheiten in der Woche
Mindestens 3-mal
Dauer des Trainings
6 bis 12 Wochen
Medizinische Kontraindikationen
Vor Training internistisch-kardiologische klinische Untersuchung, ggf. Belastungs-EKG
Art des Trainings
Entweder an Geräten oder durch Gangtraining
(modifiziert nach Pak und Patton 2008)
37
658
Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
37.2.19 . Übersicht 37.12. Parameter für die Elektrostimulation von Hand- und Fingermuskeln bei Hemiparese (Yozbatran et al. 2006) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
37
Gerät zur Transkutanen Elektrischen Nervenstimulation (TENS) Reizelektrode über dem Zielmuskel, Referenz unterhalb Ellenbogengelenk Impulsfrequenz: 2 Hz Impulsdauer: 260 μs, mit automatischer zyklischer Variation Wellenform: biphasische asymmetrische Rechteckimpulse Amplitude: so hoch, dass gerade eine volle Bewegung in dem Gelenk ausgelöst wird
bei Ischämien der rechten als der linken Hemisphäre auf. Ein alltagsrelevanter Teil des sensiblen Systems, die Haptik, wird in der Untersuchung meist wenig beachtet. Dies ist die Fähigkeit, verschiedene Oberflächen und Konturen zu ertasten. Dabei kombinieren sich Tastbewegung und Tastempfindung. Man kann das Tastvermögen qualitativ beispielsweise dadurch prüfen, indem man verschiedene Körnungen eines Sandpapiers vorlegt. Die detaillierte Prüfung der sensiblen Funktionen sollte erneut 2 bis 4 Wochen nach einem Schlaganfall erfolgen. Um die Verbesserung der Wahrnehmungsschwelle für Berührung zu messen, kann man Geräte zur transkutanen Nervenstimulation verwenden; eine Erniedrigung der Reizschwelle von mehr als 1 mA für die Hand und von mehr als 5 mA am Fuß sind klinisch relevant (Eek u. Engardt 2005). Die Rolle der Sensibilität wurde in einer Studie zur Wirksamkeit der Constraint Induced Movement Therapy (CIMT) deutlich: Nur die Untergruppe von Patienten zog einen Nutzen, die sensible Ausfälle aufwiesen (van der Lee et al. 1999). Einen Arm, den man nicht fühlt, nutzt man weniger. Das Prinzip der Therapie besteht auch hier darin, vielfältige und wechselnde sensible Reize zu setzen. Dies kann von dem Bestreichen mit einem Pinsel bis zu Eisstimulation reichen. Die Frage stellt sich, ob das Training der Sensibilität Verbesserungen über die trainierten sensiblen Funktionen hinaus auch anderer Funktionen bewirkt. Die umfangreichste Studie dazu umfasst nur 59 Teilnehmer. Dennoch gibt es eine Reihe von Belegen (»emerging evidence«, Sullivan u. Hedman 2008) für die Wirksamkeit eines Sensibilitätstrainings, so für 4 das Gehen, 4 das Schlucken oder 4 die Handfunktion. Besonders sollte man bei den Patienten sensible Afferenzen aktivieren, die eine Gliedmaße noch nicht bewegen können. Stinear et al. (2008) ließen Patienten die paretische Hand passiv bewegen und konnten dadurch eine deutliche Verbesserung der aktiven motorischen Kontrolle erreichen.
Komplementäre oder alternative Therapien
Diejenigen, die sich in einem medizinischen Denkmuster bewegen, belächeln oft die vielfältigen komplementären Therapien, denen sich die Patienten zuwenden. Selbst die Massage wird oft dem Wellness-Bereich zugerechnet. Eine Meta-Analyse zur Massage-Therapie zeigte, dass die Effektstärke in der Reduktion von Angst und Depression in der gleichen Größe wie die der Psychotherapie liegt (Moyer et al. 2004). Man könnte spekulieren, dass sich die Ergebnisse einer Studie an frühgeborenen Kindern auf Schlaganfallpatienten übertragen lassen. Guzzetta et al. (2009) fanden, dass sich die Kinder, die massiert wurden, im EEG und in der Reifung visueller Funktionen besser entwickelten als eine Kontrollgruppe. Diese Arbeiten zeigen, dass 4 sich auch alternative Methoden wissenschaftlich untersuchen lassen, und 4 es keinen Grund gibt, sich abfällig über alternative Ansätze zu äußern. Die methodische Qualität vieler Arbeiten ist unzulänglich, so dass sich keine Aussagen ableiten lassen, wie in einer MetaAnalyse zur Traditionellen Chinesischen Medizin bei Schlaganfallpatienten (Junhua et al. 2009). In einer Arbeit mit dem schönen Titel »Mind-Body Interventions« haben Wahbeh et al. (2008) die komplementären Therapien in der Neurologie unter die Lupe genommen. Einige Ergebnisse sind in . Tab. 37.10 zusammengefasst.
37.2.20
Ermüdbarkeit und Schlaf
Etwa die Hälfte aller Schlaganfallpatienten empfindet eine abnorme Ermüdbarkeit (Schepers 2006). Diese Ermüdbarkeit, Fatigue, ist in ihrer Entstehung noch nicht geklärt. Sie ist oft verbunden mit Depressivität; sie ist jedoch ein eigenständiges Krankheitsbild und nicht Ausdruck einer Depression, deshalb ist eine Depression auch differenzialdiagnostisch zu erwägen und ggf. medikamentös ex juvantibus zu behandeln. Ein Zusammenhang mit der Art und der Lokalisation eines Schlaganfalls ist nicht nachgewiesen. Körperliche Aktivität wirkt der Fatigue entgegen. Zu dem psychologischem Hintergrund der Ermüdbarkeit gehört eine Veränderung des »locus of control«, also der subjektiv erlebten Steuerbarkeit der eigenen körperlichen Funktionen. Die Patienten, die sich als stärker erschöpfbar erleben, zeigten eine geringe interne Kontrollüberzeugung. Sie waren also eher der Überzeugung, dass durch ärztliche Maßnahmen ihr gesundheitliches Befinden beeinflusst werde (Schepers 2006). Ein therapeutischer Ansatz besteht also darin, den »locus of control« von einer äußeren auf die innere Autorität zu verschieben. Die Betroffenen sollten selbst herausfinden, wie sie sich durch kleine Pausen, durch »Nickerchen«, Erholung verschaffen können. Man konnte zeigen, dass durch kleine Schlafpausen das Erlernen motorischer Fähigkeiten verbessert wird (Siengsukon u. Boyd 2008).
659 37.3 · Nachsorge
. Tab. 37.10. Komplementäre Therapien in der Rehabilitation nach Schlaganfall, für die es zumindest Hinweise auf eine Wirksamkeit gibt
nächtlichem Blutdruckanstieg führen kann. Bei einem Apnoe-/Hypopnoe-Index von >15 ist das kardiovaskuläre Risiko besonders hoch. Die Diagnose ist einfach durch ein Apnoe-Screening, eine polygraphische Registrierung von Atembewegungen und Sauerstoffsättigung zu stellen. Die weitere Diagnostik und Festlegung der Therapie sollte in einem Schlaflabor erfolgen. Die Akzeptanz der Maskenbeatmung (CPAP) bei Schlaganfallpatienten liegt bei 50% der Patienten; daher sind Alternativen wie eine Sauerstoffgabe oder modernere Verfahren der Beatmung (»adaptative servoventilation«) zu erwägen. Ein Apnoe-Screening sollte großzügig, besonders bei adipösen Patienten, veranlasst werden. Auch wenn die Cochrane-Analyse (McGeough et al. 2009) keine Evidenz für eine Therapie der Ermüdbarkeit findet, kann man den Patienten einige pragmatische Tipps geben (. Übersicht 37.13).
Therapieform
Beschriebene Wirkungen
Yoga
Senkt Blutdruck und Herzfrequenz, verbessert Reaktionsfähigkeit
Tai Chi und Qigong
Verbessert posturale Kontrolle, Gelenkigkeit und fördert Konzentrationsfähigkeit (Au-Yeung u. Hui-Chan 2009)
Akupunktur
Erholung der neurologischen Funktionen, Schmerzlinderung, viele Wirksamkeitshinweise, jedoch Evidenz 4
Stressreduktion durch Achtsamkeit (»mindfulness based stress reduction«)
Schmerzlinderung, Reduktion von chronischer Depressivität
Biofeedback
Reduziert Verspannungen, lindert Schmerzen
. Übersicht 37.13. Tipps zur Minderung der Ermüdbarkeit nach einem Schlaganfall
Aromatherapie und Akupressur
Mindert Schmerz bei Schulter-ArmSyndrom (Evidenz 1b)
1.
Massage
Lindert Schmerz und Angst nach einem Schlaganfall (Evidenz 1b)
(modifiziert nach Wahbeh et al. 2008)
2. 3. 4. 5.
Unter den medizinischen Ursachen für eine erhöhte Tagesmüdigkeit sind die schlafbezogenen Atemstörungen zu nennen, die bei etwa der Hälfte aller Schlaganfallpatienten zu beobachten sind (Bassetti 2005). > Als eine schlafbezogene Atemstörung bezeichnet man einen Apnoe-/Hypopnoe-Index von 10 und mehr pro Stunde, d.h., es treten mehr als 10 Apopnoe-/Hypopnoe-Episoden in der Stunde auf.
Zu den typischen Zeichen der schlafbezogenen Atemstörungen gehören 4 Schnarchen, 4 irreguläres Atmen, 4 Einschlafstörungen und 4 häufiges Erwachen, auch verbunden mit Angstgefühlen. Zu den Symptomen am Tag gehören 4 Kopfschmerzen, 4 erhebliche Tagesmüdigkeit und 4 Konzentrationsstörungen. ! Cave Zu erwähnen ist, dass ein Schlaf-Apnoe-Syndrom ein erhöhtes Risiko für einen Hirninfarkt darstellt und durch einen erhöhten Sympathikotonus zu 6
Aufgaben in Portionen aufteilen, kleine Pausen einlegen. Eine Aufgabe zu einer Zeit erledigen. Einen Tagesplan erstellen, Pausen einplanen (»locus of control« beim Patienten). Körperlich betätigen, mindestens 2-mal 30 Minuten spazieren gehen. Erlernen von Entspannungstechniken, kurze »Nickerchen« einlegen. Ein 10-Minuten-Schlaf kann schon erholsam sein.
Bei der Rückkehr in die Arbeit stellt die Ermüdbarkeit eine der wichtigsten Behinderungen dar. In der Regel sollte man daher eine stufenweise Wiedereingliederung mit langsamer Steigerung der täglichen Arbeitszeit empfehlen. Pharmakologisch gibt es keine gesicherten Therapien der Ermüdbarkeit nach einem Schlaganfall.
37.3
Nachsorge
37.3.1
Der Schlaganfallpatient zu Hause
Leider verlieren sich die Rehabilitationserfolge oft schon in kurzer Zeit. In einer Kohorte von 300 Schlaganfallpatienten wurde die Häufigkeit von schwerer Depression zu drei Zeitpunkten gemessen: zu Beginn und am Ende der stationären Rehabilitation sowie nach 6 Monaten. Die entsprechenden Prävalenzen betrugen 22%, 11% und 38%; dies bedeutet eine Verdreifachung der Häufigkeit von Depressionen (Neubauer u. Ranneberg 2005). Aus anderen Untersuchungen ist bekannt, dass besonders die Schlaganfallpatienten sich körperlich und seelisch verschlechtern, die einen schweren Schlaganfall erlitten haben, und die wenig soziale Kontakte haben
37
660
Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
(Thomas u. Lincoln 2008). Von sozialer Isolation spricht man, wenn zu weniger als drei außenstehenden Personen enge Kontakte bestehen (Boden-Abala et al. 2005). Die meisten quantitativen Untersuchungen über die Zeit nach der Entlassung aus der Klinik beschäftigen sich mit Fragen der Funktionsfähigkeit, der Selbständigkeit und besonders der Wiederherstellung motorischer Funktionen. Über die Veränderungen des Erlebens von Betroffenen erfährt man wenig. Einige Studien gehen der Frage nach, welche Veränderungen ihrer persönlichen Lebensphase Menschen mit einem Schlaganfall erleben, wie die Übergänge aus einer bisherigen in eine neue Phase des Lebens gemeistert werden. Bemerkenswert ist, dass viele der qualitativen Studien, die einen oft weitaus besseren Einblick als quantitative erlauben, von Pflegekräften durchgeführt wurden.
troffenen als stets unzufrieden, fordernd und ungeduldig. Damit umgehen zu können, wird von den Angehörigen manchmal als schwieriger erlebt als der Umgang mit den körperlichen Folgen (White et al. 2007). Auch ein leichter Schlaganfall beeinflusst die Teilhabe, besonders an Freizeitaktivitäten und sozialen Kontakten. Viele dieser Betroffenen haben einen Unterstützungsbedarf, selbst wenn sie nach außen nicht erkennbar beeinträchtigt sind. Dies ist zu bedenken, wenn diese Patienten aus einer Stroke Unit direkt nach Hause entlassen werden (Rochette et al. 2007). Für diejenigen Patienten, die aus der stationären Rehabilitation entlassen werden, stellt sich die Frage, wie die Fortschritte zu Hause ausgebaut werden können.
37.3.2 Näher betrachtet Qualitative Studie: Das Erleben nach Schlaganfall
37
Beispielhaft ist eine große qualitative Studie, die 125 Patienten mit einem Schlaganfall einschloss (Rittman et al. 2007). Mehr als zwei Drittel der Interviewten schilderten eine Veränderung des Selbsterlebens. Eine häufige Aussage war »Ich bin nicht mehr derselbe.« Andere wiederum erlebten keine solche Veränderung: »Das Leben ist gleich geblieben.« Diese Gruppe, die keine Veränderung in ihrem Selbstbild berichtete, verwendete sinnstiftende Konstruktionen, die das Ereignis als normale Alterungserscheinung oder als göttliche Fügung interpretierten. Ein weiteres zentrales Thema waren die Verbundenheit oder die Isolation. Diese Personen haben eine Art inneren Frieden mit einer Situation, die nicht unter ihrer Kontrolle stand, gefunden. Als weitere wichtige Bewältigungsstrategie wurde die Bindung an einen Partner und die Familie genannt. Zu dem Erleben von sozialer Verbundenheit gehört auch das Gefühl, gebraucht zu werden und etwas zum Zusammenleben beitragen zu können. Die sozialen Verbindungen aufrechtzuhalten, war vielen Betroffenen rein physisch nicht mehr möglich, sie konnten kaum noch das Haus verlassen (»Ich fühle mich wie eingesperrt«). Der öffentliche Raum ist ihnen nicht mehr zugänglich. Aus den Interviews wurde auch deutlich, dass soziale Isolation und ein negatives Selbstbild eng verknüpft waren mit depressiver und gereizter Stimmung.
Für die klinische Arbeit ergeben sich daraus zwei Forderungen: 4 Zum einen sollte die soziale Einbindung, die Möglichkeit, am öffentlichen Leben teilhaben zu können, vor der Entlassung geprüft werden. 4 Zum anderen sollte nach Möglichkeiten gesucht werden, wie die Betroffenen sich für andere Menschen nützlich machen können, um das Gefühl vermittelt zu bekommen, gebraucht zu werden. Einer Reihe von Betroffenen gelingt es nicht, den Absturz ihres Selbstvertrauens zu überwinden. Wenn Versagensgefühle und ein vermindertes Einfühlungsvermögen zusammenkommen, wird es für die Familien schwierig. Sie erleben den Be-
Erhalt der körperlichen Fitness
Nach einem ischämischen Schlaganfall lässt die körperliche Leistungsfähigkeit nach, auch wenn kein neues neurologisches Ereignis aufgetreten ist (Kernan et al. 2006). Etwa ein Viertel aller Patienten verlieren in den 3 Jahren nach einem Schlaganfall die Mobilität, die sie am Ende der Rehabilitation erreicht hatten. Besonders gefährdet sind Patienten, die kognitiv beeinträchtigt sind, oder die eine Depression entwickelt haben (van de Port et al. 2006, van Wijk et al. 2006). jKörperliches Training Diesem Abbau gilt es entgegenzuarbeiten. Die mittlere Anzahl der zügigen und raschen Schritte betrug bei einer Gruppe von Schlaganfallpatienten, die nach Hause zurückgekehrt waren, nur 83 pro Tag. Sie bewegten sich also nicht länger als 3 Minuten am Tag (Michael u. Macko 2007). Ein körperliches Training hat drei Ziele: 4 Erhalt oder Ausbau der Bewegungsfunktionen, 4 Erhalt oder Ausbau der kardiovaskulären Kondition zur Minderung des Risikos eines kardiovaskulären Ereignisses und 4 Stärkung des Vertrauens in den eigenen Körper. Bei Männern zwischen 40 und 87 Jahren wurde durch ein mäßiges körperliches Training das Risiko eines Schlaganfalls um über 60% gesenkt (Lee u. Blair 2002). Ein körperliches Training nach einem Schlaganfall verbessert Balance, Gang und Kondition (Michael et al. 2009, van de Port et al. 2007). Ein entscheidendes Hindernis für Patienten, das Haus zu verlassen, ist ihre Angst hinzustürzen (Michael et al. 2005). Sie erleben die Störung der posturalen Kontrolle als Schwindel und Unsicherheit beim Gehen. Die Gleichgewichtskontrolle sollte unter alltäglichen Bedingungen geübt werden, also weniger in der Physiopraxis als auf der Straße und auf der Treppe. kTrainingsintensität Als Anhaltspunkte für die Intensität des Trainings können die Empfehlungen der American Heart Association gelten (Goldstein et al. 2006) (. Tab. 37.11). Es gibt zu denken, dass weniger als 50% der Patienten mit einem Schlaganfall ihre Risiken hinreichend kontrollieren
661 37.3 · Nachsorge
. Tab. 37.11. Empfehlungen der American Heart Association Trainingsform
Intensität/Frequenz
Aerobe Konditionierung
4 40–70% der Herzfrequenzreserve, 50– 80% der maximalen Herzfrequenz 4 3- bis 7-mal/Woche jeweils 20–60 Minuten Übungen oder mehrere 10-Minuten-Übungen
Krafttraining
4 10–15 Wiederholungen von 8– 10 Übungen 4 2- bis 3-mal/Woche
Dehnen
4 Jede Dehnung etwa 10–30 Sekunden lang 4 Vor dem aeroben oder Krafttraining
Koordination
2- bis 3-mal/Woche, am besten vor oder nach Krafttraining
(Goldstein et al. 2006)
und vermindern. Daher sollte die Empfehlung zu körperlicher Aktivität bei keinem Schlaganfallpatienten fehlen, es sei denn, es lägen Kontraindikationen wie eine Kardiomyopathie vor. Ein einfacher Kontrollwert zur Belastungshöhe ist die subjektiv empfundene Belastung, z.B. mit der Borg-Skala. Die subjektive Belastung sollte im Bereich leichter Erschöpfung liegen (Borg 1998). Praxistipp Für die Patienten, die ein anspruchsvolles Trainingsprogramm nicht durchführen können, lautet die Empfehlung, täglich eine Stunde spazieren zu gehen; immerhin werden damit Kondition, Koordination und Muskelkraft gestärkt (Shimada et al. 2003). Hilfreich ist es, den Patienten ein Trainingsrezept, ähnlich einem Medikamentenrezept mitzugeben, nach dem Beispiel von Langhammer et al. (2007), die mit Erfolg den Patienten einen Übungsplan mit nach Hause gaben.
37.3.3
Organisation der Nachsorge
Die Nachsorge nach einem Schlaganfall ist in den deutschsprachigen Ländern gekennzeichnet durch eine zwar insgesamt gute Dichte von ambulant verfügbaren Therapien wie Physiotherapie und Ergotherapie, bei jedoch unzulänglicher Koordination der Beteiligten sowie starker Gewichtung auf den motorischen Therapien und Vernachlässigung der neuropsychologischen, emotionalen und sozialen Folgen (Schupp 2007). Die Zukunft liegt auch ambulant in der Bildung von Teams, in denen Therapeuten, Hausärzte, Fachärzte und die sozialen Dienste integriert sind (Lawrence 2002). Ambulant heißt bei immobilen Patienten zu Hause, nicht in der Praxis.
jNachsorgemodelle Kontrollierte Studien aus anderen Ländern zeigen, dass durch ein ambulantes interdisziplinäres Behandlungsteam für Patienten mit Schlaganfällen die Aufenthaltsdauer im Krankenhaus verkürzt werden kann und die gleichen funktionalen Ergebnisse wie bei einer stationären Rehabilitation erreicht werden (Teasell et al. 2008, Review 7). Für die Schweiz haben Rentsch und sein Team (Rentsch 2005) ein erfolgreiches Modell der häuslichen Nachsorge entwickelt. Für die ländliche Struktur in Norwegen hat Indredavik (2000) mit einem mobilen Team, einer Erweiterung des Stroke Unit-Teams, zeigen können, dass die vom mobilen Team betreuten Patienten kürzer im Krankenhaus blieben und zugleich mehr Selbständigkeit erzielten als eine stationäre Kontrollgruppe in der – schon sehr gut eingespielten – Stroke Unit. Die meisten Studien zu Nachsorgemodellen beziehen sich auf städtische Verhältnisse. Einige Vorschläge gibt es zur Frage der Nachbetreuung von Patienten im ländlichen Raum (Schupp 2007). Ein interessantes Modell der Nachsorge hat die Luzerner Arbeitsgruppe von Rentsch (Rentsch 2004) unter dem Begriff des Shared-Care-Modells entwickelt. Dabei koordiniert das stationäre Reha-Zentrum das regionale Versorgungsteam und bietet zusätzlich eine Tagesrehabilitation an. Damit ist der Gedanke einer Teambildung auch im ambulanten Raum umgesetzt worden. Die Mitarbeiter des Autors haben für eine ländliche Region folgenden Weg beschritten: Sie haben ehrenamtlichen Helfern, z.B. aus den Kirchengemeinden, Fortbildungsabende zum Umgang mit den Folgen eines Schlaganfalls angeboten. Die meist weiblichen Helfer besuchen die Betroffenen zu Hause, arrangieren Ausflüge u.Ä. Laienhelfer werden zu Unrecht gegenüber den professionellen Helfern als zweitrangig angesehen (Worrall u. Yu 2000). Eine Reihe von Modellen, meist aus Großbritannien oder Skandinavien, bieten umfassende Dienste zur Nachsorge von Schlaganfallpatienten in den Gemeinden. Meist handelt es sich um spezielle Pflegekräfte, die die Betroffenen und ihre Familien zu Hause beraten und ärztliche und therapeutische Versorgung koordinieren (»stroke coordinator«, »stroke family nurse«) (Shaugnessy u. Whitney 2007). Die Widerstände in den etablierten Versorgungsstrukturen sind dabei nicht zu unterschätzen, selbst in einem Studienprojekt (McDonald et al. 2002). Die Aufgabe solcher Koordinatoren besteht also im Wesentlichen darin, die an der ambulanten Versorgung Beteiligten zu vernetzen und ein Team zu formen (Lawrence 2002). Nur vier der bisherigen zwölf Studien zur Effektivität dieser sehr unterschiedlichen Dienste haben eindeutige positive Ergebnisse gezeigt (Visser-Meily et al. 2005).
37.3.4
Hilfen für Angehörige von Schlaganfallpatienten
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die Angehörigen von Personen mit einem Schlaganfall in ihrer psychischen Gesundheit beeinträchtigt sind; etwa 40% der pflegenden Angehörigen entwickeln eine depressive Erschöpfung (Cameron
37
662
Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
et al. 2006). Die Vorstellung, Personen mit einem Schlaganfall würden von einem Familiensystem aufgefangen, hört sich gut an, entspricht jedoch nicht immer der Wirklichkeit. In den meisten Fällen ist es ein Angehöriger, i.d.R. der Ehepartner, der die Aufgabe des Pflegenden übernimmt. Der Bedarf an emotionaler Unterstützung (»Ich möchte nur, dass die anderen mich einmal verstehen und mir zuhören«) ist dabei ebenso groß wie der nach praktischer Entlastung. Dennoch wäre es falsch, ein Bild der familiären Pflege zu zeichnen, in dem nur Belastungen und Stress einen Raum haben. Für Angehörige kann die Pflege auch eine Bereicherung, ein positives Erleben darstellen. In eingehenden Interviews mit 73 Angehörigen schilderten diese im Mittel 34 Probleme in einem Jahr Pflege und 37 Erfolge. Zu den erlebten Erfolgen gehören der Gewinn an Selbständigkeit, die Zunahme der Kohärenz, der Nähe zum Erkrankten, und die wachsende Verbundenheit mit anderen in der Familie und im Freundeskreis. Mit der Zeit erlebten viele Angehörige eine neue Balance, in der es ihnen möglich war, wieder eigenen sozialen und anderen Aktivitäten nachzugehen. Zu den Hauptproblemen gehörten die Schwere der körperlichen Pflege und die Neuordnung der Rollen. Diese Rollenzuweisung spiegelt sich in dem Satz »Ich habe noch ein Kind dazubekommen« (Cameron et al. 2006). Für die Belastung ist das subjektive Erleben entscheidend, nicht das objektive (Wyller et al. 2003). Auch eine neue deutsche Studie bestätigt das (Hasemann et al. 2006). An erster Stelle der Belastungen stand die subjektive Einschätzung der Pflegesituation durch den Pflegenden, an zweiter Stelle Verhaltensänderungen des Patienten.
Pflegende Angehörige sind gesundheitlich selbst gefährdet; an erster Stelle sind depressive Erschöpfungen zu befürchten (Low et al. 1999, Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe 2006). Die Bedürfnisse nach Unterstützung bei pflegenden Angehörigen lassen sich in fünf Bereiche zusammenfassen (. Tab. 37.12). In einer Reihe von Interviews mit pflegenden Angehörigen wurde am häufigsten der Satz »Ich kann nicht mehr!« geäußert (Robinson et al. 2005). Sie wünschen sich praktische und seelische Unterstützung. Kalra und Mitarbeiter haben einen Kurs für Angehörige mit drei bis fünf Einheiten angeboten und in einem randomisierten Vergleich einen langanhaltenden Nutzen dieser Kurse belegt (Kalra et al. 2004).
37.4
Teilhabe am Arbeitsleben nach einem Schlaganfall
In einer eigenen Serie von Schlaganfallpatienten, in der sowohl Patienten mit frischen als auch älteren Schlaganfällen vertreten waren, waren 6 Monate nach der Entlassung 48% wieder über 6 Stunden täglich berufstätig (Neubauer u. Ranneberg 2005, Grötzbach 2007). Dies entspricht dem Mittelwert von 44% in den bisherigen Studien (Daniel et al. 2009). Hinzu kommt, dass 24–33% der jungen Schlaganfallpatienten finanzielle Probleme nannten. Welche Faktoren bestimmen, ob eine Rückkehr in das Arbeitsleben gelingt? . Tab. 37.13 gibt eine Übersicht über die bisherigen Untersuchungen.
. Tab. 37.12. Bedürfnisse von pflegenden Angehörigen Bereiche
Beispiele
Informationen
»Mir hat niemand genau gesagt, was mit meinem Mann los ist, und wie die Aussichten sind.« Medizinische Erklärung und Prognose des Schlaganfalls Kontrolle der Risikofaktoren Verständigung mit dem Betroffenen
Emotionale Stabilität
Trauer überwinden und Hoffnung aufbauen Umgang mit Reizbarkeit, Ärger Wieder Freude empfinden können
Praktische Fähigkeiten und Problemlösen
»Ich kenn mich mit diesen Sachen überhaupt nicht aus, und ich weiß nicht, wen ich fragen kann.« Pflegetechniken, Verwendung von Hilfsmitteln Sozialleistungen Transporte, Reisen Kontakt mit Ehrenamtlichen
Beziehungen
»Unserer Beziehung hat sich geändert. Von den früheren Freunden sind nur wenige geblieben.« Reflexion der Veränderung der Beziehung zum Partner Möglichkeiten von Gesprächen mit anderen Betroffenen
Auf die eigene Gesundheit achten
»Ich habe meinen eigenen Blutdruck lange nicht kontrolliert.« Kontrolle der Risikofaktoren auch bei den pflegenden Angehörigen Resignation und depressiver Entwicklung entgegenwirken
37
(Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe 2006, Low et al. 1999)
663 37.5 · Dokumentation und Messverfahren
. Tab. 37.13. Faktoren, die einen möglichen Einfluss auf die Rückkehr ins Arbeitsleben nach einem Schlaganfall haben Faktoren mit möglichem Einfluss auf die Teilhabe am Arbeitsleben nach einem Schlaganfall
Zusammenhang mit beruflicher Wiedereingliederung
Art und Lokalisation des Schlaganfalls
Nicht signifikant
Alter
Nicht signifikant
Geschlecht
Nicht signifikant
Selbständigkeit und Gehfähigkeit
Signifikant
Kognitive Störungen
Signifikant
Sprach- und Sprechstörungen
Uneinheitliche Literatur
Angestellte vs. Arbeiter
Angestellte größere Chancen als Arbeiter
Ausbildungsniveau
Signifikant
(Wozniak u. Kittner 2002)
Fasst man die Ergebnisse der Studien zusammen, so lassen sich vier Faktoren identifizieren, die für eine Rückkehr ins Arbeitsleben Gewicht haben: 4 Selbständigkeit in basalen Aktivitäten des täglichen Lebens, 4 Fähigkeit, etwa 500 m zu gehen, ohne besonders zu ermüden, 4 Fähigkeit, sich etwas für 15 Sekunden zu merken, während man eine andere Aufgabe sorgfältig zu Ende führt, 4 emotionale Akzeptanz der verbliebenen Behinderungen (Saeki 2000). jBerufliche Wiedereingliederung Die Planung der beruflichen Wiedereingliederung erfordert eine individuelle Herangehensweise, wobei das Modell der ICF für die Leistungsbeurteilung nützlich ist (Frommelt u. Grötzbach 2005). Mit Zustimmung des Patienten sollte der Betriebsarzt möglichst einbezogen werden. Die Arbeitsaufnahme sollte i.d.R. stufenweise erfolgen und durch eine Rehabilitationsfachkraft oder den Betriebsarzt begleitet werden. Eine Rückkehr in die Arbeit führt zu einer deutlich verbesserten Lebenszufriedenheit und zu einem subjektivem Wohlbefinden (Vestling et al. 2003). jBerufliche Wiedereingliederung von Personen mit Aphasie Es gibt nur wenige Studien zur beruflichen Wiedereingliederung von Personen mit einer Aphasie (Hinckley 2002). Bemerkenswert daran ist, dass in nur einer von fünf relevanten Untersuchungen ein Zusammenhang zwischen der Schwere der sprachlichen Einschränkungen und der Wiedereingliederungsrate gefunden wurde. Personen mit einer Aphasie selbst
schätzen die Sprachstörung als ein größeres Hindernis ein als die Arbeitgeber (Garcia et al. 2000). Wodurch wird die Arbeitsprognose von Personen mit einer Aphasie so sehr beeinflusst, denn nur 15–25% nehmen die Arbeit wieder auf? Einen nachgewiesenen Einfluss haben kognitive Funktionen, Motivation und soziale Unterstützung. Als subjektives Hauptproblem steht die Ermüdbarkeit an erster Stelle. Hinsichtlich des Kontextes wurden von Betroffenen folgende Faktoren benannt (Garcia et al. 2000): 4 Lärm am Arbeitsplatz, 4 Telefonieren, 4 Gespräche mit mehreren Partnern gleichzeitig, 4 Einstellungen der Arbeitskollegen, 4 Leistungsdruck. Hinckley (2002) zeigte, dass durch eine Intensivierung der Sprachtherapie und Fokussierung auf kommunikative Kompetenz die berufliche Eingliederungsrate mehr als verdoppelt werden kann.
37.5
Dokumentation und Messverfahren
37.5.1
Dokumentation
Die Dokumentation der Rehabilitationsverläufe von Schlaganfallpatienten sollte mit möglichst wenig Aufwand möglichst viele Informationen liefern. Der englische Begriff des Outcome bezeichnet das angestrebte Ziel einer Maßnahme. Daher sollte auch bei einer Ergebnismessung zunächst das Ziel der Behandlung definiert werden. Viele globale Instrumente in der Schlaganfallrehabilitation, wie der Barthel-Index oder der Functional Indpedence Measure (FIM), kommen in letzter Zeit deutlich in die Kritik, so von Wade (2009), da sie sich nicht an einem theoretischen Konstrukt wie der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) orientieren. Es gibt Bestrebungen, die Aktivitäten von Personen in ihrem natürlichen Kontext, also zu Hause, zu dokumentieren und zu messen. Dazu gehören Bewegungssensoren, Akzelerometer, die Bewegungen über Stunden und Tage aufzeichnen (Uswatte u. Schultheis 2009). Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Zufallsstichproben aus häuslichen Video-Aufzeichnungen auszuwerten (Uswatte u. Qadri 2009). Leider beruht die überwiegende Anzahl von Messverfahren auf einer Beurteilung von außen, und es gibt nur wenige Verfahren, mit denen sich Befinden und Wahrnehmung der Patienten widergeben lassen. So zeigte eine Untersuchung aus der Schweiz, dass die Messung der Spastizität mit der Ashworth-Skala kaum mit der subjektiven Einschätzung korreliert (Lechner et al. 2006). Auch in der Evaluation von Rehabilitationsergebnissen sollte die Stimme des Patienten nicht außer Betrachtung gelassen werden. Qualitative Studien, für die es eine differenzierte wissenschaftliche Methodik gibt, können die quantitativen Studien ergänzen (Mayring et al. 2007). Mit standardisierten Fragebögen haben viele Patienten Schwierigkeiten, weil sie entweder die Fragen nicht richtig
37
664
Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
verstehen oder den Eindruck haben, keine der vorgegebenen Antworten treffe zu. Man kann den Informationswert von Fragebögen und Tests dadurch verbessern, dass man den Patienten bittet, laut nachzudenken, oder die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, mitzuteilen (Darker u. French 2009).
37.5.2
Messverfahren
Eine nationale oder übernationale Vereinbarung über die Auswahl von Messverfahren gibt es nicht. Mit der Einführung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) wurde ein Rahmen festgelegt, an dem sich Messverfahren orientieren sollten. Die Instrumente zur Messung in der Schlaganfallrehabilitation lassen sich den in . Übersicht 37.14 aufgelisteten Komponenten zuordnen. . Übersicht 37.14. Komponenten der Messverfahren 1. 2. 3. 4.
Pathologie: Art und Ätiologie des Schlaganfalls Funktionen Aktivitäten Partizipation
jPathologie Für die Dokumentation von ischämischen Hirninfarkten eignet sich die rein klinische Klassifikation des Oxfordshire Community Stroke Project (OCSP) mit ihrer Einteilung in die vier Hauptformen ischämischer Infarkte: 4 komplette anteriore Infarkte, 4 partielle anteriore Infarkte, 4 vertebrobasiläre Infarkte und 4 lakunäre Infarkte (Bamford et al. 1991).
37
Der Vorteil dieser Klassifikation liegt darin, dass sie in vielen Studien verwandt wurde und einigermaßen reliabel ist (Sprigg et al. 2007). Man nimmt als Nachteil in Kauf, dass abweichende Lokalisationen, wie Grenzzonen-Infarkte, nicht berücksichtigt werden. jFunktionen Je nach Fragestellung kann man Instrumente zur Messung von Funktionen einsetzen, so von Schmerzen, Depressivität oder Mobilität. Um Verläufe zu messen, sollte man Instrumente wählen, die gegenüber Veränderungen hinreichend responsiv sind. So sind die Ganggeschwindigkeit und die Berg-Balance-Scale (Berg et al. 1995) responsive Skalen für die Schlaganfallrehabilitation (English et al. 2006). Eine Übersicht über Instrumente zur Messung von Funktionen und Aktivitäten gibt . Tab. 37.14. jAktivitäten Zu den am häufigsten verwandten Instrumenten zur Messung basaler Selbständigkeit gehören der Barthel-Index (Mahoney
u. Barthel 1965) und die Funktionale Selbständigkeits-Messung (FIM) (Frommelt u. de Langen 1995). Der FIM hat gegenüber dem Barthel-Index den Nachteil, dass seine Anwendung etwas aufwändiger ist, da er mehr Items und eine feinere Skalierung besitzt. Der entscheidende Nachteil des Barthel-Index liegt darin, dass die kognitiven und sprachlichen Aktivitäten überhaupt nicht berücksichtigt werden, was seine Validität fragwürdig macht. Der große Vorteil des FIM liegt darin, dass er wegen seiner internationalen Verbreitung einen Vergleich mit anderen Kliniken und Versorgungssystemen erlaubt. Für die erweiterten Aktivitäten des täglichen Lebens, dazu gehören u.a. Tätigkeiten wie Einkaufen oder Autofahren, stehen der Frenchay Index (Segal u. Schall 1995) oder der Functional Assessment Measurement (FAM), eine Weiterentwicklung des FIM, zur Verfügung (Schädler et al. 2006). Für die Dokumentation des Gehens ist die Messung der Zeit für eine 10-m-Strecke am besten geeignet. Um einen Anhalt dafür zu bekommen, wie Patienten unter ambulanten Bedingungen mit vielen Ablenkungen gehen, sollte man eine Doppelaufgabe einbauen, z.B. Gehen und Sprechen, oder Gehen und eine Einkaufsliste merken (Lord u. Rochester 2005). jTeilhabe, Kontext Am wenigsten Klarheit gibt es darüber, wie man Teilhabe und Kontext in Messinstrumenten abbilden kann. Einige Instrumente stehen zur Verfügung, die jedoch bisher nicht miteinander verglichen wurden, und für die keine deutschen Versionen zur Verfügung stehen. Vielfach wird daher auf das generische Instrument SF-36 (Bullinger et al. 1995) zurückgegriffen, das sich allerdings sowohl auf Funktionen als auch auf Aktivitäten bezieht. Ein Nachteil der HandicapSkalen ist das Fehlen einer subjektiven Gewichtung des Patienten. In einer patientenzentrierten Rehabilitation wäre wichtiger als die Erkenntnis, wo ein Patient im Vergleich zu einer Vergleichsgruppe steht, zu wissen, ob er seine persönlichen Ziele erreicht hat. Schon vor Jahren haben Gill und Feinstein (1994) kritisiert, dass die Instrumente zur Messung der Lebensqualität nur ausnahmsweise dem Befragten erlauben, seine subjektiven Präferenzen zu äußern. Ein neuer kurzer und leicht verständlicher Fragebogen zur Messung der Teilhabe (IMET) wurde von Deck et al. (2007) publiziert. kMessung der Belastung von Angehörigen Für den unter Zeitdruck stehenden klinisch Tätigen ist eine visuelle Analogskala die schnellste Möglichkeit, sich ein Bild von der Gesamtbelastung Angehöriger zu machen (van Exel et al. 2004). Auf einer Skala zwischen 0 (= überhaupt nicht belastet) und 100 (= überlastet) werden die Angehörigen gebeten, einzustufen, wie belastet sie sich zurzeit durch die Pflege oder Begleitung ihres Partners fühlen. Zur genaueren Erhebung der Belastung sind der Fragebogen zur Erfassung der Belastung bei betreuenden oder pflegenden Angehörigen (Grässel u. Leutbecher 2001) und der Caregiver Strain Index
(Robinson 1983) geeignet.
37
665 37.6 · Gesundheitsökonomische Aspekte
. Tab. 37.14. Instrumente zur Messung von Funktionen und Aktivitäten in der Schlaganfallrehabilitation Inhalt/Instrument
Reliabilität
Validität
Responsivität
Sensitivität
Decken-/ Bodeneffekt
Referenz
Deutsche Version
Depressivität: Beck Depressionsinventar
+++
+++
++
Unklar
Aben et al. (2002)
Ja
Depressivität und Angst: HospitalAnxiety and Depression Test (HADS)
+++
+++
+++
Unklar
Herrmann-Lingen (2005)
Ja
Einfache kognitive Fähigkeiten: Uhrenzeichen-Test
++
+++
Unklar
Unklar
Ruchinskas u. Curyto(2003)
Ja
MoCA – Montreal Cognitive Assessment
+++
+++
Unklar
Unklar
Nasreddine et al. (2005)
Ja
Motorische Funktionen: Fugl-Meyer-Assessment
+++
+++
++
+
Gladstone et al. (2002)
Nein
Lokomotion: ABILOCO
+++
+++
+++
+++
Caty et al. (2008)
Nein
Rivermead Mobility Index
+++
+++
+++
+++
Collen et al. (1991)
Ja
Zeit für 5-m- oder 10-m-Gehstrecke
+++
+++
+++
+++
English et al. (2006)
Ja
Instrumente zur Messung von Partizipation nach einem Schlaganfall Nottingham Health Profile
+++
+++
+
Deckeneffekt
Hunt et al. (1989)
Nein
Reintegration to Normal Living Index
+++
+
++
Nicht bekannt
Daneski et al. (2003)
Nein
Stroke Impact Scale
+++
++
+
Nicht bekannt
Duncan et al. (1999)
Nein
Stroke Specific Quality of Life Scale
+++
++
+
Nicht bekannt
Williams et al. (1999)
Nein
Assessment of Life Habits, LIFE-H
+++
++
Nicht bekannt
Nicht bekannt
Noreau (2002)
Nein
CHART-I
++++
+++
++
Gering
Okada (2007)
Nein
+++ sehr gut, ++ befriedigend, + nicht ausreichend (modifiziert nach Teasell [Salter et al. 2008, Review 21])
37.6
Gesundheitsökonomische Aspekte
Im Gegensatz zur Akutmedizin sind die Diagnosen in der Schlaganfallbehandlung keine geeignete Grundlage, um den Rehabilitationsbedarf abzuschätzen, der ja in erster Linie vom Schweregrad abhängt. Daher ist das in Deutschland eingeführte Modell der Vergütung, das im Prinzip auf den Diagnosen beruht, für die Rehabilitation ungeeignet. Verschiedene Modelle wurden entwickelt, um den Rehabilitationsverlauf ökonomisch abzubilden. Ein Modell nimmt die Schwere der funktionalen Einschränkungen, berechnet beispielsweise mit FIM-Werten, als Basis für die Vergütung (Stinemann et al. 1998). Andere Modelle legen Zeitfenster für die Dauer des Aufenthalts fest, Fallpauschalen, die einen Anreiz darstellen sollen, den Aufenthalt möglichst zu verkürzen.
Dabei wird, wie in dem australischen Modell CRAFT (Casemix and Rehabilitation Funding Tree), je nach Schweregrad der funktionalen Einschränkungen, gemessen im Barthel-Index oder FIM, ein kürzerer oder längerer stationärer Aufenthalt als Richtgröße vorgegeben (Brock et al. 2007). Wird der Aufenthalt über diese Vorgaben hinaus verlängert, wird der Tagessatz gekürzt. Das Ergebnis dieses Vergütungsmodells in Australien war, dass die Kosten der Rehabilitation zwar gesenkt wurden, jedoch um den Preis einer Verschlechterung der Ergebnisse. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Variabilität der Verläufe viel größer war als im Modell angenommen. Weiter betonen sie, dass bei zukünftigen Vergütungsmodellen nicht das Ergebnis am Ende der stationären Rehabilitation die entscheidende Größe sein solle, sondern das Langzeitergebnis 12 Monate nach dem Schlaganfall.
666
Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
Es bestehen zurzeit Bestrebungen, die ICF der Vergütung in der Rehabilitation zugrunde zu legen. Um aus den australischen Erfahrungen zu lernen, sollte die Einführung neuer Vergütungsmodelle von neutraler – d.h. nicht politisch oder wirtschaftlich interessierter – Seite wissenschaftlich evaluiert werden.
37.7
37
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Kapitel 37 · Rehabilitation von Personen mit einem Schlaganfall
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jLiteratur zur Schlaganfallrehabilitation Eine kanadische Arbeitsgruppe um Teasell (Evidence-Based Review of Stroke Rehabilitation, EBRSR) hat im Internet die bisher umfassendste Zusammenstellung zur Evidenz der Schlaganfallrehabilitation publiziert (Teasell et al. 2009). Eine praxisorientierte Zeitschrift zur Schlaganfallrehabilitation ist »Topics in Stroke Rehabilitation«. Weitere wegen ihrer klinischen Orientierung empfehlenswerte Zeitschriften sind die deutschsprachige »Neurologie und Rehabilitation«, die britische »Clinical Rehabilitation« und die amerikanische »Archives of Physical Medicine and Rehabilitation«.
38
Rehabilitation bei Multipler Sklerose (MS) C. Vaney, R. Roth 38.1
Funktionsstörungen bei MS
38.1.1 38.1.2 38.1.3 38.1.4 38.1.5 38.1.6 38.1.7 38.1.8
Müdigkeit (ICF-Code: b 130) – 674 Koordinationsstörungen und Ataxie (ICF-Code: b 760) – 675 Spasmen und Paresen – 677 Sensibilitätsstörungen und Schmerzen (ICF-Code b 280) – 681 Blasenstörungen – 682 Sexualstörungen – 683 Kognitive Störungen – 684 Emotionale Störungen – 685
38.2
Reaktionen und Umgang mit der Diagnose »MS«
38.3
Stationäre Rehabilitation
38.3.1
Rehabilitationsplanung
38.4
Literatur
– 691
– 689
– 674
– 688
– 686
674
Kapitel 38 · Rehabilitation bei Multipler Sklerose (MS)
Als »Matratzengruft« hatte der Dichter Heinrich Heine seine letzte Bleibe 1856 beschrieben und seinen Zustand als ein Unleben, das nicht zu ertragen sei. Seine Multiple Sklerose hatte ihn ans Bett gefesselt, ihn seiner Autonomie beraubt und ihm die Lebenslust entrissen. Heute, 150 Jahre später, kämpfen die MS-Betroffenen unverändert gegen eine unberechenbare Krankheit. Aber heute, im Gegensatz zu damals, können Medikamente die strukturellen Veränderungen im Zentralnervensystem teilweise stabilisieren. Vor allem erlauben rehabilitative Maßnahmen, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern und sie vermehrt am Alltagsleben teilhaben zu lassen (Kraft 1999). Ausgehend vom ICF-Modell als konzeptuellem Rahmen wird in den folgenden Kapiteln die Rehabilitation von Patienten mit MS dargestellt. Zu Diagnostik, Pathophysiologie und Pharmakotherapie sei auf die neurologischen Lehrbücher verwiesen.
38.1
38
Funktionsstörungen bei MS
Die klinischen Symptome und Funktionsstörungen der Multiplen Sklerose sind vielfältig, wobei zu Beginn der Erkrankung meist Missempfindungen, Sehstörungen und eine beeinträchtigte Gehfähigkeit auftreten. Im Verlauf können dann spastische Paresen, Ataxie, Blasen- und Sexualstörungen das klinische Bild beherrschen. Nicht selten sind auch kognitive Funktionen betroffen, mit Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, der Auffassungsgabe und der Gefühlswelt. Auch im sozialen Umfeld, besonders Familie, Arbeitsplatz und Freizeitmöglichkeiten, zeigen diese Beeinträchtigungen ihre Wirkung. Gewisse Funktionsstörungen wie z.B. eine Trigeminusneuralgie können medikamentös erfolgreich angegangenen werden. Andere Symptome erfordern das Erlernen von Techniken, z.B. das selbständige Katheterisieren. Des Weiteren können Beeinträchtigungen durch neurochirurgische Eingriffe gemindert werden: 4 Bei einer massiven Spastik der Beine mit Behinderung der Pflege im Intimbereich kann eine intrathekale (in den Liquorraum eingeführte) Baclofenpumpe Erleichterung bringen. 4 Wenn ein Intentionstremor so heftig ist, dass die betroffene Person nicht mehr selbst essen kann, wird eine neurochirurgische Tiefenhirnstimulation erwogen. Im Gespräch gilt es herauszufinden, inwieweit die Behandlung bei einer in der Untersuchung erkannten Funktionsstörung für den Patienten relevant ist. Auch in der symptomatischen Behandlung von Patienten mit MS gilt der Grundsatz, dass das Rehabilitationsteam sich durch individuell zugeschnittene, für den Betroffenen bedeutende Behandlungsziele leiten lässt. jICF-Modell Auch wenn sich die pharmakologischen Maßnahmen günstig auf den Verlauf der Krankheit auswirken, so vermögen sie doch nicht, die vielfältigen im Zuge der Krankheit auftretenden Funktionsstörungen maßgeblich zu beeinflussen. Im
Gespräch mit dem Betroffenen gilt es herauszufinden, inwieweit die Behandlung einer Funktionsstörung für den Patienten relevant ist, z.B. kann eine ausgeprägte Beinspastik den Patienten weitaus weniger stören als eine klinisch kaum sichtbare Diplopie, die ihm das Lesen unmöglich macht. Auch bei der symptomatischen Behandlung der Multiplen Sklerose gilt der Grundsatz, dass das Rehabilitationsteam sich durch individuell zugeschnittene, für den Betroffenen bedeutende Behandlungsziele leiten lässt (Wade 2009). Daher sollten Ziele auf Partizipations- bzw. Aktivitätsebene (ICF) formuliert werden, und es sollte beachtet werden, welche Funktionsstörungen ursächlich für Probleme bei Aktivitäten und Teilhabe sind. In diesem Kapitel werden nur diejenigen Funktionsstörungen berücksichtigt, die in einer kürzlich publizierten Umfrage die Mehrheit der befragten MS-Betroffenen als relevant betrachteten (Khan et al. 2007).
38.1.1
Müdigkeit (ICF-Code: b 130)
Klinik Von den meisten MS-Betroffenen wird die Müdigkeit – im englischen Sprachraum auch Fatigue genannt – als die Beeinträchtigung genannt, die ihre Lebensqualität am stärksten belastet. Dieses Symptom, das die Leistungsfähigkeit sowohl am Arbeitsplatz wie auch zuhause limitiert, wird von Verwandten, Ärzten und Therapeuten – weil eben unsichtbar – oft unterschätzt. Definition Müdigkeit wird definiert als ein überwältigendes Erschöpfungsgefühl und/oder als ein subjektiv empfundener Mangel an Energie – physisch wie auch psychisch.
Die Müdigkeit schränkt die Leistungsfähigkeit in einem Ausmaß ein, das weit über das übliche Maß hinausgeht. Müdigkeit kann irgendwann im Verlauf auftreten, sowohl zu Beginn wie auch in fortgeschrittenen Stadien der Erkrankung. Auch korreliert sie nicht mit anderen Krankheitsfaktoren wie 4 Ausmaß der Behinderung, 4 Geschlecht oder 4 Verlaufsform (Bakshi et al. 2000). Allerdings soll ein Zusammenhang zwischen Müdigkeit einerseits und Depression sowie kognitiver Beeinträchtigung andererseits bestehen (Kroencke et al. 2000).
Pathogenese Zum besseren Verständnis dieses bis heute nicht vollständig geklärten Phänomens wurden verschiedene pathogenetische Mechanismen erwogen.
Verhaltensempfehlungen 4 Die meisten MS-Patienten spüren ihre Ermüdung speziell am Nachmittag und Abend. Eine aktive Therapie (Ergound Physiotherapie) sollte daher eher am Vormittag
675 38.1 · Funktionsstörungen bei MS
Näher betrachtet MS: Mögliche pathogenetische Mechanismen 4 Studien mit der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) weisen auf einen wahrscheinlich entzündungsbedingten Hypometabolismus im Bereich des frontalen Kortex und der Basalganglien hin (Roelcke 1997). 4 Sheean et al. (1997) postulieren, dass die verminderte motorische Leistung auf einer reduzierten Feuerungsrate und inadäquaten Rekrutierung von motorischen Einheiten fusst. 4 Thickbroom et al. (2008) wiesen nach, dass MS-Betroffene – verglichen mit gesunden Probanden – bei anstrengenden physischen Tätigkeiten eine höhere kortikale Aktivierung benötigen, um eine vergleichbare Leistung zu erzielen, und dass sie dabei stärker ermüden. 4 Letztlich wurden auch immunologische Faktoren wie die Präsenz von Zytokinen (Tumor-Nekrose-Faktor, TNF; Interleukine) zur Erklärung der Müdigkeit herangezogen, zumal bei einem MS-Schub die Müdigkeit verstärkt auftreten kann.
4
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stattfinden, bei warmem Wetter sogar am frühen Morgen. Die Übungen dürfen intensiv sein, wenn Dehn- und Atemübungen als Pausen eingefügt werden. Der MSPatient sollte sich und seine Ressourcen selbst einschätzen können. Im Rahmen der Ergotherapie kann der MS-Patient in seinem Zeit- und Energiemanagement beraten werden, z.B. kann ein Wochenplan erstellt werden, in dem der Patient seine leistungsstarken und leistungsschwachen Zeiten markiert. Lernt der Patient, seine Termine mit diesem Wochenplan im Hintergrund zu vereinbaren, kann er darauf achten, anstrengende Verabredungen (z.B. den Monatseinkauf) in die leistungsstarken Zeiten zu legen. Ruhezeiten kann er für die »schlechten« Zeiten einplanen. Auf diese Weise kann er die anstrengenden Termine gleichmäßig über die Woche verteilen (Roth 2008). Ist der Patient kognitiv nicht in der Lage, diesen Plan zu erarbeiten, kann dies mithilfe der Angehörigen geschehen. Bewährt haben sich auch spezielle Kurse, in denen die Betroffenen den Umgang mit der eigenen Energie erlernen können (Mathiowetz et al. 2005). Die Müdigkeit kann sich verstärken (Uthoff-Phänomen) durch 5 Erhöhung der Körpertemperatur (bei grippalem Infekt, Hitze bei Sonnenexposition) oder 5 in zu wenig gelüfteten Therapieräumen, Als praktische Gegenmaßnahme sollte man die Patienten auf die Vorzüge von Kälte in verschiedenen Formen (kalte Dusche, Klimaanlage, kalte Getränke oder Eisweste) aufmerksam machen (Schwid et al. 2003, Meyer-Heim 2007). Die Kühlweste ist in der Schweiz erhältlich. Hilfreich ist die Versorgung mit Hilfsmitteln, damit Patienten ökonomisch mit ihren Kräften umgehen können: Ein Patient könnte z.B. für lange Strecken einen Elektro-
rollstuhl und für kürzere Strecken die Gehstöcke benutzen, oder eine Patientin, die sonst frei geht, könnte mit ihrem Rollator einkaufen gehen. 4 Dekonditionierung durch Inaktivität kann auch Ursache von Müdigkeit sein. Daher sei die Wichtigkeit einer körperlichen Aktivierung hervorgehoben. Mehrere Studien untermauern den sehr günstigen Effekt eines aeroben Trainings bei Müdigkeit (Petajan et al. 1986, Di Fabio et al. 1998, Romberg et al. 2005). In diesem Zusammenhang ist der Hinweis interessant, dass Yoga-Übungen sich ebenfalls günstig auf das Müdigkeitsgefühl auswirken können (Oken et al. 2004).
Medikamentöse Behandlung > Vor Beginn einer medikamentösen Behandlung ist es wichtig, andere Ursachen zu behandeln, z.B. 4 Fieber durch Infekt, 4 externe Überwärmung, 4 Sedierung durch Medikamente und vor allem 4 Depression.
4 Gemäß den Empfehlungen mancher Autoren (Henze 2007, Krupp et al. 1995, Waubant et al. 2001) kann man initial das heute bzgl. seiner Wirksamkeit nicht unumstrittene Amantadin (Pucci et al. 2007) einsetzen. 4 Bei fehlendem Effekt kann man auf einen Serotonin-Aufnahmehemmer wie Fluoxetin oder Sertralin umsteigen. 4 Die nächste Stufe beinhaltet K-Kanäle blockierende Substanzen wie 4-Aminopyridin (Bever et al. 1996), wobei wegen einem möglichen Auftreten epileptischer Anfälle Vorsicht geboten ist. 4 Goodman et al. (2009) stellten als Alternative Fampridine vor, das lt. Studie die Gehfähigkeit signifant verbesserte. Anfälle wurden bei den 301 Patienten nicht beobachtet. 4 Als vorläufig letztes Medikament sei auf Modafinil hingewiesen. Diese alpha-adrenerge Substanz wird mit Erfolg zur Behandlung der Narkolepsie eingesetzt. Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit von Modafinil Die Wirksamkeit von Modafinil bei MS wurde unterschiedlich bewertet. Während eine Studie die Wirksamkeit belegte (Rammohan et al. 2002), zeigte eine andere, größer angelegte kontrollierte Studie gegenteilige Resultate (Stankoff et al. 2005).
38.1.2
Koordinationsstörungen und Ataxie (ICF-Code: b 760)
Klinik Ebenfalls häufig und therapeutisch schwer beeinflussbar ist das Zittern, besonders wenn es als Intentionstremor in Erscheinung tritt.
38
676
Kapitel 38 · Rehabilitation bei Multipler Sklerose (MS)
> Beim Intentionstremor wird die Tremoramplitude bei einer Annäherung der Hand an einen zu ergreifenden Gegenstand immer größer, so dass es dem Betroffenen manchmal kaum möglich ist, selbst zu essen oder zu schreiben. Artikulation und Gangbild erscheinen oft unkoordiniert, was von Außenstehenden, die nicht um die Erkrankung wissen, mit dem Gang eines Betrunkenen verwechselt wird. Für derartige Koordinationsstörungen wird im medizinischen Sprachgebrauch der Begriff Ataxie verwendet (7 Kap. 20).
Therapeutische Maßnahmen Die Behandlung des Intentionstremors stellt eine Herausforderung für Ergo- und Physiotherapeuten dar, die oft nach dem Prinzip »trial and error« arbeiten und individuell mit dem Patienten die wirksamste Methode entdecken müssen. Inhalte der Therapie sind: 4 Erarbeiten von Kompensationsstrategien und 4 Unterstützen des »Bewegungsgedächtnisses«, z.B. durch Stimulation von Gleichgewicht und Aufrichtungsreaktion. Des Weiteren wird das Üben von Aktivitäten mit zunehmender Komplexität über einen längeren Zeitraum empfohlen (Hardie u. Rothwell 2003). Näher betrachtet Effektivität von Ergo- und Physiotherapie bei Ataxie In einer der wenigen Veröffentlichungen zu diesem Thema untersuchten Jones et al. (1996) die Effektivität von Ergo- und Physiotherapie bei ataktischen MS-Patienten in der stationären Rehabilitation über einen Zeitraum von 8 Tagen. Wenn sich auch keine signifikanten Unterschiede in der funktionellen Bildgebung fanden, zeigte die Studie doch, dass auf Ebene der Aktivitäten Fortschritte erzielt wurden.
38
4 Bei Vorliegen einer leicht bis mäßig ausgeprägten Gangataxie genügt es meist, dem Betroffenen einen Rollator zu verschreiben, der zur Stabilisation noch mit Gewichten beschwert werden kann. Bewährt hat sich das Befestigen einer Nackenstütze am Rollstuhl, damit der Patient ruhiger fernsehen kann oder beim Essen der Kopf weniger zittert. 4 In alltäglichen Situationen fühlen sich MS-Patienten mit ataktischen Störungen enorm eingeschränkt: Bei einer Rumpfataxie wird der Rumpf vorrangig dynamisch stabilisiert. Dazu werden in Ergo- und Physiotherapie neurologische Behandlungstechniken wie das Bobath-, das PNF- oder das Spiraldynamikkonzept eingesetzt. Eine nähere Beschreibung dieser Techniken würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen, daher sei auf einige Grundlagenbücher hingewiesen (Bassoee Gjelsvik 2007, Buck 2005, Haus 2005, Larsen et al. 2007). 4 Das Vergrößern von Unterstützungsflächen hilft, die Ataxie etwas zu vermindern, z.B. ein höher eingestellter Tisch beim Essen, auf dem der Betroffene seinen Arm ablegen oder bei Bedarf teilweise fixieren kann.
4 Des Weiteren können Adaptationen das Bewegen leichter machen, z.B. rutschfeste Unterlagen, Gewichte oder verbal steuerbare Geräte wie Telefonheadset. 4 Um die Arbeit mit der Computermaus eines stark ataktischen Patienten am PC zu erleichtern, wurde eine spezielle Software (»tremor control system«) entwickelt, welche den Tremor »abfiltert«. Die 36 MS-Patienten, die mit diesem System unter Testbedingungen gearbeitet hatten, gaben an, ihre Leistung verbessert zu haben und weniger zu ermüden (Feys et al. 2001). Feys et al. (2005) beschrieben auch die vorübergehend günstige Wirkung einer Kühlung mit Eiswassermanschetten.
Medikamentöse und neurochirurgische Maßnahmen jMedikation > Eine nachgewiesen wirksame medikamentöse Therapie für die Ataxie ist nicht bekannt.
Für die in der Literatur vorgeschlagenen Medikamente 4 Propranolol, 4 Primidon, 4 Clonazepam oder 4 Isoniazid wurde keine anhaltende und funktionell relevante Dämpfung der Ataxie nachgewiesen. Bei Clonazepam und Primidon wird – wenn überhaupt – eine Linderung der Ataxie mit einer Sedierung eingekauft. Widersprüchliche Resultate zeigte die Verabreichung des Antiemetikums Odansetron (Henze 2007). Praxistipp Ist eine medikamentöse Maßnahme erwünscht, darf man pragmatisch mit einem Beta-Blocker beginnen und dann ein Antiepileptikum erproben.
jNeurochirurgische Eingriffe Bei stark ausgeprägtem Tremor – und besonders, wenn die Kraft noch vorhanden ist – kann ein neurochirurgischer stereotaktischer Eingriff in Erwägung gezogen werden. Dabei werden elektrische Stimulationssonden ins Thalamusgebiet eingesetzt. Ob diese aufwändige Methode mit weniger Nebenwirkungen behaftet ist und bessere funktionelle Resultate liefert als die früher durchgeführte Thalamotomie, lässt sich nicht schlüssig beantworten (Yap et al. 2007). Verglichen mit den relativ guten Erfolgen der Tiefenhirnstimulation bei Morbus Parkinson ist der Erfolg bei MS-Betroffenen bescheidener (Wishart et al. 2003). Einige Experten formulierten etwas salopp, dass nur dann eine Indikation zur Operation gestellt werden sollte, »wenn der Patient seine Nase nicht mehr selbst kratzen kann«. jZusammenfassung Ein kürzlich erschienenes Cochrane Review hat leider ergeben, dass für keine der o.g. medikamentösen oder neurochir-
677 38.1 · Funktionsstörungen bei MS
urgischen Behandlungsmethoden ein hinreichender Nachweis der Wirksamkeit vorliegt (Mills et al. 2007).
38.1.3
Spasmen und Paresen
Zum Thema Spastik sei auf 7 Kapitel 16 verwiesen. Normalerweise üben die von Kortex und oberem Rückenmark ausgehenden Nervenbahnen vorwiegend einen hemmenden Einfluss auf die untergeordneten Bewegungs- und Reflexzentren im Rückenmark aus. Diese sog. suprasegmentale Kontrolle garantiert eine normale, den physiologischen Bedürfnissen angepasste Muskelspannung, kontrolliert die Intensität der Dehnungsreflexe und erlaubt durch eine gezielte Aktivierung agonistischer Muskeln bei gleichzeitiger Hemmung der Antagonisten die feinmotorischen Bewegungsabläufe. Sind nun im Rahmen der MS diese absteigenden Bahnen durch die im ZNS verstreuten Entzündungsherde lädiert, kommt es zu einer unkontrollierten Überaktivität dieser »enthemmten« Rückenmarkzentren. Klinisch manifestiert sich dieser Kontrollausfall durch verschiedene »positive« Symptome wie 4 abnorm gesteigerte Muskeleigenreflexe (bis hin zum Klonus), 4 pathologische Fremdreflexe (positiver Babinski) und 4 unkontrollierte Muskelverkrampfungen (Spasmen), 4 aber auch durch »negative« Symptome wie 4 verlangsamte Bewegungsabläufe, 4 Muskellähmungen und 4 rasche Ermüdbarkeit. All diese Symptome werden auch zum Syndrom des Upper Motor Neuron (UMNS) zusammengefasst. Wenn auch der Begriff »Spastik« im klinischen Alltag dem UMNS gleichgesetzt wird, so entspricht formell der Terminus »Spastik« eigentlich nur den oben erwähnten »positiven« Symptomen, also lediglich einem Aspekt des UMNS. Praxistipp Klinisch ist die Spastik besonders dann relevant und durch rehabilitative Maßnahmen anzugehen, wenn sie sich manifestiert, z.B. durch 4 schmerzhafte Spasmen, 4 abnormen Adduktorentonus, der die Intimpflege unmöglich macht, oder 4 Kontrakturen.
> Die Erfahrung zeigt, dass Spastik und erhöhter Muskeltonus kein konstantes Phänomen sind, sondern durch bestimmte Faktoren zunehmen können, z.B. 4 MS-Schub, 4 Blasenentzündungen, 4 Druckstellen auf der Haut, 4 starke Verstopfung, 6
4 4 4 4 4
eingewachsene Zehennägel, Thrombosen, Angst, starke Müdigkeit und plötzliche, unerwartete Berührungen.
Therapeutische Maßnahmen jPhysiotherapie Ganz allgemein sind die Ziele physiotherapeutischer Maßnahmen: 4 Ausschöpfen der trotz Lähmungen noch vorhandenen funktionellen Möglichkeiten (z.B. durch Wiedererlernen eines Transfers ohne fremde Hilfe), 4 Linderung der durch die Spastizität hervorgerufenen Schmerzen (z.B. durch Eisbäder oder Eiswickel) und 4 Vorbeugung einer Inaktivitätsatrophie und Verkürzung der Muskeln (z.B. durch Stehen auf dem Kipptisch, passive/aktive Muskeldehnungen). Praxistipp Da sich bei lange bestehender Spastik die viskoelastischen Eigenschaften zunehmend verändern und Muskelund Bindegewebe sich verkürzen, ist vorbeugend eine regelmäßige, mindestens 2-mal wöchentlich 30- bis 45minütige Physiotherapie mit passivem Durchbewegen anzustreben, deren Wirksamkeit auch belegt ist (Nuyens et al. 2002).
! Cave Die vor einigen Jahren noch verbreitete Meinung, dass MS-Betroffene sich schonen und Trainingstherapien meiden sollten, ist heute überholt! jAusdauer- und Krafttraining Seit der bereits zitierten Arbeit von Petajan (1996) sind nun mehrere Publikationen erschienen, die anhand von kontrollierten Studien den Beleg liefern, 4 dass sich durch regelmäßiges (mehrmals wöchentlich etwa ½ Stunde) aerobes Training (Schwimmen, Radfahren, Gehen) die Ausdauer fördern lässt, und 4 dass sich durch gezielte Kräftigungsübungen mit Gewichten oder Theraband (jeweils 10–12 Wiederholungen jeden 2. Tag, mit einem eingeschalteten Ruhetag) ein Kraftgewinn ohne Zunahme von Spastik registrieren lässt (Romberg et al. 2006). Manchmal müssen übereifrige und wenig einsichtige MS-Betroffene, die sich die Figur eines Bodybuilders erhoffen und weit über ihre Grenzen trainieren, in ihrem Elan aufklärend gebremst werden. Die Befürchtung – eine gute Belüftung des Trainingssaals vorausgesetzt – dass durch ein derartiges Training eine Überhitzung im Sinne eines Uthoff-Phänomens entstehen könnte, ließ sich nicht belegen (Mostert u. Kesselring 2002).
38
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Kapitel 38 · Rehabilitation bei Multipler Sklerose (MS)
jDehnungsübungen Gerade wenn die Spastik störend ist, haben sich regelmäßige Dehnungsübungen bewährt. Es wird empfohlen, mindestens 2-mal/Woche die befallenen Muskeln mehrmals (5- bis 10-mal jeweils für 30 sec) auf ihre maximale Länge hin zu dehnen. Praxistipp Entsprechende Broschüren mit konkreten Hinweisen, welche Muskelgruppen wie gedehnt werden sollen, können bei den Gesellschaften für Multiple Sklerose bestellt werden oder lassen sich im Sinne eines Heimprogramms mit dem Therapeuten erarbeiten.
Heute bestehen keine Zweifel mehr darüber, dass solche Übungsprogramme die Mobilität, Kraft und Funktionsfähigkeit fördern und nicht schädlich sind. Während eine kürzlich erschienene Arbeit von einer Abnahme der Müdigkeit berichtet (McCullagh et al. 2008), konnte laut eines früher publizierten Cochrane Reviews ein günstiger Effekt auf die Müdigkeit nicht überzeugend erbracht werden (Rietberg et al. 2005). jLagerungen Eine korrekte Lagerung hat zum Ziel, die krankhaft gesteigerte Spastik zu mindern. Dabei soll darauf geachtet werden, dass die Muskelgruppen mit besonders starker Spastik, an den 4 oberen Extremitäten meist die Armbeuger und 4 unteren Extremitäten die Kniestrecker,
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in maximaler Dehnung gelagert sind. Da häufig schwerer betroffene Patienten sowohl nachts wie auch tagsüber einer solchen Lagerung bedürfen, ist es wichtig, dass sie sich trotz der Lagerung wohl fühlen und entspannt liegen können: 4 Bei MS-Patienten, die zu einem Extensionsmuster in den Beinen neigen, ist die Seitenlagerung mit gebeugten Hüft- und Kniegelenken zu bevorzugen. 4 Die Rückenlage, welche die Entstehung von Streckspasmen fördert und die Beine kaum oder gar nicht bewegen lässt, sollte nach Möglichkeit nicht allzu lange eingenommen werden (Fleuren et al. 2006). 4 Bei dauernd bettlägerigen Patienten mit zusätzlich gestörter Sensibilität ist es zur Vermeidung von Druckstellen ratsam, dass sie rund um die Uhr ca. alle 2–4 Stunden umgelagert werden (Reddy et al. 2006). jHippotherapie Hippotherapie-K® ist eine besondere Physiotherapie mithilfe des Kleinpferdes, das im Schritt geht. Dabei wird die Bewegung des Pferderückens bzw. deren Übertragung auf die Patienten therapeutisch genutzt. Die Abduktion der Beine beim Reitsitz erlaubt eine Beckenkippung. Die rhythmisch wiederkehrenden Bewegungen des Pferderückens wirken tonusmindernd und lösen feine Gleichgewichtsreaktionen aus. Neben den motorischen Zielen regt die Hippotherapie auch das Körperempfinden an. Die Patienten genießen zudem das Gefühl, wieder
einmal die Welt von einer höheren Perspektive als vom Rollstuhl aus zu betrachten. Allein schon die Position auf dem Pferd kann die verkrampfte Muskulatur der Beine oder des Rumpfes positiv beeinflussen. Der Patient wirkt allerdings nicht aktiv auf das Pferd ein, und Hippotherapie ist kein Reiten! Näher betrachtet Studie: Wirksamkeit der Hippotherapie Die Wirksamkeit der Hippotherapie ließ sich in einer Studie mit über 200 MS-Betroffenen belegen (Künzle 1993). Hippotherapie-K® (»K« für Frau U. Künzle, die Mitbegründerin der Methode in der Schweiz) figuriert seit 1994 im Leistungskatalog der schweizerischen Sozialversicherungen und diese – von den Patienten sehr geschätzte therapeutische Leistung – wird auch von den Krankenkassen übernommen.
Praxistipp Für Patienten mit Gleichgewichtsstörungen und Spastik wird 1-mal/Woche Hippotherapie empfohlen, wobei allerdings das freie Sitzen eine Voraussetzung für diese Therapieform ist (s. auch Hammer et al. 2005).
jStehtisch Patienten, die nicht mehr alleine stehen oder gehen können, sollten regelmäßig an einem Stehtisch zum Stehen kommen. Das Stehen dient als Kontrakturenprophylaxe für Füße, Knie, Hüfte und Rumpf. Daneben ist das Stehen eine tonussenkende Maßnahme, wirkt gegen die Entkalkungstendenz und fördert die Darmregulierung. Falls ein Standing auf einem Stehgerät nicht möglich ist, kann der Patient mithilfe eines Stehrollstuhls (es gibt verschiedene Modelle) in eine annähernd normale Stehposition gebracht werden. Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass viele Patienten in der Nacht nach der Stehtischtherapie deutlich weniger Spastik in den Beinen haben. jKälte- und Eistherapie Die Kryo- oder Kältetherapie wird meist nicht isoliert eingesetzt, sondern in Kombination mit aktiven und passiven Bewegungen. Ein Eisbad kann als Teil- oder Vollbad angewandt werden: 4 Bei lokaler Anwendung wird der betreffende Körperteil des Patienten in einen mit Wasser und Eis gefüllten Behälter eingetaucht. Bei Patienten mit spinaler Spastik ist eine Dauer von einigen Minuten zu empfehlen. 4 Bei einem Eisvollbad wird eine Badewanne mit Wasser und Eis gefüllt. Die Temperatur kann bis auf 5–6° sinken, der Wasserstand in der Wanne beträgt 20 cm. Der Patient kann bis zu 15 Minuten in der Wanne bleiben. Wegen der gestörten Sensibilität wird das Eisbad meist gut vertragen, wobei natürlich zur Vermeidung von Erfrierungen eine ständige Aufsicht nötig ist. 4 Als Alternative zum Vollbad eignen sich Handtücher, die in Eissplitter getaucht und um die hypertonen Extremi-
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täten gewickelt werden. Wichtig ist, dass Ursprung und Ansatz des betroffenen Muskels bedeckt werden. Die Dauer dieser Applikation beträgt 20–30 Minuten. jBewegungstrainer Der Bewegungstrainer (Motomed®) ist eine Apparatur, bei der die Patienten in einem Rollstuhl sitzen und mit den Beinen – auf Pedalen fixiert – Radfahrbewegungen machen. Bewegungstempo, Bewegungsrichtung, Gesamtdauer und Widerstand sind einstellbar. Wenn der Widerstand durch die Spastik zu groß wird, hält der Apparat automatisch an oder fährt in der anderen Richtung zurück. Als Ergänzung zur Therapie benutzen viele Patienten den Bewegungstrainer auch zuhause. Näher betrachtet Studie: Gehen mit Gangtrainer Lokomat® Ob das Gehen mithilfe eines motorbetriebenen Gangtrainers (7 Kap. 17) auch MS-Betroffenen langfristig nützt, ist offen. Immerhin konnte eine kürzlich publizierte Pilotstudie mit dem von Hocoma vermarkteten Gangtrainingsroboter Lokomat® zeigen, dass noch knapp gehfähige MS-Patienten ihre Quadrizepskraft und Gehdistanz nach einem Gehtraining auf diesem neuen Gerät, das die Automatisierung des Laufbandtrainings ermöglicht, zumindest vorübergehend verlängern konnten (Beer et al. 2007). In einer eigenen Studie, als Abstract publiziert, konnte kein signifikanter Unterschied zwischen Training am Lokomat und Gehtraining in der Gruppe im Gymnastiksaal festgestellt werden (Vaney et al. 2009).
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Baclofen, Dantrolen, Tizanidin, Gabapentin
und deren Verteilung über den Tag muss für jeden Patienten, mit niedrigen Dosierungen beginnend und anschließender schrittweiser Steigerung, individuell festgelegt werden. In einem Cochrane Review konnte keine Überlegenheit einer dieser Substanzen über die anderen belegt werden (Shakespeare 2000). Baclofen kann auch – mit gutem klinischen Erfolg – über ein spezielles Pumpsystem intrathekal verabreicht werden (Vender et al. 2006). Diese Behandlungsweise, die nur in wenigen spezialisierten Zentren durchgeführt werden kann, ist dann zu empfehlen, wenn alle anderen Versuche der Spastizitätslinderung, medikamentös oder bewegungstherapeutisch, gescheitert sind. Beschränkt sich die Tonuserhöhung auf wenige umschriebene Muskelgruppen, ist eine lokale Anwendung von Botulinum-Toxin zu empfehlen, dessen Wirksamkeit durch anschließende physiotherapeutische Maßnahmen noch erhöht werden kann (Giovannelli et al. 2007). Der bei relevanter Spastik einzuschlagende Behandlungspfad ist in . Abb. 38.1 in Form eines Flussdiagramms dargestellt (Beer 2003). jCannabis Das in der Cannabispflanze enthaltene Tetrahydrocannabinol (THC) hat einen Spasmen lindernden Effekt (Vaney 2005).
Medikamentöse Maßnahmen > Während Medikamente bei Lähmungserscheinungen und Koordinationsstörungen nur in den seltensten Fällen wirksam sind, kann die Spastizität, besonders wenn von schmerzhaften Spasmen begleitet, durch Arzneimittel oft günstig beeinflusst werden.
Bei der medikamentösen Therapie handelt es sich oft um eine Gratwanderung zwischen 4 erwünschter Reduktion des Muskeltonus einerseits und 4 unerwünschter Verstärkung der Parese andererseits. ! Cave Es sollte immer beachtet werden, dass bei Vorliegen einer spastischen Paraparese ein Teil der Spastizität notwendig sein mag, um dem Patienten Transfers über den Stand und Gehen überhaupt zu ermöglichen. Es ist notwendig und sinnvoll, eine gewisse stützende Reststeifigkeit zu belassen! Ferner ist zu beachten, dass die der Spastizität zugrunde liegenden komplexen pathophysiologischen Veränderungen im Rückenmark trotz aller Fortschritte der Pharmakologie nicht rückgängig gemacht werden können. Auch darf man nicht enttäuscht sein, wenn die Muskeln zwar etwas lockerer werden, aber die gestörte Feinmotorik weitgehend unverändert bleibt. Die vorsichtige Dosierung der spastikhemmenden Medikamente wie
Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit von THC Killestein et al. (2002) konnten in einer Placebo-kontrollierten Studie mit einem Cannabisextrakt weder einen funktionellen Gewinn noch eine Verbesserung der Lebensqualität nachweisen. Dagegen wurde in drei anderen, größeren Studien ein Spasmen lindernder Effekt und eine mobilitätsfördernde Wirkung von THC belegt (Zaijcek et al. 2003, Vaney et al. 2004, Wade et al. 2004). Allerdings sollte erwähnt werden, dass in den beiden erstgenannten Studien keine Tonussenkung im Ashworth Score erreicht wurde. Ob Cannabis wieder an Bedeutung gewinnen kann, ist von den Resultaten weiterer Studien abhängig. Besonders stellt sich die Frage, inwieweit Vigilanz mindernde und psychotrope Effekte der aktuellen THC-haltigen Präparate die muskelrelaxierenden Vorzüge der Substanz überschatten werden. Ungeklärt ist zudem die ideale Applikationsform der Substanz. Da Rauchen nicht unterstützt werden kann und bei der oralen Aufnahme die Bioverfügbarkeit nicht optimal ist, hat durch positive Studienergebnisse die Einnahme von THC in Form eines Inhalationsprays – bisher nur in Kanada als Sativex® vermarktet – einen gewissen Aufwind erhalten (Rog et al. 2005). Zumindest im Tierversuch werden den Cannabinoiden auch neuroprotektive Eigenschaften zugeschrieben (Croxford et al. 2008). Die aktuell laufende CUPID-Studie (Cannabinoid Use in Progressive Inflammatory Brain Disease) geht der Frage nach, ob der Krankheitsverlauf durch THC-haltige Präparate günstig beeinflusst werden kann. Resultate werden für Ende 2012 erwartet.
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Kapitel 38 · Rehabilitation bei Multipler Sklerose (MS)
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. Abb. 38.1. Behandlungspfad der medikamentösen Spastiktherapien bei Multipler Sklerose
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jWeitere alternative Maßnahmen Im Zusammenhang mit komplementär-medizinischen Maßnahmen, z.B. der Einnahme von Hanfkraut, chinesischen Kräutern oder Homöopathie, sei erwähnt, dass laut verschiedenen Umfragen ca. die Hälfte der MS-Betroffenen davon Gebrauch machen (Berkmann et al. 1999). Meist erhoffen sich die Betroffenen von derartigen Methoden eine Verbesserung ihres Allgemeinbefindens. Näher betrachtet Studien: Tai Chi und Yoga Betreffend der Verbesserung der Beweglichkeit sei eine unkontrollierte Studie erwähnt, die aufzeigen konnte, dass Tai Chi durchaus Wohlbefinden und Mobilität fördern kann (Husted et al. 1999). Verglichen mit Patienten auf einer Warteliste hat in einer anderen – diesmal kontrollierten – Studie Yoga die Mobilität im gleichen Ausmaß wie traditionelle gymnastische Übungen verbessern können (Oken et al. 2004). Neben Tai Chi und Yoga gehören auch Reflexologie, Neuraltherapie und Magnetfeldtherapie zu den Maßnahmen, nach welchen die Patienten ohne großes Risiko, jedoch in eigener Verantwortung greifen können.
38.1.4
Sensibilitätsstörungen und Schmerzen (ICF-Code b 280)
Schmerzen gehören zwar nicht zu den pathognostischen Symptomen der MS, treten aber bei mehr als der Hälfte der Patienten im Laufe der Erkrankung auf (Moulin et al. 1993). Die Schmerzsyndrome bei MS können in zwei Gruppen aufgeteilt werden: 4 Zum einen gibt es die meist zu Erkrankungsbeginn anfallsweise auftretenden Schmerzzustände (10% der MSSchmerzen) und 4 zum andern die häufigeren, eher später in Erscheinung tretenden chronischen Schmerzen. jParoxysmale Schmerzen > Die akuten oder auch paroxysmalen Schmerzsyndrome, von denen die Trigeminusneuralgie die bekannteste ist, sind durch anfallsartiges Auftreten von Schmerzen charakterisiert.
Als Ursache der paroxysmalen Schmerzsyndrome wird eine abnorme elektrische Erregbarkeit der entmarkten Nerven angenommen. Spontan oder durch Bewegungsreize, z.B. 4 Kauen und Lachen bei der Trigeminusneuralgie, 4 Beugen des Nackens beim Lhermitte-Zeichen, entstehen an Stellen, an denen ein Myelindefekt vorliegt, fehlerhafte elektrische Entladungen, die dann auf ein ganzes Nervenbündel übergreifen. Solche Myelindefekte bewirken ein ephaptisches, d.h. nicht-synaptisches Überspringen des elektrischen Impulses von einer Nervenfaser zur anderen.
4 Medikamente wie
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Carbamazepin, Gabapentin oder Pergabalin, die die elektrische Übererregbarkeit der Nerven herabsetzen, haben bei dieser anfallsartigen Manifestation der MS einen günstigen Einfluss.
! Cave Da Carbamazepin eine bereits vorbestehende Ataxie verstärken kann, sollte die Dosierung unbedingt schleichend erfolgen! 4 Falls bei der Trigeminusneuralgie die medikamentöse Therapie ohne Erfolg bleibt, kann auf wenige invasive neurochirurgische Maßnahmen zurückgegriffen werden, wie 5 Thermokoagulation, 5 Glyzerinrhizolyse oder 5 Radiochirurgie mittels Gamma-Knife (Cheng et al. 2005). jChronische Schmerzen Das Spektrum der chronischen Schmerzen, das von lästigen Missempfindungen bis zu sehr schmerzhaften Kontrakturen reicht, ist im Gegensatz zu den paroxysmalen Schmerzen medikamentös schwer therapierbar. kParästhesien und Dysästhesien Parästhesien und schmerzhafte Muskelspasmen werden durch den Entmarkungsprozess selbst hervorgerufen; Druckschmerzen bei schlechter Lagerung oder schmerzhafte Kontrakturen sind nur Folgeerscheinungen der Immobilität. > Lästige, an Rumpf und Extremitäten lokalisierte Missempfindungen, die als Schwellungs-, Panzeroder Fremdgefühl beschrieben werden, finden sich in 20% der Fälle als Erstmanifestation einer MS. Diese Missempfindungen sind von zeitlich begrenzter Dauer und bedürften meist keiner Behandlung.
Viel störender sind schmerzhafte Missempfindungen brennender Art, auch Dysästhesien genannt, deren Ausbreitung nicht auf einen peripheren Nerv zu beziehen ist, und die sich handschuh-, sockenförmig oder auch diffus an der betrof-
fenen Extremität ausbreiten. Diese Missempfindungen entstehen wahrscheinlich durch eine fehlerhafte Weiterleitung von sensiblen Informationen im Bereich der demyelinisierten Rückenmarksfasern. 4 Bei dieser Schmerzart helfen die gewöhnlichen Analgetika und auch Opiate nicht oder selten. Verabreicht werden die o.g. Antiepileptika wie 5 Gabapentin, 5 Carbamazepine oder neuerdings besonders 5 Pregabalin. 4 Neben Entspannungs- oder Ablenkungsübungen können auch trizyklische Antidepressiva eine gewisse Schmerzlinderung bringen (Irving et al. 2005).
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Kapitel 38 · Rehabilitation bei Multipler Sklerose (MS)
4 Therapeutisch kann man die Haut des Patienten mit natürlichen Materialien (z.B. Reis, Linsen, Erbsen oder Dani-Sand) nach dem »trial and error«-Prinzip taktil stimulieren. Da die Läsionen im Gehirn bei jedem Patienten unterschiedlich sind, kommt es häufig zu positiven Reaktionen wie 5 Tonusreduzierung, 5 Verbesserung der Körperwahrnehmung, 5 erhöhte Aufmerksamkeit, 5 bessere Durchblutung, 5 Schmerzreduktion und 5 Verbesserung der Feinmotorik.
jDetrusorhyperaktivität Liegt eine Überaktivität des Detrusors (Muskulatur, die die Entleerung der Harnblase bewirkt) vor, kommt es bereits bei kleinen Füllvolumina zu Harndrang (imperativer Harndrang).
kSekundär verursachte Schmerzen Sekundäre Schmerzen können auch durch die eingesetzten Hilfsmittel verursacht werden, entweder durch 4 die häufige Anwendung, 4 zeitlich bedingten Materialverschleiß oder 4 Verschlechterung bzw. Veränderung der gesundheitlichen Situation des Patienten.
kTherapeutische Maßnahmen 4 Anticholinergisch wirkende Medikamente wie 5 Oxybutinin, 5 Tolterodine, 5 Tropsiumchlorid, 5 Propiverin oder 5 Darifenacin 5 können die gesteigerte Reflexaktivität der Blase unterdrücken. Als unerwünschte Wirkungen sind Mundtrockenheit und Gedächtnisstörungen zu berücksichtigen. 4 Zudem empfiehlt es sich, die Restharnmenge sonographisch vor, während und nach einer Therapie mit Anticholinergika zu kontrollieren: 5 Bei einer Restharnmenge von ca. 100 ml und mehr sollte eine neuro-urologische Konsiluntersuchung erfolgen. 5 Falls der Restharn wiederholt über 100 ml liegt, ist nach vorangehender urologischer, i.d.R. auch urodynamischer Untersuchung, eine Selbstkatherisierung zu empfehlen. Diese kann schwierig sein, wenn kognitive, visuelle oder manuelle Einschränkungen bestehen. 5 Bei imperativem Harndrang ohne viel Restharn ist ein Beckenbodentraining als ergänzende Maßnahme sinnvoll (Vahtera et al. 1997). Die Beckenbodenmuskulatur kann, wie jede andere Muskulatur, durch Übung trainiert werden. In . Übersicht 38.2 ist eine Anleitung für das Beckenbodentraining gegeben.
Das Sitzen im Rollstuhl fördert das Flexionsmuster, welches Tonuserhöhungen auslösen kann. Gleichzeitig wird die Rückenmuskulatur durch die Erkrankung geschwächt. Ein Ausgleich provoziert eine dauerhafte Überstreckung der Halsund Nackenmuskulatur. Dieses Ungleichgewicht wird häufig in der Kommunikation des Patienten mit seinen Mitmenschen noch verstärkt, da der Patient meist aus sitzender Position zu stehenden Personen sprechen muss, was er ebenfalls über dieses ungünstige Muster tut. ! Cave Es ist grundsätzlich wichtig, die Hilfsmittel wiederholt zu kontrollieren, anzupassen bzw. auszutauschen.
38.1.5
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Blasenstörungen
> Bei fast 90% der Betroffenen treten Blasenfunktionsstörungen auf. Oft zwingen häufiger oder imperativer Harndrang sowie Inkontinenz zu Einschnitten im Sozial-, Berufs- und Sexualleben. Erfreulicherweise können viele Störungen durch medikamentöse Maßnahmen und besonders das Erlernen des Selbstkatheterisierens erheblich verbessert werden.
Die Blasenfunktionsstörungen bei der MS lassen sich in drei einander überschneidende Gruppen unterteilen, aufgelistet in . Übersicht 38.1 (7 Kap. 27). . Übersicht 38.1. Blasenfunktionsstörungen bei MS 1. 2. 3.
Detrusorhyperaktivität Hypoaktive Blase Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD)
Praxistipp Vor einer medikamentösen Behandlung sollte geprüft werden, ob nicht ein Harnwegsinfekt vorliegt, und ob der Betroffene genügend Flüssigkeit zu sich nimmt.
jHypoaktive Blase Ist die Blase hingegen hypoaktiv überdehnt, kommt es zu Harnretention mit Inkontinenz wegen einer Überlaufblase. kTherapeutische Maßnahmen 4 Liegt lediglich eine obstruktive Störung mit überaktiven Sphinktern vor, können alpha-blockierende Medikamente eingesetzt werden. 4 Nützen diese Maßnahmen nicht, muss das intermittierende Selbstkatheterisieren empfohlen werden. Die Behandlung sollte gemeinsam mit einem neuro-urologisch erfahrenen Urologen erfolgen.
683 38.1 · Funktionsstörungen bei MS
. Übersicht 38.2. Anleitung für das Beckenbodentraining 1.
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Man legt sich auf den Rücken; die Beine sind angewinkelt, Knie und Füße stehen leicht auseinander, die Füße stehen flach auf dem Boden. Man atmet ruhig durch die Nase ein und mit leicht geschlossenen Lippen durch den Mund aus. Bei der Ausatmung die Beckenbodenmuskeln kräftig anspannen, indem man Harnröhrenöffnung, Scheide und After nach innen hochzieht, als wollte man Urin und Stuhl zurückhalten. Dabei eine Anspannung von Bauch-, Gesäß- und Beinmuskulatur vermeiden! Bei der Einatmung lässt man die Spannung los, als wollte man Wasser lösen. Die Spannung ca. 5 sec halten, dann 10 sec entspannen, 5- bis 10-mal wiederholen, je nach persönlicher Befindlichkeit, mindestens 3- bis 4-mal täglich. Die Hände kann man auf den Bauch oder unter das Gesäß legen, um nachzufühlen, ob die Bauch- bzw. Gesäßmuskeln entspannt bleiben. Die Beckenbodenspannung selbst kann man mit zwei Fingern am Damm oder in der Scheide überprüfen oder mit einem Spiegel kontrollieren. Wichtig ist, nicht zu pressen!
jDetrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD) Häufig ist die Hyperaktivität der Sphinktermuskulatur auch von einer Hyperaktivität der Blase begleitet. In diesen Fällen spricht man von einer Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD). Bedingt durch die Restharnansammlung und den Rückstau in die ableitenden Harnwege droht bei der DSD die Gefahr schwerer Infektionen des Beckenbereichs. kTherapeutische Maßnahmen 4 Auch bei dieser Funktionsstörung hat sich das intermittierende Katheterisieren als lohnenswert erwiesen. 4 Bei Patienten mit nicht stark erhöhtem Restharn, die noch kontinent sind, und bei denen eine Selbstkatheterisierung schwierig ist, kann der Gebrauch eines kleinen Vibrators (Queen Square Bladder Stimulator) empfohlen werden (Dasgupta et al. 1997). Mit dieser einfachen Methode kann der Restharn nach Erfahrung der Autoren zwar inkonstant, doch signifikant reduziert werden. Praxistipp Der Queen Square Bladder Stimulator kann direkt beim Hersteller bestellt werden (www.malem.co.uk).
4 Wenn der Selbstkatheterismus nicht möglich ist, wird aus pflegerischen Gründen das Einlegen einer Blasensonde unumgänglich sein. Die meisten Autoren befürworten
eine suprapubisch eingelegte Blasensonde (praktische Hinweise zum optimalen Management der Blasenstörungen bei MS siehe de Sèze et al. 2007).
38.1.6
Sexualstörungen
Die Häufigkeit von Sexualstörungen bei MS wird oft unterschätzt, da vonseiten der Ärzte i.d.R. nicht genügend nach diesen gefragt wird (Zvadinov et al. 1999, Zorzon et al. 1999). Gibt man den Betroffenen die Möglichkeit, sich darüber auszusprechen, so erfährt man, dass sie sich durch diese häufigen Störungen (73%) erheblich in ihrem Selbstwertgefühl beeinträchtigt fühlen (7 Kap. 28). > Der Arzt/Therapeut sollte sich trauen, mit MS-Patienten über Sexualität zu sprechen. Je natürlicher das Thema behandelt wird, desto leichter fällt es dem Patienten, mit seinem Partner darüber zu sprechen.
Therapeutische Maßnahmen Bei der Behandlung von Sexualstörungen ist zunächst zu beachten, dass die o.g. Symptome wie 4 Spastizität, 4 Müdigkeit oder 4 Tremor ein Hindernis für eine sexuelle Entfaltung sein können. Als Erstes gilt es, diese Störungen anzugehen und Medikamente zu meiden, die sich negativ auf die sexuellen Funktionen auswirken. jMedikation Bei der erektilen Dysfunktion können Substanzen wie 4 Sildenafil, 4 Tadalafil oder 4 Verdanafil mit gutem Erfolg angeboten werden (Dasgupta et al. 2003). Dagegen gibt es keine einfachen Methoden, um die verloren gegangene Libido wieder wachzurufen. jBeratung In der Beratung sollte nicht vergessen werden, dass sich Sexualität nicht auf somatische Reaktionen reduzieren lässt; um es salopp zu formulieren: Sex spielt sich primär im Kopf ab. Das Gespräch mit dem MS-Kranken hat die Intimität zum Thema, und die Sexualität ist ein Teil davon. Die Beratung sollte auch ganz praktische Ratschläge umfassen, z.B. können Frauen die verminderte Feuchtigkeit der Vagina durch Gels beheben. In das Repertoire einer Beratung gehören auch andere Stimulationsmethoden wie 4 Masturbation, 4 oraler Sex oder 4 Verwendung eines Vibrators.
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Kapitel 38 · Rehabilitation bei Multipler Sklerose (MS)
Praxistipp Man sollte vermeiden, ein geringes oder fehlendes sexuelles Interesse als krankhaft anzusehen, wenn beide Partner daran keinen Anstoß nehmen, und wenn ihre Bindung auf anderen Säulen ruht. Es geht in der Beratung von MS-Betroffenen nicht darum, ein »normales Sexualleben« – wenn es das überhaupt gibt – herzustellen, sondern die Teilhabe am Spiel der Geschlechter dort zu unterstützen, wo es von den Betroffenen erwünscht ist.
Sagen sich Paare, dass sie neue Wege suchen wollen, so können die Anregungen in . Übersicht 38.3 nützlich sein.
38.1.7
Kognitive Störungen
Klinik Schon der Erstbeschreiber der Krankheit, Jean Marie Charcot (1825–1893), hat auf die verschiedenen kognitiven Störungen, die bei einer MS auftreten können, hingewiesen. Aber erst ab den frühen 90er Jahren wurden diese Störungen systematisch untersucht (Rao et al. 1991). Eine aktualisierte
und sehr umfassende Übersicht der bei MS-Betroffenen auftretenden kognitiven Beeinträchtigungen wurde kürzlich in einer Monographie publiziert (Calabrese 2007). Kognitive Störungen wirken sich auf die Arbeit, die familiären Beziehungen und das soziale Netz aus. Auch Rehabilitationserfolge können dadurch limitiert sein (Demaree et al. 1999). Während Störungen der sog. symbolischen neuropsychologischen Funktionen wie 4 Apraxien, 4 Agnosien oder 4 aphasische Störungen nur ausnahmsweise auftreten, finden sich bei 45–65% der MS-Betroffenen neuropsychologische Störungen verschiedenen Ausprägungsgrades. Davon sind Gedächtnis- (30% der Betroffenen) und Aufmerksamkeitsstörungen (25%) die am häufigsten anzutreffen. Im Zusammenhang mit MS wurde der Begriff des Multiplen Disconnection-Syndroms geprägt: Da die kognitiven Prozesse auf dem Boden eines rasch und netzwerkartig funktionierenden Informationsverarbeitungssystems ablaufen, droht durch die Entstehung multipler, kortexnah gelegener Entzündungsherde eine Verminderung der Faserverbindungen. Während zu Beginn der Erkrankung noch gewisse
. Übersicht 38.3. Praktische Ratschläge zum Thema »Sex« für Menschen mit Multipler Sklerose 1.
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Machen Sie kein Geheimnis aus Ihren sexuellen Wünschen Vertrauen Sie nicht darauf, dass der Partner die sexuellen Bedürfnisse des anderen errät. Eine anzügliche Bemerkung am Morgen, ein erwartungsvoller Anruf während des Tages oder ein kleiner Liebesbrief sind Zeichen, die dem Partner zeigen: Ich will Dich! Schaffen Sie sich eine angenehme, stimulierende Umgebung Liegen Sie, je nach Lust, auf einer bequemen Couch oder auf einem Bett. Andere mögen lieber ein Wasserbett oder einen weichen Teppichboden, den Rollstuhl oder die Badewanne. Das Licht gedämpft oder hell, Kerzenschein oder Dunkelheit. Planen Sie den Sex Es ist eine irrtümliche Annahme zu glauben, sexueller Kontakt müsse sich ganz von selbst, spontan ergeben. Frisch Verliebte planen jedes Detail, nichts wird dem Zufall überlassen. Wenn Alltagspflichten Energien rauben, ist die sexuelle Begegnung mit dem Partner sorgfältig zu planen, erfahrungsgemäß, wenn beide ausgeruht und entspannt sind. Vermeiden Sie Lust tötende Aktivitäten Ein ausgiebiges Nachtessen mit 2 Flaschen Wein ist zwar wunderbar, aber wenn Sie danach auf ein intimes Zusammensein hoffen, werden Sie enttäuscht sein, und es wird lediglich zu einer schwesterlichen Umarmung reichen. Aerobic oder andere nicht allzu erschöpfende
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Sportarten verbessern das Körpergefühl und machen erwiesenermaßen Lust auf Sex. Benutzen Sie Ihre Phantasie Erzählen Sie sich gegenseitig Ihre sexuellen Phantasien. Wenn die eigenen nicht reichen, holen Sie sich Anregungen aus einschlägigen Werken. Spielen Sie miteinander Entdecken Sie andere Wege zum Orgasmus als den Geschlechtsverkehr. Beobachten Sie sich gegenseitig beim Masturbieren; experimentieren Sie, welche Berührungen an welchen Stellen des Körpers dem Partner Lust bereiten; massieren Sie sich gegenseitig. Überdenken Sie das Ziel Nicht jeder sexuelle Kontakt muss in einem womöglich gemeinsamen Orgasmus enden. Geben Sie sich selbst und dem Partner die Erlaubnis, das Zusammensein zu genießen, ohne auf einen Höhepunkt hinzuarbeiten. Seien Sie offen für Hilfsmittel Wohlduftende Öle oder Lotiones für Körpermassagen, Gleitmittel für die Vagina, vielleicht auch ein Vibrator. Grundsätzlich alle Mittel benutzen, die die Sinne wecken und das sexuelle Vergnügen für beide Partner erhöhen. Reden Sie über Sex Sexhandbücher oder Videofilme, in denen verschiedene Stellungen gezeigt werden, gibt es genug. Suchen Sie mit Ihrem Partner nach Publikationen, die Ihnen gefallen. Schauen Sie gemeinsam an, was andere so treiben. Reden Sie darüber.
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Kompensationsmöglichkeiten vorhanden sind, führt dann die kumulierte Aufhebung dieser Verbindungen – wenn eine gewisse Schwelle überschritten ist – zu einem generalisierten Leistungsdefizit (Calabrese u. Penner 2006).
Untersuchungsmethoden Oft werden diese kognitiven Störungen in einfachen Testbatterien wie dem Mini Mental Status Examination (MMSE) nicht erkannt. Etwas sensibler, aufschlussreicher und innerhalb 10 Minuten durchführbar scheint das kürzlich vorgeschlagene Multiple Sclerosis Inventarium Cognition (MUSIC) zu sein (Calabrese 2007). Dieser Test ersetzt jedoch nicht die
umfassende neuropsychologische Abklärung. Eine neuropsychologische Abklärung ist zwar zeitlich und finanziell aufwändiger, kann jedoch die von den Betroffenen beobachteten Einschränkungen im Alltag ergänzen oder differenzierter objektivieren, was eine gezielte, idealerweise interdisziplinäre Therapie ermöglicht (z.B. das Integrieren von Gedächtnisstrategien im Alltag). Da eine MS-Erkrankung häufig von depressiven Symptomen begleitet ist, dürfen neuropsychologische Symptome nicht isoliert betrachtet werden, sondern bedürfen immer einer ganzheitlichen Betrachtung des Patienten, da die kognitive Komponente durch die psychische eine Verstärkung erfahren kann und umgekehrt (Arnett et al. 2002).
Therapieansätze Näher betrachtet Verbesserung der Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen Studien: Medikation Die bisherigen Versuche, Einbußen in Gedächtnisfunktionen medikamentös wie z.B. mit Donezepil anzugehen, haben – in einer zwar offenen Studie – einen gewissen Erfolg gezeigt (Greene et al. 2000). Andere Substanzen wie Amantadin oder Pemolin waren dagegen unwirksam. Von den immunmodulierenden Substanzen wird berichtet, dass sie einen günstigen Einfluss auf kognitive Störungen haben könnten (Fischer et al. 2000). Dieser zwar bescheidene Effekt lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass diese Medikamente resonanzmagnetisch das Ausmaß der Signalstörungen verkleinern und das Läsionsausmaß immer mit kognitiven Störungen korreliert.
38.1.8
Studien: Kognitives Training Obschon einige der bisher publizierten Studien (Jonsson et al. 1993, Allen et al. 1995, Solari et al. 2004) lediglich einen partiellen oder sogar keinen Erfolg von kognitivem Training haben zeigen können (Lincoln et al. 2002), ist es doch intuitiv richtig, MS-Betroffene auf die verschiedenen kompensatorischen Strategien, die zur Verbesserung ihre kognitiven Fähigkeiten im Alltag beitragen können, hinzuweisen und zu trainieren. Eine eben erschienene Übersichtsarbeit beklagt die Kargheit von relevanten evidenzbasierten Studien über die kognitive Rehabilitation bei MS und formuliert Empfehlungen für konkrete methodisch fundierte Untersuchungsprotokolle, in denen sowohl die Intervention als auch
Emotionale Störungen
Depression Die Palette der emotionalen Störungen bei MS-Betroffenen ist sehr breit (Diaz-Olavarietta et al. 1999), wobei die ausgeprägte Häufigkeit der Depression (60–70%) besonders hervorzuheben ist, zumal sie verglichen mit andern invalidisierenden Krankheiten wie Polyarthritis 3-mal häufiger auftritt. Selten entwickelt sich eine pathologische Trauerreaktion mit anhaltender Hoffnungslosigkeit, Freudlosigkeit und Unvermögen, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Auch wenn die Überlebensrate von MS-Betroffenen heute fast derjenigen von gesunden Individuen gleichkommt, so muss doch die 4fach erhöhte Suizidrate im Vergleich zur gleichaltrigen Bevölkerung beachtet werden (Sadovnik et al. 1991, BrønnumHansen et al. 2005).
die Erfolgsmessung standardisiert sein sollten. Immerhin konnte eine kontrollierte Studie mit 28 Patienten über 4 Wochen à je 2 Trainingstunden/Woche zeigen, dass ein gezieltes Gedächtnistraining relevante Verbesserungen bringt (O’Brian et al. 2008). Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass durch ein spezifisches kognitives Training am Computer eine anhaltende Verbesserung der Aufmerksamkeitsstörungen erreicht werden kann, und dass dieses Training auch im Alltagsleben hilfreich umgesetzt werden kann (Plohmann et al. 1998).
jTherapeutische Möglichkeiten Ein erster wesentlicher Schritt besteht darin, die Depression zu erkennen. Die Behandlung basiert auf einer Kombination aus 4 dem Angehen belastender Probleme, 4 antidepressiven Medikamenten und 4 therapeutischer Beratung. kMedikation Die verwendeten Antidepressiva umfassen sowohl die herkömmlichen trizyklischen Medikamente wie Amitriptylin, aber auch die neueren Wirkstoffe wie die SSRI. Diese Medikamente zeigen oft erst nach 4 Wochen eine Wirkung. Wie alle Medikamente haben Antidepressiva Nebenwirkungen, die ihre Verträglichkeit einschränken können, u.a. 4 Benommenheit, 4 Mundtrockenheit, 4 Verstopfung und 4 Schwierigkeiten beim Wasserlassen.
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Kapitel 38 · Rehabilitation bei Multipler Sklerose (MS)
kTherapeutische Beratung Belastend sind u.a. soziale Probleme wie 4 Schwierigkeiten mit Wohnung und Finanzen, 4 Alkoholismus und 4 Isolation. Auch Beziehungsprobleme müssen angesprochen werden. Beide Beziehungspartner sind von der Krankheit betroffen: dem Verlust 4 der körperlichen Fähigkeiten, 4 der Sexualfunktion und 4 der Arbeit. Ebenso belastet die Pflege des MS-Kranken beide Partner. In diesem Fall kann es hilfreich sein, auch die Partner in die Beratung miteinzubeziehen. Näher betrachtet Review: Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer Interventionen Das kürzlich veröffentlichte Cochrane Database Review über den Nutzen von psychologischen Interventionen bei MS-Betroffenen kam zum Schluss, dass sich verhaltenstherapeutische Ansätze gewinnbringend auf die Krankheitsverarbeitung auswirken (Thomas et al. 2006).
jAndere emotionale Störungen Sog. euphorische Zustände sind viel seltener als in alten Lehrbüchern behauptet wurde und finden sich höchstens bei 10% der Betroffenen, oft vergesellschaftet mit kognitiven Beeinträchtigungen. > Ein euphorischer Zustand ist abzugrenzen von den subjektiv als unangenehm empfundenen Weinoder Lachkrämpfen (9%).
38
Wein- und Lachkrämpfe beruhen auf bilateralen subkortikalen sog. pseudobulbären Läsionen und sprechen manchmal auf Amitryptilin an (Schiffer et al. 1985) oder eine Kombination von Dextrometorphan und Qinidin an (Panitch et al. 2006). Als abgeschwächte Form dieser unkontrollierten Gefühlsäußerungen sei noch die emotionale Labilität erwähnt, mit häufig ändernden Stimmungen von glücklich zu traurig zu wütend. Diese unterscheidet sich nicht sehr von den Stimmungsschwankungen, wie die meisten Menschen sie erleben, aber sie scheinen bei MS-Kranken häufiger und vielleicht stärker aufzutreten.
38.2
Reaktionen und Umgang mit der Diagnose »MS«
Da zwischen Erstsymptomen und Diagnosestellung meist eine Latenz von einigen Jahren besteht, beginnt die Erkrankung für viele Betroffene bereits oft vor der Diagnosestellung, mit als bizarr erlebten Symptomen wie
4 Missempfindungen, 4 ungewohnte Müdigkeit, 4 Hitzeunverträglichkeit, die, weil unerklärt, schwierig zu verarbeiten sind. Aus dieser Sicht gesehen kann dann die Diagnose »MS« ein gewisses Gefühl der Erleichterung vermitteln. Endlich gibt es einen Namen für all die unterschiedlichen Symptome, die verspürt wurden. Die Diagnose bestätigt, dass die Leiden nicht eingebildet waren, sondern von einer nachweisbar anerkannten Krankheit stammen. Andere dagegen erleben die Diagnose »MS« als einen Schock. Das vorher intakte Selbstbild wird angegriffen und die von langer Hand geplante Zukunft wird zerstört. Heftige Gefühle und Reaktionen wie Wut oder Niedergeschlagenheit sind in dieser Phase durchaus normal, was dem Betroffenen auch vermittelt werden soll. Er darf wissen, dass seine Reaktionen in dieser Situation durchaus abgebracht sind. Als besonders belastend erleben viele die für MS typische Unvoraussehbarkeit. Zukunftsängste werden ausgelöst, zumal niemand sagen kann, wann es wieder zu einem nächsten Schub kommt. Manche Menschen werden versucht sein, besonders wenn der Schub einmal abgeklungen ist, die Anwesenheit der Krankheit in ihrem Leben zu ignorieren. Diese negierende Haltung wirkt sich allerdings erschwerend auf die Krankheitsverarbeitung aus. In dieser Krankheitsphase sollten die Betroffenen idealerweise herangeführt werden, ihre Leiden aktiv anzugehen: 4 Informationen über die Krankheit z.B. bei den Vereinigungen für Multiple Sklerose einholen, 4 sich ein gymnastisches Übungsprogramm aneignen und 4 evt. verordnete Medikamente regelmäßig einnehmen. Besonders zu Beginn der Erkrankung, wenn es gilt, mit der neu gestellten Diagnose »MS« umzugehen, haben sich zur Stärkung des Patienten die in . Übersicht 38.4 aufgelisteten Punkte bewährt (Strittmatter 2004), umso mehr als es Hinweise dafür gibt, dass eine zuversichtliche Haltung den Krankheitsverlauf günstig beeinflussen kann (Mohr et al. 2002). . Übersicht 38.4. Unterstützung von MS-Patienten 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Stärkung des Selbstvertrauens Sammeln von Informationen Realistische Hoffnungen hegen Vermeiden von impulsiven Entscheidungen Partizipationsförderung Einschränkungen in der Erwerbsfähigkeit Einschränkungen in der Freizeitgestaltung Einschränkungen in der Mobilität Einschränkungen in Aktivitäten des Alltags (ADL) Gesundheitsfördernde Maßnahmen Teilhabe am Arbeitsleben
jStärkung des Selbstvertrauens Viele Menschen besitzen die Fähigkeit, in Krisenzeiten Kraftquellen zu erschließen und Strategien zu deren Bewältigung
687 38.2 · Reaktionen und Umgang mit der Diagnose »MS«
zu aktivieren. Dazu gehört z.B. eine optimistische Einstellung oder der fest verwurzelte Glaube, dass man jede Krise meistern kann. Bei anderen, die eine allgemein pessimistische Lebenssicht entwickelt haben, können Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht vorherrschen, wenn sie ihre Diagnose erfahren. Studien haben gezeigt, dass diese grundlegenden Einstellungen einen Einfluss auf die Lebensqualität einer Person und ihre Gesundheit haben und im Weiteren darauf, wie aktiv die Person an der Bewältigung der Krankheit teilhat. Ein Psychologe kann z.B. einer Person helfen, Zuversicht zu gewinnen und aktiveren Anteil an der Bewältigung der Krankheit zu nehmen. Die von MS-Gesellschaften angebotenen professionell geleiteten Workshops können wertvolle Techniken zum Umgang mit MS vermitteln. jSammeln von Informationen Um das Gefühl der Zuversicht wiederzuerlangen oder aufrechtzuerhalten, ist es sehr wichtig, dass MS-Kranke früh über die Krankheit informiert werden. Informationen sammeln, mit anderen MS-Kranken sprechen und MS-Experten Fragen stellen, das sind Wege, sich ein Wissen über MS anzueignen. Dieses Wissen stärkt die Selbstverantwortung und erlaubt es den Betroffenen, aktiv an den Entscheidungen über die Wahl der Behandlungsmethoden teilzunehmen, da sie die verfügbaren Behandlungen und Strategien zur Bewältigung der Symptome, aber auch ihre Rechte gesetzlicher oder finanzieller Art kennen. Neben den Gesprächen mit Spezialisten ist natürlich das Internet eine wichtige und beliebte Informationsquelle. Viele MS-Gesellschaften haben eigene Websites, die aktuelle unabhängige Informationen bieten. jRealistische Hoffnungen hegen Die Hoffnung spielt bei der Bewältigung jeder Krankheit eine wichtige Rolle, weil sie eine Quelle ist, aus der die Betroffenen ihre Kraft und ihren Optimismus schöpfen können. Allerdings ist es nicht immer einfach, gleichzeitig hoffnungsvoll und realistisch zu sein. Unrealistische Erwartungen können zu bitterer Enttäuschung führen, besonders wenn eine bestimmte Behandlung oder Therapie nicht das erwartete Ergebnis liefert. Unrealistische Erwartungen können dazu verleiten, Therapien abzubrechen, bevor ihre volle Wirkung erreicht werden konnte. Fehlinformationen, Mangel an Wissen, aber auch ein besonders starker Wunsch zu glauben, dass eine Therapie etwas bewirken kann, schüren solche unrealistischen Erwartungen. Aus diesen Gründen ist es wichtig, dass die Person vor Beginn einer Therapie entsprechend aufgeklärt und informiert wird, um Enttäuschungen aufgrund von unrealistischen Erwartungen zu vermeiden. jVermeiden von impulsiven Entscheidungen Ein akuter Schub oder eine andere Krise ist selten die richtige Zeit, um wichtige oder weitreichende Entscheidungen zu treffen. Dennoch neigt eine Person mit MS in diesen schwierigen Zeiten eher dazu, Entscheidungen zu treffen, die das Leben verändern, z.B. könnte sie während eines MS-Schubs beschließen, das Arbeiten aufzugeben. Die Therapeuten sollten Patienten nach der ersten Diagnose ermutigen, während der Krisenzeiten
Unterstützung zu suchen, um den Fehler impulsiver Entschei-
dungen aufgrund von Angst und Furcht zu vermeiden. jPartizipationsförderung Definitionsgemäß umfasst Rehabilitation alle Maßnahmen, die Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen ein selbstbestimmtes, möglichst selbstständiges Leben und die Teilnahme an für sie relevanten Lebens- und Gesellschaftsbereichen ermöglichen sollen. Für MS-Kranke bedeutet dies, dass rehabilitative und kurative Interventionen von Beginn der Erkrankung an zusammen angeboten werden sollten. Der rehabilitative Blick beschränkt sich nicht auf die Symptome, sondern umfasst den biographischen und sozialen Kontext und fragt nach den Teilhabezielen. Das Rehabilitationsteam versucht zu erfahren, wo die individuellen Einschränkungen liegen, und wo die relevanten Kontextfaktoren zu finden sind. Dem Anspruch kann am besten mit einem interdisziplinär aufgebauten Rehabilitationsteam Genüge getan werden. Wegen der Schwierigkeiten z.B. in ländlichen Regionen ambulant eine solche umfassende Therapie anzubieten, kann es wichtig sein, MS-Betroffenen eine Gelegenheit zur stationären Rehabilitation zu bieten. Dort kann den verschiedenen Behinderungen gebührend Beachtung geschenkt werden, und die Betroffenen können untereinander bereichernde Erfahrungen austauschen. jEinschränkungen in der Erwerbsfähigkeit Zu oft ziehen sich qualifizierte und erfahrene Arbeitskräfte kurz nach der Diagnose aus dem Berufsleben zurück, meist aus eigenem Wunsch, und bevor die Krankheit zur Arbeitsunfähigkeit führt (Rumrill et al. 2004). Da ca. 60% der MS-Betroffenen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung noch erwerbstätig sind, stellt sich die Frage, 4 ob und wie der Arbeitgeber – wenn überhaupt – über die Krankheit informiert werden sollte, 4 durch welche Maßnahmen (Hilfsmittel, eingeschränktes Arbeitspensum, ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes) der Arbeitsalltag erleichtert werden kann, oder 4 falls der ursprüngliche Beruf nicht mehr ausgeübt werden kann, ob eine Umschulung angestrebt werden sollte. jEinschränkungen in der Freizeitgestaltung 96% der Befragten geben an, krankheitsbedingt limitiert zu sein, am Gemeinschaftsleben (Vereinigungen, Feierlichkeiten) teilzunehmen (Khan et al. 2007). Sehr oft bedarf es der Hilfestellung vonseiten der Verwandten oder von Selbsthilfeorganisationen, um an sozialen Events teilzunehmen. Manchmal können kleine Hilfsmittel wie ein Kondomurinal bei imperativem Harndrang die Teilhabe am öffentlichen Leben ermöglichen. jEinschränkungen in der Mobilität Die Spannweite der Mobilitätseinbußen ist vielfältig und beschränkt sich nicht nur auf Gehschwierigkeiten, sondern beinhaltet auch das Unvermögen, 4 sich im Bett zu drehen, 4 den Transfer alleine zu bewältigen oder 4 eine Treppe ohne Geländer zu erklimmen.
38
688
Kapitel 38 · Rehabilitation bei Multipler Sklerose (MS)
Oft haben Betroffene Angst, nicht rechtzeitig die Toilette zu erreichen. Will man sich ein Bild über die Mobilität machen, hat sich der Rivermead Mobility Index (RMI) bewährt (Collen et al. 1991). Dieser Index kann auch bei der Formulierung der Rehabilitationsziele für den Behandlungsplan dienen. Näher betrachtet Studie: Rivermead Mobility Index (RMI) In einer Studie hat sich der RMI als deutlich empfindlicher für Veränderungen in der Rehabilitation erwiesen als der EDSS (Vaney et al. 1996, Wiles et al. 2001).
In . Tab. 38.1 sind die Elemente des RMI mit den entsprechenden ICF-Verknüpfungen dargestellt. Änderungen von 2 oder mehr Punkten im RMI können als klinisch relevante Änderungen interpretiert werden. jEinschränkungen in Aktivitäten des Alltags (ADL) Im Krankheitsverlauf wird mancher MS-Betroffene zunehmend Schwierigkeiten bekunden, die für das selbständige Wohnen erforderlichen Tätigkeiten wie Einkäufe, Haushaltsarbeiten und Selbstpflege zu bewältigen: 4 Für Tätigkeiten wie Waschen und Ankleiden ist die eingeschränkte Mobilität der limitierende Faktor. 4 Tätigkeiten wie das Einzahlen der laufend anfallenden Rechnungen können an den kognitiven Einschränkungen scheitern. Praxistipp Werden solche Einschränkungen vermutet, ist Ergotherapie angezeigt, um Handlungen z.B. mit dem PRPP-System (Perceive, Recall, Plan, Perform) genau zu analysieren (Busch et al. 2007) und die Problematik sichtbar zu machen. Anschließend erfolgt je nach Aktivitätsproblem eine zielorientierte und/oder kompetente Beratung.
38
jGesundheitsfördernde Maßnahmen Kurz nach Diagnosestellung wird es darum gehen, den Patienten für gesundheitsfördernde Maßnahmen zu gewinnen. Dieser Aspekt wurde von den verschiedenen immunmodulierende Substanzen vertreibenden Firmen erkannt, die ihre Kunden in anschaulichen Broschüren neben Injektionstechniken auch über diätetische Maßnahmen und körperliche Aktivitäten informieren. kDiät Auch wenn es keine therapeutisch wirksame Diät im engeren Sinne gibt, deren Einhaltung allen MS- Betroffenen verordnet werden sollte, kann doch in Anlehnung an die Empfehlungen von NICE (National Institute of Clinical Excellence) die tägliche Einnahme von ungesättigten Fettsäuren empfohlen werden (NICE Guidelines 2003).
kFitness Näher betrachtet Studien: Körperliche Aktivitäten bei MS In einer kürzlich publizierten Studie konnte anhand von 611 Patienten, die über eine Zeitspanne von 5 Jahren verfolgt wurden, gezeigt werden, dass eine vermehrte körperliche Aktivität mit einem geringerem Anstieg der Behinderung und höherer Lebensqualität korrelierte (Stuifbergen et al. 2006). Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Cochrane-MetaAnalyse (Rietberg et al. 2005). Diese zeigte, dass sportliche Betätigung die Progression der Multiplen Sklerose zwar nicht aufhält, jedoch die Muskulatur stärken und möglicherweise die Mobilität länger erhalten kann. Ein initial stationär angeeignetes, konsequent durchgeführtes Heimprogramm trägt zur Verbesserung der Mobilität bei (Romberg et al. 2005, Snook u. Motl 2009, Khan et al. 2008).
jTeilhabe am Arbeitsleben Grundsätzlich sollte versucht werden, bei leichter Behinderung das Arbeitsverhältnis unverändert fortzusetzen, zumal die Diagnose »MS« nicht mit Arbeitsunfähigkeit gleichzusetzen ist. Die Teilhabe am Arbeitsleben ist ein wichtiges Partizipationsziel. Der Arbeitnehmer ist gesetzlich nicht verpflichtet, seinen Arbeitgeber über die Diagnose zu informieren. Bei zunehmender Behinderung und sich häufenden Abwesenheiten ist dagegen ein klärendes Gespräch mit dem Arbeitgeber anzustreben. Dies wird besonders dann unumgänglich sein, wenn die eigene Arbeitssicherheit oder diejenige der Kollegen gefährdet ist, wie dies bei zunehmender Sehbehinderung oder Ataxie der Hände der Fall sein kann. Wünscht der bereits behinderte Patient die Arbeit fortzusetzen, so ist es wichtig und erstrebenswert, das Arbeitsverhältnis durch 4 Anpassung des Arbeitsplatzes, 4 Einsatz von Hilfsmitteln oder 4 Teilzeitarbeit, auch in einem beschränkten Maß, aufrechtzuhalten. Die Arbeit muss nicht unbedingt stark gewinnbringend und produktiv sein und kann durchaus in einem geschützten Milieu ausgeübt werden. Eine solche geregelte Tätigkeit vermittelt eine klare Tagesstruktur und führt auch zur Entlastung der Angehörigen. Da die juristischen Aspekte bzgl. der Gewährung einer Invalidenrente komplex und von Land zu Land verschieden sind, sollte den Betroffenen bald empfohlen werden, mit einem Sozialdienst oder der MS-Gesellschaft in Verbindung zu treten, die in dieser Frage ihre beratende Funktion wahrnehmen können.
38.3
Stationäre Rehabilitation
Wegen der Schwierigkeiten bei zunehmenden Einschränkungen in der Mobilität und anderen Funktionen ist zusätzlich zur ambulant angebotenen Therapie die Gelegenheit zu stationärer Rehabilitation zu bieten.
689 38.3 · Stationäre Rehabilitation
. Tab. 38.1. Rivermead Mobility Index mit den entsprechenden ICF-Verknüpfungen Item
Fragen zur Mobilität
ICF-Code
ICF-Beschreibung
1
Drehen Sie sich selbständig von Rücken- in Seitenlage?
d 410
Eine elementare Körperposition wechseln
2
Kommen Sie im Bett vom Liegen zum Sitzen am Bettrand?
d 410
Eine elementare Körperposition wechseln
3
Sitzen Sie 10 Sekunden am Bettrand, ohne sich zu halten?
d 4153
In sitzender Position verbleiben
4
Können Sie in weniger als 15 Sekunden von jedem Stuhl selbständig aufstehen und 15 Sekunden stehen bleiben? (wenn nötig abgestützt)
d 410
Eine elementare Körperposition wechseln
5
Können Sie ohne Hilfsmittel frei stehen?
d 4154
In stehender Position verbleiben
6
Können Sie ohne Hilfsperson den Transfer vom Bett in den Rollstuhl (und zurück) machen?
d 420
Sich verlagern
7
Können Sie 10 Meter gehen? (wenn nötig mit Gehhilfe, aber ohne Hilfsperson)
d 450
Gehen
8
Können Sie Treppen aufwärts steigen? (wenn nötig mit Gehhilfe, aber ohne Hilfsperson)
d 4551 e 1201
Steigen (Treppen) Hilfsmittel zur Unterstützung der Mobilität
9
Können Sie draußen auf dem Gehweg ohne Hilfsperson gehen? (ebener Boden)
d 450
Gehen
10
Können Sie im Haus 10 Meter gehen? (ohne Gehhilfe, Schiene oder Hilfsperson)
d 450
Gehen
11
Wenn Sie etwas auf den Boden fallen lassen schaffen Sie es 5 Meter zu gehen, den Gegenstand aufzuheben und zurücktragen? (Hilfsmittel erlaubt)?
d 410 d 430 d 450 e 1201
Eine elementare Körperposition wechseln Gegenstände anheben und tragen Gehen Hilfsmittel zur Unterstützung der Mobilität (Gehhilfen) Hilfsmittel im täglichen Leben (Orthesen)
e 1151 12
Gehen Sie alleine im Freien auf unebenem Boden (Naturstraße, Wiese)? (Hilfsmittel erlaubt)
d 4502 e 1201 e 1151
Gehen auf unterschiedlichen Unterlagen Hilfsmittel zur Unterstützung der Mobilität (Gehhilfen) Hilfsmittel im täglichen Leben (Orthesen)
13
Baden oder Duschen Sie sich selbständig? (ein- und aussteigen, selbst waschen)
d 510
Sich waschen
14
Gehen Sie 4 Treppenstufen alternierend auf- und abwärts? (Halten am Geländer nicht erlaubt, Hilfsmittel erlaubt)
d 4551 e 1201
Steigen (Treppen) Hilfsmittel zur Unterstützung der Mobilität (Gehhilfen)
15
Rennen Sie 10 Meter in 4 Sekunden, ohne zu hinken? (symmetrischer Armpendel)
d 4552 b 770
Rennen Funktion der Bewegungsmuster beim Gehen
(modifiziert nach Schädler, Lüthi, Marks, Kool, Oesch, Pfeffer, Wirz 2009)
Rehabilitationsplanung
Praxistipp
38.3.1
Die strukturellen und personellen Anforderungen, die MS-Rehabilitationskliniken in der Schweiz und in Deutschland erfüllen sollten, sind bei den jeweiligen MSGesellschaften veröffentlicht (SMSG 1997).
Assessment Zu Beginn des Rehabilitationsaufenthalts ist es wichtig, sich ein Bild von den vorliegenden Partizipationseinschränkungen zu machen – am besten mit einem validierten Assessmentinstrument. Auch wenn die Expanded Disability Status Scale (EDSS) wohl nicht sensibel genug ist, um funkti-
38
690
Kapitel 38 · Rehabilitation bei Multipler Sklerose (MS)
Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit einer stationären Rehabilitation Die Wirksamkeit stationärer Rehabilitationsaufenthalte konnte in mehreren Studien nachgewiesen werden (Kesselring 2006). Freemann konnte zeigen, dass die stationär behandelte Patientengruppe verglichen mit einer zuhause auf ihren Aufenthalt wartenden Patientengruppe in den Alltagsaktivitäten wie Transfer, Ankleiden und Waschen signifikant überlegen war (Freemann et al. 1996). Dagegen ließen sich keine relevanten Veränderungen in den motorischen Behinderungen wie dem Gehen nachweisen. In einer anderen Studie wurde stationäre Rehabilitation mit einem Heimtraining verglichen und festgestellt, dass die stationäre Gruppe ebenfalls bessere Fortschritte zeigte (Solari et al. 1999). Auch konnte bei den in der Klinik behandelten Patienten ein Gewinn im Bereich der Lebensqualität verzeichnet werden. Indikation: Nachbetreuung nach einem Schub In der Schweiz sind viele MS-Betroffene noch in der privilegierten Lage, dass sie nach bestimmten Kriterien von den betreuenden Ärzten in spezielle Rehabilitationskliniken eingewiesen werden können (Beer 2003). Besonders die unmittelbare Nachbetreuung nach einem Schub ist eine gute Indikation für eine stationäre Rehabilitation. Der Rückgewinn von Funktionen kann durch eine Anschlussheilbehandlung eindeutig verbessert werden, wie zwei englische Studien zeigen (Craig et al. 2003, Liu et al. 2003).
onell relevante Änderungen während der Rehabilitation zu erfassen (Freemann et al. 1996), ist sie doch wegen ihres Bekanntheitsgrads wertvoll, um sich rasch das aktuelle Behinderungsausmaß des MS-Betroffenen widerzugeben. In . Tab. 38.2 wird erläutert, welche Rehabilitationsmaßnahmen in den verschiedenen EDSS-Stadien angeboten werden können.
38
jExpanded Disability Status Scale (EDSS) Zu Forschungszwecken wird bei MS fast durchwegs die EDSS verwendet (Kurtzke et al. 1983). Die EDSS entspricht 4 in den unteren Scorebereichen (0–3.5) vorwiegend dem neurologischen Befund, 4 in den mittleren Scorebereichen (4–7.5) der residuellen Gehfähigkeit, 4 im Bereich um 8 der Handfunktion und 4 in den höchsten Scorebereichen um 9 den bulbären Funktionen. Diese Skala besitzt eine fragliche Konstruktvalidität, da sie sowohl Funktionen als auch Aktivitäten misst. Sie ist jedoch so verbreitet, dass nun jeder weiß, dass EDSS 6.5 gleichbedeutend ist mit »an 2 Stöcken knapp gehfähig«. jMultiple Sclerosis Functional Composite (MSFC) Die EDSS hat allerdings auch Schwächen. Wegen den methodischen Schwächen wurden in den letzten Jahren andere Ska-
len entwickelt wie z.B. der Multiple Sclerosis Functional Composite (MSFC) (Cutter et al. 1999). Im MSFC werden berücksichtigt: 4 Gang (8 m Gehen), 4 Fingerfertigkeit (9-Hole-Peg-Test) und 4 Aufmerksamkeit (Paced Auditory Serial Addition Test, PASAT). Schwächen des MSFC sind die mangelnde Berücksichtigung der Teilhabe und die Skalierung. Praxistipp Vonseiten der Multiple Sclerosis Therapy Konsensus Group (MSTKG 2006) wird empfohlen, neben der EDSS auch die MSFC zu verwenden.
Vaney et al. (2004) haben eine etwas modifizierte und vereinfachte Version des MSFC validiert und unter dem Namen SaGAS (Short and Graphic Ablity Score) publiziert. Mithilfe eines Nomogramms können die Resultate der Zeitmessungen für das 10-m-Gehen und den 9-Hole-Peg-Test in Teilscores umgewandelt werden, deren Mittelwert dann dem SaGAS entspricht.
Rehabilitationsprozess Zu Beginn der stationären Rehabilitation werden vom Rehabilitationsteam für jeden Patienten persönlich auf seine Krankheitsausprägung und Bedürfnisse zugeschnittene Rehabilitationsziele formuliert, die immer auch die psychischen und sozialen Gegebenheiten berücksichtigen. Die Wichtigkeit, den Patienten am Zielsetzungsprozess teilhaben zu lassen, wurde in einer eben erschienenen Arbeit unterstrichen (Holliday et al. 2007). Des Weiteren wird Kontakt zu den Angehörigen, wo notwendig mit dem weiteren Umfeld des Patienten und/oder dem Arbeitgeber aufgenommen. Im Verlauf des Rehabilitationsprozesses sollte das Rehabilitationsteam zu regelmäßigen Teamsitzungen zusammenkommen, um die aktuellen Probleme jedes Patienten zu besprechen. Jede Therapiedisziplin kann ihre Beobachtungen und Behandlungsergebnisse einbringen, in gleichem Maße auf somatische wie psychosoziale Aspekte der Krankheit eingehend. Ziel der Teamsitzungen ist es, zu überprüfen, ob das zu Beginn für jeden Patienten individuell festgelegte Rehabilitationsziel realistisch angestrebt werden kann oder notwendigerweise korrigiert werden sollte. Möge dieser Beitrag allen Teammitgliedern ermöglichen, wichtige Hinweise zu vermitteln, damit die ihnen anvertrauten MS-Patienten von ihrem Wissen, ihrer Geduld und Beharrlichkeit profitieren können und somit in ihrer Autonomie und Lebensqualität unterstützt werden.
691 38.4 · Literatur
. Tab. 38.2. ICF-Modell: Rehabilitationsziele und Maßnahmen in Abhängigkeit des Behinderungsgrades nach Kurtzke Behinderungsgrad nach Kurtzke EDSS < 6.0
EDSS 6.5
EDSS 7–7.5
EDSS 8–8.5
EDSS 9–9.5
Einkaufen In Urlaub fahren Spazieren gehen Kinder auf Spielplatz begleiten Blumen gießen Auto reparieren
Ins Restaurant gehen Schuhe binden Weihnachtsbaum schmücken Zum Zahnarzt gehen Mülleimer wegtragen Blumen in die Vase stellen Tanken Über die Straße gehen
Sich eincremen Telefonhörer länger halten Lichtschalter ausschalten Geld aus Geldbörse nehmen E-Mail schreiben Fingernägel lackieren Tür abschließen Augenbrauen zupfen
Buch halten zum Lesen Katze streicheln Bonbon auswickeln Brief öffnen Zähne putzen
Verbesserung der ADLs im Partizipationsbereich Verbesserung des Gangbilds Gleichgewicht/ Stabilisation
Transfers aus verschiedenen Ausgangspositionen erlernen und festigen Verbesserung der ADLs Tonusregulation
Verbesserung der ADLs im Aktivitätsbereich Erhaltung der Beweglichkeit Kognitive Stimulation Tonusregulation Vermeiden von sozialer Kontaktarmut
Verbesserung von Teil-ADLs Vermeiden von Dekubiti und Kontrakturen Vermeiden von sozialer Kontaktarmut
Hilfsmittelabklärung, Heimprogramm (Koordinations- und Ausdauerübungen) Hippotherapie (für Koordination)
Kräftigung der Antagonisten und Detonisierung der Agonisten Hippotherapie (zur Tonusregulation) Moblitätsübungen im Schwimmbad ADL-Training, z.B. Wäsche waschen, Saubermachen
ADL-Training, z.B. sich waschen, anziehen, Essen machen, Handkraft trainieren Stehtraining (im Stehgestell) Eisbad zur Tonusregulation
Kontrakturenprophylaxe ADL-Training von Teilaktivitäten, z.B. Kaffeetasse nehmen Sensibilitätsstimulation Schlucktraining
Partizipationseinschränkung Stehen in der Straßenbahn Ski fahren Tanzen Brötchen holen
Rehabilitationsziele Verbesserung der exzentrisch-konzentrischen Koordination und allgemeinen Ausdauer Stabilität fördern Ressourcen evaluieren und unterstützen Ermüdung vermeiden Maßnahmen Energiemangement Beratung zur Tagesstruktur Heimprogramm (Koordinations- und Ausdauerübungen) Gehschule Schwimmen Aktive Mobilisation ADL-Training, Computer, Schreiben, Arbeit, Hobbies
38.4
Literatur
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Kapitel 38 · Rehabilitation bei Multipler Sklerose (MS)
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39
Rehabilitation neuromuskulärer Erkrankungen G. Pfeiffer 39.1
Neuromuskuläre Plastizität
39.2
Therapieansätze
39.2.1 39.2.2 39.2.3 39.2.4 39.2.5 39.2.6 39.2.7 39.2.8 39.2.9
Krafttraining – 697 Ausdauertraining – 698 Medizinische Trainingstherapie – 699 Elektrotherapie – 700 Pharmakotherapie – 700 Atemtraining – 700 Kontrakturenprophylaxe – 701 Hilfsmittel und Orthesen – 701 Schmerzlinderung – 702
39.3
Krankheits- und Rehabilitationsverläufe
– 703
39.3.1 39.3.2 39.3.3
Akutes Guillain-Barré-Syndrom – 703 Neurale Muskelatrophie (Charcot-Marie-Tooth) Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) – 704
– 704
39.4
Prinzipien der Rehabilitation bei neuromuskulären Erkrankungen – 705
39.5
Literatur
– 707
– 696
– 697
696
Kapitel 39 · Rehabilitation neuromuskulärer Erkrankungen
Neuromuskuläre Erkrankungen sind bedrohlich und prägend. Durch Muskeln teilt sich der Mensch der Umwelt mit und mit den Muskeln wirkt er auf die Umwelt ein. Ohne Muskeln ist der Mensch hilflos in sich eingeschlossen. Die Angst vor dem Rollstuhl kann alle anderen Gedanken lähmen. Noch bitterer ist die Vorstellung, nicht mehr sitzen, sprechen, schlucken oder atmen zu können. Tatsächlich gibt jedoch die besondere Plastizität der peripheren Nerven und der Muskulatur Grund zur Zuversicht. Ein Training kranker Muskeln ist möglich und sinnvoll. Es muss aber, genau wie die Pharmakotherapie, auf gesichertem Wissen über Dosis, Nutzen und Gefahren beruhen. Viele neuromuskuläre Krankheiten sind so selten, dass man sich in deren Rehabilitation an den häufigen Erkrankungen orientieren muss. Das schnelle Fortschreiten der Ausfälle beim Guillain-Barré-Syndrom (GBS) wirkt auf die Betroffenen bedrohlich. Daher muss ihnen möglichst früh mitgeteilt werden, dass gute Aussichten auf eine durchgreifende Besserung bestehen. Durch eine verständnisvolle Begleitung kann man den Patienten Wochen und Monate von Hilflosigkeit, Schmerzen und Angst ersparen. Patienten mit langsam fortschreitenden neuromuskulären Erkrankungen wie der neuralen Muskelatrophie (Charcot-MarieTooth, CMT) leben von früher Kindheit an mit der Krankheit. Diese gehört zur Person und wird oft nicht als Krankheit empfunden. Es gibt jedoch auch Betroffene, die unter ihrer Behinderung leiden und sie still ertragen. Sie bedürfen besonderer Aufmerksamkeit. Schnell fortschreitende degenerative Erkrankungen wie die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) zwingen zur Adaptation an immer neue Behinderungen. Auch Patienten, denen dies beeindruckend gelingt, profitieren von Zuspruch, Beratung und aufmerksamer ärztlicher und therapeutischer Begleitung.
39.1
39
Neuromuskuläre Plastizität
jRegeneration der Nerven Zugrunde gegangene Nervenfasern können wieder aussprossen, Markscheiden bilden sich neu. Muskeln beherbergen ein großes, aber nicht unerschöpfliches Reservoir an Satellitenzellen, aus denen sich neue Muskelfasern entwickeln können, wenn alte zugrunde gegangen sind. Bei Ausfall motorischer Nervenfasern bilden sich innerhalb von Stunden Seitensprossen benachbarter Nervenfasern, um die verwaisten motorischen Endplatten kollateral zu reinnervieren. Dadurch vergrößern sich die verbliebenen motorischen Einheiten. > Erst wenn mehr als die Hälfte der motorischen Einheiten ausgefallen sind, zeigt sich eine Lähmung.
Diese Regenerations- und Kompensationsprozesse sind biologisch angelegt und durch Training nicht zu beeinflussen (Stoll u. Müller 1999; 7 Näher betrachtet). In den ersten 2 Monaten nach einer Verletzung darf auf eine recht zügige Besserung gehofft werden. In dieser Zeit erholt sich die Funktion der Nervenfasern, bei denen nur die Markscheide neu gebildet werden muss. > Wenn nach zwei Monaten noch Ausfälle bestehen, sind sie axonaler Natur.
Dann wird je nach Wegstrecke, die die aussprossende Nervenfaser überbrücken muss, eine mehrmonatige Stagnation eintreten. In dieser Zeit wachsen die Nervensprossen in breiter Front auf das erste Ziel zu. Erst wenn der nächstgelegene gelähmte Muskel erreicht wird, macht sich der segensreiche Regenerationsprozess bemerkbar: Der über Monate unverändert schwache Muskel gewinnt schnell an Kraft. Der Patient muss diese Zeiträume kennen, um Hoffnung und Geduld zu bewahren. Verzweifelte vorzeitige Trainingsversuche frustrieren. Trainingserfolge in einem denervierten Muskel sind erst zu erwarten, wenn die Nervensprossen diesen wieder erreicht haben. Vorher müssen nur die Gelenke beweglich gehalten werden. Nach dieser Geduldsprobe kann die Muskulatur trainiert werden. Näher betrachtet Zeitbedarf der Regeneration im peripheren Nervensystem Man kann periphere Nervenfasern als Kabel betrachten. Ihre Seele, das Axon ist ein sehr dünner, aber manchmal über einen Meter langer Nervenzellfortsatz. Umgeben ist das Axon von einer Isolationsschicht, der Markscheide. Die Markscheide besteht aus vielen einzelnen Segmenten, entlang derer sich die Nervenerregung wie auf einem Kondensator ausbreitet. Nur an den Verbindungsstellen zwischen den Segmenten, den Ranvier-Schürringen, muss die Nervenzellmembran neu erregt werden, damit das Signal über die weiteren Segmente fortgeleitet wird. Leichte Nervenschädigungen betreffen oft nur die Kondensatorwirkung der Markscheide. Durch den Leckstrom bleibt die Erregung im betroffenen Segment »stecken«. Manchmal können sich die elektrischen Eigenschaften der Markscheide innerhalb von Minuten erholen: Ein durch Druck auf einen Nerven »eingeschlafener« Arm wacht wieder auf. Wenn irreparable Strukturschäden aufgetreten sind, wird das betroffene Markscheidensegment abgebaut. Die Zelle, die das Segment gebildet und unterhalten hat, teilt sich, und die Tochterzellen bilden neue Markscheidensegmente. Das untergegangene Segment wird durch kürzere Segmente ersetzt, und die Erregungsfortleitung funktioniert wieder, wenn auch um tausendstel einer Sekunde langsamer. Dieser Regenerationsprozess benötigt etwa 4–8 Wochen. Wenn durch die Nervenschädigung auch das Axon verletzt wird, dauert die Erholung länger. Der abgetrennte Teil des Axons geht unter. Aus dem Stumpf wachsen Sprossen entlang der Basalmembran der untergegangenen Nervenfaser wieder auf den denervierten Muskel zu, mit einer Geschwindigkeit von 2–4 mm am Tag (Stoll u. Müller 1999). Bei einem Weg von einem Meter kann das über ein Jahr dauern.
jRegeneration des Muskels Auch der Muskel ist ein sehr regenerationsfähiges Organ. Durch die Plastizität ist viel zu gewinnen, aber auch schnell viel zu verlieren. Der Strukturstoffwechsel des Muskels hat eine Halbwertszeit von 7–15 Tagen. Entsprechend schnell atrophiert und verkürzt er sich bei Inaktivität und fehlender Dehnung. Erfreulicherweise induzieren Dehnungsreize innerhalb von 3–5 Tagen
697 39.2 · Therapieansätze
4 die Proteinsynthese, 4 den Sarkomerenaufbau und 4 das Längenwachstum. Praxistipp Wenn ein Muskel nie mehr als 20% seiner maximalen Kraft entfaltet, sinkt diese durchschnittlich um 3% pro Tag. An der Schwelle zur Gehunfähigkeit reichen 4–5 Tage Bettruhe, um ohne gezielte Physiotherapie nicht wieder auf die Beine zu kommen (Vignos 1983).
Der Auf- und Abbau der Sarkomere unterliegt hormonellen und mechanischen Einflüssen (Hollmann u. Hettinger 2000). Der entscheidende mechanische Einflussfaktor ist die Kraft. > Die Inaktivitätsatrophie entsteht durch fehlenden Krafteinsatz. Bettlägerige Patienten bewegen sich fast so häufig wie Gesun-
de, aber sie bewegen sich mit geringerem Krafteinsatz. Ein potenzieller Kraftsensor für die Expression der Strukturproteine ist die Verankerung der Myofibrillen in der extrazellulären Matrix durch Dystrophin, Merosin und Integrine (Edgerton et al. 2002). Ausdauerbelastungen bei 70–80% der maximalen Sauerstoffaufnahmekapazität erhöhen die Expression 4 der Enzyme, 4 der Atmungskette, 4 des Fettsäuretransports, 4 der Fettsäure- und Ketonkörperoxidation, 4 der Hämsynthese und 4 des insulinabhängigen Glukosetransporters (Baldwin u. Haddad 2002). Die Kapillardichte nimmt zu. Damit erhöhen sich Ausdauer und Leistungsfähigkeit der Muskulatur: Die aerobe Schwelle wird erhöht, Milchsäurespiegel und Ermüdung nehmen ab.
39.2
Therapieansätze
Sportmedizin ist die Triebfeder der Trainingswissenschaft.
Leider wird dieses Wissen von Laien beim Training kaum genutzt. Noch immer gilt ein Muskelkater als Zeichen eines tüchtigen Trainings. So kommt es zu unregelmäßigen und überfordernden Anstrengungen, die besonders für kranke Muskeln gefährlich sind. Muskelkranke Menschen werden immer noch vor Training gewarnt.
39.2.1
Krafttraining
> Ein Krafttraining wirkt schnell. Die Kraft steigt schon am 1. Trainingstag. Muskelfaserquerschnitt und Myofibrillenzahl nehmen jedoch erst ab der 2. Woche zu (Moritani u. de Vries 1979).
Näher betrachtet Anekdote Um zu belegen, dass Belastung für kranke Muskeln schädlich ist, wird häufig eine anekdotische Beobachtung in einer Familie mit fazioskapulohumeraler Muskeldystrophie erzählt (Johnson u. Braddom 1971): Bei zwei von sechs Familienmitgliedern stand das Schulterblatt auf der dominanten rechten Seite stärker ab als links. Bei einem Familienmitglied mit vorwiegend linkshändiger Arbeit war die Lähmung auf der linken Seite ausgeprägter. Studie: Überlastungsschäden Eine neuere, methodisch fragwürdige Studie beschreibt einen Überlastungsschaden der dominanten Hand bei Patienten mit einer Charcot-Marie-Tooth-Neuropathie (Vinci et al. 2003). Die Angst vor einer Trainingsüberlastung kranker Muskeln ist empirisch schwach begründet. Bei Post-PolioPatienten vermutet man als Ursache der Jahrzehnte nach der Kinderlähmung auftretenden neuen Lähmungen eine chronische Überlastung der verbliebenen Motoneurone. Aber auch diese Patienten verlieren durch ein Krafttraining keine motorischen Einheiten (Chan et al. 2003). Hochgradig gelähmte Fußheber, deren verbliebene motorischen Einheiten bei jedem Schritt mit einer Frequenz von 20–40 Hz entluden, zeigten keine strukturellen Schäden, trotz der extremen Dauerbelastung, die zur Umwandlung von Typ-IIin Typ-I-Fasern geführt hatte, was im Tierversuch nur durch chronische elektrische Dauerreizung, aber nicht durch Training zu erreichen ist (Borg et al. 1988).
Vor dem Krafttraining beruht der Kraftzuwachs auf der besseren Synchronisierung und Rekrutierung der motorischen Einheiten (Milner-Brown et al. 1975). Dies ist eine Form des motorischen Lernens, von der selbst schwer betroffene Patienten profitieren sollten, ohne ihre Muskeln zu überlasten. Ein Krafttraining über 24 Wochen führt zu einem gleichmäßigen Kraftanstieg. Nur in den ersten 8 Wochen nahm durch verbesserte Rekrutierung motorischer Einheiten die EMG-Aktivität zu. Nach dieser Zeit beruht der Trainingseffekt ausschließlich auf Zunahme der Myofibrillen (Lindeman et al. 1999). jIsokinetisches und isometrisches Training Ein gemischtes isokinetisches und isometrisches Training nutzte Post-Polio-Patienten auch noch nach einem Jahr, wahrscheinlich aufgrund des körperlich aktiveren Alltagslebens, das durch das Training möglich wurde (Einarsson 1991). jTraining der Atemmuskulatur Ein Krafttraining der Atemmuskulatur ist möglich. Patienten mit einer Duchenne-Muskeldystrophie oder einer spinalen Muskelatrophie trainierten 2 Jahre lang unter Biofeedback 2-mal täglich mit jeweils 10 Inspirationen gegen 70–80% ihres maximalen inspiratorischen Drucks (Koessler et al. 2001). Innerhalb von 10 Monaten stieg der maximale inspiratorische Druck im Mittel um 35 cmH2O. Danach wurde ein Plateau gehalten. Die maximale willkürliche 12-Sekunden-Atemka-
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698
Kapitel 39 · Rehabilitation neuromuskulärer Erkrankungen
Näher betrachtet Studie: Krafttraining Die erste kontrollierte Studie über ein Krafttraining bei Patienten mit Muskeldystrophie (Vignos u. Watkins 1966) zeigte im Jahr vor dem Training einen Kraftverfall, der im 2. Jahr in der Trainingsgruppe aufzuhalten war, jedoch nicht in der Kontrollgruppe. Patienten mit Gliedergürtel- oder fazioskapulohumeralen Dystrophien steigerten ihre Kraft in den ersten 4 Monaten und hielten dann ihr Plateau. 7 von 9 Patienten stiegen nach dem Trainingsjahr Treppen um mindestens 20% schneller. 3 Patienten konnten schneller gehen (Vignos u. Watkins 1966).
Der Kraftzuwachs ist abhängig von der Ausgangsleistung: 4 Mäßig schwache Muskeln gewannen durch Training 80% mehr Kraft. 4 Sehr schwache Muskeln mit weniger als 10% der normalen Kraft zeigten keinen Trainingseffekt (Milner-Brown u. Miller 1988). Für schwache Muskeln ist die Alltagsbelastung möglicherweise bereits ein optimaler Trainingsreiz. Erfreulicherweise verschlechterte sich deren Kraft nicht.
Näher betrachtet Studie: Isokinetisches und isometrisches Training Eine kontrollierte Studie bei Patienten mit myotoner Dystrophie oder Charcot-Marie-Tooth (CMT) ergab eine signifikante Kräftigung der Kniestrecker in der Neuropathiegruppe (Lindeman et al. 1995). Die Patienten trainierten 3-mal/Woche über 24 Wochen bei 60% der Maximalkraft in 3 durch 1-minütige Pausen unterbrochenen Serien mit je 25 Muskelanspannungen. Bei keinem Patienten sank die Kraft. Die CMT-Patienten gingen über 5 m signifikant schneller. Gemessen auf einer visuellen Analogskala hatten die Patienten mit myotoner Dystrophie weniger Schwierigkeiten beim Aussteigen aus dem Auto und beim Anziehen der Strümpfe.
pazität nahm um 10–15 l/min zu. Keiner der Patienten ver-
schlechterte sich in den 2 Jahren. Kein Trainingserfolg ist bei einer Vitalkapazität unter 25% der Norm zu erwarten (Wanke et al. 1994). Praxistipp
39
Wenige tägliche Muskelanspannungen bei 70–80% der Muskelkraft stärken auch den kranken Muskel ohne Schaden, solange die Muskelkraft über 10% der Norm liegt. Funktionell wichtige Muskeln sind die Kniestrecker und die Atemmuskulatur. Es sollte 3-mal wöchentlich trainiert werden. Empfohlen werden 3 durch 1-minütige Pausen unterbrochene Serien. Der tägliche Zeitbedarf ist gering und der Nutzen gerade bei gefährdeter Gehfähigkeit groß.
39.2.2
Ausdauertraining
Ausdauer ist eine physische und psychische Eigenschaft, die ungleich schwerer zu definieren ist als die Kraft. Physiologisch gut erforscht ist die Erschöpfung der elektromechanischen Koppelung und des Energiestoffwechsels auf Muskelebene. Bevor
Die Trainingsintensität sollte nicht zu hoch sein. Patienten mit langsam progredienten neuromuskulären Erkrankungen trainierten mit Gewichten, die sie gerade 12-mal hintereinander heben konnten, anfangs 3 und später 4 Tage/Woche. Durch die Steigerung der Trainingsfrequenz wurde die Kniestreckung kräftiger, aber die isokinetisch exzentrisch trainierten Armbeuger wurden schwächer (Kilmer et al. 1994). Dieser Schaden konnte durch ein Trainingsprogramm mit 10% der Maximalkraft vermieden werden, allerdings war der Kraftgewinn minimal (Aitkens et al. 1993).
die Reserven des Muskels ausgeschöpft sind, hemmen kortikale und spinale Mechanismen die Innervation. Das zeigt sich dadurch, dass tetanische elektrische Reize während einer willkürlichen maximalen Daueranspannung noch Kraftreserven des Muskels mobilisieren können (Kent-Brown u. Miller 2000). Näher betrachtet Ausdauertraining bei Fatigue Unabhängig von reduzierter Muskelkraft und Ausdauer leiden viele Patienten mit chronischen neurologischen Erkrankungen unter einem überwältigenden Gefühl von Müdigkeit, Erschöpfung und Mangel an Energie, das als Fatigue bezeichnet wird. Fatigue tritt bei neuromuskulären Erkrankungen mit 60– 70% besonders häufig auf (Kalkmann et al. 2005). Ein Risikofaktor für Fatigue ist das Gefühl, einer unberechenbaren Krankheit ausgeliefert zu sein, ohne diese selbst beeinflussen zu können. Ein aktiv gestaltender Umgang mit der Krankheit schützt. Ein Ausdauertraining ist nützlich, 4 zum einen durch die verbesserte Kondition und 4 zum anderen durch die erlebte verstärkte Selbstkontrolle im Sinne eines aktiven und selbstbestimmenden Umgangs mit der Krankheit. Das Ausdauertraining kann bei Fatigue aber auch dazu führen, dass sich die Energiereserven durch die Anstrengungen schneller erschöpfen, auf Kosten anderer wichtiger oder genussreicher Aktivitäten. Ein Tagebuch der Aktivitäten mit Aufzeichnungen der während und nach dem Ausdauertraining erlebten Erschöpfung hilft, um diese Gefahr vermeiden.
> Es gibt zwei Formen des Ausdauertrainings: 4 aerobes Ausdauertraining und 4 anaerobes Ausdauertraining.
jAerobes Ausdauertraining Im Gesundheitssport ist das Trainingsziel die allgemeine aerobe Ausdauer. Die erlebte Anstrengung bei einer körper-
699 39.2 · Therapieansätze
lichen Belastung korreliert eng mit dem Laktatspiegel. Er steigt, wenn der oxidative Energiestoffwechsel des Muskels ausgeschöpft ist und Energie nicht mehr über die Atmungskette, sondern über die Glykolyse bereitgestellt werden muss (Laktatschwelle). Die maximale Sauerstoffaufnahmekapazität ist ein Maß der allgemeinen aeroben Ausdauer: 4 Bei Gesunden hängt sie weitgehend von der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit ab. Wenn es gelingt, genügend Sauerstoff an die Muskeln zu bringen, wird dieser auch zur Energiegewinnung genutzt. 4 Bei mitochondrialen Myopathien ist die Sauerstoffaufnahmefähigkeit der Muskeln ein limitierender Faktor. Der Engpass ist nicht die Versorgung mit, sondern die Nutzung von Sauerstoff. Die Sauerstoffaufnahmefähigkeit ließ sich bei Patienten mit mitochondrialen Myopathien während einer Trainingsphase steigern. Nach Beendigung des Trainings erreichte sie den Ausgangswert wieder. Das Training hatte offenbar keinen dauerhaften Schaden verursacht. Während der Trainingsphase stiegen physisches und psychisches Wohlbefinden (Taivassolo et al. 2006). Sicher und förderlich war Ausdauertraining auch bei Patienten mit 4 Post-Polio-Syndrom (Jones et al. 1989, Ernstoff et al. 1996, Willen et al. 2001), 4 Myositis (Wiesinger et al. 2000), 4 myotoner Dystrophie (Orngreen et al. 2005), 4 fazioskapulärer Muskeldystrophie (Olsen et al. 2005), 4 Gliedergürtel-Muskeldystrophie (Sveen et al. 2007) und 4 langsam progredienten neuromuskulären Erkrankungen (Wright et al. 1996).
dauernden Muskelanspannung liegt der Gewebedruck über dem Perfusionsdruck. Muskeldurchblutung und Sauerstoffversorgung kommen zum Erliegen. Die Energie kann nur noch anerob über Glykolyse gewonnen werden. Deshalb fordern dauerhafte tonische Muskelanspannungen die anaerobe Stoffwechselkapazität. Post-Polio-Patienten konnten nach dem Training eine isometrische Anspannung mit 40% der Maximalkraft zu 25% länger durchhalten (Agre et al. 1997). Sie hatten ihre anaerobe statische Ausdauer trainiert, allerdings wohl ohne Nutzen für ihren Alltag, in dem dauerhafte schwere Haltearbeit kaum eine Rolle spielen dürfte. Falls dennoch Haltearbeit erforderlich ist, sind Pausen effektiver als ein Durchhaltetraining: Die Arbeitskapazität verdreifachte sich bei Patienten mit Post-Polio-Syndrom durch 2-minütige Pausen zwischen 20 sek dauernden tonischen Kniestreckungen bei 40% der Maximalkraft (Agre u. Rodriquez 1991).
39.2.3
Medizinische Trainingstherapie
In der Medizinischen Trainingstherapie wird nicht statischisometrisch trainiert, sondern in Bewegung gegen Widerstand. Dadurch lassen sich Kraft und Ausdauer bestimmter lokaler Muskelgruppen unter aeroben Stoffwechselbedingungen steigern. Praxistipp Ein aerobes lokales dynamisches Ausdauertraining wird auch bei Post-Polio-Syndrom empfohlen.
Praxistipp Das aerobe Ausdauertraining bringt bei neuromuskulären Erkrankungen wie bei Gesunden 4 eine Verbesserung des Wohlbefindens, 4 eine Gewichtsabnahme und 4 eine Steigerung der Leistungsfähigkeit. Üblicherweise wird 3-mal/Woche 30 Minuten lang bei 70–80% der maximalen Herzfrequenz trainiert. Bei Muskelkrankheiten drohen im besonderen Maße Dekonditionierung und Gebrechlichkeit durch Bewegungsmangel. Daher ist das aerobe Ausdauertraining ganz besonders zu empfehlen. Bei Fatigue kann nach dem Training allerdings eine unerwünschte längere Erschöpfung drohen. Dann empfiehlt sich das Training in den Abendstunden.
jAnaerobes Ausdauertraining Trainingswissenschaftlich und muskelphysiologisch kennt man neben dem aeroben Ausdauertraining noch eine Vielzahl anderer Ausdauerformen. Bei statischer Haltearbeit (isometrischem Training) ist die lokale anaerobe Ausdauer gefordert. Während der an-
Näher betrachtet Studie: Kraft- und Ausdauertraining bei Post-PolioSyndrom 17 Patienten trainierten 2-mal wöchentlich Serien von je 50 isokinetischen Kniestreckungen (Ernstoff et al. 1996). Die Kraftabnahme während einer Serie war nach dem Training geringer. Am stärksten besserte sich der schwächste Patient. Allerdings sank bei 2 Patienten auch die Ausdauer. Selbst bei den Patienten, die profitierten, waren subjektives Erschöpfungsgefühl und funktioneller Status vom Training unbeeinflusst. Der Trainingserfolg hatte also keinen Alltagsnutzen. Ein kombiniertes häusliches Training, zunächst der lokalen Ausdauer und dann der Kraft, zeigte signifikante Kraftzunahmen, aber keine signifikante Verbesserung bei Mobilität, Selbständigkeit und Fatigue (Dawes et al. 2006). Daher scheint das lokale Ausdauertraining nach der bisherigen Datenlage bei neuromuskulären Erkrankungen wenig lohnend.
Fazit Die Medizinische Trainingstherapie sollte sich auf das Krafttraining konzentrieren. Das kombinierte Training von Kraft und lokaler Ausdauer ist möglich, aber von unklarem Alltagsnutzen und in einzelnen Fällen möglicherweise auch ungünstig. Deshalb sollte die Kraft wichtiger Muskelgruppen überwacht werden.
39
700
Kapitel 39 · Rehabilitation neuromuskulärer Erkrankungen
39.2.4
Elektrotherapie
jStimulation partiell innervierter Muskeln Bei zumindest partiell innervierten Muskeln kann die Elektromyostimulation eingesetzt werden. Verwendet werden hochfrequente Serien (30–50 Hz) kurzer (0,3 ms) asymmetrischer biphasischer Impulse von 10 Sekunden Dauer. Sie führen zu einer tetanischen maximalen Muskelanspannung und wirken dadurch wie ein Krafttraining. Das ist besonders vorteilhaft, wenn aktive Übungen unmöglich sind: 4 Bettlägerige Patienten können durch Elektrostimulation der Rücken- und Gesäßmuskulatur sowie der Kniestrecker auf die Mobilisierung vorbereitet werden. 4 Beim GBS können unterhalb peripherer Leitungsblockaden die noch innervierten, aber nicht mehr ansteuerbaren Muskeln konditioniert werden, um nach Rückkehr der Erregungsleitung die Mobilisierung zu beschleunigen und über die verbesserte Durchblutung die Thrombose- und Dekubitusgefahr zu mindern (Merli et al. 1988). Die Reizung größerer Muskelgruppen regt außerdem Stoffwechsel und Kreislauf an. jStimulation denervierter Muskeln Die elektrische Stimulation denervierter Muskeln erfordert längere Reize. Im Tierversuch konservierten 2-mal tägliche Reize von 20 ms Dauer über 6 Minuten den Faserdurchmesser bei 80% des Ausgangswerts. Ohne Reizung sank der Faserdurchmesser auf 40% (Mokrusch et al. 1990). Dieser Erfolg wird erst mit der Reinnervation nutzbar. Entsprechend lange muss die Therapie dauern, was mittels batteriebetriebener mobiler Reizgeräte möglich, aber aufwändig ist. Fazit Insgesamt ist dieser Ansatz kaum lohnend, da die Muskelkraft nach der Reinnervation durch aktives Training gegen Widerstand auch ohne Elektrostimulation schnell wieder auftrainiert werden kann.
jStimulation myopathischer Muskeln Bei der Elektrotherapie myopathischer Muskeln muss auf eine niederfrequente Stimulation geachtet werden.
39 Näher betrachtet Studien: Stimulation myopathischer Muskeln Die Muskelkraft nahm bei Muskeldystrophie unter chronischer niederfrequenter 8-Sekunden-Reizung geringfügig, aber statistisch signifikant zu, doch sie sank bei hochfrequenter 30-Sekunden-Reizung. Trotz Anstieg der Muskelkraft ließ die Gehgeschwindigkeit weiter nach (Scott et al. 1990). In einer weiteren Studie konnte über 9 Monate bei 5 von 9 Jungen die Kraft der Fußheber um etwa 20% gesteigert werden (Zupan et al. 1993). Dazu wurde täglich 2-mal eine Stunde lang stimuliert. Der mögliche Alltagsnutzen wurde nicht erfasst.
Fazit Wegen des noch nicht belegten Nutzens im Alltag sollte die Elektrostimulation moypathischer Muskeln nur im Rahmen von Studien erfolgen.
39.2.5
Pharmakotherapie
4 Das Auffüllen der Kreatinspeicher mit 10 g/d für 5 Tage und 5 g/d für 5 weitere Tage steigert bei Gesunden vorübergehend sportliche Leistungen. Kreatin hilft Energiereserven zu mobilisieren. Außerdem wirkt es anabol. Bei vielen neuromuskulären Erkrankungen fehlt Kreatin im Muskel, was die Substitution nahelegt. Bei Muskeldystrophien führte die Kreatingabe zu einem signifikanten durchschnittlichen Kraftzuwachs von 8,5% (Kley et al. 2007), mit Relevanz auch für die Aktivitäten des täglichen Lebens (Walter et al. 2000). > Das Auffüllen der Kreatinspeicher ermöglicht eine risikoarme Steigerung von Kraft und Arbeitskapazität auch des kranken Muskels. Kreatin kann die Mobilisierung nach längerem Krankenlager beschleunigen. 4 Clenbuterenol, ein Dopingmittel, beschleunigt das Auftrainieren der Kniestrecker nach Knieoperationen von
6 auf 3 Wochen (Maltin et al. 1993). 4 Albuterol wurde von 85 neuromuskulären Patienten bis
auf verstärktes Muskelzittern und Schlafstörungen vertragen und führte zu einer Erhöhung der Muskelmasse, jedoch nicht zu überzeugenden Kraftgewinnen (Kissel et al. 2001). Bei 65 Patienten mit einer fazioskapulären Muskeldystrophie führte Albuterol zusammen mit einem Krafttraining zu einer signifikanten Zunahme der Muskelmasse, aber nur zu inkonsistenten Kraftgewinnen (van der Kooi et al. 2004).
39.2.6
Atemtraining
Bei progredienten neuromuskulären Erkrankungen sichert eine rechtzeitige Atemunterstützung die Lebensqualität (7 Kap. 25). Die Atemmuskulatur ist ununterbrochen tätig. Früh betroffen ist die Atemmuskulatur bei 4 Saure-Maltase-Mangel, 4 Carnitin-Palmyitoyl-Transferase-Mangel und 4 mitochondrialen Myopathien, manchmal auch bei der 4 Amyotrophen Lateralsklereose (ALS) (Pfeiffer et al. 1996). Zwerchfellparesen führen zu einer nächtlichen CO2-Retention, denn das Zwerchfell ist während des REM-Schlafs der einzig aktive Atemmuskel. Die Vitalkapazität nimmt im Lie-
gen um mehr als 25% ab. Dies zwingt zum Schlaf mit erhöhtem Oberkörper.
701 39.2 · Therapieansätze
Praxistipp Bei Zwerchfellparesen verhindert eine nächtliche Atemunterstützung durch eine nicht-invasive Beatmung mit Maske (Bach 1994) das Abgleiten in eine kardiopulmonale Insuffizienz (Pfeiffer et al. 1996). Sie lindert morgendliche Kopfschmerzen, behebt die Tagesmüdigkeit und bessert die Lernleistung (Newsom-Davis et al. 2001).
> Eine nächtliche Atemunterstützung muss erwogen werden, wenn die Vitalkapazität unter 55% der Norm sinkt. Aussagekräftig ist die morgendliche Blutgasanalyse (Lyall et al. 2001). Ein erhöhter Bikarbonatspiegel weist auch noch später am Tag auf eine nächtliche Hyperkapnie hin.
Für die neuromuskuläre Ateminsuffizienz ist die Erschöpfbarkeit der Atemmuskulatur (Borel et al. 1991) entgegen früherer Annahmen weniger bedeutsam als der Verlust der Fähigkeit, kräftig zu husten, um die oberen Luftwege von Schleim oder Fremdkörpern zu reinigen. Der maximale Hustenstoß sollte über 160 l/min liegen (Bach u. Saporito 1996). Die expiratorischen Muskeln entfalten ihre maximale Kraft erst nach voller Inspiration. Deshalb schwächt eine verminderte Vitalkpazität den Hustenstoß ebenso wie ein durch Gelenk- und Muskelkontrakturen versteifter Brustkorb. Ein effektiver Hustenstoß erfolgt beim Gesunden mit etwa 2,3 l Luft. Praxistipp Patienten mit erniedrigter Vitalkapazität brauchen vor dem Abhusten Inspirationshilfen. Patienten ohne Tracheostoma können durch glossopharyngeale Atemtechniken das intrathorakale Luftvolumen und damit den Hustenstoß steigern (Bach 1993).
39.2.7
Kontrakturenprophylaxe
Bei Lähmungen müssen die Gelenke passiv bewegt werden, um Kontrakturen zu vermeiden: 4 Bei GBS-Patienten kam es trotz dieser Maßnahmen zu schweren behindernden Gelenkversteifungen mit periartikulären Verkalkungen (Soryal et al. 1992). 4 Bei Schlaganfallpatienten können Gelenkdehnungen sogar zur Kontraktur beitragen (Kondo et al. 2001). Man vermutet als Ursache Mikrotraumen durch Überdehnung bei Ausfall der Antagonisten. ! Cave Besondere Zurückhaltung beim passiven Bewegen ist bei fehlender Schmerzempfindung durch Medikation, Koma und bei Sensibilitätsstörungen geboten!
jMaßnahmen 4 Geführte Bewegungen über mehrere Gelenke hinweg
sind schonender als das Dehnen einzelner Gelenke. 4 Frühes Aufsetzen fördert die Rumpfmobilisierung und
hält Becken- und Schultergürtel beweglich. 4 Geführte Schulterbewegungen aus dem Stand oder Sitz
mobilisieren den gesamten Schultergürtel, schonen das Schultergelenk und fördern Brustkorbbeweglichkeit, Atmung und Abhusten. > Besonders wichtig ist das schmerzfreie Gelenkspiel für ein entspanntes Liegen, den aufrechten Stand und kraftsparenden Sitz. Praxistipp Die Kontrakturbehandlung ist bei neuromuskulären Erkrankungen aussichtsreich (7 Patientenbeispiel in Kap. 39.4) und deutlich zügiger als bei zentralen Paresen, bei denen über mindestens 6 Stunden am Tag redressiert werden muss. Ohne Spastik reichen 30 sec täglich (Bandy et al. 1997). Wärme ist förderlich.
39.2.8
Hilfsmittel und Orthesen
Orthesen schützen Gelenke bei mangelhafter Muskelführung, mindern Überlastung, und können durch elastische Rückstellkräfte schwache Muskeln dynamisch unterstützen. In . Übersicht 39.1 sind Hilfsmittel und Orthesen aufgelistet. . Übersicht 39.1. Hilfsmittel und Orthesen 1. 2. 3. 4. 5.
Sprunggelenkschienen Sprunggelenk- und Knieorthesen Handgelenk- und Daumenoppositionsschienen Sitzhilfen Stehhilfen
jSprunggelenkschienen Dynamische Sprunggelenkschienen stoppen den Fallfuß, um die freie Schwungphase des Beins zu sichern. Gleichzeitig federn sie die Gewichtsübernahme in der Standbeinphase durch plantarflektiertes Aufsetzen und Abrollen ab und speichern Energie für den Abstoß (Huber 1995). Das Gangbild wird gelenkschonender und ökonomischer. Die Leistung auf dem Laufband steigt um bis zu 20% (Bean et al. 2001). Praxistipp Manche Patienten und Therapeuten lehnen Orthesen ab, aus Angst, die Muskulatur zu verwöhnen. Die befürchtete Inaktivitätsatrophie lässt sich durch wenige Muskelanspannungen/Tag vermeiden, die sich ohne wesentlichen Aufwand in die tägliche Gymnastik integrieren lassen.
39
702
Kapitel 39 · Rehabilitation neuromuskulärer Erkrankungen
jSprunggelenk-/Knieorthesen Bei gestrecktem oder rekurviertem Knie wird der Stand passiv durch den Zug von vorderem Kreuzband und hinterer Gelenkkapsel gesichert. In Beugestellung tragen die Kniestrecker das Körpergewicht. Sind sie zu schwach, kann der Patient nur mit rekurvierten Knien sicher stehen und gehen. Ein unkontrolliertes Auftreten mit gebeugtem Knie führt zum Sturz. 4 Sprunggelenkorthesen mit einer vorderen Abstützung
am Schienbein halten den Unterschenkel aufrecht und schützen vor unbeabsichtigtem Einknicken. 4 Knieorthesen vermeiden die Überstreckung und sichern den Stand durch manuell oder halbautomatisch lösbare Beugesperren. Der Nachteil ihres hohen Gewichts mindert sich durch moderne Werkstoffe. 4 Bei schlaffen Paraparesen sind Knie- mit Sprunggelenkorthesen zu Gehapparaten kombinierbar. Sie lohnen bei Kauda- und Plexusläsionen, wenn nach ausgeschöpfter Regeneration langjährig stabile Ausfälle zu erwarten sind. Der Einsatz kann am Ehrgeiz scheitern, durch Training wieder normal gehen zu wollen. Praxistipp Ein rationaler Hilfsmittelgebrauch setzt geduldige, wiederholte, einfühlsame Aufklärung über Regenerationsund Trainingsaussichten voraus.
jHandgelenk-/Daumenoppositionsschienen 4 Handgelenkschienen in Neutralstellung garantieren bei Radialisparesen eine optimale Vordehnung der langen Fingerbeuger und eine optimale Ausgangsposition und fördern so das Greifen (Chan 2002). 4 Eine Daumenoppositionsschiene unterstützt bei Thenarparesen das Schreiben und den Pinzettengriff (Edwards 2002).
39
jSitzhilfen Die Rumpfmuskulatur kann durch Sitzhilfen unterstützt werden. Die entspannte Sitzhaltung ist bei kranken Muskeln kein Zeichen der Bequemlichkeit, sondern bittere Not. Beim bequemen Sitz hängt das Körpergewicht kraftsparend an der mit rundem Rücken und nach hinten gekipptem Becken passiv stabilisierten Körperachse. Oft kommt es dann zu einer fixierten Lendenkyphose und Hüftstreckung, und der Oberkörper kann beim Transfer vom Sitz in den Stand nicht mehr nach vorne gebracht werden. Die fixierte Lendenkyphose erschwert außerdem das Ausbalancieren des Körperschwerpunkts im Stand. Diese Konsequenzen müssen durch Hilfsmittel vermieden werden: 4 Ein Sitzgurt hält das Becken aufrecht und verhindert das Nach-vorne-Rutschen im Rollstuhl. 4 Die Hüftbeugung und Beckenkippung wird durch eine zur Rückenlehne hin leicht abschüssige Sitzfläche gefördert. 4 Die Rückenlehne soll das Körpergewicht möglichst großflächig abfangen können. 4 Der Schultergürtel kann auf einem ausreichend hoch angebrachten Tisch abgestützt werden.
4 In Ruhephasen sollten Sitzfläche und Lehne nach hinten gekippt werden können, um die Hüftbeugung zu wahren. Alternativ kann der Oberkörper mit einem Keilkissen auf dem Rollstuhltisch gebettet werden (Pope 2002). jStehhilfen 4 Die Patienten sollten täglich in den Stand gebracht werden. Das Stehen 5 stimuliert Kreislauf und Atmung, 5 stärkt die Knochen, 5 verhindert eine Anämie, 5 kräftigt die Haltemuskulatur und 5 entlastet die Haut. 4 Stehbarren mit motorisiertem Zug in den Stand und Kipptische gestatten auch ungeübten Helfern die Vertikalisierung zuhause. Stehrollstühle ermöglichen das assistierte Aufstehen außerhalb des Therapieraums. Dadurch erschließen sich obere Schrankregale und Kontakte auf Augenhöhe mit Gesunden. jZusammenfassung Hilfsmittel sollen der vorschnellen Muskelermüdung vorbeugen und so Aktivität und Teilhabe fördern. Auf Hilfsmittel verzichten, um die Muskeln nicht zu verwöhnen, heißt den Alltag in ein Dauertraining zu verwandeln, das selbst von ehrgeizigen Sportlern vermieden wird. Die durch Hilfsmittel unterstützten Muskeln können innerhalb weniger Minuten durch ein gezieltes Krafttraining besser gefördert werden als durch Dauerbelastung.
39.2.9
Schmerzlinderung
Drei Viertel der Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen leiden unter Schmerzen. Die Schmerzintensität liegt bei Werten um 5–6 auf der numerischen Analogskala von 0– 10. Besonders stark betroffen waren Patienten mit Post-PolioSyndrom. Neben Freizeitaktivitäten und Arbeit war am häufigsten das Schlafen durch Schmerzen beeinträchtigt. Die Patienten erlebten eine mäßige Schmerzlinderung durch 4 Physiotherapie, 4 Massage oder 4 Analgetika (Jensen et al. 2005). Das Schmerzgeschehen ist häufig komplex. Bei ausführlicher Befragung schilderten Patienten mit fazioskapulohumeraler Muskeldystrophie bis zu 7 verschiedene Schmerzen, teilweise 4 arthrogen und 4 als Muskelschmerz. Sie gaben höchstens einen schmerzfreien Tag/Monat an (Bushby et al. 1998). Die Patienten klagen selten spontan über ihre Schmerzen. Offenbar haben viele eine hohe Schmerzakzeptanz. Das ist eine gute Einstellung zu unbeeinflussbaren Schmerzen. Allerdings dürfte ein Teil der Schmerzen bei genauer Analyse doch behandelbar sein (Therapie, 7 Kap. 39.3.1.1).
703 39.3 · Krankheits- und Rehabilitationsverläufe
39.3
39.3.1
Krankheits- und Rehabilitationsverläufe Akutes Guillain-Barré-Syndrom
Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) kann bei bis zu 20% der Erkrankten innerhalb weniger Tage zur muskulären Ateminsuffizienz führen. Es ist wichtig, jedoch nicht einfach, mit vollständig gelähmten und tracheotomierten Patienten zu kommunizieren. Trotz vorbildlicher psychosomatischer Betreuung und sorgfältigem Kommunikationsaufbau klagte in einer Gruppe ehemals beatmeter GBS-Patienten immer noch die Hälfte der Betroffenen über einen Mangel an Informationen (Eisendrath et al. 1983). Ohne frühzeitige Information über die vorübergehende Natur der Ausfälle und ohne genaue Aufklärung über Beatmung und Monitoring ist der Zustand noch viel schwerer zu ertragen. Solange sie keine Notklingel bedienen konnten, fürchteten alle Befragten, bei Respiratordiskonnektion oder -ausfall zu ersticken. Die Beatmung macht das Leben von einer außerhalb des Körpers befindlichen Maschine abhängig. Die Grenzen zwischen Person und umgebender Maschinerie verfließen. In dieser Situation treten häufig Depersonalisationserlebnisse auf (Eisendrath et al. 1983). Einer Patientin halfen Berührungen und Massagen, um die Grenzen des eigenen Körpers wieder zu erleben. Bei schweren sensiblen Ausfällen fehlt auch diese Brücke. Patienten mit erhaltener Körperwahrnehmung empfinden ihre Glieder zentnerschwer. Fehlt die Körperwahrnehmung, fühlen sich die Patienten schwerelos oberhalb ihres Körpers, den sie als fremd und unverbunden mit sich erleben. Beatmete tetraplegische GBS-Patienten entwickelten häufig Oneiroide, szenisch strukturierte kohärente Erlebensformen mit traumhaftem Charakter anstelle der Realität, ähnlich Tagträumen (Schmidt-Degenhardt 1986, Weiss et al. 2002). Beispiel Eine Patientin schilderte, ständig in einer engen Gondel durch die Welt geflogen zu sein, in der kein Platz war, die Füße zu bewegen. Angreifer mit Nadeln und Speeren verfolgten sie in ähnlichen Gondeln.
Therapeutische Möglichkeiten jSchmerzbehandlung 4 Zur Therapie werden Antiepileptika wie Carbamazepin oder trizyklische Antidepressiva eingesetzt (Moulin et al. 1997). Die trizyklischen Antidepressiva sollte man nur niedrig und zur Nacht verordnen, da sie von Patienten als stark dämpfend und unangenehm empfunden werden. 4 Unter den physikalischen Behandlungen sind die Transkutane Nervenstimulation (TENS) oder hydroelektrische Anwendungen wie Stangerbäder oder Zwei-Zellen-Bäder nützlich. jMobilisierung Die Knochen demineralisieren bei Immobilisation. Kritische Hyperkalzämien sind beschrieben (Meythaler et al. 1986).
Näher betrachtet Studie: Schmerzbeschreibungen In einer prospektiven Studie (Moulin et al. 1997) litten 47 von 55 Patienten an Schmerzen. Bei 26 Patienten waren sie sehr stark (»distressing, horrible or excruciating«). Am häufigsten waren 4 tiefe, ziehende oder pochende, spontane und durch Wurzeldehnung auslösbare Lumboischialgien (34 Patienten), 4 brennende, elektrisierende oder kribbelnde akrodistale Dysästhesien (27 Patienten) und 4 arthrogene Schmerzen, vor allem bei der Physiotherapie (19 Patienten). Die Rückenschmerzen sistierten häufig innerhalb von 8 Wochen, während die akrodistalen Schmerzen länger andauerten.
Außerdem kommt es zu kardiopulmonaler Dekonditionierung und Anämie. Es drohen Dekubitus und Kontrakturen. Eine Fallserie dokumentiert schwere Kontrakturen trotz intensiver und früher Physiotherapie (Soryal et al. 1992). 4 Eine frühe Vertikalisierung auf dem Stehbrett oder im Wasser gestattet eine schonende Gelenkmobilisierung. 4 Vegetative Entgleisungen müssen konsequent behandelt werden (Pfeiffer 1999). 4 Eine Elektrostimulation konditioniert Muskeln unterhalb der Leitungsblocks und hat willkommene Stoffwechselund Kreislaufeffekte. 4 Physio- und Ergotherapie können durch deutliche, aber nicht schmerzhafte Reize helfen, das Körperschema zu rekonstruieren. 4 Nach lang andauernden Lähmungen sind Muskeln manchmal trotz erfolgreicher Reinnervation willkürlich nicht mehr ansprechbar. Biofeedback (Ince u. Leon 1986) kann helfen, sie wieder ins Körperschema und Innervationsrepertoire zu integrieren. Näher betrachtet Langzeitergebnisse Während der Frührehabilitation ist es sinnvoll und berechtigt, den Patienten die Perspektive einer vollständigen Genesung zu vermitteln. Optimismus schadet nicht. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass nach 2 Jahren immer noch 12% der Patienten in den Alltagsaktivitäten eingeschränkt waren und 17% ihre Erwerbstätigkeit nicht wieder aufnehmen konnten (Forsberg et al. 2005). Ein Jahr nach Krankheitsbeginn bemerkte noch die Hälfte der Patienten Einschränkungen in ihren Freizeitaktivitäten und 30% im Beruf (Bernsen et al. 2005, Bersano et al. 2006). Die psychosozialen Beeinträchtigungen sind unabhängig von der Schwere der Ausfälle (Bernsen et al. 1997, Bersano et al. 2006) Deshalb wird bei vielen Guillain-Barré-Patienten nach einem Jahr ein Heilverfahren indiziert sein. 80% der Patienten leiden nach einem Guillain-Barré-Syndrom weiterhin an Fatigue (Merkies et al. 1999). Amantadin war nicht wirksamer als ein Plazebo (Garssen et al. 2006); ein aerobes Ausdauertraining dagegen half (Garssen et al. 2004).
39
704
Kapitel 39 · Rehabilitation neuromuskulärer Erkrankungen
39.3.2
Neurale Muskelatrophie (Charcot-Marie-Tooth)
Die neurale Muskelatrophie ist ein unterschätztes Leiden. Betroffene wachsen mit der Erkrankung heran. Im Schulsport erleben sie eine Außenseiterposition. Trotz äußerlich erfolgreicher Anpassung führen sie ein Leben gegen permanenten Gegenwind. Vieles im Alltag ist für sie schwierig. Betroffene benötigen im Mittel mehr als doppelt so lange wie Gesunde, 4 um ein Quadrat auszuschneiden, 4 ein T-Shirt anzuziehen oder 4 10 m zu gehen (Carter et al. 1995). Bei Ärzten gilt die Erkrankung zu Unrecht als vergleichsweise gutartig. Von 50 Patienten waren 2 Patienten gehunfähig, 14 Patienten brauchten Hilfe im Alltag, und 9 Patienten waren nur mit hohem Zeitaufwand selbständig. Über die Hälfte der Patienten sah ihre Arbeitsleistung durch die Erkrankung beeinträchtigt; 14% der Patienten hätten ohne die Erkrankung einen anderen Beruf ergriffen (Wicklein et al. 1997). Ein Drittel der Patienten leidet unter mangelnder Anerkennung durch andere (Lindeman et al. 1995). Jeder Dritte rät ab, Nachkommen die Krankheit zuzumuten (Pfeiffer et al. 2001). Der Leidensdruck dokumentiert sich auch darin, dass ein Drittel der Patienten mindestens einmal jährlich einen Arzt wegen der Erkrankung aufsuchten. Jeder Achte setzte wegen unerfüllter Erwartungen an die Schulmedizin Hoffnung auf alternative Heilverfahren (Wicklein et al. 1997).
Therapeutische Möglichkeiten
39
Ein Drittel der behandelten Patienten litt ständig unter belastungsabhängigen, arthrogenen Fußschmerzen. Die Fußdeformitäten machten den Gang unsicher und mühsam (Geurts et al. 1992). Über die Hälfte der Patienten nutzten orthopädische Schuhe oder Peroneusschienen (Wicklein et al. 1997). 19 der 50 behandelten Patienten hatten sich einer Fußoperation unterzogen, 11 Patienten bereuten den Eingriff. Noch am empfehlenswertesten erscheinen Operationen, bevor es zu knöchern fixierten Kontrakturen gekommen ist (Olney 2000). Sind die Gelenke noch nicht knöchern fixiert, besteht meist kein großer Leidensdruck. Deshalb dürften auch regelmäßige Fußmassagen und Dehnungen der Plantaraponeurose zu selten genutzt werden, um die Gelenkbeweglichkeit zu erhalten (Edwards 2002): 4 Dynamische Sprunggelenkorthesen sind starren Schienen vorzuziehen, die das obere Sprunggelenk in Varusfehlstellung fixieren. 4 Die verkürzte Wadenmuskulatur sollte regelmäßig gedehnt werden, um im Stand die Rekurvation des Knies zu verhindern, die zur kompensatorischen Hüftbeugung und Hyperlordose zwingt (Edwards 2002). 32 der 50 Patienten hatten Physiotherapie erhalten, allerdings eher ungezielt und wenig dauerhaft. Nur 3 Patienten führten die erlernten Übungen selbständig fort. Nur einer der 22 Patienten mit reduzierter Vitalkapazität erhielt Atemgymnastik und nur 5 der 50 Patienten hatten schon einmal ein Krafttrai-
ning absolviert (Wicklein et al. 1997), das mit geringem Zeitaufwand selbständig fortgesetzt werden kann und dessen Nutzen belegt ist (Lindeman et al. 1995). Praxistipp Ein sachgerecht angeleitetes Kraft- und Ausdauertraining in einem Fitnessstudio oder Freizeitbad ist medizinisch sinnvoll und schmerzlindernd. Darüber hinaus ist es Ausdruck eines aktiven Umgangs mit der Erkrankung und hilft, Kontakte zu pflegen. Die Zeit dafür ist wegen der krankheitsbedingten Langsamkeit allerdings besonders für Berufstätige knapp.
Generell sind CMT-Patienten mit Hilfsmitteln unterversorgt. 38 Patienten hatten beeinträchtigte Greiffunktionen, aber nur 2 Patienten waren ergotherapeutisch beraten worden. Mehrere Patienten hatten sich selbst Hilfsmittel gebastelt (Wicklein et al. 1997).
39.3.3
Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)
Die ALS ist das Modell der palliativen Medizin in der Neurologie. Die Palliativmedizin begleitet Kranke auf dem Weg zum Sterben und beginnt schon mit der Aufklärung über die Krankheit. Nach den internationalen Konsenskriterien wird die Diagnose selten sicher, aber häufig wahrscheinlich sein. Das lässt Raum für Hoffnung und gibt dennoch Klarheit. Man sollte dem Patienten und seinen Angehörigen endlose weitere Konsultationen ersparen, indem man über die Erkrankung aufklärt. Praxistipp Die Aufklärung sollte empathisch, mit genug Zeit und in Anwesenheit einer Vertrauensperson erfolgen. Man sollte auf Hilfsnetzwerke und Informationsquellen über die Krankheit hinweisen und eine dauerhafte ärztliche Begleitung anbieten (Quality Standards Subcommittee 1999).
Mit Befall der Atem- oder Schluckmuskulatur sollte über die Behandlungsoptionen in der letzten Krankheitsphase gesprochen werden. Patienten möchten früher über dieses Thema reden als Ärzte; sie erwarten allerdings, dass die Gesprächsinitiative vom Arzt ausgeht. Im letzten Monat vor dem Tod wollten 38 von 50 Patienten eine Beschwerdelinderung, auch um den Preis der Lebensverkürzung; 11 Patienten wollten solange wie möglich leben (Ganzini et al. 2002). Nur die Hälfte der Ärzte befolgte nach Ansicht der Angehörigen die Wünsche und Verfügungen der Patienten. Patientenverfügungen lassen sich präzise mit den Kranken formulieren, da die Krankheitsphasen vorhersagbar sind. Die Angst vor dem Ersticken kann genommen werden: Die meisten Patienten entschlafen in einer CO2-Narkose (Neudert et al. 2001).
705 39.4 · Prinzipien der Rehabilitation bei neuromuskulärenErkrankungen
Die Atemnot muss jedoch medikamentös gelindert werden. Palliativmedizinisch betreute ALS-Patienten starben zu 80% friedlich (»defined as the type of death one would choose, if there were a choice«) (Neudert et al. 2001). In den letzten Stunden litten die Patienten teilweise unter Atemnot (20%), Schwierigkeiten beim Abhusten (7%), Angst und Ruhelosigkeit (8%).
Therapeutische Möglichkeiten Der Schatten der letzten Krankheitsphase darf die rehabilitativen Möglichkeiten nicht verdecken. 8–22% der Patienten überleben mehr als 10 Jahre. Die rehabilitativen Empfehlungen der American Academy of Neurology werden seltener befolgt als die palliativen (Bradley et al. 2001): 4 Ein richtig angeleitetes Krafttraining schadet nicht und kann Lebenswillen, Kraftreserven, Gelenkbeweglichkeit und allgemeine Konstitution unterstützen. 4 Gelenkschmerzen durch Überlastung oder Versteifung sollten durch aufmerksame Hilfsmittelversorgung und Anleitung zu effizientem und ökonomischem Einsatz der verbleibenden Muskelkraft hinausgezögert und bei Auftreten konsequent schmerz- und physiotherapeutisch behandelt werden. 4 Neben dem optimal unterstützend ausgestatteten Rollstuhl sollten weitere ergonomisch optimal angepasste Sitz-, Stand- und Liegehilfen zur Verfügung stehen, die durch Abwechslung entlasten und das Bewegungsspiel bereichern. 4 Der Brustkorb soll möglichst beweglich bleiben, um der geschwächten Atemmuskulatur Widerstand zu ersparen. 4 Die nicht-invasive nächtliche Beatmung kann die Lebensqualität erheblich verbessern (Bourke et al. 2003). Eine Atemnot im Liegen ist ein sensitiveres Kriterium für den Nutzen der Beatmung als die nächtliche Entsättigung oder morgendliche Hyperkapnie. Besonders effektiv ist die nicht-invasive Beatmung, wenn die bulbäre Muskulatur wenig betroffen (Bourke et al. 2003) und der Hustenstoß kräftig ist (>3 l/sec). 4 Ein erhöhter Speichelfluß ist durch sublinguale Belladonnaextrakte, Amitryptilin, Skopolaminpflaster oder Botulinumtoxin zu lindern (Giess et al. 2000). 4 Wenn schluckbedingt das Gewicht um mehr als 5% abnimmt, steigert die Anlage einer perkutanen endoskopischen Gastrotomie (PEG) die Lebenserwartung, solange die Vitalkapazität noch über 50% der Norm liegt (Mazzini et al. 1995). Bei fortgeschrittener Ateminsuffizienz ist die Sterblichkeit im Monat nach der PEG-Anlage hoch (Forbes et al. 2004). Fazit Die Rehabilitation von ALS-Patienten erfordert hohe Fachkompetenz und ein interdisziplinäres Team (van den Berg et al. 2005). Sie erhöht die Lebenserwartung erfolgreicher als isolierte Therapiemaßnahmen wie die Behandlung mit Riluzol oder PEGAnlage (Traynor et al. 2003).
39.4
Prinzipien der Rehabilitation bei neuromuskulärenErkrankungen
In . Übersicht 39.2 sind die Rehabilitationsschwerpunkte bei chronischen neuromuskulären Erkrankungen zusammengestellt. . Übersicht 39.2. Inhalte der Rehabilitation bei neuromuskulären Erkrankungen 1. 2. 3.
Förderung des neuromuskulären Rehabilitationspotenzials Verbesserung der Funktionsebene Ambulante Nachsorge
jFörderung des neuromuskulären Rehabilitationspotenzials Bei der Frührehabilitation akuter neuromuskulärer Erkrankungen wie 4 der Critical-Illness-Neuropathie oder 4 dem Guillain-Barré-Syndrom müssen die Vitalfunktionen gesichert sowie physische und psychische Komplikationen verhütet werden, um dem großen neuromuskulären Regenerationspotenzial Raum zu geben, das von kompletter Hilflosigkeit wieder zu einer prämorbiden Leistungsfähigkeit führen kann. jVerbesserung der Funktionsebene Die Rehabilitation chronisch progredienter neuromuskulärer Erkrankungen erfordert ein aktives und analytisches Vorgehen, um vergleichsweise bescheidene Ziele zu erreichen. > Rehabilitationsziele liegen meist auf Funktionsebene (ICF). Fortschritte auf Aktivitätsebene sind höchstens zu erwarten, wenn eine Aktivität erst kürzlich verloren gegangen ist, z.B. durch Immobilisierung wegen einer interkurrenten Erkrankung oder einer Verletzung (7 Patientenbeispiel). Dann ist eine Anschlussrehabilitation dringend indiziert.
Die vergleichsweise geringen Fortschritte bei der Rehabilitation chronischer neuromuskulärer Erkrankungen dürfen nicht dazu führen, dass von Erfolgen der Schlaganfallrehabilitation verwöhnte Therapeuten eine mangelnde Mitarbeit des Patienten verantwortlich machen. Leider scheint sich teilweise auch die Genehmigungspraxis von Heilverfahren an den Teilhabeerfolgen bei der postakuten Schlaganfallrehabilitation zu orientieren. Die erreichbaren Funktionsverbesserungen bei chronischen neuromuskulären Erkrankungen sind selten unmittelbar teilhabewirksam, aber dennoch nötig, um mittelfristig die berufliche Leistungsfähigkeit zu erhalten. Alltagsaktivitäten können kraftsparender und sicherer werden, wenn Kontrakturen gelöst und Muskeln gezielt gekräftigt werden oder Hilfsmuskeln in die Bewegungsabläufe eingebunden werden (7 Patientenbeispiel).
39
706
Kapitel 39 · Rehabilitation neuromuskulärer Erkrankungen
Näher betrachtet Kombination: Geführte Bewegungen und sporttherapeutisches Krafttraining Beide Ansätze wurden bei 5 Patienten mit Myositis kombiniert (Escalante et al. 1993). Perioden mit zusätzlichem Krafttraining wechselten mit funktionellem Training ab. Auf einer Behinderungsskala von 9–36 verbesserte sich ein Patient nur während des zusätzlichen Krafttrainings um 16 Punkte. Ein Patient verbesserte sich alltagswirksam stärker während des rein funktionellen Trainings, und ein weiterer Patient erlebte keine alltagsrelevante Besserung. Die Heterogenität dieser Ergebnisse zeigt, dass die Rehabilitation chronischer neuromuskulärer Erkrankungen keinem allgemeinen Rezept folgen kann, sondern nach einer gründlichen interprofessionellen Problemanalyse individuell geplant werden muss. Dafür kann ein stationäres Setting nötig sein.
Physio- und Ergotherapeuten erarbeiten alltagsorientierte Bewegungsabläufe in enger Abstimmung mit den Sporttherapeuten. Geführte Bewegungen 4 4 4 4
im Liegen, im Sitz, im Vierfüßerstand und beim Aufrichten
erschließen entwöhnte, früher alltägliche Bewegungsabläufe. Sie sind ein optimales Krafttraining für sehr schwache Muskeln, denn die geführten Muskeln arbeiten an der Grenze ihrer Maximalkraft, während das sporttherapeutische Krafttraining eher auf mittelgradig paretische Muskelgruppen zielt. jAmbulante Nachsorge Praxistipp Im Anschluss an die stationäre Rehabilitation ist eine häusliche Physio- oder Ergotherapie über 4–6 Wochen empfehlenswert, um die erarbeiteten Bewegungsabläufe in den Alltag zu integrieren und das eigenständige Gymnastikprogramm an die häuslichen Bedingungen anzupassen. Das häusliche Trainingsprogramm sollte beinhalten: 4 Übungen zum Erhalt der Gelenkbeweglichkeit, z.B. Schulterbewegungen im Liegen, und 4 ein schonendes Krafttraining, bei schwachen Muskeln z.B. mit Gewichtsmanschetten oder Theraband. Riskante exzentrische Muskelanspannungen durch die elastischen Rückstellkräfte sollten vermieden werden!
Patientenbeispiel: Distale Myopathie
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Eine 74-jährige ehemalige Geologin mit einer autosomal-dominanten distalen Myopathie vom finnischen Typ war bis zu ihrer Rente viel gewandert. Ihr paretischer Gang führte zu einem Sturz mit Knöchelbruch. Wegen Wundheilungsstörungen und mehrerer im Krankenhaus entdeckter Begleit- und Folgeerkrankungen war die Patientin 3 Monate im Krankenhaus. Danach hielt sie sich monatelang nur in Bett und Rollstuhl auf und erwarb schwere Kontrakturen. Der Rehabilitationsbedarf wurde erst bei der geplanten Wiederaufnahme für eine Kontrolluntersuchung deutlich. Während einer stationären Rehabilitation über 3 Monate kam es eher zu einer Verschlechterung. Eine Kollagenose wurde ausgeschlossen und ein neuer Rehabilitationsversuch gestartet, mit scheinbar trüben Perspektiven. Durch die Bettlägerigkeit war die Hüfte in einer 30°-Beugestellung fixiert, und die Patientin konnte weder aufrecht sitzen noch stehen. Im freien Sitz fiel sie durch die fixierte Hüftstreckung nach hinten, im Rollstuhl rutschte sie ständig nach vorne. Zur vollen Kniestreckung fehlten 20°. Überraschenderweise waren die Kon-
trakturen in der Physiotherapie durch geduldiges dynamisches Dehnen im Stehbrett kurzzeitig überwindbar, obwohl vorher alle isolierten Dehnungsversuche wegen Schmerzen abgebrochen werden mussten. Die Behandlung im Stehbrett ermöglichte bald einen fast aufrechten Gang auf dem Laufband mit Gewichtsentlastung. Das Laufbandtraining kräftigte die Knieund Hüftstrecker, die mittels Elektrostimulation und isoliertem Krafttraining gegen Widerstand auf diese Aufgabe vorbereitet worden waren. Die Hüftbeugung in der Schwungphase auf dem Laufband dehnte schonend das kontrakte Gelenk, so dass die Patientin innerhalb von 2 Monaten nicht nur aufrecht sitzen, sondern beim Aufstehen auch den Oberkörper nach vorne bewegen konnte, um sich an der Bettkante zum freien sicheren Stand hochzuziehen. Die Gehstrecke mit Gehbock betrug ohne Pause 50 Meter. Der Barthel-Index stieg während der 2 Monate von 10 auf 65 Punkte. Trotz der Erkrankung hatte die Patientin ein motorisch anspruchsvolles Berufs- und Freizeitleben geführt und die
schleichende Gangstörung nicht als Krankheitsfolge, sondern als normalen Alterungsprozess wahrgenommen, obwohl sie um ihre familiär gut bekannte Krankheit wusste. Ihrer ebenso betroffenen sturzgefährdeten Schwester war ihr Gangbild so zur Natur geworden, dass auch niemand im Team den Impuls hatte, ihr als der gesünderen, aber augenfällig behinderten Begleitperson zu einem Rollator zu raten. Auch bei dieser Patientin war die Rehabilitationsbedürftigkeit verspätet erkannt worden, als schon schwere Kontrakturen eingetreten waren, die den kraftsparenden Einsatz der geschwächten Muskeln verhinderten. Die Behandlungsperspektiven schienen begrenzt, weil die Gelenkmobilisierung sehr schmerzhaft war. Die funktionelle Dehnung im Stehbrett und auf dem Laufband erwies sich als erfolgreich und schonend, weil sie sich auf die gesamte Gelenkkette verteilte und nicht den maximalen, sondern nur den für Stehen, Sitzen und Gehen wichtigen Bewegungsumfang erstrebte. So erübrigte sich die anfangs erwogene Redressionsbehandlung.
707 39.5 · Literatur
Erst nach 6- bis 8-wöchigem Training kommt die Muskelhypertrophie zum Tragen (Lindeman 1999)! Das korreliert mit Patientenbeobachtungen, die um die 6. Woche die deutlichsten Rehabilitationsfortschritte erleben. Dieser Zeitbedarf überschreitet das heute übliche Zeitbudget stationärer Rehabilitationsmaßnahmen. Daher ist die ambulante Nachbehandlungsphase so wichtig. Näher betrachtet Gesundheitsökonomische Rahmenbedingungen der ambulanten Nachsorge Die Nachsorge wird besonders effizient durch spezialisierte multiprofessionelle Zentren geleistet (Chio et al. 2006). Leider sind in Deutschland trotz politischer Anreize die gesundheitsökonomischen Rahmenbedingungen für solche Zentren eher ungünstiger geworden. Versorgungsrechtlich lässt sich die ambulante Nachsorge als Aufgabe der Tertiärprävention begreifen. Für diesen Zweck sieht die Gesundheitsgesetzgebung in Deutschland Fördermöglichkeiten vor, die von Selbsthilfeorganisationen abgerufen werden können. Diese entwickeln zunehmend Beratungs- und Schulungskompetenz und schließen so eine Lücke bei der Versorgung seltener Krankheiten, deren spezialisierte Betreuung im zunehmend privatwirtschaftlich organisierten Gesundheitssystem bedroht ist. Manche Betroffene haben Vorbehalte gegenüber Selbsthilfegruppen und -organisationen. Rehabilitationsmaßnahmen sollten beitragen, diese abzubauen.
39.5
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39
40
Parkinsonkrankheit und Dystonie G. Ebersbach, J. Wissel 40.1
Funktionelle Anatomie und Physiologie der Motorikkontrolle in den Basalganglien – 712
40.1.1
Pathophysiologie von Parkinsonkrankheit und Dystonie
40.2
Parkinsonkrankheit
40.2.1 40.2.2 40.2.3 40.2.4
Neuropathologie und Neurochemie Ursachen – 713 Klinik – 713 Therapie – 715
40.3
Dystonie
40.3.1 40.3.2 40.3.3 40.3.4 40.3.5 40.3.6 40.3.7
Pathophysiologie – 722 Epidemiologie – 722 Klassifikation – 723 Klinisches Spektrum – 725 Diagnostik – 727 Therapie der dystonen Syndrome Zusammenfassung – 735
40.4
Literatur
– 712 – 712
– 722
– 736
– 729
– 712
712
Kapitel 40 · Parkinsonkrankheit und Dystonie
Die Parkinsonsyndrome und Dystonien gehören zu den extrapyramidalmotorischen Bewegungsstörungen. Diese im Wesentlichen durch den anatomischen Bezug zu den Basalganglien definierten Störungen haben spezifische Besonderheiten mit weitreichenden Konsequenzen für die medikamentöse, operative und rehabilitative Therapie.
40.1
Funktionelle Anatomie und Physiologie der Motorikkontrolle in den Basalganglien
> Anatomisch werden unter dem Begriff Basalganglien mehrere paarig angeordnete subkortikal gelegene Kerngebiete zusammengefasst: 4 Corpus striatum, 4 Globus pallidus, bestehend aus 5 Globus pallidus internus (GPi) und 5 Globus pallidus externus (GPe), 4 Nucleus subthalamicus (STN), 4 Substantia nigra (SN) und 4 Anteile des Thalamus (VL+VIM) (. Abb. 40.1).
40.1.1
Pathophysiologie von Parkinsonkrankheit und Dystonie
jParkinsonkrankheit Der bei der Parkinsonkrankheit durch die Degeneration der SN verursachte striatale Dopaminmangel führt durch Wegfall der inhibitorischen Dopaminkontrolle auf die D2-Rezeptoren zum Überwiegen des indirekten striato-pallidalen Systems. Infolge kommt es zu einer sekundären Überaktivität des STN und des GPi mit vermehrter GABA-erger Hemmung des sensomotorischen Thalamus und damit zur Verminderung der Aktivität exzitatorischer thalamo-kortikaler Projektionen. Dies wiederum führt zu einem Aktivitätsdefizit der SMA und der prämotorischen Rindenfelder und somit letztlich zur Bra-
dykinese der Parkinsonkrankheit. Neben dieser Störung der Motorikkontrolle sind zwei weitere basalganglienbeeinflusste Regelkreissysteme durch die sich im Corpus striatum
auswirkende Degeneration der SN betroffen, 4 zum einen die sog. komplexe Schleife (Alexander u Crutcher 1990), die den Nucleus caudatus, ventro-anteriore Thalamuskerne und den präfrontalen Kortex verbindet, 4 zum anderen ein Bahnensystem, das das Corpus striatum und limbische Areale verbindet. > Der striatale Dopaminmangel kann über die weiteren Systeme zu Störungen der neuropsychologischen Frontalhirnfunktionen und des limbischen Systems führen.
jDystonie Bei hyperkinetischen Syndromen wie den primären Dystonien kommt es zu Funktionsstörungen der Basalganglienregelkreise mit funktionellem Überwiegen des direkten striato-nigralen Systems ohne Nervenzellverluste. Bei sekundären Dystonien führen Strukturstörungen des Gehirns zu einer Störung der Basalganglienregelkreise. In der Folge kommt es zu einer verminderten Hemmung kortikaler motorischer Efferenzen, vor allem zu einer verminderten Umgebungshemmung, die zu einer mangelhaften Unterdrückung unerwünschter motorischer Steuerprogramme und in der Konsequenz zu überschießenden Bewegungen und Antagonistenaktivierungen führt. Darüber hinaus ist bei Dystonie im Gehirn eine abnorme Plastizität nachweisbar, die zu einer gestörten Repräsentation von Körperregionen im sensomotorischen Kortex führt und dadurch eine fokussierte selektive Innervation erschwert (Hallett 2006).
40.2
Parkinsonkrankheit
Näher betrachtet Erste Anfänge James Parkinson beschrieb 1817 mit 4 unwillkürlichem Zittern, 4 reduzierter Beweglichkeit und 4 Haltungsstörungen mit 4 Beeinträchtigung des Gangbilds die wesentlichen Symptome des Parkinsonsyndroms (PS). Die Parkinsonkrankheit macht 80% der klinisch diagnostizierten PS aus. Sie war die erste neurodegenerative Erkrankung, bei der zugrunde liegende Zusammenhänge aufgeklärt wurden und durch eine medikamentöse Substitution des fehlenden Neurotransmitters (Dopamin) eine Behandlung gelang.
40
40.2.1
. Abb. 40.1. Schema der Bahnsysteme in den Basalganglien (modifiziert nach Alexander u. Crutcher 1990)
Neuropathologie und Neurochemie
Die Parkinsonkrankheit (syn. Morbus Parkinson) ist durch eine langsam fortschreitende asymmetrische Degeneration nigro-striataler Neuronen unter Bildung von intrazellulären
713 40.2 · Parkinsonkrankheit
Einschlusskörpern (Lewy-Körperchen) in der SN gekennzeichnet. Dieser Degenerationsprozess ist Ursache für ein messbares Dopamindefizit im Striatum. > Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass LewyKörperchen als Zeichen der parkinsonspezifischen Neurodegeneration bereits vor Auftreten motorischer Symptome in anderen Arealen (u.a. Nucleus coeruleus, Bulbus olfactorius) und im Spätstadium regelhaft in limbischen und kortikalen Arealen zu finden sind (Braak et al. 2006).
Näher betrachtet Epidemiologie Die Parkinsonkrankheit gehört zu den häufigsten neurodegenerativen Erkrankungen. Mit einer Prävalenz von etwa 160/100.000 Einwohnern in Mittel- und Nordeuropa gehört sie zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen und betrifft mindestens 1% der über 60-jährigen Bevölkerung (de Rijk et al. 2000).
40.2.2
Ursachen
Die Parkinsonkrankheit gilt weiterhin als sporadische neurodegenerative Störung, die Ihre Ursache in einer komplexen Interaktion zwischen verschiedenen prädisponierenden Faktoren und Umgebungsfaktoren hat. Mittlerweile konnten allerdings auch eine Reihe monogenetischer Formen der Parkinsonerkrankung identifiziert werden (Klein 2006). > Klinisch sind besonders ein frühes Erkrankungsalter und eine positive Familienanamnese als Hinweise auf eine hereditäre Form der Parkinsonkrankheit anzusehen.
40.2.3
Symptomatik der Parkinsonkrankheit jBrady-, Hypo- und Akinese kBradykinese Klinisch äußert sich eine Bewegungsverlangsamung (Bradykinese) als 4 Hypomimie, 4 hypophone Dysarthrophonie, 4 Dysphagie bei verlangsamter pharyngealer Peristaltik und Zungenmotorik, 4 Verlangsamung repetitiver Bewegungen an oberen und unteren Extremitäten, 4 Verlangsamung des Aufstehens sowie 4 Abnahme der Gehgeschwindigkeit. kHypokinese Die Bewegungsverarmung (Hypokinese) fällt auf durch 4 seltenen Lidschlag (<5/Minute), 4 vermindertes Stimmvolumen mit Dysprosodie, 4 Amplitudenreduktion von Bewegungen der Extremitäten, 4 en-bloc-Rumpfdrehungen sowie 4 kleinschrittiges und schlurfendes Gangbild mit vermindertem Mitschwingen der Arme. kAkinese Die Bewegungslosigkeit (Akinese) als Extremvariante der Hypokinese imponiert z.B. als 4 Starthemmung oder Einfrieren (Freezing) einer Bewegung. jRigor Definition Rigor ist bei passiver Bewegung von Gelenken (klassisch: Hand-, Ellenbogen- und Kniegelenk sowie Nacken) als eine über den gesamten Bewegungsweg persistierende wächserne Muskeltonuserhöhung definiert.
Klinik
Parkinsonkranke zeigen i.d.R. eine charakteristische Kombination motorischer und nicht motorischer Symptome. Die Diagnosestellung basiert auf dem Erkennen der häufig seitenbetonten motorischen Kardinalsymptome 4 Bradykinese, 4 Rigor, 4 Ruhetremor, 4 Haltungsinstabilität und dem richtigen Zuordnen von fakultativ auftretenden anderen Symptomen wie 4 psychiatrisch-neuropsychologische Veränderungen und 4 autonome Dysfunktionen.
Anders als bei der Spastik nimmt die Tonuserhöhung mit steigender Geschwindigkeit bei passiver Bewegung nicht zu. Ein der passiven Bewegung unterlagerter Tremor kann zu rhythmisch imponierenden Tonusänderungen (Zahnradphänomen) führen. jTremor Definition Tremor ist definiert als unwillkürliche, rhythmische Oszillation eines oder mehrerer Körperabschnitte.
Bei der Parkinsonkrankheit entwickeln etwa 75% der Patienten einen etwa 5 Hz schnellen, meist asymmetrischen Ruhetremor (meist Hände>Beine), der typischerweise bei Stress oder beim Gehen zunimmt und an den Händen als Pillendrehtremor imponiert. Etwa die Hälfte der Patienten zeigt
40
714
Kapitel 40 · Parkinsonkrankheit und Dystonie
zusätzlich oder ausschließlich einen Haltetremor vor allem der Hände. > Zur Differenzierung von Halte- und Ruhetremor dient die klinische Untersuchung: Der Ruhetremor sistiert typischerweise bei Bewegungsbeginn, wohingegen der Haltetremor bei entspannt gelagerter Extremität verschwindet und nur bei Halte- oder Aktionsbedingungen, meist erst nach kurzer Latenz auftritt.
jHaltungsinstabilität Im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf finden sich häufig Zeichen einer Störung der reflektorischen Ausgleichsbewegungen. Beim sog. Pull-Test, bei dem der Untersuchte durch den Untersucher nach vorheriger Ankündigung an den Schultern nach hinten gezogen wird, müssen Patienten mit posturaler Instabilität mehrere Schritte als Ausgleichsmanöver ausführen oder vom Untersucher aufgefangen werden. jVegetative Symptome Das frühzeitige Auftreten von ausgeprägten vegetativen Dysfunktionen wie 4 orthostatische Hypotension, 4 Potenzstörungen, 4 Blasenentleerungsstörungen, 4 Inkontinenz spricht eher gegen die Diagnose einer Parkinsonkrankheit, sondern für das Vorliegen eines PS bei Multisystematrophie. Dennoch kommen vegetative Symptome auch bei Morbus Parkinson vor. Häufig sind 4 vermehrter Speichelfluss (Hypersalivation), 4 Talgsekretion (Seborrhoe), 4 vermehrtes Schwitzen (Hyperhidrose), 4 orthostatische Hypotension, 4 Obstipationsneigung und 4 Pollakisurie.
40
jPsychiatrisch-neuropsychologische Symptome Das Risiko, eine Demenz zu entwickeln, ist bei Parkinsonkranken bis zu 6-mal höher als in der Normalbevölkerung (Aarsland et al. 2005). Eine im Krankheitsverlauf früh auftretende schwere Demenz ist allerdings nicht typisch und spricht eher für eine Demenz mit Lewy-Körperchen oder andere atypische Parkinsonsyndrome. Bei neuropsychologischer Testung lassen sich bei der Mehrzahl der Parkinsonkranken kognitive Dysfunktionen nachweisen (Williams-Gray et al. 2007) (. Übersicht 40.1). Im Vordergrund stehen 4 exekutive Störungen, 4 Störungen der mentalen Umstellungsfähigkeit (»set-shifting«), 4 Perseverationsneigung oder 4 Defizite in der Generierung von Handlungsplänen.
. Übersicht 40.1. Kognitive Dysfunktionen bei der Parkinsonkrankheit 1. 2. 3. 4. 5.
Visuospatiale Defizite Gedächtnisstörung (aktive vs. passive Gedächtnisaufgaben) Störung in der Verwaltung »kognitiver Sets« Störung »intern« generierter Problemlösungsstrategien Störung bei Sequenzierungs- und Zeitgitteraufgaben (Temporal Ordering, Recency Discrimination)
Weitere neuropsychiatrische Störungen, die bei Parkinson gehäuft auftreten, sind depressive Störungen mit einer Prävalenz von 20–40% sowie psychotische Symptome, v.a. visuelle Halluzinationen, die in 15–25% der Fälle angegeben werden (Riedel et al. 2006).
Diagnose der Parkinsonkrankheit Ein Parkinsonsyndrom (PS) kann bei Vorliegen einer Bradykinese und einem der folgenden Symptome diagnostiziert werden: 4 Rigor, 4 Ruhetremor oder 4 Haltungsinstabilität. Die Diagnose einer Parkinsonkrankheit erfolgt nach klinischen Kriterien (Hughes et al. 1992) (. Übersicht 40.2) und beinhaltet neben dem Untersuchungsbefund auch das Ansprechen auf 4 einen medikamentösen Dopamin-Ersatz (oral L-Dopa oder subkutan Apomorphin), 4 den Verlauf der Erkrankung und 4 die Abwesenheit von mit Morbus Parkinson unvereinbaren Symptomen, z.B. 5 Spastik, 5 Pyramidenbahnzeichen, 5 Ataxie, 5 schweres autonomes Versagen, 5 supranukleäre Blickparese, 5 Apraxie, und 4 CCT-Befunden, z.B. 5 deutliche Hirnatrophie oder 5 Basalganglienläsionen.
Differenzialdiagnosen der Parkinsonerkrankung Von der Parkinsonkrankheit sind eine Reihe von symptomatischen PS und hypokinetischen Syndromen anderer Genese zu differenzieren: 4 Bei symptomatischen PS kommt es auf dem Boden einer definierten Störung der nigro-striatalen Dopaminprojektionen zu gleichen oder ähnlichen Symptomen wie bei der Parkinsonerkrankung. 4 Zahlenmäßig die größte Gruppe bilden Patienten mit einem medikamentös induzierten PS nach Einnahme von Dopaminrezeptorenblockern (z.B. Neuroleptika).
715 40.2 · Parkinsonkrankheit
. Übersicht 40.2. Diagnostische Kriterien der Parkinsonkrankheit
. Übersicht 40.3. Klassifikation der Parkinsonsyndrome
1.
1.
Parkinsonsyndrom
– Bradykinese plus mindestens ein zusätzliches Leitsymptom:
– Rigor – Störung der posturalen Reflexe 2.
3.
Unterstützende Kriterien zur Diagnose einer Parkinsonerkrankung – Einseitiger Beginn – Ruhetremor – Langsam progrediente Erkrankung (>10 Jahre) – Persistierende Seitendominanz – Ansprechen auf L-Dopa (initial >5 Jahre) – L-Dopa-Dyskinesien Ausschlusskriterien einer Parkinsonerkrankung – Apoplektischer Beginn und Remission – Ausschließliche Einseitigkeit >3 Jahre – Fehlendes Ansprechen auf L-Dopa – Supranukleäre Blickparese, zerebelläre Zeichen – Pyramidenbahnzeichen – Frühe Demenz mit Sprachstörungen und Apraxie – Enzephalitis, Tumor, Hydrozephalus – Parkinsoninduzierende Pharmaka zu Beginn
2.
3.
in der Gesamtbevölkerung, hat sich aber heute mit zunehmender Verbesserung der Therapiemöglichkeiten deutlich verringert.
40.2.4 4 Als Pseudo-Parkinsonsyndrome (PPS) werden vor allem parkinsonartige Gangstörungen bei Normaldruckhydrozephalus (»normal pressure hydrocephalus«, NPH) oder subkortikaler arteriosklerotischer Encephalopathie (SAE) bezeichnet. Große Schwierigkeiten bereitet auch spezialisierten Ärzten die klinische Differenzierung der verschiedenen neurodegenerativen PS: Bis zu 20% der nach klinischen Kriterien als Morbus Parkinson diagnostizierten Patienten haben nach neuropathologischen Kriterien ein anders zu klassifizierendes PS (. Übersicht 40.3). Die größte Gruppe bilden die atypischen PS. Dazu gehören 4 die Multisystematrophie (MSA), 4 die progressive supranukleäre Blicklähmung (Progressive Supranuclear Palsy [PSP] oder Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom) und 4 die kortikobasale Degeneration (CBD).
Verlauf und Prognose Die Parkinsonkrankheit ist eine langsam progredient verlaufende Erkrankung. Eine Untersuchung von Hoehn und Yahr (1967), die die natürliche Krankheitsprogression in der Zeit vor der Behandlungsmöglichkeit mit L-Dopa zeigt, beschreibt Erkrankungsverläufe von im Mittel 14 Jahren bis zu späten Erkrankungsstadien mit funktionell deutlicher Behinderung und Pflegebedürftigkeit (Stadium 5 nach Hoehn u. Yahr 1967). Die Mortalität lag in dieser Zeit 3-mal höher als
Neurodegenerative Parkinsonsyndrome Parkinsonkrankheit (Morbus Parkinson) Multisystematrophie vom Parkinsontyp (MSA-p) Progressive supranukleäre Blicklähmung Demenz mit Lewy-Körperchen Kortikobasale Degeneration Parkinsonsyndrom bei Morbus Alzheimer Symptomatische Parkinsonsyndrome – Medikamentös induziertes Parkinsonsyndrom (z.B. Neuroleptika, Metoclopramid, Flunarizin) – Parkinsonsyndrom bei Intoxikation (z.B. Kohlenmonoxyd, Mangan, Cyanid, Methanol, MPTP) – Parkinsonsyndrom bei Basalganglienläsionen (z.B. Enzephalitis, Infarkt, Hypoxie, posttraumatisch) Pseudo-Parkinsonsyndrome – Normaldruckhydrozephalus – Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie
– – – – – –
Therapie
Eine kausale Therapie der Parkinsonerkrankung ist derzeit nicht möglich, so dass alle symptomatischen Behandlungsstrategien dem Ziel bestmöglicher Lebensqualität dienen. Die symptomatische Behandlung besteht aus drei Hauptansätzen, aufgelistet in . Übersicht 40.4. . Übersicht 40.4. Hauptansätze der symptomatischen Behandlung 1. 2. 3.
Pharmakologische Therapie Neurochirurgische Therapie Rehabilitative Therapie
jPharmakologische Therapie Die derzeit verwendeten Pharmaka stammen aus den drei Grundklassen: 4 Dopaminersatzstoffe, 4 Anticholinergika und 4 Substanzen mit Glutamat-/NMDA-rezeptorantagonistischen Wirkungen.
40
716
Kapitel 40 · Parkinsonkrankheit und Dystonie
Praxistipp Eine Kombination von L-Dopa mit einem peripher wirksamen Decarboxylasehemmstoff ist die wirksamste und bestverträgliche dopaminerge Therapie (. Übersicht 40.5), allerdings entwickeln mehr als 50% der Patienten nach einer 3- bis 5-jährigen L-Dopa-Monotherapie Wirkungsfluktuationen und Dyskinesien (motorische Spätkomplikationen).
. Übersicht 40.5. Symptome mit unzuverlässigem, häufig fehlendem oder vermindertem Ansprechen auf L-Dopa (Dopa-resistente Symptome) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Dysarthrie, Dysphagie Starthemmung und Freezing beim Laufen Stürze, Gleichgewichtsstörungen Störungen der Körperhaltung Neuropsychologische Defizite, z.B. kognitive Defizite, Demenz Neuropsychiatrische Störungen, z.B. Depression, Angststörungen, pharmakogene Psychosen
kDopaminagonisten Von den derzeit in der Bundesrepublik und Österreich zur Parkinsontherapie zugelassenen Dopaminagonisten haben fünf eine Ergot-Alkoloid-Struktur: 4 Bromocriptin, 4 Dihydroergocriptin, 4 Lisurid, 4 Pergolid und 4 Cabergolin. Auch Nicht-Ergot-Dopaminagonisten stehen zur Verfügung: 4 Ropinirol, 4 Pramipexol, 4 Piribedil und 4 parenteral verabreichte Substanzen, 5 Rotigotin (Pflasteranwendung) und 5 Apomorphin (als subkutane Injektion oder Dauerinfusion).
40
Die symptomatische Wirkstärke der Dopaminagonisten ist, zumindest in fortgeschritteneren Stadien der Parkinsonkrankheit (Stadium 3 nach Hoehn u. Yahr 1967) schwächer als die von L-Dopa. Näher betrachtet Studien: Monotherapie mit Dopaminagonisten Eine Reihe klinischer Studien zeigt, dass eine Monotherapie mit Dopaminagonisten im Langzeitverlauf signifikant seltener zur Entwicklung von pharmakogenen Dyskinesien führt als die klassische L-Dopa-Monotherapie.
kGlutamat-/NMDA-Rezeptorantagonisten 4 Amantadin (300–500 mg p.o./i.v.) wirkt über seinen Antagonismus an NMDA-Rezeptoren und kann bei gering ausgeprägter Symptomatik als initiale Monotherapie oder in späteren Stadien auch in einer Kombinationstherapie gut wirken. Neuere Untersuchungen zeigten, dass Amantadin eine Verminderung Dopa-induzierter Hyperkinesen bewirken kann. kAnticholinergika Die Indikation der Anticholinergika ist aufgrund ihrer kognitiven Nebenwirkungen (Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen) deutlich eingeengt, sie können aber in Einzelfällen eine effektive Therapieoption zur Behandlung eines Parkinson-Ruhetremors sein. kMAO-B-Hemmer und COMT-Hemmer 4 Selegilin (5–10 mg p.o.) und Rasagilin (1–2 mg p.o.) sind Hemmstoffe der Monoaminoxidase-B und bewirken eine Hemmung des zentralen Dopaminabbaus. Mögliche neuroprotektive Eigenschaften der MAO-B-Hemmer werden kontrovers diskutiert. Die Catechol-O-MethylTransferase- (COMT-)Inhibitoren (Tolcapon und Entacapon) wirken über eine Verbesserung der Bioverfügbarkeit von LDopa durch periphere Hemmung des L-Dopa-Abbaus. jNeurochirurgische Therapie Die neurochirurgische Therapie der Parkinsonkrankheit ist vor allem durch die Renaissance stereotaktischer Therapieverfahren in den letzten Jahren wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Durch die tiefe Hirnstimulation des Nucleus subthalamicus kann eine Verbesserung aller Kardinalsymptome und der von Dopa-induzierten Hyperkinesen erreicht werden. > Dopa-resistente Symptome, z.B. während der medikamentösen ON-Phase persistierende Dysarthrophonie oder Sturzneigung sprechen nicht auf die tiefe Hirnstimulation an. Neben Alter und kognitivem Status ist daher das Ansprechen auf dopaminerge Stimulation ein entscheidendes Kriterium für die Indikation zur tiefen Hirnstimulation.
jRehabilitative Therapie Näher betrachtet Effektivität von Physio- und Sprachtherapie Bereits seit dem 19. Jahrhundert wird Physiotherapie zur Behandlung der Parkinsonkrankheit eingesetzt. Obwohl übende Verfahren zur Verbesserung von Kraft, Feinmotorik und Koordination intuitiv sinnvoll erscheinen, erschwert die große Heterogenität der angewandten Behandlungsmethoden und die häufig unzureichende methodische Qualität der verfügbaren Studien eine wissenschaftliche Bewertung rehabilitativer Therapiekonzepte (Keus et al. 2007, Goetz et al. 2002, Deane et al. 2002). Mittlerweile besteht zumindest für die Wirksamkeit der Sprechtherapie durch hochwertige Studien zum Lee Silverman Voice Treatment eine akzeptable wissenschaftliche Evidenz (Pinto et al. 2004).
717 40.2 · Parkinsonkrankheit
Rehabilitative Therapie bei Parkinsonsyndromen sollte besonders darauf ausgerichtet sein, Störungen zu behandeln, die nicht oder nur unzureichend durch die medikamentöse Einstellung beeinflusst werden. Bei der Definition der Therapieziele sollte berücksichtigt werden, dass die Kardinalsymptome Rigor, Tremor und Bewegungsverlangsamung medikamentös oft wesentlich gebessert werden, während andere Symptome weniger zuverlässig oder unzureichend ansprechen. Besonders in fortgeschrittenen Krankheitsstadien kommt es häufig zu teilweise oder vollständig dopa-resistenten Störungen, die mit gezielten übenden Verfahren behandelt werden sollten (. Übersicht 40.4). > Besonderen Stellenwert hat die rehabilitative Therapie bei den atypischen Parkinsonsyndromen, die meist nicht oder nur gering auf medikamentöse Behandlung ansprechen, und für die die Übungsbehandlung oft die einzige Therapieoption darstellt.
Prinzipien der rehabilitativen Befunderhebung Die Befunderhebung bei Patienten mit Parkinsonsyndromen sollte der Besonderheit Rechnung tragen, dass die Beweglichkeit drastischen, oft kurzfristigen Schwankungen unterworfen sein kann. 4 Unterliegt der Zustand des Patienten in Abhängigkeit von der Medikamenteneinnahme starken Schwankungen, kann der Befund nur durch eine Längsschnittbeobachtung erhoben werden. Dabei sollte der Patient angeleitet werden, ein Bewegungsprotokoll zu führen, in dem bewegliche (ON-) und unbewegliche (OFF-)Phasen zeitlich voneinander abgegrenzt werden (. Abb. 40.2). 4 Bei Vorliegen von Wirkungsfluktuationen sollte im Rahmen der Befunderhebung festgelegt werden, welche therapeutischen Verfahren in welchen Zuständen sinnvoll sind. 4 Grundsätzlich sollten die Therapiezeiten in die medikamentösen ON-Phasen gelegt werden, da Übungsfähigkeit und Frustrationstoleranz in den OFF-Phasen stark reduziert sein können (Frank 2004). Gegebenenfalls sollte von einer dopaminergen Bedarfsmedikation Gebrauch gemacht werden, um einen ON-Zustand während der Therapie zu erreichen. 4 Unabhängig von medikamentös bedingten Schwankungen der Beweglichkeit (ON-/OFF-Fluktuationen) kann es zu drastischen und meist abrupt einsetzenden motorischen Blockaden kommen, die erst nach zeitlicher Verzögerung überwunden werden können. Die häufigste und bekannteste dieser motorischen Blockaden ist das sog. Freezing beim Gehen, bei dem es zu einem Verharren auf der Stelle kommt, das den Eindruck vermittelt, die Füße seien auf dem Boden festgefroren. Seltener treten motorische Blockaden auch beim Sprechen oder Schreiben auf. Vor Einsetzen und nach Überwindung der Blockade kann die Motorik unauffällig sein, so dass FreezingPhänomene gelegentlich als psychogen fehlgedeutet werden. Häufig finden sich Auslöser, die eine motorische
. Abb. 40.2. Bewegungsprotokoll mit ON- und OFF-Phasen. ONPhasen sind weiß, OFF-Phasen blau, Zwischenzustände schraffiert und Schlaf als S eingetragen
Blockade induzieren können. Typische Situationen, in denen es zu Freezing-Phänomenen beim Gehen kommt, sind z.B. 5 die Startverzögerung oder 5 das Durchqueren von Türöffnungen. 4 Den Gegenpol zu den motorischen Blockaden bildet die paradoxe Beweglichkeit, die ebenfalls von medikamentös bedingten ON/OFF-Fluktuationen abgegrenzt werden muss. Bei der paradoxen Beweglichkeit kann der Betroffene durch sensorische Reize oder Trickmanöver motorische Blockaden überwinden und eine Normalisierung der Bewegungsabläufe erreichen. Beispiel Als paradoxe Beweglichkeit zeigt sich die Verbesserung der Schrittlänge bei Verwendung eines quer zur Gehstrecke verlaufenden Streifenmusters.
4 Im Rahmen der Befunderhebung sollte eine Einstufung des Schweregrades (u.U. getrennt für ON- und OFFPhase) nach Hoehn und Yahr erfolgen (. Tab. 40.1). Eine genauere Einstufung der 5 einzelnen Beschwerden, 5 Behinderung bei Tätigkeiten des täglichen Lebens und 5 Therapiekomplikationen
40
718
Kapitel 40 · Parkinsonkrankheit und Dystonie
. Tab. 40.1. Schweregrade des Parkinsonsyndroms Schweregrad
Beschwerden/Behinderung
0
Keine Krankheitszeichen
1
Unilaterale Krankheit
1,5
Unilaterale und axiale Beteiligung
2
Bilaterale Krankheit, ohne Gleichgewichtsstörung
2,5
Leichte bilaterale Krankheit mit Erholung beim Zug-Test
3
Leichte bis mittelschwere bilaterale Krankheit; mäßige posturale Instabilität, körperlich unabhängig
4
Schwere Beeinträchtigung; noch fähig zu laufen oder selbständig ohne Hilfe zu stehen
5
Rollstuhlgebunden oder bettlägerig, auf fremde Hilfe angewiesen
(Hoehn u. Yahr 1967)
4 ermöglicht die Unified Parkinson’s Disease Rating Scale, die über das Internet erhältlich ist (z.B. www.wemove. org). Auch bei dieser Skala sollten ON- und OFF-Zustände separat bewertet werden. 4 Bei der Befunderhebung sollte besonders auf Symptome geachtet werden, die mit einem erhöhten Risiko für Sekundärkomplikationen behaftet sind und entsprechende Interventionen bereits zu Therapiebeginn erforderlich machen. Zu diesen Symptomen zählen: 5 Dysphagie mit Aspirationsgefahr, 5 Sturzrisiko mit Verletzungsgefahr, 5 Orthostase mit Synkopen, 5 Miktionsstörung mit Restharn und 5 neuropsychiatrische Störungen. Ziel der Befunderhebung ist es, eine Grundlage für ein individu-
elles therapeutisches Konzept zu schaffen, das medikamentöse und rehabilitative Maßnahmen aufeinander abstimmt.
40
Motorische Defizite und Prinzipien der Therapieplanung Nach Marsden (1982) ist die gestörte Ausführung automatisierter Bewegungsroutinen das Grundproblem der Bewegungsstörung bei Parkinson. Aufgrund verminderter interner Generierung von Triggersignalen kommt es zu einer Störung der Servolenkung wichtiger motorischer Abläufe. Routinebewegungen erfordern einen vermehrten Aufwand an Aufmerksamkeit und erfolgen verzögert und verlangsamt. Daraus lassen sich folgende Konsequenzen definieren: 4 Der Wechsel von einem »Bewegungsprogramm« in ein anderes (»set-shifting«) ist erschwert und erfolgt verzögert.
4 Die repetitive Aneinanderreihung von Bewegungen (Sequenzierung) ist gestört. Amplitude und Frequenz repetitiver Bewegungen sind verkleinert und unregelmäßig. 4 Externe Steuerungssignale (»cues«) beeinflussen die Motorik und können sich sowohl positiv, z.B. im Sinne einer paradoxen Beweglichkeit, als auch negativ, z.B. durch Auslösung motorischer Blockaden, auswirken. Aus den genannten Defiziten lassen sich folgende Richtlinien für die Planung rehabilitativer Therapiestrategien ableiten: 4 Externe Signale und Kommandos sollten gezielt zur Kompensation der gestörten internen Bewegungskontrolle eingesetzt werden. Der Therapeut kann die Initiation von Bewegungen durch akustische, optische oder andere sensorische Stimuli »triggern« und den Betroffenen selbst zum Einsatz sensorischer Tricks anleiten. Ein Ersatz der fehlenden internen Signalgebung durch externe Reize kann auch beim Üben repetitiver Bewegungen gegeben werden, z.B. durch Einsatz rhythmischer Musik zur Unterstützung regelmäßiger Schrittfolgen beim Gehen. 4 Defizite in der internen Generierung von spontaner Aktivität können im therapeutischen Setting als Motivationsmangel erscheinen. In dieser Situation ergeben sich besondere Anforderungen an die Fähigkeit des Therapeuten zur Ermunterung und Anregung des Übenden. Näher betrachtet Studien: Übertragung der therapeutischen Fortschritte in den Alltag Unklar ist bisher, wie zuverlässig mit einer Übertragung der in der Therapie erarbeiteten Fortschritte in den Alltag zu rechnen ist. Studien, in denen die Langzeitwirkung rehabilitativer Therapie bei PS gemessen wurde, erbrachten widersprüchliche Ergebnisse. Die Ergebnisse einer Studie von Morris et al. (1996) sprechen dafür, dass motorische Besserungen an die motivationalen und situativen Besonderheiten der Therapiekonstellation gebunden sein können. In dieser Studie lernten Patienten mit PS, ihre Schrittlänge durch visuelle Cues oder durch mentales Training zu verlängern. Vom Patienten unbemerkte, außerhalb der Trainingssituation durchgeführte, Messungen der Schrittlänge zeigten jedoch einen raschen Rückfall in das ursprüngliche Gangmuster, sobald die Aufmerksamkeit für das Kriterium »Schrittlänge« nachließ. Pragmatisch lässt sich aus dieser Tendenz zur Unbeständigkeit ableiten, dass Patienten zu regelmäßigen und langfristigen Selbstübungsprogrammen angeleitet und zum Einsatz von Cues und anderen therapeutischen Techniken im Alltag angehalten werden sollten.
Praxistipp Anleitungen für Selbstübungsprogramme, unterstützende Tonbandkassetten und Therapiemittel sind u.a. über die Selbsthilfeorganisation der Parkinsonpatienten, die Deutsche Parkinson Vereinigung (dPV), erhältlich: Deutsche Parkinson Vereinigung e.V., Moselstrasse 31, 41464 Neuss; Tel. 02131–41016, Fax 02131–45445; www.parkinson-vereinigung.de.
719 40.2 · Parkinsonkrankheit
Spezielle Therapiestrategien jPhysio- und Ergotherapie Im Gegensatz zu den detailliert ausgearbeiteten und gut etablierten Verfahren zur Behandlung spastischer Paresen gibt es bisher kein allgemein anerkanntes physiotherapeutisches Konzept zur Behandlung des Parkinsonsyndroms. Aus der Bobath-Therapie stammende Techniken werden häufig übernommen, obwohl die neurophysiologischen Grundlagen dieses Verfahrens den spezifischen Besonderheiten der extrapyramidalen Bewegungsstörung kaum Rechnung tragen. > Zielsymptome der Physiotherapie bei Parkinsonsyndromen sind nicht Lähmungen oder spastische Bewegungsschablonen, sondern 4 die gestörte Automatisierung und Rhythmizität der Bewegungsabläufe, 4 reduzierte Geschwindigkeit und Amplitude der Einzelbewegungen sowie 4 spezifische Störungen der Körperhaltung und der posturalen Stabilität.
jBehandlung der motorischen Blockaden Die Spezifität der Problemstellungen bei der Physiotherapie von Parkinsonsyndromen wird besonders bei der Behandlung der motorischen Blockaden beim Gehen deutlich. Hier ist es Aufgabe der Krankengymnastik, gemeinsam mit dem Patienten Trickmanöver zu entwickeln, durch die sich das Freezing überwinden lässt. Empfehlungen für sensorische Tricks, die sich zur Überwindung von Freezing eignen, finden sich in . Übersicht 40.6. Praxistipp Das Ansprechen auf die einzelnen sensorischen Tricks ist individuell unterschiedlich, und die Effizienz eines bestimmten Manövers kann mit der Zeit nachlassen, was dann zur Suche nach alternativen Techniken zwingt.
. Übersicht 40.6. Sensorische Tricks zur Überwindung von Freezing 1.
Visuell Markierungen auf dem Boden Bewegung vor dem Spiegel Hindernisse Bodenunebenheiten Akustisch – Metronom – Klatschen – Rhythmische Musik – Kommandos – Zählen Haptisch – Geführte Bewegungen – Taktile Stimulation
– – – – 2.
3.
. Abb. 40.3. Anti-Freezing-Stock. Durch einen Hebel am Griff kann ein kleiner Bügel in Bodennähe ausgeklappt werden, der als visueller Trigger zur Schrittinitiierung dient
4 Grundsätzlich sollte jeder von Freezing betroffene Patient in der Physiotherapie mit dem ganzen Spektrum der Trickmanöver vertraut gemacht werden. Nicht selten haben Patienten auch eigene sensorische oder motorische Techniken zur Initiierung von Bewegungen entwickelt, die – auch wenn sie für Außenstehende skurril erscheinen mögen – in der Therapie eingesetzt und weiterentwickelt werden sollten. 4 Über den Hilfsmittelhandel ist ein sog. Anti-FreezingStock erhältlich, bei dem der Benutzer durch Bedienen eines am Griff angebrachten Hebels (. Abb. 40.3) als sensorischen Reiz einen quer zur Gehrichtung verlaufenden Bügel ausklappen kann. kBehandlung der Haltungsinstabilität 4 Eine Haltungsinstabilität kann durch Gleichgewichtstraining mit wechselnden Unterstützungsmodalitäten und -flächen behandelt werden (. Abb. 40.4). 4 In einer kontrollierten Studie wurde auch eine Verbesserung der Balance durch isometrisches Training der Beinmuskulatur erreicht (Hirsch et al. 2003). kSturzprophylaxe 4 Patienten mit Freezing sollten zur Vermeidung von Stürzen instruiert werden, die motorischen Blockaden nicht durch forciertes Vorverlagern des Körperschwerpunkts zu durchbrechen. In der Therapie sollte geübt werden, erst nach einer kurzen Entspannungspause eine bewusste Schrittinitiierung einzuleiten. 4 Gemeinsam mit den Physiotherapeuten sollte auch eine Hilfsmittelversorgung, z.B. mit einem Rollator oder die Indikation für Hüft- bzw. Kopfprotektoren besprochen werden.
40
720
Kapitel 40 · Parkinsonkrankheit und Dystonie
Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit sensorischer Cues
Näher betrachtet Studie: Training von Ausfallschritten
Die besondere Bedeutung externer Signale (»cues«) für die Rehabilitation von Parkinsonpatienten wurde in mehreren Untersuchungen demonstriert. Dam et al. (1996) verglichen konventionelle Physiotherapie und Physiotherapie mit zusätzlicher sensorischer Stimulation, bei der Tonbänder mit akustischen Cues, Spiegel sowie farbige Klötze und andere visuelle Cues zum Einsatz kamen. In dieser Studie wurde die 1-monatige Therapiephase nach 3 Monaten wiederholt. Während sich zunächst beide Behandlungsgruppen verbesserten, waren einen Monat nach Abschluss des 2. Behandlungszyklus nur noch Verbesserungen in der Gruppe mit zusätzlicher sensorischer Stimulation nachweisbar. Marchese et al. (2000) behandelten 20 Patienten in einer einfach-blinden Studie nach einem Protokoll, das in einer Gruppe den Einsatz sensorischer Cues beinhaltete, während die Kontrollgruppe konventionelle Physiotherapie erhielt. Sechs Wochen nach Abschluss des Übungsprogramms waren positive motorische Verbesserungen nur noch in der Gruppe nachweisbar, die mit externen Cues behandelt worden war. Die Autoren stellten die Hypothese auf, dass die Verwendung externer Signale dazu geführt hatte, die Bewegungsabläufe zu »entautomatisieren« und neue motorische Strategien zu entwickeln. Durch Kompensation der gestörten Signalübertragung zwischen Basalganglien und supplementärmotorischem Kortex hätten die Cues es den Patienten erleichtert, innerhalb einer motorischen Sequenz von einer Bewegungskomponente in die nachfolgende zu wechseln.
In einer von Joebges et al. (2004) vorgestellten Studie wurde gezielt die Ausführung von Ausfallschritten bei Patienten mit Parkinsonerkrankung geübt. Die Probanden wurden repetitiv mit einem plötzlichen, nach hinten gerichteten manuellen Zug an den Schultern vom Therapeuten ausgelenkt. In einem Multiple-Baseline-Design konnte gezeigt werden, dass sich nach einem 14-tägigen Therapiezyklus mit täglich zwei 20minütigen Trainingseinheiten Latenz und Länge der Ausfallschritte verbesserten und außerdem die Gehgeschwindigkeit zunahm. Die Therapieeffekte blieben ohne weiteres Training über 2 Monate weitgehend erhalten.
40
. Abb. 40.4. Schaukelbrett für Gleichgewichtsübungen
Praxistipp Bei allen sturzgefährdeten Patienten sollte darauf geachtet werden, die Verletzungsmöglichkeiten in der häuslichen Umgebung so gering wie möglich zu halten: 4 Kanten polstern, 4 Engpässe vermeiden, 4 Türschwellen beseitigen etc.
kBehandlung von Fehlhaltungen 4 Axiale Fehlhaltungen wie Kamptokormia (gebeugter Rumpf) oder der vor allem bei Multisystematrophie auftretende Antekollis sollten mit einem Training von Ausdauer und Kraft der betroffenen Muskulatur einschließlich Dehnung der Agonisten behandelt werden. Durch eine tägliche Dehnlagerung und gezieltes Krafttraining kann die Muskelverkürzung gebessert und die Fehlhaltung vermindert werden. In der Regel sind nachhaltige Besserungen nur durch langfristiges und hochfrequentes Training zu erreichen. 4 Manche Patienten mit einer Haltungsstörung profitieren vom Tragen eines kleinen Rucksacks, durch den der Körperschwerpunkt nach hinten verlagert und das Aufrichten des Oberkörpers erleichtert wird. kTraining großräumiger Bewegungen 4 Das Training möglichst großräumiger Bewegungen, ergänzt durch muskuläre Dehnungen, steigert die Geschwindigkeit der Bewegungen sowie das Ausmaß der Bewegungsamplituden (Farley u. Koshland 2005). Die Gehgeschwindigkeit nimmt dabei durch Vergrößerung der Schrittlänge zu, und zielgerichtete Bewegungen der oberen Extremität werden schneller, vor allem bei Entfernungen, die in Abstand einer Armlänge oder etwas weiter entfernt liegen. 4 Aufgrund der bekannten Probleme bei der Sequenzierung von Bewegungen ist es naheliegend, in der Therapie komplexe Bewegungsabläufe zu trainieren: Durch repetitives Üben sollten zunächst einzelne Bewegungskomponenten und Übergänge zwischen Teilbewegungen automatisiert und anschließend die Ausführung zusammengesetzter Bewegungsfolgen bearbeitet werden.
721 40.2 · Parkinsonkrankheit
kApparategestützte Verfahren 4 Apparategestützte Verfahren wie 5 Laufbandtraining (Miyai et al. 2002) und 5 Ganzkörpervibrationen mit dem Zeptor®- (Haas et al. 2006) oder Galileo®-System (Ebersbach et al. 2008) 4 können zu kurzfristigen Verbesserungen von Gang- und Gleichgewichtsparametern führen. Während für das Laufbandtraining auch alltagsrelevante Langzeiteffekte gezeigt werden konnten, liegen zur Wirkung der Ganzkörpervibrationen noch keine ausreichenden Daten vor. jLogopädie Die Verschlechterung des Sprechens beeinträchtigt gemeinsam mit der Verminderung von Mimik, Gestik und Mobilität die Kommunikationsmöglichkeiten des Parkinsonpatienten. Die Störungen des Sprechens können sich äußern in 4 reduzierter Lautstärke, 4 Dysarthrophonie und 4 verminderter Prosodie.
. Abb. 40.5. Loudmeter zur Messung des Stimmvolumens. Der Patient erhält durch die optische Anzeige der in Dezibel gemessenen Lautstärke Feedback über sein Stimmvolumen
Gelegentlich kommt es, analog zum Freezing des Gehens, auch zu schweren Störungen des Sprechrhythmus bis hin zu Sprechblockaden. Shahed und Jankovic (2001) beobachteten, dass es im Rahmen des PS bei Patienten, die in der Jugend ein Stottern zeigten, zu einem Rezidiv kommen kann. > Schwerpunkt der logopädischen Therapie ist die Verbesserung der gestörten Kommunikation durch 4 Behandlung 5 der Artikulation, 5 der Prosodie und 5 des Stimmvolumens sowie 4 Fazilitation des Schluckakts.
kLee Silverman Voice Therapy Ramig et al. (1996) stellten das Lee Silverman Voice Therapy Programme (LSVT) vor, das eine kombinierte Sprech- und Atemtherapie beinhaltet. Hauptfokus dieser Therapie ist das Stimmvolumen beim Sprechen. Mithilfe von Therapeut und Einsatz von apparativem Feedback (. Abb. 40.5) lernt der Übende, mit lauterer und deutlicherer Stimme zu sprechen. In einer Untersuchung wurde ein Langzeiteffekt beschrieben, der auch 24 Monate nach Therapieende noch nachweisbar war (Ramig et al. 2001). Ähnlich wie bei der Körpermotorik kann die zur Stimmbildung eingesetzte Kraft willkürlich deutlich gesteigert werden. Entscheidend für den Therapieerfolg ist, inwieweit die höhere Lautstärke automatisiert und in den Alltag übernommen werden kann. Die Autoren empfehlen daher für das LSVT eine hohe Behandlungsdauer und -frequenz (jeweils 16 Behandlungseinheiten von 50–60 Minuten innerhalb von 4 Wochen). Stärker auf Prosodie als auf Stimmvolumen fokussiert sind die Therapieprotokolle, die von Robertson and Thompson (1984) sowie von Johnson und Prang (1990) vorgestellt wurden. 4 Manche Patienten sprechen lauter und deutlicher, wenn sie während des Sprechens laute Musik über einen Kopfhörer hören (Walkman-Effekt). Dieser Trick kann helfen,
. Abb. 40.6. Pacing Board. Durch Abklopfen der Zwischenräume im Silbentakt wird der Sprachrhythmus unterstützt
einzelne Situationen zu überbrücken, ersetzt jedoch nicht das mühsamere Training des normalen Sprechens. 4 Wenn die Sprache überhastet ist und/oder die Übergänge zwischen den Worten fehlen, kann gelegentlich ein Taktgeber (z.B. Takt mit den Fingern klopfen, Pacing Board) nützlich sein, um einen regelmäßigen Sprechrhythmus wiederzufinden (. Abb. 40.6). > Vor allem in schweren Erkrankungsstadien sind 4 Techniken der fazio-oralen Stimulation, 4 Schluck- und Sprechfazilitation sowie 4 Atem- und Entspannungstherapie angezeigt, um Atmung, Schluckakt und Kommunikation zu verbessern.
jPsychologische und psychotherapeutische Behandlung Bei etwa einem Drittel der Parkinsonkranken kommt es unabhängig vom Ausprägungsgrad der motorischen oder demenziellen Symptome im Verlauf der Erkrankung zu einer Depression und Angstattacken. Neben der pharmakologischen Behandlung ist die Begleitung des Kranken bei der Bewältigung seiner körperlichen Behinderung und der Erhaltung seiner psychosozialen Kompetenz eine wesentliche Auf-
40
722
Kapitel 40 · Parkinsonkrankheit und Dystonie
gabe im Rahmen einer psychotherapeutischen Einzel- und Gruppentherapie. Soziale Kontakte sind durch Kommunikationsprobleme bei veränderter Psychomotorik häufig begleitet von Scham- und Insuffizienzgefühlen und führen zu Vermeidungsreaktionen und einem fortschreitenden sozialen Rückzug. Ein wesentlicher Behandlungsansatz dieser negativen Wechselwirkung besteht in einer spezifischen, strukturierten Gruppenpsychotherapie. Eine Einzeltherapie hat vor allem nach der Diagnoseeröffnung und bei Depressionen einen wichtigen Stellenwert. kGruppentherapiekonzepte 4 Ein strukturiertes Behandlungsprogramm für die Gruppentherapie wurde von Macht und Ellgring (2003) vorgestellt. Dieses Programm beinhaltet vier Interventionsbausteine: 5 Training der Stress- und Krankheitsbewältigung, 5 Training der krankheitsbezogenen Kommunikation, 5 Training des Gefühlsausdrucks, 5 Training für Angehörige. 4 Eckpunkte eines von Leplow (2007) vorgestellten Behandlungskonzepts zur ambulanten Kleingruppentherapie sind 5 Aufklärung, 5 körperbezogene Techniken und 5 Erlernen von Strategien zur Verbesserung der Stressbewältigung. 4 Klassische Entspannungstechniken (z.B. Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen) und Schulung des Körpergefühls (z.B. Autogenes Training und Feldenkrais) in Gruppen- oder Einzelsitzungen können helfen, 5 die Stresstoleranz zu verbessern, 5 Schmerzen des Bewegungsapparats zu reduzieren und 5 Rigor oder Hyperkinesen zu kontrollieren. jErgänzende Maßnahmen Das Spektrum der rehabilitativen Therapiemittel, die entsprechend den individuellen Problemkonstellationen eingesetzt werden können, wird vervollständigt durch 4 physikalische Maßnahmen, z.B. Wärmeanwendungen, Massagen, Bewegungsbäder, 4 apparativ unterstützte Behandlungen, z.B. Schlingentisch und EMG-Biofeedback, 4 Sporttherapie und 4 Musiktherapie.
40 40.3
Dystonie
Näher betrachtet Erster Anfang Der deutsche Mediziner H. Oppenheim (1911) prägte den Begriff der Dystonie mit der Beschreibung der Dystonia musculorum deformans (Oppenheim-Dystonie). Die Beschriebenen waren Mitglieder einer Familie und zeigten generalisierte unwillkürliche Bewegungen und verdrehende Haltungen, ohne dabei intellektuelle Störungen aufzuweisen.
Definition In Anlehnung an die Erstbeschreibung lautet die heute allgemein akzeptierte Definition der Dystonie: Die Dystonie ist ein Syndrom von anhaltenden Muskelkontraktionen, die drehende oder repetitive Bewegungen oder abnorme Haltungen hervorrufen.
Der Begriff »Dystonie« wird im klinischen Alltag in drei Zusammenhängen verwendet:
4 Zum Ersten wird er dazu genutzt, das Symptom der Dystonie als ungewollte Muskelkontraktion mit Bewegungseffekten zu beschreiben. 4 Zum Zweiten bezeichnet er eine Krankheitsentität, nämlich die idiopathische Dystonie. 4 Zum Dritten wird der Begriff verwendet, um ein Syndrom im Rahmen einer anderen Grunderkrankung zu beschreiben, z.B. die sekundäre fokale Dystonie bei Morbus Wilson.
40.3.1
Pathophysiologie
Ein wesentliches messbares Korrelat der Dystonie ist eine gestörte kortikale Umgebungshemmung bei Willküraktivierung (Sohn et al. 2004). Zudem haben Parallelregistrierungen von Mikroelektroden und Elektromyogrammen (EMG) während der Implantation tiefer Stimulationselektroden bei Patienten mit Dystonien die Annahme bestätigt, dass Fehlfunktionen der Basalganglien ursächlich für die dystonen Bewegungen sind (7 Kap. 40.1). Dabei konnte gezeigt werden, dass Veränderungen des Entladungsverhaltens von Neuronen vor allem in den dorsalen Regionen des motorischen Thalamus und der Basalganglien mit der Dystonie korrelieren (Zhuang et al. 2004). > Dystone Bewegungsstörungen können als eine Entkoppelung des prämotorischen Kortex von einer thalamischen Kontrolle interpretiert werden. Näher betrachtet DYT-1-Dystonie Bei 4 Patienten mit einer DYT-1-Dystonie wurde in den Neuronen des Mittelhirns (pedunculo-pontiner Nucleus, Nucleus cuneiformis, zentrales Höhlengrau), und nicht in der Substantia nigra pars compacta, dem Striatum, dem Hippocampus und ausgewählten Kortexarealen, Torsin A, das Genprodukt der DYT-1-Mutation nachgewiesen (McNaught et al. 2004). Dies legt nahe, dass Veränderungen in Neuronen des Mittelhirns in die Pathophysiologie der Entstehung einer Dystonie einzubeziehen sind.
40.3.2
Epidemiologie
Eine repräsentative Stichprobe bei Menschen über dem 50. Lebensjahr in Mitteleuropa (Norditalien, Bruneck) zeigte, dass die Prävalenz der Dystonien in dieser Altersgruppe mit etwa
723 40.3 · Dystonie
. Tab. 40.2. Relative Häufigkeiten und Diagnosen primärer Dystonien in Europa Art der Dystonie
Generalisiert
Anteil der Fälle in %
1,3
Verhältnis Frauen zu Männern 1,4:1
Multifokal
1,8
3,2:1
Segmental
20,9
1,8:1
Fokal
76,1
1,5:1
Blepharospasmus (Blinzelkrampf )
28,9
2,3:1
Zervikale Dystonie
49,2
1,4:1
Schreibkrampf
12,9
1:1,3
Laryngeale Dystonie (Spasmoide Dysphonie)
5,5
2,6:1
Gliedmaßen Dystonie
2,1
1:1,8
Oromandibuläre Dystonie
0,9
2,5:1
Gesamtzahl 957 Patienen
100
700/100.000 Einwohner anzunehmen ist (Müller 2002). In einer rezenten Untersuchung bestätigte sich das deutliche Überwiegen der fokalen (76%) und segmentalen (21%) Formen sowie die Frauenwendigkeit dieser Erkrankung bei 957 erfassten Patienten mit primären Dystonien (100%) (. Tab. 40.2).
40.3.3
Klassifikation
Für die prognostische Einschätzung und Therapieempfehlung haben sich bis heute die von Fahn et al. (1998) herausgearbeiteten Kriterien bewährt. Die Autoren (Fahn et al. 1998, Gonzalez-Alegre 2007, Schmidt et al. 2008) empfehlen die Klassifikation bzgl. 4 der Ätiologie (. Übersicht 40.7), 4 des Alters bei Erkrankungsbeginn und 4 der Verteilung der dystonen Symptome über den Körper (Topik). Idiopathische oder primäre Dystonien sind von DystoniePlus-Syndromen und symptomatischen oder sekundären Dystonien zu trennen (Fahn et al. 1998)
. Übersicht 40.7. Ätiologische und genetische Klassifikation des Dystonien Primäre (idiopathische) Dystonien 1. Dystonia musculorum deformans, OppenheimDystonie – DYT1 9q34, autosomal-dominant, Genprodukt Torsin A, Gentest kommerziell verfügbar 2. Familiäre Dystonien – DYT2: Chromosom unbekannt, autosomal-rezessiv – DYT6: 8p21–8p22, autosomal-rezessiv, generalisiert, früher Beginn – DYT7: 18p, autosomal-dominant, fokal, später Beginn – DYT13: 1p36, autosomal-dominant, segmental, juvenil – DYT16: 2q, autosomal-rezessiv, generalisiert, früher Beginn, Genprodukt PRKRA, Gentest verfügbar 3. Sporadische Formen Dystonie-Plus-Syndrome 1. X-chromosomales Dystonie-Parkinson-Syndrom Lubag – DYT3: Xq, X-chromosomal-rezessiv, Genprodukt Gentranskriptionsfaktor TAF 1, Gentest verfügbar 2. Dopa-responsive-Dystonie (Segawa-Syndrom) – DYT5a: 14q, Autosomal Dominant, Genprodukt GTP-Zyklohydrolase I, Gentest verfügbar – DYT5b (DYT14): 11p15.5, autosomal-rezessiv, Genprodukt TH (Tyrosinhydroxylase), Gentest verfügbar 3. Dystonie-Parkinson-Syndrom mit plötzlichem Beginn – DYT12: 19q, autosomal-dominant, Genprodukt Alpha3, Untereinheit Na-K-ATPase, Gentest verfügbar 4. Dystonie-Myoklonus-Syndrom – DYT11: 7q21, autosomal-dominant, Genprodukt Epsilon-Sarkoglykan, Gentest kommerziell verfügbar – DYT15: 18p, autosomal-dominant 5. Sekundäre (symptomatische) Dystonie – Neurodegenerative Läsion – Vaskuläre Läsion – Tumorbedingte Läsion – Medikamentöse Ursache – Metabolische Ursache oder Läsion
Dystonieformen jPrimäre (idiopathische) Dystonien Die Oppenheim-Dystonie ist die häufigste genetische Dystonieform. Bei den primären Dystonien unterscheidet man 4 Oppenheim-Dystonie, 4 familiäre Formen und 4 sporadische Formen.
40
724
Kapitel 40 · Parkinsonkrankheit und Dystonie
> Spontane Remissionen sind selten, kommen aber vor (Torticollis spasmodicus bis zu 10% Spontanremissionen) (Haussermann et al. 2004).
Die gängigen neurologischen Zusatzuntersuchungen wie 4 Liquor, 4 Muskelbiopsie, 4 klinische Neurophysiologie einschließlich 4 strukturelle Bildgebung (kranielles MRT) sind bei diesen Formen unauffällig. > Bei der primären Dystonie finden sich, abgesehen von der Dystonie, keine anderen klinischen und paraklinischen pathologischen Befunde. Die primäre generalisierte Dystonie (DYT-1-Dystonie, Oppenheim-Dystonie) mit Beginn im Jugendalter als fokale Dystonie an einem Fuß (Marsden et al. 1974) ist die prototypische Erkrankung der genetisch definierten Dystonie. Sie breitet sich nach Erkrankungsbeginn häufig bis zu einer generalisierten Form aus. Dystone Bewegungen sistieren bei dieser Form während der Schlafstadien III–IV und im REM-Schlaf (Fish et al. 1991).
jDystonie-Plus-Syndrome > Bei Dystonie-Plus-Syndromen wird eine Dystonie von anderen neurologischen Symptomen begleitet.
Zurzeit sind 5 genetische Dystonie-Plus-Syndrome bekannt (Gonzalez-Alegre 2007): 4 Drei klassische Vertreter sind mit Parkinsonismus kombiniert: 5 DRD (DOPA-responsive-Dystonie, DYT5), 5 Dystonie-Parkinson-Syndrom der Philippinos Lubag (DYT3) und 5 Dystonie-Parkinson-Syndrom mit plötzlichem Beginn (DYT12). 4 Zwei klassische Vertreter, sog. Dystonie-Myoklonus-Syndrome (DYT11 und DYT15) zeigen Kombinationen mit Myoklonien: 5 Dystonie-Myoklonus Syndrom und 5 DOPA-responsive-Dystonie (DRD).
40
kDystonie-Myoklonus-Syndrom Das Dystonie-Myoklonus-Syndrom zeigt im Kindes- oder Jugendalter neben fokalen oder segmentalen Dystonien vorwiegend in der oberen Körperhälfte einschießende Myoklonien und häufig psychiatrische Auffälligkeiten sowie eine Abnahme der Bewegungsstörungen bei Alkoholgenuss (Zimprich et al. 2001). kDOPA-responsive-Dystonie Die DRD zeigt sich meist bei Kindern, beginnend mit einer Fußdystonie und typischen tageszeitlichen Fluktuationen der Dystonieintensität sowie einem klaren Ansprechen auf eine orale L-Dopa-Behandlung (Segawa et al. 1986).
jParoxysmale Dystoniesyndrome Die paroxysmalen Dystoniesyndrome werden zu den Ionenkanalkrankheiten gezählt und lassen sich durch Auslösefaktoren provozieren. Die Einordnung als Dystonie ist aktuell strittig (Schmidt et al. 2008). Es werden drei Subgruppen unterschieden: 4 Paroxysmale dystone Choreoathetosen: Auslöser sind Stress, Alkohol und Schokolade. 4 Paroxysmale dystone Choreoathetosen mit episodischer Ataxie und spastischer Paraplegie: Auslöser sind Stress oder Alkohol. 4 Paroxysmale kinesiogene dystone Choreoathetosen (DYT10): Auslöser sind plötzliche Bewegungen (Ceballos-Baumann 2005, Schmidt et al. 2008). jSekundäre Dystonien Sekundäre Dystonien sind durch einen exogenen Faktor verursacht, der zu einer neurochemischen oder strukturellen Veränderung im Zentralnervensystem führt (Fahn et al. 1998). Etwa 20% der Patienten mit Dystonien haben symptomatische Formen (Nutt et al. 1988). Sekundäre (symptomatische) Dystonien können Symptom sein von 4 einer Hirnschädigung, 4 einer neurodegenerativen Erkrankung, 4 einer sich bei Stoffwechselstörungen im Laufe der resultierenden Veränderungen entwickelnden Hirnschädigung, 4 einer Intoxikation oder 4 einem speziellen Pharmakon. > Zu den neurodegenerativen Erkrankungen, die dystone Symptome entwickeln, zählen 4 Morbus Wilson, 4 Morbus Huntington, 4 Morbus Parkinson, 4 Multisystematrophien, 4 mitochondriale Enzephalopathien, 4 spinozerebelläre Ataxien (SCA) u.a.m.
Auch Intoxikationen (z.B. mit Kokain, Kohlenmonoxid, Mangan) und Medikamentenexpositionen (z.B. typische Neuroleptika, Antiemetika und L-Dopa) können zu akuten dystonen Reaktion oder als sog. Spätdystonie nach Einnahme von klassischen Neuroleptika zu anhaltenden dystonen Fehlhaltungen, sog. neuroleptikainduzierten Spätdystonien, führen. Praxistipp Bei dystonen Syndromen aufgrund von lokalisierten Hirnschäden finden sich in bildgebenden Untersuchungen kontralateral zu den dystonen Symptomen Veränderungen in den Basalganglien (Obeso et al. 1988). Bhatia und Marsden (1994) konnten die Läsionen überwiegend im gegenüberliegenden Putamen lokalisieren.
725 40.3 · Dystonie
Näher betrachtet Zusammenhang mit CPRS I Bei sog. früh fixierten Dystonien (»fixed dystonia«) (Schrag et al. 2004) und postraumatischen zervikalen Dystonien (Frei et al. 2004) werden heute Zusammenhänge mit der Entwicklung eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS I) diskutiert, wobei die Abgrenzung weiterhin schwierig bleibt, und auch die schwierige Differenzialdiagnose einer somatoformen Störung (»psychogenic dystonia«) (Schrag et al. 2004) besonders bedacht werden sollte. Einfluss von Umweltfaktoren Die hohe Variabilität in der Expression der Erkrankung, z.B. bei der Oppenheim-Dystonie, lässt neben den genetischen Faktoren einen Einfluss von Umweltfaktoren für das Auftreten und die Ausprägung der Dystonie vermuten. Die Hypothese eines Auslösefaktors als Trigger für die klinische Manifestation und Ausbildung einer Dystonie (z.B. nach peripherer Nervenläsion, Schädel-Hirn-Trauma oder auch anderer Traumatisierung) bei vorhandener genetischer Disposition findet daher zunehmende Beachtung.
Genetik Aktuell werden 16 monogene primäre Dystonien und Dystonie-Plus-Syndrome unterschieden (Schmidt et al. 2008) (. Übersicht 40.7): 4 Genetische Dystonien: 5 Das die Dystonie verursachende Gen ist bei zwei Formen bekannt: DYT1 und DYT16. 5 Die Genorte konnten bisher bei drei juvenilen oder adulten fokalen bzw. segmentalen Dystonieformen kartiert werden: DYT 6, DYT7 und DYT13. 5 Noch keine positiven Koppelungsanalysen konnten bei zwei weiteren genetisch determinierten generalisierten Dystonien aufgezeigt werden: DYT 2 und DYT4. 4 Genetische Dystonie-Plus-Syndrome (Gonzalez-Alegre 2007): 5 Drei Syndrome sind mit Parkinsonismus kombiniert: DYT3, DYT5 und DYT12. 5 Zwei Syndrome, die sog. Dystonie-Myoklonus-Syndrome, sind mit Myoklonien kombiniert: DYT11 und DYT15. jDYT-1-Dystonie Schon 1989 gelang die Identifikation des für die DYT-1-Dystonie verantwortlichen Gens auf dem langen Arm des Chromosoms 9q (Ozelius et al. 1989). Die Ursache der DYT-1Dystonie ist eine 3-Basenpaar- (GAG-)Deletion in diesem Gen. Für das Verständnis dieser genetisch determinierten Dystonie war die Möglichkeit des Klonens des auf DYT1 kodierten Proteins mit dem Namen Torsin A und dessen Nachweis in verschiedenen Körpergeweben, u.a. auch im Mittelhirn wichtig. Torsin A ist ein ATP bindendes Protein im Lumen des endoplasmatischen Retikulums, das der AAA+-Protein-Familie zugeordnet wird (Breakefield et al. 2008). Das
mutierte Torsin A kumuliert in vitro in der Zelle und verursacht eine Dysfunktion der Kernmembran. > Praktisch relevant sind heute mit vertretbarem Kostenaufwand durchführbare Nachweise von DYT1, DYT5a und DYT11 im Serum (Klein et al. 2002, Schmidt et al. 2008). Ein Nachweis dient der Diagnosebestätigung und weiteren Behandlungsplanung.
Bei einer DYT1 zu erwartenden Penetranz von etwa 40% beträgt das Risiko bei der Oppenheim-Dystonie, Symptome auszuprägen, für Verwandte 1. Grades etwa 21%. Obwohl eine DYT-1-positive Familie mit Schreibkrampf als einzigem Symptom beschrieben wurde, ist die Wahrscheinlichkeit äußerst gering, bei einem Patienten mit fokaler Dystonie im höheren Erwachsenenalter eine DYT-1-Deletion identifizieren zu können, so dass in dieser Konstellation eine neurogenetische Analyse nicht sinnvoll erscheint (Friedman et al. 2000, Kamm et al. 2000). Es ist zu hoffen, dass die Fortschritte auf dem Gebiet der Neurogenetik in Zukunft auch zu therapeutisch relevanten Erkenntnissen führen.
40.3.4
Klinisches Spektrum
In . Übersicht 40.8 werden Dystonien nach mehreren Faktoren differenziert. . Übersicht 40.8. Differenzierung der Dystonien 1. 2. 3. 4.
Alter bei Beginn der Erkrankung Verteilung der Symptome über den Körper (Topik) Aktivierungs- und Bewegungsformen Beeinflussbarkeit
jAlter bei Symptombeginn Bezogen auf den Erkrankungsbeginn werden Dystonien mit frühem (<26 Jahre) und spätem (>26 Jahre) Beginn unterschieden (Schmidt et al. 2008). Das Lebensalter bei Symptombeginn hat wesentliche prognostische Bedeutung: 4 Bei frühem Beginn liegt die Wahrscheinlichkeit einer Ausbreitung der Dystonie bis zu einer generalisierten Form bei etwa 25% (Marsden 1995). 4 Adulte Formen zeigen meist nur fokale Ausprägungen, die sich zu segmentalen Formen ausbreiten können. Bis zu 15% der Patienten mit Blepharospasmus oder zervikalen Dystonien zeigen im Verlauf eine milde bis moderate Ausbreitung der dystonen Symptome in benachbarte Körperregionen. jTopik Nach der Symptomverteilung über den Körper sind fokale, segmentale, multifokale und generalisierte Dystonien von einer Hemidystonie zu unterscheiden (. Tab. 40.3).
40
726
Kapitel 40 · Parkinsonkrankheit und Dystonie
. Tab. 40.3. Topische Klassifikation der Dystonie Dystonie
Region
Fokal
Auf eine Körperregion begrenzt, z.B. Blepharospasmus und Torticollis
Segmental
Auf zwei benachbarte Körperregionen begrenzt, z.B. Torticollis und oromandibuläre Dystonie
Multifokal
Mehrere nicht benachbarte Körperregionen betroffen, z.B. Schreibkrampf plus Blepharospasmus
Generalisiert
Mehrere nicht benachbarte Körperregionen plus mindestens eine untere Extremität einschließlich Beckenregion betroffen
Hemidystonie
Eine Körperseite, untere und obere Extremität betroffen
kFokale Dystonien Fokale Dystonien betreffen eine funktionelle Region, z.B. 4 bei der zervikalen Dystonie (Torticollis spasmodicus) die zervikale Muskulatur, 4 beim Blepharospasmus die periorbitale Muskulatur, 4 bei der spasmodischen Dysphonie die Stimmbandmuskulatur und 4 beim Schreibkrampf Arm- und Handmuskeln. kSegmentale Dystonien Segmentale Dystonien beziehen zwei oder mehrere aneinandergrenzende Regionen ein, z.B. 4 bei der kranialen Dystonie (Meige-Syndrom) die periokuläre und -orale Muskulatur, 4 bei der kranio-zervikalen Dystonie zwei oder mehrere Regionen im Kopf-Hals-Bereich (Blepharospasmus oder Meige-Syndrom und zervikale Dystonie). kMultifokale Dystonien Bei multifokalen Dystonien sind mindestens zwei nicht aneinandergrenzende Regionen betroffen.
40
kGeneralisierte Dystonien Generalisierte Dystonien beziehen mindestens ein oder beide Beine (krurale Dystonie) und die angrenzende Becken- oder Rumpfmuskulatur sowie mindestens eine weitere fokale Dystonie mit ein. kHemidystonien Bei einer Hemidystonie sind die Extremitäten und der angrenzende Rumpf wie auch die Gesichtsmuskulatur einer Körperseite in die Dystonie einbezogen.
jAktivierungsmodus, Intensität und Beeinflussbarkeit der Dystonie kAktivierung Dystonien können nach Art ihres Auftretens in paroxysmale, aktionsspezifische, bewegungsinduzierte (kinesiogene) und bewegungsunabhängige Formen differenziert werden: 4 Paroxysmale Dystonien können spontan oder an bestimmte Situationen bzw. an Bewegungen gebunden auftreten. 4 Aktionsspezifische Dystonien wie z.B. der Schreib- oder Musikerkrampf beeinträchtigen nur spezielle Handlungen. 4 Kinesiogene Formen sind an die Ausführung von Bewegungen gekoppelt. 4 In Ruhe und bei Bewegungen auftretende Dystonien können auch in fixierte Fehlstellungen übergehen und resultierende Knochendeformitäten verursachen. kIntensität Die Intensität der Dystonie kann durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst werden: 4 Körperliche Aktivität und Stress wirken sich häufig verstärkend aus, 4 das subjektive Gefühl von Ruhe und Ausgeglichenheit mildernd. 4 Tageszeitliche Schwankungen mit einer Verstärkung am Abend sind typisch für die DRD (Segawa et al. 1986). kBeeinflussbarkeit Spezielle Tricks, die das dystone Erscheinungsbild abschwächen oder verschwinden lassen, sind typisch für primäre Dystonien. Beim Torticollis spasmodicus werden diese Tricks als »geste antagonistique« bezeichnet. Es sind häufig Handbewegungen mit Berührungen des Gesichts, die zu Abnahme oder Verschwinden der dystonen Bewegungen führen können (Wissel et al. 1999) (. Abb. 40.7).
Dystone Bewegungscharakteristika Bewegungs- und EMG-Analysen von dystonen Bewegungen zeigen die Charakteristika von tonischen EMG-Aktivierungen (dichtes andauerndes EMG-Muster) mit dem Effekt einer langsamen Bewegung, andauernden Haltung oder phasischen EMG-Aktivierungen (kurzen EMG-»bursts«) mit schnellen Bewegungseffekten (Yanagisawa et al. 1971, Wissel et al. 2003). Bei den phasisch-dystonen Aktivierungen werden phasisch nicht rhythmische von rhythmischen und myoklonischen Bewegungen unterschieden: 4 Phasisch nicht rhytmische Aktivierungen zeigen wechselnde Bewegungsamplituden mit unterschiedlicher Dauer (unregelmäßige EMG-Aktivierungen). 4 Tremorartige dystone Muster zeigen Aktivierungen mit gleichmäßiger Dauer und regelmäßiger, eher niedriger Bewegungsfrequenz (häufig 3–7 Hz). 4 Myoklonusartige EMG-Aktivierungen werden als einschießende Bewegungen wahrgenommen und zeigen phasische EMG-»bursts« mit einer Dauer von ≤300 ms (Wissel et al. 2003).
727 40.3 · Dystonie
Praxistipp Bei der diagnostischen Zuordnung der Dystonie gilt es, kausal behandelbare Formen zu erkennen und umgehend eine Behandlung einzuleiten. Vor allem bei jüngeren Betroffenen sind medikamentös bzw. toxisch verursachte Dystonien zu erkennen, eine Dopa-responsive-Dystonie, ein Morbus Wilson oder andere symptomatische Formen zu diagnostizieren und diese, wenn möglich, kausal zu behandeln oder mittels Diagnostik auszuschließen.
. Abb. 40.7. Darstellung der Polygraphie eines Trickmanövers bei einem Patienten mit tremolösem Torticollis spasmodicus. Der Patient sitzt auf einem Untersuchungsstuhl und bewegt die das Trickmanöver ausführende Hand vom Oberschenkel zum Gesicht und nach Ende der Geste wieder zurück in die Ruheposition. Klinisch nimmt die Amplitude des dystonen Kopftremors durch die Ausführung der Geste deutlich ab. 4-Kanal-Elektromyographie und 4 Analogkanäle mit 2 Bewegungs- (AKT) und 2 Beschleunigungsaufnehmern (ACC): Oberflächenelektromyographie: TP Trapezius. SM Sternokleidomastoideus. R rechts. L links. AKT.FINGER Bewegungsaufnehmer auf Fingerspitze. AKT.FACE Bewegungsaufnehmer im Gesicht in Kontaktregion. ACC↑ Kopfbewegung in Ja-/Ja-Richtung. ACC→ Kopfbewegung in Nein-/Nein-Richtung. A Bewegungsbeginn des Fingers. B Beginn des Hautkontakts im Gesicht. C Ende des Hautkontakts im Gesicht. D Bewegungsende des Fingers
4 Hinweise für das Vorliegen einer symptomatischen Form ergeben sich 5 zum einen aus der Anamnese, 5 zum anderen aus dem/der für eine primäre Dystonie untypischen Verlauf und Klinik (. Tab. 40.4). 4 Zum Ausschluss einer strukturellen Läsion ist bei Diagnosestellung eine zerebrale Bildgebung mittels MRT einzubeziehen. 4 Bei jungem Erkrankungsalter muss das Vorliegen eines Morbus Wilson mittels Labordiagnostik (Kupfer im Blut und 24-Stunden-Urin, Coeruloplasminspiegel im Serum) und einer DRD durch die Gabe von L-Dopa (bis zu 500 mg/ Tag, ggf. bei Übelkeit durch L-Dopa zusätzlich Domperidon 3×20 mg/Tag) ausgeschlossen werden.
. Tab. 40.4. Befunde die auf eine sekundäre Dystonie hinweisen oder mit einer primären idiopathischen Dystonie nicht vereinbar scheinen Diagnostik
Befunde
Anamnese
4 Verzögerte motorische und intellektuelle Entwicklung 4 Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen 4 Epileptische Anfälle 4 Einnahme von Neuroleptika vor Beginn 4 SHT vor Beginn
Untersuchung
4 4 4 4 4 4 4 4
Verteilung und Verlauf
4 Hemidystonie 4 Schnelle Entwicklung von Extremitätenkontrakturen 4 Bulbäre und kraniale Beteiligung bei Kindern/Jugendlichen 4 Rasche Progression der Dystonie bei Erwachsenen 4 Beinbeteiligung bei Erwachsenen
Häufig kombinieren sich die dystonen Bewegungsmuster zu einer für den Einzelnen typischen Dystonie mit charakteristischer dystoner Bewegungsform und Topik.
40.3.5
Diagnostik
Die Diagnose wird bei Vorliegen des klassischen Syndroms klinisch gestellt. > Klinische Syndrome mit unwillkürlichen intermittierenden oder anhaltenden Muskelkontraktionen, die drehende oder repetitive Bewegungen oder abnorme Haltungen hervorrufen, sind als Dystonie zu klassifizieren.
Die weitere Zuordnung bezüglich der Ätiologie (primäre oder sekundäre Dystonie) kann mittels Anamnese, klinischem Befund (. Tab. 40.4) und spezifischer weiterer Diagnostik erreicht werden (Ceballos-Baumann et al. 2008).
Umschriebene Muskelatrophien Lähmungen Pyramidenbahnzeichen Ataktische Bewegungsstörung Sensible und sensorische Störungen Brady- oder Hypokinese Kognitive Leistungseinbußen Gestörte Stellreflexe
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Kapitel 40 · Parkinsonkrankheit und Dystonie
4 Der Einsatz von zusätzlichen paraklinischen Untersuchungen (Liquor, Muskelbiopsie, Gentest, Spaltlampe, Labordiagnostik, Neurophysiologie, spezifische zerebrale Bildgebung und nuklearmedizinische Untersuchungen) kann notwendig werden.
Differenzialdiagnosen Dystonien müssen von Tremor-, Tic-, Spasmen-, Spastik- und Myoklonie-Syndromen sowie von psychogenen oder funktionellen Dystonien abgegrenzt werden (. Übersicht 40.9). . Übersicht 40.9. Differenzialdiagnosen von Dystonien 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Tremor Myoklonien Tics Choreatische Bewegungen Spasmen/Spastik Psychogene/funktionelle Dystonien
Praxistipp Eine Zweitbeurteilung in einer spezialisierten Ambulanz (Spezialambulanzen für Bewegungsstörungen) ist bei schwieriger Differenzialdiagnose zu empfehlen. Die Abgrenzung der Dystonien von funktionellen Bewegungsstörungen ist schwierig.
jKlinische Differenzierung der Dystonie von anderen Bewegungsstörungen Die klinische Differenzierung von Bewegungsstörungen kann im Einzelfall schwierig sein. Im Folgenden werden Hinweise gegeben, um die Dystonie von Tremor, Myoklonus, Tic und anderen Bewegungsstörungen klinisch abgrenzen zu können. kTremor Fokale Dystonien zeigen neben tonisch verdrehenden Hal-
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tungen häufig auch repetitive Aktivierungen mit resultierendem Zittern. Bei isolierten fokalen Tremorformen mit einer Aktionsspezifität (z.B. primärer Schreibtremor) ist die Möglichkeit der klinischen oder paraklinischen Differenzierung zwischen einem primären Tremor oder einer Dystonie auch in der Literatur umstritten. Bei isoliertem Kopftremor hilft die Quantifizierung der klinischen Effekte möglicher Tricks. > Eine signifikante Abnahme oder Sistieren eines Kopfzitterns bei Ausführung einer »geste antagonistique« spricht für das Vorliegen eines tremolösen Torticollis. Sistiert das Kopfzittern nicht, oder kennt der Betroffene keine Trickbewegung, so handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Variante des essenziellen Tremors mit isoliertem Kopfzittern.
kMyoklonus Bei Dystonien können in die dystonen Kontraktionen nicht selten auch in milde Myoklonien eingebettet sein. Beim Myoklonus-Dystonie-Syndrom prägen diese sogar das charakteristische Bild. > Das Auftreten myoklonischer Zuckungen ohne jedwede tonische Fehlhaltung oder phasisch-dystone Bewegung sollte i.d.R. die Diagnose »Dystonie« ausschließen.
kTics Tics der kraniozervikalen Region sind gelegentlich schwer von Formen der Dystonie in dieser Region zu differenzieren. Immer sind Tics jedoch stereotype Bewegungen mit der Phänomenologie einer Willkürmotorik ohne dyston verdrehende oder überdauernde Elemente. Praxistipp Zur Differenzierung von Tic und Dystonie hilft es zu wissen, dass Tics willentlich kurzzeitig unterdrückbar sind und Patienten auf diese gewollte Pause mit einem vermehrten inneren Bewegungsdrang reagieren. Dieser ist beim Patienten zu erfragen.
kChorea Choreatische Bewegungen haben im Gegensatz zur Dystonie i.d.R. eine kürzere Bewegungsdauer (keine dystonen Haltungen). Sie sind eher distal an den Extremitäten betont, wirken spielerisch und unruhig und werden von den Betroffenen nicht selten in scheinbar gewollte Bewegungen eingebaut. Dies führt z.B. zum sog. Klavierspielerphänomen an den Händen oder zu einer auf der Stelle tänzelden Bewegungsunruhe bei der Aufforderung, ruhig zu stehen. kSpasmen Spasmen sind häufig auf eine Körperregion begrenzt und führen zu einer abrupt, nicht selten durch externe Trigger (Berührung, Schreckreaktion) ausgelösten Tonuserhöhung der Beuger, Strecker und/oder Adduktoren. Sie sind nicht selten durch ihren einschießenden kraftvollen Charakter schmerzhaft. Praxistipp Der Nachweis einer begleitenden Spastizität (geschwindigkeitsabhängige Tonuserhöhung bei passiver Bewegung des Segments) ordnet das Symptom einer Pyramidenbahnläsion zu.
kPsychogene Bewegungsstörung Die Diagnosestellung einer psychogenen Dystonie sollte die Erfahrung einer Spezialsprechstunde einbeziehen, doch auch in spezialisierten Sprechstunden ist dieses Krankheitsbild sel-
729 40.3 · Dystonie
ten (zwischen 1–2,5% der Patienten). Dem erfahrenen Untersucher ist es bei Einbeziehung des klinischen Befunds und anhand anderer Kriterien (. Tab. 40.4) möglich, die Diagnose einer psychogenen Dystonie mit hoher Wahrscheinlichkeit zu stellen. Praxistipp Ein Verdacht liegt vor bei anamnestischen Hinweisen auf 4 multiple Symptome mit Somatisierungscharakter, 4 einen abrupten Beginn der Symptome mit schon früh fixiert erscheinenden Fehlhaltungen v.a. der distalen Extremitätenabschnitte (Kontrakturen), 4 häufige Spontanremissionen, 4 ein klinisch variables Bild mit wechselnden untypischen Aktivierungs- und Verteilungsmustern und 4 eine günstige Wirkung auf eine Plazebobehandlung (Schrag et al. 2004, Krem 2004).
40.3.6
Therapie der dystonen Syndrome
Alle kausal behandelbaren dystonen Syndrome müssen vor einer rein symptomatischen Therapie ausgeschlossen werden. Eine kausale Therapie der idiopathischen Dystonie ist nicht bekannt. Ziel der rein symptomatischen Behandlung ist eine bestmögliche Lebensqualität. Im Mittelpunkt der Bemühungen stehen 4 Symptomkontrolle, d.h. die Minderung der dystonen Muskelaktivität und begleitender Schmerzen und 4 Verbesserung der Aktivität und Partizipation am gesellschaftlichen und beruflichen Leben. Empfehlungen zu den zur Verfügung stehenden Therapien liegen als Leitlinien zur Behandlung der Dystonie von einer Kommission der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN, http://www.dgn.org) aktuell publiziert vor (. Übersicht 40.10).
. Übersicht 40.10. Leitlinien zur Behandlung der Dystonie (DGN 2005): Jeweils absteigende Empfehlungsstärke 1.
2.
3.
4.
5. 6.
Blepharospasmus – Botulinumtoxin – Anticholinergika Oromandibuläre Dystonie – Botulinumtoxin – Anticholinergika – Tetrabenazin – Medikamentöse Kombinationstherapie Zervikale Dystonie (Torticollis spasmodicus) – Botulinumtoxin – Anticholinergika – Tetrabenazin – Medikamentöse Kombinationstherapie – Selektive periphere Denervierung – Tiefe Hirnstimulation Schreibkrampf (Graphospasmus) – Ergotherapeutische Beratung – Botulinumtoxin – Anticholinergika Laryngeale Dystonie (spasmodische Dysphonie) – Botulinumtoxin Idiopathische generalisierte Dystonien im Kinderund Jugendalter – L-Dopa-Test – Anticholinergika – Baclofen – Tetrabenazin – Benzodiazepine – Medikamentöse Kombinationstherapie – Botulinumtoxin bei störenden Fokalsymptomen – Tiefe Hirnstimulation (experimentell)
7.
8.
9.
Idiopathisch generalisierte Dystonien im Erwachsenenalter – Anticholinergika – Baclofen – Tetrabenazin – Benzodiazepine – Medikamentöse Kombinationstherapie – Botulinumtoxin bei störenden Fokalsymptomen – Tiefe Hirnstimulation Tardive Dystonien – Anticholinergika (Cave: Exazerbation einer vorbestehenden Psychose) – Clozapin – Tetrabenazin – Baclofen (Cave: Exazerbation einer vorbestehenden Psychose) – Benzodiazepine – Medikamentöse Kombinationstherapie – Botulinumtoxin bei störenden Fokalsymptomen – Tiefe Hirnstimulation (experimentell) Andere sekundäre Dystonien – Anticholinergika – Baclofen – Tetrabenazin – Benzodiazepine – Medikamentöse Kombinationstherapie – Botulinumtoxin bei störenden Fokalsymptomen – Tiefe Hirnstimulation
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Kapitel 40 · Parkinsonkrankheit und Dystonie
Praxistipp Informationsmaterialien zu Symptomen, Klassifikation der Dystonie, verschiedenen Formen und Behandlungsmöglichkeiten werden von den Selbsthilfeorganisationen der Deutschen Dystonie Gesellschaft e.V. oder dem Bundesverband Torticollis e.V. zur Verfügung gestellt. Kontaktadressen: 4 Deutsche Dystonie Gesellschaft e.V., Theodorstr. 41P, D-22761 Hamburg; Tel. 040–875602, Fax 040– 87082804; www.dystonie.de. 4 Bundesverband Torticollis e.V., Eckernkamp 39, D59077 Hamm; Tel. 02389–536988, Fax 02389–536289; www.bvtorticollis.de.
Bereich des Putamen die empfohlene symptomatische Therapieform (. Übersicht 40.10). kBotulinum-Neurotoxin-Injektionen 4 Bei Patienten mit fokalen und segmentalen Dystonien ist BoNT A, im Abstand von etwa 3 Monaten injiziert, die Behandlung der Wahl mit der höchsten Sicherheit und Effektivität (Jankovic 2006). 4 Bei Patienten mit Blepharospasmus und Torticollis spasmodicus ist Behandlung der Wahl die lokale Injektion von einem der drei in Deutschland zugelassenen BoNT-A-Produkten (Botox®, Dysport® und Xeomin®). Nur bei Auftreten eines sekundären Nichtansprechens aufgrund von neutralisierenden Antikörpern gegen BoNT A kann aktuell BoNT B (Neurobloc®) empfohlen werden. Beispiel
Pharmakologische Therapie jKausale Therapieansätze > Kausale Therapieansätze sind selten und sollen vor Beginn einer rein symptomatischen Therapie ausgeschlossen werden. Kausale Therapieansätze sind 4 die akute dystone Reaktion nach Gabe von Dopaminantagonisten oder Antiemetika mit Sistieren der Symptome nach intravenöser Gabe eines Anticholinergikums (z.B. Biperiden), 4 die L-Dopa-Behandlung der DRD und 4 die Entkupferung mit D-Penicillamin oder Zinksulfat bei Morbus Wilson.
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jGrundprinzipien der symptomatischen medikamentösen Therapie 4 Fokale Dystonien oder segmentale Formen mit lokalem Schwerpunkt sollten symptomatisch, nach Ausschluss von Kontraindikationen, mit lokalen Botulinum-Neurotoxin-Typ-A- (BoNT-A-)Injektionen behandelt werden. Eine orale Medikation kann bei nicht mit BoNT A behandelbaren ausgedehnten segmentalen oder generalisierten Formen eingesetzt werden. Anticholinergika (z.B. Trihexyphenidyl) oder andere Pharmaka (z.B. Tetrabenazin, Baclofen oder Clonazepam) können als Monotherapie, in Kombination und begleitend zu einer BoNT-A-Therapie eingesetzt werden (Jankovic 2006). 4 Bei kurzfristig nicht anders zu beherrschenden dystonen Krisen mit bedrohlichen Auswirkungen ist auch die unspezifisch muskelrelaxierende und anxiolytische Wirkung von Benzodiazepinen zeitlich begrenzt zu vertreten. 4 Intrathekale Gaben von Baclofen haben sich nur bei einer geringen Zahl von Patienten mit generalisierten Formen über die Dauer als wirksam erwiesen. 4 Bei schweren Formen oder bei Patienten, die durch BoNT-A- und orale Pharmakotherapie keine befriedigende Symptomkontrolle erreichen können, ist heute eine tiefe Hirnstimulation mit beidseitiger Elektrodenlage im
Für die Erstbehandlung eines Blepharospasmus werden pro Auge etwa 30–40 Units Botox® oder Xeomin® oder 100–120 Units Dysport® periokulär in den M. orbicularis oculi (tarsalen oder palpebralen Anteil) subkutan an 3–4 Stellen eingespritzt. Bei Wiederholungsbehandlungen wird die Dosis in der Regel individuell angepasst und kann meist leicht reduziert werden. Die erste Behandlung einer zervikalen Dystonie bedarf meist einer Dosis von etwa 150–200 Units Botox® oder Xeomin® oder 500–750 Units Dysport® auf 2–4 zervikale Muskeln, je nach klinischer Fehlhaltung oder Bewegung verteilt. Zielmuskeln für die Behandlung der dystonen Rotation sind 4 die zur Rotation ipsilateralen Mm. splenius capitis und cervicis, 4 der M. levator scapulae und 4 die kontralateralen Mm. sternocleidomastoideus und trapezius. Erfahrungsgemäß kann diese Dosis, über mehrere Jahre ca. alle 3 Monate injiziert, das klinische Bild und die subjektiven Beschwerden bedeutend mildern.
! Cave In Deutschland sind die Präparate für die Behandlung anderer fokaler Dystonien als des Blepharospasmus und Torticollis spasmodicus nicht zugelassen, so dass sich bei diesen Indikationen ein Off-Label-Gebrauch ergibt. Bei Einsatz der Medikamente in Fällen einer Off-Label-Indikation zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung kann es zu Regressen (im Sinne eines sog. »sonstigen Schadens«) gegen dem behandelnden Arzt kommen. kOrale Pharmakotherapie 4 Von den oral zu verabreichenden Pharmaka sind Anticholinergika am wirksamsten (Jankovic 2006). Bei langsamer Aufdosierung erzielte Trihexyphenidyl (initial 4 mg/Tag, Steigerung alle 4–7 Tage um 2 mg) bei Dosen über 30 mg/ Tag (oder bis zur Nebenwirkungsgrenze) bis zu 70% der behandelten Symptomabnahmen. Nach eigenen Beob-
731 40.3 · Dystonie
Näher betrachtet BoNT-A- und BoNT-B-Behandlungen benachbarten Muskulatur können ebenfalls als Nebenwirkungen empfunden werden: 4 Beim Blepharospasmus kann dies eine Ptose oder Schwäche der mimischen Muskulatur sein, 4 beim Torticollis spasmodicus eine zeitlich begrenzte Schwäche der Nackenmuskulatur und Dysphagie.
In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass sich bei primärem Einsatz von BoNT B schon nach wenigen Zyklen die Entwicklung von neutralisierenden Antikörpern gegen BoNT B zeigt (Jankovic et al. 2006). BoNT-A-Behandlungen erbringen bei symptomadäquater Muskelauswahl und ausreichender Dosierung (Beachtung der Empfehlungen zu den Dosierungen der einzelnen Präparate) bei 60– 80% der betroffenen Patienten deutliche Symptomlinderungen und Schmerzabnahmen ohne relevante Nebenwirkungen und eine dadurch verbesserte Lebensqualität (Jankovic 2006, Mueller et al. 2004). Typischerweise zeigt sich nach BoNT-A-Injektionen mit einer Latenz von 1–2 Wochen eine 2–3 Monate anhaltende Symptomminderung. Auftretende Nebenwirkungen sind zeitlich begrenzt.
Systemische Nebenwirkungen sind im Einzelfaser-EMG und der EKG-Frequenzanalyse nachweisbar, aber ohne klinische Relevanz. Vegetative Nebenwirkungen wurden beim Einsatz der empfohlenen Dosen von BoNT A nicht beobachtet. Bei Einsatz von Neurobloc® wurde jedoch häufiger eine störende Mund- und Augentrockenheit berichtet (Jankovic 2006).
Nebenwirkungen Zu beachtende lokale Nebenwirkungen sind lokale Schmerzen oder ein Hämatom an der Injektionsstelle (relative Kontraindikation bei Antikoagulation!). Dosisabhängige Paresen der behandelten oder
Dosierung Aufgrund der unterschiedlichen biologischen Wirksamkeit der zugelassenen Produkte lassen sich Dosisangaben in Einheiten oder Units nur auf das jeweils benannte Präparat beziehen und nicht in
achtungen ist die Grenze der Verträglichkeit bei Erwachsenen oft schon bei 10–20 mg/Tag erreicht. 4 Bei Versagen einer Monotherapie kann die Kombination mit Tetrabenazin (in Deutschland zugelassen 3×12,5– 50 mg/Tag) sowie Clonazepam (3–6 mg/Tag) und Baclofen (15–75 mg/Tag) zu einer Symptomminderung führen. 4 Bei ungenügender Wirkung wird der Einsatz einer Dreierkombination (sog. Marsden-Cocktail: Anticholinergikum, Tetrabenazin und Pimozid) empfohlen.
Multiprofessionelle koordinierte Rehabilitation Für die neurologische Rehabilitation der Dystonie gibt es bisher kein allgemein anerkanntes wissenschaftlich evaluiertes Konzept. So sahen Calne et al. (1995) die wesentliche Aufgabe der Physiotherapie in der symptomatischen Behandlung von begleitenden Schmerzen und im Bereich der allgemeinen Aktivitätssteigerung und Haltungsverbesserung. Ziel der neurologischen Rehabilitation der Dystonien ist u.E. eine individualisierte Therapie zur Minderung der dystonen Symptome durch einen koordinierten Einsatz verschiedener Therapien. Diese soll die medikamentösen und rehabilitativen Angebote, die Versorgung mit Therapie- und Hilfsmitteln und die Befähigung zum Selbstmanagement umfassen. Im Wesentlichen sollen die Therapieoptionen koordiniert in hoher Frequenz zum Einsatz kommen:
Einheiten oder Units eines anderen Präparats mit einem fixen Faktor umrechnen. Injektionskontrolle Als Verfahren der Injektionskontrolle bei Dystonien wird der Einsatz des EMG beim Torticollis spasmodicus empfohlen (Wissel et al. 2003). Das BoNT A wird mittels einer teflonbeschichteten Injektionsnadel, über die auch ein EMG abgeleitet werden kann, injiziert. Bei Schreib- und Musikerkrämpfen haben sich alternativ die elektrostimulationskontrollierte Technik und bildgebende Verfahren (Sonographie) bewährt, v.a. für Injektionen in die Extremitätenmuskulatur. Fazit Kontrollierte Studien zeigen, dass lokale Injektionen von BoNT A auch bei anderen fokalen Dystonien (Musiker-, Schreibkrampf, spasmodische Dysphonie, kraniale oder oromandibuläre Dystonie) die Behandlung der Wahl sind (DGN-Leitlinie, . Übersicht 40.10) (Schuele et al. 2005, Kruisdijk et al. 2006, Jankovic 2006, Papapetropoulos et al. 2007, Jost et al. 2007).
4 spezifische medikamentöse Therapie (lokal oder systemisch), 4 Anpassung und Einstellung von Hirnschrittmachern, 4 aktive Therapien (Physiotherapie), 4 Biofeedback, 4 Entspannungstherapien und 4 ggf. psychotherapeutische Therapien und Beratungen. Neue Aspekte ergeben sich aus dem zeitlich und inhaltlich aufeinander abgestimmten Einsatz der Angebote in Kombination mit einem Eigentraining. Hier liegen erste positive Studien zum zeitlich und inhaltlich kombinierten Einsatz von BoNT A, aktiven Therapien und Biofeedback-gestützten Therapien vor.
Spezielle rehabilitative Therapiestrategien jAktive Therapieverfahren und Biofeedback Im Hinblick auf eine individualisierte Therapie sollten nicht Konzepte, sondern mit dem Patienten definierte Ziele im Mittelpunkt von Einzel-, Gruppen- und Eigentherapien stehen. Dabei koordiniert der Arzt 4 medikamentöse Therapie, 4 aktive Therapieangebote (Physio-, Ergo- und Sporttherapie) und 4 ein individualisiertes Eigentrainingsprogramm.
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Kapitel 40 · Parkinsonkrankheit und Dystonie
Seit Einführung der Behandlung mit BoNT A und der tiefen Hirnstimulation müssen die Rehabilitationsprogramme zeitlich darauf abgestimmt werden. Im Zeitfenster der durch die BoNT-A-Behandlung oder tiefen Hirnstimulation erzielten Korrekturen ist eine Bewegungsbahnung und -schulung im Sinne eines Wiedererlernens von physiologischen Bewegungen möglich. Näher betrachtet Studien: Ergebnisse bei Patienten mit Torticollis spasmodicus In einer kontrollierten Studie konnten Tassorelli et al. (2006) zeigen, dass eine individuelle aktive Therapie mit Eigentrainingselementen und Feedback zeitlich koordiniert mit einer BoNT-A-Behandlung bessere Ergebnisse zeigte als BoNT-A-Injektionen alleine. Tassorelli et al. (2006) zeigten in einem kontrollierten Cross-over-Design bei 40 Patienten mit Torticollis spasmodicus dass BoNT A plus einer definierten spezifischen Therapie bessere Ergebnisse zeigte als BoNT-A-Injektionen alleine: 4 Längere Wirkdauer: 118 vs. 99 Tage. 4 Weniger BoNT A bei Re-Injektion: 284 vs. 325 Units. 4 Bessere Aktivitätswerte [0–100]: -9,7 vs. -4,85. 4 Weniger Schmerz [0–100]: -13,35 vs. -6,95.
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Neben Studien zum EMG-Biofeedback bei zervikalen Dystonien aus den 70er Jahren (Brudny et al. 1976) hat ein spezifisches Feedback-Training unter Einbeziehung eines Positionsfeedback des Kopfes mittels eines am Kopf befestigten Laserprojektionssystems (. Abb. 40.8) bei Torticollis spasmodicus in einer ersten kontrollierten Untersuchung positive Ergebnisse gezeigt (Mueller et al. 2008).
. Abb. 40.8. Trainingsgerät zum Positionsfeedback der Kopfhaltung für Patienten mit Torticollis spasmodicus, sog. Torticollis-Trainer (Mueller et al. 2008). Die Laserprojektionseinrichtung ist mit einem Stirnbandmechanismus im Bereich der Glabella angebracht und meldet dem Patienten durch Projektion des Laserbildes die Kopfhaltung in X- und Y-Achse zeitgleich zur Kopfbewegung im Raum
Ergebnisse bei Patienten mit Schreib- und Musikerkrämpfen Einige Arbeitsgruppen konnten durch den Einsatz von spezifischen gepaarten Reizen (Kombinationen von Bewegungstraining und sensorischen Reizen) bei Patienten mit Beschäftigungsdystonien (Schreib- und Musikerkrampf ) Verbesserungen erzielen (Byl et al. 2002, 2003). Unter anderem konnten durch den kombinierten Einsatz von Bewegungstraining mit bewegungseinschränkenden Splints bei Musikerkrämpfen (Candia et al. 1999, 2002) und intensives Sensibilitätstraining (Erlernen der Blindenschrift) bei Patienten mit Schreibkrampf (Zeuner et al. 2003) signifikante Symptomreduktionen erzielt werden.
> Das Prinzip der individualisierten Therapie basiert auf 4 Dehnung und Hemmung von dyston aktivierten Muskeln sowie 4 Aktivierung von dyston gehemmten Muskeln
jIndividualisiertes Rehabilitationstraining Ein individualisiertes Rehabilitationsangebot für Menschen mit Dystonien sollte die in . Übersicht 40.11 zusammengefassten Aspekte berücksichtigen (Therapiemöglichkeiten, . Übersicht 40.12). Das Prinzip der individualisierten Therapie hat auch der französische Physiotherapeut Bleton für die Behandlung des Torticollis spasmodicus herausgearbeitet (Bleton 1994).
in verschieden Ausgangsstellungen. . Übersicht 40.11. Aspekte eines individualisierten Rehabilitationstrainings 1. 2. 3. 4.
5. 6. 7.
Übungen zur An- und Entspannung sowie zur verbesserten Körpersymmetrie und -wahrnehmung Strukturmobilisation (Haut, Sehnen, Gelenke, Muskeln) Dehnung verkürzter Muskulatur und Kräftigung der zur Dystonie antagonistischen Muskulatur Schulung der Wahrnehmung des Körpergefühls unter Einbeziehung von gezielten sensorischen Reizen bei betroffenen Bewegungen und in betroffenen Bewegungssegmenten Haltungsschulung in unterschiedlichen Ausgangsstellungen Individuell zusammengestelltes Eigentraining (Eigenverantwortung) Hilfsmittelgestaltung und -anpassung
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. Übersicht 40.12. Möglichkeiten eines individuellen Therapieansatzes 1.
Aktive Methoden Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF) Bobath-Konzept Brunkow-Methode Feldenkrais-Therapie Begleitende klassische Entspannungs- und Körpergefühlsschulungen – Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen – Autogenes Training Verbesserung des durch die Dystonie gestörten Körper- und Vitalgefühls – Physikalische Maßnahmen: – Thermische Verfahren – Leichte Massagen – Bewegungsbäder – Kinesiotaping – Muskeltonisierende/rhythmisch unterstützende Verfahren: – Therapeutisches Reiten – Tanzen – Nordic Walking – Musiktherapie
– – – –
2.
3.
kEigentraining Während der Rehabilitation sollte ein individuelles Eigentraining erlernt werden: 4 Dieses sollte Lagerungen und isometrische Spannungen mit dem Ziel der An- und Entspannung in unterschiedlichen Ausgangsstellungen enthalten. 4 Zusätzlich sollten wahrnehmungsfördernde Maßnahmen und Bewegungen (Gleichgewichtsreize in unterschiedlichen Ausgangsstellungen mit/ohne Geräte) mit dynamischen Elementen einbezogen sein. kBeratung Die individuelle Beratung der Arbeitsplatz- oder Wohnungsgestaltung sollte Informationen zu günstigen Sitzmöbeln und Vorschläge für eine Dystonie hemmende Gestaltung von Arbeitsplatz und Heim enthalten.
Neurologische Rehabilitation bei Hirnschrittmacher Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit der tiefen Hirnstimulation Zwei kontrollierte Studien zeigen, dass die Anwendung der tiefen Hirnstimulation mit beidseitiger Elektrodenposition im Pallidum bei segmentalen und generalisierten Dystonien deutliche Symptomabnahmen zeigen kann (Vidailhet et al. 2005, 2007; Kupsch et al. 2006). In beiden Studien finden sich bisher keine weiteren Informationen zur Wirkung einer begleitenden neurologischen Rehabilitation in der postoperativen Phase nach Beginn der Hirnschrittmachertherapie. Eigene Erfahrungen zeigen, dass ein Teil dieser Gruppe neurologische Rehabilitation benötigt.
Eine Aufgabe der neurologischen Rehabilitation in der postoperativen Phase kann in Abstimmung mit dem Implantationsteam eine Optimierung der Einstellungen der Stimulationsparameter sein (. Übersicht 40.13). Dieser Bedarf ergibt sich u.a. daraus, dass sich Abnahmen der dystonen Bewegungsstörungen nach Beginn der Hirnschrittmachertherapie häufig nicht, wie bei der Parkinsonerkrankung, mit kurzer Latenz zur Stimulation oder mit kurzem Zeitverzug zur Anpassung der Stimulationsparameter einstellen, sondern sich erst im Verlauf eines Tages oder nach Tagen abzeichnen. Die Erfahrungen zeigen, dass 4 phasisch-dystone Bewegungen in kürzerer Latenz (nach Stunden) auf die Veränderung der Hirnstimulation ansprechen, aber 4 tonische Kontraktionen eine längere Latenz (bis zu Tagen) haben, bis eine Veränderung erkennbar wird. . Übersicht 40.13. Einstellung bei Hirnschrittmachertherapie Beidseitige Implantation der Elektroden im Putamen: Standardeinstellung und individuelle Anpassung aller Parameter im Verlauf 1. Bipolarer Stimulationsmodus 2. Stimulationsfrequenz 130 Hz 3. Impulsbreite 210 μV 4. Amplitude 2,0 V beidseits
Fazit Das Ziel von individualisierter Therapie, Beratung und Eigentraining ist es, das Auftreten von dystonen »reflexhaften« Haltungen zu verhindern und ein »Bahnen« von normalen Bewegungen im alltagsrelevanten Handlungskontext zu fördern. Bei schwer behinderten, immobilen Patienten mit generalisierten Formen oder schmerzinduzierter Immobilität ist unter Einbeziehung von Hilfsmitteln die bestmögliche schmerzfreie Mobilisation anzustreben.
Ziele der begleitenden Bewegungstherapie sind: 4 Steigerung der allgemeinen psycho-physischen Leistungsfähigkeit, 4 Kräftigung der ehemals dyston gehemmten oder antagonistischen Muskulatur, 4 Verbesserung der Körpersymmetrie und 4 Wiedererlernen der normalen Bewegungsregulation in unterschiedlichen Ausgangsstellungen.
Ein weiteres Ziel ist das Erreichen einer möglichst normalen Motilität der zuvor dyston eingeschränkten Gelenke und Wir-
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Kapitel 40 · Parkinsonkrankheit und Dystonie
belsäule (Körperstrukturmobilisation von Haut, Sehnen, Gelenken und Muskeln). Bei einigen Betroffenen müssen bestehende, häufig durch lange Fehlhaltungen entstandene, fixierte Gelenkfehlhaltungen aufgelöst werden. Diese lassen sich durch die Hirnschrittmachertherapie und Abnahme der dystonen Kontraktionen nicht automatisch beeinflussen. Kontrakturen werden behandelt mittels 4 passiven/aktiven Dehnungen in der Physiotherapie und 4 Redressionen (Verbände, Gipse),
bei nicht konservativ beherrschbaren funktionell relevanten Fehlhaltungen durch 4 orthopädisch-chirurgische Korrekturen oder 4 Hilfsmittelanpassungen.
Psychotherapeutische Behandlung
! Cave Eine strenge Kontraindikation besteht für die Anwendung der sog. Tiefenwärme (z.B. Ultraschalltherapie, Rotlicht etc.), da es durch Aufheizen des implantierten Systems (Elektroden) und Weiterleitung zu Schädigungen im zerebralen Implantationsareal kommen kann.
Psychotherapie ist hilfreich, sowohl um die überzufällig häufig vorhandene psychiatrische Komorbidität als auch die sekundäre und reaktive Psychopathologie (Verbindung zwischen Stressoren und Beeinträchtigung durch die Dystonie) zu behandeln (Ceballos-Baumann 2005). Wesentliche Aufgabe ist 4 die Bewältigung der körperlichen Behinderung und 4 die Erhaltung der psychosozialen Kompetenz.
Logopädie
Soziale Kontakte können durch dystone Haltungen und gestörte Artikulation leiden und führen zusätzlich zu Insuffizienzgefühlen. Ein sozialer Rückzug und Vermeidungsreaktionen können die Folge sein. 4 Kontakte zu einer Selbsthilfegruppe können o.g. Entwicklung entgegenwirken. 4 Ein praktischer Ansatz ist es, die negative Wechselwirkung zwischen emotionaler Erregtheit und daraus resultierender Verstärkung der Dystonie zu thematisieren und in einer strukturierten Einzel- oder Gruppenpsychotherapie zu behandeln. In verhaltenstherapeutischen Ansätzen kann zudem die häufig bestehende Verknüpfung ängstlich-sensitiver Erregung und dadurch entstehender Zunahme der dystonen Muskelverkrampfungen bearbeitet werden. 4 Eine stützende Gesprächseinzeltherapie ist vor allem bei depressiven Verstimmungen indiziert. 4 Neben der Aufklärung über innere Beziehungen und die organische Natur der Erkrankung stehen körperbezogene Entspannungstechniken und aus der Analyse von kritischen symptomverstärkenden Situationen entstehende stressregulierende und auch autosuggestive Maßnahmen im Mittelpunkt der Behandlungen.
Bei oromandibulären und laryngealen Dystonien ist Methode der Wahl eine lokale BoNT-A-Behandlung. Bei diesen beiden Dystonieformen wie auch bei lingualen und pharyngealen Dystonien wird die Logopädie in Kombination mit der BoNT-A-Injektionsbehandlung durchgeführt. Im Rahmen der Logopädie können zum Einsatz kommen: 4 Anteile der sog. F.O.T.T. (Fazio-Orale-Trakt-Therapie), 4 Schluck- und Sprechfazilitation sowie 4 Atemtherapie.
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4 Bei Patienten mit generalisierten Formen können Hilfsmittelversorgung, z.B. mit einem höhen- und kopfteilverstellbaren Bett und regelmäßige Lagerung (3- bis 4stündlich) notwendig werden. 4 Zur Vermeidung von Komplikationen wie Kontrakturen und Druckstellen sind u.a. Hebeeinrichtungen, angepasste Mobilitätshilfen (Rollstühle mit/ohne Sitzschale oder spezielle Sitzsysteme) und natürlich eine ausreichende Anzahl von Pflegekräften unerlässlich. 4 Zwecks Einschulung von in die Pflege eingebundenen Angehörigen sollte die Möglichkeit zur Anleitung durch das Team gegeben sein.
Spezifische Behandlungsverfahren für diese Dystonien, vergleichbar mit der Lee Silverman Voice Therapy bei Parkinsonsyndromen, gibt es für die Dystonie allerdings bisher nicht. Eine Verbesserung von Artikulation, Prosodie, Stimmvolumen und normalem Schluckakt bei zusätzlichen Dysphagien kann mittels kompensatorischer Strategien und logopädischer Standardverfahren erreichbar sein. Für eine Erleichterung der Nahrungsaufnahme bei Dystonien, die den oropharyngealen Trakt einbeziehen, können spezielle Kostformen und Hilfsmittel notwendig werden. Kontrollierte Studien zur Logopädie bei Dystonien stehen nicht zur Verfügung. Wenn notwendig sollten auch Kommunikationshilfen oder bei schweren Schluckstörungen Sondensysteme für die Ernährung zum Einsatz kommen.
Rehabilitationspflege Die Rehabilitationspflege sollte sich neben der Hilfe und Anleitung der Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) besonders um die Vermeidung von Komplikationen und Verbesserung von Vitalfunktionen und Selbstständigkeit bemühen: 4 Bei Patienten mit Schluckstörungen ist auf eine gute Sitzposition und ausreichende Zeit bei der Nahrungsaufnahme zu achten.
Kontrollierte Untersuchungen zur Wirksamkeit der verschiedenen Therapieansätze liegen bisher nicht vor.
Neurochirurgische Therapien/Hirnschrittmachertherapie Destruierende periphere und zentrale chirurgische oder neurochirurgische Verfahren sollten heute erst nach Versagen aller anderen etablierten konservativen Behandlungen zum Einsatz kommen. Zwei Studien (Vidailhet et al. 2005, 2007; Kupsch et al. 2006) zeigen, dass bei bis zu 80% der Patienten
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mit primären generalisierten oder segmentalen Dystonien mittels einer pallidalen Hirnstimulation relevante Symptomabnahmen (im Mittel 40–50% Symptomreduktion) bei vertretbarem Nebenwirkungsrisiko erreicht werden können. Somit sollte diese Behandlung heute in die Aufklärung und Therapieplanung einbezogen werden. > Die Hirnschrittmachertherapie ist in Europa zur Behandlung bei generalisierten oder segmentalen Dystonien zugelassen.
40.3.7
Zusammenfassung
jParkinsonsyndrome Rehabilitative Therapie bei Parkinsonsyndromen sollte besonders darauf ausgerichtet sein, Störungen zu behandeln, die nicht oder nur unzureichend durch die medikamentöse Einstellung beeinflusst werden. Bei der Definition der Therapieziele sollte berücksichtigt werden, dass die Kardinalsymptome Rigor, Tremor und Akinese medikamentös oft wesentlich gebessert werden, während andere Symptome weniger zuverlässig oder unzureichend ansprechen. Besonders in fortgeschrittenen Krankheitsstadien kommt es häufig zu teilweise oder vollständig dopa-resistenten Störungen (z.B. Dysarthrie,
posturale Instabilität), die mit gezielten übenden Verfahren behandelt werden sollten. Ein Kernproblem der akinetischen Bewegungsstörung bei der Parkinsonkrankheit ist die gestörte Ausführung automatisierter Bewegungsroutinen. Aufgrund verminderter interner Generierung von Steuerungssignalen kommt es zu einer Störung der Servo-Lenkung wichtiger motorischer Abläufe. Die Exekution von Bewegungen erfordert einen vermehrten Aufwand an Aufmerksamkeit und erfolgt verzögert und verlangsamt. Der Wechsel von einem »Bewegungsprogramm« in ein anderes (»set-shifting«) ist erschwert und die repetitive Aneinanderreihung von Bewegungen (Sequenzierung) ist gestört. Externe Steuerungssignale (»cues«) beeinflussen die Motorik und können sich sowohl positiv, z.B. im Sinne einer paradoxen Beweglichkeit, als auch negativ, z.B. durch Auslösung motorischer Blockaden, auswirken. Aus den genannten Besonderheiten lässt sich ableiten, dass externe Signale und Kommandos gezielt zur Kompensation der gestörten internen Bewegungskontrolle eingesetzt werden sollten. Konkret bedeutet dies, dass der Therapeut die Initiation von Bewegungen durch akustische, optische oder andere sensorische Stimuli »triggern« und den Betroffenen selbst zum Einsatz sensorischer Tricks anleiten kann. Ein Ersatz der fehlenden internen Signalgebung durch externe Reize kann auch beim Üben repetitiver Bewegungen gegeben
Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit der Hirnschrittmachertherapie Eine 2005 publizierte multizentrische französische Studie (SPIDY, Stimulation du Pallidum interne dans la dystonie) zeigte 12 Monate nach dem Eingriff bei 22 Patienten mit generalisierter Dystonie eine Verbesserung von ca. 50% (Vidailhet et al. 2005, 2007). Es wurden fünf reversible Nebenwirkungen (je ein klinisch nicht relevantes Hirnödem, Kabelbruch, Hautnekrose am Kopf, Hautinfektion und Hämatom am Implantationsort des Neurostimulators) berichtet. Die Ergebnisse waren über einen Zeitraum von 3 Jahren stabil und zeigten im Verlauf weitere Verbesserungen in spezifischen Dystonieskalen, eine Abnahme der Behinderung und Verbesserung der Lebensqualität (Vidailhet et al. 2007). Die 2006 publizierte deutsch-österreichische Studie zur tiefen Hirnstimulation bei generalisierter oder segmentaler Dystonie zeigte in einem Plazebo-imitierenden Design gleich gute Verbesserungsraten (Kupsch et al. 2006). 40 Patienten wurden nach Implantation der pallidalen Elektroden und des Hirnstimulators randomisiert und verblindet zu 50% entweder sofort oder erst nach 3 Monaten stimuliert. Die prä- und postopera-
tiven Patientenvideos wurden mittels etablierter Dystonieskalen bewertet, und 3 Monate nach Stimulationsbeginn zeigte sich eine ca. 40%ige Abnahme der Dystonie bei der Verum-stimulierten Gruppe im Vergleich zur Plazebo-Gruppe (nur 5%ige Besserung). Auch die Plazebo-Gruppe zeigte 3 Monate nach Stimulationsbeginn (also 6 Monate nach Implantation) eine vergleichbare Besserung (Symptomabnahme von 46%). Die Besserungen der Dystonie ging mit einer signifikanten Besserung der Lebensqualitätsparameter einher und betrafen alle motorischen Behinderungen, mit Ausnahme von Sprechen und Schlucken. 22 Nebenwirkungen wurden berichtet: reversible Sprechstörung (n=5) bei Stimulation bzw. reversible Infektionen des Stimulationssytems (n=4). Prädiktoren für ein gutes postoperatives Ergebnis In den bisher publizierten Studien zur tiefen Hirnstimulation konnten keine sicheren positiven Prädiktoren für die pallidale Hirnschrittmachertherapie herausgearbeitet werden. Weder die Genetik (DYT1), noch Krankheitsdauer, Ge-
schlecht, Beginn und Schweregrad der Erkrankung korrelierten mit einem guten postoperativen Ergebnis. Somit existiert derzeit im Gegensatz zur Prognose der Hirnschrittmachertherapie bei Morbus Parkinson bei Dystonien kein sicherer positiver Prädiktor. Wichtig ist auch, dass in beiden kontrollierten Studien keine kognitiven oder psychiatrischen Beeinträchtigungen durch die pallidale Hirnschrittmachertherapie beobachtet wurden. Ablösung der klassischen Verfahren Die klassischen neurochirurgischen Verfahren treten seit der Implementierung der tiefen Hirnstimulation in den Hintergrund: 4 Periphere denervierende Verfahren mit/ohne zusätzliche Myektomien zeigen bei zervikaler Dystonie anhaltende Teilverbesserungen (CohenGadol et al. 2003). 4 Stereotaktisch destruierende Eingriffe im Bereich der Basalganglien waren zu Ende des letzen Jahrhunderts eine Behandlungsoption bei schweren generalisierten Dystonien (Krack et al. 2001).
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Kapitel 40 · Parkinsonkrankheit und Dystonie
werden, z.B. durch Einsatz rhythmischer Musik zur Unterstützung regelmäßiger Schrittfolgen beim Gehen. Unklar ist bisher, wie zuverlässig mit einer Übertragung der in der Therapie erarbeiteten Fortschritte in den Alltag zu rechnen ist. Studien, in denen die Langzeitwirkung rehabilitativer Therapie bei PS gemessen wurde, erbrachten widersprüchliche Ergebnisse und weisen darauf hin, dass Besserungen oft an die motivationalen und situativen Besonderheiten der Therapie bzw. Beobachtung gebunden sind. Pragmatisch lässt sich aus dieser Tendenz zur Unbeständigkeit ableiten, dass Patienten zu regelmäßigen und langfristigen Selbstübungsprogrammen angeleitet und zum Einsatz von Cues und anderen therapeutischen Techniken im Alltag angehalten werden sollten.
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jDystonie Die Dystonie ist ein Syndrom von anhaltenden Muskelkontraktionen, die drehende oder repetitive Bewegungen oder abnorme Haltungen hervorrufen. Differenziert werden idiopathische primäre Dystonien, Dystonie-Plus-Syndrome und sekundäre symptomatische Dystonien. Bei der primären Dystonie finden sich neben der Dystonie keine anderen pathologischen klinischen und paraklinischen Befunde. Bei der Erstdiagnose sollte immer auch eine zerebrale Bildgebung angefertigt werden und kausal behandelbare Formen (Morbus Wilson, Segawa-Dystonie) oder medikamentös bzw. toxisch (z.B. Kokain) verursachte Formen ausgeschlossen werden. Relevante klinische Klassifikationskriterien sind die Verteilung der dystonen Symptome über den Körper (Topik: fokale, segmentale, multifokale, generalisierte sowie hemidystone Ausprägung) und das Alter bei Beginn der Erkrankung. Je früher die Dystonie im Leben auftritt (<26. Lebensjahr), desto wahrscheinlicher ist eine Generalisierung. Fokale Dystonien mit Beginn im Erwachsenenalter generalisieren dagegen fast nie und sind selten genetisch determiniert. Zu den häufigsten fokalen Dystonien zählen der Blepharospasmus und die zervikale Dystonie (Torticollis spasmodicus). Bis heute konnten 16 genetisch determinierte Dystonieformen benannt werden. Für drei Formen, u.a. die generalisierte Oppenheim-Dystonie (DYT-1-Form), stehen aktuell schon Tests im Blutserum zur Verfügung. Lokale Injektionen mit Botulinum-Neurotoxin-A (BoNT A) sind bei fokalen Dystonien die Behandlung der Wahl. Diese Behandlung ist für Torticollis spasmodicus und Blepharospasmus in Europa zugelassen. Bei ausgedehnteren Formen ist eine orale Therapie mit Anticholinergika, Dopamin-entspeichernden oder -blockierenden Substanzen (Trihexipenydyl, Tetrabenazin, Pimozid) oder Clonazepam, Baclofen, alleine oder in Kombination empfohlen. Zwei Studien zeigen bei mehr als zwei Drittel der mittels tiefer Hirnstimulation mit Elektrodenposition im Putamen therapierter Patienten mit generalisierten und segmentalen Formen relevante Symptomabnahmen bei einem vertretbaren Nebenwirkungsrisiko. Somit sollte diese in Europa seit 2006 zugelassene Therapie in die Aufklärung und Behandlung dieser Patienten einbezogen werden. Die neurologische Rehabilitation kann die benannten Therapieoptionen in koordinierter Form anbieten. Ein wich-
tiger neuer Aspekt ergibt sich aus dem zeitlich und inhaltlich aufeinander abgestimmten Einsatz multiprofessioneller interdisziplinärer Behandlungsangebote in Koordination und Kombination mit Eigentraining und BoNT A sowie Hirnschrittmachertherapie. Hier liegen erste positive Studien zum kombinierten Einsatz von BoNT A, aktiven Therapien und Biofeedback-gestützten Therapien vor.
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40
738
40
Kapitel 40 · Parkinsonkrankheit und Dystonie
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41
Epilepsien U. Specht, R. Thorbecke 41.1
Grundlagen
– 740
41.1.1 41.1.2
Medizinische Grundlagen – 740 Auswirkungen der Epilepsie auf die Lebensqualität
41.2
Diagnostik, Problemerfassung
41.2.1 41.2.2 41.2.3 41.2.4 41.2.5 41.2.6 41.2.7
Die ICF als konzeptueller Rahmen – 743 Sozialmedizinische Bedeutung und Bewertung von Anfällen – 743 Krankheitsverarbeitung, psychiatrische Komorbidität und Lebensqualität – 744 Informationsbedürfnisse und Krankheitsselbstmanagement – 746 Mangelnde körperliche Fitness – 747 Neuropsychologische Leistungsstörungen – 747 Berufliche Schwierigkeiten – 748
41.3
Therapie, Interventionen
41.3.1 41.3.2 41.3.3 41.3.4 41.3.5 41.3.6
Coping und emotionale Anpassung – 749 Verbesserung von epilepsiebe zogenemWissen und Krankheitsselbstmanagement – 750 Neuropsychologische Therapie – 751 Verbesserung der körperlichen Fitness – 751 Führerscheinberatung – 751 Hilfen zur beruflichen Wiedereingliederung – 752
41.4
Dokumentation
41.5
Literatur
– 754
– 754
– 742
– 743
– 749
740
Kapitel 41 · Epilepsien
Epilepsien gehören zu den häufigsten neurologischen Krankheiten. Gleichzeitig variieren sie erheblich in Bezug auf Art, Häufigkeit und Schwere der Anfälle sowie die Prognose. Das erschwert eine angemessene sozialmedizinische Beurteilung. Negative psychische und soziale Folgen, die auch bei Anfallsfreiheit persistieren können, werden häufig unterschätzt. Dieser Beitrag erläutert diese Problemfelder sowie geeignete rehabilitative Interventionen im Rahmen der medizinischen und medizinisch-beruflichen Rehabilitation.
41.1
Grundlagen
41.1.1
Medizinische Grundlagen
Mit einer Prävalenz in der Bevölkerung von ca. 0,5–0,8% gehören Epilepsien zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen. Die Neuerkrankungsrate liegt bei 40/100.000 Einwohner und ist im 1. Lebensjahr sowie jenseits des 60. Lebensjahres besonders hoch (Pohlmann-Eden et al. 2007). Epilepsien sind mit hohen sozialen Kosten verbunden, von denen etwa 2/3–4/5 auf die indirekten Kosten für verlorene Arbeitstage, Arbeitslosigkeit, nicht der Qualifikation entsprechende Beschäftigung, Frühberentung, erhöhte Mortalität etc. entfallen (Strzelczyk et al. 2008).
Klassifikation epileptischer Anfälle Epileptische Anfälle können sehr unterschiedlich aussehen. Beim einzelnen Patienten variiert die Anfallssymptomatik i.d.R. jedoch nur geringfügig. Man unterscheidet zwei Hauptgruppen, 4 fokale Anfälle und 4 generalisierte Anfälle (. Tab. 41.1). Differenzialdiagnostisch ist es nicht immer leicht, zwischen epileptischen und dissoziativen Anfällen (syn. pseudoepi-
leptische, psychogene oder hysterische Anfälle) zu unterscheiden, die in Epilepsiezentren bei bis zu 20% der Patienten und teilweise assoziiert mit epileptischen Anfällen zu beobachten sind (Schmitz u. Trimble 2005). > Man spricht von einer Epilepsie, wenn zwei oder mehr Anfälle unprovoziert aufgetreten sind.
41
Provozierte Anfälle, z.B. im Rahmen akuter Erkrankungen, wurden früher als Gelegenheitsanfälle bezeichnet. Die Therapie von Epilepsien orientiert sich nicht an den Erscheinungsbildern der Anfälle (Anfallstypen), sondern an Epilepsiesyndromen. Diese werden nach ätiologischen und pathophysiologischen Gesichtspunkten eingeteilt und erlauben prognos-
tische Einschätzungen:
2. Unter pathophysiologischen Gesichtspunkten wird unterschieden zwischen 5 generalisierten Epilepsien und 5 fokalen Epilepsien. In . Übersicht 41.1 ist die Klassifikation der Epilepsiesyndrome zusammenfassend dargestellt (nach Wolf et al. 2003). Eine Neufassung der internationalen Klassifikationen auf Basis eines 5-achsigen diagnostischen Schemas ist in Arbeit (Engel 2006).
. Übersicht 41.1. Verkürzte und adaptierte Form der Klassifikation epileptischer Syndrome (nach Wolf et al. 2003) Fokale (lokalisationsbezogene, partielle) Epilepsien und Syndrome 1. Idiopathisch – Benigne Epilepsie des Kindesalters mit zentrotemporalen Spikes (Rolando-Epilepsie) – Epilepsie des Kindesalters mit okzipitalen Spikes – Primäre Leseepilepsie – Autosomal-dominante nächtliche Frontallappenepilepsie 2. Symptomatisch/kryptogen – Nach anatomischer Lokalisation: – Temporallappenepilepsien – Frontallappenepilepsien – Okzipitallappenepilepsien – Parietallappenepilepsien – Chronisch-progressive Epilepsia partialis continua des Kindesalters (Kojewnikow-Syndrom) – Nicht näher klassifizierbare Epilepsien Generalisierte Epilepsien und Syndrome 1. Idiopathisch (mit altersbezogenem Beginn) – Absencen-Epilepsie des Kindesalters (Pyknolepsie) – Juvenile Absencen-Epilepsie – Juvenile myoklonische Epilepsie (Impulsiv-PetitMal, Janz-Syndrom) – Epilepsie mit Aufwach-Grand-Mal 2. Kryptogen/symptomatisch – Unspezifische Ätiologie: – West-Syndrom (BNS-Epilepsie) – Lennox-Gastaut-Syndrom – Epilepsie mit myoklonisch-astatischen Anfällen (nach Doose) – Spezifische Ätiologie: – Ceroid-Lipofuszinose – Myoklonusepilepsie vom Typ Lafora
1. Ätiologisch werden folgende Epilepsieformen unter-
schieden: 5 idiopathische Epilepsien, 5 symptomatische Epilepsien und 5 kryptogene (wahrscheinlich symptomatische) Epilepsien. Als Ursachen einer symptomatischen Epilepsie kommen unterschiedlichste Schädigungen des Gehirns infrage.
Epilepsien, die nicht als fokal oder generalisiert bestimmbar sind 1. Epilepsien mit generalisierten als auch fokalen Anfällen 2. Epilepsien ohne eindeutige generalisierte oder fokale Zeichen (z.B. viele Patienten mit schlafgebundenen Grand-Mal-Anfällen)
741 41.1 · Grundlagen
. Tab. 41.1. Verkürzte Form der Klassifikation epileptischer Anfälle Anfallsarten
Definition und Symptomatik (typische Beispiele)
1. Fokale Anfälle (lokalisationsbezogen, partiell)
Anfälle mit klinischen oder elektroenzephalographischen Hinweisen auf einen Anfallsbeginn in einer Hemisphärenregion
Einfach-fokale Anfälle
Fokale Anfälle ohne Bewusstseinsstörung: 4 motorisch (Kloni, tonisches Haltungsmuster) 4 psychisch* (Angstgefühl, Zwangsgedanke) 4 vegetativ* (epigastrisches Gefühl, Flush) 4 sensibel* (Kribbelparästhesien) 4 sensorisch* (Geschmacks-/visuelle Halluzinationen) * Ein einfach-fokaler Anfall mit ausschließlich subjektiver Symptomatik wird auch als Aura bezeichnet
Komplex-fokale Anfälle
Fokale Anfälle mit Bewusstseinsstörung (+/- einfach-fokalem Beginn): 4 psychomotorische Symptomatik (orale oder Handautomatismen) 4 tonisches Haltungsmuster 4 hypermotorische Symptomatik (heftige ausfahrende, oft hysterisch anmutende Körperbewegungen +/- Vokalisationen) 4 absenceartig
Einfach-/komplex-fokale Anfälle mit sekundärer Generalisierung
Fokale Anfälle, die in generalisierte tonisch-klonische (Grand-Mal-)Anfälle übergehen
2. Generalisierte Anfälle (Auswahl)
Anfälle, bei denen die ersten klinischen oder elektroenzephalographischen Anfallszeichen eine Einbeziehung beider Hemisphären schon zu Anfallsbeginn anzeigen
Absencen
Anfälle mit plötzlich einsetzender und endender Bewusstseinspause von 5–30 Sekunden Dauer, ohne Sturz oder konvulsive Symptome. Fakultativ leichte bilaterale rhythmische Myoklonien im Gesicht
Myoklonische Anfälle
Anfälle mit Myoklonien, meist der Arme, einzeln oder in kurzen Salven, meist bei freiem Bewusstsein
Generalisierte tonisch-klonische Anfälle (Grand Mal)
Plötzlicher Bewusstseinsverlust, dann generalisierte tonische Muskelanspannung, gefolgt von Kloni, die an Frequenz abnehmen und an Amplitude zunehmen. Fakultativ Zyanose, Zungenbiss oder Einnässen. Dauer 1–2 Minuten, anschließend Bewusstlosigkeit von unterschiedlicher Dauer
(nach Wolf et al. 2003)
Therapeutische Möglichkeiten jMedikamentöse Behandlung der Epilepsie Die Therapie ist im Wesentlichen medikamentöser Art. Praxistipp Es gilt die Regel, zunächst in einer Monotherapie mit der Substanz zu behandeln, die für das jeweilige Epilepsiesyndrom als Medikament der ersten Wahl gilt (Pohlmann-Eden et al. 2007). Die Dosierung wird individuell angepasst. Die Bestimmung der Serumkonzentration der Antiepileptika ist vor allem bei einem Anfallsrezidiv oder unerwünschten Nebenwirkungen hilfreich.
Eine Anfallsfreiheit ist bei etwa 60–80% aller Patienten zu erreichen. Die Prognose ist abhängig vom jeweiligen Epilepsiesyndrom und ist bei idiopathischen Epilepsien besser als bei symptomatischen (Pohlmann-Eden et al. 2007).
jNicht-medikamentöse Behandlungsmaßnahmen Zu den nicht-pharmakologischen Behandlungsmaßnahmen gehört an erster Stelle die Vermeidung von anfallsprovozierenden Faktoren, z.B. 4 Schlafmangel oder 4 Einnahme großer Alkoholmengen. Solche Faktoren müssen jedoch immer individuell ermittelt werden. Zur Beratung eines Patienten mit erstem Anfall sowie eines Patienten mit etablierter Epilepsie gehört grundsätzlich, ihn darüber aufzuklären, wie er selbst dazu beitragen kann, Anfälle zu vermeiden. Patienten mit Aura-eingeleiteten Anfällen können verhaltenstherapeutische Verfahren erlernen, um beginnende Anfälle zu unterbrechen (Wolf 2001) (Selbstkontrolle, 7 Kap. 41.3.2). jEpilepsiechirurgische Verfahren Erweist sich eine fokale Epilepsie als pharmakoresistent – definiert als Persistieren der Anfälle trotz hoher, gerade noch verträglicher Medikamentendosis – muss die Frage einer ope-
41
742
Kapitel 41 · Epilepsien
rativen Entfernung des Fokus abgeklärt werden. Epilepsiechirurgische Verfahren sind bei Auswahl geeigneter Kandidaten und Einsatz moderner bildgebender und EEG-Monitoring-Techniken durch ein erfahrenes Team sehr wirksam. So wird bei Patienten mit Temporallappenepilepsie in 60–80% eine Anfallsfreiheit erreicht.
41.1.2
Auswirkungen der Epilepsie auf die Lebensqualität
jPsychosoziale Auswirkungen Psychosoziale Probleme im Zusammenhang mit der Epilepsie sind häufig schwerwiegender als die Anfälle selbst. Sie resultieren aus 4 den unmittelbaren Anfallsfolgen, 4 den unerwünschten Medikamentenwirkungen, 4 der Krankheitsverarbeitung, 4 gesellschaftlichen Vorurteilen, 4 administrativen Einschränkungen sowie 4 ggf. zusätzlich bestehenden Beeinträchtigungen körperlicher, psychischer und kognitiver Art. jKörperliche Auswirkungen Dauerhafte körperliche Beeinträchtigungen als Folge einer Epilepsie oder ihrer Behandlung sind selten. Sie sind von den Beeinträchtigungen zu trennen, die durch die gleiche Hirnläsion verursacht worden sind, die auch der Epilepsie zugrunde liegt. Risiken bei Patienten mit Epilepsie sind: 4 Es besteht ein erhöhtes Frakturrisiko, auf Basis einer Antiepileptika-assoziierten Osteopathie (Pack 2008). 4 Die Gesamtzahl der Unfälle mit Verletzungen scheint bei Menschen mit Epilepsie gegenüber der Normalbevölkerung nur leicht erhöht zu sein (van den Broek u. Beghi 2004). 4 Patienten, die nicht anfallsfrei sind, haben ein erhöhtes Risiko für schwere Verbrennungen. 4 Das Risiko für einen tödlichen Ertrinkungsunfall ist bei Epilepsie um mehr als das 15-fache erhöht, wobei Unfälle in der Badewanne häufiger sind als beim Schwimmen (Bell 2008). 4 Die Häufigkeit eines plötzlichen ungeklärten Todes – in der angloamerikanischen Literatur mit SUDEP (Sudden Unexplained Death) bezeichnet – liegt bei nicht anfallsfreien Patienten bei ca. 1:300/Jahr (May u. Pfäfflin 2006).
41
jPsychische Auswirkungen Psychische Probleme sind bei Epilepsiekranken häufig und von erheblicher sozialmedizinischer Bedeutung (Trimble u. Schmitz 2002). Der frühere, auf neurobiologische Ursachen fixierte Begriff der epileptischen Wesensveränderung ist unbrauchbar und sollte nicht mehr verwendet werden. Bei Personen mit einer Epilepsie gibt es ein breites Spektrum von psychischen Störungen und Schwierigkeiten, die sich oft gegenseitig bedingen (. Übersicht 41.2).
Näher betrachtet Studie: Psychologische und soziale Situation von jungen Erwachsenen mit Epilepsie Eine Fallkontrollstudie, in der junge Erwachsene mit Epilepsie ohne zusätzliche neurologische Störungen oder geistige Behinderung untersucht wurden, zeigte eine um mehr als doppelt so hohe Arbeitslosigkeit als in einer vergleichbaren Kontrollgruppe ohne Epilepsie. Die Unterschiede schwächten sich aber deutlich ab, wenn nur die Patienten mit einem dem Abitur entsprechenden Schulabschluss verglichen wurden. Epilepsiekranke hatten auch seltener einen Partner/eine Partnerin und seltener Freunde. Auch hier waren die Unterschiede aber nur signifikant in der Gruppe mit etwa dem Hauptschulabschluss entsprechender Schulbildung. Das psychische Wohlbefinden hing in der Epilepsiegruppe wesentlich vom subjektiven Gesundheitsempfinden und schlechten Erfahrungen während der Schulzeit ab und war bei allen Epilepsiekranken, unabhängig von der Schulbildung, schlechter als in der Kontrollgruppe. In Übereinstimmung mit zahlreichen anderen Studien war der erreichte Schulabschluss niedriger, wenn die Epilepsie schon vor dem 7. Lebensjahr begonnen hatte (Koponen et al. 2007). Eine um das 2- bis 2½-Fache erhöhte Arbeitslosigkeit wurde auch in mehreren anderen Studien in industrialisierten westlichen Ländern festgestellt (Thorbecke u. Fraser 2008). Übereinstimmend erwies sich eine langfristige Anfallsfreiheit als entscheidender Prädiktor. Studie: Soziale Situation erwachsener Patienten mit Epilepsie Ein großer Teil epilepsiekranker Personen in der medizinischen Rehabilitation hat Probleme psychischer und sozialer Art. So waren von 96 konsekutiven Patienten der Betheler Rehabilitationsabteilung für Anfallskranke 45% bei Aufnahme arbeitslos, 39% hatten nur 1-mal/Monat oder seltener Kontakt zu Freunden oder Bekannten. 57% fühlten sich in ihrer emotionalen Gesundheit beeinträchtigt und nur 25% überhaupt nicht durch ihre Epilepsie stigmatisiert. Bei 26% lagen alltagsrelevante neuropsychologische Einschränkungen vor, bei 53% wurde eine behandlungsrelevante psychiatrische Komorbidität diagnostiziert (Specht et al. 2007) (Häufigkeit beruflicher Schwierigkeiten, 7 Kap. 41.2.7).
jSoziale Auswirkungen Soziale Probleme infolge einer Epilepsie sind ebenfalls häufig und vielfältig. Dazu gehören Einschränkungen in der Selbständigkeit und Mobilität, v.a. bei 4 Führerscheinerwerb, 4 Partnerwahl und Familiengründung, 4 sportlichen und anderen Freizeitaktivitäten sowie 4 Schwierigkeiten beim Abschluss von Kranken-, Unfallund Lebensversicherungen (Jacoby u. Jacoby 2004, Koponen et al. 2007, Nakken 2001, RESt-1 Group 2000, Wolf et al. 2003). Zu unterscheiden sind Einschränkungen, 4 die aufgrund der Art der Anfälle und deren Prognose erklärbar sind, und 4 die Folge eines negativen Epilepsiebildes bei Personen in der sozialen Umgebung und bei den Betroffenen selbst sind (Probleme in Ausbildung und Beruf, 7 Kap. 41.2.7).
743 41.2 · Diagnostik, Problemerfassung
. Übersicht 41.2. Psychische Störungen bei Patienten mit Epilepsie 1.
Psychiatrische Störungen im engeren Sinne
– Depressivität (einschließlich erhöhter Suizidraten) – Epilepsiepsychosen, die sich auf den Epilepsieverlauf beziehen lassen (postiktal, alternativ, iktal, interiktal) – Organische Persönlichkeitsstörungen – Angststörungen – Psychogene nicht-epileptische Anfälle (Schmitz u. Trimble 2005) Cave: Das Suizidrisiko ist erhöht, v.a. im ersten halben Jahr nach Diagnosestellung. 2.
3.
Neuropsychologische Störungen – Teilleistungsstörungen (z.B. Gedächtnis, Sprache) – Allgemeine Einschränkung der kognitiven Funktionen – Nachteilige Effekte der antiepileptischen Medikation (z.B. Aufmerksamkeitsstörungen, psychomotorische Verlangsamung) (Motamedi u. Meador 2003) Probleme der Krankheitsbewältigung, des emotionalen Wohlbefindens und des Selbstvertrauens – Stigmabewältigung – Niedriges Selbstbewusstsein – Passivität – Schuldgefühle (v.a. bei Angehörigen) – Erleben von Abhängigkeit, Fremdbestimmtheit und Hilflosigkeit (Thompson u. Grant 2001)
geprägte Geschichte. Darüber hinaus können Erhebungsinstrumente eingesetzt werden, die die Lebensqualität von Menschen mit Epilepsie in verschiedenen Dimensionen erfassen und zu einem globalen Lebensqualitätsindikator zusammenfassen (May et al. 2004).
41.2
Diagnostik, Problemerfassung
41.2.1
Die ICF als konzeptueller Rahmen
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) erfasst die Beeinträchtigungen von Aktivitäten des täglichen Lebens durch gestörte Körperfunktionen und -strukturen, wobei anders als in früheren derartigen Versuchen Kontextfaktoren, d.h. positive oder negative Einflüsse der sozialen und physischen Umgebung sowie persönliche Anpassungsfähigkeit mitberücksichtigt werden (WHO 2005). Angewendet auf Epilepsien stehen 4 auf der einen Seite die mit Anfällen einhergehenden funktionellen Einschränkungen aufgrund gestörter Körperstrukturen und -funktionen, z.B. 5 Bewusstseinsstörung, 5 fehlende Kontrolle der Willkürbewegungen, 5 fehlende Fähigkeit, in einer aufrechten Haltung oder bestimmten Körperposition zu verbleiben, 4 auf der anderen Seite Kontextfaktoren z.B. 5 positive Einflüsse wie Unterstützung durch Familie, psychosoziale Dienste oder 5 negative Einflüsse wie ablehnende Einstellungen. Personbezogene Kontextfaktoren bei Epilepsie sind
Bei Menschen mit Epilepsie können mehrere der genannten Schwierigkeiten gleichzeitig vorkommen, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Lebensqualität und die Teilhabe in unterschiedlichen Lebensbereichen. jAuswirkungen auf die Lebensqualität Im Vergleich zu anderen chronischen Erkrankungen, z.B. Multipler Sklerose und Diabetes mellitus, fallen bei Personen mit Epilepsie deutlich stärkere Einschränkungen im emotionalen Wohlbefinden auf (Hermann et al. 1996). Näher betrachtet Studie: Lebensqualität von Personen mit Epilepsie In einer deutschen sozialepidemiologischen Studie wurden am häufigsten Beeinträchtigungen bei der Ausbildung und im Beruf, in der allgemeinen Gesundheit und der körperlichen Leistungsfähigkeit genannt (Pfäfflin et al. 2000). Im Krankheitsverlauf ist die Lebensqualität vom Grad der erreichten Anfallskontrolle abhängig.
Im Gespräch mit Patienten erschließt sich deren persönliche, von Erfolgen und Misserfolgen im Leben mit der Epilepsie
4 Stigmatisierungserleben oder 4 ungünstige Krankheitsverarbeitungsstrategien, z.B. vage Hoffnungen auf Besserung in der Zukunft, ohne dass diese mit aktiven Handlungen zur Zielerreichung verbunden wären.
41.2.2
Sozialmedizinische Bedeutung und Bewertung von Anfällen
In der medizinischen Rehabilitation muss die klinische Klassifikation der Anfälle durch eine an der ICF orientierte sozialmedizinische Beurteilung ergänzt werden. Darin sollen die Auswirkungen auf Alltagsaktivitäten, besonders Mobilität, selbständige Haushaltsführung und Arbeitstätigkeiten erkennbar werden. jGefährdungseinschätzung Die Erarbeitung von Merkmalen, mit denen sich der Gefährdungsgrad von Anfällen im Arbeitsleben festlegen lässt, war ein wichtiger Fortschritt gegenüber früher üblichen pauschalen Aussagen, z.B. »Keine Tätigkeit an laufenden Maschinen«.
41
744
Kapitel 41 · Epilepsien
Näher betrachtet ICF-Modell Eine Schwierigkeit bei der Anwendung der ICF auf Anfallskrankheiten besteht darin, dass die Einschränkung der Funktionsfähigkeit nur vorübergehender Natur ist – Anfälle dauern nur Sekunden bis Minuten – im Gegensatz zu fast allen anderen chronischen Erkrankungen oder Behinderungen. Dem kann jedoch durch eine zusätzliche Charakterisierung der Zeitdauer der Einschränkung Rechnung getragen werden. Trotz der nur kurzzeitigen Funktionsstörung können Aktivitäten und Teilhabe langfristig eingeschränkt sein, z.B. aufgrund von Verboten, die wiederum teilweise auf mangelnde Informationen oder negative Einstellungen
zurückgehen. Die ICF bietet mit den Begriffspaaren Leistungsfähigkeit (»capacity«, in einer standardisierten Umgebung gemessenes Verhalten) und Leistung (»performance«, beobachtetes aktuelles Verhalten) die Möglichkeit, solche Diskrepanzen abzubilden. Im Gegensatz zur der der ICF vorausgehenden Klassifikation, der ICIDH, wird eine Wechselbeziehung zwischen den Komponenten postuliert, was der Problematik bei den Epilepsien wesentlich besser gerecht wird: 4 Emotionale Störungen können eher Folge subjektiver Stigmatisierungsbefürchtungen (7 Kap. 41.2.3) oder er-
> Die für die Gefährdungseinschätzung relevanten Anfallsmerkmale sind: 4 Bewusstseinsstörung, 4 Verlust der Haltungskontrolle, 4 Verlust der Kontrolle der Willkürmotorik, 4 Verlust der Handlungskontrolle (in Form unangemessener Handlungen).
Aus deren Kombination werden Gefährdungskategorien gebildet (. Abb. 41.1) (Ausschuss »Arbeitsmedizin« des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften 2007).
lebter Diskriminierung sein als direkte Folge der Anfälle und damit verbundener funktioneller Einschränkungen. 4 Soziale und kognitive Störungen wiederum können sich negativ auf die Ebene der funktionellen Einschränkungen (Verschlechterung der Anfallssituation) auswirken. 4 Funktionelle und soziale Störungen, z.B. Persönlichkeits- oder neuropsychologische Störungen, können weitgehend unabhängig von der Epilepsie bestehen und dürfen nicht mit Epilepsiefolgen verwechselt werden.
> Die individuell ermittelte Gefährdungskategorie ist noch durch folgende Merkmale zu ergänzen: 4 Dauer der Erholungszeit, bis eine Aktivität fortgesetzt werden kann (Vickrey et al. 2000), 4 protektive Momente, z.B. ausschließliches Auftreten der Anfälle im Schlaf oder verlässliche Vorwarnung in Form einer Aura, und 4 Häufigkeit der Anfälle.
Anhand dieser Vorgaben lassen sich die direkten Auswirkungen einer Epilepsie in einzelnen Alltagsaktivitäten gut abschätzen. Für eine Reihe von Berufen in den Bereichen 4 Maschinenbau- und Elektrotechnik, 4 Sozialpflege und Sozialpädagogik, 4 Gesundheitswesen wurden auf Basis dieses Vorgehens detaillierte Empfehlungen erarbeitet. Diese werden durch die Berufsgenossenschaften, die in Deutschland bei Arbeitsunfällen zuständig sind, anerkannt und publiziert (Ausschuss »Arbeitsmedizin« des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften 2007).
41.2.3
41 . Abb. 41.1. Flussdiagramm zur Ermittlung arbeitsmedizinisch relevanter Gefährdungskategorien anhand der Anfallssymptomatik. Das anfallsbedingte Risiko nimmt von Kategorie 0 bis D zu. Anfälle der Kategorie 0 haben keine arbeitsmedizinische Relevanz (nach Ausschuss »Arbeitsmedizin« des HVBG) (Specht 1996, mit frdl. Genehmigung des Schattauer Verlags, Stuttgart)
Krankheitsverarbeitung, psychiatrische Komorbidität und Lebensqualität
Die Unvorhersagbarkeit von Anfällen, deren abruptes Einbrechen in die Lebenszusammenhänge sowie die allgegenwärtige Möglichkeit von Kontrollverlust und körperlicher Schädigung unterscheiden Epilepsien von anderen chronischen Krankheiten. Sie sind eine Herausforderung an die Fähigkeiten zur Krankheitsverarbeitung und -bewältigung (Coping) (Fisher et al. 2000). So fühlen sich Betroffene gehemmt, ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln, und es mangelt ihnen zuweilen an Mut, ihre persönlichen Interessen zu verfolgen.
745 41.2 · Diagnostik, Problemerfassung
jAngst Spezifische Formen von Angst spielen eine zentrale Rolle, z.B. die Angst, im Anfall zu sterben, oder die Angst, durch einen Anfall in der Öffentlichkeit die eigene physische und soziale Identität zu beschädigen (Fisher et al. 2000, May et al. 2004, Schmitz u. Trimble 2005). Die Ängste werden verstärkt 4 zum einen durch die Unberechenbarkeit von Anfällen und 4 zum anderen dadurch, dass viele Betroffene ihre Anfälle selbst gar nicht oder nur einzelne Phasen der Anfälle (z.B. die Aura) bewusst erleben. > Bei Angehörigen kann die Angst vor den unvorhersehbar auftretenden Anfällen zu ausgeprägten Absicherungs- und Kontrollbedürfnissen (»overprotection«) führen. Diese finden sich allerdings auch – von ihnen selbst kaum reflektiert – bei professionellen Betreuern (z.B. bei Lehrern) wie auch Behandlern.
jStigmatisierungserleben Das Stigmatisierungserleben ist eine zweite wesentliche Ursache für die psychische Belastung. Dabei scheinen konkret erlebte Diskriminierungen durch andere (»enacted stigma«) eine geringere Rolle zu spielen als eine von den Betroffenen erlebte oder vorweggenommene Stigmatisierung (»felt stigma« oder »perceived stigma«). Diese wird v.a. durch Scham und die Furcht vor konkreter Diskriminierung gespeist (Jacoby et al. 2005). Unter dieser Selbststigmatisierung, die eine Art dauerhaftes Versteckspiel mit Verbergen der Erkrankung in ständiger Furcht vor Entdeckung zur Folge hat, leiden die Patienten erheblich. Stigmatisierungserleben kann auch Folge neuropsychologischer Einschränkungen und damit einhergehendem sozialen Rückzug sein. Ein hoher Grad subjektiver Stigmatisierung war mit einer geringeren Zahl von Freunden und anderer sozialer Kontakte assoziiert (Paul 2007). jDepressivität Depressivität ist wahrscheinlich das häufigste psychopathologische Symptom bei Epilepsiepatienten (Schmitz u. Trimble 2005). Ätiologisch spielen (epilepsiebezogene) biologische, lebensgeschichtliche und psychoreaktive Faktoren eine Rolle. Je höher die aktuelle Anfallsfrequenz und je später der Epilepsiebeginn ist, desto häufiger finden sich Depressivität, Angst und Stigmatisierungserleben (Jacoby et al. 1996). > Depression ist ein stärkerer Prädiktor für die Lebensqualität als die Anfallsfrequenz (Boylan et al. 2004).
Ein therapeutisch nutzbares Erklärungsmodell für Depressivität bei Epilepsie geht auf das Konzept der gelernten Hilflosigkeit zurück, nach dem das unvorhersehbare und als nicht kontrollierbar erlebte Auftreten der Anfälle zu einem pessimistischen Attributionsstil führt: Das Zutrauen zu den eigenen Fähigkeiten schwindet, und eine aktive Lebensgestaltung gelingt kaum. Dabei werden negative Ereignisse eigenem Fehlverhalten, positive dagegen externen Ursachen zugeschrieben (Hermann et al. 1996).
jKrankheitsverarbeitungs- (Coping-)Strategien Bei der Krankheitsverarbeitung zeigen sich ähnliche Zusammenhänge: 4 Passive Strategien, z.B. 5 auf eine idealisierte bessere Zukunft hoffen, 5 sich selbst die Schuld für die unbefriedigende Situation geben, 5 die Probleme ausblenden oder bagatellisieren, wirken sich ungünstig auf Depressivität, Angst und Selbstwertgefühl aus. 4 Aktive Strategien, z.B.
5 sich informieren, 5 sich Unterstützung bei anderen holen, 5 seine Gefühle zulassen, wirken sich dagegen günstig auf die emotionale Befindlichkeit (Thompson u. Grant 2001) wie auch die berufliche Integration (Mirnics et al. 2001) aus. jPostoperative Anpassung Schon sehr bald nach der Einführung epilepsiechirurgischer Behandlungsverfahren fiel auf, dass nach erfolgreicher Operation der Übergang aus der Rolle des chronisch Kranken in diejenige des Gesunden mit schwerwiegenden emotionalen, Verhaltens- und sozialen Schwierigkeiten einhergehen kann. So können neue Anforderungen als Überforderung erlebt werden, mit der Konsequenz eines Festhaltens an alten Rollenmustern (sog. »burden of normality«, Wilson et al. 2004). Möglicherweise sind diese auch im klinischen Alltag beobachtbaren dysfunktionalen Anpassungsprozesse hinsichtlich Häufigkeit und Schwere aber überschätzt worden (Thorbecke u. Hötker 2008).
Diagnostik Die klinische psychiatrische Untersuchung hat die Aufgabe, psychische Erkrankungen von psychosozialen Belastungen ohne Krankheitswert abzugrenzen, um den Weg zu einer entsprechenden Behandlung zu ebnen. Das klingt zwar selbstverständlich, aber es ist erschreckend, wie selten psychiatrische Zusatzerkrankungen bei Personen mit einer Epilepsie erkannt werden. Der PESOS (Performanz, soziale Situation, subjektive Bewertung), ein im Epilepsiezentrum Bethel entwickelter und mittlerweile weit verbreiteter Epilepsie-bezogener Fragebogen, ist das umfassenste deutschsprachige Instrument und erfasst u.a. folgende Bereiche: 4 Lebensqualität, 4 epilepsiespezifische Angst, 4 Anpassung an die Erkrankung, 4 Stigmatisierungserleben und 4 psychosoziale Situation. Der PESOS ist vom Patienten in ca. 30 Minuten auszufüllen. Die psychometrischen Eigenschaften des Fragebogens sind gut, und dieser ist auch gut für die Beratung (z.B. für berufliche Fragen) nutzbar (May et al. 2004). Die deutsche Übersetzung des wesentlich kürzeren QOLIE-31 (31 Fragen) ist zur
41
746
Kapitel 41 · Epilepsien
orientierenden Erfassung epilepsiebedingter Probleme und Einschränkungen geeignet (May u. Pfäfflin 2001).
41.2.4
Informationsbedürfnisse und Krankheitsselbstmanagement
Informationsbedürfnis Befragungen von Epilepsiekranken zeigen erhebliche Informationsdefizite und Fehlinformationen der Betroffenen über ihre Erkrankung, zugleich ist das Informationsbedürfnis groß (Jarvie 2001). Die Patienten haben oft 4 wenige Vorstellungen über Ablauf und Erscheinungsbild ihrer eigenen Anfälle, 4 wenige Kenntnisse über diagnostische und therapeutische Prinzipien, 4 wenige Kenntnisse über sozialrechtliche Regelungen. Beispiel Die Patienten wissen oft nicht, unter welchen Bedingungen sie den Führerschein erwerben können oder sind sich unklar darüber, unter welchen Umständen sie ihre Epilepsie einem Arbeitgeber offenbaren müssen.
Krankheitsselbstmanagement Krankheitsselbstmanagement ist ein relativ neuer Begriff, der über das, was man »krankheitsangepasste Lebensführung« nennt, hinausgeht. Dabei geht es darum, dem Patienten Techniken und Einstellungen zu vermitteln (. Übersicht 41.3), die dem Gefühl, der Epilepsie ausgeliefert zu sein, entgegenwirken, und ihm erlauben, aktiver Gestalter des eigenen Lebens zu werden (Kobau u. DiIorio 2003, Wolf et al. 2003). . Übersicht 41.3. Aspekte des Krankheitsselbstmanagements 1. 2. 3. 4. 5.
Medikamentöse Compliance/Adhärenz Kenntnis individueller Anfallsprovokationsfaktoren Umgang mit Unfallrisiken durch Anfälle Umgang mit Verboten Offenbarungsverhalten
jMedikamentöse Compliance/Adhärenz
41
> Etwa ein Drittel aller Menschen mit Epilepsie nehmen ihre Medikamente nicht so ein, dass ein verlässlicher Anfallschutz gewährleistet ist. Non-Compliance (unzureichende Adhärenz) geht mit erhöhten Raten von stationären Krankenhausaufnahmen, Vorstellungen in Notfallambulanzen, Verkehrsunfällen sowie einer 3-fach erhöhten Mortalität einher (Faught et al. 2008).
Häufige Ursachen für Non-Compliance sind 4 unzureichende Einnahmetechnik (z.B. kein Benutzen von Einnahmehilfen), 4 fehlendes Verständnis für die Wichtigkeit einer regelmäßigen Einnahme, 4 Ängste vor Nebenwirkungen oder 4 kognitive Einschränkungen (Gedächtnis, Konzentration) (Specht 2008). jAnfallsprovokationsfaktoren Die Kenntnis individueller Anfallsprovokationsfaktoren (z.B. Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus) ist oft lückenhaft. Viele Patienten und deren soziale Umgebung müssen erst dafür sensibilisiert werden, andere schränken sich unnötig in ihrer Lebensentfaltung ein, in dem sie vermeintliche, aber für sie nicht zutreffende Auslösefaktoren (z.B. Fernsehen bei nicht fotosensiblen Patienten) vermeiden. jUmgang mit Unfallrisiken durch Anfälle Ähnlich unterschiedliche Verhaltenweisen finden sich beim Umgang mit Unfallrisiken durch Anfälle. So wird z.B. das Ertrinkungsrisiko in der Badewanne regelhaft unterschätzt (Kobau u. DiIorio 2003). jUmgang mit Verboten Personen mit Epilepsie sind mit einer Vielzahl von Verboten konfrontiert, die manchmal jeder rationalen Grundlage entbehren (z.B. kein Fleisch essen), und die zu einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität führen können. In der Mehrzahl handelt es sich jedoch um Verbote, von denen nur im Einzelfall zu sagen ist, ob sie angemessen sind, z.B. das »Schwimmverbot« oder der Rat, keine Leiter zu benutzen. Eine Aufgabe der Rehabilitation ist es, Sinn und Notwendigkeit von Verboten zu hinterfragen. Dabei ist es wichtig, herauszufinden, wer die Verbote ausgesprochen hat (Lehrer, Familienangehörige, Arzt usw.), da Verhaltensänderungen ohne Einbeziehen des Umfelds kaum erreichbar sind (Thorbecke 1988). Näher betrachtet Studien: Fahrverbot Am einschneidensten für noch nicht ausreichend lange anfallsfreie Epilepsiekranke ist das Fahrverbot. Studien aus den USA und Deutschland zeigen, dass 20–40% der Patienten, die nach den geltenden Führerscheinbestimmungen nicht fahrgeeignet waren, dennoch fuhren. Als wesentlichen Grund dafür zeigte sich die Notwendigkeit, bei Fehlen öffentlicher Verkehrsmittel den Arbeitsplatz zu erreichen (Thorbecke 2007).
jOffenbarungsverhalten Es ist entscheidend für die Entwicklung sozialer Kontakte und die berufliche Eingliederung, ob es gelingt, andere zu einem geeigneten Zeitpunkt über die »unsichtbare« Krankheit Epilepsie so zu informieren, dass Beziehungen dadurch nicht gefährdet werden. Betroffene sind verunsichert, wie sie sich verhalten sollen. Die Offenbarungsbereitschaft hängt vom
747 41.2 · Diagnostik, Problemerfassung
Informationsstand und vermuteten Entdeckungsrisiko ab und ist eher Ausdruck von subjektiven Einschätzungen (z.B. Stigmatisierungserleben, wahrgenommene Einschränkungen) als von objektiven klinischen Merkmalen. Soweit bekannt, bewirkt ein Offenbaren der Erkrankung meist positive Reaktionen, während systematisches Verschweigen die Betroffenen psychisch oft erheblich belastet (Jacoby et al. 2005, Tröster 1998). Praxistipp Zur Erfassung von Informationsdefiziten eignet sich die (unveröffentlichte) deutsche Übersetzung des EpilepsyKnowledge-Profile (Jarvie 2001). Aspekte des Krankheitsselbstmanagements erfasst der PESOS-Fragebogen (May et al. 2001) (Bezugsquellen, 7 Kap. 41.6).
41.2.5
Mangelnde körperliche Fitness
Menschen mit Epilepsie sind in ihrer Freizeit viel seltener sportlich aktiv als die Normalbevölkerung, gleichzeitig ist ihre körperliche Leistungsfähigkeit vermindert. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Folge der Epilepsie, denn nach wenigen Wochen gezielten Trainings erreichen Personen mit Epilepsie den gleichen Leistungsstand wie Gesunde. Von den Patienten selbst wird die Epilepsie als Hauptgrund für fehlende sportliche Aktivität genannt. Ursachen sind Sicherheitsbedürfnisse des Patienten und seines Umfelds sowie die falsche Meinung, körperliche Betätigung löse Anfälle aus. Letzteres ist jedoch nur bei weniger als 5% der Fall. Praxistipp Menschen mit Epilepsie haben fast immer Vorteile von einer regelmäßigen körperlichen Betätigung: 4 Sie steigern ihre kardiopulmonale Fitness, 4 sie verbessern ihr emotionales Befinden und ihre kognitive Leistungsfähigkeit, und 4 sie tun sich leichter, soziale Kontakte zu knüpfen (Nakken 2001).
41.2.6
Neuropsychologische Leistungsstörungen
Die Spannbreite neuropsychologischer Störungen bei Epilepsie ist groß. Sie können völlig fehlen oder von sehr umschriebenen bis hin zu diffusen kognitiven Beeinträchtigungen mit unterschiedlichem Schweregrad reichen. Einflussfaktoren auf die kognitive Leistungsfähigkeit sind: 4 Art und Lokalisation einer evt. Hirnläsion, 4 Auswirkungen von Anfällen, 4 sog. subklinische epileptische Entladungen und 4 antiepileptische Medikation (Kwan u. Brodie 2001).
Praxistipp Kognitive Störungen sollten sorgfältig erfasst werden, da sie z.B. die Chancen jugendlicher Epilepsiekranker auf einen Ausbildungsplatz in einem Berufsbildungswerk oder die Beschäftigungschancen arbeitssuchender Anfallskranker verringern (Thorbecke u. Specht 2005, Lahr u. Specht 2010). Klagen von Patienten über kognitive Störungen korrelieren höher mit emotionalen Parametern als mit objektivierbaren Einschränkungen (Marino et al. 2009).
Epilepsiespezifische neuropsychologische Defizite sind nicht bekannt. Allerdings sind bei bestimmten Epilepsiesyndromen typische Störungsprofile beschrieben. jGedächtnisstörungen Am besten untersucht sind Patienten mit pharmakoresistenter Temporallappenepilepsie, bei denen besonders häufig Gedächtnisstörungen zu finden sind (Kwan u. Brodie 2001). In besonderem Maße ist das episodische Gedächtnis betroffen: 4 Liegt der Anfallsursprung im linken, sprachdominanten Temporalappen, finden sich Störungen der verbalen Lern- und Gedächtnisfunktionen. 4 Liegt er im nicht-sprachdominanten Temporallappen, so sind visuell-räumliche Funktionen betroffen. Störungen des Gedächtnisses werden auch von Patienten mit anderen Epilepsieformen als häufigste kognitive Einschränkung beklagt (Kwan u. Brodie 2001). Der Zusammenhang zwischen subjektiv empfundener Gedächtnisstörung und objektivierbaren Defiziten ist allerdings komplex. So beeinträchtigen die ebenfalls häufigen Störungen der Aufmerksamkeit auch das Lernen und Behalten. Sie werden daher von Patienten oft als »Gedächtnisstörungen« wahrgenommen. Praxistipp Eine Verlangsamung der kognitiven Verarbeitungsgeschwindigkeit ist oft – jedoch nicht immer – eine Nebenwirkung der Medikation, ähnlich wie Störungen von Vigilanz und Aufmerksamkeit (Meador 2001).
jTeilleistungsstörungen Bei Epilepsiepatienten können neuropsychologische Teilleistungsstörungen u.U. schon lange bestehen oder sich schleichend entwickelt haben. Nach unserer Erfahrung haben einige Patienten intuitiv gelernt, sich ihre berufliche oder Alltagsumgebung so zu gestalten, dass sich die Störungen dort nicht bemerkbar machen. Neuropsychologische Störungen bestehen i.d.R. auch dann weiter, wenn der Patient nach medikamentöser oder operativer Behandlung anfallsfrei geworden ist.
41
748
Kapitel 41 · Epilepsien
Beschäftigungschancen haben Epilepsiepatienten mit wieNäher betrachtet Diagnostik neuropsychologischer Störungen Die Untersuchungsverfahren zur Diagnostik neuropsychologischer Störungen bei Epilepsiepatienten unterscheiden sich nicht wesentlich von neuropsychologischen Instrumenten, wie sie in anderen Arbeitsfeldern der klinischen Neuropsychologie eingesetzt werden. Die Interpretation der Ergebnisse bedarf aber Erfahrungen mit Epilepsiepatienten, sonst kann es zu falschen Ursachenzuschreibungen kommen. Darüber hinaus ist die begrenzte Vorhersagekraft der Testbefunde für Alltagsleistungen zu bedenken (7 Kap. 42). Für die Rehabilitation ist es daher wesentlich, die funktionellen Auswirkungen kognitiver Störungen auf Alltag und Berufsleben abzuschätzen (Lahr u. Specht 2010). Die Beobachtung des Patienten auf Station, in der Ergotherapie und während einer medizinischen Belastungserprobung gibt dazu wichtige Hinweise (s.u.).
41.2.7
Berufliche Schwierigkeiten
> Trotz guter medizinischer Behandlungserfolge sind die Arbeitslosenraten Epilepsiekranker 2- bis 3-mal so hoch wie die der Allgemeinbevölkerung (Thorbecke u. Specht 2005). Ca. ein Drittel der Frühberentungen wegen Epilepsie erfolgt vor dem 40. Lebensjahr gegenüber nur 10–15% bei der Gesamtgruppe der Frühberenteten.
Das Durchschnittsalter männlicher Frührentner mit Epilepsie liegt um 6 Jahre unter dem Durchschnitt aller Frührentner (Thorbecke u. Specht 2005). An Epilepsie im Erwachsenenalter neu Erkrankte haben zum Zeitpunkt des Erkrankungsbeginns bereits stark erhöhte Arbeitslosenraten, was zum einen mit Arbeitsplatzverlust infolge der beginnenden Epilepsie, aber auch mit einer erhöhten allgemeinen Morbidität zu erklären ist (Holland et al. 2009). Ein unzureichender Informationsstand in Verbindung mit ungünstigen Einstellungen von Betroffenen, Angehörigen, Arbeitsvermittlern, Betriebsärzten und Arbeitgebern über berufliche Einsatzmöglichkeiten führt dazu, dass das Risiko anfallsbedingter Unfälle regelhaft überschätzt wird, mit der Folge entsprechend unangemessener Restriktionen (Thorbecke u. Fraser 2008). Unter Arbeitsbelastung treten weniger Anfälle auf als eine zufällige Verteilung erwarten ließe (Thorbecke u. Specht 2005).
41
jBerufliche Eignungsbeurteilung Wie oben aufgeführt, stehen für die Eignungsbeurteilung eines Betroffenen für eine berufliche Tätigkeit berufsgenossenschaftlich akzeptierte und mittlerweile in Gerichtsverfahren anerkannte Beurteilungskriterien zur Verfügung, die es gestatten, für konkrete Berufsbilder Eignungsempfehlungen abzuleiten (Ausschuss »Arbeitsmedizin« des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften 2007) (. Abb. 41.1). Besonders schlechte Ausbildungs- und
derholter Arbeitslosigkeit, neuropsychologischen, emotionalen und anderen psychiatrischen Störungen (Thorbecke u. Specht 2005). > Das gleichzeitige Auftreten mehrerer der für die Erwerbsfähigkeit ungünstiger Faktoren manifestiert sich klinisch im Eindruck einer verminderten beruflichen Belastbarkeit, u.U. mit der Konsequenz einer Berentung wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung.
Die weitere Abklärung geschieht dann in der Ergotherapie und im Rahmen von medizinischen Belastungserprobungen (MBE), (s.u., auch . Übersicht 41.5 in Kap. 41.3.6). Praxistipp Nach unserer Erfahrung ist es besonders wichtig, dass medizinische Belastungserprobungen unter Arbeitsbedingungen durchgeführt werden, die denen der bisher ausgeübten oder der ins Auge gefassten beruflichen Tätigkeit ähnlich sind.
Zu berücksichtigen sind neben möglichen 4 kognitiven und körperlichen Einschränkungen, 4 Grundarbeitsfähigkeiten, 4 Arbeitsstil und -tempo auch die wechselseitigen Einflüsse von 4 Belastungsfähigkeit, 4 antiepileptischer Medikation und 4 Anfällen. Praxistipp Ein mobiles 24-Stunden-EEG kann z.B. die Frage klären helfen, ob Leistungseinbußen durch symptomarme Anfälle erklärt werden können.
In einer MBE lassen sich zudem Faktoren wie 4 Motivation, 4 Sozialverhalten und psychische Einflüsse, 4 Bewerbungsverhalten und 4 die Fähigkeit, selbständig Wege zurückzulegen, überprüfen, von denen bekannt ist, dass sie großen Einfluss darauf haben, ob ein neuer Arbeitsplatz erlangt und dann auch gehalten werden kann (Thorbecke u. Specht 2005).
749 41.3 · Therapie, Interventionen
41.3
Therapie, Interventionen
41.3.1
Coping und emotionale Anpassung
Näher betrachtet Studien: Verbesserung der Krankheitsverarbeitung Aus den wenigen publizierten therapeutischen Studien zur Verbesserung von Krankheitsverarbeitung und emotionaler Anpassung bei Epilepsie lassen sich keine generellen therapeutischen Empfehlungen herleiten (Ramaratnam et al. 2008). Einzelne Studien zeigten allerdings, dass Einzeltherapien (Entspannungs- und kognitive Verhaltenstherapie) und Gruppeninterventionen das seelische Wohlbefinden verbesserten, Angst und Depressivität verminderten und Patienten im Alltag aktiver werden ließen (May u. Pfäfflin 2005, Thompson u. Baxendale 1996). Eine randomisierte kontrollierte Studie wies bei Teilnehmern am Modularen Schulungsprogramm Epilepsie (MOSES) (s.u.) eine verbesserte Krankheitsverarbeitung nach, z.B. aktive Auseinandersetzung mit der Krankheit (May u. Pfäfflin 2005).
Therapie jEinzeltherapien Diese und eigene Erfahrungen – bei Einzeltherapien und Gesprächspsychotherapie mit Elementen von kognitiver Verhaltenstherapie – sprechen dafür, dass psychotherapeutische Interventionen themenzentriert auf die besonderen Probleme von Epilepsiepatienten abgestimmt werden sollten: 4 Umgang mit der Angst vor Anfällen, 4 Stigmabewältigung, 4 Aufbau von Selbstvertrauen, 4 Integration der Epilepsie in die persönlichen Lebensbezüge und 4 Veränderung von Attributionsstilen. Psychotherapeutische Bemühungen sollten durch eine Verbesserung des Informationsstandes ergänzt werden, mit dem Ziel, unangemessene epilepsiebezogene Ängste abzubauen. Soweit möglich, soll versucht werden, die Unterstützung durch Angehörige zu nutzen (Amir et al. 1999). Follow-up-Befragungen unserer eigenen Patienten zeigen eine signifikante Abnahme epilepsiebezogener Ängste und eine Verbesserung der emotionalen Anpassung. Die Erfolge beim Stigmatisierungserleben sind deutlich geringer (Specht et al. 2007). Dabei handelt es sich offenbar um ein wenig veränderbares Wahrnehmungsmuster, bei dem sich die Betroffenen einer ihnen gegenüber ablehnend eingestellten Umwelt erleben. jSelbsthilfegruppen Selbsthilfegruppen können einen erheblichen Beitrag zum Coping leisten. Es finden sich häufig andere Gruppenmitglieder, die als Modell für im therapeutischen Setting diskutierte Verhaltensänderungen gelten können.
> Selbsthilfegruppen motivieren zu therapeutischen Bemühungen und helfen, negative Folgeerscheinungen der Erkrankung, besonders eine soziale Isolation, zu verringern.
jTherapie bei epilepsiechirurgisch behandelten Patienten Epilepsiechirurgisch behandelte Patienten bedürfen nicht selten besonderer Hilfen: 4 Die Ängste der Patienten vor dem Wiederauftreten von Anfällen wie auch vor Überforderung bei Anfallsfreiheit müssen bearbeitet werden. Eigene Grenzen müssen neu definiert werden. Dies macht Informationen erforderlich, auch Hilfen zur richtigen Einschätzung der Operationswirkungen, z.B. dann, wenn Patienten glauben, mit erreichter Anfallskontrolle seien auch kognitive Defizite beseitigt. 4 Eigene Erfahrungen in Paarseminaren mit operierten Epilepsiepatienten haben gezeigt, dass die Neudefinition familiärer Rollenmuster auch nach einer erfolgreichen medizinischen Behandlung eine Einbeziehung von Angehörigen notwendig macht (Niemann et al. 1994). 4 Patienten nach epilepsiechirurgischer Behandlung können Gefahr laufen, ihre Medikamente unzuverlässig einzunehmen, wenn sie glauben, mit der Beseitigung des epileptogenen Areals sei schlagartig die erhöhte Anfallsbereitschaft beseitigt, oder sie stören sich an den Medikamenten als einzigem Überbleibsel ihrer Epilepsie. Dadurch wird der Erfolg der Operation gefährdet, und daher ist eine Diskussion dieser Aspekte in Einzel- und Gruppenberatungen erforderlich. > Bei etwa einem Drittel der Patienten kommt es in den ersten Monaten postoperativ zu behandlungsbedürftigen psychiatrischen Störungen, z.B. 4 depressiven Reaktionen, 4 emotionaler Instabilität, 4 Angststörungen (Koch-Stoecker u. Kanemoto 2008).
Eine besondere Gruppe sind die Patienten, die sich durch die neuerlangte Anfallsfreiheit bedroht fühlen, die z.B. befürchten, schon bald nach der Operation ihre Rente entzogen zu bekommen, oder die verbissen um die Beibehaltung des vor der Operation zuerkannten Behinderungsgrades im Schwerbehindertenausweis kämpfen (»burden of normality«, 7 Kap. 41.2.3). Solche Patienten bedürfen einer behutsamen längerfristigen Begleitung, bei der sie 4 einerseits vor dem vorschnellen Entzug von Hilfen und Nachteilsausgleichen geschützt werden, 4 andererseits konsequent bei der Verwirklichung neuer Möglichkeiten, z.B. dem Erwerb des Führerscheins, unterstützt werden. Für postoperative Patienten, die zur Anschlussheilbehandlung übernommen werden, haben die Autoren ein Informationsprogramm entwickelt, das aus drei Komponenten besteht (. Übersicht 41.4).
41
750
Kapitel 41 · Epilepsien
. Übersicht 41.4. Informationsprogramm für postoperative Epilepsiepatienten 1.
2.
3.
41.3.2
Adäquates Management der postoperativen Situation, z.B. Vermeiden von Wundinfektionen, genaues Fortführung der antiepileptischen Medikation Entwicklung einer postoperativen Zeitperspektive hinsichtlich – Ausführung von Aktivitäten, die vor der Operation verboten waren, z.B. Autofahren, Schwimmen ohne Aufsicht, gefährliche Arbeiten, und – Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit Umgang mit der unsicheren Prognose hinsichtlich Anfallsfreiheit, v.a. Diskussion der unterschiedlichen Copingstile, z.B. mögliches Auftreten anfallsbezogener Ängste, Leugnen der Möglichkeit von Anfallsrezidiven (berufliche Wiedereingliederung epilepsiechirurgisch behandelter Patienten, 7 Kap. 41.3.6)
Verbesserung von epilepsiebezogenem Wissen und Krankheitsselbstmanagement
> Ein seit 1998 im deutschsprachigen Raum eingeführtes modular aufgebautes Schulungsprogramm für Epilepsiepatienten (MOSES®) hat in einer kontrollierten Studie zu signifikanten Verbesserungen von epilepsiebezogenem Wissen, Krankheitsbewältigung, Anfallsfrequenz und Verträglichkeit der Medikation geführt (May u. Pfäfflin 2005).
In Kleingruppen geht es neben der Vermittlung von medizinischem (z.B. Diagnostik und Therapie, Prognose) und sozialrechtlichem Sachwissen (z.B. Führerscheinregelung, Auswirkungen der Epilepsie auf Freizeit und Beruf) um die Stärkung von Eigeninitiative und aktives Coping (Ried et al. 2005). Die Kenntnis der eigenen Anfallsabläufe – vermittelt auch durch Videomaterial – ist die Basis für ein situationsadäquates Mitteilen der Epilepsie an Freunde, Kollegen oder Partner. Dies lässt sich in Gruppen thematisieren und im Rollenspiel üben.
41
jTraining epilepsieangepasster Verhaltensweisen Beim Training epilepsieangepasster Verhaltensweisen ist auf die individuellen Besonderheiten der Epilepsie zu achten: 4 Es ist sehr wichtig, dass Patienten mit idiopathischer generalisierter Epilepsie ihren Schlaf-Wach-Rhythmus regulieren, auch über eine Dokumentation mit einem Schlafkalender. 4 Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung gelten Vorsichtsmaßnahmen bezüglich intermittierender Lichtreize (z.B. Fernsehen, Diskotheken) nur für die – wenigen! – Patienten, bei denen eine Fotosensibilität trotz Behandlung fortbesteht (EEG-Kontrollen!).
4 Bei Patienten mit fokaler Epilepsie und Aura-eingeleiteten Anfällen können verhaltenstherapeutische Techniken zur Auraunterbrechung nützlich sein. Die einsetzbaren Strategien sind sehr verschieden und müssen individuell erarbeitet werden. Solche Techniken können sein: 5 Entspannungstechniken, 5 Konzentration auf oder Vorsprechen von Formeln wie »Jetzt kein Anfall!«, 5 motorische Aktivitäten wie das Fausten einer Hand oder die Verwendung individuell spezieller sensorischer Reize. 5 Für die Auraunterbrechung wie auch für das Erkennen und Vermeiden von Anfallsprovokationsfaktoren ist allerdings ein hohes Maß an Motivation des Patienten erforderlich (Wolf 2001). Die Patienten können durch diese Verfahren an Autonomie und Selbstsicherheit gewinnen, auch wenn vollständige Anfallsfreiheit nicht erreicht werden sollte. Im Rahmen der medizinischen Rehabilitation kann es i.d.R. nur um ein erstes Kennenlernen dieser Methodik gehen. jVerbesserung der Compliance Zur Verbesserung der Compliance bei der Medikamenteneinnahme hat sich bei stationären Patienten ein stufenweises Lernprogramm mittels Wochendispenser bewährt. In einer ersten Phase wird die Einnahme der Medikation durch Mitarbeiter des Pflegdienstes nach jeder Dosis überprüft und der Patient ggf. an seine Einnahme erinnert. Diese Einnahmekontrolle wird schrittweise gelockert und schließlich ganz aufgegeben, so dass der Patient seine häusliche selbständige Einnahmesituation simulieren kann. Alltägliche Probleme (z.B. das Nachnehmen vergessener Dosen) können direkt geklärt werden (Bökenkamp et al. 2004). Praxistipp Patienten, die anfallsfrei entlassen werden, erhalten ein Merkblatt, das ihnen erläutert, sich im Falle eines Anfallsrezidivs umgehend einen postiktalen Serumspiegel ihrer Antiepileptika abnehmen zu lassen (Wolf et al. 2003) (Bezugs- und Informationsquellen, 7 Kap. 41.6).
Im Vergleich mit Intervallspiegeln lässt sich durch dieses Vorgehen klären, ob ein Spiegelabfall – z.B. durch Einnahmefehler – den Anfall ausgelöst hat, was öfter als vermutet der Fall ist (Specht et al. 2003). Dieses Vorgehen hat Vorteile: 4 Die Fehldiagnose einer Pharmakoresistenz wird vermieden. 4 Beim Patienten verbessert sich das Verständnis für die Prinzipien der antiepileptischen Therapie. 4 Über die Rückmeldung des Spiegelergebnisses kann eine Verbesserung des Einnahmeverhaltens angestoßen werden.
751 41.3 · Therapie, Interventionen
41.3.3
Neuropsychologische Therapie
Die neuropsychologische Therapie bei Epilepsiepatienten ist im Grundsatz ähnlich wie bei Patienten mit kognitiven Einbußen aus anderen Gründen (Hartje u. Poeck 2006). Näher betrachtet Studien: Wirksamkeit von Gedächtnis- und Aufmerksamkeitstraining Mehrere unkontrollierte und zwei kontrollierte Studie haben die Wirksamkeit von (Re-)Trainings- und Kompensationsverfahren bei Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen Epilepsiekranker nachgewiesen (Aldenkamp u. Vermeulen 1991, Engelberts et al. 2002, Hendriks 2001), davon eine bei Patienten nach Temporallappenteilresektion (Helmstaedter et al. 2008).
jTherapeutisches Vorgehen ! Cave Zu beachten ist, dass die neuropsychologischen Beeinträchtigungen z.T. sehr umschrieben sind (z.B. Gedächtnisstörungen für sprachliches Material, visuell-räumliche Verarbeitungsstörung). Erforderlich ist ein individuelles Vorgehen unter Beachtung der Alltagsbezüge in enger Zusammenarbeit mit den Therapeuten anderer Berufsgruppen. Arbeitsumgebung und Anforderungen im Alltag sollten nach Möglichkeit so gestaltet werden, dass Anforderungen, deren Bewältigung aufgrund der neuropsychologischen Störung erschwert ist, minimiert werden (Lahr u. Specht 2010).
ein 4-wöchiges Training erheblich steigern (Nakken 2001). Eigene Erfahrungen zeigen, dass der Einstieg bei bisher nicht sportlich aktiven Patienten gerade über sanfte Sportarten gut gelingt, z.B. über 4 Gymnastik, 4 Nordic Walking, 4 Entspannungsgruppen, 4 Tai-Chi o.Ä. Praxistipp Viele Patienten glauben, dass Anfälle bei körperlicher Aktivität häufiger werden. Gruppendiskussionen eignen sich gut, um zu vermitteln, dass richtig dosierte körperliche Aktivität eher anfallsmindernd wirkt.
Neben der sportlichen Aktivierung ist zum Erzielen nachhaltiger Effekte die Sportberatung zentral, bei der es gilt, die für jeden einzelnen passende Sportart herauszufinden (Nakken 2001), wobei durchaus auch die Sportarten, die sich allgemeiner Beliebtheit erfreuen (z.B. Krafttraining) mit in Betracht gezogen werden sollten. Dabei sind natürlich Art und Häufigkeit der Anfälle sowie evt. zusätzlich bestehende körperliche oder kognitive Beeinträchtigungen mitzuberücksichtigen. Bei Patienten mit Osteoporoserisiko muss die sportliche Aktivierung koordiniert mit anderen Maßnahmen (z.B. Vitamin-DGabe, kalziumreiche Ernährung, ausreichende Sonnenlichtexposition) erfolgen und auf Stärkung der Skelettteile ausgerichtet sein, die besonders frakturgefährdet sind. Nach der Aktivierung ist es entscheidend, die selbständige Fortsetzung der körperlichen Betätigung zu erreichen.
Praxistipp
Praxistipp
Einige Patienten haben ihren Arbeitsalltag übersichtlich auf sich regelmäßig wiederholende Tätigkeiten hin strukturiert. In der Therapie sollte dies berücksichtigt werden. Wichtig ist es, dass der Patient und seine familiäre wie berufliche Umgebung ein Verständnis für Art und Ursache der Störung entwickeln. Damit können falsche Erklärungen, z.B. als rein psychische Störung, und damit auch falsche Therapien (Psychotherapie) vermieden werden.
Jeder Patient sollte ein persönliches Rezept für körperliche Aktivität erhalten. Das kann z.B. lauten »Täglich 2mal für 30 Minuten zügig spazieren gehen.« Die Patienten sollten Adressen und Tipps für eine sportliche Betätigung (auch Behindertensport) am Wohnort erhalten. Bei chronischer Epilepsie kann der weiterbehandelnde Arzt auf Kosten der Krankenkasse Rehasport verordnen.
Anfallsfreiheit kann die Anfälle als einen ursächlichen Faktor für kognitive Störungen eliminieren und schafft eine Voraussetzung für eine wirkungsvolle neuropsychologische Rehabilitation. Allerdings sollten unrealistische Erwartungen in Bezug auf eine Besserung kognitiver Funktionen mit dem Patienten besprochen werden.
41.3.4
Verbesserung der körperlichen Fitness
Die körperliche Fitness von Patienten mit Epilepsie, gemessen an der maximalen Sauerstoffaufnahme, lässt sich schon durch
41.3.5
Führerscheinberatung
Die Frage der Fahreignung ist häufig für die Lösung beruflicher Fragen entscheidend. Ein Patient muss über seine fehlende Fahreignung und die ggf. notwendigen anfallsfreien Fristen zur Wiedererlangung der Fahreignung in den beiden Führerscheingruppen informiert sein. Das Verständnis für die Voraussetzungen für die Fahreignung (Begutachtungsleitlinien etc.) kann auch ein Verständnis für Einschränkungen in Beruf und Sport sowie die Notwendigkeit langfristiger Compliance mit sich bringen. Nach unserer Erfahrung besteht bei Patienten, aber auch den beratenden Personen,
41
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Kapitel 41 · Epilepsien
häufig Unsicherheit über die Regelungen bei Epilepsie. Daher ist es hilfreich, dem Patienten aussagekräftiges schriftliches Material mitzugeben, das er an anderer Stelle ggf. vorlegen kann. Sofern von einer fehlenden Fahreignung von länger als ½ Jahr ausgegangen werden muss, sind die Möglichkeiten von Mobilitätshilfen (Beförderungsdienst im Rahmen der Kraftfahrzeughilfeverordnung oder im Rahmen von Arbeitsassistenz) zu prüfen (Deutsche Rentenversicherung Bund 2005).
jMedizinische Belastungserprobung Eine medizinische Belastungserprobung (MBE) ist bei Personen indiziert, 4 die über abnehmende Leistungsfähigkeit klagen, 4 bei denen sich die Frage einer Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung stellt, 4 die längere Zeit arbeitsunfähig waren, und 4 bei denen sich am Ende einer Berentung die Frage der Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit stellt. Praxistipp
41.3.6
Hilfen zur beruflichen Wiedereingliederung
Prozedere jBerufliche Orientierung und Entwicklung Zu Beginn stehen die Klärung der beruflichen Orientierung und Entwicklung des Patienten. Dazu gehören 4 erworbene und noch vorhandene berufliche Qualifikationen, 4 tatsächliche oder nur vermeintliche Rolle der Anfallserkrankung für die beruflichen Schwierigkeiten, 4 Selbsteinschätzung der Leistungsfähigkeit des Betroffenen und 4 berufliche Ziele. jEinschätzung der betrieblichen Situation Sofern noch ein Arbeitsplatz vorhanden ist, ist eine Einschätzung der betrieblichen Situation erforderlich, um am Ende der Rehabilitationsbehandlung mögliche Anpassungsmaßnahmen am Arbeitsplatz oder betriebliche Umsetzungsmöglichkeiten abschätzen zu können.
41
jBeobachtung des tatsächlichen Arbeitsverhaltens Der Einschätzung der betrieblichen Situation muss eine Beobachtung des tatsächlichen Arbeitsverhaltens folgen. Das Arbeitsverhalten wird im ergotherapeutischen Assessment beschrieben. Bei einigen Patienten machen sich die in der neuropsychologischen Untersuchung beobachteten Defizite weniger bemerkbar, da berufsspezifische Fähigkeiten erhalten geblieben sind. Es kann jedoch auch zu unerwarteten Leistungsproblemen kommen, die u.U. auf motivationale oder emotionale Störungen verweisen. Bei der Beurteilung von 4 Problemlösen, 4 planerischem Verhalten, 4 Konzentrationsfähigkeit und 4 Ablenkbarkeit stellt die Ergotherapie wegen der Vielfalt der Anforderungssituationen und den längeren Beobachtungszeiten eine wichtige Ergänzung zur neuropsychologischen Diagnostik dar. Auch Umstellungsfähigkeit und Neulernen können dort erprobt werden. Nützlich sind Rückmeldungen über das soziale Verhalten, z.B. über die Zusammenarbeit mit anderen »Kollegen« (Mitpatienten) und »Vorgesetzten« (Therapeuten).
Die medizinische Belastungserprobung sollte, wenn möglich, in einer realen betrieblichen Umgebung durchgeführt werden, zumal Patienten dort nicht selten eine Motivation zeigen, die sich von der in klinischen Therapiesituationen beobachteten Motivation unterscheidet. Möglicherweise werden dort im Verlauf der Arbeitsbiographie entstandene Leistungsdispositionen wieder aktiviert.
Eine MBE kann helfen, die in . Übersicht 41.5 aufgelisteten Fragen zu beantworten. . Übersicht 41.5. Typische Fragestellungen einer medizinischen Belastungserprobung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Quantitative Belastungsfähigkeit bzw. deren Steigerungsfähigkeit (Zeitraum, Rahmenbedingungen) Arbeitsverhalten (z.B. Häufigkeit von Pausen) Auswirkungen von Anfällen Arbeitstempo (und dessen Modifizierbarkeit) Auffassungsgabe Lernfähigkeit Soziale Fähigkeiten Subjektive Belastungen besonderer Aspekte der Tätigkeit Bewältigung des Arbeitsweges bei z.B. anfallsbezogenen Ängsten
jArbeitstherapie Eine Arbeitstherapie, bei der bestimmte Grundfähigkeiten unter engerer therapeutischer Begleitung als in einer betrieblichen MBE geübt werden, kommt z.B. für Patienten infrage, bei denen Faktoren wie 4 Angstreaktionen, 4 Konzentrationsstörungen bei Anforderungen, 4 psychomotorische Verlangsamung oder 4 andere gesundheitliche Einschränkungen ursächlich für Leistungsschwierigkeiten sind. jEntlassungsassessment Die Beobachtungen der Neuropsychologie, Ergo- und Arbeitstherapie sowie MBE werden im Rahmen eines Entlassungsassessments des interdisziplinären Teams besprochen, mit dem Ziel, angemessene weitere Hilfen vorzubereiten. Da-
753 41.3 · Therapie, Interventionen
bei sollte man das mit dem SGB IX abgesicherte differenzierte System beruflicher Hilfen einsetzen, das bei den speziellen Problemen Anfallskranker nützlich sein kann. Zu den beruflichen Hilfen gehören: 4 Minderleistungsausgleich, 4 besonderer Betreuungsaufwand am Arbeitsplatz, 4 Bereitstellen eines Fahrers im Rahmen von Arbeitsassistenz bei einem nicht anfallsfreien Patienten, von dem ein gelegentliches Fahren während der betrieblichen Tätigkeit gefordert wird (Thorbecke u. Specht 2005). Praxistipp Von besonderer Bedeutung ist der Zuschuss zu den Beförderungskosten für Patienten, die nach der Kraftfahrzeughilfeverordnung (noch) nicht fahrgeeignet sind. Nicht selten wird diese Hilfe vom Kostenträger mit dem Hinweis abgewiesen, dass auch nicht behinderte Personen am gleichen Wohnort die gleichen Schwierigkeiten hätten. Diese Argumentation hält allerdings einer gerichtlichen Nachprüfung nicht Stand, entspricht auch nicht den Leitlinien zur Rehabilitationsbedürftigkeit für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Deutsche Rentenversicherung Bund 2005) und sollte nicht widerspruchslos hingenommen werden (Thorbecke 2007).
Bewerbungssituation arbeitssuchender Patienten Die Mitteilung der Diagnose »Epilepsie« hat sich für Anfallskranke oft als eine unüberwindbare Hürde bei der Stellensuche herausgestellt. Deshalb verschweigen viele ihre Erkrankung, auch wenn sie nicht anfallsfrei sind. Rechtlich ist dies nur dann bedenklich, wenn am konkreten Arbeitsplatz im Fall eines Anfalls eine erhöhte Gefährdung für den Anfallskranken (oder Dritte), verglichen mit dem im Alltag hinzunehmenden Gefährdungsrisiko und verglichen mit der Gefährdung eines gesunden Arbeitskollegen, besteht (Steinmeyer u. Thorbecke 2003). Praxistipp Ganz gleich, welche Strategie bei der Bewerbung gewählt wird, ist es wichtig, dass der Betroffene in der Lage ist, anderen – Personalfachleuten wie Arbeitskollegen – seine Erkrankung im geeigneten Moment so zu erklären, dass Ängste beim Gegenüber abgebaut werden (Harden et al. 2004). Um dies zu erlernen, sind Rollenspielgruppen gut geeignet (Kühne 2007). Genauso wichtig ist es, den Fokus von der Epilepsie wegzunehmen und die Betroffenen zu befähigen, ihre Stärken und Fähigkeiten zu vermitteln. Dies vergessen die Betroffenen oft.
Berufliche Wiedereingliederung von Patienten nach epilepsiechirurgischem Eingriff Bei Patienten nach epilepsiechirurgischem Eingriff kommt dem Instrument der stufenweisen Wiedereingliederung nach SGB V eine besondere Bedeutung zu. Nach eigenen Erfahrungen ist der Zeitpunkt der Wiedereingliederung jedoch sehr variabel: 4 In der Regel können die Patienten bis spätestens 3 Monate nach Operation mit der stufenweisen Wiedereingliederung begonnen werden. 4 Schüler und junge Erwachsene können z.T. schon nach 6 Wochen ihre Ausbildung wiederaufnehmen. 4 Bei Patienten mit psychiatrischen Komplikationen kann die Wiederaufnahme ihrer Arbeitstätigkeit bis zu einem ½ Jahr dauern; u.U. ist zuvor eine Wiederholungs-Rehamaßnahme nötig (Koch-Stoecker u. Kanemoto 2008). > Der vorläufige Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Arbeitstätigkeit sollte anhand 4 der Beobachtungen in der Ergotherapie, 4 dem Verhalten im Stationsalltag, 4 der psychiatrischen Beurteilung und 4 der subjektiv wahrgenommenen Belastbarkeit vor der Klinikentlassung festgelegt werden.
Für einige Patienten ist eine Wiederholungsmaßnahme ca. 6–8 Monate nach Operation zu empfehlen. Diese ist bei Patienten indiziert, 4 die präoperativ zeitlich befristet berentet wurden oder 4 bei denen präoperativ aufgrund der ungünstigen Anfallssituation eine Berentung ins Auge gefasst wurde. Bei solchen Patienten gelingt nach unseren Beobachtungen die berufliche Wiedereingliederung über eine Wiederholungsmaßnahme, die schon bei der unmittelbaren postoperativen Rehabilitation vorbereitet werden muss. Näher betrachtet Studie: Postoperative Anschlussrehabilitation/ Wiederholungsmaßnahmen Durch eine postoperative Anschlussrehabilitation, ggf. kombiniert mit Wiederholungsmaßnahmen, ließ sich in einer Studie an Patienten mit Temporallappenteilresektion die Arbeitslosigkeitsrate 2 Jahre postoperativ im Vergleich zu einer »historischen« Kontrollgruppe signifikant senken (Thorbecke u. Hötker 2008).
Am Ende der berufsorientierten Rehabilitationsmaßnahme steht eine sozialmedizinische Beurteilung. Diese umfasst 4 Aussagen zur beruflichen Leistungsfähigkeit (Ressourcen und Einschränkungen in mentalen und somatischen Funktionen und Aktivitäten), 4 die epilepsiebezogene Eignungsbeurteilung (Ausschuss »Arbeitsmedizin« des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften 2007, s.o.) und 4 Eignungseinschränkungen aufgrund zusätzlicher Schädigungen.
41
754
Kapitel 41 · Epilepsien
Praxistipp Empfehlungen zu Teilhabe am Arbeitsleben und Nachsorge sollten vor der Entlassung mit den Patienten und deren Angehörigen besprochen werden. Die Betroffenen sollten v.a. bei Gedächtnisstörungen einen schriftlich verfassten Fahrplan für die Zeit nach der Klinik erhalten. Auch sollten notwendige Anträge schon in der stationären Zeit ausgefüllt werden.
Ein Transfer der erarbeiteten Rehabilitationsergebnisse in die berufliche und familiäre Umgebung ist oft nur dann erfolgreich, wenn ein Kontakt mit Personen vor Ort hergestellt wurde, die den Rehabilitationsprozess weiterführen können. Dazu gehören u.a. 4 Rehabilitationsberater bei der Agentur für Arbeit, 4 Rehabilitationsfachberater des Kostenträgers, 4 Betriebsärzte, 4 Vertrauensleute für Schwerbehinderte, 4 Mitarbeiter des Integrationsamtes, 4 Nervenärzte und 4 Mitarbeiter in sozialpsychiatrischen Diensten. Diese sollten in die Formulierung der langfristigen Rehabilitationsziele einbezogen werden und in den Empfehlungen zur Nachsorge und Teilhabe genannt werden (Thorbecke 1988).
41.4
Dokumentation1
Im deutschsprachigen Raum hat sich in den letzten Jahren der PESOS (7 Kap. 41.2.3.1) als ein für Verlaufsuntersuchungen nach rehabilitativen Interventionen sensitives Instrument erwiesen, das alle relevanten Bereiche abdeckt (May et al. 2004,
Praxistipp
41
Bezugs- und Informationsquellen Die Fragebögen PESOS und QOLIE-31 sowie die deutsche Version des Epilepsy-Knowlegde-Profile sind zu beziehen über: Herrn Prof. Dr. T. May, Pharmakologisches Labor der Gesellschaft für Epilepsieforschung, Maraweg 13, 33617 Bielefeld; Fax 0521-1442027. Epilepsie-Schulungsprogramm MOSES (Informationen, Trainerausbildung, Schulungstermine für Patienten): MOSES-Geschäftsstelle, Frau B. Hahn, Rußheiderweg 3, 33604 Bielefeld; Fax 0521-2704800; E-mail: MOSES.
[email protected] Das Merkblatt »Serumspiegeluntersuchung nach Anfallsrezidiv. Ein Patienten-Merkblatt zur Therapieoptimierung bei Epilepsie« (U. Specht/P. Wolf ) ist bei der Geschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie erhätlich: Reinhardstr. 14, 10117 Berlin; Tel.: 070013141300, Fax: 0700-13141399; E-mail:
[email protected]
Specht et al. 2007). Der kürzere, aber nicht auf praktische Beratungsaspekte ausgelegte QOLIE-31 (May et al. 2001) ist ebenfalls ein sensitives Instrument für Verlaufsuntersuchungen.
41.5
Literatur
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1
Die Autoren danken dem interdisziplinären Team unserer Abteilung für die kritische und kreative Zusammenarbeit sowie Frau Dr. A. Moch (verstorben 2003) und Herrn Dipl. Psych. R. Wohlfarth, Freiburg, für ihre wertvollen Hinweise und Ergänzungen.
755 41.5 · Literatur
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D
Assessment und Dokumentation Kapitel 42
Kapitel 43
Neuropsychologische Diagnostik: Ökologische Validität und Prognosen K.W. Lange, L. Tucha, O. Tucha Dokumentation, Messung und Qualitätsmanagement H. Lüthi, J. Blanco, M. Mäder
– 771
– 759
42
Neuropsychologische Diagnostik: Ökologische Validität und Prognosen K.W. Lange, L. Tucha, O. Tucha 42.1
Definition: Ökologische Validität
42.2
Bestimmung der ökologischen Validität neuropsychologischer Tests – 760
42.2.1 42.2.2 42.2.3 42.2.4 42.2.5
Wirklichkeitsnähe – 760 Wahrheitstreue – 760 Outcome-Variablen – 760 Probleme bei der Bestimmung der ökologischen Validität Beurteilung der ökologischen Validität neuropsychologischer Tests – 762
42.3
Faktoren, die die ökologische Validität beeinflussen
42.3.1 42.3.2 42.3.3 42.3.4 42.3.5 42.3.6 42.3.7 42.3.8 42.3.9
Traditionelle diagnostische Sichtweiseder Neuropsychologie – 762 Erhaltene Kompetenzen – 763 Kontextfaktoren – 763 Krankheitsverlauf – 764 Emotionale Störungen und Persönlichkeitsänderungen – 764 Prämorbides Funktionsniveau – 765 Ungeeignete Normierungen – 765 Versuchsleiter-/Probandeneffekte – 765 Merkmale neuropsychologischer Tests und der Untersuchungssituation – 765 Auswahl neuropsychologischer Tests – 766
42.3.10
– 760
42.4
Notwendigkeit der Verwendung von Tests mit hoher ökologischer Validität – 767
42.5
Literatur
– 767
– 761
– 762
760
Kapitel 42 · Neuropsychologische Diagnostik: Ökologische Validität und Prognosen
Bislang wurden die meisten neuropsychologischen Testverfahren nicht entsprechend den Kriterien der ökologischen Validität entwickelt. Außerdem wurde der Zusammenhang zwischen testpsychologischen Untersuchungsergebnissen und dem Verhalten im Alltag bisher nur unzureichend untersucht. Aber auch wenn die ökologische Validität eines Tests empirisch belegt ist, lässt sich dieses Ergebnis nicht uneingeschränkt auf andere als die untersuchten Patientengruppen oder Outcome-Variablen übertragen. Die ökologische Validität von Testergebnissen lässt sich jedoch erheblich erhöhen, wenn das alltägliche Verhalten in unterschiedlichen Situationen beobachtet wird und alle über den Patienten zur Verfügung stehenden Daten berücksichtigt werden. Dazu zählen neben demographischen und medizinischen Variablen u.a. 4 die verbliebenen Ressourcen, 4 verfügbare Kompensationsstrategien, 4 der emotionale Status sowie 4 die individuelle Umwelt des Patienten. Zur wirksamen Gestaltung eines holistischen Ansatzes sind die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Neuropsychologen, Ärzten, Pflegepersonal, Berufsberatern und weiteren Fachkräften sowie die Einbeziehung der Angehörigen des Patienten erforderlich. Da sich die Fragen an die Neuropsychologen zunehmend auf das Verhalten von Patienten im Alltag beziehen, sollte der Entwicklung ökologisch valider Tests und der Überprüfung gebräuchlicher Verfahren hinsichtlich dieses Gütekriteriums in Zukunft eine größere Beachtung geschenkt werden. Bisher sind die Aussagen über das Verhalten des Patienten in seiner realen Umgebung häufig fehlerhaft und spekulativ. Sie müssen daher immer kritisch überprüft werden.
42.1
4 Die Wirklichkeitsnähe (»verisimilitude«) bezeichnet die Ähnlichkeit zwischen der Testaufgabe und dem in der natürlichen Umwelt gezeigten Verhalten, das durch die Testaufgabe repräsentiert werden soll. 4 Die Wahrheitstreue (»veridicality«) beschreibt das Ausmaß, mit dem Testergebnisse und das Verhalten in der realen Umwelt empirisch zusammenhängen oder mit dem es durch die Testergebnisse vorhergesagt werden kann. Dabei müssen sich Testaufgabe und Alltagsverhalten ähnlich sein.
42.2
Bestimmung der ökologischen Validität neuropsychologischer Tests
42.2.1
Wirklichkeitsnähe
Die Wirklichkeitsnähe stellt einen Zusammenhang zwischen den Anforderungen eines Testverfahrens und den Anforderungen in der natürlichen Umwelt her. Die Beurteilung dieser Beziehung stützt sich u.a. auf Theorien, die eine Verbindung zwischen den Testergebnissen und dem im Alltag gezeigten Verhalten postulieren (Franzen u. Wilhelm 1996): 4 Zum einen soll die topographische Ähnlichkeit zwischen der Testaufgabe und den Anforderungen einer realen Situation erfasst werden. 4 Zum anderen geht es um das Ausmaß, in dem die Testaufgabe das entsprechende Verhalten repräsentiert. Außerdem werden Testverfahren danach beurteilt, ob die situationsbedingten Merkmale der Tests mit denen der natürlichen Umwelt, z.B. Ausmaß der Ablenkung und Möglichkeit des Einsatzes von Kompensationsstrategien, übereinstimmen (Franzen u. Wilhelm 1996).
Definition: Ökologische Validität
In den vergangenen Jahren wurde in zunehmendem Maße kritisiert, dass die Ergebnisse neuropsychologischer Tests einen geringen oder überhaupt keinen Zusammenhang mit den Leistungen der untersuchten Probanden im Alltagsleben aufweisen (Hart u. Hayden 1986). Daher erlauben die Testergebnisse neuropsychologischer Untersuchungen häufig keine zuverlässigen Aussagen über alltagsrelevante Fähigkeiten, z.B. über berufliche oder soziale Kompetenzen. Definition Der Zusammenhang zwischen den Ergebnissen neuropsychologischer Tests und den unter Alltagsbedingungen vorhandenen Fähigkeiten wird als ökologische Validität bezeichnet.
42 Dieser Zusammenhang ist bei vielen psychometrischen Testverfahren eher gering ausgeprägt. Ein ökologisch valider Test sollte eine hohe Korrelation zwischen den Testergebnissen und dem Verhalten in der realen Umwelt aufweisen. Dabei unterscheiden Franzen und Wilhelm (1996) zwei Komponenten der ökologischen Validität:
42.2.2
Wahrheitstreue
Die Wahrheitstreue eines Verfahrens wird nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch bestimmt (Franzen u. Wilhelm 1996). Zur Beschreibung der Wahrheitstreue eines Tests wird i.d.R. der statistische Zusammenhang (z.B. Korrelation oder Regression) zwischen den Testergebnissen und bestimmten Fähigkeiten in der realen Umwelt berechnet. Dazu eignen sich vor allem multivariate Analysen (Chelune u. Moehle 1986, Franzen 2000). Der Zusammenhang zwischen den Testergebnissen und dem Alltagsverhalten sollte sowohl für gesunde Menschen als auch für Patienten mit neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen bestimmt werden (Franzen 2000, Ready et al. 2001), da die ökologische Validität eines Verfahrens für die beiden Gruppen unterschiedlich sein kann (Hart u. Hayden 1986, McSweeny et al. 1985, Sivak et al. 1981).
42.2.3
Outcome-Variablen
Das Verhalten in der natürlichen Umwelt, das für die Bestimmung der ökologischen Validität eines Tests zu untersuchen
761 42.2 · Bestimmung der ökologischen Validität neuropsychologischer Tests
ist, kann unterschiedlich sein. So können die für bestimmte Verhaltensweisen benötigten Fähigkeiten eher spezifisch (z.B. Fahrtauglichkeit) oder global (z.B. beruflicher Erfolg) sein (Franzen 2000, Franzen u. Wilhelm 1996). Einige dieser Fähigkeiten (z.B. die räumlich-zeitliche Orientierung) sind für die Bewältigung des Alltags unter fast allen Bedingungen grundlegend (»generic skills«), während andere Fähigkeiten (z.B. Bedienen bestimmter Maschinen am Arbeitsplatz) nur unter besonderen Bedingungen benötigt werden (»specific skills«) (Williams 1996). Definition Die im Alltag gezeigten Fertigkeiten, die durch neuropsychologische Testergebnisse abgebildet oder vorhergesagt werden sollen, werden Outcome-Variablen genannt.
Bisher beschränkte sich die Forschung auf ein relativ schmales Spektrum von Outcome-Variablen wie z.B. den Erfolg im Beruf (Ready et al. 2001), wobei unterschiedliche Operationalisierungen möglich sind (Goldstein 1996). Besonders geeignete Outcome-Variablen sind quantitative Maße wie Skalen zur Erfassung von Aktivitäten des täglichen Lebens (Activities of Daily Living, ADL). Häufig sind die erfassten Verhaltensweisen (z.B. Ankleiden) jedoch so leicht durchführbar, dass mit Bodeneffekten gerechnet werden muss. Aktivitäten des täglichen Lebens, die komplexe kognitive Leistungen erfordern (z.B. Auto fahren), werden oft als Instrumental Activities of Daily Living bezeichnet (Farmer u. Eakman 1995, Law 1993, McCue et al. 1990). Die in der natürlichen Umgebung gezeigten Verhaltensweisen werden i.d.R. erfasst durch 4 Selbst- und Angehörigenbeurteilungsskalen, 4 Beobachtungsskalen für Therapeuten und Pflegepersonal sowie 4 standardisierte Leistungsprüfungen (Franzen u. Wilhelm 1996, Heaton u. Pendleton 1981). Die Beobachtung eines Patienten in seiner natürlichen Umwelt hat sich als besonders geeignetes Mittel zur Bestimmung des Leistungsniveaus im Alltag erwiesen. Die Beurteilung durch den Patienten selbst ist häufig mit Problemen verbunden, da Menschen mit einer Hirnschädigung ihre Beeinträchtigungen zuweilen nicht wahrnehmen oder verharmlosen (Giacino u. Cicerone 1998, Godfrey et al. 1993, Hart u. Hayden 1986, McGlynn u. Schacter 1989, Saring et al. 1988). Patienten mit psychiatrischen Störungen, wie Depression oder Angststörungen, neigen dazu, ihre Leistungsfähigkeit zu unterschätzen (Chelune u. Moehle 1986). Daher stellen Selbstbeurteilungen durch die Patienten nur ein ergänzendes Mittel zur Erfassung der Leistungsfähigkeit im Alltag dar (Goldstein 1996).
42.2.4
Probleme bei der Bestimmung der ökologischen Validität
Die empirische Bestimmung der ökologischen Validität eines psychologischen Tests ist mit einer Reihe von Problemen verbunden: 4 Zum einen bereitet die Auswahl geeigneter OutcomeVariablen häufig Schwierigkeiten. 4 Zum anderen stellt die soziale Validität (»social validity«) ein Problem dar (Franzen 2000, Hawkins 1988). Sie beschreibt, welche Bedeutung ein bestimmtes Verhalten für einen Patienten oder seine soziale Umwelt hat. Für die empirische Prüfung der ökologischen Validität eines Testverfahrens sollten nach Möglichkeit die Verhaltensaspekte des Alltags herangezogen werden, die für das Leben des Patienten und seine Angehörigen relevant sind. Selbst wenn solche alltagsrelevanten Verhaltensweisen ausgewählt werden, ist deren Messung oft schwierig (Silver, 2000; Williams, 1996). Des Weiteren gibt es methodische Probleme. Zu diesen gehört, dass die Verfahren zur Erfassung von Alltagsaktivitäten im Gegensatz zu neuropsychologischen Verfahren nicht für überdurchschnittliche Leistungen skaliert sind (Goldstein 1996, Williams 1996, Franzen u. Wilhelm 1996). Besser geeignete Methoden zur Erfassung der im Alltag gezeigten Leistungen werden daher dringend benötigt (Acker 1990, Franzen u. Wilhelm 1996, Goldstein 1996, Hall u. Johnston 1994). jUnmittelbare Verhaltensbeobachtung Eine angemessene Methode zur Erfassung des Verhaltens in der natürlichen Umgebung stellt die unmittelbare Verhaltensbeobachtung (in vivo) dar. Aufgrund des hohen Zeitund Kostenaufwands wird die Beobachtung von In-vivo-Verhalten in der Regel jedoch eher selten durchgeführt (Franzen u. Wilhelm 1996). Auch werden unmittelbare Verhaltensbeobachtungen üblicherweise nicht unter unterschiedlichen Bedingungen der natürlichen Umgebung verwirklicht. Daher kann eine Generalisierung des Verhaltens für unterschiedliche Umweltsituationen nicht vorausgesetzt werden (Goldstein 1996). Goldstein (1996) kritisiert in diesem Zusammenhang, dass den klinischen Neuropsychologen das zur Verhaltensbeobachtung notwendige Fachwissen häufig fehle. Dieser Mangel führt zu erheblichen Einschränkungen bei der Beobachtung von Patienten in der natürlichen Umwelt und bei der Erfassung von charakteristischen Umgebungsmerkmalen. Häufig sollen Neuropsychologen Prognosen über künftiges Verhalten (z.B. berufliche Wiedereingliederung) erstellen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung kann der Psychologe das Verhalten nicht beobachten, daher werden alltagsnahe Situationen künstlich konstruiert. Da das relevante Verhalten zum Zeitpunkt der Untersuchung vom Patienten jedoch noch nicht gezeigt werden kann, ist eine unmittelbare Verhaltensbeobachtung im Alltag nicht durchführbar. Statt einer Verhaltensbeobachtung in der tatsächlichen Umwelt wird das Verhalten in alltagsnahen Situationen untersucht, die jedoch künstlich konstruiert sind. Dabei erhalten Neuropsychologen i.d.R. keine
42
762
Kapitel 42 · Neuropsychologische Diagnostik: Ökologische Validität und Prognosen
Rückmeldung über die Qualität ihrer Vorhersagen, da sie den weiteren Lebensweg des Patienten außerhalb der Klinik selten weiterverfolgen können (Acker 1990, Sbordone 1996).
42.2.5
Beurteilung der ökologischen Validität neuropsychologischer Tests
Bereits im Jahre 1981 forderten Heaton und Pendleton (1981), dass der Zusammenhang zwischen Testergebnissen und Verhalten im Alltag erforscht werden müsse. Da die empirische Überprüfung der ökologischen Validität jedoch zeit- und kostenaufwendig sowie mit vielen methodischen Problemen verbunden ist, wurde dieses Gütekriterium für die meisten neuropsychologischen Verfahren nicht oder nur unzureichend ermittelt (Williams 1996). Studien, die den Zusammenhang zwischen Testergebnissen und Verhalten in der natürlichen Umwelt untersuchen, weisen i.d.R. Pearson-Korrelations-Koeffizienten zwischen 0,2 und 0,5 auf (Williams 1996). Nach einer Klassifikation von Cohen (1988) handelt es sich überwiegend um Zusammenhänge von kleiner bis mittlerer Größe. ! Cave Es ist jedoch hervorzuheben, dass multivariate Verfahren (z.B. multiple Korrelationen), die eine Vielzahl von Testergebnissen berücksichtigen, die ökologische Validität von diagnostischen Aussagen deutlich erhöhen können. Dennoch sollte berücksichtigt werden, dass die beobachteten Zusammenhänge zwischen Testergebnissen und Verhalten höchstens 40% der Varianz erklären. Individuelle Aussagen über das Verhalten im Alltag lassen sich daher nur schwer treffen (Goldstein 1996). Bei der Interpretation von Korrelationen sollte außerdem beachtet werden, 4 dass der Zusammenhang zwischen Testergebnissen und Alltagsverhalten durch konfundierende Faktoren wie emotionale oder motorische Störungen bedingt sein kann (Franzen u. Wilhelm 1996, Hart u. Hayden 1986). 4 dass sich empirische Studien zur Überprüfung der ökologischen Validität immer nur auf eine Probandengruppe beziehen (Chelune u. Moehle 1986, Wilson 1993). Die Ergebnisse können nicht ohne Weiteres auf einzelne Patienten übertragen werden, da das Verhalten im Alltag durch eine Vielzahl von Variablen (z.B. Motivation und Ausmaß der familiären Unterstützung) bestimmt wird (Hart u. Hayden 1986, Chelune u. Moehle 1986).
42
Inwieweit bestimmte Testergebnisse Aussagen über das Verhalten im Alltag zulassen, hängt von Stichprobenmerkmalen ab, z.B. 4 Alter, 4 Art und Schweregrad der Hirnschädigung sowie 4 Stadium des Rehabilitationsprozesses (Acker 1990, Goldstein et al. 1992, Goldstein 1996, Keogh u. Smith 1967, McSweeny et al. 1985). Einige neuropsychologische Testverfahren können für bestimmte Personengruppen ökologisch valide Aussagen liefern, die jedoch für andere Gruppen keine Gültigkeit haben (DeCencio et al. 1970, Diller u. Weinberg 1970, Hart u. Hayden 1986, McSweeny et al. 1985, Prigatano et al. 1984, Sivak et al. 1981). > Testverfahren korrelieren vor allem dann hoch mit dem Verhalten in der natürlichen Umgebung, wenn diesem Verhalten kognitive Leistungen zugrunde liegen, die mit den eingesetzten neuropsychologischen Tests überprüft werden (Farmer u. Eakman 1995). Darüber hinaus können »generic skills« mithilfe von Testergebnissen besser vorhersagt werden als »specific skills« (Williams 1996).
Bisher liegen keine neuropsychologischen Einzeltests oder Testbatterien vor, die anderen Testverfahren hinsichtlich ihrer ökologischen Validität überlegen sind (Goldstein 1996). Testverfahren mit einem höheren Grad an Komplexität erfüllen dieses Gütekriterium jedoch besser als Verfahren mit einem geringen Komplexitätsgrad (Goldstein 1996). Außerdem weisen Testverfahren, die verschiedene kognitive Leistungen messen, in der Regel eine höhere ökologische Validität auf als Verfahren, die nur einen einzelnen Aspekt von Kognition erfassen (Girard et al. 1996, Tupper u. Cicerone 1990). Beispiel Verfahren mit empirisch belegter ökologischer Validität (Jehkonen et al. 2000, Norris u. Tate 2000, Schwartz u. McMillan 1989, Wilson 1991a) sind 4 der Rivermead Behavioral Memory Test (RBMT; Wilson et al. 1985), 4 der Behavioural Inattention Test (BIT; Wilson et al. 1987), 4 der Test of Everyday Attention (TEA; Robertson et al. 1994) und 4 die Testbatterie Behavioural Assessment of the Dysexecutive Syndrome (BADS; Wilson et al. 1996).
42.3
Faktoren, die die ökologische Validität beeinflussen
42.3.1
Traditionelle diagnostische Sichtweise der Neuropsychologie
Praxistipp Es konnte gezeigt werden, dass das Verhalten im Alltag unter Berücksichtigung neuropsychologischer Ergebnisse besser vorhergesagt werden kann als unter alleiniger Verwendung demographischer und medizinischer Daten (Heinrichs 1989, Heinrichs 1990).
Historisch gesehen bestand das Ziel neuropsychologischer Tests darin, gesunde Probanden von Patienten mit einer Hirnschädigung zu unterscheiden. Zusätzlich sollten sie einen diagnostischen Beitrag zur Lokalisation oder Ätiologie von
763 42.3 · Faktoren, die die ökologische Validität beeinflussen
Hirnschädigungen leisten. Der Bezug zum Verhalten im Alltag blieb dabei unberücksichtigt (Cubic u. Gouvier 1996, Franzen u. Wilhelm 1996, Goldstein 1996). > Aufgrund der bildgebenden Verfahren (z.B. Kernspintomographie und Positronen-Emissions-Tomographie) haben die neuropsychologischen Tests jedoch die Bedeutung verloren, strukturelle Veränderungen des Gehirns zu diagnostizieren (Costa 1983, Guilmette u. Kastner 1996, Long 1996).
Auch die Fragestellungen an den Neuropsychologen haben sich dadurch verändert (Chelune u. Moehle 1986, Heinrichs 1990). Neben der neuropsychologischen Beschreibung und Behandlung von Störungen nach einer Hirnschädigung werden vermehrt Aussagen über den Alltag außerhalb der Klinik gefordert. Um komplexe Fragestellungen wie z.B. die Aussicht auf eine erfolgreiche berufliche Wiedereingliederung, zu beantworten, müssen neben medizinisch relevanten Daten sowohl die für den jeweiligen Beruf erforderlichen kognitiven, sensorischen und motorischen Funktionen als auch emotionale und psychosoziale Faktoren mit geeigneten Untersuchungsverfahren erfasst werden. Der Wechsel von ursprünglich primär diagnostischen Problemen zu eher therapeutisch und rehabilitativ orientierten Fragestellungen wurde bisher bei der Konstruktion und dem Einsatz von Testverfahren noch nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt. So existieren bisher nur wenige Verfahren, die den Kriterien der ökologischen Validität gerecht werden. Wenn neuropsychologische Tests ökologisch nicht valide sind, müssen neue Verfahren mit hoher Alltagsrelevanz konstruiert werden (Long 1996). > Bei der Testkonstruktion spielt vor allem die Wirklichkeitsnähe eine entscheidende Rolle. Diese kann dadurch erhöht werden, dass die Untersuchungssituation in hohem Maße den Verhältnissen der realen Umwelt entspricht. Des Weiteren sollten bereits Aspekte der Wahrheitstreue erfasst werden. Bisher wurde der Aspekt der ökologischen Validität bei der Testkonstruktion in den meisten Fällen jedoch nicht berücksichtigt (Goldstein 1996).
42.3.2
Erhaltene Kompetenzen
Da der historisch begründete Fokus der Neuropsychologie vor allem auf einer differenzierten Diagnostik der funktionellen Folgen von Hirnschädigungen liegt, erfassen neuropsychologische Tests vor allem Leistungsbeeinträchtigungen (»negative signs«) (Franzen 2000, Siegal 1996). Diesem Vorgehen liegt die Annahme zugrunde, dass bei Vorliegen einer Leistungsbeeinträchtigung ein bestimmtes Verhalten nicht mehr angemessen gezeigt werden kann. Ob eine Problembewältigung im Alltag möglich ist, hängt jedoch von einer Vielzahl von Faktoren wie z.B. dem Einsatz von Kompensationsstrategien ab (Farmer u. Eakman 1995, Heaton u. Pendleton 1981).
Gängige neuropsychologische Testverfahren erfassen jedoch i.d.R. keine Kompensationsstrategien (Cubic u. Gouvier 1996, Sbordone 1996, Wilson 1993), da die Anweisungen und Restriktionen bei der Bearbeitung von Testaufgaben den Einsatz individueller Kompensationsstrategien häufig nicht zulassen. Damit können die Testergebnisse das tatsächliche Leistungsniveau im Alltag unterschätzen (Franzen u. Wilhelm 1996, Hart u. Hayden 1986). jKompensationsstrategien So beschreiben Johnston und Hall (1994), dass Patienten mit einer Hirnverletzung deutliche Fortschritte im täglichen Leben zeigen, obwohl keine Verbesserungen in der neuropsychologischen Testung zu sehen sind. Dieses Ergebnis weist auf die Bedeutung von Kompensationsstrategien bei der Bewältigung der Alltagsanforderungen hin. Daher betonen viele Autoren (Chelune u. Moehle 1986, Cripe 1996, Goldstein 1996, Hart u. Hayden 1986, Luria 1973), dass die Art und Weise, auf die ein Patient eine bestimmte Aufgabe bearbeitet, wichtige Informationen für die Einschätzung des Verhaltens im Alltag liefert. Daher kann die Berücksichtigung qualitativer Aspekte der Aufgabenbearbeitung die ökologische Validität von Aussagen deutlich erhöhen. Die meisten neuropsychologischen Tests sind den Patienten nur wenig vertraut (Crosson 1996). Auf diese Weise wird 4 einerseits für verschiedene Patienten ein relativ homogenes Ausgangsniveau gewährleistet, 4 andererseits bleibt der im Alltag oft sehr bedeutende Einfluss von Vorwissen und individuellen Erfahrungen unbeachtet. Vorhandene Ressourcen müssen bei der Interpretation von Testergebnissen unbedingt berücksichtigt werden, wenn ökologisch valide Aussagen getroffen werden sollen (Chelune u. Moehle 1986, Farmer u. Eakman 1995, Heaton u. Pendleton 1981). Praxistipp Dabei ist zu beachten, dass Gesunde bei der Beurteilung des Leistungsniveaus von Patienten zu Generalisierungen neigen. Gesunde Personen orientieren sich häufig an einzelnen Beeinträchtigungen von Patienten und generalisieren von diesen auf andere Leistungsbereiche (Wright 1960).
42.3.3
Kontextfaktoren
Wenn das Verhalten im Alltag analysiert werden soll, muss neben den persönlichen Ressourcen der Patienten auch deren individuelle Umwelt beachtet werden (Chelune u. Moehle 1986). So sind Prognosen zur beruflichen Eingliederung eines Patienten nur dann sinnvoll, wenn Merkmale der Arbeitsumgebung erfasst werden, z.B.
42
764
Kapitel 42 · Neuropsychologische Diagnostik: Ökologische Validität und Prognosen
4 das Verhältnis zu Arbeitskollegen oder 4 Möglichkeiten zur Supervision (Guilmette u. Kastner 1996). Viele Neuropsychologen begründen ihre Aussagen über das im Alltag zu erwartende Verhalten jedoch nur anhand der erhobenen Testergebnisse und übergehen die individuelle soziale und materielle Umwelt des Patienten (Sbordone 1996). Förderfaktoren im sozialen Kontext, z.B. die Unterstützung von Arbeitskollegen, können Beeinträchtigungen reduzieren, die sich in neuropsychologischen Untersuchungen zeigen (Sbordone 1996). > Das Modell der International Classification of Functioning, Impairment and Health (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2002) greift diesen Gedanken auf: Eine Behinderung wird als das Ergebnis einer Wechselbeziehung zwischen individueller Gesundheitsstörung, externen Kontextbedingungen und dem Anpassungsvermögen des Patienten aufgefasst (Goldstein 1963, Naugle u. Chelune 1990). Eine neuropsychologische Störung ist keine statische Eigenschaft eines Menschen. Das Verhalten des Patienten sollte vielmehr in unterschiedlichen Situationen beobachtet werden (Goldstein 1996).
42.3.4
Krankheitsverlauf
Vor allem bei Kindern mit einer Hirnschädigung müssen mehrere Faktoren bei der Vorhersage des Krankheitsverlaufs berücksichtigt werden. Für die Beurteilung des Rehabilitationspotenzials ist beispielsweise das Alter zum Zeitpunkt der Hirnschädigung bedeutsam (Taylor u. Alden 1997). Praxistipp Wenn bei Kindern zur Zeit der Hirnschädigung bestimmte kognitive Leistungen, z.B. Exekutivfunktionen, noch nicht vollständig ausgebildet sind, treten Beeinträchtigungen dieser Funktionen noch nicht unmittelbar zutage. Sie zeigen sich erst in einem Alter, in dem sich diese Leistungen bei gesunden Kindern üblicherweise vollständig entwickeln.
Auch bei erwachsenen Patienten mit einer Hirnschädigung ist es schwierig, Prognosen zum Krankheitsverlauf zu stellen.
42
> Die gängige Lehrmeinung war, dass Spontanremissionen vor allem innerhalb der ersten 6 Monate nach einer Hirnschädigung auftreten und dass der Regenerationsprozess des Gehirns 2 Jahre nach der Hirnschädigung abgeschlossen sei (Sbordone et al. 1995, Sbordone 1996). Neuere Studien weisen je6
doch darauf hin, dass auch noch bis zu 10 Jahre nach einer Hirnschädigung bedeutsame Verbesserungen der körperlichen und geistigen Funktionen auftreten können (Acker 1990, Keren et al. 2001, Naeser et al. 1998, Sbordone et al. 1995).
Wird dieses Veränderungspotenzial zum Zeitpunkt der neuropsychologischen Untersuchung nicht berücksichtigt, sind ökologisch valide Aussagen über künftiges Verhalten kaum möglich. So kann die berufliche Wiedereingliederung eines Patienten als eine Art Katalysator wirken und den Verlauf der Rehabilitation entscheidend verbessern (McMahon u. Shaw 1996). Darüber hinaus heben einige Autoren hervor, dass kognitive Leistungen nicht immer als stabile Eigenschaften (»traits«) anzusehen sind, sondern eher als Leistungen, die Fluktuationen (»states«) unterliegen (Siegal 1996).
42.3.5
Emotionale Störungen und Persönlichkeitsänderungen
Menschen mit einer Hirnschädigung stehen zur Zeit der neuropsychologischen Untersuchung oft unter großer emotionaler Belastung. Wenn künftiges Verhalten im Alltag vorhersagt werden soll, muss bedacht werden, dass die emotionalen Probleme des Patienten im Laufe der Rehabilitation zunehmen oder geringer werden können (Prigatano et al. 1984). Goldstein beschreibt (1942, 1952) die sog. Katastrophenreaktion, eine Erschütterung des Selbst, die ein Patient erlebt, wenn er Aufgaben, die er vor der Erkrankung mit Leichtigkeit ausführen konnte, als für ihn unlösbar ansieht. Neben reaktiven psychischen Störungen treten häufig auch organisch bedingte emotionale Beeinträchtigungen und Persönlichkeitsänderungen nach einer Hirnschädigung auf (Franulic et al. 2000, Kim u. Choi-Kwon 2000, McAllister 1992, Parker u. Rosenblum 1996, Prigatano 1992). Diese Beeinträchtigungen werden in künstlichen und strukturierten Untersuchungssituationen, in denen der Neuropsychologe emotional auf den Patienten eingeht und das Auftreten negativer Emotionen zu verhindern sucht, nicht sichtbar (Sbordone 1996). Vor allem Patienten mit Läsionen der Frontallappen zeigen bei neuropsychologischen Untersuchungen häufig unbeeinträchtigte Leistungen, während sie in der realen Umwelt ausgeprägte Schwierigkeiten haben (Cripe 1996, Cummings 1985, Eslinger u. Damasio 1985). Im Vergleich zur Untersuchungssituation wird das Verhalten in der komplexen realen Umwelt, die durch eine Vielzahl zwischenmenschlicher Interaktionen geprägt ist, aufgrund mangelnder emotionaler Selbstkontrolle stark beeinträchtigt. Daher sollten emotionale Störungen und Persönlichkeitsänderungen in neuropsychologischen Befunden erfasst werden (Cripe 1996, Franzen u. Wilhelm 1996, Ready et al. 2001, Siegal 1996).
765 42.3 · Faktoren, die die ökologische Validität beeinflussen
Praxistipp Es sollte geprüft werden, ob ein Patient bereits vor der Hirnschädigung durch ungewöhnliches emotionales Verhalten auffiel. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob emotionale Störungen nur unter bestimmten Umgebungsbedingungen, z.B. am Arbeitsplatz, oder unabhängig von der Umwelt auftreten, und welche Auswirkungen die Störungen auf die Funktionsfähigkeit des Patienten haben (Judd u. Fordyce 1996).
> Für den Erfolg der beruflichen Wiedereingliederung sind emotionaler Status und Persönlichkeit des Patienten ebenso bedeutsam wie das kognitive Leistungsniveau (Heaton et al. 1978, Prigatano et al. 1984).
42.3.6
Prämorbides Funktionsniveau
Für Vorhersagen über das Verhalten in der realen Umwelt aufgrund von Testergebnissen sind auch Informationen über das prämorbide kognitive Leistungsniveau von Patienten erforderlich, da die Auswirkungen kognitiver Beeinträchtigung nach einer Hirnschädigung entscheidend durch das prämorbide Niveau bestimmt werden können. Analog den emotionalen Störungen muss auch bei kognitiven Beeinträchtigungen geprüft werden, inwieweit sie bereits vor der Hirnschädigung vorhanden waren (Sbordone 1996). Praxistipp Im Allgemeinen haben Patienten mit hoher prämorbider Leistungsfähigkeit eine günstigere Prognose als Menschen mit eher geringen Leistungen (Bieliauskas 1996, Girard et al. 1996). Zusätzlich zur Eigenanamnese empfiehlt sich deshalb eine Fremdanamnese.
Prognosen über das Verhalten in der realen Umwelt lassen sich leichter stellen, wenn das Funktionsniveau eines Patienten entweder sehr hoch oder sehr niedrig ist (Long 1996, Sbordone 1996). Dagegen lassen sich zuverlässige Vorhersagen über das Alltagsverhalten von Patienten mit geringfügigen Beeinträchtigungen deutlich schwerer treffen. Zur Erfassung des prämorbiden Intelligenzniveaus existieren einige standardisierte Verfahren (Rourke et al. 1991).
nisse nicht voraussetzen kann (Crosson 1996). Rohwerte sollten daher immer Prozenträngen zugeordnet werden. Die Normierungen für Patienten sind häufig nicht repräsentativ, da sie Faktoren wie 4 Alter, 4 Geschlecht, 4 Bildung und 4 sozioökonomischen Status nicht ausreichend berücksichtigen (Sbordone 1996). Es wäre hilfreich, wenn Testverfahren zur Prognose der beruflichen Integration für einzelne Berufsgruppen vorlägen, auch wenn die Erstellung solcher Verfahren mit einem hohen Zeit- und Kostenaufwand verbunden ist. Berufsbezogene Normdaten liegen bislang nur für wenige Tests vor (Guilmette u. Kastner 1996). Vor allem für anspruchsvolle Berufe wie Führungspositionen sind bisher keine geeigneten Verfahren zur Beurteilung der Berufsfähigkeit verfügbar (Williams 1996). > Neuropsychologische Testergebnisse sind gerade für die Vorhersage des beruflichen Erfolgs bei Berufen mit hohen kognitiven Anforderungen geeignet (Guilmette u. Kastner 1996).
42.3.8
Versuchsleiter-/Probandeneffekte
Kognitive Beeinträchtigungen von Menschen mit einer Hirnschädigung werden bei neuropsychologischen Testungen oft auch aufgrund von Versuchsleiter- und Versuchspersoneneffekten nicht richtig erfasst. So nehmen Untersucher häufig Veränderungen der Untersuchungssituation vor oder bieten kompensatorische Interventionen an (Sbordone 1996). Dieses als Konditionalität (»conditionality«) bezeichnete Phänomen beinhaltet beispielsweise wiederholte Hilfestellungen bei der Bearbeitung von Testaufgaben und motivierende Aufforderungen durch den Untersucher. Daher erfasst die neuropsychologische Untersuchung häufig eher das optimale als das normale Leistungsniveau des Patienten. Eine solche Form des dynamischen Testens, also des Testens mit Hilfestellung durch den Untersucher, hat den Vorteil, dass es die Lernreserven des Patienten aufzeigt. Sie hat jedoch den Nachteil, dass diese Hilfen im realen Leben oft nicht zur Verfügung stehen.
42.3.9
Merkmale neuropsychologischer Tests und der Untersuchungssituation
Neuropsychologische Untersuchungen werden i.d.R. unter
42.3.7
Ungeeignete Normierungen
Die Einschätzung der praktischen Folgen einer Hirnschädigung wird erleichtert, wenn geeignete Normdaten vorliegen. Dabei sollten Normwerte sowohl für Gesunde als auch für Patienten mit neurologischen Erkrankungen erhoben werden. Mittelwert und Standardabweichung stellen keine geeigneten Normdaten dar, da man eine Normalverteilung der Testergeb-
kontrollierten und strukturierten Bedingungen mit wenigen Ablenkungen durchgeführt. Viele der dabei verwendeten Testverfahren weisen Merkmale auf, die nicht mit den Gegebenheiten der natürlichen Umwelt übereinstimmen. In der Testsituation bearbeitet ein Patient i.d.R. nacheinander einzelne Aufgaben mit klarer Zielvorgabe. Die Lösung der abstrakten und im Vergleich zum Alltag wenig komplexen Aufgaben ist auf relativ kurze Zeitintervalle beschränkt und wird durch
42
766
Kapitel 42 · Neuropsychologische Diagnostik: Ökologische Validität und Prognosen
den Untersucher gesteuert (Cripe 1996, Heinrichs 1990, Shallice u. Burgess 1991, Silver 2000). Eine Übertragung der unter reizarmen Laborbedingungen erhobenen Testergebnisse auf Verhältnisse in der weitaus komplexeren realen Umwelt ist daher oft schwierig (Hart u. Hayden 1986, Sbordone 1996, Silver 2000). Untersuchungssituationen weisen i.d.R. ein hohes Maß an äußerer Struktur auf (Acker 1990, Mesulam 1986), während sich die natürliche Umgebung des Patienten durch ablenkende Reize, Stress und geringe Struktur auszeichnet (Crosson 1996, Cubic u. Gouvier 1996, Hart u. Hayden 1986). In kontrollierten und strukturierten Untersuchungssituationen ist es häufig schwierig, Beeinträchtigungen exekutiver Leistungen zu erfassen (Lezak 1982), da Patienten mit Frontallappenläsionen vor allem unter geringfügiger externer Kontrolle des Verhaltens die größten Schwierigkeiten haben (Mesulam 1986, Kap. 11). Der Zusammenhang zwischen Testergebnissen und Verhalten in der realen Umwelt ist komplex und wird durch eine Vielzahl intervenierender Variablen beeinflusst (Franzen u. Wilhelm 1996, Williams 1996), die bislang nur unzureichend analysiert wurden (Franzen u. Wilhelm 1996). Cripe (1996) nennt in diesem Zusammenhang das sog. Mind-data-Problem. Da Testwerte lediglich reduktionistische symbolische Repräsentationen des komplexen, interaktiven und dynamischen Alltagslebens darstellen, können diese Werte die tägliche Wirklichkeit nur mangelhaft widerspiegeln und erlauben daher nur bedingt prognostisch relevante Aussagen (Cripe 1996). Wenn komplexe Verhaltensweisen beurteilt werden sollen, können bei ausschließlicher Berücksichtigung neuropsychologischer Daten wichtige Informationen verloren gehen. Praxistipp Der Patient sollte zusätzlich in Situationen beobachtet werden, in denen die Anforderungen und Probleme eine geringe Struktur aufweisen und dadurch der Komplexität des Alltags besser gerecht werden (Cripe 1996).
42
Der Einsatz von simulierter Realität ermöglicht eine alltagsnahe und dennoch standardisierte Erhebung von Daten (Silver 2000). Eine Reihe von Autoren beschreibt die durch den Einsatz dieser neuen Technik bedingten Vorteile für die Neuropsychologie (Johnson et al. 1998, Rizzo u. Buckwalter 1997, Rose et al. 1996, 1997). Die aufgeführten Ansätze zur Verbesserung der ökologischen Validität stehen jedoch häufig im Widerspruch zum Klinikalltag. Selten steht genügend Personal zur Verfügung, das die zeitaufwendigen Untersuchungen wie die Beobachtung des Patienten in seiner natürlichen Umwelt durchführen kann.
42.3.10
Auswahl neuropsychologischer Tests
Kognitive Beeinträchtigungen von Menschen mit einer
Hirnschädigung können bei der neuropsychologischen Un-
tersuchung wegen der geringen Sensitivität vieler Tests gelegentlich nicht erfasst werden (Lezak 1995). Auch müssen die eingesetzten Verfahren einen für den jeweiligen Patienten adäquaten Schwierigkeitsgrad aufweisen (Acker 1990, Crosson 1996, Larrabee u. Crook 1996). Durch Boden- und Deckeneffekte werden die inhaltliche Interpretation der Testergebnisse sowie ökologisch valide Aussagen über das Verhalten in der realen Umwelt erschwert. In neuropsychologischen Untersuchungen werden meistens gezielt umschriebene kognitive Leistungen wie 4 Sprache, 4 Gedächtnis und 4 räumliche Fähigkeiten erfasst (Silver 2000), während im Alltag ein Zusammenwirken verschiedener kognitiver Leistungen erforderlich ist. Diese Interaktion wird in der Untersuchung i.d.R. nicht berücksichtigt (Franzen u. Wilhelm 1996, Siegal 1996, Williams 1996). Für die Beurteilung eines bestimmten Verhaltens im Alltag sollte daher geklärt werden, welche kognitiven Leistungen diesem Verhalten zugrunde liegen (Acker 1990, Heaton u. Pendleton 1981, Heinrichs 1990, Long 1996, Tupper u. Cicerone 1990): 4 Für das Befolgen verbaler Anweisungen sind verschiedene kognitive Leistungen wie Sprachverständnis und Gedächtnis erforderlich (Williams 1996). 4 Für die Beurteilung globaler Fähigkeiten im Alltag (z.B. beruflicher Erfolg) sollten die dafür benötigten kognitiven Leistungen und deren Interaktion untersucht werden (Franzen u. Wilhelm 1996). Studien, die den Zusammenhang zwischen Testergebnissen und Alltagsverhalten allein mithilfe eines einzigen neuropsychologischen Tests bestimmen, zeigen, dass ökologisch valide Aussagen unter Berücksichtigung nur eines Testwerts so gut wie unmöglich sind (Acker 1990, Hart u. Hayden 1986, Kerns u. Mateer 1996). Ein weiterer Grund für die mangelnde ökologische Validität vieler Tests ist, dass erfolgreichem Handeln im Alltag sensorische und motorische Fertigkeiten zugrunde liegen, die die kognitiv ausgerichtete neuropsychologische Untersuchung nicht hinreichend erfasst (Acker 1990, Williams 1996). > Die erfolgreiche Bewältigung alltäglicher Anforderungen erfordert die Integration perzeptiver, motorischer und kognitiver Leistungen (Cubic u. Gouvier 1996).
Diagnostische Aussagen über künftiges Verhalten im Alltag werden dadurch erschwert, dass zum Zeitpunkt der neuropsychologischen Untersuchung häufig deutliche körperliche Einschränkungen (z.B. Nebenwirkungen von Medikamenten) vorliegen (Sbordone 1996). Körperliche Beschwerden können sich im Krankheitsverlauf jedoch verändern.
767 42.5 · Literatur
42.4
Notwendigkeit der Verwendung von Tests mit hoher ökologischer Validität
Die Beurteilung des Leistungsvermögens in der realen Umwelt ist nicht immer das primäre Ziel der neuropsychologischen Untersuchung. Auch wenn bildgebende Verfahren die Bedeutung der Neuropsychologie für die Diagnostik von Hirnschädigungen deutlich reduziert haben, können sie neuropsychologische Verfahren nicht vollständig ersetzen (Heinrichs 1990). Beispiel Bildgebende Verfahren decken strukturelle und funktionelle Veränderungen des Gehirns im präklinischen Stadium des Morbus Parkinson nicht auf, während neuropsychologische Untersuchungen zu diesem Zeitpunkt bereits kognitive Defizite anzeigen können (Berg et al. 1999).
jKlinische Neuropsychologie Eine Reihe von Autoren (Franzen u. Wilhelm 1996, Franzen 2000, Goldstein 1996) betont, dass man bei der Beurteilung von Beeinträchtigungen immer berücksichtigen sollte, inwieweit sie sich klinisch signifikant auf das Leben des Patienten auswirken. Daher hängt die Auswahl der eingesetzten Tests von der jeweiligen Fragestellung ab (Wilson 1991b, Wilson 1993). Sollen Neuropsychologen das Verhalten von Patienten in der realen Umwelt vorhersagen, ist der Einsatz von Testverfahren mit hoher ökologischer Validität unabdingbar. Die Fragen an Neuropsychologen haben sich im Verlauf der vergangenen Jahre verändert (Heinrichs 1990). Die klinische Neuropsychologie beschränkt sich nicht mehr auf die diagnostische Beschreibung von Funktionsstörungen nach Hirnschädigung, sondern berücksichtigt auch praktisch relevante Fragen zum beruflichen und sozialen Leben des Patienten. Die Aufgabenfelder des Neuropsychologen umfassen die Beurteilung 4 der erhaltenen Ressourcen, 4 der Behandlungsmöglichkeiten, 4 des Rehabilitationspotenzials und 4 der optimalen Einrichtung der Lebensbedingungen des Patienten (Heinrichs 1990, Lezak 1995). > Die Vorhersage der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben wird als einer der häufigsten Anlässe für eine neuropsychologische Untersuchung genannt (Guilmette et al. 1990). Aussagen zu derartigen Fragestellungen lassen sich jedoch
nur mithilfe ökologisch valider Verfahren zuverlässig treffen. Da jedoch die Mehrzahl der verfügbaren Tests den Kriterien der ökologischen Validität nicht gerecht wird, sind die häufig fehlerhaften Prognosen über das Verhalten in der natürlichen Umwelt nicht überraschend (Wedding u. Faust 1989). Die Fehler wiegen schwer, wenn Aussagen von Neuropsychologen mit bedeutsamen Konsequenzen verbunden sind. Beispiele dafür sind: 4 Gutachten für Renten- und Krankenversicherungen, 4 Arbeitsverwaltungen,
4 Gerichte sowie 4 Beurteilungen der Fahreignung. Häufig basieren die Aussagen auf Spekulationen und subjektiven Annahmen der behandelnden Neuropsychologen (McCue et al. 1990, Williams 1996). Die Empfänger der Gutachten und Neuropsychologen sollten die Grenzen der Testverfahren kennen (Crosson 1996, Williams 1996). > Testergebnisse können Anhaltspunkte für eine grobe Einschätzung des Funktionsniveaus im Alltag liefern, ökologisch valide Aussagen erfordern jedoch eine Integration aller zur Verfügung stehenden Informationen.
Die große Bedeutung ökologisch valider Aussagen kann auch anhand der Coping-Hypothese (van Zomeren et al. 1984) erläutert werden. Bei der sozialen und beruflichen Integration des Patienten werden seine Leistungsfähigkeit im Alltag häufig überschätzt und Defizite der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und der Informationsverarbeitung eher unterschätzt: 4 Von Patienten ohne offenkundige körperliche Behinderungen wird innerhalb kurzer Zeit das prämorbide Leistungsniveau gefordert, das jedoch nur durch erhöhte Anstrengungen aufrechterhalten werden kann. Die mangelnde Anpassung an die bestehenden Leistungseinbußen führt zu einer dauerhaften Überforderung des Patienten, die Symptome wie Kopfschmerz, Schwindel, Irritierbarkeit, Angst und Schlafstörungen hervorrufen kann (van Zomeren u. van der Burg 1985). 4 Im Gegensatz dazu wird das Leistungsniveau von Patienten häufig unterschätzt, wenn Kompensationsstrategien oder Vorerfahrungen nicht in genügendem Maße berücksichtigt werden (Lezak 1995). Eine Unterschätzung des tatsächlichen Leistungsvermögens kann unberechtigte berufliche Abstufungen oder ein Gefühl der Nutzlosigkeit auslösen. 42.5
Literatur
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42
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Kapitel 42 · Neuropsychologische Diagnostik: Ökologische Validität und Prognosen
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42
43
Dokumentation, Messung und Qualitätsmanagement H. Lüthi, J. Blanco, M. Mäder Eigentlich merkwürdig, dass die Menschen meist taub sind gegenüber den stärksten Argumenten, während sie stets dazu neigen, Messgenauigkeiten zu überschätzen. Albert Einstein
43.1
Dokumentation
– 772
43.2
Struktur der Dokumentation von Rehabilitationsprozessen – 773
43.2.1 43.2.2 43.2.3 43.2.4 43.2.5
Körperfunktions- und Körperstrukturebene (Diagnose) Aktivitätsebene – 775 Partizipationsebene – 775 Kontextfaktoren – 775 Rehabilitationsprozess – 775
43.3
Messung: Skalen und Messverfahren
43.3.1 43.3.2 43.3.3 43.3.4
Messverfahren – 776 Assessmentskalen – 777 Anforderungen an Messverfahren – 778 Messverfahren in der neurologischen Rehabilitation
43.4
Messinstrumente für die Rehabilitation (Einteilung gemäß ICF) – 779
43.4.1
43.4.4
Messsysteme, die vorwiegend die Körperfunktions- und Körperstrukturebene berücksichtigen – 779 Messsysteme, die vorwiegend die Aktivitätsebene berücksichtigen – 779 Messsysteme, die vorwiegend die Partizipationsebene berücksichtigen – 782 Schlussfolgerungen – 783
43.5
Qualitätsmanagement
43.5.1 43.5.2
Basis medizinischer Entscheidungsprozesse Zusammenfassung – 786
43.6
Ausblick in die Zukunft
43.7
Literatur
43.4.2 43.4.3
– 786
– 776
– 783
– 786
– 773
– 785
– 778
772
Kapitel 43 · Dokumentation, Messung und Qualitätsmanagement
Ist Qualität in der Medizin überhaupt messbar, wenn mehr als rein naturwissenschaftliche Fragestellungen vorliegen? Die Medizin und vor allem die Rehabilitation hat sich vielen Problemen zu stellen, die den naturwissenschaftlichen Rahmen sprengen. Die Frage, welche Relationen zwischen Quantität und Qualität bestehen, beschäftigt die Naturwissenschaft und Philosophie bis heute. Das Exaktheitsideal, das in der Naturwissenschaft herrscht, geht von der Funktionsfähigkeit und Aussagekraft zählbarer Kriterien aus. Was aber tun, wenn das Persönlichkeitsmerkmal, das Störungsbild oder die Qualität in der rehabilitativen Arbeit nicht einfach zähl- und messbar sind? Dann wird gerne als wissenschaftlich irrelevant erklärt, was sich durch Messinstrumente nicht erfassen lässt. Die Rehabilitation bewegt sich im Spannungsfeld zwischen dem naturwissenschaftlichen Exaktheitsideal einerseits und unzureichend erfassbaren Wertvorstellungen wie Lebensqualität, Befindlichkeit und Gesundheit andererseits. Die Forderung nach Transparenz wird immer stärker und damit der Auftrag zu nachvollziehbarer Dokumentation als Voraussetzung für das Erfüllen von Ansprüchen des Qualitätsmanagements in der Rehabilitation. Auch die immer mehr in den Vordergrund tretenden gesundheitspolitischen Fragen erfordern Evaluationssysteme, die eine Vergleichbarkeit der verschiedenen Kriterien erlauben. Innerhalb wie außerhalb neurorehabilitativer Fragestellungen wachsen diese Anforderungen; besonders auch das Bedürfnis nach einer gemeinsamen Sprache im Rahmen interdisziplinärer Teams verlangt nachvollziehbare Erfassungsinstrumente in allen erwähnten Bereichen.
43.1
Dokumentation
Näher betrachtet Historischer Kontext
43
Die Dokumentation des Rehabilitationsprozesses berücksichtigte lange Zeit nur Inhalte und Aspekte der Akutmedizin. In erster Linie war es die Pflege, die im klinischen Bereich schon früh den Barthel-Index einsetzte und als Entscheidungsgrundlage für neurorehabilitative Fragen nutzte (Mahoney u. Barthel 1965). Im Jahr 1980 publizierte die WHO erstmals die International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH), in der die verschiedenen rehabilitativen Ebenen der Schädigung (Impairment), Fähigkeitsstörung (Disability) und Beeinträchtigung (Handicap) klar voneinander getrennt wurden (WHO 1980). Damit ließen sich Planung, Durchführung und Evaluation von Rehabilitationsmaßnahmen gezielt und einheitlich beschreiben. Man erwartete einen positiven Input auf die Rehabilitationsmedizin und eine entsprechende Berücksichtigung dieser Gliederung in der ärztlichen Dokumentation, aber die Anpassungen an das ICIDH-Klassifikationssystem bzw. das Umdenken beim Dokumentieren rehabilitativer Prozesse benötigen Zeit. Was aber bald an der ICIDH kritisiert wurde, waren die fehlende Integration der Umgebungskriterien und die defizitorentierte Terminologie.
jICF-Modell Im Jahr 2001 wurde von der WHO-Versammlung die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) verabschiedet (. Abb. 43.1). Die ICF beschreibt das Konstrukt der funktionalen Gesundheit. > Eine Person ist funktional gesund, wenn – vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren – ihre Funktionen und Strukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen, sie all das tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet wird und sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung erwartet wird (WHO 2001).
Seit dem Jahr 2002 werden Core-Sets entwickelt (Cieza et al. 2004). Core-Sets sind Zusammenfassungen der häufigsten Patientenprobleme und darauf bezogene Kontextfaktoren für bestimmte Gesundheitsprobleme anhand von ICF-Kategorien, die in Zusammenarbeit mit verschiedenen internationalen Fachgesellschaften erarbeitet wurden (Stucki et al. 2002). kICF-Ebenen Um den vielschichtigen Problemen der Rehabilitation gerecht zu werden, muss man alle Ebenen des Rehabilitationsprozesses berücksichtigen: Nur unter Berücksichtigung der 4 Struktur- und Funktionsebene, 4 Aktivitäten, 4 Partizipation und 4 Kontextfaktoren können in der Rehabilitation Therapie und Ziele definiert werden, z.B. spielt die Prognose eines Krankheitsprozesses eine entscheidende Rolle bei der Planung rehabilitativer Maßnahmen und der Festlegung von Rehabilitationszielen. Wird die erbrachte Arbeit nicht umfassend dokumentiert und interpretiert, können wichtige und fundamentale Fragen der Qualität und Effizienz nicht beantwortet werden. kErfassung aller Ebenen Eine grundlegende Forderung an ein Dokumentationssystem in der Rehabilitation ist, das tatsächliche Ausmaß der Behinderung exakt festzuhalten und die funktionellen wie auch alltagsrelevanten Ergebnisse einer Rehabilitationsbehandlung detailliert widerzugeben. ! Cave Häufig werden in der initialen Rehabilitationsphase Aspekte wie Aktivitäts- und Partizipationsebene zu wenig gewichtet, ohne die eine erfolgreiche Rehabilitation mit Langzeitwirkung nicht denkbar ist. Die Symptome und Befunde, die für die Erfassung dieser Ebenen berücksichtigt werden müssen, sind erfahrungsgemäß nicht die gleichen, die für die Erhebung der Diagnose notwendig sind (Stolov 1990).
773 43.2 · Struktur der Dokumentation von Rehabilitationsprozessen
. Abb. 43.1. ICF-Modell
Die ätiologisch ausgerichtete, an (Akut-)Krankheiten orientierte Klassifikation und Dokumentation rehabilitativer Prozesse und chronischer Erkrankungen in der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung ist für die rehabilitative Praxis nur von begrenztem Informationsgehalt (Ewert et al. 2004). Für die Abbildung des Rehabilitationsprozesses braucht es ein Disziplinen übergreifendes und international akzeptiertes Konzept der Funktionsfähigkeit und Behinderung, welches nun mit der ICF zur Verfügung steht (. Tab. 43.1).
43.2
43.2.1
Struktur der Dokumentation von Rehabilitationsprozessen Körperfunktions- und Körperstrukturebene (Diagnose)
Die Diagnose muss, ähnlich wie es auch in der Akutmedizin üblicherweise geschieht, präzise und problemorientiert in die Dokumentation einfließen (Weed 1971). Damit die Erfassung standardisiert bzw. einheitlich erfolgt, ist es notwendig, ein einheitliches System zu benutzen. Als einfache und international anerkannte Klassifikation empfiehlt sich die Internatio-
nal Classification of Diseases (ICD-10-Codierung, WHO 1993). Bei der Beschreibung der Schädigung können ICD-10 und ICF herangezogen werden: 4 Die ICF fokussiert auf die Funktionsfähigkeit, 4 die ICD die medizinische Diagnose (Frommelt u. Grötz-
bach 2005). Bei der Beschreibung der Körperfunktions- und Körperstrukturebene sind auch prognostische Kriterien erforderlich, weil diese Information für die Festlegung der Ziele in der Rehabilitation von entscheidender Bedeutung ist. Beispiel Das Ziel in der Rehabilitation eines Patienten mit einem fortgeschrittenen Gliobastom darf nicht die möglichst hohe Selbständigkeit und Fortbewegung sein, sondern die rasche und gezielte Anpassung der Wohn- und Pflegesituation zuhause. Bei einer traumatisch bedingten Hirnverletzung dagegen kann eine optimale Mobilität und/oder die völlige Selbständigkeit im Alltag vordringliches Rehabilitationsziel sein, was mehr Zeit und eine andere Therapie beansprucht.
43
43
Körperfunktion
Eingeschränkte Affektkontrolle → b 152 Emotionale Funktionen Aphasie mit Wortfindungsstörungen → b 167 Kognitiv-sprachliche Funktionen Handlungsplanungsstörung (Apraxie) → b 176 Mentale Funktionen, die die Durchführung komplexer Bewegungshandlungen betreffen Armbetonte sensomotorische Ausfälle → b 265 Tastsinn → b 2700 Temperaturempfinden → b 2702 Druck- und Berührungsempfinden → b 7304 Kraft der Muskeln einer Körperhälfte → b 735 Funktionen des Muskeltonus → b 760 Funktionen der Kontrolle der Willkürbewegungen
-
Visus- und Gesichtsfeldstörung → b 2100 Die Sehschärfe betreffende Funktionen → b 2101 Das Gesichtsfeld betreffende Funktionen
Kopfschmerzen → b 28010 Kopf- und Nackenschmerz
Diagnose
Schweres Neuro-Trauma mit multiplen Kontusionsherden fronto-temporal links
Gesichtsschädelfrakturen
Bulbuskontusion mit Optikusläsion
Traumatische SAB
-
Probleme betreffend Fahrtauglichkeit resp. Autofahrverbot → d 4751 Ein motorisiertes Fahrzeug fahren Ausübung des Schießsports → d 9201 Sport
→ s 7101 Gesichtsknochen → s 220 Bulbus → s 1106 Hirnnerven
-
Treppensteigen erschwert → d 4551 Klettern/Steigen Braucht mäßige Hilfe beim Waschen → d 510 Sich waschen Selbständiges Einnehmen des Essens erschwert → d 550 Essen Wiedereinstieg in Beruf als Lehrer unmöglich → d 850 Bezahlte Tätigkeit
→ s 1100 Struktur der Großhirnhälften
-
Aktivitäten/Partizipation
Körperstruktur
. Tab. 43.1. Zusammenhänge zwischen Diagnose und ICF-Domänen im Rehabilitationsverlauf
-
-
-
Braucht einen Rollstuhl → e 1201 Hilfsprodukte und unterstützende Produkte zur persönlichen Mobilität drinnen und draußen und zum Transport Zufahrt zum Hauseingang nicht rollstuhlgerecht → e 155 Entwurf, Konstruktion sowie Bauprodukte und Technologien von privaten Gebäuden Alleinstehend, kein soziales Netz → e 310–325 engster Familienkreis, erweiterter Familienkreis, Freunde, Kollegen Braucht einen Anwalt für den Rechtsstreit → e 360 andere Fachleute → e 5500 Dienste der Rechtspflege
Umweltfaktoren
774 Kapitel 43 · Dokumentation, Messung und Qualitätsmanagement
775 43.2 · Struktur der Dokumentation von Rehabilitationsprozessen
43.2.2
Aktivitätsebene
Die funktions- und strukturorientierte Beschreibung des Patienten alleine ist für die Planung rehabilitativer Maßnahmen und die Auswertung der daraus resultierenden Ergebnisse unzureichend. Die Bestimmung der funktionalen Gesundheit eines Patienten ist eine zentrale und grundlegende Aufgabe in der Rehabilitation (Stucki et al. 2002). Durch das Erfassen basaler ADL-Funktionen wurde der Grundstein für die Beantwortung und Klärung vieler rehabilitativer Fragen gelegt. 1965 veröffentlichten Barthel und Mahoney erstmals ihren bekannten Index, der eine schnelle, unkomplizierte Erfassung und Einstufung von ADL-Funktionen erlaubt (Mahoney u. Barthel 1965). In der Folge wurde er in vielen Rehabilitationskliniken als Dokumentationsinstrument verwendet und oftmals nach den internen Bedürfnissen dieser Institutionen modifiziert. Unzählige andere Assessmentverfahren zur Messung und Beurteilung von ADL-Kriterien kamen hinzu und berücksichtigten globale und/oder spezifische Aspekte der Fähigkeitsstörung. Diese Messinstrumente wurden zuerst vorwiegend im Pflegebereich benutzt und hatten Dokumentationscharakter. Mit zunehmender Erfahrung in der Erfassung und Evaluation rehabilitativer Prozesse sowie aufgrund der immer häufiger geforderten Qualitätsansprüche an die Rehabilitation erhielten Dokumentation und Bewertung von ADL-Kriterien eine größere Bedeutung. Immer mehr sind wissenschaftliche Fragen und Elemente in den Vordergrund gerückt.
Dokumentation äußerst schwierig ist. In der Literatur findet man unzählige Skalen und Assessmentverfahren, die nur eine oder mehrere unterschiedliche ICF-Ebenen berücksichtigen. > Grundlage bleibt die Lebensqualität, verbunden mit der allgemeinen Gesundheit (Health Related Quality of Life, HRQoL).
43.2.4
Kontextfaktoren
Kontextfaktoren stellen den zentralen Lebenshintergrund eines Menschen dar (WHO 2001). Sie umfassen die Umweltund personenbezogenen Faktoren und nehmen eine wichtige Rolle in der Rehabilitation ein. Sie beeinflussen das Rehabilitationsergebnis maßgebend, ob 4 im positiven Sinn als Förderfaktoren oder 4 im negativen Sinn als Barrieren. Deshalb muss die soziale und materielle Umgebung der Patienten schon von Beginn an berücksichtigt werden. Die personenbezogenen Faktoren sind ebenfalls maßgebend: 4 Alter, 4 Geschlecht, 4 sozialer Status und 4 Lebenserfahrung.
43.2.5
Rehabilitationsprozess
Fazit Erfassung und schriftliche Dokumentation der Aktivitäten stellen eine wichtige Grundlage auch bei Fragestellungen bezüglich der Partizipation dar. Sie haben eine besondere und zentrale Bedeutung im Rahmen von Patientenbegutachtungen, bei denen das genaue Ausmaß und die Auswirkungen der Krankheit bzw. Unfallfolgen auf die Person exakt festgestellt werden müssen.
43.2.3
Partizipationsebene
Definition Unter Partizipation im Sinne der ICF wird verstanden, dass sich das Individuum in allen Lebensbereichen, die ihm wichtig sind, und zu denen es Zugang hat, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Beeinträchtigung der Körperfunktionen und - strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Schuntermann 2007).
Die Berücksichtigung der Partizipationsebene als Ausdruck der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist eine Grundvoraussetzung für eine umfassende und patientengerechte Rehabilitation. Auf dieser Ebene kommen viele verschiedene Faktoren zum Tragen, weshalb eine standardisierte und einfache
jRegelmäßige Standortbestimmungen Die Aufzeichnung des Rehabilitationsverlaufs darf sich nicht auf rein medizinische Inhalte beschränken. Vielmehr soll die interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Fachbereiche auf 4 einer gemeinsamen Sprache, 4 einer relevanten Situationsbeurteilung sowie 4 einer gemeinsamen Vorgehensstrategie beruhen und der mehrdimensionalen ICF Rechnung tragen (Bucher et al. 2005). Um der Dynamik und Veränderbarkeit des Rehabilitationsprozesses gerecht zu werden, ist es sinnvoll, regelmäßige Standortbestimmungen im Rehabilitationsverlauf durchzuführen und die Rehabilitationsziele entsprechend anzupassen. kKomplikationen Sehr wichtig ist auch die Erfassung von Komplikationen und Konfliktsituationen sowie deren Auswirkungen auf den Rehabilitationsverlauf. Die zu den verschiedenen Zeitpunkten zu erfassenden Daten wie 4 Eintritt, 4 Verlauf, 4 Austritt und 4 Follow-up sollten auf Kohärenz und Vollständigkeit hinzielen.
43
776
Kapitel 43 · Dokumentation, Messung und Qualitätsmanagement
kKomorbidität Besonders erwähnenswert ist die Rolle der Komorbidität, welche die Intensität rehabilitativer Maßnahmen und die Aufenthaltsdauer nachhaltig beeinflussen kann (Lew et al. 2002). Aus diesem Grund müssen die präexistierende Komorbidität bei Eintritt des Patienten in die Rehabilitationseinrichtung sowie die im Verlauf auftretende Problematik sorgfältig und umfassend erfasst werden, da sie das Rehabilitationsergebnis als negative prädiktive Faktoren beeinflussen (Pinto et al. 1998). Definition Als Komorbidität wird jede rehabilitationsrelevante Voroder Begleiterkrankung im Rahmen eines stationären Rehabilitationsaufenthalts bezeichnet.
Einige Autoren empfehlen, jede aktive, aber unter Kontrolle stehende Vor- oder Begleiterkrankung, die weniger oder nur eine wöchentliche medizinische Intervention verlangt, als präexistierende Komorbidität zu bezeichnen (Lew et al. 2002, Wright et al. 1996). Im Weiteren wird vorgeschlagen, jedes neu auftretende medizinische Ereignis oder die Exazerbation einer vorbestehenden Komorbidität, die täglich medizinische Interventionen an drei folgenden Tagen verlangt, als akute medizinische Komplikation im Rehabilitationsverlauf zu bezeichnen (Lew et al. 2002). jPOMR-Konzept: Problemorientierte Dokumentation Bei der Dokumentation des Rehabilitationsverlaufs muss problemorientiert und chronologisch vorgegangen werden. Durch das POMR-Konzept (Problem Oriented Medical Record) nach Weed können Zusammenhänge, die ansonsten nicht ersichtlich wären, in einen logischen Zusammenhang gebracht und für andere Mitglieder des Rehabilitationsteams erkennbar gemacht werden. Beispiel
43
komplexe (Problemliste) stellen ein wesentliches ärztliches
Kommunikationselement und einen integralen Bestandteil rehabilitativer Dokumentationsarbeit dar. Während des Rehabilitationsverlaufs sollte ein regelmäßiges Update dieser Problemlisten erfolgen. jElektronische Krankenakte (EK) An dieser Stelle sei auf die Rolle der elektronischen Krankenakte (EK) hingewiesen, die heutzutage in vielen neurorehabilitativen Institutionen nicht mehr wegzudenken ist. Die Einführung der elektronischen Krankenakte in Krankenhäusern ist oft mit einer verbesserten Kommunikationsgeschwindigkeit und -effizienz sowie einer höheren Kapazität der Kommunikationsverarbeitung verbunden. Das medizinische Personal schätzt bei der EK besonders auch die Möglichkeiten der Fernabfrage medizinischer Information sowie die sicheren und bequemen Übermittlungstechnologien (Joos et al. 2006). jPhoto- und Videodokumentation Die Photo- und Videodokumentation muss gewichtet und sinnvoll in die Krankenakte eingebunden werden. Auch hier ist die EK dank vielschichtiger multimedialer Optionen eine gute Möglichkeit, verschiedenartige Dokumentationstechniken einheitlich und übersichtlich zu verwalten. > Die Checkliste der wichtigsten Elemente einer rehabilitationsrelevanten Dokumentation dient zur Etablierung eines Dokumentationsstandards, der die gezielte Suche verschiedener Dateninhalte erlaubt, um die rehabilitationsrelevanten, anamnestischen und aktuellen Informationen über den Patienten zu erfassen (. Übersicht 43.1).
43.3
Messung: Skalen und Messverfahren
43.3.1
Messverfahren
Der Zusammenhang zwischen dem Problem »schmerzhaftes Bein«, Doppleruntersuchung der Beine und Antikoagulation bei Thrombose wird durch eine problemorientierte Darstellung der einzelnen Fakten klar ersichtlich und transparent (Weed 1968).
Näher betrachtet Messverfahren im Wandel
jPeriodische Zusammenfassungen Patientenakten können in der Rehabilitation bei langer Aufenthaltsdauer einen großen Umfang annehmen und unzählige Befunde, Verlaufseintragungen und Berichte beinhalten. Im Sinne eines »roten Fadens« sollten periodische Zusammenfassungen erstellt und in die Dokumentation integriert werden.
Bei der rehabilitativen Arbeit geht es darum, die Problembereiche umfassend zu erkennen, eine auf die individuellen Ziele abgestimmte Behandlung zu planen sowie deren Behandlungserfolge zu messen. Die zunehmende Forderung nach Transparenz der Prozesse und Ergebnisse sowie neue Forschungsresultate führten dazu, dass die Messverfahren in der neurologischen Rehabilitation in den letzten Jahren einem starken Wandel unterworfen waren.
jProblemliste Eine vernünftige Planung und Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen ist nur mit einer Strukturierung und Hierarchisierung der vielfältigen Problemkreise, die sich aus der Erfassung der verschiedenen ICF-Ebenen ergeben, möglich. Auflistung und Austausch solcher rehabilitativen Problem-
> Messverfahren dienen der interdisziplinären Evaluation des Störungsbildes sowie der Erfassung aller bio-psycho-sozialen Aspekte (wie physische, emotionale und kognitive Fähigkeitseinschränkungen) sowie ihrer Auswirkungen im sozialen Umfeld.
777 43.3 · Messung: Skalen und Messverfahren
. Übersicht 43.1. Checkliste der wichtigsten Elemente einer rehabilitationsrelevanten Dokumentation
Näher betrachtet Übersicht über Mess- und Evaluationssysteme
1.
Eine gute Übersicht und Diskussionsgrundlage solcher Messund Evaluationssysteme in der Neurorehabilitation vermitteln die Publikationen von Wade (1992) und Masur (2000). In einem neueren Werk von Schaedler et al. (2009) werden 70 der wichtigsten Assessments in der Neurorehabilitation vorgestellt, ferner deren Gütekriterien und die Umsetzung in den klinischen Alltag beschrieben.
Stammdaten
– Persönliche Patientendaten – Versicherungstechnische Daten 2.
Problemliste
– Aktuelle Diagnosen – Beschreibung der verschiedenen ICF-Ebenen und deren Ausmaß
– Passive, nicht relevante Diagnosen 3.
Rehabilitationsziele, bezogen auf die
– Diagnose (z.B. Behandlung eines Vorhofflimmerns) – Körperfunktions- und Körperstrukturebene (vor-
4.
5.
aussichtliche Rückbildung von Funktionsstörungen) – Aktivitätsebene (erreichbare ADL-Fähigkeiten) – Partizipationsebene und Kontextfaktoren (berufliche Wiedereingliederung, Hilfsmittel, Rente usw.) – Abschätzung des Rehabilitationspotenzials – Zeitplan – Prognostische Kriterien Therapeutisches Setting – Behandlungsplan inkl. einzelner Therapien (Quantität, Qualität und Integration in den Tagesablauf ) – Krankheitsverarbeitung – Patientenspezifisches Vorgehen bei Notfällen, Komplikationen usw. – Angehörigenbetreuung Verschiedenes – Kostenabsprachen – Mediko-legale Faktoren (Reanimationsstatus, Sturzgefährdung, Selbstgefährdung, Urteilsfähigkeit)
Viele der entwickelten Skalen, Scores oder Assessmentverfahren haben ihre volle Berechtigung und ihren Platz an definierten Stellen des Rehabilitationskonzepts. Sie leisten bei gezieltem Einsatz einen wertvollen Dienst und vermitteln Informationen, die ansonsten nur unvollständig oder nicht erfasst würden. Durch die Messung mittels dieser Instrumente entsteht ein vielschichtiges und differenzierteres Bild von Krankheits- oder Traumafolgen, das mittel- und langfristig für die Planung individueller Rehabilitationsverläufe und infrastruktureller Maßnahmen von unschätzbarem Wert ist. Der Wahl der geeigneten Instrumente kommt eine zentrale Rolle zu, da das Assessment auf die konkrete Fragestellung hin ausgewählt werden muss. > Die Wahl eines bestimmten Messinstruments hängt ab von 4 der Art der Erkrankung, 4 dem zugrunde liegenden ICF-Profil und 4 der spezifischen Fragestellung. Zu verschiedenen Zeitpunkten des Rehabilitationsprozesses sind unterschiedliche Messsysteme notwendig.
43.3.2
Assessmentskalen
Dadurch, dass sich Assessmentskalen auf standardisierte Schlüsselparameter konzentrieren, werden Informationen transparent, die ansonsten übersehen oder zu wenig beachtet würden. Generell lassen sich Assessments zur Beschreibung von Diagnose, Prognose oder Outcome einsetzen (. Übersicht 43.2). Die Aussagekraft solcher Messinstrumente muss unter Berücksichtigung der Methodik und kritischer Würdigung der Resultate interpretiert werden. . Übersicht 43.2. Mögliche Verwendungszwecke von Assessmentmethoden 1. 2. 3. 4. 5. 6.
7.
Planung, Durchführung und Evaluation der Behandlung im Rahmen der Rehabilitation Dokumentation und standardisierte Erfassung von Schlüsselparametern in der Rehabilitation Indikator von Fähigkeitsprofil, Hilfsbedürftigkeit oder Selbständigkeit von Patienten Maß zur Erfassung von Effektivität und Nutzen der Rehabilitation (Outcome) Instrument zur Qualitätssicherung Grundlage und Referenz für Vergleichszahlen mit anderen Abteilungen oder Institutionen, d.h. Vergleichbarkeit der Ergebnisse (Benchmark) Erfassungselement bei wissenschaftlichen Studien (z.B. Epidemiologie von Krankheits- und Unfallfolgen)
jOrdinal- vs. Intervallskalen Assessments und Scores leisten auch in anderen Gebieten der Medizin gute Dienste, z.B. 4 Apgar-Score in der Neonatologie, 4 Tumor-Klassifizierungssystem, 4 Gelenkbeweglichkeitsmessungen in der Orthopädie/ Rheumatologie. Die meisten dieser Skalen sind Ordinalskalen, die Veränderungen innerhalb störungsspezifischer Kategorien erfassen, während im Gegensatz dazu Intervallskalen, z.B. 4 Fiebergradmessung, 4 Gelenkwinkelmessung,
43
778
Kapitel 43 · Dokumentation, Messung und Qualitätsmanagement
eine lineare Aufteilung und gleichgerichtete Intervalle enthalten. Dieser Unterschied ist von großer Bedeutung, weil die Änderung um eine Einheit an einem Punkt der Ordinalskala nicht unbedingt der Änderung an einer anderen Stelle der gleichen Skala äquivalent sein muss. Dadurch sind Vergleiche von Totalscores ordinal-skalierter Assessments im wissenschaftlichen Sinn nur mit Vorbehalt zu benutzen. Dies betrifft erst recht die Interpretation von Skalen, z.B. in der Diskussion mit Kostenträgern. jWachkoma-Skalen In der Rehabilitation treten immer neue Fragestellungen auf, die durch neue Assessmentinstrumente abgebildet werden müssen. Durch die Fortschritte der Medizin und die daraus resultierenden höheren Überlebenschancen von Patienten ergeben sich neue Fragestellungen wie z.B. die Beurteilung von Wachkoma-Patienten. Aus dieser Notwendigkeit heraus entstanden u.a. 4 die Koma-Remissions-Skala (KRS) (von Wild et al. 1990), 4 die Early Functional Ability (EFA) (Heck u. Schoenenberger 1996) und 4 der Frühreha-Barthel-Index (FRB) (Schönle 1996). jLebensqualität-Skalen Der Einbezug von Lebensqualität-Assessment ist als wichtiger Bestandteil der Patientenperspektive unverzichtbar z.B. 4 der Short Form 36 Health Survey Questionnaire (SF-36) (Tarlov 1983) oder 4 der WHOQOL (WHOQOL-Group 1995). Definition
43
Skala: Messinstrument zur Abbildung von Messwerten in einer bestimmten Stufenfolge. Nominalskala: Messwerte stehen nicht hinsichtlich ihrer Größe in Relation zueinander, sondern werden zu homogenen Gruppen zusammengefasst (z.B. Blutgruppenzugehörigkeit). Ordinalskala: Angabe der Rangposition verschiedener Messwerte zueinander, ohne dass die Intervalle zwischen den Rangpositionen gleich lang oder groß sein müssen und äquivalente Inhalte repräsentieren (z.B. Functional Independence Measure, FIM). Intervallskala: Angabe von Messwerten durch festgelegte Messpunkte (meistens Zahlen), die gleiche Abstände zueinander haben (Äquidistanz, z.B. Blutdruckmessung in mmHg). Rationalskala: Bei der Rationalskala gibt es ebenfalls Äquidistanz und Reihenfolge, nur ist hier auch ein absoluter Nullpunkt vorhanden (z.B. Temperaturmessung in Kelvin [K]). Score: Bewertungsziffer oder Maßzahl, die innerhalb eines Beurteilungs- bzw. Messsystems einen Wertpunkt darstellt (z.B. Ashworth-Score [Bohannon et al. 1987], Webster-Score [Webster 1968]).
6
Messung: (Measurement) Quantifiziert und definiert das Ausmaß des Gemessenen. In der Neurorehabilitation ist eine Messung im rein wissenschaftlichen Sinne selten möglich, weil nur wenige Phänomene einfach quantifizierbar sind und definierte Standardeinheiten normalerweise fehlen (Wade 1992). Assessment: Ein Assessment definiert einen Evaluationsprozess, in dem patientenspezifische Probleme unter Berücksichtigung von Ursache und Ausmaß erfasst und gemessen werden. Im Gegensatz zur reinen Messung erfolgt hier zusätzlich eine Bewertung nach funktionellen Gesichtspunkten.
43.3.3
Anforderungen an Messverfahren
Bedingung für den erfolgreichen Einsatz von Messverfahren in der Rehabilitation ist 4 einerseits die richtige Anwendung und 4 andererseits die Voraussetzung, dass sie das »Richtige« in »korrekter Weise« messen. > Die angewendeten Assessments haben die in der Wissenschaft gebräuchlichsten Kriterien zu erfüllen (Schaedler et al. 2009): 4 Die Instrumente müssen bei wiederholter Anwendung zuverlässige und reproduzierbare Resultate liefern (Reliabilität). 4 Assessments sollen das messen, was sie vorgeben zu messen (Validität).
Bei der Validität werden folgende Aspekte berücksichtigt: 4 Die Inhaltsvalidität (»content validity«) ist gegeben, wenn der Inhalt der Messung leicht erkennbar mit dem zu messenden Problem verbunden ist. 4 Die Kriteriumsvalidität (»criterion-related«) wird in konkurrente Validität (»concurrent«) und prädiktive Validität (»predictive«) unterschieden. 5 Bei der konkurrenten Validität wird die Übereinstimmung mit Werten eines zuvor festgelegten Außenkriteriums verglichen, am besten mit einem perfekten Test, einem Goldstandard. Leider sind bis heute nur wenige Goldstandards verfügbar. 5 Die prädiktive Validität ist dann gegeben, wenn die von einem Test vorhergesagten Prognosen auch wirklich eintreten.
43.3.4
Messverfahren in der neurologischen Rehabilitation
> Das für die Rehabilitation ideale Assessment berücksichtigt die wissenschaftlichen und die Praktikabilitätskriterien.
Messverfahren in der neurologischen Rehabilitation haben gegenüber den herkömmlichen Messmethoden in der Medi-
779 43.4 · Messinstrumente für die Rehabilitation (Einteilung gemäß ICF)
zin besonderen Anforderungen zu genügen. Die Abgrenzung zwischen dem natürlichen Verlauf einer Erkrankung und dem tatsächlichen Erfolg rehabilitativer Maßnahmen ist aufgrund der Komplexität neurologischer Störungsbilder und der Vielfalt von Fähigkeitsstörungen äußerst problematisch und wird kontrovers diskutiert. Von großer Wichtigkeit sind diejenigen Kriterien und Bedingungen, die eine Assessmentmethode erfüllen muss, damit sie akzeptiert wird und im Rehabilitationsalltag auch wirklich umgesetzt wird. Neben den bereits erwähnten wissenschaftlichen Anforderungen müssen auch pragmatische Aspekte gebührend berücksichtigt werden, weil rehabilitationsrelevante Informationen üblicherweise im täglichen Umgang mit dem Patienten erhoben werden und der Einsatz zeitlicher und personeller Ressourcen möglichst klein gehalten werden sollten. > Die wichtigsten Praktikabilitätskriterien sind 4 Zeit- und Personalaufwand, 4 Kosten für Material und Technik sowie 4 Schulungs- und Supportaufwand.
Die gründliche Schulung des gesamten Personals ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine standardisierte, schriftlich fixierte und reproduzierbare Einschätzung durch jedes Mitglied des Rehabilitationsteams. Definition Wissenschaftliche Gütekriterien (Masur 2000) Reliabilität (»reliability«): Die Reliabilität ist das Maß für die Zuverlässigkeit einer Messung, die durch eine Beschreibung der Übereinstimmung zwischen wahrem und gemessenem Wert festgehalten wird. Intra-Rater-Reliabilität: Die Messmethode führt bei wiederholter Anwendung durch die gleiche Person zum gleichen Resultat. Inter-Rater-Reliabilität: Die Messmethode führt bei wiederholter Anwendung durch verschiedene Personen zum gleichen Resultat. Cave: Die Inter-Rater-Reliabilität ist besonders wichtig, wenn die Messungen von unterschiedlichen Personen durchgeführt werden! Validität (»validity«): Grad der Genauigkeit (Gültigkeit), mit dem das Verfahren das Persönlichkeitsmerkmal oder die Verhaltensweise, die es messen soll, tatsächlich misst. Responsivität/Änderungssensitivität: Empfindlichkeit des Assessments, das die für die Patienten relevanten Änderungen auch tatsächlich registriert. Hier wird die Frage geklärt, ob klinisch relevante Veränderungen durch das Assessment erfasst werden können (Schaedler et al. 2009). Sensitivität (»sensitivity«): Anzahl von Personen, auf die der Zustand bzw. das Persönlichkeitsmerkmal oder die Verhaltensweise zutrifft und durch das Verfahren entdeckt werden, im Verhältnis zu der Anzahl betroffener Personen in der Population. Spezifität (»specifity«): Anzahl von Personen, auf die der zu untersuchende Zustand nicht zutrifft und die auf das Verfahren negativ reagieren, im Verhältnis zu der Anzahl der in der Population nicht betroffenen Personen. Cave: Spezifität und Sensibilität werden in Prozenten angegeben!
43.4
Messinstrumente für die Rehabilitation (Einteilung gemäß ICF)
43.4.1
Messsysteme, die vorwiegend die Körperfunktions- und Körperstrukturebene berücksichtigen
Ein Teil der Skalen, Scores und Assessments sind aus der Neurologie hervorgegangen und werden in der Neurorehabilitation verwendet, z.B. 4 Paresegrad nach der Medical Research Council Scale (Medical Research Council 1943), 4 Modified Ashworth Scale (Bohannon u. Smith 1987), wobei die Messung neurologischer Ausfallserscheinungen im Vordergrund steht, und funktionelle Aspekte weniger oder nicht berücksichtigt werden. > Zur Messung auf Körperfunktions- und Körperstrukturebene gibt es eine Vielzahl von Instrumenten, die nur für einen eingegrenzten Symptom- oder Pathologiebereich einsetzbar sind (. Tab. 43.2, 43.3).
Einige motorische Skalen vermischen Körperfunktions- und Aktivitätsebene, können aber bei definierten Fragestellungen durchaus eine gute und umfassende Information über das zu erfassende Störungsbild vermitteln, z.B. 4 Rivermead Mobility Index (RMI) (Collen et al. 1991), 4 Performance Oriented Mobility Assessment (POMA) (Tinetti 1986).
43.4.2
Messsysteme, die vorwiegend die Aktivitätsebene berücksichtigen
In der Literatur werden häufig basale ADL-Aktivitäten (BADL) und erweiterte ADL-Aktiitäten (EADL) unterschieden: 4 Die basalen ADL registrieren, wie die Anforderungen des täglichen Lebens, z.B. 5 Essen, 5 Trinken, 5 Kleider anziehen usw. 4 bewältigt werden (Lindeboom et al. 2003). Sie beinhalten die notwendigen Leistungen und Tätigkeiten, die gemessen an Alter und jeweiliger Kultur zu einer selbständigen Lebensführung gehören. 4 Die erweiterten ADL beinhalten häufig sozio-kulturell determinierte und komplexere Fähigkeiten, z.B. 5 Einkaufen, 5 Umgang mit Geld, 5 Behördengänge und 5 Haushaltsführung. 4 In der englischen Literatur wird dafür der Begriff Instrumental Activities of Daily Living (IADL) verwendet. jAssessmentverfahren In den . Tab. 43.4 und 43.5 sind einige der bekanntesten Assessmentverfahren aufgeführt. Gemeinsames Charakteristi-
43
780
Kapitel 43 · Dokumentation, Messung und Qualitätsmanagement
. Tab. 43.2. Beispiele bekannter Skalen, die ihren Schwerpunkt im Bereich der Körperfunktionen haben Organsystem bzw. Störung
Name/Referenz
Beschreibung
Bewusstseinszustand
Glasgow Coma Scale GCS (Teasdale et al. 1974)
Beurteilung der Vigilanz
Koma-Remissions-Skala KRS (von Wild et al. 1990)
Beurteilung der Vigilanz
Gleichgewicht
Berg Balance Scale BBS (Berg et al. 1989) Performance Oriented Mobility Assessment POMA (Tinetti 1986)
Einschätzung der Balancefähigkeit und des Sturzrisikos Ermittlung des Sturzrisikos
Motorik
Motricity Index MI (Collin et al. 1990)
Beurteilung der Arm- und Beinfunktionen
Motorik/Kraft
MRC-Paresegrade ( Medical Research Council 1943)
Muskelkrafttest mit einer Skala von 0–5
Motorik/Spastik
Modified Ashworth Scale (Bohannon et al. 1987)
Erfassung der Spastizität durch Testung des Widerstands gegen passive Bewegung
Motorik/Sensibilität/ Koordination
Fugl-Meyer-Skala (Fugl-Meyer et al. 1975)
Bewertung von sensomotorischen Modalitäten, Koordination und Gelenkmobilität
Schmerzen
Visual Analog Scale (Campbell et al. 1990) Siddall Classification of Pain (Siddall et al. 1997) McGill Pain Questionnaire (Melzack 1975)
Subjektive Messung der Schmerzempfindungsstärke Schmerzklassifikation speziell für Querschnittsgelähmte Umfassende multidimensionale Einschätzung von Schmerzen
Depression
Hamilton Depression Rating Scale (Hamilton 1967) Brief Psychiatric Rating Scale BPRS (Overall et al. 1962)
Fragen zum psychischen Befinden Erfassung von 23 psychiatrischen Symptomen
Aphasie
Aachener Aphasie-Test AAT (Huber et al. 1983) Basel-Minnesota-Test zur Differenzialdiagnose der Aphasie BMTDA
. Tab. 43.3. Assessments für spezifische Krankheitsbilder und Diagnosen
43
Diagnose
Name/Referenz
Beschreibung
ALS
Amyotrophic Lateral Sclerosis Functional Rating ScaleRevised ALSFRS-R
Instrument zur Messung des funktionellen Status und therapeutischen Effekts bei ALS
Multiple Sklerose
Expanded Disability Status Score EDSS (Kurtzke 1983)
Auskunft über den Grad der Behinderung bei MSPatienten
Morbus Parkinson
Webster Score (Webster 1968)
Erfassung von verschiedenen Parkinsonsymptomen
Unified Parkinson Disease Rating Scale UPDRS (Fahn u. Elton 1987)
Testbatterie zu psychischen Auswirkungen, ADL, klinischen Symptomen, Komplikationen der Medikamentennebenwirkungen inkl. Hoehn und Yahr Scale
Querschnittslähmung
ASIA Impairment Scale für Querschnittlähmungen (ASIA 1992)
Beschreibung des Schweregrades der Lähmung global und differenziert
Stroke (Schlaganfall)
NIH-Stroke Scale NIH-SS (Goldstein et al. 1989)
Quantifizierung von verschiedenen neurologischen Ausfällen nach Stroke Skala mit 14 Items betreffend Motorik, Bewusstsein, Verständnis, Sprache, Gesichtsfeld und Blick Einstufung der Schädigung nach Stroke
European Stroke Scale ESS (Hantson et al. 1994) Mathew Stroke Scale (Mathew et al. 1972)
781 43.4 · Messinstrumente für die Rehabilitation (Einteilung gemäß ICF)
kum aller ADL-Skalen bleibt die Messung und Bewertung des
Fähigkeitsprofils der Betroffenen: 4 Der ursprüngliche Barthel-Index wurde seit seiner Einführung 1965 international bis weit in die 80er Jahre als häufigstes Instrument zur Messung der globalen ADLFähigkeiten verwendet. 4 Der Functional Independence Measure (FIM) ist ein basales Instrument, das wie der erweiterte Barthel-Index (EBI) auch die psychomentalen Fähigkeiten der Patienten mitberücksichtigt. Der FIM genügt allen wissenschaftlichen Ansprüchen und genießt in den USA, aber auch zunehmend in Europa eine hohe Akzeptanz und Verbreitung. 4 Als ideale Erweiterung des FIM spielt vor allem der Functional Assessment Measure (FAM) mit 12 zusätzlichen Aktivitäten wie Schlucken, Transfer ins Auto, Schreiben oder Orientierung eine wichtige Rolle (McPherson et al. 1996). Diese zusätzlichen Items sind vor allem im späteren Rehabilitationsverlauf sowie in der teilstationären und ambulanten Rehabilitation von Bedeutung. 4 FIM und BI bilden spezielle Fragestellungen oder Krankheitsbilder nur ungenügend ab. In diesen Fällen müssen weiterführende Assessments benutzt werden.
4 In der Rehabilitation von Querschnittgelähmten genießt der Spinal Cord Independence Measure (SCIM III), eine revidierte Ausgabe des SCIM, eine zunehmende Akzeptanz (Catz et al. 2007). (Eine gute Übersicht über 100 funktionelle Assessmentinstrumente s. Rust et al. 2005). kBoden-, Decken- und Seiteneffekte Die Messverfahren zur Erfassung der ADL sind in den Extremwerten (Boden-, Decken- oder Seiteneffekt) oft nicht genügend aussagekräftig, und in diesen Bereichen müssen Zusatzassessments eingeführt werden. Daher ist es nötig, dass die Messverfahren für schwerste neurologische Funktionsstörungen um Items erweitert werden, die in diesem Bereich bzw. in dieser Phase besonders wichtig sind. Der Seiteneffekt beschreibt die Schwierigkeit der Abgrenzung gegenüber der Akutmedizin bzw. Langzeitbetreuung. Beispiel Um den Boden-Effekt des FIM aufzulösen, ist die Verwendung der EFA empfehlenswert, da diese eine differenzierte Abbildung Schwerstbetroffener ermöglicht.
. Tab. 43.4. Übersicht der bekanntesten Assessments zur Erfassung der ADL-Fähigkeiten Name
Referenz
Beschreibung
Vorteile
Nachteile
Bemerkungen
BarthelIndex BI
(Mahoney u. Barthel 1965)
Erfassung von 10 verschiedenen Alltagsfunktionen durch Beobachtung und/oder Befragung
Leichte Handhabung, keine Vorkenntnisse notwendig, gute Validität
Keine Beurteilung der kognitiven Funktionen, keine einheitliche Skala (2–4 Stufen je nach Item)
Für die Frührehabilitation eignet sich der Frühreha-Barthel-Index FRB (Schönle 1996)
Erweiterter BarthelIndex EBI
(Prosiegel et al. 1996)
Erweiterung des Barthel-Index BI um 6 Items
Der BI wurde durch den EBI um wesentliche Items ergänzt. Der EBI hat eine sehr hohe Korrelation zum FIM
Der EBI weist in weiten Teilen die gleichen Items auf wie der FIM
Functional Independence Measure FIM
(Granger et al. 1995)
Erfassung von 18 verschiedenen ADL mit einer Skala von 1–7
Weite Verbreitung in USA und Europa, gut untersuchte Gütekriterien
Bedarf einer einheitlichen Schulung der Untersucher, wenig geeignet zur gelegentlichen Nutzung
Als Ergänzung eignet sich der Functional Assessment Measure FAM (McPherson et al. 1996). Für Kinder wurde der WeeFIM entwickelt (Msall et al. 1994)
Early Functional Abilities EFA
(Heck u. Schönenberger 1996)
Erfassung von 4 Funktionsbereichen während der neurologischen Frührehabilitation
Das EFA eignet sich gut für die interdisziplinäre Dokumentation
Wird nur in wenigen Kliniken in Deutschland und der Schweiz benutzt
-
Spinal Cord Independence Measure SCIM III
(Catz et al. 2007)
Erfassung der ADL von Querschnittgelähmten
Spezifisch für Querschnittgelähmte, gut untersuchte Gütekriterien
Noch nicht weit verbreitet
Ein Jahr nach dem Original wurde schon eine Revision publiziert, 2007 eine weitere Überarbeitung
43
782
Kapitel 43 · Dokumentation, Messung und Qualitätsmanagement
. Tab. 43.5. Beispiele bekannter Skalen, die ihren Schwerpunkt im Bereich der Aktivitäten haben Aktivitäten
Name/Referenz
Beschreibung
Obere Extremität
Action Research-Arm-Test ARAT (van der Lee et al. 2001)
Bewertung der Handfunktionen in 4 Kategorien (Greifen, Halten, Feinmotorik, Armmotorik) Erfassung der Feinmotorik der Hand
9-Hole-Peg-Test NHPT (Mathiowetz et al. 1985) Mobilität
Chedoke McMaster Stroke Assessment (Gowland et al. 1993)
Functional Ambulation Categories FAC (Holden et al. 1986) Gehgeschwindigkeit (Timed Walking Tests) (Rossier et al. 2001) Timed up and go (Mathias et al. 1986)
43.4.3
Messsysteme, die vorwiegend die Partizipationsebene berücksichtigen
Während die Erfassung der Körperfunktionen und -strukturen i.d.R. keine Schwierigkeiten bereitet, kann die Trennung zwischen Aktivitäten und Partizipation einige Probleme aufwerfen, weil die Ebenen ineinanderfließen. Beispiel Die Unfähigkeit, einen Rollstuhl selbständig zu fahren, ist eine Einschränkung der Aktivität; die daraus resultierende Limitierung des individuellen Aktionsradius eine Einschränkung der Partizipation.
Die Beeinträchtigung auf Ebene der Partizipation ist sehr schwer mess- und quantifizierbar. Das größte Problem bereitet in diesem Zusammenhang die Durchmischung von subjektiven und objektiven Vorstellungen über die sozialen Auswirkungen der Behinderung, und was unter Lebensqualität überhaupt verstanden wird.
Erfassung der Lebensqualität Bis heute sind wenige Assessments zur Erfassung der Lebensqualität (Quality of Life) allgemein anerkannt. Die fast unüberschaubare Anzahl der Messinstrumente steht für die Schwierigkeit, global zu beantworten, was Lebensqualität für den einzelnen Patienten bedeutet. > Schwerpunkte für Lebensqualität liegen 4 einerseits in der körperlichen und psychischen Befindlichkeit, 4 andererseits in den sozialen Interaktionen und ökonomischen Gegebenheiten.
43
Entscheidend sind die speziellen Bedürfnisse des Anwenders, welche die Wahl einer bestimmten Assessmentmethode bestimmen. Einige Beispiele solcher Instrumente zur Erfassung der Partizipation und Evaluierung der Lebensqualität sind in . Tab. 43.6 aufgeführt. Lebensqualität (Quality of Life, QoL) beinhaltet verschiedenste Faktoren, welche die Lebensbedingungen einer einzelnen Person oder der Gesellschaft direkt oder indirekt
Erfassung der Selbständigkeit bei Lagewechsel und Mobilität sowie weitere Skalen für Schulterschmerzen, Haltungskontrolle und aktive Bewegung der Extremitäten Erfasst den Unterstützungsbedarf beim Gehen Messung der Distanz resp. der Zeitdauer Intervallskalierte, einfache Testung der Mobilität
beeinflussen. Sie ist subjektiv geprägt und wird dementsprechend mit Wohlbefinden, Gesundheit oder Wohlstand in Verbindung gebracht. Obschon der Gesundheitsstatus im Rahmen der QoL ein wichtiger Faktor ist, müssen für eine korrekte Einschätzung und Beschreibung weitere Parameter berücksichtigt werden, wie 4 sozialer Status, 4 Bildungsstand, 4 Beruf und 4 Einbindung in die Gemeinschaft. Die QoL wird nicht nur in der Medizin thematisiert, sondern sie tangiert praktisch jeden anderen Fach- und Lebensbereich, der sich mit dem Menschen und seiner Umwelt beschäftigt. jQuality of Life Indexes Hagerty et al. (2001) schlagen ein auf der Systemtheorie (interdisziplinäres Erkenntnismodell) basierendes Instrument vor, um die Bedeutung sog. Quality of Life Indexes zu erfassen: Bestimmte Hauptbegriffe wie 4 Vorgaben, 4 Verarbeitung und 4 Ergebnisse werden verschiedenen Variablen zugeordnet und die Wechselwirkungen zwischen den entsprechenden Gruppen sowie ihre Auswirkungen auf die QoL dargestellt (. Abb. 43.2). Die Goal Attainment Scaling (GAS) (Kiresuk et al. 1982) eignet sich zur gemeinsamen Entwicklung und Dokumentation der Zielerreichung. Diese berücksichtigt 4 die Individualität, 4 die Quantifizierbarkeit und 4 die individuelle Empfindlichkeit (Schaedler et al. 2009). Der Vorteil gegenüber standardisierten Messungen besteht darin, dass Patient und Therapeut gemeinsam ein individuelles Ziel formulieren und zugleich definieren, in welchem Zeitabstand die Zielerreichung evaluiert wird. Das erwartete Ergebnis wird auf Stufe 0 gesetzt; Verbesserungen bzw. Verschlechterungen werden mit z.B. +2, +1 bis -1, -2 quantifiziert.
783 43.5 · Qualitätsmanagement
. Tab. 43.6. Überblick über die bekanntesten Assessments zur Erfassung der allgemeinen Gesundheit bzw. Lebensqualität und Partizipation Assessment
Fragen
Short Form of the Health Survey Questionnaire SF-36 (Bullinger 1996)
Allgemeiner Gesundheitszustand Gesundheitszustand im Vergleich zur vergangenen Woche Einschränkung von Tätigkeiten Körperliche und emotionale Rollenfunktion Schmerzwahrnehmung
WHO Quality of Life (WHOQOL-Group 1995)
Physisches Wohlbefinden Psychisches Wohlbefinden Unabhängigkeit Soziale Beziehungen Umwelt Religion/Spiritualität
EuroQol (Dorman et al. 1997)
Beweglichkeit, Mobilität Arbeit, Studium, Haushalt Schmerzen, körperliche Beschwerden Angst, Niedergeschlagenheit
Nottingham Health Profile NHP (Hunt et al. 1981)
Energieverlust Schmerz Emotionale Reaktion Schlaf Soziale Isolation Physische Mobilität
Sickness Impact Profile SIP (Hutter et al. 1997)
Mobilität, Selbstversorgung Emotionen, Kommunikation, Wachsamkeit, Gewohnheiten Freizeit, Begabungen Gesellschaftliche Interaktionen
Modified Self-report Measure of Social Adjustment (Selbsteinschätzung des Patienten) (Cooper et al. 1982)
Familiäre und soziale Befindlichkeit
Rand Social Health Battery (Selbsteinschätzung des Patienten) (Donald et al. 1984)
Familiäre, soziale und kulturelle Aktivitäten, quantitativ und qualitativ
Reintegration to Normal Living Index (Wood-Dauphinee et al. 1988)
Reintegration ins alltägliche Leben
Environmental Status Scale (Stewart et al. 1995)
Berufliche, ökonomische und gesellschaftliche Aktivitäten
43.4.4
Schlussfolgerungen
Assessments sind unabdingbar im Rehabilitationsalltag. Die Auswahl der richtigen Instrumente für die jeweiligen Patienten und Rehabilitationsaufgaben ist herausfordernd, da sie passend sein müssen und eine Vergleichbarkeit im internen und externen Rehabilitationsalltag herstellen müssen (gemeinsame Sprache). Das ICF-Konzept ist eine Struktur, um die Assessments den verschiedenen Gesundheitsdimensionen klar zuordnen zu können, und es bietet eine Basis für die Implementierung von Goldstandards.
43.5
Qualitätsmanagement
Die Frage nach Qualitätsstandards in der neurologischen Rehabilitation ist eng mit der Forderung verbunden, die Zusammenhänge zwischen dem Qualitätsanspruch und der Wirk-
samkeit rehabilitativer Arbeit aufzuzeigen. Rehabilitationsprogramme müssen qualitativen Ansprüchen genügen, d.h. effizient und wirtschaftlich sein und sich auf die im ICF-Rahmenkonzept definierten Grundsätze stützen. Daraus ergeben sich genau zu definierende infrastrukturelle, personelle und organisatorische Voraussetzungen für die Rehabilitationsinstitutionen. Dabei muss das Kosten-Nutzen-Verhältnis möglichst optimal gehalten werden, ohne dass jedoch die Behandlungsqualität und die angestrebten Reintegrationsziele darunter leiden (Rentsch 1995). Das Qualitätsmanagement in den Rehabilitationskliniken hat sich stark gewandelt, und die bekannten Instrumente wie 4 Prozessmanagement und 4 Ergebnismessungen werden mehr und mehr professionell eingesetzt.
43
784
Kapitel 43 · Dokumentation, Messung und Qualitätsmanagement
. Abb. 43.2. Systemtheoretisches Modell zur Beschreibung der ursächlichen Faktoren der Lebensqualität (Hagerty et al. 2001)
Definition
43
Qualität (gemäß der Norm DIN ISO 9000: 2000-01): Vermögen einer Gesamtheit inhärenter Merkmale eines Produkts, Systems oder Prozesses zur Erfüllung von Forderungen von Kunden und anderen interessierten Parteien (Deutsches Institut für Normierung 1994). Qualitätsmanagement (QM) resp. Qualitätsmanagementsystem (QMS): Unter QM versteht man alle Tätigkeiten des Managements, welche die Qualität der Klinik zum Inhalt haben. Das QMS umfasst die Methodik zur Umsetzung des QM (Jung u. Tom 2003). Qualitätssicherung: Beinhaltet in der neurologischen Rehabilitation alle Prozesse, die darauf ausgerichtet sind, die Anwendung von medizinischem Wissen unter Berücksichtigung der technischen und personellen Möglichkeiten sowie des verbundenen Risikos, im Hinblick auf einen optimalen Gesundheits- und Funktionsgewinn, einzusetzen.
Total Quality Management (TQM): TQM hat, die kontinuierliche Verbesserung der Qualität zum Nutzen von Patienten, Mitarbeitern und Kostenträgern zum Ziel (Jung u. Thom 2003) Effizienz: Maß für die Wirtschaftlichkeit des Mitteleinsatzes (Input) in Beziehung zur erbrachten Leistung (Output). Vereinfacht ausgedrückt: »Die Dinge richtig tun«. Der Aspekt der Wirtschaftlichkeit ist darin enthalten, d h. hoher Nutzen bei niedrigen Kosten. Effektivität: Maß für die Wirksamkeit bestimmter Massnahmen. Die Effektivität vergleicht den erreichten Nutzen einer erbrachten Leistung (Ergebnis, Outcome) mit dem angestrebten Nutzen (Ziel). Vereinfacht ausgedrückt: »Die richtigen Dinge tun«.
785 43.5 · Qualitätsmanagement
43.5.1
Basis medizinischer Entscheidungsprozesse
Leitlinien, Standards und auch die evidenzbasierte Medizin (Evidence Based Medicine, EBM) ergeben eine Basis, auf der medizinische Entscheidungsprozesse verankert werden können. jEvidence Based Medicine (EBM) > EBM beschreibt eine Methode wissenschaftlicher Erkenntnis, die definierte Kriterien für die Wertung von wissenschaftlichen Studien sowie deren Synthese zum Inhalt hat (Bollschweiler 2001, Sacket et al. 1996).
Die Methodik der wissenschaftlichen Erkenntnisse stößt in der Rehabilitation an methodische Grenzen; diese Grenzen sind jedoch flexibel. jLeitlinien In der neurologischen Rehabilitation haben Leitlinien einen grossen Stellenwert. Diese definieren das Standardvorgehen zu einer bestimmten Fragestellung (Bollschweiler 2001). Definition Entsprechend der Definition von Field u. Lohr (1990) sind Leitlinien systematisch entwickelte Informationen oder auch Instruktionen über das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei einem bestimmten Krankheitsbild.
Für die Entwicklung und Implementierung von Leitlinien resp. Guidelines ist ein internationales und interdisziplinäres Zusammenwirken notwendig, z.B. die National Clinical Guidelines for Stroke des Royal College of Physicians (Intercollegiate Stroke Working Party 2004). jQualitätsstandards Näher betrachtet Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität Die Einteilung nach Donabedian (1980) in Struktur-, Prozessund Ergebnisqualität hat in der Praxis an Bedeutung verloren, da vor allem die Abgrenzung zwischen Prozess- und Ergebnisqualität zu Problemen führen kann. Wichtig ist, die Prozessqualität und die Ergebnisqualität zusammen zu interpretieren und zu bearbeiten.
Die üblichen Schwerpunkte des Qualitätsmanagements wie 4 Prozesse, 4 Patienten- und generell Kundenorientierung, 4 Mitarbeiterorientierung, 4 kontinuierliche Verbesserung sowie 4 Ergebnismessung gelten auch für die Rehabilitation. In . Übersicht 43.3 sind Modelle und Zertifizierungsverfahren aufgeführt, die auch in der Rehabilitation angewendet werden.
. Übersicht 43.3. Modelle und Zertifizierungsverfahren im Qualitätsmanagement 1. 2. 3. 4.
DIN EN ISO 9000 ff EFQM-Modell KTQ-Modell sanaCERT
kDIN EN ISO 9000 ff Ein mögliches Regelwerk zur Einführung eines Qualitätsmanagementsystems ist die DIN EN ISO 9000 ff aus dem Jahr 1994. Diese Industrienorm ist ein Regelwerk, das die Abläufe in der industriellen Produktion beschreibt: 4 DIN steht für »Deutsches Institut für Normung«, 4 EN für »Europäische Norm« und 4 ISO für »International Standardisation Organisation«. Im Jahr 2000 wurden die Normen überarbeitet und dem Dienstleistungssektor angepasst. Die DIN-ISO-Normen sind ein Regelwerk, bei dem der normative Charakter und die Betonung der prozessualen Aspekte im Vordergrund stehen. Für die Anwendung im Gesundheitswesen besteht eines der Hauptprobleme in der Notwendigkeit der Übersetzung dieser Industrienormen und den damit verbundenen Schwierigkeiten (Schrappe 2001). kEFQM-Modell Das Excellence-Modell nach EFQM (European Foundation for Quality Management) besteht aus einer offen gehaltenen Grundstruktur mit neun Komponenten, wobei fünf als Befähiger und vier als Ergebnisse unterteilt werden. Beim Bewertungsverfahren nach EFQM können 1000 Punkte erlangt werden, je 500 für die Befähiger- und die Ergebniskriterien: 4 Die Befähiger-Kriterien behandeln das, was ein Spital tut und 4 die Ergebnis-Kriterien behandeln das, was ein Spital erreicht. kKTQ-Modell Das KTQ-Modell (Kooperation für Transparenz und Qualität im Krankenhaus) ist ein krankenhausspezifisches Zertifizierungsverfahren aus Deutschland, das Ende der 90er Jahre entwickelt wurde. Die Grundlage für die Zertifizierung bilden sechs Komponenten: 4 Patientenorientierung, 4 Mitarbeiterorientierung, 4 Sicherheit im Krankenhaus, 4 Informationswesen, 4 Krankenhausführung und 4 Qualitätsmanagement. Im Kriterienkatalog werden diese sechs Komponenten in Unterkriterien aufgeteilt und gemäß ihrer Wichtigkeit im Krankenhausalltag gewichtet.
43
786
Kapitel 43 · Dokumentation, Messung und Qualitätsmanagement
ksanaCERT In der Schweiz hat die Stiftung sanaCERT zusammen mit den Kliniken Qualitätsstandards entwickelt, von denen bei einer Zertifizierung eine vorher bestimmte Anzahl anlässlich eines Zertifizierungsaudits geprüft wird. Zurzeit sind 25 Qualitätsstandards für die Akutsomatik und die Langzeitpflege vom Stiftungsrat in Kraft gesetzt. Weitere Themen befinden sich in Bearbeitung und sollen sukzessive in die Liste der Standards aufgenommen werden. Im Endausbau werden 30 Qualitätsstandards zur Verfügung stehen.
43.5.2
Zusammenfassung
Zur Einführung eines Qualitätsmanagements eignen sich verschiedene Modelle, deren Zielsetzung mit den Anforderungen der Rehabilitationsklinik an ein Qualitätsmanagementsystem abzugleichen ist: 4 Das ISO-Modell orientiert sich stark an der Produktionsindustrie. 4 Das EFQM ist dagegen umfassender und bezieht den Dienstleistungssektor mit ein. 4 Speziell für das Gesundheitswesen wurde in Deutschland das KTQ-Modell und in der Schweiz sanaCERT entwickelt. Qualitätsmanagement bedeutet mehr als nur die Berücksichtigung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, sondern ist ein gesamtheitlicher und umfassender Steuerungsansatz, der integraler Bestandteil aller Aktivitäten und der dahinterliegenden Führungsstrukturen einer Klinik sein muss. So kann das Qualitätsmanagement zum Nutzen für die Patienten und für die Fachrichtung Neurorehabilitation eingesetzt werden.
43.6
43
Ausblick in die Zukunft
Es ist eine große Herausforderung, die verschiedenen Facetten des bio-psycho-sozialen Ansatzes (von Uexküll u. Wesiack 2003) der Rehabilitation mit den verschiedenen Perspektiven des Qualitätsmanagements unter einen Hut zu bringen. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass der geforderte multi- bzw. interdisziplinäre Ansatz integriert wird. Die aus der kurativen Medizin vertrauten, naturwissenschaftlichen Grundlagen sind dafür nicht ausreichend. Viele Fragen betreffen soziale, ethische oder ökonomische Bereiche der Patienten, was in der Auseinandersetzung und Erarbeitung von Lösungsvorschlägen berücksichtigt werden sollte. Mittlerweile hat die wissenschaftliche Rehabilitationsforschung international Fuß gefasst, muss aber stetig ausgebaut werden, um mit der Komplexität der Rehabilitation und der Dynamik der Kontextfaktoren Schritt halten zu können. Um hohen wissenschaftlichen Ansprüchen an Methodik und Ausführung gerecht zu werden, sind beträchtliche zeitliche und personelle Ressourcen erforderlich. Die Rehabilitationsmedizin wird auch zukünftig mit Fragen der Qualitätssicherung konfrontiert sein. Die Antworten
und Lösungsansätze müssen verschiedenste Ebenen des Rehabilitationsprozesses und komplexe Sachverhalte berücksichtigen, um durch das Qualitätsmanagement eine langfristige und nachhaltige Qualitätsentwicklung zu erzielen. Das Ziel muss sein, einen vernünftigen internationalen wissenschaftlichen Konsens zu etablieren, auf dessen Grundlage sinnvoll und koordiniert weitergearbeitet werden kann. Durch die Vielfalt an Skalen, Scores und Assessmentverfahren ist es zu einem Mangel an Vergleichbarkeit und zu einer »sprachlichen Barriere« gekommen, die eine Verständigung zwischen den verschiedenen Rehabilitationseinrichtungen erschwert. Die umfassende ICF-Struktur der WHO bietet ein Rahmenkonzept, in das sich die Anforderungen an Assessment, Dokumentation und Qualitätsmanagement nahtlos einbinden lassen.
43.7
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Kapitel 43 · Dokumentation, Messung und Qualitätsmanagement
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43
Anhang Glossar
– 791
Stichwortverzeichnis
– 795
791
Glossar A A-B-Design Experimentelles Design, in dem die Probanden
zunächst unter Normalbedingungen (A), dann unter experimentellen Bedingungen (B) untersucht werden A-B-A-Design Experimentelles Design, in dem die Probanden
unter Normalbedingungen (A), danach unter experimentellen Bedingungen (B) und abschließend nochmals unter Normalbedingungen (A) untersucht werden Aberrante synaptische Verbindungen Synaptische Fehlver-
bindungen, die ihren funktionellen Zweck nicht erfüllen Amblyope Übergangszonen Schwachsichtige Zonen am Rand von Skotomen (vollständigen Gesichtsfelddefekten), wo Objekte erkannt, aber unscharf gesehen werden Angiogenese Gefäßneubildung Anterograde Amnesie Gedächtnisstörung, die mit dem Zeitpunkt des Ereignisses einsetzt. Neue Inhalte können nicht mehr gespeichert werden
BSG Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit – ein Messwert für Entzündungsaktivität im Blut
C Chemosis Schwellung der Bindehaut des Auges, meist mit Rötung. Ursache kann eine Reizung, eine Entzündung oder eine Stauung der Augengefäße sein CK-MB Creatin-Kinase vom Myokardtyp (das Enzym CK findet sich v.a. im Muskel, aber auch im Herzmuskel und anderen Geweben) – Werte der CK-MB über 6% der gesamten gemessenen Creatin-Kinase sprechen für einen Herzinfarkt CRP C-reaktives Protein, ein Eiweiß, das in der Leber gebildet wird und ein guter Messwert für Entzündungsaktivität ist Cross-over-Studie Die Probanden werden in zwei Gruppen eingeteilt. Gruppe A wird zunächst unter der Kontrollbedingung, dann unter der experimentellen Bedingung untersucht, Gruppe B in umgekehrter Reihenfolge
Anxiolytisch Gegen Angst wirksam, angstlösend
Crossmodale Integration Fähigkeit zur Erfassung unterschiedlicher Sinneseindrücke eines Objekts; im Testbeispiel z.B. die Kombination eines nach unten gerichteten Pfeils und eines tiefen Tons bzw. eines nach oben gerichteten Pfeils und eines hohen Tons (Beispiel aus der Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung – TAP); gelingt die Leistung, dann kann z.B. aus der Kombination visueller und akustischer Eindrücke die Bewegungsrichtung eines Objekts erschlossen werden
Artefakt Ein durch äußere (z.B. menschliche, methodische) Einflüsse verfälschtes Ergebnis
Cut-off-Wert Toleranzgrenze – der Wert, ab dem ein Testergebnis als positiv oder negativ zu bewerten ist
Aversive Reize Unangenehme, z.B. schmerzhafte oder Ekel erregende Reize
D
B
Demenz mit Lewy-Körperchen Im Alter auftretende neurodegenerative Demenz; sie kann eigenständig oder im Rahmen einer Parkinsonerkrankung auftreten (s. Lewy-Körperchen)
Anterograde Degeneration Bei der Schädigung einer Nervenzelle oder eines Axons degeneriert der distal gelegene Abschnitt des Axons mit den Synapsen Antikonvulsiv Gegen epileptische Anfälle wirkend
Baseline-Messung Messung der Kontrollgruppe oder des Ausgangswerts, bevor durch ein Experiment Veränderungen erzeugt werden Baseline-Treatment-Studie Messung unter Kontrollbedingungen, dann unter Behandlung BOLD-Signal Blood Oxygen Level Dependancy; abhängig vom Oxygenierungsgrad (der Sauerstoffsättigung) ändert sich das MRT-Signal des Hämoglobins, was sich zur Messung neuronaler Aktivität im funktionellen MRT verwenden lässt. Die Aktivität von Hirngewebe verbraucht Sauerstoff und verringert die Sättigung des Hämoglobins
Deprivation Entzug, Entbehrung, Isolation, z.B. von äußeren Reizen oder sozialen Bezügen Diaschisis Funktionsminderung in einer Hirnregion, die funktional mit einer geschädigten Hirnregion verbunden, jedoch selbst nicht geschädigt ist, z.B. im Kleinhirn kontralateral zu einem Schlaganfall des Großhirns Diplopie Doppelbilder, Doppeltsehen Disparität Verschiedenheit, Anderssein
792
Anhang
Dysarthrophonie Kombination aus Störungen in Artikulation, Phonation und meist Atmung Dysprosodie Störung der Sprachmelodie und der lautlichen Struktur der Sprache (Betonung, Tonhöhe, Rhythmus und Intonation)
E Explizites Gedächtnis Auch deklaratives Gedächtnis, speichert Tatsachen und Ereignisse, die bewusst wiedergegeben werden können – Weltwissen und Tatsachen aus dem eigenen Leben
G Genexpressionsprofil Messung der Aktivität von Genen in Gewebe, z.B. von Genen in Tumorgewebe, die Hinweise für das Ansprechen auf eine bestimmte Therapie geben Gyrierung Faltung (des Gehirns), Ausbildung der Gehirnwindungen
H Hygrom subdural Ansammlung von Liquor im Subduralraum, meist posttraumatisch Hypometabolismus Verminderter Stoffwechsel; im Gehirn messbar z.B. durch SPECT-Messung (Single Photon Emission Computed Tomography), Hinweis auf eingeschränkte Funktion des Gewebes
I
Kolliquationsnekrose Sonderform des Gewebeuntergangs, in dem es zu einer Verflüssigung des abgestorbenen Gewebes kommt Kortikofugale Projektionen Nervenverbindungen von den Hirnrindengebieten zu tiefer gelegenen Regionen Kursorisch Oberflächlich
L Lewy-Körperchen Runde Einschlusskörperchen aus Proteinablagerungen im Zytoplasma von Nervenzellen, die bei der Parkinsonkrankheit und v.a. bei der Lewy-KörperchenDemenz nachweisbar sind Lubrikation Hier: Befeuchtung der Vagina während der Erregung zur Verminderung der Reibung beim Geschlechtsverkehr. Der Vaginalschleim wird hauptsächlich in den Bartholini-Drüsen erzeugt
M Metabolische Aktivierung Hier: Erhöhung des Stoffwechsels durch funktionelle Aktivität von Nervenzellen, messbar z.B. durch SPECT (Single Photon Emission Computed Tomography) Mn2+ Manganion, zweifach positiv geladen Mnemonische Strategien Strategien zur verbesserten Merkfähigkeit Mnestische Funktionen/Störungen Funktionen des Gedächtnisses bzw. dessen Störungen
Impedanz Wechselstromwiderstand Implizites Gedächtnis Auch prozedurales Gedächtnis oder nicht-deklaratives Gedächtnis, speichert Fertigkeiten, Verhaltensweisen wie z.B. motorische Fähigkeiten und ist bei den meisten amnestischen Störungen intakt
Monakow-Diaschisis S. Diaschisis – Funktionsminderung in einer Hirnregion, die funktionell eng mit einer anderen, geschädigten, Hirnregion verbunden ist, selbst jedoch nicht geschädigt ist. Nach dem russisch-schweizerischen Neuropathologen Constantin von Monakow
INR International Normalized Ratio; Messwert der Blutgerinnungszeit unter z.B. Marcumartherapie zur Dosisfindung
MT Hirnregion, die an der Analyse visueller Bewegungsreize beteiligt ist
Interferenzhemmung Gedächtnishemmung durch Präsentation störender Reize in zeitlicher Nähe zum Zielreiz
N Neurogenese Bildung von Nervenzellen aus Vorläuferzellen
Inzidenz Anzahl neu aufgetretener Krankheitsfälle innerhalb einer definierten Population in einem bestimmten Zeitraum
K Katamnestische Studie Studie über den Langzeitverlauf
Neurometabolische Depression (Krankheiten) Meist erbliche Stoffwechseldefekte, die zu einer Beeinträchtigung der Entwicklung oder Funktion des Gehirns führen – hier: zu einer Depression Neurometabolite Substanzen, die als Zwischenstufen oder Abbauprodukte des Stoffwechsels in Nervenzellen anfallen
793 Glossar
O Orthoptische Therapieansätze Behandlungsmöglichkeiten in der »Sehschule« Osteoklastische Trepanation Öffnung des Schädels unter Wegnahme eines Knochendeckels
Retrograde Amnesie Gedächtnisverlust für den Zeitraum vor einem schädigenden Ereignis, z.B. einem Unfall. Der Zeitraum der retrograden Amnesie nimmt häufig im Laufe der Zeit ab
P
Retrograde Degeneration Die Schädigung von Axonen einer Nervenzelle kann auch zum Untergang des proximalen, d.h. mit der Nervenzelle noch verbundenen Axonanteils führen bis hin zum Untergang der Nervenzelle selbst
Penumbra Bereich, der nach einem Hirninfarkt unmittelbar an die zentrale Nekrosezone angrenzt und noch überlebensfähige Zellen enthält
S
Perseveration, perseveratorisch Haftenbleiben, Wiederholen von Bewegungen oder Worten, psychischen Eindrücken
Somatotop Abbildung der relativen Lage der Körperteile im zentralen und peripheren Nervensystem – ähnlich verzerrten Landkarten des Körpers, wenn man sie zeichnerisch auf die anatomischen Strukturen projiziert
Perzeptuell Die Wahrnehmung betreffend Supervidiertes Training Beaufsichtigtes Training Pollakisurie Harndrang; häufige Harnentleerung von kleinen Mengen Postiktale Veränderungen Veränderungen (z.B. im EEG), die nach einem epileptischen Anfall auftreten Prävalenz Krankheitshäufigkeit meist pro 100.000 in der Bevölkerung Prosodie
Sprachmelodie
Protrusio bulbi Hervorquellen der Augen, z.B. durch raumfordernde Prozesse in der Augenhöhle PTT Partielle Thromboplastin-Zeit; ein Test zur Kontrolle des intrinsischen Blutgerinnungssystems, z.B. zur Kontrolle unter Heparintherapie oder zur Erkennung von Gerinnungsstörungen
Q Querdisparation Unterschiedliche Lage der Bilder auf der rechten und linken Netzhaut infolge des Augenabstands; dieser Unterschied liefert Informationen für das räumliche Sehen
R Reizkontingente Reaktion Reaktion auf einen neutralen Reiz, dessen Zusammenhang mit einem positiv oder negativ besetzten Reiz gelernt wurde (Pavlov’s Hund) Resilienzforschung Erforschung der Widerstandskraft von Menschen, der Ressourcen, die dazu befähigen, mit belastenden Faktoren besser fertig zu werden
Supranukleäre Blickparese Blicklähmung, die zentral bedingt ist, z.B. durch Schädigungen im Mittelhirn
T Transiente Störungen Vorübergehende Störungen Transkallosale Inhibition Hemmende Einflüsse, meist des motorischen Kortex, auf die entsprechenden kontralateralen Kortexareale. Sie verhindern beispielsweise die Mitbewegung der anderen Seite bei komplexen Fingerbewegungen
V V5 Hirnregion zur visuellen Bewegungserkennung Visuospatiale Defizite Probleme bei der Analyse räumlicher Zusammenhänge von Seheindrücken, z.B. bei der Erkennung von Objekten oder Gesichtern
795
A–B
Stichwortverzeichnis
A A. cerebri media-Infarkte 637 A. cerebri posterior-Infarkte 639 abstraktes Denken 142 ACTH-Mangel 571 ActiGait-System 278 Adaptation 389 Adaptationshilfen 288 ADL-Aktivitäten 775, 779 aerobes Training 677 Affolter-Konzept 243, 315 Aixtent 163 Akinese 713 Aktionismus 536 Aktivierungsstudien 82 Aktivierungsstudien des motorischen Systems 84 Aktivitäten des Alltags (ADL) 688, 333, 775, 779 Akupunktur 259 Akzelerometer 296 Alien-Hand-Syndrom 236, 309 Alpha-Koma 507 Alternative Therapien 538 Alters-Konzentrations-Test (AKT) 160 Altersschwindel 397 Amantadin 528 Amnesie 95, 618 – anterograde 96 Amphetamine 257 Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) 63, 704 angeborene Schädigungen des Nervensystems 601 – Angehörige 101, 441–458, 516, 521, 535, 536 – Angehörige in der Rehabilitation von Kindern 603–605 – Angehörige in der Frührehabilitation 535 – Angehörige in der Schlaganfallrehabilitation 661 – Angehörige, Belastung 445 – Angehörige, Einbeziehung in die Therapien 452 – Angehörige, Rollenveränderungen 443 – Angehörigenseminare 452 – Diagnostik in der Angehörigenarbeit 446 – Interventionen für Partner und Familien 448, – Probleme von Eltern hirnverletzter Jugendlicher 444 – Probleme von Vätern und Müttern 444 Angehörigenberatung 448
Angehörigengruppen 452, 536 Angst 721, 745 Angststörung 589 Anpassungsprozesse 445, 453 Anticholinergika 682, 730 Antidepressiva 529 Antispastika 530 Antrieb 528 Antriebsmangel 529 Aphasie 42, 330, 340, 481, 495, 585 – amnestische 343 – Aphasiesyndrome 340, 342 – Aphasietests 341 – Geschichte der Aphasien 42 – Neurologische Grundlagen 340 – Therapie 344 Apraxie 309, 329, 495 – Gliedmaßenapraxie 330 – ideatorische 330 – ideomotorische 330 – Therapie 334 Aspiration 512 assoziierte Reaktion 232 Arbeitsplatzanalyse 466 Arbeitstherapie 752 Arbeitsunfähigkeit 461 Arbeitsversuch, beschützter 119 ARDS (Adult Respiratory Distress Syndrome) 563 Armfähigkeitstraining 316 Armtrainer 251 Artikulation 347 Aspiration 355, 512 Aspirationsschnelltests 356 Assessment 778 Ataxie 40, 294, 675 – Assessment 296 – Ataxie-Übungsprogramm 300 – frontale 294 – Medikamentöse Therapie 296 – Operative Therapie 297 – Pathophysiologie 294 – Rehabilitation 297–302 Atemstörungen 373–383, 563–564 – Ateminsuffizienz 701, 703, 705 – Atemmuskulatur 697, 700, 704 – Atemtherapie 377, 700 – Atemtraining 374 aufgabenorientierte Konzepte 243 Aufmerksamkeit, exekutive 148,150 – Daueraufmerksamkeit 147 Aufmerksamkeitsstörungen 145–170, 747
– Alertness 147, 149 – Aufmerksamkeits-NetzwerkTest (ANT) 157 – Aufmerksamkeitstraining 213 – Diagnostik 153, 156 – Effektivität der Therapie 166 – Geteilte Aufmerksamkeit 148 – Taxonomie 146 – Therapie 162 Aufmerksamkeitstraining 166 Augenfolgebewegungen 203 Ausdauertraining 698, 697 Ausdrücken der Blase 408 Aussprossung von Nervenendigungen 72 Autoaugmentation 412 automatisierte motorische Rehabilitation 267–272 – Arm- und Handfunktion 268–269 – Bi-Manu-Track 269 – Gangtrainer 270 – Heimtraining 269 – Mirror-Image Motion Enabler 268 – MIT-Manus 268 Automatismen, genitale 432 autonome Instabilität 559, 560 Autonomie 13 Autostimulation 522 axonale Schädigung, diffuse 618
B Backward Chaining 177 Baclofen-Pumpen 533 Baclofen-Therapie, intrathekal 255, 532, 595 Balint-Holmes-Syndrom 217–218 – Assessment 218 – Klinik 217 – Therapie 218 BAR-Empfehlungen 543 Barrieren 59 Barthel-Index (BI) 509, 664, 781 basale Stimulation 520 Basalganglien 712 Beatmung 374, 378, 624, 703 – Beatmungsrehabilitation 374 Beck-Depressions-Inventar 448 Beckenbodentraining 682 Behandlungskosten 61 Behandlungssektoren 26 Behinderung 58, 59
Berg-Balance-Scale 66 berufliche Rehabilitation 459–475, 28 – Begleitung am Arbeitsplatz 462, 465, 469 – Berufliche Trainingsprogramme 463 – Berufliche Wiedereingliederung 752, 753 – Berufstätigkeitsvorbereitung 464, 466 – Beschäftigungsmodelle 462, 463, 465, 472 – Supported Employment 462, 465, 469 berufliche Wiedereingliederung, Prädiktoren 462 Beschäftigungsquoten 461 Bewegungsanalysen 312, 314, 323 Bewegungsbad 526 Bewegungsbeobachtung 318 Bewegungstrainer 679 Bewusstlosigkeit 617 Bi-Manu-Track 269 bilaterales Training 317 Biofeedback 258, 731 Biographie 94, 99, 126 – Biographie und Hirnschädigung 99 – Autobiographie 99 Biographiearbeit 100 Biomedizin 38 Birmingham Object Recognition Battery 217 Blase, areflexive 405 Blasenfunktionsstörungen 401–413, 682 – Autoaugmentation 412 – Blasentraining 408, 409 – Diagnostik 406 – Einteilung von Blasenfunktionsstörung 405 – Elektrostimulation 411 – Neurophysiologie 402 – Operative Maßnahmen 411 – Therapie 407 – Veränderung der Blasenkapazität 412 Blasenhalskerbung 411 Blasenkapazität 412 Blepharospasmus 726, 729, 730 Blinkreflex 507 Blutgasanalyse 376 Bobath-Konzept 242, 314 BORB 214 Bottom-up-Stimulationsverfahren 212 Bottom-up-Training 334
796
Stichwortverzeichnis
Botulinum-Toxin 255, 730, 595, 531 Brachium conjunctivum 294 Bradykinese 713 Brain Mapping 49 Brief Symptom Inventory 448 Broca, Paul 42 Broca-Aphasie 342 Bronchoskopie 360
C Cannabis 679 Caregiver Burden Index 448 Caregiver Strain Index 664 Central Pattern Generators 249 Cerebral Salt Wasting Syndrom 573 Chorea 728 Clinical Pathways 18 Closed-loop-Kontrolle 307 Clostridium-difficile-Toxin 511 CogniPlus 164 Cognitive Remediation Therapie (CRT) 137 Colliculus superior 229 Compliance 746, 750 Computertomographie 507 Constraint Induced Movement Therapy 595, 250, 655, 315, 87 Coping-Hypothese 767 Corpus-cavernosum 424 Covert Behaviour 519 CPP-Schema 625 Critical Illness Neuropathie 705
D Darmatonie 569 Dehnungsübungen 678 Dekompressionskraniotomie 629 Dekubitalulcus 514 Deltagehräder 285 Demenz vom Alzheimer-Typ 153 Depression 238, 648, 659, 685, 721, 745 Desorientierung 534 Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD) 405, 683 Detrusorhyperaktivität 682 Diabetes insipidus 572 Diabetes mellitus 567, 565 – Diabetische Gastroparese 512 – Diabetische Polyneuropathie 64, 434 Diarrhoe 511, 567 Diaschisis 69, 84
Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI) 83 DIN EN ISO 9000 ff 785 Diskonnektionen 82 DL-Training 602 Dokumentation 508, 509, 663, 772 Dokumentationsstandard 776 DOPA-responsive-Dystonie 724 Doppel-Simultan-Stimulation (DSS) 211 Drehschwindel 392 DRG-System 545 Dysästhesien 681 Dysarthrie, ataktische 295, 298, 345, 346 Dysarthrophonie 345 – hyperkinetische 346 – hypotone 346 – neurologische Grundlagen 345 – Rigid-hypokinetische 346 – spastische 346 – Syndrome 346 – Therapie Dysarthrophonie, ataktische 346 – hyperkinetisch 346 – hypotone 346 Dysautonomie 513 dysexekutives Syndrom 136 Dysmetrie 295, 298 Dysphagie 352 Dystonie 308,722–735 – Diagnostik 727 – Dystone Hemiparese 235 – Dystonie-Myoklonus-Syndrom 724 – Dystonie-Plus-Syndrome 724 – Epidemiologie 722 – Klassifikation 723 – Klinik 725 – Pathophysiologie 712, 722 – Syndrome 724 – Therapie 729 Dystonie, fokale 726 Dystoniesyndrome, paroxysmale 724
E Early Functional Abilities (EFA) 509 Early Supported Discharge (ESD) 646 EEG 507 Effektivität 784 Effizienz 784 EFQM-Modell 785 Eignungsbeurteilung 748 Eistherapie 678
Elektroakustische Methoden 296 Elektromechanische Gangtrainer 270 Elektromyographie (EMG) 240 – Elektromyographie des äußeren Analsphinkters 423 Elektronystagmographie 296 Elektrostimulation 40, 257, 273–280, 657, 700 – Elektrostimulation und Neuromodulation 411 – Elektrostimulation nach Schlaganfall 657 – Elektrostimulation bei peripheren Lähmungen 700 Elternarbeit 602–604 EMG-Feedback 317 EMG-initiierten Stimulation 279 emotionale Störungen 685, 764 endokrinologische Störungen 570 Energiebedarf 565 Engagement, bürgerliches 27 Enkodierungs- und Abrufstrategien 177 Enriched Environment 76, 518 Entlassungsplanung 538 Entwicklungsförderung 602 Entwicklungspsychologie 592 Entwicklungsverläufe bei Kindern 586 Epidemiologie 57–66, 616 – Hirnverletzung 61 – Multiple Sklerose 62 – Hirntrauma 61 – Parkinson 63 – Neuromuskuläre Erkrankungen 63 epidurales Hämatom 622 Epilepsie 431, 514, 739–754 – Berufliche Wiedereingliederung 748, 752 – Coping 744, 749 – Epilepsie und Beruf 743, 748 – Epilepsiebezogenes Wissen 750 – Epilepsiechirurgie 741 – Epilepsie-Selbstmanagement 750 – Epilepsiesyndrome 740 – Fittness 747, 751 – Führerschein 751 – Kognitive Störungen 747 – Lebensqualität 742, 744 – Neuropsychologie 747, 751 – Psychiatrische Komorbidität 744 – Selbstmanagement 746 – Sozialmedizinische Beurteilung 743 Epilepsie, provokative Faktoren 746
Epilepsy-Knowledge-Profile 747 Epley-Manöver 393 Erb, Wilhelm 40 Erbrechen 511, 567 Erektile Dysfunktion 424, 683 Ermüdbarkeit 151, 153, 658 Ernährung 565 Ernährung, enterale 512, 566 Erorrless Learning 176 Erwerbsfähigkeit 687 Erzählungen 9 Erziehung von Kindern 444 Ethik 25, 547 Euphorie 686 Evidence Based Medicine (EBM) 18, 785 evidenzbasierte Neurorehabilitation 18 evozierte Potenziale 506 exekutive Funktionen 135, 588, 651 – Exekutive Störungen 136 – Therapie 137 Expanded Disability Status Scale (EDSS) 63, 689 Exploration 155 Explorationstraining 335 Externe Hilfen 140 Extinktion 210, 212 Extrapyramidale Bahnen 233 Exzitabilität 89 EyeMOVE-Programm 202
F Fahreignung 475–488 – bei älteren Kraftfahrern 482 – bei Aphasie 481 – bei Gedächtnisstörung 482 – bei Planungs- und Problemlösestörung 482 – Fahrerlaubnis-Verordnung 476 – Fahrerlaubnisklassen 477 – Fahrprobleme 476 – Fahrsimulatoren 483 – Fahrverhaltensprobe 477, 482 – Therapie der Fahreignung 484 Familie, Einbeziehen der 15 Familien in der Neurorehabilitation 441–458 – Familiäre Belastung 604 – Familienanamnese 604 – Familienberatung 119 Familienkonflikte 443 Family Assessment Device 448 Farbperimetrie 193 Farbsehen 192, 193 Farbtonunterscheidung, foveale 193
797 Stichwortverzeichnis
Fatigue 658, 674, 698 Fazilitation 242 Feedback-gestütztes Training 317 Feedback-Mechanismen 307 Feedforward-Mechanismen 307 Feinmotorik 306 – Feinmotorikstörungen 308 Felsenbeinfrakturen 629 funktionelle Elektrostimulation 273–280 – FES bei hemiparetischen Patienten 277 – FES bei querschnittgelähmten Patienten 274 Finanzausgleich 26 Fingerrkraft 312 Fitness, körperlich 660, 688 – bei Epilepsie 727 – bei Schlaganfall 660 – bei neuromuskulären Krankheiten 697–699 Flüssigkeitsbedarf 566 fMRT 82 Förderfaktoren 59 Foerster, Otfrid 36, 41 FORAMENRehab Kognitiv-Software 120 Forced-Use-Therapie, 7 Constraint Induced Movement Therapy Formatio reticularis 229 Fragebogen für erlebte Defizite der Aufmerksamkeit (FEDA) 161 Fragebogen zur Erfassung der Belastung bei betreuenden oder pflegenden Angehörigen 664 Fragebogen zur Messung der Teilhabe (IMET) 664 Free-Hand-System 276 Freezing 717, 719 Freizeitgestaltung 602, 687 Frenchay Dysarthrie-Untersuchung 345 Frenchay Index 664 Frenkel, Ataxietraining 299 Frenkel, Heinrich 40 Friedreich-Erkrankung 295 Frontalhirnsyndrom 136 Frühreha-Barthel-Index (FRB) 509, 544 Frührehabilitation 501–556 490, 705 – Angehörige 536 – Dokumentation 505 – Komplikationen 510 – Leistungsrecht 545 – Organisation 502 – Prognose 538 – Verläufe 539
Führerscheinberatung 751 Fugl-Meyer-Index 268 Functional Assessment Measurement (FAM) 664 Functional Independence Measure (FIM) 781, 509, 664 funktionale Gesundheit 59 funktionale SelbständigkeitsMessung (FIM) 664 funktionelle Bildgebung 82, 88, 231, 239, 508 funktionelle Deaktivierung 84 funktionelle Dysphagietherapie (FDT) 363 funktionelle Elektrostimulation (FES) 273–280 – bei Hemiparese 277 – bei Querschnittlähmung 274 funktionelle Musiktherapie 490 Funktionserholung 82, 87, 230 – Funktionstherapien (Restitution) 173, 174 – Funktionsübernahme 230 Funktionsschleifen 402 Fusion, visuell 195 – Fusionsbehandlung 196 – Fusionsstörungen 195, 196 Fußdeformitäten 704
G Gang – Ganganalyse 242 – Gangataxie 295, 299 – Ganggeschwindigkeit 664 Gangorthesen 288 – Gangrehabilitation 269, 653 – Gangtrainer 249, 270, 276, 679 ganzheitliche Rehabilitationsprogramme 4, 117 gastroduodenale Blutungen 569 gastroduodenale Ulzera 569 Gedächtnishilfen, elektronische 181 Gedächtnishilfen, externe 179 Gedächtnishilfen, nicht elektronisch 180 Gedächtnisstörungen 171–188, 140, 747 – Gedächtnisleistungen 588 – Grundlagen 172 – Therapie 172 Gefährdungskategorien bei Epilepsie 744 Gefäßfisteln 628 Gefäßverletzungen 619 Gehen 653 Gehhilfen 284 Gelb, Adhémar 43, 48
Geschichte der Neurorehabilitation 35–56 – 1. Weltkrieg 44 – 2. Weltkrieg 50 – Aphasien 42 – bis zum 20. Jahrhundert 36 – holistische neuropsychologische Rehabilitation 52 – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Gesundheit und Behinderung (ICF) 52 – Krüppelfürsorge 44 – Nachkriegszeit (seit 1945) 50 – Wasser, Massagen, Strom 38 Gesichtsfeldeinschränkungen 481 Gesichtsfeldtraining 198 Gesten 332 Gestentraining 334 gesundheitsfördernde Maßnahmen 688 Gesundheitsökonomie 665 Glasgow Coma Scale (GCS) 61, 508, 591, 617 Glasgow Outcome Scale (GOS) 62 Gleichgewichtsstörungen 390 – Gleichgewichtssystem 386 – Gleichgewichtstraining 389, 392, 397, 719 – Haltungsinstabilität 714, 719 globale Aphasie 342 Goal Attainment Scaling (GAS) 112, 782 Goal Management Training (GMT) 138 Goldscheider, Alfred 41 Goldstein, Kurt 36, 43, 47 Gonadotropin 571 Goniometer 296 GRADE-Verfahren 18 Greifen 242, 249 Greifmotorik 227 Grobgriffe 307 Grobmotorik 306 Gruppentherapie 348, 179 Guillain-Barré-Syndrom (GBS) 64, 703 Gutachten, Krankheit und Kraftverkehr 477 Gutzmann, Hermann 43
H Haase, Ernst 4 Haltungsinstabilität 714, 719 Handdynamometer 323 Handfunktionsstörungen 305–328 – Klassifikation 306
B–H
– Messung 321 – Therapie 314 – Untersuchung 310 Handgelenkschienen 702 Handlungs-IQ 585, 586 Hands-off-Konzeption 244 Harnableitung durch Dauerkatheter 408 Harninkontinenz 402, 407, 411 – Autoaugmentation 412 – Blasentraining 408, 409 – Diagnostik 406 – Einteilung von Blasenfunktionsstörung 405 – Elektrostimulation 411 – Neurophysiologie 402 – Operative Maßnahmen 411 – Therapie 407 – Veränderung der Blasenkapazität 412 Harntrakt 404 Harnwegsinfekt 411, 511 Head Injury Family Interview 447 Heidelberger Winkel (HW) 286 Heilgymnastik 40 Heimtraining 269 Hell- und Dunkeladaptation 192, 193 Hemianopsie 197 – Hemianopes Lesetraining 199 Hemidystonien 726 Hemiparese, ataktische 235, 294 Hemiplegie, rechtsseitige 330 Hereditäre Ataxien 295, 7 Ataxie Herz-Kreislauf-Komplikationen 559 Herzinfarkt 559 heterotope Ossifikation 514, 573 Hilfen für Angehörige 661 Hilfen im Bad 288 Hilfen im Haushalt 289 Hilfen in der Toilette 289 Hilfen zum Anziehen 288 Hilfsmittel 596, 602, 701 Hilfsmittelversorgung 247, 282, 301 Hinterstrangerkrankungen 294 Hippotherapie 678 Hirnarterien 636 Hirnblutungen 639 Hirndruck 620 Hirndruckmessung 625 Hirndrucktherapie 625 Hirnentwicklung 583 Hirninfarkt, hämorrhagisch 636 Hirnnerven 628 Hirnschaden, diffuser 618 Hirnschrittmacher 733 – Hirnschrittmachertherapie 733, 734 Hirnverletzten-Institut 47 Hirnverletzten-Lazarette 46
798
Stichwortverzeichnis
Hirnverletzung, Epidemiologie 61 Hirnverletzungen 6, 615–632 Historische Perspektiven der Neurorehabilitation 35 Hochfrequenzkinematographie 359 Hochfrequenzstimulation 297 Hochdrucksystem der Blase 405 Hoffnung 16 holistische neuropsychologische Rehabilitation 52 holistische Rehabilitation 4, 115–124 – Bausteine 117 holistischer Ansatz 117 homonyme Gesichtsfeldausfälle 197 hormonelle Störungen 514 Hüftprotektoren 290 Hydrozephalus 515, 533 Hygrom 629 Hyperästhesien 311 Hyperaktivitätsstörungen 589 Hyperglykämie 567 Hypoaktive Blase 682 Hypokinese 713 Hyponatriämie 515 Hypophyseninsuffizienz 572 Hypothermie 625
I ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) 8, 9, 52, 58, 773–775 – Aktivitäten 79, 775, 779 – ICF-Klassifikation 58 – Körperfunktionen und -strukturen 773, 779 – Kontextfaktoren 775 – Messverfahren 779 – Partizipation 775, 782 ICF-Core-Sets 772 ICF-Modell 9, 24, 117, 153, 173, 226, 310, 420, 608, 666, 674, 691, 705, 744, 772 Identität 93–106 – Hirnschädigung und Identität 94 – Identitätsarbeit 94, 95, 96, 97, 99, 101, 103, 104 – Identitätsstärkung 184 illusionäre Wahrnehmungsstörung 396 Imitation 519 – der Handstellungen 332 – von Fingerstellungen 332 – von Fußstellungen 332 – von Gesten 330, 332 Impulskontrollstörungen 599
Inaktivitätsatrophie 697, 701 Infarkte, okzipitale 639 infantile Zerebralparese (ICP) 595 Informationsbedarf 443,746 Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit 148 Informationsvermittlung 449 Injury Severity Score (ISS) 630 – Diagnostik 406 – Elektrostimulationen 411 – Inkontinenz 401–414, 682 – Inkontinenzhilfen 290 – Neurophysiologie 402 – Operationen 411 – Therapie 407 Inkontinenz, Belastungsinkontinenz 402 Integrative Behandlungsmethoden 173, 183 Intelligenzleistung 588 Intense Multi Sensory Stimulation (IMS) 520 Intensität der Therapien 646, 660 Intensivtherapie 622 Intentionstremor 295, 298, 676 Inter-Rater-Reliabilität 779 Interaktion zwischen Patient und Angehörigen 448 Interdisziplinäre Teamarbeit 16, 45, 107, 109 Interkondylenabstand 241 Internalisierende Störungen 589 International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) 772 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF, 7 ICF-interne Strategien) 139 Intervallskala 778 Intra-Rater-Reliabilität 779 intrakranielle Blutungen 621 intrazerebrale Blutungen 639 ischämische Hirninfarkte 635 isometrisches Training 699
J Job-Coach 465
K Kältetherapie 678 Katabolismus 513 Katastrophenreaktion 11, 48, 118, 644, 648 Katecholamine 75
Katheterismus, intermittierend 408 Keime, resistente 511 Kennard-Prinzip 584 Kinder- und Jugendlichen Neurorehabilitation 581–632 – Entwicklungsverläufe 586 – Familie- und Elternarbeit 603 – Freizeitgestaltung 602 – Hirnverletzungsfolgen 586–590 – kognitive Rehabilitation 597–598 – motorische Rehabilitation 594–597 – Neuroplastizität nach kindlicher Hirnschädigung 584 – Prinzipien der Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter 592–594 – Rehabilitation chronisch behinderter Kinder und Jugendlicher 601 – Schulische Rehabilitation 600 – Struktur und Prozessqualität von Rehaeinrichtungen 606 – Verhaltensrehabilitation 599 Konditionierung 121 Kleinhirn 294 klinisches Milieu 15 Knieorthesen 702 Knochendeckelreimplantation 629 Knocheninfektionen 629 knöcherne Verletzungen 619 Kognition 518, 650 – Funktionsstörungen 587, 684 – Leistungsfähigkeit 529 kognitive Rehabilitation 119, 597 Kölner Neglect-Test (NET) 210 Koma 617 – Koma-Remissions-Skala (KRS) 509 – Komaremissionsstadien 598 – Komastimulation 519 Kommunikation 31, 339–345, 527 Kommunikation zwischen Angehörigen und Professionellen 450 Komorbidität 776 Kompensationsstrategien 139, 173, 175, 763, komplementäre Therapien 658, 681 konjugierte Blickabweichung 203 Kontextfaktoren 59, 743, 763, 775 kontextsensitive Neurorehabilitation 4, 645 Kontrakturenprophylaxe 701
Kontrastsehen 192, 193 Kontusionsblutungen 622 Konzept der gelernten Hilflosigkeit 745 Koordinationsstörungen 294, 296, 675 Koordinationstraining 298 Körperfunktionen 59, 773 Körperstrukturen 59, 773 kortikospinales System 227 Kostenträger 544 Kraftgrade 240 Kraftmessplattformen 296 Krafttraining 316, 697 – nach Schlaganfall 656 kraniale Dystonie 726 Kraniektomie 627 Kranio-zervikale Dystonie 726 Kranioplastik 533 Krankheitseinsicht 97, 643, 744, 750 Krankheitsselbstmanagement 746, 750 Krankheitsverarbeitung (Coping) 744, 749 Krankheitsverarbeitungs(Coping-)Strategien 745 Kreatin 700 Krisenbewältigung 449 Krüppelfürsorge 44 Kryotherapie 678 KTQ-Modell 785 Kupulolithiasis 392
L L-Dopa 257 Labilität, emotionale 648 Lagerungen 678, 594 Lagerungsschwindel 393 Lagewechsel 525 Laktatspiegel 699 Langzeitdepression 75 Langzeitpotentiation 75 Laryngeale Dystonie 729 Laryngo-Pharyngoskopie 513 Laufbandtraining 249 Lautarbeit 347 Leadership 29 Leaking 355 Lebensqualität 121, 742, 744 Lebensqualität (Quality of Life [QoL]), Messung 782 Lee Silverman Voice Therapy 721 Leistungsrecht 545 Leitlinien 785 Leitungsaphasie 344 Lese- und Explorationstraining 201 Levodopa 528 Libido 683
799 Stichwortverzeichnis
Life Goal Questionnaire 111 Liquorableitung 628 Liquoraustritt 628 Liquorkissen 628 Liquorrhoe 622 Liquorzirkulationsstörungen 628 Lokomat 249, 271 Lokomotion 227, 242, 275 Lungenembolie 560 Lungenfunktion 375 Luria, Alexander 36, 50, 51
M Magnetresonanztomographie (MRT) 508 Manipulation 227, 242, 249 Manometrie 360 Marburger Kompetenz-Skala (MKS) 448 Massage 39 Mechanotherapie 40 Medizingeschichte 36 Medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) 477 Medizinische Belastungserprobungen (MBE) 748, 752 medizinische Komplikationen 557–580 – endokrinologische Komplikationen 570 – gastroduodenale Komplikationen 569 – Herz- und Kreislauf 558 – Heterotope Ossifikationen 573 – Lungenkomplikationen 463 – Magenulcus 569 – Stoffwechsel und Ernährung 565 – Thrombose und Thromboembolieprophylaxe 560 medizinische Trainingstherapie 699 Medulla oblongata 229 Mehr-Kanal-Stimulationsgeräte 278 Mehrfachverletzungen 630 melodische Intonationstherapie (MIT) 495 Mendelsohn-Technik 366 mentales Training 246, 318, 517 Messung in Rehabilitation 771–790 – Anforderungen 778 – Messinstrumente 779 – Messung der Belastung von Angehörigen 664 – Messung der Teilhabe 664 – Messung von Aktivitäten 664
– Messung von Funktionen 664 – Messverfahren 664, 776 metakognitives Training 178 Methylphenidat 599 Mild Cognitive Impairment (MCI) 153 minimale Reaktionsfähigkeit 522 Minimal Response 491 Minus-Symptome 234 Mirror-Image Motion Enabler (MIME) 268 Mismatch Negativity (MMN) 506 MIT-Manus 268 Mitarbeiterbindung und -entwicklung 33 Mittelhirn 229 Mobilisierung 525 Mobilität 687 Modified Ashworth Scale 779 Modulares Schulungsprogramm Epilepsie (MOSES) 749 Monakow-Diaschisis 84 Monitoring 627 Morbus Parkinson, 7 Parkinsonkrankheit Morbus Parkinson, Epidemiologie 63 Motivation 31, 142 Motoneuronerkrankungen 63 Motorik, 7 motorische Rehabilitation, Motor Impersistence 240 Motorik, emotionale 227 motorisch evozierte Potenziale (MEP) 239 motorische Leistungsserie (MLS) 323 motorische Rehabilitation 225–266, 594, 267–272, 273–280 – automatisierte motorische Therapie 267–272 – Befunderhebung und Diagnostik 239 – Funktionelle Elektrostimulation 273–280 – Gangrehabilitation 269 – Motorische Funktionsstörungen bei Kindern 587 – Prinzipien 227 – Prognose 237 – Symptome und Syndrome 232 – Therapie 242–259 – Verlauf 236 motorisches Lernen 228, 245, 595 Müdigkeit 658, 674 Münchner VerständlichkeitsProfil (MVP) 345 multidisziplinäre Arbeit 109 multifokale Dystonien 726
Multimodale Frühstimulation (MEOS) 520 Multiple Sclerosis Functional Composite (MSFC) 690 Multiple Sclerosis Inventarium Cognition (MUSIC) 685 Multiple Sklerose 62, 152, 294, 428, 674–694 – Ataxie 675 – Blasenstörungen 682 – Coping 686 – Emotionale Störungen 685 – Epidemiologie 62 – Kognitive Störungen 684 – Koordinationsstörungen 675 – Müdigkeit 674 – Paresen 677 – Schmerzen 681 – Sensibilitätsstörungen 681 – Sexualstörungen 683 – Spastik 677 Multiples Disconnection-Syndrom 684 Musikhören 492 Musiktherapie 489, 490, 492, 522 – Musik bei Sprachverlust 494 – Musik für bewusstseinsgestörte Patienten 491 – Musikgestütztes Gangtraining 497 – Musiktherapie in der Frührehabilitation 490 – Rhythmische akustische Stimulation 496 Muskelregeneration 696 Muskeltonuserhöhung 241 muskuläre Elektrostimulation 319 Myoklonus 728 Myositis ossificans 573
N N. ruber 229 Nachsorge 454, 659 Nachsorge, Organisation 661 Nackenmuskelvibration 213 Narration in der Neurorehabilitation 9, 11, 94,104,184, Narrativ-basierte Neurorehabilitation 17 narrative Medizin 52 Neglect 136, 151, 208–213, 254 – Differentialdiagnose 211 – Neglect des eigenen Körpers 210 – Neglect in der Vorstellung 210 – Neglectdyslexie 208, 212 – Neglecttests 210, 211 – Neglecttherapie 212, 213
H–N
Neglect, Differentialdiagnostik 211 Nervenregeneration 696 neurale Muskelatrophie (Charcot-Marie-Tooth) 704 Neurobehavioral Functioning Inventory 461 neurogene Blasenfunktionsstörung 402, 404 neurogenes Lungenödem 563 Neurogenese 75 Neuroimaging-Verfahren 69 neurokognitive Rehabilitation nach Perfetti 315 neurologische Musiktherapie 490, 496, 497 neurologische Physiotherapie 40 neurologisches Modell der Restitution 539 Neuromodulation 319 neuromuskuläre Erkrankungen 695–710 – Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) 704 – Atemtraining 700 – Ausdauertraining 698 – Charcot-Marie-Tooth 704 – Elektrotherapie 700 – Epidemiologie 63 – Guillain-Barré-Syndrom 703 – Hilfsmittel 701 – Kontrakturprophylaxe 701 – Krafttraining 697 – medizinische Trainingstherapie 699 – neurale Muskelatrophie 704 – neuromuskuläre Plastizität 696 – Orthesen 701 – Pharmakotherapie 700 – Prinzipien der Rehabilitation 705 – Schmerzen 702 – Therapie 697 neuromuskuläre Plastizität 696 neuronale Stammzellen 76 neuronenspezifische Enolase (NSE) 506 NeuroPage 140, 182 Neuropathien 64 Neuroplastizität 67–80, 82, 116, 230, 584 – Bildgebung 82, 84 – Sprache 86 Neuropsychological Scaffolding 167 Neuropsychologie 115–124, 762 neuropsychologische Diagnostik 153, 156, 154, 466, 651, 510, 759–770 – Auswahl neuropsychologischer Test 767 – emotionale Störungen 764 – Krankheitsverlauf 764
800
Stichwortverzeichnis
neuropsychologische Diagnostik – neuropsychologische Tests 156, 760, 762 – neuropsychologische Verlaufsdiagnostik 510 – Ökologische Validität 760 – Outcome-Variablen 760 – Prämorbides Funktionsniveau 765 – Versuchsleiter/-Probandeneffekte 765 – Wahrheitstreue 760 – Wirklichkeitsnähe 760 neuropsychologische Leistungsfähigkeit 479 neuropsychologische Rehabilitation 47, 116, 172, 334, 751 – Bausteine 117 – ganzheitlicher Ansatz 117 – neuropsychologische Behandlung 162 – neuropsychologische Funktionstherapie 47, 172, 334, 484, 751 – neuropsychologische Störungen 747 neuropsychologische Tests 156, 759 neuropsychologische Tests, Auswahlkriterien 766 neuropsychologische Untersuchung 154, 466, 651 neuropsychologische Verlaufsdiagnostik 510 Neuropsychotherapie 118 Neurotomie 533 Neurotoxizität des zu frühen Übens 232 Neurotransmittersysteme 137 neurotrophe Faktoren 73 neurovisuelle Frührehabilitation 203 neurovisuelle Störungen 191 nicht-invasive Beatmung 378 Nominalskala 778 Normwerte 765 Nucleus vestibularis 229 Nudelholz 269 Nystagmus 218, 393
O Objektgebrauch 331, 332 objektzentrierte Neglectphänomene 208 ökologische Validität 482, 759–770 ösophageale Phase 354 Off-line-Learning 646 Okulomotorikstörungen 190,196, 203
Oneiroide 703 Open-loop-Kontrolle 307 operante Konditionierung 594 Oppenheim-Dystonie 723 optische Ataxie 94, 309 optoelektronische Methoden 296 optokinetische Stimulation 212 otometrische Rehabilitation 653 orale Phase 353 Oralmotorik 365 Ordinalskala 778 Orofaziale Regulationstherapie (ORT) 363 oromandibuläre Dystonie 729 Orthesen 285, 654, 701 Orthesen, Beine 287 Oskar-Helene-Heim 45 Osteoporose 514 Oszillopsien 390 Outcome 122, 541, 590, 760 Oxfordshire Community Stroke Project (OCSP) 664
P Palliativmedizin 704 Pantomime von Objektgebrauch 330 paradoxe Beweglichkeit 717 Parästhesien 311, 681 parenterale Ernährung 566 Paresegrad nach der Medical Research Council Scale 779 Paresen 677 Parkinsonkrankheit 711–721 – Neurochemie 712 – Neuropathologie 712 – Pathophysiologie 712 – Therapie 715 paroxysmaler Lagerungsschwindel 392 Partizipation 775 Partizipationsförderung 687 partizipative Zielsetzung 111 Partner und Familien, Interventionen 448 passives Hochdrucksystem 405 Pathographien 102 Patientenbeispiele 139, 140, 143, 165, 368, 369, 493, 494, 496, 497, 706 patientenzentrierte Praxis 108 PEDro-Skala 18, 635 Penetration 355 Perfetti-Konzept 243 periphere Stimulation/Inhibition 319 perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) 512 Personalbedarf 504
Persönlichkeitsänderungen 764 PESOS-Fragebogen 745,754 PET 82 Pflege 521 Pflegeplanung 548 Ph-Metrie 360 pharyngeale Phase 353 Phase B 543 Phase F 548 Phasenmodell der Frührehabilitation 502 phasische Alertness 147 Phenol 532 phobischer Schwankschwindel 394 Phosphodiesterase-5-Hemmer 426 Physiotherapie 225–266, 677 Placebo-Effekt 17 Planungs- und Problemlösestörungen 482 Plastizität 52, 82 Pneumonie 564 Polyneuropathie, chronisch inflammatorische demyelinisierende (CIDP) 64 POMR-Konzept 776 positive Psychologie 16 postapallische Remissionsphasen 560 postchiasmatische Hirnschädigung 197 posttraumatische Anfälle 628 posttraumatische Stressreaktion 565 Postural Assessment Scale for Stroke (PASS) 655 posturale Kontrolle 241, 248, 655 posturale Motorik 227 Posturographie 296 PQRST-Technik 177 prämorbides Funktionsniveau 765 präorale Phase 353 Prävention 630 Präzisionsgriffe 307 primäre (idiopathische) Dystonien 723 Probandeneffekte 765 Problem-Checklisten 447 Problemlösen 330, 333 Problemlöseprozessmodell 139 Problemlösetherapie (PST) 137 Problemlösetraining 178 Prognose 629 Prognosekriterien 540 Programm der unterstützten Beschäftigung 470 Progressiver Auditiver Serieller Additions-Test (PASAT) 160 Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF) 243
Prosodie 347 prospektives Erinnern 179 Protein S-100 506 Pruning 584 psychische Leistungsfähigkeit 480 psychische Probleme 588, 742 Psychische Stabilisierung der Angehörigen 449 psychogene Bewegungsstörung 728 psychologische Gutachten zur Kraftfahreignung 477 psychopathometrische Verfahren 448 Psychosomatische Fragen in der Neurorehabilitation 7 psychosoziale Konsequenzen nach Hirnschädigung 442 psychosoziale Probleme 603, 742 Psychostimulanzien 599 Psychotherapie 118 Pudenduslatenz 423 Pulsoxymetrie 360, 376 Pusher-Symptomatik 253, 655 Pyramidenbahnsyndrom 228
Q QOLIE-31 746, 754 Qualität 33, 784 Qualitätskontrolle 112 Qualitätskriterien 548 Qualitätsmanagement 783, 784 Qualitätssicherung 784 Quantifizierung von Handfunktionsstörungen 321 Querschnittlähmung 274, 429 Questionnaire on Ressources and Stress 448
R Radikulopathien, lumbosakrale 431 Range of Motion 241 Rationalskala 778 raumbezogene Neglectphänomene 208 Raumkonstanzmechanismus 396 Raumorientierungsstörungen 214 – Assessment 214 – Klinik 214 – Therapie 214 READ-Programm 201, 212 Reaktionsbildung 536
801 Stichwortverzeichnis
Realitätsorientierung 120 Realitätsorientierungstraining 174 rechtshemisphärische Läsionen 151 redressierende Gipse 531 Redundanz (Redundancy Recovery) 70 reflektorisches Erektionszentrum 417 Reflexblase 405 Reflexinkontinenz 405 Regression 535 Reha-Management 28 Rehabilitation – Angehörigenberatung 441 – Aphasie 339 – Apraxie 329 – Ataxie 293 – Aufmerksamkeit 145 – automatisierte motorische 267 – Balint-Holmes 217 – Befunderhebung 717 – berufliche 459 – Blasenfunktionsstörungen 401 – Dokumentation 771 – Dysarthrie 339 – Dystonie 722 – Epidemiologie 57 – Epilepsie 739 – Exekutivfunktionen 135 – Frührehabilitation 501 – funktionelle Bildgebung 81 – Gedächtnis 171 – Handfunktion 305 – Kinder und Jugendliche 581 – medizinische Komplikationen 557 – Messverfahren 771 – motorische 225 – Multiple Sklerose 673 – Musiktherapie 489 – Muskelerkrankungen 695 – narrative 9–11, 93–106 – Neglect, Raumorientierung 208, 214 – neurobiologische Grundlagen 67 – neuromuskuläre Erkrankungen 695 – Neuropathien 695 – neuropsychologische Diagnostik 759 – neurourologische 401 – Parkinson 711 – Qualitätsmanagement 771 – Respirationsstörungen 373 – Schädelhirntrauma 615 – Schlaganfall 633 – Schluckstörungen 351 – sexuelle Funktionsstörungen 415
– Teamarbeit 30, 107 – vestibuläre Störungen 385 – visuelle Agnosien 216 – visuelle Funktion 189 Rehabilitationskosten 24 Rehabilitationsprozess 775 Rehabilitationsziele 13 Reintegrationsstadium 599 Reliabilität 779 repetitives aufgabenorientiertes Training 315 repetitives Krafttraining 246 repetitives Training 246 repetitives Üben 243 respiratorische Rehabilitation 373–383 – Diagnostik 375 – neurologische Erkrankungen 375 – neuromuskuläre Erkrankungen 700 – respiratorische Insuffizienz 374, 375 – Therapie 377–380 Responsivität 779 Restharn 682 Restitution 89 restitutive Therapie 137 restoratives Gesichtsfeldtraining 199 retrograde Amnesie 184 retrospektives Erinnern 179 Rhizotomie 42 Rhizotomie, dorsale 533 Rhythmische Akustische Stimulation (RAS) 496 Rigid-hypokinetische Dysarthrophonie 346 Rigor 713 Rivermead Mobility Index (RMI) 688, 779 Roboterlaufsimulator 271 robotik-gestütztes Training 318 Rollatoren 285 Rollenveränderungen in den Familien 443 Rollstuhl 282, 597 Romantische Wissenschaft 50, 52 Röntgen-Kinematographie 513 Rooming-in 537 Ruff 2&7 Selective Attention Test 160 Rumpfataxie 295
S Sakadden 387 Sakkadisches Training 198 SanaCERT 786 Sauerstoffaufnahmekapazität 699
Schädel-Hirn-Trauma 615–632, 151, 196, 294, 433, 616 – Hirndruck 620 – Intensivtherapie 622–627 – leichtes 618 – Klassifikation 619 – neurochirurgische Behandlung 622 – offenes 617 Schädelbasisfrakturen 622 Scheinbewegungen 387, 396 Schienenschellenapparate 287 Schizophrenie 138 Schlaf-Apnoe-Syndrom 659 schlafbezogene Atemstörungen 659 schlaffe Hemiparese 252 Schlaganfall 633–666 – subjektives Erleben 660 Schlaganfall, Epidemiologie 59 Schlaganfallpatient zu Hause 659 Schlaganfallrehabilitation 59, 151, 433, 633–672 – Arm und Hand 655 – berufliche Wiedereingliederung 662 – Depression 648 – Dokumentation 663 – Dysarthrie 652 – Gesundheitsökonomie 665 – häusliche Versorgung 659 – Klassifikation von Schlaganfällen 635 – kognitive Funktionen 650 – Kontextsensitivität 645 – Messverfahren 663 – motorische Rehabilitation 653 – Nachsorge 659 – Pusher-Symptomatik 655 – Schulterarmsyndrom 656 – Sprache 652 – Stroke Unit 646 – subjektives Erleben 641 – Therapieintensität 646 – visuelle Funktionen 653 Schluckstörungen 351–372, 512 – bei Tracheostoma 361 – Schlucktechniken 366 – Schlucktherapie 512 – Schluckuntersuchung 357 – Schluckvorgang 352, 355 Schlüsselpunkte 242 Schmerzen 681, 702 Schmerztherapie 515 Schreibkrampf 321, 729 Schreibstörungen 313, 320 Schreibtraining 321, 596 Schubstraining 655 Schuhversorgung 654 Schulische Rehabilitation 600 Schulische Wiedereingliederung 601
N–S
Schulischer Förderbedarf 600 Schulter-Arm-Schmerzen 656 Schulter-Arm-Syndrom 253 Schulungsprogramm für Epilepsiepatienten (MOSES) 750 Schweigepflicht 476 Schwerhörigkeit 629 Schwindel 385–399, 526 – Altersschwindel 397 – Deliberationsmanöver 393 – paroxysmaler Lagerungsschwindel 392 – phobischer Schwankschwindel 394 – vestibuläre Unterfunktion, einseitig 387 – Vestibularisausfall 390 Score 778 Scotch-Cast 287 segmentale Dystonien 726 Sehleistungen 190 Sehschärfe, dynamische 191 Sehstörungen 189–206 – Adaptation 191 – Farbsehen 191 – Fusion 195 – Gesichtsfeldausfälle 196 – Kontrastsehen 191 – neurovisuelle Therapie 203 – Sehschärfe 191, 193 – Stereosehen 195 – Testverfahren und Geräte 205 – Visual Discomfort 191 – visuelle Belastbarkeit 195 sekundäre Dystonien 724, 729 sekundäre Hirnschädigung 619 Selbst-Monitoring 139 Selbst-Monitoring-Therapie (SMT) 139 Selbstberichte 102 Selbsterhaltungstherapie (SET) 184 Selbsthilfegruppen 444, 749 Selbsthilfeorganisationen 707 Selbstinstruktionstechnik 139 Selbstständigkeit 13 Selbstvertrauen 686 Selbstwahrnehmung 96 Selektion 150 selektive Aufmerksamkeit 148 selektive dorsale Rhizotomie (DREZ) 251 Semont-Manöver 393 Sensibilität 311, 323 Sensibilitätsstörungen 513, 681 Sensibilitätstraining 254 Sensitivität 779 sensomotorische Rehabilitation 653 sensorische Funktionsstörungen 587
802
Stichwortverzeichnis
sensorisches Diskriminationstraining 318 Sepsis 564 serielle Gipse 256 Serotonin-Reuptake-Hemmer (SSRI) 650 Serumosmolarität 624 Serumspiegel 750 Sexualität bei neurologischen Erkrankungen 415–439 – Anamnese 420 – bei Diabetes mellitus 434 – bei Epilepsie 431 – bei M. Parkinson 427 – bei Multipler Sklerose 428 – bei Querschnittlähmungen 429 – bei Radikulo- und Neuropathien 431 – Hormonuntersuchungen 424 – klinische Untersuchung 422 – nach Schädel-Hirn-Trauma 433 – nach Schlaganfall 433 – neurophysiologische Untersuchung 422 – Sexualstörungen 683 – Sexualtherapie 424 – somatische Therapie 425 Short Form 36, 62 Sicherheit im Haushalt 289 Simultansehen 219 Singgruppe 496 sinnvermittelnde Therapie 15 Sitzhilfen 701, 702 Skala zur Erfassung von Aufmerksamkeitsdefiziten (SEA) 161 Skalen 508, 776 SKAT-Testung 424 Small Volume Resuscitation 627 SMART 509 SMART-Regel 13, 112 Snoezelen 521 Soft skills 29 Solidargemeinschaft 24 Somato-sensibel evozierte Potenziale des N. pudendus 423 Sondenernährung 361, 567 Sondenkost 512 Sonderpädagogik 45 soziale Isolierung 444 soziale Probleme 742 soziale Teilhabe 154 soziale Validität 761 soziales Kompetenztraining 599 soziales Umfeld 98 sozialmedizinische Beurteilung 753 Spaced Retrieval 177 Spasmen 677, 728 Spastik 233, 525, 530, 677
Spastiktherapie 530, 594 spastische Bewegungsstörung 232 spastische Dysarthrophonie 346 spastische Hemiparese 252 Spezifität 779 Sphinkterotomie 411 Spiegelneuronen 318, 517 Spiegeltherapie 247 Spiegeltraining 247, 318, 656 Spinal Cord Independence Measure (SCIM III) 781 spinale Muskelatrophie 64 Spinozerebelläre Ataxie (SCA) 295 Spiritualität 15 spontane Gesten 333 Sprache 86 Sprache in der Neurorehabilitation 19 Sprache und Sprechen 652 Sprachstörungen 588 Sprachtherapie 653 Sprechhilfen, elektronische 347 Sprunggelenkorthesen 285, 701, 702 Spurenelemente 566 Standataxie 295, 299 stationäre Rehabilitation 688 statisch vestibuläre Funktion 387 Stehbrett 525 Stehen 526 Stehhilfen 702 Stehpult 289, 525 Stehrollstuhl 289 Stehtisch 678 Stereosehen 195 Stereotaxie 297, 676 STH-Mangel 571 Stigmatisierungserleben 745 Stille Aspiration 511 STIMuSTEP-System 278 Strategietraining 335 Stressinkontinenz 405 Stressreaktion 558, 569 Stretch 243 Stroke Units 646 Struktur- und Prozessqualität 606 24-Stunden-Konzept 242 Sturzprophylaxe 719 Subarachnoidalblutungen 639 subdurales Hämatom 622, 629 subjektive Welt nach Schlaganfall 643 subkortikale Aphasien 344 subkortikale Gangstörung 639 subkortikale Infarkte 637 subkortikale Mikroangiopathie 639 subkortikale Systeme 228 Super-supraglottische Schlucken 366
Supraglottisches Schlucken 366 symbolische Gesten 330, 332 sympathische Hautantwort 424 Symptom Checklist-90-Revised 448 synaptische Mechanismen 74 synaptische Plastizität 75 Synaptogenese 583 Syndrom der autonomen Dysfunktion 559 Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH) 573 Syndrom des Upper Motor Neuron 677
T Tardive Dystonien 729 Teamarbeit 29, 107–114, 515 – Teamkonferenzen 110, 527 – Teamorganisation 16 technische Hilfsmittel 281–292 – Adaptationshilfen 288 – Gehhilfen 282 – Orthesen für die oberen Extremitäten 285 – Orthesen für die unteren Extremitäten 285 – Praxishilfen 290 – Rollstühle 282 Teilhabe 59 Teilhabe am Arbeitsleben 662, 688 Teilleistungsstörungen 4, 747 Tertiärprävention 707 Test of Everyday Attention (TEA) 157 Testbatterie für Wahrnehmungsund Aufmerksamkeitsfunktionen (WAF) 156 Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) 156 Testbatterien 156 Thalamische Diaschisis 69 Thalamus-Infarkte 639 Theorie des Funktionswandels 49 therapeutisches Milieu 5, 117 Therapie bei depressiven Störungen 649 Therapie bei Schulter-ArmSchmerzen 656 Therapie der Armparese 655 Therapie der Fahreignung 484 Therapie des fazio-oralen Trakts (FOTT) 363 Therapie des Pusher-Symptoms 655 Therapie des visuellen Neglects 653
Therapie kognitiver Störungen nach einem Schlaganfall 651 Therapie von sensiblen Störungen 657 Therapiedosis 239 Therapieplanung 517, 718 Therapiewirksamkeit 238 Thrombolysetherapie 563 Thrombose 560 Thrombosebehandlung 563 Thrombosediagnostik 563 Thromboseprophylaxe 560 Thromboseverdacht 563 Tic 728 tiefe Beinvenenthrombosen (TVT) 560 tiefe Hirnstimulation 730, 733 Tiefenhirnstimulation 320, 529, 676 tiergestützte Therapie 524 Time Pressure Management (TPM) 165 Token Economy 165 Token-Programme 599 Tonische Alertness 147 Tonusreduktion 251 Top-down-Modell der Zielsetzung 13 Top-down-Suchstrategie 212 Top-down-Training 334 Torticollis spasmodicus 726, 729 Total Quality Management 784 Trachealbeatmung 380 Trachealkanülen 361 Trachealstenose 564 Trachealtubus 513 Tracheobronchitis 511 Tracheomalazie 564 Tracheostoma 361, 379, 380, 512 Tracheotomie 361 Traditionelle Neurorehabilitation 4 Trail Making Test (TMT) 160 Train-and-Place-Programme 463 Training der basalen Selbständigkeit 647 Training der erweiterten Aktivitäten 648 Training der Lokomotion 654 Training epilepsieangepasster Verhaltensweisen 750 Training kognitiver Funktionen 652 Training mit vorgestellten Blickzielen 391 Training von Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) 334 Trainingsprogramme, computergestützte 174 Transkallosale Diaschisis 69 transkortikal-motorische Aphasie 343
803 Stichwortverzeichnis
transkortikal-sensorische Aphasie 343 Transkortikale Aphasien 343 Transkranielle magnetische Kortexstimulation (TMS) 240 Transkranielle Magnetstimulation (TMS) 84, 88, 529 Traumafolgen 619 Tremor 308, 713, 728 Trigeminusneuralgie 681 Trizyklische Antidepressiva 650 TSH-Mangel 571
U Überlastungssymptome bei den Angehörigen 445 Überlaufinkontinenz 405 ÜFLA-Technik 178 Ulkusprophylaxe 570 Umgebungsbedingungen 76 Umgebungsveränderungen 141 Unawareness 213 Unfallneurose 51 Unified Parkinsons Disease Rating Scale 718 Unmasking 70 Unmasking und Redundancy Recovery 69 Unternehmensziele 30 Upper Motor Neuron Syndrome (UMNS) 232 Urodynamische Untersuchung 406 Uthoff-Phänomen 675
V Vagusstimulation 529 Valenser Schiene (VS) 286 Validität 779
Vaskulär bedingte kognitive Einschränkungen 640 vaskuläre Demenz 641 vegetative Dysregulationen 513 vegetative Erregungszustände 521, 527 Ventilationsstörung 375 Ventrikel-Shunt-Systeme 533 Ventrikeldrainage 625 Ventrikulo-peritonealer Shunt 628 Verbal-IQ 586 Vergütungssystem 545 Verhaltensbeobachtung 154, 155, 218, 761 Verhaltensmodifikation 183, 453 Verhaltensrehabilitation 599 verhaltenstherapeutische Methoden 593 Verhaltensveränderungen 588 Verlaufskontrollen 508 Verletzungen der Hirnsubstanz 619 Vernetzung 27 Verschiebung 536 Versorgungablauf 621 Versorgungsnetzwerk 601 Versorgungsprozedere bewusstloser Patienten 621 Versuchsleitereffekte 765 vestibuläre Kompensation 386 vestibuläre Rehabilitation – Altersschwindel 397 – Beidseitiger Vestibularisausfall 390 – Einseitige Vestibularisunterfunktion 387 – Grundlagen 386 – Paroxysmaler Lagerungsschwindel 392 – Phobischer Schwankschwindel 394 vestibuläre Schädigungen – einseitiger vestibulärer Funktionsverlust 388
vestibulärer Schwindel 629 Vestibuläres System 387 vestibuläres Trainingsprogramm 386, 389, 391 Vestibularisausfall 390 vestibulo-okulärer Reflex 387 Videoendoskopie 358 Videofluoroskopie 359, 513 Vigilanz 147, 528 Vikariation 69 Visual Discomfort 192, 193 Visual Object and Space Perception Battery (VOSP) 217 visuelle Agnosien 214–217 – Assessment 217 – Klinik 216 – Therapie 217 visuelle Analogskala 664 visuelle Belastbarkeit 195 visuelle Stimulation 389 visuelle Wahrnehmungsfähigkeit 481 visuelles Explorations- und Lesetraining 198 visuelles Explorationstraining 212, 213 visuomotorische Prismenadaptation (PA) 213 Vitalkapazität 375 Vitamine 566 Voice Organizer 182 Vojta-Therapie 243 von Weizsäcker, Viktor 49 VOSP-Testbatterie 214 VR-gestütztes Training 317 Vulnerabilitätshypothese 584 Vygotskij, Lev 5, 50
W Wachkoma 491, 548, 598 Wahrheitstreue 760 warme Quellen 38
S–Z
Weichteilverletzungen 619 Werkstätten, beschützende 463 Werkzeuggebrauch 334 Wernicke, Carl 43 Wernicke-Aphasie 87, 343 Willkürmotorische Störungen, 226 Wirklichkeitsnähe, 760 Wirksamkeitsstudien 244 Wirtschaftlichkeit 28 Wohnungsbegehung, Checkliste für 290 Wund, Wilhelm 47 Wundinfektionen 629
Y Ylvisaker, Mark 4
Z Zander, Gustav 41 Zangwill, Oliver 51 Zentrale Paresen 42 zentrale Stimulation/Inhibition 319 zentrale visuelle Wahrnehmungsstörungen 190 Zerebellärer Tremor 297 Zerebraler Perfusionsdruck 625 Zerebrovaskuläre Insuffizienz 641 Zervikale Dystonie 730 Zielorientierung 519 Zielsetzung 107–113 – Praxis 111 – Prinzipien 108 – Qualitätskontrolle 112 – Zielsetzungsprozess 12, 111 Zwangsstörung 589