Reinhard Kühnl
Nation Nationalismus Nationale Frage Was ist das und was soll das?
Pahl-Rugenstein
© 1986 by Pahl-Ru...
29 downloads
914 Views
896KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Reinhard Kühnl
Nation Nationalismus Nationale Frage Was ist das und was soll das?
Pahl-Rugenstein
© 1986 by Pahl-Rugenstein Verlag GmbH, Köln Alle Rechte vorbehalten Satz: Fotosatz Klaußner GmbH, Köln Druck: Druckerei Locher GmbH, Köln Umschlag: Willi Holzel, Foto: Ulrich Bonke CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kühnl, Reinhard: Nation - Nationalismus - nationale Frage: Was ist das u. was soll das? / Reinhard Kühnl. - Köln: Pahl-Rugenstein, 1986. (Kleine Bibliothek; 394: Politik und Zeitgeschichte) ISBN 3-7609-1046-7 NE: GT
Inhalt
I Der neue Nationalismus in der Bundesrepublik 1. 2. 3. 4.
Die Erscheinungsformen Der politische Hintergrund Ursachen und Ziele Varianten und Kontroversen a) Der aggressive Flügel b) Der gemäßigte Flügel c) Konfliktpotentiale und ihre Integration 5. Bedürfnisse und Adressaten a) Erklärungsansätze b) Die Massen c) Die Eliten d) Kritische und alternative Gruppierungen
7 14 19 26 26 32 41 49 49 52 56 62
II Nation, Nationalstaat, Nationalismus 1. Entstehung und Begriff 2. Die Sonderentwicklung der deutschen Nation
69 76
III Nation, Nationalbewußtsein und nationale Frage - heute 1. Die Spaltung der Nation 2. Die nationale Identität der Bundesrepublik Anmerkungen
92 97 124
I. Der neue Nationalismus in der Bundesrepublik
1. Die Erscheinungsformen Die Symptome sind nicht zu übersehen: Allenthalben ist von »deutscher Nation«, von der »nationalen Frage« und von »nationaler Identität« die Rede. Politiker und Wissenschaftler äußern sich mit überraschender Ausführlichkeit, Zeitungsartikel und Fernsehsendungen nehmen Stellung, von den Christdemokraten bis zu manchen Kreisen der Linken und der Alternativen ist das Vokabular des »Nationalen« sichtlich im Vordringen begriffen. Das hätte man in diesem Ausmaß noch vor zehn Jahren kaum für möglich gehalten. Gibt es also einen neuen Nationalismus in der Bundesrepublik - nicht als Ideologie kleiner isolierter Gruppen, sondern als politisch relevante Strömung? Handelt es sich wirklich um Nationalismus? Und handelt es sich um etwas Neues? Nun kann man natürlich darauf hinweisen, daß der deutsche Nationalismus nach 1945 nie wirklich überwunden worden sei und seither immer existiert habe. In der Tat hat die Deutsche National-Zeitung immer einen beträchtlichen Leserkreis besessen, hat die Nationaldemokratische Partei (NPD) frei agieren und vorübergehend (1966-1968) beachtliche Wahlerfolge bei Landtags- und Kommunalwahlen erzielen können, konnten die Vertriebenenverbände - in der Regel unter der Führung ehemaliger NSDAP-Kader 1 - ihre Agitation ungehindert entfalten. In Gestalt des Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) und der Deutschen Partei (DP) war dieser Nationalismus sogar Koalitionspartner der Adenauer-Regierung (bevor er von der CDU aufgesogen und integriert wurde). 7
Nationalistische Strömungen dieser Art wurden toleriert und zum Teil sogar großzügig gefördert, weil sie sich einfügten in die herrschende Politik des Kalten Krieges und des roll back 2 , deren Ziele Bundeskanzler Adenauer 1952 in aller Offenheit so formulierte: Das Ziel der Politik der Stärke bestehe darin, »nicht nur die Sowjetzone, sondern das ganze versklavte Europa östlich des Eisernen Vorhangs zu befreien . . .«. 3 Doch diese auf Revision der Grenzen und Expansion gerichtete Politik wurde nicht primär legitimiert durch den Nationalismus, nicht als »nationale Politik«. Natürlich wurden die Gefühlswerte, die mit der »nationalen Tradition«, insbesondere mit dem Begriff »Deutschland«, verbunden waren, integriert in die herrschende Politik. Eben deshalb nannte sich dieser Staat »Bundesrepublik Deutschland« — und nicht etwa »Deutsche Bundesrepublik« und im politischen Alltag hieß sie dann schlicht »Deutschland«. Darin war der Anspruch, der Repräsentant des nationalen Ganzen zu sein, sozusagen in Kurzform ausgedrückt. Und dieses Selbstverständnis konnte tatsächlich im Massenbewußtsein verankert werden, wie der alltägliche Sprachgebrauch anschaulich zeigte. Noch heute - trotz völkerrechtlicher Anerkennung des zweiten deutschen Staates - ist es eher die Regel als die Ausnahme, daß die Bundesrepublik z. B. bei Sportwettkämpfen als »Deutschland« auftritt, auch in der Sprache der Reporter. Die Schizophrenie wird dann offenkundig, wenn dieses »Deutschland« gegen die DDR anzutreten hat. Aber trotz alledem blieb die nationale Legitimation der Politik eher im Hintergrund. Dominierend war in all diesen Jahren die Ideologie der »Freiheit«, der »freiheitlichen Demokratie«, des »christlichen Abendlandes« und des Kampfes gegen den »Totalitarismus«. Auch das Ziel der »Wiedervereinigung« stand unter diesem Signum. Hier hat sich nun offensichtlich Wesentliches verändert. Es geht wieder offen und in wachsender Intensität um die »Nation«, die »nationale Frage« und die »nationale Identität«. Von den Wortführern dieser Strömung wird dies offen als eine politische Offensive deklariert: »Wer das Thema der deutschen Identität politisch besetzt, ist einen großen Schritt im Kampf um die Macht vorangekommen.«4 So der Politologieprofessor und Kanzlerberater Werner Weidenfeld. Der Bundespräsident Weiz8
säcker stellte seine Rede vor dem Evangelischen Kirchentag am 8. Juni 1985 unter das Thema »Die Deutschen und ihre Identität« und begann mit der Frage »Was ist das eigentlich? Deutsch?« Bei den führenden Politikern der Unionsparteien ist kaum noch eine Rede zu finden, die diese Motive ausläßt. Eine Flut von Schriften, von Konferenzen und Seminaren der verschiedensten Art wird über das Land geschwemmt, die sich dieser Frage widmen. Die beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten senden neuerdings in schöner pluralistischer Eintracht täglich die Nationalhymne als Abschluß ihrer Abendprogramme, bei deren Melodie der Mehrheit der älteren Generation ohnehin noch »Deutschland, Deutschland über alles« in den Sinn kommt; die offensiveren Kräfte des neuen Nationalismus verlangen denn auch die Wiedereinsetzung dieses Textes als Hymne, weil hier sehr weitreichende Expansionsansprüche formuliert sind: »Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt.« 4a Aber auch die offizielle Hymne, die dritte Strophe, paßt in den Trend, denn »Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland« bedeutet nach weithin herrschender und von den verschiedenen Bundesregierungen immer wieder betonter Auffassung die Wiederherstellung der nationalen »Einheit Deutschlands in Freiheit«, d. h. als freiheitliche Staats- und Wirtschaftsordnung, als parlamentarische Demokratie und freie Marktwirtschaft. Auch im wissenschaftlichen Leben artikuliert sich die nationale Welle. Bei dem »beinahe sensationellen« internationalen Germanistenkongreß in Göttingen »ging es um nichts Geringeres als um die Frage: Wie präsentiert sich der Geist dieser Nation?« Und in den Reden des Bundespräsidenten und des Verbandspräsidenten »bekundete sich kein Sack- und Asche-, kein Wiedergutmachungs-Unternehmen . . . Da wurde ein Stück Identität zurückgewonnen . . .«, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung freudig vermerkt.5 Der Medienriese Bertelsmann kündigt ein zehnbändiges Geschichtswerk an mit dem Titel »Deutschland - Portrait einer Nation«. Über 300 Wissenschaftler, Politiker und Publizisten sind beteiligt-darunter auch einige Repräsentanten der Entspannungspolitik aus der Sozialdemokratie wie Egon Bahr und Klaus Bölling, so daß dieses Werk ideologisch sicherlich nicht ganz einheitlich werden wird. Aber 9
die Verteilung der Gewichte ist sehr eindeutig, und den einleitenden Essay schreibt - wiederum - der Bundespräsident, womit dieses Geschichtswerk einen quasi offiziösen Charakter erhält. Die zentrale Frage des Bundespräsidenten ist - wiederum -, was »mein Deutschsein« eigentlich bedeute. Und für das Gesamtwerk kündigt der Prospekt an: »Im Mittelpunkt steht immer wieder die Frage nach Bestand und Zukunft der deutschen Nation.« Aber der Staat engagiert sich nicht nur in Gestalt seiner führenden Repräsentanten, sondern er greift auch als Institution in diesen ideologischen Prozeß ein, und zwar sehr resolut. So haben die Kultusminister und - Senatoren - bereits Ende 1978 einen Beschluß verabschiedet über die Darstellung der »deutschen Frage« im Schulunterricht. In diesem Beschluß wird autoritativ festgestellt: »Die deutsche Nation existiert als Sprachund Kultureinheit weiter«, und »die deutsche Nation existiert auch als Staatsvolk weiter, das keinen gemeinsamen Staat hat.« Auch vom »mittel- und ostdeutschen Raum« ist dort die Rede, eine Formulierung, unter der sich mancherlei vorstellen läßt. Der Staat legt hier also in einer auch wissenschaftlich äußerst kontroversen Frage verbindlich fest, was richtig und was falsch und das heißt für Lehrer: was zulässig und was unzulässig ist. Zugleich stellt er fest, daß es die Sowjetunion war, die Deutschland gespalten hat, und deklariert damit von Amts wegen eine wissenschaftlich gänzlich unhaltbare Geschichtsdarstellung, denn »die Geschichte der deutschen Spaltung nimmt sich anders aus, als der kultusministerielle Beschluß es dem Publikum nahelegt«. Entsprechend schlimm sind die ideologischen Folgen: Ein Unterricht, der diesem Beschluß entspricht, müßte einen »gegen die UdSSR gerichteten Ressentiment-Nationalismus« zur Konsequenz haben. 6 Der Staat spendet aber nicht nur seinen rein geistigen Segen für die neue Welle, sondern er läßt sich auch materiell nicht lumpen. Während die staatlichen Haushalte bei den Ausgaben für Wissenschaft und Bildung rabiate Kürzungen vornehmen, werden zwei Bereiche besonders großzügig gefördert: die militärische Rüstung und die Förderung des »Nationalbewußtseins«. Das legt den Gedanken sehr nahe, daß diese Förderung als eine 10
Art ideologische Rüstung aufgefaßt wird. So legte sich die Bundeszentrale für Politische Bildung in ihrem Planungsbericht 1985/86 auf »Identität« als Leitbegriff fest.7 Da geht es um eine »identitätsvermittelnde Staatsform«, um die Bildung »kollektiver Identität«, um »Gemeinschaftsbildung« und um »Stabilisierung des Wertkonsenses«. Dieses obrigkeitsstaatliche Modell von Staat und politischer Bildung kann inhaltlich natürlich mit allerlei »Identitäten« angefüllt werden, doch ist anzunehmen, daß dabei zunächst einmal die »nationale Identität« die Dominanz erhalten wird. In der Tat wurde der Sammelband »Die Identität der Deutschen«, den Werner Weidenfeld herausgegeben hat, von der Bundeszentrale publiziert, d. h. mit Hilfe von Steuergeldern massenhaft unters Volk gebracht. Dieser Band ist zwar durchaus nicht homogen im Sinne eines neuen Nationalismus, aber er trägt dazu bei, die nationale Welle voranzubringen. So ist die Bundeszentrale, deren Vorläuferin (»Zentrale für Heimatdienst«) im März 1918 auf Wunsch der Obersten Heeresleitung gegründet wurde zur Stärkung des Durchhaltewillens der Heimatfront, offenbar im Begriff, im Zuge der »Wende« zu ihren Ursprüngen zurückzukehren: »Es muß befürchtet werden, daß sie bald wieder soweit von politischer Bildung entfernt ist wie ihre Vorläuferin im März 1918.«8 Die ideologische Offensive des Staates in der »nationalen Frage« betrifft auch die Formierung des Geschichtsbildes. Für das geplante Historische Museum für die Geschichte des deutschen Volkes in Westberlin wurden 250 Mio DM bewilligt. Denn, wie der Bundeskanzler ausführte: »Berlin bleibt eine nationale Aufgabe.« Und »das Projekt selbst ist eine nationale Aufgabe von europäischem Rang«. Besonders die »jungen Bürger unseres Landes« sollen hier »etwas davon spüren ( ! ) . . . , woher wir kommen, wer wir als Deutsche sind, wo wir stehen und wohin wir gehen werden«.8a Zugleich wird für Bonn ein »Haus der Geschichte« geplant als »Sammlung zur deutschen Geschichte seit 1945«, das sowohl »der Geschichte unseres Staates« wie »der geteilten Nation« gewidmet sein und »Nationalbewußtsein« vermitteln soll. 9 Auf Länderebene werden Museen »zur Wahrung des Erbes ostdeutscher Kulturlandschaften« aufgebaut, und zwar gemeinsam mit den »Landsmannschaften« der 11
Vertriebenenverbände. Ebenso sollen Lehrstühle und wissenschaftliche Institute sowie »ostkundliche Schülerwettbewerbe« eingerichtet werden, die sich diesen Traditionen widmen. Zum ersten Mal seit 1965 trat 1985 ein Bundeskanzler wieder bei einem Vertriebenentreffen auf, und zwar unter einer Losung, die nun wirklich keinerlei Zweideutigkeiten mehr enthält: »Schlesien bleibt unsere Zukunft.« 10 Was aber ist gemeint, wenn da allenthalben von »Nation« und von »nationaler Frage« die Rede ist: welches Territorium und welche Bevölkerung? Meinen alle dasselbe, die davon reden? »Die deutsche Nation ist zwischen Ost und West geteilt, aber sie besteht fort«, erklärte Alfred Dregger in der Debatte des Bundestages zur »Lage der Nation« 1983 (am 23. 6.) - und er artikulierte damit das, was herrschende Auffassung nicht nur in den Unionsparteien, sondern bis weit hinein in die Sozialdemokratie ist. Auch Bundespräsident Weizsäcker erklärt: »Der Begriff >Deutsch< ist wesentlich vom Schicksal der Teilung gekennzeichnet. Dennoch ist er der Teilung selbst nicht zum Opfer gefallen. Die Menschen in der DDR sind nicht nur Bürger ihres Staates, sondern sie sind zugleich auch Deutsche, Deutsche wie wir«; die »politische Aufgabe« bestehe also darin, »die Teilung Deutschlands zu beenden«. 11 Nach dieser in der Bundesrepublik weithin herrschenden Auffassung besteht also die »nationale Frage« darin, daß Deutschland geteilt ist und daß diese Teilung überwunden werden muß. Dominant ist also diejenige Strömung, die die Begriffe »Nation« und »nationale Frage« nicht primär auf den Staat Bundesrepublik bezieht, sondern auf ein imaginäres Gesamtdeutschland. Die Differenzen innerhalb dieser vorherrschenden Strömung bestehen erstens in der Frage, welches Territorium dieses Gesamtdeutschland umfasse: ob es sich lediglich um die Territorien der Bundesrepublik und der DDR handelt, oder ob die »Ostgebiete« bis zu den Grenzen von 1937 einbezogen sind, ob vielleicht gar die Reichsgrenzen von 1939 die »rechtmäßigen« sind, oder ob auch diese noch überschritten werden müssen. Und sie bestehen zweitens in der Frage, welche Dringlichkeit der Überwindung der Spaltung zukommt und wie sie zu bewerkstelligen ist. Diese Differenzen werden im folgenden zu berücksichtigen 12
sein, insbesondere deshalb, weil sie auch mit unterschiedlichen politischen Konzepten verbunden sind. Wenn hier also von einem neuen Nationalismus die Rede ist, so sind damit jene Strömungen gemeint, die verstärkt von »nationaler Frage«, »nationaler Identität« und »Nationalbewußtsein« reden und die Nation zur identitätsstiftenden homogenen Einheit erklären, der gegenüber Unterschiede der sozialen Lage unwesentlich sind und zurückzutreten haben; und die mit Berufung auf die Nation eine Politik legitimieren, die auf Veränderung der territorialen Verhältnisse in Europa gerichtet ist. Ein wesentliches Kennzeichen dieses Nationalismus besteht also darin, daß er - implizit oder explizit - Expansionsansprüche enthält. Die Bildung einer »nationalen Identität« ist in der Logik dieser Position nur dann vollständig und dauerhaft möglich, wenn die »nationale Einheit« hergestellt wird. Dieser Zusammenhang wird von manchen offen ausgesprochen, von anderen nahegelegt. Aus der Logik der Argumentation ergibt er sich zwingend. Neu an diesem Nationalismus ist zunächst einmal, daß er sich innerhalb der etablierten und regierenden Kräfte ausbreitet. Aber diese Entwicklung geht natürlich einher mit einer Veränderung seiner theoretischen Struktur und seines politischen Charakters. Daß der Neofaschismus von Anfang an offen nationalistisch war, bedarf keiner Erläuterung. Was aber die Hinwendung etablierter bürgerlicher Kräfte und sogar mancher alternativer Gruppen zur „Nation" kennzeichnet, ist schwieriger auszumachen. Dabei kann die Beziehung des »neuen« zum »alten« Nationalismus, wie er etwa von den Vertriebenenverbänden oder von den Landserheften repräsentiert wird, nicht gänzlich ausgeblendet werden. Charakteristisch ist jedenfalls der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, auf theoretische Fundierung, der bisher auf kleine Zirkel konservativer Intellektueller beschränkt war. Dieser neue Nationalismus also ist primär Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Ob sich alle Gruppen und Kräfte, die sich nun verstärkt der »Nation« zuwenden, tatsächlich zu einer politischen Strömung zusammenfügen oder - neben den gemeinsamen - auch sehr unterschiedliche Ziele verfolgen, soll im folgenden genauer unter13
sucht werden. Diese Frage ist natürlich nicht nur nach den Deklarationen und Selbstdarstellungen, sondern auch nach ihrer tatsächlichen, manchmal verborgenen Stoßrichtung zu entscheiden. Deshalb ist zu fragen: Wohin zielen diese ideologischen Initiativen? Mit welchen politischen Strategien sind sie verknüpft? Wen sprechen sie an? Die Untersuchung wird zu der Frage führen, was denn überhaupt »Nation« und »Nationalbewußtsein« zu bedeuten haben, welches ihr geschichtlicher Sinn ist und welche Möglichkeiten sich aus ihnen für die Gegenwart ergeben.
2. Der politische Hintergrund Von verschiedenen Autoren wurde in der letzten Zeit schon in kritischer Absicht die Frage gestellt, was es mit den neuen Strömungen auf sich hat, die sich verstärkt auf »Nation« und »nationale Identität« berufen, welche ideologischen Bedürfnisse sich hier ausdrücken, auf welche Weise sie sich theoretisch legitimieren, auf welche ideologischen Traditionen sie sich beziehen und wie ihr Umfeld beschaffen ist. 12 Aus den neueren Untersuchungen kann gefolgert werden: Im Zuge der »Wende« erfolgte zunächst eine generelle Rehabilitierung von konservativen und reaktionären Begriffen und Theoretikern. Friedrich Nietzsche, der Philosoph des Imperialismus und des Herrenrassendünkels, wird von der großbürgerlichen Presse wieder allenthalben empfohlen; Oswald Spengler, der die Lebensphilosophie und Rassenideologie für die Weltanschauung der extremen Rechten nach dem Ersten Weltkrieg zubereitet hat, wird beim renommierten Deutschen Taschenbuch Verlag neu herausgebracht und als »großer Denker« mit hoher »Bedeutung auch heute und künftig« angepriesen; 13 Ernst Jünger, die literarische Hauptfigur des »soldatischen Nationalismus« in der Weimarer Republik, der von seiner Kriegsverherrlichung nie auch nur einen Deut abgerückt ist, erhält 1982 den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt und wird von Bundeskanzler Kohl persönlich hofiert; Carl Schmitt, der juristische Ideologe des autoritären und dann auch des fa14
schistischen Staates, wird in Nachrufen der großbürgerlichen Presse als ein Staatstheoretiker präsentiert, der auch für unseren durch Krisen bedrohten Staat sehr lehrreich sei. Dies sind bedeutsame Symptome jener ideologischen Wende, die seit dem Beginn der Krise 1972/73 an Boden gewonnen hat. 14 Das ideologische Instrumentarium für diese Wende lag beim Beginn der Krise schon weitgehend bereit. Seit dem Ende der 40er Jahre, im Gefolge der allgemeinen Restauration, konnten beträchtliche Teile jener Intelligenz, die den Faschismus ideologisch mitgetragen hatte, ihre traditionellen Positionen an den Hochschulen und in den Medien wieder festigen. Und da es im Klima des Kalten Krieges auch psychologisch keinen Druck mehr gab, die eigene Weltanschauung zu hinterfragen und in Richtung auf Antifaschismus zu verändern, da sie sich also in ihrem gewohnten Feindbild bestätigt fühlen konnten, nahmen sie ihr traditionelles konservatives und reaktionäres Denken in erheblichem Umfang wieder auf - allerdings bereinigt durch die gröbsten Elemente des faschistischen Rassismus und Nationalismus. Am Beispiel des Staatsrechtslehrers Ernst Forsthoff und des Sozialwissenschaftlers Arnold Gehlen hat Jürgen Habermas soeben aufgezeigt, wie sich diese Fortsetzung ideologischer Traditionen, die zugleich eine Anpassung an die neuen Verhältnisse war, in dieser Periode vollzog und wie diese Tradition dann aufgenommen wurde vom Neokonservatismus der 70er Jahre. 14a In den Zeitschriften und Intellektuellenzirkeln des Neokonservatismus wurden diese Ansätze dann integriert, zu theoretischen Konzeptionen verarbeitet und inhaltlich radikalisiert: Man bekannte sich wieder offener zu den antidemokratischen Traditionen des deutschen Konservatismus, insbesondere des Jungkonservatismus der Weimarer Republik, der bisher wegen seiner allzu großen Nähe zum Faschismus eher verschämt beiseite gelassen worden war. Mittlerweile war nun auf der politischen Rechten auch ein Bedarf nach Theorie entstanden 14b : Bisher hatten »Wirtschaftswunder« und wachsender Wohlstand auch politisch-ideologische Stabilität gewährleistet; doch die Serie von Wahlerfolgen der Rechten war am Ende der 60er Jahre zu Ende gegangen, die Uni15
onsparteien hatten die Regierungsmacht verloren. Zudem gerieten sie angesichts sozialliberaler Reformkonzepte und der Wendung erheblicher Teile der jungen Intelligenz nach links auch ideologisch in die Defensive. Die politische und intellektuelle Dürftigkeit ihrer Positionen wurde nun offensichtlich - und für die Rechte selbst schmerzhaft bewußt. Finanzkraft und Wirkungsfeld der neokonservativen Gruppen wuchsen jetzt an und ebenso die Bereitschaft der Politiker der Unionsparteien, Argumente und Konzepte des Neokonservatismus zu übernehmen und überhaupt sich wissenschaftlich Beistand zu beschaffen. Wissenschaftliche Politikberatung findet nun also statt nicht nur in Hinsicht auf reale sozialökonomische und politische Problemzusammenhänge, sondern auch in wachsendem Maße in Hinsicht auf die ideologische Vermittlung von Politik. In den Reden z. B. des Bundeskanzlers Kohl ist diese Beratung Satz für Satz spürbar. Der wachsende Einfluß neokonservativer Ideologie auf die Politik besonders der Unionsparteien ist schon seit der Mitte der 70er Jahre erkennbar. Hierher gehören auch die wachsenden Klagen über den »Autoritätsverlust von Kirche, Militär und Staat«, über die »geistig-moralische Krise«, den Verlust an »Geschichtsbewußtsein« einerseits, die Forderung nach »Mut zur Erziehung«, nach Vermittlung von »sekundären Tugenden (wie Fleiß, Disziplin und Sauberkeit)« besonders in der Grundschule und nach »Mut zur Vergangenheit in Schule, Familie und Staat« andererseits.140 Die Kooperation hat inzwischen sehr praktische Formen angenommen. Nun treffen sich also z. B. im Studienzentrum Weikersheim prominente Politiker (wie der ehemalige Bundespräsident Carstens, der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen Windelen) mit prominenten Wissenschaftlern (den Historikern Ernst Nolte und Michael Stürmer, dem Politologen Bernard Willms u. a.), um über die Probleme unserer Zeit zu sprechen. Und die Leitung des Studienzentrums liegt gemeinsam bei dem ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger (der wegen seiner faschistischen Vergangenheit als Marinerichter zurücktreten mußte) und dem konservativen Philosophen Rohrmoser. 16
Im Verlaufe dieser politisch-ideologischen Entwicklung, die sich seit dem Beginn der 70er Jahre auch als Gegenbewegung zur sozialliberalen Politik formiert hatte, waren die konservativen Wegbereiter und Bündnispartner des Faschismus wieder rehabilitiert worden - samt ihren elitären und reaktionären Gesellschaftskonzeptionen. Und auch in Hinsicht auf den Faschismus selbst gewannen positivere Bewertungen an Boden, besonders durch die Schriften von Fest und Haffner.14d Mit dem neuen Nationalismus aber ist nun eine qualitativ neue Stufe erreicht, denn nun wird - mit nur noch geringfügigen Einschränkungen - auch jene Ideologie rehabilitiert, die nach dem Zusammenbruch des Faschismus (zusammen mit Rassismus und Antisemitismus) am meisten diskreditiert war, so daß die seriösen Repräsentanten der herrschenden Klasse über 30 Jahre lang sich nicht mit ihr identifizieren mochten. Dieser ideologischen Rehabilitierung eines besonders diskreditierten Bestandteils des Faschismus entsprechen die politischen Maßnahmen, die auf die Rehabilitierung der besonders belasteten Teile des faschistischen Machtapparates zielen. Seit Gründung der Bundesrepublik fordert die extreme Rechte, die Ehre von Wehrmacht und Waffen-SS vollständig wiederherzustellen. 1953 verlangte die DP, Koalitionspartner der CDU auf Bundesebene: »Wer die Ehre deutscher Soldaten verletzt, ist zu bestrafen . . . Schluß mit der fortdauernden Diffamierung, wirtschaftlichen Schädigung und beruflichen Entrechtung der ehemaligen Soldaten und Nationalsozialisten!«14e Dieser Linie, die dann auch von den Kräften um Franz Josef Strauß aufgenommen 15 , in der sozialliberalen Ära jedoch an den rechten Rand gedrängt wurde, ist nun, unter dem Innenminister Zimmermann, offizielle Regierungspolitik. Daß die SS-Nachfolgeorganisation HIAG nunmehr im Verfassungsschutzbericht des Innenministeriums gar nicht mehr vorkommt, daß Präsident Reagan und Bundeskanzler Kohl in Bitburg auch den Soldaten der Waffen-SS ihre Referenz erweisen, fügt sich ein in diese ideologische Wende nach rechts. Die Folge ist, daß die extreme Rechte ideologisch nicht mehr so stark isoliert ist, wie sie es seit dem Übergang zur Entspannungspolitik und zu den sozialliberalen Reformkonzepten war. 17
Sicherlich war diese Isolierung auch in dieser Periode nur eine sehr relative, gab es personelle und institutionelle Verflechtungen und ideologische Übergänge zu den etablierten Kräften der Rechten in vielfältiger Weise.16 Jetzt aber ist ein klarer Schritt zur weiteren ideologischen Annäherung vollzogen. Bei den neofaschistischen Kräften herrscht ein kaum verhohlener Jubel darüber, daß nun der »nationale Gedanke« wieder eine solche Anerkennung erfährt und daß die Hauptinhalte neofaschistischer Agitation - von der »nationalen Frage« bis zur Darstellung der deutschen Vergangenheit - nun offiziell salonfähig gemacht werden. 17 Die Übergänge sind sehr fließend geworden, und Autoren wie Bernard Willms oder Hellmut Diwald, von denen man beim besten Willen nicht sagen kann, daß sie sich noch eindeutig außerhalb des Rahmens faschistischer Ideologie bewegen, und die auch ganz unbefangen in Organen des Neofaschismus (z. B. in »Nation Europa«) publizieren, lehren nicht nur als Professoren an Universitäten der Bundesrepublik, sondern sind auch bei den mannigfachen politisch-wissenschaftlichen Konferenzen und Akademieseminaren willkommene Referenten. Und der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Windelen, schreibt das Vorwort zu einem Sammelband, in dem u. a. Willms seine Thesen über »nationale Identität« entwickelt. Das materielle und das geistige Potential dieser nationalistischen Strömungen reicht jedenfalls bereits aus, um die theoretische Fundierung und politische Vereinheitlichung in Angriff nehmen zu können: Die Gründung von Studienzentren und Zeitschriften (Thule-Seminar, Studienzentrum Weikersheim usw.) - nach dem Vorbild der Neuen Rechten in Frankreich deutet darauf hin, daß eine gewisse Konsolidierung der bislang zersplitterten und relativ isolierten Kräfte erreicht ist. 17a (Auch die Konzentration der neofaschistischen Presse im Verlag von Dr. Frey durch den Aufkauf der Deutschen Wochenzeitung kann wohl so interpretiert werden.) Vergleicht man die Aussagen dieser Kräfte mit dem, was im Klima der Hysterie des Kalten Krieges in den 50er und 60er Jahren möglich war - außerhalb wie innerhalb der Regierungsparteien -, so wirken sie noch durchaus gemäßigt. Verglichen mit dem vorherrschenden Klima der Periode seit dem Ende der 60er Jahre artikulieren sich hier aber neue 18
Themen in wesentlich veränderter Tonlage. Und der Nationalismus ist im Begriff, alle Politikfelder zu durchdringen.
3. Ursachen und Ziele Warum sich diese ideologischen Tendenzen in den letzten Jahren verstärkt äußern und wohin sie zielen, ist in seinen allgemeinen Umrissen unschwer erkennbar. Es läßt sich wie folgt zusammenfassen: Alle diese Theoretiker diagnostizieren die gegenwärtige Lage als Krise, die in ihrem Verständnis als geistige Krise, Sinnkrise, Bewußtseinskrise, als »Zeit der geistig-politischen Orientierungslosigkeit und Sinnentleerung«18 zu fassen ist. Nur gelegentlich wird auch der Zusammenhang zwischen der realen sozialen Krise und der Bewußtseinskrise angedeutet. So spricht Prof. B. Willms von der »individuell sich steigernden Erfahrung der Not - der der Teilung, der der Sinnlosigkeit, der der Arbeitslosigkeit, auch der der Armut«. 19 Die den etablierten Kräften näher stehenden Theoretiker hingegen neigen dazu, ein hohes Maß an ökonomischer und sozialer Stabilität festzustellen, und wundern sich deshalb über die Diskrepanz zwischen realer Stabilität und Bewußtseinskrise. 20 Nun ist die Klage über die Sinnkrisen in der modernen Welt und den Niedergang der traditionellen Werte ja nichts Neues. Seit der Aufklärung und der Französischen Revolution ist diese Klage der Kernbestand aller konservativen Ideologie. Wie stark diese Klage ist und welche Folgerungen daraus gezogen werden, hängt aber durchaus von der konkreten Situation ab. Und hier sind sich nun Theoretiker, die die gegenwärtige Lage als Bewußtseins- und Orientierungskrise auffassen, darüber einig, daß aus dieser Krise sowohl die Gefahr politischer Instabilität im Innern resultiere wie auch die Beeinträchtigung der Machtentfaltung der Bundesrepublik in den internationalen Beziehungen. »Tugenden wie Pflicht, Sachbezogenheit, Fleiß, Ordnungsliebe -« und die »Fähigkeit des Opferns«21, »Werthaltungen wie Treue, 19
Hingabe, Opferbereitschaft, Ordnungsliebe, Gründlichkeit« 22 seien geschwunden. Auch der »Nationalstolz« sei geringer als in anderen Ländern. 1981 seien nur 21% in der Bundesrepublik »sehr stolz« darauf gewesen, »ein Deutscher zu sein«, dagegen »55% der Engländer, 49% der Spanier, 41% der Italiener, 33% der Franzosen, 30% der Japaner« und gar »80% der Amerikaner«. Das aber sei sehr bedenklich, denn es gebe »Einflüsse des Nationalbewußtseins auf andere Werthaltungen, insbesondere auf die Leistungsbereitschaft im Bereich der Arbeitswelt und auf die Verteidigungsbereitschaft« , 2 3 Was die Arbeitswelt betrifft, so fordert Prof. Weidenfeld - in Übereinstimmung mit Unternehmerverbänden, Bundesregierung und allen politischen Organen der herrschenden Klasse -: Das »Ungleichgewicht zwischen Leistung und Anspruch«, das der »Sozialstaat« gefördert habe, müsse beendet werden, um »unsere internationale Konkurrenzfähigkeit« zu verbessern 24 , und dazu brauche es mehr »Gemeinschaftsbewußtsein«, brauche es »nationale Identität«. 25 Und was die »Verteidigungsbereitschaft« betrifft, so stellt L. Herrmann in der CDU-Zeitschrift »Die politische Meinung« mit großem Bedauern fest: »Für diesen Staat will niemand sterben, für seine Verfassung niemand eine militärische Spannung auf sich nehmen.« 26 Was nottut, liegt also auf der Hand: »Geistige Führung« in Richtung auf Stärkung des »Nationalbewußtseins«, der »nationalen Identität«, eine Wiedererweckung »jener Werte, Erfahrungen, Tugenden . . ., die die Stärke unseres nationalen Erbes vor Hitler, trotz und gegen Hitler und nach Hitler gewesen sind«. 27 Im Verständnis von Filbinger handelt es sich um eine Entscheidungssituation, in der es um Sein oder Nichtsein geht: »Nichts Geringeres als die Existenz unseres Volkes steht auf dem Spiel, wenn wir die Identifikation mit uns selbst und als Nation nicht meistern. Die Nation ist der einzige Bezugspunkt, der unser tief zerrissenes Volk zusammenzuführen vermag.« 27a Diese Kräfte sehen also durchaus realistisch Gefahren tiefgreifender ideologischer Verunsicherungen für die politische Stabilität und die Durchsetzungsfähigkeit des bestehenden Systems unabhängig davon, ob sie deren Ursachen in der sozialökonomischen Krise erblicken oder nicht. Und es ist ja eine alte Erfah20
rung: Wenn die Möglichkeiten materieller sozialer Gratifikationen zur Integration der Massen schwinden, steigt der Bedarf nach ideologischen Integrationsmitteln. In einer Lage, in der das Bewußtsein der Krise »nicht mehr so einfach durch Fortschritte im Konsum oder durch anderes kompensiert werden kann«, werde »das Bedürfnis nach allgemeinen Lösungen steigen«; das eben sei die Stunde »eines neuen und strengen Nationalismus der Idee«. 28 Andererseits: »Europa« als ideologisches Angebot kann nur noch geringe Kraft entfalten. »Die Idee der Einigung Europas befindet sich seit Jahren in einer zermürbenden Krise.« Und »das früher oftmals naiv und übereifrig verehrte Vorbild USA ist zu beachtlichen Teilen zur Negativ-Folie geworden. Die Bindewirkung der westlichen Führungsmacht läßt nach«. Die realen Erfahrungen sind in beiden Fällen allzu desillusionierend. »Über alledem kann die Nation . . . durchaus attraktiv erstrahlen.« 29 So besteht die Funktion des neuen Nationalismus zunächst einmal darin, nach innen »Gemeinschaftsbewußtsein« auf der Basis eines »Wertekonsenses« zu sichern und dabei die »Nation« als eben diese illusionäre Gemeinschaft zu präsentieren und so die Gegensätzlichkeit der konkreten Klasseninteressen zu überdecken; Opferbereitschaft zu erzeugen, die den Sozialabbau und die Rüstungspolitik abzusichern und die Durchsetzungschancen des bundesdeutschen Kapitals auf dem Weltmarkt zu erhöhen in der Lage ist. Dabei geht es nicht nur darum, die Massen zum Stillhalten zu bewegen. Mindestens einem Teil dieser Theoretiker geht es auch um Aktivierung und Mobilisierung für »die Nation«, um die Erzeugung von Enthusiasmus. Das kann in der Tat von der traditionellen konservativen Verzichtideologie nicht geleistet werden. Insoweit, so könnte man sagen, entspricht der neue Nationalismus dem, was sich auch in anderen kapitalistischen Ländern im Gefolge der Krise an ideologischen Tendenzen auf der Rechten formiert und was aus der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaften wohlbekannt ist. In der Tat weist das, was sich als »Nouvelle Droite« in Frankreich und als »New Conservatism« in den USA formiert hat, zwar allerlei nationale Eigentümlichkeiten auf, stimmt in der politischen Funktion aber ziemlich genau mit 21
dem überein, was hier für den neuen Nationalismus in der Bundesrepublik ermittelt wurde. Zwei Eigentümlichkeiten verleihen diesem Nationalismus jedoch eine besondere Prägung und Brisanz: Erstens ist zu bedenken, daß diese Strömungen zwar in allen Ländern das ihnen jeweils zur Verfügung stehende Gedankenmaterial konservativer und reaktionärer Traditionen aufnehmen, daß dies im Falle unseres Landes aber etwas Besonderes bedeutet: Es handelt sich nämlich um eine Ideologie, die den Boden bereitet hat für den Faschismus und die durch die Verbindung mit faschistischer Ideologie und Praxis dann geprägt wurde. Es macht eben einen Unterschied aus, ob man sich in Frankreich auf die Tradition der »nationalen Werte« beruft oder ob man das in der Bundesrepublik tut. (Das dürfte übrigens der Hauptgrund dafür sein, daß die Neue Rechte in Frankreich die ideologischen Traditionen der deutschen Rechten anzueignen versucht 30 ; denn diese ermöglichen wesentlich härtere Konsequenzen.) Die scharfe Polemik gegen den Antifaschismus, die von Willms bis zu Ernst Nolte und zur FAZ reicht, ist ein deutliches Symptom dieser Tradition. 3 0 a Und zweitens beziehen sich die Begriffe der »Nation« und der »nationalen Identität« bei diesen Strömungen in der Bundesrepublik, wie schon erwähnt, nicht nur auf das Territorium des eigenen Staates, sondern greifen weit darüber hinaus, mindestens bis zu den Grenzen von 1937, bei einigen Strömungen auch bis zu den Grenzen von 1939 oder noch weiter. Die Belege dafür, daß im Zusammenhang mit der Diskussion über die Nation sehr weitreichende Revisionsforderungen gestellt und daß diese in einem beträchtlichen Umfang auch von der Bundesregierung mitgetragen werden, sind sehr zahlreich. Diese Frage soll im nächsten Kapitel ausführlicher überprüft werden. Hier nur einige wenige Beispiele: Das Gesamtdeutsche Institut verbreitete für das Jahr 1986 Kalender unter dem Motto »Einigkeit und Recht und Freiheit«, von denen fast 70 000 an die Schulen gingen. »Optischer wie thematischer Schwerpunkt sind die Stätten und Entwicklungen, die für die Einheit der Deutschen . . . von Bedeutung waren.« 31 Die Bundesregierung legte sich - nach wochenlangem Tauziehen - auf die Formel fest: „Schlesien bleibt 22
unsere Zukunft.« Der bayerische Ministerpräsident F. J. Strauß betont die »unverzichtbaren Rechtspositionen des deutschen Volkes« sowie die »besondere Verantwortung der Bundesrepublik für die östlich von Oder und Neiße lebenden Deutschen«. 32 Beim Sudetendeutschen Tag im Mai 1985 in Stuttgart, an dem Ministerpräsident Späth, Bundesminister im Kanzleramt Schäuble und eine Reihe weiterer Regierungsvertreter teilnahmen, führte der baden-württembergische Innenminister Schlee aus: »Sie kommen aus dem Sudetenland . . . dieser Raum muß in das freie Europa, das wir anstreben, eingebracht werden.« 33 Und Philipp von Bismarck, Europaabgeordneter der CDU und Sprecher der Pommerschen Landsmannschaft, erklärte beim Schlesiertreffen: »Unsere Aufgabe ist es, Freiheit dem Frieden hinzuzufügen . . . in unserer Heimat, in ganz Mittel- und Osteuropa einschließlich für alle, die zwischen Ostsee und Schwarzem Meer unter sowjetischer Kontrolle stehen und in Armut leben müssen.« 34 Der (damalige) Bundestagspräsident Barzel sieht in der Befreiung der Gebiete zwischen Ostsee und Schwarzem Meer sogar einen Akt der Wiedergutmachung an den osteuropäischen Völkern. 35 Diese Forderungen selbst sind nicht neu. Neu aber ist die starke Betonung des nationalen Elements als Begründung dieser Forderungen, die Behauptung, daß die Nation ohne ihre Erfüllung vom Untergang bedroht sei, oder doch mindestens die Annahme, daß ohne die nationale Einheit die Deutschen ihre Lebensinteressen nicht voll zur Geltung bringen können. Der neue Nationalismus in anderen Ländern unterscheidet sich also von dem in der Bundesrepublik wesentlich auch dadurch, daß er primär nach innen gerichtet ist, auf »nationale Integration« unter autoritärem Vorzeichen. Sofern er darüber hinaus geht, bezieht er sich - als »Befreiungsnationalismus« - explizit auf andere Nationen oder begreift imperiale Größe als nationale Mission; letzteres gehört sowohl bei der französischen wie bei der nordamerikanischen Rechten seit langem zu ihrem Selbstverständnis. Die entsprechenden Kräfte in der Bundesrepublik hingegen behaupten, daß schon die Herstellung der Nation, die Lösung der »nationalen Frage«, verlange, daß die territorialen Verhältnisse in Europa umgestürzt werden müssen. Dieses politische Konzept, das am schärfsten vom neuen Nationalismus ver23
treten wird, aber keineswegs auf diesen beschränkt ist, wirkt also unmittelbar friedensgefährdend. Diese Kräfte zündeln am Pulverfaß der Welt gerade dort, wo es am gefährlichsten ist: wo die Blöcke direkt aneinander stoßen und wo zudem das größte Arsenal von atomaren und chemischen Vernichtungswaffen der ganzen Welt konzentriert ist. Die Aufgaben, die sich nach dem Selbstverständnis des neuen Nationalismus stellen, sind also umfassend und dringlich: Es geht darum, die Kräfte so zusammenzufassen, daß die politische und ökonomische Durchsetzungsfähigkeit der Bundesrepublik in der internationalen Politik auch gegenüber den westlichen Konkurrenten gesteigert werden kann; und es geht zugleich darum, die »nationale Einheit« herzustellen, um die Zukunft der Nation in materieller und geistiger Hinsicht zu sichern. Das erfordert offensichtlich starke Potenzen. Um diese zu entfalten, um den »Wiederaufstieg unseres Vaterlandes« zu gewährleisten, ist es im Verständnis dieser Strömungen unabdingbar, alle Kräfte zu mobilisieren, die aus dem nationalen Geschichtsbewußtsein entspringen: »Die Wende, die die Bundesrepublik benötigt, muß in der Tiefe ihres historischen Selbstverständnisses errungen werden.« 36 Die deutsche Geschichte soll so interpretiert und akzeptiert werden, daß »der permanente Verdacht gegen uns selbst, die Allergie gegen unsere Traditionen und Eigenarten, die Unfähigkeit, wir selbst zu sein, überwunden« wird 37 , daß aus dem Geschichtsverständnis keine lästigen Beschränkungen mehr entstehen, die die freudige Identifizierung und Aktivierung beeinträchtigen könnten. Vor allem geht es also darum, die Belastungen loszuwerden, die die faschistische Vergangenheit auf die Bundesrepublik geladen hat und die deren Bewegungsfreiheit einengen - sowohl in Gestalt von Hemmungen bei den einzelnen Bürgern wie auch beim Auftreten der Bundesrepublik den anderen Völkern gegenüber. Das gute Gewissen will man zurückgewinnen, um wieder ungeniert Machtpolitik treiben zu können - entsprechend den real ja vorhandenen ökonomischen und militärischen Potenzen. Friedrich Nietzsche verkündete einst, das gute Raubtiergewissen müsse zurückgewonnen werden, wenn die zur Herrschaft berufenen Rassen ihre Aufgabe wahrnehmen wollten. 37a Das 24
>
gute Gewissen als Voraussetzung energischen »nationalen« Handelns - dieses Motiv wird von der neofaschistischen Publizistik seit Jahrzehnten variiert: Seit 1945 werde Deutschland von den Siegermächten mit Hilfe der angeblichen Verbrechen des Nationalsozialismus (»Auschwitz-Lüge«) in geistiger und politischer Knechtschaft gehalten. Die etablierten Kräfte der Rechten leugnen nun zwar keineswegs die Verbrechen des Faschismus (obgleich sie sich zugleich weigern, diese Leugnung, die ein zentrales Element neofaschistischer Propaganda darstellt, unter Strafe zu stellen). Aber sie »bewältigen« die Vergangenheit dadurch, daß sie diese Verbrechen für politisch nunmehr irrelevant erklären. Franz Josef Strauß hat schon vor Jahren verkündet, ein Volk, das solche Leistungen erbracht habe wie das unsere, besitze einen Anspruch darauf, von Auschwitz nichts mehr zu hören. Dieses Motiv ist nun zum bestimmenden Element der herrschenden Ideologie geworden. Alle Varianten des neuen Nationalismus sind sich in diesem Punkt einig, den der konservative Theoretiker Kaltenbrunner bezeichnet als Bruch mit der »Tradition der Selbstbezichtigung« 37b , der »Nationalrevolutionär« Wolfgang Venohr als Zerreißen der »Kapitulationsurkunde in Sachen deutsche Geschichte« 38 und den der Erlanger Historiker Michael Stürmer, Berater von Bundeskanzler Kohl, dezent so umschreibt: die Deutschen müßten sich endlich »lösen aus dem Bann (der Jahre) 1933—1945«.39 Etwas drastischer formuliert der Rheinische Merkur: »Gebeutelt von der Geschichte dieses Jahrhunderts und ewig zur Rechenschaft gezogen von der eigenen Intelligenzia, verkriecht sich der deutsche Zeitgenosse gerne hinter den Wellen seiner regionalen Heimat und den Genuß flüchtiger materieller Werte. Man hat uns zur Ängstlichkeit konditioniert in nationalen Dingen« und bei der »Suche nach Deutschland«. 40 Die direkte militärische Machtentfaltung ist-angesichts der deutschen Vergangenheit - dabei sicher das heikelste Problem. Aber auch dieses wird von der FAZ in einem großen Leitartikel ganz offen und offensiv angegangen: Die »notwendige Verteidigung« werde in der Bundesrepublik »verstellt von einer Prüderie im Umgang mit dem Militärischen, die z. T. aus schlechtem historischen Gewissen, z. T. aus einem beschädigten Nationalcharakter stammt«. 41 25
4. Varianten und Kontroversen Diese Gemeinsamkeiten, die allen Varianten des neuen Nationalismus eigen sind, dürfen jedoch nicht den Blick dafür verstellen, daß sehr unterschiedliche politische Konzeptionen und Strategien mit ihnen verbunden sind. Die Schwierigkeit einer analytischen Erfassung liegt darin, daß es sich dabei nicht um klar voneinander abgrenzbare politisch-ideologische Richtungen handelt, sondern eher um ein breites Feld von Strömungen, die vielfach ineinander übergehen. Der Nationalismus verbindet sich dabei mit anderen ideologischen Elementen zu je spezifischen Mischungen. Es gab ja nie in der Geschichte eine Gruppierung, deren Ideologie ganz allein vom Nationalismus bestimmt gewesen wäre. Dies gilt auch heute. Zwar hat die nationalistische Komponente bei all diesen Strömungen deutlich zugenommen, aber sowohl ihr Gewicht wie auch ihre Funktion im Gesamtkonzept ist sehr unterschiedlich.
a) Der aggressive Flügel Im folgenden soll nun zunächst dargestellt werden, wie der Begriff des Nationalen auf dem rechten Flügel verstanden wird und mit welchen politischen Konzepten er sich dort verbindet. Gemeint sind dabei nicht etwa die eindeutig neofaschistischen Gruppen und Organisationen, die hier nicht zur Diskussion stehen. (Sie werden allenfalls dann am Rande einbezogen, wenn es um die Frage geht, wieweit der neue Nationalismus ihre Ideologie und Politik aufnimmt.) Sondern gemeint sind jene politischideologischen Strömungen, die von der herrschenden Meinung als seriös angesehen werden und relativ deutlich mit der herrschenden Politik und ihren Organisationen verbunden sind. Für den rechten Flügel innerhalb dieser Kräfte ist kennzeichnend, daß sich autoritäre Ordnungsvorstellungen nach innen verbinden mit äußerst rabiaten Vorstellungen über die Beziehungen zwischen Völkern und Staaten. Überraschend ist dabei der offene Angriff gegen das parlamentarisch-demokratische Verfas26
sungssystem, das von der herrschenden Ideologie seit Gründung der Bundesrepublik als das qualitativ Neue, als Beweis für die definitive Abwendung von der üblen deutschen Vergangenheit dargestellt worden ist. Von manchen Repräsentanten des neuen Nationalismus aber wird nun mit der Betonung der »Nation« ein offener Angriff gegen das parlamentarisch-demokratische Verfassungssystem verbunden und - z. T. explizit - jene Argumentation wieder aufgenommen, mit der die »nationale Rechte« schon in der Weimarer Republik Parlamentarismus und Demokratie bekämpft hat. Die Argumentation des Neofaschismus bewegt sich bekanntlich seit Jahrzehnten auf der Linie, daß dieses System nicht den geistigen und politischen Traditionen der Deutschen entspreche, nach 1945 von den Siegermächten oktroyiert worden sei und eine permanente Entfremdung und Unterdrükkung deutschen Wesens bedeute. An die eher konservativen, auf einen autoritären Staat gerichteten Kräfte der Weimarer Zeit knüpft eine andere Argumentationslinie an, die behauptet, parlamentarische Demokratie kenne nur formale Regeln, sei aber unfähig, inhaltlich jene Entscheidungen sicherzustellen, die für die Existenz der Nation lebenswichtig seien. Carl Schmitt, nach 1933 dann der führende juristische Ideologe des Faschismus, hatte das damals in die Formel gefaßt, daß die »Unterscheidung von Freund und Feind« existenziell notwendig sei und geradezu das Wesen des Politischen ausmache. 42 Beide Argumentationslinien wurden seit den 70er Jahren wieder aufgenommen von den neokonservativen Strömungen, wie sie sich etwa in der Zeitschrift Criticon artikulieren. In den letzten Jahren wurden sie nun bedeutend verschärft dadurch, daß sie mit dem Nationalismus verbunden und daß die politischen Ziele wesentlich durch den Bezug auf die Nation legitimiert wurden. So argumentiert Prof. B. Willms: Das Jahr 1945 war die »Niederlage der Nation«. 43 Auch die Westmächte gehörten »zu den Siegern von 1945, deren Ziel die Entmachtung und Niederhaltung der deutschen Nation gewesen ist«, und bis zum heutigen Tage sei von dieser Seite keine Unterstützung »in bezug auf die Wiederherstellung der Nation« zu erwarten. Bei beiden deutschen Staaten handele es sich um »Entnationalisierung« (S. 43 a). Politische Selbstbehauptung verlange aber eine klare Unterschei27
dung von Freund und Feind, nach innen wie nach außen. Nach innen identifiziert er »Antifaschismus« und »Radikaldemokraten« als die Hauptfeinde, als »nützliche Idioten der Sowjetunion«, deren Tätigkeit im Grunde als »Brandstiftung« zu betrachten sei. 44 Nach außen habe sich Politik zu konzentrieren auf den Krieg als Ernstfall und als »Bedingung menschlicher Existenz«. 45 »Demokratie als Regierungsform« aber werde solchen Ansprüchen nicht gerecht, verbleibe »im Bereich der Formalität«, habe einen »Mangel an substanziellem Bezug« und könne »eine Nation nicht zur Freiheit bringen«. 46 Da nach Willms die »Herstellung der Identität des einzelnen« nur in der Nation möglich sei, ergibt sich die Einheit der Nation als absolut vordringliche Aufgabe, als »kategorischer Imperativ«, ergibt sich also »Nation als Schicksal«.47 Der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Windelen, drückte dies so aus: »Wenn die deutsche Frage die Schicksalsfrage der Nation und diejenige der Bundesrepublik Deutschland ist . . ., dann muß sie Vorrang vor allen anderen haben.« 48 Worauf aber beruht substanziell die Einheit der Nation? Da von einer sozialen Homogenität in der bürgerlichen Gesellschaft offensichtlich keine Rede sein kann, war die Rechte schon seit der Formierung der Arbeiterbewegung und der Artikulation der sozialen Antagonismen am Ende des 19. Jahrhunderts in wachsendem Maße gezwungen, diese Einheit in naturgegebenen Faktoren zu suchen. Dies gilt für den Nationalismus ebenso wie für die völkische Bewegung und den Rassismus, die auch in mannigfacher Weise ineinander übergingen. Carl Schmitt sah diese Einheit der Nation zur Zeit der Weimarer Republik nur herstellbar durch den autoritären Staat, der die Partialinteressen bändigt, also durch Eingriff von oben. Dies war auch die Hauptlinie des Jungkonservatismus der Weimarer Republik. 1933 aber entdeckte auch Schmitt dann die Rasse als die Substanz, die die Einheit gewährleistet. Auch im neuen Nationalismus der Bundesrepublik ist die ganze Skala konservativer bis faschistischer Begründungen vorzufinden. Zwar gibt es gegenüber dem offenen Rassismus noch sichtlich Vorbehalte, und es dominieren Hinweise auf die Gemeinsamkeit der Sprache, der Kultur und der Geschichte. Doch 28
ist immerhin bemerkenswert, daß im »Heidelberger Manifest« eine Reihe von Professoren Völker definiert haben als »biologische und kybernetische lebende Systeme«, deren Eigenschaften »genetisch und durch Tradition weitergegeben werden«; das deutsche Volk habe also »ein Naturrecht auf Erhaltung seiner Identität« im »ethnischen« Sinne. 49 In dieser Fassung (die später wegen der öffentlichen Proteste abgemildert wurde), wird also der Begriff des Volkes als Grundbegriff demokratischer Willensbildung, wie er im Grundgesetz gefaßt ist, umgewandelt in die Maxime der völkischen Eigenart im ethnisch-biologischen Sinne. Bezeichnend ist nun, daß diese Position Unterstützung erfuhr durch einen der höchsten Repräsentanten des Staates. Der damalige Präsident des Bundestages, Richard Stücklen, schrieb dazu in einem Briefwechsel mit dem »Schutzbund für das deutsche Volk«: »Auch ich bin Ihrer Auffassung, daß der Verfassungsbegriff >Deutsches Volk< letztlich ethnisch bezogen ist.« 50 Es ist offensichtlich, daß mit solchen Thesen, die sich zunächst einmal gegen die »Überfremdung des deutschen Volkes« durch Ausländer wenden, Grundelemente der Rassenideologie wieder aufgenommen werden. Und wenn das ZDF eine Sendung bringt mit dem Titel »Die Deutschen sterben aus« und dort einen so »dramatischen Bevölkerungsrückgang« prognostiziert, daß die Bundeswehr »auf Frauen zurückgreifen« muß, »um ihre NATO-Sollstärke zu halten«, so gehört das in den gleichen Zusammenhang; auch hier liegen »ethnische Vorstellungen von Arterhaltung« zugrunde. 51 Für die unmittelbare politische Aufgabenstellung ist es allerdings sekundär, ob für die Mystifizierung der Nation als identitätsstiftende Einheit biologistische Begründungen gegeben werden oder andere. Für den gesamten rechten Flügel bedeutet die Herstellung »nationaler Identität« nach innen hin, daß die »antifaschistischen« und die auf »Demokratisierung« drängenden Kräfte als Feinde der Nation, als nützliche Idioten auswärtiger Mächte und als Brandstifter behandelt werden. Daß dies die Abschaffung der demokratischen Verfassungsordnung der Bundesrepublik voraussetzt, ist evident. Und außenpolitisch bedeutet die »Einheit der Nation« für diese Kräfte die Durchsetzung weit29
reichender Revisionsforderungen - womöglich bis hin zu »großdeutschen Lösungen« 52 als vordringliche Aufgabe. Dabei können nach dem Verständnis dieser Theoretiker des neuen Nationalismus völkerrechtliche Normen und Verträge kein Hindernis darstellen, denn es steht »keine Idee über der Idee der Nation«, es gibt »keine dieser Idee übergeordneten Prinzipien«. 53 Da es nichts gibt über dem Prinzip der Nation, folgt daraus für die internationalen Beziehungen als einzig mögliches Prinzip das der Stärke, der blanke Sozialdarwinismus: Im Kampf um die Durchsetzung der »nationalen Interessen« behält derjenige die Oberhand, der mächtiger ist und rücksichtsloser vorgeht. Hier ist also in geradezu klassischer Form das Konzept des deutschen Nationalismus der Vergangenheit formuliert jenes Konzept, mit dem sowohl die Unterdrückung aller demokratischen Regungen im Innern wie auch die Anwendung militärischer Gewalt gegen andere Staaten legitimiert worden ist. Neben diesen, bei Willms angelegten Folgerungen lassen sich aus einem solchen Begriff der Nation aber noch weitere Schlußfolgerungen ziehen. Wenn »nationale Identität« allen Völkern zusteht, wenn es ein »Recht auf Nation« 54 gibt, dann kann es als Auftrag starker Nationen verstanden werden, für andere die Befreiung erkämpfen zu helfen: für die deutsche Nation also, die »nationale Identität« für die unterdrückten Völker Osteuropas zu erkämpfen sowie für den »Vielvölkerstaat« Sowjetunion. Von diesem »Befreiungsnationalismus«55 aus ergeben sich vielfache und auf den ersten Blick oft sehr irritierende Verbindungslinien erstens zur Supermachttheorie (»unser Vaterland ist besetzt«), zweitens zur Solidarität mit Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt und drittens schließlich zu regionalistischen Bewegungen, die - wie die Iren oder die Basken gegen »Besatzungsmächte« kämpfen. Hier sind offenbar Traditionslinien des »nationalen Sozialismus« aus der Weimarer Republik (Strasser, Niekisch usw.) am Werk - und in der Tat nennen sich manche dieser Gruppen auch »sozialistisch« oder »solidaristisch«. 56 Die Hauptstoßrichtung aber ist sehr eindeutig: Es geht um die Umwälzung der politischen Ordnung in den sozialistischen Ländern, um die Beseitigung von »Fremdherrschaft«.57 30
Dieser »Befreiungsnationalismus« aber reicht über die Vertriebenenverbände, die sich auf ihrem rechten Flügel mit faschistischen Gruppierungen vermischen 58 , zur Mitte hin weit in die Unionsparteien hinein und verbindet sich dort mit der Europaideologie. »Wir haben die Vision eines freien Europa der freien Völker- und Vaterländer. Dazu gehört immer auch Polen«, erklärte Hupka, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien und Bundestagsabgeordneter der CDU, beim Schlesiertreffen am 16. 6. 1985.59 Und F. J. Strauß assistierte: »Die Verhältnisse in Europa werden erst dann wieder normal sein, wenn alle Völker - Deutsche wie Polen - in freier Selbstbestimmung über ihr politisches Schicksal entscheiden dürfen . . . Unser Ziel muß also sein, ein freies Schlesien in einem freien Europa.« 60 Beim Schlesiertreffen im Juni 1985 marschierten dann Jugendliche mit den »Fahnen der deutschen Provinzen« in die Kundgebungshalle, darunter die von Ostpreußen, Pommern, Schlesien und Sudetenland. Diese Revisionsansprüche gehen also weit über das Territorium der DDR hinaus und halten auch keineswegs immer bei den Grenzen von 1937 inne. Die CSU-Landesgruppe sprach z. B. in ihrem deutschlandpolitischen Papier vom Juli 1978 dunkel von »Reichsteilen außerhalb der Grenzen vom 31. Dezember 193 7«61, womit mancherlei Territorien gemeint sein können. Und die Repräsentanten der Regierungen geben zu alledem ihre Weihe: Der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht übernimmt beim Schlesiertreffen die Schirmherrschaft - und der Bundeskanzler Kohl hält eine große Rede, in der er ausführt: »Noch ist über Breslau im Europa der freien Völker nicht endgültig entschieden.« Das alles billigen und unterstützen die von der CDU geführten Regierungen - und erst dann, wenn einer aus den eigenen Reihen sich allzu öffentlich und eindeutig Gedanken macht, wie denn die »Befreiung in Frieden« vor sich gehen könnte, reagieren sie scheinbar empört und behaupten, so sei es keinesfalls gemeint. Dabei hatte jener Thomas Finke, Bundesvorstandsmitglied der »Schlesier-Jugend«, in seinem Artikel in »Der Schlesien (vom 25. 1.1985) über die Wiedervereinigung Deutschlands durch den friedlichen Marsch der Bundeswehr bis an die Grenzen der Sowjetunion tatsächlich nur konkrete Schlußfolgerun31
gen aus diesen allgemeinen Formeln gezogen. Wie diese Formeln nun aber tatsächlich gemeint sind, sagen sie - aus gutem Grunde - natürlich nicht. Daß diese »Befreiung« mit den nationalen Kräften allein nicht zu machen ist, wissen auch die Vertriebenenfunktionäre. So verlangt Philipp von Bismarck, Sprecher der Pommerschen Landsmannschaft und Europa-Abgeordneter der CDU, »die Europäer . . . mit dafür haftbar zu machen, daß die Freiheit, die wir im Westen genießen, für uns das Gebot enthält, auch für die Freiheit derer zu wirken, die sie am Ende des Zweiten Weltkriegs verloren haben«. 62 So gesehen, enthält die immer wiederkehrende Begründung, es könne keinen Frieden in Europa geben, solange die »deutsche Frage« nicht gelöst, solange die »Spaltung Europas« nicht im Sinne der »Freiheit« überwunden sei, sowohl eine offene Drohung in Richtung Osten wie auch drohende Untertöne in Richtung der westeuropäischen Nachbarstaaten: Frieden werde es in Europa erst geben, wenn die Machtansprüche der Bundesrepublik befriedigt seien. Ist es gänzlich abwegig, hier Zusammenhänge mit Konzepten früherer Jahrzehnte zu sehen, die unter der Formel »Neuordnung Europas« in die Geschichte eingegangen sind? Ist es bloß ein Versprecher, wenn die FAZ im Anschluß an die programmatische Rede Dreggers im Bundestag ausdrücklich von der »Neuordnung Europas« spricht? 62a Und ist es verwunderlich, daß heute wie damals als Mittel ideologischer Legitimierung und Mobilisierung für diese Konzepte der Nationalismus fungiert?
b) Der gemäßigte Flügel Von diesen Konzepten auf dem rechten Flügel des neuen Nationalismus hebt sich eine eher traditionelle Richtung ab, die zwar auch die »nationale Identität« ins Zentrum rückt, aber inhaltlich stärker an der bisherigen Regierungspolitik orientiert ist, und, was ihre theoretische Ausformulierung betrifft, auch von maßgeblichen Beratern des Bundeskanzlers repräsentiert wird. Im gegenwärtigen Regierungsblock überschneiden sich gewissermaßen beide Richtungen. Für diese Richtung ist die Einbindung 32
in das westliche System vordringlich und unwiderruflich. Und die Stabilisierung des politischen und ökonomischen Systems in der Bundesrepublik und des Bündnisses mit den USA hat für sie klare Priorität in dem Sinne, daß nur von diesem breiten und gesicherten Fundament aus weiterreichende Forderungen in Angriff genommen werden sollen. Zwar wird die Forderung nach »nationaler Identität« im Sinne von Gesamtdeutschland auch von ihr aufrechterhalten, doch über deren konkrete Ausgestaltung und über deren Gewicht innerhalb der Gesamtpolitik bestehen sehr unterschiedliche Ansichten. Bruno Heck, ehemals Bundesminister und Bundesgeschäftsführer der CDU und jetzt Vorsitzender der Adenauer-Stiftung, bezweifelt, daß es sinnvoll ist, sich definitiv auf ein »Vaterland Bundesrepublik« einzulassen. Noch deutlicher warnt Andreas Hillgruber, renommierter Professor für Geschichtswissenschaft in Köln, vor der Gefahr der Reduktion des Nationalbewußtseins auf die Bundesrepublik. 62b Bei dem Mainzer Politologen und Kanzlerberater Werner Weidenfeld aber liegen die Akzente eindeutig auf der innenpolitischen Seite: Angesichts der »modernen Massengesellschaft« mit ihrem »Heimatverlust« und ihrer »Orientierungskrise« bestehe »ein hoher Bedarf an kollektiver Identität«; und da bleibe »der Gedanke der Nation ein Angebot« und »das Abrutschen in den Nationalismus eine Gefahr« (womit bei ihm hauptsächlich die Friedensbewegung mit ihren Forderungen nach Ausscheiden aus den Militärblöcken gemeint ist). Zwar überschreibt er sein Schlußkapitel mit der These »Zwei deutsche Staaten - eine Nation«. Gemäß dieser These kann eine »nationale Identität« eigentlich nur bezogen sein auf diese Gesamtnation, und deren Herstellung müßte dann die Voraussetzung für die Entwicklung nationaler Identität sein, politisch gesprochen also: Auftrag von höchster Dringlichkeit. In seiner konkreten Argumentation wird diese These jedoch beträchtlich relativiert: Zwar »fühlen sich die Deutschen an die Kontinuität und das Ethos der Nation gebunden, woraus sich die Forderung nach Wiedervereinigung ableitet«. Doch »die Deutschen« werden auch in Zukunft »mit einer geschichteten Identität leben«: es wird »ein auf die Bundesrepublik Deutschland bezogenes Staatsbewußtsein« und ebenso »den Willen zur politischen Ge33
meinschaft aller Deutschen« geben. Und: »nationale Identität ist durch politischen Entschluß weder zu verordnen noch zu eliminieren«. Trotz Grundgesetz-Präambel und Verfassungsgerichtsurteil zum Grundlagenvertrag, auf die er sich natürlich beruft, scheint er selbst gewisse Zweifel zu haben, ob »Nation« wirklich »auch ohne die machtpolitische Ausstattung staatlicher Institutionen« auf die Dauer »als wirksamer Ordnungsrahmen für das Orientierungswissen der Bürger« wirken kann; mit anderen Worten: ob die reale staatliche Teilung nicht doch längerfristig Folgen für die Frage der »nationalen Identität« hat. 63 Und dennoch bleibt es auch für ihn eine Aufgabe, die Freiheit auf ganz Europa auszudehnen. 633 Auch der Erlanger Professor Michael Stürmer, Historiker und Kanzlerberater, hält nationale Identität für eine politische Notwendigkeit - schon zur Sicherung der »Sozialdisziplin«, die die Industriegesellschaft brauche. Und er ist auch überzeugt, »daß auf Dauer die Idee der Nation« nicht nur »Erinnerungswert der politischen Kultur bleibt«, daß sie »eine geistige Realität geblieben (ist) mit Berlin als Brennpunkt und Symbol«. Doch warnt er zugleich vor zwei Gefahren: Was die internationale Dimension betrifft, so berge die Idee der Nation eine »Sprengkraft«, mit der er auch Hoffnungen verbindet, da sie auch in den sozialistischen Ländern wirke, die man aber »eingrenzen« müsse. »Die heilende Kraft der Zeit ist ein Element der Beruhigung.« Zu warnen sei vor allem vor der »suggestiven Idee deutscher Alleingänge«, vor »Nationalismus« und der »Weigerung, die Machtgeographie der Nachkriegszeit noch anzuerkennen«. Auf der Basis einer festen Westbindung müßte die Bundesrepublik »nach Osten auf Kooperation dringen . . ., ohne im Westen Mißtrauen zu säen«. 64 Doch auch nach innen berge die Idee der Nation Gefahren, nämlich dann, wenn sie emotionalisierte Massenbewegungen hervorbringe. Hierin drückt sich das tiefe Mißtrauen konservativer Führungsschichten und Theoretiker gegenüber Massenaktivitäten aus, die ihnen zunächst, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Arbeiterbewegung gegenübertraten, aktuell aber auch in Gestalt der Friedensbewegung ihre Politik störten. Auf die Friedensbewegung nimmt Stürmer denn auch ausdrücklich Bezug. Er bewertet das Mobilisierungspotential, das im Natio34
nalismus steckt, durchaus positiv, will es aber durch den Staat unter Kontrolle gehalten wissen. Denn die Bundesrepublik brauche vor allem »Selbstsicherheit und Staatsbewußtsein«.64a Das schließt eher an den konservativen Flügel der »nationalen Rechten« in der Weimarer Republik an, der ebenf alls auf den Staat und auf Eliten vertraute und Massenbewegungen unter deren Kontrolle wissen wollte. 65 Für die gegenwärtige Situation entstehen aus dieser Position allerdings logische Brüche, solange zugleich an der These von der einheitlichen deutschen Nation und ihrem Fortbestehen festgehalten wird, der existierende Staat also nur als eine ganz vorläufige und unzureichende Verkörperung »nationaler Identität« verstanden werden kann. (Und diese Brüche können von den radikaleren Varianten des neuen Nationalismus genutzt werden.) Zwar wird auch von dieser Richtung die »nationale Frage« noch für »offen« erklärt, doch sie ist eingeordnet in Zusammenhänge, die über den Nationalstaat hinausgreifen: als Aufgabe, die Freiheit für alle Völker Europas zu sichern, als Teil von »gesamteuropäischen« Lösungen und als Strategie des westlichen Bündnisses insgesamt. Wie aber verhalten sich zueinander »Westbindung« und »Überwindung der Spaltung«, die in der offiziellen Regierungspolitik gleichermaßen als unverzichtbar deklariert werden ? Gefährdet nicht die Politik der Wiedervereinigung die Westbindung, da doch jedermann weiß, daß die westeuropäischen Nachbarn sehr erleichtert darüber sind, daß es nun zwei deutsche Staaten gibt, und daß sie deshalb die Wiedervereinigungsansprüche der Bundesrepublik keineswegs zu unterstützen bereit sind? 66 »Die Nachbarn der beiden deutschen Staaten halten den Status quo für weitaus besser als ein vereinigtes Deutschland.« 66a (Der italienische Außenminister Andreotti hat ja mit seiner bekannten Äußerung, es gebe zwei deutsche Staaten, »und zwei sollen es auch bleiben«, in der Tat nur das ausgesprochen, was von Italien bis Großbritannien alle maßgeblichen Politiker denken; der Sturm der Entrüstung, den seine Äußerung über die deutsche Teilung in der öffentlichen Meinung der Bundesrepublik hervorgerufen hat, zeigt lediglich an, in welchem Ausmaß man hier noch an Fiktionen festzuhalten entschlossen ist.) 35
Und wie verhalten sich andererseits zueinander die ständig wiederholte Beteuerung, die Bundesrepublik stelle die bestehenden Grenzen keinesfalls in Frage und fühle sich an bestehende Verträge gebunden, zu der ebenso ständig wiederholten Beteuerung, die »nationale Frage« sei offen, die Ostverträge seien keine Grenzanerkennungsverträge und die »Spaltung Europas« müsse ebenso überwunden werden wie die Spaltung Deutschlands und zwar um der Sicherung des Friedens willen? Was die zweite Frage betrifft, so wurde die Doppelbödigkeit der »Friedenspolitik« der Bundesrepublik in mehreren Untersuchungen bereits offengelegt.67 Hinter der Versicherung, die Bundesrepublik halte sich selbstverständlich an die Ostverträge, steht der nur selten offen ausgesprochene Vorbehalt, daß die Regierung eines wiedervereinigten Deutschland an diese Verträge keineswegs gebunden wäre, sondern volle Handlungsfreiheit besitze. Zu diesem Verständnis von Vertragstreue bildet dann die Zielstellung »Schlesien bleibt unsere Zukunft« in der Tat keinen Widerspruch. Die Revision der bestehenden territorialen Verhältnisse in Europa im Rahmen einer Expansionspolitik nach Osten bleibt danach ein wesentliches Ziel der Bundesrepublik. Im »Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation«, den Bundeskanzler Kohl am 27. Februar 1985 im Bundestag vortrug, heißt es dazu: »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Aber Befreiung brachte er nicht allen. Unser Vaterland, die Mitte Europas, wurde geteilt. Für die Deutschen in der DDR und für unsere östlichen europäischen Nachbarvölker wurde der 8. Mai auf bisher unabsehbare Zeit zum Tag der Ablösung der einen Diktatur durch eine andere.« Doch die Hoffnung bestehe fort auf »ein freies Deutschland in einem freien Europa«, auf »Freiheit für alle Deutschen«. Dies bedeute »Auftrag für ganz Deutschland und Europa«. Im Zentrum der deutschen Frage stehe also »heute die Freiheit für die Europäer, die jenseits der Trennungslinie zwischen West und Ost leben«. Und nun nach Westen gewandt: »Wir brauchen Freunde mehr als andere. Alle Nachbarn müssen (!) begreifen - ich betone: alle Nachbarn -: Wirklich dauerhaften Frieden in Europa wird es nur geben, wenn die Deutschen die Chance bekommen ..., 36
selbst über ihren Weg in der Geschichte zu bestimmen.« 68 Oder, mit den Worten des schon mehrfach zitierten Mainzer Politikwissenschaftlers Weidenfeld: Es gehe darum, das »Selbstbestimmungsrecht der Deutschen« zum »Eigeninteresse der internationalen Umwelt zu machen, zumindest (!) aber die Westmächte auf das Ziel des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen . . . zu verpflichten«.69 Wie aber kann das erreicht werden? »Die Deutschen müssen europäische Führungsimpulse freisetzen - das ist Teil ihrer Staatsraison.«70 Die Bundesrepublik sei nun einmal »der harte Kern Westeuropas«, was auch die Sowjetunion immer gewußt habe. 71 Kurzum: Die Bundesrepublik muß europäische Führungsmacht werden. So lautet die Antwort. Die materiellen Grundlagen für eine Führungsrolle sind in den vergangenen Jahrzehnten in der Tat geschaffen worden: Die Bundesrepublik ist sowohl ökonomisch wie militärisch die stärkste Macht in Europa. Der Einfluß der Bundesrepublik reiche, wie der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Lothar Späth, selbstbewußt feststellt, schon jetzt »bis ins Nervenzentrum weltpolitischen Krisenmanagements«.72 Und was die militärische Potenz und deren Wirkung betrifft, so vermerkt die FAZ: Die Bundeswehr hat »mehr als jede andere Institution Einfluß und Gewicht der Bundesrepublik vergrößert, bei den Verbündeten, aber auch in Moskau«. 73 Sehr offen wird hier die doppelte Frontstellung bundesrepublikanischer Machtpolitik - nach Osten und nach Westen - formuliert. Zur vollen Entfaltung dieser Macht fehlt der Bundesrepublik allerdings noch eine wesentliche Komponente: die Verfügung über atomare Waffen. Die Behebung dieses Defizits betrachtet die Bundesregierung als ein wesentliches Ziel ihrer Politik, auch wenn darüber wenig gesprochen wird. Immerhin erklärte der Bundeskanzler kürzlich ziemlich unverhüllt: »Wir können den freien Teil Europas nicht in zwei Teile teilen. Am wirtschaftlichen Fortschritt nehmen wir alle teil, an der Verantwortung für die Sicherheit nehmen wir nur partiell teil.«74 Sowohl der Drang nach der Stationierung der neuen Atomraketen, die also nicht nur auf den Druck der USA hin, sozusagen vasallenhaft oder gar masochistisch, von der Bundesregierung betrieben wurde, wie 37
die Intensivierung der politischen und militärischen Beziehungen zur Atommacht Frankreich sind auch in diesem Kontext zu interpretieren - ebenso wie die Versuche zur Wiederbelebung der Westeuropäischen Union und das Eureka-Konzept. Es geht also um die Durchsetzung eines Führungsanspruchs. So verkündete der Bundesforschungsminister Riesenhuber ganz ungeniert einen deutschen Führungsanspruch zumindest in Europa bei der kommerziellen Nutzung des Weltraums. Die D-lRakete sei »nur der erste Schritt im Rahmen einer gewaltigen nationalen Anstrengung, die der Bundesrepublik im Wettlauf der Nationen zur friedlichen Eroberung des Alls einen ersten Platz sichern solle«. 75 Die FAZ nannte dies »eine patriotisch nach vorn weisende Losung« und »ein nationales Anliegen«; da müsse »noch mehr Führungsautorität sich dahinterstellen« und mehr Geld zur Verfügung gestellt werden. Und dann kommt die direkte Verknüpfung von »nationaler« Machtpolitik und ideologischer Mobilisierung: Es sei sehr nötig, »den Schwung zu beschleunigen, in einem Land, in dem es gerade der Jugend an neuen Zielen fehlt«.76 Der Rheinische Merkur assistierte unter der Überschrift »Deutsches Engagement in der Hochtechnologie befördert das nationale Selbstgefühl«: »D-l kann eine Chiffre abgeben für den Versuch, dem deutschen Selbstgefühl einen Weg in die Zukunft zu bahnen«, und sei deshalb »mit der Wärme des Patriotismus zu begrüßen.« 77 Auch was militärische Potenz betrifft, stellt die Bundesrepublik ihr Licht nicht mehr unter den Scheffel. Anläßlich des 30. Jahrestages der Gründung der Bundeswehr brüstete sich Bundesverteidigungsminister Wörner ganz offen mit der Schlagkraft dieser Armee. Für den Führungsanspruch gibt es natürlich auch wissenschaftliche Begründungen. Ausgehend von einer geopolitischen Betrachtung der internationalen Politik folgert der Kanzlerberater Professor Michael Stürmer: Europa habe noch immer die Schlüsselrolle im internationalen Mächtesystem - Deutschland aber bilde die »Mitte« von Europa. Es muß also die Aufgabe einer »natürlichen Führungsmacht« wahrnehmen, denn, wie Bismarck gelehrt habe: »Wir werden Amboß, wenn wir nichts tun, um Hammer zu werden.« 78 Bundeskanzler Kohl drückte das in seinem »Bericht zur Lage der Nation« 1985 so aus: »Weil 38
aber Deutschland das geographische und geopolitische Mittelstück Europas ist«, sei die »Deutsche Frage« durch »die Europäische Geographie und das Gewicht Deutschlands bestimmt, immer eine Europäische Zentralfrage«. Es geht dieser Richtung also durchaus nicht nur um die »Deutsche (mit großem D!) Frage« in einem engeren Sinne von Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Sondern es geht um den Machtanspruch der Bundesrepublik nach Osten und nach Westen. Wo aber liegen die Prioritäten, wie verhalten sich die Ziele zueinander? Die Argumentation Kohls erscheint zunächst eindeutig: Die Herstellung freiheitlicher Verhältnisse in der DDR und für alle osteuropäischen Völker besitzt hohe Priorität. Wie aber soll das realisierbar sein? Kohl versichert, daß »nur mit Zustimmung der 4 Mächte - also auch der Sowjetunion -« die »freie Selbstbestimmung« erreicht werden könne, »nicht gegen unsere Nachbarn im Westen und nicht gegen unsere Nachbarn im Osten«. Es müßte also ein Zustand erreicht sein, in dem die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder freiwillig auf ihre sozialistische Gesellschaftsordnung verzichten. Das ist die niemals ausgesprochene, aber absolut zwingende Konsequenz dieser Position. Nun kann man entweder annehmen, daß die Absurdität offen auf der Hand liegt, das Ganze also nur inszeniert wird, um ideologische Wirkungen in der Bundesrepublik einerseits und in den Völkern Osteuropas andererseits zu erzielen. Oder man kann versuchen, sich das Szenarium einer solchen »friedlichen Befreiung« konkret vorzustellen: Dann gelangt man unausweichlich zu solchen Konsequenzen, wie sie Thomas Finke im »Schlesier« in seinem berühmten Artikel formuliert hat. Die Voraussetzung wäre jedenfalls die Erringung einer übermächtigen Führungsposition der Bundesrepublik in Westeuropa, um die übrigen westeuropäischen Länder auf diesen Kurs zwingen zu können, - und zugleich tiefgreifende, bis zu Aufständen reichende Krisenprozesse in den sozialistischen Ländern und die Handlungsunfähigkeit der Sowjetunion. F. J. Strauß spekuliert dabei auf Konfliktfälle in anderen Weltregionen, die die Sowjetunion binden; auch bei Stürmer und Hillgruber finden sich solche Andeutungen. 78a 39
Zu fragen ist, welche Risiken eine solche politische Konzeption hat — vom Realitätsgehalt einmal abgesehen. Schon in den Verlautbarungen des Bundeskanzlers selbst sind jedoch Elemente enthalten, die eine solche Interpretation relativieren. Sie reichen von der Versicherung, die Bundesrepublik habe gegenüber Polen »keinerlei Gebietsansprüche« und werde »solche auch in Zukunft nicht erheben«, bis zu der Bekundung, die Bundesrepublik erstrebe »normale, wenn möglich gutnachbarliche Beziehungen zwischen beiden Staaten in Deutschland«. Diese Elemente stehen zwar in offenem Widerspruch zur oben dargestellten Linie dieser Kräfte, und dieser Widerspruch wird auch nirgends aufgelöst. Er zeigt aber an, wie unterschiedlich die Interessen sind, die auf diese Kräfte einwirken. Diese Elemente sind noch deutlicher ausgeprägt bei Michael Stürmer, der sehr eindringlich warnt vor den Gefahren einer offensiven Ostpolitik im Sinne des »Befreiungsnationalismus«. Nach seiner Ansicht ist »ein in sich gespaltenes Deutschland« schon seit 1648 »Garantiefaktor des europäischen Gleichgewichts«. Adenauer habe diese »Regeln der Mächtegeographie« akzeptiert und mit der partiellen Aufhebung der Mittellage durch die Westbindung die richtige Entscheidung getroffen. Damit werden die Revisionsansprüche zwar nicht preisgegeben und die sozialistischen Gesellschaftsordnungen in Osteuropa nicht akzeptiert. Doch Stürmer hält die Realisierungschancen einer auf Veränderung gerichteten Politik gegenwärtig für sehr gering und warnt vor den Risiken einer solchen Politik, die an den »Rand eines Dritten Weltkrieges« führen würde. 7 8 b Stürmer nähert sich damit jener Gruppierung an, die den Blick eindeutig nach Westen richtet und primär auf die Stärkung der Konkurrenzfähigkeit gegenüber den anderen kapitalistischen Ländern abzielt. Diesem, auf die Entwicklung moderner Technologien setzenden Flügel, wie er z. B. auch von dem badenwürttembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth repräsentiert wird, ist es zunächst einmal wichtiger, alle Kräfte für den Konkurrenzkampf gegenüber den westlichen Partnern zu mobilisieren, und »beim Niederkonkurrieren auf den Weltmärkten den Rücken frei zu haben«. 79 Von dieser Position aus könnten sich auch Möglichkeiten für die Fortsetzung von Entspannungs40
politik ergeben. Allerdings steht diesem Flügel ein anderer gegenüber, für den die Revisionsansprüche nach Osten integraler Bestandteil der gesamten auf Stärkung des Machtpotentials gerichteten Politik darstellen.
c) Konfliktpotentiale und ihre Integration Das Schwankende und Widersprüchliche in der Ostpolitik der gegenwärtigen Bundesregierung mag darin seine Hauptursache haben, daß diese beiden Linien in Konflikt miteinander liegen und eine eindeutige Dominanz sich noch nicht herausgebildet hat. Zumindest in Hinsicht auf die »Deutschlandpolitik« haben sich diese beiden Linien jetzt auch öffentlich als »Genscheristen« und »Stahlhelm«-Gruppe voneinander abgegrenzt - wobei der Riß mitten durch die Unionsparteien geht. Aktueller Konfliktpunkt ist dabei das Bemühen der »Genscheristen«, »die rechtlichen Vorbehalte, die in die Ostverträge eingeschlossen sind, nicht mehr sichtbar werden zu lassen und Endgültigkeit der Grenzen im Osten zu versichern«.80 Der Riß geht so tief, daß sich die Koalitionsfraktionen im Herbst 1985 auf eine gemeinsame Resolution zur »Deutschlandpolitik« nicht mehr einigen konnten. 81 Mindestens ebenso schwer fixierbar wie die Linie des Bundeskanzlers ist die Linie, die Bundespräsident von Weizsäcker vertritt. Kaum ein anderer spricht so viel und so beredt von »nationaler Identität«, vom Begriff des »Deutschen« und von der »Last der Teilung der Nation«. Als CDU-Politiker, vor seiner Wahl zum Staatsoberhaupt, bezog er sich sogar ausdrücklich auch auf »national-revolutionäre« Schriften, um zu zeigen, wie »lebendig« die »deutsche Frage« wieder geworden sei. 81a Nun, als Bundespräsident, äußert er sich wesentlich vorsichtiger. Was aber sind seine Schlußfolgerungen? Er sagt einerseits: »Wir Deutschen sind ein Volk und eine Nation«, und es sei »eine politische Aufgabe«, die Teilung zu überwinden, die »Zusammengehörigkeit mit den Deutschen in der DDR« herzustellen. Und er fügt dem hinzu: der Kern der »deutschen Frage . . . ist die Freiheit«. Ist das nicht eine sanfte Umschreibung dessen, was andere »Be41
freiung« oder die Schaffung einer »freiheitlichen« Ordnung im Osten nennen? Auch die Versicherung, dieses Ziel solle nicht durch Grenzveränderungen erreicht werden, sondern dadurch, daß den »Grenzen der trennende Charakter« genommen wird im Rahmen einer europäischen Lösung -, hebt diese Position noch nicht wesentlich von der herrschenden Politik ab, denn darunter kann man sich alles Mögliche vorstellen, z. B. auch den »freien Fluß von Meinungen und Informationen«, wie er seit Jahrzehnten gefordert wird. Ein neuer Akzent scheint dadurch gesetzt, daß Weizsäcker nicht nur ganz allgemein für »Gewaltverzicht« plädiert, sondern fordert, daß »den widerstreitenden Rechtsansprüchen das Verständigungsgebot überzuordnen« sei. Der Kontext legt allerdings nahe, diese Aussage nur auf die »Ostgebiete« zu beziehen und nicht auf die DDR: »Gewaltverzicht heute heißt, den Menschen dort, wo sie das Schicksal nach dem 8. Mai hingetrieben hat und wo sie nun seit Jahrzehnten leben, eine dauerhafte, politisch unangefochtene Sicherheit für ihre Zukunft zu geben.« 82 Wer sich auf den Bundespräsidenten berufen will, hat es schwer. Als der Ministerpräsident des Saarlandes Lafontaine im Landtag wegen seiner Äußerungen über die mögliche Anerkennung einer DDR-Staatsbürgerschaft angegriffen wurde, zitierte er von Weizsäcker mit dem Satz, »daß den widerstreitenden Rechtsansprüchen das Verständigungsgebot überzuordnen« sei. Daraufhin zitierte der FDP-Fraktionsvorsitzende Rehberger flugs einen anderen Satz: »Die Menschen in der DDR sind nicht nur Bürger ihres Staates, sondern sie sind zugleich auch Deutsche, Deutsche wie wir.« 82a Die Texte von Weizsäcker sind also so scheint es - fast ebenso vielseitig verwendbar wie die Texte der Bibel. Seine Haltung läßt viele Fragen offen und grundlegende Widersprüche ungeklärt. Sie versucht offensichtlich, zu vermitteln zwischen den verschiedenen Strömungen im Regierungsblock und möglichst noch Teile der SPD zu integrieren. So nimmt er die Formeln auf von der »Westbindung«, die »endgültig und unwiderruflich« sei, von der Lage Deutschlands »in der Mitte Europas«, die auch dann die Mitte bleibe, wenn sie geteilt sei; nimmt auch die Formel auf von der Spaltung Deutschlands und Europas, die überwunden werden müsse, und von der Ein42
heit der Nation, die weiterbestehe, gelangt aber doch zu dem Ergebnis, daß die »Rechtsansprüche« nicht das oberste Kriterium sein dürfen. Dies ist eine, wenn auch vorsichtige, Distanzierung von der für die Regierungspolitik immer noch bestimmenden Linie und bietet gewisse Anknüpfungspunkte für die Fortsetzung der Entspannungspolitik. Die Konzepte beider Richtungen sind also nicht gerade bescheiden angelegt. Der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Windelen, meint denn auch: »Ob der Status quo hundert Tage, hundert Monate oder noch hundert Jahre dauert, wissen wir nicht, und das ist Grund genug, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Fester Wille und langer Atem sind . . . nötig.« 83 Und auch Alfred Dregger, der Fraktionsvorsitzende der CDU im Bundestag, sagt zu seinem Konzept der Schaffung eines freien Europas der freien Völker: »Das ist eine Perspektive, für die die Zeit nicht reif sein mag. Aber es ist eine Perspektive, deren Verwirklichung die Würde Europas und seiner Nationen wiederherstellen würde.« 84 In der Tat ist es bei halbwegs realistischer Betrachtung klar, daß solche Konzepte mit den traditionellen Mitteln des Nationalstaates nicht angepackt werden können. Das haben auch solche Vertreter der Bundesregierung immer wieder erklärt, die eher zum »Stahlhelm«-Flügel gehören. So sagte Staatssekretär Hennig vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen beim »Deutschlandpolitischen Jugendkongreß der Schlesischen Jugend« im Juni 1985: »Wir können das Ziel der Wiedervereinigung in freier Selbstbestimmung aus eigener Kraft und als isolierte Lösung inmitten eines geteilten Europas nicht erreichen. Wir sind vielmehr auf die Unterstützung unserer Verbündeten in Europa und in den Vereinigten Staaten angewiesen.«85 Aus diesem Sachverhalt zogen Michael Stürmer und in Übereinstimmung mit ihm auch Bundeskanzler Kohl aber eine sehr weitreichende Schlußfolgerung: Sie betonten nicht nur die Unverzichtbarkeit der »Westbindung« und distanzierten sich von allen deutschen Alleingängen wie auch von allen neutralistischen Konzepten; sondern sie erklärten das Zeitalter des Nationalstaats rundweg für beendet 86 und stellten - sozusagen zu den westeuropäischen Verbündeten gewandt - fest, die Forderung 43
nach Überwindung der Spaltung Deutschlands meine gar nicht den staatlichen Zusammenschluß der beiden Teilstaaten, sondern eine Lösung im Rahmen eines vereinigten Europa, das Nationalstaaten nicht mehr kenne. »In der Wirklichkeit des geteilten Deutschland müssen die Deutschen ihre Identität finden, die im Nationalstaat nicht mehr zu begründen ist. . .« 87 Dieses Konzept hat sicherlich auch die taktische Funktion, gegenüber den Schreihälsen und Aktivisten der extremen Rechten sich abzugrenzen und so vor allem gegenüber der ja immer noch sehr mißtrauischen ausländischen Öffentlichkeit beruhigend zu wirken. Es drückt aber auch eine reale politisch-strategische Differenz gegenüber diesen Kräften aus, relativiert die Postulate der »nationalen Frage« und orientiert auf längerfristige Strategien. In der Tat kann die Revisionspolitik überhaupt nur dann verfolgt werden, wenn es der Bundesrepublik gelingt, die ökonomischen und militärischen Potentiale Westeuropas für ihre Ziele nutzbar zu machen. Insofern ist dieses Konzept realistischer, zumal die Hoffnung, die Bundesrepublik werde, kraft ihrer ökonomischen Potenz, in einem vereinigten Europa eine Führungsrolle erringen können, gut begründet ist. Doch hier liegt das Dilemma darin, daß man auf diesem Wege nur sehr langsam vorankommt, weil die westeuropäischen Länder ihre Souveränitätsrechte zäh verteidigen und die Errichtung handlungsfähiger supranationaler Organe deshalb bisher nicht gelingt. Der neue Nationalismus in der Bundesrepublik stellt also auch eine Reaktion auf diese Entwicklung dar, in der sich Enttäuschung und Ungeduld ausdrücken. Gegenüber diesem aggressiveren Flügel des neuen Nationalismus folgt daraus für die regierenden Kräfte allerdings nicht nur eine Politik der Abgrenzung, sondern zugleich eine Politik des gewissermaßen augenzwinkernden Gewährenlassens: denn diese Kräfte haben ja auch die Funktion, nach vorn zu drängen, das politische Klima so zu verändern, daß die Regierungspolitik die nationalistischen Stimmungen für ihre Zwecke nutzen, also mit geziemendem Abstand auf dem Weg nach rechts mindestens ein Stück weit folgen kann. Das gleicht nun in der Tat einem Tanz auf dem Hochseil, und es ist nicht verwunderlich, daß daraus Konflikte mit den aggressi44
veren Kräften entstehen, die darin einen Verrat an der Nation wittern. So verlangten die Vertriebenenverbände vom Bundeskanzler, er solle sich distanzieren von der Äußerung, das Zeitalter des Nationalstaats sei vorbei - auch für die Deutschen. Anderenfalls müsse mit der »Möglichkeit« gerechnet werden, »daß sich die Vertriebenen als Wähler von der CDU abwenden und . . . einer >Rechtspartei< zuwenden könnten«. Wenn sich die bisherigen Mittel der Deutschlandpolitik als unzureichend erwiesen hätten, um die Spaltung zu überwinden, dann müßten eben die Mittel überdacht, Tabus enttabuisiert werden, statt das Ziel aufzugeben. 87a Dieses Verlangen war zwar bisher vergeblich, doch ist die These vom Ende des Nationalstaats auch innerhalb des Regierungsblocks sehr umstritten. Der Parlamentarische Staatssekretär im Ministerium für innerdeutsche Beziehungen, Hennig, der zugleich Vorsitzender der Landsmannschaft Ostpreußen ist, widersprach energisch und berief sich dabei auf sehr klare Äußerungen von F. J. Strauß; ebenso widersprach der Präsident des Gesamtdeutschen Instituts, Kühn, der den Bundeskanzler an seine Bekenntnisse zur Wiedervereinigung erinnerte. 88 Im November 1985 ging dieser Flügel schließlich in die Offensive. Alfred Dregger forderte »in einer in der CDU bisher nicht anzutreffenden Weise die Neuordnung Europas auf der Basis der Nationalstaaten«, und vollzog damit »eine kräftige Akzentverschiebung gegenüber den supranationalen bundesstaatlichen Vorstellungen, die in seiner Partei sonst dominieren«, wie die FAZ vermerkt; er verlangte klipp und klar: »unser Ziel ist ein vereinigtes Deutschland als Gliedstaat eines vereinigten Europas«. 89 Diese Äußerungen sind offenbar auch als eine Mahnung zu verstehen, daß die ideologischen Konzessionen zur Beruhigung der westeuropäischen Nachbarn nicht zu weit gehen dürfen. So gibt es also innerhalb der Kräfte, die die »Idee der Nation« befördern, unterschiedliche Richtungen. Der rechte, sozusagen außerparlamentarische Flügel des neuen Nationalismus einerseits und die gemäßigten Kräfte innerhalb des Regierungsblocks andererseits verbinden damit unterschiedliche Ziele - sowohl nach innen wie nach außen. Aber auch innerhalb der etablierten Kräfte gibt es Differenzen über die Frage, welche Priorität der 45
»nationalen Frage« im Vergleich zu anderen politischen und ideologischen Motiven zukommen soll. Diese Differenzen können sich zu scharfen Angriffen, insbesondere des rechten Flügels, gegen die herrschende Politik steigern. Um so bedeutsamer ist der Versuch, alle Varianten des neuen Nationalismus zu integrieren in das politische Konzept, wie es von den USA und auch von einer starken Fraktion innerhalb der herrschenden Kräfte der Bundesrepublik vertreten wird. In seiner »Ansprache an die deutsche Jugend« auf Schloß Hambach führte Präsident Reagan am 6. 5. 1985 aus: 90 »Wie Bundeskanzler Kohl in seiner Botschaft zur Lage der Nation im letzten Februar sagte: >Europa ist geteilt, weil ein Teil Europas unfrei ist; Deutschland ist geteilt, weil ein Teil Deutschlands nicht frei ist.< Und die Demokratie wird erst vollendet sein, Europa wird erst vereint sein, wenn alle Deutschen und alle Europäer endlich frei sind.« Wo aber »liegt denn der Kern der Freiheit? . . . Wir sind nach dem Bilde Gottes geschaffen«. Wie äußern sich Freiheit und Schöpfertum heute? Wir leben »in einem Zeitalter des Unternehmers«. Also: Die »Freiheit Europas« bedeutet die Schaffung einer kapitalistischen Ordnung in ganz Europa. Dies sei, so Reagan - wie einst die Vision der Patrioten von Hambach - »revolutionär im wahrsten Sinne ihres Wortes«. NATO und USA aber seien »der Einheit Europas verschrieben«, wie Reagan in seiner Rede vor dem Europaparlament am 8. Mai 1985 hinzufügte:91 »Die amerikanische Verpflichtung schließt auch die Beendigung der künstlichen Teilung Europas ein.« Im 21. Jahrhundert werde »der freie Fluß von Menschen und Gedanken« von »Moskau bis Lissabon« reichen. Es ist leicht zu erkennen, daß Reagan hier zentrale Positionen aufnimmt, die auch von Bundeskanzler Kohl formuliert werden. Allerdings formuliert er sie schärfer, macht keine Konzessionen an die Politik der Entspannung und spricht zudem einige Konsequenzen offen aus, die bei Kohl unausgesprochen bleiben. Daraus ist zu schließen, daß die Regierung der USA in den Revisionsforderungen der Bundesrepublik genau jene Ansätze sieht, die in ihre Globalpolitik passen, und daß sie deshalb versucht, die Bundesrepublik auf diesem Wege voranzutreiben und die Linie der Entspannungspolitik gänzlich zu liquidieren. 46
In diesem von Reagan vertretenen Konzept der Einheit und Freiheit Europas können sich nun in der Tat alle Varianten des neuen Nationalismus wiederfinden - gleichgültig ob sie ihre Ziele geopolitisch, deutschnational - nach »Stahlhelm«-Art oder »befreiungsnationalistisch« begründen. Sogar »revolutionär« dürfen sie sein, wenn sie nur »wahrhaft revolutionär« sind (so wie vor 60 Jahren der bloße »Sozialismus« nicht genügte; es mußte schon der »wirkliche«, nämlich der »nationale« Sozialismus sein). Alle diese Kräfte sind sich einig in ihrem Verständnis der Ursachen der Spannungen und der Voraussetzungen einer dauerhaften Friedensordnung. Nach ihrer Ansicht ist es die Spaltung Deutschlands und Europas, das »System von Jalta«, das den Frieden bedroht; und sie folgern, daß Friedenssicherung also nicht etwa die Anerkennung der bestehenden Grenzen bedeutet, sondern deren Überwindung. Wer die Geschichte der Weimarer Republik kennt, weiß, daß mit dieser Argumentationsfigur damals die Rüstung für den neuen Krieg legitimiert worden ist. Es ist zu vermuten, daß diese politischen Positionen der USARegierung bei der Bundesregierung nicht nur Freude ausgelöst haben, sondern - mindestens bei einem Teil der Kräfte, die diese Regierung tragen - auch einige Beklemmungen. Jene gemäßigten Kräfte, die die feste Anbindung an die Führungsmacht des westlichen Bündnisses verlangen, aber zugleich vor den Risiken einer offensiven Revisionspolitik warnen, kommen dadurch in eine schwierige Lage. Eitel Freude herrscht allerdings auf dem rechten Flügel: Herbert Hupka, der bezeichnenderweise zugleich Bundesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien und Bundestagsabgeordneter der CDU ist, kann sich deshalb mit Recht auf die Regierung der USA berufen: »Es ist nicht wahr, daß in Jalta die Würfel gefallen sind. Hier seien nur die jüngsten Erklärungen Ronald Reagans und des amerikanischen Außenministers George Shultz aufgeführt. . . Wir streiten für Schlesien, die freie Heimat in einem freien Vaterland, das freie Vaterland in einem freien Europa.« 92 Und auch G. Milde, der Fraktionsvorsitzende der CDU im Hessischen Landtag, führte beim »Deutschlandpolitischen Jugendkongreß der Schlesischen Jugend« im Juni 1985 aus: »Es 47
ist gut zu wissen, daß wir Deutsche in dem derzeitigen amerikanischen Präsidenten, Herrn Reagan, einen großen Freund und Helfer bei unserem Ziel der Wiedervereinigung in Freiheit haben.« 93 Der neue Nationalismus ist also nicht nur ideologisch, sondern auch funktional sehr komplex. Mindestens dreierlei kommt hier zum Ausdruck: Die Suche der herrschenden Kräfte in der Bundesrepublik nach Möglichkeiten ideologischer Integration und Mobilisierung angesichts bedrohlicher Krisenerscheinungen, aber auch ihr gestärktes Selbstbewußtsein, das ihnen das Bekenntnis zur »nationalen Tradition« und zu »nationalen Zielen« ermöglicht; das angewachsene Mißtrauen besonders in der jungen Generation gegenüber der Führungsmacht der USA, aber auch gegenüber reformistischen Fortschrittskonzeptionen und supranationalen und internationalistischen Orientierungen; und schließlich die beträchtliche Fähigkeit der Führungsmacht USA und einflußreicher Kräfte der Bundesrepublik, diese verschiedenen »nationalen« Strömungen auf der Basis des Antikommunismus in einem hohen Maße in ihr strategisches Konzept zu integrieren. Andererseits ist jedoch auch erkennbar, daß mit der Propagierung der »Idee der Nation« in der Bundesrepublik sehr unterschiedliche politisch-strategische Konzeptionen verbunden sind und daß diese Widersprüche auch aufbrechen können. Dies gilt schon für die Widersprüche innerhalb der regierenden Kräfte: während die eine Richtung die Revisionsansprüche und die Konfrontation gegenüber dem Osten als wichtigstes Ziel betrachtet, steht für die andere der Ausbau der Machtstellung und der Konkurrenzfähigkeit gegenüber den kapitalistischen Konkurrenten - bei fester politisch-militärischer Einbindung in den Westen - im Vordergrund. Diese Widersprüchlichkeit gilt aber auch für die vielfältigen Formen des neuen Nationalismus im außerparlamentarischen Raum, dessen Gruppierungen noch sehr stark in Bewegung sind.
48
5) Bedürfnisse und Adressaten a) Erklärungsansätze Sind also die verschiedenen Varianten des neuen Nationalismus auch weitgehend integrierbar in die Hauptlinie der großen Auseinandersetzung unserer Zeit, so muß doch zugleich gesehen werden, daß sie ganz unterschiedliche Bedürfnisse artikulieren und ganz unterschiedliche Bewußtseinsformen und Adressaten ansprechen. Man könnte zwar - in einem ersten Zugriff - das gewachsene Bedürfnis nach »nationaler Identität« als ein ganz normales interpretieren, das mit der zeitlichen Distanz zum Faschismus und seinem Zusammenbruch zusammenhängt. Für eine solche Annahme spricht z. B., daß dieses Bedürfnis sich auch in der DDR artikuliert. So heißt es z. B. in den »Weimarer Beiträgen«: »Was sind wir, wir Deutschen in der DDR, woher kommen und wohin gehen wir? Inwiefern unterscheiden wir uns positiv oder negativ von anderen Völkern und Nationen, von Deutschen, die vor uns lebten oder neben uns, im anderen deutschen Staat leben?« 94 Was die Bundesrepublik angeht, so haben verschiedene Sozialwissenschaftler eine Reihe von guten Gründen genannt, bei denen der Generationswechsel eine große Rolle spielt. So argumentiert z. B. der Frankfurter Politikwissenschaftler Iring Fetscher wie folgt 95 : Die ältere Generation, »geprägt durch Krieg und Kriegsende, Niederlage der Nazi-Armeen und Befreiung durch die Alliierten«, habe eine »bewußte Abkehr von allem, was uns >typisch deutsch< erschien«, vollzogen. Die jüngere Generation sei durch diese Vergangenheit nicht belastet. Bei vielen Linken dieser Generation sei nun noch die »Enttäuschung über viele revolutionäre Bewegungen und Regimes«, über »das Versagen des Internationalismus« hinzugekommen. Von hieraus erkläre sich »ein wachsendes Bedürfnis nach nationaler Identität<, der Wunsch, auch national etwas Eigentümliches zu sein«. 96 Ein zweiter Grund liege in den Uniformierungstendenzen der industriellen Weltzivilisation, die »die gewachsenen traditionellen Lebensformen mehr und mehr zerstört«, damit auch die »Schön49
heit, Würde und Vielfalt zerstört« und so Gegenbewegungen erzeuge, die »die Besonderheit nationaler Kultur« aufwerten. Dies äußere sich in anderen Ländern auch in Gestalt regionalistischer Bewegungen, in der Bundesrepublik, in der - wegen der starken Wanderbewegungen nach 1945 - »regionale Identitäten . . . kaum noch vorhanden sind«, als »Besinnung auf die nationale Identität«. 97 Fetscher folgert daraus: »Es gibt ein legitimes Bedürfnis nach nationaler Identität<.« Die »lange nationale Abstinenz der liberalen und linken Intellektuellen« sei »wahrscheinlich anomal« gewesen. Werde die »Suche nach der nationalen Identität<. . . den Nationalisten der äußersten Rechten überlassen«, so könne daraus ein »Motor für aggressive und expansive politische Ziele« werden. 98 Auch der konservative Werner Weidenfeld setzt bei den »nationalistischen Perversionen des Dritten Reiches« an, denen gegenüber sich »der Gedanke der Einigung Europas geradezu als willkommene Alternative« aufgedrängt habe. Da dieser jedoch in den letzten Jahren einen »Verlust an emotionaler Qualität« erlitten habe, melde sich in allen Staaten der Europäischen Gemeinschaft »nationales Denken wieder selbstbewußter zu Wort«. 99 Wolfgang J. Mommsen ist mit beiden einig, daß nach 1945 »die jüngste Vergangenheit. . . angesichts der traumatischen Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus weitgehend tabuisiert« wurde, daß »die Deutschen der Bundesrepublik« der Versuchung nachgaben, »vor der Frage nach der nationalen Identität der Deutschen gleichsam wegzutauchen«. »Pragmatische« und »ungeschichtliche« Einstellungen gewannen die Oberhand. Diese »zeitweilige Abkehr von den Fragen der deutschen Nation« habe auch ihre Vorzüge gehabt. Insbesondere erleichterte sie »eine rückhaltlose Öffnung der Gesellschaft der Bundesrepublik gegenüber den liberalen und demokratischen Traditionen des Westens«. Nun aber sei die »Europabegeisterung weitgehend verflogen«, und die Basis des politischen Konsenses erweise sich als schmal, da nur »materieller Natur«, ohne »moralische Kraft«. »Die gegenwärtige Rückwendung zu einer historischen Vergewisserung unseres politischen und geistigen Standorts«, einen stärkeren »Rückgriff auf die geistigen und kulturellen Traditionen der deutschen Nation« hält Mommsen für »überfällig«.100 50
Die Gründe, die hier für die Suche nach »nationaler Identität« angegeben werden, stimmen mit der Diagnose der meisten Autoren überein, die sich in den letzten Jahren zu diesem Gegenstand geäußert haben, sind also sozusagen herrschende Lehre, und ohne Zweifel treffen sie auch ein wesentliches Stück Realität. Es stellen sich aber einige Fragen, die darüber hinausgehen. Begreift man politisch-ideologische Konzepte als Antworten auf reale Probleme und Versuche zu ihrer Lösung, so müßte genauer nachgeforscht werden, auf welche Probleme hier von wem auf welche Weise geantwortet wird. Da sind sicherlich solche Bedürfnisse in der Bevölkerung, auf die diese Autoren hinweisen, zu nennen. Da ist sicher auch »das Unbehagen . . . an der >Bürokratisierung< und administrativen Überformung der eigenen Lebenswelt«, das in verschiedenen Ländern neokonservative Strömungen hervorgerufen hat; da ist der Wunsch »nach überschaubaren sozialen Beziehungen« 101 : »Das Unbehagen an der Moderne dramatisiert den Wunsch nach Identität«, die »deutsche Frage« sei auch eine »Konsequenz der Modernisierung«, formuliert Weidenfeld.102 Ausschlaggebend aber ist natürlich, wie der Begriff der »Nation«, der »nationalen Identität« und der »nationalen Frage« inhaltlich bestimmt wird von denen, die davon reden, und mit welchen politischen Zielen diese Begriffe verbunden sind. Wenn man die Fragen so konkret stellt, dann löst sich die Fiktion auf, es gebe »die Deutschen«, die bestimmte Probleme und Bedürfnisse hätten; dann muß differenziert werden. Im nächsten Schritt aber wird dann rasch deutlich, daß der Blick nicht beschränkt werden darf auf die Bedürfnisse, die in der Masse der Bevölkerung existieren. Diese Bedürfnisse selbst, die z. B. durch empirische Untersuchungen als vorhanden festgestellt werden mögen, können nicht einfach als spontan aus dem Innenleben der Individuen entsprungene aufgefaßt werden. Denn sie bilden sich heraus in einer Wechselbeziehung mit den Informationen und Interpretationen, die den Individuen präsentiert werden, entwickeln und artikulieren sich also im Zusammenhang mit den herrschenden ideologischen Strömungen. Diese aber sind nun alles andere als spontaner Ausdruck von Massenstimmungen. Sie werden konzipiert unter dem Aspekt der Sicherung und Förde51
rung der herrschenden Interessen. Auch diese stehen vor Problemen, reagieren darauf und versuchen, Lösungen in ihrem Sinne zu entwickeln. Weder die Ausbreitung nationalistischer und völkischer Ideologien in Deutschland vor 1914 noch der wachsende Einfluß jungkonservativer und faschistischer Ideologien am Ende der Weimarer Republik ist ohne die Tätigkeit der herrschenden Kräfte verständlich. Deren Lage und Interessen müssen also in jede Untersuchung einbezogen werden, die ideologische Entwicklungen verständlich machen will. Was nun die Entwicklung nationalistischer Ideologien in der Bundesrepublik betrifft, so wurde schon erwähnt, daß es nach 1945 einen grundsätzlichen Bruch nicht gegeben hat. Im Gefolge der Restauration und des Kalten Krieges konnte sich auch der Nationalismus wieder artikulieren, wenn er auch keinen bestimmenden Einfluß auf die herrschende Ideologie erlangte.
b) Die Massen Betrachtet man zunächst den Nationalismus, wie er sich z. B. in den Landserheften und ähnlichen Produkten ausdrückte, so besaß er durchaus Masseneinfluß, denn diese Produkte erschienen über Jahrzehnte hin in Millionenauflagen. An seiner geistig und literarisch anspruchslosen, ganz auf action und Emotionen abgestellten Gestaltung ist leicht zu erkennen, daß er sich - wie alle anderen Groschenhefte - an die großen Massen richtete: an die Massen derer, die ihre Kriegserlebnisse noch einmal in heroisierter Form nacherleben und bestätigt wissen wollten, daß sie Großes geleistet hatten; und an die Massen der Jugendlichen, denen damit eine Kompensation für die Monotonie und Leere ihres Alltags geliefert wurde - allerdings eine ganz besondere, von anderen Abenteuerdarstellungen unterschiedene: Die Verherrlichung der Taten der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg mußte bei den Lesern Sympathie für Militär und Krieg erwecken, also »Wehrbereitschaft« im Kampf gegen die »Gefahr aus dem Osten« schaffen, und zugleich den »Nationalstolz« ansprechen, den Stolz auf die Leistungen der deutschen Soldaten. Ein solcher »Nationalstolz« fragt nicht mehr nach dem Inhalt 52
des Kampfes, sondern nur noch danach, ob der Kampf »für Deutschland« geführt wurde. Und nun, da Krise und Massenarbeitslosigkeit Millionen von Jugendlichen bedrohen, verunsichern und in ihrem Selbstwertgefühl beschädigen, wird ihnen die Botschaft zuteil, daß sie doch etwas Besonderes seien: nämlich deutsch, und daß dies ein Grund sei, stolz zu sein. Für diese Jugendlichen aber stellt sich natürlich die Frage, wie denn dieses Gefühl bestätigt, dieser Tatbestand erfahrbar gemacht werden kann. Sicherlich, da gibt es allerlei Symbole - von den Nationalfarben bis zur Fußballnationalmannschaft, und da gibt es Aufkleber »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein«, und die Nachfrage nach ihnen wächst an - gerade in den Industriestädten, die von Arbeitslosigkeit und sozialem Niedergang besonders getroffen sind (man frage Lehrer aus dem Ruhrgebiet, aus Bremen und Hamburg usw.). Wirklich erfahrbar aber kann das Besondere des Deutschseins, wirklich bestätigt kann das nationale Selbstwertgefühl nur dann werden, wenn es Gruppen gibt, die als »Nichtdeutsche« identifizierbar sind, von denen man sich abgrenzen und die man auch entsprechend behandeln kann. Alle diese Mechanismen sind aus der Faschismusforschung hinreichend bekannt. Muß man sich wundern, daß sie - angesichts der wachsenden sozialen und psychischen Verelendung bei einem Teil der jungen Generation wieder an Wirksamkeit gewinnen? Produkte wie die Landserhefte haben da sicherlich in vielen Fällen die allgemeinen Dispositionen geschaffen. Wenn dann noch »anerkannte« Politiker ständig davon reden, daß es zu viele Ausländer in unserem Land gibt, daß sie »den Arbeitsmarkt belasten«, daß besonders die Türken uns kulturell ganz fremd und im Grunde gar nicht integrierbar seien usw., dann ist das Feindbild fixiert. Die Betonung der »nationalen Identität«, des »Deutschseins« muß angesichts der Lage und des Bewußtseins dieser Jugendlichen die Ausgrenzung der Ausländer zur Folge haben. Und die Skinheads und jungen Faschisten, die - oft selbst ausgegrenzt aus dem normalen bürgerlichen Leben - nun Türken jagen, prügeln und in einigen Fällen jetzt sogar in bestialischer Weise erschlagen haben, ziehen dann ihre eigenen Schlußfolgerungen aus ihrem »Deutschsein«. Aber so ganz überra53
schend sind diese nicht - wenn man sich erinnert, wie vor noch nicht allzu langer Zeit junge SA-Leute gegenüber Juden und Kommunisten vorgegangen sind. Auch in solchen Aktivitäten kann das sozial aus der Bahn geworfene Individuum Anerkennung finden und »Gemeinschaft« erfahren. Die Vollendung dieses Erlebnisses von Gemeinschaft, Aufeinanderangewiesensein, Sinnerfüllung im gemeinsamen Kampf gegen den ganz Anderen, den Feind, ist der Krieg. Aus der geschichtlichen Erfahrung wissen wir, daß die Bestätigung der »nationalen Identität« gegen die »minderwertigen«, weil »undeutschen« Elemente im Innern zugleich als ideologische Vorbereitung für entsprechende Verhaltensformen gegen den äußeren Feind fungierte. Den Kommunisten und den Juden folgten die Polen und die Russen als diejenigen, an denen das nationale Selbstwertgefühl sich bestätigen konnte. Und zugleich fordert der Krieg den ganzen Menschen, die Bereitschaft zu töten und sich töten zu lassen. »Der Mensch an der Stempelstelle, am laufenden Band . . . ist ein Niemand. Der dem Tod konfrontierte Mensch scheint wieder alles. In gewissem Sinne ist die Lüge wahr und deshalb furchtbar verlockend: >Das Vaterland braucht dich.< Bis jetzt war derselbe Mensch mit all seinen reichen Werten, mit all seiner Begabung unverwertbar, ungebraucht, lästig, in jedem Vaterland Millionen seiner Art zuviel. Auf einmal ist er verwertbar. Das Vaterland hat keine Handbewegung von ihm gebraucht, keinen seiner Gedanken, keine seiner Erfindungen, keine seiner Mühen. Auf einmal braucht es den ganzen Menschen, den letzten Einsatz. Das, wonach er seine Jugend lang dürstet, tritt scheinbar ein, er kann sich bewähren.« 104 So Anna Seghers im Jahre 1935. Im Jahre 1981 wird berichtet: Die rechtsextremen Gruppen in der Bundesrepublik fordern »rigides Vorgehen gegen Kommunisten« und einen »Konfrontationskurs gegenüber dem Ostblock«. Besonders die jugendlichen Anhänger »propagieren eine massiv antikommunistische Staatsgewalt, die schärfstens gegen Kommunisten vorgehen und auch vor illegalen Tötungen nicht zurückschrecken sollte. Eine >Endlösung< der Kommunistenfrage sei freilich nur durch einen dritten Weltkrieg möglich, den sie für unvermeidbar halten und den sie begrüßen würden.« 105 54
Man kann sich leicht vorstellen, wie auf solche Gruppierungen und auf die noch schwankenden, aber verzweifelt nach einem Ausweg suchenden Schichten und politisch nicht informierten Jugendlichen jene ideologische Welle wirkt, die jetzt als »Idee der Nation«, verstanden als die Herstellung der Einheit aller Deutschen, übers Land geht. Es gibt also einen Zusammenhang zwischen sozialer Krise und Sinnentleerung des Daseins einerseits und der Bereitschaft zur Einordnung in die »nationale Gemeinschaft« im Zeichen von Militär und Krieg andererseits. Und es gibt ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der Erfahrung von Sinnlosigkeit und Entwertung des eigenen Daseins einerseits und der Ausgrenzung und Gewalttätigkeit gegen »Andersartige«, gegen »Feinde« andererseits. Als ideologisches Vermittlungsglied fungiert in der Regel ein rassistisch geprägter Nationalismus: Die »nationale Identität« wird begriffen als ein naturgegebenes Anderssein, das zugleich eine Höherwertigkeit bedeutet. Diese muß freilich erfahrbar sein, d. h. im Alltag durchgesetzt, im Kampf bestätigt werden. Beide Zusammenhänge werden wirksam, wenn es nicht starke Gegenkräfte gibt, die in der Lage sind, den nach einem Ausweg und nach Sinnerfüllung suchenden Menschen eine humane Alternative zu präsentieren - und zugleich die dazu erforderlichen Schritte und Handlungsmöglichkeiten. Die ausländerfeindlichen Parolen, die mit der Verschärfung der Krise zugenommen haben, nehmen also bekannte geschichtliche Traditionen wieder auf - ebenso wie der primitive Nationalismus, den die Landserhefte verkünden. Im ersten Fall ist der Zusammenhang zur herrschenden Politik offensichtlich - obgleich erkennbar ist, daß das Mittel der Ausländerfeindlichkeit bislang nur sehr vorsichtig dosiert eingesetzt wird. Aber auch für den zweiten Fall muß vermutet werden, daß dies nicht gänzlich ohne Zustimmung der etablierten Kräfte geschieht. Darauf deutet schon die Tatsache hin, daß diese Produkte, die ohne Zweifel geeignet sind, »das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören« und deshalb nach Artikel 26 des Grundgesetzes »unter Strafe zu stellen« sind, völlig unbehelligt erscheinen können. Aber in neuester Zeit sind die Zusammenhänge noch klarer her55
vorgetreten. Es wurde schon zitiert, daß der vom Bundesforschungsminister Riesenhuber erhobene europäische »Führungsanspruch« der Bundesrepublik in der Raumfahrt von großbürgerlichen Zeitungen wie der FAZ und dem Rheinischen Merkur in direkten Zusammenhang mit dem neuen Patriotismus und mit der Orientierungslosigkeit der Jugend gesehen wurde, der angeblich die großen Ziele fehlen. Ein Artikel in »Der Arbeitgeber« vom Frühjahr 1985 stellte auch ganz offen den Bezug zum Militär her. Der Autor, Dr. Georg Juraschek, ist Leiter der Abteilung Bildungspolitik und Jugendarbeit beim Bundesverband der deutschen Arbeitgeberverbände und Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung beim Bundesminister der Verteidigung. Juraschek geißelt zunächst die Unfähigkeit der Deutschen, »aus der Geschichte zu lernen«, denn diese »posaunen seit Jahren ihre Schuldkomplexe in die Welt«, statt resolut ihren militärischen Auftrag zu erfüllen. Aufgabe der Bundeswehr sei es nun, »emotionale Bindungen« zu erzeugen, denn »militärischer Dienst, Verteidigungs-, aber vor allem Einsatzbereitschaft sind nicht nur Fragen des nationalen Verständnisses«. Wer da von »Koexistenz« und »Sicherheitspartnerschaft« faselt, gilt ihm als Dummkopf und nützlicher Idiot der Sowjetunion. 106 Noch einen Schritt weiter geht das theoretische Organ des neuen Konservatismus, Criticon: »Ein Krieg, wie der um die Falkland-Inseln, würde auch die Bundesregierung, wie die von Mrs. Thatcher, auf einer hohen Welle patriotischer Begeisterung in das Ziel tragen.« 107 Auch in der Weimarer Republik hatten jungkonservative Theoretiker vorformuliert, was dann in Gestalt des Faschismus fürchterliche Wirklichkeit geworden ist. Daß diese Kreise auch heute vorzügliche Verbindungen zu den herrschenden Kräften haben, ist allgemein bekannt. Muß befürchtet werden, daß solche Überlegungen dort nicht gänzlich ohne Wohlwollen betrachtet werden?
c) Die Eliten Die gegenwärtige Diskussion über nationale Identität, neues Na56
tionalbewußtsein usw. wendet sich allerdings nicht an die Massen, sondern sehr deutlich an die »Eliten«, besonders an die junge Intelligenz. Natürlich lassen sich daraus auch Mobilisierungsstrategien entwickeln, die auf die Massen zielen. Doch zunächst ist der Adressat dieser Theorien die Intelligenz, die nun aber von sehr unterschiedlichen Bedürfnissen und Motivationen geprägt ist. Da ist zunächst einmal schon seit dem Ende der sechziger Jahre eine starke Tendenz zur Abwendung von der herrschenden Politik und zur Suche nach linken Alternativen. Sie wurde wesentlich bestimmt von den Erfahrungen der Demokratiegefährdung im eigenen Land (Notstandsgesetze, erneute Virulenz faschistischer Kräfte) und der imperialistischen Politik gegenüber der Dritten Welt (Vietnamkrieg, Schah-Regime). Antifaschismus und Antiimperialismus - das waren die Grundelemente ihrer Weltanschauung -, natürlich weiterhin vermischt mit Elementen der herrschenden Ideologie, insbesondere dem Antikommunismus, der in diesem Lande seit Jahrzehnten alle Poren des politischen Lebens durchdringt. Diese zunächst noch von allerlei ultralinken Illusionen begleiteten Bewegungen gewannen ideologische Konsolidierung und stärkere Realitätsbezüge dadurch, daß die Entspannungspolitik und die sozialliberalen Reformkonzepte reale Erweiterungen für Veränderungsbestrebungen anboten; und dadurch, daß zugleich die Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik und in anderen Ländern Westeuropas sich als eine soziale Kraft präsentierte, die Veränderungen nach links durchzusetzen in der Lage schien. Diese Tendenz nach links erwies sich in der Folge als relativ stabil. Zwar blieben die Spitzenpositionen im Management der Privatwirtschaft, in den Hochschulen, bei Juristen und Ärzten in den Händen der konservativen Kräfte. Doch in Schulen und Hochschulen, in den Massenmedien, aber auch in den unteren und mittleren Bereichen von Justiz und Verwaltung gab es z. T. tiefgreifende Veränderungen. Jene deutsche Intelligenz, die seit dem Kaiserreich in ihrer überwältigenden Mehrheit die herrschende Politik mitgetragen hatte, wandte sich nun von dieser Linie ab. Dies kann als ein Bruch von historischen Ausmaßen gekennzeichnet werden. 57
In der Folge zeigte sich, daß diese Tendenz nach links weder durch die Berufsverbote (seit 1972) noch durch die vielfältigen anderen Formen der Disziplinierung gebrochen werden konnte, sondern sich fortsetzte. Von dieser Generation wurden noch die folgenden politischen und sozialen Bewegungen (Stoppt Strauß, Ökologiebewegung, Friedensbewegung) in hohem Maße mitbestimmt. Wirtschaftskrise und soziale Verunsicherung hatten dann seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre auch die Hochschulabsolventen in starkem Maße ergriffen. Zwar liegt die Arbeitslosigkeit hier immer noch deutlich unter dem Durchschnitt; dennoch birgt sie in diesem Bereich aus zwei Gründen eine besondere Brisanz: Erstens trifft sie hier auf traditionell gefestigte Erwartungen von gesicherten und — gegenüber der großen Mehrheit der abhängig Arbeitenden - privilegierten Berufschancen. Und zweitens traf die Arbeitslosigkeit bestimmte Gruppen besonders schwer, insbesondere Lehrer, Pädagogen, Politologen, Soziologen und Germanisten, also gerade jene Gruppen, die bei der Formierung der Linkstendenzen eine tragende Rolle gespielt hatten. Einerseits wuchs also ein enormer sozialer Problemdruck heran (schon 1985 gab es z. B. über 70 000 arbeitslose Lehrer; in zwei Jahren werden es über 100 000 sein) und andererseits traten Gefahren nun massiv ins Bewußtsein, die die Grundlagen menschlicher Existenz überhaupt in Frage stellten: Umweltzerstörung und Kriegsgefahr. Angesichts dieser Entwicklungen setzte in der Intelligenz ein Prozeß der Polarisierung ein. Auf der einen Seite verstärkten sich die Tendenzen zur Anpassung an vorgegebene Machtverhältnisse und ideologische Zwänge sowohl in der Privatwirtschaft wie in den Massenmedien und im Bildungswesen. Diese Tendenzen werden unterstützt dadurch, daß die großen Reformhoffnungen durch die Politik der sozialdemokratisch geführten Regierungen auch in den Bereichen von Bildung und Wissenschaft weithin enttäuscht worden waren, sowie dadurch, daß die Arbeiterbewegung in den meisten westeuropäischen Ländern in die Defensive geriet und keine alternative Potenz mehr darzustellen schien. So vollzogen auch manche Linke den »Abschied vom Proletariat«. 58
Andererseits aber erzeugten Umweltzerstörung und Kriegsgefahr neue oppositionelle Potentiale - auch in solchen Bereichen, die bislang wenig politisiert waren. Das Programm der Stationierung der neuen Atomraketen und die weiteren gigantischen Rüstungsprojekte stellten zehntausende Naturwissenschaftler und Mediziner vor die Frage nach ihrer wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Verantwortung. Psychologen, Sportwissenschaftler, Informatiker und andere wissenschaftliche Disziplinen wurden von dieser Bewegung ergriffen und in Opposition zur herrschenden Politik gedrängt. Die herrschenden Kräfte standen also seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre vor der Situation, daß sich ein beträchtlicher Teil der »Eliten«, die in der Vergangenheit ein zuverlässiger Bundesgenosse bei der Durchsetzung ihrer Politik gewesen waren, von dieser Politik abgewandt hatte; daß es zwar eine gewisse Polarisierung gab, daß sich jedoch auch die von der sozialliberalen Politik enttäuschten Schichten nur zu einem kleinen Teil nach rechts, in ihrer Mehrheit aber eher nach links gewandt hatten. Und diese Abwendung der »Eliten« geschah auch noch in einer Situation, in der quantitativ und qualitativ die Bedeutung dieser Schicht rapide zunahm: Quantitativ, weil nunmehr über 20% eines Jahrgangs die Hochschulreife erwarben (gegenüber 5% Mitte der fünfziger Jahre); und qualitativ, weil erstens die Verwissenschaftlichung der Produktion und die Akademisierung des Staatsapparates rasch voranschritten und weil zweitens gerade in der Krise die Intelligenz als Produzent und Vermittler von Ideologien politisch an Bedeutung gewinnt. Auf diese komplexe Lage hatten die herrschenden Kräfte zu reagieren. Und der neue Nationalismus ist auch und wesentlich zu begreifen als ein Teil dieser Reaktion. Er enthält zunächst einmal ein Ideologieangebot an die Intelligenz zu deren eigener Orientierung. Als Ausweg aus der »Sinnkrise« wird »nationale Identität« angeboten - auf hohem geistigen Niveau, mit wissenschaftlichen Begründungen aus Geschichte, Biologie und Verhaltensforschung, als Gesamtinterpretation der Welt und des Menschen. Den von der Krise bedrohten oder direkt betroffenen Teilen der jungen Intelligenz wird damit also ein Mittel präsentiert, mit dem sie ihr erschüttertes Selbstwertgefühl stabilisieren kön59
nen. Zugleich aber - und darauf beruht die potentielle Wirksamkeit - können die Betroffenen hoffen, daß durch eine Stärkung der »Nation« auch ökonomisch die Lage sich verbessern lasse. Dieses ideologische Angebot besitzt also durchaus ein materielles Fundament; es besteht darin, daß die modernen Technologien sich rapide entwickeln und Faszination und Optimismus für die Bewältigung der großen Probleme der Gegenwart wecken können; daß es in bestimmten Bereichen der Privatwirtschaft, besonders in den exportorientierten, deutlich aufwärts geht, daß auch in manchen Sektoren des Staatsapparates, z. B. im militärischen, aber auch in den ideologieproduzierenden, durchaus eine gewisse Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften besteht, daß also insgesamt durchaus Berufschancen existieren für solche Bewerber, die fachlich qualifiziert und zugleich ideologisch hinreichend flexibel sind. Es ist zwar offensichtlich, daß die Gesellschaft sich polarisiert in Verelendete und Aufsteigende, aber die Hoffnung erscheint begründet, daß Leistung und Durchsetzungsvermögen des einzelnen im Innern, aber auch des »nationalen Ganzen« nach außen, im internationalen Konkurrenzkampf, Erfolgschancen gewährleisten. Die neuen Elitetheorien mit ihren Karriereversprechungen für die »Begabten« und »Leistungsfähigen« haben dafür bereits ideologische Legitimationen bereitgestellt. Das Konzept des technokratisch orientierten Flügels der herrschenden Kräfte, wie es besonders prononciert vom badenwürttembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth vertreten wird (»Späth-Kapitalismus«)108, beruht bekanntlich ganz auf dieser Grundlage. Und Stäbe von Wissenschaftlern sind an seiner Ausarbeitung und Propagierung beteiligt. Der neue Nationalismus aber stellt nun eine direkte Verbindung zwischen der technologischen Entwicklung und der »nationalen Identität« her: »Unter den vielfältigen Vitaminen, die das Nationalgefühl unseres Landes stärken helfen, kommt dieser Bereitschaft zur Zukunft eine besondere Bedeutung zu. Wir haben daher allen Grund, D-l mit der Wärme des Patriotismus zu begrüßen.« Die »technologische Welt« spiele »eine besondere Rolle . . . bei dem Versuch, sich wieder zu einem neuen Grad der Selbstbejahung durchzuringen«. Und dann wird es geradezu lyrisch: ». . . die 60
Musik beim Zuschlagen der Tür eines Mercedes »löse« größere Wellen ästhetischen Genusses aus . . . als manche Takte moderner Partituren.« 109 Wer wollte bestreiten, daß ein MercedesWagen in seiner Weise ein Stück Vollendung und also Schönheit repräsentiert. Aber diese Ästhetisierung der Technik hat ihre Geschichte. Diese Ästhetisierung, in die die Vernichtungstechnik eingeschlossen war, war einst die Droge, mit der Ernst Jünger eine junge Generation von Suchenden trunken machte. Mercedes-D-1 — die modernen Waffensysteme der Bundeswehr und der NATO: der Zusammenhang ist nicht konstruiert. Man sehe sich die Werbung für die Bundeswehr an. Aber auch den beruflich etablierten Teilen der Intelligenz bietet der neue Nationalismus eine Möglichkeit, die von ihnen verlangten - sei es naturwissenschaftlich-technischen, sei es ideologischen - Tätigkeiten für die »Verteidigung« und die Stärkung der »nationalen Gemeinschaft« mit gutem Gewissen, womöglich mit Engagement und Begeisterung ausüben zu können - von den vorzüglichen Aufstiegs- und Prestigechancen solcher Wissenschaftler und Intellektuellen ganz zu schweigen. Daß sich diese ideologischen Angebote nicht nur an die marginalisierten Schichten der Intelligenz richten, zeigen übrigens schon die Preise: das zehnbändige Werk »Deutschland-Portrait einer Nation« kostet DM 1680,-; dieses Werk - mit »kultivierter, zurückhaltender Gestaltung (wertvoller Einband aus cremefarbenem Cabra-Lederfasermaterial, edle schlichte Goldprägung . . ,)« 110 wendet sich also kaum an BAföG-Studenten und arbeitslose Lehrer. Für alle Gruppen der Intelligenz und darüber hinaus für das gesamte politische Klima in der Bundesrepublik ist es in der Sicht der konservativen Theoretiker sehr wichtig, jene politischen Orientierungen wieder aufzulösen, die durch die Entspannungspolitik entstanden sind. Für Alexander Schwan, Professor an der FU Berlin, wurde dadurch »die außenpolitische Staatsräson verunklart«, für Manfred Hättich, Politikwissenschaftler der Universität München, der Kommunismus verharmlost. 110a Darüber besteht Einigkeit - gleichgültig, wie diese Theoretiker den Begriff der Nation im übrigen bestimmen. 61
d) Kritische und alternative Gruppierungen Im Unterschied zu dieser seriös-bürgerlichen Variante des neuen Nationalismus wirken andere Strömungen auch auf einen Teil jener Kräfte, die von den oben beschriebenen Linkstendenzen geprägt worden sind und sich selbst als kritisch, alternativ und antiimperialistisch verstehen; also auch auf Teile der Friedensbewegung. Bei ihnen ist ein tiefes Mißtrauen gegen die USA und deren Militärpolitik am Werk und die Erfahrung, wie diese USA mit schwächeren Ländern umgehen - aber gleichzeitig natürlich das fortdauernde Mißtrauen gegen die Sowjetunion und deren Politik. Und da ist auch die Erfahrung am Werk, daß unsere Lebenswelt in wachsendem Maße zerstört wird - in ihren ökologischen wie in ihren kulturellen Grundlagen daß soziale und psychische Verelendung sich ausbreitet, daß Einsamkeit und Isolation der Menschen zunehmen und daß die bestehenden Strukturen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft offenbar keinen Ausweg bieten. Alle diese Meinungen und Stimmungen haben ihren Ursprung in der Realität selbst, stellen also Versuche dar, reale Probleme zu verarbeiten. Der neue Nationalismus versucht nun, diesen Stimmungen und Erfahrungen Ziel und Richtung zu geben. Das Mißtrauen gegenüber den schwer durchschaubaren und bürokratisch strukturierten Großorganisationen in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft, die Sehnsucht nach überschaubaren, von der Unmittelbarkeit zwischenmenschlicher Beziehungen geprägten Lebensformen beantwortet er mit reaktionären Ideologien von »Gemeinschaft«, in denen die Interessengegensätze nicht mehr erkennbar sind. 111 Die Bedürfnisse der Individuen, ihre Individualität zu verteidigen gegen die vielfältigen Formen der Fremdbestimmung, werden aufgenommen. Nirgends ist so viel von »Identität« die Rede wie beim neuen Nationalismus. »Wir selbst« heißt die Zeitschrift der Nationalrevolutionäre, die sich an ein anspruchsvolleres Publikum richtet. »Die Familie, das Volk oder die Nation und in der Perspektive auch die (europäische) Völkergemeinschaft« erscheinen in diesem Verständnis als »organische Gemeinschaften«, die den »Zwangskollektiven« 62
gegenüberstehen.111a Da wird die Verteidigung der Identität ländlicher Regionen gegen den industriellen Zentralismus gefordert und ebenso die Verteidigung regionaler und nationaler Kulturidentität gegen den »Internationalismus« und »Imperialismus« der »Supermächte«. Da wird Solidarität mit allen »Autonomie«Bewegungen (von den Iren und Basken bis Südtirol) und allen nationalen Befreiungsbewegungen »gefordert«, gleichgültig, ob sie revolutionären oder reaktionären Charakter haben - wenn sie sich nur gegen eine der »Supermächte« richten. So erscheinen Solidarnosc und die Sandinisten, die Aufstandsbewegungen in El Salvador und in Afghanistan als Ein- und Dasselbe. Und da wird dem »rationalistisch-technokratischen« Geist der »Bio-Humanismus« gegenübergestellt, der Identität auf der Basis naturgegebener Gemeinsamkeiten verspricht. Henning Eichberg, der Cheftheoretiker der »Nationalrevolutionäre«, hatte 1970 in seinem Buch »Nationale Identität. Entfremdung und nationale Frage in der Industriegesellschaft« alle Motive schon formuliert, die dann in der Folgezeit vom neuen Nationalismus, insbesondere von seinen »linken« Strömungen, aufgegriffen worden sind. Bezeichnenderweise war dieses Buch mit Unterstützung der »Deutschen Burschenschaft« und des »Vereins zur Förderung Konservativer Publizistik e.V.« erschienen. 111b Es erzielte aber dennoch eine beachtliche Wirkung auch bei den neuen sozialen Beziehungen. Der von Wolfgang Venohr herausgegebene Sammelband »Die deutsche Einheit kommt bestimmt« zog dann 1982 die politischen Konsequenzen für die »nationale Frage«. Was sich in dieser Konzeption ideologisch darstellt als Verteidigung der ethnischen, nationalen und kulturellen Identität, hat politisch seine Hauptstoßrichtung nach innen gegen die ausländischen Arbeitskräfte und gegen die Gefahr der »Überfremdung«. Nach außen aber - und das ist in den neuen sozialen Bewegungen sehr viel wirksamer - richtet es sich gegen das »System von Jalta«, kämpft also für die »nationale Souveränität« für beide deutsche Teilstaaten, die Herstellung der nationalen Einheit« und auf ihrer Basis die Durchsetzung einer »eigenständigen« Politik des ganzen Deutschland gegenüber den »Supermächten«, 63
also die »Neuschaffung eines unabhängigen geeinten Deutschland in einem Europa der freien Völker«, wie die Zeitschrift »Wir selbst« in fast wörtlicher Übereinstimmung mit der Bundesregierung formuliert.111c Anscheinend richtet sich dieses Konzept gleichermaßen gegen die »Supermächte«, die unser Land »besetzt« erhalten. Tatsächlich aber läßt es sich vorzüglich einfügen in die Globalstrategie der USA. Denn die USA vertreten ja keineswegs die Position, daß am »System von Jalta« festgehalten werden müsse, sondern verlangen im Gegenteil sehr energisch dessen Revision, nämlich die »Freiheit« für die osteuropäischen Völker. In völliger Übereinstimmung mit den Theorien der »Nationalrevolutionäre« forderte der US-Vizepräsident George Bush 1983 »die Zurückdrängung des sowjetischen Einflusses in Osteuropa durch eine differenzierte Politik, die nationale Selbständigkeitsbestrebungen der osteuropäischen Staaten aktiv fördert, prosowjetische Haltungen hingegen bestraft«. 111d Und Präsident Reagan bezeichnete bei seiner Hambacher Rede vom Mai 1985 das Konzept der Befreiung Osteuropas als »wahrhaft revolutionär«. Die »Nationalrevolutionäre« ihrerseits fordern die Unterstützung für »einen gemeinsamen Aufstand der osteuropäischen Völker« und die »revolutionäre Vernichtung des Ostimperialismus«.111e Und in der neokonservativen Zeitschrift Criticon wird dann in aller Offenheit als Ziel formuliert »die Wiedervereinigung Europas - vom Atlantik bis zum Ural«. 111f In diesem politisch-ideologischen Konzept sind offensichtlich mancherlei Elemente enthalten, die geeignet sind, Gruppierungen der neuen sozialen Bewegungen, insbesondere der Ökologie- und der Friedensbewegung anzusprechen. Und sie zielen auch ganz bewußt auf diese Bewegungen ab. (Die Unterwanderung der Ökologiebewegung durch rechtsextreme Gruppen in Westberlin war ein Symptom dieser Strategie - endete allerdings mit dem Ausschluß der rechtsextremen Kräfte.) Aber das hier skizzierte Konzept des neuen Nationalismus bietet zugleich Anknüpfungsmöglichkeiten für diejenige Fraktion der herrschenden Kräfte, die eine »Führungsrolle« der Bundesrepublik in Europa anstrebt und deshalb die »nationale Souveränität« und womöglich auch die atomare Souveränität erstrebt, so daß sich hier 64
Umrisse einer ganz merkwürdigen Front bis hin zu Franz Josef Strauß abzeichnen. Wie weit Vorstellungen eines neutralistischen, die Überwindung der »nationalen Spaltung« und zugleich die »Befreiung Osteuropas« anstrebenden Nationalismus in die Linke hineinreichen, zeigt sich an vielerlei Symptomen. Ein ganz guter Indikator ist Wolf Biermann, der wunderschöne Lieder machen kann, politisch aber leicht der Versuchung erliegt, allem zu folgen, was gegen die sozialistischen Länder gerichtet ist, sofern es nur irgendwie »links« drapiert ist. Dieser Wolf Biermann äußerte in einer Diskussion, in der es um das Schlesien-Motto ging: »Ich lehne es ab, die Hupkas und Czajas immer bloß zu verteufeln. Unter den Schlesiern gibt es für mich manchen ehrlichen Idealisten. Und nicht alles, was in Potsdam beschlossen worden ist, muß bis zum St. Nimmerleinstag Gültigkeit haben.« 112 Das ist nun zwar ein Extremfall innerhalb der Linken, aber ganz zufällig ist er nicht. Auch bei Schriftstellern wie G. Grass und P. Härtling sind Vorstellungen wie die von der Befreiung des ganzen Deutschland von Fremdherrschaft am Werke. 113 Exemplarisch kann das Problem am Beispiel einer Diskussion aufgezeigt werden, die 1984/85 in der Zeitschrift »Das Argument« stattgefunden hat. 114 Sie begann mit dem Beitrag von Peter Brandt, eines Exponenten jenes »linken«, »sozialistischen« Nationalismus, der - in Übereinstimmung mit dem neuen Nationalismus - die gebrochene nationale Identität und die Besetzung beider Teile Deutschlands durch fremde Mächte für den eigentlichen Krisenherd hält. Brandt setzte sich dafür ein, die Diskussion über Nation und Nationalismus nicht der Rechten zu überlassen, sondern ins Gespräch mit dem neuen Nationalismus einzutreten, um Bündnismöglichkeiten zu suchen. In der Tat führt Brandt diese Gespräche auch in Gestalt von Beiträgen in Publikationen der Neuen Rechten. 115 Daraufhin intervenierte Michael Wildt: Es könne doch kein Bündnis mit »nationalrevolutionären« Gruppen geben, denen Brandt selbst »ein stark biologistisches Weltbild und die Betonung des Volkstums, der Ethnie« nachweise, die - wie z. B. Wolfgang Strauss - den früheren DDR-Staatschef Walter Ulbricht an einem Laternenpfahl baumeln sehen wollen, also »weißen Terror« in absolut eindeutiger, 65
nämlich faschistischer Form propagieren. 116 Und Michael Weingarten wies darauf hin, daß diese »Nationalrevolutionäre« nationale Identität als biologisch begründetes Streben nach einheitlicher und zugleich hierarchisch organisierter Gemeinschaft im Innern und nach Hegemonie gegenüber anderen Nationen definieren und daß sie vorab die Revolutionierung der DDR und Osteuropas anstreben. Deshalb sei die »Ausgrenzung« - nicht von Personen, sondern dieser Weltanschauung - als faschistisch unabdingbar. 117 Das eigentlich Alarmierende dieser Diskussion aber bestand darin, daß Wieland Elfferding im Namen der Redaktion die folgende Erklärung abgab: Auch »diese Grenzziehung muß . . . diskutierbar sein«, es gebe nun einmal »ein breites Übergangsfeld zwischen den >Nationalrevolutionären< und den Grün-Alternativen«, das sei »mit dem Knüppel unveränderlicher historischer Wahrheiten« nicht zu erledigen, deshalb habe Peter Brandt im Grunde recht. 118 Verfügt die Zeitschrift »Das Argument«, die sich bei der theoretischen Herausbildung der Linken in der Bundesrepublik einst so große Verdienste erworben hat, wirklich über keinerlei inhaltliche Kriterien mehr, um zwischen reaktionär-faschistischen und demokratisch-sozialistischen Ideen zu unterscheiden? Bleibt ihr wirklich nur noch die prinzipienlose »Offenheit nach allen Seiten«, die man auch nackte politische Opportunität nennen könnte? Die Geschichte der Weimarer Republik hat sehr eindringlich gezeigt, welche Bedeutung solche Ideologien von nationaler Gemeinschaft in Verbindung mit biologistischen Vorstellungen von Geschichte und Gesellschaft für die Kanalisierung großer, durch sozialökonomische Krisen aufgewühlter und desorientierter, nach einer Alternative suchender Menschenmassen in die Bahnen der Rechten gewinnen können. Gegenwärtige Entwicklungen in den USA und in der Bundesrepublik zeigen, daß das Bewußtsein breiter Schichten sich - mindestens für eine begrenzte Zeit - durchaus konträr zu den realen sozial-ökonomischen Tatsachen entwickeln kann. In beiden Ländern ist es gelungen, bei beträchtlichen Teilen der Bevölkerung Optimismus zu erzeugen, obwohl deren reale Lebenslage sich keineswegs verbessert hat. Die Regierung Reagan scheint nach wie vor getragen von diesem 66
mit allen Mitteln moderner Reklametechnik erzeugten nationalen Enthusiasmus. Und in der Bundesrepublik ergab die Neujahrs-Umfrage des Allensbacher Instituts zur Jahreswende 1985/ 86 »das übermütigste Ergebnis, das seit 1969 verzeichnet wurde: .. . 61% treten mit Hoffnung ins Neue Jahr«. Frau Prof. NoelleNeumann, die Leiterin des Instituts, die schon die Ergebnisse der Jahreswende 1984/85 als »fast unbegreiflichen Optimismus« kennzeichnet, vermerkt dazu: »Es fällt besonders schwer zu verstehen, daß diese Stimmung der Bevölkerung am Jahresende nicht die wirtschaftlichen Erfahrungen des abgelaufenen Jahres spiegelt.« 119 Mindestens für eine Weile kann sich ein ideologisch gezielt entfachter Optimismus, der die nationalen Gefühle mobilisiert, gewissermaßen selber tragen. Und solange das so funktioniert, kann er von den regierenden Kräften genutzt werden. (Vielleicht sind diese Ergebnisse auch so formuliert, daß sie ihrerseits zum Optimismus beitragen.) Was aber geschieht, wenn er doch letztlich an der Härte der sozialen Tatsachen zerbricht? Dies ist dann die Stunde des radikaleren, sich systemkritisch gebärdenden Nationalismus, der die »Schuldigen« schonungslos entlarvt, ein klares Feindbild präsentiert und zugleich eine »wirkliche Gemeinschaft« als Ausweg beschwört. Die gegenwärtigen Erfahrungen in Frankreich zeigen, daß solche von der neuen Rechten wieder aufgegriffenen Ideologien gerade unter Bedingungen verschärfter Krisen Anklang finden können - auch bei solchen Gruppen, die sich bisher als links verstanden haben. Und auch in der Bundesrepublik kann die Lage hier rasch brisant werden. Um solche Gefahren abzuwehren, genügt es nicht, die politische Funktion und sachliche Unangemessenheit solcher Vorstellungen belehrend aufzuzeigen - obgleich das natürlich unumgänglich ist. Es muß aber mehr geleistet werden. Denn in solchen Strömungen sind Sehnsüchte und Bedürfnisse am Werk, die nach einem menschenwürdigen Dasein drängen und sich Ausdruck verschaffen wollen. Bei dem schon zitierten Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur 1935 sagte Klaus Mann: »Der Faschismus unterwirft die Schwachen, er kauft die Opportunisten; er gewinnt und verführt aber auch solche, die unbefriedigt geblieben sind von der Gewinnsucht, der Reizlosigkeit, dem 67
Mangel an Glanz, Aufschwung und Freiheit der spätkapitalistischen, hochbürgerlichen Epoche. Manch junger Mensch trug in sich Sehnsüchte und Impulse, die wir, ihrer Natur, ihrer ursprünglichen Richtung nach, als revolutionäre bezeichnen müssen: denn sie lehnten sich auf gegen eine schlechte bestehende Ordnung, sie wollten umstürzen, und sie wollten neu aufbauen. Diese Sehnsüchte und Impulse konnten aufgefangen und verdorben werden durch den Faschismus.« 120 Erforderlich ist es also, auf die realen Bedürfnisse einzugehen, denen die Sehnsucht nach »nationaler Gemeinschaft« entspringt, und sorgfältig zu prüfen, wie weit nicht auch in Begriffen wie »Nation« und »nationale Identität« Elemente von Wahrheit und Potentiale von Emanzipation enthalten sind, die von dem unterschieden werden müssen, was die Rechte daraus gemacht hat. Nation und Nationalstaat sind ja nicht einfach willkürlich geschaffene Gebilde, die man je nach Belieben herstellen oder wieder abschaffen kann. Sondern sie sind politische Realitäten, die der Geschichtsprozeß nicht zufällig hervorgebracht hat. Sie prägen seit 200 Jahren das politische Leben auf unserem Kontinent, und in den Ländern der Dritten Welt formieren sie sich erst jetzt mit voller Kraft.
68
II. Nation, Nationalstaat, Nationalismus
1. Entstehung und Begriff Die Frage nach den Elementen von Wahrheit in den Begriffen »Nation« und »nationale Identität« zu diskutieren, ist nun freilich auf deutschem Boden besonders schwierig - und doppelt schwierig innerhalb der Linken. Seit der Herausbildung des deutschen Nationalstaates 1871 bedeutete in unserem Lande Nationalbewußtsein eben Identifikation mit diesem konkreten Nationalstaat, d. h. mit dem autoritären Obrigkeitsstaat, mit dem preußisch-deutschen Militarismus und dann mit dem deutschen Imperialismus, der Europa in zwei große Kriege gestürzt hat. Nationalismus fungierte als ein zentrales - wenn nicht gar als das wichtigste - ideologische Instrument der herrschenden Klassen zur Integration der Massen in die reaktionäre Politik und zu deren Mobilisierung für den Krieg. Diese besondere Ausprägung des deutschen Nationalstaats darf aber nicht vergessen machen, daß Nation und Nationalbewußtsein ursprünglich ganz anderen Traditionen entstammen und also auch ganz andere Interessen repräsentieren, nämlich die des revolutionären Bürgertums. Dieses Bürgertum konstituierte sich mit der Französischen Revolution als Nation, d. h. es faßte alle politischen und sozialen Kräfte unter seiner Führung zu einer Front gegen Feudalismus und Absolutismus zusammen und deklarierte diese Front als Repräsentant des Gemeinwohls. Das Bürgertum stellte also, als die reale ökonomische Entwicklung einen nationalen Markt herausgebildet hatte, die politische Zusammenfassung des Wirtschafts- und Handelsraums her, legi69
timierte sich durch die Idee der Volkssouveränität und die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte und überwand damit sowohl die feudale Zersplitterung wie die absolutistische Willkür. Auf die Frage, was eine Nation sei, antwortete Abbé Siéyes in seiner berühmten Kampfschrift »Was ist der dritte Stand?«: »Eine Gesamtheit von vereinigten Individuen, die unter einem gemeinsamen Gesetz stehen und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten sind.« Nicht mehr Gemeinsamkeiten der Abstammung und Verwandtschaftsbeziehungen sind also bestimmend, sondern die gemeinsame politische Organisation eines bestimmten Territoriums. Und die Basis bilden Warenproduktion und Warenaustausch einer immer stärker kapitalistisch bestimmten Ökonomie. In Deutschland, wo das Bürgertum aus eigener Kraft eine Revolution und die nationale Einheit nicht zustande bringen konnte, fragte der preußische Reformator Freiherr vom Stein beim Habsburger Kaiser Franz an, ob er sich an die Spitze eines national geeinten deutschen Reiches stellen wolle. Dieser aber reagierte mit gutem Grunde äußerst mißtrauisch: »Nation? Das klingt jakobinisch.« 120a Diese politische und ökonomische Zusammenfassung größerer Bevölkerungsgruppen und Territorien unter der Führung der bürgerlichen Klasse erfolgte in der Regel auf der Basis einer ethnisch und sprachlich relativ homogenen oder verwandten Bevölkerung, die oft auf Grund realer ökonomischer Beziehungen auch schon in Ansätzen ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt hatte. Diese »Nationalitäten« stellten also gewissermaßen die Vorstufen und Voraussetzungen der Nation dar. Sie hatten sich in Europa seit dem 15./16. Jahrhundert herausgebildet in dem Maße, in dem die Produktion und die Arbeitsteilung sich entwickelt, die Städte mit ihren Handwerkern und ihren Kaufleuten an Bedeutung gewonnen, die Austauschbeziehungen zwischen den Regionen zugenommen hatten und so die lokale Selbstgenügsamkeit und Beschränktheit des Mittelalters überwunden worden war. Auf der Basis dieser geschichtlich entstandenen Integrationsmomente bildete sich die moderne Nation. Das in einem längeren Zeitraum schon herangewachsene Gefühl 70
der Zusammengehörigkeit erfuhr nun durch die Bildung der bürgerlichen Nation eine wesentliche Stärkung, da die realen ökonomischen und politischen Beziehungen nun an Intensität wesentlich zunahmen. Von hier aus könnte die Frage nach der Existenz eines »Nationalcharakters« materialistisch gestellt und von allen Mystifikationen befreit werden: Die je spezifischen Naturbedingungen, ökonomischen und kulturellen Beziehungen und geschichtlichen Erfahrungen bildeten in der Tat unterschiedliche Mentalitäten und Lebensweisen in den verschiedenen Nationalstaaten heraus, die man als geschichtlich gewordenen »Nationalcharakter« 121 kennzeichnen könnte. Und diese Eigentümlichkeiten gingen auch in das jeweilige »Nationalbewußtsein« ein. Wenn man will, kann man diesen Zusammenhang auch kommunikationstheoretisch formulieren und - mit dem amerikanischen Sozialwissenschaftler K. W. Deutsch - die Nation definieren als eine Bevölkerungsgruppe, die durch eine besonders dichte soziale Kommunikation von anderen unterschieden ist 122 - sofern man im Bewußtsein behält, worin die materielle Basis dieser besonders dichten Kommunikation besteht. Der politische Inhalt dessen, was sich nun als Nationalbewußtsein entwickelte, wurde naturgemäß wesentlich von der Klasse bestimmt, die jetzt die herrschende war, von der bürgerlichen. Kraft der ökonomischen, politischen und ideologischen Machtmittel, die sie besaß, war sie imstande, ihre Interessen als die der Nation zu definieren. Da nun im Kapitalismus die Haupttriebkraft der Entwicklung die Kapitalverwertung im Konkurrenzkampf ist, standen sich die im nationalen Maßstab organisierten bürgerlichen Klassen alsbald als Konkurrenten gegenüber. Und dieser Konkurrenzkampf um Exportmärkte, Rohstoffgebiete und Kapitalanlagesphären verschärfte sich mit dem Übergang zum Imperialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als der Wettlauf um die Verteilung und Beherrschung der Welt die ökonomischen, politischen und militärischen Beziehungen zwischen den Staaten in wachsendem Maße bestimmte. Der ideelle Reflex dieser Entwicklung ist der bürgerliche Nationalismus, der nun nicht mehr primär die politische Integra71
tion im nationalen Maßstab unter dem Vorzeichen der bürgerlichen Freiheiten und der Volkssouveränität meinte, sondern einerseits geprägt war von der Notwendigkeit, die handarbeitenden Massen und ihre Organisationen im eigenen Lande unter Kontrolle zu halten, und andererseits vom Konkurrenzkampf gegen die anderen Nationalstaaten. Dieser Nationalismus lieferte dann nicht nur die Begründung für die Überlegenheit und den Machtanspruch der eigenen Nation, sondern er bedeutete auch die Unterordnung aller gesellschaftlichen Beziehungen im Innern unter die Notwendigkeiten dieses internationalen Konkurrenzkampfes. Der Appell an das »nationale Ganze« läuft seither immer darauf hinaus, daß die arbeitende Bevölkerung Opfer zu bringen habe, damit die Durchsetzungsfähigkeit - die ökonomische und nötigenfalls dann eben auch die militärische - der eigenen Nation gegen die anderen gestärkt werde. Von dieser Stärke aber hätten dann alle den Gewinn. Kennzeichen dieses Nationalismus ist es also, daß die Kraft und Expansionsfähigkeit des im nationalen Maßstab organisierten Kapitals als Gemeinwohl gesetzt wird. Seine ideologische Wirkung beruht darauf, daß dieser Nationalismus - wie jede andere massenwirksame Ideologie - Momente der Wirklichkeit aufnimmt, also sozusagen durch Alltagserfahrung bestätigt erscheint. Erstens nämlich bildet der Nationalstaat in der Tat ökonomisch und politisch ein Ganzes, in dem alle Einzelelemente aufeinander bezogen und die Angehörigen der Nation auch durch Gemeinsamkeiten der Sprache, der Sitten und Gebräuche und der Geschichte verbunden sind. Und ob diese nationale Gemeinschaft als eine von antagonistischen Klasseninteressen geprägte, widersprüchliche oder als eine harmonische Einheit begriffen wird, hängt - ebenso wie bei der »Betriebsgemeinschaft« - auch wesentlich davon ab, ob gegenüber der herrschenden Ideologie eine organisierte ideologische Gegenmacht existiert, die die Wirklichkeit als antagonistisch durchschaubar macht. Existiert diese Gegenmacht nicht oder nur unzureichend, so kann es durchaus gelingen, unter der Fahne der Nation »eine merkwürdige Einheit von Peinigern und Gepeinigten, von Ausnutzern und Ausgenutzten, von Lügnern und Belogenen« herzu72
stellen. 123 Und zweitens ist es natürlich richtig, daß ein starker, expandierender Kapitalismus auch größere soziale Konzessionen an die eigene Bevölkerung machen kann als ein schwacher. (Der relative Wohlstand der britischen Arbeiterklasse vor 1914 oder der US-amerikanischen und der bundesrepublikanischen Arbeiterklasse heute zeigt das deutlich an.) Der Preis dieser Konzessionen aber liegt eben darin, daß dieses starke nationale Kapital schwächere Konkurrenten niedergemacht hat; daß also z. B. durch Exportoffensiven der bundesrepublikanischen Auto mobilindustrie zwar hierzulande »Arbeitsplätze gesichert«, zugleich aber z. B. Automobilarbeiter in Frankreich oder Italien brotlos gemacht worden sind; oder daß die Völker der Dritten Welt noch rigoroser ausgeplündert werden können. Schon auf dieser Ebene wird erkennbar, daß eine Arbeiterbewegung, die sich auf diese Ideologie von der »Wettbewerbsfähigkeit« der eigenen nationalen Wirtschaft einläßt und diese als Richtschnur für ihr Verständnis von »nationalen Interessen« und für ihr politisches Verhalten akzeptiert, sich dem Kapital und seinem Wolfsgesetz schon ausgeliefert hat. Eben deshalb wurde in der Arbeiterbewegung der Internationalismus entwickelt, der die Realität des Nationalstaats und die Notwendigkeit der nationalen Organisation der eigenen Kräfte aufnimmt, aber ins Verhältnis setzt zu den übergreifenden Interessen aller arbeitenden Menschen in aller Welt. Der bürgerliche Nationalismus brachte - und bringt - jedoch Konsequenzen hervor, die für die große Mehrheit der Bevölkerung noch bedeutend schlimmer sind. In dem Bestreben nämlich, die Nation als einheitliches Ganzes im Massenbewußtsein zu verankern und so gegen innere Zerrissenheit zu immunisieren und zugleich gegen die Konkurrenten in der Außenwelt alle Kräfte der Nation zusammenfassen zu können, wurde die Nation seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in wachsendem Maße als eine natürliche Gemeinschaft dargestellt: als durch gemeinsame Abstammung und daraus resultierenden gemeinsamen Volkscharakter gegen andere Nationen abgegrenzt. Da die Homogenität der nationalen Gemeinschaft in der sozialen Wirk73
lichkeit offensichtlich nicht vorzufinden war, konnte sie nur noch durch Berufung auf Natur konstituiert werden. Mit dieser These von der gemeinsamen ethnischen Basis als dem maßgeblichen Zusammenhalt der Nation aber war der Weg zum Rassismus, der die Erkenntnisse der aufstrebenden Wissenschaft von der Biologie nun für sich zurechtbog, schon beschritten. Die Verbindung dieses Gedankens mit dem Sozialdarwinismus aber lag ohnehin nahe, denn diese Lehre, die die Maxime des Kapitalismus »Der Stärkere setzt sich durch« zu einer Theorie über das naturgegebene Wesen alles Lebendigen emporstilisiert hatte, schien ja tagtäglich durch die Erfahrung bestätigt zu werden. Damit waren nun alle Elemente entwickelt, die den bürgerlichen Nationalismus zu einer Ideologie radikalisierten, mit der die Verfolgung und Unterdrückung oppositioneller Kräfte im eigenen Land ebenso legitimiert werden konnte wie Krieg und Gewalt gegen andere Völker, koloniale Unterdrückung und rassistische Diskriminierung, Herrenrassendünkel und die Vernichtung von „Fremdvölkischen". Das Blut als das nach innen verbindende und nach außen abgrenzende Element - das war die Botschaft des neuen rassistisch begründeten Nationalismus. Damit war nun die gesamte Tradition von bürgerlicher Aufklärung und Menschenrechten über Bord geworfen und die Idee der Nation voll den Bedürfnissen des Imperialismus dienstbar gemacht. Seit dem 19. Jahrhundert wurde also der Nationalstaat als Existenzform des gesellschaftlichen Lebens und Bewegungsform der Produktivkräfte zur Regel im bürgerlichen Zeitalter. Aber dies bedeutete keineswegs, daß nun die Staatsgrenzen identisch mit den Sprachgrenzen wurden. Dänen, Norwegen und Schweden sonderten sich trotz ursprünglich gemeinsamer Sprache als unterschiedliche Nationalstaaten voneinander - hauptsächlich wegen der unterschiedlichen Naturbedingungen, die unterschiedliche ökonomische Existenzformen und Bedürfnisse hervorbrachten. Dagegen produzierte das Bedürfnis nach einem nationalen Markt auf der Basis relativ geschlossener geographischer Einheiten in Frankreich die politische Zusammenfassung von Franzosen, Bretonen und Provençalen zur französischen 74
Nation; und auf der britischen Insel die Zusammenfassung von Engländern, Schotten und Walisern zur britischen - wobei sich jeweils eine Sprache als die nun für die Nation bestimmende durchsetzte. Die Herausbildung des Nationalstaates wurde von den Theoretikern des Marxismus als ein großer geschichtlicher Fortschritt betrachtet. Sie sahen darin die Schaffung eines weiten Rahmens, innerhalb dessen sich Handel und Industrie entwickeln, die Produktivkräfte also rasch voranschreiten konnten. In der Tat hatte die Entwicklung in den großen bürgerlichen Ländern deutlich gezeigt, daß die Zeiten des nationalen Aufschwungs und der Bildung von Nationalstaaten zugleich Perioden demokratischer Entfaltung waren: in Holland als nationaler Befreiungskampf gegen den spanisch-habsburgischen Feudalismus, in England in der Bewegung Cromwells, in Frankreich in der großen Revolution und in Italien in der nationalen Befreiungsbewegung Mazzinis und Garibaldis gegen die Unterdrückung durch Spanien, Österreich und den Vatikan. So lautete ihre Schlußfolgerung: »Solche Staaten allein sind die normale politische Verfassung des europäischen herrschenden Bürgertums.« 124 »Für den vollen Sieg der Warenproduktion« sei »die Eroberung des inneren Marktes durch die Bourgeoisie« und »die staatliche Zusammenfassung der Territorien mit gleichsprachiger Bevölkerung notwendig . . ., bei Beseitigung aller Hindernisse für die Entwicklung dieser Sprache und für ihre Fundierung in der Literatur.« 125 Damit aber seien auch Bedingungen dafür geschaffen, daß Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung sich in großem Maßstab entfalten, daß insgesamt also die objektiven und die subjektiven Bedingungen für die Überwindung des Kapitalismus heranreifen konnten. Engels erklärte es für »geschichtlich unmöglich«, daß ein großes Volk irgendwelche inneren Probleme auch nur ernsthaft diskutieren könne, solange die nationale Frage nicht gelöst sei. 126 Die Bildung des Nationalstaates sei auch die Voraussetzung für den Internationalismus: „Internationale Vereinigung kann nur zwischen Nationen bestehen, deren Existenz, Autonomie und Unabhängigkeit in inneren Angelegenheiten dabei 75
schon im Begriff Internationalität eingeschlossen sind.« 127 Kurz vor seinem Tode schrieb Friedrich Engels im Vorwort zum Kommunistischen Manifest: »Ohne Wiederherstellung der Selbständigkeit und Einheit jeder Nation hätte sich . . . die internationale Vereinigung des Proletariats« nicht vollziehen können. Die Bildung von bürgerlichen Nationalstaaten wurde also als ein wesentlicher Fortschritt gegenüber Feudalismus und Absolutismus begriffen, aber keineswegs als Vollendung der Befreiung. Schon im Kommunistischen Manifest von 1848 hatten Marx und Engels dargestellt, daß die politische Zentralisierung unter der Dominanz bürgerlicher Klasseninteressen stand: Die Bourgeoisie habe »Provinzen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen . . . zusammengedrängt, in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse«. Und sie hatten als Ziel formuliert, daß »das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß«.
2) Die Sonderentwicklung der deutschen Nation In Deutschland ging der Nationalstaat nicht aus der Bewegung der Volksmassen unter der Führung der bürgerlichen Klasse hervor. Diese auf nationale Einheit und bürgerliche Freiheit drängende Bewegung war 1848/49 mit Militärgewalt niedergeschlagen worden. Die zur Herstellung eines einheitlichen Wirtschafts- und Handelsraumes notwendige Zusammenfassung wurde dann 1866 bis 1871 zwar vollzogen, aber »von oben«, von den deutschen Fürsten unter der Führung Preußens. Die nichtpreußischen Könige und Großherzöge waren gepreßt und bestochen, die Österreicher militärisch besiegt und ausgegrenzt worden. Bei der Reichsgründung am 18. Januar 1871 im Schloß von Versailles bildeten »Fürsten, Generäle, Soldaten und Höflinge die Kulisse«; das Volk war gar nicht vertreten. 128 Schärfer konnte der Kontrast zur Bildung der französischen Nation bei der Revo76
lution 1789 kaum hervortreten. Die Führer der deutschen Arbeiterbewegung, August Bebel, Wilhelm Liebknecht und andere, saßen zu dieser Zeit bereits wegen Vorbereitung zum Hochverrat im Gefängnis. Das Resultat dieser Gründung wird von Karl Marx charakterisiert als »ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus«. 129 Diese besondere Art und Weise, in der sich in Deutschland die Bildung der Nation vollzog, hatte sehr weitreichende geschichtliche Wirkungen. Georg Lukács sagt dazu: »Der Kampf um die nationale Einheit beherrscht in der Tat die ganze politische und ideologische Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert. Und die besondere Form, in der diese Frage schließlich ihre Lösung fand, gibt der ganzen deutschen Geistigkeit von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an bis heute ihr besonderes Gepräge.« 130 Eine wesentliche Differenz gegenüber den anderen großen Nationalstaaten bestimmt Lukács so: »Während Nationen, die ihre gegenwärtige politische Form erkämpft haben, diese als ihr eigenes Produkt betrachten, erscheint die nationale Existenz den Deutschen als eine rätselhafte Gabe höherer irrationaler Mächte.« 131 Obrigkeitsstaat und Untertanengeist, Willkür und Machtarroganz von oben und Staatsvergottung von unten wurden zu bestimmenden Zügen des »deutschen Wesens«. Doch selbst in dieser reaktionären Form des Nationalstaates sahen die Theoretiker der Arbeiterbewegung noch einen wesentlichen Fortschritt gegenüber den früheren Zuständen. Eineinhalb Jahrhunderte lang (seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648) war Deutschland in nahezu 2000 souveräne Einheiten zersplittert gewesen. Napoleon hatte dann eine gewaltige Aufräumungsarbeit verrichtet und diese Zahl auf 38 reduziert, doch war damit nur eine gewisse Milderung der Misere erzielt worden. Angesichts dieser Vorgeschichte stellte Friedrich Engels rückblickend fest: „Niemals würden wir Deutschland auf den Stand der Zersplitterung und Ohnmacht von vor 1866 zurückwerfen lassen.« 132 Man bekämpfe das Reich nicht deshalb, »weil es ein Reich und weil es ein nationales Ganzes« sei, sondern 77
wegen seiner reaktionären Beschaffenheit und der daraus resultierenden volksfeindlichen Bestimmung dessen, was als nationales Interesse gelte: »Sagen auch die Verteidiger des neuesten deutschen Nationalfracks: >Das was unser Frack denkt, ist das Reich<,« so müsse der Sozialismus dessen Wesen eben anders bestimmen. 133 Engels hatte schon 1866 den »Hauptnachteil« der Entwicklung in der »Überflutung Deutschlands durch das Preußentum« gesehen. 134 Noch wesentlich schärfer hatte Wilhelm Liebknecht formuliert: Die Arbeiterbewegung erstrebe »einen deutschen Volksstaat, der alle Stämme des großen Vaterlandes (selbstverständlich auch die Deutsch-Österreicher) unter dem gemeinsamen Banner der Freiheit vereinigt«, und werde »Krieg auf Leben und Tod führen gegen jene verderbliche Politik, deren Endziel die Vergrößerung Preußens und die Verkleinerung Deutschlands ist«. 135 Diese Position war prinzipiell gegen den preußisch-deutschen Militarismus und Nationalismus gerichtet, wie er sich dann bereits 1871 in Ansätzen offenbarte, »gegen die Annexionswut, gegen die Franzosenhetze und gegen den nationalen Größenschwindel«. 136 Der deutsche Nationalstaat wurde also deshalb begrüßt, weil er gewisse unerläßliche Voraussetzungen dafür bereitstellte, daß sich die progressiven Tendenzen organisieren und entfalten konnten. Allerdings waren diese durch die reaktionäre politischideologische Verfassung dieses Nationalstaates in sehr starkem Maße geknebelt und deformiert. Und diese Knebelung blieb dann politisch bestimmend - nicht nur für das Kaiserreich, sondern auch für die Weimarer Republik. Die »nationalen« Kräfte das waren nun merkwürdigerweise diejenigen, die bis 1848 jede auf nationale Einheit gerichtete Bestrebung unterdrückt und die 1866 bis 1871 die deutsche Nation gleich doppelt gespalten hatten: nach innen durch Ausgrenzung der Arbeiterbewegung als »Reichsfeinde« und nach außen durch die Ausgrenzung der Deutschen in Österreich. Ihr Verständnis von »nationalen« Interessen hatten sie dann drastisch 1871 demonstriert, als sie - zusammen mit den besiegten französischen Truppen - die Pariser Commune niedergemacht und in Frankreich den besitzenden Klassen die Macht erneut gesichert hatten. Marx hatte damals ge78
meint: »Die Klassenherrschaft ist nicht länger imstande, sich unter einer nationalen Uniform zu verstecken; die nationalen Regierungen sind eins gegenüber dem Proletariat.« 137 Er sollte sich gründlich täuschen: sie war dazu imstande. Es waren diese reaktionären Kräfte, die durch die militärischen Siege 1864 bis 1871 und durch die Gründung des Deutschen Reiches die nationalen Hoffnungen und Gefühle des Bürgertums in ihre Bahnen leiten konnten. Die »nationalen« Kräfte waren nun also die rechtsgerichteten, dem Internationalismus der Arbeiterbewegung entgegengesetzten. Sie definierten, was als »deutsches Wesen«, als »Nationalcharakter« und als »nationale Interessen« zu gelten hatte und grenzten die »vaterlandslosen Gesellen« aus der Gemeinschaft der Nation aus: als »gemeingefährlich«, wie das Sozialistengesetz feststellte. Diese beiden Motive - »vaterlandslos« und »gemeingefährlich« - bestimmten seither die Haltung der »nationalen« Kräfte gegenüber der sozialistischen Arbeiterbewegung - und sie tun dies heute noch. (Seit 1917 stellte sich diese Ideologie hauptsächlich als Beschuldigung dar, die Sozialisten und Kommunisten seien Agenten Moskaus - bewußte oder mindestens als »nützliche Idioten« fungierende.) Die »nationalen« Kräfte besaßen also auch das Monopol auf die Verfügung über die starken Gefühlswerte, die mit den Begriffen »Nation« und »Vaterland« verbunden waren. Die »nationale Alternative« hatte die beginnende Arbeiterbewegung schon 1848 formuliert: »Ganz Deutschland wird zu einer einigen unteilbaren Republik erklärt . . . Errichtung von Nationalwerkstätten. Der Staat garantiert allen Arbeitern ihre Existenz und versorgt die zur Arbeit Unfähigen.« So lauteten die Artikel 1 und 16 in den »Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland«. 138 Doch dem linken Flügel der Arbeiterbewegung gelang es weder 1848 noch nach 1871, sein Gegenkonzept der »nationalen Interessen« zur Geltung zu bringen und so die Idee der Nation der Rechten streitig zu machen. Das Verdikt von den »vaterlandslosen Gesellen« wog schwer und führte in den Führungsgruppen der Arbeiterbewegung zu vielfältigen Versuchen zu beweisen, daß man im nationalen Sinne 79
durchaus zuverlässig sei. Schließlich sah die Führung der Sozialdemokratie 1914 beim Kriegsbeginn die Chance, das Odium der nationalen UnZuverlässigkeit ganz loszuwerden. Kaiser Wilhelm II. verkündete, er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur noch Deutsche, und die Führung der Sozialdemokratie unterwarf sich nun der imperialistischen Politik der »nationalen« Kräfte. Der politische Umfall war freilich ideologisch vorbereitet, auch in der »nationalen Frage«. Otto Bauer, der führende Theoretiker der österreichischen Sozialdemokratie, hatte bereits 1907 in seinem Buch »Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie« in seine Definition der Nation wesentliche Elemente der herrschenden Ideologie übernommen: »Die Nation ist die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen.« 139 Karl Kautsky, der führende Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie, kritisierte zwar 1908 noch die »völlige Vernachlässigung des internationalen Momentes« 140 , doch auch in der SPD waren die Kräfte schon erstarkt, die der herrschenden Ideologie von der Nation als »Schicksalsgemeinschaft« auf den Leim gegangen waren. Der Abgeordnete Noske hatte schon 1907 im Reichstag im Namen der sozialdemokratischen Fraktion versichert, daß man den »bürgerlichen phantastischen Abrüstungsideen spottend« gegenüberstehe, daß es gegenwärtig »für Deutschland ganz ausgeschlossen ist, eine Abrüstung vorzunehmen«, und daß dafür gesorgt werden müsse, »daß die deutschen Soldaten die besten Waffen haben«. 141 Auf dem rechten Flügel der Revisionisten war bereits seit 1911 gefordert worden, die Außen- und Kolonialpolitik des Deutschen Reiches zu unterstützen 142 — und mit dem Kriegsausbruch 1914 erlangten diese Kräfte die Oberhand. Daß die Führungen der SPD und der Gewerkschaften im August 1914 der Kriegspolitik akklamierten und bis zum bitteren Ende bei dieser Haltung blieben, zeigt sehr eindringlich, daß der »nationale Gedanke« im Sinne der Rechten sich bei ihnen durchgesetzt hatte. Dieser Nationalismus reichte bis zu der Überzeugung, daß ein Sieg in diesem Krieg auch im Interesse der Arbeiterklasse sei, daß ein Anteil an der Beute ihre Lebenslage beträchtlich verbessern werde. 143 Von dieser Haltung aus waren na80
türlich keine Barrieren zu errichten gegen den nationalistischen Taumel, der nach 1914 in Deutschland erzeugt wurde. 1918 war es nun evident geworden, wohin diese »nationalen« Kräfte die Nation geführt hatten. Sie hatten nicht nur 1866/71 die Nation nach innen und außen gespalten; sondern sie hatten die Nation schließlich in einen Krieg geführt, der über 10 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Das dringendste nationale Interesse hätte also nun darin bestanden, diese herrschenden Klassen zu entmachten und zur Rechenschaft zu ziehen. Die allgemeinen Prinzipien für ein solches Verständnis von nationalen Interessen waren in der Konzeption des Internationalismus in der Vorkriegssozialdemokratie bereits entwickelt worden. Die sächsischen Arbeiter hatten sie in ihrer Erklärung an die französischen Arbeiter 1870 so formuliert: »Eingedenk der Losungen der Internationalen Arbeiterassoziation Proletarier aller Länder, vereinigt euch!< werden wir nie vergessen, daß die Arbeiter aller Länder unsere Freunde und die Despoten aller Länder unsere Feinde sind.« 144 Karl Liebknecht, der seit dem Dezember 1914 die Zustimmung zu den Kriegskrediten im Reichstag, zunächst als einziger Abgeordneter, verweigert hatte und ins Zuchthaus geworfen worden war, schrieb dann in einem Flugblatt 1915: »Der Hauptfeind jedes Volkes steht in seinem eigenen Land! Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Land gilt's für das deutsche Volk zu bekämpfen.« 145 Sie seien »die wirklichen Landesverräter«.146 Der Versuch der revolutionären Bewegung, eben diese Kräfte zu entmachten, scheiterte jedoch - und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die Führung der Sozialdemokratie jenes Verständnis von »nationalen Interessen«, das sie 1914 zur Unterstützung des Krieges bewegt hatte, nicht gänzlich preisgeben wollte. Sie hielt fest an dem Bündnis mit den bisher herrschenden Kräften zur Sicherung von »Ruhe und Ordnung« und zur Festigung des »Staates« - so, wie er nun einmal beschaffen war: mit diesem Beamtenapparat, mit diesem Militär und mit diesen vorherrschenden großwirtschaftlichen Interessen. 1922 entschied dann der so81
zialdemokratische Reichspräsident Ebert, daß das Lied »Deutschland, Deutschland über alles« fortan als Nationalhymne zu gelten habe. Dieses Lied entstammte zwar liberalen Traditionen der Zeit vor 1848, mußte nun aber mit seinem fatalen Text natürlich der Rechten einen mächtigen ideologischen Auftrieb geben. Und in der Tat konnte das faschistische System diese Hymne direkt übernehmen; es genügte ihr, das Horst-WesselLied »Die Fahne hoch« hinzuzufügen. Ohne Zweifel zogen die Führungsgruppen der reformistischen Arbeiterbewegung Folgerungen aus der Katastrophe des Weltkrieges: Sie setzten sich während der Weimarer Zeit mit aller Energie für eine Verständigung mit den Westmächten und für eine internationale Zusammenarbeit im Rahmen des Völkerbundes ein. 147 Sie beteiligten sich in keiner Weise an der nationalistischen Hetze, die in Deutschland alsbald wieder um sich griff. Doch sie hatten durch die Niederwerfung der revolutionären Bewegung 1919/20 jenen Kräften die Schalthebel der Macht gesichert, die nun den Nationalismus erneut schürten. Was aber waren die »nationalen Interessen« aus der Sicht der arbeitenden Massen? Oder gab es aus deren Sicht nur soziale und internationalistische, war der Gegner ausschließlich bestimmt durch den Klassengegensatz im eigenen Land? Die Kontroversen darüber, was das »nationale Interesse« verlange, entzündeten sich schon in aller Heftigkeit, als die Siegermächte im Frühjahr 1919 ihre Friedensbedingungen bekanntgaben. Denn es war offensichtlich, daß hier nicht nur eine für die Konkurrenten bedrohliche Militär- und Wirtschaftsmacht ausgeschaltet, sondern daß dieses Land zugleich zu einer Art Halbkolonie gemacht werden sollte, die für unabsehbare Zeit einen beträchtlichen Teil ihrer Arbeitsergebnisse ausländischen Mächten abzuliefern hatte. Die Reparationspläne, die dem Deutschen Reich dann auferlegt wurden (1924 der Dawes-Plan und 1928 der Young-Plan), sahen in der Tat Reparationszahlungen bis zum Jahre 1988 v o r und die Regie dieser Ausbeutung wurde nicht zufällig von USGroßbanken übernommen; deren Beauftragte in Berlin hatten sogar das Recht, in die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Deutschen Reiches einzugreifen, um die Zahlungen zu sichern. 82
Es ging hier also in der Tat auch um die Frage der »nationalen Befreiung«, der Wiedergewinnung der nationalen Souveränitätund insofern ist der Vergleich mit den nationalen Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt nicht gänzlich abwegig. Rudolf Hilferding schrieb damals in der Zeitung der USPD „Freiheit" am 8. 5. 1919: »Was die Frevelgewalt des deutschen Imperialismus begonnen, das beendet jetzt die blindwütige Gewalt der Sieger. Und was die herrschenden Klassen verbrochen haben, müssen die Völker büßen.« Die USPD erhoffte, daß der Vormarsch der sozialistischen Weltrevolution die nationale Befreiung bringen werde. Doch tatsächlich blieben die alten Kräfte an den Schalthebeln der Macht, und deren »Lösung der nationalen Frage« lief - sofern sie sich nicht selber mit dem einströmenden US-Kapital verbunden hatten und als dessen Juniorpartner fungierten - darauf hinaus, zunächst den arbeitenden Massen des eigenen Landes die Leistungen abzupressen, die zur Wiedereroberung der Exportmärkte und zur erneuten Aufrüstung notwendig waren, um dann einen neuen Eroberungskrieg zu beginnen. 148 Diese politische Linie aber wurde ideologisch abgesichert und zugleich verschleiert durch eine Woge nationalistischer Demagogie. Dieser Nationalismus, der von allen bürgerlichen Parteien in mehr oder weniger extremer Form - mitgetragen wurde, hatte, wie schon im Kaiserreich, eine doppelte Stoßrichtung: Nach innen sollte er die Linke als Verräter der nationalen Interessen denunzieren, und nach außen war er auf Revision der Grenzen gerichtet 149 : auf Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1914, die aber für die maßgeblichen Strömungen nur als Vorstufe zur Vereinigung »aller deutschen Volksteile . . ., die innerhalb des geschlossenen Siedlungsgebietes in Mitteleuropa leben« 150 , in einem großdeutschen Reich gedacht war - welches dann als Basis für eine europäische Vormachtstellung fungieren sollte. Auch für die bürgerlich-demokratischen Parteien und für die »Friedenspolitik« Stresemanns war die deutsche Frage »offen«, durften - mindestens im Osten - die Grenzen keinesfalls anerkannt werden. 83
Das Deutsche Reich erklärte sich also zuständig für alle Deutschen - gleichgültig ob sie innerhalb seiner Grenzen oder in einem anderen Staat lebten. Deutschland sei eben mehr als das Territorium der Weimarer Republik. Das moralische Argument lautete, daß das »Deutschtum« allenthalben unterdrückt werde. Politisch aber lief das auf einen Anspruch zur permanenten Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten (besonders Polens und der Tschechoslowakei) hinaus und also auf den Versuch, diese Staaten mit Hilfe der deutschen Volksgruppen zu destabilisieren. Diese Politik wurde zwar erst vom faschistischen System zur letzten Konsequenz gesteigert, aber in der Weimarer Republik schon sehr intensiv vorbereitet. Selbstverständlich sollten diese Ziele nach den Bekundungen der bürgerlich-demokratischen Kräfte der Weimarer Republik nur mit friedlichen Mitteln angestrebt werden. Allerdings wurde ihre Realisierung zugleich als Beitrag zur »Befriedung Europas«, als »Unterbau des Europäischen Friedens« charakterisiert151, eine Formulierung, in der drohende Untertöne nicht zu überhören sind. Denn solche Aussagen können auch als konditionale Aussagen gelesen werden: Frieden wird es in Europa erst geben, wenn diese Bedingungen erfüllt sind. Wie im Kapitel I dargestellt, wurde genau diese Linie von der herrschenden Politik der Bundesrepublik wieder aufgenommen. Bei der politischen Rechten der Weimarer Republik hatte die Betonung des friedlichen Charakters der Revisionspolitik vielfach ohnehin nur taktische Funktion. So wurde in der Deutschnationalen Volkspartei schon 1920 festgestellt: »Wir selber können innerlich den Vorbehalt machen, daß, wenn friedliche Mittel nicht zum Ziele führen, nötigenfalls auch andere ergriffen werden müssen.« 152 Die entsprechenden militärischen Planungen liefen dann seit Mitte der zwanziger Jahre auf vollen Touren. So hatte es in der Tat den Anschein, als stehe auf der einen Seite das »nationale« Lager und auf der anderen Seite das internationalistische. Die Rechte hatte erneut das Monopol in der Verfügung über den »nationalen Gedanken« erlangt. Die SPD votierte für die Annahme der Bedingungen, die die Westmächte setzten, in der Hoffnung, damit und durch die Eingliederung in die antibol84
schewistische Front längerfristig eine Verständigung und zugleich eine Lockerung dieser Bedingungen zu erreichen. Von dieser Position aus konnte die Frage nach den »nationalen Interessen« gegenüber den Kapitalinteressen der Westmächte natürlich nicht gestellt werden. Gegenüber der nationalistischen Demagogie der Rechten, die dies alles als »nationalen Verrat« denunzierte, war die SPD ziemlich wehrlos. Die KPD andererseits verabsolutierte zunächst den Internationalismus, erklärte nationale Interessen für nicht existent und die Sowjetunion zum »Vaterland aller Werktätigen«. Sie bestätigte damit vordergründig die Demagogie der Rechten, daß die Kommunisten Agenten einer auswärtigen Macht und deshalb aus der »nationalen Gemeinschaft« auszuschließen seien. So hatten sich beide Arbeiterparteien in je besonderer Weise gänzlich abgewandt von dem Gedanken, daß es nationale Interessen gebe, die auch die Arbeiterbewegung zu vertreten hätte. Diese Abwendung war auch deshalb sehr begreiflich, weil alles, was mit Nation und Nationalismus zusammenhing, durch den Ersten Weltkrieg total diskreditiert erschien - jedenfalls bei der großen Masse der Arbeiter. 1923 vollzog dann die KPD eine gewisse Kursänderung. Als Frankreich das Ruhrgebiet besetzte und die »nationale Frage« unweigerlich auf die Tagesordnung brachte, versuchte sie - eher hektisch als fundiert - den Anschluß an die reale Problemlage zu gewinnen (»Schlageter-Kurs«), stellte diese Versuche aber noch im gleichen Jahr wieder ein. In den folgenden Jahren haben beide Richtungen der Arbeiterbewegung darauf verzichtet, die »nationale Frage« überhaupt noch zu thematisieren und mit der sozialen zu einem konsistenten Programm zu verbinden. Doch die Wirkung des »nationalen Gedankens« war keineswegs gebrochen. Dafür sorgten nicht nur die ideologischen Traditionen des Nationalismus, die im Gefolge der Restauration der alten Kräfte nach 1918 sich wieder hatten stabilisieren können, sondern auch die realen Verhältnisse: jedermann wußte ja, welche Friedensbedingungen und Reparationszahlungen die Sieger dem Deutschen Reich auferlegt hatten. Was also lag für die Rechte näher, als die ganze soziale Misere, unter der die abhängig Arbeitenden ebenso litten wie die kleinbürgerlichen Schichten 85
und die Bauern, darauf zurückzuführen? Und wer hätte diese Wirkung beeinträchtigen können, da die großen Arbeiterparteien zu dieser Seite der politisch-sozialen Problematik allzu lange schwiegen? Sicherlich, die Arbeiterschaft war gegen diesen Nationalismus weitgehend immun, doch die schwankenden bürgerlichen Schichten und die Landbevölkerung erwiesen sich als um so anfälliger - und sie wurden von der Arbeiterbewegung bei ihrer Suche nach einer Erklärung dieser Zusammenhänge weitgehend allein gelassen. Ihnen gegenüber reichte es nicht aus, den Nationalismus der Rechten nur zu verurteilen und als reaktionär zu entlarven. Die Suggestivkraft des Nationalismus wuchs dann gewaltig an, als nach 1929 die große Krise Millionenmassen in Angst und Verzweiflung stürzte und verstärkt zur Suche nach Alternativen trieb. Im August 1930 entschloß sich die KPD zu einem Programm »zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes« 153 - also noch vor den Septemberwahlen, bei denen dann der NSDAP der Durchbruch zur Massenpartei auf Reichsebene gelang. In diesem Programm hieß es: »Wir werden den räuberischen Versailler Friedensvertrag« und den Youngplan, die Deutschland knechten, zerreißen, werden alle internationalen Schulden und Reparationszahlungen, die den Werktätigen Deutschlands durch die Kapitalisten auferlegt sind, annullieren.« Und - gegen den »nationalverräterischen, antisozialistischen, arbeiterfeindlichen Faschismus« gewandt: »Die Nationalsozialisten behaupten, Wirtschaftskrisen und Ausplünderung der Massen seien lediglich Folgen des Youngplans; die Überwindung der Krise sei bereits gesichert, wenn Deutschland die Fesseln des Versailler Vertrages abstreift. Das ist ein grober Betrug. Um das deutsche Volk zu befreien, genügt es nicht, die Macht des Auslandskapitals zu brechen, sondern die Herrschaft der eigenen Bourgeoisie im eigenen Land muß gleichzeitig gestürzt werden. Die Krise wütet nicht nur im Deutschland des Youngplans, sondern auch in den siegreichen imperialistischen Ländern mit Amerika an der Spitze.« Zugleich sei der »Freiheitskampf der Kolonialvölker« zu unterstützen, der den gleichen Gegner habe. 86
Von den fragwürdigen und falschen Aussagen dieses Programms einmal abgesehen, die sich vor allem auf die ultralinke politische Analyse der Sozialdemokratie und des bürgerlichen Parlamentarismus bezogen, wird hier doch richtig herausgearbeitet, daß es von einem sozialistischen Standpunkt aus neben den allgemeinen Interessen der arbeitenden Massen im Kapitalismus auch spezifische Interessen gibt, die in den verschiedenen Nationalstaaten unterschiedlich sind. Sie erhalten ihre Spezifik von der konkreten politischen, ökonomischen und militärischen Lage dieses Nationalstaats im internationalen System. Dennoch rief diese programmatische Wendung der KPD mehr Verwirrung als Klärung und positive Resonanz hervor. Das lag aber nicht nur an den fehlerhaften linksradikalen Elementen dieses Programms, sondern wesentlich auch daran, daß die Massen daran gewöhnt waren, »das Nationale« der Rechten zuzuordnen und ihm die Arbeiterbewegung als den Repräsentanten des Internationalismus gegenüberzustellen. So rief dieses Programm nicht nur heftige Angriffe von Seiten der Sozialdemokratie hervor, die darin einen neuen Beweis für die Wesensverwandtschaft von Kommunisten und Nationalsozialisten sah, sondern auch Unsicherheit in der Arbeiterschaft, die solche nationalen Töne bisher mit dem politischen Gegner zu identifizieren gewohnt war. Und bis zur Gegenwart wird dieses Programm im herrschenden Geschichtsverständnis dann auch als Beleg für die Totalitarismusthese interpretiert. Jedenfalls gelang es auch mit diesem Programm nicht, das Monopol der Rechten in der »nationalen« Sache zu brechen. 1933, mit der Bildung der Regierung Hitler, der Regierung der »nationalen Erhebung«, setzte sich, wie schon 1914, jene Kräftekonstellation durch, die die »nationalen Interessen« rigoros aus der Sicht der herrschenden Klasse definierte. Und worauf die »Deutschtumspolitik« tatsächlich gerichtet war, beschrieb der Leiter des Bundes Deutscher Osten, Theodor Oberländer, 1936 wie folgt: »Volkstumskampf ist unter dem Deckmantel des Friedens nichts anderes als die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.« 154 (Eben jener Oberländer, der während des Krieges dann in führenden Positionen an der Terror- und Ausrottungspo87
litik des Faschismus im Ostraum beteiligt war, kümmerte sich später in der Bundesrepublik weiterhin um die Deutschen im Osten: er war 1953 bis 1960 Vertriebenenminister und bis 1965 Vorsitzender des Landesverbandes »Oder-Neiße« der CDU.) Es gelang den »nationalen Kräften« Deutschlands also erneut, die starken Gefühle nationaler Zusammengehörigkeit und die große Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, in der alle sicher aufgehoben sind, für ihre Ziele zu mobilisieren und die Gegenkräfte als Vaterlandsverräter zu denunzieren - und dann entsprechend zu behandeln. Sogar Teile der reformistischen Arbeiterbewegung und ihrer Führungen schwenkten im Frühjahr 1933 auf diesen Kurs ein - in Fortsetzung jener »nationalen Politik«, die 1914 schon einmal triumphiert hatte. Als die Regierung Hitler den 1. Mai den internationalen Kampftag der Arbeiterklasse umfälschte zum »Tag der nationalen Arbeit«, rief die Führung des ADGB ihre Mitglieder auf, gemeinsam mit den Nationalsozialisten zu demonstrieren. Dies bewahrte den ADGB freilich nicht davor, schon am nächsten Tag, am 2. Mai, zerschlagen zu werden. So inszenierte der Faschismus auch hier wirklich ein Lehrstück, das gründlich zu studieren auch für die Gegenwart sehr nützlich sein kann. Der Faschismus sah nämlich klar, daß die nationalistische Propaganda sich nur dann voll entfalten konnte, wenn sie durch die terroristische Unterdrückung der Linken abgesichert war: »Die Nationalisierung unserer Masse wird nur gelingen, wenn bei allem politischen Kampf um die Seele unseres Volkes ihre internationalen Vergifter ausgerottet werden«, hatte Hitler schon in »Mein Kampf« erklärt 155 - und danach wurde nun verfahren. Unter den Bedingungen der Diktatur, da demokratische Alternativen darüber, was die »nationalen Interessen« seien, nicht mehr öffentlich formuliert werden konnten, war es der nationalen Demagogie des Faschismus dann möglich, ihre Wirkung umfassend zu entfalten. Wie groß die Suggestivkraft des »nationalen Gedankens« sogar über die Staatsgrenzen hinaus war, zeigte 1935 die Volksabstimmung im Saarland, bei der auch die Aktionseinheit von Sozialdemokraten und Kommunisten keinen Damm mehr zu bilden vermochte: 91% stimmten für den An88
Schluß an das Deutsche Reich (wobei freilich die zuständigen katholischen Bischöfe massive ideologische Hilfe leisteten). Als dann gar die Nation sich in (zunächst) siegreichen Kriegen bewähren konnte, da waren jene Kräfte, die von den »nationalen Interessen« ganz konträre Vorstellungen hatten, durch den Terror stumm gemacht oder in die Emigration getrieben; gegenüber der Stimmung der Massen waren sie auch weitgehend isoliert. Erfahrungen und Erkenntnisse dieser Antifaschisten bleiben für uns jedoch sehr wertvoll - gerade auch diejenigen, die sie aus ihrer Niederlage in der nationalen Frage gewannen. Vom Internationalen Kongreß zur Verteidigung der Kultur 1935 bis zum Nationalkomitee Freies Deutschland, das 1943 in der Sowjetunion gebildet wurde, reichen die Versuche der Antifaschisten, in der nationalen Frage zu einem tieferen Verständnis zu gelangen. Und die Diskussionen in der KPD 1945/46 über den Stellenwert der nationalen Besonderheiten beim Übergang zum Sozialismus zeigten an, daß dieses Problem über die Zeit des Faschismus hinaus von großer Bedeutung war. 155a Es wird gegenwärtig auch in den sozialistischen Ländern weiterdiskutiert. Soeben hat z. B. die Moskauer Prawda in bezug auf die Entwicklung in Ungarn geäußert, bei der Konzipierung einer bestimmten Politik gelte es, die geographische Lage des Landes, »die Eigenart seiner historischen Geschicke und die Besonderheiten des nationalen Charakters« zu berücksichtigen. 155b Aber auch von den herrschenden Klassen wurden die Erfahrungen, die man mit dem Faschismus gemacht hatte, ausgewertet, und zwar auch in Hinsicht auf die Funktion des Nationalismus. Und diese Auswertung erfolgte (und erfolgt) keineswegs nur in der Bundesrepublik. Daß der Nationalismus seit einiger Zeit wieder bewußt als ideologisches Mittel eingesetzt wird, wurde in Kapitel I. ausführlich dargestellt. Doch selbst die extremen Formen und Funktionen werden keineswegs von vorneherein verworfen. So erfährt z. B. der Gedanke, daß der Krieg ein besonders wirksames Mittel sei, um »nationale Identität« erfahrbar zu machen, gerade in der letzten Zeit wieder eine beachtliche Aufwertung. In der Tat erzeugte der Falklandkrieg in Großbritannien 89
einen nationalen Taumel von ungeahntem Ausmaß, so daß es auch begreiflich ist, wenn Theoretiker der Rechten in der Bundesrepublik sich eine ähnliche Chance wünschen 156 ; und der »Sieg von Grenada« trug in den USA wesentlich dazu bei, einen neuen nationalen Enthusiasmus im Sinne der Regierung Reagan zu erzeugen. (Voraussetzung war natürlich in allen Fällen, daß die Siege rasch und ohne größere Verluste errungen werden konnten.)
90
III. Nation, Nationalbewußtsein und nationale Frage - heute
1. Die Spaltung der Nation Wie also soll man sich angesichts dieser historischen Erfahrungen in der heutigen Auseinandersetzung stellen zu Begriffen wie »Nation«, »Nationalbewußtsein« und »nationale Interessen«? Was ist die »nationale Frage« heute? Zunächst einmal ist festzuhalten: Unzweifelhaft existieren die Nationalstaaten als Realitäten und nicht nur als Ideologie. Und sie stellen - trotz aller supranationaler Einrichtungen und internationalen Verflechtungen ökonomischer, politischer und militärischer Art - immer noch die eigentlich handelnden Subjekte in der Weltpolitik dar. Anders gesagt: Sie bilden immer noch wenn auch mit sich abschwächender Tendenz - den Hauptrahmen, innerhalb dessen die Produktivkräfte sich entwickeln, die sozialen Interessen sich organisieren und in politische Willensbildung umsetzen. Daß diese »nationalen Einheiten« unter Bedingungen der Klassengesellschaft in sich widersprüchliche, von antagonistischen Interessen geprägte, sind, ändert daran nichts. Das war immer so, seit es bürgerliche Nationalstaaten gibt. Wie auch schon in früheren Perioden bilden zwar Nationalitäten mit sprachlichen und kulturellen Gemeinsamkeiten in der Regel die Basis von Nationalstaaten, doch heißt das nicht, daß ihre Grenzen mit Nationalitätengrenzen übereinstimmen. Franzosen gehören der Schweiz an, Slowenen leben in Österreich, und Schweden leben in Finnland; die Schotten bilden zusammen mit den Engländern Großbritannien - ganz zu schweigen von dem Nationalitätengemisch der USA; und sie alle haben offenbar wenig Neigung, diesen Zustand zu ändern. 91
Was folgt daraus für die »deutsche Frage« ? Sehen wir zunächst von den Millionen von Deutschen ab, die seit dem Beginn des Kapitalismus wegen sozialer Verelendung und politischer Unterdrückung ihr »Vaterland« verlassen und sich in anderen Ländern und Kontinenten eine Heimat suchen mußten; und ebenso von den Millionen von Italienern, Spaniern, Jugoslawen und Türken, die - teils zielbewußt von der Bundesrepublik angeworben, teils von der Not getrieben - als Arbeitskräfte in die Bundesrepublik gekommen sind, und von den vielen anderen, die als Kinder dieser Arbeitskräfte bereits hier geboren wurden. (Diesen über vier Millionen Menschen, die seit zwei Jahrzehnten in die Bundesrepublik eingewandert sind, teilen nun die Regierenden dieses Landes mit, daß diese Bundesrepublik gar kein Einwanderungsland sei!) Sieht man von alledem also ab, wovon man eigentlich nicht absehen kann, so bleibt die Frage: Was ist mit »den Deutschen« in Mitteleuropa? Das sind zunächst einmal beachtliche Teile, die sich schon vor Jahrhunderten abgewandt und anderen Nationalstaaten angeschlossen oder eigene Nationalstaaten gebildet haben. Dies gilt für die Deutschen in der Schweiz; dies gilt für die Holländer, die im 16. Jahrhundert einen eigenen Nationalstaat begründet und auf der Basis ihres niederfränkischen Dialekts eine eigene nationale Schriftsprache entwickelt haben; dies gilt aber auch für die Deutschen im Elsaß, in Lothringen und in Luxemburg, die sich - drangsaliert vom preußischen und deutschen Absolutismus und Militarismus - trotz ihrer sprachlichen Zugehörigkeit zum deutschen Volk für die französische Kultur, und das heißt für die Elsässer und Lothringer eben auch: für den französischen Nationalstaat entschieden haben; das Erlebnis der Französischen Revolution bei fortdauernder politischer und geistiger Unterdrükkung in Deutschland fungierte dabei nicht zufällig als ein Drehund Angelpunkt. Allein diese Abspaltungen geben schon einen Begriff davon, wie die herrschenden Klassen dieses Landes mit der nationalen Frage umgegangen sind. Es folgte 1866/71 die schon dargestellte Hinausdrängung der Deutschen in Österreich durch den preußisch-deutschen Militarismus, die schwerwiegende Folgen für 92
die politische und kulturelle Entwicklung in Deutschland hatte. Denn natürlich hätte die Einbeziehung der kulturellen Traditionen Österreichs dem deutschen Nationalstaat ein wesentlich anderes, vor allem weniger militaristisch-diszipliniertes und weniger protestantisch-asketisches, Gepräge gegeben: Vom Staatsapparat bis zur Arbeitswelt und zum kulturellen und geistigen Leben - von der Kochkunst ganz zu schweigen. Statt dessen prägte der Tugendkodex der preußischen Militärkaste das Denken auch der bürgerlichen Schichten und bereitete mit seinen Begriffen von Pflicht und Gehorsam, Herrenmenschendünkel und Untertanengeist jenen Typus »des Deutschen« vor, der dann in den Uniformen der Wehrmacht und der SS ganz Europa in Schrecken versetzte. Aus dieser Spaltung Deutschlands 1866/71 entstand schließlich ein zweiter deutscher Nationalstaat, der sich nach einer Periode des Schwankens, die von 1918 bis 1945 dauerte, angesichts der Erfahrungen mit dem deutschen Faschismus wirklich konsolidiert und ein durchaus eigenes Nationalbewußtsein entwickelt hat. Diese Erfahrungen mit dem preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat und dann mit dem Faschismus waren auch bestimmend für die Forderungen der Antifaschisten nach einer grundlegenden gesellschaftlichen Umgestaltung im Sinne von Demokratie und Sozialismus nach 1945. Bekanntlich wurden aber in den westlichen Zonen unter dem Druck der maßgeblichen Besatzungsmacht, der USA, diese Forderungen abgewehrt, und die alte Gesellschaftsordnung wurde wiederhergestellt und gefestigt. Und dann wurde das, was von Deutschland noch übriggeblieben war, ein weiteres mal gespalten: auf Anordnung der Westmächte wurde (wie die »Londoner Empfehlungen« und die »Frankfurter Dokumente« von 1948 in aller Klarheit zeigen) aus diesen drei Zonen ein neuer Staat, die Bundesrepublik, gebildet und in die Strategie des kalten Krieges politisch, ökonomisch und militärisch einbezogen. »Die Bundesrepublik entstand als Produkt amerikanischer Strategie«, stellte der durchaus konservative, der CDU verbundene Politologe Waldemar Besson kurz und präzis 93
fest. 157 Daraufhin wurde auch auf dem Boden der sowjetischen Besatzungszone ein neuer Staat errichtet. Diese Spaltung Deutschlands wurde zwar von den Westmächten, insbesondere den USA, erstrebt und durchgesetzt. Doch die alten Führungsschichten, die bis 1945 als die »nationalen Kräfte« fungiert hatten und nun in ihren Machtpositionen wieder befestigt worden waren, haben diese Politik der Spaltung mitgetragen. Legitimiert wurde dies einerseits mit der Parole »Freiheit vor Einheit«, die im Klartext hieß: besser ein kapitalistisch strukturiertes Deutschland, das auf drei Zonen beschränkt ist, nun aber einen Bestandteil des mächtigsten Militärblocks der Welt bildet, als ein geeintes Deutschland mit neutralem Status und unkalkulierbaren Entwicklungstendenzen in Richtung Sozialismus. Diese Entscheidung fiel um so leichter, als angesichts der ökonomischen und militärischen Übermacht des Westens die Wiedergewinnung des verlorenen Restes nur eine Frage der Zeit schien. Diese Politik wurde also andererseits legitimiert als erster Schritt zur Wiedererrichtung eines gesamtdeutschen Staates. Und so wurde das, wie bereits dargestellt, auch offen ausgesprochen: Ziel der »Politik der Stärke« war, »die Befreiung der besetzten deutschen Gebiete« 158 , »eine deutschnationale Formel für die damalige amerikanische Politik des >roll-back<«159 - und darüber hinaus die »Befreiung des gesamten versklavten Osteuropa«. Von dieser Position aus wurden sämtliche Angebote auf Wiederherstellung eines einheitlichen deutschen Nationalstaats, wie sie bis zum Ende der fünfziger Jahre immer wieder von der DDR und der Sowjetunion vorgelegt wurden, geradezu höhnisch abgewiesen. Als die Regierung der DDR im Februar 1957 die Bildung einer Konföderation beider deutscher Staaten als Zwischenlösung vorschlug sowie die Vorbereitung freier Wahlen, erklärte Außenminister v. Brentano am 23. 1. 1958 in der Regierungserklärung: »Was soll eine Konföderation zwischen einer Demokratie und einer kommunistischen Diktatur?« In historischer Perspektive läßt sich das auch so formulieren: jene besitzenden und herrschenden Klassen, die sich seit 1866/71 als die »nationalen Kräfte« darstellten, dokumentierten nun er94
neut, was sie unter »nationalen Interessen« verstanden. Damit ist nicht nur das gemeint, was herrschende Klassen üblicherweise in bürgerlichen Nationalstaaten zu tun pflegen: daß sie nämlich die auf Änderung der Eigentumsverfassung drängenden Kräfte aus der »nationalen Gemeinschaft« tendenziell ausgrenzen, wenn es sein muß auch mit Militärgewalt niederwerfen und dabei in der nationalen Frage gar nicht kleinlich sind. (Die in anderem Zusammenhang schon erwähnte Niederwerfung der Pariser Commune durch das französische Großbürgertum mit Hilfe der preußischen Truppen 1871 ist dafür ein anschauliches Beispiel.) Und daß sie ferner ihre eigenen Interessen auch außenpolitisch als die der Nation ausgeben und Gefühle nationaler Zusammengehörigkeit dazu benutzen, um ihre Expansionsinteressen auch mit militärischen Mitteln zu verfolgen. Dies alles ist sozusagen normal in bürgerlichen Nationalstaaten. Die »nationalen Kräfte« in Deutschland aber haben es vermocht, die Nation nicht nur nach innen hin tiefer zu spalten als in irgendeinem anderen bürgerlichen Nationalstaat - die Konzentrationslager sind dafür der symbolische Ausdruck -; sondern sie haben die Nation auch nach außen innerhalb eines knappen Jahrhunderts zweimal so tief gespalten, daß schließlich drei deutsche Nationalstaaten entstanden sind (von all den früheren Abspaltungen ganz abgesehen). Dies ist also das reale Resultat einer Politik, die über fast ein Jahrhundert hin das »nationale Interesse« im Sinne von absolut rücksichtsloser Expansions- und Eroberungspolitik definiert und dafür zwei Weltkriege begonnen hat. Wenn diese Kräfte von der »Nation« und von »nationalen Interessen« reden, ist es also geboten, genauer hinzusehen. 1949 war die Spaltung des nach dem Zweiten Weltkrieg übriggebliebenen Teils von Deutschland in zwei Staaten also vollendete Tatsache. Das hieß aber nicht, daß sie als definitiv akzeptiert wurde. Beide deutsche Staaten hielten noch längere Zeit in ihren Verfassungen und in ihren politischen Bekundungen an der These fest, sie seien nur vorläufige Gebilde und bestrebt, einen einheitlichen Nationalstaat herzustellen. Doch die Ansätze, die es dafür durchaus gab, wurden nicht genutzt, und so lösten sich die Hoffnungen, daß dies möglich werden könne, allmählich auf. 95
Die Realität zeigte schließlich in aller Härte, daß hier zwei neue Staaten entstanden waren. Mit der gegenseitigen Anerkennung als Völkerrechtssubjekte im Grundlagenvertrag 1972 und der Aufnahme beider Staaten in die U N O 1973 fand diese Entwicklung auch völkerrechtlich ihren Abschluß. Die DDR änderte angesichts dieser Entwicklung 1974 den Text ihrer Verfassung und gab ihre bisherigen Ansprüche auf und 1976 änderte auch die SED ihr Programm 160 - im Unterschied zur Bundesrepublik, die ihren Anspruch in der Präambel des Grundgesetzes beibehielt: »Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.« Und obgleich eine Präambel keineswegs die rechtliche Verbindlichkeit von Verfassungsnormen, sondern nur deklamatorische Bedeutung besitzt (wie sollte sonst die »Verantwortung vor Gott« in der gleichen Präambel für die atheistisch denkenden Bevölkerungsteile interpretiert werden?), erklärte die Bundesregierung gerade diesen Satz zur absolut verbindlichen Richtlinie jeglicher Politik in der »nationalen Frage«. Es haben sich also unzweifelhaft zwei neue Staaten deutscher Nationalität real herausgebildet. Solche Realentwicklungen bleiben nicht ohne Folgen für das Bewußtsein. Was nun die Herausbildung eines eigenständigen Nationalbewußtseins betrifft, so ist das nach allen Erfahrungen, die wir mit der Entstehung von Nationalstaaten haben, allerdings ein längerer Prozeß. Auch in Österreich hat es Jahrzehnte gedauert, bis sich die Bevölkerung als eine eigenständige Nation begriffen hat. In der Bundesrepublik wie in der DDR ist dieser Prozeß sicher noch nicht abgeschlossen, aber er schreitet relativ kontinuierlich voran, da nun einmal das alltägliche Leben und Arbeiten auf den jeweiligen Staat bezogen sind und durch ihn ihren Rahmen erhalten. Nun gibt es also eine ganze Reihe von Staaten deutscher Nationalität: drei größere - die Bundesrepublik, die DDR und Österreich - und mindestens zwei kleine - Luxemburg und Liechtenstein (von der Schweiz und Holland wegen der verschiedenen Sonderbedingungen, vor allem der relativ frühen Herauslösung, einmal abgesehen). Was also ist jetzt die »nationale 96
Frage« ? Sie besteht offensichtlich nicht darin, daß alle Menschen der deutschen Muttersprache und der deutschen Kultur und Geschichte in einem Staat vereinigt werden könnten. Selbst diejenigen Repräsentanten der herrschenden Politik, die diese Formel von der »gemeinsamen Sprache, Kultur und Geschichte« (oder gar vom gemeinsamen »deutschen Volkstum«, verstanden als genetisch-ethnische Einheit) ständig im Munde führen, haben dabei ausschließlich die »Wiedervereinigung« mit der DDR und - skurrilerweise - mit den »Oder-Neiße-Gebieten« im Auge, wo seit Jahrzehnten überwiegend polnisch gesprochen wird. In Wirklichkeit geht es also um etwas Anderes. Was die DDR von Österreich, Luxemburg und Liechtenstein unterscheidet, ist nicht ihre deutsche Sprache und Kultur, sondern ihre sozialistische Gesellschaftsordnung. Das ist der Dorn im Auge, und deshalb wird die »nationale Frage« für »offen« und die »Überwindung der Spaltung« für notwendig erklärt. Weder logisch noch historisch noch völkerrechtlich ergeben die Formeln von »nationaler Identität« und »nationaler Gemeinschaft« im Zusammenhang mit den Beziehungen zwischen Bundesrepublik und DDR einen Sinn. Sie bilden nur den ideologischen Mantel, mit dem die politische Zielsetzung eingehüllt wird. Als Kern der ständig beschworenen, angeblich offenen »nationalen Frage« erweist sich also die soziale Frage. Und das wiederum ist nun gar nichts Neues. Denn immer, wenn in den letzten hundert Jahren das »nationale Ganze« und die Interessen »der Nation« beschworen wurden, war damit die Durchsetzung der Kapitalinteressen nach innen und nach außen gemeint.
2) Die nationale Identität der Bundesrepublik Die »nationale Frage« ist also in dem Sinne geklärt, daß im Laufe der geschichtlichen Entwicklung mehrere deutsche Nationalstaaten entstanden und als politische Subjekte in der internationalen Politik tätig sind. Unter ihnen ist ein Staat mit sozialistischer Gesellschaftsordnung. Der deutsche Nationalstaat, auf den unser politisches Handeln - ob er uns besonders gefällt oder 97
nicht - real sich bezieht, ist die Bundesrepublik, ein bürgerlicher Nationalstaat mit konkreten sozialen, ökonomischen und verfassungsrechtlichen Strukturen, politischen Organisationen und geistigen Traditionen, die den Rahmen unseres Handelns determinieren. Nur indirekt - indem wir die Willensbildung der Bundesrepublik beeinflussen - und sekundär - über internationale Organisationen und Institutionen - wirkt unser politisches Handeln über die Bundesrepublik hinaus. Wie alle bürgerlichen Nationalstaaten bildet auch die Bundesrepublik eine widersprüchliche Einheit aus unterschiedlichen, z. T. gegensätzlichen Interessen, die miteinander um die Bestimmung des politischen Kurses dieses Staates ringen. Ich riskiere sogar die These - in vollem Bewußtsein, wie heikel und kontrovers diese Frage innerhalb der Linken der Bundesrepublik ist -, daß ein diesen Tatsachen entsprechendes eigenständiges bundesrepublikanisches Nationalbewußtsein, ein Bewußtsein »nationaler Identität«, im Entstehen begriffen ist und bei der jüngeren Generation schon in hohem Maße existiert. Dies weisen auch die empirischen Befunde in aller Klarheit aus: das Identitätsbewußtsein bezieht sich auf die Bundesrepublik - und nicht auf ein fiktives »Gesamtdeutschland«. Die Bewohner der Bundesrepublik sind auch »nicht in sich zerrissen«. 161 Gerade in den letzten zehn Jahren sind diese Veränderungen rasch vorangeschritten: 1974 »bildeten für 7 von 10 Bundesbürgern die DDR und die Bundesrepublik Deutschland trotz politischer Teilung noch eine nationale Einheit«. 1984 meinen nur noch 42%, daß beide »eine deutsche Nation darstellen«, 53% dagegen, daß das nicht der Fall sei. Nur noch »bei den Bundesbürgern im Rentenalter« gibt es eine Mehrheit für die erste These. 162 Zwar wünschten 1981 noch 62% die Wiedervereinigung, und gar 71 % wollten die Formulierung der Präambel auch weiterhin im Grundgesetz haben, doch nur 13% glaubten an ihre Realisierbarkeit, und nur 1 % hält die Wiedervereinigung für das »wichtigste politische Anliegen«. 163 Zwar steht die Bevölkerung der DDR uns im Bewußtsein der Bundesbürger noch näher als die Österreichs oder der Schweiz, was angesichts der geringeren Dauer der Trennung kein Wunder ist. Doch der Abstand ist im 98
Schwinden begriffen: Während 1970 noch 68% einen DDR-Bürger, den sie im Urlaub treffen, für »einen Landsmann« hielten, waren es 1981 nur noch 49%. Zugleich war der Anteil derer, die sich mit ihm »nicht mehr verbunden« fühlten als mit einem Österreicher oder Schweizer, von 20% auf 30% (im Falle der Schweizer von 18% auf 26%) angewachsen. 164 Was hier sich herausbildet, ist also eine bundesrepublikanische Nation - ob wir das nun so nennen oder nicht. Es ist dies die gleiche Entwicklung, die sich auch in der DDR vollzieht 165 und die sich in Österreich schon vollzogen hat. Unterschiedliche Lebens- und Arbeitsweisen, Bildungsinhalte und Bildungsformen bedingen unterschiedliche Erfahrungen und Auffassungen, Gebräuche und Gewohnheiten. Die Unterschiede prägen sich aus, je länger diese deutschen Nationalstaaten in ihrer Besonderheit existieren. Die gedanklichen und terminologischen Eiertänze, die hierzulande aufgeführt werden, um dieser ebenso schlichten wie zwingenden Konsequenz zu entgehen, wären eine eigene Untersuchung wert. Sie stehen den Eiertänzen, die über zwanzig Jahre lang aufgeführt worden sind, um der DDR den Charakter der Staatlichkeit abzusprechen, in keiner Weise nach. Als »Gebilde« und »Phänomen«, als »sowjetische Besatzungszone« und »sogenannte DDR« und mit mancherlei anderen Vokabeln wurde sie bezeichnet, Beamten wurde es von Staats wegen verboten, die Bezeichnung DDR zu benutzen - und die SPD und die von ihr geführten Landesregierungen haben diesen Unfug, der auch im westlichen Ausland große Verwunderung und schließlich nur noch Kopfschütteln erregte, über zwanzig Jahre lang mitgemacht. Seither haben die Kräfte, die hinter dieser Politik standen, zwar schwere Niederlagen erlitten. Sie konnten weder die vertragliche Anerkennung der Grenze gegenüber Polen noch die völkerrechtliche Anerkennung der DDR verhindern, und das hatte auch Folgen fürs Bewußtsein und für den Sprachgebrauch: Seither ist in der Bundesrepublik der Anteil derer, die diesen Staat DDR nennen, von 11% (1966) auf 66% (1982) angewachsen, der Anteil derer aber, die »Ostzone«, »Ostdeutschland«, 99
»Mitteldeutschland«, »sowjetische Besatzungszone« usw. sagen, von 80% auf 26% zurückgegangen (5 — 6% sagten und sagen: »drüben«). 166 Die Springerpresse repräsentiert mit ihrem Sprachgebrauch also nur noch eine kleine extremistische Minderheit. Dennoch halten diese Kräfte an ihren Revisionsforderungen fest - neuerdings ermutigt durch die Politik der Regierung Reagan und die Bildung der »Regierung der Wende« in der Bundesrepublik. Und die Kapriolen, die jetzt aufgeführt werden, wenn von der »nationalen Frage« die Rede ist, wären nicht minder amüsant - wenn sie politisch nicht ebenso gefährlich wären wie es damals »Alleinvertretungsanspruch« und »HallsteinDoktrin« waren. Die Basis der gesamten Konstruktion bildet - heute wie damals - die in der Tat mysteriöse und mit dem Menschenverstand kaum zu fassende Lehre, daß das Deutsche Reich 1945 nicht untergegangen ist, sondern auf geheimnisvolle Weise weiterbesteht auf einem Territorium, auf dem außerdem noch zwei andere Staaten bestehen. Die logische Absurdität dieser juristischen Fiktion ist allenfalls noch vergleichbar mit dem katholischen Dogma von der Heiligen Dreifaltigkeit, bei der ebenfalls drei Wesen zugleich ein Wesen bilden - und sie kommt ja auch mindestens teilweise aus der gleichen weltanschaulichen Richtung. Da also das Deutsche Reich weiterbesteht, besteht auch die deutsche Nation weiter. 167 Das eine, kaum noch begreifbare, Mysterium gibt es also deshalb, weil es ein anderes, überhaupt nicht begreifbares Mysterium gibt. Das ist die Logik jener Begründungen, die eine gesamtdeutsche nationale Identität gefunden haben wollen. Und die Bürger der Bundesrepublik sind verpflichtet, diesem Mysterium ihre Referenz zu erweisen: so haben die Autofahrer ein »D« an ihrem Pkw zu befestigen. Wer sich lediglich auf den real bestehenden Staat bezieht und ein »BRD« anbringt, kann bestraft werden. Wer Briefe aus dem Ausland in die BRD sendet, hat gleichfalls seinen Hut vor dem großen D zu ziehen. Als Kinder haben wir herzlich gelacht über das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Aber dieses Märchen wird, wie man sieht, von der politischen Wirklichkeit dieses unseren Landes glatt übertroffen. Damit aber ist das Mysterium noch keineswegs 100
am Ende: Unzweifelhaft und völkerrechtlich anerkannt existieren jetzt zwei deutsche Staaten. Die Bürger dieser Staaten gehören diesen Staaten an, sind also Staatsangehörige dieser Staaten. Dieser Gedanke ist so banal, daß man ihn kaum auszusprechen wagt. Hier aber steigert sich die Phantasie unserer juristischen Ideologen ins Gigantische: Die Bürger dieser Staaten sind keineswegs Staatsbürger dieser Staaten, sondern sie sind Staatsbürger jenes mysteriösen Deutschen Reiches, das als Geist über allen konkreten Gebilden schwebt und über alle realen Staaten erhaben ist. Und deshalb kann es nur eine deutsche Staatsbürgerschaft geben. In der Geisterwelt der Staatsrechtslehre sieht das so aus: Es existiert »nach wie vor ein gesamtdeutsches Staatsvolk, zu dem die beiden in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR lebenden Staatsvölker gehören«. Und die gemeinsame Staatsangehörigkeit existiert weiter, denn »das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913 ist heute noch . . . die Hauptquelle des Staatsangehörigkeitsrechts in der Bundesrepublik Deutschland«. 168 In den Niederungen des politischen Tageskampfes nimmt sich das dann so aus: Außenminister Genscher beteuert in der Frage der Staatsbürgerschaft, mit der FDP werde es kein Gesetz geben, »das unsere Mitbürger in der DDR zu Ausländern macht«. Und Wirtschaftsminister Bangemann fügt hinzu, Lafontaine habe mit dem Vorschlag, eine DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen, »Deutschland aufs Spiel gesetzt«. 169 Dabei gehören diese beiden Politiker zu jenem Flügel der herrschenden Kräfte, die eine neue Phase der Entspannungspolitik fordern! Die FAZ interpretiert diese Auseinandersetzung als Beleg, daß die SPD gar keine innere Oppositionspartei der Bundesrepublik mehr sei, sondern »zu einem Zusammenspiel« mit dem »Regime der DDR« übergegangen sei. 170 Nun bestehen also zwei Staaten als selbständige Völkerrechtssubjekte, doch die Mysterien nehmen kein Ende: Deren Beziehungen werden nämlich gar nicht als Beziehungen zwischen zwei Staaten, also als völkerrechtliche, gefaßt, sondern als »innerdeutsche«, »gesamtdeutsche«, also im Grunde innerstaatliche, vergleichbar denen zwischen zwei Bundesländern, wie das 101
Bundesverfassungsgericht in seinem unnachahmlichen Urteil von 1973 festgestellt hat. Soweit die Mystifikationen der herrschenden Kräfte der Bundesrepublik, die seit Jahrzehnten in unzähligen Variationen präsentiert und durch das Bundesverfassungsgericht in die Sphäre der unbezweifelbaren Glaubenssätze gehoben wurden. Denn die Urteile dieses Gerichts sind nach herrschender Lehre eben bekanntlich dem Willen des Volkssouveräns und jeglicher politischer Argumentation und Realität übergeordnet. Danach gibt es - kurz gesagt - die deutsche Nation deshalb noch, weil es das Deutsche Reich noch gibt. 171 Der zweite Argumentationsstrang besagt, daß es die deutsche Nation deshalb noch gibt, weil es in der Präambel des Grundgesetzes steht, wenn auch nur als Aufforderung an »das gesamte deutsche Volk . . ., die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden«. Das Bundesverfassungsgericht leitete daraus eine juristische Verpflichtung der politischen Instanzen der Bundesrepublik ab, permanent nach der deutschen Einheit zu streben, sozusagen ein »ewiges Wiedervereinigungsstreben«. Wie immer es nun mit der juristischen Bedeutung dieses Satzes im übrigen bestellt sein mag - eines ist klar: ein solcher Satz schafft keine politische Realität. Für die Frage, ob es die deutsche Nation real noch gibt, ist er also belanglos. Die sozialliberalen Kräfte haben sich nun seit dem Ende der sechziger Jahre aus der Umklammerung dieser juristischen Fiktionen zu befreien und den Anschluß an die Realität zu gewinnen versucht. Dabei haben sie große Fortschritte erzielt - und doch blieben sie auf halbem Wege stehen. Sie haben die Herausbildung von zwei deutschen Staaten anerkannt und doch daran festgehalten, daß die deutsche Nation weiterbestehe und ihre politische Einheit unabdingbarer Auftrag sei. Sie haben schon 1974 festgestellt, »daß die Lebensverhältnisse der Bevölkerung in beiden Gesellschaftssystemen von zwei verschiedenen und inhaltlich weitgehend gegensätzlich organisierten Staatsgewalten bestimmt sind« 172 , und doch die Folgerung verweigert, daß also auch in Hinsicht auf gesellschaftliche Beziehungen, Gewohnheiten und Anschauungen - d. h. in Hinsicht auf Nation und Nationalbewußtsein - zwei Einheiten sich herausgebildet haben. So 102
will Jürgen Schmude »neue Gemeinsamkeiten« mit der DDR entwickeln »um der Nation und ihrer Stärkung willen«. 173 Der Bundestagsabgeordnete und Militärexperte Voigt plädiert für die »Entmilitarisierung des Ost-West-Konfliktes« mit dem Ziel der »Überwindung . . . der deutschen Teilung«174, und der Landesausschuß der schleswig-holsteinischen SPD, der sich sogar für die »volle Respektierung« der DDR-Staatsbürgerschaft einsetzt, kommentiert zugleich: »Wir Sozialdemokraten gehen davon aus, daß die DDR und die Bundesrepublik Deutschland zwei Staaten einer deutschen Nation sind.« 175 Oder sollte hier einfach der Begriff der Nation mit dem der Nationalität verwechselt worden sein? Das anläßlich des 40. Jahrestags des 8. Mai 1945 verabschiedete; »Nürnberger Manifest« der SPD hat die Widersprüchlichkeit dieser Haltung noch einmal veranschaulicht, aber zugleich einen Akzent gesetzt, der eine weitere Annäherung an die Realität ermöglichen könnte. In der Frage der Grenze gegenüber Polen gibt es nun kein Schwanken mehr: »Wer die polnische Westgrenze auch nur rhetorisch in Frage stellt und damit ganz Europa gegen die Bundesrepublik aufbringt, schadet dem Volk, für das zu sprechen er vorgibt.« In der Frage der »Deutschen in beiden Staaten« aber bestehe die Aufgabe darin, »die lebendig gebliebene Gemeinsamkeit« zu verwirklichen; diese stehe aber »zuerst und vor allem im Dienst am Frieden«, als »Sicherheitspartnerschaft«. Wenn dieses Verständnis von der Gemeinsamkeit der Interessen nicht länger mit der Betonung der gemeinsamen deutschen Nation, die es zu bewahren und wiederherzustellen gelte, vermischt würde, könnte sich daraus eine volle Anerkennung der Realitäten entwickeln. Einer der wenigen führenden SPD-Politiker, der diese Realitäten akzeptiert, ist Willy Brandt, der rundheraus erklärt, die deutsche Frage sei nicht mehr offen, eine Diskussion darüber sei rückwärtsgewandt. 175a Als symptomatisch für die in der SPD noch weit verbreiteten theoretischen Positionen sei Horst Ehmke zitiert, Professor für Rechtswissenschaft, Justizminister (1969) und gegenwärtig stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Ehmke bezeichnete in einer Analyse des Jahres 1979 das genannte Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1973 als »juristische Anmaßung« und schlicht103
weg als »töricht«, die Präambel des Grundgesetzes als bloße »Hoffnung«, die »wohlweislich . . . auch nur in die Präambel, nicht in den Text des Grundgesetzes geschrieben« worden sei. Und den Beschluß der Kultusminister von 1978 über die Darstellung der deutschen Frage im Unterricht nennt er »amtliche Sprach- und Geistesverwirrung« und »Zeugnis unfreiwilliger Selbstironie«.176 Trotz alledem aber hält auch Ehmke an der These fest, daß die »deutsche Frage« die »Frage der Nation« sei, daß es »trotz der staatlichen Teilung nur eine deutsche Nation gibt«. Diese »deutsche Frage« sei also offen - sie offengehalten zu haben, sei gerade ein Verdienst der sozialliberalen Regierung -, und die Aufgabe bestehe darin, die Spaltung aufzuheben. Deshalb »kann man . . . kaum ungestraft von einem westdeutschen Nationalbewußtsein sprechen«, denn damit werde die Spaltung vertieft.177 Weshalb nun gibt es »trotz der staatlichen Teilung nur eine deutsche Nation«? Ehmke weist einmal auf »das ganz überwiegende Selbstverständnis der Deutschen in Ost und West« hin und zweitens darauf, daß es sich bei »den Deutschen« um »eine konkrete, geschichtlich zusammengehörende Gruppe von Menschen« handle. Was zunächst die »gemeinsame Geschichte« betrifft, so gilt dies heute schon für die Mehrheit der Bevölkerung in beiden Staaten nicht mehr —jedenfalls was das eigene Erleben angeht. Und wie wird das in zehn oder in zwanzig Jahren aussehen? Und was das »Gefühl und Bewußtsein der nationalen Zusammengehörigkeit« betrifft, so bemerkt Ehmke selbst: »Würden die Deutschen dieses Bewußtsein . . . aufgeben oder verlieren, so würde, bei allen sonst fortbestehenden Gemeinsamkeiten, die deutsche Nation aufhören zu bestehen.« 177a Nun erweisen aber die jetzt schon vorliegenden Untersuchungen, daß die Tendenz eindeutig und kontinuierlich sich in eben dieser Richtung bewegt. Gegen die Unterschiedlichkeit realer Lebens- und Produktionsverhältnisse kann eben die bloße Erinnerung von Zusammengehörigkeit auf die Dauer nicht bestehen - und auch nicht die noch große Zahl von Verwandtschaftsbeziehungen, die sich ebenfalls auf die ältere Generation konzentriert und also kontinuierlich abnimmt. (Es ist zu vermuten, daß die Auseinan104
derentwicklung des nationalen Bewußtseins in absehbarer Zeit aus diesem Grunde zwischen der Bundesrepublik und der DDR größer sein wird als zwischen der Bundesrepublik und Österreich.) Was also bleibt - bei realistischer Betrachtung - noch von der »Einheit der Nation« und der »Offenheit« der »nationalen Frage« ? Es sind dies in der Regel Hinweise auf gewisse noch vorhandene Gefühle von Zusammengehörigkeit, die im Laufe der Zeit schwächer werden. Und was darüber hinausgeht, sind Wunschvorstellungen, traditionelle Floskeln oder Absurditäten. Dies gilt auch für die Aussagen der Theoretiker des neuen Nationalismus. Auf dem Boden der oben dargestellten juristischen Mystifikationen und politischen Illusionen können natürlich allerlei Irrationalismen entstehen, die zum Teil auch ganz offen an »nationale« Traditionen der deutschen Vergangenheit anschließen. So erscheint dem Bochumer Politikwissenschaftler Willms, der in dem breiten Übergangsfeld zwischen Konservatismus und Neofaschismus angesiedelt ist, die Nation zwar als ein Produkt der Geschichte, von da an aber als unabänderliches »Schicksal«, als zwingende Folgerung »aus den Voraussetzungen der menschlichen Existenz überhaupt«. (Also: die bürgerliche Gesellschaft hatte eine Geschichte, aber sie hat keine mehr, schon gar keine, die qualitative Veränderungen impliziert; diese fundamentale Begrenztheit des Blickwinkels ist hier wieder einmal schön ausgedrückt.) Daraus folgt nach Willms der »nationale Imperativ« als »kategorisch«: er »bedeutet für uns Deutsche jetzt und hier eine eindeutige Anweisung: die Wiederherstellung der Nation«. 178 Wesentlich vorsichtiger und differenzierter argumentiert der Mainzer Politikwissenschaftler und Kanzlerberater Werner Weidenfeld. Er nennt als Belege für den Fortbestand der »einen Nation«: »Die Bürger der Bundesrepublik Deutschland besitzen eine positive Prädisposition zu Fortschritten in der Deutschen Frage, und sie sind ausgeprägt am Schicksal der deutschen Mitbürger in der DDR interessiert» 179 ; die »Forderung nach Wiedervereinigung« leite sich daraus ab, daß »die Deutschen an die Kontinuität und das Ethos der Nation (sich) gebunden« fühlen. »Das Geschichtsbewußtsein« sei »ein zentrales Element der gemeinsa105
men Identität«. Er konzediert sodann: »Zweifellos hat sich inzwischen in der DDR ein Staatsbewußtsein herausgebildet«, das allerdings gegenüber dem Staat »weitgehend negativ motiviert« sei. Ebenso gebe es »ein auf die Bundesrepublik Deutschland bezogenes Selbstbewußtsein« - neben dem »Willen zur politischen Gemeinschaft aller Deutschen«. 179a Diese Thesen sind schon für die Gegenwart sehr problematisch, und sie werden sich in absehbarer Zeit durch die geschichtliche Entwicklung erledigt haben. Weidenfelds These, daß das Staatsbewußtsein der Bevölkerung in der DDR »negativ motiviert«, also durch die gemeinsame Gegnerschaft zum Staat bestimmt sei, ist leicht zu erkennen als bloße Wunschvorstellung. Und was die These betrifft, daß »das Geschichtsbewußtsein« in beiden Staaten ein gemeinsames sei, so würden beliebige Gespräche mit Arbeitern, Angestellten oder Studenten in der DDR den Autor rasch eines Besseren belehren. Andere Autoren nähern sich der Realität zögernd noch etwas weiter an. Christian Graf v. Krockow folgert für die »nationale Frage«: »Wir sind Bürger der Bundesrepublik Deutschland, aber wir sind es - gottlob! - keineswegs exklusiv«, wir sind zugleich »Deutsche« und »ebenso Europäer, vielleicht sogar Weltbürger«. 180 Das ist natürlich irgendwie richtig, aber: wie sind die Proportionen und in welche Richtung geht die Entwicklung? Wolfgang J. Mommsen schreibt: »All das spricht dafür, daß es auf absehbare Zeit eine Mehrzahl von Staaten deutscher Nation - oder, wie man der Eindeutigkeit halber besser sagen sollte: deutscher Kulturnation - in der Mitte Europas geben wird«. »Was die Republik Österreichs angeht, so haben wir dies heute endgültig akzeptiert«. Mit dem »Abschluß der Ostverträge hat die Bundesrepublik Deutschland die Tatsache hingenommen, wenn auch nicht sanktioniert, daß es einstweilen zwei Staaten auf deutschem Boden gibt«. In der Bundesrepublik werde es »auf längere Sicht zur Ausbildung eines starken staatsnationalen Bewußtseins kommen, das sich ganz überwiegend an den gesellschaftlichen Realitäten orientiert, wie sie sich hier seit 1949 entwickelt haben«. Das ist sehr realistisch gesehen, aber nun folgen die Machtansprüche und die Illusionen. Nach Mommsen nimmt 106
die Bundesrepublik nämlich gegenüber der DDR eine »hegemoniale Position« deshalb ein, weil sie der »Repräsentant der Kulturnation« sei; und wegen der »Schwerkraft der Staatenkonstellation in Europa« werde der Bundesrepublik »auf wirtschaftlichem und auf kulturellem Gebiet und zunehmend auch in politischer Hinsicht, mehr noch als heute eine führende Rolle zufallen«. So könne »auf mittlere Frist« die »deutsche Frage möglich erweise neu aufgeworfen werden« - zumal der Anspruch auf nationale Einheit »völkerrechtlich . . . gut begründet« sei. 181 Fast scheint es so, als gehe der Konservative Manfred Hättich, Professor für Politikwissenschaft in München und Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, in Hinsicht auf Anerkennung der Realitäten noch einen Schritt weiter: »Was unsere spezifisch deutsche Lage angeht, so sollten wir uns durchaus nüchtern mit der Einsicht konfrontieren, daß wir in der Möglichkeit stehen, die derzeitigen politischen Strukturen als für uns endgültig zu bejahen oder zumindest hinzunehmen. Es ist uns möglich, davon auszugehen, daß die Bundesrepublik Deutschland unser Staat ist, daß das Gebiet der DDR zwar einmal zu einem größeren deutschen Staatsgebiet gehörte, nun aber ebensowenig dazugehört wie Österreich oder das Elsaß. Und man wird auch kaum leugnen können, daß eine solche Einstellung, wenn sie ausdrücklich eindeutig artikuliert wird, so etwas wie eine friedens-, zumindest ruhestiftende Funktion in der Mitte Europas hätte . . . Der Begründungszwang für diejenigen, die einen früheren Zustand wiederherstellen wollen, nimmt also zu.« 182 Wichtig dagegen sei die Schaffung eines »Gemeinschaftsbewußtseins, in dessen Mitte die Freiheit steht . . . Es ist deshalb meines Erachtens größte Vorsicht geboten gegenüber Sprüchen von rechts, die da unreflektiert und undifferenziert einfach ein neues Nationalbewußtsein fordern«. 1823 Aus liberaler Sicht plädiert auch Wilfried von Bredow für den »Abschied von der Wiedervereinigung«, zugleich aber dafür, »die Option auf eine Veränderung der Staatenlandschaft« nicht aufzugeben; für eine »freundlich-unverkrampfte Identifizierung mit der Bundesrepublik Deutschland«, einen »nicht grenzüberschreitenden . . . Patriotismus«, zugleich aber dafür, die bishe107
rige »Deutschlandpolitik« - einschließlich jener fatalen Präambel des Grundgesetzes - beizubehalten und die deutsche Frage weiterhin als »offen« zu betrachten. 183 Wie man sieht, gibt es also keine tragfähigen Begründungen für die These, daß die Einheit der deutschen Nation trotz staatlicher Teilung weiterbestehe. Es handelt sich entweder um Wunschvorstellungen oder um Fiktionen. Sowohl im sozialdemokratischen wie im liberalen Lager, aber selbst bei den Konservativen, gibt es gewichtige Stimmen, die sich der Realität in einem beachtlichen Maße annähern - allerdings vielfach noch verknüpft mit Elementen der traditionellen Fiktionen - etwa der vermeintlichen völkerrechtlichen Legitimität der Ansprüche oder mit Hoffnungen auf eine politische und kulturelle Hegemonie der Bundesrepublik nach Osten und nach Westen und ein später doch noch mögliches Aufrollen der »deutschen Frage«. Diese Konzeptionen lösen sich also noch nicht gänzlich aus den Fesseln der traditionellen »Deutschlandpolitik«. Von den im Bundestag vertretenen Parteien wurden bisher fast nur in Beiträgen der Grünen die Realitäten ohne Rücksicht auf die traditionellen Tabus dieser »Deutschlandpolitik« beim Namen genannt. So führte Antje Vollmer in ihrer Rede zum Bericht des Bundeskanzlers »Zur Lage der Nation« am 27. 2. 1985 aus: »Die einzige, die wirkliche deutsche Frage . . ., die nach dem Ende des Krieges offengeblieben ist«, laute: »Wie man als Deutscher mit einer solchen Vergangenheit überhaupt leben kann, wie man sie bewältigen und bearbeiten kann und wie man daraus eine Zukunft entwickeln kann.« Erstens sei »gründlich Abstand (zu) nehmen . . . von jeglicher Variante der Bedrohung unserer Nachbarvölker im Osten wie im Westen«, also von jeglicher Politik »militärischer Stärke«. Zweitens seien »unsere Realitäten, wie sie im Jahre 1985 aussehen, voll zur Kenntnis zu nehmen« und als »große Chance« zu begreifen. »Zu diesen Realitäten gehört, daß es im Osten wie im Westen weder heute noch in Zukunft irgendein Land gibt, das irgendeine Veränderung unserer Grenzen oder der Grenzen der DDR hinnehmen würde . . ., daß es auf deutschem Boden heute zwei Staaten mit unterschiedlichem Gesellschaftssystem gibt« und daß die Staatsbürgerschaft 108
der DDR deshalb anerkannt werden müsse. »Die HallsteinDoktrin landet damit endgültig auf dem Müllhaufen der Geschichte.« Ob »die Zeit der Nationalstaaten . . . eigentlich schon vorbei« ist, ob dem Abschluß eines Friedensvertrages so große Bedeutung zukommt (angesichts der schon bestehenden völkerrechtlichen Verträge, die zunächst einmal voll anzuerkennen und zu befolgen wären), ob das Ausscheiden beider Staaten aus den Militärblöcken das vordringliche Ziel ist (oder nur Resultat einer längeren Periode konsequenter Entspannungspolitik sein kann), mag man unterschiedlich beurteilen. Was »die nationale Frage« heute ist, wird hier jedenfalls präzis dargestellt. Es wäre gut und ein wesentlicher Beitrag zur Friedenssicherung (und zur Isolierung der Scharfmacher auf der Rechten), wenn insbesondere die gegenwärtigen Oppositionsparteien auch in der »nationalen Frage« die Realitäten so akzeptieren und die politischen Konsequenzen daraus so unmißverständlich ziehen würden, wie die sozialliberalen Kräfte das vor eineinhalb Jahrzehnten im Falle der Westgrenze Polens getan haben. Wählerstimmen gehen dabei ebensowenig verloren wie in der damaligen Lage. Die große Mehrheit der Bevölkerung weiß nämlich längst, was wirklich los ist mit »Deutschland«. Im Vergleich zu Politikern und zu politisch engagierten beamteten Politikwissenschaftlern haben es Schriftsteller offenbar etwas leichter, die Realitäten beim Namen zu nennen. Dieter Wellershoff schrieb schlicht und klar: »Etwas Selbstverständliches ist verschwunden, hat sich aufgelöst und hinterläßt zur Erinnerung ein Wort. . . >Deutschland<... Es gibt die Bundesrepublik und die DDR, es gibt die ehemaligen deutschen Ostprovinzen, die jetzt zu Polen oder der Sowjetunion gehören, aber es gibt nicht mehr Deutschland, und es wird es nie mehr geben . . . Und das heißt, daß auch die deutsche Nation dabei ist zu verschwinden.« 185 So ist es! Diese Bundesrepublik also ist unser primärer Lebens- und Handlungsraum - ob uns dessen gegenwärtiger Zustand gefällt oder nicht. Da hilft keine Verweigerungshaltung - damit würden wir uns aus dem politischen Geschehen selber eliminieren. Da 109
hilft keine Beteuerung, daß uns zwar die konkrete Region, in der wir leben, die »Heimat«, interessiert, der Staat Bundesrepublik aber nicht. Auch das wäre eine Flucht und eine Form der Selbsteliminierung. Es hilft aber andererseits auch keine Flucht ins Allgemein-Menschliche, in den Kosmopolitismus. In dieser Frage kann ich meinem Freund Walter Jens nicht folgen, wenn er auf Heimat, auf die Region und als Utopie auf das »Menschheitshaus« hinweist, »das Raum für alle hat«, und daraus folgert, daß »der Begriff Vaterland . . . endgültig obsolet geworden ist, weil er - im Gegensatz zu Heimat - die Deutschen beider Republiken auf künstliche, weil geschichtslose Gemeinwesen verweist«.186 »Künstliche Gebilde« in diesem Sinne sind alle Nationalstaaten und alle anderen politischen Organisationsformen gewesen, denn alle sind irgendwann einmal begründet worden. In der Dritten Welt vollzieht sich dieser Prozeß tagtäglich vor unseren Augen. Und kann man in unserem Fall nach vierzig Jahren realer Veränderungen und intensiver Erfahrungen tatsächlich noch von »geschichtslos« reden? Machen nicht beide Staaten jeden Tag Geschichte? Die Liebe zur Heimat im Sinne einer konkreten Landschaft und die Liebe zu den Menschen überhaupt - wer wollte bestreiten, daß beide zu den schönsten und edelsten Gefühlen des Menschen gehören. Aber: die Entscheidungen, die in unser Leben eingreifen, bis hinein in den Alltag in meinem Wohnviertel und in meinem Dorf, und die von unserem Land aus eingreifen in das Leben anderer Völker, werden von diesem Staat Bundesrepublik getroffen. In dessen Willensbildung haben wir also einzugreifen, wenn wir uns zu Subjekten des Geschehens machen wollen. Diese Bundesrepublik ist das Hauptfeld unseres Kampfes. Wenn nun aber die Bundesrepublik unseren konkreten Lebens- und Handlungsraum bildet - ist es da verwunderlich, daß wir dieses Land auch emotional als »unser« Land erleben - auch wenn wir hier nicht die Herrschenden sind? Ist es verwunderlich, daß uns die Städte und Landschaften dieses Landes, wie sie Storm, Boll und Walser beschrieben haben, und die Menschen dieses Landes mit ihrer Lebensweise, ihrem Können und ihren Leistungen auch emotional besonders berühren? Gefühle dieser 110
Art sind viel älter als Nationen und Nationalismen; es gibt sie seit Jahrtausenden, und sie regenerieren sich auch für die heutigen Menschen »täglich und minütlich aus dem Sein heraus. Jeder Zuruf in der Muttersprache, jeder Erdkrümel zwischen den Fingern, jeder Handgriff an der Maschine, jeder Waldgeruch bestätigt ihnen von Neuem die Realität ihrer Gemeinschaft«. So Anna Seghers auf dem Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur im Jahre 1935, als der Faschismus die Begriffe Nation, Vaterland, Heimat u.s.w. ganz mit seinen Inhalten auszufüllen schien und viele antifaschistische Schriftsteller sie deshalb für Betrug und Fiktion erklärten. Und sie fügte hinzu: »Fragt. . . was an Eurem Land geliebt wird? Trösten die heiligen Güter der Nation die Besitzlosen?. . . Doch wer in unseren Fabriken gearbeitet, auf unseren Straßen demonstriert, in unserer Sprache gekämpft hat, der wäre kein Mensch, wenn er sein Land nicht liebte.« 187 Es ist also sehr verständlich, wenn die Menschen dieses Landes auch emotional besonders engagiert sind, wenn es z.B. um Leistungen im Wettbewerb mit anderen Nationen geht. Das ist, besonders bei sportlichen Wettkämpfen, in aller Welt so - von Spanien bis zur UdSSR - und man sollte das, wenn man diese Gefühle nicht ohnehin selber erlebt, wenigstens mit Verständnis und Gelassenheit betrachten. Die überwältigende Mehrheit in der Bundesrepublik (wie in anderen Ländern) ist von solchen Gefühlen bewegt. Und es wäre weiter zu fragen: Was würde es politisch bedeuten, wenn alle diese Menschen, die solche Gefühle »nationaler Identifizierung« haben, den Eindruck gewinnen müßten, daß sie bei der politischen Linken keine Heimat finden können? Müßten sie sich dann nicht notgedrungen nach rechts wenden? »Auf jeden Irrtum in der Einschätzung der nationalen Frage reagieren die Massen unerbittlich« - so Anna Seghers in der schon zitierten Rede im Jahre 1935. Ich möchte nicht mißverstanden werden: Ich plädiere nicht für die Entfachung einer ideologischen Kampagne für ein neues bundesrepublikanisches Nationalgefühl. Wohl aber plädiere ich dafür, die oben beschriebenen Gefühle als normal zu betrachten, als Gefühle, die auch Demokraten und Sozialisten mit gutem Ge111
wissen haben können, und darin nicht gleich eine Wiederkehr des alten Nationalismus oder gar des faschistischen Herrenrassendünkels zu wittern. Davon zu unterscheiden ist selbstverständlich das, was kapitalistische Verwertungsinteressen einerseits und reaktionäre Ideologie andererseits daraus zu machen trachten; das Beispiel Boris Becker ist hier lehrreich genug. Viel wichtiger aber scheint mir zu sein, daß sich dieses Bewußtsein nationaler Identität eben auf die Bundesrepublik bezieht und nicht etwa auf ein fiktives Gesamtdeutschland in den Grenzen von 1937 oder 1939. Eben dieser Realismus des realen Nationalbewußtseins ist es, der die Rechte so beunruhigt, weil damit die ideologische Basis ihrer Revisionsansprüche ins Rutschen kommt. Eben deshalb warnen manche, wie z.B. Andreas Hillgruber, so eindringlich vor der Reduktion des Nationalbewußtseins auf die Bundesrepublik. Zugegeben: damit sind keineswegs alle Gefahren gebannt, die sich aus einem neuen bundesrepublikanischen Nationalbewußtsein ergeben können. In unserem Lande ist - angesichts der besonderen Traditionen des deutschen Nationalismus - die Anfälligkeit solcher nationaler Identifizierung für reaktionäre Ideologien wohl immer noch stärker als anderswo, aber sie sind eben nicht identisch mit diesen. Und es erscheint wenig sinnvoll, Erscheinungen, die in allen Ländern spontan und permanent aus den realen Verhältnissen und den alltäglichen Erfahrungen entstehen, allein deswegen zu bekämpfen, weil sie für reaktionäre Zwecke mißbraucht werden können. Die Liebe zum eigenen Land, der »Patriotismus« meinetwegen, muß ja weder die Billigung der gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnisse in diesem Land noch die Abwertung anderer Länder und Völker bedeuten. Sondern sie kann, wenn sie auf festem humanistischen und demokratischen Grund ruht, eine vorzügliche Voraussetzung sein, um die nationalen Besonderheiten anderer Länder und Völker zu schätzen und als kulturelle Bereicherung des eigenen Lebens zu erfahren. Die volle Entfaltung der Vielfalt nationaler Traditionen als Reichtum des Menschengeschlechts - von diesem Internationalismus aus ergibt sich auch die Solidarität mit allen Völkern, die um ihre nationale und soziale Befreiung 112
kämpften, und ebenso die Verteidigung der eigenen Kulturtraditionen gegenüber dem alles gleichmachenden, alles auf die Verwertungsbedürfnisse des Kapitals zu richtenden, alles auf das geistige Niveau von Werbespots und Micky Mouse reduzierenden US-Kulturimperialismus. Aus einem solchen Verständnis von »nationaler Identität« wird auch deutlich, daß es sich dabei nicht um eine ein für allemal gegebene, womöglich biologisch fixierte Eigentümlichkeit handelt, sondern um einen geschichtlichen Prozeß, der zur Herausbildung bestimmter nationaler Besonderheiten, kultureller Traditionen und Mentalitäten geführt hat und natürlich in fortwährender Veränderung begriffen ist. Damit sind nicht nur politische Veränderungen von der Art der Herausbildung mehrerer deutscher Nationalstaaten gemeint, sondern auch soziale und kulturelle Veränderungen innerhalb des Nationalstaats Bundesrepublik. Es ist ja evident, daß z.B. die Einwanderung von mehreren Millionen ausländischer Arbeitskräfte mit ihren Familien unsere kulturellen und gastronomischen Erfahrungen und Bedürfnisse und also auch unsere »nationale Identität« erheblich verändert haben und daß diese Veränderungen auch als Bereicherung begriffen werden können. Die Bundesrepublik ist also der Nationalstaat, in dem wir leben, der die ökonomischen, sozialen und ideologischen Beziehungen der Bevölkerung dieses konkreten Territoriums integriert und auf den unser politisches Handeln sich deshalb primär bezieht. Ist der Inhalt unseres Kampfes auch primär von sozialen Interessen her bestimmt, so ist die Form dieses Kampfes bestimmt durch den Nationalstaat. Die wirkliche »nationale Frage« lautet also: Wie geht es mit dieser Bundesrepublik weiter? Welche Folgerungen zieht sie aus den nationalen Katastrophen der Vergangenheit? Auf der Basis welcher Traditionen wird ihre »nationale Identität« konstituiert, der des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates oder der der jakobinisch-sozialistischen Kräfte; der der Schlächter von Buchenwald und Auschwitz oder der der Häftlinge? 187a Welches sind ihre nationalen Interessen? Wie können wir längerfristig unser Land so gestalten, daß es sich für alle lohnt, hier zu leben, 113
daß wir »nicht nur im Produkt, sondern auch im Tun bereits hier Identität gewinnen« können, daß wir also auch den Raum, in dem wir gemeinsam mit anderen handeln, als unseren Raum, unser Land wahrnehmen können? 188 »Kennst du das Land? Es könnte glücklich sein. Es könnte glücklich sein und glücklich machen! Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein. Und Fleiß und Kraft und andere schöne Sachen.« So schrieb Erich Kästner in der Weimarer Republik. Und er fügte ahnungsvoll hinzu: »Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün. Was man auch baut - es werden stets Kasernen. Kennst du das Land wo die Kanonen blühn? Du kennst es nicht, du wirst es kennenlernen!« Möglichkeiten und Gefahren sind hier anschaulich beschrieben. Das Bewußtsein der Bundesbürger ist von den positiven Perspektiven, die hier angedeutet sind, gar nicht so weit entfernt. Als sie im Juli 1982 gefragt wurden: »Worauf kann man denn als Deutsche(r) besonders stolz sein?« nannten sie vor allem »schöne Landschaften« und »Fleiß und Strebsamkeit« (46% und 44%). Dagegen rangierte »die Nation allgemein« mit 18% ziemlich am Ende - zusammen mit »große Staatsmänner, Politiker« und »große Unternehmen, führende Männer in der Wirtschaft« (18% und 16%); ganz hinten standen »große militärische Siege« (5%). 189 Die von Kästner erwähnten Möglichkeiten und Gefahren lassen sich präzisieren. Wie kann es gelingen zu verhindern, daß diejenigen Kräfte, die unser Land bereits zweimal mit den Phrasen vom »Wohl der Nation« und vom »nationalen Ganzen« auf den Weg von Diktatur und Krieg geführt haben, sich erneut durchsetzen? Wie kann gewährleistet werden, daß diese Bundesrepublik zunächst einmal zu einem ganz normalen europäischen Nationalstaat wird, der seine Nachbarn nicht länger mit Forderungen nach Veränderungen des territorialen Status quo und mit Vormachtambitionen beunruhigt und bedroht? Daß dieser Staat alle Ansprüche auf Wiederherstellung des »Deutschen Reiches« (sei es in den Grenzen von 1939 oder von 1937) aufgibt und insbe114
sondere gegenüber dem sozialistischen deutschen Nationalstaat normale völkerrechtliche Beziehungen entwickelt. Natürlich wäre es sehr wünschenswert, wenn diese Beziehungen zum anderen deutschen Staat besonders intensiv gestaltet werden könnten. Das geht aber nur dann, wenn dessen Existenz und dessen Grenzen wirklich respektiert würden; dies schließt die Anerkennung einer eigenen Staatsbürgerschaft ein. Wer die Annexions-, Diskriminierungs- und Destabilisierungsbestrebungen der vergangenen Jahrzehnte in offener oder versteckter Form fortsetzt, befestigt damit selber die Barrieren, die einer Lockerung der vielfältigen Verkrampfungen, die es auf beiden Seiten gibt, im Wege stehen. Man kann eben dem Partner nicht das Messer an die Kehle setzen und ihm zugleich zureden, er möge sich doch ganz locker geben. Soweit zu der Aufgabe, die Bundesrepublik zu einem normalen europäischen Nationalstaat zu machen. Aber untrennbar verbunden damit ist für uns die Frage: Wie können wir diese Bundesrepublik längerfristig so umgestalten, daß sie für alle ihre Einwohner zu einem Land der friedlichen Arbeit und der kulturellen Entfaltung, der Freiheit von Angst und Not und der Freude am Dasein werden kann? Diese Frage reicht nun aber sichtlich über den bürgerlichen Nationalstaat hinaus. Dies sind also die Aufgaben, die sich uns in dieser Bundesrepublik stellen. Dies und nichts anderes ist also die »nationale Frage« in unserem Land. Die »nationalen Interessen« sind damit in den Umrissen schon skizziert. Die Basis dafür bilden die Interessen der großen Mehrheit der abhängig Arbeitenden in einem konkreten Land. Dies nicht nur deshalb, weil sie die Mehrheit sind, sondern weil ihre Interessen gerichtet sind auf eine klassenlose und durch friedliche Arbeit bestimmte Gesellschaft, in der die optimale Entwicklung jedes einzelnen Bedingung für die optimale Entwicklung des Ganzen ist; anders gesagt: weil die Interessen dieser arbeitenden Mehrheit identisch sind mit den Interessen des Ganzen (das Prinzip der Arbeit ist eben verallgemeinerungsfähig, das Prinzip der Aneignung fremder Arbeit aber nicht). Da dieser Gedanke in der marxistischen Gesellschaftstheorie ausführlich entfaltet worden ist, können diese kurzen Andeutungen hier genügen. 115
Daraus folgt, daß diese Basis der nationalen Interessen in allen bürgerlichen Nationalstaaten die gleiche ist. Die Existenz sozialer Klassen strukturiert auch die nationalen Interessen. Das eben ist das Prinzip des Internationalismus, das von der Arbeiterbewegung schon im 19. Jahrhundert als maßgeblich auch für die Definition der nationalen Interessen entwickelt worden ist. Plechanow hat diese Beziehung sehr schön beschrieben: »Genauso ist der moderne sozialistische Internationalismus mit der eifrigsten, unermüdlichsten Arbeit für das Wohl des Heimatlandes vereinbar, aber er ist unvereinbar mit der Bereitschaft, das Heimatland da zu unterstützen, wo seine Interessen in Widerspruch zu den Interessen der revolutionären Menschheit geraten . . ,« 190 Mit dem Verhalten unserer Regierung gegen Kuba, Nicaragua u.s.w. hat unser Begriff von nationalen Interessen also nichts gemein. Zu organisieren und zu realisieren sind die sozialen wie die nationalen Interessen zunächst im Rahmen des Nationalstaats. Der Nationalstaat bildet das Wirkungsfeld, innerhalb dessen die divergierenden Interessen zu politischen Entscheidungen integriert werden und der in den internationalen Beziehungen als das handelnde Subjekt fungiert. Daraus aber folgt, daß die nähere Bestimmung der nationalen Interessen die konkreten Bedingungen des jeweiligen Nationalstaats einzubeziehen hat: die sozialökonomische und politische Verfassung sowie seine Stellung in den internationalen Beziehungen, die ihrerseits auch von der geographischen Lage beeinflußt werden kann. In diesem Zusammenhang nun gehen in die Bestimmungen dessen, was die nationalen Interessen sind, auch solche Aufgaben ein, die in einem konkreten Nationalstaat gelöst werden müssen, um Existenz und Weiterentwicklung dieses Territoriums und seiner Bevölkerung zu sichern; an deren Lösung also, wenn schon nicht alle Angehörigen der Nation, so doch wesentlich mehr als die abhängig Arbeitenden, oft auch Teile der herrschenden Klasse selbst interessiert sind. Für die Bundesrepublik kann dieser Zusammenhang am Beispiel der aktuellen Auseinandersetzung über das Problem der 116
Friedenssicherung veranschaulicht werden. Die nationalen Interessen der Bundesrepublik verbieten es offensichtlich, unser Land den USA als Lagerungsplatz für atomare und chemische Waffen, als Stationierungsort für Erstschlagsraketen und als Schauplatz im Rahmen der Optionen für einen begrenzten Atomkrieg zur Verfügung zu stellen und damit unser Land und seine Bevölkerung »auf Gedeih oder Verderb«191 den USA und deren Entscheidungen auszuliefern, die ganz sicher nicht primär bestimmt werden durch die Interessen der Bevölkerung der Bundesrepublik, sondern durch die »nationalen Interessen« der USA, wie sie sich aus der Sicht der Regierung Reagan darstellen. Deren Globalstrategie ist von der Friedensbewegung ausführlich analysiert worden. Doch es ist bemerkenswert, daß die konservativen Kräfte der USA ihre Weltanschauung nun in einer Zeitschrift selbst darstellen, die den Titel »The National Interest« hat. Ihre Mitarbeiter und Berater stehen in enger Beziehung zum Beraterkreis des Präsidenten Reagan. Kern ihrer Weltanschauung ist das »Bekenntnis zur Machtpolitik - einschließlich der Anwendung militärischer Gewalt«, der »>Lust am Risikos die sich etwa an der Investitionsbereitschaft junger Unternehmer zeigt« und die »auf den >Krieg der Welten< ausgedehnt werden soll« - möglichst unter Vermeidung eines Nuklearkrieges. Da sich die Idee einer »internationalen Staatengemeinschaft« als naiv erwiesen habe, sei das nationale Interesse zur obersten Maxime zu erheben. 192 Die besondere Bedrohung und besondere Verantwortung der Bundesrepublik hängt nun in der Tat mit der europäischen Mittellage und der Bedeutung dieser Region für die internationalen Beziehungen zusammen - und insofern ist auch in den geopolitischen Theorien, die gegenwärtig auf der Rechten wieder Konjunktur haben, ein richtiges Element enthalten. Und ebenso in dem Argument, daß die Bundesrepublik ihre Souveränität mindestens in den Grundelementen verteidigen und sich nicht an die USA - und d.h. an ihre jeweilige politische Führung - ausliefern dürfe. Eben dies aber haben die Herrschenden dieses Landes getan durch die Stationierung von atomaren Erstschlagswaffen, über deren Einsatz die Organe der Bundesrepublik nicht das mindeste Mitbestimmungsrecht besitzen. 117
Sie haben das getan entweder in der Annahme, daß sie ihre eigenen Interessen nur im Rahmen und mithilfe der USA-Politik und d.h. konkret: durch bedingungslose Unterordnung unter deren jeweilige Richtlinien - realisieren können. Oder - und das gilt für die andere Fraktion - sie haben das getan in der Hoffnung, damit selber näher an die Verfügungsgewalt über atomare Waffen heranzukommen und so ihre eigenen Großmachtansprüche und Revisionsforderungen dann effektiver und zugleich eigenständiger verfolgen zu können. Daß diese Kräfte ihre Preisgabe der nationalen Interessen auch diesesmal als Interesse der »Nation« ausgeben, wird niemanden überraschen, der die Geschichte der letzten hundert Jahre kennt. Beide Strategien, deren Zusammenhang mit dem neuen Nationalismus im Kapitel I im einzelnen dargestellt wurde, können sich berühren und ineinander übergehen. Wenn F. J. Strauß verlangt, die Bundesrepublik solle sich ohne Einschränkungen dem SDI-Programm anschließen, denn gegenüber dem »in stürmischem Tempo ins 21. Jahrhundert« vordringenden Amerika und der gleichen Entwicklung der Sowjetunion dürften die Europäer nicht »als jammernde Zwerge am Wegesrand stehen« 193 , so zielt das auf Stärkung der Eigenständigkeit Europas, aber in einem durchaus imperialistischen Sinne. Und wenn andererseits der Erlanger Historiker und Kanzlerberater Michael Stürmer fordert, die Bundesrepublik solle an dem Verzicht auf atomare Waffen festhalten und so die USA an Mitteleuropa binden-, dann verknüpft er damit die Annahme, daß der Bundesrepublik dann in Europa »eine Schlüsselfunktion« zukomme, daß aber zugleich »Westeuropa eine strategische Identät« als zweiter Pfeiler des atlantischen Bündnisses benötige. 194 Beide Momente werden von der FAZ zusammengefaßt zu dem prägnanten Satz: »Als ernsthafter Partner in Amerika wird vor allem derjenige anerkannt, der auch ein ernstzunehmender Konkurrent ist.« 195 An diesen Positionen wird nun allerdings auch erkennbar, daß die nicht nur bei den »Nationalrevolutionären«, sondern auch in alternativen Gruppen der Friedensbewegung so populäre Forderung nach Herstellung der vollen Souveränität der Bundesrepublik uns allein nicht weiterbringt, wenn nicht zugleich der Ein118
fluß dieser gegenwärtig herrschenden Kräfte innerhalb der Bundesrepublik zurückgedrängt wird. Die Atomraketen unter der Kontrolle einer souveränen Bundesrepublik, die von Kohl, Dregger und Strauß regiert wird - das ist keine attraktive Vorstellung. Der dialektische Zusammenhang zwischen der nationalen und der sozialen Frage ist eben nicht aufzulösen - und innerhalb dieses Zusammenhangs hat die soziale Frage nun einmal die bestimmende Funktion. Übrigens hätte die Bundesrepublik jetzt schon genügend Souveränität, um sich der Raketenstationierung und dem SDI-Programm zu widersetzen und statt dessen ihr Gewicht für eine Politik der Abrüstung zur Geltung zu bringen. Obgleich beide Strategien des Regierungsblocks wenig mit dem gemein haben, was oben als nationales Interesse bestimmt worden ist, gibt es doch innerhalb der herrschenden Klasse Differenzen, die für unsere Frage bedeutsam sind. Sie können am Beispiel aktueller politischer Kontroversen noch einmal veranschaulicht werden. Diese Differenzen sind soeben - wieder einmal - an der Frage des Osthandels und seiner Beziehung zum Systemkonflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus deutlich geworden. Während die FAZ den »großen Liberalen Röpke« zitiert, der den Handel mit den sozialistischen Ländern als »Todfeind-Handel« bezeichnet habe, plädierten führende Vertreter des Deutschen Industrie- und Handelstages für die Ausweitung dieses Handels und gegen die rigiden Beschränkungen durch die Richtlinien der USA. 196 Die Kontroverse entstand bezeichnenderweise, als die USA gegenüber Libyen nicht nur politische und ökonomische Pressionen entfalteten, sondern mit Kriegsvorbereitungen begannen. Nun plädierte die »atlantische« Richtung für bedingungslose Gefolgschaft gegenüber den USA selbst auf die Gefahr des Krieges hin. So tadelte die FAZ das Verhalten der Bundesregierung, die »mageren . . . Solidaritätsbeweise für Washington«; sie fragte: »Gebieten die deutschen Interessen hier nicht ein engeres Zusammenwirken mit Amerika?« Bundeskanzler Kohl hingegen, der die divergierenden Kräfte seines Regierungsblocks zusammenzuhalten hatte, schloß sich der US-Politik hier nicht an und begründete das seinerseits mit dem Satz: »Ich habe 119
nach meinem Amtseid deutsche Interessen zu vertreten.« 197 Im Ergebnis verweigerten die EG-Staaten nicht nur jegliche militärische und politische Unterstützung, sondern auch die Teilnahme an den ökonomischen Sanktionen der USA gegen Libyen. »Die europäischen Länder befürchteten, daß militärische Aktionen gegen Libyen auf andere Gebiete in der Region übergreifen könnten.« 198 Hier ist nun ganz offensichtlich, daß die EG-Länder ihre nationalen Interessen gegen die USA verteidigt haben, nämlich ihr Interesse, nicht in einen Krieg in ihrer Region hineingerissen zu werden, der im Rahmen der Globalstrategie der USA durchaus seinen Platz hätte und zudem weit entfernt von den USA geführt würde, für die herrschenden Klassen in den westeuropäischen Ländern jedoch unübersehbare Risiken mit sich bringen würde. Die Regierung der Bundesrepublik hat bei dieser Willensbildung der EG zwar nicht gerade eine vorwärtstreibende Rolle gespielt, aber sie hat diese Politik doch mitgetragen und so daran mitgewirkt, daß die USA in ihrer Handlungsfreiheit wesentlich eingeschränkt wurden. Mit diesem Beispiel soll lediglich gezeigt werden, daß es in der Tat nationale Interessen gibt, die über die Klassenspaltung der Gesellschaft hinausreichen und bei denen es möglich ist, Unterstützung auch bei Teilen der herrschenden Klassen zu finden. Gerade für die in unserer Epoche wichtigste Frage, die Frage der Friedenssicherung, muß diese Möglichkeit immer aufs Neue sorgfältig geprüft werden. Von einer konsequenten Wahrnehmung der nationalen Interessen durch die herrschenden Kräfte in dieser Frage kann allerdings, wie auch die neueste Politik von der Stationierung der Atomraketen bis SDI zeigt, keine Rede sein. Es handelt sich - bisher - nur um einige sehr schwache Ansätze. Von den demokratischen Kräften müßte denn auch die Frage, was die nationalen Interessen gegenwärtig seien, wesentlich anders beantwortet werden. Die Friedensbewegung hat das in einer Vielzahl von Analysen detailliert herausgearbeitet. In welcher Richtung die Überlegungen in der Frage der Friedenssicherung zu gehen hätten, können aber auch verschiedene Beiträge von führenden sozialdemokratischen und grünen Politikern zeigen, die sich explizit auf die 120
nationalen Interessen beziehen. So stellte Ehmke, der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, kürzlich fest: »Zu der von der Bundesregierung verfolgten Sicherheitspolitik sagen die Sozialdemokraten als >deutsche Patrioten< . . . entschieden nein.« 199 Und Bülow, der frühere Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, kennzeichnete die Haltung der Bundesregierung gegenüber den USA als »vasallenhaft«.200 Ehmke konkretisierte diesen Vorwurf wie folgt: »Statt Europas Interessen wahrzunehmen, sind einige Regierungen wie Krämerseelen hinter ein paar Millionen Dollar amerikanischer Aufträge hergelaufen.« Eine solche Politik schade den Interessen der Bundesrepublik, denn: »Das ständige Mitlaufen mit Amerika führt dazu, daß die Beziehungen zum Osten nicht gut genug sind.« Und Ehmke fragt: »Was sind die deutschen Beiträge zur neuen Phase der Entspannungspolitik?« 201 Noch schärfer formulierte Egon Bahr: Wenn der Bundeskanzler »die deutschen und europäischen Interessen nicht wahrnimmt, müssen es eben andere tun«. Und er verspricht: eine SPD-Regierung werde einen Vertrag über eine atomwaffenfreie Zone innerhalb von 3 Monaten nach einer Regierungsübernahme 1987 unterschriftsreif fertigstellen.202 Von der »Frankfurter Arbeitsgruppe« der SPD-Linken wurde mit Berufung auf die »deutschen Interessen« nicht nur SDI abgelehnt, weil das u.a. auf den Export von Forschungsergebnissen hinauslaufe. Sondern es wurden auch die Voraussetzungen klargestellt, ohne die es weder dauerhaften Frieden noch nationale Souveränität geben könne: »Erste Voraussetzung für eine Europäische Friedensordnung ist die Anerkennung der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges und der bestehenden Grenzen. Eine von allen Partnern akzeptierte Europäische Friedensordnung ist nur auf der Basis der dauerhaften Existenz zweier deutscher Staaten denkbar. Der Verzicht auf eine staatliche Einheit Deutschlands ist gleichzeitig die Voraussetzung für die volle Souveränität der Bundesrepublik Deutschland. Erst die volle Souveränität befähigt die Bundesrepublik Deutschland, ihre Interessen an Frieden und Sicherheit in einem Prozeß der Auflösung der Militärblöcke und des Aufbaus eines kollektiven Sicherheitssystems für Europa wahrzunehmen.« 121
Und schließlich wurden sogar die sozialökonomischen Strukturveränderungen angesprochen (wenn auch nicht konsequent entwickelt), ohne die eine dauerhafte Friedenssicherung nicht zu erreichen ist: »Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Konzept . . . Sie umfaßt (auch) die Humanisierung der Arbeitswelt, einschließlich der Mitbestimmung, die Vergesellschaftung der Rüstungsindustrie . . .« 2 0 3 Besonders scharf wird der Gegensatz zwischen der Globalstrategie der USA und den nationalen Interessen der Bundesrepublik von Sprechern der Grünen betont. So heißt es in einem Brief des Abgeordneten Lange an den Botschafter der USA: »Sie verteidigen in der BRD nicht die Freiheit im allgemeinen, sondern die Interessen der USA im besonderen.« Die USA verfolgten eine Politik mit dem Ziel, »hier den Krieg möglich zu machen«. 204 . Es kann im Rahmen der vorliegenden Schrift nicht darum gehen, die nationalen Interessen der Bundesrepublik im einzelnen zu bestimmen. Zweierlei dürfte aber deutlich geworden sein: 1. Die Rede von »nationalen Interessen« ist nicht nur eine ideologische Formel, sondern besitzt Realitätsgehalt. Sie bezieht sich auf die Gesamtheit der Existenz- und Entwicklungsbedingungen eines Nationalstaats - seines Territoriums und seiner Bevölkerung. Die nationalen Interessen existieren nicht außerhalb oder oberhalb der Klasseninteressen, sondern werden durch Klassen repräsentiert. Sie sind aber nicht identisch mit einem bestimmten Klasseninteresse - auch nicht mit dem der Arbeiterklasse. Die in Kapitel II dargestellte Herausbildung und Entwicklung des bürgerlichen Nationalstaats hat diese komplexe Beziehung deutlich gemacht. Diese Beziehung gilt auch für die Gegenwart. 2. Die herrschenden Klassen legitimieren ihre Interessen wie eh und je seit der Gründung des bürgerlichen Nationalstaats - als nationale. Ihnen gegenüber das zu formulieren, was die Existenz - und Entwicklungsnotwendigkeiten der Bundesrepublik wirklich verlangen, bleibt ständige Aufgabe. Dabei erweisen sich die herrschenden Klassen keineswegs als homogener Block. Bei 122
allen durch die Klassenspaltung bedingten Antagonismen gibt es, wie schon die Theoretiker des Marxismus herausgearbeitet haben, auch die Möglichkeit der partiellen Übereinstimmung nationaler Interessen der Klassen. 205 Dies gilt vor allem für die Periode der Herausbildung des bürgerlichen Nationalstaats. Aber es gibt in den herrschenden Klassen auch heute Kräfte, die in Teilbereichen solche Interessen vertreten, die den nationalen Notwendigkeiten tatsächlich entsprechen. Mit ihnen sind in diesen Fragen Bündnisse möglich. Dies gilt vor allem für die gegenwärtig absolut vordringliche Frage: die der Friedenssicherung.
123
Anmerkungen 1 M. Imhof, Die Vertriebenenverbände in der Bundesrepublik Deutschland, Marburg 1975 2 Vgl. dazu D. Horowitz, Kalter Krieg, 2 Bde., Berlin (West) 1969; G. Kolko, Die Hintergründe der US-Außenpolitik, Frankfurt 1971 3 Bonner Bulletin Nr. 26 v. 4. 3. 1952, S. 254 4 W. Weidenfeld, Ratlose Normalität. Die Deutschen auf der Suche nach sich selbst, Osnabrück, Zürich 1984, S. 40 4a M. Maser, Deutschland. Traum oder Trauma, München 1984, S. 640 ff. 5 FAZ v. 3. 9. 1985 6 A. Klönne, Zurück zur Nation? Kontroversen zu deutschen Fragen, Köln 1984, S. 43 7 Vgl. dazu H. Knepper, H.-J. v. Olberg, Werbung statt Bildung. Die Bundeszentrale für Politische Bildung auf dem Weg zur PR-Abteilung der Bundesregierung, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 7/1985, S. 652-656 8 Ebenda 8a Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation, abgegeben v. Bundeskanzler Kohl am 27. 2. 1985 im Bundestag 9 Vgl. die Regierungserklärung Kohls vom 13. 10.1982 und den Rahmenplan für das Projekt von 1983, vorgelegt von Innenminister Zimmermann 10 Vgl. zu diesem Komplex bes. die Materialien, die G. Herde zusammengestellt hat, in: Argumentation, Information, Dokumentation Nr. 12, hrsg. v. Präsidium der VVN-Bund der Antifaschisten, Juli/August 1985 11 Rede des Bundespräsidenten beim Evangelischen Kirchentag am 8. Juni 1985 12 Vgl. dazu K. Schönwälder, Auf der Suche nach der »deutschen Identität«. Ein Literaturbericht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/1985, S. 1450-1464; M. Koelschtzky, Die Stimme ihrer Herren. Die Ideologie der Neuen Rechten, Köln 1986; A. Klönne, a.a.O.; R. Opitz, Faschismus und Neofaschismus, Frankfurt 1984; L. Elm (Hrsg.), Leitbilder des deutschen Konservatismus, Köln 1984; ders. (Hrsg.), Konservatismus heute, Köln 1986; A. v. Pechmann, Konservatismus in der Bundesrepublik. Ideologie und Geschichte, Frankfurt 1985; sowie allgemein: Politik der Wende. Bilanz, Kritik, Alternativen, Hamburg 1985; an älteren und grundlegenden Untersuchungen vgl. bes. G. Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, o.O. o.J. (Luchterhand Verlag); M. Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1971; H. Grebing, Konservative gegen die Demokratie, Frankfurt 1971; H. G. Schumann (Hrsg.), Konservatismus, Köln 1974; H. A. Winkler (Hrsg.), Nationalismus, Königstein 1978 13 Vgl. O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, dtv München 1972, Ankündigung des Verlages sowie Nachwort von A. M. Koktanek 14 Vgl. Elm, Leitbilder, a.a.O.; zur wirklichen Bedeutung Spenglers vgl. Lukacs, a.a.O., S. 401 ff., u. K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962, bes. S. 188 f. u. 246 ff.; zu E. Jünger: K. Prümm, Die Literatur des soldatischen Nationalismus der zwanziger Jahre (1918—1933), 2 Bde., Kronberg/Taunus 1974; Lukacs, a.a.O., bes. S. 461 ff.; Sontheimer, a.a.O., bes. S. 128 ff.; zu Carl Schmitt: J. Maus, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus, München 1976; Lukacs, a.a.O., S. 557 ff.; Sontheimer, a.a.O., S. 94 ff. 14a Vgl. J. Habermas, Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt 1985, S. 30—56 14b Vgl. dazu: Konservatismus in der BRD, Berlin (DDR) 1982, bes. den Beitrag von L. Elm, S. 8 ff. 14c Habermas, bes. S. 42 ff.
124
14d Vgl. dazu J. Berlin u. a., Was verschweigt Test?, Köln 1978; A. Manzmann (Hrsg.), Hitlerwelle und historische Fakten, Königstein 1979; M. Weißbecker, Entteufelung der braunen Barbarei, Frankfurt 1975 14e Deutsche Parteiprogramme, hg. v. W. Mommsen, München 1960, S. 709 15 Vgl. z. B. die Aussage von Strauß, in seiner »Hochachtung vor dem deutschen Soldaten des letzten Weltkriegs« sei die Waffen-SS »selbstverständlich . . . einbezogen« (in: Der Freiwillige, 1959); allgemein: R. Kühnl, Die von F. J. Strauß repräsentierten politischen Kräfte und ihr Verhältnis zum Faschismus, Köln 1972 16 Vgl. neben den schon genannten Schriften von R. Kühnl und M. Imhof: H.-D. Bamberg, Die Deutschlandstiftung e.V., Studien über Kräfte der »demokratischen Mitte« und des Konservatismus in der Bundesrepublik Deutschland, Meisenheim 1978 17 Belege dazu bes. bei Opitz, a.a.O., u. bei Schönwälder, S. 1454 f. 17a Vgl. Opitz, a.a.O., bes. S. 257 ff.; Schönwälder, S. 1455 f.; Koelschtzky, a.a.O. 18 So die Konrad-Adenauer-Stiftung im Herbst 1982, zit. nach Klönne, a.a.O., S. 8; dort sowie bei K. Schönwälder und bei R. Opitz weitere Belege 19 B. Willms, Überlegungen zur Zukunft der deutschen Nation, in: Nation und Selbstbestimmung in Politik und Recht, Berlin 1984, S. 85 ff., hier S. 108 20 W. Weidenfeld, Die Identität der Deutschen - Fragen, Positionen, Perspektiven, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität der Deutschen, Bonn 1983, S. 13-50, hier S. 17; H. Rausch, Politisches Bewußtsein und politische Einstellungen im Wandel, in: Weidenfeld (Hrsg.), Identität, a.a.O., S. 119-153, hierS. 123 21 Willms, Überlegungen, a.a.O., S. 101 f. u. 96 22 L. Herrmann, Hitler, Bonn und die Wende. Wie die Bundesrepublik ihre Lebenskraft zurückgewinnen kann, in: Die politische Meinung 209, 28. Jg. (1983), S. 23 23 So die empirische Untersuchung des Allensbacher Instituts, dargelegt von Frau Noelle-Neumann, in: FAZ v. 4. 9.1985 24 W. Weidenfeld, Ratlose Normalität, a.a.O., S. 71 ff. 25 W. Weidenfeld, Die Identität der Deutschen, a.a.O., S. 21 26 Herrmann, a.a.O., S. 27 27 Ebenda, S. 13 u. 26 27a H. Filbinger, Was verstehen wir unter Patriotismus?, in: Deutsche Identität heute, hrsg. v. Studienzentrum Weikersheim, Mainz 1983, S. 178 28 Willms, a.a.O., S. 108 29 W. Weidenfeld, Ratloses Nationalgefühl? Fragen an die Deutsche Frage, in: Deutschland Archiv, 17. Jg., (1984), S. 586 ff., hier S. 589 30 Vgl. dazu Opitz, a.a.O., S. 314 ff. 30a E. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche und seine weltpolitischen Konsequenzen bis zur Gegenwart, in: Deutsche Identität heute, a.a.O., S. 25 ff.; für die FAZ vgl. ihre Kommentare zum 40. Jahrestag des 8. Mai, die einen tiefen Haß auf den Antifaschismus offenbarten und eine eigene Darstellung wert wären. 31 FAZ v. 24.12. 1985 32 So referiert von FAZ v. 22. 10. 1985 33 Zit. nach Herde, a.a.O., S. 13 34 Zit. nach ebenda, S. 16 f. 35 Ursachen und Stand der Deutschen Frage, Bulletin Nr. 105 vom 18. 9. 1984, S. 929 ff. 36 Herrmann, a.a.O., S. 28 37 Ebenda, S. 25 37a Vgl. bes. seine Schriften »Genealogie der Moral« und »Wille zur Macht«; zur Interpretation vgl. Lukács, a.a.O., hier bes. S. 296 f. 37b G.-K. Kaltenbrunner (Hrsg.), Was ist deutsch? Freiburg 1980, S. 23 38 Interview in: »Wir selbst«, 1981, H. 6, S. 12
125
39 M. Stürmer, Diskussionsbeitrag in: Deutsche Identität heute, hrsg. v. Studienzentrum Weikersheim, Mainz 1983, S. 105 40 So der Rheinische Merkur v. 9. 11.1985 41 FAZ v. 15. 11. 1985 42 Vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932; Neudruck Berlin (West) 1979, S. 26 43 Vgl. B. Willms, Die Zukunft der deutschen Identität, in: Deutsche Identität heute, a.a.O., S. 82 ff.; Windelen, der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, hat zu diesem Buch ein Vorwort verfaßt 43a A.a.o., S. 98 u. 105 44 Willms, Überlegungen zur Zukunft der Nation, a.a.O., S. 91 u. 93 45 Willms, Zukunft der deutschen Identität, a.a.O., bes. S. 91 46 Willms, Überlegungen zur Zukunft der Nation, a.a.O., S. 92 f. 47 Willms, Überlegungen zur Zukunft der Nation, a.a.O., S. 87 48 Zit. nach FAZ v. 22. 10. 1985 49 Vgl. die kommentierte Dokumentation des Heidelberger Manifests, in: Kulturrevolution, 1983, H. 2 50 Zit. nach Klönne, a.a.O., S. 76 f. 51 Nach FAZ v. 15.1. 1986 52 Willms, Überlegungen zur Zukunft der Nation, a.a.O., S. 100 53 Willms, Zukunft der deutschen Identität, a.a.O., S. 80 ff. 54 Willms, Überlegungen zur Zukunft der Nation, a.a.O., S. 108 55 Vgl. dazu im Einzelnen Opitz, a.a.O. 56 Vgl. dazu ebenda 57 Willms, Überlegungen zur Zukunft der Nation, a.a.O., S. 104 58 Vgl. neben der genannten Untersuchung von Imhof die Belege bei Herde, a.a.O., S. 23 ff. 59 Zit. nach Herde, a.a.O., S. 1 60 F. J. Strauß in einem Grußwort an die Landsmannschaft Schlesien im Juni 1985, zit. nach Herde, a.a.O., S. 1 61 Zit. nach H. Ehmke, Was ist des Deutschen Vaterland?, in: Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit«, hrsg. v. J. Habermas, 1. Bd.: Nation und Republik, Frankfun 1979, S. 51 ff., hier S. 65 62 Pommersche Zeitung v. 1. 6. 1985, zit. nach Herde, a.a.O., S. 2 62a FAZ v. 27.11.1985 62b A. Hillgruber, Die Last der Nation, Düsseldorf 1984, bes. S. 8, 32 63 Weidenfeld, Identität, a.a.O., S. 13 ff. 63a Weidenfeld, Ratlose Normalität, a.a.O., S. 60 ff. 63b Stürmer, Die deutsche Frage als europäisches Problem, in: K. Weigelt (Hrsg.), Heimat und Nation, Mainz 1984, S. 289 64 Stürmer, Kein Eigentum der Deutschen: die deutsche Frage, in: Weidenfeld, Identität, a.a.O., S. 83-101, bes. S. 99 u. 88 64a Stürmer, Wem gehört die deutsche Geschichte, in: Deutsche Identität heute, a.a.O., S. 63 65 Vgl. dazu Sontheimer, a.a.O.; R. Kühnl, Die Weimarer Republik, Reinbek 1985, bes. S. 112 ff.; J. Petzold, Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik, Köln 1982 66 Über diesen Sachverhalt sind sich Beobachter ganz verschiedener politischer Richtungen einig; vgl. z. B. W. v. Bredow, Deutschland - ein Provisorium?, o.O., o.J. (Siedler Verlag 1985), S. 115, 118, 131; Ehmke, a.a.O., S. 60; Willms, Überlegungen zur Zukunft der deutschen Nation, a.a.O., S. 98 66a So Bredow, a.a.O., S. 131
126
67 »Aus den Schluchten des Deutschland-Archipels« u. »Politik mit doppeltem Boden. Ambitionen der Bonner Deutschland- und Ostpolitik«, Interview mit H. Ridder, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/1984 u. 9/1984 68 Kohl in: Adenauer Memorial Lecture in Oxford am 2. Mai 1984, in: »Bulletin«, Nr. 50 v. 9. 5. 1984, S. 437. Vgl. K. Naumann, Das Rohe und das Vorgekaute. Zur Ideenpolitik im geistigen Umfeld des Bundeskanzlers und zu einigen Problemen bei ihrer Wahrnehmung, Typoskript 1984 69 Weidenfeld, Ratloses Nationalgefühl, a.a.O., S. 589 70 Weidenfeld, Die Deutschen als emanzipierte Europäer. Zur europapolitischen Strategie der Bundesrepublik Deutschland, in: »Sonde«, 1/1984, S. 44 71 FAZ v. 24. 12. 1985 72 L. Späth, Wende in die Zukunft, Reinbek 1985, S. 282 73 FAZ v. 15. 11. 1985 74 Kohl in: Adenauer Memorial Lecture, a.a.O., S. 436 75 So referierte die FAZ vom 31. 10. 1985 76 FAZ v. 31. 10. 1985 77 Rheinischer Merkur v. 9.11. 1985 78 Zit. n. Stürmer, Die deutsche Frage als europäisches Problem. Ein Sonderweg deutscher Geschichte?, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.), Heimat und Nation. Zur Geschichte und Identität der Deutschen, Mainz 1984, S. 301 78a Dazu Schönwälder, a.a.O., S. 1461 78b Stürmer, Kein Eigentum der Deutschen: Die deutsche Frage, a.a.O., bes. S. 92; vgl. auch den Diskussionsbeitrag Stürmers, in: Deutsche Identität heute, a.a.O., S. 102; allgemein zu Stürmer: Schönwälder, a.a.O., S. 1459 ff. 79 So K. Naumann in der Rezension des Buches »Wende in die Zukunft« von Lothar Späth, in: DVZ/die tat v. 6. 12.1985 80 FAZ v. 5. 12. 1985 81 FAZ v. 22. 10. 1985 81a Vgl. seine Äußerungen in der Debatte des Bundestages zur Regierungserklärung Helmut Schmidts »Zur Lage der Nation« am 3. 9.1982, in denen er sich auf den von Venohr hrsg. Sammelband bezog 82 Ansprache am 8. Mai 1985 im Bundestag und Vortrag beim Evangelischen Kirchentag am 8. Juni 1985 82a Zit. nach FAZ v. 28. 11. 1985 83 Zit. nach FAZ v. 22. 10. 1985 84 Zit. nach FAZ v. 27. 11. 1985 85 Zit. nach Herde, a.a.O., S. 9 86 Vgl. den Artikel Stürmers im Rheinischen Merkur/Christ und Welt v. 17. u. 24. 8. 1985 sowie das Interview Kohls in der Washington Post v. 21. 7. 1985 u. die Rede Kohls vor dem Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißtenangehörigen v. 9. 9. 1985, nach FAZ v. 10. 9. 1985 87 Stürmer, Kein Eigentum der Deutschen: Die deutsche Frage, aa.O., S. 98 87a FAZ v. 10. 9. 1985, die hier das »Ostpreußenblatt« referiert 88 FAZ v. 9. 9. 1985 89 Dregger im Bundestag, zit. nach FAZ v. 27. 11. 1985 90 Vgl. Erinnerung, Trauer und Versöhnung. Ansprachen und Erklärungen zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, hrsg. v. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, S. 55 ff. 91 Ebenda, S. 88 u. 99 92 Hupka zur Eröffnung des »Deutschlandtreffens der Schlesier« im Juni 1985, zit. nach Herde, a.a.O., S. 1 93 Zit. nach ebenda, S. 9 f. 94 Weimarer Beiträge 8/1985
127
95 I. Fetscher, Die Suche nach der nationalen Identität, in: J. Habermas (Hrsg.), Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit«, 1. Bd.: Nation und Republik, Frankfurt 1979, S. 115-131 96 Ebenda, S. 115, 118, 123 97 Ebenda, S. 124, 128 f. 98 Ebenda, S. 130 99 Weidenfeld, Die Identität der Deutschen, a.a.O., S. 30 100 W. J. Mommsen, Wandlungen der nationalen Identität, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität der Deutschen, a.a.O., S. 170-192 101 Klönne, a.a.O., S. 28 u. 32 102 Weidenfeld, Ratloses Nationalgefühl, a.a.O., S. 590 103 Vgl. dazu meine Untersuchung über die Weimarer Republik, Reinbek 1985, bes. S. 93 ff. u. 112 ff. 104 A. Seghers, Rede beim Ersten Internationalen Schriftstellerkongreß in Paris 1935, in: Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente, Berlin (DDR) 1982, S. 278-281, hier S. 280 105 Fünf Millionen Deutsche: »Wir wollen wieder einen Führer haben . . ..« Die SINUSStudie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen, Reinbek 1981, S. 48 106 Der Arbeitgeber v. 8. 3. 1985 107 Criticon, Juli/August 1984, S. 151 108 Vgl. dazu K. Naumann, »Modell deutscher Möglichkeiten« ? Späth-Politik in BadenWürttemberg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/1985, S. 855-872 109 Rheinischer Merkur v. 9. 11. 1985 110 So der Verlagsprospekt 110a A. Schwan, Nationale Identität in Deutschland und Europa, in: K. Weigelt (Hrsg.), Heimat und Nation. Zur Geschichte und Identität der Deutschen, Mainz 1984, S. 193; M. Hättich, Nationalbewußtsein im geteilten Deutschland, in: Weidenfeld (Hrsg.), Identität, a.a.O., S. 278 u. 289 111 Vgl. dazu bes. Klönne, Zurück zur Nation?, a.a.O. 111a Zit. nach Opitz, a.a.O., S. 324 f. 111b Ebenda, S. 352 111c Zit. nach Ebenda, S. 336 111d Nach Frankfurter Rundschau v. 22. 9. 1983 111e Zit. nach Opitz, a.a.O., S. 331 111f S. A. de Benoist, in: Criticón Nr. 60/61 (Juli/Oktober 1980), S. 199 112 Zit. nach Kultur und Gesellschaft, 1985, H. 3, S. 4 113 FAZ v. 16. 12.1985 114 Vgl. Nr. 145, 148,150 115 Vgl. bes. den Sammelband »Die deutsche Einheit kommt bestimmt«, Bergisch Gladbach 1982, den W. Venohr herausgab und der »mittlerweile zu einer Art Bibel des Neonationalismus geworden ist« (Klönne, a.a.O., S. 95) 116 Nr. 148, S. 910-912 117 Nr. 150, S. 252 f. 118 Nr. 148, S. 912 119 FAZ v. 31. 12. 1985 120 Paris 1935, a.a.O., S. 151 f. 120a Zit. nach W Grab, Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner, Büchergilde Gutenberg o.J. (1984), S. 498 121 Zum Begriff des Nationalcharakters vgl. A. Kosing, Nation in Geschichte und Gegenwart, Berlin (DDR) 1976, S. 263 ff. 122 K. W Deutsch, Nationenbildung - Nationalstaat - Integration, Düsseldorf 1972
128
123 B. Brecht, Volkstümlichkeit und Realismus. In: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur. Eine Auswahl von Dokumenten 1935—1941, Berlin/Weimar 1979, S. 684 f. 124 F. Engels, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: MEW 21, S. 407 125 W. I. Lenin, Ober das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung, Berlin 1951, S. 7 126 Engels an Kautsky am 7. 2. 1982, MEW 32, S. 269 127 Engels an Laura Lafargue am 20. 6.1893, MEW 39, S. 87 128 H.-J. Steinberg, Sozialismus, Internationalismus und Reichsgründung, in: Th. Schieder, E. Deuerlein, Reichsgründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen, Stuttgart 1970, S. 337 129 MEW 19, S. 29 130 Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, a.a.O., S. 44 131 Ebenda, S. 50; allgemein vgl. auch Ch. v. Krockow, Nationalismus als deutsches Problem, München 1970 132 Engels an Paul Lafargue am 27. 6. 1893, MEW 39, S. 90; vgl. zum Folgenden bes.: Steinberg, a.a.O., S. 319—344; ders., Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem Ersten Weltkrieg, Hannover 1967 133 J. Motteier, in: »Der Volksstaat« v. 20. Mai 1874, zit. nach Steinberg, Sozialismus, a.a.O., S. 342 f. 134 Engels an Marx am 25. 7. 1866, MEW 31, S. 241 135 Demokratisches Wochenblatt v. 4. 1. 1868, zit. nach Steinberg, Sozialismus, a.a.O., S. 325 136 Bracke, der 1869/70 als Mitglied des Braunschweiger Ausschusses an der Spitze der SDAP stand, in einem Brief v. 1. 9.1870??, zit. nach Steinberg, Sozialismus, a.a.O., S. 336 137 K. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 313 ff. 138 MEW 5, S. 3 f. 139 O. Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien, 1924, S. 135 140 Neue Zeit, Ergänzungshefte, Nr. 1, 1908, S. 35 141 Noske im Reichstag am 25. 4. 1907 142 Vgl. G. Fülberth, J. Harrer, Die deutsche Sozialdemokratie 1890—1933, Darmstadt u. Neuwied 1974, S. 88 f. 143 Vgl. H. J. Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbeiterbewegung, Industrie, Staat und Militär in Deutschland 1914-1920, Hamburg 1981 144 Zit. bei Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, a.a.O. 145 Zit. nach W. Bartel, K. Liebknecht gegen Krupp, Berlin (DDR), 1951, S. 24 146 Brief v. 3. 6. 1916 an das Militärgericht 147 Vgl. dazu Ch. Butterwegge, G. Hofschen, Sozialdemokratie, Krieg und Frieden, Heilbronn 1984, bes. Kap. 4 148 Die Einzelheiten und Belege habe ich meinem Buch »Die Weimarer Republik«, Reinbek 1985, aufgeführt 149 Vgl. zum Folgenden auch R. Opitz (Hrsg.), Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, Köln 1977, Teil II 150 So Stresemann in einer geheimen Denkschrift vom Januar 1925 151 F. Wertheimer, Auslandsdeutschtum und Deutschtumspolitik, in: Volk und Reich der Deutschen, Vorlesungen gehalten in der Deutschen Vereinigung für Staatswissenschaftliche Fortbildung, hrsg. v. B. Harms, Berlin 1929, Bd. 3, S. 222 f. 152 Zit. nach W. Rüge, Zur chauvinistischen Propaganda gegen den Versailler Vertrag 1919-1929, in: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 1, Berlin 1967, S. 99 153 Rote Fahne vom 24. 8. 1930; in Auszügen in R. Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, Köln 1975, S. 177-182 154 Th. Oberländer, Der neue Weg, Königsberg 1936, S. 3, Zit. nach M. Weißbecker, Bund Deutscher Osten (BDO), in: Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 1, Leipzig 1983, S. 311 155 Hitler, Mein Kampf, 390./394. Auflage, München 1939, S. 372
129
155a Vgl. A. Ackermann, Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus?, in: Einheit Nr. 1, 1946 155b Zit. nach FAZ v. 31. 1. 1986 156 Criticon, Juli/August 1984, S. 151 157 Zit. nach Bredow, a.a.O., S. 128 158 Bundesminister v. Merkatz im März 1953 im Bundestag, zit. nach Ehmke, a.a.O., S. 58 159 Ehmke, a.a.O., S. 58 160 Vgl. dazu aus der Sicht der BRD: V Hornung, Zehn Jahre Grundlagenvertrag 1972-1982, Rheinfelden 1985 161 Vgl. dazu A. Rausch, Politisches Bewußtsein und politische Einstellungen im Wandel, in: Weidenfeld, Identität, a.a.O., S. 119-153, hier bes. S. 123 162 Emnid-Institut, Informationen Nr. 3-4/1984, S. 8 f. 163 Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1978-1983, Bd. VIII, hrsg. von E. NoelleNeumann u. E. Piel, München-New York-London-Paris 1983, S. 209, 212 u. 199 164 Ebenda, S. 203 165 Belege bereits in G. Schweigier, Nationalbewußtsein in der BRD und der DDR, Düsseldorf 1974; J. Dornberg, The other Germany, Görden City 1968 166 Allensbacher Jahrbuch, a.a.O., S. 211 167 Zur juristischen Problematik vgl. auch die kritische Analyse von H. Düx, Deutsche Nation?, in: N. Paech, G. Stuby (Hrsg.), Wider die »herrschende Meinung«. Beiträge für Wolfgang Abendroth, Frankfurt 1982, S. 156 ff.; zur »herrschenden Lehre« vgl. Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht. Kommentar. Begründet von A. M. Markarov, 3. neubearbeitete Auflage von H. V. Mangoldt, Lieferungen 1 —6, Metzner Verlag, Frankfurt 1984 168 So referiert Jens Hacker in der FAZ vom 28. 11.1985 die Argumentation des genannten Kommentars von Mangoldt 169 Nach FAZ vom 7. 1. 1986 170 Ebenda 171 Um so erstaunlicher ist es, daß diese Fiktionen bis weit in Reihen der Sozialdemokraten und der Grünen hinein bis zum heutigen Tag noch irgendwie ernstgenommen werden. So äußerte kürzlich ein Sprecher der Grünen, »verfassungsrechtlich sei der Fortbestand des Deutschen Reiches unbestritten«, wenn diese These auch politisch »verheerend« sei (nach FAZ vom 7. 1. 1986) - ein schönes Beispiel für das, was die Kategorie »herrschende Ideologie« bedeutet 172 So in den »Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1974«, S. 77 173 Rede Schmudes vom Mai 1985, die er in einem Leserbrief in der FAZ vom 10. 12. 1985 noch einmal zitierte 174 FAZ vom 12. 9. 1985 175 FAZ vom 20. 1. 1986 175a W. Brandt in: Reden über das eigene Land: Deutschland, Bd. 2, München 1984, S. 60 ff. 176 Ehmke, a.a.O., S. 63 f. 177 Ebenda, S. 65 ff. 177a Ehmke, a.a.O., S. 66-70 178 Willms, Überlegungen zur Zukunft der Deutschen Nation, a.a.O., S. 85-87 179 Weidenfeld, Identität, a.a.O., S. 16 179a Ebenda, S. 24, 27, 35, 43 180 Ch. Graf v. Krockow, Die fehlende Selbstverständlichkeit, in: Weidenfeld, Die Identität, a.a.O., S. 154-169, hierS. 168 181 W.J. Mommsen, Wandlungen der nationalen Identität, in: Weidenfeld, Identität, a.a.O., S. 170-192, hierS. 170 ff.
130
182 M. Hattich, Nationalbewußtsein im geteilten Deutschland, in: Weidenfeld, Identität, a.a.O., S. 274-293, hier S. 285 f. 182a Ebenda, S. 290 183 Bredow, a.a.O., S. 139 ff. 184 185 D. Wellershoff, Deutschland - ein Schwebezustand, in: Habermas (Hrsg.), Stichworte, a.a.O., S. 77 186 W. Jens, Nachdenken über Heimat, in: Die neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 7/ 1985,S. 586-593,hier S. 592 187 Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente. Mit Materialien der Londoner Schriftstellerkonferenz 1936, hrsg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin (DDR) 1982, S. 278-281 187a Vgl. dazu auch O. Schily, in: Reden über das eigene Land, a.a.O., S. 39 ff. 188 Vgl. dazu D. Kramer, Die Provokation Heimat, in: Sozialistische Politik und Wirtschaft 13, S. 32 ff., hier S. 38 f. 189 Allensbacher Jahrbuch, a.a.O., S. 183 190 G. W. Plechanow, Patriotismus und Sozialismus, in: Ausgewählte philosophische Werke, Bd. III, S. 95 191 So charakterisiert sogar Michael Stürmer in der FAZ das Bündnis mit den USA: FAZ vom 13. 7. 1985 192 Nach Bericht in FAZ vom 21. 1. 1986 193 FAZ vom 13. 1. 1986 194 FAZ vom 20. 1. 1986 195 Ebenda 196 FAZ vom 11. 1. 1986 197 FAZ vom 10. 1. 1986 198 FAZ vom 29. 1. 1986 199 Ehmke nach FAZ vom 12. 9. 1985 200 FAZ vom 17. 1. 1986 201 So Ehmke nach FAZ vom 8. 1. 1986 202 FAZ vom 31. 12. 1986 203 Das gesamte Papier ist abgedruckt in: FAZ vom 6. 12. 1985 204 FAZ vom 24. 1. 1986 205 Vgl. z. B. W I. Lenin, Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik, in: Werke, Bd. 2, S. 209 f.
131