Alain Lipietz
Nach dem Ende des »Goldenen Zeitalters« Regulation und Transformation
kapitalistischer Gesellschaften Ausgewählte Schriften Herausgegeben von Hans-Peter Krebs
ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
j
- ClP-EinhcitsHufonhme Die Deutsche B!bliothek Alliin Lipiclz: gulation und o!dcncn Zcilalters« : Re Nach dem Ende des ))G aus gew iih ltc ; ten haf list isc hcr Ge sel lsc Tra nsf orm all on kap itl\ bs (Hg ,), Kre cr Pct nsHa von z. Hrsg. Sch nft en I AJain Up ic! 9 199 cnt-VcrJ., Berlin. Hn mb urg : f\rgum (A rgu rne nt- So ndc rha
nd: N.F ..l\ S 255 )
rSr3N 3-R!I() 19-255-5
DCllt~chc r:::r::tausgabe t"n All e Re cht e vor hcl m! ll1burg 1991\ li lin a ßer g rla Ve 'e Ar gum ent Ila mb urg 5lJ , 202 Ep rcn dor fcr Weg 95a 180 02f l /40 040 x 'Fa Tel. 040 /40 1 HOOO gen ttin Gö ck, Dru a Dru ck: Alr orf rei em Paricr chl und urc s1! auf Gedruckt Ers te Au fla ge 199 8
Inhalt
Dialektische Praxis der Kritik (Einleitung) . . . . . . . . . . . . . . .. ., 5 Hans-Pctcr
Kr~bs
RebcHische Söhne
......... 12
Das Interviev,' fühlie .lane Jcnsol1
Drei Krisen
., .................. __ .............. _. _. "
2~1
Die i\1etamorphosen des Kapitalismus und die Arbeiterbewegung
Die politische Ökologie und die Zukunft des T\Aarxismus ...
59
Kette, Schuss und die ReguJation ........................ 77 Ein Werkzeug für die Sozialwissenschaften
Die neuen Beziehungen von Zentrum und Peripherie ..... 116 Die Beispiele Amerika und Europa im Kon1Tast
Das Nationale und das Regionale ...................
155
Wie viel AUtonomie bleibt angesichts der globalen Krise des Kapitalismus?
Die Frauen- eine Klasse! ...............................
185
Ein soziales Europa ................... _.............. ,. 197 Die Herausfordemng nach Maastricht
Nachweise ........ _...._......... _....... , .............
207
Auf dem Weg zur europäischen Altenlative (NacInvorl)
209
Fricdcr OHo Wolf
c\llGl iMENT SON))EIlHi~\iD :-.ln;E I'OLGE AS 255
Dialektische Praxis der Kritik /f'i/Il}!(I/1 die Wdr Imdf'rII, 1111//1 1I/(1/! die A 1'l1lncllfeise, wie Welt )'gemachl«( wird, verä/1dern.
PicHe Bourdicu
Der vorliegende Band hat eine zehnjäbrige Vorgeschichte. Bereits 1989 verfolgten Michael R. Krätke (Amsterdam) und Frieder O. Wolf(Berhn/Brüssel) das Projekt zusammen mit dem Argument-Verlag unter dem Titel Wege aus der Krise des Fordismw·; einen Band mit Aufsätzen von AJain Lipietz herauszugeben. In Paris begann SybjlJe \Veber mit der Übersetzung einiger Texte ins Deutsche. Zn dieser Zeit wurde bei mir das interesse an Texten der französischen Regulatlonstheode wach - und schcitmie zun~ichst an der dürftigen Textlage in deutscher Sprache.' Von Lipietz lag damals im Wesentlichen nur ein Auf: satz zum BegIiff der Regulation in methodischer Perspe.k1'ive (J 985) vor, der mütIcrweile vergIiffen ist. Neben eigenen eher mühsamen Übersetzungsaktivitäten, die sich in der FoJge in dem Band Hegemonie und Staat (Demirovlc u.a. 1992) niederschlugen, lag es nahe, mich fiir eine baldige Realisienmg desgenrumten Buchprojektes zu engagieren. Mehrere Versuche einer Kooperation mit einem über Überlasttmg klagenden Krätke, dem die inzwIschen roh übersetzten Texte vorlagen, schlugen fehl - von einem Jahr wurde ich aufs nächste vertröstet. Übersetzungsmanuskripte bekam ich nie zu sehen. Also übersetzte ich alls Eigeninteresse weiter, um mich weitergehend mit regulationstheorctischen Texten beschäftigen zu können. Es entstand der Band Berlll1, ßagdad, Rio (Lipietz 1993a) in Zusammenarbeit nut dem Verlag Westfalisches Dampfboot in Münster. Auf der Tagung La1>01l1' IHarkets and Employment Policy in {he l~'uroJ1eal1 Union in Marburg im Herbst 1996, an der auch Alain Lipietz und Flieder 0, Wolf teilnahmen, wurde schließlich verembart, dass nach Klärung mit Michael Krätke ich die Übersetzungsmanuskripte von Sybille \Veber bekomme und - zusammen mit eigenen Übersetzungen - einen Band mit ausgewählten Schtiften von Lipietz herausbringen kann. Der Argument-Verlag erklärte sich,. auf Empfehlung von 1l1Omas Laugslien, bereit, das »alte Projekt« nun doch noch zu verwirklichen, trotz alter mittlerweile vorhandenen Idiosynkrasien um den Band herum. Zehn Jahre sind eine lange Zeit Einerseits hat sich die politische Landschaft in Europa und der \Velt drastisch verändert, andererseits zeigen auch Theorien über eine soiche Zcildauer himvt';g in der Regel erste Verfremdungen aufgrund j)as Interesse (nicht nur meinerseits) an der französischen Regulationstheorie verdankt sich im wesentlichen Seminaren von Joachim Hirsch, .losef Esser und Alex Demirovic am Fachbereich Gesellschal1s·.vissenschaften an der Frankfurter Univw:ität. ARGl :\II:);T SO:\DERIl:\xl) '1El lE FOHlE .·\5255
Einleitun
6
ihrer eigenen Historizität. Die Verschiebung im Titel des Bandes von Weg, aus der Krise des Fordismus hin zu Naeh dem Ende des »Goldenen Zeit alters« mag diese beiden Veränderungen illustrieren. Herrschte Ende de achtziger Jahre doch eine gewisse Aufbruchseuphorie vor, dominiert heut( eher die Suche nach neuen Entwicklungswegen. Das muss nicht als Regressi· on gewertet werden, stellen doch die drei »großen Veränderungen« (del Zusammenbruch des sowjetischen Modells, der neue Typus der Militarisierung des Erdballs sowie die politischen Implikationen der globalen ökologischen Krise) neue Herausforderungen dar. Ob auf sie nur lnit alten Lösungen zu antworten ist, bleibt fraglich, umgekehrt ist aber auch zweifelhaft, ob völlig neue, ganz andere Auswege gefunden werden, Im historischen Prozess wird sich eine bestimmte Mischung zwischen Alt und Neu durchsetzen, zu deren Herausbildung Alain Lipietz mit seinen theoretischen Interventionen sicher beigetragen hat und hoffentlich weiter beiträgt. Wenn in dem vorliegenden Band durchaus auch Texte aus dem ursprünglich geplanten Buch enthalten, jedoch neue hinzugetreten sind, so drücken sich darin einerseits bestimmte Kontinuitäten aus. Lipietz selbst sieht sie im Materialismus, in der Dialektik, im Historismus und im politischen Fortschritt Andererseits treten aber auch Modifikationen in der Theorieentwicldung zu Tage. Zwei der wichtigsten seien hier genannt. Erstens kann seit längerem nicht mehr ohne weiteres von der einen fieole de Ja regulation in Paris gesprochen werden. 2 In der Retrospektive datiert Lipietz den theoretischen »Bruch« bereits 1983, als zwei Veröffentlichungen aus dem intellektuellen Kontext des CEPREMAP grundlegend verschiedene Wege verfolgen. 3 Während das Buch La VioJence de La monnaie von Michel Aglietta und Andre Orlean ein vö11ig neues Verhältnis zwischen Waren Wld Geld analysiert (und sich nebenbei von der marxschen Analyse der Wertfonn verabschiedet), sieht Lipietz in marxistischer Tradition in Le Monde enchante Geld als integralen Bestandteil des hoch entwickelten Kapitalismus. Erstere erkennen im Geld eine essenzielle, aber ökonolnie-exteme Zwangsgewalt zur Marktvergesellschaftung, die sich in einer gewaltsamen Entgegensetzung von Individuen äußere und letztlich in einer Krise der Souveränität ende. Letzterer zeigt gerade in der theoretischen Rekonstruktion der monopolistischen Regula~ ti,on die Relevanz marxistischer Kategorien und kann plausibel machen, dass stch das Warenverhältnis über die Entfaltung der verschiedenen Fetischismen bis hin zum Geld zu konstitutiven Oberflächenverbindungen des modemen
2
3
Die produktive Vielfalt, die diese »Schule« hervorbrachte, resümiert der Band von Boyer/Saillard (1995). Vgl. Lipietz 1995a. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist auch die Bucbrezension von Benjamin Coriat (1983). CEPREMAP steht rur das Centre d'Etudes Prospectiws d'Economie Mathematique Appliquees a la Planificatioll in Paris, das als Entstehungsort des Pariser Regulationsansatzes gilt.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2S5
Einleitung
e r
7
Kapitalismus artikuliert. Theoriestrategisch laufen Aglietta/Orlean Gefahr, dem Monetarismus das Feld zu überlassen, und tendieren selbst zum methodischen Individualismus, der nur noch horizontale Widerspruche kennt, während Lipietz die marxistische Geldtheorie aktualisiert, so auf der theoretischen, Ebene zum Kampf gegen den dominant werdenden Monetarismus befahigt und politische HandlungsspieIrärnne erötfuet. In der Folge dieses Bruchs, dieses })großen Sprungs zurück« (1995a, 44), musste jeder der Regulationisten seinen eigenen Weg gehen. Lipietz entschied sich für »eine politisch aktive Opposition zu der [von den Monetaristen verkündeten] )Unausweichlichen Wende< und fand in der politischen Ökologie den Weg einer doppelten Opposition gegen den vergangenen Fordismus und gegen den Liberalproduktivismus unserer Zeih< (ebd., 43). Die politische Ökologie steUt also die zweite Modifikation in der Theorieentwicldung Lipietz' dar. Sie ist keineswegs abgeschlossen, wenn er beispielsweise den Bedeutungswandel des Marxismus von einer GeseUschaftstheorie zum Prinzip Hoffilung thematisiert (1991), das Verhältnis von politischer Ökologie ood Arbeiterbewegung beleuchtet (l993b) oder die internationalen Umweltlmnferenzen der letzten Jahre aus der Sicht des Nord/Süd-Konfliktes analysiert (1 995b). 4 Er kann so theoretisches Neuland betreten, ohne den Zusammenhang mit dem ldassischen Terrain des Regulationsansatzes, der seinen Schwerpunkt in der politökonomischen Analyse kapitalistischer Gesel1s.chaften hat (vgl. etwa Leborgne/Lipietz 1996, 1994; Lipietz 1997b), zu verlieren. Work in progress ist zum festen Bestandteil der theoretischen Praxis von Alain Lipietz geworden. Entsprechend diesen Modifikationen hat sich auch der Fokus der Textauswahl verschoben. Den Schwerpunkt bildet nicht mehr die »Aufhebung« des Althusserismus, die Verschiebung vom Begriff der Reproduktion hin zu dem der Regulation - obwohl auch auf diesen Zusammenhang eingegangen wird. Die theoretischen Verschiebungen beziehen sich vor allem auf die Internationalisierung der Ökonomie und auf sozialökologische Konzepte. So hat Lipietz die Kritik der politischen Ökonomie in den letzten zehn Jahren systematisch auf globale Entwicklungstendenzen der verschiedenen Kapitalismen erweitert. S Parallel dazu treten mehr und mehr Fragen der politischen Ökologie 4
S
Ähnlichen Charakter haben »Demokratie nach dem Fordismus«. In: Das Argument /89 (1991) sowie kleinere Texte in der Zeitschrift Andere Zeiten/DFo-Injo: »Ökologie ohne Gewissen ist nur ein Seelenuntergang« (2/]993) und )}Die Ökologie als Grundlage einer post-sozialistischen Wirtschaftslogik« (4/1993), die jeweils Kapiteln aus Lipietz 1993c entsprechen. Nicht unwesentlich an dieser Entwicklung dürfte seine Mitarbeit an dem Projekt WIDER (World Institute for Development Economics Research) sein., das von der United Nations University (UNU) in Helsinki organisiert wurde. Vgl. auch die dazugehörigen Veröffentlichungen in den Sammelbänden von MarglinlSchor 1990 und SchorNou 1995. ARGUME.NT SONDERBAND NEUE FOLGE AS :m
8
Einleitung
und der Demokratie in den Blickpunkt und lassen einen stattfindenden Paradigmenwechsel von Rot zu Grün erkennen, der das Rote in sich aufuinnnt (l993b). Als theoretischer Kern dieser Überlegungen schält sich - auch in Abgrenzung gegenüber der organisierten Arbeiterbewegung - die Kritik am Produktivismus heraus. Die theoretisch-programmatische Suche geht dabei von einem Anti-Produktivismus aus, der nicht auf Modemisierung verzichtet, der aber gegen eine kapitalistische SeJbstverlängerung antritt. Der Gegenbegriff ist Nachhaltigkeit (vgl. 1997a): Es geht um einen alternativen Typus der Modernisierung, der insbesondere Ökologie lmd Demokratie ins Zentrum eines noch zu erarbeitenden Entwicklungsmodells stellt. Wie die jüngsten Bücher von Andre Gorz (1997) und Pierre Bourdieu (1997) zeigen, denken französische Intel1ektuelle offenbar radikaler und mit größerer Kühnheit über Gesellschaft nach. Gleichzeitig haben sie ein un· mittelbareres Verhältnis zur Politik und entsprechenden Akteuren. Die Basis dafUr bildet die französische Gesellschaft selbst, die sich durch eine im eIe· mentaleren Sinne politische Kultur auszeichnet. Dass die politische Kultur in Deutschland anders ausfällt, macht es Intel1ektuellen hierzulande dagegen schwer, ausgetretene Pfade (der Kritik?) zu verlassen und sich dennoch Gehör für Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen zu verschaffen. Die im vorliegenden Band zum ersten Mal6 in deutscher Sprache veröffentlichten Aufsätze sprechen ihre eigene Sprache, insofern bedürfen sie keiner Einleitung. Die folgenden Hinweise wollen also nur auf besondere Aspekte aufmerksam machen und ein wenig Neugier wecken. In Rebellische Söhne, einem 1987 in Kanada von Jane Jenson durchgeführ~ ten Interview, gibt Alain Lipietz einen einführenden Überblick über Entwicklung und Ziele der Forschergruppe, aus der der Regulationsansatz hervorging. Neben Einblicken in dessen interne Genese werden hier auch fachübergreifende Aspekte des eher interdisziplinär angelegten Forscbungsprogramms deut. lich. Im Zentrum steht das Verhältnis Ökonomie, Geschichte und Politik. Der längere Beitrag Drei Krisen von 1985 setzt sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung in einem sich verändernden KapitaIismusauseinander. Ausgehend von der durchaus marxistischen Denkfigur Immanuel WaUersteins, nach der antisystemische Bewegungen zugleich systemisch sind, stehen hier krisentheoretische Überlegungen und die Rolle von Gewerkschaften im Mittelpunkt. Im Rückgriff auf Antonio Gramscis Politik- und Hegemoniebegriff gebt es um das politische Handeln der Arbeiterbewegung, das im 20. Jahrhundert durch eine Dialektik zwischen )Jerusalem< und >Babyion< charakterisiert war, dem das Jerusalem weggebrochen ist - sieht man von den eher skurrilen Beispielen Kuba und Nordkorea ab. 6
Einzige Ausnahme bildet der Beitrag Die politische Okologie und die Zukunft des Marxismus, der 1997 unter dem Titel Ökologie und Marxismus in einer gekürzten Version im Begleitband zur documenta X erschien.
ARGtn..IEST SONDERBA."D NEUE FOLGE AS 255
Einleitung
9
Zehn Jahre später wird dieser Strang wieder aufgenommen und in Die politische Ökologie und die Zukunft des Marxismus einer Neubewertwlg unterzogen. Bedeutungsveränderungen von Arbeit und ökologische Implikatio~ nen machen dies erforderlich. Am Beispiel der wenigen utopischen Äußerungen von Marx kann Lipietz in diesem eher politisch-theoretischen, programmatischen Beitrag zeigen, welche Renovierungen im marxistischen Theoriebestand nötig sind. 7 Das bringt die Frage der Zentralität von Arbeit aufs Tapet In Kette, Schuss und die Regulation greift Lipietz 1988 nochmals auf die Auseinandersetzung mit dem Altbusserismus zurück ood illustriert den Begriff der Regulation in einer Parallele zwischen Liebesverhältnissen, Akkumulation und Raumstrukturen. Werttheorie und Handlungstheorie - angelehnt an Bourdieus Begriff des Habitus - werden anband von Molieres Theaterstück Der Menschenfeind auf amüsante Weise veranschaulicht: ein methodischer Le~ ckerbissen mit gewissem Unterhaltungswert. Mit Die neuen Beziehungen von Zentrum und Peripherie kehren wir. wieder auf das Terrain der Kritik der politischen Okonomie zurück, nun auf internationaler Ebene. Der 1996 veröffentlichte Beitrag geht auf die Untersuchungen des WIDER-Projektes zurück und hebt das Verhältnis von Zentrum und Peripherie der neuen globalen Hierarchie hervor. Hinter der viel bemühten »Globalisienmg« steht nicht etwa Homogenisierung und Widerspruchsfreiheit, vielmehr nutzen die verschiedensten Akteure die vor sich gehenden Veränderungen zur Durchsetzung jeweils eigener Projekte: Die Fragmentierung nimmt zu, Differenzen vervielfältigen sich. Im Vergleich zwischen den kontinentalen Blöcken Amerika und Europa zeigen sich dabei unterschiedliche Stärken und Schwächen, die Handlungspotentiale freilegen. Raumtheoretiscbe Überlegungen nehmen in der theoretischen Entwicklung von Lipietz von jeher eine bedeutsame Stellung ein. 8 Dies wird in Das Nationale und das Regionale deutlich, wo er 1985 die mit der Globalisierung einhergehende »absurde Po1arisierung« zwischen national/lokal, SchiießunglOffuung, StaatlIndividuum grundlegend kritisiert, von der sich viele Linke affizieren ließen. Die regulationistisch-sozialgeographische Thematisierung nimmt dabei erneut Aspekte von Gramsci auf und gelangt so zu staatstheoretisch interessanten SchJussfolgenmgen. Eine gewisse Sonderrolle nimmt der Beitrag Die Frauen - eine Klasse! von 1984 ein. Er hat zum einen keinen akademischen Charakter und verdankt sich eher einem spezifischen intellektuellen Kontext im Paris der Mittachtziger, zum anderen gewährt er doch eine Momentaufnahme von Hintergrundannah7
S
Ich kann mich noch lebhaft an das wutentbrannte Murren der versammelten KPFFunktionäre erinnern, als Lipietz diesen Vortrag 1995 in der Sorbonne hielt. Das hängt U.8. mit seiner theoretischen Beschäftigung mit d,er marxschen Grundrente zusammen, deren Auswirkungen sich mehr oder minder in allen späteren Überlegungen auffinden lassen. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOl..OE AS 255
~(
r
"
,
10
Einleitun~
men zu einem - in der Regulationstheorie - wenig lUld eher sporadisch explizi1 gemachten Thema. Gegen den heutigen Zeitgeist bildet hier das Verhältnis Marxismus und Feminismus den Fokus. Der politisch-theoretische Essay Ein soziales Europa rekurriert - 1996 aktualisiert - schließlich noclunals auf globale Veränderungen mit dem Schwerpunkt Europäische Integration. Hier dominiert die Suche nach politischen Handlungsspielräumen im Kampf gegen die monetaristische Konzeption eines Europas im Zeichen von Maastricht. msgesamt passt die Textauswahl gut in die politische Situation in Deutschland, die an Konturlosigkeit und Orientierungsdefiziten kaum noch zu überbieten ist. Selbst den konservativen, neoliberalen Kräften, so scheint es, ist mittlerweile der SChWlUlg abhanden gekommen, mit dem sie angetreten sind. Zunehmend ins Lager der Hoffenden übergegangen, harren sie' passiv der Naturwüchsigkeit kapitalistischer Reproduktion. Auch hier ist Dialektik angesagt: Die Schwäche der einen ist die Chance der anderen - und das gilt für heide Seiten. Zu danken ist neben Alain Lipietz selbst, der großzügig die Veröffentlichungsrechte zur Verfiigung gestellt hat, vor a11em dem Argument-Verlag in Hamburg, der freundlicherweise die Druckkosten übernimmt. Eine finanziene Unterstützung durch das Studentische Institut für kritische /nterdisziplinarität (SifkI) in Frankfurt am Main erleichterte die Verwirklichung der Textsammlung. Ebenso trug eine durch Frieder O. Wolfvennittelte finanziene Unterstützung aus Mitteln des Europäischen Parlaments dazu bei, dass die ÜbersetzlUlgstätigkeiten in Paris und Frankfurt am Main nicht nur rein symbolisch gewürdigt wurden. Ein herzliches Danke! Anfragen bei der Französischen Botschaft in Bonn und der Hessischen Gesellschaft filr Demokratie und Ökologie (HGDÖ) blieben ohne Erfolg. Persönlicher Dank für hilfreiche Arbeitseinsätze gebührt Frieder Dittmar, Michael Hintz und Ronald Noppe; Iris Konopik vom Argument-Verlag sei gedankt, durch deren Lektoratstätigkeit die Texte erheblich lesefreundlicher wurden. Selbstverständlich liegt die Verantwortung für den Inha1t ausschließlich bei mir. Literatur Aglietta, M.lOrtean, A. (1983): La Violence de la monnaie. Paris. Bourdieu, P. (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens. Konstanz. Boy.er, RJSailiard, l. (Hg) (1995): Theorie de la regulation. L'etat des savoirs. Paris. Conat, B. (1983): La nature de la erise. In: Le monde diplomatique. n° 2. Novembre. Demirovic, A. u.a. (Hg.) (1992): Hegemonie und Staat. Kapitalistische Regulation als Projekt und Prozess. Münster. Gorz, A. (1997): Miseres du present. Richesse du possible. Paris [deutsch: (i.Ersch.) Frankfurt am Main].
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
--'~----
,,
Einleitung
11
Leborgne, D./Lipietz, A. (1994): Nach dem Fordismus: Falsche Vorstellungen und ungelöste Probleme. In: NoUer, P. u.a. (Hg.) (1994): Stadt-Welt. Über die GJobalisierung städtischer ~1ilieus. Frankfurt am Main. Leborgne, D./Lipietz, A. (1996): Postfordistische Poütikmuster im globalen Vergleich. In: Das Argument 217. Jg. 38. Nr. 5/6. Lipietz, A. (1983): Le monde enchante. De la valeur al' envol inflationniste. Paris [englisch: Enchanted World. London 1985]. Lipietz, A. (l985): Akkumulation, Krisen und Auswege aus der Krise: Einige methodologische Überlegungen zum Begriff }}Regulation«. In: Prokla 58. Zeitschrift rur politische Ökonomie und sozialistische Politik. Jg. 15. Nr. 1. Lipietz, A. (1991): Les enses du marxisme: de]a theorie sodale au principe d'esperance. In: Bidet, Irrexier, J. (Hg.): Findu communisme? Actualite du marxisme? ActuelMarx . conftontation. Paris. Lipietz. A. (1993a): Berliß, Bagdad, Rio. Das 21. Jahrhundert hat begonnen, Münster. Lipietz, A. (1993b): Politische Ökologie und Arbeiterbewegung. Ähnlichkeiten und Unterschiede. In: Prokla 92. Zeitschrift ruf kritische Sozialwissenschaft. Jg. 23. Nr. 3. Lipietz, A. (1993c): Vert esperance. L'avenir de l'ecologie poJitique. Paris [englische Version: Green Hopes. Tbe Future ofPolitical Ecology. London ]995; deutsche Version: (i.Ersch.) Wien 1998]. . Lipietz, A. (199581): De la regulation aux conventions: Le grand bond en arriere? In: Bidet, J./Texier, J. (Hg.): Theorie de la regulation - Theorie des conventions. In: Actuel Marx n° 17. Paris. Lipietz, A. (1995b): Enclosing the Global Commons: Global Environmental Negotiations in a North-South Conflictua1 Approach. In: Bhaskar, V/Glyn, A. (Hg.): The North, the South, and the Environment. New York. Lipietz, A (1997a): Nachhaltige Entwicklung. Geschichte und Herausforderungen. In: documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH: PoHtics-Poetics. Das Buch zur documenta X. Ostfildern-Ruit. Lipietz, A. (1997b): The Post-Fordist World: Labour Relations, International Hierarchy and Global Ecology. In: Review of Intemational Political Economy. Vol. 4. Nr. 1. Marglin., St.A./SchOf, J.B. (Hg.) (1990): The Golden Age ofCapitaJism. Oxford. Schor, J.Nou, J.-1. (Hg.) (1995): Capital, the State and Labour. AGIobai Perspective. AJdershot.
ARGlIML"iT SONDERBA."m NEUE FOLGE AS 255
Rebellische Söhne: Die Regulationsschule Das Interview führte Jane Jenson Als ein Ergebnis der ökonomischen Krise, die die entwickelte industrielle Welt in siebziger Jahren traf, erlitten auch die Bereiche der ökonomischen Theorie und der po schen Ökonomie viele Niederlagen. Eine Zeitlang schienen Monetaristen und Angebe theoretiker auf dem Marktplatz der Ideen im Vorteil zu sein, wobei ihnen ihre politiscl Kontakte zu den Neokonservativen sicherlich halfen, ihre Botschaft zu verbreiten, dass s die Ökonomie fundamental geändert habe und eine Wende zum Neoliberalismus wesend sei. Neuerdings gibt es jedoch wieder ein stärkeres Interesse an ökonomischen Analys die den Neoliberalismus nicht als Evangelium akzeptieren und eine alternative Antwort I die entstehenden Verhältnisse einer neuen internationalen Verteilung der ökonomischen 11 politischen Macht und der Binnenrestrukturierung in den entwickelten Industriegest: sc haften suchen. In Frankreich haben diese Fragen einen besonderen Druck ausgeübt, w eine Konsequenz des Machterhalts der Sozialisten die plötzliche - sogar peinliche - Einsie war, dass die alte Wirtschaftspolitik, die man aus der Zeit der Resistance und Befreiul übernommen hatte, nicht länger funktionierte. Das erste Regierungsjahr, als die Zahlung bilanz defizitär wurde und der Franc absackte, brachte die französischen Politiker nicht nl dazu, ihren Keynesianismus zu hinterfragen, sondern sich auch nach neuen Wegen un zusehen, ihre eigene Lage einzuschätzen. Eine Perspektive, die sich sogar zu einer Zeit, als sich der Neoliberalismus durch di Korridore der intellektuellen Macht bewegte, steigender Beachtung erfreute, war d«: Regulationsansatz. Wie dieses Interview zeigt, akzeptiert diese ökonomische Analyse beid Seiten: dass die Krise einen Bruch mit den ökonomischen und politischen Bedingungen de Nachkriegsperiode markiert und dass sie neue Antworten erfordert. Doch gteichzeiti! verwirft der Regulationsansatz den Enthusiasmus des Neoliberalismus fur marktfundiert. Lösungen und fiir die Ablehnung gesellschaftlicher Solidarität. Die Bibliographie am Ende des Interviews gibt einen Überblick über die breit gestreuteIl Interessen detjenigen, die die Annahmen des Regu!ationsansatzes teilen. Dieses Interview mit Alain Lipietz wurde im Juli 1987 in Ottawa gefuhrt, wo dieser eine Gastprofessur an der politökonomischen Sommerschule der Carleton University innehatte.
JJ: Wie würdest du jemandem, der neu auf die Regulationstheorie stößt, deren grundlegende Oberlegungen, Thesen und Erkenntnisse beschreiben? AL: Zunächst einmal gibt es genau genommen keine Theorie der ReguJation. Man soUte sie besser als einen Ansatz bezeichnen~ der von Entwicklungsmodellen in Begriffen von Akkumulation und Regulation spricht. Dabei kann man vier Grundthesen zur gesellschaftlichen Entwicklung unterscheiden. 1. Wir betrachten Gesellschaft, und innerhalb dieser ökonomische Aktivitäten, als ein Netzwerk von sozialen Verhältnissen. Wir sagen also nicht, dass es Individuen gibt, die hin und wieder miteinander in Beziehung treten und tauschen, vielmehr betrachten wir diesen Austausch selbst als ein soziales VerNlltnis ganz besonderer Art. Auch das Lobnverhältnis ist ein sOzlales Verhältnis - und es gibt noch viele andere. 2. Jedes dieser sozialen Verhältnisse ist widersprüch1ich~ weshalb es nicht leicht ist, in diesem Netzwerk sozialer Verhältnisse zu leben. Denke einmal an die Marktökonomie. Die Menschen produzieren individuen Güter oder Waren AROUMElI<'T SONDEllBAND NEllE FOLGE AS 2SS
Rehellische Söhne
13
für den Rest der Gesellschaft, doch ist es keineswegs apriori garantiert, dass diese Waren auch Käufer finden werden. Das LohnverhäJtnis ist ebenfalls ein sehr komplexes Verhältnis, als es niemals leicht bestimmbar ist, wie viele den. Arbeiter arbeiten saUen, in welcher Geschwindigkeit, zu welchem Lohn usw. lliti~ WeM soziale Verhältnisse auf diese Weise widersprüchlich sind, soUte die )ts~ gewöhnliche Situation eine Krise sein. Anders gesagt ist die Krise das Nonnahen :icb le, der natürliche Zustand, und die Nicht-Krise ist ein eher zufälliges Ereignis. ich 3. Diese Behauptung führt zu der dritten Überlegung, dass es lange Zeiten, • phasen gibt, in denen alles läuft. Damit meine ich, dass es Zeiten gibt, in denen luf Ißd ; sich zwn Beispiel die sozialen Verhältnisse, die den Kapita1ismu~ definieren, auf eine stabiJe Weise selbst reproduzieren. Ein solches dauerhaftes System ~lJ~ nennen wir Akkumulationsregime. Dieser Ausdruck bezieht sich natürlich auf eil :ht die Ökonomie, aber ich denke, man kann diese Methodologie auch auf Politik, ng Diplomatie und anderes erweitern. s4. Wir müssen genauer bestimmen, auf welche Weise dieses AkkmnulalIf tionsregime zustande kommt. Das Problem ist, dass die individuellen Erwartungen und Verhaltensweisen so gestaltet sein müssen, dass sie mit den Erfordernissen jedes einzelnen Akkumulationsregimes übereinstimmen. Es gibt ie ~ bei diesem Prozess zwei Aspekte: Der erste arbeitet als Gewohnheit (oder als e Habitus, wie Bourdieu sagen würde) in den Köpfen von Individuen mit einer :r bestimrriten Kultur und der Bereitschaft nach den Spielregeln zu spielen. Der zweite arbeitet über eine Reihe von Institutionen. Diese Institutionen variieren breit, sogar innerhalb der gleichen Grundmuster von sozialen Verhältnissen. Lohnverhältnisse, Marktverhältnisse , so haben sich die Geschlechterverhältnisse zum Beispiel seit ihren Anfangen sehr verändert. Die Anordnung solcher Verhaltensmuster und Institutionen bezeichnen wir als Regulationsweise. Mit diesen vier Begriffen oder Thesen können wir verscbiedene Entwicklungsmodelle in der Geschichte unterscheiden. JJ: Diese EinjUhrung war notwendigerweise ziemlich abstrakt. Könntest du etwas konkreter erklären, wie der Regulationsansatz zur Analyse von Frankreich oder anderer Länder angewandt wurde? AL: Das hauptsächliche Anwendungsgebiet dieses Ansatzes ist der Fordismus. Fordistisch nennen wir jenes Entwicklungsmodell, das in den entwickelten kapitalistischen Ländern nach dem I1 Weltkrieg vorherrschte. Den Fordismus kennzeichnen drei Elemente: Erstens war es eine Fonn der Arbeitsorganisation (d.h. der sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz, die man üblicherweise als industrielle Beziehungen bezeichnet), die im wesentlichen Taylorisierung plus Mechanisierung war. Zweitens. war das Akkumulationsregime eine Fonn der geregelten Zuteilung der aus dem Taylorismus stammenden Produktivitatszuwächse an Profit und Löhne. Im Resultat stiegen die Reallöhne parallel zu den Produktivitatszuwächsen, so dass der Absatz fiir die Produktion der intensiven Akkumulation ]~
ARGUMENT SONDER.BAND !'.'EUE FOLGE AS :u~
14
Rebellische Söhne
stabilisiert und vorhersagbar wurde. Manager konnten mit einem Absatz rechnen. der morgen oder nächstes Jahr steigen wird, so dass es sich lohnte zu investieren. Natürlich hätte ein solches Regime (in dem von den Arbeitern eTWartet wurde, sich an der Verbesserung der Produktivitätszuwächse zu beteiligen) nicht zustande kommen können, wenn es keine Regeln gegeben hätte, die Arbeitgeber und Gewerkschaften dazu veranlassten, diese Akkumulationsregime zu akzeptieren. Diese Regeln sind das, was wir monopolistische Regulation nennen, d.h. eine Anordnung von Institutionen, von institutionalisierten Kompromissen zwischen Regierung, Management und Gewerkschaften. Letztere nahm hauptsächlich die Gestalt eines Systems von Tarifverein~ barungen an, das die Produktivitätszuwächse der höchstentwickelten Sektoren auf die gesamte arbeitende lohnabhängige Bevölkerung ausweitete. Drittens gab es einen Sozialstaat, der gewährleistete, dass jede Person, die ihren Lebensunterhalt nicht verdienen konnte, dennoch KonsumentIn sein konnte, weil sie ein laufendes Geldeinkommen bezog. Das sind die hauptsachhchen Ausformungen des Lohnverbältnisses in dieser Regulationsweise. Natürlich gab es im Fordismus noch andere ReguJationsformen, so zum Beispiel das von den Zentra1banken regulierte Kreditgeld. J.J: Wie kam es, dass die RegulationSlheoretiker in den siebziger Jahren nur »entdeckten«, dass die Nachkriegsphase durch den Fordismus reguliert wurde? AL: Selbstverständlich fingen wir nicht aus schierer Neugier damit an, die Funktionsweise von Akkumulationsregimes und vor allem dasjenige, das sich nach dem 11. Weltkrieg durchsetzte (der Fordismus), zu untersuchen, sondern gerade deshalb, weil dieses Regime' in die Krise geraten war. 1974 kehrte Michel Aglietta, der seine Doktorarbeit über die US-amerikanische Ökonomie geschrieben hatte, mit einer neuen Fragestellung nach Frankreich zurück. Er fragte nicht mehr nach den Ursachen der Krise, sondern danach, warum es bis dahin keine Krise gegeben hatte. Das führte zu dem Begriff des Akkumula~ tiollsregimes. In der Folge unternahm ein Forscherteam des CEPREMAP eine historische Studie über Frankreich. Sie entdeckten mehrere Akkumulations· regimes in Frankreich, die von mehreren unterschiedlichen Anordnungen von Institutionen reguliert wurden, was implizierte, dass es mehrere Regulations· weisen gegeben hatte. Wir fingen an zu untersuchen, warum diese Krise (diejenige, die in den späten sechziger, frühen siebziger Jahren einsetzte) sich so stark von den anderen, bisherigen unterschied. Warum gab es weniger einen Zusammenbruch als eine lange Stagnation, warum eher Inflation als Deflation etc.? Wir konstruierten den Regu1ationsansatz hauptsächlich deshalb, UIl1 unsere eigene Krise zu verstehen. Aber er kann auch auf andere Länder ausgeweitet werden, auf andere Regimes, andere Entwicklungsmodelle wie z.B. diejenigen der Dritten Welt. Es handelt sich mit anderen Worten also um einen sehr weit reichenden Ansatz, der jedoch hauptsächlich in der Absicht entwi~ ARGUMENT SONDERB..!\.-'IID NEUE FOLGE AS 2S5
1 Rebellische Söhne
15
ekelt wurde, die Krise des EntwickJungsmodeHs der Nachkriegsphase, des Fordisrnus zu verstehen. JJ: Du hast die Geschichte des Regulationsansatzes hinsichtlich seiner Hauptthesen und auch ein wenig seiner Entwicklung erzählt. Die Leser sind, so vermute ich, daron interessiert, ein wenig mehr über die intellektuellen Ursprünge des Ansatzes zu erfahren. .
AL: Es gibt zwei Möglicl:Jkeiten, diese Geschichte zu erzählen. Zum einen könnte ich sagen, dass wir die rebellischen Söhne von AJthusser sind. NatürHch gibt es einige Frauen, die im Bereich Industriesoziologie und Sozialstaat mit dem Regulationsansatz arbeiten, aber als Makroökonomen, die in Frankreich hauptsächlich Männer sind, sind wir die rebe1lischen Söhne des Marxismus, des althusserianischen Marxismus. Was bedeutet das? Während der sechziger Jahre gab es in Frankreich einen fantastischen Aufschwung des Marxismus einer ganz bestimmten Art von Marxismus: des ~truktura1en Marxismus. Die wesentlichen Köpfe dieses Aufschwungs waren In der Ökonomie Althusser, BaUbar und Bettelheim, die alle der Reproduktion des kapitalistischen Systems große Beachtung zollten. Die erste These des Regulationsansatzes haben wir unmittelbar von der Altbusser-Schule gelernt. Gesellschaft ist ein Netzwerk sozialer Verhältnisse, und von sozialen Verhält" nissen wird angenommen, dass sie sich reproduzieren. Doch insistierten die Althusser~Marxisten so stark auf dieser Reproduktion, dass sie dabei vergaßen, dass diese Verhältnisse widerspruchlich sind und dass sie in jedem Moment der .Krise unterworfen sind. Es geht nicht darum, über die Reproduktion der SOZIalen Verhältnisse verwundert zu sein, sondern sich darum zu kümmern, warum sie nicht in die Krise geraten. Unser Ansatz hingegen fragt danach, wie eine regelhafte Reproduktion bei ~em gegebenen widerspruchlichen Charakter der sozialen Verhältnisse möghch ist. Dies ist genau die Bedeutung, die wir der Regulation geben. Wir rt:agen, wie ungeachtet des widerspruchlichen Charakters der sozialen Verhältrusse und durch ihn hindurch eine Einheit von Verhältnissen reproduziert wird. NatürJich stieg unser Interesse an dieser Frage, als in den frühen siebziger Jahren die Weltkrise einsetzte. Man kann also die Regulationsschule als eine Aufhebung (i.O. deutsch) des strukturalen Marxismus lln hegeischen Sinne begreifen. Sie geht zurück zu der F~age, warum die Widerspruche manchmal stecken bleiben und warum dann Wieder ein Set von sozialen Verhältnissen eine solche Konfiguration annehmen, dass die Reproduktion nicht mehr stattfindet. Dies ist die eine Art, die Geschichte zu erzählen. Die meisten von uns waren Marxisten der A1thusser-Schule gewesen, doch versuchten wir schleunigst, die Begriffe der Strukturen olme Subjekte, ohne Widerspruche und olme Krise lOszuwerden.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
16
Rebellische Söhne
Wenn man jedoch ein neueres Buch des Regulationsansatzes liest (vgl. Boyer 1986b), so wird man feststellen, dass alle französischen Autoren Polytechniker sind. Ich könnte also auch sagen, dass wir die rebelJischen Söhne von Pierre Masse sind. Das bedeutet, dass wir alle Teil jener Gruppe von französischen höheren Staatsbeamten sind, die aus dem Inneren des Staatsapparats heraus das fordistische Modell in Frankreich implementierten. Viele von uns Polytechnikern - ich denke hierbei an Robert Boyer, Michel Aglietta, Bemard BiUaudot, Hugues Bertrand, Jacques Mistral und mich arbeiteten in den Institutionen, die nach dem Marshallplan mit der Implementierung des fonlistischen Modells in Frankreich beauftragt waren. Es handelt sich dabei um Stellen wie dem Commissariat General du Plan, dem Institut national de la statistique et de etudes economiques (INSEls] und der Direction de la Prevision du Mfnistre de Finance. Als Makroökonomen war es unsere Aufgabe, Modelle aufzustellen, die der Feinabstimmung des Wachstums im Fordismus dienen sollten. Wenn man ein makroökonomisches Modell aufstellt, nimmt man an, dass die Gleichungen des Modells das aggregierte Verhalten der Akteure darstellt des Staates, der Haushalte, der Unternehmen usw. Als dann jedoch die Krise einsetzte, stellten wir die Stabilität der Gleichungen zunehmend in Frage. Um die Stabilität der Gleichungen zu hinterfragen, mussten wir herausbekommen, ob die Gleichungen »natürlich« oder ob sie mrr ein historisches Produkt waren. Dazu gingen wir in die Geschichte zurück; wir stellten ökonometrische Studien über die Phase vor dem ll. Weltkrieg und über das ganze 19. Jahrhundert an. Auf diese Weise entdeckten wir, dass die Gesetze nicht die gleichen waren und dass das Verhalten der Akteure ebenfalls nicht das gleiche war. Daraus schlossen wir, dass das Verhalten nach] 945 die von illlS untersuchte Fonn angenommen hatte, weil es einen großen Kompromiss gegeben hatte und weil ein neues Akkumulationsregime von aUen Akteuren akzeptiert wurde. Als Makroökonomen mussten wir uns also an Historiker, Politikwissenschaftler, Soziologen wenden, um die Art und Weise zu verstehen, wie Institutionen geschaffen wurden und die Akteure sich schließlich entsprechend der Gleichungen verhielten, die die Makroökonomen als »natürliche Daten« verwendeten. JJ: Du präsentierst hier den Regulationsansatz als das Resultat von traditionellen Fragen, die jedoch auf neue Art gestellt werden. Dabei hebst du die Bedeutung der ökonomischen Krise seit 1973 hervor, die euch dabei unterstützten. Doch haben auch andere diese Krise untersucht - sie fanden ihre Antworten in den Veränderungen der Technologie und in der Restrukturierung der Produktion und der Produktivkräfte. Wie unterscheidet sich eure Analyse von solchen Beiträgen zur Krise und zur gegenWärtigen Phase?
AL: Wie ich schon gesagt habe, waren viele von uns als junge Leute Marxis· ten. Wir kritisierten jedoch von Anfang an) und sogar in Anbetracht der Althusser-SchuJe, einige Ideen des gängigen Marxismus. Der wichtigste ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
Rehellische Söhne
17
Kritikpunkt betraf die Annahme der Neutralität und des nicht-sozialen Charak... ters der Produktivkräfte. Du kennst die Vorstellung von den Produktivkräften als Zuglokomotive, die hinter sich die Produktionsverhältnisse, die politischen Verhältnisse, die Ideologie usw. mitzieht. Wir akzeptieren eine solche WeItsicht nicht. Es gibt mit absoluter Sicherheit kein unverhofftes Fallobst, das aus dem Himmel der Entdeckungen fallt. Natürlich gibt es wissenschaftliche Entdeckungen, doch die Art und Weise wie sie dann faktisch mIndustrie oder Land~ . WIrtschaft eingesetzt werden, drückt die vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnisse aus. Die Steigerung der Produktivkräfte - sogar die Gestalt dieses Wachstums ist also nichts anderes als der Ausdruck einer bestimmten Anor~ung sozialer Verhältnisse am Arbeitsplatz, in der Familie, aufden Feldern. WJf sollten sagen, dass die Produktionsverhä1tnisse die Produktivkräfte determinieren nicht umgekehrt. Wir WÜrden sogar so weit gehen zu sagen, dass der Kompromiss zwischen den gesellschaftlichen Kräften die Art und Weise determiniert, wie die sozialen Verhältnisse wirken. Dieser Kompromiss detenniniert die Regulationsweise, das Muster der Industrialisierung. das Akkumulationsregime - nicht umgekehrt. Zuerst also die Po1itik. Selbstverständlich meinen wir damit nicht die Tagespolitik. sondern einen Typus langfiistiger Politik~ eine Abfo]ge von großen Kompromissen, die die Geschichte fiir eine Generation bilden. Es gibt einen anderen Ansatz, der den techno1ogischen Veränderungen viel Beachtung schenkt~ der uns nahe steht und mit dem wir eine Menge Wechselbeziehungen haben. Ich denke hier an die Theorie der langen Wellen. Die Kollegen dieser Richtung gehen davon aus, dass die Technologie dem sozialen Wande1 vorangeht und diesen fonnt. Die anspruchsvolleren unter ihnen sind ohne weiteres bereit zuzugestehen, dass nicht nur die Tecbnologie (als sich v~rändemde Technik) die Wurzel des sozialen Wandels bildet, sondern dass di~s weiter gefasst werden muss: die Art ood Weise, wie Technik angewandt WIrd. Ich denke, wir können aus einem Dialog mit dieser Schule wechselseitig Vorteile ziehen. Jedoch akzeptieren wir weder, dass der technologische Wand71 der Geschichte vorangeht, noch dass es da irgendein großes Räderwerk gIbt, das die Aufeinandetfolge der unterschiedlichen Modelle, eines nach dem anderen~ organisiert. Wir smd der Meinung, dass bei jeder großen Krise die ~eschichte angehalten wird Wld dass nur die menschJiche Vorstellungskraft, .ihre Bestrebungen und Kämpfe das neue Entwickloogsmodell mit seinem AkkumuJationsregime fonnen. JJ: Du hast jetzt damit angefangen, eine Theorie der Geschichte zu skizzieren. Zunächst möchte ich sagen, dass es erfrischend ist, einem Okonomen ZUzuhören, der eine solch detaillierte historische Diskussion ausarbeitet. I c h ! wiJrde gerne noch einiges über die historischen Begriffe hören, die den Regulationsansatz stützen.
.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AB 2SS
18
Rebellische Söhni
AL: Ich denke, eine Konsequenz unserer HervorhebWlg der detenninierendel1 Wirkung von Produktionsverhältnissen und Politik ist, dass wir nicht akzeptieren können, der Geschichte eine Linearität zu unterJegen . Man kann ein ethisches Urteil über eine bestimmte FOTIn von sozialen Verhältnissen oder eines Entwicklungsmusters haben, aber niemand kann behaupten) dass es so etwas wie den durch die Entwicklung der Produktivkräfte repräsentierten historischen Fortschritt gibt, der uns unweigerlich entlang der verschiedenen Stadien des Kapitalismus zum Sozialismus führt. Bei jeder großen Krise gibt es Auseinandersetzungen und die Menschheit sucht nach neuen Beziehungen, neuen Kompromissen. Bei jeder großen Krise ist die Richtung offen: Geschichte ist offen. Ich will damit nicht behaupten, dass Geschichte völlig offen ist, denn natürlich schränken die Last der Vergangenheit, das vorhandene Set von Verhältnissen und die vorhandenen Produktivkräfte. das ein, was getan werden kann. Doch innerhalb dieser Grenzen ist es ausschließlich der Klassenkampf, der ideologische Kampf, der politische Kampf, der den Ausweg aus einer großen Krise zeigt. Zum Beispiel gab es 1930 absolut keinen Grund zu denken, dass die Sozialdemokratie (bei den gegebenen Kandidaten filr die Herrschaft: Sozialdemokratie, Faschismus, Kommunismus) die Gewinnerin sein würde tmd die fordistischen Kompromisse an so vielen Stellen implementieren WÜrde. Die Vorstellung von einer Geschichte mit offenem Ende bedeutet auch, dass sich der Kapitalismus als Produktionsweise für den Regulationsansatz als verschieden und flexibel darstellt. Wir sind uneingeschränkt bereit zu sagen, dass die Sowjetunion eine Form von Kapitalismus ist. Auf der anderen Seite sind wir ebenso uneingeschränkt bereit zu sagen, dass sich der Kapitalismus in den dreißiger Jahren ebenso vom US-Kapitalismus der sechziger Jahre wie vom russischen Kapitalismus unterschied. Innerhalb der großen Familie von Gesellschaften, in denen Markt~ und Warenverhältnisse, Lohnverhältnisse und patriarchate Verhältnisse vorherrschen. gibt es eine unglaubliche Mannigfaltig· keit möglicher Kompromissfonnen. Wir werden hier nicht die Frage aufwerfen, »wie man den Kapitalismus los wird, um zum Sozialismus zu gelangen«. Für uns steht eine solche Frage nicht länger auf der Tagesordnung. Das Problem ist heute, dass der Kapitalismus nicht länger in der alten fordistischen Art Wld Weise arbeitet und dass wir fiir die Gesellschaft einen neuen Funktionsmodus finden müssen. Wir wissen, dass es sehr tief gehende soziale Verhältnisse - beispielsweise Patriarchat, MarktbeziehW1gen, Verhältnisse zwischen Bürgern und Staat, Lohnverhältnisse gibt, die zu ihrer Veränderung Dekaden oder gar Jahrhunderte benötigen. Aber innerhalb dieser Verhältnisse lassen sich eine Menge Sachen verändern. Wir versuchen, eine neue Art des Kompromisses aus ethischen Gründen heraus zu definieren, eine neue Wirkweise innerhalb dieser Verhältnisse - nur aus ethi-
ARGUME]I.'T SONDERBAi'\!D NEUE FOLGE AS 255
Rebellische Söhne
19
sehen, nicht »wissenschaftlichen« Griinden -, von der wir meinen, sie sei besser. JJ: Du bist jetzt schnell von der Geschichte zur Politik 'Übergegangen, sogar zur Tagespolitik. Bist du der Ansicht, dass innerhalb des Regulationsansatzes alle eine gemeinsame politische Position teilen? AL: Diese von uns geteilte Geschichtsauffassung fUhrt nicht al1e »Kenner« (cificionados) des Regulation san satzes zu den gleichen politischen Positionen. Selbstverständlich sind aUe Linke. Alle befiirworten Veränderungen, die nicht zu Lasten der Arbeiter gehen und die die Frauen nicht in die Haushalte zurückschicken. Aber abgesehen von diesen sehr allgemeinen Prinzipien, kann man aus dem Regu]ationsansatz keine unmittelbare Politik ableiten. Viele - z.B. im Commissariat General du Plan oder Journalisten von Wirtschaftsmagazinen wie L 'Expansion - sind heute bereit, unsere Konzeption des Fordismus als eine Erklärung des Aufschwungs und des Goldenen Zeitalters nach dem n. We1tkrieg zu akzeptieren. Mit anderen Worten, die Analysen des Regulationsansatzes werden weithin akzeptiert. Aber soweit es neue Lösungen, neue Konstruktionen betrifft, so gibt es absolut keinen Konsens weder innerhalb des Regulationsansatzes noch unter denjenigen, die den Erklärungen des Regulationsansatzes nabe stehen. Ungeachtet dieses Mangels an politischem Konsens gibt es jedoch einige Punkte~ die wir aus unseren eigenen Analysen dieser Krise des Fordismus ableiten und in denen wir alle übereinstimmen. Die Analyse ist grob folgende: Erstens gab. es eine Krise der Arbeitsorganisation, die aufgrund nicht mehr ausreichender Produktivitätszuwächse zweitens zu einer Krise im Akkumulationsregime fiihrte (Rückgang bei den Profiten, also bei der Akkumulation, keine Real10hnsteigerungen und keine Aufstockung der Töpfe des Sozialstaa· tes). Drittens geriet die Regulationsweise, die eine nationale war und auf einem nationaJen Kompromiss beruhte, in Widerspruch zu einer Internationalisienmg der Produktion und der Märkte, die sich über die heimischen Grenzen hinaus erstreckte. Dies sind die' gemeinsamen Ansichten über die Krise, die sich aus dem Regulationsansatz ergeben. ~enden wir uns den Konsequenzen einer solchen Analyse für Politik ~d p?htlsche Empfehlungen zu, so müssen wir festhalten, dass wir die Fortschritte ßIC?t ZUrückweisen können, die die keynesi.anische Politik repräsentiert. Damit meme ich die Sorge tUn die gesellschaftliche Nachfrage. Wir wissen - und wir sollten uns immer daran erinnern -, dass es nicht ausreicht zu produzieren. Man muss auch eine Vorstellung davon haben, fiir wen man produziert und welcher Art die gesellschaftliche Nachfrage ist Aber auf der anderen Seite wissen wir a~ch, dass es unmöglich ist, die keynesianischen Probleme mit keynesiabISChen Methoden zu beantworten, beispielsweise die gesellschaftlicbe Nachfrage auf nationaler Ebene zu steigern, weil die internationale Situation ein Land in Handelsbilanzdefizite fUhren wird. Wir stimmen also mit denjenigen ARGFMENT SONDERBA.'1D NEUE FOLGE AS 2"
b
Rebellische Söhn
20
nicht uberein, die meinen, man könne den Keynesianismus in einem einzige. Land praktizieren, wie die französische Regierung es in den Jahren 1981 bi 1983 versuchte. Andererseits lehnen wir Positionen detjenigen ab, die be haupten, dass es keinen Grund gebe, sich mit der Organisierung der gesell schaftlichen Nachfrage zu befassen, da dies der Markt schon alleine regeb würde, Wir wissen, dass der Markt sich um solche Probleme nicht schert. Zweitens stimmen wir alle darin überein, dass die technologischen Aspektl des Fordismus in die Krise geraten sind. Die Massenproduktion, die sich un riesige Maschinen herum organisierte, die von Ingenieuren lUld Konstrukteuret entworfen wurden lUld von ungelernten Arbeitern bedient werden, steckt in del Krise. Doch seit wir davon ausgehen, dass Technologie nichts anderes ist al! die Verkörperung von technischem Wissen in Maschinerie, fragen wir nael den sozialen Verhältnissen, die einen neuen technologischen Apparat bildet können. Das ist das einzige Problem. Wir sind durchaus fiir neue Technologien, wir wollen aber die sozialen Verhältnisse bestimmen und näher spezifizieren, die diese neuen Technologien umgeben, denn es gibt mehrere Möglichkeiten, die von Formen der Hyper-Taylorisierung bis zur flexiblen Spezialisierung reichen. Ein dritter Bereich des Konsenses anerkennt die Wichtigkeit, sich bei exakten Bestimmungen eines neuen Akkumulationsregimes zurückzuhalten, Während es Grenzen bei den Möglichkeiten gibt, ist unser Punkt doch der, auf mögliche Alternativen zu den gegenwärtigen Arrangements hinzuweisen. Auch darin besteht Konsens. Eine realistische Position zum Keynesianismus. zur Arbeitsorganisation, zu möglichen neuen Regimes und unsere Sorgfalt bei der Bestimmung des nenen Regimes bilden eine gemeinsame Gnmdlage der Regulationisten, wetID sie als Bürger lUld als Aktivisten handeln. Innerhalb dieses Drei-Punkte-Konsenses sind jedoch die praktischen positionen der Regulationisten sehr, sehr unterschiedlich. Einige neigen sehr stark der flexiblen Spezialisierung zu; andere sind der Meinung, dass ohne die Kontrolle der Gewerkschaften auf der Ebene des Staates die Durchsetzung der flexiblen Spezialisierung unmöglich wäre, ohne gleichzeitig eine soziale Polari" sierung zu befördern. Einige finden, dass der Nationalstaat notwendig ist, weil wir die gesellschaftliche Nachfrage organisieren müssen. Andere sind davon überzeugt, dass auf der Ebene des Nationalstaats nichts mehr zu machen ist, so dass man zumindest auf die Ebene des kontinentalen Staates (EG) wechseln. muss. Einige von uns denken, dass ein neuer Kompromiss auf der Grundlage von Beschäftigung und Konsum wie im fordistischen Modell möglich wäre, falls es gelänge, neue Technologien durch eine auszuhandelnde Einbindung der Arbeiter in den Kampf um Produktivität und Qualität zu implementieren. Andere wiedenun favorisieren eher einen Kompromiss, der auf einer Verlänge.. rung der lohnarbeitsfreien Zeit beruht. Ich könnte eine Menge Beispiele VOll ; Differenzen. anfuhren, doch insgesamt würde ich sagen, dass die Regulatio- i ARGUMENT SONDERBAND NEUE fOLGE A.'; 255
,
J
Rebellische Söhne
,e
tI
1.
1
r; 1,
1
i
~ ~. Ii
21
nisten sich zur Zeit von der Position Rocards bis hin zur »Regenbogen-Koalition« erstrecken. JJ: Während des Interviews hast du die intemationale Okonomie erwähnt. Die einengende Wirkung der intemationalen Okonomie ist dieser Tage ein beliebtes Thema in Frankreich, für die Rechte wie für Linke. Was denkt der Regulationsansatz über diesen Faktor bei der Entwicklung eines neuen, stabilisierten Akkumulationsregimes in Frankreich? , AL: Das Thema der Intemationalisienmg der Produktion ist ztmebmend wichtiger für den gesamten Ansatz geworden. Anfangs war lDlser hauptsächliches ~orschungsgebiet der Fordisrnus. der einer deljenigen Akkumulationsregimes m der Geschichte war, das sich am stärksten auf den Binnenmarkt stützte. Beim fordistischen Akkumulationsregime war die Exportquoteim Verhältnis ~ Bruttosozialprodukt eines der niedrigsten (im Vergleich zu Großbritannien l~ 19. Jahrhundert oder mit Venedig am Beginn des Kapitalismus). Der Fordismus war beinahe eine einfache Nebeneinanderreibung von nationalen Regimes! Daher schenkten wir der internationalen Situation wenig Beachtung. Da jedoch eine der beiden Hauptursachen für die Krise der Widerspruch . zwischen der Internationalisierung der Produktion und der Märkte und dem n~tionalen Charakter der Regulation ist, waren wir gezwungen, die Welt als em System zu untersuchen und die Möglichkeiten zu analysieren, Wlter denen nationale Regimes innerhalb dieses System existieren können. Wir mussten also fragen, ob es so etwas gab wie ein Akkumulationsregirne auf Weltebene o?er eine globale Regu]ationsweise. Unsere Antwort bis heute ist kurz gefasst ~e: Es gibt etwas ähnliches wie eine Regulationsweise, eine Art Konsens über eUUge Institutionen und Verhaltensweisen seit 1945. Das Problem ist. dass diese Regnlationsfonnen durch keinen Staat garantiert werden, Soweit sie existiert haben, verdanken sie sich vielmehr einer Hegemonie eines bestimmten Nationalstaates. der USA. Im Übrigen ist diese internationale Regulationsweise das, was man. in der Theorie internationaler Beziehungen ,als »Regime« bezeichnet. In Keohanes Te~inolOgie entspricht sie genau einem »Regime« (vgl. Keobane 1984). Es ist das Aquivalent dessen, was wir als Regulationsweise auf internationaler Ebene b~zeichnen. Aber der Begriffwirft eine Menge Fragen auf. Ist es möglich, dass e~ Regime (in Keohanes Begriffen) oder eine internationale Regulationsweise (ln unserer TenninoIogie) ohne Hegemonie existiert? Ist die Existenz einer stabilen Anordnung von internationalen Institutionen ohne die Hegemonie einer SUpennacht möglich? Ist es vorstellbar, dass man eine Art demokratischer Rege1ung zwischen Nationen etabliert? Das i~t eine eminent wichtige Frage, gerade in Europa. Soweit es das Regime (im Sinne des französischen Regulationsansatzes) bebiffi, also ein regelhaftes Spiel zwischen TransfOlmationen in der Produkti~ ?n lUld Transfonnationen in der Konsumtion, so existiert ein solches auf Internationaler Ebene nicht. Meine Schlussfolgerung ist, dass es nicht existiert.
l"
L
ARGUMENT SONDERBANDNEUE FOLGE AS l~5
--,,",,,1' fl'rrr:r---- " i
t
Rebellische Söhnß
22
I ,
Wir können böchstens von einer Art »internationaler Konfiguration« sprechen;, wobei diese Konfigurationen Umbrüchen ood kontinuierlichen Verschiebungen lUlterliegen. Ich habe in meinem neuesten Buch (vgl. Lipietz 1985) versucht, die Veränderungen in den Konfigurationen sogar lUlter dem Fonnsmus und, während seiner Krise zu erklären. Diese Veränderungen eröffneten für die Dritte WeU, z.B. für Südkorea, Brasilien und andere neu industrialisierte' Länder einige Optionen. Wir müssen diesen Punkt noch mehr ausarbeiten~ weil unser Hauptaugen-: merk auf der Untersuchung einzelner Länder liegt, einer nationalen Realität: nach der anderen. Ich denke, dass dies ein guter Weg ist, sich dem Problem zu, nähern. Wir müssen von ausreichend vielen Einzelfällen und von der wirkli" ehen Situation einzelner Länder ausgehen. Wir sollten niemals die Situation irgendeines Landes (Mali, Nigeria oder Peru) aus einem Gespenst namens Weltkapitalismus ableiten. Seit jedoch die verschiedenen nationalen Entwick" lungsmodel1e und unterschiedlichen Akkumulationsregimes offensiChtlich miteinander in Kontakt stehen, müssen wir uns Gedanken machen über ein Regime auf Weltebene. JJ: Du zeigst in der Art und Weise, wie du über die internationale Okonomie und die internationalen Beziehungen redest, dass der Regulationsansatz dazU tendiert, die traditionellen Grenzen der Sozialwissenschaften zu verwischen. Ist das eine beabsichtigte analytische Strategie? AL: Ich habe zu Anfang des Interviews darauf verwiesen, dass wir rasch von den engen ökonomischen Problemen zur Geschichte in einem eher allgemeine" ren Sinne übergegangen sind, d.h. Geschichte der sozialen Bewegunge~ der sozialen Verhältnisse, der Staaten usw. Wir sind zwar Ökonomen, aber dafUr offen, als Hintergrund fiir das Sub-Netzwerk des ökonomischen Lebens den komplementären, anderen Teil dieser Netzwerke von sozialen Verhältnissen, die die Realität konstituieren, ebenfalls in Betracht zu ziehen. Offensichtlich ist dieses Sub-Netzwerk einer Menge von Wirkungen unterworfen, die aus diesem anderen Teil des Netzwerks stammen: aus der Politik, aus den Rassenbeziehungen, aus den Geschlechterverhältnissen, aus der Diplomatie. Alle sozialen Verhältnisse bilden die Welt, in der ökonomische Aktivitäten fortgeführt werden. Wenn wir nicht in der Lage sind, den Regulationsansatz auf andere Disziplinen auszudehnen, auf die Betrachtung an der anderen sozialen Bezie" hungen, werden wir unsere Aufgabe als Makroökonomen nicht fortführen können. Wenn ich »ausdehnen« sage, so meine ich damit gerade nicht, dass die Methoden, die zuerst von den Makroökonomen entwickelt wurden, für andere Bereiche in einer imperialistischen Art und Weise übernommen werden sollen, so wie sich der Mainstream der Wirtschaftswissenschaften auf die politische Wissenschaft, die Soziologie und andere Disziplinen ausdehnt. Wir müssen aUs den anderen Sozialwissenschaften lernen, wie sie mit den gleichen Problemen ARGUMENT SONDERBt\ND NEUE FOLGE AS 25.5
i
l,.::~~ . _.
Rebellische Söhne
23
umgehen, mit denen wir konfrontiert sind, d.h. wie widersprüchliche soziale Verhältnisse gelöst oder transfonniert werden.
Literatur Aglieua, M. e1982): Regulation et erises de capit.alisme. Paris. (1977): Regulation ou equilibre dans ['analyse economique. In: Llchnerowicz et 81. 1977. Bayer, R. (Hg.) (1986a): La flexibilite du travail en Europe. Paris. Boyer, R. (Hg.) (1986b): Capitalisme fin de siecle. Paris. Boyer, R. (1986c): La theorie de la regulation: une analyse critique. Paris. Boyer, R.lMistral, 1. (1978, 21983): AccumuJation, inflation, cnses. Paris. Keohane, R. (1984): After Hegemony: Cooperation and Discord in the World Political . Economy. Princeton. L~c!merowicz, A. et aI. (1977): L'idee de regulation dans le seiences. Paris. Llp1etz, A. (1983): Le monde enchante. De Ia valeur aI' envo) inflationniste. Paris [englisehe . Yersion: Tbe Enchanted World. Intlation, Credit and World Crisis. London 1985]. Llpletz, A. (1984): L' audace ou I' en1isement. Sur les politiques economiques de la gauche. Paris [englische Version' Toward a New Economic Order. Oxford 1992]. Lipietz, A. (1985): Mirag~ et miracles. Problemes de l'industrialisation dans le tiers monde. Paris [englische Version: Mirages and Mirac1es: The Crisis ofGlobal Fordism. LOndon 1987]. Mazier, 1. u.a. (1984): Quand les crises durent. Paris.
Dest~llne de Bernis, G.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
0
csc;
»
z"
i.
k
_:
~57
Gt'W
Drei Krisen Die Metamorphosen des Kapitalismus und die Arbeiterbewegung
1
»Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.« (MEW 7, 98) Zwei Jahre nach deOl Kommunistischen Manifest und der Niederlage der europäischen RevolutioneIl von 1848 zieht Karl Marx diese hellsichtige und dennoch optimistische Bilant aus den Klassenkämpfen in Frankreich. Auf dieser Prophezeiung basiert ein Jahrhundert rationalistischer Endzeiterwartung der Arbeiterbewegung. Die Notwendigkeit der einen zu zeigen war die Aufgabe der Wissenschaft. DaraUS die Notwendigkeit der anderen abzuleiten war ein Glaubensakt. Zweifellos ist dieser schöpferische Glaube in der Arbeiterbewegung ver" siegt: Nach der großen Depression Ende des 19. Jahrhunderts und nach der großen Krise der dreißiger Jahre scheint die gegenwärtige dritte große Krise des Kapitalismus (wenn man bereit ist, in den Ereignissen von 1848 eher den Endpunkt einer langen Umwandlung als eine wirkliche Krise des Kapitalismus im eigentlichen Sinne des Wortes zu sehen) zu keiner revolutionären Hoffnung zu führen. Im Gegenteil scheint sich die allgemeine Meinung einer optimistischen und liberalen Version der schumpetersehen Analyse angeschlossen zu haben: der These einer Wiederbelebung des Kapitalismus durch seine eigenen Krisen, was der These von der »schöpferischen Zerstönmg« entspricht. AJs ob die Erfabnmg der missglückten Revolutionen und der erfolgreichen Refonnen schließlich jeden (mit Freude oder Bedauern) überzeugt hätte, dass der. schreckliche Zweifel berechtigt ist, den der Begründer des italienischen Mar~ xismus Antonio Labriola anlässlieh der ersten »Krise des Marxismus« ZU Beginn dieses Jahrhlwderts bereits zu plagen begann: »[ ... ] wenn es keine Herrschaftsform gibt, die nicht auf Widerstand stoßen würde, gibt es auch keinen Widerstand, der nicht aufgrund der dringenden Lebensbedürfnisse in resignierte Anpassung ausarten könnte. Aus diesen Gründen erscheinen die historischen Ereignisse - an der Oberfläche der üblichen monotonen Geschichtsschreibung - wie die kaum variierte Wiederholung ein und desselben Typs, wie eine Art Ritornell oder Kaleidoskop. Man braucht sich nicht ZU wundem. wenn der Konzeptualist Johann Friedrich Herbart und der boshafte Pessimist Arthur Schopenhauer zu dem Schluss kamen, dass es eine echte Entwicklung in der Geschichte nicht gebe, was man volkstümlich so auS" drücken könnte: die Geschichte ist ein langweiliges Lied!« (1974, 216) In der komplexen Dynamik des »historischen Kapitalismus« (Wallerstein 1984) scheinen die Verwandlungen »innerhalb des Systems« gegenüber den I
Dies ist die schriftliche Form eines Vortrages, der auf der Konferenz »The Presel1l Crisis in Relation ta the PrecedingOnes« (Binghamton, 7.-9. November 1985) gehalten wurde.
ARGUMENT SONDERBAND NEIJE FOLGE AS 255
Drei Krisen
25
Kämpfen zwiscben »dem System« und den »gegen das System gerichteten . Kräften« zu überwiegen. Allerdings müsste man die Beziehungen zwis·chen diesen heiden grundlegenden »!)ynamik.en« genauer bedenken: zwischen der Dynamik im System und der Dynamik zwischen dem System und den gegen es gerichteten Kräften. ~atürlicb sind diese Kräfte per definitionem Teil des Systems und daher wurde nrtIner zugestanden, dass zwischen beiden eine Beziehung besteht. Doch die erste I)ynamik betrifft hauptsächlich die Kräfte, die fUr die Beibehaltung der ~dlegenden Verhältnisse des Kapitalismus und seiner Akkwnulationslogik smd: die herrschenden Klassen, die Staaten, die Finnen, die über die WiderSPrtl.che hinaus, die sie in Konflikt miteinander bringen, die Kompromisse zu Schlle~en verstehen, die fiir die Erhaltung ihrer Herrschaft notwendig sind. Der KonflIkt zwischen »dem Kapitalismus und den unterdrückten Arbeitern« dagegen mobilisiert, obwohl auch er seinen Ort innerhalb des Systems bat, Kräfte, die - so wird oft angenommen - an seiner Erhaltung keinen Vorteil find~n und daher nur eine Oherwindung dieses Systems anstreben können. DIese Dichotomie ist zugleich illusionär und demobilisierend. Sie ist i1lusio~ när, weil sie zu der funktionalistischen Idee fUhrt, dass die Refonnen des ~yst~s. das Ergebnis irgendeines dem System immanenten Prinzips. der angfiistlgen Selbstregulation seien, einer Art »langfristig wirksamer unsichtbarer Hand«; die fur die Lösung der makroökonomischen und gesellschaftlichen Widersprüche die gleiche Rolle spielt wie die Kräfte des Marktes in der ~zfristigen mikroökonomischen Regulation. Sie ist demobilisierend, weil sie die unterdrückten Klassen in einer sehr schwierigen Lage belässt: Entweder ~ann man nichts tun (in den Wachstumsphasen) oder man muss improvisieren (m den Krisenperioden), mit der Gefahr, dass man zwischen Skylla lIDd Charybdis gerät. Infolgedessen führt die Maxime »Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach« desto sicherer zu einer konservativen Ve~steifung. je handfester die »Emmgenschaften« waren, die eben doch in der Penode der Prosperität durchgesetzt wurden~ und je unglücklicher di.e Erfahrungen mit der »Überwindung des Kapitalismus« verlaufen sind. In der Mitte der achtziger Jahre befinden wir uns genau an diesem Punkt: Entgegen Maos Hoffuung ist der Westwind stärker als der Ostwind. Dennoch haben uns clie siebziger Jahre von einigen nützlichen Dingen üb~rzeugt. Zunächst davon, dass der Sozialismus nicht »außerhalb« des Kapi~smus Hegt. Die Worte von Letrin am Ende seines Lebens (»Man kann die Leiche des Kapitalismus nicht in einen Sarg nageln und ins Meer werfen; er ist da, mitten unter uns, er zersetzt sich und steckt lIDS an. «), denen sich der alternde Mao anschließt (»Noch in 1.000, in 10.000 Jahren wird man weiter ReVol~tion machen müssen.«), werden durch das reale Ergebnis der russischen und chinesischen Revolution bestätigt. Wir sind davon überzeugt worde~ dass Inan mit der Revolution nicbt aus dem Kapitalismus aussteigt, wie ein UnARGUME."lT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
111_-.____
=
26
Drei KriS81
schrudiger die Strafkolonie in anen Ehren verlässt: die Widerspruche, die ibJl. charakterisieren und die sich ständig neu entwickeln, kann man nur Schritt fiit. Schritt zu »reduzieren« versuchen. Das heißt nicht, dass dieser Prozess eine kontinuierliche lUld friedliche Entwiclclung sein muss; Er impliziertKriselJ, Kriege, Revolutionen und Veränderungen des politischen Systems. In gleicbe!'· Weise hat die retrospektive Analyse des kapitalistischen Wachstums einige Ökonomen, die die Historiker gelesen haben, dazu gebracht zu zeigen, wie, sehr der Kapitalismus Veränderungen durchgemacht hat, die hin und wieder auch fUr -die Arbeiter günstig waren. : Diesen Beitrag haben insbesondere jene Analysen geleistet, die sich auf die! Konzepte des Akkumulationsregimes und der Regulationsweise stützelll (Aglietta 1976; BoyerlMistral1978, 21983; Lipietz 1979, 1985~ MaZier et al. 1984). Danach hat der Kapitalismus - immer wieder auf neue Schranken stoßend, die ihren Ursprung in den Widersprüchen der Akkumulation haben in den begünstigten, jeweils durch »große Krisen« voneinander geschiedenen Epochen gleichzeitig Wachstumsschemata (Akkumulationsregime) und For" men der Kontrolle und Steuerung gefunden, die die Einhaltung dieser Schema" ta (Regulationsweise ) sicherten, Mechanismen, die, wenn auch nicht fur immer und ewig, für eine lange Dauer diese Widerspruche lösten, und zwar jedeslllal auf eine andere Weise. Wenn ich diese Darstel1ung wähle, so geschieht dies bewusst, um darauf aufmerksam zu machen, in welcher Weise eine derartige Konzeption der oben kritisierten nahe stehen kann: durch die Idee, dass es ein Prinzip der »Superregulatiün« gibt, das den Kapitalismus von einer spezi" fischen Regulationsweise oder einem spezifischen Akkumulationsregime zur \ bzw. zum nächsten treibt, sobald die bzw. das vorhergehende seine positiven WirkWlgen erschöpft hat. ln diesem Fall ist die illusion retrospektiv, und sie ist zulässig, wenn man sich ihrer bewusst ist (ein »Funktionalismus aposteriori«) und wenn sie ein Forschungsprogramm angibt: die Kräfte und die Prozesse ZU identifizieren, die geschichtlich diese neuen Konfigurationen geschaffen haben. Wenn die Notwendigkeit dieser konkreten Analyse vergessen wird, könnten einige Anhänger dieser theoretischen Konzeption auf die Idee kommen, die ; diachronische Abfolge von Akkumulationsregimen und Regulationsweisen als das notwendige Ergebnis einer ilUleren, dem Kapitalismus in seinen Genen bereits mitgegebenen »Dynamik« zu begreifen, obwohl es sich doch allenfalls darum handelt, diese Diachronie festzustellen, die ihrerseits das Produkt einer konkreten Geschichte ist. In vergleichbarer Weise wollte die rationalistische Eschatologie der marxistischen Arbeiterbewegung die Dynamik der Geschichte aus einer abstrakten Schematisierung des historischen Kapitalismus ableiten: als unvenneidliche Entwicklung einer Masse, die mehr und mehr ausgebeutet wird und sich ihrer selbst bewusst wird. Für eine (selbstregulierte, d.h. zielge.. richtete) Dynamik zu halten, was nur die Spur einer immer gefahrdeten Diachronie ist, das eben ist die Gefahr unzulässiger Abstraktionen (selbst wenn /
ARGUMENT SONDERBM'DNET..IE FOLGE AS 2.5~
Drei Krisen
I, I I
, .. ,lS
27
es legitim ist, Tendenzen gemäß Strukturen zu bestimmen, die lmser Intel1ekt »abstrahiert«). Insofern wäre es kaum nützlich, sich für die Krisen zu intere~sieren, es sei denn fiir die endgültige Krise: Sie hätten eine Funktion nur fiir dle Realisierung der Tendenzen, wären nur notwendige, aber anekdotische Momente einer vorherbestimmten Dynamik:. Wenn ich also von »zwei Dynamiken« gesprochen habe, der Dynamik des Systems und der Dynamik des Kampfes zwischen ihm und den gegen das System gerichteten Kräften, dann nehme ich nur die weitgehend ungerecht~ert~gte Dichotomie wörtlich, die zwei Prozesse verselbständigt, obwohl diese In eme: konkreten Diachronie miteinander verknüpft sind. ~ diesem notwendig schematischen und überwiegend Fragen aufwetfenden B~ltrag werde ich eine Spur verfolgen: die Idee, dass die Artikulation der belde~ »Dynamiken« es gestatten könnte, die erste der beiden besser zu ~grelfen. Anders ausgedrückt: dass die Kämpfe der gegen das System genchteten Kräfte eine entscheidende RoUe in den Veränderungen des Systems selbst spielen. In dieser allgemeinen Fonnulierung ist diese Idee kaum originell: aber es ist nützlich, sie zu entfalten, einerseits in Bezug aufdie Geschichte ~eser Kräfte und andererseits in Bezug auf die Geschichte der RegulationsweIsen Wld Akkumulationsregime. Und um das Thema noch mehr einzugren~n) werden wir uns hauptsächlich auf eine gegen das System gerichtete. Kraft schränken, die Arbeiterbewegung, sowie auf eine partielle Diachronie des Systems: die Geschichte der Produktions- und Konsumtionsnormen sowie der Regulationsfonnen des Lohnarbeitsverhältnisses. ~a.s ist der Gesichtspunkt, unter dem wir versuchen werden, die derzeitige ~~ die Vo~hergegangenen Krisen zueinander in Bezug ~ se~ze~. In den.ersten eIden Teden stellen wir zunächst in karikierender Welse dIe dichotormschen Versionen der heiden Dynamiken dar: die Arbeiterbewegwtg in ihrer Ausein~dersefztmg mit dem Kapitalismus einerseits, die Veränderungen des Kapitalt~mus andererseits. Im dritten Teil skizzieren wir ihre Wechselwirkung. Im V1~n~n. Teil beschäftigen wir uns mit der gegenwärtigen Krise ~d.schließen lllJ.t eUUgen Betrachtungen zur gemeinsamen Geschichte des KapItalismus und sellles. mehr oder weniger autonomen Produkts, der Arbeiterbewe~g.. . Es Ist unnötig zu betonen, welch weites Feld wir auf diese Welse belse.te lass,e~: die Widersprüche zwischen den Kapitalisten und zwischen den Staaten, die Widersprüche zwischen den beherrschten Nationen und den beherrSchenden Staaten ete. . Babyion gegen Jerusalem Wir beginnen also mit einer Darstellung der heiden »Dynamiken« (Kapitalisn:US/Arbeiterbewegung und der internen Veränderungen des K~pitalismusX ~e dIe Tendenz hat, in dem Maße zu einer Stilisierung zu werden, In dem man die ARGUMENT SONDEl!BAND NEUE FOLOE AS 2:S.s
· --ff?
7W~
i
,
1
28
Drei Krisen:
beiden Teile voneinander isoliert. Dies ist ein recht willkürliches Untemeb- i men, dem1 kein Autor hält sich streng an eine derartige Dichotomie: Hier gebt es also darum, Karikaturen zu karikieren, mit der einzigen Absicht, danach die Nützlichkeit zu betonen, diese »Dymuniken« in Beziehung zueinander ZU setzen. Eine Schwierigkeit, die wir bereits angedeutet haben, kommt hinzu: Die Arbeiterbewegung ist ein Teil des historischen Kapitalismus, daher ist es wnSO willkürlicher, einerseits ihre Bewegung als Opposition zwn System und ande~ rerseits die Bewegung des Systems se1bst voneinander zu trennen. Doch wird diese - relativ klare - Unterscheidung häufig zugelassen, und zwar unter delIl Titel der Unterscheidung zwischen der Klasse »an sich« und der Klasse »fiif sich«. Es ist bekannt, dass sich diese Unterscheidung, die von Hegel über Marx und Mao Zedong bis hin zu Sartre fuhrt. auf die Realität des geschichtlichen Prozesses bezieht, in dem sich ein Pol einer dialektischen Beziehung (d.h. ein Pol in seiner einfachen, fonnalen Gegenüberstellung zum anderen Pol) zu einem autonomen Subjekt vervvandeln und damit die Beziehung, die ihn bestimmt hat, in Frage stellen kann. Diese Unterscheidung ist zwar ein problematisches begriflli ches Werkzeug, aber sie bezeichnet offensichtlich ein reales Problem: Wenn ausgehend von Bedingungen und auf der Grundlage einer WeUsicht, die aus der Vergangenheit geerbt und in der Gegenwart bekräftigt \~lurden, die Menschen die Geschichte machen, so können sie tmter dem Druck dieser Detenninierungen ein Gruppenverhalten entwickeln. das entweder diesen Bedingungen neue Kraft verleiht oder die Umwälzung dieser Bedingungen anstrebt. Es gibt also Raum für zwei Geschichten: die Geschichte einer objektivierten Dialektik und die Geschichte der »fiir sich« Handeln .. den, ihres Kampfes zur Beherrschung oder Beendigung dieser Dialektik.
J);e rationalistische Endzeiterwartung Als der junge Marx 1842 in seiner Arbeit Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie im Proletariat die einzige Kraft sah, die mit der (bürgerlich-demokratischen) Französischen Revolution nichts gewonnen hatte lIDd die nicht nur die Kraft verkörperte, die die herrschende Ordnung umwälzen wird, sondern die auch durch die Universalität ihrer Leiden eben jene Klasse ist, die sich nur selbst befreien krum. indem sie die ganze Menschheit befreit, spiegel.. te er ziemlich genau die MenWität der entstehenden Arbeiterbewegung wider, von den Anhängern Babeufs bis zu jenen Handwerkerzirkeln, die später die ersten kommunistischen Zusammenschlüsse bildeten. Wenn der Juni 1848 den ersten Auftritt dieser Klasse auf der politischen Bühne mit eigenständigen Zielsetzungen markierte, soHte es nicht erstaunen, dass die Generation, die die erste Epoche der Arbeiterbewegung bis zur Kommune von Paris im Jahr J871 ihre Ideen prägte und in ihnen lebte (von den »utopischen« zu den »wissenARGUMf.NT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
J
-&
Drei Krisen 29
S~haftJichen« Sozialisten, von den Anarchisten bis zu den Marxisten), unter VIelen Gesichtspunkten an die christliche Sekte in der Zeit vom Tode Jesu bis zum Ende des 1. Jahrhunderts n. ehr. erinnert. (in~ach einem Bild, das den >:utopischen .So~ialisten(: di:ser Zeit teuer war G besondere. Owen), erschemt der Kapltaltsmus Wie em Baby]on, deren m:fangen: den Zusammenbmch erwarten, um das Neue Jernsalem (wieder) zu Be!en. DIe milit~te. Begei~terung, die Ideologie al1e~ Te~denz.~n ~eser b kr e~g, hat Wie die Arbelt der Theologen nur das ewe Ziel, nämlich zu 'e~ äfbg~n bzw. zu heweis:n, da~s das System bald unterg~he~ wird, dass er Tedkampf nur dazu dIent, die Armee zu verstärken, die w den KataOll1~en der Stadt baust und die sieb morgen erheben wird, um die Stadt zu ~storen, dass es bereits Zeit ist, die Pläne fiir eine neue Stadt vorzubereiten. S~e .A~seinand~rse~gen zwische~ »wisse?schaftlichen(~ und »utopis~hen« d' ~ahsten .be~lehen sIch hauptsächhch auf dIe Balance ZWIschen den Kräften, le un Kapltabsmus zum Sozialismus hin treiben, und denen, die ausgehend ~~n dem »Traum, den die Menschheit hegt«, diese aus dem Kapitalismus lnausziehen. Es ist bekannt, dass sich Marx sehr schnell von der zweiten zur ~rsten Position entwickelt aber das ändert nichts ~ dass noch sein analy::hstes Werk, Das Kapi;al, von der Endzeiterwarttmg belebt ist. Und es ist ~annt, dass diese »rationalistische Endzeiterwartung«, die mcht utopisch ;~tn will und. sich als deduktiv versteht, auf einer Analyse des widersprüchlehen Charakters der kapitalistischen Produktionsverhältnisse beruht. Die ~ese erScheint in dem berülnnten Vorwort zur Kritik der Politischen Okono-
t
",te Von] 859-
Fo»Die bürge~ljchen Produktionsverhältnisse sind die letzte .~tago~stisc~e S' on des. ge.s~lIschaftlichen Produktionsprozess~s, antagonIstisch nIcht l~ U1n von rndlVlduellem Antagonismus, sondern eIDes aus den gesellschaftlIchen LebenSbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, ~ber die im Schoß der bürgerlichen GeseUschaft sich entwickelnden Produkhvkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser GeseUschaftsfonnation schließt daher die VorgeSChiChte der menschlichen Gesellschaft ab. « (MEW 13, 9) Den gleichen Gedanken findet man im Kapital: »Das KapitalmonopoJ wird ZUr Fessel der Produktionsweise die mit und Wlter ihm aufgeblüht ist. Die ZentraJisation der Produktionsnn'ttel und die Vergesellschaftung der Arbe.it ,Cn:eichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen l-ItUI~. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums &chI~gt. Die Expropriateure werden expropriiert.«( (MEW 23~ 791) DIese Konzeption der» Überwindtmg« setzt eine bestimmte Vorstellung von d~r Einheit der sich bekämpfenden Elemente voraus. Die beiden Pole bleiben eInander äußerlich; was ihre Einheit ausmacht, begründet gleichzeitig den Sieg des einen der heiden. Im Fall der Produktivkräfte ist der Inhalt der VergeseUARGUMENT SONDERBAND l\iEUE FOLGE AS 2'3
I
Drei KrisJ!I
30
i
schaftung lmabhängig von ihrer Fonn: eine Vergesellschaftung durch pri~~1 Eigentümer-Ausbeuter. Gewiss, es sind die Kapitalisten, die die Produktt"'\ kräfte vergesellschaftet haben, doch die vergesellschafteten ProduktivkfAilJ sind sozialistische Produktivkräfte! Nach der Prophezeilmg des K~m:J nistischen Manifests ist die Raupe bereits ein Schmetterling, wenn SIe. 1 Kokon sprengt: »Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und W1~ stand~loser Träge~ die Bouq~eoisi~ ist, setzt ~ die Stelle .d~r Isolierung diJl Arbelter durch die Konkurrenz ihre revolutlOnäre VerelßJgung dUfCh \ ene1l Assoziation. [ ... ] Sie [die Bourgeoisie1 produziert vor allem ihre eig Totengräber. llir Untergang und der Sieg des Pro1etariats sind gleich uD"er'\ meidlich.« (MEW 4, 473f.) . ' " .. \ Tatsächlich kann man sich sogar fragen, ob in der Struktur dieser Dtalektil' \ die Äußerlichkeit der bei den Gegner in ihrem Verhältnis zueinander n~cht ~Si Voraussetzung oder Entsprechung die Neutralität der Produktivkräfte benö~gt,. \ die von der Infektion durch ihre bürgerliche Fonn ebenso unberührt b1e1be'.'\ wie die Arbeiterklasse selbst. ~es is~ ein interessante!" ~ in d~r marxo)ogl-\ sehen Debatte2, aber er sollte mcht die AUgegenwärtlgkelt derartiger Kon.ze.P".\ fionen bei allen Intellektuellen der Bewegung verdecken, von Cabet bis Lentn· \ Gewiss findet man in den verdrängten Äußerungen der echten Handwerlc:e!\ und Arbeiter eine radikalere Infragestellung des »Fortschritts der Produkttv' -\ kräfte«3. Auch bei Marx selbst trifft man sie hier und da an. Aber man muss; erkennen, dass im Grunde - was ihre Organisationen lUld Begriffe betrifft ..,. die Arbeiterbewegung den fortschrittlichen Charakter der Entwicklung der Produktion,so wie sie von der Bourgeoisie organisiert wird, nicht bestreitet; was sie angreift, das ist die Verteilung der Früchte und manchmal die Leitung· Babylon schafft die materielle Basis für die Errichtung des Neuen Jerusaleßl· Noch zu entwickeln sind die Argwnente für den notwendigen Sieg deS Proletariats. Sie kreisen mn zwei Tendenzen: die zwangsläufige Stärkung und . Einigung des Proletariats und die zunehmende Schwächung lUld Spaltung der Ausbeuter. Daher die Bedeutung der Krisentheorie. Auch hier spielen MaP' und die sich auf ihn berufenden Theoretiker eine SchlüsselroUe, indem sie mindestens zwei Erklärungsweisen für die vergangenen und kommendet1 . Krisen anbieten: die Ableitung aus dem tendenziellen Fall der Profitrate und die Ableitung aus dem Widerspruch zwischen Produktion und Realisation, d.h. aus dem mangelnden Konsum (oder aus der Überproduktion).
2
Siehe die Behandlung dieser Debatte in Lipietz (1979, Schlussfolgerung aus dem Teil
3
IIl). Siehe z.B, die Arbeiten der Historiker, die sich in der Zeitschrift Revoltes logiques zusammengefunden haben,
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
Drei Krisen
31
Strategie und Taktik Unglück]" h . . . d' Ab' l~ erweIse ~e das ~wachsen der B~wegung.~e le .re1ter-. e ~ä~hst (durch die BeseItigung der )}vofWlss,enschafthchen« Tenden~:) ZU euuge.: schien, bereits unmitt~lbar n~ch der ~ieru:rlage de! Pariser une ~ eWer großen Spaltung. DIe ~belterpart~ten bddeten. sich \trotz . theoretischen Zusammenschlusses m der ZweIten Internahonale) auf nationaler Basis und konnten die Frage .nicht wngehen: Sollen sie in BabyIon n~ kampieren oder sich niederlassen? Diese Debatte hinderte sie nicht daran, SI:h während der großen Krise am Ende des 19. Jahrhunderts gegenseitig zu ;«ttzen) fUhrte jedoch im Großen Krieg zu einer wirklichen internationalen P~tung. Interessanterweise diente die Krisentheorie in der Debatte als theoretisches Argument.
klass
ihr:n
~Rec~ts:< die Anhänger der Integration. Sie stützen ihre Hoffuungen auf ~e '. .entnäßIge Stärkung des Pro1etariats und das demokratische Wahlrecht, dJe eines .. .an. . 1 fri' Tag - es d"le Sonaldemokrane die Macht bnngen werden. E' . meangTh~tig~ Strategie, di~ die Unwetter verabscheut. Sie lege~ den ~ent a~ die one des tendenztellen Falls der Prot1trate, bemühen SIch nnt allen Kräften ~ beWeisen. dass eine rege]mäßige AkkwnuJation möglich ist, wenn nur der ~a: es versteht, die Anarchie des Marktes zu mäßigen. So~ d~r unve~neid Riv ~~st ~on ~ankurrenz zwischen den Kapitalien ~d die, mte~tJonale Fr} ah~t WIrd slcb, so scheint es den großen Theorettkem dieser Richtung ] fef(l~g und Kautsky, infolge der »u1traimperialjstischen« (Kautsky) Kanzen~tton der kapitalistischen Macht in den Händen einer zahleninäßig immer genn~eren Finanzbourgeoisie abschwächen. der»L~« hingegen bemüht man sich mit allen Kräften, die Unvermeidlichkeit n Krisen ZU beweisen, die von einem Tag auf den anderen das Bauwerk von abYlon umstürzen können da die Rivalität in Kriege ausartet. Das Proletariat ::s Sich also bereit~alten: ni~ht ~ die herrschende Ordnung zu Wlterwanb ' s~dem um aus lhren Rwnen eme neue erstehen zu lassen. Rosa Luxemg , die dje~e Position vertritt, ist gleichzeitig die große Theoretikerin d~r erproduktlons.krisen. Lenin, der Kautsky treu ist, solange es darum geht., dIe VolkQffö_1 I di .......Wll.ler zu bekämpfen, wendet sich gegen diesen »Renegaten«, ase »SOZIal.chauvinistische« Logik der Sozialdemokratie diese in den Krieg zwiSchen den Imperialisten hineinzieht. HilAber natürlich zeichnet sich Lenin vor al1em dadurch aus, dass er es mit . fe des Großen Krieges a1s Einziger geschafft hat, was doch jeder theorebsch nicht der E~s 'seine Aufgabe betrachtete: die proletarische Revolution.. Er war __ .t:~1.._ lIlZlge, der es versucht hatte. Aber wenn die Bewegung, die er WllWU le. es Schaßte, dann zweifellos mcht allein aus objektiven Gründen. Warum
r:
ARGUMENT SONDERBAND NEUE fOLGE AB 2.5.5
111______
Drei Krist
32
Russland und nicht Ungarn? Gewiss wegen der »Kunereien«.4 Lenin, das isd der Tat das Einbrechen der Taktik ins Herz der radikalsten Version der Strate gie des Bruches. Zunächst mit der Einführung eines dritten Pols in die revol~ tionäre Dialektik: der Kräfte des »ZentnDns«, die für die Zerstönmg des Alten. aber gegen das Neue sind. das die Kommunisten errichten woUen. DieS! Vielzahl der Entwicklungsmöglichkeiten, die er bereits in dem ersten Briefaw der Ferne (März 19(7) entdeckt, und die Form der Periodisienmg der Krise~ zu der sie führt, strukturieren das gesamte Denken von Lenin, der von Februal bis Oktober zugleich Taktiker und Historiker der Gegenwart ist. Das dient dann allen »leninistischen« Analysen der politischen Krisen als ParadigrnBJ, auch den retrospektiven Analysen, wie jener von Mathiez zur FranzösischeJl, Revolution. Die drei möglichen Ausgänge (reaktionär, reformerisch ode!' revolutionär) und die Periodisierung der Krisenprozesse sind allerdings keine neuen Ideen: Sie finden sich bereits in den Klassenkämpjen in Frankreich.' Aber dieses Mal handelt es sich um handlungsleitende Konzepte. diee~; Taktik implizieren, die Lenin (und später Mao) hervorragend beherrscht: die schnelle Verschiebung des Hauptwiderspruchs lllld der Bündnisse. d.h. der: Zielsetzungen und der Losungen etc.. Die Konfrontation mit Babyion gebt; zurück auf die clausewitzsche Mythologie. j Aber diese bedeutende Errungenschaft ist sofort wieder gefährdet. Erste~ 1 durch den besonderen Charakter der russischen Revolution, die durch die Frage von Krieg lllld Frieden ungewöhnJich beschleunigt wird. Eine Beschlew nigung, die mit dem Phänomen der »Radikalisierung und Polarisierung« aucb Lenin überrascht, gekennzeichnet durch eine »Verschärlimg von Revolutioll und Konterrevolution, wobei die Elemente der Mitte für längere oder kürzere Zeit >hinweggespült< werden« (Drei Krisen, Juli 1917~ LW 25, 168). GewisS vergisst selbst Lenin nie die Existenz dieser intennediären Elemente und versucht bis zum letzten Augenblick, sie auszunützen, insbesondere beUJl Kornilow-Putsch. Man kann sogar sagen, dass das Bemühen um die SpaltutlS zwischen den beiden nicht-revolutionären Ausgängen der Krise die große Innovation von Lenin darste1lt - die Lehre, die Lenin selbst aus »seiner« Revolution für die internationale Arbeiterbewegung zieht: »Das Grundgese~ der Revolution, das durch alle Revolutionen und insbesondere durch alle drei russischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts bestätigt worden ist, besteht i11 Folgendem: Zur Revolution genügt es nicht, dass sich die ausgebeuteten und unterdrückten Massen der Umnöglichkeit, in der alten Weise weiterzuleben, . . bewusst werden und eine Änderung fordem~ zur Revolution ist es notwendig, dass die Ausbeuter nicht mehr in der alten Weise leben lllld regieren könn~' Erst dann, wenn die )Unterschichten< das Alte nicht mehr wollen und dle
4
Leninsche Charakterisierung des politischen Gespürs von Dela Kun, des Anfiihrers der . ungarischen Revolution. l:
ARGUMENT SONDERBA.>.JD NEUE FOLGE AS 255
J
Drei Krisen
I) ~.
33
>OberSChichten< in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen. Mit anderen Worten kann man diese Wahrheit so ausdtiick~n: Die Revolution ist unmöglich ohne eine gesamtnationale (Ausgebeu~te Wie Au~b~uter erfassende) Krise.« (Der »linke Radikalismus«, die Kinerk,:ankheu Im Kommunismus, April ]920; LW 31, 71). . Dieses Konzept der nationalen Krise wirft wie gesagt im Rückblick ein LICht auf die historischen Analysen von Marx (und später von Gramsci) und ~uCh. auf die Praxis von Mao. Aber es wird sofort abgeschwächt durch die ~ahtät der Radikalisierung und PoJarisierung (eine Realität, die sich erneut ~l d~rNe1kenrevolution 1974/75 in Portugal bestätigt)~ wodurch tendenzielI dIe e~ache AJternative BabyloniJemsaJem reproduziert wird. Diese Redukti?n WIrd selbst durch die Schwäche der leninistischen Charakterisiemngen der l11te~ediären Kräfte nahe gelegt: als ».Kleinbürger«. »Die Führer der kleinbÜfgerbchen Demokratie vertrösten ihre Massen mit Versprechungen und Beteue~ ~gen über die Möglichkeit einer Verständigung mit den Großkapitalisten; im esten Fall erreichen sie auf ganz kurze Zeit von den Kapitalisten geringfiigige Zugeständnisse filr eine kleine Oberschicht der werktätigen Massen, aber in ~lem Entscheidenden, in aDern Wichtigen war die kleinbürgerliche Demokratie~t:ts im Schlepptau der Bourgeoisie, ihr 'o1mm.achtiges Anhängsel, ein gefügIges Werkzeug in den Händen der Finanzkönige.{{ (Die Lehren der R:volution, September 1917; LW 25, 243) Und Lenin ordnet natürlich die Führer der refonnistischen Tendenz der Arbeiterbewegung der »kleinbürgerlichen DemOkratie« zu. Eine Charakterisiemng, die dann in der deutschen ~evolution in Noske, dem Sozialdemokraten und Schlächter der Arbeiterräte, ihr SYmbol findet. Von da an ist die Arbeiterbewegung für immer in zwei und sogar drei Teile gespalten. ZWlächst die Sowjetunion, die sich als das Neue Jerusalem im Aufbau darstellt. An ihrer Seite die kommunistischen Parteien der kapitalistiSchen Wel~ die sich als Parteigänger des Neuen, Jerusalem verstehen, aber in ~en Katakomben von BabyIon arbeiten. Und schließlich diejenige~ die hoffen, In ~abYlon mehr als »geringfügige Konzessionen« erreichen zu können. RevolutIon gegen RefolTIl. Mandsmus-Leninismus gegen Sozialdemokratie. Die Entstehung der KoloniaJfrage die wir aus dieser Betrachtung ausgespart haben, verändert dieses Schem~ nur fonna! Wld betont lediglich die Bedeutung der ZWischenkräfte (der nationalen Bourgeoisie und der Bauern), um sofort (~urch die Verallgemeinerung der Regel der Polarisierung) die Notwendigkeit etner proletarischen Führung der demokratischen Revolution zu bekräftigen: Heute sehen nicht mehr viele in der UdSSR ein Neues Jerusalem. DIe Analysen unterscheiden sich in der Bestimmung der Ursachen dieser Fehlentwi~klung: von denen, die in ihr nur eine Abweichung durch einen Verrat ZUm elDen oder anderen Zeitpunkt sehen (unter Lenin, unter Stalin oder Wlter ChntschtSChow), über solche" die den Abweichungsprozess als einen Prozess ARGU1.fENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
iiC~7"
· ij ~'''}rim:: (
~:
: ,.
i
.'
Drei Krisen
34
ohne Subjekt~ als Ergebnis einer Reihe von bestimmbaren, historischen 1~· tümem ansehen, die stark durch die Umstände bestimmt, aber im Pri~P korrigierbar waren, bis zu jenen, die meinen, der Wurm sei von Anfang ~.1J1 der Frucht gewesen, da die Bolschewiki nur eine kapitalistische Modemls1e• rung repräsentierten (das war die Position der europäischen Linksradikalen d':' zwanziger Jahre: Pannekoek, Gorter etc.).; Die folgenden Revolutionen (Chi· na, Kuba, Vietnam) führten nicht zu überzeugenderen Ergebnissen, .bracbt~ jedoch zum ersten Mal in den sechziger Jahren einen breiten WIderstan (selbst wenn er flüchtig und relativ ideologisch war) gegen eine gemeinsatne Annahme der 1I., ill.. und selbst der IV. Internationale mit sich: dass BabyIon zumindest die materielle Basis des Neuen Jerusalem liefert. Diese radikale lnfragestellung der Neutralität und sogar des positiven Charakters der Produk" tivkräfte bleibt - selbst wenn es zur Zeit brachliegt - das Erbe von Mao Zedong Wld ehe Guevara. In den kapitalistischen Ländern sahen sich die kommunistischen und sozial" demokratischen Parteien unter den schlechtesten Bedingungen mit der zweitell . großen Krise des Kapitalismus (der von 1930) konfrontiert. Die koIIJlllu· nistischen Parteien hatten sich (nach wie vor im Namen der Polarisierung) der Taktik »Klasse gegen Klasse« angeschlossen und betrachteten die Sozialdemokratie als den )linken Flügel des Faschismus«, was, wie wir sehen werdeU, nicht unbegründet war, wenn man sich an das engere Problem der ökono" mischen Regulation hält Als die Gefahr des Faschismus die Sowjetunion d,atll brachte, sich an den Nutzen der })Einheitsfronten« zu erinnern, gingen sie zut11 entgegengesetzten Extrem über: mit Babyion gegen Assur zu kämpfen. ver Zweite Weltkrieg hatte zum Ergebnis, dass Osteuropa dem sowjetischen System angeschlossen wurde, leninistische Keime sich in der Dritten Welt verbreiteten und mächtige kommunistische Parteien sich in ihre eigene na" . tionale Umwelt integrierten (in Frankreich und Italien). Diese »Kommunisten in BabyIon« fanden sich so in einer schwer zu akzeptierenden Rolle wieder: der von Sozialdemokraten. Diese hatten in den Jahren zwischen den Weltkriegen in Skandinavieil angefangen, den Beweis zu erbringen, dass es möglich war, sich in Babyion einzurichten und den Kapitalisten mehr als »geringfügige« Konzessionen fO! mehr als eine »winzige Minderheit« des Proletariats abzutrotzen. Nach und nach erwarben die Sozialdemokraten an der Macht, mit oder ohne Unterstüt.zung der Kommunisten, die Anerkennung als mögliche Verwalter des Kapita'" lismus und setzten sogar Normen der sozialen Demokratie durch, die von ~ Gegnern nicht mehr in Frage gestellt wurden. Als die sozialistische parteI
5
Charles Bettelheim hat in Klassenkämpje in der UdSSR selbst eine Wandlung von der dritten Position (in den Bänden] und U, Le SeuillMaspero, Paris 1974 und 1977) ZUr zweiten (im Band IV, 1984) vollzogen.
AROlJMENT SONDERBAND NEUE FOLGE ASl55
Drei Krisen
35
Fr,ankreichs 1981 an die Macht kam, war sie die letzte. die noch vom »Bruch ~ dem Kapitali~mus.« s~rach, un~ ~ie. verlor 4ie Mac~t, nachdem sie. die sellschaft wemger m emern sOZlal1stischen Sinne verandert hatte als ihre nordischen Genossen. ' Di So ~cheint die primit~ve Vorstellung vo~ Bruch verloren gegan~~n zu se~: ane emen vetwalten em Babyion, .das Sle Je~sale~ nennen, während die deren BabyIon verwalten und sIch hüten, ihm emen anderen Namen zu ::~Il. ~ac~ einigen ~g1ichen Zu~kung~n scheint die .dri~e große. Krise Dm KaPltahsm~s welt davon entfernt, eme Bresche fttr e~en radik~.en . ck der ArbeIterbewegtmg zu eröffuen, weit davon entfernt, eme »Polansle~g,« ~ begünstigen - nur, noch die Verfechter verschiedener. ~en, d~n P1taltSlllus zu verwalten, emander gegenüberzustellen. Der Kapitalismus Ist ZUm »unüberwindlichen Horizont unserer Zeit« geworden. Metamorphosen des Kapitalismus: Stadien, Zyklen, Regime
~ss der Kapitalismus sich von Stadium zu Stadium entwickeln kann, hatten e
be !heor~tik~r. der Arbeiterbewegung bereitwiUig zugestanden und auch
Penodlslerungen vorgesch1agen. Im Kapital z.B. schlägt Marx selbst e:e Periodisierung entsprechend der Arbeitsorganisation entlang der Achse ~~nnelle Su?~umtionlreel1e Sub~umtion« vor, den Stadien de~ Kooperation R AutomatisIerung folgend. Seme Nachfolger bevorzugten die Fonnen der eguIation der Warenbeziehungen zwischen den Kapitalisten: konkmrenzielle, lllollopolistische, staatsmonopolistische Regulation ... Aber diese Periodisie~ e~scheint zu oft nur als Ergebnis einer immanenten Tendenz (das Gesetz tr. .stelgenden Enteignung des direkten Produzenten, das Gesetz der Konze;naüoll des Kapitals), Zu versuchen, die langfristigen Tendenzen des Kapitalis· ~us herauszuarbeiten und sie auf seine unveränderliche Struktur zu beziehen, ~t an sich ein interessantes Forschungsprogramm (vgI. Lipietz 1979) - unter t~r Vor~usse~g, das~ ma~ nicht von ~esen abstrakten Gesetz~n die RealiIr ableIten will, was mcht lD1lDer venrueden wurde. Noch schlnnmer: Der k~uss der »rationalistischen EndzeitelWartuDg« scheint in der immer wieder}): enden ~ekräftigung durch, dass das augenblicklich erreichte Stadium das ,etzte« sei, dem unmittelbar die endgültige Krise folgen werde: das Vor~ lUtuner des Sozialismus. . fetts
:g
Wellen und lange Zyklen Eine andere, im Stil akademischere marxistische Strömung hat im Anschluss an Parvus und Kondratieff die Existenz von langen Phasen bezüglich der Preis~ Einkommensbewegungen herausgearbeitet und damit eine wichtige theoretiSche Debatte eröffitet: Sind diese Zyklen (wenn sie diesen Namen verdie!\ROVMENT SONDERßAND NE\ JE FOLGE AS 2S5
I
IIII__~-
,li
I
Drei Krisen
36
nen) als Phänomen der gleichen Art zu interpretieren wie die klassischen Krisen des Wirtschaftszyklus,6 oder enthalten sie empirisch die Spur einer gnmdlegenderen Periodisienmg, bei der jede Periode eine Reorganisation des Kapitalismus angibt? Trotzki drückt sehr deutlich seine Weigerung aus, diese Phasen als Zyklen zu verstehen, was einen seiner derzeitigen Schüler, Erne~t Mandel (1987), dazu geführt hat, eine methodologisch reizvolle Unterscbel" dung vorzuschlagen, selbst wenn man (wie ich) die Einzelheiten seiner AnalY" se bestreitet. Diesem Autor zufolge muss die Tendenzwende auf dem Gipfel einer langen Welle als endogen betrachtet werden, d.h. sie ergibt sich aus der Entwicklung der dem Kapitalismus inhärenten Widerspruche während der ansteigenden Phase. Die Wende am unteren Punkt dagegen wäre exogen: neue Entdeckungen, eine wichtige Konstellation der Klassenkämpfe etc. Ein~ fruchtbare Idee insofern, als sie die scheinbare Wellenbewegung eines konu" nuierlichen Prozesses in eine unterbrochene Abfolge neuer Formen des Kapita" Hsmus uminterpretiert, die jede ihre Blüte und ihren Verfall erleben, ohne dass die Überwindung des Niedergangs automatisch gesichert wäre. Aber diese fruchtbare Idee verliert sich leider (wie die Intuitionen von Trotzki) tendenzien in der Behauptung, dass »dieses Mal« (bei dieser großen Krise) der Ausgang nur der Sozialismus oder die Barbarei sein könne. Bleibt die Aufgabe. den langen Phasen einen Inhalt zu geben, einen Inhalt, der in Beziehung zu dem kontingenten Faktor steht, der den Aufs·chwun8 auslöst. Für die Mehrzahl der Interpreten wäre dieser Inhalt - Schumpeter folgend - technologischer Art. Damit hätte man: • einen ersten Zyklus zwischen 1789 und 1850, der mit der »letzten Übef# gangskrise« endet,. wie wir sie zu nennen vereinbart haben, und der durch die Dampfmaschine und die Textilherstellung gekennzeichnet ist~ • einen zweiten Zyklus zwischen 1850 und 1895, der mit der ersten großen Krise des Kapitalismus (1873-95) endet und der durch Stahl und die Eisen" bahn charakterisiert ist; • einen dritten Zyklus zwischen 1895 und 1939, der mit der zweiten großen Krise (1920-39) endet und der durch die Elektrizität, den Explosionsmotor und das Auto gekennzeichnet ist; • einen vierten Zyk1us ab 1940 (bis ?), der mit der derzeitigen Krise zu Ende geht und dessen Kennzeichen nicht recht klar sind: das Auto (immer noch?), die Elektronik (bereits?) .. , Mit dieser groben Beschreibung werden die Hauptschwierigkeiten der Er" klärung der langen Zyklen durch die »wichtigen Innovationen« deutlich: die WilJkür der Bestinunung ihres Inhalts und selbst ihrer Periodisierung (sind die 6
Es handelt sich um Krisenzyklen mittlerer Dauer (sieben bis acht Jahre), die sogenannteJ1 »Juglar-Zyklen«, die einem Regulationsmodusim Rahmen der konkurrenziel1etl Regulation entsprechen, die man gen au von den »großen Krisen« unterscheiden mull· die der Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind.
ARW '!\mNT SONDI'IHl\ND NFI1l'. rOI.(W AS
2~~
Drei Krisen'
37
~anziger Jahre aufsteigende oder absteigende Jahre?), d.h. ihrer Charakteri-
:en
Slerung als wiederkehrende Zylden (die absteigenden Jahre des vierten Zyklus :her durch e~e Stagnation ~s durch ein~ R~zession .bestimmt ~o,"?e die eh em~ BeschJewugung der InßatJon7).~be~ WIe die Tbeone der Stad~en 1st dur The?ne der ]angen Wellen, vor allem lß dieser Ausprägung, nach wie vor flu eh e~e Aut~nomie d~r »Bewegung ~on oben« (der ?es Kapita~s) beeinb sst; bel der die Geschichte der Techniken und der treIbenden WmschaftsR~:mehen die Geschichte der Konzentration des Kapitals ersetzt. Was als ein uekschritt erscheinen kann, da die ökonomische Geschichte auf die Evolution eines technologischen Parameters reduziert wird, der selbst unerklärt bleibt.
Akkumulationsregime und Regulationsweisen
~~ Absage an den technologischen Determinismus und der WiUe zu verseen, Was an wirklich Neuem von einer Wachstwnsperiode zur nächsten :~teht, kennzeichnen eine dritte theoretische Richtung: die Analysen mit AUee d~ ~onzepte des Akkumulationsregimes . und der Regulati~nsweise. A.guh Sl~. smd .aus Untersuchungen langer Penoden entstanden: Jene von üb etta ub~ die USA (1976) und die der Gru~pe des CEPREMAP (l97?) V ~ F~e~ch. Sie identifizieren mit Hilfe der Ökonometrie 'nicht so sehr ~e anatlonen m der Entwicklung des einen oder anderen Index, sondern V1el~ ~di~ Brüche in den Korrelationen, insbesondere bei den Faktoren, die die S. ,die Löhne, d~e Profite, die Prod~on und die Pr?dukti~tät bes~en. ti le beleuchten diese Brüche durch die Analyse der mdustnellen Orgamsa~fo~en und der institutionellen Fonnen und zeigen, dass sich die Wachsp . penoden durch Akkumulationsregime auszeichnen, die über eine lange ti enode eine Übereinstimmung zwischen den Transfonnationen der Produkdo~rm~ (ausgelöst durch die dominante Art der Arbeitsorganisation) ~d g~ enti~g des Konsums. herstellen. Die Akkumulation kann übefWJeProd e"!enslv.oder intensiv sein, den Schwe~unkt auf die Hers~ellung von Stell uktionSß11tteIn oder Konsumgütern legen, elßen mehr oder wemger gro~en nioh enwert .dem Export einräumen. Aber ein Akkumulationsregime stützt SIch de. tauf sem.e bloße Kohärenz. Institutionelle Fonnen und in den Wünschen der Akt~~e mternalisierte Nonnen (ein »Habitus«) sichern die Konvergenz re f. Antizipationen Wld Verhaltensweisen im Sinne dieses Akkumulationsv:,es :. Regulationsformen , die sich auf die Organisation des Lobnarbeitsältnisses, der Konkurrenz, der Verwaltung des Geldes, die Staatsinterven-
;---------------Iro .
be8:~herwei.se ~de in diesem Fal1 die Ausnahme (beim vierten Mal!) die Regel ~es 1st, als ~rde man dreimal I<':0pf und ~inma1 Zahl werfen, und daraus
den ;Igen.
chIuss Ziehen, dass dIe Geldstücke auf die Kopfsette fallen.
..
_~-
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2S5
=iji§§--
Drei Krisen
38
tionen beziehen.8 Aus der Verschränkung dieser partiellen Regulationsfonned ergibt sich dieser Schule zufolge eine Regulationsweise, die sich als mehr oder weniger konkurrenziell (fehlende Antizipation des makroökonomischen ~r~eb- nisses der mikroökonomischen Anpassungen ex ante) oder monopolistlSC~ (Steuerung und Berücksichtigung des makro ökonomischen Ergebnisses bet den mikroökonomischen Verhaltensweisen ex ante) auszeichnet. Demzufo~ge ist ab 1850 der Übergang zum Kapitalismus abgeschlossen9 und es ergibt stch nach den Arbeiten, die sich mehr oder weniger von diesen Konzeptionen beeinflussen lassen,lQ die folgende Periodisierung: • Ein überwiegend extensives Wachstum,11 das auf der Anwendung deS praktischen Wissens der Facharbeiter basiert und auf die Produktion von Produktionsmitteln zentriert ist, mit einer konkurrenziellen Regulation der Preise, der Löhne und des Produktionsumfangs und mit einem in seinen Funktionen beschränkten Staat - eineWachstwnsphase, die mit der De~ pression am Ende des 19. Jahrhunderts an Kraft verliert. . • Diese Depression, die »erste große Krise des Kapitalismus«, nimmt die Krisenfonn von sich wiederholenden Zyklen an, aufgrund des starken Drucks auf den Arbeitsmarkt am Ende des )}Booms« und eines wilden Preiskrieges um Anteile an Absatzmärkten. Man kann sie also als Krise d~s Akkumulationsregimes bezeichnen (unzureichende Abpressung von relan" vem Mehrwert bei extensiver Akkumulation) bei gleichzeitiger einer nur mangelhaften Regulation. • Dieser Depression folgt eine Phase der Erholung infolge der Entstehung monopolistischer Strukturen auf der Ebene der innerkapitalistischen J(on~ kurrenz (KarteUbildung und Imperialismus) und einer Stabilisierung der Kaufkraft der Arbeiter auf sehr niedrigem Niveau. Zu dieser »Perfektionierung« der Regulationsweise kommt der Beginn einer tiefer greifenden Transfonnation des Akkumulationsregimes hinzu, das, obwohl es überwie" gend extensiv bleibt und nach wie vor auf Produktionsmitteln zentri~rt ist,
I 5)
10
11
Die Frage des Staates wurde speziell von DelormelAndre (1983) untersucht. Natürlich war der Kapitalismus. in den am weitesten entwickelten Ländern vor diesem Zeitpunkt beherrschend, aber der konkrete Ablauf der Krisen (der sogenannten Krisen des »Ancien Regime«) spiegelte die noch überwiegende Bedeutung der Auswirkungen der Klimaeinbruche auf die Agrarproduktion wider. Von den bereits zitierten Arbeiten abgeseben, siehe z.B. DockesIRosier (1983) und Beaud (1981). Die Indikatoren zeigen oft eine schnelle Mechanisierung, was eher auf eine intensive ~kumulation schließen lässt (Frankreich im Secorui Empire), man muss jedoch den Ubergang zur Mechanisierung auf der Basts eines vorher bestehenden HandwerkS voll der Intensivierung der kapitalistischen Mechanisierung im eigentlichen Sinne unterscheiden.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOlGE AS 255
Drei Krisen
39
~cherste Auswirkungen der tayloristischen Revolution auf der Ebene des oduktionsprozesses erfährt. • ~r ~rste Weltkrieg~ bei dem es ~ die Auftei1ung ~e~ Welt geht, e~ö~ cht 1I1Sbesondere die Verallgememerung der tay10nstischen und fordistI:he~ Produktionsmethoden, was zu einer intensiven Akkumulation führt, .. D~ slch gegen Ende. der zwanzige~ J~e in,der ~eiten großen Krise brich~. lese (1920-1945) 1st fast ausschlleßhch eme Krise der gesamten Regulati~n, die insofern konkurrenziell geblieben ist, als sie es nichtedaubt, eine I .~nn fiir ~as W,achstum des Konsums der Lohnempflinger in das Akkumu• ationsregtmeemzubauen. Der,Sieg des »demokratischen« Lagers im Zweiten Weltkrieg ermöglicht es SChJi~ßlich, dauerhaft die Massenproduktion auf eine Massenkonsumtion zu ~trier7n . dank d~rDurchsetzung einer umfas.senden m~nopol~sti~chen L ~gulation: vertragliche Fassung des Lohnarbeltsverhältrusses, mdirekte " ~hne, Kr~t~el~ ~tervent.ion~st~t. , ... . e gegenwärtige Krise schließlich Ist eme Kombmatlon - Je nach Autor m unterschiedlichen Proportionen - von einer Krise des Akkumulationsregillles und einer Krise der Regulationsweise: eine gemischte Krise, die noch »schöner« ist (wenn man das so sagen darf) als jene am Ende des 19, Jahr~de~s: Hinsichtlich des Akkumulationsregimes: Die Erschöpfimg der d:lonst~sche~ Prod~~vitätszuWächs~ und die steigende Zusm.mnensetzung . S KaPitalS 1ID fordlsttschen Produktionsprozess führen zu ernern tenden~enen F~U der Profitabilität. ~sich~ich der Regulation: Ihr im wesentli.. . en nationaler Charakter gerät In Widerspruch zur wachsenden Interna!i:liSie~g der Produktion und Zirkulation. Die Konkurrenz der Staaten 'W. . ZU eIDer »kompetitiven StagnationK sc~Illan sieht. respektieren diese Konzeptionen die gleichen methodo]o~ ist d Voraussetzungen wie die von Mandel: Der Eintritt in eine großen Krise R. ~Ill herrSChenden Regime endogen (aber sie ist das Ergebnis von fUr dieses ~gIJne un~ seine Regulati?nsweise spezifi~hen Widersprüchen!, ~e Been~ n.ich der Krise beruht auf emer echten, zufillltgen »Erfindung«, die die Theone de t~. erklären vermag (trotz der rituellen Bezugnahmen auf die Ergebnisse di; ~Zla1en K~pfe in der Pr~uktion und der VerteiJung). Das i~t zugleich be ~e und die Schwäche dieses Forschungsprogramms,. das SIch darauf e~hr~, die neu~ Prinzipi~n, die die Sta~ili.sierung einer W~chs~~pbase hera gb~he~, und dIe neuen Wl~ersp~che, die rn d:T großen Krise munden, zu OhneC~lchb~ - und das für Jede emze~e aufem~der folgende Sequenz, SoJedoch e~ »Gesetz« .der Abfol~e ~er eIßen auf dIe an~ere vorzuschla.gen , aJlne steht es Jeder und Jedem frei, diese Lücke zu schlIeßen. Man könnte Ebenhmen, das~ es eine durchgehende Tende~ gibt. (e~a a~ tec~o1~gischer 'W . .. e) und eIn durchgängiges Akkumul an on spnnzlP, die penodlsch auf Idersprüche stoßen und ein neues Akkumulationsregime und eine neue ARGU\lEr-.. SONDERB.I\ND NEUE FOLGE AS 255 f
._-~
f
;lijj
an@..
!l
k
Drei KriseIl
40
Regulationsweise finden müssen. Die sozialen Kämpfe würden dann nur d~e Einheit des Systems wieder herstellen, gemäß einer Art Teleologie, die dte Dialektik des Bruches umkehrt: eine Superregulation, ein Prinzip der Konservierung über eine sehr lange Periode hinweg und durch die Metamorphos~J1 des kapitalistischen Systems hindurch - eine Art »Ordnung durch Krach« (DJ3 Prigogine).12 Die Arbeiterbewegung - eine Kraft im System gegen das System Um die Lücke zu schließen, die das Geheimnis des Endes von großen Krisen darstellt, muss man offensichtlich soziale Kräfte einbringen samt ihren vor.. schlägen und Kämpfen - ob bewusst oder unbewusst - für einen Ausgang auS der Krise, der allerdings nie genau der angestrebte ist. Der Fordismus und der praktische Keynesianismus sind keine bloße Anwendung von Ford und Key" nes, von der man Partner und Gegner überzeugt. Unter den zahlreichen :Kräften ragen mindestens drei Blöcke (im Sinne von Gramsci) heraus: die Ko~ servativen (sie gewinnen am Ende des Ersten Weltkriegs im Westen), die Radikalen (sie gewinnen zur gleichen Zeit in Russland) sowie verschiedene Refonntendenzen, reaktionäre oder fortschrittliche. Zu den Kräften, die zur Bildung dieser Blöcke beitmgen, gehört die Arbeiterbewegung, die Gegen" stand der folgenden Überlegungen ist. 13
Eine kurzschlüssiger Ansatz: »Plan gegen Plan« Eine erste, recht einfache Lösung, die jedoch einen Teil der Realität reflektiert. ist die unmittelbare Mobilisierung des Klassenkampfes, um die großen veränderungen des Kapitalismus zu berücksichtigen. Typisch dafiir ist der Ans~ des italienischen Operaismus, wie er etwa durch Tom Negri oder Setgl° Bo]ogna in den sechziger und siebziger Jahren entwickelt wurde. Ihre Interpretation der jüngsten italienischen Geschichte14 könnte man folgendennaß eJl zusarnrnenfassen: Bis 1917 setzt sich die Arbeiterklasse aus Facharbeitern zusammen. die über ein praktisches Wissen verfUgen. Die große Industrie ist nicht taylorisiert. Die Revolutionen in Russland, Italien und Deutschland sind das Werk der Facharbeiter. Auf diese Gefahr reagiert das Kapital mit dem Fordismus, der
12
13
14
Das ist genau die Ausgangsposition von Destanne de Bemis (1977), Aber man trifft eine Spur davon noch im Nebeneinander von Singular und Plura1 im Titel des Buches von Aglietta (1976) RegUlation et crises du capitalisme. Ich nehme hier einige Darlegungen in Lipietz (] 979) über die Beziehung zwischen den sozialen Kämpfen und den Produktivkräften wieder auf Siehe Negri (1978) und fuf die Jahre 1977-78 die Artikel von Bologna in der Zeitung Lotta Continuo.
ARGUMENT SONDERBAND NEtTE FOLGE AS 255
Drei Krisen
41
~e~1t F~charbeiter durch den Massenarbeiter ersetzt und dadurch die Möglich-
n:
emer proletarischen Kaderorganisation leninistisc~en Typs unterhöhlt. de;se. »,V~nnassung« der Prod~i~n führt jedoch .zur Ube~roduktionskri~e A dr~Ißlger Jahre; der ~eyneslams~he Staat gr~ift ~ em ~d se~ di~ .US'Weltung der Konsumtion der Arbeiter durch. DIes bnngt zwei Vorteile nnt SIch: die Kapitalisten geben angesichts des Drucks der Arbeiter etwas preis (W:US sich die refonnistische Basis der Arbeiterbewegung ergibt) und leiten ;: erseits ~e Planung des Kapitals unter staatlicher Leitung.ein. Aber diese twort bleibt widersprüchlich. Denn die Steigerung der organischen Zu,;::ens~tzung des Kapitals, die »technologische Fonn der Unterdrückung«, b ' ZU eIDem Fa11 der Profitrate, wenn sie nicht durch eine steigende Auseutungsrate ausgeglichen wird. Der Kampf der Massenarbeiter gegen den P~~den Staat verschiebt sich daher auf das Gebiet der Löhne: Entweder es ~e4UJ.gl dem planenden Staat, die Löhne in dem Rahmen zu halten, der durch aJtas Akkumulationsschema vorgegeben ist (das Schema des goldenen Zeitk ers des Fordismus), oder das Proletariat »sprengt den Plan des Kapitals«. So O~t man zu einer »Vereinfachung des Klassenkampfes<<: Die Aufteilung :SChen Profiten und Löhne~ ~~kt unmittelbar und ~ politis~he Weise die OIntnandogewalt« des kapItalIstischen Staates über die ArbeIterklasse aus. ~ .den sechziger Jahren »ist der ~eformismu~, über die l!fer ge~etc:n«: Die welterbewegung als Klasse erzwmgt Lohnerhohungen, die das ))ltahem~he under« zerstören. Diese Erfolge breiten sich auf das »gesamte Proletanat« ~s (d.h. die Reservearmee: Student~ Rentner, Arbeitslose etc.). »Die Klasse ~Ird auf der ganzen Breite des gesellschaftlichen Terrains zum Proletariat«. (~:l{am~f erstreckt sich jetzt auch ~uf den Be~eich ~er öffentlichen Aus~ben Od Kapital des »Fabrikstaates«); eIgenmächtige Kurzungen (z.B. der Mieten ~ der ~teuem), und des Arbeitslosengeldes etc.). . . , er HistOrische Kompromiss schlägt eine Weiterftihrung des KeynesJa~ :rSll}~ Vor, der zu~eich nicht mehr praktikabel .(~ da~ Kapital) lD!d reaktioseit (für ~ ~ol~tan~t) gewor~en war. TatsächlIch 1st die vo~ KapItal ~ntf~se Krise eme nchbge Operation zur Zerstönmg der Produktivkräfte, die Sich ~e!en den ~t der Automa~on entstandenen M~senarbeiter. richtet Aber ~ Operation der »produktiven Verlagenmg«,die darauf abZIelt, durch den au U~gsve:lust des. Massen~e~ters die »Fa?rik geg~n die Gesensc~aft« , S ~Plelen~ mdem die AutomatISIerung und die Entwlcklung des tertIären 8e . ~rs noch weiter getrieben werden, stößt auf das Problem der VeraUS;:etnerung des gesellschaftlichen Arbeiters. Als 1977 die »Bewegung« d~r ~e d:nten lUld,»Unt~rbes~häftigten« ausbricht, zögern die »A~tonomen«,. die di in gefolgt smd, mcht, dieser Verkörperung des gesellschaftlIchen Arbeiters ~olI~ ZUzuschreiben, die in den sechziger Jahren der Massenarbeiter von flon innehatte.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLOE AS 2"
lII._r-...._____
Drei Krisen
42
Wir wollen an dieser Stelle den Film über dieses Fußballspiel unterbrecbe~. Das einfache Nebeneinander der beiden getrennten Dynamiken, von denen wU' bisher gesprochen haben, ist bereits deutlich geworden. Das Kapital bat ein~ll Kopf und die Klasse ein Projekt, und sie geraten in einen Titanenkampf tn1t einander, wobei Angriffe und Gegenangriffe einander ablösen, Plan uno Gegenplan - wie eine operaistische Zeitschrift heißt. Die zyklische Erschel" nungsform dieser Auseinandersetztmg ergibt sich zweifellos aus dem claUSe-witzsehen Prinzip, nach dem die Defensive eine höhere Form der Offensive ist. Der Versuch, die Geschichte der Arbeiterbewegung in die Geschichte d~ Kapitals einzubauen, bleibt unabgeschlossen und äußerlich. I5 Die zentristt-sehen Blöcke Gene, die die Kompromisse aushandeln, welche die Kräfte" verhältnisse festsclrreiben und die Zusammenarbeit der Klassen organisieren) erscheinen als einfache Verräter, die während des Spiels das Lager wechsel~. Das entscheidende Problem jedoch (das Lenin gut fonnuliert, aber auf relatlV schwache Weise löst, weil er leugnet, dass es die Tatsache gegenseitiger Vorteile gibt) ist zu verstehen, warum »die Massen« so lange »Führern« vertrauen, von denen sie betrogen werden. Um dieses Problem zu überwinden, muss man verstehen, dass die Arbeiterbewegung in ihrem Wesen einen doppelten Aspekt aufweist: Als Klasse an sich im historischen Kapitalismus muss sie dort leben und kämpfen, um sich in ihm zu behaupten. Als Klasse, die aktiv gegen die kapitalistischen Verhält-nisse angeht, versucht sie, diese zu zerstören. Diese heiden Aspekte sind untrennbar miteinander verkoppelt. Wenn eS keine Arbeiterklasse gibt, die sich in den kapitalistischen Produktionsverbält~ nissen reproduziert, gäbe es keine Tendenz, gegen das System zu kämpfen. Gleichzeitig sind diese Aspekte jedoch auch diametral entgegengesetzt. Es ist nicht das Gleiche, für mehr Lohn und für mehr Kontrolle innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu kämpfen oder für die Abschaffung der Lohnarbeit und für die Arbeitennacbt. Dem entsprechen zwei Strategien, zwei Taktiken, zwei im Widerspruch zueinander stehende Organisationsfonnen, selbst wenJl die beiden Strategien sich für eine gewisse Zeit in einer einzigen ·Taktik vereinen und die entsprechenden Konzeptionen sich innerhalb einer einzigen gewerkschaftlichen Organisationsstruktur die Vonnacht streitig machen können. Dem] dieser Kampf zwischen den heiden Projekten beruht auf der ge.. meinsamen Grundlage der materiellen Bedingungen, die sich der Arbeiterbe" wegung im historischen Kapitalismus bieten. Deshalb kann Marx in LohnJ Preis, Profit schreiben: »Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des WiderstandS gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil,
d
15
Trotz ihrer Absichtserklärung gehen DockesIRosier (1983) nicht weiter und stellen die großen Krisen ebenfalls als »)Krisen der disziplinierenden Ordnung« dar.
A.RGUMENT SONOERBANO NEUE FOLGE AS 255
Dtei Krisen
sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie ~~ehl~n ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen 1~UJkri~~ gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt g :Chzelttg zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu :~ fauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse. -·ZUr endgültigen Abschaffung des Lohnsystems,« (MEW 16, 152) Und in ähnlicher Weise Gramsci, 16 der im Zusammenschluss des ProletariM ats ~gesichts der Konkurrenz des kapitalistischen Marktes primär ein gnmdSätzltch positives Element, in eben dieser Verbandstümelei aber auch die ~aterielle Basis des Refonnismus sieht, den er keineswegs »Verrat durch estochene Führer« nennt: »Das assoziative und solidarische Prinzip wird für die arbeitende Klasse ~:sentlich. es ~er~dert die Psychologie ~d Sitten. der ~beiter. un~ Baue~. entstehen Emnchtungen und Organe, m denen Sich dieses PrinZIP verkör: ; auf ihrer Grun,d.lage beginnt der ~ozes8. der geschichtlichen Entwjc~ung, Zum Kommwnsmus der ProduktlOßsffiltte1 und des Austausches führt. « (Gramsci, Die Eroberung des Staates, 12. Juli 1919; PdP ]967,29; L 'Ordine
u
1i o vo ,
1987, 127).
. Und doch: »Die Arbeiter fiihlen, dass der Komplex >ihrer< Organisation zu ~ell1 solch enonnen Apparat geworden ist, dass er schließlich nur mehr den b se~en seiner Struktur und seines komplizierten Funktionierens gehorcht, ~ ~r Jen~r ~asse fremd geworden ist, die das Bewusstsein ihrer geschichte ,en MissIon als historische KJasse erworben hat. Die Arbeiter fiihlen, dass ~~ ~em Wille? zur ~acht ni~ht geJingt,. sich durch die ~egenwärtigen inUntuti~nenen HIerarchien deuthch auszudrücken.« (Gramscl, Gewerkschqfien d Räte, 11. Oktober 1919; PdP 1967, 39f.; L 'Ordine nuovo, 1987,236) hier ausgehend muss man die Frage nach der Rolle der Arbeiterorgani;.ati~nen bei der Durchsetzung neuer A.kkumu1ationsregime und neuer kapita~ lstischer Regulationsweisen neu stellen. Und dazu behandeln wir nacheinander zw.ei Paare von historischen Konstellationen, die die zwei großen Krisen des K . ali" aptt smus, deren Ausgang wir kennen. einrahmen.
yon
---------------------16
Im Folgenden werden die Textstellen, soweit möglich, unter Angabe des Zeitungsartikels
a~~ der vorliegenden deutschen Übersetzung der truhen Texte von Antonio Gramsci Zltl~t1, die von Christian Riechers besorgt wurde: Philosophie der Praxis, Frankfurt am Mam 1967 (= PdP). Vollständigkeitshalber wird auch die italienische Quelle in L 'Ordine Torino 1987 angegeben. Die d,eutsche (Tbersetzung wurde, wenn nötig., entSprechend der italienischen Ausgabe korrigiert [Anm, d. Übers.]. I1UOVD,
.._----
ARGliMENT SONDERßAND NEUE FOLGE AS 255
Drei Krisen
44
Die Gewerkschaftsfrage und die Krise am Ende des 19. Jahrhunderts Wolfgang Abendroth (1965) zieht bedenkenlos die Bilanz jener Periode, die sich von der Niederlage der Pariser Kommune bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs erstreckt: »Die Gemeinsamkeit der verschiedenen, nunmehr entstandenen nation~e? Arbeiterparteien, bestand einerseits im Ziel der Transfonnation der kapitallSt1~ schen Klassengesellschaft in eine klassenlose Gesellschaft, andererseits in d~r Ähnlichkeit der Probleme. vor die sie sich in ihren Ländern gestellt sahen. Ste aUe wollten eine Demokratisierung der politischen Gewalt, die Verbesse~g der Arbeitsbedingungen und Löhne sowie die Sicherung der Lage der Arbeiter bei Krankheit~ Invalidität und Erwerbslosigkeit. Auch die Kampfforrnen ~ gewerkschaftliche Streiks und Organisierung der Arbeiter in Parteien und. Gewerkschaften - glichen sich in den verschiedenen Ländern Europas. und aUenthalben galten sozialpolitische Eingriffe des Staates als wichtige Mittel, die gewerkschaftlichen Erfolge bei der AnpassWlg des Lebensstandards der Arbeiter an die mit dem technischen Fortschritt rasch steigende Produkti'Vit~t auch in Wirtschaftskrisen zu stabilisieren und die Lebensbedingungen derje11lgen erträglich zu gestalten, die vorübergehend· durch Krankheit oder Arbeitslosigkeit - oder dauernd ~ durch Invalidität lwd Alter - aus dem ArbeitsprozesS hatten ausscheiden müssen.« (1965, 63) Eine retrospektive Illusion? Die Erfindung des Fordismus, bevor es ihn gab? Zweifellos. Interessanter jedoch ist die Frage, warum und wie die Arbeiterbe" wegung unbewusst den Fordismus anstrebte. Denn zwei theoretische und organisatorische Momente rahmen die erste große Krise ein und können fiit uns erheBend sein. Vor der Krise gab es den Kampf um die Bildung der ~e werkschaften Wld den Text Lohn, Preis und Profit von Marx. Nach der Krtse (genauer: nach dem Ersten Weltkrieg) gab es die triumphale Anerkennungd~r Gewerkschaften tmd die ersten Bedenken in Gramscis L 'Ordine Nuovo. ·v./Je wir gesehen haben, liegt zwischen diesen beiden Momenten die zunelm1ende Stabilisierung der Kaufkraft der Arbeiter durch eine faktisch existierende Bindung der Löhne an die Preishewegungen, die Begrenzung des Arbeitstages sowie der Beginn des Kampfes um neue Quellen der Produktivität seitens der Kapitalisten. Widerstand der Arbeiter und Kampf um p;.oduktivität: An diesem Punkt verknüpfen sich die Geschichte des Kapitals und die der Arbeiterbewegung vielleicht am stärksten. Weil man den absoluten 'Mehnvert nicht endlos erho' hen kann (der Tag hat nur 24 Sttmden) und weil man die Proletarier nicht von Luft und Liebe leben lassen kann, kann das Kapital die Mehrwertrate nur durch Steigerung der Produktivität erhöhen. Allerdings versucht jeder einzelIU~ Kapitalist, den eigenen Profit zu erhöhen, indem er die Arbeitskraft unterbezahlt oder übennäßig einsetzt, d.h. indem er gegen das verstößt, was daS ARm 'MENT SONDERRAND Nl~1 \f. FOI.GE AS 155
Drei Krisen
45
W~sen eines florierenden
kapitalistischen Regimes ausmacht gegen rechtSC affene Warenbeziebungen, Von da an ist der Klassenkampf mittels Forde:gen nur der K~pf ein~r Partei, die. den kapitalistischen Markt d~l nu~zt, Gegner zu zwmgen, rucht »über dIe Stränge zu schlagen« und die Splel~~geJn einzuhalten. Und wie wir wissen, ist das Mittel, das die Gesellschaft ~ eWUsst(~ gegen Missbrauch ihres eigenen Organismus einsetzt, die politische s~ -m diesem besonderen Fall die Arbeitsgesetzgebung. ~lr sehen also, wie eine bestimmte Art des Kampfes der Arbeiter Gestalt ~t, ~er. genau die kapitalistischen Produktivkräfte »entwickelt«. Sein wektesZlel 1st, den normalen Preis und die normale Nutzung der verkauften di are d~chzusetzen. Sein Hebel ist der Eingriff auf gesetzlicher Ebene, die d e Partiellen Errungenschaften verallgemeinert und die unerwünschten Folgen sc~ l(onkurr~ unterbindet. Sein ~rgebnis i~tdie Entwicldung der kapitalistiArbe~Produktivkräfte: »Sobald die allmähllch anschwellende Empörung der . ~Iterklasse den Staat zwang, die Arbeitszeit gewaltsam zu verkürzen und ~Chst der ei~entlichen Fabrik e~en Normalar~eitstag zu diktieren, von V~em AugenblIck al~o, wo ?estelgerte Produktion. von Mehrwert, durch l? _l~genmg des Arbeitstags em für allemal abgeschnitten war, warf SIcb das "~PltaJ mit aller Macht und vollem Bewusstsein auf die Produktion von r,elati~e! Mehrwert durch beschleunigte Entwicldung des Mascrunensystems.« \!VmW 23,432)
ti Diese Erwägungen ermöglichen es Marx, vor dem Generalrat der Intema~ onale die RoUe und die Grenzen des gewerkschaftlichen Kampfes in überZeugender Weise zu bestimmen: un~[·:·] der periodische Widerstand der Arbeiter gegen eine Lohnherabsetzung dur Ihre periodi~ch sich wiederholenden Versuche, eine, Lohns~eig~rung F Ichzusetzen, [smd] untrennbar [... ] vom Lohnsyst,ern und eme gebietensehe o ge eben der Tatsache [... ], dass die Arbeit in die Kategorie der Ware ver· ~d daher. den Gesetzen ~terworfen ist die die allg~eine Bewegung SO .Pre~se regulIeren. [.. ,] Was die Beschränkung des Arbeitstags angeht, [... ] N Ist sle~e anders als durch legislative Einmischung erfolgt. [... ] ~ben die~e s ?twendlgkeit allgemeiner politischer Aktion liefert den BeweIS, dass m f~~c:r re~ Ökonomi.schen Aktion das K~pi~ ~er stärkere T~il i~t. [... ] dass es sc~Ch. die allgememe Tende~ der kapitalistischen Produktion 1st, den durchd ttltchen Lohnstandard mcht zu heben, sondern zu senken oder den Wert ef n A,:beit mehr oder weniger bis zu seiner Minima/grenze zu drucken. Da die Ten~enz d~ Dinge in di,esern S~stem solcher Na!W' ist, besagt das l(a~' dass di~ Arbelter~asse auf ihren WIderstand ge~en die Ge":,alttaten des c PJtals vemchten und ihre Versuche aufgeben s01l, die gelegenthchen Chanen zur vorübergehenden Besserung ihrer Lage auf die bestmögliche Weise Us2Ilnu ; tzen? Täte sie das, sie würde degradiert werden zu einer unterschiedsOSCn Masse ruinierter anner Teufel, denen keine Erlösung mehr hilft. [... ]
:2t
e:
ARGUMENT SONOERBANO NEUE FOLGE AS 2'~
Drei Krisen
46
1 t I
Würden sie in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital fei~e I nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, lr~ ! gendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen. Gleichzeitig [... ] soUte die Arbeiterklasse die endgültige Wirksamkeit dieser tagtäglichen Kä.Jl1pfe i nicht überschätzen. Sie soHte nicht vergessen, dass sie gegen Wirkungetl ! kämpft, nicht aber gegen die Ursachen dieser Wirkungen; [... ] Sie soUte b~- \,'. greifen, dass das gegenwärtige System bei all dem Elend, das es über s1e . verhängt, zugleich schwanger geht mit den materiellen Bedingungen und ~ gesellschaftHchen Fonnen, die für eine ökonomische Umgestaltung der Gese schaft notwendig sind. Statt des konservativen Mottos >Ein gerechter Tage' lohnfür ein gerechtes Tagewerk!<, sollte sie aufitrr Banner die revolutionäre Losung schreiben >Nieder mit dem Lohnsystem !( « (Lohn, Preis und Profit) I
(MEW 16, 147ff.)
Bevor wir fortfahren, ist festzuhalten, dass diese letzte Unterscheidung nicbt eine zwischen »rein ökonomischem« Kampf und »politischem Kampf« iS,t, denn der Kampf um den »normalen« Arbeitstag ist notwendigerweise eUl politischer Kampf lIDd hat genau den gleichen Stellenwert wie der LohnkatIlPf. Marx spricht vom Kampf gegen die »Übergriffe«, Engels benutzt das glei~b~ Wort~ um die Beziehung zwischen dem kapitalistischen Staat und den indiVl" duellen Kapitalisten zu bestimmen. »Übergriffe« - was heißt das? Es bedeutet die Überschreitung der Nonn, nicht um sie aufzuheben, sondern um sie zutt1 eigenen Vorteil zu verschieben. Das ist das tendenzielle Verhalten eineS privaten Akteurs in der Welt der Konkurrenz. Natürlich verhindert nur der Widerstand der Konkurrenten und der Partner auf dem Markt diese Übergriffe, der Staat kann höchstens die vereinbarten Normen stabilisieren und garantie" ren. Aber der Widerstand gegen Obergrifje ist kein Kampf gegen das Syste!Jl der Nonnen, im Gegentei1 spielt er seine Rolle im Zusammenwirken der »Zwangskräfte«, zu denen das Wertgesetz gehört: Er zwingt die Kapitaljst~n dazu, wirkliche Unternehmer zu sein und nicht bloße Rentiers. Kurz: die Arbeiterklasse entwickelt die Produktivkräfte des Kapitals, indem sie sich als kapitalistischer Händler ihrer eigenen Arbeitskraft verhält. In dieser Rolle ist die Arbeiterklasse nichts anderes als ein Moment der Struktur der Produktionsweise: Sie bildet eine »Klasse an sich«. Dieser Eigen" schaft als Klasse an sicb entspricht folglich eine organisatorische Fonn für eilte Klasse (die nichts anderes ist als eine Ansammlung von Individuen), nOCh genauer einer bestimmten Form der Organisation (der Gewerkschaft), ve:" doppelt in einer politischen Repräsentation (der Sozialdemokratischen Part~l). Diese historische Fonn des Zusammenschlusses der Arbeiter ist also ettle erzwungene Fonn. Sie ist nicht die Form einer Klasse, die eine neue W~1t begründen wiH, sondern die einer gesellschaftlichen Kategorie, die sicb tß einer feindlichen Welt verteidigt. Das erklärt Gramsci in der Turiner Zeitung L 'Ordine nuovo, wenn er die Gewerkschaft den Räten und Sowjets gegen" ARGtJMENT SONDERBAND NEUE F01..GE AS 255
L_;
------~~
Drei Krisen
überstellt (die im revolutionären Europa von 1917 bis 1922 ihre Blütez·eit hatten): '
de;In~er be~gt~n ~eriode war die prolet~sche Bewe~g nur eine F~ion
.frelen kapItalIstIschen Konkurrenz. NIcht aufgrund mnerer, sondern außerer Gesetze mussten die proletarischen Institutionen ihre Form annehmen, ~t~r dem mächtigen Druck der Ereignisse und unter dem Zwang der kapita~:schen Konkurrenz.« (Gramsci, Die Eroberung des Staates, 12. Juli 1919; 1967,30; L 'Ordine nuovo, 1987, ]28)
de»In g~~ssem Sinn kann man behaupten, dass sie integrierender BestandteiJ r kapItalistischen GeseUschaft sind und eine Funktion haben, die dem Regi-
~e des Privateigentums inhärent ist. In dieser Epoche, in der Individuen nur
;.SOfem Geltung haben, als sie. Eigentümer von Waren sind und mit ihrem dilgen~ handeln, haben auch ~e Arbeiter dem eh~men Finnen< akkumuliert, haben diesen eno~en PParat der Konzentration sich abplagender Körper geschaffen, haben PreIse lind Arbeitszeiten durchgesetzt und den Markt diszipliniert. Sie haben von aUßen und aus ihrer Mitte vertrauenswürdiges Verwaltungspersonal gewonnen, das in diesem Metier der Spekulationen erfahren ist, die Marktbedingungen beherrscht, fähig ist, Verträge zu schließen, die kommerziellen Risiken :~~wägen, ökonomi~ch nützlic~e Schritte in die Wege zu lej~en. Die Natur .. Gewerhchaften Ist wesentfleh vom Konkurrenzsystem, mcht vom Kom;unismus geprtJgt. Die Gewerkschaft kann kein Werkzeug der radikalen rn,euerung der Gesellschaft sein... « (Gramsci, Gewerkschaften und Räte, I I. ttober 1919; PdP 1967,41; L 'ordine nuovo~ 1987, 237f. - Herv. AL) Und an anderer Stelle schließt er mit den radikaJen Worten: »Die GewerksChaftSbewegung hat sich als nichts anderes als eine Form der kapilalisti~hen Gesellschaft. nicht als potenzielle Überwindung der kapitalistischen Nesellschqfi erwiesen.« (Gramsci, Gewerkschaftsbewegung und Räte, 8. Ovetnber 1919; L 'ordine nuovo, 1987,298 - Herv. AL)
o
Also: Kein Verrat, die Trauer ist unbegründet ... Die Frage des Staates und die Krise der dre.ijJiger Jahre
All~h Wenn die
Gewerkschaften eine Indexierung der Löhne an die Preissteigerungen durchgesetzt haben, bleibt offen, ob sie damit auch eine Indexienu:g der Kaufkraft an die Produktivität erreicht haben. Denn die Ökonometrie zeigt lediglich, dass nach der ersten großen Krise die Kaufkraft in den Depr~ssionsphasen nicht mehr so stark sinkt, wie sie in den Phasen des Booms ;tetgt (Boyer 1977). Die Indexierung an die Produktivität ist aber eine andere aChe, Dazu muss man nicht nur gegen die» Übergriffe« der Preiserhöhungen ARGUMENT SONDERBA.T\lD NEl'E fOLGE AS 255
~-._-
•
~
I
'.!; .' , ,,!r
, liJl' 'j: .
'
~
-
--
-
....
_- -----
, :J1.
Drei Krisen
48
kämpfen, sondern man muss sie antizipieren (besonders hervorzuheben!), ut:n sich einen Teil der Produktivitätszuwächse anzueignen. Hier ist ein theoretischer Einschub nötig. Gegen die übergriffe zu kämpfen, setzt eine Norm voraus, die die Aufteilung der Wertschöpfung regelt, also ein~ Norm für den Wert der Arbeitskraft. Man kann diese Norm jedoch auf zwei Weisen bestimmen: durch den Wert der Waren, die man mit dem Lohn nonna~ lerweise kaufen kann, oder durch einen normalen Anteil an der Wertschöp· fung. WeM die Produktionsnormen sich info]ge einer Erhöhung der Produktivität verändern, führt die erste Norm zur Senkung der zweiten (und damit ZUJ? Erscheinen des relativen Mehrwerts). Gibt es jedoch eine marxistische Theol1e . der Konsumtionsnorm der Arbeiter? Eine delikate Frage. Es existieren im Kapital Formulierungen, die eine Unabhängigkeit der Geschichte der Konsumtionsnonn der Arbeiter (die it11 sechsten Kapitel als »historische Gegebenheit« angenommen wird) von der Geschichte der Produktionsnonnen suggerieren. Sobald Marx jedoch diese Frage genauer untersucht, behandelt er zwei Mechanismen, die heide eine vorübergehende oder endgültige Rückgabe eines Teils der Produktivitäts.. zuwächse an die Arbeiter implizieren. Der erste (im zwölften Kapitel deS Kapital, jenem über den relativen Mehrwert) zeigt, dass in einer konkunen~ zieHen Regulation ein innovierendes Unternehmen seine Preise senken mUSs, um Marktanteile zu erobern, und dass die anderen ihm folgen müssen.Mind~· stens vorübergehend also profitiert der Konsument, möglicherweise ein Arbet tef, von den Produktivitätszuwächsen, und Marx schlägt keinen Mechanis(llUS vor, der notwendig die vorhergehende Kaufkraft wieder hersteHt. Dies erklärt zweifellos, warum es am Ende des 19. Jahrhunderts die Tendenz gibt, dass die Arbeiterklasse ex post ihre Produktivitätszuwächse dauerhaft zurückerhält. Marx spricht jedoch wiederum in Lohn, Preis und Profit von der Möglich~ keit einer Antizipation: Eine durch den Kampf ex ante erreichte Lohnsteige~ rung führt zu einer Ausweitung des Marktes, einer Erhöhung der Produktivität und schließlich zu einer Senkung des Werts dessen, was gekauft wird, d.h . .zu 17 einer Wiederherstellung ex post der Aufteilungsraten der Wertschöpfung. Marx läßt sich sicherlich durch den kämpferischen Charakter des TexteS mitreißen, aber (hier endet unser Einschub) nichts verbietet theoretisch, dasS dieser Antizipationsrnechanismus so allgemein wird, dass er ein Wachstum der Massenkonsumtion entsprechend den potenziellen Produktivitätszuwäcbsen garantiert. Nichts davon passiert, wenn nicht durch die Konkurrenz zwischen den Kapitalisten. Damit sich die Antizipation veral1gemeinert. damit die neue #
17
In seiner guten Einfuhrung zur neuen Übersetzung, die im VerlagMessidor (paris 1985) erschienen ist, betont Duharcourt leider nicht, dass man in diesem bedeutenden Te}tt (der aus dem Jahr 1865 stammt) den ersten Entwurf einer Theorie der miteinander verbundenen Entwicklung von Lohnnorm und Produktivität findet.
ARGUMENT SONJ)ERBAND NEIJE fOLGE AS 2SS
Drei Krisen
49
Nonn ZU einer festen Aufteilungsrate werden kann, ist es notwendig, dass sie aUch allen miteinander konkurrierenden Unternehmen aufgeZWlUlgen wird. ~urz, es braucht mehr als eine Finnengewerkschaft: Notwendig sind Tarifverembarungen aufBranchenebene, es braucht den Staat. Die entstehende Arbei~~ewe~g i,st j~doch geg~n. den Staa~, und die IIJ. Intern~ti~nale, deren .lbel Leruns nemhch anarchisnsche Schrift Staat und RevolutlOn 1st, erwartet Il1chts vom bürgerlichen Staat. 18 »Die Verstaatlichung des Wirtschaftslebens, gegen die sich der kapitalisti~he Liberalismus gewehrt hat, ist zur festen Tatsache geworden. Zur liberal~n ;onkurrenz und selbst zurück zur Herrschaft der Trusts zurückzukehren ... 1st lUcht mehr möglich. Die einzige Frage ist, wer wird die verstaatlichte Wirt~haft steuern: der imperialistische Staat oder der siegreiche proletarische taat?« Wer spricht? Einer von den Operaisten? Ein extremer Vertreter der ~eorie ~es. staatsmonopolistischen Kapitalismus? Nein, de~ 1. Kongre~s der ?nunurusnschen Internationale (im Jahr 1919!). Und dle InternatIonale ~ederholt im Jahr 1928 noch }}Die Tendenz der verschiedenen Frakti . . einmal: Ollen der herrschenden Klasse zum Zusanunenhalt bringt die großen Massen ~s Proletariats in einen Widerspruch nicht zu einem isolierten Unternelunens;ter, sondern immer mehr zur gesamten Klasse der Kapitalisten und ihre~ taat.« Es gehört sicherlich Genie dazu, die Tendenzen eines gesellschafth~hen Verhältnisses in seiner Entstehung zu erkennen, Kennzeichen des Sub-Jekti~smus ist es jedoch, alle zehn Jahre zu behaupten, dass die Tendenz endJlch veIWirklicht ist, und dabei aUe anderen Aspekte der Realität zu vergessen ... Aber der Subjektivismus der IIT, Internationale kann uns noch etwas anderes lehren. taIZunächst i~t si~ der An~ic~t, dass der ~terventionsstaat als S~aat des ~api L' f) notwendig em faschisttscher Staat 1St: Das Ende des WIrtschaftlIchen lheralismus ist gleichzeitig das Ende des politischen Liberalismus. Man findet genau das gleiche Thema in der Theorie vom »starken Staat«, der ~otikistiscben Version der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus. atill,erdem der Int~~entions~taat oft auf ein Perso~al zurückgr~ift? das aus n »linken« 0pposlhonsparteten stammt (der Sonaldemokrahe m Norde~~p~ der Demokratischen Partei in den USA), identifiziert die KommuIlJsttsche Internationale diese Parteien schneI] als den })linken Flügel des FaschisllIus«. . Und doch betont die Kommunistische Internationale, wenn sie die Tendenz ~ ~taatskapitalismus feststent, gleichzeitig die »Verspätungen« bei der eTWirklichung dieser Tendenz. Je mehr sich in der UdSSR das Modell des realen Staatskapitalismus durchsetzt, das man als »Sozialismus« präsentiert, Utnso mehr wird - so könnte man sagen - die nacb wie vor bestehende An-
d:
-----------------------la
Z um Folgenden siehe LecJercq (1977). ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
, ,,,
.,.
Drei Krisen
50
archie des Marktes zum Maßstab, an dem die Mängel des Kapitalismus gemessen werden. Und das ist nur natürlich, denn der Marxismus der ur. Inter· nationale akzeptiert jetzt endgültig den Taylorismus als das Nonplusultra der sozialen Organisation innerhalb der Produktionseinheiten. Die Fortdauer dieser Anarchie zu betonen wird umso dringender, als die Sozialdemokratie in Deutschland auf dem Kongress von Kiel (im Jahr ] 927) unter dem EinflusS von Hilferding ein Konzept des »organisierten Kapitalismus« verabschiedet, das den Schrittmacher des friedlichen Übergangs zum Sozialismus darsten~o soll. Nach dieser Theorie breiten sich die Tendenzen zur Organisation, die innerhalb der Unternehmen wirksam sind, auf die gesamte Ökonomie aUS· Aufgrund der demokratischen Spielregeln führen sie zur »bewussten gesel~" schaftlichen Regelung der Wirtschaft«, die »auf einer kapitalistischen BastS die Anarchie der freien Konkurrenz, die dem Kapitalismus inhärent ist, über" winden« könne. Es ist jedoch bekannt, dass für die sowjetischen ÖkonoIIlen die »bewusste Regelung der Ökonomie« fast schon die Definition des Sozialis" mus ist. Das ganze Problem für die Kommunistische Internationale ist also zu be" weisen, dass es der Sozialdemokratie nicht gelingen wird, diese »beWUSste Regelung« durchzusetzen. So betont sie nachdrücklich den Misserfolg der Versuche des rooseveltschen New Deal und insbesondere den Misserfolg des National Industrial RecoveryAct, der von einer Koalition von Privatintere~1l abgeschmettert wurde. Man muss sich darüber klar sein, wovon eine derarttge Kritik ausgeht. Dem Kapitalismus den Misserfolg des N.l.R.A. vorzuwerfen, bedeutet anzunehmen. dass die Verstaatlichung eine gute Sache ist und ~. genau sie im Kapitalismus nicht machbar ist. Diese Sichtweise ·findet man Ul der Analyse des New Dea] durch Baran und Sweezy (1973) wieder und schließlich bei den deutschen Theoretikern der »Staatsableitung«. . Kurz, zu Beginn der großen Krise der Regulation in den dreißiger Jahren 1St die theoretische Position der Kommunistischen Internationale bezüglich der Einschränkung der Anarchie des Marktes durch den Staat unhaltbar geword~n. »Sie ist bereits erfolgt und kann zudem nur faschistisch sein, und übrigens Ist sie unmöglich, da nur der Sozialismus sie durchsetzen kann ... « Sie würde jedoch übereinstimmen sowohl mit strategischen Zielen der Arbeiterbewegung (Befreiung von den blinden Kräften der Konkurrenz, vernünftige BeherrschUllt; der gesellschaftlichen Produktion) als auch mit den unmittelbaren Interessen der Arbeiter (denn es darf nicht vergessen werden, dass die Kapitalisten ,,~tl der Konkurrenz zwischen den Arbeitern - durch Senkung der Löhne - profi?e" ren können, während die Arbeiter unter der Konkurrenz zwischen den KaPlW" listen - durch die Entlassungen ~ zu leiden haben) und schließlich liegt auch.irO mittelfristigen Interesse des Kapitals (was auch eine Verkürzung des ArbeIts" tages ennöglicht).
AROUMF..NT SONDERDAND NEUE FOLGE AS 2.55
i
!.,
Drei Krisen
51
:d
, Richtig ist, dass sich während der Zwischenkriegszeit zwischen Liberalen Konnnun~stenzwei Version~ der monopolistischen ~egulation gege~ erstehen. DIe erste, »demokratIsche«, überlässt der ArbeIterbewegung dIe ~an.ze Autonomie (wie im Übrigen den privaten Arbeitgebern auch): Das ist d e sOzialdemokratische oder rooseveltsche Version. Sie setzt sich schließlich brch und mit ihr das Akkumulationsregime, das sich auf den Massenkonsmn Thr gegenüber stehen jedoch verschiedene Varianten der korporatisti~C: e~ Re~lation, von den faschistischen (Italien, Deutschland, Portugal, 8JUen) bIS zu den populistischen (Mexiko, Brasilien, Argentinien) Lösungen. ~se ~egulation.s~eise, di~ die gesensc~aftlich~ Nac~ge stabilisiert, ohne S :s die PrOduktlVltätsgewrnne notwendigerwelse von emer entsprechenden s~Igerung der Massenkaufkraft begleitet werden, kann Akkumulationsregime h tzen, die. auf einer gesellschaftlichen Polarisierung oder Militarisienmg p~en (Ritler), bzw. Regime mit Importsubstitntion (Cardenas, Vargas, ~on), wob~j ~e faschistischen Varianten in Südeuropa Zwi~chenfonnen ~ st~llen. Ern Ubergang von der einen zur anderen Variante bleIbt durchaus ~0g11Ch, und die »Neo-SozialistenH haben ähn.1ich manchen französischen V~ChnOkraten diese Möglichkeit nicht versäumt, als sie sich dem Regime von lchy anschlossen. ~ir ,~erden hier nicht die intensive Debatte wiedergeben, die schließli~h ij ffihrte~ dass sich die gesamte Arbeiterbewegung dem Kampf für em di~h~nn.aß monopolistischer Regulation anschloss. 19 Im Jahr 1945 ge~ü~e es, V .EmfUhrung des Wohlfahrtsstaates, des Mindestlohns, der verbmdbchen .eral!gemeinerung der KolJektivverträge als »soziale Errungenschaften« (was ~':"Ir~iCh sind), ja sogar als »Einfiihrung sozialistischer Elemente in den W~~smus«. (was fragwürdiger ist) zu proklamieren etc. d le Lnl Fall der Anerkennung der Gewerkschaftsbewegung hat der Kampf der Arbeit~bewegung für die Befreiung von einer der W1~g~neh~sten Folge,n er Funktionsweise des kapitalistischen Systems in Wrrk1lchkelt dazu bel:e~gen, dass eine neue Regulationsweise dieses Systems verwirklicht wurde ~eses M~1 ein~ eher fortschrittliche, Und wieder geschieht d~.es ~t der S sgabe emer ZIelsetzung des Bruches: der Zerstönmg des »burgerhchen ntaates«. Ganz zu schweigen vom Verzi·cht auf den Kampf zur »Wiederaneigung des Werkzeugs, der Maschine«.
i,tzt.
ti-
D' le gegenWärtige Krise Wld die Frage der Einbindung
Es .
. 1st
offensichtlich nicht möglich auf die gegenwärtige Krise denselben
retros .kti ' W· \Vi pe .ven Blick zu werfen wie auf die beiden vorausgegangenen. . rr ssen nicht, wie die Krise ausgehen wird, mtd daher auch nicht, welchen
---------~--Frankreich siehe Kuisel (1981). 19 F~
Ur
AROI,JMENT SONDER.HAND NEUE FOLGE AB 2S~
""
.
Drei Krisen
52
Beitrag die Arbeiterbewegung dazu leisten wird. Man kann jedoch die Probl~ me bestimmen, die die Herausforderung darstellen. Da wir wissen, dass die sinkende Rentabilität desF ordismus und die internationale Freihandelskonkurrenz einen Ausweg aus der Krise durch Förderung des Konsums verbieten,20 sind mindestens die folgenden Probleme zu lösen: ., Die Produktivitätsentwicklung muss wieder in Gang gebracht werden, obn~ den Anstieg der organischen Zusammensetzung des Kapitals zu beschleUßlgen. • Über die Verwendung dieser Produktivitätszuwächse muss entschieden werden (für Luxusgüter, für Investitionen, für den Massenkonsutn. zur Senkung der Arbeitszeit?). • Für die Krise des Wohlfahrtsstaates muss eine Lösung gefunden werden (durch eine beschleunigte Sozialisierung der Einkommen oder durch J{~. zung von Sozialleistungen und produktive Verwendung dieser Mitte) ror gemeinnützige Arbeiten?) . tn • Formen der internationalen Regulation müssen erarbeitet werden mit de Ziel einer Reform des Ge1dsystems und einer Neuordnung der Freihandels~ zonen für Waren und der Zonen mit homogener Sozialgesetzgebung (durc einen geregelten Protektionismus oder durch die Ausarbeitung einer traßs" nationalen Sozialgesetzgebung?) . . Die letzten drei Punkte werfen für die Arbeiterbewegung enonne, jedoch rocbt völlig neue Probleme auf. Der erste dagegen fordert sie zu einer vollständigen Kehrtwende ihrer bisberigen Richtung heraus, auf die wir einige SchlUSS· bemerkungen beschränken wollen. . Zunächst wäre es falsch zu behaupten, die Arbeiterbewegung hätte die Kämpfe um die Arbeitsorg3nisation ignoriert. Der Beginn der tayloristiscben Offensive ist von von großen Verzögerungskämpjen von Seiten der Fach~ arbeiterschaft: so die Streiks bei Renault 1913 Wld der »Stechuhrenstreik« bei Fiat 1920. Die anarchowsyndikalistische bzw. leninistische Arbeiterbewe~g fordert die Emanzipation der Arbeiter im Namen ihrer tatsächlichen Fähigkelt, den Produktionsprozess zu beherrschen. Die Existenz einer Qualifikations" hierarchie wird sogar von Gramsci nicht bestritten, ist doch der Gesamtarbeitef der Träger dieser Herrschaft: »Jeder ist unentbehrlich, jeder ist an seinem Platz, Wld jeder hat eine Auf" gabe und einen Posten. Bis zum unwissendsten und zuruckgebliebensten der Arbeiter, bis zum angeberischsten und >dandyhaftesten< der Ingenieure, alle werden schließ1ich überzeugt von dieser Wahrheit durch die Erfahrung der Organisation der Fabrik: Alle erreichen schließlich genügend kommunistischeS Bewusstsein, um zu erfassen, welch großen Fortschritt die kommunistisch~ t Wirtschaft im Vergleich zur kapitalistischen Wirtschaft darstellt ... « (Grarnsc ,
20
Siehe zum französische Beispiel Lipietz (1984).
ARGUMENT SONDERBAND NEL'f. FOLGE AS 2.55
Drei Krisen
53 .
7ewerkschqften und Räte, ]0. Oktober ]919; PdP 1967,42; L 'Ordine nuovo, . 987, 238f) «Der Arbeiter kann sich selbst Dur als Produzent vorstellen, I~detn er sich als Wltrennbarer Teil des gesamten Arbeitssystems versteht, das ~:h i~ dem .herges~el1ten Objekt vergegenstän~icht, wenn er in ~ch die ~inIt dieses mdustriellen Prozesses fuhlt, der die ZusammenarbeIt des Hilfs~beit~rs, des Facharbeiters, des Verwaltungsangestellten, des Ingenieurs, des ~hnIschen Direktors erfordert.« (Gramsci, Gewerkschaftsbewegoog und te, 8. November 1919; L'Ordine nuovo, 1987,298) } Notwendig ist jedoch, dass der Facharbeiter als der zentrale Kern dieses >b'oduktiven sozialen Blocks« nicht zwischen dem »Rückständigen« Wld dem ; ~dy~( aufgerieben wird. Tatsächlich stellt dieser Facharbeiter mit seinen liähigkelten zur Selbstverwaltung den Kern der Arbeiterorganisationen, das ~rz der sozialen Bewegungen dar, bis hin zu den Streiks 1936 in Frank~Ch - die »Seele unseres Landes«, wie Arletty sagt?! Aber mit dem Triumph s Fordismus nach dem Zweiten Weltkrieg scheint die Arbeiterbewegung den tarnpf gegen die kapitalistische Reorganisation der Arbeit aufzugeben. hi:ensei~ der den ~inzelnen Ländern je ~igenen Gründe (un~ ~ stützen uns .r auf die französische Erfahrung) schernt es, dass der »fordisnsche Kompro~ ~8S« ausreichte, mn die Kritik an der Tay10risienmg zu entwaffuen, zwninest auf gewerkschaftlicher Ebene. 22 Denn bereits in den sechziger Jahren "e~elfachen sich die spontanen Kämpfe gegen die Entfremdung der par2:e~lert~n Arbeit, gegen die Arbeitsintensität, gegen die Tyrannei der »wissen~ afthchen Arbeitsorgarusatiou«. Aber diese diffuse Revolte e~det immer ~t erhandlungen über I..ohnerhöhWlgen (oder fonnelle UmgruPPIerungen), WIe :ed~ for~stischen Kompromiss ~tspric~t. Die V ~einbarung ~on Gren~l!e, auf IIn Juru I ~68 de~ grö~ten Arbelterstr~ik aUer ZeIt~n ~eschh~ßt, bestätigt rn spektakulare Welse diesen Kompro11llss: volle FreIheIt filr dte Unternehrn~r hin~ic~tlich der Arbeitsorganisa~on, aber geg~n die Beendi~g der häl n~b~schen (und gewerkschaftltchen) Regulation des Lolmarbeltsverb .tnisses m seinen anderen Dimensionen (Entgelt, Arbeitszeiten, Regelung Cl Entlassungen).
--------~------21
~~ in ei~em I~terview mit de~. Zeitschrift T~Jerama (!u1i
:1.1
1985? I? der Tat si~d, d~e harbcncr dle Seele des »politIschen und SOZIalen Rea11smUS«t dIe diese Schauspl1elenn Verkörpert ~e Gewerkschaften haben sich zum gleichen Zeitpunkt mit dem Taylorismus abgefunen und mit dem Staat versöhnt. Die »refonnistischen« amerikanischen (Nelson 1984) ~~~ fr~~sischen Gewerkschaften (Mout~ 1984) ~eptierten i~ als »F~rtschritt der E.onabtät« und daher als QueUe zukünftiger SOZIaler Fortschritte bereits Ende des rISten Weltkriegs. Die revolutionären Gewerkschaften, die mit der m. Internationale Verbunden waren, zögerten länger (wegen der Anarcho-Syndikalisten in ihren Reihen) Und schlossen sich dann in den dreißiger Jahren an - mit der doppelten Begründung, dass den Fortschritt nicht aufhalten könne und dass das dem Facharbeiter, der Basis des fOnnismus, ein Ende bereiten werde. (RibeiD 1984)
.::n
ARGUMENT SONDER BAND NEUE FOLGE A.S l!15
,
:.
;
. I'
,
Drei Krisen
54
Diese Neigung zum Paradox beleuchten Damele und Robert Linhart (1985) fo1gendermaßen: • die Anerkennung des Kaufkraftindexes als bevorzugtem Maßstab des sozia1en Fortschritts, • der Glaube an die Neutralität der Produktivkräfte Wld die technische überlegenheit des Taylorismus, die selbst Lenin bestätigt (Linhart 1976), • die prinzipielle Position, nach der die Arbeiterbewegung die Untemehtner~ schaft nicht bei der Produktionsorganisation zu unterstützen hat (die letzte Spur der Verweigerung gegenüber BabyIon, obwohl die Arbeiterbewegung bereits bis zum Hals in der Mitbestimmung der Gesellschaft versunken ist!), • soziologische und institutione1le Faktoren, die für Frankreich zu dieget1l Zeitpunkt spezifisch sind (die Unnachgiebigkeit der Untemehmerscbatl bezüglich der jruistisch geltenden Machtgrenzen sowie das Fehlen VOll gewerkschaftlichen Betriebsgruppen). . Ich erlaube mir, noch einen anderen Grund anzufiihren: Der Fordismus hat die Facharbeiter niemals vollständig ausgeschaltet ood die Stabilisierung dies,e~ Kerns, der die direkte Basis der Gewerkschaften (insbesondere der CG! bildete, war selbst Bestandteil des Kompromisses. Ein Kompromiss, der au~h auf Macht beruhte, denn die Facharbeiter wurden mit der Anleitmlg der e~~ fachen, ange1ernten Arbeiter betraut (direkter noch als die )}Vorzeigearbet ter«). Hinzu kommt die Spaltung zwischen Facharbeitern und angelernten Arbeitern, die oft eine ethnische Spaltung überlagert: Verständlich wird so, warum die Gewerkschaftsorganisationen die Revolte der Angelernten gegell den Taylorismus kaum aufgegriffen haben. 23 .' Seitens der angelernten Arbeiter ist die Situation vielschichtiger. Denn die })wilden« Zornausbruche gegen die Arbeitsorganisation dürfen nicht darü~ hinwegtäuschen, dass in ruhigen Zeiten die Einbindoog der bewussten Tätig" keit auch des dem Taylorismus am meisten untelWorfenen Arbeiters (oder der Arbeiterin) immer eine stillschweigende Zustimmung erfordert, um die ~.. umgängliche Unzulänglichkeit der Vorgaben des Büros für Arbeitsvorbereltung auszugleichen. Diese implizite Einbindung ermöglicht es den Arbeitern, sich se1bst ihre Würde und sogar die Überlegenheit ihres praktischen WissetlS gegenüber den Vorgaben (»the one best way«) zu beweisen. Eine »parado"e Zustimmung«, wie die Linharts sagen. Aber eben diese Zustimmung - von den einen wegen ihres Charakters verheimlicht, von den anderen deswegen ver" leugnet - dieses klandestine Know-how, diese-implizite Einbindung kann nicht für die wissenschaftliche Arbeitsorganisation systematisiert werden. Sie kaDfl weder zur Verbesserung des gesamten Produktionsprozesses mobilisiert werden (weil sie gerade durch den Fordismus atomisiert wird) noch zur syste..
23
In Italien dagegen versuchten die Gewerkschaften, die Bewegung zu kan.alisieren, und brachte dazu das Konzept der »Professionalität« von Gramsci wieder ins Spiel.
ARGUMENT SONDERBM'D NRTE FOLGE AS 255
J
Drei Krisen
" .,'
I '
55 ,~
JUatiSChen Verbessenmg der Funktionsweise von Maschinen. Das genau ist es. w~ den Fordismus abwürgt: »Der Schlendrian des konstanten Kapitals« ZWischen zwei elementaren Operationen (in den Worten von Zuscovitch) der m~g~lnden Flexibilität des !1ießbandes: Von daher die Ennatdi g der ProduktiVltätszuwächse trotz steigender Kap1talzusammensetzung e Wurzel der deneitigen Krise. KaD~e )~e]ektronische Revolution« löst dieses Problem zwar nicht, stellt das Pltal Jedoch vor eine Alternative. Entweder wird ein Ersatz für die »parado~e Einbindung«(. in die »Hardware(~ und »Software« ~orporiert (~eide si~d onstatltes KapItal), der es ennöghcht~ den »Schlendrian des Kapitals« em:SChr~en, indem dieses selbst intelligenter gemacht wird. Diese Lösung, e beI Flat in einer Situation gewählt wurde, in der die Einbindung zusam~ngebr~chen war, führte zu extrem kostspieligen Lösungen (vgl. SantiUi S ~5): Sle bedeutet, die Enteignung der unmittelbaren Produzenten auf die p1tze ZU treiben, indem jeder automatisierte Arbeitsplatz die Zuverlässigkeit einer Raumstation erhält Oder - und das ist der Weg, den die Japaner bevorZUgen (Aoki, 1985) und um den sie von der ganzen Weit beneidet werden Inan remobilisiert das Know-how fur das Unternehmens, indem es transparent Und systematisierbar gemacht wird. S In. diesem F~l befindet ~ich. aller~gs die Arbeiterbewe~g an einem I ~d~eg: .Nlcht nur hat SIe Sich dannt abgefunden~ von und m ~abylon zu e......u~ über die Früchte ihrer Arbeit zu verhandeln und vom bürgerlichen Staat ZU fordern, die Kompromisse zu sanktionieren; jetzt wird von ihr auch noch ~r;artet, mit ihre~ ganzen Seele ,an ,der ~erfekti.onie~g vo~ B~bylon bis ins fZ des Produktionsprozesses hinem mItzuarbelten. mdem ste Sich am Kampf llln Produktivität und Qualität beteiligt. Es SCheint, dass die Arbeiterbewegung einmal mehr - und nicht einmal :g~n ihrer extremen Schwäche - dabei ist, diesen entscheidenden Schritt zu l' ' In Frankreich wie anderswo. Alles wird selbstverständlich von den Gegen~ :lStungen abhängen, die man ihr anbietet. Und einmal mehr gebt es darum, ~en Kompromiss zu akzeptieren, der zwar mit den direkten Interessen der hOduzenten übereinstimmen kann und auch nicht inkompatibel ist mit dem e er strategischen Ziel, das der Arbeiterbewegung von ihren Gründervätem ZUgedacht wurde (die Wiedergewinnung der Herrschaft über ihre eigene SChöpferiSChe Tätigkeit), der jedoch auch das sehr große Risiko birgt, in einer endgültigen Hinnahme der Logiki des kapitalistischen Gesamtsystems zu münden.
:gl'und
Anstelle eines Schlusses »Dreimal träumte Randolph Carter von der wunderbaren Stadt Kadath«. erZählt H. P. Lovecraft Anfang di,eses Jahrhunderts in Die Traumsuche nach ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
,
Drei Krisen
56
dem unbekannten Kadath (1992). Und als er alle Hindernisse überwunden und Nyarlathotep, das Chaos, besiegt hatte, als er die wunderbare Stadt sah, der~ Dächer im Morgenrot glänzten wie eine Fontäne aus Gold und Purpur, a erkannte er Boston, die Stadt seiner Kindheit. War die Arbeiterbewegung dazu verurteilt, das Neue Jerusalem so lange ZU suchen, nur um zu erkennen, dass sie nichts anderes getan hatte, als um BabY· Ion herumzuirren? VieHeicht. Aber so wie Boston, bereichert durch die TräUme der Kindheit, nicht mehr das wirkliche Boston ist, so ist die Welt, an deren Aufbau di e Arbeiterbewegung sich beteiligen kann, nicht mehr die schreckliche Welt, in der sie von Manchester bis Säo Paulo in Schlamm \.Uld Blut entstanden ist. Es ist eine Welt, die die Arbeiterbewegung mit dem Opfer ibfer Märtyrer und dem Tatendrang ihrer einfachen Kämpfer umgestaltet hat. EIlt.. standen im Kapitalismus )>Unter gegebenen und überlieferten Umständen« (MEW 8, 115), kann die Arbeiterbewegung an der Seite der Frauenbew~gung, der nationalen anti·imperialistischen Befreiungsbewegungen und der Ok?10· giebewegung die menschliche Geschichte schreiben. ohne aus ihr aussteJg~n zu können. Dennoch ist es ihre Ablehnung der bestehenden Ordnung, die SIe fortschreiten lässt. Denen, die angesichts derartig magerer Fortschritte die Nase rümpfen. antworte ich, dass die »fortschrittlichen« Kompromisse, die sich als Ausweg aus der derzeitigen Krise abzeichnen, kaum mit größerer Gewissheit erkäIDpft werden, als der Sieg der Sozialdemokratie über den Faschismus im Jahr 1938 absehbar war, und dass das größte Risiko mcht mehr darin besteht, dass sicb eJ die Arbeiterbewegung nocbweiter integriert, sondern dass sie sich desint griert. Denen, die glauben, dass der Kapitalismus in jedem Fall neue Regu1a• tionsformen und ein neues Akkumulationsregime finden wird, halte ich en~" gegen, dass nach den ethischen Kriterien der Solidarität und der freien Kreatlvität, für die sich die Arbeiterbewegung seit ihren Ursprüngen einsetzt, nic~t alle diese Lösungen gleichwertig sind. Einige dieser Kompromisse öffnen eln Tor zur Zukunft, andere »große Gleichgewichte« zertreten mit eisernen Absätzen den Schrei der Unterdrückten. Wir teilen nicht mehr den »Fortscbrittsglauben«, die Ideologie, die den bürgerlichen Eroberern des 19. Jahrhunderts und den Konstrukteuren einer strahlenden Zukunft im Russland Stalins gemeinsam war. Wir glauben nicht mehr, dass die EntwickJung der Produktivkräfte gerechtere, vernünftigere und befreitere gesellschaftliche Verhältnisse hervorbringt. Aber wir glauben noch immer, dass es Fortschritte und Rückschritte gibt und dass es richtig ist, ru.r den Fortschritt zu kämpfen.
literatur Abendroth, W. (1965): Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung. Fra:nkfurt aJ11 Main. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
. Drei Krisen
57 .:
AC~ES (1917): Sur f'Etat. Brussels.
AgJ:a, M. (1976): Regulation et enses du capitalisme. Paris [englische Version: A
Ao . eory ofCapitalist Regulation. The US Expenence. London 1919.]. Iti, M. (1985): Learning by Doing versus the Bounded Rational Contro!. An Approach
~o US·Japan Comparison of Industnal Organisation. CEPR-Paper. University of Stanlord.
llar: P./Sweezy, P. (1913): Monopolkapitalismus. Ein Essay über die amerikanische D Irtschafts_ und Gesellschaftsordnung. Frankfurt am Main. 13taud, M. (1981): Histoire du capitalisme 1500-1980, Paris,
~lh~im~ Ch. (1914ff.): Les luttes des classes dans I'URSS, 5 tomes. Paris [deutsche
B erslon: Klassenkämpfe in der UdSSR. Band I. Berlin 1915.]. ~as~y, J.P. et al. (1977): Approches de l'inflation. L'examp1e franyais. CEPREMAP.
rans,
BOYer,. R. (]977); Les salaires en langue periode. In: Economie et Statistique. n° 103. Septembre. !oYer, R./Mistral. J. 1983): Accumulation, inflation, erises. Paris. U~Fran9ais, Y. (0.1.): Chemins de l'emaneipation. Du travail et de sa percepdon RU CEp. X siecle. lJniversite Paris XIII. MS. Dei llEMAP (1977): Approchesd,e l'inflation: J'exempJe fran9Ris. 4 tomes. Paris. darme, R./Andre, C. (1983): L'Etat et I'economie. Paris. ~antmollin> M.lPastre, O. (Hg.) (1984): Le Taylorisme. Paris. :ume de Bemis, G. (1977): Regulation ou equilibre dans l'analyse economique. In: Llchnerowicz 1977. DOckes, P.fRosier, B. (1983): Rythmes economiques. Crises et changement sodal. Une Gr Pers~tive historiqu~. P a r i s : . ... :~CI, A. (I 967): Philosophie der Praxts. Hgg. von Chnstlan Riechers. Frankfurt am
e
- am.
~SCi, A. (1987): L'Ordine Nuovo. 1919-1920. Tonno.
L:~I, R. (1981): Capitalism and the State in M~d~rn France. Cambridge..
Lee nola, A. (1974): Uber den historischen Matenallsmus. Frankfurt am Mam. [1899J
L . ~erq, y. (1977): La theorie de I'Etat et la II1c Internationale. In: ACSES 1977. Uenill, W.I: (I 914ff): Werke. Berlin(zit: LW).. . . L·ChneroWlcz, A. et 81. (Hg.) (1917): L'idee de regulatIon dans les SClences. Pans. t ~, R. (1976): Unine, les paysans, Tay1or. Paris. ~ D.lLinhart, R. (1985): Naissance d'un consensus. Couverture Orange CEPREL' . n° 8S 1S. Paris. l~P~etz, A. (1979): Crise et inflation, pourquoi? L'accumulation intensive. Paris. L~P~etz, A. (1983): Le Monde enchante. De la valeur al'envol inflationmste. Paris. l"'p1etz. A. (1984): L' audace ou l' enlisement. Sur les politiques economiques de 181 gauche. l" an s. Ipietl, A. (I985): Mirages et miracJes. Les problemes d' industrialisation dans fe tiers mOnde. Paris [englische Version: Miragesand Miracles. The Crisies ofGlobal Fordism.
t~OndonI981].
tPtetz, A. (I 986): Behlnd the Crisis. The Exhaustion of a Regime of Accumulation. In: L R.eView 0/ Radica/ Political Economy. Vol. 18. Nr. 1/2. Q\'ecraft, H.P. (J992): Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath. Frankfurt am
Main. [1939]
hfandel, E. e1981): Die langen WeUen im Kapitalismus . Eine marxistische Erklärung.
Ai Frankfurt am Main. 1lOt, KlEngeis, Fr. (1966ff.): Werke. Berlin (zit: MEW). ARGlJMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2.5S
i
b
58
Drei Krisen
\. Mazier, J. et a1. (1984): Quand les enses durent ... Paris. o MonUn de In: isme. Moutet, A. (1984): La premiere guerre mondiale et Je Taylor linIPastre 1984. Negri, A. (1978): La classe ouvnere contre }'Etat. Paris. de MonunolNelson, D. (1984): Le Taylorisme dans 1'industrie americaine, 1900-1930. In: linIPastre 1984. la rationalisaRibeill, G. (1984): Les organisations du rnouvernent ouvrier en France face a ti on (1926-1932). [n; de MontmollinlPastre 1984. . n° 8. (Juin). Santilli, G. (1985): L' automation comme forme de contrö}e social. In: Travail Wallerstein, 1. (1984): Der historische Kapitalismus. Berlin.
ARGUMENT SONDERBAND NEL'E FOLGE Al~ 255
Die POlitische Ökologie und die Zukunft des Marxismus
~ einer Zeit, in der die letzten Spuren von politischen Regimen oder sozialen ewegungen, die sich auf das Denken von Karf Marx beziehen, von der Erde verschwinden, macht es da noch Sinn, von der Zuktmft des Marxismus zu ~::~n? Ich r~e nicht von ~er Zukunft der Marxol?gie - Marx ~st, wie Ari,stotel ,In dem Smne unsterbhch, dass Intellektuelle immer von diesem und Jenem ernen können. Ich möchte viehnehr vom Marxismus in seiner Anwendung ~r;ec~en, als soziale Bewegun~, ~on der Methode des D~nkens, vo~ EnsemlC semer VorsteHungen, von eInIgen Grundhypothesen m den Schriften von d arJ Man.. Ich möchte über den Gebrauch seines Denkens als einem System praktischen Denkens reden, als einem Kompass, um sich in einer konde;ten Situation zurecht~finden, al~ L~itfaden zur praktischen V.erän~~rung Ök GeS~llschaft. Tatsächbch stellt sich 1m Abendland heute nur dIe polItIsche ft ologte aufs Neue als eine Bewegung dar, die sich mit B1ick auf die Trans~nnation der ~irk]ichkeit durch politischen Aktivismus und politischen aJnpfan theoretIsche Analysen anlehnt. Nun zeigt es sich, dass immer mehr Aktivisten und Intellektuelle, die aus der l1larx:istisch inspirierten Arbeiterbewegung stammen~ sich im ökologischen ICamPfwieder finden. Wenn viele dieser »Roten« sich im Gfünen treffen, dann ~~r a~lem de~h~lb, weil sie das Rote aufgegeben, mit dem Sozialis.m~s, .selbst ' :e fllldeaJ·eXJslIerenden, gebrochen haben. Aber auch deshalb, weJl sie In den ~wegungen der politischen Ökologie eine »Familienähnlichkeit« mit dem e'lennen , was si~ ver1a~sen habe~:. ei~e ~nlic~ej~.der Paradigmen. eh werde zunachst diese »Famlbenähnhchkelt« näher erläutern und danach Zu einigen Fragen zutii,ckkebren die in den ökoloolschen Kämpfen einen ex l' '.. ) ö' P lZlten Bezug aufMarx nehmen.
,
,.';,
1"
;s
Eine marxistische FamiIienähnlichkeitl
~er Materialismus: Die politische Ökologie stützt sich wie die vom Marxismus
~sPirierte Arbeiterbewegung auf eine Kritik ood folgJich auf eine Analyse,
e1ne theoretische Erkenntnis der »Ordnung der existierenden Dinge«. 2Genauer sagt ~okussjere~~arx und die Grünen einen ganz bestimmten Be~eic~ des ruen. das Verhältms Mensch-Natur, und noch genauer: das Verhältms der
i: -----------------2
Ich fasse hier sehr kurz einen früheren Beitrag zusammen: Ecologie politique et lllOUvement ouvrier. Similitudes et difii~rences. In: PolWs la Revue. n° 1, 1992 [deutsch: Politische Ökologie und Arbeiterbewegung. Ähnlichkeiten und Unterschiede. In: Prokla 92!1993, 23. Jg. Nr. 3}. ErulI1ern wir uns daran dass Marx den »Kommunismus eine wirkliche Bewegung [nennt], welche den jetzigen Zustand aufuebt« (Deutsche Ideologie, MEW 3,35).
!,
';
i
Ökologie und MarxismUs
60
Menschen untereinander gegenüber der Natur, das, was die Marxisten »Produktivkräfte« nennen. 3 Selbstverständlich nehmen sie radikal entgegengesetzte Positionen ein, wenn es um die Gesamtwahmehmlmg dieses Verhältnisses geht es ist positiv für ersteren, negativ für letztere. Das ist eine wesent1ic~e Differenz, die man aber nicht überschätzen soHte: Denn für Marx sind die Produktivkräfte an diesem Ptmkt durch die Produktionsverhältnisse überdetenniniert, so dass die Kritik, die er gegen letztere fuhrt, auch jene trifft: di~ Produktivkräfte des Kapitals sind entfremdete~ weil das Verhä1tnis KapI~ tallArbeit entfremdet ist. Die Dialektik: Der Materialismus der Grünen wie derjenige von Marx ist in der Tat eher eine Kritik der existierenden Unordnung als eine Begeisterung fi.tr eine darunter liegende Ordnung oder das Plädoyer fur eine neue Ordnung. WIe die Marxisten sich auf eine wirklich existierende Kritik der politischen Ökonomie stützen, um den Umsturz zu gewähr1eisten, so prangern die politischen Ökologen die wirklich existierende Dynamik zwischen der Menschheit n~d ihrer Umwelt an, um die Nichtnachhaltigkeit hervorzuheben. Und in der Tat 1st die Art und Weise, Geschichte zu erzählen, bei beiden die gleiche: Es geht Ufll die Kritik an den Strukturen des Wirklichen durch wirkliche soziale Bewegungen~ die wirklich von den Strukturen selbst hervorgerufen wurden, die s~e bekämpfen. Noch grund1egender treffen sich die Grünen und die Marxisten 10 ihrem Insistieren auf zwei Fragen: der Thematik der Totalität und der Thematik der Wechselbezielnmgen. Die Totalität GesellschaftlNatur wird als ein systelll mit relativ autonomen Instanzen und Elementen aufgefasst, wo jedoch aHes sich auf aHes auswirkt. Der Historismus: Die Grünen sind ebenso wie die Marxisten der Überzeu" gung, dass sie zu dem Zeitplmkt auf die Bühne treten, in dem die EuJe der Minerva ihren F1ug beginnt, in dem Moment~ wo eine bestimmte Fonn der Ordnung der Dinge uns so nahe an die Katastrophe fuhrt, dass sich die Große Verändenmg durchsetzt: die Revolution, der Paradigmenwechsel, der Epochenwandel ... Die große Fonn, die es abzuschaffen gilt, nennt die Arbeiterbewegung »Kapitalismus«, die politische Ökologie »ProduktivismusK Diese Differenz ist alles andere als neutral, was aber umso mehr zeigt, dass der »Produktivismus« fur die Grünen genau die gleiche RoUe spielt wie der »Kapitalismus« für die Roten: das, was abgeschafft werden muss, um das Leben ZU ändern. Produktivismus oder Kapita1ismus fuhren heide das Spannungsverhältnis zwischen den Menscllen, zwischen ihnen und der Natur auf den Höhe~ punkt. Die »Schwelle« ist überschritten: Das ist der Gnmd, warum heule die
1
Weder die Marxisten noch die Ökologen reduzieren alle Geschichte auf das materielle Verhältnis MenschheitlNatur, und die Ökologen lehnen sicherlich die »antjmateriali~tis~h vulgären« Glaubensbekenntnisse von Marx und Engels ab. Das hindert die einen WIe dIe anderen nicht daran, sich in grundsätzlicher Weise darauf zu beziehen, wenn sie ihr Weltbild darum aufbauen
.\R(jl'~mST
L__ _
SO;\;DERB,\>.iD :-:h1'E l'C)l ,eir. .\S 2~5
()
.
'kologle
.\.
und Marxismus
61 .;
Bewegung der politischen Ökologie entsteht, so wie damals die Arbeiterbewe&Ung entstand. Der politische Fortschritt: Wir haben es beiläufig erwähnt und wiederholen ~s: Die Ökologie stellt sich ~er Arbeiterbe~egung und dem Marxismus unt~r ~m Hauptaspekt »Fortschritt der ProduktIvkräfte« entgegen. Doch wenn SIe ~Cht m:hr an ei~e überhisto?sche. mat~rielle Bewegung g1au~n, ~ie ~~n chritt garantJert, so schreIben SIch die Grünen doch spontan m die Lmte er ~manzipatoriscben Bewegungen der Menschheit ein, vor wie nach der ~eHerbewegung: Bewegungen der Demokratie, des Sozialismus (mit einem g zum Libertären), der Dritten Welt, des Feminismus, des RegionaJis~us ... Sie treffen sich also mit den Roten in allen ihren historischen Kämpfen, ~dem sie in den sich auf den Sozialismus berufenden Parteien die VernachläsSigung ihrer eigenen sozialen Ziele anprangern (wie die Arbeitszeitverkürzung. das Stimmrecht für ansässige Ausländer etc.). Schematisch gesprochen: Die ~en sind politisch fortschrittlich, weil sie sich gegen das steHen, was die ~nschen zu Räd~hen in einer Masc~e?e ~ach~. Sie sin~ also die Unterckten gegen die Unterdrücker WIchtIg, SIe smd fiir die Arbeiter (Lohna?hängige oder Bauern), die sich gegen die Reduzierung ihrer Tätigkeit auf eUlen sie in die KonsumgeseJIschaft integrierenden Geldtausch wenden, sie st~hen ebenso auf der Seite der Dritten Welt gegen die imperialistische Auspliinderung des Bodens, der Menschen und ihrer Kulturen. Den sozialen und Internationalen Verhältnissen des Produktivismus stellen sie das Projekt eines »?euen EntwickItmgsmodells«, einer »nachhaltigen Entwicklung« oder »ökologiSchen Entwickhmg« entgegen, ebenso wie die Roten dem Kapitalismus den SOzialismus entgegensteUten. Insgesamt zeigt die politische Ökologie sehr starke Ähnlichkeiten mit dem ~arxismus. Beide sind »HoffnWlgsmodeJIe«4 nach derselben Matrix: materiali~tisch (man geht von einem kritischen Bewusstsein des Wirklichen aus), dlalektisch (man setzt darauf, dass diese Wirklichkeit ihre eigene materielle I
j'
·;1 , ,:i,
;;ns
1)
tm:
------------------
4
Das heißt zwei ReaJisierungen des »Prinzips Hoffi1lUng« von Ernst Bloch. das selb~t den letzten Kern des Marxismus darstellt. Vg!. dazu meinen Artikel Les crises du marx,sme: de {a theorie sociale au principe d'espirance. In: BidetlTexier 1991. ARGUMENT SONDERBAND NEUE. FOLGE AS 255
'1 '/
I
i .
62
Ökologie und Marxismus
Hofthllngsprinzipentwick elt sich gemäß einer ähnl ichen, jedoch nicht ders el ben Matrix. Es geht also .. um eine Überarbeitung de s Prinzips HoffnUllg. Den bekanntesten Untersc . hied zwischen den heiden Matrizen haben WIr bereits genannt: Die Vorst ellung eines »Fortschritts der Produktivkräfte«, V?ß dem jeder andere F011sch ritt ausgeht, fehlt dem grün en Paradigma vonst~dig. Wie bereits die althusseTs chen und maoistischen Ve rsionen des Manasl11US lehnt die politische Ökolog ie den Primat der Produk tiv kräfte ab, ordnet diese vielmehr den sozialen Ve rhältnissen und einer von ih ne n inspirierten Welt. . anschauung unter, entsche idet über das Verhältnis MenschINatur nicht nach der Elle der Herrschaft, so ndern mit der des Respek ts (rur das menschliche Leben, die künftigen Gene rationen und für das Lebe n der anderen Spezies). Der zweite Unterschied ist noell grundlegender: Da s grüne Paradigma i~t sicherlich politisch fortsch rittlich, allerdings ist es ke in »Progressismus« in dem Sinne, dass seine Ge schichtsvision eine Gesc hi ch te des Fortschritts ist. Tatsächlich gibt es überha upt keine Vision der zie l gerichteten Geschicht~. Wenn Geschichte eine Te ndenz hätte, dann äußerst enfalls im Sinne des zwetten Haupt.satzes der Then nodynamlk: die Geschich te eines unausweichlichen Anwachsens der Entropi e, die Geschichte eines VerfaUs. Nu r das selbstkritische Bewusstsein de r Menschen kann diesen VerfaU verlangsamen od umkehren. Die politische er Ökologie kann den Forts chritt nur als Richtung definieren, die durch eine bestimmte Anzahl von eth ischen und äSthetischen Werten bestimmt 1St (Sol idarität, Autonomie, Vera ntwortung, Demokratie, Übereinstimmung ... ) - oh ne irgendeine materieHe Garantie dafür, dass die Welt tatsädllich so sein wi rd (durch die »Vergesells chaftung der Produktivkräfte«). Der historisch e und dialektische Materia lismus der Grünen ist nich teleologiscll und eher pess timistisch. Dieses Verl assen des Prim ats der Produktivkräfte ha t aber noch eine andere Konsequenz: die Aufgabe des Primats der (unmittelb aren) Produzenten. Wenn die Grünen und politisch FO ltschrittlichen oft auf Seite n der Ausgebeuteten und Unterdrückten stehen, da nn wegen ihrer Werte, we gen der Ökologie ihrer erträumten Welt, die sieb der Ausbeutung ood der Unterdruckung entgegen steHt. Sie sind keineswegs der Ansicht, dass die im Pr oduktivismus ausgebeuteten Produzenten selbst Tr äger eines Bewusstseins ein er Welt ohne Produktivismus sein werden. AB dies mündet bei den Gr ünen in das Verschwinde n eines bestimmenden Moments des historischen Prozesses (bei den Roten ): »die Übernahme der Macht«. Wenn sie die Fr age stellen »Seid ihr Refo rmisten oder Revolutionä re?«, so wissen die Grün en - Wld selbst die »Ptm darnentalisten« - nicht ZU antworten. Ganz einfacb deshalb, weil sie nicht }} den« Punkt der Anwendun einer »politisch-ökologisc g hen Revolution« sehen. Si e treten fur die Veränderung von vielen Dingen ein , aber »die« Macht, die M acht des Staates ist fiir sie kaum wicl1tig. Eher Erbe n von Michel Foucault un d Felix Guattari als des ARGUMENT SO~DE!U1A ND NEU
E fOL GE A.'1 255
Öko'•OgJe . und Marxismus
63
~arxismus, selbst jenes Marxismus von Henri Lefebwe und des frühen Alt-
f: üsser (demjenigen von Für Marx). träwnen sie olme Zweifel von einer Viel~
a~t kleiner Umbrüche, von einer molekularen Revolution, die niemals beendet
sem wird.
DenM' . MXISrous erweItern oder entsorgen?
~ie Ge~einsamkeit des Denkens, die Ähnlichkeit der Paradigmen zwischen. Fer Arbeiterbewegung und der politischen Ökologie lädt offenbar dazu ein, die rage nach dem zukünftigen Verhältnis von Marxismus, dem wertvoJIsten theoretischen Erbe der Arbeiterbewegung, und ökologischem Denken zu stellen. Vielleicht nur deshalb, wei1 die politische Ökologie (noch?) kein Olaterialistisches, dialektisches, historistisches und fortschrittliches Denken in der Art von Marx hervorgebracht hat? Ich möchte hier nicht behaupten, dass die politische Ökologie die Zukunft des Marxismus bedeutet. Viele sind davon bereits überzeugt. Ich möchte jenen nur sagen: So wie der Kommunismus die Antwort Marxens auf die Grenzen der Französischen Revo]ution und die Theorie von Marx die Antwort auf die großen Probleme des] 9. Jahrhunderts war, so steUt die politische Ökologie die Antwort auf die Tragödie des Kommunismus des 20. JahrhWlderts und die Ausarbeitung eines Denkens und einer ökologischen Politik die Antwort der MenSchheit auf die großen Probleme des 21. Jahrhunderts dar. Um den Man: der Kritik der Hegelsehen Rechtsphilosophie und der Polemik gegen Feuer~ bach zu paraphrasieren: Es reicht nicht aus, die Dialektik wieder auf die Füße 5 ZU steJ1en - man muß sie auch wieder auf die Erde steJ1en. Und weiter: Dje Marxisten haben die Welt nur verschieden transfonniert, es kömmt heute darauf an, keine Dwnmheiten mehr zu machen!6 Nein, ich mächte mich hier an Marxisten wenden, die sich bereits über die "Notwendigkeit eines solchen Scluittes im Klaren sind. Die Frage, die ich mir gemeinsam mit ihnen stelle, ist folgende: Was bringt der Marxismus der POlitischen Ökologie? Was von ihm muss zurückgewiesen werden, und was muss überprüft werden, damit er der politischen Ökologie dient? Diese Frage steHe ich mir mit gutem Recht: Ich bin davon überzeugt, dass wir sage~ werden, dass Marx und der Marxismus auß·erordentlich viel zur politischen Okologie beitragen können - als materialistisches, dialektisches, historistisches und fortschrittliches Denken. Ich denke sogar, dass das marxistische Denken einer
-----.-------------6
Im »Nachwort zur zweiten Auflage« des Kapital (Bd. I) heißt es zur hegeIschen Dialektik: »Sie steht bei .ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, u~ den rationellen Kern in der mystischen HOne zu entdecken,« (MEW 23, 27) [Anm.d.Obers.] Die 11. These Ober Feuerbach heißt im Original (MEW 3·, 7): »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu veriindern,« [Anm.d.Übers,J ARGUMENT SONDERBi\r.:U ~EUE FOI_GE AS 2S.s
...
. l'
,(
'= Ökologie und Marxismus
64 l
'.
Strategie der sozialen Transformation bei Marx selbst. bei Rosa Luxemb4' G~~sci, Lenin oder ~ao Zedong - mit allen ~enFeh1e~ und ihr~~ wecbs~; selugen Debatten - em wertvolles Erbe für dte ökologische PolIttk dar~te s (ich denke vor allem an die Frage der Erringung der Hegemonie). Ich wIll .e freiweg ~agen: Die ~lgemein~ S~, das Skelett des marxistischen paradig mas, seme Rhetorik des Prinzips Hoffnung müssen verlassen werden UD praktisch aUe Regionen des marxistischen Denkens im Detail überprüft werden, ob sie wirklich nützlich sind.
d
Die grundlegende Divergenz Das Kernproblem ist weniger die Schwäche des Denkens der Politik bei M.aP' Genseits der irrigen Debatte »Reform oder Revolution«). Über diese Schwäche wurde viel geschrieben und ganz gewiss ist sie weitgehend verantwortlich fii:t" die kriminelle Dynamik, die im 20. Jahrhundert zu einem beträchtlichen Ted vom Marxismus ausging. Doch diese Schwäche findet sich in gleicher Weise in der gegenwärtigen politischen Ökologie wieder. Wir können die Bezieh~g zwischen einer Kritik der Ordnung der existierenden Dinge und einer wirkltch humanen und aJorteriori ökologischen politischen Praxis,. die diese existiere~ de Ordnung abschafft, nicht einfach denken, geschweige denn herstellen. Wu: können nicht einfach Materialismus, Ethik und Politik miteinander verbinden. Das haben wir nicht als Marxisten gekonnt, und das können wir nicht als Ökologen. Genau genommen möchte ich jedoch die Antwort von Marx auf diese Frage einer Verbindung von Materialismus tmd Politik verdeutlichen: das Paradigma der Produktion. Erinnern wir uns an den berühmten Brief vom 5. März 1852 an Weydemeyer, der eine Definition des Marxismus und seiner Gesamtlogik von Marx enthält: »Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, dass die Existenz der Klassen bloß an bestimmte Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist~ 2. dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Azifhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet« (MEW 28, 508) Natürlich wagt niemand zu behaupten, dass Marx dies alles wirklich )bewiesen« hat. Ein Marxist kann sich übrigens - rein wissenschaftlich und nicbt eschatologisch - auf die erste Etappe des Forschungsprogramms von Marx beschränken: die Analyse der Widerspruche jeder Produktionsweise. Was Probleme aufwirft, ist das Progranun selbst und seine einheitliche Achse: der zentrale Status der Produktion sowie der Status der Produktion im Denken von Marx, d.h. die Aktivität der Transformation der Natur durch den Produzenten. die entsprechend den mehr oder weniger entfremdeten sozialen Verhältnissen organisiert sind. Diese Achse wirkt strukturierend, da sie in der Tat gestattet, ARGUMENT SONDERBAND NEUE fOLGE A." 255
oWOgte. lind Marxismus
65
~ ein und derselben Bewegung den Feind (den Kapitalismus), den revolutiobären Akteur (das Proletariat) und das Zid der politischen Bewegung (den Kommunismus) zu bestimmen. Nun ist es genau diese tendenzielle Reduktion der natürlichen Geschichte der Menschheit auf die transformatorische Aktivität des Menschen, die den ~sm~s in eine (tb.eoretisch, .~thisch oder politisch) schwierige Situation im erhältms zur menschlichen Okologie bringt. Ted Benton (1989) hat auf bemerkenswerte Weise gezeigt, wie diese schwierige Situation sich aus der Engstirnigkeit des marxistischen Begriffs des Produktionsprozesses herleitet ~des Zimmermanns«, sagt Benton, aber er hätte es genauer sagen können, wie an uns vorschlägt, »des Baumeisters« - im Gegensatz zum ProduktionsProzess der Ameise). Wie Benton zeigt, sieht Marx die Geschichte als eine ~ortschreitende Verkünstlichung der Welt, wodurch sich die Menschheit von äußerlichen Zwängen befteit, die auf ihr aus ungenügender Kontrolle über die ~atur lasten, was ihn und die Marxisten dazu führt, den irreduziblen Charakter dieser äußerlichen Zwänge, und dabei vor allem der ökologischen, tendenziell ZU D1issachten. Von diesem Standpunkt aus teilt Marx vollständig die biblischC8rtesianische IdeoJogie der Eroberung der Natur, so wie sie auf den HöhePunkt getrieben wurde durch die »erobernden Bourgeois« und später die stalinsehen Zauberlehrlinge Sibiriens und der kasachlschen Steppen. Ich gehe noch einen Schritt weiter. Tatsächlich sind es die sehr schönen von den »Ökomarxisten« zitierten ökologischen Sätze von Marx, jene~ wo Man die menschliche Aktivität in ihre natürliche Umgebung v,elWUfzelt, die mir heute ein Gefühl von Unbehagen vermitteln. Und ich denke insbesondere an die bekannte Passage in den Pariser Manuskripten von 1844: »Die Natur ist der unorganische Körper des Menschen ... « Aber nein, die Natur ist nicht der unorganische Körper des Menschen, sondern ebenso sehr der unorganische Körper der Biene oder des KörugsadJers. Hugues de Saint-Vicfor paraphrasierend, gehe ich so weit zu sagen: »Wer die menschliche Gattung liebt, ist ein Anfänger; besser ist derjenige, der auch clie anderen Lebewesen als die seinigen nennt; derjenige ist perfekt, der seinen eigenen Körper als unorganischen Körper der Natur anerkennt« (und zum Einstieg; als den Wlorganischen Körper der Erdwürmer). Die Doppe1deutigkeit der Ökologie von Marx (die er mit allen ökologischen Denkern seiner Zeit, angefangen bei Vernadsky, teilt) sticht fast unbewusst in einer anderen »ökomarxistischen« Fonnu1ienmg ins Auge: »Die Arbeit ist nur der Vater des Reichtums, aber die Natur ist die Mutter davon.« Angesichts des Lassallismus, der im Gothaer Programm die Oberhand gewinnt und seitdem in der ganzen Arbeiterbewegung, war es sehr gut, daran zu erinnern, dass die Natur existiert, ähnlich wie Freud einen Grund dafiir hatte, sich angesichts des Code Napo]eon und der patriarchalen Ideologie daran zu erinnern, dass die Mutter eine bestimmte Rolle bei der physischen ood psychischen Produktion ARGUMENT SO)\;1)ERBAND NEUE FOWE AS2~'
66
Ökologie und Marxis111 IlS
menschlicher Wesen hat. Unglücklicherweise :wiss en wir nicht viel darüber, was sich hinter der freudsc hen Anerkennung der Mut ter verbarg: »Heil dettl Vater«, schrieb Freud in se inem Gedicht an Fliess, »d er es gut durchdacht bat, hat sein weibliches Gesc hlecht einzudämmen gewu sst, um seinen Teilde~ blinden Gehorsams zum Ge setz beizutragen. « Ich fürch te stark, dass selbst b~t Marx die Mutter Natur nu r berücksichtigt wird, um sie dem transformatDl?sehen Gesetz des Vaters Ar beit zu unterwerfen - einer Tradition folgend, die zumindest seit Aristoteles besteht: »Der Stoff trachtet nach der Form wie daS Weib nach dem Manne.« Da ss man mich richtig versteht: Ich plädiere hier nicht für eine radikale Version der Hmdamental ökologie. Viel früher als de r große Häuptling Sea~e erinnerte uns Blaise Pasc al, dass die menschliche G att ung nur ein Glied U1l enonnen Gewebe der Natu r ist, jedoch die einzige, di e di e Natur durch Denk~t1 begreifen kann, die einzig e Spezies auf der Erde m it Verantwortung für die Erde, mit der Möglichkeit , sie zum Besseren oder zu m Schlechteren zu vef ändern. Oder wie es der be rühmte Chor in Sophokles ' Antigone ausdrückt: Sie ist die große tellurische Kr aft der Natur, sie kann sic h jedoch fUr den gut~n oder fur den bösen Weg en tscheiden. Was ich hier sa ge n will, ist nur, dass die von Marx vorgenommen e, ap rio ri positive Beto nu ng der demiurgischen Fähigkeit der menschlichen Gattung sowie die Beschr än ku ng seiner Kritik der existierenden Ordnung au f die Fonn der Beziehungen zw isc he vor allem in der Produktio n den Menschen, n, ohne bis zur Kritik des Inhalts dieser Produktion zu gehen - dass dies de n Weg zu einem Bruch zw ischen Marxismus und Et zwischen Marxismus und hik, demokratischer Politik, zw ischen Marxismus und Ökologie eröffnete. p
Der refonnistische Weg Den Marxismus an einer ze ntralen Stelle zu überarbe iten und g1eichzeitig seine Reichhaltigkeit zu bewahr en, ist nicht gerade leicht. Wie immer bei paradigmatischen Revolutionen eröf fnen sich uns zwei Wege. Der erste ist der einer zurückhaltenden Evolutio n: die abgestorbenen od er kranken Äste herauS· schneiden, die starken Hy pothesen belassen, nachge or dnete Verbesserungen um einen unverändert harte n Kern anreichern. Der zw eit e ist der einer radikalen Substitution des Paradi gmas: den Materialismus um einen anderen gemein· samen Stamm herum reko nstruieren mit Elementen , die aus den Ruinen des alten marxistischen Paradi gmas recycelt sind. Ich sage gleich dazu, da ss der zweite Weg letzte n Endes der einzig zu~ frieden stellende sein wird , ohne bereits einen überze ugenden Entwurf gefun-
ARGUMENT SONDE-RBA ND NEUE fOLGE AS 255
o'lwIOgl'.e und Marxismus
67
d~n ZU haben. 1 lch werde mich also auf die Kritik des ersten Weges konzentrieren tmd bestimmte Probleme aufzählen, die fUr die Überwindung der ~arxschen Trilogie »Antikapitalismus, proletarische Revolution, Kommuntsmus« zu lösen sind. Der reformistische Weg war zu einem großen Teil von marxistischen Grup~'en der Nach-Achtundsechziger beschritten worden, sobald sie bereit waren, ihre Augen für die Realität zu öffuen. Es reichte aus, die »zweite Frontlinie« außerhaIb der kapitalistischen Produktion zu berucksichtigen, mn aUe sozialen Bewegungen in den proletarischen Kampf gegen das Kapital und für den Kommunismus zu integrieren. Um sich dabei an das marxistische Paradigma ZU halten, musste gezeigt werden: • dass diese sozialen Bewegungen sich tatsächlich gegen das Kapital positionieren (man muss sich vielleicht mit der Feststellung zufrieden geben, dass sie sich dem Staat des KapitaJs gegenübersteHten, was Eigenart fast aller sozialen Bewegungen ist); • dass diese Bewegungen sich insbesondere auf die Situation der Arbeiter beziehen und folglich der gemeinsame Schnittpunkt von der jeweiligen sozialen Bewegung Wld der Arbeiterbewegung am geeignetsten wäre, die Richtung der Bewegung vorzugeben; • dass diese proletarische Richtung die Konvergenz d~r partikularen Bewegung mit der Arbeiterbewegung garantiert, folglich mit dem historischen Interesse der Menschheit, für das der Kommunismus in Anspruch nimmt, den »Nebenwiderspruch« abzuschaffen, der wiederum Gegenstand der jeweiJigen Bewegung war. So wurden sehr früh die Bauernbewegung und später die Befreiungsbewegungen zur Entkolorualisierung der Dritten Welt in den Kampf der Arbeiter eingebunden; in den siebziger Jahren gab es eme feministische Bewegung, die angesichts einer späten Anerkennung durch eine aufdringliche »proletarische ~inie« auch ihre Autonomie zu verteidigen hatte, und heute geht es mn die ÖkOlOgie. Die entschiedenste Fonnulierung in dieser Richtung statntnt zweifeUos von James O'Connor. 8 Er führt neben dem »ersten Widerspruch« Kapital-Arbeit einen »zweiten Widerspruch« zwischen dem Kapital und den allgemeinen äußeren Bedingtmgen der kapitalistischen Produktion ein, d.h. all dem, was durch den Kapitalismus nicht produziert werden kann und dennoch der Re-
7
Ich habe großes Inleressean den Versuchen, das Paradigma der Arbeit durch das Paradigma der Sprache, der Energie oder der Entropie z:u ersetzen, bin aber gleichwohl davon nicht überzeugt ... Vgt James O'Connor: La seconde contradiction du capitalisme: causes et consequences.
In: Acluel Man, Nr. 12. J993 [englisch zuerst veröffentlicht als: Capitalism, Nature and Socialism. A Theoretical Introduction. In: Capitalism, Nature and Socialism. Vol. 1. Nr. 1 (1988)]. .<\.RGlölliL'T SO~DERBAND NEliE fOWE AS 255
68
Ökologie lind Marxi ...·ml l~
produktion bcdmf: Arbeits kräfte, öffentliche Dienste , Natur oder frtiher geban te tJmwelt etl~ Diese ex trem synthelische Formul ierung hat den ungeheur Verdiensl , eineB einigend en en Bezu ~.e als ,inch für die Politik de gsrahmen smvohl für die theoretische An~'Y~ r sozialen Bewegungen anzubieten. D a die LIste der ,>~hlßeren Bedingung en« del]CJ1igen von Kar! Po lan yi in l1Je Great li:ansjbr liw tio J1 ähnelt, nC l111' O' Co nn or di eses marxistisch erweite .»mar\·6stisch-po!anyisch Ite Paradlgt113 «. Denn es hmldelt sich wohl um einen gemeinsam lnarxiscbefi Stamm, e:' der neue Zweige hat: Ök o-Sozialismus, K1assenf nis mu s eic. eml~ Ich werde hier nicht in die l(ritik der ersten ökonom ischen Konsequenzen, die jim (YCnnnor aus se iner Formulierung zieht, einsteigen. Halten wir. nO r fi::st, dass diese Schlussf olgerungen auf den Krise ntypus, die sich aus belde Widerspriichl;u ergehen, n mir ein wenig voreilig sc heinen, da sie eine Etap üherspringen: die Verschie pe denheit der kapitalistische n EntwicklungsmodeHe, die aH.emativ jeden dieser Widersprüche 1111 Zaum halten oder verschlimmern können. kh bestehe allerdings au f ein ~che ]{,eforms\13tegie er\;mbt er gnmdlegenden Kritik: Wie je de paradigmati~ auch sie es, von Anfang an auf eine genüg et: d br~;l\c 13asis zu bauen, do ch stieß sie auf unüben:vi ndHche Grenzen, die bereI (lne analogen Versu ts chungen venaten. So ha be n linke Feministinnen beobachten können: fiüi1 1. Die Frauen hahen in Ihr em Kampf nicht den Kapitalismus zum Gegens sondem spe;riflsche Un tand, terdrückungsverhältnisse, die dem KapitalismuS vorhergehen: das Palriarc hat oder die Geschlechtcr verhältnisse (oder andere Begriffe} 2. Sie können insbesondere nloCht mit der Unterstützu ng der männlichen Arbei~ tcrklasse rechnen und ste hen dieser oft entgegen. 3. Das marxische "Prog ramm des Kommunism us, wo die frei assozii Produzenten »morgens erten Jäger, nachmittags Fisc her und abends Literatu i,ritiker« sind, lässt merk rwürdig die Frage des Ha ushaltes und der Wä~ schepHege anßer Acht. Kurzum, das erweiterte \11arxische Paradigrna er weist sich a's prokruste für die Hoffnungen der sbett anderen soziaien Bewegu ngen, selbst wenn es ric gerweise die Vorteile au hti~ fzeigt, die das Kapital au s diesen »äußeren Beding gCl1\{ ziehl. unAl lS diesem Grun d, well es keine völlige Umarbeitung eines kom theoreti:schen Paradigmas pletten gibt, schlage ich zuminde st provisorisch vor, dass wir uns an die von Jim O' Connor vorgeschlagene Ahemative selbst halten: Nebeneinander von »Pola ein nYlsmus-Marxismus« in der Fonn radikal-demok scher Bewegungen, bei dem rati die versc,hiedenen autonom en sozialen Bewegungen angesichts ihrer ernsl zu nehmenden spezifisc hen Widersprüche alle )}regionale« Art und Weis au f e die Erfahrungen und de n Geist des marxschen r
Öko/ogle r' . und fidarXlsllIliS
69
Ansatzes aufnehmen.'} Das versteht sich nicht mehr von selbst. Ich werde ~:rs~lchen, auf den drei Et.~gen d~s alten ~jnhejt~ichen l11alx~schen ParadibYJll.as stImmte Probleme der Okolob'1e zu zeIgen, dIe der MarxIsmus -- so schclIll Inlr - selbst vorantreibt. auch wenn er dafür zur Zeit 110ch keine Lösungen lIat. Die ökonomische Analyse der gegem:värtigen ökologische11 Krisen In ihrer wnfassendsten Bedeutung handelt die politische Ökologie vom WidersPruch des Einzelnen zu allen anderen hinsichtlich der Umwelt, die zugleich Produkt lmdBedingtmg von Aktivitäten von lIDS allen ist. Ein Verkehrsstau auf dem Weg in den Urlaub ist ein exzellentes ModeIJ der ökologischen lokalen Minikrise. Die Umwelt jedes Einzelnen ist zugleich das Maß des \Veges. die Gesamtheit der anderen Autofahrer und die sich ergebende UmweltverschmutZung. Selbstverständlich ist das alles stark überdeterminiel1 VOll kapitalistischen Verhältnissen, aber daraufreduzieli es sich nicht: Es ist nicht ein \VidersPnlch zwischen der kapitalistischen Produktion und ihrem Äußeren. Die Gesamtheit der möglichen Regulationen zur Lösung der Krise reicht von der Erhebung von Maufgebühren, Erhöhung der Benzinpreise, Verbreitemng der Straßen oder Bau einer Eisenbahnlinie bis hin zur Verkürzung der Reisedauer u,nd im Überholen des Widerspmchs »Arbeitszeit/Freizeit«. Teihveise spiegelt SIch das Ensemble der Regulationen in den klassischen Regulationsweisen »hOrizontaler« V/idersprüche (die sich nicht als HCITschende und BeheITschtc gegenüberstehen, sondem als Einzelne gegenüber der Gemeinschal1). Seine Reglllationsweisen sind der Markt, das Gesetz, die Demokratie. Konzentrieren wir uns auf den von Marx am besten untersuchten Regulator: dell Markt und die Theorie des Wertes. Die Il1aJxistische Theorie bietet einen guten Ausgangspunkt, aber .ill dem Maße, wie die ökologischen Kämpfe die Individuen dazu verpfiichten werden, die externen Kosten ihrer Praktiken zu ben:icksichtigen, sind die Preise dazu berufen, sich weiter wld weiter von den WeI1verhältnissen abzuleiten, d.h. \'011 den »gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeiten« Genauer ges3&1 sind dies die eigentlich )}gesellschaftlich notwendigen Zeiten«, die sich immer weniger alls rein technischen Betrachtungen herleiten können. Diese Ableitung kann nach dem Ansatz von Marx berÜCkSichtigt werden, jedoch unter der Bedingung, dass die Theorie der Wer/form ernst genommen wird: als »dte Sprache, die die Waren .'prechen«. Die erste Etappe ist von Marx in der» Wert-Preis-Transfonnation« zurückgelegt worden, die weit davon entfernt ist, vor den ungelösten Problemen zu
9
Ich habe an anderer Stejle gezeigt, dass die gemeinsamen WeHe fiir diese sozialen Bewegungen tatsächlich ein »gesellschaftliches Paradigma« konstituieren (und kein theoretisches), das man sehr gut l>ökologisclw nennen oder zumindest mit der Farbe Grün bezeichnen kann. Vgl. dazu auch Choisir "alldace (Lipietz 1989) und Vel'/ e.~peral1ce (Lipietz 1993). ,\HOl 'W·;"T SOC;DERUi\J\'[) c;u 'E FOl.GE ,\5 255
z
70
Ökologie und MarxismUS
stehen) die einige in den siebziger Jahren gesehen haben und noch sehen. 10 Man kann die Transfonnati on dadurch »)überfiittem«, dass man die Grundret1~ te, die Sozialsteuem, die Ök o-Steuern etc. integriert. Ab er dann sieht man sehr scImeU, dass das, was wir als Ware bezeichnen, nich t mehr eine bestimm:e Menge Arbeit in sich trägt , sondern mehr und mehr die Öko-Steuern, die SIe zulässt oder nicht, die sozia le Sicherheit, von der ihre Produzenten profitieren oder nicht etc. Kmz, was wir heute als W are bezeichnen und hoffent lich auch morgen mehr und mehr bezeichnen werd en, ist die Rücksicht, die man in einer Gesellsch~ auf den Woh1stand ihrer Mitglieder nimmt, sowie die Umsicht, die sich lIn Umgang mit dem gemein samen Erbe der Menschh eit beweist. Wir werden unsere Schritte also hin zu einem Begriff des >>nach haltigen Wertes« lenk~· Wie wird dieses Zeichen auf unserem Weg die Ve rh ältnisse bestimmen, ~ denen unsere Gesellschaf t produziert? Mit Sicherhe it wird der Markt ohne die Kraft des Gesetzes, das durch das Verantwortung sbewusstsein der Bürg~r, Produzenten und Konsum enten unterstützt wird, da zu nicht genügen. Wu-d dieses Eindringen des Sozia len, der Umwelt, der Polit ik und sogar der Ethik in den Kern der ökonomisc hen Verhältnisse in einem Mehr oder Weniger an Stabilität für den Kapitalism us enden? Ich rate zu ein er nicht allzu voreiligen Antwort: Denken wir an die lange Phase der keyn esianisch-fordistischen Stabilität. Die »proletarische Revolu tion« (oder zumindest die zentrale RaUe der Lohn~ arbeiterschaft in den gese llschaftlichen Veränderun gen) Es ist leicht, sich über die Enttäuschungen der proleta rischen Hoffnung lustig zu machen oder sich mit Po lanyi daran zu erinnern, da ss die Frauen und Männer nicht nur als Produzen ten in den Kampf eintreten , »sondern als Konsumenten, Bürger, Spaziergänger und Geliebte«. Aber konz en trieren wir uns darauf, was Marx gesagt hat, und er hat es gut gesagt (wesha lb wi r es hier noch einmal wiederholen): Der Aufstan d gegen die Ausbeutung de r Arbeit ist die grundltr gende Gefiihrdung. die auf den kapitalistischen Produk tionsverhältnissen lastet. Heute jedoch - selbst we nn man zugesteht, dass di eser Kampf nicht nur einer unter anderen innerhalb de s Regenbogens der Eman zipationsbewegungen ist gilt es, die inneren Bruche im »Roten«ll selbst zu berü cksichtigen, Zumindest 1(1
11
i,
Vgl. dazu mein Buch Le mo nde enchante (1983). Im französischen Origi nal heißt es }}la diffra ction du cercle )rouge« übersetzt bedeutet das »Beu (. Sinngemäß gung (oder De
klination) des Kreisbogens Formulierung bleibt im >rot<<<. Eine solche Deutschen jedoch unve rständlich, wenn man nic begriffliche Fassung des ht die Widerspruchs zugrunde legt, wie sie in dem Beitr Schuss un d Regulation ag Kette, (in diesem Band) deutlich wird. Einfachheitshalber daher die Formulierung »)i wird hier nnere Bruche im Roten« ve rwendet {Arun.d.Übers.]. ARGL"MENT SONDERB AND NEUE F01.GE AS 255
Ökologie und Marxismus
71
dre~ Verwerfungen sind dabei, die mythis·che Figur des marxschen Akteurs der SOzialen Transfonnation (das »Proletariat«) aufzubrechen. • Im.Gegensatz zur Vorhersage von Marx - die sich gerade in den Jahren der Krise des Fordismus verwirklicht hat - markiert heute die »reelle SubswntiOn der Arbeit unter das Kapital«, die »Enteigmmg des praktischen Wissens der Arbeiter«, die »Reduktion der ganzen Arbeitaufeinfache Arbeit« einen Umkehrpunkt in den gegenwärtig in der weltweiten Konkurrenz fiihrenden Gesellschaften. Japan, die alpinen Länder und Skandinavien gründen ihre Wettbewerbsfahigkeit mehr und mehr auf einer Versöhnung der manuellen, routinisierten Aspekte mit den intellektuellen,. innovativen Aspekten der ~bejt. Das ist eine ausgezeichnete Neuigkeit, denn daran wird auch deuthch, dass der Begriff der »Entfremdung« noch einma1 überdacht werden muss. Der Rückgang der Entfremdung im Produktionsprozess lässt, wie Andre Gorz (1988) bemerkt, die Frage nach dem »Sinn« der Produktion selbst offen, doch ist es für die betroffenen Beschäftigten mcht offensichtlich, dass sie diese Lösung als eine Überwindung des Lohnverhältnisses empfinden. Ddarauf aus, den Aspekt »des Kognitiven« und »der Kooperation« im Unternehmen zu betonen, vergisst die bourgeoise Apologetik die ~deren Dimensionen: die Ausbeutung und die Konkurrenz. Das Problem Ist, dass es sich nicht nur tun eine Ideologie handelt, sondern um eine Realität 'der »gelebten Welt« für die qualifizierten Arbeiter. Was in die Krise gerät, ist der traditionelle Syndikalismus, der fiirchterJiche Fragen stent: Soll man an den QuaJitätszirkeln teilnehmen? Im Austausch :fiir was? Etc. • Im Gegensatz zu allen Analysen von Marx erbeben sich );die intellektuellen Mächte der Arbeit« nicht mehr »gegenüber« der Mehrheit der Beschäftigten. Diese Mehrheit widmet sich inzwischen der »Manipulation der Zeichen«: mehr oder minder von der kapitalistischen Herrschaft dominierte AkteW'e. außerhalb des materieHen Transformationsprozesses. Was bedeutet also »das Wort Arbeiter, Genossen«? Dem Kapital gegenüber steht die Arbeitnehmerschafl, nicht die Arbeiterklasse. Wenn diese Arbeiternehmerschaft nicht mehr in die Produktion eingebWlden ist, dann verschwinden ihre im Rahmen des historischen Materialismus vemmteten Eigenschaften oder werden von neuem erfunden. Muss man das Paradigma der Produktion durch das der KommlUlikation ersetzen, wie es HabemJas vorschlägt? Man könnte dazu versucht sein, aber das wäre nur eine partieUe Rekonstruktion~ denn es blieben quer über die ganze Welt Hunderte Millionen Arbeiter, die dem Kapital auf eher klassische Weise unterworfen wären. Fakt ist jedoch: Die »Manipulateure der Zeichen« sind gegenwärtig die Hauptbasis der ökoJogischen Bewegungen. • Im Gegensatz zu den Analysen von Marx braucht das Kapital nicht mehr das ganze Proletariat zu seiner Verfügung (vor allem jene nicht, die keine Arbeitsmöglicbkeit haben,. die sich nicht eigenständig in die WarenproduktiARGllMENT SONDERBAND NWE !'OLGE.<\S 25'
i!
.
;
"
.
.. Ok%gie
1111
J iVl' ~ "a ,,-is/tlUS L, •
on ~insehrejben können t Die VorsleUung. dass die Proletarier daz\! bej1l~n . ~ 1i . . ·~'d . 11 R . ee« zu SClil, selen, Lolm>nichts ~l verlieren hat als seine Ketten« und ncine Welt zu gewinnen«. Heute ist d~e WdL auf die die Ausgeschlossenen hoffen, diejenige der Beschäftigten (d~e ihre Löhne z.u verlieren haben), lind sie haben aufgrund der Tatsache, dass ste ausgeschlossen sind, keine Handhabe gegen das Kapital. Um auch dieses Kapitel zu schließen: Das Proletariat, die (nach Marx) »f1'lhrcnde KJan~( zur Abschaffung der bestehenden OrchlU11g der Dinge, jst nicht nur nicht mehr die einzige, nicht einmal mehr die Hauptkraft der gesenschafthdwll Veränderung, sondern es ist zersplittert. Es ist Schluss mit der Gleichsetzung >}Prole\arier! ArbeitnelunerlArbeiten< -- wir haben eine grundlegende Div('rsi~ät dt;r Si.\uationen, der Interessen und der Erwammgen. Der Marxismus ist diese Art von Problem gewohnt (das »der Konstruktion eines einheitlichen Volkes«), aber er muss. sich gegenwärtig auf etwas anwenden lassen, das er früher als seinel1 Stützpunkt ansah, das heute aber zu einer atlßcrordenllich brüchigen Basis geworden ist Das bedeutet nicht, dass »die
Okolo .) l?1( und Afal:l:isllfus
73
~L~~logie il1,l Geg.ens~tz zum ~ozialismt!s kein~ soziale Basis finden kanll«' Es 1\ . UlC:, dass sIe slch - \Vle die DemokratIe während der FranzösIschen d,evolutlOn - eine vie!fäche soziale Basis konstruieren muss, und diese nicht Ckt allS unmittelbaren oder »Ilistorischen« Interessen der einen oder anderen a )lcitcn kann.
r
Der Horizont des Kommwlismus
~~lbst. wenn wir die ma.rxislische Eschatol?gie zurückweisen, die J~ee, dass
Zi rWlders:and gege? Unt~rdrü~kung dle Vorste.lltmg de~ ~ errelc~lende.n eIs negatIv detenTIll11ert, bleIbt em starker Punkt Jedes knhschen, dla]ek1I~ ~1Jen historistischen Materialismus. Und das llJTISO mehr, als sich die nterschlede zwischen »RefonIl und Revolution« velwjschen. Der Inhalt des Ideals ist nicht mehr auf ein »Nach der Revolution« zurückgedrängt, er ist mehr und mehr in den heutigen Kämpfen tmter der Fonn eines »radikalen Refonuismus« präsent. Nun ist es aber schwer, sich für das Kriterimn der »Nachhaltigkeit«, das den ÖkoJogen so am He;zen liegt, zu engagieren, zu kämpfen und zu sterben. Lief,rt es vie11eicht daran, ck1SS die Okolof:,:rie noch '~enjger als die öffentliche Meinung das schöne Wort vom Kommunismus lUcht wieder aufgreift? Noch einmal: Vemwiden wir eine allzu schnelle Ant'~ort, die angesichts der tragischen Bilanz des real existierenden KommunJSlnUs nahe liegt, wld wenden wir uns der ZUkWlft unserer Hoffnungen zu. Kommunismus: Als Marx versuchte, seinen Inhalt zu definieren, hat er mehr oder weniger nach dem Gegenteil zur gegebenen Entfremdung gesucht: »Überfluss ... Abschaffung aller Klassen ... Arbeit wird zwn ersten Lebensbedürfnis '" Ende der Unterordnung unter die Arbeitsteilung ... «, um zu dem Schluss Zu kommen: »Jedem nach seinen Bedürfuissen,jeder nach seinen Fähigkeiten.« Eine sehr reichhaltige Fonnulierung, die die Marxisten jedoch dringend muarbeiten müssen, werll1 sie der politischen Ökologie dienen woHen. Die erste Schwieligkeit ergibt sich aus dieser bizarren Definition eines beschwörenden Wortes Gemeinschaft durch einen ausgedrückten Jnhalteinem strikten Individuahsmus. Nattirlich bedeutet »Kommunismus« fiir Marx Gemeineigentum der Produktionsmittel, was ilun zufolge ausreicht, mn die Freiheit und VerantwOItung der I11dividuen zu gewährleisten. Heute allerdings, nach einem Jahrhundert der Misserfolge aller möglichen Varianten des Kollektiveigentums, macht man sich nichts aus »Gemeineigentmn«! Schon vor den » Theorien der Agentur« hatte Charles Bettelheim (1970) gezeigt, dass die Eigentumsverhältnisse nicht an dIe wesent1ichell Fragen heranreichen, als da Wären: Machtverhältnisse zwischen den Individuen innerbalb der ProduktiollSeinJleiten oder Machtverhältnisse Z\:vischen den individue11en Einheiten. Analog dazu achtet die individualistische Definition des Kommunismus heute Fragen gering wie die einer sozialen Konstmktion der »Fähigkeiten« eines
?1e
un?
i\llGU~[E;..iT
tn
SONDERIHND NEUE FOLGE AS 255
74
'glWS
Okologie und MOfX'
.. B dürfnissen«. sebeli jeden und die einer kollektiven Definition von legttlmen» e wir uns die beiden Seiten dieser Defmiti~n genauer. an. Verdienst es >>Jedem nach seinen Bedü1jhissen<<: eme Fonnulierung, dere~ h . gewerk:ist, die Zielvorstellung der Arbeiterbewegung mit den alltägl1c .en fordet1l sc~aftlich~n Kämpfen zusamm~nzuschwejßen. Eine Lohnerhöbun~~eute die heißt berelt.s ruf den KomrnWllsmus zu kämpfen! Und da sagt un 1 T Jitl.. .z..-' Okologie, dass vonjelzl an die Arbeitnehmerschalt'm.d eo entwicke. ten':koIO" dem im Durchschnitt mehr filr ihre »Bedürfnisse« erreIcht hat, als es 0 nn gisch nachhaltig fiir das Ökosystem des Planeten ist ... zumindest~ann, ~:etl man bereit ist anzuerkennen, dass die Bewohner von Bangladesh ~e glete der Bedürfnisse ~ben wie die nordamerikanischen Arbeitnehmer! Die .Werte. en politischen Okologie (Solidarität Gastlichkeit VerantwortlichkeIt) könß sich nicht mehr mit einer unreflektierten Defi;ition von »Bedürfirissen~( ~~ frieden geben, was zu einer Kollision mit der traditionene~ gewerk~ch~ft.h~~en Ideologie ~'. W~nn man andere~sei~s zuges.teht, dass die vorkaPltallsnsh,hal_ Bauern und dIe mdtgenen Völker SIch ihre radikal anderen und zudem »nac tigen« Bedürfnisse bewahrt haben, sich also für einen Weg einsetzen, a~ dem die erträumte Welt verschiedene Modelle der »Ethno.-Entwicklung« in übereinstimmung bringen wird, so. wird sich dennoch immer das Problem des freien Verkehrs der Individuen (und das schließt die Jugend und die Frauen ein) von einem Modell ins andere und damit auch seiner Regulation stellen. »Jeder nach seinen Fähigkeiten« ist genauso doppeldeutig. Man kann daS als eine Kritik an den Privatiers verstehen, aber der Satz wird völlig unpas· send, wenn dominante Schichten wie Yuppies oder Geschäftsleute angeschuldigt werden, die selten gewordene Ressource Beschäftigung zu monopolisi~· ren. Man kann wohlwollend gelten lassen, dass Marx sagen wollte, dass die durch das Prinzip »Jedem nach seinen Bedürfuissen« bestimmte unbegrenzte Nachfrage auf ein unbegrenztes Angebot trifft, weil eine würdevo.lle und schöpferische Aktivität »das oberste Lebensbedürfuis« werden wird. Diese Idee ist im Kern eine des utopischen Sozialismus: die Menschen hätten Lust dazu, sich in ihrer Produktion auszudrücken. Sie wird durch Arbeiten eines Sozioanalytikers wie Gerard Mendel beStärkt, der mit dem Wert »Autonomie<{ das ausdrückt, was die Ökologen vorschlagen. Das Problem, dass diese Hoffnung sich im eigenen »Machthandeln« auSdrückt, »das Ziel der eigenen Handlungen zu sehen«, besteht keineswegs darin, es in das Projekt einer kollektiven Organisation der Produktion zu übersetzen, sondern vielmehr in einer Art generalisiertem Handwerk von dem die ersten . proudhonistischen Anarcho-SyndikaHsten träumten. Im Grunde hoffen die Menschen auf eine Gesellschaft mit Lebensweisen, in denen sie ihre Fähigkeiten frei ausdrucken können, die wiederum gesellschaftlich anerkannt werden. Das lässt sich im Rahmen einer erneuerten Arbeitnehmerschaft als Rah~
ARGUMEt-<'T SONDERBAND NElJE FOl.GE :\S 255
OhJ/Ocrie ~.'nd.lViQTXIS1nUS AL' ~"" 1
75
:~ einer unabhängigen Arbeit denken, die am kommunitären Dialog orientiert
1
I
de Die Frage wird noch komplizierter, wenn man bedenkt, dass die MehrzahJ . r menschlichen Arbeitssttmden von Frauen in patriarchalischen Verhält:sen geJej~tet ~rd. Di~se Verhältnisse, die ~uf eine ziemlich ruede~htige eh lIlld Welse Liebes-nut UnterdrackungsooZlehlBlgen vennengen, MderspreR
i
~ ll~h heute dengnmdJegendsten Bedilrfuissen, werden jedoch heftig vom
Ilttnmismus attackiert. Auch aus einer Gesellschaft, die von solchen Verhält8C~sen volls~djg befreit ist, werden entsprechende BedürfiUsse nic~t ~er.. ge~den sem,. Inzelm Jahren wird es in Frankreich 150.000 HundertJähri~e kutntn' und es stnd nicht ihre achtzigjährigen Kinder, die sicb dann wn SIe ~e' . ~ werden. Es werden auch nicht mehr ihre sechzigjährigen Enkelinnen st 1Il, die n~ch einem Leben der fe~isti~hen !<ämpfe einen verdienten Ruhean~ elTelchen. Nach welchen Fähigkeiten WIrd man dann also rufen? Weder :.gelstemde »Nachbarschaftsjobs« noch beldagenswerte »Gelegenheitsjobs« . I1ngen die Debatte voran, sondern die Entwicldung eines »dritten Sektors der ökolOgischen und sozialen Nützlichkeit« im Rahmen der Woh1fahrtsgemein~ Schaft. Die Baustelle des ökologisch-feministischen Kommunismus bleibt Weitgehend offen. Dieser grobe und unvollständige Überblick über die Probleme des Marxis~Us angesichts der Herausforderungen durch die neuen sozialen Bewegungen, ~besQndere die Ökologie, könnte etwas von einem systematischen Verriss an SIch haben. Das war jedoch keinesfalls mein.e Absicht. Ich glaube vielmehr, dass das marxistische Erbe uns bestimmte wertvolle Werkzeuge an die Hand gibt, mit denen wir Probleme angehen können, wie sie sicb auf alle Fälle steHen. Es wäre schade, wenn wir zu ihrer Lösung auf die Methode und die ~egriffe eines der größten Genies unter den denkenden Schllfrohren. die wir Slll~ verzichten.
Literatur AJthusser, L. (1968): Für Marx. Frankfurt am Main. Benton, T. (1989): Marxism and Natural Limits. An EcoJogical Critique and ReconstructiOn. In: New Left Review. Nr. 178. . Bettelheim, Ch. (1970): Calcul econornique et formes de propriete. Paris [deutsch: Ökono. mischer Kalkül und Formen des Eigentums. Berlin 1970]. . BIdet, J./Texier, J. (Hg.) (199 J): Fin du communisme? Actualite du maoosme? ActllelMarx confrontation. Paris. Gorz, A. (1988): Metamorphoses du travail, quete du sens. Paris [deutsch: Kritik der . ~konomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeits~esel~sc~. Berl~n 2198?]. llpletz, A. (1983): Le monde enchante. De la valeur ci I' envol intlatJomuste. Pans [englische Version: The Enchanted WarJd. London 1985]. lipietz, A. (1989): Choisir l'audace. Une alternative pour le xxr siede. Paris.
ARGl~(ENT SONDERB..\.1IJD
Mn
NEUE fOL
Okologie und Marxismus
76
Lipietz, A. (1991): Les erises du marxisme: de la theorie sociale au principe d'esperance . In: Bidet/Texier 1991. Lipietz, A. (1992): Eeologie politique et movement ouvrier. SimiHtudes et differences. In: Politis la Revue. n° 1. [deutsche Version: Politische Ökologie und Arbeiterbewegung. Ähnlichkeiten und Unterschiede. In: Prokla 92/1993.23. Jg. Ne 3.] Lipietz, A. (1993): Vert esperance. L'avenir de l'ecologie politique. Paris [englische Version: Green Hopes. The Future ofPolitical Ecology. Cambridge 1995]. Marx, K./Engels, F. (1 966ff.): Werke. (zit: MEW) ü'Connor, J. (1993): La seconde contradiction du capitalisme: causes et consequences. In: Actuel Marx. Nr. 12 [englisch zuerst erschienen als: Capitalism, Nature and Socialism. A Theoretical lntroduction. In: Capitalism, Nature and Socialism. Val. ]. Nr. 1 (1988)]. Polanyi, K. (1978): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprunge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt am Main. Sophokles (1955): .Antigone. Stuttgart.
AIWl 'ME~T SONDEIHH.'''D NE! 'r-: FOI.GE AS
25~
Kette. Schuss und die Regulation: ein Werkzeug für die Sozialwissenschaften In Frankreich wechseln die Moden. Die Rocksäwne steigen über oder fallen ~ter das Knie; die Hosen werden wie E1efantenfiiße ausgestellt oder verengen SIch um die Knöchel. Ebenso geht es den Sozialwissenschaften. Zu Zeiten der Miniröcke und der Schlaghosen gegen Ende der sechziger Jahre herrschte der Strukturalismus. Handlungen und Antizipationen der Akteure spiegelten nichts anderes als' die Erfordernisse der Reproduktion der Sozialstrukturen wider. In den achtziger Jahren war die Kleidennode erheblich strenger und die MethodolOgie der Sozialwissenschaften eher individualistisch (was nebenbei die relatiVe Autonomie der Systeme der Mode beweist). Der methodologische Indivi& dualismus postulierte den Gedanken, dass die Strukturen nichts anderes seien als die aus Projekten und Praktiken »rational« handelnder Akteure zusammengesetzte Wirkung. Der Zusammenbruch der strukturalistischen Hegemonie Mitte der siebziger Jahre fiihrte dennoch nicht zur Konsolidienmg einer »vorherrschenden methodologisch-individualistischen Strömung«, Einfluss einer alten Tradition von Keynes und Durkbeim? Das inteIlektueUe Frankreich stürzte sich jedenfalls keineswegs Hals über Kopfauf das angelsächsische Modell, das von den >>neuen Ökonomen«, den »neuen SoZiologen« etc. schlüsselfertig importiert WUrde; es verkümmerte vielmehr. Meiner Ansicht nach überlebten, wenn auch Vom individualistischen Hintergrundrauschen dominiert, heterodoxe Strömungen, die sehr bald schon ihre Distanz zu den Exzessen des Strukturalismus markierten. Diese Strömungen versuchten, in die Welt der )Strukturen ohne Akteure« erneut das Ferment der Instabilität und der Veränderung einzuführen, das fi1r das mögliche Abweichen von Individuen oder sozialen Teilgruppen steht, ohne jedoch in eine Welt von »Akteuren ohne Struktur« zu fallen. Die ökonomischen Annäherungsversuche in Begriffen wie »AkkumuJationsregime« Wld »Regulationsweise« entstammen solchen Bemühungen. Von diesen Arbeiten hat man hauptsächlich die Ergebnisse beibehalten,. die aus der Analyse des Fordismus und seiner Krise vorlagen. AJs »Insider« möchte ich mer auf die inteI1ektueUe Suche zurückkommen, die der ÜbelWindung des unfruchtbaren Gegensatzes »Strukturalismus/Individualismus« zugrunde lag. Dieser Beitrag wird deshalb absichtlich subjektiv gefärbt sein: eine SelbstbeObachtung auf bestimmte Weise, die nicht für die zahlreichen Forscher Sprechen kann, die wie ich zu dieser theoretischen Strömung beigetragen haben. Sie wird umso subjektiver ausfallen, als sie sich nicht nur auf Erfahrungen des Forschers stützen wird sondern auch auf eine pädagogische Tätigke.it. Während der vorbereitend~n Arbeiten zu einem Kurzfilm-Projekt über die Regulation (Lipietz 1987a) bat mich ein Regisseur, vor seinen Augen die ZeiChnungen noch einmal anzufertigen, die ich gewöhnlich auf ein StOck ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS;ZS5
.J . I •
.,
l :"
·.··1
'. I.
. ,I
I
I
Kette und SchllSS
78
Papie.r kritzele, wenn ich nachdenk~) oder die ich während meiner E~k1äfUl1g: auf emer Tafel entwerfe. Nach semer Etfabrung lerne man auf diese "'!'e '", mehr über den Hintergrund eines Gedankens als aus einem noch so didaktJ sehen Vortrag. Bei dieser Gelegenheit wurde mir die paradigm~ti~che ~e:" tung klar, die ich unbewusst einer Metapher zugeordnet hatte, dte Ich belUt ~ in einer literarischen Fonnulierung in dem Bericht des CEPREMAP (197 benutzt hatte: nämlich die des Webens, der Kett- und Schussfäden und der Kämme (manchmal ersetzt durch die M.etapher von ldeinen Wasserwirbeln an Bruckenpfeilem).lch entdeckte, dass diese Metapher bereits meinen frühere~ Überlegungen bezüglich der »konkurrenzieUen und monopolistischen Prod~" on des Raumes« (Lipietz 1975) zugrunde lag. Die Art und Weise, wie ich ste dort bei der Behandlung der Beziehung »Akkumulationsregime/prozessierende Werte« verwendet hatte, war tatsächlich nicht weit von den Diskussiolfen über die )Ußsichtbare Hand« von Adam Smith entfernt. Geographen wie Hager.. strand (1970) hatten ebenfalls darauf zurückgegriffen, und sie stand in enger Beziehung zu der Art, in der bestimmte Soziologen wie Pierre Bourmeu oder Anthony Giddens ihrerseits versuchten, das Dilemma »StrukturlHandlung« aufzubrechen. Im Grunde führt sie auf eine Überlegung zurück, ~e ich ~or langer Zeit angestellt habe (LipietzlRouiUeault 1972; Lipietz 1973), nättlhcb über die Natur der menschlichen Realität als »objektives Subjekt« (Kosik 1986). Ein dialektischer Ansatz, der natürlich auf Spinoza zurückgeht (natura naturans und natura naturata) und sogar auf Heraklit - wohlverstanden auf dem Umweg über Karl Marx. Die Fruchtbarkeit dieser Metapher mächte ich hier darstellen, und zwar sehr frei und subjektiv, d.h. ohne großen kritischen Apparat. Ich hoffe, dass viele Forscher im Folgenden ihre eigenen inneren Schemata wieder erkennen und deren Anwesenheit ohne Probleme bei zahlreichen Autoren identifizieren werden. Ich werde mit einer kurzen Darstellung des kultureUen Klimas beginnen. in dem sich die Ansätze in den Begriffen der Regulation entwickelt haben. DaraIl anschließend werde ich auf einem »grundlegenden« Niveau die Vorstellung »Kert-/Schussfaden« entwickeln. 1m Anschluss daran werde ich dies anband eines ökonomischen und eines geographischen Anwendungsbeispiels verdeutlichen. Die Regulation zu ihrer Zeit in den Jahren 1975-76 entwickelte sich im Verlauf eines langen Seminars um Michel Aglietta und seine Doktorarbeit (1974) eine Diskussion. die die Arbei·
ten einer Gmppe des CEPREMAP (1977) inspirieren soUte. Auf einem be grenzten, aber doch bedeutenden Feld der französischen sozialwissenschaftli.. ehen Forschung war damals die Situation durch die Dominanz. aber auch p
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2S5
/(etle und SchtlSS
79
be~ejts durch de~ Niedergang des »strukturalistischen Marxismus« gekenn-
~elChnet, so wie er von der Schille um Louis A1thusser entwickelt worden war. eSsen grundlegende Thesen lassen sich wie folgt zusarrnnenfassen: I A: Die soziale Wirklichkeit ist ein Gewebe, eine Artikulation von relativ autonomen und spezifischen Verhältnissen, die sieb gegenseitig überdetenninieren (auch wenn einige gnmdIegender sind als andere): ein »immer schon gegebenes und überdetenniniertes Ganzes mit Dominante«. B: Jedes dieser sozialen Verhältnisse reproduziert sich als Resultat von Handlungen seiner)} Träger« (<
I
leb spreche hier nur über ontologische, nicht aber über epistemologische Thesen, und ich halte mich an den »klassischen« Althusserismus, den des Lire le Copilot (Althusser et al 1965). Zu einer genaueren Diskussion siehe LipietzIRouilleault (1972) und Lipietz (1973, ] 9793, ] 988). ARGUMENT SONDiiRBANIl NEUE FOLG" ..\S 25 ~
-
Kette und Schuss
80
liegt sie allen unseren Arbeiten zur tayloristischen Organisation der Arbeit, ihrer Krise lUld Überwindung zugrunde. These B dagegen und These D, die im GfWlde deren logische Folge l.llld deren Illustration darstellt, bilden »die schlechte Seite« des Althusserismu~. Mit diesen Thesen partizipiert dieser an der strukturalistischen Hegemo~le seiner Zeit) die, von Levi-Strauss bis Lacan, überall das »Subjekt« und seme Autonomie in Zweifel zog, und dies gewiss als Reaktion auf die vorausgegangene Mode, nämlich den Existenzialismus und die Philosophie der Praxis. N~ findet der Individualismus (zum Beispiel als Subjektivismus des »Industnekapitäns«) seine erste Illustration (und vielleicht seine ökonomische Best~ mung) in den Warenverhältnissen (1. Kapitel des Kapital), in der Autononne der >}Unabhängig voneinander ausgeübten Privatarbeiten«, die nachträglich ihre gesellschaftliche Validierung suchen. Indem Althusser über dieses 1. Kapitel den Mantel des Noah2 wirft, streicht er auf einen Schlag das Subjekt, den Widerspruch und das Warenverhältnis. Indem Balibar diesen Gedanken weiterentwickelt, gelangt er dazu, die Existenz des strukturellen Widerspruchs arn Ursprung der Krisen zu negieren: Eine Struktur ist dazu bestimmt, in ihrem Sein zu verharren. Von der Vorstellung, dass »alles für etwas gemacht ist«~ ist es dann nur noch ein kleiner Schritt: der Funktionalismus. Emmanue1 Terray (1977) erklätte das sehr gut: »Wir haben häufig gesehen, wie das ganze überkommene Arsenal funktionalistischer Interpretationen, begünstigt von Überlegungen über die Reproduktion, wieder eingeführt wurde: Sie Reproduktion wird als ein finaler Grund betrachtet, der die Gesamtheit der Strukturen und analysierten Institutionen in Gang hält [... ]. Um diesen Fehler zu vermeiden, muss man sich vor allem klar machen, dass die Reproduktion kein Ziel sein kann: Nur ein Subjekt kann sich ein Ziel setzen. Doch die Gesellschaft ist kein Subjekt. [ ... ] Das, was reproduziert wird, 1st gerade und zuallererst ein Widerspruch [... ]. Vom Gesichtspunkt der Reproduktion aus ist es entscheidend zu verstehen, wie der Kreislauf von Produktion und Distribution selbst beständig die heiden Begriffe dieses Widerspruchs, also des grundlegenden Produktionsverhält~ nisses, zur Geltung bringt: Herrschende und Beherrschte, Ausbeuter und Ausgebeutete.; wie die Ersteren versuchen, den Krisen zu begegnen, in deren Folge rueser Widerspruch überwunden oder gelöst werden könnte; wie die Letzteren dagegen mehr oder minder bewusst bestrebt sind, i1m abzuschaffen oder sich diesem zu entziehen. Die Reproduktion in ihrer Gesamtheit ist zugleich der Einsatz ihrer Konfrontation und ihr Ergebnis«. (Terray 1977, 140) Rückblickend kann man ermessen, wie sehr diese funktionalistische Illusion durch die lange fordistische Wachstumsperiode ohne Krise bestimmt war ohne Krise »in der Zirkulation«. »Zirkulationismus« war damals in den Debat-
2
»)Mantel der Scham«, vgl. 1.Mos.9,23 (Anm.d.Übers,J.
ARGI'MENT SONDERBAND NEl TE FOLGE AS 255
Kette und Schuss
81
ten unter den Marxisten (besonders in der Kritik an Rosa Luxemburg, aber auch in der Analyse der Beziehungen »ZentrumlPeripherie«) eine Beleidigung. Man hatte sich an die Produktion zu halten, an die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit. Auch Michel Agliettas Doktorarbeit hllidigte diesem Ritus: Man musste Hunderte von Seiten durchstehen, die der Analyse der Beziehung Kapita1JArbeit gewidmet waren - glücklicheIWeise gebrochen in das Verhältnis der Arbeitsorganisation und das Verhältnis der Distribution des zugefügten Wertes -, bevor die Existenz autonomer Kapitale auftauchte. 3 Doch diese )}Brechung« genügte, um den Widerspruch in der Reproduktion dieser komplexen BeziehlUlg hervortreten zu lassen, also die Möglichkeit einer Krise, und damit das Problem der Regulation. Es war Zeit: Die Krise des Fordismus war soeben ausgebrochen. Geben wir es zu: Die Einführung des Begriffs Regulation genügte keinesWegs, um die funktionalistischen Zweideutigkeiten verschwinden zu Jassen, die sich mit dem Begriff der Reproduktion verbinden. In den ersten Fonnulierungen Michel Agliettas (in bestimmten Publikationen, die aus den Forschungen des CEPREMAP 1977 hervorgegangen sind) bezeichnet »ReguJation« lediglich das. »was nötig ist, damit die Reproduktion trotzdem stattfindet«. Offensichtlich haben wir, um die Krise zu erklären, das zu erklären versucht, Was zuvor eben nicht in. der Krise war, nämlich den Fordismus. Die »ReguJationsweise« wurde eher in der Foun ihres Resultats bekannt als etwa ausgehend von einer vorangehenden Diskussion über dieses» Trotzdem«, über den Widerspruch lUld die Tendenz zur Krise (die die Regulationsweise als instabiles Resultat aufzuhalten hat): Man kann äußerstenfalls von einem »Ex-postFunktionalismus«4 sprechen. Dazu muss gesagt werden, dass der Platz bereits besetzt war. Regulation War schon schwer belastet durch die berühmte Definition von Georges Cangujlhem in der Encyclopaedia Universalis: »Die Regulation ist das irgendeiner
------------------Dem erwähnten Seminar folgend, räumt das Buch von Aglietta (1976) der Warenbeziehung, die .in diesen Arbeiten eine wachsende Bedeutung gewinnen sollte, den ersten Platz ein. ~ Ich habe viele Seiten meines Buches (I919a) dazu verwendet, unsere Konzeption der Regulation gegenüber dem Funktionali smus abzugrenzen und die Regulation auf die Dialektik zu- gründen. In der zweiten Auflage seines Buches (1976) bestätigt Agliefta ebenso wie später Boyer (1987) sein Einverständnis mit dieser Kritik des Funktionalismus, Dennoch eine Anmerkung. Die Studenten sollten vor dem FunktionaJismus gewarnt werden, vor dem Glauben daran, daß das Resultat eines Mechanismus oder einer Institution schon die Ursache seiner Existenz sei. Doch im Stadium der Untersuchung, wenn man zum Beispiel einen unbekannten Apparat auseinander nimmt, ist es von Nutzen, sich die bei den grundsätzlichen Fragen des Funktionalismus vorzulegen: »1. Wie funktioniert das alles? 2. Wozu dient eS?K 1
ARGUMENT SONDERBAIoYD NEUE FOLGE AB l$S
L
Kette und Schuss
82
Regel oder Nonn konfonne Anpassen einer Vielzahl von Bewegungen oder Vorgängen tUld ihrer Auswirkungen oder Produkte, deren Diversität oder Aufeinanderfolge sie zunächst untereinander unvereinbar macht« «Zunächst unvereinbar«, »irgendeiner Regel konfonn«: Diese Definition war auf unrettbare Weise mit zwei Fehldeutungen behaftet Zunächst wurden »Bewegungen« oder» Vorgänge« nicht als (in ihrer Divergenz) vom Widerspruch eines einzigen Verllältnisses induzierte aufgefasst Sodann schrieb diese Definition eine teleologische Norm, einen Finalismus fest, aus dem automatisch der Funktionalismus folgte. Der »Zweck« der Anpassung erschien als der Existenzgrund des Regulationsapparates, dessen Aufbau man irgendeinem menschlichen oder göttlichen Architekten anvertrauen konnte. Die Systemtheorie, die Kybernetik, brauchte nur noch ihre rückwirkenden Funktionen ausschmücken. Doch selbst in der kybernetischen Fasstulg stellte die »regulationistische Welle«, die in den siebziger Jahren mit den Namen Attan, Thom, Prigogine und Atta1i 5 sichtbar wurde, einen enonnen Fortschritt im Vergleich zum Strukturalismus dar. Während die Gesamtheit der Vorstellungen ood Identitäten zerbröckelte, die zu Zeiten des Fordismus Gültigkeit erlangten (was ich heute als »hegemoniales Gesellschaflsparadigma« bezeiclmen WÜrde - A.L. 1986), ~eichneten sich neue soziale Bewegungen ab, die anscheinend das soziale System regenerieren konnten. Alain Touraine (1978) und Regis Debray (1978) - der eine zustimmend. der andere ablelmend - stellten theoretische Überlegungen über diese Fähigkeit kollektiver Akteure an, festgefahrene Systeme so zu verändern, dass sie ein neues Gleichgewicht erhalten. Für Jean-PietTe Dupuy (1977) wurde die »Autonomie der Akteure« zur Vorbedingung einer »strukturellen Stabilität« der Gesellschaft. Darin liegt ein fruchtbarer Gedanke, mit dem allerdings eine Wendung beginnt, die doch schon sehr bald in die Gefahr gerät, die Rigidität schwerfälliger, aus der Vergangenheit ge,erbter Strukturen sowie die Notwendigkeit institutioneller Kompromisse zur Stabilisierung der Innovationen außer Acht zu lassen. Die Schwierigkeiten der aufeinander fo1genden Regierungen (rechte wie linke) in den Jahren 1974 bis 1986, solche Kompromisse vorzuschlagen, die es ermöglicht hätten, ein neues EntwicklWlgsmodeU zu regulieren, wird nun in der Gesellschaft zum Triumph liberaler Ideologien führen, auf jeden Fall aber den Vormarsch des methodologischen Individualismus oder der »Mikrosoziologie« auf dem Feld der Sozialwissenschaften erleichtern (vgl. GuiUaume 1987). Wie ich schon erwähnte, war dieser })Vonnarsch« weit davon entfernt, ein totaler Triumph zu sein. 1m gleichen Zeitraum erlebten die Arbeiten der Ecole des Annales und insbesondere die eines Georges Duby oder eines Femand Braude] ihre Bestätigung in der breiten Öffentlichkeit. Diese Arbeiten räumten ~
Vgl. 1,.B. das Organum der Encyclopaedia Universalis.
ARGUMENT SONDERBA."'lD NEUE FOLGE AS 255
Kette und Schuss
83
dem ~ortbestand der schwerfhlJigen Strukturen größere Bedeutung ein, dem GeWIcht der auf dem Alltäglichen lastenden Normen, dem geringen Maß der Freiheitsräume, die den Initiativen von Individuen oder Gruppen zur Verfügung stehen. Desgleichen wurde der Erfolg von Werken aus der Schule um Bourdieu niemals in Abrede gesieJlt: Das Kollektiv »Revolte Logique« (1984) konnte von dem »empire du sociologue« sprechen. Der Fall dieser letzteren Schule ist besonders interessant. Nach einer ver~ breiteten Sichtweise liegt deren konstitutive These sehr nahe bei der althussersehen: die Strategien der Akteure (Funktionen ihres })Habitus«, der den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft verkörpert) können nur dazu beitragen, die Struktur der existierenden Dinge zu reproduzieren. Als Karikatur: wie der Vater, so der Solm, so die Hoffinmgen, die Bestrebungen und die Resultate. Doch das ganze Problem besteht darin, wie viel relative »Macht« man den Strategien und den Strukturen jeweils zuspricht. Bezeichnenderweise wurde Bourdieu von zwei Seiten systematisch kritisiert: natürlich als Strukturalist, aber ebenso als methodologischer Individualist, und von Claude Levi-Strauss sogar als »Spontaneist«!6 In Wirklichkeit jedoch führte die Vertiefung der Begriffe des Habitus und der Strategie die Schule Bourdieus selbst dazu, die gleichen Probleme zu untersuchen wie die Schule der Regulation - aber auch bestimmte Historiker der Anna/es wie G. Duby.7 Das schöne Buch von Luc Boltanski (I 990) zeigt, wie auf der Basis sich allmählich wandelnder sozialer Strukturen die Gruppe der »cadres« (leitende AngesteHte und Führungskräfte) sich in den Jallfen 1930 bis ] 950 selbst begründet und damit einen zentralen Platz in der »Lohnarbeitsgesellschafl« eingenommen hat (AgliettaIBrender 1984), die die französische Form des for
(\ 1n seinem Beitrag zum L 'empire du sociologue reduziert 1. Ranciere einfach die Soziologie Bourdieus auf dessen eigene Position im Lire le Capital: »Le sens pratique [des agents] n' est jamais que ruse de la raison ... Le systeme reproduit son existence parce qu'il est meconnu.« Doch der »sens pratique«, »l'habitus«, die »strategie« bei Bourdieu, die den Akteur, die Aktion und die Praxis wieder einfUhren, entbinden nach C. LeviStrauss von einer Kritik des Strukturalismus, »die ein biß.chen in aller Munde ist und von einem modischen Spontaneismus und Subjektivismus inspiriert wird«. (Vg1. Bourdi.eu 1992,81ff). 7 Siehe Le mariage dans la socMte du haut Moyen Age in Duby (1988). R Wenn Luc Boltanski in seinem Buch alle schöpferischen und sogar transformatorischen Möglichkeiten ausbreitet, die vom Konzept des Habitus gegen eine mechanistische Si~ht der Reproduktion vorgebrachte werden, vergißt er keineswegs die Ausb~utungs~ezJ~~ hungen (im marxistischen Sinn), die dem »Klassenkampf« so zugrundehegen Wie die Geologie einer Geomorphologie. Unglücklicherweise scheinen mir seine letzten AIbeiten (Boltanskirrhevellot 1987), so gefällig, suggestiv und )}opera~iv« sie auc~ s~~ mö~e~, ein Umkippen in Richtung auf eine exklusiv »äußere« (exoten sehe), also mdiVlduallsu· sehe Annäherung an die Sozialbeziehungen anzudeuten: wir werden darauf zurück· ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS :l5S i
L
i '
84
Kette lind Schuss
Dies ist der intellekiuelle Kontext, wie er in gegenseitigem, mehr od~r weniger kontrolliertem Austausch gew ebt wurde und wie er meine theoretIschen und pädagogischen Überlegungen zwn Begriff der Regulation beförd ert hat. Die Dialektik und das Weben
,
. I
i.
I,
«Sie [die Menschen - Anm.d.Übers.] begreifen nicht, dass es [das All-Eine~ ~ auseinander strebend, mit sich selber übe reinstimmt widerstrebende Harmome wie bei Bogen und Leier« (vgL Capel le 1968, 134). Dieser berühmte Satz Heraklits bildet den Ausgangspunkt des sen, was unsere Kultur Dialektik nennt, und das Bild des Bogens scheint mir eine gute Stütze für jeden Entwurf übe r den widersprüchlichen Charakter soziale r Verhältnisse zu sein. Die Schwierigkeit liegt offensichtlich darin, ein Beispi el zu ge~ ohne zuvor dieses Beispiel als ein solches zu behandeln: das Waren verhältnis, das Lohnverhältnis. Dann ist es eine bequeme Abkürzung, als Be ispiel ein Liebesverhältnis zu wählen, zumal die Studierenden hier im Allgem einen bereits über Erfahrungen verfü· gen. Sollte das nicht der Fall se~ so werden wir zum Beispiel aufMolieres Der Menschenfeind hinweisen. «Eine« Liebe (ein Paar in seiner Gesch ichte) ist offensichtlich ein soziales Verhältnis. Und das im doppelten Sin n: Erstens ist sie eine Beziehung zw ischen zwei Personen, zweitens entwic kelt sie sich nach einem Modell, einem »Schnittmuster« es stellt eine anerkannt e gesellschaftliche Foun dar, die sicb jedem bestimmten Paar als präexistente erweist. Das Bedürfnis der Menschen , sich zu Paaren zusammenzutun) ist sic1 1erlich sehr alt, die Ausgestaltung dieser Paarbildung als »)Liebe<\ ist dagegen zie mlich neu (sagen wir, dass sie sich in Frankreich bei den Mjttelldassen etw a im 17. Jahrhundert durchgesetzt hat ). Dazu ist es nötig, dass sich die Individ uen bereits als Subjekte begreifen (wa s eine durch die Gesamtheit der sozialen Verhältnisse überdetenninierte Bedingung darstellt) und dass sie einen Mange l spüren~ der durch die Liebesbeziehung ausgeglichen werden kann: Das lern en sie am Beispiel und in der Kultur,. und schließlich durch Erfahrung. Die inn ere Bereitschaft, sich in eine Liebesbeziehung zu verstricken. erscheint also als eine Eigenschaft des Individuums, sie realisiert sich jedoch nur als zw ischenmenschliches Verhältnis (sie ist unmittelbar sozial) und gemäß einem »Schnittmuster« (sie ist indirekt sozial) . Die Untersuchung dieser Bereitschaft, die sich kaum vom bourdieuschen Habitus unterscheidet, ist Gegenstand der Psychoanalyse, die sich schwer tut, das Soziale und das Biologische ausein ander zu halten. Halten wir uns an das kommen. Genau diese-Entwicklung (de r allgemeinen Entwicklung konfonn) bem erken wir auch bei AgliettalOrlean (1983). Me ine davon abweichende Auffassung hab e ich in den Texten (1983a,b) ausgeführt
ARGUMENT SONDERBAND NEL'E FOLG E AB
2SS
Kette und Schuss
WesentJiche, wie es Lorenzü da Pünte in Figaros Hochzeit durch den Mund Cherubins v,erkündet ,I,'
.
«Ihr, die ihr wisst,. was Liebe ist, seht, ihr Frauen, ob ich sie im Herzen hab ... Ich suche ein Gut, das ich nicht habe, ich weiß nicht, wer es hat, ich weiß nicht, was es ist ... und doch gefällt mir dies Gefühl der Mattigkeit. 9
Dlese Suche nach einem Gut auß,erha1b seiner selbst wird mehr oder weniger durch die Paarbildung zufrieden gestellt, oder im Mystizismus, im Ehrgeiz, in der Arbeit etc. Die gesellschaftliche Existenz von Liebespaaren beruht keineswegs auf einer zusammengesetzten Wirkung von individueUen Strategien der ~uche nach dem Glück. Wir sagten schon, dass sie eine historische Erfindung 1St. Für jedes einzelne Individuum jedoch ist die Gestaltung und die Aufrecht,erhaltung der Beziehung das Resultat einer (mehr oder weniger kooperativen) Strategie. Das Zusammentreffen zweier Personen, die zur Liebe beteit sind, liefert also nur den »Rühstoff« für eine Liebe, ihre biologischen »Träger« (wie Althusser sagt; i.O. deutsch). Jedoch ist es erst die Liebesbeziehung, die sie zu Liebenden werden lässt. Man int,eressiert sich kaum dafür, wer .oder was die Liebenden bei MoJiere waren, bevor sie sich kennen lernten. Darin tut man ihnen vielleicht Unrecht, doch werden wir darauf zurückkommen. Weder die Liebenden noch die jeweilige Liebe sind allein auf der Welt. Bevor wir die sozialen Verhältnisse der Liebe analysieren, muss daran erinnert werden (These A vün Althusser), dass sie vün anderen soziaJen Verhältnissen überdetenniniert werden. Beginnen wir mit den Verhältnissen (im Falle heteros,exuel1er Liebe), deren Träger mit denen der Liebesbeziehung zusammenfa1len,. die aber nicht nur deren Reflex oder ihr Opiwn ist: sügenannte phallokratische oder Beziehungen »nach Vürschrift« (<<de sexage« - Guillaumin 1978). Und noch allgemeiner, die Gesamtheit der patriarchalischen Beziehungen (und insbesondere diejenigen Beziehungen, die die Liebenden an ihre Eltern binden). Und selbstverständbch die sozialen Verhältnisse der Produktion und der Distribution vom Typ der Warenverhältnisse, die die ökonomische Unabhängigkeit der Individuen mit detenninieren. Und schließlich die juristischen Verhältnisse, die auf schwerwiegende Weis,e eine EntscheidlUlg gemäß, Hirschman (1974) überdeterminieren können: » Voice, exil, or lüyalty«.
9
Mozart: Die Hochzeit d.esFigaro, Akt 11, Szene 2. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AB 255
L
:',
;;
Kette und Schuss
86
Aber was ist dann die Liebesbeziehung? Ein Verhältnis, in dem jeder sein Glück, seine Selbstverwirklichung im anderen sucht - mit variablen Anteilen von Hingabe, Identifikation, Vereinigtmg, was geradezu die Autonomie der beiden Partner voraussetzt und einschließt. Kurz, die Liebesbeziehung eint und trennt die Liebenden, da die »Vereinigung« der beiden zugleich Mittel und Hindernis der individuellen »Erfüllung« fur jeden von ihnen ist. Wie jedes soziale Verhältnis ist auch die Liebesbeziehung ein Widerspruch, ganz genau wie das Warenverhältnis. Kirchen und wohlmeinende Sexologen können leicht predigen, dass »man sich hingeben muss, um sich zu finden«, ähnlich wie die liberalen Wirtschaftswissenschaftler, die stets wiederholen, dass das Verfolgen privater Interessen zum kollektiven Wohlstand führt. Das ist manchmal richtig, aber nicht immer. Wenn es richtig ist, sind wir »)im Regime«, wenn es falsch ist, sind wir »in der KriseK Kehren wir zum Bild des Bogens zurück. Wir können einen Widerspruch als ein Verhältnis bestimmen, das zwei Pole in ihrer Einheit und ihrem Gegensatz definiert. Die uns hier interessierenden Widerspruche sind soziale Verhältnisse, darunter auch die LiebesbeziehlUlg. Jedes soziale Verhältnis, das in der menschlichen Gesellschaft (mit Überdetenninationen) existiert (ob es sich nun um ein Paar oder eine Nation handelt), sclmeidet aus dieser Gesellschaft ein System von Stellungen heraus, seien diese hierarchisiert Kampf (KapitalistenILohnabhängige) oder nicht hierarchisiert (LiebendelTauschpartner). Diese Stellungen Einheit sind innerhalb des sie definierenden Verhältnisses komplementär: Unter , diesem Blickwinkel ist das Verhältnis eine Struktur. Aber diese StelAbbildung 1: lungen halten :fur die sie einnehmenDer Bogen des Widerspruchs den Individuen eine Rolle bereit, die mehr oder weniger dem entspricht, was sie als ihr Interesse wahrnehmen (insbesondere im Vergleich zu anderen Stellungen des gleichen Verhältnisses oder anderen Stellungen in anderen Verhältnissen oder gar zu körperlichen Bedürfuissen). Ob sie nun »das Spiel verweigern« oder »ihren Platz einnehmen«, um »ihre Chancen zu verbessern« - die Individuen innerhalb des Verhältnisses sind notwendigerweise entgegengesetzt. Und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein Negativsummen- oder Positivsummenspiel handelt. Selbst das Geschenk ist ein Gegensatz (Potlatsch in den Warenverhältnissen, zudringliche Hingabe in den Liebesbeziehungen). I
,, I.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2S5
,
i
_tl
Kette und Schuss
87 ~;
Als innere Bereitschaft haben wir die Befahigung bezeichnet. eine Rolle zu übernehmen und zu versuchen, seine Chancen zu verbessern, und wir haben ~ese Bereitschaft mit Bourdieu dem Habitus gleichgesetzt. Davon ausgehend gIbt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder fUhrt die Fortsetzung des Spie1s, d.h. das Erleben der Beziehung über eine gewisse Zeit hinweg, zu ihrer Auflösung - und es ist schwierig, von einem sozialen Verhältnis zu sprechen (höchstens von einer vorübergehenden Interaktion) oder sie führt zur Reproduktion der Beziehung, und es ist genau diese Reproduktion der Einheit, die es uns erlaubt, von einem Verhältnis zu sprechen. Man kann daher die R,eproduktion eines Verhältnisses in ihrem zeitlichen Ablauf darstellen, sei es unter dem Blickwinkel des Widerspruchs oder dem der Stellungen. In den beiden »Abteilungen«, die wir a1s Liebesbeziehung definieren, finden wir über längere Zeit Celimene und Alceste, PanI und Virginie, Colin und Chloe in ihren Stellungen. Aber vom Gesichtspunkt der diese Stellungen einnehmenden Individuen steUen sich die Dinge anders dar. Sie sind Akteure ihrer Liebesgeschichte, sie spielen eine Rolle, -~---t---~i-'" Zeit durch die sich das Verhältnis ood die Stellungen reproduzieren. Das, was es ilmen erlaubt, diese RoHe Abbildung 2: derart zu spielen, dass (und nicht Die Struktur in der Zeit unbedingt »damit«) ihre Beziehung sich reproduziert, ist offensichtlich ihre Verfügbarkeit (ihr Habitus), aber auch die Wahrnehmung, die sie von den Absichten deslr anderen gewinnen, und eventuell ein äußerer sozialer Druck, der a1s verinnerlichte Norm (bei Marivaux) oder a1s explizite Institution (Ehe) erlebt wird. Daher ist Folgendes zu berücksichtigen: ]. die Bereitschaft, der Habitus, das Interesse, der individuelle Wunsch, und 2. ein repräsentationeUer Raum des Verhältnisses, an dem die Akteure teilhaben (eventuell eingera1unt von einem institutionellen Dispositiv). Beim gegenwärtigen Stand unserer Betrachtungen ist es nicht von Bedeutun~, ob die Beziehung egalitär oder hierarchisch, im gegenseitigen EinverständnIs oder a1s erzwungen aufgefasst wird, ob im repräsentationellen Raum ein (wirkliches oder unterstelltes) Kräfteverhältnis Berücksichtigung ~det. .In aUen Fällen setzt die Reproduktion des Verhältnisses eine gewisse »Uberemstimmung« (freiwillig oder erzwungen) über die Legitimität.ihres Fo~bestande~ Voraus. Selbst die Ausbeutungsverhältnisse implizieren, Wle ~tomo Grams~l gezeigt hat, die Einwilligung der Beherrschten: »Hegemome gep~ert ~lt Zwang«. Eine schwerwiegende Verirrung des methodologischen IndlV1dualisARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AB 25.5
L
.
!
;.
J
~.
Kette und Schuss
88
I'
,i
,
'
mus besteht gerade darin, jede Beziehung auf eine Übereinkunft zwischen Individuen, auf die Akzeptanz einer gemeinsamen Nonn zu reduzieren. Selbstverständlich existiert so etwas, aber es ist illusorisch, jedes Verhältnis auf eine Übereinkunft zwischen rechtlich Gleichgestellten, beispielsweise zwischen Bürgern einer Stadt oder zwischen Marktteilnehmem zu reduzieren. 10 Thukydides zufolge hatten die Athener während des Peloponnesischen Krieges mit der Stadt Milet Streit, weil diese sich weigerte, sich der Allianz gegen Sparta anzuschließen. Den Einwohnern, die sich auf das göttliche Gesetz beriefen, um ihr Recht aufNeutraHtät zu rechtfertigen, antworteten die Athener: »Die Gesetze gelten nur unter Gleichen. Unter ungleichen Kräften entscheidet die Gewalt«. Es versteht sich von selbst, dass ein solches Legitimationsprinzip nur ad hoc funktionieren kann. In einem stabilen Reich muss sich die Anerkennung der Hegemonie auf andere Weise manifestieren, dennoch liegt aller Legitimation Gewalt zugrunde. Im Fall der Liebesbeziehung ist die Gewalt vom Prinzip her ausgeschlossen, doch die subjektiven Kosten des Verlustes lasten auf bei den wie ein Gewaltverhältnis (das gilt sowohl fiir Alceste als auch für Celimene). Jedenfalls bekommt die Abbildung 2 mittlerweile eine andere Wendung. Ausgestattet mit ihrem Habitus und der Vorstellung, die sie sich von ihrem Eingeschriebensein in eine Gesellschaftlichkeit (paar oder Reich) machen, entwickeln beide Akteure eine solche Strategie, durch die die Gesamtheit ihrer Entwicklungslinien im Laufe der Zeit so zusammen1aufe~ dass sie die Beziehung wieder neu bilden. In Abbildung 3 wird der Habitus der Akteure durch
10
In ihrer neueren Arbeit widmen sich BoltanskilThevenot der Aufgabe, das Dilemma »methodologischer IndividualismuslKollektivismus« zu überwinden und, genauer gesagt, das )}zentrale Problem der Sozialwissenschaften einer möglichen Übereinstim~ mung unter den Mitgliedern einer Gesellschaft zu lösen indem sie sich daranmachen, die Frage der Legitimität ernstzunehmen ohne sie zuguns~en einer Erklärung aufzugeben. die auf der ZuflUHgkeit, dem Betrug oder der Gewalt beruht« (1987, X). Sie konstruieren auf diese Weise eine Grammatik von Formen der Übereinstimmung, die in der po1itisc~~n Theorie oder in den Handbüchern des richtigen Benehmens erfasst werden. Solche Ubereinstimmungen korrespondieren mit den »Gemeinwesen«, den »NatureUs«. Auf den ersten Seiten läßt sich schön beobachten, dass die Fonn des Gemeinwesens nicht die einzig mögliche darstent (es existieren andere )Kosmen« und »Chaoswelten«, die die )}menschliche Gemeinschaft« der rechtlich Gleichgestellten nicht kennen. mit de?en man sich .?ennoch über eine soziale Ordnung einigt). Doch auf den weiteren Selten geraten dtese Vorbehalte in Vergessenheit. Der Umstand der »menschlichen Warenhandels« nimmt definitiv die Form einer intersubjektiven Übereinstimmung an. Bei den Fakten kehrt man zu einer Variante des methodologischen Individualismus zurück und verbannt die eigentliche Konfliktualität aus den sozialen Verhältnissen - eine Rücknahme hinsichtlich der Intentionen Bourdieus, »jene Situationen gedanklich zu fassen, in denen die konsensuelle Unterwerfung in und durch den Konflikt geschieht({ (1992,58).
ARGUMENT SONDERß.<\ND NElJt FOLGE AS 2!1!1
Kette und Schuss
89
einen ~einen Kreis 1.U1d ihr Vorstell1.U1gsrawn durch ein kleines Rechteck, durch ewe »Karte« dargestellt: Man sieht unmittelbar, dass AbbildWlg 2 Wld 3 sich auf bestimmte Wei~e gleichen. Epistemologisch sind die beiden fo1genden Aussagen »annähernd« ohne BedeutungsWlterschied: • die sie verbindende Liebe wirft ' Alceste und ecmmene von Akt zu Akt zurück in die SteHoogen von sich gegenseitig Liebenden, 00geachtet ihrer Charakteruntersclliede und ihrer Dispute, jedenfalls bis zur finalen Krise', • Alceste und Celimene sind zwei Subjekte, die sich gegenseitig an· I -+~~~. ~--+-----f.~ Zeit ziehen. die jeden Augenblick ihr Interesse abwägen, die Beziehung Abbildung 3: fortsetzen zu können, und nur die Die Entwicklungslinien Lektüre des Stückes verleiht ihren heiden miteinander verkoppelten Geschichten den Anschein »einer« Liebe, die schließlich unglücklich endet. Je nach Betrachtungsweise entscheidet man sich für ein strukturalistisches oder individualistisches Herangehen. Objektiv und »wirklich« ist dabei in meinen Augen nur, dass es ein relativ stabiles Geflecht von Verhaltensweisen gibt. Zu entscheiden, ob AbbiJdung 2 oder Abbildung 3 »wirklicher« wäre, ob die eine der anderen »Konsistenz« verleiht, hängt meiner Ansicht nach nur von der »Zweckmäßigkeit« ab: Das ist eine Eigenschaft des Diskurses, nicht der Realität. An dieser Stelle soUten wir kurz die Metapher vom Weben eines Schals einfUhren. Der Weber hat zunächst die Fäden der Kette in Position gebracht und auf diese Weise ein System transversaler Stellungen analog zu Abbildung 2 vor~ gegeben (horizontal). Dann hat das Schiffchen diese Stel1ungen durchfahren (vertikal) und so als Spur seiner EntwicklWlgslinie die Fäden des Schusses hinterlassen. Die Kämme halfen schließlich dem Schiffchen, sich auf seiner Entwicklungslinie dem System von Stellungen der Kette anzupassen. Wodurch aber gewinnt das Gewebe Konsistenz, wenn es erst einmal vom Rahmen gelöst ist? Ohne Kette würden sich die Schusstaden verknäulen. Ohne Schuss hätten die Kettfäden keinen Halt. Man könnte in der Art von AristoteJes behaupten lDld das entspricht meiner Grundrichtung ~, dass die Kette (die horizontalen Fäden i,n Abbildung 2) die Form und der Schuss (die vertikalen Bewegungen des Schiffchens) das Material für die Substanz des Gewebes Jiefem, Im Gegensatz dazu behauptet die positivistische Richtung (und hier verlassen wir die Metapher), dass die ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2S'
Keife und Schuss
90
einzig beobachtbare Wirklichkeit aus der Gesamtheit der Entwicklungslinien von Abbildung 2 besteht, während das System der Stellungen und die struktUf (die Fonn) nur im Kopf des Theoretikers existieren. Im Konkret-Gedanklichen (nach der Terminologie Althussers - vgl. Althusser 1968, 128), das auf überzeugende Weise das soziale Gewebe wiederzugeben sucht,ll ist es hingegen problematisch zu vergessen, dass die Akteure in der Tat ihrerseits voraus~e· e setzt haben, dass sie zusammen mit den anderen dazu beitragen würden, etn Liebesgeschichte oder die Geschichte eines Unternehmens, eines Staates ete. zu weben. Und aU ihre Strategien ergeben sich daraus. Celimene und Alces~e sind im Übrigen nur geisterhafte Wesen (die mit wirklichen Wesen zufällIg zusammenfallen können), die einem Schema Fleisch und Blut verliehen haben: • einer eigentümlich widersprüchlichen Liebe. 12 Halten wir uns deshalb an das Kriterium der Zweckmäßigkeit: Man kann die Geschichte erzählen, wie man wil1, sie wird niemals Wirklichkeit; und es geht danun, sie so gut wie möglich zu ·erzählen. Trotz der scheinbaren Berechti~g seines »Positivismus« vergisst der Individualismus, dass der »Habitus« und :'le })Karte«, über die die Individuen verfugen, Produkte eines gesellschaftltcb strukturierten Ganzen sind, die bereits vor ihren Handlungen existieren. Man stürzt sich nicht in eine Liebesgeschichte, wenn die Liebe noch nicht ·existiert, wenn die Paare von den Sippenältesten unter dem Gesicbtspunkt reproduktiver Strategien zusammengeführt werden. 13 Man versucht nicht, sich als Sklave ZU .i
Wir müssen hier der Epistemologie das Wort reden, Trotz seiner rituellen Ehrerbietung gegenüber den Kritiken Lenins gegen dem Empiriokritizismus verwechselt Althusser nicht das Konkret-Wirkliche mit dem Konkret-Gedanklichen, d.h. er ist nicht der Meinung, dass die abstrakten Beziehungen im Inneren der empirischen Realität anwesend sind, sozusagen in den tiefen Schichten der Kontingenzen eingemummelt. Dennochfütut der Strukturalismus dazu, die Existenz fundamentaler, versteckter Strukturen anzunehmen, die viel reeller sind als das mystifizierte Verhalten der Akteure, die von jenen »in Szene gesetzt« werden.lchhabe kritisch (1985a und b, 1987b) auf die Gefahren eines solchen »BegriffsreaJismuS« hingewiesen, und das schließt auch unsere eigenen Begriffe wie »Fordismus« und »peripherischer Fordismus« ein. 12 Unser Theaterbeispiel fuhrt Komplikationen ein, denn Theater ist eine Kaskade von Interpretationen, Ausgehend von einem zugrundeliegenden Erzählschema, das sich von Der Menschenfeind bis Vom Winde verweht ziemlich ähnelt, starten die Autoren ihre Personen (die jeweils Stellungen einnehmen) mit ganz unterschiedlichen Charakteren aus. Regisseure und Komödianten interpretieren ihrerseits diese Charaktere in ihrem eigenen Stil. Man könnte dem entgegenhalten (wie es Erzähltheoretiker tun), dass literarische Geschichten ihre eigenen Strukturen und ihre eigenen Bewegungsgesetze haben, die sich von denen der sozialen Wirklichkeit unterscheiden. Wir können an dieser Stelle ohne weiteres zulassen, dass - wenn das Leben kein Roman ist - das Theater Molieres selbst das Leben ist. 13 Das ist nicht nur der Fall in den Stammes-- und Standesgesellschaften. die die Afrikanisten analysieren, sondern auch in der französischen AdelsgeseUschaft des MittelalterS (Duby 1988) und sogar in der Bauernschaft des französischen Baskenlandes (Bearn).
11
!
I.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255 .
, I
Kette und Sehrl5s
91
verkaufen, wenn die einzig zulässige Fonn produktiver Unterordnung die der L~hnarbeit ist. Ansonsten kann man ein geliebtes Wesen, das einen nicht liebt, nut aller Beharrlichkeit verfolgen - unter der Bedingung, dass es einem Aufmerksamkeit schenkt, selbst auf sadistische Weise. 14 Die Lol V. Stein der Marguerite Duras erlebt unter dem Fenster des Erzählers nicht »eine Liebe« (dOCh Tatiana Karl erlebt sie). Ebenso kann man sich um eine Anstellung bewerben, weil man ja weiß, dass es Lohnarbeit gibt - tmd dennoch arbeitslos bleiben. Die Analyse des wirklichen sozialen Gewebes muss daher von der Existenz sozialer Fonnen ausgehen, die von den Akteuren anerkannt werden (~elbst wenn die Theorie davon eine andere Vorstellung als die Akteure hat IS); SIe muss die Institutionen markieren, die ihre Fonnen tragen, und die Bereitschaft der Akteure berücksichtigen, die geforderten RoUen zu übernehmen. Man überscbreitetjedoch die Grenzen der Zweckmäßigkeit (in Richtung auf den Strukturalismus), wenn man das Spiel der Akteure auf ihre Rolle reduziert. Das hieße zu vergessen, dass jeder seinen eigenen Stil hat. 16 Mit anderen Worten: Der Habitus ist kein Programm, das das Individuum dazu bestimmt, sicb auf triviale Weise den Erfordernissen der Reproduktion anzupassen. Der Habitus ist eine innere Bereitschaft, das Spiel zu spielen, jedoch entsprechend den eigenen Absichten - und sogar das Spiel aufzugeben, wenn si.ch Mög1ich~ keit und Interesse bieten. In diesem Sinne reproduziert der Habitus nicht einfach nm' die Wirklichkeit: Er transfonniert sie, er bringt sie sogar hervor. 17
14
IS
Der Menschenfeind konstituiert. eine bemerkenswerte kulturelle Revolution in dem Sinne, daß die Liebesbeziehung hier »soziologisch rein«, d.h. unabhängig von Stammesbeziehungen auftritt, die noch im Zentrum des klassischen Theater standen und erst bei Marivaux verschwinden werden (vgl. Lipietz 1988). »11 suffit de fes yeux pour t 'en persuader/Si tes yeux un moment pouvaient me regarder.« [Genug sagt' ich, die Augen dir zu öfthen./So sei es denn! So lerne Phädra kennen ... ] (Racine, Phädra, 11, .5.) Über die Bedeutung der inteHelctueUen Kodierung von Sozialbeziebungen, die Bourdieu (1987, 103 und 142) als »Theorie der Effekte« bzw. ;{fheorie-Effekt« bezeichnet, vgJ. Lipietz I 985b.
Die Unterscheidung in Stellu/lg, Rolle und Stil verdankt sich maßgeblich langen und fiuchtbaren Diskussionen mit Jane Jenson. Mit »Stil« bezeichnen wir die dem Akteur eigene Art und Weise, seine Rolle zu spielen, Dieser eigene Charakter ist nicht voUständig durch die Beziehung determiniert, sondern durch die Erfahrung und die anderen »Naturells«, an denen der Akteur teilhat. 17 »Warum nicht >habitude<,Gewohnheit? Unter Gewohnheit wird spontan etwas Repetitives, Mechanisches, Automatisches, eher Reproduktives als Produktives verstanden. Ich wollte aber den Gedanken betonen, daß der Habitus eine sehr stark produktive Größe ist. Der Habitus ist, kurz gesagt, ein Produkt von Konditionierungen, das die objektive Logik der Konditionierung tendenziell reproduziert, sie dabei aber einer Veränderung unterwirft; er ist eine Art Transformationsmaschine, die dafilr sorgt, daß wir die sozialen Bedingungen unserer eigenen Produktion >reproduzieren<, aber auf eine relativ unvorhersehbare Art, auf eine Art, daß man nicht einfach mechanisch von der Kenntnis der 16
L
ARGUMENT SONDERBAND :-JIVE FOLGE AS 2SS
';
;
,
i
Kette und Scml55
92
Die Weigerung, Verhaltensweisen tUld Intentionen auf die Erfordernisse der Struktur zu reduzieren, ist bekannteIIDaßen die Bruchstelle des »dialektischen« Materialismus von Marx mit dem )}metaphysischen« Materialismus Feuerbachs (wobei »metaphysisch« hier die Hypostase verewigter Strukturen bezeichnet): »Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der ErziehlUlg vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss ... Das Zusanunenfal1en des Ändems der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstverändenmg kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.« (MEW 3, 5f.) Diese PositionsbestimrnlUlg, die Bourdieus Bruch mit dem StrukturalismUS beeinflusst hat (vg1. 1992, 31). geht weit zurück und bestätigt sich machtvoll im gesamten Werk von Marx. Seit seiner philosophischen Dissertation über den Unterschied der Naturphilosophie bei Demokrit und Epikur identifiziert der junge Marx den geradlinigen Fall als »relative« Existenz des Atoms, so wie es »an sich« durch seine Beziehung zwn übrigen Raum determiniert ist, und seine Deklination als die Manifestation seines »fiir sich«: »Die Bewegung des Falls ist die Bewegung der Unselbständigkeit ... so kann vom Atom gesagt werden, die Deklination sei das Etwas in seiner Brust, was entgegen kämpfen und widerstehen kann.« (MEW EB 1,281). Diese Denkfigur, die mögliche Divergenz in Bezug auf eine durch die Totalität detenninierte Tendenz, ist die »Deklination«, das »Klinamen« des Lukrez, deren Ähnlichkeit mit der differenziellen Beweisführung Michel Serres (1977) gezeigt hat. Ich schematisiere sie folgendennaßen: Diese Figur findet man bereits in der berühmten These vom 18. Brumaire de Louis Bonaparte: »Die Menschen machen ihre eigene Geautonome Entwicklungslinie schichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen Tendenz und überlieferten Umständen« (MEW 8, 115), die als Ausgangspunkt von Anthony Giddens (1988) beansprucht wird, wenn auch er verAbbildung 4: sucht, das Dilemma StrukturalisAutonome EntwicklW1gslinie und musIIndividualismus zu überwinden. Tendenz Wir nehmen hier unsere Metapher wieder auf: Die Schussfaden hätten die Möglichkeit, von ihrer vorbestimmten Stellung auf der Kette abzuweichen und dadurch Löcher oder Falten im Gewe-
ProduktiDnsbedingungen zur Kenntnis der Produkte gelangt,« (Bourdieu 1993, 128) ARGUME:-iT SONDERBAo"\1D NEUE FOLGE AS 255 i
.
Kette lind Schu.fS
93
be erscheinen zu lassenl Eben darum gibt es Krisen und steIlt sich das Problem
der Regulation ...
Doch warum laufen die EntwickJungslinien auseinander? Man könnte antworten, )warum rucht?«, wenn man an die Freiheit des Menschen glaubt. und sei sie auch noch so klein. 18 Man könnte aber auch versuchen, dafiir ~ositive Gründe zu finden. Sie gehören zwei Ordnungen an, die in ihrer theoretischen Legiti.m.ität gleichwertig sind, aber in ihrer Bedeutung von Fall zu Fall variieren. Zunächst die für das Verhältnis externen Gründe. In ewern überdetenninierten Ganzen gehört jeder Akteur zu mehreren Strukturen, ist mit mehreren )}Habitus« ausgestattet, gehört zu mehreren »Gemeinwesen«, zu mehreren »Naturel1s« - wie es BoltanskilThevenot (1988) nennen würden -, die alle dazu beitragen, semen »Stil« zu definieren. Er kann also zu der Auffassung gelangen, die Stellung und die Rolle, die ihm im Namen anderer Normen oder anderer Interessen zugewiesen wurden, anzufe·chten oder sogar aufzukündigen. Umgekehrt sind Fonn und Geschichte »eines« konkreten Verhältnisses ihrerseits von den Stilen abhängig, über die die Akteure selbst verfUgen, und diese Illüssen sich ihm genauso anpassen wie er sich ihnen. Darum »steigt niemand ZWeimal in denselben Fluss«: Es gibt nicht zweimal dieselbe Liebe. Ebenso Wenig gibt es zwei gleiche Hilfsarbeiter an einem Fließband, diese besondere Form der Arbeitsorganisation ist daher ihrerseits gebunden an die Existenz einer »dazu passend gestylten« Arbeitskraft. egal ob Frauen, Bauern oder Immigranten, die jede eine eigene Geschichte und also einen eigenen Stil 19 haben. Die Verschiedenheit der Akteursstile ist zweife110s der direkteste Vektor der gegenseitigen Überdetemllnierung der Strukturen, in denen die Akteure gleichzeitig präsent sind. Die Liebe zwischen» Yuppies« besitzt nicht die gleiche Dimension von Abhängigkeit wie die Liebe zwischen einem Bürger und einer »heiratsfiihigen Tochter« ohne Beruf Genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger (nämlich darin, dass sie die »Möglichkeit« oder sogar die »Notwendigkeit« von Krisen bewirken), sind die dem Verhältnis internen Ursachen der Divergenz. die sich aus dem widersprüchlichen Charakter des Verhältnisses ergeben. Übrigens ist die Ver-
il!
19
Selbst in »klÜten« Gesellschaften weisen Anklagen und Verdächtigungen der »Hexerei« oder der »Besessenheit« von einem Dämon (der exorziert werden muß) auf das Auftreten von manchmal: mikroskopischen Abweichungen hin (siehe die winzige Revolte eines jungen Mädchens in dem Film Remparts d'Argile von Bertucelli und Duvigaud). Robert Linhart hebt (1978) darauf ab, seit er seine Kollegen aus der Fabrik abseits vom fließband trifft. Aber er zeigt auch, dass nicht einfach jedermann die Fließbandarbeit ertragen kann und dass das Fließband nicht fiir jedermann konzipiert ist. Man könnte noch weiter gehen: in einer kapitalistischen Ökonomie, in der man über Arbeiter vertUgt, die qualifiziert und bereit sind, sich »einzubringen«, ist es vom kapitalistischen Standpunkt aus nicht »effizient«, allzu stark Zuflucht zum Taylorismus zu nehmen. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2"
.
,
"
,
)
"
Kette und Schuss
94
schiedenheit (dtfference) der in BeziehWlg stehenden Terme in ihrer einfachsten Form die formale Bedingung der Einwirkung externer Ursachen. Aber hier sprechen wir vom Gegensatz (opposition), vom Kampf, der die Beziehungsterme vereint Die zusammenfass·ende Definition einer LiebesbeziehWlg weist unmittelbar auf eine innere Ursache der Divergenz: Jede/r neigt unausweichlich dazu, sich zu beklagen, weil der/die andere ihmIihr nicht genug davon gibt, was ihmIjhr selbst fehlt. Darin liegt die notwendige Form der Krise begründet: der Streit der Liebenden, der sich im Menschenfeind von Akt zu Akt wiederholt - trotz Alcestes Begehren Wld Celimenes Gewandtheit. Ineinander verHebt, ja, gegenseitig das Beste wollen, gewiss, aber um sich selbst zu »finden«, sich selbst zu »verwirklicheu«.zo Im Fall des Lohnverhältnisses impliziert die Natur der BeziehWlg selbst (Abpressung/Aufteilung des zugefügten Wertes) ebenso offensichtlich Kampf und Divergenz. Die Synthese der Abbildungen 2 und 3 ist daher komplexer, als es ZWlächst den Anschein hat. Die Entwicklungslinien neigen dazu, von den Anforderungen an die Reproduktion der Stellungen abzuweichen, was daher das »Wiederin-Ordnung-Bringen«, die »Wiederanpassung« unterstreicht (was wir »kleine Krisen« nennen). Wähl'end der ersten Akte des Menschenfeind ist das »Ergebnis« der Wortwechsel, dass sich die Einheit der Liebesbeziehung wieder herstellt. Wir können das schön beobachten: «Einheit« lUld »Kampf«. die beide Aspekte eines widersprüchlichen Verhältnisses sind, bilden ihrerseits ein widersprüchliches Paar. Es gibt eine Einheit von »Einheit« und »Kampf«: Der Kampf hält die Einheit aufrecht, die Einheit hält den Kampf aufrecht. Alceste bleibt misanthropisch, Celimene bleibt kokett. Das Bedürfnis der/des einen nach Abbildung 5: der/dem anderen, um sich jeweils zu Die klemen Krisen verwirklichen, setzt sich durch, bereitet aber neue Divergenzen vor, die neuen Streit nach sich ziehen. Es ist gerade diese Einheit, durch die die )Einheit« (der Elemente des Verhältnisses) aufrechterhalten wird - ungeachtet ihres »Kampfes« und quer zu ihm. Und das ist es, was der Dialektiker als Regulation bezeichnet.
20
Der Ausdruck »sich verwirklichen« (se n!aliser), der einer überholten Psychologie entlehnt ist, wird hier absichtlich gebraucht, um auf die »Realisierung«, die Validierung von Waren im Austausch zu verweisen.
ARGIJIvIENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2'5
Kette und Schuss
95
Wir können hier sehen, wie weit diese Konzeption diejenige von Canguilhem übelWindet und umsch1ießt Als Individuen waren sich Alceste .und Celirnene »Zlll1ächst fremd«. Aber die Regulation bezieht sich nur auf Ü1re Bezi~hung als Liebende, sie hat ZW" Folge, dass sich ihre Divergenzen abschleIfen und zurückhalten. Solche Divergenzen kommen zum einen Teil daher, dass ihre jeweiligen »Stile«, ihre »Naturells« bereits unterschiedlich waren, bevor sie miteinander in Beziehung traten (er ist »g,esellschaftabgewandt«, sie »gesellschaftsorientiert«, um mit Lucien Goldmann zu sprechen). Zwn anderen Teil entsteht das Anwachsen der Divergenzen aus dem stets widersprüchlichen Charakter der Liebesbeziehung: Es isteme dem Verhältnis interne Ursache, die das Problem der Regulation stellt. Im übrigen ist deren Ergebnis keine transzendente »Nonn« oder »Regel«: Sie ist immanent, sie ist se1bst die Einheit der Beziehung. Thre Liebe ist das, was sie .ist, nämlich das Resultat ihrer unaufhörlichen Wortwechse1 21 Hier steHt sich nun die Frage, die wir bislang sorgfaltig vennieden haben: die des Finalismus, des Funktionalismus, der Intentionalität der Regulationsweise - des Wortwechsels. Naja, das kommt darauf an! Da der Wortwechsel faktisch »die Differenzen beseitigt«, da er die Wiederherstellung der Einheit zur Folge hat, kann man behaupten, er .hat dies,e Funktion »ex post«. Er hat diese nicht »ex ante«: Im vierten Aufzug beginnt Alceste den Wortwechsel mit der Absicht, die Beziehung abzubrechen (er sagt es zu Eliante). Doch vetfolgt er im Grunde mcht die Idee, dass das, was früher funktioni·ert hat (ein kleiner Disput). weiterhin so klappen wird? Für Celimene ist klar, dass der Wortwechsel bereits den Zweck hat, die Einheit am Ende wieder herzustellen, als bedachte Wld geplante Prüfung - ein Preis, den sie dafür zu zahlen hat, Alceste zu behalten und gleichzeitig die Kokette zu spielen. Doch viele Liebende können sich zu einer Institutionalisierung der ReguJationsweise durchringen: Psychotherapie des Paares, regelmäßige Trennungen ete. Di,eses letzte Beispiel
21
Dies ist der Grund, weshaJb man die Metapher des »Spiels« mit Vorsicht benutzen sollte. Wie Bourdieu bemerkt (1992, 85f), sind die soziaJen (immanenten) Regelmäßig~ keiten keineswegs alle auch (transzendente) »Spielregeln«, selbst wenn es (gewohnheitsmäßige oder juristiscbe) »Gesetze« gibt. Um zu vermeiden, eine Transzendenz von Regeln zu behaupten und damit den Akteuren die Möglichkeit zu lassen, ihrerseits die Spielreg,el schrittweise im Spie]verlauf zu ändern, sprechen Bowles/Gintis (1986) von einem »rückgekoppelten Spiel«. Das Problem dabei ist, daß man riskiert, dasjenige auf dieselbe Ebene zusammenzuziehen. was wir hier als »Beziehung«, »Regime«, »Regula~ tionsweise« und »EntwicklingsJinien« zu unterscheiden versuchen, und daß man deshalb nicht mehr versteht, auf welche Weise die Abweichung hinsichtlich eines Regimes zu einer Krise filhren kann und warum si,ch das Problem der Regulation stellt. Man kann sich beispielsweise vorstellen, daß sich Alceste nach dem ersten Disput in die Anne von Eliante wirft, oder daß die gereizte CeJimene ihren Alceste »faJlen läßt«: doch das ist dann nicht mehr dieselbe Geschichte, noch dasselbe Liebes-Regime - vielleicht auch nicht mehr dieselbe Beziehung. ARGUMENT SONDERBAND NEUE fOLGE AS 2SS
·1
;
I,',
'1;.,
96
Kette und Schuss
zeigt, dass die Regulationsweisen variieren können: Zeitweilige Trennungen können die Funktion regelmäßiger Dispute übernehmen (Hirschman: Exil or Voice, as usual). Das Ergebnis (das Zusammenbleiben des Paares) kann immanent bleiben, es kann sich auch institutionalisieren: Eheschließung (Loyalty ... ). Jede Institution ist eine Fonn, mit der die Akteure auf »vorläufig endgültige« Weise die Freiheit aufgeben, ihre Beziehung zu unterbrechen oder deren Form entscheidend zu ändern. Das aber annuUiert keineswegs deren widersprüchlichen Charakter. Als große Krise bezeichnen wir gerade die Momente, in denen die zuvor institutionalisierten Kompromisse und ihre Regulationsweise es --'--Kampf nicht mehr schaffen, die Reproduktion des Verhältnisses (oder des BeEinheit ziehungssystems) aufrechtzuerhalten: Der »Kampf« setzt sich gegen die »Einheit« durch. Für unsere Helden bricht die große Krise im funften Aufzug aus. Celimene ist zu weit Abbildung 6: gegangen, Alceste hat zu viel gesagt. Die große Krise »Wir können nicht mehr so weitermachen wie bisher«: Die Sehne des Bogens ist gerissen. Das Gewebe zerreißt. Drei Lösungen sind möglich: 1. Die Akteure trennen sich, ihre Entwicklungslinien schreiben sich nicht mehr in dieselbe Geschichte ein - das ist die »finale Krise«. 2. Sie knüpfen eine andere Beziehung. »Wir bleiben FreWlde«. 3. Sie knüpfen dieselbe Beziehung erneut, jedoch mit einem anderen institutionalisierten Kompromiss, mit einer anderen Regulationsweise. Celimene schlägt die dritte Lösung vor: Heirat Alceste behauptet, verhandeln zu waUen: Ja, aber in seiner Abgeschiedenheit. »Der Welt entsagen?«, schlägt CeJimene Alann. Das ist das Ende. Alceste wählt die erste Lösung. Eine erschütternde Szene. und so dialektischl Wie in den kleinen Krisen, so dUrfen auch in dieser großen die externen (manifesten) Gründe nicht die internen Ursachen verdecken. Wenn die Liebe zerbricht, so gewiss deshalb, weil sich Alceste und Celimene »sich von Anfang an ganz fremd« waren (würde Canguilhem sagen), weil ilire zu unterschiedlichen »Naturells« (gesellschaftsabgewandt der eine, gesellscbaftsorientiert die andere) letztlich jedes Einverständnis oder Arrangement unmöglich gemacht hat (würden Boltanski und Thevenot sagen). Gewiss, doch wäre es ein wenig naiv, dabei stehen zu bleiben. Celimene hat noch nicht ihr letztes Wort gesagt. Alceste hat »die Gele~ genheit beim Schopf gepackt«. Gleich der Prinzessin von Kleve, die am Ende
~+y
~
I
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS lSS
Kette und Schuss
97
die Hand des Herzogs von Nemours ausschlägt, als ihre Liebe rechtmäBig wird, wählt er die Abgeschiedenheit, zieht er es vor, dje Unmöglichkeit einer absoluten Liebe anzuerkennen (
22
Entsprechend ihres undialektischen Begriffs der Übereinstimmung können BoltanskilThevenot (1987, Kap.4) das Auftauchen von »Streitigkeiten« und die »Autkündigung« der Über'finstimmungen nur dadurch erklären, daß die Akteure die Möglichkeit haben, mehreren Naturells anzugehören. Auf diese Weise nehmen sie M,eder die strukturalistische Position von Etienne Balibar ein, der in Das Kapita//esen die Krisen nur durch das Spiel von Bezi,ehungen erklären kann, die sich gegenseitig äußerlich sind. Der »konfliktträchtige« methodologische Individualismus AgliettalOrleans (1983) hat im Gegensatz dazu das Verdienst, den Widerspruch und die Notwendigkeit von Krisen (und der Regulation) in das Innere einer jeden Beziehung einzuschreiben. Zu diesem Zweck haben sie sich von den Theorien Rene Girards über )~die Gewalt und das Geheiligte« inspirieren lassen. Das Problem Jjegt darin, daß Girard selbst nichts anderes tut, als seine Untersuchungen (961) über die literarische Behandlung der Liebesbeziehung missbräuchlich so zu veral1gemeinern, wie sie von da Ponte beschrieben wird (<
23
24
Spekulation mit Finanztiteln, doch davon abgesehen ... Die Unterscheidung in Esoterisches und Exoterisches, die rur die Arbeiten von Marx fundamentaJ ist, wenn auch verkannt wird,. ist die Grundlage meines Buches (1983a). .»Der lmum des Intellektualismus und Theoretizismus, dem die Sozialwissens.chafl: fortwähr·end ausgesetzt ist (in der Ethnologie entspricht ihm der :Irrtum des StrukruraIisrnus, zu sagen: >Ich weiß besser als der Eingeborene, was er ist') ... " (Bou:rdieu 1992,.221) ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AB 2~S
::
Kette und Schuss
98
straktion oder Aktualisierung von Praktiken. Und diese Praktiken existieren nur, wenn es einen Bedarf gibt, der sich in Projekte, in Praktiken übersetzt. Für Akeste me für Celimene gibt es keine sich reproduzierende Liebes~ ziehung. Allerdings gibt es Gefühle, die sich zu Taktiken und Strategt~ entwickeln. Alceste wünscht, dass Celimene ihm gehört, Md dass sie wi~ er, Ist (auch wenn wir daran zweifeln, ob er wollte, dass sie so wie er sei). Celun~e möchte Alceste behalten. Sie möchte nicht, dass er so wie sie ist, aber ~le möchte das bleiben, was sie 1St. Diese Strategien erweisen sich vier Auftritte lang kompatibel (mithilfe regulierender Dispute), danach erweisen sie sich als nicht mehr »im Regime«. Solange die Liebesgeschichte andauert, möchte der Menschenfeind »geseUschaftszugewandt« sein wld legt - wenn auch sehr lUlgeschic1d - dennoch eine gewisse »)Bedachtsamkeit« an den Tag. Mithilfe seiner Freunde PhiJinte und Eliante unternimmt er »trotz alledem« lobenswerte Anstrengungen, WIl Oronte nicht direkt zu beleidigen (hier zeigt sich die große Krise unmittelbar) und Celimene nicht endgültig zu verlieren. Trotzdem versucht er, )}sein Spiel zu spielen«, seiner Karte zu folge~ die Codes des gesell schaftlichen Lebens und des Liebeswerbens anzuwenden - kurz, er hält sich an die »äußerlichen, exoterischen Regeln der Oberfläche«, an die Codes der Gesellschaft und Höflicbkeit,2s Die Komik liegt darin, dass sein Naturen ihn daran hindert, sich daran zu halten. Aber er kennt den Code, und obwohl er ihn verflucht, versuchter, sich an ihn zu halten. Das Problem liegt darin, dass die Kombination von Code und seinem Stil ihn auf eine Entwicklungslinie fiihrt, die sich von deIjenigen der Welt ernsthaft unterscheidet. Sowohl för Alceste wie auch für Celimene resultiert die Krise nicht daraus, dass es strukturell keine glückliche Liebe gäbe. Sie entsteht dadurch, dass jeder damit »zu weit gegangen ist« - jeder für sich. Wie bei der Dualität von Kette und Schuss läßt sich diese Geschichte auf zweierlei Weise lesen. Auf einer grundlegenden Ebene: eine Liebe in zyklischen Schüben von Einheit und Kampf, in der Dialektik von Vereinigung und Autonomie. Auf der Ebene der Oberfläche: die äußerliche Beziehung zwischen zwei unabhängigen Strategien. Die Dispute sind Weisen der Anpassung dieser 2S
Die Soziologie und die Ökonomie müssen diese »exoterische« Welt, diejeni ge der Wahrnehmungen der Akteure berücksichtigen (was zum Beispiel den Gegen stand des III. Bandes des Kapital bildet), Dies ist eine Welt, in der jeder Akteur die anderen ~teure (obwohl sie nur andere Stellungen in derselben Beziehung einnehmen) in ihrer »Außerlichkeit« als Elemente eines Vorstellungsraumes wahrnimmt,. mit denen er gerade »interagiert«. Diese Welt hat ihre manifesten Gesetze, die es zu beachten gilt, ohne dass man jedoch seine paratleie Abhängigkeitsbindungen an das Esoterische zu verges sen. »Die Soziologie ist eine esoterische Wissenschaft ... , die aber den Anschein vermittelt, exoterisch zu sein.« (Bourdieu 1992, 72). Daher der Reiz, die Versuchung, mit der Tenninotogie Boltanskis und Thevenots zu flirten (wie ich es durch die Analys e des Menschenfeind hindurch getan habe). Ich habe den Verdacht, dass ihre Terminologie des Exoterischen nicht mehr zur esoterische Soziologie zurückfindet.
ARGUMENT SONDER BAND NEüF, FOLGE AS 2.55
Kette und Schuss
99
~trategien an ein »Liebesregime«. Doch es kommt zu einer Situation., in der
~lch die Einsätze, die Hofihungen, die Vorbehalte und Praktiken einer/eines Jeden von ihnen als unheilbar inkompatibel erweisen. Die Liebe muss sich verwandeln oder untergehen. Prozessierende Werte und Ak1rumulationsregime
Wir werden nunmehr kurz zu diesen Begriffen und zu der Dualität von »Kette/Schuss« zurückkehren, so wie sie zum ersten Mal in den an den Begriffen der Regulation orientierten Analysen, d.h. im Bericht des CEPREMAP (1977), und in etwa in der Fonn, in der ich sie entwickelt habe (1979a, 1983a), ver wendet wurden. Das wird uns erlauben" die Beziehung zwischen jenen ökon~ lllischen Arbeiten ood den vorangegangenen epistemologischen Betrachtungen ZU erhellen. In einer erneuten Lektüre des Kapital hatte Etienne Halibar wortreich herausgestellt, wie sehr der Warenkreislauf zwischen Kapitalisten und Proletariern in eine Reproduktion der Struktur des Lohnverhältnisses einmündet. Die Bedingungen des Verhältnisses (und des Kreislaufs, der sich aus ihm ergibt) erscheinen in der Tat mit dem Resu1tat identisch (Abbildung 7): Wir erkennen hier die Überlagerung der Abbildungen 2 und 3. Bei diesen beiden Denkfiguren haben sich die Althusserianer im Wesentlichen an die »vertif kaie« Dimension (das SysW_G' .. ,.. (GIM G - - P{eIv ... tem der StelJoogen) gehalten. Tatsächlich genügt es, , Produktions· Kapillliist Gl!ldkapillll die Grafik »von vorne« (d.h. mit dem Zeitpfeil auf SUbsistenzsich gerichtet) zu betr,achArbeitskraft Arbeitskraft Geld (V) gilIer ten und nicht mehr in der Längsrichtung (mit der Ak _ _ V .....AI< Zeitrichtung von links nach rechts), um die bekannte Doppelhelix der 26 zu erhalReproduktion Abbildung 7: ten (Abbildung 8J: Die Reproduktion des Lohnv,erhältnisses M
I
26
Es handelt sich wohlgemerkt um ein Schema, das von den Akkumulationsllnvestitions~ Schleifen »zwischen Kapitalisten« und anderen sozialen Verhältnissen, die mit der Reproduktion des Lohnverhältnisses (z.B. dem Patriarchat auf der Ebene G ... Ak) artikuliert sind, abstrahiert. AROI rMENT SONllI',IWANI> NEI fE !'ol.m·: AN 255
Kette und Schuss
100
In der Tat erscheint die Reproduktion unter diesem Blickwinkel als »w1-
:i
I
i: '
,
,' . I
i
I
!, :
Kaplalden
derspruchsfrei«. Alle Arbeiten der »Regulationisten« können daher als eine dreifache Anstrengung verstanden werden, nämlich: I> zu zeigen, dass die kapitalistische Reproduktion »nicht von seibst erfolgt«, .. zu zeigen, warum sie während Abbildung 8: langer Zeiträwne »trotzdem« weiDie »Doppelhelix« tergeht, l> zu zeigen, warum nach einer gewissen Zeit eine große Krise ausbricht. Diese Dinge sind heute bekannt. Zunäc11st führt die einfache Realität der Warenverhältnisse, die Unsicherheit des kapitalistischen Produzenten hinsicht~ lieh der gesellschaftlichen Wertigkeit der angebotenen Ware zu einer radikalen Symmetrieabweichung zwischen Ware und Geld: Das Geld ist ein }>uneingeschränktes« allgemeines Äquivalent der Waren, die Realisienmg der Waren in Geld ist dagegen ein »gefährlicher Sprung« - in Abbildung 8 durch das Zeichen Z »gefährliche Kurve« dargestellt Der aus der Nordost-Schleife des Schemas entspringende Warenfluss muss (in Menge und Wert) genau auf die Nachfrage abgestimmt werden, die sich in der Südost-Schleife ausdrückt. Weitere Anpassungsfaktoren bilden die nicht dargestellten Schleifen, insbesondere die »Akkumulationsflnvestitions«-Schleife (Kauf von Produktionsgütern durch die Kapitalisten), aber auch alle anderen Komplikationen, die dem sozialäkonomischen Gewebe durch die Präsenz des Staates, andere~ sozialer Klassen usw. beigebracht werden. Die Unsicherheit in dieser Hinsicht bildet die »fonnene Möglichkeit« von Krisen. Ihre Notwendigkeit wird durch die Akkumulation selbst herbeigefülm, die dazu neigt, den aus dem Nordosten entspringenden Fluss anschwellen zu lassen und gleichzeitig das Wachstum des Südost-Bogens in Grenzen zu halten. Dieser Widerspruch ist dem Lohnverhältnis inhärent. Man kann ihn in einem Satz zusammenfassen: Entweder ist der Ausbeurungsgrad zu hoch und es droht eine Überproduktionskrise, oder er ist zu niedrig und es droht eine Unterinvestitionskrise. Dieser Grad ist selbst Funktion einerseits der Distributionsverhältnisse (der Konsumnonnen) und andererseits der Transfonnationen in der Produktion (der Produktionsnonnen), im besonderen der Produktivitätszuwäcbse und der Veränderungen in der organischen Zusammensetzung der Kapitale. Als Akkumulationsregime bezeichnen wir eine Transfonnationsweise, die Produktions- und Konsumtionsnormen miteinander verbindet und sie kompati~ bel macht. Dieses Regime lässt sich als sich wiederholende AusgangssituatioD ARGUMENT SONDERBAND l\'ElTE FOLGE AS 2SS
~
Kelte und Schuss
der Produktion in den produktiven Abteilungen oder Branchen und der entsprechenden Nachfrage beschreiben: wir nennen das Reproduktionsschema oder makroökonomische Struktur. Wir haben gezeigt, dass sich das »fordisti~ sehe« Regime als eine Parallelität von Produktivitätswachstum, Konsumtions· normen der Lohnempfänger und Zusammensetzung des Kapitals beschreiben läßt. Es folgt mit anderen Worten einem Schema intensiver Reproduktion mit Ausweitung des Konsums der Lohnempfänger, wobei der Umfang des Nettoprodukts in den Abteilungen I und 1I~ gemessen an der Anzahl produktiver Lohnernpflinger, paral1e1 wächst. Dieses Akkmnulationsregime ist daher in der Tat eine mögliche Form des Schusses2? fiir die kapitalistische Reproduktion: Doch kehren wir zur Abbildung 7 zurück. Es geht dannn, die Längsrichtung dieser Grafik in Betracht zu ziehen. Man kann die Akteure (Kapitalisten und Proletarier) als Eigentümer von »prozessierenden Werten« betrachten, also von Wert-«F)Ussen« folgender generischer Formen: Dieser Begriff der »prozessierenden Werte«, die sich von Fonn zu Form umwandeln, wird im 3. Kapitel des Kapital eingefiihrt und durch den ganzen 11 Band hindurch entwickelt. Diese Millionen individueller Flüsse bilden den Schuss der ökonomischen Wirklichkeit: den »Strom« der prozessie~ renden Werte. Sie sind sogar die einzige positive Wirklichkeit im Alltags/eben (i.0. deutsch). Im Fan der Kapitale treibt .Marx seine Bemühungen um die textile Metapher so weit, I I Zeit ihre zusammengesetzte Fadenstruktur aus dreifach verschlungenem Abbildung 9: Garn nachzuzeichnen: die Kreisläufe Das Akkumulationsregime als Schuss von Geld-, Waren- und Produktivkapital (Il. Band).
27
Während hier (und in der jeweils folgenden Bildunterschrift) im franzö~ischen Ori~~ von 1988 »Irame(( also Schussfaden steht, heißt es im ] 989 veröffentlichten franzÖS1sehen Original von'»Oe l' Althusserisme a la )Theorie de la regulation«( an dieser Stelle »chall1e«, also Kettfaden. Da die jeweilige Version auch in. die bi~he~~en englischen u~ deutschen Übersetzungen übernommen wurde (vgl. z.B. in DenuroV1C u.a. ~.992), bleibt es der/rn LeserIn überlassen. welche Perspektive ihr/m mehr liegt [Anm.d.Ubers.]. ARGUMENT SONDERBAND NEUE fOLGE AS 255
102
Mitten in dieser Flut wechseln die prozessierenden Werte ihre Form, was man erkennt, wenn man die Ab~ bildung 8 der doppelten Moulinet [eine Tanzfigur bei der Quadrine~ Anm. d.Ü.] im Zeitablauf entwickelt , (Abbildung '11): In Wirklichkeit bestehen die bei-
I.
,
"
Kette und Schuss
.•. _G~P .•. W~G'~P' •..
....
den Spiralen dieser Abbildung aus
Myriaden individueller Spiralen (Abbildung 12): dem Strom. »Ex post«, wenn das Akkumulationsregime sich
stabilisiert hat, muss dieser Strom in seiner Struktur ganz genau mit den Proportionen zusammenfallen,. die iterativ durch das Reproduktions~ schema beschrieben werden. Die bekannten marxschen Gleichungen der Reproduktionsschemata des H. Bandes des Kapital bringen nichts anderes als diese Dualität ZLUD Abbildung 11: Der Fluss der prozessierenden Werte Ausdruck. Daher muss man das augenblickliche Maß eines jeden dies~r Ströme bzw. die Gesetze kennen, die diese Ströme von Nominalwerten, m Geld ausgedrückt, regieren. Diese Gesetze der Bildung von Löhnen Wld Preisen in Geld sind die »externen Verbindungen [connexions externes]
i·
zessierenden Werte derart lenken, ;
Abbildung 10; Die beiden FJüsse des prozessierenden Wertes
dass das Akkumulationsregime re~ spektiert wird. Wir können das allgemeine Problem der Transfonnation
;
i
I
AR01JMENT SONDERBAl'JD NEUE FOLGE AS 255
I,
,; ';...
Abbildung 12: Prozessierende Werte und Reproduktionsschema
Kette und Schuss
Von Werten in Produktionspreise als eine Studie von Bedingungen interpretieren, unter denen die externen Zusammenhänge (Gesetze, die den Lohn und die Produktionspreise bestimmen) mit den iterativen Proportionen des vorherrschenden Akkwnulationsregimes kompatibel sein können. 28 Diese Möglichkeit impliziert keineswegs eine Garantie :fiir einen guten Ausgang. Es genügt schon, dass die Gesetze der Bildung von Nominallöhnen und -profiten nicht der Entwicklung der Produktionsnonnen angepasst sind, wn Unausgewogenheiten auftreten zu lassen. Der Strom der prozessierenden Werte scheint also das Wachstum des Wertes im Reproduktionsschema zu »überfluten« oder wngekehrt sich dem potenziellen Wachstum als unterlegen ZU erweisen. Im ökonomischen Gewebe tauchen Falten und Löcher auf: Inflation oder Überproduktion. Daher steUt sich das Problem der Anpassung des Stroms an das Regime, des Schussfadens an den Kettfaden. Diese Anpassung ist die Wirkung der geltenden Regulationsweise, die, in der Metapher der Weberei, die Rolle von Kämmen oder .... der >>unsichtbaren Hand« bei Adam Smith spielt. AUe Anstrengung der ökonomischen Arbeiten, die sich auf den Begriff der Regulation beziehen, insbesondere des CEPREMAP-Berichts (1977) und seiner Ableitungen bestand darin aufzuzeigen, dass jene »Unsichtbare Hand« gerade kein transhistorischer Mechanismus der reinen und perfekten Konkurrenz war. Die Regulationsweise (die unter anderem die Fonnen zur BeStinunWlg direkter Wld indirekter Löhne, der Konkurrenz und Koordinierung der Unternehmen untereinander und mit der Finanzvenvaltung einschließt) verändert sich mit der Zeit, folglich auch die Fonnen des Wachshlms und der Selbststeuerung der prozessierenden Werte. Da das AkkumuJationsregime sich selbst verändert, können große Krisen aus der Nichtentsprechung der ReguJationsweise entstehen. Diese großen Krisen (wie jetzt die aktuelle oder jene der dreiBiger Jahre) müssen Wlterschieden werden von zyklischen »k1einen Krisen«, die selbst eine Fonn der geltenden Regulationsweise ist, die wir »konkurrenzieU« nennen. 29 Hinsichtlich der »Intentionalität« der Bereitstellung einer angepassten Regulationsweise (wie die »monopolistische Regulation« für das 28
29
Man kann zeigen, daß die konstanten Normen der Produktion durch die Vorgabe des Verhaltens und der exoterischen Gesetze (im vor1iegenden Fall: EgaHsierung der Gewinnspannen zwischen den Branchen, Konstanz des Anteils an der Verteilung des Mehrwerts), das Akkumulationsregime und das System der Preise gleichzeitig de· terminiert werden (Lipietz 1979b). Dieser Beweis kombiniert das Theorem VOll Frobenius und das Theorern des Fixpunktes von Brauwer: es ist also nur ein Theorem der Existenz. und nicht der Stabilität. Im vierten Teil dieses theonepolitischen Eingriffs werden wir sehen, warum i~h diese~ Begriffspaar »konkurrenzieIVmonopolistisch« vorgesch1a~en habe: ~m n~l.ch z.wel große Typen der Regu]ationsweise zu unterscheiden. DIese TemunologJe Ist rueht unbedingt glücldich gewählt, worauf mich der inzwischen verstorbene lean DUmo aufmerksam gemacht hat. ARGUMENT SONDERBAND NEUE fOLGE AS 25.5
L
!
i
, r' . .
"
! 1
•
I
104
.!
Kette und Schuss
fordistische Regime) konnten wir zeigen, dass es sich historisch in den meisten Fällen um »glückliche Fundsachen« handelt, die im Laufe der Zeit bewusst konsolidiert werden konnten, sei es durch die »keynesianischen« Theoretiker der fordi stischen Regulation, sei es durch reformistische Gewerkschaften oder durch Regierungen, die versuchten, einen sozialen Konsens aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz dazu impliziert das Verstehen der Art und Weise, wie (zum Beispiel) die große Krise des Fordismus sich abgezeichnet hat, wie also das »Gewebe« zenissen ist, eine doppelte Arbeit. Auf der einen Seite wird man auf der grundlegenden Ebene die fortschreitende Verfonnung der makroökonomischen Struktur feststellen: Verlangsamung der Produktivitätszuwächse, Schwerfalligwerden der organischen Zusammensetzung des Kapitals, wachsende Internationalisierung. Auf der anderen Seite wird man auf der »exoterischen« Ebene versuchen zu zeigen, wie die sono-ökonomischen Akteure in ihren Kämpfen für eine» Veränderung der Gegebenheiten« - einerseits selbst innerhalb der Logik des Entwicklungsmodells verbleibend, andererseits aber auch in ihren Anstrengungen, dieses im Namen einer mit diesem Moden unvereinbaren »Natur« zu verändern - die »Divergenzen akkumuliert« haben. Die Gewerkschaften haben versucht zu erreichen, dass die Löhne mehr oder weniger automatisch ansteigen und die Errungenschaften des Wohlfahrtstaates gesichert werden: also mit Offensiven im Inneren des Modells. Doch die Lohnabhängigen widersetzten sich mehr und mehr den entfremdeten Fonnen der fordistischen Arbeitsorganisation. Um diesen Tendenzen zu begegnen, versuchten die Unternehmer, die Stufen1eiter der Produktion auszuweiten und die Automation zu beschleunigen (eine Strategie, die der fordistischen Logik inhärent ist), aber auch die Produktion in Länder zu verlagern, deren Regulationsweise größere Profite begünstigt, und die Sozialgesetzgebung durch eine »Dualisierung« des Arbeitsmarktes zu umgehen: eine Fonn der Aufkündigung durch Ausstieg (exil) aus institutionalisierten fordistischen Kompromissen. Das Ergebnis solcher abweichenden Strategien ist bekannt. Entscheidend ist zu begreifen, dass es sich keineswegs um ein bedauerliches Nachlassen im . Konsens handelt, das durch ein wenig guten Willen zu beheben wäre. Der Widerspruch liegt im Regime selbst.
I'
Das raumzeitliche Gewebe Nach den Liebesverhältnissen und der kapitalistischen Akkumulation nehmen wir einen dritten Bereich in Angriff: die menschliche Geographie. Wir wechseln auch den kulturellen Hintergrund: Wir beziehen uns auf die kritische angelsächsische Geographie, von der ein ausgezeichneter epistemologischer Korpus in der Sammlung von D. Gregory und 1. Urry (1985) vorliegt. Diese kritische Geographie bringt zwei methodologische Strömungen zusammen: den »theoretischen Realismus« (Sayer 1985) Wld die »Theorie der Strukturierung«
..
ARG\ 'MENT SONDERII:\ND NE1:E FOLGE AS 255 I
:
I
Kette und Schuss
105
(Giddens ] 988). Die Schwierigkeit des Dialogs zwischen den Kulturen~ die aus der Sprachbarriere, den lückenhaften Kenntnissen aus zweiter Hand und aus ungenauen Übersetzungen resultiert., führt zu einem Mangel an Einfliblungsvermögen, der nur in dem bemerkenswerten Beitrag von Ed Soja (1985) wirklich überwunden wird. Trotz der rituellen, oft wenig sachdienlichen Kritik am Althusserismus wird kaum sichtbar, was denn nun der »theoretische Realismus«, demzufolge die Objekte »kausale Kräfte« besitzen - aufgrund ihrer inneren Struktur, die sich nur infolge ihrer kontingente~ kontextueUen Artikula!i0nen verwirklichen -, an wirklich Neuem gegenüber der althusserschen »Uberdeterminierung« beiträgt.30 Desgleichen erkennt man auch nicht den Unterschied zwischen dem »konstruktivistischen StrukturaJismus« von Bourdieu und der» Theorie der Strukturierung« von Giddens - doch hier stimmen die meisten Autoren des Sammelbandes (insbesondere Walker 1985) überein, dass beides ein und dasselbe sei. Wir müssen unsere Aufinerksamkeit auf den direkten Gebrauch der Metapher von Kett-1lIld Schussfaden richten. Für die kritische Geographie ist sie zum ersten Mal von Hagerstrand (1970) behandelt worden, dessen Ansatz hier Giddens (1985) und Gregol)' (1985) diskutieren. Die »raumzeitliche Geographie« Hagerstrands präsentiert sich als Milcro-Soziogeographie, die sicb auf eine routinisierte »Choreographie« individueller Entwicklungspfade von Akteuren gründet, die den Zwängen ihrer raumzeitlicben Materialität Wlterliegen. Diese Entwicklungspfade vereinigen sich zu Bündeln (i.0. englisch: bundles; Anm,d.Übers.) an den Stationen, wo sie interagieren. Die Projektion solcher Entwicklungspfadeauf die Rawnebene erzeugt die Strukturierung des Raumes.
30
Urry (1985,27) kritisiert an Althusser, ignoriert zu haben, daß die Strukturen nur durch ihre gegenseitige Abhängigkeit wirken, und es sei »0 contingent matter os 10 the degree 10 which their respective causal pawers (= in etwa die strukturale Kausalität bei A1thus~ ser) an expressedwithin particular events«. Diese 19noranz der Überdetenninierung. sei umso pikanter, als Althusser in seinem impulsgebenden Artikel Pour Marx (1965), »Contradiction et surdeterminalion« [deutsch: Widerspruch und Überdetennination. In: Für Marx. 1968] selbst von geopolitischen Artikeln Maozedongs ausgehe! TatsächJich ist der »theoretische Realismus« so sehr dem Althusserismus des pour Man ähnlich, daß er zum Gegenstand der gJeichen Kritiken wurde. Schon D. Masse~ (1985) schlu~s folgert besorgt, dass die Wirtschaft (= die Strukturen) Gefahr }aufe, SIch ~~f der Seite der Notwendigkeit wiederzufinden, und die Geographie (== die Uberdetenmruerung) auf der Seite der Zufälligkeit. Saunders und Williams (1986) treiben die Kritik am Neo-Strukturalismus (sogar hinsichtlich der Überdetenninierung) soweit, darin einen »NeoKonservativismus« zu sehen: Vom Althusserismus bis zum theoretischen Realismus habe man nur deshalb Akteure in die Struktur eingefuhrt, um ihr Handeln dem Determinismus der »kausalen Mächte« zu unterwerfen, der nur von einer dem Empirismus überlassenen Zufälligkeit gemildert wird, und dabei wie immer die Autonomie. die Projekte der Akteure ete. vergessen. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 25.5
L
106
Kette und Schuss
Nehmen wir das Beispiel junger Dorfbewohner (paul und Virginie), die täglich zur Schule gehen. Wir finden den »Schussfaden« der Entwicklungspfade durch den »Kettfaden« strukturiert (und umgekehrt): das System von »Stationen« des Dorfes (Abbildung 13). Wir können dieses Schema sogar als »kleine Krisen« nehmen. Paullädt Virginie dazu ein, mit ihm die Schule zu schwänzen und in das Wäldchen B zu gehen, doch die Klatschgeschichten bringen den braven k1einen Kerl und sein Aschenputtel rasch wieder auf ihre normalen Abbildung 13: Bahnen zurück. Petzerei wld Strafe Die Choreograplrie von Hagerstrand sind die einfachsten Formen der sozialen Regulation. Doch die Divergenz kann sich bis zur großen Krise hin entwickeln: Entweder verloben sicb unsere Verliebten und verlassen die Schule (Abbildung 14) oder man bringt sie ins Internat. Man erkennt sehr gut den operativen Charakter der »raurnzeitJichen Geographie« Hagerstrands und wie sie zu Methoden städtebaulicher Pro~ jektionen wie zum Beispiel der Konzeption eines Transportsystems (MatznerfRusch 1976) führen kann. Giddens zeigt nichtsdestoweniger ihre Schwächen auf. Sie verkenne den Ursprung der »Projekte«, die die Entwickhll1gspfade leiten, oder aber Abbildung 14: die Projekte würden durch die »beDivergenz, kleine und große reits gegebenen« Stationen selbst choreographische Krise dargestellt und man falle dann in den Totalitarismus der »Kettfaden« zurück. Giddens schlägt vor, die Stationen durch »Orte« zu ersetzen, die mit einer Anwesenheitsverfügbarkeit (disponibi· /iM alapresence/presence availability) ausgestattet sind, was er wie Goffinaß (1959) analysiert. In unserem Beispiel kann man sagen, dass das Wäldchen eine zum Zwecke amouröser Unternehmungen der Dorfjugend verwirklichte oder nicht verwirklichte - Verfügbarkeit zur »Schmetterlingsjagd« darstellt.
-
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
:
Ketle und Schuss
107
Doch das Wäldchen existiert schon vor solchen Unternehmungen, wasjede Art einer »mikrosoziologischen Begründung« der Ortsbestimmung verbietet. 31 Was Gregory betrifft, so kritisiert er seinerseits (nach einer dem Leser inzwischen geläufigen Thematik) die Tendenz, den räum1ichen Kettfaden auf die funktionellen Notwendigkeiten der kapitalistischen Struktur zu reduzieren. Er misstraut so sehr der synnnetrischen Tendenz (die sich auf die chronische Instabilität der von ständiger Innovationsbewegung herbeigefiihrten Strukturierungen gründet), dass er in der Bewegung der Schussfaden nur ein verwickeltes Knäuel sieht. Er schließt mit der Notwendigkeit, den Widerspruch und den Kampf innerhalb der Strukturierung selbst zu denken: noch ein für uns nicht unbekanntes Thema, umso mehr als Gregory hier Sanres Begriff der Serialität (serialite) einführt, den Hagerstrand seiner Ansicht nach nicht überwunden habe. Die })Serialität« (im Gegensatz zum Zustand »fusionierter Gruppen« Sartre 1967) ist der Zustand von Individuen, die sicb wie die detemrinierten Atome Demokrits verha1t~ des »Klinamen« beraubt, unfähig zu einem kollektiven Projekt zur Veränderung der Strukturen. Daher ist Vorsicht geboten, nicht die »Kettfäden« mit der Notwendigkeit und dte »Schussfäden« mit der Freiheit zu identifizieren! Wir werden in der Schlussfolgerung daraufzmiickkommen. Zunächst möchte ich noch eirunal zwei Beispiele aus meinen Arbeiten entwickeln, die es erlauben, in anderen Bereichen der menschlichen Geographie den Unterschied zwischen Kett~ und Schussfaden und die Frage der Regulation zu erhellen. Das erste Beispiel ist die regionale Frage, oder viehnehr die Interregionalität. über die ich mit Doreen Massey einen ebenso episodischen wie freundschafdichen Dialog fuhre. In einer ersten Intervention (1974a, wiederaufgenOIrunen ] 977) definierte ich zunächst die französischen Regionen fiir sich genommen, in ihrer Genealogie, der Geschichte ihrer internen Sozia1beziehungen, die ihre »Persönlichkeit« geprägt haben (mn mit Vidal de la Blanchezu sprechen) und die sie mit differenzierten Verfügbarkeiten hinsichtlich der Fonnen der Arbeitsteilung ausgestattet haben, die nach 1945 das, was ich damals noch nicht den »Fordismus a la !ranfaise« nannte, charakterisieren Sollten. Die fordistische Arbeitsorganisation erlaubt in der Tat eine Trennung ZWischen Entwicklung, qualifizierter Fertigung und minderqualifizierter Montage. In einem Frankreich, dessen Beschäftigungspotential unter dem GesichtsPunkt der Löhne, des gewerkschaftlichen Organisationsgrads sowie der Qualifikation der Arbeitskraft und der Märkte stark differenziert ist, war die Versuchung groß, die Kreisläufe der produktiven Branchen auf drei Typen von
31
Die Jagdpartie auf Schmetterlinge präexistiert auch als Szenario vor jeder Interaktion (siehe P. Faure und G. Brassens). Auf eine eher allgemeine Weise ist die »stets schon vorgegebene« Strukturierung des Raumes ein unüberwindliches Hindernis ruf den methodologischen Individualismus (siehe Lipietz 1977, Kap.S) AROUME};T SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2SS
L
::
Kette und Schuss
]08
; I I
, j
':
i
:,
:
Arbeitskräftepotentialen entsprechend der fordistischen Dreiteilung zu ver· teilen. Und tatsächlich erreichte man dadurch, dass die Regionen selbst die industriellen Arbeitsplätze »herbeigerufen« haben oder dass die DATAR32 die Entscheidungen großer Finnen beeinflusst hat (ein Regulationsproblem, das wir hier nlcht entwickeln wollen). In der Folge gelangte man dahin, drei Typen von Regionen entsprechend der Struktur des Branchenkreislaufs zu definier,en, also bestimmte Regionen, die gemäß ihrem ererbten »Stil« ihre in dieser Struktur definierte »RoHe« übernommen hatten. Nach Typen geordnet: 1- lle de France, II - der Norden/Pas-de-Calais, III der große Westen. Massey (1978) kritisierte sofort die Doppeldeutigkeit zwischen der Methode über den Schussfaden und der über den Kettfaden: »Die Regionen erscheinen bei Lipietz einmal durch sich selbst in ihrer Genealogie und einmal durch ihren synchronen Platz innerhalb der interregionalen Arbeitsteilung definiert.« Für sie war die zweite A1ternative die einzig gültige, allerdings unter der Bedingung, dass der Kettfaden dieser Struktur nicht allzu sehr simplifiziert und (was ich sehr gern akzeptiert habe) eine Vielzahl von Fonnen der Arbeitsorganisation anerkannt wird, die von Branche zu Branche und selbst innerhalb einer Branche variieren und sich auf kontingente Weise kombinieren können, wenn man das Schicksal jeder einzelnen Region mittels Akkumulation von »geologi· sehen Schichten« (layers) erklären möchte. Sie hat diese Methode in ihrem Buch (MasseylMeegan 1982) angewandt, dem ich sofort (1983c) die Tendenz nachgewiesen habe, die Geographie auf die industrielle Organisation reduzie~ ren zu wollen. Wie kann man, so entgegnete ich ihr, die gegensätzlichen Erfolge von Regionen angesichts industrieller Umstrukturierungen erklären, wenn man nicht ihre Personalität, ihre von genealogisch akkumulierten »Schicb~ ten« geerbte Verfiigbarkeit in Rechnung stellt? Eine Region mit qualifizierter Industrie im Niedergang kann sich umstellen, indem sie entweder ihre »mensch~ hchen Ressourcen« mobilisiert (zum Beispiel das Ruhrgebiet) oder sich auf dequalifizierte Industrien hinbewegt (zum Beispiel das Departement Nordmit Nuancen) oder aber sich an den Rand gedrängt sieht (zum Beispiel Lothringen). Das alles hängt von vielen Dingen ab, in erster Linie aber von der Herausbildung eines regionalen Emeuerungsblockes (Lipietz 1985b) ... Massey (1985) akzeptiert diese Kritik mit Nachdruck und kommt al1l Schluss einer historischen Bilanz der industriellen Geographie (sehr ähnlich dem ÜberbHck über die Oszillation zwischen »Struktur/Handlung« im ersten Teil des hier vorgelegten Textes!) darauf zurück, die Bedeutung präexistenter räwnlicher Realitäten im Prozess der interregionalen Umstrukturierungen ZU
32
, ,
DATAR ist die französische Abkürzung rur »Delegation iz I 'amenagement du terriloire er a I 'a~~ion regionale«, also ein Gremium zur Koordinierung von Regionalftagen [Anm.d.Ubers.].
AROlJMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AB 255
Kelle und Schuss
]09
bestätigen. »The unique is back on the agenda«, lrier begegnen wir wieder dem Begriff der regionalen Personalität von Vidal de la Blanche! Ich habe nachzuweisen versucht (1985a), dass im Fall intemationa1er Wirtschaftsbeziehungen die Autonomie nationaler Entwicklungspfade angesichts der Struktur der Tota1ität noch größer ist (als im Fall interregionaler Beziehungen). Der klassischen Struktur »ZentrumlPeripherie« wie auch der Orthodoxie der von der fordistischen Dreitei1ung inspirierten Neuen Internationalen Arbeitsteilung (Fröbel/HeinrichslKreye 1980) muss man den Begriff einer »internationalen Konfiguration« (eine sehr abgeschwächte Form des »Kettfadens«) entgegensetzen, in der sich vage Regelmäßigkeiten in den Transfers (von Bevölkerungsteilen, Waren, sozialem Wissen, Kapitalen) zwischen den autonomen nationalen Akkumulationsregimen (die hier die RoUe des »Schussfadens« spielen) abzeichnen, Ich habe mich sogar zu untersuchen bemüht. welches die Regulationsfonnen dieser Dualität von Kett- und Schussfaden und ihrer Krisen sein könnten: Handelsvereinbarungen, transnationale Finnen~ internationaler Kredit etc. Aber ich mächte die Frage einer räumlichen Regulation noch an einem letzten Beispiel angehen. Es handelt sich um die Veränderung von Stadtvierteln. In einer ersten, sehr strukturaiistisch inspirierten Arbeit über die Gnmdrente (1974b) hatte ich die Existenz eines »Kettfadens« vorausgesetzt: die ökonomisch-soziale Teilung des Rawnes33 (hier die Arbeiter, da die Kleinbürger, dort das obere Drittel usw.). Diese DESE wurde durch die Praxis von Bauträgem reproduziert und transfonmert. Doch was sollten sie anstelle dessen konstruieren? Ich zeigte, dass der Mechanismus der Bodenpreise, Soweit sie sich aus der prtiexistenfen DESE ergeben (le tributfoncier difJerentiel exogene die »exogene differenzielle Grundrente"), den Bauträger dazu ZWingt, die soziale Nutzung des Viertels zu reproduzieren oder darüber hinaus durch räumliche Nähe eine »höhere« Nutzung auf benachbarte, zuvor aber geringer bewertete Viertel zu übertragen. Doch was soH man zu den großen städtebaulichen Aktivitäten sagen, die mit einem Schlag die soziaie Nutzung eines Viertels verändern oder doch zumindest langfristig programmierend wirken und dabei mehrere Akteure (private und öffentliche) koordinieren? Hier müssen die Grundrenten (tribut foncier differentielles intensives endogenes»endogene intensive differenzielle Grundrente") entsprechend dem Produkt eines geplanten Raumes zwischen den Akteuren aufgeteilt werden: Die Akteure internalisieren das Ergebnis ihrer zukünftigen Zusammenarbeit und teilen die Früchte der erzielten Transfonnation. In einem späteren Artikel (1975) habe ich die heiden Fonnen der ReproduktioniTransfonnation des Raumes als
------------------
33
DiVision economico-sociale de I 'espace ist bei Lipietz ein feststehender Ausdruck und wird mit DESE abgekürzt [Arun.d.Übers.]. ARGUMENT SONDERBM'D NEUE FOlJJE AS 255
b
Kette und Schuss
110 i
»konkurrenziell« beziehungsweise als »monopolistisch« bezeichnet, ohne bereits über den Begriff Regulation zu verfligen. 34 Anders ausgedrückt verweist das Begriffspaar »konkurrenziell/monopolistisch« auf zwei ModaJitäten, wie die Akteure des »Schussfadens« ihre Beziehungen in einer Kette regulieren können, die sich im Verlauf ihrer eigenen Praxis verfonnt. Sei es, dass der »Kettfaden« als »bereits gegeben« aufgefasst wird, so dass die »Karte« ihres Vorstellungsraumes (hier der Bodenpreis) einemjeden erlaubt, »rationale« Entscheidungen zu treffen, die dazu beitragen, die Struktur zu reproduzieren oder sie marginal zu verfonnen. Sei es, dass die »Karte« jene Makrotransformationen der Kette antizipiert, die in der Lage sind, durch ihre eigenen, explizit koordinierten Wirkungen hindurch realisiert zu werden, so dass dieser kollektiv projektierte Raum zur ökonomischen Landschaft individueller Projekte wird. Die ramnzeitlichen Metaphern (lIDd was könnten sie anderes sein als die der Weberei?) halten sich auf diese Weise gegenseitig im Zaum ...
:,
':
..'.
'
'"
'
Statt einer Schlussbemerkung
\; . ,
i
I
,
Man kann unsere ÜberJegungen bisher wie folgt zusammenfassen. Es gibt zwei Gesichtspunkte eines sozialen Prozesses, der in seinem Verlauf eine gewisse Regelmäßigkeit aufweist. Zunächst kann man ihn als Reproduktion im Zeitablauf eines Verhä1tnisses oder eines Komplexes von gegenseitig determinierten Verhältnissen auffassen. Sodann kann man ihn als das Nebeneinander und die Interaktion individueller Entwick1ungslinien von Akteuren (oder Gruppen) verstehen, die ihr eigenes Ziel unter der Berücksichtigung ihrer Vorstellungen der Konsequenzen dieser Interaktion verfolgen. Es ist hier ohne Bedeutung, ob diese Vorstellung adäquat ist oder ob die Kohärenz ilrrer Aktionen ein verkehrter Effekt hinsichtlich ihrer bewussten Ziele ist. Ebenso ist es ohne Bedeutung, ob die Verhältnisse hierarchisch (unterdrückerisch) oder kooperativ sind. Solange alles gut geht (sich das Phänomen »im Regime« reproduziert), gleicht eine Interpretation der anderen. Die Projekte und die Zwänge der Akteure sind das Produkt eines Habitus und eines Vorstenungsraumes~ die sich heide durch die Reproduktion der Struktur selbst ergeben. Aber die Struktur ist nichts anderes a1s eine Konzeptualisierung der beobachteten Kompatibilität individueHer EntwickJungslinien. Die Metapher des Kettfadens (Reproduktion der Verhältnisse) und des Schussfadens (individuelle Entwicklungslinien), die gemeinsam einem Gewebe Konsistenz geben, zielt darauf ab, diese Dualität erkennbar zu machen.
34
I
Diese Formen urbaner Veränderung haben sich jedenfal]s als komplexer und vieldeutiger erwiesen, als ich es geglaubt hatte. Siehe Z.B. Kaszynski (1982), Somekh (1987).
ARGIJMENT SONDERBA.'-ID NEUE FOLGE AS 255
Kette und Schuss
III
Das alles ist nur deshalb von Interesse, weil die Akteure, die durch ihre Verhä1tnisse »in Szene gesetzt:« werden, die Fähigkeit, wenn nicht sogar die Neigung besitzen, hinsichtlich der Erfordernisse sozialer Reproduktion voneinander abzuweichen. Solche Abweichungen ergeben sich aus einer Regulationsweise, solange sie nicht zu einer »großen Krise« akkwnulieren. Die kJeinen Krisen (<
,! "
·;'i'
112
I
I I.
!i'
Kette' und Schuss
Doch dann stellt sich die Frage der »internen« und der »externen Ursachen«: Muss man einen Arbeitnehmer als einen lebenden Widerspruch betrachten, der durch seine Beziehung zu einem Kapital von außen überdetenniniert wird oder als eine Stellung in den Lohnverhältnissen, die mit einem von äußerlichen Determinationen ererbten »Stil« angefüllt ist? Ein solcher Relativismus löst sich nur unter Bezugnahme auf das Kriteriwu. der Sachdienlichkeit auf: Schreibt man die Lebensgeschichte von Ali, dem Sohn des Marabut, der bei Citroen Arbeiter ist, oder ist man über die Personalführung beunruhigt? Diese erste Gruppe von Fragestellungen hatte insbesondere das Ziel, an die Bedeutung des Begriffs })lJberdeterminienmg« zu erinnern. Da die »Akteure« an vielerlei Verhältnissen teilliaben oder selbst eine Verdichtung von Verhältnissen sind, gehen sie ein Verhältnis ein, das sie unter einem bestimmten Blickwinkel mit einer immer schon vorfindlichen )}Individualität« ausstattet, die sich durch ihren Einstieg in dieses Verhältnis und dem Verbleib in ihm (als unglücklich Verliebte, als das Kaiserliche England. als Klasse der weiblichen Arbeitern) modifiziert. Aber gleichennaßen gibt sie dem Verhältnis seine spezifische, konkrete Fonn, die sich modifizieren und transformieren kann: Die freien Berufe traten nicht in die Lohnarbeit ein, ohne deren Nonnen zu modifi~ Zieren. Hat man erst einmal die Individualität bestaunt, was gibt es da über die Autonomie der Akteure hinsichtlich ihrer Rolle zu sagen? Die einfache und allgemein zweckmäßige Antwort besteht darin, das hervorzuheben, was an der Individualität nicht durch das Verhältnis definiert wird: die Teilhabe an einer unterschiedlichen »Natur«, die Überdetenninierung durch andere Verhältnisse. Junge Leute lehnen den Taylorismus ab, weil sie andere Interessensschwerpunkte haben. Celimene hört nicht auf Alceste, weil sie sich in ihrem Salon geflillt. Die entgegengesetzte, aber ebenso zweckmäßige Antwort hebt den Widerspruch des Verhältnisses selbst und das unreduzierbare Verlangen des Individuwns nach Freiheit hervor: Der Taylorismus ist eine Negation der Menschenwürde (und vielleicht der produktiven Fähigkeiten), die Liebe kann die Auslöschung einer Persönlichkeit nicht rechtfertigen (aber auch nicht in einer solchen aHeine überleben). Dennoch überwiegt im allgemeinen das den Verhältnissen angemessene Verhalten,. sonst wäre die Welt ein Chaos. Und wenn sie überwiegen, identifiziert die Dualität von Kett - und Schussfaden Handlungen und Strukturen, die sich nur noch unter methodologischem Gesichtspunkt unterscheiden: in Längsrichtung (diachron) oder transversal (synchron). Wir beruhren hier einen grundlegenden Punkt: Bei genauer Betrachtung gibt es keinen Widerspruch zwischen Struktur und Handlungen. Er liegt innerhalb der Handhmg selbst, zwischen ihrem routinisierten, verdinglichten, reproduktiven Aspekt (und aufgrund der Dualität hat man mnnittelbar die Struktur vor sich) und ihrem potenziell divergenten, erneuernden, autonomen, schöpferiARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 253
Kette und Schuss
113
sehen, vielleicht revolutionären oder zumindest eigenständigen Aspekt. Auf diesen Widerspruch haben Lukrez und Epikur mit ihrer Idee eines »Klinamen«, Karl Marx in den Feuerbach-Thesen, Karel Kosik in seiner Dialektik des »objektiven Subjekts«, lean-Paul Sartre in seiner Theorie der gesellschaftlichen Praxis oder Pierre Bourdieu in seiner Definition des »konstruktivistischen Strukturalismus« hingewiesen. 35 Femand BraudeI hat an semem Lebensabend - ich weiß nicht mehr wann und wo - gesagt, dass die Last von lange in der Vergangenheit zurückliegender Gewohnheiten unsere Gegenwart so versperrt, wie der Schlamm des AmazoDaS noch Hunderte von Kilometern nach seiner Mündung den Ozean farbt. In der Geschichte, die die Menschen unter vorgegebenen und aus der Vergangenheit überlieferten Umständen machen, haben diese Menschen vielleicht nur das Recht auf ein »Klinamen«, auffiinf (oder weniger!) Prozent Freiheit gegenüber fünfundneunzig Prozent Notwendigkeit. Doch sind es diese fiinfProzent, die nach neuen sozialen Fonnen rufen und sie erzeugen. Vielleicht bessere. Literatur (Die Jahre!{zahlen in eckigen Klammem geben das Erscheinung~ahr der Originalausgaben an, die später übersetzt wurden. ) Aglietta, M. (1974): Accumulation et reguJation du capitalisme en longue periode. Exemple des Etats-Unis (I 870~ 1970). These Paris 1 Mimeo. Aglietta, M. (1976): Regulation et erises du capit.alisme. Paris. AgHetta, M.lBrender, A. (1984): Metamorphoses de Ia societe sal:arial:e. Paris. Aglietta, MJOrlean (1983): La violence de monnaie. Paris. Althusser, L. u.a. (1965): Lire le capital. Paris [deutsch: AltbusserlBalibar: Das Kapital lesen. Reinbek 1972; Ranciere: Der Begriff der Kritik und die Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1972]. Althusser, L. (I968): Für Marx. Frankfurt. Seuko, G. (Hg.) (1990): La. dynamique spatiale de I'economie oontemporaine. Boltanski, L. (1990): Die Führungskräfte. Frankfurt. [1982] Boltanslci, L.rrhevenot, L. (1987): Les ecouomies de Ia grandeur. In: Cahjers du centre d'eludes stil' l'emploi. Nr. 31. Bourdieu. P. (1993): Soziologische Fragen. Frankfurt. [1980]
35
In seiner Definition des konstruktivistischen Strukturalismus (1987, 147) bricht eine implizite, theoretische Anthropologie hervor, der alle diese Autoren nahestehen und von der H. RouilleauJt und ich (1972) geglaubt haben, sie gegen Althusser mobilisieren zu können, um die die Massen transformierende Aktion in der Gescmchte zu denken, ohne die Errungenschaften des Strukturalismus zu vertieren. Das Studium der GeseUs·chaftals Reproduktion oder routinierte Aktion erscheint so als teilweise legitim, zum Beispiel in einem akademischen Rahmen (ein »notwendiges Moment der Untersuchung«, sagt Bourdieu). Die andere, subjektive Seite der Praxis erfordert im Gegenteil auf Seiten des Theoretikers eine Teilnahme, zumindest aber eine »Sympatme« (im etymologischen Sinn) mit den verändernden sozialen Praktiken (vgI. Lipietz 1973, 1977a1Einfuhning). ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOWE AB 25~
l.
&j
I .-
j _
114
_.
ti";iijjjf- . -
- ä
Kette und Schuss
Bourdieu, P. (1992): Rede und Antwort. Frankfurt. [1987] Boyer, R. (1987): La theorie de ta. regulation: une analyse critique. Paris. Bowies, S.lGintis, M. (1986): Democracy and Capitalism. New York. Canguilhem, G. e1980): Regulation. Encyclopaedia Universalis. Capelle, W. (1968) (Hg.); Die Vorsokratiker. Stuttgart. CEPREMAP (1977): Approches de I'inflation: L'exemple frarwais. Rapport au CORDES par Benassy, l~P, Boyer, R, Gelpi, RM., Lipietz, A., Mistral, L, Munoz, L, Ominam~ C. Paris. Mimeo. Chavance, B. (1985): Marx eo perspective. Paris. COLLECTIF Revoltes Logiques (1984): L'empire du sociologie. Paris. Debray, R (1978): Modeste contribution aux discours et ceremonies officielles du dixieme anniversaire. Paris. Demirovic, A. u.a. (Hg.) (1992): Hegemonie und Staat. Münster. Duby, G. (1988): Mäle moyen age. Paris. Dupuy, lP. (l977): Autonomie de l'homme et stabilite de Ia socit~te. In: Economie Appliqmfe. Nr. 1. Fröbel, F./Heinrichs, l/Kreye, O. (1980): The new industrial division of)abour. Paris. Giddens, A. (1988): Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt. Giddens, A. (1985): Time, Space, and Regionalisation. In: GregorylUny 1985. Goffinan, E. (1959): The Presentation of Self in Everyday Life. New York. Gregory, D. (1965): Suspended Animation: The Stasis of Diffusion Theory. In: GregorylUrry 1985. Gregory, D./Urry, 1. (Hg.) (1985): Social Relations and Spatial Structures. London. Girard, R, (1961): Mensonge romantique et verite romanesque. Paris. GuiUaume, M. (Hg.) (1987): L'etat de sciences sociales en France. Paris. Guillaumin, C. (1978): Pratique du Pouvoir et idee de Nature. L' appropriation des femmes. In: Questions jeministes. NT. 2. Februar. Hagerstrand, T. (] 970): What About PeopJe in Regional Sciences? In: Papers and proceedings afthe regional science association. Vol. 24. Hirschman, A.O. (1974): Abwanderung und Widerspruch. Berlin. Kaszynsld, M. (1982): Observation foneiere et division economique et sodale de l'espace. These Line 1. Mimeo. Kosik, K. (1986): Die Dialektik des Konkreten. Frankfurt am Main. [1968] Linhart, R. (1978): Eingespannt. Erzählung aus dem lonern eines Motors. Berlin. Lipietz, A. (1973): D'Althusser iMao? In: Les lemps modernes. VoL 29. n° 328 Novembre. Lipietz, A. (1974a): Structuration de l' eapaee, probleme fonciere et amenagement du territoire. Beitrag zum Congres de Louvain de I' ASPRENO. Veröffentlicht in: Environment anti planning. Nr. 7. London. 1975. Lipietz, A. (1974b): Le tribut fonder urbain. Pans. Lipietz, A. (1975): Quelques problemes de la production monopoliste d'espace urbain. In: Notes methodologiques. Institut de l'Environment. n° 5. Lipietz, A. (1977): Le capital et son espace. Paris. Lipietz, A. (1979a): Crise et inflation: pourquoi? L'accumulation intensive. Paris. Lipietz, A. (1979b): NouveUe solution au probleme de la transformation. Le cas du capital fixe et de la rente. In: Recherehes Economiques de Louvain. n° 4. Lipietz, A. (1983a): Le Monde enchante. De la valeur a}'envoI inflationniste. Paris. Lipietz, A. (1983b): Le debat SUT la valeur: bilan partiel et perspectives paritales. Beitrag ·zum KoUoquium })Le Centenaire de Marx« des EHESS. Veröffentlicht in: Chavance 1985. ARGUMENT SONOERBANO NEUE FOLGE All 2SS
\
Kette und Schuss
115
Lipietz) A. (1983c): Book Review zu MasseylMeegan 1982. In: Internationaljoumalo/ urban and regional research. Lipietz, A. (1985a): Rtillexionautour d'une fable. Pour un statut marxiste desconeepts de . ~egulation et d'aceumu1ation. Couverture Orange CEPREMAP 0° 8530. Llpletz, A. (1985b): Le national et 1e regiona1: quelle autonomie face aia mise capitaJiste mondiaIe? Beitrag zum KolJoquium ))SpatiaI Struetures and Social ProceSSK Lesbos. August. Veröffentlicht in: Benko 1990 [deutsche Version: in diesem Band]. , Lipietz, A. (1985c): Miracles et mirages. Problemes de I'jndustrialisation dans Je tiers monde. Paris. Lipierz, A. (1986): Les conditions de la creation d'un movement alternatif en France. Beitrag zum Kolloquium »Les enjeux institutionnels et politiques« im März 1986 der . ~ociation d'etudes et de recherehes instituionnelJes et poJruques. lanvier. LIPletz, A. (1987a): Le huit infemal. La reguJation economique. Expose und Drehbuch fur einen Kurzfilm. 0.0. Lipietz, A. (1987b): Regulation: ]es mots et les choses. In: Revlle economique. Nr. 5. September. Lipietz, A. (1989): Oe ]' AIthusserisme aI' ecofe de la regulation. Beitrag zum KoUoquium Tbe Althusserian legacy in Shony Brooks (NY). Novembre. Couverture Orange CEPREMAP n° 8920. [deutsche Version in: Demirovic U.3. 1992]. Lipietz, A./RouiUeault, R (1972): Sur les pratiques et les concepts prospectifs du materialisme historique. These. Paris I. Mimeo. Marx Engels Werke (1969ff): Berlin. [MEW] Massey, D. (1978): Regionalism: Same Current bsues. In: Capital & Class. Nr. 6. Massey, D. (1985): New Directions in Space. In: GregorylUrry 1985. Massey, D./Meegan, R (1982): The Anatomy ofJob Loss. London. Matzner) E./Rusch, G. (Hg.) (1976): Transport as an Instrument for Alloca.ting Space and Time. A Social Science Approach. Institut für öffentliche Finanzen. Technische Universität Wien. Moliere (1993): Le Misanthrope!Der Menschenfeind. Stuttgart. Mozart, W.A. (1990): Le nozu di FigarolDie Hochzeit des Figaro. Stuttgart. Racine, J. (1992): Phädra. Stuttgart. Ranciere, 1. (1972): Der Begriff' der Kritik und die Kritik der politischen Ökonomie. BerJin. Sartre, l.-P. (1967): Kritik der dialektischen Vernunft. Bd. I: Theorie der geseUschaftlichen Praxis. Reinbek. Saunders, P.lWiUiams, P.R. (1986): The New Conservatism: Some Thoughts on Recent and Future Developments in Urban Studies. In: Society and Space. Vol. 4. Sayers, A. (1985): The Difference that Space Makes. In: GregorylUrry 1985. Serres, M. (1977): La naissance de la physique dans Ie texte de Lucrece. Paris. Soja, E. (] 985): Tbe Spatiality ofSocial Life: Towards a Transformative Retheorisation. In: GregorylUny 1985. Somekh, N. (1987): Ades vertidalizacao de Sio Paolo. Mestrado FAUIUSP. Sao Paolo. Mimeo. Terray, E. (1977): De l'exploitation. Elements d'un bilan critique. In: Diale,·tiques. n° 21. Tourraine, A. (1978): La voix et Je regard. Paris. Uny, J. (1985): Social Relations, Space and Time. In: GregorylUrry 1985. Walker, R. (1985): Class, Division ofLabour and Employment in Space. In: Gregory/Uny 1985. M
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS:m
L
Die neuen Beziehungen von Zentrum und Peripherie 1 Die Beispiele Europa und Amerika im Kontrast
Seit Anfang der aChtZiger Jahre ist der Fordismus, das vorherrschende Entwicklungsmodell der Nachkriegsphase, eindeutig zusammengebrochen. Die entwickelten Länder haben auf verschiedenen Wegen versucht, eine Alternative zu konstruieren. Einige bevorzugten die »Flexibilität«, andere die »Mobilisierung menschlicher Ressourcen«. Zur gleichen Zeit haben die neu industrialisierten Länder (NIes) ihre Wettbewerhsfähigkeit gesteigert und sich stärker differenziert. All dies hat zu einer umfangreichen Neuordnung in der . Hierarchie der Weltökonomie getUhrt. Als andere anwachsende Kraft erwies sicb die Konzentration der internationalen Wirtschaftsbeziehungen auf kontinentale Blöcke (Europa, Amerika, Asien). Asien ist sicherlich der vielgestaltigste, dynamischste und faszinierendste Block, dennoch bleiben zur Zeit die beiden den Atlantik begrenzenden Blöcke am wichtigsten. Zudem sind ihre Wirtschaftsbeziehungen stärker kodifiziert. Europa (mit der Europäischen Union und der Europäischen Freihandelszone) hat einen 35-jährigen Vorsprung und sein institutioneller Apparat ist bereits gut ausgearbeitet. Die bei den Amerikas, und insbesondere Nordamerika (mit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkornrnen NAFTA) , bewegen sich in die gleiche Richtung. Beiden Blöcke gemeinsam ist die Heterogenität der Ökonomien~ die sie vereinigen. Gerade diese Koexistenz von Ländern mit unterschiedlichen Lohnregimen innerhalb eines integrierten kontinentalen Blocks ist Gegenstand dieses Beitrages. Es wird notwendig sein, diese für Europa herauszuarbeiten, wobei wir Nordamerika als Bezugspunkt nehmen werden. Im ersten Abschnitt werden die verschiedenen Wege betrachtet,. die die dominierenden Länder ausprobiert haben, um aus der Krise des Fordismus herauszukommen. Danach wird die Analyse auf die anderen Länder des Südens und Ostens erweitert. Im dritten Abschnitt wird die Hypothese einer neuen internationalen Arbeitsteilung (der dritten!) wnrissen. Schließlich kom~ men der vierte und fünfte Abschnitt wieder zurück auf die kontrastierenden Beispie1e Europa und Nordamerika.
I
Im Original heißt der Titel »Les nouvelles relations centre-peripherie. Lesexemples contrastes Europe-AmeriqueK Das Papier wurde als Beitrag auf dem Kolloquium A periferia europea ante 0' navo seculo in Saint·Jacques de Compostel (29. September bis 2. Oktober 1993) gehalten.
ARGUMENT SONDERBAND NEI.JE FOLGE AS 2SS
117
Zentrum und Peripherie
Die zentrale Krise des Fordismus und mögliche Auswege aus ihr Während der Nachkriegsphase wurden in den Entwicklungsländern zwei Entwicklungsmodelle verfolgt: das westliche und das »sozialistische« Modelt Letzteres hat nun sein vollständiges Scheitern erkannt und fast alle Länder, die diesem Modell ihre Loyalität bekundeten, haben sich mehr oder weniger sclmell hinter irgendeine Art von kapitalistischem Modell gestellt. Zur gleichen Zeit erlebte der Kapitalismus im Nordwesten der Welt sein Goldenes Zeitalter. In den siebziger und achtziger Jahren befindet sich das Entwicklungsmodell des Goldenen Zeitalters (das hier als })Fordismus« bezeichnet wird) im Krisenzustand, jedoch denkt niemand an »die finale Krise des Kapitalismus«. Im Geg~nteil wurden viele Refonnen für dieses Modells vorgeschlagen, und Ende der achtziger Jahre scheinen sich diese Reformen zusammengefunden zu haben, um ihre mehr oder minder viel versprechenden Ergebnisse zu präsentieren. Daraus ziehen wir den Schluss. dass die Zukunft des Fordismus und die Auswege aus seiner Krise noch einmal die Zukunft der Beziebungen zwischen Kapital und Arbeit über den Globus hinweg detenninieren. Von daher die EntscheidUng, mit dem Fordismus, seiner Krise und den Auswegen daraus zu beginnen, um diese Betrachtungen dann auf den Süden und den Osten auszudehnen.
Aufstieg und Fall des Goldenen ZeitalterSJZunächst eine kurze Erinnerung daran, was Fordismus ist. Wie jedes ökonomische Entwicklungsmodell kann dieser auf drei Ebenen analysiert werden: • Als allgemeines Prinzip der Arbeitsorganisation (oder »industrielles Paradigma«) ist Fordismus Taylorismus plus Mechanisierung. Taylorismus impliziert eine strikte Trennung zwischen einerseits der Konzeption des Arbeitsprozesses, was Aufgabe des Planungsbüros und der Arbeitsvorbereitung ist, und der Ausfohrung von standardisierten und vorher festgelegten Aufgaben am unmittelbaren Arbeitsplatz andererseits. Mechanisierung bedeutet, dass das kollektive Wissen der Planungsabteilung in den materiel· len Apparat inkorporiert wird (sowohl Hardware als auch Software). Entsprechend diesem Prinzip wird die Einbindung der Arbeiter als nicht not~ wendig fur die Ausführung der Aufträge der Planungsabteijung betrachtet. • Als makroökonomische Struktur (oder »Akkumulationsregime« bzw. Sozialstruktur der Akkumulation) bedeutet Fordismus, dass den Produktivitätszuwächsen, die aus diesen Organisationsprinzipien resultieren, einerseits ein aus Profiten finanziertes Wachstum der Investitionen und andererseits ein
2
Der folgende Unterabschnitt zieht ein Resümee aus GJyn U.8. 1988 sowie aus Lipietz 198511, 1990, 1992. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2.55
118
Zentrum und Peripherie·
Wachstum der Kaufkraft der Arbeitsentgelte entsprechen. Ergebnis ist, dass der Anteil der Löhne ood Gehälter in Wertgrößen und der Kapitalkoeffizient ebenfalls in Wertgrößen mehr oder weniger konstant bleiben. Dadurch bleibt die Profitrate ungefähr stabil und die Nachfrage nach Gebrauchs- und Investitionsgütern wächst parallel zur Produktivität. • Als System von Spielregeln (oder »Regulationsweise«) impliziert Fordismus langfristige vertragliche Lohnverhältnisse mit streng kontrollierten Entlassungen sowie ein programmiertes Wachstum der an Preisen und allgemeinem Produktivitätswachstum indexierten Löhne. Darüber hinaus sichert eine umfassende Sozialisierung der Einkommen durch den Wohlfahrtsstaat den Lohnbeziehem ein garantiertes Einkommen. Auf der anderen Seite haben die Gewerkschaften die Vorrechte des Managements zu akzeptieren. Dadurch werden sowohl die Prinzipien der Arbeitsorganisation wie die makroökonomische Struktur respektiert. Der Erfolg des Modells des Goldenen Zeitalters war also auf dem Binnenmarkt eines jeden entwickelten kapitalistischen Landes lohninduziert. Aufgrund der begrenzten Bedeutung des Wachstums des internationalen Handels im Vergleich zum Wachstum der Binnenmärkte und wegen der Hegemonie der USA gab es nur begrenzte äußere ZWänge. Dennoch wurde die Stabilität dieses Weges zum Ende der sechziger Jahre zunehmend in Frage gestellt. Der erste und offensichtlichste Grund zeigte sich auf der »Nachfrageseite«. Es gab wenig Wettbewerbsunterschiede zwischen den USA, Europa und Japan. Die Suche nach Skalenerträgen führte zu einer Internationalisierung der Produktion und der Märkte. Steigende Rohstoffpreise fiir aus dem Süden importierte Waren (insbesondere Öl) beschleunigten die Konkurrenz auf Exportmärkten zu Beginn der siebziger Jahre. Die Regulation des Wachstums auf den Binnenmärkten mit Hilfe der Lohnpolitik wurde durch die Notwendigkeit Wlterlaufen, den Außenhandel auszugleichen. Angesichts dieser Krise der »Nachfrageseite« war die erste Reaktion der internationalen Eliten natürlich Keynesianismus. Hauptüberlegung dabei war, über die OECD, den internationalen Währungsfonds, die Trilaterale Kommission, die G7-Gipfel ete. die Aufrechterhaltung der WeltnacJafrage zu koordinieren. Das war eindeutig die Linie des ersten Gipfels in Rambouillet 1975. Seither wurde festgestellt, dass die tatsächlich verfolgten Politiken vom Gesichtspunkt der Nachfrage suboptimal sind.3 Aber erkannten alle die Notwendigkeit,28. Januar 1998 sich mit der effektiven Nachfrage zu befassen. In der Tat verlangsamte sich das Wachstum der Reallöhne drastisch, immer mehr Unternehmen verlagerten ihre Betriebsstätten in gewerkschaftsfreie Zonen oder vergaben Zulieferaufträge in Drittweltländer.
3
Das ist die bekannte Position von Ajit Singh (vgl. dazu Glyn u.a.1988). Die Position von Lipietz (1985a) dagegen betont eher den Erfolg der Kreditökonomie der siebziger Jahre.
Zentrum und Peripherie
119
Dennoch wurden m den entwickelten kapitalistischen Ländern die grundlegenden Strukturen der vorhandenen Regulationsweise beibehalten. Allerdings änderte sich Ende der siebziger Jahre die Denkweise der internationalen Eliten der kapitalistischen Welt. Das Krisenmanagement durch nach.frageorientierte Politiken hatte gewiss eine Depression verhindert. Als eine viel bedeutendere Schranke erschien jedoch der Fall der Profitabilität, der sich einer Reihe von Gründen auf der )}Angebotsseite« verdankte: der Verlangsamung des Produktivitätswachstums, dem Anstieg der Arbeitskosten (einschließlich der indirekten Löhne des Sozialstaates), dem Anwachsen des Verhä1tnisses KapitaJlProduktion sowie dem Anstieg der relativen Preise fttr Rohstoffe. Unter solchen Bedingungen können keynesianische Rezepte wie Erhöhung der Reallöhne (wie begrenzt sie auch immer sein mögen) und lockere Geldpolitik nur zu Inflation und Entwertung der Geldreserven fUhren, insbesondere der internationalen Leitwährung, des US-Dollars (Lipietz 1983). Daher also die Wende zu einer »angebotsorientierten Politik«, d.h. zu den »Arbeitsbeziehungen«, einem Bereich also, der bestimmte Aspekte mit dem industriellen Paradigma und der Regulationsweise gemem hat. Nun können selbst innerhalb des hier verwendeten theoretischen Begriffsrahmens die angebotsseitigen Probleme, mit denen der Fordismus konfrontiert ist, auf zweierlei Weise interpretiert werden. Eine erste geht auf KaIecki zurück und betrachtet den Anstieg der relativen Preise bei Arbeit und Rohstoffen als Ergebnis des lang anhaltenden Booms des Goldenen Zeitalters. Die Profitklemme war das Resultat der vorangegangenen Expansion md der Vollbeschäftigung. Dazu kommt, dass der Sozialstaat die Kosten fiir einen Arbeitsplatzverlust drastisch reduziert hat (Bowies 1985), was ebenfalls die Verlangsamung des Produktivitätswachstums erklären konnte. Wir kommen noch auf eine komplementäre Erklärung zurück, halten hier jedoch zunächst einmal fest, dass Ende der siebziger Jahre die Analyse der' Profitklemme zur offiziellen Erklärung wurde: Profite sind zu gering, weil Arbeiter (und Rohstoffexporteure) zu mächtig sind. Dies wiederum hat seinen Grund darin, dass die Spielregeln zu »rigide« sind, was zu Schwierigkeiten bei der Restrukturierung des Produktionsapparates fiihrt und das Risiko erhöht, bei der Nutzung von Möglichkeiten, die die technologische Revolution bietet, zu scheitern. So war die Analyse auf dem Gipfel der Sieben in Venedig 1980, also nach dem zweiten Öl~Schock. Dieser verkündete, dass die Bekämpfung der Inflation (md nicht die Arbeitslosigkeit) »erste Priorität« habe. Diese sollte durch steigende Produktivität und die Kapitalverlagerung von niedergehenden Sektoren in Wachstumssektoren, vom öffentlichen in den privaten Sektor, von der Konsumtion zu den Investitionen erfolgen. In der Praxis bedeutete dies, »Maßnahmen zu vermeiden, die partikulare Interessen vor der Strenge der Anp.assung schützen«. Mit anderen Worten: Der ))rigide« soziale Kompromiss sollte aufgekündigt werden. ARGUMENT SONDERBAND NEUE fOLGE AS 255
120
, i 1 '
"
'J
i t
Zentrum und Peripherie
Die Politik der »liberalen Flexibilität« wurde zunächst von der britischen und dann von den US-Regierungen eingeschlagen, der schließlich die meisten OECD-Ländern einschließlich der kommunistisch-sozialistischen Regierung in Frankreich folgten. Die AutkÜlldigung des sozialen Kompromisses wurde in unterschiedlichem Ausmaß umgesetzt und an verschiedenen Fronten durchgeführt von den Regeln des Lohnanstiegs (Inflation plus Produktivität) bis hin zu Umfang und Tiefe der sozialen Vorsorge, von der Liberalisierung der Entlassungsverfahren bis hin zur Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Dieser Prozess wurde entweder auf autoritäre Weise durchgesetzt (Regierungen und Management ergriffen jede Gelegenheit, die sich durch Niederlagen von Gewerkschaften und politische Erfolge konservativer Parteien bot) oder war das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Kapital und Arbeit im Kontext von steigenden Kosten des Arbeitsplatzverlustes (fti.r die Arbeiter). Nach einer ersten Phase der Rezession Anfang der achtziger Jahre zeigte sich eine Erholung, die 1983 begann. Jedoch war dieser Aufschwung weitgehend das Ergebnis einer Rückkehr zu einer keynesianischen Haushaltspolitik (Lipietz 1985a, 1992) und man kann kaum behaupten, dass dies ausschließlich das Ergebnis 1iberaler FIexibilitätspolitik gewesen sei. Darüber hinaus begünstigte die Erfahrung der achtziger Jahre die ernsthaftesten Versuche mit der Flexibilisierung USA, Großbritannien, Frankreich - nicht. Im Gegenteil hatten diese Länder sowoh1 Deindustrialisierung als auch eine Verschlechterung der Außenhandelsbilanz fti.r Industriegüter erlebt. Am Ende der siebziger Jahre zeigte sich, dass die Gewinner des Konkurrenzkampfes (Japan, Westdeutschland und die EFTA) durch andere Lösungen für die Angebotskrise charakterisiert waren. Wenn wir nun noch einmal zur »angebotsseitigen« Erklänmg der Krise des Fordismus zurückkehren~ so stellen wir fes~ dass eine Alternative bzw. kom~ plementäre Erldarung zur }) Vol1beschäftigungs-fProfitklemmen«~ Theorie auf einer schwindenden Effizienz der tayloristischen Prinzipien insistiert. Vollbeschäftigung kann zwar den Fall der Profitrate zum Ende der sechziger Jahre erklären,jedoch nicht die Fortdauer dieser Tendenz bei wachsendem Kapitalkoeffizienten in den folgenden Jahren. Noch wichtiger ist, dass die Beseitigung jeglicher Einbindung der unmittelbaren Produzenten in die Feinabstimmung des Produktionsprozesses nunmehr von begrenztem Wert zu sein scheint. Sie ist gut dazu geeignet, dem Management die Kontrolle über die Intensität der Arbeit zu sichern. Doch »größere Autonomie« der unmittelbaren Produzenten kann zu einem überlegenen Organisationsprinzip führen, vor allem dann, wenn neue Technologien oder »Just-in-time«~Management von Produktionstlüssen eingesetzt werden, was die Einbindung der geistigen Fähigkeiten der unmittelbaren Produzenten und deren freiwillige Kooperation mit dem Manage-
ARGUMENT SONDERBAND NEtTE FOLGE AS 255
--:--y.
Zentrum und Peripherie
121
ment und den Ingenieuren erfordert.4 Das war genau die A1ternative~ die von zahlreichen Großunternehmen in Japan, Deutschland und Skandinavien gewählt wurde. Dort führten der Druck der Gewerkschaften sowie bestimmte Organisationstraditionen zur Entscheidung ftir eine LösMg der Krise des Fordismus durch auszuhandelnde Einbindung (vgL Mahon 1987). Ende der achtziger Jahre wurde die überlegenheit dieser Entscheidung mehr und mehr anerkannt, nicht nur von dieser zweiten Gruppe von Ländern, sone dem auch in der Managementliteratur Md in der Presse. Sicherlich hat der internationale Wettbewerbserfolg dieser zweiten Gruppe eine wichtige RoUe für die Entwicklung von Ideen gespielt, doch haben die Schwierigkeiten, auf die man bei der Implementierung neuer Technologien im Kontext liberaler Flexibilität stieß, ebenfalls einen Wechsel im Managementstil begünstigt. Wie auch immer, es schien möglich, dass liberale F1exibilität und auszuhandelnde Einbindung Strategien sind, die beliebig kombinierbar sind. Diese VorsteUung ist die Basis fur einen Begriff von »Postfordismus« als »flexible Spezialisienmg«~ wie man ihn bei Piore/Sabel (1985) findet. Wir werden nun die wechselseitige Kohärenz dieser heiden Denkrichtungen untersuchen.
Was kommt nach dem Fordismus?5 Der Üb,erblick über die jüngste Wirtschaftsgeschichte, wie wir ihn gerade vorgenommen haben, kann wie folgt zusammengefasst werden:
Vgl. dazu Aoki (1987, 1988). Vor langer Zeit hatte Friedman (1987) bereits »verant· wortliche Autonomie« und »direkte Kontrolle« als zwei Tendenzen gegenübergestellt, die in dauerhaftem Konflikt innerhalb der kapitalistischen Arbeitsorganisation standen. In Aokis Schriften bezieht sich die Gegenüberstellung von »)semihorizontalen« und »)Vertikalen« Strukturen der Arbeitskoordination auf allgemeinere Betrachtungen der industriellen Organisation. Bezeichnenderweise beginnt er damit, die Überlegenheit der ersten über die zweite am Fall von Just-in.time-Management (Kanban) von aufWärts gerichteten Produktionsprozessen (Fab.rz.eugmontagebJindern) zu zeigen. Zu beachten ist die relative Unabhängigkeit der Arbeitsbeziehungen nicht nur gegenüber der Technologie, sondern auch gegenüber anderen Aspekten des internen Managements des Unternehmens und der industriellen Organisation. Diese Unabhängigkeit bleibt relativ, und die hier eingenommene Perspektive ist die, dass neue Technologien die verantwortliche Autonomie unterstreichen (ohne diese zu determinieren, wie das PiorelSabel1984 tun). Des Weiteren ist verantwortliche Autonomie mit den ausgefeiltesten Fonnen der industriellen Organisation wie Just-in-time und »Netzwerken von Unternehmen« voUstäridig kompatibel. Doch das verlässt den Themenbereich dieses Beitrags. Vgl. dazu LeborgneILipietz 1987 und 1988. , Der letzte Teil dieses Abschnitts und der folgende ist Ergebnis einer kollektiven Arbeit, die auf internationaler Ebene durch das World Institute jor Development Economies Research (WIDER) organisiert und inzwischen von SchorfYou (1995) veröffentlicht wurde. 4
ARGUMENT SONDERBAND NEue FOLGE AS 2S.S
122 l,
Zentrum und Peripherie
• AnfangHch wurde große Bedeutung auf die Nachfrageseite gelegt. Danach geriet dieses Problem in Vergessenheit, als ob es jegliche Bedeutung verloren hätte, weH die Internationalisierung eine Kontrolle der Nachfrage verunmöglicht hatte oder weil der Boom der zweiten Hälfte der achtziger Jahre es unnötig machte, die Nachfrage zu stützen. • Die Entwicklung zweier Lehrmeinungen hinsichtlich der Angebotsseite: liberale Flexibilität und auszuhandelnde Einbindung. Auf die Nachfrageproblematik kommen wir zurück, wenn wir die makro~ ökonomische Kohärenz der Arbeitsbeziehungen auf der Ebene von kontinentalen Blöcken betrachten. Hier befassen wir uns zunächst mit der Angebotsproblematik. In der Tat können die beiden Lehrmeinungen zur Lösung der Angebotskrise als zwei Fluchtwege in Bezug auf die beiden Charakteristika der fonllstischen Arbeitsbeziehungen aufgefasst werden: einerseits die Rigidität des Arbeitsvertrages, andererseits der Taylorismus als Fonn der direkten Kontrolle des Managements über die Tätigkeit des Arbeiters (Abbildung 1). Die erste Lehrmeinung schlägt eine Verschiebung von der »Rigidität« bin zur »Flexibilität« im Beschäftigungsvertrag vor, während die zweite auf eine Verschiebung von »direkter Kontrolle« hin zu »verantwortlicher Autonomie« setzt. In einer anderen Theoriesprache6 bezieht sich die erste (horizontale) Achse auf den »externen Arbeitsmarkt«, auf die Verbindung zwischen Unternehmen und Arbeitsuchenden. Die zweite (vertikale) Achse bezieht sich auf den »internen Arbeitsmarkt«, auf die Organisationsform von Kooperation und Hierarchie innerhalb der Unternehmen. Bei dieser Achse können wir - dem Taylorismus entgegengesetzt - von einem Ohnismus sprechen. Wir erinnern damit an die Rolle, die der Theoretiker der japanischen Produktionsmethoden spielte. die insbesondere bei Toyota entwickelt wurden (vgL dazu Coriat 1992). Auf der ersten })externen« Achse können. wie wir bereits feststellten~ Rigidität und Flexibilität viele Dimensionen haben. Die Spielregeln können Regelungen über die Bildung direkter Löhne, Regelungen ftir Einstellungen und Entlassungen, Regelungen über die Verteilung indirekter Löhne umfassen - der externe Arbeitsmarkt ist ein mehr oder weniger organisierter. Die Achse ist also eine synthetische. Darüber hinaus können die Regelungen auf verschiedenen Ebenen etabliert werden: auf d.er individuellen, der von Unternehmen, von Branchen oder der Ebene der Gesamtgesellschaft. Auf der zweiten »internen« Achse gibt es ebenfalls viele Dimensionen: »Einbindung« kann Qualifikation, Gruppenarbeit, Mitsprache bei der Festle-
6
VgI. DoeringerlPiore 1971. Die Bezeichnung »Markt« kann verwirren, denn sogar dar externe Arbeitsmarkt ist kein echter Markt, geschweige denn der interne.
ARGUMENT SONDERBA.'ID NEUE FOLGE AS 255
ZelJtrum und Peripherie
]23
gung und Kontrolle von Aufgaben ete. bedeuten. 7 Auch hier haben wir eine synthetische Achse. Doch dieses Mal ist es aus noch zu erläuternden Gründen notwendig, die Ebene der Verhandlungen über die Einbindung der Arbeiter genauer in Betracht zu ziehen. . Die Einbindung kann individuell ausgehandelt werden (J .in Abb. 1) und beispielsweise mit Prämien oder Aufstiegschancen befriedigt werden. Diese
Rigidität ,
Taytoriamus .
I
Auszuhandelnde
Einbindung
U.
II~ ---------/-L-Z·
...
~~
KalmariSInUsl
I
II
I
I
I ---------
AbbiJdung I Die Entwicklung des Post~Fordismus: die entwickelten kapitalistischen Länder Option ist allerdings durch den kollektiven Charakter der Einbindung begrenzt, den die meisten kooperativen Produktionsprozesse ertordem. Die individuell aUszuhandelnde Einbindung kann auch auf eine Arbeitsgruppe oder einen betrieblichen FertigWlgsbereich ausgedehnt werden. Dies bleibt mit einem flexiblen Beschäftigungsvertrag kompatibel.
1
Wie gezeigt kann die Aushandlung der Einbindung (und die Einbindung selbst) Aspekte außerhalb des Unternehmens einschließen, so Z.B. die Berufsausbildung und die Teil~ nahme der Gewerkschaften in verantwortlichen Gremien aufzwischenberuflicher Ebene oder auf Branchenebene (wie z.B. in den sogenannten »korporatistischen« Ländern Österreich und Schweden). ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2SS
Zentrum und Peripherie
124
:,
:
., I
.. , :i
I
• Die Einbindung kann von Unternehmen zu Unternehmen zwischen Management und Gewerkschaft.en ausgehandeh werden (U in Abb. 1). Hierbei teilen sich das Unternehmen und seine Arbeitskräfte den Nutzen aus den spezifischen Fertigkeiten auf, die sich im Laufe eines kollektiven Lernprozesses akkumuliert haben. Dies impliziert eine externe Rigidität des Arbeitsvertrages, d.h. Einschränkungen des Rechts auf Entlassung bereits auf Unternehmensebene, aber ein solcher Kompromiss schließt selbstverständlich nicht die Arbeiter außerhalb des Unternehmens mit ein. • Die Einbindoog kann auf Branchenebene ausgehandelt werden (B in Abb . 1), was fiir die Unternehmen die Gefahr einer Konkurrenz durch »Sozialdmnping« vermindert und diese ennutigt, kommunale Weiterbildungseinrichtungen u.Ä. aufzubauen. Als eine Konsequenz daraus wird der externe Arbeitsmarkt wabrscheinHch besser organisiert, im allgemeinen rigider sein und die Arbeitseinkommen stärker sozialisieren. • Die Einbindung kann schließlich auf der Ebene der Gesamtgesellschaft ausgehandelt werden (G in Abb. 1), wobei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände über die gesellschaftliche Orientierung und Verteilung der Produktion im regionalen oder nationalen RaumS verhandeln. Es versteht sich, dass die Gewerkschaften versichern, dass »ihre Mitglieder« das Beste in Produktion und Büro geben. Hier wird der externe Arbeitsmarkt wahrscheinlich mindestens so gut organisiert sein wie in den mehr korporatistischen oder sozialdemokratischen Fonnen des Fordismus. Auf der anderen Seite kommt die kollektive Einbindung der Arbeiter nur dann zustande, wenn Unternehmen und Arbeitskräfte - im Kontext externer Flexibi~ limt auf welcher Ebene auch immer (individuell, Unternehmen, Branche, Gesellschaft) - gemeinsame Ziele haben. Die Konsistenzgrenze zwischen Flexibilität und Einbindung erscheint daher als eine Kurve, die beide Achsen miteinander verbindet. Außerbalb der Kurve liegt ein ausgeschlossener dreieckiger Bereich der Inkonsistenz, wo Flexibilität und auszuhandelnde Bin· bindung vennutlich auseinander fallen. 9 Die beiden Achsen für sich genommen konstituieren die bevorzugten Entwicklungslinien, d.h. die beiden eigentlichen Paradigmen: • Externe Flexibilität in Verbindung mit direkter hierarchischer Kontrolle. Dies führt zu einer Art tayloristischen Fonn des Arbeitsprozesses, allerdings
8
9
Oder gar aufintemationaler Ebene! Das Problem., ~elcher geographische Raum sich für ein gesellschaftliches Paradigma eignet, ist eines der schwierigsten und am wenigsten entwickelten (vgl. auch Lipietz 1985b, 1994). Eine solche Kombination ist jedoch weiter möglich, wenn es sich um verschiedene Segmente des Arbeitsmarktes innerhalb der gleichen Gesellschaft handelt (zum Beispiel: Männer und Frauen). Generell unmöglich ist die auszuhandelnde Einbindung einer Gruppe flexibler Arbeiter, sozusagen das PioreiSabel-Modell.
ARGt'MENT SONDERBAND NEI.JE FOLGE AS 255
Zentrnm und Peripherie
125
ohne die sozialen Gegenstücke des fordistischen Goldenen Zeitalters. Wir nennen dieses Paradigma »Neotaylorismus«. • Externe Rigidität des Arbeitsvertrags in Verbindung mit auszuhandeJnder Einbindung der Arbeiter. Wir nennen dieses Paradigma »KaImarismus« - in Würdigung der ersten Automobilfabrik (Volvo), die nach diesen Prinzipien im sozialdemokratischen Schweden reorganisiert wurde. Diese Fabrik ist heute geschlossen; wir werden noch sehen, warum. Die jüngsten Erfahrungen der OECD-Länder können auf einer Kurve liegend dargestellt werden: Die USA und Großbritannien bevorzugen Flexibilität und lassen die Einbindung beiseite, einige Länder wie Frankreich fhhren auszuhandelnde Einbindung auf individueller Ebene ein, Japan praktiziert auszu handelnde Einbindung auf der Ebene von (großen) Unternehmen, Deutschland setzt sie auf Branchenebene um, und Schweden befmdet sich der kalmaristisehen Achse am nächsten. Was aber macht die Anzieh1.Ulgskrnfi: dieser Achsen aus? Erfahrungen der USA zeigen, dass es schwierig ist, in einem liberalflexiblen Kontext eine Einbind1.Ulg auf Untemehmensebene auszuhandeln, Während individuell auszuhandelnde Einbindung dort allerdings umgesetzt werden kann. In Richtung auf das andere Extrem zeigt sich Westdeutschland als weniger gesellschaftlich entwickelte Form des Kalmarismus. Japan nimmt eine mittlere Position ein, die man auch »Toyotismus« nennen könnte, mit einer starken Dualität (rigide/flexibel) auf dem externen Arbeitsmarkt. 10 Wir· . werden auf diesen Punkt mit der globalen Kohärenz der Paradigmen zurückkommen. Doch weIfen wir zunächst einen Blick auf die Länder, die nicht der OBeD angehören. e
Der Süden und der Osten: auf dem Weg zu welchem Postfordismus?
i
I ,
Während der Osten vollständig eigenständige Formen der Arbeitsbeziehungen entwickelt hatte (die er selbst als »sozialistisch« bezeichnete, worin aber nicht alle übereinstimmen), konnte der Süden als Gruppe von Ländern beschrieben werden, denen eine Imitation weder des westlichen noch des östlichen Modells gelungen ist. In den sechziger Jahren wurde vielfach gedacht, dass der schnellste Weg der Entwicklung des Südens der des Ostens war. Dies ergab sich aus zwei Be· trachtungsweisen: • Der Osten war bereits ein Beispiel für beschleunigtes Wachstum, das in dieser Zeit schneHer war als in den fordistischen Ländern. Die stalinsehe Sowjetunion konnte also als ein ehemals unterentwickeltes Land angesehen werden, das aufgrund seiner überlegenen ReguIationsweise Erfolg hatte.
-----------------VorSiCht, Toyotismus ist nicht identisch mit OilDismus! Er kombiniert Ohnismus als 10
industrielles Paradigma. mit einer bestimmten Art der Arbeitsbeziehungen. ARGUMENT SONDERI:lAND NEUE FOLGE AS 2.5S
.
.:
>, '
126
Zentrum und Peripherie
• Der Westen selbst schien sich der Industrialisierung des Südens entgegenzusteHen. Nicht nur hatte das Kolonialsystem ausdrücklich auf einer »internationalen Arbeitsteilung« beruht, wobei dem Süden die Herstellung von GrundstoftProdukten zukam, die automatischen Dynamiken des Freihandels reproduzierten die gleiche Arbeitsteilung auch in den neokolonialen BeziehW1gen) die nach der Unabhängigkeit existierten. Diese Tatsache hatte in positiver Form in Ricardos Theorie der komparativen Vorteile ihren theoretischen Ausdruck erhalten, in negativer Umarbeitung wurde daraus nun die »Dependenztheorie«. Seit dieser Zeit traten sogar unter den nicht-sozialistischen Ländern immer wieder heterodoxe Modelte (d.h. einschließlich bestimmter Charakteristika des östlichen Modells) auf, die als Weg des Südens erschienen~ den Westen einzuholen. Tatsächlich gab es bereits Gegenbeispiele wie das früher zum alten russischen Reich zählende Finnland, aus dem eine fordistische sozialdemokratische Gesellschaft wurde. Doch war es weniger die Rhetorik von Rostow als der mit dem Ausbleiben des Erfolgs der peripheren? ja sogar der sozialistischen Kem1änder kontrastierende Erfolg der jüngst sich entwickelnden Länder (NIes), der zu einer Änderung in der allgemeinen Wahrnehmung führte. Es ist daher angebracht, die Analyse mit Osteuropa zu beginnen. Aufstieg und Fall des Eisernen Zeitalters
Die stalinsehe Sowjetunion übernahm ihr eigenes EntwicklungsmodeU, das man auch das Modell des »Eisernen Zeitalters« nennen könnte in Absetzung vom fordistischen Modell des Goldenen Zeitalters: Das industrielle Paradigma des Taylorismus wmde ausdrücklich in das revolutionäre Russland Lenins importiert. • Das Akkumulationsregime beruhte auf extensiver Akkumulation der Pro~ duktivkräfte mittels hnportsubstitution, allerdings ohne größeres Wachstum der Massenkonsumtion. • Die Koordinationsregeln (oder ReguJationsweise) gründeten aufPlanwirtschaft, was dem »sozialistischen« Aspekt entsprach. Unter Stalins Ökonomen herrschte die Vorstellung vor~ dass »die Anarchie des Marktes« der schlechte Aspekt des Kapitalismus war. Mit mehr »Organisation« und »Hierarchie« sollte sich die tayloristische Rationalität über die gesamte Gesellschaft ausbreiten. Zugegebenennaßen war dies ein sehr effizientes Modell für eine Situation lewisianischen Typs (d.h. mit einer enormen bäuerlichen Reservearmee). Sie dachten, dass der Taylorismus dafür geeignet sei, neue, ungelernte Arbeiter in den industriellen Arbeitsprozess einzugliedern. Extensive Akkumulation hat keinen großen Bedarf an Flexibilität, sie steigert die Durchschnittsproduktivität in der Ökonomie in dem Maße, wie industrialisierte und mechanisierte ProdukARGliMENT SONDERBA.'lD NEtTE FOlGE AS 255
J
Zentrum und Peripherie
I
I
I i
l
I I
127
tion vorindustriel1e Fonnen ersetzen. Bei langsam ansteigenden Reallöhnen k0r.mte ein riesiger Überschuss akkumuliert werden. Die zentralisierte OrganisatIOn der Nachfrage beseitigte Nachfrageengpässe, allerdings mit der Gefahr de~ A~ommens eines Engpasses auf der >Angebotsseite< (vgl. Komm 1979). WIe bei den Arbeitsbeziehungen wurde die anfängliche Strenge auch auf der Nachfrageseite zunehmend in einem akzeptablen Kompromiss (entsprechend den Standards der fiinfziger Jahre) stabilisiert. Im Gegenzug für die Unterordnung unter den Taylorismus besaßen die industriellen und tertiären Arbeitskräfte eine virtuelle Beschäftigungssicherung. Diese Kombination (Taylorismus plus dauerhafte Beschäftigung) war der Neffe des fordistischen Kompromisses, woraus sich die Ähnlichkeit und der Wettkampfin den fiinfziger Jabrenergab. Jedoch traten neue Problem an die Oberfläche. als die lewisianische industrielle Reserveannee aufgebraucht war - oder nie existiert hatte (wie in der Tschechos1owakei oder in der DDR). Wie Köllö (1990) gezeigt hat, fiihrte die Unmöglichkeit, im gleichen Ausmaß zwischenbetriebliche wie innerbetriebliche Beziehungen zu organisieren, zu Engpässen und Verschwendung. Umgekehrt spiegelte sich die Anarchie der gesellschaftlichen Planung in der Desorganisation der Unternehmen. Die Einbindung der Arbeiter wurde durch die Erosion der revolutionären Ideale, durch die Anarchie der industriellen Beziehungen und durch das Fehlen irgendeines Anreizes, sei er negativ (Kosten für Arbeitsplatzverlust) oder positiv (Zugang zu höhetwertigem Konsum), ge. SChwächt. Der Kompromiss »Arbeitsplatzsicherheit plus niedrige Löhne« war daher für eine Stagnation prädestiniert. Wie sehr es sich auch vom Fordismus unterschied, auch das »sozialistische« Paradigma des Eisernen Zeitalters endete in der »angebotsseitigeo« Krise. Die Hauptunterschiede waren folgende: • es gab keine Nachfragekrise.~ • die sozialistische Arbeitsplatzsicherheit war rigider als die fordistische; • die Rigidität umschloss alle anderen Aspekte der industriellen Organisation; • die Nichteinbindung der Arbeiter schien eher Folge der Inkompetenz des Managements als eines Übermaßes an tayloristischer »wissenschaftlicher Betriebsfilhrung« zu sein. Es wurde offensichtlich, dass die östliche Regulationsweise mehr Flexibilität in ihrer ökonomischen Organisation benötigte. Von daher also die gemeinsame Entscheidung osteuropäischer Reformerzugunsten von ~ut~nomie für das Management der Unternehmen. Doch das erste Stück FreiheIt, das von den Unternehmen geltend gemacht wird. ist ,die Freiheit, sich die Arbeitskräfte ihren Anforderungen anzupassen, die potenzieUe Produktivität der vorhandenen Anlagen und die gesellschaftliche Nachfrage vorausgesetzt. Sehr schnelle liberale FJexibilisierung der Arbeitsbeziehungen - d.h ..exte~e FJexi~i1i.tät und Ende der sozialistischen Arbeitsplatzsicherheit - schien em AllheIlmittel zu sein. Zehn Jahre nach dem Westen drängten alle ehemals sozialistischen ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AB 2~~
,,:,J
Zentrum und Periphlrie
128
Länder (mit Ausnahme von Kuba und Nord-Korea - im Jahr 1994) dazu, dieses neue Wundermittel zu umannen, dabei die andere Seite des Problems vergessend: die internationale Organisation des Arbeitsprozesses. Wie kann diese Situation grafisch dargestellt werden? Auf der vertikalen Achse kann die »Arbeitsplatzsicherheit« als »)exzessive Rigidität« erscheinen. Aber auf der internen Achse (Organisation) ist die Situation weniger klar. Der Ausgleich ist weniger der zwischen »direkter Kontrolle« und »)verantwortlicher Autonomie« a1s der zwischen »uneffizienter Kontrolle« und >mnverantwortli· cher Autonomie«. 1m Osten besitzt der unmittelbare Produzent einen Grad an
1 Indien I
China: I
I Direkte~ KonllDJIe
I I
CSSR
.~.
-
&ImHlandttlnde
....(--
FORDISAf~~-
Einbindung
!
Indien 11 NichtkapilalMltiach e produldionslarmen auf dem L.and Flexibilität
China 1I
Abbildung 2 Rund um den Fordismus Autonomie, sei es dank einer revolutionären oder industriellen Tradition (OstdeutschJand oder Tschechien)) auf jeden Fan in Folge der Unfähigkeit des M.anagements zur wissenschaftlichen Org.anisation irgendeiner direkten Kontrolle. Auf unserer synthetischen Achse kann man diese Position zwischen »auszuhandelnder Einbindung aufUnternehmensebene« und »auszuhandelnder Einbindung auf Branchenebene« ansiedeln, da Köllö gezeigt hat, dass die Verhandlung über einen Kompromiss die Beteiligung des Ministeriums, der Unternehmensleitung und der Arbeiterschaft erfordert. Von diesem AusgangsARGUMENT SONDERBA"'ID NEUE FOLGE AS 255
...
Zentrum und Peripherie
I
I
I i
I f
I
129
Punkt aus wird die Bewegung bestimmt nach unten gehen. also hin zu größerer Flexibilität bei den Arbeitsverträgen. Allerdings werden die Arbeiter nach der ~ufkündigung des Arbeitsplatzsicherbeits-Kompromisses in der Lage sein, eme bestimmte Art von sozialdemokratischem Fordismus auszuhandeln - oder aber werden sie genötigt oder überzeugt sein, das Allheilmittel der »liberalen Flexibilität« zu akzeptieren? Dies bleibt auf der Ebene unserer Analyse und in dieser Phase des historischen Prozesses eine offene Frage. Auch die Situation auf der horizontalen Achse ist eine offene. Die Haupttendenz der neuen »)autonomen« Unternehmensfithrungen wird sicherlich sein,. vollständig auf tayloristischen Prinzipien basierende Systeme zu implementieren, vor allem in den wenigerentwickeJten Ländern (polen, Ungarn, Rumänien und große Teile der Sowjetunion). Allerdings werden sie auf starken Wider~ stand der Facharbeiter treffen, vor allem in den Gebieten, die von westdeutschen und skandinavischen Beispielen des kalmaristischen Paradigmas (die Ex-DDR und Tschechien) beeinflusst werden. Wir können diese erste Diskussion dahingehend zusammenfassen, dass die Länder des Ostens als Antwort auf die Herausforderungen der Krise der Angebotsseite ihres industriellen Paradigmas versuchen werden, ihr offensichtlichstes Problem, das der Rigidität, zu beseitigen. Das bedeutet das Ende des Systems der Arbeitsplatzsicherheit in den Arbeitsbeziehungen. Da tayloristi· sehe Prinzipien ihre Grenzen noch nicht erreicht haben" weil sie niemals vollständig implementiert wurden, wird die Hauptattraktion bei der Kombination »Taylorismus plus liberale Flexibilität« liegen, d.h. dem neotayloristischen Paradigm~ das diesen Ländern als Basis für den Erfolg des Westens erscheint.
Agrarriesen mit Inseln der Industrialisierung China und Indien sind zwei riesige Länder des Südens, die dem Entwicklungsmodell der Sowjetunion am ähnlichsten waren. Der bedeutende Unterschied zwischen diesen Ländern und denen Osteuropas ist die Größe ihrer Bauernschaft, die etwa ein Dritte) der Weltbevölkerung ausmacht. Die wichtige Differenz zwischen China und Indien ist die Aufsehen erregende Agrarrevolution in China. China hat von seiner Agrarrevolution und seiner strengen Organisation des Landlebens profitiert, mit dem Ergebnis, dass es bis Ende der achtziger Jahre noch keine massive Landflucht in die Städte erlebt hat. Dies kam einer Fonn von »verborgenem Lewianismus« gleich, mit einer künstlichen Verknappung der städtischen Arbeiterschaft, die sich einer quasi sowjetischen Strategie der extensiven AkkwnuIation mit Orientierung auf Importsubstitution widmete. Diese Strategie wurde durch den Maoismus zu einer Quasi-Autarkie vorangetrieben. Darüber hinaus können der Große Sprung Vorwärts und die Große Proletarische Ku1twrevolution als erster Versuch verstanden werden, A1WUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AB 25.5
.1
f·
130
Zentrum und Peripherie
Kritik am Kapitalismus (in Wirklichkeit am Taylorismus) a]s einem System der direkten Kontrolle von der Angebotsseite aus zu üben. Nach einem ersten Versuch, zu strengen stalinschen Prinzipien zurückzukehren, war das Regime unter Deng Xiaoping das erste in der sozialistischen Welt (mit Ungarn), das die orgamsationelle Sackgasse erkannte und wieder Flexibilität einführte, nicht nur in den Fabriken, sondern auch auf dem Land. Der maoistische Versuch, die Arbeiter in die Leitung der Unternehmen und der Kommunen einzubinden, wurde vernichtet. Das Einzige, was blieb, war die Einbindung vor Ort in das Management. Die liberalen Reformen brachten die lewisianische Situation auf dem Lande ans Tageslicht. Die Unternehmer (sowohl in staatlichem als auch nichtstaatlichem Eigentum) fanden Arbeitskräfte vor, die sehr flexibel und extrem schlecht bezahlt waren, bei dennoch erheblichen »Kosten für Arbeitsplatzverlust« und einem ziemlich autoritären Regime. Dies waren die Bedingungen, die wir später »primitiver Taylorismus« nennen werden, ein Modell, mit dem die NIes in Ostasien in den sechziger und siebziger Jahren experimentierten. In Abbildung 2 kann die chinesische Trajektorie folgendennaßen verdeutlicht werden: Ausgehend vom sowjetischen Modell und nach einer scharfen Wendilllg zur Einbindung in Richtung interner Achse bewegt sich das industrielle China mit großer Geschwindigkeit zum Boden der Grafik in Richtung des primitiven Taylorismus. Dieser wird unterhalb des Neotaylorismus dargestellt (weil die Verhältnisse der Arbeiter schlechter ist als in den kühnsten Träumen der extremsten Angebotstheoretiker). Dazu kommt, dass die Bauern unmittelbar unter dem Paradigma des primitiven Taylorismus arbeiten müssen. In Indien gab es keine echte Bodenreform, das Land war niemals »staatssozialistisch«, und es gab nie eine wirkliche Planwirtschaft. Dennoch gab es in der Geschichte seit seiner Unabhängigkeit viele Spuren des sowjetischen Modells. Die staatliche Politik der Importsubstitution beförderte die Entwicklung eines großen tertiären und industriellen Sektors mit Orientierung auf den Binnenmark1, wo die Arbeiter vom Prinzip der Arbeitsplatzsicherheit profitierten (Sektor I; vgl. Rao 1994). Diese Arbeiter waren weniger eingebunden als in den soziahstischen Ländern, dennoch waren sie genau genommen nicht taylorisiert. Der große Unterschied zu China liegt in einem pennanenten Strom primitiver Taylorisierung von Arbeitern, die aus vorkapitalistischen Verhältnissen ausgeschlossen bzw. in kapitalistische Verhältnisse durch ein bestimmtes Ausschluss-System integriert werden (Sektor II; vgL Raa 1994). Es zeigt sich also in Indien ein zweites Archipel industrieller Lohnverhältnisse . Aus historischen und kulturellen Gründen hat der Taylorismus nicht sein absolutes Maß direkter Kontrolle durch Planungsbüros (die kaum existieren) erreicht. In Abbildung 2 wird dieser Prozess durch einen Pfeil dargestellt, der in das Kapita1JArbeit-Diagramm unten rechts eintritt. Der wirtschaftsliberale Trend der achtziger Jahre wird wahrscheinlich die Arbeitsbeziehungen in Indien in Richtung der klassischen Form primitiver Taylorisierung treiben. Mit der ARGUMF,:NT SONDERBAND NEUE FOLGE f\S 2~.5
Zentrnm und Peripherie
Öffhung des Marktes fl1r den. internationalen Wettbewerb wird der Sektor II weitergehende FOITI1en der direkten Kontrolle ohne bemerkenswerte Steigerungen der Reallöhne oder Verbesserungen in der Sozialgesetzgebung akzeptieren müssen. Das Prinzip der Arbeitsplatzsicherheit wird im Sektor I abgeschafft werden müssen, doch wird es möglich sein, dass die privilegierte Fraktion der Arbeiterschaft in die Lage kommt, eine begrenzte liberale Flexibilität. und soziale Errungenschaften des fordistischen Typs im Austausch fl1r die Ra~ tionalisierung des Arbeitsprozesses auszuhandeln. Dieses indische Modell ist sehr interessant, wei1 es eine Karikatur bestimmter Entwicklungen in den lateinamerikanischen Ländern cepalistischen Typs ist, d.h. einer Entwicklung, die die theoretischen Überlegungen der ComissiOn economica por Americas Latinas (CEPAL) reflektiert, die aus folgenden Komponenten besteht: • Aufbau eines modemen, auf bnportsubstitution basierenden Industriesek· tors, oft unter der Fühnmg eines populistischen Staates; • Existenz eines Agrarsektors mit mehr oder minder antiquierten sozialen Verhältnissen, der zu einem kontinuierlichen Strom von Arbeitssuchellden vom Land führt (was man von Mexiko bis nach Argentinien beobachten kann);
• ein »Sektor I«, wo einer relativ »rigiden« Arbeiteraristokratie eine brutale FlexibiJisierung Wldeine Rationalisierung der Arbeitsorganisation (eine tatsächliche Taylorisiemng) aufgedrängt wurde~ • ein )}Sektor II« mit bäuerlichem Ursprung, der urbanisiert wurde und sich mit den industriel1en und tertiären Beschäftigten verbindet, entweder als Resultat des chaotischen Prozesses der FOITI1ierung eines informel1en Sek~ tors oder durch direkten Eintritt in tay)orisierte Unternehmen mit flexiblen BeschäftigWlgsverhältnissen. Dieser neue Typ peripherer Industrialisierung (im Verhä1tnis zu indischen, chinesischen Wld cepalistischen Model1en der Importsubstitution) wird mm in seiner Eigenständigkeit untersucht werden. Die neu industrialisierten Länder (NICs): Wohin gehen sie?
1
I
I I
Die siebziger Jahre erlebten das Auftauchen der NICs, Brasilien und Südkorea sind dabei die bekanntesten Beispiele. Bestimmte Aspekte von deren EntwickIWlgsmodellen wurden anderweitig unter den Rubriken »primitive Taylorisierung« und »peripherer Fordismus« untersucht (vg1. Lipietz 1985a): • Primitive (oder blutige) Taylorisierung. Dieser Begriff dreht sich wn die Verlagerung von begrenzten Segmenten von Industrien in Gesellschaftsformationen mit sehr hohen Ausbeutungsraten (sowohl hinsichtlich der Löhne als auch die Dauer und Intensität der Arbeit etc. beinhaltend), wobei diese Produktion in der Regel in die entwickelteren Länder exportiert wird.
(
I
ARGUMENT SONDERBAJ\lD NEUE FOLGE AS 2SS
. ,:
132
Zentrum und Peripherie
In den sechziger Jahren waren die Freizonen und die Werkbank-Staaten Asiens die beste Illustration für diese Strategie, die sich heutzutage aus~ weitet Zwei Charakteristika dieses Regimes sollten festgehalten werden: Erstens folgt die Arbeit im al1gemeinen tay10ristischen Prinzipien~ wo es es allerdings relativ wenig Mechanisienmg gibt Die technische Zusammensetzung des Kapitals in diesen Unternehmen ist besonders niedrig. Diese Strategie vermeidet also, Investitionsgüter importieren zu müssen, was einer der Nachteile der Jmportsubstitutionsstrategie war. Ein anderer Aspekt ist, dass diese Strategie, da sie überwiegend weibliche Arbeitskräfte mobilisiert, an dasjenige Wissen inkorporiert, das in der häuslichen. patriarchalen Ausbeutung erworben wurde. Zweitens ist diese Strategie im dem Sinne blutig, in dem Marx von der Blutgesetzgebung am Vorabend des englischen Kapitalismus sprach (vgl. :MEW 23, 762). Der ererbten Unterdrückung der Frauen fUgt sie alle modemen Waffen der Repression gegen die Arbeiter hinzu (offizielle Gewerkschaften, fehlende soziale Rechte, Gefangenschaft und Folter für Regimegegner). • Peripherer Fordismus. Ähnlich wie der Fordismus beruht er auf der Kombination von intensiver Akkumulation und Wachstum von Endverbrauchermärkten. Er bleibt jedoch insofern peripher, als in den weltweiten I<;reisläufen der Industrie die qualifizierte Arbeit (insbesondere die Ingenieurstätigkeilen) weitestgehend außerha1b dieser Länder bleibt. Außerdem folgt der Absatz einer bestimmten Kombination von lokaler Konsumtion durch die Mittelklassen, zunehmender Konsumtion von Gebrauchsgütern durch die Arbeiter und Billigexporten in die Länder des Kernkapitalismus. Nehmen wir die bei den Beispiele Brasilien Wld SÜdkorea. Brasilien begann seine Industrialisierung früher und mit größerem Erfolg als mdien. Die Agrarreform war ähnlich begrenzt wie in Indien. das Angebot an zusätzlichen Arbeitskräften war lewisianisch, und seit der Periode von Vargas (während des Zweiten Weltkriegs) hat eine staatliche Politik der Importsubstitution in den städtischen Sektoren nationales Kapital angesiedelt. Dies war mit einer korporatistischen Sozialgesetzgehung verbunden, die sich nicht wesentlich von fordistischen Prinzipien unterschied. Es gab jedoch zwei bedeutsame Entwicklungen, die eine Differenz ausmachen. Erstens scheute der auf Entwicklung fixierte Staat unter Joce1ino Kubitschek nicht davor zurück, das Land flir Kapital und Technologie aus dem »Nordwesten der Welt« zu öffnen, obwohl er gleichzeitig seinen Binnenmarkt vor hnporten schützte. Zweitens wurden die sozialen Emmgenschaften der Vargas-Gesetze durch die Machtübernahme der Militärs 1964 wieder rückgängig gemacht. Dies hatte zum Ergebnis, dass sich die »wissenschaftliche Arbeitsorganisation« ohne Begrenzung außer dedenigen der technologischen Abhängigkeit entwickelte Wld die blutige Repression der Gewerkschaften dem KapitaJ eine »flexible« Arbeitskraft bot. Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre baute Brasilien eine sehr wettbewerbsARGUMENT SONDER BAND NEUE FOIßf, A.,<; 255 \
J
Zentrum und Peripherie
133
fähige Industrie auf, velVollständigte seine Importsubstitution und entwickelte seine industriellen Exporte weiter. Dies führte zu einer primitiven Taylorisiemng. Al1erdings folgte Brasilien nicht einer simplen Strategie der Exportsubstitution. Die Investitionsgilter wurden hauptsächlich durch den Export von Grundstoffprodukten und durch Anleihen finanziert. Die Erlöse aus der primitiven Taylorisienmg wurden in die Entwicklung eines dualen peripheren Fordismus reinvestiert. Ein Teil der Bevölkerung - die neuen Mittelklassen - genehmigte sich einen quasi fordistisehen LebensstiJ. Die Arbeiter profitierten in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre von dem Produktivitätswachstmn, das aus der Mechanisierung und Rationalisienmg resultierte. Dieses Segment umfasste den größten Teil des »formalen Sektors« (vgl. Amadeo/Camargo 1995) - zwar nicht aUe, so doch den größten Teil der Arbeiterklasse ~, der Ende der siebziger Jahre einige der Emmgenschaften wiedererlangte, die die Vargas-Gesetze garantiert hatten. Auf der anderen Seite aber gab es ein breites Segment von Arbeitern, die von den Vorzügen des brasilianischen Wunders ausgeschlossen blieben: die »lewisianischen« ehemaligen Bauern, die infonnellen Arbeiter und die schlecht bezahlten formellen Arbeiter in kleinen Unternehmen. In den achtziger Jahren explodierte die Schuldenkrise,. der 1985 eine Demokratiebewegung folgte. Die sich daraus ergebende Entwicklung ist ziemlich kompliziert. Einerseits erhöhte die Demokratisienmg die Verhandlungsmacht der Arbeiter und stärkte ihre gesetzlichen Garantien, andererseits aber verminderte eine hohe Inflation ihre Möglichkeit"die Entwicklung ihrer Reallöhne zu steuern. Verteilungskonflikte standen bei den industriellen Konflikten im Vordergrund. Die Arbeitsbeziehungen konnten sich bei diesem ständigen Unwetter, das die marginalisierte lewisianische Reserveannee, den informellen Sektor und die verschiedenen Ebenen der fonnellen Sektors ergriff, nicht stabilisieren. In dieser chaotischen Situation gab es für Brasilien drei Zukunftsoptionen: eine Rückkehr Zill primitiven TayJorisierung. eine Konsolidierung des peripheren Fordismus sowie eine Entwicklung hin zum Fordismus mit kalmaristischen Aspekten auf der lokalen Ebene. Im Vergleich dazu hatte die Revolution zwischen 1985 und 1987 in Südko~ rea eine viel bessere Ausgangssituation. Grundlage für alles weiteve war die Agrarrefonn der fünfziger Jahre, der Einkommenstransfers für die Bauern folgten. Die primitive Taylorisierung in Südkorea stand nicht unter dem Druck einer lewisianischen ReselVeannee. Alle Arbeitskräfte wurden mit flexiblen Arbeitsverträgen, aber fonneU eingesteUt Zudem war der Staat um eine gewissenhafte Planung der Exportkapazitäten bemüht, um sicherzustellen, dass die Schulden bezahlbar blieben. Frauen wurden zwar insbesondere in den Exportsektorenauf erschreckende Weise überausgebeutet, doch stiegen die Einkommen von Arbeiterfamilien in den siebziger Jahren an und beschleunigten sich sogar in den achtziger Jahren. Resultat war, dass Südkorea einen ÜberARGUMENT SONDERBAND NEL'E FOLGE AS:m
i .
ZentnJm und Peripherie
134
gang von der primitiven Taylorisierung hin zum peripheren Fordismus erlebt~. Darüber hinaus entwickelte sich beim männlichen Teil der Arbeiterklasse eUl derartiges Bewusstsein hinsichtlich der industriellen Beziehungen, daSS es durchaus im Bereich des Möglichen liegt, bestimmte Aspekte der japanischen Fonn auszuhandelnder Einbindung aufUntemehmensebene nacb.zuahmetl (vgl. You 1995). Der Demokratisierungsprozess wird, seitdem es keine Schuldenlasten roehr gibt, diese Tendenzen wahrscheinlich beschleunigen, obwohl weiterhin wert· bewerbszwänge bestehen. Südkorea könnte sich zu einer Fonn hinbewegen, die immer weniger peripher zu den Zentren des Toyatismus liegt. Auf dem Weg zu einer dritten internationalen Arbeitsteilung Wir werden hier nicht die Diskussion über die makroökonomische, soliapolitische oder ökologische Stabilität der verschiedenen nationalen Entwic~· lungsmodeUe der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit fortsetzen. I I WI! wollen hier vielmehr die Möglichkeit einer Koexistenz von Nationen llut unterschiedlichen EntwicklungsmodeUen in einer Welt diskutieren, die zunehmend internationalisiert ist, wo also geographische, gesetzliche, tari~e oder kulturelle Barrieren inuner weniger ein Hindernis für die freie Zirkulation des technologischen Wissens, des Kapitals und der Güter darstellen. Es ist dies eine Frage, die sich um die Theorie (oder besser Theorien) des internationalen Handels dreht. Doch die Theorie des internationalen Handels jst heutzutage vor allem durch Annahmen behindert, die sich auf eine vergan· gen~ Realität beziehen. Es wird entweder angenommen (mit Bezug auf Adanl SIDlth und auf die marxistische Dependenztheorie), dass es einen besten Weg gibt, jede einzelne Ware zu produzieren, und dass dieser beste Weg am Ende d~miniert, wobei das Land davon profitiert, welches das nötige Wissen h~t dIe Theorie des absoluten Vorteils. Oder es wird angenommen, dass es e~e Kurve von Produktionsmöglicbkeiten gibt, die die Produktionsfaktoren tnnerhalb eines einzigen technologischen Paradigmas kombiniert. In letzteretn Fan .gibteseine Arbeitsteilung, die auf der gegebenen Faktorausstattung be~t '- Ricardos Theorie der komparativen Vorteile. Diese internationale Arbeltst~ilung muss graduell verschwinden, wenn die Barrieren gegen die interna· bonale Faktonnobilität fallen. Wir stehen heute genau vor der Situation wo die »Faktoren« Kapital und Arbeit vollständig mobil sind,l:1- wo jedoch die Weise ihrer Kombination
11 12
Vgl. dazu Lipietz 1988, Die Grer:zen.der Kapitalmobilität (und damit der Technologie) existieren prakti~h ~chtn mehr. Wie dIe Grenzen der Arbeitsmobilität verdanken sie sich weitgehend denjemge Ländern, die sich zum Ziel setzen, ein Überangebot an Arbeit zu haben.
ARGUME1>ITSONDERBAl~D
NEL"E FOLGE AS 2S5
Zentrum und Peripherie
135
(technologisches Paradigma. Arbeitsbeziehungen) sich von Land zu Land unterscheidet. Diese Situation ist signifikant verschieden von früheren Phasen~ als das hegemoniale Moden vorherrschte.
Die heiden ersten intemationalen Arheitsteilungen Die »erste internationale Arbeitsteilung«, die praktisch bis in die sechziger Jahre existierte, zeigt die Relevanz der Intuition von Adam Smith. Sobald bestimmte Güter Gegenstand des internationalen Handels wurden, tendierte ~eren Produktion dazu, sich auf Orte zu konzentrieren, an denen die Produk~ ti~nsbedingungen günstig oder beherrschbar waren (natürliche Bedingungen ~e Klima oder kulturelle Bedingungen wie soziale Vetfasstheit oder Wissen). Diese Konzentration wiederum wurde sehr stabil, weil die Orientierung auf Skalenerträge die alten Produktionszentren gegen neue schützte. Neue Zentren ~onnten nur unter dem Schutz eines »natürlichen« (Distanz) oder eines künstlIchen Monopols (Schutz von })jungen Industrien«) entstehen. Von der Zeit an, als die industrielle Fertigung, und noch wichtiger die Schwerindustrie, in EngJand aufkam, war der bedeutendste Teil der weltweiten Industrieproduktion in diesem Land konzentriert; neben einigen wenigen anderen, die - je nach Grad des ProteJ
13
In Wirklichkeit ist es genauso eine Arbeitstei1ung zwischen verschiedenen Produktionsweis;en oder verschiedenen Fonnen der Arbeitsorganisation, weil bestimmte Produktionsformen die bezahlten Beschäftigten in jenen Industrien absolut überbieten (vgl. Lipietz 1977). ARGl;MENl SONDERDAND NEUE FOLGE AS 255
136
Zentrum und Peripherie
Mit der primitiven Taylorisierung tmd vor allem dem peripheren Fordismus in den NIes tauchte dennoch eine neue internationale Konfiguration auf. Ein technologisches Paradigma schien ntm partiell und kostengünstig von Land zu Land übertragbar zu sein, so dass die am wenigsten qualifizierten und mechanisierten Sektoren des fordistischen Arbeitsprozesses sehr viel wettbewerbsfahiger in Niedriglohnregionen und -ländern angesiedelt werden können. Ist das die Rache der ricardianischen Theorie der komparativen Vorteile? Weit gefehlt. Zunächst ist es keine Frage komparativer Vorteile zwischen Faktorau~ stattungen, die für einzelne Industrien spezifisch sind, sondern Unterschiede in den Kosten von Produktionsfaktoren fur verschiedene Segmente des Produktionsprozesses innerhalb einer einzigen Industrie oder zumindest zwischen aufeinander folgenden Stadien der Produktion eines einzigen Produkts, die innerhalb eines einzigen technologischen Paradigmas angesiedelt sind. Die fordistische Arbeitsteilung kann in der Tat in drei Aufgabenbereichen schematisiert werden: • Konzeption, Ingenieurwesen und Arbeitsorganisation • qualifizierte Fertigung (insbesondere die von Maschinen) • unqualifizierte Fertigung oder Montage (oder allgemeiner: Routinearbeiten eins·chließlich Wartung) Um es anders auszudrucken: Die für die fordistische Massenproduktion typischen standardisierten Verfahren gestatten eine geographische Trennung zwischen diesen drei Aufgabenbereichen. Dabei erscheint es »natürlich«, diese Aufgaben dorthin zu verlagern, wo für die entsprechende Arbeit die günstigste Relation zwischen Qualität und Kosten herrscht. Forschungszentren werden nicht an Stätten errichtet, wo es keine Ingenieure gibt. Routinearbeiten sind dort am wertvollsten, wo entsprechend qualifizierte Arbeit am billigsten ist. Es ist daher eine Frage des absoluten Vorteils in der Arbeitsteilung innerhalb einer Industrie. Primitive Taylorisienmg entspricht deshalb der Ansiedlung von Segmenten des Typs 3 in BilligstlohnJändem; peripherer Fordismus der Ansiedlung von Segmenten des Typs 3 und 2 in Ländern mit Niedriglöhnen, die aber bereits ein Angebot an qualifizierten Arbeitern und höher entwickelte technische Kapazitäten vOlweisen. Dies ist das »ökonomistische« Schema der zweiten internationalen Arbeitsteilung. Die Wirklichkeit der Dynamiken der NIes kann allerdings nicht auf dieses ökonomistische Schema relativer Arbeitskosten reduziert werden. Industrielle Organisation, Transportkosten und Marktlokalisierung sind wichtig, nach wie vor. Tätigkeiten vom Typ 3 und 2 können nicht beliebig angesiedelt werden. Es muss ein gewisses Gleichgewicht zwischen dem Qualifikationsprofil des Arbeitsmarktes, dem industriellen Geflecht und der Struktur der lokalen Nachfrage vorhanden sein. Das Schema der asiatischen Freizonen oder der »maquiladoras« an der Nordgrenze Mexikos, wo einige Gliederungen eines ProdukARGI 'MENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
i \ I
!
I
j
Zentrum und Peripherie
137
ti.onsprozesses in »den Süden« verlagert werden (wo die Löhne sehr niedrig smd), um die Endverbrauchennärkte »des Nordens« zu bedienen (wo die Nachfrage reichhaltiger ist), entspricht in Wirklichkeit nur zu einem geringen Teil der weltweiten Industrieproduktion. Vor allem (md wir bleiben bei der Angebotsseite) ist der entscheidende Faktor (in diesem FaIl die Arbeit) ein sozial konstruierter. Wenn es fiir die Arbeit schlicht ausreichend wäre, frei ( »1ewisianisch«) zu sein, dann wären alle Länder der Dritten Welt NICs geworden. Arbeit muss ebenfal1s frei von anderen Zwängen sein (ländlichen, familiären, religiösen), sie muss frei von repressiven und traditionalen (ländlichen, familiären, religiösen) Zwängen sein und vor allem an industrielle Arbeitsdisziplin gewohnt sein. Kurzum, die »Ausstattung der Arbeit«, nach der gesucht wird, ist ihre Eignung fiir das flexible tayloristische Paradigma, das wir im ersten Teil näher bestimmt haben,14 und diese Ausstattung ist ein sozial konstruiertes Charakteristikum der lokalen Gesellschaft.
Die Koexistenz von Postfordismen Als zu Beginn der achtziger Jahre der fordistische Kompromiss offen kritisiert und als veraltet eingeschätzt wurde, war die spontane Neigung erneut und den historischen Lehren fo1gend ., nach »der« neuen FOIID der Hegemonie in den Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit zu suchen. Die erste Hälfte dieser Dekade~ die vom Erfolg der Reaganomics gekennzeichnet war, sab den Triumph der Idee, dass »der« Ausweg aus der Krise des Fordismus die (externe) Flexibilisierung des Arbeitsvertrages sein würde. Man kritisierte die »Eurosklerose« und klagte die Rigidität der Lohnverbältnisse an. Nach dem Crash von 1987 wurden der Niedergang der USA und die Sackgasse, in die diese durch Reagans »Deregulierung« geraten war, offensichtlich. Gleichzeitig zeigte sich die technologische und finanzieUe Überlegenheit von Japan und Deutschland. Es wurde anerkannt, dass die Modelle zur Lösung der Krise, die auf der »Mobilisierung menschlicher Ressourcen« beruhten, diejenigen übertrafen, die aufFleXIbiIität gründeten. Heute (1994) zeigen die Schwierigkeiten, mit denen Deutschland und Japan konfrontiert sind, dass die Dinge doch nicht so eindeutig sind und dass die Konkurrenz aus den NIes in Asien tmd sogar Lateinamerika vielleicht in der Lage sind, auf der ganzen Welt einen einzigen Standard von immer niedrigeren Löhnen und immer flexibleren Arbeitsverträgen durchzusetzen. Wie auch immer. die eigentliche Frage ist die: Ist die Annahme realistisch, dass eines der beiden von uns unterschiedenen Paradigmen einen
14
Es ist ebenso notwendig, dass diese tayJorisierbare und flexible Arbeitskraft einer Elite von Unternehmern und Staatsbeamten gegenübersteht, die in der Lage sind, ein solches Modell aufden Weg zu bringen, was in der Regel weitab jeglicher Realität ist. Über aU diese Bedingungen vgl. Lipietz 1985a. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS :U5
]38
Zentrom und Peripherie
absoluten Vorsprung vor dem anderen hat und daher zu dessen Eliminierung Mut? Die Tatsache, dass es bisher nicht möglich ist zu sagen welcher, sollte Grund genug zwn Nachdenken sein. Zunächst ist klar, dass die beiden Paradig~ men nicht ausreichen, um ein kohärentes Entwlcklungsmodell für die gesamte Welt zu definieren. Zumindest fehlt eine Regulationsweise der internationalen effektiven Nachfrage. Die Konkurrenz auf dem Weltmarkt ist global und daher zyklisch geworden~ wie sie es vor 1950 war. Es gibt keinen Grund? warum diese Zyklen das dominante Modell (sei es die USA, Deutschland oder Japan) aussparen soHte. Sodann gibt es außergewöhnliche Ereignisse wie die Auflö· sung des »sozialistischen« Blocks und seine marktkapitalistische Umwandlung (zur Zeit erfolgreich in China und ungünstig in Europa), die nicht nur die wirtschaftliche Situation, sondern auch die Struktur der Nachbarschaftsländer beeinflussen (insbesondere die Vereinigung der beiden Deutschlands). Doch selbst wenn wir diese eher konjunkturellen Gesichtspunkte berücksichtigen, wagen wir die folgende strukturelle Hypothese: Die Welt wird sich in drei kontinentale Blöcke ordnen, und innerhalb dieser Blöcke wird es eine Arbeitsteilung zwischen Zentrum und Peripherie geben. die aufunterschiedlichen Kombinationen der beiden Paradigmen des Postfordismus beruht. Der erste Punkt - die Tendenz der Weltökonomie, in Kontinente auseinander zu brechen (Asien und der Pazifikraum um Japan he~ die beiden Amerikas um die USA henun, Europa um Deutschland herum) - ist für die Behauptung nicht wesentlich. Diese Integration innerhalb der Kontinente resultiert in erster Linie aus einer »Rache der Geographie« - mit der »Just-intime«-Organisationsmethode nehmen Distanzen und Transaktionszeiten an Bedeutung zu. Sie ist auch ein Ergebnis der Versuche, die internationale Ökonomie zu kontrollieren, was im Weltmaßstab schwer zu erreichen ist, aber einige Chancen auf Erfolg zwischen Nachbarn hat. In jedem dieser Blöcke gibt es Länder mit unterschiedlichem Entwicklungsniveau, die untereinander Beziehungen vom Typ Zentrum/Peripherie ausbilden, sei es innerhalb von Typ 1 oder 2 der Arbeitsteilung. Diese Hierarchien verändern sich: Es gibt Fortschritte in den peripheren Ländern, die dominanten Länder übeIWinden die Krise mit unterschiedlichem Erfolg und beschreiten dabei insbesondere verschiedene Wege, indem sie wie gezeigt auf das eine oder das andere der behandelten Paradigmen setzen. Der zweite Teil der hier vorgetragenen Hypothese setzt also darauf, dass innerhalb des gleichen Bereichs kontinentaler Integration eine Koexistenz der heiden Paradigmen möglich ist ~. bei einer internationalen Arbeitsteilung des dritten Typus zwischen Ländern, wo das eine oder das andere Paradigma
ARGUMENT SONDER BAND NEliE FOLGF. AS 2S5
139
Zentrum und Peripherie
dominiert. 1s Es geht also weder darum, ganz unterschiedliche Produkte auf unterschiedliche Art und Weise zu produzieren (wie im ersten Typus der internationalen Arbeitsteilung), noch dartun, sich auf unterschiedliche Aufgaben innerhalb des gleichen Paradigmas und der gleichen Industrie zu spezia lisieren (wie im zweiten Typus), sondern vielmehr darum, älmliche Produkte auf verschiedene Weise zu produzieren. Das ist aber nur möglich, wenn keines der heiden Paradigmen das andere vollkommen aussticht, je nachd~ welches in der Kern- oder Zulieferindustrie dominiert. An diesem Punkt erhält derricardianische Fonnalismus seinen heuristischen Wert, wenn der Begriff der »gegebenen Faktorausstattung« durch den der »sozialen Konstruktion der Adoption eines Paradigmas« ersetzt wird. Diese soziale Konstruktion ist ein komplexer geseJIschaftlicher Vorgang, der hier nicht weiter behandelt werden kann (vg1. dazu LeborgnelLipietz 1988). Angemerkt werden soll hier nur, dass die Adoption der Paradigmen der »Flexibilität« bzw. der »auszuhandelnden Einbindung« mit den )defensiven« bzw. »offensiven« Strategien korrespondiert, mit denen die Eliten der betreffenden Nation oder Region aus der Krise herauszukommen versuchen. Unterstellen wir, dass es in der Industrie i möglich ist, zu gleichen Kosten auf zweierlei Weise zu produzieren: entweder durch die »Mobilisierung menschlicher Ressourcen« mit vernaglichen Garantien und relativ hohen Löhnen entsprechend dem hohen Qualifikationsniveau; oder aber mit tayJoristisehen Methoden, weniger qualifizierter Arbeitskraft und genügend niedrigen Löhnen. Nehmen wir zudem an, dass die Entscheidung zwischen Einbindung und Flexibilität Zwischenpositionen auf einer kontinuierlichen Kurve ennöglicht, die sich als eine fixe Preiskurve fiir Quantität qi darstellen lässt (ganz ähnlich der kJassischen Produktionsfunktion, die Kapital mit Arbeit kombiniert). Ver- Abbildung 3 gleiche Abbbildung 3, wo die Komparative Vorteile Achsen (etwas verwirrend) Fle M
a
15
Der erste Typus der internationalen Arbeitsteilung stellte ~änder (des Nordens!, die Industriegüter exportieren, den Ländern (des Süde~),. dIe ~ohstoffe .e~portle~~n, gegenüber. Der zweite Typus der internationalen Arb.eltst.etlung m.d:r.ford~stlschen Ara stellte Länder, die auflngenieur- und Entwicklungstätigketten spe~.abslert smd, Ländern gegenüber, die sich auf gering qualifizierte Produktionen spezIahsIert haben. Vgl. dazu Lipietz 1987. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
140
xibilitätJRigidität bzw. TaylorismuslEinbindung bemm bildungen I und 2 folgend). In diesem Bild wird kein jeweils anderen beherrscht. Es ist möglich für ausreichel mit einer }>tayloristischen Arbeitsorganisation« gleiche1 tahig zu sein wie mit einer »ohnistischen« Organisati< erfordert. Um nun wettbewerbsfiihiger zu sein und eine Menge lj gleichen Kosten zu produzieren, ist es notwendig: .. bei gegebenem Niveau der Einbindung und der Qualm schlechter bezahlte Arbeiter zu finden oder • bei gegebenem Lohn Arbeiter mit einem höheren Ni, und der Qualifikation zu finden. Die konstante Preiskurve bewegt sich mit wachsendem , ihrem Ursprung. Doch sind Industrien nicht gleichennl Veränderungen von Flexibilität und Einbindung. So wir< einem hohen Qualifikationsniveau notwendig sein, die I kürzen, um die Vorteile von kleinen Änderungen be menschlicher Ressourcen zu kompensieren. Für Industrie zu, da diese eine Standardindustrie ist, wo eine Einbine
auswirkt.
Betrachten wir nun zwei Länder A und B oder zwei Se. marktes im gleichen Land, die jedoch genügend vonemanc geschlechtlich oder ethnisch). In der Grafik ist der Punkt Industriej überlegen (weil q j < CJ;), das Umgekehrte gilt ab gilt zu beachten, dass der Punkt C gegenüber A fiir beide Ii ist. Unter Verwendung des veränderten Ricardo-Theorems folgt formulieren: Diejenigen Industrien, die am sensil Qualifikation der Arbeit sind. werden tendenziell nach qualifizierten (und wenigerfleXiblen) Segmenten des globa suchen, und diejenigen Industrien, die am sensibelsten flr l kosten sind, werden tendenZiell nach den flexibleren Segm Arbeitsmarktes suchen.
Dies hilft uns beim Verständnis des Erfolgs des »toyotil Denn wenn es innerhalb der gleichen Gesellschaft zwei T marktes gibt. dann ermöglicht dort die Fähigkeit, Löhne a ebene auszuhandeln, allen Industrien eine optimale AnpasSt maristischen« nationalen Modelle sind durch Rigidität und h in den meisten Standardindustrien benaChteiligt. Die eher fle) ristischen«) nationalen ModeUe sind in Industrien benachtem Qualifikationsniveau erfordern. Andererseits werden Länd, schen fordistischen Relation (Rigidität plus Taylorismus) alm und von unten« überboten. ARGlJMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AB 255
141 , Zentrum und Peripherie
Zentrum und Peripherie
Ult wurden (den Ab-
~enn ~ von den Differenzen zwisohen den Ländern abstrabiert und nur·
Paradigma von deIl1 nd niedrige Löhne, um rma8en wettbewerbsm, die höhere Löhne i
relative Position in Abb. 2 betrachtet, dann zeigt sich, dass in einem
r '1 größer als q/ zu den
ikation flexiblere und veau der Einbindung Wettbewerb weg von aßen empfindlich fijr d es in Industrie i mit ~~hne beträchtlich ZU :1. d~r Mobilisierung J t:ri:fft das Gegenteil ~ung sich nicht groß
gmente des Arbeitsier isoliert sind (z B .. ,lAdem Punkt B fiir ler filr Industriei.. Es ....; überlegen ,nd USL.lIen können ,..nO' . ..... daS WIe belsten jUr höhere den relativ Mher !l~n Arbeitsmarktes rlledrigere Arbeitsrenten des globalen ~tischen« Modells. )'pell
des Arbeits-
;Uf Untemelnnens-
mg. Die eher ».kaI-
:000 Arbeitskosten ~bl~ ( »neotaylogt, d~e ein höheres
~r nut der klassilählich »von oben
Ahbildung4 Die neue Hierarchie gegebenen Block die verschiedenen Möglichkeiten koexistieren können. Industrien mit den höchsten Qualifikationsanforderungen tendieren nach rechts oben. wo es hohe Löhne, hohe Qualifikationsniveaus, die höchste interne Flexibilität und daher die größte Fähigkeit gibt, neue Prozesse einzufÜhren nnd neue Produkte zu entwickeln und zu testen. Mit anderen Worten: Man findet sie in den Ländern des »ZentrumS«. Wenn Industrien eher zum Standard werden, so findet man sie zunehmend unten links in der Grafik. WO die WettbewerbsOOligkeit nur durch eine immer schonungslosere Flexibilität und immer .niedrigere Löhne erhalten werden kamt - mit dem Risiko. des }}Sozialdumpings« angeklagt zu werden. Abbildung 4 zeigt, wie man mit jedem Schritt in Richtung peripherie zunächst auf die alten fordistischen Länder trifR, die mehr und mehr neotayloristisch werden, dann auf die peripher-fordistischen Länder und schließlich auf die Länder mit primitiver Taylorisierung.
. hefte
140
Zentnlffl und Penp
xibilitätJRigidität bzw. TaylorismuslEinbindung benannt wurden (den Abbildungen 1 und 2 folgend). In diesem Bild wird kein Paradigma von deßl jeweils anderen beherrscht. Es ist möglich für ausreichend niedrige Löhne, UJll mit einer »tayloristischen Arbeitsorganisation« gleichermaßen wettbewerbsfiihig zu sein wie mit einer »ohnistischen« Organisation, die höhere Löhne erfordert. Um nun wettbewerbsfahiger zu sein und eine Menge q '1 größer als ql zu den. gleichen Kosten zu produzieren. ist es notwendig: • bei gegebenem Niveau der Einbindung und der Qualifikation flexiblere und schlechter bezahlte Arbeiter zu finden oder • bei gegebenem Lohn Arbeiter mit einem höheren Niveau der Einbindung und der Qualifikation zu finden. Die konstante Preiskurve bewegt sich mit wachsendem Wettbewerb weg VO~ ihrem Ursprung. Doch sind Industrien nicht gleichermaßen empfindlich ~ Verändenmgen von Flexibilität und Einbindung. So wird es in Industrie i 1Il1t einem hohen Qualifikationsniveau notwendig sein, die Löhne beträchtlich ZU kürzen, um die Vorteile von kleinen Änderungen bei der Mobilisierun? menschlicher Ressourcen zu kompensieren. Für Industrie j trifft das Gegentetl zu, da diese eine Standardindustrie ist, wo eine Einbindung sich nicht groß auswirkt. Betrachten wir nun zwei Länder A und B oder zwei Segmente des Arbeitsmarktes im gleichen Land, die jedoch genügend voneinander isoliert sind (z.B. geschlechtlich oder ethnisch). In der Grafik ist der Punkt A dem Punkt B fur Industrie j überlegen (weil q j < q), das Umgekehrte gilt aber für Industrie i. Es gilt zu beachten, dass der Punkt C gegenüber A für beide Industrien überlegen ist. Unter Verwendung des veränderten Ricardo-Theorems können wir das wie folgt formulieren: Diejenigen Industrien, die am sensibelsten für höhere Qualifikation der Arbeit sind, werden tendenziell nach den relativ höher quaNfizierten (und wenigerflexiblen) Segmenten des globalen Arbeitsmarktes suchen, und diejenigen Industrien, die am sensibelstenjUr niedrigere Arbeits~ kosten sind, werden tendenziell nach den flexibleren Segmenten des globalen Arbeitsmarktes suchen.
Dies hilft uns beim Verständnis des Erfolgs des »toyotistischen« Modells. Denn wenn es innerhalb der gleichen Gesellschaft zwei Typen des Arbeitsmarktes gibt, dann ermöglicht dort die Fähigkeit, Löhne auf Untemehmens~ ebene auszuhandeln, allen Industrien eine optimale Anpassung. Die eher »kalmaristischen« nationalen Modelle sind durch Rigidität und hohe Arbeitskosten in den meisten Standardindustrien benachteiligt. Die eher flexiblen ( »neotayloristischen«) nationalen Modelle sind in Industrien benachteiligt, die ein höheres Qualifikationsniveau erfordern. Andererseits werden Länder mit der k.lassi~ sehen fordistischen Relation (Rigidität plus Tayiorismus) allmählich »von oben und von unten« überboten. ARGUMENT SONDER BAND NEUE FOLGE AS 255
Zelltru'In und Peripherie
141
ihreW;nn ~an vo~ ~en Differenzen zwischen den Ländern abstrahiert Wld nur' elative PositIOn in Abb. 2 betrachtet, dann zeigt sich, dass in einem
\
Katmarismus
7
/
(
{
\
7
Zentrum
/
~/
\
I I
TayforiBmus
L_
~--~------------------
Abbildung 4 Die neue Hierarchie
I
I
gegebenen Block die verschiedenen Möglichkeiten koexistieren können. Industrien mit den höchsten Qualifikationsanforderungen tendieren nach rechts oben, wo es hohe Löhne, hohe Qualifikationsniveaus. die höchste interne Flexibilität und daher die größte Fähigkeit gibt, neue Prozesse einzufiihren und neue Produkte zu entwickeln und zu testen. Mit anderen Worten: Man findet sie in den Ländern des »Zentrums\(. Wenn Industrien eher zum Standard werden, so findet man sie zunehmend unten links in der Grafik, wo die Wett~ bewerbstlihigkeit nur durch eine immer schonungslosere Flexibilität und immer niedrigere Löhne erhalten werden kann - mit dem Risiko, des »Sozialdum,. pings« angeklagt zu werden. Abbildung 4 zeigt, wie man mit Jedem Schritt in Richtung Peripherie zunächst auf die alten fonDstischen Länder triffi. die mehr und mehr neotayloristisch werden, dann auf die peripher-fordistischen Länder und schließlich auf die Länder mit primitiver Taylorisierung.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AB 2SS
142
Zentnlm und Peripherie
Diese Hierarchie sieht auf dem Papier sehr ordentlich aus, aber die Dinge sind vor Ort nicht so säuberlich geordnet, was sich zeigt, wenn wir Europa mit Nordamerika vergleichen. Europa - eine wohl geordnete Hierarchie Der sowohl von der Bevölkerung als auch vom Reichtum her bedeutendste Markt der Welt ist Europa. Seit Beginn der Krise ist es jedoch gleichzeitig auch das Zentrum der weltweiten Stagnation. Es ist das einzige entwickelte kapitalistische Zentrum, wo die Arbeitslosigkeit trotz demographischer Stagnation hoch bleib. Dieses Paradox hängt keineswegs an einem Mangel an techno10gischer oder sozialer Innovation, wie die skandinavischen Länder und der »Alpenbogen« mit Süddeutschland, Österreich, Norditalien und der Schweiz zeigen. Ein kurzer Blick auf entsprechende Daten zeigt deutlich das grundlegende Problem. In den achtziger Jahren waren die einzigen Länder, die Stagnation Wld Arbeitslosigkeit verhinderten. Norwegen, Schweden, Österreich und die Schweiz, also Länder, die nicht Mitglieder in der EU waren. Diese der EU zukommende Stagnation ist das beunruhigende Phänomen, das es zu erklären gilt. Doch werden wir zunächst die Veränderungen der Art und Weise betrachten, wie Westeuropa als ganzes (EU plus EFTA) in die Weltökonomie eingebettet ist. Das auffälligste Merkmal Europas ist, dass es sich aus wild entschlossenen Exporteuren - sieben der weltweiten Top Ten - zusammensetzt,. die sich jedoch vorwiegend gegenseitig bekämpfen. Zwischen 1967 und 1986 wuchs der innereuropäische Handel (EU und EFTA) von 37,6 % auf 40,5 % des gesamten Weltexports. Zieht man davon jedoch die Exporte innerhalb der Blöcke ab, so fäHt der westeuropäische Export über die gleiche Periode von 15.3 % auf 13,8 % und der Importanteil von 17 % auf 11,8 %. Europa ins gesamt hat also Überschüsse, während es langsam an Bedeutung fiir den Welthandel verliert. Hinzugefügt werden sollte die Tatsache, dass Europa der einzige Block auf der Welt ist, der eine positive Dienstleistungsbilanz unter Weglassung der Übertragungsbilanz aufweist. Als eingefleischte Konkurrenten untereinander bieten die europäischen Länder zusammengenommen keinen Absatzmarkt für andere Länder zum Ausgleich von deren Bilanzen. Diese generelle »Selbstzentriertheit« Europas nimmt eine noch dramatischere FOtm auf Branchenebene an. Was bei einer Branchenanalyse (CEPlI 1989) augenfällig ist, ist der Rückgang der Importe, vor allem im landwirtschaftlichen Sektor, aber auch im Sektor Energie und NE-Metalle. Der einzige Sektor mit steigenden Importen war Textilien (wo Europa im Gleichgewicht ist), Fahrzeugbau (wo Europaeinen Überschuss hat) und Elektronik (wo es defizitär geworden ist). Das Gleiche gilt fiir die Exporte, wo Energie und Elektronik (wo Europa ein Defizit aufweist) sowie die »Bastion« der chemischen Industrie a
AROL'MENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
j
Zentrum und Peripherie
I
I
I
i
i
I
I
I
I
143
die einzigen Wachstumssektoren sind. Die Zeit, als Europa die Produktionsst~tte war, die die Welt mit Industriegütem überschwemmte und seme indu· s.triellen Rohstoffe und Lebensmittel aus weniger entwickelten Lander importierte, ist eindeutig vorbei. Europa bewegt sich de jacto in Richtung auf eine ~ Autarkie hin. Triebfeder dieser Entwicklung ist der machtvolle Zwang zu mn~rer Konkurrenz. Jedes Land in Europa versucht, seine Bilanz um jeden PreiS auszugleichen. Diese Selbstzentriertheit wird auch durch die interne Verschiedenheit von ElWopa ennögIicht: Es gibt Länder mit l/angen Fertigungstraditionen, neu industrialisierte Länder im Mittehneerraum, große klimatisch gemäßigte Ebenen, die die Sichenmg einer Selbstversorgung mit Lebensmitteln ~ einer produktionsfixierten, gemeinsamen LandwirtschaftspoIitik begünstIgen, und sogar Reserven an fossilen Brennstoffen. Europa (EU und EFTA) bildet einen »integrierten Kontinentalblock«,. der sehr gut die Hypothese dieses Beitrags illustriert. Schauen wir uns als Nächstes das produktive Gewicht Westeuropas an. Das BruttoinlandsprodUkt kann auf zwei Weisen aggregiert und verglichen werden: Volumen (gewichtet nach Kaufkraftparitäten) oder Werte (zu jeweiligen Wechselkursen). Gemessen am Volumen hat die Bedeutung Westeuropas seit dem Ende der sechziger Jahre abgenommen, viel mehr noch aber gemessen am Wert. Der Rückgang sowohl an Volumen als auch im Wert ist besonders deutlich gegenüber Japan, fiir Lateinamerika wuchs der Volumenanteil ähnlich wie der japanische, ja sogar noch stärker~ während dort der Wertanteil noch schneller als der europäische fieL Dies verdeudicht die zwei Weisen, in der ein Block in den Weltmarkt eingebettet werden kann. Am einen Extrem wächst der Wert der Produktion als Ergebnis einer Art Qualitätsverbesserung Md am anderen gibt es ein ansteigendes Volumen der Exporte zu immer niedrigeren Preisen auf dem Weltmarkt. Aus diesem Blickwinke1 befindet sich Westeuropa zwischen dem japanischen Md dem lateinamerikanischen Pfad. Diese Verschiedenheit kann ebenfalls innerhalb Westeuropas festgestelJt werden. Gemessen am Volumen verlor jedes Land dort Anteile am Weltmarkt, ausgenommen die in den sechziger Jahren neu industrialisierten Länder Süd~ europas - Spanien, Griechenland Wld POrtugal. 16 Doch beobachten sie wie Lateinamerika eine Stagnation ihrer Werte. Die britischen Inseln (Großbritannien und Irland) verJoren sowohl an Volumen als auch an Wert,. Deutschland, Frankreich ood Italien verloren an Volumen, Deutschland ood Italien steigerten den Wert Es ergibt sich das Bild eines mehr oder weniger stagnierenden Nordeuropas und eines wachsenden Südeuropas, das aber mit Ausnahme von Italien nur in der Lage ist, die Produkte seiner Arbeiter zu niedrigen Preisen
16
VgJ. CEPII 1989 und Lipietz 1985a. Freire da Souza (1983) hat gezeigt, dass der gleiche Gegensatz zwischen Portugal (Wachstum des Volumens) und Spanien (Wachs. tuman internationalem Wert) besteht. ARGUMElljT SONOERBAND NEUE FOLGE A..'!l2H
;
I
-
144
, ·i,
1I1
Zentmm und Peripherie
abzusetzen. Dieses neuerliche Anzeichen einer europäischen Krankheit wird umso deutlicher, wenn wir die Komplexität der wechselseitigen Abstimmungen innerhalb Westeuropas berücksichtigen. Einige Länder vor allem Südeuropas spielen die »defensive« NiedriglohnKarte. Andere, wie insbesondere die skandinavischen Länder, spielen dagegen die »offensive« Karte des auszuhandelnden, sozialen Meisterns neuer Technologien. Fast jeder Punkt auf der Kurve der Krisenlösungen ist in Europa vertreten. Es gibt sowohl ein »Zentrum« mit wachsenden internationalen Werten als auch eine Peripherie, die nur an Volumen wachsen kann. Das reicht nicht aus, um in Fahrzeugbau und Elektronik mit der Überlegenheit der Japaner oder' mit der Konkurrenz in Textilien aus der Dritten Welt mit ihrem hohen Grad an Ausbeutung der Arbeit mitzuhaJten. Das ist der Grund, warum Europa gleichzeitig auch die protektionistische Karte gegenüber japanischen Autos, asiatischen Textilien, argentinischem Fleisch etc. spielt. Es wäre allerdings ein großer Fehler, die europäische Selbstzentriertheit auf Protektionismus reduzieren zu wollen, seine Leidenschaft für Anti-Dumping unterstreicht die Bedeutung, die es der Beibehaltung seiner internen sozialen Kompromisse schenkt. Allerdings variiert dies zwischen Regionen und Nationen, so dass sich die größte Bedrohung aus der inneren Struktur Europas ergibt, deren Analyse nun folgt.
Die Makroäkonomie des Gemeinsamen Marktes Das grundlegende Problem einer jeden »Arbeitsökonomie des Gemeinsamen Marktes« ist, dass bei der verfolgten Strategie, die Krise des Fonhsmus zu überwinden, alle interregjonalen Unterschiede von den innereuropäischen Nationalgrenzen überlagert werden. Jedes einzelne Land, welche Strategie auch immer es auf seiner Stufe verfolgt, muss sieinen Außenhandel ausgleichen. Wir werden zunächst einen stilisierten Blick darauf werfen und danach die möglichen Ergebnisse betrachten, die das gegenwärtige Stadiwn der Einheitlichen Akte und des Vertrages von Maastricht bietet. Ein stilisiertes Moden der Situation der EU)1 bis zum Jahr 1993 (also vor dem Zusammenbruch des Europäischen Währungssystems EWS) kann wie folgt charakterisiert werden: 1. Die EU ist potenziell selbstversorgend. 2. Es gibt einen Freihandel für Güter und Kapital und es existieren feste Wecb~ selkurse.
17
Hier wird nur die EU betrachtet. Die' EFTA ist homogener in. ihren Entscheidung rur auszuhandelnde Einbindung zur Lösung der Krise, vor allem jedoch hat sie sich die monetäre Souveränität bewahrt.
ARGUMENT SONDERBAl\'D NEUE FOLOE AS ZH
Zenmim und Peripherie
I
I
.iI
L
145
3. Jedes Land muss sich externen Zwängen ohne ausdrückliche Koordination mit den anderen anpassen (nicht-kooperatives Spiel). 4. Jedes Mitgliedsland kann als eine Kombination einiger Regionen. die eine neotayloristische Strategie zur Lösung der Krise verfolgen. und einiger Regionen mit der Strategie der auszuhandelnden Einbindung gedacht werden. 5. Die offensive Strategie (auszuhandelnde Einbindung) ist hinsichtlich der Wettbewerbsfahigkeit der defensiven Strategie (liberale Flexibilität) überlegen; allerdings ist die Überlegenheit in arbeitsintensiven Industrien geringer, wo ein ausreichend großer Lohnunterschied der defensiven Strategie den Vorzug geben kann. Aus den drei ersten Hypothesen führen die üblichen keynesianischen Betrachtungen (beggar·thy-neighbour-Strategien; vgl. Glyn u.a. 1988 und Lipietz 1985a) zu einer Stagnationstendenz: Jedes einzelne Land wird kurzfristig gezwungen, auf den Druck der jeweils anderen durch Einkommenskürzungen und Anstrengungen zur Exportsteigerung durch Reduzierung der Lohnstückkosten zu reagieren. Wie wir gesehen haben. hat die Erfahrung der siebziger und achtziger Jahre diese Tendenz bestätigt. Mittelfristig wird erwartet, dass die Länder mit schwacher Sozialvorsorge ood niedrigen Löhnen einen Wettbewerbsvorteil über die anderen entwickeln, der wiederum zu einer allgemeinen Erosion der Sozialvorsorge führt (Sozialdumping). Das wäre sicherlich auch der Fall, wenn die Fonnen der Arbeitsorganisation überall die gl,eichen wären ood der Wettbewerb nur auf der Ebene von Löhnen und der »defensiven Flexibilität« funktionierte. Diese Analyse muss allerdings modifiziert werden, wenn die Hypothesen 4 und 5 hinzukommen. Die Anwendung des »wugestellten Ricardo-Theorems« aus dem vorherigen Abschnitt bedeutet, dass jede Region dazu neigen wird, sich auf diejenigen Industrien zu spezialisieren.. die am intensivsten jenen »Faktor« nutzen, mit dem die Region am besten ausgestattet ist, d.h. entweder flexible und taylorisierte Arbeit oder qualifizierte Arbeit und auszuhandelnde Einbindoog. Da es die freie MobiliUit von Kapital gibt und wirklich nur ein gemeinsamer Markt existiert, tendiert die Arbeitsteilung innerhalb der EU dazu, sich in Industrieregionen (oder Sub-Industrieregionen) entsprechend dieser besonderen Art der »komparativen Vorteile« aufzuteilen. Dies erlaubt es z.B. Dänemark, neben Portugal zu existieren, wo die Löhne fünfmal so .niedrig sind. Die Gesamtheit des gemeinsamen Marktes ist also durch relativ hohe Löhne in den Ländern, wo die auszuhandelnde Einbindung dominiert, und durch relativ niedrige Löhne der Länder mit Flexibilität determiniert. Je schwächer die verteiloogspolitischen Optionen in der ersten Gruppe von Ländern sind, desto mehr ist die zweite Gruppe zu niedrigen Löhnen (und zu Flexibilität ood Arbeitslosigkeit) gezwungen. In Ennangelung einer konzertierten Politik zur ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE A.S 2SS
146
Zentrum und Peripherie
Expansion der Ökonomie (punkt 3) setzen sich die makroökonomischen Entscheidungen der ersten Gruppe gegenüber aUen anderen durch und definieren auf diese Weise eine Art Gleichgewicht der Unterbeschäftigung auf europäischem Niveau. Es muss betont werden, dass in den Regionen des Zentrums Produktivitätszuwächse im Namen einer kollektiv ausgebandelten Einbindung innerhalb der strengen Grenzen unlVerteilt werden, die durch die kompetitive Quasi·Rente bestimmt ist, die ihnen durch den Produktivitätsvorteil aufgrund der Einbindung ihrer Arbeiter zukommt. Diese Quasi-Rente se1bst ist begrenzt durch Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den beiden Gruppen von Regionen. Ihre Aufrechterhaltung impliziert eine strukturel1e »übennäßige verteilungspolitische Klugheit« im ersten Typ von Regionen, weil diese QuasiRente dauerhaft Gefahr läuft, sich in ein Anwachsen der Arbeitskosten im Verhältnis zu den Regionen des zweiten Typus zu verkehren. Mit anderen Worten: Während die fonllstische Makroökonomie auf einer allgemeinen ood vorhersehbaren nationalen Umverteilung basierte, können regionale. auf Einbindung basierende soziale Kompromisse innerhalb eines Europas ohne gemeinsame Sozialgesetzgebung nur beibehalten werden, wenn sie die Produktivitätsunterschiede zwischen den Regionen berücksichtigen ood wenn diese Unterschiede dafür empfanglich sind, sich vom Wacbstum in anderen Regionen (orientiert an der Nachfrage) anspornen zu lassen. Die Ergebnisse sind allerdings weniger katastrophal als bei dem Modell, das sich nur auf die ersten drei Hypothesen stützt Anstelle einer gegenseitigen Erosion der nationalen sozialen Kompromisse durch internen Wettbewerb innerhalb der EU gibt es hier ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, ein geographisches »Leopardenfell«. Darüber hinaus werden die regionalen »Kennzeichen« eines Netzwerkes von Unternehmen mit einem »offensiven« sozialen Kompromiss oft Zulieferverhältnisse und untemehmensbezogene Dienstleistungssektoren sowie Heimarbeiter mit geringer sozialer Sicherheit und hoher »Flexibilität« einschließen. Diese interregionalen Differenzen können auf Geschlechter- und ethnischen Differenzen basieren. Auf jeden FaU ist dieses Europa der zwei sozialen Geschwindigkeiten aufgrund des gerade analysierten Mechanismus ein Europa mit nur einer wirtschaftlichen Geschwindigkeit - noch dazu einer sehr langsamen. Wo befinden wir uns?
Die obigen Betrachtungen erhellen etwas die Sachlage, wie wir sie zu Beginn dieses Abschnitts in den Raum gestellt haben: die relative Stagnation Europas und die hohen Arbeitslosenquoten sogar in Ländern mit Zahlungsbilanzüberschüssen, und das trotz eines Überschusses für den europäischen Block als Ganzem. Sie erhellen ebenfalls die Gegensätze zwischen Ländern, die durch ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
Zentrum und Peripherie
I I
I
I!
}
!
f
147
Wertsteigerung ihrer Arbeit auf den internationalen Märkten wachsen (Deutschland, aber auch Italien aufgrund seiner nördlichen und Zentralregi0nen), Wld jenen, die durch Entwertung ihrer Arbeit als Resultat ihrer EntscheidWlg zwischen neotayJoristischen Arbeitsbeziehungen und solchen der auszuhandelnden Einbindung wachsen (vorwiegend die iberische Halbinsel Wld teilweise die britischen Inseln). Bis 1993 haben sich die EU-Institutionen immer mehr zu den oben aufgeführten Hypothesen hin entwickeJt, vor al1em mit der Ratifizierung der Einheitlichen Akte: eine Freihandelszone ohne gemeinsame Sozialpolitik (außer in der Landwirtschaft). Der Gemeinsame Markt hatte das Wachstum des Goldenen Zeitalters des Fordismus kaum behindert, weil alle Länder gleich. zeitig eine Politik des Wachstums ihrer Binnenmärkte verfolgten. Der Ausgleich von Zahlungsungleichgewichten wurde in periodischen Abständen durch Abwertungen oder durch kurzfristige Maßnahmen zur Konjunkturdämpfung bereinigt, ja sogar durch »Absicherungsklauseln«, die die Errichtung von Zolltarifen gestatteten. In den sechziger Jahren wurden diese Handlungsspielräume Schritt für Schritt abgeschafft, obwohl die wachsende Internationalisierung der Ökonomie den Handelskrieg zwischen den Mitgliedsländem verschärfte. Dmch die Regelungen des Europäischen Währungssystems (EWS) der Möglichkeit beraubt, ihre Wechselkurse zu verändern, gab es zum Ausgleich der Zahlungsbilanz fur jedes Land nur den Weg, langsamer zu wachsen als sein Nachbar - eine Politik der »kompetitiven Austerität«. Faktisch ist das Wachstum in Europa streng begrenzt durch das Wachstum der wettbewerbsOOtigsten, daher Überschüsse erwirtschaftenden Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland,die sicb für die Strategie der auszuhandelnden Einbindung entschieden hat. Doch seit der zweiten Krisenphase haben deutsche Regierungen der Linken wie der Rechten ungeachtet der hohen Arbeitslosenquoten in nördlichen Wld zentralen Regionen geld· undbaushalts· politische Orthodoxie betrieben. Als Auswirkung des EWS und der Einheitlichen Akte erlaubte das hegemoniale Gewicht der BRD,als Wirtschaftsminister für ganz Europa zu handeln. Insbesondere kontrolliert es die »geldpolitischen Anpassungen« innerhalb des EWS, und seine restriktive GeldpoHtik zu Hause zwang allen anderen Partnern bis 1993 extrem hohe Zinsraten auf. In der Weigerung, seine eigene WirtscmdianzukurbeJn oder aber seinen Partnern eine kompetitive Abwertung zu gestatten, verdammte es sie dazu, zwischen Stagnation und Defiziten gegenüber der BRD zu oszillieren. Die Wirtschaftskraft der EU ist in gewisser Weise auf die Wirtschaftskraft von Deutschland reduziert und diese wiederum bezogen auf den Rest von Europa. Die Bundes republik Deutschland erzielt den größten Teil ihres Zahlungsbilanzüberschusses gegenüber dem Rest von Europa und zwingt diese Länder, eine positive Bilanz gegenüber dem Rest der Welt zu haben, um für deren Importe aus Deutschland bezahlen zu können. n
ARGUMENT SONDERBAND NEUE fOLGE AS 2SS
]48
Zentrum und Peripherie
Dennoch schien Europa (EU plus EFTA) Ende der achtziger Jahre eine »ruhige Kraft« zu sein, die sich zwar stabiler und sicherer vorwärts bewegte als die beiden Amerikas, aber sicherlich weniger schnell wie Asien, allerdings mit einern unvergleichlich höheren Lebensstandard. Es scheint genau so organisiel1 zu sein wie das Schema von Zentrum Wld Peripherie in AbbildWlg 4. Oben die kahnaristischen Länder in Skandinavien, in der Mitte Deutschland und der »A]penbogen«, ein wenig darunter Frankreich, das sich vom Fordismus zu einer ziemlich defensiven Flexibllität mit einigen wenigen offensiven Inseln entwickelt. Dann das neotayloristische Großbritannien, Spanien bleibt peripher fordistisch, schließlich ein noch stärker peripheres und flexibles Portugal. Es folgen Marokko und alJ die Länder mit zinsbegütlstigten Krediten, insbesondere die Mittelmeerländer der Südbank-Gruppe. Noch weiter unten liegen die AKP-Länder (Afrika, Karibik, Pazifik) des Lorne-Abkommens, die in der ersten internationalen Arbeitsteilung verbleiben und sich schwer tun, Tei1 der zweiten zu werden und die Position primitiver Taylorisierung zu erreichen. Aber aUes das änderte sich mit dem Fall der Berliner Mauer. Auf der makroökonomischen Ebene hätte der Umbau Osteuropas eine dynamische Rolle für Westeuropa spielen können~ wenn es eine »MarshalIplan«-Politik mit damit verbundenen niedrigen Zinsraten gegeben hätte, Es geschah das Gegenteil und nach zwei Jahren keynesianischer Ankurbelung erstickte die restriktive deutsche Geldpolitik nicht nur zunehmend die marktkapitalistische Wiederherstellung des Ostens, sondern auch die binnenwirtschaflliche Dynamik In Westeuropa. Auf dem Höhepunkt dieser fehl.erhaften Wirtschaftspolitik ließ die Eruption von ultra-flexiblen und dennoch qualifizierten Arbeitskräften das vor 1989 vorhandene Gleichgewicht kippen, vor allem im rechten oberen Bereich der Abbildung 4, Dort triumphierten die Gelegenheiten zur Flexibilisierung über die Vorteile der Einbindung (vgl. Lipietz 1992). Vor al1ern das skandinavische Modell geriet in die Krise. Plötzlich seiner traditionellen Absatzmärkte im Osten beraubt (wo sie doch auf einen »hanseatisehen tugendhaften Kreis« hoffen konnten), waren Finnland und Schweden mit der struktureHen Wettbewerbsschwäche ihres »kalmaristischen« Kompromisses im Kontext des Liberalismus konfrontiert, da national ausgehandelte Kompromisse zwischen Kapital und Arbeit für die Industrien mit niedrigem Einbindungsgrad und gelingen Produktivitätsvorteilen gefährlich großzügig waren. Diese Großzügigkeit mündet darin, dass sie die Wettbewerbsflihigkeit auch der produktiveren Sektoren gefährdet - bezeichnenderweise ist denn auch das namen gebende Werk in Kalmar heute geschlossen. Von daher gibt es also eine Tendenz, auf der Kurve nach unten links abzurutschen, also in Richtung von Aushandlungen auf Unternehmensebene und zur Abschaffung des )}soJidaristischen Lohnes« (vgl. Mahon 1993).
ARGUMENTSONDERBA,."ID NEUE FOLGE AB 2~5
j
i
Zentrum und Peripherie
149
Selbst Deutschland wird von den gleichen Kräften in diese Richtunggezogen. Kanzler Kohls »Anfangslüge« hinsichtlich der Finanzierung der Wiedervereinigung fUhrt zu einer allgemeinen Destabilisierung der Arbeitsbeziehungen in Westdeutschland, ungeachtet dessen, dass das ohnistische industrielIe ~aradigma hier weniger entwickelt ist als in Japan. Die Vereinbarungen in den mdustriellen Beziehungen werden aufgekündigt. Die Arbeitgeber der Kleinund Mittelbetriebe versuchen, aus denjenigen Tarifverhandlungen auszuscheren, die ihre Tarifverträge an in Großunternehmen geltenden ausrichten, die wiedennn nicht davor zurückschrecken, ihre Produktion in flexiblere Länder wie Portugal oder Malaysia (vgl. Duval 1993) zu verlagern. Um es zusammenzufassen: Es gibt eine allgemeine Bewegung hin zu toyotistischen Spielregeln. Das »Fluten« des Zentrums durch den Ozean peripherer Flexibilität bleibt zur Zeit eingedämmt und könnte durch eine soziale und ökologische Gesetzgebung auf kontinentaler Ebene umgekehrt werden. Bedauerlicherweise ignorieren die Vereinbarungen von Maastricht diese beiden wichtigen Punkte. Vielmehr verstärken sie im Gegenteil durch Wechselkurse und Zinsraten die Rigidität der makroökonomischen Bindungen zwischen den Ländern. AI· lerdings steigern die Schwierigkeiten, auf die die Anwendung des Vertrages als Ergebnis der beiden Krisen des EWS im September 1992 und Juli 1993 stößt, die Handlungsspielräume nationaler makroökonomischer Steuerung und der wechselseitigen Abstimmung zwischen den Ländern, allerdings ist das kein gutes Zeichenfiir fundamentales Vertrauen in die Zukunft in dieser Frage, die eigentlich her mehr als weniger Europa erfordert. Paradoxerweise bestätigen die Schwierigkeiten der NAFTA genau dies. Nordamerika - ein paradoxer Block
I I I
I
Ein Blick auf Abbildung 4 zeigt den Unterschied zwischen Nordamerika und Europa: • Die USA als dominante Kraft auf dem Kontinent ist nicht am weltweit dominierenden industriellen Paradigma beteiligt; • Da ZentrUm und Peripherie auf dem Kontinent am gleichen industriellen Paradigma teilhaben. können sie nur durch den Grad an Flexibilität miteinander konkurrieren. Das erste Paradox ist, dass die USA als das den amerikanischen Kontinent dominierende Zentrwn nicht länger im WeJtmaßstab dominiert - weder technologisch noch finanzielL Und der einzige Zweck, zu der ihr ihre militärische Stärke dient, ist die Regelung des riesigen Problems der öffentlichen Ordnung zu ennögJichen, das durch die ,Dekadenz ihres eigenen sozialen Kompromisses in der ganzen Hemisphäre hervorgerufen wurde: der Krieg gegen die Drogen. Hinsichtlich des Aufbaus eines wirtschaftlichen Netzwerks mit seinen angelaARGUMENT SONDEItBAND NEUE FOLGE AS 2H
"
,
150
Zentrum und Peripherie
gerten Prosperitätssphäreni 8 sieht das ganz anders aus. Die USA kontrollieren nur einen einzigen Markt: ihr feudales Grenzland Mexiko. Ganz Südamerika mit einstmals so viel versprechenden Ländern wie Brasilien tmd Argentinien ist heute in eine historische Sackgasse geraten. Es ist zu hoch verschuldet, zu weit entfernt von den immer schwächer werdenden USA und wartet darauf~ dass sich Japan und Europa von neuem für Südamerika interessieren - was tUr Chile bereits zuzutreffen scheint Im September 1991 konnte ich einige Fabrikanlagen an der Nordgrenze Mexikos besichtigen. 19 Es war nur eine sehr k1eine Stichprobe von fünfFabriken, aber die Tatsache, dass meine mexikanischen Kollegen mir eine Besuchserlaubnis beschaffen konnten, zeigt, dass die Geschäftsführer besonders stolz auf das waren, was sie vorzuzeigen hatten. Vier der fünf Fabriken konnten einer Abhängigkeit von den USA in technologischer, finanzieller oder in beiderlei Hinsicht entkommen: • das Werk Sony in Tijuana: offensichtlich in beiderlei Hinsicht; • das Werk Rockwell (Apparaturen zur Übertragung von Hertzwellen) in Nogales: zwar amerikanische Anlagen, wurde aber gerade von der französischen AlcateJ aufgekauft; • das Zementwerk in Yaqui (eine prächtige, ultramodeme Kathedrale fiir den Produktivismus): alle Maschinen kamen aus der Schweiz; • das ebenso modeme Werk von Ford in Hermosil1o, das von allen das drolligste war: Hier war alles japanisch bis auf die mexikanischen Arbeitskräfte tmd einige Einze1teile aus dem Mittelwesten der USA - die Roboter, die Pressen, der Stahl, selbst die GTI-Motoren und natürlich auch der betriebliche Jargon waren aus Japan importiert. Desgleichen besuchte ich eine echte maquiladora (Zulieferbetrieb) eines gringo·Untemebmens: eine Fabrik für Sägemaschinen in HermosiUo. Doch gleich zu Beginn erfuhr ich, dass auch die Stammfirmen, die die Einzelteile
18
19
Bereits in Berlin, Bagdad. Rio (67) erläutert der Autor seine Vorstellung: »Die deutsche Sphäre und die japanische Sphäre haben im Großen und Ganzen die gleiche konzentrische Struktur in der Weltökonomie. Im Zentrum ein oder mehrere Länder, die durch das leistungsflihigste ökonomische Modell regiert werden: in diesem Fan ein bestimmtes Modell des Kalmarismus und der auszuhandelnden Einbindung der Lohnabhängigen im kontinuierlichen Kampf um Qualitäts- und Produkt-verbesserung. In einer ersten Peripherie befinden sich gesellschaftlich und technologisch weniger entwickelte Länder, die dem ehemaligen fordistischen Modell näher stehen. In einer zweiten Peripherie liegen neotayloristische Länder mit noch weniger qualifizierten, noch arbeitswiJligeren und >flexibleren< Arbeitskräften. Und jenseits davon gibt es riesige Arbeitskräftereservoirs zu Niedrigstlöhnen, die sich bereits mittels Zulieferverträgen in der einfachsten Produktion verdingen, die der häuslichen Sk1avenarbeit arn nächsten kommt (Textilien, Kleinteil~ Montage etc.). Völlig anders ist die arnerikanische Sphäre ... «[Anm.d.Übers.] Ich möchte Lilia Orantes (Universität Sonora) und ]OTge Carillo (Colegio de la Frontera Norte) ruf die Organisation dieser Reise danken.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AB 2~'
I
J
'~'~~'. '0
",,",
-
="'''"''''"'
~"".-
"'TI
~
_
_ _
Zentrum und Peripherie
151
hers~el1en. gerade ihren Sitz nach Mexiko verlegen. Und genau hier liegt die
I
I f
i
schlmunste Katastrophe der amerikanischen Industrie: Hat man einmal die Strategie niedriger Löhne und geringer Qualifikationen eingeschlagen, gibt es fiir die amerikanische Industrie keinen Grund mehr, den Kern ihres Produktionsapparates auf dem eigenen Territorium zu halten, wie das Deutschland ~d Japan gelungen ist. Die gesamte Fertigungsindustrie der USA ist versucht, SIch zur Nutzung von mexikanischen Arbeitskräften abzusetzen - mit Maschinen, die immer öfter aus Europa oder Japan kommen. Auf diese Weise gerät das zweite Charakteristikum des nordamerikanischen Blocks in ,den Blick. Anstatt dass sich die Länder entlang einer Diagonalen zwischen Kalmarismus und Neotaylorismus vom Zentrum zur Peripherie ausrichten, ordnen sich Kanada, die USA und Mexiko auf einer vertikalen Achse wachsender Flexibilität innerhalb eines einheitlichen industrieUen Paradigmas des Taylorismus an. Die meisten Industrien können nur mit Hilfe von niedrigen Löhnen und durch Abbau von Beschäftigungssicherbeit konkurrieren. Die Folge ist, dass eine allgemeine Verlagerung von Unternehmen (zumindest ihrer tayJoristischen Arbeitsschritte des Typs 3) nach Mexiko unvermeidbar ist. Sie kann im besten Fall durch Just-in-time-Management verlangsamt werden, das eine gewisse Nähe bei der Versorgung erfordert. Diese Gesetzmäßigkeit zeigte sich während des Freihandelsabkommens zwischen Kanada und den USA 1990. Kanada mit seinem »durchlässigen Fordismus« (vgl. Jenson 1989) hat sich größtenteils den sozialen Deregulierungen des Reaganismus der achtziger Jahre entzogen, ohne sich allerdings mit einem dem der USA wnfas.send überlegenen Qua1ifikationsprofil auszustatten. 20 Ergebnis war, dass es sehr schnen Beschäftigung an seinen Nachbarn abgab. Mit dem Beginn derNAFTA wurde das Problem wirklich dringlich. Mexiko entwickelt sich tatsächlich in die Richtung Indiens (siehe oben) mit folgenden Merkmalen: • Allgemeine.s Anwachsen der Hexibilität im Lohnverhä1tnis fiir die »alte Arbeiteraristokratie« in den Staatsuntemehmen. Diese Flexibilisierung wird von einer Rationalisienmg in der Arbeitsorganisation begleitet. • Sehr schnelle Landflucht, beschleunigt noch durch die Liberalisierung des Marktes für Gemeindeland (ejidos). Dies führte zu einer Explosion in der städtischen informellen Ökonomie und zu einem überangebot an Arbeit fur die primitive Taylorisierung. S Während der achtziger Jahre konvergierten diese beiden Bewegungen: Der Sektor der Importsubstitution verwandelte sich in einen exportorientierten und der Sektor der primitiven Taylorisierung an der nördlichen Grenze wurde
i
I ;
20
Mahon (1992) zeigt dennoch die Möglichkeit fUr eine Aufwärts-Anpassung in Kan.ada auf Lapointe (1992) fUhrt das Beispiel der Aluminiumindustriean, Doch ist der Toyotismus seit langem die allgemeine Entwicklungslinie in der Prozess-industrie, was sogar das Beispiel der Zementfabrik in Yaqui zeigtl ARGUMEI'll' SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
L
iii
• ;:;
i ; Zentrum und Peripherie
152
~tärker, steigerte seine Mechanisierung, bis ihm schließlich gestattet wurde, unmer häufiger für den Binnenmarkt zuarbeiten. Man kann also sagen, dassn sicb in Mexiko ein peripherer Fordismus entwickelt. Diese Transfonnatio wird von einjgen mexikanischen Forschern als ein Prozess der Japanisierung wahrgenommen. Auch die Eliten präsentieren ihn so, und zwar in dem Sinn, dass dort Flexibilität mit der Mobilisierung der Verantwortlichkeit der un- . mittelbaren Produzenten kombiniert wird. In Wirklichkeit praktizi,eren japanische Unternehmen nicht zur gleichen Zeit eine obnistische Produktion~ organisation und eine flexible Regulation der Lohnbeziehungen. Zudem hat die Arbeitsorganisation - selbst bei Ford Hennosi1lo - nichts mit dem ohnismus gemeinsam. Es gibt keinerlei Aushandlungen über die Einbindung der Arbeiter in die Perfe~onierung des Produktionsprozesses, vielmehr werden sie individuel1 durch UberredW1g und Prämien angespornt, sicb streng an die Vorga~en des Planungsbüros zu halten _ Frederick Taylor und Henry Ford I hätten Ihre Freude daran gehabt. Die Japanisierung von Mexiko ist also tatsächlich bloß eine im wahrsten S~e des Wortes »billige JapanisierungK Dennoch hat sie insofern Erfolg, als sIe der Industrie des Landes zu einer Wettbewerbsposition gegenüber dene USA verhilft. so dass 1992 die von der liberalen Administration unter Georg Bush so bejubelten Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen von ~en USA selbst wieder in Frage gestellt wurden. In Meinungsumfragen WU'd e weitgehend anerkannt, dass Mexiko dank der neuen Spielregeln bei der ang .lernten Arbeit gegenüber den USA in den meisten Industrien einen Vorted besitzt. Die weniger dogmatisch liberale Administration unter Bill Clinton ist dabei, den gesamten Komplex zu überdenken und unterzeichnete - ohne auf die Ausweitung der NAFf A auf Mexiko zu v~rzichten - im Juli 1993 zwei Zusatzprotokone zur VermeidlUlg von sozialem und ökologischem Dumpin~: Dies verfehlte jedoch das Ziel, die Opposition der Gewerkschaften und der Okologen in den drei Ländern zu entwaffnen. Einige Worte zum Schluss In Nordamerika wie in Europa resultiert aus der Konkurrenz zwischen di~ vergierenden Auswegen aus der Krise immer ein kräftiger Druck zur An· pass~g an die sozialen Bedingungen des am wenigsten begünstigten Teils der Arbeiterklasse. Durch die Stärke der skandinaviscben und deutschen Gewerkschaften ist es jedoch gelungen, im nördlichen Kontinentaleuropa Lös~gen durchzusetzen, die auf der auszuhandelnden Mobilisierung menschlIcher R~ssourcen beruhen. Diese Lösungen haben im globalen Maßstab insofem d~ S~eg da~ongetragen, als sie den Regionen, in denen diese Mobilisierung praktizlert Wird, ennöglicbten, ihre Positionen des Zentrums im Rahmen des PostARGtJMENT SONDERBA'N1) NEUE FOLGE AS 255
J
Zentrum und Peripherie
153
fordismus ZU konsolidieren. Diese Regionen haben sich sogar in die Lage versetzt, auf der Basis eines sozial konstruierten komparativen Vorteils IDit Ländern im gleichen kontinentalen Block zu koexistieren~ die durch viel niedrigere Löhne und viel flexiblere Lohnbeziehungen gekennzeichnet sind. Allerdings steigert die Eruption von im Überfluss vorhandenen, flexiblen und relativ qualifizierten Arbeitskräften an den Türen Westeuropas die Versuchung der Arbeitgeber des Zentrums, die Karte der· Verlagerung in die Zonen flexi~ bier Arbeit zu spielen. Dieses Szenario gibt es bereits zwischen den USA und Mexiko, sogar verstärkt, seitdem ganz Nordamerika im Wesentlichen dem gleichen industriellen Paradigma des Taylorismus folgt. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die NAFTA, die doch in einem viel liberaleren Geist als die EU gegründet wurde, mittlerweile gezwungen wird, Grundzttge eines »sozialen und ökologischen kontinentalen Raums( zu Obernehmen - mäßigender als der Vertrag von Maastricht.
literatur Ama.deo, E.lCamargo, I.M. (1995): >New Unionism< Md the Relations Among Capital, Labour and the State in Bruil. Projekt WIDER. In: SchorlYou 1995. Aoki, M. (1987): HorizontaJ Versus Vertical Structures ofthe Firm. In: Americ an Econo-
mic Review. December.
I I
Aoki. M. (1990): A New Paradigm ofWork Organization and Coordination: Lessons From Japanese Experience. In: MargJin/Schor 1990. Borst. R. U.B. (Hg.) (1990): Das neue Gesicht der Städte. Basel. Bowle!, S. (1985): Thc Production .Process in a Competitive Economy. Walras ian. Marxi~ an, and Neohobbesian Models. In: American Ecollomic Review. Vol. 75. Nr. 1. March. Coriat, B. (J992): Penser a rEnvers. Paris. Duval, G. (1993): Industrie allemande. Un colosse aux pieds d'argjJe. In: Alterna tives Economiques. n 110. Septembre. Doeringer, P.B./Piore, MJ. (1971): International Labour Markets and Manpo wer .Analysis. NewYork. Friedman. A (1987): Industry and Labour. London. Glyn, A. u.a. (1990): The Rise and Fall ofthe Golden Age. In: MargJinl~cho r 1990. hob, M. (1990): VaJue and crisis. London. Jenson. J. (1989): >Different< but not >Exceprionak Canada's Permeable Fordism . In: Canodian Review 0/Anthropology anti Sociology. Vol. 26 (l). Köllö, 1. (1995): After a Dark Golden Age - Eastem Europe. Projekt WIDER In: SchorIYou 1995. . Komai, 1. '0979): Resource-constrained versus Demand..constrained System s. In: &0110 metrica. Vol. 47 (July). . •.. . Lapointe, P.A (1992): Modele de travail et democratisation. Le cas des usmes de I Alcan au Saguenay 1970-1992. In: Cahiers de Recherches Sociologiquees. n° 18~ 9. Leborgne, D./Lipietz, A. (1988): New Tecbnologies. New Mode of Regula tion: some SpatiaJ Implications. In: Environment anti Planning D: ~ociety;znd ~e. Vol. ~ (3) [deutsche Version: Neue Technologien und neue ReguJatlonswe1sen: Euuge räumbc he Implikationen. In: Borst u.a. 1990J. D
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AB 2S.s
aa 154
Zentrum und Peripherie
Leborgne, DJLipietz, A. (1989): Deux strategies sociales dans la production des espaces territoriaux. Couverture orange CEPREMAP. Paris. Leborgne, D./Lipietz, A. (1990): How to Avoid a Two-tier Europe. In: Lahaur anti Society. Vol. 15 (2). Leborgne, D./Lipietz, A. (1992): Conceptual FaUacies and Open laBues on Post-Fordism. In: Storper/Scott 1992 [deutsche Version: Nach dem Fordismus: Falsche Vorstellungen und offene Fragen. In: Noller u.a. 1994]. Lipietz, A. (1977): Le capital et son espace. Paris. Lipietz, A. (1979): Crise et mflation, pouquoi? L' accumulation intensive. Paris. Lipietz, A. (1983): La monde enchante. De la valeur cl l'envoi inflationniste. Paris. Lipietz, A. (1985.a): Mirages and miraJCIes. Problemes de l'industrialisation dans le tiersmonde. Paris. Lipietz, A. (1985b): Le national et le regional: quelle autonomie face a]a erise capitaliste mondiale? Couverture orange CEPREMAP. Paris [deutsch: in diesem Band]. Lipietz, A. (1988): Building an Alternative Movement in France. In: Rethinking Marxism. Vol. L Nr. 3. Autumn. Lipietz, A. (1991): Die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit am Vorabend des 21. Jahrhunderts. In: Leviathan. Jg. 19 (1). Lipietz, A. (1992): Towards a New Economic Order. Postfordism, Eco]ogy and Democracy. Oxford. Mahon, R. (1987): From Fordism to ? New Techno.logies, Labor Markets and Unions. In: Economic andlndustrial Democracy. Vol. 8. Mahon, R. (1992): Retour sur le post-fordisme: le Canada et l'Ontario. Dans: Cahiers des Recherehes Sociologiques. n a 18/19. Mahon, R. (1994): Wage-Earners ami/or Co~workers? Contested Identities. In: Economic anti Industrial Democracy. Vol. 15. Marglin, S.lSchor, 1. (Hg.) (1990): The Golden Age ofCapitalism. Reinterpreting the Postwar Experience. Mord. Noner, P. u.a. (Hg.) (1994): Stadt~Welt. Über die Globalisierung städtischer Milieus. Frankfurt sm Main. Piore, M.J.lSabel, C.F. (1985): Das Ende der Massenproduktion. Berlin. Rao, J.M. (1995): Capital, Labour and the Indian State. Project WIDER. In: SchorlYou 1995.
Schor, INou, ].1. (Hg.) (1995): Capital, the State and Labour. AGIobaI Perspective. Aldershot. Storper, M.lScott, Al (Eds.) (1992): Pathways to Industrialization and Regional Develop· meßt. London. Wil1iamson, O.E. (1990): Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus. Stuttgart. You, 1.1. (1995): Changing Capital~labour Relations in South Korea. Projekt WIDER. In: SchorNour 1995.
ARGUMENT SONDERBA]l.1) l-I"EUE FOLGE AS lSS
'tt
Das .Nationale und das Regionale ~e viel Autonomie bleibt angesichts der weltweiten
Krise des Kapitalismus?
~a .~ehn Jahre nach dem Beginn dessen,. was zahlreiche Autoren heute
rem stimmend als die »allgemeine Krise des foretistischen Entwicklungs:odeIJS« .bezeicbn~ scheint. sicb eine doppelte Orthodoxie in den Medien, bei m~m Ted der mamstream-Ökonomen Wld sogar bei den linken Intellektuellen :er m~us~a1isierten Länder abzuzeichnen. Diese weit verbreitete AuffassWlg ässt sIch m zwei Punkten zusammenfassen: 1. D~e Lösung der Krise gelingt durch einen technologischen Wandel. der zu 8eßler EntwicldWlg hinsichtlich der technischen Zusammenarbeit Wld der Märkte einen globalen Rahmen erfordert. 2. Die Umsetzung dieser Technologie und die soziale Begleitung dieses Wandels erfordern eine Wendigkeit und Flexibilität, die nur auf lokaler Ebene geregelt werden kann. Diese weit verbreitete Auffassung oder Vulgata setzt eine Annahme voraus und beinhaltet eine bedeutsame politische Konsequenz: I. Es existiert eine und zwar gesellschaftliche Organisation, die durch die technOlOgische EntWicklung determiniert ist und einen Ausweg aus der Krise des Foc<üsmus bietet: Die elektronische Revolution erlbrdert eine globale und flexible gesellschaftliche Organisation. 2. Der NatiOnalstaat muss als Institution und als geographisches Gebilde der gesellschaftlichen Veränderungen zuguDSten des weltweiten und des lokalen Rawns stark an Bedeutung verlieren. Seit ihrem Auftauchen stößt diese Vulgata auf eine zwar heftige, aber minoritäre Kritik seitens eines Teils der Linken. • Ihr technolOgischer und ökonomistischer Deternrinismus hatte zwar nebenbei den Vorteil~ die grundlegenden Gemeinsamkeiten zwischen der marxis~ sehen Vulgata (diejenigen der n. und III Internationale) und der IdeolOgie der »siegreichen Bourgeois« zu erh.eUen, resultierte aber injedern Fall in der unkritischen Anerkennung eines Schicksals der Menschheit, das durch die anonyme Bewegung eines »Fortschritts« diktiert wircl der doch andererseits durch ganz bestimmte gesellschaftJiche Kräfte gesteuert wurde. • Die Preisgabe des nationalen Rahmens als angemessenem Ort der gesellschaftlichen Veränderung fUhrte zu einer aUgemeinen Entmachtung der Arbeiterschaft und der Fortschrittlichen, die trotz des unglücklichen An~ spruchs auf einen »proletarischen Internationalismus« niemals etwas Besseres als den Nationalstaat zur Durchsetzung von Veränderungen gefunden hatten. Das Gewicht dieser Kritiken darf allerdings nicht verbergent dass sie oft in nationalistischen Fonnen der krampfhaften Bewahrung von »sozialen Emmgenschalten« und in einer ZUIi1ckweiSlUlg von wirklich fortschrittlichen EIWartunU
ARGtJMEJ'..'T SONDERBAND NEUE FOLOE AS:m
&,.
z:CZ
156
Nati011 und Region
gen einmündeten, einen als entfremdend empfundenen Staat zugunsten von Gemeinschaften loszuwerden, die dem Individuwn näber wären, sUirker im
Bewusstsein eines kollektiven Schicksals wurzeln und in der zu Ende gehen~ den Phase sehr oft durch die EntscheidWlgen des Nationalstaates unterdrückt worden waren. Mit anderen Worten eine »linksfordistische« Reaktion auf den Niedergang des se1bstzentrierten nationalen Fordismus. Diese Reaktion ftihrte offenbar zu einer Stärkung dessen, was man bekämpfen wollte, indem man eine absurde Polarisierung aufbaute: für das Nationale oder für das Lokale, fiir Abschottung oder für ÖffnWlg, für den Staat oder fUr das Individuum ...). Mit dieser Polarisierung identifizierte sich schließlich ein Teil der Linken - nun nicht nur von der dominanten kapitalistischen Entwicklung, sondern auch von den popularen Bewegungen, die noch unlängst gegen den zentralistischen, bevonnundenden Staat mobilisiert hatten, der an der Regulation des fordistisehen Modells gescheitert war, ausgestoßen. Wir werden hier nicht noch einmal auf die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen dieser absurden Polarisierung in der französischen politischen Landschaft der letzten Jahre eingehen. i Das Problem hat eine viel wnfassendere Bedeutung und es mag nützlich sein~ den Umweg über eine soziologische Betrachtung zu wählen, um es in seiner ganzen Breite aufzuwerfen und mn die verhärteten Fronten zu überwinden, die sich vorschnellen und kontingenten politischen Schlussfolgerungen verdanken. Der folgende Artikel ist daher absichtlich theoretisch und schematisch. Ausgehend von einer Überlegung zum Raum steHen wir zunächst einige grundlegende Begriffe vor, die die Besonderheit des Regionalen gegenüber dem Nationalen beleuchten (erster Teil). Dann werden wir auf das fordistische Moden mit seinen internationalen und interregionalen Dimensionen zurückkommen und auf die Auswege aus seiner Krise, nach denen zur Zeit gesucht wird (zweiter Teil). Wir können dann die Autonomie der nationalen und der regionalen Ebene gegenüber den gegenwärtigen Tendenzen bei der Suche nach unterschiedlichen Lösungen der Krise ennessen (dritter Teil). In der Schlussfolgerung werden wir die Bedeutung dieser heiden räumlichen Instanzen bei der Suche nach einer fortschrittlichen Lösung der Krise des Fordismus be~ handeln.
I
Ich hatte in den siebziger und achtziger Jahren oft Gelegenheit, diese Vulgata und ihre karikaturhaften Formen einer Kritik zu unterziehen, insbesondere in einer Reihe von Artikeln in den Les Temps modernes (vgt auch Lipietz 1984).
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 25'
157
Natioll und Region
Dje Sozialen Verhältllisse und der Rawn: Einige Definitionen2
,
Von den Produktionsweisen zum Raum on sich
I
J~e Gesellschaftsfonnation ist eine komplexe Struktur von sozialen Verhält~
r
I
~s~ die auf der Ebene der ökonomischen, der politisch-rechtlichen und der
Ide?logischen Instanzen miteinander verknüpft sind. Sie· stellt sich als eine Artikulation von Kombinationstypen dieser Verhältnisse dar, von Kombinationen, die wir Praduktionswei.ren (Kapitalismus, einfache Warenproduktion, J:IallSwirtschaft~ Fenda1ismus ... ) nennen. Aber diese Artikulation ist keine lineare Kombination oder ein bloßes Nebeneinander in unterschiedlichen Proportionen. Einerseits wird die Existenzweis,e jeder dieser Produktionsmodi erheblich ~ch den Raum modifiziert, den ihr die Reproduktion der dominanten Produkti~llSweise in der Gesellschaftsfonnation (des Kapitalismus) gewährt,andererSelts rechnet die dominante Produktionsweise die Präsenz der anderen Produktionsweisen (die ihr als Arbeitskraftreserve, als Markt etc. dienen) selbst zu den konkreten Existenzbedingungen der betrachteten Gesellschaftsfonnation hinzu. Wenn also jede (heser Produktionsweisen apriori ihre eigene EntwickJungsdynamik, ihre eigene Logik besitzt, die im Allgemeinen im Widerspruch ZU jenen der anderen Produktionsweisen steht•. deren Analys,e ihr Vorhandensein offenbart wird die Einheit des Ganzen~ seine Fuoktionsweise durch die Dominanz kapitalistischen Produktionswei~ durchg~setzt, die~urch .als kohärent erscheint. Schließlich müssen sogar die Modalitäten der Art]ku1atl(~n dieser Produktionsweisen als ein Prozeß verstanden wer~en) ~ d~ die dOminante Produktionsweise die dominierten Produk1ionswe~sen m ~~man~ enolgenden Phasen beherrscht, sie ,auflöst) sie in;tegrie~, in denen SIch Jewells die Funktionsregeln der gesellschaftlichen Totalität verändern.. . . f hen Struktur ergibt Sich etne hajt Aus dieser Konzeption der geseIIsc ,. IC ' . laur Der konkrete soZlo--ökono' h Si Konzeption der konkreten rtium /lC en r u · ' . . anaIy ~ rt 'g h Ra k '·sem' erseits als Artikulation von Räumltchk.elten sIe . W ce· um ann . .. . . verschieden,en Instanzen 1...~' t V rhältnisse in den . . der wer'den. denen tA;;stmune e . ' . äten Produktionsweisen verschiedenen in einer Ge~ellschaftsfO~b~~ r~ '~t nichts anderes als die eigen sind. Worin besteht diese »~umll~~lt «. l:ise -die das betrachtete räumliche Dimension der ~ate~lellen XI.S :nzwzwi~hen »An- und Abwe. Verhältnis regelt. Sie besteht m eIDer Entsprec ung
der'
2
.. . . 'uf fot enden über den Fordismus greife i~h In diesem theoretischen Tell und Im d~ .... ntg...rickele sie weiter, die ich früher 1m. .. f fa 'zusammen OWC;1 e ..". . .. u __••1nti Uberlegungen au, sse sIe . . . ' und die Krise des fordistischen AIUWI1IWA ansRahmen meiner Arbeiten ~ber d~ Raum 'ekelt habe (vgJ. Lipietz 19", 19~5c), Ich regimes und der Regulattonswelse entwtft' .....I.ch meine truberen F 0 11Il.u herungen dabei bewusst und so 0 Wie mo~ übemehme ~ . d 'V 'atibilität zu verdeutlichen. zu diesen beiden Begriffen, um eren ,n..omp ARoUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE All 255
i22i L 158
waL;
Nation und RegiOH
senheit« (im Raum) und »Partizipation/Ausschluss« (in der Struktur oder dem jeweiligen Verhältnis) oder auch in der Entsprechung zwischen der Verteilung der »Plätze« im Raum und der Verteilung der »Plätze« in dem Verhältnis. Schließlich ist Doch zu bemerken, dass die Fonnen des Paares »An- und Abwesenheit« ihre eigene Topologie besitzen, die von dem jeweiligen gesell~ schaftlichen Verhältnis abhängt und sogar von dessen Entwicklung: Man ist mehr oder weniger weit von einer Energiequelle entfernt, man kann mehr oder weniger den Entwurf von der Ausführung trennen, man ist hinsichtlich der Sozial gesetzgebung entweder in Frankreich oder in Deutschland. Man kann daher z.B. in Bezug auf den Stand der räumlichen Arbeitsteilung vom tJkonomischen Raum der kapitalistischen Produktionsweise sprechen oder vom juri.~tischen Raum, der Ersteren überlagert. Man muss sich genau bewusst machen, dass sicb der konkrete sozio-äkonomische Raum gleichzeitig darstellt als (erstens) die Artikulation der analysierten Räume, als ein Produkt, eine )Spiegelung« der Artikulation der gesellschaftlichen Verhältnisse und (zweitens) als konkreter, bereits gegebener Raum, als ein objektiver Zwang, der sich der Weiterentwicldung dieser sozialen Verhältnisse widersetzt. Wir sagen, dass die Gesellschaft ihren Raum auf der Basis eines konkreten Raumes neu erschafft, der immer scbon gegeben ist, von der Vergangenheit übernommen wird. Doch Vorsicht! Wenn der sozio-ökonomiscbe Raum nichts anderes als die räumliche Dimension der materiellen Existenz der ökonomischen und sozialen Verhältnisse ist, warum sprechen wir dann von der »Spiegelung der sozialen Verhältnisse«? Spiegelung worin? Und wie kann man von einem »Raumzwang« fiir die Umgestaltung der sozialen Verhältnisse reden? Hier stoßen wir auf ein umfassenderes Problem, das der gesellschaftlichen Reproduktion im Allgemeinen. Jede Praxis, jedes soziale Verhältnis ist in eine immer schon gegebene konkrete Totalität eingeschrieben, die sie als ihre Existenzbedingung determiniert, die wiederum eine räumliche Dimension hat, soweit sie materieUer Art ist. Ein Beispiel: die »Trennung des Produzenten von seinen Produktionsmitteln«, die »Arbeitsteilung«, etc. Sobald einmal diese »Trenmmg« erreicht, physisch verwirklicht ist, ennöglicht sie die Reproduktion dieses Verhältnisses und damit ihre eigene Reproduktion. Alle Verhältnisse tragen dazu bei, die gesellschaftliche Realität zu schaffen, aber jedes Verbtlt~ nis setzt die geselJschaftliche Realität als Gegebenheit vomus. Die materielle Existenz der gesellschaftlichen Reproduktion, insofern sie Reproduktion ihrer eigenen Existenzbedingung durcb die sozialen Verhältnisse ist, also keine historische (revolutionäre oder evolutionäre) Transformation der Existenzbedingungen, spielt auf diese Weise die Rolle einer »sozialen Form«~ die des »Habitus« (Bourdieu 1980), die Antizipationen, die Verhaltensweisen, die Gelegenheiten.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLOE AS lS~
Nation und Region
I
I , I
I
I
I
I
I
159
di Der »soziale Raum« ist eine der Dimensionen (die räumliche Dimension) eser sozialen Fol1ll, dessen, was man »die Gewohnheiten der Geschichte« :enne:r könnte. Man soHte daher den Raum weder als »Spiegelung« (wer ist der Träger der Spiegelung'?) von sozialen Verhältnissen auffilssen .die »woandiers(~ existieren, n.och als Ort des Einschreibens von regeJmäßig~ Praktiken, e h dJese Verhä1btisse konstituieren. Vielmehr erscheint in der gesellschqfilic en Reproduktion der materielle Raum mal als Wirkung dieser Verhliltnisse, mal als einer der sie hestimmenden Faktoren: eine weitere-analytische Trenn~& denn die »sozialen Verhältnisse« sind niemals lediglich Verhältnisse ~schen Menschen und Dingen, sondern haben sehr wohl eine raumJiche DlDlension. Man kann auch sagen, dass der gesellschaftliche Raum ein »Moment« der 8eseHschaftlichen Reproduktion ist, und in diesem Sinne ist der gesellschaflliehe Raum an sich eine Spiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dieser m an sich ist die objektive Grundlage des empirischen Raumes, in dem die ~OZla1en l1aodhmgsweisen »sich abspielen«, in dem sie »eingeschrieben sind«, Ul dem sie sich »entfalten« etc. .
Rau.
Von der Hegemonie zum Raum an sich
Aber so, wie man gelegentlich »KJasse an sich« und »Klasse fiir sich«, »AnSammlungen und Gruppen« unterscheidet, gibt es neben dem. Praktisch-Trägen (Pratico-inerte; Same I%Q) des »Raumes an sich« einen »Raum für sich«, Die Gesellschaft ist tatsächlich nicht nur die autom.atische Reproduktion einer bestimmten Struktur von Verhältnissen. Diese Verhältnisse sind Verhältnisse Von Praktiken, die neben ihrer Routinedimension auch eine innovative Trag~eite haben können und sogar, insofern die Verhältnisse widersprüchlich sind (mdern sie die Individuen und Gruppen gleichzeitig gegeneinander stellen Wld einigen), notwendig dazu berufen sind, eine revolutionäre oder zumindest verändernde Dimension zu haben. Die Politik ist genau die Instanz, in der sich diese Dialektik von Reproduktion und Transfonnation verdichtet, und die Ideologien steUen diese Spannung dar. Innerhalb der marxistischen Diskussion ist es das Verdienst von Antonio Gramsci, die Überlegungen zum Übergang von der »Gesel1schaft als Gewebe von Verhältnissen« hin zur »Gesellschaft als Übereinkunft oder als Kampf um die Erhaltung oder Herstellung eines Gewebes von Verhältnissen« beträchtlich vorangetrieben zu haben. Er tat dies gerade aus der Perspektive der regionalen und nationalen Frage und entwickelte dabei die Konzepte des »geseHschaffiichen Blocks« und der »Hegemonie«. Einen gesellschajilichen Block nennen wir die Konvergenz von sozialen Gruppen oder von Fraktionen bestimmter Gruppen, die an sich durch die sozio-ökonomischen Verhältnisse bestimmt sind, um ein Projekt zur Erllalnmg
Nation und Region
160
oder Veränderung der Fonn von bestehenden Verhältnissen herum; einen hegemonialen Block nennen wir den geseHschaftlichen Block, dem es gelingt~ sein Projekt als das der gesamten Gesellschaft darzustellen lUld durchzusetzen. Festzuhalten ist mer, dass sich eine soziale Klasse »an sich« auf mehrere miteinander konkurrierende Blöcke aufteilen kann und dass innerhalb eines Blocks die Materialität der Konvergenz der Eigeninteressen einer Gruppe mit denen des Blocks mehr oder weniger umstritten sein kann: Man muss daher innerhalb des gesellschaftlichen Blocks zwischen führenden, verbündeten, vermittelnden, abhängigen etc. Gruppen unterscheiden. 3 Ein Raum für sich ist die räumhche Dimension der Existenz eines gesellschaftlichen Blocks oder der Hegemonie eines gesellschaftlichen Blocks oder auch des offenen Kampfes zwischen verschiedenen Blöcken. Räume für sich können sein: eine Nation, die als solche anerkannt ist oder darum kämpft, es zu werden (Palästina, Sahara)~ ein kleinerer Raum, der jedoch seine Besonderheit behauptet (eine Region, die sich durch eine regionale Bewegung auszeichnet); ein größerer Raum, wo sich eine Gemeinschaft in Erwartung einer bestimmten Lebensweise materialisiert (»l'Oumma«, die »freie Welt« etc.). Halten wir fest, dass ein Raum fiir sich genauso gut der Ausdruck eines konseIVativen, eines modernistischen, eines reaktionären oder progressiven gesellschaftlichen Blocks sein kann. Des Weiteren fallen die Grenzen eines Raumes für sich weder unbedingt mit der Räumlichkeit an sich zusammen, die einem spezifischen sozialen Verhältnis eigen ist, noch mit der einer Sprachgemeinschaft oder einer Staatsangehörigkeit etc. 4 Hingegen gibt es nur wenige soziale Bewegungen, die keine räumliche Dimension aufweisen, sei sie national oder regional. Und umgekehrt kann es einer derart sozialtypischen Region, die ein Bewusstsein ihrer selbst entwickelt, nicht auch an einer ideologische Dimension fehlen: Elegiefür eine Re(lijgion nennt das Francisco de Oliveira (1977), wenn er vom brasilianischen Nordosten spricht. Um hier weiterzukommen, müssen wir nun konkreter werden und gehen dabei von den Besonderheiten der dominanten Produktionsweise aus. Das Dreieck »Akkumu/ationsregime Block«
Regulationsweise
hegemonialer
Bekanntlich ist die kapitalistische Produktionsweise eine Verbindung von zwei grundlegenden Verhältnissen: dem Warenverhältnis und dem Lohnarbeitsverhältnis.
3
Ich stütze mich hierbei aufPoulantzas 1968.
4
VgL an diesem Punkt die Kritik an den empiristischen Bestimmungen der Nation (z.B. bei Stalin) durch Terray 1973.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 233
Nation und Reg ion
161
die Reproduktion des Ganzen sich llt ste ene Eb en ich aftJ sch eU ges Auf der , indem sie Waren untefeinander sich rten we ver le pita Ka : dar en naß den foIgen zwar vennittelt durch Geld. Inund en, sch tau aus ft kra eits Arb en geg oder nheit, die im Übrigen ihre eigene tsei haf rtsc Wi en sch isti ital kap er ein nerh~b ltnisse, die keine Warenverhältnisse rha Ve es t gib , itzt bes ion ens Dim che räumli verhältnisse in der Arbeitsorganions rati ope Ko und tshaf rrsc He ?em son sin~ autonomes Gebilde gegenüber dem Rest ein et bild r abe e« ner »In ses Die on. satl h, dass dieses Geflecht von autonodes sozialen Gewebes. Wie ist es möglic ftliches Produkt webt, bei dem sich men Prozessen ein kohärentes geselJscha idierte erweisen? Wie mjedern gesellalle privat eingesetzten Arbeiten als val Erfahrung, dass eine Lösung möglich ~haftIichen Verhältnis ist die eJWorbene ung. In Abhängigkeit des von ihm 1st, selbst eine der Grundlagen der Lös men) und seiner Marktkenntnisse (die Angeeigneten (seinen früheren Einkom orben hat) setzt der ,Kapitalist darauf, er in den vorangegangenen Perioden erw zu erneuern und wieder Produktionsdass es sich lohnt, das LohnverhäImis Validierung des Produkts seiner Kon~ mittel zu kaufen - womit er bereits zur tene Arbeitskraft beiträgt. Die von der gen Wld der von Lohnabhängigen angetJo ungen und die Antizipation einer ZuVergangenheit übernommenen Beding nheit sind also die Bedingq.ngen des kunft als Verlängenmg dieser Vergange genwart. Die Kontinuität der Ge der in ngs nha me am Zus en ich aftl gesells,ch n hinsichtlich einer Allokation, eite hnh wo Ge ten gne eei ang die io~ Akkumulat gesellschaftlichen Arbeitsteilung der en eig Zw n ene ied sch ver den hen isc die zw eiten, die sich in den Raum an sich hnh wo Ge die t, eug erz t ich gew ich Gle ein mischen Landschaft« übernimmt, die ono »ök er ein lle Ro die der en, reib sch ein Orientierungen der Transformation von n iale soz der h tlic sich hin en ion pat tizi An die wie eine immanente Kraft die en, onn nsn ntio nsm Ko und stion duk Pro s das bildet die Grundlage fiir eine privaten Handlungen bestimmen - alle lationsregime« nennen. »soziale FOnD«, die wir hier »Akkumu dus systematischer VerteilUng und Das Akkumulationsregime ist ein Mo duktes, der über einen längeren ZeitReal1okation des gesellschaftlichen Pro g zwischen zwei Transformationen raum hinweg eine bestimmte Entsprechun Produktionsverhältnissen (VoJumen hersteUt einerseits der Transformation von sWlter den Branchen. und Produkrion des eingesetzten Kapitals, Aufteilung ation von Verhä1tnissen der tatsächnonnen) und andererseits der Transfonn der Lohnabhängigen und ~nderer lichen Konsumtion (Konsumtionsnonnen .) Bereits an diesem Punkt der Ubedesozialer Klassen, KoUektivausgaben etc von Akkumulationsregimen gibt: die gung wird klar, dass es mehrere Typen mäßige Ausweitung der Produktionsextensive Akkumulation (einfache, gleich e Massenproduktion (bei der nur ohn tion ula kum Ak ve nsi inte die ~ en) abteilung das Wachstum in der Abteilung zur ls pita Ka ten stan kon des llen we sch das An tion mit validiert)~ die intensive Akkumula ln itte sm tion duk Pro von tion Produk natürlich erfordert die Analyse eines er Ab . etc m nsu nko sse Ma dem gen stei E AS lSS AROI.JMENT SONDERßAND NEUE FOLG
l..
;
,
,
162
Nation und Region
konkreten Akkumulationsregimes einige Verfeinerungen über diese grundlegende Typisierung hinaus. Jedes konkrete Akkumulationsregime ist in der Tat in ein »Äußeres{{ eingetaucht, und das im doppelten Sinne des Wortes. Zunächst wird nicht die gesamte gesellschaftliche Produktion von kapitalistischen Verhältnissen regiert. Um mit der Reproduktion der Arbeitskraft zu beginnen: Das patriarchale soziale Verhältnis gewährlei stet diese Reproduktion unter Verwendung von »Reproduktionsmitteln«, die mit dem Lohn gekauft werden. Hinzu kommen die anderen Produktionsweisen, die in der Gesellschaftsformation vorhanden sind. Die »Artikulation der Produktionsweisen« ist eine oftmals unerlässliche Dimension der Analyse eines Akkurnulationsregimes oder zumindest von Komponenten dieses Regimes ebenso wie der Raum an sich, der die materielle räumliche Fonn ist. Eine andere Dimension aber zeigt sich, wenn man die ökonomischen Beziehungen berücksichtigt, die der Kapitalismus zwischen den Gemeinschaften hersteHt. Geschichtlich haben übrigens die ersten identifizierbaren, »kapitalistische Verhältnisse« formenden Praktiken die Grenzen von feudalen oder tributären Staaten weit überschritten. Aber mit der Verallgemeinerung der Marktbeziehungen hat sich der modeme Nationalstaat als Gemeinschaft von Individuen entwickelt, die miteinander durch einen GeseUschaftsvertrag verbunden sind. Erst in diesem Rahmen werden das Handelsrecht und das Lohnarbeitsverhältnis kodifiziert und institutionalisiert - also im Schatten der Souveränität des Staates, der die Geschichte der inneren und auswärtigen Kämpfe zementiert. Auf der Ebene des Nationalstaates lassen sich die gesel1schaftlichen Widerspruche regeln und in der Folge zeichnet sich nach und nach die Kohärenz wirklicher Akkumulationsregime ab, wobei sich die Vereinheitlichung des Nationalstaates und die Verdichtung dieser Regime gegenseitig stützten. Die »Schaffung des Binnenmarktes« durch die Entwicklung der kapitalistischen Verhältnisse hat jedoch nie zum Verschwinden weder von regionalen Besonderheiten noch von internationalen Handelsbeziehungen geführt - je nach Entwicldung der Akkumulationsregime wurden die einen wie die anderen eingeschränkt oder gewannen an Bedeutung. Daher ist es theoretisch mög1ich, zumindest »Elemente« regionaler oder internationaler Akkumulationsregime zu bestimmen. 5
5
Die Theorie der Akkumulationsregime und der Regulationsweisen (Aglietta 1976, BoyerlMistral 1978, Lipietz 1979a) wurde vor allem in Frankreich entwickelt. Man abstrahierte vorläufig von der Artikulation der Produktionsweisen, den regionalen Spezifik~ den internationalen Beziehungen, obwohl diese Voraussetzungen im Denken der Autoren sehr wohl vorhanden waren, nicht nur bevor diese Theorie entwickelt wurde, sondern geradezu als deren Ursprung. Und doch wurde der Zusammenhang zwischen der »Artikulation der Produktionsweisen« und den »Akkumulationsregimen«, zwischen der Regionalisierung und Internationalisierung dieser Konzepte später kaum weiterverfolgt
ARGtTh1EJ'IT SONDERBAl....'1) NEUE FOLGE All 2~5
Nation und Region
I
I
163
Damit sind die Grundlagen dessen benannt, was wir »soziale Fonn« genannt haben. Anzumerken ist allerdings, dass sich die Akkwnulationsregime nicht von selbst realisieren. Die Schwierigkeit besteht darin zu wissen, welche Zw~~~äfte, welche institutioneHen Fonnen die Kohärenz von Strategien t.md Anttzipatlonen der Akteure der kapita1isti~hen Warenökonomie gewährleisten werden, die zur Realisierung des Reproduktionsschemas" konvergieren werden. Denn die »Gewohnheiten« und Zwänge des Raumes an sich sind dazu allein nicht in der Lage. Damit kommen wir zum Problem der Regulation. Wir nennen Regulations~ weise die Gesamtheit der institutioneUen Formen. der Netze, der expliziten oder impliziten Nonnen, die die Kompatibilität der Verhaltensweisen im Ra1nnen eines AkkumuJationsregimes in Übereinstimmung mit den jeweiligen sozialen Verhältnissen und durch die Widerspruche lUld den konfliktueUen Charakter der Beziehungen zwischen den Akteuren und geseUsehaftliehen Gruppen hindurch gewährleis.ten. In der kapitalistischen Produktionsweise müssen sich die Regulationsfonnen mindestens auf die folgenden Aspekte beziehen: • die Regulation des Lohnverhältnisses (Festlegung der zeitlichen Normen, der Intensität der Arbeit, des Werts der Arbeitskraft~ Bestimmung der Konswntionsnorm der Arbeiter, Reproduktion der Hierarchie der QuaJifikationen. Segmentierung des Arbeitsmarktes, Aufteilung zwischen den direkten und den indirekten Löhnen ete.) • die Reproduktion und Verwaltung des Geldes, seiner Emission, seiner Zirkulation, der Fonnen, in denen es fiir produktive Zwecke eingesetzt wird etc. • die Nomen und die (impliziten oder kodifizierten) Modi der Einheit und der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Fraktionen des Kapitals, zwischen diesen und anderen Produktionsfonnen. Ohne im Detail die Akkumulationsregjme und die Regulationsweisen zu untersuchen, zeigt sich sofort eine Dreiecksbeziehung zwischen diesen beiden und den hegemonialen Blöcken. Man kann sagen, dass in den (für den Theoretiker idealen) Perioden, in denen über längere Zeit zwischen den verschiedenen Instanzen eine Entsprechung besteht, das Akkumulationsregime die Grundlage der materiellen Existenz eines hegemonialen Blocks ist, der seinetseits eine Regulationsweise gewährleistet, die ihrerseits die Reproduktion des Akkumu* lationsregimes steuert. Die Kohärenz dieses Dreiecks, das ich hier »hegemonia~ les System« nennen werde, realisiert sich in strukturellen Formen, die die Kristallisation von institutionalisierten Kompromissen (Delonne/Andre 1983) sind, deren wichtigste Fonn zugleich Arehetyp und Garant des Weiterbe· stebens der anderen in letzter Instanz der Staat ist.
(siehe jedoch Bayer (Hg.) 1986 und Lipietz 1985b). ARGtJMENT SONDERBA."'1D NEUE FOLGE AS 2S5
I. 164
Nation und Region
Nun erfordern nicht alle Fonnen Wld alle Ebenen der Regulation in gleichem Maße die Präsenz des Staates. Tatsächlich erfordert der zentrale Nationalstaat Regulationsfonnen im engeren Sinne nurfiir einen Teil der ersten Gruppe (die des Lohnverhältnisses ) und für die zweite Gruppe (die Verwahung des Geldes~ vor allem dann, sobald es zu Zeichengeld wird). Diese Bemerkung muß sehr wohl stark differenziert verstanden werden, doch gestattet sie uns fortzufahren, um die folgenden Definitionen zu entwickeln.
Wirtschafisregionen, regionale Armaturen, Nationalstaaten Wirtschafisregion nennen wir einen Raum an sich, der ein Gebiet bildet, in dem die Artikulation von Produktionsweisen und -fonnen homogen ist. 6 Bei »homogen« übersehen wir weder die innerregionalen Differenzen, von denen die auffallendste die TrennWlg zwischen Stadt und Land ist, noch die ökonomischen und sozialen Unterschiede in den Ballungsräumen (Lipietz 1974) oder gar die Hierarchie der Städte in einer Region. Wenn wir die Gesamtheit dieser Verhältnisse lUltersuchen (gleichzeitig die Städte und die ländlichen Gegenden" die Arbeiterbezirke und die bürgerlichen Viertel etc.), sagen wir nur, dass die Fonn der Artikulation dieser Verhältnisse die Region als solche und in ihrer Beziehung zu anderen Regionen individualisiert. In einer Wirtschaftsregion gibt es selbstverständlich ein spezifisches Akkumnlationsteilregime, das mit semem Äußeren in Beziehung steht. Die Wahl des Maßstabs (d.h. der Wltersuchten gesellschaftlichen Verhältnisse) wird der Wahmehmung dessen überlassen, der das Konzept verwendet: Der wesdiche, industrialisierte Norden bildet eine Wirtschaftsregion des globalen Raumes;. der französische GToße Westen oder der brasilianische Nordosten bilden Wirtschaftsregionen innerhalb nationaler Räume. Diese drei Beispiele eines Raumes an sich eignen sieh in unterschiedlicher Weise als Grundlage für Räume fiir sich. Der Nordwesten der Erde und der brasilianische Nordosten eignen sich dazu, der französische Große Westen bisher jedoch nicht. Das wirft selbstverständlich die Frage nach der Existenz eines hegemonialen sozialen B10cks und den institutionellen Fonnen auf, die diesem Raum seine »Persönlichkeit« verleihen. Und hier stellt sich unumgäng~ lieh die Frage des Staates~ der über der Gesellschaft stehenden Macht, »damit [... ] diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren« (Engels in MEW 21, 165). Die Topologie der staatlichen Verhältnisse, d.h. die Topologie
6
, "
'
Ich verwende diesen vagen Begriffabsichtlich, um zunächst den ProduktionsformeneinefJ Platz zu lassen, die nicht als eigenständige Produktionsweisen definiert werden, dann aber auch zur Berücksichtigung der Tatsache, dass jede Produktionsweise viele Fonnen zugelassen hat und zulässt, die miteinander auf dem gleichen Terrain wetteifern.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
Nation und Region
165
der Souveränitätsbeziehtulgen (die nationalen Grenzen), zerteilt unheilbar den Maßstab der Räume in das Nationale, das Lokale und das Globale. Wir nennen regionale Armatur einen Raum für sjc~ in dem die herrschende~ ~assen des lokalen hegemonialen Blocks über eigene ideologische Md ~htIsche Apparate verfUgen, die es ihnen ennöglichen. im lokal~'ll Maßstab emen Teil der sozio-ökonomischen Konflikte zu regulieren. Mehrere regionale ~aturen können sich die gleicheWirtschaftsregion . teilen, Md es kann bestJßunte Teile einer Wirtschaftsregion obne ausgeprägte regionale Annatur geben (man denke Z.B. an die Besonderheit der Bretagne gegenüber dem Pays de Ia Loire). Aber die regionale Annatur unterscheidet sich vor aUem vom Nationalstaat, dem Gebiet, das sich durch die Universalität des Rechts' (ins~ besondere der sozialen Rechte), die Ausschließlichkeit der Wäbnmg und das Monopol der legitimen Gewalt (die Souveränität) auszei,chnet. Hinsichtlich der ökonomischen Aspekte kann sich eine Politik des sozialen Kompromisses dauerhaft nur aufnationaler Stufenleiter stabilisieren, denn nur ~t der Totalität eines Staates kann. die gesellschaftliche Reproduktion wd IDsbesondere das Akkumulationsregime alle Formen der monetären, nicht1l1a:rk:tf()mUgen Kompensationsmechanismen und Transfers (Steue~ Sozialemkommen etc.) ins Spiel bringen. Das ist das Privileg des allgemeinen Äquivalents, das von einem Staat emittiert wird, also des nationalen Geldes: A11e Inhaber eines Einkommens kömien dieses ohne Probleme fiir sich oder fiir die GeseHschaft gegen ein Produkt tauschen, das in einem beliebigen Teil des nationalen Gebiets hergestellt worden ist. Aber das ist auch seine Grenze: Ein vertei1tes Einkommen, das jedoch gegen ein ausländisches Produkt eingetauscht wird, muss fast zur gleichen Zeit sein Gegenstück in einem äquivalenten Export finden - das ist der äußere Zwang. Demgegenüber besteht fiir eine (sub-nationale) Region kein äußerer Zwang. 7 Aus diesem grundlegenden ökonomischen Unterschied zwis·chen dem Nationalen und dem Lokalen ergeben sich offenbar unvermeidbare politische Konsequenzen. Die Kämpfe und Kompromisse können nur auf nationaler Ebene geregelt werden, oder vielmehr können sie auf der Ebene der regionalen Armaturen nur über Garantien der nationalen Ebene geregelt werden. Eine regionale Armatur kann dem Rest der Nation die Bedingungen des lokaJen Kompromisses aufzwingen (in Frankreich z.B. die Weinbauregion des »Midi« und die im Niedergang befindlichen Industrieregionen), aber es handelt sich dann eben um einen nationalen Kompromiss (die Aufrechterhaltung der» Kmtur, des Weinbaus«, die Erhaltung von lndustriebranchen, die vom kapitalisti., Ein sehr wichtiger Punkt. Die »Kaufkraft« einer R.egion hinsicbtlich des nationalen Gesamtprodukts ist seJbstverständlich durch die Summe der Haushaltselnschränkungen (und den Umfimg ihrer Verschuldung) ihrer Mitglieder begrenzt, aber diese Summe kann sich sehr wohl von der »exportfl1higen« Produktion djeser Region unterscheiden, wenn die Transferzablungen zwischen den Regionen ein bestimmtes Ausmaß erreichen. ARGUMENT SONDEIIDAND NEUE FOLGE AS 2SS
166
Nation und Region
sehen Gesichtspunkt unrentabel sind) - zu Lasten des Nationalstaates, der diesen sozialen Kompromiss als »äußeren Zwang« gewähren lässt. Und was ist dann mit den supra-nationalen Räumen für sich? Gibt es supranationale Regulationsfonnen, die in einem internationalen KJassenkonsens wurzeln? Gewiss gibt es die, aber bis vor kurzem handelte es sich dabei um relativ schwache Fonnen, Fonnen impliziter Hegemonie wie der des USDollars als internationaler Leitwährung und von »tugendhaften Konsteilatio~ nem< der Komplementarität zwischen nationalen Akkumulationsregimen (Lipietz 1985). Diese Frage zu verfolgen würde von lUlserem Thema wegführen wir werden später darauf zurückkommen, wenn wir die europ.äische Frage behandeln. Die Beziehungen zwischen den Regionen
Zunächst ist ein grundlegender Punkt zu präzisieren: die Bedeutung der Interregionalitätftir die Definition eben dieser Regionen. Oder anders ausgedrückt: Definiert sich eine Region an sich durch den Typus der Artikulation von sozialen Verhältnissen, der für sie charakteristisch ist (die oben vorgeschlagene Definition), oder durch ihre Beziehung zu anderen Regionen. durch das Verhältnis, das sie den anderen entgegenstellt? Oder noch anders: Jst die diesen Wirtschaftsregionen zugeschriebene »Homogenität« lediglich das Ergebnis der besonderen Geschichte der sozio-ökonomischen Verhältnisse innerhalb dieser Regionen oder ergibt sie sich aus der Stellung der Regionen in einer interregionalen Arbeitsteilung? Kurz: Leitet sich die Interregionalität aus den Regionen ab oder umgekehrt? Die theoretisch entscheidende Frage für das uns hier beschäftigende Problem ist, wie groß der Grad an Autonomie des Raumes für sich ist. der in der jeweiligen Wirtschaftsregion vetvrorzeJt ist. Von der Position des Umfassenden, des Nationalen und Globalen aus gesehen, ist die Möglichkeit einer geseJ1schaftlichen Transfonnation des Lokalen bzw. Regionalen oder Nationalen sehr eingeschränkt. Von der Position der Regionen aus~ die durch ihre historisch entstandenen und »mit externen Beziehungen verknüpften«, inneren sozio-ökonomischen Verhältnisse gekennzeichnet sind, ändert sich offensichtlich aHes. Meine Antwort auf diesen entscheidenden Punkt ist absichtlich zweideutig.lI Es ist vor allem klar, dass es eine räumliche Arbeitsteilung innerhalb der Wirtschaftsregion gibt und dass diese Arbeitsteilung deren Teilräume (StadtJLand etc.) definiert. Es ist weiterhin klar, dass es einefaktische räumli8
Diese Kritik hat Doreen Massey (1978) von Anfang an vorgetragen: »Die Bestimmung der Regionen bei Lipietz (1977) schwankt zwischen einer Bestimmung durch die historische Analyse und einer Bestimmung auf der Grundlage der aktuellen räumlichen Arbeitsteilung.« Siehe ebenfalls Martins (1985).
ARGlil>vfENT SONDERBA.-"";D NEUE FOLGE AS 25~
Nation und Region
167
c~e Arbeitsteilung zwischen den Wirtschaftsregionen gibt. sobald unter ihnen em Artikulationsverbältnis besteht. Diese Arbeitsteilung ist Ausdruck der ~atsache, dass Regionen unterschiedlichen Typs nicht das Gleiche tun und rucht die gleichen Dinge mit anderen austauschen. Die einzige Frage ist, ob der Unterschied zwischen den Regionen (d.h. zwischen den für sie charakteristi.. sehen internen Typen der ArtikuJation) das Resultat unterschiedlicher interner (genealogischer) Kausalitäten ist und sich die Beziehungen zwischen den Regionen daher daraus ergeben, dass bestimmte Gruppen von Akteuren die Möglichkeiten, die diese Unterschiede bieten, wahrnehmen, oder ob umgekehrt diese Verschiedenheiten das Ergebnis der Beziehungen zwischen den Regionen sind. Auf diese präzise Frage antworte ich: heides zugleich, und zwar mit wechselnder Bedeutung, die je nach der spezifischen Topologie der Arbeitsteilung d~n höchstentwickelten Formen des zeitgenössischen Kapitalismus entspricht, die aber der inneren Ursachen eine nichtreduzierbare Bedeutung belässt. Diese BedeUhmg behält immer dann ihren Vorrang, wenn der Rawn mit einem Nationalstaat identifiziert wird. Das kann man auch so fonnu1ieren: Die interregion.ale Teilung des Raumes entwickelt sich in Übereinstimmung mit den vorherrschenden Tendenzen der kapitalistischen Arbeitsteilung, aber auf der Grundlage eines regionalen Musters, das seine inneren ökonomisch~sozialen Charakteristika aus der Vergangenheit iibemonunen hat (das jst die »Unebenheit« oder vielmehr die »Zähf]üssigkeit( des Raumes - vgl. Milton Santos 1977) und das die Möglichkeiten und die Bereitschaft zur Adaption oder zum Widerstand des hegemonialen Blocks.in dieser Region berücksichtigt. Noch einfacher kann man sagen, dass die zwiscbenräumlichen Verhältnisse vom Typ Zentrum-Peripherie Resultate - und keine Ursachen - der soziD-Ökonomischen Merkmale der peripheren Räume sind. Letzte Ursachen müssen in der Dyna.5 mik gesucht werden~ die im Inneren der peripheren Räume wirken, wobei selbstverStändlich die Formen der Kolonisierung als Teil dieser internen Dynamik angesehen werden müssen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Verhältnisse zwischen dem internen Hegemonieblock und der Umwelt seine eigene Dynamik beeinflussen. 9 Aber das wird in konkreteren Untersuchungen deutlicher werden. Es ist Zeit, auf den Fordismus und seine Krise zu sprechen zu kommen.
9
In der Frage der i.nternationalen Beziehungen vertrete ich diese These (1985c). Das Beispiel der Beziehungen zwischen den USA und Mexiko (zwei d~rch ~oloniaJisierung entstandene Räume, die zur gleichen Zeit ihre politische Un!lbhängt~kelt erlangt. haben) ist besonders anschaulich. Die AnaJyse von Octavio Pax (1985), die »von den anneren Ursachen« ausgeht, erscheint mir wesentJich aufscblussfeicher als die ohmnächtige Beschwörung der »Abhängigkeit« bzw. der »DependeozK ARGtTMENT SONDERBAND NEUE FOIßE Aß 2!1S
168
Nation und Region
Die Krise des Fordismus Erinnern wir uns kurz; was der Fordismus war: ein intensives Akkumulationsregime mit Massenkonsmntion bei monopolistischer Regulation, das im »Nordwesten« des Globus von ]950 bis 1970 vorherrschend war. AIs Akkumulationsregime beruht der Fordismus auf einer Arbeitsorganisation, die Taylorismus (Trennung von Konzeption und Ausführung, Parzellierung lUld Standardisierung der Handgriffe) und Mechanisienmg (durch Inkorporation des so systematisierten sozialen Know-hows in das Maschinensystem) verbindet. Das Ergebnis dieses Prozesses ist ein schnelles Wachstum der sichtbaren Produktivität der Arbeit und des fixen KapitaJs pro Kopf. • Die Absatzmärkte fur diese Produktivitätssteigerungen werden einerseits durch ein Anwachsen des Kapitals pro Kopf selbst und andererseits durch ein Wachstum der Reallöhne parallel zu den Produktivitätszuwächsen geschaffen. .. Die Regulation dieses Akkwnnlationsregirnes gründet sich zunächst auf die Regulation des Lohnverhältnisses: Zwingende institutionelle Fonnen (verallgemeinerte TarifVerträge, steigender Mindestlohn, Wohlfahrtsstaat) überwachen das parallele Wachstum der Nachfrage von lohnabhängig Beschäftigten und der kapitalistischen Produktion. Hinzu kommt insbesondere die Konsolidierung eines reinen Kreditgeldes, das zu einem Zwangskurs entsprechend den Kapitalinvestitionen emittiert wird. I>
Die räumliche Dimension des triumphierenden Fordismus
Was sofort ins Auge springt, ist die enge Verbindung zwischen Fordismus und nationalem Raum. Niema1s zuvor war der Raum des Kapitals in einem solchen Maße identisch mit dem nationalen Rahmen, der zugleich der Rahmen für die Gilltigkeit des Kreditgelds mit Zwangskurs und der Rahmen fiir die VerteüWlg von Einkommen ist. die den Wohlfahrtstaat ausmacht. Und tatsächlich erreicht das Verhältnis von Exporten zum Inlandsmnsatz in der Mehrheit der industrialisierten kapitalistischen Länder 1965 seinen historischen Tiefstpunkt. Zudem findet der Austausch hauptsächlich innerhalb von supra-nationalen, kontinentalen Blöcken statt (EWG, USAlKanada). Dieser internationale Handel intensiviert sich tendenziell allenfalls nach diesem Zeitpunkt und schwächt damit ernsthaft die Wirksamkeit der nationalen Regulation. Im »Goldenen Zeitalter« des Fordismus verändert sich tendenziel1 die die regionalen Räume fonnierende interregionale Arbeitsteilung. In. den vorangegangenen Stadien des Kapitalismus waren diese Verhältnisse wesentlich rue räwnliche Dimension der Handelsbeziehungen zwischen Produktionsweisen (»externe Artikulation«) oder zwischen Sektoren der ökonomischen ARGU!l.IENT SONDERBAND NEI}E FOLGE AS 255
Nation und Region
169
Aktivität. Das ist die gleichermaßen auf internationaler Ebene geltende, ldassisehe »räumliche Arbeitsteilung« vom Typ »PrimärgüterlIndustriepro-dukte«. D~ch der Fordismus gestattet eine räumliche Trennung, eine neue Topologie semer Produktionsprozesse gemäß der Dreiteilung: I. Aufgaben des Entwurfs II. Aufgaben der qualifizierten Produktion m. Aufgaben der unqualifizierten Montage. Diese Trennung drückt sich nicht automatisch in einer interregionalen Dimension aus, doch kann sie sich ergeben, wenn die Unternehmen in der alten räumlichen Arbeitsteilung Sammelbecken der Handarbeit, die hinsichtlich Qualifikatj~ on, Kosten. Kampftraditionen differenziert sind, und .in den entsprechenden regionalen Annaturen soziale Kräfte vorfinden, die geeignet sind, eine solche Industrialisierungsstrategie zu unterstützen. Selbstverständlich wird diese »neue interregionale Arbeitsteilung« dann in zwei Jahrzehnten unweigerlich auch die regionalen Annaturen selbst verändern ...
Die Krise des Fordjsmus Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre lässt der Fordismus jedoch Zeichen von Schwäche erkennen. Wesentlich ist, dass die for<listischen FunktionSweisen sinkende Produktivitätszuwächse verursachen, weil die technische Zau;an1ll1ensefzung des Kapitals anwachst. Daraus ergibt sich ein Rückgang der Rentabilität, der die Akkumulationskapazitäten verringert; außerdem erzeugt die Akkumulation inuner weniger Arbeitsplätze. Das führt zu einer Finanzkrise des Wohlfahrtsstaates, die den Rhythmus der Akkumulation noch weiter verlangsamt. Die erste Reaktion der Unternehmen ist, der sinkenden Rentabilität und den steigenden Kosten des Wohlfahrtsstaates entgegenzutreten, indem versucht wird, die »Aktivitäten vom Typ ID« in Wirtschaftsregionen anzusiedeJn. die auBerhalb der nationalen, fordistischen Ges·ellschaftsfonnationen liegen, d.h. nach Süd- und Osteuropa, in die südamerikanische und ostasiatische Dritte Welt. Diese Strategie dehnt die fordistische interregionale Arbeitsteilung aus und ist umso erfolgreicher, als sie sich mit Strategien von lokaIen hegemonialen Blöcken deckt: Das ist die »primitive TayJorisierung« (siehe Lipietz 1985c). Aber diese Strategie beschleunigt nur noch die Internationalisierung der Produktion und der Märkte, indem sie mehr und mehr die nationale monopolistische Regulation paralysiert. Der »äußere Zwang« gerät in der Tat in Widerspruch zu den Prinzipien der monopolistischen Regulation des Lohnverhältnisses. Um wettbewerbsfähig zu sein, müssen die einheimischen Lohnkosten gesenkt werden, doch die damit einhergehenden Verluste auf dem
AROlJMENT SO/';'DERBAND NEUE FOLGE AS 2S5
[TU
Nation und Region
Binnenmarkt können nicht ohne weiteres durch steigende Exporte ausgeglichen werden. In der ersten Konfiguration der Krise (1974-1979) überwiegt noch die Binnenstimulierung der zentralen Märkte durch Kreditschöpfung und ermöglicht einigen »neu industrialisierten Ländern«, eine Form des »peripheren Fordismus« zu erreichen. Aber unter dem scheinbaren Fortbestand der Kredite ändern sich die Dinge, während äußerlich durch die Kreditpolitik alles beim Alten zu bleiben scheint. Der Kapitalismus sucht nach neuen Wegen. Die Verlagerung der einfachen fordistischen Produktionen in Länder mit niedrigen Löhnen und schwacher sozialer Absicherung ist einer dieser Wege. Aber noch wesentlicher 1St, dass sich selbst in den Industrieländern beim Lohnverhältnis zwei große Veränderungstendenzen abzeichnen: Die erste ist regressiver, die zweite potenziell progressiver Art. • Erstens werden die Bedingungen der Reproduktion der Arbeitskraft wieder in/rage gestellt. Während der 'Wachstumsphase hatte die Kopplung von Produktivität und direkten Löhnen die zentrale Rolle gespielt, der Wohlfahrtsstaat nur eine Nebenrolle. Je stärker sich die Bedeutung des Wohlfahrtsstaates entwickelte, indem er den Lohnabhängigen und deren Familien eine Art dauerhaftes Einkommen garantierte, versuchten die Unternehmen, sich der schwer lastenden vertraglichen Ketten zu entledigen, an die die direkten Löhne ihrer Beschäftigten geblmden waren. Der »harte Kern« der Belegschaft (die Stammarbeiterschaft) begann zu schrumpfen, während sich ein Heer von außerregulären, zeitlich befristeten, auf der Basis von Teilzeit Beschäftigten etc. ausbreitete, die sich vorwiegend durch den Sozialstaat lmd nur hin und wieder mit Lohn über Wasser hielten. Eine für jedes Unternehmen profitable Regelung, die jedoch zu Lasten der Gesamtbevölkerung und der Untemehmerscbaft insgesamt geht, die mit noch höheren Pflichtabgaben belastet werden. Außerdem stellte diese Entwicklung den Konsensus des Fordismus noch weiter infrage: Bei den jungen Beschäftigten, die mit dem Eintritt in die Arbeitswelt zu einem Hin und Her zwischen »Gelegenheitsjobs« IDld Sozialhilfe verurteilt waren, verschwanden die letzten Spuren von gesicherter Beschäftigung und beruflicher Identität. • Die zweite, gewiss interessantere Tendenz war die Suche nach neuen Produktivitätsressourcen. Diese wurden im Arbeitsprozess selbst gesucht, und zwar sowohl in den Versprechungen der »technologischen Revolution« durch Elektronik als auch in einer Infragestellung der tayloristischen Prinzipien: Neuzusammensetzung der Aufgaben, individuel1e oder kollektive (mit Hilfe von })Qualitätszirkeln« usw.) Einbindung von Produzenten in die Suche nach Effizienz. Ähnlich wie damals im Falle des Taylorismus sollten sich diese zukunftskeime aber nur in einem günstigen makroökonomischen und geseJlschaftlichen Rah-
ARGUMEJ'.i'T SONDERBM'D l'<'"EUE FOWE AS 2S5
~~~-
1
Nation und Region
1
~en entwickeln können. Dies bewies der monetaristische Schock, allerdings
l
gegenteiligen Sinn. Ende der sIebziger Jahre gibt der hegemoniale soziale Block im Nordwesten ~es ~lo~us die Politik der Stimulation der Binnennacbfrage explizit auf. Die estriktioD der Emission von Kreditgeld und die Iofragestellung der Sozialge~ setz~ebung stürzen diese Wirtschaftsregion in eine Stagnation mit starken KOnjunkturschWankungen. Diese Verknappung des Kredits und der vorhande· nen Absatzmärkte in den »Metropolen« hat katastrophale Folgen ftir die ge~te ehemalige Peripherie, trifft aber insbesondere bestimmte Länder des penpheren Fordismus. . . Alles verläuft so, als würde der hegemoniale Block des Globus, der als Ursache der Krise richtigerweise einen Rückgang der Rentabilität erkannt hat, den Ausweg nur noch in einer technischen Revolution sehen, die von den Fesseln der nationalen monopolistischen Regulation und insbesondere der SOzialgesetzgebung befreit werden muss. . Man muss jedoch wissen, was die »technologische Revolution« wirklich mit ~1Ch bringt. Denn zwischen der Tecbnologie und dem Entwicklungsmodell begen eine Reihe von Gliedern, nämlich die sozialen VerhäJtnisse. Von der Techno1ogie zur technischen Umsetzung: die unmittelbaren Produktionsverhältnisse (Wer entscheidet, wie ist das ArbeitskoUektiv organisiert?); von der Produktion zur Ökonomie: die sozio-ökoncmischen Verhältnisse in ihrer Gesamtheit (Wird es genügend Konsumenten und Investoren geben? Zur Produktion von was? Zur Sicherung welcher Fonn von Vollbeschäftigung?). Anders fonnuliert: Es muss ein neues Akkumulationsregime und eine neue RegulatioDsweise, insbesondere die Regulation des Lobnverbältnisses (oder anderer Produktionsverhältnisse) erfunden werden. Darüber hinaus muss dieses EntwickJungsmodell mit einer neuen intemationalen Konfiguration kompatibel sein. Diese drei Gruppen von Problemen werden wir nun kurz untersuchen. lIl1
J.
t
Drei Weggabelungen/ o Was bringt die Infonnatik mit sich? Kerne so großen Produktivitätszuwächse, gemessen am Einsatz der Maschinen pro Sekunde. Sondern hauptsächlich zwei Vorteile: die Möglichkeit. die Maschinen einer Werkstatt rund um die Uhr zu nutzen. und die Möglichkeit, die Produktionsstättenjlexibel zu machen (Coriat 1984). Einefordistische Produktionsstätte, die auf einer doppelten Spezialisierung von Maschine und Mensch beruht, nutzt die Zeiten nur sehr scblecht: Wartezeiten zwischen zwei Arbeitsgängen, Aufbau von Zwischen1ägem,
10
,.,
171~'
Ich fasse hier die Schlussfolgerungen von Lipietz (l984b) und LeborgneILipietz (1988) zusammen. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
.
172
Nation und Region
mange Abstimmung zwischen Arbeitsstellen ... Die automatische Steuerung der Produktionsstätte ennöglicht einen Sprung nach vorne bei der Verflüssigung des Produktionsprozesses und daher bei der Einsparung von konstantem Kapital. Das ist die große RentabiIitätsressource, die die Infonnatik hier mit sich bringt. Die Einstiegsinvestitionen daftir sind zwar teuer, doch die Maschinen werden in vollem Umfang genutzt. Das ist aber noch nicht alles. Die Elektronik führt vor allem zu flexiblen Maschinensystemen. Seit langer Zeit hat die Automatisienmg in den Fabriken Einzug gehalten, haben die Menschen Maschinen hergestellt, die sich ausschließlich selbst steuern wie die Transportbänder in der Automobilproduktion oder die Presswerke. Doch diese Vorrichtungen konnten nur eine Reihe von Bewegungen ausführen, um immer das gleiche Produkt hervorzubringen. Der Roboter dagegen kann sich mithilfe einer schneUen Umprogrammierung anpassen, kann die Arbeitsmittel wechsem, kann von einer Aufgabe zur anderen übergehen. Die robotisierte Werkstatt kann sich daher einer schwankenden Nachfrage anpassen, zwischen Kleinserien hin- Wld herspringen. Erste Weggabelung: Zwei Entwicklungsrichtungen eröffuen sich fUr die postfordistis,che Reorganisation des Arbeitsprozesses. Die Automatisierung der Steuerung des Produktionsprozesses führt zur Versuchung, die Trennung zwischen der theoretischen Konzeption des Produktionsprozesses und den ausführenden Bewegungen des Kollektivarbeiters noch weiter zu treiben. Die unmittelbaren Produzenten würden dann zu bloßen Lückenfiillem aus Fleisch in einem automatisierten Prozess. Das ist der »neotayloristische« Weg, den größtenteils die USA und einige europäische Fabriken einschlagen. Dagegen kann die Automatisierung eine partielle Requalifizierung des Kollektivarbeiters hervorrufen, wenn das praktische Know-how der unmittelbaren Produzenten in den Automatisierungsprozess selbst in Echtzeit erforderlich ist, ähn1ich wie bei der kontinuier1icben Einstellung technischer Vorrichtungen. Das ist der Weg, den größtenteils Japan und andere europäische Fabriken zu verfolgen scheinen (Aoki 1985). Diese Weg gabelung ist Ort einer gewaltigen gesel1schaft1ichen Schlacht, bei der es darum geht, einen neuen sozialen Kompromiss zwischen der Einbindung der Arbeiter und der Aufteilung neuer Produktivitätszuwäcbse auszuhandeln. Sie wird nicht ohne Konsequenzen hinsichtlich der Organisation der regionalen Netze bleiben (LeborgnelLipietz ] 988). Denn - und das ist eine zweite Weggabelung- man muss auch wissen, wem und wozu die Produktivitäts.zuwächse dienen sollen. Die erste Variante des postfordistischen Modells wird noch mehr fixes Kapital erfordem als der alternde Fordismus. Die ProduktiVitätszuwächse sind für die Profite bestimmt, so dass die Endnachfrage sich nicht ausweiten wird. Die »Flexibilität« der infonnatisierten Prozesse selbst macht die enormen Investitionen rentabel, weil ,eine Abfolge kleiner Produktionsserien möglich wird, die sieb an der segmentierten Nachfrage und der Launenhaftigkeit eines wohlhabenden KundenARGUMENT SONDERBA.,'IID r-.'EUE FOLGE AS 253
l J
M·
atlon und Region
kr .
.
I I
Noch ein wenig Theorie Angesichts einer lokalen, nationalen oder weltweiten Krise des Akkwnula~ ti?nsregimes und/oder der Regulationsweise ist es wichtig ~ versteh~, das~ .die GeseUschaftsfonnation sich nicht in zwei, sondern (mmdestens) In drei Grundhaltungen spaltet, die zur Bildung von gesellschaftlichen Blöcken fiihren können: • die Befürworter der bis zur Krise herrschenden OrdnWlg (der konservative Block), • die Befilrworter einer Veränderung des kapitalistischen Hegemoniesystems (der modernistische Block), AltGUMENT SONDERlMND NEUE FOum AS U,
173
174
:,:
.
;
,
Natiollund RegiOtl
• die Befurworter einer tief greifenden Revolutionienmg der gesellschaftlichen Verhältnisse (der radikale Block), • und im Allgemeinen muss man noch die Anhänger der Rückkehr zn einer mythischen Epoche vor dem in die Krise geratenen »Goldenen Zeitalter« hinzufügen (den reaktionären Block). Diese sehr aHgerneine Typologie wird durch ideologische Stürme und soziale Bewegungen konkrete Wirklichkeit, in denen sich diese vier Haltungen auf manchmal unentwirrbare Weise verbinden. Auß·erdem sind die gesenschaftli~ ehen Klassen, selbst in diese unterschiedlichen Haltungen aufgespalten, unschlüssig, welchen der verschiedenen Wege sie wählen, welchem der verschiedenen sich bildenden und eine Hegemonie anstrebenden Blöcke sie sich anschließ.en sonen. Es wäre leicht, dieses Phänomen der Zersplitterung mit Beispielen aus der aktuellen Politik zu iHustrieren. 11 Uns interessieren hier jedoch mehr ihre räumlichen Dimensionen, ihre Bedeutung für den Raum an sich. Auf regionaler wie auf nationaler Ebene kann es vorkommen, dass die Brutalität der Transfonnationen die Totalität der am alten Block beteiligten Gruppen (Ausbeuter wie Ausgebeutete) gegen die Absichten des Monopolkapitals und des Zentralstaates auflehnen lässt (der Fall des Weinbaus im Languedoc). Der projizierte modernistische Raum scheint frontal auf den bisherigen konkreten, regionalen Raum zu stoßen; die Veränderungen auf juristischer Ebene erscheinen als Plünderung, die neuen Zwischenklassen als Eindringlinge ete. Unter diesen Voraussetzungen nimmt der Kampf zwischen den Klassen eine ganz besondere Gestalt an: Zumindest auf den ersten Blick stellt er die Anhänger des »alten Raumes( denjenigen des >meuen Raumes« entgegen (oder des neuen Entwicklungsmodells ), der als vom »fremden Staat« aufgezwungener wahrgenommen und kategorisch abgelehnt wird. Eine geisterhafte Vorstellung, bei der die gesamte Bevölkerung eines realen, konkreten Raumes gegen einen virtuel1en und abstrakten Raum kämpft. Diese Auseinandersetzungen werfen in den sozialen' Bewegungen sehr schwierige Hegemonieprobleme in dem MaUe auf, als es »Mühelosigkeiten« gibt, die sich scheinbar anbieten. Auf den ersten Blick erscheinen sie in der Tat als unmittelbar »legitim« und »einstimmig«. Legitim, weil Menschen dafür kämpfen, »ein Land zu retten, das sie mit ihren eigenen Händen aufgebaut haben«, oder das Recht verteidigen, »im eigenen Land leben und arbeiten zu können« (usw.). Einstimmig, weil der »Feind« anderswo, fern, fremd, abstrakt 11
Man denke z.B. an das Auseinanderbrechen der alten rooseveltschen Allianz in der Demokratischen Partei im Jahr 1984 zwischen Jackson, Hart und Mondale (die Repräsentanten der wichtigsten EinsteUungen der Parteibasis). Die. erste Runde der Präsidentschaftswahlen im Jahr 1988 brachte keine Lösung dieser Krise (Doukakis steht eher für eine modernistische Variante, die sich von der von Hart unterscheidet, und Jackson hat nach wie vor die RoHe des Radikalen).
ARGUMENT SOl'/"DERBAND NEUE FOLGE AS lS5
Ä Nation u. rlU R egron
ist. So wi,e 'ande ' MonoPOlkapItal ' und sem . StaallSt .' Fall' . . . rersel'tSdi. eser F' emd das (1ßl kö .emes regionalen Kampfes) oder noch besser das multinationale Kapital, einmrte man denken, dass diese Kämpfe automatisch die Gelegenheit bieten,
; ~en, anti-kapitalistiscben gesellschaftlichen Block zu bilden. tio. as Ist mcbt ganz so einfach. Denn der »alte Raum« ist selbst ein ArtikulaDinsrawn von sozialen Verhllltnissen, die Verhältnisse der Ausbeutung sind. ; :~eg1onale. soziale Arma~ (oder der Natio~t) steht tatsächlich ~ter de egemome des konservabven gese\lscl1aftlichen Blocks. Die "Leg1tUD1IlIt« al s Kampfes kann somit lediglich die Legitimierung der Ausbeutung in ihrer ~ Fonn bedeuten, und die "Einstimmigkeit« des Kampfes kann verdecken, in e' der von den alten Ausbeutern gesteuert wird, den Ausbeutern des ~ ~se befindlichen Systems oder sogar deneIl des vorhergegangenen ulanonsregimes. aktiDas sind die typischen Fälle nationalistisch~r oder regional!stischer Reaktiouen, 10 denen sIch radikale und konservatrve oder gar radikale und re-
K~pf
onäre Bestrebungen vermischen, 12
. Aber. es gibt anch den umgekehrten Fall. Angesichts der hetfSChenden icht ;merreglOnalen oder internationalen verhältnisse bat ein EoIWU1'f fiIr einen okalen, regionalen oder nationalen Kompromiss Schwierigkeiten, verwirld zu werden. Er bündelt die radikale Ablehnung der alten Ordnung und die Bestrebungen neuer Eliten. Der Gegensatz zwischen dem prOjIZIerten und dem realen Rawn oimnrt dann die Foint eines fortscbri!dichen Nationalismus oder Regionalismus an, der die »äußere AblJjlngigkeit« als ein
m~~stischen
Hin~enus für den Fortschritt wahrniJnmt.
Theser letzte Fall ist im Allgemeinen ein Beispiel fiIr Situationen,·in deneD '>das.Neue zu entstehen versucht«, während der erste ein BeisPiel ierteDfiIr Situalionen 1St, in denen »das Alte untergeht«. Im entwick1ungsorient Nationalismus in Europa und Lateinamerika in den ftlnziller Jahren vermischte sich so der Versuch, soziale Errungeoschaflen durch den staat abzuSichern. mit der er mehr oder weniger erfolgreichen :ourcItsetzUOg fordistisch regune. In den derzeitigen regiona1istischen Kämpfen gegen die Umstrukturierungen oder fiIr die protektionistische ErlIaltunl! der soztalen »Emmgenschaften« im nationalen Rahmen verbinden sich die Weigerung der Arbeiter, wie Figuren auf einem Schachbrett behandeltschen zu werden, und die konservativen Reaktionen von Funktionären desfordisti haften KompromiSSes (des Staates, der Arbeitgeberverbande oder der Gewerl<sc ). Die libe.
..
~s mdu~Uen
l2
Der Anstieg des islamischen Fundamentalismu, kann vieIfOch alsll1Ueine .radi· len des kal-reaktionäre« Reaktion auf die Entwicklung des primitivoo Taylons ' oder peripheren Fordi>mu' interpretiert werden Er bat u'"'" größere Erfu!g....ssiradikal_modernistischen« Allianzen der vorhergehenden phase (Naswismus ete.) die Modernisiemng und das .Forttcbrittsd-Ietzlen EruIeO als ausländische Aggression haben erscheinen lassen.
176
Nation und Region
ehe Welle, die den »Nordwesten der Erde« in den achtziger Jahren überzieht, vennischt ihrerseits die libertäre Ablehnung der drückenden Formen staatlicher Steuerung des fordistischen Kompromisses mit Projekten einer MultinationalisiefWlg des von sozialer Gesetzgebung befreiten Kapitals. Daran anschließend wird auch die »absurde Polarisierung« verständlich., die derzeit die westliche Linke in den Industrieländem erfasst Wld spaltet. Sie ist gespalten zwischen ihrem Festhalten an den konservativ gewordenen sozialdemokratischen Kompromissen und ihrer Neigung, sich in untergeordneter Position einem neuen modernistischen Block anzuschli·eßen. Der konservative Weg ist definitions gemäß eine Sackgasse, selbst wenn er mittelfristig prakti.. kabel bleibt l3 ökonomisch zur Krise des Fordismus und seiner nationalen Regulationsfonnen verurteilt, poHtisch von den potenziell fortschrittlichen Kräften seit Ende der sechziger Jahre, also bereits vor dem Beginn der ökono~ mischen Krise, zurückgewiesen. Und der modernistische Weg aus der Krise. den die liberale Heilslehre empfiehlt - bietet der wirklich eine Lösung? Das werden wir jetzt kurz untersuchen \.Uld dabei den Schwerpunkt auf die räumli~ che Dimension des Problems legen.
Die Sackgassen des modemistischen Liberalismus und die Frage der Regulationsräume Die Stärke der liberal-modernistischen Strömung liegt vor allem in der mehr oder weniger theoretisch erfassten Schwäche der fordistischen Regulationsweisen, insbesondere des (nationalen) Wohlfahrtsstaates. Zu teuer fiir das Produktionssystem, erzeugt er zudem für seine Sozialliilfeempfanger und anderen Bezugsberechtigten eine Umverteilungsökonomie ohne Produktion. Außerdem sind die bürokratischen Reglementierungen, die zur Steuerung eines parallelen Wachstwns der Massenproduktion ohne größere Innovationen ausreichten, unfähig, die strategischen Linien eines neuen Produktionsmodells ausfindig zu machen und umzusetzen. Eine Erkundung, die vollständige flexibilität erfordert und die größtmögliche Konkurrenz stimuliert, ohne dass man genau weiß, ob die »Flexibilität« nur in der Erprobungsphase notwendig ist oder ob sie einen dauerhaften Aspekt des künftigen Modells darstellt Die Schwäche dieser Strömung liegt in ihrem totalen Schweigen (auch dies ist mehr oder weniger theoretisch begründet) zu allen Fragen~ die die Regulation betreffen. Oder vielmehr übernimmt die internationale Konkurrenz die Rolle der Regulation. Letztlich ist das künftige Akkumulationsregime bereits in die 13
Man kann den Niedergang Großbritanniens und Argentiniens in den Jahren 1950 bis 1970 als Folge der Unfahigkeit ansehen, angesichts des wachsenden Etfolgs des Fordismus ihr Hegemoniesystem zu »modernisieren«. Nebenbei sei bemerkt kann der konservative Weg durchaus die Gestalt von Arbeiterparteien oder sozialdemokratische Parteien annehmen.
177
Nation
~:- »dritten industrieUen Revolution« einges~hrieben, und die individuelums Überure (die U~) werden SICh durch emen Prozess des »Kampfes Die • leOOl« und der natürhchen Selektion ganz von allem :,,",passen us
l:!i . .. ~lDn"che Konsequenz aUS diesem L1berahsm Ist em Umbau der a1ser~Chie der Räume (international, national. lokal), die der F~snrus städrer
~.. ~vor ~uf der nabOllalen .Ebene zentt:'ert ~e.0naJer SchemaI1sch ge~ben
. Währe S1C~ die Ökononne ummttelbarauf mtemal1 Ebene abspIelen, die die. des Sozi:uen« (d.b. die der Atbcitskraft, IOkal- kapttalisttscbe Beschäftigung gebraucht wmi oder auch mcht) auf er Ebene erfolgen würde. »BUm es weniger schematisch zu sagen: Das Lokale bitte auch eine RoDe als be ~tätte« zur .Hervorbringung neuer ~vkräfte. In einem ungenau _stmnn,ten Kontmuum wäre die Regton zugletch der Ort der Selbstorgamsat'\ on des Uber\ebens quer durch di.e Mecbanismen der »bOrgerlichen Geselli (der Familie, der infonneUen ökonomie) bin
.~ »~e~lung
Repr~duktion
~haft«
;lDe~ ~~r
de~
wnr~
~ K~-:e
Weltweiten Konkwrenz. . Diese neue RoDe, die dem Nationalstaat zugeschrieben wird. sleUt endgültig Braucbbarlteit der alten UnterSCheidung zwischen den nationalen und :t=ationalen Fraktionen der herrschenden I(]asseII jufrage: In den , le Im Laufe der filnziger und secbziger Jahre daIIk ihrer nabonalen EntwJcklungsorientierung zu »Fordismen des zentrUIIIs« geworden sind. ven;öbnt er die, die sich fiIr eine RUclcnahme des einsetzen, und die, die die staatliche Förderung fiIr die Industrie aufreChterhaIten woUen." In den »neu industrialisierten Ländern« die von der {)ikIatIIr zu eineDI peripberell Fordi.SOlUS ObergegllllgeD sind, die demo)aatischen Fort\enUJlll'll der A.rt>.:rter und der »inlindischen Bourgeoisien« dazu flJhren, seIIIlißJgte sozialdemokratische !(rjifte an die Regierung kommen, die ihr Land staat modernisieren, jedoch ohne den Sprung zu einenJ WoblJilhrlS zu voUZIehen,. denn .diese Krafte weigern sich. die Bedingungen zu ooter denen ihre Wirtschaft im internationalen Handel wettbewerbsfähiS 1St.
~e
~
WobI~
können
~~
~~:,
14
Ich habe diese in Frankreich einflussreiche Strömung unter . dem Na.men anaJysiert (1984a). Si<,.;rd sobr gut ,,-",eh Alain Mine (19t12) und seme Parole »Weniger Sicherheits..... (fiIr die Lobnabhillglgen), SchtJIzStB8t (fiIr en " dte Industrie geseniiber der iDterII1IIional 1{oJIIol.-zl« Nachdem ich Poul_ in> L;cht der n-ie d.. peripherell Fo"bsnws DOcb mal gelesen hibe, habe ich die be!nObende Klasse di.... Akkumulatioosregimes als .oationale Bourgeoisie« bezeichnet und deren HegemOnie in> Übergang zur DemOkratie
.~aint-SimonismuS«
~
~.
AR.(JUMENT SONDERBANO NEUE fOWE AS 1n
1
L
178
Natioll und Region
Dieses Modell zehrt offensichtlich von bei den Seiten. Auf der theoretisch nicht behandelten internationalen regieren nur Sophismen der Art: Jeder. der es schaffen will, kann auch »wettbewerbsfiihiger« werden, um erfolgreich zu sein. Die illusion eines Weltmarktes, der wie ein Thennostat funktioniert, alle Güter aufuehmen kann, als würde die Wettbewerbsfahigkeit der einen nicht die der anderen einschränken! Dabei haben die Rezession von 1982 und die latente Krise der globalen Verschwdungswirtschaft die Instabilität gezeigt, die aus einer unkontrollierten Kopplung nationaler Ökonomien resultiert. Als das Außenhandelsdefizit der USA 1983 tatsächlich diese RoUe des Thennostats spielte (und die Nachfrage fur den Rest der Welt mitriss), zeigte der Crash von 1987 das Risiko einer Rückkehr zu einer solchen Rezession (Lipietz 1988b). Auf lokaler Ebene gehen die neuen, der »Zivilgesel1schaft« zugewiesenen Aufgaben weit über das hinaus, was eine regionale Annatur ohne politischen Apparat leisten kann. Die Auflösung der Familie und der lokalen Gemein~ schaften sowie die Unfähigkeit der infonnellen Ökonomie, die Aufgaben der beruflichen Bildung gemäß den proklamierten Erfordernissen der technologi~ schen RevoJution wahrzunehmen, lassen eher ein Verschwinden der sozialen Dimension als deren Regeneration auflokaler Ebene vemmten, es sei denn, die Kapazitäten einer lokalen Regulation, also einer lokalen »politische Gesellschaft« werden gestärkt. 16 Daraus folgt, dass die diesem Modell implizite Regulationsweise von den möglichen Weggabelungen - ausgehend von der oben skizzierten »technologischen Revolution« - die regressivste bevorzugt: verschärfte (auch internationale und interregionale ) Trennung zwischen Konzeption und manueUer Ausführung, Verschärfung der gesellschaftlichen Polarisierung zwischen den Nutznießern der Produktivitätszuwächse und denjenigen, die leer ausgehen und zwischen Hauswirtschaft und Gelegenheitsarbeiten pendeln. Daher kann sich die Verlagerung der Regwationsinstanzen von einer räumlichen Ebene zur anderen als entscheidend für die EntwicklWlg des Arbeitsprozesses und des Akkumulationsregimes erweisen' Es gibt jedoch unleugbar auf regionaler wie auf nationaler Ebene gesellschaftliche Blöcke und politische Projekte, die zwar den Freihandel befürworten, gl,eich:zeitig aber zur Meistenmg des tecbnischen Wandels fortschrittliche Kompromisse zwischen Arbeitern und Untemelunensleitungen bevorzugen ood den Anspruch erbeben, bei der lokalen Regelung des Sozialen nach Fonnen zu sucben, die fiir die GeseHscbaft und das Individuum gleicbermaßen vorteilhaft sind (man denke z.B. an den italienischen PCI in der Emi-
analysiert ~ in den siebziger Jahren in Südeuropa und gegenwärtig in Brasilien und Korea (1985b). 16
Ein Ausdruck von Gramsci: Der Begriff »politische Geseilschaft« (societa polttica) bezeichnet die politischen Institutionen des Konfliktmanagements.
ARGUMENT SONDERBAND NEUEFOLOE AS 255
_ _IiIL-~_~_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Nation ul1d Region
179
:-R~Inagna). Aber die Erfolge, die diese modernistischen Blöcke erzielen,
~w~lsen oft ~ Gegen~eil von d~m, ":,as die liberale Ideolo~~ zej~en will.
. . andelt es stch um Räume an stch, die besonders gut orgamSlert smd, über ~ksame interne, nichtmarktfönnige, intensive Regulationsfonnen verfUgen (1n den Worten von LeborgneILipietz 1988 »Systemgebiete«; a;res sytemes; system ~reas) und darüber hinaus einen Protektionismus praktizieren, der ~o WIrksamer ist, als er stillschweigend, »kulturell« ist (wie man heute von behauptet) und si7h als besser ~ignet .erwei~t, sich d~r globalen Konti . enz anzupassen. Nlchtsdestowemger bIetben diese (regtonalen oder na:ona1~) Räume von der globalen ökonomischen Konjunktur abhängig, auf die SIe kernen Einfluss haben. Daher die Rückkehr zum Nationalen, der Rückgriff auf das Nationale als dem gegenwärtig einzig möglichen Raum mitexp1iziter Regulation oder der Ruf nach einer supra-nationalen, weltweiten oder kontinentalen, Regulation (Europa). So führen die ungelösten Probleme des modernistischen Liberalismus ~endenzieH dazu, zwei räumlichen Instanzen neue Bedeutung zu verleihen, die ihre große Zeit hinter sich, aber sicherlich eine neue Jugend vor sich haben wd uns zwingen, me im ersten Teil dieses Beitrags vorgeschlagenen räumlichen ~benen zu verfeinern: die Ebenen des fOderativen Staates und die des multinationalen Blocks. Unter fOderativem Staat verstehen wir hier nicht eine juridische FOIDl des Staats (obwohl diese weiterhin notwendig ist)~ sondem"eine Artikulationsfonn des nationalen Hegemoniesystems. Da der Staat nicht mehr überaß die gleic~en Fonnen makroökonomischer Regulation durchsetzen kann, und dies nicht e~ mehr wünschenswert wäre; gebt es darum, die regionalen Armaturen nut ökonomisch wd sozial stärkeren Regulationsinstmmenten auszustatten und dem Nationalstaat lediglich die Regelung der Außenbeziehungen zu belassen (Hilfen filr Unternehmen und Branchen, Währungspolitik). Ausgehend von einem selbstzentriert~n nationalen Fordismus bedeutet das, dass die nati.onale Gesetzgebung und die nationalen TarifVerträge an Bedeutung verlieren und den regionalen Armaturen eine' größere Flexibilität gelassen wird, für welches Niveau der sozialen Sicherung sie sich entscheiden (typisches Beispiel die USA Ronald Reagans). Ausgehend von einem peripheren Fordismus heißt das, dass gewisse Regionen in der Unterentwicldung belassen werden, während andere sich .flir eine Modernisierung und Bewährung auf dem Weltmarkt wappnen (Brasilien und China könnten sich in dieser Richtung entwickeln). Eber zur anderen Seite der nationalen Stufenleiter neigend. überträgt ein multinationaler Block bestimmte Eigenschaften der makroökonomischen Regelung des Ganzen aufsupra"nationale Instanzen, die Ausdruck von länder~bergreifenden Kompromissen zwischen Kräften s~d, ~e ihrerseits mu~ tl-regionale supra-nationale Allianzen sein können. Dle Bildung der Europäl~ sehen Wirtschaftsgemeinschaft war ein typisches· Beispiel flir die Entstehung
.!r,an
ARGUMBNT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
180
Nation und Region
eines derartigen Blocks. Sie drückt nicht nur die nationale Hegemonie der fordistischen Blöcke in allen ihren Mitgliedsländern aus, sie antizipierte auch gemeinsame Regulationsformen zur Artikulation von Produktionsweisen (die Gemeinsame Agrarpolitik) und von Kompromissen mit ländeTÜbergreifenden Typen spezifischer regionaler Annaturen (die Mittelmeerprogranune). Indessen macht die Krise des Fordismus offensichtlic~ dass die Europäische Gemeinschaft in ganz grundSätzlicher Weise unzureichend ist. Sie ist eine Freihandelszone ohne explizite gemeinsame Sozialpolitik (nur im Vertrag von 1957 werden gemeinsame Bemühungen zur Sicherung eines interregionalen Gleichgewichts für ein »beschleunigtes Wachstum des Lebensstandards« genannt) und ihre Institutionen verurteilen die verschiedenen Mitgliedsnationen dazu, auf die äußeren Zwänge mit einer Politik der ))kompetitiven Stagnation« der einen gegen die anderen zu antworten, was zu einer dauerhaften, allgemeinen Stagnation führt. Keine nationale Politik kann sich diesem eisernen Gesetz entziehen (wofiir die Erfahrung der Sozialisten und Kommunisten in Frankreich von 1981 bis 1983 nur das auffallendste Beispiel ist). 17 Konzertierte Ankurbelungspolitiken oder eine koordinierte Reduzierung der Arbeitszeit scheinen dem gesunden Menschenverstand zwar geboten, aber sie schließen gesellschaftliche Entscbeidungsprozesse über die Bildung eines richtigen hegemonia. Jen Systems, das mit Attributen der Souveränität ausgestattet ist, ein: d.h. praktisch die Bildung einer europäischen Nation, die die Form eines Staatenbundes annehmen könnte. Allerdings zeigt das Beispiel des italienischen oder deutschen Einigungsprozesses, dass eine Nation nicht »auf kaltem Wege« entsteht, ohne innere und äußere Kriege - nicht einmal in dem besonders günstigen Fall einer gemeinsamen Sprache. Dagegen zeigen die Erfahrungen von Österreich-Ungarn oder der Sezessionskriege der Vereinigten Staaten, wie schwach ein Staatenbund ist, wenn er nicht durch ein gemeinsames Hegemonialsystem zementiert wird, auch wenn es regionale Unterschiede aufweist. Deswegen riskieren rein technologische europäische Projekte, wie z.B. das Projekt Eureka, als »Paral1elaktioß« wie im Roman von MusiJ wahrgenommen zu werden. 18
17
111
Siehe Lipietz (19848, 1985c). Man findet immer mehr Analysen zu diesen »unerwünschten gegenteiligen Folgen« (effets pervers) in Begriffen der Spieltheorie (vom Typ »)Gefangenendilemrna«; vgl. z.B. Oudiz 1985). Festzustellen ist, dass die gleichen unerwünscbten gegenteiligen Folgen bei der Konkurrenz um ausländische Investitionen zwischen Regionen auftreten. In Der Mann ohne Eigenschaften versuchen InteUektuelleaus Österreich-Ungarn, der wachsenden Macht des Verbündeten und Rivalen Preußen mit einer »Parallelaktion« entgegenzuwirken. Ihre Hirngespinste gipfeln in einer Kommandogewalt der österre:i~ chischen Annee über den preußischen Kanonenmarkt.
ARGUMENT SONDERBAl'lD NEUE FOLGE AB 255
.---
Nation und Region
]81
tes Anstelle eines Schlusswor he Artikulation - zentriert lic m räu he lic tüm en eig ell Die dem fonfistischen Mod endhaften internationalen tug er in se it m t taa als on um den regulierenden Nati en in regionaleAnnaturen ng ru zie ren ffe Di n ne ter in ell K.?nfiguration und semen nsregime, das diesem Mod tio ula m ku Ak s da e wi ig all re- Ist heute ebenso hint eologischen Strömung entsp id n ale er lib hsc sti ni er od Verentsprach. Die der m 1llokal mit einem in seiner ba glo ar Pa m de f au e di it, isch chende RällDlÜcbke ht, erscheint makroökonom r ru be t taa als on ati N n rte mmtg zu ~twortung reduzie esserungen, die diese Strö rb Ve e Di . siv es gr re l zia könnte, In.stabil und so ationalen Blöcken beitragen lehnt tin ul m d un en nd bü ten aa o abge ~ddung von St Sollten sie deshalb genaus l. bi sta in d M h lic ch re rb smd selbst ze odemisierungsstrategie? M len ka di ra n, ve ati ern alt werden wie im Rahmen einer eht das Problem aufgrond der fehlenden Instst Wie wir ge.sehen haben, en die die institutionalisierten t, itä än er uv So ten m m sti w:ill tanzen einer räumlich be ystents garantieren. Ob man ies on m ge He es ein n re ne rden Kompromisse im In d sozialen Kompromisse we un e pf m Kä n de en eg dl un gt wiio oder nicht, die gr hwohl ist es nicht unbedin eic Gl lt ge re ge e en Eb ler noch auf nationa der Stabilisierung und ol op on im as Qu s da t taa onals sehenswert, da ss de r Nati zialen Innovationen behält. so d un en ch ris sto hi r de g der Verteidigun er gewissen Vorstellung, ein es rf da be n, ere isi äz pr l!m unsere Überlegung zu e aussehen kOnnte. Da es ris K r de s au eg sw Au er rittlich WIe beute ein fortsch bt wird es sich um eine gi en tiv ek rsp Pe n re nä tio keine glaubhaften revolu ldemokratische Kompromiss zia so r de e wi ch nli äh , eln m Kompromissform hand freilich notwendig von diese te eu (h e hr Ja er .ig eiß dr r enmg angesichts der Krise de den Weg tUe eine Radika1isi er ig en rw de ro eb m e rd wü die Art unterschieden). Er enten Wld der Bürger über uz od Pr r de lle ro nt Ko r eh weit wie bahnen, d.h. fiir m und könnte gleichzeitig 80 n, ite be ar d un en leb sie istische und Weise, wie nomie w d staatliche, kapital ko nö are W rch du ng du em möglich die Entfr chaft zurückdrängen. rrs He r de d un ng tu eu sb Au r und patriarchaJe Fonnen de volution« in eine ganz Re he isc og ol hn ec »t die en rd sDerartige Kompromiss,e wü und breiteres AUgemeinwi g un ier fiz ali Qu e er rk stä elbar andere Richtung lenken: Produktionsprozess unmitt am r de on ati er op Ko wd sen; mehr bewusste ten über die ökologischen en Uz od Pr r de lle ro nt Ko er die Beteiligten; stärkere Wandels, .IDsbesondere üb n he isc hn tec s de n ge un Verldirzung sozialen AUSwirk im Sinne einer massiven e hs äc uw tsz itä tiv uk od . Aufteilung der Pr r sozialen Sicherheit de ng ru se es rb Ve r ga er od ung der Arbeitszeit; Beibehalt ) der finanziellen Resten er sw ch au br Ge (in t itä tiv und Steigerung der Produk sparten Gelder könnten ge ein rch du da die ; tes taa n sourcen des Wohlfahrtss vetc.) der BereitsteUung vo ati er op ko , ich ftl ha sc ein eit alternativen Fonnen (gem zu Lasten der Schwarzarb n ne die ng tu eis stl en Di kollektiven Gütern und ng von Frauen. und patriarchaIen Ausbeutu
182
Nation und RegioJ
Es ist klar, dass ein solches Modell, das eine Reterritorialisierung des Ver, hältnisses zwischen Qualifikation und Beschäftigung, zwischen gesellschaftlicher Produktion und gesellschaftlicher Nutzung impliziert, nichtmarktförmige: demokratische Regulationsfonnen erfordert, die sich so weit wie möglich aE der Basis befinden, also regionale sind. Es würde folglich auch (das gilt nicht in umgekehrter Richtung) eine EntwicklWlg hin zu fOderativen Fonnen des Nationalstaates einschließen. 19 Dem Zentral staat bliebe dann die Verantwortung, Mindeststandards für die regionalen Sozialgesetzgebungen festzulegen und für einen allgemeinen Ausgleich zur Finanzierung der Sozialversicbenmg zu sorgen, wn die negativen Folgen der Konkurrenz zwischen den Regionen einzudämmen. Auf internationaler Ebene wie z.B. Europa fonniert sich ein multinationaler Block, der sich auf eine nicht-rezessive makroökononllsche Politik, auf eine Zusammenlegung der wissenschaftlichen und technischen Kapazitäten verständigt und nur solche sozialen Innovationen zulässt, die zu verfolgen fl1r national fortschrittliche Erfahnmgen nützlich sind: Einheit macht stark. Doch eine begründete Skepsis schließt die Möglichkeit aus, dass die verschiedenen Nationen eines Blocks auf Anhieb die gleichen sozialen Kompromisse übemerunen. Wahrscheinlich wäre das nicht einmal zu wünschen: In einem fortschrittlichen Bündnis zwischen Europa und einigen Nationen der Dritten Welt könnten die Europäer eine Verkürzung der Arbeitszeit vorziehen, während die anderen ihre Produktion steigern woUen. Man sollte eher anstreben, dass die institutionellen Fonnen des Blocks ökologische und soziale Fortschritte auch im Alleingang zulassen oder sogar dazu ermutigen (eine Art Optimalitätsprinzip a Ja Pareto), ohne deshalb gleich eine koordinierte fortschrittliche Politik auszuschließen. Vorschläge in dieser Richtung wären: • nach innen eine vollständige Entkoppelung des Sozialisierungsgrades der Einkommen von den Wettbewerbsbedingoogen durch eine grundlegende Reform des Steuersystems;20 • auf internationaler Ebene monetäre und tarifäre Schutzk1auseln, die automatisch die Länder begünstigen, deren Handelsbilanzen sich durch eine interne
19
Erinnern wir uns daran, dass Reagan nicht als Einziger in den USA einen föderativen Diskurs verwendet; das tun auch die »Radikalen« (was nicht dasselbe ist!); auch die modernistischen Befurworter von »Systemgebieten« - wie der Gouverneur von Massachusetts Doukakis - sind fur den Föderalismus. Dagegen fuhrt Margaret Thatcher eine »zentralistische« Schlacht gegen die fortschrittlichen Initiativen einiger lokaler Labour~Gemeinden_
20
Vergessen wir nicht, dass die Einfuhrung und Verallgemeinerung der Mehrwertsteuer von Beginn der Europäischen Gemeinschaft an eine ähnliche Zielsetzung verfolgte. Sie entlastet die Exportpreise, aber betastet die Importpreise.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 25S
183 Nation und Region
Politik der Stärkung der allgemeinen geseBsehaftlicben Nachfrage odor der
Vemngenmg der allgemeinen Arbeitslosigkeit"zu verscluechtern droben~ • auf europäischer Ebene ein Finanzausgleich der Sozialstaaten und die
Festschreibung von sozialstandards. Man kann die Beispiele beliebig erweitern. Möglicherweise erscheinen die Modalitäten sehr technisch. Doch den politischen Willen weiden nur soziale Bewegungen durchsetzen, die se\bsI die nationalen GtcnzeD flberschreiten lU1d auf regionale soziale Erfahrungen zurückgreifen können.
literatur Aoki, M. (1985): Learn.ing by Doing versuS tbe Bounded Rational Controt An Approach to US-Japan Compariso of Industri,aJ Organisation. CEPR-PapeT. University of Stann ford. Ag1i~a. M. (1976): Regu1ation et erises du capitalisme. Paris. . .sche Bourdieu, P. (1980): QuestiOIlS de sociologie. Paris [deutsche Version: SODolo81 Fragen. Frankfurt 11m Main]. . Bayer, RlMistral, 1. (1978, 21983): Accumu\ation. inflation et erise. Paris. Bo~er, R. (Hg.) (1986): Capitalismes fin de siecle. Paris. Conat, B. (1984): La robotique. Paris. Delo~e, R/Andre, eh. (1983): L'Etat et l'economie. Paris. Gamier. lP. (1981): Le loca1" te central et le capital. In: Metropolis. n° 51. . Leborgne, D./Lipietz, A. (1988): L'Bp,res-fordisme ef san espace. In: Les Temps modernes. n° 501.
L~p~etz, A. (1974): Le tribut foneier urbain. Paris.
L~p!etz, A. (1977,21983): Le capital et san espace. Paris.
.
s
Llpietz, A. (1978): Sur Ia questio n rOgiooaIe en Franre In: Recherches ",o.-e el socia/es. n° 11.
L~p~etz, A. (1979): Crise et inflation. pourquoi? Paris.
L~p~etz, A. (] 984): L aud&ee ou l' enlisement. Paris.
.
... .. lIpu,tz, A (19850): Troi. ori.... In: CohieB du GEMDEV. n° 6. Umv. Pans I [deutsch. \lI 1
diesem Band]. " . Lipietz, A (1985b): Miroges et miracles. probleme. de I'industrialisarion danS 10 T..... Monde. Paris. ." . 0 re Lipietz, A. (19850): Reflexion autour d'une fable. Couvertu Orange CEPRJlMAP n 8530. Paris . Lipietz, A. (19·88): La trame, la chaIoe 01 Ia reguJation. Un pour los ..iene" soaaIos. . Couverture Onmge CEPllEMAP 8816. pari. [deutsclt: .. Llpletz, A. (19119); Choisir l'audace. Une altemaßve pout le XXI' SlCcle. Po;;'.. Fed. do MartIOS, P.H. (1985): Estado, espace e regilio. Novos _toS ,""nClS· mv. .
.0
ou~1
~ Ban~J.
.. '6 Pemambuco. Mimeo. Massey' D. (1978): Regionalism. some eurrent I"';'es. In: Capltal & C/afS· Nr. . Mine, A. (1982): L'apres--crise est commencee. Pans. .oatWn ". "" oft ntation? Oudiz, G. (1985): StratOgi.. o!cOlIOmiques euro""""': coordt Oll co 0 .. INSEE n° 8506. Mimeo. Paris. 01iveira, F. de (1997): Egia par una re(li)giäa. Rio de Ja:.o~ro. Pu. O. (1985): Une planete cl quatre ou cinq mondes, pans.
ankfu
Poulant.... N. (1980): Politisclte M.cltt und geseßsclutlllichO K1a...... Fr
MaiD
rtam··
AROl~{ENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS :U~
Nation und Region
184
Santos, M. (1978): Pro uma geografia nova. Sio Piolo. Sartre, J.P. (1960): Critique de la raison dialectique. Paris [deutsche Verision: Kritik der dialektischen Vernunft. Bd. 1: Theorie der geseUschaftlichen Praxis. Reinbek 1967]. Terray, E. (1973): L'idee de nation et les transformations du capitalisme. In: Les Temps modernes. n° 324.
l
ARGUME~l
SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
sse!
Oi~ Frauen - eineumKla»Les hommes contre 18 sex;smfl« oq~i im Oktober 1984 ud lo ~el~g zum eKOn ll t-C ,in $a in ) .« SeXIsmus
(etwa:
. Männer geg
Eine Vorbemerkung
a1lS~wdhlf,
um das ihn l ef ah trh W r. rJe :ll scium Chan von KaptfahslfUlS, hat keinen alr:odeml dtJs ZusDmmtlmplf!l er hi e. iss tn lJl rh Ve r verlJlfJjfen. r soziale sammtlflSleilung mag endig. die Zu J gl ",,:pel« verschiedene di fJr kw er »Se~ em . Dies es notw Liebe.zu tJlwtrlerrm 1'lllJflle. Deshalb tat So a u :: :« ~ '," Beitrags un d die Wahl einzelner Argu • es . VI1lsIt/nd r Stil diesem. unter denen er verfasst wurde. itschl1ji PMUs Ze en Iv ot m te hil al l.t: r er ' de l in 1_ . e ;m Fi. li wurdet in 1 . . _ . - sich um einen Artilre sten. aS$~ng nu nuelte es Seit einigen Monaten . en " se~mfJer er eb tri sd ge . n . io at Artikel SlbJ .Pri er ga m bestimmten lt (s;e wird'n diesem ea em ss In ld n llt Ih ht er be rv ha te Ci ch ner). In chie dieS, e des »&risnnu/Ges l' gesamten Redaktion (Frauen und Mrln es Th e di ft .i h, sc tt l11g fk e,.It::r,~ wegung aus, Es d zwLar mit UmenttJtzt hen alternativen Be eten,nhun isc lJs nz 'rt" vertrm jra r ,u de t:m etlUng fk s in it re ..,(esem Zusa !,g urach ein St e Erhaltung und Ausw handel ,. me '. Org~iaa1iOI1 ~iner DemonsfrQ/lon ß r di ratton m!Jssle von Frauen rn:d sr Rechts fe Sich um 'fie g. DIe Trotzkisten meinlen, die Demon Ahtr~ibtll9g und Empf/I1Ignisie rm lb fre ' "e iJl f1 gf n. Mt./nne auf Ab rden (wie die ßewegu gung setzte eine reine FYrltN_monwe en ~g ge am ns Die Frmwnhewe VerIrs .171 ~mei s »Sex/~~ zu lhrenA1'Ifdngen). n der Theorie ~e tonomte c vo d LA M en eh g sg ~n au e, SI . die Au rstlchl M ei n ~1'liltel ve ner ;;MtJnnergro~« :: :: :; n durch, tJltnlSSesR un d meiner Erfohrung in ei eltigzu hetonen, hz lc le n, Qberg ge rh ve r/i er !fe ht ch ec re hl zu sc ie) . . FJ der emon auen gelte. (und sogar ihre Heg Fr g d un un eg em ew nh dM ue M ra m In w fe em dass meinsame Interessen Mt aus einer spdteren Zelt, Sie wurde au ge um ", le ol tz fro am um eine Die ~s usung des Artikels st ndelte es stch nicht Fc ka e la er hi uc dr ch ge Au . ah en e', ag t fti, gj ;Il n SexismuS« vorgetr wegs ein SpeZialis as ge es in ge ,. ke ne h Ic än ss )}M da m , it etw igen :OtJU.,u Ich mlJchte hfnzuf e zu enachuldigen. M "S~che DiskusSionn!. Deshalh bitte ich. die magere BllJliographi ; hi . "eIRinlStiSche Theorie inweise hifIZUfiigm omy. Nt. 20. Summer oB & e die folgenden H ll Ul ia he lit h ic Po rf in da ies d t ate
~nde,Al'tikeJ
ung, ~e stolz. ~d eg ew rb te ei rb A ne )enenZeiten en gab es noch ei In den achtziger Jabr d es gab neue soziale Bewegungen. In un selbstbewusst war,
I
sche wort »Sextsfassender als das deut
um druck »sexisme« ist tsspezitiscb her:wset~ Der französische Aus wtung von »gegenuber Frauen g:eschlecb ffend« gemet~. In e Bed ie Geschlechter betre terverhlltms&e« ntII.s«, das eher di ist aUgemeiner »d n he sc si zö an »GeschJeoh Fr ~« ha t Im die SpradB'eselUDS en ch ts eu D im h g.]. sic diesem Sinne hat folst wird [Anm,d.H ge d en eh tg ei w er hi ch durchgesetzt. der au
W E AB ERBAND NEUE ro ARGuME.NT SOND
2SS
j
j
j
j
j
j
j
j
j
j
j j
186
Frauen als Klasse
stritten sich die IntellektueUen über das Wesen dieser Bewegungen, ihre Grundlagen, ihre Prinzipien und ihre Zielsetzungen, aber auch über ihre relative Bedeutung. In jenen Zeiten diskutierte man noch über die Legitimität der verschiedenen Kandidaten für die Funktion als Gebrutshelfer der wahren, menschlichen Gescbichte. Damals waren wir noch ganz schön naiv, aber immermn voller Hoffnung, und wir stellten den erstarrten Marxismus infrage; wir wussten noch nicht, dass eine Zeit ohne Marxismus und olme große Aufgaben und Perspektiven kommen würde. Damals, das war gegen Ende der siebziger Jahre. T atsächJich war es bereits ziemlich spät. Unter dem Eindruck des Schocks. den unter anderem (so dachten wir) die Entstehung dieser neuen Bewegungen, wie der des Feminismus, ausgelöst hatte, ftih}ten die Aktivisten der Arbeiterbewegung, die Verteidiger des Marxismus, dass sie in einer Krise steckten. So setzten wir uns »als Männer und/oder als Marxisten« zusammen und dachten über die Praxis (und die Theorie) der Feministinnen nach sowie über eine mögliche Verbindung zwischen dem Feminismus und dem, was wir gekannt hatten, der Arbeiterbewegung (und dem Marxismus). Von diesen Göttern starben viele, die Weiden weinen über sie ... (Apollinaire)
Auf die Gefahr hin,. als leicht gestörter Museumswächter angesehen zu werdell, denke ich trotzdem nach wie vor, dass diese Götter zu denen gehören, die vielleicht eines Abends sterben, aber am nächsten Morgen wieder auferstehen. Und ich bin übeneugt, dass wir in nicht allzu ferner Zeit zu diesen alten, ausrangierten Diskussionen zurückkehren werden: den Diskussionen über die gesellschaftliche Wurzel der politischen Debatten, zur unvermeidlichen Frage der Klassen (an sich, ftir sich usw.) und dem Problem ihrer Interessen und Allianzen. In jenen Zeiten hatten einige sehr isolierte Feministinnen2 mutig die heißesten Eisen angefasst: die Diskussion des gesellschaftHchen Verhältnisses von Männem und Frauen als eines Ausbeutungsverhältnisses; der Bestimmung des SexismusiGeschlechterverhältnisses und der These, dass die Ausgebeuteten in diesem Verhältnis selbstverständlich eine Klasse bilden. Ich gehörte und gehöre immer noch zu den Männem und Marxisten, die diese Begriffsbestimmung bewundern (sie nach zahlreichen Widerständen bewunderten). Ich beteiligte mich an einer »Männergruppe« und arbeitete gleichzeitig weiter in der Gewerkschaftsbewegung mit und bezog mich weiter
2
Es handelte sich insbesondere um CoLette Guillaurnin und einige ihrer Mitstreiterinnen von der Zeitschrift Questio1lS Feministes. Vgl. CoIette Guillaumin, »Pratique du pouvoir et idee de nature: l'appropriation des femrnes«. In: Questions Feministes. n° 2. ARGUMENT 80NDERBAND NEUE i'OLGE AS lSS
Frauen als Klasse
auf den Marxi:us. Doch alt das war nicht ohne 2Ilveroinden. '" 181 man ibm den S e kann »den Marxismus ~'::Wlengkerten miteinander teilnehm eXll'?,US emspnlzt«? Wie kann r zusammengtpoen.. indem eil, wenn die MäDn . Kl man an emer Männ darüber kann ich . h . eme . asse von Ausbeuten> bilde ? U ergruppe Lesseps,' t urteilen!) Wie kann man, fragte sich t Das war. . stm und heterosexue~ sem, ohne KJassenvomo zu begehen? Zeit .eme Debatte, die 1979, also 1l! dem Jahr, als alles zu Ende gIDg..die erlli La Revue d'm Face, Fern,inistCS PariiS Pris onaIen
man
F~ ~c
~
sc~
a:;".,,::::H~
~stions
Di>~Ge
~l~e
~d
emen .. D.lese Debatte war ein Teil der a\\gem UD . d lllternatl US ..... SIOD "ber das .' und sie kristalli U ." Verbtlltnis zwische1l »Mandsm und he hl . sIerte sIch. vor allem tDIl das besoßders provoka\OllSC Konzept des Iledeutun' an dessen (sGb\imtllStenfalls arQbllologlSClle) sc· .echterver bä1·Imsses«, . . . .
~eßIIIUSIIIIISI(
g ,ch hier erinnern möchte.' Die Gescb1ec!ter:em h . soziales Verhältnis
Ich. möchte erinnern kurz an SAJ d en . llilialt. . . des Konzepts »SeXlsmus/Geschlechterverbä1tnis« gesellschaftliches' Wie .'ch ihn verstanden babe. Dies ist zunächst ein er Deckmantel' VerhältnI., em Herrschaft.verhältnis, das unter dem Sl:hafft emes evuJenten biologISchen Unterschieds die Qeschlecht Das: von hier die Rede ist, insbeSondere das »zweite Geschlecht«. . smd mcht zwei biologische Gescblechter oder s zwei Natur«J, die oder sicb bekliJBPfun; das verMJtni zwi",,/1en Mann"":! 1St vielmehr das Ergebnis einer. GesCbW\rte, die die eodelVfjtnIlCf und FnWeI1 Aus zu dem gemachi hat, was Sie smd: }ielrsclL lund an:UW: IUld Ausgebeutete' in diesem VerhältnIS (selbS wenn Qie kOnn erse.ts Ausgebeutete, die Frauen andererseits seID Indi ,:,,). Daher kann das gesellschaftlIche (JeSChIech\en1lfbAlttUS ftlr etD7J!ble . ~duen RollenverkehruDgen beinhalten. . " geseUschaftliche VerbAltnis ist umfasSend, keine bloße verbtndun8 von Paarbeziehungen. Oie Hausarbeit, die deD StraßeleD !SI nur em A:,pekt dieses verhJlitnisses: Der SeXIsmus ben'scht aufder . . ' m den BeIneben zwjschen alten Frauen und aIJeIl MJIPlIe'D. (luiIIauDIU' einen Satz von ober die Arbeiter auf und wendet ihn r.men an: Jede Frau ist Besitmtm der gesanrten Klasse der be.or von einem besonderen Mattn angeeignet wird· Es sich also um e1!'" uskaIIIl Klasse, die eine andere be\leflSCht. {)aber, so wilfde Ich die Form der Familie tief greifend !lOdern. oboe daSs der SelUstn beserttgt I ·
=
• .
~
~enarbeiten
~errscbte, Ml\DIl~
AuS~~
Die~~ F:U~ ;mmt
Marx
~
Unter~in ~, auf~· ~,e
bandeI~
~ ~~
•3 Emmanuelle de Lessep" Que_nmirJislts.•' 7. . .' [ Ich nehme hier meinen Artikel vom Sept""'''' 1980 in porti. p,is. n' 22 ...,d...... . ~'T 8ONDER.BAND NElTE FOI.ß'E AS l:S' ÄRGUMi;
.
188
;
i !
,
Frauen als Klasse
WÜ!de. 5 Genau wie heute die Fonn des paternalistischen FamiIienbetriebs mit »seinen« Arbeitern verschwindet und durch tausend verschiedene juristische Fonnen (Zeitverträge usw.) abgelöst ,"rird, können sich die Vorteile, die die Männer aus der Existenz der Klasse der Frauen beziehen (Sexualität, Hausarbeit~ Kindererziehung ... ), in neuen Fonnen reproduzieren (Wobn~ gemeinschaften, Familien mit einem Elternteil usw.). Schließlich - und hier liegt ein Unterschied zu anderen Klassenverhält~ nissen weist das Geschlechterverhältnis keine klaren Schranken auf: weder quantitative (im Unterschied zum Lohnverhältnis) noch qualitative (im Unterschied zur Sklaverei). Die Zeit der Frauen, ihr Know-how, ihre Aufmerksamkeit gehören den Männern vollständig. Ausbeutung und Unter· drtickung verbinden sich daher unlösbar (Guillaumin spricht von »Aneignung«). Die einzigen Schranken der Verfügung über eine Frau könn,en sich durch den Widerspruch ergeben, der mit der privaten Aneignung einer Frau durch einen bestimmten Mann entsteht, der ihre Aneignung durch andere Männer ausschließt - lUld selbstverständlich durch den individuellen und kollektiven Kleinkrieg der Frauen gegen den Sexismus. Es ist nicht meine Aufgabe, die theoretische Bedeutung dieser Analyse für den Kampf der Frauen zu beurteilen (z.B. in der Familie, gegen den »doppelten Arbeitstag«, gegen die besondere Rolle, die den Frauen in der Lohnarbeit zugewiesen wird usw.). Was die ideo1ogische Bedeutung der VerwendlUlg des Begriffs der Frauen als Klasse angeht, weise ich auf die lebhafte und witzige Verteidigung dieses Konzepts durch Francine Comte hin, die auf dessen »ironische« Verwendung aufmerksam macht: Sie zeigt die analytische Kraft dieses Werkzeugs, das die reale Praxis verständlich macht, und kritisiert den rigiden Gebrauch dieses intellektuellen Apparats. 6 Ich möchte hier versuchen, lediglich zwei Gedanken zu erläutern: den über den Beitrag der feministischen Revolution zum Marxismus und den über die Bedeutung dieser Analyse für ein Mitglied einer Männergruppe. Und ich möchte auf die Grenzen aufmerksam machen, die - so glaube ich - eine etwas plumpe lnterpretation des Konzepts »die Frauen als Klasse« aufweist
5
6
Und deshalb sah ich als Marxist tatsächlich das Geschlecht als ein gnmdlegendes soziales Verhältnis an, das unterschiedliche Gesellschaftsformationen geprägt hat, in denen sich verschiedene Formen der Familie abgelöst haben. Wie die Produktionsweise stellt dieses Verhältnis zwei Klassen einander gegenüber. Es verschränkt sich so mit anderen Produktionsweisen, die diese Individuen als Rollenträger auf andere Weise einander gegenübersteHen. FrancineComte, »Classe de femmes, tseu, tseu«, in: Partis his. n° 14. November ]979. Zur »Komik der Universalien« siehe den schönen Roman von Umberto Eco Der Name der Rose. Es wäre interessant (und einfach) zu zeigen, dass Marx gewiss nichts gegen den Nominalismus von William von Baskerville und auch nichts gegen den von Francine Comte eingewandt hätte. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
Frauen als Klasse
189
Eine radikale Revolution Der junge Marx stützte seine Konzeption der Geschichte (und seine Hoffnung auf die Revolution) auf die Beziehungen, die sich zwischen den Menschen (beider Geschlechter) in der materiellen Produktion ihres Lebens entwickeln. Und wenn er auch später alle seine Bemühungen auf die kapitalistischen Verhältnisse konzentrierte, die unsere Zeit charakterisieren (und in diesem Sinne »herrschende« Verhältnisse sind), so hatte er doch daraufhingewiesen, dass alJ diese Verhältnisse die Beziehung zwischen Männem und Frauen zur Wurzel haben. Was man schnell vergessen wollte. Es ist weniger lange her, da hat der GeschichtswissenschaftIer Femand Braude) mit einem WWlderbaren Buch, in das er sein ganzes Wissen einbringt, ein helles Licht auf die Überlagerung der verschiedenen Ebenen in diesen »Beziehungen in der materiellen Produktion« geworfen.' Die Basis und die Vorgeschichte des Kapitalismus stellt der regelmäßige Warenaustausch dar. Und noch danmter liegt, an seiner Wurzel, der versteckte Teil des Eisbergs: die tägliche materielle »außerökonomische« Produktion - außerökonomisch, weil sie keiner Handelskalkulation unterliegt. Die Last dieser Produktion ruht jedoch, von der Wiege bis zur Bahre, hauptsächlich auf den Schultern der Frauen. Und was filrdie Zeit vom 15. bis zum 18. Jahrhundert gilt, gilt auch für die Anfange der Geschichte und gilt noch heute. »Die unterirdische Wirtschaft« hat immer bestanden und die produktive Klasse dieser Tätigkeiten sind im Wesentlichen die Frauen. Ohne ihre Arbeit gäbe es für den Dienst am Kapital weder den »zentralen Kern« in der Petrochemie noch die »Peripherie« der ausländischen Arbeiter lUld auch nicht die bis zum letzten Knochen ausgebeuteten Bauern der abhängigen Länder. Und die enonnen Unterschiede zwischen den Lebensbedingungen der Frau eines französischen Technikers, der »weißen Witwe« in Tras-os-Montes~ die das Fleisch für die Emigration produziert, oder einer Brasilianerin, die die fast mit Nichts bezahlte Arbeitskraft einer Zuckerplantage immer wieder neu instand setzt, ändern daran nichts. Die materielle Produktion jeglicher menschlichen Existenz wird vor allem von den Frauen geleistet. Doch dieser materielle Aspekt ist nicht der einzige. Die Tatsache, dass eine Mehrheit der Menschheit fiir die Produktion des Lebens aller verantwortlich ist, dabei aber unbeachtet bleibt, scheint mir das ideologische und politische Vorbild für alle anderen Fonnen der Herrschaft und Ausbeutung geliefert zu haben. Es handelt sich um eine derartig internalisierte Wirklichkeit, dass die Frauen im Allgemeinen auf diese ewige Wahrheit aufinerksam machen müssen:
,l t
L
Fernand Braudei, CMlisation materielle, econom;e el capitaJisme. Paris 1979 [deutsch: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhundert. 3 Bände. München 1990]. Man kann allerdings die braudelsche Definition des »Kapitalismus« kritisieren. ARGUMENT 80NDERBA.~D NEUE FOLGE AS 2.5S
190
Frauen als Klasse
Es wird immer so sein, es ist nur natürlich~ dass einige arbeiten, filr die anderen da sind, dass andere das Recht haben, von der/den arbeitenden Klasse/n ZU verlangen, was ihnen als Klasse zusteht (Abgabe, Zins, Steuer, Profit ... ). 8 Deshalb wird die feministische Revolution mit ihrer verstreuten, kapillaren, molekularen, »unterirdischen« Kraft die radikalste aller Revolutionen sein, selbst wenn sie nicht den spektakulären Charakter des Arbeiteraufstands annehmen kann (eben weiJ die Aneignung, deren Opfer die Frauen im Allgemeinen sind, einen diffusen, dauerhaften, unterirdischen Charakter hat). Denn durch sie werden eben die Grundlagen der gesamten Gesellschaft ins Wanken gebracht. Auch hier scheint mir die These des »Sexismus«, die die »Frauen als Klasse« in ihrer Einfachheit, Kompaktheit sieht, die kein Wenn und Aber kennt und nicht ins Einzelne geht, sehr nützlich zu sein. Die differenzierten Überlegungen zur »Frau des großen Kapitalisten« und der ihres Dieners sind zweitrangig. Die Theoretikerinnen können die Verschränkung der Produktionsweisen bestimmen, können zeigen, wie die von einem Oberausbeuter angeeignete Frau von den Brotkrumen der kapitalistischen Ausbeutung profitieren kann. Die Sonderfalle, einige Hunderttausende an der Zahl, die sich aus der Verschränkung von Geschlechterverhältnis und Lohnarbeit ergeben, stellen nicht die Wahrheit infrage, die für zwei Milliarden gilt. Aber diese Wahrheit wird nur dann zu einer materiellen Kraft, wenn diese Milliarden sich ihrer bewusst werden. Dann wird der Kapitalismus nicht mehr auf die Geduld der ausgebeuteten Männer zählen können, die unter sich noch andere haben, an denen sie sich schadlos halten können. »Das gesamte Leben soll anders werden. « In einer Richtung, die die Frauen selbst bestimmen soHen, die sie bereits bestinnnen, mit ihrer passiven, individuellen M Widerstand zu leisten, oder mit ihren offensiven, kollektiven Aktionen. ;
.
Gegen die Produktion der kleinen Kerle Sollen sich die Männer in Erwartung dieser schönen Zukunft damit zufrieden geben, ihre sexistischen Vorrechte zu erhalten «
B
Daher die Ambiva1enz von Filmen wie denen von Mizoguchi (Erzählungen unter dem Regenmond), die die Internalisierung derart überzeugend zeigen, dass sie diese Moral »Jeder an seinem Platz« zu bestätigen scheinen. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOUlE AS 25S
Frauen als Klasse
I
!
I I
It
I I
I I
191
manchmal sogar treffen, wn miteinander darüber zu reden. Da ist Misstrauen berechtigt! Handelt es sich da nicht lUD eine subtile Fonn eines »Männerbundes«, der die sexistische Gegenoffensive vorbereitet? Ausbeuter tun sich schließlich nur zusammen, um auszubeuten. Auch hier scheint mir die These des Sexismus auf paradoxe Weise nützlich ZU sein. Mich persönlich hat sie in gewisser Weise vom schlechten Gewissen befreit Wenn ich ein Chauvi bin, dann nicht deshalb, weil ich ein schlimmer, egoistischer, brutaler, elitärer etc. Typ bin, sondern vor allem deshalb, weil ich so gefonnt bin, dass ich einen bestimmten Platz in einem gesellschaftlichen Verhältnis einnehmen kann, das mich überall umgibt, das umfassender ist als meine BezieblUlgen zu meinen Partnerinnen. Aber dieses gesellschaftliche Verhältnis, aus dem ich zahllose Vorteile beziehe, weil ich auf der Seite der Herrschenden bin, nervt mich andererseits auch, stellt mir Fallen. Es drängt mir eine Rolle auf, die ich aus Gewohnheit lUld Konfonnismus einhalte, oft gegen meine »wohlwollenden Neigungen«. Sal1re hat einmal gesagt, die Männer seien komisch, denn so wie der Kellner den Kellner spielt, so spielen die Männer den Kerl. Das oberste Motiv für Männergroppen? Angesichts der Frauenbewegung fühlten wir lUlS wie Hanswurste, unfahig dazu, den tiefen Graben zwlschen unseren Idealen und unserem Verhalten zu erklären. In meiner Männergruppe (die hauptsächlich eine Gesprächsgruppe war, wie die Feministinnen sagen Würden) wurde mir nach einem Jahr des Redens klar. dass sich die Beziehungen zwischen Männern und Frauen nicht hauptsächlich in der Paarbeziehung zur jeweiligen Partnerin herstellen, sondern vielmehr .geseUschaftlich, allgemein. Man lernt, ein Kerl unter Kerlen zu sein, im Verhältnis zu den Frauen, zu allen Frauen, auf der Straße, in der Arbeit, überall. Und das lernt man in der Familie, in der man aufwächst, aber vor allem in der Schule und in diesem wahrhaften ideologischen Apparat des phallokratischen Staates, der Annee. Apropos Annee. Das ist ein gutes Beispiel für den gesellschaftlichen Mechanismus des Sexismus, für dessen Reproduktion, fiir dessen Verschränkung mit den anderen sozialen Verhältnissen. Sie scheint eme Männergesellschaft zu sein, eine geschlossene Gesellschaft mit ihrer eigenen Hierarchie. Es gibt das Fußvolk und die Vorgesetzten. Dieses AutoritätsverhäItnis funktioniert selbstverständlich nicht allein durch Unterdrückung. Ein ideologischer Kitt ist notwendig, ein Konsens. Ein Konsens gegenüber wem? Der blauen Hügelkette der Vogesen? Den Vietnamesen? In Friedenszeiten, als ich dort war, war es »gegenüber den Weibern«. Wir sind alle Kerle, vom General bis zum einfachen Soldaten. Und der Soldat, der die Absätze nicht knallen lässt, ist nur ein »Weib«. Und wer nicht sehnen läuft, ist nur ein »Weib« (oder ein Schwuler). Und die härtesten Kerle holen sich die Weiber. Kurz, ein ziemlich klassisches Schema. Um die Zustimmung der Unterdrückten zu gewinnen, nutzen die Herrschenden einen Mechanismus : die ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2SS
I
. I
192
Frauen als Klasse
Konkurrenz der Beherrschten untereinander oder gegenüber einem Dritten, einem seinerseits Beherrschten, dem gegenüber die Herrschenden und die Beherrschten scheinbar zusammengehören. Das ist der Trick der »kleinen Weißen« gegenüber den Schwarzen in den USA Die kleinen Weißen, das sind die kleinen Kerle - das zeigt auch die Richtigkeit der Parole: »Frauen und Neger - der gleiche Kampf«!9 Das nennt RudolfBahro »kompensatorische Bedürfnisse«. Knochen, die den Beherrschten hingeworfen werden, damit sie ihre Freiheitswünsche vergessen. Das unmittelbare Interesse der Männer an der Aufrechterhaltung des Geschlechterverhältnisses (zur Kompensierung ihrer Ausbeutung durch andere »Kerle«, die eventuell auch dem biologischen Geschlecht der Frauen angehören können) ist offensichtlich. Welchen historischen Vorteil können jedoch wir. die Männer, von der Emanzipation der Frauen erwarten? Der alte leninistische Politkader würde weise antworten: die Verwirklichung der Einheit des Volkes gegenüber dem Hauptfeind. Das ist zwar sehr richtig. Aber fiir die Männer ist das ein bisschen teuer erkauft. Und die Revolutionen der Völker bleiben nicht lange feministisch. Was ist die Antwort in einer »Männergruppe«? Im Chor: )Wir würden nicht mehr von den anderen Kerlen genervt, wenn wir nicht mehr den Kerl spielten.« Und vor allem hätten wir »schönere« Beziehungen zu den Frauen - und zum soundsovielten Ma1 reden wir dann über das Anmachen, ein Problem, in dem sich die unterschiedlichsten Verhaltensweisen und Motive vennischen. Was sind »schönere Beziehungen«? Gut: Partnerschaftlichkeit, Freundschaft, Liebe ... Aber diese Beziehungen gibt es doch schon! Und die Liebe, ist das nicht genau der Kitt, der die Paare; diese »Privatuntemehmen des Sexismus«, zusammenhält? Die Freuden des Geschlechterverhältnisses Hier erreicht die Theorie des Sexismus ihre Grenzen. Und zwar nicht durch einen inneren Widerspruch. Ganz offensichtlich kann sie die BeziehUngen zwischen Männern und Frauen nicht in ihrer ganzen Komplexität erfassen. Das Ziel der proletarischen Revolution ist (war?) die Abschaffung von Lohnarbeitern und Kapitalisten und nicht die HerstellW1g »schönerer Beziehungen« zwischen ihnen. Das Ziel der feministischen Revolution kann nicht die Abschaffung von Männern sein, sondern ist die Abschaffung von sexistischen
9
Nach dem Titel eines anderen Artikels von Francine Comte vom Dezember 1979 (Partis Pris. n° 15.), der eine Reaktion auf einen Aufrufvon Alain Bihr (Partis Pris. n° 14)war: »Die Frauen eine Klasse! Was rur ein Blödsinn! Warum nicht die Neger als eine Klasse?« Genau, beide Situationen sind ziemlich ähnlich: ein Ausbeutungsverhältnis (Sexismus oder Sklaverei), das hinter einem natürlichen Unterschied (dem biologischen Geschlecht oder der Hautfarbe) versteckt wird. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2SS
Frauen. als Kkß;:·.::::se=------~--------- -----.:1\..lC)~.,.!_---__.; J./-'
Verhältnissen, die Befreiung von Frauen und die Herstellung (oder Entwicklung) anderer Beziehungen zu den Männem, insbesondere anderer »Liebesbeziebungen« (filr die Heterosexuellen). Diese anderen (als sexistischen) Beziehungen zwischen den biologischen Geschlechtern gibt es allerdings schon. Ist das vielleicht der Grund, weswegen die Mehrheit der Frauen lange Zeit den Femimsmus - als Kampf der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter - zurückgewiesen hat? Das·Leben in einem Paar wird nicht unmittelbar oder nicht nur als })häusliche Fron« etfwen. Aber könnten die »kompensierenden Vorteile«, die die Frauen in ihrer privaten Aneignung durch einen Mann erfahren, nicht die besondere Ideologie dieser Art der Ausbeutung sein, ein Opium, das ihnen diese Ausbeutung erträglich erscheinen lässt und dazu führt, dass sie darin sogar einen Vorteil sehen können? Verfolgen wir zunächst die Entwicklung dieser Idee. Es gibt im Geschlechterverhältnis einen Widerspruch zwischen seiner gesellschaftlichen Natur und seiner privaten Verwirklichung. Die Frauen gehören den Männem in dem Sinne, dass eine Frau nichts ist, wenn sie nicht einem einzelnen Mann gehört. Sobald das der Fall ist, wird sie ausgebeutet, aber sie ist dann auch »unter der Haube«. Durch einen Mechanismus, der fiir die Lohnarbeit klassisch ist (lieber ausgeheutet als arbeitslos), kann so die private Aneignung durch einen Mann als ein Vorteil erscheinen. Eine Genossin (die mit Bäuerinnen im Südwesten zusammenarbeitete) machte einmal zur allgemeinen Verblüffimg in einer Diskussion darauf aufmerksam, dass der· Mann .tatsächlich das »kleine Kapital« der Frau ist. Beweis: Ihr Vater hat ihr eine Aussteuer lnitgegeben, damit sie einen Mann findet, und wenn dieser sie sitzen lässt, verliert sie alles. Was sie hat. Auch hier kann man in der Lohnarbeit eine ähnliche illusion finden: Der Unternehmer ist der »Arbeitgeber
194
Frauen als Klasse
Jede Frau kann tatsächlich hoffen, dass sie - wenn sie das Spiel mitmacht - in ihrem privaten Bereich das Geschlechterverhältnis teilweise zu ihrem Vorteil wenden kann. Außerdem erscheint die Familie im Verhältnis zu den anderen gesellschaftlichen Verhältnissen und insbesondere im Verhältnis zur Lohnarbeit als ein Schutz, eine solidarische Bastion. Gegenüber den Unternehmern und dem staat gehören die Männer und Frauen der Arbeiter-, Angestellten- oder Bauernfamilien im Allgemeinen zu den gleichen Klassen. Im täglichen Kampfum die Lebensmittel ist die Solidarität meist stärker als der Antagonismus zwischen den beiden Geschlechterklassen. Aufgrund der Besonderheiten des Geschlechterverhältnisses und der Verschränkung dieses gesellschaftlichen Verhältnisses mit anderen (Verhältnis zwn Staat, zum Kapital) sollte die feministische Bewegung, wenn sie zu einer Bewegung der Mehrheit werden wil1~ aus der Realität des Geschlechterverbältnisses nicht die Taktik »Klasse gegen Klasse« ableiten, Bereits für die Kämpfe der Arbeiterklasse war diese Taktik dunun und katastrophal. Es ist nicht notwendig, dass die feministische Bewegung mechanisch die Irrtümer, die »linken Killderkrankheiten« der Arbeiterbewegung~ wiederholt. Die Bedeutung, die die Frauenbewegung der Analyse ihrer eigenen Erfahrung beigemessen hat, hat sie auch überwiegend davor bewahrt. 10 Die Liebe ist nicht das Opium des Sexismus Die Tatsache, dass die private Aneigmmg der Frau durch einen Mann »das kleinere Übel« darstellt (im Verhältnis zmn gesellschaftlichen Männerchauvinismus). und die Solidarität der Paare gegenüber allen äußeren Schwierigkeiten reichen wohl aus, um zu erklären, dass die Frauen im Allgemeinen ihren Mann nicht als ihren Gegner ansehen. Muss man aber die Bande, die Mann und Frau verbinden und die man Liebe nennt, fiir einen großen Schwinde] halten, fiir »die Seele einer Welt ohne Herz«? Eine schwierige Frage (die der »gefuhlsbetonten Beziehungen« oder des »heterosexuellen Ver1angens«)~ die von den Feministinnen schnell übersprungen wird. Das ist berechtigt, wenn es in der derzeitigen Phase vor al1em darum geht hervorzuheben: »Mein Liebling, du bist auch mein Gegner«. 11 Und doch muss man/frau, wenn das Private politisch ist, dieses Problem angehen, wie Emmanuelle de Lesseps es mutig getan hat. Die Frauen und auch die »Heteros« der Männergruppen müssen sich damit auseinander setzen. Denn gewiss gäbe es ein einfaches Mittel, ein von uns ooervvünschtes Unterdrückungsverhältnis zu brechen: Wir müssten einfach
10
11
Es ist bekannt, dass Thesen wie die von Guillaumin manche Feministinnen zum »radikalen Lesbentum« gefuhrt haben. Francine Comte in Partis Pris n° 14. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AB 255
~-
1 ' .-. ?S!I!G Frauen als Klasse
49 195
jegliche Beziehung zu mlseren Partnerinnen heenden. Auf keinen Fall! Und hoffentlich wird man uns glauben, dass der einzige Grund nicht der ist, dass wir unsere Putzfrauen behalten wollen. Es ist anzuerkennen (und die Männer gehen eher von diesem Punkt aus), dass es andere Beziehungen zwischen Männem und Frauen gibt, die nicht auf den Sexismus reduziert werden können. Diese möchte ich, um mich nicht mit weit hergeholten Wörtern zu belasten, die doch nicht klarer wären, »Liebe« nennen. »Wenn Frauen Männer begehren, dann deshalb, weil ein Mann nicht in seinem ganzen Wesen als Unterdrücker bestimmt werden kann und in der gleichen Weise eine Frau nicht vollständig als Unterdrückte. Die Unterdrückung ist ein Begriff, der nur eine Ebene der Wirklichkeit der menschlichen Verhältnisse berücksichtigt.« (Emmanuelle de Lesseps) Ich lasse ihr die Verantwortung fitr die Schlussfolgenmgen, die sie daraus für die feministische Bewegung gezogen hat: »Für eine feministische Theorie der Geschlechterverhältnisse ist es von entscheidender Bedeutung, zwischen der Ebene der individuellen BeziehWlgen einerseits, auf der sich die Widerspruche (die einzige Hoflhung auf eine geseUschaftliche Veränderung) ausdrücken, und der gesellschaftlichen Darstellung andererseits, der Ebene der Norme~ die die heterosexuellen Beziehungen bestimmen, zu unterscheiden. Die eine kann nicht auf die andere reduziert werden, und in dieser Lücke,. in dieser Differenz Hegt die Möglichkeit für einen Prozess der Bewusstwerdung, fitr eine Revolte, aus dieser Differenz entsteht der Feminismus ... Eine heterosexuelle Frau muss heutzutage notwendig Kompromisse mit den Männern eingeben. SoUten sich jedoch die radikalen Feministinnen dadurch auszeiclmen, dass sie jeglichen Widerspruch ablehnen, die Befriedigung in reinen, harten, glatten Prinzipien ohne Fehler suchen, dann wären sie unfahig, die Realität wahrzunehmen, mit ihr einen Modus vivendi zu finden, diese Realität auszunutzen - unfamg, die Frauen zu repräsentieren, und daher unfähig, ihnen zu helfen.« Ich möchte meinerseits nur die Bedeutung dieses Widerspruchs für einen Mann unterstreichen, im Verhältnis zum Feminismus und zwn Kommunismus. Tatsächlich glaube ich, dass mich das Bewusstsein dieses Widerspruchs (die Tatsache, dass ich das geliebte Wesen unterdrücke) am stärksten für die feministischen Thesen zugänglich gemacht hat. Ich glaube, dass die Männer, wenn sie eines Tages die Hegemonie des Feminismus akzeptieren, dies deshalb tun werden, weil sie .in ihm die Möglichkeit sehen, individuelle und gesellschaftliche Beziehungen (auf der Straße, in der Arbeit) zu den Frauen zu entwickeln, die nicht von vornherein durch Anmache, durch paternalistische oder manipulative Ro1Jen verzerrt sind. Gewiss werden aber die Männer mre Vorrechte nicht freiwillig aufgeben: Nur der Kampf der Frauen wird sie diese neuen Beziehungen entdecken lassen. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2SS
196
Frauen als Klasse
Allgemeiner denke ich allerdings, dass Liebesbeziehungen (natürlich nicht nur heterosexueller Art) se1bst eine anti-kapitalistjsche~ anti-staatliche, anti-elltäre, anti-produktivistische etc. Kraft darstellen: dass sie an sich ein subversives Potential enthalten. »Wir werden nicht jeder fiir sich, sondern ZU zweit ans Ziel gelangen«, sang bereits der surrealistische Konununist Eluard, dessen Sicht des Problems vielleicht etwas begrenzt war ... Daher die Reserven, die zahlreiche Männer gegen die reinen Frauengruppen hatten, die sich später nach und nach in der Bewegung fiir freie Abtreibung und Empfangnisverhütung (MLAC) durchgesetzt haben. Dieser feministische Isolationismus war sicher theoretisch und taktisch gut begrundet. Was das Wesentliche angeht. so bleibe ich jedoch davon überzeugt, dass der Kampf für die Befreiung der Liebesbeziehungen von den Zwängen und Defonnationen, die ihnen die repressiven gesellschaftlichen Verhältnisse aufdrücken, eine gemeinsame Aufgabe für Frauen und Männer sein kann. Aber man kann heute nicht von den Spuren) von den Nonnen absehen, die der PhaHokratismus den Liebesbeziehungen aufgezwungen hat. Die Befreiung dieser Beziehungen kann daher nur unter der »Führung« der Unterdrückten geschehen: der Frauen (und Homosexuellen). »Unter der Führung« in dem Sinne, dass die Unterdrückten den größten Vorteil aus der Abschaffimg dieser Nonnen beziehen und am wirksamsten darauf achten werden~ dass die Befreiung nicht zu einer modernistischen Refonn der bestehenden phallokratisehen Ordnung wird. Schließlich würden also die Männer den Frauen gegenüber im Geschlechterverhältnis mcht nur die Rone der »Kapitalisten« spielen, d.h. nicht nur die Rolle der zu bekämpfenden Ausbeuter. Sie können auch die Rolle von unbeständigen Verbündeten spielen, die von einem Lager zum anderen wechseln, die zögern, ihre unmittelbaren Privilegien zugunsten der Befreiung der Liebesbeziehungen aufzugeben, die RoHe von Verbündeten. die sich nur unter der starken Führung der am elementarsten ausgebeuteten Klasse, der der Frauen,. an dem Kampf beteiligen können. Kurz, sie spielen auch die Rolle der »Kleinbürger«. Da seht ihr, Genossen, wenn man nur kräftig werkelt, kann man den alten Marxismus wieder neu zusammengipsen !
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
Ein soziales Europa cht die Herausforderung nach Maastri gnisvoUen Revisionskonferenz des gerade seine sozialen Konsequenzen Maastricht-Vertrages nähert, steHen sich t hl nicbt alle Probleme von Maastrich als zunehmend negativ heraus. Obwo mechanisch aus der Einheitlichen EuroheIlilhren, so folgt doch ein Großteil letzten fiinf Jahre Anwendung fand. Päischen Akte (BEAl), die während der Maastricht« liest sich so katastrophal, Die Bilanz von »EEA + erste Phase von die Vertragsteile, die die Wirtschaftsdass gelegentlich angenommen wird, eschaffi: - fittschlichen:veise, da abg eits ber n seie en, reff bet on uni ngs und Währu spürbar sind. Berücksichtigt man h noc er imm n nge irku sw Au en ativ die neg aler Probleme, so ist wahrscheinlich, tion rna inte e ahm Zun che erli ärg die zudem in den anderen wichtigen Politikfeldem ht suc bst Sel der n ktio Rea e em sich s das verhandelt wurden (Solidarität mit der durchsetzen wird, die in Ma.astricht en Bekämpfung der globalen ökologisch Dritten Welt, Friedensförderung und s die Krise eines sozialen Europa die Krise). Wir können also vermuten, das gierungen. die den Vertrag während des Basis ist, aufder sich Politiker und Re stehen. Jahres 1996 neu verhandeln, gegenüber
In der Zeit, in der sich die Stunde der veihän
sigkeit Europa: Eine Zone der Massenarbeitslo 12 %) stellt sich die Europäische er (od nen llio Mi ]8 von nd Sta em Mit ein losigkeit dar. Obwohl die Lage in eits Arb der ck Fle r rze wa sch ein als Union lich des Ostens) nicht viel besser ließ sch (ein lt We tten Dri der in und A den US gewissen Grad durch die steigende em ein zu eit igk los eits Arb t dor d wir ist, orbiert Glücklicherweise haben wir uns abs n eite arb eits enh leg Ge zu z den Ten eine solche Entwicklung auch in Japan damit in Europa nicht abgefunden. Da EU gegenüber zurückhaltend blieben und den Ländern Westeuropas, die der en ien), auf wenig Akzeptanz stößt, hab (Schweiz, Österreich und Skandinav Nationalökonomien behalten - zu· diese Länder mehr Kontrolle über illre EU. Die soziale Krise der EU resulmindest während der Zeit außerhalb der nnen einerseits, die noch »sozialdemotiert aus der Dichotomie von sozialen No n Institutionen, die diese Nonnen ale ber a-li ultr its rse ere and und d, sin kratisch« ablehnen. ld, auf dem Länder zu fortwähren~ htfe lac Sch Art e ein EU die ist Tat In der e Recht auf irgendeinen Schutz für ohn sind mt dam ver en rieg lsk nde den Ha richt und die »Konvergenzkriterien« ast Ma nn we , und rkte mä nen Bin ihre it, ihre Zinsraten, Wechselkurse und ihe Fre die e ohn ar sog n, rde we et cht bea
1
Juni 1987 einschaften Nr. L 169 vom 29. Gem en isch opä Eur der att tsbl Am [Amn.d.Übers.J. FOLGE AS ARGUMENT SONDER'SAND NEL"E
l'S
198
Soziales Europ
Haushaltspolitik selbst zu bestimmen. Daraus folgt eine Einkommensausteritäl die als einzige Variable übrig bleibt Jedes Land versucht~ seine Arbeitslosig keit zu exportieren, indem es »wettbewerbsfahiger« ist als sein Nachbar ~ mil dem Ergebnis~ dass die Binnenmärkte schrumpfen und die Arbeitslosigkeit explodiert. An dieser Stene müssen wir einen Einschub zur Makroökonomie der EU machen, wie sie sich aus der Krise des Fordismus ergeben hat (vgL dazu Lipietz 1992). Die Europäische Wirtschafts gemeinschaft (EWG) hatte nämlich keine ernsthaften Probleme mit der Arbeitslosigkeit gekannt, solange die Länder, aus denen sie sich zusammensetzte, einem Entwicklungsmodell folgten, das grosso modo das gleiche war. Das fordistische Modell war in erster Linie durch eine Kombination von tayloristischen Prinzipien der Arbeitsorganisation (strikte Trennung von »Denkern« und »Ausftihrenden«) und rigiden Fonnen vertraglicher Einkommensverhältnisse gekennzeichnet, die regelmäßige Kaufkraftstejgerungen ftir die Lohnarbeiter garantierten (Sozialgesetzgebung, Tarifverhandlungen. Sozialstaat usw.). Dieser Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital geriet Anfang der 70er Jahre an zwei Fronten in die Krise. Einerseits hatte die tayloristische Arbeitsorganisation ihre Rationa1isie~ rungsreserven erschöpft und stellte die Finanzierung von Investitionen unter stärker konfliktuelle Bedingungen. Andererseits führte die übermäßige Intema~ tionalisienmg der Märkte und der Produktionsflüsse zu einer Verschlechterung des Binnenwachstums, da dies nicht durch eine internationale Harmonisierung der Lohnverhältnisse begleitet wurde. In beiden Fällen (Profitabilität und Wettbewerbsfähigkeit) gerät die Rigidität der vertraglichen Einkommens~ verhältnisse unter Druck. Ein »Ausweg« aus der Krise des Fordismus ist daher die Zerstörung dieser rigiden Kompromisse: die berühmte Flexibilisierung. Das war die Methode, der die angelsächsischen Länder, Südeuropa und Frankreich folgten: eine »Brasilianisierung«, die zu einer Art »Neotaylorismus« wird. Glücklicherweise ist dies aber nicht der einzige Ausweg. Andere nationale Kapitalismen suchten nach einem neuen Kompromiss, der auf der )}Mobilisierung menschlicher Ressourcen«, der Mobilisierung der Arbeiter im Kampf um Produktivität und Qualität basiert. Der neue Kompromiss kann auf der Ebene der Unternehmen (wie in Japan) oder auf Branchenebene (wie in Deutschland, Norditalien und allgemein in der Alpenregion) oder auf gesamtgesellschaftlicher Ebene (wie in Skandinavien) ausgehandelt werden. Dies schließt weiterhin (auf jeder dieser drei Ebenen) die Beibehaltung einer bestimmten Rigidität der sozialen Errun~ genschqflen ein, die im Austausch fiir die Einbindung der Arbeitskraft ausgehandelt wurden. Die Lehre der achtziger Jahre war aus kapitalistischer Perspektive (d.h. aus der Perspektive der Wettbewerbsfahigkeit) der Sieg des zweiten Modells gegenüber dem ersten. Allerdings kann das erste Modell in hochflexiblen ARGL"MENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2SS
a
"
Soziales Europa
199
»neotayloristischeo« Regionen durch Spezialisierung in den einfachsten Sektoren überleben. Wir sind somit Zeitzeugen einer »neuen internationalen Arbeits8 tei1ung« zwischen einem hoch qualifizierten Zentrum mit eher rigiden ArbeitsVerträgen und hohen Löhnen und einer Peripherie, die mehr und mehr flexibel Wird. Diese neue Arbeitsteihmg wird gerade in Europa etabliert - entlang einer Achse, die sich vom Nordosten bis zum Südwesten~ von Skandinavien bis nach Irland und Portugal erstreckt (vgl. Lipietz 1996). Die Koexistenz der beiden Modelle innerhalb einer einzigen FreihandelsZOne ist jedoch durch die Konkurrenz gef8hrdet, die die flexibleren Ländern gegenüber den eher »rigiden« Länderri ausüben wird. Das skandinavische Moden (gelegentlich in Würdigung des Automobilwerks von Volvo - das rnittlelWeile geschlossen wurde - »Kalmarismus« genannt), das auf nationalen Kompromissen beruhte, kann daher nicht länger verfolgt werden und verkommt zu einem Moden, in dem die Kompromisse nur in den wettbewerbsstärksten Sektoren ausgehandelt werden können, Eine Ebene weiter unten wiederum gleitet das deutsche Modell- wie in Japan - mehr und mehr hin zu Verhandlungen auf der Untemehmensebene (Abbildung 1). ~
/
/ ' Auszuhandelnde
RigidJIl:Jt
Abbildung 1 Die Struktur von Zentrum und Peripherie in Europa
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
200
!
" "
"
Soziales Europa
Ausschließlich die Regionen an den beiden Polen der neuen . ,n vvt:uen we' ewer s ug ei eo. Entweder diejenigen~ die zynischerweise einen Grad an Flexibilisienmg gewählt habet\ der an die Dritte Welt erinnert (Portugal), oder diejenigen, die ihre Wettbewerbstahigkeit auf hochqualifizierte Arbeitskräfte gründen, deren Einbindung durch Aushandlung gewährleistet wird (Westdeutschland, Norditalien). »Gemischte« Länder (wie ItaHen mit seinem deutlichen Nord/Süd-GefaJ1e) werden zu Brüchen in ihren nationalen SoziaJverfassungen gezwungen. Regionen, die »zwischen allen Stühlen sitzen«, wie Spanien, Ostdeutschland und Frankreich, erleben höhere Arbeitslosenquoten, und das wird auch weiter so bleiben. Nach einem Bericht der OFCE und des CEPll, zwei der renommiertesten Forschungszentren im Bereich der internationalen Ökonomie in Frankreich. wird die Arbeitslosigkeit im Jahre 2000 folgende Höhen erreichen (nach den Steigenmgen, die zyklisch der gegenwärtigen StabJtlation folgen werden): in Portugal und Westdeutsch~ land 8 %. in Frankreich 14 %, in Spanien 15 % und in Ostdeutschland 16,5 % (OFCE/CEPII 1994). Al1erdings wäre die Lage für alle Länder, also auch für die bestplatzierten, noch viel ernster, wenn sie alle gemeinsam die Stundenlöhne anheben würden. Der OFCE/CEPlI-Bericht empfiehlt eine koordinierte Kaufkraftsteigerung für die Lohnarbeiterschaft:. Doch dieser einfache keynesianische Effekt könnte durch eine Arbeitszeitpolitik gesteigert werden (koordinierte Verkürzung der Arbeitszeit in Kombination mit einer Anhebung der Stundenlöhne) . Angesichts dieser Tragödie haben die politischen Kräfte langsamer reagiert als die Finanzmärkte. In der Einschätzung, dass keine Regienmg entschlossen eine »Brasilianisienmg« versuchen wird, spekulierten die Märkte in Frankreich, Großbritannien, Ita1ien und Spanien auf die Unmöglichkeit des Festhaltens an den Konvergenzkriterien und machten im Juli 1993 das europäische Währungssystem zunichte, den Eckpfeiler des Maastricht-Vertrages. Großbritannien ergriff die Gelegenheit, seine monetäre Unabhängigkeit wiederzuerlangen und erlebt gerade eine kräftige Erholung (obwohl diese zwangsläufig noch begrenzt bleibt), , In der Konsequenz waren die politischen Kräfte, die in Frankreich rückhaltlos fiir Maastricht eintraten, gezwungen, eine ungezügelte Flexibilisierung zu verteidigen. Das war eindeutig während der Balladur-Regierung (1993-95) der Fall, die mit dem Contrat d 'Insertion Professionelle den Arbeitgebern Techniker auf der Basis »Abitur + zwei Jahre« zunl Preis eines brasiJianischen Technikers (oder eines südkoreanischen Arbeiters) anbieten wollte: 4 US-Dollar die Stunde. Dies trifft rucht mehr fiir den ehemaligen Vorsitzenden der Sozialistischen Partei (PS) Michel Rocard zu, der heute einsieht, dass die Unabhängigkeit fiir die europäischen ZentraJbanken »zwanzig Jahre Leid« bringen würde. Doch als die Sozialistische Partei die Regierung stellte, verteidigte er verbissen
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2S~
Soziales Europa
201
(Flexibilisienmg der Lohnverhältnisse und höheres Re~teneintnttsalterj. Auf der anderen Seite stellten die Aktivisten gegen Maastricht 1992 keine einheitliche und kohärente Alternative dar. Selbst wenn wir das »Nein der Rechten«, die sich selbst nochmal in Liberale (Oe Villiers) und in Populisten (Le Pen) teilen, beiseite lassen, so sind diejenigen, die sich Maastricht im Namen des mensch1ichen Fortschritts entgegensteHen. zwischen zwei Strategien zerrissen. Einerseits lehnen die Kommunistische Partei (peF) und die Bürgerbewe~ gung (die sich von der PS abspaltete) die eigentliche Idee der EU ab und preisen die Rückkehr zur nationalen Wirtschafts- lwd Sozialpolitik. Auf der anderen Seite lobpreisen die Grünen, ein Teil der extremen Linken und einige Dissidenten der PCF, deren Vertreter Anfang 1994 alle einen Aufruf filr eine »Alternative Europäische Union« unterzeichneten, die Bemühungen um eine Vertiefung in Richtung eines ökologischen und sozial·en Europas, das sich zur Solidarität mit dem Süden bekennt und sich fi:ir den Osten öffuet. Ich will hier mcht näher auf die Gründe eingehen, warum mir die erste Strategie als ein Nachhutgefecht erscheint, das höchstwahrscheinlich in kürzester Zeit verloren sein wird (die ökonomische Integration ist zu weit entwickelt). Sie wäre auch langfristig WlgüDstig, selbst wenn sie sich heute durchsetzen könnte. Ein starkes Europa, das in Solidarität mit seiner Peripherie handelt, würde uns hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit, Ökologie und Frieden schneUer voranbringen als ein geteiltes Europa. Allerdings müssen wir noch einmal die Idee eines »sozialen Europas« in konkrete Begriffe fassen. Das soziale Europa heute Der Ausdruck })soziales Europa« (oder »europäischer Sozialraum«) impliziert die 1nstitution von gemeinsamen Grundregeln, koordinierten nationalen Politiken oder gar unmittelbarer Politik auf der EU-Ebene. um die sozialen Bedingungen der Europäer zu verbessern. Die erste Kategorie von Maßnahmen (die Institution gemeinsamer Grundregeln) ist wahrscheinlich die effektivste, wie wir gerade an den perversen Wirkungen wilder Konkurrenz (»Sozialdumping«) seben können, die sich seit langem in Massenarbeitslosigkeit in Europa umsetzt. An diesem Punkt steben sich auch diejenigen innerhalb der »Linken«, die eine Rückkehr zur Nation vorschlagen, und die Anhänger einer »alternativen Europäischen Union« gegenüber: SoUte man für die Stärkung einer gemein~ samen Sozialgesetzgebung kämpfen? Sehen wir WlS zunächst das Erreichte an - denn das gibt es auch. Wichtige Gesetze wurden hinsichtlich der Bewegtmgsfreiheit der Arbeiter, der Koordinienmg der Sozial systeme für Arbeitsmigranten und des Gesundheits- und Arbeitsschutzes am Arbeitsplatz erlassen. Dies ist vor allem für Arbeiter des ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2SS
202
Soziales Europa
südlichen Europas von Vorteil. Umstrittener ist da schon die Gesetzgebung zur Gleichstelhrng von Mann ood Frau. Obwohl diese sind sie doch Frauen, die bereits geschützt rauen, die von der Nachtarbeit befreit sind oder die einen Rentenausgleich für Kinderbetreuungszeiten erhalten). Diese Sozialgesetzgebung erreichte ihren Höhepunkt in der SoziaJcharta (1989), die der Gruppe der Grünen im Europäischen Parlament geeignet erschien, Mindeststandards (die für die ännsten Länder wie Portugal keineswegs lächerlich sind) durchzuset~ zen, was ihr einige Kritik einbrachte. Und in der Tat garantiert die europäische Sozialgesetzgebung lediglich das, was von der großen Mehrheit der Europäer als absolutes Minimwn angesehen wird. Der zweite wichtige Aspekt ist der Europäische Sozialfonds, der während der europäischen Legislaturperiode zwischen 1989-94 etwa 150 Milliarden FF (oder 50 MiHiarden DM) an 17 Millionen Menschen vergab, insbesondere für die Ausbildung junger Menschen und für Langzeitarbeitslose. Wenn man die Ausgaben der RegionaJfonds hinzunimmt, die die am härtesten von der Krise betroffenen Regionen unterstützen,. so haben wir hier die Anfllnge einer originären EU-weiten Politik der sozialen Solidarität, die nur zu einem »sozialen Europa« führen krulll. Die Verwendung von EUwFonds durch nationale und regionale Verwaltungen wird häufig kritisiert, und die Kommission in Brüssel musste gegen einige Missbräuche protestieren. Unglücklicherweise wurde diese Entwicklung einer EU-Solidarität durch den Maastricht-Vertrag eindeutig gekappt. Aus Angst davor, Europas engen finanziellen Rahmen offen zu legen, lehnte der Europäische Rat das »Delors IIp Paket« ab, das eine Schätzung der Kosten für die darin enthaltenen Vorschl.äge enthielt. Am wichtigsten ist, dass der Maastricbt-Vertrag restlos jeglichen Kampf gegen »Sozialdumping« von der europäischen Agenda eliminiert hat. Die Einkommens- und Gewerkschaftgesetzgebung wurden explizit von jeder europäischen Regulierung ausgenommen. Und - was noch schlimmer ist - jede Entscheidung über soziale und finanziel1e Initiativen zur SchaffUng von Arbeitsplätzen muss einstimmig erfolgen (wobei Großbritannien das Recht auf eine SondersteUung erhielt). Folglich behält jedes Land das Recht, mittels Senkung der Arbeitskosten und der Sozialausgaben zu konkurrieren. Mutatis mutandis wirft uns diese Lücke in den Spielregeln zurück in die Situation des Konkurrenzkapitalismus des 19. Jahrhunderts, also in Zeiten, a1s noch keine nationalen Tarifvereinbarungen entwicke1t waren. Kurz gesagt wird Sozialdumping zur Regel und gemeinsame Grundregeln werden zur Ausnahme.
ARGUMENT SONDERBAND NEL'E FOLGE AS 255
SOziales Europa
203
In dem oben angeführten Bericht bieten uns die Experten dei OFeE und·des
f
I F
I
CEPII einen Einblick in das, was im Bereich des Möglichen läge. Zunächst schließen sie Maßnahmen zur Reduzierung der Arbeitskosten aus. Denn es geht schon aus der Definition hervor, dass - solche Maßnahmen in europäischem Maßstab ergriffen - dies die relative Wettbewerbstahigkeit keines der betroffenen Länder verbessern, sondern nur die Depression vertiefen würde. Andererseits hätte eine 10 %ige Abwertung aller EU-Währungen gegenüber den sich neu industrialisierenden Ländern (NIes) insgesamt nur minimale Auswirkungen (eine Reduktion der Arbeitslosigkeit um 0,2 %}, wenn es auch in bestimmten Sektoren (Textil) größere Effekte brächte. Eine Refonn der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme ist da schon interessanter: eine nur auf die Treibhausgase angewendete Öko-Steller zur Senkung der Arbeitgeberbeiträge würde die Arbeitslosigkeit tUn 0,7 eines Prozentpunktes reduzieren. 2 Des Weiteren schlagen sie eine keynesianische Initiative zur wirtschaftlichen Erholung vor: Reduzierung der kurzfiistigen Zmsrate auf 0 % (wie in den 60er und 70er Jahren), eine Abwertung aller EU-Währungen um 10 %, Reduzierung der Arbeitgeberbeiträge und der Steuern auf private Haushalte. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Dieses »kooperative Erholungsprogramm« würde das Bruttoinlandsprodukt in Europa in drei Jahren um 5,.7 % erhöhen, und das ohne Steigerung öffentlicher Defizite. Eine Rückkehr zum Wachstwn ist also möglich - unter der Bedingung, dass die Konvergenzkriterien von Maastricht verletzt und die Zentralbanken gezwungen werden, sich der verfolgten Sozialpolitik unterzuordnen. Wenn wir wissen, dass die Deutsche Bundesbank: nicht davor zurückschreckte, den Anschluß Ostdeutschlands im Namen ihrer geheiligten Unabhängigkeit und ihres monetaristischen Dogmas zu sabotieren, wenn wir wissen, dass die neue »Unabhängige« Banque de France nun auf ein~r Linie mit der Deutschen Bundesbank. liegt, dann wird klar~ dass die vorgeschlagene Politik nicht anwendbar ist, ohne dass der Ver~ trag von Maastricht auf radikale Art und Weise überprüft wird. Das »Weißbuch«, das auf dem Gipfel in Korfu debattiert wurde, venneidet gewissenhaft, dies zu tun. Es wurde vielmehr ein bescheidenes Erholungsprogramm vorgeschlagen, das eine Handvoll von Großprojekten (von denen einige, wie das einer Autobahn durch die Pyrenäen, ökologisch höchst zweifelhaft sind) wnfasst, deren Finanzierung auf eine Art und Weise zusammengeflickt ist, die die monetaristischen Regeln des Vertrags umgeht. Die sich ergebenden Beschäftigungseffekte sind lächerlich.
2
Ein »Punkt« ist ein Prozentsatz bezogen auf die Gesamtanzahl der Arbeitsplätze, nicht auf die Gesamtanzahl der Arbeitslosen. ARGUMENT SONDERBA.T·m NEUE FOLGE AS 2~S
204
Soziales Europa
Allerdings würde sogar der in der OFCE/CEPII-Studie untersuchte massive AufschWlUlg die Beschäftigung nur um 2,5 Prozentpunkte erhöhen. Das ist zwar beträchtlich. bei einem Arbeitslosenstand von 12 % aber äußerst unzureichend. Daher wendet sich der Bericht zw-angsläufig der Lösung der Ökologen zu Arbeitszeitverkürzung. 3 ParadoxeIWeise muss eine solche Politik nicht auf europäischer Ebene koordiniert werden, solange sie ohne steigende Arbeitskosten und ohne allzu große Neuinvestitionen umgesetzt wird. Der Bericht untersucht die Auswirkun· gen einer allgemeinen Verkürzung der Arbeitsstunden um 10 %. Die Lohnempfanger erhalten als Ausgleich nur die eingesparten Sozialabgaben erstattet (was sich in einen Anstieg des Stundenlohns um 2,5 % umsetzt, also einem Rückgang des monatlichen Entgelts um 7,5 % entspricht). Zugleich werden die vorhandenen Anlagen intensiver genutzt (30 Stunden in vier Tagen fiir die Menschen, sechs Tage fiir die Maschinen). Wenn eine solche Politik (fünf Jahre lang)europaweit angewendet würde, so würde das im fiinften Jahr die Arbeitslosigkeit in ganz Europa um 5,4 Prozentpunkte verringern, in Frankreich sogar um 6 Prozentpunkte. Wenn Frankreich diese Politik gar all eine verfo1gte, was ungeheure Wettbewerbsvorteile einbrächte, so würde die Arbeitslosigkeit sogar um 6,6 Punkte fallen. Das Problem ist jedoch, dass eine solch geringe Kompensation hinsichtlich der Einkommensverluste für Lohnempfänger inakzeptabel ist - selbst wenn die Arbeitslosigkeit halbiert würde. Europa bietet den Vorteil, beträchtliche Einkommenskompensationen zu ermöglichen. Wenn eine solche Kompensation (d.h. ein Anstieg der Stundenlöhne bei gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzwlg) auf europäischer Ebene koordiniert würde, so gäbe es keine Beunruhigung vor dem Wettbewerb der anderen europäischen Länder. Allerdings müsste auch hier der WÜTgegriffvon Ma.astricht gebrochen werden, da die Vertragsregeln eine Koordination der Einkommen ausschließen. Eine andere Methode zur Steigerung der Einkommenskompensation (Stundenlöhne) ohne Preisgabe der Wettbewerbsfahigkeit oder der Fähigkeit der Unternehmen zur Selbstfinanzienmg (zugunsten der Beschäftigungsverhältnisse) besteht in einer veränderten VerteiJung der Kapitaleinkommen zugunsten von reinvestierten Unternebmensprofiten und zu Lasten von Einkünften aus Grundbesitz und Geldvermögen (d.h. die Umvertei1ung des Profits zwischen produktivem und unproduktivem Kapital). Die Einheitliche Europäische Akte hat durch die Ermöglichung freier Kapitalbewegungzu einer» Wiederauferstehung von Rentiers« geführt, da dies nicht von einer hannonisierenden
] Unter Arbeitszeitverkürzung wird hier eine Reduzierung der Arbeitszeit verstanden. die gräßer als die Differenz zwischen der Wachstumsrate und dem Produktivitätswachstum ist, also die Verteilung der ökonomisch gegebenen Arbeitsstunden auf eine größere Anzahl von Menschen. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE Al> 255
Soziales Europa
205
Besteuerung der Einkommen aus Finanzanlagen begleitet wurde. Dieses »Steuerdumping« hat zu einer immer geringer werdenden Besteuerung von RentierEinkommen geführt, die aufgnmd steigender Realzinsraten (mit dem Ziel, Kapitalflüsse anzuziehen, was nur ein künstlicher Weg der Konsolidierung nationaler Währungen ist) immer größer werden. Auch hier läge ein möglicher Vorzug von Europa (fiskalische Hannonisierung) darin, eine Verbesserung der Beschäftigungssituation durch eine Refonn zu erreichen. die die Abgaben, die auf die Arbeit (einschließlich der Sozialabgaben) lastet, reduziert. Ein Weg, dies zu erreichen, wäre die einheitliche Besteuerung von Kapital an der Quelle. Es ist zwar ein letzter Ausweg (die einheitliche Steuer berücksichtigt nicht die Gesamthöhe individueller Einkommen), doch ist es besser als nichts. Deutschland akzeptierte zwar diesen Vorschlag (in Höhe von 15 %), als die EEA beschlossen wurde, entzog sich dieser Verpflichtung aber, als es mit dem »Finanzdumping« Luxemburgs konfrontiert wurde. Es kehrte jedoch zu seiner ursprünglichen Haltung zurück, da es die Wiedervereinigung finanzieren musste. Ein anderer Weg bestünde darin, so viel von den Sozialabgaben wie möglich auf die Mehrwertsteuer umzulegen. Diese Maßnahme ist für sich genommen progressiv (wegen ihrer gleichmäßigen Durchdringung erlegt sie - durch Veränderung der Bemessungsgrundlage - jeder Wertschöpfung eine Steuerlast aufund begünstigt dadurch arbeitsintensive Industrien).4 Sie hat darüber hinaus den Vorteil einer »Entkoppltmg« des Niveaus der sozialen Sicherung in Europa von der Wettbewerbsftihigkeit gegenüber Drittländern, da die MWSt fiir Exporte abzugsfähig ist und tUr Importe voll erhoben wird. Auch bier änderte Deutschland, das anfanglic:h gegen eine Erhöhung. der MWSt war~ seine Position, um seine Wiedervereinigung zu finanzieren. Erinnern wir uns schließlich daran, dass es - ausgehend von Fordenmgen orthodoxer Ökonomen wie Jacques Dreze und Edmond Malinvaud (Dreze u.a. 1994) - einen Konsens darüber gibt, die vorgesehene Öko-Steuer auf Energie und Kohlenwasserstoffgase (mit WirkwIg gegen Atomkraft und Treibhausgase) einen Teil der Sozialabgaben zu ersetzen. Die andere Hälfte des Problems bleibt aber weiterhin zu lösen. Ein »Erbo~ lungsprogramm« würde, wie wir gesehen haben, die Beschäftigung um 2,5 Prozentpunkte steigern. Notwendig wäre dann aber immer noch, sie in eine ökologisch nachhaltige Richtung zu lenken. Was können wir in diesem ver~ bleibenden Punkt tun? Die Gruppe der GrOßen im Europäischen Parlament hat hier einen bedeutenden Vorschlag eingebracht (auf Initiative von Aline Ar-
4
Die Tatsache, dass Haushalte mit niedrigen Einkommen einen größeren Anteil ihres Einkommens für den laufenden Konsum ausgeben, ist. hier irrelevant. Mit dem Verbraucherpreis zahlt der Verbraucher die MWSt, die Sozial.abgaben, den Lohn, die Profite und sogar die Steuern ailf den Profit der Hersteller. ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 25S
206
Soziales Europa
chimbaud, der Präsidentin des Reseau pour une Economie Alternative et Solidaire - Netzwerk für eine alternative und solidarische Wirtschaft), der arn 6. Mai 1994 zur Verabschiedung einer Resolution im Europäischen Parlament geführt hat~ die die EntwickJWlg eines dritten Sektors mit sozialer und ökologischer Nützlichkeit fordert, der aus zahlreichen Quellen finanziert werden soll - einschließlich von Zuschüssen der EU Wld lokalen Irivestoren. Ein alternatives soziales Europa, das sich durch Solidarität auszeichnet, ist also durchaus möglich und könnte zudem die Arbeitslosigkeit bezwingen. Dies erfordert einen politischen Willen, der sich 1996 in einer grundlegenden Reform des Vertrages niederschlagen sollte. Das war der Einsatz bei den Wahlen zum Europäischen Parlament am 12. Juni 1995, ein Ereignis, das von den Massenmedien kaum wahrgenommen wmde. Die Medien in Frankreich konzentrierten sich auf ein Europa der Schaumschlägereien Wld der Debatten über Sozialpolitik, die nur dem Sammeln politischer Punkte diente. Die Vorstellung eines »sozialen Europa« wird heute nur von einer Gruppe der Grünen im Straßburger Parlament vorgebracht, in der zudem die britischen und französischen Grünen fehlen.:; Allerdings werden große soziale Fortschritte sowieso selten durch parlamentarischen Druck allein erreicht. Können die sozialen Bewegoogen den Einschluss dessen erreichen, was 1994 ausgeschlossen wurde? Der Pessimismus der Vernunft (wie Gramsci sagt) neigt zu einem Nein. Die meisten europäischen Eliten unterstützen die liberal-monetaristische Konstruktion Europas. Doch auch am Anfang des 20. Jahrhooderts hätten nur wenige Sozialisten einen Groschen, Penny oder Centime auf ihre Fähigkeit gewettet. den Konkurrenzkapitalismus in einen sozialdemokratischen Wohl~ fahrtskapitalismus zu transfonnieren. Doch versucht haben sie es . Der Optimismus des Willens wird einige Unterstützung aus der Erfahrung der Vergangenheit bekommen.
literatur Dreze, 1 u.a. (1994): Report to the Cornmission ofEU. Mimeo. Lipietz, A. (1992): Towards a New EcononUc Order. Postfordism, Eco]ogy and Democracy. New York. Lipietz, A. (1996): Tbe new core-periphery relations: the contrasting examples ofEurope and America. In: NaastepadlStonn 1996. [deutsche Version: in diesem Band]
S
Die Gruppe der Grünen hofft dennoch, bei der Revisionskonferenz 1996 vom Bericht eines Teils der sozialdemokratischen Strömung (die fiir Maastricht im Namen Europas stimmten, aber soziale Komponenten einforderten) und verschiedenen kleineren Parteien zu profitieren, die gegen das Europa von Maastricht sind, aber dafiir kämpfen. dass es sich in eine soziale Richtung entwickelt. Am 13. Juli 1995 nahm das Europäische Parlament eine Resolution fur eine kohärente Beschäftigungspolitik an. die auf bescheidenere Weise den Vorschlägen folgte, die in diesem Papier gemacht wurden.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
Soziales Europa
207
Naastepad, C.W.M.lStonn, S. (Hg.) (1996): The State and the Economic Process. Brookfield.
OFCE/CEPII (1994): Lutter contre le chömage de masse en Europe. Dans: Observations
et Diagnostics Economiques 48. Janvier.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2.5.5
..........................------------------~-'4
~~~~~--
Nachweise Rebellische Söhne. Erschienen als: Rebel Sons. Interview with Jane Jenson. In: French Politics & Society. Vol. 5. Nr. 4. 1987 (Canada). Aus dem Amerikanischen von Hans~Peter Krebs. Drei Krisen. Die Metamorphosen des Kapitalismus und die Arheiterbewegung. Erschienen als: Trois cnses. Metamorphoses du capitalisme et mouvement ouvrier. Contribution au Col1oque La crise actuelle par rapport aux crises anterieures. Binghamton. 7-9. November 1985. Couverture Orange CEPREMAP n° 8528; englische Version: Three Crisis: The Metamorphoses of Capitalism and the Labour Movement. In: Gottdiener, M./Komninos, N. (Hg.) (1989): Capitalist Development and Crisis Theory: Accumulation, Regulation and Spatial Restructuring. New Y ork. 1985. Aus dem Französischen von Sybille Weber und Hans-Peter Krebs. Die politische Okologie und die Zukunft des Marxismus. Erschienen als: L'ecologie politique et l'avenir du marxisme. Contribution au Congres Marx InternaUonal. Cent ans de marxisme. Bilan critique et prospectives. 27.-30. Septembre] 995, Paris; veröffentlicht in: Actuel Marx - Confronration. Paris 1996; deutsche (gekürzte) Version: Politische Ökologie und Marxismus. In: documenta und Museum Frideridanum Veranstaltungs-GmbH: Politics-Poetics. Das Buchzuf documenta X. Ostfildem~Ruit. 1997. Aus dem Französischen von Hans-Peter Krebs. Kette, Schuss und die Regulation: Ein Werkzeug für die Sozialwissenschaften. Erschienen als: La trame, lachaine, et la n~gulation: un outil pour les sciences sociales. Couverture Orange CEPREMAP n° 8816;.veräffentlicht in: Econom;es et SocÜJtes. Serie »Theorie de la RegulationK n° 5. 1990; englische Version: Warp, Woof and Regulation. A Too) for Social Science. In: Benko, G.lStrohmayer, U. (Hg.): Space & Sodal Theory. Interpreting Modemity and Postmodemity. Oxford. 1997. Aus dem Französischen von Hans-Peter Krebs und SybiHe Weber. Die neuen Beziehungen von Zentrum und Peripherie. Die Beispiele Europa und Amerika im Konrrast. Erschienen als: New Core-Periphery Relations. Tbe Contrasting Examples of Europe and America. In: NaastepadlStonn (Hg.): Tbe State and the Economic Process, Brookfield. 1996. Aus dem Amerikanischen von Hans-Peter Krebs.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
Das Nationale und das Regionale: Wie viel Autonomie bleibt angesichts der globalen Krise des Kapitalismus? Erschienen als: Le national et Je regional. Quelle autonomie face a]a ense capitaliste mondiale? Couverture Orange CEPREMAP n° 8521~ veröffentlicht in: Benko, G. (Hg.): La dynamique spatiale de l'economie contemporaine. La Garenne-Colombes. 1990~ englische Version: The National and the Regional: Their Autonomy Vis-a-vis the Capitalist World Crisis. In: Palan, RP.lGiIls, B. (Hg.): Transcending the State-Global Divide. A Neostructuralist Agenda in International Relations. Boulder. 1994. Aus dem Französischen von Sybille Weber und Hans-Peter Krebs. Die Frauen eine Klasse! Originaltitel des Vortrags: Les femmes. Contribution au Colloque "Les hommes contre le sexisme". Saint-Cloud. Octobre 1984. Aus dem Französischen von Sybille Weber
Ein soziales Europa - die Herausforderung nach Maastricht. Erschienen als: Social Europe: the Post-Maastricht Challenge. In: Review oflntemational Political Economy. Vol. 3. NT. 3. 1996. Aus dem Amerikanischen von Hans-Peter Krebs.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
I
Frieder Otto Wolf'
Auf dem Weg zur europäischen Alternative Vorbeugende Übungen gegen mögliche Anfechtungen
Vorweg Nachworte setzen gemeinhin einen Abstand voraus, räumlich oder zeitlich, der es sinnvoll erscheinen lässt, den Lesenden ein paar Hinweise zu geben, wie sie vielleicht diesen Abstand überwinden könnten. Im konkreten Fall ist diese Situation womöglich gar nicht gegeben. Der Abstand zwischen der französischen und der deutschen politischen Kultur ist vielleicht gar nicht so groß, dass seine Überbrücktmg im Falle eines grünen Theoretikers der Wirtschaftspolitik besonderer Hinweise an die Lesenden bedürfte. Für viele ist auch der Zeitrawn, über den sich die ursprungliehe Abfassung und Veröffentlichung der hier endlich in deutscher Sprache zusammengefassten Untersuchungen erstreckt, noch so präsent und wohl auch subjektiv homogen. dass die Reflexion über ihren Zusammenhang oder ihre Kontinuität als eine eher überflüssige Zutat des Nacbwortverfassers erscheinen dürfte. Beides ist allerdings mit guten Gründen bestreitbar. Allein die bisherige Rezeption der »Regulationsschule« in Deutschland (vg1. HübnerIMahnkopf 1988~ Mahnkopf 1988; Hübner 1989, Hirsch 1990; Demirovic u.a. 1992) lässt zum Teil einen erstaunlich großen Abstand erkennen. Und was die neue Epoche der Weltgeschichte angeht, in die wir, mitten im Entstehungszeitrawn der Aufsätze des Bandes, unbestreitbar eingetreten sind (vgl. Ravasani 1995), fullen inzwischen bereits die Versuche ihrer vorläufigen Vennessung eine kleine Bibliothek. Ein nützliches Nachwort wird dennoch nicht möglich. Diese Überbruckungsaufgaben übersteigen schlicht die Möglichkeiten dieser »}deinen Fonn«. Es gibt allerdings ein anderes gewichtiges Argwnent fiir ein Nachwort. Dies bezieht sich auf etwas, das erst im Werden, dafür aber um so dringlicher ist: eine gemeinsame Dimension europäischer Politik auch im Hinblick auf die Herausbildung und Durchsetzung tragtahiger geseUschaftspolitischer Alternativen. Hier können wir nicht dabei stehen bleibe~ etwa französische und deutsche. britische und italienische, portugiesische und holländische Beiträge überhaupt umfassend zur Kenntnis zu nehmen - auch wenn dies gewiss schon ein Fortschritt wäre. Es geht vielmehr darum, sie aufzugreifen und zu einer gemeinsamen politisch-theoretischen Konstruktion zu verknüpfen. Die folgenden Problemskizzenuntemehmen einen ersten Versuch, Hauptstränge einer solchen Verknüpfungsarbeit, wie sie uns in Europa bevorsteht, ·Mitglied des Europäischen Parlaments und Privatdozent an der }'v Berlin. Diese Publikation wurde mit Mitteln der Informationskampagne des EP gefördert. ARGUMENT SONDERBA."ID NEUE fOLGE AS 255
212
Nachwort
im Hinblick aufLipietz' Beitrag zu umreißen, gleichsam eine erste Prospektion des möglichen gemeinsamen Terrains vorzunehmen. Knappheit oder Verrugbarkeit ÖkonornInnen wird vielleicht irritieren, wie wenig die Fragen der relativen Knappheit, des Gleichgewichts von Angebot und Nachfrage und der Preisbildung im Vordergrund von Überlegungen stehen, die doch erkennbar Gedankengänge eines kritischen Ökonomen sind . Vielleicht wird umgekehrt auch die einfacher Strukturierten unter den KritikerInnen des »Ökonomismus« stören, dass hier ebenso wenig von möglichem Überfluss, der chaotischen Dynamik des gesellschaftlichen Lebensprozesses oder von bloßer Bedarfsorientierung ausgegangen wird. Auch die von Lipietz vertretene politische Ökonomie kennt ihre spezifische ökonomische Logik: Es gilt immer wieder, Ziel und Mittel in ein realistisches Verhältnis zueinander zu setzen - und zwar so, dass die Nutzung der Mittel nicht die Möglichkeit, das Ziel zu erreichen und diesen Zustand denn auch reproduzieren zu können, zerstört. Diese Adäquanz ist nicht in einem historischen Vakuum herzustellen, das etwa auch noch von den ökologischen Lebenszusammenhängen der handelnden Menschen abstrahiert. ModelJüberJegungen und ökonometrische Untersuchungen sind deswegen ,aber nicht irrelevant. Ganz im Gegenteil, sie erlauben immer wieder eine Klärung von möglichen Entwicklungsalternativen und Interessenperspektiven. Sie müssen aber immer wieder daran gemessen werden, wie weit sie in der Lage sind, zur (Selbst-)Aufklärung über die wesentlichen Streitfragen beizutragen, um die es in offen ausgetragenen oder stumm bleibenden, gleichsam schwelenden gesel1schaftlichen Kämpfen geht. Diese Perspektive ennöglicht es Lipietz, die marxsche Wertfonnanalyse in einer nicht verdinglichenden Weise fruchtbar zu machen als Instrument zur Analyse von Reproduzierbarkeitsbedingungen und Interessenkonfigurationen. Ebenso kann er feministische lUld ökologische Analysen heranziehen, um die materiellen Bedingungen einer Reproduzierbarkeit von gesellschaftlich relativ stabilen Situationen bestimmen zu helfen. Wachstum und »Entwicklung« Manche Öko]oglnnen wird die Art und Weise irritieren, wie in Lipietz' Untersuchungen immer wieder unterstellt wird, dass menschliche Entwicklung weitergehen wird - auch wenn sie in Zukunft nicht mehr »Wachstum« im Sinne des fordistischen Entwicklungsmodells bedeuten wird. Das gilt insbesondere für diejenigen, die von der These der »deep ecology« ausgehen, nach der das Grundproblem der ökologischen Krise im relativen Heraustreten menschlicher Reproduktionsprozesse aus dem subtil austarierten Fließgleichgewicht der ökologischen Systeme - oder gar eines einem Lebewesen analoARGUMENT SONDERBAi'ID NEUE FOLGE AS 255
"l
!
I
Nachwort
i I
213
t
gen ökologischen Gesamtsystems (Gaia-Hypothese) - besteht, wie es sich durch menschliche Technik und Wissenschaft spätestens seit der neolithischen I Revolution vollziehe. Aber auch viele andere werden die Frage der RückentI wicklung »überentwickelter« Gesellschaften, das heißt insbesondere der eigenen in Europa und Nordamerika, auf ein nachhaltig durchhaltbares Entwicklungsniveau vermissen. Diese Befremdung lässt sich vielleicht am ehesten auflösen~ wenn wir zu Lipietz' Blick aufmensch1iches Handeln zurückgehen, in dem die Anforderungen der rationalen Verantwortliclikeit, des »Gewissens«, verknüpft werden mit einer VorsteUung von Demokratie als dem Raum eines gemeinsamen verant~ wortlichen Handeins von Menschen. Auch die Fragen der materiell W1über~ schreitbaren Grenzen menschlicher Praxis in ihrer Gesamtheit müssen sich in eine explizit auf Verantwortlichkeit und Demokratie in diesem Sinne angelegten Problematik »übersetzen« Jassen und zwar in Fragen der Selbstbegrenzung menschlichen Handelns durch gemeinsam verantwortlich handelnde Menschen - und das bedeutet, in demokratischen Formen. Das ist kein Rückgang auf .irgendein »Menschenbild«, aufirgendeine »Anthropologie« - es heißt schlicht, das oft postulierte Primat der Praxis konsequent ernst zu nehmen.
1
I
~
I
I I
Hegel, Marx - nicht via Frankfurt oder Moskau? Deutsche MarxistInnen weisen sich in der Regel dadurch aus, dass sie, zumeist in einem subti1en Überlagerungsverhältnis, von der älteren sozialdemokratischen Orthodoxie und deren spezifischer Negation durch die »Frankfurter Schule« sowie von der eigentümJich verdrehten Fortsetzung derselben Orthodoxie im »theoretischen Stalinismus« der DDR geprägt sind - und das heißt in jedem Fall von einer im internationalen Vergleich auffällig hohen Dosis von unterschwelligem Hegelianismus. Die philosophische Unterscheidung zwischen »Erscheinung« und »Wesen« wird zumeist noch als epistemologische Grundkategorie verwendet, um »wirldicheWissenschaft« und »bloße Ideologie« zu unterscheiden. Auf der gegenständlichen Ebene, der der maßgeblichen Zugriffe auf das, was ihre Theoriebildung zu treffen sucht~ bilden immer noch begeische Gnmdbegriffe wie »System« und »Methode« (oder »Logik« und »Totalität«) entscheidende Scblüsseltermini des theoretischen Registers. Genau diese spielen in Lipietz' Texten bestenfalls eine marginale Rolle. Das ist meines Erachtens ein Zug expliziter Maternität der Argumentationen Lipietz' und keineswegs ein Manget. Lipietz löst sich in seiner Argumentationspraxis von einer »kontinentaleuropäischen« Sprachtradition, die in einem weltweit geführten Diskurs zum Hindernis zu werden droht. Damit lässt er zugleich ein gutes Stück an metaphysischem Erbe hinter sich, wie es jeder »1nhaltslogik« anhaftet. Hegelianische und »leninistische« Argumentationen müssen allein schon dadurch einen Hang entwickeln. »offizielle Ideologie« einer institutionalisierten Macht zu werden, weil sie nicht von dem GrundAllG1JMENT SONDERBA.~D NEUE FOLGE AS:m
214
Nachwort
postulat offener Argumentation ausgehen, dass ein jeder Mensch, der bereit ist, sich auf einen Diskurs einzulassen, so wie sieler geht und steht, auch vom ersten Schritt an ihm teilztmehmen in der Lage sein muss. Daran hindert jeder Versuch, mit »allzu vo]Jständigen Weltanschauungen« (Brecht) zu argumentieren; und jeder Ansatz zu einer überladenen »Systematik«, um in jedem einzelnen Schritt ein antizipiertes Ganzes zu repräsentieren, reduziert die Diskurssubjekte auf einen zirkulär definierten Kreis von »Eingeweihten«. Allgemeine Entwicklungsgesetzeund historische Phasen
,.
Die deutsche Rezeption der Problematik der Regulationsschule kreist um die Analyse von »Amerikanismus« und »Fordismus« als spezifischer Konfiguration von Akkumulationsmustern und Regulationsregimes, welche eine ganze historische Phase des »kurzen 20. Jahrhunderts« (Hobsbawrn) weltweit ge~ prägt hat Dabei besteht gelegentlich die Tendenz, kurzschlüssig zu unterstellen, es handele sich hier um eine Abart der bekannten Theorie über »Entwicklungsstadien des Kapitalismus« (Monopo1kapitalismus~ staatsmonopolistischer Kapitalismus, organisierter Kapitalismus/Spätkapitalismus), an denen sich die theoretische Kritik seit der Erneuerung marxistischer Theorieansätze in den 60er und 70er Jahren durchaus erfolgreich abgearbeitet hat. Dies ist jedoch nicht der FalL Mit dem Hegelianismus hat sich die theoretische Tradition, in der die ReguIationsscbule stebt, auch von dessen »verdünnter« F onn, dem Historismus, verabschiedet, der die Bestimmung der (falschen Totalität der) jeweiligen »historischen Phase« an die Stelle der »konkreten Analyse der konkreten Situation« setzt. Der analytische, an modemen Methoden der historischen Wirtschaftsstatistik (vgl. Aglietta 1976) geschulte Ansatz der Regulationstheoretiker schließt eine derartige A-priori-Totalisierung ebenso aus. Die starke Betonung der Unterschiedlichkeit der analytischen Ebenen und Dimensionen (Akkumulationsprozess, Regulation) ebenso wie die Nähe zu den theoretischen Untersuchungen über die »Artikulation« verschiedener Produktionsweisen in einer historischen Gesellschaftsfonnation legt es dagegen eher nahe, ihre Untersuchung auf Anschlussmöglichkeiten abzuklopfen in Richtung etwa auf die älteren Ansätze einer Untersuchung der »mixed economy« (Mattick, Sweezy) oder der längerfristigen Linien der sozioökonomischen und psychosozialen Entwicklung (Brenner) oder des »disembeddinglembedding« (Polanyi) der kapitalistischen Produktionsweise in ihrer historischen Durchsetzung. Zugleich ennöglicht es der konfigurationelle Ansatz der RegulationsschuJe, der die konkreten Konstellationen, in denen sich der »Fordismus« in Wlterschiedlichen Ländern präsentiert, empirisch als historisch »gefunden« aufgreift und nicht etwa allgemein »abzuleiten« versucht, zusätzliche analytische Dimensionen aufzugreifen und einzuarbeiten, wie etwa die von Altvater und Martinez-AJier weiterentwickelten Ansätze einer energetischen Ökonomie oder die von sehr unterschiedlichen Seiten ARGUMENT SONDERBAND "''"EllE FOLGE AS 255
Nachwort
215
weiterentwickelten Überlegungen zu einer Ökonomie der Haus- und Bezie hungsarbeit
6
Die Systemfrage erweist sich als falsch gestellt Der differenzierte Ansatz der Regulationsschule in der Analyse einer bestimmten »historischen Oesellschaftsfonnation« sollte nicht mit einem Mangel an Radikalität verwechselt werden. Dass insbesondere auch das Fragmentarische und Zufallige derartiger Konfigurationen betont wird,. in denen unterschied1iche Produktionsweisen artikuliert und unter der Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise zu einem Akkumulationsmodell verknüpft sein können. zu dem sich das »entsprechende« Regulationsregime immer erst in historischen Auseinandersetzungen »gefunden« hat, deren Auslegung relativ offen ist, bedeutet nicht etwa, dass damit der Kapitalismus tabuisiert, als unveränderbar unterstellt wird. Vielmehr bedeutet es, dass eine derart »totalisierend« fonnulierte Systemfrage als falsch gestent zurückzuweisen ist. Keine der Strukturen einer gegebenen historischen Gesellschaftsformation wird von regulationstheoretischen Analysen als grundsätzlich unveränderbar unterstellt, auch nicht der Kembereich des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital. Aber erstens gibt es auch andere. nicht weniger gnmdlegende Verhältnisse, wie das Geschlechterverhältnis oder den »Stoffwechsel von Mensch und Natur« (Marx), deren Veränderung nicht weniger zu thematisieren ist - und zweitens tritt neben die Veränderung der Kemstruktur eines solchen Verhältnisses immer auch die Problematik, wie seine sekundäre» Verfasstheit« - etwa durch die historische Durchsetzung einer »Lohnarbeitsgesellschaft« im )Fordismus« gestartet tUld entwickelt werden kann. Damit wird die »Systemfrage« nicht etwa einfach abgeschafft. Sie muss viebnehr grundlegend reformiert werden: als die Frage nach einem geseUschaftspolitischen Prozess, in dem die sozialen Akteure und politischen In~ stitutionen hervorgebracht werden, die in der Lage sind, alternative Strukturen zu den grundlegenden Herrschaftsverhältnissen der gegenwärtigen Gesellschaftsformation hervorzubringen. Dadurch wird diese neue Frage nicht nur ganz erheblich politischer. Indem darüber hinaus von vornherein ldargestellt wird, dass es lUD eine Problematik mit mehreren eigenständigen Dimensionen geht, deren Verknüpfung jeweils strategis.ch neu zu leisten ist, wird die neu fonnulierte Problematik zugleich zur Herausforderung zur historischen Innovation: Es geht um nicht weniger als darum, antikapitalistische, antiproduktionistische, antipatriachalische. -antirassistische Praxisfonnen als solche und im Zusammenhang miteinander immer wieder neu zu erfinden - wobei die Liste der einzubeziehenden Praxisformen keineswegs von vornherein feststeht oder irgendwann abschließend aufzustellen wäre. An die Stene älterer, differenzierterer politiktheoretischer Überlegungen über das Verhältnis von System- und Tätigkeitsgrenzen in einer GesellschaftsARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 255
216
Nachwort
fonnation, in der das KapitaJverhältnis die dominante Produktionsweise ist (vgl. Blanke u.a. 1975), tritt damit eine komplexe Problematik in der Beurteilung von Triftigkeit, Realitätstüchtigkeit und Radikalität vorgeschlagener Politiken: Wie weit enthalten sie eine Dynamik zum inhärenten Abbau gegebener Herrschaftsstrukturen, insbesondere innerhalb des historisch dominanten Kapitalverhältnisses, wie weit sind sie in der Lage, die Konfiguration der wichtigsten Herrschaftsverhältnisse in Richtung auf ihre wechselweise Schwächung (oder aber Stärkung) zu verschieben, und wie weit können sie schließlich dazu beitragen, diese Herrschaftsverhältnisse zu relativieren, indem sie sie etwa in demokratische Prozesse einbetten, die ihre Übersetzung in konkret erlebte gesellschaftliche Macht an Bedingungen von Transparenz und KontraUe knüpfen sowie zumindest im nonnalen »Geschäftsgang« gnmdsätzlieh einschränken. Krisendynamik und Theoriebildung »Krisentheorie« war ein zentraler Topos der Erneuerung der marxistischen Kritik der politischen Ökonomie in den siebziger Jahren. An die Stel1e einer aus vielfaltigen Ad-hoc-Erwägungen zusammengestellten »Revolutionstheorie«, die im Streit der Schulen und Parteien schwankte, sollte eine methodisch streng kontroll i erb are Theorie treten, die selbst die Möglichkeit von Systemkrise und Systemtransfonnation aus der Kritik der inneren Widerspruche heraus entwickelte. Auch davon ist bei Lipietz selbst bei genauer Betrachtung (vgl. Hübner] 989) - keine Rede. Genau darin sehe ich, ehrlich gesagt, eine große Chance des von Lipietz vorgeführten Gedankens. Gerade weiler das - im Übrigen auch wissenschaftlich betrachtet »schimärenhafte« Projekt nicht mehr verfolgt, durch eine systematische Rekonstruktion des »konkreten Ganzen« den »archimedischen Punkt« anzugehen. an dem eine altemative Politik den Hebel anzusetzen hätte, um den Umschwung ins »ganz Andere« auszulösen, ist er in der Lage, Verändenmgsdynamiken unterschiedlicher Reichweite und »Wirkungstiefe« offenzulegen - auch ohne sich, ebenso doktrinär, auf sogenannte Mikroveränderungen als das allein selig Machende zu kaprizieren, während mensch den Rest dem Gang der Geschichte beziehungsweise der großen Gaia zu überlassen hätte. Der Staat, »politicslpo}icy« und »10 stato«
:
Wer sich der älteren deutschen Tradition der »Staatswissenschaften« in ihrer während der siebziger Jahre unternommenen Emeuerung angeschlossen hat, aus der sich zum Ende des vorigen Jahrhunderts und zu Anfang des jetzigen die »klassische« deutsche Soziologie wesentlich speiste, wird vieUejcht an der Unbekümmertheit Anstoß nehmen, mit der Lipietz - wie die »ReguJarionsARGL'MENT SONDERBA."n NEUE FOLGE AS 255
Nachwort
217
schule« generell institutionelle Fragen behandelt, ohne gnmdlegende Fragen, wie die der Souveränität, der Kompetenzen, der Legitimität und der Hierar chie; vorab begrifl1ich zu klären. In ähnlicher Weise wird die meisten der von den angelsächsischen »policy sciences« geprägten Geister der Mangel an methodisch durchgefiihrter Empirie stören, mit dem hier immer wieder politische Auseinandersetzungen ana1ysiert werden. Ich möchte demgegenüber den Vorschlag machen, Lipietz' Analysen als Beiträge zu einer viel elementareren Frage der Untersuchung historischer Praxis zu lesen: zu der Frage nämlich, wie im Medium der politischen Auseinandersetzungen und der ökonomischen Effektivienmgsversuche ihrer jeweiligen Resultate Zustände relativer, reproduzierbarer Stabilität erreicht, verteidigt oder auch angegriffen werden können. In diesem Sinne erneuert Lipietz (mit dem bewussteren Teil der Regulationsschule) die sehr einfache und doch subtile Fragestellung, die Machiaveßis Pionierarbeitenam Beginn der politischen Theorie der Neuzeit zugrunde lag: die Frage nach »10 stato«, die überhaupt erst die Fragen nach dem Verhältnis von »po/Wes und po!icies«, von »Staat«, »Staatsorganen« und »Staatsapparaten« sinnvoll entwickelbar und damit auch formulierbar machte. w
»Linksradikale« oder hegemonie strategische Politik?
j J
I
I !
Für viele Leute, nicht nur in Deutschland, besteht die Aufgabe emanzipatorischer Politik immer noch vor allem im Durchbrechen herrschender Zwänge. Linke Politik zielt in dieser Perspektive darauf) die »Haarrisse« im Bestehenden zu Bruchstellen zu erweitern, um durch den Zusammenbruch des Alten den Aufbau des Neuen einleiten zu können. Diese Politikperspektive hat zwar bereits zumeist die Erfahrung des Scheitems des anarchistischen und anarchosyndikalistischen Politikverzichts verarbeitet und erkennt die Notwendigkeit an, nicht nur in der Tagespolitik als Linke präsent zu sein und -Strukturen organisierter Politik aufzubauen, um dann einen einmal eingeleiteten Transfonnationsprozess weiterfUhren und auf Dauer stellen zu können. Sie hat aber nichts aus der Geschichte der »passiven Revolutionen« seit Louis Bonaparte und Bismarck gelernt. Insbesondere die Intellektuellen der »Konservativen Revolution« und die Massenbewegungen der Faschisten hatten die »passive Revolution« erfolgreich studiert und zur Strategie erhoben, mit der eine solche »Zusammenbruchsstrategie« immer wieder erfolgreich bekämpft werden konnte. Kernpunkt der »passiven Revolution« istdie von Gramsci herausgearbeitete Frage der Hegemometahigkeit, die allerdings allzu oft mit der Frage der Konsenstahigkeit politischer Vorstellungen im gesellschaftlichen »Mainstream« verwechselt wird. Hegemoruefahig ist aber in Wirklichkeit innner diejenige politische Kraft, die einem Spektrum von Menschen mit ihren Interessen als Klassenzugehörige, als TrägerInnen einer Kultur und Sprache, als Männer und Frauen eine überzeugende Zukunftsperspektive aufzuweisen ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AS 2"
218
".'
Nachwort
vennag. Hegemonie zu erringen bedarf sicherlich immer auch des Zugangs zu den Massenkommunikationsmitteln, deren technische Entwicklung zugleich ihre kapitalistische Verwertwlg und Kontrolle ennöglicht. Im Kern hängt die Hegemoniefahigkeit aber daran. ob in der zu vennittelnden Botschaft eine tragfähige Zukunftsperspektive fiirein handlungsfähiges Bündnis artikuliert ist. Mit anderen Worten ist es genau die Frage der Reproduktion der bestehenden oder aber neuer stabilisierbarer Verhältnisse, an der sich die Hegemoniefahigkeit entscheidet: Wer sich der Frage nicht stenen will, wie vom gegebenen Zustand aus erlebbar verbesserte Zukunftsperspektiven - in reproduktionsfähigen Verhältnissen - für ein hinreichend breites und handlungsfähiges Bündnisspektrum gewonnen werden können, bringt sich selbst eben damit um die Möglichkeit, überhaupt noch eine dem erreichten Stand der gesellschaftlichen AuseinandersetZWlgen entsprechende linke Politik zu machen. Dies gilt nicht nur für die Anhänger schlichter Katastrophenstrategie, sondern auch ft1r alle Konzeptionen. die darauf hinauslaufen, wirkliche Problemlösungen und alle Idärenden, aber ehen auch schwierigen politischen Entscheidungen in eine feme Zukunft zu verschieben: »In the Iong run we are all dead!« (Keynes) Gelegentlich wird mit einem ähnlich klingenden Argument etwas ganz anderes vertreten - nämlich die Bestreitungjeder Möglichkeit einer wirklich in die bestehenden Verhältnisse eingreifenden linken Politik. Hierher gehört etwa die famose Konzeption der »fiskalischen Nachhaltigkeit«, die die Schulden gegenüber den kommenden Generationen auf die Problematik der Geldschulden der öffentlichen Hände reduziert, ohne nach den nicht in Geld ausgedrückten und zum Teil auch nicht ohne weiteres in Geld ausdrückbaren «Realschuldeo« zu fragen (wie sie etwa laufend durch unterlassene Investitionen in technische, sozia1e und kulturel1e »Infrastrukturen«, durch zugelassene, langfristig wirksame Belastungen der ökologischen Systeme oder dUrch Erschöpfung von Ressourcen und Belastungspuffernentstehen) und ohne überhaupt noch die Frage nach den Gläubigem zu stellen, die selbstverständlich bei Geldschulden auch noch in künftigen Generationen existieren werden. Derartige Argumentationen reichen von der fast schon met.aphysischen Bestreitung jeder Art von planmäßiger Handlungskapazität der Menschen in Hinblick auf ihre eigenen Lebensverhältnisse (Hayek) bis hin zu einer sich alltäglich verbreitenden Skepsis gegenüber allzu großartig daherkommenden Altemativkonzeptionen. Der »Inhaltismus« als offene Flanke der aufklärerischen Linken angesichts des Neorassismus Lipietz' Argwnentation wird mensch bei gründlicher Prüfung weder Radikalität noch Augenmaß absprechen können. Dennoch weist auch ihr sorgfältiges Eintreten für bÜDdnisfähige Vorschläge eine zentrale offene Flanke auf, die sie allerdings mit der gesamten Tradition der aufklärerischen Linken teilt. GegenAR
.....
Nachwort
I
Ii
I
219
über einer Politik von rechts, die mit Identifizierungs- oder sogar Identitäts· angeboten operiert, wirkt sie eigentümlich intel1ektualistisch und »verkopft«. Statt die existenzielle Macht des Identitätsbedarfs fiir sich zu mobilisieren, wie es die NationalistInnen und Rassisthmen aller Spielarten vorexerzieren, besteht sie auf dem instrumenteHen Charakter politischer Vorschläge und Problemlösungen. Letzte Fragen wie die nach dem »eigentlichen Selbst« oder dem »Sinn des Lebens und Sterbens« kann eine derartig angelegte Theorie weder diskursiv bearbeiten, noch praktisch beantworten. Sie setzt also immer schon mündig abwägende BÜfgerInnen als AdressatInnen voraus. Genau dies würde aber aufgegeben, wenn die Linke den rechten Po1itikangeboten auf der Ebene konkurrierender »Identitäten« tmd »Weltanschauungen« zu entsprechen versuchte. Allerdings könnte die Theorie sich besser wappnen, wenn sie ihren strengen »Inhaltismus« jedenfalls insofern modifIZieren würde, als sie die spezifischen »)Ponnen« ideologischer Mächte, diskursiver Prozesse und medialer Kommunikation ebenfalls zu ihrem Inhalt machen würde, anstatt von der historischen Subjektivität, den Mentalitätsfonnen der unter dem grundsätzlich plausiblen, aber keineswegs immer tragßhigen Postulat der mittelfristigen Rationalität hinreichend großer Massen schlicht zu abstrahieren. Mehr Analyse würde hier auch mehr Hand1ungstahigkeit schaffen.
j I
Literatur
I
I
J f
l
I
Blanke, B. u.a. (1975); Kritik der Politischen Wissenschaft. Analysen von Politik und Ökonomie in der bürgerlichen Wissenschaft. Frankfurt am Main. Demirovic, A. u.a. (Hg.) (1992): Hegemonie und Staat. Kapitalistische Regulation als Projekt und Prozess. Münster. Hirsch, 1. (1990): Kapitalismus ohne Alternative? Materialistische Gesells·chaftstheorie und Möglichkeiten einer sozialistischen Politik heute. Hamburg. Hirsch, J./Roth, R. (1986): Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Postfordismus. Hamburg. Hübner, K. (1989): Theorie der Regulation. Eine kritische Rekonstruktion eines neuen Ansatzes der Politischen Ökonomie. Berlin. Hübner, K.1M:ahnk:opf, B. (1988): Ecole de la Regulation. Eine kommentierte Literaturstudie. Diskussions-paper des Wissenschaftszentrums Beflin FS II 88-201. Berlin. Mahnkopf, B. (Hg.) (1988): Der gewendete Kapitalismus. Kritische Beiträge ZUf Theorie der Regulation. Münster. Ravasani, S. (1995): Beginnt ein neues Zeitalter der Weltgeschichte. Hamburg.
ARGUMENT SONDERBAND NEUE FOLGE AB :HS