Günter Dönges
Mylady düpiert die Gangster Ein Butler-Parker-Krimi mit Hochspannung und Humor von Günter Dönges
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Version: 1.00
Datum: 23.12.2002
Vielen Dank an Corben.
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Butler Parker befand sich im Stadium höchster Nervo sität. Er spielte sogar mit dem Gedanken, ein Stoßgebet gen Himmel zu schicken. Ja, er gelobte sogar innerlich eine Wallfahrt bei passender Gelegenheit. Er saß nämlich neben Lady Agatha Simpson, die ihre Neuerwerbung durch die Straßen von London bewegte. Es handelte sich um einen Land-Rover, wie er für Safaris in Afrika gern benutzt wird. Mylady hatten sich in dieses Gefährt
verliebt
und
schätzte
offensichtlich
die
technischen Finessen dieses Wagens. Sie brauste über die Ausfallstraße und ignorierte souverän den Nebel, der von Minute zu Minute immer dichter wurde. »Ein netter Wagen«, sagte die ältere Dame, die äußerlich an die Walküre aus einer Wagneroper erinnerte. »Er hat nur einen erheblichen Nachteil.« »In der Tat, Mylady«, erwiderte Parker. »Ihm fehlt eine Radaranlage für den herrschenden
Nebel.«
»Unsinn,
Mr.
Parker.«
Sie
schüttelte den Kopf und sah ihn mitleidsvoll an. Sie kümmerte sich für qualvoll lange Minuten überhaupt nicht um die Fahrbahn. »Der Wagen ist zu langsam, das meine ich!« »Mylady dürften das erlaubte Limit längst überschritten haben«, stellte Parker würdevoll fest. Es fiel ihm immer schwerer, seine Unruhe zu verbergen.
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»Papperlapapp, Mr. Parker«, erwiderte sie fröhlich. »Bei diesem Nebel sieht die Polizei nichts.« »Mylady sollten vielleicht beachten, daß der Wagen keineswegs über eine Blindfluganlage verfügt.« »Ich habe Augen wie ein Adler«, behauptete die energische und stets sehr unternehmungslustige Dame. Seit geraumer Zeit zählte sie nicht mehr ihre Lebensjahre. Sie hatte damit aufgehört, als sie neunundfünfzig geworden war. Agatha Simpson war eine sportliche Frau, die sich nach Betätigung förmlich sehnte. Sie war Amateurdetektiv aus Leidenschaft und konnte sich dieses gefährliche Hobby leisten. Sie war eine sehr vermögende Frau, die mit dem Blut- und Geldadel der Insel verschwistert und verschwägert war. Ihre Ungeniertheit war beachtlich. Und ihr Gottvertrauen, wie sich Sekunden später zeigen sollte.... Lady Agatha hatte offensichtlich eine Kreuzung erreicht, befand sich jedoch im Vollbesitz der Vorfahrt, wie ihr spä ter nachdrücklich von der zuständigen Polizei bestätigt wurde. Aus einer Seitenstraße schoß plötzlich ein Lastwagen, dessen Fahrer die Vorfahrt nicht beachten wollte. Er jagte auf einen kleinen Wagen zu, der Mylady das Überholen bisher unmöglich gemacht hatte. Die Dame am Steuer sah, was kommen mußte. Sie stieg voll auf das Bremspedal und riß das Steuer des Land-Rover herum. Der Wagen drehte sich und wollte ausbrechen, schaffte es jedoch nicht. Agatha Simpson fing ihn ab, rasierte dabei einen an sich recht massiven Vorgartenzaun und fällte anschließend einen kleinen Kirschbaum. Parker wurde erfreulicherweise vom Sicherheitsgurt festgehalten. Er hörte von der Kreuzung her das Reißen und Kreischen von zerfetztem Blech, das Klirren von Glas und für einen Moment das wütende Kreischen einer Bremse. Dann herrschte für Sekunden eine geradezu tödliche Stille. 3
»Was für ein Unsinn, in Vorgärten Bäumchen zu pflanzen«, sagte Lady Simpson grollend. »War da was, Mr. Parker?« »Falls ich die Lage richtig beurteile, Mylady, dürfte sich auf der Kreuzung ein Unfall ereignet haben«, gab der Butler gemessen zurück. Er hatte sich bereits wieder unter Kontrolle. »Wenn Mylady erlauben, werde ich mich nach Einzelheiten erkundigen.« Greller Lichtschein drang durch den dichten Nebel. Dann erst war das dumpfe Geräusch einer Detonation zu hören. Die beiden aneinander geratenen Wagen schienen in Flammen aufgegangen zu sein. Bevor Josuah Parker den Land-Rover verlassen konnte, stand seine Herrin bereits neben ihrem Wagen und eilte zwei Sekunden später zur Unfallstelle.
*
»Es handelte sich natürlich um Mord«, sagte Lady Agatha nachdrücklich. »Das lasse ich mir nicht ausreden, Mr. Parker. Dieser Mr. Norman Crails ist kaltblütig umgebracht worden.« Agatha Simpson und Butler Parker waren in Myladys Stadthaus in Shepherd's Market zurückgekehrt. Seit dem Unfall vor etwa anderthalb Stunden war der Nebel noch dichter geworden. Vor allen Dingen war Parker froh und glücklich, wieder in einem sicheren Haus zu sein. Die Rückfahrt an der Seite der Detektivin hatte seine Nerven doch ein wenig strapaziert. Der Unfall schien auf sie kaum Eindruck gemacht zu haben. »Mylady schließen einen normalen Unfall aus?« erkundigte sich Kathy Porter vorsichtig. Sie war die Sekretärin und Gesellschafterin Agatha Simpsons, langbeinig, attraktiv und keineswegs so scheu, wie sie auf den ersten Blick hin wirkte. Kathy Porter war eine hervorragend geschulte Sportlerin, die sich in allen Künsten der Selbstverteidigung auskannte. 4
»Zumal der bedauernswerte Mr. Crails immerhin offensichtlich angetrunken war«, stellte Parker fest. Er war an einem neuen Kriminalfall nicht besonders interessiert. Das Abenteuer des letzten saß ihm noch in den Knochen. »Und wo war der Fahrer des Lastwagens?« fragte Lady Agatha unwillig. »Er entfernte sich allerdings von der Unglücksstelle«, räumte der Butler ein. »Eben.« Lady Agatha nickte grimmig. »Und er wird sich auch nicht mehr finden lassen, Mr. Parker. Soll ich Ihnen mal etwas sagen?« »Mylady sehen meine bescheidene Wenigkeit in gespannter Erwartung.« »Es wird sich herausstellen, daß der Lastwagen gestohlen wurde«, redete die Detektivin weiter. »Diesem Mr. Crails wurde aufgelauert, Mr. Parker. Sehen Sie das doch endlich ein!« »Wie Mylady wünschen.« Parker deutete eine knappe Verbeugung an. »Zudem hat Mr. Crails mir noch etwas zugeflüstert«, erklärte die Detektivin zu Parkers Überraschung. Davon hatte sie während der Rückfahrt nichts gesagt. Auch der Polizei gegenüber hatte sie davon nicht gesprochen. »Mr. Crails hat mit Mylady gesprochen?« Skepsis war in Parkers Stimme. »Nun ja, nicht direkt«, räumte Agatha Simpson ein. »Es war mehr ein Stichwort.« »Dürfte man eventuell mehr darüber hören, Mylady? « »Er sagte so etwas wie ›Mafia‹, wenn ich ihn nicht völlig mißverstanden habe.« »Ein gefährliches Stichwort, Mylady, wenn mir diese Bemerkung erlaubt ist.« »Ein gutes Stichwort«, entgegnete die ältere Dame kriegerisch. »Diese Subjekte machen sich in letzter Zeit zu breit in London. Dagegen muß etwas unternommen werden.« 5
»Sich mit der Mafia anlegen zu wollen, Mylady, könnte tödlich sein«, warnte Josuah Parker. Er machte einen sehr zurückhaltenden Eindruck. »Papperlapapp, Mr. Parker. Ich habe keine Angst.« »Weiß man, wer dieser Mr. Crails ist?« schaltete sich Kathy ein. »Ein Jockey«, antwortete Josuah Parker. »Er kam offensichtlich von einer kleinen Feier, wie die Polizei bereits am Unfallort feststellen konnte.« »Fällt es Ihnen nicht endlich wie Schuppen von den Augen?« Agatha Simpsons Augen funkelten. »Mylady sehen meine bescheidene Person verwirrt«, gestand Parker. In den Fällen konnten die Ärzte nur noch den Tod durch komplizierte Schädelfrakturen feststellen.« »Wir unterhalten uns gleich, Mr. Parker.« Agatha Simpson merkte erneut, wie gut ihr Butler informiert war. Sie sandte ihm einen fast schon giftig zu nennenden Blick zu. Dann wandte sie sich wieder McWarden zu und lächelte überlegen. »Was Mr. Parker sagt, stimmt«, räumte der SuperIntendent ein. »Also gut, ich werde Ihnen unter dem Siegel der Vertraulichkeit mitteilen, daß in den vergangenen Wochen auch zwei Rennpferde vergiftet wurden, Rennpferde, die zum Kreis der Favoriten gehörten.« »Und wer steckt dahinter?« Agatha Simpson sah ihren Butler an, doch Josuah Parker äußerte sich nicht zu diesem Thema. »Ich habe einen vagen Verdacht«, erwiderte McWarden vorsichtig. »Ich kann ihn nur rein privat äußern.« »Dann tun Sie's gefälligst«, raunzte Lady Agatha den Super-Intendanten an. »Lassen Sie sich nicht jedesmal bit ten! Sie sind doch keine Jungfrau, oder?« »Denken Sie möglicherweise an Herrn Balcott, Sir?« fragte Butler Parker unschuldig und höflich. »Wie ... Wie kommen Sie denn darauf?« McWarden erlitt einen leichten, aber quälenden Hustenanfall und bekam 6
einen roten Kopf. »Also ja!« Agatha Simpson nickte. »Reden Sie sich nicht heraus, McWarden! Sie haben sich bereits verraten.« »Wie sind Sie an diesen Namen gekommen?« verlangte der Super-Intendent jetzt aufgeregt von Parker zu hören. »Das möchte ich allerdings auch wissen.» Agatha Simpson schaute ihren Butler grimmig an. »Ich habe den Eindruck, Mr. Parker, daß Sie mich wieder mal hintergehen.« »Der zufällige Besuch Mr. McWardens machte es mir zu meinem ehrlichen Leidwesen unmöglich, Mylady, über den Inhalt eines Telefongespräches zu unterrichten, das ich kurz vorher mit einem Informanten führte«, entschuldigte sich der Butler würdevoll. »Solch ein Fehler und Versäumnis wird sich wahrscheinlich kaum wiederholen, wie ich versichern darf.«
*
»Dieses Subjekt scheint ja wie die Made im Speck zu leben«, sagte Agatha Simpson mißbilligend. Sie stand zusammen mit Butler Parker vor dem geschlossenen Parktor und sah auf das alte Landhaus, dessen Umrisse im dichten Nebel nur zu erahnen waren. Gleich nach McWardens Weggang war die ältere Dame aktiv geworden und hatte darauf bestanden, Herrn Balcott einen Besuch abzustatten. Obwohl Josuah Parker äußerst dringend von dieser Fahrt abgeraten hatte, stand man nun vor dem Tor und schien einen recht günstigen Zeitpunkt gewählt zu haben. Im Erdgeschoß des Hauses brannte wahrscheinlich jede Lampe, die man zur Verfügung hatte. Herrn Balcott schien eine Party zu geben, die dazu noch recht gut besucht sein mußte. Auf dem Parkplatz vor dem Haus stand über ein Dutzend Wagen der teuersten Fabrikate. Sie wurden von Parklichtern angestrahlt und waren recht gut auszumachen. 7
»Worauf warten Sie noch?« fragte Lady Simpson, als Parker sich nicht rührte. »Ich will mir diesen Balcott aus der Nähe ansehen.« »Man bemüht sich bereits um Mylady«, erwiderte Parker und deutete mit der Spitze seines Universal-Regenschirmes auf eine Gestalt, die hinter einem mannshohen Strauch hervortrat und sich dem geschlossenen Parktor näherte. Dieser Mann war nicht allein. In seiner Begleitung befand sich ein Dobermann, der leise winselte, und es wohl gar nicht erwarten konnte, sich mit den beiden Besuchern vor dem Tor befassen zu können. »Na, altes Mädchen, woher kommen wir denn?« fragte der Mann lässig und baute sich vor dem Gittertor auf. Er war jetzt deutlicher zu erkennen. Es handelte sich um einen breitschultrigen Burschen von etwa fünfundvierzig Jahren, der wohl den größten Teil seines Lebens in einem Boxring verbracht hatte. Er hatte eine schiefe und eingedrückte Nase, das, was man in Fachkreisen ›Blumenkohlohren‹ nennt, und machte einen leicht tumben Eindruck. Möglicherweise hatte er während seiner aktiven Zeit zuviel Kopftreffer einstecken müssen. Er lispelte ein wenig. »Na, altes Mädchen, wo kommen wir denn her?« fragte er noch mal und grinste. Er hielt Mylady eindeutig für einen speziellen Gast. »Wir haben's mit den Ohren, wie?« Agatha Simpson hatte sich inzwischen von ihrer Überraschung erholt, während Butler Parker zu einer Art Salzsäule erstarrt war und an dieser Pose festhielt. Es war schon ungeheuerlich, was dieser Mensch sich da erlaubte. »Mach schon auf, trübe Tasse«, erwiderte die Lady und paßte sich haargenau seinem Ton an. »Und stell dein Schoßhündchen in die Ecke.« Diese vertraute Tonart veranlaßte den Gorilla, das Tor tatsächlich aufzusperren. »Hast dich aber mächtig rausgeputzt«, sagte er anerkennend. »Und was is' das für 'ne Type?« Er zeigte auf Josuah Parker, der stocksteif hinter seiner Herrin stand. 8
»Das is' mein Butler«, erklärte Agatha Simpson und zwinkerte dem Gorilla ein wenig zweideutig zu. »Aha, so nennt man das jetzt?« Der Gorilla reagierte entsprechend. »Ihr Typen kommt von wo?« »Peil mal hier auf den Beutel?« sagte die ältere Dame und wies mit der linken Hand auf ihren Pompadour, der am rechten Gelenk hing. Der Gorilla folgte ihrer Aufforderung und beugte sich leichtsinnigerweise vor. Im gleichen Moment ließ Agatha Simpson ihren Pompadour hochsteigen. Der ›Glücksbringer‹ in dem Handbeutel schwang gegen das Kinn des Gorilla, der glaubte, von einem auskeilenden Pferd getroffen zu werden. Er röchelte knapp und ging in die Knie. Das echte Hufeisen, das nur oberflächlich mit Schaumstoff umwickelt war, tat seine Wirkung. Myladys Pompadour hatte es nämlich in sich. Eine wirkungsvollere Nahkampfwaffe konnte man sich nicht vorstellen. Parker langte seinerseits auch ein wenig zu, um das Werk zu vollenden. Er besorgte das mit dem bleigefütterten Griff seines Universal-Regenschirms. Der Gorilla schnaufte noch mal und legte sich dann quer über seinen Dobermann, der nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte. Bevor das Tier ärgerlich werden konnte, piekte Mylady ihre Hutnadel in die Flanken des nervösen Hundes. Daraufhin wurde der Dobermann sehr gelassen, ruhig und schließlich müde. Er knickte ein und gab sich der Wirkung des an sich harmlosen Lähmungsgiftes hin, mit dem die Spitze der Hutnadel ausgiebig bestochen war. »Räumen Sie das weg, Mr. Parker«, bat Lady Simpson und deutete auf Mensch und Tier. »Und dann zu diesem Subjekt Balcott. Wir werden zur Steigerung der Stimmung beitragen!«
*
9
In der geräumigen Küche des Landhauses hielten sich fünf muskulöse Männer auf, die man in zu enge oder zu weite Frackanzüge gesteckt hatte. Sie sollten wohl die kalten Platten servieren, die abholbereit auf einer großen Anrichte und auf zwei Tischen standen. Die fünf Männer benahmen sich sehr ungeniert, rauchten, tranken, lachten und unterhielten sich miteinander. Sie warteten eindeutig auf das Stichwort, um in Aktion zu treten. Sie hatten natürlich keine Ahnung, daß sie ausgiebig beobachtet wurden. Agatha Simpson und Butler Parker standen vor einem der Küchenfenster und schätzten ihre Lage ab. Diese fünf Männer waren gewiß keine grünen An fänger. Wahrscheinlich trug jeder von ihnen einen Schulterhalfter samt Inhalt. Gegen solch eine Übermacht ließ sich nur schwerlich etwas ausrichten. »Wollen wir hier festwachsen?« grollte Agatha Simpson leise in Richtung Parker. »Tun sie endlich etwas, Mr. Parker! Setzen Sie diese Lümmel außer Gefecht!« »Sehr wohl, Mylady.« Parker sah sich gezwungen, wieder mal zu improvisieren. Er lüftete höflich seine schwarze Melone, bevor er Lady Agatha verließ, um dann das Fenster ein paar Schritte weiter leicht aufzudrücken. Er griff in eine seiner vielen Westentaschen und holte eine Pillendose hervor, die völlig regulär und harmlos aussah. In ihr befanden sich auch tatsächlich Tabletten, Pillen und sonstige Medizinalkapseln. Parker griff mit sicheren Fin gern nach einer Kapsel, verdrehte die beiden Hälften gegeneinander und warf sie gekommt in die große Küche. Sie segelte unbemerkt durch die Luft und kollerte dann durch die geöffnete Kellertür nach unten. Es dauerte genau drei Sekunden, bis plötzlich ein dumpfer Knall ertönte, der an den eines sich öffnenden Flaschenkorkens erinnerte. Nach weiteren zwei Sekunden quoll gelblicher Rauch aus dem Keller durch die Tür in die Küche. Das nun ließ die fünf Muskulösen ein wenig stutzen. Sie schoben sich an die Küchentür heran und schauten nach 10
unten. Dann taten sie genau das, womit der Butler gerechnet hatte, denn der Schwaden roch nach Feuer und Rauch. Die fünf Helden, froh über die Abwechslung, drangen nacheinander durch die Tür und verschwanden nach unten. Sie wollten nach der Ursache des Rauches fahnden. Agatha Simpson befand sich inzwischen bereits in der Küche. Sie hatte die Außentür benutzt, marschierte um ei nen der Tische herum und drückte die Tür ins Schloß. Dann sperrte sie ab und schob auch noch die beiden kräftigen Riegel vor. Damit saßen die fünf Männer erst mal fest. Als sie sich nach Parker umwandte, sah sie sich einem sechsten Mann gegenüber, der sie fassungslos musterte. »Was ist das hier für eine Unordnung?« herrschte Agatha Simpson den Mann an. »Ein Saustall ist das?« »Wer . . . Wie .. . Was ...?« Mehr vermochte der Fassungslose nicht zu sagen. »Halten Sie Ihren Mund! Sehen Sie sich das mal an!« Sie deutete verärgert auf eine Schüssel, in der sich Eiersalat befand. Der Mann folgte der Aufforderung und beugte sich vor. In dem Moment hieb die alte Dame mit ihrem Pom padour zu und erwischte den Hinterkopf des Neugierigen. Der Effekt war einmalig. Der Mann tauchte mit seinem Gesicht tief in den Eiersalat und kostete ihn ausgiebig. Er gurgelte und spuckte, stöhnte und schnappte verzweifelt nach Luft. Lady Simpson wollte ihn nicht unnötig leiden lassen und kürzte das Verfahren ab. Sie setzte ihm eine Karaffe aus schwerem Bleikristall auf den Hinterkopf und trat dann erwartungsvoll zurück. Der Mann knickte ein, riß den Eiersalat mit sich und breitete sich zusammen mit ihm auf den Bodenkacheln aus. »So macht man das«, rief Agatha Simpson ihrem inzwischen eintretenden Butler entgegen. »Und nun zu Balcott, Mr. Parker.« »Eine Sekunde, falls Mylady einverstanden sind.« Parker 11
zog einen Miniatur-Fotoapparat aus einer seiner We stentaschen und machte ihn schußbereit. Dann folgte er seiner Herrin, die sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.
*
Herrn Balcott war ein kleiner, schlanker Mann, dessen Figur an die eines Jockeys erinnerte. Er mochte vielleicht fünfundfünfzig Jahre alt sein, trug einen erstklassig sitzenden Smoking und stand an der Stirnseite einer langen Festtafel. »... meiner Einladung zum Jahresfest gefolgt seid«, sagte er gerade mit erstaunlich sonorer Stimme. »Ich kann euch jetzt schon sagen, liebe Freunde, daß der Ertrag des abgelaufenen Rechnungsjahres erstklassig ist. Wieviel es ist, soll vorerst noch mein Geheimnis bleiben. Nach dem Imbiß wird jeder von euch seinen Anteil in bar erhalten. Hier ist alles vorbereitet.« Herrn Balcott deutete auf einen Teetisch, der seitlich neben seinem Sessel stand. Auf dem fahrbaren Tisch thronte eine Bratenplatte aus Silber, über die sich eine Abdeckhaube wölbte. Balcott lüftete die Haube und gab den Blick frei auf etwa ein Dutzend Päckchen, die in Geschenkpapier eingeschlagen waren. Die Anzahl der Päckchen entsprach der Zahl der Gäste am Tisch. Balcott wartete, bis das erfreute und anerkennende Murmeln sich gelegt hatte. »Wir haben gute Arbeit geleistet«, fuhr er dann zufrieden fort. »In gewissen Kreisen weiß man inzwischen, daß man ohne uns nicht auskommt." Doch es hat sich da, das sei in aller Ehrlichkeit mal gesagt, so etwas wie eine Schmutzkon kurrenz breitgemacht. Diesem Willie Winters werden wir es zeigen! Ich denke, daß wir innerhalb einer Woche an der Beerdigung seines Unternehmens teilnehmen können. Dieser Winters ist eine Schmeißfliege, die wir zerdrücken werden.« 12
Daraufhin erfolgte erneut zustimmendes Gemurmel. Balcott genoß den Beifall seiner Gäste und strahlte. Doch dann strahlte er plötzlich nicht mehr. Irritiert wandte er sich halb um und lauschte auf die Schüsse, die plötzlich zu hören waren. Sie schienen seiner Ansicht nach aus dem Keller des Hauses zu kommen und fielen in schneller Folge. Seine Gäste sprangen von ihren Sitzen hoch und riefen ihm Fragen zu, die Balcott verständlicherweise nicht beant worten konnte. Keiner der Anwesenden bekam übrigens mit, daß ein einzelner Kugelschreiber durch die Luft segelte und dann auf dem Tisch landete. Bruchteile von Sekunden später explodierte dieser Kugelschreiber und beförderte eine dichte Rauchwolke in den Raum. Einer der Gäste bekam vage etwas mit. Er sah, wie der Griff eines Regenschirms sich um den Griff des Teewagens legte. Er bekam deutlich mit, daß der Teewagen sich in Bewegung setzte und auf eine halb geöffnete Tür zusteu erte. Der Beobachter gab seinem Erstaunen lauten Ausdruck, deutete auf den rätselhaften und ein wenig unheimlichen Vorgang, wurde aber nicht weiter beachtet. Das Durcheinander der Stimmen war einfach zu laut. Der irritierte Gast schob seinen Stuhl zurück, jagte auf den immer schneller werdenden Teewagen zu, nahm die Ver folgung auf und prallte dann mit seiner Stirn gegen einen äußerst harten Gegenstand, der ihn, bevor er sein Bewußtsein verlor, an einen perlenbestickten Pompadour erinnerte.
*
»Was will denn die alte Schreckschraube hier?« wunderte sich Willie Winters, ein stämmiger, untersetzter Mann von knapp fünfzig Jahren. Er stand in seinem Büro vor dem Einwegspiegel und sah hinunter in den intimen Clubraum. »Meinen Sie die Alte dort, die mit ihrem Butler aufgekreuzt 13
ist?« fragte Marty Nattels, Winters rechte Hand. Marty Nattels war knapp dreißig Jahre alt, sah gut aus und hatte freundliche, braune Augen. Man sah ihm nicht an, daß er ein Killer war, für den ein Menschenleben nicht zählte. »Agatha Simpson und Butler Parker«, erklärte Willie Winters. »Amateurdetektive. Die Alte ist steinreich.« »Amateurdetektive!« Marty Nattels lächelte ironisch. Er kam aus den Staaten und hatte erst vor wenigen Wochen bei Winters angeheuert. Für Amateure hatte Nattels nur ein müdes Lächeln übrig. Er kam schließlich aus einem Land, das die Wiege des Gangstertums war. Dieses England kam ihm ohnehin reichlich provinziell vor. Er war bereit, diesen Anfängern mal kurz zu zeigen, wie man eine Gang aufzog. »Die Alte kommt doch bestimmt nicht aus Langeweile«, sorgte sich Willie Winters. »Soll ich sie an die frische Luft setzen lassen?« erkundigte sich Marty Nattels. »Sind Sie verrückt, Marty? « »Nee, ganz sicher nicht, Mr. Winters.« Marty lächelte gewinnend. »Aber diesen Amateuren muß man immer gleich zeigen, wer der Herr im Hause ist.« »Sie nehmen den Mund reichlich voll, Marty.« »Lassen Sie mir freie Hand?« »Okay, aber verbrennen Sie sich nicht die Finger!« Winters lächelte schief. »Amateure!« Marty Nattels schnaubte verächtlich. »Wenn sowas nach zwei Wochen Krankenhausaufenthalt wieder entlassen wird, ist das Rennen für immer gelaufen.« »Aber keinen Arger unten im Club, Marty!« »Sowas erledige ich diskret, Mr. Winters.« Marty freute sich darauf, seinem neuen Arbeitgeber mal zu zeigen, wie man ›sowas‹ drüben in den Staaten regelte. Er verließ das Büro und machte sich auf den Weg, um seinem Chef einen kurzen Anschauungsunterricht zu liefern. Willie Winters fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er blieb vor dem Einwegspiegel stehen und beobachtete die kleine Nische, in der Lady Simpson Platz genommen hatte. 14
Selbstverständlich saß ihr Butler zusammen mit ihr am Tisch, allerdings in einer Art, die seine Reserve Mylady gegenüber deutlich erkennen ließ. Winters fragte sich noch mal, warum die Alte wohl in seinen Club gekommen war. Was hatte dieser Besuch zu bedeuten? Suchte sie vielleicht Streit? Daran war Winters überhaupt nicht gelegen. Sein Club, dem eine Art verbotener Spielhölle zugeschaltet war, zeichnete sich nach außen hin durch vornehme Ruhe aus. Hier verkehrten nur Gäste, die gut betucht waren und sich auch einige Spielverluste leisten konnten. Da tauchte bereits Marty Nattels auf. Gut sah er aus, vertrauenswürdig und elegant. Winters beglückwünschte sich noch mal zu dieser Neuerwerbung aus den Staaten. Er hatte einiges vor und wollte seine Zusatzgeschäfte noch erheblich ausweiten. Dafür brauchte er einen Vollprofi, der sich in allen Tricks auskannte. Marty Nattels stand jetzt vor der Nische und beugte sich diskret zu Agatha Simpson hinunter. Er schien ihr einige deutliche Dinge zu sagen, denn die ältere Dame lehnte sich zurück und schaute Nattels prüfend und ungläubig an. Sie machte einen nervösen Eindruck. Winters hätte nur zu gern gewußt, welche Worte da gewechselt wurden. Agatha Simpson antwortete nämlich gerade.
*
»Sie sind ein Flegel, junger Mann«, sagte die Lady, wobei ihre tiefe Stimme fast schon wieder ein wenig freundlich klang. »Woher nehmen Sie eigentlich Ihre Frechheit?« »Wollen Sie's genau wissen?« Nattels lächelte. Ihm war nicht anzumerken, daß er Mylady gerade massiv bedroht hatte. »Möglicherweise setzt der Herr auf seine Schnelligkeit und Tücke, Mylady«, schaltete sich Parker gemessen ein. »Damit kommen Sie der Sache schon näher.« Nattels nickte. 15
»Ich bin tatsächlich schnell und tückisch. Ich schieße gern aus dem Hinterhalt und treffe immer.« »So jung und bereits so verdorben«, seufzte die Sechzigjährige. »Mr. Parker, was soll man dazu sagen?« »Mr. Nattels dürfte die hiesigen Verhältnisse nicht kennen«, antwortete Josuah Parker. »Was er eigentlich müßte«, sagte Agatha Simpson. »In der Tat, Mylady«, bestätigte Parker höflich und würdevoll. »So, und jetzt haben wir genug gequatscht«, fand Marty Nattels und lächelte gewinnend. »In zwei Minuten seid ihr draußen! Ist das klar?« Welche Konsequenzen würden sich aus einer gewissen Zeitüberschreitung ergeben?« wollte Josuah Parker wissen. »Das würden Sie dann spätestens auf dem Heimweg merken«, drohte Nattels und lächelte erneut. »Nein, nein, keine Sorge, hier im Club wird Ihnen nichts passieren.« »Sind Sie sicher, junger Mann?« Lady Agatha nahm umständlich ihren Hut ab, der eine Art Kreuzung zwischen einem Südwester und Topfhut darstellte. Dazu zog sie eine der beiden langen Hutnadeln aus dem gelockten, weißen Haar. »Vollkommen sicher, Mylady«, erwiderte Nattels inzwischen und blieb ahnungslos. »Wir wahren den guten Ruf des Clubs.« »Im Gegensatz zu Mr. Parker und mir, junger Mann.« Agatha Simpson nickte leutselig und ... rammte Nattels eine der langen Hutnadeln in den linken Oberschenkel. Dies geschah mit solch einer Schnelligkeit, daß der Gangster sich nicht wehren konnte. Nattels stöhnte und kämpfte mit dem Wasser, das ihm in die Augen schoß. Er hatte das Gefühl, von einem langen Stoßdegen durchbohrt worden zu sein. Er taumelte und hielt sich mit aller Mühe am Pfosten der Nische fest. »Ich bin aber auch wirklich zu ungeschickt«, entschuldigte sich die Detektivin. »Habe ich Sie etwa verletzt, junger 16
Mann?« Sie schob sich ein wenig vor und sorgte sich um Marty Nattels, der sich inzwischen etwas erholt hatte. Nattels wollte jetzt nach seiner Waffe in der Schulterhalfter greifen. Ihm war alles egal. Zum Teufel mit der Ruhe im Club! Er wollte sich einfach nur rächen. Zu seinem Leidwesen schaffte er es jedoch nicht, an die Waffe heranzukommen. Sein Unterarm wurde vom Bam busgriff eines altväterlich gebundenen Regenschirms nachdrücklich festgehalten. Er brachte den Arm um keinen weiteren Zentimeter nach oben. »Ihr Kreislauf scheint in Unordnung geraten zu sein«, stellte Parker fest. »Da hilft nur Akupunktur«, erklärte Agatha Simpson. »Junger Freund, Sie haben Glück. Ich studiere gerade diese Therapie. Sie werden sich gleich wieder bewegen können.« Ja, und dann akupunktierte Lady Agatha ihren Gegner Sie rammte ihm ihre Hutnadel in den anderen Oberschenkel und war dabei nicht zimperlich. Sie stieß ordentlich zu und nickte anerkennend, als Marty Nattels erneut aufstöhnte. »Was schmerzt, wirkt«, prophezeite sie. »Oder sollte ich vielleicht doch den falschen Meridian getroffen haben?« »Den, bitte, was?« erkundigte sich Josuah Parker. »Den Körpermeridian«, erläuterte Lady Simpson. »Kraftlinien des Körpers, Mr. Parker. Bei Gelegenheit mehr darüber. Ich denke, ich werde wohl doch noch eine weitere Nadel setzen.« Die Detektivin wollte demonstrieren, wie gut sie es mit Marty Nattels meinte. Sie stach also noch mal zu und impfte den Rücken jener Hand, die zuschlagen wollte. Marty Nattels sackte in die Knie und wurde kreidebleich. Er sah die lange Hutnadel in seinem Handrücken und auch die wenigen Blutstropfen, die aus der Einstichstelle sickerten. Das war einfach zu viel für ihn. »Sie werden doch nicht etwa schlapp machen?« fragte Lady 17
Agatha grollend. »Mir... Mir is' schlecht«, stotterte Marty Nattels. »Wir werden Sie selbstverständlich begleiten«, sagte die altere Dame energisch. »Nein, keinen Widerspruch, junger Mann! Ich wurde in Erster Hilfe ausgebildet. Ich bin ja direkt glücklich, meine Kenntnisse endlich mal an den Mann bringen zu können.«
*
»Da habe ich ja leider allerhand versäumt, Mylady«, meinte
Kathy Porter und lächelte. »Und wie ging die Geschichte
aus? «
»Willie Winters erschien in der Nische und setzte sich an
unseren Tisch.« Agatha Simpson zwinkerte ihrem Butler
zu.
»Nachdem Mylady ihn nachdrücklich aufgefordert hatten«,
erinnerte Parker sich laut.
»Nun ja, ich bin vielleicht ein wenig direkt geworden«,
räumte die ältere Dame genießerisch ein.
»Und es gab keinen Zwischenfall im Club?« wunderte sich
Myladys Gesellschafterin.
»Winters schickte schleunigst eine Schönheitstänzerin auf
die kleine Tanzfläche und lenkte seine Clubgäste ab«,
berichtete die Detektivin weiter. »Wir konnten uns also
völlig ungezwungen unterhalten.«
»Mylady wurden sehr deutlich.« Parker servierte seiner
Herrin einen doppelten Kognak.
»Ich rede eben nicht gern um den heißen Brei herum«,
gestand Lady Agatha. »Winters weiß jetzt, was ihm blüht.«
»Sie haben ihm auf den Kopf zugesagt, daß er der
Rennsport-Mafia angehört?«
»Aber natürlich, Kindchen. Nur mit Offenheit kommt man
im Leben weiter, Oder besser gesagt, hin und wieder. Win
ters stritt natürlich alles ab und wollte wissen, wer mir
diese Lügen aufgebunden hätte.«
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»In diesem Zusammenhang sprachen Mylady dann von Mr. Herrn Balcott«, ergänzte Parker. »Mr. Winters weiß jetzt, was ihn von Mr. Balcott erwartet.« »Ich ahne, warum Sie in seinen Club gegangen sind«, meinte Kathy verschmitzt. »Ihre Vermutung ist durchaus richtig, Miß Porter.« Parker nickte. »Während der vertraulichen Unterredung erschie nen im Club zwei Männer, die zu Mr. Balcotts engstem Kreis gehören.« »Zwei dieser Subjekte aus Balcotts Landhausküche«, präzisierte die ältere Dame genußvoll. »Sie entdeckten uns in der Nische und werden das Balcott bereits gesteckt haben.« »Balcott muß nun annehmen, er sei von Winters im Landhaus überfallen worden, nicht wahr?« »Er wird sich das mit Erfolg einreden, Miß Porter«, pflichtete Butler Parker ihr höflich bei. »Damit sind die ersten Weichen gestellt, um es mal volkstümlich auszudrücken.« »Demnach werden sich Balcott und Winters gegenseitig an den Kragen gehen? « »Natürlich, Kindchen. Und wir können in aller Ruhe ermitteln. Man sollte seine Gegner immer beschäftigen. Merken Sie sich diese goldene Regel fürs Leben!« »Sie waren wahrscheinlich nicht weniger erfolgreich, Miß Porter?« erkundigte sich Parker, das Thema wechselnd. »Ich habe den Inhalt der zwölf Päckchen durchgezählt.« Kathy deutete auf einen Sekretär, auf dem die Banknoten bündel sich häuften. Sie hatte die Päckchen von Agatha Simpson und Butler Parker übernommen, bevor man weiter zu Winters in den Club gefahren war. »Der Inhalt war unterschiedlich, aber insgesamt handelt es sich immerhin um genau zweiundsiebzigtausend Pfund.« »Sehr nett«, freute sich Agatha Simpson. »Die Päckchen enthielten die Abrechnungen für ein halbes Jahr«, redete Kathy Porter weiter. »Die Beträge und Prä 19
mien sind genau aufgeführt. Wenn Sie sich vielleicht vergewissern wollen, Mylady?« »Verschonen Sie mich nur ja mit diesen Einzelheiten, Kindchen.« Agatha Simpson winkte hastig ab. »Sind Na men genannt? « »Pro Päckchen, Mylady.« Kathy lächelte. »Mr. Balcott hat die Abrechnungen sehr genau genommen.« »Damit hätten wir zwölf Namen, Mr. Parker. Eine schöne Ausbeute, finden Sie nicht auch?« »Beachtenswert, Mylady.« Er ahnte, was jetzt kommen würde. »Diese zwölf Subjekte werden wir nacheinander oder pauschal überprüfen, Mr. Parker.« »Mylady sollten vielleicht beachten, daß es sich wahrscheinlich um äußerst hartgesottene Männer handelt.« »Na und? Schrecken Sie etwa davor zurück? Nach dem Coup im Landhaus haben wir sie ohnehin bald alle auf dem Hals. Ich werde sie an meine Brust nehmen. Nun erröten Sie nicht gleich, Mr. Parker! Ich meinte das natürlich bildlich,« »Gewiß, Mylady.« Parker räusperte sich. »Super-Intendent McWarden sollte ich wohl erst gar nicht erwähnen?« »Was hat McWarden damit zu tun?« wollte Parkers Herrin wissen. »Er hat vielleicht gewisse Vorzüge, aber ein Kri minalist ist er nicht. Nein, nein, das ist und bleibt unser Fall. Denken Sie an diesen unglücklichen Jockey, der er mordet wurde!« »Mylady, ich möchte höflich daran erinnern, daß man es mit einer Organisation zu tun hat, die einer Mafia gleicht.« »Das möchte ich auch hoffen.« »Eine gefährlichere Verbrecherorganisation kann man sich kaum vorstellen, Mylady.« »Das klingt gut, Mr. Parker.« Mylady nickte wohlwollend. »Das alles sieht nach einem Stoff für meinen geplanten Krimi-Bestseller aus, finden Sie nicht auch? Endlich scheint mir da der richtige Stoff über den Weg zu laufen. Ich werde 20
mich sofort an die Arbeit machen und ein paar Stichworte notieren. Das heißt, Kindchen, das könnten eigentlich Sie erledigen. Im Fernsehen läuft ein Kriminalfilm, den möchte ich auf keinen Fall versäumen.
*
Die Aufnahmen waren gestochen scharf. Butler Parker kam aus der Dunkelkammer, die zu seiner privaten Bastelstube im Haus der Lady Simpson gehörte. Er hatte die Schnappschüsse von der Festtafel entwickelt und vergrößert. Auf den Bildern, die er mit dem Mini-Fotoapparat geschossen hatte, waren die Teilnehmer der Balcott-Party genau zu erkennen. Sie alle machten einen durchaus vergnügten Eindruck, denn Parker hatte seine Kamera in dem Moment benützt, als Balcott seinen Freunden von der Abrechnung berichtet hatte. Es handelte sich um Männer, die Parker nicht kannte. Sie gehörten auf keinen Fall zur offiziellen Szene der Unter welt. Wahrscheinlich handelte es sich um führende MafiaMitglieder, die es bisher verstanden hatten, jede Publicity zu vermeiden. »Diese Aufnahmen sind ja Gold wert, Mr. Parker«, stellte Kathy Porter fest, die in Parkers Souterrain erschien. »Sie sind geballter Sprengstoff«, antwortete der Butler, »Noch wissen die Herren nicht, daß man sie fotografiert hat. Wird das aber erst mal bekannt werden, ist mit einigem Ärger zu rechnen.« »Entsteht der nicht automatisch, Mr. Parker?« »Da möchte ich Ihnen beipflichten, Miß Porter. Mr. Balcott wird alles daransetzen, wieder in den Besitz seiner Halb jahresabrechnung zu kommen. Zweiundsiebzigtausend Pfund ist sehr viel Geld.« »Und Willie Winters wird sich an Mylady und Ihnen rächen wollen, oder?« 21
»Mit letzter Sicherheit, Miß Porter.« Parker nickte. »Die
kommenden Tage werden gewiß turbulent verlaufen.«
»Was geschieht mit dem Balcott-Geld, Mr. Parker?«
»Mylady wird den Betrag wohl wieder an eine karitative
Stiftung überweisen lassen«, meinte Parker und lächelte.
»Wer ist nach Ihrer Buchführung diesmal an der Reihe? «
»Der Verband der Witwen und Waisen, Mr. Parker.«
»Dann sollten Sie den Betrag möglichst bald überweisen,
Miß Porter.«
»Ich habe bereits alles vorbereitet.« Kathy Porter tippte auf
die Mappe, die sie unter ihrem linken Arm hielt. »Sie haben
mir noch gar nicht erzählt, wie die Geschichte im Club
ausging.«
»Ausgesprochen friedlich, Miß Porter. Mr. Winters schien
an Aktionen nicht interessiert gewesen zu sein.«
»Und dieser Nattels?«
»Ein sehr gefährlicher Mann, der um das fürchtet, was man
gemeinhin und neuerdings Image nennt. Mylady hat ihn
zu ausgiebig akupunktiert.«
»Sie erwarten Schüsse aus dem Hinterhalt?«
»Eigentlich nicht, Miß Porter. Das dürfte Mr. Nattels wohl
kaum genügen. Er ist der Typ, der sich an den Qualen
seiner Opfer delektieren möchte.«
»Warum ziehen wir ihn nicht einfach kurzfristig aus dem
Verkehr, Mr. Parker?«
»An solch eine Möglichkeit erlaubte ich mir bereits zu
denken«, entgegnete der Butler und nickte. »Man sollte in
der Tat nicht unnötig warten.«
»Wissen Sie, wo er wohnt, Mr. Parker?«
»Im Hause Mr. Winters', Miß Porter. Also über dem Club.
Es dürfte sich um eine äußerst gut gesicherte Wohnung
handeln.«
»Sie glauben nicht, daß er noch in dieser Nacht versuchen
wird, hier ins Haus einzudringen?«
»Dazu dürfte er zu vorsichtig sein, Miß Porter. Aber andere
Herrschaften werden es gewiß versuchen. Ich denke in
22
diesem Zusammenhang an die Balcott-Gruppe.« »Hoffentlich kommen diese Leute erst nach dem Krimi«, seufzte Kathy auf. »Mylady haßt es, beim Fernsehen gestört zu werden. Sie wird dann immer gleich ärgerlich.«
*
»In 'ner Viertelstunde muß die Sache gelaufen sein«, sagte Clive Crestner zu seinen drei Begleitern, die Phil, Joe und Pete hießen. »Die alte Bruchbude da drüben ist doch 'ne Kleinigkeit für euch, oder?« Das fanden Phil, Joe und Pete ebenfalls. Sie gehörten zu den Männern aus Balcotts Landhausküche und ärgerten sich noch immer darüber, daß man sie im Keller des Hauses festgehalten hatte. Sie hörten immer noch das, was ihr Boß Balcott ihnen an Freundlichkeiten an den Kopf geworfen hatte und brannten darauf, diese Scharte wieder auszuwetzen. Sie verließen den Wagen und schlichen wie schlaue Füchse an den kleinen Platz heran, wo Lady Simpsons Stadthaus lag. Es handelte sich um ein altehrwürdiges Gebäude im Fachwerkstil, inzwischen auch in London eine Rarität. Solch ein altes Haus konnte natürlich kein echtes Hindernis für sie sein. Phil, Joe und Pete, starke Burschen von etwa dreißig Jahren, waren schließlich Vollprofis ihrer Branche. Clive Crestner sah den drei Männern nach und rauchte eine Zigarette. Er war knapp dreißig Jahre alt und die rechte Hand von Herrn Balcott. Er brannte innerlich vor Ehrgeiz und wartete nur darauf, Balcott eines Tages in der Führung der Rennsport-Mafia ablösen zu können. Im Grunde erledigte er bereits alle Kleinarbeit und kannte sich in der Organisation bestens aus. Es paßte ihm, daß Herrn Balcott diese Blamage hatte einstecken müssen. Balcotts Geschäftspartner waren sauer. Zweiundsiebzigtausend Pfund war eine Summe, die man 23
nicht so leicht verschmerzte. Balcotts Ansehen hatte sichtlich gelitten. Clive Crestner wußte inzwischen durch seine beiden Späher, die er in Willie Winters' Club geschickt hatte, wer die ältere Dame und ihr Butler waren. Amateurdetektive! Crestner ließ sich dadurch aber nicht täuschen. Eine Umfrage bei Freunden aus der Branche hatte ihm erst vor einer Stunde gesagt, daß diese Amateure nicht zu unterschätzen waren. Lady Simpson, Butler Parker und eine gewisse Kathy Porter hatten in der Vergangenheit schon manchen Fall gelöst. Sie galten in eingeweihten Kreisen als unkonventionell in ihren Methoden und gerissen. Man mußte also durchaus Vorsicht walten lassen. Insgeheim bewunderte Crestner den Coup, den diese beiden Amateure gelandet hatten. Das war schon ein starkes Stück, einfach in die Balcott-Party hineinzuplatzen und dort abzusahnen. Ein Profi hätte solch eine Frechheit sicher nicht besessen. Nun sollte sich das Blatt jedoch wenden. Crestner zweifelte keine Sekunde daran, daß Phil, Joe und Pete Erfolg haben würden. Das waren drei ausgekochte Burschen, die sich auf keine Diskussionen einließen. Gegen solche Profis hatten auch gerissene Amateure keine Chance. Er wurde abgelenkt, als er schleppende Schritte hörte. Clive Crestner drehte sich halb um und entdeckte hinter dem Wagen, in dem er saß, eine Bordsteinschwalbe, die offensichtlich einen leichten Schwips hatte. Sie schien sich in dem immer noch herrschenden Nebel nicht zurechtzufinden und landete gerade etwas hart vor dem Heck seines Wagens, worauf sie recht ordinär fluchte. Sie sah nicht schlecht aus, war etwas über mittelgroß, schlank und trug einen schwarzen Regenmantel aus Kunststofflack. Sie tastete sich am Wagen entlang und erreichte das halb geöffnete Fenster. 24
»Hallo, Süßer«, sagte sie mit schwerer Zunge. Crestner nahm automatisch den Kopf zurück, denn sie roch stark nach Alkohol. »Hallo, Süße«, erwiderte er dann ironisch. »Aus dem Kurs gekommen?« »Sieht so aus, Junge. Kannst du mich mitnehmen? Ich hab keine Ahnung, wo ich bin.« »Läßt sich drüber reden«, entgegnete Crestner. Er hatte inzwischen im Licht der Armaturenbeleuchtung herausge funden, daß sie ein etwas exotisch geschnittenes Gesicht besaß, das pikant und irgendwie aufreizend auf ihn wirkte. »Dann laß mich rein, Süßer«, sagte sie und klinkte die Wagentür auf. »Hast du 'ne Zigarette für mich?« Während sie noch redete, schlüpfte sie in den Wagen und nahm Platz. Sie fiel gegen den Mann und lachte dann auf. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und ... drückte blitzschnell zu. Clive Crestner merkte zu spät, daß er in eine Falle gegangen war. Er bäumte sich auf, wollte die Angetrunkene roh von sich drücken und handelt sich prompt einen harten Schlag ein, der sein Genick traf. Clive Crestner röchelte und schnappte nach Luft, doch er kam gegen die blitzschnell aufsteigende Ohnmacht nicht an. Ihm wurde schwarz vor Augen. Der drahtige Mann sackte in sich zusammen, bäumte sich noch mal auf und rutschte dann vom Fahrersitz.
*
Constable Malters war ein erfahrener Bobby, den so leicht nichts zu erschüttern vermochte. Er tat schon seit vielen Jahren Dienst und hatte sich das Wundern abgewöhnt. In dieser verrückten Millionenstadt gab es nichts, was es nicht gab. Die Nacht war sehr neblig und Malters schlenderte wachsam durch die Straßen. Er half immer wieder mit 25
seinen hervorragenden Ortskenntnissen aus. Im Nebel
Verirrte baten ihn um Hilfe, Straßenangaben und Auskunft
über Himmelsrichtungen. Constable Malters konnte diese
Wünsche stets erfüllen. Sein Orientierungssinn grenzte ans
Phänomenale.
Es ging auf 23.00 Uhr zu.Maltes näherte sich dem
westlichen Außenbezirk von Hyde Park. Er blieb stehen, als
plötzlich aus dem Nebel eine Gestalt auftauchte, die es sehr
eilig hatte.
»Gott sei Dank, Constable, daß ich Sie treffe«, sagte der
Gentleman und atmete sichtlich auf.
»Sie wissen nicht, wo Sie sich befinden, Sir?« Constable
Malters lächelte.
»Und ob ich weiß, wo ich bin! Ich wohne ja ganz in der
Nähe. Nein, Constable, ich habe da etwas gesehen, was ich
nicht glauben kann.«
»Sir?« Mehr sagte der erfahrene Constable nicht und
schnupperte diskret. Nein, der Gentleman, der korrekt
gekleidet war, machte keinen angetrunkenen Eindruck.
»Kennen Sie den Brunnen der Musen?« fragte sein
Gegenüber und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
»Stimmt dort etwas nicht, Sir?«
»Das eben weiß ich nicht, Constable.«
»Können Sie sich etwas deutlicher ausdrücken, Sir?«
»Der Brunnen hat doch vier Musen, nicht wahr?«
»Ich denke schon.«
»Die die Brunnenschale tragen, nicht wahr?«
»Okay, Sir.«
»Constable, in der Schale sitzen vier Männer!«
»Sind Sie sicher, Sir?« Constable Malters fühlte sich ein
wenig auf den Arm genommen.
»So wahr ich hier von Ihnen stehe, Constable. Aber
erstaunlicherweise geben diese vier Männer keinen Ton
von sich!«
»Würden Sie mich zum Brunnen der Musen begleiten, Sir?«
»Nur zu gern, Constable. Stellen Sie sich das mal vor? Vier
26
schweigsame Männer in der Brunnenschale. Sie glauben mir doch, oder?« »Sie sind Mr....?« »Lonsfaire, John Lonsfaire, Constable.« »Okay, Mr. Lonsfaire, sehen wir uns den Brunnen mal an. Und die vier Männer in der Brunnenschale geben keinen Laut von sich?« »Absolut nicht, Constable! Sie schwiegen sich völlig aus. Auch dann, als ich sie ansprach, gaben sie keinen Ton von sich.« Constable Malters schaltete um auf Wachsamkeit. Er wußte nicht, was er von dieser Mitteilung halten sollte. Er war jedoch zu der Überzeugung gekommen, daß John Lonsfaire eigentlich einen ganz normalen, wenn auch aufgeregten Eindruck machte. Es dauerte etwa fünf Minuten, bis der Brunnen der Musen in Sicht kam. Viel war von ihm nicht zu erkennen. Der dichte Nebel hüllte das verschnörkelte Kunstwerk ein wie in einen Mantel. Man konnte die Umrisse dieser Anlage nur erahnen. Es war so, wie Lonsfaire, es gesagt hatte. Vier Musen aus Bronze, übrigens recht stämmige Musen, trugen in ihren hochgestreckten Armen und Händen eine große Schale, aus der das Wasser über den Rand nach unten in eine zweite, noch größere Schale rann. In der oberen Schale hatte der Künstler seinerzeit drei Delphine eingeplant, aus deren Nasenlöchern kräftige Wasserstrahlen schössen. »Wo, Mr. Lonsfaire, bitte, sind die vier Männer?« fragte Constable Malters streng. Er blieb stehen und schaute sich nach seinem Begleiter um, dessen Gesicht einen verblüfften Ausdruck angenommen hatte. »Sie ... Sie sind weg!« »Sie hatten Ihren Spaß, Sir«, meinte Malters versöhnlich. »Damit dürfte sich die Sache erledigt haben.« »Aber sie hockten da oben in der Schale, dicht neben den Delphinen, Constable.« 27
»Der Nebel hat Sie wahrscheinlich getäuscht, Sir.« Malters gab sich immer noch versöhnlich. »Ich habe mich nicht getäuscht, Constable! Ich habe die vier Manner deutlich gesehen!« »Sir, bitte, Sie sollten das nicht tun!« Constable Malters schüttelte den Kopf, als der Gentleman auf den unteren Brunnenrand stieg und nach oben schaute. »Na, was ich gesagt habe, Constable!« Triumph war in der Stimme von Mr. Lonsfaire. Er deutete in die obere Brun nenschale. »Da hocken sie noch immer.« »Wie Sie meinen, Sir.« Malters dachte nicht im Traum daran, ebenfalls auf den Brunnenrand zu steigen. Er hatte genug von diesem Scherzkeks namens Lonsfaire. »Aber ich sehe sie ganz deutlich, Constable«, rief Lonsfaire. »Oh, sie sind ja fast nackt, wie ich sehe. Constable, das sollten Sie sich ansehen!« »Gute Nacht, Sir!« Malters wandte sich ab. Er hatte sich entschlossen, das Feld zu räumen. Doch er fuhr wieder herum, als er ein Husten und dazwischen einen wütenden Fluch hörte. Er entdeckt John Lonsfaire, der wie ein begossener Pudel aussah. »Ich verbitte mir das«, rief Lonsfaire in den oberen Teil des Brunnens hinein. »Das Wasser ist ja geradezu eiskalt.« Nun riß Constable Malters die Geduld. Er kam zurück, stieg entschlossen auf den unteren Brunnenrand und spähte in die obere Schale. Bevor er die Scharfeinstellung seiner Augen vornehmen konnte, traf ihn ein Schwall Wasser, das wirklich fast eiskalt war. Dennoch entdeckte Constable Malters tatsächlich vier fast nackte, frierende und zitternde Männer, die es sich um diese ungewöhnliche Zeit im Brunnen der Musen bequem gemacht hatten. Sie hockten bis zur Brust im Wasser und taten nichts dagegen, von den Delphinen mit Wasser bespuckt zu werden. »Kommen Sie sofort aus dem Brunnen«, verlangte Constable Malters und wischte sich das kalte Wasser aus 28
dem Gesicht. »Sie werden sich erkälten.« »Sie Idiot«, sagte einer der vier Männer mit zittriger Stimme, in der die Kälte nistete. »Ich fordere Sie noch mal auf, den Brunnen sofort zu verlassen«, befahl der Constable. »Dann nehmen Sie uns erst mal die verdammten Handschellen ab«, sagte der zweite Mann, der übrigens recht undeutlich sprach, weil seine Zähne beachtlich klapperten. »Und beeilen Sie sich, Sie Kamel!« Der dritte Mann schlug mit der linken Hand ins Wasser und beförderte eine weitere Ladung von der eisigen Brühe in Malters Gesicht. »Beeilen Sie sich«, bat der vierte Mann mit heiserer Stimme und nieste. »Das hält hier ja kein Schwein aus!« »Was habe ich Ihnen gesagt?« John Lonsfaire sah den Constable zufrieden an. »Ich weiß, daß ich mich auf meine Augen verlassen kann.« »Erstaunlich«, wunderte sich Constable Malters und schüttelte beeindruckt den Kopf. Er hatte, wie bereits gesagt, schon viel gesehen in dieser verrückten Stadt und kannte alles, was es nicht gab. Das aber war neu für ihn. Er brauchte einige Zeit, um diesen Eindruck zu verarbeiten.
*
Marty Nattels litt. Er befand sich in seiner Wohnung und lag auf einer Couch. Nach der Akupunktur durch Agatha Simpson hatte er sich aus dem Club zurückgezogen und leckte, wenn auch im übertragenen Sinn, seine Wunden. Marty Nattels, Winters rechte Hand, der junge, drahtige, gut aussehende Gangster aus den Staaten, verstand die Welt nicht mehr. Sein bisheriges Selbstbewußtsein war empfindlich angeschlagen. Zwei Amateure hatten ihn nach allen Regeln der Kunst fertiggemacht. Er war auseinandergenommen worden wie ein blutiger Anfänger. 29
Und sein augenblicklicher Boß Willie Winters hatte dazu
noch Tränen der Schadenfreude gelacht.
Marty Nattels hatte bereits reichlich Whisky getrunken,
aber sein Trübsinn steigerte sich nur noch. Er gestand sich
sogar so etwas wie. Furcht ein, ein Gefühl, das er bisher
eigentlich kaum kannte. Obwohl er hier oben in der dritten
Etage des Clubhauses wohnte, fühlte er sich nicht sicher.
Er fuhr zusammen, als er ein forderndes Pochen an der
Wohnungstür hörte.
»Wer ist da?« rief er und griff automatisch nach seiner
schallgedämpften Waffe.
»Winters«, kam die beruhigende Antwort. »Machen Sie auf,
Marty! Ich will mal nach Ihnen sehen.«
Marty Nattels erhob sich und stöhnte. Die Einstiche der
Akupunkturnadeln schmerzten immer noch. Er schleppte
sich zur Tür, öffnete und sah seinen Boß fragend an.
»Mann, Sie haben ja mächtig getankt«, stellte Winters fest
und schloß hinter sich die Tür. »Sie fühlen sich mies, wie?«
»Ich werde diese Alte und ihren Butler umbringen.«
»Einverstanden, Marty, aber übernehmen Sie sich nicht!«
»Warum haben Sie mich nicht vor diesem Duo gewarnt?«
»Genau das habe ich ausdrücklich getan«, erinnerte Willie
Winters. »Aber Sie wollten mir ja mal zeigen, wie ein Profi
aus den Staaten sowas erledigt.«
»Was die Alte und ihr Butler getan haben, war nicht fair.«
Marty Nattels schleppte sich zur Couch zurück und ließ
sich auf ihr nieder. »Warum schicken wir nicht unsere
Jungens los, Mr. Winter? Die sollten sich noch in der Nacht
mit diesen Amateuren befassen.«
»Sind Sie verrückt, Marty? Sie würden ins offene Messer
laufen. Darauf wartet Lady Simpson doch nur.«
»Wir in den Staaten würden ...«
»Hören Sie bloß mit Ihren Staaten auf, Mart! Wir befinden
uns in London. Hier gelten andere Gesetze. Und darüber
hinaus habe ich im Moment Ärger genug.«
»Mich interessieren nur diese Lady und ihr Butler.«
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»Und mich ein gewisser Herrn Balcott. Dieser Name ist Ihnen ja nicht unbekannt, wie?« »Das ist der Mann, mit dem ich mich befassen soll.« »Eben. Er hat angerufen und verlangt von mir die Herausgabe von zweiund-siebzigtausend Dollar, die ich ihm angeblich weggenommen habe.« »Wie war das?« »Herrn Balcott schäumt vor Wut. Er glaubt, daß Lady Simpson und ihr Butler für mich seine Abrechnung gestoh len haben.« »Ich verstehe kein Wort. Das kann doch nur heißen, daß diese beiden Amateure auch Balcott aufs Kreuz gelegt haben, oder?« »Jetzt haben Sie's erfaßt, mein Junge.« Willie Winters nickte und seufzte. »Kapieren Sie weiter? Diese Lady hat Balcott auf uns gehetzt. Sie wartet jetzt nur darauf, daß wir uns ge genseitig an die Gurgel springen.« »Das ist doch kriminell«, erregte sich der Killer in naiver Unschuld. »Aber wirkungsvoll.« Willie Winters goß sich ebenfalls einen Whisky ein. »Begreifen Sie jetzt, warum sie mit ihrem Butler bei mir im Club war? Wahrscheinlich sind wir von Balcotts Spitzeln zusammen mit ihr beobachtet worden. Balcott glaubt steif und fest, daß wir unter einer Decke stecken.« »Weiß er denn nicht, wer die Alte und ihr Butler sind?« »Er weiß nur, daß ich ihm angeblich zweiundsiebzigtausend Pfund habe abräumen lassen.« »"Wir müssen vereint gegen diese Lady und ihren Butler vorgehen. Nur darin liegt unsere Chance.« »Wir müssen uns erst mal gründlich einigeln«, erwiderte Willie Winters. »Wie ich Balcott kenne, erscheint er mit sei nen Leuten noch in dieser Nacht hier vor dem Club und versucht uns hochzunehmen.« »Ist das Haus auch sicher?« erkundigte sich Marty Nattels nervös. 31
»Wie eine Festung.« Willie Winters ließ daran keinen Zweifel. »Jede Etage ist abgesichert. Meine Jungens sind überall verteilt. Um durch das Treppenhaus zu kommen, müßte Balcott schon mit Dynamit und Flammenwerfern anrauschen. Nein, nein, Marty, hier kann uns nichts passieren, dafür lege ich meine Hand ins Feuer!« »Und wir sitzen in der dritten Etage«, freute sich Marty Nattels. »Wer will uns hier noch erwischen? «
*
Constable Malters schaute auf seine Uhr. Bis zur Ablösung fehlten nur noch zwanzig Minuten, dann war die ereignisreiche Nacht für ihn beendet, und er konnte nach Hause gehen. Der Nebel war vielleicht noch starker geworden, dafür aber war die Zahl der nächtlichen Fußgänger zurückgegangen. Malters dachte immer wieder an sein Erlebnis am Brunnen der Musen. Die vier Badenden waren erst nach großen Schwierigkeiten geborgen worden und befanden sich zur Zeit in der nahen Polizeistation. Sie hatten nicht gelogen und waren tatsächlich mit Handschellen an den Bronze-Delphinen angeschlossen gewesen. Die vier Männer hatten jede Auskunft darüber verweigert, wem sie dieses eiskalte Bad zu verdanken hatten. Constable Malters kam während seiner letzten Runde vor der Ablösung wieder in die Nähe des Musenbrunnens und mußte jetzt unwillkürlich lächeln. Wie sehr hatte er diesern braven Mr. Lonsfair doch mißtraut! »Hallo, Constable!« . Eine aufgeregt klingende Stimme ließ den Bobby zusammenzucken. Er blieb stehen und hielt Ausschau nach dem Besitzer der Stimme, der bisher vom Nebel verschlungen blieb. Dann aber hörte Malters schnelle Schritte und sah sich plötzlich einem älteren seriös ausse 32
henden Herrn gegenüber.
»Gut, dass ich einen Polizisten treffe«, sagte der Mann und
schnappte erst mal nach Luft. »Sie ahnen nicht, was ich
gesehen habe!«
»Badende Männer im Musenbrunnen, Sir.« Constable
Malters hatte eine plötzliche Eingebung.
»Sie wissen also?«
»Sie sind bereits weggeschafft worden«, erwiderte Malters
und lächelte beruhigend. »Alles in bester Ordnung, Sir!«
»Sind Sie sicher, Constable?«
»Vollkommen sicher. Vier Männer sind es gewesen, Sir.«
»Ob es vier Männer sind, weiß ich nicht«, lautete die
Antwort des immer noch verwirrt aussehenden Mannes.
»Meiner Schätzung nach müssen es mehr gewesen sein.«
»Es waren vier Männer, Sir. Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit!«
»Ich habe wenigstens sechs gesehen, Constable.«
»Der Nebel täuscht leicht, Sir. Nochmal vielen Dank!«
»Meiner Schätzung nach müssen es wenigstens acht
Männer sein, Constable.«
»Schon gut, Sir! Finden Sie den Weg nach Hause - oder darf
ich Sie ein Stück begleiten?«
»Sie könnten ein Stück mitkommen, Constable.
Scheußliches Wetter, nicht wahr?«
»Und kalt dazu.«, Constable Malters paßte sich dem eiligen
Schritt des nächtlichen Fußgängers an und deutete dann in
die Richtung des Musenbrunnens. »Wir sind gleich dort.«
»Tatsächlich, Constable? Ich habe die Orientierung
verloren. Doch, dort muß er sein. Na, Sie werden ja sehen.
Wenigstens acht Männer sitzen in der Schale.«
»Man verschätzt sich leicht, Sir.« Malters lächelte höflich
und hütete sich zu widersprechen. Ein Londoner Bobby
hatte in erster Linie höflich zu sein.
»Sie wirkten fast nackt«, sagte der Mann jetzt.
»Ich weiß, Sir.« Constable Malters lächelte weiter. »Eine
ungewöhnliche Geschichte. So etwas erlebt man nicht alle
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Tage.« »Hören Sie nichts, Constable?« Der Mann blieb stehen. »Was sollte ich hören, Sir?« »Das Zähneklappern. Jetzt hört man es ganz deutlich, auch das Niesen der Männer.« Constable Malters ließ sich gehen, steckte den kleinen Finger seiner linken Hand ins Ohr und brachte ihn dann in bohrende Bewegung. Als er ihn wieder herauszog, hörte auch er ein deutliches Niesen in verschiedenen Tonlagen. »Sehen Sie doch, Constable«, rief der nächtliche Fußgänger und deutete auf die obere Brunnenschale. »Restlos über füllt. Wenigstens acht Männer. Und alle fast nackt.« Constable Malters zweifelte an seinem Verstand und schloß die Augen für einen Moment. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Anblick des tatsächlich überbesetzten Brunnens nur um eine Halluzination. Als er die Augen wieder öffnete, waren die Männer allerdings immer noch vorhanden. »Nein«, stöhnte Constable Malters und griff sich an den Hals, da ihm die Luft knapp wurde. »Das gibt es doch nicht. Schon wieder! Die auf der Wache halten mich doch glatt für verrückt.« Zögernd trat er an den Brunnen heran und besichtigte die fast nackten, frierenden und niesenden Männer, die von den Delphinen ausgiebig berieselt wurden. »Sagte ich eben etwas von acht Männern?« fragte der einsame Herr neben ihm und lachte. »Neun sind es! Ich habe sie eben durchgezählt, Constable. Ich möchte bloß wissen, warum man sich bei diesem Wetter in einen Brunnen stellt? Scheint sich wohl um eine Marotte zu handeln, denke ich.«
*
»Ich komme selbstverständlich ...«
»Zufällig vorbei«, sagte Lady Simpson, Super-Intendent
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McWarden unterbrechend. Sie nickte ihm huldvoll zu und
deutete auf einen Stuhl. »Sie können, wenn Sie darauf
bestehen, einen Kaffee haben, junger Mann.«
»Ich komme selbstverständlich dienstlich vorbei«,
korrigierte McWarden gereizt und übersah das Platzange
bot. »Mylady, ich habe Ihnen einige Fragen zu stellen.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an, McWarden!«
»In der vergangenen Nacht sind einige ungewöhnliche
Dinge geschehen; Mylady.«
»Was Sie nicht sagen, McWarden! Das haben die Nächte in
London so an sich.«
»Gegen Sie und Mr. Parker liegen Anzeigen vor.«
»Sind Sie sicher, daß man mich und Mr. Parker meint?«
»Darf man erfahren, Sir, wer diese Anzeigen erstattet hat?«
schaltete sich Josuah Parker ein.
»Ein gewisser Marty Nattels«, lautete McWardens Antwort.
»Er und weitere acht Männer haben ausgesagt, sie seien
von Ihnen, Mylady und von Mr. Parker überfallen und in
einen Brunnen gesetzt worden.«
»Das soll doch hoffentlich ein Witz sein, McWarden, oder?«
Agatha Simpson schmunzelte.
»Diese, neun Männer waren mit Handschellen an den
Bronze-Delphinen angeschlossen worden.«
»Das klingt ja immer besser, McWarden.« Die ältere Dame
lachte auf.
»Sie alle sind sehr erkältet und werden ärztlich behandelt.«
»Wer ist Mr. Nattels?« erkundigte sich Parker gekonnt
scheinheilig.
»Der Geschäftsführer des Winter-Clubs, Mr. Parker.«
»Muß man diesen Club kennen?« wollte die Detektivin
wissen.
»Nun ja, es handelt sich um einen ziemlich obskuren Club,
Mylady«, räumte McWarden ein. »Winters ist ein Mann,
der uns nicht gerade unbekannt ist. Er stand einige Male
unter Anklage, konnte aber nie überführt werden.«
»Und was warf man diesem Subjekt vor?«
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»Erpressung, Nötigung und Körperverletzung.«
»Und solch einem Lümmel glauben Sie?« Agatha Simpson
sah den Super-Intendenten anklagend an. »Aber lassen wir
das, McWarden! Mr. Parker und ich sollen also insgesamt
neun Männer überfallen, überwältigt und dann in einen
Brunnen geschafft haben?«
»Eine Vorstellung, Sir, die den Lachreiz fast automatisch
auslöst«, warf der Butler gemessen ein.
»Ich weiß nicht, Mr. Parker, so unglaublich klingt das für
mich nicht. Dieser Mr. Nattels und die übrigen Männer
wollen betäubt worden sein.«
»Und kamen erst im Brunnen wieder zu sich, nicht wahr?»
Agatha Simpson freute sich.
»So ist es, Mylady.« McWarden nickte. »Diesen Männern
passierte genau das, was auch eine zweite Gruppe von
Männern erlebte.«
»Nun haben Sie aber meine Neugierde geweckt,
McWarden. Wovon reden Sie jetzt?«
»Von vier anderen Männern, die ebenfalls in diesem
Brunnen gefunden wurden. Etwa eine Stunde vorher
wurden sie von einem Passanten entdeckt.«
»Aber diese Männer haben auf eine Anzeige verzichtet?«
erkundigte sich Agatha Simpson.
»Bisher ja, Mylady.»
»Und wie heißen jene vier Personen? « wollte Josuah
Parker wissen.
»Clive Crestner ist der Wortführer der Männer. Ihre
Vornamen lauten Phil, Joe und Pete. Wollen Sie die
vollständigen Namen haben? Die kann ich Ihnen be
schaffen.«
»Arbeiten diese Männer auch für einen Club, McWarden?«
Agatha Simpson tat weiterhin ahnungslos.
»Sie arbeiten für einen gewissen Herrn Balcott«, entgegnete
der Super-Intendent. »Aber dieser Name sagt Ihnen ja
nichts, nicht wahr?«
»Da müßte ich erst nachdenken, McWarden, und dazu ist
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es mir noch zu früh. Sprechen Sie später noch mal vor!« »Darf ich eine private Bemerkung machen, Mylady?« schickte McWarden voraus. »Aber ja doch, McWarden. Sie wissen doch, wie sehr ich Sie schätze.« »Sie haben sich da mit zwei Gangstern eingelassen, die Sie unterschätzen, Mylady. Diese Burschen werden sich fürch terlich rächen. Sie haben nämlich ihren Freunden gegenüber ihr Gesicht verloren. Gangster verzeihen das nie. An Ihrer Stelle würde ich für einige Monate verreisen. Das ist sicherer und lebensverlängernd.« »Was scheren mich Balcott und Winters, McWarden?« gab die Detektivin achselzuckend zurück. »Sie spekulieren wieder mal, junger Mann. Zudem werde ich mich ja wegen der Anzeigen verantworten müssen, nicht wahr? Ich stehe den Behörden zur Verfügung. Ich bin sehr gespannt, ob diese Kreaturen ihre Anzeigen aufrechterhalten werden. Ich kann es mir nicht vorstellen.«
*
Clive Crestner war total heiser. Seine Stimme war nur noch ein rauhes Krächzen. Von seiner sportlichen Drahtigkeit war kaum noch etwas zu erkennen. Er hatte einen bösen Schnupfen, eine stetig laufende Nase und hustete. Er saß im Bett, schwitzte und trank Rumpunsch. Seinen Boß Herrn Balcott sah er klagend an. »Natürlich haben wir das Maul gehalten, Boß«, sagte er mühsam. »Die Bullen haben uns laufen lassen. Aber Sie hätten mal sehen sollen, wie die sich amüsiert haben.« »Kann ich mir fast vorstellen.« Balcott grinste wider Willen. Er wußte schon seit einiger Zeit, daß seine rechte Hand Crestner ihn eines Tages ›beerben‹ wollte. Diese im wahrsten Sinn des Wortes kalte Dusche gönnte er seinem Stellvertreter von Herzen. »Wie haben Sie sich eigentlich 37
'reinlegen lassen, Clive? Sie sind doch kein Anfänger?« »Phil, Joe und Pete marschierten in das Haus der Lady und kippten bereits im Vorflur um«, berichtete Crestner heiser. »Wahrscheinlich sind sie betäubt worden. Als sie wieder zu sich kamen, standen sie unter einer heißen Dusche.« »Wie war das?« Herrn Balcott stutzte. »Sie standen unter einer heißen Dusche«, wiederholte Crestner. »So haben sie es mir erzählt. Und ich wurde von einer Bordsteinschwalbe aufs Kreuz gelegt. Die hat mich mit 'nem Handkantenschlag außer Gefecht gesetzt. Als ich wieder geistig an Deck war, stand ich ebenfalls unter dieser Dusche. »Aber die Polizei fand Sie doch im Musenbrunnen, oder?« »Stimmt. Und darin war's verdammt kalt, Boß. Nachdem sie uns wieder betäubt hatten, müssen sie uns da 'reinge schafft haben. Anders kann ich mir das nicht vorstellen.« »Klingt alles ziemlich rätselhaft, oder? « Balcott schüttelte ungläubig den Kopf. »Das weiß ich auch, Boß«, räumte Crestner ein. »Aber so und nicht anders muß es gewesen sein. Wie geht's eigent lich Phil, Joe und Pete?« »Die liegen auch in ihren Betten und schwitzen sich die Seele aus dem Leib, Crestner. Wie soll's denn jetzt weiterge hen? Sie haben doch immer die guten Ideen, Crestner?« »Für die nächsten Rennen falle ich aus«, meinte Crestner müde und winkte ab. »Ich muß erst wieder auf die Beine kommen. Ich fühl' mich hundeelend.« »Dann geht es Ihnen kaum besser als Marty Nattels«, erwiderte Herrn Balcott genußvoll. »Dieses Großmaul hat auch fast eine Stunde im Brunnen gesessen.« »Der Junge aus den Staaten?« Freude glomm in Crestners Augen auf. »Der Killer aus den Staaten, den Winters sich zugelegt hat«, bestätigte Herrn Balcott. »Er und alle Gorillas von Winters sind im Brunnen gelandet.« »Und Winters selbst? « 38
»Hat Glück gehabt. Er war im Nachbarhaus bei seiner Freundin.« »Wie kann diese Lady das nur geschafft haben, Boß? Das geht einfach nicht in meinen Kopf. Winters, Nattels und die anderen sind doch immerhin auch Profis.« »Vor dem Club von Winters fand die Polizei einen Montagewagen mit ausfahrbarem Kran«, berichtete Balcott. »Das Ding ist aus einem Depot der Baubehörde geklaut worden. Mehr brauche ich Ihnen ja nicht zu erklären. Die Winters-Burschen sind mit dem Ding aus dem Haus gehievt worden.«. »Mich legen diese Lady und ihr Butler nicht mehr 'rein«, versprach Clive Crestner krächzend und schniefte. »Ich weiß jetzt, wo's lang geht. Mich legen die nicht mehr aufs Kreuz.« »Erhalten Sie sich Ihren Optimismus, Crestner«, erwiderte Balcott skeptisch. »Wissen Sie, was ich am liebsten machen würde? Sendepause! Wenn man diese Amateure erst mal auf den Fersen hat, ist die Ruhe dahin. Ich hab' ein komisches Gefühl in der Magengegend, Crestner. Das alles war erst der Anfang.«
*
Sir Christopher Rudnall, ein noch straff aussehender Sechziger mit weißem Haar und mächtigem Schnauzbart, strahlte Lady Simpson geradezu an. »Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen, meine Liebe«, fragte er und schaute dann ein wenig konsterniert auf den Butler, der seitlich hinter Mylady stand. »Ist noch was?« Sir Christopher war ein Mann, der auf Formen hielt. Ein Butler hatte sich seiner Vorstellung nach still und heimlich zu empfehlen. Er gehörte ins Souterrain zu den Dienstboten des Hauses. »Mr. Parker«, stellte die ältere Dame vor. »Er bleibt 39
selbstverständlich hier, Christopher. Und er wird die
Fragen stellen, die ich beantwortet haben möchte.«
»Ahem .. .!« Sir Christopher räusperte sich explosionsartig.
»Ich weiß nicht, meine Liebe, ob ich ...«
»Aber ich weiß es.« Agatha Simpson ließ sich in einen der
schweren Ledersessel fallen und schaute hinüber zur
Hausbar, die einen gut bestückten Eindruck auf sie machte.
»Mr. Parker, einen kleinen Kreislaufbeschleuniger, wenn
ich bitten darf! Ihr Fahrstil hat mich wieder mal nervös
gemacht.«
»Wie Mylady meinen. Sie gestatten?« Parker deutete in
Richtung Sir Christopher eine knappe Verbeugung an und
versorgte Mylady anschließend mit einem doppelten
Kognak.
»Sehr schön«, meinte die ältere Dame, nachdem sie ihren
angegriffenen Kreislauf wieder stabilisiert hatte. »Nun zu
den Fragen, Christopher! Sie kennen sich im Rennsport
hoffentlich noch aus, oder?«
»Aber meine Liebe, ich bin nach wie vor der Vorsitzende
der Königlichen Dachvereinigung für den Rennsport«,
erwiderte Sir Christopher ein wenig indigniert.
»Macht ja nichts, Christopher«, läutete die Antwort Agatha
Simpsons. »Hauptsache, Sie kennen sich in allen Tricks und
Schlichen aus, mit denen Rennen manipuliert werden.«
»Tricks und Schliche?«
»Es gibt sie doch, oder?«
»Wir gehen hart gegen jene Mitglieder vor, die auch nur
den Versuch eines Betrugs wagen.«
»Der worin bestehen kann, Sir?« schaltete sich der Butler
würdevoll ein.
»Muß man unbedingt von diesem Unrat sprechen?«
Christopher Rudnall wirkte verlegen.
»Muß man, Christopher«, warf die Detektivin grimmig ein.
»Gerade dir müßte doch bekannt sein, daß es so etwas wie
eine Rennsport-Mafia gibt.«
»Eine maßlose Übertreibung der Presse.«
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»Darf ich mir erlauben, Sir, davon auszugehen, daß es im Grund zwei Arten von Betrug gibt? « Butler Parker deutete erneut eine knappe Verbeugung an. »Im ersten Fall werden die Rennstallbesitzer gezwungen, eine Art Schutzgeld an diese Mafia zu zahlen. Im zweiten Fall werden die Rennen selbst manipuliert. Mit anderen Worten, bestimmte Pferde müssen gewinnen, damit ein kleiner Kreis von Wettern hohe Gewinnsummen und Quoten einstreichen kann.« »Na ja, so ungefähr«, räumte Sir Christopher widerwillig ein. »Erklären Sie mir das näher?« Lady Simpson sah ihren Bekannten voll an. »Wie manipuliert man ein Rennen?« »Die Favoriten eines Rennens, meine Liebe, werden bewußt zurückgehalten und nicht ausgeritten. Irgendein Außen seiter kommt dann als Sieger durchs Ziel und läßt die Quoten hochschnellen. Wer im vorhinein davon weiß, kann natürlich große Summen einstreichen.« »Man setzt, wenn ich das näher erläutern darf, Mylady, die Jockeys der Favoriten unter Druck oder besticht sie.« Parker kannte sich aus. »Sie lassen einen vorher ausgemachten Außenseiter gewinnen. Diese Praktiken fallen nur Kennern und Eingeweihten auf. Sie sind nur schwer zu beweisen.« »Leider.« Sir Christopher seufzte. »Aber wir gehen gegen solche Betrüger hart vor.« »Und wie sieht das in der Praxis aus, Christopher?« »Die Jockeys verlieren ihre Lizenz und werden von weiteren Rennen ausgeschlossen. Falls Rennstallbesitzer beteiligt sind, dürfen ihre Pferde nicht mehr laufen. Wie gesagt, wir gehen sehr hart vor. Wir müssen unseren Rennsport sauberhalten.« »Wann wurde so etwas praktiziert, Christopher? Wie lange liegt das zurück?« »Den letzten Fall hatten wir vor etwa einem Jahr, meine Liebe. Seitdem herrscht Sauberkeit im Rennsport.« »Du ahnungsloser Engel!« Agatha Simpson lächelte 41
mokant. »Bist du wirklich sicher, daß seitdem nichts mehr
passiert ist?«
Sir Christopher senkte betreten den Kopf.
»Warum antwortest du nicht?« erkundigte sich die Lady.
»Du weißt genau, daß dieser Betrug praktisch Rennen für
Rennen durchgeführt wird, oder?«
»Betrug dieser Art ist nur schwer zu beweisen, meine
Liebe. Unsere eigenen Ermittlungen stoßen gegen eine
Mauer des Schweigens. Ich will offen sein und darum
bitten, daß nichts an die Öffentlichkeit dringt, meine Liebe.
Einige Verantwortliche und ich sind fest davon überzeugt,
daß diese Rennsport-Mafia bereits alles verseucht hat. Ja, so
ist es! Es gibt kaum einen Jockey, der nicht unter Druck
steht. Es ist einfach schrecklich.«
»Und was ist, wenn ein Rennstallbesitzer oder Jockey nicht
mitmacht?«
»Dann geraten seine Pferde schnell außer Form oder
verenden..Und was die Jockeys angeht, meine Liebe, so
verunglücken oder sterben sie. Denk' an den jüngsten Fall!
Norman Crails ist ja gerade erst tödlich verunglückt.«
»Diese Mauer des Schweigens besteht also aus Angst?«
fragte Lady Simpson.
»Aus massiver Angst, meine Liebe.« Sir Christopher senkte
wieder den Kopf.
»Du besitzt auch einen Rennstall, Christopher, wenn ich
mich recht erinnere.«
»Ich weiß, worauf du hinaus willst, meine Liebe.« Auf der
Stirn Sir Christophers bildeten sich kleine Schweißperlen.
»Dann kann ich mir ja die nächste Frage sparen, hoffe ich.«
»Man versucht auch mich unter Druck zu setzen«, gestand
Sir Christopher gequält. »Bisher habe ich allen Versuchen
widerstanden, dafür kann ich aber seit einigen Wochen
kein einziges meiner Pferde mehr in ein Rennen schicken.«
»Muß man unterstellen, daß in Ihrem Stall eine Seuche
grassiert?« schaltete sich Butler Parker ein.
»Sie treffen den Nagel auf den Kopf, Mr. Parker.« Sir
42
Christopher nickte langsam. »Die Pferde sind durch die
Bank krank und husten. Meiner Ansicht nach sind sie
geimpft und vergiftet worden.«
»Darf und kann man möglicherweise etwas über die Höhe
der geforderten Schutzgebühren erfahren, Sir?«
»Ich soll für jedes Pferd pro Monat hundert Pfund zahlen.
Man nannte das einen Vorzugspreis. Bei den zehn Pferden,
die in meinem Stall stehen, sind das immerhin tausend
Pfund, eine unerträglich hohe Summe.«
»Sie wurden anonym verständigt, Sir?«
»Natürlich, diese Gangster trauen sich ja nicht aus ihrer
Deckung hervor.«
»Tausend Pfund«, wiederholte die Detektivin. »Das ist sehr
viel Geld. Wie soll ein normaler Rennsportfreund so etwas
aufbringen?«
»Durch Absprachen mit dieser Mafia. Man garantiert Siege,
wie es am Telefon hieß. Sie verstehen, meine Liebe, der
Boden für die Manipulationen wird sorgfältig vorbereitet.
Zahlt ein Rennstallbesitzer erst mal, wird er früher oder
später einwilligen, sich am Wettbetrug zu beteiligen, um
die erhöhten Unkosten wieder abzufangen und hereinzu
holen. Ein wahrer Teufelskreis!«
»Ich hätte große Lust, mir einen Rennstall zuzulegen«, ließ
die resolute Dame sich vernehmen.
»Nur das nicht, meine Liebe!« Sir Christopher hob warnend
die Hände.
»Mr. Parker, besorgen Sie mir einen netten Rennstall«,
wandte die ältere Dame sich an ihren Butler. »Ab sofort
werde ich ein paar Pferdchen laufen lassen.«
»Wie Mylady befehlen«, lautete Parkers gelassene Antwort.
Was Mylady anbetraf, konnte ihn nichts mehr aus der
Fassung bringen.
* Killer Marty Nattels glühte vor Haß. 43
Er hatte allerdings auch erhöhte Temperatur, was mit seiner Erkältung zusammenhing. Der ausgiebige Aufent halt in der Brunnenschale war ihm nicht besonders gut bekommen. Seine Stimme war zu einem heiseren Flüstern geworden, das unheimlich klang. Trotz seines Zustandes war der Killer unterwegs. Ein Vertrauensmann von Winters hatte vom Rennplatz aus angerufen und mitgeteilt, Agatha,Simpson und ihr Butler seien vor einer Viertelstunde aufgetaucht. Marty Nattels hatte sich daraufhin sofort in seinen Wagen geschwungen und war losgefahren. Draußen auf dem Rennplatz bot sich mit Sicherheit eine günstige Gelegenheit, sich an diesen beiden listigen Amateuren zu rächen. Der Killer aus den Staaten, Willie Winters rechte Hand, hatte inzwischen seinen ursprünglichen Plan aufgegeben, Lady Simpson und Butler Parker zu quälen, zu demütigen und danach zu töten. Nach dem Bad in der Brunnenschale wollte er nur noch Blut sehen. Jetzt reichte ihm vollkommen ein Schuß aus dem Hinterhalt. Während der Fahrt zum Rennplatz gestand er sich ein, daß er die resolute Dame und ihren Butler fast ein wenig fürchtete. Wer konnte wissen, was sie sonst noch so an Tricks anwendeten? Marty Nattels hatte keine Lust, sich noch mal bis auf die Knochen zu blamieren. Er brauchte etwa eine halbe Stunde, bis er den Rennplatz im Westen der Stadt erreicht hatte. Nattels kurvte auf den Parkplatz ein, blieb einen Moment sitzen und begutachtete erst mal die allgemeine Lage. Er prüfte quasi die Atmo sphäre und wollte herausfinden, ob seine Chancen gut waren. Nun, der Parkplatz, den er angesteuert hatte, war fast überfüllt. An diesem Nachmittag liefen einige Rennen, die an sich nicht bedeutungsvoll waren, aber immerhin ihr Publikum angezogen hatten. Während er wartete, erschienen immer mehr Fahrzeuge. Die eigentlichen Hauptrennen sollten erst in einer Stunde über die Bahn gehen, aber die Interessenten stellten sich bereits ein. 44
Nattels paßte das ausgezeichnet. Inmitten einer großen Menschenmenge ließ ein Mord sich relativ unauffällig durchführen. Im entstehenden Gedränge konnte man leicht untertauchen und sich absetzen. In diesen Praktiken hatte der Killer aus den Staaten so seine Erfahrung. Marty Nattels kaufte sich eine Einlaßkarte und schlenderte zu den Totalisatoren hinüber. Von hier aus wollte er sich nach Agatha Simpson und Butler Parker umsehen. An einen Kontakt mit dem Mann, der ihn angerufen hatte, dachte er nicht. Was er zu erledigen hatte, war seine ganz persönliche Sache, die keine Zeugen brauchte. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Tribüne. Eine Lady Simpson hatte bestimmt nur dort Platz ge nommen. Wahrscheinlich saß sie in einer der teuersten Logen. Er schob sich immer näher an die überdachte Tribüne heran, suchte die Logen ab und vermißte nach wie vor die ältere Dame, die er umbringen wollte. »Suchen der Herr was? « hörte er dann hinter sich eine gequetscht wirkende Frauenstimme. Nattels wandte sich blitzartig um. Er hatte es nicht besonders gern, wenn ein Mensch hinter ihm lauerte und ihn dann anredete. Vor ihm stand eine stämmige Platzanweiserin, die einen Stapel Prospekte im Arm hielt. Nattels hatte das sichere Ge fühl, diese Frau schon mal gesehen zu haben, obwohl sie eine uralte Nickelbrille trug und obwohl auf ihrer linken Wange ein breites Stück Heftpflaster klebte. Bevor er schalten konnte, zuckte er unter einem Stich zusammen, der seinen rechten Oberarm traf. In diesem Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die Lady! Sie lächelte ihn hintergründig an, doch ihr Lächeln verschwomm bereits vor seinen Augen. Marty Nattels ver spürte eine süße Lähmung in seinen Muskeln und hatte nur noch den einen Wunsch, es sich auf dem Boden gemütlich zu machen und eine kleine Schlafpause einzulegen. 45
»Fühlen Sie sich nicht wohl, Sir?« hörte er wie von weither die gequetschte Stimme der Lady, in die sich deutlicher Spott gemischt hatte. »Warten Sie, ich werde Sie wegbringen, Sir.« Marty Nattels knickte in den Knien ein und kam gar nicht auf die Idee, nach seiner Schußwaffe zu greifen. Er spürte, daß eine starke Hand nach seinem linken Arm griff, die ihn zusätzlich stützte. »Wenn Sie sich mir bitte anvertrauen würden, Sir«, sagte nun eine gepflegt und distanziert klingende Männerstimme. »Ich werde mir erlauben, für eine gewisse Erfrischung zu sorgen.« Bevor er völlig willenlos wurde, dachte Marty Nattels noch an einen gewissen Parker. Dann aber schaltete er endgültig ab und ließ sich im wahrsten Sinne des Wortes abschleppen.
*
»Balcott am Apparat«, hörte Willie Winters. »Sie wissen, warum ich Sie anrufe, Winters?« »Aber natürlich«, gab Winters zurück. Er befand sich in seinem Clubbüro und wartete auf die Rückkehr seiner rechten Hand; Nattels. »Wir wollen uns schließlich an einen Tisch setzen, Balcott. Wir haben ja gemeinsame Interessen.« »Sie Miststück«, erwiderte Balcott schlicht und herzhaft. »Wie war das?« Winters schluckte. »Sie verdammtes Miststück!« Balcott steigerte seine Beleidigung. »Aber das können Sie nicht mit mir machen. Dafür werden Sie ab sofort zahlen.« »Ich ... Ich verstehe kein Wort, Balcott.« Winters war ehrlich bestürzt. Vor ein paar Stunden erst hatte er sich schon mal mit Balcott unterhalten. Ihr Gespräch hatte sich um Lady Simpson und Butler Parker gedreht. Beide Männer waren überein gekommen, eine Art Burgfrieden zu schließen und gemeinsam gegen dieses Duo vorzugehen. Winters konnte sich den plötzlichen Sinneswandel seines Konkurrenten 46
nicht erklären. »Welcher Strolch hat mir seinen Killer ins Haus geschickt, Winters?« bellte Balcott durchs Telefon. »Wer wollte mich klammheimlich umlegen lassen, wie?« »Wovon reden Sie eigentlich, Balcott?« Nun wurde auch Willie Winters laut. »Von Ihrem Killer Nattels«, lautete die überraschende Antwort. »Meine Jungens haben ihn vor 'ner knappen Viertelstunde im Keller meines Hauses entdeckt.« »Das ... Das muß ein schrecklicher Irrtum sein, Balcott.« »Reden Sie doch keinen Stuß, Sie Miesling! Umbringen sollte dieser Nattels mich!« »Kein Mensch hat ihn zu Ihnen ins Haus geschickt, Balcott.« »Dann hat er sich wohl verlaufen, wie? Für wie dämlich halten Sie mich eigentlich, Winters? Nattels selbst hat es ja zugegeben.« »Unmöglich.« »Meine Jungens haben ihm natürlich erst mal gut zugesprochen, Winters, aber danach hat er dann fast flüssig gesprochen.« »Dann hat Nattels auf eigene Faust gehandelt, Balcott. Er wollte 'raus zum Rennplatz und sich mit der verrückten Lady und ihrem Butler befassen.« »Sie können mir viel erzählen, Winters. Ab sofort herrscht Krieg zwischen uns, geht das in Ihren kleinen Schädel 'rein? Ich lasse Sie und Ihren ganzen Verein wegpusten! Für Sie ist kein Platz in der Branche, Sie Dreckskerl!« »Mensch, Balcott, begreifen Sie denn nicht?« Winters war der rettende Einfall gekommen. »Diese Suppe hat uns die Lady eingebrockt. Wetten, daß ihr Butler da mitgemischt hat?« »Quatschen Sie nicht! Ich weiß, was Ihr Killer freiwillig gesagt hat, Winters.« »Und was haben Sie jetzt mit Nattels vor, Balcott?« »Den können Sie sich im Spital abholen, Winters. Der 47
Bursche wird ärztliche Hilfe brauchen, und zwar dringend. Ende!« Willie Winters legt auf und brauchte einige Sekunden, bis er sich einigermaßen wieder gefaßt hatte. Dann aber drehte er auf. Winters alarmierte seine Garde und blies, was allerdings nicht wortwörtlich zu nehmen ist, zum Angriff auf Herrn Balcott.
*
»Sind Mylady mit der Aussicht zufrieden?« erkundigte sich Josuah Parker gemessen bei seiner Herrin. »Sehr hübsch«, erwiderte sie. »Sie sind also sicher, Mr. Parker, daß Winters und seine Leute dort über die Mauer kommen werden?« »Mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit«, gab der Butler würdevoll zurück. »Und genau dort wird Mr. Balcott seine Streitkräfte auf bauen, wenn ich nicht sehr irre.« »Ihre Sicherheit ist manchmal irritierend«, stellte die Detektivin fest. »Sie ist, wie ich in aller Bescheidenheit vermelden möchte, das Ergebnis einer gewissen Logik«, erklärte Josuah Parker. »Das Parktor ist fest verschlossen, da Mr. Balcott gewiß mit einem Besuch durch Winters rechnet. Mr. Winters seinerseits weiß um das Parktor und wird es dort gar nicht erst versuchen, sondern die Mauer übersteigen.« Agatha Simpson saß auf einem starken Ast, der zu einer altehrwürdigen Ulme gehörte. Sie stand auf einem be nachbarten Grundstück und gewährte einen guten Einblick auf das Grundstück des Rennsportgangsters Balcott. Parker hatte einige Mühe gehabt, die etwas fällige Lady Simpson auf diesen Ast zu hieven. Nun aber war es ge schafft, und er war mit seiner Arbeit zufrieden. Mylady hatte eine Art Loge bezogen. »Ich bin sicher, Mr. Parker, Sie haben etwas für meinen geschwächten Kreislauf«, rief sie nach unten. 48
»Sehr wohl, Mylady!« Parker holte die flache Taschenflasche aus Sterling Silber hervor, schraubte den Verschluß ab, benutzte ihn als Becher, füllte eine gehörige Portion ein und stellte den Becher dann auf den Griff seines Regenschirms. Wie ein Artist hob er den Becher nach oben und wartete, bis die Detektivin sich bedient hatte. »Ausgezeichnet« konstatierte Agatha Simpson, nachdem sie sich erfrischt hatte. »Oh, Mr. Parker, ich glaube, der Tanz beginnt. Verschwinden Sie hinter dem Stamm, sonst sieht man Sie noch!« Lady Agatha rückte sich zurecht und nahm den Feldstecher hoch, den Parker ihr zur Verfügung gestellt hatte. Sie be obachtete einige Männer, die inzwischen die Mauer erreicht hatten und sie jetzt nacheinander gewandt überstiegen. Sie verschwanden für einen Moment aus dem Sichtfeld, tauchten dann aber wieder auf und pirschten sich durch den weiten, parkähnlichen Garten an Herrn Balcotts Haus heran. Einige Augenblicke lang fürchtete die ältere Dame schon, Parkers Rechnung würde nicht aufgehen. Im Landhaus von Herrn Balcott blieb alles ruhig. Und auch im Garten zeigte sich nichts. Rechnete Balcott vielleicht gar nicht mit einem Überfall? Würde der ganze Spaß sich nur im Landsitz abspielen? Sie kam jedoch voll auf ihre Kosten! Hinter einem Schuppen, den die Eindringlinge bereits passiert hatten, ließen sich sechs Balcott-Anhänger sehen. Sie waren mit Baseball-Schlägern bewaffnet und griffen die Eindringlinge beherzt an. Nein, es wurde nicht geschossen. Das Risiko wollten sie alle nicht eingehen. Doch sie verkeilten sich ineinander und schenkten sich nichts. Sie droschen aufeinander ein, daß es eine wahre Lust war, dieses Schauspiel zu beobachten. »Mylady sind zufrieden?« fragte der Butler nach oben. »Sehr schön das, Mr. Parker«, berichtete die ältere Dame. »Zur Zeit steht es noch unentschieden.« 49
Sie sah das vollkommen richtig. Die Winters-Leute waren erfahrene Schläger, die sich inzwischen von ihrer Überraschung erholt hatten. Sie schafften es sogar, einige Balcott-Leute zu Boden zu schicken. Doch dann sorgte Balcott für Entsatz und warf eine zusätzliche Streitmacht in die Schlacht. Die Winters-Leute zogen sich zurück und schlüpften schließlich in den Schuppen und verbarrikadierten sich in ihm. Sie hatten es nicht mehr geschafft, zurück zur Mauer zu kommen und zu flüchten. »Kampfpause, Mr. Parker«, meldete die Detektivin. »Balcott scheint es geschafft zu haben. Das paßt mir aber nicht, Mr. Parker.« »Mylady haben besondere Wünsche? « erkundigte sich Josuah Parker. »Balcott darf nicht ungeschoren davonkommen, Mr. Parker. Sorgen Sie für etwas Aufregung!« »Myladys Wunsch ist mir Befehl.« Parker lüftete seine schwarze Melone und verließ den Baumstamm. Er ging auf die Mauer zu, wandte sich nach rechts und schritt gemessen an ihr entlang, bis er eine kleine Pforte erreicht hatte, die selbstverständlich fest verschlossen war. Durch die starken Gitterstäbe konnte er jedoch auf die Rückseite des Landhauses blicken. Auf der Terrasse hatte Balcott es sich bequem gemacht. Wie ein Feldherr auf dem Hügel hatte er von hier aus den Kampf beobachtet und wohl ebenfalls genossen. Er befand sich in Begleitung seiner rechten Hand Crestner. Clive Crestner hatte einen dicken Schal um den Hals geschlungen und eine Mütze aufgesetzt. Er litt wohl noch ein wenig unter der Erkältung, die er sich in der Brunnenschale zugezogen hatte. Hinter Balcott und Crestner hatten sich zwei besonders muskulöse Gorillas aufgebaut, die für den persönlichen Schutz ihres Bosses verantwortlich waren. Josuah Parker nahm seine schwarze Melone ab und drehte 50
sie herum. Die gewölbte Innenseite enthielt zwei runde Gegenstände, die augenscheinlich an Golfbälle erinnerten. Sie waren mit Heftpflaster in der Wölbung befestigt worden. Mit sicherer Hand, ohne Hast oder Eile, löste der Butler diese beiden »Golfbälle« aus der Verankerung und machte sie einsatzbereit. Er verdrehte die Halbschalen gegeneinander und... warf sie dann kraftvoll und zielsicher auf die Terrasse. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich wieder mal, wie sportlich Josuah Parker sein konnte, wenn er nur wollte. Die Entfernung war immerhin beachtlich und betrug gut und gern an die sechzig Meter. Dennoch landeten die beiden Golfbälle präzise zwischen den dort aufgebauten Männern, die natürlich völlig überrascht wurden. Clive Crestner sprang hoch wie ein Frosch und stieß dabei mit einem der Gorillas zusammen. Herrn Balcott war eines Sprunges nicht mehr fähig. Wie fasziniert stierte er auf den ›Golfball‹, der vor seinen Schuhspitzen lag und sich deformiert hatte. Bruchteile von Sekunden später passierte es dann ... Beide ›Golfbälle‹ platzten auseinander und schickten je eine intensiv gelbe Rauchsäule hoch, die sich in Kopfhöhe der Manner sofort ausbreitete. Es dauerte nur eine halbe Sekunde, bis die Männer im gelben Nebel schon nicht mehr zu sehen waren. Dafür aber war ihr Husten und Krächzen zu vernehmen. Parker wartete das Ergebnis der beiden Würfe nicht weiter ab, denn er kannte ja bereits im vorhinein die Wirkung. Gemessen schlenderte er zu Lady Simpson zurück, die nach wie vor auf dem Baumast saß und sich jetzt neugierig herabbeugte. »Das allgemeine Bild wird sich bald entschieden ändern, Mylady«, meldete Josuah Parker höflich. »Mr. Balcott und seine Vertrauten werden sich nicht mehr sehr wohl fühlen, wenn ich das so umschreiben darf.« 51
»Da streicht ein komischer, gelblicher Nebel durch den Garten«, rief die ältere Dame wie elektrisiert. »Er treibt auf den Schuppen zu.« »Dann muß der Wind seine bisherige Richtung geändert haben, Mylady. Darf ich mir erlauben zu raten und zu empfehlen, das zu räumen, was man gemeinhin das Feld nennt? Die Nebelschwaden könnten auch diesen Bezirk hier erreichen und sich äußerst nachteilig auf das allgemeine Wohlbefinden auswirken.«
*
»Ich hab' die Nase voll und steige aus«, sagte Marty Nattels. Besonders flüssig vermochte er nicht zu reden, denn der Kopfverband zog sich auch über Nase und rechten Mundwinkel hin. Er lag in einem Einzelzimmer des Spitals und litt. »Nun mal alles der Reihe nach«, meinte Willie Winters begütigend. »Was ist denn passiert, Nattels?« »Das sehen Sie doch«, lautete die wehleidige Antwort. »Diese Balcott-Banditen haben mir fast alle Knochen gebro chen.« »Jetzt übertreiben Sie aber«, beruhigte Winters seinen Killer. »Es hätte ja noch viel schlimmer kommen können.« Er war vor einer halben Stunde vom Spital aus angerufen worden. Man hatte ihn verständigt, einer seiner Angestell ten, ein gewisser Marty Nattels, sei gerade eingeliefert worden und verlange seinen Arbeitgeber umgehend zu sehen und zu sprechen. Nun war Winters hier und stand neben dem Bett. »Noch schlimmer?« fragte Marty Nattels mühsam. »Diese Schläger haben mich 'ne Viertelstunde lang verhört, aber das hat mir bereits gereicht.« »Was ist denn eigentlich passiert?« »Ich fuhr 'raus zum Rennplatz«, berichtete Marty Nattels. »Und da hat diese Alte mich wieder erwischt. Ich war nur noch 'ne 52
Gummipuppe, als sie mich zusammen mit ihrem Butler
abschleppte. Glauben Sie, daß mir auch nur ein einziger
Mensch geholfen hätte? Diese sturen Hunde haben
überhaupt nicht reagiert.«
»Die Lady und ihr Butler warteten also bereits auf Sie,
Marty?«
»Natürlich. Die haben mir 'ne heimtückische Falle gestellt.«
»Und wie ging's weiter, Nattels?«
»Im Wagen war ich bereits weg. Als ich wieder zu mir kam,
lag ich auf 'ner Außentreppe von 'nem Keller. Und dann
waren auch schon diese Balcott-Schläger vor mir. Mehr
brauche ich ja wohl nicht zu sagen.«
»Sie haben zugegeben, ich hätte Sie auf Balcott gehetzt?«
»Ich hätte alles zugegeben, Winters, alles.« Der Killer aus
den Staaten schluchzte trocken auf. »Mann, wie kann man
nur so brutal sein?«
»Ich fahre gerade 'ne Retourkutsche«, entgegnete Winters,
ohne zu dem Problem Brutalität näher Stellung zu nehmen.
»Meine Jungens sind jetzt wohl schon im Landsitz von
Balcott und schlagen dort alles kurz und klein.«
»Hoffentlich auch Balcott und dieses Schwein von einem
Clive Crestner!«
»Bestimmt, Marty. Sobald Sie hier wieder 'raus sind, dürfen
Sie sich mit Balcott und Crestner befassen. Ich schenk' sie
Ihnen. Einverstanden?«
»Ihre Leute sind bei Balcott?«
»Klar doch, Marty. Auge um Auge, Zahn um Zahn!«
»Das geht niemals gut, Winters!«
»Wie kommen Sie denn darauf?« Willie Winters wurde
prompt unruhig und von einer starken Nervosität befallen.
»Die Alte und ihr Butler haben mich bei Balcott abgeladen,
is' doch klar«, setzte Nattels seinem Boß mühsam aus
einander. Sein Unterkiefer schmerzte nämlich scheußlich.
Und auch die anderen Platz- und Schürfwunden im Ge
sicht spannten sich. »Die Alte und ihr Butler hetzen Sie und
Balcott aufeinander. Wetten, daß Balcott jetzt Ihre Jungens
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erwartet hat?«
»Malen Sie bloß nicht den Teufel an die Wand, Marty!«
Winters schluckte und schloß dann für einen Moment die
Augen. »Die Ärzte sagen, daß ich spätestens in zwei
Wochen wieder einigermaßen gehen kann«, klagte der
Killer. »Aber dann nichts wie 'rein in die nächste Maschine.
In Chikago oder New York herrschen wenigstens noch
Sitten.«
»In ein paar Tagen sieht alles anders aus, Marty. Dann
wollen Sie sich nur noch an Balcott rächen. Und auch an
Crestner. Sie gehören Ihnen, sagte ich das nicht schon?«
»Stecken Sie sich die beiden Typen an den Hut, Winters!«
Nattels war so leichtsinnig, seinen Kopf zu schütteln. Er
stöhnte auf und verzichtete auf jede weitere unnötige
Bewegung.
»Tja, ich muß gehen.« Winters wollte seinem Killer die
Hand schütteln, was sich aber nicht bewerkstelligen ließ, da
auch beide Hände des im Bett liegenden verbunden und
bandagiert waren. »Kopf hoch, Marty, solange er noch auf
den Schultern sitzt!«
»Ich lache später«, gab Marty Nattels müde zurück. »Sagen
Sie mal, Winters, wer bewacht mich hier eigentlich?«
»Wieso? Wer sollte Ihnen denn was tun wollen? Balcott
bestimmt nicht.«
»Lady Simpson und ihr Butler.«
»Ach so! Nein, nein, ich glaube nicht, daß sie hier
erscheinen werden, Marty.«
»Ich verlange Polizeischutz«, sagte Nattels hartnäckig.
»Verdammt, ich bin Gast dieses Landes und genieße beson
deren Schutz.«
»Sie Witzbold!« Willie Winters lachte leise auf. »Ich merke,
Sie erholen sich bereits wieder. Wäre ja auch gelacht,
Marty!«
*
54
Herrn Balcott hatte sich die Sache sehr einfach gemacht. Er lag mit seinem nackten Rücken auf dem kostbaren Teppich und rutschte über den Flor. Dabei stieß er grunzende Laute des Wohlbehagens aus, bis er mit seiner rechten Hand mit Clive Crestner zusammenstieß, der ebenfalls herumrutschte, sich im Gegensatz zu seinem Boß aber bis auf den Slip entkleidet hatte. Die beiden Gangster trieben keinen Sport. Sie wollten sich auch auf keinen Fall menschlich näher kommen. Sie taten nur etwas gegen den quälenden Juckreiz auf ihrer Haut. Die gelbe Rauchwolke aus den beiden seltsamen Golf bällen hatte ihre Körper äußerst angeregt und ließ die Nervenenden vibrieren. Nach der Kollision nahm Balcott eine andere Richtung auf dem Teppich und rutschte hinüber zur Ledercouch. Als er sie erreicht hatte, rubbelte er seinen nackten Rücken gegen die Nähte der Sitzpolster und stöhnte glücklich. Seine rechte Hand erreichte inzwischen die Ziegelwand neben dem Kamin und benutzte sie als Scherbürste. Clive Crestner verdrehte die Augen und jauchzte verhalten. Die harten und rauhen Nähte waren genau das, wonach er bisher verzweifelt gesucht hatte. »Wann kommt endlich der Doktor?« erkundigte sich Balcott. »Wo bleibt der Kerl nur? Das hält ja kein Schwein aus.« »Er ... muß ... jeden Moment kommen«, erwiderte Crestner in Intervallen. »Wer ... kann ... uns nur ... diesen Streich ... gespielt haben?« »Willie Winters!« Balcott stieß seinen Rücken gegen die Nähte. »Dafür zieh' ich ihm die Haut ab«, verkündete Grestner schon wesentlich flüssiger. »Wo sind die Jungens?« Balcott hatte ein wenig Erleichterung und Linderung gefunden. »Oben im Haus, Boß. Die scheuern sich auch.« »Und wer bewacht das Haus?« 55
»K... Keine Ahnung, Boß! Is' mir auch egal!« »Und die Winters-Leute?« »Sind längst abgedampft, Boß.« Clive Crestner preßte seinen Rücken fast wütend gegen die rauhen Ziegel und schrubbte sie mit seinem nackten Rücken ab. Er sah kaum hoch, als vor den Türen zur Terrasse eine gebeugte Gestalt erschien. »Der Doktor!« Gangsterboß Balcott erhob sich und lief zu einer Tür, riß sie auf und sah sich einem älteren Mann gegenüber, der Schnauzbart und Zwicker trug. »Dr. Kendall«, stellte der Mann sich vor und drückte Balcott seine schwarze, abgeschabte Arzttasche in die Hand. »Mein Kollege ist verhindert und hat mich gebeten, hier ...« »Quatschen Sie nicht, Doktor«, schrie Balcott den Vertreter seines regulären Hausarztes an. »Tun Sie was!« »Sie leiden woran, Sir?« »Juckreiz, das sehen Sie doch! Ich halt's nicht mehr aus.« »Interessant, Sir! Haben Sie irgend etwas gegessen, was Ihnen nicht bekommen ist? Sollte es sich vielleicht um eine Allergie handeln?« »Um Giftgas, Doktor!« brüllte Clive Crestner von der Ziegelwand her. »Wir sind vergiftet worden.« »Interessant, in der Tat, interessant!« Der Mann nahm seinen Zwicker ab und putzte sich umständlich die Gläser. »Gibt es hier in der Nähe eine chemische Fabrik?« »Tun Sie endlich was, oder ich bringe Sie um!« Balcott baute sich drohend vor dem Arzt auf. »Interessant, interessant! Persönlichkeitsveränderung, wenn ich nicht sehr irre.« »Ich werde Ihnen ein schnell wirkendes Mittel geben«, versprach er dann. »Sorgen Sie für Wasser!« »Crestner, Wasser!« heulte Balcott und schrammte seinen juckenden Rücken gegen die kostbare Seidentapete des großen Wohnraums. Zusätzlich kratzte er sich mit seinen gespreizten Fingern Brust und Rücken. 56
Clive Crestner verließ, während er sich unentwegt kratzte, den Wohnraum, um das verlangte Wasser zu besorgen. Er betrat die Küche, füllte einen Glaskrug und wollte zurück in den Wohnraum. Als er die Tür aufstoßen wollte, merkte er, daß die Küchentür von außen verschlossen worden war. Wenig später hörte er seitlich neben dem Haus das Geräusch eines schnell davonfahrenden Wagens. Er rannte zu einem der Küchenfenster und sah gerade noch einen ungemein hochbeinigen, tiefschwarzen Wagen, der das geöffnete Tor passierte und dann auf der Straße verschwand. Eingreifen konnte Crestner nicht. Vor dem Fenster befanden sich dicke Gitterstäbe, und seine Schußwaffe war in der Schulterhalfter, die er in Anbetracht der Allergie natürlich nicht trug. Clive Crestner kam zu dem Schluß, daß sein Boß wahrscheinlich entführt worden war.
*
»Bitte, Sir, helfen Sie mir!« Die junge, attraktiv aussehende Dame stürzte sich förmlich auf Willie Winters, der gerade aus dem Hospital kam. Sie machte einen ungemein ängstlichen Eindruck und übersah die einsatzbereiten und drohenden Gebärden der beiden Männer, die zu Winters aufgeschlossen und offensichtlich seine Leibwächter waren. »Was liegt denn an?« erkundigte sich Willie Winters fast leutselig. Er fand, daß die junge Dame sehr gut aussah. »Ich ... Ich werde verfolgt«, stammelte die junge Dame. »Zwei Rocker sind hinter mir her, Sir. Bitte, helfen Sie mir! Sie machen nicht den Eindruck, als würden Sie mich weiter herumhetzen lassen.« »Wo sind die Typen?« erkundigte sich Winters und winkte seine beiden Leibwächter näher heran. »Dort hinter der Treppe, Sir«, hauchte die junge Dame und sah Winters dankbar an. 57
»Paul, Ron, nehmt die beiden Rocker mal kurz zur Brust«, befahl Winters lächelnd. »Macht denen klar, daß man keine Damen belästigt! Nun trabt schon los!« Paul und Ron, breitschultrig und sportlich gestählt, folgten diesem Kommando augenblicklich. Sie setzten sich in Bewegung und gingen zu der Wendeltreppe, die an der Außenwand des Gebäudes befestigt war. »Ich bin Ihnen ja so dankbar, Sir«, hauchte die junge Dame erneut. »Würden Sie mich dort zu meinem Mini-Cooper bringen?« »Vielleicht warten wir 'nen Moment, bis meine Jungens zurück sind«, schlug Willie Winters zögernd vor. Er hatte es sich angewöhnt, keinen Schritt allein zu tun, wenn er sich außer Haus befand. Er hielt die Vorsicht, wie er sich gern ausdrückte, für die Mutter der sprichwörtlichen Porzellankiste. »Ich verstehe, Sie haben auch ein wenig Angst.« Die junge Dame sah ihn aus großen, sanften Rehaugen an. »Ich kenne keine Angst«, schwadronnierte Willie Winters. »Also gut, ich bringe Sie zu Ihrem Schlitten. Sind ja nur ein paar Meter.« »Wie kann ich mich nur revanchieren, Sir?« Die junge Dame schaute sich ängstlich um und drängte gegen Win ters, der nichts dagegen hatte. Es tat seinem Selbstgefühl gut, den Beschützer spielen zu können. Sie hatten den Mini-Cooper noch nicht ganz erreicht, als plötzlich eine stämmige, vollbusige und majestätisch aussehende Dame hinter einem der parkenden Wagen hervortrat. Sie näherte sich dem Gangster, der ahnungslos war, bis er von einer langen und spitzen Hutnadel getroffen wurde. Die ältere Dame hatte dieses Instrument tief in den linken Gesäßmuskel des Gangsters gejagt. Willie Winters stieg aus dem Stand etwa zwölfeinhalb Zentimeter senkrecht in die Luft, fuhr in einer Art leicht verunglückten Pirouette herum und stierte Lady Simpson an. 58
»Wie kommen Sie dazu, das unschuldige Kind entführen zu wollen?« schnauzte Lady Agatha den fassungslosen Gangster an, der wertvolle Zeit verlor und erst mit erheblicher Spätzündung nach seiner Schußwaffe greifen wollte. Er hatte nicht mit der geschickten Akupunkturtechnik der älteren Dame gerechnet. Die bewußte Hutnadel trat noch mal in Aktion und bohrte sich in seinen Arm. Willie Winters stöhnte auf und fühlte eine wohlige Schlaffheit in seinen Muskeln. »Indianerpfeilgift«, sagte Lady Agatha genußvoll. »Setzen Sie sich schon, Sie Subjekt!« Die junge Dame mit den scheuen Rehaugen hatte die Tür ihres Mini-Coopers geöffnet und drückte den jetzt willenlo sen Winters in den Wagen. »Sie Gimpel«, meinte Agatha Simpson gelassen, als sie nachstieg. »Machen Sie sich gefälligst nicht so breit!« Dann nahm sie Platz. Da es recht eng im Mini-Cooper war, setzte sie sich fast auf Winters, der zusammengequetscht wurde, aber nicht protestierte. In seinen leicht verglasten Augen erschien ein glückliches Leuchten. Er schien diese Belastung fast zu genießen. »Nun fahren Sie schon endlich los, Kindchen«, dröhnte der Baß der älteren Dame! »Die beiden Lümmel kommen von der Treppe zurück. Wahrscheinlich werden sie gleich etwas vermissen!«
*
Sie starrten sich an und wären sich am liebsten sofort gegenseitig an die Gurgel gesprungen. Jeder von ihnen saß auf der Kante einer schmalen Bettcouch. Sie befanden sich in einem fensterlosen Raum, der allerdings recht freundlich eingerichtet war. Es gab einen dicken Teppich auf dem Boden, eine Art Hausbar an der Wand, eine Sitzgruppe und sogar einen Fernseher. Die 59
Tür war allerdings ohne Drehknopf und ließ sich von innen
bestimmt nicht öffnen.
Sie waren vor etwa fünf Minuten zu sich gekommen, saßen
also da und musterten sich grimmig.
»Das habe ich Ihnen zu verdanken, Winters«, sagte Balcott
schließlich gereizt.
»Reden Sie keinen Stuß, Balcott«, antwortete der Gangster,
der die Rennsport-Mafia an sich reißen wollte. »Durch Ihre
blöde Sturheit haben Sie uns das eingebrockt. Warum
wollten Sie auch nicht teilen?«
»Stop, Winters!« Balcott legte seinen Zeigefinger vor den
Mund. »Wahrscheinlich wird jedes Wort mitgeschnitten.«
»Na und?« Winters winkte wütend ab. »Vor Gericht haben
Tonbandmitschnitte keinen Aussagewert. Und überhaupt
wir unterhalten uns ja nur hypothetisch.«
»Was tun wir?« Balcott verstand nicht genau.
»Nur so als ob«, interpretierte Winters und grinste mokant.
»Wie sind Sie denn hier gelandet?«
»Mich hat ein Arzt abgeschleppt«, antwortete Balcott und
verzog sein Gesicht. »Inzwischen ist mir klar, daß das
Parker gewesen sein muß. Und wie hat man Sie
'reingelegt?«
»Mich hat's vor dem Spital erwischt, als ich Nattels besucht
hatte. Da war so ein Flittchen, das mich auf den Arm
genommen hat. Und anschließend hat diese verrückte Lady
mit ihrer Hutnadel zugestochen.«
»Wir sind also entführt worden.« Balcott nickte schwer.
»Sie merken aber auch alles, Balcott.« Willie Winters sah
sein Gegenüber ironisch an. »Jetzt sitzen wir ganz schön in
der Patsche.«
»Was haben die wohl mit uns vor, Winters?«
»Keine Ahnung! Ich rechne mit allem, Balcott.«
»Wohin mag die verrückte Alte uns geschleppt haben?«
Balcott seufzte und richtete sich dann steil auf. Ihm wurde
erst jetzt klar, daß der wilde Juckreiz verschwunden war.
»Wir sitzen in irgendeinem Keller.« Willie Winters stand
60
auf und versorgte sich mit einem Drink. »Erzählen Sie mir bloß nicht, wir seien entführt worden!« »Aber das sind wir doch!« »Na und? Können wir was dagegen tun? Wir müssen abwarten.« Willie Winters trank gierig. »Warum haben wir uns nur gegenseitig das Leben so schwer gemacht?« »Weil Sie sich in mein Geschäft eingemischt haben.« Balcott sah seinen Konkurrenten feindselig an. »Weil Sie den ganzen Kuchen haben wollten«, verteidigte Winters sich aggressiv.« »Ich habe ihn schließlich gebacken.« »Reden Sie doch keinen Blödsinn, Balcott!« Willie Winters grinste abfällig. »Die Spatzen pfeifen es doch von den Dächern, daß auch Sie nur 'ne Marionette sind.« »Mensch, halten Sie den Mund, Winters!« »Etwa nicht?« redete Willie Winters weiter. »Sie führen den Laden doch nur für einen Hintermann, der in Wirklichkeit absahnt. Mir machen Sie nichts vor.« »Rederei, Winters!« Balcott wirkte ein wenig verlegen. »Ich arbeite auf eigene Rechnung.« »Ihr Mann im Hintergrund muß 'ne hochgestellte Persönlichkeit sein, munkelt man.« Winters ließ nicht locker. »Sie reden sich um Kopf und Kragen, Winters.« Balcott sah sehr verärgert aus. »Haben Sie keine anderen Sorgen, als solch einen Unsinn zu reden? Wir müssen hier 'raus, und zwar so schnell wie möglich. Oder sind Sie scharf darauf, daß unsere Firmen Pleite gehen?« »Schön, ich werde mal die Tür öffnen«, schlug Winters ironisch vor und ging zur Tür. »Sie ist natürlich nicht abgeschlossen, Balcott. Wir können gehen, wohin wir wollen.« Während er noch redete, tippte er rnit den Fingerspitzen seiner rechten Hand gegen die Tür. Bruchteile von Sekunden später fuhr er völlig überrascht zurück und starrte auf das Türblatt. 61
Lautlos schwenkte die Tür auf und gab den beiden Gangsterbossen den Weg frei in einen Korridor ...
*
»Ich komme zufällig vorbei«, behauptete Super-Intendent McWarden unverfroren und grüßte respektvoll Agatha Simpson. »Sind Sie sicher, McWarden?« spöttelte die Detektivin. »Aber setzen Sie sich! Mr. Parker, eine kleine Erfrischung für unseren lieben Gast! Ich hoffe, McWarden, Sie bringen Neuigkeiten.« »Sind die zuständigen Behörden im Mordfall des Jockeys Norman Crails weitergekommen?« schaltete der Butler sich ein, während er dem Super-Intendent einen Sherry servierte. »Keinen einzigen Schritt«, bedauerte McWarden. »Aber unsere Informanten melden übereinstimmend von einer ge wissen Unruhe in Gangsterkreisen.« »Das könnte am Wetter liegen, McWarden«, gab Agatha Simpson zurück. »Der Nebel will und will nicht weichen.« »Man spricht davon, daß zwei Männer namens Willie Winters und Herrn Balcott von der Bildfläche verschwunden sind.« »Muß man diese beiden Männer kennen, McWarden?« Lady Agatha gab sich natürlich ahnungslos. »Herrn Balcott soll der Boß der Rennsport-Mafia sein. Willie Winters gilt als sein Konkurrent.« »Diesen beiden Subjekten wird doch wohl nichts passiert sein, McWarden?« »Ich hätte kaum was dagegen«, entgegnete der SuperIntendent ehrlich. »In diesem Zusammenhang berichten unsere Informanten aus der Unterwelt, es habe so eine Art Massenschlägerei zwischen beiden Gangs stattgefunden.« »Aber das hört sich doch sehr erfreulich an, McWarden. Mr. Parker, noch einen Sherry für unseren lieben Gast!« 62
»Sie wissen zufällig nichts davon, Mylady?« erkundigte
sich McWarden und sah die ältere Dame prüfend an.
»Würde Ihnen das weiterhelfen, mein lieber McWarden?«
Lady Agatha gab sich ungewöhnlich liebenswürdig.
»Ja und nein, Mylady.« McWarden nickte dankend, als
Parker ihm einen zweiten Sherry reichte. »Aber Sie werden
mir natürlich nicht die Wahrheit sagen, nicht wahr?«
»Wie gut Sie mich doch kennen, McWarden.« Lady Agatha
lächelte immer noch freundlich. »Sie haben Ihre Methoden,
wir die unsrigen.«
»Sie arbeiten also an dieser Sache?« schnappte McWarden
zu.
»Ich bin unmittelbar Beteiligte«, meinte die Detektivin. »Sie
können mir gratulieren, McWarden. Seit anderthalb
Stunden bin ich Besitzerin eines kleinen Rennstalls.«
»Ach nee!« McWarden war sichtlich überrascht.
»Ich werde mich in Zukunft am Trabrennsport beteiligen«,
führte die unternehmungslustige Dame weiter aus.
»Und wo befindet sich Ihr Rennstall, Mylady?«
»In der Nähe von Brighton, McWarden. Wir werden noch
in dieser Nacht übersiedeln. Ich möchte natürlich in der
Nähe meiner Traber sein.«
»Und Sie hoffen, daß man Sie unter Druck setzen wird?«
»Ich hoffe, Preise zu gewinnen«, korrigierte die Detektivin.
»Aber bleiben wir doch bei Ihren Informanten. Was wird
nun aus den beiden Gangs, McWarden?«
»Sie meinen, weil die Bosse verschwunden sind?«
»Wie schnell und gut Sie mich doch verstehen,
McWarden.«
»Nun ja, es werden sich neue Männer finden, schätze ich,
die die bisherige Arbeit fortsetzen. Ich habe da eine große
Sorge, Mylady.«
»Sie machen mich schon wieder neugierig.«
»Diese neuen Männer werden vielleicht noch harter sein als
ihre Vorgänger. Sie werden sich beweisen wollen.«
»Sind schon bestimmte Namen im Gespräch?«
63
»Im Falle Balcott spricht man von einem gewissen Clive Crestner. Im Falle Winters von einem Marty Nattels, aber der liegt eigenartigerweise in einem Spital.« »Was ist dem Ärmsten denn zugestoßen, McWarden? Ist er etwa von einem Pferd getreten worden?« »So ungefähr.« McWarden lächelte amüsiert. »Nach Auskunft der Ärzte wird man ihn kaum vor zwei Wochen entlassen können.« »Demnach, Sir, wenn ich Ihre Worte richtig interpretiere, befinden sich beide Gangs in einem desolaten Zustand, oder sollte ich mich täuschen?« »Nein, nein, Mr. Parker, Sie täuschen sich gar nicht. Die Rennsport-Mafia wirkt ziemlich demoliert. Aber wie ich die Lage beurteile, wird bald die starke Hand erscheinen und den ganzen Laden neu organisieren. Dann handelt es sich aber um Männer, die wir alle nicht kennen. Daran sollte man denken.« »Das klingt ja fast wie eine Warnung, mein Lieber.« Agatha Simpson zeigte sich beeindruckt. »Das ist eine Warnung, Lady Simpson«, erwiderte McWarden mit Nachdruck. »Ab sofort dürften Sie, das heißt natürlich, dürfte man gegen ein Phantom anzukämpfen haben. Das ist wesentlich schwieriger und gefährlicher.«
*
Winters traute sich nicht in den engen Korridor. Er blieb
neben der Tür stehen und machte eine einladende
Bewegung in Richtung Balcott.
»Nun gehen Sie schon«, sagte Balcott.
»Nach Ihnen«, erwiderte Winters und schüttelte den Kopf.
»Ich traue dieser verrückten Lady nicht über den Weg.«
»Ohne Grund wird man die Tür kaum geöffnet haben.«
Balcott blieb stehen.
»Eine Falle«, vermutete Winters und nickte.
»Und anschließend landen wir in irgendeiner
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Brunnenschale«, sorgte sich Balcott, der diesmal einer Meinung mit Winters war. »Mich bekommen keine zehn Pferde hier 'raus.« »Ich fühl' mich hier auch ganz wohl«, übertrieb Willie Winters und ging zu seiner Bettcouch zurück. Balcott folgte und ließ sich auf seinem Bett nieder. Anschließend starrten die beiden Gangster wie hypnotisiert auf die geöffnete Tür und auf den Teil des Korridors, den sie einsehen konnten. »Fällt Ihnen nichts auf?« fragte Balcott schließlich. »Was meinen Sie?« wollte Winters wissen. »Dieses komische Geräusch.« Balcott hob lauschend den Kopf. »Richtig, ist mir auch schon ins Ohr gegangen. Als ob da draußen dauernd was gegen die Mauern schlägt.« »Wo mögen wir wohl sein, Winters?« Balcott stand auf, doch Winters sah sich in seinen Erwartungen getäuscht. Balcott marschierte nur zu dem schmalen Wandtisch und goß sich einen Drink ein. »Wir brauchen nur durch die Tür zu gehen«, erinnerte Winters. »Ich werde mich hüten.« Balcott schüttelte energisch den Kopf und setzte sich nieder. »Ich werde mal 'nen Blick riskieren.« Winters ging zur Tür und beugte seinen Oberkörper vor. Dann warf er sich blitz schnell zurück und sah Balcott lauernd an. Wahrscheinlich befürchtete er, Balcott könnte ihn mit einem harten Stoß in den Korridor befördern. »Ich warte, bis sich was tut«, sagte Balcott, der immer noch auf der Kante seiner Bettcouch hockte. »Verrückte Situation«, stellte Winters fest. »Ganz schön raffiniert ausgedacht«, vermutete Balcott und nickte. »Wir sollen freiwillig in die Falle tapsen. Aber nicht mir mir!« »Das Geräusch wird immer deutlicher«, sagte Winters nach einer Weile. Er hatte sich niedergelegt, richtete sich jetzt auf und legte seine flache Hand prüfend gegen das 65
Mauerwerk. »Fühlen Sie doch mal, Balcott. Da sind richtige Erschütterungen in der Wand.« »Warum stellen wir nicht den Fernseher an?« Balcott ließ seinen Worten Taten folgen, schaltete das Gerät ein und wartete, bis das Bild erschien. »Das ist ja bereits die Abendschau«, sagte er dann verblüfft. »Mann, Winters, wir sind seit vielen Stunden hier in dem Bunker.« »Das Vibrieren wird immer stärker.« Winters interessierte sich nicht für die Abendschau. Er drückte erneut seine Handfläche gegen die Wand, um dann abrupt aufzustehen. »Ich werf' noch mal 'nen Blick in den Korridor. Machen Sie mit?« »Sie wollen mich aufs Kreuz legen, Winters.« Balcott grinste verächtlich. »Unsinn, wir sitzen in einem Boot, Balcott.« »Aus dem Sie mich 'rausstoßen wollen, Winters.« »Sie haben ja nur Schiß, Balcott.« »Wie Sie, Winters! Ich weiß genau, wie tückisch und hinterhältig Sie sind.« Nach dieser Anschuldigung gingen die beiden Gangsterbosse erst mal gründlich aufeinander los und verprügelten sich gegenseitig. Während sie auf solche Art und Weise ihre Argumente austauschten, gerieten sie ungewollt in die Nähe der Tür und rollten wenig später in den engen Korridor. Als sie es merkten, ließen sie betroffen voneinander ab und sahen sich ängstlich und mißtrauisch um. Sie keuchten, richteten sich auf und wischten sich dünne Blutfäden aus ihren zerschundenen Nasen. Dann starrten sie auf die steinerne Wendeltreppe, die hinauf in irgendein Obergeschoß führte.
* Clive Crestner glühte vor Eifer, Stolz und Aufregung. 66
Er stand im Obergeschoß des Balcott-Landsitzes und verfolgte die Auffahrt der Gäste, die er speziell geladen hatte. Gewaltige Dinge hatten sich seiner Ansicht nach getan. Nach dem Verschwinden seines Chefs Balcott spielte das Schicksal ihm jetzt einen einmaligen Ball zu. Als sämtliche Gäste versammelt waren, legte er noch zehn Minuten Wartefrist zu. Er tat das absichtlich, um die allgemeine Stimmung unten im Wohnraum noch zu steigern. Man sollte dort von vornherein wissen, wer der neue Boß war. In der elften Minute erschien er und nickte den zwölf Männern zu, die am langen Tisch Platz genommen hatten. Es handelt sich genau um jene Gäste, die noch immer auf ihren Anteil warteten. Ihre Stimmung war gereizt. Natürlich hatte es sich bereits bei ihnen herumgesprochen, daß Balcott verschwunden war. »Gentlemen, ich kann mich kurz fassen«, schickte Clive Crestner voraus und nahm auf Balcotts Sitz Platz, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. »Wie Ihnen bekannt ist, ist Herrn Balcott entführt worden. Eine Lady Simpson und ihr Butler sind dafür verantwortlich.« »Wenn das bekannt ist, sollte man etwas gegen sie unternehmen«, meldete sich sofort Gerald Turner zu Wort, einer der Mafia-Männer, der über eine beachtliche Hausmacht verfügte. »Wie konnte das mit Balcott überhaupt passieren?« »Die Einzelheiten dazu später«, erwiderte Crestner etwas von oben herab. »Interessant dürfte doch wohl nur sein, daß in einigen Tagen die Anteile nun doch ausgezahlt werden können, oder?« In der Runde erhob sich erfreutes und beifälliges Gemurmel. Die Aussicht auf Geld ließ die Stimmung steigen. Nur Gerald Turner wollte es wieder mal genau wissen. »Und woher kommen plötzlich die Moneten?« fragte er. »Aus der Chefetage«, lautete Crestners Antwort. »Von dort 67
hat man mich auch angerufen und angeordnet, die Versammlung einzuberufen und zu leiten. Ist das deutlich genug?« Das war allerdings deutlich genug. Unter dem Sammelbegriff ›Chefetage‹ konnten sie sich alle etwas vorstellen. Sie verkörperte die anonyme Spitze ihrer Mafia-Organisation. Sie alle wußten natürlich, daß Balcott nur der Organisationsleiter gewesen war. Über ihm gab es den eigentlichen Chef, der die Geschicke lenkte und leitete. »Und wer beweist mir, daß das stimmt?« fragte Gerald Turner mißmutig. Innerlich ärgerte er sich schwarz darüber, daß die besagte Chefetage nicht ihn beauftragt hatte, Balcotts Nachfolge anzutreten. »Moment, mit dieser Frage habe ich selbstverständlich gerechnet.« Clive Crestner griff in die Tasche seines Jacketts und holte ein kleines Diktiergerät hervor, das er sofort einschaltete. Sekunden später war die Stimme aus der Chefetage zu hören. Sie nannte zuerst ein Codewort, das ›Hafersack‹ lautete. Dann befahl eine fast mechanische und unpersönliche Stimme die Einberufung der Abteilungsleiter, wie es hieß. Clive Crestner wurde in diesem Zusammenhang eindeutig als der vorläufige Leiter der Organisation bezeichnet. Nach dieser Einleitung verkündete die unpersönliche Stimme, die ausstehenden Anteile würden von der Chefetage übernommen und ausgezahlt werden. Die Stimme verlangte ferner weiterhin absoluten Gehorsam und Mitarbeit. »Reicht das?« erkundigte sich Crestner ironisch bei Gerald Turner. »Wenn alle Stricke reißen, brauchen Sie sich ja nur selbst zu informieren, Turner. Sie wissen ja, wie Sie direkt Kontakt aufnehmen können.« »Das werde ich auch tun. Aber reden Sie erst mal weiter, Crestner!« »Vielen Dank für Ihre Großzügigkeit, Turner«, höhnte Crestner genußvoll zurück. »Also, die bisherige Arbeit auf den Rennplätzen geht weiter, aber im Vordergrund steht 68
die Jagd auf Lady Simpson und ihren Butler. Die Chefetage wünscht, daß dieses Problem umgehend geklärt und erledigt wird. Ich habe bereits einen Einsatzplan ausgearbeitet, den ich gleich vorlegen werde. Die Etage hat ihn bereits abgesegnet, das nur am Rande.« »Und um Balcott kümmern wir uns überhaupt nicht?« wunderte sich Turner gereizt. »Wenn wir erst die verrückte Lady und ihren Butler hochgenommen haben, erledigt sich das von allein«, gab Crestner zurück. »Das meint übrigens auch die Chefetage, Turner.« »Und was meint die Chefetage zu Winters?« Turner hakte nach. Er war der einzige in der Runde, der diesen ›Machtwechsel‹ nicht so einfach hinnehmen wollte. »Nach der Lady und ihrem Butler ist Winters an der Reihe. Aber nicht so, wie Sie sich das vorstellen, Turner. Wir wer den uns die Winters-Organisation angliedern und noch stärker werden.« »Und noch mehr teilen müssen«, monierte Turner mißlaunig. »Er bringt ja auch einen Bestand mit in unsere Organisation«, erinnerte Crestner lächelnd. Er verstand sehr wohl, warum Gerald Turner sich aufbäumte. »Ich denke, wir können dieses Thema jetzt verlassen. Ich erwarte Vorschläge, wie wir die alte Lady und ihren Butler aus dem Weg räumen können. Die Chefetage besteht übrigens darauf, daß dies völlig lautlos und unauffällig über die Bühne zu gehen hat. Sie ist zu bekannt, um einfach gekillt zu werden. Die Chefetage verlangt, daß die Öffent lichkeit an einen Unfall glaubt.«
*
Zögernd nahmen sie Stufe für Stufe und ›wendelten‹ nach
oben.
Sie waren und blieben mißtrauisch, die beiden
69
Gangsterbosse auf der Treppe. Sie rechneten nach wie vor mit einer tückischen Falle und hatten immer noch keine Ahnung, wo sie sich befanden. Vor einer geschlossenen Falltür blieben sie stehen. Sie sahen sich wechselseitig an und entschlossen sich dann zu einem Akt der Gemeinsamkeit. Sie stemmten sich mit ihren Rücken gegen die Falltür und drückten sie nach oben. »Das sieht ja aus wie in 'nem Leuchtturm«, wunderte sich Willie Winters, nachdem er einen Blick in den Raum geworfen hatte. »Das ist ein Leuchtturm«, stellte Herrn Balcott fest. Er zwängte sich an seinem Konkurrenten Winters vorbei und stieg in den einfach eingerichteten Raum, der einen verwahrlosten und unbenutzten Eindruck machte. »Mensch, Balcott!« Winters war gefolgt und stand vor einem der dickglasigen Fenster. Er deutete durch die blin den Scheiben nach unten. »Mitten im Wasser!« Die beiden Gangsterbosse liefen von einem Rundfenster zum anderen, bis sie sich einen Überblick verschafft hatten. Dann ließen sie sich resigniert auf einigen Kisten nieder und starrten zu Boden. »Mitten im Wasser«, sagte Winters dann noch mal. »Weiß der Henker, wie die uns hierhergeschafft haben..« »Hier kommen wir nie wieder weg«, unkte Balcott. »Die Verrückte hat uns ausgesetzt.« »Wir ... Wir müssen Signale setzen«, sagte Winters und sprang auf. »Wir müssen ein Feuer anzünden, wir müssen die Burschen an der Küste auf uns aufmerksam machen, Balcott.« »Bei dem Nebel?« »Der wird sich auch wieder geben, Balcott. Wir haben eine Chance, glauben Sie mir.« »Warum hat man uns das angetan«, seufzte Balcott schwer. »Das ist ja unmenschlich.« »Gehen wir erst mal weiter 'rauf!« schlug Winters vor. »Vielleicht funktioniert das Warnlicht noch. Wir sitzen ja 70
schließlich nicht mitten im Kanal.« »Wo sind wir überhaupt, Winters?« »Keine Ahnung, aber auch das klärt sich, wenn der Nebel erst mal weg ist. Kommen Sie schon! Mann, lassen Sie sich doch nicht gehen!« Balcott folgte nur widerwillig weiter nach oben. Er fühlte sich elend. Gestern hatte er noch auf hohem Roß gesessen und war sich wie ein ungekrönter König vorgekommen, doch nun hatten der Butler und diese verrückte Alte ihn vom Pferd geholt. Diesen Abstieg konnte er innerlich noch nicht verkraften. Winters hatte inzwischen die obere Galerie erreicht, nachdem er eine weitere Falltür auf gestoßen hatte. Er zog den Kopf ein, denn der Wind war scharf und kalt. Dichte Nebelfetzen tanzten um den Leuchtturm, dessen Basis von hohen Wellen durchgerüttelt wurde. Jetzt verstand Winters natürlich auch das Vibrieren in der Wand. Die Brecher nagten an diesem Bauwerk. »Hier findet uns kein Mensch«, fürchtete Balcott. »Hoffnungslos.« »Reden Sie doch keinen Stuß«, entgegnete Winters mit gespielter Munterkeit. »Glauben Sie etwa, die Alte und ihr Butler würden uns umkommen lassen?« »Wir sind ja auch nicht gerade zimperlich gewesen, Winters.« »Sie vielleicht, Balcott! Ich bin keinem Menschen zu nahe getreten.« »Ich ebenfalls nicht!« »Und die Unfälle?« »Wovon reden Sie eigentlich?« Balcott stieg wieder zurück in den Turm. »Halten Sie mich bloß nicht für dämlich«, antwortete Winters, als er hinter sich die Falltür schloß. »Die Namen Fisher, Roberts und Crails kennen Sie nicht, wie? Ganz sauber verpackte Morde, als Unfälle getarnt.« »Die ... Die gehen auf das Konto meiner rechten Hand, 71
Crestner ist da übers Ziel hinausgeschossen. Ich selbst habe saubere Finger.« »Mensch, und 'ne Type wie Sie hat die Mafia geleitet«, wunderte sich Winters und schüttelte den Kopf. »Ich ... Ich war nur ausführendes Organ«, verteidigte sich Balcott. »Die Befehle kamen von der Chefetage.« »Der große Unbekannte im Hintergrund, wie?« höhnte Willie Winters. »Der große Unbekannte!« Balcott nickte. »Klopfen Sie besser keine großen Sprüche, Winters! Ihr Konkurrenz verein dürfte sich inzwischen auch erledigt haben. Ihren miesen Club können Sie abschreiben, den kassiert jetzt die Chefetage.« Sie warfen sich noch einige Unfreundlichkeiten an den Kopf, beschuldigten sich gegenseitig, nannten sich feige und entschlußlos, bis sie wieder zu härteren Argumenten fanden. Die beiden Gangsterbosse prügelten sich noch mal ausgiebig durch und wankten dann über die Wendeltreppe hinunter in den Wohnraum, um sich zu erfrischen. Sie brauchten Kräfte für die nächste Runde.
*
»Ich bekam gerade eine wichtige Nachricht«, meldete Clive Crestner ein wenig wichtigtuerisch. Er hatte den großen Wohnraum verlassen und wandte sich jetzt wieder an seine zwölf Gäste. »Die Chefetage hat angerufen. Butler Parker und die verrückte Lady haben London verlassen und befinden sich auf dem Weg nach Brighton.« »Bei dem Nebel?« wunderte sich Gerald Turner, der einfach etwas sagen mußte, um nicht zu ersticken. »Die beiden Typen dürften kalte Füße bekommen haben«, redete Clive Crestner weiter. »Und noch etwas, Lady Simpson hat sich einen kleinen Rennstall zugelegt. Klar, was sie damit bezweckt.« »Mir ist überhaupt nichts klar«, gab Turner prompt von 72
sich. »Vielleicht sagt man uns mal, was das bedeuten könnte.« »Sie will herausfinden, wie wir arbeiten«, meinte Clive Crestner und lächelte überheblich. »Aber wir werden ihr was husten, denke ich. Morgen segnet sie das Zeitliche, mein Wort darauf.« »Ich werde Sie daran erinnern, Crestner«, stichelte Gerald Turner. »Wahrscheinlich setzen Sie jetzt unsere ganze Streitmacht in Bewegung und lassen diese verrückte Alte verfolgen, wie?« »Das dürfte doch wohl selbstverständlich sein. Ein Unfall im Nebel, harmloser und selbstverständlicher kann ein Mord gar nicht aussehen. Oder ist irgend jemand hier anderer Meinung?« »Hoffentlich gehen Sie mit auf Achse, Crestner«, stichelte Turner weiter. »Ich fahre selbstverständlich nach Brighton und leite die ganze Aktion. Wir wissen, wo die Lady absteigen wird. Sie besitzt hart an der Küste ein kleines Cottage. Ich bin sicher, daß sie dort wohnen wird. Bis zum Rennplatz ist es dann ohnehin nicht weit.« »Und was dürfen wir tun?« wollte Gerald Turner wissen. »Sie arbeiten wie bisher weiter«, erklärte Crestner knapp. »Damit ist die Sitzung geschlossen. Sie werden wieder von mir hören, beziehungsweise von der Chefetage.« Crestner genoß den Abgang der zwölf Männer. Bis auf Turner hatten sich alle recht schnell mit der neuen Situation abgefunden. Sie schienen ihn sogar durch die Bank als neuen Boß zu akzeptieren. Crestner rauchte sich eine Zigarette an und genehmigte sich einen Drink. Wenn er nun geschickt arbeitete, dann würde auch die Chefetage ihn in Zukunft mit der Leitung der Organisation betrauen. Er brauchte nur Erfolge vor zuweisen, und darum war ihm nicht bange. Gerald Turner war kein Problem. Er, Crestner, hatte der Chefetage eben erst mitgeteilt, daß 73
Turner sich sperrte. Schön, er hatte ein wenig übertrieben, um die Dinge schärfer darzustellen. Zu seiner Freude war ihm freie Hand gegeben worden. Falls Turner weitere Schwierigkeiten machte, durfte er diese Sache ganz nach Belieben regeln. Crestner, das Glas in der Hand, baute sich an einem der Erdgeschoßfenster auf und beobachtete die zwölf Gäste, die inzwischen bei ihren Wagen eintrafen. Jetzt diskutierten sie miteinander, und Gerald Turner schien wieder mal den Ton anzugeben. Der Mann wurde zu einer Gefahr, darüber mußte man sich klar sein. War es nicht besser, solch eine Gefahr bereits im Keim zu ersticken? Sollte er Turner weiteren Handlungsspielraum gewähren? Die Wagen verließen das Grundstück, das starke Tor schwang zu. Clive Crestner trank sein Glas leer und träumte weiter. Falls die Konkurrenzorganisation von Winters noch einkassiert wurde, dann leitete er eine Gang, die sich gewaschen hatte. Crestner traute sich das ohne weitere zu. Natürlich fragte sich Crestner, was wohl aus seinem Boß Balcott geworden war? Wo mochte Winters stecken ... Wohin hatte man diese beiden Nichtskönner verschleppt? Ob sie überhaupt noch lebten?
*
Sie hatten sich kurz und knapp verständigt. Gerald Turner erwartete seine Freunde bereits am Hintereingang zu seinem kleinen Striptease-Schuppen in Soho. Dieses Lokal betrieb er nur, um sein wahres Handwerk zu tarnen. Auf die Einnahmen aus diesem Betrieb war er wirklich nicht angewiesen. Es waren sechs Männer, die sich kurz hintereinander einfanden. Man hatte sich noch auf dem Parkplatz vor Balcotts Landhaus kurz verständigt und verabredet. Turner wollte die veränderte Lage durchsprechen. Er konnte sich 74
nicht damit abfinden, daß nach Balcotts Verschwinden ausgerechnet dieser Clive Crestner die Nachfolge des Bosses antreten sollte. Die sechs Frondeure stahlen sich ins Haus und folgten Turner nach unten ins Souterrain. Hier durchschritten sie einen Vorratskeller und erreichten über einen schmalen Gang einen Clubraum von ansehnlicher Größe, in dem man normalerweise dem verbotenen Glücksspiel frönen konnte. An diesem Abend hatte Gerald Turner diesen Raum räumen lassen. Er wollte sich hier ungestört mit seinen Freunden unterhalten. Hier unten war man sicher und brauchte keine Beobachter und Lauscher zu befürchten. Turner und seine Gäste ließen sich in einer Sitzecke nieder. Er hatte Trinkbares hereinschaffen lassen, die Männer brauchten sich nur noch zu bedienen. »Crestner paßt mir nicht«, sagte Turner, die Diskussion eröffnend. »Dieser kleine Terrier will die ganze Organisa tion an sich reißen. Weiß der Himmel, was er der Chefetage alles aufgebunden hat. Wir sollten uns umgehend mit der Chefetage in Verbindung setzen und gegen Crestner protestieren.« Er hörte sich an, was seine Freunde zu sagen hatten. Sie waren durchweg seiner Meinung, weil auch sie um ihren Einfluß fürchteten. Mit Balcott waren sie gut ausgekommen, aber mit Crestner ließ sich das nicht wiederholen. »Falls wir uns nicht querstellen, sind wir in ein paar Wochen nur noch bessere Wasserträger«, erklärte Turner schließlich. »Und ich wette, daß dann auch noch unsere Anteile sinken werden. Moment mal, was ist denn das?« »Kurzschluß?« forschte einer seiner Gäste und stand auf. »Da scheint ein Kabel durchzuschmoren.« »Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.« Gerald Turner stand ebenfalls schon auf den Beinen und ging zur Tür hinüber. Er hatte sie noch nicht ganz erreicht, als er taumelte, sich an den Hals griff und dann ohne jede 75
Vorwarnung auf die Knie fiel. Seine Gäste gerieten in leichte Panik und starrten auf die weißlich gefärbte Rauchwolke, die unter dem Türspalt hervorkroch und sich im Raum ausbreitete. Sie wuchs ungemein schnell und wallte auf die entsetzten Männer zu. Natürlich hatten sie nur den einen Wunsch, diesen Spielraum so schnell wie möglich zu verlassen. Sie rannten verständlicherweise auf jene Tür zu, die hinauf ins Haus führte, doch sie war fest verschlossen. Bevor die Männer etwas unternehmen konnten, hatte die Wolke sie bereits erreicht. Nacheinander gingen die Sechs in Ruhestellung auf den Boden und rollten sich auf dem Teppich zusammen. Sie husteten nicht, schienen überhaupt keine Beschwerden zu haben. Sie machten eigentlich sogar einen ganz glücklichen Eindruck. Es dauerte knapp zwei Minuten, bis sie alle fest schliefen. Dann öffnete sich die Tür, unter der die weiße Rauchwolke hervorgekrochen war. Ein etwas über mittelgroßer Mann erschien, der einen schwarzen Covercoat und eine Melone trug. Seine Hände wurden von schwarzen Handschuhen bedeckt. Und dieser Mann, der rein äußerlich eine fatale Ähnlichkeit mit Butler Parker auf wies, trug eine moderne Gasmaske. Er näherte sich gemessen und würdevoll den schlafenden Männern und untersuchte sie flüchtig. Dazu benutzte er die Spitze eines altväterlich gebundenen Regenschirms. Nach dieser Prüfung verließ er den Raum, erreicht den Hinterhof und näherte sich einem kleinen Kastenliefer wagen, an dessen Steuer eine majestätisch aussehende Dame saß, die ihn neugierig anschaute. »Die Dinge haben sich zu Myladys Zufriedenheit entwickelt«, meldete der Gasmaskenträger durch den Filter, der seine Stimme ein wenig veränderte. »Wenn Mylady gestatten, werde ich die Herren jetzt nach oben schaffen.« 76
»Ich werde Ihnen natürlich helfen, Mr. Parker«, sagte Agatha Simpson und wollte aussteigen. »Mit diesen Leichtgewichten nehme ich es noch immer auf.« »Mylady mögen gütigst verzeihen«, entgegnete der Butler würdevoll. »Der Spielraum ist noch mit Lachgas ge schwängert, wenn ich es so ausdrücken darf. Mylady würden meine bescheidene Wenigkeit in Verlegenheit bringen.« »Wieso denn das?« »Ich müßte unter Umständen eine achte Person aus dem Keller heraufbefördern, Mylady, ein Verfahren, daß ich Mylady nicht zumuten möchte!«
*
»Na ja, das war eine hübsche Strecke«, sagte Lady Simpson, die zu Parkers Leidwesen noch immer am Steuer des kleinen Kastenlieferwagens saß. »Wie kommen wir an die übrigen sechs Subjekte heran, Mr. Parker?« »Mit einem weiteren Sammeltransport dürfte nach Lage der Dinge nicht zu rechnen sein, Mylady«, erwiderte Josu ah Parker, der die Gasmaske natürlich nicht mehr trug. »Man wird die betreffenden Herren einzeln und nacheinan der einsammeln müssen.« »Sehr umständlich, Mr. Parker.« Sie schaute ihn mißbilligend an und vergaß darüber die Fahrbahn, die wegen der dichten Nebelschwaden ohnehin kaum zu erkennen war. »Darf ich Mylady auf das Denkmal dort vorn aufmerksam machen?« fragte Parker höflich und deutete diskret nach vorn. »Ein Denkmal? Wo denn?« »Vor dem linken Kotflügel, Mylady.« Parker hatte sich vorgenommen, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. »Ach das!« Agatha Simpson riß den Wagen im letzten Moment auf die Fahrbahn zurück. »Verzetteln Sie sich 77
nicht in Kleinigkeiten, Mr. Parker! Also, wie lautet die nächste Adresse?« Parker nannte sie. »Und wie komme ich dorthin?« Die Detektivin wußte augenscheinlich überhaupt nicht, wo sie sich befand. »Die nächste Straße links, Mylady«; erklärte der Butler. »Nein, Mylady, das dort ist die Einfahrt zur Admiralität.« »So was muß einem doch gesagt werden«, beschwerte sich die ältere Dame. »War das nicht gerade ein Gehweg?« Der Wagen rumpelte über ein Hindernis und schüttelte sich und seine Insassen durch. »Der Gehweg, in der Tat, Mylady!« Parker saß stocksteif neben seiner Fahrerin. »Und dazu noch eine Mülltonne, falls ich nicht sehr irre.« »Das also hat so gescheppert.« Agatha Simpson nickte verstehend. »Jetzt links, Mr. Parker?« »Falls Mylady so freundlich und gütig sein wollen.« Agatha Simpson nahm verwegen die Kurve, slalomte um einen entgegenkommenden Wagen herum, dessen Fahrer wie ein Verzweifelter das Steuer herumriß, und rückte sich dann zufrieden zurecht. »Daß diese Leute sich nicht an die Verkehrsregeln halten können«, beschwerte sie sich. »Er war auf meiner Fahrseite.« »Mylady sehen das zweifellos richtig«, meinte Parker ergeben, »aber Mylady sollten vielleicht ein wenig mehr nach links halten.« »Wie mag es Kathy inzwischen gehen?« fragte die ältere Dame, als habe sie Parkers Hinweis nicht gehört. »Hof fentlich wird sie von den Gangstern nicht gestellt.« »Miß Porter hat genaue Instruktionen«, beruhigte Parker seine Herrin. »Zudem soll der Nebel an der Küste noch dichter sein.« »Sie ist keine besonders gute Autofahrerin«, sinnierte Lady Agatha halblaut. »Wie Mylady meinen.« Parker war zwar anderer Meinung, 78
doch er äußerte sie nicht. »Eine gute Idee, die ich da hatte«, freute sich Agatha Simpson jetzt. »Die Gangster glauben, mich und Sie zu ver folgen. Dabei sitzt nur Kathy im Wagen.« »Mylady hatten den richtigen Einfall.« Die Idee stammte zwar von Kathy, aber das spielte im Moment keine Rolle. »Der Trick mit den beiden Gummipuppen im Wagen klappt doch immer wieder«, freute die ältere Dame sich weiter, um dann jäh und ohne jede Vorwarnung zu bremsen. »Ist das nicht eine Hauswand, Mr. Parker?« »Meiner bescheidenen Einschätzung nach das Schaufenster einer Fischhandlung, Mylady.« »Wo ist da der Unterschied?« Lady Simpson war in solchen Dingen immer sehr großzügig. »Ich sollte wohl zurück setzen, wie?« »Darf ich mir erlauben, Mylady einzuwinken?« »Unsinn, Mr. Parker, das schaffe ich auch so!« Sie knallte förmlich den Rückwärtsgang ein und gab Vollgas. Der kleine Kastenlieferwagen machte einen Satz zurück und landete mit dem Heck vor einem am Straßenrand abgestellten Personenwagen. Es schepperte diskret, ein wenig Glas ging zu Bruch. »Eine ausgemachte Frechheit, seinen Wagen derart ungeschickt zu parken«, monierte die ältere Dame und hielt an. »Mr. Parker, regulieren Sie den Schaden!« Parker verließ den Wagen, zog eine Banknote aus seiner Westentasche und klemmte ihn unter den Scheibenwischer. Dann fügte der Myladys Visitenkarte hinzu. Neben der Adresse gab es auf der Rückseite dieser speziellen Visi tenkarte noch einen Text. Er besagte, man solle sich wegen weiterer Schadensforderungen umgehend mit Myladys Anwalt in Verbindung setzen. Parker hatte diese Karten drucken lassen, seitdem seine Herrin keine Gelegenheit ungenutzt ließ, sich ans Steuer irgendeines Wagens zu setzen. Dann ging die Fahrt weiter. 79
Agatha Simpson und ihr Butler machten sich daran, die restlichen fünf Abteilungsleiter der Rennsport-Mafia ein zusammeln. Die Namen und Adressen waren bekannt. Sie hatten sich auf den Päckchen befunden, die Parker im Landhaus von Herrn Balcott an sich gebracht hatte.
*
Die Stimmung war mehr als gedrückt. Zwölf normalerweise brutale Gangster hockten in einem niedrigen Stollen und fürchteten sich. Es war eine Umge bung, die ihnen völlig fremd war. Insgeheim versuchte jeder der zwölf sich auszurechnen, wieviel Meter Gebirge wohl über ihren Köpfen sein mochte. Sie hatten die elektrischen Grubenlampen auf ihren Schutzhelmen eingeschaltet, um gegen die Finsternis anzu kämpfen. Dennoch reichte dieser Lichtkreis gerade aus, die engere Umgebung einigermaßen zu beleuchten. Um sie herum gab es halbkreisförmige Stahlschienen, die den Stollen absicherten. Auf dem Boden waren die Schienen einer schmalspurigen Grubenbahn. Es war sehr warm in diesem engen Stollen, und es roch nach Kohle. Gerald Turner zeigte wahre Führernatur. »Wie wir hier reingekommen sind, weiß ich nicht«, sagte er und richtete sich auf. »Ich weiß nur, wem wir das zu verdanken haben! Ich sage nur Lady Simpson und Butler Parker!« Für seine Zuhörer war das nicht neu. Einige von ihnen konnten sich noch recht gut daran erinnern, wie man sie überrascht, überwältigt und abgeschleppt hatte. Natürlich waren sie von der verrückten Alten und ihrem Butler gekidnappt worden. Das stand überhaupt nicht zur Debatte. »Wir stecken in einer Kohlengrube«, faßte Gerald Turner weiter zusammen. »Wahrscheinlich hält man uns in tau send Meter Tiefe fest.« 80
»Still mal«, sagte einer der zwölf unfreiwilligen Besucher. »Hat da nicht gerade was geknackt?« »So ein Gebirge arbeitet immer«, ließ Gerald Turner seine nächste Weisheit los. »Was haltet ihr davon, wenn wir Licht sparen. Eine Lampe sollte erst mal reichen.« Sie hielten überhaupt nichts davon. Sie fürchteten sich vor der Dunkelheit und wollten möglichst viel Licht haben. Als einer der zwölf Männer sich gedankenlos eine Zigarette anzünden wollte, schnellte Turners' Hand nach vorn und schlug ihm die Zigarette aus dem Mund. »Bist du wahnsinnig?« brüllte Turner den Verschreckten an. »Willst du uns alle in die Luft jagen, du Idiot? Hier unten kann's Grubengas geben.« Die übrigen Männer nahmen diesen Hinweis nicht gerade erfreut zur Kenntnis. Sie kamen sich vor, als säßen sie auf einem Pulverfaß. »Wir müssen hier 'raus«, ließ sich ein anderer ›Abteilungsleiter‹ der Mafia vernehmen. »Ich will raus! Ich ersticke hier.« »Ich werde mal die Lage sondieren«, erwiderte Turner, als die daraufhin entstandene Aufregung wegen des Ausbruchs sich gelegt hatte. »Wer kommt freiwillig mit?« Seine Freunde litten plötzlich durch die Bank unter Gehörschwierigkeiten. Keiner der übrigen elf Männer fand sich bereit, Gerald Turner auf dem Erkundungsgang zu begleiten. Turner sagte, daraufhin laut und deutlich, was er von seinen Freunden hielt, aber er schien gegen eine Wand anzureden. Ihm wurde noch nicht mal geantwortet. Gerald Turner zog also den Kopf ein, stand auf und pirschte sich nach rechts in die Dunkelheit. Der Lichtkegel der kleinen elektrischen Grubenlampe machte deutlich, daß der Stollen immer enger und niedriger wurde. Schließlich konnte Turner nur noch kriechen und landete vor einem wüsten Haufen aus Kohle und Steinen. Hier ging es nicht weiter. Gerald Turner kroch zurück, passierte seine Freunde und 81
maß sie mit wütendverächtlichen Blicken. Sie hatten sich noch immer nicht von der Stelle gerührt und trauten sich offensichtlich nicht, auch nur einen Zentimeter von ihren Plätzen zu weichen. Turner ging in gebückter Haltung in die andere Richtung, konnte sich von Meter zu Meter immer mehr aufrichten und landete schließlich vor einer Wettertür, die aber leider fest verschlossen war. Turner drückte sein Ohr gegen den Stahl dieser Tür, doch er hörte nichts als ein pfeifendes Geräusch der Wetterführung. »Wir sitzen fest«, meldete er seinen Freunden später. Seine Stimme klang gedrückt. »Wir müssen warten, bis man uns hier rausholt.«
*
Clive Crestner nickte seinen drei Getreuen zu. Die Gangster Phil, Joe und Pete, die sich inzwischen von ihrer ›Brunnenerkältung‹ etwas erholt hatten waren bereit, zusammen mit ihrem neuen Boß nach Brighton zu fahren. Ob Balcott oder Crestner, für sie war das unerheblich. Sie waren drei Männer, die wie Automaten funktionierten, wenn man ihnen nur Befehle erteilte. Als Crestner Balcotts Landhaus verlassen wollte - er stand bereits in der Halle - läutete das Telefon. Crestner ging noch mal zurück, meldete sich und schnappte wenig später nach Luft. »Wie war das?« fragte er dann mit scharfer Stimme. »Gerald Turner und sechs Freunde von ihm sind verschwunden? Einfach so? Das kann doch nicht wahr sein.« Es war aber wahr, wie sich herausstellte. Ein Angestellter des Striptease-Lokals rückte mit der Sprache heraus. Bei der Gelegenheit erfuhr Clive Crestner, daß Gerald Turner sich mit sechs ›Abteilungsleitern‹ der Organisation getroffen hatte, doch das war jetzt nicht so 82
wichtig. Im Vordergrund stand die Tatsache, daß mit einem Schlag also sieben wichtige Männer der Rennsport-Mafia wie vom Erdboden verschwunden waren. Natürlich dachte Crestner sofort an Lady Simpson und Butler Parker. Er überlegte einen Moment, suchte dann im Telefonbuch nach der Nummer der Dame und rief sie an. Das Freizeichen ertönte, doch auf der Gegenseite wurde nicht abgehoben. Wie hätte es aber auch sein können? Die verrückte Lady, ihr Butler und ihre Gesellschafterin muß ten doch längst in Brighton sein. Was Gerald Turner anbetraf, so kam Crestner plötzlich ein schrecklicher Verdacht. Waren sieben Abteilungsleiter verschwunden, wo waren dann die fünf anderen Männer? Waren sie wenigstens zu erreichen? Crestner telefonierte, geriet in immer größere Erregung und wußte nach knapp vier Minuten, daß sich eine Kata strophe ereignet haben mußte: Sämtliche Abteilungsleiter waren verschwunden. Die engsten Mitarbeiter dieser Männer hatten noch nicht mal die Andeutung einer Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Crestner tat etwas, was er nur in ausgesprochenen Notfällen tun durfte. Er wählte die Nummer der ›Chefetage« und brauchte einige Zeit, bis er endlich die seelenlose, fast maschinenartige Stimme des eigentlichen Chefs hörte. Crestner riß sich zusammen, berichtete so kurz wie möglich und informierte den geheimnisvollen Mann, den keiner kannte, weil er bisher sein Inkognito gewahrt hatte. Crestners Worte beeindruckten diesen geheimnisvollen Chef. Auf der Gegenseite wurde es still. »Sind Sie noch am Apparat?« fragte Crestner schließlich nervös. »Keine Panik.« Die Stimme blieb seelenlos. »Sie fahren doch jetzt nach Brighton, nicht wahr?« »Wir wollten gerade starten, als der bewußte Anruf kam.« »Es bleibt bei dieser Fahrt, Crestner! Lady Simpson, Butler 83
Parker und Miß Porter sind zu entführen!« »Sind sie überhaupt in Brighton?« Crestner wunderte sich selbst über die Kühnheit, solch eine Frage zu stellen. »Was Sie da sagen, Crestner, ist gar nicht so schlecht. Legen Sie auf, ich werde Sie innerhalb der nächsten fünf Minuten wieder anrufen!« Bevor Crestner richtig gehört hatte, knackte es in der Leitung. Er legte den Hörer auf, zündete sich schon wieder die nächste Zigarette an und schaute zu seinen drei Begleitern hinüber, die abwartend in der Halle standen. Dann wanderte er unruhig umher und ließ den Apparat nicht aus den Augen. Als es läutete, warf Crestner sich förmlich auf ihn und riß den Hörer hoch. »Die Chefetage«, meldete sich die Automatenstimme kühl und sachlich. »Das Trio hat sich geteilt, Crestner. Miß Por ter ist in Brighton, nicht aber Lady Simpson und Butler Parker. Sie werden erst nach Mitternacht an der Küste er wartet.« »Was soll ich jetzt tun, Sir?« fragte Crestner. »Es bleibt bei dem geplanten Kidnapping«, antwortete die seelenlose Stimme. »Fahren Sie sofort los! Es ist sinnlos, Lady Simpson und Butler Parker hier in London suchen zu wollen. Haben wir sie, wissen wir auch, wo die Verschwundenen versteckt gehalten werden.« Crestner legte auf. Er spürte die Schwere der Verantwortung. Wenn ihm jetzt alles gelang, dann war er der erste Mann unterhalb der Chefetage, dann leitete er die Organisation und konnte Geld scheffeln. Er brauchte nur dieses verrückte Trio hochzunehmen. Und das konnte ja wohl nicht so schwer sein. Er wußte ja jetzt, wie raffiniert Lady Simpson, Butler Parker und diese Porter waren. Eine erkannte Gefahr war nur noch eine halbe Gefahr!
*
Sie hatten sich wieder mal geprügelt und gönnten sich eine 84
weitere Ruhepause.
Herrn Balcott massierte seine schmerzende Nase, Willie
Winters hingegen behandelte vorsichtig seinen Unterkiefer.
Sie saßen auf ihren Bettcouches und machten eigentlich
einen recht versöhnlichen Eindruck. »Wir sind bescheuert,
Balcott«, stellte Winters plötzlich fest. Was haben wir
davon, wenn wir uns gegenseitig zur Sau machen?«
»Frage ich mich auch, Winters.« Balcott nickte. »Wir sitzen
in einem Boot.«
»Und gehen uns wieder gegenseitig an den Hals, sobald
wir wieder frei sind.« Winters grinste matt.
»Muß ja nicht sein.« Balcott zuckte die Achseln.
»Mit anderen Worten, ich soll aufgeben und abhauen,
wie?« Winters sah Balcott aufmerksam an.
»Wir könnten ja auch zusammenarbeiten«, schlug Balcott
überraschend vor.
»Machen Sie sich doch nichts vor, Balcott.« Winters
schüttelte den Kopf. »Sie wollen von dem Kuchen nichts
abgeben. Das ist es doch.«
»Ich schon, aber ob die eigentlichen Bosse mitmachen
würden, weiß ich natürlich nicht.«
»Sie haben sie ja noch nie gefragt, Balcott.«
»Das werde ich aber tun, sobald wir hier 'runterkommen,
Winters.«
»Ob man uns je finden wird?« Wilie Winters stand plötzlich
auf und trommelte mit seinen Fäusten wütend gegen das
dicke Mauerwerk des Leuchtturms. »Der Nebel wird
dichter, und die See geht immer höher. Ich dreh' noch glatt
durch.«
»Meine Stimmung ist auch nicht gerade bombig.« Balcott
fingerte wieder an seiner leicht eingedrückten Nase herum.
»Wenn ich an meinen Laden denke! Ohne mich fällt der
doch glatt auseinander.«
»Oder irgendein ehrgeiziger Bursche setzt sich auf Ihren
Stuhl, Balcott.«
»Wenn, dann nur Clive Crestner«, vermutete Balcott
85
grimmig. »Und wer ist es bei Ihnen?« »Keine Ahnung, Balcott. Meine rechteHand liegt ja im Spital. Aber das wissen Sie ja.« »Marty Nattels«, meinte Balcott und lächelte unwillkürlich. »Nee, der ist außer Gefecht gesetzt, Winters, der kann Ihnen nicht gefährlich werden.« »Wird man Sie eigentlich fallen lassen, Balcott? Ich denke da an Ihren obersten Chef.« »Warum sollte man?« Balcott wollte diesen Hinweis überspielen, doch es gelang ihm nicht. Natürlich hatte er sich bereits Gedanken gerade über diesen Punkt gemacht. Wie würde die Chef etage reagieren? War er für sie überhaupt noch interessant? »Wenn ich diese verrückte Lady nur mal in die Finger bekäme«, sagte Winters wütend. »Und diesen Butler! Ver dammt, denen haben wir's zu verdanken, daß wir hier festsitzen.« »Wir haben sie unterschätzt.« »Das passiert mir nie wieder, Balcott.« »Mir auch nicht, Winters. Sobald ich hier weg bin, laufe ich Amok. Dann bleibt kein Auge trocken.« »Ich werde mitlaufen, Balcott.« Willie Winters trat mit der Schuhspitze gegen die feste Wand und fluchte, als sein dicker Zeh gestaucht wurde. »Sie haben doch 'n gutes Dutzend erstklassiger Abteilungsleiter, wie sich das bei euch im Verein so nennt? Warum tun die nichts? Die müßten doch längst ausgeschwärmt sein und nach Ihnen suchen, Balcott!« »Ich habe fast Angst, es auszusprechen, Winters.« Balcott senkte den Kopf. »Butler Parker und Lady Simpson?« tippte Winters an. Er hatte sofort verstanden. »Richtig«, bestätigte Balcott. »Wer weiß, was die mit meinen Jungens angerteilt haben? Man muß mit allem rechnen.« »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß die Alte und ihr Butler sämtliche Mitarbeiter von Ihnen 86
hochgenommen haben, oder? « »Würde mich nicht überraschen. Winters, würde mich überhaupt nicht wundern.« »Daß muß man sich mal vorstellen, Balcott«, schimpfte Winters wieder los. »Zwei blutige Amateure trocknen 'nen ganzen Verein aus. So was gibt's doch nicht. Das war noch nie da! Das geht einfach nicht in meinen Schädel 'rein.« »Da ist nur dieser Butler«, entgegnete Balcott. »Dieser Bursche steckt voller Tricks und Finten. Der tut immer genau das, was man gerade nicht vermutet.« »Was unfair ist«, beschwerte sich Winters. »Er hält sich nicht an die üblichen Spielregeln.« »Genau«, schloß Balcott. »Bei den Bullen weiß man wenigstens immer, woran man ist. Aber dieser Butler ser viert einem immer neue Überraschungen. Wie soll man da überhaupt noch reagieren?' So schnell kann ja kein Aas denken!«
*
»Es hat wirklich geklappt?« freute sich Kathy Porter, nachdem sie Lady Simpson und Butler Parker begrüßt hatte. »Wie am Schnürchen, Kathy«, erwiderte Agatha Simpson zufrieden. »Nur die Fahrt hierher hat eine kleine Ewigkeit gedauert.« »Es gab Schwierigkeiten, Mylady?« »Mit Mr. Parker«, lautete die grimmige Antwort. »Er fuhr mit der Geschwindigkeit einer Schnecke. Dieser Mann war einfach nicht dazu zu bewegen, endlich mal den dritten Gang zu benutzen.« »Der Nebel ließ eine gewisse Vorsicht angeraten erscheinen, Mylady«, verteidigte sich Josuah Parker gemessen. »Schnickschnack, Mr. Parker! Sie haben meine Nerven ganz schön strapaziert.Und hier, Kindchen? Haben diese 87
Subjekte sich bereits blicken lassen? « »Bisher nicht, Mylady. Die Gangster leiden wahrscheinlich ebenfalls unter dem Nebel. Aber darf ich noch mal nach den, Gangstern fragen. Sie haben alle festsetzen können? « »Bis auf das schäbige Fußvolk, Kindchen.« Lady Simpson nickte. »Zwölf Lümmel sitzen jetzt in einer Kohlengrube und werden sich hoffentlich nicht wohl fühlen. Daß Winters und Balcott im Leuchtturm sind, wissen Sie ja be reits.« »Es hat keine Gegenwehr gegeben?« Kathy wunderte sich lächelnd. »Ich war doch etwas in Sorge, offen gestanden.« »Dazu bestand nach Lage der Dinge keine Notwendigkeit«, erläuterte Butler Parker. »Die Gangster selbst waren ja so frei, mir ihre diversen Pläne zu unterbreiten.« »Sie haben sie belauscht, Mr. Parker?« »Auf dem Umweg über das, was man in Fachkreisen eine ›Wanze‹ nennt.« Mr. Parker lächelte, wenn auch nur andeu tungsweise. »Als ich Mr. Balcott in der Maske eines Arztes entführte, war ich so frei, solch ein elektronisches Kleinstgerät im Hause zurückzulassen. Es übertrug dann später eine Vollversammlung der Abteilungsleiter, in der ein gewisser Mr. Gerald Turner Tendenzen zum Wi derspruch hören ließ. Mylady und meine bescheidene Wenigkeit hefteten uns an die Fersen des Erwähnten, der nach der Sitzung noch ein wenig intim mit seinen Freunden redete. Diese Rechnung, Miß Porter, ging auf. Bei Mr. Turner konnten wir zusammen mit seiner Person insgesamt sieben Gangster zu einem Besuch in der Grube einladen.«»Die restlichen fünf Subjekte holten wir dann nacheinander aus ihren Wohnungen«, schaltete die ältere Dame sich ein. »In einigen Fällen wurde zwar ein wenig Widerstand geleistet, aber nicht nachdrücklich genug. Ich konnte nur zweimal mit meinem Pompadour zulangen.« »Sir Christopher rief übrigens an«, sagte Kathy jetzt. Sie nannte die Uhrzeit seines Anrufes. »Er möchte Sie unbe dingt sprechen, Mylady. Sir Christopher scheint einige 88
wichtige Entdeckungen gemacht zu haben.
»Wann wird er hier erscheinen?« fragte Agatha Simpson.
»Morgen, Mylady. Er bittet mich, die besten Grüße
auszurichten.«
»Was will er schon groß entdeckt haben!« Agatha Simpson
verzog geringschätzig ihr Gesicht. »Es muß mit den
Rennsport-Gangstern zu tun haben, Mylady«, entgegnete
Kathy Porter.
»Sie teilten Sir Christopher mit, Lady Simpson und meine
Wenigkeit seien noch in London?«
»Natürlich, Mr. Parker. Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Aber nein, Miß Porter.« Parker schüttelte den Kopf.
»Moment mal, Mr. Parker, warum haben Sie überhaupt
gefragt? Hat Sir Christopher sich verdächtig gemacht?
Trauen Sie ihm nicht über den Weg?«
»Das, Mylady, würde ich mir niemals erlauben.«
»Ob er der Mann aus der Chefetage ist, Mr. Parker?«
»Chefetage?« fragte Kathy Porter.
»Balcott ist doch nur der Strohmann für den eigentlichen
Gangsterboß, meinte die Detektivin. »Er erledigt die
Schmutzarbeit für einen Mann, der hübsch im Hintergrund
bleibt und sich nicht die Hände dreckig machen will.«
»Das war mir neu«, gestand Kathy Porter ein.
»Mir auch, Kindchen, trösten Sie sich! Wir haben's erst
erfahren, als Mr. Parker eine seiner Wanzen setzte. Lassen
Sie mich nachdenken! Könnte ich Sir Christopher zutrauen,
daß er eine Gangsterorganisation leitet?«
»Sir Christopher ist doch der Vorsitzende der Königlichen
Dachvereinigung für den Rennsport, Mylady«, schickte
Kathy Porter voraus. »Ein Mann in dieser Stellung ...«
»Papperlapapp, Kindchen!« Agatha Simpson schnaubte
verächtlich. »Gauner und Gangster gibt es in allen Kreisen
und Schichten. Lehren Sie mich das Leben kennen! Aber
wieso kam ich überhaupt auf Sir Christopher? Mr. Parker,
was wollen Sie mir da einreden?«
»Mylady müssen meine bescheidene Wenigkeit
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mißverstanden haben«, erwiderte Parker. »Es lag und liegt mir mehr als fern, Sir Christopher in auch nur der geringsten Art und Weise verdächtigen zu wollen.« »Was ich mir auch ausgebeten haben möchte, Mr. Parker«, grollte Agatha Simpson, »Verlassen Sie sich auf meine Nase! Sie sagt mir deutlich, daß dieser geheimnisvolle Mann aus der Chefetage nichts mit Sir Christopher zu tun hat. Eher würde ich Super-Intendent McWarden für diesen Mann halten!«
*
Gerald Turners gespielter Optimismus war in sich zusammengefallen. Er und seine elf Freunde hockten nach wie vor im Stollen und gaben sich ihren düsteren Gedanken hin. Sie fühlten sich alle verloren und wie lebendig begraben. Erfreulich war nur, daß sie in einer Nische einen Karton mit Cola-Büchsen und Keksen gefunden hatten. Sie konnten also ihren Durst stillen und ihren inzwischen auch nagenden Hunger ein wenig bekämpfen. Ansonsten aber schien die Lage hoffnungslos zu sein. Gerald Turner sah eine schreckliche Konsequenz vor sich, aber er sprach nicht laut über seine Befürchtungen. Was war, wenn Crestner diese verrückte Lady und ihren Butler erledigte? Nur die Lady und Butler Parker wußten doch, wo sie sich hier befanden. Waren sie erst mal tot, dann würden sie hier unten nie gefunden werden. Als seine Gedanken diesen Punkt erreicht hatten, stand Gerald Turner abrupt auf, rannte wieder hinüber zur Wet tertür, stieß sich gründlich den Kopf, merkte es fast kaum und hämmerte wieder mit den Fäusten gegen den Stahl. Seine Freunde reagierten kaum darauf. Hatten sie sich mit ihrem Schicksal bereits abgefunden? Resignierten sie? Gerald Turner warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen die Wettertür, worauf ein deutliches Knirschen im 90
Gebirge hinter und über den gebogenen Stahlträgern zu
hören war. Das Gestein schien in Bewegung zu geraten.
Kündigte sich ein Einbruch an?
Zwei seiner Freunde reagierten überängstlich.
Sie begaben sich hinüber zu Turner, beruhigten ihn und
schleiften ihn zurück auf seinen Platz. Sie hatten ihn sehr
nachdrücklich beruhigt, wie sich zeigte. Gerald Turner
machte nämlich einen angeschlagenen Eindruck.
»Wohl wahnsinnig geworden, wie?« sagte einer der beiden
Therapeuten wütend.
»Fehlt nur noch, daß wir hier verschüttet werden«, fügte
der zweite Mann gereizt hinzu. »Rühr dich nicht mehr von
der Stelle, Turner!«
»Be ... Begreift ihr denn nicht?« Turner massierte sein Kinn,
das ein wenig schief hing. Er konnte nur mühsam sprechen.
»Sind die Lady und ihr Butler erst mal weg vom Fenster,
weiß kein Mensch, wo wir sind.«
Nein, daran hatten sie noch nicht gedacht...
Gerald Turner rächte sich auf seine Weise. Nun schwieg er
nicht mehr. Er malte ein sehr düsteres Bild.
»Gute tausend Meter über uns«, redete Turner weiter.
»Hier findet uns kein Schwanz, Leute. Und Crestner ist
hinter der Lady und Butler Parker her. Haben wir doch alle
gehört. Er hat von der Chefetage den Auftrag, die beiden
umzulegen.«
Die elf Zuhörer begriffen, gerieten in Panik und
beschäftigten sich dann konzentriert mit der Wettertür.
Aber sie hielt stand und verursachte nur ein zweites, noch
deutlicheres Knirschen im Gestein. Daraufhin stahlen die
Männer sich zurück und warteten ängstlich, bis die
scheußlichen Geräusche sich wieder legten.
»Die Chefetage läßt uns schon nicht verkommen«, hoffte
schließlich einer der elf Eingeschlossenen.
»Die wird sich einen feuchten Kehricht um uns kümmern«,
prophezeite Gerald Turner, »Die sorgen schnell für Ersatz.
Für die existieren wir schon nicht mehr.«
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»Und was sollen wir tun?« fragte ein anderer. »Sobald wir
an der Tür sind, rutschen Steine in den Stollen.«
»Wir können überhaupt nichts tun«, sagte Gerald Turner
leise. »Wir sitzen wie Ratten in der Falle.«
Gegen diese Feststellung erhob sich kein Widerspruch.
*
»Wie sieht's aus?« erkundigte sich Clive Crestner. Nach langer, vorsichtiger Fahrt durch den Nebel war er gegen Morgen in Brighton eingetroffen. In seiner Begleitung befanden sich Phil, Joe und Pete. Crestners Frage galt den drei Männern, die vor langen Stunden hinter dem hochbeinigen Wagen des Butlers her gewesen waren. Sie gehörten zu Balcotts Stammpersonal und galten als kalte, brutale Männer. »Vor anderthalb Stunden ist da ein Land-Rover vorm Cottage eingetroffen«, meldete einer dieser drei Männer. »Und komisch, Crestner, aus dem stiegen noch mal Butler Parker und die alte Lady.« »Gibt's die denn doppelt?« fragte ein zweiter Mann. »Wir haben uns reinlegen lassen«, klärte Crestner die drei Verfolger auf und grinste. »Ihr seid nur hinter dieser Kathy Porter her gewesen. Sie fuhr allein nach Brighton.« »Aber wir haben doch die Alte und den Butler deutlich gesehen.« »Ihr habt nur geglaubt, sie gesehen zu haben«, korrigierte Crestner und schüttelte den Kopf. »In dem Wagen waren nur zwei Puppen, die man als Lady Simpson und Parker ausstaffiert hatte.« »Verdammt raffiniert«, staunte der erste Gangster. »So was muß einem doch gesagt werden«, beschwerte sich der zweite. »Woran soll man sich eigentlich noch halten?« sinnierte der dritte Mann halblaut und empört. »An Tatsachen«, empfahl Clive Crestner großspurig. »Und 92
für die bin ich jetzt zuständig. Erst seit anderthalb Stunden sind die wirklichen Typen drüben im Cottage. Daran besteht kein Zweifel.« »Und wann nehmen wir sie hoch?« »Noch innerhalb der nächsten Stunde«, versprach Crestner unternehmungslustig. »Ihr zeigt mir gleich mal, wo das Cottage liegt.« »Ganz in der Nähe der Trabrennbahn«, erwiderte einer der drei Männer. »Legen wir sie um?« fragte der zweite Gangster. »Ausgeschlossen, die werden noch gebraucht«, erwiderte Crestner und schüttelte den Kopf. »Das ist ein ausdrückli cher Befehl der Chefetage, Jungens. Lady Simpson und ihr Butler haben in London nämlich ganz tückisch zugelangt.« Crestner verzichtete auf nähere Erklärungen. Er ließ sich die genaue örtlichkeit zeigen. Obwohl immer noch Nebel herrschte, war das Cottage recht gut zu erkennen. Es handelte sich um einen einstöckigen, rechteckigen Steinbau, der in einer Felsnische lag. Er war umgeben von einem leicht verwilderten Garten. »Also los«, entschied Crestner. »Bevor es hell wird, müssen wir die Sache hinter uns gebracht haben. Wir pirschen uns durch den Garten an die Bude 'ran und schlagen blitzartig zu. Unser Vorteil, daß die Typen im Haus keine Ahnung haben, was auf sie zukommt!«
*
Herrn Balcott und Willie Winters standen auf der freien Galerie des kleinen Leuchtturms und ließen sich den fri schen Seewind um die Nase rauschen. Die beiden Gangsterbosse hatten inzwischen endgültig darauf verzichtet, sich zu verprügeln. Einträchtig warteten sie darauf, daß der Nebel sich endlich hob. Einträchtig beobachteten sie die Brandung, die die Klippen umspülte, auf denen der Leuchtturm stand. Sie waren längst zu der 93
Einsicht gekommen, daß sie ohne fremde Hilfe nie dieses Gefängnis verlassen konnten. Sie wußten noch nicht mal genau, wie weit die Küste eigentlich entfernt war. »Wie mag der Butler uns nur hierhergeschafft haben?« wunderte sich Balcott halblaut. »Für den scheint nichts unmöglich zu sein«, gab Winters zurück. »Schade, daß man solche Leute nicht in der Organisation hat, wie?« »Mit so was wären wir unschlagbar«, pflichtete Balcott seinem bisherigen Konkurrenten bei. »Parker könnte bei uns ein Vermögen verdienen.« »Und Sie und ich wären abgemeldet«, vermutete Willi Winters. »Ich bin gespannt, ob Ihre Chefetage gegen ihn an kommen wird. Viel Hoffnung habe ich nicht« »Das wird schon hin hauen«, hoffte Balcott ohne Überzeugungskraft. »Und falls nicht?« »Irgendwann wird der Nebel ja mal verschwinden,. Winters. Dann zünden wir ein Notfeuer an und machen auf uns aufmerksam. So hoffnungslos ist unsere Lage gar nicht.« »Wissen wir, was dieser verdammte Parker inzwischen alles angerichtet hat?« »Daran mag ich lieber gar nicht denken, Winters.« »Der knackt unsere beiden Organisationen Mann für Mann«, sagte Winters. »Ich hab's so im Gefühl. Und der schafft es auch noch, an Ihre Chefetage ranzukommen. Mal ehrlich, Balcott, haben Sie nicht wenigstens 'ne schwache Vorstellung, wer in dieser Chefetage sitzen könnte?« »Nämlich? Sie ahnen also, wer der Chef sein könnte?« »Er muß was mit dem Königlichen Dachverband zu tun haben«, erwiderte Balcott, die Katze aus dem Sack lassend. »Der Chef ist nämlich immer erstklassig informiert. Der weiß genau, wo wir ansetzen müssen. Der kennt alle Jockeys und Rennstallbesitzer. Der weiß genau, wie man den Hebel legt.« 94
»Mehr ahnen Sie nicht?« Winters verzog geringschätzig sein Gesicht. »Der Chef muß im Vorstand des Dachverbandes sitzen«, redete Balcott weiter. »Wenn Sie mich fragen, Winters, ist das einer der beiden Sekretäre von Sir Christopher.« »Sie meinen diesen Rudnall?« »Sir Christopher Rudnall, richtig!« Balcott nickte. »Aber sobald wir hier weg sind, Winters, werden wir das raus finden. Wir sind uns einig, oder?« »Wir reißen den ganzen Laden an uns«, bestätigte Willie Winters. »Warum sollen wir nicht das ganz große Geld machen? Hauptsache, Sie wollen mich nicht reinlegen!« »Und Sie mich nicht, Winters!« »Eigentlich ganz gut, daß man uns mal zusammengesperrt hat«, erklärte Wülie Winters und lachte leise. »So nahe wären wir uns sonst nie gekommen.« »Alles braucht eben seine Zeit, Winters.« Die beiden Ehrenmänner belieferten sich gegenseitig mit Honig und belegen sich nach Strich und Faden. In Wirklichkeit war keiner von ihnen bereit, später zu teilen. Genau das Gegenteil war der Fall. Sobald sie wieder frei waren, wollten sie sich gegenseitig umgehend über den Löffel halbieren. Keiner von ihnen hatte die Absicht, auch nur einen einzigen Krümel des großen Kuchens abzugeben.
*
»Die fahren gerade weg«, meldete Phil aufgeregt. Er war als eine Art Kundschafter vorausgeschickt worden und kam schnaufend zurück. »Die Alte, ihr Butler und diese Porter sitzen in 'nem Taxi und rauschen wahrscheinlich rüber zum Rennplatz.« »Nichts wie hinterher«, sagte Joe, der vor Eifer fast platzte. »Jetzt oder nie«, umriß Pete die Situation. Er dachte immer noch an sein Erkältungsbad in der Brunnenschale und wollte endlich seine Rache genießen. 95
»Hatten die Typen Mäntel an?« fragte Clive Crestner sachlich. »Nee, bestimmt nicht«, erwiderte Phil. »Dann werden sie bald wieder zurückkommen«, mutmaßte Crestner schlau und zwinkerte seiner Streitmacht zu. »Holzauge, sei wachsam! Jungens, laßt die Typen ruhig abfahren. Wenn sie weg sind, besetzen wir das Cottage und brauchen dann nur noch zu warten.« Die sechs Männer - Phil, Joe, Pete und die drei anderen Gangster - hielten Crestners Plan für genial. Sie ließen das auch durch lobende Bemerkungen deutlich durchblicken. »Nur so geht alles lautlos über die Bühne, wie die Chefetage das auch haben will«, sagte Crestner, der die Lobpreisungen wie Zuckerwerk genoß. »Zurückkommen müssen sie ja auf jeden Fall.« Crestner führte seine Truppe also an das Cottage heran, während Parkers hochbeiniger Wagen längst im Nebel verschwunden war. Natürlich war er vorsichtig. Mißtrauisch beobachtete er erst mal das kleine Haus, bevor er seine Leute wieder losmarschieren ließ. Es zeigte sich bald, daß die Bewohner des Hauses offensichtlich ahnungslos waren. Im Cottage gab es keine versteckten Fallen. Alles war an seinem Ort. Auch die Getränke. Phil wollte sich gleich bedienen, doch da kam Crestner ein besonders schlauer Gedanke. »Finger weg«, warnte er. »Das Gesöff könnte vergiftet sein. Bei Parker muß man mit allem rechnen.« »Verdammt, daran habe ich überhaupt nicht gedacht«, gab Phil fast entsetzt zurück und ließ die Flasche stehen. »Wir rühren keine Flasche an«, befahl Crestner. »Das höchste der Gefühle ist Tee.« »Und wenn der ebenfalls vergiftet ist?« tippte Gangster Joe an. »Und wie steht's mit Kaffee?« wollte Pete wissen. »Die Frage ist berechtigt«, meinte Crestner, der keinen Fehler begehen wollte. »Jungens, wenn's auch schwer fällt, 96
wir bleiben restlos trocken. Wir rühren nichts an. Denkt immer daran, daß Parker ein gerissener Hund ist.« Sie beugten sich nur zu gern seiner Order. Sie alle hatten keine Lust, sich hereinlegen zu lassen. Sie erinnerten al lerdings ein wenig an eine verängstigte Schafherde, die auf den Wolf wartet. Sie standen in dem Wohnraum des kleinen Hauses und wagten sich kaum zu rühren. »Verdammt kalt in der Bude«, stellte Phil nach einer Weile fest. »Wie steht's denn mit dem Heizofen?« fragte Joe bei Crestner an. »Lieber nicht.« Crestner schüttelte den Kopf. »Da kann Parker irgendeine Teufelei eingebaut haben.« »Darf man wenigstens rauchen?« wollte Pete ungeduldig wissen. »Aber nur die eigenen Stäbchen«, warnte Crestner. »Sobald das Trio zurückkommt, verschwinden wir da drüben in der Pantry, ist das klar? Wir warten, bis sie im Haus sind. Aber dann geht's ran! Und noch mal laut und deutlich, Jungens, keiner wird umgebracht. Noch nicht. Die Lady und ihr Butler werden noch gebraucht.« »Und die langbeinige Kleine?« fragte Phil und grinste nicht gerade schön. »Mit der werden wir spielen«, räumte Crestner großzügig ein. »Der Mensch braucht hin und wieder was für's Herz, Jungens.« Sie warteten etwa eine knappe Stunde und vertrieben sich die Zeit mit mehr oder weniger munteren Reden. Aber sie hielten durch, was ihre Abstinenz anbetraf. Sie rührten nichts an und blieben vorsichtig. Dann meldete einer der drei anderen Gangster die Rückkehr des Trios. »Die bringen 'nen Pferdetransporter mit?« fügte er erstaunt hinzu. »Das Ding hängt am Taxi.« »Das ist kein Taxi, das ist Parker's Kutsche«, verbesserte Crestner. 97
»Aber was wollen die bloß mit 'nem Pferdetransporter? « »Wir werden Sie gleich mal fragen«, schlug Joe vor. »Und wenn sie nicht sofort antworten, massier' ich die Typen mit einer Hand. Das darf man doch wohl noch, oder?« »Nichts gegen einzuwenden.« Crestner war einverstanden. »Hauptsache, sie bleiben noch solange in Form, bis die Chefetage sie verhört hat. So, und jetzt rüber in die Pantry, Jungens. In ein paar Minuten ist alles geschafft.« Sie begaben sich ohne Hast in die wirklich kleine Küche und schlössen die Tür bis auf einen schmalen Spalt Sie warteten auf ihre drei Opfer und schienen völlig vergessen zu haben, daß sie Butler Parker für gerissen und trickreich hielten.
*
»Sie lernen es nie«, sagte Agatha Simpson, als Josuah Parker die Tür zur kleinen Pantry geöffnet hatte, was nicht einfach gewesen war. Clive Crestner und seine sechs Begleiter lagen kreuz und quer wie Holzscheite übereinander und produzierten ein beachtliches Schnarchkonzert. »Aber sie zeichneten sich, wenn ich das bemerken darf, durch ein immerhin beachtlich zu nennendes Stehvermögen aus«, lobte Parker seine Gegner. »Sie tranken keinen einzigen Tropfen, falls ich richtig gesehen habe.« »Waren die Getränke denn versetzt?« warf Kathy Porter lächelnd ein. »Natürlich nicht, Miß Porter«, entgegnete der Butler. »Ich ging von dem Mißtrauen dieser Herren aus und ersparte mir diese Arbeit. Sie rechneten allerdings nicht damit, daß die Pantry die eigentliche Überraschung darstellte.« Der Butler langte nach einer Vase, in der sich Blumen aus Kunststoff befanden. Diese Vase stand auf einem Hänge schrank und machte einen völlig unverdächtigen Eindruck. 98
Sie enthielt allerdings eine raffinierte, Technik, die auf das Konto des Butlers ging. Die Blumen aus Kunststoff waren chemisch präpariert worden. Der Blumen- und Bindedraht im Innern der Blu men endete in einem schmalen Kästchen, das sich auf dem Boden der Vase befand. Aus diesem Kästchen ragte eine kleine Antenne hervor. Diese kleine Antenne hatte die elektrischen Impulse aufgefangen, die Parker vom nahenden Wagen aus gesendet hatte. Daraufhin hatte der Blumendraht sich erhitzt und das chemische Präparat auf den Kunststoffblumen freigemacht. Mit Erfolg, wie sich auf dem Boden der Pantry zeigte. Die sieben Gangster, die ausgezogen waren, das Trio hochzu nehmen, schliefen fest. Sie konnten verladen werden. »Was wäre gewesen, Mr. Parker, wenn sie nicht in die Pantry gegangen wären? « wollte Kathy wissen. Sie zeigte auf die Schnarchenden. »Überall im Cottage sind Kunststoffblumen verteilt«, erklärte der Butler würdevoll. »Vor der Fahrt hierher ver sorgte ich mich reichlich damit. Die Herrschaften wären in jedem Fall in die Arme eines gewissen Morpheus gefallen.« »Und wohin jetzt mit diesen Burschen?« erkundigte sich Agatha Simpson grimmig. »Ich dachte, wenn es gestattet ist, Mylady, an eine Art gemeinsamen Ausflug.« »In die Kohlengrube oder hinaus zum Leuchtturm, Mr. Parker?« »Diesen Aufwand, Mylady, könnte man vielleicht sparen«, antwortete Josuah Parker. »Miß Porter, hätten Sie etwas dagegen, diese Herren bis zum Mittag in den Genuß einer Autofahrt zu bringen?« »Und wohin soll ich fahren?« Sie sah ihn aufmerksam an. »Über die Küstenstraße, Miß Porter. In Richtung Norden, dann wieder zurück nach Süden. Bis zum Mittag, so denke ich, dürfte sich der Fall der Chefetage, die immer wieder 99
erwähnt wurde, erledigt haben.« Mylady erhob keine Einwände. Josuah Parker bugsierte den geschlossenen Pferdetransporter geschickt an die Hoftür der Pantry, um dann die Männer zu verladen. Er erledigte das mit Zartgefühl und Höflichkeit. Anschließend verband er die Männer miteinander und opferte dazu einige Handschellen aus seinem privaten Vorrat. Er stellte so sicher, daß Kathy Porter unterwegs auf keinen Fall belästigt wurde. Nach dieser Arbeit, die innerhalb einer halben Stunde erledigt war, löste er sein hochbeiniges Monstrum vom An hänger und spannte Myladys Land-Rover vor. Kathy nahm Platz im Wagen und fuhr munter los. Das Gespann ver schwand nach wenigen Minuten bereits im Nebel, der sich zu lichten begann. Der Pferdetransportanhänger war ein sicheres Gefängnis. Er bestand aus einem Aluminiumaufbau modernster Konstruktion und bot zwei Vierbeinern Platz, Über zu große Enge konnten die sieben Gangster sich also wirklich nicht beklagen. Ihre Menschenwürde wurde auf keinen Fall verletzt. »Sie rechnen damit, daß dieser Fall gegen Mittag gelöst ist?« Agatha Simpson wandte sich an ihren Butler. »Wie kommen Sie zu diesem Optimismus?« »Die Organisation der Rennsport-Mafia, Mylady, ist das, was man ausgetrocknet nennen könnte«, schickte Parker gemessen voraus. »Der geheimnisvolle Mann aus der Chefetage muß nun selbst eingreifen. Weitere Hilfstruppen stehen ihm nicht mehr zur Verfügung. Er muß in Erscheinung treten, ob er nun will oder nicht.« »Ich hoffe, Sie haben bereits einen Plan, Mr. Parker.« »Der darauf baut, daß Mylady mitspielen und die Hauptrolle übernehmen«, entgegnete der Butler. »Dann ist der Plan gut«, fand die selbstbewußte Sechzigerin, und nickte wohlgefällig.« Hauptrollen sind meine Leidenschaft!«
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*
Nebel schien es an der Küste nie gegeben zu haben. Es ging auf Mittag zu, die Sonne stand hoch am Himmel und wärmte das Land. Sie strahlte auch auf Agatha Simpson herunter, die erstaunlicherweise in einem Rollstuhl saß, den Josuah Parker wie selbstverständlich besorgt hatte. Die Knie der älteren Dame waren in eine weite Decke gehüllt. Butler Parker schob diesen Rollstuhl und näherte sich den gefährlichen Klippen. Sie fielen hier steil ab ins Meer und rieten zu äußerster Vorsicht. Parker und Mylady hätten das große Hotel verlassen, das noch aus der Zeit der Jahrhundertwende stammte. Es ge hörte zum Komplex des Rennplatzgeländes und war im Zuckerbäckerstil errichtet worden. Es war übersät mit Gie beln, Türmchen und Erkern. Irgendwie paßte dieser Hintergrund zu der Detektivin und ihrem Butler. »In fünf Minuten ist Mittag«, räsonierte Lady Agatha. »Weit und breit kein Gangster zu sehen, Mr. Parker. Wie nahe wollen Sie mich eigentlich noch an die Klippen heranschieben? Werden Sie etwa von diesen MafiaSubjekten bezahlt?« »Mylady brauchen Ihre Geduld nicht weiter zu strapazieren«, meldete der Butler prompt. »Sir Christopher hat gerade das Hotel verlassen. In seiner Begleitung befinden sich zwei noch recht jugendlich aussehende Männer.« »Wahrscheinlich seine Sekretäre, Mr. Parker. Moment, Sie glauben immer noch, Sir Christopher könnte der gesuchte Mann sein?« »Das, Mylady, wird sich innerhalb weniger Minuten entscheiden«, lautete Parkers Antwort. »Mit letzter Sicherheit wage ich es nicht, eine Prognose zu stellen.« Sir Christopher und seine beiden Begleiter waren heran. Die jungen Männer blieben etwas zurück, während 101
Myladys Bekannter auf sie zutrat und sie erstaunt mitleidig anschaute. »Sie hatten einen Unfall, meine Liebe?« fragte er bestürzt. »Ausgerutscht und Fuß verstaucht«, erwiderte die Patientin. »Reden wir nicht mehr davon. Sie bringen Neuigkeiten, wie Kathy mir mitteilte?« Während der Unterhaltung schob Parker den Rollstuhl samt Inhalt weiter und steuerte ihn hinter einen Erdwall, der mit hohen, dichten Sträuchern bewachsen war. »Ich bringe Ihnen eine einmalige Neuigkeit«, sagte Sir Christopher und winkte die beiden jungen Männer zu sich heran. »Sie werden gleich sterben, meine Liebe!« »Wie war das?« Mylady richtete sich steil in ihrem Rollstuhl auf. »Ich muß unsere Bekanntschaft jäh abbrechen«, redete Sir Christopher weiter; höflich und formvollendet. »Sie haben mir zuviel Schwierigkeiten bereitet, meine Liebe! Sie übrigens auch, Mr. Parker!« »Sie scherzen, Christopher, oder?« »Sie haben eine Chance«, erwiderte Rudnall. »Ich kann dafür sorgen, daß Sie schnell sterben. Aber dafür verlange ich ein Entgegenkommen.« »Sie sind der Mann aus der Chefetage der RennsportMafia?« Agatha Simpson schüttelte den Kopf und fiel wieder zurück. »Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut.« »Wie nett von Ihnen, meine Liebe.« Sir Christopher freute sich sichtlich. »Fragen Sie mich nur ja nicht, warum ich das getan habe. Geld ist immer noch das stärkste Motiv. Ich hatte es einfach satt, daß andere das große Geld kassierten. Ich hatte Schulden und erhielt eine Offerte von einem ausländischen Syndikat. Glauben Sie mir, ich brauchte noch nicht mal lange zu überlegen.« »Sie erwarten ein Entgegenkommen, Sir Christopher«, erinnerte der Butler. »Wo sind meine Leute?« fragte Sir Christopher. »Einmalig, wie diese Profis ausgeschaltet wurden. Aber ich möchte sie 102
zurückhaben, das kann man doch verstehen, oder?« »Und wenn wir nichts sagen, Sie Flegel?« brauste die ältere Dame auf. »Dann werden Sie erleben, wie lange man braucht, bis man unten aufschlägt.« Sir Christopher deutete auf den Rand der Klippen. »Die Herren Winters und Balcott befinden sich auf einem kleinen, außer Dienst befindlichen Leuchtturm bei Worthing«, sagt Josuah Parker gemessen. »Ich war so frei, in einer der vergangenen Nächte die beiden Herren dort abzusetzen. Ein Fischer war mir dabei behilflich, doch dieser Mann war und ist ahnungslos.« »Sie haben das in einer Nacht geschafft? Alle Achtung, Parker!« Sir Christopher lächelte anerkennend. »Und wo stecken meine Abteilungsleiter?« »Besagte zwölf Gentlemen befinden sich in einer Kohlengrube«, redete der Butler würdevoll weiter. »In ... In einer Kohlengrube?« Christopher Rudnall war ehrlich beeindruckt. »Sie befindet sich im Wirtschaftsmuseum von London«, erläuterte der Butler. »Es handelt sich um einen Nachbau zur ebenen Erde. Die Eingeschlossenen hingegen nehmen mit Sicherheit an, sich in einer Tiefe von etwa tausend Metern zu befinden.« Sir Christopher lachte Tränen und fand das alles sehr amüsant. »Und die konnten sich nicht bemerkbar machen?« wunderte er sich schließlich. »Das Museum, Sir, ist für acht Tage geschlossen. Mylady war so frei, dafür zu sorgen.« »Sagenhaft, Mr. Parker! Mann, Sie stehen auf der falschen Seite! Aber zu uns überwechseln wollen Sie ja wahrschein lich nicht, wie?« »Mein Platz ist an Myladys Seite«, gab Parker mit fester Stimme zurück. »Und wo stecken Crestner und seine sechs Helden?« wollte 103
Christopher Rudnall noch wissen. »Sie nehmen an einer Unterhaltungsfahrt teil, die Miß Porter durchführt«, lieferte Parker die letzte Erklärung. »Sie wird in etwa einer Stunde vor Myladys Cottage zurückerwartet.« »Das muß man sich mal vorstellen!« Sir Christopher wandte sich an die beiden jungen Begleiter. Es handelte sich tatsächlich um seine Sekretäre, aber sie waren zusätzlich auch so etwas wie seine Leibwache. »Drei Personen legen eine ganze Organisation lahm, meine Herren! Bewundernswert, nicht wahr?« Sie nickten, aber sie ließen Mylady und Butler Parker nicht aus den Augen. Sie hielten ihre Maschinenpistolen in Händen und wollten sich nicht auch noch aufs Kreuz legen lassen. Sir Christopher wandte sich wieder seinen beiden Gegnern zu: »Haben Sie eigentlich damit gerechnet, daß i c h der Mann der Chefetage bin?« »Allerdings, Sir Christopher« antwortete Josuah Parker. »Nach meinen bescheidenen Ermittlungen war der ei gentliche Chef der Rennsport-Mafia einfach zu gut über die Interna informiert. Sie mußten aus erster Hand und somit aus dem Dachverband stammen. Nur ließ sich das nicht beweisen. Ich denke, Super-Intendent McWarden wird inzwischen überzeugt sein.« »Auf der ganzen Linie«, war die grimmige Stimme von McWarden zu hören. Er trat hinter einem der Sträucher hervor. »Nicht schießen«, warnte die Detektivin die beiden jungen Männer.« Unter meiner Kniedecke liegt eine Maschinen pistole. Wollen Sie mit mir wetten, daß ich sie bedienen kann?« Sie verzichteten auf jede Wette, zumal McWarden nicht allein war. Er hatte ein gutes Dutzend uniformierter Beamter mitgebracht, die jetzt kurzen Prozeß machten. Die beiden jungen Sekretäre waren Profis, denn sie ließen sich widerstandslos verhaften. Sir Christopher Rudnall 104
hingegen rannte einfach weg, verlor im übertragenen Sinn den Kopf und suchte sein Heil in der Flucht. »Strengen Sie sich nicht unnötig an, McWarden«, sagte die ältere Dame, die inzwischen ihren Rollstuhl verlassen hatte. »Dafür gibt es ein Patentrezept.« Sie wirbelte ihren perlenbestickten Pompadour wie ein Lasso über den Kopf, brachte ihn in Fahrt und schickte ihn dann auf die Reise. Sekunden später knallte der »Glücksbringer« gegen den Hinterkopf des Flüchtenden. Sir Christopher absolvierte mitten im Lauf einen Salto und blieb erschöpft liegen. »Ihr Mann, McWarden«, sagt die Detektivin zum Superintendenten. »Oder muß ich ihn auch noch verhaften?«
*
»Ich komme nicht zufällig vorbei«, sagte McWarden am
anderen Tag und verbeugte sich in Richtung Lady
Simpson.
»Sie kommen wieder mal nicht weiter, wie? Ein neuer
Fall?«
Man war nach London zurückgekehrt, und Agatha
Simpson saß im großen Wohnsalon ihres Stadthauses.
»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, Mylady, daß die Gangster
ihre Geständnisse abgelegt haben«, berichtete McWarden.
»Aber da ist ein Punkt, der der Aufklärung bedarf.«
»Hoffentlich langweilen Sie mich nicht, McWarden«,
warnte die ältere Dame, während Parker bereits den obli
gaten Sherry servierte.
»Dieser Balcott behauptet, Sie hätten ihm
zweiundsiebzigtausend Pfund weggenommen.«
»Papperlapapp und Schnickschnack«, gab Lady Agatha
zurück. »Seit wann glauben Sie einem Gangster?«
»Er schwört Stein und Bein, wie man so sagt.«
»Was würde mit dem Geld geschehen, falls man es findet?«
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»Es würde wahrscheinlich an den Staat fallen«, meinte McWarden. »Es sind erpreßte Gelder, aber man wird wohl nie herausfinden, von welchen Leuten die einzelnen Beträge stammen.« »Dann können Sie annehmen, daß das Geld bereits beim Staat gelandet ist, McWarden. Das aber unter uns und pri vat. Offiziell werde ich das immer abstreiten.« »Es ist bereits wieder beim Staat?« »Bei Hilfsorganisationen! Du lieber Himmel, wenn mein Gedächtnis doch nur funktionieren würde, McWarden! Fragen Sie mich nicht nach Einzelheiten, ich kenne sie nicht!« »Es ist schon richtig, daß Gangster gern Lügen auftischen«, meinte McWarden jetzt lächelnd. »Wahrscheinlich wollen Sie sich nur an Ihnen rächen.« »Ein wertvoller Hinweis, Sir, wenn ich so sagen darf«, schaltete sich Josuah Parker ein. »Die Rennsport-Mafia möchte Mylady in Mißkredit bringen. Ich würde in diesem Zusammenhang das Adjektiv ›abscheulich‹ verwenden.« »Ich ebenfalls.« McWarden grinste. »So wird auch der Richter urteilen, denke ich.« »Was ich ihm auch geraten haben möchte«, grollte die resolute Dame. »Aber nun zur Sache! Wo drückt Sie der Schuh, junger Mann? Falls Sie an einem Fall arbeiten, den Sie wieder mal nicht schaffen, so weihen Sie mich ein. Viel leicht können Mr. Parker und ich etwas für Sie tun!!! ENDE
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