Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Hauptmann Ebner ist nicht der Mann, den eine Leiche ratlos macht, Hat er erst ein...
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Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Hauptmann Ebner ist nicht der Mann, den eine Leiche ratlos macht, Hat er erst ein Motiv, findet sich auch der Täter. Doch eben das Motiv sucht er im Mordfall Heidenreich vergebens. – Eine alte Frau, Leiterin einer Lottoannahmestelle, wurde in ihrer Wohnung brutal getötet. Am hellichten Tag. Wer könnte die Tat begangen haben? Einer, der Geld wollte um jeden Preis? Aber all ihre Wertsachen sind am Platz, auch von den Lottoeinnahmen scheint nichts zu fehlen. Einer, der von Rachedurst getrieben war? Aber alle beschreiben Frau Heidenreich als freundlich, hilfsbereit, umgänglich. Die Nachbarin hat sie um Hilfe schreien hören. In jedem Fall aber muß Frau H. ihren Mörder gekannt haben. Denn sie hat noch Mokka mit ihm getrunken.
Delikte Indizien Ermittlungen
Mokka vor dem Mord Louis Martin
Verlag Das Neue Berlin
Figuren und Handlungen dieses Buches sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig.
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1985 Scan by Socrates Lizenz-Nr.: 409-160/131/85 • LSV 7004 Umschlaggestaltung: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 6226873 00200
Es war an einem Donnerstag im November. Das Wetter war dementsprechend. Den ganzen lieben langen Tag wurde es nicht wirklich hell. Die Bäume troffen von nebliger Nässe. In den Straßenbahnen und Bussen roch es muffig. Die Wartezimmer der Ärzte waren überfüllt mit niesenden und hustenden Menschen. Ebner schaute aus dem Fenster seines Dienstzimmers und war unlustig und müde. Er nahm sich vor, heute zeitig zu Bett zu gehen. Er wollte wieder einmal mit dem Gefühl aufwachen, tatsächlich ausgeschlafen zu sein. Dieses Gefühl ging ihm seit geraumer Zeit ab. Dabei war es diesmal eine ruhige Woche gewesen. Vorwiegend Schreibtischarbeit. Routinesachen. Vielleicht fühle ich mich eben deshalb so mies, dachte er. Vielleicht fehlt mir der Streß. Andere sehnen sich nach Ruhe, ich sehne mich nach Streß. Wir sehnen uns alle immer nach dem, was wir gerade nicht haben. Keine neue Erkenntnis. Und originell auch nicht gerade. Vielleicht ist es auch einfach nur das Alter. Weshalb soll sich ausgerechnet bei mir das Alter nicht bemerkbar machen. In der zweiten Hälfte der Vierzig wird man angezählt. Man zeigt Wirkung, wie die Boxer zu sagen pflegen. Wieder andere nennen es vornehmer die Midlifecrisis. Dahinter verbirgt sich gleich wieder eine Hoffnung, denn wenn es sich um die Krise in der Mitte des Lebens handelt, heißt das ja nichts anderes, 5
als daß man die Hälfte noch vor sich hat. Dann müßte ich es auf annähernd hundert Jahre bringen, fiel ihm ein. Eine Vorstellung, der er keinen Gefallen abzuringen vermochte. Hundert Jahre und im Altersheim, das war etwas, das ihm nicht schmeckte. Mit den dritten Zähnen mummeln und ewig nach Pisse riechen, weil die Dichtungen nicht mehr funktionieren, das deckte sich nicht mit seiner Vorstellung vom Leben. Dann lieber weniger Jahre. Nur nicht mummeln und nach Pisse stinken. Er ging zurück an seinen Schreibtisch und knipste die Tischlampe an. Kein Wunder, dachte er, bei dem Wetter kann man bloß solche miesen Gedanken haben. Er hätte viel um einen Wintertag mit klarer, strenger Kälte gegeben. Und mit einem gnadenlosen Weiß voll kalter Sonne. Schwer zu malen, so ein Weiß. Verdammt schwer sogar. Im allgemeinen war Utrillo nicht zu übertreffen, wenn es um gemaltes Weiß ging. Aber es war nicht das Weiß, welches Ebner vorschwebte. Utrillos Weiß fehlte die Härte. Wahrscheinlich ist es nicht das Problem der Maler im Süden. Deren Problem ist es, die Erbarmungslosigkeit der Sonne zu malen. Die gelbe Erbarmungslosigkeit. Aber das Weiß ohne Gnade, das hatte er bislang nur bei einem jugoslawischen Naiven gemalt gesehen. Und es war alles andere als naiv gewesen. Wollte einer das malen, was sich heute vor dem Fenster abspielte, dann brauchte er lediglich einen Scheuerhader zu malen, 6
mit dem jemand einen Treppenflur gewischt hatte. Es gab seiner Meinung nach keinen besseren Ausdruck für die elende Bescherung da draußen. Nur gut, daß das auch vorübergehen würde, wie alles vorüberging. Manches wollte man festhalten und manches nicht. Den heutigen Tag festhalten zu wollen lohnte sich nicht. Obwohl er sich ja ohnehin nicht festhalten ließ. Aber es machte schon einen Unterschied aus, ob es sich dabei um etwas handelte, was man gern gehalten hätte, oder ob es eine Sache war, die man möglichst schnell hinter sich haben wollte. Und den Tag heute konnte man getrost vergessen. Das Telefon läutete, und seine Frau meldete sich. Er atmete auf, weil es kein Einsatzbefehl war, denn er verspürte im Augenblick keine Lust, sich von …zig Leuten erzählen zu lassen, was sie gesehen hatten und was nicht und wie sie den Tag verbracht hatten und ob sie es beweisen konnten, daß sie den Tag genau so verbracht hatten, wie sie es erzählten. Er wollte nach Dienstschluß in seine vier Wände. In aller Ruhe ein Bier trinken, ein paar Worte mit seiner Frau wechseln, vielleicht noch ein paar Pinselstriche an seinem halbfertigen Stilleben machen und dann zu Bett gehen. Was anderes wollte er heute nicht. Und er fand, es war nicht zuviel verlangt. Seine Frau wollte wissen, ob es in der Kantine Zitronen zu kaufen gäbe. Ebner wußte es nicht. »Brauchen wir Zitronen?« fragte er. »Bei dem Wetter braucht alle Welt Zitronen. Des7
halb gibt es ja auch keine.« »Ich frage nachher gleich.« »Wäre schon schön«, sagte sie, »ich fühle mich mau.« »Erkältet?« »Wahrscheinlich. Die Gelenke tun mir weh. Außerdem Kopfschmerzen.« »Hört sich nach Grippe an.« »Bloß nicht.« »Temperatur?« »Weiß nicht.« »Irgendwo treibe ich schon Zitronen auf,« sagte er. »Du wirst sehen, das ist nicht einfach.« »Notfalls kaufe ich eine Flasche Rum.« »Du meinst, Rum ist genausogut wie Zitronen?« »Besser.« »Versuch’s erst mit Zitronen«, sagte sie. »man muß sich steigern können.« »Und du, geh nach Hause und pack dich ins Bett!« »Unmöglich. Wir sind nur noch zu zweit. Wenn ich krank mache, müssen wir die Bibliothek schließen.« »Wenn du krank bist, bist du krank. Die Welt geht nicht unter, wenn die Bibliothek für ein paar Tage geschlossen bleibt.« »Typisch Mann«, schimpfte sie. »Was habe ich nun wieder falsch gemacht?« 8
»Du nimmst meine Arbeit nicht ernst«, sagte sie. »Natürlich geht die Welt nicht unter, wenn die Bibliothek geschlossen werden muß. Aber sie geht auch nicht unter, wenn der Schreibtisch des Hauptmann Ebner mal für ein paar Tage unbesetzt bleibt.« »Kein Einwand, Euer Ehren.« »Ja, jetzt bist du groß. Jetzt, wo dir nichts fehlt. Aber wenn du krank bist, kann dich nichts zu Hause halten, denn der Herr Hauptmann sind unabkömmlich.« »Du übertreibst«, sagte er, »heute abend zum Beispiel wirst du erleben, wie ich ganz früh verschwinde.« »Du verschwindest…?« »Ins Bett natürlich.« »Aber vorher besorgst du noch Zitronen.« »Selbstredend … Moment, das andere Telefon läutet.« Auf dem anderen Telefon kam der Einsatzbefehl, und Ebner blieb nichts anderes übrig, als seiner Frau zu sagen, daß es wieder spät werden würde mit dem Nachhausekommen. »Ja«, sagte sie, »es war vorauszusehen.« »Wieso?« fragte er. »Die Woche verlief viel zu ruhig.« Im Auto war es dann Hauptmann Wustlich, der von der Grippe zu sprechen begann. Zwei seiner drei Kinder lägen mit Grippe zu Bett, sagte er, und es wäre diese Virusgrippe mit fast keinem Fieber, weshalb die Kinder 9
nur schwer im Bett zu halten wären. Sie hätten nicht das Gefühl, krank zu sein. Und der Arzt hätte gesagt, es wäre kein Kraut gewachsen gegen diese Viren. »Vitamine«, sagte der Fahrer. »Wenn’s so einfach wäre …«, meinte Wustlich. »Außerdem gibt’s mal wieder keine Zitronen«, sagte Ebner. »Zwiebeln«, meinte der Fahrer, »Zwiebeln sind das einzig Richtige.« »Aktion ,Saubere Luft’,« bemerkte Ebner spöttisch. »Jedenfalls hat bei uns niemand eine Grippe,« sagte der Fahrer. »Kann man sich vorstellen. Die Grippe hat schlichtweg Angst, eure Wohnung zu betreten«, sagte Ebner. »Rieche ich vielleicht nach Zwiebeln?« fragte der Fahrer gekränkt. »Was möchtest du denn jetzt hören?« fragte Wustlich. »Wie ihr meint«, sagte der Fahrer, »wenn es euch Spaß macht, die Grippe am Halse zu haben. Ich wollte ja bloß einen Tip geben.« »Wenn ich Arzt wäre«, sagte Ebner, »ich würde in die Forschung gehen und so lange keine Ruhe geben, bis ich endlich ein Kraut gegen diese verdammten Viren gefunden hätte.« »Soll ziemlich viele von diesen Dingern geben«, meinte Wustlich. 10
»Ich habe die Herren Mediziner im Verdacht, sich immer nur mit spektakulären Geschichten abzugeben: Herzverpflanzung und so. Und alle Welt nimmt es voller Ehrfurcht zur Kenntnis, nur weil es sich um das Herz handelt und weil jedermann glaubt, ausgerechnet das Herz sei etwas Besonderes. Dabei handelt es sich im wesentlichen um einen Muskel. Es gibt wahrhaftig kompliziertere Organe. Die Leber zum Beispiel, aber wenn von der Leber die Rede ist, denkt jedermann nur ans Saufen.« »Es soll wohl schon Leberverpflanzungen geben.« »Meinetwegen«, sagte Ebner, »ich wollte ja nur sagen, daß sich die Herren im weißen Kittel mehr mit unseren alltäglichen Wehwehchen abgeben sollten. Die Grippe, das ist ja schon eine Art neuzeitlicher Pest geworden.« »Ich pfeife auf die Medizin«, mischte sich wieder der Fahrer ins Gespräch. »Meine Großmutter, die sammelte im Herbst jede Menge Kräuter: Schafgarbe, wildes Stiefmütterchen, Wegerich, Huflattich und solche Sachen. Die hat sie dann gewaschen und an der Luft im Schatten getrocknet. Durfte keine Sonne ’ran. Und wenn jemand krank war, wußte sie ganz genau, welcher Tee hilft.« »Die Grippe von damals ist aber nicht die von heute,« sagte Wustlich, »jedenfalls nach Meinung der Ärzte. Damals wurde sie von Bakterien verursacht und heute meist von Viren. Und wie schon ge11
sagt, gegen die Viren ist nun mal kein Kraut gewachsen.« »Ihr wißt doch immer alles besser«, sagte der Fahrer. »Das wird sich gleich herausstellen«, meinte Ebner beziehungsvoll, denn sie waren an dem Haus angelangt, zu dem man sie gerufen hatte: Triskauer Str. 37. »Wenn mich nicht alles täuscht«, fügte er noch hinzu, »ist das da vorn ein Gemüseladen. Willy, sieh mal zu, ob du ein paar Zitronen auftreiben kannst.« »Fragen kann ich«, sagte der Fahrer, »aber es ist aussichtslos.« »Versuch dein Glück. Wir versuchen unseres«, meinte Ebner und stieg aus. Das Haus stand allein. An den Brandmauern ließ sich jedoch noch erkennen, daß es früher Teil einer Häuserzeile gewesen war. Sicher hatten es die Bomben des zweiten Weltkriegs wie durch ein Wunder verschont, während sie die anderen messerscharf wegradiert hatten. Außer dem Funkstreifenwagen standen noch drei weitere Autos vor der Tür. Auch ein Wagen der Schnellen Medizinischen Hilfe war geparkt. Zahlreiche Neugierige hatten sich eingefunden und tauschten untereinander ihr Wissen über die Vorgänge im Hause aus. Eine alte Frau soll umgebracht worden sein. »Die von der Lottobude,« setzte jemand hinzu. »Jede Menge Geld haben die Burschen wegge12
schleppt«, ergänzte ein anderer. »Ist ja wie im Wilden Westen.« »Geld ist Geld«, kommentierte ein alter Mann. »Die Stimme des Volkes,« sagte Ebner zu Wustlich. »Ja«, sagte Wustlich, »die fühlen sich jetzt alle wie im Krimi.« »Sind sie ja auch.« Der Polizist vor der Haustür wies sie zum ersten Stock. »Die Frau heißt Heidenreich«, sagte er, »Erna Heidenreich. Sieht aber nicht gut aus.« »Tot sehen wir alle nicht gerade schön aus«, antwortete Ebner. »Aber so möchte ich nicht aussehen, wenn ich tot bin«, sagte der Polizist. Und nachdem sie die Leiche gesehen hatten, konnten sie ihn verstehen. Der Kopf der Frau lag in einer Blutlache. Vom Gesicht war nicht allzuviel zu erkennen, blutverschmiert wie es war. Neben der Toten kniete eine junge Ärztin und hielt zwei Finger an die Stelle, wo vor kurzem noch der Puls zu fühlen gewesen war. Ebner schaute fragend zu ihr hin, obwohl ihm klar war, daß es nichts mehr zu fragen gab. Die Ärztin schüttelte den Kopf, ließ jedoch das Handgelenk der Toten nicht los, und es sah aus, als hoffte sie, daß sich dort noch mal etwas bewegen würde. »Es wird besser sein, Sie stehen jetzt auf und lassen die Frau liegen wie sie liegt«, sagte Ebner. 13
»Mein Gott«, sagte die junge Frau, »was sind das nur für Menschen?« »Möchten wir auch gern wissen«, sagte Ebner. »Das sagen Sie so ruhig?« »Wenn ich mich aufrege, bekomme ich den Täter auch nicht schneller.« Die Ärztin erhob sich und ging zu dem Schreibtisch an der rechten Seite des Zimmers, wo sie den Totenschein ausfüllen wollte. »Stopp!« sagte Wustlich. »Ihren Schreibkram müssen Sie irgendwo anders erledigen, sonst können wir Ihnen unter Umständen nie mitteilen, um was für Menschen es sich bei den Tätern gehandelt hat.« Sie verstand den Kriminalisten nicht. »Spuren!« sagte Wustlich. »Entschuldigen Sie. Ich mache das zum erstenmal.« »Vielleicht haben Sie trotzdem eine Meinung, woran die Frau gestorben sein könnte?« fragte Ebner. »Man hat sie erschlagen, da liegt ja noch das Stuhlbein.« »Nur erschlagen?« »Reicht das denn nicht?« »Und was sind das für Wunden?« fragte Ebner, der sich zu der Leiche gebeugt hatte und auf deren Hals zeigte. Widerstrebend kam die Ärztin wieder näher. »Das könnte eine Stichwunde sein«, sagte sie zögernd. »Sieht mir auch so aus.« 14
»Ich bin kein Gerichtsmediziner.« »Trotzdem müssen Sie Ihre Augen offenhalten, wenn Sie eine Todesursache festzustellen haben. Oder können Sie kein Blut sehen?« Die Ärztin hatte Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Sie biß sich auf die Unterlippe, und ihre Nasenflügel bebten. »Machen Sie sich nichts draus«, suchte Wustlich sie zu trösten, »Hauptmann Ebner hat ein leicht gestörtes Verhältnis zur Medizin im allgemeinen und zu Ärzten im besonderen.« »Hör mit dem Quatsch auf!« wurde er von Ebner angefahren. »Ich bin nur dafür, daß jeder an dem Ort, an den er gestellt ist, seine Sache gut macht. Das ist alles. Und man wird doch noch einen Arzt fragen dürfen, was ihm zu einer Leiche einfällt – oder?« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer. Im Wohnungsflur stand der Streifenführer des Funkstreifenwagens und wartete darauf, endlich seinen Bericht an den Hauptmann der K geben zu können. Doch Ebner ließ sich zunächst von Oberleutnant Richter, einem Kriminalisten des zuständigen VP-Kreisamtes informieren. Richter faßte kurz zusammen: »Bei der Toten handelt es sich um die sechsundsiebzigjährige Erna Heidenreich, die einige Häuser weiter eine LottoAnnahmestelle betrieb. Sie lebte allein. Ihr Mann ist vor sieben Jahren gestorben. Heute nun hat die Nachbarin, eine Frau Inge Müller, gegen vierzehn Uhr Schreie aus der Wohnung der Frau Heidenreich 15
gehört und darauf über Notruf hundertzehn die Polizei gerufen. Der Funkstreifenwagen ist zirka zwanzig Minuten später am Tatort eingetroffen. Doch haben die beiden Polizisten die Wohnungstür nicht zu öffnen vermocht und deshalb die Feuerwehr gerufen. Vierzehn Uhr fünfundfünfzig schließlich wurde der K-Leiter informiert. Der Täter hat sich offensichtlich mit Hilfe eines Bettlakens aus dem Fenster des Schlafzimmers abgeseilt und ist durch den hinteren Hof entkommen.« »Reife Leistung,« bemerkte Ebner. »Ja«, sagte der Kriminalist, »das Fenster liegt immerhin an die vier Meter über dem Erdboden.« »Ich meinte mehr unsere Freunde aus des Streifenwagen. Bringt man den Jungens denn nicht bei, wie man eine Wohnungstür aufbekommt?« Der Kriminalist zuckte mit den Schultern. In dem Augenblick kam die Ärztin aus dem Zimmer, in dem die Leiche gefunden worden war, und wandte sich an Ebner. »Sie hatten recht vorhin. Es war mein erster Dienst bei der Schnellen Medizinischen Hilfe. Ich war aufgeregt. Ein Arzt wird ja nicht jeden Tag zu einem Mord gerufen.« »Leiche bleibt Leiche«, konnte sich Ebner nicht verkneifen zu sagen. »Ich hoffe, die Angaben auf dem Totenschein genügen Ihren Ansprüchen.« »Wann ungefähr ist Ihrer Meinung nach der Tod 16
eingetreten?« »Den Leichenflecken nach zu urteilen vor ein bis zwei Stunden. Genau kann das nur durch die Sektion ermittelt werden.« »Das ist doch schon etwas.« »Vermutlich haben die Verletzungen in ihrer Gesamtheit den Tod herbeigeführt.« »Aha«, sagte Ebner. »Und wenn Sie gefragt würden, ob es männliche oder weibliche Personen waren, die der Toten die Verletzungen beigebracht haben, was würden Sie antworten?« »Schwer zu sagen. Nach erstem Augenschein würde ich meinen, es war ein Mann. Die Schläge sind mit großer Wucht geführt worden. Aber sicher gibt es auch Frauen, die solche Kraft entwickeln.« »Wohnen Sie in der Nähe?« »Nein.« »Schade.« »Wieso? Sehen Sie in mir eine Verdächtige?« »Das nun nicht. Ich hoffte nur, Sie kannten möglicherweise die Tote. Wissen Sie, früher gab es Hausärzte. Das waren sehr brauchbare Leute. Mit viel Erfahrung. Sie wußten von ihren Patienten mehr als nur die Krankheiten.« »Bedaure«, sagte die Ärztin. »Benötigen Sie mich noch?« Ebner schaute sie an, und ihm war danach, sich für den Anraunzer von vorhin zu entschuldigen, doch schüttelte er nur den Kopf. Die Ärztin ging aus 17
der Wohnung. »Du entwickelst dich immer mehr zu einem Kotzbrocken«, sagte der leitende Kriminaltechniker, der Zeuge des Gesprächs geworden war, zu Ebner. »Irrtum, Paul, ich hole nur das nach, was bei der Ausbildung mancher Leute vergessen wurde.« »Was hat das Kind denn falsch gemacht? Hast du erwartet, sie macht mit der Leiche Reanimation?« »Ich habe erwartet, daß sie die Augen aufmacht. Aber sie kann kein Blut sehen. Hast du mir wenigstens etwas Brauchbares zu bieten?« »Die Frage mußte ja kommen!« »Was glaubst du, wird mich der Chef fragen, wenn ich zurückkomme? Die Geschichte wirbelt Staub auf. Am hellichten Tag wird eine alte Frau umgebracht, die hier sicher jeder kennt. Das bringt Unruhe in die Bevölkerung. Und Unruhe ist etwas, was unsre Obrigkeit nicht gern hat. Also werde ich vermutlich so lange nicht aus den Klamotten kommen, bis der Täter hinter Schloß und Riegel sitzt. Und da verlangst du Heiterkeit von mir. Was sind das eigentlich für Glassplitter auf dem Fußboden?« »In der Plasttüte da auf dem Schrank findest du den dazugehörigen Rest: eine leere Weinflasche, Marke ,Lindenblättriger’. Wahrscheinlich hat man sie der Frau auf den Kopf geschlagen, und dabei ist sie zerknallt. Erstaunlich, was ein Menschenschädel so aushält.« 18
»Gibt es Hinweise, ob die Flasche vorher hier in der Wohnung ausgetrunken wurde? Benutzte Weingläser?« »Sieht nicht so aus. Bis jetzt läßt sich nur sagen, daß zwei Personen am Tisch des Wohnzimmers gesessen und Kaffee getrunken haben. Eine der beiden hat Zigaretten geraucht.« »Und die Wohnungstür war verschlossen, als Sie eintrafen?« wandte sich Ebner dem Polizisten zu. »Jawohl, Genosse Hauptmann.« »Und so etwas wie einen Dietrich führt ihr nicht bei euch?« »Doch. Zuerst hat uns die Frau Müller von nebenan einen Dietrich gebracht, aber der taugte nichts. Dann bin ich ’runter zum Wagen und habe unsere geholt. Mit denen hatten wir aber auch kein Glück. Das scheinen ganz raffinierte Schlösser zu sein. Noch von früher. Danach haben wir versucht, die Tür aufzubrechen.« »Und?« »Sie gab nicht nach.« »Womit haben Sie es denn versucht?« »Die Frau Müller brachte uns einen Schraubenzieher.« »Großartig.« »Zunächst brach ein Stück Holz aus der Türfüllung, dann verbog sich der Schraubenzieher.« »Haben Sie vielleicht auch mal einen Blick auf das 19
obere Drittel der Tür geworfen? Da besteht sie nämlich aus Glas!« »Wir wußten ja nicht, daß es sich um einen Mord handelt.« »Sondern?« »Gegen vierzehn Uhr wurde uns ein Hilfeersuchen durchgegeben. Wir bekamen Befehl, ohne Sondersignal zur Triskauer Straße siebenunddreißig zu fahren. Dort sind wir, wie bei Hilfeersuchen üblich, beide aus dem Wagen und haben versucht, uns zu der Wohnung der Frau Heidenreich, aus der Schreie gekommen sein sollen, Zutritt zu verschaffen.« »Sie haben keine Schreie gehört?« »Nein, Genosse Hauptmann. Ich habe dann den Genossen Hauptwachtmeister nach hinten zur Hofseite geschickt, damit er von dort in ein Fenster einsteigen sollte. Aber es war zu hoch. Daraufhin habe ich vom Telefon der Frau Müller die Feuerwehr gerufen. Und die Feuerwehrleute sind dann mit einer Leiter in die Wohnung.« »Wann war die Feuerwehr am Tatort?« »Das muß so Viertel vor drei gewesen sein.« »Und Sie sind wirklich nicht auf die Idee gekommen, die Tür einzuschlagen? Ich meine, haben Sie noch nie einen Film gesehen, in dem sich zwei Polizisten gegen eine Tür werfen, um sie zu öffnen?« »Doch«, antwortete der Polizist, »der Gedanke ist mir schon gekommen, aber so eine Tür ist teuer. Und 20
wenn man sie für nichts und wieder nichts einschlägt, darf man dann in die eigene Tasche greifen. Außerdem war es still in der Wohnung. Es war nichts zu hören. Kein Piep. Hinterher ist man natürlich immer klüger. Wie sollte ich wissen, daß da eine alte Frau in ihrem Blut liegt. Hätte ich gewußt, daß es sich um einen Mord handelt, hätte ich selbstverständlich keinen Augenblick überlegt und Kleinholz aus der Tür gemacht.« »Auf Ihren Bericht bin ich gespannt«, sagte Ebner. »Ich habe das Gefühl, den werden Sie mehr als einmal schreiben müssen, denn wenn ich es richtig sehe, war der Täter noch in der Wohnung, als Sie eintrafen.« »Aber nicht mehr, als der Genosse Hauptwachtmeister nach hinten zum Hof ging, da hing nämlich schon das Laken aus dem Fenster.« »Ach«, bemerkte Ebner, »ein Laken hing aus dem Fenster?« »Ja, ein Bettlaken. An den Fensterrahmen vom Schlafzimmerfenster geknüpft.« »Und trotzdem hat es der Genosse Hauptwachtmeister nicht geschafft, nach oben in die Wohnung zu kommen?« »Er hat es versucht. Er ist hochgesprungen, weil er das Laken packen wollte, aber er hat es nicht geschafft.« »Haben Sie zufällig mal gesehen, wie ein Mann 21
einem anderen auf die Schultern steigt?« »Ich weiß, was Sie meinen, Genosse Hauptmann. Nur, wenn wir beide in den Hof gegangen wären, hätte niemand die Wohnungstür sichern können.« »Ich merke, Sie arbeiten bereits an Ihrem Bericht. Viel Erfolg. Aber für den Vaterländischen Verdienstorden wird’s kaum reichen.« Das Haus schien aus der Gründerzeit zu stammen und war auffallend gut erhalten. Im Treppenflur stand noch das originale Treppengeländer, und niemand hatte eine der gedrechselten Sprossen herausgebrochen, um sich daraus einen Leuchter zu basteln. Der Parterreflur des Hauses war gefliest, und es waren alles Fliesen mit einem heiteren Jugendstildekor, mit Blumenkörben und Füllhörnern und mit sich daraus ergießenden Blüten. Auch hier fehlte keine einzige Fliese. Die Wohnung der Frau Heidenreich hatte drei Zimmer, eine Küche und ein Bad. Mit Ausnahme des Bades und Teilen der Küche war alles in astreinem Jugendstil möbliert. Ebner wollte seinen Augen kaum trauen. Er hatte ähnliches auf Abbildungen gesehen, hatte aber nicht geglaubt, daß sich so etwas bis auf den heutigen Tag erhalten haben könnte. Die Möbel waren wahrscheinlich nie aus dem Haus gekommen. Paßte alles zusammen. Staunend und kopfschüttelnd blieb er vor dem Schreibtisch stehen, ohne Zweifel Nummer eins der Sammlung. »Was gefällt dir denn daran nicht?« fragte 22
Wustlich. »Oder hast du eine heiße Spur?« »Ist dir klar, worum es sich hier handelt?« »Wenn mich nicht alles täuscht, ist das ein Schreibtisch.« »Das ist nicht irgendein Schreibtisch.« »Bißchen komisch sieht er aus. Ich hab so’n Ding noch nie irgendwo gesehen. Und ich bin schon durch allerhand fremde Wohnungen gestiefelt.« »Schon mal was von Jugendstil gehört?« »Gehört ja, aber daß es eine derartig unbequeme Angelegenheit ist, hätte ich nie im Leben gedacht.« »Unbequem?« »Nicht gemütlich.« »Der Jugendstil ist ja auch keine sächsische Erfindung.« »Auf die Stühle setze ich mich nicht.« »Für einen Zweizentnermann wie dich sind Bauernmöbel auch weit geeigneter.« »Ich möchte das Zeug nicht geschenkt haben. Soll ja Leute geben, die ganz scharf sind auf so etwas. Der Antikhandel in Pirna wird sich freuen.« »Wenn ich ein reicher Mann wär’, ich würde bei der Haushaltsauflösung zuschlagen.« »Diese Möbel würdest du dir in die Wohnung stellen?« »Würde ich.« »Bloß gut, daß du kein reicher Mann bist. Du würdest es bereuen. Auf Dauer kann man nicht in so al23
tem Plunder leben.« »Du bist und bleibst ein Banause.« »Es muß auch Banausen geben, sonst wüßte so ein Gebildeter wie du ja gar nicht, was er wert ist.« Ebner rief den Kriminalisten von dem VP-Kreisamt und fragte ihn nach den Vermögensverhältnissen der Toten. »Genaues kann ich Ihnen auf Anhieb nicht sagen. Ich weiß nur, daß die Heidenreichs vor ungefähr zehn Jahren einen Eisenwarenladen hatten: Schrauben, Nägel, Werkzeug und so. Sollen alteingesessene Leute gewesen sein, die Heidenreichs.« »Wohnen Sie schon lange in der Gegend?« »Ich bin hier aufgewachsen.« »Dann sind Sie mein Mann. Ich werde Sie für die Einsatzgruppe anfordern. Rufen Sie Ihren Chef an, und sagen Sie ihm, daß wir einen Arbeitsraum benötigen.« »Geht klar.« »Ist Ihnen schon irgend etwas zu unserer Leiche eingefallen?« Oberleutnant Richter schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich war jemand auf ihr Geld scharf.« »Wahrscheinlich.« »In jedem Fall muß sie ihren Mörder gekannt haben, sonst hätte sie nicht in aller Ruhe mit ihm Kaffee getrunken.« »Sollte man annehmen. Sie dürfte aber als Lottofrau viele Menschen gekannt haben und von noch 24
mehr gekannt worden sein.« »Ja, es wird allerhand Arbeit geben.« Ebner blickte auf die Uhr. »Bestellen Sie sämtliche Bewohner des Hauses, die zu der fraglichen Zeit, also zwischen dreizehn und vierzehn Uhr dreißig, im Hause waren, für den Abend aufs Revier. Und wenn Sie auch noch eine Sekretärin auftreiben können, die mit mehr als zwei Fingern auf die Schreibmaschine einschlägt, wäre das einsame Spitze. Ich schaue mich in der Zwischenzeit hier noch etwas gründlicher um.« Ebner ging aus der Wohnung, die Treppe hinunter und aus dem Haus. Er wollte versuchen, sich die Situation des Täters zu vergegenwärtigen, und dazu mußte er zunächst das Haus aus einiger Entfernung beobachten, denn das dürfte der Täter mit Sicherheit genauso gehalten haben. Oder die Täter … Es war nicht auszuschließen, daß es sich um mehr als einen handelte. Das Vorhandensein von lediglich zwei Kaffeetassen auf dem Wohnzimmertisch wollte da wenig besagen. Es gibt Leute, die trinken keinen Kaffee. Nur sich in diesem frühen Stadium auf keine Hypothese festlegen. Zu schnell wird man dann ein Opfer dieses ersten Verdachts und hat keinen Blick mehr für andere mögliche Versionen. Die Zahl der Neugierigen vor dem Haus hatte sich nicht verringert. Ebner ging auf die andere Straßenseite. Die Blicke der Leute gingen ihm nach. Alle waren gespannt, was dieser Mann, 25
der wohl so etwas wie einen Kommissar darstellte, jetzt tun würde. Es war aufregend, endlich einmal selbst in einem Krimi mitzuspielen, und wenn es auch nur als Statist war. In jedem Falle war man doch dabei, war mittendrin und saß nicht vor der Röhre. Ebner kannte diese Szenerie und wußte, daß von ihm jetzt eine außergewöhnliche Handlung erwartet wurde, und wenn schon nicht außergewöhnlich, dann wenigstens typisch für einen »Kommissar«, zum Beispiel das Anzünden einer Pfeife. Statt dessen blieb er ganz einfach stehen und schaute sich das Haus an. Drei Stockwerke hoch. Je Stockwerk zwei Mietsparteien. Im Parterre links unter der Wohnung der Ermordeten ein Kurzwarenladen. Inhaber: Peter Karsch. Dort könnte früher einmal die Eisenwarenhandlung Heidenreich untergebracht gewesen sein, dachte Ebner. Zu beiden Seiten des Hauses freier, unbebauter Raum. Nach rechts setzte sich die Häuserzeile noch ungefähr einhundert Meter weiter fort. Linker Hand kam absehbar nichts mehr, aber es führte ein Weg hinter das Haus, und auf einem Schild stand zu lesen, daß sich weiter hinter die Kohlenhandlung Alfred Nitzschke befand. Sah man von der Ansammlung Neugieriger und von dem parkenden Streifenwagen der VP ab, deutete nichts an dem Hause Triskauer Straße 37 darauf hin, daß sich in ihm vor ungefähr zwei Stunden ein tödlich endendes Drama abgespielt hatte. In allen Wohnungen brannte 26
anheimelndes Licht. Es ging auf den Abend zu. Ebner fiel ein, daß er ja heute hatte zeitig zu Bett gehen wollen, und er zog eine Grimasse und schlug den Mantelkragen hoch, denn es begann schon wieder zu nieseln. Der Hinterhof war nicht sehr groß. Das Schlafzimmerfenster der Frau Heidenreich stand noch immer offen. Ein Kriminaltechniker zog das Bettlaken nach oben, um es nicht dem Regen auszusetzen, der unter Umständen wichtige Spuren abspülen könnte. Vom untersten Zipfel des Lakens bis zum betonierten Boden des Hofes waren es höchstens zwei Meter gewesen. Es hatte knapp über dem hinteren Fenster des Kurzwarenladens gebaumelt. Ebner trat näher, um die Jalousie, mit der das Fenster verschlossen war, auf mögliche Spuren zu prüfen. Mit bloßem Auge war jedoch nichts zu entdecken. In der hinteren Hofecke stand ein kleiner Schuppen. Die Tür war unverschlossen. Ebner warf einen Blick hinein und entdeckte eine Leiter. Sogleich kamen ihm die beiden Polizisten aus dem Funkstreifenwagen wieder in den Sinn, denen nur eine Feuerwehrleiter eingefallen war. Er ging den Weg weiter nach hinten und gelangte auf einen zweiten Hof mit mehreren Garagen. Sie waren samt und sonders verschlossen. Auf der anderen Seite des Weges stand ein Flachbau. Über seiner Tür hing ein Schild mit der Aufschrift »Sportlerklause«. Die Tür war geöffnet, und die Räume im Inneren waren beleuchtet. Ebner konnte 27
eine lange Tafel erkennen, an der etwa ein Dutzend Leute in Trauerkleidung saßen. Auf den Tischen standen Teller mit Kuchen und Torten, dickbäuchige Kaffeekannen und Schnapsflaschen. Mußte hier ausgerechnet heute auch noch ein Leichenschmaus abgehalten werden, fluchte Ebner in sich hinein. Die Zahl der zu überprüfenden Leute wuchs sich ja ins endlose aus. Die Hausbewohner, die Garagenbesitzer, die Lottospieler, die Verwandten, die Bekannten, und nun auch noch die Trauergesellschaft. Raschen Schrittes ging er wieder nach vorn zum Haus. Die Kohlenhandlung sparte er sich für später auf. Vor der Haustür stand Willy. »Ich habe eine«, sagte er und hielt eine kümmerliche kleine Zitrone hoch. »Bißchen mickrig, aber immerhin«, sagte Ebner und steckte sie in die Manteltasche. »Wie schaut’s denn aus?« wollte der Fahrer wissen. »Wird spät werden.« »Wie immer.« »Nein«, sagte Ebner, »diesmal wird’s noch später.« Vom Flur der Wohnung gingen links die Türen zur Küche, zum Bad und zum Schlafzimmer ab, die sämtlich zum Hof gelegen waren. Geradeaus kam man in eine Art Herrenzimmer, und rechter Hand befand sich die Tür zum Wohnzimmer. Die Leiche lag im »Herrenzimmer«. Sie war allem Anschein nach 28
vom Flur in dieses Zimmer geschleift worden. Zumindest die Blutwischspuren auf dem Fußboden des Flures erlaubten diese Annahme. Nicht weit von der Leiche entfernt lag ein zerbrochener Stuhl. Auf dem kleinen Tisch gleich neben der Tür lag eine lange Schere, wie sie gewöhnlich beim Tapezieren verwendet wird. An beiden Schneidekanten waren die Spitzeabgebrochenen. Die Schere wies Blutspuren auf. Ansonsten fanden sich in diesem Zimmer keine Spuren eines Kampfes. Es deutete auch nichts auf eine hastige Suche nach Geld oder Schmuckstücken hin. Die Türen und Schubladen aller Schränke und Kommoden waren geschlossen. Sämtliche Bücher standen auf ihrem Platz. Das Wohnzimmer machte gleichfalls einen ordentlichen, aufgeräumten Eindruck. Auf dem Wohnzimmertisch standen noch zwei Kaffeetassen, eine Kaffeekanne, ein unausgeräumter gläserner Aschenbecher und ein Frühstücksteller mit dem Rest eines Wurstbrotes. Neben dem Teller lagen Lottoscheine und einige Papiere, die offenbar zur Lotto-Annahmestelle gehörten. In der Mitte des Tisches ein frischer Strauß Chrysanthemen, eine halbgeleerte Pralinenschachtel und eine goldene Taschenuhr in einem extra gefertigten Holzgehäuse. In der Küche fand sich unabgewaschenes Geschirr, der Rest eines Omeletts und auf dem Tisch auf einem Schneidebrett abgeschnittene Blumenstengel. Jemand hatte Frau Heidenreich heute Blumen 29
gebracht. Die Stengel waren noch frisch. Möglicherweise sind ihr die Chrysanthemen aber auch in ihrer Lotto-Annahmestelle verehrt worden, und sie hat sie in der Mittagspause mit nach Hause genommen. In Verbindung mit der Pralinenpackung auf dem Wohnzimmertisch wurden die Blumen allerdings zum typischen Mitbringsel für einen Besucher, der sich nicht gar zu häufig blicken läßt, und dennoch in einem gewissen Dauerkontakt zu der Besuchten steht. Geht man zu einer fremden Person, bringt man ihr kaum Blumen und Pralinen mit, will man sich nicht dem Verdacht einer gewissen Aufdringlichkeit aussetzen. Ebner ging erneut ins Wohnzimmer und stellte sich an die Tür und tastete jedes Detail des Raumes mit Blicken ab. Obwohl ihm spätestens morgen früh eine peinlich genaue Beschreibung sämtlicher Räume des Tatorts, gefertigt von einem Spezialisten unter den Kriminaltechnikern, auf dem Tisch liegen würde, unterließ er es nie, sich die Örtlichkeiten so genau wie nur irgend möglich einzuprägen. Ein Vorgang, an dem keineswegs nur die Augen beteiligt waren. Neulingen pflegte Ebner beizubringen, daß ein guter Kriminalist einen Tatort sehen, riechen, schmecken und fühlen muß, wenn er Erfolg haben will. Mußte Ebner in einen Fall einsteigen, bei dem er diese Möglichkeit nicht gehabt hatte, kam er sich wie ein Blinder vor, der sich genötigt sieht, über die Farbigkeit der Welt mitzureden. So 30
konnte gerade der spezifische Geruch einer Wohnung – und es gibt keine Wohnung, die nicht ihren besonderen Geruch hätte – allerhand über die Gewohnheiten der darin lebenden Menschen aussagen. Und dieser Geruch, diese spezielle Geruchsmischung einer Wohnung, fand sich in keinem einzigen der vielen Protokolle, die ihm im Laufe einer Ermittlung vorgelegt wurden, weil es schwer war, sie einem anderen zu übermitteln, sie zu definieren. Das war eine Arbeit, die mit der eigenen Nase erledigt werden mußte. Und in der Wohnung der Frau Heidenreich, fiel ihm auf, roch es so gar nicht nach »alten Leuten«, also nicht muffig, nicht nach unsauberer Wäsche, nach Körperausscheidungen. Man hätte im Gegenteil annehmen können, sich in der Wohnung einer jungen Frau zu befinden, die Wert auf gute Seifen, Deodorants und dezente Parfüms legt. Es lag keine schmutzige Wäsche auf den Stühlen oder Kommoden. Das Bad war peinlich sauber, die Wanne geschrubbt. Im Küchenschrank und in der kleinen Speisekammer neben der Küche gärten oder moderten keinerlei Speisereste still vor sich hin, wie er es oft genug in den Wohnungen alter Leute gesehen und gerochen hatte. All diese Beobachtungen ließen den Schluß zu, daß es sich bei der Toten um eine Frau mit einer ausgeprägten Selbstdisziplin, mit Willensstärke gehandelt haben mußte. Daß sie mit ihren achtundsiebzig Jahren noch eine Lotto-Annahme31
stelle betrieb, verstärkte den Eindruck. Im Augenblick ließ sich zwar wenig mit der Feststellung anfangen, aber sie konnte zu einem späteren Zeitpunkt unter Umständen ausschlaggebend für die Bewertung beispielsweise ihres Bekanntenkreises werden. Das Wohnzimmer hatte eine zweiflügelige, verglaste Verbindungstür zum Herrenzimmer, deren einer Flügel weit offenstand. Ebner ging hinüber und trat an die sich dort befindende Tür zum Balkon. »Seid ihr mit der Ecke schon fertig?« fragte er die Kriminaltechniker. »Ja«, antwortete Paul, »da haben wir schon die Abdrücke genommen. Die Kohlen da draußen sehen aus wie frisch aus der Brikettpresse. Scheinen noch nicht lange angeliefert worden zu sein. Das Holz liegt wohl schon länger. Habe ich nicht nebenan eine Holz- und Kohlehandlung gesehen?« Ebner nickte bestätigend. »Möglicherweise ließ sie sich immer nur so viel Kohlen anliefern, wie auf dem Balkon Platz haben. Ersparte sie sich das Kohleschleppen aus dem Keller«, sagte er. »Dann müßte sie sich mindestens alle vierzehn Tage eine neue Lieferung haben kommen lassen. Sämtliche Öfen, selbst der im Schlafzimmer, sind noch warm. Nicht übermäßig heiß, aber sie hat sie alle geheizt.« »Ja, sie hat sich jeden Tag ein beachtliches Pensum Arbeit aufgeladen.« 32
»Hält jung«, sagte der Kriminaltechniker. Fügte jedoch gleich hinzu: »Na, nu’ nich’ mehr.« Frau Müller wohnte auf der gleichen Etage wie Frau Heidenreich. Sie war aufgeregt und genoß es gleichzeitig, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen. »Ich war Verkäuferin«, antwortete sie auf die Frage nach ihrer Tätigkeit, »aber das ist schon lange her. Müssen Sie es genau wissen?« Ebner verneinte. »Seit der Junge da ist, bin ich zu Hause. Ist auch besser so. Für den Jungen. Für den Mann. Und ich habe auch immer genug zu tun.« »Schildern Sie uns Ihren Tagesablauf, Frau Müller!« »Von heute?« »Ganz recht.« »Ich stehe immer zuerst auf und mache für meinen Mann und den Jungen das Frühstück. Wenn die beiden dann aus der Wohnung sind, das ist so kurz nach sieben, räume ich auf. Um Viertel nach acht bin ich selber aus dem Haus. Ich habe Sachen in die Reinigung gebracht und war dann…« »Das können wir uns schenken, Frau Müller. Wann waren Sie wieder in Ihrer Wohnung?« »Viertel nach zwölf. Ich war noch beim Mantelausziehen, als es klingelte und meine Schwiegermutter kam. Wir gingen ins hintere Zimmer und rauchten eine Zigarette. Von dem hinteren Zimmer kann ich nichts aus der Wohnung der Frau Heidenreich hören.« 33
»Wieso nicht?« »Was weiß ich. Ich habe aus dem Zimmer noch nie hören können, was bei Frau Heidenreich vor sich ging. Wir waren auch nicht lange in dem Zimmer drin. Eben nur für eine Zigarette. So zehn Minuten. Mehr bestimmt nicht. Dann bin ich mit meiner Schwiegermutter nochmals aus dem Haus und auf die andere Straßenseite in das Lebensmittelgeschäft.« »Wie lange wird der Einkauf gedauert haben?« »Nicht lange. Höchstens zehn Minuten. Vielleicht waren es auch nur fünf.« »Demnach müßten Sie um zwölf Uhr dreißig wieder in Ihrer Wohnung gewesen sein.« »Bestimmt war ich das.« »Haben Sie beim Verlassen oder beim Betreten des Hauses irgendeine fremde Person gesehen?« »Nein«, sagte sie. »Da habe ich schon drüber nachgedacht. Ich bin keiner Menschenseele begegnet.« »Auch keinem Hausbewohner?« »Niemandem.« »Erzählen Sie weiter!« »Ich habe dann anschließend die Wohnung saubergemacht.« »Hatten Sie einen Staubsauger in Betrieb?« »Nein. Den hatte ich früh schon benutzt. Jetzt habe ich Staub gewischt, die Möbel poliert und sone Sachen. Es war ganz ruhig. Ich hatte auch kein Radio 34
an, ich mag das Gedudel nicht. Wenn mein Mann da ist, läuft die Kiste ununterbrochen. Aber wenn er nicht da ist, schalte ich kein Radio ein. Und es war auch nichts zu hören im Hause. Es war überall still. So ungefähr zehn vor zwei bin ich dann in die Küche, und da habe ich im Korridor gesehen, daß im Korridor der Frau Heidenreich Licht brannte. Das sieht man bei uns, denn die Türen im Flur haben Glasscheiben. Und in der Küche habe ich dann die Schreie gehört. Anfangs bin ich gar nicht gleich draufgekommen, daß das die Frau Heidenreich ist, die so schreit. Es klang so ganz anders, so jämmerlich. Ich bin an die Flurtür, um herauszubekommen, woher das Schreien stammt. Da klang es aber auch schon deutlich nach der Stimme von Frau Heidenreich. Und ich hörte ganz genau, daß sie um Hilfe schrie. Da bin ich auf den Etagenflur und ’rüber zur Wohnungstür von Frau Heidenreich und habe an die Tür geklopft. Vor lauter Aufregung habe ich gar nicht erst geklingelt, sondern gleich gegen die Tür gebummert und habe immer gerufen: ,Frau Heidenreich!’ und ,Machen Sie doch auf!’ Aber es antwortete niemand. Und die Schreie hörten auch auf. Inzwischen war auch Frau Perkuhn, die Verkäuferin aus dem Laden unten, gekommen, und sie hat bei Frau Heidenreich geklingelt. Ich bin zwischendurch zum Telefon und habe die Polizei angerufen, den Notruf, und ich bin dann wieder nach draußen auf 35
den Flur. Da war im Korridor der Frau Heidenreich das Licht gelöscht. ,Es war jemand an der Tür’, hat Frau Perkuhn gesagt. Wir haben nochmals geklopft und gerufen, aber es rührte sich nichts mehr. Und dann kamen die zwei Polizisten.« »Zu welchem Zeitpunkt verließ denn Frau Heidenreich gewöhnlich die Wohnung?« »Also früh ging sie meistens zehn vor neun. Sie mußte ja um zehn die Annahmestelle öffnen. Ich kann mich nicht entsinnen, daß sie mal zeitiger gegangen war. Mittags kam sie zwischen dreizehn und vierzehn Uhr nach Hause. Feste Zeiten hatte sie da nicht. Manchmal war sie nur ganz kurz in der Wohnung. Spätestens vierzehn Uhr ging sie wieder. Na ja, es ist auch schon mal zehn nach zwei geworden, aber das war selten.« »Wie verhielt sich Frau Heidenreich an der Wohnungstür, wenn fremde Personen zu ihr kamen?« »Sie öffnete die Tür erst einmal nur einen Spalt breit. Personen, die sie kannte, ließ sie immer gleich ein.« »Benutzte sie den Spion an ihrer Tür?« »Das weiß ich nicht.« »Benutzen Sie ihn?« »Ja, sicher. Wir sind ein ordentliches Haus. Und wenn ich der Meinung bin, es befinden sich Leute auf dem Treppenflur, die da nichts zu suchen haben, darf ich doch den Spion benutzen. Wir schließen üb36
rigens pünktlich abends zwanzig Uhr die Haustür ab. Auch die Tür zum Hof. Deswegen ist es bei uns sauber im Flur und auf den Treppen. Keine Wände beschmiert. Weil wir die Augen offenhalten. Würden wir das nicht tun, na, ich weiß ja nicht, die Leute heutzutage, die klauen doch wie die Raben. Ganze Treppengeländer sind schon über Nacht verschwunden. Und unsre schönen Kacheln unten im Hausflur, die wären längst nicht mehr da. Wir sind alles alteingesessene Mieter. Bis auf die junge Frau im Parterre. Neben dem Laden. Hat zwei Kinder und keinen Mann. Na, wie das eben so ist heutzutage. Das ist wohl modern. Da gehen und kommen die Männer. Meine Tochter dürfte es nicht sein. Beim Einzug haben ihr auch mehrere Männer geholfen.« »Wann haben Sie zum letztenmal einen Mann in die Wohnung der jungen Frau gehen sehen?« »Wann? Warten Sie mal… das war… na so vor acht Wochen, da kamen gleich zwei fremde Männer aus ihrer Wohnung.« »Sonst nicht?« »Mein Gott, man paßt ja nicht immer auf. Man hat ja auch noch etwas anderes zu tun, nicht wahr?« »Was können Sie uns über Verwandte und Bekannte von Frau Heidenreich sagen?« »Sie hat noch einen Bruder, den besucht sie am Sonntag regelmäßig, denn der ist fast blind, und seine Frau hat wohl Thrombose und kann kaum noch 37
laufen. Das sind ihre einzigen Verwandten. Vor fünf oder sechs Jahren, so genau kann ich das nicht mehr sagen, war eine Frau bei ihr zu Besuch, die ihre Nichte gewesen sein soll. Sprach stark berlinerisch. Die müßte heute auch an die Sechzig sein, falls es sie noch gibt.« »Und Bekannte?« »Da war auch nicht viel. Nur der Herr Schilling, der kam jeden Freitag und half ihr bei der Abrechnung. Feiner Mann, alles was recht ist. Immer im Anzug und mit Krawatte. Finden Sie ja heute kaum noch. Tadellose Manieren. Hilfsbereit. Mit dem hat sie einen guten Fang gemacht. Wirklich. Sonst wüßte ich nicht… ach, doch, da kam ja einmal im Monat diese Frau aus Klotzsche. Die spielt jedesmal für zweihundert Mark im Lotto.« »Den Namen der Frau wissen Sie nicht?« »Nein. Ich weiß nur, daß sie aus Klotzsche kommt. Die sitzt dann immer ziemlich lange bei Frau Heidenreich. Ist auch schon mal nach zehn geworden, also abends, ehe sie wieder weg ist. Darüber habe ich mich sowieso des öfteren gewundert, daß bei der Frau Heidenreich so lange das Licht brennt. Manchmal hat die nach Mitternacht noch Licht zu brennen.« »Ist Ihnen in Erinnerung, wann Frau Heidenreich zum letztenmal Briketts geliefert bekam?« »Ach, Sie meinen diesen Günter von nebenan, von 38
der Kohlehandlung! Wann der das letzte Mal…? Nein, weiß ich nicht. Der kommt entweder früh oder abends. Übrigens ging die Frau Lange, die junge Frau aus dem Parterre, die mit den zwei Kindern, die ging seit etwa drei Wochen öfter mal hoch zu Frau Heidenreich. Meistens erst, wenn das Fernsehprogramm schon begonnen hatte. Deshalb kann ich Ihnen auch nicht sagen, wie oft und wie lange sie oben war. Aber zweimal habe ich sie gesehen.« »Und wie verhielt sich Frau Heidenreich ihr gegenüber?« »Freundlich, wie zu allen, die sie kannte. Sie hat sie sofort in die Wohnung geführt. Bißchen leichtsinnig ist es ja, habe ich so bei mir gedacht, aber man kann ihr schließlich nicht reinreden. Oder meinen Sie, ich hätte sie warnen sollen?« Ebner schüttelte den Kopf und beeilte sich, aus der Wohnung der Familie Müller zu kommen. Wenn ihm etwas an seiner Tätigkeit nicht behagte, dann war es das Zusammentreffen mit Menschen, denen er liebend gern den Mund gestopft hätte, die er aber statt dessen zum Reden bringen mußte. Als er die Treppe hinabstieg, kam ihm eine Frau entgegen. Sie schien um die Fünfzig zu sein und machte einen selbstbewußten Eindruck, wenngleich sie ziemlich erregt schien. »Sind Sie der Verantwortliche hier?« fragte sie. »Das kommt darauf an, welche Verantwortung Sie meinen«, antwortete Ebner. 39
»Ich wollte wissen, ob Sie einer der Kriminalisten sind.« Ebner nickte. »Mein Name ist Vincz«, sagte die Frau. »Ich kassiere auf der Triskauer Straße die Versicherung.« »Aha.« »Ich habe schon von dem Schrecklichen gehört.« »Was haben Sie gehört, Frau Vincz?« »Na, von dem Mord an der alten Frau Heidenreich. Ist sie tatsächlich erschlagen worden?« »Wer sagt das?« »Na, die Leute.« »Ja, ja, die Leute,« sagte Ebner. »Sind Sie gekommen, eine Aussage zu machen, oder?« »Aussage direkt vielleicht nicht, aber bei meiner Arbeit bekommt man so allerhand erzählt. Von manchen Leuten kommt man nur mit Mühe und Not wieder weg. Alle brauchen sie jemanden, dem sie sich anvertrauen können. Ehrlich, manchmal komme ich mir vor wie ein Pfarrer, ich meine, wie ein katholischer.« »Beichtvater?« »Genau.« »Und was hatte Frau Heidenreich zu berichten?« Die Frau blickte ihn unschlüssig an. »Muß das hier sein?« fragte sie. »Hier auf der Treppe?« »Nein, nein. Kommen Sie gegen zwanzig Uhr zum VP-Kreisamt, da haben wir Zeit und sind ungestört.« »Haben Sie schon den Herrn Schilling vernom40
men?« »Herrn Schilling?« fragte Ebner zurück und tat, als habe er den Namen noch nie gehört. »Ach, von dem wissen Sie noch gar nichts?« »Muß ich etwas über ihn wissen?« »O ja!« sagte die Frau, bremste sich aber gleich. »Nicht, daß Sie denken, ich will jemanden verdächtigen. Also auf gar keinen Fall will ich jemanden da hineinziehen.« »Machen Sie sich in dem Punkt keine Sorgen, Frau Vincz.« »Es ist ja nur, weil der Herr Schilling … ja, wie soll ich sagen, ich weiß nicht, ob Sie solche Leute kennen, ich meine so Leute, die mit allem möglichen ihre Geschäfte machen. Der Herr Schilling kann alles gebrauchen, Briefmarken, Schmuck, Möbel, Hausrat, na eben alles. Der macht auch Haushaltsauflösungen.« »Ja, und?« fragte Ebner und stellte sich absichtlich begriffsstutzig. »Ich dachte, es würde Sie interessieren.« »Reden wir heute abend noch mal darüber, Frau Vincz. Ich habe hier noch eine Kleinigkeit zu erledigen.« »Das will ich gern glauben«, sagte sie verständnisvoll. »Ich war nur gerade unterwegs, um Beiträge zu kassieren, als ich hörte, was mit der Frau Heidenreich geschehen ist. Und da macht man sich dann e41
ben so seine Gedanken.« Ebner nickte nur mehr stumm. Die Begegnung mit gleich zwei Leuten, die er nicht besonders mochte, besserte seine Laune nicht, aber er konnte sie sich schließlich nicht aussuchen. Außerdem war er auf den kleinsten Hinweis angewiesen. Und er fragte sich, ob der Herr Schilling bei der Befragung aus freien Stücken von seinem leidenschaftlichen Interesse an Antiquitäten berichten würde. Nachdem Ebner aus dem Kurzwarenladen mit seinem Vorgesetzten telefoniert und zwei weitere Mitarbeiter versprochen bekommen hatte, sah er sich noch ein wenig um. Frau Perkuhn, die Verkäuferin, war eine resolute kleine Person. »Ich habe den Laden dicht gemacht«, sagte sie, »die Leute kamen nur, um zu tratschen. Jeder wollte wissen, wie es war.« »Und wie war es?« »Also zwischen dreizehn und fünfzehn Uhr ist der Laden jeden Tag geschlossen. So war es auch heute. Ich war allein. Während der Tischzeit bin ich fast immer allein im Geschäft. Herr Karsch setzt sich dann auf sein Fahrrad und fährt durch die Gegend. Er meint, Radfahren sei gesund. Ich bin eigentlich ganz froh darüber. Ich setze mich dann in die Ecke, dort hinter den Vorhang, und esse meine Stulle und höre Musik aus dem kleinen Taschenradio. Heute hatte ich außerdem noch ein Kreuzworträtsel vor mir. Und meistens ist es um diese Zeit sehr still. Aber heute hörte ich auf einmal lautes Sprechen aus der Woh42
nung der Frau Heidenreich. Die Wohnung liegt ja genau über dem Laden.« »Wann haben Sie zum erstenmal dieses laute Sprechen vernommen?« »Das muß etwa drei Viertel zwei gewesen sein. Die Nachrichten hatten jedenfalls noch nicht begonnen, die kamen erst später, als ich es rufen hörte. Zuerst nahm ich an, es wären Kinder, weil es gar so jämmerlich klang. Ja, es hörte sich an wie von einem Kleinkind. Aber dann wurden die Rufe immer dringlicher und lauter. Und ich konnte deutlich verstehen, wie eine Frau rief: Hilfe! Hilfe! Hilft mir denn keiner?! Sie mußte in höchster Not gewesen sein, und ich hörte nun auch ganz deutlich, daß es Frau Heidenreich war, die da so schrie. Außerdem waren Schritte zu hören. Das waren nie im Leben Schritte von Frau Heidenreich. Nie im Leben. Frau Heidenreich ging leise und meistens in einem gleichmäßigen Tempo, also nicht hastig. Die Schritte dagegen waren forsch.« »Was meinen Sie mit ,forsch’?« »Energisch. Derb. Und mal schnell und dann wieder langsam. Genau genommen klang es, als wäre jemand in Stiefeln oben.« »Tatsächlich?« »Ja, entweder eine Person in Stiefeln oder in schweren Schuhen. Ich täusche mich in dem Punkt bestimmt nicht, denn – wie schon gesagt – das Ge43
schäft liegt direkt unter Frau Heidenreichs Wohnung.« »Moment«, sagte Ebner. »Unter welchem der Zimmer liegt der Laden?« »Dem Zimmer nach der Straße zu.« »Also käme nur das Wohnzimmer oder das ,Herrenzimmer’ in Frage.« »Das weiß ich nicht. Ich war nie bei Frau Heidenreich in der Wohnung. Ich kann nur sagen, daß unser Lagerraum nach hinten zum Hof hinaus liegt.« »Die Jalousie dort ist ständig geschlossen?« »Ja, ständig. Als Schutz gegen Diebe.« »Aha. Und nun weiter. Sie haben Frau Heidenreich schreien gehört…?« »Ja, ganz jämmerlich um Hilfe schreien. Da bin ich aus dem Laden und hoch in den ersten Stock. Ich dachte, es ist ihr etwas zugestoßen, ich dachte, sie wäre unglücklich gefallen. Wer denkt denn, daß da jemand in der Wohnung ist, der ihr ans Leben geht. An so etwas denkt doch niemand. Und auf dem Treppenpodest im ersten Stock stand schon Frau Müller. Ich habe wie verrückt bei Frau Heidenreich geläutet. Ich habe den Klingelknopf gar nicht wieder losgelassen. Und auf einmal habe ich Schritte gehört. Es kam jemand an die Tür, aber ganz leise, es hörte sich fast so an, als käme jemand auf Strümpfen. Und da war jemand. Ganz eindeutig, denn ich hörte ja auch, wie er sich am Schloß von der Wohnungstür zu 44
schaffen machte. Zuerst glaubte ich, die Tür würde geöffnet, aber der hat sicher noch die Kette vorgehängt. Dann wurde auch das Flurlicht gelöscht. Da habe ich zu Frau Müller gesagt, sie soll doch ganz schnell einen Funkwagen von der Polizei rufen. Über den Notruf. Und das hat sie ja auch getan, wie Sie wissen.« »Wann haben Sie die Stimme von Frau Heidenreich zum letztenmal gehört?« »Das war noch im Laden. Danach nicht mehr.« »Haben Sie Frau Heidenreich heute in Begleitung irgendwelcher Personen gesehen?« »Nein. Ich bin Frau Heidenreich vor gut acht Tagen das letzte Mal begegnet. Und aus meiner Mittagsecke kann ich gar nicht nach draußen sehen.« »Der Ladeninhaber war heute den ganzen Tag nicht anwesend?« »Herr Karsch? Doch, der war da, aber nur bis zur Mittagspause.« »Wann genau hat er den Laden verlassen?« »Wieso fragen Sie das?« »Weil in dem Hause Triskauer Straße siebenunddreißig eine Frau unter ungewöhnlichen Umständen ums Leben gekommen ist, Frau Perkuhn.« »Ja, aber der Herr Karsch hat doch damit nichts zu tun.« »Zur Zeit haben alle Bewohner des Hauses damit zutun. Und ich möchte von Ihnen auch noch wissen, 45
ob Sie irgendwelche Bekannte von Frau Heidenreich kennen. Doch bleiben wir zunächst bei Herrn Karsch. Wann also hat er den Laden verlassen?« »Kurz vor dreizehn Uhr. Vielleicht zehn Minuten vorher. Das macht er sonst nicht. Meistens bleibt er noch bis nach Ladenschluß, aber heute hatte er etwas Persönliches zu erledigen.« »Und Sie wissen nicht, worum es sich dabei handelte?« »Nein. So stehe ich mich mit Herrn Karsch nicht.« »Er hatte nicht vor, nochmals zu erscheinen? Zum Ladenschluß?« »Doch. Er muß ja die Tagesabrechnung machen.« Ebner schaute zur Uhr. »Er müßte jeden Moment kommen«, sagte die Verkäuferin. »Ja, das müßte er, wenn er Ihnen keine Überstunde aufbrummen will. Und was ist nun mit Bekannten von Frau Heidenreich?« »Ich kenne keine. Beim besten Willen … Da kann Ihnen aber sicher die Frau Lustig helfen, die frühere Besitzerin des Ladens. Frau Heidenreich hatte doch bis zum Mai des vorigen Jahres ihre Lotto-Annahme hier im Laden. Als Herr Karsch dann das Geschäft übernahm, mußte sie ’raus. Er wollte das nicht.« »Was hat ihn daran gestört?« »Ach, das ist ein weites Feld, Herr Hauptmann, da müßte ich Ihnen viel erzählen …« Sie brach ab, denn 46
im gleichen Augenblick betrat Karsch den Raum. Ohne zu grüßen, fragte er: »Was geht denn hier vor?« Ebner sagte guten Tag und stellte sich vor. »Kriminalpolizei?« fragte Karsch ungläubig. »Haben Sie etwas ausgefressen, Frau Perkuhn?« »Wir ermitteln wegen Frau Heidenreich«, klärte Ebner ihn auf. »Verdacht auf Mord.« Karsch wurde blaß. Obwohl große Teile seines Gesichts von einem dunklen Bart verdeckt waren, ließ sich deutlich erkennen, wie sehr ihm die Mitteilung an die Nieren ging. Fragte sich nur, aus welchem Grund. »Das ist ja ungeheuerlich«, sagte er nach einer Weile, »da ist man ja seines Lebens nicht mehr sicher. Am hellichten Tage umgebracht?« Ebner nickte. »Und wer war’s?« »Das ist nicht die richtige Frage, Herr Karsch.« »Sondern?« »Wer könnte es gewesen sein?« »Das wollen Sie von mir wissen? Ausgerechnet von mir? Ich war überhaupt nicht da.« »Wieso?« fragte Ebner. »Was heißt wieso? Ich sagte doch, ich war nicht da.« »Woher wissen Sie, daß der Mord in den Zeitraum fällt, in dem Sie abwesend waren?« »Haben Sie nicht eben gesagt, daß Frau Heidenreich…« Er verstummte mitten im Satz. »Merkwürdig, nicht?« kommentierte Ebner. 47
»Deswegen können Sie mich unmöglich verdächtigen. Ich habe doch nur angenommen, daß es geschehen ist, während ich weg war. Sonst hätte ich schließlich etwas gemerkt. Ich meine hier im Laden hätte ich bestimmt etwas gehört, denn die Wohnung von Frau Heidenreich liegt da direkt darüber.« »Gewiß, Herr Karsch«, sagte Ebner, »für Sie genau genommen kein Grund zur Aufregung.« »Und weshalb verhören Sie mich dann wie einen Verbrecher?« »Habe ich Sie verhört?« »Und ob Sie das haben.« »Ich habe Ihnen bis jetzt lediglich zwei Fragen gestellt. Und jetzt stelle ich Ihnen die dritte, nämlich wo waren Sie heute in der Zeit von dreizehn bis vierzehn Uhr dreißig?« »Wer gibt Ihnen das Recht, mich das zu fragen?« »Es sind unter anderem auch Ihre Steuergelder, Herr Karsch, von denen man mir mein Gehalt zahlt. Und ich möchte es nicht gern für schlechte Arbeit bekommen. Verstehen Sie das? Also sagen Sie mir, wo Sie in der fraglichen Zeit waren, und jeder Verdacht wird von Ihnen genommen sein.« »Nein«, sagte Karsch entschieden, »ich nehme lieber den Verdacht auf mich.« »Bitte«, sagte Ebner, »wie Sie wollen. Ich gebe Ihnen sicherheitshalber meine Telefonnummer.« »Ist nicht nötig.« 48
»Man kann nie wissen«, entgegnete Ebner und reichte ihm seine Diensttelefonnummer. Die beiden Alten hatten vom Leben eine seltsame Arbeitsteilung aufgezwungen bekommen. Während er noch gut zu Fuß war, vermochte sie nur mit viel Mühe ein paar Schritte voranzukommen. Dagegen sah er fast gar nichts mehr, und sie brauchte mit ihren fünfundsiebzig Jahren nicht einmal eine Brille. Deshalb las sie ihm die Zeitung vor, erledigte allen Schriftkram und beschrieb ihm oft, welche Bilder im Fernsehen zu sehen waren. Er hingegen hatte die Haushaltsführung übernommen. In der Wohnung bewegte er sich mit einer Sicherheit, die der eines Sehenden in nichts nachstand. »Die Dinge müssen nur an ihrem Platz sein«, erklärte er Hauptmann Wustlich das Geheimnis seiner Geschicklichkeit. »Daß die Erna auf so eine Art ums Leben kommen mußte«, sagte seine Frau. »Das hat sie nicht verdient«, stimmte ihr der Mann zu. »Und wer wird nun für uns einkaufen?« »Es findet sich jemand«, sagte der Mann. »Verhungern werden wir nicht. Die Volkssolidarität macht das schon.« »Aber Erna wußte genau, was wir so brauchen.« »Es ist schon schlimm. Dabei war meine Schwester keine reiche Frau. Bei ihr gab’s doch kaum etwas zu holen. Mir hat sie erst vor kurzem gesagt, sie hätte reichlich zweitausend Mark auf dem Sparbuch. Ist ja 49
nicht eben viel Geld.« »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Herr Wilhelmi, wenn Sie mir ein paar genauere Angaben darüber machen könnten, was sich an Wertsachen in der Wohnung Ihrer Schwester befunden haben müßte.« »Kann ich«, sagte der Mann, »sie hat mir’s oft genug aufgezählt. Falls mir etwas zustößt, hat sie gesagt. Du bist ja der Erbe, du mußt wissen, was da ist. Ja, also, da ist erst mal die goldene Doppelkapseluhr mit Kette, die stammt noch von meinem Vater.« »Ist das die Uhr in dem Holzgehäuse auf dem Tisch im Wohnzimmer?« fragte Wustlich. »Die ist also nicht geklaut?« »Nein«, sagte Wustlich, »sie stand auf dem Tisch.« »Komisch. Das ist doch ein wertvolles Stück. Wieso hat der Halunke sie stehenlassen?« »Wenn ich das wüßte«, antwortete Wustlich. »Dann müßten noch zwei Brillantringe dasein. Zwei Dukatenringe, das waren die Eheringe meiner Schwester. Ihre goldene Armbanduhr. Eine Goldmünze und einige Silbermünzen von früher, noch mit Hindenburg drauf. Und dann noch eine Damenuhr zum Anstecken, mit Brillantsplittern besetzt. Tja, das waren wohl die wichtigsten Wertsachen. Paar Briefmarken von meinem Schwager sind sicher noch da. Ob die Wert haben, weiß ich nicht, ich kenne mich bei den Dingern nicht aus. Aber der war reineweg 50
närrisch hinter dem Zeug her. Das meiste davon hat Erna schon verscherbelt. Wahrscheinlich hat ihr der Schilling die Sachen für ’n Appel und ’n Ei aus ’m Kreuz geleiert, denn der weiß doch, was Sache ist, der ist doch mit allen Wassern gewaschen. Ich habe meiner Schwester oft gesagt: Paß auf und laß dich nicht übers Ohr hauen! Aber die ist zu gutmütig. Keine Geschäftsfrau. Hat schon mein Schwager immer drüber geklagt. Na ja, der war auch nicht gerade ein Geschäftsmann.« »Wenn sie nur auf dich gehört hätte«, sagte die Frau, »vielleicht wäre sie dann noch am Leben. Mein Gott, eine alte Frau erschlagen, wer macht denn das?« »Auf der einen Seite müssen wir sowieso alle sterben«, setzte der Mann hinzu, »und wir in unserem Alter, wir müssen ja jeden Tag damit rechnen, daß es abgeht. Aber andererseits wünscht man niemandem so einen Tod. Das Kaffeegeschirr stand noch auf dem Tisch?« Wustlich nickte. »Sie trank für ihr Leben gern Kaffee, die Erna. Das stimmt. Ja, da muß sie doch aber ihren Mörder gekannt haben! Denn mit einem stockfremden Menschen setzt sie sich doch nicht hin und trinkt Kaffee.« »Davon gehen wir auch aus, Herr Wilhelmi. Würden Sie mir deshalb alle Verwandten und Bekannten Ihrer Schwester nennen!« »Verwandte sind außer mir keine. Und Bekannte? Na, viele sind es nicht.« 51
»Kam da nicht immer die Frau, die jeden Monat für zweihundert Mark Lotto gespielt hat, August? Wie hieß sie denn nur?« »Hieß die nicht Schmidt? Erzählt hat meine Schwester paarmal von der Frau. Die kam nämlich immer zu ihr in die Wohnung zum Lottospielen. Hat die Erna sonst nicht gemacht, aber bei der Frau hat sie ’ne Ausnahme machen wollen, wegen der zweihundert Mark. War ja so ’ne Art Stammkundin. Die Frau wohnt in Klotzsche, das weiß ich genau.« »Und sie fuhr jeden Monat von Klotzsche nach Blasewitz, um im Lotto zu spielen?« »Genauso war’s. Jedenfalls hat es meine Schwester so erzählt. Doch, die heißt Schmidt. Und der Sohn hat wohl ’ne Drogerie.« »Sonst wissen Sie nichts über Bekannte Ihrer Schwester zu sagen?« »Naja, der Schilling, aber den habe ich ja schon genannt. Der Schilling, ja, ja …« »Meinst du?« fragte ihn die Frau. »Ach nee, eigentlich trau’ ich ihm das nicht zu«, antwortete der Mann. »Ein Fuchs ist er, aber jemandem ans Leder gehen … nee, nee. Und warum sollte er denn? Er ist doch bei ihr auch so auf seine Kosten gekommen.« »Waren das vorhin sämtliche Ihnen bekannte Wertsachen aus dem Besitz Ihrer Schwester, Herr Wilhelmi?« 52
»Ich denke, ja. Paar Gläser. Bißchen Porzellan. Und natürlich war auch Bargeld da. Fünfhundert Mark Miete für den Laden. Die wäre im Dezember fällig gewesen. Reichlich sechshundert Mark Steuergelder. Dann noch die Rente, das sind zweihundertsiebzig Mark, und das Sparkassenbuch.« »Wer erbt eigentlich die Möbel?« fragte Wustlich. »Die Möbel? Wer die erbt? Das ist doch nur Gerümpel. Das Zeug geht auf den Sperrmüll. Was soll ich denn damit? Ich habe meiner Schwester oft geraten, sie soll sich neu einrichten. Ich meine, man lebt ja nur das eine Mal, und da soll man sich’s doch so gemütlich machen wie irgend möglich. Aber sie wollte sich partout nicht trennen von dem Krempel. Waren ja alles Erbstücke noch vom Vater ihres Mannes. Aus unseren Möbeln haben die Amis Kleinholz gemacht. Hat aber auch sein Gutes, jedenfalls aus der Sicht von heute. Wir konnten unser Herz gar nicht an irgendwelchen alten Plunder hängen, war ja alles zerbombt. Und so haben wir uns nach und nach neu eingerichtet. Gemütlich. Finden Sie nicht auch?« »Ja, ja«, sagte Wustlich gedehnt, »ist schließlich Geschmacksache.« »Ach so«, sagte Herr Wilhelmi, »beinahe hätte ich es vergessen: Zu der Wohnung meiner Schwester gehören drei Schlüssel. Einen habe ich. Soll ich ihn Ihnen aushändigen?« »Ist nicht nötig«, erwiderte Wustlich, »aber sehen 53
möchte ich ihn.« Herr Wilhelmi ging in die Küche und langte mit einem einzigen Griff den gewünschten Schlüssel vom Haken. »Danke«, sagte Wustlich und verabschiedete sich. Die Lotto-Annahmestelle der Frau Heidenreich war in einem alten Mietshaus untergebracht. Die Straße verlief im rechten Winkel zur Triskauer und maß höchstens zweihundert Meter. Trotz der Kürze drängten sich auf der Straßenseite, auf der auch die Annahmestelle lag, ein Lampengeschäft, eine Bäckerei und ein Laden für Fahrradersatzteile. Frau Heidenreich dürfte von ihrer Wohnung bis zur Arbeitsstelle kaum mehr als fünf Minuten benötigt haben. Der Schlüssel hatte sich in der Handtasche der Toten gefunden. Ebner reichte ihn Oberleutnant Richter. »Es ist ja gewissermaßen Ihr Revier.« »Soviel Höflichkeit bin ich vom Dezernat zwei gar nicht gewöhnt«, sagte Richter. »Wir tun, was wir können, um unseren Ruf zu verbessern.« »Vermutlich wollen Sie mich bei guter Laune halten, damit ich spure. Gibt ja einen Haufen Arbeit.« »Es ist immer alles viel einfacher«, sagte Ebner, »ich habe Ihnen den Schlüssel gegeben, damit Sie endlich hier diese Lottobude aufschließen!« Der Raum, den sie betraten, hatte Wohnzimmergröße. Es herrschte die in den Lotto-Annahmestellen übliche Enge. An der rechten Wand war eine Art lang gezo54
genes Stehpult angebracht, auf dem die Tippscheine ausgefüllt werden konnten. Der Tür gegenüber befand sich ein breiter Tisch, der vom übrigen Raum durch eine hölzerne Balustrade getrennt war. An ihm hatte am heutigen Vormittag Frau Heidenreich noch Gewinne ausgezahlt und neue Tippschein entgegengenommen. Ein paar Faserschreiber und Bleistifte lagen auf der zerkratzten Platte. Dazu jede Menge leerer Tippzettel und die kleine Fahne des VEB Vereinigte Wettspielbetriebe. Die hintere linke Ecke des Raumes war durch einen Vorhang abgetrennt. In ihr standen ein kleines Tischchen und ein Stuhl. Auf dem Tisch alle zum Kaffeekochen notwendigen Utensilien. Über der Stuhllehne hing eine Strickjacke. Unterm Tisch stand ein Wassereimer. Daneben lagen und standen ein Scheuerlappen, Besen, Kehrschaufel, mehrere Putzlappen und drei Flaschen Möbelpolitur. In der rechten hinteren Ecke neben dem Arbeitstisch stand ein kleiner Dauerbrandofen, auf dem ein Topf mit Wasser stand. Die linke Wand des Raumes wurde von einer hölzernen Bank mit Beschlag belegt. Nichts deutete in dem Raum auf einen Einbruch hin. Die Jalousie des großen Ladenfensters war ordnungsgemäß geschlossen. Das Türschloß funktionierte einwandfrei. »Was ich vermisse, ist ein Safe.« »Den werden Sie in den meisten LottoAnnahmestellen vermissen.« 55
»Demnach hat Frau Heidenreich alles Geld stets zwischen Wohnung und Annahmestelle hin- und hergetragen.« »Anzunehmen.« »Eine etwas leichtfertige Art im Umgang mit Geld.« »Dies war bislang eine friedfertige Gegend. Keinerlei Einbrüche, Diebstähle, Rowdytum. Nichts.« »Ja, ja«, erwiderte Ebner, »aber jedes Paradies ist befristet. Ich dachte, das hätte sich herumgesprochen. Und nun haben wir den Salat. Der VEB ,Vereinigte Wettspielbetriebe’ ist verständigt?« »Habe ich erledigt. Morgen früh kommt jemand und übernimmt die ausgefüllten Spielscheine. Außerdem wird eine Inventur gemacht.« »Man müßte den Laden weiterführen.« »Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Richter. »In solchen Annahmestellen treffen sich die Stammkunden und reden über Gott und die Welt. Und natürlich über den neusten Klatsch im Wohnbezirk.« »Da könnte durchaus ein Tip für uns abfallen.« »Vielleicht sogar der Fünfer im Kriminalistenlotto.« »Ich war im Spiel noch nie vom Glück gesegnet.« »Aber morgen wird die Annahmestelle sicher nicht geöffnet werden können.« »Warum nicht?« 56
»Wegen der Inventur.« »Ach ja. Der Grund, weshalb Läden so oft geschlossen haben. Ist natürlich saublöd. Gerade der morgige Tag wäre von Wichtigkeit. Der Täter dürfte ein großes Interesse haben, zu erfahren, was wir wissen. Und wo sollte er seine Neugier stillen, wenn nicht hier?« »Ohne Inventur läuft da nichts.« »Ja, verflucht und zugenäht, kann denn die nicht heute nacht gemacht werden?« »Kennen Sie einen Laden, der nachts Inventur macht?« »Nein.« »Ich auch nicht.« »Na fein. Soll der Täter doch sehen, wie er zu seinen Informationen kommt!« Hauptmann Wustlich stand vor der Tür der Kohlehandlung und wußte nicht recht, wie er sich bemerkbar machen sollte. Im Lichte der alten Gaslaternen, mit der die Straße noch beleuchtet wurde, ließ sich nicht eben viel erkennen. Rechter Hand versperrte ein hoher Holzstapel den Einblick in den offenbar langgezogenen Hof. Links stand ein niedriges weißgetünchtes Häuschen mit einem Schild an seiner vorderen Wand, auf dem Wustlich mit etwas Mühe entziffern konnte, daß es sich hier um die Holz und Kohlehandlung A. Nitschke handelte. Darunter die Öffnungszeiten, die Wustlich jedoch nicht interessierten. Er überlegte, ob 57
er über den Drahtzaun klettern sollte. Nirgends war eine Klingel zu entdecken. Es war auch kein Platz für eine Klingel, denn selbst die Tür bestand aus einem eisernen Rahmen, der mit verrostetem und ausgebeultem Maschendraht bespannt war. Die beiden Flügel wurden durch eine Eisenkette mit Schloß zusammengehalten. Versuchsweise rüttelte er daran. Sogleich meldete sich irgendwo in der dunklen Tiefe des Hofes ein Hund. Dort hinten sah man auch einen schwachen Lichtschein, es war das übliche blasse, bläuliche Licht eines flimmernden Fernsehapparates, wie er zu abendlicher Stunde aus den meisten Wohnzimmern nach außen sickert. Wustlich bückte sich und las Steine vom Gehsteig auf, die er dann in Richtung des bellenden Hundes warf. Das Gebell steigerte sich, wurde hektisch und drohend. Jemand öffnete ein Fenster und suchte den Hund zu beruhigen. Hauptmann Wustlich machte sich durch Rufen bemerkbar. »Was ist denn los?« rief eine Männerstimme ärgerlich. »Ich muß Sie sprechen.« »Wer ist denn ich?« »Wenn Sie zur Hoftür kommen, verrate ich es Ihnen.« »Jetzt ist Feierabend.« »Weiß ich. Trotzdem muß ich Sie sprechen. Kriminalpolizei.« Das Fenster wurde zugeschlagen, und 58
nach geraumer Zeit ging das Hoflicht an, und ein Mann trat aus der Tür des weit hinten gelegenen Wohnhauses. Unlustig kam er nach vorn geschlurft. Der Hund bellte immer noch, doch das schien den Mann nun nicht mehr zu stören. »Hab’ ich was geklaut?« fragte er. »Wissen Sie das nicht selbst?« »Mit uns habt ihr’s doch immer.« »Die Tür läßt sich wohl nicht öffnen?« »Haben Sie ’nen Ausweis?« Wustlich zeigte dem Mann seinen Dienstausweis. »Und Sie sind Herr Nitschke?« »Wer denn sonst?« Noch immer machte er keine Anstalten, das Tor zu öffnen. »Wenn Sie mich nicht hereinlassen, müssen Sie mitkommen, Herr Nitschke. Hier draußen ist es mir zu ungemütlich. Unsre Diensträume sind geheizt.« Der Mann wühlte in seinen Hosentaschen lange nach dem Schlüssel. Er war unrasiert und nur mit Hose und einem grauen Unterhemd bekleidet. »Bin nicht auf Besuch eingestellt«, sagte er. »Macht nichts. Ich bin nicht pingelig.« Endlich hatte er den Schlüssel gefunden und öffnete das Tor. Wortlos wandte er sich um und ging voran in Richtung des Wohnhauses. Sie mußten zwischen zwei müden Lastkraftwagen durch, die schon lange das Gnadenbrot verdient hätten. »Fahren Sie mit dem Schlitten noch?« fragte Wustlich. 59
»Haben Sie andere? Die machen ihre Sache noch. Wir fahren ja keine Rennen. Kusch, Hasso! Ist ja gut! Ich hab’s ja gehört, kusch!« Doch der Schäferhund mochte keine Ruhe geben. Er riß heftig an der Kette und wollte auf den abendlichen Besucher los. Sein Bellen klang jetzt tief und grollend. »Anscheinend hat er was gegen mich«, sagte Wustlich. »Der kennt eben seine Leute.« Die niedrige kleine Wohnung war überheizt. Auf dem Tisch stand eine Batterie Bierflaschen, daneben war eine Zeitung aufgeschlagen, auf der ein Kanten Brot, eine Wurst und ein aufgeklapptes Taschenmesser lagen. Der Fernseher lief noch immer mit großer Lautstärke. Auf der abgewetzten Couch und den zwei Stühlen lagen Kleidungsstücke. Nitschke machte einen Stuhl frei, indem er die darauf liegenden Socken auf die Couch hinüberwarf. Dann drehte er den Ton des Fernsehapparats leiser. Wustlich setzte sich. »Schön warm hier«, sagte er händereibend. Nitschke schwieg. Er nahm das Taschenmesser, wischte es kurz an der Hose ab und klappte es zusammen. Dann wickelte er die Zeitung um das Brot und die Wurst und trug das Ganze aus dem Zimmer. Als er zurückkam, bot er Wustlich ein Bier an. »Danke«, lehnte der ab, »ich bin im Dienst.« »Macht ihr denn keinen Feierabend?« »Manchmal schon.« 60
»Also? Was hab’ ich verbrochen?« »Ich hätte gern gewußt, ob zu Ihren Kundinnen eine Frau Heidenreich gehört.« »Heidenreich? – Ach, die Lottofrau! Natürlich kriegt die ihre Kohlen von mir. Na, nun ja wohl nicht mehr. Wer ist ihr denn an den Kragen gegangen?« »Das eben möchten wir gern wissen«, sagte Wustlich. »Wann hat Frau Heidenreich zum letztenmal Kohlen von Ihrer Firma geliefert bekommen?« »Wann? Ach du mein Gott. Das macht doch immer der Günter.« »Führen Sie denn über die Lieferungen nicht Buch?« »Ja, ja. Natürlich. Selbstverständlich führe ich Buch. Nur bei der Lottofrau, also das kann ich Ihnen auf Anhieb nicht genau sagen. Der Günter weiß das. Die kriegt doch immer bloß einen Kasten. Und der Günter sagt mir dann, wieviel es im Quartal waren. Das macht der so nebenbei. Huckt ihr nach Arbeitsschluß mal schnell einen Kasten ’rüber. Ist ja wohl nicht verboten?« »Wer ist denn dieser Günter? Hat er Telefon?« »Der hat doch kein Telefon.« »Und wo wohnt er?« »Tja… Genau genommen wohnt er in Blasewitz, aber meistens wohnt er woanders.« »Und wo ist das?« »Na mal hier, mal da. Ist so bißchen ein Luftikus. 61
Kriecht immer mal bei einer anderen unter. Aber in der Arbeit ist er mein bester Mann. Stark wie ’n Bulle. Und immer zur Stelle, wenn die vom Bahnhof plötzlich anrufen, weil ’n Waggon angekommen ist. Die Waggons kommen ja nicht regelmäßig. Manchmal kommt ewig keiner, und dann rollen gleich drei an. Da brauch’ ich bloß anrufen: Günter, es ist wieder mal soweit. Und mein Günter kommt.« »Ich denke, er hat kein Telefon?« »Hat er auch nicht. Ich ruf immer in seiner Stammkneipe an.« »Dann machen Sie das jetzt!« »Was?« »Na, ihn anrufen.« »Wo gar kein Waggon da ist?« Wustlich griff sich das Telefon und stellte es vor den Mann hin. »Los!« Und Nitschke gehorchte. Doch diesmal bewährte sich das Verbindungssystem nicht. Günter war nicht in seiner Stammkneipe. Jedenfalls nicht mehr. »Ist schon weg«, sagte Nitschke. »War wohl ziemlich voll, der Junge. Der Wirt sagt, es sei eine Rothaarige gewesen, die ihn abgeschleppt hat. Der Günter hätte eine Runde nach der anderen geschmissen. So ist er nun mal. Wenn er Geld zwischen die Finger kriegt, bringt er’s unter die Leute. Noch am selben Abend.« »Und von wo hat er heute Geld zwischen die Fin62
ger gekriegt?« wollte Wustlich wissen. »Keine Ahnung. Wird ihm jemand ein fettes Trinkgeld gegeben haben.« »Ein Trinkgeld, das für mehrere Runden reicht?« »Vielleicht waren es auch ein paar Trinkgelder. Was weiß denn ich? Sie wollen mich doch nicht verantwortlich machen für das, was meine Arbeiter nach Feierabend so anstellen?« Wustlich ließ sich noch den Namen der Kneipe nennen, aus der Nitschkes Arbeiter abgeschleppt worden war, vielleicht konnte er dort erfahren, wo die rothaarige Frau wohne. »Wie heißt Ihr Günter eigentlich mit Nachnamen?« »Jens.« »Ist das nun der Vorname? Oder …?« »Na freilich. Günter heißt Jens, aber wir rufen ihn alle Günter. Die meisten wissen doch gar nicht, daß er Jens heißt.« »Habe ich Sie richtig verstanden: Der Mann heißt Jens Günter?« »Genau. Aber besser ist, Sie fragen nach Günter.« »Mach ich.« »Was wollen Sie eigentlich von ihm? Sie glauben doch nicht, er hätte die Lottofrau… Nie im Leben. Solche Zicken macht der nicht. Krumme Touren, ja, die trau’ ich ihm zu – hab’ ihn oft genug erwischt dabei –, aber ’ne Frau kaltmachen? Niemals. Da sind Sie bei Güntern nicht am Richtigen. Den Besuch können Sie sich sparen.« 63
»Wer spricht denn davon, daß wir ihn verdächtigen? Ich will doch lediglich wissen, wann Frau Heidenreich die letzten Kohlen geliefert bekommen hat.« »Ja, das kann er Ihnen bestimmt sagen.« Die junge Frau aus dem Parterre hatte wegen ihrer zwei Kleinkinder zur Befragung nicht zum VP-Kreisamt kommen können. Ebner entschloß sich, zu ihr zu gehen. Vor der Wohnungstür wußte er nicht, ob er durch das Läuten am Ende die Kinder aufwecken würde, also klopfte er. Die junge Frau öffnete und fragte erstaunt: »Ist die Klingel kaputt?« »Ich wollte die Kinder nicht wecken«, sagte Ebner. »Ach, wenn die schlafen, dann stört sie kaum ein Geräusch. Es dauert nur ewig, bis sie schlafen.« »Dafür sind sie dann früh lange vorm Aufstehn wach.« »O ja«, sagte die junge Frau. »Mein Schlafdefizit ist kaum noch zu messen.« Ebner hatte sich gegen seinen Willen ein Bild von ihr gemacht und war überrascht, einer freundlichen Frau von Mitte Zwanzig gegenüberzustehen, deren Gesten und Bewegungen sich durch auffallende Eleganz auszeichneten, und es handelte sich dabei nicht um eine Eleganz, die gemacht war, sondern um eine, die er schlafwandlerisch nannte. Sie hatte ziemlich langes dunkles Haar und ebenso dunkle Augen, dazu stark hervortretende 64
Wangenknochen und scharf konturierte volle Lippen. »Schauen Sie sich nicht so genau um«, sagte sie mit einem Lächeln, »ich gehöre nicht zu den perfekten Hausfrauen.« »Und ich bin kein Hauptfeldwebel, der die innere Ordnung kontrollieren kommt.« »Meine Mutter findet bei jedem Besuch irgendwo Staub.« »Das haben Mütter so an sich.« »Ach«, entgegnete sie, »ich kenne auch Männer, die das an sich haben.« »Ja, wenn es ihnen ihre Mütter beigebracht haben.« »Sie scheinen mit einem Mutterkomplex behaftet.« »Ist mir noch nicht aufgefallen. Muß ich drüber nachdenken lassen«, meinte Ebner. Die Möbel des Wohnzimmers waren wahrscheinlich alle billig im Gebrauchtwarenhandel erworben. Zwei Schränke waren bis auf das rohe Holz abgebeizt worden. Ein Eßtisch mit vier Stühlen bezogen ihren Zusammenhalt durch einen Anstrich aus weißer Latex-Farbe. Das große Bücherregal an der Wand war offensichtlich Eigenbau, wie auch die Liege, die ihre Abstammung von einem alten Bettkasten nicht völlig verleugnen konnte. Das Prunkstück, ein Ohrensessel, wurde Ebner zum Sitzen angeboten. »Darf ich Ihnen auch ein Glas Wein einschen65
ken?« fragte die junge Frau. »Ist allerdings nur ,Cabernet’ – falls Sie Besseres gewöhnt sind.« »Im Dienst bin ich gar keinen Alkohol gewöhnt.« »Schade«, sagte sie. »Wenn ich nun allein weitertrinken soll, komme ich mir ja unmoralisch vor.« »Ja, dann …«, sagte Ebner lächelnd. Sie stand von der Liege auf und holte ein zweites Glas. »Ich habe mir die Flasche vorhin erst geholt. Als ich hörte, daß Frau Heidenreich nicht mehr lebt. Es ist schon eigenartig, daß man in solchen Augenblicken an Alkohol denkt.« Sie wollte Ebner einschenken, doch er nahm ihr die Flasche aus der Hand und machte es selber. Sie lächelte und setzte sich ihm gegenüber. »Erinnert mich an meinen Vater«, sagte sie. »Er hätte sich auch nie von einer Frau einschenken lassen. Ich meine, er war immer darauf aus, die Frauen zu verwöhnen, ließ aber nie zu, daß er von ihnen verwöhnt wurde.« »Sie leben allein, Frau Lange?« fragte Ebner. »Wenn Sie meine zwei Kinder nicht zählen.« »Eine dumme Angewohnheit«, gab er zu. »Als ich merkte, daß ich zum zweitenmal schwanger war, riet mir meine Mutter zu einem Abbruch. Alle vernünftigen. Argumente waren auf ihrer Seite. Mein Argument war: zu dritt sind wir schon eine kleine Familie.« »Und ich fragte, ob Sie allein leben!« »Ach, ich bin solche Fragen gewöhnt.« 66
»Was arbeiten Sie?« »Ich bin in der Endkontrolle im Wärmegerätewerk. Studiert habe ich allerdings Sozialpsychologie.« »Und weshalb arbeiten Sie dann nicht als Sozialpsychologin?« »Wenn Sie mir eine Arbeitsstelle vermitteln können, sofort.« »Sind zuviel Sozialpsychologen ausgebildet worden?« »Glaube ich nicht. Nur, wenn gespart wird, beginnt man damit grundsätzlich in den nichtproduktiven Bereichen. Und außerdem überlegt sich jeder paarmal, ob er eine unverheiratete Frau mit zwei Kleinkindern einstellt. Jeder weiß doch, wie oft Kinder krank sind.« »Hmm«, sagte Ebner, »Akademiker in der Endkontrolle. Was wir uns alles leisten können.« »Mich stört es nicht besonders. Ich betrachte es als eine Art nachträgliches Praktikum. Wenn nur der weite Weg nicht wäre. Dazu noch der Weg zur Kinderkrippe und der zum Kindergarten, Ich muß eine reichliche Stunde Weg einplanen und die Kinder in aller Herrgottsfrühe aus dem Haus schaffen. Vor allem im Winter tun sie mir leid. Deswegen war ich so froh, als mir Frau Heidenreich sagte, sie wollte zum Jahresende die Lotto-Annahmestelle aufgeben und ich könnte ihre Nachfolge antreten.« 67
»Ach!« rief Ebner erstaunt aus. »Wer weiß, ob es nun klappt. Sie wollte sich bei der Bezirksdirektion für mich verwenden. Die Arbeit wäre fast ideal für mich. Der kurze Weg. Die festen Öffnungszeiten. Keine Schichtarbeit. Und bißchen mehr Geld brächte es auch.« »Hat Ihnen Frau Heidenreich gesagt, wie hoch ihr Verdienst war?« »Ja«, sagte die junge Frau, »wöchentlich zwischen zweihundertfünfzig und dreihundert Mark. Natürlich immer abhängig von der Höhe der Einnahme. Sie bekommt von den Einnahmen sieben Prozent. Und dann gehen davon die Steuern, die Ladenmiete und irgendwelche Beiträge für die Handwerkskammer ab. Für mich würde es jedenfalls reichen. Und meine Kinder hätten mehr von mir. So wie jetzt ist das kein Zustand.« »Seit wann kennen Sie Frau Heidenreich?« »Seit ich hier in das Haus gezogen bin, also seit einem knappen dreiviertel Jahr.« »Und wie kam diese Bekanntschaft zustande?« »Frau Heidenreich ist die einzige vernünftige Person in dem Haus. Für die anderen lebe ich doch in gefährlicher Nähe zur Asozialität. Zwei Kinder und keinen Mann!« »Und beim Umzug haben Ihnen Männer geholfen!« »Das hat man Ihnen schon erzählt? Na, hätte ich 68
mir denken können. Und die Männerbesuche? Alle genau registriert? Der ABV ist sicher auch bestens informiert.« »Ist es nicht verdammt schwer, allein mit zwei Kindern?« »Haben Sie einen Mann für mich?« »Bei Ihrem Aussehen dürften Sie ziemlich umworben sein.« »Die Quantität macht es nicht.« Ebner nickte. »Meine Tochter lebt auch allein. Mit einem Kind.« »Dann kennen Sie die Misere ja aus dem Effeff.« »Und Sie meinen nicht, daß die Frauen Ihres Alters in den Ansprüchen an die Männerwelt zu hoch greifen?« »Was meinen Sie mit ,zu hoch’? Entweder gefällt mir ein Mann, und ich möchte mit ihm leben, oder er gefällt mir nicht. Ich kann meinen Ansprüchen nicht befehlen. Vielleicht sind sie aus der Sicht der Männer zu hoch. Schon möglich. Nur ändert es nichts. Ich bin nicht bereit, mit einem Stiesel zu leben, nur um nicht allein leben zu müssen. Gewiß ist der Alltag schwer allein zu bewältigen. Für mich habe ich kaum Zeit. Kino, Theater oder gar Tanz: Fehlanzeige. Ich komme kaum noch zum Lesen. Um diese Zeit jetzt liege ich meist schon im Bett. Heute sitze ich noch hier, weil mich der Tod der Frau Heidenreich nicht schlafen läßt. Haben Sie denn wenigstens schon einen Verdacht? Eine Spur?« 69
»Haben Sie für die Zeit von dreizehn Uhr dreißig bis vierzehn Uhr dreißig ein Alibi?« »Zähle ich etwa auch zu den Verdächtigen?« Ebner schwieg. »Mein Alibi ist so einfach wie sicher. Ich habe auf einem Hocker gesessen und die Funktionsfähigkeit von Tauchsiedern geprüft.« »Erzählen Sie mir etwas über Frau Heidenreich!« »Sie war eine freundliche alte Oma. Ohne Arg. Sie machte sich nichts aus Klatsch, obwohl sich in ihrer Annahmestelle allerhand Klatschtanten einfinden. Ich fand ihre Disziplin bewundernswert. In dem Punkt war sie mir Beispiel. Sie gestattete sich keinen Durchhänger. Ich kann mich nicht entsinnen, sie je jammern gehört zu haben. Mir hat sie Hilfe angeboten, wenn ich abends jemanden brauche, der auf die Kinder aufpaßt, falls ich mal außer Haus bin.« »Sind Ihnen Freunde der Frau Heidenreich begegnet? Bekannte?« »Nein. Lediglich dieser Herr Schilling.« »Sie mögen ihn nicht?« »Ganz recht. Er gehört zur Kategorie der›‚Windsurfe‹’.« »Eine Kategorie aus der Sozialpsychologie?« »Das nicht gerade. Aber Sie sind diesem Typ von Mann sicher auch schon begegnet. Sportlich. Durchtrainierter Körper. Stets gebräunt. Lächelnd und mit tadellosem Gebiß. Gepflegte und aufeinander abge70
stimmte Kleidung. Meist in hellen Farben. Ganz selten ohne Schlips.« Ebner lachte. »Unwiderstehlich. Vor allem in seiner Wirkung auf alte Damen«, charakterisierte sie ihn weiter. »Stromlinienförmig in seinem ganzen Wesen. Windschlüpfrig. Na, eben ein Windsurfer.« »Frau Heidenreich war mit ihm zufrieden?« »Ja, sicher. Warum sollte sie es nicht gewesen sein? Er hat den gesamten Verwaltungskram für sie erledigt, hat am Freitag die Abrechnung gemacht. Sie hat immer gesagt, der Herr Schilling, das ist für mich ein Lotto-Fünfer.« »Wissen Sie zufällig, was sie ihm für seine Arbeit gezahlt hat?« »Nein. Danach habe ich nicht gefragt.« »Hatten Sie denn nicht vor, ihn mit zu übernehmen?« »Da sei Gott vor! Das bißchen Kopfrechnen kann ich selber. Und mit den paar Behörden werde ich auch klarkommen. Außerdem dürfte Herr Schilling kaum Interesse haben, seinen Hilfsdienst für Frau Heidenreich an mir fortzusetzen.« »Wie das?« »Schauen Sie sich um! Jede Menge alte Möbel, aber kein Stück von Wert. Kein teurer Schmuck. Keine Briefmarkensammlung, Kein altes Porzellan. Keine wertvollen Gläser. Weshalb sollte mir also Herr Schilling beistehen wollen?« 71
»Sind Sie sich im klaren darüber, daß Sie soeben eine massive Verdächtigung ausgesprochen haben?« »Aber nein! Ich bitte Sie! Da haben Sie mich nicht verstanden, was ich mit Windsurfer meinte. Dieser Typ weiß jeden günstigen Wind zu nutzen. Und selbstredend weiß er, woher der Wind weht. Aber handgreiflich wird er nur in größter Not. Nur wenn er selber in Gefahr ist. In solchen Situationen wird diese Sorte Mensch wahrscheinlich sehr brutal.« »Sie, wenn Sie an meiner Stelle wären, würden Herrn Schilling demnach von vornherein aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen?« Die junge Frau überlegte. »Da muß ich erst einen Schluck Wein trinken«, sagte sie. »Wenn ich diese Angewohnheit hätte, stünde ich dauernd im Stoff.« »Sie sind geübt in solchem Denken. Ich habe in meiner Arbeit keinen Grund zum Mißtrauen. Wo wäre denn das Motiv für Herrn Schilling?« »Das frage ich Sie. Sie haben ihn bereits kennengelernt, ich noch nicht.« »Hat Frau Heidenreich ein Testament gemacht?« »Bis jetzt ist nichts davon bekannt. Wußte Herr Schilling, daß Frau Heidenreich die Annahmestelle zum Jahresende aufgeben wollte?« »Ich glaube schon, daß sie es ihm gesagt hat. Genau weiß ich es allerdings nicht.« 72
»Welcher Art war das Interesse des Herrn Schilling an den Antiquitäten der Frau Heidenreich?« »Vermutlich lief ihm angesichts der vielen schönen Sachen in ihrer Wohnung fortwährend das Wasser im Munde zusammen, weil er wußte, welch großartige Geschäfte sich damit machen ließen. Einiges davon hat er in ihrem Auftrag verkauft. Irgendwelche Gläser. Abrißgläser. Nun fragen Sie mich bloß nicht, was das ist. Ich kenne mich bei Antiquitäten nicht aus. Diese Trauben sind mir zu sauer. Und Briefmarken hat er wohl auch verkauft. – Er muß es schwer gehabt haben bei ihr, denn sie war an Geld nicht sonderlich interessiert, und also hatte sie auch kein Interesse am Verkauf ihrer Wertsachen.« »Wie finden Sie denn ihre Möbel?« »Traumhaft.« »Ja«, sagte Ebner, »hätte ich gewußt, daß mir heute noch so schöne Stücke unter die Augen kommen, hätte ich vielleicht rasch noch im Lotto gespielt.« »Sind Sie auch so ein Sammler?« »Wieder eine ihrer Kategorien?« Sie schüttelte lachend den Kopf. »Nein«, antwortete Ebner, »Sammler nicht, eher ein Spieler.« Sie legte fröstelnd einen Arm über den anderen. »Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich kann nicht genug Sonne bekommen. Im allgemeinen sagt man, daß alte Leute viel frieren. Dann muß ich schon sehr alt sein. Und jetzt werde ich noch mehr 73
frieren. In diesem Haus. Jetzt, wo ich Frau Heidenreich nicht mehr habe.« »Sind die Leute so schlimm?« »Im Gegenteil. Sie sind ungeheuer freundlich, aber an der sächsischen Freundlichkeit kann man sich Frostbeulen holen.« »Dann sollte ich jetzt besser gehen«, sagte Ebner, »denn ich bin waschechter Sachse.« »So war es nicht gemeint. Vielleicht bin ich in dem Punkt überempfindlich. Ich kann es nicht verknusen, wenn geheuchelt wird. Diese Frau Müller in der Wohnung über mir beispielsweise redet in einem fort von Ordnung und Sauberkeit und was weiß ich nicht alles, und spielt sich als die moralische Stütze des gesamten Hauses auf, nur um zu vertuschen, daß ihr Mann Alkoholiker ist. Sie erzählt allen Leuten, ihr Mann sei herzkrank. Dabei fliegt er von einer Arbeitsstelle nach der anderen. Ich weiß nicht, ob er zur Zeit überhaupt eine Arbeit hat. Natürlich ist das für die Frau nicht lustig, aber sie hilft ihm doch nicht, wenn sie die Sache verharmlost und vertuscht.« »Sie wissen das mit dem Alkoholismus genau?« »Sehr genau, denn, wie schon gesagt, Müllers wohnen über mir. Und wohl oder übel bekomme ich so ziemlich alles mit, was sich in deren Wohnung abspielt. Mir wäre es lieber, ich bekäme es nicht mit.« »Und wann waren Sie das letzte Mal Ohrenzeuge Müllerscher Familienfreuden?« 74
»Da muß ich nachdenken. Ich führe darüber ja nicht Buch. Ich glaube, das war am Sonntagabend. Seitdem, meine ich, war es ruhig. Man hört weder seine Stimme noch seine Schritte.« Ebner stand auf und verabschiedete sich. Er wäre gern noch geblieben, man sah es ihm an. Die Hand der jungen Frau hielt er beim Abschied eine Spur zu lange, als daß sie es nicht auch gemerkt hätte. Sie verabschiedete sich mit einem kleinen wehmütigen Lächeln. Frau Müller war sichtlich überrascht, als sie Ebner vor der Wohnungstür ansichtig wurde. Ihre Augen bekamen ein ängstliches Flackern, und sie bat Ebner nicht in die Wohnung. »Darf ich Ihr Telefon benutzen?« sagte Ebner. Sie wußte nicht recht, was sie darauf antworten sollte. »Das Telefon?« wiederholte sie. »Ja«, sagte Ebner, »ich möchte telefonieren. Der Laden des Herrn Karsch ist verschlossen, und außer ihm haben doch nur Sie einen Telefonanschluß im Hause.« »Ja, ja«, sagte sie, »natürlich haben wir Telefon. Ich weiß nur nicht, ob es geht. Wir haben oft Störungen. Und es hat den ganzen Tag niemand angerufen.« »Ich versuch’s.« »Bitte«, sagte sie notgedrungen, »es steht im Flur.« »Danke«, sagte Ebner und hob den Hörer ab. »Es 75
geht. Da habe ich aber Glück gehabt.« Frau Müller sagte nichts. Sie blieb wartend im Flur stehen. Ebner rief seine Frau an. Es ginge ihr nicht gut, sagte sie. »Hast du einen Arzt gerufen?« fragte er. »Nein.« »Warum nicht?« fragte er ungehalten. »Weil die Ärzte zur Zeit ohnehin ausreichend zu tun haben.« »Das ist doch kein Grund! Hast du Fieber?« »Ein wenig.« »Wieviel?« »Achtunddreißig drei, Herr Generalstabsarzt!« »Und dann keinen Arzt rufen?« »Achtunddreißig drei ist nicht die Welt.« »Um die Uhrzeit schon. Es ist Viertel vor neun, da hat man für gewöhnlich keine hohen Temperaturen. Also hör zu: Ich rufe jetzt den ärztlichen Notdienst an.« »Das schaffe ich schon selber.« »Dann tu es!« »Zu Befehl!« »Ich sehe keinen Anlaß zur Heiterkeit. Mit einer Virusgrippe sollte man nicht leichtfertig umgehen.« »Merke es dir nur gut. Für den Tag, an dem du dir wieder eine eingefangen hast.« »Ich rufe später nochmals an.« »Kommst du noch nicht?« »Sieht nicht so aus. Übrigens habe ich eine Zitrone 76
in der Manteltasche. Bißchen mickrig, sieht aus, als würde sie sich schämen. Immerhin ist es eine leibhaftige Zitrone.« »Wie schön, wenn sie hier wäre.« »Sie kommt noch.« »Ich warte.« »Gut«, sagte Ebner, »und halte die Ohren steif.« »Das sagst du immer.« »Ja, ich könnte Architekt werden. Mir fällt nichts ein.« Er legte den Hörer auf. »Das war ja privat«, sagte Frau Müller. Ebner fischte Kleingeld aus der Jackettasche und legte zwanzig Pfennig neben das Telefon. »Und nun möchte ich Ihren Mann sprechen, Frau Müller. Dienstlich.« »Mein Mann ist nicht da.« »Ach!« Er blickte sie lange fragend an, bekam jedoch keine Antwort. Sie schaute zu Boden und wischte mit der rechten Fußspitze halbkreisförmig über den Läufer. »Da habe ich Pech gehabt«, sagte Ebner schließlich und tat so, als wollte er gehen. »Morgen ist er sicher wieder da«, sagte Frau Müller. »Ist er dienstlich unterwegs?« »Nicht direkt.« »Also, Frau Müller, das ist keine Antwort. Indirekt dienstlich kann er kaum unterwegs sein. Entweder – oder.« 77
»Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte sie kleinlaut. »Passiert das oft?« Sie nickte. »Eine andere Frau?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ja, sprechen Sie denn nicht darüber?« »Mein Mann trinkt.« »Schon lange?« »Seit ungefähr drei Jahren.« »Schlimm?« Sie nickte und fing an zu weinen. »Wann war er denn das letzte Mal zu Hause?« »Er ist am Montag früh zur Arbeit gegangen wie immer.« »Danach hat er sich nicht mehr blicken lassen?« Wieder antwortete sie mit einem Nicken. »Das hätten Sie mir aber am Nachmittag nicht verschweigen dürfen, Frau Müller!« »Die Leute im Hause. Das Gerede … die Schande …« »Ist er denn arbeiten gegangen?« »Am Montag ja.« »Danach nicht mehr?« »Wenn er seine Strähne hat, verschwindet er jedesmal für eine Woche. Manchmal auch für zehn Tage. Ich weiß dann nie, wo er sich rumtreibt.« »Hat er denn so viel Geld bei sich?« »Das weiß ich nicht.« »Sie müssen doch wissen, ob er Geld hat!« »Wie soll ich das denn wissen? Eigentlich kann er nur ganz wenig haben, aber irgendwie kommt er 78
immer zu Geld. Ich weiß nicht, wie er das macht. Wenn ich ihn dann hinterher frage, woher er denn das Geld genommen hat, gibt er mir keine Antwort, Oder er sagt, er weiß es nicht, kann sich nicht erinnern.« »Wo arbeitet er denn?« »Im VEB Trikotagenwerk.« »Und was macht er da?« »Hofarbeiter.« »Da verdient er sicher nicht gerade viel. Dazu die Tage, an denen er nicht zur Arbeit erscheint. Wie kommen Sie denn mit dem wenigen Geld aus, Frau Müller?« »Ich wirtschafte sehr sparsam.« »Aber Sie rauchen. Zigaretten kosten Geld. Sie haben einen schulpflichtigen Sohn. Der braucht Bekleidung, Essen, Spielzeug, Bücher.« »Die Mütter meines Mannes unterstützt uns.« »Unterstützt sie vielleicht auch ihren Sohn?« Frau Müller zögerte mit der Antwort. »Sie vermuten es?« hakte Ebner nach. »Sie redet mir immer zu, bei ihm zu bleiben, weil er sonst ganz auf die schiefe Bahn kommt. Und sie hilft mir eben auch mit Geld.« »Hat sie Ihnen heute morgen auch Geld gegeben?« Frau Müller nickte. »Und sie hat nicht gesagt, daß Ihr Mann bei ihr gewesen ist?« 79
»Sie gibt es nie zu.« »Tja, da werde ich sie wohl mal fragen müssen. Wie stand sich denn Ihr Mann mit Frau Heidenreich?« »Er hat ihr manchmal geholfen. Er ist sehr geschickt, ich meine, sehr praktisch veranlagt. Wenn irgend etwas zu reparieren ist, kommen die Leute damit zu ihm.« »Falls er zu Hause ist,« »Früher war es ja nicht so schlimm. Da hat er höchstens alle Vierteljahre seine Strähne gehabt. Das ist ja erst im letzten halben Jahr so schlimm geworden.« »Können Sie nicht wenigstens eine Gaststätte nennen, die er für gewöhnlich aufsucht?« Wieder das Kopfschütteln. »Wenn Ihr Mann getrunken hat, Frau Müller, wie verhält er sich dann?« »Er wird sehr laut.« »Und weiter?« »Manchmal rennt er so lange mit dem Kopf gegen die Wand, bis er blutet.« »Wie verhält er sich zu Ihnen?« Sie schweigt. Ebner läßt ihr Zeit. »Er beschimpft mich«, antwortet sie schließlich leise. »Schlägt er Sie auch?« »Manchmal«, sagt sie und nickt. »Weiß er davon, wenn er wieder nüchtern ist?« 80
»Nein. Er weiß nichts. Er nennt das immer seinen ,Filmriß’.« Ebner verlangte von der Frau noch ein Foto ihres Mannes und die Anschrift der Schwiegermutter, dann verließ er die Wohnung. Auf dem Weg nach unten blieb er einen Augenblick lang vor der Tür der jungen Frau Lange stehen, schalt sich jedoch einen sentimentalen Kerl und ging aus dem Hause. Es war nach Mitternacht, als Ebner sein Dienstzimmer wieder betrat. Er fühlte sich müde und zerschlagen. Und fast war ihm, als hatte er gleichfalls die Grippe erwischt, oder die Grippe ihn, was auf das gleiche herauskam. Die Zitrone in der Manteltasche erinnerte ihn an seine Frau und daß er sie hatte nochmals anrufen wollen. Schon hatte er den Hörer abgehoben, und das gleichmäßige Tuten des Freizeichens ließ sich vernehmen, als er sich entschloß, doch nicht anzurufen. Vielleicht ist sie endlich eingeschlafen, sagte er sich, und ich wecke sie auf. Was soll’s auch? Durchs Telefon kann ich ihr ohnehin nicht helfen. Die ganze Telefoniererei hat letztlich doch nur Alibifunktion. Ich tue so, als wäre ich stets für sie da und bin es nie. Das Telefonieren ändert an dem Tatbestand absolut nichts. Wustlich kam ins Zimmer. Er hatte vor Müdigkeit rotumränderte Augen. »Ich habe eben noch zu Hause angerufen«, sagte er. »Die Kinder schlafen.« »Und ich wollte anrufen, hab’s aber gelassen. 81
Wahrscheinlich schläft meine Frau auch. Ich hoffe es jedenfalls.« »Scheißwetter«, sagte Wustlich. »Scheißkrimi«, sagte Ebner. »Das auch«, stimmte ihm Wustlich zu. »Paul hat mir vorhin durchgegeben, daß sie in der Wohnung der Frau Heidenreich über zweitausend Mark Bargeld gefunden haben. Und es war keineswegs sorgsam versteckt. In einer Zigarrenkiste auf der Anrichte lagen fast tausend Mark. Auf dem Schreibtisch lag eine Brieftasche mit über fünfhundert Mark. Und der Rest fand sich in Schubfächern verstreut.« »Ein Königreich für ein Motiv! Was ist mit den Wertsachen, die mir der Bruder der Heidenreich genannt hat?« »Es fehlt nichts.« »Das gibt’s nicht!« »Bleiben nur noch die Lottogelder, die sollen jedoch so reichlich nicht sein, habe ich mir von dem Verantwortlichen des VEB Vereinigte Wettspielbetriebe sagen lassen. Schätzungsweise tausend bis zweitausend Mark.« »Und warum nimmt jemand zweitausend Mark Lottogelder, läßt aber das übrige Geld liegen?« »Weil er überrascht wurde. Das ist die einzig mögliche Antwort.« »Wenn er das Geld an sich nimmt, kann er genau82
sogut auch noch die goldene Doppelkapseluhr auf dem Tisch im Wohnzimmer einstecken.« »Wer erzählt wem seine Geschichte?« fragte Ebner, damit auf ihre Gewohnheit anspielend, zwischendurch öfter alle Informationen zusammenzufassen und dem anderen in Form eines Tathergangsberichts zu erzählen. »Erzähl du!« sagte Wustlich. »Ich bin down.« »Und ich bin das muntere Fischlein im Wasser. Wenn du Glück hast, kannst du ab morgen die Einsatzgruppe leiten. Mir ist, als hätte ich eine Grippe.« »Na, hurra! Wenigstens eine erfreuliche Nachricht.« »Dachte ich mir doch, daß es dich freuen würde.« »Vorher erzählst du mir aber noch, wie und vor allem von wem Frau Heidenreich ins Jenseits befördert wurde!« »Dabei fällt mir ein, es fehlt der dritte Schlüssel zu ihrer Wohnung. Die Techniker haben nur einen gefunden. Den zweiten hat der Herr Wilhelmi. Wo ist der dritte?« »Brauchst du den für deine Geschichte?« »Ja, denn der Täter muß in die Wohnung kommen. Läutet er oder benutzt er einen Schlüssel?« »Gegenfrage: Bringt jemand, der mit dem Schlüssel in die Wohnung gelangt, Blumen und Konfekt 83
mit?« »Moment, mein Lieber! Wir nehmen an, daß Blumen und Konfekt der Frau Heidenreich vom Täter überreicht worden sind. Genausogut kann sie beides in ihrer Annahmestelle geschenkt bekommen haben. Also sitzt in meiner Geschichte der Täter zusammen mit seinem künftigen Opfer gemütlich am Wohnzimmertisch und trinkt Kaffee.« »Und raucht Zigaretten.« »Richtig. Er raucht drei Zigaretten. An den Kippen kein Lippenstift. Am Rande der Kaffeetassen gleichfalls keine Lippenstiftspuren. Frau Heidenreich hat sich eine Wurstsemmel gemacht und ißt. Ohne Argwohn läßt sie ihre Lottounterlagen und wahrscheinlich auch die Gelder neben ihrer Kaffeetasse auf dem Tisch liegen. Das Ganze spielt sich im Verlauf von ungefähr einer halben bis einer dreiviertel Stunde ab. Kurz vor vierzehn Uhr geraten Frau Heidenreich und ihr Besucher aneinander. Es kommt zu einem lautstarken Wortwechsel, und gleich danach werden Schreie vernommen. Die alte Dame scheint keinen Moment im Zweifel, daß ihr jemand ans Leben will. Frau Perkuhn und Frau Müller bestätigen übereinstimmend, daß sie geschrien habe, als sei sie in höchster Not. Gleichzeitig läuft jemand in der Wohnung umher. Mal hastig, mal langsam. Es klingt, als, habe der Täter Stiefel an, zumindest schweres Schuhwerk.« 84
»Was bedeuten könnte, wir haben es mit einer Täterin zu tun, denn im allgemeinen laufen die Männer dieses Landes nicht in Stiefeln durch die Gegend, wohl aber die Frauen,« »Frau Perkuhn beschreibt die Art der Schritte als energisch. Um übrigens noch mal auf die Blumen zurückzukommen: Wenn mich nicht alles täuscht, ist es zu dieser Jahreszeit nicht eben einfach, Blumen zu bekommen. Männer lassen es dann gern bei einer Packung Pralinen bewenden. Oder?« »Frag mich mal etwas Leichteres! Ich laufe zum Beispiel nicht von Pontius zu Pilatus wegen Blumen.« »Du bist ja auch schon eine Ewigkeit verheiratet.« »Willst du sagen, der Täter hatte vor, Frau Heidenreich einen Heiratsantrag oder irgendeinen anderen unsittlichen Antrag zu machen?« »Nein, aber er wollte sich möglicherweise in ein günstiges Licht setzen.« »Vorläufig sollten wir den Täter ein Neutrum sein lassen. Zu mehr reicht es noch nicht.« »Einverstanden. Dieses Neutrum – Mann oder Frau – schlägt auf Frau Heidenreich ein. Mit einer leeren Weinflasche in einem Plastbeutel. Mit einem Stuhl und, nachdem der in Stücke geht, mit dem Stuhlbein. Dann sieht er eine Schere liegen und greift sie sich und sticht blindwütig – so jedenfalls läßt es der Augenschein vermuten – auf die Frau ein. Sämt85
liche Attacken konzentrieren sich auf Kopf und Hals. Daß sie nicht zu schreien aufhörte, hat sie vermutlich das Leben gekostet. Der Täter wollte sie zum Schweigen bringen, denn inzwischen wurde an der Wohnungstür geklopft und geläutet.« »Wie kommt die leere Flasche in den Plastbeutel?« »Wie?« »Naja, wer trägt eine leere Weinflasche durch die Gegend?« »Jemand, der trinkt.« »Hmm«, brummte Wustlich wenig überzeugt. »Wir haben da einen Herrn Müller.« »Wenn nun aber unser Neutrum sich die leere Weinflasche vorsorglich mitgenommen hat, nämlich zu dem Zwecke, sie der Frau Heidenreich über den Kopf zu ziehen?« Ebner überlegte. »Und warum macht er das nicht sofort? Warum trinkt er erst in aller Gemütsruhe Kaffee?« »Weiß ich nicht.« »Schließlich schweigt die alte Frau endlich. Der Täter überlegt, wie er jetzt aus der Wohnung kommt. Er geht zur Wohnungstür, wahrscheinlich auf Strümpfen, legt die Sicherungskette vor und löscht das Flurlicht.« »Auf Strümpfen, sagst du. Hmm, das klingt nun wieder sehr nach einer Frau. Bei einem Mann ist das Ausziehen der Schuhe meistens eine langwierige 86
Angelegenheit. Eine Frau schlüpft einfach heraus aus den Schuhen.« »Oder aus den Stiefeln!« »Ich habe mich ungenau ausgedrückt. Ich meinte, eine Frau kommt einfach eher auf die Idee, sich die Schuhe auszuziehen und auf Strümpfen zu gehen. Ein Mann wäre lediglich auf Schuhspitzen gelaufen.« »Falls er zufällig beim Ballett beschäftigt ist.« »Bitte«, sagte Wustlich, »lassen wir das weiter offen.« »Der Täter überlegt also, wie komme ich aus der Wohnung, die durch das Schreien des Opfers zur Falle geworden ist? Er sitzt im Schlafzimmer, denn das ist nicht mit einem anderen Zimmer verbunden, und außerdem hat die Tür eine zusätzliche Verriegelung. Selbst wenn es den Leuten vor der Wohnungstür gelingen sollte, in den Flur zu gelangen, sind sie noch lange nicht im Schlafzimmer. Ein prüfender Blick aus dem Fenster. Für einen Sprung ziemlich hoch. Aber herablassen kann man sich. An einer Wäscheleine. Aber Frau Heidenreich bewahrt ihre Wäscheleine nicht im Schlafzimmer auf. In der Küche danach zu suchen scheint zu riskant, denn das hieße ja, die Schlafzimmertür zu öffnen. Also ein Bettlaken genommen, an das Fensterkreuz gebunden und heruntergelassen. Dann war nur noch ein Sprung von vielleicht einem halben Meter Höhe zu absolvieren. 87
Ein Klacks. Und nun stand dem Täter nichts mehr im Wege. Er konnte auf und davon. Es gab ausreichend Möglichkeiten.« »Eine schöne Geschichte. Alles was recht ist. Dabei hast du deine Freunde aus dem Funkstreifenwagen noch gar nicht erwähnt.« »Ja«, sagte Ebner, »das Auftreten der beiden gibt der Geschichte gleich einen anderen Anstrich. Frag mich bloß nicht, welchen!« »Ich frage nicht.« »Ich habe es ja auch nur für den Fall gesagt, daß du in Versuchung kommst, mich danach zu fragen.« Das Telefon läutete. Ebner hob ab. Es meldete sich das Krankenhaus, und er bekam mitgeteilt, daß man dort seine Frau mit Verdacht auf Lungenentzündung eingeliefert hat. »Verdammt!« sagte er. »Hätte ich nicht wenigstens für eine Viertelstunde zu ihr fahren können?« »Nein«, antwortete Wustlich, »das hättest du nicht. Mach dir keine unnützen Vorwürfe, Lungenentzündung ist heutzutage keine Krankheit, an der man stirbt. Deine Frau ist gut aufgehoben. Was hättest du denn in der Viertelstunde machen wollen?« »Ich habe doch noch die Zitrone in der Manteltasche.« »Mach dir ’n Grog mit Zitrone! Damit du nicht auch auf der Nase liegst.« »Und woraus soll ich den Grog machen?« 88
»Hast du keinen Alkohol zu Hause?« »Meinst du, ich fahre nun erst noch nach Hause?« Wortlos stand Wustlich auf und ging aus dem Zimmer. Zurück kam er mit einer kleinen Flasche Weinbrand. »Zwar kein Rum und außerdem gegen die Dienstvorschrift. Aber es hilft.« Ebner hatte Mühe einzuschlafen. Auch der Grog half ihm dabei nicht. Aus Büchern kannte er die Fähigkeit der Kommissare und Detektive und auch die der alten Haudegen aus mindestens zwei Kriegen, sich irgendwo fallen zu lassen und auf der Stelle einzuschlafen. Möglich, daß es solche Typen gab. Möglich aber auch, daß sie allesamt Erfindungen der Schriftsteller waren, die selber große Mühe hatten mit dem Einschlafen und sich wenigstens in der Vorstellung Geschöpfe schufen, die nicht mit dem Fluch des Nichteinschlafenkönnens behaftet waren. Wahrscheinlich der Wunschtraum des ganzen Menschengeschlechts, überall und zu jeder Zeit in den Schlaf tauchen und anschließend wie neugeboren aus ihm auftauchen zu können. Denn darum ging es doch hauptsächlich. Um die Erneuerung, um das Aufladen der verbrauchten Batterien. Das war das Problem. Nach dem Aufwachen wieder ins Rennen gehen, als sei nichts gewesen, als habe es keinen entnervenden Arbeitstag gegeben, kein Sauwetter, und als sei man nicht wieder um einen Tag älter geworden. Der viel zitierte Jungbrunnen war doch nichts anderes als der tiefe, 89
dunkle Schlaf, in den man taucht, um nach dem Hochsteigen wieder mit den anderen tanzen zu können. Es mußte ja nicht gerade der Tanz ums Goldene Kalb sein, es gab ausreichend andere Tänze, zu denen man zeitlebens aufgefordert wurde, bis man schließlich umfiel und einschlief und nicht mehr aufwachte. Das war dann der tiefste und schwärzeste Brunnen. Womit wir wieder bei Frau Heidenreich wären, konstatierte er mit grimmiger Ironie. Dabei habe ich sie nicht gekannt. Sie ist mir nie über den Weg gelaufen. Ich habe kein Verhältnis zu ihr. Und wenn ich heute bei der Obduktion neben ihr stehe und zuschaue, wie ihr eine Haut nach der anderen abgezogen wird, macht mir das mit Sicherheit nicht mehr aus als sonst auch. Es ist und bleibt eine unappetitliche Angelegenheit, nicht mehr und nicht weniger. Nein, es geht nicht um die Tote. Ich will ihren Tod nicht rächen, nicht ihr elendes Sterben. Bei Lichte besehen, will ich nicht einmal dem Recht zum Siege verhelfen, womit nicht gesagt sein soll, daß ich etwas dagegen hätte, daß das Recht seinen Sieg zugesprochen bekommt. Es soll ihn haben, und ich will meinen Teil dazu beitragen. Weshalb nicht? Obwohl ich nicht der Illusion anhänge, zu erleben, daß die Welt frei von Menschen ist, die andere Menschen umbringen. Gleich ob sie das im Kriege und im Namen irgendeiner Sache oder ob sie es einfach aus eigenem Antrieb, aus Habsucht, aus Haß, aus Eifer90
sucht oder auch aus Verzweiflung tun. Sie werden es tun, solange ich lebe. Ein Hauptmann Ebner zählt da wenig. Ich bin lediglich ein Sandkorn in dem Damm gegen solches Tun. An der Stelle, wo ich sitze, hält der Damm, an anderer Stelle hält er nicht. Kein Grund für Schlaflosigkeit. Der wirkliche Grund war ein anderer, nämlich das nagende Gefühl, im Verlauf des gestrigen Tages der Lösung des Falles Augenblicke sehr nahe gewesen zu sein. Dieses Gefühl trog ihn selten. Es war im Verlaufe der Stunden vom Einsatzbefehl bis zur Rückkehr in sein Dienstzimmer etwas geschehen, dem er hätte mehr Aufmerksamkeit widmen müssen. Entweder war ihm jemand begegnet, der sich ungewöhnlich benommen hatte, oder er hatte etwas gesehen, irgendeinen Gegenstand oder die Anordnung mehrerer Gegenstände zueinander, was ihn hätte stutzig werden lassen müssen. Aber was? Und wer hatte sich nicht ungewöhnlich benommen? Die Leute benehmen sich so ziemlich alle ungewöhnlich, wenn in ihrer nächsten Umgebung ein Mord geschieht. Die meisten haben Angst, daß bei dieser Gelegenheit irgend etwas zu Tage gefördert wird, von dem sie hofften, es sicher vergraben zu haben. Allein die Notwendigkeit, beweisen zu müssen, wo man zu einer bestimmten Zeit gewesen war, brachte viele in arge Verlegenheit. Entweder konnten sie keine Menschenseele nennen, die ihren Aufenthalt zur fraglichen Zeit bezeugen konnte, oder 91
sie hatten sich an einem Ort aufgehalten, den sie anderen nicht nennen wollten. Beides war Grund genug, sich verdächtig zu benehmen. Daneben gab es noch einen Haufen anderer Gründe, und es war immer wieder schwierig für einen Kriminalisten, hinter den wahren Grund für aufgeregtes Gehabe von Personen zu steigen, die in irgendeiner Verbindung mit dem Tathergang standen. Nichtverdächtig hatte sich eigentlich nur die junge Frau benommen. Ihr Alibi wird leicht zu prüfen sein. Jutta … Jutta hatte auch seine erste Liebe geheißen. Sie hatte ein Jahr lang neben ihm auf der Schulbank gesessen. Ewigkeiten sind seitdem vergangen. Es muß in der siebenten Klasse gewesen sein. Er hatte sich jeden Tag gefreut, in die Schule gehen zu dürfen, um ihr zu begegnen, sie neben sich zu wissen. Und wie ungeheuer aufregend waren die zufälligen Berührungen der Finger auf der Schulbank und das Zurückzucken, als sei man an Elektrizität geraten. Die Jutta der Schulvergangenheit war jedoch klein gewesen. Klein und pummelig und mit einer Himmelfahrtsnase. Nicht zu vergleichen mit der Jutta, der er heute begegnet war. Und gleich war wieder die Rede auf einen Vater gekommen … Er wurde wach, weil ihn jemand sachte rüttelte. Es war Evelyn, seine Sekretärin. Sie hatte ihm bereits eine Kanne schwarzen Tee auf den Tisch gestellt. »Guten Morgen«, sagte sie. »Es wird Zeit, der 92
Chef hat Sehnsucht nach Ihnen.« »Ein einseitiger Gefühlsausbruch«, brummte Ebner. »Ich hole Ihnen gleich noch ein paar belegte Brötchen aus der Kantine. Oder möchten Sie lieber Kuchen?« »Brötchen.« Er erhob sich, schaltete das Radio ein und geriet an den Wetterbericht. Es blieb weiter bedeckt, und auch der gelegentliche Regen zeigte keine Lust, aus den Breitengraden von Dresden zu verschwinden. Und die Temperaturen würden kaum über fünf Grad kommen. Dementsprechend war auch sein Befinden. Die erste Tasse Tee trank er in einem Zug leer. Ihm fiel ein, daß er sich unbedingt nach seiner Frau erkundigen mußte und nach den Besuchszeiten im Krankenhaus. Auch Blumen brauchte er, und wie er die bekommen würde, wußte er schon. Er ging zum Telefon und rief einen jungen Kriminalmeister zu sich. »Verstehen Sie etwas von Blumen?« fragte er ihn. »Nein«, antwortete der Kriminalmeister, »aber wenn Sie welche brauchen, kann ich sie Ihnen besorgen. Meine Schwägerin arbeitet in einer Blumenhandlung.« »In welcher Gegend?« »In Cotta.« »Aus der Ecke brauch’ ich keine Blumen«, sagte Ebner. »Ich brauche welche aus Blasewitz und Um93
gebung. Lassen Sie sich von den Kriminaltechnikern ein Foto von dem Blumenstrauß geben – aber ein Farbfoto! –, den wir auf dem Wohnzimmertisch der alten Dame in der Triskauer Straße gefunden haben. Mit dem Foto machen Sie die Runde durch sämtliche Blumenhandlungen und Gärtnereien von Blasewitz, Striesen und der Altstadt. Ich will wissen, wer gestern diesen Strauß gekauft hat. Außerdem brauche ich auch einen Strauß bis spätestens Mittag.« Der Kriminalmeister zeigte sich von dem Auftrag wenig erfreut. Er hatte seine Erfahrung mit solchen endlosen Laufereien von Laden zu Laden. Man wurde fußlahm, und am Ende kam wenig dabei heraus. »Noch irgend etwas unklar?« fragte Ebner. »Nein, Genosse Hauptmann.« »Lassen Sie sich von der Fahrbereitschaft einen Wagen geben.« Das Gesicht des Kriminalmeisters hellte sich auf. »Danke, Genosse Hauptmann«, sagte er. »Aber heute abend spätestens will ich wissen, wer den Strauß gekauft hat!« »Geht klar. Möchten Sie Rosen?« »Ich?« »Sie wollten doch Blumen?« »Wenn Ihre Schwägerin nichts Besseres hat, genügen auch Rosen.« Der Kriminalmeister grinste und verließ Ebners Zimmer. Beinahe wäre er mit der Sekretärin zusammengestoßen, die einen Teller mit be94
legten Brötchen hereinbrachte. Ihr folgte Hauptmann Wustlich. »Ein Gedränge am frühen Morgen!« sagte Ebner. »Wie geht’s deinen Kindern?« »Unverändert«, antwortete Wustlich. »Hast du schon Nachricht von deiner Frau?« Ebner schüttelte den Kopf und biß in ein Brötchen. »Rufen Sie die Einsatzgruppe zu mir!« wies er seine Sekretärin an. »Der Alte will mich sprechen.« »Kann ich mir denken. Die Lottofrau ist bestimmt schon Stadtgespräch. Und wir sollen ihm im Handumdrehen den Täter servieren.« »Ist Hegewald wieder im Dienst?« »Sieht nicht so aus. Mir ist er noch nicht über den Weg gelaufen.« »Soll sich endlich die Mandeln rausnehmen lassen, der Mann. Eine Angina nach der anderen.« »Wolltest du nicht auch krank machen?« »In der Familie kann immer nur einer krank machen. Zur Zeit ist meine Frau dran.« Nachdem sich alle Mitarbeiter der Einsatzgruppe versammelt hatten, wies Ebner an, die Alibis der Besitzer der hinter dem Haus Triskauer Straße 37 gelegenen Garagen zu überprüfen. Außerdem war möglichst unauffällig die Trauergemeinde aus der Sportlerklause unter die Lupe zu nehmen. Wustlich bekam den Auftrag, sich mit Herrn Schilling zu befassen. Zunächst sollten soviel als möglich Hintergrundinformationen zu dessen 95
Person gesammelt werden. »Spätestens zum Zeitpunkt der Wochenabrechnung müßte er sich an der Lotto-Annahmestelle beziehungsweise in der Wohnung der Frau Heidenreich einfinden. Das ist dann genau der richtige Augenblick, ihm ein paar Fragen zu stellen.« »Ich muß noch zur Kohlenhandlung, mir diesen Günter anschauen«, gab Wustlich zu bedenken. »Darum sollten sich die Genossen des Kreisamtes kümmern.« »Und was machen wir mit diesem Herrn Karsch?« fragte Wustlich. »Den lassen wir erst einmal im eigenen Saft schmoren. Gibt’s’ eigentlich schon eine Meldung darüber, wo sich Freund Müller zur Zeit vollaufen läßt?« »Er ist in einigen Kneipen gesehen worden. Aber wo er sich im Moment herumtreibt, weiß niemand zu sagen.« »Die Schwiegermutter muß her! Wenn ich von der Obduktion zurück bin, möchte ich sie vor meinem Schreibtisch sitzen sehen. Und vergeßt mir nicht diese Lottospielerin aus Klotzsche! Wie hieß sie denn gleich?« »Frau Schmidt«, sagte Wustlich. »Nun nehmt die Beine in die Hand, Jungens! Der Chef möchte Bewegung sehen.« Bevor sich Ebner zur Berichterstattung zu seinem Vorgesetzten begab, 96
diktierte er seiner Sekretärin noch einen Antrag an das Kriminaltechnische Institut. »Schreiben Sie! Ziel der Begutachtung: Können an den Rändern der Tassen Speichelzellen nachgewiesen werden? Wenn ja, handelt es sich bei dem Verursacher um einen Sekretor? Welche Blutgruppeneigenschaften können festgestellt werden? Ist eine Geschlechtsbestimmung möglich? Wenn ja, handelt es sich bei dem Verursacher um eine männliche oder eine weibliche Person?« Die Besprechung bei seinem Chef verlief genau so, wie er sie sich vorgestellt hatte. »Was ist los mit Ihnen?« fragte der Chef, nachdem Ebner ihm das Fazit der bisherigen Untersuchungen vorgelegt hatte. »Brauchen Sie mehr Leute?« Ebner verneinte. »Sind Sie müde? War doch eine ruhige Woche bis gestern. Machen Sie mal Dampf auf! Bei mir läuten sich die Telefone heiß. Der Mord an der alten Dame hat Staub aufgewirbelt. Der Direktor von diesem Lottoladen …« »VEB Vereinigte Wettspielbetriebe …« »Eben der rief vorhin an und erzählte ganz aufgeregt, daß alle seine Annahmestellenleiter eine schlaflose Nacht gehabt hätten.« »Hat er Ihnen auch gesagt, daß er nicht in der Lage ist, die Annahmestelle der Toten am heutigen Tage offenzuhalten? Es hätte uns viel bedeutet.« »Warum läßt sich das denn nicht machen?« 97
»Wegen der Inventur.« »Inventur muß sein, Ebner. Die Leute müssen eine Übersicht bekommen, wieviel Geld fehlt.« »Die Nacht war lang, Chef. Die Annahmestelle hat offenbar keinen besonders großen Kundenkreis. Die Inventur hätte jetzt bereits beendet sein können. Statt dessen beginnt sie wahrscheinlich in diesen Minuten erst.« »Tja«, sagte der Chef, »es gibt eben Leute, die Wert auf geregelte Arbeitszeiten legen.« »Und von uns wird verlangt, den Täter einen Augenblick nach der Tat präsentieren zu können. Im übrigen wäre das möglich gewesen. Ich darf gar nicht daran denken, daß zwei Polizisten vor einer Tür stehen, hinter der sich ein Mörder befindet, und aus Angst vor etwaigen Regreßforderungen nicht wagen, die Tür einzutreten.« »Wir sind nicht im Wilden Westen, Genosse Hauptmann. Ich begreife Ihre Erregung nicht. Das waren zwei Arbeiterjungens, die Respekt vor Werten haben. Wo kämen wir denn hin, wenn die Polizei bei jedem Hilfeersuchen gleich die Wohnungstür zerlegte? Lassen Sie sich mal die tägliche Zahl solcher Hilfeersuchen nennen! Nein, nein, ich muß die beiden in Schutz nehmen.« »Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Ebner. »Sie gestatten, daß ich abtrete?« »Haben Sie veranlaßt, daß dieser Frau, die über 98
Notruf den Funkstreifenwagen gerufen hat, eine Urkunde und eine Geldprämie überreicht wird?« »Ich wollte Ihnen nicht vorgreifen.« »Lassen Sie mir den vollen Namen und die Anschrift zukommen. Ich erledige das. Sie vergessen die Öffentlichkeit, Ebner. Die Öffentlichkeit ist bei unserer Arbeit das A und O. Und dann noch eins: Verfallen Sie mir nicht wieder in Ihren Fehler, immer irgendwo in der Weltgeschichte umherzuschwirren. Bleiben Sie hinter Ihrem Schreibtisch, und halten Sie die Fäden in der Hand! Es ist doch unsinnig, Maigret spielen zu wollen.« Ebner verkniff sich mit mühsam unterdrücktem Lächeln eine Erwiderung. Niemand im Hause hatte Ambitionen, für Maigret gehalten zu werden, einzig und allein der Chef. Klein und leicht untersetzt, mußte er sich dazu nicht anstrengen. Aber er rauchte dazu noch Pfeife und trug während des gesamten Jahres einen hellen Staubmantel. Es nannten ihn fast alle nur »Maigret«, wenn er nicht dabei war. Ausgerechnet er bezichtigte seine Mitarbeiter der Neigung, Maigret spielen zu wollen. Die Obduktion leitete Obermedizinalrat Professor Doktor Bergmann. Ebner kannte ihn seit über einem Jahrzehnt. Bergmann war ein renommierter Grafiksammler, Mitglied der Pirckheimer-Gesellschaft und außerdem ein Hundenarr. Hochaufgeschossen und hager, mit einem Dackel und einem Irish-Setter an der Leine, betrat er das Gerichtsmedizinische Institut 99
und verbreitete Respekt, ohne ihn fordern zu müssen. Seine Obduktionen glichen viel mehr dem Zelebrieren einer Messe als dem Zerstückeln einer Leiche. Seine Befunde diktierte er sogleich auf Band. Ebner hatte noch nie erlebt, dass das Band zurückgespult werden mußte, weil eine Korrektur des Textes nötig geworden wäre. Mit leiser, aber deutlich akzentuierter Stimme begann er: »1. Zur Obduktion gelangt eine fünfundsiebzigjährige, vollständig bekleidete, dem Namen nach bekannte 1,62 m große Frau in einem guten Ernährungszustand. Bei der äußeren Besichtigung fällt der völlig blutverschmutzte Kopf besonders auf. Beide Augen sind geschwollen. Das Kopfhaar leicht gekräuselt, von grauer Farbe, durch angetrocknetes Blut verklebt. Ebenfalls sind beide Hände blutig verschmutzt. Die Bekleidung besteht aus …« Die blutig verschmutzten Hände ließen Ebner sich nochmals die ungeheure Angst der alten Frau vorstellen. Nur abwehren wollte sie die Schläge und Stiche, sicher war sie zu keinem Zeitpunkt zu irgendwelcher nennenswerten Gegenwehr fähig. »Beim Ausziehen der Leiche löst sich aus dem Haar im rechten Hinterkopfbereich ein zirka zwei Zentimeter großes Holzbruchstückchen, welches asserviert wird. Totenstarre in den großen Gliedmaßengelenken kräftig ausgebildet. Totenflecke im Bereich der Lendenregion und der Hinterseite beider 100
Beine flächenhaft von grau-rötlicher Farbe und mit dem Daumen wegdrückbar. Deutliche Leichenkälte. Wie bereits erwähnt, ist das ganze Gesicht blutig verschmiert, wobei die angetrockneten Blutkrusten in Form eingerissener Blutabrinnspuren horizontal über das Gesicht verlaufen. Sie sind auf der linken Seite breiter als rechts und hier auch stärker ausgeprägt. In der Schläfenregion links sowie am Stirnhaaransatz ist das Kopfhaar mit Blut verklebt. Des weiteren fällt auf, daß links kein Ohrring vorhanden ist, während auf der rechten Seite der Bügel eines gelblich glänzenden Metallohrringes hängt. Die Gesichtshaut wird vorsichtig gesäubert. Folgende Veränderungen im Bereich des Gesichts: In der rechten Stirnschläfenregion befindet sich ein zirka sechs Zentimeter messender dunkelroter Hautbezirk, der bis an die Stirnhaargrenze reicht und eine deutlich sichtbare Weichteileindellung aufweist. Im Zentrum dieser Eindellung eine nach unten weisende maximal vier Zentimeter messende und relativ scharf begrenzte Weichteileindellung findet sich unmittelbar über dem rechten Augenbrauenbogen. Im Zentrum dieser Eindellung liegt eine maximal ein Zentimeter messende schwalbenschwanzförmige Hautvertrocknung. Die beiden Ausziehungen weisen nach rechts unten. Die Stirnhaut oberhalb des linken Augenbrauenschwanzes ist in einem Ausmaß von vier mal fünf Zentimetern dunkelgraurötlich verfärbt…« Wie harmlos hört 101
sich das an, dachte Ebner. Eine dreieckige Weichteileindellung, relativ scharf begrenzt. Im Klartext war das die Spur des Stuhlbeines, das mit großer Wucht auf den Kopf der Frau geschlagen wurde. Und die schwalbenschwanzförmigen Hautvertrocknungen dürften von Stichen mit der Schere herrühren. Gewalteinwirkung führt zum Verlust oberflächiger Hautschichten, der wiederum bewirkt Wasserverlust und führt die braunrote Vertrocknung herbei. »Beide Augenlider sind geschwollen und dunkelblaurot verfärbt. Die Gesichtshaut weist neben dem rechten Mundwinkel unregelmäßig nach unterschiedlichen Richtungen verlaufende oberflächliche Hautkratzer auf. Beide Lippen sind dunkelrot bis bläulich verfärbt und unregelmäßig geschwollen …« Ein älterer Mann, das Faktotum in der Gerichtsmedizin, tippte Ebner auf die Schulter und sagte, er werde am Telefon verlangt. Oberleutnant Richter teilte ihm mit, es habe sich ein junger Mann gemeldet, der in der fraglichen Zeit eine Frau gesehen haben will, die in das Haus Triskauer Straße 37 gegangen sei. Sie habe ihn gefragt, wo denn hier die Lottofrau wohne. »Überprüft den jungen Mann«, sagte Ebner, »klingt mir verdammt nach einem Wichtigtuer mit einem Überschuß an Phantasie. Wie schön, wenn sich künftig unsere Täter erst bei Straßenpassanten nach dem Wohnsitz ihres Opfers erkundigen! Wohnt er in der Nähe der Frau Heidenreich?« 102
»Im Hause gegenüber.« »Und was wollte er zu der Zeit auf der Straße?« »Er hat auf die Straßenbahn gewartet.« »Na, lassen wir uns überraschen. Beschreibung der Frau liegt vor?« »Ja.« »Brauchbar?« »Einigermaßen.« »Und sonst?« »Ich gehe jetzt zur Kohlehandlung, mir diesen Günter anschauen.« Ebner legte auf und ging wieder in den Obduktionsraum, wo ihm die Stimme des Professors entgegendrang. »… die oberen zwei Drittel der linken Ohrmuschel sind geschwollen und dunkelrot unregelmäßig verfärbt. Etwa in mittlerer Höhe ist der Ohrmuschelrand links in horizontaler Richtung in etwa acht Millimeter Tiefe durchtrennt. Die Durchtrennung der Haut ist länger, zirka zwei Zentimeter, während der Ohrmuschelknorpel nur fünf Millimeter relativ glattrandig durchtrennt ist. Im rechten Gehörgang eingedicktes Blut. An der linken Halsseite oben, unmittelbar hinter dem Ohrläppchen, finden sich insgesamt vier parallele horizontal gelegene, jeweils eins Komma fünf Zentimeter lange schnittartige Hautdurchtrennungen …« Wie Ebner erwartet hatte, brachte die Obduktion keine neuen Erkenntnisse, ließ den Tathergang in keinem anderen Lichte als bisher erscheinen. Die Tatwerkzeuge blieben die gleichen, 103
nämlich eine leere Weinflasche, ein Stuhl und, nachdem der zu Bruch ging, ein Stuhlbein und schließlich die lange Papierschere. Er überlegte, ob er seine Zeit nicht besser anwenden sollte, als hier das Ende der Obduktion abzuwarten, als er erneut ans Telefon gerufen wurde. Professor Berger unterbrach zwar sein Diktat nicht, aber er hob unwillig die Brauen. Ebner zuckte Entschuldigung heischend die Schultern. Diesmal war Hauptmann Wustlich am Apparat und verkündete ihm, daß sich ein neuer Zeuge eingefunden habe. Ein Schulkind. Ein Mädchen aus der siebenten Klasse. Die Tochter der Serviererin aus der »Sportlerklause«. »Das Mädchen hat in der fraglichen Zeit eine Frau eilig davonlaufen sehen.« »Von wo?« »Na, es gibt doch dort einen Weg, der eigentlich nur ein Trampelpfad ist, eine Abkürzung gewissermaßen, von hinter den Garagen zur Loschwitzer Straße. Das Mädchen konnte die Frau sehr präzise beschreiben. Ich habe es gleich zu ,Picasso’ gebracht.« »Ich habe das Gefühl, du hast überall rumerzählt, daß jemand auf Strümpfen im Flur war und daß nur Frauen so etwas tun. Richter hat auch einen Zeugen, dem eine Frau über den Weg gelaufen ist. Schaltet euch doch mal kurz und prüft, ob die Personenbeschreibungen Ähnlichkeiten aufweisen.« 104
»Geht klar. Ist denn Säge-Emil immer noch nicht fertig?« »Weilchen dauert’s noch. Er hat mich schon gerügt, weil ich andauernd zum Telefon renne und seinen ausgefeilten Vortrag störe.« »Gab es Überraschungen?« »Nein. Lediglich einen Holzsplitter im Kopf und inzwischen sicher auch noch die abgebrochen Scherenspitzen irgendwo in der Halsgegend. Schade eigentlich, daß du nicht dabei bist. Die Weichteileindellungen, wie Bergmann die Schlagspuren zu nennen pflegt, sind so beschaffen, daß es einem schwerfällt, sich den Täter als eine Frau vorzustellen. Sollte das Mädchen eine zierliche Frau gesehen haben, brauchen wir uns wenig Hoffnung zu machen, ein Identikitbild der Täterin zu besitzen.« »Als Gazelle hat sie die Frau nicht beschrieben. Eher maskulin und mit auffallend dürren Beinen.« »Na schön! Also sprich mit Richter. Wir sehen uns nachher.« »Im Zusammenhang mit den kratzerartigen Oberhautdefekten in der Umgebung des Mundes sowie der Halsvorderseite weisen diese Befunde auf einen Würgevorgang hin. Möglicherweise in Kombination mit einem gewaltsamen Zuhalten des Mundes in dem Bestreben, ein Schreien zu verhindern. Da die Todesursache in der Gesamtheit der aufgezählten Gewalteinwirkungen sowie der Blutungen nach außen 105
und der Blutaspiration begründet ist und das Delikt in einen Zeitintervall von zirka zwanzig Minuten fällt, können zum chronologischen Ablauf des Tatgeschehens von Seiten der Obduktion keine Angaben gemacht werden. Todesursache: stumpfe und perforierende Gewalteinwirkung in Kombination mit Würgevorgang. Es handelt sich um einen nichtnatürlichen Tod. Die Betroffene ist Träger des Blutgruppenmerkmals A 2.« Bergmann lud Ebner ein, noch auf einen Sprung zu ihm zu kommen. Es gäbe in seiner Villa seit neustem eine Barlach-Zeichnung zu bewundern. Eine Kostbarkeit. Eine Skizze aus dessen russischer Periode. »Liebend gern«, antwortete Ebner, »nur habe ich noch eine Kleinigkeit zu tun, Herr Professor.« »Der Täter läuft Ihnen schon nicht weg. Wohin soll er denn auch?« meinte Bergmann. »Soll schon vorgekommen sein, daß uns einer weggelaufen ist. Außerdem haben sämtliche Dresdner Lottofrauen ihre Wohnungen in Festungen verwandelt und leiden unter Schlaflosigkeit, weil sie in der Annahme leben, es handele sich um einen Serientäter, der es auf die Lotto-Einnahmen abgesehen hat.« »Hatten Sie sich von der Obduktion irgendwelche Fingerzeige für die Fahndung versprochen?« »Nein«, sagte Ebner, »das war nicht anzunehmen. Möglicherweise wird der Befund aktuell, wenn wir 106
meinen, den Täter gefaßt zu haben.« »Obwohl es meine Sache nicht ist, Vermutungen zu äußern, will ich nicht verhehlen, daß sich mir angesichts des Gesamtzustands der Leiche der Verdacht aufdrängt, es habe da jemand in Panik gehandelt. Brutal und kopflos zugleich. Blindwütig ist wohl das richtige Wort.« »So stellt es sich mir auch dar. Ich vermute, die Schere lag zufällig in Griffnähe. Hätte ein Messer oder irgendein anderer Gegenstand dagelegen, wäre er statt dessen vom Täter benutzt worden, die Frau zum Schweigen zu bringen.« »Suchen Sie eine männliche oder eine weibliche Täterperson?« »Wonach würden Sie an meiner Stelle suchen, Herr Professor?« Bergmann wiegt nachdenklich den Kopf hin und her. »Auf den ersten Blick möchte man meinen, es kann nur ein Mann gewesen sein. Doch aus Erfahrung weiß ich, wieviel Kraft Frauen in Ausnahmesituationen aufzubieten in der Lage sind. Körperkraft meine ich.« »Also?« »Ich weiß es nicht. Obwohl – ich kann es mir selbst nicht erklären – mir meine innere Stimme sagt, Sie haben es nicht nur bei dem Opfer mit einer Frau zu tun.« »Es gibt noch mehr Leute, deren innere Stimme mir beizubringen sucht, ich sollte mich nach einer 107
Frau als Täterin umsehen. Meine innere Stimme hingegen enthält sich zur Zeit noch der Stimme, Sie tut es befehlsgemäß. Ich habe ihr diese Zurückhaltung mühsam beigebracht und will sie nun nicht ermuntern, von der Gewohnheit wieder zu lassen. Zunächst brauche ich ein Motiv, dann darf sie mir etwas erzählen.« »Kein Raubmord?« »Nicht, daß ich wüßte. Möglicherweise hortete die alte Dame Schätze, von denen wir noch keine Ahnung haben. Es fehlt nämlich weder eine nennenswerte Summe Geldes noch fehlen Schmuckstücke oder andere Wertsachen.« »Seltsam«, sagte Bergmann. »Die Frau war ja auch nicht mehr in einem Alter, in dem man in irgendwelche Leidenschaften verstrickt ist, die einem unter Umständen zu einem gewaltsamen Tod verhelfen können.« »Ja«, stimmte Ebner zu, »sie war wohl schon jenseits von gut und böse.« »Um diesen Fall sind Sie nicht zu beneiden.« »Vor allem hindert er mich daran, mir Ihren Barlach anzuschauen.« »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.« »Das nicht, aber wenn wir uns begegnen, pflegt stets eine Leiche auf dem Tisch zu liegen, die mich zwingt, darüber nachzudenken, wer die dazu gemacht hat. Und dieses Nachdenken verhindert die 108
Betrachtung bildender Kunst.« »Besuchen Sie mich doch einmal zwischen zwei Leichen.« Die gebrechlichen alten Lastkraftwagen standen nicht mehr auf dem Hof der Kohlehandlung. Die Torflügel waren weit geöffnet. Der Schäferhund ruhte sich von seinem anstrengenden Nachtdienst aus. Den Kopf weit nach vorn gestreckt, lag er in seiner Hütte und blinzelte Oberleutnant Richter nur müde zu. Der Besitzer der Kohlehandlung kam nach draußen geschlurft. Sein Äußeres war wenig geändert. Nur die Bartstoppeln waren länger. Richter stellte sich vor und fragte dann: »Wo kann ich Herrn Günter finden?« »Der ist unterwegs.« »Sie wissen doch sicher, wen er mit Kohle beliefert?« »Na klar weiß ich das«, brummte Nitschke. »Der Günter fährt die Dieselameise, da geht ja nicht viel drauf. Höchstens für zwei Haushalte.« »Und welche sind das?« »Was wollen Sie eigentlich von dem Jungen? Ich habe doch Ihrem Kollegen schon gesagt, daß er gestern versackt ist. So sieht er heute auch aus. Ziemlich zerschunden.« »Zerschunden?« »Haben Sie noch nie einen in der Krone gehabt?« »Das passiert wohl jedem mal.« »Na sehen Sie! Da hat man dann eben nicht alle 109
beisammen und rammelt irgendwo gegen oder fällt auf die Nase. Das ist nun mal so. Ist bei dem Günter auch nicht das erste Mal.« »Aber er wird wohl so weit wiederhergestellt sein, daß er mir ein paar Fragen beantworten kann, und deshalb verraten Sie mir nun endlich die Adresse der Leute, die er im Augenblick mit Kohle beliefert.« »Frankenstraße dreizehn«, sagte Nitschke. »Ist ja nicht schwer zu finden. Die Dieselameise können Sie nicht übersehen.« »Wann ist er denn gestern vom Hof?« »Gestern? Na das muß so gegen halb zwei gewesen sein.« »Danach haben Sie ihn also nicht mehr gesehen?« »Natürlich nicht.« »Machen Sie immer so zeitig Feierabend?« »Wir fangen ja auch früh an. Und an manchen Tagen geht’s dann bis in die Nacht. Wenn Waggons entladen werden müssen.« Richter hatte sich nicht anmerken lassen, um wieviel mehr ihn dieser Günter nun interessierte. Es lag auf der Hand, daß der Täter aus dem Zweikampf mit seinem Opfer nicht gänzlich ungeschoren davongekommen war. Die Todesangst vermag selbst bei einer alten Frau noch Kräfte freizusetzen. Für ein paar Kratzer im Gesicht jedenfalls würden sie ausgereicht haben. Und nun war dieser Günter zerschunden zur Arbeit gekommen. Doch mußte das wenig besagen. Vielleicht hatte es gestern 110
abend in der Gaststätte eine kleine Prügelei gegeben. Vielleicht war er mit der rothaarigen Frau in einen Streit geraten. Möglich war vieles. Möglich war auch, daß er in wenigen Minuten dem Mörder der Frau Heidenreich gegenüberstehen würde. Die Dieselameise war bald gefunden. Richter parkte den Wagen in einiger Entfernung und näherte sich Günter als Spaziergänger. Der übliche Nieselregel hatte sich zuverlässig wieder eingestellt. Richter fröstelte. Er schlug den Mantelkragen hoch und steckte die Hände in die Taschen. Günter kam eben mit einem leeren Kohlenkasten aus der Haustür. Er war klein und untersetzt. Das Gesicht war mit einer Mischung aus Regennässe, Schweiß und Kohlenstaub verschmiert, so daß sich nicht ausmachen ließ, ob sich auch Kratzspuren darauf befanden. Das rechte Auge schien blutunterlaufen zu sein. Richter ließ ihn den letzten mit Kohle gefüllten Kasten ins Haus tragen, ehe er ihn ansprach. »Herr Günter?« fragte er. »Was liegt denn an?« »Ich habe ein paar Fragen an Sie.« »Keine Zeit«, sagte Günter. »Fragen immer nur nach Feierabend. Brauchen Sie Kohlen?« »Kriminalpolizei«, sagte Richter. »Was hab’ ich denn verbrochen?« »Ging bißchen hoch her gestern abend, wie?« »Ist doch nicht strafbar. Oder darf man jetzt schon keinen mehr zur Brust nehmen?« 111
»Anscheinend haben Sie die Flasche zu hoch angesetzt?« »Ach, Sie meinen mein Matschauge? Halb so wild. Bin ich gegen einen Kleiderhaken gedonnert.« »Das hätte aber schiefgehen können.« »Das hätte es. War aber Gott sei Dank noch so ’n altmodischer, mit ’ner Holzkugel obendrauf.« »Und wo könnte ich den Kleiderhaken besichtigen?« »Worum geht’s denn eigentlich? Ist doch meine Sache, ob ich gegen einen Kleiderhaken renne und wo.« »Vielleicht«, sagte Richter, »vielleicht ist das ganz allein Ihre Sache.« »Und ob das meine Sache ist.« »Wann hatten Sie gestern Feierabend?« »So gegen halb zwei bin ich vom Hof.« »Und was haben Sie danach gemacht?« »Ich bin in meine Bude und hab’ erst mal einen eingezogen.« »Sie sind ohne irgendwelche Umwege zu Ihrer Wohnung und haben sich dort schlafen gelegt?« »Genau.« »Kann das jemand bezeugen?« »Bezeugen? Wer soll denn das bezeugen? Ich habe dort nicht mit ’ner Frau gepennt, falls Sie das dachten.« »Sie leben allein?« 112
»Manchmal, ja.« »Und es hat Sie niemand in Ihre Wohnung gehen sehen?« »Weiß ich nicht. Ich pass’ doch nicht auf, ob jemand guckt, wenn ich in meine Wohnung gehe. Machen Sie das?« »Wie lange haben Sie geschlafen?« »So bis gegen sechs.« »Und wann sind Sie gegen den Kleiderhaken gerannt? Vorher oder nachher?« »Nachher natürlich. In meiner Wohnung renn’ ich doch nicht gegen einen Kleiderhaken.« »In welcher Wohnung war es denn nun?« »Wozu wollen Sie das wissen?« »Die Fragen stelle ich, Herr Günter.« »Sie wollen mich doch nicht im Ernst mit dem Tod der alten Frau Heidenreich in Verbindung bringen?« »Wieso nehmen Sie an, daß wir das vorhaben?« »Ist doch klar wie Kloßbrühe! Warum habt ihr denn gestern abend noch den Nitschke gefragt, wann ich das letzte Mal Kohlen zu Frau Heidenreich gebracht habe? Doch nur, um mich in die Geschichte reinzuziehen.« »Wir verzetteln uns, Herr Günter. Bleiben wir zunächst bei Ihrem Auge und dem Kleiderhaken. Wo genau sind Sie dagegengestoßen?« »Im Bad bei der Inge.« 113
»Ihre Freundin?« »Die ist verheiratet.« »Wenn das der Grund ist, weshalb Sie mir die Adresse nicht nennen wollen, kann ich Sie beruhigen. Wir können unheimlich diskret sein.« »Das können Sie jemandem weismachen, der sich die Hosen mit der Kneifzange hochzieht. Die Polizei und diskret! Daß ich nicht lache.« »Was Sie von uns denken, ist Ihre Sache, Herr Günter.« »Scheint mir auch so. Und ich weiß auch überhaupt keinen Grund, warum ich die Adresse rausrücken soll. Muß ich doch nicht. Oder?« »Müssen Sie nicht. Jedenfalls noch nicht. Aber es gehört zu einer unserer leichtesten Übungen, herauszubekommen, wie die rothaarige Frau heißt, mit der Sie gestern abend die Weinbergschenke verlassen haben. Vielleicht wissen wir es sogar schon. Ich brauchte nur zum Auto zu gehen und per Telefon nachzufragen.« »In nichts ist man mehr sein freier Mann«, sagte Günter, »immer weiß gleich die halbe Welt, mit welcher Frau man ins Bett gegangen ist.« »Das kann ich nicht beurteilen«, meinte Richter. »Wir interessieren uns dafür nicht besonders. Wären Sie in Ihren eigenen vier Wänden gegen einen Kleiderhaken gelaufen, brauchten Sie mir jetzt nicht Namen und Anschrift Ihrer Bettgefährtin zu nennen.« 114
»Bettgefährtin ist gut. Die Frau ist heiß wie die Wüste Sahara. Eben eine Rothaarige. Mit Rothaarigen hat man im Bett immer Glück. Trotzdem sehe ich nicht ein, daß ich sie mit in die Scheiße reinziehen soll. Für Sie ist das wahrscheinlich ’ne ganz einfache Sache. Der Mann hat die alte Frau Heidenreich gekannt, hat ihr die Kohlen auf den Balkon gehuckt, und nun ist sie tot, und nun ist er natürlich verdächtig. Und sicher wundern Sie sich, warum ich den Namen von der Inge nicht ausspucken will, weil, wenn einer in so einen Verdacht reingerät, er doch alles tun muß, um da wieder rauszukommen. – Aber ist es denn nicht genau umgekehrt? Müssen Sie mir denn nicht beweisen, daß ich ’ne verdächtige Person bin?« »Stimmt«, sagte Richter, »nur bekommen wir den Verdacht rascher von Ihnen weg, wenn Sie uns behilflich sind.« »Mensch, das ist doch immer die gleiche Masche! In jedem Krimi reden die Polypen so ’n Schmus mit Fransen. Ich sage Ihnen noch mal, ich habe die alte Dame nicht ins Jenseits befördert.« »Könnte es sein, daß auch Ihr Gesicht ein paar Kratzer von dem Kleiderhaken abbekommen hat, oder irre ich mich da?« Instinktiv wischte sich Günter als Reaktion auf diese Frage des Kriminalisten über das Gesicht, wodurch das Gemenge aus Regen, Schweiß und Kohlestaub nur noch dichter wurde. 115
»Sie haben doch sicher einen Lappen in Griffnähe, Herr Günter«, sagte Richter. »Wischen Sie doch Ihr Gesicht ein wenig sauber, damit ich mich von der Richtigkeit meiner Annahme überzeugen kann.« »Die Frau heißt Inge Schwarzbach«, sagte Günter. »Alemannenstraße fünfundachtzig, dritter Stock, rechts.« »Na bitte! Warum denn nicht gleich? Trotzdem … würde ich mir Ihr Gesicht gern genauer ansehen. Möchten Sie mein Taschentuch?« Statt von dem Angebot Gebrauch zu machen, zog Günter selber ein großes kariertes Tuch aus der Hosentasche und säuberte damit notdürftig sein Gesicht. Die Kratzspuren auf der linken Wange und am Hals waren nicht zu übersehen. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß die Frau heiß ist«, kommentierte Günter den prüfenden Blick des Kriminalisten. »Ja, ja«, sagte Richter, »ich habe es nicht überhört. Schade, daß niemand gesehen hat, wie Sie von der Arbeit zu Ihrer Wohnung gegangen sind.« »Ich war’s nicht.« »Auch das habe ich bereits gehört, Herr Günter. Sie müssen sich nicht fortwährend wiederholen. Sagen Sie mir lieber, wann Sie Frau Heidenreich Kohlen gebracht haben.« »Vorgestern.« »Uhrzeit?« »Früh. Um halb neun etwa.« 116
»Und da hat Sie wieder niemand gesehen?« »Doch, Frau Heidenreich.« »Das ist vorstellbar. Und außer Frau Heidenreich?« Günter schwieg und zuckte mit den Schultern. Mit den Jahren hatte Ebner ein Gespür ausgebildet, welches ihm ziemlich zuverlässig sagte, wohin sich ein Fall zu entwickeln begann. Und dieses Gespür verhieß ihm im Fall Heidenreich wenig Erfreuliches. Natürlich sah es im Augenblick noch ganz so aus, als ob jeder Mitarbeiter der Einsatzgruppe nach einem ausgefeilten Plan vorging, als ob hier Fischer am Werke waren, die ihre Schleppnetze ausgelegt hatten und nun den Teich durchschleppten, und als ob es nur noch eine Sache von Stunden wäre, bis der gesuchte Fisch aus dem Netz gezogen werden konnte. Und in der Tat hatte er bis jetzt nichts Notwendiges zu tun unterlassen. Der Plan des Vorgehens war, wenn vielleicht nicht gerade ausgefeilt, doch gut durchdacht, und die Koordination würde sich einstellen wie immer, schließlich waren hier erfahrene Kriminalisten am Werk. Die Schleppnetze waren also wohl ausgebracht und das Durchschleppen des Teichs hatte begonnen. Sie würden jeden Quadratmeter erreichen, soviel war sicher. Nicht sicher jedoch war, ob sie im richtigen Teiche fischten. Als ihn Oberleutnant Richter anrief und ihm den Inhalt der Befragung des Kohlenplatzarbeiters durchgab, faßte er wieder Hoffnung und bedauerte zugleich, 117
sich des Mannes nicht selber angenommen zu haben. »Ich habe ihn für den späten Nachmittag zum Kreisamt bestellt, zum Unterschreiben des Protokolls«, sagte Richter. »Rufen Sie mich an, wenn er da ist«, wies ihn Ebner an, »ich möchte ihn mir mal ansehen. Bis dahin müssen Sie es geschafft haben, das Umfeld dieses Burschen abgeklärt zu haben: Freundin, Hausbewohner, Kneipe und so weiter.« »Ich würde mich gern in seiner Wohnung umsehen«, sagte Richter. »Heißes Eisen«, meinte Ebner, »aber ich werde sehen, was sich beim Staatsanwalt machen läßt. Die Durchsuchungsbefehle sitzen ihm nicht locker.« »In dem Fall scheint es mir im Interesse des Mannes zu sein. Könnten wir in seine Wohnung, würde sich der Verdacht unter Umständen sehr bald in Nichts auflösen.« »Sie rechnen aber mit der anderen Variante?« »Sind bißchen viel Zufälle. Meinen Sie nicht auch?« »Es gibt im Leben viel zuviel Zufälle. Leider. Ich überlege schon die ganze Zeit, ob wir Günter zur Sonderspur erklären können. Ich meine, ob das, was gegen ihn vorliegt, dafür ausreichend ist. Wie denken Sie darüber?« »Schwer zu sagen«, antwortete Richter. »Es ist wohl besser, wir warten damit, bis ich mehr Details 118
beisammen habe. Ich melde mich, sobald ich fündig geworden bin.« Ebner war angetan von der Zurückhaltung dieses Oberleutnants. Ein anderer an seiner Stelle hätte die Idee mit der Sonderspur wahrscheinlich nach Kräften unterstützt, denn man kann damit bei den Recherchen selbstverständlich viel schneller voran, weil mehr Leute darauf angesetzt wurden und bestimmte Rücksichten gegenüber der zur Sonderspur erklärten Person wegfielen. Aber genau darum ging es. Aus einer gewöhnlichen Spur eine Sonderspur zu machen hieß nichts anderes, als das Umfeld des Betreffenden weit eingehender als allgemein üblich auszuleuchten. Die Zahl der Befragungen nahm zu und damit unweigerlich auch die Zahl der Befragten. Und man konnte eine Befragung noch so dezent und anscheinend beiläufig durchführen, die Befragten wurden neugierig, machten sich ihren eigenen Reim, und es kamen Gerüchte hoch. Handelte es sich im Ergebnis der Recherchen um den wirklichen Täter, brauchte man sich um dessen Ruf nun wahrlich keine Sorgen zu machen. Stellte sich jedoch heraus, daß die Sonderspur eine Sackgasse war, sah die Geschichte schon ganz anders aus, und der unschuldig in Verdacht geratene Bürger hatte manchmal über lange Zeit mit den Nachwirkungen der Sonderspurarbeit zu tun. Trotzdem mußte er diesem Günter seine besondere Aufmerksamkeit schenken. Ein mögliches Motiv allerdings hatte ihm Richter auch nicht 119
liefern können. Und es lohnte sich für Ebner im Augenblick nicht, darüber zu grübeln, weshalb ein Kohlenplatzarbeiter eine alte Dame umbringt, ihr Geld und ihre Wertsachen jedoch weitestgehend unangetastet läßt. Leutnant Thal betrat Ebners Dienstzimmer. Ihm war im Mordfall Heidenreich die Funktion des Auswerters zugefallen. Bei ihm liefen alle Informationen zusammen. Ein Wust von wichtigen und unwichtigen Angaben, die in irgendeinem Zusammenhang mit der Tat standen. Genau genommen hätte es für diese Arbeit eines Computers bedurft, doch wäre dessen Programmierung eine viel zu umständliche Angelegenheit gewesen, als daß sie einen Effekt versprochen hätte. Und Thal arbeitete nicht zum erstenmal in dieser Funktion. Er verlor nicht den Kopf, wenn in den ersten vierundzwanzig Stunden nach einer Tat die Informationen wie eine Sintflut über ihn hereinbrechen, weil in diesem Zeitraum eben noch alles von Wichtigkeit sein kann. Mit erstaunlicher Umsicht und Gelassenheit registrierte er Namen, Adressen, Spuren, Uhrzeiten, Telefonnummern und Hunderte anderer Daten, brachte sie in einem System unter, in dem er sich jederzeit mit einer ans Schlafwandlerische grenzenden Sicherheit die notwendigen Angaben herausholte oder, wenn sie als nicht mehr von Wichtigkeit erkannt waren, strich. Hinzu kam sein außerordentliches Gedächtnis, von dem er selbst sagte, daß es ihm oft eine Last sei, weil es sich wei120
gere, bestimmte Texte zu loschen. Manchmal kam er sich wie ein Computer auf zwei Beinen vor. Dabei hatte er die Ausprägung seines Gedächtnisses einer langwierigen Erkrankung seiner Schultergelenke zu verdanken, die ihn zwang, während dreier Schuljahre sowenig wie möglich zu schreiben, weil Schreiben zu einer äußerst schmerzhaften Angelegenheit geworden war und außerdem die Entzündung am Abklingen hinderte. Blieb ihm, wollte er nicht wichtige Jahre verlieren, nur ein eisernes Gedächtnistraining. In seiner Arbeit als Kriminalist ein unbezahlbarer Vorzug. Ebner war schon des öfteren in Versuchung gewesen, Leutnant Thal sozusagen auf Dauer mit der Arbeit des Auswerters zu betrauen, fand es aber nicht fair, einen guten, intelligenten Mann einseitig einzusetzen. Diesmal jedoch war er heilfroh, ihn als Auswerter an seiner Seite zu haben. Er konnte sich nur weniger Fälle erinnern, bei denen die Zahl der möglichen Bezugspersonen derart groß gewesen war. Genau genommen fiel ihm nur der ermordete Pächter einer öffentlichen Toilette in der Stadtmitte ein, wo sich begreiflicherweise gleichfalls die Notwendigkeit ergeben hatte, einer unglaublichen Zahl von Spuren nachzugehen. Die Ironie bei solchen Fällen lag häufig darin, daß die Täter sich am Ende meistens aus einem Personenkreis rekrutierten, der in großer Nähe zum Opfer stand. Doch selbst wenn man daraus hätte eine Regel ableiten wollen, könnte man auf die Ver121
folgung aller anderen Spuren nicht verzichten, weil eben keine Regel ohne Ausnahme war. Ebner hatte den Leutnant noch kaum Platz nehmen lassen, als das Telefon läutete. Unwillig wegen der Störung, nahm er den Hörer ab. Man teilte ihm mit, daß der verschwundene Quartalstrinker Müller aufgefunden und ob seines Gesundheitszustandes in ein Krankenhaus eingeliefert worden war. »Vernehmungsfähig?« wollte Ebner wissen. »Vor heute abend kaum.« »Dann laßt ihn sich in Ruhe seinen Rausch ausschlafen. Der Erkennungsdienst soll sich mal schon mit ihm befassen.« Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, ging Ebner ins Vorzimmer, um die Sekretärin anzuweisen, ihm jede Störung vom Halse zu halten, solange er mit dem Auswerter zusammensaß. »Sie dürfen uns aber gern mit einer Kanne Tee noch einmal stören«, sagte er. »Für Sie ist ein Strauß Rosen abgegeben worden«, sagte die Sekretärin. »Tüchtiger Junge, unser Genosse Kriminalmeister. Ist ja ein prachtvoller Strauß. Haben Sie die Besuchszeiten im Krankenhaus erfahren können?« »Besuchszeiten sind täglich von siebzehn bis achtzehn Uhr. Sie dürfen aber auch außerhalb der Besuchszeiten zu Ihrer Frau.« »Haben Sie diese Ausnahme erwirkt?« »In dem Punkt sind die Ärzte recht großzügig«, 122
antwortete die Sekretärin. »Ich weiß das, weil mein Vater dort auf Station gelegen hat.« »Sie sehen blaß aus, Evelyn. Hat Sie die Grippe etwa auch am Wickel?« »Wer hat denn bei dem Wetter keine Erkältung? Sie sehen auch nicht gerade gesund aus.« »Das beste wird sein, wir machen den Laden hier dicht!« Ebner ging zurück in sein Zimmer zu dem wartenden Leutnant. »Was gibt es Neues?« fragte er. »Legen Sie los!« »Die Inventur hat einen Fehlbetrag von genau eintausendeinhundertunddreiunddreißig Mark ergeben.« »Hmm«, brummte Ebner nachdenklich. »Das bedeutet nicht, daß die gesamte Summe entwendet sein muß, denn erstens sind kleinere Fehlbeträge nichts Ungewöhnliches, und zweitens läßt sich nicht klären, wie genau Frau Heidenreich die Gelder aus der Lotto-Annahme und ihre Privatgelder auseinandergehalten hat. Für sie war das ja nicht wichtig. Am Ende der Woche mußte lediglich die Abrechnung stimmen. Woher sie das Geld nahm, interessierte keinen.« »Mit anderen Worten, die eintausendeinhundertdreiunddreißig Mark besagen für unsere Ermittlungen so gut wie gar nichts?« »So ungefähr«, sagte Thal und nickte zustimmend. »Es lag ja noch einiges an Geld in der Wohnung.« »Zumindest brauchen wir uns nicht mehr dem 123
Glauben hinzugeben, die alte Dame sei wegen ihrer Reichtümer umgebracht worden. Weshalb aber dann?« »Wenn ich es wüßte, ich würde es Ihnen sagen.« »Das will ich hoffen«, bemerkte Ebner mit einem Lächeln. »In Sachen Garagen hat sich herausgestellt, daß die Garage Numero sieben einem gewissen Herrn Schilling gehört.« »Der Mann scheint ja überall seine Brötchen zu backen.« »Die anderen Garagenbesitzer können alle einwandfreie Alibis für die Tatzeit auf den Tisch legen.« »Tröstlich«, merkte Ebner an. »Sie behalten die Namen aber noch griffbereit im Speicher.« »Selbstredend. Wegen eines perfekten Alibis wird bei mir noch lange nicht radiert.« »Wer war denn nun beim Leichenschmaus in der Sportlerklause versammelt? Um wen ging es eigentlich? Ich meine, wessen Fell wurde versoffen?« »Ein ehemaliger Bäckermeister aus der Gegend war beerdigt worden. Die Überprüfungen der Gäste laufen noch. Bis jetzt keinerlei Anhaltspunkte, daß sich unser Täter in Trauerkleidung mit an die Tafel gesetzt hätte. Interessant ist lediglich die Aussage der Bedienung. Hier ist das Befragungsprotokoll.« Bevor Ebner sich in die Lektüre des Protokolls vertiefen konnte, kam die Sekretärin mit dem Tee ins Zimmer. 124
»Draußen wartet ein Zeuge«, sagte sie. »Und was hat er auf dem Herzen?« fragte Ebner. »Er will eine verdächtige Person gesehen haben. Eine Frau.« »Wieder eine Frau!« sagte Ebner. »Na gut, er soll ein wenig warten.« »Er hat nicht viel Zeit, sagt er. Er ist Friseur und muß ins Geschäft zurück.« »Ist Hauptmann Wustlich greifbar?« »Nein.« »Dann muß der Herr Friseur wohl oder übel ein Viertelstündchen seiner Geschäftszeit opfern. Drücken Sie ihm mein Bedauern darüber aus.« »Ich werde ihn fragen, ob er mich nicht in der Zeit frisieren kann«, sagte die Sekretärin. »Ich will schon seit Unzeiten zum Friseur und komme nie dazu.« »Machen Sie für mich auch gleich einen Termin aus«, sagte Thal, »mir geht es wie Ihnen.« »Vielleicht stellt Maigret ihn fest an«, bemerkte die Sekretärin im Abgehen. Ebner goß sich Tee ein, trank einen Schluck und vertiefte sich in die zwei Protokolle, die ihm der Leutnant gereicht hatte. Das erste enthielt die Aussage eines Kindes, gemacht in Anwesenheit beider Eltern: »Ich habe am gestrigen Tage gegen vierzehn Uhr zehn bis vierzehn Uhr fünfzehn unsere Wohnung in Dresden-Blasewitz, Mendelssohnallee zweiundvierzig, verlassen. Ich sollte meinen Bruder vom Hort abholen. Als ich auf 125
der Straße war, sah ich zur Sportlerklause in der Triskauer Straße hinüber, weil meine Mutti dort war, und ich dachte, daß ich sie vielleicht sehe. Ich sah aber aus der dortigen Ausfahrt eine junge Frau kommen. Diese Frau fiel mir auf, weil sie ziemlich schnell ging. So als ob sie noch eine Straßenbahn erreichen wollte. Ich kann diese Frau wie folgt beschreiben: Alter sechsundzwanzig bis siebenundzwanzig Jahre. Größe, größer als Vati. Eins achtundsiebzig. Aber mit ihren Schuhen. Und die Schuhe waren mit Absatz. Sie waren zum Hineinschlüpfen. Sie hatte durchsichtige Perlonstrümpfe an. Sie trug einen Mantel. An die Farbe des Mantels kann ich mich nicht genau erinnern, aber es könnte graublau gewesen sein. Sie hatte lange schwarze Haare, die bis zum Nacken reichten. Die Haare waren nach innen gelegt. Innenrolle. Die Frau hatte auch einen Pony. Sie war ziemlich stark geschminkt. Das fiel mir auf. Die Lippen hatte sie angemalt. Und an den Augen war sie angemalt (Lidschatten). Die Frau war schlank. Die Frau hatte eine Umhängetasche bei sich. Sie war dunkel und hatte vorn drei Fächer zum Öffnen. Diese Tasche trug sie in der Hand. Sonst hat sie meiner Meinung nach nichts weiter bei sich gehabt. Diese Frau ist aus der Ausfahrt gekommen, ist dann in Richtung Friedensplatz gelaufen. Sie hat nur geradeaus geblickt. Sie hat sich nicht umgesehen. Ich habe dann nicht weiter auf die Frau geachtet und bin 126
zum Hort und habe meinen Bruder abgeholt. Ich muß noch ergänzen, daß ich die Frau von der anderen Straßenseite aus gesehen habe. Ich habe sie so schräg über die Straße sehen können. Am Abend habe ich von dem Vorfall mit der Frau Heidenreich gehört. Ich war sehr erschrocken, denn ich kannte die Frau. Dann fiel mir gleich diese junge Frau ein. Ich dachte, daß sie es vielleicht gewesen sein könnte, und habe meinen Eltern von ihr erzählt, ich meine, wie ich sie da habe aus der Einfahrt herauskommen sehen. Und weil sie es so eilig hatte und weil sie nicht nach links und nach rechts geschaut hat. Ich habe diese Frau nie vorher gesehen. Ich würde diese Frau wiedererkennen, wenn sie die gleichen Sachen anhätte und auch so geschminkt wäre. Ich habe an der Befragung meiner Tochter teilgenommen. Ich habe das Protokoll selbst gelesen. Der Inhalt entspricht den Aussagen meiner Tochter. Ihre Worte wurden darin richtig wiedergegeben. Günter Menge« »Vernehmungsprotokoll der Zeugin Menge geborene Kiel, Barbara. Geboren 12. 6. 45. Tätig als Serviererin in der Sportlerklause, Dresden-Blasewitz, Triskauer Str. 35. Wohnanschrift: DresdenBlasewitz, Mendelssohnallee 42. Ausgewiesen durch PA Nr. IX/617 88 52 Die Zeugin erscheint freiwillig. Am 28. 11. gegen dreizehn Uhr dreißig habe ich die Sportlerklause in der Triskauer Straße aufgesucht, um mit der Arbeit zu beginnen. Ich mußte den Raum 127
heizen und Vorbereitungsarbeiten für eine Feier erledigen. Für eine Trauerfeier, die so ungefähr gegen vierzehn Uhr dreißig beginnen sollte. Es war die Trauerfeier für den verstorbenen Bäckermeister Malzahn aus der Frankenstraße. Es sollten etwa fünfzig Trauergäste kommen. Vierzig sind aber nur erschienen. Punkt vierzehn Uhr bin ich noch mal zurück zu meiner Wohnung. Mir fehlten Tortenheber, und die wollte ich aus meiner Wohnung holen. Ich habe noch auf meine Armbanduhr geguckt. Auf der Straße stellte ich fest, daß das linke Fenster der Wohnung von Frau Heidenreich offen stand. Ich wunderte mich, denn Frau Heidenreich hätte doch schon wieder in ihrer Annahmestelle sein müssen. Ich spiele ziemlich regelmäßig bei ihr im Lotto, deswegen weiß ich, daß sie im allgemeinen pünktlich den Laden aufmacht. Zuvor, als ich den Garagenhof überquerte, stellte ich keine Person fest. In meiner Wohnung befand sich meine Tochter. Ich habe mich nur ganz kurze Zeit da aufgehalten. Meine Tochter ist jedoch schon vor mir aus der Wohnung gegangen. Ich habe sie dann noch auf der Triskauer Straße gesehen, sie lief in Richtung Friedensplatz auf dem linken Gehweg. Als ich kurz vor dem Garagenhof war, kam die Verkäuferin aus dem Kurzwarenladen herausgerannt und sagte, sie würde jemand suchen. Mich hat sie gefragt, ob ich nicht irgendwen gesehen hätte. Aber ich hatte nichts gesehen. Sie sagte dar128
aufhin, die Frau Heidenreich sei umgebracht worden. Und wir suchten zusammen den Hof ab. Da hing dann auch ein Bettlaken aus dem Fenster, das ich hatte offen stehen sehen. Es kam noch ein Volkspolizist hinzu, aber wir fanden niemand. Frage: Wann erzählte Ihnen Ihre Tochter von der Frau, die sie gesehen haben will? Antwort: Am Abend erzählte ich von der Frau Heidenreich und davon, wie wir im Hof gesucht hatten. Da sagte meine Tochter, daß sie eine Frau gesehen hätte, die aus dem Hof gelaufen kam, also aus diesem Zufahrtsweg zu den Garagen. Ich glaubte ihr nicht. Bemerken möchte ich hierzu, daß meine Tochter da noch nichts von mir von dem Bettlaken wußte, was aus dem Fenster der Frau Heidenreich gehangen hatte. Dann erzählte meine Tochter aber, wie die Frau ausgesehen hatte, und sie konnte sie so genau beschreiben, daß ich anfing, ihr zu glauben. Ich war bei der polizeilichen Vernehmung meiner Tochter dabei und kann bestätigen, daß ihre dort gemachten Angaben mit denen übereinstimmen, die sie am gestrigen Abend gemacht hat.« Als Ebner aufblickte, schob ihm Leutnant Thal zwei Porträtskizzen über den Tisch. Sie waren jeweils nach den Aussagen des Mädchens und nach den des jungen Mannes gemacht, der gestern von einer jungen Frau nach der Wohnung der »Lottofrau« gefragt worden sein wollte. Eine auffallende Übereinstimmung zeigte sich auf den ersten Blick in der Frisur, langes, 129
nach innen gedrehtes Haar und über der Stirn ein Pony. Ansonsten vermittelten sie den Eindruck zweier verschiedener Frauen. Die Erklärung dafür konnte in der großen Entfernung gesucht werden, aus der das Mädchen die Frau beobachtet hatte. Auf dem Porträt, das nach den Angaben des jungen Mannes gemacht worden war, hatte die Frau ein insgesamt eher derbknochiges Gesicht, während das Mädchen sie ganz offensichtlich fein und fast puppenhaft beschrieben hatte. Nun kannte Ebner die Vorliebe der Schulmädchen für Puppengesichter, wenn sie selber malten. Vielleicht gestalteten sie darin ihre Vorstellungen von Märchenprinzessinnen, oder sie blätterten zuviel Modezeitschriftenten. »Und was sagt Picasso? Hat er viel hinzuphantasieren müssen?« »Nein«, antwortete Thal, »beide Zeugen waren bei der Bestimmung der Details ausgesprochen sicher.« »Das Mädchen erwähnt, daß die Frau auffallend geschminkt gewesen ist. Weder an einer der Tassen noch an den Mundstücken der am Tatort gefundenen Zigaretten fanden sich Spuren von Lippenstift.« »Das ist richtig«, antwortete Thal. »Vielleicht hatte die Frau ihre Gründe, bei Frau Heidenreich in ungeschminktem Zustand zu erscheinen, vielleicht wollte sie damit einen ganz bestimmten Eindruck erwecken, wollte leidend aussehen oder in einem gesundheitlich schlechten Zustand. Außerdem gibt es 130
ältere Frauen, die mögen es nicht, wenn sich Jüngere schminken. Möglicherweise gehörte Frau Heidenreich zu dieser Gruppe, und die junge Frau wußte das. Nach der Tat aber sah sie sicher mitgenommen aus. Sie könnte sich im Spiegel betrachtet haben. Sie wird der Meinung gewesen sein, jeder könnte ihr die Tat vom Gesicht ablesen. Und also hat sie eine Maske aufgesetzt, will sagen, sie hat sich besonders stark geschminkt.« »An Ihnen ist ein Psychologe verlorengegangen«, sagte Ebner, »klingt sehr einleuchtend. Nur will mir um alles in der Welt nicht in den Kopf, wieso sich jemand auf der Straße nach der Adresse seines Opfers erkundigt.« »Seltsam ist das.« »Sind schon Informationen über den jungen Mann eingetroffen?« »Noch nicht. Wir wissen lediglich, daß er in einer großen Blumenhandlung angestellt ist. Er bringt vorwiegend Fleurop-Sendungen zu den Kunden.« »Lassen Sie mir das Protokoll mit seiner Aussage hier. Ich ziehe es mir nachher zu Gemüte. Jetzt möchte ich erst einmal hören, was uns dieser Friseur mitzuteilen hat. Sind sämtliche Mitarbeiter schon im Besitz der Porträtzeichnungen?« »Sämtliche. Auch der Kriminalmeister legt sie jetzt in den Blumenläden mit vor.« Der Friseur, der nun den Platz von Leutnant Thal einnahm, war ein 131
selbstbewußt auftretender Mann in den Vierzigern. Ebners Sekretärin hatte bereits die Angaben zur Person auf das Vernehmungsprotokoll eingetragen, so daß er gleich zur Sache kommen konnte. »Also, Herr Zude, was haben Sie uns zu sagen?« »Ja, das war so, ich habe gestern eine kleine Mittagspause gemacht und bin so gegen vierzehn Uhr – kann auch zehn Minuten nach zwei gewesen sein – aus dem hinteren Raum wieder nach vorn in den Kundensalon gekommen, um weiterzumachen. Von meinem Arbeitsplatz aus kann ich das Haus der Frau Heidenreich einmal direkt und dann noch mal im Spiegel sehen. Und ich habe da gestern ziemlich oft hineingeschaut, denn neben dem Haus ist der Zugang zur Sportlerklause, und da war doch der Leichenschmaus angesetzt. Ich kannte Malzahn ganz gut, na ja, was man eben so kennen nennt. Wir haben in der Weinbergschenke manchmal zusammen ein Bier getrunken. Er hätte genau genommen gar keins trinken dürfen. Überhaupt keinen Tropfen Alkohol, hat der Arzt gesagt. Aber wer steht das denn durch? Ich meine, was bleibt einem denn dann noch vom Leben? Na ja, es interessierte mich, wer da zum Leichenschmaus gehen würde, ich meine, wer eingeladen war. Deshalb habe ich immer mal wieder einen Blick in die Richtung geworfen. Ich hatte gerade eine Null-acht-fuffzehn-Dauerwelle zu machen, da kann man sich das leisten, die macht unsereins auch noch 132
im Schlaf. Und da habe ich eine Frau aus dem Zugang kommen sehen, die fiel mir auf, weil sie nämlich so ganz und gar nicht für einen Leichenschmaus gekleidet war. Ich hätte sie wahrscheinlich vergessen, wenn nicht diese schlimme Geschichte mit der alten Frau Heidenreich passiert wäre. Denn die Frau hat sich nicht etwa auffällig benommen. Sie stand nur da. Ich hatte den Eindruck, daß sie auf jemanden wartet. Später ist sie dann weggegangen.« »Haben Sie die Frau vor oder nach dem Eintreffen der Feuerwehr gesehen?« »Ich glaube, das war vorher.« »Sind Sie sich sicher?« »Ja, doch, das war bestimmt vorher. Nachher hat man sich doch nicht mehr für eine einzelne Person interessiert. Das war doch dann so ein Trubel.« »Können Sie die Frau beschreiben?« »Am meisten sind mir die Beine von der aufgefallen. Also so dürre Beine habe ich bei einer Frau überhaupt noch nie gesehen. Und dazu trug sie so ’ne Art Wanderschuhe.« »Wanderschuhe?« fragte Ebner interessiert. »Na ja, so Sportschuhe.« »Genauer geht es nicht?« »So genau habe ich nun wirklich nicht hingeschaut. Mir fiel nur auf, daß die Schuhe nicht zu den Beinen paßten, die waren viel zu plump. Vielleicht war sich die Frau gar nicht darüber im klaren, wie 133
dünn ihre Beine waren. Es gibt ja haufenweise Leute, die sich betreffs ihrer Person etwas vormachen. Und die wird ihre Beine immer ganz anders gesehen haben, denn sonst hätte sie nicht so derbe Schuhe dazu getragen. Also aus männlicher Sicht waren die Beine ausgesprochene Appetitsverderber. Besonders attraktiv war die Dame ohnehin nicht. Blaß und verkniffen im Gesicht. Die Nase ziemlich groß. Und eine Frisur, die überhaupt nicht gängig ist. Halblanges Haar. Hellblond. Möglicherweise blondiert. Zur rechten Augenbraue eine Rolle oder Welle.« »Wie alt könnte die Frau Ihrer Meinung nach gewesen sein?« »Anfang Dreißig, würde ich sagen. Schlanke Figur. Etwa eins fünfundsiebzig groß, also schätzungsweise, man kann sich in puncto Größe ja ziemlich vertun, aber größer war sie wohl nicht.« »War die Frau geschminkt?« »Nicht, daß ich wüßte. Nein, nein, sie war bestimmt nicht geschminkt. Sie war blaß. Und dann trug sie einen altmodischen Mantel mit einer Art Schalkragen in einem hellen bordeauxrot, also kein ausgesprochenes Rot, es tendierte eher zu Rosa. Kopfbedeckung trug sie keine. Sie hatte helle Strümpfe an. Und dann eben diese Quadratlatschen. Vielleicht sahen sie auch nur so groß aus, weil die Beine so dünn waren. Jedenfalls paßte da unten herum nichts zusammen.« 134
»Haben Sie diese Frau vorher schon einmal gesehen?« »Ja, vor einer Woche. Genau Freitag vor einer Woche kam sie bei uns vorbei und ging meiner Meinung nach in den Gemüseladen. Da hatte sie einen taillierten, glockenförmigen Tuchmantel an. Sah auch irgendwie abgetragen aus. Grau. Und überhaupt nicht in der Mode. Auf dem Kopf hatte sie eine Strickmütze in einem kräftigen Braun. Von den Haaren war nichts zu sehen.« »Sie sind ein genauer Beobachter, Herr Zude.« »In meinem Beruf muß man das sein. Ich meine, man kann den Frauen doch nicht irgendeine Frisur verpassen, die sich mit allem anderen beißt. Mit der Figur, mit dem Gesicht, mit der Kleidung und überhaupt mit dem ganzen Wesen. Manche wollen sich ja nicht beraten lassen, die kommen ’rein und sagen, ich will die und die Frisur. Und meistens paßt die Frisur dann wie die Faust aufs Auge. Aber da können sie nichts machen, das sind eben die, die sich selber immer falsch sehen. Und die Frau mit den dürren Beinen gehört bestimmt zu der Sorte, da fress’ ich ’nen Besen.« »Was hatte sie denn für einen Gang? Sie haben sie ja vorige Woche an Ihrem Salon vorbeigehen sehen.« »Gang? Das war überhaupt kein Gang. Die geht, als wenn sie bei Preußens wäre.« »Wie ein Dragoner?« 135
»Genau! Wie ein Dragoner geht die.« Ebner legte dem Friseur jetzt die beiden Porträtzeichnungen vor. »Könnte es eine dieser beiden Frauen gewesen sein?« Der Friseur schüttelte den Kopf. »Die haben ja eine ganz andere Frisur.« »Und wenn Sie sich die Frisur geändert denken?« Der Friseur schaute sich die Porträts erneut an. Doch schüttelte er wieder den Kopf. »Beim besten Willen«, sagte er, »aber das ist sie nicht. Die Nase vielleicht, aber sonst…« Ebner rief seine Sekretärin und bat sie, den Friseur zu »Picasso« zu bringen, der natürlich nicht Picasso hieß, aber von allen im Hause nur so genannt wurde, weil er sich darauf spezialisiert hatte, sogenannte Phantombilder zu zeichnen. Aus einer großen Zahl von Lippen, Augen, Nasen, Ohren, Bartformen und Frisuren, die als vorgefertigte Zeichnungsteile vorlagen, schob er sich zu Beginn seiner Arbeit, gemäß den Angaben der Zeugen, eine Grobskizze eines Gesichts zurecht, Identikit-Bild genannt. Später zeichnete er danach ein Porträt. Und nicht selten traf er die gesuchte Person sehr genau. Seine Porträtskizzen waren wichtige Hilfsmittel für alle Kriminalisten. Merkwürdigerweise beschäftigte er sich in seiner Freizeit keineswegs mit Malen oder Zeichnen, sondern mit Elektronik. Seine Wohnung stand meist voll mit zu reparierenden Rundfunkgeräten, Fernsehapparaten und Tonbandgeräten. Obwohl nicht recht einzusehen war, 136
weshalb die Frau, wenn sie die Täterin war, nach dem Mord an der alten Frau Heidenreich seelenruhig in der Einfahrt neben dem Hause Triskauer Straße 37 stehenblieb, fand Ebner die Aussage des Friseurs doch höchst wichtig, denn sie fügte sich in einigen Punkten sinnvoll in die Aussagen der Frau Perkuhn. Die derben Schuhe, die »Quadratlatschen«, wie sie der Friseur genannt hatte, und dazu der dragonerhafte Gang. Ebner schätzte die Aussagen von Zeugen, die durch ihren Beruf zu genauer Bebachtung gezwungen werden. Präzise und detailliert. Ohne Zutaten aus der eigenen Phantasie. Ohne Wichtigtuerei, wie wahrscheinlich bei den Schilderungen dieses Fleuropknaben, denen er sich nun wohl oder übel zuwenden mußte. »… der Zeuge erscheint freiwillig. Aussage: Ich wohne in dem Haus gegenüber von dem, wo die Frau Heidenreich wohnt. Ich kenne sie persönlich, weil wir immer unsere Lottoscheine bei ihr abgeben. Ich habe mit ihr auch gesprochen und weiß, daß sie gegenüber im ersten Stock wohnt. Am Donnerstag stand ich von dreizehn Uhr zehn bis dreizehn Uhr vierzig an der Straßenbahnhaltestelle, wenige Meter vom Eingang unseres Hauses. Eine Straßenbahn war ausgefallen, deshalb mußte ich so lange warten. Ich sah eine Frau, die in den Lottoladen der Frau Heidenreich wollte. Sie klingelte, klinkte und rüttelte an der Tür. Dann schaute sie durch die Fensterscheibe nach 137
innen. Schließlich schaute sie sich um und kam auf mich zu. Weil ich wegen des schlechten Wetters im Hauseingang stand, nahm sie vermutlich an, daß ich in dem Haus auch wohne. Es standen nämlich noch mehr Menschen an der Haltestelle und warteten auf die Straßenbahn. Sie kam und fragte: Können Sie mir mal sagen, wo die Frau vom Lottoladen wohnt? Ich antwortete: Die wohnt da schräg gegenüber! Da hat sie mich dann weiter gefragt, wie die Frau heißt. Ich sagte ihr den Namen der Frau Heidenreich. Danach ging die Frau in das Haus Triskauer Straße 37. Kurze Zeit später kam dann die Straßenbahn, und ich bin eingestiegen und zur Arbeit gefahren. Zur Beschreibung dieser Frau kann ich folgendes sagen: Sie müßte so an die vierzig Jahre sein, vielleicht auch jünger. Sie war in jedem Fall älter als meine Schwester (35) und jünger als meine Mutter (56). Sie war vollschlank. Etwa so groß wie ich. Ich bin eins fünfundsiebzig. Die Frau hatte lange dunkelblonde Haare. Einen kleinen Pony, der die Stirn nicht verdeckte. Die Ohren waren nicht sichtbar. Die Haare machten einen gepflegten, wenn auch vom Wind etwas zerflatterten Eindruck. Meiner Meinung nach waren sie toupiert. Sie hatte keine Locken. Ihr Gesicht war blaß. Sie schien zu frieren. Das Gesicht war länglich, und sie hatte eine lange, gerade Nase. Augenfarbe weiß ich nicht. Als sie von mir wegging, fiel mir auf, daß ihr das Haar bis zum Kragen ging. Sie trug einen 138
graublauen Mantel, helle Strümpfe und Schuhe mit hoher Sohle. Außerdem hatte sie einen dunklen Schirm und eine Stofftasche bei sich. Den Inhalt der Tasche konnte ich nicht erkennen. Ich möchte noch hinzufügen, daß die Frau gesagt hat, sie will der Frau Heidenreich etwas bringen. Das hat sie gesagt, bevor sie mich nach deren Namen gefragt hat…« Möglicherweise war das die letzte Person, die die Frau Heidenreich lebend gesehen hat, dachte Ebner. Mit Ausnahme des Mörders, versteht sich. Vielleicht hat sie sogar den Mörder gesehen. Sie hat der alten Dame irgend etwas gebracht und ist gleich wieder gegangen, denn Frau Heidenreich hatte Besuch. Eine mögliche Variante. Natürlich kann der Junge dies alles auch nur zusammengesponnen haben. Es wäre nicht das erste Mal, daß uns ein Wichtigtuer ein Märchen erzählt. Solche Zeugen melden sich bei jedem bekannt werdenden Fall. Sie wollen ins Rampenlicht und genießen es, daß man sich mit ihnen beschäftigt. Stammkunden der Kriminalpolizei in aller Herren Ländern. Man mußte abwarten, was der Hintergrund dieses Fleuropknaben hergab. Statt zum Mittagessen in die Kantine begab sich Ebner zu seiner Frau ins Krankenhaus. Es war nicht die beste Zeit für einen Krankenbesuch. Die Schwestern waren vollauf mit der Ausgabe des Essens beschäftigt. Ebner mußte lange warten, bis die Stationsschwester sich seiner annahm. Nachdem er ihr seine Absicht 139
verkündet hatte, schüttelte sie den Kopf. »Das geht nicht«, sagte sie. »Und weshalb nicht?« fragte Ebner. »Da müssen Sie warten, bis der Oberarzt kommt.« »Wie lange wird das denn dauern?« »Weiß ich nicht. Der Herr Oberarzt hat Mittagspause.« »Ich auch.« »Das ist etwas ganz anderes.« »Wieso?« »Sind Sie Arzt?« »Nein«, antwortete Ebner, »was hat das damit zu tun?« »Na, Sie sind hier in einem Krankenhaus. Sie wissen doch, wann Besuchszeit ist. Ein Arzt hat ein Recht auf seine Mittagspause. Ich meine, ich kann doch nicht loslaufen und den Herrn Oberarzt holen.« »Das verlange ich gar nicht. Oder habe ich so etwas verlangt? Ich möchte lediglich meine Frau sehen; möchte wissen, wie es ihr geht.« »Dafür gibt es die Besuchszeit. Ihrer Frau geht es den Umständen entsprechend gut.« »Was heißt das: den Umständen entsprechend?« »Sie hätten sie eher ins Krankenhaus bringen sollen. Mit einer Lungenentzündung ist nicht zu spaßen.« »Genau das habe ich ihr auch gesagt.« »Sie wußten also, daß Ihre Frau eine Lungenent140
zündung hat?« »Nein, das wußte ich nicht, sonst hätte ich sie sogar unter Anwendung von Gewalt bei Ihnen eingeliefert. Ich habe ihr gesagt, daß mit einer Grippe nicht zu spaßen ist. Heutzutage. Wegen der Viren.« »Sie haben Glück«, sagte die Stationsschwester. »Der Oberarzt kommt.« Nachdem sich Ebner vorgestellt hatte, gestattete der Oberarzt einen kurzen Besuch. »Fünf Minuten«, sagte er, »mehr nicht. Wir bringen Ihre Frau schon über den Berg. Dazu ist vor allem Ruhe nötig.« Ebner nickte, und die Schwester wies ihm den Weg zum Krankenzimmer seiner Frau. Es war ein Dreibettzimmer. Zwei Frauen drehten ihr Gesicht bei seinem Eintritt zur Tür. Seine Frau lag im Bett am Fenster und hielt die Augen geschlossen. »Guten Tag«, sagte Ebner und wickelte die Rosen aus dem Papier. Beim Klang seiner Stimme öffnete seine Frau die Augen und bemühte sich um ein kleines Lächeln. Sie sah nicht unbedingt krank aus, nur sehr müde. »Na, altes Mädchen«, sagte Ebner und trat an ihr Bett. »Wo hast du denn die schönen Rosen her?« »Dienstgeheimnis.« »Eine Vase hast du nicht mitgebracht?« »Nein«, antwortete Ebner, »muß man das?« »Da vorn in der Waschecke steht ein Konserven141
glas, da kannst du sie hineinstellen.« »Nehmen Sie doch die Vase da!« sagte die Frau, die in der Mitte lag. »Sie gehört mir, aber es gibt ja keine Blumen. Sie dürfen sie gern nehmen. Rosen gehören doch nicht in ein Konservenglas.« »Danke«, sagte Ebner und ging zur Waschecke, um die Vase mit Wasser zu füllen. »Wie geht es dir?« fragte ihn seine Frau. »Großartig«, antwortete Ebner, »endlich allein.« »Ich dachte es mir.« »Brauchst du etwas? Soll ich dir etwas bringen?« Sie schüttelte den Kopf. »Hast du auf irgend etwas Appetit?« fragte Ebner. »Kompott oder so?« »Nein, nein, ich brauche wirklich nichts.« »Wenigstens einen Fensterplatz hast du.« »Hat der Arzt dir gesagt, wie lange er mich hierbehalten will?« »Er will abwarten, bis es draußen wieder wärmer wird.« »Was hat er gesagt?« fragte sie unwillig. »Du hättest ihn ein paar Tage früher mit deiner Anwesenheit beehren sollen.« »So schlecht ging es mir doch gar nicht.« »Weil du um jeden Preis die Bibliothek offenhalten wolltest.« »Es kommt immer anders, als man denkt.« Ebner blickte auf die Uhr. Fünf Minuten waren keine lange 142
Zeit. Seine Frau hielt wieder die Augen geschlossen. Das Gespräch schien sie anzustrengen. »Tja, ich muß wieder…«, sagte Ebner und strich seiner Frau über die Stirn. Sie schien noch immer Fieber zu haben, denn die Stirn faßte sich heiß an. »Hast du denn schon zu Mittag gegessen?« fragte sie. »Habe ich«, log er. »Also noch nicht«, sagte sie. »Paß auf dich auf.« »Ich gebe mir Mühe.« »Und gießt du ab und zu die Alpenveilchen im Wohnzimmer?« »Mach dir wegen der Alpenveilchen keine Sorgen.« »In der Bibliothek habe ich anrufen lassen.« »Verdammt!« sagte Ebner. »Daran habe ich nicht gedacht.« »Schon gut. Du solltest Frau Krönke die Schlüssel zur Wohnung geben.« »Mache ich. Vielleicht sind die Alpenveilchen bei ihr besser aufgehoben.« »Du mußt nicht jeden Tag kommen.« »Willst du dich von meinem Anblick erholen?« »Du Dummkopf,« sagte sie und lächelte ihn an. »Laß dich überraschen«, sagte Ebner, »und erhole dich.« »Ach, mir geht es hier drin nicht schlecht, wenn nur das zeitige Wecken nicht wäre.« 143
»Ich kenne das. Die guten alten Krankenhaussitten. Tu so, als ginge es dich nichts an.« Ebner beugte sich zum Abschied über sie und küßte sie auf die Stirn. Wieder in seinem Dienstzimmer, fand er eine interessante Nachricht vor. Die von dem Friseur gesehene und beschriebene Frau war von Frau Perkuhn, der Verkäuferin im Kurzwarenladen Karsch, eindeutig als die Tochter der ehemaligen Ladenbesitzerin erkannt worden. Als sie zur Unterzeichnung des Befragungsprotokolls erschienen war, hatte man ihr die eben erst fertig gewordene Porträtskizze vorgelegt und sie gefragt, ob sie diese Frau in der letzten Zeit in der Triskauer Straße gesehen hätte. »Hier wimmelt es nachgerade von Frauen«, sagte Ebner zu Wustlich, der ihn bereits erwartet hatte, um das weitere Vorgehen mit ihm zu koordinieren und ihn von seinen Ermittlungen über Herrn Schilling in Kenntnis zu setzen. »Wir dürfen jetzt eine auswählen«, sagte Wustlich. »Welche würdest du denn nehmen?« fragte Ebner, während er die drei vor ihm liegenden Frauenporträts betrachtete. »Sind alle nicht nach meinem Geschmack.« »Was gefällt dir nicht an ihnen?« »Keine einzige mit ’nem Grübchen.« »Weiß man’s. Vielleicht haben diese Damen ihre Grübchen nicht im Gesicht.« »Was macht denn deine Frau?« 144
»Am liebsten würde sie spätestens Montag wieder in die Bibliothek gehen. Der Arzt sagt, sie sei noch nicht über den Berg.« »Hat sie wenigstens ein vernünftiges Zimmer?« »Fensterplatz. Nichtraucher. In Fahrtrichtung. Die beiden anderen Plätze sind ebenfalls belegt.« »In der Kantine gibt es übrigens Zitronen«, sagte Wustlich. »Gab es«, korrigierte ihn die eintretende Sekretärin. »Sind schon wieder alle. Ich habe Ihnen drei Stück gekauft, Genosse Hauptmann.« »Besten Dank.« »Und hier sind paar belegte Brötchen. Tee kommt gleich.« »Wenn ich Sie nicht hätte …«, sagte Ebner. »… und die großen Kartoffeln. Hier schickt Ihnen Leutnant Thal die Auskünfte über den Fleuropboten«, sagte die Sekretärin. »Und außerdem wartet die Zeugin Schmidt draußen.« »Schmidt?« fragte Ebner. »Frau Dora Schmidt aus Klotzsche.« »Ach, die Zweihundertmark-Dame.« »Ich habe ihr schon gesagt, daß sie sich gedulden muß. Erst müssen Sie etwas essen.« »Und während du ißt, erzähle ich dir von Herrn Schilling«, sagte Wustlich. »Wenn es mir nicht auf den Magen schlägt.« »Tut es nicht«, erwiderte Wustlich. »Schilling ist 145
ein angesehener Mann in seinem Betrieb.« »Augenblickchen noch«, unterbrach ihn Ebner. »Laß uns vorher noch rasch lesen, wes Geistes Kind der Blumenjunge ist.« »Du hast was gegen ihn?« »Wie kommst du darauf? Nicht im geringsten. Daß er aus der sechsten Klasse abgegangen ist, wie ich hier lese, muß ja nicht bedeuten, daß er außerstande ist, eine Frau zu beschreiben.« »Und er ist zurückhaltend. Kein Aufschneider. Kein Prahlhans. Bescheiden und höflich. Zuverlässig in seiner Arbeit.« »Und in der Schule inaktiv. Hat oft gefehlt. Seine ehemalige Klassenlehrerin nennt ihn wehleidig.« »Sie kann sich jedoch nicht erinnern, daß er jemals gelogen hätte. Dazu sei er von der Person her nicht geeignet.« »Was immer das auch bedeuten mag.« »Jedenfalls gehört er nicht zu den Wichtigtuern. Ich nehme seine Aussage Wort für Wort ernst.« »Ja«, sagte Ebner, »das muß man wohl. Und je öfter ich das Porträt anschaue, das Picasso nach den Angaben dieses Knaben gemalt hat, desto mehr verstärkt sich in mir das Gefühl, der Dame schon einmal begegnet zu sein.« »Tatsächlich?« »Entweder ihr persönlich oder einer Frau, die ihr dann aber verdammt ähnlich sah. Wenn ich nur wüß146
te, wann und wo.« »Verkrampf dich nicht. Laß es denken, dann fällt es dir schon ein.« »Ich lass’ es schon seit Stunden denken. Leider ohne Erfolg. Erzähle weiter von Herrn Schilling! Müßte er nicht bald auftauchen?« »Ist wohl noch zu früh.« »Dabei ist es dunkel draußen wie am Abend.« »Schilling hat eine höchst interessante Beschäftigung, er ist nämlich Beschaffer. Eine Planstelle dafür gibt es natürlich nicht. Offiziell gehört er in die Abteilung Produktionsvorbereitung des Betriebes. Und genau genommen gehört er da ja auch hin. Er fährt einen Wartburg-Kombi. Es ist dies sein Privatwagen, doch er benutzt ihn auch dienstlich. Möglicherweise vorwiegend dienstlich, denn in seinem Haushalt gibt es außerdem noch einen Mazda. Formal gehört dieser Mazda wohl seiner einundzwanzigjährigen Tochter, wird aber meist von ihm gefahren. Seit vielen Jahren geschieden. Tennisspieler. Besitzer eines Wochenendgrundstücks bei Radeburg. Im Betrieb von seinen Chefs gut angesehen. Sie behaupten, er mache das Unmögliche möglich. Wenn irgend etwas fehlt, sagen sie, weiß Schilling nicht nur, wo es zu beschaffen ist, sondern auch wie.« »Haben sie dir das gesagt?« »Die werden sich hüten«, meinte Wustlich. »Das habe ich über drei Ecken in Erfahrung gebracht. Die 147
Lektüre der offiziellen Beurteilungen überlasse ich gern dir. Solche Jobs, wie Schilling ihn ausübt, gibt es meines Wissens in mindestens jedem dritten VEB. Aber, wie schon gesagt, es gibt die Planstelle nicht. Seine gesamte Tätigkeit, einschließlich der Benutzung des privaten PKW für Dienstfahrten, wird mit Sicherheit aus Fonds finanziert, deren Gelder für anderes vorgesehen sind. Ich glaube nicht, daß Schilling seinen Wartburg für das vorgeschriebene Kilometergeld in die Schlacht wirft. Er wird es uns sicher nicht verraten, wieviel ihm dafür gezahlt wird, aber ich habe nicht den Eindruck, daß er ein Mann ist, der Miese macht. Vielleicht darf er mehr Kilometer anschreiben, als er fährt; vielleicht darf er mitfahrende Personen berechnen, die nicht mitfahren, vielleicht darf er auch mehr Kilometer und mitfahrende Personen berechnen. Weiß der Teufel! Und dann hat Beschaffung ja auch meist etwas mit kleinen Gefälligkeiten zu tun. Eine Hand wäscht die andere nicht umsonst.« »Wenn ich dich richtig verstehe, bewegt sich der Mann in den kleinen Grauzonen unserer sozialistischen Wirtschaft?« »Wie immer hast du das Tüpfelchen bereit, das meinem noch fehlt. ,Grauzonen unserer sozialistischen Wirtschaft’ – sehr schön gesagt.« »Ich sprach von den kleinen Grauzonen«, korrigierte ihn Ebner. »Und ich habe nicht gesagt, daß 148
Herr Schilling in dem Punkt gegen die Gesetzlichkeit verstößt. Wenn ich Werkleiter wäre, ich beschäftigte mit großer Wahrscheinlichkeit auch einen Herrn Schilling, denn ich vermute, es geht nicht ohne sie. Man muß ihnen hin und wieder eins auf die Finger geben, damit sie nicht zu übermütig werden und sich womöglich zu Schiebern entwickeln, aber auf sie verzichten kann man nicht.« »Ja, ja«, kommentierte Wustlich, »wer den Schilling nicht ehrt, ist die Jahresendprämie nicht wert.« »Bis Ende der fünfziger Jahre war die Zeit der wenigen großen Improvisateure. Jetzt ist die Zeit der vielen kleinen Improvisateure.« »Dennoch wüßte ich gern, was unseren Herrn Schilling bewog, der Frau Heidenreich zu helfen. Bei ihr war doch mit Sicherheit nicht viel zu holen.« »Ich kann es dir nicht sagen, Karl. Aber vielleicht verrät er es uns. Denke an die Jugendstilmöbel!« »Wie geht es weiter?« fragte Wustlich. »Frag mich nicht immer so schwierige Sachen. Es geht gar nicht weiter. Wie angestemmt, der Laden. Wenn nur das Labor mehr Dampf aufmachen würde! Bis zur Stunde wissen wir nicht, ob wir nach einer Frau oder nach einem Mann suchen müssen. Fielen in dem Punkt die Würfel, könnten wir in jedem Fall allerhand Verdächtige aus der Liste streichen.« »Haben wir denn überhaupt verdächtige Frauen?« »Nur den ,Dragoner’.« 149
»Soll ich mir das schöne Kind aus der Nähe ansehen?« »Hinfahren?« »Wird das Beste sein.« »Nein, wir werden sie holen lassen. Ich habe das Gefühl, es wird hier in den nächsten zwei, drei Stunden reichlich zu tun geben. Du weißt wahrscheinlich noch nicht, daß dein Freund vom Kohlenplatz ein blaues Auge durch die Gegend trägt.« »Der alte Nitzschke?« »Nicht doch, der junge Günter.« »Und wer beschäftigt sich mit ihm?« »Oberleutnant Richter.« »Hat Günter ein Alibi?« »Ja und nein. Er hat in der fraglichen Zeit in seiner Wohnung ein Schläfchen gemacht.« »Das heißt, er hat keine Zeugen?« Ebner nickte. Die Sekretärin brachte den Tee. »Ein Herr Karsch möchte Sie sprechen«, sagte sie. »Wie im Taubenschlag«, sagte Ebner, »man braucht nur dazusitzen und zu warten. Gegen Abend kommen alle Täubchen angeflogen.« »Hoffentlich ist auch die eine gebratene dabei, auf die wir scharf sind!« bemerkte Wustlich. Aus dem Vorzimmer erklang das Läuten des Telefons. Die Sekretärin ging an Ebners Schreibtisch, schaltete das Telefon um und meldete sich. »Das Krankenhaus!« sagte sie und reichte Ebner 150
den Hörer. »Meine Frau?« fragte Ebner erschrocken. »Nein, nicht das Johannstädter Krankenhaus.« Ebner nahm den Hörer und hätte ihn wenig später um ein Haar fallen lassen. »Großartig!« rief er wütend aus. »Großartiger geht es gar nicht mehr. Müller hat sich vor wenigen Minuten das Leben genommen. Aufgehängt in der Toilette. Kurz vorher hat ihn noch seine Frau besucht.« »Uns erzählt man, er wäre vor abend nicht vernehmungsfähig, aber seine Frau geht ihn besuchen. Mit Sicherheit hat sie versucht, von ihm zu erfahren, wo er am Donnerstagnachmittag war. Verdammt, verdammt, das hätte ich mir doch denken können, daß sie zu ihm rennt!« »Nein«, sagte sie, »nein, er hat mir nichts gesagt. Er hat überhaupt nicht mit mir geredet. Nicht einmal angesehen hat er mich.« Frau Müller war verzweifelt und zornig in einem. Manchmal konnte man auch denken, sie fühle sich erlöst. Vor allem aber weinte sie und schneuzte sich in einem fort die Nase. »Er hat nur Schande über uns gebracht«, sagte sie. »Nur Schande.« »Sie hätten es uns überlassen sollen, Ihren Mann zu befragen«, sagte Ebner. »Ihnen hätte er erst recht nichts gesagt.« »Sie hielten es demnach für möglich, daß er Frau Heidenreich aufgesucht hatte …« »Eigentlich nicht, denn er mußte ja damit rechnen, 151
daß ich ihn sehe. Aber wenn er trank, war ihm sowieso alles egal. Eine Schande. So eine Schande.« »Neigte Ihr Mann zu Gewalttätigkeiten, wenn er getrunken hatte?« »Mir hat er nie etwas getan. Er konnte keiner Fliege was zuleide tun.« »Sie haben auch nie von Gewalttätigkeiten gehört, die er außerhalb, beispielsweise in Gaststätten, verübt hätte?« »Nein, nie.« »Ihr Mann war Raucher?« »Ja.« »Kaffeetrinker?« »Das war schon kein Kaffee mehr, das war – da stand der Löffel drin.« »Mokka?« »Reinster Mokka«, bestätigte sie. »Mein Gott, die Leute im Haus! Ich weiß nicht, wie ich das überstehen soll. Ich kann ja niemandem mehr ins Gesicht sehen. Aber so war er immer. Rücksichtslos, wenn es ums Ansehen der Familie geht. Das war ihm immer egal. Ich glaube, ich ziehe hier weg. Würden Sie an meiner Stelle nicht genauso handeln? Ich meine, da bleibt einem doch gar nichts anderes übrig, als die Wohnung zu tauschen. Weit weg. Nur weit weg.« »Es wird Sie sicher noch mehr aufregen, Frau Müller, aber ich muß Sie fragen, ob Sie sich erklären können, wie der Schlüssel zur Wohnung der Frau 152
Heidenreich in die Jackentasche Ihres Mannes gelangt sein kann.« »Ein Schlüssel?« fragte sie entgeistert. »Mein Mann hatte einen Schlüssel zur Wohnung von Frau Heidenreich?« Ebner nickte. Sie wollte irgend etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Irgendwie fehlte ihr die Luft. Ihr Gesicht wurde starr und verlor zunehmend die Farbe. Ebner führte sie sicherheitshalber zu einem Sessel. Es war nicht schwer, sich auszumalen, was jetzt im Kopf der Frau vorging. Ihr Mann war unterwegs gewesen, hatte getrunken. Sie wußte nicht, wo. Mit Sicherheit hatte er gestern fast kein Geld mehr gehabt, um das weitere Trinken zu finanzieren. Wenn er endlich gefunden und ins Krankenhaus gebracht wird, beeilt sie sich, von ihm zu erfahren, wo er gestern nachmittag war. Sie drängt und drängt, aber er würdigt sie keiner Antwort. Kaum hat sie das Krankenhaus verlassen, geht er zur Toilette und erhängt sich. Und nun besitzt er auch noch einen der drei Schlüssel zur Wohnung der Frau Heidenreich. »Soll ich einen Arzt rufen?« fragte Ebner. »Nein«, entgegnete sie und schob Ebner beiseite. »Bloß das nicht, bloß nicht jetzt auch noch einen Arzt! Ist denn nicht genug Aufsehen gemacht worden? Und jetzt noch ein Krankenwagen, wie?« Sie war wieder voll da. Ihre Hauptsorge galt ihrem Ruf, ihrem Ansehen. Sie wollte um alles in der Welt eine anständige Frau bleiben. 153
»Ich komme schon zurecht«, sagte sie. »Um mich machen Sie sich keine Sorgen. Was soll denn nun mit meinem Mann werden?« Ebner blickte sie fragend an. »Na, ich meine, wollen Sie ihn als Mörder unter die Erde bringen? Nur weil er einen Schlüssel in der Tasche hatte …« »Es hängt nicht von uns ab, welchen Nachruf Ihr Mann mitbekommt, Frau Müller. Wir können die Uhr nicht zurückdrehen. Geschehenes kann nicht ungeschehen gemacht werden.« »Wenn er es aber nicht war?« »Das wird sich herausstellen. Der Täter hat Spuren hinterlassen. Und es gibt hinreichende Vergleichsmöglichkeiten. Zu diesem Zwecke mußten wir übrigens vorläufig die Bekleidung Ihres Mannes einbehalten.« »Mein Gott, was hat er denn da jetzt an?« Ebner schwieg. Er hatte das Gefühl, es sei das die schwierigste Frage, die ihm jemals gestellt worden war. »Machen wir weiter, oder machen wir uns ein ruhiges Wochenende?« fragte Wustlich, als sie in ihrem »Stabsquartier« in dem VP-Kreisamt wieder zusammentrafen. »Verführerischer Gedanke«, meinte Ebner. »Was aber wird mit unseren Besuchern da draußen?« »Ja, die Täubchen. Ich habe sie alle miteinander hierherbringen lassen. Genauer gesagt, hatte der Herr 154
Karsch die Freundlichkeit, unsere Mutter Schmidten aus Klotzsche in seinem Dacia mitzunehmen. Sie hat ihre Aussagen bereits gemacht. Hoffentlich wolltest du sie nicht noch in Augenschein nehmen. Ansonsten liegt dort das Protokoll.« »Und Karsch?« »Der hat ein spezielles Faible für dich entwickelt. Er möchte ausschließlich mit dir sprechen.« »Es gibt eben noch Leute, die meinen Wert zu schätzen wissen. Aber trotzdem werde ich mich erst noch Frau Schmidts gesammelten Werken zuwenden.« »Ich habe dir viel Amüsantes im Protokoll unterschlagen. Zum Beispiel Informationen über den Gesundheitszustand all ihrer Enkelkinder, ihre Sorgen mit der Schwiegertochter, ihre Ansichten über die Männer im allgemeinen und über ihren eigenen im besonderen und über die Methode, mittels Abfallverfütterung an Schweine reich zu werden.« »Gerade das hätte mich aber interessiert!« »Willst du auch reich werden?« »Habe ich dir das noch nicht gesagt?« »In dem Falle solltest du dich schleunigst nach einem anderen Beruf umsehen.« »Wenn Frau Schmidt mit dem Geld nicht weiß, wohin, weshalb spielt sie dann noch monatlich für zweihundert Mark Lotto?« »Bißchen Abwechslung. Nervenkitzel. Außerdem 155
hat sie reichlich Kinder und Kindeskinder, die sie alle beschenken möchte.« »Alibi?« »Bombenfest. Sie war mit drei Enkeln und einer Bekannten im zoologischen Garten.« »Frage: Sind Ihnen Personen aus dem Bekanntenkreis der Frau Heidenreich in Erinnerung? Antwort: Ja, mir ist da mal eine Frau begegnet, also am späten Abend saß die noch da, die war so um die sechzig. Die Frau soll in der Nähe der Frau Heidenreich wohnen. Sie hat schwarze Haare, einen Herrenschnitt. Die muß ein Gewicht von bestimmt hundertsiebzig bis hundertachtzig Pfund gehabt haben. Die war vielleicht dick. Und etwa eins fünfundsechzig groß. Soviel ich weiß, war die oft bei der Frau Heidenreich. Was die da an dem Abend wollte, weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob die auch Lotto gespielt hat. Manchmal, Wenn ich zum Lottospielen kam, war auch noch eine Fußpflegerin bei Frau Heidenreich. Das war eine freundliche. Auch älter und auch ziemlich dick. Sie könnte in der Otto-Galle-Straße wohnen. Genau weiß ich das aber nicht. Sie hatte so dünnes, krauses Haar, wie es eben die älteren Frauen so haben. Na ja, und dann habe ich Herrn Schilling kennengelernt. Ein sympathischer Mann. Alleinstehend. Fährt einen Mazda. Das war so ihre rechte Hand in allen Lebenslagen. Na ja, in allen nicht. Dazu war sie ja schon zu alt. Aber sie war doch sehr froh, daß sie ihn hatte. In 156
der letzten Zeit allerdings nicht mehr ganz so. Frage: Warum hatten sich die Beziehungen der Frau Heidenreich zu Herrn Schilling getrübt? Antwort: Ach, sie hat sich geärgert wegen einem Teppich. Sie wollte schon seit langem einen Teppich. Mir hat sie damit auch in den Ohren gelegen. Sie wollte nicht zuviel dafür ausgeben. Und vielleicht vor einem halben Jahr hat ihr Herr Schilling einen Teppich verschafft. Für achthundert Mark. Einen schönen Teppich. Sie hat mich gefragt, ob er die achthundert Mark auch wert sei. Ich habe gesagt, daß sie nicht zuviel für den Teppich bezahlt hat. Später hat er ihr aber nicht mehr zugesagt. Die rote Farbe wäre so schmutzempfindlich. Und Herr Schilling sollte ihn wieder zurücknehmen oder gegen einen anderen umtauschen. Aber der wollte nicht. Und da gab es eben Ärger. Frage: Hat Herr Schilling noch andere Geschäfte für oder mit Frau Heidenreich getätigt? Antwort: Da muß ich überlegen. Ja, einen Fernseher hat er ihr verschafft. Auch gebraucht. Und dann hat er irgendwann Briefmarken für sie verkauft. Frage: Wieviel Briefmarken? Wissen Sie etwas über deren Wert? Antwort: Na ja, ihr verstorbener Mann hat doch Briefmarken gesammelt, und die wollte sie loswerden, zu Geld machen. Mich hat sie auch mal gefragt, ob ich nicht Interesse an Briefmarken hätte. Was soll ich mit Briefmarken? Wieviel ihr das gebracht hat, kann ich nicht sagen. Frage: Sind Ihnen weitere Personen be157
kannt, die mit Frau Heidenreich verkehrten? Antwort: Weitere Personen sind mir nicht bekannt. Aber wenn ich in der Lotto-Annahmestelle der Frau Heidenreich war, dann hat sie viele Gespräche mit den Kunden geführt. Sie kannte jede Menge Leute aus ihrer Wohngegend. Frage: Hat sich Frau Heidenreich oft Blumen gekauft? Antwort: Ich habe immer ihre Blumen bewundert. Sie hat mir gesagt, daß ihr die Kunden diese Blumen bringen. Frage: Wann waren Sie das letzte Mal in der Wohnung der Frau Heidenreich? Antwort: Am Fünfundzwanzigsten dieses Monats. Frage: Können Sie sich entsinnen, welche Blumen an diesem Tage in der Wohnung der Frau Heidenreich gestanden haben? Antwort: Ein Strauß Alpenveilchen. Er stand in einer kleinen Vase auf dem Wohnzimmertisch. Andere Schnittblumen habe ich nicht gesehen. Ich muß aber dazu sagen, daß ich ja nicht durch ihre Wohnung gelaufen bin. In dem sogenannten Herrenzimmer war ich überhaupt nie. Es ist also durchaus möglich, daß sie noch mehr Blumen in der Wohnung gehabt hat. Frage: Rauchte Frau Heidenreich? Antwort: Nein, sie hat nie geraucht. Es lagen zwar Zigaretten herum, für Gäste und so, aber selber hat sie nicht geraucht. Frage: Was für eine Zigarettenmarke war es? Antwort: Ich kenne mich da nicht so aus. Waren wohl welche aus dem Westen. Frage: Trank Frau Heidenreich Kaffee? Antwort: Jede Menge. Immer wenn ich kam, hat sie 158
Kaffee gemacht. Sie bot mir auch Kuchen und Pralinen an. Auch am Abend trank sie mehrere Tassen Kaffee. Sie hat immer gesagt, daß sie ohne Kaffee nicht einschlafen kann. Frage: Was für Pralinen hat sie Ihnen angeboten? Antwort: So genau weiß ich das nicht. Müssen wohl auch aus dem Westen gewesen sein. Frage: Ließ Frau Heidenreich das Geschirr längere Zeit auf dem Tisch stehen? Stand manchmal, wenn Sie sie besuchten, noch benutztes Geschirr auf dem Tisch? Antwort: Nein, sie hat immer gleich das Geschirr abgeräumt. Sie hielt überhaupt sehr auf Ordnung. Frage: Hat Frau Heidenreich für die Zeit nach dem Fünfundzwanzigsten Besuch erwartet? Antwort: Hat sie mir nicht gesagt. Frage: Irgendwelche anderen Personen? Handwerker zum Beispiel? Antwort: Die Ofensetzer sollten kommen. Aber wann, weiß ich nicht. Frau Heidenreich bekam nämlich immer den Rauch von unten aus dem Laden in die Wohnung. Und der Herr Karsch hat sich darum nicht gekümmert. Mit ihm kam sie sowieso nicht besonders hin. Sie hat es ihm verübelt, daß er sie aus dem Laden rausgesetzt hat. Na ja, in gewisser Hinsicht kann ich ihn ja verstehen. So eine LottoAnnahme stört doch irgendwie. Die vielen Leute. Und dann das Gequatsche. Zu Frau Heidenreich kamen doch auch allerhand Leute, die eigentlich nur ihr Schwätzchen machen wollten. Daß dem Herrn Karsch das nicht gefallen hat, das kann ich mir schon 159
vorstellen. Andererseits war Frau Heidenreich seit so vielen Jahren da unten drin. Ach, da fällt mir gerade noch ein, der Herr Karsch hat sich auch für die Briefmarken von Frau Heidenreich interessiert. Sie muß mit ihm irgendwann mal drüber gesprochen haben. Nachdem er sie dann rausgesetzt hat aus seinem Laden, hat sie sie ihm natürlich nicht verkauft.« Herr Karsch hatte viel von seiner Sicherheit verloren, als er das Zimmer betrat. Es war eben ein Unterschied, ob jemand das eigene Geschäft betritt oder das Dienstzimmer der Kriminalpolizei, dachte Ebner. Er ließ ihn Platz nehmen und wartete. »Darf man hier rauchen?« fragte Karsch. »Nach Möglichkeit nicht. Wenn es allerdings der Wahrheitsfindung dient…« Karsch hatte die Zigarettenpackung schon aus der Tasche gezogen, schob sie aber jetzt zurück. Er nahm die Brille ab und putzte sie mit dem Taschentuch. Ebner drängte ihn absichtlich nicht. Er las in der Zwischenzeit das zahnärztliche Gutachten des Instituts für Gerichtsmedizin. »Uns wurde eine in zwei Stücke zerbrochene partielle Unterkieferprothese und ein einzelner künstlicher Zahn übergeben. Es war zu begutachten …« »Ja, also …«, begann Karsch. »Moment noch!« sagte Ebner und las weiter. »… ob der einzelne Zahn Bestandteil der Prothese war, die insgesamt zwei fehlende Zähne aufweist. Nach gründlicher Prüfung kann gesagt werden, daß mit an 160
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der einzelne Zahn als linker unterer erster Schneidezahn zu dieser Prothese gehörte. Begründung: Übereinstimmung in Form, Farbe und Material mit den Schneidezähnen an der Prothese. Übereinstimmung mit dem an der Prothese befindlichen Zahnfach (Bruchspalt) für den rechten unteren ersten Schneidezahn. Fortsetzung der Zahnsteinbildung an der Prothesenbasis in den künstlichen Zähnen.« Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit! Die Sprache der Gutachter. Wie oft hatte er diese Worte schon gelesen und hören müssen. Nichts auf dieser Welt war wirklich sicher. Alles nur wahrscheinlich. Manches davon grenzte zwar an den Bereich des Sicheren, aber es war nicht sicher. Die meisten Dinge schienen in einer Art Niemandsland zu existieren, eben in jenem Grenzbereich zwischen unsicher und sicher. Vielleicht war Frau Heidenreich überhaupt nicht tot, vielleicht hatte auch der Körper der Frau Heidenreich heute vormittag nicht wirklich auf dem Tisch der Gerichtsmedizin gelegen, sondern nur mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit? Diese verdammten Rückversicherer! Die Staatsanwälte würden einen schönen Krach schlagen, wenn er künftig seine abschließenden Ermittlungsberichte alle mit der Floskel »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit…« anfangen ließe! Aber dieser Mitarbeiter im medizinischen Dienst durfte sich das ihm gegenüber 161
leisten. Mediziner blieb eben Mediziner, auch dann, wenn es sich um einen Zahnklempner handelte. Also war der im Flur der Wohnung von Frau Heidenreich gefundene Zahn als Täterspur nichts wert. Aus. Strich drunter. »Bitte, Herr Karsch!« »Ich habe mich gestern vielleicht etwas merkwürdig benommen.« »Wieso?« »Ja, doch. Ich war erregt. Der Laden war geschlossen. Und dann standen Sie da und fragten mich, wo ich gewesen wäre. Ich meine, man ist doch auf so etwas nicht gefaßt.« »Und wo waren Sie in der fraglichen Zeit?« »Werden solche Angaben eigentlich geheimgehalten?« »Darauf kann ich Ihnen so pauschal nicht antworten, Herr Karsch. Ich weiß ja nicht, welche Angaben Sie machen wollen.« »Sehr private Angaben.« »Wir gehen damit nicht hausieren.« »Ich war in der Klinik. Ich bin gestern Vater geworden.« »Glückwunsch, Herr Karsch.« »Es ist aber nicht meine Frau.« »Ach so.« »Bißchen kompliziert das Ganze.« »Kann ich mir vorstellen.« 162
»Ja, sehen Sie, und deshalb …« »Ich werde Ihre Lage nicht unnötig weiter komplizieren. Das Alibi läßt sich ja ohne Schwierigkeit überprüfen. Können Sie mir aber vielleicht sagen, was die Tochter der ehemaligen Ladenbesitzerin veranlaßt hat, sich gestern in der Garageneinfahrt aufzuhalten?« »War sie wieder da?« »Was heißt wieder? Steht sie da oft?« »Leider. Die Frau ist die reinste Landplage. Sie läuft mir nach wie ein Hund.« »So?« »Anders kann ich es wirklich nicht bezeichnen.« »Welchen Grund hat sie dafür?« »Keinen. Sie bildet sich ein, mit mir ein Verhältnis anfangen zu können.« »Anfangen oder fortführen?« »Wenn man zu solchen Frauen einmal nett gewesen ist…« »Tja«, sagte Ebner, »Sie scheinen so Ihre Sorgen zu haben, Herr Karsch.« »Das kann man wohl sagen.« »Was macht eigentlich Ihre Briefmarkensammlung?« »Wer hat Ihnen denn erzählt, daß ich Briefmarken sammle? Sicher Frau Perkuhn.« »Sie war es nicht. Doch tut das nichts zur Sache. Ich möchte wissen, ob Sie von Frau Heidenreich 163
Briefmarken gekauft haben.« »Nein. Ich weiß aber, daß sie eine wertvolle Sammlung besitzt. Sie hat sie mir früher einmal gezeigt.« »Sind Sie in der Lage, den Wert ungefähr zu bestimmen?« »Da bin ich überfordert. So etwas kann man nicht mit links machen. Einige tausend Mark kommen aber mit Sicherheit zusammen.« »Fünftausend? Zehntausend? Zwanzigtausend?« »Ich habe doch gesagt, daß ich das nicht schätzen kann. Vielleicht zehntausend. Vielleicht mehr. Ich weiß es nicht.« »Und Sie haben es nie wieder versucht?« »Was?« »Die Briefmarkensammlung zu bekommen.« »Sie hat kaum noch mit mir gesprochen, nachdem ich ihr gesagt habe, daß sie mit ihrem Lottozeug aus dem Laden muß.« »Weshalb sammeln Sie Briefmarken?« »Das haben mich schon viele gefragt. Das kann man nicht erklären. Man fängt irgendwann damit an und kommt nicht mehr los.« »Aha«, sagte Ebner. »Eine Art Leidenschaft?« »Sicher. Alle Sammler sind so. Man kann nicht wieder aufhören.« »Und da lassen Sie sich eine derart wertvolle Sammlung entgehen?« 164
»Worauf wollen Sie hinaus?« »Ich will lediglich wissen, wie es so einem Sammler zumute ist. Ich bin kein Sammler.« »Na sicher habe ich immer mal wieder an die Marken gedacht. Aber sollte ich der Frau die Füße küssen deswegen?« »Was ist eigentlich mit dem Ofen in Ihrem Laden? Zieht er nicht richtig?« »Nun auch noch der Ofen! Ich habe das Gefühl, Sie haben mich noch nicht aus der Liste der Verdächtigen gestrichen.« »Seien Sie nicht so empfindlich! Ich stelle Ihnen sachliche Fragen, und Sie reagieren wie eine Mimose. Also: Was ist mit dem Ofen?« »Meiner Meinung nach ist der Ofen in Ordnung. Frau Heidenreich behauptete allerdings, sie bekäme Rauch in die Wohnung. Sie hatte wohl auch den Schornsteinfeger bestellt.« »Schornsteinfeger oder Ofensetzer?« »Weiß ich nicht. Ich dachte, sie hätte den Schornsteinfeger bestellt. Das ist doch der Mann, der so etwas zu prüfen hat.« »Wie heißt diese Frau mit Vornamen?« »Welche?« »Na die, die Ihnen nachläuft.« »Lustig heißt sie. Sieht nicht so aus. Sieht eigentlich ganz anders aus. Aber was kann der Mensch für seinen Namen?« 165
»Und ihr Vorname?« »Beate.« »Die Glückliche.« »Finden Sie?« »Beatus, –a, –um … Sie hatten kein Latein?« »Nein, ich hatte Englisch.« »Woher nimmt sie denn die Hoffnung, bei Ihnen landen zu können?« »Weiß ich nicht. Das müssen Sie sie schon selber fragen.« »Gab es noch Beziehungen zwischen der Familie Lustig und Frau Heidenreich?« »Ich glaube nicht. Hundertprozentig kann ich es aber nicht sagen. Lustigs wohnen in Potschappel. Bei der Entfernung ist es ziemlich anstrengend, eine Freundschaft aufrechtzuerhalten. Vorausgesetzt, es war überhaupt jemals eine Freundschaft.« »Diese Frau Beate nimmt die Mühe auf sich«, sagte Ebner. »Hören Sie endlich mit Beate auf! Ich habe einen Fehler gemacht, ich habe ein paarmal mit ihr geschlafen. Aus Mitleid. Ich mache so etwas sonst nicht, aber sie hat mich regelrecht gejammert. Da war kein Satz mit Liebe. Keine Versprechungen. Keine Hoffnungen. Man sollte als Mann so etwas nie machen. Nie. Denn man kann sich noch so klar ausdrücken, die Frau nimmt es letztlich und endlich doch als etwas ganz anderes, eben als Hoffnung, als 166
Versprechen oder als was weiß ich. Man wird sie nicht wieder los. Sie macht nichts. Sie steht immer nur da und wartet, daß ich vorbeikomme und sie anspreche. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie begreift nicht, daß nie etwas war.« »Für Menschen, die wenig geliebt werden, ist das wohl auch schwer zu begreifen.« »Gewiß, aber genau das war der Grund, weshalb ich mich überhaupt mit ihr eingelassen habe. Ich konnte diesen bettelnden Blick nicht ertragen. Das war in der Zeit der Geschäftsübernahme. Genau genommen führte sie ja den Laden. Deshalb hatte ich es fast ausschließlich mit ihr zu tun. Aber das gehört wohl nicht hierher.« »Wieso hat der Friseur sie nie vorher gesehen?« »Welcher Friseur?« »Uns liegt die Aussage eines Mannes vor, der in der PGH ,Figaro’ als Friseur tätig ist. Er will gestern gegen vierzehn Uhr eine Frau in der Garageneinfahrt gesehen haben, die mit großer Wahrscheinlichkeit mit Frau Beate Lustig identisch ist. Ihre Verkäuferin jedenfalls hat sie auf der Porträtzeichnung erkannt.« »Ach! Davon hat sie mir nichts erzählt.« »Hier, bitte!« sagte Ebner und legte Karsch das Porträt vor. Karsch nickte. »Es kommt ihrem Aussehen sehr nahe. Sie könnte es durchaus sein.« »Der Friseur meinte, sie habe besonders dünne 167
Beine.« Karsch nickte. »Kennen Sie den Friseur?« »Meinen Sie den von dem Salon in der Triskauer Straße?« »Den meine ich.« »Ich sehe ihn manchmal. Von Kennen kann keine Rede sein.« »Er müßte die Frau aber schon früher gesehen haben.« »Sie steht ja nicht jeden Tag in der Garageneinfahrt.« »Gestern und vorgestern scheint sie dort gestanden zu haben.« »Möglich. Dafür können Sie nicht mich verantwortlich machen.« »Er müßte sie doch auch von früher kennen, aus der Zeit, als die Lustigs den Laden führten.« »Müßte er«, sagte Karsch, »möglicherweise arbeitet er noch nicht so lange in dem Salon.« Ebner legte ihm auch die beiden anderen Porträtzeichnungen vor, aber Karsch konnte sich nicht entsinnen, den beiden Frauen je begegnet zu sein. Karsch war schon an der Tür, als Ebner ihn noch fragte: »Ist es ein Mädchen oder ein Junge?« »Ein Junge«, antwortete Karsch. »Strammer Bengel und jede Menge Haare.« Allein geblieben, rief Ebner den Leiter der Abteilung K an. »Ich hoffe, Sie haben die Blumen für Frau Müller 168
nicht schon in Bewegung gesetzt, Chef?« »Es war noch keine Zeit. Ich denke, ich werde am Montag zu ihr fahren.« »Ich will Sie ja nicht dran hindern, aber ich weiß nicht, ob Sie die Frau damit besonders glücklich machen.« »Sie haben natürlich wieder etwas dagegen.« »Das nicht, nur hat sich ihr Mann heute aufgehängt, und wir haben dummerweise in seiner Hosentasche den fehlenden dritten Schlüssel zur Wohnung Heidenreich’ gefunden.« »Alibi war nicht?« »Alkoholiker haben damit für gewöhnlich Schwierigkeiten, Chef. Und Müller war einer aus der Kategorie: Quartalstrinker. Diesmal fiel sein Quartal zusammen mit dem Tod der Frau Heidenreich.« »Halten Sie ihn für den Täter?« »Würde uns viel Arbeit ersparen, wenn er’s wäre. Die Antwort darauf kann nur von den Kriminaltechnikern kommen. Wir haben alles Nötige hingeschickt.« »Ich ruf gleich mal an, vielleicht kann ich die dort auf Trab bringen.« »Wenn Ihnen das gelänge, würden Sie sich um uns verdient machen, Chef. Unser Wochenende wäre nämlich gerettet.« »Von wo rufen Sie eigentlich an? Spielen Sie schon wieder Maigret?« 169
»Mitnichten, Chef. Ich sitze brav in unserem Stabsquartier und setze keinen Fuß auf die Straße.« »Richtig, Ebner. Goldrichtig. Der Leiter einer Einsatzgruppe muß es nicht in den Beinen, sondern im Kopf haben.« Oberleutnant Richter hatte die Zeit nach Kräften genutzt. An der Wohnungstür der Ingrid Schwarzbach wurde er von einer schlanken, kleinen Person begrüßt, die nicht ganz den Erwartungen entsprach, die die Beschreibung des Kohlenplatzarbeiters in ihm geweckt hatte. Frau Schwarzbach war alles andere als ein rothaariger Vamp. Vor allem war sie verschnupft. Sie bekam das Taschentuch kaum von der Nase. Es war nicht schwierig, von ihr die nötigen Auskünfte zu erhalten. »Die Kratzer hat er mitgebracht«, sagte sie. »Wie lange kennen Sie Herrn Günter?« Statt einer Antwort lachte sie. »Gibt es einen Grund zum Lachen?« fragte Richter. »Das klingt komisch, wenn Sie ihn Herrn Günter nennen. Weshalb haben Sie mich dann nicht Frau Ingrid genannt?« »Weil Sie Schwarzbach heißen.« »Aber Günter heißt doch nicht Günter.« »Wie heißt er dann?« »Weiß ich nicht.« »Er heißt tatsächlich Günter. Jens Günter.« »Ist ja ulkig. Und der läßt sich das so einfach ge170
fallen, daß ich ihn Günter nenne, ich meine mit Vornamen.« »Wie lange kennen Sie ihn?« »Da muß ich nachrechnen. Wie spät ist es jetzt?« »Schon gut«, unterbrach Richter ihre Stundenrechnung. »Ist das schlimm?« fragte sie. »Kann ich nicht beurteilen.« »Also ist es doch schlimm. Hat er etwas ausgefressen?« »Sie sind eine Spur zu neugierig.« »Ist ja schon gut, Herr Kommissar. Möchten Sie noch etwas von mir wissen? Blutgruppe, Oberweite, Schuhgröße?« »Erzählen Sie mir noch mal in allen Einzelheiten den Verlauf des gestrigen Abends! Oder noch besser, beginnen Sie mit Ihrer Schilderung am Mittag!« »Da ist nicht viel zu erzählen.« »Versuchen Sie es trotzdem.« »Es war mein freier Tag. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich als Serviererin in der HOG ,Oberland’ arbeite. Normalerweise bin ich ja nie vor eins zu Hause. Gestern habe ich lange geschlafen. So bis elf. Dann bin ich langsam hoch und mittags essen gegangen ins ,Oberland’. Das hat sich hingezogen bis gegen halb drei. Dann habe ich noch Brot gekauft und bin wieder zurück, habe mich wieder hingelegt und habe noch mal bis gegen sechs geschlafen. Ich 171
habe ’n ziemliches Manko, was Schlaf anbelangt. Können Sie sich wahrscheinlich denken. Und außerdem muß mir schon die dämliche Erkältung in den Knochen gesteckt haben. Ich war jedenfalls down. Na und dann … tja, was macht man am Abend? Bin ich also ’rüber in die Talschenke. Hab’ ein paar Bier getrunken, gequatscht, man kennt sich ja, und dann habe ich mir den Günter geschnappt. Ich wollte nicht, daß er sich vollaufen läßt. In puncto Trinken braucht der eine feste Hand.« »Also kennen Sie ihn doch schon länger!« »Natürlich. Sie wollten mich vorhin ja nicht rechnen lassen. Für Sie stand doch fest, daß ich mit jedem sofort ins Bett steige.« »Ich bin nicht hier, um von Ihnen ein Psychogramm zu machen, Frau Schwarzbach. Mich interessieren Fakten, Vorgänge, konkrete Details.« »Der Kleiderhaken im Flur ist hoffentlich konkret genug. Ich glaube, ich muß den Apparat abmontieren. Der Günter ist voll dagegen. Na ja, das Ding hängt bißchen unglücklich. Günter war nicht der erste, der dagegen gewummert ist. Nur ihn ausgerechnet hat’s besonders schlimm erwischt.« »Und die Kratzer, woher stammen die?« »Das hat er mir nicht gesagt. Da hat er nur immer rumgeblödelt, hat von den vielen Katzen gesprochen, die er sich hält, na ja, Blödeleien eben.« »Sie sagten, Sie wären darauf bedacht gewesen, 172
Herrn Günter am Trinken zu hindern. Heißt das, er war gestern besonders spendabel? Saß ihm das Geld sehr locker?« »In der Kneipe sitzt ihm das Geld immer locker. Leider.« »Sie wissen nicht, ob er besonders viel Geld bei sich hatte?« »Weiß ich nicht. Das hängt ganz davon ab, wohin er gestern Kohlen gefahren hat. Die Kohlenmänner bekommen ganz schön Trinkgeld. Vor allem, wenn sie Koks ausfahren und bißchen reichlich abkippen. Koks ist ja knapp.« »Hat er gestern Koks ausgefahren?« »Wie soll ich das wissen?« »Es hätte ja sein können, daß er zu Ihnen davon gesprochen hat.« »Hat er nicht. Weshalb fragen Sie ihn das nicht selber? Und überhaupt: Was liegt eigentlich an? Wieso fragen Sie mir Löcher in den Bauch?« »Kein Grund zur Aufregung«, sagte Richter. »Mehr Fragen habe ich nicht.« »Aber warum antworten Sie mir nicht auf meine?« »Daran hindert mich die Dienstvorschrift.« »Ihren Job möchte ich nicht geschenkt haben!« »Ich glaube nicht, daß irgend jemand sich mit der Absicht trägt.« Als er durch den Flur zur Wohnungstür ging, warf er einen Blick in die Küche und sah allerhand benutztes Geschirr stehen. Da fiel ihm ein, 173
daß er um ein Haar zwei wichtige Fragen vergessen hätte. »In Ihrem Beruf geht wohl viel Geld für Kaffee drauf?« »Das kann man wohl sagen. Aber irgendwie muß man sich ja fit halten.« »Trinkt Herr Günter auch Kaffee?« »Der trinkt noch mehr als ich.« »Und raucht?« »Das auch.« Das Haus, in dem Günter seine Wohnung hatte, war ein Altbau. Es machte einen heruntergekommenen Eindruck. Richter gab sich nicht als Kriminalist zu erkennen. Er läutete an Günters Wohnung. An der gegenüberliegenden Tür wurde die Klappe des Spions zur Seite geschoben, und der kleine dunkle Punkt hellte sich auf. Richter wartete ein Weilchen und läutete dann erneut. An der gegenüberliegenden Tür klapperte die Sicherheitskette, ein Schlüssel drehte sich im Schloß, und schließlich trat eine ältere Frau heraus. »Da ist niemand«, sagte sie. »Ich wollte zu Herrn Günter.« »Da werden Sie kaum Glück haben. Der ist so gut wie nie da.« »Aber gestern hat er mir erst gesagt, daß ich ihn hier treffen könnte.« Sie schüttelte den Kopf. »Da hat er sie verkohlt.« »War er denn gestern auch nicht da?« 174
»Ich hab’ ihn nicht gesehen.« »Da muß ich versuchen, ihn in der Kohlehandlung zu erwischen.« »Hier werden Sie jedenfalls kein Glück haben.« »War er gestern nachmittag wirklich nicht da? Ich war nämlich gestern schon mit ihm verabredet, aber da konnte ich nicht.« »Ich hab’ ihn nicht gesehen. Aber vielleicht hat er sich reingeschlichen.« »Reingeschlichen?« »Na, sonst hätte ich ihn doch gehört.« Wohl oder übel mußte sich Richter mit der eigenwilligen Logik der Frau begnügen. Ein mageres Ergebnis seiner Recherche. Er blieb noch geraume Zeit an der Haustür stehen und hoffte, es käme jemand vorbei, den er nach Günter fragen konnte. Es kam nur eine streunende Katze, die ihn lange ängstlich anstarrte, ehe sie an ihm vorbei in den Hausflur lief. Er hätte sie gern gefragt, ob sie sich erinnern könne, in letzter Zeit einen Kohlenmann gekratzt zu haben, fand aber nicht die passenden Worte. Zu guter Letzt ging er in einen kleinen Lebensmittelladen schräg gegenüber und fragte die Verkäuferin nach einem Herrn Günter. Sie hätte gestern erst mit ihm gesprochen, sagte sie, und er brächte ihr manchmal Brennholz, aber zur Zeit wäre keins am Lager. Das müßte so zwischen zwei und halb drei am Nachmittag gewesen sein. Nach dieser Auskunft entschloß sich Richter, seinen Aus175
weis zu zeigen, und fragte eindringlicher nach der genauen Zeit von Günters Erscheinen. »Ist es denn so wichtig?« fragte sie daraufhin. »Ich denke schon«, sagte Richter. »Sie tun dem Mann einen Gefallen, wenn Sie es schaffen, sich an die genaue Uhrzeit zu erinnern.« »Da muß ich überlegen. Also warten Sie mal… Da war erst noch die Frau mit dem großen Hund, ich weiß nicht, wie sie heißt, ich sehe sie nur immer mit dem großen Hundevieh. Dann kam noch der kleine Schwilinski angerannt und wollte Kaugummi. Ich hatte aber nicht die Sorte, die er wollte. Und dann war erst mal Pause, ich meine, dann war eine Zeitlang Ruhe. Ich bin hinter und habe Kaffeewasser aufgesetzt. Richtig, und da habe ich auf die Uhr geguckt. Ich hab’ dahinten nämlich so einen alten Wecker rumstehen. Wecken tut er nicht mehr, aber sonst geht er auf die Minute genau. Und da war’s drei Viertel zwei. Ganz genauso war’s. Daß mir das vorhin nicht eingefallen ist. Und gleich danach kam nämlich der Herr Günter.« »Sie sind sich also ganz sicher, daß Herr Günter um dreizehn Uhr fünfundvierzig Ihren Laden betreten hat?« »Ganz sicher. Da können Sie sich drauf verlassen. Es war drei Viertel zwei.« »Danke«, sagte Richter, »Sie haben uns mit Ihrer Aussage sehr geholfen. Vielleicht bedankt sich auch 176
Herr Günter noch bei Ihnen.« Somit erübrigte sich eine neuerliche Befragung des Kohleplatzarbeiters. Er brauchte nur seine Unterschrift unter das Protokoll zu setzen, dem Richter einen Vermerk über die Aussage der Verkäuferin hinzufügte. »Warum haben Sie mir denn nicht gleich gesagt, daß Sie in dem Laden waren?« Günter zuckte mit den Schultern. »Wozu?« sagte er. »Ich habe doch nichts ausgefressen.« Richter blieb nichts anderes übrig, als dem zuzustimmen. An der Vernehmung des Zeugen Schilling beteiligte sich neben Ebner auch Hauptmann Wustlich. Als der Zeuge auf die Frage nach der Art seiner Tätigkeit antwortete, er sei als Operativbeschaffer tätig, schauten sich die beiden Kriminalisten verblüfft an. »Das ist die offizielle Bezeichnung Ihrer Tätigkeit?« »Ja,« sagte Schilling und verstand nicht die merkwürdige Betonung dieser Frage. »Ich bin immer auf Achse«, fügte er hinzu. »Mindestens zweimal bin ich schon um die Erde. Dabei ist die Republik so groß gar nicht. Es läppert sich eben zusammen.« Schilling war ein leicht untersetzter Mann von mittlerer Größe. Selbst im Anzug sah man ihm an, daß er über einen sportlich durchtrainierten Körper verfügte, obwohl er die Fünfzig bereits überschritten hatte. Sein Gesicht war von Höhensonne gebräunt und kaum faltig. Um die Lippen spielte ein leicht arrogantes Lächeln. Er hatte es aber gut im 177
Zaum, und man wurde davon nicht abgestoßen. Es sah eher aus, als machte er sich auf harmlose Weise über sein Gegenüber lustig. Seine Haltung und seine Gesten verrieten den »Mann von Welt«. Er wußte sich rasch auf die neue Situation einzustellen. Wustlich hatte ihn an der Lotto-Annahmestelle in Empfang genommen und von der Ermordung der Frau Heidenreich in Kenntnis gesetzt. Schilling hatte sogleich eine Meinung über den möglichen Täter. Halbstarke, sagte er. Seine Meinung über die Jugend war dementsprechend: faul und vergammelt. Für Frau Heidenreich hatte er nicht viele Worte gehabt. »Ich habe ihr immer gesagt, sie soll nicht so leichtsinnig das Geld durch die Gegend schleppen. Aber sie war ja der Meinung, daß alle Menschen gut sind. Das hat sie nun davon.« »Sie meinen also, Frau Heidenreich ist ihres Geldes wegen getötet worden?« fragte Ebner. »Na, weshalb denn sonst? Ich kenn’ doch die jungen Leute, keiner will mehr arbeiten. Arbeit ist denen zu langweilig. Sie wollen zu Geld kommen, ja. Möglichst viel und möglichst lasch. Aber nicht arbeiten. Schauen Sie sich doch mal an, was die für eine Haltung haben! Krumm und lahm und Bierbäuche. Und krumme Touren. Wenn das so weitergeht, machen die noch Klein-Chicago aus der DDR.« »Wie lange kannten Sie Frau Heidenreich?« »Wie lange? Ach du mein Gott, das ist schon e178
wig. Genau kann ich das nicht mehr sagen. Bei ihrem Lottokram helfe ich ihr seit drei Jahren. Sie war ja nicht mehr die Jüngste.« »Hat sie Sie darum gebeten?« »Das kam so allmählich. Aber genau genommen war sie es. Ich bin am Freitag immer gegen achtzehn Uhr – so wie heute – zu ihrem Büdchen hin und habe die Abrechnung gemacht. Die Einnahmen habe ich ebenfalls zur Post gebracht, das waren so zwischen drei- und viertausend Mark. Der Rest kam zur Abrechnungsstelle der Wettspielbetriebe, das waren um die fünfhundert bis achthundert Mark. Hab’ ich auch erledigt.« »Die Abrechnungen machten Sie immer in der Annahmestelle?« »Hauptsächlich«, sagte Schilling. »Manchmal sind wir mit dem Geld und den Unterlagen auch zu ihr in die Wohnung. Das war selten. Im Winter manchmal, wenn es in dem Büdchen zu kalt wurde.« »Sie kennen demnach Frau Heidenreichs Wohnung?« »Selbstverständlich. Ich habe sie jeden Freitag erst nach Hause gefahren, ehe ich das Geld weggebracht habe.« »Weshalb haben Sie ihr geholfen?« »Weshalb hilft man jemandem? Weil er Hilfe nötig hat. Davor hat sie mir manches Mal die Ohren voll gejammert, wie kompliziert das wäre, vor allem die 179
Abo-Scheine. Die Abo-Scheine müssen alle extra abgerechnet werden, die machen tatsächlich die meiste Arbeit. Aber ansonsten ist es ein Klacks. Sind ja auch keine Beträge. Die Leute glauben immer, man könnte mit so einer Lottobude reich werden. Kein Stück. Wenn man mit einer Lottobude reich werden könnte, würde ich nicht mehr durch die Gegend gondeln, sondern Lottoscheine annehmen. Ist ja viel leichter. Drei Tage in der Woche geöffnet. Geregelte Arbeitszeit. Was will der Mensch mehr. Wenn Frau Heidenreich viel gehabt hat, dann waren das so zwei-, dreitausend Mark die Woche. Davon gehen noch die Steuern ab, dazu Miete und so Kleinigkeiten. Für eine alte Frau wie sie war das natürlich ein Haufen Geld. Dazu noch ihre Rente.« »Würden Sie Frau Heidenreich vermögend nennen?« »Vermögend? Das kommt darauf an, was Sie darunter verstehen. Außerdem werden Sie das sicher schon im Testament gelesen haben.« »Hat Frau Heidenreich ein Testament gemacht?« »Sicher«, sagte Schilling. »Haben Sie denn keins gefunden?« »Bislang nicht.« »Das gibt’s doch gar nicht. Natürlich ist ein Testament da!« »Hat sie es Ihnen gezeigt?« »Gezeigt nicht, aber ich habe ihr immer wieder ge180
raten, eins zu machen. Und sie hat mir vor ungefähr einem Vierteljahr gesagt, sie hätte eins gemacht!« »Interessant!« sagte Wustlich. »Und Sie kamen auch drin vor, Herr Schilling?« »In gewisser Hinsicht, ja.« »Was heißt das?« wollte Wustlich wissen. »Naja, ich hätte den Hausrat geerbt. Sie wußte ja, daß ich hin und wieder Haushaltsauflösungen mache. Bei Leuten, deren Erben selber nicht mehr dazu in der Lage sind. Irgendwer muß schließlich die Wohnungen ausräumen. Ich mach’s für Nullkommanichts. Und was da manchmal für ein Trödel herumliegt. Neulich habe ich zwei Sack alter Gummistiefel abgefahren.« »Ja, ja, der alte Trödel«, murmelte Ebner. »Wer wären denn weitere Erben gewesen?« fragte er. »Sie hatte ja kaum noch Verwandte. Genau genommen war da nur noch der Bruder. Was der mit dem Erbe machen will, möchte ich mal wissen! Die Frau kann nicht mehr fort, und er selber ist halbblind. Na, mir soll’s gleich sein. Dabei fällt mir ein, daß ja im nächsten Monat die Lebensversicherung abgelaufen wäre. Na ja, nun ist sie ja sowieso abgelaufen. Hat sie nicht mal mehr was von gehabt. Eigentlich schade.« »Woher wußten Sie, daß eine Lebensversicherung besteht?« »Reiner Zufall. Das war mal freitags, da kam die 181
Versicherungstante, die Frau Vincz, die kam und wollte kassieren. Und da habe ich das erfahren. Wenn ich mich recht entsinne, handelte es sich so um die fünfzehntausend Mark, die sie ausgezahlt bekommen hätte – im Überlebensfall, wie die von der Versicherung das nennen. Und Sie haben wirklich kein Testament gefunden?« Ebner schüttelte den Kopf. »Seltsam. Wo wird sie das bloß versteckt haben?« »Wenn es sich in ihrer Wohnung befindet, werden wir es ganz gewiß finden, Herr Schilling. Und wenn es nicht gefunden wird, erspart es Ihnen Arbeit. Sie müssen dann keinen Haushalt auflösen.« Schilling biß sich auf die Unterlippe und schwieg. »Bekamen Sie von Frau Heidenreich für Ihre Hilfe ein Entgelt?« fragte Wustlich. »Sie hat mir am Monatsende immer einen Blauen in die Hand gedrückt. Ich wollte das eigentlich nicht, aber wenn ich abgelehnt habe, konnte sie richtig wütend werden.« »Irgendeine schriftliche Abmachung zwischen Ihnen gab es nicht?« »Wo denken Sie hin! Was soll ich mit so einem Blatt Papier?« »Können Sie uns Freunde oder Bekannte Frau Heidenreichs’’ nennen?« »Wenn es um Bekannte geht, müßte ich Ihnen wahrscheinlich das ganze Viertel um die Triskauer 182
Straße aufzählen. So eine Lotto-Annahmestelle ist doch der reinste Rentnerclub. Umschlagort für den neusten Klatsch. Harmlos natürlich. Ich habe ihr einige Male so aus Spaß empfohlen, doch paar Stühle und Tische aufzustellen und eine Rentnerkneipe mit der Annahmestelle zu koppeln.« »Namen können Sie uns keine nennen?« »Doch, aber das wird eine ziemliche Latte.« »Und wie sah es mit engeren Bekanntschaften aus?« »Dazu kann ich wenig sagen. Am häufigsten saß diese Frau Schmidt bei ihr. Die Frau ist aus Klotzsche, spielt jeden Monat für zweihundert Mark TeleLotto und kann einem mit ihrem Gerede unheimlich auf den Nerv gehen. Für Frau Heidenreich war es eine Stammkundin. Wahrscheinlich auch eine Freundin. Kann ich so genau nicht beurteilen. Jedenfalls saß die Frau Schmidt zu den verschiedensten Tageszeiten bei Frau Heidenreich.« »Besuchten Sie Frau Heidenreich außer am Freitag auch an anderen Tagen?« »Das kam schon mal vor. Zum Beispiel hatte ich ihr einen Teppich verschafft. Gebraucht, gut erhalten und preiswert. Den habe ich ihr natürlich am gleichen Tage hingefahren.« »Haben Sie für Frau Heidenreich auch Sachen verkauft?« »Da muß ich überlegen«, sagte Schilling. Ebner 183
merkte auf. Dieser Mann war gewitzt. Wenn er Gefahr witterte, verschaffte er sich unauffällig Bedenkzeit, um seine Antwort abwägen zu können. »Was haben Sie ihr für die Briefmarkensammlung bezahlt?« fragte Ebner. Er wollte Schilling irritieren und ihm vor allem keine Zeit für den Aufbau eines Verteidigungssystems lassen. »Briefmarken? Ach so, die Dinger von ihrem Mann. Das waren so an die zweitausend Mark. Ausgesprochener Liebhaberpreis, denn viel Wertvolles war nicht darunter.« »Sammeln Sie Briefmarken?« »Dazu fehlt mir die Zeit.« »Es gibt Leute, die sind der Meinung, diese Sammlung wäre weit wertvoller gewesen.« »So«, sagte Schilling, »gibt’s die? Ja, dann hätten die die Briefmarken verscheuern müssen. Ich bin da kein Fachmann.« »Wußten Sie, daß Frau Heidenreich die LottoAnnahmestelle Ende des Jahres aufgeben wollte?« »Das wußte ich.« »Was haben Sie sonst noch in ihrem Auftrag verkauft?« »Gläser. Abrißgläser. Fünf Stück. Das Stück zu zwanzig Mark.« »Was noch?« »Nicht, daß ich wüßte.« »An wen verkauften Sie diese Antiquitäten?« »Was heißt hier diese Antiquitäten? Ich habe 184
Briefmarken verkauft und fünf Abrißgläser, und Sie sprechen von Antiquitäten.« »Sie leben allein, Herr Schilling?« »Ja, ich bin seit acht Jahren geschieden. Meine Tochter lebt mit in meiner Wohnung.« »Wie alt ist Ihre Tochter?« »Einundzwanzig.« »Beruf?« »Kosmetikverkäuferin.« »Was hat eine Kosmetikverkäuferin für ein Gehalt?« »Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen, auf den Mazda. Den habe ich ihr zum Geburtstag geschenkt. In Ihren Augen vielleicht übertrieben. Aber das Mädchen hat acht Jahre keine Mutter gehabt. Und irgendwie fühlt man sich schuldig, auch wenn es die Frau war, die aus der Ehe ’raus ist. Deshalb der Mazda.« »Sind Sie Raucher?« »Gelegenheitsraucher.« »Kaffee trinken Sie sicher auch?« »Das bleibt nicht aus, wenn man diese langen Touren fährt.« »Ja«, sagte Ebner, »ich glaube, das wäre es. Ein Alibi haben Sie?« »Ich war gestern in Berlin.« »Von wann bis wann?« »Ich bin gegen sieben Uhr losgefahren und war 185
gegen fünfzehn Uhr wieder zurück im Betrieb.« »Sie waren allein unterwegs?« »Ja! Bin ich meistens.« »Sicher gibt es irgendeine Person, die bezeugen kann, daß sie gegen dreizehn Uhr noch in Berlin waren?« »Die gibt es.« »Sie schreiben uns Namen und Adresse, eventuell auch die Telefonnummer mit auf das Blatt, auf das Sie die Namen von Frau Heidenreichs Bekannten notieren.« Hauptmann Wustlich schob ihm die drei Porträts über den Tisch. »Kennen Sie eine der drei Frauen?« Schilling musterte die Zeichnungen eingehend. »Das ist doch die Tochter aus dem Kurzwarenladen«, sagte er. »Frau Lustig?« »Ja. Sieht mir ganz danach aus.« »Und die anderen beiden?« »Kenne ich nicht. Obwohl… Also eine ganz entfernte Ähnlichkeit mit Frau Vincz, die von der Versicherung – aber wirklich nur sehr entfernt. Die haben beide eine entfernte Ähnlichkeit. Meine Hand lege ich dafür aber nicht ins Feuer.« Ebner schaute sich danach ebenfalls noch einmal die Bilder an. Der Mann hatte recht. Das war die Ähnlichkeit, nach der er die ganze Zeit gesucht hatte. Doch ließ er sich seine Überraschung nicht anmerken. Noch galt es, sich mit diesem Windsurfer zu beschäftigen. Die Ein186
schätzung der jungen Frau im Parterre dünkte ihn so unrecht nicht. Der Mann schien wirklich gelernt zu haben, sich in genau den Wind zu manövrieren, der ihn am schnellsten voranbrachte. Und er wußte, wie man sich elegant aus jeder Klemme windet. Es hätte ihn schon sehr verwundert, wenn Schilling kein perfektes Alibi gehabt hätte. Er wies Hauptmann Wustlich durch eine Notiz auf einem Zettel an, das Alibi von Schillings Tochter überprüfen zu lassen. Schilling hatte unterdessen schon begonnen, die Namenliste zu schreiben. Ebner stand auf und ging zum Fenster. Es war nichts zu sehen. Nur die Regentropfen liefen die Scheibe hinunter. »Was meinen Sie, könnten die Möbel der Frau Heidenreich noch wert sein?« fragte er unvermittelt. »Welche meinen Sie?« »Also die Küchenmöbel meinte ich nicht.« »Man müßte sie taxen lassen. Der erste Schmelz ist ja wohl ’runter.« »Sieht aus, als wären es Stilmöbel.« »Stilmöbel? Ach, na ja …, ich weiß nicht.« »Man möchte meinen, Sie sind in diesen Dingen bewanderter, Herr Schilling. Haushaltsauflösungen bringen doch sicher Erfahrungen.« »Das schon.« »Wir haben den Antikhandel Pirna beauftragt, die Möbel und die anderen Kunstgegenstände taxen zu lassen.« Schilling fuhr hoch. »Wozu denn das?« 187
»Das liegt in unserer Natur. Wir sind neugierige Leute.« »Für den Antikhandel ein gefundenes Fressen.« »Sie scheinen doch gewisse Vorstellungen vom Wert des Mobiliars zu haben, Herr Schilling?« »Jugendstil«, sagte Schilling, »lupenreiner Jugendstil.« »In dem Punkt sind wir vollkommen einer Meinung. Ein hübsches Sümmchen, was da beim Verkauf anfallt.« »Ich würde nie verkaufen! Viel zu schade für irgendwelche Banausen.« »Ja, Herr Schilling, beten Sie zum lieben Gott oder zu irgendeiner anderen guten Adresse, daß sich das Testament einfinden möge.« Im Verlaufe der üblichen Tagesauswertung bekam Ebner mitgeteilt, daß die Befragung der Blumengeschäfte durch den Kriminalmeister ein negatives Ergebnis gebracht hatte. Das Alibi der Schilling-Tochter konnte noch nicht eindeutig geklärt werden. Jedoch war die Wahrscheinlichkeit groß, daß sie zu dem fraglichen Zeitpunkt nichts anderes getan hatte, als Kosmetika zu verkaufen. »Werden wir uns also morgen den Ofensetzern und Schornsteinfegern zuwenden«, sagte Ebner. »Soll ja Glück bringen«, meinte Wustlich. »Wovon wir allerhand gebrauchen können.« »Was wird nun mit dieser Frau Lustig?« wollte 188
Wustlich wissen. »Ihr statte ich nachher noch einen Besuch ab.« »Bringt das etwas?« fragte Oberleutnant Richter. »Wer will das wissen?« sagte Ebner. »Sie war in jedem Fall der Frau Heidenreich bekannt. Mit ihr würde sie sich bestimmt auf einen Schwatz eingelassen haben. Man redet über die alten Zeiten, fragt nach der Gesundheit und wie’s denn so geht.« »Bis dahin kann ich folgen«, sagte Richter, »aber wie weiter?« »Wenn ich mal eine gewagte psychologische Konstruktion versuchen dürfte«, mischte sich Wustlich ins Gespräch. »Du darfst, Karl.« »Vielleicht bißchen abenteuerlich.« »Wir können in unseren Vermutungen gar nicht abenteuerlich genug sein«, ermunterte ihn Ebner. »Das Leben ist meist weit abenteuerlicher.« »Ich versuche, mich in die Situation dieser Frau zu versetzen«, sagte Wustlich. »Sie scheint mit Karsch zum erstenmal erfahren zu haben, was das ist, das man landläufig als Liebe bezeichnet. Seiner Schilderung kann man entnehmen, daß sie ausgehungert war. In ihrem Äußeren ist sie nicht der Typ von Frau, nach dem sich die Männer umdrehen. Deswegen hat sie ja aber die gleichen Sehnsüchte und Bedürfnisse. Und da wendet sich ihr ein Mann zu. Endlich. Selbst wenn sie geahnt hat, daß er es aus Mitleid tat, wird 189
sie das weggedrückt haben. Und mit einemmal ist es aus. Kaum daß es angefangen hat, ist es auch schon wieder vorbei. Eine andere Frau hätte vielleicht ein Faß aufgemacht, hätte getobt. Sie nicht. Sie kommt von Zeit zu Zeit in die Triskauer Straße und stellt sich in die Garageneinfahrt und wartet. Nur um ihn zu sehen. Zugleich wird sie natürlich pausenlos grübeln, wie sie dem Mann einen Beweis für ihre Liebe geben kann. Es muß irgend etwas ganz Tolles sein. Es muß etwas sein, wo er dann sagt: Du bist die Größte. Und da sieht sie Frau Heidenreich kommen. Die beiden Frauen begrüßen sich, gehen nach oben. Es ist kalt draußen und regnerisch. Irgendwie bringt Frau Lustig die Sprache auf die Briefmarken.« »Die waren längst weg. Schilling hatte die doch bereits versilbert«, warf Richter ein. »Kann die Lustig ja nicht wissen. Ich meine, es gibt im weiteren zwei Varianten. Entweder hat sie also Frau Heidenreich nach den Briefmarken gefragt und zugleich zu überreden versucht, die Sammlung doch an Karsch zu verkaufen. Wenn die alte Dame daraufhin gesagt hat, die sind schon verkauft, muß ihr das die Lustig nicht unbedingt geglaubt haben. Sie kann es als Ausrede angesehen haben. Oder sie hat überhaupt nicht erst nach den Marken gefragt, sondern sich an die Suche gemacht. Frau Heidenreich war mit Sicherheit nicht immer im Wohnzimmer. Sie hat Kaffee gekocht, war auf der Toilette. Möglicherweise mußte 190
sie zur Wohnungstür, weil jene Frau, die den Fleuropboten nach der Adresse gefragt hat, läutete. Und wenn die tatsächlich gekommen war, um der alten Dame aus Freude über einen Lottogewinn Blumen zu bringen, werden das nicht bloß wenige Augenblicke gewesen sein, die sie an der Tür zugebracht hat. Zeit genug, um nach einer Briefmarkensammlung zu suchen. Irgendwie sind die beiden dann zusammengeraten. Möglicherweise.« Die anderen Kriminalisten schwiegen und überdachten die von Wustlich vorgetragene Variante. »Sie hat doch aber keine Briefmarken finden können«, sagte Richter. »Wir wissen nicht, ob Frau Heidenreich nicht doch noch weitere Marken besaß. Sie muß sie nicht alle an Schilling gegeben haben«, sagte Ebner. »Die Hypothese klingt nicht schlecht«, bemerkte Thal. »Sie hat zumindest den Vorzug, uns zu erklären, weshalb fast kein Geld fehlt. Die Frau kann das nächstliegende Geld an sich genommen haben, um den Verdacht nicht auf die Briefmarken zu lenken. Außerdem befand sie sich in einer Lage, in der ihr so ziemlich alles egal war. Es gab für sie nur ein Ziel: Herrn Karsch zurückzugewinnen. Aus ihrer Sicht stand sie mit dem Rücken zur Wand.« »Es hat trotzdem etwas von Courths-Mahler«, kritisierte Wustlich die eigene Konstruktion. »Ach, Karl«, sagte Ebner, »wie oft haben wir 191
schon feststellen müssen, daß es sich im Leben meistens um Courths-Mahler-Geschichten handelt. Man will’s nicht wahrhaben, aber gerade Liebesgeschichten sind, von außen gesehen, in der Mehrzahl aller Fälle unheimlich trivial. Eigentlich wärst du der Mann, der sich auf den Weg zu Frau Lustig machen sollte.« »Wenn es unbedingt sein muß.« »Nein«, sagte Ebner, »du fährst nach Hause und löst deine Frau im Kinderdienst ab. Ich bin sowieso Strohwitwer. Paul, wie sieht es denn nun bei den Herren Kriminaltechnikern aus?« »Wir sind keine Zauberkünstler. Und manchmal haben wir eben Pech. Ich kann im Augenblick nur sagen, daß bei der Adsorptionsbestimmung an den Zigarettenkippen weder A- noch B-Blutgruppensubstanzen nachgewiesen werden konnten. Also hat der Raucher entweder die Blutgruppe 0, oder er ist ein Nichtausscheider.« »Mager«, sagte Ebner. »Lang mal einem nackten Mann in die Tasche.« »Wenn ich dich richtig verstanden habe, kann unser Täter noch immer eine der drei Blutgruppen haben?« »Du hast mich wieder mal richtig verstanden. Ich kann schließlich nichts dafür, daß es unter den Menschen auch Nichtausscheider gibt. Der Blutspritzer, den wir am Türrahmen vom Herrenzimmer gesichert 192
haben, läßt lediglich die Aussage zu, daß es sich um blutverdächtige Partikel handeln kann. Für einen Nachweis von Menschenblut war die Spurensubstanzmenge zu gering. Die anderen Untersuchungen laufen noch.« »Im Falle Müller hat sich auch noch nichts ergeben?« Der Kriminaltechniker schüttelte den Kopf. »Dann heißt es morgen weiter Klinkenputzen. Schilling hat uns ja eine Liste zusätzlicher möglicher Bezugspersonen dagelassen. Dann möchte ich mit dieser Frau Vincz noch mal ein Wörtchen reden. Und du, Karl, wirst dich weiter mit Herrn Schilling befassen. Ich müßte mich doch schwer täuschen, wenn da nicht auch noch eine Datsche existiert. Vielleicht sogar ein kleines Möbellager. Sein Alibi muß genau geprüft werden, also Fernschreiben nach Berlin. Und die Tochter samt Freundeskreis unter die Lupe nehmen.« Mutter und Tochter Lustig wohnten in Potschappel in einem kleinen Einfamilienhaus. In nächster Nachbarschaft zu einigen neureichen Bungalows mit ihren unsäglichen schmiedeeisernen Zäunen und Türen hatte es sich verschämt einige Meter von der Straße weg nach hinten in den Schatten verzogen. Die Straßenlampen griffen mit ihren Lichtfingern vergeblich in seine Richtung. Es hielt sich verdeckt. Der Holzzaun war alt, und auch die Vorgartentür hing schief in den Angeln. Ebner wollte nicht unhöflich sein und suchte nach einem Klingelknopf, fand 193
aber keinen. Er mußte die Tür leicht anheben, um sie zu öffnen. Ein schwacher Lichtschimmer drang aus den Fenstern. Die Haustür war noch mit einer Klingel mit einem Drehgriff versehen. Sie schnarrte leise und heiser, man hätte denken können, auch sie sei von einer Erkältung heimgesucht. Geöffnet wurde Ebner von der Tochter des Hauses. Er war verblüfft, wie genau Picasso sie nach den Aussagen des Friseurs abkonterfeit hatte. Sie trug einen bauschigen Pullover und einen Plisseerock. Ebner stellte sich vor und wurde nach innen gebeten. Es roch nach Kampfer und Baldrian. Eine quänglige Stimme rief: »Wer ist denn gekommen, Beate?« »Gleich, Mutti! Ich komme ja gleich«, antwortete Beate mit einer verblüffend tiefen Stimme. Ebner zog den Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Es war ziemlich eng im Flur. Die Wahrscheinlichkeit lag nahe, daß das ganze Haus ziemlich eng war. »Ich hätte Sie gern alleine gesprochen, Frau Lustig,« sagte Ebner. »Ja, ja, aber Mutti müssen Sie schon guten Abend sagen, sonst gibt sie keine Ruhe. Wir bekommen um diese Uhrzeit nur ganz selten Besuch. Und sagen Sie ihr nicht, wer Sie sind, sie regt sich nur auf. Sie hat ein schwaches Herz.« »Und wer soll ich sein?« fragte Ebner. »Das ist gar nicht so einfach«, überlegte sie. »Ach, wissen Sie, das Beste wird sein, wenn Sie der Maler 194
sind. Ich will ohnehin vorrichten lassen.« »Um diese Uhrzeit?« »Sie sind gekommen, um sich anzusehen, wie groß der Arbeitsumfang ist. Ich führe Sie dann durch die Zimmer, da können wir reden.« »Gut«, sagte Ebner, »bin ich eben der Maler. Warum auch nicht?« Das Wohnzimmer war überheizt. Trotzdem hatte sich Frau Lustig eine Wolldecke um die Beine geschlungen. Der Fernseher lief, und sie schwankte sichtlich zwischen ihrem Interesse für den fremden Mann. »Herr Ebner will sich ansehen, wieviel zu machen ist. Herr Ebner ist nämlich der Maler, den ich bestellt habe, Mutti.« »Du hast den Maler bestellt? Aber davon weiß ich ja gar nichts. Davon hast du mir überhaupt nichts erzählt, Beate. Das kannst du doch nicht machen! Wer soll ihn denn bezahlen?« »Reg dich nicht auf, Mutti. Du weißt doch, daß du dich nicht aufregen sollst. Ich mach’ das schon. Ich zeige Herrn Ebner die Zimmer.« »Und wer soll den Maler bezahlen?« »Mutti, ich verdiene doch auch.« »Trotzdem hättest du mich fragen sollen. Man bestellt doch nicht einfach den Maler. Und dann um die Uhrzeit!« »Ich muß um Entschuldigung bitten, Frau Lustig«, sagte Ebner, »doch ich komme tagsüber kaum zu 195
diesen Vorbereitungsarbeiten. Und außerdem trifft man am Tage nur selten jemand zu Hause an. Es dauert auch nicht lange. Das also ist das Wohnzimmer?« Die Tochter nickte. »Tapete?« fragte Ebner. »Ja, Tapete«, antwortete die Tochter. »Aber die will ich unbedingt vorher sehen!« mischte sich die Mutter ein. »Haben Sie denn keine Muster bei sich?« »Selbstverständlich lege ich Ihnen Muster vor, wenn es soweit ist. Oft kaufen sich die Kunden aber die Tapete selbst. Wegen der Klärung solcher Fragen bin ich ja hier.« »Dann geht mal nach nebenan«, sagte die Mutter. »Ich verpasse ja hier alles. Und es ist so ein schöner Film.« »Viel Vergnügen«, sagte Ebner, »und entschuldigen Sie nochmals die Störung.« »Und frag ihn, wieviel es kostet, Beate! Das müssen wir vorher wissen. Vorher, nicht hinterher. Hinterher kommen dann immer dicke Rechnungen.« Die Tochter wies Ebner den Weg in die Küche und bot ihm Platz an. »Ich habe es ihr noch nicht gesagt«, begann sie das Gespräch. »Ich weiß auch gar nicht, wie ich es ihr beibringen soll. Sie wird sich bestimmt aufregen. Und sie soll sich nicht aufregen. Der Arzt sagt immer wieder, sie soll sich nicht aufregen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich das machen soll.« 196
»Was haben Sie ihr noch nicht gesagt?« fragte Ebner. »Na, diese schlimme Geschichte mit der Frau Heidenreich.« »Sie sind demnach bereits informiert?« »Das spricht sich doch herum. Und Sie sind bestimmt auch deswegen hier.« »Ja«, sagte Ebner, »so ist es. Aber wieso nehmen Sie das mit solcher Selbstverständlichkeit an? Sie haben doch schon lange keinen Kontakt mehr zu Frau Heidenreich gehabt. Oder sehe ich das falsch?« »Wer hat mich gesehen?« fragte sie. »Tut das etwas zur Sache?« Sie schwieg und richtete ihren Blick in eine unbestimmte Ferne. Ebner drängte sie nicht zu einer Antwort. Sie sah verhärmt aus. Ihr Mund erinnerte an einen Minusstrich in doppelter Klammer. Auf den Wangen und am Hals begannen sich rote Flecken zu bilden. Ihre Augen waren sehr dunkel, fast schwarz. Es war nicht auszumachen, was sich in dieser Dunkelheit verborgen hielt. Der bauschige Pullover verlieh ihrem Oberkörper eine gewisse weibliche Fülle. Die großen, kräftigen Hände hatte sie auf die Oberschenkel gestützt. »Sie waren also gestern in der Triskauer Straße?« Sie nickte. »Von wann bis wann?« »Es war kurz nach dreizehn Uhr. Die Straßenbahn hatte Verspätung. Ich wollte vor dreizehn Uhr dort sein. Wann genau ich weggegangen bin, kann ich nicht sagen. Es muß gegen vierzehn Uhr gewesen sein.« 197
»Wo haben Sie sich in dieser Zeit aufgehalten?« »Immer in der Nähe des Ladens.« »Welchen Ladens?« »Das wissen Sie doch.« »Es vereinfacht unsere Unterhaltung, wenn Sie davon ausgehen, daß ich nichts weiß, Frau Lustig. Ich bin hier, um etwas zu erfahren.« »Er versteckt sich vor mir«, sagte sie. »Er geht mir absichtlich aus dem Wege. Ich bin ihm lästig. Dabei will ich ihn nur sehen. Ich belästige ihn doch gar nicht. Ich stehe nur da. Ich will ihn nur sehen. Ich spreche ihn nicht an und laufe ihm nicht nach. Aber ich muß ihn sehen. Ich halte es nicht aus, ihn nicht zu sehen. Wie oft habe ich mir schon vorgenommen, nicht wieder zu seinem Laden zu gehen. Und doch gehe ich immer wieder hin.« »Ich nehme an, Sie sprechen von Herrn Karsch?« Wieder bekam er von ihr nur ein Nicken zur Antwort. Vermutlich brachte sie den Namen des Mannes nicht ohne weiteres über die Lippen. »Haben Sie ihn gestern zu sehen bekommen?« Sie schüttelte den Kopf. »Aber den Hauseingang hatten Sie ständig im Auge?« »Ja«, sagte sie, »ich wollte ihn nicht verpassen.« »Welche Personen haben Sie in das Haus gehen oder aus dem Hause kommen sehen?« »Frau Heidenreich.« 198
»Wann war das ungefähr?« »Kurz nachdem ich ankam.« »Und danach haben Sie niemand mehr gesehen?« »Nur noch eine junge Frau.« »Kannten Sie sie?« »Nein.« »Würden Sie sie wiedererkennen?« »Wahrscheinlich.« Ebner zog die drei Porträtzeichnungen aus der Tasche und legte sie vor ihr hin. »War es eine dieser drei Frauen?« »Soll ich das sein?« fragte sie, auf die Zeichnung deutend, die nach den Angaben des Friseurs gefertigt war. »Ich weiß es nicht«, sagte Ebner. »Möglicherweise.« »Hat er gesagt, daß ich so aussehe?« »Frau Lustig, ich kann verstehen, daß Sie ein Problem haben, mit dem Sie nur schwer zu Rande kommen, aber ich habe auch ein Problem. Ich kann Ihnen nicht helfen, Ihr Problem in den Griff zu bekommen, aber Sie können mir helfen, mein Problem zu lösen. Würden Sie sich bitte die anderen beiden Frauen anschauen und mir sagen, ob eine der beiden die Frau ist, die sie gesehen haben!« »Die hier könnte es gewesen sein«, sagte sie und zeigte auf die Frau, die dem Fleuropboten begegnet war. »Kam sie wieder heraus?« 199
»Nein. Solange ich da gestanden habe, ist sie nicht wieder aus dem Haus gekommen.« »Wie war sie gekleidet?« »Sie trug einen Mantel.« »Farbe?« »Schwer zu beschreiben. Grau, würde ich sagen. Ins Bläuliche gehend.« »Und weiter? Schuhwerk? Trug sie eine lange Hose?« »Eine Hose trug sie nicht. Bestimmt nicht. Sie trug helle Strümpfe. An die Schuhe kann ich mich nicht erinnern. Es waren jedenfalls keine Stiefel. Es waren Schuhe.« »Und die Frisur ist die gleiche wie auf dem Bild?« »Ich glaube, ja.« »Was trug die Frau bei sich?« »Eine Tasche. Eine Stofftasche. Vielleicht war es auch mehr ein Beutel aus Stoff. Ein Einkaufsbeutel.« »Hatte sie einen Blumenstrauß bei sich?« »Das weiß ich nicht.« »Überlegen Sie in Ruhe.« »Das weiß ich wirklich nicht. Ich habe mich doch für die Frau nicht interessiert. Es war ein Zufall, daß ich sie gesehen habe.« »Sie sagten vorhin, daß Sie Frau Heidenreich gesehen haben. Sind Sie auch von Frau Heidenreich gesehen worden? Haben Sie miteinander gesprochen?« Sie schüttelte den Kopf. 200
»Sind Sie denn nie zu ihr gegangen, wenn Sie in der Triskauer Straße waren?« »Nein.« »Wieso eigentlich nicht? Sie waren doch gut bekannt miteinander.« »Ich hätte es ihr nicht erklären können.« »Sind Sie gestern von irgend jemand gesehen worden, der Sie kennt?« »Ich glaube, nicht. Ich stelle mich meist ziemlich weit hinten in die Garageneinfahrt. Er mag nicht, daß ich da stehe. Und ich will nicht, daß andere es ihm erzählen.« »Sie sind aber gesehen worden. Und offenbar haben Sie zu diesem Zeitpunkt nicht darauf geachtet, sich verborgen zu halten. Gab es einen Anlaß für Sie, weiter nach vorn bis zum Bürgersteig zu kommen?« »Mir war für einen Augenblick, als hätte ich ihn kommen sehen. Auf der anderen Straßenseite.« »Eben sagten Sie, daß Sie sich seinetwegen immer ein wenig versteckt hielten. Diesmal sind Sie aber nach vorn gegangen, als Sie ihn zu sehen meinten.« »Wenn ich ihn sehen will…« Sie brach ab und schwieg. »Demnach haben Sie Herrn Karsch gestern überhaupt nicht zu Gesicht bekommen?« »Er muß schon vor der Mittagspause aus dem Laden gegangen sein.« »Kommen wir nochmals auf diese Frau im blau201
grauen Mantel zu sprechen! Wann fiel sie Ihnen auf? Ich meine, aus welcher Richtung kam sie auf das Haus zugelaufen?« Die Tochter überlegte ein wenig. »Es ist nicht einfach, sich zu erinnern. Ich stand ja nicht dort wegen irgendeiner Frau, die in das Haus wollte. Aber ich glaube, sie kam von der anderen Straßenseite. Ja, sie kam wohl so halb schräg über die Straße gelaufen.« »Haben Sie sie erst bemerkt, als sie über die Straße gelaufen kam, oder sahen Sie die Frau schon vorher?« »Erst als sie über die Straße gelaufen kam.« »Weshalb sind Sie eigentlich bereits um vierzehn Uhr gegangen, wo Sie doch Herrn Karsch noch nicht gesehen hatten und Ihnen doch bekannt war, daß der Laden um fünfzehn Uhr wieder aufgemacht würde?« »Ich mußte zurück, wenn ich nicht zu spät kommen wollte. Ich arbeite als Verkäuferin in einem Kommissionsladen von An- und Verkauf.« »Wenn Sie kurz nach dreizehn Uhr in der Triskauer Straße waren, müssen Sie Ihre Arbeitsstelle doch schon vor der Mittagspause verlassen haben.« »Ich arbeite nur halbtags, nur am Nachmittag. Meiner Mutter wegen.« »Frau Lustig, würden Sie sich das Bild dieser Frau noch einmal genau anschauen. Kommt sie Ihnen überhaupt nicht bekannt vor? Keine vage Erinnerung, ihr doch irgendwo bereits begegnet zu sein? Viel202
leicht zu der Zeit, als Sie noch den Kurzwarenladen in der Triskauer Straße besaßen?« Sie nahm das Bild in die Hand und hielt es ins Licht. Dann nahm sie auch die Porträtskizze, die nach den Angaben des Mädchens gemacht worden war, und hielt sie prüfend nebeneinander. »Die sind sich irgendwie ähnlich«, sagte sie. »Ganz unbekannt kommt mir das Gesicht nicht vor. Ich weiß aber auch nicht, wo ich es hinstecken soll. Wieso hat diese hier eine andere Frisur?« »Was weiß ich?« sagte Ebner. »Mit der gleichen Frisur wären sie sich bestimmt noch ähnlicher.« »Aber an wen Sie erinnert werden, fällt Ihnen nicht ein?« »Im Moment nicht. Nein.« »Wenn es Ihnen einfallen sollte, verständigen Sie mich sofort, Frau Lustig!« Sie nickte bereitwillig. »Möglicherweise erinnert sich Ihre Mutter«, sagte Ebner. »Dann müßten wir ihr ja alles sagen!« »Alles nicht. Zum Beispiel muß sie nicht erfahren, daß Sie in der Triskauer Straße gewesen sind.« »Trotzdem wird es sie aufregen.« »Ist sie schwer krank?« »Sie hat es mit dem Herzen.« »Was heißt das?« »Na, herzkrank eben.« 203
»Haben Sie diese Auskunft vom Arzt?« »Ich nicht, aber meine Mutter.« »Sie sollten sich vielleicht auch mal mit dem Arzt unterhalten.« »Wie kommen Sie darauf? Weshalb sollte ich das tun?« »Weil es keine Krankheit mit dem Namen ,herzkrank’ gibt. Es gibt eine Reihe von Erkrankungen des Herzens, die aber alle sehr präzise zu benennen sind.« »Verstehen Sie denn etwas von Medizin?« »Nicht eben viel. Aber von den Beziehungen zwischen Menschen verstehe ich ein wenig. Bringt der Beruf mit sich.« Sie dachte eine Weile über Ebners Bemerkung nach, wobei sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand ein imaginäres Muster auf ihrem Rock nachzeichnete. »Sie hat Angst, wenn sie allein ist. Sie bekommt oft Anfälle.« »Angst vor dem Alleinsein ist eine weitverbreitete Krankheit.« »Ich habe auch schon manchmal gedacht, sie hat vor allem Angst, ich könnte aus dem Hause gehen. Für immer, meine ich. Sie hat mir mehrmals das Versprechen abgenommen, daß ich bei ihr bleibe.« »Das tun Sie ja denn auch.« »Soll ich sie vielleicht alleine lassen?« »Das habe ich nicht gesagt.« 204
»Aber es klang so.« »Ich bin nicht der gute Onkel, der mit einem Sack voller Lebensrezepte durch die Welt zieht. Aber da es mein Beruf ist, Fragen zu stellen, fallen manchmal auch ein paar Fragen mit ab, die im engeren Sinne nichts mit dem Fall zu tun haben, den ich gerade zu klären suche. Soviel dazu. Und nun werde ich Ihre Mutter über meinen tatsächlichen Beruf aufklären und ihr die beiden Bilder zeigen. Sie dürfen sich da ruhig raushalten. Ich schaffe das gut und gerne allein.« Sie nahm das Angebot bereitwillig an und blieb grübelnd in der Küche zurück. Frau Lustig empfand die neuerliche Störung zunächst als nicht angenehm, war aber dann während Ebners Erläuterungen ganz Ohr. Er erzählte ihr etwas von einem Einbruchsdiebstahl in der Triskauer Straße und zeigte ihr die Bilder der beiden Frauen. Neugierig beugte sie sich darüber und kam zu einer ähnlichen Vermutung wie Herr Schilling. »Die eine hier sieht der Frau Vincz ähnlich«, sagte sie. »Nicht direkt, aber entfernt ähnlich sieht sie aus. Die Frisuren stimmen nicht, aber sonst… Ich meine, man will ja niemanden verdächtigen. Frau Vincz war das auch sicher nicht. Die Frau macht so etwas nicht. Obwohl, man kann ja nie wissen. Dabei ist das eine adrette Person. Finden Sie nicht auch? Wenn man sie so sieht. Könnte doch durchaus eine Geschäftsfrau sein. Ich meine, das Auftreten und diese gepflegte 205
Erscheinung.« Geschäftsfrau zu sein schien für Frau Lustig noch immer der Gipfelpunkt weiblicher Entwicklung, und man sah ihr an, wie sehr sie es bedauerte, in der Porträtskizze eine entfernte Ähnlichkeit mit Frau Vincz entdeckt zu haben. Wenn Frau Vincz in ihren Augen im engeren Sinne auch keine Geschäftsfrau war, so hatte sie doch in Erscheinung, Auftreten und letztlich auch in ihrer Funktion viel mit ihr Verwandtes. Und eine solche Frau notgedrungenermaßen in Beziehung zu einer strafbaren Handlung gebracht zu haben, machte ihr ziemlich zu schaffen. Immer noch einmal griff sie zu den beiden Bildern und schüttelte dabei zweifelnd den Kopf, doch bezog sich ihr Zweifel nicht auf die mögliche Ähnlichkeit, an der hielt sie fest, wenn sie auch mehrfach betonte, daß es sich nur um eine entfernte Ähnlichkeit handelte. »Außerdem hat diese Frau einen sehr guten Ruf,« fügte sie noch hinzu. »Und es ist schwer, sich einen guten Ruf zu erwerben, glauben Sie mir. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Deshalb möchte ich auf gar keinen Fall, daß der Frau Vincz durch meine Bemerkung irgendwelche Unannehmlichkeiten entstehen. Sie bringen sie doch nicht ins Gerede?« »Mit Sicherheit nicht«, sagte Ebner. »Außerdem besagt eine entfernte Ähnlichkeit noch gar nichts. Es gibt gewiß noch mehr Frauen, die Ähnlichkeiten mit diesen beiden Bildern aufweisen.« 206
»Gott sei Dank sehen Sie das auch so! Das beruhigt mich.« Ebner erhob sich und hielt ihr zum Abschied die Hand hin. »Sie wollen schon gehen?« fragte sie enttäuscht. »Möchten Sie nicht erst noch eine Tasse Kaffee? Wir waren wirklich äußerst unhöflich, wir haben Ihnen weder einen Kaffee noch einen Likör angeboten. Oder möchten Sie lieber einen Kognak? Beate! Beate, bring doch bitte die Kognakflasche und drei Gläser!« Ebner hatte versucht, die alte Dame zu unterbrechen, aber es war ihm unmöglich gewesen, ihr an irgendeiner Stelle zwischen den Redefluß zu kommen. Er hatte nichts gegen einen Kognak, aber er hatte etwas dagegen, ihn zusammen mit den beiden Frauen zu trinken. Verständnis für eine alternde Frau zu haben war die eine Sache; eine andere Sache aber war es, als Tochter für dieses Verständnis mit einem Großteil des eigenen Lebens zu zahlen. Und er war sich nunmehr plötzlich gar nicht mehr sicher, ob er der Tochter mit seiner Andeutung von vorhin einen Gefallen getan hatte. Was half es ihr, wenn sie begriff, daß ihre Mutter sie mit einem »schwachen Herzen« straff an der kurzen Leine hielt? Für einen Ausbruch aus der Abhängigkeit war es längst zu spät, und ein stärkeres Zerren an der Leine brächte der Mutter lediglich willkommene Abwechslung. Sie würde ihre Herrschaftsformen überdenken und verfeinern, anstatt sie in Frage zu stellen, und daraus einen erheblichen Lustgewinn 207
ziehen. Ebner begriff, daß es nicht allein Liebeserfahrungen waren, die die Tochter sich so stark an Peter Karsch klammern ließen, sondern zugleich auch die Hoffnung, von ihm aus dieser unheilvollen Verstrickung gelöst zu werden. Man mußte sich nicht anstrengen, um Wustlichs Hypothese einleuchtend zu finden. Es war ausreichend Grund für die Tochter vorhanden, Karsch durch eine verzweifelte Aktion für sich zu gewinnen. Ein aussichtsloses Unterfangen, gewiß, doch Liebende halten ihr Tun ja nur sehr selten für aussichtslos. Ebner hatte zwar erhebliche Zweifel an der Täterschaft der Beate Lustig, konnte ihren Namen aber nach seinem bisherigen Wissen noch nicht von der Liste der Verdächtigen streichen. Die Übereinstimmung ihrer Aussage über eine weibliche Person, die in der fraglichen Zeit in das Haus Triskauer Straße 37 gegangen war, mit der Aussage des Fleuropboten entlastete sie. Wenn er sie aber jetzt mit schweren Schritten ins Zimmer kommen sah, kam ihm sogleich wieder die Verkäuferin aus dem Kurzwarenladen in den Sinn, die recht plastisch den Klang der Schritte in der Wohnung der Frau Heidenreich beschrieben hatte, und er nahm sich vor, sie zu einigen Punkten noch eingehender zu befragen, wenn sie zum Zwecke der Unterschrift unter das Befragungsprotokoll bei ihm erscheinen würde. Im Laufe des Sonnabendvormittags landete auf Ebners Schreibtisch das daktyloskopische Gutachten über 208
den Vergleich zwischen den am Tatort gesicherten und den von Hans Müller abgenommenen Fingerabdrücken. Es hatte sich keinerlei Übereinstimmung ergeben, und somit konnte der Tote als Verdächtiger gestrichen werden. Wie der dritte Schlüssel zur Wohnung Heidenreich in seinen Besitz gekommen war und welchem Zwecke er hatte dienen sollen, würde wohl für immer ungeklärt bleiben. Es lohnte sich für Ebner nicht, in dieser Hinsicht irgendwelchen Vermutungen nachzugehen. Für Frau Müller würde es ein Trost sein, daß jeglicher Verdacht von ihrem toten Mann genommen werden konnte, für Ebner bedeutete es alles andere als einen Trost, ihm wäre die gesicherte Täterschaft eines Mannes, der nicht mehr unter den Lebenden weilt, in vieler Hinsicht willkommen gewesen, so aber hieß es, die Anstrengungen zur Aufklärung des Tötungsverbrechens zu verstärken. Jetzt galt es, unter allen Umständen jener Frau habhaft zu werden, die sich nach der Wohnung der Frau Heidenreich erkundigt hatte und danach in das Haus Triskauer Straße 37 gegangen war. Selbst wenn es sich bei ihr nicht um die Täterin handeln sollte, mußte sie im Besitz wertvoller Informationen sein. Mit großer Wahrscheinlichkeit war sie dem Täter in der Wohnung der Ermordeten begegnet. »Was wissen wir von Frau Vincz?« fragte Ebner. »Wenig«, sagte Thal. »Sie hat für die Tatzeit ein 209
hieb- und stichfestes Alibi. Ihre älteste Tochter war bei ihr zu Besuch, und außerdem ist sie gegen dreizehn Uhr fünfundvierzig von einer Frau aus ihrem Haus gesehen worden.« »Und weiter?« »Sie ist einundfünfzig Jahre alt, von Beruf Sekretärin, arbeitet aber nur noch als Versicherungsbeauftragte. Ihr Mann fährt zur See, Diplomingenieur und zweiter Offizier. Es handelt sich dabei um ihren zweiten Mann. Ihr erster Mann starb vor acht Jahren. Aus der ersten Ehe stammen die beiden Töchter: Ilona Schneider, neunundzwanzig Jahre; Ramona Mager, fünfundzwanzig Jahre.« »Das ist alles?« fragte Ebner. Thal nickte. »Wenn die Mutter und die ältere Tochter ein Alibi haben, werden wir uns zunächst einmal Ramona zuwenden.« »Was hältst du von einer Gegenüberstellung mit Braun?« fragte Wustlich. »Ich habe auch schon daran gedacht«, sagte Ebner. »Die Frage ist nur, welche der drei Damen wir ihm gegenüberstellen. Sollten sie sich alle drei auffallend ähnlich sehen, könnte unser Blumenjunge in arge Verwirrung geraten.« »Mir fällt auf, daß die ältere Tochter nur knapp zehn Minuten von der Wohnung Heidenreich entfernt wohnt«, sagte Richter. »Tatsächlich?« fragte Ebner erstaunt. »Wieso ha210
ben wir uns um sie bislang nicht gekümmert?« »Sie hat ein Alibi«, wiederholte Thal, dem die Frage gegolten hatte. »Gibt es außer der Mutter für dieses Alibi noch Zeugen?« »Nein.« »Genosse Richter, Sie schauen nach, ob sich über die drei Damen etwas in den Akten findet, und außerdem prüfen Sie, ob Frau Vincz am Donnerstagnachmittag tatsächlich in Sachen Versicherung unterwegs war! Als sie mir auf der Treppe in der Triskauer Straße siebenunddreißig begegnete, sagte sie, sie wäre zufällig unterwegs gewesen, um Versicherungsbeiträge zu kassieren.« Obwohl Ebner vorgehabt hatte, die Mitarbeiter seiner Einsatzgruppe spätestens am Samstagmittag in ihre häuslichen vier Wände zu entlassen, weil er sich für die Arbeit in der folgenden Woche ausgeruhte Kriminalisten wünschte, konnte er seinen Vorsatz nicht verwirklichen. Nachdem die Ermittlungsarbeit an einen Punkt gelangt war, den jeder erfahrene Kriminalist insgeheim fürchtete, wo nämlich die Überprüfung der unmittelbaren Bezugspersonen im wesentlichen abgeschlossen war und man sich wohl oder übel dem fast unüberschaubaren Personenkreis der mittelbaren Bezugspersonen zuwenden mußte, nahm sie plötzlich eine unerwartete Wendung. Und zum Ende der Abschlußbesprechung am Sonntagabend hatte jeder Mitarbeiter der Einsatzgruppe das 211
Gefühl, einer heißen Spur nachzugehen. Den Anfang dieser Wende hatte Oberleutnant Richter mit der Mitteilung gemacht, daß Ilona Schneider, die damals noch Ilona Mager hieß, vor sechs Jahren wegen Hehlerei und Diebstahls zu neun Monaten Haft verurteilt worden war. Im Zusammenhang mit diesen Vergehen wurde von ihr ein Zehnfingerabdruckblatt gefertigt. Sie hatte damals im Auftrag Dritter gestohlene Ware zu Geld gemacht und war dabei ertappt worden. »Sie behauptete, nicht gewußt zu haben, daß es sich um gestohlene Ware gehandelt hatte, doch die Aussagen der Mittäter standen gegen diese Behauptung. Selbstverständlich war es kein Delikt, das sie nun zwangsläufig in den Verdacht brachte, ein Tötungsverbrechen begangen zu haben.« Ebner vergaß keinen Augenblick, daß sie zur Zeit noch nach einer weiblichen Person fahndeten, die sich bei einem Passanten nach der Wohnung der Frau Heidenreich erkundigt hatte, und es war nicht anzunehmen, daß diese weibliche Person die Absicht gehabt hatte, Frau Heidenreich zu töten. Aber sie mußte etwas über den möglichen Täter wissen. Weshalb hatte sie sich bislang nicht als Zeugin gemeldet? Der Mord an der Lottofrau war noch immer Gesprächsthema Nummer eins in Blasewitz. Ausgerechnet ihr sollte das Verbrechen verborgen geblieben sein? Ebner unterdrückte sein Verlangen, Frau Vincz in ihrer Wohnung einen Besuch ab212
zustatten und sie erneut zu befragen. Wenn eine der drei Frauen etwas mit der Tat zu tun hatte, mußte jetzt alles vermieden werden, was sie argwöhnisch machen konnte. Sie hatten ohnehin Zeit genug gehabt, sich eine eigene Version des Geschehens zurechtzulegen, so daß es nun nicht mehr auf ein paar Stunden ankam. Jetzt galt es, soviel Material wie nur irgend möglich zusammenzutragen, das dann bei den Vernehmungen verwendet werden konnte, um eben die im Eigenbau gefertigte Version des Tathergangs zum Einsturz zu bringen. Glücklicherweise konnte Oberleutnant Richter auch mit einem Foto der Ilona Schneider aufwarten. Ebner legte es neben die Porträtskizze und verglich es gleichzeitig mit dem Bild, das er von Frau Vincz noch im Kopf hatte. »Unser Picasso war wieder mal einsame Spitze!« sagte er. »Anscheinend hat sie ihre Frisur in den vergangenen sechs Jahren nicht wesentlich geändert. Der Pony jedenfalls ist geblieben«, meinte Richter. »Und sie hat zu ihrem Pech eine auffallende Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Wäre das nicht der Fall, hätten wir uns ihr möglicherweise erst viel später zugewandt.« Auch der junge Mann aus dem Haus gegenüber der Triskauer Straße 37 hatte keine Mühe, Ilona Schneider als die Frau zu identifizieren, die ihn nach Frau Heidenreichs Adresse gefragt hatte. So unauffällig wie möglich ließ Ebner durch den zuständigen ABV im Wohngebiet über sie recherchie213
ren. Und es stellte sich heraus, daß sie nur selten in ihrer Wohnung anzutreffen war. Aber niemand konnte sagen, wo sie sich sonst aufhielt. Die Mieter unter ihrer Wohnung wollten in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag Stimmen und Schritte über sich gehört haben. Gesehen wurde Ilona Schneider dort weder am Donnerstag noch an den darauffolgenden Tagen. Zu seiner Überraschung bekam Hauptmann Ebner bereits am späten Sonntagnachmittag das Gutachten der Daktyloskopen auf den Tisch. Erwartungsvoll machte er sich an dessen Lektüre. Die Überprüfung des Untersuchungsmaterials ergab keine Beanstandung. Sachverhalt: Dem Protokoll über kriminaltechnische Tatortarbeit ist zu entnehmen, daß die Rentnerin Ella Heidenreich einem Tötungsverbrechen zum Opfer gefallen ist. Die Spurensuche und Spurensicherung führte zur Sicherung von 17 Papillarleistenspuren. Diese Spuren wurden sichtbar gemacht und gesichert: Spur 1 und 2 am Rahmen der Küchentür; Spur 3 und 4 am Schlafzimmerfenster; Spur 5 bis 8 an einer Untertasse; Spur 9 und 10 an einer Untertasse; Spur 11 und 12 an einem Milchkännchen; Spur 13 bis 14 an einem Frühstücksteller; Spur 15 bis 17 an der Wohnzimmertür. Die Spur 12 erwies sich für die daktyloskopische Vergleichsarbeit als ungeeignet. Die Spuren 1, 5, 7, 8, 9, 10, 11, 13, 14, 15 und 16 sind von der Geschädigten verursacht worden. Die Spuren 3 und 4 hat der Tatortberechtigte 214
Waldemar Bang verursacht. Durch das Dezernat 2 Morduntersuchungskommission wurde des weiteren als Verdächtige die Ilona Schneider benannt. Die Vergleichsabdrücke liegen in Form eines Zehnfingerabdruckblattes vor. Ziel der Untersuchung: Durch eine vergleichende Untersuchung sollte festgestellt werden, ob die Papillarleistenspuren 2, 6 und 17 von der verdächtigten Ilona Schneider verursacht wurden. Untersuchung: Die Untersuchung der Spur 2 ergab, daß diese Spur von einem Fingerendglied mit Wellenmuster verursacht wurde. Die Spur kam stark übergriffen zur Abbildung und ist für eine vergleichende Untersuchung nur bedingt geeignet. Bei einer vergleichenden Untersuchung mit den Abdrücken der Ilona Schneider konnte diese jedoch als Spurenverursacher ausgeschlossen werden. Die Spur 6 läßt den Teilabdruck eines Fingerendglieds mit einem Wirbelmuster – Doppelschlinge – erkennen. In Richtung zum rechten Delta lassen sich 13 Linien und in Richtung zum linken etwa 21 Linien auszählen. Die Grundschlinge läuft nach rechts aus und wird von der zweiten Schlinge nach rechts überschlagen. Auf Grund der Größe und des Linienverlaufs in der oberen Region ist anzunehmen, daß diese Spur mit einem rechten Daumen verursacht wurde. Bei der Analyse der Spur 6 wurde ein Komplex von 10 individualisierenden Merkmalen festgestellt. Dieser gliedert sich auf in 5 abreißende Linien; 4 Liniengabelungen; 215
1 Querverbindung. Die vergleichenden Untersuchungen der Spur 6 mit den Abdrücken der Verdächtigten, Ilona Schneider, ergaben, daß die in der Spur zur Abbildung gelangten allgemeinen und individuellen Merkmale die Eigenschaften des rechten Daumens der Verdächtigten Schneider widerspiegeln. Das Fotogramm der Spur 17 läßt einen stark verschmierten Teilabdruck eines Fingerendglieds mit einem Wirbelmuster erkennen. Die Analyse der Spur führte zur Feststellung eines Komplexes von 8 individualisierenden Merkmalen in Form von 3 abreißenden Linien; 3 Liniengabelungen; einer gegenlaufenden Linie; einer eingelagerten Linie. Bei der vergleichenden Untersuchung mit den Abdrücken der Verdächtigten, Schneider, wurde festgestellt, daß die in der Spur 17 abgebildeten allgemeinen und individualisierenden Merkmale die Eigenschaften vom rechten Zeigefinger der Verdächtigten, Schneider, widerspiegeln … Ebner atmete auf. Die Daktyloskopen redeten sich nicht auf eine »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« heraus. Ihr Gutachten ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Und die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums bei der Erkennung einer Person mit Hilfe von Spuren ihrer Hautleistenabdrücke war so gering, daß man sie beruhigt unberücksichtigt lassen konnte. Bewiesen war also, daß Ilona Schneider sich in der Wohnung der Heidenreich aufgehalten und mit ihr im Wohnzim216
mer am Tisch gegessen und Kaffee getrunken hatte. Das war schon viel, mußte aber noch lange nicht der Beweis für ihre Täterschaft sein. Die entscheidende Frage war, wann sie die Wohnung wieder verlassen hatte. »Warten wir den Montag ab!« sagte Ebner, als er am frühen Sonntagabend seine Mitarbeiter ins arg geschrumpfte Wochenende entließ. Dennoch hatte er den vorliegenden Verdacht für hinreichend erachtet, um die Ermittlungsarbeiten im Falle der Ilona Schneider zur Sonderspur zu erklären. Frau Vincz ließ sich ihre Verunsicherung kaum anmerken, als sie am Montagmorgen zu Ebner in das VP-Kreisamt gebeten wurde, nur in ihren Augen zeigte sich für Sekunden ein nervöses Flackern. Ebner entschuldigte sich zunächst für die Belästigung. »Es sind nur noch ein paar Formalitäten zu erledigen«, sagte er. »Das Protokoll Ihrer Befragung ist nicht vollständig. In der Eile ist vergessen worden, Ihnen einige Routinefragen zu stellen, und bevor wir das Protokoll abheften, müssen wir es in die vorgeschriebene Ordnung bringen. Ich bekomme sonst später Ärger mit meinen Vorgesetzten.« »Ordnung muß sein«, sagte sie und nickte verständnisvoll und erleichtert. »Zum Beispiel fehlen die Namen und Adressen derjenigen Personen, die Sie am Donnerstagnachmittag in Sachen Versicherung aufgesucht haben.« 217
»Habe ich das nicht schon gesagt?« »Das ist möglich, Frau Vincz. Nur hat man vergessen, es ins Protokoll aufzunehmen. Hat für die Ermittlungen auch keinen Belang. Reine Routine, wie schon gesagt.« »Es war so, daß ich an diesem Nachmittag keinen antraf.« »Aha«, sagte Ebner. Es war bereits ermittelt worden, daß sie an diesem Tag in der Triskauer Straße nirgendwo einen Besuch gemacht hatte, ihre Antwort überraschte ihn deshalb nicht. »Geschieht das oft?« fragte er. »Ach ja. Man muß schon viel hin und her laufen, ehe man jemanden antrifft. Und am Ende bringt es kaum etwas ein. Ich mache es ja auch nicht des Geldes wegen. Mein Mann fährt zur See, und ich bin viel allein. Da ist man dann ganz froh, eine Beschäftigung zu haben, die einen mit Leuten zusammenbringt. Und manchmal kann man sogar ein bißchen helfen. Mal mit einem Ratschlag, ein andermal mit der Erledigung eines Einkaufs, wenn beispielsweise jemand allein und krank zu Hause liegt. Ich habe auch schon abgewaschen. Natürlich nur bei Leuten, die meine Hilfe brauchten. Wenn man da nicht aufpaßt, kann man ganz schnell ausgenutzt werden.« »Ließ sich Frau Heidenreich auch von Ihnen helfen?« »Nein, Frau Heidenreich hatte den Ehrgeiz, trotz 218
ihres Alters alles noch allein zu bewältigen. Ihr Lieblingssatz war: Wer rastet, der rostet. Und ihre Wohnung war ja auch immer pieksauber.« »Als Sie am Donnerstag in das Haus Triskauer Straße siebenunddreißig kamen, hatten Sie da die Absicht, einen der Hausbewohner in Versicherungsangelegenheiten zu besuchen?« »Das war unmöglich, die Leute waren furchtbar aufgeregt.« »Ich fragte nach Ihrer Absicht, Frau Vincz!« »Ich hatte die Absicht, jemanden von der Polizei zu sprechen. Das wissen Sie doch«, antwortete sie mit erhobener Stimme. »Ja, ja«, sagte Ebner. »Sie müssen sich nicht aufregen. Es gehört nun mal dazu. Die Befragungsprotokolle dürfen keine Lücken aufweisen. Eine Lücke kann unter Umständen zu einem lästigen Verdacht führen, den man anschließend Mühe hat auszuräumen. Und das wollen wir doch beide nicht.« »Oh, ich weiß, wie schnell man in einen Verdacht hineingerät! Ist mir schon passiert. Auf der Triskauer Straße. Da war eingebrochen worden. Es fehlte eine Kassette mit Geld und Schmuck, so eine kleine Handkassette. Und ich war diejenige, die am Abend vorher, also am Abend vor dem Diebstahl, die Kassette gesehen hatte, weil der Mann sie vor meinen Augen aufgeschlossen und ihr Geld entnommen hatte. Als man die Leute nach verdächtigen Personen 219
fragte, haben sie mich mit genannt. Sie haben sich natürlich tausendmal bei mir entschuldigt, weil sich herausstellte, daß es der eigene Sohn gewesen war, der einen Einbruch nur vorgetäuscht hatte, aber eigenartig war es schon, plötzlich als Diebin verdächtigt zu werden.« »Da kann ich ja von Glück reden, daß ich nur eine Tochter habe«, sagte Ebner lächelnd. »Und Sie auch, wie ich sehe. Sie haben doch nur die zwei Töchter?« Diesmal zog es Frau Vincz vor, nur schweigend zu nicken. »Haben Sie schon Enkel?« fragte Ebner im Plauderton. »Darauf werde ich wohl noch lange warten müssen. Die eine ist noch nicht einmal verheiratet und die andere seit Jahren geschieden. Beide sind sie nicht sehr scharf auf das Kinderkriegen.« »Tja, man kann ja auch nicht verlangen, daß sie sich nur deshalb Kinder zulegen, damit wir in den Rang von Großeltern gelangen. Und nun sagen Sie mir noch die Wohnanschriften Ihrer Töchter, dann müßten wir fast am Ende sein. Ach nein, ich brauche ja noch die Uhrzeit, wann Sie am Donnerstagnachmittag Ihre Wohnung verlassen haben.« Frau Vincz rutschte ein wenig auf dem Stuhl hin und her, öffnete ihre Handtasche, holte ein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase. »Ich gehe Ihnen auf die Nerven mit meiner Kleinlichkeitskrämerei, nicht wahr?« 220
»Das kann man wohl sagen.« »Ich weiß, ich weiß, wir Kriminalisten sind ausgemachte Nervtöter, können es aber nicht ändern. Na, Sie haben es ja gleich hinter sich gebracht. Wann also sind Sie aus dem Haus?« »Es müßte gegen halb drei gewesen sein.« »Aha«, sagte Ebner und notierte ihre Angaben. »Ihre Tochter ist mit Ihnen aus der Wohnung gegangen?« »Ja, ich habe sie noch zur Straßenbahnhaltestelle gebracht.« »Und wo wohnt sie?« »Eigentlich wohnt sie gleich um die Ecke in der Frankenstraße dreizehn. Sie wollte aber zu ihrem Freund.« »Und wo der Freund wohnt, wissen Sie nicht?« »Nein. Ich war noch nie dort.« »Und wie heißt er?« »Gert.« »Familiennamen?« »Weiß ich nicht. Ich habe mit dem Mann ja nichts zu tun. Ilona hat schon so manchen Freund gehabt. Wenn ich mir von jedem hätte Namen und Adresse merken wollen – ach, du lieber Gott… Da wäre ich weit gekommen. Sie ist nach ihrer Scheidung bißchen leichtlebig geworden. Ich habe ihr schon oft ins Gewissen geredet deswegen. Diesmal soll’s wohl nun der Richtige sein. Wer weiß …« 221
»Hatte sie einen besonderen Grund für ihren Besuch bei Ihnen, oder kam sie nur mal so vorbei?« »Besonderen Grund hatte sie wohl nicht. Sie wollte mich vor allem davon überzeugen, daß sie diesmal den richtigen Mann gefunden hatte. Sie will ihn mir demnächst vorstellen und wollte wissen, wie ich darauf reagiere. Ich hatte ihr nämlich schon vor geraumer Zeit gesagt, daß sie mich bitte mit ihren Männergeschichten verschonen sollte. Nicht immer gleich jeden zu mir geschleppt bringen und auf Friede, Freude, Eierkuchen machen. Und da mußte sie sich ja vergewissern, wie ich diesmal reagieren würde.« »Wie haben Sie denn reagiert?« »Sie hat mich weichgekriegt.« »Und während des gesamten Gesprächs ist nie der Familienname des jungen Mannes gefallen?« »Das kann schon sein, nur kann ich mich nicht erinnern. Weshalb sollte ich mir den Familiennamen merken? Dazu ist immer noch Zeit.« »Das ist wahr«, stimmte Ebner ihr zu. »Nun brauche ich noch die Anschrift der zweiten Tochter.« Sie nannte sie ihm ohne Zögern und fügte aus freien Stücken die Arbeitsstelle dazu. Ebner notierte aufmerksam, überlas das Protokoll nochmals und blickte, anscheinend befriedigt, wieder hoch. »Damit hätten wir es hinter uns gebracht, Frau Vincz. Es sei denn, Ihnen ist noch etwas Erwäh222
nenswertes eingefallen.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, daß ich wüßte«, sagte sie. Er hieß sie in den Nebenraum gehen und warten, bis die Sekretärin die Ergänzungen zum Protokoll abgeschrieben habe, denn es sei ja dann noch ihre Unterschrift vonnöten. Die Sekretärin hatte er bereits vorher angewiesen, den Vorgang auf mindestens eine halbe Stunde auszudehnen. Kurz vor Ablauf dieser Frist bat er Frau Vincz erneut in sein Zimmer. »Mir ist da eben ein Umstand bekannt geworden, Frau Vincz, der Sie interessieren sollte: bei Ihrer Tochter Ilona sind erhebliche Mietrückstände angewachsen. Die Energieversorgung klagt gleichfalls über ausstehende Zahlungen.« »Tatsächlich?« fragte sie mit ehrlichem Staunen. »Ja, es handelt sich um offizielle Auskünfte. Hat Ihre Tochter finanzielle Probleme? Ich meine, verfügt sie über keine geregelten Einkünfte?« »Das kann durchaus sein. Sie hat einen Rentenantrag gestellt.« »Einen Rentenantrag?« »Einen Antrag auf Invalidenrente. Sie hat eine komplizierte Operation hinter sich: Zwölffingerdarm. Und seitdem fühlt sie sich nicht. Sie ist krank geschrieben. Mit Geld hat sie noch nie so richtig umgehen können. Aber daß es so schlimm ist… mein Gott, sie mußte doch nur den Mund aufmachen.« »Wo hat sie denn vor der Operation gearbeitet?« 223
»So genau weiß ich das nicht. Ich meine, es war in irgendeinem Amt als Sachbearbeiterin. Das Amt muß etwas mit den Museen zu tun haben. Wenn ich mich nicht täusche, hat sie davon gesprochen. Museen und Schlösser…? Vielleicht irre ich mich da aber auch. Sie müssen wissen, daß unser Kontakt in den letzten Jahren nicht sehr fest war. Ich sehe sie ziemlich selten.« »Ihre Tochter hat Frau Heidenreich gekannt?« »Ja, also das heißt, sie wird sie gesehen haben. Nehme ich jedenfalls an.« »In Ihrer ersten Aussage haben sie das strikt verneint.« »Habe ich das wirklich? Das kann doch gar nicht sein.« »Sie haben jede Seite des Protokolls gelesen und unterschrieben.« »Dann wird es wohl stimmen.« »Wie erklären Sie sich den Widerspruch, Frau Vincz?« »Erklären? Ja, wie soll ich mir das erklären? Wahrscheinlich st mir der Schrecken so in die Glieder gefahren. Ich habe doch gemerkt, daß Sie jeden verdächtigen, solange Sie den Täter nicht gefunden haben. Ich wollte meine Tochter da raushalten.« »Damit haben Sie sich in die ziemliche Nähe einer strafbaren Handlung gebracht – um es vorsichtig auszudrücken.« »Das wollte ich nicht. Ich wollte es ganz bestimmt 224
nicht. Nie habe ich mir etwas zuschulden kommen lassen, das dürfen Sie mir glauben. Und ich bin nicht glücklich darüber, daß Ilona so geworden ist. Alles andere als glücklich …« »Sind es nur die Männerbekanntschaften, oder macht sie Ihnen sonst noch Sorgen?« »Sie weiß nicht, was sie will. Sie hat kein Ziel. Läßt sich treiben. Sie war ja schon einmal in so eine Sache verwickelt. Das geht ganz schnell bei ihr, daß sie jemand zu etwas verleiten kann.« »Was war das für eine Sache?« »Wissen Sie das nicht? Sie haben es sicher in Ihren Akten.« »Wenn nötig, kann ich es nachlesen, aber besser ist, Sie erzählen es mir. Aus den Akten erfährt man oft nur den Vorgang.« »Das war vor ungefähr sechs Jahren, da war sie an Leute geraten, die nur krumme Touren machten, Einbrüche in Bungalows und solche Sachen. Und die haben Ilona dazu gebracht, die gestohlenen Sachen zu verkaufen.« »Wie ist das denn gelaufen? Sie sagen, diese Leute haben sie dazu gebracht, aber wie haben sie das angestellt?« »Ich war ja nicht dabei, Ilona hat mir später erzählt, das seien Leute gewesen, bei denen sie sich wohl gefühlt hätte. Es handelte sich um so ein Pärchen, also die lebten in wilder Ehe oder in Lebens225
gemeinschaft. Und die haben sie bei sich wohnen lassen, sind mit ihr durch Kneipen und Bars gezogen. Immer auf großem Fuß. Das hat ihr bestimmt gefallen. Sie haben ihr ja auch nicht gesagt, woher das Zeug stammt, was sie verkaufen sollte.« »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, halten Sie Ihre ältere Tochter für gutgläubig?« Sie nickte zustimmend. »Gutgläubig und immer hoch hinaus. Sie ist ja auch begabt. Aber die Ausdauer fehlt. Sie kann malen, sie kann singen, sogar Stepptanz hat sie gelernt. Sie kann so viel und hat auch schon viel angefangen, doch immer wenn es in Arbeit ausartet, also wenn Ausdauer und Disziplin gefragt sind, hört sie auf. Aber sie ist nicht schlecht. Und vielleicht fängt sie sich diesmal. Vielleicht hat der Mann, bei dem sie jetzt lebt, die feste Hand, die sie braucht.« »Sie lebt demnach schon bei diesem Gert?« »Ja, so hat sie es mir jedenfalls gesagt.« »Hat sie Ihnen vielleicht gesagt, welchen Beruf er ausübt?« »Er ist Maler. Dekorationsmaler. Entweder bei der Oper oder beim Schauspiel. Jedenfalls malt er Dekorationen für die Bühne. Das interessiert meine Tochter ja so sehr. Und er hat ihr schon gesagt, daß sie gut malen kann. Sie hat ihm einiges von dem gezeigt, was sie schon gemalt hat. Vielleicht kann sie mit ihm zusammen arbeiten. Wissen Sie, sie braucht vor al226
lem eine richtige Arbeit.« Es war nun nicht mehr schwer, die Wohnanschrift dieses Mannes herauszubekommen, obwohl er weder bei der Oper noch beim Staatsschauspiel arbeitete, sondern bei den Landesbühnen Radebeul. Ebner nutzte die Zeit, in der er nichts anderes tun konnte als warten, zu einem Besuch im Krankenhaus. Über das Wochenende war er dazu nicht gekommen. Lediglich anrufen hatte er können und seiner Frau Grüße bestellen. Es war ihm nicht wohl dabei gewesen, denn die Auskünfte, die er erhielt, waren noch immer nicht so, daß er sich sagen könnte, sie sei über den Berg. Sie ist ein bißchen spät gekommen, hatte der Arzt gesagt, und nun dauert es entsprechend lange, bis sie wiederhergestellt ist. Und sie sah müde und blaß aus. Die anderen beiden Frauen gingen auf dem Flur spazieren. Sie lag im Bett und mußte sich zu einem Lächeln zwingen, als er sich zu ihr setzte. Er strich ihr über die Hand und schwieg. »Viel zu tun?« fragte sie. Er nickte. Er wollte nicht sprechen. Es ging ihm ziemlich nahe, wie er sie so matt und blaß liegen sah. »Schau mich nicht so an«, sagte sie. »Ich müßte mir dringend das Haar waschen.« Er lächelte ein wenig, »Sonst hast du keine Sorgen?« »Doch«, antwortete sie leise. »Ich möchte nach Hause.« »Ich auch.« »Du siehst blaß aus. Geht es dir nicht gut?« 227
»Doch, doch«, antwortete Ebner. »Mir fehlt nur Schlaf.« »Da haben wir das gleiche Problem«, sagte sie. »Wie immer.« Ebner hatte ganz und gar nicht den Eindruck, daß sich ihr Zustand gebessert hatte. Er schien sich eher zum Schlechten zu entwickeln. Sie hielt die Augen geschlossen, und die Augenlider wirkten wächsern und durchsichtig. »Und du bist der Meinung, der Laden hier ist auf der Höhe der Zeit?« Sie nickte leicht. »Wenn nicht, ich könnte dich in ein anderes …« »Nein«, unterbrach sie, »ich will nicht, daß du hier ein Faß aufmachst.« »Wenn du meinst«, sagte Ebner, »es ist nur, man sieht’s dir an, daß es dir nicht gut geht. Ich würde gern etwas anderes sagen, aber ich will nicht lügen.« »Es wird schon wieder werden.« »Der Satz, dachte ich, sei ausschließlich für die Götter in Weiß reserviert.« Sie nahm seine Hand und drückte sie, so gut sie dazu in der Lage war. »Ich weiß auch, daß es mir nicht gut geht«, sagte sie, »aber es liegt wohl nicht an den Ärzten.« »Wenn es dich nicht zu sehr anstrengt, komme ich jetzt häufiger.« »Es strengt mich nicht an, aber du wirst es nicht schaffen.« »War es schlimm gestern, weil ich nicht gekommen bin?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß doch, 228
mit wem ich verheiratet bin.« »Aber die Alpenveilchen machen sich prächtig.« »Frau Krönke sei Dank!« Daß sie ihren Sinn für Ironie nicht verloren hatte, tröstete ihn, aber es beruhigte ihn nicht. Und er verfluchte seinen Beruf, der ihm gerade jetzt nicht die Zeit ließ, seine Frau öfter zu sehen. Die Sekretärin teilte ihm bei seiner Rückkehr mit, daß Frau Lustig zum Unterschreiben des Protokolls dagewesen sei. »Und?« fragte Ebner. »War sie einverstanden mit dem, was ich aufgeschrieben habe?« »Ja, aber sie wollte Sie sprechen. Sie meinte, es sei so verabredet gewesen.« »Hatte sie eine Aussage zu machen?« »Das weiß ich nicht, aber es schien mir nicht so. Sie war mächtig enttäuscht, daß Sie nicht am Platz waren. Sie will morgen wiederkommen.« »Meinetwegen«, sagte Ebner uninteressiert. »Einen Tee haben Sie nicht zufällig, Evelyn?« »Steht bereits auf Ihrem Schreibtisch.« »Sie retten mich immer aufs neue.« »Sie sehen aus, als ob Sie es nötig hätten.« »Ich will Ihnen da nicht widersprechen. Wie geht’s denn Ihrer Erkältung?« »Bestens.« »Klingt verheißungsvoll«, sagte Ebner und ging in sein Zimmer. Außer der Tasse Tee fand er auf dem Schreibtisch auch das Protokoll über die Verneh229
mung von Ramona Mager, der jüngeren Tochter der Frau Vincz. Sie war fünfundzwanzig Jahre und arbeitete in der Technischen Universität als Fotolaborantin. »Frage: Wann sind Sie das letzte Mal mit Ihrer Schwester zusammengetroffen? Antwort: Gesehen haben wir uns das letzte Mal zum Geburtstag meiner Mutter im Januar dieses Jahres. Irgendwann im Sommer hat sie mich angerufen und gefragt, ob ich ihr Geld leihen könne. Weitere Kontakte gab es nicht. Frage: Haben Sie ihr Geld geliehen? Antwort: Nein. Ich habe das vor zwei Jahren einmal gemacht, da habe ich ihr hundert Mark geborgt, auf die warte ich heute noch. Frage: Wo waren Sie am Donnerstag in der Zeit von dreizehn bis fünfzehn Uhr? Antwort: In dieser Zeit war ich im Fotolabor. Meine Kollegin Gerda Nick war die gesamte Zeit mit mir im Labor und kann meine Aussage bezeugen. Frage: Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Ihrer Schwester beschreiben? Antwort: Als sehr lose. Wir verstehen uns nicht besonders. Ich kann ihre Spinnereien nicht vertragen. Sie erzählt dies und erzählt das, und wenn man dann nachfragt, ich meine, wenn man hinterhakt, dann ist da nichts. Neunzig Prozent Spinne, Aufschneiderei. Und wenn man ihr dann auf den Kopf zusagt, daß das meiste von dem, was sie sagt, nicht stimmt, geht sie hoch und fängt Streit an. Frage: War das schon immer so? Antwort: Nein, so schlimm wie jetzt war 230
es früher nicht. Obwohl in unserer Familie seit eh und je … Ja, wie soll ich das sagen… Wissen Sie, wenn man nicht selber dabei war, versteht man das nicht… Ja, irgendwie haben es meine Mutter und meine Schwester mit der Wahrheit noch nie sehr genau genommen. Mich hat das immer fuchsteufelswild gemacht. Aber nun dürfen Sie nicht denken, sie wären besonders große Lügnerinnen. Das sind sie nicht. Nur erfinden sie meist noch etwas zur Wahrheit dazu. Immer haben sie etwas Ähnliches auch schon erlebt, haben die schlimmeren Krankheiten, die besseren Beziehungen, die bedeutenderen Männer. Doch ich merke schon, wie es falsch wird, was ich sage. Ich kann es Ihnen nicht richtig erklären. Ich weiß auch nicht, woher das bei denen kommt. Mein Vater hat sich darüber auch aufgeregt. Man kann sich einfach auf das, was sie sagen, nicht verlassen. Und manchmal glaube ich, sie merken das gar nicht. Wahrscheinlich glauben sie an ihre eigenen Lügen. Und wenn man eine zum Platzen bringt, also wenn ein Loch entsteht, stopfen sie es eins-zwei-drei mit einer neuen Lüge wieder zu. Frage: Wissen Sie, wo sich Ihre Schwester zur Zeit aufhält? Antwort: Nein, weiß ich nicht. Sicher wird sie wieder einen neuen Freund haben. Frage: Wechselt sie ihre Freunde oft? Antwort: Das weiß ich nicht. Nach ihren Reden muß ich es allerdings annehmen. Aber vielleicht erfindet sie die Freunde auch nur. Frage: Halten Sie die Ver231
bindung zwischen Ihrer Schwester und Ihrer Mutter für intensiver als die zwischen Ihnen und Ihrer Mutter? Antwort: Das kann ich nicht so richtig einschätzen. Auf der einen Seite sind sie sich sehr ähnlich, aber auf der anderen Seite ist meine Mutter sauer auf Ilona, weil sie immer neue Einfälle hat. Meine Mutter wollte aus meiner Schwester wohl so eine Art Berühmtheit machen: große Malerin, Schlagersängerin oder was weiß ich. Ist aber alles nichts geworden. Statt dessen hat sie schon … zigmal den Arbeitsplatz gewechselt und war häufig mit Leuten zusammen, die es mit der Wahrheit auch nicht so genau nehmen. Deswegen hat sie ja auch gesessen. Und wenn es um den guten Ruf geht, kann meine Mutter ausflippen. Sie wollte ja auch immer etwas Besseres sein. Mein Vater war nur ein kleiner Buchhalter, das hat sie nie verkraftet. Na, nun hat sie ja einen Zweiten Offizier. Ein Kapitän wäre ihr sicher lieber gewesen, aber zur Not tut es auch ein Zweiter Offizier. Ich kann in den Dingen nicht mit. Das ist nicht meine Welt…« Ebner wurde in der Lektüre unterbrochen, weil sich Oberleutnant Richter am Telefon meldete. »Genosse Hauptmann, wir haben sie«, sagte er. »Bestens. Bringt sie her! Sagt ihr aber kein Sterbenswort, worum es geht. Wenn sie fragt, dann antwortet ihr, daß ihr selber nicht wißt, weshalb ihr sie holen sollt.« »Geht klar«, antwortete Richter. Ebner erhob sich und ging in seinem Zimmer langsam auf und ab. Er 232
hatte Nackenschmerzen und fühlte sich schlapp. Wird wohl so etwas wie eine Grippe sein, was mir da im Nacken sitzt, dachte er. Kann ich jetzt am allerwenigsten gebrauchen, denn aus der Frau die Wahrheit rauszuholen wird noch ein hartes Stück Arbeit. Die Charakteristik, die ihre Schwester geliefert hat, ließ nicht darauf hoffen, daß er in kurzer Zeit ein Geständnis geliefert bekommen würde. Und er rechnete immer mehr mit einem Geständnis, wenngleich ihm noch immer schleierhaft war, weshalb sich Ilona Schneider bei einem zufälligen Passanten nach der Wohnung der Frau Heidenreich erkundigt hatte. Es klopfte, und Hauptmann Wustlich trat ein. Er hatte dem Mädchen, welches am Donnerstagnachmittag eine Frau sich eilig von der Triskauer Straße 37 hatte entfernen sehen, das Foto von Ilona Schneider gezeigt. »Sie ist sich nicht hundertprozentig sicher«, sagte er. »Die Frisur sei eine andere gewesen, sagt sie. Sie hat sie mit kurzem, gelocktem Haar in Erinnerung. Und dunkel.« »Aber eine Ähnlichkeit hat sie festgestellt?« »Ja, ähnlich kam sie ihr vor.« »Möglicherweise hat sie sich eine Perücke aufgesetzt. Es soll Frauen geben, die vor allem bei regnerischem Wetter eine Perücke mit sich führen. Das hat den Vorteil, daß sie so oder so immer frisiert erscheinen.« 233
»Das würde die Sache erklären«, sagte Wustlich. »Ich habe dir hier den schriftlichen Ermittlungsbericht aus dem Wohngebiet der Schneider mitgebracht. Vielleicht willst du ihn dir noch rasch zu Gemüte führen.« »Kann nie schaden«, sagte Ebner. »Hast du das Mädchen mitgebracht?« »Es sitzt zusammen mit seiner Mutter draußen im Flur.« »Kümmere dich doch darum, daß die Schneider auch erst mal dort plaziert wird. Das Mädchen soll genügend Zeit haben, sie sich anzuschauen. Wir wissen ja nicht, mit welcher Frisur uns die Dame heute überrascht. Wenn du dann mit dem Mädchen klar bist, kommst du mit zur Vernehmung dazu.« Nachdem Wustlich den Raum verlassen hatte, setzte sich Ebner wieder hinter seinen Schreibtisch und überflog rasch noch die schriftliche Fixierung des Berichts, der ihm bereits gestern telefonisch übermittelt worden war: »Die Ermittlungen im Wohnhaus der Ilona Schneider ergaben, daß sie im Haus Frankenstraße 13 polizeilich gemeldet ist. Sie bewohnt eine eigene Wohnung. Zum Zwecke der Auskunftserteilung wurden die Vertrauensleute Frau Zimmermann und Frau Baum angesprochen. Durch beide wurde übereinstimmend ausgesagt, daß die Schneider im Wohnhaus mit niemandem verkehrte und auch kei234
nen Kontakt hatte. Sie lebte von den anderen Mietern isoliert und nahm auch an keinen Hausversammlungen teil. Im Hause hatte sie aufgrund ihres Auftretens keinen guten Leumund. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, daß sie in ihrer Wohnung mehrfach unbekannte männliche Bürger beherbergte, die sich des öfteren auch auf den Bodenräumen herumdrückten. Außerdem wurde die Hausruhe durch häufige sogenannte Feten und Feiern und den damit verbundenen ruhestörenden Lärm erheblich gestört. Die Volkspolizei wurde davon mehrfach schon in Kenntnis gesetzt. Die Schneider änderte aber ihr Verhalten gegenüber den Hausbewohnern nicht. Sie sonderte sich weiter von ihnen ab. Außerdem wurde bekannt, daß die Schneider seit Anfang dieses Jahres ihre Miete, in Höhe von 21,85 Mark, nicht mehr entrichtet. Mahnungen der Energieversorgung sollen auch vorliegen. Im Hause fiel weiter auf, daß sie seit längerer Zeit keiner geregelten Arbeit nachgeht. Gesprächsweise erfuhr man von ihr, daß sie krank sei und eine Rente beziehe. Sachbezogen wurde durch Frau Zimmermann noch erwähnt, daß sie die Schneider am Donnerstagnachmittag gegen dreizehn Uhr an der Straßenbahnhaltestelle Loschwitzer, Ecke Frankenstraße habe stehen sehen. Sie trug zu diesem Zeitpunkt einen graublauen Mantel. Außer dem Grußwechsel fand zwischen beiden keine Unterhaltung statt. Weitere tatbezogene Hinweise konnten 235
nicht ermittelt werden.« Ebner war froh, den Ermittlungsbericht vor der ersten Vernehmung der Ilona Schneider noch durchgelesen zu haben, denn der letzte Hinweis war ihm telefonisch nicht übermittelt worden, möglicherweise hatte ihn der ABV auch erst nachher in Erfahrung bringen können, in jedem Falle war er von großer Wichtigkeit, denn damit war bewiesen, daß sich Ilona Schneider in der Zeit von etwa dreizehn Uhr dreißig, als sie mit dem Fleuropboten Bernd Braun gesprochen hatte, bis gegen fünfzehn Uhr in der Nähe des Tatorts aufgehalten hatte. Zugleich deckten sich aber die Zeitangaben der Frau Zimmermann mit denen der Frau Vincz, die zusammen mit ihrer Tochter gegen vierzehn Uhr dreißig die Wohnung verlassen haben will. Die Entfernungen zwischen Tatort, der Wohnung der Frau Vincz und der erwähnten Straßenbahnhaltestelle waren gering. Zu Fuß brauchte man dafür jeweils höchstens zehn Minuten. Auch die Wohnung der Schneider in der Frankenstraße lag in diesem Umkreis. Daß Frau Vincz ihre Tochter mit einem Alibi vor irgend etwas in Schutz nehmen wollte, stand gleichfalls außer Frage, aber ob sie sie schützte, weil sie die Täterin war, oder ob sie ihre Tochter nur aus einem nahe liegenden Verdacht herauszuhalten suchte, war bis zur Stunde ungeklärt. Ilona Schneider hatte sich unverkennbar viel Mühe gegeben, als eine gepflegte Frau in Erscheinung zu treten. Ihr Make-up war untadelig, 236
dabei unaufdringlich. Ebner begrüßte sie und bat sie Platz zu nehmen. Gleich als sie eintrat, war ihm aufgefallen, daß sie leicht hinkte. Sie strengte sich an, nicht zu hinken, konnte es aber nicht völlig verbergen. Er ließ ihr Zeit, mit der ungewohnten Situation fertig zu werden. Er war kein Vernehmer, der gleich aufs Ganze ging und sein Gegenüber erbarmungslos in die Ecke trieb, viel lieber ließ er allmählich eine Gesprächsatmosphäre aufkommen und bot sich als Zuhörer an. Zunächst nahm sie einen kleinen Taschenspiegel zur Hand, um ihr Make-up zu überprüfen. Es war ihre Methode, Zeit zu gewinnen und sich zu fassen. Ebner schaute ihr interessiert zu. Anfangs zitterten ihr die Hände ein wenig, doch nach und nach bekam sie sich besser in den Griff, und die Hände wurden ruhig. Sie war das, was man eine gutaussehende Frau zu nennen pflegte. Das schulterlange dunkelblonde Haar umrahmte ein oval geschnittenes Gesicht mit graugrünen Augen, die Ebner unwillkürlich an die Augen einer Katze erinnerten. Die kräftige Nase gab dem Antlitz etwas Herbes, das aber von den vollen weichen Lippen sogleich wieder abgefangen wurde. Sie packte den Spiegel wieder in ihre Handtasche und schaute Ebner erwartungsvoll an. »Zufrieden?« fragte er. »Es geht«, sagte sie. »Ich fühle mich nicht besonders, wahrscheinlich habe ich mich erkältet, und da 237
sieht man nicht gerade umwerfend aus.« »Den Frauen hilft in solchen Fällen die Kosmetik, was aber sollen wir Männer tun? Ich bin anscheinend auch erkältet.« »Haben Sie mich holen lassen, um mir das zu sagen?« »Was nehmen Sie denn an, weshalb ich Sie habe holen lassen?« »Keine Ahnung.« »Wirklich nicht?« »Wahrscheinlich geht es um Frau Heidenreich.« »Nein«, sagte Ebner, »es geht um Sie, Frau Schneider.« »Um mich?« Ebner sah sie an und nickte. Sie hielt seinem Blick nicht stand und zog an den Ärmeln ihres Pullovers, als seien sie ihr mit einemmal zu kurz geworden. Ebner schwieg. Sie versuchte sich bequemer zu setzen, dabei verzog sie für einen Moment schmerzhaft das Gesicht. »Tut Ihnen etwas weh?« fragte Ebner. Sie schüttelte den Kopf. Und wieder hüllte sich Ebner in Schweigen. Es wurde ihr zusehends unangenehmer. »Wie lange soll ich denn hier noch sitzen?« fragte sie. »Wie soll ich das wissen, Frau Schneider? Ich weiß doch nicht, wie lange Sie brauchen, um mit der Sprache herauszukommen.« »Sie denken wohl, ich weiß nicht, was Sie von mir 238
wollen? Ich weiß ganz genau, daß Sie mich in Verdacht haben wegen der Frau Heidenreich. Wenn man einmal was ausgefressen hat, ist man immer wieder dran.« »Sie sind es, die angefangen hat, von Frau Heidenreich zu reden, nicht ich.« »Na klar ich. Sie haben doch sonst überhaupt keinen Grund, mich zu vernehmen. Ich habe nichts angestellt, ich habe bloß das Pech gehabt, am Donnerstag bei Frau Heidenreich zu Besuch gewesen zu sein. Ich habe die Frau nicht umgebracht. Ich doch nicht. Klar war ich bei ihr. Sie hat sich gefreut, als ich kam. Sie hat Kaffee gekocht, hat mir Zigaretten angeboten. Und wie alte Frauen so sind, hat sie mir auch gleich noch ihre Wohnung gezeigt, hat erzählt, daß sie die Lottobude schließen will, weil es ihr zuviel wird und weil es so fußkalt drin ist. Wer kann denn ahnen, daß sie kurze Zeit später nicht mehr lebt? Wenn das so ist, daß man dann gleich verdächtigt wird, kann man ja überhaupt keine Menschenseele mehr besuchen.« »Von der Seite habe ich es noch gar nicht gesehen«, sagte Ebner. Es wunderte ihn nicht, von ihr zunächst eine Geschichte serviert zu bekommen, in der sie ihren Besuch bei Frau Heidenreich in keiner Weise bestritt. Sie hatte schließlich nicht vergessen, daß ihr vor sechs Jahren Fingerabdrücke abgenommen worden waren. »Weil es Ihr Beruf ist, jeden zu ver239
dächtigen.« »Sie meinen, es handelt sich dabei um eine Art Berufskrankheit?« »Ich meine gar nichts. Ich will endlich wieder nach Hause. Fragen Sie, was Sie fragen wollen, und lassen Sie mich gehen. Mein Freund kommt gegen sechzehn Uhr, und da möchte ich in der Wohnung sein. Wir sind verabredet, wir wollen Weihnachtseinkäufe machen. Außerdem bin ich krank.« Ebners gleichbleibende Ruhe und Freundlichkeit hatten sie verunsichert, und nun versuchte sie, ihn durch Aggressivität aus der Ruhe zu bringen. »Gut, daß Sie mich daran erinnern!« sagte er. »Weihnachten steht ja vor der Tür. Man muß anfangen, sich um Geschenke zu kümmern.« Hauptmann Wustlich trat ein und blickte verwundert zu Ebner, weil er dessen letzten Satz mitbekommen hatte. »Frau Schneider will heute noch Weihnachtseinkäufe machen«, sagte Ebner erklärend, ehe er Wustlich vorstellte. »Sie erzählen dem Hauptmann bitte noch einmal, wie sich Ihr Besuch bei Frau Heidenreich abgespielt hat.« »Was denn? Noch mal?« »Ja«, antwortete Ebner, »es interessiert ihn. Und ich habe im Moment nebenan zu tun.« Im Vorzimmer informierte ihn die Sekretärin, daß das Mädchen die Frau zweifelsfrei identifiziert hatte. »Außerdem fiel dem Mädchen noch ein, daß die Frau am Don240
nerstag auch ein wenig gehinkt habe.« »Sieh da, sieh da!« sagte Ebner. »Ich habe das Gefühl, es gibt heute wieder jede Menge Überstunden«, sagte die Sekretärin. »Ihr Gefühl täuscht Sie nicht, Evelyn. Trommeln Sie alle Mitarbeiter der Einsatzgruppe zusammen. Einsatzbesprechung. Vielleicht die letzte.« »Sofort?« »In einer halben Stunde. Und jetzt brauche ich erst mal einen Staatsanwalt.« »Maigret wollte Sie vorhin sprechen. Ich habe Sie entschuldigt.« »Ist er schon weg?« »Ich glaube, ja. Er bittet Sie, morgen gleich früh zu ihm zu kommen.« »Bestens! Heute hätte er nur gestört.« Die Sekretärin verband ihn mit der Staatsanwaltschaft, und Ebner kündigte dem zuständigen Staatsanwalt seinen Besuch an, um einen Haftbefehl zu erwirken und um die Genehmigung zu einer Hausdurchsuchung. »Wenn Sie uns höchstpersönlich die Ehre geben wollen, bitte, gern!« sagte er abschließend ins Telefon. »Da haben Sie auch gleich die Unterlagen.« Auch die weitere Vernehmung gestaltete sich wenig ergiebig. Ilona Schneider blieb bei ihrer Version. »Wie erklären Sie sich dann aber die Behauptung Ihrer Mutter, Sie seien kurz nach dreizehn Uhr zu ihr zu Besuch gekommen und bis gegen vierzehn Uhr 241
dreißig geblieben?« fragte Ebner. »Ich habe sie ja auch besucht. Nachdem ich bei Frau Heidenreich war, bin ich zu ihr gegangen. Als die Leute dann überall erzählten, was da mit der Frau Heidenreich passiert war, habe ich sie angerufen und habe ihr gesagt, sie soll doch sagen, daß ich die ganze Zeit bei ihr war. Ich hatte Angst, in Verdacht zu geraten.« »Wann sind Sie zu Frau Heidenreich gegangen?« »Zehn Minuten nach eins.« »Woher wissen Sie das so genau?« »Na, weil sie um eins ihre Annahmestelle schließt. Kurz vorher hatte ich noch die Lottofahne draußen hängen sehen, das war, wie ich in den Geflügelladen ging. Ich habe dort einen Broiler gekauft. Und wie ich wieder rauskam, war die Fahne weg. Bis ich bei ihr in der Wohnung war, müssen ungefähr zehn Minuten vergangen sein.« »Wußten Sie, wo Frau Heidenreich wohnt?« »Nein, wußte ich nicht.« »Und wie haben Sie es in Erfahrung gebracht?« »Ich habe einen jungen Mann gefragt, der stand gegenüber von dem Haus an der Haltestelle.« »Das stimmt«, sagte Ebner. »Erfreulicherweise halten Sie es wenigstens in dem Punkt mit der Wahrheit.« »Meinen Sie, ich lüge?« fuhr sie hoch. Sie hatte einen Augenblick lang nicht daran gedacht, sich vor242
sichtig zu bewegen. Sogleich verzog sie wieder ihr Gesicht. »In dem Zustand wollten Sie Einkäufe machen?« fragte Ebner. »Man kann sich ja wegen Grippe nicht ewig ins Bett legen.« »Haben Sie ein Fußleiden? Aber nein, es scheint mir mehr die Hüfte zu sein.« »Ich bin am Freitag ausgerutscht. Beim Aussteigen aus der Straßenbahn. Und die Prellung tut mir weh.« »Waren Sie schon beim Arzt?« »Bei den vollbesetzten Wartezimmern! Alle Welt ist erkältet. Ich setze mich da nicht ’rein. Die Prellung vergeht wieder.« Der Staatsanwalt liebte eine gewisse Förmlichkeit bei all seinen Amtshandlungen, weshalb sich mit seinem Eintritt die Atmosphäre sogleich spürbar veränderte. Nachdem Ebner ihn vorgestellt hatte, übernahm er die Gesprächsführung. »Sie werden beschuldigt, die Rentnerin Heidenreich vorsätzlich getötet zu haben. Äußern Sie sich dazu!« sagte er in strengem Ton. Für Ilona Schneider war das genau die Art der Vernehmung, für die sie sich präpariert hatte. »Ich habe bereits gesagt, daß ich Frau Heidenreich besucht, sie aber nicht getötet habe«, antwortete sie leise und gefaßt. »Was wollten Sie bei Frau Heidenreich?« fragte 243
der Staatsanwalt. Ebner hatte diese Frage bewußt nicht gestellt, denn er wollte der Frau sowenig wie möglich Gelegenheit geben, ihre erfundenen Geschichten vorzutragen. Selbstverständlich hatte sie mit dieser Frage gerechnet und eine plausible Erklärung zur Hand. »Es war eigentlich ein ganz spontaner Einfall«, sagte sie. »Ich war auf dem Wege zu meiner Mutter und sah Frau Heidenreich in ihrer Annahmestelle sitzen. Früher bin ich oft zu ihr gegangen und habe Tele-Lotto gespielt. Sie war eine freundliche alte Dame. Sie hat mir vor Jahren mal eine Tätigkeit in einer anderen Annahmestelle vermittelt. Für zwei Monate, weil die Leiterin dort zur Kur mußte. Ja, und wie ich sie so sitzen sehe, denke ich, du solltest sie doch wieder mal besuchen. Einfach mal guten Tag sagen. Ich habe dann noch Pralinen gekauft, um was zu haben, was ich mitbringen kann.« »Und Blumen«, ergänzte Wustlich. »Nein«, antwortete sie, »die Blumen hatte ich eigentlich für mich gekauft. Aber weil sie mich so freundlich empfing, ich meine, weil sie sich so freute, habe ich ihr die Blumen gleich noch dazugegeben.« »Wann haben Sie Frau Heidenreichs Wohnung verlassen?« »Kurz nach halb zwei.« »Also kurz nach dreizehn Uhr dreißig«, korrigierte 244
der Staatsanwalt. »Und wann haben Sie erfahren, daß Frau Heidenreich tot ist?« »Noch am gleichen Tage. Jemand in der Straßenbahn sprach davon.« Der Staatsanwalt schaute sich fragend nach Ebner um, es sah aus, als erwarte er von ihm Unterstützung. Da Ebner schwieg, entschloß er sich, die Prozedur zu einem schnellen Ende zu bringen. »Ich habe Ihnen zu eröffnen«, sagte er zu der jungen Frau, »daß gegen Sie wegen der gegen Sie erhobenen Beschuldigung Haftbefehl beantragt wird. Haben Sie dazu etwas zu erklären?« »Sie machen mir alles kaputt«, sagte sie. »Endlich habe ich den Mann gefunden, den ich mir immer gewünscht habe, und da kommen Sie und sperren mich ein. Wenn er das erfährt, ist alles aus.« »Sie haben sich hier lediglich zur Sache zu äußern«, sagte der Staatsanwalt. »Das gehört doch zur Sache! Oder gehört das vielleicht nicht zur Sache, wenn Sie mich einfach auf einen Verdacht hin einknasten? Außerdem bin ich krank.« »Krank?« fragte der Staatsanwalt und blickte erneut zu Ebner. »Wir werden das gebührend berücksichtigen, Frau Schneider, und Sie in der Krankenstation unterbringen«, sagte Ebner und fügte vielsagend hinzu: »Vor allem müssen Sie erst einmal gründlich untersucht 245
werden.« Während der anschließenden kurzen Einsatzbesprechung hatte es nur weniger Worte bedurft. Jedem der Mitarbeiter war klar gewesen, daß in der Mordsache Heidenreich die letzte Runde eingeläutet worden war. Die Hauptlast der Arbeit verlagerte sich in dieser Phase auf die Kriminaltechniker und den Vernehmer. Der Staatsanwalt hatte ohne Zögern einer Durchsuchung der Wohnung in der Frankenstraße zugestimmt. Ebner vermutete, daß Ilona Schneider entgegen ihrer Aussage, von der Wohnung der Frau Heidenreich kommend, nicht zu ihrer Mutter, sondern in ihre Wohnung in der Frankenstraße gegangen war. Dafür sprach vor allem die Aussage des Mädchens, welches sie ja in genau diese Richtung hatte gehen sehen. Und es gab wahrscheinlich noch einen weiteren Grund, der zu dieser Annahme berechtigte. Ebner hatte es geschienen, als wären die letzten Sätze der jungen Frau nicht eingelernt gewesen, nicht sorgsam vorbereitet. Die Verhaftung war überraschend gekommen und hatte sie tief getroffen. Und der erste Gedanke, den sie fassen konnte, war der an den Mann, den sie offenbar liebte. Ihre Angst vor dem, was geschehen würde, wenn er von ihrer Verhaftung erfuhr, war echt. In dem Punkt war sich Ebner sicher. Und das ließ die Schlußfolgerung zu, daß sie diesem Manne nichts von ihrem Besuch bei Frau Heidenreich erzählt hatte. Also mußte sie auch das gestohlene Geld außerhalb seiner Woh246
nung verbergen. Ebner rechnete damit, daß das Geld in der Wohnung Frankenstraße gefunden werden würde. Gewiß kein überlegt ausgesuchtes Versteck, doch ihre Möglichkeiten, ein anderes zu finden, waren vermutlich gering. Und außerdem hegte er noch immer Zweifel an der vorsätzlichen Mordabsicht der jungen Frau. Im Falle einer vorsätzlichen Tat bestünde wenig Aussicht, das Geld in ihrer Wohnung zu finden, denn zu einem Vorsatz gehörte in der Regel auch ein ausgeklügelter Plan für das Danach. Aber nach wie vor waren zwei Punkte nicht in einem vorsätzlichen Tatablauf unterzubringen, nämlich die Frage an Bernd Braun nach der Adresse der Frau Heidenreich und die in der Wohnung der alten Frau zurückgelassenen Gelder und Wertgegenstände. Eine Rentnerin zu erschlagen, um tausend Mark an sich zu bringen, war ein Vorgang, der ihm wenig wahrscheinlich dünkte. Es mußte sich in der knappen dreiviertel Stunde in der Triskauer Straße etwas abgespielt haben, dessen Ergebnis er zwar kannte, nicht aber dessen Verlauf. Gert Weser, der Freund der jungen Frau, begrüßte Ebner ausgesprochen freundlich. »Wird ja auch Zeit, daß ich mal einen Kollegen von Ilona kennenlerne. Geheimhaltung hin, Geheimhaltung her, aber man kann es damit auch übertreiben.« Ebners Verblüffung war schwer zu beschreiben. »Sie halten mich für einen Kollegen Ihrer Freundin?« fragte er. 247
»Na, Sie haben sich doch gerade als Hauptmann der K vorgestellt.« »Das habe ich. Aber daß Frau Schneider auch eine Mitarbeiterin des kriminalistischen Dienstes sein soll… Hat sie Ihnen das gesagt?« »Ja, natürlich. Sonst würde ich es doch nicht behaupten,« »Hmmm.« »Stimmt irgend etwas nicht? Ist Ilona etwas zugestoßen? Sie wollte nämlich um vier in der Wohnung sein. Und jetzt ist es schon nach fünf.« »Vielleicht setzen wir uns erst mal?« »Selbstverständlich. Ich will Sie doch nicht hier im Flur stehen lassen.« Das Wohnzimmer behagte Ebner auf den ersten Blick. Die meisten Möbel waren selbstgebaut, bequem und schlicht. Die Wände waren mit Theaterplakaten und Zeichnungen bedeckt. »Sind das Ihre?« fragte Ebner, auf die Zeichnungen deutend. Weser nickte. Er schien sichtlich beunruhigt. »Wie ich hörte, malt Frau Schneider auch«, sagte Ebner. »Leider malt sie nur sehr selten. Sie könnte, wenn sie nur wollte. Und Sie wissen nicht, wo sie abgeblieben ist? Langsam mache ich mir nämlich Sorgen. Es ging ihr schon seit Tagen nicht besonders.« »Seit wann ging es ihr nicht besonders?« »Weshalb wollen Sie das wissen? Weshalb sind 248
Sie überhaupt hier?« Ebner betrachtete immer noch die Zeichnungen. Sie variierten allesamt ein Motiv: das menschliche Auge. Und vorwiegend das menschliche Auge als Spiegel. Es fanden sich blinde Spiegel darunter, Zerrspiegel und gesprungene Spiegel. Und je nach Beschaffenheit des Spiegels sah auch die Welt aus, die sich darin widerspiegelte. »Ja, Herr Weser«, sagte Ebner, »ich würde mit Ihnen viel lieber über Malerei sprechen als über Frau Schneider. Nur habe ich keine Wahl. Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß Frau Schneider so schnell nicht zu Ihnen zurückkehren wird. Wir haben sie in Untersuchungshaft nehmen müssen. Nebenbei bemerkt, war sie zu keiner Zeit eine Mitarbeiterin der Kriminalpolizei.« Weser bewegte die Lippen, doch er brachte keinen Ton heraus. Er war im ersten Augenblick außerstande, sich zu äußern. Erst nach einer Weile gelang es ihm, sich einigermaßen zu fassen. »Das kann doch nicht wahr sein«, sagte er. »Weshalb haben Sie sie denn festgenommen? Was hat sie denn getan?« »Vorerst haben wir nur einen Verdacht, Herr Weser. Zunächst aber eine Reihe von Fragen an Sie,« »Wieso wollen Sie mir nicht sagen, was mit Ilona los ist? Darf man das nicht erfahren? Habe ich denn kein Recht darauf?« »Im engeren Sinne haben Sie tatsächlich kein Recht darauf. Ich gehe doch recht in der Annahme, 249
daß Sie in keinem Verwandtschaftsverhältnis zu Ilona Schneider stehen?« Weser nickte. »Wie lange kennen Sie sie?« »Seit rund einem halben Jahr«, antwortete Weser. »Und seit wann wohnt sie bei Ihnen?« »Seit etwa drei Monaten.« »Und sie hat Ihnen also erzählt, sie arbeite bei der Kriminalpolizei?« »Ja, das hat sie. Vom ersten Tag an.« »Es ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, sich mal den Dienstausweis zeigen zu lassen?« »Sie tat immer sehr geheimnisvoll, was ihre Arbeit anbelangte. Außerdem hat sie ja stets ihr Gehalt angebracht. Es war zwar nur Krankengeld, aber trotzdem …« »Wie hoch war es denn?« »Fünfhundert Mark netto.« »Diese fünfhundert Mark hat sie Ihnen über drei Monate gezeigt?« »Ja. Immer so um den Siebenundzwanzigsten herum. Das wäre der Gehaltstag, hat sie gesagt.« »Und wann hat sie in diesem Monat das Geld gebracht?« »Am Donnerstag. Wir waren ziemlich abgebrannt. Ich habe sie noch gedrängt, doch ihr Krankengeld zu holen. Am Donnerstagabend lag es dann auf dem Tisch.« »Wann sind Sie am Donnerstag nach Hause ge250
kommen? Wann waren Sie hier in Ihrer Wohnung?« »Kurz nach siebzehn Uhr.« »Und Frau Schneider war bereits da?« »Ja, sie lag auf der Couch. Es ging ihr nicht besonders. Sie hatte eine leichte Grippe, und außerdem war sie an dem Tage auch noch gefallen. Beim Aussteigen aus der Straßenbahn. Es schien ihr ziemlich weh zu tun.« »Das alles geschah am Donnerstag der vorigen Woche? Sie sind sich da völlig sicher?« »Absolut«, sagte Weser. »Welche Art von Geldscheine waren es, in der Frau Schneider ihr Gehalt vorgelegt hat? Sie hat es Ihnen doch vorgelegt?« »Es lag auf dem Tisch, als ich nach Hause kam. Es waren alles Fünfzigmarkscheine.« »Und wo sind diese Scheine jetzt?« »Zweihundert Mark habe ich im Portemonnaie. Ungefähr fünfzig Mark sind beim Wochenendeinkauf draufgegangen. Das restliche Geld müßte Ilona bei sich haben.« »Ich muß sie leider bitten, mir die vier Fünfzigmarkscheine auszuhändigen, Herr Weser. Gegen Quittung!« »Und was mache ich? Die Quittung nimmt mir im Laden ja niemand als Bezahlung ab.« Ebner zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid. Es handelt sich mit größter Wahr251
scheinlichkeit um gestohlenes Geld.« »Sie hat das Geld gestohlen?« »Woher sonst sollte sie es haben? Es bestand keinerlei Arbeits-Verhältnis. Sie war ohne Einkommen.« »Warum hat sie mir das denn nicht gesagt? Davon geht doch die Welt nicht unter. Ich verdiene doch. Wir hätten uns eben einschränken müssen. Ich verstehe das nicht. Hat sie denn die anderen beiden Male das Geld auch gestohlen?« »Kann ich Ihnen nicht sagen. Noch nicht.« »Das heißt also, daß sie vor Gericht muß? Und in den Knast?« »Wir nennen es für gewöhnlich Strafvollzug«, sagte Ebner, »aber es läuft wohl auf das gleiche hinaus. Würden Sie bitte versuchen, den Zustand zu beschreiben, in dem Sie am Donnerstag Frau Schneider antrafen. Sie hatte also eine Grippe und war gestürzt. Fiel Ihnen sonst noch etwas auf? Gab sie sich anders als sonst?« »Ich glaube nicht, ich kann mich jedenfalls nicht entsinnen. Na ja, sie war krank. Wir sind auch früh schlafen gegangen. Sie war nicht sehr gesprächig. Aber das ist bei ’ner Grippe normal. Wenn man eine Grippe hat, hat man meistens auch schlechte Laune.« »Lieben Sie Frau Schneider?« »Lieben? Ich weiß nicht. Ich meine, das läßt sich ja meistens schwer sagen. Ich bin ja nicht mehr sieb252
zehn, wo man bis über beide Ohren verliebt ist. Sie gefällt mir. Und es gab eigentlich in der ganzen Zeit nie einen Krach.« »Wenn Sie sie charakterisieren müßten, Herr Weser, was würden Sie dann sagen?« »Charakterisieren?« sagte Weser gedehnt. Ebner spürte, wie wenig er dazu aufgelegt war. »Ich könnte Sie auch fragen: Was wissen Sie von Frau Schneider? Was wissen Sie zum Beispiel von ihrer Ehe?« »Sie hat ja sehr jung geheiratet. Sie wollte von zu Hause weg. Und da hat sie wohl den ersten besten genommen. Das geht ja selten gut.« »Waren Sie schon einmal verheiratet?« »Ein ganzes Jahr lang. Ich habe selten Glück mit Frauen. Ich bin nicht der Typ, der auf den Putz haut. Anscheinend brauchen das die Frauen. Obwohl man es ja anders hört. Gleichberechtigung und so. Aber wenn es darauf ankommt, laufen sie einem weg. Und wenn man sie dann wieder sieht, dann ziehen sie mit irgendeinem harten Macker los. Ich dachte, mit Ilona wird das anders. Ehrlich, ich habe gedacht, das ist die Frau, mit der du zusammenbleiben kannst. Ich hatte immer das Gefühl, sie ist Frau und Kumpel in einem. Warum hat sie mir bloß diesen Scheiß erzählt? Mir war’s schließlich egal, wo sie arbeitet. Es mußte ja nicht unbedingt bei der Kripo sein. Und sie hat das Geld tatsächlich geklaut?« Ebner nickte. 253
»Dafür wird man ja nicht gleich mit Jahren bestraft. Vielleicht bekommt sie Bewährung. Ich meine, das Geld zahle ich zurück. Das kann ich Ihnen morgen bringen, das Geld. Das borge ich mir. Wenn wir dem Betreffenden das Geld zurückgeben, zieht der möglicherweise die Anzeige zurück.« »Das wird er mit Sicherheit nicht tun.« »Woher wollen Sie das wissen? War es mehr als fünfhundert Mark?« »Es waren reichlich tausend Mark, aber das ist nicht der entscheidende Punkt, Herr Weser. Ihre Freundin steht in dem dringenden Verdacht, eine alte Frau erschlagen zu haben.« Weser wurde blaß. »Das glaube ich nicht«, sagte er. »Das muß ein Irrtum sein. Nie im Leben wäre sie dazu in der Lage! Nie im Leben. Genosse Hauptmann, Sie müssen sie da rausholen! Es muß doch zu beweisen sein, daß sie es nicht war. Man kann doch nicht einen Menschen verurteilen für etwas, was er nicht gemacht haben kann.« Ebner erhob sich. Er konnte dem Mann nicht helfen. »Kennen Sie eine Frau Heidenreich?« fragte er. Weser schüttelte den Kopf. »Hat Frau Schneider den Namen dieser Frau irgendeinem Zusammenhang erwähnt? Überlegen Sie in Ruhe!« »Ich kann nicht in Ruhe überlegen. Was verlangen Sie von mir? Wie soll ich in Ruhe überlegen können, wenn Sie behaupten, Ilona sei eine Mörderin? Ist das 254
am Donnerstag geschehen?« Ebner nickte. »Aber sie war doch wie sonst. Ich meine, sie ist neben mir eingeschlafen. Sie hat mich umarmt. Sie hat… Das kann nicht sein. Sie kann unmöglich kurz vorher mit denselben Händen eine Frau erschlagen haben. Das gibt es nicht. So etwas gibt es höchstens in Filmen. Im Leben gibt es das nicht.« »Sollten Sie sich doch noch an den Namen Heidenreich erinnern können, Herr Weser, dann rufen Sie mich bitte an.« »Kann ich sie sprechen? Kann ich nicht mit Ihnen mitkommen und sie sprechen. Ich bin überzeugt, das klärt sich alles ganz schnell auf, wenn ich mit ihr sprechen kann.« »Wenn wir die Ermittlungen abgeschlossen haben, können Sie Ihre Freundin sprechen. Vorher nicht.« Noch am gleichen Abend suchte Hauptmann Ebner die Krankenstation der Untersuchungshaftanstalt auf, um Ilona Schneider ein zweites Mal zu vernehmen. Vom behandelnden Arzt erfuhr er, daß es sich bei ihrer Verletzung um eine Beckenfraktur handelte, die unbedingte Bettruhe verlangte. Also zog er sich einen Stuhl an das Bett der Verhafteten und begann mit der Vernehmung, indem er ihr Grüße von Gert Weser bestellte. Sie zuckte bei der Erwähnung des Namens zusammen. Ihr Gesicht rötete sich. »Was hat er gesagt?« fragte sie. »Er hat sich gefreut, endlich einmal einen Arbeits255
kollegen von Ihnen kennenzulernen.« Sie schloß die Augen und schwieg. »Weshalb diese Lüge einem Manne gegenüber, der Sie liebt?« Sie gab keine Antwort. »Woher hatten Sie das Geld, das Sie als Ihr Krankengeld vorgezeigt haben?« Sie schwieg weiter. »Wollen Sie nicht antworten, Frau Schneider?« »Sie verstehen es ja doch nicht«, sagte sie. »Wenn ich sage, daß ich Angst hatte, ihn zu verlieren, dann verstehen Sie das bestimmt nicht. Als ich ihn kennenlernte, habe ich ja nicht wissen können, daß er mir mal so wichtig werden würde. Also habe ich die Sache mit der Kriminalpolizei erfunden. Ich wollte mich interessant machen. Ich bin ja niemand. Ich bin eine Niete. Ich habe ja immer versagt. Sollte ich ihm das gleich am Anfang sagen? Wer macht denn das schon? Aber wenn man dann angefangen hat zu mogeln, dann muß man immer weitermogeln. Dann zieht eben eine Lüge die nächste nach sich. Das geht gar nicht anders. Und wenn ich ihm nun mal gesagt hatte, daß ich bei der K bin, mußte ich auch Geld nach Hause bringen. Ich wollte ihm ja alles sagen. Ich hatte fest vor, es ihm zu sagen. Nur dieses eine Mal noch…« Sie verstummte. »Sie haben mir meine Frage nicht beantwortet, Frau Schneider. Woher stammte das Geld?« »Von Frau Heidenreich. Sie hat es mir geborgt. Das war der Grund, weshalb ich zu ihr gegangen bin. 256
Ich brauchte es. Wir hatten noch etwa fünfzig Mark zum Wirtschaften.« »Es war das dritte sogenannte Gehalt, das Sie Ihrem Freund als Beweis Ihres Angestelltenverhältnisses vorzeigten. Woher hatten Sie das Geld die anderen beiden Male?« »Von einem Freund.« »Und dieser hochherzige Freund hat Ihnen zweimal fünfhundert Mark so einfach mir nichts, dir nichts auf den Tisch geblättert.« »Er wußte, daß ich nichts verdiene und daß ich krank geschrieben bin. Außerdem liebt er mich. Wahrscheinlich hat er mir das Geld gegeben, weil er immer noch hoffte, ich würde zu ihm zurückkommen.« »Haben Sie ihm Hoffnung gemacht?« »Ja«, sagte sie kleinlaut. »Ich brauchte das Geld.« »War das Ihre einzige Geldquelle?« Sie nickte. »Frau Schneider, ich kann Sie nicht zur Wahrheit zwingen, aber es bekommt uns beiden besser, wenn Sie gleich die richtigen Aussagen machen. Ich will Ihnen nicht drohen, aber Sie können sich sicher vorstellen, daß unsere Laune nicht besser wird, wenn wir gezwungen sind, Ihnen jede Unwahrheit immer erst durch mühselige Nachforschungen und Befragungen nachzuweisen. Nachweisen werden wir sie Ihnen in jedem Fall, nur wie schon gesagt…« »Immer die gleiche blöde Masche«, sagte sie. »Ich 257
bin schließlich nicht zum erstenmal bei euch. Ich kenne mich aus in den verdammten faulen Tricks, die ihr draufhabt. Als nächstes kommt gleich der Appell an meine Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Zeigen Sie sich kooperativ, Frau Schneider! Das erleichtert Ihre Lage sehr. Daß ich nicht lache! Was Sie wollen, ist doch nichts anderes, als meine ganze beschissene Vergangenheit wieder hochzuholen. Und ich dachte, ich hätte es hinter mir. Endlich hast du festen Boden unter den Füßen, habe ich gedacht. Jetzt lebst du so, daß du jedem ins Gesicht blicken kannst. Das wollte ich, ob Sie’s glauben oder nicht. Ich hätte dem Gert alles gesagt, ich habe ja nur Angst gehabt, es könnte zu früh sein. Ich wollte, daß er mich wirklich liebt, ich meine, daß er mich so sehr liebt, daß ihm die Wahrheit nichts mehr ausmacht. Und nun ist alles aus. Alles kaputt.« Ebner zeigte sich ungerührt. »Ich wiederhole meine Frage: War dies die einzige Geldquelle?« »Natürlich nicht!« fauchte sie ihn an. »Sie wissen es doch längst. Ich habe mir seit vielen Jahren regelmäßig Geld von einem Uhrmacher geben lassen. Ich kenne den schon seit meiner Schulzeit. Damals war er noch einigermaßen beisammen, jetzt ist er kurz vor der Rente. Früher habe ich mit ihm geschlafen.« »Und dafür gibt er Ihnen heute noch Geld?« »Heute gibt er es mir dafür, daß ich mich nackt ausziehe. Heute betatscht er mich bloß noch.« 258
»Wieviel bekommen Sie dafür?« »Fünfzig Mark. Jedesmal, wenn ich zu ihm in die Werkstatt komme und mich ausziehe, gibt er mir fünfzig Mark. Ich finde es jetzt alles andere als schön – und ich war fest entschlossen, auch damit aufzuhören –, aber erstens brauche ich das Geld, und dann tat mir der Mann leid. Er hat mich ja nie dazu gezwungen. Und er hat auch nie irgendwelche Schweinereien von mir verlangt. Als Kind bin ich gern zu ihm gegangen. In seiner Werkstatt war es immer so schön still. Und er hat mir Märchen erzählt. Zu ihm konnte ich kommen, wann ich wollte. Er hat mir die Nase geputzt, wenn ich geheult habe. In gewisser Hinsicht war er mein Vater. Später hat sich da in mir etwas geändert. Ich weiß nicht, wieso. Wahrscheinlich, weil ich seinen Körper nicht mochte. Dann habe ich angefangen, ihn sozusagen zu erpressen. Er hatte schließlich mit mir geschlafen, als ich knapp fünfzehn war, und immer wenn ich nun Geld brauchte, bin ich zu ihm hin und habe ihm gesagt, ich würde ihn anzeigen, wenn er mir kein Geld gäbe.« »Weshalb bekamen Sie diesmal kein Geld von ihm?« »Ich hatte ja Gert, und deshalb war ich lange nicht mehr bei ihm gewesen. Am Mittwoch bin ich hin, und ich stand vor dem Laden – der ist vorn vor der Werkstatt –, und da war ein Schild, so ein Aushang, daß er wegen Krankheit den Laden geschlossen hält. 259
Bis zum Siebenundzwanzigsten. Na schön, habe ich mir gesagt, den einen Tag kannst du schon noch warten. Denn am Donnerstag war ja der Achtundzwanzigste. Ich bin auch am Donnerstag erst einmal zu ihm hin, aber da war ein neues Schild, diesmal sollte bis zum zehnten Dezember geschlossen sein. Was blieb mir denn anderes übrig, als Frau Heidenreich anzupumpen. Ich wußte beim besten Willen nicht, wen ich sonst noch hätte anpumpen sollen.« »Wußten Sie denn nicht, wo der Uhrmacher wohnt?« »Na klar wußte ich das, aber der ist ja verheiratet. Wie sollte ich denn an der Frau vorbeikommen?« »Sie haben sich also von Frau Heidenreich genau fünfhundert Mark geborgt?« »Ja, und sie hat mir auch noch vorgeschlagen, ihre Annahmestelle zu übernehmen. Sie wollte am Jahresende aufhören, und da sollte ich die Leitung übernehmen. Ich habe ja schon einmal aushilfsweise in so einer Funktion gearbeitet. Sie war der Meinung, ich könnte das in den Griff bekommen und wäre aus meinen Geldsorgen ’raus und könnte ihr das Geld ohne Schwierigkeiten zurückzahlen.« »Aha«, sagte Ebner. »Nun kommen wir der Sache schon näher. Erzählen Sie mir den Verlauf des Donnerstags.« »Ich habe doch gesagt, daß ich zuerst zu dem Uhrmacher gefahren bin.« 260
»Wann war das?« »Kurz nach zehn.« »Wann genau sind Sie aus der Wohnung gegangen?« »Etwa halb zehn.« »Und wo befindet sich der Laden des Uhrmachers?« »In Löbtau, in der Essener Straße.« »Wie sind Sie dahin gekommen?« »Mit der Straßenbahn natürlich. Ich kann von der Stübelallee mit der Linie Fünfzehn durchfahren bis zur Kesselsdorfer, Ecke Saalhausener. Die Saalhausener Straße laufe ich dann ’runter bis zur Langen Straße und von da zur Essener.« »Was hatten Sie bei sich?« »Na, meine Umhängetasche.« »Nichts weiter?« »Und den Schirm, den hatte ich da so durchgeschoben.« »Nachdem Sie also an dem Uhrmacherladen gesehen hatten, daß er noch weiter wegen Krankheit geschlossen war, sind Sie sogleich zur Triskauer Straße gefahren. Oder waren Sie nochmals in der Wohnung Ihres Freundes?« »Ich bin direkt zur Triskauer Straße. Wieder mit der Linie Fünfzehn. Ich ging sofort zur LottoAnnahmestelle, aber da sah ich von draußen durch das Fenster eine alte Dame bei Frau Heidenreich sit261
zen, die hatte da so einiges ausgepackt, ich glaube, es waren irgendwelche Kindersachen, die sie der Frau Heidenreich zeigte. Da bin ich erst mal wieder weg. Es wäre mir zu blöd gewesen, Frau Heidenreich im Beisein anderer anzuborgen. Ich bin ins Cafe ,Traube’ und habe einen Kaffee getrunken. So gegen zwölf Uhr dreißig bin ich dann wieder hingegangen, aber da saß die alte Dame immer noch und erzählte. Ich bin dann in den Konsum schräg gegenüber und habe eine Packung Pralinen gekauft. Danach bin ich noch in den Geflügelladen nach einem Broiler und dann in den Gemüseladen, da gab es gerade Apfelsinen, und es standen natürlich die Leute an. Als ich endlich wieder herauskam, war die Frau Heidenreich schon nach Hause gegangen.« »Sie haben also die Pralinen, den Broiler und die Apfelsinen in Ihrer Umhängetasche verstauen können?« »Nein, ich hatte ja noch einen Einkaufsbeutel bei mir. Den habe ich aus der Umhängetasche genommen und das Zeug hineingepackt.« »Und was machen wir mit den Blumen, Frau Schneider? Wie kommen die zu Ihnen?« »Ach so, ja, die Blumen hatte ich mir schon in der Essener Straße besorgt. Da verkaufte jemand Chrysanthemen aus einem Autoanhänger.« »Wie waren Sie an dem Tage gekleidet?« »Ich hatte dieselben Sachen an, die ich heute auch 262
anhabe. Meinen blaugrauen Mantel, den flauschigen Pullover, den Rock und die Schuhe mit der hohen Sohle. Und dann hatte ich noch den Schirm bei mir, den habe ich im Geflügelladen liegenlassen. Der Verkäufer kam mir auf die Straße nachgelaufen und hat mir den Schirm gegeben. Weil ich nicht genau wußte, wo Frau Heidenreich wohnt, habe ich einen jungen Mann gefragt. Dann bin ich über die Straße zu dem Haus, in dem Frau Heidenreich wohnt. Ich habe an der Wohnungstür geläutet, sie hat mir geöffnet und mich gleich eingelassen. Sie kannte mich ja. Sie hat sich gefreut. Alte Leute kriegen ja nicht häufig Besuch.« »In welches Zimmer gingen Sie?« »In das Wohnzimmer, also in das Zimmer, das rechts vom Flur abging. Frau Heidenreich ging gleich darauf in die Küche, um Kaffee zu brühen. Anschließend brachte sie sich ein Brötchen mit ins Zimmer. Und dann haben wir in dem Zimmer Kaffee getrunken. Ich habe drei Zigaretten geraucht.« »Wie lange hat das Kaffeetrinken gedauert?« »Ich hatte zwar keine Uhr, aber es muß so bis kurz vor halb zwei gedauert haben. Wir haben ja auch nicht bloß dagesessen, sie hat mich in der Wohnung umhergeführt, das heißt, sie zeigte mir das Zimmer, das sich an das Wohnzimmer anschließt. Auf der Toilette war ich auch.« »Halten wir fest, Sie waren im Wohnzimmer, im 263
sogenannten Herrenzimmer und in der Toilette. Andere Räume haben Sie nicht betreten?« »Auf dem Flur war ich noch. Sonst war ich in keinem anderen Zimmer. Als wir noch beim Kaffeetrinken waren, läutete es, und ich wollte aufmachen gehen, weil Frau Heidenreich noch aß, aber sie sagte: ,Laß mal, Mädchen, ich muß ja sowieso bald gehen.’ Sie mußte ja um vierzehn Uhr wieder die Annahmestelle aufmachen. Sie ging zur Wohnungstür und öffnete. Ich blieb im Wohnzimmer sitzen und rauchte. Es waren zwei Töpfer, also jedenfalls haben sie gesagt, daß sie die Töpfer sind. Die kamen wegen des Ofens, der qualmte wohl. Die Tür stand halb auf, und ich konnte alles sehen und hören. Der eine, das war noch ein ganz Junger. Der andere müßte so an die Dreißig gewesen sein. Frau Heidenreich hatte aber keine Zeit mehr, und das hat sie den Töpfern auch gesagt. Der Ältere von den beiden hat geantwortet, sie soll einen Zettel an dem Laden anbringen: ,Komme gleich wieder!’ Und der Jüngere sagte noch: ,Wir werden schon nichts klauen.’ Ich habe Frau Heidenreich abgeraten, ich habe ihr gesagt, daß ich das an ihrer Stelle nicht machen würde, zwei fremde Männer allein in der Wohnung lassen.« »Was hat Ihnen Frau Heidenreich darauf geantwortet?« »Nichts. Sie hat gar nichts gesagt. Ich bin ja auch gleich gegangen. Habe mich von ihr verabschiedet 264
und bin gegangen. Zuvor habe ich ihr noch gesagt, daß ich in der nächsten Woche wiederkomme, wegen der Übernahme der Annahmestelle. Und wie ich gehen wollte, drückte mir der ältere der beiden Ofensetzer eine Tüte in die Hand, so eine große Papiertüte mit ’ner leeren Flasche drin. Wahrscheinlich war es eine Schnapsflasche. Ich habe nicht reingeschaut in die Tüte. Er sagte, ich soll sie wegwerfen, sein Chef hätte es nicht gern, wenn sie während der Arbeit einen Schluck aus der Flasche nehmen. Aber Frau Heidenreich nahm die Tüte und stellte sie in der Küche auf den Küchenherd. Sie sagte: ,Lassen Sie nur, ich nehme sie nachher mit nach unten.’ Und danach bin ich gegangen.« »Wohin sind Sie gegangen?« »Zu meiner Mutter.« »Und Sie trafen Ihre Mutter in ihrer Wohnung an?« »Natürlich.« »Ihre Mutter erzählt es anders.« »Was erzählt sie anders?« »Ich vermute, Ihre Mutter sagt die Wahrheit.« »Na ja, es stimmt, ich war nicht bei ihr. Ich bin von der Triskauer Straße in meine Wohnung, Frankenstraße, gegangen.« »Was wollten Sie dort?« »Ich habe da mein Kleingeld in eine Kiste getan. Das mache ich öfters. Das ist sozusagen meine stille 265
Reserve, für den Fall, daß es mir mal dreckig gehen sollte.« »Wieviel Kleingeld war das?« »So genau weiß ich das nicht. Ich zähle es ja nicht. Ich öffne mein Portemonnaie und kippe es über der Schachtel aus. Vielleicht waren es elf Mark oder so. Übrigens fällt mir gerade noch ein, daß ich mir in der Wohnung von Frau Heidenreich ein Pflaster auf eine Blase am Fuß geklebt habe. Die Blase war aufgegangen und tat ziemlich weh. Frau Heidenreich gab mir Pflaster und eine Schere, und ich habe mir ein Stück Pflaster abgeschnitten und auf die offene Blase geklebt.« »Wie groß war die Schere?« »Die war viel zu groß für das Pflasterabschneiden, das war eine Papierschere. Wie man sie zum Tapetenschneiden nimmt, so eine Schere war das.« »Von Ihrer Wohnung in der Frankenstraße sind Sie wohin gegangen?« »Na, ich bin vor zur Loschwitzer Straße. Ich wollte eigentlich mit der Fünfzehn zurückfahren, aber da kam ein Taxi, und ich bin mit dem Taxi bis zur Schumannstraße gefahren. Das war ein hellbrauner Wolga.« »Wann standen Sie an der Straßenbahnhaltestelle?« »Das kann ich so genau nicht sagen. Ich habe keine Uhr. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich war es 266
kurz vor zwei, denn ich war Viertel nach zwei wieder in der Wohnung. Das weiß ich, weil ich da auf die Uhr gesehen habe. Und außerdem kam die Frau Stüber aus dem Hause nach oben zu mir. Sie ist siebenundsiebzig Jahre. Mit ihr mache ich manchmal so Kaffeeklatsch. Sie blieb dann auch eine Weile. Sie hat mir erzählt, daß sie am Vormittag beim Arzt war, wegen dem Magen. Ihrer Schwester geht es auch nicht gut, hat sie mir gesagt, die hat es mit der Galle. So gegen drei bin ich dann einkaufen gegangen. Für vielleicht eine halbe Stunde. In der Zeit habe ich auch mit meiner Mutter telefoniert und ihr gesagt, daß ich bei Frau Heidenreich gewesen bin. Sie wollte erst, daß ich sofort zur Polizei gehe, aber dann hat sie eingesehen, daß ich sofort verdächtigt werden würde, und da war sie dann bereit zu sagen, daß ich sie besucht hätte.« »Nach Ihrem Einkauf haben Sie die Wohnung in der Schumannstraße am selben Tage nicht wieder verlassen?« »So ist es. Ich bin nicht mehr aus der Wohnung gegangen. Ich fühlte mich ohnehin nicht gut. Die Erkältung saß mir ganz schön in den Knochen.« »Und außerdem waren Sie ja auch gestürzt«, sagte Ebner. »Ja, das heißt nein, gestürzt bin ich erst am Freitag.« »Herr Weser kann sich aber genau erinnern, daß 267
Sie bereits am Donnerstag gestürzt sind.« »Da muß er sich irren, Er verwechselt solche Sachen oft. In Gedanken ist Gert meistens bei seiner Malerei. Da können Sie nichts drauf geben.« »Aha«, sagte Ebner. »Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Tatsache, daß Sie an der Straßenbahnhaltestelle Loschwitzer Straße von Frau Zimmermann gesehen worden sind. Sie haben sie sogar gegrüßt, Frau Schneider.« »Na und?« »Frau Zimmermann sagt, es war fünfzehn Uhr, als sie Sie an der Straßenbahnhaltestelle stehen sah.« »Wer weiß, was die für eine Uhr hat! Die ist doch froh, wenn sie mir was am Zeuge flicken kann. Was habe ich mit der nicht alles schon durch! Jedes fremde Gesicht regt die auf. Und kaum stellte man das Radio an, klopft es, und die Zimmermann steht vor der Tür und sagt, es sei ihr zu laut. Aber wenn Sie ihr mehr Glauben schenken als mir, bitte.« »Leider bestätigen die Ofensetzer Ihre Aussage auch nicht, Frau Schneider.« »Die werden schon ihre Gründe haben. Vielleicht hat Frau Heidenreich sie doch alleine in der Wohnung gelassen.« »Das ist schlecht möglich. Dazu blieb ihr keine Zeit.« »Ach so. Daran habe ich jetzt gar nicht gedacht.« »Wissen Sie, worüber ich die ganze Zeit nachden268
ken muß, Frau Schneider?« Sie schaute ihn gespannt an. »Es waren von ungefähr dreizehn Uhr fünfzehn bis dreizehn Uhr vierzig ziemlich viel Leute bei Frau Heidenreich, und trotzdem hat dann noch jemand die Zeit gefunden, die alte Dame zu töten. Man sollte doch annehmen, daß Ihre und die Anwesenheit der Töpfer ihn abgeschreckt hat. Finden Sie das nicht auch merkwürdig?« »Weiß ich nicht. Ich bin jedenfalls gegangen, kurz nachdem die Töpfer kamen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sich das anschließend abgespielt hat.« »Und es war eine Schnapsflasche, die Ihnen der eine der Töpfer in die Hand gedrückt hat?« »Ja, es war eine Flasche in einer Tüte. Vielleicht war es auch eine Weinflasche. Aber Arbeiter trinken doch am Vormittag keinen Wein, die trinken doch Schnaps, weißen oder braunen.« »Es waren keine Ofensetzer in Frau Heidenreichs Wohnung. Wir haben alle in Frage kommenden Handwerksfirmen befragt. Die Reparatur an dem Ofen im Wohnzimmer war für Mitte Dezember eingeplant, entsprechend war Frau Heidenreich auch von der PGH Ofenbau informiert worden.« »Dann waren die beiden Männer gar keine Töpfer! Wahrscheinlich haben sie gewußt, daß Frau Heidenreich die Töpfer erwartet, und haben sich damit den Zugang zu ihrer Wohnung verschafft. Mein Gott, 269
hätte ich das bloß gewußt!« An diesem Punkte angelangt, brach Hauptmann Ebner die Vernehmung vorerst ab. Es war nicht zu erwarten, daß Ilona Schneider ihre Version vom Verlauf des Donnerstags in den nächsten Stunden entscheidend korrigieren würde, denn sie hatte erst einmal abgeliefert, was sie sich seitdem ausgedacht und zurechtgelegt hatte. Da war vor allem der Zeitplan, der sie für die Tatzeit voll entlastete. Auf Aussagen anderer, die ihn ins Wanken zu bringen drohten, reagierte sie rasch und keineswegs ungeschickt. So war es zum Beispiel sicher richtig, in der Person von Frau Zimmermann eine jener fanatischen Kämpferinnen für Ordnung und Sicherheit zu sehen, die immer nur die Ordnung im Sinn haben, die ihnen selber genehm ist. Ebner mußte sich nicht anstrengen, um sich das Verhältnis der beiden zueinander auszumalen. Ausgelassene junge Leute waren Frau Zimmermann mit Sicherheit ein Greuel, um wieviel mehr noch mußten es die Feten sein, die Ilona Schneider in ihrer Wohnung veranstaltet hatte. Die nutzte nun ihrerseits dieses Erscheinungsbild der Zeugin, um deren Aussagen allesamt als fragwürdig hinzustellen. Sie konnte nicht wissen, daß Frau Zimmermann nicht die einzige Zeugin war, die es für die Zeit nach der Tat gab. Sie rechnete nicht mit dem Mädchen, das sie wahrscheinlich auf ihrem eiligen Weg vom Haus der Frau Heidenreich zu ihrer Wohnung in der Frankenstraße gar nicht 270
wahrgenommen hatte. Und außerdem mußte sich erst zeigen, was jene Frau Stübner antwortete, wenn sie nach dem Zeitpunkt ihrer Unterhaltung mit Ilona Schneider befragt werden würde. Doch außer ihrem Zeitplan hatte sie auch alle die Gegenstände benannt, auf denen sie ihrer Meinung nach Fingerabdrücke oder andere Spuren hinterlassen haben könnte. Sie glaubte sich damit entlastet zu haben und hatte doch genau das Gegenteil erreicht. Die Erwähnung der Flasche und der Schere hatten bei Ebner nun auch die letzten leisen Zweifel an ihrer Täterschaft beseitigt, denn sie war nach diesen Gegenständen von ihm nicht gefragt worden. Sie hatte sie aus eigenem Antrieb ins Gespräch gebracht, und vor allem hatte sie zu beiden Tatwerkzeugen eine Geschichte erfunden und vorgetragen. Gewiß hatte Frau Heidenreich ihr gegenüber über den qualmenden Ofen geklagt, wie sie es vermutlich bei jedem Besucher gemacht haben wird, und wahrscheinlich war dabei zwangsläufig die Rede auf die zu erwartenden Ofensetzer gekommen. Für Ilona Schneider willkommenes Material für den Bau einer Geschichte, die das Vorhandensein einer leeren Flasche in einer Tüte erklärte. Mangel an Phantasie konnte Ebner ihr nun wahrlich nicht vorwerfen. Auch eine wache und zupackende Intelligenz war ihr nicht abzusprechen. Nur würde ihr beides, bei dem, was jetzt auf sie zukam, wenig helfen. Mit dieser Vernehmung war ein Prozeß in Gang gekom271
men, der seine eigenen Gesetzmäßigkeiten hatte, und gegen die Intelligenz und Phantasie auf die Dauer machtlos waren. Im Augenblick empfand Ilona Schneider gewiß Befriedigung, vielleicht sogar Erleichterung, weil sie endlich Gelegenheit gehabt hatte, ihre Geschichte dem Manne vorzutragen, auf den es ankam, ja für den sie letztlich gemacht war. Und anscheinend war er ihr auf langen Strecken gefolgt, zumindest hatte er ihr aufmerksam zugehört und ihr wenig entgegengesetzt. Also hatte sie Grund, mit sich zufrieden zu sein. Und bei der Verabschiedung stand ihr diese Zufriedenheit auf dem Gesicht geschrieben. Doch Hauptmann Ebner wußte, wie schnell dieses Gefühl verfliegen und quälenden Zweifeln Platz machen würde. Wahrscheinlich würde sie schon bald bereuen, überhaupt gesprochen zu haben, obwohl sie gar nicht anders gekonnt hatte, denn der Drang, sich mitzuteilen und dabei zugleich die Tragfähigkeit der erfundenen Geschichte auszuprobieren, war zu groß gewesen, zu drängend, als daß sie ihm hätte etwas entgegensetzen können. Nun aber würde sie ein Gefühl der Leere entdecken, und sie würde sich gleichzeitig zu fragen beginnen, ob ihre Konstruktionen denn wirklich so glaubhaft waren, wie sie ihr zunächst vorgekommen waren. Sie würde Ungereimtheiten entdecken und sie auszubessern suchen, indem sie neue Geschichten erfinden würde, die ihr glaubhafter schienen. Neue Geschichten gera272
ten jedoch meist sehr rasch in Widerspruch zu den vorangegangenen alten Geschichten. Auch das wäre das Schlimmste nicht, denn schließlich kann jeder das Recht auf Irrtum für sich in Anspruch nehmen. Wirklich schlimm wird es für den Verdächtigen erst, wenn der Vernehmer sich nicht an einen roten Faden hält, sondern in rascher Folge von einem Punkt zum anderen wechselt, dann beginnt man sich ganz schnell im Gestrüpp der vielen verschiedenen eigenen Aussagen zu verwirren, weiß nicht mehr aus noch ein, wagt am Ende kaum noch etwas zu antworten, gibt erschöpft auf und gesteht schließlich. Ilona Schneider hat vor sechs Jahren ihre Erfahrungen mit Vernehmungen machen können, und sie wird daher, um sich nicht allzu oft in den eigenen Aussagen zu verheddern, mit großer Wahrscheinlichkeit den einzig möglichen Weg wählen, nämlich den, sich so nahe, wie es irgend geht, bei der Wahrheit aufzuhalten. Der tatsächliche Verlauf des Geschehens am vergangenen Donnerstag wird sie das sichere Tau dünken, an dem sie sich am Eingeständnis ihrer Schuld vorbeihangeln kann. Angefangen damit hatte sie ja bereits. Ebner nennt das die Flucht in die Wahrheit antreten, und er hatte im Verlauf seiner Dienstjahre genug Zeit und Gelegenheit, dieses Verhaltensmuster in seinen vielen Spielarten bei den unterschiedlichsten Menschen zu studieren. In dieser Hinsicht rechnete er auch im Falle der Ilona Schneider nicht mit 273
Überraschungen. So würde es ihn zum Beispiel überhaupt nicht wundernehmen, schon morgen ein Geständnis aus ihrer Hand auf den Tisch zu bekommen. Denn, so die Logik der Täter, möglichst viel einzugestehen bedeutet, eben das Letzte, das Schwerste nicht gestehen zu müssen. Deshalb konnte man nun nicht untätig bleiben und auf das Geständnis warten, sondern mußte weiterhin alle möglichen Fakten zusammentragen und sie den Geschichten der Ilona Schneider entgegenstellen, denn nur in der Konfrontation mit unwiderlegbaren Tatsachen würde sie dazu gebracht werden können, den Weg in die Wahrheit bis zum Ende zu gehen. Entgegen der Ermahnung seines Chefs hatte Hauptmann Ebner nicht vorgehabt, nun in der letzten Runde hinter dem Schreibtisch sitzen zu bleiben und auf die Protokolle und Gutachten zu warten. Er hatte die wenigen Personen, die es nun noch zu befragen galt, selber anhören wollen, weil er hoffte, im Gespräch noch mehr über die Mentalität der Täterin in Erfahrung zu bringen. Zum einen wäre das für die Art und Weise der weiteren Vernehmungen von Nutzen, und zum anderen gab er nie Ruhe, ehe er nicht die Kette der Ereignisse zurückverfolgen konnte, die schließlich in die Tat mündete. Umfang und Ausführung eines Verbrechens waren meist von Zufällen abhängig, selten aber war der Weg dahin ein zufälliger. Doch es sollte anders kommen, denn als Ebner am nächsten Tag 274
seine Frau im Krankenhaus besuchen wollte, hieß ihn die Stationsschwester zunächst warten. Unruhig lief er auf dem Flur hin und her. Wieso ließ man ihn nicht sofort in das Zimmer, in dem seine Frau lag? Was bedeutete der merkwürdige Blick der Schwester? Endlich kam der Arzt und bat ihn in sein Dienstzimmer. »Der Zustand Ihrer Frau hat sich leider verschlechtert«, sagte der Arzt. »Es kam auch für uns überraschend. Ich glaubte sie bereits über den Berg.« »Ist ihr Zustand bedrohlich?« »Jede Erkrankung ist in gewissem Sinne bedrohlich, Herr Ebner. Vor allem macht mir der stark geschwächte Kreislauf Ihrer Frau Sorgen. Sie hat hohes Fieber. Es setzte ganz plötzlich wieder ein. Wir haben Ihre Frau in ein Einzelzimmer legen lassen. Sie können zu ihr, wann immer sie wollen.« »Soll ich unsere Tochter benachrichtigen?« »Eine schwierige Frage«, sagte der Arzt. »Es könnte Ihre Frau ängstigen.« Ebner nickte. Er kam sich hilflos vor. Die Nachricht traf ihn unvorbereitet. Damit hatte er nicht gerechnet. Jedenfalls nicht mehr. Er bat den Arzt, dessen Telefon benutzen zu dürfen. Der Arzt schob es ihm bereitwillig über den Tisch. Ebner informierte sowohl den Chef als auch Hauptmann Wustlich. Er hatte sich entschieden, die nächsten Tage dem Dienst fernzubleiben. Sie verabredeten, mit der weiteren Vernehmung von Ilona 275
Schneider vorerst zu warten. Es war nie gut, den Vernehmer zu wechseln, der bereits Kontakt zu einem Verdächtigen hergestellt hatte. Außerdem gab es für die Mitarbeiter der Einsatzgruppe ohnehin ausreichend zu tun, wenn Ebner bei seiner Rückkehr alle notwendigen Befragungsprotokolle und Gutachten auf seinem Tisch vorfinden sollte. Und obwohl Ebner nicht ständig am Bett seiner Frau saß, ging er nicht in die Dienststelle, denn er wollte nicht den Eindruck erwecken, es sei nötig, daß er ab und an nach dem Rechten sähe. Er wußte, daß die Arbeit auch ohne ihn zuverlässig weitergeführt wurde. Wenn er nicht im Krankenhaus war, hielt er sich konsequent in seiner Wohnung auf. Er wagte es nicht, sie auch nur für eine Viertelstunde zu verlassen, weil er fürchtete, das Telefon könne läuten. Sosehr er auch hoffte, es möge nicht läuten, wollte er doch um jeden Preis in der Wohnung sein, wenn es läutete. Seine Lage ähnelte der an jenen Tagen, in denen er Bereitschaftsdienst hatte, wenn er es sich auch nicht leisten konnte, das Telefon außer Hörweite zu lassen. Nur würde sich eben diesmal nicht der Diensthabende melden, falls das Telefon läutete. Ebner versuchte, seine Nervosität an der Staffelei zu vergessen, legte aber schon bald Pinsel und Palette wieder aus der Hand. Schließlich verfiel er auf Staubwischen und Möbelpolieren. Er machte es sehr gründlich, damit es möglichst lange dauerte, und 276
dachte dabei fortwährend an seine Frau. Am zweiten Abend bot ihm der Arzt an, ihm während des Nachtdienstes Gesellschaft zu leisten. Ebner nahm dankend an. »Es ist ja nicht Usus«, sagte der Arzt, »aber notfalls sind Sie dienstlich hier.« Weil er seine Frau nicht besorgt machen wollte, ging Ebner nicht zu ihr ins Zimmer. Und das machte ihn fast nervöser als das Warten in der Wohnung. Gegen Morgen endlich sagte ihm der Arzt, daß seine Frau fieberfrei sei und damit wohl endgültig überm Berg. Es zog Ebner nichts in die leere Wohnung, und er fuhr mit einem Taxi zur Dienststelle. Die Sekretärin fand ihn zu Dienstbeginn schlafend auf der Couch. Sie schloß leise wieder die Tür und ließ niemanden zu ihm. Gegen zehn Uhr kam er selber heraus und verlangte Tee. Nachdem er Toilette gemacht und einige Tassen schwarzen Tee in sich hineingeschüttet hatte, klappte er die Mappe mit den Unterlagen zum Fall Heidenreich auf. Zu seiner Befriedigung fand er sämtliche Befragungsprotokolle vor, dazu ein umfassendes kriminaltechnisches Gutachten sowie ein handschriftliches Geständnis von Ilona Schneider. Obwohl er gern als erstes das Gutachten und das Geständnis gelesen hätte, zwang er sich, das Material in der vorliegenden chronologischen Reihenfolge zu lesen. »Befragungsprotokoll der Bürgerin Kühn, Sieglinde. Leiterin einer Annahmestelle des VEB Vereinigte 277
Wettspielbetriebe. Ich wurde mit dem Gegenstand der Befragung vertraut gemacht und habe folgende Angaben zu machen: Ich lernte Frau Ilona Schneider vor ungefähr zwei Jahren kennen. Sie wurde mir damals von Frau Heidenreich vermittelt. Ich mußte mich in dem Jahr von Mai bis Juni einer Kur unterziehen. Während dieser Zeit übernahm Frau Schneider meine Annahmestelle hauptamtlich, das heißt, sie war für die Führung des Geschäfts eigenverantwortlich. Es gab weder bei der Übergabe noch bei der Übernahme Beanstandungen. Erst später wurde ich durch eine ältere Kundin darauf hingewiesen, daß es eine Unstimmigkeit bei der Gewinnauszahlung gegeben hatte. Dieser Frau war nämlich durch Frau Schneider der Gewinn nicht in voller Höhe ausgezahlt worden. Es handelte sich dabei um einen Gewinn aus einem Systemspielschein. Als ich Frau Schneider daraufhin zur Rede stellte, behauptete sie anfangs, das könne nur ein Irrtum sein und sie habe immer alle Gewinne richtig ausgezahlt. Später jedoch gab sie zu, der Frau sechzig Mark zuwenig ausgezahlt zu haben. Ich forderte sie auf, diesen Betrag aus der eigenen Tasche an die Kundin nachträglich auszuzahlen, da ja die Gewinnabrechnung an die Bezirksdirektion des VEB Vereinigte Wettspielbetriebe in voller Höhe erfolgt war. Das hat sie auch gemacht. Irgendwelche anderen Beschwerden oder Reklamationen gab es nicht. In der Folgezeit besuchte mich 278
Frau Schneider noch oft in der Annahmestelle. Geld hat sie sich von mir nicht geliehen, sie hat auch nie über zuwenig Geld geklagt. Als ich sie später noch einmal aushilfsweise für ein paar Tage bei mir beschäftigen wollte, weil meine Aushilfskraft damals gerade erkrankt war und ich die aufwendige AboAbrechnung zu machen hatte, kam sie nicht, obwohl ich ihr extra deswegen einen Zettel in den Briefkasten gesteckt hatte. Sie erschien erst einige Wochen später und erzählte mir, daß sie im Krankenhaus gelegen habe. Seinerzeit hatte ich gerade einen neuen Laden zugewiesen bekommen und war dabei, ihn mir einzurichten. Frau Schneider gab mir viele Ratschläge und bot mir ihre Hilfe an. Ich wollte aber den Laden nach meinem Geschmack einrichten und lehnte ihre Ratschläge ab. Nur als sie mir versprach, vietnamesische Bastmatten zu besorgen, gab ich ihr die dazu nötigen einhundertunddreißig Mark. Seit diesem Tage habe ich Frau Schneider nicht wieder gesehen. Ich habe in den folgenden Tagen mehrfach versucht, mit ihr in Verbindung zu kommen, aber immer wenn ich vor ihrer Tür stand, war sie nicht da. Ich habe ihr Zettel durch die Tür gesteckt und ihr Briefe geschrieben, in denen ich sie aufforderte, mir entweder die Bastmatten zu bringen oder das Geld zurückzugeben, doch ich erhielt keine Antwort. Ein Einschreibebrief kam als unzustellbar zurück. Bis heute habe ich mein Geld nicht zurückerhalten. Im 279
September dieses Jahres schrieb mir Frau Schneider eine Postkarte aus Karl-Marx-Stadt, auf der sie mir mitteilte, daß sie nun bald wieder in Dresden wäre und mich dann bestimmt besuchen würde. Sie ist aber nicht gekommen. Auf Befragen möchte ich noch hinzufügen, daß mir Frau Schneider bei ihrem letzten Besuch erzählte, daß sie jetzt einen einflußreichen und vermögenden Freund habe, den sie oft bei seinen vielen Dienstfahrten begleite. Frau Schneider hat ein sicheres Auftreten und erweckt schnell Vertrauen. Sie kann sich gewandt ausdrücken und findet rasch Kontakt. Wenn man sie dann näher kennenlernt, schwindet freilich der gute Eindruck bald. Sie schmeichelt einem zu sehr und zu oft, so daß es einem zuviel wird. Weitere Angaben kann ich nicht machen. Ich habe das Protokoll selbst gelesen. Der Inhalt entspricht meinen Angaben. Meine Worte wurden richtig wiedergegeben.« »Befragungsprotokoll der Bürgerin Martha Stübner. Rentnerin. Frage: Ist Ihnen eine Frau Ilona Schneider bekannt? Antwort: Ja, ich kenne eine Frau Ilona Schneider. Sie wohnt zur Zeit bei Herrn Gert Weser in der Wohnung über mir. Frage: Haben Sie am Donnerstag voriger Woche mit Frau Schneider eine Unterhaltung gehabt? Antwort: Ja, das habe ich. Ich weiß das genau, denn ich war an dem Tag am Vormittag beim Arzt, bei Herrn Sanitätsrat Dr. Wenke. Hier auf meiner Behandlungskarte steht es auch. 280
Ich war für neun Uhr fünfzehn bestellt. Danach ging ich einkaufen. Gegen elf Uhr dreißig war ich dann wieder in meiner Wohnung. Ich mußte da wieder in meiner Wohnung sein, weil ich sonst das Mittagessen nicht rechtzeitig fertig gehabt hätte. Das Mittagessen habe ich immer um zwölf Uhr dreißig fertig, danach können Sie Ihre Uhr stellen. Und um zwölf Uhr dreißig kommt dann mein Bekannter, der Herr Uhlmann – er wohnt auch hier im Hause – zu mir in die Wohnung. Herr Uhlmann kommt jeden Tag zu mir zum Mittagessen. Unmittelbar nach meiner Rückkehr vom Einkauf klingelte es an der Wohnungstür, und als ich öffnete, stand die Frau Schneider davor. Sie fragte, wie es mir denn ginge. Das macht sie öfters mal. Wir haben dann eine Weile miteinander geredet. Ich habe ihr von meinem Arztbesuch erzählt und davon, daß das Wartezimmer so schrecklich voll war, weil so viele Leute eine Erkältung haben. Und sie sagte, daß sie auch eine Grippe habe. Wir haben auch über meine Schwester gesprochen, über deren Gallenkoliken und daß sie solche schlimmen Schmerzen dabei ausstehen muß. Frage: Konnten Sie beobachten, ob Frau Schneider zu diesem Zeitpunkt hinkte? Antwort: Nein, sie hat nicht gehinkt. Sie ist doch erst am Nachmittag beim Aussteigen aus der Straßenbahn gestürzt. Das hat sie mir am Freitag selber erzählt, da war ich nämlich bei ihr oben. Und da lag sie auf der Couch. Freitag früh. Sie 281
hat mir auch gesagt, daß sie wegen des Beins im Volkspolizeikrankenhaus in Behandlung ist. Frage: Hat Sie das nicht verwundert? Antwort: Wieso sollte mich das verwundern? Frau Schneider ist doch Leutnant bei der VP. Hat sie mir jedenfalls immer gesagt. Sie hat mir sogar gesagt, daß sie zur Zeit einen Kursus besucht und danach zum Oberleutnant befördert wird. Das kann der Herr Uhlmann bestätigen, der war dabei, als sie das erzählt hat. Frage: Frau Schneider sagt, daß sie das Gespräch mit Ihnen am Donnerstag voriger Woche erst um vierzehn Uhr fünfzehn geführt hat. Antwort: Das ist unmöglich. Ich sagte ja schon, daß Herr Uhlmann auch an diesem Tage bei mir zu Mittag gegessen hat. Danach bleibt er immer bei mir in der Wohnung. Bis gegen sieben Uhr abends, da gehen wir dann zu ihm und sehen uns in seiner Wohnung das Fernsehprogramm an. Ich habe nämlich keinen Fernsehapparat. Und so war das auch am Donnerstag. Wäre die Frau Schneider um Viertel drei zu mir in die Wohnung gekommen, dann wüßte es doch der Herr Uhlmann. Auch wenn ich noch zu ihr in die Wohnung gegangen wäre, wüßte er es. Ich verstehe gar nicht, warum Frau Schneider so etwas erzählt. Man irrt sich doch nicht in über zwei Stunden. Mir jedenfalls ist das noch nicht passiert, und ich bin doch viel älter als Frau Schneider. Nein, nein, es war so, wie ich es Ihnen vorhin erzählt habe. Sie ist gegen drei Viertel zwölf 282
zu mir in die Wohnung gekommen. Frage: Haben Sie gesehen, ob Frau Schneider nach dem Gespräch das Haus verlassen hat? Antwort: Nein, das habe ich nicht gesehen. Ich mußte ja in die Küche, und aus der Küche kann ich nur auf den Hof sehen und nicht auf die Straße. Frage: Hat Frau Schneider jemals von Ihnen Geld geliehen, oder hat sie Sie danach gefragt? Antwort: Geld hat sie sich nicht von mir geliehen. Sie hat mich auch nie angepumpt. Sie wollte überhaupt nie etwas von mir. Aber sie war sehr hilfsbereit und bot mehrfach an, mir zu helfen. Ich habe das aber immer abgelehnt, denn alles, was so zu machen ist, das kann ich noch sehr gut alleine machen. So alt bin ich nun auch wieder nicht, daß ich eine Pflege brauche. Aber Frau Schneider hat es bestimmt gut gemeint, denn es gibt ja viel alte Leute, die schlecht fort können und sich freuen, wenn sie Unterstützung bekommen. Und was das Geld anbelangt, da hätte ich mich ja doch sehr gewundert, ich meine, wenn sie mich mit meinen paar Mark Rente angepumpt hätte. Als Leutnant bei der VP verdient sie schließlich ihre tausenddreihundert Mark. Hat sie mir selber gesagt.« »Befragungsprotokoll des Bürgers Hans Petersen. Beruf: Kraftfahrer. Frage: Wann haben Sie Frau Ilona Schneider das letzte Mal gesehen? Antwort: Das muß Anfang Oktober gewesen sein. An den genauen Tag kann ich mich nicht erinnern. Frage: Kam sie zu 283
Ihnen? Antwort: Ja, sie besuchte mich am Abend in meiner Wohnung. Frage: Hatte sie einen konkreten Anlaß für den Besuch? Antwort: Sie brauchte Geld. Weil sie nun schon so sehr lange krank geschrieben ist, bekommt sie ja nicht mehr allzuviel ausgezahlt. Frage: Hat sie eine bestimmte Summe von Ihnen haben wollen? Antwort: Ich habe ihr schon mehrfach Geld gegeben, meist so zweihundert Mark. Soviel gab ich ihr auch im Oktober. Frage: Haben Sie der Frau Schneider dieses Geld geliehen? Antwort: Nein, sie braucht es nicht zurückzuzahlen. Frage: Sie leben allein, Herr Petersen? Antwort: Seit Ilona nicht mehr bei mir ist, lebe ich allein. Frage: Sie waren mit Frau Schneider verlobt? Antwort: Ja. Frage: Warum wurde die Verlobung aufgehoben? Antwort: Wenn ich das wüßte! Wahrscheinlich war ich ihr zu jung, zu unerfahren. Ich weiß es nicht. Sie meint, wir würden nicht zusammenpassen. Bis Anfang Oktober, also bis zu dem Tag, wo ich sie zum letztenmal gesehen habe, hoffte ich immer, sie würde wieder zu mir zurückkommen. Frage: Sind Sie jetzt anderer Meinung? Antwort: Ja, das bin ich. Sie hat mir schlimme Sachen an den Kopf geworfen. Regelrecht beschimpft hat sie mich, und nur, weil ich ihr zum Abschied einen Kuß geben wollte. Frage: Welche Rolle spielte das Geld bei dieser Auseinandersetzung? Antwort: Ich habe ihr gesagt, sie soll es wieder hergeben. Ich meine, ich hatte es ihr nicht gegeben, um 284
von ihr einen Kuß zu bekommen, aber ich sah nicht ein, daß ich mich für meine Gutmütigkeit auch noch beschimpfen lassen sollte. Sie hat es natürlich nicht zurückgegeben. Zum Abschied hat sie dann auf Versöhnung machen wollen. Ich habe ihr aber klipp und klar gesagt, daß sie von mir kein Geld mehr bekommt. Keinen Pfennig. Darauf sagte sie, das hätte sie in Zukunft auch gar nicht mehr nötig, sie hätte jetzt einen Mann mit viel Geld. Frage: Wie lange haben Sie mit Frau Schneider zusammen gelebt? Antwort: Ein reichliches Jahr. Frage: Neigte sie manchmal zu Gewalttätigkeit? Antwort: Wie soll ich das verstehen? Meinen Sie, ob sie mit Gegenständen geworfen hat? Oder denken Sie, ich hätte von ihr Prügel bezogen? Also handgreiflich ist sie höchstens zweimal geworden. Wenn sie was getrunken hat, kann sie schon ganz schön in Fahrt kommen. Aber gewalttätig? Nicht, daß ich wüßte. Sie war ja meistens krank. Frage: Hatte sie in diesem einen Jahr auch Geldprobleme? Antwort: Die wird sie wohl immer haben. Sie hat in der Zeit ja von meinem Geld gelebt, und ich war immer ganz baff, wie schnell das alle war. Ich habe nach Feierabend noch gemalert und tapeziert, sonst wären wir mit dem Geld nicht hingekommen. Frage: Was können Sie über den Charakter von Frau Schneider sagen? Antwort: Ich finde, sie ist ’n Kumpel. Wenn sie nicht krank ist, kann man mit ihr Pferde stehlen. Also ich meine das im 285
übertragenen Sinne, nicht, daß sie klaut oder so. Ich weiß ja auch nicht, was sie ausgefressen hat, aber ich traue ihr nichts Schlechtes zu. Und wenn sie in der Klemme sitzt, ich meine, wenn sie jetzt Geld braucht, ich würde ihr wieder welches geben. Ich liebe die Frau nun mal. Obwohl sie oft gejammert und gesagt hat: Mich liebt keiner. Sie war der Meinung, sie wäre noch von keinem Menschen wirklich geliebt worden, nicht mal von ihren Eltern. Ich habe immer gesagt: Das redest du dir bloß ein! Aber sie hat immer mal wieder damit angefangen. Und wenn sie so ein richtiges Tief hatte, hat sie sich für eine Null gehalten, für einen Versager. Ich fand das nicht. Ich habe das Protokoll selbst gelesen. Meine Worte wurden darin richtig wiedergegeben. Der Inhalt entspricht meinen Angaben. Hans Petersen.« »Befragungsprotokoll der Bürgerin Liddy Vincz, verw. Mager, geb. Jungmann. Beruf: Hausfrau. Frage: Weshalb haben Sie bei Ihrer ersten Befragung ausgesagt, daß Ihre Tochter Ilona Schneider am Donnerstag voriger Woche von zwölf Uhr bis vierzehn Uhr dreißig bei Ihnen zu Besuch war? Antwort: Ich wollte sie vor einem Verdacht in Schutz nehmen. Sie hatte mich am Nachmittag angerufen und mir erzählt, daß man Frau Heidenreich ermordet habe und daß sie kurz vorher bei ihr gewesen ist. 286
Frage: Und das genügt Ihnen, um Ihrer Tochter mit einem falschen Alibi beizustehen? Antwort: Sie hat gebettelt am Telefon und geweint. Sie wollte nicht in die Sache hineingezogen werden, weil sie Angst hatte, ihr Freund würde sie dann verlassen. Und ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie so etwas zu tun in der Lage wäre. Ich kann es mir heute noch nicht vorstellen. Meine Tochter! Frage: Schildern Sie bitte die Entwicklung Ihrer Tochter! Antwort: Ilona wurde im Jahre 1955 geboren. Ihr Vater, also mein erster Mann, starb 1976. Ich habe zwei Jahre später wieder geheiratet, da war Ilona jedoch schon aus dem Haus. Der Kontakt zwischen ihr und meinem jetzigen Mann ist nur lose. Auch ich selber habe nur sehr wenig Kontakt zu meiner Tochter. Man weiß ja nie, wo sie sich gerade aufhält. Da sie keine Ausdauer hat, bleibt sie auch nie lange bei einem Mann. Ihre Ehe hat ganze zwei Jahre gehalten, dann hat sie sich scheiden lassen. Vielleicht wäre es für sie gut gewesen, wenn sie ein Kind gehabt hätte, aber sie kann keine Kinder bekommen. Sie ist nach Abschluß der zehnten Klasse aus der Schule gekommen. Mein Mann wollte, daß sie einen richtigen Beruf lernt. Sie wollte Schauspielerin werden. Oder Sängerin. Dazu war aber das Abitur nötig. Und weil sie kein Abitur hatte, hat sie Verkäuferin gelernt. Ihr Abschlußzeugnis war nicht besonders. Sie hatte kei287
ne Lust zum Lernen. Ihr Interesse galt damals schon den Männern. Außerdem hat sie viel Zeit mit ihren Auftritten als Schlagersängerin vertan. Sie hat bei irgend so einer Kapelle gesungen. Am Wochenende. Zum Tanz. Ich hatte eigentlich nichts dagegen, ich wollte nur, daß sie sich in dieser Hinsicht richtig ausbilden läßt. Die Tingelei führt ja zu nichts. Nachdem sie achtzehn Jahre alt war, kam sie immer seltener nach Hause. Sie hatte mehrere Arbeitsstellen. Als Verkäuferin hat sie nur selten gearbeitet, obwohl sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte. Sie ist sogar eine Zeitlang mit einem Zirkus durch die Gegend gezogen. Dann kam sie mit diesem Pärchen in Verbindung, von dem ich schon erzählt habe, und kam in den Strafvollzug. Dort war man sehr zufrieden mit ihr. Sie hat gut gearbeitet, und es gab keinerlei Schwierigkeiten. Ich hatte danach Hoffnung, daß sie sich ändern würde. Und sie hat ja dann im Jahre 1979 auch geheiratet. Aber der Mann war viel zu gutmütig. Dem ist sie auf dem Kopfe herumgetanzt. Ihr Problem waren immer die Männer. Sie hat mir gesagt: Ich suche so lange, bis ich den Richtigen gefunden habe. Eher höre ich nicht auf. Und der jetzige ist wohl endlich der Richtige. Nur leider hat sie ihn zu spät getroffen. Frage: Gab es während der Kindheit Ihrer Tochter irgendwelche Auffälligkeiten? Antwort: Auffälligkeiten? Ich weiß nicht. Jedes 288
Kind ist ja irgendwie auffällig. Ilona hat sich in den ersten Jahren in der Schule nie irgendwie vorgetan, das kam erst später. Sie hatte auch kaum Freundinnen. Und sie hat immer geglaubt, sie wäre nicht hübsch. Deshalb hat sie schon früh angefangen, sich zu schminken. Später hat sie sich sogar Perücken gekauft. Sie wollte immer etwas aus sich machen. Und darüber hat sie öfter die Schule vergessen. Ich mußte sie regelrecht zwingen, ihre Schulaufgaben zu machen. Mit der Wahrheit hat sie es auch nie so ganz genau genommen. Aber es handelte sich dabei nie um große Lügen, immer so kleine Mogeleien. Frage: Welches Verhältnis hat Ihre Tochter zum Geld? Antwort: Sie hat nie Geld. Es fließt ihr regelrecht durch die Finger. Sie kann mit Geld einfach nicht umgehen. Wenn sie mal Geld hat, muß sie es ausgeben. Ich glaube, das ist zwanghaft bei ihr. Und dann hat sie natürlich gleich wieder nichts mehr und muß borgen. Um das geborgte Geld zurückzahlen zu können, borgt sie an anderer Stelle. Ein Teufelskreis. Auch von mir hat sie sich einige Male Geld geborgt. Keine großen Beträge, nie mehr als höchstens hundert Mark. Und sie hat es mir stets zurückgezahlt, das kann ich nicht anders sagen. Frage: Hatte Ihre Tochter in Kindheit und Jugend irgendwelche schweren Erkrankungen? War sie jemals in psychiatrischer oder psychologischer Be289
handlung? Antwort: In psychiatrischer Behandlung war sie nicht. An Krankheiten hat sie nur die üblichen Kinderkrankheiten durchgemacht: Röteln, Windpocken, Bronchitis …« Kriminaltechnisches Institut Untersuchungsprotokoll im Mordfall Heidenreich, Erna 1. Trassologische Untersuchung: Aus dem Schädelknochen der Geschädigten Heidenreich wurden zwei etwa neun Millimeter lange Metallteile isoliert, bei denen es sich um die abgebrochenen Schermesserspitzen einer Schere handelt. Als Spur 42 ist eine 25 cm lange Papierschere gekennzeichnet, deren Schermesser abgebrochen sind. Durch die trassologischen Untersuchungen wurde festgestellt, daß die aus dem Schädelknochen isolierten Schermesserspitzen an die Schermesser der Papierschere passen. Sie bildeten vor der Gewalteinwirkung ein einheitliches Ganzes … 2. Haaruntersuchung: Die Haare – Spuren 29 bis 38 – wurden augenscheinlich und mikroskopisch untersucht. Dabei konnte festgestellt werden, daß es sich bei den Spuren 29, 30, 32, 37 und 38 um jeweils eine größere Anzahl von menschlichen Kopfhaaren handelt. Diese hauptsächlich ergrauten Haare weisen eine Länge von zirka 15 cm auf. Ein Teil dieser Haa290
re ist ausgerissen, mehrere Kopfhaare sind auch abgetrennt. Sie sind mit der Vergleichshaarprobe Heidenreich identisch. 3. Serologische Untersuchung: Die Papierschere weist an beiden Schneidemessern großflächige bluttypisch aussehende Auflagerungen auf. Die durchgeführten Untersuchungen ergaben, daß es sich um Menschenblut mit den Gruppeneigenschaften AGn (A-x-f+) handelt. Der graublaue Damenmantel weist am rechten Bündchenfutter eine etwa erbsgroße blutverdächtig aussehende Wischspur auf. An dieser Stelle gelangen der Menschenblutnachweis und die Feststellung der Blutgruppe A … An den Geldscheinen waren winzige, blutverdächtig aussehende Wischspuren erkennbar. Nur an dem Fünfmarkschein Nr. ZG 931 718 war der Nachweis von Menschenblut zu führen. 4. Faseruntersuchung Alle vorliegenden Materialien, das sind ein Bettlaken, die Bekleidung des Opfers sowie die Bekleidung der Bürgerin Schneider, wurden augenscheinlich und mikroskopisch untersucht. Alle an den Bekleidungsgegenständen und an dem Bettlaken festgestellten Fremdfasern wurden abpräpariert und mikroskopisch untersucht. Die Materialanalyse der Bekleidung der Bürgerin Schneider ergab, daß der Mantel aus Schafwolle in den Farben farblos, gelbgrün und blaugrau besteht. Der orangefarbene Pullover wurde aus Polyacrylnitriylfasern gefertigt. 291
gefertigt. Bei der mikroskopischen Untersuchung der Prenabandabzüge vom Fensterbrett, von den Händen des Opfers, von den Glasscherben sowie der von der Bekleidung des Opfers abpräparierten Fasern wurden verschiedenfarbige Fasern aller gebräuchlichen Typen festgestellt. Diese Fasern und die in der Bekleidung der Bürgerin Schneider verarbeiteten wurden mittels eines Durchlichtmikroskops einer vergleichenden Untersuchung unterzogen. Bei der augenscheinlichen und mikroskopischen Untersuchung des Lakens konnten mehrere Textilfasern abpräpariert werden. Die mikroskopische Untersuchung ergab das Vorliegen von Schafwolle in den Farben farblos, gelbgrün und blaugrau. Bei der Untersuchung der als Spur 44 vorliegenden Spur vom Knoten des Bettlakens handelt es sich ebenfalls um blaugraue Schafwolle… Zusammenfassung: I. Die aus dem Schädelknochen isolierten Schermesserspitzen und die Schere bildeten ursprünglich ein Ganzes. II. Die Glassplitter der Spuren 8-13 gehörten wahrscheinlichursprünglich zur Weinflasche. Es besteht keine Artgleichheit zwischen den Glaspartikeln aus den Schuhen der Bürgerin Schneider und der Weinflasche. An den Lackteilchen konnte nur der Nachweis von Menschenblut erbracht werden. 292
V. Die am Tatort gefundene Schere trägt großflächige Menschenblutspuren mit den Gruppeneigenschaften AGm (A-x-f+), diese stimmten mit dem untersuchten Merkmalsbereich der Leichenblutprobe Heidenreich überein. VI. Einer der untersuchten Geldscheine trägt angewischtes Menschenblut. Bei einem weiteren Schein ist die Anwesenheit minimaler Blutspuren wahrscheinlich. An den Wildlederschuhen befinden sich zahlreiche winzige Spritzspuren von Menschenblut. Die Spuren entstanden sehr wahrscheinlich durch das Schlagen in eine blutende Wunde oder in eine Blutlache oder durch schnelles Bewegen eines mit Blut behafteten Gegenstandes. VII. Die vom Bettlaken abpräparierten Fremdfasern und das Fasermaterial des Mantels der Bürgerin Schneider zeigten in allen untersuchten Merkmalen Übereinstimmung. Desgleichen sind die vom Pullover der Bürgerin Schneider abgenommenen Fremdfasern und das Fasermaterial des Pullovers des Opfers artgleich. Schlußfolgerung: Die Ergebnisse der Untersuchung lassen sich gut mit dem bekannten Sachverhalt vereinbaren. Mein Geständnis Am Mittwoch, dem siebenundzwanzigsten November, fuhr ich zu Frau Heidenreich, um mir von ihr Geld zu borgen. Als ich aber in den Laden kam, 293
saß da schon jemand und unterhielt sich mit Frau Heidenreich, so daß ich sie nicht fragen konnte. Ich spielte deshalb bei ihr ein Los im Tele-Lotto. Danach bin ich wieder zurück zur Schumannstraße gefahren. Am Donnerstag wollte ich es noch einmal versuchen. Ich hoffte aber immer noch, daß der Uhrmachermeister, Herr August Meerburg, wieder in seinem Laden sein würde, weshalb ich früh zuerst in die Essener Straße fuhr. Als ich dort am Laden das Schild las, auf dem stand, daß er noch weiter wegen Krankheit geschlossen bleibt, fuhr ich zurück zur Schumannstraße. Mir war es zu kalt gewesen, und ich zog mir deshalb statt meiner Bluse einen Pullover an. Gegen zwölf Uhr bin ich dann wieder aus dem Haus gegangen und zur Triskauer Straße gefahren. Aber wieder war jemand in der Annahmestelle der Frau Heidenreich. Ich bin daraufhin zuerst in den Geflügelladen und habe einen Broiler gekauft. Danach ging ich in den Lebensmittelkonsum und kaufte eine Schachtel Pralinen. Als ich aus dem Konsum herauskam, war Frau Heidenreich nicht mehr in ihrer Annahmestelle. Da ich nicht wußte, wo sie wohnt, fragte ich einen jungen Mann. Ich ging hoch und klingelte. Frau Heidenreich freute sich, als sie mich sah. Ich schenkte ihr die Pralinen und die Blumen und rückte dann kleinlaut mit meinem Anliegen heraus. Ich fragte, ob sie mir nicht Geld borgen könnte. Sie fragte: Wieviel? Ich sagte: Fünfhundert. Das lehnte sie ab. So294
viel könnte sie nicht verborgen, sagte sie. Sie bot mir aber an, mir zweihundertfünfzig Mark zu borgen, und sie sagte, daß sie sich für mich verwenden wolle, damit ich ihre Annahmestelle weiterführen könnte. Ich freute mich über das Angebot. Dann kamen zwei Ofensetzer, auf die Frau Heidenreich schon ewig gewartet hatte, und die vereinbarten mit ihr endlich einen Termin für die Reparatur ihres Ofens. Ich habe inzwischen den Rest des Geldes, der auf dem Tisch lag, an mich genommen, und bin dann auch ’raus auf den Flur gegangen. Meine Tasche stand noch in der Stube, und mein Mantel lag noch auf der Liege. Einer der Töpfer sagte zu mir: Ach, junge Frau, können Sie das nicht mal wegwerfen! Und er gab mir eine Tüte mit einer Schnapsflasche drin. Frau Heidenreich sah das und sagte: Lassen Sie die ruhig hier. Stellen Sie sie da an die Küchentür! Ich nehme sie nachher mit nach unten. Danach gingen die Ofensetzer. Ich wollte auch so schnell wie möglich fort. Ich rechnete nicht damit, daß sie das Verschwinden des Geldes schon gemerkt hatte, denn ich wollte es im Falle einer Anzeige von ihr auf die beiden Ofensetzer schieben. Doch als sie mich angezogen stehen sah, sagte sie, ich sollte ihr das Geld zurückgeben. Sie wäre von mir enttäuscht. Das hätte sie mir nie im Leben zugetraut. Und beinahe hätte ich ihr das Geld zurückgegeben, aber da war eine Stimme in mir, die sagte: Du brauchst das Geld! Und ich brauchte es ja 295
wirklich sehr dringend. Da wollte ich an ihr vorbei zur Tür. Die Tasche hatte ich in der linken Hand. Frau Heidenreich hatte sie gepackt und hielt sie fest. Ich zerrte, aber sie ließ nicht los. Da sah ich die Flasche stehen und bückte mich nach ihr. Ich nahm die Flasche und schlug sie Frau Heidenreich auf den Kopf. Ich erschrak ganz furchtbar und war wie gelähmt. Es hatte einen lauten Knall gegeben, und die Flasche war zersprungen. Frau Heidenreich schrie wie besessen und rannte in die Stube. Mit einer langen Schere in der Hand kam sie wieder ’raus und auf mich zu. Ich stieß sie weg, und sie fiel hin. Sie schrie wieder sehr laut. Ich mußte sie vom Flur wegbekommen, aber sie fuchtelte immer mit der Schere herum, weshalb ich sie zusammen mit dem Teppich in die Stube ziehen wollte, aber das ging nicht. Mir blieb also nichts anderes übrig, als sie an den Haaren in die Stube zu ziehen. Das war furchtbar. Ich war fast am Ende meiner Kraft, denn ich hatte ja auch eine Grippe und Fieber, aber sie schrie ununterbrochen. Ich sagte immer: Bitte, sind Sie doch leise! Aber sie schrie immer noch mehr und immer lauter. Da habe ich einen Stuhl genommen und ihn auf sie geworfen. Plötzlich klingelte es draußen an der Wohnungstür. Ich bin auf Strümpfen ’raus auf den Flur gegangen und habe das Licht ausgemacht. Als ich wieder zurück in die Stube kam, war Frau Heidenreich schon wieder halb hoch und stach mir mit 296
der Schere ins Bein. Nun kämpfte ich regelrecht mit ihr. Ich kriegte dann auch die Schere zu fassen. Ich weiß nicht, wohin ich traf, aber sie war jetzt still. Aber sie war nicht tot, sie hat noch geatmet. Ich ging in die Küche und wusch mein Knie ab, denn es blutete sehr. Dann ging ich ins Schlafzimmer und stellte einen Stuhl unter die Türklinke. Ich sah, daß das Fenster zum Hof heraus ging. Darauf nahm ich das Laken aus dem Bett der Frau Heidenreich, machte es am Fenster fest und stieg auf das Fensterbrett. Eigentlich wollte ich am Laken herunterrutschen, bin dann aber gesprungen, wo ich mir die Verletzung zuzog. Ich bereue meine Tat aufrichtig und bitte um eine gerechte Strafe. Ilona Schneider Ebner sah hoch und schaute Hauptmann Wustlich an, der schon eine Weile vor ihm gesessen hatte ohne ihn bei der Lektüre zu stören. »Na?« fragte Wustlich. »Haben wir wirklich alle in Frage kommenden Ofensetzer zur Sache befragt?« »Hundertprozentig.« »Sie klammert sich an ihre Erfindung wie der Ertrinkende an den Strohhalm.« »Sie hat sich das Strafrecht bringen lassen, bevor sie ihr Geständnis geschrieben hat. Sie will sich keinen vorsätzlichen Mord anhängen lassen, also muß die Flasche samt der Tüte ohne ihr Zutun in die 297
Wohnung Heidenreich gekommen sein.« »Aber wenn sie von Anfang an vorhatte, die Frau zu töten, wenn sie also mit der leeren Flasche losgegangen ist, weshalb hat sie dann diesen jungen Mann nach der Adresse der Frau gefragt? Ich begreife das nicht.« »Frag sie!« sagte Wustlich. »Vielleicht verrät sie dir’s. Wir haben übrigens bei ihrem Freund nachgefragt, ob sich in den Tagen vor dem Donnerstag eine volle oder leere Weinflasche der Marke ,Lindenblättriger’ in seiner Wohnung befunden hat.« »Hätte mir wahrhaftig auch schon einfallen können!« »Wer ist schon unfehlbar?« sagte Wustlich. Jedenfalls wissen wir nun, daß die beiden dieselbe Flasche am Sonntagabend geleert haben. Seiner Meinung nach ist die leere Flasche allerdings schon am Mittwoch nicht mehr dagewesen. »Dann hat sie sie schon am Mittwoch spazieren getragen.« »Sollte man annehmen.« »Was ist mit dem Uhrmacher?« »Zu dem wollte ich jetzt hin.« »Das werde ich übernehmen.« »Du siehst nicht gerade überzeugend aus.« »Macht nichts.« »Was sagen denn die Ärzte?« »Sie meinen, sie hätte es jetzt überstanden. Das 298
Fieber ist ’runter. Was machen deine Sprößlinge?« »Die sind wieder voll da. Am Montag geht’s ab in die Schule. Wird höchste Zeit.« Als Ebner aus dem Dienstgebäude trat, sah er zu seiner Verblüffung in einiger Entfernung die junge Frau Lustig stehen, den »Dragoner«. Bei seinem Anblick fuhr sie zusammen und wollte davonlaufen. Doch Ebner rief ihr zu, doch stehenzubleiben. Langsam verhielt sie danach ihre Schritte und blieb schließlich stehen. Aber sie drehte sich nicht um. »Guten Tag, Frau Lustig!« sagte Ebner. »Wie ich hörte, wollten Sie mich sprechen?« Statt einer Antwort schüttelte sie verneinend den Kopf. »Dann hat sich meine Sekretärin sicher geirrt«, sagte Ebner. »Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen«, sagte sie. »Das war reiner Zufall, daß Sie da gerade herauskamen.« »Ja«, stimmte Ebner zu, »solche Zufälle gibt es. Wie geht’s denn Ihrer Mutter?« »Woher haben Sie das gewußt?« »Was?« »Na, daß meine Mutter nicht herzkrank ist?« »Ich habe das nicht gewußt, Frau Lustig. Es war nur so eine Ahnung. Sie ist also nicht herzkrank?« »Ich war beim Arzt und habe ihn gefragt. Er hat mir gesagt, sie könnte mit dem Herzen hundert Jahre alt werden.« »Eine freudige Nachricht.« 299
»Ich habe es ihr gesagt, und da hat sie einen Herzanfall bekommen. Sie hat gesagt, ich wollte sie umbringen.« »Nehmen Sie es nicht tragisch. Ihre Mutter muß sich erst an das gesunde Herz gewöhnen. Das ist eine ziemliche Umstellung.« Sie nickte, aber Ebner sah ihr an, daß sie noch etwas auf dem Herzen hatte. Obwohl er in Eile war, blieb er abwartend stehen. »Seit ich das weiß…, ich meine, daß sie gar nichts hat am Herzen …«, begann sie stockend, »seither ist mir … Ich könnte sie wirklich umbringen.« Ebner legte den Arm um sie. »Tun Sie’s besser nicht«, sagte er. »Fangen Sie statt dessen mit dem Leben an.« Während der ganzen Fahrt zur Essener Straße mußte er über die merkwürdige Begegnung nachdenken. Er war sich im klaren, sie mit einer Floskel abgespeist zu haben, aber auch jetzt fiel ihm nichts ein, was er ihr hätte sagen können. Herr Meermann wurde vom Rheuma geplagt. Seine Frau war nicht zu Hause. Ebner konnte also ohne Umschweife auf den entscheidenden Punkt zu sprechen kommen. »In welchem Verhältnis steht Frau Schneider zu Ihnen?« »Ist das strafbar?« fragte der Uhrmacher statt einer Antwort. »Um es vorwegzunehmen, Herr Meermann, ich bin Mitarbeiter der Mordkommission. Und ich ermittle nicht gegen Sie, sondern gegen Frau Schnei300
der.« »Mordkommission?« fragte Meermann ungläubig. Ebner nickte. »Mein Gott«, sagte der Uhrmacher, »was hat sie denn da bloß angestellt?« »Sie brauchte Geld.« »Sie hat immer Geld gebraucht. Aber deswegen macht man doch nicht so etwas! Hat sie tatsächlich jemanden umgebracht?« »Darüber wird das Gericht zu entscheiden haben. Würden Sie mir jetzt auf meine Frage antworten?« Der Uhrmacher überlegte ein wenig. »Ja, das ist eine lange Geschichte«, sagte er. »Ich kannte Ilona schon, da war sie erst zwölf. Sie kam fast jeden Tag in meine Werkstatt. Ich habe sie nicht in meine Werkstatt gelockt, ich hatte keine Bonbons da. Keine Schokolade. Nichts Süßes, falls Sie darauf hinauswollen. Ich hatte auch keine sexuellen Probleme. Ich war nicht hinter Kindern her. Zwischen mir und Ilona ist nicht die Geschichte gelaufen, die Sie sich wahrscheinlich vorstellen. Und ich habe auch keine Angst, mich vor Ihnen eventuell lächerlich zu machen, wenn ich sage, daß ich Ilona liebe. Ich bin nicht daran zugrunde gegangen, daß sie mich nicht geliebt hat, und ich werde sicher nicht daran zugrunde gehen. Man gewöhnt sich an vieles. Aber ich werde für sie dasein, was immer sie auch getan haben mag.« 301
»Trotzdem muß ich Sie fragen, ob es stimmt, daß Frau Schneider von Ihnen mehrfach Geld erhalten hat, und zwar immer im Anschluß an eine Handlung mit sexuellem Charakter?« »Wollen Sie ihr Prostitution anhängen?« »Ich glaube nicht, daß ich ihr noch etwas anhängen muß, Herr Meermann. Sie hat sich selber so viel angehängt, daß es für ihr ganzes Leben reicht.« Der Uhrmacher wurde sehr blaß. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen und konnte dennoch nicht verhindern, daß sich Tränen hervordrängten. »Warum ist es so furchtbar schwer, dem anderen zu helfen? Können Sie mir das sagen?« fragte er Ebner. »Ich glaube nicht, daß wir auf diese Art weiterkommen. Sie sind mir mehrere Antworten schuldig, Herr Meermann!« »Ich möchte Ihren Beruf nicht haben«, sagte der Uhrmacher verächtlich. »Wir sind nicht in Personalnot.« »Es gibt ja immer wieder Leute, denen so etwas Vergnügen bereitet.« »Na schön, Herr Meermann«, sagte Ebner, »ich wollte Ihnen das ersparen, da Sie aber so erpicht darauf sind, meine Vergnügungen kennenzulernen, will ich Ihnen einmal beschreiben, wie eine sechsundsiebzigjährige Frau ausschaut, wenn man sie viehisch erschlagen hat. Zunächst mit einer leeren Weinfla302
sche, die in tausend Stücke zersprungen ist, danach mit einem Stuhl und dann mit einem Stuhlbein, weil nämlich auch der Stuhl die Tortur nicht ausgehalten hat. Und nun stellen Sie sich eine Papierschere vor, Herr Meermann! Sicher haben Sie schon einmal eine dieser langen Scheren in der Hand gehabt, und was glauben Sie, was es für ein Gefühl sein muß, die Messer einer solchen Schere in den eigenen Kopf gestochen zu bekommen! Mehrmals. Ungezielt. Irgendwohin. Frau Heidenreich, so nämlich hieß die Frau, kann es uns nicht mehr erzählen, sie ist tot. Wenn Sie aber Wert darauf legen, will ich Ihnen bei Gelegenheit gern ein Farbfoto dieses gequälten und geschundenen Gesichts vorbeibringen. Ich versichere Ihnen…« »Hören Sie auf!« sagte der Uhrmacher leise. »Einen Augenblick! Ich bin noch nicht ganz fertig, denn ich darf doch annehmen, daß es Sie interessiert, Herr Meermann, daß begründeter Verdacht besteht, daß die leere Weinflasche zunächst Ihnen oder, sagen wir besser, Ihrem Kopfe zugedacht war. Ihre Krankheit hat Sie vermutlich davor bewahrt, ähnlich wie Frau Heidenreich zu enden.« »Das ist nicht wahr. Das erfinden Sie nur frei, um mich gegen Ilona einzunehmen.« »Vorerst ist es eine Vermutung, gewiß. Fest steht nur, daß Sie und Frau Heidenreich die einzigen beiden Personen waren, von denen sich Ilona Schneider 303
Geld beschaffen wollte. Und fest steht auch, daß sie vor der Tür Ihres Ladens stand.« Meermann sagte nichts, aber Ebner sah, wie es in ihm arbeitete. Mehrmals bewegte sich sein Kehlkopf krampfhaft, als wollte er sprechen, und er knetete in einem fort seine Hände. Hauptmann Ebner drängte ihn nicht, er wußte, daß er diesem Mann eine Illusion zerstört hatte, die für ihn offenbar von großer Bedeutung gewesen war. Nun brauchte er Zeit, sich zu sammeln, sich in der plötzlich so radikal veränderten Welt zurechtzufinden. »Vielleicht habe ich sie zu dieser verzweifelten Tat getrieben«, sagte er, »denn als sie Mitte Oktober bei mir war, habe ich ihr gesagt, daß mit dem Geld Schluß sein muß. Ich gab ihr noch einmal fünfhundert Mark und sagte, ich könnte mir das in Zukunft einfach nicht mehr leisten, es ginge über meine finanziellen Verhältnisse. Dabei war ich aber bereit, ihr auch künftig Geld zu geben, ich wollte nur sehen, wie sie auf meine Ankündigung reagiert. Ich hoffte – und das werden Sie sicher wieder dumm von mir finden –, sie würde auch so zu mir kommen.« »Was hat sie Ihnen darauf geantwortet?« »Nichts. Sie hat nur gelacht und ist gegangen.« »Haben Sie einen Überblick, wieviel Geld Sie ihr in den letzten zwei Jahren gegeben haben?« »Genau kann ich das nicht sagen. Ich führe darüber nicht Buch. Zwei- bis dreitausend Mark könnten 304
zusammenkommen. Es ist aber nicht so, daß ich sie für sexuelle Dinge bezahlt habe. Das ist pure Erfindung. Wir haben miteinander geschlafen, ja, und ich hatte nie den Eindruck, sie absolviert dabei eine Pflichtübung. Es war wichtig für uns beide. Sie hat mir mehrmals gesagt, sie würde mit mir dabei am meisten empfinden. Möglicherweise war es auch so, denn ich war ja gewissermaßen ihr erster Mann. Mir war klar, daß es irgendwann zu Ende gehen würde, denn ich bin darüber alt geworden. Deshalb ja auch meine Bemerkung, daß ich ihr künftig nicht mehr mit Geld aushelfen würde. Hätte ich es nur nicht gesagt!« »Hätten Sie ihr nie welches gegeben, Herr Meermann! Da müssen Sie Ihre Schuld suchen. Wie übrigens andere auch, denn Sie waren nicht der einzige Mann, der ihr Geld gab. Und so nach und nach hat sie sich daran gewöhnt, ihr Geld auf alle nur mögliche Arten zu beschaffen. Nur eine Art hat sie ausgelassen, nämlich durch Arbeit.« »Sie war oft krank.« »Wir sind dabei, das zu prüfen. Es sieht nicht so aus, als ob sie tatsächlich oft krank gewesen ist. Mit Ausnahme der gut verlaufenen Operation eines Geschwürs am Zwölffingerdarm gibt es in ihrem SVKAusweis keinen Hinweis auf irgendwelche ernsthaften Erkrankungen. Das Kranksein gehörte zu ihrer Rolle. Möglicherweise hat sie selber daran geglaubt. 305
Diese Rolle erlaubte es ihr, im Selbstmitleid zu verharren, und zugleich rief sie natürlich damit auch bei Männern wie Ihnen das Bedürfnis wach, ihr zu helfen.« »Sie mögen recht haben. Und doch erklärt mir das alles nicht, wie sie dazu gekommen ist, eine alte Frau zu erschlagen. Kann man sie besuchen? Sie wird doch gewiß einen Rechtsanwalt brauchen. Ich bezahle ihr den. Sagen Sie ihr das!« »Bevor nicht die Ermittlungen abgeschlossen sind, darf sie keinen Besuch erhalten. Danach haben Sie unter Umständen die Möglichkeit. Sie können ihr dann auch schreiben und ihr Ihr Angebot schriftlich unterbreiten.« Hauptmann Ebner hatte bewußt wieder den Abend als Zeitpunkt für die nächste Vernehmung gewählt. Die Abendstunden schienen die Zeit zu sein, in denen Ilona Schneider gesprächig war. Sie blickte ihm erwartungsvoll entgegen. Offensichtlich war sie gespannt darauf, zu erfahren, welchen Eindruck ihr Geständnis auf den Hauptmann gemacht hatte. Sie lag noch immer auf der Krankenstation. Die Ausheilung der Beckenfraktur brauchte Zeit. »Wie fühlen Sie sich?« fragte Ebner. »Nicht besonders.« »Sind Sie trotzdem in der Lage, mir auf meine Fragen zu antworten, Frau Schneider?« Sie nickte, ohne zu überlegen. Man sah ihr an, wie sehr es sie 306
wieder drängte, mit jemand über das Geschehen jenes Donnerstags zu reden. »Antworten Sie!« sagte Ebner, der sich für das Protokoll nicht mit einem Nicken des Kopfes zufrieden geben konnte. »Ja, ich bin in der Lage.« »Dann erzählen Sie mir, wie der achtundzwanzigste November verlaufen ist!« »Ich habe doch alles aufgeschrieben! Haben Sie denn mein Geständnis nicht gelesen?« Ebner erhob sich und tat so, als schicke er sich zum Gehen an. »Wenn Sie heute noch nicht erzählen wollen, dann ein andermal«, sagte er, »Wir haben Zeit, Frau Schneider.« »Was soll denn das? Ich habe doch gar nicht gesagt, daß ich nichts sagen will. Ich habe Sie doch bloß gefragt, ob Sie mein Geständnis nicht gelesen haben.« Ebner setzte sich wieder. »Ich habe es gelesen«, sagte er. »Na und? Warum muß ich denn immer wieder erzählen, wie es war? Wollen Sie mich fertigmachen! Ich wache in der Nacht auf, bin klitschnaß und schreie, weil ich alles immer wieder durchmachen muß.« »Da sind Sie gegenüber der Frau Heidenreich im Vorteil, Frau Schneider. Sie vermögen noch aufzuwachen.« Sie zuckte bei dieser Bemerkung Ebners zusammen. Ihre Augen verengten sich. »Sie hassen 307
mich?« sagte sie. »Sie nehmen sich zu wichtig, Frau Schneider. Im übrigen bin ich nicht hier, um mit Ihnen über meine Gefühle zu plaudern. Wann sind Sie am vorigen Donnerstag aufgestanden?« »Es muß gegen acht gewesen sein«, gab sie widerstrebend zur Antwort. Ebner war nicht willens, sich von ihr die Gesprächsführung aufzwingen zu lassen. Über das Geständnis würde noch zu reden sein, aber nicht zu Beginn. Sie sollte durch sein Verhalten erkennen, wie wenig ihr Versuch bei ihm gefruchtet hatte, sich durch die Flucht in die Wahrheit aus der Schlinge zu ziehen. »Weiter!« sagte Ebner. »Was taten Sie danach?« »Na, ich habe mich gewaschen, angezogen und dann gefrühstückt.« »Weiter!« »Dann habe ich die Wohnung aufgeräumt. Bißchen Staub gewischt. Und dann habe ich mir Schuhe und Mantel angezogen und bin los.« »Wann war das?« »Etwa halb zehn.« »Hatten Sie da die Flasche schon bei sich?« »Wieso? Ich hatte doch keine Flasche bei mir.« »Wann haben Sie das letzte Mal Wein getrunken?« »Das weiß ich nicht.« »Was haben Sie am Sonntagabend gemacht?« 308
»An welchem Sonntag?« »An dem Sonntag, der Ihrer Tat vorausging!« »Am Abend? Wir haben ferngesehen.« »Und nichts dabei getrunken?« »Doch. Gert hatte eine Flasche Wein mitgebracht, die haben wir ausgetrunken.« »Welche Weinsorte war das?« »Weiß ich nicht. Ich kenne mich bei Wein nicht aus. Irgendein ungarischer Wein war es wohl.« »Lindenblättriger?« »Ja.« »Was ist aus der leeren Flasche geworden?« »Am Mittwoch hatte ich sie mit. Als ich zur Essener Straße gefahren bin, da hatte ich sie in meine Tasche, also in den Einkaufsbeutel gepackt.« »Was hatten Sie mit der leeren Flasche vor?« »Ich brauchte Geld, und wenn mir Herr Meermann keins gegeben hätte, wollte ich ihn besinnungslos machen.« »Wie wollten Sie das machen?« »Na, ich wollte ihm die Flasche auf den Kopf schlagen.« »Und was dann?« »Ich habe gedacht, daß er ohnmächtig wird. Dann wollte ich mir das Geld nehmen, entweder aus seiner Brieftasche oder aus der Ladenkasse.« »Wenn er nun wirklich nur besinnungslos geworden wäre, dann wäre er doch wieder zu sich gekom309
men. Hatten Sie denn keine Angst, er könnte Sie anzeigen? Was Sie da vorhatten, war ein Raubüberfall, wenn nicht gar ein versuchter Totschlag!« »Er hätte mich nicht angezeigt, das wußte ich genau. Ich habe ihm vor Jahren schon einmal Geld weggenommen, da hat er mich auch nicht angezeigt. Er hat doch Angst vor seiner Frau und daß er selber vor Gericht muß, weil er mit mir geschlafen hat, obwohl ich noch nicht achtzehn war.« »Wieviel Geld hatten Sie ihm damals entwendet?« »Zwei Fünfzigmarkscheine.« »Wo haben Sie die Flasche anschließend aufbewahrt?« »In meiner Wohnung in der Frankenstraße.« »Wann?« »Danach. Ich bin mit der Straßenbahn durchgefahren bis zur Loschwitzer Straße. Da bin ich dann in meine Wohnung.« »Nachdem Sie in der Lotto-Annahmestelle der Frau Heidenreich waren?« »Ja, ich bin erst auf die Triskauer Straße. Und bevor ich wieder zurück in die Schumannstraße gefahren bin, bin ich erst noch in meiner Wohnung in der Frankenstraße gewesen.« »Demnach hatten Sie die leere Weinflasche bei Ihrer nächsten Fahrt zur Uhrmacherwerkstatt Donnerstagmorgen gar nicht bei sich?« »Nein, da hatte ich sie nicht bei mir.« 310
»Und wann haben Sie die Flasche wieder aus Ihrer Wohnung in der Frankenstraße geholt?« »Am Donnerstag, auf dem Weg von der Straßenbahnhaltestelle zur Triskauer Straße.« »Vorhin haben Sie gesagt, Sie hatten vor, mit dieser Flasche Herrn Meermann besinnungslos zu schlagen. Am Mittwoch konnten Sie jedoch kaum damit rechnen, ihn in seiner Werkstatt anzutreffen. Am Donnerstag aber, wo seine Krankschreibung normalerweise beendet war, wo Sie also annehmen durften, ihn anzutreffen, an dem Donnerstag hatten Sie die Flasche auf Ihrer Fahrt zur Essener Straße überhaupt nicht bei sich. Würden Sie mir diesen Widerspruch vielleicht erklären?« »Da gibt es überhaupt nichts zu erklären. Ich hatte die leere Flasche nun mal aus der Wohnung genommen, da konnte ich sie ja schlecht wieder hinstellen. Was hätte ich denn meinem Freund sagen sollen, wenn er mich danach gefragt hätte?« »Sie sind nach ihm aus der Wohnung gegangen und vor ihm zurückgekommen. Wie hätte er bemerken sollen, daß die Flasche eine Zeitlang nicht in der Wohnung war?« »Ich wußte doch nicht, wann ich wieder zurück sein würde. Ich wollte eigentlich ein bißchen durch die Stadt bummeln. Weihnachtseinkäufe machen und so. Und nur weil das Wetter so schlecht war, habe ich es dann nicht gemacht und bin nach Hause.« 311
»Weihnachtseinkäufe wollten Sie machen? Von welchem Geld denn? Am Mittwoch hatten Sie noch fünfzig Mark!« »Die hätten mir gereicht. Teure Geschenke kann ich sowieso nicht machen.« »Sie holten also am Donnerstag die leere Weinflasche in einer Tüte verpackt aus Ihrer Wohnung in der Frankenstraßeaße? Was hatten Sie mit der Flasche vor?« »Na, dasselbe. Ich war mir ja nicht sicher, ob mir Frau Heidenreich Geld borgen würde.« »Wie alt ist Frau Heidenreich Ihrer Meinung nach? Oder nein«, verbesserte sich Ebner, »ich muß ja fragen: Wie alt war Frau Heidenreich?« »So an die Achtzig.« »Und Sie haben nicht damit gerechnet, eine achtzigjährige Frau durch einen Schlag mit einer Weinflasche auf den Kopf zu töten?« »Nein, ich wollte niemand töten. Ich wollte auch Herrn Meermann nicht töten. Wenn ich jemand hätte töten wollen, dann hätte ich einen Hammer eingepackt. Damit kann man jemand umbringen, aber nicht mit einer leeren Weinflasche. Ich habe das auch schon in Filmen gesehen, daß da jemand eine Flasche auf den Kopf bekommt und lediglich die Besinnung verliert. Eine leere Weinflasche ist doch kein Totschläger oder so etwas. Außerdem habe ich am Donnerstag in meiner Wohnung in der Frankenstraße 312
auch noch einen Zettel für Frau Heidenreich geschrieben, für den Fall, daß ihre Annahmestelle wieder voller Leute ist. Ich habe geschrieben: Liebe Frau Heidenreich! Können Sie mir bis zum nächsten Jahr fünfhundert Mark leihen? Sie bekommen sie jeweils in Hundertmarkscheinen zurück. Wenn nicht, dann sagen Sie bitte meiner Mutti nichts. Mit freundlichem Dank im voraus. Den Zettel wollte ich ihr geben. Ich wollte sie nicht umbringen.« »Wo befindet sich der Zettel jetzt?« »Den habe ich zerrissen.« »Wann waren Sie in Ihrer Wohnung in der Frankenstraße?« »Kurz nach zwölf.« »Wann haben Sie sie verlassen?« »Ich habe mich höchstens zehn Minuten dort aufgehalten. Vielleicht war es zwanzig nach zwölf. Ich bin dann ziemlich rasch zur Triskauer Straße gelaufen, weil ich ja Frau Heidenreich im Laden antreffen wollte, ich wußte ja gar nicht, wo sie wohnt.« »Und weshalb sind Sie nicht zu ihr in den Laden gegangen? Sie hatten doch den vorbereiteten Zettel bei sich. Sie hätten doch nur hineinzugehen brauchen und ihr den Zettel geben.« »Das hätte ich gemacht, wenn mehrere Leute drin gewesen wären. In dem Falle hätte ich ihr einfach den Zettel hingelegt und hätte irgendwo draußen gewartet. Aber da saß ja eine alte Frau und zeigte Frau 313
Heidenreich so Sachen. Und wenn ich da reingekommen wäre, hätte mich Frau Heidenreich bestimmt angesprochen. Wie sollte ich ihr denn unter den Umständen den Zettel in die Hand drücken? Sie hätte ihn doch sofort gelesen. Und vor der fremden Frau wollte ich darüber nicht sprechen.« »Sie sind also nicht in die Annahmestelle gegangen, sondern wohin?« »In den Konsum schräg gegenüber. Dort habe ich Pralinen gekauft. Als ich da wieder rauskam, saß die alte Dame immer noch bei Frau Heidenreich. Nun bin ich die Triskauer Straße runtergegangen bis zum Geflügelladen und habe dort einen Broiler gekauft. Und wie ich nun wieder an der Annahmestelle angelangt bin, war Frau Heidenreich schon weg.« »Wann haben Sie denn in der Gaststätte ,Traube’ einen Kaffee getrunken?« Sie schwieg und schlug die Augen nieder wie ein Schulmädchen, das bei einer Lüge ertappt wurde. »Ich will Ihnen helfen, Frau Schneider«, sagte Ebner, »diese Kaffeepause brauchten Sie beim zweiten Verhör, um die Zeitspanne zu füllen, in der Sie in Wahrheit in Ihrer Wohnung waren, wo Sie die Flasche einpackten.« »Ich war dort, weil ich den Zettel schreiben wollte. Da habe ich die Flasche stehen sehen. Ich habe sie eingepackt, weil ich sie wegwerfen wollte.« »Das ist Ihnen diesmal ein wenig zu spät eingefal314
len, Frau Schneider. Sie haben vorhin bereits ausgesagt, daß Sie die Flasche mit sich führten, um Frau Heidenreich damit besinnungslos zu schlagen, falls die Ihnen kein Geld gibt.« »Das ist mir erst eingefallen, als ich sie nicht mehr in ihrer Annahmestelle antraf.« »Fanden Sie auf dem ganzen Weg von der Frankenstraße zur Triskauer Straße keine Mülltonne und keinen Abfallbehälter?« »Ich war mit meinen Gedanken bloß bei dem Geld. Ich hatte die Flasche völlig vergessen. Und ich habe ja dann auch den jungen Mann nach der Adresse der Frau Heidenreich gefragt. Wenn ich sie hätte töten wollen, dann hätte ich doch nicht vorher noch jemand nach ihrer Adresse gefragt!« Ebner ließ sie nicht erkennen, daß er in diesem Punkt mit ihr einer Meinung war. Zu leicht hätte sie das zu neuen Lügen ermutigen können. Er mußte jetzt möglichst rasch zu den Vorgängen in der Wohnung der Frau Heidenreich kommen, denn nachdem geklärt war, daß sie die Weinflasche selber nach dort gebracht hatte, fielen ja voraussichtlich auch die beiden Ofensetzer weg, was wiederum den Ablauf entscheidend verändern würde. Und sie dürfte bis jetzt noch kaum Zeit gehabt haben, sich darauf vorzubereiten, sich eine neue Version zurechtzulegen. Vielleicht gelang es ihm, sogleich zur Wahrheit vorzustoßen. »Sie standen vor der Wohnungstür der Frau Hei315
denreich und läuteten. Hat sie Ihnen sofort geöffnet, oder verging einige Zeit?« »Sie hat die Tür sofort geöffnet. Ich nehme an, sie war in der Küche, und die liegt ja nahe bei der Wohnungstür. Sie hat sich gefreut und hat mich in die Wohnung gelassen, ohne mich nach meinem Anliegen zu fragen. Und ich habe zuerst auch gesagt, daß ich nur mal so vorbeikäme. Ich habe ihr die Pralinen und die Blumen gegeben, also das war noch auf dem Flur, und sie sagte, ich solle doch im Wohnzimmer Platz nehmen. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Während ich mir den Mantel auszog, hat sie nach einer Vase gesucht, die hat sie dann auf den Wohnzimmertisch gestellt. Zwischendurch ist sie immer mal in die Küche gegangen wegen des Kaffees. Ich habe mich dann an den Tisch gesetzt. Und kurze Zeit später setzte sich Frau Heidenreich dazu. Sie hatte sich Brötchen mitgebracht und Kaffee für uns beide. Mir hat sie Kekse angeboten. Den Kaffee, den hatte sie sehr stark gemacht, das war eigentlich schon Mokka. Ich habe sie gefragt, ob ihr so starker Kaffee denn nichts ausmacht. Darauf hat sie mir geantwortet, daß ihr nur schlecht würde, wenn sie dünnen Kaffee trinken müßte. Starker Kaffee sei sehr gut für sie. Und so langsam bin ich dann mit der Sprache rausgerückt und habe sie gefragt, ob sie mir nicht fünfhundert Mark borgen könnte. Sie hat das abgelehnt. Soviel Geld könnte sie nicht verborgen, hat sie 316
gesagt. Ich hab’ noch ein bißchen gejammert, und schließlich hat sie mir zweihundertfünfzig Mark gegeben. Sie nahm das Geld vom Tisch, also von dem Lottogeld, das links neben ihr lag. Sie sagte, sie würde die Summe später vom eigenen Geld wieder dazulegen. Jetzt hatte ich wenigstens zweihundertfünfzig Mark. Ich schob ihr den Zettel ’rüber, es sollte der Schuldschein sein. Frau Heidenreich strich die fünfhundert durch und schrieb statt dessen zweihundertfünfzigzig Mark hin. Danach legte sie den Zettel mit zu den Lottosachen links neben sich. Wir tranken weiter Kaffee. Ich rauchte insgesamt drei Zigaretten. Dann bin ich auf die Toilette, und als ich zurückkam, sah ich, wie Frau Heidenreich meinen Schuldschein in ihr Portemonnaie steckte. Ich kann aber nicht mehr sagen, wohin sie dann das Portemonnaie gesteckt hat. Ich fand es jedenfalls später im Korridor auf dem Teppich.« »Beschreiben Sie noch einmal ganz genau, was alles auf dem Tisch im Wohnzimmer lag!« unterbrach Ebner ihre Darstellung, denn er hatte gemerkt, daß sie dabei war, die neuste Version des Tathergangs zu entwickeln. Sie war äußerst konzentriert gewesen und hatte ohne Stocken erzählt. Die Frage des Hauptmanns brachte sie aus dem Konzept. »Das habe ich Ihnen doch schon erzählt«, murrte sie. »Erzählen Sie es noch mal!« »In der Mitte stand der Blumenstrauß. Vor jedem 317
stand ein Frühstücksteller und eine Kaffeetasse. Dann noch die Kaffeekanne. Eine Schale mit Würfelzucker. Die Kekspackung. Neben Frau Heidenreich lag das Lottogeld, das waren Scheine und eine Kiste mit Kleingeld. Ach ja, und da war ja auch noch die goldene Uhr von ihrem verstorbenen Mann, die stand in so einem Holzgehäuse.« »Das war alles?« »Ja.« »Überlegen Sie genau!« »Den Aschenbecher habe ich noch vergessen.« »Lassen Sie sich Zeit, Frau Schneider. Schließen Sie meinetwegen die Augen und stellen Sie sich den Tisch noch einmal bildlich vor.« »Ich wüßte nicht, was noch draufgewesen sein soll. Irgendwelche Listen lagen wohl noch unter dem Lottogeld. Und ein Bündel Wettscheine. Das kann ich so genau nicht sagen, das lag da alles bißchen durcheinander und übereinander. Aber sonst war nichts weiter auf dem Tisch.« »Na gut, kommen wir nun zu den beiden Ofensetzern!« sagte Ebner. »Es waren keine Ofensetzer da, das wissen Sie doch.« »Aha, also hätten wir die beiden Unbekannten aus dem Spiel. Wie ging es demnach weiter?« »Es war ja inzwischen bald Zeit geworden, die Annahmestelle wieder zu öffnen. Frau Heidenreich 318
stand deshalb auf und räumte den Tisch ab. Die Gelegenheit habe ich benutzt, um das Geld, das da lag, einzustecken. Ich hatte mir vorher schon den Mantel angezogen, um schnell aus der Wohnung zu kommen. Wie ich gerade im Begriff war, das Wohnzimmer zu verlassen, kam Frau Heidenreich wieder herein. Ich wollte ihr rasch auf Wiedersehen sagen, aber sie verlangte, daß ich ihr das Geld zurückgeben soll. Sie war sehr empört, sehr aufgeregt, ganz rot im Gesicht. Ich habe versucht, irgendwie an ihr vorbeizukommen, aber sie ließ mich nicht durch. Irgendwie bin ich dann trotzdem wenigstens auf den Flur gekommen, aber sie hatte meine Tasche am Henkel gepackt und ließ nicht los. Da fiel mir die Flasche wieder ein, und ich nahm sie und schlug sie ihr über den Kopf. Sie fing zu taumeln an, hielt sich aber an der Kommode auf dem Flur fest. Und dann fing sie an zu schreien.« »Frau Schneider, sie sagten eben: Da nahm ich die Flasche und schlug sie ihr über den Kopf. Woher nahmen Sie denn die Flasche?« »Na, aus meiner Einkaufstasche.« »Die wurde doch aber von Frau Heidenreich festgehalten?« »Vielleicht hatte ich sie auch ausgepackt. Ja, ich glaube, als ich die Kiste mit dem Kleingeld in meine Tasche gesteckt habe, da habe ich die Flasche rausgenommen und zur Seite gelegt.« 319
»Zur Seite? Was heißt das?« »Das weiß ich nicht mehr so genau. Vielleicht habe ich sie auf den Wohnzimmerschrank links neben der Tür gelegt. Ich weiß es wirklich nicht. Ich hatte plötzlich die Flasche in der Hand und schlug zu. Ich wollte ’raus, und sie hielt mich fest. Sie ließ mich einfach nicht los. Was sollte ich denn tun?« »Wieso ist Ihnen eigentlich nie der Gedanke gekommen, sich eine Arbeit zu suchen? Ihre Krankschreibung war schon eine Ewigkeit abgelaufen.« »Ich wollte ja arbeiten, aber vorher mußte ich Gert erst noch beibringen, daß ich ihn belogen hatte. Und ich habe mich immer nicht getraut, weil ich so eine furchtbare Angst hatte, daß er mich wegschickt. Bevor ich Gert kennengelernt habe, habe ich überhaupt nicht gewußt, was das ist: Liebe. Ich war vorher genau genommen immer allein. Mich hat keiner geliebt.« »Dabei fällt mir ein: Herr Meermann läßt Sie grüßen. Er will Sie besuchen, sobald Sie Besuch empfangen dürfen.« »Wenn er nicht schon so alt gewesen wäre … vielleicht… ich glaube schon, daß er mich irgendwie geliebt hat. Aber außerdem war er verheiratet.« »Frau Heidenreich ist also nach dem Schlag mit der Weinflasche nicht umgefallen?« »Nein, sie ist ins Wohnzimmer gerannt und hat die Schere vom Tisch genommen und wieder nach drau320
ßen und auf mich zu …« »Augenblick, Frau Schneider! Die Schere lag also auf dem Wohnzimmertisch?« »Ja, sicher, sonst hätte sie sie ja nicht so schnell greifen können.« »Nehmen wir an, es war so, dann wäre dies doch der Augenblick gewesen, aus der Wohnung zu fliehen?« »Ich war wie gelähmt. Das ging ja so schnell. Und dann hat sie doch immer geschrien.« »Sie haben vorhin trotz mehrfachen Befragens keine Schere auf dem Wohnzimmertisch erwähnt. Und das ist die Wahrheit, denn die Schere lag im sogenannten Herrenzimmer auf dem Schreibtisch. Also nochmals von vorn! Sie standen auf dem Flur, gleich neben der Wohnzimmertür, als Sie nach der Flasche griffen und sie Frau Heidenreich auf den Kopf schlugen. Die Flasche zersprang. Was geschah nun?« »Sie torkelte und fiel um. Aber es kam kein Blut. Und sie wimmerte. Ich wollte sie vom Flur haben und zog sie nach hinten zu der Stube.« »Wie machten Sie das?« »Weil sie sich wehrte, blieb mir nichts anderes übrig, als sie an den Haaren nach hinten zu ziehen. Ich habe erst versucht, sie mitsamt dem Flurteppich in das Zimmer hinten am Flurende zu ziehen, aber das ging nicht. Und ich hatte ja auch keine Zeit. Es waren schon Leute an der Wohnungstür. Es hatte schon 321
mehrmals geläutet. Und Frau Heidenreich hörte nicht mit dem Schreien auf. Ich habe paarmal gesagt, sie soll doch ruhig sein, aber sie schrie weiter. Da habe ich einen Stuhl genommen und habe damit zugeschlagen. Der Stuhl ging entzwei. Frau Heidenreich brüllte nur noch lauter. Ich wollte, daß sie aufhört. Ich wollte, daß sie ruhig ist. Mir war jetzt alles egal. Es war ja sowieso alles schiefgegangen. Ich wollte nur noch, daß sie mit diesem furchtbaren Schreien aufhört. Und da habe ich die Schere genommen und habe so lange auf sie eingestochen, bis sie ruhig war.« »Auf welche Körperstelle zielten Sie dabei?« »Das weiß ich nicht. Ich war wie weggetreten. Es war mir egal, wohin ich traf. Sie sollte endlich ruhig sein, das wollte ich.« »O nein, Frau Schneider, es war Ihnen nicht egal, wohin Sie trafen. Sie haben Frau Heidenreich ausschließlich in den Kopf und in den Hals gestochen. Eine durchaus überlegte und gezielte Handlung.« »Das war nicht überlegt, aber sie hat doch so entsetzlich geschrieen. Und wenn man jemanden zum Schweigen bringen will, sticht man ihm doch nicht in den Fuß oder sonst wohin. Ich habe doch vorher auch schon versucht, ihr den Mund zuzuhalten, aber sie hat mir die Hände weggerissen. Ich habe sie mit den Fäusten auf den Mund geschlagen. Es hat doch alles nichts genutzt. Ich mußte doch zustechen.« 322
»Das heißt, Sie haben Frau Heidenreich mit Absicht erstochen?« Sie schwieg. Hauptmann Ebner drang nicht weiter auf sie ein. Er gab ihr Zeit, sich zu sammeln. Das Verhör hatte sie erschöpft. Nach einer Weile sprach sie leise weiter. »Es war mir alles egal. Ich wollte nur noch einmal aus der Wohnung und noch einmal zu Gert. Ich wußte ja, daß alles aus war. Vor der Haftanstalt hatte ich keine Angst. Dort hat es mir damals sogar gefallen. Ich habe gut gearbeitet. Es gab keine Probleme. Ich wußte jeden Tag, was zu tun war. Und die anderen mochten mich alle. Ich war schon immer gut darin, anderen Ratschläge zu geben. Angst hatte ich damals nur vor der Zeit danach, vor draußen. Ich brauche jemanden, der mich an die Hand nimmt, jemanden, der mich führt.« »Den hatten Sie ja aber nun endlich gefunden.« »Ja, das stimmt. Gert wäre der Mann gewesen.« »Ich höre den Ruf nach einer festen Hand nicht zum erstenmal aus dem Munde eines Menschen, der schuldig geworden ist. Im ersten Augenblick erscheint einem dieser Wunsch einleuchtend, Frau Schneider. Und er ist unter den Menschen im allgemeinen sehr verbreitet. Immer wenn irgendwo etwas schiefgelaufen ist, wird der Ruf nach der festen Hand laut. Sie soll Wunder tun. Meistens bewirkt sie das Gegenteil, sie nimmt nämlich dem anderen die Verantwortung ab. Der Geführte hat immer die Möglichkeit, seinen Führer schuldig zu sprechen. Hätte 323
der ihn nicht falsch geführt, wäre dies und das nicht passiert. Und Sie, Frau Schneider, sind nicht schuldig geworden, weil Ihnen eine feste Hand fehlte, sondern weil Sie nicht den Mut zur Wahrheit aufgebracht haben. Sie hatten kein Vertrauen zu dem Mann, den Sie liebten. Und Sie haben es in Ihrem ganzen bisherigen Leben versäumt, Leben zu trainieren. Jeder Mensch sieht sich tagtäglich einem Wust von großen und kleinen Problemen gegenüber, und jeder muß es lernen, die Probleme zu bewältigen und nicht sich von den Problemen überwältigen zu lassen. Dies zu üben, mit Ausdauer und mit Willen, das haben Sie verabsäumt. Deshalb mußte Frau Heidenreich sterben.« »Wenn sie nur nicht so geschrien hätte. Ich wollte ja immer wieder mit ihr reden. Ich habe sie fast angefleht, doch das Schreien sein zu lassen…« »Ich wünsche Ihnen nicht, jemals eine solche Todesangst ausstehen zu müssen, wie sie Frau Heidenreich in ihren letzten Augenblicken ausgestanden hat. Aber wir sind noch nicht am Ende. Was machten Sie, nachdem Frau Heidenreich schwieg?« »Ich bin auf Strümpfen ’raus auf den Flur und habe dort das Licht ausgemacht. Danach bin ich in die Küche und habe mir aus einer Schüssel einen Waschlappen genommen und habe mir die Hände gewaschen. Sie waren voller Blut. Dann bin ich wieder zur Tür und habe die Sicherheitskette vorgelegt und den Riegel am Sicherheitsschloß umgelegt, denn ich 324
hörte, daß immer noch Leute vor der Tür standen, und ich wollte nicht, daß sie in die Wohnung gelangten, jedenfalls nicht so schnell. Deshalb habe ich auch einen Stuhl unter die Türklinke vom Schlafzimmer geklemmt. Ich nahm ein Laken aus dem Bett und band es am Fensterkreuz fest. Weil mein Knie so sehr blutete, bin ich an den Wäscheschrank gegangen und habe mir ein Leinentuch herausgenommen und um das Knie gebunden. An der Schranktür innen war ein Spiegel, und wie ich die Tür aufmachte, sah ich mich an, und ich sah schlimm aus. Ich dachte, auf der Straße nachher müßte jeder mir ansehen, was passiert war, deshalb nahm ich mein Schminkzeug und habe mich im Gesicht zurechtgemacht. Ich habe mir auch die Perücke aufgesetzt, die ich in der Tasche stecken hatte. Ich habe meistens eine Perücke bei mir, weil ich das praktisch finde. Wenn die Frisur nicht in Ordnung ist, zieht man einfach die Perücke drüber. Ja, und danach bin ich wieder ans Fenster und bin auf das Fensterbrett geklettert. Ich habe mich draufgesetzt, mit dem Gesicht zum Hof. Eigentlich wollte ich an dem Laken hinunterhangeln, bin dann aber plötzlich gesprungen, weil es mir so hoch gar nicht mehr vorkam. Ich kam mit dem Hintern auf und merkte gleich, daß irgend etwas innen drin nicht in Ordnung war, denn als ich aufstand, tat es sehr weh. Ich band das Leinentuch ab, nahm meine Tasche, die ich schon vorher aus dem Fenster auf den 325
Hof geworfen hatte, und lief los. Ich weiß nicht, wie ich in meine Wohnung gekommen bin. Ich hatte starke Schmerzen und war aufgeregt. In meiner Wohnung habe ich mir die zerrissene Strumpfhose ausgezogen und mich gewaschen. Danach habe ich ein Pflaster auf das Knie geklebt und mir eine andere Strumpfhose angezogen. Nachdem ich mich ein bißchen beruhigt hatte, habe ich dann auch das Geld nachgezählt. Es waren sechshundert Mark in Scheinen, die waren mit einer Büroklammer zusammengesteckt. Und dann waren da noch zweihundertzwanzig Mark in einem Kuvert. Außerdem hatte ich ja auch noch die zweihundertfünfzig Mark, die sie mir geborgt hatte. Das Hartgeld habe ich nicht nachgezählt. Ich schüttete es in eine Blechdose, wo schon ein paar Markstücke drin lagen. Fünfhundert Mark habe ich abgezählt und eingesteckt. Die restlichen Scheine habe ich in einem Buch versteckt.« »Was war mit dem Portemonnaie?« »Das hatte ich noch in der Tasche. Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Erst als ich wieder in der Schumannstraße in der Wohnung war, ist mir das wieder eingefallen. In dem Portemonnaie waren ungefähr fünfzehn Mark Kleingeld und mein Schuldschein. Das Kleingeld habe ich herausgenommen und den Schuldschein zusammen mit dem Portemonnaie, mit der Pappschachtel, in der das Kleingeld gewesen war, und mit meiner zerrissenen Strumpf326
hose im Ofen verbrannt.« »Wie sind Sie von der Frankenstraße zur Schumannstraße gekommen?« »Mit einem Taxi. Ich bin allerdings erst noch vor bis zur Loschwitzer Straße gelaufen und habe dort auch eine Weile auf die Straßenbahn gewartet. Als aber ein Taxi kam, habe ich es angehalten und mich bis zur Schumannstraße fahren lassen.« »Haben Sie Ihrer Aussage noch etwas hinzuzufügen?« Sie schüttelte den Kopf und schloß die Augen. Ebner schaute sie schweigend an. Sie sah jetzt klein und sehr hilflos aus. Er mußte sich anstrengen, sie sich mit einer langen Schere in der Hand vorzustellen. Und in dieser Anstrengung wußte er sich verwandt mit noch mindestens drei weiteren Männern.
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