KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
OTTO
HEFTE
ZIERER
Mit den Drachenboote...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
OTTO
HEFTE
ZIERER
Mit den Drachenbooten nach Vinland DIE
ERSTE
ENTDECKUNG
VERLAG
SEBASTIAN
AMERIKAS
LUX
MURNAU - M Ü N C H E N • I N N S B R U C K • ÖLTEN
Nordleute ie Nordleute haben viele Namen, sie nennen sich nach ihren Wintersitzen Norweger; wenn sie nach Ostland fahren und tief nach Rußland vorstoßen, nennt man sie Waräger; an den Küsten des Westens fürchtet man sie als Wikinger oder Normannen; in England spricht man von ihnen als den Ostmannen oder Dänen. Ihre Zweige sitzen in Norwegen, im Lande Dänemark, in Schweden und auf den Inseln des nördlichen Meeres. Die Nordleute beherrschen von alters her die Kunst, Langschiffe zu bauen, die hochseetüchtig sind. Auf-den Helligen am Ufer der tiefeingeschnittenen Fjorde liegen die hochbordigen, kühngeschnittenen Schiffsrümpfe, die 30 oder 40 Meter lang sind, eine gedeckte Kajüte und mittschiffs den Laderaum haben. Der Bug zeigt kunstreiche Schnitzereien, Drachenköpfe, Seeschlangen, schnaubende Pferde und seltsames Fabelgetier. 60 oder auch 80 Menschen samt Rossen, Hausrat und Waffen finden Platz in den Meeresseglern. Wenn sie von Stapel rollen, wird der Großmast errichtet und das gestreifte Toppsegel gehißt. Bei Flaute greifen die Nordmänner zu den Rudern; wenn aber der graue Sturm über das Wasser reitet, dann werden die Ruder eingezogen und die Schilde außenbords über die Ruderöffnungen gesteckt. So fliegen die Schiffe mit gerefften Segeln wogenab und -auf, durch Gischt und Wasserschwall hinein in die unendliche Weite. Irgendwo im Nebel taucht eine Küste auf, Dörfer und Städte heben sich aus dem Wasser. Wo die Siedlungen schutzlos sind, da gehen die Wikinger an Land, und der Raubzug beginnt. Immer bleiben sie in Wassernähe. Es ist Wikingerregel, sich nicht mehr als einen Tagesmarsch von den Schiffen zu entfernen. Denn das Meer und die Ströme sind ihre Heimat. 2
Rings um den Erdkreis stampfen die Wikingerschiffe durch die aufgewühlten Meere. Da gibt es Männer, die jahraus, jahrein die englischen Küsten brandschatzen, die auf Irland Tribut erheben, die mit ganzen Flotten von flinken Booten die deutschen und französischen Ströme aufwärts rudern, um zu plündern. Aachen berennen sie, sie zünden Köln und Hamburg an und bedrängen Paris. Irgendein nordischer Abenteurer trägt das Gerücht zu ihnen, auch die goldene Wunderstadt Rom stehe am Meer. Da lenken sie die Drachenschnäbel ihrer Langboote südwärts, durchfahren die Meerenge von Gibraltar und erreichen Italiens Küste. Die nächstbeste Küstenstadt wird ausgeraubt — erst nach Jahren erfahren sie, daß sie die falsche Stadt gebrandschatzt haben. Auf den russischen Strömen segeln die Schiffe der Wikinger. Sie legen am ukrainischen Ufer an, gründen das Fürstentum Kiew, rudern die Wolga abwärts, schleppen ihre Boote zum Don hinüber und erreichen das Schwarze Meer. In der Kaiserstadt Byzanz verdingen etliche von ihnen sich in die Dienste Ostroms. Als Leibwache der Kaiser erwerben sich die hochgewachsenen Männer aus dem grauen Norden Ruhm und Schätze. Im Jahre 911 zieht eine ganze Flotte unter Herzog Rollo aus, landet an der Seinemündung und errichtet dort ein bleibendes Herzogtum, die Normandie genannt. Der Normanne Ottar segelt ins Weiße Meer und bringt die erste Kunde von den Lappländern. Ein Menschenalter vorher ist ein Wikingerschiff durch Stürme weit nach Nordwesten verschlagen worden und sichtete ein kaltes, wildzerklüftetes Land, das um diese Jahreszeit von Eis und Schnee bedeckt war. Die Mannschaft des Räubers Floki, der dieses Schiff führte, ging an Land, sah rauchende Berge und siedende Quellen im Eisland und kehrte mit der Botschaft von Island (Eisland) nach Norwegen heim.
* Die Seeräuber aus dem Nordland sind eine wahre Plage für das Abendland. Solange die Meere offen sind, streifen sie in 3
alle Richtungen der Windrose. Nahen die Herbststürme, der strenge Winterfrost und die Sonnwendnebel, dann legen sie, reich an Vorräten und Kostbarkeiten, wieder auf den nordischen Inseln und Halbinseln an, wo der Boden zu karg und zu eng ist, ihnen das ganze J a h r über Nahrung zu bieten. Das entzweite Europa vermag mit Waffengewalt ihre Macht nicht zu brechen. Da schickt es Sendlinge des Friedens zu den Friedlosen. Glaubensboten beginnen mit Predigt und Kreuz den stillen Kampf mit dem ungefügen Sinn der nordischen Heiden. Langsam dringt auch ins Nebelland Skandinaviens die Botschaft des Erlösers. Schon bricht ein Land aus dem nordischen Ring des Heidentums: Harald Blauzahn, der sich Dänemark gefügig gemacht hat, nimmt die Taufe und macht seine Dänen zu Christen. Die wandernden Bischöfe und Mönche aber pilgern mutig weiter nach Norden und landen in Norwegen: das Schwert in der einen Faust, das Kreuz in der anderen.
* Auch in Norwegen haben sich die Verhältnisse zuungunsten der Freiheitgewohnten verschoben. Einer der Grundherren hat sich zum König über die freien Männer erhoben: Harald Harfagr (Schönhaar) verlangt Gehorsam in Norwegen. Das ist vielen der ungebärdigen Abenteurer und Meerfahrer zuwider. Und weil eben um diese Zeit der wilde Seeräuber Floki mit seiner Botschaft vom neuentdeckten Island heimkehrt, sammeln sich einige Tausend Unzufriedene in dem Versprechen, mit den nächsten Früh Jahrswinden nach Nordwest zu segeln: ins Land der Freiheit, in dem es vielleicht Eis und Feuerberge, aber gewiß keine herrischen Könige geben wird. Im Jahre 874 christlicher Zeitrechnung steuert die Landnahmeflotte der Norweger tausend Meilen über das Nordmeer und nimmt Island in Besitz. Hundert Jahre danach beginnt von den Küsten Islands und Norwegens aus die Reihe der Wanderzüge, von denen hier berichtet werden soll. 4
Erik der Rote fährt nach Grönland horvald Asvaldson aus der Gegend von Stavanger in Norwegen hat einen Mann im Holmgang (Zweikampf) erschlagen, und nun fahnden die Gefolgsleute des Königs nach ihm. Aber—sind nicht vor zwei Menschenaltern die freien Männer aus diesem Lande gen Westen gefahren? Ist es nicht seither üblich geworden, daß die Gesetzesverächter und Totschläger über die graue See nach Island gehen? Und so rüstet Thorvald Asvaldson mit seinen Gefolgsleuten die Langschiffe, belädt sie mit Vieh und Hausrat und wirft die Taue von Norwegens Küste los. Das Geschlecht Asvaldsons kommt spät nach Island. Alle guten Weiden sind im Besitz der alten Landnahmemänner. Einzig an den Hornstranden — der Nordostspitze der isländischen Westfjorde — ist armes Land zu haben. Dort baut Thorvald Asvaldson seinen Hof. Er ist der Vater Erichs, den man seiner flammend roten Haare' wegen den „Roten" nennt.
* Der junge Erik Thorvaldson wächst auf Island heran wie alle Söhne aus diesen Geschlechtern: Er lernt die Waffen gebrauchen und das Steuer führen, am Arbeitsplatz der Zimmerleute schwingt er die Axt, und man rühmt ihm vielerlei Geschicklichkeit in Schmiede und Werkstatt nach. Als er achtzehn Jahre alt ist, begibt er sich mit anderen seinesgleichen übers Meer nach Norwegen, Wikingerart zu lernen. Am Hofe Haakon Jarls wird Erik einer in der Schar der Isländer und Norweger, die den König umgeben. Er segelt mit ihnen zwei Jahre auf Raubfahrt und lernt die Meere weithin kennen. Dann kehrt er nach Island heim, heiratet und siedelt vom Hornstranden-Hof Thorvalds, des Vaters, auf den Hof seines Weibes im Breidarfjordtal über. Unter den Männern, die er nach Island mitgebracht hat, befindet sich auch ein freigelassener Kriegsgefangener. Tyrk*) Südmann *) Tyrk = Dirk oder Dietrich
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nennen die Isländer ihn; er soll irgendwo aus Deutschland stammen. Die Wikinger haben ihn an einem westlichen Strande aufgelesen und nahmen ihn als Hörigen mit. Aber Erik, dem der Deutsche gefiel, gab ihm die Freiheit zurück. Diesen Tyrk macht Erik zum Ziehvater der Söhne, die ihm geschenkt werden. Der Älteste von ihnen, Leif Erikson, hängt mit besonderer Liebe an dem Fremden. Auf dem Breidarf jordshof gibt es bald Streit mit dem Nachbarn. Unter den hohen Felsen des Fjords liegt nahe dem Meer der Valtjoff-Hof. Über dieses Gehöft des befehdeten Nachbarn lassen eines Tages Eriks Leute aus Bosheit einen Felssturz niedergehen. Mord und Totschlag sind die Folge. Für die Untat seiner Sklaven hat Erik einzustehen. So mißt er sich mit einem berühmten Holmgänger der Valtjoff-Sippe im Kampfring. Sie kreuzen die Schwerter, mächtige Schläge hageln auf die Schilde und Brünnen, zuletzt liegt der riesige Gegner Eriks mit gespaltenem Haupte im Sand. Als das Gauthing zusammentritt, geschieht es Erik wie einst seinem Vater; er wird des Landes verwiesen und soll zwei Jahre in die Fremde gehen. * In der Halle des nordischen Hauses, wo um das flackernde Feuer nicht nur die Schlafstätten, sondern auch die Tafel für die Zecher angeordnet sind, steht von alters her auch der Hochsitz — der auf Säulen gestützte Sessel für den Hausvater. Diese Säulen — die „Setstokkar" (Sitzstöcke) — und die Götterbildnisse, die kunstvoll hineingeschnitzt sind, genießen die Verehrung des Geschlechts, sie gelten als Heiligtum. Ehe Erik das Land verläßt und mit seinen Getreuen das Langschiff besteigt, trägt er die „Setstokkar" seines Hauses zu Thorgest, einem Gefährten von Norwegen her, und Thorgest verspricht ihm, daß er sie ihm aufbewahren werde, bis er zurückkomme. « Zwei Jahre später legt das Drachenschiff Eriks wieder im Breidarfjord an. Sie haben vagabundierend auf einer Insel gelebt und sich weit auf den Meeren umhergetrieben. Nun ist 6
die Sühnefrist abgelaufen. Eriks erster Gang ist zu Thorgest, die „Setstokkar" zu fordern. Da läßt Thorgest die Herausgabe verweigern und weist Erik von seinem Hof.
* Der rothaarige Erik soll keine Heimat mehr auf Island finden. Zwar sammelt er zornschnaubend seine Freunde und die Leute seiner Sippe und zieht gegen Thorgest — aber die Feinde sind stärker, der Rote verfällt abermals dem Blutbann und muß erneut mit den Seinen das Land verlassen: Drei Jahre Verbannung heißt der Wahrspruch des Gerichts. Erik der Rote ist aufs tiefste getroffen. Soll er sein Leben als Geächteter vertun? Wieder die Jahre auf öden Schären und Inseln verliegen und ziellos über die grauen Wasser streichen, während die Daheimgebliebenen zu Ehren und Reichtümern kommen? Nein! Er will es diesem Thorgest beweisen, welcher Kerl in ihm steckt. Island soll aufschauen, wenn er nach drei Jahren zurückkehrt! „Nur fort von diesen Menschen! Laßt uns unbetretene Eilande suchen!" sagt er zu seinen Freunden. „Geht nicht die Kunde, daß vor einem Menschenalter einer der Unsern durch einen Sturm westwärts verschlagen wurde und in eine wilde Schärenlandschaft, die Gunbjörn-Schären, geriet? Wo aber Schären im Wasser liegen, da ist die Küste nicht weit! Wir wollen nach Westen segeln und neues Land finden!" Die Leute schlagen die Schwerter an die Schilde zum Zeichen der Zustimmung, sie haben ihm Treue gelobt und wären bereit, mit ihm zur Hölle zu fahren. So besteigen sie „Stigandi", das Drachenboot, und wenden nach Westen, wo der Sage nach Nebel und Eis die Tore des Erdkreises verschließen.
* Wieder gehen drei Jahre ins Land. Man hat Erik den Roten und seine Mannschaft vergessen. Kein Englandfahrer, kein Handelsschiff auf Norwegenroute ist seinem Segler begegnet. Vielleicht aber wissen die Eisriesen oder die nachtdunklen Tiefen des Ozeans mehr! 7
Auf dem Breidarfjordhof am Fjord ist unter der Obhut des Deutschen Tyrk Südmann der kleine Leif herangewachsen, schon übt Eriks Sohn die Handhabung des Schwertes, schon wirft er Speere und lenkt sein kleines Boot ganz allein quer über den Fjord. Da kommt plötzlich Kunde von der „Stigandi". Von Westen her segelnd wurde das Schiff am Kap Snaifellsnes, der östlichsten Steilklippe Islands, gesichtet. Erik der Rote ist wiedergekehrt! Was er berichtet, übersteigt alle Vorstellung. Ganz Island ist davon erfüllt. Das Geheimnis der drei Jahre des Verschollenseins hat sich gelüftet: Erik und seine Mannschaft haben im Westen neues Land entdeckt. Bald weiß es jedermann zwischen Islands nördlichsten und südlichsten Siedlungen Eyrar und Reynines, daß nicht sehr weit nach Westen hin ein gewaltiges Land aus dem Meere steigt. Tiefe Fjorde und langgestreckte Küsten dehnen sich menschenleer jenseits der Gunbjörn-Schären. Grönland —• das grüne Land — nennt Erik seine Entdeckung. Er entsinnt sich nur zu gut, wie abträglich der Name Island seiner bisherigen Heimat gewesen ist; wie ungern die Norweger in dies Land des Eises gefahren sind. Soll Grönland besiedelt werden und Menschen anlocken, nun so muß schon in seinem Namen etwas Verheißendes klingen. Grönland — Grünes Land! Freilich — die Männer der Schiffsbesatzung plaudern bald mehr als ihm lieb ist. Und so erfahren die Isländer auch, daß ein riesiger Gletscher — der Mitferner — das erste Landmal Grönlands ist, das der Seefahrer erblickt; daß mehr als die Hälfte des Jahres Eisberge und Treibeisgürtel die Fjorde blockieren und daß das „grüne Land" viele Monate unter meterhohen Schneewehen begraben liegt. Erik zieht trotzdem von Hof zu Hof und findet Männer, die bereit sind, ihm nach Westen zu folgen.
* Da steht Erik in der Halle und spricht zu den Männern. Ein Rock aus Seehundsfell und unten geschnürte, linnene Hosen 8
sind seine Kleidung, goldene Spangen klirren an seinen Schultern und halten den seidenen Umhang, den er auf einer Raubfahrt im Süden erbeutet. Wenn er spricht, flammt der rote Bart, die zotteligen Locken umwallen sein windzerzaustes Gesicht. So schildert er die grünen Hänge längs der Fjorde, die Grenzenlosigkeit dieser westlichen Welt, die er in drei Jahren erforscht hat, er spricht von der Freiheit, die dort drüben winkt. Denn auch Island beginnt eng zu werden. Schon spricht man davon, daß König Olaf Tryggvason von Norwegen dem neuen Glauben zuneige und schon die Sendboten für Island bestimmt habe. Da ist auch auf Island kein Platz mehr für diese Männer, die den alten Göttern und alten Sitten die Treue halten wollen.
* Bald danach ereignet sich's, daß ein weitberühmter wikingischer Held — Thorvald Kodranson — mit seinem Schiff in Island landet. Mit ihm kommt ein streitbarer sächsischer Bischof, der sogleich beginnt, die Lehre des „Weißen Christ" zu verkünden. Nur die Achtung vor Thorvald Kodranson bewahrt das Leben dieses Mannes. Noch will Island nicht von den Asengöttern lassen. Aber seelische Unruhe ist ins Land gekommen, und so Anden sich viele, die Erik ihre Teilnahme zur Westfahrt zusagen. Land und Höfe werden verkauft. Nur das Notwendigste: Zuchtvieh, Werkzeuge, Webstühle und Spinnräder, Geschirr und Waffen treibt und trägt man zum Strand, wo man zur Ausfahrt rüstet. Die Männer prüfen die hochgebockten Schiffe, bessern das Tauwerk und flicken die Segel. Als der Maimonat des Jahres 984 herangekommen ist, sammeln sich vor der Landspitze Snaifellsnes 25 Hochseeschiffe zur Landnahmefahrt. Island hat um diese Zeit 60 000 Einwohner. 900 von ihnen folgen dem Rufe Eriks des Roten. Die Schiffe wiegen sich auf der breiten Dünung, die von Osten heraufsteigt. Über die Balken, die mittschiffs den Bord erhöhen, blöken und muhen die Schafe und Rinder. Auf den Nachbarschiffen stampfen ungeduldig die Rosse, denen die ungewohnte See nicht behagt. Frauen und Kinder drängen sich auf dem Deck unter dem Hauptmast. Große Planen sind 9
über die Waren und Gerätschaften gespannt, während die Seemannschaft Vorschiffs versammelt ist. Nur die Steuerleute stehen auf der Back und halten die riesigen Ruderbalken fest. Auch Tyrk Südmann und Leif, Eriks Sehn, sind mit an Bord. Noch einmal blicken die beiden zurück zur heimatlichen Küste, Möge Odin, der Allvater, wissen, wohin der Wahrspruch der Nornen sie verschlägt. Da richtet sich auf dem Heck der „Stigandi" Erik der Rote hoch auf und formt seine Hände gleich einem Trichter: „Werft los!" Die langen Ruder staken ins Wasser. Wie ein Wehlaut steigt der Schrei der Zurückgebliebenen am Ufer auf, die Rümpfe der Schiffe beginnen zu stampfen und wenden die breiten Brüste der Dünung zu. Segel rollen gelb und rot gestreift von den Rahen, klatschen an den Mastbaum und spannen sich plötzlich unter der Gewalt des Windes. „Stigandi" läuft an die Spitze. Ihr Drachenhaupt taucht in das erste Wogental und steigt sofort wieder daraus hervor. Endlos, unerbittlich dehnt sich das Nordmeer nach Westen. Landnahme auf Grönland ei stetigen Ostwinden hat die Flotte nach einer Tages- und Nachtfahrt die Gunbjörn-Schären südlich umschifft. Vorsichtig vermeidet Erik, daß eines der Schiffe in der Dunkelheit auf die vom Wasser kaum überspülten Klippen aufläuft. Die Wikingerflotte segelt ohne Kompaß und ohne Karte. Nach dem Stand der Gestirne und ihrer Kenntnis von Wind, Wetter und Strömung lenken sie durch das unbekannte Meer. Aber das Schicksal scheint diesen Männern zu grollen. Ist sie nicht Frevel, diese Fahrt zu den Enden der Welt! Hinter den Gunbjörn-Schären erhebt sich plötzlich ein Riese aus der See, eine Meeresmauer, ein Wasserberg, der aufschwillt, so weit der Horizont reicht. Aus wolkenlosem Himmel wächst ein jähes Sausen. Ein saugendes Geräusch, ein allge10
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meines Aufstehen des Meeres beginnt. Ein Erd- und Seebeben hat sie überfallen. Keiner der Männer hat je ähnliches gesehen. Ein Schrei steigt zum Himmel. Tyrk Südmann reißt den halbwüchsigen Leif im letzten Augenblick unter die schützende Persenning des Mitteldecks, da bricht die Wasserflut über der „Stigandi" zusammen. Alles scheint zu Ende. Aber Erik der Rote hält das Steuer eisern fest. Das brave Schiff reitet die tödlichen Wasserberge hinauf und hinab und entreißt seine lebendige Fracht der schaurigen Tiefe. Noch einmal stürzen ungeheure Fluten über das Boot. Da endlich wird es ruhiger, und man schaut nach den übrigen aus. Hausrat und ertrinkendes Vieh treiben im aufgewühlten Strudel vorüber. Da ahnen die Leute auf der „Stigandi", daß das Schicksal der Flotte furchtbar sein muß. Sie sammeln sich im ruhigeren Wasser jenseits der Unglücksstelle: 14 von 25 Schiffen fehlen und scheinen vom Meere verschlungen. Niemand ahnt, daß fünf von ihnen doch noch gerettet sind und nach Island entrannen. Der Rest der Schiffe zieht südwestwärts. Erik weiß: In diesen letzten Maitagen liegt der Treibeisgürtel dicht um Grönlands Küste, es wäre verhängnisvoll, wollte man zu früh in Landsicht gehen. So segelt Erik auf neuem Kurs, weitab von allem Land. Erst als viele Tage und Nächte vorüber sind, wendet er das Steuer nach Norden. Altem Wikingerbrauch folgend, entläßt er einen der mitgenommenen Raben — Odins heilige Vögel sind es —, damit der Götterbote den Landweg •weise. Und wirklich! Erst kreist das Tier über den Schiffen, dann wendet es sich krächzend gen Nord. Ein Jubelruf folgt diesem guten Zeichen. Nun wird man Grönland bald erreicht haben.
* An der endlich auftauchenden Westküste entlang tastet sich die Flotte zu dem Fjord, den Erik zur Besiedlung bestimmt hat. Es ist der tiefeingeschnittene Eriksfjord (wie man ihn später nannte). An seinen weit landein gelegenen grünen Hängen geht man an Land. Und schon stürzen sie über das Grünland am Strande, und einer nach dem anderen nimmt Besitz von den schönen, satten Weiden. 11
Einer von ihnen, dem die Wahl allzu schwer wird, wirft die „Setstokkar" — die Hochsitzsäulen — ins Wasser, um dort zu bauen, wo sie an Land treiben werden. Und da er Herjolf heißt, nennt er die Stelle, wo sie den Strand berühren, Herjolfsnes und auch den Hof, den er dort an der Südspitze Grönlands baut, nennt er so. Diesen Hof wird sein Sohn Ejarni übernehmen, der in Norwegen am Königshofe weilt.
* An hundert Werkplätzen beginnt die Arbeit. Zuerst entstehen Hütten für Werkzeug, Vieh und Mensch. Dann müssen in den kurzen, noch verbliebenen grönländischen Sommertagen die Felder mit einigen Früchten bestellt werden, Heu wird eingebracht für den langen Winter, und Farne, Moose und Heidekraut als Streu für die Ställe. Frauen und Kinder greifen zu; denn es ist ein Wettlauf fast mit dem Tode. Die überlebenden Fünfhundert sind hier ganz auf sich gestellt. Hilfe von außen dürfen sie nicht erwarten. Selbst wenn e i n Schiff nach Island heimgefunden hätte, so wird sich doch so bald kein Seefahrer mehr nach dem Westen wagen. So arbeiten die Grönländer mit verbissener Kraft. Der erste Winter ist hart, furchtbar sind die Leiden der schlecht ausgerüsteten Menschen. Als dann aber im April die kräftigere Frühlingssonne durchbricht, das Eis krachend aufspringt und sich in der Enge des Fjords haushoch auftürmt, als das offene Wasser vom Meer hereindringt, die Hänge schneefrei werden und zu grünen anfangen, da beginnen die Meerfahrer ihr neues Land zu lieben und gehen mit frisch gefaßtem Lebensmut wieder ans Werk. Brattalid, Eriks Hof, soll entstehen: Ein Herrensitz mit großer Halle und geräumigen Scheuern. Ringsum im weiten Land sitzen die Bauern und haben Land, soviel sie nur haben wollen. Die nächsten Nachbarn wohnen meilenweit voneinander getrennt, fjordauf und fjordab.
* Aber bald erkennen sie, daß die Kolonie auf Grönland nicht ohne die Verbindung mit der übrigen Welt bestehen kann: Es sind zu viele Dinge, die der Boden versagt. Das Eisen für 12
die Werkzeuge, für die Waffen und zum Bauen; selbst das Bauholz müßte zu Schiff herangeschafft werden. Rasch sind die wenigen Bäume verbraucht, die kleinen Erlen und Birken, die sich zu Balkenwerk eignen. Wahrlich, es ist, als seien diese Grönlandsiedler ans Ende der Welt verschlagen. Nirgends eine Brücke, die mit der übrigen Menschheit verbindet! Eines Sommertages kommt ein Bauer aus der Gegend des Herjolfsnesfjords eilig ans Ufer vor Brattalid gerudert. Der Mann ist sehr aufgeregt. Leif ist herbeigesprungen. Langsam kommt auch Tyrk heran. Aber der Bauer will mit dem Roten selber sprechen. Als Erik endlich erscheint, breitet der Mann aus dem südlichen Grönland wortlos die Gegenstände vor ihm aus, die er im Boote mit sich führt. Es sind Topfscherben mit seltsamen Grabmustern, wie sie der Norden nicht kennt, eine Halskette, aus Walroßzähnen gefertigt, und die Bruchstücke eines Bootes, das spitzsdinäbelig ist und ganz mit Seehundsfell überzogen scheint. „Woher?" sagt Erik kurz; aber sein Interesse ist geweckt. „Beim Ausschachten der Grundmauern für meinen Hof", antwortet der Bauer, „am Hang des Herjolfsnesfjords! Erik, wir sind nicht die ersten Menschen in diesem Land! Es waren Siedler v o r uns da." Und die Männer prüfen sorgfältig die gefundenen Stücke und sinnen darüber nach, wie diese Siedler ausgesehen haben mögen und wohin sie verschwunden sind. Es müssen kleine, unscheinbare Menschen gewesen sein, Menschen vielleicht der Art, wie sie drüben am anderen Ende der Welt, um die Nordmännerstadt Naugard — Nowgorod am Ilmensee — hausen. Erik der Rote gibt den Urbewohnern Grönlands verächtlich den gleichen Namen, den jene Waldund Steppenbewohner des Ostens tragen: „Skrälinge!" sagt er, „schmutzige Zwerge!" *) •
Jagd auf Rentiere, Füchse, Hasen und Robben, Viehzucht und ganz spärlicher Landbau füllen die Tage der Kolonisten *) Skrälingjar oder Skrälinge nannten die Nordländer alle fremden und kleinwüchsigen Völker. Hier sind die Eskimos gemeint. Grönland war in frühgeschichtlicher Zeit von ihnen bewohnt. — Auch die Indianer wurden manchmal Skrälinge genannt.
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aus. Treibholz, das der Warmstrom des Meeres hier an die Westküste schwemmt, wird zum Bau der Häuser verwendet, aber auf die Dauer wird man bessere Lebensmittel und auch die Gegenstände des täglichen Gebrauches von der alten Heimat beziehen müssen. Als die Sorge um die notwendigsten Lebensgüter untragbar drückend wird, kommt das Schicksal den Grönländern zu Hilfe. Die Neue Welt in Drachenschiff fährt von Norwegen her mit vollem Segel zur Eyrar-Landspitze auf Island. Auf den steilen Felsen springen die Hüterjungen am Klippenrande entlang und verfolgen erregt die Annäherung des Schiffes. Sie winken, und dann schreien sie durch die hohlen Hände, aber es kommt keine Antwort. Das Brausen der Brandung an den Schären von Island übertönt jeden Ruf. Das Langboot mit dem rot-weiß gestreiften Segel liegt tief im Wasser. Man sieht deutlich, wie die Männer angestrengt an den Rudern arbeiten, um den gefährlichen Untiefen auszuweichen. Ein Norwegenfahrer ist es, ein Kaufschiff! Das erste nach langer Zeit auf Island. Das ist ein Ereignis an der Küste! Die Knaben laufen zu den Höfen landein und berichten. Man wird kaufen können, wonach das Herz sich in langen Winternächten gesehnt hat: Süßes Malz, weißes Weizenmehl und für die Frauen schöngewebtes Tuch, zierlichen Schmuck und vielleicht sogar ein Laken Seide; für die Männer aber Waffenzeug aus Norwegen, getriebene Helme aus Franken und allerlei Werkzeug, das aus südlichen Ländern kommt. Das Schiff legt am Eyrar-Fjord an. Nun erfährt man, daß es Bjarni Herjolfson gehört, den. sein Vater Herjolf in Norwegen ließ, als er mit Erik dem Roten nach Island fuhr. Bjarni Herjolfson erfährt die niederschmetternde Neuigkeit gleich bei seiner Landung: Vater, Mutter und all seine An14
verwandten sind nicht mehr auf Island — im vorigen Jahre sind sie mit Erik dem Roten nach Westen aufgebrochen. Seit dieser Zeit sind sie verschollen. Wie erschlagen steht Bjarni da. Mit einem Male ist Island nicht mehr seine Heimat. Tagelang zieht er im Lande umher, von Hofstatt zu Hofstatt, er sitzt an den Feuern der Bekannten und läßt sich berichten. Unter ihnen ist der und jener, der bei der Katastrophe der Erik-Flotte dabeigewesen ist und sich auf die GjunbörnSchären und dann nach Island gerettet hat. Sie wissen nichts Bestimmtes über das Schicksal der Flotte, doch meinen sie, daß wohl ein Teil der Schiffe die Meeresmauer durchschifft haben könne. — Wäre es nicht möglich, daß Bjarnis Sippe sich unter den Geretteten befindet? Da befragt er alle, die mit Erik dem Roten gesprochen haben, nach dem vermutlichen Kurs, er holt sich die Seeleute heran, die an den Gjunbörn-Schären dabeiwaren, und eines Tages ist sein Entschluß gefaßt. Noch hat er keine Elle Tuches, keine Metze Mehl verkauft — er wird seine Ladung nicht auf Island löschen. „Wollt ihr mir Gefolgschaft leisten?" fragt er seine Mannschaft, „ich segle euch in ein Abenteuer, das uns allen den Tod bringen kann •— oder unsterblichen Ruhm!" Er erlebt die Freude, daß ihm nicht einer seiner Matrosen die Freundschaft kündigt. Die Ferne und das Abenteuer locken. „Wir fahren, wohin du uns führst!" sagen die Männer und besiegeln das Bündnis mit Handschlag. Anfang Juni wirft Bjarni am Eyrarfjord los und verläßt Island, um die Verschollenen zu suchen. Von Anfang an läuft er anderen Kurs als Erik es tat. Die Erzählung von der „Meeresmauer" hat ihn vorsichtig gemacht, er steuert weiter südwärts, er will der Gefahr a u s - ' weichen. Drei Tage und Nächte durchpflügt das Drachenschiff die Wogen des Atlantik. Als die umschleierte Sonne des vierten Tages aus dem Wasser steigt, sieht man die Hand kaum vor den Augen —• milchiger Nebel liegt wie eine Totendecke über dem Meer. • 15
Jede Orientierung ist verloren. In den Nächten treibt das Schiff allein mit der Strömung, die Segel hängen gerefft an der Rahe. Zwanzig Tage und Nächte fährt Bjarni trotzig gegen Nacht und Nebel westwärts und folgt nur seinem Gefühl. Aber das Gefühl trügt ihn. Das Schicksal hat ihn an tausend Meilen nach Südwesten verschlagen — vorbei an der Südspitze Grönlands, irgendwohin in die ungewisse Weite der Welt.
* Am dreiundzwanzigsten Morgen der Seefahrt bläst ein steifer Ostwind, zum erstenmal hebt sich die Nebeldecke, und man sieht die Sonne. Sogleich lassen die Männer einen der Odinsraben fliegen und •— wirklich! Der Vogel streicht nach Westen davon. Land! Land! Eine Küste ist nahe! Nun lassen sie den Blick nicht mehr vom Horizont. Schon haben sie treibende Äste aus der Strömung gefischt und mit Jubel bemerkt, daß die Blätter noch frisch sind. Und plötzlich vertieft sich der blaue Strich im Westen, wird höher und dunkler, eine Küste liegt vor ihnen. „Grönland!" schreien die Männer. „Wir sind am Ziel!" Doch Bjarni, der Seemann, schweigt. Er hat das Wasser geprüft und gefühlt, daß es warm ist. Kein Treibeis, keine Eisberge, von denen Erik berichtet hat, haben den Kurs gekreuzt. Diese Küste im Westen kann nicht Grönland sein — es ist ein anderer, unbekannter Strand. Gegen Abend steigt die fremde Erde vor ihren Blicken auf: Hügelige Ufer, die weithin mit Wäldern bedeckt sind. Scharen von Vögeln kreisen über den Wipfeln.
* Das Schiff streicht die Küste entlang nordwärts. Auch hier bewaldete, flache Hügel. Sie landen nicht; Grönland ruft und die Treue drängt, die sie den Anverwandten schulden. Aus den Berichten, die über dieses Ereignis erhalten sind und die wahrscheinlich auf Bjarnis spätere Erzählung zurückgehen, entnimmt man auch, wie lange in diesen letzten Juli16
tagen die Sonne am Himmel stand; da es um einige Stunden länger Tag war als in Island, schlössen die Nordmänner daraus, daß sie ein sehr südliches Land erreicht hatten. Die Geographen haben aus dieser Bemerkung und aus der Beschreibung des Landschaftsbildes geschlossen, daß Bjärni mit seinen Seefahrern auf die Küste des heutigen Neufundland gestoßen war.
* Sie segeln nun nordwestlich, weiter küstenentlang, und immer neue riesige Landstrecken tauchen zur linken Hand aus dem Meere: Wälder, Hügel und gewaltige Buchten mit flachem Strand. Welches Land! Wer hier Besitz ergriffe und Gefolgsleute in großer Zahl ins Land brächte, der müßte Fürst werden wie kein zweiter im Nordland. Holz genug, um Hallen und Paläste zu bauen, Erde als Acker und Weideland für Tausende von Bauern, mehr als genug! Die Schiffe bleiben unter Segel in Fahrt. Bjarnis junge Schiffsmannschaft steht murrend an der Reling und blickt hinüber nach Westen, wo neue Küstenstreifen über dem Horizont aufsteigen. Bjarni aber wird nicht landen: Die Sorge um den Vater und die Verwandten treibt ihn unaufhaltsam voran: Nordwärts wendet er den Bug, das Land bleibt zurück. Das Schiff reitet vor gutem Winde über die grasgrünen Wogen. Offene See nimmt die Nordleute in ihre Arme, hinter ihnen ist die ungeheure Entdeckung versunken. Nach acht Tagen taucht fern eine Bergkette auf, plötzlich tritt sie aus den Morgennebeln. Aber kein Landmal, das für Grönland gelten könnte, trifft auf dieses neue Meeresland zu. Kein Mitfernergletscher ist zu erkennen, keine Fjordküste mit Eisgipfeln im Hintergrund . . . Da weiß Bjarni, daß er noch weit westlich von Grönland sein muß, und er wendet den Kurs scharf nach Osten. (Heutige Forscher vermuten, daß jenes zuletzt gesichtete Land die Loks-Insel an der Südspitze des Baffin-Landes gewesen ist.) Der Wind bleibt günstig, er weht jetzt aus West und jagt das Schiff vor sich her. Am Abend des dritten Tages setzt 17
sich Treibeis mit der Strömung von Norden vor den Bug des Schiffes, und auf einmal hört man vom Mast den Ruf: Grönland voraus! Und wirklich! Wie blaue Schatten sind, noch in der Abenddämmerung sichtbar, Gipfel an Gipfel die ragenden Bergmassen hervorgekommen. Da läßt Bjarni die Segel reffen und wartet den Morgen ab. Die Strömung hat über Nacht das Schiff versetzt und näher an die Küste herangetragen. Nun steht die Kulisse Grönlands vor ihnen. Da sind auch die Landmarken Eriks des Roten: Gletscher, die mit weiß-bläulichen Zungen bis in die grünen Berghänge herabgreifen, tiefe Fjorde, die sich scharf in die Bergflanken schneiden. Und — wahrhaftig! Rauch steigt auf! Ein Gehöft liegt auf der Höhe, mit frischbehauenem Balkenwerk und schilfigem Dach! Das Schiff der Abenteurer ist am Ziel! Leif Eriksons grofye Stunde as Wiedersehen Bjarni Herjolfsons mit seinem verloren geglaubten Vater Herjolf rührt selbst die rauhesten Männer zu Tränen. Nun geht er daran, die Kostbarkeiten seiner Schiffsladung an die Männer und Frauen der Grönlandhöfe zu verteilen. Er sitzt inmitten der Grönländer in Eriks des Roten Halle zu Brattalid. Als er von seiner Irrfahrt erzählt, von dem Waldland, das sie im Rande des Westozeans entdeckt haben, da hängen alle an seinen Lippen. Auf der Bank, die sich rings um die Halle zieht, kauert auch der dreizehnjährige Knabe Leif, Eriks Sohn, der sich zu einem gewandten Bootsfahrer und klugen Kopf entwickelt hat. Tyrk Südmann hat sich alle Mühe mit ihm gegeben, und so weiß Leif mehr, als Knaben für gewöhnlich in seinem Alter wissen. Sogar die Lehre des „Weißen Christ" ist ihm nicht fremd, der Deutsche hat ihn heimlich mit der Botschaft des Erlösers vertraut gemacht. Erik der Rote soll es nicht wissen. 18
Bjarni weiß nicht nur von dem neuen Land zu erzählen; auch von den Ereignissen im fernen Abendland berichtet er, von denen er in Norwegen gehört: Ein großer Wikingerzug hat stattgefunden, nach England. Die Könige Svend Gabelbart und Olaf Tryggvason belagern um diese Stunde die englische Stadt Londinium (London), die dem Vernehmen nach der Kömer Julius Cäsar gegründet hat. Auch von den sächsischen Bischöfen, die den König Olaf mit der neuen Lehre bedrängen, weiß Bjarni vieles. Sie lauschen gespannt dem Bericht aus den großen Menschenländern — nur Leif hört nichts. Er starrt geradeaus, in eine Ferne, die einzig nur ihm sichtbar ist, und so sitzt er träumend inmitten der Männer. Da stößt ihn Tyrk freundschaftlich an. „Wo sind deine Gedanken, Leif?" fragt der Südmann leise. „Das Land Bjarnis, Tyrk, das Land im Westen! Dorthin will ich! Wirst du mitkommen?" Der Knabe ist ganz gepackt von diesem Gedanken.
* Zehn Jahre nach diesem ist Leif ein Jüngling von hohem Wuchs, der Stolz und die Freude des alternden Erik. Und wie es sich für den Sohn eines Edlen gebührt, der beinahe König in seinem Lande ist, soll Leif nun nach Norwegen, ins alte Stammland fahren, um höfische Sitte zu lernen und im Waffenhandwerk Meister zu werden. Unter den Männern, die mit Leif Erikson hinüberfahren, steht auch Tyrk Südmann — nun schon im grauen Haar, ein wenig zusammengesunken durch das rauhe Leben auf Grönland, das ihm hart zusetzt. Tyrk folgt dem Pflegesohn und Schüler, wohin dieser auch fährt. So nehmen sie Abschied. Der Bug des neugebauten Schiffes, auf dem sie Eriksfjord verlassen, zeigt einen kunstvoll geschnitzten Pferdekopf. „Hengist", Stolzes Roß, heißt der Segler. In einer glatten Fahrt erreichen sie Island, günstiger Wind trägt sie weiter nach Norwegen. Dort tritt Leif in das Gefolge des Königs Olaf Tryggvason ein und dient als Edler wie Hunderte andere vornehme Norwegerjünglinge. 19
In diesen Jahren vollzieht sich im rauhen Norden der große Wandel. "Von den beiden Gewalten, die sich im Anfang des Jahrhunderts gegenüberstanden: der harten, gewalttätigen Welt der Nordleute und der milden Lehre der Kirche, hat die sanfte Kraft des Evangeliums nun endlich gesiegt: Der Geist überwindet das Schwert. Christus pflanzt siegreich sein bescheidenes Kreuz auch im Norden auf. Der König der Norweger, Olaf Tryggvason, hat die Taufe genommen, und mit ihm haben Tausende wilder Wikinger ihr Haupt unter die Taufschalen der sächsischen Priester gebeugt. Unter den Edelingen, die Christen werden, ist auch Lei.!: Erikson, der Sohn des Roten. König Olaf überträgt ihm die schwere Aufgabe, als Missionar heimzugehen und dem heidnischen Grönland die Religion der Menschenliebe zu predigen. Leif schlägt in König Olafs Hand ein und verspricht, sein Leben dieser Aufgabe zu weihen. *
•
Als in einem Frühjahr die Kunde aus Island kommt, das Landthing habe beschlossen, nun ebenfalls den Christenglauben anzuerkennen, sieht Leif nur noch eine Aufgabe vor sich: auch den starrköpfigen Vater Erik und mit ihm Grönland für diesen Glauben zu gewinnen. Er läßt sein Schiff „Hengist" rüsten. Der Meer-Renner liegt im Fjord zu Trondheim bereit. In diesem Jahr, welches das tausendste seit der Geburt des Erlösers ist, geht eine seltsame Bewegung durch die Christenheit. Fromme Mönche haben aus der Heiligen Schrift entnommen, daß sich in diesem tausendsten Jahre die Zeit erfülle und das Ende der Welt bevorstehe. Könige und Kaiser wallfahren barfuß zu den Gräbern der Heiligen, wohlhabende Leute schenken ihr Gut den Armen, und das Volk erwartet in Bangen und Gebet die Wiederkunft des Messias. Darum drängt es auch Leif, die Botschaft Christi nach Grönland zu bringen, ehe es für die dort lebenden Nordmänner zu spät ist. Der „Hengist" wirft los, Tyrk Südmann folgt seinem Pflegesohn wieder zum fernen Westen. 20
Leifs Schiff hat gute Überfahrt und erreicht in weniger als zwei Wochen die Südspitze von Island bei Eyrar. Von hier steuert Leif starken Südkurs, er weiß von Bjarni und von Erik, dem Vater, wie gefährlich das Gunbjörn-Fahrwasser sein kann. Gute Winde aus Nordost treiben ihn schnell vorwärts. Aber auf einmal schlägt der Wind um. Steif bläst er aus dem Norden und drängt den Kurs des „Hengist" immer weiter nach Süden ab. Nebelschwaden jagen über das Weltmeer. Die Luft bleibt bei Tag und Nacht diesig. In der vierten Woche seit der Abfahrt von Island weiß niemand an Bord des „Hengist" mehr um den Standort des Schiffes. Darin stimmen sie alle überein, daß sie genau wie einst Bjarni weit im Süden, vielleicht auch schon westlich von Grönland treiben müssen. Sturm kommt auf. Der Kopf des Wikingerschiffes springt schäumend von Wogenkamm zu Wogenkamm, fällt hinab in grünglasige Tiefen und stößt durch die grauen Wasserwände wieder empor zur nebelfeuchten Luft. Mit gerefftem Segel platscht der „Hengist" westwärts. Die sechste Woche vergeht, und schon schleicht sich kalte Furcht in die Herzen. Da endlich senkt sich der Wqlkenschwall ins Meer, die Sonne bricht hervor, und stetige Südostwinde geben dem Schiff wieder gute Fahrt. Der schottische Priester, den König Olaf mitgegeben hat, hält einen Dankgottesdienst, und jedermann an Bord sendet hoffnungsfreudige Blicke zum blauen Himmel. Man fischt treibendes Laubwerk aus der Strömung, Landvögel kreisen kreischend über dem bunten Segel. Einmal meint Tyrk Südmann einen Schatten wie von Gebirgen am fernen Horizont zu erspähen. Aber die Nacht sinkt herab, mondhell und sternenklar wölbt sich der Himmel über dem eintönig murrenden Ozean. Da schreit der Matrose am Ausguck: „Land ahoi! Land im Westen!" Alle sind wach und starren in das blauschwarze Dunkel hinaus. Wirklich — da ist es! Ganz nahe zeichnet sich der schwarze Strich einer Landzunge ab, man hört sogar das stärkere Brausen der Brandung. 21
Sie haben Bjarni Herjolfsons Westland wiedergefunden. Da der Wind günstig ist, segeln sie daran vorüber weiter nach Süden. Eines Morgens finden sie eine schöne Bucht hinter einer Landzunge. Dort laufen sie ein. Es ist der Platz, an dem spätere Zeiten die Stadt Boston erbaut haben. Der grüne. Strand ist von allerlei Kräutern und Blumen übersät, weiter den Hügeln zu steht die grüne Mauer des Laubwaldes. Vorsichtig legen sie an. Zuerst durchstreifen sie in Gruppen, die Schwerter und Speere in den Fäusten, die Ufergegend. Dann schicken sie einzelne Späher in das Hügelland vor. Aber alle kehren wieder und bestätigen den ersten Eindruck: Dieses reiche und fruchtbare Land scheint unbewohnt! Es ist keine Spur von Menschen zu sehen, keine Feuerstelle, kein Pfad, keine Hütte oder ein vergessenes Werkzeug. Nur Wild streift in großer Menge und zutraulich umher, ein Zeichen, daß Menschen nicht in der Nähe sein können. Sie beschließen, sich von den Anstrengungen der langen Seereise zu erholen und zunächst an dem neuentdeckten Strande zu bleiben. Leif baut sich ein Haus.
Vinland ber die Stürme der Jahrhunderte hinweg hat sich eine alte Handschrift — das Flateyjarbok —• erhalten, in dem ein Chronist die Geschichte dieser frühesten Entdeckung Amerikas festgehalten hat. Dieses Jahrbuch, der „Codex Flateyensis", wird heute in der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen aufbewahrt. Dort steht geschrieben: „Als sie mit dem Hausbau fertig waren, sprach Leif zu seinen Genossen: ,Jetzt will ich meine Schar in zwei Teile teilen und das Land genauer durchforschen lassen . . . ' " Eines Abends geschah es, daß Leif einen aus der Schar vermißte, und das war der Deutsche Tyrk Südmann. Er war in den letzten Wochen oftmals heimlich davongegangen. Leif 22
hörte es mit Unwillen; er sehalt also seine Genossen ob ihrer Unachtsamkeit und machte sich selber auf, den Südmann zu suchen. Zwölf Männer waren mit ihm. Da, als sie ein kurzes Stück Weges gegangen waren, kam ihnen Tyrk entgegen. Sie begrüßten ihn voll Freude. Leif sah, daß sein alter Gefährte gar seltsam verwandelt war, und er redete ihn an: „Warum, mein Pflegevater, kommst du so spät und von deinen Gefährten getrennt?" Da sprach jener lange in deutscher Sprache und warf die Augen nach allen Seiten und verzog schnalzend den Mund, es verstand aber niemand, was er sprach. Tyrk war berauscht. Man brachte ihn in Leifs Haus. Nach einiger Zeit erst kam er zu sich und sprach nun in nordischer Sprache und sagte: „Ich bin nicht weit vorausgegangen, und doch habe ich eine neue Entdeckung gemacht: Ich habe Reben und Weintrauben gefunden!" „Das ist nicht möglich!" entgegnete Leif, aber man sah ihm an, daß er innerlich sehr erregt war. Denn die Nordmänner entbehrten die Rauschgetränke sehr. „Ich täusche mich nicht", antwortete Tyrk. „Bin ich doch in jener Gegend aufgewachsen, wo es weder an Wein noch an Reben fehlt." So steht es in der alten Chronik, die auf Leifs späteren Bericht zurückgeht. Der brave Tyrk Südmann hatte Trauben gefunden, hatte sie gesammelt, in einem Holztrog zum Gären gebracht und köstlichen Wein erzeugt. Die begeisterten Männer Leifs nannten nach diesem wundersamen Geschehnis den Küstenstrich, an dem sie weilten, „Vinland", Land des Weines. * Über all diesem hat Leif aber die Männer auf Grönland nicht vergessen, und er sinnt darüber nach, wie er ihnen von diesem Neuland aus Hilfe bringen könne. Bauholz ist drüben die ständige Sorge der Bauern. Denn nur krüppelhaftes Gehölz und windschiefes Gesträuch wächst auf den rauhen Hänr gen der Grönlandküste. Hier aber, in Vinland, rauschen gewaltige Wälder. Vielartiges Holz steht in uralten Beständen. Als daher die Zeit 23
des Aufbruchs herannaht, belädt Leif ein schnell gezimmertes Beiboot mit geschnittenen Stämmen. Auch mancherlei Wildfrüchte und große Mengen getrockneter Weintrauben nimmt er mit. Er vertäut die Fracht und führt das Boot im Schlepp. Dann geht er bei gutem Winde auf See. Es treibt ihn heimwärts, wo die Sippe ihn erwartet, wo er sein Wort an König Olaf einlösen wird: Grönland christlich zu machen.
* An großen Inseln vorbei nimmt der „Hengist" Kurs nach Norden. Im Westen sinken endlose graue Küstenstriche hinter die Kimm zurück. Zwei Wochen segelt das Schiff über freies Meer, bis die Eisschollen die Nähe Grönlands ankünden. Riesige grüne Eisberge schwimmen mit der Strömung südwärts, auf den Schären prusten Walrosse und Robben. Da endlich glänzt wieder der Mitferner im schneeigen Licht. Die vertraute Landmarke des Eriksfjords ist erreicht. Erfüllt von dem Versprechen, das er König Olaf gegeben hat, betritt Leif die heimatliche Erde. Der Auftrag, die neue Lehre auch auf Grönland zum Siege zu führen, Kirchen zu bauen und ihnen Priester zu geben, nimmt seine ganze Kraft fürderhin in Anspruch. Im Schatten Leifs verlebt Erik der Rote sein Alter. Einsam wird er in seinem eigenen Hause. Die Söhne und die Frau bekennen sich zum Glauben des „Weißen Christ", die Freunde lassen sich taufen. Nur Erik und einige der alten Wikinger bleiben bei den dahinsinkenden Äsen, bei Thor, dem blitzeschleudernden Wettergott, und Odin, dem einäugigen Weisen. In dieser bewegten Zeit zwischen Heidentum und Christentum tritt Leifs große Entdeckung zurück. Norwegen und Island sind mit sich selbst beschäftigt. Grönland selber aber ist zu arm an Menschen und zu arm an Schiffen, als daß es eine Siedlungsausfahrt hätte wagen können.
* Leif und sein alter Freund Tyrk Südmann kommen ihr Leben lang nicht mehr an den Strand, den sie als erste 24
Europäer betreten haben. Die Sorge um das Christentum, die Führung der grönländischen Gemeinden, die ihnen nach Eriks Tode anvertraut ist, füllt ihr Leben aus. Eines Tages fährt Thorvald, Leifs jüngerer Bruder, südwärts, Holz vom vinländischen Ufer zu holen. Schon über dieser Vinlandexpedition waltet das Unheil. Die Nordleute legen in der Gegend des heutigen Neufundland an, sie fällen Baumstämme; durchstreifen das wildreiche Land, das sie Markland genannt haben, und suchen auf Südfahrten den sagenhaften Wein. Auf einer dieser Streiffahrten ist es, daß sie plötzlich umgekippte Boote am flachen Flußufer entdecken: Menschen sind hier! Ein Dutzend Nordmänner ist beisammen. Die Schilde vor den Leib gestemmt und die Speere wurfbereit in der Rechten, so gehen sie näher. Von dem Lärm eines brüllenden Ochsen, den sie mit sich führen, wachen die schlafenden Eingeborenen auf. Unter den Fellbooten, wo sie Schatten suchten, werden sechs dunkelhäutige Männer sichtbar, die entsetzt die leichten Kanus auf den Rücken nehmen, um davonzustürzen. Da kommt es zum ersten Blutvergießen zwischen den Menschen der Alten und Neuen Welt. Die Nordleute sind Nachkommen, aus hundert Seeräubergeschlechtern. In ihnen lebt immer noch trotz Taufe und Christenlehre der Trieb zum Zupacken und blutigen Zuschlagen. Männer, die fliehen, sind ihnen nichts als verächtliches Viehzeug. Dunkel sind diese Wilden, lächerlich in ihrer Nacktheit und mit ihrem unverständlichen Geschrei. Ehe die Eingeborenen wissen, •was vor sich geht, schwirren die Speere durch die Luft, und fünf der Wilden sinken tödlich getroffen zu Boden. Blut sickert in den jungfräulichen Boden Amerikas.
* Der sechste Mann aber ist entkommen. Und wenige Tage hernach bedeckt sich die Bucht mit hundert flinken Kanus. Die Luft erzittert vom der Wilden, ein Pfeilregen schwirrt heran. Bald Schilde der Grönländer von den haarscharfen 25
jählings Geschrei sind die Spitzen
gespickt; von den eisernen Brünnen und Helmen prallen die Wurfsteine ab. „Skrälinge! Zwerge!" schreit Thorvald.*) Nun haben sich die gänzlich überraschten Weißen gefunden. Mit den Speeren und Schwertern wehren sie die Andrängenden ab. Mit Mühe retten sie sich und ihre Fracht aus der Bucht. Als ihr Drachenschiff endlich das freie Meer erreicht, bleiben die Boote der Skrälinge zurück. Thorvald aber, von einem letzten Pfeil getroffen, sinkt sterbend am Steuer nieder. •
Auf Markland begraben sie den Toten und errichten auf seinem Steingrab das erste christliche Kreuz. Dann kehren sie nach Grönland zurück. Die Kunde von dem Auftauchen von kampfkräftigen Menschen im Westland dämpft seitdem den Ferndrang bei den Seefahrern des Nordens. Die Erinnerung an Markland und Vinland aber bleibt — jahrhundertelang. Die Geschichte der Westfahrten, die noch gewagt werden, hat aber nicht mehr den großen Zug der normannischen Frühzeit. Doch sind einzelne Namen ruhmreicher Vinlandsucher des 11. bis 14. Jahrhunderts ins helle Licht der Forschung gerückt. Thorfinn Karlsefni ist da zu nennen, der isländische Kaufmann, der ein Jahr lang in Vinland wohnt und auf Manhattan mit den Skrälingen Handel treibt; Eriks des Roten Tochter Freydis, Leifs Stiefschwester, die zwei Langboote hinüberführt; Gudleif, der Irländer; Erich Uppsi, der Grönlandbischof, und das isländische Brüderpaar Ad albert und Thorvald Helgason. Bevor dann die Erinnerung an Vinland Sage wird und in das Dunkel der Vergessenheit zurücksinkt, um die Mitte des 14. Jahrhunderts, wird das Westland noch einmal in einer schicksalsschweren Menschentragödie sichtbar. *) Die braunen „Skrälinge" sind die kriegerischen und wilden Irokesen, deren letzte Reste heute in „Reservationen", festumgrenzten Wohnbezirken, im Staate New York und in Kanada leben. 26
Normannen-Kreuzzug nach Vinland m das Jahr 1350 ist Grönland fast ganz der Vorstellungswelt des Nordens entschwunden. Viele Jahre hindurch ist durch die Eisbarriere jede Verbindung herüber und hinüber unterbrochen. Da, um das Jahr 1355, bringen Seefahrer, die aus dem „grünen Land" kommen, nach langer Zeit die erste Botschaft an König Magnus Erichson von Norwegen und Schweden. Es ist eine Schreckenskunde für den christlichen Norden. Heiden — Skrälinge, das heißt Eskimos •—, so berichtet der Mann aus Grönland, sind plötzlich über die Siedlungen der grönländischen Westküste hereingebrochen, und die Christen dort kämpfen in letzter tödlicher Bedrängnis. Vielleicht aber hat sich das Schicksal längst schon an ihnen erfüllt. Da läßt der fromme König Magnus die Nordleute seines Doppelkönigreiches zum Kreuzzug wider die Heiden aufrufen, die irgendwoher aus den Eisrevieren um Grönland zu den Siedelplätzen der Weißen gefunden haben. Und in den Männern des Nordens erwacht der alte Wikingergeist. Eine mächtige Flotte sammelt sich an Norwegens Küste. Paul Knutson führt das Befehlsschiff. So fliegen sie auf dem alten Normannenkurs Grönland zu, das sie mit schnellsten Segeln erreichen. In Sichtnähe der Küste winken sie zu den Gehöften hinüber, sie schlagen mit den Schwertern an die Schilde, daß sie es hören müssen drüben am Strand bis tief in die Fjorde. Als keine Antwort kommt, poltern sie mit den Speerschäften dröhnend wider die Decksplanken, damit sie wach werden, die Schlafmützen dort in den Höfen. Aber nur die hohle Brandung, die gegen die Klippen gischtet, gibt ihnen Antwort. Drüben ist's totenstill. Da überfällt alle die jähe Ahnung, daß es zu spät sein könne, daß das Furchtbare schon eingetreten sei, das zu verhüten sie über die See gehetzt sind. So legt eines der Schiffe nach dem andern im windstillen Hafen an. Was sie befürchteten, wird nun Gewißheit. Die Gehöfte sind leer, die Wohnungen geplündert, die Kirchen ausgeraubt. Wo aber sind die Bewohner? Erschlagen? Verschleppt? 27
Nach Tagen erst finden Knutsons Leute auf einem entlegenen Einsiedelhof einen Mann, der Auskunft geben kann. Da erfahren sie, daß von dort, wo die ewigen Eisberge sind, von weither hinter dem Mitferner, eines Tages Skrälinge aufgetaucht seien, erst einzelne, dann immer mehr, wetterfeste und rohe Gesellen, die über die Höfe herfielen und keine Ruhe mehr gaben. So habe man einen Hof nach dem andern aufgeben müssen, um sich in größeren Gehöften zusammenzutun und Frauen und Kindern und den kleinen Herden Sicherheit zu bieten. Aber die Skrälinge hätten keine Ruhe mehr gegeben, winters nicht und sommers nicht. Einer der Altleute vom Erikshof habe dann von dem großen Land im Westen zu sprechen begonnen, wo man Frieden haben würde und Land und Weide in Fülle. Erst habe niemand davon wissen wollen, und ein J a h r lang hätten sie sich aller Angriffe erwehrt. Als aber der von den Heiden erschlagenen Frauen, Kinder und Männer immer mehr geworden seien, da habe man sich von dem Erikshofbauer nun doch noch mehr erzählen lassen von dem fernen Land. Und was ihm von seinen Urvätern her in Erinnerung gewesen sei, das habe er ihnen berichten müssen, von Erik und Bjarni und Leif und all den anderen, die auf Westfahrt gingen. — Der Einsiedelbauer erzählt dann von dem großen Aufbruch, wie fünfzehnhundert aus der Westsiedlung schon vor zwölf Sommern mit dreißig eilends gebauten Seglern und mit allem, was die Schiffe tragen konnten, den Kurs Bjarnis und Leifs nach Westen genommen hätten, und daß man seitdem nichts mehr von ihnen gehört habe. Da faßt Knutson, der Anführer der Kreuzfahrer, einen schnellen Entschluß. Er wird den Auswanderern folgen, gemäß dem Auftrag des Königs Magnus, daß er ihnen Hilfe bringen solle, wo er sie auch finde. Die Spur dieser hilfsbereiten Männer, die König Magnus von Norwegen-Schweden gegen die heidnischen Skrälinge ausgesandt hat, blieb bis zur Gegenwart verloren. Wohl landeten sieben Jahre nach der Ausfahrt der Kreuzfahrerflotte drei ihrer Schiffe wieder an Norwegens Küste. Aber die wenigen Zurückgekehrten wußten nur zu berichten, daß Knutson die Verschollenen in Vinland, wo er sie zuerst suchte, nicht angetroffen und seine Mannschaft gleich nach der Ankunft zu 28
Suchfahrten längs der Küsten ausgesandt hatte. Nur sie, die Heimgekehrten, seien mit einigen Schiffen zurückgelassen worden. Denn alle ausgesandten Boote hätten Befehl gehabt, nach erfolgreicher oder vergeblicher Küstenfahrt dorthin zurückzukehren. Da man aber in acht Jahren keines der Schiffe und keinen der Männer gesichtet habe, seien sie ohne Hoffnung gewesen. Des Wartens müde, hätten sie ihre Blockhäuser und ihre Äcker in Vinland verlassen, um der Heimat Nachricht von dem Schicksal der Kreuzfahrerflotte zu geben. — Hier endet das, was uns die nordischen Geschichtsschreiber von dieser Kreuzfahrt überliefert haben. Die Steine reden rst in unserer Zeit ist man zu einiger Klarheit über das wahrhaft erschütternde Schicksal der verschollenen grönländischen Westsiedler und der ihnen folgenden skandinavischen Kreuzfahrer gekommen. Die Steine haben zu reden begonnen. Forscher haben ihre geheimnisvolle Sprache in den letzten Jahren enträtseln können. Die flüchtenden Christen der grönländischen Westsiedlungen hatten sich nicht nach Vinland gewandt. Versagten ihre schnell gezimmerten Boote in den harten Oststürmen dieser Meereszone, daß sie den Südkurs nicht nehmen konnten? Oder suchten sie wegen der mitfahrenden Frauen und Kinder so schnell wie möglich an der nächstgelegenen rettenden Küste an Land zu kommen? Die ewigen Wälder und Steppen Labradors geben keine Antwort. Irgendwo in ihrem Dunkel und in ihrer Unermeßlichkeit endet die Geschichte der Flüchtlinge aus Grönland. Vieles spricht dafür, daß die Weißen hier auf fremder Erde die Freundschaft der Eskimo-Skrälinge gewonnen haben und mit ihnen verschmolzen sind. Man glaubt, in manchen Eskimosippen jener Gegenden heute noch die blutgemischten Abkömmlinge der grönländischen Auswanderer von damals wiedererkennen zu können. "Und die Kreuzfahrer?
29
Bis weit hinaus, bis dorthin, wo das nördliche Meer beginnt und die Küste des Westlandes sich jählings nach Sonnenuntergang wendet, sind die Suchboote Knutsons gedrungen. Die Boote folgten jeder möglichen Spur, folgten der unabsehbaren Küste. Die Männer durchstreiften suchend und jagend den Strand, bis auf einmal das Westland wieder nach Südwest einbog und gegen Abend ein neues Meer sich vor ihnen öffnete. Dieses Meer aber war das Hudsonmeer. Da ahnten sie, daß sie die Verlorenen nimmer finden würden und daß sie, wenn sie nun der Küste dieses Meeres südwärts folgten, eines Tages Vinland wieder erreichen müßten; denn sie ahnten nicht, daß sie nicht eine Insel, sondern eine Halbinsel von riesigem Umfang umfahren hatten (Labrador). Nach monatelanger Südfahrt erkannten sie erst, daß das Meer nach Süden keinen Rückweg nach Vinland freigab. Sie warfen das Steuer um und folgten einem mächtigen Stromlauf, der sie tief in das Land hineinführte. Am Ufer dieses Stromes (Nelson) verbrachten sie lange Zeit, bauten ihre Winterlager, erwehrten sich ihrer Feinde und suchten sich Nahrung. In geschützten Buchten vertäuten sie ihre Boote nach Wikingerbrauch an Pollersteinen, kräftigen Steinsäulen, die sie in den Boden pflanzten und mit Rillen für die Taue versahen. Diese Vertäuungssteine sind in den letzten Jahren entdeckt worden, und sie wurden den Forschern zu Anhaltspunkten für den Weg, den der Wikingerzug Knutsons genommen hat. Auch Waffen und sonstiges Gerät dieser Nordleute fand man hier; diese Funde bestätigten, was die Steine erzählten. Vielleicht ist die größere Zahl der Nordmänner hier tief im weltfernen Westland nicht mehr vorwärtsgekommen und ließ sich in diesen Landstrichen für immer nieder. Die „Weißen Manda-Indianer", nordisch-indianische Mischlinge dieser Gebiete, die im Jahre 1837 ausgestorben sind, sollen die Nachfahren dieser Kreuzfahrer gewesen sein. Acht Schweden und 22 Norweger gaben auch jetzt die Hoffnung nicht auf, daß sie doch noch Vinland erreichen könnten. Sie durchfuhren den Winnipeg-See und ruderten in den RedRiver, den Roten Fluß, der ein Weiterkommen in südlicher Richtung versprach. Sieben Jahre waren seit der Ausfahrt aus Vinland vergangen. Das Heldenhafte dieser Jahre, die Gefahren, Hoffnungen 3Ü
und Enttäuschungen dieser Wanderzeit können wir nur ahnen. „Errette uns aus unserer Not! Sei gegrüßt, Jungfrau Maria!" Wie ein Notschrei von Verlorenen ist dieses Gebet, das die Letzten dieser am weitesten vorgedrungenen Bootsmannschaft in einen Runenstein am Red-River eingeritzt haben. Es ist ihre letzte Spur, das ergreifende letzte Erinnerungsmal für eine der entsagungsvollsten und wagemutigsten Unternehmungen in der Entdeckungsgeschichte der Neuen Welt. Der Runenstein, der als Kensingtonstein berühmt geworden ist, trägt folgende Inschrift: „Acht Schweden und 22 Norweger sind auf Suchfahrt von Vinland nach dem Westen. Wir hatten ein Lager an zwei Wasserfelsen, eine Tagereise nordwärts von diesem Stein. Wir waren einen Tag weg, um zu fischen. Als wir zum Lager zurückkehrten, fanden wir zehn Mann rot von Blut, und tot. Gegrüßet seist du, Jungfrau Maria! Errette uns aus unserer Not! Wir haben zehn Mann an der See zur Bewachung unseres Schiffes zurückgelassen, 14 Tagereisen von dieser Stelle entfernt. Im Jahre 1362." Jäh bricht an dieser Stelle die Geschichte der normannischen Westfahrten ab. Alles Wissen um sie geht in der Folge dem Abendland verloren. Als Columbus 130 Jahre später hinausfuhr, waren es ganz neue Ufer, von denen aus er das große Wagnis seiner Westlandsuche unternahm.
Auf Seite 2 des Umschlags: Karten Islands und der Westfahrten von 984 bis 1355
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