Marie Louise Fischer
Mit den Augen
der Liebe
Inhaltsangabe ›Mit den Augen der Liebe‹ gehört zu den frühen Romanen ...
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Marie Louise Fischer
Mit den Augen
der Liebe
Inhaltsangabe ›Mit den Augen der Liebe‹ gehört zu den frühen Romanen von Marie Louise Fischer, die heute auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit und ihres Erfolges steht. Nichtsdestoweniger trägt auch dieser Titel bereits alle für die international geschätzte Autorin typischen Züge: dramatische Zuspitzun gen innerhalb einer allgemeinen menschlichen Grundsituation, die jeder mit- und nachempfin den kann, und eine ganz unglaubliche Detailkenntnis des Milieus, das sie schildert. Professor Dr. med. Klaus Bergmeister, die zentrale Gestalt und der ruhende Pol in der Fülle der Ereignisse, ist Chef einer großen Augenklinik in einer kleinen deutschen Universitätsstadt. Wenn er operiert, sind nicht nur seine Mitarbeiter fasziniert, auch Leserinnen und Leser haben, dank der Beschreibungskunst der Autorin, das Gefühl, unmittelbar mit dabei zu sein, gleichsam jeden Handgriff direkt mitzuerleben. Das ist spannender als mancher Krimi. Da ist Oberarzt Dr. Norman Hilpert, der befürchtet, daß sein ehrgeiziger Chef eines Tages Opfer der Selbstversuche werden könne, die er zur Erforschung einer neuartigen Operationsmethode durch Lichtkoagulation anstellt. Wird der berühmte, zum Nobelpreis vorgeschlagene Augenchir urg bald selbst erblinden müssen? Da ist Vera, die bildhübsche, junge und in ihrem Herzen unzu friedene zweite Frau des Professors, die nicht ahnt, daß ihr Stiefsohn Michael heftig in sie verliebt ist. Und da ist die aparte, reiche Medizinstudentin Gabriele Zerling, der es Dr. Hilpert angetan hat. Dieser gerät seinerseits in einen schweren Gewissenskonflikt als Xenia, seine einstige große Lie be, jetzt unglücklich mit dem Bankier von Schoeller verheiratet, zu ihm kommt, hilfesuchend als Patientin, denn sie ist erblindet. Eine Reihe von scheinbar unvermeidbaren, menschlichen Ka tastrophen bahnt sich an, in deren Verlauf Dr. Hilpert die schwierigste Operation seines Lebens ausführen muß.
Copyright bei der Autorin
Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
Gesamtherstellung: Engel Verlag GmbH, München
Printed in W.-Germany
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder
chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
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W
igand«, sagte das junge Mädchen ungeduldig und sah auf das weiße Häubchen der Schwester herab, die aus der obersten Schublade ihres kleinen Schreibtisches eine blanke Karteikarte gezo gen und sie jetzt zum Ausfüllen vor sich hingelegt hatte, »Wigand mit einfachem i!« »Danke«, sagte Schwester Karla, »und der Vorname?« »Gunhild.« »Alter?« »Neunzehn.« »Beruf?« »Studentin.« »Und was hatten Sie bisher für Krankheiten?« »Wenn Sie meinen, ob ich schon mal mit den Augen zu tun gehabt habe … ja. Als Kind hatte ich häufig Bindehautentzündungen. Das können Sie schreiben, wenn Sie wollen. Ich sehe bloß nicht ein, wa rum. Schließlich will ich ja nichts weiter als eine Brille verschrieben haben.« Jetzt hob Schwester Karla den Kopf und sah Gunhild Wigand an. »Ich verstehe, daß Ihnen das sehr …« Sie suchte nach dem passenden Wort, »bürokratisch vorkommen muß«, sagte sie lächelnd, »aber Pro fessor Bergmeister hat es so angeordnet. Übrigens interessieren mich nicht nur Beschwerden, die Sie mit den Augen gehabt haben, son dern überhaupt. Was haben Sie bisher für Krankheiten hinter sich ge bracht?« Gunhild Wigand warf einen raschen Blick auf ihre schmale sportli che Armbanduhr, sagte, während sie sich mit einem Ruck die braunen Locken aus der Stirn warf: »Muß das sein?« 1
Schwester Karlas ruhiger Blick verriet keinen Ärger, eher Bewunde rung und leisen Neid. – Noch einmal so jung sein, dachte sie, so unbe kümmert, so fordernd! – »Wir verlieren keine Zeit damit«, sagte sie lä chelnd, »es sind sowieso noch zwei Patientinnen vor Ihnen an der Rei he, Fräulein Wigand.« »Was!? Aber ich bin doch … meine Mutter hat mich angemeldet! Schon vor fünf Tagen! Und ich habe mich höchstens um ein paar Mi nuten verspätet.« »Ich weiß. Aber in einer Augenklinik muß man schon Geduld ha ben. Wir bemühen uns, die Patienten so wenig wie möglich warten zu lassen. Aber es läßt sich unmöglich immer voraussehen, ob eine Unter suchung zwanzig Minuten oder eine ganze Stunde in Anspruch neh men wird.« »Eine Stunde? Ist das Ihr Ernst? Dann ist es ja möglich, daß ich erst um sechs Uhr fertig werde. Aber ich bin verabredet und …« »Vielleicht klappt es doch noch«, unterbrach Schwester Karla. »Vielleicht haben Sie Glück, und es geht wesentlich schneller.« Gunhild Wigand seufzte. »Ihr Wort in Gottes Ohr, Schwester. Also was war's noch, was Sie wissen wollten? Ach ja, wenn Sie's zufrieden stellt: ich hatte Masern, Windpocken, öfters mal Angina, und im vori gen Jahr habe ich die Mandeln heraus genommen bekommen.« Schwester Karla schrieb, fragte, ohne aufzublicken: »Sonst nichts?« »Tut mir leid. Mit mehr kann ich Ihnen wirklich nicht dienen. Aber wenn ich noch mal zu Ihnen kommen müßte, verspreche ich Ihnen, mir vorher den Blinddarm herausnehmen zu lassen.«
Als Dr. Norman Hilpert die Tür zum Wartezimmer öffnete – er hatte kurz zuvor einen Blick auf Gunhild Wigands Karteikarte getan –, ent deckte er sie sofort. Sie saß zwischen einer alten Dame, die einen weißen Blindenstock zwischen ihre Beine gestellt hatte, und einem unrasierten Mann mit einem dicken Kopfverband. Sie wirkte keineswegs mehr so kess, wie 2
Schwester Karla sie erlebt hatte, sondern eher ein bißchen eingeschüch tert. Noch ehe Dr. Hilpert sie aufgefordert hatte, sprang sie auf und kam auf ihn zu. Sie hatte einen elastischen, anmutigen Gang, und Dr. Hil pert betrachtete sie mit Wohlgefallen: ein schlankes, gutgewachsenes junges Mädchen in hellblauen Keilhosen und losem Pulli, das kurz ge schnittene dunkle Haar kunstvoll verstrubbelt, die sehr hellen Augen weit aufgerissen, in der Art, wie es kurzsichtige Frauen tun, die sich mit Energie das unwillkürliche Liderzusammenkneifen abgewöhnt haben. Er reichte ihr die Hand, und sie folgte ihm in den Untersuchungs raum, durch dessen sehr breites Fenster das kalte Licht des frühes Winternachmittags fiel. »Na endlich, Herr Professor«, sagte sie, und ihre Munterkeit klang nicht ganz echt, »ich dachte schon …« Dr. Hilpert ließ sie nicht aussprechen. »Ich bin nicht der Professor«, sagte er, »sondern sein Assistent … Doktor Norman Hilpert!« Sie sah ihn aus ihren weit geöffneten Augen an. »Das hätte ich mir denken können«, sagte sie. »Sie wirken gar nicht wie ein Professor.« Er lächelte. »Das können Sie also noch erkennen?« »Natürlich! Schließlich bin ich ja nicht blind!« »Aber Sie brauchen eine Brille.« »Genau. Deshalb bin ich hier.« »Na, dann wollen wir mal sehen.« Er führte sie in die Brillenecke, sagte, mit einer Handbewegung zum Untersuchungsstuhl hin: »Bitte, setzen Sie sich … machen Sie es sich ruhig bequem.« Er ging zum Brillenkasten. »Haben Sie früher schon mal Augenglä ser getragen?« »Ja«, sagte Gunhild Wigand unbehaglich. »Wann?« »Mit zwölf Jahren. Ich konnte damals nicht mehr richtig erkennen, was vorne auf die große Tafel geschrieben wurde. Mit den Landkarten ging es mir noch schlimmer. Daraufhin schleppte meine Mutter mich zum Augenarzt.« Sie schwieg. 3
»Aber Sie haben die Brille nicht getragen?« half er ihr weiter. »Doch. Anfangs schon. Aber ich konnte mich nicht dran gewöhnen. Ich war heilfroh, als sie endlich kaputt war.« »Aha. Ich verstehe.« Dr. Hilpert schraubte die Bügel der Meßbrille kürzer, setzte sie ihr behutsam auf die Nase. »Und wie sind Sie dann in der Schule zurecht gekommen?« »Ich habe mich in die erste Reihe setzen lassen. Dann ging's.« Dr. Hilpert schmunzelte. »Na, immerhin gratuliere ich Ihnen, daß Sie sich nun doch mal zu einem Besuch beim Augenarzt aufgerafft haben.« »Ganz ehrlich … wenn mich meine Mutter nicht geschickt hätte! Aber in der letzten Zeit wurde es mir fast selber zu blöd. In die Ferne habe ich ja nie gut gucken können. Aber seit ein paar Monaten kom men noch so komische Schatten dazu.« »Schatten? Über beiden Augen?« »Bloß über dem linken. Glauben Sie, daß ich das Auge überanstrengt habe? Ich habe ziemlich viel lernen müssen fürs Abi.« »Nein. Das ist kaum anzunehmen.« Dr. Hilpert steckte in die Meß brille vor das linke Auge eine dunkle Scheibe, vor das rechte ein kon kaves sphärisches Glas. Er zeigte auf die fünf Meter entfernte Sehpro bentafel. »Na, nun lesen Sie mal.« »L«, sagte sie rasch. »Sehr gut!« »C B!« »Ausgezeichnet! Weiter!« »Und da verließen sie ihn«, sagte Gunhild Wigand und zuckte resi gniert mit den Achseln. »Macht nichts. Ich habe mit dem schwächsten Glas angefangen. War ten Sie, gleich wird's schon besser gehen.« Noch fünfmal mußte Dr. Hilpert die Gläser vor Gunhild Wigands rechtem Auge wechseln. »So, jetzt geht's«, sagte sie dann. »TPCTZBDEFO!« »Sehr gut. Und die Reihe darunter …« Gunhild Wigand mühte sich. »Es ist … alles noch ein bißchen ver zerrt«, sagte sie. 4
»Wahrscheinlich leiden Sie auch noch an Stabsichtigkeit«, sagte Dr. Hilpert. »Was ist denn das?« »Eine Folge von Hornhautverkrümmung. Aber das werden wir gleich haben. Versuchen wir's mal mit Zylindergläsern …« Er steck te einen zweiten Probierbrillen-Einsatz vor ihr rechtes Auge, verschob die Einstellung. »Stimmt's jetzt?« »Schon besser.« »Und jetzt?« »Ganz prima!« »Na, dann hätten wir's.« Dr. Hilpert entfernte das sphärische und das Zylinderglas aus der Meßbrille, schob statt dessen das dunkel getönte Glas ein, das bisher vor ihrem linken Auge gesteckt hatte. »Wissen Sie, Fräulein Wigand, Sie sind wieder einmal ein lebendiges Beispiel dafür, welche Opfer eine Frau bereit ist, sich für ihre Schönheit aufzuerlegen. Sie haben seit Jahren bloß die Hälfte von allem gesehen …« »Schönheit ist wichtig«, murmelte Gunhild Wigand, »besonders für ein Mädchen. Tun Sie bloß nicht so, als wenn Sie das nicht wüssten.« Er lachte, schob ihr ein Glas vor das linke Auge. »Diesmal werde ich gleich mal mit etwas höheren Dioptrien anfangen. Was sehen Sie jetzt?« »Nichts!« sagte Gunhild Wigand, und plötzlich war der unverbind liche Konversationston, in dem sie bisher gesprochen hatte, wie ausge löscht. Panik bebte in ihrer Stimme. »Nichts?« fragte er überrascht. »Das ist doch nicht gut möglich!« »Doch«, sagte sie, »wirklich … ich meine, natürlich sehe ich etwas. Aber ich kann nichts wirklich unterscheiden. Es ist alles so … schat tenhaft.« Ihre Stimme brach. Er nahm das vorgesetzte Glas aus der Meßbrille, fragte: »Und jetzt?« »Genauso.« Dr. Hilpert schwieg einen Augenblick und fragte: »Sie sehen also mit dem linken Auge nur Umrisse, wenn ich Sie recht verstanden habe?« Sie nickte stumm. »Und das merken Sie erst jetzt?« 5
»Ich bin bisher ja nie auf die Idee gekommen, das eine Auge zuzu kneifen«, sagte sie mit dem Versuch, Munterkeit vorzuspiegeln; aber es kam ziemlich kläglich heraus. »Kein Grund zur Aufregung. Ganz schön ruhig bleiben. Wir werden jetzt noch ein bißchen versuchen, ja?« Er versuchte es noch gute zehn Minuten, mit sphärischen und mit zylindrischen Gläsern. Aber die Erfolge, die er damit erreichte, waren bedeutungslos. Dann nahm er ihr die Meßbrille ab. »Genug«, sagte er, »ich will Sie nicht länger quälen. Jetzt machen wir mal etwas ganz anderes.« Ihr gesundes junges Gesicht war sehr blaß geworden. Sie strich sich mit der Hand über das kranke Auge, als wenn sie die Schatten da mit wegwischen könnte. »Kann man da … überhaupt noch etwas ma chen?« fragte sie mühsam. Sie bekam keine Antwort auf diese Frage. »Ich werde mal sehen, ob wir jetzt gleich zum Herrn Professor kön nen«, sagte Dr. Hilpert und drückte einen Knopf für die Haussprech anlage.
Professor Bergmeister stand mitten in dem fensterlosen, nur gedämpft beleuchteten Raum, als sie eintraten: ein schlanker, sehr großer Mann Anfang der Fünfzig, der sich leicht vornübergebeugt hielt, so daß seine Brust unter dem weißen Kittel schmal und fast eingefallen wirkte. Seine Augen waren hinter dicken Brillengläsern verborgen, aber das Lächeln, mit dem er das junge Mädchen begrüßte, war so liebenswert, daß sie sofort Vertrauen faßte. Er streckte Gunhild Wigand eine schmale, sehr weiße Hand entgegen, deren Druck überraschend kräftig war. »Ich bin eigentlich nur gekommen, um mir eine Brille verschreiben zu lassen«, sagte sie mit dem Versuch eines Lächelns. Aber ihre Lip pen zitterten. »Myopie und Astigmatismus auf dem rechten Auge«, erklärte Dr. Hilpert, »auf dem linken konnte keine Sehschärfe erreicht werden.« 6
»Na, da werden wir uns die Geschichte mal durch das Hornhautmi kroskop ansehen«, sagte Professor Bergmeister, »kommen Sie, Fräu lein Wigand, setzen Sie sich einmal hier vor die Spaltlampe, legen Sie das Kinn in die Stütze … warten Sie, ich glaube, wir müssen das etwas tiefer stellen … so!« Er setzte sich Gunhild Wigand gegenüber an den Kreuztisch, auf dem das sehr komplizierte Instrument installiert war. »Brauchen Sie mich noch, Herr Professor?« fragte Dr. Hilpert. »Es wäre mir schon ganz lieb, wenn Sie blieben!« Professor Bergmei ster stellte Beleuchtung und Vergrößerung ein, sagte nach einer Wei le: »Die vorderen Augenabschnitte zeigen keine Anomalien. Wenn Sie mal schauen wollen, Kollege …« »Bitte!« Dr. Hilpert nahm Professor Bergmeisters Platz ein. »Linse und vorderer Glaskörper scheinen ganz in Ordnung.« »In Ordnung?« fragte Gunhild Wigand. »Ja. Aber das besagt leider noch nichts. Sie können jetzt Ihren Kopf zurücknehmen … ja, so.« Professor Bergmeister lächelte ihr zu. »Ziem lich anstrengend, das Auge so lange aufzuhalten.« Sie rieb sich wieder über das kranke Auge. »Ich fürchte, ich habe schrecklich oft geblinzelt.« Professor Bergmeister wandte sich an Dr. Hilpert. »Bitte, setzen Sie die Hrubylinse, Kulisse und Fixierleuchte auf. Ich möchte mir mal den Fundus in Mydriasis anschauen.« »Mydriasis«, sagte Gunhild beklommen, »was ist denn das nun schon wieder?« »Nur so ein Fachausdruck«, sagte Professor Bergmeister beruhigend. »Es bedeutet nichts anderes, als daß ich Ihnen jetzt ein paar Tropfen gebe …« Er nahm ein Fläschchen von einem Tisch neben der Untersu chungsliege, die rechts an der Wand stand. »Mydrial … es bewirkt, daß Ihre Pupillen recht groß werden. Das brauchen wir, damit wir so tief wie möglich in den Augenhintergrund hineinsehen können.« Während Professor Bergmeister die Tropfen gab, führte Dr. Hilpert Veränderungen an der Spaltlampe durch. »Fertig, Herr Professor«, meldete er nach einer Weile. 7
»Und wir können auch! Bitte, beugen Sie Ihren Kopf wieder vor, schauen Sie in die Öffnung hier in den weißen Knopf … immer auf diese kleine Glühlampe hin, ja?«
Er setzte sich auf die andere Seite des Tisches, stellte das Spaltbild durch den Steuerhebel auf Pupillenmitte ein, legte die Schärfenebene auf die Iris. Er hatte für die erste Orientierung eine geringe Beleuchtungsstär ke und sechsfache Vergrößerung eingestellt. Langsam und sehr behut sam bewegte er den Steuerhebel nach vorn und brachte die Schärfene bene auf den Augenhintergrund. Dann sah er es. Die Netzhaut hatte sich im unteren Hintergrundbereich gelöst und wölbte sich wie ein schillerndes Segel in den Glaskörper hinein. Bei je der Augenbewegung der Patientin bewegte sich die Netzhaut mit. Un terhalb der Ablösung war ein Riß zu sehen, der etwa so groß war wie der Durchmesser des Sehnervkopfes, der sich hell in dem rotleuchten den Bild hervorhob. Professor Bergmeister stand auf. »Bitte, sehen Sie sich das mal an, Kollege«, sagte er. »Ist etwas?« fragte die Patientin. »Nichts allzu Schlimmes«, versicherte der Professor, »eine kleine Verletzung.« Er wartete, bis auch Dr. Hilpert sich vom Befund des Au genhintergrundes überzeugt hatte, fragte dann: »Haben Sie sich viel leicht in der letzten Zeit mal gestoßen? Oder einen Schlag gegen den Kopf bekommen? Sie können übrigens Ihren Kopf wieder zurückneh men. Wir schalten das Gerät jetzt aus.« »Nein«, sagte Gunhild, »einen Schlag? Ich raufe doch nicht. Höch stens …« Sie stockte. »Nun, was wollten Sie sagen?« »Ich habe mal einen Schlagball gegen das Auge bekommen. Aber das ist nun schon ein paar Monate her.« »Vielleicht war's das«, sagte Professor Bergmeister. »Aber Sie brau 8
chen sich nicht darüber den Kopf zu zerbrechen. Wichtig aber wäre, daß Sie recht bald mal Ihren Herrn Papa zu uns schicken würden.« »Papa?« Gunhild Wigand war jetzt aufgestanden, stand vor den bei den Männern, immer noch sehr jung und sehr hübsch, aber keines wegs mehr unbekümmert. »Das wird nicht gut gehen. Meine Eltern sind geschieden. Ich lebe bei meiner Mutter.« »Nun, dann möchte ich gerne mit Ihrer Frau Mutter sprechen, und zwar so bald wie möglich.« »Morgen?« frage Gunhild Wigand unsicher. »Das wäre sehr gut. Bleiben wir also dabei. Machen Sie mit Schwe ster Karla gleich einen Termin aus, damit Ihre Mutter nicht zu warten braucht.«
»Scheußlich!« sagte Professor Bergmeister, als Gunhild Wigand ge gangen war. Er hatte die Hände in die Taschen seines weißen Kittels gesteckt und zog die Schultern hoch, als wenn er fröstelte. »Ablatio Retinae. Das arme Kind.« Dr. Hilpert lächelte. »Nun, erstens ist sie wirklich kein Kind mehr, und zweitens … sie ist ja noch rechtzeitig gekommen. Eine sofortige Operation kann ihr Augenlicht retten.« »Kann! Sie sagen sehr richtig … kann!« Professor Bergmeister zog eine Zigarette aus einem Päckchen in seiner Tasche, besann sich, sag te: »Kommen Sie, Norman … gehen wir zu mir hinüber!« Es kam selten vor, daß Professor Bergmeister seinen Assistenten beim Vornamen nannte, und immer, wenn er es tat, wurde es Dr. Hil pert fast schmerzhaft bewußt, wieviel dieser Mann ihm bedeutete – als Vorbild, als väterlicher Freund, als Mensch. »Ich weiß, es klingt lächerlich«, sagte Professor Bergmeister, als ver teidigte er sich gegen einen Vorwurf, den ihm niemand gemacht hat te, »ich habe Tausende operiert … ich habe niemals daran gedacht, sie zu zählen. Und dennoch … immer wenn eine Operation vor mir steht, überkommt mich so etwas wie … wie Bangigkeit. Können Sie 9
das verstehen? Es hängt soviel davon ab. Möglicherweise das Glück, das Schicksal, das ganze Leben eines Menschen.« Er war seinem Assistenten voraus durch die Milchglastür in sein ei genes Arbeitszimmer getreten, einen großen Raum, der dem Dr. Hil perts ganz ähnlich sah. Nur waren die Teppiche und Vorhänge ein we nig kostbarer, der Schreibtisch etwas dekorativer, und in einer Ecke gab es einen niedrigen Tisch mit tiefen Sesseln, der in Dr. Hilperts Zimmer fehlte. Professor Bergmeister zündete sich eine Zigarette an, hielt dann dem Assistenten sein Päckchen hin. »Sie sind eben ein wirklicher Arzt, Herr Professor«, sagte Dr. Hilpert ein wenig rau, weil er sich einer inneren Bewegung schämte, »Sie sehen nicht nur das kranke Organ, sondern den ganzen Menschen.« Er strich ein Streichholz an, ließ seine Zigarette aufflammen, nahm einen tiefen Zug. »Wahrscheinlich wissen Sie objektiv sehr gut, daß Ihre Bedenken grundlos sind. Es gibt keinen besseren Augenchirurgen als Sie … es kann einfach keinen geben.« Professor Bergmeister trat an das breite Fenster, sagte, mit dem Rük ken zum Zimmer, fast wie zu sich selber: »Die Angst, die Hand könnte zittern! Eine winzige falsche Bewegung …« »Wird Ihnen niemals passieren, Herr Professor«, sagte Dr. Hilpert mit Nachdruck. Professor Bergmeister wandte sich um und sah ihn mit einem seltsa men Lächeln an. »Sind Sie ganz sicher?« »Vollkommen.« Dr. Hilpert streifte die Asche seiner Zigarette in ei ner schweren Messingschale auf dem Schreibtisch ab. »Wenn ich mir übrigens einen Vorschlag erlauben darf …« »Aber bitte, Kollege! Nicht diese Umschweife. Ich komme mir ja sonst wie ein uneinsichtiger Tyrann vor.« Dr. Hilpert straffte unwillkürlich die Schultern. »Vielleicht wäre ge rade dieser Fall geeignet, Lichtkoagulation anzuwenden. Ich mei ne«, fuhr er rasch fort, ehe Professor Bergmeister ihn noch unterbre chen konnte, »wir haben diese Methode nun doch schon gründlich ge nug ausprobiert. Drei Jahre haben wir Versuche an Hunden durchge 10
führt … wenn ich ›wir‹ sage, meine ich im Grund natürlich nur Sie, Herr Professor, ich durfte Sie höchsten in Ihrer Arbeit unterstützen … Sie haben überdies eine ganze Reihe von Selbstversuchen durchge führt …« Jetzt fiel ihm Professor Bergmeister ins Wort. »Einige Versuche, das wäre richtiger gesagt. Die Versuchsreihe, von der Sie sprechen, ist noch keineswegs abgeschlossen.« »Sie wollen also weiter … experimentieren?« »Selbstverständlich.« »Herr Professor …« »Ich weiß, ich weiß, Sie wollen mich warnen. Das haben Sie schon oft genug getan, mein Lieber. Können Sie nicht endlich einsehen, daß das, was ich tue, nichts weiter ist als meine Pflicht?« Dr. Hilpert schwieg. Professor Bergmeister trat auf ihn zu. »Jetzt passen Sie mal auf, Hil pert. Wir beide sind uns doch darin einig, daß Lichtkoagulation, falls sie gefahrlos für den Patienten angewandt werden kann, einen unge heuren Fortschritt in der Augenchirurgie bedeutet, nicht wahr? Statt mit dem Messer können wir dann mit dem Licht … mit dem gleich sam gebündelten, konzentrierten Licht arbeiten, Wundränder schaf fen, wie etwa bei einer Operation der Ablatio Retinae, und das alles, ohne daß ein operativer Eingriff erfolgen muß, der erst den Bereich am hinteren Augenteil freilegt! Sie wissen selber, daß uns das immer wie der besondere Schwierigkeiten macht.« »Ja, Herr Professor«, sagte Dr. Hilpert, »und grade darum meine ich …« Professor Bergmeister ließ ihn nicht ausreden. »Grade darum ist es unerlässlich«, sagte er, »diese neue Methode bis zur Vollkommenheit zu entwickeln. Dazu brauche ich das menschliche Auge. Und von wel chem meiner Mitmenschen könnte ich wohl verlangen, daß er sich als Versuchsobjekt zur Verfügung stellt? Doch nur von mir.« »Das stimmt nicht, Herr Professor«, widersprach Dr. Hilpert, »Sie wissen sehr gut, daß ich selber …« »Ich weiß, Sie würden es tun. Weil Sie ein guter Junge sind. Viel 11
leicht auch mir zuliebe. Oder weil Sie nicht als Feigling dastehen wol len. Aber ich kann und darf Ihr Angebot nicht annehmen. Sie sind ein befähigter Arzt, ein junger Mensch, der am Anfang seiner Karriere steht. Ihr Auge ist Ihr wertvollstes Instrument. Nein, kommen Sie mir jetzt nicht wieder damit. Es ist und bleibt völlig ausgeschlossen.« Pro fessor Bergmeister drückte seine Zigarette aus. »Und daß Sie mir vor geschlagen haben, eine noch nicht voll erprobte Methode ausgerechnet bei diesem blühenden Menschenkind anzuwenden, das war doch wohl hoffentlich nur ein Witz.« »Nein, Herr Professor«, sagte Dr. Hilpert mit Festigkeit. »Sie haben bis heute hunderte Versuche an Hunden gemacht. Es ist Ihnen zum Schluß gelungen, die Anwendung der Lichtstrahlen so zu dosieren, daß keine schädlichen Nebenwirkungen entstanden. Sie haben an sich selber mindestens zwanzig Versuche gemacht. Selbst wenn diese Ver suche Ihren Augen geschadet hätten, so besagt das ja noch lange nicht, daß das bei der Patientin der Fall sein muß. Im Gegenteil. Es ist so gut wie ausgeschlossen. In Ihrem Fall brauchte die Koagulation ja nur ein einziges Mal angewendet zu werden.« Er schwieg, sah Professor Berg meister erwartungsvoll an. Professor Bergmeister ging zum Fenster, öffnete es weit. Kalte Win terluft drang in den Raum, trieb den Rauch hinaus. »Sie wissen selber, daß das, was Sie da behauptet haben, unvertretbar ist«, sagte er müde, »sowohl vom ärztlichen als auch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus. In meiner Klinik wird diese Methode jedenfalls nicht angewendet, bevor ich nicht ganz sicher … hundertprozentig sicher bin, daß kei ne schädlichen Nebenwirkungen auftreten können. Und damit, denke ich, ist dieses Thema erledigt. Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Wenden wir uns wieder unseren Patienten zu.« Dr. Hilpert drehte sich um und ging. Er fühlte sich zurechtgewiesen wie ein Schuljunge. Dennoch empfand er weder Ärger noch Beschä mung, sondern nur tiefe Sorge. Er wußte, daß die Gefahr, der sich Professor Bergmeister aussetzte, unausdenkliche Folgen haben konnte. 12
Dr. Hilperts Schlafzimmer lag im obersten Stockwerk der Augenkli nik, ein kleiner, sehr nüchtern eingerichteter Raum, dem er mit eini gen Dingen aus seinem persönlichen Besitz eine etwas behaglichere Atmosphäre zu geben versucht hatte: einem schweren ledernen Sessel, in dem er abends eine letzte Pfeife zu rauchen pflegte, einem bunten handgestickten Wandteppich aus Lima, dessen seltsame Märchenfigu ren ihm immer neue Rätsel aufgaben, ein paar Schalen, Aschenbecher, Decken und Kissen, die ihm von wohlmeinenden Damen geschenkt worden waren. Manche dieser Dinge entsprachen durchaus nicht sei nem eigenen Geschmack, aber er hatte sie behalten, weil sie immerhin den Zweck erfüllten, den allzu sachlich möblierten Raum freundlicher zu gestalten. Wie jeden Abend war er auch heute nach einem letzten Rundgang durch die Privatabteilung und die Station nach oben gekommen, zog seinen weißen Kittel aus, wusch sich die Hände und bürstete sich über das dichte dunkle Haar. Er blickte dabei in den kleinen Spiegel über dem Waschbecken, ohne sich jedoch wirklich zu sehen; denn sein eig ner Anblick – ruhige graue Augen in einem männlichen, energischen Gesicht – war ihm völlig uninteressant. Mechanisch cremte er seine Hände ein, deren Haut durch das häufige Desinfizieren angegriffen war, wollte zur Tür – als von außen geklopft wurde. Unwillkürlich blieb er stehen, rief abwartend: »Herein!« Die Tür öffnete sich nach außen, und so dauerte es einige Sekunden, bis er Gabriele Zerling erkannte. Gabriele Zerling war eine kleine zier liche Person, Medizinstudentin im achten Semester, und hospitierte zur Zeit in der Augenklinik Professor Bergmeisters. Dr. Hilperts Gesicht hellte sich bei ihrem Anblick auf. »Hallo!« sagte er überrascht. »Nett, daß Sie mich mal besuchen. Darf ich Ihnen einen Cognac anbieten?« Er ging zum Schrank. »Danke, nein«, sagte Gabriele Zerling. »Ich muß Sie sprechen, Dok tor Hilpert … es ist dringend.« »Aber sicher. Das können Sie doch. Kommen Sie nur herein …« »Nicht hier«, sagte sie. Er blickte auf, die Flasche schon in der Hand, sah jetzt erst, daß sie 13
immer noch in der geöffneten Tür stand. »Nanu?« sagte er. »Vorurtei le? Das sieht Ihnen aber gar nicht ähnlich.« »Das hat mit Vorurteilen nicht das geringste zu tun«, sagte sie hitzig, »aber Sie wissen doch selber, wie in so einer Klinik getratscht wird. Ich möchte ohne Grund nicht ins Gerede kommen.« Jetzt lachte er. »Mit Grund also schon?« Ihre dunklen Augen, die, übergroß und sehr lebendig, ihrem kleinen pikanten Gesicht eine gewisse Schönheit gaben, funkelten. »Sie wissen genau, was ich meine, Doktor Hilpert. Wollen Sie mich nun anhören oder nicht?« »Bitte, sprechen Sie. Wenn ich es auch nicht gerade gemütlich finde, eine Unterhaltung bei offener Tür und im Stehen zu führen. Ganz da von abgesehen wollte ich gerade zum Abendbrot hinuntergehen.« Zum ersten Mal wurde sie unsicher. »Ich hatte gedacht«, sagte sie zögernd, »ob wir nicht draußen irgendeine Kleinigkeit essen könn ten …« Sie sah ihn fragend an. Er fand Vergnügen daran, sie zappeln zu lassen, bemühte sich, ein nachdenkliches Gesicht zu machen. »Ich meine natürlich nur, wenn Sie nichts anderes vorhaben«, fügte sie rasch hinzu. Er konnte nicht länger ernst bleiben. »Auch wenn ich mit der Köni gin von England verabredet wäre«, sagte er, »könnte ich es nicht übers Herz bringen, einer so charmanten jungen Kollegin einen Korb zu ge ben.« Er stellte die Cognacflasche weg, holte sich seinen Dufflecoat aus dem Schrank, sagte, während er hineinschlüpfte: »Kommen Sie, Mäd chen, lassen Sie uns enteilen … sonst fängt uns am Ende noch Schwe ster Hilde ab und zwingt uns ihren faden Salat auf.« Sie fuhren mit dem Lift nach unten, Dr. Hilpert nahm sich noch die Zeit, ein paar Worte mit Dr. Böninger, dem diensthabenden Arzt, zu wechseln, während Gabriele ihren Kamelhaarmantel an zog, dann traten sie durch das breite Portal der Augenklinik in den Vorhof. Es schneite ein wenig, dünne matte Flocken, die sich, sobald sie den Boden berührten, in Nässe auflösten. 14
Dr. Hilpert schob seine Hand unter Gabriele Zerlings Ellbogen, woll te sie zum Tor führen. Aber sie leistete Widerstand. »Fahren wir lieber«, sagte sie, »da drüben steht mein Wagen.« Er blieb stehen, sagte mit hochgezogenen Augenbrauen: »Ah, ich ver gaß, daß ich eine Plutokratentochter vor mir habe.« Sie parierte rasch. »Halten Sie Reichtum etwa für eine Schande?« Sie sah sehr hübsch aus in dem ungewissen Licht der Torlampe, während Flocke auf Flocke sich auf ihr glattes dunkles Haar setzte, und er spürte in diesem Augenblick nicht die geringste Lust, sich mit ihr zu streiten. »Natürlich nicht«, sagte er friedfertig. Sie war nicht so leicht zu beruhigen. »Ich jedenfalls schäme mich nicht, daß mein Vater Millionen gemacht hat«, sagte sie herausfor dernd, dann, während sie sich abwandte und die Autoschlüssel aus ih rer Kollegtasche fischte, fügte sie trotzig hinzu: »Und auch nicht dar über, daß meine Mutter Arbeiterin war … einfache Arbeiterin in sei nem alten Betrieb, bevor er sie heiratete.« »Wenn Sie Ihrer Mutter, wie ich annehmen möchte, ähnlich sind, kann ich den Geschmack Ihres Alten Herrn nur zu gut verstehen.« Sie bückte sich, schloß die Autotür auf, stieg ein. »Ich gleiche ihr nicht im geringsten«, sagte sie, »meine Mutter ist sehr schön … eine richtige langweilige Schönheit.« Er ging um den Wagen herum, wartete, bis sie die Tür von innen öff nete und ihn einsteigen ließ. Er versuchte verschiedene Stellungen, bis es ihm gelang, seine langen Beine einigermaßen bequem unterzubrin gen, beobachtete, wie ihre schmalen Hände sich ungemein kräftig und geschickt betätigten. Es dauerte eine Weile, bis der Motor ansprang. Sie schaltete den Rückwärtsgang ein, das kleine Auto schoß zurück, sie schaltete in den zweiten, sie brausten aus dem Tor, fügten sich in den spärlichen Vorortverkehr auf der Fahrbahn ein. »Nein, ich bin nicht wie meine Mutter«, nahm Gabriele das ange schnittene Thema wieder auf, »viel eher wie mein Vater. Obwohl ich seine Leidenschaft für den Gelderwerb durchaus nicht teilen kann. Oder vielleicht könnte ich es doch, wenn ich in Armut aufgewachsen wäre wie er.« 15
Er blickte auf ihr zartes, ein wenig arrogantes Profil, konnte dem Wunsch nicht widerstehen, sie zu ärgern. »Das ist ja alles sehr interes sant, mein liebes Fräulein Zerling«, sagte er gönnerhaft, »aber wenn ich mir eine Frage erlauben darf … war das der Grund, warum Sie mich sprechen wollten? Um mir Ihre Familiengeschichte zu erzählen?« Sie zuckte zusammen, sah ihn an – für eine Sekunde vergaß sie auf das Steuer zu achten, der Wagen machte einen kleinen Schwenker, dann hatte sie ihn wieder in der Gewalt. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie gelangweilt habe«, sagte sie kühl, »es soll nicht wieder vorkommen.« »Von Langeweile kann gar keine Rede sein. Die Art, wie Sie uns da eben beinahe gegen einen Baum gefahren hätten, war so ungefähr das Aufregendste, was ich in den letzten Monaten erlebt habe.« Sie ging nicht auf seinen neckenden Ton ein. »Ich muß wirklich mit Ihnen reden«, sagte sie, und da er keine Frage stellte, fügte sie nach ei ner kleinen Pause hinzu: »Über Professor Bergmeister.« »Ach«, sagte er nur. »Sie wissen, um was es geht …« »Nein, wirklich nicht. Ich habe keine Ahnung.« »Vielleicht sollte ich von der ganzen Sache gar nichts wissen … ich sage Ihnen auch gleich, daß ich nicht verraten werde, woher ich es weiß. Aber diese Selbstversuche, die Professor Bergmeister mit Lichtkoagu lation durchführt, sind meiner Meinung nach geradezu mörderisch!« »Und warum erzählen Sie mir das?« »Das fragen Sie noch? Sie dürfen es nicht zulassen, Sie müssen es ver hindern!« »Mein liebes Fräulein Zerling, wie stellen Sie sich das vor?« »Wie Sie es machen, das ist Ihre Sache … auf jeden Fall muß er damit aufhören. Wenn diese Versuche schon sein müssen, warum nimmt er sich nicht andere Objekte? Kranke zum Beispiel! Ja, das wäre doch die Idee! Unheilbare Kranke.« »Solche Personen wären ungeeignet, selbst wenn sie sich freiwillig zur Verfügung stellen würden«, sagte er müde, »glauben Sie nicht, daß ich mir schon seit Monaten den Kopf über dieses Problem zerbreche?« 16
»Sie auch?« »Was haben Sie denn gedacht? Grade heute morgen habe ich mich selber als Versuchsperson zur Verfügung gestellt.« »Nein!« sagte sie entsetzt. Er sah sie ungläubig an. »Bitte«, sagte er, »fahren Sie den Wagen doch mal an den Bordrand … ja, so. Und jetzt bremsen Sie. Was sagten Sie da eben? Nein? Ich dachte, es käme Ihnen darauf an, Professor Berg meisters Augenlicht zu schützen?« »Ja, natürlich!« Sie sah an ihm vorbei, ihre Hände verkrampften sich nervös. »Nur … wenn Sie … damit wäre doch nichts gewonnen.« »O doch. Ich habe gesunde Augen, ich bin jünger … das Risiko, das ich damit eingehe, ist jedenfalls wesentlich geringer.« »Sie wollen also … wirklich?« fragte sie, fast flehend. »Würden Sie mir dazu raten?« »Raten? Ich?« Sie hob den Kopf und blickte ihn an, in ihren dunk len Augen flammte Erregung. »Niemals! Ich flehe Sie an … tun Sie es nicht! Bitte, bitte … nicht!« Er beugte sich über sie, nahm sie in die Arme und küßte sie. Er küß te sie lange, ausgiebig und mit wachsendem Genuss. Als er sie endlich losließ, lächelte er, aber seine Stimme klang rauh, als er sagte: »Das hatte ich mir schon seit langem gewünscht, Gabrie le!« Sie war nicht verlegen. »Das glaube ich dir sogar«, sagte sie und strich sich über das glatte, kurz geschnittene Haar, »und doch wette ich, daß du mir eines Tages vorhalten wirst, ich hätte dich dazu gebracht.« »Na und? Stimmt das etwa nicht?« »Flegel«, sagte sie und lachte glücklich. Dann, ganz plötzlich wur de sie ernst. »Wirst du dich für diese Versuche zur Verfügung stellen?« fragte sie. »Ich habe es getan. Aber Professor Bergmeister hat es abgelehnt.« Sie seufzte. »Er ist ein großer Mann«, sagte sie voll Ehrfurcht, »einer von den ganz Großen!«
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Michael Bergmeister räkelte sich aus dem tiefen, lederbezogenen Sessel hoch, ein schlanker, ein wenig schlaksiger junger Mann, dessen Jun genhaftigkeit durch den kurzen Bürstenhaarschnitt noch betont wur de. »Ihr müßt mich jetzt entschuldigen«, sagte er mit einer ungeschick ten kleinen Verbeugung zu seiner Stiefmutter hin. Sie hatten nach dem Abendessen im Salon noch eine Tasse Mokka zu sich genommen, Professor Bergmeister, Vera, seine Frau, und sein zweiundzwanzigjähriger Sohn, Medizinstudent im sechsten Semester. »Mußt du fort?« Vera konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Grade heute, wo ein so interessantes Fernsehspiel auf dem Programm steht!« Er sah mit einem kleinen Lächeln auf sie herunter. »Ja, ich muß. Und ich kann nicht einmal behaupten, daß es mir leid tut. Du weißt, daß ich seit eh und je kein Freund vorgekauter Genüsse bin.« »Michael!« sagte sein Vater mahnend. Michaels Lächeln verbreitete sich zu einem Grinsen. »Tut mir leid, Alter Herr, das ist mir bloß so herausgerutscht. Ich wollte eure Gefüh le nicht verletzen.« »Sehr beruhigend, das zu hören.« Professor Bergmeister zündete sich eine Zigarette an. »Auch wenn man überzeugt ist, daß die eigene Le benshaltung die einzig wahre ist, sollte man es niemals an Achtung vor den Ansichten seiner Mitmenschen fehlen lassen.« Er warf das Streich holz in den Aschenbecher. »Wenn du übrigens arbeiten mußt, bist du hinreichend entschuldigt.« »Nicht einmal das«, bekannte Michael, »wir haben wieder einmal ei nen Jazzabend im Studentenkeller …« »Ist das wirklich so wichtig?« fragte Vera. »Na klar. Ich kann die Kumpels doch nicht sitzen lassen. Ohne mich ist die Band einfach nicht aktionsfähig.« »Du kennst meine Ansichten«, sagte Professor Bergmeister, »ich will dir gewiß keine Vorhaltungen machen. Nur muß ich dich ehrlich dar auf hinweisen … in meinen Studienjahren habe ich niemals soviel Zeit auf meine Hobbys verwenden können.« »Hattest du welche?« 18
»Du wirst lachen … ja. Aber da du es so eilig hast, ist jetzt wohl kaum die Gelegenheit, mich darüber zu verbreitern.« Er lehnte sich in sei nen Sessel zurück, als ob er dieses Gespräch hiermit endgültig für ab geschlossen hielte. Aber Michael blieb stehen. »Ich wollte dich nicht verletzen.« »Ich weiß.« »Und außerdem habe ich doch bisher meine Prüfungen alle anstän dig bestanden, nicht wahr?« »Niemand macht dir einen Vorwurf, Michael«, sagte Vera rasch. »Lauf jetzt. Deine Freunde warten sicher schon.« Als Michael gegangen war, schien der kleine Salon plötzlich still ge worden. Professor Bergmeister war es, der das Schweigen brach. »Findest du nicht auch«, sagte er, »daß Michael in der letzten Zeit etwas viel unter wegs ist? Ich sehe ihn fast nur noch zu den Mahlzeiten, und auch dann nicht immer.« Vera zuckte die vollen runden Schultern. »Er ist jung. Unterneh mungslustig. Ich wundere mich nicht, daß er sich bei uns langweilt.« »Vielleicht hast du recht. Aber mir kommt es manchmal so vor … als wenn er mir geradezu auswiche.« »Das bildest du dir nur ein …« Vera stand auf, schüttete den Inhalt der vollen Aschenbecher zusammen, stellte die leeren Mokkatassen, Zuckerdose und Sahnekännchen auf ein bunt lackiertes kleines Ta blett. »Ich bin nicht sicher, daß du recht hast.« Vera setzte das Tablett, das sie schon aufgenommen hatte, wieder auf den achteckigen niedrigen Tisch zurück. »Wenn Michael wirklich jemandem aus dem Wege geht«, sagte sie, »dann bin ich es. Er lehnt mich ab. Wahrscheinlich ist es meine Anwesenheit, die ihn aus dem Haus treibt.« »Ist das dein Ernst? Ich dachte, ihr hättet euch immer so gut verstan den.« »Sag lieber, er hat gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Als ich ins Haus kam, war er zwölf … ein sehr selbstbewusster kleiner Knirps. Er 19
hat es schon damals verstanden, seine Gefühle unter Kontrolle zu hal ten. Wirklich feindlich oder ruppig ist er mir niemals entgegengekom men, wenn du das meinst … aber er hat sich auch niemals entschließen können, mich anders als beim Vornamen zu nennen.« Professor Bergmeister schmunzelte. »Na, du wärst ja auch wirklich eine verdammt junge Mutter für einen Zwölfjährigen gewesen … und auch heute noch! Wenn man euch nebeneinander sieht, könnte man euch eher für Geschwister halten.« »Du bist kurzsichtig. Sonst würdest du niemals auf die Idee kom men, so etwas zu sagen!« Aber ihren Worten zum Trotz straffte Vera ihre jugendlich üppige Figur, die der enganliegende Hausanzug aus Goldbrokat voll zur Geltung brachte. Sie war eine schöne Frau, mit ih ren schräg liegenden grünen Augen, der makellosen zarten Haut, dem weißblonden seidigen Haar, das sie heute abend offen trug, bis auf die Schultern herabfallend. Sein Lächeln vertiefte sich. »Es ist mein Beruf, scharf zu sehen«, sag te er, »und ich versichere dir, daß selbst der kritischste Beobachter dir keinen Tag mehr als … na, sagen wir … zweiundzwanzig Jahre zubil ligen würde.« Jetzt konnte sie nicht länger verbergen, daß sein Kompliment sie freute. »Ich versuche eben, mich in Form zu halten«, sagte sie mit nicht ganz echter Bescheidenheit. Es schoß ihm durch den Kopf, daß sie dazu auch Zeit, Gelegenheit und Geld genug hatte. Aber niemals wäre es ihm eingefallen, einen sol chen Gedanken auszusprechen. »Und wie man sieht, ist es dir gelun gen«, sagte er nur. Sie trug das Tablett auf ein Abstelltischchen, ging zum Fernseher. Unterwegs tat sie einen Blick auf ihre zierliche, mit Brillanten besetz te Armbanduhr – ein Geschenk ihres Gatten zum zehnjährigen Hoch zeitstag. »Wahrscheinlich sind die Nachrichten noch nicht beendet, aber ich will doch schon …« Er fiel ihr ins Wort. »Vera!« »Ja, bitte?« »Würde es dir sehr viel ausmachen, wenn wir heute mal auf dieses 20
Fernsehstück verzichteten? Bitte, schau mich jetzt nicht so an, als wenn ich eine Ungeheuerlichkeit verlangte … es ist einfach so, daß ich viel mehr Lust hätte, eine Flasche Wein zu trinken und mit dir zu plau dern.« Ihr Mund war schmal geworden. »Du weißt genau, wie ich mich gra de auf diese Inszenierung gefreut habe!« »Ja, ich weiß es. Verzeih bitte meinen dummen Vorschlag. Wenn dir soviel dran liegt, dann schau dir die Sache nur in aller Ruhe an …« Professor Bergmeister erhob sich. »Du darfst mir nur nicht böse sein, wenn ich mich zurückziehe.« Ihre grünen Augen flammten. »Du willst mich allein lassen?« Er wollte seine Hand unter ihr Kinn legen, aber sie zuckte zurück. »Du bist nicht allein«, sagte er, »ich sitze im Nebenzimmer … und außerdem wird das Stück hoffentlich so unterhaltsam sein, daß du mich überhaupt nicht vermisst.« »Warum … warum bist du nur so? Du weißt ganz genau, daß ich nichts vom Leben habe … nichts, gar nichts. Ich sitze herum und war te darauf, daß du nach Hause kommst, und dann … und dann …« Ihre Stimme brach. »Kannst du wirklich nicht begreifen, daß ich nach einem langen an strengenden Tag meine Augen nicht auch noch abends überfordern möchte?« »Überfordern!?« Sie schrie es fast heraus. »Jetzt weiß ich, was mit dir los ist … jetzt weiß ich es. Du hast wieder einmal einen deiner grässli chen Selbstversuche gemacht! Lüg mich nicht an! Ich weiß es!« Er wandte sich ab und wollte wortlos das Zimmer verlassen. Aber sie vertrat ihm den Weg. »Glaub nur nicht, daß du mich einfach so stehen lassen kannst! Ich bin deine Frau und habe ein Recht …« »Bitte, Vera«, sagte er beschwörend, »bitte! Wir wollen uns doch nicht in diesem Ton unterhalten.« Sie dämpfte die Stimme, aber auch als sie jetzt leise sprach, klang es nicht weniger aufgebracht. »Es ist nicht nur deine Gesundheit, an der du dich versündigst … es ist nicht deine Privatsache, was du tust und läßt. Du hast Verpflichtungen mir gegenüber. Ja, ja, ich weiß, du 21
tust alles nur im Dienste der Wissenschaft, zum Segen der leidenden Menschheit … ach, ich kann diese Phrasen ja schon singen. Ich bin der Mensch, der dir am nächsten stehen sollte, ich, deine Frau. Warum nimmst du nicht einmal, ein einziges Mal, Rücksicht auf mich?« »Du scheinst eine ganz falsche Vorstellung zu haben …« Sie fiel ihm ins Wort. »Nein, damit fängst du mich nicht. Ich bin kei ne dumme Gans, der man etwas vormachen kann. Ich weiß, daß diese Versuche gefährlich sind … erinnerst du dich nicht, daß du es mir sel ber zugegeben hast?« »Aber doch nicht in dem Maß, wie du dir das einredest.« »So. Wirklich nicht? Kannst du mir schwören, daß diese Versuche deine Augen in keiner Weise angreifen?« »Vera, ich …« »Also nicht. Und du wirst mir zugeben, daß es mit deiner Arbeit aus ist, wenn du auch mit den stärksten Brillen nicht richtig sehen kannst. Aus und vorbei. Jedenfalls deine Tätigkeit als Chirurg. Ja, vielleicht … deine Professur wirst du möglicherweise noch behalten. Wenigstens eine gewisse Zeit. Bis sich herausstellt, daß du die jungen Leute nicht mehr in Schach halten kannst. Dann wirst du emeritiert. Ein feines Wort. Aber es bedeutet nichts anderes, als daß wir auf eine Hunger pension gesetzt werden. Aus ist es mit den Privatpatienten, den Hono raren … Michael wird sein Studium abbrechen müssen …« Jetzt endlich gelang es ihm, sie zu unterbrechen. »Aber, Vera, das ist doch Unsinn! Was ist bloß in dich gefahren? Das alles sind doch maß lose Übertreibungen, die …« Aber sie ließ sich nicht aufhalten. »Und ich«, sagte sie, während ihr schöner Körper von Schluchzen geschüttelt wurde, »ich habe alles für dich geopfert … meine Karriere als Schauspielerin, alles! Ich habe es aus Liebe getan. Wenn ich geahnt hätte, daß dir so wenig an mir liegt …« Er nahm sie in die Arme, hielt sie, obwohl sie sich wehrte, ganz fest. »Ich liebe dich doch, Vera … ich liebe dich heute wie am ersten Tag! Warum willst du nicht einsehen, daß es für einen Mann Pflichten gibt, die …« 22
Sie riß sich mit einem Ruck von ihm los. »Wenn du so denkst«, sagte sie mit verzerrter Stimme, »hättest du nie wagen dürfen, eine Frau wie mich an dich zu binden …«
2
D
ie Netzhautoperation der jungen Gunhild Wigand war für vor mittags neun Uhr festgesetzt. Die Patientin hatte am Abend zuvor ein starkes Schlafmittel bekom men. Kurz bevor sie in den Operationssaal I gefahren wurde, hatte Dr. Hesse, der Anästhesist der Augenklinik, ein Beruhigungsmittel inji ziert, das sehr rasch zu wirken begann. Sie war ganz gefaßt. Als sie an ihrer Mutter, einer eleganten, überschlanken Dame, vor beigeschoben wurde, die vor dem Operationssaal wartete, brachte sie sogar ein kleines Lächeln zustande, das Frau Wigand ein wenig ver krampft erwiderte. Dann wurde sie in den Vorbereitungsraum hineingefahren, und die Doppeltüren schlossen sich hinter ihr. Schwester Ethel, eine rundliche, sehr ruhige Frau, desinfizierte sorg fältig das Gebiet um das linke Auge, band Gunhilds Stirnlocken mit einem festen Band zurück, deckte den ganzen Kopf mit einem weißen sterilen Tuch ab, in dem ein runder Ausschnitt nur das Operationsge biet freiließ. Gemeinsam mit Schwester Gerda, die als unsterile Hilfe bei der Ope ration arbeitete, fuhr sie die Patientin in den OP hinüber. Schwester Gerda übernahm es, die Patientin auf den Operationstisch zu betten, und zwar so, daß ihr Kopf entspannt auf einer Stütze zu liegen kam. Es herrschte ein sehr starkes, schattenfreies Licht. Dr. Hesse trat ein, schon fertig zur Operation gekleidet, in weißem 23
Kittel, weißer Kappe, Mundschutz vor dem Gesicht. Er sah den Schrek ken in Gunhilds offenem Auge, sagte beruhigend: »Sie brauchen sich nicht zu ängstigen … ich garantiere Ihnen, Sie werden nicht das geringste spüren.« Er nahm die aufgezogene Spritze, die Schwester Ethel ihm reichte, führte einen raschen, geschickten Stich rechts vom Auge aus, ließ die betäubende Flüssigkeit auslaufen, zog die Nadel zurück und stach noch einmal, links unterhalb des Auges ein. Die Spritze war mit einer Mi schung von Novocain, das zur Betäubung diente, und Corbasil gefüllt, das die Gefäße zusammenzog und eine gewisse Blutleere bewirkte. »Das war alles«, sagte er beruhigend, »schlimmer wird es nicht!« Er wartete fünf Minuten, während denen er noch einmal den Puls der Patientin prüfte. Dann überzeugte er sich, daß die Empfindungsfä higkeit des Auges schon sehr gedämpft war, ließ sich eine zweite Sprit ze geben. Diesmal injizierte er hinter das Auge und direkt in die Bin dehaut hinein. Während diese Operationsvorbereitungen getroffen wurden, waren Professor Bergmeister und sein Assistent, Dr. Hilpert, schon in dem Waschraum getreten. Sie wuschen sich jeder in einer Schüssel mit Des infektionsflüssigkeit die Hände. Nach den vorgeschriebenen fünf Mi nuten reichte Schwester Ethel ihnen sterile Tücher zum Abtrocknen, half erst dem Professor, dann Dr. Hilpert in die Operationskittel, die nach hinten geschlossen wurden. Sie setzten sich ihre Kappen fest, banden den Mundschutz vor. Auf einen Wink des Professors brachte Schwester Gerda noch einmal das Bild der Ablatio Retinae, das mit der Funduskamera vom Auge der Patientin gemacht worden war, hielt es den beiden Ärzten zur Ansicht hin. Der Netzhautriß war millimetergenau festgelegt worden. Dr. Hesse kam in den Waschraum. »Alle Vorbereitungen getroffen, Herr Professor«, meldete er, »subconjunctivale Injektionen vor fünf Minuten. Inzwischen volle Wirkung erzielt.« »Puls?« »Zufrieden stellend.« Professor Bergmeister schien den Bruchteil einer Sekunde zu zögern, 24
dann sagte er: »Also … ich denke, wir können. Stirnlupe, bitte, Schwe ster Gerda!« Hintereinander traten sie in den OP. Dr. Hilpert beugte sich über die Patientin, setzte den Lidsperrer ein, den Schwester Ethel ihm übergeben hatte. Das Auge der Patientin war jetzt weit geöffnet, ein Zwinkern oder Zucken war unmöglich. »Bitte, blicken Sie jetzt nach oben«, sagte er eindringlich, »noch höher, wenn es geht … ja, so! Danke!« Das waren die letzten Worte, die bis zum Ende der Operation ge sprochen werden sollten. Da die Patientin nur lokal betäubt, sonst aber bei, wenn auch gedämpftem, Bewußtsein war, wurde in völligem Schweigen gearbeitet. Professor Bergmeister, Dr. Hesse, Dr. Hilpert und Schwester Ethel waren eine eingespielte Mannschaft. Sie brauch ten nicht mehr als einen Augenwink, eine winzige Bewegung, um sich untereinander zu verständigen. Alle arbeiteten, um sich die nötige Feinfühligkeit zu bewahren, mit bloßen Händen. Schwester Gerda hatte Dr. Hilpert eine feine sterile Nadel mit einem Perlonfaden gereicht. Mit zwei, drei Stichen in die Bindehaut befestigte Dr. Hilpert den Faden und fixierte so das Auge. Das Ende des Fadens behielt er während der ganzen Operation in der Hand. Professor Bergmeister warf einen fragenden Blick zu dem Anästhe sisten hinüber, der den Finger am Puls der Patientin hatte. Dr. Hesse nickte unmerklich. Ein haarscharfes, sehr feines Skalpell in der Rechten, beugte sich der Professor über das jetzt bloßgelegte Auge der Patientin. Ohne zu zö gern, setzte er es an, zog einen feinen Schnitt durch die Bindehaut. Im selben Augenblick begann das Auge unvermutet stark zu bluten. Eine kleine Ader war getroffen worden. Dr. Hilpert warf den Kopf herum und starrte den Anästhesisten an. War es möglich, daß er vergessen hatte, das blutungshemmende Cor basil zu spritzen? Aber Dr. Hesse stand ganz ruhig, zuckte kaum merklich die Schultern. Ohne einen Wink des Professors abzuwarten, hatte Schwester Ethel ihm eine winzige silberne Klemme gereicht. 25
Alle starrten gebannt auf die schmalen beweglichen Hände des Pro fessors, sahen aufatmend, wie er die durchschnittenen Enden der Ader fand, sie, eine nach der anderen, abklemmte. Dann band er beide En den mit einem Faden ab, entfernte die Klemmen. Der erste Schnitt lag jetzt offen und ohne Blutung frei. Mit Bewunderung stellte Dr. Hilpert fest, wie behutsam Professor Bergmeister sich durch Orbitagewebe und Augenmuskeln bis zu der Stelle vorarbeitete, wo die Ablösung lag. Dann legte er die Skleralexci sion an, nahm die Diathermienadel zur Hand, betätigte den Fußschal ter. Er umstichelte den Riß von außen und hinten, riegelte ihn dadurch ab, so daß er nicht mehr weiterreißen konnte. Er vermied es dabei mit äußerster Vorsicht, die Netzhaut mit der Pinzette anzurühren, weil sie überaus empfindlich war. Er wußte, sie würde sich später von selbst wieder anlegen. Um ein gutes Anliegen der normalerweise lose auflie genden Netzhaut zu erreichen, legte er rings um die Rißstelle winzige Stiche und damit Entzündungsherde an. Die Netzhaut sollte auf diese Weise mit der Unterlage verwachsen. Auf einen Wink reichte ihm Schwester Ethel wieder das schmale Skal pell. Mit einem zweiten raschen Schnitt führte er eine sichelförmige Excision der Skiera durch. Die Blutung war diesmal nur schwach und ließ rasch nach. Professor Bergmeister entfernte das herausgenomme ne Stückchen Lederhaut mit der Pinzette. Schwester Ethel reichte ihm eine sehr dünne Nadel, in die ein steriles Frauenhaar gefädelt war. Mit zarten Stichen nähte er die beiden Schnittstellen der Lederhaut aneinander und erreichte so eine Bulbusverkürzung. Durch die Ver kleinerung des Augapfels sollte die Spannung, der die Netzhaut ausge setzt war, vermindert werden. Er entfernte die Fäden, mit denen er das durchschnittene Äderchen abgebunden hatte, ohne daß eine stärkere Blutung auftrat. Dann richtete er sich aufatmend hoch. Die Stille, die während der letzten Minuten nur durch das Geräusch des Diathermieapparates unterbrochen worden war, schien plötzlich nicht mehr quälend. Die lastende Spannung löste sich. Alle wußten, die Operation war beendet. 26
Schweigend wandte Professor Bergmeister sich um und verließ den Operationsraum. Dr. Hilpert sah ihm sekundenlang nach: er schien noch gebeugter als sonst, eine schmale, von Verantwortung niederge drückte Gestalt. Dr. Hilpert wandte sich der Patientin zu, zog sanft, jede Zerrung ver meidend, den Faden aus der Bindehaut, mit der er das Auge in seiner unnatürlichen Stellung fixiert hatte, entfernte die Lidsperre. Die Patientin murmelte etwas Unverständliches, zwinkerte ein we nig, schloß das Auge. Man hörte ihre tiefen Atemzüge. »Sie ist eingeschlafen«, stellte Dr. Hesse fest, »der Puls ist zufrieden stellend.« »Ausgezeichnet!« Dr. Hilpert wartete noch einen Augenblick, sah zu, wie Schwester Ethel das sterile Tuch vom Kopf der Patientin nahm. Gunhilds entspanntes, jetzt im Schlaf fast kindliches Gesicht kam zum Vorschein. Mit geschickten Händen legte die Operationsschwester einen Mullverband über dem operierten Auge an. »Ich glaube, Sie können sie jetzt nach oben bringen«, sagte Dr. Hesse, »aber jemand muß bei ihr bleiben, bis sie aufwacht …« »Aber selbstverständlich, Herr Doktor!« sagte Schwester Ethel und gab sich keine Mühe zu verbergen, daß sie diese Anweisung, ihr, der erfahrenen Schwester gegenüber, für durchaus überflüssig hielt. Dr. Hilpert trat in den Waschraum hinaus, wo Professor Bergmeister sich gerade von Schwester Gerda aus dem Operationskittel helfen ließ. Er wirkte sehr müde, nahm die Brille mit Stirnlupe ab, strich sich mit der Hand über die Augen. »Soviel ich weiß, haben Sie noch zwei Eingriffe heute morgen?« frag te er. »Ja, Herr Professor. Eine Splitterextraktion und ein Glaukom.« »Ich hätte Sie gern gesprochen …« Dr. Hilpert warf unwillkürlich einen Blick auf die große weiße Uhr, die in die Wandkacheln eingelassen war. »Nicht jetzt«, sagte Professor Bergmeister rasch, »ich will Sie um Gottes willen nicht aufhalten …« 27
»Ich denke, ich werde nach elf Uhr fertig sein. Wenn es Ihnen recht ist …« »Ja, bitte«, sagte Professor Bergmeister mit einem schwachen Lä cheln, »ich erwarte Sie in meinem Arbeitsraum.« Als Dr. Hilpert den Waschraum verließ, sah er die Mutter der Pati entin und Gabriele Zerling beieinander stehen. Frau Wigand war so blaß, daß das Rouge, das sie sich auf die Wangen gelegt hatte, sich hart gegen ihre blutlose Haut abzeichnete. Alle Tünche schien gleichsam von ihrem heute früh noch so sorgfältig zurechtgemachten Gesicht ab gebröckelt zu sein. Gabriele Zerling sah ihn sofort, sie hatte auf ihn gewartet. »Herr Doktor, bitte …« sagte sie und machte einen Schritt zur Mitte des Gan ges hin. Er zog, seltsam berührt durch ihre unerwartet förmliche Anrede, die Augenbrauen hoch. »Ja …?« »Herr Doktor, könnten Sie Frau Wigand bitte sagen, wie die Opera tion verlaufen ist? Sie macht sich solche Sorgen.« Dr. Hilpert wandte sich der Mutter der Patientin zu und setzte ein Lächeln auf, von dem er selber spürte, daß es allzu berufsmäßig wirk te. »Aber dazu ist gar kein Grund vorhanden, gnädige Frau«, sagte er beruhigend. Frau Wigand rang die mit kostbaren Ringen geschmückten Hände. »Kein Grund? Wie können Sie das sagen! Was haben Sie mit meinem armen Kind gemacht! Ich habe es gesehen, wie es herausgefahren wur de … wie tot lag es da! Dabei hatte Professor Bergmeister mir doch versichert, daß die Operation nur mit lokaler Betäubung durchgeführt werden sollte.« »Ist ja auch geschehen. Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, gnädige Frau … die Patientin ist einfach eingeschlafen.« »Eingeschlafen?« »Ja. Das ist nichts Ungewöhnliches. Immerhin sind ja doch eini ge Kubikzentimeter Beruhigungs- und Betäubungsmittel seit gestern abend in ihren Kreislauf gespritzt worden.« Er nickte den beiden Frau en zu und wollte weitergehen. Er hatte das dringende Bedürfnis, in den 28
wenigen Minuten, die ihm bis zur nächsten Operation, die er selber durchführen mußte, blieben, noch eine Zigarette zu rauchen und eine Tasse Kaffee zu trinken. »Bitte«, sagte Gabriele rasch, »Frau Wigand möchte so gerne wissen, ob die Operation gut verlaufen ist. Sagen Sie ihr doch etwas … erzäh len Sie, was geschehen ist!« »Genau das, was vorgesehen war«, sagte er, ohne seine Ungeduld zu verbergen. »Professor Bergmeister hat Ihnen das doch schon erklärt, gnädige Frau. Wenn Sie meinen Rat hören wollen … Sie sollten jetzt nach Hause gehen und sich erholen. Damit Sie heiter und ausgeruht sind, wenn Sie mit Ihrer Tochter sprechen … das wird frühestens heu te nachmittag der Fall sein. Guten Tag.« Er ging mit großen Schritten davon. Im Schwesternzimmer hatte die junge Schwester Gerda ihm schon eine Tasse Kaffee aufgegossen. »Endlich, Herr Doktor«, sagte sie, »es bleiben nur noch fünf Minuten bis zur Extraktion.« Sie lächelte, wäh rend sie ihm eingoss. »Dafür ist der Kaffee aber wenigstens nicht mehr so heiß, daß Sie sich die Kehle verbrennen können!« Er zündete sich eine Zigarette an. »Es ist gut, Sie lächeln zu sehen, Gerda«, sagte er, »Sie sind ein Lichtblick in meinem Leben.« Sie wurde ein wenig rot, sagte: »Sie sollten nicht solche Späße ma chen, Herr Doktor … eines Tages könnte ich Sie ernst nehmen, und dann würden Sie einen schönen Schrecken bekommen!« »Glauben Sie?! Da schätzen Sie mich aber ganz falsch ein!« Er packte sie mit der linken Hand im Nacken und schüttelte sie leicht. »Entschuldigen Sie … es tut mir leid, wenn ich störe!« sagte Gabrie le Zerling scharf. Sie hatte die angelehnte Tür aufgestoßen und war in das Schwesternzimmer getreten. »Aber durchaus nicht«, sagte Dr. Hilpert ohne Verlegenheit und nahm einen Schluck Kaffee. Schwester Gerdas Röte hatte sich noch vertieft. Sie murmelte, daß sie dringend in den OP müßte, und stob davon. »Deshalb hattest du es also so eilig!« sagte Gabriele ironisch. »Allerdings. Und wenn du jemals eine wirkliche Ärztin werden soll 29
test, wirst du verstehen lernen, daß man hin und wieder eine kleine Stärkung dringend nötig hat.« »Einen Flirt!?« »Nein. Eine gute Tasse Kaffee. Aber ich finde es äußerst reizvoll, daß du eifersüchtig bist.« »Ach, bilde dir doch nur keine Schwachheiten ein«, sagte sie wütend und drehte sich um. »Nicht so eilig«, rief er, »jetzt, nachdem du mir Schwester Gerda, o all mein Glück, sowieso vertrieben hast, kannst du ruhig noch bleiben.« »Sehr gnädig«, sagte sie böse, blieb aber dennoch stehen. »Was hast du dir eigentlich gedacht, mich eben auf dem Gang zu sie zen? Soll das etwa heißen, daß alles, was bisher zwischen uns gewesen ist, nichts gilt?« »Du weißt genau, daß das nicht der Fall ist!« Gabrieles große dunk le Augen sprühten. »Aber das bedeutet für mich noch lange nicht, daß ich es jedem auf die Nase binden muß.« »Aha, ich verstehe«, sagte er ernsthaft, »ich bin in deinen Augen wohl nicht standesgemäß?« Sie stand, die ganze zierliche Person gespannt, mit geballten Fäusten vor ihm. »Mußt du mich immer ärgern?« Er lachte. »Immer nicht. Aber von Zeit zu Zeit ist es ganz erfri schend.« »Ach du!« Plötzlich siegte ihr Sinn für Humor, sie mußte lachen. »Du bist eine der bezauberndsten Frauen, die mir je begegnet sind«, sagte er ernsthaft, »ich hätte sehr große Lust, dich zu küssen. Aber lei der …« er drückte seine Zigarette aus, leerte den Rest der Kaffeetasse mit einem Zug, »leider ruft die Pflicht.«
Zwei Stunden später saßen sich Professor Bergmeister und sein Assi stent an dem niedrigen Tisch in dem hellen Untersuchungszimmer des Professors gegenüber. Der Professor hatte sich und seinem jungen Kol legen ein Glas Cognac eingeschenkt. Jetzt nahm er sich eine Zigaret 30
te aus der silbergefaßten Tischdose, und Dr. Hilpert beeilte sich, ihm Feuer zu geben. »Ich muß die Wahrheit wissen«, sagte Professor Bergmeister ein dringlich, »schonen Sie mich nicht … die volle Wahrheit, verstehen Sie?!« »Ja, Herr Professor«, erwiderte Dr. Hilpert zögernd. Er konnte nicht verbergen, daß er sich unbehaglich fühlte. Professor Bergmeister sah ihn durch den bläulichen Rauchschleier mit einem verstehenden Lächeln an. »Ich begreife natürlich durchaus, daß Ihnen diese Aufgabe unangenehm ist, Norman«, sagte er, »aber an wen könnte ich mich schon wenden, wenn nicht an Sie?« »Wenn Sie wirklich wünschen, daß ich Sie untersuche«, erklärte Dr. Hilpert mit Überwindung, »bin ich natürlich bereit.« »Es kommt mir nicht so sehr auf Ihre Untersuchung an als auf Ihre ehrliche Diagnose. Also, bitte, machen wir es gleich. Ich möchte es hin ter mir haben.« Professor Bergmeister drückte seine eben angerauchte Zigarette aus, erhob sich. Auch Dr. Hilpert stand auf. »Hatten Sie in letzter Zeit … Beschwer den, Herr Professor?« fragte er. »Augenschmerzen, ja. Heute, nach dieser Netzhautoperation, waren sie wieder besonders stark. Aber mehr noch gibt mir zu denken, daß ich in den letzten sechs Monaten die Dioptrien meiner Brillengläser zweimal habe erhöhen müssen.« Dr. Hilpert schwieg. »Ich nehme an, es ist Ihnen nicht entgangen«, fügte Professor Berg meister mit leichter Bitterkeit hinzu, »wie nahe ich mich beim Operie ren herabbücken muß.« »Und wie ist es beim Lesen?« Dr. Hilpert bemühte sich, so sachlich wie möglich zu sprechen. »Geht fast besser ohne Brille. Allerdings muß ich alles etwa fünf Zen timeter dicht vor die Augen halten.« Nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß das alles streng unter uns bleiben muß. Ein Chirurg, der im Verdacht steht, daß seine Augen versagen, ist erledigt.« 31
Dr. Hilpert hatte das Gefühl, etwas Beruhigendes sagen zu müssen. »Ich bin sicher, Herr Professor, daß Ihre Befürchtungen zumindest übertrieben sind.« »Na, wir werden ja sehen«, sagte Professor Bergmeister mit einem Lächeln, das seinem Assistenten Bewunderung abnötigte. Hintereinander traten sie durch die Milchglastür in den Dunkel raum für optische Geräte. »Ich denke, wir ersparen uns fürs erste die Spaltlampe«, sagte der Professor, »das Ophthalmoskop dürfte genügen.« Er setzte sich in den Untersuchungsstuhl. »Wir können beginnen, Kollege. Das Gerät ist gebrauchsfertig.« Dr. Hilpert zog seinen Stuhl nahe an den des prominenten Patien ten heran, nahm den Augenspiegel in die Hand, schaltete mit einem Druck auf den Knopf die Beleuchtung ein. »Bitte, Brille abnehmen!« sagte er. »Na, so etwas!« Der Professor lachte nervös. »Hundertmal hat man das seinen Patienten gesagt, und wenn man selber an der Reihe ist, ver gisst man es.« Er nahm die Brille ab, legte sie auf den in Reichweite ste henden Famulus, den weißlackierten kommodenartigen Kasten, der seine ärztlichen Instrumente enthielt. Seine Augenpartie wirkte jetzt, ohne Brille, eingefallen, er sah in dem Dämmerlicht des Raumes mit einem Schlag wesentlich älter aus. »Überhaupt«, fuhr er fort, während er sich bemühte, die Augen weit zu öffnen, um Dr. Hilpert die Untersuchung zu erleichtern, »es ist ein merkwürdiges Gefühl, so ausgeliefert dazusitzen … vielleicht ganz gut, das wieder mal am eigenen Leib zu erleben.« Dr. Hilpert hatte zuerst das linke Auge gespiegelt. »Netzhaut ziem lich dünn«, sagte er, »aber sonst keine krankhaften Veränderungen.« Es war seiner Stimme anzuhören, wie sehr er selber über diese Fest stellung erleichtert war. »Ausgezeichnet.« Professor Bergmeister sprach, als wenn es nicht um ihn selber ginge. »Bei meiner starken Kurzsichtigkeit war es ja zu er warten, daß die Netzhaut auf die Dauer fadenscheinig wird. Da der Bulbus länger gewachsen ist, wird sie ständig über Gebühr gedehnt.« 32
»Ein ganz bekanntes Symptom«, bestätigte Dr. Hilpert. »Ich werde mir also keinerlei körperliche Anstrengungen leisten können«, fuhr der Professor fort, »wenn ich nicht Gefahr laufen will, daß sie reißt.« Er lachte leicht auf. »Aber das wird mich keine Über windung kosten. Sportler bin ich nie gewesen.« Dr. Hilpert war zur Untersuchung des rechten Auges übergegangen. Er spiegelte lange und sorgfältig, ohne ein Wort zu sagen. »Nun, was ist?« fragte Professor Bergmeister ungeduldig. »Ja, leider«, sagte Dr. Hilpert zögernd, »hier sieht es schon schlech ter aus.« »Was heißt das? Wollen Sie sich nicht, bitte, genauer ausdrücken?« fuhr der Professor auf. »Entschuldigen Sie«, fügte er abschwächend hinzu, »aber Sie werden verstehen, daß ich doch ein bißchen nervös bin. Also, was ist?« Dr. Hilpert schaltete das Licht im Augenspiegel aus, legte das Gerät zur Seite. »Herr Professor …« »Keine Umschweife! Heraus mit der Wahrheit! Was haben Sie ent deckt?« Professor Bergmeister tastete nach seiner Brille, setzte sie wie der auf. »Eine zarte Blutung in der Netzhaut und … ein Degenerationsherd im Maculabereich.« Professor Bergmeister erhob sich so abrupt, als wenn er das enge Bei sammensein mit seinem Assistenten plötzlich nicht länger ertragen könnte. Auch Dr. Hilpert stand auf, sah, wie der Professor mit großen Schritten in dem halbdunklen Raum auf und ab ging. »Also ist es doch so, wie ich es mir gedacht hatte«, sagte Professor Bergmeister endlich, und seine Stimme klang wieder ganz gefaßt, »die Macula, die Stelle des schärfsten Sehens, ist angegriffen. Das be deutet … Erblindung. Früher oder später.« Er lachte ohne Fröhlich keit. »Immerhin habe ich die Genugtuung, ein guter Diagnostiker zu sein.« »Man kann versuchen, den Vorgang aufzuhalten«, gab Dr. Hilpert zu bedenken. »Mit Vitamin A? Mit Priscoltropfen? Mit Replaserol?« 33
»Ja.« »Es müßte ein Wunder geschehen, wenn das noch helfen sollte. Aber Sie haben natürlich recht. Ich werde es versuchen.« Professor Bergmei ster blieb dicht vor Dr. Hilpert stehen. »Ich danke Ihnen, daß Sie mir die Wahrheit gesagt haben, Kollege.« »Es tut mir unendlich leid, daß sie nicht günstiger ausgefallen ist.« »So? Tut es Ihnen wirklich leid? Oder sind Sie nicht auch der Ansicht, daß ich mir dieses Leiden selber zuzuschreiben habe?« Dr. Hilpert war ehrlich verblüfft. »Aber wie kommen Sie denn dar auf, Herr Professor?« »Na, waren Sie es denn nicht, der mich unentwegt vor meinen Selbst versuchen mit Lichtkoagulation gewarnt hat? Oder wollen Sie etwa be haupten, Sie sähen darin nicht die Ursache meiner Erblindung?« Dr. Hilpert fand nicht auf Anhieb eine Antwort. Dann, nach se kundenlangem Zögern, sagte er: »Ich halte es für möglich … sogar für wahrscheinlich, daß diese Selbstversuche sich schädigend auf Ihre Netzhaut ausgewirkt haben oder, genauer gesagt, daß sie den Degene rationsvorgang beschleunigt haben. Auf keinen Fall aber halte ich sie für die alleinige Ursache. Eine Disposition zu dieser Erkrankung war ganz gewiß vorhanden.« »Es wäre also theoretisch möglich, daß der Zustand meiner Augen auch ohne Lichtkoagulationen sich genauso entwickelt haben könn te?« »Darüber, Herr Professor, kann ich mir kein Urteil erlauben. Eines jedoch muß ich mit allem Nachdruck sagen, als Ihr Arzt, als Ihr Schü ler und als Ihr Mitarbeiter … Sie müssen diese Selbstversuche ab so fort einstellen.« »So? Muß ich das? Na, fürs erste, glaube ich, muß ich noch einen Co gnac trinken, um mich von dem Schrecken zu erholen …« Professor Bergmeister wandte sich ab und ging zur Tür. Als sie wieder in dem hellen Arbeitsraum standen, goß der Professor sich selber und seinem Assistenten im Stehen noch ein Glas ein. »Wir Ärzte sind meistens schlechte Patienten«, sagte er lächelnd, »und ich mache da keine Ausnahme. Sie mögen mit allem recht haben, 34
was Sie sagen, aber ich kann noch nicht aufhören. Ein einziger Versuch fehlt mir noch. Der wichtigste.« Er leerte sein Glas in einem Zug. »Ich will versuchen, auf einer ganz bestimmten, genau fixierten Stelle im Augenhintergrund einen Entzündungsherd anzulegen. Aber ich ver spreche Ihnen, mein intaktes Auge dazu zu benützen.« »Und wenn es leidet? Wenn es ebenfalls versagt? Herr Professor, sind Sie sich ganz im klaren, was das bedeuten würde?« »Ja. Es würde beweisen, daß Lichtkoagulation nicht oder doch nur in sehr begrenztem Maß anwendbar ist.« »Das auch. Aber das meine ich nicht. Solange wenigstens das eine Auge noch ausreichend funktionsfähig ist, können Sie als Augenchir urg arbeiten, wenigstens noch einige Jahre … vielleicht sogar länger. Wenn es aber ausfällt …« »… sind Sie immer noch da, der meine Arbeit fortsetzen kann. Und dann Michael. Es genügt, wenn ich so lange auf dem Posten bleibe, bis er mit seinem Studium fertig ist.« »Wenn Sie auch Ihr anderes Auge aufs Spiel setzen, bezweifle ich, daß Ihnen das gelingen wird. Herr Professor …« Professor Bergmeister hob die schmale, blasse Hand. »Nicht, bitte nicht! Gefühlsmäßige Einwände bekomme ich zu Hause genug zu hö ren. Ich hatte gehofft, Sie wären imstande, den Fall als Wissenschaft ler zu beurteilen.« »Ich bin in erster Linie Arzt und fühle mich deshalb verantwort lich …« Professor Bergmeister ließ seinen Assistenten nicht aussprechen. »Als Arzt müßten Sie begreifen können, welche ungeheure Bedeutung darin liegt, ob ich meine Versuchsreihe … und mit welchem Resultat ich sie abschließen kann … eine ungeheure Bedeutung für alle Augenkranken. Was hat ein Einzelschicksal wie das meine im Vergleich da mit für ein Gewicht?«
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Michael Bergmeister überhörte das erste, sachte Klopfen an der Tür seines Zimmers. Er hockte mit überkreuzten Beinen mitten auf dem Teppich, hatte sein Grammophon vor sich gestellt und lauschte mit voller Aufmerksamkeit einer kleinen, aber sehr effektvoll instrumen tierten Melodie. Erst als es das zweite Mal pochte, hob er den Kopf, legte mit einer ha stigen Bewegung den Tonarm ab, sagte: »Herein.« Es war seine Stiefmutter, die eintrat, und Michael erhob sich lang sam, ohne den Blick von ihr zu wenden. Sie war attraktiv wie immer, in einem sanft anliegenden grünen Jerseykleid, das die aufregende Far be ihrer schräg stehenden Augen noch unterstrich. Das seidige blonde Haar hatte sie sich in schimmernden Bahnen um den Kopf gelegt. »Tut mir leid, wenn ich dich störe«, sagte sie und stürmte in den klei nen Raum, »aber ich muß dich unbedingt sprechen …« Er wich unwillkürlich einen Schritt von ihr zurück. »Ja, bitte?« frag te er unsicher. »Setz dich doch!« befahl sie. »Los! Steh nicht so rum!« Sie setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches, schlug die schlanken, schön ge formten Beine übereinander. Er zog sich einen Stuhl heran, schwang sich rittlings darauf, sah sie, Arme und Kinn auf die Lehne gestützt, unverwandt an. »Warum fragst du denn nichts?« sagte sie nervös. »Interessiert es dich gar nicht, was ich von dir will?« »Doch. Sehr sogar«, sagte er mit einem Lächeln, das ihn plötzlich sei nem Vater sehr ähnlich machte. »Aber ich nehme an, du wirst es mir schon sagen.« »Ekel!« Vera blähte die Flügel ihrer kleinen, sehr geraden Nase. »Wa rum bist du eigentlich in letzter Zeit so … so sonderbar zu mir? Ich habe dir doch nie etwas getan!« »Ist es das, was du wissen möchtest?« entgegnete er ruhig. »Ach was. So interessant, wie du dir einbildest, bist du gar nicht.« »Danke.« »Wahrscheinlich sind es bei dir … verspätete Pupertätsjahre.« Er zuckte mit keiner Wimper. »Auch eine Erklärung«, sagte er nur. 36
»Entschuldige. Ich wollte dich nicht kränken. Manchmal sage ich Sa chen, die ich nicht einmal denke. Blöd, nicht wahr? Geht es dir nie so?« Er zog es vor, diese Frage nicht zu beantworten. »Was willst du also?« fragte er beherrscht. »Mit dir über deinen Vater sprechen!« »Ach!« Er hob die dunklen, ausdrucksvollen Augenbrauen. »Was scheint dir daran so absurd?« fragte sie hitzig. »Nun, wenn ich ehrlich sein soll … ich finde es geradezu anma ßend.« »Anmaßend! Aber ich bin seine Frau, und du bist sein Sohn, wir ha ben durchaus das Recht …« »… uns in Vaters ureigenste Angelegenheiten zu mischen?« »Aber du weißt ja noch gar nicht, wovon ich rede! Dein Vater ist auf dem besten Wege, sich zu ruinieren. Wahrscheinlich ist es dir noch nicht aufgefallen … das würde mich gar nicht wundern, du kümmerst dich ja schon seit langem um nichts mehr, was in diesem Haus vor sich geht … aber tatsächlich werden seine Augen von Woche zu Woche schlechter. Er versucht es natürlich vor mir zu verbergen … nicht nur vor mir, sondern vor aller Welt … aber wie lange wird ihm das gelin gen? Ich habe ihn längst durchschaut, aber das wäre ja noch nicht das Schlimmste. Sobald seine Patienten merken, was mit ihm los ist, ist er erledigt.« »Du kennst Vater schlecht«, sagte Michael ruhig, »wenn er nicht mehr imstande ist, zu operieren, wird er es von selber aufgeben. Er hat in seinem ganzen Leben noch niemals verantwortungslos gehandelt.« »Aber das macht doch keinen Unterschied!« Vera schrie es fast her aus. »Ob er freiwillig abgeht oder ob man ihn zwingt … das Resultat bleibt doch dasselbe! Er ist erledigt.« »Du übertreibst. Seine Professur wird man ihm deshalb nicht neh men … und ich kann dir versichern, daß er auf der Uni allgemein sehr geschätzt wird.« »Was nützt das schon«, sagte sie bitter, »was glaubst du, wie weit wir mit einem Professorengehalt reichen würden?« 37
»Du müsstest dich einschränken«, sagte er mit leisem Spott, »ich weiß, daß wäre natürlich scheußlich für dich …« »Einschränken! Wenn das alles wäre!« sagte sie wild. »Kannst du dir wirklich nicht vorstellen, was es für uns alle … was es für ihn selber bedeuten würde, wenn er nicht mehr sehen kann?« Zum ersten Mal senkte Michael den Blick. »Doch. Natürlich. Du hast recht«, sagte er, »das wäre natürlich entsetzlich.« »Endlich!« Vera rutschte vom Schreibtisch, zog sich ihren Rock an den Hüften herunter. »Du bist also wie ich der Meinung, daß das nicht geschehen darf. Sprich also mit ihm darüber, mach ihm klar …« »Worüber soll ich mit ihm sprechen?« fragte er verständnislos. »Das er endlich seine verdammten Selbstversuche aufgibt. Du weißt doch, um was es sich handelt … diese Lichtkoagulation oder wie das heißt. Das ist es, was seine Augen ruiniert. Du mußt ihn dahin brin gen, daß er es aufgibt.« Michael schwang sich von seinem Stuhl, begann, die Hände in den Taschen seiner ausgebeulten Cordhose, im Zimmer auf und ab zu ge hen. Dabei stieß er mit einem ungeduldigen Fußtritt das Grammo phon, das ihm im Wege stand, zur Seite. »Das kann ich nicht«, sagte er und fuhr sich mit der flachen Hand über das kurz gestutzte Haar, »beim besten Willen, Vera … das ist unmöglich.« Sie vertrat ihm den Weg. »Und warum, wenn ich fragen darf?« »Vera, sieh mal … du weißt doch, wie Vater mich immer behandelt hat. Seit Mutter tot ist, hat er mir jede Freiheit gelassen. Er war immer der Ansicht, daß jeder Mensch seine eigenen Dummheiten machen, sich selber seinen Weg durchs Leben suchen müßte … aber warum er zähle ich dir das alles! Du hast es ja selber miterlebt.« »Und? Ich begreife nicht, was du gerade jetzt damit willst.« »Hör auf, dich dümmer zu machen, als du bist. Die Schlussfolgerung liegt doch auf der Hand. Ein Vater, der seinem Sohn die Freiheit läßt, für sich selber zu entscheiden … der kann doch zumindest dasselbe Recht von seinem Sohn erwarten?« »Du willst mir also nicht helfen?« Er wich dieser Frage aus. »Zum Beispiel meine Musik«, sagte er. »Als 38
ich zehn war, wollte ich unbedingt Klavier spielen lernen. Ich kriegte mein Klavier und meinen Unterricht. Mit fünfzehn hing es mir zum Hals raus, und Vater erlöste mich von der Plage. Mit siebzehn gier te ich nach einem Saxophon. Ich bekam es. Vater hat mir immer eine Menge gute Lehren gegeben, um die ich mich in den seltensten Fällen gekümmert habe. Auch mit meinem Eintritt in die Studentenjazzband war er einverstanden …« »Aber Michael, ich bitte dich«, unterbrach sie ihn ungeduldig, »was soll das? Das sind doch alles Belanglosigkeiten. Vater …« Diesmal war er es, der ihr ins Wort fiel. »Du findest meine Musik also völlig belanglos?« »Aber nein, Michael, so habe ich das nicht gemeint.« »Doch. Du hast es genauso gemeint, wie du es eben gesagt hast. Wahrscheinlich wird es dich wahnsinnig wundern zu erfahren, daß es andere Menschen gibt, Fachleute, die ganz anderer Ansicht sind.« »Wer?« »Nun, Herr Winterstein, Produktionsleiter einer bekannten Platten firma, zum Beispiel.« »Na ja«, sagte sie und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, »sol che Leute loben gern, solange es sie nichts kostet.« »Aber es hat ihn was gekostet. Er hat eine Platte von mir machen las sen. Was sagst du jetzt?« Sie war ehrlich beeindruckt. »Tatsächlich?« »Da staunst du, was?« Er lachte jungenhaft. »Willst du sie hören?« »Du machst Witze.« »Nein. Gar nicht. Ich hatte sie gerade aufgelegt, als du kamst.« Er hockte sich zu Boden, beugte sich über das Grammophon, hob den Tonarm, fragte, während die Platte schon zu kreisen begann: »Soll ich?« »Natürlich.« Er setzte den Arm behutsam auf, und sofort ertönte eine sehr rhyth misch temperamentvolle Musik. »Was ist das?« fragte Vera. »Twist?« »Ach wo. Madison. Paß nur auf … gleich komme ich!« 39
Fast im gleichen Augenblick ertönte Michael Bergmeisters Stimme aus dem Apparat, fremd und doch sehr bekannt, eine sehr musikali sche, aber ungekünstelte, eher harte Stimme. Vera lauschte. Der Text war banal. Ein Loblieb auf den Modetanz Madison in der Skihütte, im Strandhotel und bei der Hochzeitsfeier. Dennoch fühlte Vera sich zu ihrer eigenen Verwunderung seltsam be rührt. Es war ihr, als wenn sie sich an etwas erinnern müßte, etwas sehr Schönes, das sie längst vergessen hatte. Ganz unerwartet wurde die zweite Strophe von einer warmen Mäd chenstimme gesungen. Mit einem Schlag war Vera ernüchtert. »Wer ist das?« fragte sie. Mit einem Misston brach die Melodie ab. Michael hatte den Apparat abgestellt. Er erhob sich, sagte fast feind lich: »Eine Kommilitonin. Monika Ebers.« »Und sie singt auch?« Er zuckte die Achseln. »Hört sich fast so an.« »Muß ich mir deine Frechheiten eigentlich dauernd gefallen lassen?« rief sie zornig. Er grinste freudlos. »Wird dir wohl nichts anderes übrig bleiben. Schließlich hast du dich freiwillig entschlossen, mein Stiefmütterchen zu werden.« Sie drehte sich abrupt um, ging zur Tür. Aber sie verließ das Zimmer noch nicht, blieb auf der Schwelle ste hen und fragte über die Schulter zurück: »Ich erwarte also, daß du mit deinem Vater sprichst.« »Herrgott!« Er griff sich an die Stirn. »Und ich dachte, ich hätte dir unmissverständlich klargemacht, daß ich das weder will noch kann. Begreifst du denn nicht, daß Vater durchaus imstande ist, selber über sein Tun und Lassen zu entscheiden?« Wortlos verließ sie das Zimmer, schlug die Tür mit einem harten Knall hinter sich zu. Michael warf sich der Länge nach auf seine Couch, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte zur Decke. Er preßte die Lippen zusammen. Seine Augen waren dunkel vor Qual. 40
Von Beginn ihrer Ehe an hatten Professor Bergmeister und seine jun ge Frau getrennte Schlafzimmer benutzt. Vera schlief morgens gern aus, frühstückte im Bett und legte großen Wert darauf, auch vor ihrem Gatten nie anders als gepflegt und zurechtgemacht zu erscheinen. Anfangs hatte Professor Bergmeister das bedauert, inzwischen aber hatte er sich längst damit abgefunden, ja, er empfand es angenehm, wenigstens ein Zimmer in seinem Haus zu haben, in dem er sich ganz ungestört bewegen konnte. Er schlief seit Jahren schlecht, und es wäre ihm peinlich gewesen, Vera durch seine Unruhe zu stören. Manchmal stand er morgens schon um sechs oder sogar um fünf Uhr auf, ging in seine Bibliothek hinunter, um an seinen Vorlesungen zu arbeiten oder sich auf bevorstehende Operationen vorzubereiten. Auch seine Selbstversuche, die er vergebens geheim zu halten ver sucht hatte, führte er in den frühen Morgenstunden aus. Er traf dann meist schon in der Augenklinik ein, wenn noch der Nachtportier Dienst hatte, eilte durch die spärlich beleuchteten Gänge, an übermüdeten, ehrfurchtsvoll grüßenden Krankenschwestern vor über, mußte oft eine der Putzfrauen aus seinem Untersuchungszim mer scheuchen. Das Gerät zur Lichtkoagulation war in einem eigenen kleinen Raum, einer ehemaligen Dunkelkammer aufgestellt, die er immer streng ver schlossen hielt. Er hatte es in Zusammenarbeit mit dem technischen Leiter einer Firma für optische Geräte selber entwickelt, immer neue Verbesserungen daran einbauen lassen. Auf einen Laien würde es mit seiner starken Lampe, seinen verschie denen, sehr kompliziert angeordneten Linsen und seiner seltsamen Kopfstütze, die fast an ein mittelalterliches Folterinstrument erinner te, einigermaßen erschreckend gewirkt haben. Aber Professor Berg meister betrachtete es liebevoll. Es war seine Erfindung, sein Kind, ein Gerät, das zum Segen der Menschheit dienen sollte. Auch an jenem Morgen, als er es zu seinem endgültig letzten Selbst versuch einstellte, erfüllte ihn die Berührung mit Schräubchen, Schrau ben und Hebeln mit einem seltsamen Hochgefühl. Es war nicht einfach, das Gerät so einzustellen, daß gebündeltes Licht 41
gerade jene Stelle im Hintergrund seines linken Auges traf, auf die es ihm ankam. Es wäre sehr viel leichter für ihn gewesen, wenn er wenig stens diese Arbeit einem Assistenten überlassen hätte. Aber er hatte von Anfang an darauf verzichtet – nicht aus Eitelkeit, um den möglichen Erfolg ganz allein für sich buchen zu können, son dern weil er Dr. Hilpert nicht eine Verantwortung aufbürden wollte, die er unmöglich tragen konnte. So hatte er den Ausweg gefunden, eine ganz besondere Art von Kopfstütze konstruieren zu lassen. Sie sah aus wie eine metallene Halbmaske, die in Augenhöhe ova le Löcher hatte. In das linke dieser Löcher legte Professor Bergmeister jetzt eine augapfelgroße, lichtdurchlässige Kunststoffkugel, die ihm als Modell zur Einstellung diente. Es dauerte eine ganze Weile, bis es ihm gelungen war, die Lichtstrah len so zu dirigieren, daß sie sich in einem nadelspitzen feinen Punkt, an einer genau fixierten Stelle, im Hintergrund des Auges trafen. Als er endlich soweit war, hämmerte sein Herz – vor Aufregung, vor Beklemmung, vor Stolz. Der kleine Raum hatte keine Fenster, die Luft war zum Ersticken. Er nahm die Kugel aus der Maskenhöhle, schaltete das optische Ge rät aus, setzte sich auf den Stuhl hinter der Kopfstütze, legte sein Kinn ein. Seine Augen waren jetzt genau in Höhe der Löcher. Er betätigte einen Schalter, den er an einem Verlängerungskabel in der Hand hielt. Die Lampe leuchtete auf. Das Strahlenbündel traf sein linkes Auge. Unwillkürlich kniff er geblendet die Lider zusammen. Dann zwang er sich, sie wieder aufzureißen. Er sah starr auf einen Punkt, den er an dem optischen Gerät mit weißer Kreide gekennzeichnet hatte, hielt das Auge weit geöffnet, damit das Licht durch die Pupille in den Augen hintergrund eindringen konnte. Qualvolle Sekunden verstrichen. Ein nie gekannter, eisenharter Druck begann sich um seine Brust zu legen. Die peinigende, überdeut liche Vorstellung ergriff von ihm Besitz, daß er dabei war, sein eigenes Augenlicht von diesen unbarmherzigen Strahlen zerstören zu lassen. Bisher, wenn seine Frau oder sein Assistent ihn gewarnt hatten, hatte 42
er es mit einem Lächeln abtun können. Er hatte sich dabei überlegen, fast heldenhaft gefühlt. Jetzt, urplötzlich, Auge in Auge mit der Gefahr, begriff er, daß das, was ihn bedrohte, ihm bisher nie deutlich, nie vorstellbar gewesen war. Erblindung – das war ein Schicksal, das jeden anderen, aber nicht ihn selber treffen konnte. Aber er hatte sich belogen. Die Gefahr war da. Sie war greifbar, fühl bar, unmittelbar bevorstehend. Er war ihr ausgeliefert, hing als sein ei genes Opfer hilflos in der selbst konstruierten Klammer, während das grausame kalte Licht sich in seinen Augapfel hineinfraß. »Nein!« Professor Bergmeister wußte später nicht, ob er wirklich geschrien hatte oder ob dieser qualvolle Laut schon in seiner Kehle erstickt war. Er wollte das Licht ausschalten, seine Finger gehorchten ihm nicht mehr, mit einer gewaltigen Anstrengung riß er das Kabel heraus. Das Licht erlosch. Dunkelheit umfing ihn, erlösende Dunkelheit. Er seufzte erleichtert auf, preßte die Handballen vor die schmerzen den Augen. Dann, voll Entsetzen, ließ er die Hände sinken, versuchte, mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Vergeblich. Pechschwarze Nacht umgab ihn. Sein Verstand arbeitete fieberhaft. Wie war das möglich? Er erinner te sich doch genau. Als er die Lampe einschaltete, hatte doch die übli che gedämpfte Beleuchtung in der kleinen Kammer geherrscht, sonst hätte er doch gar nicht die nötigen Vorbereitungen treffen können. Wie kam es dann – Er war unfähig, den Gedanken bis zum Ende zu verfolgen. Eine ent setzliche Gewissheit überfiel ihn – er war erblindet!
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ch schäme mich«, bekannte Professor Bergmeister. Er saß an seinem Schreibtisch Dr. Hilpert gegenüber, den Kopf schwer in die Hand gestützt. Es hatte sich herausgestellt, daß die Finsternis, die ihn so erschreckt hatte, nicht auf ein Versagen seiner Augen zurückzuführen gewesen war, sondern auf einen technischen Unfall. Als er die elektrische Lei tung aus dem Lichtkoagulationsgerät gerissen hatte, war ein Kurz schluss entstanden, der die Lichter im ganzen Stockwerk zum Erlö schen gebracht hatte. Jetzt nahm er die Hand von den Augen und sah Dr. Hilpert an. »Ich schäme mich nicht vor Ihnen, Norman … nicht aus Eitelkeit. Ich schä me mich vor mir selber. Ich komme mir vor wie ein General, der seine Leute ohne mit der Wimper zu zucken in den Heldentod gejagt hat … und dann im Augenblick der wirklichen Gefahr blitzartig erkennen muß, daß er selber ein Feigling ist.« »Entschuldigen Sie, Herr Professor, aber …« Professor Bergmeister winkte müde ab. »Nein, nein, Kollege, versu chen Sie nicht, mit mir über etwas zu diskutieren, was nur ich allein er lebt habe. Ich weiß jetzt, was es heißt, blind zu sein. Und ich weiß auch, was ich von meiner eigenen Tapferkeit zu halten habe.« Dr. Hilpert öffnete den Mund, um etwas zu sagen, begriff dann aber, daß jedes seiner gut gemeinten Worte in dieser Situation hohl klingen mußte, und schwieg. »Sie wundern sich, daß ich … ausgerechnet ich, der sich sein halbes Leben mit Augenleidenden und Blinden befasst hat«, fuhr der Professor fort, »das Phänomen der Blindheit bis heute noch nicht richtig erfasst hatte. Aber es ist so. Früher, wenn ein Patient zu mir kam, von dem ich 44
wußte, daß sein Augenlicht nicht mehr zu retten war, dann sagte ich mir: Nun gut, er wird nicht mehr sehen können. Schlimm genug, aber immerhin noch erträglich, solange man hören, sprechen, fühlen, ge hen, greifen kann.« Professor Bergmeister schob seinen Schreibtisch sessel zurück und erhob sich heftig. »Aber so ist es gar nicht, Hilpert … es ist anders, ganz anders. Blind sein bedeutet … ach, wenn ich nur die Worte fände, Ihnen das klar zu machen. Ausgeliefertsein, ja, das ist es … in einen leeren Raum gestellt sein, ganz allein, in eine Finsternis, so unermesslich wie das Weltall.« Dr. Hilpert räusperte sich, um zu prüfen, ob seine Stimme ihm ge horchte. »Glauben Sie nicht, Herr Professor«, fragte er, »daß dieses Ge fühl möglicherweise nur im ersten Schockmoment so stark ist? Daß man bald lernt, sich auch ohne Augenlicht zurechtzufinden? Daß man sich an den Zustand der Blindheit gewöhnt?« »Gewöhnt? Ja. Vielleicht. Aber ich will mich nicht daran gewöhnen müssen … ich will nicht blind werden, Hilpert, ich will es nicht!« »Sie sind also bereit, Ihre Selbstversuche …« »Sind beendet, Kollege … das heißt, wenn dieser letzte geklappt hat.« »Und wenn nicht?« Professor Bergmeister schwieg. »Das ist eine Frage, die ich nicht heu te und nicht jetzt beantworten möchte.« Er lächelte schwach. »Sie wer den verstehen, daß ich mich augenblicklich nicht imstande fühle, sach liche Entscheidungen zu treffen.« »Durchaus. Es steht mir auch keineswegs zu …« »Sie haben nicht nötig, sich zu entschuldigen, Norman. Ich weiß, daß Ihre Sorge ganz ehrlich ist. Würden Sie mich noch einmal untersu chen? Nur mein rechtes Auge. Das linke dürfte im Augenblick nicht ganz …« »Selbstverständlich, Herr Professor.« »Das ist gut. Das ist ausgezeichnet. Wissen Sie, Kollege, es würde mich interessieren, wie die konservative Behandlung mit Priscol und so weiter bisher gewirkt hat … ob sie überhaupt gewirkt hat, meine ich.« 45
Dr. Hilpert folgte dem Professor in den Dunkelraum für optische Geräte. »Wann hatten wir begonnen? Vor etwa acht Tagen, nicht wahr? Dann dürfte es doch wohl noch zu zeitig sein, mit durchschlagenden Erfolgen zu rechnen.« Der Professor und sein Assistent setzten sich. Dr. Hilpert nahm das Ophthalmoskop zur Hand, knipste das Licht ein und begann mit der Spiegelung des linken Auges. Es war so still in dem dunklen Raum, daß man die nervösen Atemzüge der beiden Männer hören konnte. »Wie ich es mir gedacht hatte«, sagte Dr. Hilpert schließlich, »unver ändert.« »Kein Rückgang der Netzhautblutungen?« »Nein«, sagte Dr. Hilpert zögernd. »Also Verschlechterung?« Die Stimme Professor Bergmeisters klang völlig gefaßt. »Nein, auch das nicht. Jedenfalls kann ich das nicht mit Sicherheit behaupten. Selbst wenn eine Verschlechterung eingetreten sein sollte, ist sie so minimal, daß sie nicht festzustellen ist.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Vielleicht sollte man mit der Funduskamera eine Aufnahme machen?« »Eine Aufnahme? Was soll das für einen Sinn haben? Haben Sie eine Ahnung, welche Unzahl von Aufnahmen ich während meiner Selbst versuchsreihe gemacht habe? Ich mußte es ja, wenn meine Experimen te einen Sinn haben sollten!« Dr. Hilpert sah den Professor eine Sekunde verblüfft an, dann schlug er sich mit der Hand vor die Stirn. »Natürlich. Aber das liegt doch auf der Hand … daß ich daran nicht gedacht habe.« Er holte tief Atem. »Aber … dann haben Sie es ja gewußt? Noch bevor ich Sie das erste mal untersucht habe?« »Ich wollte es nicht wahrhaben. Vielleicht auch hatte ich mich zu sehr daran gewöhnt, diese Augenaufnahmen als etwas Unpersönliches zu betrachten, etwas, das mit mir selber gar nichts zu tun hatte … so zusagen nur von wissenschaftlichem Interesse war und keine Wirk lichkeit besaß.« »Ich verstehe.« 46
Professor Bergmeister stand auf. »Aber es gibt Wahrheiten, vor de nen man sich nicht verstecken kann. Ich habe Ihnen schon einmal ge sagt … es hilft nichts, mit Wenn und Aber in der Vergangenheit her umzustochern, wir haben es mit Tatsachen zu tun. Da die konserva tive Therapie nicht anzuschlagen scheint … ich habe Sie sehr gut ver standen, Kollege, Sie konnten mir nicht einmal mit Sicherheit sagen, daß die krankhafte Entwicklung zum Stehen gebracht worden ist … möchte ich es mal mit einer Kochsalzlösung versuchen. Subconjuncti val. Was halten Sie davon?« »Nun, da uns bisher noch keine durchschlagende Therapie gegen die se Art von Degenerationserscheinungen bekannt ist …« »Sehr richtig … können wir es mit so ziemlich jedem Mittel versu chen, wollten Sie sagen. Darf ich Sie also bitten, mir die Spritze zu ge ben? Ich könnte es natürlich auch selber, aber …« »Selbstverständlich werde ich es tun.« Dr. Hilpert öffnete die Milch glastür zum hellen Untersuchungsraum. »Darf ich nur eben aus mei nem Zimmer …« »Aber warum denn?« Professor Bergmeister griff in seine Hosenta sche, zog einen Schlüsselbund heraus, reichte ihn Dr. Hilpert. »Der hier ist es.« Dr. Hilpert öffnete den Medikamentenschrank, holte eine Ampulle mit Novocain heraus, sägte die gläserne Spitze ab, füllte den Inhalt in den Injektionsbehälter der sterilisierten Spritze. »Machen Sie's sich bitte bequem, Herr Professor … am liebsten wäre es mir, sie legten sich richtig lang. Schön entspannen … ja, so ist's gut.« Dr. Hilpert hatte die Spritze aufgezogen, drückte den Kolben nieder, um ein Luftbläschen hinauszujagen, trat auf die Untersuchungsliege zu, beugte sich über den Professor. Professor Bergmeister preßte die Lippen zusammen, während Dr. Hilpert nahe dem linken Auge – einmal seitwärts vorn und einmal hinten – zustieß und die betäubende Flüssigkeit aus der Nadel fließen ließ. Dr. Hilpert ging zum Medikamentenschrank zurück und bereitete eine sorgfältig ausgewogene Lösung aus Natriumchlorid und destil 47
liertem Wasser. Als er damit fertig war und die Spritze wieder aufge zogen hatte, überzeugte er sich, daß das Auge des Professors nahezu empfindungslos geworden war. »Bitte, weit öffnen!« sagte er und stach die spitze Nadel unter die Bin dehaut. Professor Bergmeisters Hände verkrampften sich. »Ich weiß, daß es gleich vorüber ist«, sagte er gepresst, »ich weiß es, Hilpert … aber den noch! Es brennt schauderhaft!«
Um neun Uhr, als die Visite begann, war Professor Bergmeister nichts mehr von dem überstandenen Schrecknis anzumerken. Er wirkte ru hig und ausgeglichen wie immer. Nur Gabriele Zerling, die eine sehr gute Beobachterin war, merkte, daß er blasser war als sonst. Leise frag te sie Dr. Hilpert, während sie im Ärztestab hinter dem Professor über die langen Gänge schritten: »Norman … was ist mit Professor Berg meister los?« Er antwortete, ohne sie anzusehen: »Nichts. Halt den Mund.« Eine Sekunde lang fühlte sie sich durch seinen Ton verletzt, sie hatte eine scharfe Antwort schon auf der Zunge. Aber als sie den Kopf hob und sein Profil sah, daß auf seltsame Weise ernst und fast tragisch ge spannt wirkte, siegte ihre Vernunft. »Entschuldige, bitte«, flüsterte sie. Er sah sie an, ganz überrascht von ihrer unerwarteten Zahmheit. »Braves Mädchen«, murmelte er. Sie ärgerte sich, daß sie bei diesem rauen Lob über und über erröte te. Sie waren vor der Tür von Gunhild Wigand angekommen. »Herr Professor«, sagte Oberschwester Hilde, »die Patientin erwar tet, daß sie heute ihren ersten Sehversuch machen darf.« Dr. Hilpert trat vor. »Ja, Herr Professor. Ich habe gestern die Fäden gezogen.« »Und?« »Äußerlich scheint alles in Ordnung.« 48
Professor Bergmeister zögerte, die Klinke schon in der Hand. »Na, dann wollen wir mal«, sagte er mit Überwindung und öffnete die Tür. Hinter ihm rauschte der Stab der Ärzte, Schwestern und Hospitan ten in das kleine Zimmer und umringte das Bett der Patientin. Gunhild Wigand richtete sich aus den Kissen auf und stellte das Ta schenradio ab, das auf ihrem Nachttisch stand. Sie wirkte sehr hübsch und gepflegt in einem hellblauen, mit Rüschen besetzten Nachthemd. Ihr kurz geschnittenes Haar war kunstvoll zurechtgebürstet, der Mund zart geschminkt. Nur die Mullbinde, die sie um das linke Auge trug, störte den erfreulichen Anblick. »Schönen guten Morgen, Fräulein Wigand«, sagte Professor Berg meister und reichte dem Mädchen seine schmale, kühle Hand, »Sie brauche ich wohl nicht zu fragen, wie es Ihnen geht … Sie sehen glän zend aus.« »Das kann ich mir eigentlich gar nicht vorstellen«, erwiderte Gun hild mit einem zitternden kleinen Lächeln, »ich fühle mich jedenfalls schauderhaft.« »Schlecht geschlafen?« »Überhaupt nicht.« »Die Patientin hat gestern abend zwei Schlafpulver bekommen«, be richtete die Oberschwester, die auf ihrer Medikamentenliste nachge schaut hatte. »Ich habe trotzdem nicht geschlafen«, behauptete Gunhild Wigand trotzig. »Sie wissen sehr gut, Fräulein Wigand, daß Sie nur zu klingeln brau chen, wenn Sie …« Professor Bergmeister brachte die Oberschwester, eine allzu energi sche, aber sehr tüchtige und deshalb fast unersetzliche Frau, mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Es gibt Situationen«, sagte er und nahm zart das Handgelenk der Patientin, um ihren Puls zu fühlen, »wo selbst die stärksten Medika mente nicht mehr nutzen. Gegen Seelenpein gibt es keine Medizin.« Gunhild Wigands gesundes Auge wurde feucht. »Daß Sie das verste hen, Herr Professor!« 49
»Man braucht nicht besonders klug zu sein, um zu begreifen, wieviel Angst Sie vor dem Moment haben, der jetzt vor Ihnen liegt. Wenn Sie wollen …« »O nein!« rief Gunhild impulsiv. »Nur nicht noch einmal verschie ben!« Professor Bergmeister lächelte. »Das war es nicht, was ich vorschla gen wollte, mein liebes Mädchen. Etwas ganz anderes.« Er wandte sich zu seinem Stab um. »Wenn Sie die Bande stört, werfe ich sie hin aus.« Gunhild zögerte, sagte dann: »Nicht meinetwegen, Herr Professor … wenn es so üblich ist …« »Allerdings.« Professor Bergmeister zog sich einen Stuhl an den Bettrand. »Schwester Gerda, bitte schütteln Sie der Patientin mal die Kissen auf, daß sie ganz ohne Mühe aufrecht sitzen kann … und Sie, Oberschwester, entfernen bitte den Verband …« Zu Gunhild Wigand gewandt, sagte er: »Schließen Sie bitte beide Augen … ja, beide, bis ich Sie auffordern werde, sie zu öffnen. Und seien Sie nicht erschrocken, wenn Sie mit dem operierten vielleicht vorerst nur schattenhaft sehen. Das würde gar nichts besagen.« Schwester Gerda ging zum Fenster, zog die goldgelben Vorhänge zu. Im Krankenzimmer herrschte jetzt ein sanftes Dämmerlicht. Die Oberschwester hatte begonnen, den Mullverband umständlich vom Kopf der Patientin abzuwickeln. Gunhild Wigand vergrub ihre Zähne in die Unterlippe. Es war ihr anzusehen, wie sehr sie unter der Spannung litt. »Schere!« sagte Dr. Hilpert scharf. Die Oberschwester sah ihn kurz an, als wenn sie widersprechen woll te, dann aber fügte sie sich, nahm die große Schere, die Schwester Ger da ihr reichte, und durchschnitt mit einer einzigen Handbewegung sämtliche Schichten des Verbandes. Sie nahm den Gazetupfer ab, der das Auge verschlossen gehalten hatte. »Eine Sekunde!« Professor Bergmeister legte beruhigend seine Hand auf ihre zuckenden Finger. »Haben Sie einen Unterschied gemerkt, als der Verband abgenommen worden ist!?« 50
»Ja. Es ist heller geworden. Oder ich bilde es mir auch nur ein.« Professor Bergmeister wechselte mit seinem Assistenten, der hinter ihm stand, einen raschen Blick. »Jetzt, bitte öffnen Sie beide Augen … langsam und ganz gleichmä ßig«, bat Dr. Hilpert. Die Patientin folgte dem Befehl. Aber sie hatte die Augen kaum halb geöffnet, als sie schon voll Ent setzen die Lider wieder senkte. »Ich schiele!« sagte sie verzweifelt. »Ich kann gar nichts mehr richtig sehen … ich schiele schrecklich.« Professor Bergmeister lachte. »Ein gutes Zeichen, mein liebes Mäd chen … ein sehr gutes Zeichen. Es beweist nämlich, daß Sie auch mit Ihrem operierten Auge wieder sehen. Sie waren es über eine Woche ge wohnt, nur mit einem Auge zu schauen. Jetzt müssen Sie erst wieder lernen, die Bilder beider Augen miteinander zu koordinieren.« »Versuchen Sie es ruhig noch einmal«, sagte Dr. Hilpert. Wieder öffnete die Patientin beide Augen, hielt sie offen, sah im Zim mer herum. Es war deutlich, daß die beiden Augäpfel sich nicht in der gleichen Richtung bewegten. »Ich schiele«, wiederholte Gunhild tonlos, »ich …« Aber dann stock te sie mitten im Satz, ihr junges Gesicht strahlte auf. »Es geht wieder!« rief sie jubelnd. »Ich kann richtig sehen!« »Na, wunderbar!« sagte Professor Bergmeister. »Dann hat es also ge klappt!« »Einen Spiegel«, bat Gunhild und wandte sich an Schwester Gerda, »könnte ich wohl …« Schwester Gerda reichte ihr den Handspiegel vom Nachttisch. Gunhild Wigand betrachtete sich ganz verblüfft. »Aber, das ist ja …« Sie ließ den Spiegel sinken und sah von Professor Bergmeister zu Dr. Hilpert. »Es ist ja gar nichts zu sehen! Bin ich denn wirklich operiert worden?« Professor Bergmeister war aufgestanden. Er nickte ihr lächelnd zu. »Es ist nicht zu fassen«, sagte Gunhild, »ich werd' verrückt!« Als der Professor die Tür schon fast erreicht hatte, fügte sie mit einer plötzlichen Eingebung hinzu: »Ich glaube, ich war in meinem ganzen 51
Leben noch nie so glücklich – vielleicht weil ich früher alles zu selbst verständlich genommen habe!« »Das sind die Momente«, sagte Professor Bergmeister draußen auf dem Gang zu Dr. Hilpert, »wegen denen wir unseren Beruf so lieben, nicht wahr? Das Augenlicht wieder schenken dürfen … manchmal grenzt es fast ans Wunderbare!«
Der junge Michael Bergmeister kam in einer Gruppe von Kommilito nen vom Seziersaal heraus, als er Monika Ebers sah. Sie rannte auf ihn zu. Die roten Locken flatterten um ihren kleinen Kopf, ihre zarte Haut war vor Erregung gerötet. »Mike«, rief sie schon von weitem, »endlich! Ich habe dich den gan zen Morgen gesucht! Wo hast du denn gesteckt!?« Michaels Freunde lachten, und auch er lächelte amüsiert. »Bei den Leichen«, sagte er, »schade, daß du nicht heruntergekom men bist. Wir hatten heute eine ganz besonders hübsche dabei, leider schon ein bißchen angegammelt, aber sonst …« »Hör auf damit!« sagte sie und stampfte mit ihrem Fuß auf den Bo den. »Sei nicht widerlich!« »Widerlich? Aber wieso denn? Ich erzähle nur ganz sachlich …« »Deine Erzählungen aus dem Seziersaal interessieren mich nicht, das solltest du langsam wissen. Schließlich bin ich Philologin und keine von euren abgebrühten Medizinerinnen!« Ihre Augen, die von einem unwahrscheinlich tiefen, fast violetten Blau waren, funkelten ihn an. »Schade«, sagte er, »aber dann kann ich ja gehen.« Er blickte auf seine sportliche Armbanduhr. »In zehn Minuten habe ich Physiologie …« »Mußt du mich eigentlich immer ärgern? Du weißt doch ganz genau, daß ich dich sprechen möchte!« »Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Michael Bergmeister wandte sich an seine Kommilitonen, die die kleine Szene mit sichtli cher Anteilnahme genossen hatten. »Geht schon voraus, ihr seht, ich habe noch zu tun.« 52
Die anderen trennten sich nur ungern. »Daß du bei deinem Anlauf überhaupt noch zum Studium kommst«, sagte einer halb spöttisch, halb neiderfüllt. »Er teilt sich's eben ein«, erklärte ein anderer. Aber dann schoben sie endlich doch ab. Michael Bergmeister nahm Monika beim Arm und zog sie in eine der breiten Nischen. »Also, was gibt's, Kätzchen?« fragte er. »Was sagst du zu dem Vertrag?« platzte sie heraus. Er hob erstaunt die Augenbrauen. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.« »Aber … der Vertrag! Ach tu doch nicht so! Du mußt ihn doch be kommen haben!« Sie zerrte aufgeregt an dem Reißverschluss ihrer fla chen Kollegtasche. »Vielleicht könntest du dich ein bißchen genauer ausdrücken«, sag te er und blickte, die Hände in den Hosentaschen, belustigt auf sie hin unter. »Er ist mit der Post gekommen. Mit einem Brief von der Grammo la. Winterstein schreibt …« Endlich löste sich der verklemmte Reiß verschluss, sie öffnete ihn mit einem Ruck, nahm einen Umschlag her aus, klemmte die Kollegtasche zwischen die Beine, zog den Briefbo gen aus dem Umschlag. »Der Verkauf unserer Platte wäre … ließe sich so erstaunlich gut an … erstaunlich gut, schreibt er … daß er sich ent schlossen hätte, uns unter Vertrag zu nehmen. Wir sollen, um Bühnen sicherheit zu gewinnen, erst mal eine Tournee durch ganz Deutschland mitmachen.« Sie reichte Michael Bergmeister den Brief, lächelte strah lend zu ihm auf. »Ich habe das Gefühl, daß in seinem Programm eine Lücke ist … aber unser Glück. Jetzt sind wir drin.« Michael Bergmeister las den Brief. Ohne es selber zu merken, runzel te er dabei die Stirn. »Und der Vertrag?« fragte er endlich. »Den habe ich auf meiner Bude gelassen. Weißt du, ich verliere im mer so leicht etwas. Gerade die wichtigsten Dinge.« »Na ja«, sagte er und gab ihr den Brief zurück. »Wahrscheinlich wer de ich ja den gleichen Brief und den gleichen Vertrag bei uns vorfin den. Ich bin schon um acht Uhr weggegangen.« 53
»Wir müssen so bald wie möglich abhauen«, sagte sie. »Ich werde heute abend gleich mit meinen Altvorderen telefonieren. R-Gespräch natürlich.« Er sah sie an. »Du willst wirklich?« »Na klar. Das ist doch die Chance unseres Lebens. Stell dir bloß mal vor … tausend Mark fix. Und dazu noch die Spesen. Und an den Plat ten verdienen wir natürlich auch noch.« »Ist dir Geld so furchtbar wichtig?« fragte er ohne Vorwurf, aber mit sachlichem Interesse. »Nicht unbedingt. Aber es muß doch schön sein, selber was zu ver dienen, statt mit einem lausigen Wechsel auskommen zu müssen. Aber davon abgesehen … was glaubst du, was wir für einen Spaß haben wer den.« »Ich weiß nicht«, sagte er, »mich kann die ganze Geschichte nicht so recht locken. Schlager singen! Wenn es wenigstens Jazz wäre.« »Den schmuggeln wir einfach ein«, sagte sie überzeugt, »warte mal, bis wir erst berühmt sind … dann können wir aufnehmen, was wir wollen.« »Wenn du dich da nur nicht irrst.« Michael Bergmeister stieß sich von der Marmorverkleidung ab, gegen die er sich bis jetzt mit dem Rücken gelehnt hatte. »Nein, Kätzchen! Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muß. Da mache ich nicht mit.« »Nicht?!« rief sie enttäuscht. »Bloß weil's kein Jazz ist?« »Nein«, sagte er, »um ehrlich zu sein … ich mache gern Musik. Ver dammt gern sogar. Besonders mit dir, denn du hast wirklich was los. Aber trotz und alledem. Das Ganze war für mich immer nur ein Hob by. Und ich denke, es ist besser, wenn es dabei bleibt.« Sie konnte sich so schnell nicht abfinden. »Aber … warum denn?« »Weil ich dabei bin, einen Beruf zu erlernen … einen vernünftigen Beruf. Wenn du dein Studium schon nicht ernst nimmst …« »Sag doch so was nicht! Du weißt genau, daß ich ziemlich fleißig bin! Ich habe diesen Winter allein drei Seminare mitgemacht und in allen gute Arbeiten geschrieben.« Sie hatte den Brief in ihre Kollegtasche zu rückgeschoben, schloß sie jetzt wieder, nahm sie in die Hand. »Aber es 54
gibt eine Menge Mädchen, die mindestens so gute Lehrerinnen werden könnten wie ich … und bei dir ist es doch dasselbe. Ganz im Gegen teil, an Lehrern herrscht Mangel, und Ärzte gibt es viel zuviel. So heißt es jedenfalls immer. Warum willst du dich unbedingt darauf verstei fen …« »Das verstehst du nicht.« »O doch!« rief sie und warf mit Schwung ihre leuchtenden Locken in den Nacken. »Vielleicht sogar besser, als dir lieb ist! Weil dein Vater Chef ist, weil er dir alle Wege ebnen kann, weil …« »Nun aber Schluß!« In seiner Stimme war plötzlich ein gefährlicher Unterton. »Du nimmst dir ziemlich viel heraus, wie? Aber wenn du es genau wissen willst … ja, ich werde Arzt, weil mein Vater Arzt ist und mein Großvater Arzt war, und weil ich von klein auf nie, aber wirklich nie auf den Gedanken gekommen bin, etwas anderes werden zu wol len. Das ist die Wahrheit, ob sie dir nun paßt oder nicht.« Etwas milder fügte er hinzu: »Aber das sollte dich natürlich nicht hindern, das An gebot dieses Plattenfritzen anzunehmen.« In ihre schönen Augen waren Tränen gestiegen. Sie schluckte. »Ohne dich?« brachte sie schließlich hervor. »Warum nicht? Winterstein wird bestimmt einen anderen Partner für dich finden.« Sie sah ihn mit schwimmenden Augen an, öffnete den Mund, als wenn sie etwas sagen wollte, preßte die Lippen fest aufeinander, dreh te sich um und rannte davon. Er sah ihr nach, ein wenig verwirrt und völlig verständnislos. Dann, nach einem Blick auf seine Armbanduhr, machte er sich mit raschen Schritten auf den Weg zum Physiologiesaal.
»Dieser Zustand ist einfach unerträglich!« Direktor Oskar Binagel ball te, wahrscheinlich ohne es selber zu merken, die fleischige Hand zur Faust und klopfte in kurzen ungeduldigen Schlägen auf sein Knie. Er war ein kräftiger breitschultriger Mann und hätte, wenn er nicht eine 55
Brille mit einem schwarzen Glas vor dem einen Auge getragen hätte, wie ein Bild blühender Gesundheit gewirkt. Professor Bergmeister blieb bei diesem Erregungsausbruch ganz ru hig. »Ich weiß natürlich, daß ein so ausgeprägtes Lähmungsschielen alles andere als angenehm ist«, sagte er. »Sie wissen gar nichts!« Direktor Binagels breite Stirn rötete sich. »Sonst hätten Sie längst etwas unternommen … irgend etwas!« »Irgend etwas hätte wohl wenig Sinn. Wir müssen das tun, was Sie gesund macht, nicht wahr?« »Dann tun Sie es doch endlich! Drei Monate sind jetzt seit dem ver dammten Autounfall vergangen, und ich habe es satt, gründlich satt, mich länger vertrösten zu lassen! Es ist ja qualvoll. Wenn ich lesen … wenn ich bloß irgend etwas sehen will, muß ich mein krankes Auge zukneifen. An Autofahren ist gar nicht mehr zu denken. Wie stellen Sie sich vor, daß ich meinen Beruf ausüben soll? Oder erwarten Sie etwa, daß ich mich in den Ruhestand begebe? Mit dreiundvierzig Jah ren.« »Lieber Direktor Binagel«, sagte Professor Bergmeister, und seine Stimme klang gelassen, fast kühl, »Sie müssen mir glauben, daß ich Ihnen gern all diese Schwierigkeiten erspart hätte. Aber ich konnte es nicht verantworten, zu operieren, solange ich nicht sicher war, daß ein chirurgischer Eingriff unvermeidlich ist. Bisher konnten wir immer noch damit rechnen, daß die Lähmung der Augenmuskeln von selber zurückgehen würde … aber wenn ich Sie recht verstehe, haben sich bisher keinerlei Anzeichen von Besserung gezeigt?« »Da … sehen Sie doch selber!« Direktor Binagel riß sich die Brille von den Augen und starrte den Professor herausfordernd an. »Selbst wenn ich geradeaus blicke, sehe ich alles doppelt!« Professor Bergmeister beobachtete den Patienten aufmerksam. »Bit te, sehen Sie mal nach links …« Direktor Binagel tat es. »Das geht«, sagt er, »das ist die einzige Rich tung, in der ich ein vernünftiges Bild habe … aber ich kann mir doch nicht dauernd den Kopf verrenken, um alle Gegenstände in diesen Blickwinkel zu bekommen.« 56
»Jetzt langsam zur Mitte!« Direktor Binagel versuchte es, aber nur das linke Auge gehorchte. Das rechte blieb stehen. »Weiter nach rechts!« Die Pupille des linken Auges drehte sich bis in den äußersten Lid winkel, das rechte starrte unbewegt geradeaus. »Danke, das genügt mir«, sagte Professor Bergmeister. »Sie können Ihre Brille wieder aufsetzen.« »Werden Sie mich jetzt endlich operieren?« drängte der Patient. »Von mir aus reißen Sie das Auge raus. So, wie es sich jetzt benimmt, kann ich es doch nicht mehr brauchen. Mit einem gesunden Auge wäre ich bestimmt besser bedient.« »Das werden wir nun doch lieber nicht tun.« Professor Bergmeister legte die Spitzen seiner schmalen Finger gegeneinander, lächelte ein wenig. »Ich weiß schon, an was Sie denken … wenn dich dein rechtes Auge ärgert, dann reiße es aus und wirf es von dir! Aber wir werden eine Muskelpfropfung machen und das ärgerliche Auge dahin brin gen, wieder ordentlich zu funktionieren.« Direktor Binagel beugte sich begierig vor. »Wann?« »Sie würden natürlich einige Wochen in der Klinik bleiben müs sen.« »Das ist mir egal!« Fast im selben Atemzug fügte er abschwächend hinzu: »Na, egal ist es mir natürlich doch nicht, aber was sein muß, muß sein. Lieber jetzt mal ein paar Wochen aussetzen, als noch länger in dieser Verfassung herumlaufen. Wann kann ich also kommen?« »Ich werde mich mal eben mit der Oberschwester in Verbindung set zen und fragen, ob ein Privatzimmer frei ist.« Professor Bergmeister hatte den Telefonhörer des Haustelefons schon in der Hand. »Ich den ke, Sie sind einverstanden, daß mein erster Assistent, Dr. Norman Hil pert, Sie operieren wird? Ein ausgezeichneter Chirurg.« Direktor Binagel legte die breite Stirn in Falten. »Aber ich hatte ge dacht, Sie würden selber …« »Ich hoffe, Sie werden nicht darauf bestehen.« Professor Bergmei ster lächelte entschuldigend. »Ich habe mich nämlich gerade heute ent 57
schlossen, in nächster Zeit nur noch ganz ausnahmsweise selber zu operieren, da ich mich einer wissenschaftlichen Arbeit widmen muß.« Er sah, daß Oskar Binagels Gesicht sich verfinstert hatte, und fügte noch hinzu: »Ich würde Ihnen Dr. Hilpert nicht empfehlen, wenn ich nicht wüsste, daß er diese Operation genauso gut ausführen kann wie ich … möglicherweise sogar besser!«
An diesem Abend brachte Professor Bergmeister seiner Frau zwölf auserlesen schöne Teerosen mit nach Hause. Er hatte den Wagen vor einem Blumengeschäft halten lassen, war selber hineingegangen und hatte sie ausgesucht. Aber Vera entlockten sie nicht einmal ein Lä cheln. »Danke«, sagte sie und klingelte nach dem Mädchen. »Ist es wahr, daß du Direktor Binagel von deinem Assistenten operieren läßt?« »Wie kommst du darauf?« fragte er überrumpelt. »Edith Binagel hat mich angerufen. Ihr Mann hat dein Benehmen ziemlich merkwürdig gefunden. Sie wollte wissen, was dahinter steckt.« Das Mädchen erschien, und Vera drückte ihr die Rosen, ohne noch einmal hinzusehen, in die Hand. »Bitte, stellen Sie sie in eine Vase, Gitta.« »Wo ist Michael?« fragte Professor Bergmeister, ließ sich in seinen Lieblingssessel sinken und entfaltete die Tageszeitung. »In einem seiner Clubs«, sagte Vera gleichgültig. Sie wartete, bis das Mädchen mit den Blumen das Zimmer verlassen hatte, fragte fordernd: »Was ist los, Klaus? Weich mir nicht aus.« Er sah sie über den Rand der Zeitung an. »Seit wann interessierst du dich für meine Arbeit?« »Soll das ein Vorwurf sein?« Sein Kopf war schon wieder hinter der Zeitung verschwunden. »Nein, nur eine erstaunte Frage«, murmelte er. »Klaus!« Sie riß ihm mit einem Ruck die Zeitung aus der Hand. »Lies nicht, wenn ich mit dir spreche!« 58
Professor Bergmeister bückte sich, um die Blätter, die auf den Bo den gesegelt waren, wieder aufzuheben. »Ich glaube nicht, daß ein Ge spräch sinnvoll ist, solange du so aufgeregt bist«, erklärte er gelassen. »Aufgeregt! Wütend bin ich, außer mir! Warum willst du Direktor Binagel nicht operieren? Bitte, gib mir eine einzige Erklärung dafür, falls dir eine einfällt. Du weißt genau, Binagel ist ein reicher Mann. Wenn du nur wolltest, könntest du dir bei dieser Operation eine golde ne Nase verdienen, statt dessen …« Sie schluchzte auf, preßte ein wei ßes Batisttüchlein gegen die Augen. »Vera!« sagte er. »Bitte, Vera! Liebling! Es gibt doch gar keinen Grund zum Weinen! Es ist doch nichts geschehen … nicht das geringste!« Er stand auf, ging zu ihr hin, nahm sie in die Arme. Sie ließ es wider standslos zu. »Du weißt genau, was Edith Binagel für eine Klatschba se ist«, schluchzte sie. »Sie wird die tollsten Gerüchte über dich aus streuen. Alle werden sich fragen: Was ist mit Professor Bergmeister los? Glaubt er mit einem Mal, daß er es nicht mehr nötig hat? Oder traut er sich nichts mehr zu?« »Aber, Liebling, das ist doch alles Unsinn«, sagte er, »Binagels Ope ration macht Dr. Hilpert wirklich genauso gut wie ich.« Ihr Kummer schlug schon wieder in Verzweiflung über. »Aber dar auf kommt es ja nicht an!« rief sie mit tränenerstickter Stimme. »Es geht doch um etwas ganz anderes! Warum hast du Binagels Operati on abgelehnt?« »Das habe ich ja gar nicht getan. Ich habe ihm nur nahegelegt, sich an Hilpert zu wenden. Und wenn du genau wissen willst warum … hast du denn ganz vergessen, wie oft du dich beklagt hast, daß ich zu wenig Zeit für dich habe? Daß du den ganzen Tag und die meisten Abende allein bist? Jetzt solltest du doch eigentlich froh sein …« Sie ließ ihn nicht aussprechen. »Meinetwegen? Du hast es meinetwe gen getan?« »Unseretwegen, Vera«, sagte er ernst, »ich habe eine schwierige wis senschaftliche Arbeit vor …« »Deine Vorlesungen! Aber die hast du sonst doch immer nebenbei gemacht.« 59
»Es handelt sich nicht um Vorlesungen, sondern um meine Ar beit über Lichtkoagulation. Ich habe meine Versuchsreihe jetzt been det …« Sie löste sich mit einem Ruck aus seinen Armen. »Du hast also trotz dem weitergemacht«, sagte sie, »obwohl ich dich so gebeten … obwohl ich dich angefleht habe!« Ihre Tränen waren mit einem Schlag versiegt, ihr Gesicht glich einer starren Maske. Er ließ die Arme sinken. »Ich mußte es tun, Vera. Ich bin Wissen schaftler. Du hast gewußt, daß du einen Wissenschaftler heiratest.« »Einen Wissenschaftler, ja … aber keinen Selbstmörder!« »Vera!« »Schau mich nicht so an! Ich bin es nicht, die sich an unserer Ehe versündigt hat, sondern du … du ganz allein! Du hast dein Augenlicht aufs Spiel gesetzt, unser Glück … alles! Nur aus deinem verbohrten wissenschaftlichen Ehrgeiz!« »Darauf«, sagte er und wandte sich ab, »gibt es wohl nichts mehr zu sagen.« Sie lachte böse auf. »Du machst es dir sehr einfach.« Er wollte zur Tür. Sie verstellte ihm den Weg. »Kannst du mir schwören, daß diese Ver suche deinen Augen nicht geschadet haben? Kannst du es mir schwö ren?« Er schwieg. »Ich habe es gewußt«, sagte sie tonlos, »ich habe es von Anfang an gewußt. Jetzt ist es also soweit. Deshalb hast du dich vor der Operation an Binagel gescheut. Weil deine Augen versagen. Herrgott, steh nicht so da und schau mich an …« Er machte einen tiefen Atemzug, der wie ein Seufzer klang. »Selbst wenn du recht hättest, Vera … hast du vergessen, was du mir geschwo ren hast? Du wolltest in guten und schweren Tagen zu mir halten. Ich habe es dir geglaubt.« »Wenn es dein Schicksal gewesen wäre zu erblinden«, sagte sie hart, »ich hätte nicht mit der Wimper gezuckt. Ich hätte dich getröstet und gepflegt. Ich hätte mich damit abgefunden, für den Rest meines Le 60
bens an einen … einen Blinden gebunden zu sein. Aber so ist es ja nicht. Du hast dein Augenlicht mutwillig zerstört. Ich habe dich im mer wieder gewarnt. Aber was aus mir werden soll, war und ist dir ja gleichgültig.« »Ich liebe dich, Vera.« »Nein, das ist nicht wahr! Du liebst nur dich, deine Patienten, dei ne Arbeit.« Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie wich zurück, als ob er ein ekelerregendes Reptil wäre. »Rühr mich nicht an«, schrie sie hysterisch, »nie wieder!« »Soll das heißen, daß du mich verlassen willst?« »Damit die ganze Stadt mit Fingern auf mich zeigt? O nein, so leicht mache ich dir das nicht. Du wirst mich noch eine Weile ertragen müs sen. Aber ich wünschte … ich wünschte wahrhaftig, ich hätte niemals eingewilligt, deine Frau zu werden!«
Michael Bergmeister kam mitten in der Nacht nach Hause. Bis zwölf Uhr hatte er mit der Studentenband, der auch Monika Ebers als Sängerin angehörte, gejazzt. Nachher hatten die Mitglieder der Band noch ein paar Glas Bier getrunken, denn die Hitze im Stu dentenkeller war wieder einmal mörderisch gewesen. Michael war bester Laune. Er pfiff, als er sich dem Haus seines Vaters näherte, vor sich hin – Body and Soul, das er an diesem Abend drei mal hatte bringen müssen. Als er die Vorgartentür aufstieß, sah er, daß im großen Wohnzim mer noch Licht brannte. Er war überrascht. Es kam selten vor, daß sei ne Eltern noch auf waren, wenn er heimkam. Er überlegte, daß er wohl oder übel noch hineingehen mußte, um gute Nacht zu wünschen. In der Diele blieb er einen Augenblick lauschend stehen, aber kein Laut kam von drinnen. Er öffnete die Tür und sah Vera. Sie kauerte vor dem halb erloschenen Kamin, hatte die Knie hochge zogen und starrte in die züngelnden Flammen. 61
Erst als er sich näherte, blickte sie auf und sah ihn an. Ihre schönen grünen Augen waren verschwollen und von Tränen gerötet, ihr silber blondes Haar hing in Strähnen. Er stand und starrte sie an. Noch nie hatte er sie so gesehen. Er fühl te sich im Innersten getroffen. »Wenn du deinen Vater sprechen willst«, sagte sie, und selbst ihre Stimme klang fremd, wie geborsten, »er ist schon zu Bett gegangen.« Jetzt endlich fand er die Sprache wieder. »Vera, was ist mir dir?« frag te er, und dann, sehr unsicher: »Hat es Ärger gegeben?« Sie lachte. Ein verzweifeltes, freudloses Lachen. »Man kann es auch so nennen.« »Willst du es mir nicht sagen?« Sie zuckte die vollen Schultern. »Warum nicht? Der Ärger, wie du es nennst, besteht darin, daß mein Leben zerstört ist. Ich habe alles falsch gemacht.« »Aber, Vera …« »Widersprich mir nicht. Ich weiß genau, was ich sage. Jetzt endlich weiß ich es. Ich hätte deinen Vater nie heiraten dürfen.« Sein Herz tat einen heftigen Sprung. »Ich dachte … du liebtest ihn?« »Liebe! Liebe! Was ist Liebe? Meine Gefühle spielen doch keine Rol le. Für niemanden. Am wenigsten für deinen Vater. Was bin ich denn für ihn gewesen? In all den Jahren? Eine Puppe, eine hübsche Puppe, die sich elegant anzieht und die man verwöhnen kann. Und von der man erwartet, daß sie lächelt … immer lächelt, lächelt, lächelt.« »Vera«, sagte er mühsam, »ich glaube bestimmt, du tust Vater un recht.« Sie sah ihn an, fast hasserfüllt. »Genau diese Worte hatte ich von dir erwartet. Du und dein Vater, ihr habt ja immer zusammengehalten. Dir bedeute ich genauso wenig wie ihm. Wie habe ich mich um deine Freundschaft bemüht. Seit ich in dieses Haus gekommen bin, habe ich um deine Liebe gekämpft. Aber du … du bist mir nie einen Schritt ent gegengekommen. Du hast in mir nie eine Mutter gesehen.« »Eine Mutter?« sagte er. »Hast du das im Ernst erwartet?« »Ja, ja«, sagte sie heftig und sprang auf, »ich habe mir so gewünscht, 62
dir etwas zu bedeuten. Wie oft du mich auch zurückgestoßen hast. Wenn er größer wird, habe ich mir gesagt, wird er es besser verstehen. Jetzt bist du erwachsen … und wie ist es geworden? Du bist mir frem der denn je. Meinst du, ich merke nicht, wie du mir ausweichst? Was habe ich dir denn getan?« »Nichts«, sagte er heiser, »gar nichts …« Sie stand sehr nahe vor ihm, so nahe, daß er die Tränenspuren auf ihren zarten Wangen sehen konnte. Plötzlich ertrug er es nicht länger. Er riß sie in seine Arme. »Vera«, stammelte er erstickt, »ich liebe dich … ich liebe dich! Hast du es wirklich nicht gewußt? Ich liebe dich bis zum Wahnsinn!«
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A
m nächsten Morgen – es war kaum acht Uhr vorbei – klingelte Michael Bergmeister bei Pielstickers, in deren kleinbürgerlicher Wohnung Monika Ebers ein Zimmer gemietet hatte. Ein kleines Mädchen öffnete ihm, starrte ihn verwundert an und lief, ehe Michael sich noch äußern konnte, mit dem Ruf: »Mutti! Mut ti! Ein Mann!« in die Wohnung zurück. Gleich darauf erschien Frau Pielsticker aus der Küche. Als sie den Sohn des Professors sah, hellte sich ihr unwirsches Gesicht auf. »Ach, der Herr Doktor!« sagte sie. »Aber ich weiß nicht … das Fräulein Ebers schläft noch.« »Dann wecken Sie sie, bitte!« Michael schob sich mit sanfter Gewalt in den Wohnungsflur, in dem es nach feuchten Windeln, Kaffee-Ersatz und Zwiebeln roch. »Aber ich weiß wirklich nicht …« Frau Pielsticker zupfte nervös an ihrem bunten Kittel herum, und es war ihr anzusehen, daß sie wünsch te, sie hätte sich schon zurechtgemacht. 63
»Es ist wichtig, gnädige Frau … sehr wichtig!« Die ehrenvolle Anrede ließ Frau Pielsticker sanft erröten. »Ich könn te ihr ja ausrichten …« schlug sie, schon halb besiegt, vor. Michael erhob unwillkürlich die Stimme. »Ich muß Fräulein Ebers jetzt sprechen … jetzt sofort!« Ehe Frau Pielsticker noch etwas erwidern konnte, wurde eine der Türen geöffnet, und Monika Ebers steckte ihr verschlafenes Gesicht chen heraus. »Du bist es wirklich, Mike?!« sagte sie und rieb sich mit der Faust die Augen. »Ich dachte schon, ich hätte geträumt … warte eine Sekunde, ich komme sofort!« Frau Pielsticker führte den frühen Gast in das Wohnzimmer. »Tut mir so leid, Herr Doktor«, sagte sie, »ich habe noch nicht aufgeräumt …« sie schob die Sessel zurecht, hob ein paar Hausschuhe auf … »und ein geheizt ist auch noch nicht. Aber ich werde sofort …« »Lohnt sich nicht«, wehrte Michael ab, »ich bleibe sowieso nur ein paar Minuten!« Frau Pielsticker kniete sich vor den Ofen, rüttelte am Rost, zog die Lade mit der kalten Asche heraus. Das kleine Mädchen, das ihm geöff net hatte, erschien in der Tür, bohrte sich versonnen in der Nase und beobachtete den Mann, den seine Mutter ›Herr Doktor‹ genannt hatte. Michael wußte nicht, wie er die beiden loskriegen konnte. Er lehnte an der Kredenz, nahe dem Fernsehapparat, die Hände in den Taschen seines Kamelhaarmantels, und nagte an seiner Unterlippe. Er war heilfroh, als ein Baby zu schreien begann – grell und durch dringend – und Frau Pielsticker daraufhin Kehrblech und Handbesen, mit denen sie hantiert hatte, fallen ließ und aus dem Zimmer stürzte. Das kleine Mädchen blieb neben der Tür stehen und musterte ihn neugierig. Michael Bergmeister hatte das Gefühl, daß die Kleine etwas von ihm erwartete, sagte mühsam: »Na du? Hast du schon gefrühstückt?« Das Kind antwortete nicht. Es zog, ohne die Augen von ihm zu las sen, seinen Finger aus der Nase und steckte ihn in den Mund. Michael Bergmeister hatte plötzlich das Gefühl, daß es ein idioti scher Einfall gewesen war, hierher zu kommen. 64
Dann erschien Monika. Sie trug ausgetretene Pantoffeln, einen nicht ganz sauberen baum wollenen Morgenrock, ihr Schlafanzug stand am Hals offen und ihre roten Locken waren zerzaust, als wenn sie nur schnell mit allen fünf Fingern durchgefahren wäre. Dennoch bot sie mit ihren tiefblauen Au gen, der zarten Haut, dem frischen jungen Gesicht einen ungemein reizvollen Anblick. Michael Bergmeister bemerkte es nicht. »Hör mal, Monika …« be gann er. Sie ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Moment!« Sie packte das klei ne Mädchen bei den Schultern und schob es zur Tür hinaus. »Schieb ab, Hedy, lauf zu deiner Mama!« sagte sie. Dann drückte sie die Tür nachdrücklich ins Schloß und wandte sich Michael zu. »Ist was passiert?« Er sah an ihr vorbei, als er antwortete. »Nicht so, wie du denkst. Ich habe mir bloß die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen … du weißt schon, das Angebot der Grammola. Ich bin draufgekommen, daß es eigentlich gar nicht so … so ungut ist.« Ihre Augen wurden rund. »Nicht?« »Nein, ich habe unterschrieben.« Sie brauchte ein paar Sekunden, um diese überraschende Neuigkeit zu begreifen. »Mensch, Mike!« rief sie dann begeistert. »Das ist ja fa belhaft!« Jetzt erst wagte er sie anzusehen. »Du bist also einverstanden?« »Einverstanden? Das ist gar kein Ausdruck! Heilfroh bin ich! Ein einziges Glück, daß ich meine Absage an Winterstein noch nicht ab geschickt habe.« »Na, dann ist ja alles in Ordnung. Das war's. Ich für mein Teil haue heute noch ab.« Er wollte zur Tür. Sie lief hinter ihm her, hielt ihn am Ärmel fest. »Mike«, sagte sie atemlos, »wieso … ich meine, neulich warst du doch noch so dage gen?« »Ich hab's mir eben überlegt«, sagte er stur. Sie sah ihn forschend an – sie war mehr als einen Kopf kleiner als er 65
und stellte sich dabei unwillkürlich auf die Zehen. »Hast du Ärger ge habt?« fragte sie. »Quatsch!« Dann, als sie den Blick nicht von ihm ließ, fügte er in verändertem Ton hinzu: »Wenn du es genau wissen willst … ja!« »Mit deinem Vater?« »Das ist doch nun wirklich ganz egal.« Sie ließ sich nicht abschütteln. »Mit deinem Vater, Mike?« fragte sie noch einmal. »Mit Vera, wenn du es genau wissen willst«, sagte er bitter. »Mit mei ner Stiefmutter.« Sie runzelte die junge runde Stirn. »Ach.« »Ich hoffe, du verlangst nicht, daß ich dir diese ganze … unliebsame Geschichte erzähle. Tatsache ist, ich kann nicht länger zu Hause blei ben. Und ich kann auch meinem Vater nicht länger auf der Tasche lie gen.« »Ich verstehe«, sagte sie und wußte nicht, daß sie nicht das geringste verstand, »ich habe diese Vera immer schon für ein ganz kaltes Biest gehalten!« Er wollte aufbrausen, aber als er in ihre arglosen blauen Augen sah, begriff er, daß es besser war, sie bei diesem Glauben zu lassen. »Wann kannst du deine Klamotten beisammen haben?« fragte er. »Das wäre das wenigste. Aber meine Eltern wissen noch von gar nichts. Weil du nicht wolltest, habe ich natürlich …« Er fiel ihr ins Wort: »Dann ruf sie an. Jetzt gleich.« »Hast du schon mit deinem Vater gesprochen?« fragte sie. »Ich werde ihm schreiben.« »Meinst du, daß das genügt?« Er antwortete nicht gleich, schlug den Mantel zurück und begann in seiner Hosentasche zu wühlen. »Was suchst du? Zigaretten?« fragte sie. »Ich habe!« Sie zog ein Päck chen aus der verbeulten Tasche ihres Morgenrockes, reichte es ihm mit einem zierlichen Damenfeuerzeug. »Mike«, sagte sie, während er sich seine Zigarette anzündete und ihr das Päckchen zurückgab, »du solltest mit deinem Vater sprechen. 66
Schließlich hat er dir ja nichts getan. Es ist ja nicht nötig, daß ihr wie … Feinde auseinander geht.« Er nahm einen tiefen Zug, stieß den Rauch heftig durch die Nase aus. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte er, »bloß … es ist mir verdammt unangenehm.«
»Ich hatte immer gehofft, es würde von selber besser werden«, sagte der Dirigent Gregor Ferenscy, »oder ganz ehrlich, Herr Professor, ich habe das Gefühl, daß es eine Alterserscheinung ist. Und so etwas gibt man ja nicht gerne vor sich selber zu. Geschweige denn vor anderen. Aber den Frauen entgeht eben nichts. Als meine Frau mich dabei er wischt hat, daß ich das eine Auge zukneifen muß, um eine Partitur or dentlich lesen zu können, hat sie mich so lange bearbeitet, bis ich zu Ihnen gekommen bin.« »Dann haben Sie allen Grund, Ihrer Gattin dankbar zu sein«, sagte Professor Bergmeister. Die beiden Herren befanden sich in dem Dunkelraum für optische Geräte, und der Professor war dabei, das große binoculare Ophthal moskop auf die Augen seines Patienten einzustellen. »Wieso?« fragte der Dirigent erschrocken. »Ist es etwas Schlimmes?« »Soweit sind wir noch nicht. Aber da wir festgestellt haben, daß es bei Ihrem linken Auge nur noch zum Fingerzählen in sieben Zentime ter Abstand reicht, ist die Sache doch wohl schon ernst zu nehmen.« »Ist es möglich, daß ich den … grauen Star habe?« fragte der Patient mit Überwindung. »Nein. Bestimmt nicht. Die Linse ist in allen Schichten klar, eben falls der Glaskörper. Auch die Regenbogenhaut weist keinerlei Verän derungen auf.« »Aber dann …« »Einen Augenblick, bitte … so! Jetzt schauen Sie mal hier herein. Ich habe das Ophthalmoskop auf vierzigfache Vergrößerung eingestellt … gleich werden wir mehr wissen!« 67
Professor Bergmeister beobachtete angestrengt. Er sah das gewohnte prächtige rote Bild, aus der die Macula, die Stel le des schärfsten Sehens, sich gelb hervorhob. Aber schon beim ersten Blick stellte er fest, daß beide Augen krank waren. Im rotfreien Licht des Ophthalmoskops wurden kleinere Blutungen deutlich. Sie hoben sich schwarz vom rötlichen Augenhintergrund ab. Die Macula des lin ken Auges war von einer Blutlache fast bedeckt. »Was ist?« fragte der Patient nervös. »Eine Sekunde!« Professor Bergmeister erkannte die winzigen wei ßen, ausgefransten Herde, und er wußte, was sie bedeuteten. Er stellte das Gerät ab. »Das genügt«, sagte er, »gehen wir wieder hin über.« Gregor Ferenscy konnte seine Nervosität nicht verbergen. Er war ein großer hagerer Mann mit schlohweißen Haaren, dem die durch My drial erweiterten Pupillen ein tödlich erschrecktes Aussehen gaben. »Reden Sie schon, Professor«, sagte er ungeduldig. »Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich vor der Wahrheit fürchten!« Professor Bergmeister lud ihn mit einer Handbewegung ein, an dem niedrigen Tisch in der Ecke des großen hellen Raumes Platz zu neh men. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen einige Fragen stelle?« »Wenn es sein muß.« »Hatten Sie in letzter Zeit … abgesehen von der Verschlechterung Ihrer Sehfähigkeit … noch andere Beschwerden?« »Nein.« »Gewiß nicht?« Der Dirigent lächelte verlegen. »Abgesehen von den typischen Al terserscheinungen.« »Wie alt sind Sie eigentlich?« »Neunundvierzig.« »Nun, dann sind wir der gleiche Jahrgang. Ich hatte mich immer noch zu den jungen Männern gezählt«, sagte Professor Bergmeister mit einem kleinen Lächeln. »Kann sein. Ich gebe ja zu, daß ich objektiv vielleicht noch nicht alt bin. Aber ich habe einen Beruf, der den Menschen auffrisst. Manchmal 68
habe ich das Gefühl, daß ich einfach fertig bin. Schon wenn ich mor gens aufstehe, fühle ich mich so müde und erschlagen, als wenn ich überhaupt nicht geschlafen hätte.« »Durst?« »Auch das. Aber ich bin kein Trinker. Säfte, Milch, Wasser kann ich in Unmengen runterschütten. Das kann aber doch nicht ungesund sein?« »Nein«, sagte Professor Bergmeister, »nur … es ist ein Symptom. Es bestätigt mir …« Er stockte. »Ich möchte Ihnen dringend empfehlen, lieber Herr Ferenscy, einen Internisten aufzusuchen. Ich werde Ihnen eine Überweisung geben.« »Aber warum? Was ist los mit mir? Machen Sie's um Himmels wil len nicht so geheimnisvoll.« »Solange meine Diagnose noch nicht von einem Facharzt bestätigt ist …« »Egal. Sagen Sie mir, was Sie glauben!« »Hatten Sie vielleicht schon mal einen Diabetiker in der Familie?« Der Dirigent saß einen Augenblick ganz still. »Ach so«, sagte er dann. »Sie meinen …« »Ja.« »Zucker also.« Gregor Ferenscy fuhr sich durch sein gepflegtes wei ßes Haar. »Aber das ist doch unmöglich. Ich weiß genau …« »Wir wollen uns nicht in Spekulationen einlassen. Suchen Sie mög lichst bald einen Internisten auf … vielleicht Professor Süßmann … und wir werden es genau wissen. Übrigens …« Professor Bergmeister legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Selbst wenn sich mein Ver dacht bestätigt … Sie wissen hoffentlich, daß Sie mit dieser Krankheit, wenn Sie sich nur einigermaßen an die Vorschriften des Arztes halten, hundert Jahre alt werden können.« »Und meine Augen?« »Werden wir hoffentlich auch wieder hinkriegen.« Professor Berg meister stand auf, ging zu seinem Schreibtisch hinüber. »Ich verschrei be Ihnen jetzt mal ein ausgezeichnetes gefäßabdichtendes Medika ment. Bitte, nehmen Sie es genau nach Vorschrift … und natürlich müssen wir Ihre Augen ständig unter Kontrolle halten.« 69
Gregor Ferenscy war noch nicht gegangen, als Schwester Karla eintrat. Sie blieb nahe der Tür stehen und warf Professor Bergmeister einen bedeutungsvollen Blick zu. Der Professor verabschiedete seinen Patienten, bevor er sich ihr zu wendete. »Na, Schwester, was gibt's?« »Michael … ich meine, der junge Herr Doktor ist draußen!« »Falls Sie von meinem Sohn reden, muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß er noch Student und keineswegs Doktor ist.« »Ja, natürlich, ich weiß, aber …« Schwester Karla bewegte hilflos die Hände in den blütenweißen Manschetten über den hellblauen Ärmeln. »Es ist nun mal so Sitte, daß man die jungen Mediziner mit einem Ti tel anredet … alle tun es doch.« »Und weil es alle tun, glauben Sie, Sie müssen das mitmachen? Ein so korrektes Mädchen wie Sie!« »Ich weiß, es ist nicht ganz richtig«, gab Schwester Karla zu, »aber schließlich … es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis der junge Herr Doktor …« sie verbesserte sich: »bis der Herr Bergmeister seine Prü fung hinter sich hat.« Professor Bergmeister sah auf seine Armbanduhr. »Also … was will er?« »Er möchte Sie dringend sprechen, Herr Professor.« »Weiß er denn nicht, daß ich mitten in der Sprechstunde bin?« »Doch. Das habe ich ihm gesagt. Aber er meinte, es wäre wirklich sehr wichtig.« Professor Bergmeister zögerte einen Augenblick. Dann sagte er: »Na, schön. Also lassen Sie den Lausejungen herein.« Während Schwester Karla zur Tür ging, zündete er sich eine Zigarette an. Es war lange her, daß er mit seinem Sohn unter vier Augen ein ver trautes Gespräch hatte führen können, und er freute sich darauf. Aber als Michael dann eintrat und er sein ernstes, gespanntes Gesicht sah, wurde ihm sofort bewußt, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. »Was ist los?« fragte er. »Bist du in Schwierigkeiten?« »Schwierigkeiten? Nein. Nicht eigentlich«, sagte Michael mit Unbe hagen. 70
»Aber du brauchst Geld?« »Wie kommst du darauf?« Professor Bergmeister verstand ihn falsch. »Na, das war wohl nicht schwer zu erraten«, sagte er mit einem erleichterten Lächeln, »jun ge Leute sind doch meist knapp bei Kasse.« Er hob die Hand, als Michael ihn unterbrechen wollte. »Nein, nein, du brauchst dich gar nicht zu entschuldigen. So etwas kann jedem passieren.« Er setzte sich hinter den Schreibtisch, legte seine Zigarette auf den Rand des Aschenbechers und zog sein Scheckbuch aus der Brieftasche. »Wie viel also?« »Nein, Vater«, konnte Michael, dem die Kehle wie zugeschnürt war, endlich hervorbringen. »Du irrst dich. Es ist etwas ganz anderes.« Professor Bergmeister steckte sein Scheckbuch wieder ein, nahm die Zigarette auf. »Also …?« »Es ist nicht ganz einfach, es dir zu erklären.« Michael riß an seinen Fingern, daß die Gelenke knackten. »Du hast doch nicht etwa Angst vor mir?« »Nein, nein, nur …« Michael stockte. »Nun setz dich mal erst hin, Junge, steck dir eine Zigarette an …« Professor Bergmeister erhob sich und kam um den Schreibtisch her um auf Michael zu. »Möchtest du einen Cognac?« »Nein. Ich meine … danke. Ich möchte es lieber rasch hinter mich bringen.« Michael holte tief Atem. »Ich bin gekommen, um dir Lebe wohl zu sagen, Vater.« Es dauerte einige Sekunden, bis Professor Bergmeister reagierte. »Du willst fort?« sagte er dann. »Ja. Nach München.« »Jetzt? Mitten im Semester?« »Vater, ich …« »Gefällt es dir nicht mehr zu Hause? Ja, ja, ich verstehe, du möch test gern eine eigene Bude haben und so weiter. Aber Michael …« Der Professor legte seine Hand auf die Schulter seines Sohnes. »Haben wir dir bisher nicht jede Freiheit gelassen, die du dir nur wünschen konn test?« 71
»Es ist nicht deswegen«, sagte Michael mühsam, »euch trifft keine Schuld.« »Steckt ein Mädchen dahinter? Eine Liebesgeschichte?« »Nein, Nein! Bitte, frag nicht! Ich kann es dir nicht erklären.« Professor Bergmeister wandte sich ab, drückte seine Zigarette aus. »Na schön. Ich will nicht in dich dringen. Womöglich habe ich nicht einmal das Recht dazu. Du bist erwachsen.« Er sah seinen Sohn an. »Du wirst natürlich in München einen erheblich größeren Wechsel brauchen. Wieviel hattest du gedacht?« »Ich brauche nichts, Vater, ich …« Professor Bergmeister fiel ihm ins Wort. »Natürlich bekommst du Geld. Das wäre ja noch schöner, wenn ich meinen einzigen Sohn als Werkstudent arbeiten lassen würde.« Michael nahm allen Mut zusammen. »Ich werde nicht mehr studie ren, Vater.« Professor Bergmeister mußte seine Hand um eine Sessellehne schlie ßen, um ein Zittern zu verbergen. »Du wirst nicht mehr … bitte, sag das noch einmal!« »Ich gebe mein Studium auf, Vater. Bitte, nimm es nicht zu tragisch. Glaub mir, ich habe mir alles gründlich überlegt. Schließlich gibt es Ärzte wie Sand am Meer. Da kommt es auf einen mehr oder weniger ja doch nicht an.« Nun, da das Schlimmste heraus war, fand Michael sei ne Beredsamkeit wieder. »Überleg doch mal, Vater«, sagte er, »ich bin jetzt zweiundzwanzig Jahre und brauche noch drei klinische Semester bis zum Staatsexamen. Dann kommt noch die Promotion, und ich bin endlich Doktor. Und was ist damit gewonnen? Noch gar nichts. Dann brauche ich noch zwei Medizinalpraktikantenjahre, bis ich die große Approbation habe. Und dann bin ich noch lange kein Augenarzt. Die ophthalmologische Fachausbildung dauert mindestens noch ein Jahr an einer inneren Klinik, und dann noch drei Jahre … drei volle Jah re, Vater … an einer Augenklinik! Bis ich also endlich anfangen kann, Geld zu verdienen, bin ich fast dreißig!« Professor Bergmeister hatte sich schwer in einen der Sessel sinken lassen. »Warum erzählst du mir das alles?« fragte er. »Glaubst du, ich 72
wüsste das nicht? Und auch du selber … hast du das nicht immer ge wußt?« »Ja, Vater, natürlich … aber ich habe es mir einfach nicht ganz klar gemacht.« Professor Bergmeister sah seinen Sohn an. »Du verbirgst mir etwas, Michael.« Und als der junge Mann schwieg, fügte er mit müder Stim me hinzu: »Was also hast du dir vorgestellt? Welchen anderen Beruf würdest du vorziehen? Ich nehme an, daß dir da irgend etwas vor schwebt?« »Ich werde Sänger, Vater. Und damit du nicht glaubst, daß das eine unsichere Sache ist … ich habe meinen Vertrag schon in der Tasche.« Professor Bergmeister hob die Augenbrauen. »Oper?« »Wo denkst du hin? Nein, dazu reicht's nun doch nicht. Schlager … das ist durchaus nichts Ehrenrühriges, Vater. Du hast da wahrschein lich altmodische Vorstellungen, die …« Professor Bergmeister ließ ihn nicht ausreden. »Also ein Bajazzo. Mein einziger Sohn hält es für einen Beruf, den Hampelmann für die breite Masse zu spielen.« »Vater, ich …« »Jetzt lass mich erst mal reden. Schließlich habe ich dich ja auch in Ruhe angehört, nicht wahr?« »Es gibt nichts mehr zu reden, Vater. Ich bin mir vollkommen dar über klar, daß du mit meinen Plänen nicht einverstanden sein kannst. Dennoch hielt ich es für meine Pflicht, sie dir wenigstens mitzuteilen. Du solltest es wissen. Mehr wollte ich gar nicht. Jetzt lass mich, bitte, gehen.« »Nicht, bevor du mich angehört hast!« Professor Bergmeister stand auf und trat dicht auf seinen Sohn zu. »Ich weiß nicht, ob du mit dei ner Mutter gesprochen hast …« Er sah seinen Sohn prüfend an. »Dann wüsstest du nämlich, daß …« Er brach ab, begann den Satz von neuem. »Meine Augen versagen, Michael. Myopische Degeneration. Du weißt, was das bedeutet. Die Netzhaut ist fadenscheinig geworden, kann bei dem geringsten Anlass reißen. Wenn diese Veränderung die Maculy ergreift, wird das zentrale Sehen zerstört. Dazu ist mit Blutungen am 73
Fundus zu rechnen.« Professor Bergmeister nahm sich die Brille ab, begann sie mechanisch mit seinem Taschentuch zu putzen. »Das eine Auge ist Gott sei Dank wesentlich besser als das andere. Ich werde also vielleicht noch fünf Jahre, wenn ich Glück habe, operieren können. Aber es hat keinen Zweck, wenn wir uns etwas vormachen. Die Zeit, die vor mir liegt, ist begrenzt.« Michael bekämpfte eine aufsteigende Erschütterung. »Ist das eine Folge deiner Selbstversuche?« fragte er mit gepresster Stimme. Professor Bergmeister hatte seine Brille aufgesetzt. »Diese Schluss folgerung liegt nahe«, sagte der dozierend, »ist aber durchaus nicht be wiesen. Tatsache ist hingegen, daß ich seit frühester Jugend an star ker Kurzsichtigkeit leide, der verlängerte Bulbus hatte eine dauernde Überspannung der Netzhaut zur Folge. Es ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, daß meine Lichtkoagulationsversuche eine gewis se Beschleunigung dieser Entwicklung verursacht haben. Mehr aber auch nicht.« »Was willst du jetzt tun?« »Kann ich etwas tun? Ich muß mich damit abfinden. Das ist das ein zige, was mir übrig bleibt.« Er lächelte schwach. »Ich werde weiterar beiten und ausharren, bis du meine Arbeit fortführen kannst.« Als er sah, wie Michaels Gesicht sich verschloss, setzte er resignierend hinzu: »So hatte ich mir das bis heute jedenfalls vorgestellt.« Michael schwieg. »Willst du mir wirklich diesen Schlag versetzen?« fragte sein Vater. »Jeder ist für sein eigenes Leben verantwortlich«, erwiderte Michael verbissen. »Ist das dein Ernst? Höher sind die Ansprüche nicht, die du an dich stellst? Nein, mein Junge, du machst es dir entschieden zu leicht … wir sind nicht nur für uns selber verantwortlich, sondern auch für unsere Nächsten, unsere Patienten, unsere Mitmenschen, unsere Familie …« »Es hat keinen Zweck, Vater, was du mir jetzt auch erzählst … viel leicht hast du recht in allem, was du sagst. Aber es ist sinnlos. Ich muß meinen Weg gehen. Ich kann nicht anders.« »Und ich hatte mir eingebildet, dich bis auf den Grund zu kennen.« 74
»Leb wohl, Vater«, sagte Michael rauh. Er drehte sich um und verließ mit raschen Schritten, fast fluchtar tig, den Raum. Professor Bergmeister sah ihm aus leeren Augen nach. Er zuckte zu sammen, als Schwester Karla hereinkam und ihn ansprach. »Ja? Was gibt es?« »Ich wollte nur fragen, ob ich jetzt den nächsten Patienten hereinlas sen kann, Herr Professor.« »Was?! Ach ja. Natürlich. Halt. Warten Sie noch einen Augenblick. Bitte, sagen Sie Dr. Hilpert Bescheid, daß er nachher zu mir herauf kommen möchte. Ich nehme an, er operiert noch?« »Ja, Herr Professor.« »Dann also … nachher.«
Dr. Norman Hilpert und der junge Dr. Böninger, der ihm assistieren sollte, wuschen ihre Hände in Desinfektionslösung, als Gabriele Zer ling in den Waschraum trat. »Nanu?« sagte Dr. Hilpert. »Was verschafft uns die Ehre?« »Du hast mir erlaubt, bei der Muskeloperation zuzusehen! Hast du das vergessen?« »So? Habe ich das wirklich? Na, dann von mir aus. Aber halt dich zurück und rühr um Himmels willen nichts an.« »Für was hältst du mich?« gab Gabriele kühl zurück. Dr. Böninger lachte. »Ich habe schon Pferde kotzen sehen …« Gabriele Zerling war als Medizinerin an Grobheiten gewöhnt. Sie zuckte mit keiner Wimper. »Sie sind ungeheuer witzig, Herr Doktor«, sagte sie gelassen. »Wenn du wirklich dabei sein willst, dann sieh zu, daß du dich be eilst«, sagte Dr. Hilpert, »ich möchte, daß du dich desinfizierst und ei nen Mundschutz nimmst.« Dr. Hilpert trocknete seine Hände an dem sterilen Tuch ab, das Schwester Gerda ihm reichte, ließ sich in den Operationskittel helfen. 75
Dr. Hesse erschien in der Tür zum Operationssaal. »Lokale Anästhe sie ist durchgeführt«, sagte er, »Augapfel empfindungslos.« »Sehr schön.« Dr. Hilpert sah sich nach Dr. Böninger um. »Sind Sie soweit, Kollege?« »Da ist noch etwas«, erklärte Dr. Hesse, »das Herz des Patienten gibt mir zu denken. Auf dem Elektrokardiogramm habe ich nichts feststel len können. Aber es scheint eine gewisse Schwäche vorzuliegen. Unre gelmäßigkeiten.« »Ich werde versuchen, es so kurz wie möglich zu machen«, versprach Dr. Hilpert. Hintereinander betraten sie den Operationssaal, dessen hellblaue Kacheln in der Flut schattenfreien Lichtes schimmerten. Der Patient Oskar Binagel lag auf dem Operationstisch, den Kopf mit sterilen Tüchern abgedeckt, so daß in dem runden Ausschnitt nur sein eines, rechtes Auge sichtbar war. Es war unmöglich, sich ihn in dieser Situation als den erfolggewohnten Manager vorzustellen, als der er sich auszugeben pflegte. Er war nichts mehr als ein hilfloses Bün del Mensch. Dr. Hilpert prüfte mit dem stumpfen Spachtel das Auge auf seine Empfindungslosigkeit hin, setzte dann erst den Lidsperrer ein. Er hob seinen Zeigefinger und bewegte ihn vor dem Auge des Patienten. »Blik ken Sie nach links«, befahl er, »ganz nach links … zur Nasenwurzel hin! Ja …« Er gab Böninger ein Zeichen. »So ist's recht … sehr gut! Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Sie werden bestimmt nichts spüren.« Dr. Böninger hatte mit zwei raschen Stichen das Auge in seiner nach innen gedrehten Lage fixiert. Er behielt das Ende der Fäden in der Hand. Dr. Hilpert nahm das feine Skalpell, das Schwester Ethel ihm reichte, und begann die Augenmuskeln freizupräparieren – eine ebenso bluti ge wie diffizile Arbeit. Immer wieder mußte er unterbrechen, um Blut gefäße abzubinden und die Blutung dadurch zum Stillstand zu brin gen. Dann endlich konnte der eigentliche Eingriff beginnen. Behutsam löste Dr. Hilpert Teilfasern vom oberen geraden Augen 76
muskel, heftete sie mit winzigen Stichen auf den äußeren geraden Au genmuskel, der durch seine Lähmung die Bewegungsunfähigkeit des Auges verursacht hatte. Plötzlich spürte er, daß Dr. Hesse ihm ein Zeichen machte. Er blickte auf und sah, daß der Anästhesist die waagrecht gehaltene rechte Hand langsam nach unten senkte. Dr. Hilpert begriff sofort, was das zu bedeuten hatte. Der Blutdruck Oskar Binagels war bedrohlich gesunken. Da der Patient während der ganzen Operation bei vollem Bewußtsein war, wollte Dr. Hesse seiner Besorgnis nicht in Worten Ausdruck geben, um ihn nicht zu erschrek ken. Dr. Hilpert hob Mittel- und Zeigefinger der linken Hand. Dr. Hesse begriff. Das Zeichen bedeutete, daß er noch einmal messen sollte. Er tat es, während Dr. Hilpert für Sekunden die Operation unterbrach. Der Gesichtsausdruck des Anästhesisten sagte ihm deutlicher, als alle Worte es vermocht hätten, daß die Dinge schlecht standen. »Mir wird … so komisch«, murmelte der Patient. Schwester Ethel hatte, auf einen Wink Dr. Hesses hin, eine Spritze mit einem kreislaufstützenden Medikament aufgezogen. Dr. Hilpert überlegte blitzschnell – sollte er die Operation abbrechen oder weiter machen? Ehe Dr. Hesse noch die Injektionsnadel in die Armvene Binagels ge stoßen hatte, stand sein Entschluß fest: Er mußte versuchen, den Ein griff zu beenden. Es war fraglich, ob eine unterbrochene Operation dieser Art noch einmal hätte neu begonnen werden können. Er mußte sich auf sein Glück und den guten Stern des Patienten verlassen. Ohne aufzusehen, arbeitete er weiter, begann Teilfasern vom unte ren geraden Augenmuskel zu lösen und sie auf den gelähmten Mus kel zu vernähen. Der Patient stöhnte. Dr. Hilpert beachtete es nicht. Er war sicher, daß Binagel keine Schmerzen – jedenfalls nicht vom Auge her – empfinden konnte. Dennoch stand ihm der Schweiß auf der Stirn, als er endlich den letzten Stich getan hatte und Dr. Böninger ein Zeichen gab, die Fäden, 77
mit denen er das Auge fixiert hatte, zu lösen. Er richtete sich auf, be gegnete dem Blick Gabriele Zerlings – einem klugen, verständnisvol len Blick. Er wandte sich ab und verließ den OP, fühlte, daß Gabrie le ihm folgte. »Tapferes Mädchen«, sagte er lächelnd, als sie ihm aus dem Operati onskittel half. »War ja nichts dabei«, erwiderte sie und gab den blutbespritzten Mantel Schwester Gerda, »zuschauen … was ist das schon. Aber du warst großartig.« »Das muß sich erst beweisen. Überlebt er es, war ich gut … stirbt er, dann …« er zuckte die Achseln, »wäre es schon wirklich sehr arg.« »Du meinst doch nicht etwa«, sagte sie erschrocken und dämpfte unwillkürlich ihre Stimme, »man könnte dich zur Rechenschaft zie hen?« »Unwahrscheinlich. Aber vor mir selber wäre es …« er suchte nach Worten, »nun eben, eine Pleite. Schlimmer als das, eine unverzeihli che Fehlleistung.« »Aber …« begann Gabriele Zerling. Sie kam nicht dazu, ihren Gedanken auszudrücken. Böninger kam in den Waschraum. »Alles okay«, sagte er mit einem jungenhaften Grinsen, »Kreislauf scheint sich zu erholen. Das war ein Ritt über den Bodensee.« Dr. Hilpert atmete auf. »Genauso fühle ich mich. Mir ist's nach ei nem großen Cognac zumute. Darf ich euch einladen?« »Verzeihung, Herr Doktor«, sagte Schwester Gerda, »beinah hätte ich es vergessen … der Herr Professor möchte Sie gern sprechen. Er er wartet Sie.«
Als Professor Bergmeister an diesem Abend nach Hause kam, lief ihm seine Frau schon in der Diele entgegen. »Michael ist fort«, sagte sie atemlos, »er hat seine Koffer gepackt und …« 78
»Ich weiß«, sagte er, gab dem Mädchen, das ihm die Tür geöffnet hatte, Stock, Hut und Aktentasche, begann seinen Überzieher auszu ziehen. »Du weißt es?« fragte Vera überrascht. »Ja. Er war heute morgen bei mir in der Klinik, um sich zu verab schieden.« Vera biss sich auf die volle, schön geschwungene Unterlippe. Sie über legte krampfhaft, was Michael seinem Vater gesagt haben mochte. Ob er ihm seine Unbeherrschtheit gebeichtet hatte? Sie war nahe daran, Bergmeister von der Liebeserklärung seines Sohnes zu erzählen, aber sie kam nicht mehr dazu. »Ich begreife bloß nicht, was mit ihm los ist«, sagte Professor Berg meister in ihre Gedanken hinein. »Hast du eine Ahnung, wieso er plötzlich auf die Idee kommt, sein Studium abzubrechen?« Vera dankte dem Schicksal, daß es ihr erspart blieb, Michael zu ver raten. »Wahrscheinlich war es gar nicht so plötzlich«, sagte sie, »sicher hat er schon seit langem mit dieser Idee gespielt.« »Ach, meinst du? Und wir haben nie etwas davon gemerkt?« »Wie sollten wir denn?« sagte sie mit leichter Bitterkeit. »Er ist uns ja schon seit langem entwachsen.« Dann fügte sie vorsichtig hinzu: »Üb rigens hat er mir mal eine Schallplatte vorgespielt. Eine Aufnahme ir gendeines blödsinnigen Schlagers, den er mit einem jungen Mädchen zusammen singt …« »Kann er denn das überhaupt?« fragte der Professor. Aber er warte te keine Antwort auf diese Frage ab, sondern setzte von sich aus hin zu: »Wahrscheinlich macht er es auch nicht schlechter als die meisten anderen.« »Ich beneide ihn«, sagte Vera herausfordernd. Sie war vor ihrem Mann in das große Wohnzimmer getreten, warf sich in einen tiefen Sessel, streckte die langen Beine von sich und nahm sich eine Zigarette. Sie wartete darauf, daß er ihr Feuer geben sollte, aber er war mit den Gedanken viel zu weit fort, um ihren Wunsch zu begreifen. »Ich habe mit meinem Assistenten gesprochen«, sagte er. 79
»Mit Norman Hilpert?« fragte sie, gegen ihren Willen interessiert. »Ja. Du mußt wissen, er hat meine Augen untersucht. Er ist ein sehr fähiger Arzt, weiß der Himmel.« »Dann kannst du ihn ja adoptieren … da Michael nun abgesprungen ist, meine ich!« sagte Vera mit bösem Spott. Dann, unter dem traurigen Blick seiner klugen Augen, überkam sie plötzlich so etwas wie Scham. »Verzeih«, murmelte sie, »ich weiß, das war … unfair.« »Ich begreife, daß du verbittert bist!« Er setzte sich ihr gegenüber. »Ich habe dich um deine Jugend betrogen.« Er zündete sich eine Ziga rette an. »Möchtest du mir nicht vielleicht auch Feuer geben?« fragte sie ge reizt. »O ja. Natürlich. Entschuldige bitte.« Er ließ sein Feuerzeug noch einmal aufspringen, beugte sich vor und hielt es ihr entgegen. »Unauf merksam auch noch. Du mußt sehr unglücklich mit mir sein, Vera. Langsam begreife ich es.« »Ich hoffe, du erwartest nicht, daß ich dir widerspreche«, sagte sie und steckte ihre brennende Zigarette in eine lange Spitze. »Ich habe dir einen Vorschlag zu machen, der dich vielleicht freuen wird, Vera. Ich möchte dich bitten, mich nach Paris zu begleiten.« Es war ihr unmöglich, ihre Überraschung vor ihm zu verbergen. »Wann?« fragte sie und dann, mit plötzlichem Misstrauen, setzte sie hinzu: »Oder machst du mir nur was vor?« »Nein, Vera. Ich möchte wirklich fahren. Und zwar so bald wie mög lich. Ich habe heute noch einmal ausführlich mit Hilpert gesprochen. Er rät mir, meine Augen von Lejeune untersuchen zu lassen. Wenn mir überhaupt noch zu helfen ist, dann kann er es.«
Wenige Tage, nachdem Professor Bergmeister mit seiner Frau nach Pa ris gefahren war, meldete sich der Bankier von Schöller in der Augen klinik. Er hatte sich schon vor Wochen mit Professor Bergmeister in 80
Verbindung gesetzt und ihm seine Frau zur Untersuchung angemel det. Man hatte versäumt, ihn von der Abwesenheit des Professors zu unterrichten, und er war darüber sehr erzürnt. Mit Mühe gelang es Dr. Hilpert, den aufgebrachten Mann zu beru higen. »Wir haben die Krankengeschichte Ihrer Gattin vorliegen, Herr von Schöller«, sagte er, »aus ihr geht klar hervor, daß Ihre Gattin an ei ner Iridocyclitis leidet …« »Nur um das zu hören, hat sich unsere anstrengende Reise wahrhaf tig nicht gelohnt!« »Natürlich nicht. Aber um die Ursache dieses Leidens – Sie wissen, es handelt sich um eine Regenbogen-Strahlenkörper-Netzhautentzün dung – zu klären, ist eine stationäre Focussuche notwendig, bevor wir mit der Therapie beginnen können. Bis wir den Herd des Leidens ge funden haben, können Wochen vergehen … der Herr Professor ist aber spätestens in zehn Tagen zurück.« »Ich bestehe darauf, daß meine Frau von Professor Bergmeister per sönlich behandelt wird!« »Das ist Ihr gutes Recht. Aber die Suche nach dem Krankheitsherd muß so oder so von Spezialisten durchgeführt werden … von einem Hals-Nasen-Ohrenarzt, einem Zahnarzt, einem Gynäkologen …« »Und das kann man meiner Frau nicht ersparen?« Der Bankier war ein blasser dicker Mann, dessen kleine Augen fast in dem aufgedunse nen Fleisch seiner schlaffen Wangen versanken. Dr. Hilpert war er von Anfang an alles andere als sympathisch gewesen. Jetzt, aus einem Un terton seiner Stimme, spürte er plötzlich, wie sehr dieser Mann an sei ner Frau hing und daß er sich nur ihretwegen so sehr erregt hatte. »Sie möchten doch, daß Ihre Gattin wieder gesund wird, nicht wahr?« fragte er mitfühlend. »Wenn Sie mich so fragen …« Der Bankier rieb nervös seine schwam migen Hände. »Eigentlich nein. Mich stört es nicht, daß sie blind ist. Im Gegenteil. Wenn Xenia nicht selber darauf bestünde …« Xenia! Der Name rief in Dr. Hilpert seltsame Erinnerungen wach. Er verstand nicht mehr, was der Bankier sagte, seine Gedanken wan derten weit zurück zu jener Xenia, die seine erste Liebe gewesen war, 81
ein bezauberndes junges Geschöpf mit Augen, die wie klare Bergseen waren. »Wann, sagten Sie, sind die ersten Symptome bei Ihrer Gattin aufge treten?« »Etwa mit achtzehn Jahren, glaube ich. Als ich sie kennen lernte, war sie schon erblindet. Es begann mit Sehstörungen und ständig entzün deten Augen.« »Ich verstehe.« »Sie stammt aus gutem Hause. Ihre Eltern waren mit ihr bei allen möglichen Kapazitäten. Man hat festgestellt, daß ihre Krankheit rheu matischen und tuberkulösen Ursprungs ist … oder vielmehr wäre. Beides ist nämlich inzwischen ausgeheilt, aber die Augen sind trotz dem nicht besser geworden.« »Es muß also ein anderer Krankheitsherd bestehen«, sagte Dr. Hil pert nachdenklich, »oder, besser ausgedrückt, noch ein anderer Krank heitsherd.« Er straffte die Schultern. »Wir müssen diesen Herd finden. Es liegt nun an Ihnen, ob Sie Ihre Gattin bei uns in der Klinik lassen wollen …« »Ich werde Xenia fragen.« Der Bankier von Schöller erhob sich. »Sie soll selber entscheiden.« »Wann darf ich Sie also wieder erwarten?« »In zwei Minuten oder überhaupt nicht mehr. Meine Gattin wartet draußen.« Dr. Hilpert sah dem Bankier nach, wie er hinauswatschelte. Er hät te liebend gern eine Zigarette geraucht. Seine Nerven waren gespannt. Seit Jahren hatte er sich bemüht, die Erinnerung an Xenia – die demüti gende Erinnerung an Xenia, wie er sich selber gestand – aus seinem Ge dächtnis zu verbannen. Xenia war seine erste Liebe gewesen – bis heu te seine einzige wirkliche Liebe –, und sie hatte ihn verraten. Von einem Tag auf den anderen hatte sie sich von ihm zurückgezogen, keinen sei ner Briefe beantwortet, sich am Telefon verleugnen lassen und, als sie sich einmal auf der Straße trafen, durch ihn durchgesehen, als wäre er Luft. Es war wie eine Mauer gewesen, an der er sich wund geschlagen hatte. Die Erinnerung schmerzte heute noch, nach all den Jahren. 82
Dann öffnete der Bankier die Tür und ließ seine Gattin eintreten. Sie war nicht mehr jung und nicht mehr strahlend, und dennoch sehr schön. Dr. Hilpert erkannte sie auf den ersten Blick – es war Xenia, sei ne Xenia, auch wenn ihre Augen unter einer dunklen Brille verborgen waren. Er fühlte, wie er rot und blaß wurde, suchte nach Worten. Sie kam ihm zuvor. »Sie wollen mich untersuchen, Herr Doktor?« sagte sie mit einem zitternden Lächeln und nahm ihre Hornbrille ab. Dr. Hilpert sah ihre Augen, ihre armen, hochrot entzündeten Augen, und er spürte, wie ihm kalter Schweiß aus allen Poren brach. Xenia, wollte er sagen, Xenia – aber gerade noch rechtzeitig begriff er, daß sie nicht ahnte, wer er war. Sie war erblindet.
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M
ittwoch nachmittags war in der Augenklinik keine Sprechstun de. Seit Wochen pflegten Dr. Norman Hilpert und die Hospitan tin Gabriele Zerling diesen Nachmittag gemeinsam zu verbringen. Dazu war zwischen ihnen keine besondere Verabredung nötig, es er gab sich mit der größten Selbstverständlichkeit. Aber an dem Mittwoch, nach dem die neue Patientin Xenia von Schöller ihren Einzug gehalten hatte, wartete Gabriele vergebens. Un auffällig schlenderte sie durch alle jene Räumlichkeiten, in denen der Arzt sich möglicherweise aufhalten konnte. Sie fand ihn nicht. Es gab jetzt nur zwei Möglichkeiten: er hatte das Haus ohne sie ver lassen oder war auf seinem Zimmer geblieben. Es widerstrebte Gabriele, den Portier um Auskunft zu bitten, sie wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, daß sie dem Arzt nach spionierte. So rauchte sie, um Zeit zu gewinnen, im Ärztespeisesaal noch eine 83
Zigarette, machte sich dann, da Dr. Hilpert immer noch nicht erschie nen war, auf den Heimweg. Sie beschäftigte sich ziemlich lang mit ih rem Auto, ließ den Motor aufheulen – aber ohne Erfolg. Dr. Hilpert ließ sich nicht blicken. Auch in den nächsten Tagen bekam sie ihn kaum zu Gesicht, und sie begriff rasch, daß das kein Zufall war. Er ging ihr bewußt aus dem Weg. Sein Benehmen irritierte sie. Sie hätte ihn gern zur Rede gestellt. Aber Stolz und Klugheit verboten ihr sich aufzudrängen, eine Aus sprache herbeizuführen, die von der anderen Seite offensichtlich nicht gewünscht wurde. Es gelang ihr sogar, ihre Überraschung zu verbergen, als er sich ihr dann eines Tages ganz unvermutet wieder näherte. Sie hatte sich nach dem Mittagessen eine Tasse Kaffee bestellt, und das Hausmädchen hatte sie ihr gebracht, als Dr. Hilpert quer durch den unpersönlichen Raum auf sie zukam. »Aber Gaby!« sagte er. »Du willst doch wohl nicht etwa allen Ernstes dieses Gesöff trinken?« Sie hob den Kopf. Außer ihnen war nur noch eine Gruppe junger Ärzte im Zimmer, die in eine heftige Diskussion über Wert und Un wert von Hornhautübertragungen verstrickt war. »Nein«, erwiderte sie ruhig. »Ich wollte mir die Zähne damit put zen.« Er lachte, um eine gewisse Unsicherheit zu überspielen. »Komm, ge hen wir in mein Arbeitszimmer. Schwester Karla wird uns einen an ständigen Kaffee brauen.« Sie war nahe daran, kühl abzulehnen – aber dann siegte ihre Neu gier. Ihre Neugier und ihre Zuneigung, die sich trotz Ärger und Krän kung durchaus nicht vermindert hatte. Sie stand auf und folgte ihm zur Tür. Als sie nebeneinander über den langen Gang gingen, redete er mun ter drauflos – zu munter, wie sie fand. Es war allzu deutlich, daß auch er diese Situation als peinlich empfand. »Schwester Karla hat mich ein bißchen unter ihre Fittiche genom men, weißt du. Seit der Chef weg ist, fehlt es ihr anscheinend an Gele 84
genheit, ihren Mutterkomplex auszutoben. Aber mir kann es nur recht sein. Sie ist wahrhaftig eine Perle. Eigentlich merkwürdig, daß kein Mann je auf die Idee gekommen ist, sie zu heiraten.« »Ich nehme an, daß sie selber keinen Wert darauf gelegt hat«, sagte Gabriele kühl. »Meinst du wirklich?« Er lachte. »Nein. Das glaube ich nicht.« Er öff nete die Tür zum Arbeitszimmer Professor Bergmeisters, das er in des sen Abwesenheit benutzen durfte, führte Gabriele zu dem niederen Ecktisch mit den bequemen Sesseln. »Cognac?« fragte er. »Zigarette?« Er hielt ihr ein geöffnetes Päckchen hin, schnippte mit dem Zeigefinger zwei, drei Stück nach vorn. Sie zog sich eine Zigarette heraus, sagte: »Danke. Keinen Cognac, bitte. Trinken tu ich prinzipiell erst nach Feierabend.« Er gab ihr Feuer, zündete sich selber eine Zigarette an. »Aber wenn du erlaubst, werde ich doch …« Er ging zum Schreibtisch, öffnete die rechte Tür, zog eine Flasche heraus. »Ich erlaube nicht«, sagte sie sehr ruhig. Er drehte sich um, sah sie erstaunt an. »Du hast mich ganz richtig verstanden«, sagte sie und betrachtete ihn mit freundlichem Spott. »Ich möchte nicht, daß du jetzt trinkst. Es sei denn, du bringst das, was du mir zu sagen hast, nicht nüchtern über die Lippen.« Er stellte die Flasche, die er immer noch in der Hand gehabt hat te, mit einem harten Knall auf die Schreibtischplatte. »Aber … wie kommst du darauf, daß ich …« »Weil du mir eine Erklärung schuldig bist«, unterbrach sie ihn kühl. »Ich hatte gehofft, daß du das wenigstens begriffen hättest.« Sie hat te sich in den Ecksessel gesetzt, schlug die schlanken, zierlichen Bei ne übereinander. Er sah sie an, sagte sehr beherrscht, in ganz verändertem Ton: »Du hast natürlich recht, Gaby. Ich habe dir etwas zu sagen …« Ihr Herz tat ein paar harte Schläge, sie bohrte die Nägel ihrer freien Hand schmerzhaft in den Ballen, um ihre angstvolle Erregung vor ihm zu unterdrücken. »Ja …?« fragte sie mit betont gleichgültiger Stimme. 85
Er trat auf sie zu, packte sie beim Handgelenk. »Gaby, bitte … willst du mich heiraten?« Die Erleichterung, daß es nicht der Abschied war, den er ihr anbot, war so groß, daß sie ihr eine heiße rote Welle bis in die Haarwurzeln trieb. Dennoch klang ihre Stimme sehr kühl, als sie fragte: »Warum?« Er stieß ein kleines, unnatürliches Gelächter aus. »Was für eine Fra ge! Wozu heiratet man? Um beisammen zu sein. Um Freud und Leid miteinander zu teilen.« »Du hast meine Frage falsch verstanden«, sagte sie. »Was ›man‹ tut, interessiert mich gar nicht. Ich möchte wissen, warum du mich heira ten willst. Und warum ich, deiner Meinung nach, damit einverstan den sein soll.« Schwester Karla kam nach leisem Anklopfen herein, senkte nach ei nem kurzen, neugierigen Blick die Augen, stellte das Tablett mit dem Kaffeegeschirr auf den kleinen Tisch und eilte, als Dr. Hilpert und Gabriele sich bedankt hatten, mit Verschwörermiene wieder hinaus. »Da … hast du gesehen?« sagte Dr. Hilpert. »Die Gute tut, als ob …« Gabriele fiel ihm ins Wort. »Du hast mir meine Frage noch nicht be antwortet.« »Hör mal, Gaby …« »Ich möchte es wissen.« »Na schön. Du willst hören, daß ich dich liebe.« Er tat Milch und Zucker in seinen Kaffee, sagte, ohne Gabriele anzusehen: »Ich liebe dich und kann ohne dich nicht mehr leben. Jetzt zufrieden?« »Überglücklich«, erwiderte sie mit unverhohlenem Spott. »Nur lei der muß ich dir mitteilen, daß ich dich nicht liebe und sehr gut ohne dich auskommen kann.« »Das heißt also … nein?« »Genau.« Er rührte mit gefurchter Stirn in seiner Kaffeetasse. »Norman«, sagte sie mit veränderter Stimme, »warum sagst du mir nicht die Wahrheit? Warum hast du dich in letzter Zeit so rar gemacht? Was ist los mit dir?« 86
Da er schwieg, fügte sie drängend hinzu: »Hängt es mit der Patientin von Zimmer siebzehn zusammen?« Er fuhr auf. »Wie kommst du darauf?« »Ich versuche, zwei und zwei zusammenzurechnen. Deine Besorgnis um Frau von Schöller und die Zahl deiner Besuche bei ihr sind nicht nur mir aufgefallen.« »Dieser verdammte Klatsch!« sagte er zornig. »Man kann wahrhaftig keinen Schritt tun, ohne daß sich jeder hier das Maul zerreißt!« Sie überhörte seinen Ausbruch. »Hast du dich in sie verliebt, Nor man?« »Ach, Unsinn.« »Was dann?« »Hör mal, Gaby, willst du wirklich die Wahrheit wissen?« »Ich würde mich freuen, wenn du soviel Vertrauen zu mir hättest.« Er nahm einen Schluck Kaffee, zündete sich umständlich eine zwei te Zigarette an. Sie begriff, daß er das alles tat, um Zeit zu gewinnen, und drängte ihn nicht. »Ich war einmal in Xenia verliebt«, sagte er endlich. »Das ist lange her. Ich war damals über zwanzig, und sie … noch keine siebzehn.« »Also … die berühmte erste Liebe?« Er beantwortete ihre Frage nicht. »Sie war ein strahlendes junges Ge schöpf, sehr reich und verwöhnt, ein Stern an meinem Himmel. Ver stehst du das?« »Und wie seid ihr auseinander gekommen?« »Sie hat mich stehen lassen. Von einem Tag auf den anderen.« »Du Armer«, sagte sie lächelnd, »tut es immer noch weh?« »Jetzt nicht mehr. Aber sie tut mir unendlich leid … kannst du das verstehen? Erblindet, entstellt, und zu allem Überfluss mit diesem grässlichen fetten Kerl verheiratet.« »Es klingt schrecklich. Aber vielleicht ist sie gar nicht so unglücklich, wie du meinst? Oder hat sie sich an deiner Brust ausgeweint?« »Nein«, sagte er feindlich, »so etwas täte Xenia nie. Sie ist durchaus Dame.« »Im Gegensatz zu mir, wolltest du damit wohl sagen.« Gabriele zeig 87
te ein verzerrtes kleines Lächeln. »Nach allem, was du von ihr erzählst, scheint sie ja ein ziemlich unangenehmes Geschöpf zu sein. Aber leid tun kann sie einem natürlich trotzdem.« Gabriele faltete die Hände über den Knien, beugte sich vor. »Wahrscheinlich ist sie über das un vermutete Wiedersehen mit dir ziemlich erschüttert gewesen, wie?« Er schwieg so lange, daß sie begriff, eine empfindliche Stelle getrof fen zu haben. »Sie weiß es gar nicht«, sagte er endlich gepresst, »sie weiß nicht, wer ich bin.« Sie war ehrlich überrascht. »Du hast es ihr nicht gesagt?« »Nein.« Er bewegte gequält die Hände. »Es wäre eine zu … makabre Situation geworden, kannst du das denn nicht verstehen?« »Nun, ich finde, verfahrener als die Situation jetzt ist, kann sie ja wohl nicht werden«, erklärte sie vernünftig. »Soll ich es ihr sagen?« »Nur nicht.« Sie seufzte unwillkürlich. »Du liebst sie also doch noch.« »Aber Gaby, ich versichere dir …« »Mach dir doch selber nichts vor. Das alles, was du mir bis jetzt er zählt hast, ist doch weiß Gott keine Erklärung … weder für deinen Heiratsantrag noch für dein sonderbares Benehmen in den vergange nen Tagen.« Er runzelte die Stirn. »Glaub mir doch, Gaby … ich weiß nicht, ob ich sie liebe. Wirklich nicht. Ich habe nur unendliches Mitleid mit ihr.« »Um so schlimmer. Dieses Mitleid ist ungesund, Norman. Du bist Arzt. Du weißt, daß du dir persönliche Anteilnahme und Mitleid nur in sehr begrenztem Maß erlauben darfst. Sonst schadest du dir selber und deinen Patienten.« »Wie weise du sprichst«, sagte er mit erzwungenem Spott. »Ich erzähle dir nur das, was du noch vor wenigen Tagen selbst ge wußt hast … was du jedem anderen, der in die gleiche Situation gera ten wäre, auch klarzumachen versucht hättest.« »Verzeih, Gaby«, sagte er, plötzlich beschämt, »du hast natürlich recht.« »Wenn du so persönlich angerührt bist«, fuhr sie unerbittlich fort, 88
»darfst du sie nicht länger behandeln. Und schon ganz und gar nicht, ohne daß sie weiß, wer du bist und was mit dir los ist.« »Du willst nur, daß ich sie nicht mehr sehe.« »Das wäre auch wahrhaftig das Beste für dich! Wenn eine Frau einen Mann so weit bringt, daß er, nur um sich zu schützen, einer anderen einen Heiratsantrag macht, dann ist sie gefährlich.« »Du bist eifersüchtig.« »Das auch. Und es scheint mir nur natürlich. Jedenfalls gesünder als deine verrückte Liebe zu einer Frau, die dich schmählich im Stich ge lassen hat und jetzt längst an einen anderen gebunden ist.« Sie trat sehr dicht auf Dr. Hilpert zu. »Versprich mir, daß du es ihr sagst, Nor man!« »Ich werde es versuchen.« »Nicht versuchen. Du mußt es tun.« »Aber der Chef kommt doch sowieso in ein paar Tagen zurück, und dann …« »Muß sie es wissen. Sie muß es vorher wissen, begreifst du denn nicht, Norman? Wie stehst du da, wenn sie es durch einen Zufall sel ber herausbekommt? Oder durch ihre Mutter oder sonst jemanden, der dich seinerzeit auch gekannt hat! Das darfst du nicht riskieren. Deine Berufsehre steht auf dem Spiel.«
In Paris regnete es, ein haarscharfer eisiger Regen, der Trottoirs und Fahrbahnen mit schimmerndem Glanz überzog. Es war kein Wetter zum Spazierengehen. Aber Vera Bergmeister litt es nicht in der schlampigen und ein we nig muffigen Atmosphäre des kleinen Hotels nahe der Madeleine. Ihr Mann hatte es nicht zugelassen, daß sie ihn zu seiner Konsultation bei Professor Lejeune begleitete. Unruhe und Ungeduld trieben sie aus dem Haus. Sie ging mit raschen Schritten, die Hände in die Manteltaschen ge bohrt, die Schultern leicht hochgezogen, den Mantelkragen aufge 89
schlagen. Ihr üppiges Haar hatte sie hochgesteckt, es verschwand un ter dem breitrandigen Regenhut. Sie stürmte durch die bergauf und bergab steigenden Gassen des Montmartre, vorbei an kleinen romantischen Läden und Nachtloka len, die jetzt, im hellen grauen Licht des Regentages, ihren verlocken den Zauber eingebüßt zu haben schienen. Zwei dicke Frauen mit gro ßen Einkaufskörben, die sich im Schutz einer Toreinfahrt zu einem Tratsch zusammengefunden hatten, beobachteten sie mit neugierigen Blicken. Vera lief weiter und weiter, spürte den eisigen Regen wie kalte Peit schenschläge auf Lippen und Wangen, empfand zu ihrem eigenen Er staunen den scharfen Schmerz fast als angenehm. Es war ihr, als risse er sie aus ihrer geistigen Dumpfheit, hülfe ihr, klar und unsentimen tal zu denken. Ein schwarzer französischer Wagen kam ihr langsam auf der rechten Seite der schmalen Fahrbahn entgegen. Vera schenkte ihm keinen Blick. Sie merkte nicht, daß das Auto hinter ihr, an der Place de la Concor de, wendete und wieder zurückfuhr. Erst als es wenige Schritte vor ihr hielt und ein hochgewachsener junger Mann ausstieg, wurde sie auf merksam. Er war barhaupt, und der Regen lief ihm über das eng anlie gende schwarze Haar in Stirn und Nacken, als er sie ansprach. Veras Kenntnisse der französischen Sprache waren sehr gering, und jetzt, in der Sekunde der Überrumpelung, hatte sie fast alles vergessen. Aber Gesten und Lächeln des jungen Mannes waren verständlich ge nug – er wollte sie einladen, seinen Wagen zu benutzen. Vera preßte die Lippen zusammen und schüttelte ihren Kopf. Der junge Mann gab nicht nach, sprach lebhaft auf sie ein. Sie begriff, er versuchte ihr verständlich zu machen, daß er kein eindeutiges Aben teuer suchte, sondern sie dorthin bringen wollte, wo immer sie befahl. »Non, Monsieur, non!« stieß sie hervor. »C'est impossible!« Mit ei nem raschen Schritt wich sie aus und eilte weiter. Erst als er ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte, erlaubte sie sich ein Lächeln. Ihr Herz klopfte. Sie spürte plötzlich nichts mehr von Regen 90
und Kälte. Eine heiße Flamme schien sie von innen heraus zu erwär men. Mein Gott, ein junger Mann hatte sie angesprochen! Es war ungehö rig, ordinär, primitiv – und doch, es hatte ihr gut getan. Wie damals die Liebeserklärung von Michael. Zum ersten Mal gab sie sich zu, daß Michaels Werben sie weit weni ger schockiert hatte, als sie sich einzureden versuchte. Sie wußte, daß sie schön und reizvoll war – wie konnte sie da böse sein, daß Michael sich in sie verliebt hatte? Wäre es nicht fast eine Beleidigung gewesen, wenn er in ihr wirklich nicht mehr gesehen hätte als die Stiefmutter? Sie erinnerte sich, daß sie im Zorn zu ihrem Mann gesagt hatte, daß sie Michael beneidete. Er war nicht darauf eingegangen, und sie hatte sich hinterher des harten Wortes fast geschämt. Und doch war es wahr. Sie beneidete Michael. Weil er frei war. Weil er, als die Verhältnisse unerträglich für ihn wurden, gegangen war. Fort. Irgendwohin. In die Freiheit. Sie, Vera, würde niemals den Mut dazu haben. Sie hatte sich ja nicht einmal eben getraut, das Angebot des jungen Franzosen anzunehmen. Dabei – was hätte sie schon riskiert? Es wäre ein Spaß gewesen. Eine Abwechslung, ein kleiner Flirt – warum eigentlich nicht? Die Wahr heit war, daß sie in den Jahren, die sie in der kleinen, wichtigtuerischen Universitätsstadt verbracht hatte, restlos verspießert war. Es war unvorstellbar, wie sie sich verändert hatte. Was hatten Kon ventionen ihr gegolten, als sie noch ein junges Mädchen und frei war? Nichts. Weniger als nichts. Sie hatte in den Tag hinein gelebt ohne zu denken – oder doch? Irrte sie sich nicht vielleicht? Nein, gedacht hatte sie damals sehr wenig – nur geträumt, geträumt von Liebe und Erfolg, von Glück und Ruhm. Und bei Licht besehen hatte sie diese Träume auch bitter nötig ge habt. Denn ihr wirkliches Leben sah nicht sehr rosig aus. Durch die Schauspielschule hatte sie sich geradezu durchhungern müssen. Das kleine Stipendium, das sie bekam, hatte niemals zum Sattessen ge reicht. Aber fröhlich war sie gewesen, jung und fröhlich, unter jungen und fröhlichen Menschen. Dann waren die ersten Engagements ge 91
kommen und die ersten Abenteuer, hässliche, vergnügliche und schö ne – aber alle endeten sie bitter. Vera fühlte noch heute einen schlech ten Geschmack im Mund, wenn sie nur daran dachte. Und dann war Klaus Bergmeister in ihr Leben getreten, der interes sante Professor, der seriöse Witwer, Vater eines kleinen Jungen – der erste Mann, der Vera mehr bieten konnte als Geschenke, eine kleine Reise, Amüsement. Professor Bergmeister besaß Sicherheit. Aber das war nicht der wirkliche Grund gewesen, warum Vera sei nen Antrag angenommen hatte. Die Art seines Werbens, sein feinfüh liges kluges Wesen hatten sie beeindruckt. Damals – Vera lächelte bit ter, als sie jetzt daran dachte – hatte sie geglaubt, er würde sie zu sich hinaufziehen. Sie war fest überzeugt gewesen, daß sie am Anfang ei nes interessanten, erfüllten, glücklichen Lebens stünde. Nichts hatte gestimmt. Sie hatte sich soviel Mühe gegeben, an seinen Interessen teilzuneh men. Aber bald hatte sie bemerken müssen, daß er darauf gar keinen Wert legte. Über wissenschaftliche und ärztliche Dinge sprach er mit Kollegen und Mitarbeitern. Wenn sie ihn etwas fragte, war seine ste reotype Antwort: »Ach, das wäre wirklich zu umständlich, es dir zu erklären!« Die zweite Enttäuschung war, daß sie keine Kinder bekamen. Vera hatte sich so sehr ein richtiges fröhliches Familienleben gewünscht. Es verletzte sie, daß ihr Mann sich aus ihrer Kinderlosigkeit gar nichts zu machen schien. »Wir haben ja Michael«, pflegte er zu sagen. – Als wenn Michael ihr je Ersatz für eigene Kinder hätte sein können! Nein, nichts war so geworden, wie sie es sich vorgestellt hatte. Was blieb, waren schöne Kleider, eine gewisse gesellschaftliche Stellung und Einsamkeit. Plötzlich blieb Vera mitten im Lauf stehen. Der Regen hatte aufgehört, aber noch brach kein Lichtstrahl durch den grauen Wolkenhimmel. Warum machte sie das eigentlich mit? Warum konnte sie nicht den Mut finden, Schluß mit dieser Ehe zu machen? Wem tat sie denn Gu tes damit, wenn sie blieb? 92
Sie war keine angenehme Ehefrau, das gab sie sich in dieser Minu te zu, sie war verbittert, enttäuscht, zornig, und es gelang ihr nicht, ihre Gefühle vor ihrem Mann zu verbergen. Vielleicht würde er sogar froh sein, sie loszuhaben. Dann würde auch Michael über kurz oder lang wieder nach Hause kommen, Michael, der nur ihretwegen geflo hen war. Ja, das war die Lösung. Vera setzte ihren Weg, diesmal in ruhigerem Tempo, fort. Sie muß te versuchen, sich im Guten von Klaus zu trennen. Noch war sie jung genug, ein neues Leben anzufangen. Und er würde genauso glücklich ohne sie sein. Falls er sein Augenlicht nicht verlor. Ja, das war der Punkt, von dem jetzt alles abhing. Wenn er erblin dete, so konnte sie ihn nicht allein lassen. Das hätte sie selber sich nie verziehen. Aber vielleicht hatte er Glück. Sie kannte ihn gut. Er hätte die Reise nach Paris nicht unternommen, wenn er nicht doch noch ge hofft hätte. Sie drehte sich um und eilte den Weg, den sie gekommen war, zurück. Vielleicht war schon alles vorüber. Vielleicht hatte Professor Lejeune ihm schon gesagt, daß das Schlimmste abgewendet werden konnte. Vera ballte unwillkürlich ihre schmalen Hände zu Fäusten. Wenn es so war – wenn er ihr gleich sagen würde, daß alles wieder in Ordnung war, dann würde sie ihm sofort gestehen, daß sie fort wollte. Seine Er leichterung über Lejeunes Eröffnung würde so groß sein, daß ihn ihr unerwarteter Entschluß kaum treffen würde. Als Vera den Eingang des Hotels erreichte, sah sie, daß ein Taxi da vor hielt. Sie erkannte, daß es ihr Mann war, der ausstieg. Er bezahlte gerade den Chauffeur, und sie sah nur seinen wie immer ein wenig ge beugten Rücken. »Klaus!« rief sie aufgeregt. Er fuhr herum, das Portemonnaie noch in der Hand, versuchte zu lächeln. Aber im gleichen Augenblick erlosch ihre Erregung. Ein Blick in sein Gesicht hatte genügt. Sie hatte alles begriffen. Professor Lejeune hatte ihrem Mann keine Hoffnung machen können. 93
Dr. Norman Hilpert öffnete die Tür zum Krankenzimmer der Patien tin Xenia von Schöller. Es war zwei Uhr, Zeit der Mittagsruhe, und er wollte sie nicht stören, falls sie gerade schlief. Aber mit dem geübten Ohr der Blinden entging ihr das Geräusch nicht. »Wer ist da?« rief sie sofort. Durch ihre dunklen Brillengläser blickte sie zur Tür hin, aber er wußte nur zu gut, daß sie nichts sah. Gar nichts. »Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie erschreckt habe, gnädige Frau …« Xenia ließ den blonden Kopf mit einem Ausdruck der Erleichte rung wieder in die Kissen zurücksinken. »Ach, Sie sind's, Herr Dok tor!« Sie streckte die zarte, blutleere Hand aus. »Bitte, setzen Sie sich zu mir …« »Ich störe also nicht?« »Nie!« sagte sie impulsiv, dann fügte sie abschwächend hinzu: »Es ist wirklich nicht lustig, im Bett zu liegen. Besonders wenn man sich, wie ich, gar nicht krank fühlt.« »Doktor Schniep war mit Ihren Tonsillen gar nicht sehr zufrieden. Ich denke, er hat es Ihnen schon gesagt?« »Daß die Mandeln raus müssen? Ja. Und ein paar Zähne werde ich auch opfern müssen. Der Zahnarzt wollte mir sogar einreden, alle zie hen zu lassen … ein Gebiss, behauptet dieser komische Mensch, wäre in jedem Fall viel gesünder.« »Na, da hat er nicht ganz so unrecht …« Xenia richtete sich auf den Ellenbogen hoch, schob sich eine Sträh ne ihres glatten seidigen Haares aus der hohen Stirn. »Sagen Sie das im Ernst?« »Ja. Sehen Sie, gnädige Frau, das Schwierige in Ihrem Fall ist ja, daß es einen Krankheitsherd geben muß, den wir nicht finden können. Möglicherweise könnte er doch gerade in einem der Zähne stecken, die Sie nicht opfern wollen.« »Möglicherweise. Aber nicht unbedingt, Sie sagen es selber. Ich möchte nicht restlos wie eine alte Hexe herumlaufen.« »Das würden Sie nicht«, sagte er ganz überzeugt, »es gibt eine Schön heit, die unzerstörbar ist.« 94
Die Blutwelle, die ihr bei diesem Kompliment ins Gesicht schoß, ließ sie auf einmal wieder sehr jung erscheinen. »Das haben Sie sehr nett gesagt … überhaupt, Sie sind ein sehr netter Mensch. Es tut mir nur leid …« Sie stockte. »Was?« »Daß ich Sie nicht sehen kann. Den meisten Menschen gegenüber macht mir das gar nicht soviel aus. Nach den Stimmen kann man sich ja immer schon eine Menge vorstellen.« »Und bei mir … können Sie das nicht?« »O doch. Aber ich weiß nicht, ob ich mich nicht irre.« Dr. Hilpert spürte, daß dies der Augenblick war, wo er ihr hätte die Wahrheit sagen sollen. Aber eine seltsame Scheu hielt ihn zurück. Da er schwieg, fragte Xenia nach einer kleinen Pause: »Darf ich raten?« Er zuckte ein wenig zusammen, denn er war ganz mit seinen Über legungen beschäftigt gewesen. Er war in diesem Moment froh, daß sie ihn nicht sehen konnte. »Bitte«, sagte er, »ich bin gespannt.« »Sie sind groß«, sagte Xenia zögernd, »haben schwarzes glattes Haar.« »An den Schläfen schon ein bißchen licht«, ergänzte er. »Gerade Nase, fester Mund … ein Grübchen im Kinn …« Sie lächel te fast schüchtern. »Stimmt es soweit?« »Ja«, sagte er ganz überrascht, »tatsächlich.« »Blaue Augen …« Plötzlich begriff Dr. Hilpert, und er schämte sich, daß er so lange dazu gebraucht hatte. »Sie wissen also«, sagte er. »Du weißt es, und ich hatte gedacht …« »Du wolltest mich nicht erschrecken«, sagte sie ruhig. »Daß du das verstehst!« Ihre Hand tastete sich zu ihm hin, und er hielt sie fest. Lange Zeit blieben sie beide ganz still. »Es muß furchtbar gewesen sein für dich«, sagte sie dann endlich mit zitternder Stimme, »oder … vielleicht hast du auch gedacht … die Strafe des Schicksals?« 95
»Xenia! Wie kannst du etwas so Ungeheuerliches glauben?« »Verzeih. Ich weiß, du warst immer gut … viel zu gut für mich. Ich habe deine Liebe nie verdient.« »Bitte … ich weiß, daß es töricht ist, danach zu fragen … nach all den Jahren. Aber warum … sag mir, warum du mich damals hast stehen lassen? Ohne ein Wort? Ohne jeden Abschied?« »Ich war jung und dumm und sehr grausam.« »Aber du mußt doch einen Grund gehabt haben!« »Hast du dir das wirklich nie denken können?« Sie schluckte, und es war ihr anzumerken, daß es sie Überwindung kostete, offen zu spre chen. »Ein anderer Mann war in mein Leben getreten … ein anderer, der mehr Geld hatte, viel mehr als du, der mir alles bieten konnte, was ich mir erträumte.« »Von Schöller?« »Otto? Nein, natürlich nicht. Ein anderer.« Sie seufzte. »Aber sein Name ist ohne Interesse. Er hat sich natürlich zurückgezogen, als ich krank wurde.« Sie spürte seine Bewegung, setzte rasch hinzu: »Du darfst mir nicht glauben. Ich übertreibe. Der gute Arno hat eine gan ze Weile bei mir ausgehalten, ein Jahr und noch ein wenig länger. Erst als er begriff, daß nichts zu machen war … ich habe kein Recht, es ihm übel zu nehmen. Ich bin ja selber nicht besser.« »Trotzdem … ich möchte diesem Schurken den Schädel einschlagen.« Plötzlich lächelte sie, ein überraschendes Lächeln, das ihr von Leid gezeichnetes Gesicht auf seltsame Weise erhellte. »Echt Norman«, sag te sie, »mein Gott, ich glaube, du hast dich kein bißchen verändert. Er zähl mir von dir! Dein Leben …« Er unterbrach sie. »Bist du glücklich?« Er verbesserte sich rasch. »Ich meine … ist deine Ehe gut?« Ihr Gesicht verschloss sich, wurde herb. »Erwartest du jetzt, daß ich dir etwas vorjammere?« »Aber, Xenia!« »Ich habe kein Recht dazu. Wahrscheinlich muß ich dankbar sein, daß Otto mich überhaupt genommen hat. Es ist bestimmt nicht ein fach, mit einer blinden Frau verheiratet zu sein.« 96
»Hält er es dir vor?« »O nein. Da kennst du ihn schlecht. Er spielt die Rolle des liebevoll besorgten Ehemanns ausgezeichnet.« »Ich hatte auch den Eindruck, allerdings …« Er unterbrach sich. »Entschuldige, bitte, ich benehme mich wie ein Tölpel. Ich habe wirk lich nicht das Recht, indiskret zu sein.« »Was wolltest du sagen? Du hast dich mitten im Satz unterbrochen.« »Ach, wirklich? Jetzt weiß ich es nicht mehr.« »O doch. Mach mir nichts vor. Bitte, Norman, sag mir die Wahrheit. Ich hab ja sonst keinen Menschen, der wirklich ehrlich zu mir ist.« »Na ja«, sagte er, sehr unzufrieden mit sich, daß er dieses Thema überhaupt angeschnitten hatte, »es fiel mir nur auf … es scheint dei nem Mann gar nicht viel daran zu liegen, daß du dein Augenlicht wie dergewinnst.« »Natürlich nicht«, bestätigte sie mit einer Ruhe, die ihn erschreckte, »es wäre wahrscheinlich sehr unbequem für ihn, wenn ich sehend würde.« »Aber … ich verstehe nicht …« sagte er ganz verwirrt. »Norman, bitte, denk doch einmal nach. Als Otto mich kennen lern te, war ich schon blind … so wie heute. Warum, glaubst du, daß er mich geheiratet hat?« »Vielleicht … hat ihn deine Krankheit nicht gestört.« »Vielleicht. Oder er hat etwas durch sie gewonnen, was den Feh ler ausgleicht.« Als er verständnislos schwieg, ergänzte sie mit halber Stimme: »Du weißt, daß meine Eltern reich sind. Ich war maßlos ver wöhnt. Papa hat immer alles getan, um mich glücklich zu machen, mir jeden Wunsch erfüllt. Mehr als alles andere auf der Welt lag ihm dar an, daß ich glücklich war.« »Du hast deinen Mann also geliebt?« »Wie konnte ich denn, da ich ihn nie gesehen habe? Aber er küm merte sich um mich. Er lud mich zum Essen ein, ins Konzert, las mir vor, schenkte mir Schallplatten … er machte mir den Hof. Und natür lich gab mir das einen gewissen Auftrieb. Das Gefühl, geliebt zu wer den, ist für eine Frau sehr wichtig, Norman, für eine kranke wahr scheinlich noch viel wichtiger als für eine gesunde.« 97
»Ich verstehe.« »Ich war ganz sicher, daß Otto mich liebte, und deshalb … natür lich wollte ich ihn gern heiraten. Erst viel später bin ich darauf gekom men … ach, eine Blinde ist so leicht zu täuschen.« »Aber, Xenia«, sagte er, »das braucht ja gar nicht zu stimmen, das re dest du dir doch nur ein.« »Nein. Ich weiß es. Ich bin ganz sicher. Er hat mich meines Geldes wegen geheiratet. Aus keinem anderen Grund.« Ihre blutleeren Finger tasteten nervös über die Bettdecke. »Warum würde er mir sonst ver bieten, meine Eltern zu besuchen?« »Tut er das?« fragte Dr. Hilpert erstaunt. »Ja. Und sie kommen auch nicht zu mir. Schon seit über einem Jahr nicht mehr. Das kann nur einen einzigen Grund haben … er will uns nicht zusammen lassen, damit ich nicht die Wahrheit erfahre. Er hat sich nämlich mit meinem Vater überworfen. Wahrscheinlich hat Papa ihn durchschaut. Wenn auch zu spät.« »Aber schreiben können dir deine Eltern doch wenigstens!« »Ja, das können sie. Er liest mir Mamas Briefe vor … weiß ich denn, ob sie echt sind? Und woher soll ich wissen, ob er meine Briefe wirk lich abschickt? Norman, ich wollte es dir eigentlich gar nicht sagen, es klingt so unglaubwürdig … aber er hält mich wie eine Gefangene.« Dr. Hilpert war so erschüttert, daß er kein Wort hervorbringen konnte. Sie spürte es. »Ich hätte dir das alles nicht erzählen dürfen«, sagte sie, »aber du bist der erste Mensch … der einzige Mensch seit vielen Jah ren, mit dem ich es wagen konnte, offen zu reden.« Er hatte sich wieder gefaßt. »Xenia«, sagte er, »morgen oder über morgen kommt Professor Bergmeister wieder. Er wird dich untersu chen … er wird …« Sie schüttelte den schmalen schönen Kopf. »Nein, Norman. Ich brau che Professor Bergmeister nicht. Wenn ich etwas weiß, dann ist es das … du bist der einzige, der mir helfen kann … als Mensch und als Arzt. Bitte, bitte, hilf mir!« 98
Die kleine Gerti Hellmer kam, wie immer, nachmittags in die Augen klinik, da sie vormittags Schule hatte. Sie begrüßte Dr. Hilpert mit ei nem fröhlichen Lächeln, reichte ihm ihre kleine feste Hand. »Der Herr Professor ist verreist, hat mir Schwester Karla gesagt …« »Ja, und rat mal wohin? Nach Paris!« »Au fein. Da möchte ich auch mal hin!« Gerti kannte alle Ärzte und Schwestern in der Augenklinik. Sie litt an einem Buphthalmus, angeborenem grünen Star, und hatte in ih rem vierzehnjährigen Leben schon eine ganze Reihe Operationen mit gemacht. Als sie vier Jahre alt war, hatten die Eltern bemerkt, daß das eine Auge wesentlich größer wurde und das Mädchen auf dieser Sei te wesentlich schlechter sah. Der Augenarzt stellte eine angebore ne Drucksteigerung fest und überwies sie in die Klinik. Eine Druck entlastungsoperation hatte Erfolg, der allerdings nur etwa zwei Jah re anhielt, dann begann der Augeninnendruck wieder zu steigen, bis eine weitere Operation notwendig war. Die Sehkraft des kranken Au ges hatte ständig abgenommen. Trotz dieser schweren Belastung war Gerti immer tapfer und gut aufgelegt, Liebling aller Ärzte und Schwe stern. »Na, dann wollen wir uns das böse Auge mal wieder ansehen«, sagte Dr. Hilpert, »wie steht's denn damit?« Gerti kannte sich aus. Sie folgte Dr. Hilpert in das Dunkelzimmer für optische Geräte. Sie setzte sich, ohne eine weitere Aufforderung ab zuwarten, vor die Spaltlampe. »Na, viel wert ist es ja nicht mehr«, sag te sie munter. »Kopfschmerzen?« »Nein. Bloß sehen tu ich kaum noch etwas damit. Ein bißchen hell und dunkel, mehr nicht. Wissen Sie, manchmal kneife ich das gesun de Auge zu, um es auszuprobieren.« Dr. Hilpert blickte durch die Linse. »Na ja«, sagte er, »kein Wunder. Der Sehnerv ist ziemlich ausgehöhlt.« Er stand auf. »Wollen wir mal den Druck messen.« »Muß das denn unbedingt sein?« Gerti zog das Naschen kraus. »Da du grade da bist. Dann hast du wieder für lange Zeit Ruhe.« 99
Gehorsam folgte Gerti Dr. Hilpert wieder zurück in das helle Zim mer. Während er Pantocain zur Oberflächenanästhesie in das Auge tropf te, erzählte Gerti munter von der Schule, ihren Freundinnen, von ei nem Kinobesuch. Er ermunterte sie zum Reden, um sie abzulenken. Dann, als er sich überzeugt hatte, daß die Augenoberfläche gefühllos geworden war, setzte er das Tonometer auf die Hornhaut. Der vorn im Gerät sitzende Stempel sank ein, der Zeiger schlug aus. Dr. Hilpert war zufrieden. »Na, ganz ordentlich«, sagte er. »Red ihm nur ja gut zu, daß es weiter brav bleibt!« »Das tue ich«, erwiderte Gerti vergnügt, »worauf Sie sich verlassen können. Fertig für heute?« »Ja. Und vielen Dank für deinen Besuch. Holt deine Mutter dich ab?« »Na hören Sie mal!« Gerti lachte. »Ich bin doch schließlich kein Baby mehr! Außerdem … ich bin mit dem Fahrrad gekommen!« »Dann komm gut heim!« Dr. Hilpert verabschiedete sich von Gerti. Er hatte keine Sprech stunde mehr, aber er wollte Direktor Binagel aufsuchen, der ihn zu se hen verlangt hatte. Oberschwester Hilde hatte ihm gesagt, daß er sehr schlecht gelaunt wäre, und Dr. Hilpert wollte ihn nicht warten lassen. Direktor Binagel war mehr als schlecht gelaunt. Er war wütend. Er donnerte Dr. Hilpert an, kaum daß er das Zimmer betreten hatte. Sei ner Meinung nach war diese Operation an seinem rechten Auge ent weder sinnlos gewesen oder schlecht ausgeführt worden. Man hatte ihm am Vormittag die Binde abgenommen, und er hatte mit Enttäu schung und Schrecken festgestellt, daß sein Lähmungsschielen sich überhaupt nicht gebessert zu haben schien. Er drohte, sich an die Ärz tekammer zu wenden, die Augenklinik und insbesondere Dr. Hilpert zu verklagen, einen gewaltigen Skandal zu entfesseln. Dr. Hilpert wartete ab, bis er sich alles von der Seele geredet hatte, dann erst sagte er: »Wenn Sie mich jetzt auch einmal zu Wort kommen lassen wollen, lieber Direktor …« »Damit Sie mich wieder vertrösten, mir einen Haufen Lügen aufbin den können? Nein, das eben will ich nicht!« 100
»Wozu haben Sie mich dann kommen lassen?« fragte Dr. Hilpert ganz ruhig. Oskar Binagel schnappte nach Luft. Dr. Hilpert fand endlich die Gelegenheit, zu reden. »Jetzt passen Sie mal auf, Herr Direktor. Sie wissen ja, um was es bei der Operation ge gangen ist. Da der rechte äußere Augenmuskel durch den Unfall ge lähmt ist, habe ich von dem oberen und unteren geraden Augenmus kel Teilfasern abgelöst und sie auf dem gelähmten Muskel aufgenäht.« Er hob die Hand, als Direktor Binagel ihn unterbrechen wollte. »Sei en Sie still, jetzt rede ich! Die übertragenen Fasern sollen die Funktion des gelähmten Muskels mit übernehmen … das können sie aber nicht ohne weiteres. Jetzt liegt es bei Ihnen, verehrter Direktor, ob Sie wie der richtig sehen lernen oder nicht … für Sie heißt es jetzt üben, üben und noch einmal üben, und zwar am Synoptophor, haben Sie mich verstanden?« »Ja, aber«, sagte Oskar Binagel, mit einemmal ziemlich kleinlaut ge worden, »warum …« Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. Die Oberschwester kam ins Zimmer und sagte: »Einen Augenblick. Bitte, Herr Doktor!« Obwohl sie ganz ruhig, nicht einmal laut gesprochen hatte, begriff Dr. Hilpert sofort, daß etwas geschehen sein mußte. Er kannte die Oberschwester seit einigen Jahren. Er hatte sie noch nie so blaß, nie mit diesem entsetzten Ausdruck in den Augen gesehen. Er folgte der Schwester sofort auf den Gang hinaus. »Ja, was gibt's?« »Gerti Hellmer …« Es war Oberschwester Hilde anzumerken, daß sie nur mit äußerster Beherrschung ihre Sprache in der Gewalt behielt. »Sie ist verunglückt.« »Mit dem Fahrrad?« »Ja. Sie ist so unglücklich gestürzt, daß … sie ist mit dem Auge direkt in den Seitenspiegel gefallen.« »Mit welchem?« fragte Dr. Hilpert und hatte sich schon in Richtung Unfallstation in Bewegung gesetzt. »Mit dem gesunden!« sagte die Oberschwester. 101
Dann war es plötzlich mit ihrer Beherrschung vorbei. Sie schluchzte vor Erregung. »Der Herr Doktor Böninger sagt, es ist vollkommen zer fetzt … mein Gott, das Kind! Das arme Kind!«
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rofessor Bergmeister und seine Frau kamen am frühen Abend mit einer der neuesten Düsenmaschinen der Lufthansa in MünchenRiem an. Sie waren von Paris geflogen und hätten leicht noch am glei chen Tag weiter nach Hause fahren können. Da ihre Hausangestellte sie aber erst morgen erwartete, wahrscheinlich nichts gerichtet hatte und womöglich sogar außer Haus war, beschlossen sie, in München zu übernachten. Sie stiegen im Hotel ›Drei Löwen‹ ab, wo man den Professor seit Jah ren kannte, nahmen getrennte Zimmer. Das Beisammensein der letz ten Tage war ihnen beiden mehr und mehr zur Qual geworden. Als sie später in die Halle hinunter kamen, kaufte Professor Berg meister sich an der Rezeption eine Zeitung. Vera betrachtete indes sen gelangweilt und gedankenlos die Unterhaltungsanzeigen, die im Gang zum Restaurant angeschlagen waren. Plötzlich wurde sie auf merksam. »Kommst du?« sagte Professor Bergmeister, der hinter sie getreten war. Als sie nicht sofort reagierte, fügte er hinzu: »Wenn du gern heute abend ausgehen möchtest …« Sie hatte ihm gar nicht zugehört. »Ist das die Möglichkeit«, sagte sie, »Michael tritt heute abend auf. Im Deutschen Theater. Was sagst du dazu?« Ihre Wangen hatten sich vor Erregung gerötet, ihre Augen leuchteten. Professor Bergmeister sah sie verständnislos an. »Glaubst du etwa, daß ich mich darüber freuen müßte?« 102
»Aber, Klaus … Michael ist doch schließlich dein Sohn!« »Das ändert nichts daran, daß ich seine augenblickliche Tätigkeit ab lehne.« »Du bist manchmal …« begann sie gereizt, dann unterbrach sie sich, sagte: »Entschuldige, bitte. Wahrscheinlich hätte ich dir gar nichts da von erzählen sollen.« Professor Bergmeister war unwillkürlich näher getreten, starrte kurzsichtig auf das Plakat, das Veras Aufmerksamkeit gefesselt hat te. »Mir scheint, du siehst Gespenster«, sagte er mit einem kleinen, er leichterten Lachen, »ich lese Michaels Namen nirgends.« »Natürlich nicht. Als Sänger nennt er sich ja Mike Masters … ich habe das auf einer Schallplatte gesehen, die er zu Hause gelassen hat.« »Mike Masters!« Professor Bergmeisters Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Abscheus. »Na, wenigstens hat er soviel Anstand, seinen eigenen guten Namen zu schonen.« »Ich glaube eher, daß die Schallplatten-Produktion hofft, ihn so bes ser zu verkaufen«, entschlüpfte es Vera. Aber als sie das Gesicht ihres Mannes sah, begriff sie, daß sie besser daran getan hätte, ihn bei sei nem Glauben zu lassen. Sie gingen in den Speisesaal, aßen beide schweigend und lustlos, je der in seine eigenen Gedanken versunken. Erst beim Nachtisch schnitt Vera das Thema noch einmal an. »Du willst also nicht hingehen?« fragte sie. Er wußte sofort, wovon sie sprach. »Ich glaube, das habe ich wohl deutlich genug zu verstehen gegeben. Außerdem handelt es sich ja be stimmt um eine Veranstaltung für Halbstarke.« »Vielleicht wäre es aber doch ganz interessant«, sagte sie vorsichtig. »Wenn du es dir antun willst … ich lege dir bestimmt nichts in den Weg.« Vera legte ihre Hand in einer Geste lang nicht mehr geübter Zärtlich keit auf seinen Arm. »Klaus … kannst du ihm denn nicht verzeihen?« »Darum geht's ja gar nicht. Michael ist ein erwachsener Mensch. Ich gestehe ihm das Recht zu, sein Leben so zu gestalten, wie er es selber wünscht.« 103
»Aber?« »Für mich ist das kein Beruf, sondern …« er suchte nach dem pas senden Wort, »eine Preisgabe seiner Persönlichkeit«, sagte er schließ lich. »Wie kannst du das beurteilen, ohne daß du ihn wenigstens einmal gehört hast?« Er sah sie voll an, mit einem Ausdruck von Wehmut in dem mage ren, leidgeprüften Gesicht, der sie mehr rührte als seine Worte. »Du hältst mich wohl für einen völlig verbohrten alten Mann, wie?« »Klaus«, sagte sie, und ihre schmale Hand mit den langen, hellrot lackierten Fingernägeln klammerte sich fester in seinen Arm, »warum willst du mich denn nicht verstehen! Ich meine doch nur … Michael bleibt dein Fleisch und Blut. Was er tut und treibt, muß dich doch in teressieren. Selbst wenn du es nicht gutheißt.« »Manchmal«, sagte er und löste sanft ihre Finger von seinem Arm, »glaube ich, daß du ein besserer Mensch bist als ich. Nein, schüttle jetzt nicht den Kopf. Ich weiß genau, was ich sage. Ich weiß, daß ich dir viel … daß ich dir alles schuldig geblieben bin.« Seine Anerkennung beschämte sie. »Aber darum handelt es sich doch gar nicht«, sagte sie rasch, »ich möchte ja nur …« »Uns aussöhnen, ich weiß.« »Nein, Klaus, du verstehst mich ganz falsch. Michael würde unsere Anwesenheit bestimmt gar nicht bemerken. Du sollst ihn ja nicht be grüßen, sondern nur …« »Ich fürchte, du verstehst mich nicht, Vera. Ich bin enttäuscht von Michael, bitter enttäuscht. Das ist wahr. Aber ich liebe ihn heute noch genauso wie damals, als er ein kleiner Junge war … als er sich noch be mühte, mir Freude zu machen.« »Aber gerade deshalb …« »Nein, Vera. Ich kann nicht heucheln. Mein Haus wird Michael of fenstehen … immer und zu jeder Zeit. Gleich, ob er als Sieger heim kommt oder als Gescheiterter. Aber solange er diese Dinge tut, diesen Weg geht, der ihn immer weiter von mir wegführt … so lange ist er für mich gestorben.« 104
»Klaus!« rief sie entsetzt. »Vielleicht habe ich das falsche Wort gewählt«, räumte er ein, »viel leicht hätte ich lieber sagen sollen … so lange lebt er für mich in ei ner anderen Welt, auf einem anderen Stern. Ein Kompromiss ist nicht möglich.« Er winkte dem Kellner, bat um die Rechnung. Vera sah mit gerun zelter Stirn zu, wie er, das Portemonnaie dicht vor den Augen, das Geld heraussuchte, um zu zahlen. Dann erhob sie sich. Er folgte ihr in die Halle. »Was machen wir nun?« fragte er. »Hast du Lust, mit mir noch eine Flasche Wein zu trinken … in irgendeinem netten Lokal?« Sie zögerte. »Ich weiß nicht …« »Ich kenne dich gar nicht wieder«, sagte er mit dem Versuch, gut gelaunt zu erscheinen, »sonst hast du dich doch immer beklagt, daß wir so selten in die Großstadt kommen. Oder möchtest du lieber nach Schwabing rausfahren? Du weißt, leider bin ich ein schlechter Tänzer.« »Sehr lieb von dir.« Vera erwiderte sein Lächeln. »Aber tatsächlich bin ich sehr müde.« »Du willst doch nicht etwa schon ins Bett? Es ist gerade erst acht Uhr vorbei.« »Trotzdem. Ich stecke mitten in einem Krimi, und ich habe zu nichts Lust, solange ich nicht weiß, wer der Mörder ist.« Er sah sie mit einem seltsamen Blick an. »Na schön. Ich will dich nicht zwingen.« »Und was machst du?« »Dann gehe ich natürlich auch auf mein Zimmer. Ich kann vielleicht noch ein bißchen an meinen Notizen arbeiten. Oder einen Brief schrei ben.« Sie ließen sich die Schlüssel geben und fuhren hinauf, verabschiede ten sich vor ihren Zimmertüren mit einem erzwungenen Lächeln. Vera atmete auf, als sie allein war. Sie öffnete das Fenster, das zum Hof hinaus führte, atmete tief die laue föhnige Frühlingsluft. Dann zündete sie sich eine Zigarette an, nahm den Hörer von ihrem Telefon, ließ sich mit dem Portier verbinden. 105
»Herr Kirmayr«, sagte sie und dämpfte unwillkürlich ihre Stimme, »bitte … könnten Sie mir wohl noch eine Karte fürs Deutsche Theater beschaffen? Ja, für heute abend. Ich weiß, daß die Veranstaltung schon begonnen hat, aber … ja, seien Sie so nett! Nein, Sie brauchen nicht heraufzuklingeln. Ich komme auf jeden Fall gleich hinunter!« Sie legte auf, trat vor den Spiegel, musterte aufmerksam ihr helles Gesicht mit den weit auseinander stehenden grünen Augen. Sie nahm den Lidstift, zog mit sicherer Hand eine kräftige dunkle Linie von der Nasenwurzel, den Ansatz der Wimpern entlang schräg nach oben bis zum Schläfenknochen, erst auf der linken, dann auf der rechten Seite. Sie tuschte ihre langen, sanft gebogenen Wimpern tiefschwarz, wähl te ein kräftiges helles Rot für ihren üppigen Mund. Dann löste sie ihr blondes, hochgestecktes Haar, bürstete es, bis es in langen, seidigen Locken bis auf ihre Schultern herabfiel, faßte es dann am Hinterkopf mit einer Schildpattspange zusammen. Endlich war sie mit ihrem Anblick zufrieden. Sie überlegte, ob sie ihr kleines Brokatkleid anziehen sollte, verwarf diese Idee aber sofort. Wahrscheinlich waren vorwiegend junge, salopp gekleidete Leute im Theater. Sie wollte nicht aus dem Rahmen fallen. Ihr tailliertes hellgrü nes Schneiderkostüm war genau richtig für diese Gelegenheit. Nicht einen Augenblick kam ihr der Gedanke, daß der Portier wo möglich keine Eintrittskarte mehr auftreiben könnte. In gewissen Din gen, das wußte sie, hatte sie immer Glück. Nur leider niemals in den wirklich wesentlichen.
Es war neun Uhr vorbei, als der Theaterschließer Vera Bergmeister die Loge gleich über der Bühne im ersten Rang öffnete. Sie war leer. Vera wunderte sich nicht darüber. Der Platz war sehr teuer für eine Veran staltung dieser Art gewesen, und selbst die gutverdienenden jungen Menschen pflegten in solchen Fällen mit ihrem Geld zu rechnen. Sie ging vor bis an die Brüstung, setzte sich leise hin – obwohl sie bald merkte, daß ihre Rücksichtnahme ganz überflüssig war. Der 106
musikalische Lärm von der Bühne her, durch zahllose Lautsprecher übertragen, hätte wahrscheinlich sogar einen Pistolenschuss über tönt. Sie schlug ihr Programm auf, suchte herauszubekommen, um wel che Nummer es sich bei dem als Cowboys verkleideten Gesangstrio handelte, stellte mit Genugtuung fest, daß ›Mike und Moni Masters‹ noch nicht an der Reihe gewesen waren. Die Darbietung auf der Bühne interessierte sie nicht. Sie sah ins Par kett hinunter. Dort saßen sie Kopf bei Kopf, mit aufgerissenen Augen, ein erstarrtes Grinsen um die Münder, vor dem sie wahrscheinlich sel ber erschrocken wären, wenn sie sich so hätten sehen können. Irgend wie ging von diesen Gesichtern, die wie helle Flecken im Halbdunkel des riesigen Raumes schwammen, etwas Beängstigendes und doch zu gleich Faszinierendes aus. Vera spürte, wie das Blut in ihren Adern zu kribbeln begann, wie eine merkwürdige Schwäche in ihre Knie kroch, aber es dauerte eine Zeit, bis sie sich darüber klar wurde, was mit ihr passierte – das Lam penfieber hatte sie erwischt. Sie fühlte sich genauso wie in jener nie vergessenen Zeit, als sie noch selber aufgetreten war. Sie war wieder da, die süße prickelnde Erregung, die lähmende Schwäche, die brennende Vorfreude und zugleich die Angst, die grauenhafte Angst. Sie hatte Lampenfieber für Michael. Sie versuchte sich vorzustellen, wie ihm jetzt wohl hinter der Büh ne zumute war, ihm und dem kleinen Mädchen, das als seine Partne rin auftrat. Mike und Moni Masters – plötzlich fuhr es ihr wie ein Stich durchs Herz. Wieso trugen beide denselben Nachnamen? War es möglich, daß Michael inzwischen geheiratet hatte? Heimlich, ohne seinem Va ter etwas mitzuteilen? Sie preßte die Lippen zusammen. Es hätte ihm ähnlich gesehen. Jetzt, nach dem Bruch mit seinem Vater, war er zu allem fähig. Aber wie kam es, daß diese Vorstellung sie so schmerzte? Wenn er es getan hatte, dann doch nur, um die Liebe zu ihr zu ersticken. Seine Liebe! War es denn möglich, daß sie ihr etwas bedeutete? Die 107
Liebe eines Mannes, der zehn Jahre jünger war als sie? Die Liebe ihres eigenen Stiefsohnes? Das Programm rollte pausenlos ab, ohne daß Vera es wirklich in sich aufnahm. Alles schien ihr seltsam unwirklich wie in einem Traum. Und dazu kam das seltsame Gefühl, daß sie alles, was um sie herum geschah, schon einmal erlebt hatte, irgendwann, in einer Vergangen heit, die sie nicht ins Bewußtsein zu ziehen vermochte, vielleicht in ei nem früheren Leben. Dann kam die große Pause. Das Publikum verließ geräuschvoll den Saal. Vera rührte sich nicht von ihrem Platz. Ihre eiskalten Finger pressten das Programm. Sie wußte, die erste Nummer nach der Pause gehörte Michael. Aber erst kam der Conférencier. Er kündigte Mike und Moni Ma sters als die ›twistenden Geschwister‹ an, gab einen kurzen, bemüht launigen Überblick über das folgende Programm, der an Veras Ohren vorüberrauschte. Dann endlich traten Monika und Michael auf die Bühne, beide in enganliegenden langen Hosen und formlosen Rollkragenpullovern. Das Publikum applaudierte zurückhaltend. Vera trat kalter Schweiß auf die Stirn. Michael wirkte so wenig verändert, so ganz der ein wenig eigenbröt lerische Junge, wie sie ihn kannte, daß es ihr einen Schlag aufs Herz gab. Schlaksig und unbekümmert stand er auf der Bühne und sang mit seiner harten, sehr musikalischen Stimme einen Twist, der nur vom scharfen Rhythmus und einigen kühnen Synkopen lebte. Er gab sich nicht die geringste Mühe, sein Publikum für sich einzunehmen, wirkte eher ablehnend, gelangweilt. Monika, deren leuchtend rote, unordent lich gekämmte Locken im Licht der Scheinwerfer glänzten, strahlte ihn an. Im gleichen Rhythmus, ohne sich zu berühren, bewegten sie Hüf ten, Beine, Arme, unbefangen, als wenn sie sich zum eigenen Vergnü gen oder – noch eher – nur um die Zeit totzuschlagen produzierten. Mit schmerzender Klarheit erkannte Vera, daß diese Monika eine kleine Persönlichkeit war und nicht das unbedeutende Nichts, für das sie sie gehalten hatte – und daß sie Michael liebte. 108
Die Nummer selber fand sie schlecht, miserabel schlecht, absto ßend primitiv. Sie begriff nicht, wieso die beiden oben auf der Büh ne das nicht selber spürten, wie sie so schamlos ihre Mittelmäßigkeit zur Schau stellen mochten. Wenn Michael etwas nicht hatte, dann war es darstellerisches Talent. Sie hätte viel darum gegeben, wenn sie den Vorhang hätte fallen lassen, den beiden die unausbleibliche Niederlage hätte ersparen können. Dann verstummte die Musik so jäh, wie sie begonnen hatte – und to sender Beifall brach los. Vera gab es geradezu einen Ruck. Sie setzte sich kerzengerade, starr te ins Publikum hinunter. Sie traute ihren Augen und Ohren nicht. Die jungen Leute unten im Saal waren hingerissen. Monika dankte mit strahlendem Gesicht, Michael mit einigen eben so ungeschickten wie unliebenswürdigen Verbeugungen. Vera ver stand gar nichts mehr. Sie fühlte sich plötzlich uralt, ausgeschlossen von einer Welt, der sie sich bisher vertraut geglaubt hatte. Michael und Monika entschlossen sich, auf ein Zeichen hinter dem Vorhang her, zu einer Zugabe. Diesmal war es ein Bossa nova, den sie zum besten gaben. Hier wurde ihre große Musikalität, ihre Liebe zum Jazz deutlich spürbar. Dennoch konnte Vera sich auch jetzt, nachdem sie es selber erlebt hatte, nicht vorstellen, daß so etwas ankam. Der Beifall war diesmal noch stärker, wurde nahezu ekstatisch. Of fensichtlich war es gerade Michaels ablehnende Haltung, sein mürri scher Charme, der die Herzen der Mädchen höher schlagen ließ und den die Jungen als Vorbild anerkannten. Vera klatschte nicht. Sie starrte zu Michael hinunter, auf sein ernstes, verdrossenes Gesicht unter der dunkelblonden Igelfrisur – und plötz lich, als wenn er ihren Blick gespürt hätte, hob er den Kopf. Sie sahen sich an, nur den Bruchteil einer Sekunde – dann zerrte Monika ihren Partner hinter den Vorhang zurück. Vera sprang auf, raffte ihre Handtasche an sich, verließ fluchtartig die Loge, stürzte aus dem Theater. Die wenigen hundert Meter zum Hotel lief sie. Ihre bleistiftdünnen Absätze klapperten über das Pflaster. Ihr Atem ging stoßweise. 109
Vor dem Eingang des ›Drei Löwen‹ blieb sie stehen, rang mühsam um Fassung, bevor sie durch die Schwingtür trat. Sie ging zum Emp fang, nahm ihren Schlüssel entgegen, dankte mechanisch, ließ sich nach oben fahren. Dann, als sie um die Ecke des Ganges bog, der zu ihrem Zimmer führte, blieb sie plötzlich stehen, wie erstarrt. Eine Tür hatte sich geöffnet, die Tür ihres Mannes. Er trat, einen Brief in der Hand, auf den Flur. Unfähig, ein Wort hervorzubringen, sah sie ihm entgegen. In seinen Augen stand weder Vorwurf noch Verwunderung. »Schon zurück?« fragte er nur. »Ja«, erwiderte sie heiser. »Und wie war's?« »Grauenhaft.« »Na, siehst du.« Er wollte an ihr vorbei. Aber plötzlich ertrug sie es nicht mehr. Sie warf sich in seine Arme, barg ihr Gesicht an seiner Brust. »Klaus«, stammelte sie, »o Klaus! Warum muß das Leben so grausam sein?«
»Du irrst dich, Mike … du irrst dich ganz bestimmt!« stieß Monika Ebers atemlos hervor. »Deine Stiefmutter in München! Und ausge rechnet im Deutschen Theater! So was gibt's doch gar nicht!« Sie liefen nebeneinander durch den staubigen, schlecht beleuchteten Gang, der zu den Garderoben führte. Es roch nach Schminke, Puder, Schweiß und den verschiedenartigsten Parfüms. Von der Bühne und dem Zuschauerraum rauschte der Beifall wie eine riesige Woge hinter ihnen her, ebbte ab und verrann. »Ich bin weder blind noch ein Trottel«, erwiderte er gereizt. »Natürlich nicht, Mike. Aber manchmal hat man eben so … so Hal luzinationen.« Er blieb stehen und starrte sie an. »Was?« Sie zuckte mit den Schultern unter ihrem flaschengrünen Pullover. 110
»Na eben … wenn man dauernd an jemanden denkt, dann kann man sich plötzlich einbilden, ihn tatsächlich zu sehen.« »Ich habe an Vera nicht mehr gedacht, seit ich von zu Hause weg bin.« Sie schluckte die Erwiderung, die sie schon auf der Zunge hatte, tapfer hinunter, sagte statt dessen: »Und selbst wenn sie dagewesen wäre … was soll's?« Er musterte sie so kalt, als wenn sie eine Wildfremde wäre, die er in dieser Sekunde zum ersten Mal sah. Dann wandte er sich, ohne sie ei nes Wortes der Erwiderung für wert zu halten, ab und schritt auf eine schmale Eisentür zu. Sie lief hinter ihm her, packte ihn am Arm. »Mike, warum willst du nicht …« Er schüttelte sie ab wie ein lästiges Insekt. »Lass mich!« Eine Sekunde stand sie wie gelähmt und sah ihm nach, wie er durch die eiserne Tür verschwand. Dann begriff sie. Er benutzte den Durchgang zum Zuschauerraum, um seine Stief mutter in der Loge aufzusuchen, in der er sie zu sehen geglaubt hatte. Ohne zu überlegen, ganz instinktiv, jagte sie hinter ihm her, kletterte eine steile Treppe hinauf, sah die Türen zu den Logen, riß die erste auf und – prallte gegen Michael. »Du wolltest mir wohl nachspionieren, wie?« sagte er finster. »Aber … wieso denn?« stammelte sie. Er schob sie zur Seite und ging an ihr vorbei und zurück. Sie hatte sich wieder gefaßt, warf mit Schwung ihre roten zerzausten Locken aus der Stirn. »Glaubst du, daß ich mich so blöd anstelle, wenn ich wirklich spionieren will? Ich bin dir bloß nachgekommen, weil … ich dachte, ich könnte dir helfen.« Sie hatte ihren Satz ziemlich unsi cher beendet, weil sie selber spürte, daß diese Erklärung sehr unglaub würdig klang. Aber zu ihrer Überraschung blieb Michael stehen und sagte mit ganz ungewohnter Milde: »Ich weiß, Moni. Du bist ein gutes Mädchen.« »Sie war es gar nicht … oder?« fragte Monika. Er beantwortete ihre Frage nicht, sagte statt dessen: »Ich habe Lust auf einen Schluck Tee. Du hast doch welchen dabei?« 111
»Natürlich.« Sie liefen hintereinander die steile Treppe wieder hinunter, über den staubigen Gang, traten in Monikas Garderobe. Es war ein klei ner Raum, den der Schminktisch, der Kleiderständer und die schmale Couch so vollständig ausfüllten, daß kaum Platz zum Stehen war. Michael ließ sich auf die Couch sinken, zündete sich eine Zigarette an, sah zu, wie Monika eine Thermosflasche aufkorkte und den hell roten Becher vollaufen ließ. Während er trank, reichte er Monika sei ne angerauchte Zigarette, nachher wechselten sie. »Ich habe mich nicht geirrt«, sagte er nach einer langen nachdenklichen Pause, in der sich beide von den Strapazen des Auftritts und ihrer Auseinandersetzung entspannten. »Es war meine Stiefmutter.« »Und?« »Sie war fort. Als sie bemerkt hat, daß ich sie erkannt habe, ist sie fortgerannt.« »Warum denn?« fragte Monika verständnislos. »Sie ist eben so.« »Aber«, sagte Monika mit gekrauster Stirn, »warum hat sie sich dann ausgerechnet einen Logenplatz genommen? Wenn sie im Parkett oder auf der Galerie gesessen hätte, wäre sie dir doch bestimmt nicht auf gefallen.« »Was weiß ich.« Monika nahm noch einen Schluck des sehr starken, süßen Getränks. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, sagte sie. Er erhob sich und stand jetzt so dicht vor ihr, daß sie sich fast be rührten. »Du hast nie etwas verstanden.« Sie sah ihn flehend an. »Mike … warum mußt du immer so zu mir sein? Was kann ich denn dafür, wenn du mir nichts erzählst? Wenn ich mir alles bruchstückweise zusammenreimen muß!« »Verlangt ja niemand von dir. Warum tust du's?« Plötzlich fühlte sie, wie ihr Herz in der Brust sich zusammenzog. Es war ein seltsamer, bohrender Schmerz, ein Gemisch von Zorn, Beschä mung und brennender Liebe. »Du hast recht«, sagte sie und kämpfte einen heroischen Kampf, um das Zittern ihrer Lippen zu verbergen. 112
»Was kümmere ich mich überhaupt um dich? Ich hätte ja längst mer ken müssen, daß ich dir nur lästig bin.« Sie warf den Kopf in den Nak ken und ihre blauen Augen wirkten fast schwarz vor Erregung. »Scher dich zum Teufel … ich kann sehr gut ohne dich fertig werden – ohne dich und deine verdammten Familiengeschichten!« Er verbarg seine Bestürzung hinter einem amüsierten Lächeln. »Na, hör mal …« begann er. »Ich will aber nichts mehr hören!« Wütend riß sie die Tür auf. »Ich habe genug von dir … von dir und deinem eingebildeten Getue! Ver schwinde!« Er öffnete den Mund, als ob er noch etwas sagen wollte, besann sich dann aber anders, drehte sich um und ging, in jener zugleich schlaksi gen und ein wenig verkrampften Haltung, die für ihn charakteristisch war. Sie schmetterte die Tür mit einem Knall hinter ihm ins Schloß, ließ sich auf den Schemel vor dem Schminktisch sinken. – Nur nicht wei nen, dachte sie, während sie mit krampfhaft aufgerissenen Augen ihr Spiegelbild anstarrte, bloß jetzt nicht weinen!
Professor Bergmeister brachte seine Frau von der Bahn aus mit dem Taxi nach Hause. Aber er nahm sich nicht die Zeit, auszusteigen und sich frisch zu machen. Er ließ sich gleich weiter und zur Augenklinik bringen. Wie immer, wenn er einige Tage auswärts gewesen war, er füllte ihn sein überempfindliches Verantwortungsgefühl mit Unruhe. Vergebens sagte er sich wieder und wieder vor, daß Dr. Hilpert ein aus gezeichneter Arzt war, daß er sich auf jeden einzelnen seiner Assisten ten verlassen konnte. Schwester Karla sprang auf, als er in ihren Anmelderaum trat, half ihm aus Hut und Mantel. »Na, alles in Ordnung, Schwester?« fragte er lächelnd und rieb sich die mageren, feinnervigen Hände. Dann erst merkte er, wie bekümmert sie aussah. »Was ist los?« Sein 113
Lächeln erlosch. »Ich hoffe doch nicht, daß jemand eine Dummheit ge macht hat.« »Nein, ganz gewiß nicht, Herr Professor.« »Warum machen Sie dann so ein Gesicht? Haben Sie Ärger mit ei nem Ihrer Verehrer gehabt?« Schwester Karla zwang sich zu dem Lächeln, das er von ihr erwarte te. »Aber, Herr Professor«, sagte sie, »Sie wissen doch …« »Gar nichts weiß ich. Also los … raus mit der Sprache. Was ist pas siert?« »Etwas sehr …« Schwester Karla suchte nach Worten, »… sehr Trau riges. Gerti Hellmer …« »Die Kleine mit dem Buphthalmus?« »Ja. Sie ist mit dem Fahrrad gestürzt. Ihr gesundes Auge … Herr Dr. Hilpert hat es entfernen müssen.« Schwester Karla schluckte. »Wenn Sie dagewesen wären, Herr Professor …« »Unsinn!« sagte Professor Bergmeister hart. »Reden Sie nicht solche Sachen. Ich denke, Sie sollten lange genug dabei sein, um begriffen zu haben, daß es Schicksalsschläge gibt, gegenüber denen ein Arzt, selbst der beste, hilflos ist. Im übrigen bin ich sicher, daß Dr. Hilpert alles ge tan hat, was man tun konnte.« »Entschuldigen Sie, Herr Professor«, stotterte Schwester Karla be stürzt, »ich wollte damit nicht andeuten …« »Sie haben es aber getan.« »Nein, bestimmt nicht. Es ist nur … Sie haben uns allen sehr ge fehlt.« Professor Bergmeister sah Schwester Karla an und durchschaute, daß sie nichts anderes im Sinn gehabt hatte, als seiner Eitelkeit zu schmei cheln. »Das will ich auch hoffen, Sie verrücktes Mädchen«, sagte er kopfschüttelnd. »Hat Dr. Hilpert es den Eltern schon gesagt?« »Ja. Und sie waren völlig erschüttert. Es ist natürlich entsetzlich. Das einzige Kind. Und dann … Sie machen sich den schwersten Vorwurf, daß sie Gerti überhaupt haben radeln lassen. Sie hatten sich schon frü her Gedanken darüber gemacht, aber Gerti wollte es so gern …« Schwester Karlas Worte plätscherten an Professor Bergmeister vor 114
bei, ohne daß er sie wirklich verstand. – Wie armselig ist doch der Mensch, dachte er, was für ein armseliger Mensch bin ich selber! Neun undvierzig Jahre alt, und ein reiches Leben liegt hinter mir. Ich habe am großen Abenteuer der Wissenschaft teilnehmen dürfen und an der ungeheuren Aufgabe, zu helfen. Ich habe alles gehabt, was ein Mensch sich wünschen kann. Und doch habe ich mich für das ärmste Wesen unter der Sonne gehalten, seit mir bewußt geworden ist, daß meine Augen mich im Stich lassen werden. Dabei – was ist mein Schicksal im Vergleich zu dem dieses armen Kindes! Vierzehn Jahre alt und blind, unrettbar blind für alle Zeiten! Er gab sich einen Ruck und starrte Schwester Karla an, versuchte zu verstehen, was sie ihm berichtete. »Niemand wagt es, ihr die Wahrheit zu sagen«, erzählte die Schwe ster, »die Eltern sagen, sie können es einfach nicht, und der Herr Dr. Hilpert meint, das wäre Sache einer Frau und …« Professor Bergmeister hatte sich wieder ganz in der Hand. »Ich gehe zu ihr … wo liegt sie? Ich werde es ihr sagen. Wenn ich es fertig bringe.«
Gerti Hellmer richtete sich in ihrem Bett auf, als Professor Bergmeister die Tür öffnete. »Dr. Hilpert?« fragte sie. »Nein, der bin ich nicht. Kannst du raten?« »Oh, das ist leicht. Sie sind Professor Bergmeister!« Sie lächelte ver trauensvoll in das Dunkel, das sie umgab. Ihr krankes Auge mit der er weiterten Pupille war angestrengt zur Tür gerichtet, ein dicker weißer Kopfverband verdeckte das Operationsfeld. »Donnerwetter«, sagte Professor Bergmeister und ergriff ihre schma le Kinderhand, »wie hast du das herausgebracht?« Gerti lachte. »An der Stimme.« »Komisch, nicht wahr? Es ist, als ob man ohne Augen sehen könn te.« »Mit Augen ist es aber doch schöner, Herr Professor …« Gerti nahm sich ein Herz. »Werden Sie mir die Binde jetzt runternehmen?« 115
»Damit wollen wir noch ein bißchen warten, ja?« Er setzte sich auf ihren Bettrand. »Wie lange noch?« »Darüber muß ich erst mit Dr. Hilpert sprechen. Ich habe ihn noch gar nicht gesehen, seit ich zurück bin. Ich bin zuallererst zu dir gekom men, um dich zu besuchen. Ich möchte dir nämlich etwas erzählen.« »Von Paris?« Gerti lächelte verschmitzt. »Das hast du also auch herausbekommen! Na so etwas. Vor dir ist wohl kein Geheimnis sicher.« »Wenn Sie wollen, werde ich es keinem Menschen weitersagen«, ver sprach Gerti großmütig. »Bitte, erzählen Sie mir was! Waren Sie im ›Pigalle‹?« Er begriff, daß ihr dieser Name von einem Schlager her vertraut war, sagte: »Nein. Ich … weißt du … ich war nicht zu meinem Vergnügen in Paris.« »Nein?« Ihre Stimme klang ganz enttäuscht. »Ich habe einen berühmten Augenarzt aufgesucht.« »Aber … Sie sind doch selber …« »Stimmt. Aber man kann sich selber nur schlecht behandeln. Natür lich habe ich mich auch schon vorher von Dr. Hilpert untersuchen las sen. Aber … nun ja, ich habe mir eingebildet, der Professor in Paris könnte mir vielleicht besser helfen.« »Und?« fragte sie gespannt, als er eine Pause machte. »Er konnte es auch nicht. Er konnte mir nur bestätigen, was ich schon wußte – daß meine Sehkraft immer weiter nachlassen wird und ich in ein paar Jahren ganz blind sein werde.« »Wie schrecklich!« »Ja, es ist nicht schön. Ich habe es dir erzählt, weil ich dachte, du hät test vielleicht einen Trost für mich. Du bist immer ein so besonders tapferes Mädchen gewesen.« »Nicht mehr sehen zu können … nie mehr sehen«, sagte Gerti nach denklich, »das ist schon scheußlich. Alles ringsum dunkel …« Sie hob den Kopf. »Aber immerhin, man sieht doch etwas. Ganz innen sehe ich immer. Auch wenn mein gesundes Auge verbunden ist.« 116
»Was siehst du denn da?« »Alles mögliche. Was ich mir vorstelle. Und dann«, fuhr sie fort, eif rig bemüht, ihm Trost zu spenden, »wenn man gar nichts mehr sieht … nach außen, meine ich … sieht man die häßlichen Dinge ja auch nicht, nicht wahr? Und es gibt viele hässliche Dinge.« »Stimmt. Ich habe zum Beispiel jetzt einen Pickel auf der Nase. Wenn du den sehen könntest …« Gerti lachte. »Wenn ich nicht mehr sehen könnte, würde ich mir be stimmt immer nur ganz ganz hübsche Dinge vorstellen.« »Na, das werde ich auch versuchen.« »Man kann hören«, sagte Gerti, »fühlen, riechen und … ja, und schmecken.« Ihr Gesicht verdunkelte sich. »Aber lesen kann man nicht mehr.« »Es gibt Blindenschrift, Gerti.« »Die müßten Sie dann eben lernen. Ja, und sprechen kann man auch noch. Es gibt Leute, die nicht einmal sprechen können, nicht wahr?« Er streichelte sacht ihre Hand. »Du bist eine gute Trösterin, Gerti.« »Das sage ich nicht bloß alles, um Sie zu trösten«, behauptete sie eif rig, »sondern weil's tatsächlich stimmt.« »Ja. Aber trotzdem habe ich große Angst. Als ich das erstemal be griff, was mit mir los war, war ich ganz erschüttert. Aber es gibt Dinge, die man einfach hinnehmen muß. Man kann sich nicht wehren. Man muß es auf sich nehmen.« »Ja«, sagte Gerti ernsthaft, »der liebe Gott weiß schon, was er tut. Er hat uns ja lieb, nicht wahr? Und deshalb tut er auch immer nur, was für uns gut ist.« »Gerti«, sagte Professor Bergmeister mühsam, »bist du ganz sicher, daß Gott dich lieb hat?« »Ja«, sagte sie arglos, »natürlich …« »Und wenn ich dir nun sagen müßte, daß es dir genauso geht wie mir? Daß du nicht mehr sehen wirst?« Sie lag ganz still, starrte mit ihrem kranken Auge blicklos ins Leere. Er ließ ihr Zeit, dann erst, als er selber glaubte, es nicht länger ertra gen zu können, sagte er: »Gerti, bitte …« 117
»Ist es wahr?« flüsterte sie. »Ja.« »Dann haben Sie mich also belogen. Sie sind es gar nicht, der blind wird, nur ich …« »Nein, Gerti«, sagte er rasch, ganz erleichtert, jetzt nicht lügen zu müssen, »ich auch. Wir beide. Deshalb verstehe ich auch, was du durch machst.« »Das verdammte Fahrrad«, sagte sie mit einem tiefen, schluchzen den Atemzug, »wäre ich doch nie …« Er unterbrach sie. »Gerti, hast du vergessen, was du eben gesagt hast? Daß Gott immer weiß, was er mit uns tut? Bestimmt hat er gewußt, warum er dir dein Augenlicht genommen hat. Vielleicht will er dir et was anderes, viel Schöneres dafür geben.« »Was denn?« »Das weiß ich nicht. Du mußt es auf dich zukommen lassen. Ich bin sicher, daß es kommt.« Sie schwieg wieder, diesmal noch länger, und Professor Bergmeister spürte, wie sie darum kämpfte, mit der grausamen Eröffnung, die er ihr hatte machen müssen, fertig zu werden. »Man muß Vertrauen haben, nicht wahr?« sagte sie endlich. »Ja, gerade das wollte ich dir klarmachen. Aber ich glaube, es war gar nicht nötig. Du bist viel tapferer als ich, Gerti … du bist ein großarti ges Mädchen.« Die Tür öffnete sich, und Schwester Hilde ließ Gertis Mutter in das Krankenzimmer. Frau Hellmer hatte verweinte Augen. Sie warf einen angstvoll fragenden Blick zu Professor Bergmeister. »Sie weiß es«, sag te er, »bitte, versuchen Sie …« Aber Frau Hellmer ließ ihn nicht ausreden. Sie tat genau das, was er zu verhindern gesucht hatte. Mit einem herzzerreißenden Schluch zen stürzte sie sich auf Gertis Bett. »Mein Kind … mein armes, armes Kind …« Gerti nahm ihre Mutter in die Arme. Es war ein seltsamer Anblick, zu sehen, wie das blinde kleine Mädchen die erwachsene gesunde Frau tröstete. »Nimm es doch nicht so schwer, Mutti«, sagte sie zärtlich, 118
»Hauptsache, ich lebe noch … und wenn ich auch nicht mehr gucken kann, der liebe Gott wird schon auf mich aufpassen.«
Xenia von Schöller war keine geduldige Patientin. »Ich will wieder se hen können«, sagte sie wieder und wieder zu Dr. Hilpert. »Warum hilfst du mir nicht, Norman?« »Merkst du denn nicht, daß wir alles tun, was in unserer Kraft steht?« »Ich merke nur, daß ihr mich quält. Dauernd muß ich andere Un tersuchungen über mich ergehen lassen … Blutbild, Blutsenkungsge schwindigkeit, ja sogar eine Wassermannsche Reaktion habt ihr mit mir gemacht, obwohl ich gleich gesagt habe, daß dabei nichts heraus kommen wird …« »Aber Xenia, du weißt doch genau, wir müssen uns vergewis sern …« »Unsinn. Ihr drückt euch nur vor der Operation. Oder vielleicht, weil ich Patientin erster Klasse bin, wollt ihr die Sache hinausziehen, um …« »Xenia!« Sie begriff, daß sie zu weit gegangen war, zwang sich zu einem Lä cheln. »Entschuldige, Norman, ich weiß, ich bin ungerecht. Aber wer würde es in meiner Situation nicht sein? Ich habe monatelang mit mei nem Mann kämpfen müssen, damit er mich hierher bringt. Und jetzt kriege ich langsam das Gefühl, daß es gar keinen Zweck gehabt hat.« »Das stimmt aber wirklich nicht, Xenia. Es ist ja nicht so, als wenn wir dich einfach hier hätten liegenlassen, ohne uns um dich zu küm mern. Dir sind die Tonsillen entfernt worden, man hat dich gründlich gynäkologisch untersucht …« »Ja, und fünf Zähne sind mir auch gezogen worden!« ergänzte sie bit ter. »An meinen Augen aber hat sich trotzdem nichts gebessert. Wor auf wartest du noch, bis du dich endlich entschließt, mich zu operie ren?« 119
»Daß wir die Entzündungserscheinungen wenigstens einigermaßen zum Abklingen gebracht haben. Aber auch dann, Xenia … du bildest dir anscheinend ein, bei einer solchen Operation sei der Erfolg von vornherein garantiert. Das ist leider nicht so.« »Willst du mir angst machen?« »Nein. Ich möchte dich nur dahin bringen, daß du die Dinge richtig siehst. Es handelt sich um eine Staroperation, das heißt, die eingetrüb ten Linsen müssen entfernt werden. Das geht aber nicht so einfach, wie es sich anhört. Gerade in deinem Fall nicht. Deine Linsen sind mit der Regenbogenhaut verklebt, teilweise sogar verwachsen, sie müssen erst mit einem besonderen Spatel gelöst werden.« »Aber du kannst das doch bestimmt!« »Ich bin dessen gar nicht so sicher. Es kann dabei nämlich sehr leicht passieren, daß die Linse abrutscht und in den Glaskörper fällt. Und dann ist es aus. Sie kann dann nur noch sehr schwer wieder entfernt werden.« Xenia lächelte. »Bangemachen gilt nicht, Norman. Ich will operiert werden. So bald wie möglich. Ich bestehe darauf. Ich habe nichts zu verlieren und alles zu gewinnen.«
7
S
eit seiner Rückkehr aus Paris hatte Professor Bergmeister keine Gelegenheit wahrgenommen, mit Dr. Hilpert unter vier Augen zu sprechen. So war der junge Arzt aufrichtig erfreut, als der Professor ihn eines Tages nach der Visite zu sich bestellte. Dr. Hilpert hatte im mer noch nicht erfahren, wie die Untersuchung durch Professor Lejeu ne eigentlich ausgegangen war. Als der Assistenzarzt das Arbeitszimmer Professor Bergmeisters be trat, hatte er eine diesbezügliche Frage schon auf den Lippen. Aber ein verschlossener, fast abweisender Zug in dem Gesicht des Professors 120
ließ ihn gerade noch rechtzeitig schweigen. Er spürte instinktiv, daß ihm eine unangenehme Viertelstunde bevorstand. Professor Bergmeister saß hinter seinem Schreibtisch, ordnete mit unruhigen Händen irgendwelche Papiere, sagte, ohne aufzusehen: »Setzen Sie sich!« Schweigend folgte Dr. Hilpert dieser Aufforderung, die fast wie ein Befehl geklungen hatte. Er hätte sich gern eine Zigarette angezündet, aber in dieser Situation schien es ihm nicht geboten. Es dauerte lange – Dr. Hilpert schien es eine kleine Ewigkeit –, bis Professor Bergmeister sich zum Sprechen entschloß. »Sie wissen, wa rum ich Sie habe kommen lassen …« Dr. Hilpert zermarterte sich den Kopf. »Nein«, sagte er zögernd. »Sie wissen es also nicht? Dann muß ich Ihrem Gedächtnis wohl auf die Sprünge helfen.« Professor Bergmeister machte eine kleine Pau se und nahm sich eine Zigarette; er hatte sie angezündet, noch ehe Dr. Hilpert ihm Feuer geben konnte. »Gestern war der Bankier von Schöller bei mir.« Professor Bergmei ster fixierte den jungen Arzt durch seine dicken, funkelnden Brillen gläser, aber Dr. Hilpert hielt diesem Blick ohne mit der Wimper zu zucken stand. »Na, haben Sie mir nichts zu sagen?« fragte Professor Bergmeister. Dr. Hilpert rang um eine Antwort. Ein peinigender Gedanke schoß durch seinen Kopf. Sollte es möglich sein, daß der Bankier von den früheren Begegnungen zwischen seiner Frau und ihm wußte? Sollte Xenias Mann annehmen, daß er die Gelegenheit benutzte, diese Lie besgeschichte jetzt weiterzuspinnen? Das wäre ein Verdacht, der ihn vor die Ärztekammer bringen könnte. »Ich sehe, Sie wissen jetzt, wovon ich spreche«, sagte Professor Berg meister in das gespannte Schweigen hinein. Dr. Hilpert schluckte. »Ich kannte Xenia … Frau von Schöller, bevor sie verheiratet war.« »Ach!« Die Asche fiel von Professor Bergmeisters Zigarette, ohne daß er es merkte. »Weiß das der Bankier?« »Nein.« 121
»Sie hielten es also nicht für nötig, ihm das zu sagen.« »Ich habe mit der Patientin darüber gesprochen. Sie meinte, es wäre besser …« Professor Bergmeister fiel seinem Assistenten ins Wort. »Na, lassen wir das. Was mich nur wundert … jetzt, nachdem ich erfahren habe, wie Sie zu der Patientin stehen, noch viel mehr wundert … wie konn ten und durften Sie sie in dem Gedanken bestärken, sich von Ihnen operieren zu lassen?« »Herr Professor …« Dr. Hilpert sprang auf. »Bitte, bleiben Sie sitzen. Und nehmen Sie sich eine Zigarette, wenn Sie das beruhigt. Ich möchte vernünftig und ohne Emotionen mit Ih nen reden.« Dr. Hilpert ließ sich wieder in den Sessel zurücksinken. »Sie müs sen mir glauben, Herr Professor, ich habe der Patientin das nicht ein geredet. Seit sie erkannt hatte, wer ich bin … übrigens auch ganz ohne mein Zutun, Herr Professor … hat sie sich von dieser Idee nicht mehr abbringen lassen.« »Sie wissen, daß Frau von Schöller als meine Patientin in die Klinik gekommen ist?« »Natürlich, Herr Professor, ich wollte auch nicht …« Wieder ließ Professor Bergmeister ihn nicht zu Wort kommen. »Der Bankier besteht darauf, daß ich die Operation durchführe. Er hatte über diese Entscheidung eine Auseinandersetzung mit seiner Frau. Ich hoffe, es ist Ihnen klar, daß alle Aufregungen von der Patientin fernge halten werden sollen.« »Bitte, entschuldigen Sie, Herr Professor, aber ich …« »Wie stellen Sie sich jetzt die Lösung dieses Problems vor?« »Ich werde selbstverständlich zurücktreten.« »Zurücktreten? Damit ist es nicht getan. Sie müssen die Patientin zu der Einsicht bringen, daß es nur so richtig ist.« »Das wird nicht einfach sein, Herr Professor.« »Der Umgang mit Patienten ist selten einfach. Wenn wir das tun wollten, was unsere Patienten sich wünschen, wären wir schlechte Ärz te. Wir allein tragen die Verantwortung.« 122
»Jawohl, Herr Professor.« »Ich bin einigermaßen enttäuscht von Ihnen.« Professor Bergmeister drückte seine Zigarette aus. »Ich mag es nicht, wenn sich entscheiden de Dinge hinter meinem Rücken abspielen. Das war ein unverantwort licher Streich von Ihnen. Oder …« Der Professor sah Dr. Hilpert fest an. »… bilden Sie sich ein, daß ich einer solchen Operation nicht mehr gewachsen wäre?« »Aber, Herr Professor!« »Sie dürfen ganz ehrlich zu mir sein! Es wäre sogar Ihre Pflicht.« »Nun dann … ich schwöre Ihnen, daß ich an so etwas nicht einmal gedacht habe! Nur …« Dr. Hilpert stockte. »Los, los!« sagte Professor Bergmeister ungeduldig. »Sprechen Sie weiter! Halten Sie mit nichts hinter dem Berg.« »Ich war ganz sicher, Sie würden ohne weiteres damit einverstanden sein, daß ich die Patientin operiere!« »So! Haben Sie also gedacht.« »Ja, Herr Professor«, bestätigte Dr. Hilpert mit Festigkeit. »Sie haben mir ja in den vergangenen Jahren schon öfters Operationen überlas sen, die eigentlich Ihnen zugestanden hätten. Ich bin Ihnen dafür im mer sehr dankbar gewesen. Ich hatte immer gedacht … alle hier in der Klinik sind dieser Meinung … daß Sie großzügiger wären als andere Chefs.« Er sah Professor Bergmeister erwartungsvoll an. Aber der Professor schwieg, sah mit leicht gekrauster Stirn über ihn weg. »Ich hatte fest damit gerechnet, Sie würden einverstanden sein«, wie derholte Dr. Hilpert irritiert. Professor Bergmeister stand langsam auf. »Nicht einmal dann«, sag te er und begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen, »wenn Ih nen die Patientin nicht persönlich nahe stehen würde. Das macht die Sache natürlich ganz und gar unmöglich. Aber davon abgesehen …« Er wandte sich um und blieb dicht vor Dr. Hilpert stehen, der sich ebenfalls erhoben hatte. »Ich kann nicht mehr großzügig sein, verste hen Sie? Eine Operation hat ja auch ihre finanzielle Seite. Ich brauche das Geld.« 123
Dr. Hilpert begriff sofort. »Hat Professor Lejeune …?« fragte er und hatte nicht den Mut, seinen Satz zu beenden. »Ja. Er hat Ihre Diagnose bestätigt.« Professor Bergmeisters Lächeln war bitter. »Sie dürfen stolz darauf sein. Als Chirurg steht mir nur noch eine sehr begrenzte Zeit zur Verfügung.«
Xenia von Schöller beugte sich, da sie bei Dr. Hilpert keinerlei Unter stützung fand, den Wünschen ihres Mannes. Sie war bereit, sich von Professor Bergmeister operieren zu lassen. Wichtig war ihr nur, daß der operative Eingriff so bald wie möglich erfolgte. Aber sie mußte sich noch einige Wochen gedulden. Erst mußten die Entzündungserscheinungen, die sich als Eiweißzellen im Kammerwas ser, verquollenem Regenbogenrelief und grob- und feinkörniger Trü bung des Glaskörpers hinter der Augenlinse zeigten, so weit wie irgend möglich eingedämmt werden. Endlich, fast drei Monate nach ihrer Ankunft in der Augenklinik, war es so weit. Der Termin für die Operation wurde angesetzt. Bankier von Schöller, der rechtzeitig benachrichtigt worden war, schickte ein Telegramm, das eine halbe Stunde vor der Operation eintraf. Er ent schuldigte sich, daß er wegen einer geschäftlichen Transaktion nicht kommen könnte, versprach, in Gedanken bei seiner Frau zu sein. Das Telegramm wurde Xenia von Schöller nicht mehr vorgelesen. Sie hatte am Abend zuvor ein starkes Schlafmittel bekommen und war immer noch ein wenig benommen. Dr. Hesse, der Anästhesist, ent schied, daß es besser wäre, ihr jede Gefühlsbewegung zu ersparen. Sie fragte nicht nach ihrem Mann, schien ihn in keiner Weise zu ver missen. Dr. Hesse injizierte ihr, kurz bevor sie in den Vorbereitungsraum ge fahren wurde, ein Beruhigungsmittel. Dann wurde sie von der Opera tionsschwester übernommen. Schwester Ethel fuhr sie mit Hilfe von Schwester Gerda, die als un sterile Operationshilfe fungierte, in den Operationssaal hinein. Sie 124
betteten Xenia auf den Operationstisch, so daß ihr Kopf entspannt auf der Stütze zu liegen kam. Da die Patientin nichts sehen konnte, hielt es Schwester Ethel für richtig, ihr zu erzählen, was mit ihr geschah. »Ich binde Ihnen jetzt das Haar ganz zurück«, sagte sie mit ihrer warmen ruhigen Stimme, »und nun wird's ein bißchen kühl … das ist nur das Desinfektionsmit tel, damit tupfe ich die Augenpartie ab …« Sie sprach, während sie Xe nia für die Operation vorbereitete, mit ihr wie mit einem Kind. »So, und jetzt decken wir das Köpfchen mit einem sterilen Tuch ab, nur das rechte Auge schaut noch heraus … fertig!« Xenia ließ alles schweigend mit sich geschehen. Erst als sich männliche Schritte näherten, zeigte Xenia Interesse. Sie versuchte den Kopf zu heben, fragte: »Norman?« »Nein, ich bin's nur«, sagte der Anästhesist, »Dr. Hesse. Sie brauchen keine Angst zu haben.« »Wovor?« sagte Xenia gefaßt. »Ich habe nichts zu verlieren.« Dr. Hesse, schon fertig zur Operation gekleidet, in weißem Kittel, weißer Kappe, den Mundschutz vor dem Gesicht, wechselte einen ra schen Blick mit Schwester Ethel. »Der Herr Doktor beginnt mit der lokalen Betäubung«, erklärte die Operationsschwester. »Sie werden einen kleinen Stich spüren …« Sie reichte Dr. Hesse die mit Novocain und Corbasil gefüllte Sprit ze. Dr. Hesse stach rechts vom Auge ein, ließ einen Teil der Flüssigkeit auslaufen, zog die Nadel zurück. Die Patientin hatte kaum gezuckt. »Jetzt noch einmal …« sagte Schwester Ethel. Wieder stach Dr. Hesse zu, diesmal links unterhalb des Auges. »Schon vorbei«, sagte er. Er nahm auf dem drehbaren Stuhl neben dem Operationstisch Platz, legte den Blutdruckmesser um Xenias bloßen Arm, pumpte Luft hin ein. Dann lockerte er die straffe Bindung, fühlte den Puls. Er sah auf die Uhr – es waren mehr als fünf Minuten vergangen, seit er die Spritzen gegeben hatte. Er überzeugte sich, daß das Auge der Pa tientin fast empfindungslos geworden war. Schwester Ethel hatte in zwischen eine neue Spritze aufgezogen. Dr. Hesse nahm sie ihr aus der 125
Hand, stach zweimal direkt in das Auge, und zwar unter die Binde haut hinein. Professor Bergmeister, gefolgt von Dr. Hilpert, trat in den OP. Bei de waren fertig zur Operation gekleidet. Schwester Gerda streifte dem Professor die Stirnlupe über den Kopf, bevor er sich über das Operati onsfeld beugte und sich überzeugte, daß die subconjunctivale Injekti on ihre volle Wirkung erzielt hatte. Er sah Dr. Hesse an, der auf seine unausgesprochene Frage mit einem Kopfnicken bestätigte: Es war alles in Ordnung, die Operation konnte beginnen. Dr. Hilpert setzte den Lidsperrer und erweiterte die Lidspalte im äu ßeren Winkel durch Scherenschlag. »Bitte, das Auge nach unten senken!« befahl Professor Bergmeister. Mit einem raschen geschickten Stich befestigte Dr. Hilpert den Halte faden im Oberteil der Bindehaut. Schwester Ethel reichte das feine Starmesser. Professor Bergmeister beugte sich nahe an das kranke Auge heran, das im hellen schattenfreien Licht der Operationslampe vor ihm lag. Mit einem sorgsam geführten Schnitt öffnete er das Auge, und zwar so, daß oben noch ein Bindehautlappen an der Hornhaut verblieb. Dann gab er das Starmesser zurück, Schwester Ethel reichte ihm den flachen Spatel. Atemlos beobachtete Dr. Hilpert, wie er vorsichtig, sehr vorsichtig, die Synechien löste. Die Entzündung hatte eiweißhaltige Ausschwit zungen verursacht, die zu napfkuchenartigen Verwachsungen zwi schen Pupille und Linse geführt hatten. Diese Verwachsungen zu lö sen, bedurfte es einer genauen Präzisionsarbeit. Dennoch bestand – das wußten alle im Operationssaal Anwesenden – selbst bei äußerster Genauigkeit die Gefahr, daß die Linse in den Glaskörper abrutschte. In diesen aufregenden Minuten dankte Dr. Hilpert dem Schicksal, das ihm erspart hatte, diese Operation an der Frau, die er geliebt hat te, durchzuführen. Voller Bewunderung beobachtete er, wie ruhig und genau die schlanken Finger Professor Bergmeisters arbeiteten. Schwester Ethel reichte ein haarscharfes Messer, Professor Bergmei ster durchschnitt die Regenbogenhaut. 126
Erst jetzt wagte Dr. Hilpert wieder durchzuatmen. Dennoch wuß te er, daß nach der Iridektomie noch der gefährlichste Moment bevor stand. Professor Bergmeister gab das Messer zurück, empfing die Kapsel pinzette. Er faßte die Linsenkapsel, bewegte die Linse leicht und äu ßerst behutsam hin und her, um sie von ihrer Verankerung zu lösen. Dr. Hilpert hatte gebannt jede der genau abgemessenen Bewegun gen verfolgt. Er wußte, daß jetzt bald der entscheidende Moment kom men mußte. Professor Bergmeister extrahierte die getrübte Linse. Sekunden später hatte er den Augapfel durch die leicht angehobene Hornhaut wieder verschlossen. Schwester Ethel reichte die hauchdünne Nadel mit feinster Seide. Pro fessor Bergmeister vernähte die Bindehautlappen mit der übrigen Bin dehaut. Er wußte, die Hornhaut würde sich infolge ihrer eigenen Span nung von selbst an die Wundränder anlegen. Dann richtete er sich auf, nahm die Stirnlupe ab. Seine Augen trafen sich mit denen seines As sistenten. In diesem Augenblick, da alles vorüber war, spürten beide Männer gleichzeitig ein ganz starkes, unausgesprochenes Zusammen gehörigkeitsgefühl – ein Gefühl, das aus ihrer verwandten Einstellung zu der hohen Verantwortlichkeit ihres Berufes gewachsen war. »Sie können weitermachen, Norman«, sagte Professor Bergmeister mit einem kleinen erschöpften Lächeln und wandte sich ab. »Danke!« – Mehr sagte Dr. Hilpert nicht. Aber in diesem kleinen Wort lag all die Dankbarkeit, die er empfand – dafür, daß Professor Bergmeister ihm die Operation abgenommen hatte und dafür, daß sie ihm gelungen war. Jetzt war alles andere nur noch ein Kinderspiel. Mit einer Pipette, die ihm Schwester Ethel reichte, tröpfelte Dr. Hil pert Atropin in das Auge. Er zog den Haltefaden heraus, löste den Lid sperrer, der durch den Scherenschlag erweiterte Lidwinkel wurde nun durch den vor der Operation gelegten Seidenfaden geschlossen. Dr. Hilpert ließ es sich nicht nehmen, das Auge selber zu verbinden, legte den sterilen Verband auf, den die Operationsschwester mit Leucomy 127
cin-Salbe bestrichen hatte, befestigte ihn mit einem Pflaster. Nur den beidäugigen Mullbindenverband zu machen, den so genannten Bino culus, überließ er Schwester Ethel. »Es ist alles vorüber, Xenia«, sagte er erleichtert, »du hast es über standen.« »Werde ich sehen können?« fragte die Patientin mit einer Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien. »Das müssen wir abwarten … es bleibt uns jetzt nichts übrig, als ab zuwarten.«
Für den Samstagabend waren Professor Bergmeister und seine Frau zu einer Party eingeladen. Als Vera ihren Mann beim Mittagessen daran erinnerte, war er bestürzt. »Heute?« sagte er. »Tut mir entsetzlich leid. Das hatte ich ganz ver gessen.« »Macht ja nichts«, erwiderte sie in jenem gezwungen freundlichen Ton, den sie ihm gegenüber seit einiger Zeit benützte, »dafür habe ich an alles gedacht. Smoking, Hemd und Manschettenknöpfe … alles liegt schon für dich parat.« Er runzelte die Stirn. »Wenn du mich nur früher daran erinnert hät test …« Jetzt erst begriff sie. »Hast du dir etwas anderes vorgenommen?« »Leider. Es tut mir wirklich leid, Vera. Ich habe Hilpert für heute abend hierher bestellt.« Sie klingelte nach dem Mädchen. »Dann lädst du ihn eben wieder aus«, sagte sie gleichgültig. Professor Bergmeister faltete mit fahrigen Bewegungen seine Servi ette zusammen. »Ja, natürlich, das könnte ich, aber …« Er sah seine Frau durch die dicken Brillengläser beschwörend an. »Dieses Gespräch mit Hilpert ist sehr wichtig für mich, Vera. Es geht um meine wissen schaftliche Untersuchung. Ich habe ihn gebeten, ein paar Berechnun gen nachzuprüfen …« 128
»Und das hat nicht bis Sonntag oder Montag Zeit?« Das Mädchen trat ein, räumte ab und trug das Kompott auf. Erst als sie das Zimmer verlassen hatte, sagte Professor Bergmeister: »Wenn ich ganz ehrlich sein soll, Vera … mir liegt nichts an dieser Party. Ganz und gar nichts. Du weißt, ich habe mich nie wohl gefühlt auf solchen Veranstaltungen.« Es fiel ihr schwer, ihre Stimme in der Gewalt zu halten. »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Schon damals, als die Einladung kam? Glaubst du, ich werde dich zwingen, dort hinzugehen?« Er streckte seine Hand über den Tisch nach ihr aus, sagte mit dem kläglichen Versuch, ihre Auseinandersetzung ins Scherzhafte zu zie hen: »Ich weiß, es muß gräßlich für dich sein, mit einem alten Lang weiler wie mir verheiratet zu sein …« »Ziemlich«, bekannte sie ruhig. »Soll ich anrufen und absagen? Oder wirst du es tun?« »Aber wieso denn?« Er schob seinen Kompotteller von sich. »Du kannst doch gehen, Vera … warum denn nicht? Ich will dir bestimmt nicht den Spaß verderben.« »Das ist dir bereits vollendet gelungen.« Vera stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Sie fühlte sich so elend, daß sie nicht einmal wütend war. Wieviel Mühe hatte sie sich nach ihrer Rückkehr aus Paris gegeben, eine wirkli che Versöhnung zwischen sich und ihrem Mann herbeizuführen. Eine ganze Weile lang hatte es so geschienen, als wenn es ihr tatsächlich ge lungen sei, die alte Harmonie wiederherzustellen. Dann aber war es ihr klar geworden, daß er den neuen Frieden nur deshalb genoß, weil er ihm freien Kopf für seine Arbeit verschaffte. Immer stärker wurde in Vera das fatale Gefühl, daß sie ihm als Frau und als Mensch völlig uninteressant geworden war. Jetzt erst begann sie ihren Stiefsohn wirklich zu vermissen. Wie oft sie sich auch über ihn geärgert hatte – er hatte doch Leben und Freu de ins Haus gebracht. Jetzt war er fort, und sie war allein, allein mit ei nem Mann, der sie kaum noch ansah. Womit hatte sie das verdient? Wenn sie an alles dachte, was sie für 129
ihn geopfert hatte, stiegen ihr Tränen des Selbstmitleids in die Augen. Schon mehr als einmal hatte sie ihren Entschluß, trotz oder gerade we gen seiner Erkrankung bei ihm zu bleiben, bereut. Aber sie sah kei nen anderen Ausweg. Der Tag war nicht mehr fern, wo er sie brauchen würde. Wenn auch vielleicht nur als Krankenpflegerin. Aber er mußte doch auch wissen, wie die Dinge zwischen ihnen stan den. Konnte er da nicht wenigstens rücksichtsvoller sein? Noch als Vera anrief und sich für ihr Fernbleiben bei der Geselligkeit am heutigen Abend entschuldigte, hatte sie ihre Enttäuschung nicht überwunden. Beim Mokka, den sie und ihr Mann wie immer gemein sam im Wohnzimmer einnahmen, blieb sie schweigsam. Es ärgerte sie maßlos, daß er ihre Verstimmung gar nicht zu merken schien. Er las raschelnd in der besonders dicken Samstagsausgabe der Tageszeitung. Sie zündete sich eine Zigarette an, starrte vor sich hin. Als er ihr einen Teil herüber reichte, zuckte sie zusammen. »Nein, danke. Ich möchte jetzt nicht lesen.« Sie errötete, weil sie ihr eigenes Benehmen albern fand, wie das eines trotzigen Kindes, riß ihm die Zeitung aus der Hand und breitete sie wie zum Schutz vor sich aus. Ihre Augen hatten sich wieder mit Tränen gefüllt, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie etwas erkennen konnte. Dann, allmählich, be ruhigte sie sich, überflog die Schlagzeilen, wenn auch ohne sonderli ches Interesse. Sie blätterte um, kam zum kulturellen Teil. Es traf sie wie ein Blitz. Die Zeitung zitterte in ihren Händen. Da bei war es eine ziemlich unauffällige Notiz, die sie so sehr berührt hat te. Sie las sie noch einmal: »Gastspiel Paul Blondeau. Heute abend fin det das seit langem mit Spannung erwartete Gastspiel der Truppe Paul Blondeau in unserem Stadttheater statt. Die Vorstellung, die morgen und Dienstag wiederholt werden soll, ist schon seit Wochen ausver kauft. Paul Blondeau, der bekannte Charakterdarsteller …« Vera Bergmeister ließ die Zeitung sinken, starrte nachdenklich ins Leere. Paul Blondeau, er war mit ihr auf der Schauspielschule gewesen, sie erinnerte sich noch gut. Ein schmaler, dunkelhaariger junger Mann mit einem lustigen, ein wenig einfältigen Lachen. Er hatte es geschafft. Und sie – was war aus ihr geworden? 130
Jahrelang hatte sie ihn aus den Augen verloren, dann war sein Name in Theaterberichten aufgetaucht. Sie hatte Kritiken über ihn gelesen, glänzende Kritiken, zweimal hatte sie ihn in einer Fernsehrolle gese hen. Und heute abend trat er im Stadttheater auf. Plötzlich war ihr Entschluß gefaßt. Sie mußte ihn sprechen. Paul Blondeau war immer ein guter Kamerad gewesen. Vielleicht wußte er ihr einen Rat. Es mußte eine Möglichkeit geben, wie sie ihr Leben aus füllen konnte. Vielleicht konnte er sie in seine Truppe aufnehmen – nein, das ging nicht, jedenfalls nicht für dauernd. Sie konnte ihren Mann ja nicht allein lassen. Aber irgend etwas mußte geschehen, etwas mußte sie tun. Wieder übermannte sie ein Gefühl, als wenn sie ersticken müßte. Sie hielt es einfach so nicht länger aus. Vera drückte ihre Zigarette aus, legte die Zeitung zusammen und er hob sich. Professor Bergmeister blickte auf. »Wo gehst du hin?« »Telefonieren«, sagte sie mit einem gefassten Lächeln. »Ach so.« Ohne ein weiteres Wort vertiefte er sich wieder in seine Lektüre.
Dr. Norman Hilpert erschien kurz nach neun. Vera begrüßte ihn, führte ihn in das Arbeitszimmer ihres Mannes. Sie machten ein paar Minuten Konversation. Dann sagte Vera: »Ich denke, ihr werdet mir nicht böse sein, wenn ich euch jetzt allein lasse … wenn es um die Wissenschaft geht, haben wir Hausfrauen zu schweigen.« Professor Bergmeister lächelte entschuldigend. »Wir werden es so rasch wie möglich machen, Vera. Nachher kommen wir dann zu dir hinüber.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Wegen mir brauchst du dich nicht zu be eilen. Ich habe etwas Besseres vor.« »Ja?« fragte er ohne sonderliches Interesse. 131
»Ich gehe ins Kino. Im ›Europa‹ gibt es eine Nachtvorstellung von ›Bengali‹!« »Ein guter Film. Hast du ihn noch nie gesehen?« Vera ging über diese Frage hinweg. »Ich verabschiede mich dann gleich jetzt schon. Viel Erfolg!« Dr. Hilpert sah ihr einen Augenblick bewundernd nach, wie sie schlank und hochbeinig zur Tür schritt. »Eine wunderbare Frau«, sag te er ehrlich. Professor Bergmeister seufzte leicht. »Ja. Und sie hat's nicht leicht mit mir.« »Aber, Herr Professor!« »Doch, doch, Norman. Ich bin ein miserabler Ehemann. Manchmal wundert's mich, daß sie es überhaupt noch mit mir aushält.« Dr. Hilpert erlaubte sich ein kleines Lächeln, denn er war sicher, daß diese Bemerkung seines Professors als Scherz gemeint war. »Immer hin habe ich eine Überraschung für sie«, sagte Professor Bergmeister. »Während der Semesterferien will ich mich frei machen. Deshalb ver suche ich auch, die Ausarbeitung meiner Versuche so bald wie möglich hinter mich zu bringen. Eine große Reise, ein, zwei Monate lang. Glau ben Sie, daß ihr das Spaß machen würde?« »Bestimmt. Wohin soll es denn gehen?« »Das möchte ich Vera überlassen. Was ich vorschlage, ist bestimmt genau das Verkehrte. So werde ich mich nach ihren Wünschen richten. Dann kann bestimmt nichts schief gehen.« Vera Bergmeister verließ kurz nach zehn Uhr das Haus. Sie hatte sich mit ungewöhnlicher Sorgfalt zurechtgemacht, trug ein schwarzes französisches Kostüm mit einer wundervollen blonden Nerzstola um die Schultern. Ihr helles, schimmerndes Haar hatte sie hochgekämmt. Während sie durch den Vorgarten schritt, warf sie einen Blick über die Schulter zum Haus zurück. Niemand stand am Fenster, niemand hatte ihr Fortgehen beobachtet. Das war gut so. Denn selbst ihr Mann hätte nicht geglaubt, daß sie in dieser Aufmachung zum Kino ging. Außerdem lag der Taxenhalte platz in entgegengesetzter Richtung wie das ›Europa‹-Kino. 132
Sie hatte sich mit Paul Blondeau in der Bar des Parkhotels verabre det. Aber als sie in die Halle trat, kam der Empfangsdirektor auf sie zu. »Guten Abend, gnädige Frau«, sagte er mit einem Lächeln, das Vera unsympathisch berührte. »Ich möchte in die Bar«, sagte sie kurz angebunden und wollte an ihm vorbei. »Frau Vera Herbst?« Herbst war ihr Mädchenname. Sie stockte, sah ihn an. »Sie sind mit Herrn Blondeau verabredet, nicht wahr?« – Das Lä cheln des geschniegelten jungen Mannes war allzu wissend. Vera be kam fast Lust, ihm ins Gesicht zu schlagen. Aber sie beherrschte sich, sagte ruhig: »Ja. Das stimmt.« »Herr Blondeau hat soeben heruntergeläutet. Er fühlt sich nach der heutigen Vorstellung allzu erschöpft und bittet Sie, zu ihm in sein Ap partement zu kommen.« Vera zögerte den Bruchteil einer Sekunde. – In sein Appartement, damit hatte sie nicht gerechnet. Bestimmt hatte Blondeau diesen Vor schlag ohne Hintergedanken gemacht. Er war ein Schauspieler und legte keinen Wert auf Etikette. Aber sie war die Frau Professor Berg meisters, lebte in einer kleinen Stadt, wo jeder jeden kannte. Wahr scheinlich war sich sogar der Empfangsdirektor keinen Augenblick darüber unklar, wer sie wirklich war. Konnte sie sich erlauben, dieser Einladung Folge zu leisten? Der junge Mann schien ihr Zögern nicht zu bemerken. Er wandte sich um, lockte mit einem Fingerschnalzen einen der grünlivrierten Jungen herbei: »Bitte, führe die gnädige Frau zum Zimmer zweihun dertsieben hinauf!« Noch während Vera im Lift nach oben fuhr, überlegte sie ernsthaft, ob sie den Pagen nicht bitten sollte, sie wieder hinunterzubringen. Aber dann dachte sie an ihren Mann, der ihr Heimkommen so wenig be merken würde wie ihr Fortgehen, stellte sich vor, wie er und sein Assi stent jetzt über ihrem wissenschaftlichen Material hockten und wahr scheinlich ganz vergessen hatten, daß sie überhaupt existierte. 133
Sie warf den Kopf in den Nacken und folgte dem Pagen über den lan gen, mit roten Teppichen ausgelegten Flur. Vor der Tür mit der Nummer 207 blieb der Junge stehen, klopfte an. »Danke. Sie können schon gehen!« sagte Vera. Aber in diesem Augenblick wurde die Doppeltür von innen aufgeris sen, Paul Blondeau erschien auf der Schwelle – in einem seidenen, ele gant gemusterten Hausmantel, unter dem er offensichtlich nur einen Schlafanzug trug. »Vera, altes Mädchen«, sagte er und breitete beide Arme aus, »was für ein Spaß, dich wieder zu sehen!« Ehe Vera sich von ihrer Überraschung erholen konnte, hatte er sie an die Brust gezogen und freundschaftlich auf beide Wangen geküßt, zog sie, den Arm um ihre Schultern, mit sich in sein Appartement. »Setz dich, mach's dir bequem … es ist wirklich fein, daß du gekommen bist. Trinkst du ein Glas Champagner mit mir?« Dann erst sah er ihr Ge sicht und sagte verblüfft: »Nanu! Du scheinst dich aber weiß Gott nicht zu freuen!« »Ich hatte nicht damit gerechnet, daß du es darauf anlegen würdest, mich zu kompromittieren«, sagte sie kalt. »Dich … zu …?« Er lachte plötzlich los, sein lustiges, ein wenig ein fältiges Lachen, an das sie sich noch so gut erinnert hatte. »Veralein, nun mach aber mal einen Punkt! Was für ein Interesse sollte ich wohl haben, dich zu …« Er konnte vor Lachen nicht weitersprechen. »Woher soll ich das denn wissen?« fragte sie ärgerlich. »Jedenfalls finde ich es höchst merkwürdig, daß du mich in dieser Aufmachung empfängst.« »Wieso?« Er sah an sich herunter. »Ist irgend etwas verkehrt? Rei ne Seide, Menschenskind! So etwas hätten wir uns in unserer Sünden Maienblüte auch noch nicht leisten können.« Sie begriff, daß es zwecklos war, ihm Vorhaltungen zu machen. Er verstand sie einfach nicht. Er wirkte reifer, seit sie sich zuletzt gese hen hatten, war voller geworden, stärker in den Schultern, seine Ge sichtszüge schienen ausgeprägter. Ganz davon abgesehen, daß er be rühmt geworden war. Aber sein Wesen hatte sich nicht gewandelt. Er 134
war noch immer der unbekümmerte Junge mit den schönen braunen Augen, die er so geschickt zur Geltung bringen konnte. »Du hast dich wahrhaftig nicht verändert!« sagte sie in versöhnli chem Ton. »Hätte ich das sollen?« »Na, immerhin. Wie lange haben wir uns nicht gesehen?« »Mehr als zehn Jahre. Ich hab's grade eben in der Badewanne ausge rechnet. Durch Liane erfuhr ich, daß du geheiratet hast. Seitdem bist du verschollen.« »Das ist nun wohl doch nicht ganz der richtige Ausdruck!« Sie wurde sofort wieder steif. »Ich lebe seit meiner Verheiratung hier.« Er riß die Augen auf. »In diesem Nest?« »Dieses Nest ist eine Universitätsstadt.« »Na, wenn schon. Jedenfalls möchte ich hier nicht begraben sein.« Er zog die Sektflasche aus dem Kübel, ließ sehr langsam und gekonnt den Korken mit einem dumpfen Knall herausgleiten. »Dann müssen wir die Ehre wohl noch höher schätzen, daß du dich zu einem Gastspiel bei uns herabgelassen hast«, sagte sie spitz. Er hatte Sekt in eines der Gläser schäumen lassen. Jetzt hielt er mitten in der Bewegung inne, fragte: »Was ist eigentlich los mit dir, altes Haus? Erst belämmerst du mich, daß du mich unbedingt sprechen müsstest, und nachdem ich das möglich gemacht habe … unter Schwierigkeiten übrigens, denn man wollte mich natürlich feiern … hackst du dauernd auf mir herum. Was ist dir in die Krone gefahren?« Eine tiefe Niedergeschlagenheit, die sie schon seit einiger Zeit in sich aufsteigen gefühlt hatte, begann sie zu überwältigen. »Entschuldige, Paul«, sagte sie, »ich weiß selber, daß ich alles falsch gemacht habe.« Sie stand auf. »Ich hätte gar nicht kommen sollen.« Sie wandte sich zur Tür. Er stellte Glas und Flasche aus der Hand, vertrat ihr mit zwei raschen Schritten den Weg. »Unsinn«, sagte er, »was ist los mit dir? Irgend et was stimmt doch nicht, wie?« »Paul, bitte … lass mich gehn. Es hat keinen Sinn. Es führt zu nichts, wenn ich dich mit meinen Sorgen belästige.« 135
»Du hast also Sorgen.« Er packte sie beim Arm. »Hab' ich mir gleich gedacht. Nun setz dich mal schön wieder hin und erzähl Onkel Paul al les. Schon als du anriefst, hatte ich so ein komisches Gefühl. Ich dach te, du brauchtest Geld.« Er unterzog ihre elegante Erscheinung einer gar nicht unauffälligen Musterung. »Aber das scheint ja nicht zu stim men.« Er drückte sie in ihren Sessel zurück. »Also, was ist los? Nur kei ne Hemmungen. Spuck es heraus, Täubchen.« Sie fand nicht sogleich die richtigen Worte, und er ließ ihr Zeit. Er ging zum Tisch zurück, goß Sekt in die Gläser, reichte ihr eines. »Auf dein Wohl, altes Mädchen!« Sie trank ihm zu. »Ich freue mich, daß du so großartige Erfolge hast, Paul!« »Nicht ablenken«, sagte er lächelnd, »du brauchst mir nicht zu schmeicheln, ich bin eitel genug. Also, wo drückt der Schuh?« Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. »Ich möchte wieder ar beiten!« Er zeigte sich keineswegs verwundert. »Kein schlechter Gedanke.« »Ich muß arbeiten, sonst werde ich noch verrückt.« »Hab' schon verstanden.« »Meinst du, daß ich es noch einmal versuchen kann? Ich habe zehn Jahre ausgesetzt, das ist eine lange Zeit, ich weiß. Aber schließlich, ich möchte ja auch keine jugendliche Naive mehr spielen … meinst du, daß ich noch eine Chance hätte?« »Du willst dich also scheiden lassen? Oder bist du es schon?« »Nein, Paul. Das nicht. Ich möchte einfach … meinem Leben einen Inhalt geben.« »Mein liebes Kind …« er lachte auf, »wenn man dich so reden hört! Man sollte meinen, du wärest eine dieser unbefriedigten, überspann ten Ehefrauen. Dabei warst du doch mal ein vernünftiger Kerl … und eine gute kleine Schauspielerin noch dazu.« Ihre Augenbrauen zuckten. »Du hältst meine Idee also für verrückt?« »Ziemlich. Tut mir leid, wenn du etwas anderes von mir erwartet hast. Aber es hat doch keinen Zweck, wenn ich dich mit einem Hau fen Lügen füttere.« 136
»Aber warum denn, Paul? Warum? Schließlich bin ich ja noch nicht uralt! Warum sollte mir der Absprung nicht gelingen?« »Weil du im Ernst gar nicht an einen Absprung denkst. Sei doch ehr lich. Du willst fliegen, aber dein warmes Nestchen magst du nicht auf geben. Wie stellst du dir das eigentlich vor?« »Nun, ich hatte gedacht …« Vera drehte das Glas zwischen den Fin gern. »Ich könnte vielleicht ein paar Monate im Jahr auf Tournee ge hen. Oder hie und da mal eine Fernsehrolle übernehmen.« »Also Theaterspielen als Zeitvertreib. Hört! Hört!« »Ich hätte mir denken können, daß du kein Verständnis für mich ha ben würdest.« »Aber, Vera, habe ich doch! Jede Menge. Du bist unglücklich, deine Ehe hat dich enttäuscht, die Kinder sind ungezogen, dein Mann hat eine Geliebte … oder er trinkt, spielt oder vernachlässigt dich sonst wie. Eine scheußliche Situation. Aber das ist doch immer noch kein Grund, zum Theater zu gehen.« »Ich habe keine Kinder, Paul«, sagte sie, »sonst würde ich bestimmt nicht hier sitzen. Und es geht mir auch nicht darum, irgendwelche Ent täuschungen zu kompensieren, wie du vielleicht glaubst …« »Ich wollte dich nicht beleidigen!« sagte er rasch. »Ich weiß, und ich danke dir für deine Ehrlichkeit. Sag mir jetzt nur noch eines … wenn ich geschieden wäre, wenn ich ganz allein auf mich gestellt wäre … gäbst du mir dann eine Chance?« »Das steht auf einem anderen Blatt.« Er zögerte einen Augenblick. »Käme ganz darauf an, was du dir erwartest. Immerhin … die mei sten Menschen lernen schwimmen, wenn sie ins Wasser gestoßen wer den.«
Bis halb zwölf Uhr hatten Professor Bergmeister und sein Assistent konzentriert gearbeitet. Dann spürte Dr. Hilpert, daß der Professor unruhig zu werden begann. »Wenn Sie mir gestatten, Herr Professor, daß ich die Unterlagen mit 137
nach Hause nehme«, schlug er vor, »ich könnte dann die Berechnun gen in aller Ruhe noch einmal durchgehen …« Professor Bergmeister war sofort einverstanden. »Ja. Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar. Selbstverständlich werde ich Ihre Hilfe im Vor wort meiner Arbeit erwähnen.« »Aber das ist doch wirklich nicht nötig …« »Doch. Es ist nur fair. Und außerdem …« Der Professor schmun zelte. »Es dürfte für Ihre Karriere ganz nützlich sein. Haben Sie schon überlegt, ob Sie sich habilitieren wollen?« »Ganz ehrlich … ich weiß es noch nicht. Das hängt von so vielen äu ßeren Dingen ab.« »Wenn Sie Fräulein Gabriele Zerling heiraten, ist für die materiel le Grundlage eines wissenschaftlichen Berufs jedenfalls bestens ge sorgt.« Dr. Hilpert konnte seine Verlegenheit nicht verbergen. »Na, na«, sagte der Professor, »das ist doch keine Schande. Vielleicht hätte ich es besser nicht erwähnen sollen. Aber die Eitelkeit war stär ker als mein Taktgefühl. Ich wollte Ihnen beweisen, daß ich weiß, was in meiner Klinik vor sich geht.« »Gabriele Zerling ist ein prächtiges Mädchen, aber es bestehen zwi schen uns keinerlei ernsthafte Beziehungen.« »Also … nur ein Flirt?« »So könnte man es vielleicht nennen.« Professor Bergmeister nahm seine Brille ab, begann umständlich die dicken Gläser zu putzen. »Ich weiß nicht, Norman, ich will Ihnen da nicht hineinreden, aber ich glaube, es ist etwas gefährlich, mit Herzen zu spielen.« »Gabriele und ich stehen auf einem guten kameradschaftlichen Fuß miteinander.« »Freut mich zu hören.« Professor Bergmeister setzte seine Brille wie der auf. »Ich weiß natürlich, daß sich gewisse … persönliche Beziehun gen in einer Klinik nicht ganz vermeiden lassen. Trotzdem sehe ich sie nicht sehr gern. Sie führen meist zu ganz unnützen Spannungen und Komplikationen. Das nur nebenbei.« Er stand auf. »Aber jetzt gestat 138
ten Sie bitte, daß ich Sie hinauswerfe. Ich denke, ich werde meine Frau vom Kino abholen.« Dr. Hilpert hatte sich sofort erhoben. »Dann haben wir denselben Weg, Herr Professor.« »Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber das ist sehr lieb. Ich gehe nicht mehr sehr gern allein nachts spazieren.« Professor Bergmeister löschte alle Lichter, bevor sie sich anzogen und gemeinsam das Haus verließen. Das ›Europa‹-Kino lag knapp zwanzig Minuten von der Villa entfernt. Als sie ankamen, wurde drinnen noch gespielt. Gedämpfte Musik drang durch die breiten Türen, die vom Zuschauerraum direkt auf die Straße führten. Dr. Hilpert blickte gedankenlos in einen der Schaukä sten, während der Professor mit ihm sprach. »Da hat Ihre Gattin aber Pech gehabt«, sagte Dr. Hilpert plötzlich, »sie geben gar nicht ›Bengali‹ … sehen Sie doch nur, sie haben's über klebt, statt dessen.›Haus der sieben Sünden‹, ein alter Marlene-Dietrich-Film.« »Na, dann sieht sie sich das eben an«, sagte der Professor uninteres siert. In diesem Augenblick öffneten sich die Türen, und die Zuschauer strömten heraus. Professor Bergmeister und sein Assistent traten in das Licht einer Laterne zurück, damit Vera sie nicht übersehen konn te. Sie musterten aufmerksam jeden einzelnen Zuschauer. Aber es dau erte eine ganze Weile, bevor Professor Bergmeister begriff, daß seine Frau nicht unter ihnen war.
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m nächsten Tag – es war ein Sonntag – stand Professor Bergmei ster, wie üblich, Stunden früher als seine Frau auf, frühstückte al lein und zog sich dann in sein Arbeitszimmer zurück. So kam es, daß er ihr erst beim Mittagessen begegnete. Er plauderte von diesem und jenem, um ihr Gelegenheit zu geben, von sich aus eine Erklärung über den gestrigen Abend abzugeben. Erst als sie dazu keine Anstalten machte, sagte er wie beiläufig: »Übrigens wollte ich dich gestern abend vom Kino abholen. Schade, daß ich dich verpasst habe.« Er sah sie dabei nicht an, tat vielmehr so, als wenn er angelegentlich mit dem Zerschneiden des Bratens beschäftigt wäre. »Ach, das tut mir leid«, sagte sie nur. »Na, immerhin, der Spaziergang in der frischen Luft war ganz ange nehm. Hilpert und ich hatten einiges zusammengequalmt, wie du dir denken kannst.« »Ja. Sicher. Hat er dir übrigens helfen können?« Veras Wunsch, das Thema zu wechseln, war so offensichtlich, daß er, obwohl er es eigentlich nicht vorgehabt hatte, nun doch den Kopf he ben und sie ansehen mußte. »Unbedingt. Du weißt, wie große Stücke ich auf ihn halte. Übrigens hat er mich auch zum Kino begleitet …« »Ach ja. Er wohnt in der Richtung.« »Merkwürdig, daß wir dich nicht getroffen haben …« »Na ja«, sagte Vera mit einem Achselzucken, »ich habe ja nicht ge ahnt, daß du mich abholen kommen würdest. Es war ja ein ziemliches Gedränge. Wo hast du denn gestanden?« »Bei der Laterne.« »Ach so. Dann verstehe ich alles. Wenn man selber im Licht steht, 140
kann man das, was sich im Dunkeln abspielt, kaum erkennen. Und dann noch du mit deinen schlechten Augen!« »Wie hat dir denn ›Bengali‹ gefallen?« – Er merkte, daß sie zöger te, hoffte inständig, sie würde jetzt die Wahrheit sagen – irgendeine harmlose, glaubhafte Erklärung finden. Aber sie spürte seine Gedanken nicht. »Ach, ganz ehrlich«, sagte sie mit einem unechten kleinen Lachen, »war ich ein bißchen enttäuscht. Natürlich hat der Film faszinierende Passagen, aber im großen und ganzen …« Sie stockte, als er seine Serviette zusammenknüllte, sie auf den Tisch warf. Er stand so unbeherrscht auf, daß er sein Glas umstieß. Der rote Wein schwappte über den weißen Damast. »Klaus!« rief sie erschrocken. »Was ist los? Ist dir nicht gut?« »Sehr richtig«, sagte er mit eisiger Stimme, »mir ist übel. Speiübel von deinen verdammten Lügen.« »Aber, Klaus, ich weiß gar nicht …« »Aber ich weiß! Du bist nicht im Kino gewesen, du kannst nicht dort gewesen sein … jetzt lass mich mal sprechen, ja, bitte! Du wirst bald genug von mir erlöst sein! ›Bengali‹ ist gestern abend gar nicht gege ben worden!« Er sah, wie sie sich auf die Lippen biss – alles Blut war aus ihren Wangen gewichen –, und verließ wortlos das Zimmer. Vera blieb allein vor dem verwüsteten Mittagstisch.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Vera sich von ihrem Schock erholt hatte. Dann klingelte sie dem Mädchen, sagte mit einer Stimme, über de ren Beherrschtheit sie sich selber wunderte: »Sie können abräumen, bitte …« »Und den Mokka … wie immer im Salon?« »Nein. Bitte bringen Sie dem Herrn Professor seinen Kaffee ins Ar beitszimmer. Ich verzichte heute.« 141
Vera stand auf und verließ das Esszimmer. Sie fühlte sich immer noch ganz benommen. Sie hätte gern einen Cognac getrunken, aber sie hatte sich vor dem Mädchen geschämt. Sie stieg die Treppen zu ihrem Zimmer hinauf, stand einen Augen blick wie verloren in dem elegant und etwas verspielt eingerichteten Raum. Dann wandte sie sich um und schloß die Tür hinter sich ab. Gleichzeitig kam ihr zu Bewußtsein, daß dies nichts weiter als eine tö richte Reflexhandlung war. Sie hatte keinen Grund, sich einzuschließen. Niemand würde sie hier stören. Am allerwenigsten ihr Mann. Sie ließ sich auf den breiten, mit zartfarbigen Kissen bedeckten Di wan sinken. – Das ist also das Ende, dachte sie. Oft und oft hatte sie sich nach diesem Ende gesehnt, verzweifelt ei nen Ausweg aus dem Käfig ihrer Ehe gesucht. Aber daß es so kommen würde, hatte sie weder gewünscht noch gewollt. Sie wußte, daß sie ih ren Mann tödlich verletzt hatte. Er mußte glauben, sie hätte ihn betro gen. Sonderbarerweise schmerzte sie dieses Missverständnis mehr, als sie es sich je hätte träumen lassen. Sie kämpfte mit dem Impuls, aus dem Zimmer zu laufen, zu ihrem Mann zu stürzen und ihm alles, alles zu sagen. Aber sie wußte, daß sie damit alles nur noch schlimmer gemacht ha ben würde. Wenn es überhaupt noch schlimmer zu machen war. Was sollte ihr Mann davon denken, wenn sie ihm beichtete, daß sie einen Schauspieler, einen Freund aus vergangenen Zeiten, auf seinem Zim mer aufgesucht hatte? Hätte Paul Blondeau sie, wie sie es sich vorgestellt hatte, an der Bar empfangen, dann, ja dann wäre alles ganz einfach gewesen. Aber es war anders gekommen, leider ganz anders. Wie sollte ihr Mann ihr unter diesen Umständen glauben, daß sie ihn nicht be trogen hatte? Natürlich gab es noch eine andere Möglichkeit. Sie konnte eine neue Lüge erfinden, eine Bekannte anrufen und sie bitten, ihr ein Alibi zu geben. 142
Aber das wagte sie nicht mehr. Sie hatte jede Sicherheit verloren. Vera Bergmeister drückte ihre Zigarette aus, stand auf, trat ans Fen ster und sah gedankenlos auf die Straße. Wenn sie ihrem Mann nun wahrheitsgetreu über ihr Gespräch mit Blondeau berichtete und nur verschwieg, wo es stattgefunden hatte? Aber Klaus war mißtrauisch geworden. Sie mußte damit rechnen, daß er zum Parkhotel ging und unauffällig Erkundigungen über ihren Be such einzog. Nein, auch das war kein Ausweg. Vera Bergmeister wollte sich vom Fenster abwenden, um sich eine neue Zigarette anzuzünden, da hörte sie, wie unten die Gartenpforte quietschte. Unwillkürlich drehte sie sich um und sah hinunter. Es war Professor Bergmeister, der das Haus verließ. Er ging, den schmalen Körper noch ein wenig gebeugter als sonst, mit den tasten den Schritten eines stark Kurzsichtigen. In diesem Augenblick liebte sie ihn mehr denn je. Sie hätte das Fen ster aufreißen, ihm nachschreien mögen: »Komm zurück!« – Aber sie stand wie versteinert, beide Hände vor den Mund gepresst. Professor Bergmeister verschwand ihr aus den Augen, ohne sich auch nur einmal umgedreht zu haben. Plötzlich war ihr Entschluß gefaßt. Sie rannte zur Tür, rüttelte an der Klinke, weil sie vergessen hat te, daß sie sie selber abgeschlossen hatte, besann sich, schloß auf und rannte die Treppe hinunter. Das Telefon stand im Arbeitszimmer ihres Mannes. Atemlos nahm sie den Hörer ab, wählte die Nummer des Parkhotels, verlangte Paul Blondeau. Er mußte anscheinend erst gesucht werden, jedenfalls dauerte es eine Weile, ehe er an den Apparat kam. »Ja, bitte?« sagte er in dem gelangweilten Ton eines sehr berühmten, viel belästigten Mannes. »Hier ist Vera … Vera Bergmeister, ich meine natürlich … Herbst! Paul, ich habe getan, was du mir geraten hast, ich habe alle Schiffe hin ter mir verbrannt. Ich bin frei, ganz frei, Paul … kannst du mir jetzt helfen?« 143
»Das kommt ein wenig überraschend«, sagte er zurückhaltend und durchaus nicht erfreut. »Für mich auch, Paul, das kannst du mir glauben. Aber natürlich, wenn du jetzt einen Rückzieher machen willst …« »Überhaupt nicht. Wie kommst du darauf?« »Ich hatte den Eindruck.« »Also, ganz ehrlich, Vera, im Augenblick paßt es mir leider nicht. Ich erwarte einen Besuch, weißt du. Vielleicht kommst du am Spätnach mittag zu mir … oder noch besser nach der Vorstellung …« »Ich will überhaupt nicht wieder zu dir ins Parkhotel kommen. We der nachmittags noch abends.« »Nicht?« »Nein, wirklich nicht. Es hat keinen Zweck, dir das zu erklären. Ich dachte, wir könnten uns vielleicht in Stuttgart treffen. Deine nächste Gastspielstation ist doch Stuttgart, oder?« »Doch. Natürlich. Aber da sind wir erst Ende der Woche.« »Das macht nichts. Bis dahin hast du Zeit, dir meinen Fall durch den Kopf gehen zu lassen. Wo wohnst du in Stuttgart? Privat? Bitte, gib mir deine Telefonnummer.« Wenige Minuten später lief Vera die steile Treppe zum Dachboden hinauf, brachte zwei Lederkoffer – ihre alten Koffer, die sie mit in die Ehe gebracht hatte – in ihr Zimmer hinunter, begann mit fliegenden Händen einzupacken. Sie wußte nicht, wann ein Zug nach Stuttgart ging, sie hatte auch keine Vorstellung, was sie dort tun sollte, sie hatte nur das eine Ziel – aus dem Haus zu sein, ehe ihr Mann zurückkam.
Professor Bergmeister machte mit Dr. Hilpert und Oberschwester Hil de, Dr. Hesse, Dr. Böninger und einem Schwarm Hospitanten und Hospitantinnen die morgendliche Visite. Er schien, wie immer, ganz bei der Sache, demonstrierte ohne Über heblichkeit sein bedeutendes Wissen, fand für jeden der Patienten ein 144
aufmunterndes, verständnisvolles Wort. Dabei hatte er tatsächlich die häusliche Tragödie noch keineswegs überwunden, grübelte unentwegt über Veras seltsames Verhalten nach. Aber niemand, selbst Dr. Hilpert nicht, ahnte, was in ihm vorging. Der letzte Privatpatient, den Professor Bergmeister mit seinem Stab an diesem Morgen aufsuchte, war Dr. Max Bronner, Ministerialdiri gent im Außenministerium, ein hochintelligenter Mann mit großem persönlichen Ehrgeiz. Obwohl er sich bemühte, seine Gereiztheit zu unterdrücken, war es doch offensichtlich, daß er die stationäre Beob achtung, der er sich unterziehen mußte, nur schlecht vertrug. So fragte er auch an diesem Morgen wieder, noch bevor Professor Bergmeister zu Wort kommen konnte: »Bitte, Herr Professor, sagen Sie mir die Wahrheit … ich muß wissen, was mit mir los ist!« Ministerialdirigent Bronner war vor acht Tagen zum ersten Mal, von seinem Hausarzt überwiesen, in der Augenklinik zur Untersuchung er schienen. Er klagte über leicht gerötete und brennende Augen. Manch mal würde seine Sicht wie durch einen Schleier getrübt, der aber meist nach kurzer Zeit wieder verschwände. Außerdem hätten sich in der letzten Zeit in zunehmendem Maße Kopfschmerzen, verbunden mit Augendruck und dem Sehen von farbigen Ringen, eingestellt. Professor Bergmeister, der den Patienten persönlich untersucht hat te, konstatierte bei noch erhaltener zentraler Sehschärfe auf beiden Au gen eine Gesichtsfeldeinschränkung und erhöhten Augeninnendruck. Dieser Druck hatte begonnen, den Sehnervkopf, wie sich bei der Spie gelung des Augenhintergrundes herausstellte, auszuhöhlen. Nach einer Oberflächenanästhesie durch Pantocain setzte Professor Bergmeister das Tonometer auf die Hornhaut des Patienten, um die Stärke des Augeninnendrucks zu messen. Es stellte sich heraus, daß sich der Stempel dieses Gerätes, der je nach Härte des Augapfels mehr oder weniger tief einzusinken pflegt, in diesem Fall überhaupt nicht rührte. Der Zeigerausschlag auf der Skala war gleich Null. Professor Bergmeister entschloß sich, die Augeninnendrucksmes sung durch das Aplanationstonometer vorzunehmen, ein Gerät, das außerordentlich genau arbeitete und feinste Messungen ermöglichte, 145
aber auch sehr kompliziert zu bedienen war und deshalb nicht allzu oft benutzt wurde. Professor Bergmeister mußte dem Patienten sagen, daß eine statio näre Beobachtung unbedingt erforderlich war. Falls es nicht gelang, den Augendruck einzustellen, konnte nur noch eine Operation helfen. Sonst stand eine unaufhaltsam fortschreitende Erblindung bevor. Ministerialdirigent Bronner fügte sich widerwillig. Wie alle sehr be schäftigten Männer glaubte er, daß er es sich einfach nicht erlauben könnte, einmal auszuschalten. Er fühlte sich, bis auf die schmerzen den Augen, vollkommen gesund, und die Zeit in der Klinik wurde ihm entsetzlich lang. Er durfte nicht lesen, um die Augen nicht unnötig an zustrengen, und es wurden zahllose Versuche mit ihm gemacht, bei denen er nichts anderes zu tun hatte als stillzuhalten. Zuerst einmal wurden Tabellen angelegt, in die die Werte für den Augeninnendruck eingetragen wurden. Alle zwei Stunden am Tag und in der Nacht wurde der Druck neu gemessen und eingetragen. Sobald es zu Drucksteigerungen kam, wurden Belastungsproben, so genannte Provokationstests durchgeführt. Dr. Bronner mußte einen Li ter klares Wasser morgens auf nüchternen Magen innerhalb von fünf Minuten trinken. Daraufhin stieg der Druck innerhalb der nächsten Stunde, während er mindestens sechsmal gemessen wurde, erheblich. Professor Bergmeisters Verdacht bestätigte sich: Bei der Erkrankung dieses Patienten handelte es sich um ein Glaukom oder, wie es volks tümlicher heißt, den Grünen Star. Jetzt schritt man zur stationären Behandlung. Mehrmals am Tag wurden pupillenverengende Mittel getropft – Pilocarpin, Mintacol, Doryl –, die den Augendruck senken sollten. Nach drei Tagen wurden neue Provokationstests gemacht. Der Pati ent mußte eine Tasse sehr starken Kaffee trinken. Danach wurde der Augeninnendruck jede Stunde gemessen. Er stieg nur unerheblich. Auch der Dunkelversuch zeigte ein günstiges Ergebnis. Bei diesem Test wurden die Messungen durchgeführt, nachdem der Patient eine Stunde lang in einem zuverlässig abgedunkelten Zimmer verbracht hatte. Auch diesmal war kaum eine Drucksteigerung festzustellen. 146
»Es sieht so aus, als ob wir mit Ihnen Glück hätten, Herr Ministerial dirigent«, erklärte Professor Bergmeister lächelnd, »es ist uns tatsäch lich gelungen, die Tension zu senken.« Dr. Max Bronner richtete sich mit dem Ellbogen auf. »Für immer?« »Nun, leider bin ich kein Hellseher …« Dr. Bronner brauste auf. »Aber nach all den Sachen, die Sie mit mir angestellt haben, werden Sie mir doch klipp und klar sagen kön nen …« »Leider nicht. Vorläufig ist die Krankheit zum Stillstand gebracht. Solange es gelingt, den Augeninnendruck gesenkt zu halten, besteht keine unmittelbare Gefahr. Natürlich läßt sich die Schädigung des Sehnervs nicht rückgängig machen, aber immerhin kann sie wenig stens nicht weiter fortschreiten.« »Und wenn der Druck doch wieder steigt?« »Dann bleibt nur noch die Operation.« »Warum operieren Sie dann nicht gleich? In den acht Tagen, die ich hier liege, hätte ich schon alles überstanden haben können.« Professor Bergmeister zog sich einen Stuhl an das Bett des Patien ten und sagte mit berufsmäßiger Milde: »Mein lieber, verehrter Mi nisterialdirigent, seien Sie froh, daß wir noch nicht zur Operation ge zwungen sind. Sie wissen doch, wie man so schön sagt … selbst die beste Krankheit ist nichts wert. Genauso steht es mit den Operatio nen. Selbst die glänzendste Operation bedeutet einen Eingriff in den menschlichen Organismus und kann nie ohne Risiko sein.« »Aber ich möchte wieder ganz gesund sein … ich muß ganz gesund sein, wenn ich meine Aufgaben zufrieden stellend erfüllen soll.« »Glauben Sie nicht, daß ich Sie nicht verstehe«, sagte Professor Berg meister, und überraschend setzte er hinzu: »Wie alt sind Sie?« »Fünfzig Jahre«, antwortete der Patient erstaunt. »Na, sehen Sie, da sollten Sie doch eigentlich schon langsam be greifen, daß das Leben ein Wert an sich ist, nicht wahr? Fünfzig Jah re sind Sie, ohne zu verschnaufen, vorwärtsgerannt. Jetzt wird es Zeit, im Schritt zu gehen oder höchstens mal hin und wieder in einen leich ten Trab zu fallen.« 147
»Ich fühle mich durchaus noch nicht alt!« protestierte Dr. Bronner. Professor Bergmeister erhob sich. »Glaube ich Ihnen gern. Aber älter werden ist nun einmal keine reine Gefühlssache. Daß eine Maschine rie, die fünfzig Jahre lang alle Stücke gespielt hat, nicht mehr wie neu sein kann … das versteht sich doch wohl von selbst.« Dr. Bronner ließ sich in seine Kissen zurücksinken. »Sie haben wirk lich eine feine Art, einen kranken Menschen zu trösten.« »Sie brauchen keinen Trost, Herr Ministerialdirigent, die Wahrheit ist für Sie viel nützlicher. Und außerdem … Sie sind ja wirklich ein Glückspilz. Als Sie das erstemal zu mir kamen, habe ich nicht gedacht, daß ich Sie so schnell wieder entlassen könnte.« Dr. Bronner richtete sich mit einem Ruck in seinen Kissen auf. »Ich bin entlassen?« »Ja. Morgen früh können Sie gehen. Allerdings nicht aus der augen ärztlichen Behandlung. Ich werde Sie an einen Kollegen in Bonn über weisen … und außerdem, pupillenverengende Medikamente werden Sie auch bis ans Lebensende nehmen müssen. Aber ich denke, das läßt sich ertragen.«
Sehr bald, nachdem Professor Bergmeister den Patienten Max Bronner verlassen hatte, zerstreute sich sein Stab. Nur Dr. Norman Hilpert hielt sich noch in der Nähe des Chefs. Er hatte noch eine Frage auf dem Herzen. »Wann, Herr Professor, meinen Sie, daß Frau von Schöller den ersten Sehversuch machen kann? Mit Starglas, meine ich.« »Wann sind die Fäden gezogen worden?« »Vor zwölf Tagen.« »Na, denn denke ich, können wir es übermorgen mal versuchen.« Professor Bergmeister sah seinen Assistenten prüfend an. »Ihnen scheint tatsächlich sehr viel an dieser Patientin zu liegen.« Noch be vor Dr. Hilpert zu einer Erklärung ansetzen konnte, schnitt er ihm das Wort ab. »Ihre Gefühle und so weiter gehen mich natürlich nichts an. 148
Genauso wenig wie Ihr Privatleben. Ich möchte nur nicht gern, daß in der Klinik geklatscht wird, daß Gerüchte aufkommen … Sie wissen, wie schnell so etwas bei uns geht.« »Aber, Herr Professor, ich habe wirklich nicht …« »Glaube ich Ihnen, Norman, glaube ich Ihnen unbesehen. Aber viel leicht wäre es doch wohl besser, wenn Sie Ihre Sondervisiten auf Zim mer siebzehn einschränken würden.« Dr. Hilpert öffnete den Mund, als ob er noch einmal widersprechen wollte. Dann aber besann er sich anders und sagte nur: »Jawohl, Herr Professor!« »Freue mich, daß wir uns verstanden haben, Kollege. Ist übrigens der Bankier Schöller benachrichtigt worden? Nein? Ich glaube, das sollte man gleich in die Wege leiten. Dieser erste Sehversuch wird doch ein großer Moment sein. Ich fände es gut, wenn Herr von Schöller dabei sein könnte.« »Ja, Herr Professor«, sagte Dr. Hilpert mit Haltung. Professor Bergmeister sah ihn an. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht ver letzt, wie? Sollte mir wirklich leid tun. Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze.« »Danke. Sie haben natürlich in allem recht, ich weiß es.« »Nicht in allem«, sagte Professor Bergmeister mit einem kleinen Lä cheln, »nur in manchem. Und das auch nur, weil ich einige Jährchen älter bin als Sie. Jugend ist etwas Wunderbares, aber eine gewisse Er fahrung ist auch nicht zu verachten.« Sein Lächeln vertiefte sich. »Und diese Erfahrung sagt mir auch, daß wir beide jetzt einen Cognac nö tig haben …« Dr. Hilpert folgte Professor Bergmeister in das helle, sehr sachlich eingerichtete Untersuchungs- und Arbeitszimmer. Sie nahmen an dem niederen Rauchtisch in der Ecke des großen Raumes Platz, tranken je der ein Glas Cognac, rauchten eine Zigarette und fachsimpelten. Später, als beide schon aufgestanden waren, um sich zu verabschie den, fragte Dr. Hilpert – mehr aus Höflichkeit als aus wirklichem In teresse: »Ich hoffe, Ihre verehrte Gattin ist gestern abend wohlbehalten nach Hause gekommen.« 149
»Ja«, erwiderte Professor Bergmeister kurz. »Zu schade, daß wir sie verpasst haben! Ich habe mir schon über legt … welchen Ausgang sie nun wirklich benutzt hat?« »Sie war gar nicht im Kino.« Plötzlich begriff Dr. Hilpert, daß er ins Fettnäpfchen getreten war. Nicht so sehr das, was Professor Bergmeister sagte, sondern wie er es sagte, hatte merkwürdig geklungen. »Ach so«, sagte Dr. Hilpert verlegen und vermied es, seinen Chef an zusehen. »Interessiert es Sie gar nicht zu erfahren, wo meine Frau tatsächlich ge wesen ist?« fuhr Professor Bergmeister mit selbstquälerischem Spott fort. Dr. Hilpert suchte nach einer passenden Antwort, zog es dann aber vor, zu schweigen. »Ich könnte es Ihnen auch beim besten Willen nicht verraten«, er klärte Professor Bergmeister bitter. »Haben Sie Ihre Frau denn nicht danach gefragt?« entfuhr es Dr. Hil pert. »Nein«, sagte Professor Bergmeister hart, »ich habe darauf verzich tet, mich anlügen zu lassen.« »Aber, Herr Professor … bestimmt war alles ganz harmlos! Ich bin überzeugt, daß alles ganz harmlos war. Wahrscheinlich hat Ihre Gat tin auf dem Weg zum Kino Bekannte getroffen …« »Das hatte ich auch erst angenommen. Bis heute morgen. Bis sie mir eine ausführliche Beschreibung ihres gestrigen Kinobesuchs gegeben hat. Bis ich sicher sein mußte, daß sie etwas zu verbergen hat.« »Alle Frauen haben Geheimnisse«, sagte Dr. Hilpert, »das weiß ich, ohne je verheiratet gewesen zu sein. Und je geheimnisvoller sie tun, de sto weniger steckt meistens dahinter.« Professor Bergmeister sah seinen Assistenten an. »Ist das Ihre auf richtige Meinung?« »Selbstverständlich, Herr Professor.« Professor Bergmeister schwieg eine Sekunde, dann sagte er, und sei ne Stimme klang fast erstaunt: »Vielleicht haben Sie tatsächlich recht, Kollege. Seltsam … so habe ich die Dinge gar nicht gesehen.« 150
»Alles wirkt verzerrt, wenn man es aus zu großer Nähe betrachtet«, behauptete Dr. Hilpert. »Stimmt. Stimmt auffallend.« Wieder lächelte Professor Bergmei ster, diesmal aber ein ganz befreites, fast glückliches Lächeln. »Ich bin wirklich froh, daß ich mit Ihnen darüber gesprochen habe. Anschei nend habe ich mich wirklich wie ein alter eifersüchtiger Esel benom men.« Später, als Dr. Norman Hilpert das Zimmer verlassen hatte, ging Professor Bergmeister zum Telefon und ließ sich mit seiner Villa ver binden. Aber es war nicht Vera, sondern das Mädchen, das zum Apparat kam. Professor Bergmeister erfuhr, daß seine Frau die Koffer gepackt hatte und abgereist war.
Drei Tage später traf der Bankier von Schöller in der Augenklinik ein. Nach einer kurzen Rücksprache mit Professor Bergmeister suchte er Xenia in ihrem Krankenzimmer auf. Er hatte ihr einen wundervollen Strauß roter Rosen mitgebracht, und wenn seine Frau sie auch noch nicht sehen konnte, so spürte sie den bezaubernden Duft, strich mit den Fingerspitzen über die seiden weichen Blätter. »Vorsicht«, sagte er, glücklich, ihr eine Freude gemacht zu haben, »du weißt, Rosen haben Dornen.« Ihr Gesicht verschloss sich. »Daran brauchst du mich nicht zu erin nern.« »Darf ich die schönen Rosen in eine Vase tun?« fragte die Schwester, die gerade ins Zimmer gekommen war. »Ja, bitte«, sagte der Bankier, »und stellen Sie sie auf den Nacht tisch.« »Nicht zu nah«, bat Xenia, »Sie wissen, wie ungeschickt ich bin.« »Aber, Liebling! Ich habe sie dir doch extra mitgebracht, damit du et was Schönes siehst, wenn du die Augen aufmachst.« »Ich habe Angst«, stieß sie hervor. 151
»Wovor denn, Liebling!« Er faßte zärtlich eine ihrer schmalen, unru higen Hände, zog sie an seine Wange. Sie ließ es teilnahmslos geschehen. »Ich glaube nicht, daß ich wirk lich sehen werde«, sagte sie. »Aber bestimmt!« Er ließ ihre Hand los, fuhr sich mit einem blüten weißen Taschentuch über das graue aufgedunsene Gesicht. »Ich habe eben mit Professor Bergmeister gesprochen. Er ist ganz sicher, daß du sehen wirst. Der Hell-Dunkel-Versuch ist doch ausgezeichnet gelun gen.« »Was besagt das schon!« »Nun, du weißt, ich verstehe auch nicht viel von solchen Dingen, aber ich denke, wenn der Professor es sagt, dürfen wir es schon glauben.« »Ich traue ihm nicht. Warum hast du mich nicht von Dr. Hilpert operieren lassen?« »Aber, Liebling, darüber haben wir doch nun oft genug lang und breit gesprochen. Ich bin überzeugt, daß du dich richtig entschieden hast.« »Und wenn es nun nichts geholfen hat? Wenn nun alles umsonst war?« »Dann nehme ich dich noch heute mit nach Hause. Ob du blind bist oder sehend … an meiner Liebe kann das nichts ändern.« Plötzlich wandte sie ihm ihr blütenhaft schönes Gesicht mit den ver bundenen Augen zu, sagte unerwartet weich: »Manchmal glaube ich, Otto, daß du ein guter Mensch bist … ein viel besserer Mensch als ich!« »O nein, Xenia«, sagte er verlegen, »das darfst du nicht sagen!« Wie der wischte er sich nervös mit dem Taschentuch über das Gesicht, der Schweiß brach ihm aus allen Poren. »Man braucht nicht gut zu sein, um jemanden zu lieben.« Leise wurde an die Tür geklopft. Professor Bergmeister und Ober schwester Hilde traten ein. »Na, wie geht es unserer schönen Patientin?« fragte Professor Berg meister mit berufsmäßiger Fröhlichkeit. »Scheußlich«, sagte Xenia ehrlich, »ich kann vor lauter Aufregung kaum noch schlucken.« 152
»Es wäre geradezu unnatürlich, wenn es anders wäre«, erwiderte der Professor. »Seit … wie lange ist es jetzt her? … ja, mindestens seit fünf Jah ren habe ich nichts mehr gesehen. Ich weiß nicht einmal mehr, wie die Welt überhaupt aussieht!« »Liebling«, sagte der Bankier, »ich hoffe nur, du wirst nicht enttäuscht sein, ich bin nämlich … keine Schönheit, weißt du!« Sie lachte nervös. »Glaubst du, ich bilde mir ein, einen Playboy ge heiratet zu haben?« »Natürlich nicht, aber …« Er stockte, betrachtete verlegen sein schweißgetränktes Taschentuch, steckte es fort. Die Oberschwester hatte Xenia die Binde von den Augen genom men, jetzt setzte sie ihr behutsam die Starbrille auf, deren eines Glas für das kranke Auge dunkel gefärbt war. »Na, wie geht's?« fragte Professor Bergmeister. Die Oberschwester hatte Xenias Kopf so gedreht, daß ihr erster Blick die Rosen traf. Eine warme Welle des Glücks überflog ihr schönes Gesicht. »Ich sehe«, sagte sie ganz leise, atemlos vor Erregung, »wie wundervoll! Ich sehe jede einzelne Rose, jedes Blütenblatt, ja sogar die Dornen …« Mit einem strahlenden Lächeln wandte sie den Kopf und blickte ihren Mann an. Die Veränderung, die in ihrem Gesicht vorging, war erschütternd. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, sie riß den Mund auf wie zum Schrei – aber nichts als ein dumpfes, unartikuliertes Röcheln kam aus ihrer Kehle. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und schluchzte auf. »Xenia, bitte, ich … es tut mir so leid«, stammelte ihr Mann. »Beruhigen Sie sich doch, gnädige Frau«, mahnte die Oberschwester sachlich, fast streng, »Sie wissen doch, daß jede Aufregung Ihnen scha det.« Professor Bergmeister legte dem Bankier die Hand auf die Schulter. »Kommen Sie!« Mechanisch, mit einem vor Verstörtheit törichten Gesicht stand der 153
Mann auf, folgte dem Professor zur Tür. Noch einen letzten verzwei felten Blick warf er zu seiner Frau zurück, die mit zuckenden Schul tern, die Hände vor den Augen, in den Kissen kauerte. Professor Bergmeister schob ihn fast mit Gewalt aus dem Zimmer. Draußen im Gang lief ihnen die junge Hospitantin Gabriele Zerling über den Weg. Professor Bergmeister war schon an ihr vorüber, als er sich mit ei nem plötzlichen Einfall noch einmal umwandte. »Bitte, Fräulein Zer ling«, sagte er, »schauen Sie doch mal zu Nummer siebzehn hinein. Ich fürchte, die Patientin hat einen kleinen Schock erlitten. Bitte, küm mern Sie sich um sie!«
Als Gabriele Zerling in das Krankenzimmer trat, wurde die Patientin immer noch von einem trockenen, quälenden Schluchzen geschüttelt. Oberschwester Hilde kam Gabriele entgegen und zog sie mit sich auf den Gang hinaus. »Es wäre mir sehr angenehm, wenn Sie drinnen blei ben könnten, bis sich Frau von Schöller erholt hat«, sagte sie ungedul dig. »Sie wissen, ich habe alle Hände voll zu tun und kann mich nicht stundenlang mit einer einzigen Dame befassen.« Gabriele Zerling mußte ein wenig lächeln. Die gute Oberschwester Hilde machte so gar keinen Hehl daraus, daß sie den Zusammenbruch der Patientin mehr oder weniger für hysterisch hielt. Sie war eine aus gezeichnete Organisatorin, verstand es prächtig, die jüngeren Schwe stern auf Trab zu bringen, war eine gewissenhafte Krankenpflegerin. Aber für die Gemütsschwankungen der manchmal sehr sensiblen Pa tienten hatte sie gar keinen Sinn. »Ich mache das schon«, sagte Gabriele, »haben Sie etwas zur Beruhi gung gegeben?« Die Oberschwester holte ein Medikamentenröllchen aus ihrer Schür zentasche, schüttete zwei der flachen weißen Tabletten auf Gabriele Zerlings Hand. »Ich denke, das genügt«, sagte sie, »eine Spritze wäre wohl doch übertrieben.« 154
Gabriele zog die Augenbrauen hoch. »Fürchten Sie, die Patientin könnte süchtig werden?« Gabrieles Spott prallte an der Oberschwester ab. »Die schon«, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen. Dann wandte sie sich ab und ging mit energischen Schritten davon. Ihr gestärktes Kleid rauschte. Gabriele klopfte noch einmal leise an, bevor sie eintrat. Aber von drinnen kam keine Antwort. Auch als sie eintrat, rührte sich Xenia nicht. Gabriele zog sich einen Stuhl ans Bett, setzte sich nieder, war tete ab. Erst als Xenias Verkrampfung sich in einem Tränenstrom löste, sag te sie: »Sie sollten nicht weinen, Frau von Schöller. Ich weiß, das tut gut … nur für Ihre Augen ist es leider Gift!« Überraschend hob Xenia den Kopf und starrte Gabriele an. »Meine Augen! Was bedeuten mir meine Augen … jetzt, da ich weiß, daß mein Leben verpfuscht ist!« Gabriele nahm ein Glas Saft vom Nachttisch, reichte Xenia die bei den Tabletten. »Bitte, nehmen Sie das!« Als Xenia mißtrauisch auf das Medikament starrte, fügte sie gutmütig hinzu: »Nur ein leichtes Beru higungsmittel, nichts anderes!« Xenia nahm die Tabletten, schluckte sie mit Widerwillen hinunter. Gabriele nahm ihr das Glas ab, stellte es wieder auf den Nachttisch. »Im übrigen macht es schon eine ganze Menge aus, ob man sehen kann oder nicht. Ein blinder Mensch ist schrecklich abhängig. Das werden Sie wahrscheinlich am eigenen Leibe erlebt haben.« »Solange ich blind war, war ich glücklich!« sagte Xenia heftig. »Wirklich? Waren Sie das?« »Ja.« »Aber wenn ich richtig orientiert bin, so waren Sie es doch, die die Operation so dringend verlangt hat.« »Damals wußte ich ja noch nicht …« Xenia brach ab. »Frau Dok tor …« »Ich habe noch nicht promoviert«, berichtigte Gabriele, »ich bin nur Hospitantin. Sagen Sie ruhig Gabriele zu mir.« »Gabriele … haben Sie meinen Mann gesehen?« 155
»Ja.« »Dann müssen Sie alles verstehen.« »Tut mir leid. Das tue ich nicht.« »Aber … er ist doch ein Ungeheuer!« Gabriele lächelte. »Auf die Idee wäre ich wirklich nie gekommen. Ich finde, er sieht aus, wie die meisten Männer, die zuviel Geld verdienen, zuviel im Zimmer sitzen … wahrscheinlich ist er auch nicht ganz ge sund.« »Könnten Sie sich vorstellen, mit solch einem Mann verheiratet zu sein?« »Warum nicht? Wenn ich ihn liebte …« »Ach, lügen Sie doch nicht! Einen solchen Mann kann man nicht lie ben. Man kann ihn nur verabscheuen. Ich weiß, daß er mich nur mei nes Geldes wegen geheiratet hat. Das ist bitter genug für mich. Aber daß er so aussieht … ich könnte nicht einmal im selben Zimmer mit ihm atmen.« »Liebe Frau Schöller«, sagte Gabriele und schlug die schlanken Beine übereinander, »hat Ihnen eigentlich niemand gesagt, daß die meisten Blinden, die ihr Augenlicht wiederbekommen, diese Welt sehr enttäu schend finden?« »Enttäuschend? Er ist abstoßend.« »Wenn Sie von Ihrem Mann sprechen … nein, das ist er nicht. Es kommt Ihnen nur so vor. Natürlich ist er kein Adonis. Aber ich habe Hunderte von Menschen gesehen, die weitaus hässlicher waren.« »Das sagen Sie nur, um mich zu trösten.« »Ach wo. Wenn Sie sich erst wieder daran gewöhnt haben, die Welt mit Ihren Augen zu sehen, werden Sie merken, daß ich recht habe. Es ist eine feststehende Tatsache, daß jeder, der nicht sehen kann, sich die Menschen und die Dinge weit schöner vorstellt, als sie wirklich sind.« »Das glaube ich Ihnen nicht.« »Dann fragen Sie Professor Bergmeister.« »Er wird mir genauso wenig die Wahrheit sagen.« In Xenias Gesicht zuckte es. »Alle belügen mich.« »Vielleicht hat man das getan, solange Sie blind waren. Aber jetzt, da 156
Sie wieder sehen können, werden Sie bald imstande sein, sich selber ein Bild zu machen, die Dinge zu durchschauen. Ach, Frau von Schöller, Sie sollten nicht traurig sein und auch nicht enttäuscht. Eigentlich ist doch heute ein sehr glücklicher Tag für Sie.« »Ich kann nicht mehr mit ihm zusammenleben«, sagte Xenia hart näckig. »Wer zwingt Sie denn dazu? Sie haben ihn geheiratet, als Sie nicht se hen konnten. Damals waren Sie vielleicht auf ihn angewiesen …« »Nein! Meine Eltern hätten alles für mich getan.« »Jedenfalls haben Sie sich ein falsches Bild von ihm gemacht, als Sie einwilligten, seine Frau zu werden. Sie waren abhängig von dem, was man Ihnen erzählte, konnten wirklich nicht wählen. Jetzt sollte doch Ihr einziges Ziel und Ihr einziger Gedanke sein, wieder ganz gesund zu werden.« Xenias Züge hatten sich entspannt. »Ist das Ihr Ernst?« fragte sie hoff nungsvoll wie ein Kind, dem man eine Überraschung versprochen hat. »Ja. Wenn Sie erst wieder sehen können … auf beiden Augen sehen können, wird Sie niemand mehr hindern, Ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen.« Xenia ließ sich in die Kissen zurücksinken und sagte versonnen: »Ich glaube, Sie haben recht.« »Ganz bestimmt sogar.« Eine Weile schwiegen beide. Dann sagte Xenia: »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll!« »Das brauchen Sie nicht. Ich bin so froh, daß Sie sich ein bißchen besser fühlen.« Gabriele stand auf. »Und jetzt darf ich Ihnen die Brille wieder abnehmen, für heute war es, denke ich, genug …« Xenia richtete sich auf. »Nein. Bitte nicht.« Gabriele hielt erstaunt in der Bewegung inne. »Ich möchte … bitte, lachen Sie mich nicht aus … wissen Sie, wo Dr. Hilpert ist?« »Dr. Hilpert?« fragte Gabriele und kam sich plötzlich sehr töricht vor. »Ja. Können Sie ihn mir holen? Bitte … ich möchte ihn so gern se hen!« 157
Gabriele war drauf und dran, diesen Wunsch abzuschlagen. Dann besann sie sich und sagte so gelassen, wie es ihr möglich war: »Ich wer de ihn suchen!« »Ich wäre Ihnen so dankbar … bitte, schicken Sie ihn zu mir!« Gabriele wandte sich um, ging mit steifen Schritten zur Tür. »Und bitte«, rief Xenia ihr nach, »bitte, nehmen Sie die Rosen mit … ich schenke sie Ihnen!«
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D
ie Gattin Professor Bergmeisters wählte in Stuttgart eine kleine Pension in der Innenstadt. Sie trug sich mit ihrem Mädchenna men ein: Vera Herbst, Schauspielerin. Diese Eintragung bedeutete für sie weit mehr als die Erfüllung ei ner amtlichen Formalität. Sie hatte das Gefühl, einen entscheidenden Schritt getan zu haben, wie damals, als sie bei der Trauung zum ersten Mal mit dem Namen ihres Mannes unterschrieben hatte. Es war ihr, als wenn sie sich mit dieser Unterschrift in einen anderen Menschen verwandelte. In den nächsten Tagen geschah nichts. Vera verzichtete bewußt dar auf, sich beim Theater oder beim Rundfunk vorzustellen. Das hatte Zeit. Sie setzte all ihre Hoffnungen auf Paul Blondeau. Sie kaufte sich einen Stoß Reclam-Hefte, versuchte ihr Gedächtnis aufzufrischen, Rollen zu repetieren, die sie einmal gespielt hatte, neue zu erarbeiten. Anfangs beglückte sie diese Beschäftigung. Dann aber kamen Stun den, in denen ihr die Dichterworte nichts mehr sagten, nichts weiter waren als schwarze Buchstaben auf weißem Papier. Sie fühlte sich kalt, nüchtern, hoffnungslos unbegabt. Aber diese Depressionen überwand sie schnell. Sie hielt sie für Fol 158
gen ihrer Einsamkeit, klammerte sich an die Hoffnung, daß alles viel besser gehen würde, wenn sie mit Kollegen zusammen arbeitete, wenn es sich um die Vorbereitung zu einer wirklichen Aufführung handel te. Sie besuchte Museen, Galerien, las viel, bummelte durch die Stra ßen. In den Schaufenstern sah sie einige verlockende modische Neu heiten, die sie sich, als sie noch mit Professor Bergmeister zusammen lebte, bestimmt gegönnt hätte. Jetzt machte es ihr größeres Vergnügen zu verzichten. Sie sah eine Art Bewährung darin. Der Betrag auf ih rem Bankkonto würde wohl noch für einige Wochen reichen. Aber da sie nicht sicher sein konnte, wann sie ihr erstes Geld verdienen wür de, mußte sie vorsichtig sein. Nie wieder, das hatte sie sich geschworen, würde sie einen Pfennig von ihrem Mann annehmen. Überall in der Stadt kündigten Plakate das Gastspiel der Truppe Paul Blondeau an. Die Aufführungen sollten Samstag, Sonntag und Diens tag stattfinden. Vera wußte, wieviel von der nächsten Begegnung mit dem Schauspieler für ihre Zukunft abhing. Dennoch zwang sie sich, nichts zu überstürzen. Erst am Sonntag, kurz vor Mittag – zu einer Zeit also, da er ausgeschlafen war und trotzdem aller Wahrscheinlich keit nach das Haus noch nicht verlassen hatte –, rief sie ihn an. Sie hatte sich nicht verrechnet. Paul Blondeau war sofort am Appa rat, und in seiner Stimme schwang freudige Überraschung, als sie ih ren Namen nannte. »Vera … du? Ich hatte schon gedacht …« Er ließ den Satz unausge sprochen. »Was denn?« »Daß du ins warme Nest zurückgekrochen wärst.« »Aber Paul!« sagte sie und freute sich über den überlegenen, sicheren Ton in ihrer Stimme. »Eigentlich solltest du mich doch besser kennen. Ich war niemals für halbe Sachen.« »Warum hast du dich nicht schon früher gemeldet?« »Ach, ich hatte allerhand zu tun, weißt du!« »Schon engagiert?« »Nö, aber es laufen da verschiedene Dinge …« Plötzlich begriff sie, 159
daß es falsch war, sich als allzu selbständig hinzustellen. Sie lachte ein kleines, dunkles, betörendes Lachen, sagte: »Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe mich noch gar nicht umgetan. Ich war bisher vollkommen damit beschäftigt, mich von der Ehe zu erholen.« »Und wie weit ist dir das gelungen?« »Bis zum Gipfel der Vollendung!« »Na, na, na«, sagte er skeptisch, »sollte mich jedenfalls freuen, wenn man mal endlich wieder ein vernünftiges Wort mit dir reden könnte. Also … wann kommst du?« Sie zögerte, sagte: »Ich hatte eigentlich gedacht, wir könnten heute zusammen zu Mittag essen …« »Leider ausgeschlossen! Leider. Bin hier bei einem Glühlampenfrit zen privat eingeladen. Wahrscheinlich will er mir seine Tochter vor führen, die so hübsch Gedichte aufsagen kann.« Die Anstrengung, ihre Enttäuschung zu verbergen, machte Veras Stimme spröde. »Schade … na, vielleicht dann morgen?« »Aber ich bitte dich! Nicht so hastig, Kleine! Wie wär's bis nachher? Bis halb vier bin ich bestimmt zurück. Wir könnten uns dann in mei ner Wohnung … du weißt ja, ich wohne bei einem Kollegen … einen Kaffee brauen und alles durchsprechen. Einverstanden?« »Also dann … bis halb vier!« »Kann natürlich auch ein paar Minuten später werden.« Vera hielt den Hörer noch in der Hand, als er schon aufgehängt hatte. Sie schüttelte ihre Enttäuschung ab. Was hatte sie denn erwartet? Daß ausgerechnet Paul Blondeau den Sonntagnachmittag sich für sie frei halten würde? Dabei hatte er doch offensichtlich nicht einmal mehr mit ihrem Anruf gerechnet. Die Zeit bis halb vier verging Vera unendlich langsam. Sie versuchte, ihr einsames Mittagessen so lang wie möglich hinzuziehen, aber dann kam doch der Moment, wo sie zahlen mußte. Sie schlenderte weiter in ein Café, gönnte sich ein Stück Torte, trank drei Tassen Kaffee, blätter te einen ganzen Stapel Lesemappen durch, ohne sich auf das, was sie sah, auch nur halbwegs konzentrieren zu können. Im ›Ladiesroom‹ war ein hoher Spiegel, vor dem sie sich lange und 160
ausgiebig betrachtete – von vorn, von der Seite und über die Schulter. Sie sah wunderbar aus, war aber doch nicht ganz mit sich zufrieden. Das schwarze, hellgrün ausgefütterte Komplet brachte zwar sehr vor teilhaft ihre schöne, ausgewogene Figur zur Geltung, machte sie sehr damenhaft, aber gleichzeitig, so schien es ihr, zu alt. Der schwarze Hut aus feinem Stroh, hellgrün garniert wie das Futter der Jacke, war ohne Zweifel die richtige Ergänzung zu diesem Anzug. Aber auch er, fand sie, nahm ihr alles Liebliche, Mädchenhafte. Aber vielleicht, so tröstete sie sich, bildete sie sich alles auch nur ein. Immerhin blickten ihre grünen Augen groß und klar, ihre Haut war pfirsichzart und ohne Falten, das blonde Haar schimmerte wie ge sponnene Seide. Sie lächelte ihrem Spiegelbild ermunternd zu, verließ den Raum, das Café und trat auf die Straße. Es war immer noch eine Stunde bis zur verabredeten Zeit. Sie entschloß sich, zu Fuß zu gehen, schlenderte langsam in Rich tung Grünthalerstraße. Sie trug hochhackige Pumps mit Bleistiftab sätzen, und bald begannen ihre Füße zu schmerzen. Dennoch ging sie immer weiter voran, denn sie wußte sonst nichts mit ihrer Zeit anzu fangen. Als sie endlich ihr Ziel erreicht hatte, ein graues, etwas schäbiges Mietshaus – bezeichnend, daß Paul Blondeau ausgerechnet hier wohn te, wenn er in Stuttgart war, bezeichnend für seine Sparsamkeit und gleichzeitig für seine Unbekümmertheit in äußerlichen Dingen –, war es immer noch zehn Minuten vor der verabredeten Zeit. Die Haustür wurde geöffnet, ohne daß sie zu klingeln brauchte. Ein junger Ehemann schob einen Kinderwagen mit einem rosigen kleinen Mädchen darin auf die Straße. Vera schlüpfte in den Hausflur, kletter te die Treppen hinauf, las unterwegs alle Wohnungsschilder. Endlich, im fünften Stock, fand sie die Adresse, die sie suchte: H. Moswitsch. Sie kannte H. Moswitsch nicht persönlich, wußte aber, daß es ein Kollege von Paul Blondeau war. Ob er wohl wenigstens zu Hause war? Sie ertrug es nicht länger zu warten, sondern klingelte. Ein, zwei bange Atemzüge fürchtete sie, daß Paul Blondeau noch 161
nicht zurück sei, daß niemand ihr öffnen würde. Sie sah sich schon in dem kahlen Treppenhaus stehen, auf einer der blanken Stufen sit zen und warten müssen wie ein lästiger Kassierer, der vergeblich sucht, eine Schuld einzuziehen. Aber dann hörte sie rasche Schritte von innen, die Tür wurde geöff net, und Paul Blondeau stand vor ihr – jungenhaft lächelnd und mit ausgebreiteten Armen. Ihre Erleichterung war so groß, daß sie es ganz selbstverständlich fand, sich an seine Brust zu schmiegen. In dieser Sekunde glaubte sie, all ihren Sorgen entronnen zu sein. Er zog sie in die Wohnung, schloß die Tür hinter sich, nahm sie noch einmal in die Arme – aber nicht mehr beschützerisch, ein Freund und guter Kamerad. Seine Hände wurden kühner, sein Mund suchte ihre Lippen. Sie wagte nicht, ihn zurückzustoßen, aber sie wurde ganz steif vor Entsetzen. Er spürte es sofort, ließ sie los. »Also doch!« sagte er mit einem Lä cheln, das nicht mehr jungenhaft, sondern nur noch zynisch war. »Paul!« sagte sie hilflos. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte er kalt, »ich wußte von Anfang an … du kannst nicht über deinen Schatten springen.« Ihre Hilflosigkeit schlug in Empörung um. »Nicht ich bin es, die sich zu entschuldigen hat!« sagte sie hitzig. »Nicht? Nun sag bloß noch, ich soll mich in die Ecke stellen und mich schämen.« »Ich hätte nie gedacht, daß du so gemein sein könntest, meine Lage auszunützen.« »Gemein? Hab' ich dich etwa gebeten, zu mir zu kommen? Oder warst du es, die sich an mich herangemacht hat?« Sie hatte sich wieder in der Hand. »Ich wollte deinen Rat und deine Hilfe«, sagte sie ruhig, konnte aber nicht verhindern, daß ihre Stim me zitterte. »Und warum gerade von mir?« »Weil ich dich für einen Freund gehalten habe.« 162
»Eben. Aber wie kann ich dein Freund sein, wenn du dich zierst wie eine alte Jungfer?« Er packte sie beim Arm, schüttelte sie leicht, sag te in verändertem Ton: »Vera, altes Mädchen, was erwartest du dir ei gentlich? Du hast mir gesagt, daß du alle Brücken hinter dir abgebro chen hast. Und ich war wider besseres Wissen bereit, dir zu glauben. Nicht ich habe dich in eine Falle gelockt, sondern du bist es, die mich getäuscht hat.« »Aber ich habe dir doch niemals versprochen … ich habe nie auch nur angedeutet …« »Na schön. Streiten wir uns nicht.« Er ging voraus durch eine düstere Diele in einen behaglichen und modern eingerichteten, aber sehr un ordentlichen Wohnraum. »Setz dich. Wie stellst du dir nun vor, daß es weitergehen soll?« Sie setzte sich auf eine Sesselkante, tastete unsicher nach ihrem Haar. »Tu mir den Gefallen«, sagte er grob, »und nimm zuerst einmal die sen idiotischen Hut ab. Ja, danke. So siehst du wenigstens ein bißchen menschlicher aus.« Sie begriff, daß er unhöflich war, um seine Enttäuschung zu über spielen, gewann ihre Selbstsicherheit wieder. »Ich habe meinen Mann verlassen«, sagte sie, »es ist jetzt keine Spielerei mehr. Ich suche Arbeit, ein Engagement, eine Rolle … und ich weiß, daß du mir helfen kannst, wenn du nur willst.« »Und warum sollte ich wollen?« Sie zögerte mit der Antwort. »Ich dachte, daß wir einmal gute Freun de waren.« »Stimmt. Aber das ist lange her. Inzwischen hat sich einiges verän dert. Das hast du mir ja eben deutlich zu verstehen gegeben.« »Muß Freundschaft denn mit … mit dem anderen verbunden sein?« »Zwischen Männern und Frauen gibt es keine Freundschaft, wie du sie dir vorstellst. Nur Liebe, Hass oder Gleichgültigkeit.« »Wenn du mir hilfst, werde ich für immer aus deinen Augen ver schwinden.« »Soll das der Dank an mich sein?« 163
»Paul«, sagte sie und zerknüllte die grasgrünen Handschuhe zwi schen ihren weißen, sehr gepflegten Händen, »es tut mir leid, aber mehr … ich kann dir beim besten Willen nicht mehr geben. Nicht jetzt. Vielleicht später.« »Dann … muß ich leider bedauern.« Er erhob sich von der Sesselleh ne, tat ein paar Schritte zur Tür. »Paul!« sagte sie fassungslos. »Das ist mein letztes Wort. Du hältst mich jetzt sicher für einen jener widerlichen Erpresser und Verführer, deren Lebensziel es ist, die Tu gend unschuldiger, aber ehrgeiziger junger Damen in den Schmutz zu ziehen, nicht wahr? Schau mich nur nicht so an, ich weiß genau, was du denkst.« Er kam zurück, beugte sich zu ihr herab, brachte sein Ge sicht sehr nah an das ihre. Sie mußte sich zwingen, nicht zurückzuzucken. »Aber du irrst dich, Süße. Ich hab's nicht auf deine Tugend abgese hen. Du bist ein appetitlicher Happen, leugne ich gar nicht. Aber von deiner Sorte kann ich so viele haben, wie ich will. Jüngere als dich und temperamentvollere.« »Das glaube ich dir ja, Paul«, stieß sie hervor, »schließlich siehst du fabelhaft aus, bist ein berühmter Schauspieler …« »Schmeicheleien ziehen bei mir nicht!« Er richtete sich zu Veras Er leichterung wieder auf. »Ich glaube, ich habe dir das schon einmal ge sagt. Du hast anscheinend immer noch nicht begriffen, um was es geht. Wenn du Karriere machen willst, mußt du den Mut haben, mit der bürgerlichen Episode deines Lebens tatsächlich Schluß zu machen. Aber das willst du nicht.« »Paul, versteh mich doch …« »Ich verstehe dich nur zu gut. Du gehörst zu denen, die den Kuchen essen und gleichzeitig behalten wollen. Aber das geht nicht. Wenn ich mich irre, dann nenn mir nur einen einzigen vernünftigen Grund, wa rum du nicht mit mir schlafen willst. Was hast du denn zu verlieren? Eine Jungfrau bist du nicht mehr …« »Deshalb brauche ich doch nicht gleich mit jedem ins Bett zu ge hen!« 164
»Ach, mach dir doch nicht selber etwas vor. Ich weiß, was mit dir los ist. Du liebst deinen Mann. Du liebst ihn immer noch. Auch wenn ihr euch augenblicklich gerade zerstritten habt. Aber wer den Erfolg will, darf nur den Erfolg lieben.« Sie stand langsam auf, mußte sich an der Sessellehne festhalten, weil sie spürte, daß ihre Knie nachgaben. »Vielleicht hast du recht, Paul«, sagte sie leise, »aber ich werde mich ändern. Ich brauche nur eins … Zeit. Zeit und Abstand, dann werde ich …« »Sollst du haben«, sagte er mit einer kleinen Grimasse, in der sich Mitleid und Hohn mischten, »jede Menge. Wenn du glaubst, daß du soweit bist, kannst du wiederkommen. Aber bitte nicht eher. So, wie du jetzt bist, kann ich dich nicht empfehlen. Es würde eine Blamage wer den. Für mich und für dich selber.«
Professor Bergmeister wartete von Tag zu Tag auf Nachricht von sei ner Frau. Aber es kam kein Lebenszeichen. Er machte sich Vorwürfe. Was sie auch immer getan hatte, es war unfair von ihm gewesen, sie sich immer tiefer und tiefer in ihre Lüge verstricken zu lassen. Wenn er ihr von Anfang an offen gesagt hätte, daß er wußte, sie war nicht im Kino gewesen, hätte sie sich bestimmt zur Wahrheit bekannt – einer sehr harmlosen Wahrheit, wahrscheinlich. In all den Jahren ihres Ehelebens hatte er Vera niemals bei einer ernsthaften Lüge ertappt. Wie hatte er ihr gegenüber so mißtrauisch und auch so heimtückisch sein können! Solange sie bei ihm gewesen war, hatte er nie viel Zeit und auch nicht allzu viel Interesse für sie gehabt. Sie war einfach dagewesen, und er hatte sich ihres Anblicks und ihres Daseins gefreut. Jetzt fehlte sie ihm sehr. Er fühlte sich einsam, alt und oft sehr müde. Und er machte sich große Sorgen um sie. Er hätte sie gesucht und nach Hause zurückgeholt. Aber er ahnte nicht einmal, wo sie sein konnte. Er stellte Nachforschungen an, aber sie blieben erfolglos. Er mußte sehr vorsichtig dabei vorgehen, wenn er 165
einen Skandal vermeiden wollte. Ein Professor, dem die Frau davonge laufen war, war nicht gerade das, was sich die Universitätsleitung und die öffentliche Meinung der kleinen Stadt als Lehrer der Jugend vor stellte. So bemühte er sich, die Fiktion aufrechtzuerhalten, daß sie zum Be such seiner verheirateten Schwester nach Stockholm verreist wäre. Diese Lüge, die er immer wieder vorbringen mußte, wenn man ihn nach seiner Frau fragte, empfand er als schmerzhaft und erniedrigend. Er kam sich dabei wie ein lächerlicher alter Hahnrei vor. Aber selbst Dr. Hilpert verschwieg er die Wahrheit. Eines Tages schickte ihm die Bank einen Kontoauszug über das Gut haben seiner Frau. Er entdeckte, daß sie es fast bis auf den letzten Pfen nig abgehoben hatte. Er erschrak. Der Gedanke, daß seine Vera, die schöne verwöhnte Vera Not leiden könnte, war ihm schrecklich. Ohne zu zögern über wies er tausend Mark auf ihr Konto. Nach vierzehn Tagen erhielt er einen Brief von ihr, aus München. Der Umschlag trug keinen Absender, aber er erkannte sofort ihre großzü gige, ein wenig gekünstelte Schrift. Mit zitternden Händen riß er ihn auf, faltete den Bogen auseinander, las: »Lieber Klaus, ich muß Dir danken – wieder einmal mehr muß ich Dir danken. Du hast mich mit Deiner Großzügigkeit tief beschämt. Ich hatte so sehr gehofft, ohne Deine Hilfe auskommen zu können. Aber leider –! Ich schrieb vor einigen Tagen an die Bank, bat, mein Konto überziehen zu dürfen. Da erfuhr ich, was Du für mich getan hast. Ich wäre glücklich gewesen, wenn ich dieses Geld nicht hätte anzugrei fen brauchen. Aber tatsächlich habe ich es bitter nötig. Es ist eben alles nicht so einfach. Aber ich beiße mich schon durch. Ich will Dir nicht versprechen, daß Du das Geld zurückbekommst. Aber eines – hoffent lich nicht allzufernen – Tages, werde ich sicher soweit sein, daß ich für mich selber sorgen kann. Es hat Zeiten gegeben, wo ich geglaubt habe, daß es übereilt war, Dich zu verlassen. Aber heute weiß ich, daß diese Trennung gut war. Gut für mich, vielleicht auch für uns beide. Ich war sehr unglücklich und unausgefüllt. Und wahrscheinlich auch sehr un 166
gerecht Dir gegenüber. Besonders seit Michael erwachsen und vor al lem, seit er aus dem Haus war. Du brauchtest mich immer so wenig. Seit ich von Dir weg bin, weiß ich erst wieder, wie sehr ich Dich lie be. Bitte, suche nicht nach mir! Wenn ich mir eine Existenz geschaffen habe, werde ich mich melden. Vielleicht können wir dann einen neuen Anfang finden? Aber wenn Du Dich scheiden lassen willst – ich weiß heute, daß alles meine Schuld war. In Liebe, Vera. PS. Ich weiß, daß es unrecht war, Dich zu belügen. Aber Du hättest mir schon etwas mehr trauen dürfen. Betrogen habe ich Dich wirklich nicht. Wenn ich es getan hätte, hätte ich bestimmt auch den Mut ge habt, es Dir zu sagen.« Dieser Brief – so wenig er auch über Veras augenblickliches Tun und Lassen aussagte – erfüllte Professor Bergmeister doch mit unendlicher Erleichterung. Sie war ihm plötzlich wieder sehr nah. Er zweifelte kei nen Augenblick daran, daß sie wieder zu ihm zurückkommen würde, auch dann, wenn es ihr nicht gelang, sich auf eigene Beine zu stellen. Das schien ihm ganz und gar unwichtig, wie einem Erwachsenen die Hoffnungen und Wünsche eines Schulkindes. Über die Bank konnte er sie jederzeit vor finanzieller Not schützen, das war ihm im Augen blick das Wesentliche. Mit neuem Schwung wendete er sich wieder seiner wissenschaftli chen Arbeit zu. Seine Untersuchungen ›über die Lichtkoagulation, ihre Methoden und ihre Anwendungsgebiete in der Ophthalmologie‹ wa ren inzwischen im Universitätsverlag in Satz gegangen. Noch einmal arbeitete er sie mit Dr. Hilpert zusammen von Anfang bis Ende durch, beseitigte jede Unklarheit, strich manche Passagen zusammen, erwei terte andere, merzte auch den letzten Druckfehler aus. Als er endlich sein Werk, eine äußerlich recht bescheidene Broschü re, in Händen hielt, fühlte er sich so glücklich, wie er wohl nur einmal im Leben gewesen war, bei der Geburt seines Sohnes Michael. Und doch wußte er, daß noch ein Kampf bevorstand, ein Kampf, der ihn freute. Er schickte die Untersuchung an prominente Freunde und Kollegen im In- und Ausland, an wissenschaftliche Fachzeitschriften, stellte sie zur Diskussion. 167
Zwei Exemplare aber legte er beiseite, und in beide hatte er eine herz liche Widmung geschrieben – eine für seine Frau Vera, die andere für seinen Sohn Michael. Er zweifelte nicht, daß der Tag kommen würde, da er sie den liebsten Menschen, die er hatte, übergeben durfte.
Drei Wochen nachdem Xenia von Schöller ihren ersten Sehversuch durch die Starbrille gemacht hatte, wurde auch ihr zweites, noch blin des Auge operiert. Der Eingriff verlief erfolgreich, und Ende Juni war es soweit, daß Professor Bergmeister ihr sagen konnte: »Ich freue mich, gnädige Frau … ich freue mich sehr! Es ist alles in Ordnung.« Sie waren aus dem Dunkelraum für optische Geräte in das helle Un tersuchungszimmer Professor Bergmeisters zurückgekehrt. »Es ist für mich ein wirkliches Wunder!« sagte Xenia strahlend. »Ich sehe alles, alles, alles!« Sie drehte sich schwungvoll wie ein junges Mäd chen um sich selber. »Ich fühle mich wie neugeboren.« Professor Bergmeister lächelte über ihre Begeisterung. »Tatsäch lich haben wir Ihnen … auch mit Hilfe der Starbrille natürlich … zwei Drittel der normalen Sehfähigkeit zurückgeben können. Das ist viel, sehr viel, besonders für jemanden, der viele Jahre lang vollkom men blind war. Aber, bitte, überschätzen Sie Ihre Fähigkeiten nicht! Chauffieren zum Beispiel werden Sie nie mehr können. Und auch als Fußgängerin ist für Sie im Straßenverkehr äußerste Vorsicht gebo ten.« »Ich weiß, ich weiß«, wehrte Xenia ungeduldig ab, »aber das macht mir nichts. Ich war niemals der sportliche Typ.« Professor Bergmeister hatte Xenia zu der kleinen Sitzecke geführt, sagte jetzt: »Bitte, nehmen Sie doch Platz …« Er setzte sich ihr gegen über, legte die Spitzen seiner langen, sehr schmalen Hände gegenein ander. »Glauben Sie nur nicht, daß ich Ihnen die Freude an Ihrer Ge sundung nehmen möchte … aber es gibt noch etwas, auf das ich Sie aufmerksam machen muß: Niemand kann Ihnen für den bleibenden 168
Erfolg der Operationen garantieren. Es hängt in hohem Maß von Ih nen selber ab, ob Sie gesund bleiben oder einen Rückfall erleben.« Xenias schönes Gesicht verdüsterte sich. »Soll das heißen, daß wo möglich alles von vorn beginnen kann?« »Nicht einmal das«, sagte Professor Bergmeister sehr ruhig, »ein zweites Mal könnte ich Ihnen nicht mehr helfen.« »Aber … ich verstehe nicht.« »Das Auge ist ein sehr empfindliches Organ. Solange man gesund ist, wird man sich dessen meist gar nicht bewußt. Aber Ihnen, gnädige Frau, sollte diese Tatsache eigentlich in Fleisch und Blut übergegangen sein. Ihr Auge ist noch wesentlich empfindlicher als das des normalen Durchschnittsmenschen.« »Soll das heißen … ich muß mein ganzes ferneres Leben auf meine Augen achtgeben?« »Nicht nur das. Sie müssen sich selber schonen. Ihren Gesamtorga nismus und auch … ja, auch Ihre Seele. Sie müssen körperliche und seelische Erschütterungen vermeiden.« »Wie macht man das, Herr Professor?« fragte Xenia mit einem klei nen, ein wenig spöttischen Lächeln. Professor Bergmeister war nicht im geringsten gekränkt. »Tja, Sie ha ben recht, gnädige Frau«, sagte er gelassen, »so sind wir Ärzte nun mal. Wir geben Ratschläge, die sich oft nur sehr schwer durchführen lassen. Aber ich kann Ihnen schon ein Rezept geben, wenn Sie mich jetzt auch auslachen: Selbstdisziplin. Man merkt ja, wenn man anfängt, sich sehr zu ärgern oder auch aufzuregen. Dann fragen Sie sich einfach: Was ist mir wichtiger? Meine Augen oder der Krach, den ich jetzt gern schla gen möchte?« Professor Bergmeister machte eine Kunstpause, und als Xenia schwieg, sagte er: »Na, ich denke, die Antwort dürfte Ihnen nicht gerade schwerfallen.« »Ich werde versuchen, mich zusammenzunehmen«, sagte Xenia, aber es klang nicht sehr überzeugend. Professor Bergmeister überhörte die Unsicherheit ihres Verspre chens, sagte ermunternd: »So ist's recht! Dann, glaube ich, kann ich Sie wirklich ins feindliche Leben hinauslassen. Ich werde heute noch Ih 169
rem Gatten schreiben, daß er Sie abholen darf.« Professor Bergmeister erhob sich. »Bitte«, sagte Xenia impulsiv, »bitte nicht!« Professor Bergmeister ließ sich langsam wieder in seinen Sessel zu rücksinken. »Nicht?« fragte er. »Habe ich Sie richtig verstanden? Sie möchten noch bei uns bleiben?« »Ich möchte nicht von meinem Mann abgeholt werden«, sagte Xenia und sah ihm fast herausfordernd in die Augen. »Aber, liebe gnädige Frau … das ist doch ziemlich sonderbar!« »Meine ganze Ehe ist sonderbar, Herr Professor.« »Ja, aber …« »Was halten Sie von einer Ehe, die zwischen einem Sehenden und ei ner Blinden geschlossen worden ist? Ohne daß die Blinde ihren Mann je gesehen hat? Ist sie verpflichtet, diese Ehe aufrechtzuerhalten, auch wenn sie später begreift, daß sie getäuscht worden ist?« Professor Bergmeister war dieses Gespräch sichtlich unbehaglich. Er versuchte, Xenias Herausforderung ins Scherzhafte zu ziehen. »Man weiß schließlich selten, wenn man sein Jawort gibt, was man sich tat sächlich eingehandelt hat.« »Ja, man kann sich selber täuschen. Man täuscht sich wahrscheinlich sehr leicht, wenn man verliebt ist. Aber davon spreche ich nicht. Ich bin das Opfer eines wirklichen Betruges, Herr Professor.« Professor Bergmeister klopfte unruhig seine Taschen ab. Er hätte sich liebend gern eine Zigarette angezündet, wollte aber der Patien tin die Belästigung durch den Qualm nicht zumuten. »Das sind harte Worte, gnädige Frau«, sagte er ausweichend. »Die Wahrheit ist selten angenehm.« »Nun, ich glaube, Sie sollten mich in diesen Dingen nicht zum Schiedsrichter anrufen. Ich bin der denkbar ungeeignetste Berater in Ehefragen.« »Darum geht es ja gar nicht«, sagte Xenia ungeduldig, »ich versuche nur, Ihnen klarzumachen, warum ich nicht von meinem Mann abge holt werden möchte.« »Ich verstehe«, murmelte Professor Bergmeister, »ja, ich verstehe!« Er 170
stand auf und begann unruhig auf- und abzulaufen. »Darf ich Sie fra gen, was für Pläne Sie für die Zeit nach Ihrer Entlassung haben?« »Ich will zu meinen Eltern.« »Das wäre natürlich nicht schlecht.« Professor Bergmeister massier te sein Kinn. »Allein und auf sich gestellt, liebe gnädige Frau, sind Sie nämlich dem Leben keineswegs gewachsen. Jedenfalls noch nicht, da mit wir uns richtig verstehen.« »Sie haben mir selber ans Herz gelegt, mich vor Aufregungen zu hü ten, Herr Professor! Zu Hause … ich meine, bei meinem Mann … müß te ich mich aber unausgesetzt aufregen. Deshalb will ich in mein El ternhaus, wo ich Ruhe habe, Abstand gewinnen, mich erholen kann.« »Nun ja. Könnten Sie nicht Ihre Frau Mutter oder Ihren Herrn Vater bitten, Sie hier abzuholen?« Xenias Gesicht verschloss sich. »Das geht nicht.« Professor Bergmeister blieb vor ihr stehen. »Wieso?« »Weil …« Xenia zögerte. Dann sagte sie mit Überwindung: »Sie wis sen nicht, wie die Dinge stehen. Zwischen mir und meinem Mann, meine ich.« »Haben Sie ihnen denn nie geschrieben?« »Doch.« »Aber?« »Meine Mutter geht nicht darauf ein. Wahrscheinlich glaubt sie, daß ich übertreibe. Dazu kommt … ich kann ja erst seit ganz kurzem sel ber wieder Briefe schreiben. Früher mußte ich sie meinem Mann dik tieren. Und wer weiß, wie er alles verfälscht hat.« »Das mag alles sein, nur … das macht die Sache natürlich ungleich schwieriger. Liebe gnädige Frau, versuchen Sie sich mal in meine Lage zu versetzen. Sie sind mir anvertraut … Ihr Gatte hat Sie mir anver traut, um genau zu sein. Ich bin für Sie verantwortlich. Deshalb kann ich nicht einfach …« »Aber was verlange ich denn von Ihnen? Nichts als ein winziges Ent gegenkommen! Verzichten Sie darauf, meinem Mann zu schreiben. Oder verzögern Sie diesen Brief! Das ist alles. Aber wenn Sie bedenken, daß meine Gesundheit davon abhängt … mein ganzes Schicksal!« 171
»Ich werde Ihrem Gatten vorschlagen, daß er Sie für eine Weile zu Ihren Eltern bringt!« Xenia erhob sich. »Das ist sinnlos. Darauf läßt er sich nicht ein.« »Ich werde es trotzdem versuchen.« »Herr Professor …« Xenia stockte. Ein Schluchzen schnürte ihr die Kehle zu. Sie war unfähig, ein weiteres Wort hervorzubringen. Professor Bergmeister hob mahnend den Zeigefinger: »Vorsicht, Vorsicht, gnädige Frau! Was haben Sie mir versprochen? Nur keine Tränen … ich bin ganz sicher, daß sich alles aufs beste ordnen lassen wird.« Aber Xenia war durch dieses unbestimmte Versprechen Professor Bergmeisters nicht beruhigt. Sie wollte nicht zu ihrem Mann zurück, an dessen teigiges graues Gesicht, die dicken, formlosen Hände sie nur mit Grauen dachte. Sie wollte sich aus dieser Ehe lösen. Der natürliche Helfer zur Verwirklichung dieses Plans mußte für sie, davon war sie überzeugt, Dr. Norman Hilpert sein. Sie bat die jun ge Schwester Edith, bei der sie das stärkste Verständnis spürte, einen Brief an Dr. Hilpert zu überbringen, in dem sie ihn zu sich bat. Er kam am späten Nachmittag, anschließend an die zweite Visite, zu einem Zeitpunkt also, da kaum eine Störung zu erwarten war. Sie hat te vom Sessel am Fenster aus auf die Straße geblickt. Als sie sein Klop fen hörte, stand sie auf und ging ihm entgegen. Sie war sehr schön in einem elegant geschnittenen hellblauen "Wollkleid, das die schlanken, edlen Linien ihres Körpers angenehm betonte, ihr ein jugendliches und frisches Aussehen gab. Um den Hals trug sie eine matt schim mernde Perlenkette, Perlen glänzten auch in den rosigen kleinen Oh ren. Die Augen hinter den dicken Stargläsern waren nicht mehr gerö tet, sie blickten Dr. Hilpert klar und voller Liebe an. »Norman«, sagte sie und hob beide Arme, als ob sie ihn umfangen wollte. Aber er wich ihrem Blick aus, sagte rau: »Ich hatte dich doch gebe ten, mich nicht dauernd zu dir zu bestellen.« Ihre Arme sanken herab, Röte stieg ihr in die Stirn. »Dauernd?« wie derholte sie verletzt. »Es ist seit acht Tagen das erstemal, daß ich …« 172
»Ja. Weil ich auch ohne deine besondere Aufforderung zu dir gekom men bin. Heimlich, damit mich nur ja niemand beobachtet.« »Ich habe niemals Heimlichkeiten von dir verlangt«, sagte sie und konnte nicht verhindern, daß ihre Stimme zitterte. Er wurde sofort weich. »Verzeih mir, Xenia, bitte, verzeih!« sagte er rasch. »Aber du weißt doch, warum ich es tue … deinetwegen. Ich will nicht, daß du dich kompromittierst.« Sie wandte sich von ihm ab. »Mach mir doch nichts vor«, sagte sie mit erstickter Stimme, »du fürchtest um deinen guten Ruf als Arzt.« Er wußte, daß das, was sie sagte, nicht ganz unrichtig war, und das machte ihn noch unsicherer. »Du hättest mir wirklich keinen Brief zu schicken brauchen«, behauptete er. »Ich wäre auch so gekommen.« »Wirklich?« »Ja. Wirklich. Aber der Gedanke, daß die ganze Klinik über uns klatscht, ist mir unerträglich.« »Schwester Edith verrät bestimmt keinem Menschen ein Wort!« »Hast du eine Ahnung! Ich wette, sie geht bei all ihren Freundinnen und Kolleginnen damit hausieren.« Xenia wandte sich ihm wieder zu und sagte mit erzwungener Hal tung: »Na, wie dem auch sei, es ist ja jetzt nicht mehr wichtig. Du bist bald genug von mir erlöst.« Er trat auf sie zu. »Was soll das heißen?« »Professor Bergmeister hat mir heute gesagt, daß ich entlassen wer de.« »Aber Xenia!« rief er und war nahe daran, sie in die Arme zu neh men. »Das ist ja wunderbar!« »Für dich vielleicht. Weil du mich los wirst.« »Unsinn. Wie kannst du nur so ungerecht sein.« Sie standen jetzt dicht beieinander, und er spürte sehr stark die Versuchung, die von ihr ausging. Unwillkürlich wich er zur Seite, trat an das halb geöffne te Fenster, zündete sich eine Zigarette an. »Du bist eine seltsame Frau, Xenia … findest du es wirklich so schön hier bei uns?« »Nein. Aber immerhin bin ich hier vor meinem Mann in Sicher heit.« 173
»Du brauchst doch nicht zu ihm zurückzukehren«, sagte er, ohne nachzudenken. »O Norman, Norman!« Sie kam auf ihn zu. »Ich wußte ja, du wür dest mich verstehen … du wirst mir helfen, nicht wahr? Du wirst mich nicht im Stich lassen!« »Ich ahne nicht einmal, wovon du redest!« »Professor Bergmeister will meinem Mann schreiben, daß er mich abholen soll. Aber ich will nicht zurück. Ich will zu meinen Eltern!« »Hast du ihm das nicht gesagt?« »Doch. Aber er zittert natürlich um sein Geld. Er fürchtet, daß Otto nicht zahlen wird, wenn ich …« Dr. Hilpert hob die Augenbrauen. »Hat er das gesagt?« »Natürlich nicht. Aber ich bin nicht so weltfremd, wie du glaubst.« »Noch weltfremder. Einem Mann wie dem Professor solche Motive zu unterstellen … ich habe manchmal das Gefühl, du nimmst von al len Menschen immer nur das Schlechteste an.« »Von dir nicht!« Er schwang sich auf die Fensterbank. »Ich könnte natürlich mit Pro fessor Bergmeister sprechen«, sagte er zögernd, »aber ich tue es nur ungern. Gerade in deinem Fall.« »Das kannst du dir sparen. Es würde doch nichts nützen.« »Was erwartest du denn sonst von mir?« »Daß du mir hilfst, hier herauszukommen. Zu meinen Eltern.« »Wie stellst du dir das vor?« »Sehr einfach. Am Abend vor meiner offiziellen Entlassung schmug gelst du mich hier heraus. Wenn du mich dann noch zum Bahnhof bringst und in den Zug nach Berlin setzt …« Er fiel ihr ins Wort: »Nein, Xenia. Das ist ganz unmöglich.« »Und warum?« »Ich bin Angestellter der Klinik. Ich kann und darf nicht gegen den ausdrücklichen Wunsch meines Chefs handeln. Und ganz davon ab gesehen … bitte, lass mich erst mal ausreden … wäre es Wahnsinn. Du hast jahrelang als Blinde gelebt. Du mußt dich erst langsam wieder 174
in der Welt der Sehenden zurechtfinden. Du schaffst diese weite Rei se nicht allein.« »Ich kann sehr viel mehr, als du mir zutraust. Aber darum geht es ja gar nicht. Du hast es selber zugegeben … du fürchtest um deine Stel lung.« »Xenia!« »Ich bin dir nicht böse. Nur traurig. Ich habe mich eben getäuscht … wieder einmal getäuscht.« »Du weißt ja nicht mehr, was du redest!« Er drückte mit einer zorni gen Bewegung seine Zigarette aus. »Ich liebe dich, Xenia … ja, ich lie be dich!« Sie lief zu ihm hin, umklammerte sein Handgelenk. »Ist das wahr, Norman?« »Was?« »Daß du mich liebst? Du hast es eben gesagt, aber ich muß wissen, ob es wahr ist … oder ob du es nur so dahingeredet hast!« »Es ist die ganze Wahrheit«, sagte er sehr ernst und löste sich behut sam aus ihrem krampfhaften Griff. »Und gerade deshalb dürfen wir jetzt keinen Fehler machen. Ich kann nicht verantworten, daß du, nur um deinem Mann auszuweichen, deine Gesundheit aufs Spiel setzt. Es geht auch nicht an, daß wir … daß du und ich … begreife doch, Xenia, du bist meine Patientin. Ich bin an meinen Berufseid gebunden.« »Dein Beruf ist dir wichtiger als meine Liebe?« »Wir werden beides zerstören, wenn wir uns nicht beherrschen. Ich hätte dir nicht einmal sagen dürfen, was in mir vorgeht. Erst wenn du nicht mehr Patientin bist …« »Dann sind wir voneinander getrennt!« »Aber doch nicht für immer! Xenia, jetzt, wo wir uns wieder gefun den haben, kann uns doch nichts mehr trennen! Nicht, wenn wir es nicht zulassen!« »Dann bring mich zu meinen Eltern!« »Ach, Xenia«, sagte er müde, »warum machst du es mir so schwer? Warum willst du mich nicht verstehen? Wenn ich täte, was du von mir verlangst, würde ich nicht nur meine Stellung verlieren. Ich würde wo 175
möglich aus der Ärztekammer ausgeschlossen. Das wäre das Ende mei ner beruflichen Laufbahn. Und du … du würdest dich deinem Mann gegenüber ins Unrecht setzen. Er könnte sich scheiden lassen …« »Aber das will ich ja gerade, Norman! Nichts anderes will ich errei chen!« »Du würdest schuldig geschieden, Xenia!« »Nach allem, was er mir angetan hat? Aber gut, du sollst recht haben, ich weiß, daß er ein Meister im Verdrehen von Tatsachen ist. Aber lie ber, viel lieber bin ich schuldig geschieden, als daß ich noch einen Tag länger mit ihm zusammen lebe.« »Ich muß Arzt bleiben, Xenia, sonst ist mein Leben vernichtet. Ab gesehen davon …« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Wie soll ich dich später ernähren, wenn ich keinen Beruf habe?« »Mein Vater hat Geld und Beziehungen. Er wird dich irgendwo un terbringen.« »Ist das dein Ernst?« »Nein«, sagte sie, »nein, Norman, verzeih mir. Aber wenn dir nur ein bißchen an mir läge, würdest du nicht zulassen, daß ich zu die sem Menschen zurückkehre. Wenn du nur ahntest, wie mir vor ihm graut …« Sie schlug, wie unter einer grässlichen Vision, die Hände vor das Gesicht. »Herrgott, Xenia«, sagte er erschüttert, »mach es mir doch nicht so schwer! Begreifst du denn nicht, daß ich einfach keine Möglichkeit habe, dir zu helfen …« Sie ließ die Hände sinken, sah ihn mit verzweifeltem Flehen an. »Doch, die hast du! Warum fängst du nicht einfach Professor Berg meisters Brief ab? Du stehst doch gut mit Schwester Karla, da müßte es dir doch möglich sein …« »Ich soll einen Brief unterschlagen?« »Nicht unterschlagen. Nur aufhalten. Zwei Tage genügen ja schon. Wenn er nicht rechtzeitig da ist, um mich abzuholen …« »Xenia, das ist unmöglich!« »Warum denn? Niemand braucht es zu erfahren!« 176
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u darfst es nicht tun!« sagte Gabriele Zerling eindringlich. Sie hatte Dr. Norman Hilpert zurückgehalten, als die morgend liche Visite beendet war, vertrat ihm den Weg in sein Arbeitszimmer. »Bist du verrückt geworden?« sagte er ärgerlich. »Ich habe keine Ah nung, wovon du sprichst!« Aber es war ihm anzusehen, daß er sich sehr unbehaglich fühlte. Er sah müde und abgespannt aus an diesem Vormittag, sein Gesicht war von Sorgen gezeichnet. »Ach, Norman«, sagte sie, »was soll es für einen Zweck haben, mir et was vorzumachen. Ich weiß doch Bescheid.« »Hör mal«, sagte er und warf einen Blick auf seine Armbanduhr, »nimm Vernunft an, Gaby. Ich habe jetzt wirklich keine Zeit zu dra matischen Auseinandersetzungen.« Aber sie wich keinen Schritt zur Seite. »Hast du dich schon entschie den?« »Nein«, sagte er und bereute dieses halbe Zugeständnis sofort. Er hätte es gern zurückgenommen, aber es war zu spät. Gabriele Zerlings apartes kleines Gesicht strahlte auf. »Gott sei Dank!« sagte sie. »Du hast ihr also nichts versprochen …« Mit neu er wachter Angst fügte sie hinzu: »Du hast ihr doch nichts versprochen, nicht wahr?« Sein Unbehagen schlug in Zorn um. »Wie kommst du dazu, mich zu verhören?« sagte er heftig. »Wer, bildest du dir ein, bist du eigentlich?« »Ich weiß, wer du bist«, erwiderte sie mit einer Ruhe, die seinen Är ger noch verstärkte, »du bist der Oberarzt dieser Klinik. Und gerade deshalb darf es nicht geschehen, daß du dich von einer hysterischen Person unmöglich machen läßt.« »Xenia ist nicht hysterisch!« schrie er wild, dämpfte aber seine Stim 177
me sogleich wieder. »Sie ist eine wunderbare Frau, und ich verbitte mir deine eifersüchtigen Belästigungen.« Gabriele Zerling war sehr blaß geworden. »Wenn du es so siehst«, sagte sie kalt, »sehe ich mich leider gezwungen, Professor Bergmeister Mitteilung zu machen.« »Du schreckst wahrhaftig vor nichts zurück«, sagte er voll böser Ver achtung. »Nein. Nicht wenn es darum geht, dich vor dir selber zu bewahren.« Sie drehte sich um und schritt den langen, leeren Gang hinunter. Einen Augenblick stand Dr. Hilpert wie erstarrt. Dann erst begriff er ganz, daß sie keine leere Drohung ausgestoßen hatte, sondern sich wirklich an den Chef der Klinik wenden würde. Mit ein paar langen Sätzen war er hinter ihr her, holte sie gerade ein, als sie um die Ecke biegen wollte, packte sie beim Arm. »Gaby, bitte …« sagte er in verändertem Ton. Sie versuchte, ihn abzuschütteln, wollte weiter. Aber er hielt sie un barmherzig fest, riß sie zu sich herum. Jetzt erst sah er, daß ihr Gesicht von Tränen überströmt war. Sie weinte lautlos, machte keinen Versuch, es vor ihm zu verbergen. »Gaby«, sagte er hilflos und fühlte sich plötzlich wie ein dummer Junge, »hör auf damit … bitte! Ich kann das ja nicht mit ansehen … ich wollte dich doch nicht kränken! Gewiß nicht!« Sie schluckte, sagte mühsam, mit halb erstickter Stimme: »Würdest du mich jetzt, bitte, gehen lassen?« Er legte seinen Arm um ihre Schulter, ohne Rücksicht darauf, daß gerade in diesem Augenblick Dr. Böninger und Schwester Hilde auf dem Gang erschienen. »Komm«, sagte er und zog sie mit sich. Sie folgte ihm widerstandslos, wandte nur ihr Gesicht zur Seite, als der Arzt und die Schwester ihnen begegneten. Im Arbeitszim mer Dr. Hilperts ließ sie es zu, daß er ihr einen Cognac einschenk te, ihr eine Zigarette anzündete. Tatsächlich genoß sie diese Ver traulichkeit, ohne es sich selber einzugestehen; es war fast so wie früher, als die Patientin Xenia von Schöller noch nicht zwischen sie getreten war. Sie nahm das große blütenweiße Taschentuch an, das 178
er ihr reichte, wischte sich gehorsam die Tränen ab, putzte sich die Nase. »Entschuldige, daß ich mich so albern benommen habe«, sagte sie unglücklich, »ich …« Sie stockte, wußte nicht weiter. »Trink mal erst einen Schluck, dann wirst du dich besser fühlen«, sagte er väterlich. »Im übrigen … ich glaube, ich war es, der sich wie ein Idiot aufgeführt hat.« Sie zwang sich zu einem unsicheren Lächeln. »Ich … ich war so be sorgt um dich.« »Das ist wirklich unnötig. Du kennst mich doch. Ich weiß schon, was ich zu tun habe.« »Weißt du es wirklich?« Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigaret te, mußte husten, weil ihr die Kehle noch rauh von Tränen war. »Du wirst nicht tun, was Frau von Schöller von dir verlangt?« Wieder stieg heftiger Ärger in ihm auf; er versuchte, ihn mit einem Schluck Cognac hinunterzuspülen. Dennoch klang seine Stimme ge presst, als er sagte: »Du bist reichlich gut informiert, Gaby.« Sie richtete sich kerzengerade auf. »Wenn du andeuten willst, daß ich an Türen lausche …« »Davon habe ich kein Wort gesagt.« »Aber du hast es gedacht!« »Nun«, sagte er und zog heftig an seiner Zigarette, »du wirst immer hin zugeben müssen, daß du mir nachspioniert hast.« Gabriele Zerlings Gesicht erstarrte zu einer Maske. Sie erhob sich mit seltsam steifen, abgezirkelten Bewegungen. »Ich möchte jetzt ge hen«, sagte sie tonlos. Er bereute sofort, daß er die Beherrschung verloren hatte. »Bleib, bit te, Gaby«, sagte er hastig, »entschuldige, ich hatte es wirklich nicht so gemeint.« »Das interessiert mich nicht mehr«, sagte sie kalt, jedes Wort beto nend, und wandte sich zur Tür. Er wollte sie aufhalten, aber da traf ihn ein Blick aus ihren dunk len Augen – ein Blick so voll eisiger Kälte, daß er plötzlich begriff, wie sehr er sie verletzt hatte. Er hatte das kameradschaftliche Ver 179
stehen, das sie immer noch verbunden hatte, mit einem Schlag zer rissen. Mit hängenden Armen sah er zu, wie sie das Zimmer verließ, die Tür hinter ihr zufiel. Dann leerte er mit einem einzigen Schluck sein Glas, räumte mechanisch Gläser und Aschenbecher beiseite. Es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff, daß Gabriele ihm die Ent scheidung abgenommen hatte. Auch wenn sie nicht zu Professor Berg meister ging, waren ihm doch durch ihre Mitwisserschaft die Hände gebunden. Xenia konnte nicht verlangen, daß er sich selber ans Mes ser lieferte. Ganz davon abgesehen, daß Gabriele Zerling, wenn sie nur wollte, durchaus imstande war, Xenias Flucht zu vereiteln. Als er so weit mit seinen Überlegungen gekommen war, löste sich sein Zorn gegen Xenia in Nichts auf. Er empfand nichts mehr als eine ungeheure Erleichterung, die fast mit ein wenig Dankbarkeit gemischt war. Er brauchte nichts mehr zu tun, was sein Berufsethos verletzt hätte.
Als Professor Bergmeister am nächsten Morgen die Augenklinik be trat, stürzte Schwester Karla auf ihn zu. Sie hatte beim Pförtner auf ihn gewartet. »Guten Morgen, Herr Professor«, sagte sie mit mühsam unterdrück ter Erregung. »Nanu?« sagte er verdutzt. »Wo brennt's denn?« »Herr Professor, ich … der Bankier von Schöller erwartet Sie!« »Na und? Das ist doch ganz in Ordnung. Wir hatten ihn ja benach richtigt.« »Aber seine Frau … ist nicht da!« Professor Bergmeister blieb stehen und sah Schwester Karla durch seine dicken Brillengläser mit einem seltsam ungläubigen und ver ständnislosen Ausdruck an. »Was sagen Sie da?« »Frau von Schöller ist verschwunden!« Professor Bergmeister schüttelte den Kopf, als wenn er ein stören 180
des Insekt verscheuchen wollte. »Unmöglich. So etwas gibt es ja gar nicht.« »Leider doch, Herr Professor. Frau von Schöller muß schon gestern abend das Haus verlassen haben. Ihr Bett war heute früh unberührt.« »Und weshalb hat man mich da nicht sofort verständigt?« »Wir hatten immer noch gehofft … der Herr Oberarzt hoffte, es wür de sich irgendwie aufklären.« Professor Bergmeister schwieg. Er eilte, wie es seine Art war, leicht vornübergebeugt, den schmalen Kopf zwischen die Schultern gezogen, über den Gang auf die Tür seines hellen Untersuchungszimmers zu. Schwester Karla folgte ihm mit aufgeregter Beflissenheit. Erst als er die Klinke zu seinem Zimmer schon in der Hand hatte, öffnete Professor Bergmeister noch einmal den Mund. »Schicken Sie Dr. Hilpert zu mir herein«, sagte er kühl. »Wer von den Schwestern hatte gestern Nachtdienst bei der Patientin?« »Edith.« »Schicken Sie mir die auch.« »Herr Professor«, wagte Schwester Karla zu erinnern, »ich kann den Bankier nicht länger hinhalten. Er will seine Frau sehen … oder mit Ihnen sprechen.« »Sie müssen es fertigbringen. Wie, ist mir egal!« Mit diesen Worten ließ Professor Bergmeister die Schwester stehen und verschwand in sein Arbeitszimmer. Er war sehr verärgert. In all den Jahren, seit er der Augenklinik vorstand, war er – ohne kleinlich zu sein – immer auf den guten Ruf seines Hauses bedacht ge wesen. Es war mehr als einmal geschehen, daß er hatte eingreifen müs sen, um Unkorrektheiten aus der Welt zu schaffen. Diesmal aber sah es fast so aus, als wenn der Skandal nicht mehr aufzuhalten wäre. Er emp fand die peinliche Situation, in die er durch Xenia von Schöllers Ver schwinden gebracht worden war, fast wie eine persönliche Kränkung. So dachte er auch gar nicht daran, Schwester Edith zu beruhigen, als sie, sehr jung, sehr hübsch und sehr erschrocken, wenige Minuten spä ter in sein Arbeitszimmer trat. Im Gegenteil, er herrschte sie in einem Ton an, der ihr an dem sonst so ruhigen Chef ganz ungewohnt war. 181
»Aber ich weiß nichts«, sagte Schwester Edith hilflos, »ich weiß wirk lich nichts …« »Sie lügen!« brüllte Professor Bergmeister brutal. Gleich darauf be reute er seine Heftigkeit, denn Schwester Edith brach in Tränen aus, konnte kein vernünftiges Wort mehr hervorbringen. Es kam Professor Bergmeister erst jetzt zum Bewußtsein, daß Schwe ster Edith die ganze Nacht aufgewesen war und sich wahrscheinlich kaum hingelegt hatte, als man das Fehlen der Patientin entdeckt und sie wieder geweckt hatte. Er zwang sich, seine Gereiztheit zu unterdrücken. »Kommen Sie, kommen Sie!« sagte er. »Ich mache Ihnen ja keinen Vorwurf! Ich mei ne, ich will nicht annehmen, daß Sie mit dem Verschwinden der Pati entin irgend etwas zu tun haben …« Schwester Edith schluchzte nur noch stärker. Es wurde von außen angeklopft, und Professor Bergmeister hob den Kopf. »Ja … herein!« Oberarzt Dr. Hilpert erschien, kam nicht dazu, zu grüßen, denn der Professor schnitt ihm das Wort ab: »Was haben Sie zu dieser unange nehmen Geschichte zu sagen?« Dr. Hilpert fühlte sich angegriffen und sagte schroffer, als er beab sichtigt hatte: »Nichts. Wie Sie wissen, Herr Professor, hatte ich gestern meinen freien Nachmittag.« Zum ersten Mal seit vielen Jahren bot der Professor seinem Oberarzt keinen Platz an. Er saß hinter seinem Schreibtisch und ließ Dr. Hilpert und Schwester Edith vor sich stehen wie die armen Sünder. »Was besagt das schon?« erklärte er grimmig. »Jeder hier im Haus weiß, daß Ihre Beziehungen zu der Patientin Xenia von Schöller durch aus nicht nur offizieller Art sind.« »Wenn Sie mir Vorwürfe machen wollen, Herr Professor …« »Genau das will ich! Wenn wir nicht annehmen wollen, daß die Pa tientin in einem Anfall von geistiger Umnachtung die Klinik verlassen hat, so muß ihr jemand bei dieser Flucht geholfen haben …« »Aber nicht ich!« sagte Dr. Hilpert mit Nachdruck. »Zumindest haben Sie davon gewußt!« 182
Dr. Hilpert holte tief Atem. »Ich weiß aber, wer mich bei Ihnen ange schwärzt hat, Herr Professor. Die Hospitantin Gabriele Zerling. Aber wenn Sie einem eifersüchtigen Mädchen mehr Glauben schenken als mir, dann ist es wohl besser, wenn ich gehe!« Er wandte sich tatsäch lich zur Tür. »Bleiben Sie!« brüllte Professor Bergmeister. »Bleiben Sie gefälligst! Ich bin noch lange nicht mit Ihnen fertig! Es geht hier nicht um Sie und nicht um Ihre verdammten Liebesgeschichten! Es geht um das Verschwinden einer Patientin, die uns von ihrem Gatten anvertraut worden ist. Der Bankier von Schöller sitzt draußen. Was zum Teufel soll ich ihm sagen? Oder sind Sie etwa bereit, diese Unterredung auf sich zu nehmen?« Dr. Hilpert wurde sich plötzlich bewußt, daß er nicht das Recht hat te, aufzutrumpfen. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Professor«, sagte er in verändertem Ton. »Ich bin selber … völlig durcheinander. Glauben Sie mir, ich hätte es niemals für möglich gehalten, daß Frau von Schöl ler tatsächlich auf eigene Faust die Klinik verlassen würde.« »Aber Sie wußten, daß sie so etwas plante?« »Nein.« »Sind Sie dessen ganz sicher?« Dr. Hilpert schwieg einen Atemzug lang, dann sagte er: »Frau von Schöller hatte mich gebeten, sie zu ihren Eltern zu bringen. Aber ich habe mich natürlich geweigert. Sie müssen mir das glauben, Herr Professor … was auch immer Gabriele Zerling Ihnen erzählt haben mag.« »Es wäre wohl doch zumindest Ihre Pflicht gewesen, mich zu infor mieren.« Professor Bergmeister wandte sich Schwester Edith zu. »Ich will hoffen, daß Sie sich inzwischen einigermaßen beruhigt haben, Schwester. Mit Lamentieren machen wir jetzt auch nichts besser. Sa gen Sie mir lieber, was Sie wissen.« Schwester Edith hatte ihre Nase in ein Taschentuch vergraben; sie schwieg beharrlich. »Wenn Sie, wie es Ihre Pflicht gewesen wäre, beim Antritt Ihres Dienstes alle Patienten aufgesucht hätten«, sagte Dr. Hilpert, »hätten 183
Sie ja schon gestern abend bemerken müssen, daß Frau von Schöller fort war!« Jetzt ließ Schwester Edith ihr Tüchlein sinken und sah Dr. Hilpert an. »Sie halten mir das vor?« »Ja. Ich. Was scheint Ihnen daran so sonderbar?« Schwester Edith biss sich auf die Lippen. »Nun reden Sie schon«, sagte Professor Bergmeister ungeduldig, »wir müssen es hinter uns bringen. Sie haben Ihren Dienst um acht Uhr an getreten, nicht wahr?« »Ja, Herr Professor.« »Und … haben Sie Frau von Schöller gesprochen?« »Ja.« »Los, los, weiter, reden Sie schon … lassen Sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.« »Ich möchte niemanden beschuldigen«, sagte die Schwester kaum hörbar; sie sah dabei Dr. Hilpert an. »Wollen Sie mich etwa verantwortlich machen?« rief der Oberarzt aufgebracht. »Also, ich muß schon bitten, Herr Doktor! Schüchtern Sie die Schwe ster nicht ein. Das verbessert Ihre Situation keineswegs«, grollte Pro fessor Bergmeister. »Und was Sie betrifft, Schwester Edith, so muß ich Sie doch energisch bitten, uns jetzt endlich reinen Wein einzuschen ken. Was wissen Sie? Sie haben die Patientin zuletzt gesprochen … was für einen Eindruck hatten Sie?« »Frau von Schöller war … sehr vergnügt.« »Vergnügt?« wiederholten Professor Bergmeister und Dr. Hilpert fast gleichzeitig. »Ja. Sie war … wie soll ich sagen … aufgekratzt. Sie stand vor dem Spiegel und machte sich schön, als ich hereinkam.« »Um acht Uhr abends?« fragte der Professor. »Schien Ihnen das nicht sonderbar?« Schwester Edith warf den Kopf in den Nacken und sagte trotzig: »Nein. Ich wußte ja, daß sie am nächsten Tag entlassen werden sollte. Deshalb fand ich nichts dabei. Auch nicht, als sie mir sagte …« Schwe 184
ster Edith zögerte noch eine Sekunde, dann platzte sie heraus: »Dr. Hilpert hatte sie eingeladen. Sie wollten zusammen ausgehen.« »Das ist nicht wahr!« erklärte Hilpert mit Nachdruck. »Ich habe lange genug versucht, Sie zu schützen!« sagte Schwester Edith aufgebracht. »Wollen Sie jetzt etwa behaupten, daß ich lüge? Das ist doch wirklich …« Sie schluckte. »Jetzt hören Sie mich mal gut an, Schwester«, sagte Professor Berg meister, »eine Frage … schauen Sie mich an, nicht den Herrn Ober arzt … haben Sie Dr. Hilpert gestern abend gesehen? Im Zimmer der Patientin? Oder überhaupt auf der Station?« »Ja«, sagte Schwester Edith, plötzlich sehr leise. Dann, als sie sich der Stille bewußt wurde, die ihren Worten folgte, fügte sie hastig hinzu: »Sie erinnern sich doch, Herr Doktor? Sie haben mich sogar gegrüßt. Sie trugen keinen Kittel, sondern einen dunklen Anzug …« Sie wandte sich Professor Bergmeister zu. »Ich fand gar nichts dabei, Herr Profes sor. Wo Frau von Schöller doch heute entlassen werden sollte … und ich wußte doch, daß Dr. Hilpert und die Patientin sehr … nun ja … befreundet waren.« »Sie fanden es auch nicht beunruhigend, daß die Patientin die ganze Nacht nicht nach Hause kam?« »Nein«, sagte Schwester Edith zögernd, dann, lebhafter: »Sie hat te mir doch ausdrücklich gesagt, daß es sehr spät werden könnte. Sie wollte mal tüchtig bummeln gehen, sagte sie …« »Bis zum frühen Morgen? In unserer soliden Stadt?« »Nun, ich dachte …« Schwester Edith schwieg, biss sich auf die Lip pen. »Ich verstehe. Sie können gehen, Schwester.« »Einen Augenblick, Herr Professor«, sagte Dr. Hilpert hastig, »ich möchte erklären … ich lege Wert darauf, daß auch die Schwester er fährt, was ich zu sagen habe.« »Also bitte!« Professor Bergmeister winkte mit einer müden Hand bewegung Schwester Edith zurück. »Ich war gestern abend auf der Privatstation«, sagte Dr. Hilpert, »im dunklen Anzug, wie Schwester Edith sehr richtig bemerkte. Aber nicht 185
bei Xenia von Schöller. Ich hatte am Vormittag eine sehr komplizier te Netzhautoperation … den jungen Mann mit dem Sportunfall, Sie erinnern sich, Herr Professor. Ich hatte das Bedürfnis, zu ihm hin einzuschauen.« Er fuhr sich mit ungestümer Geste durch das dunkle Haar. »Wenn ich gewußt hätte, was man mir heute vorwirft, hätte ich es nicht getan.« »Ist das alles, was Sie zu sagen haben?« »Ja. Und daß ich niemals daran gedacht habe, mich mit der Patien tin zu verabreden. Noch weniger, ihr bei der Flucht vor ihrem Mann zu helfen.« »Danke. Jetzt können Sie gehen, Schwester … legen Sie sich hin. Ich brauche Sie ja wohl nicht zu bitten, über das bedauerliche Ereignis ih ren Kolleginnen gegenüber Stillschweigen zu wahren.« Schwester Edith verließ das Zimmer. »Ich schwöre Ihnen, Herr Professor«, sagte Dr. Hilpert, »Frau von Schöller hat diese angebliche Verabredung mit mir nur vorgeschoben, um …« Professor Bergmeister unterbrach ihn. »Ich glaube Ihnen«, sagte er erschöpft, »dennoch … die Tatsache bleibt bestehen, daß Sie sich nicht korrekt benommen haben.« Er strich sich mit der Hand über die hohe Stirn. »Sie erinnern sich, daß ich Sie gewarnt hatte. Private Beziehun gen zwischen Ärzten und Patientinnen bringen selten etwas Gutes. Wenn Sie den nötigen Abstand gewahrt hätten … aber lassen wir das. Warum haben Sie mir nicht wenigstens gesagt, daß Frau von Schöller Sie gebeten hat, ihr aus der Klinik herauszuhelfen? Dann hätte man Maßnahmen ergreifen können. Statt dessen …« Er zuckte resigniert die Schultern. »Wollen Sie damit sagen, daß Fräulein Zerling Sie nicht informiert hat?« »Natürlich nicht. Nun lassen Sie doch endlich dieses Mädchen aus dem Spiel. Bilden Sie sich wirklich ein, daß ich nicht rechtzeitig einge schritten wäre, wenn ich irgend etwas gewußt hätte?« Darauf wußte Dr. Hilpert nichts zu sagen. Er starrte mit zusammen gezogenen Augenbrauen vor sich hin. 186
»Es ist schade, verdammt schade«, sagte der Professor, »ich hatte vor gehabt, Sie als meinen Nachfolger zu nominieren. Aber wenn es jetzt zu einem Skandal kommt … Sie wissen, dann kann ich Ihnen auch nicht helfen. Sie haben unverantwortlich gehandelt.« »Es tut mir leid«, sagte Dr. Hilpert mühsam. Professor Bergmeister seufzte tief. »Schon gut, Norman. Wir alle machen Fehler. Jetzt müssen wir sehen, wie wir es dem Ehemann bei bringen. Ich rechne auf Ihre Unterstützung.«
Das schwammige Gesicht des Bankiers wirkte noch grauer als sonst, als er mit heftigen kleinen Schritten an Schwester Karla vorbei, die die Tür aufhielt, in das Zimmer stürzte. »Was ist los?« bellte er. »Warum läßt man mich nicht zu meiner Frau? Kommen Sie mir nur nicht da mit, daß es noch einmal Komplikationen gegeben hat! Ich habe es satt. Ich will meine Frau jetzt mit nach Hause nehmen. Gesund oder krank. Ich will sie bei mir haben!« »Bitte, setzen Sie sich, Herr von Schöller«, sagte Professor Bergmei ster sehr beherrscht und wies mit einer einladenden Geste auf den be quemsten Sessel beim Rauchtisch hin. »Warum? Ich habe nicht vor, noch mehr Zeit zu vertrödeln!« »Bitte, setzen Sie sich«, wiederholte Professor Bergmeister mit Nach druck. Er selber nahm Platz, nahm sich eine Zigarette. Oberarzt Dr. Hilpert beugte sich zu ihm nieder, gab ihm Feuer. »Was hier gespielt wird, will ich wissen!« fragte der Bankier erregt, aber seine Stimme klang nicht mehr ganz so sicher wie am Anfang. Die betonte Ruhe des Professors hatte ihn aus dem Konzept gebracht. »Das möchte ich Ihnen ja gerade erklären!« Professor Bergmeister nahm einen Zug aus seiner Zigarette. »Wollen Sie sich wirklich nicht setzen und mich in Ruhe anhören?« Der Bankier von Schöller sah von Professor Bergmeister auf Dr. Hilpert, der mit starrem Gesicht dabeistand, murmelte, plötzlich be 187
schämt: »Entschuldigen Sie, bitte! Ich fürchte, ich habe mich wie ein Schuljunge benommen.« Er ließ seinen schweren Körper in den Ses sel fallen. »Aber die Sorge um meine Frau … Sie werden verstehen …« Auch Dr. Hilpert setzte sich jetzt. »Ihre Frau ist ganz gesund, Herr von Schöller«, erklärte Professor Bergmeister beruhigend, »ich habe gestern nachmittag eine eingehen de abschließende Untersuchung durchgeführt. Die Operationen an beiden Augen können als geglückt bezeichnet werden. Mit der Star brille, die wir ihr verschrieben haben, kann sie fast so gut sehen wie ein normalsichtiger Mensch.« Herr von Schöller schwieg. Er wischte sich nervös mit einem großen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Allerdings«, fügte der Professor hinzu, »ob dieser Heilerfolg von Dauer sein wird, läßt sich nicht voraussehen. Das hängt weitgehend von Ihrer Gattin selber ab. Von dem Leben, das sie in Zukunft führen wird. Jede Erregung kann schädlich sein. Sie wird immer der größten Schonung bedürfen.« Der Bankier richtete sich auf. »Halten Sie mich etwa für einen Un menschen? Ich habe Xenia immer geschont, habe ihr jeden Ärger, jede Sorge ferngehalten, ich …« Er schluckte. »Ich weiß, Herr von Schöller«, sagte Professor Bergmeister sanft, »ich weiß das alles. Trotzdem muß ich …« Obwohl seine Stimme ganz ge lassen klang, war ihm anzumerken, wie mühsam er nach Worten such te. »Es war einfach meine Pflicht, Ihnen das noch einmal zu sagen.« »Danke, Herr Professor. Kann ich jetzt zu meiner Frau?« Professor Bergmeister mußte sich zwingen, keinen hilfesuchenden Blick zu Dr. Hilpert zu werfen. »Leider nein«, sagte er, »leider ist Ihre Gattin …« »Was?« Der Bankier brüllte auf wie ein verwundetes Tier. »Will sie mich etwa nicht sehen?« »Sie ist fort«, sagte Professor Bergmeister, »sie hat gestern abend heimlich die Klinik verlassen.« Jetzt, da das Schlimmste gesagt war, fühlte er sich überraschend erleichtert. Herr von Schöller starrte ihn an, mit einem Blick, der fast glasig vor 188
Verständnislosigkeit war. Dann sprang er jäh auf, stürzte mit erhobe nen Fäusten auf Dr. Hilpert zu. »Sie!« brüllte er. »Sie … Sie haben sie mir weggenommen, Sie …!« Instinktiv warf Dr. Hilpert sich zur Seite, der Schlag des aufgebrach ten Mannes verfehlte ihn. Der Bankier stolperte, wäre beinah gefal len, wenn Professor Bergmeister nicht aufgesprungen wäre und ihn bei den Schultern gepackt hätte. »Das ist doch wohl nicht die richtige Art, eine Meinungsverschie denheit aus der Welt zu schaffen«, sagte er, drehte den Bankier um und drückte ihn mit erstaunlicher Kraft wieder in seinen Sessel zu rück. »Herr von Schöller, ich habe den Fall bereits untersucht … des halb mußten Sie so lange warten. Es steht eindeutig fest, daß weder Dr. Hilpert noch sonst jemand in der Klinik Ihrer Frau zur Flucht verhol fen hat. Ihre Gattin hat es verstanden, die Nachtschwester zu täuschen und so …« Jetzt endlich war der Bankier wieder Herr seiner Stimme. »Nein«, sagte er heiser, »nein! Das glaube ich nicht. Dieser Mensch …« er wies mit einem Hasserfüllten Blick auf Dr. Hilpert, »hat mir meine Frau ge nommen.« Dr. Hilpert rieb sich das Ohr, das von dem Hieb des Bankiers ge streift worden war. »Ich versichere Ihnen …« Herr von Schöller ließ ihn nicht ausreden. »Und ich glaube Ihnen kein Wort. Sie haben meine Frau entführt. Ich werde den Fall vor die Ärztekammer bringen!« Dr. Hilpert rief dazwischen: »Sie irren sich! Glauben Sie mir doch! Sie sehen die Situation ganz falsch!« »Aber meine Herren!« Professor Bergmeister hob die Hände. »Ich bitte Sie! Es wäre doch wirklich angebracht, wenn wir versuchen wür den, den Fall in Ruhe zu erklären! Wohin, Herr von Schöller, könnte Ihre Gattin sich denn gewandt haben?« »Fragen Sie Ihren Oberarzt!« Dr. Hilpert öffnete den Mund, als wenn er etwas sagen wollte, zog es dann aber doch vor zu schweigen. »Jetzt erinnere ich mich«, erklärte Professor Bergmeister an seiner 189
Stelle und legte die Spitzen seiner langen schlanken Finger gegenein ander. »Die Patientin war wenige Tage vor ihrer Entlassung bei mir. Sie sagte mir damals, daß sie …« er räusperte sich, »… nicht nach Hause, sondern zu ihren Eltern fahren wollte.« Ehe der Bankier noch etwas einwerfen konnte, fügte er rasch hinzu: »Natürlich habe ich ihr die sen Wunsch abgeschlagen. Ich riet ihr, sich von Ihnen zu ihren Eltern bringen zu lassen, Herr von Schöller.« Die schlaffen Lippen des Bankiers zitterten. »Aber … das ist doch ganz unmöglich!« »Sie sagte mir, daß Sie nicht damit einverstanden sein würden.« »Darum geht es ja nicht, sondern … sie weiß gar nicht, wo ihre El tern leben!« Professor Bergmeister und sein Oberarzt wechselten einen raschen Blick. »Sie weiß es wirklich nicht«, sagte der Bankier, »ich habe sie … ich hatte Gründe, sie über den Wohnort ihrer Eltern im unklaren zu las sen. Und jetzt … meine Frau … seit Jahren war sie nicht mehr allein auf der Straße … was wird sie machen? Was wird ihr geschehen? Mei ne arme Xenia!« Er verbarg das Gesicht in den Händen, sein Körper wurde krampfartig geschüttelt. Tief betroffen sahen die beiden Ärzte auf den schluchzenden Mann.
Xenia von Schöller war am frühen Morgen in ihrer Heimatstadt ein getroffen. Sie hatte während der ganzen Nacht kein Auge zugetan. Seit sie am Abend zuvor die Klinik verlassen hatte, befand sie sich in einem krampfhaft übersteigerten Zustand. Das Gefühl der Befreiung, das sie sich von diesem ersten selbständi gen Schritt in ihrem Leben versprochen hatte, war ausgeblieben. Statt dessen würgten ihr Angst und Erregung die Kehle. Sie fürchtete sich nicht vor der Nacht, denn die war ihr vertraut wie nichts anderes, sondern vor den Menschen, deren Gesichter ihr immer noch hässlich und verzerrt schienen, in nichts mit jener Erinnerung zu 190
vergleichen, die sie sich während ihrer Blindheit in ihrem Herzen be wahrt hatte. Sie fühlte sich schutzlos einer feindlichen Umwelt ausge liefert. Der Groll auf Dr. Hilpert, der, wie sie glaubte, ihre Liebe verra ten, der sie schmählich im Stich gelassen und in diese Situation hinein gejagt hatte, steigerte sich fast zu Hass. Sie wollte ihn nicht mehr wieder sehen. Weder ihn noch ihren Mann. Alle Männer hatten sie betrogen und belogen. Nur in ihrem Eltern haus würde sie Frieden finden, Glück und Geborgenheit. Als sie am Hauptbahnhof ein Taxi nahm, um sich zur Kastanienal lee bringen zu lassen, war alles, was hinter ihr lag, wie in einem grau en wattigen Nebel verschwunden. Die Jahre der Blindheit, die sie an der Seite ihres Mannes verbracht hatte, die Begegnung mit Norman Hilpert, seine Liebe und sein Verrat, all das schien ihr wie ein flüchti ger Traum. Sie hatte das seltsam intensive Gefühl, wieder sehr jung zu sein, noch ganz am Anfang zu stehen. Unwillkürlich schloß sie wäh rend der Taxifahrt die Augen, um nicht zu sehen, was die Straßen ih rer Kindheit verändert hatte. Sie zog sich in das vertraute Dunkel ih rer Träume zurück. Sie schrak zusammen, als der Wagen hielt. »Wir sind da, gnädige Frau«, sagte der Fahrer, »macht fünf Mark und fuffzig.« Sie suchte das Geld zusammen, stellte fest, daß ihr kaum noch ein paar Mark blieben. Aber das schreckte sie nicht. Sie war ja am Ziel. Sie nahm ihre Tasche, stieg – tastend und ein wenig ungeschickt – aus, wandte den Blick zum Haus. Ein unendliches Glücksgefühl ström te in ihr zermartertes Herz. Das Haus ihrer Eltern! Es stand da, genauso, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte – ein anheimelndes, schon ein wenig verwittertes Sand steingebäude mit grünweißen Fensterläden und einem tief herabge zogenen Dach mit Mansardenfenstern, das wie eine schützende Hau be wirkte. Ein geschwungener Weg führte von der schmiedeeisernen Gartenpforte aus durch den gepflegten parkartigen Garten zum Por tal. Der ganze Besitz strahlte Reichtum und vornehme Ruhe aus. Xenia von Schöller drückte auf den Klingelknopf in der Messing 191
platte, wartete ohne Ungeduld. Es war herrlich, endlich wieder nach Hause zu kommen. Dann ertönte der Summer. Sie drückte das Pförtchen auf, schritt über den knirschenden Kies auf das Haus zu. Rote Rosen blühten in dem großen runden Beet vor dem Portal; ihr vertrauter Duft weckte längst vergessene Erinnerungen. Sie hatte die ersten Stufen zur Haustür hin schon betreten, als links die Tür zum Lieferanteneingang geöffnet wurde. Ein Mädchen in einem blauen Hauskleid rief: »Hallo … was wün schen Sie?« Xenia drehte sich langsam um, sah das Mädchen von oben herab an: »Ich bin Xenia von Schöller!« Das Mädchen schüttelte verwundert den Kopf mit dem schwarzen, fettigen Haar. »Na und? Wenn Sie was verkaufen wollen …« »Verkaufen? Ich bin die Tochter des Hauses!« »Was?« Xenia von Schöller lächelte. »Sie sind natürlich nach meiner Verhei ratung eingestellt worden. Sie können mich nicht mehr kennen. Bitte, führen Sie mich ins Haus.« Sie schritt weiter hinauf. »Aber durch die Vordertür!« »Ja. Natürlich. Augenblick«, stammelte das Mädchen verstört und verschwand im Dunkel des Souterrains. Xenia wartete gelassen. Sie konnte nicht ahnen, daß das Mädchen in die große ebenerdige Küche stürzte und gleichzeitig erschrocken und angenehm erregt, rief: »Eine Verrückte, stellen Sie sich vor, Frau Nolte … eine Verrückte!« Frau Nolte, die Köchin, war dabei, ein Stück Rinderfilet in walnuß große Stücke zu schneiden. »Unfug«, sagte sie kurz angebunden. »Ge hen Sie lieber nach oben, Anny, und räumen Sie den Frühstückstisch ab.« »Aber das geht doch nicht! Sie steht ja noch draußen! Sie will herein!« Frau Nolte legte das Messer auf das Schneidebrett, strich sich die blu tige Linke an der Schürze ab und ging, nun doch neugierig gewor den, zur Außentür: »Wenn das ein Spaß sein sollte …« Dann blickte 192
sie nach oben, rief, voll jäher Überraschung: »Xenia! Die junge gnädi ge Frau!« Sie stürzte die Stufen hinauf, legte mit einer mütterlichen und beschüt zenden Bewegung den Arm um Xenia von Schöllers Schultern, führte sie, unter immer neuen Ausbrüchen der Verwunderung, Überraschung, Freude in die Küche hinunter, drückte sie auf einen der Holzstühle. »Nun setzen Sie sich erst mal, gnädige Frau«, sagte sie atemlos, »ich werde uns eine gute Tasse Kaffee kochen …« Zu Anny gewandt, die mit neugierigen Augen die unerwarteten Vorgänge beobachtete, füg te sie hinzu: »Setzen Sie Wasser auf, Anny … ach, lieber nicht, lassen Sie's schon … gehen Sie nach oben und tun Sie, was ich Ihnen vorhin gesagt habe.« Xenia von Schöller erhob sich unsicher. »Sie sind sehr freundlich zu mir, Frau Nolte, aber, Sie werden verstehen … ich möchte jetzt doch zuerst einmal meine Eltern begrüßen.« Frau Nolte starrte Xenia an, den Wasserkessel in der Hand: »Ja … wissen Sie denn nicht? Ihre Eltern …« Plötzlich stockte sie, fuhr in ver ändertem Ton fort: »Na, das werde ich Ihnen alles nach und nach er zählen, jetzt wollen wir erst mal …« Xenia trat auf Frau Nolte zu: »Was ist mit meinen Eltern? Sind sie krank?« »Aber nein. Gar nicht. Wie kommen Sie denn darauf?« »Also … was ist? Warum läßt man mich nicht zu ihnen?« »Xenia«, sagte Frau Nolte, »ich verstehe nicht, daß der Herr Bankier Ihnen das nicht gesagt hat! Ihre Eltern haben verkauft … schon vor Jahren. Kurz nach Ihrer Heirat.« Xenia zog gequält die Augenbrauen zusammen. »Verkauft? Das Haus verkauft? Mein Elternhaus?« »Ja.« Frau Nolte kam auf Xenia zu. »Sie dürfen das nicht so tragisch nehmen. Schließlich … das Haus ist doch recht groß. Für zwei Men schen allein. Und als Sie fort waren … na ja, da haben die Herrschaf ten wohl gedacht, sie könnten es sich bequemer machen.« Frau Nol te schüttelte den Kopf. »Aber daß Sie von alledem nichts gewußt ha ben!« 193
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olange seine Frau noch bei ihm lebte, hatte Professor Bergmeister selten und nur ungern ferngesehen. Es war ihm immer wie Zeit verschwendung vorgekommen, und außerdem hatten seine Augen da bei geschmerzt. In der letzten Zeit jedoch kam es häufiger vor, daß er den Apparat einstellte. Nicht, weil er am Programm interessiert war, sondern weil das verdunkelte Zimmer, der helle Bildschirm, die Stimmen aus dem Lautsprecher ihm die Illusion gaben, nicht allein zu sein. Es gehör te wenig Phantasie dazu, sich dann vorzustellen, daß Vera neben ihm in dem bequemen Fernsehsessel saß, in einem ihrer eng anliegenden, schimmernden Hausanzüge, die Füße hoch, den Oberkörper lässig zu rückgelehnt, rauchend, trinkend, Konfekt knabbernd. Professor Bergmeister schämte sich dieser Wunschträume wie eines verborgenen Lasters. Nie sprach er mit irgendeinem Menschen darüber. Tatsächlich brachten sie ihm weder Trost noch Befriedigung. Wenn er später aufstand und den Apparat abstellte, fühlte er sich ausgehöhlt und elend. Er schwor sich, es nie wieder zu tun, und dennoch! Am Abend nach Xenia von Schöllers Flucht aus der Klinik, die viel mehr eine Flucht vor der Ehe gewesen war, ging er gleich nach dem Nachhausekommen, noch bevor er Abendbrot gegessen hatte, in das Wohnzimmer, drückte auf die Taste. Er verdunkelte das Zimmer nicht, trat zum Schrank, goß sich einen Schluck Cognac ein, drehte sich um und starrte gedankenabwesend auf den Schirm. Seine Augen hatten in letzter Zeit nachgelassen. Er mußte das Bild auf stärkste Kontraste ein stellen. Er bedauerte es kaum noch. Er hatte sich schon fast damit abgefun den, daß die Zeit kommen würde, wo er nichts mehr würde unterschei 194
den können, sich durch das Leben tasten mußte, wie er es in jahrzehn telanger Arbeit als Augenchirurg immer wieder bei seinen Patienten hatte beobachten müssen. Ohne Entsetzen. Kaum noch mit Mitleid. Er war abgestumpft gegen dieses Leid, das ihm fast natürlich schien. Wenn er es sich genau überlegte, so waren ihm in seinem Leben weit mehr Sehbehinderte begegnet als Normalsichtige. Und doch! Mit im mer neu aufsteigender Bitterkeit empfand er die Tragödie, daß gera de er, der so vielen neues Licht geschenkt hatte, sich selber nicht hel fen konnte. Noch reichte seine Sehstärke, wenn er sich dicht über das Operati onsfeld beugte, eine Lupe zur Hand nahm, gerade noch aus, chirur gische Eingriffe am Auge auszuführen. Aber wie lange noch! Dann mußte er abtreten. Noch nicht fünfzig Jahre alt, auf der Höhe seines Schaffens. Schlimmer noch als die ewige Nacht, der er entgegenging, war sei ne Einsamkeit. Er war schon jetzt allein, sehr allein. Alle hatten ihn verlassen, seine Frau, sein Sohn. Was bleiben würde, waren seine Stu denten – fremde junge Menschen, die am Anfang ihres Lebens stan den, während er selber auf das Ende zuging. Was blieb, war seine wis senschaftliche Korrespondenz, die ihm früher einmal so viel bedeutet hatte, daß Vera sich darüber vernachlässigt vorkam. Heute erschien sie ihm unwichtig. Er hätte gern und ohne zu zögern sein ganzes Wissen gegen ein wenig menschliche Wärme eingetauscht. Professor Bergmeister seufzte tief, ohne es selber zu merken, starrte abwesend auf den Bildschirm. Er hörte zuerst ihre Stimme, bevor er ihr Gesicht erkannte. Veras Stimme, Veras Gesicht. War es möglich? Unwillkürlich trat er zwei Schritte näher an den Apparat heran, das Bild löste sich auf, er trat wieder zurück, fand den richtigen Standort. Ja, es war Vera. Sie stand vor ihm auf dem Schirm, reifer, als er sie in Erinnerung gehabt hatte, ernster, trotz aller Leichtigkeit, die die Rol le von ihr verlangte. Sie war nicht die Hauptperson des Fernsehspiels, das in die Werbesendungen eingeblendet worden war, sie tat nur am Rande mit. Aber das interessierte Professor Bergmeister nicht. Er ach 195
tete nicht auf die Handlung und nicht auf Veras Rolle, hätte nachher beim besten Willen nicht sagen können, ob sie gut oder schlecht ge wesen war. Er sah nur sie, wartete nur auf ihr Auftreten, spürte mit jähem Schmerz, wie sehr er sie liebte. Vera! Er begriff nicht mehr, wieso er nie einen Versuch gemacht hatte, sie zurückzuholen, wieso er die Dinge hatte laufen lassen, anstatt sie sel ber in die Hand zu nehmen. Dann war das Spiel zu Ende, er schaltete aus. Das Zimmer war plötz lich wieder sehr leer. Er fröstelte. Eben noch war er nahe daran gewesen, aufzubrechen, um Vera zu suchen. Aber ebenso schnell sank er in seinen alten Zustand der Ent schlusslosigkeit zurück. Er sagte sich tausend gute Gründe, warum eine solche Reise ins Blaue hinein sinnlos war – wagte den einen tief sten nicht einmal sich selber einzugestehen! Daß er Angst hatte, quälende Angst, sie ganz zu verlieren. Eine Be gegnung mit Vera konnte allzu leicht die Wahrheit ans Licht bringen, die Wahrheit, die er nicht wissen wollte. Noch war nichts ausgesprochen, noch hatten weder er noch sie einen Schritt zur Scheidung getan, noch konnte er hoffen, daß sie eines Ta ges zurückkommen würde. Diese vage Hoffnung wollte er nicht auf geben müssen. Sie war ihm wertvoller als eine Wahrheit, die vielleicht das Ende bedeutet hätte.
Xenia von Schöller stand schon auf dem Perron, als der Zug am frü hen Abend fahrplanmäßig in Friedrichshafen einfuhr. Sie umklam merte krampfhaft ihre Handtasche, ihre Knie zitterten. Sie fühlte sich erschöpft und tief deprimiert. Der Zug hielt noch nicht ganz, als ein junger Mann von hinten an ihr vorbeischoss, sie zur Seite stieß, die Tür öffnete und absprang. Der unerwartete Stoß brachte Xenia aus dem Gleichgewicht. Sie wur 196
de schmerzhaft gegen die harte Wand geschleudert. Hinter ihr dräng ten die anderen Fahrgäste nach, stiegen hastig aus. Jeder schien Angst zu haben, eine wichtige Verabredung oder einen Zuganschluß zu ver säumen. Um Xenia kümmerte sich niemand. Xenia begriff es nicht. Nie war man so mit ihr umgesprungen. Lag es an ihr? Hatte sie sich so verändert? Oder war die Welt anders gewor den? Während all der Jahre ihrer Blindheit waren die Menschen höflich und rücksichtsvoll ihr gegenüber gewesen. Sie hatte es als selbstver ständlich hingenommen. Es hatte sie keineswegs beglückt, im Gegen teil, hinter all den sanften Worten hatte sie Heuchelei und Verlogen heit zu spüren geglaubt. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt, sehend zu werden! Und jetzt, da sie es war, sah sie rings um sich her nur Kälte, Verbissenheit, Häs slichkeit. Endlich, als letzte, konnte sie aussteigen. Aber sie zögerte immer noch. Die drei Stufen, die zum Bahnsteig hinabführten, waren sehr hoch. Sie fürchtete, die Entfernung nicht richtig abzuschätzen, einen falschen Schritt zu tun. Der Zugführer näherte sich, wollte die Tür zuwerfen, sah sie. »Na, kommen Sie, kommen Sie!« sagte er und reichte ihr die Hand zur Hil fe. Er sagte es nicht unfreundlich, und dennoch fühlte sie sich unange nehm betroffen. Dieser Mann sprang mit ihr um wie mit irgendeiner hergelaufenen Person – aber sie war doch Xenia von Schöller, die schö ne, verwöhnte Xenia, die immer etwas Besonderes gewesen war! Sie war froh, als sie seine Hand abschütteln konnte, festen Boden un ter den Füßen hatte. Ihr »Danke« klang spröde und unliebenswürdig. Auf steifen Beinen, die sich immer noch nicht an das unbehinderte Ausschreiten gewöhnt hatten, stelzte sie davon, dem Ausgang zu. Der Zugführer, der ihr seine Hilfe hatte anbieten wollen, sah ihr kopfschüttelnd nach. Xenia von Schöller war noch nie in Friedrichshafen gewesen. Die Stadt wirkte wesentlich lebendiger, großstädtischer, als sie erwartet hatte. 197
Verloren und ein wenig verängstigt stand sie auf dem Bahnhofsvor platz und suchte nach der Adresse, die Frau Nolte ihr auf einen Notiz zettel geschrieben hatte, las sie noch einmal, obwohl sie sie während der langen Bahnfahrt längst auswendig gelernt hatte: Neue Siedlung, Tulpenstraße 12 b. In diesem Augenblick überkam sie zum ersten Mal die böse Ahnung, daß es vielleicht ein Fehler war, ihre Eltern so zu überfallen. Warum hatte sie nicht wenigstens ein Telegramm geschickt? Aber sie konnte ja immer noch telefonieren. Sie wandte sich zum Bahnhof zurück, fand eine Telefonzelle, trat ein. Sie begann, in dem schon recht mitgenommenen Telefonbuch zu blättern, empfand jähe Freude über die neu errungene Selbständigkeit. Ihr Finger fuhr die Reihen der Namen entlang, gleichgültige Namen, fremde Namen, die vor ihren Augen verschwammen. »Ganzer, Albert … Ganzer, Erich … Ganzer, Friedrich … Ganzer, Fritz …« – Der Name ihres Vaters war nicht darunter. Aber das war doch unmöglich – ganz unmöglich, daß ihr Vater, der weltmännische, großzügige Mann kein Telefon haben sollte! Selbst, wenn das, was Frau Nolte gesagt hatte, stimmte, daß er sich von seinen Geschäften zurückgezogen und zur Ruhe gesetzt hatte! Xenia von Schöller versuchte es noch einmal, war nicht mehr sicher, ob die Neue Siedlung nicht zu einem selbständigen Vorort von Fried richshafen gehörte, gab es auf. Sie entschied, daß es doch besser war, geradewegs zu ihren Eltern hinauszufahren. Wovor hatte sie denn Angst? Vor den seltsamen An deutungen, die Frau Nolte gemacht hatte? Nein, es waren eigentlich gar keine Andeutungen gewesen. Frau Nolte hatte nichts gesagt, was sie hätte erschrecken können. Aber hinter ihren Worten hatte etwas Unausgesprochenes gelegen, was Xenia geängstigt hatte. Dieses ewige »Wollen Sie nicht doch lieber nach Hause fahren? Sie brauchen Schonung, wo Sie doch jetzt gerade erst aus der Klinik kom men. Erholen Sie sich doch erst einmal, dann können Sie sich ja immer noch mit den Herrschaften in Verbindung setzen.« Ohne Zweifel, Frau Nolte hatte alles versucht, sie von dem lang er 198
sehnten Wiedersehen mit ihren Eltern abzuhalten. Dabei wußte sie nicht einmal, daß ihr Mann sie suchen würde, ahnte nicht, daß sie auf der Flucht war. Dennoch hatte sie ihr nur sichtlich widerstrebend die Friedrichshafener Adresse gegeben. Warum nur? Was steckte dahinter? Warum hatte ihr Mann sie all die vergangenen Jahre belogen? Wie seltsam das alles war! Nur mit äußerster Willensanstrengung gelang es Xenia, die Beklem mung, die sie fast zu lähmen drohte, abzuschütteln. Ach was, versuch te sie sich einzureden, ich bin einfach übermüdet, nervös. Ich fange an, Gespenster zu sehen. Sie trat wieder in den brausenden Lärm des Bahnhofsvorplatzes hin aus, winkte einem Taxi, nannte, noch im Einsteigen, die Adresse. – Frau Nolte hatte ihr bereitwillig Geld geliehen, genug, daß sie notfalls in ein Hotel gehen, ihrem Mann telegrafieren konnte. Aber gerade das war es doch, was sie nicht wollte! Wieso schossen ihr solch irrsinnige Gedanken durch den Kopf? Die Taxifahrt zur Neuen Siedlung dauerte lang, nahezu eine halbe Stunde – aber für Xenia, deren ihr selber unerklärliche Angst von Ki lometer zu Kilometer stieg, kamen sie eher zu rasch voran. Als der Fahrer endlich hielt, vor einem einfachen kleinen Haus in ei ner Reihe ganz gleichförmiger einfacher kleiner Häuser, hätte sie ihn fast gebeten zu warten. Aber sie überwand diesen Impuls, stieg aus und zahlte. Dann trat sie zögernd durch den Vorgarten, der aus nichts weiter be stand als zwei winzigen Flächen spärlichen Rasens, auf die Haustür zu. Sie wunderte sich nicht, daß auf dem Klingelschild ein fremder Name stand; von Sekunde zu Sekunde wuchs ihre Überzeugung, daß hier ihre Eltern nicht wohnen konnten. Nein, das war ausgeschlossen, das mußte ein schrecklicher Irrtum sein. Dennoch entschloß sie sich zu klingeln. Eine rundliche kleine Frau öffnete, sah sie prüfend an, unverhohlene Neugier in dem offenen freundlichen Gesicht. »Sie wünschen?« »Guten Abend«, sagte Xenia hastig, »entschuldigen Sie bitte die Stö 199
rung. Ich fürchte, ich habe mich in der Adresse geirrt …« Sie war schon drauf und dran, sich wieder zurückzuziehen. »Wen suchen Sie denn?« fragte die Frau. »Meinen Vater«, sagte Xenia widerstrebend, »ich meine … Herrn Felix Ganzer, aber ich fürchte …« Die Frau unterbrach sie, ihr Lächeln wurde noch freundlicher. »Doch, da sind Sie hier ganz richtig … treten Sie nur ein!« Sie öffnete die Haustür weit, trat zurück, und Xenia folgte ihr in einen sauberen Treppenflur, in dem es nach Bohnerwachs und Seife roch. Die Frau zeigte die schmale, gewundene Treppe hinauf: »Da oben ist es! Gehen Sie nur rauf!« Sie legte die Hand an den Mund, rief sehr laut: »Frau Ganzer! Besuch!« Xenia stieg hinauf, setzte mechanisch Fuß vor Fuß. Sie war jetzt in einem Zustand von Betäubung, der alle ihre Empfindungen und ihre Denkfähigkeit dämpfte. – Es kann nicht wahr sein, ging es ihr wieder und wieder durch den Kopf, es muß ein Irrtum sein. Gleich werde ich aufwachen, und alles ist nur ein Alptraum gewesen. Aber ehe sie noch den obersten Absatz erreicht hatte, öffnete sich eine Tür – eine schmale zierliche Gestalt trat heraus: ihre Mutter. »Mama!« sagte Xenia fassungslos. »Mama!« Dann spürte sie, wie ihre Knie nachgaben, sie versuchte noch, nach dem Geländer zu greifen, sich festzuhalten. Aber zu spät. Es wurde dunkel vor ihren Augen. Sie spürte nicht mehr, daß sie stürzte, daß ihr Körper schmerzhaft auf den Stufen aufschlug.
Als Xenia aus tiefer Ohnmacht erwachte, war es Nacht. Sie lag in einem fremden Bett, in einem fremden Zimmer. Sie spürte diese Fremdheit mehr, als daß sie sie sah. Sie erkannte nur die schattenhaften Umrisse ei ner Gestalt, die sich gegen den Hintergrund einer Lichtquelle abhob. »Mama!« stöhnte sie. »Mama!« »Hast du Schmerzen, Kind?« Es war die liebe, vertraute Stimme ih rer Mutter. 200
»Wo bin ich?« »Bei mir. Du bist zu Hause, Xenia.« Xenia schluchzte auf, es war ein trockenes, wildes Schluchzen. »Es ist also … wahr? Ich habe nicht geträumt?« »Es ist alles in Ordnung, Kind, du brauchst dich nicht mehr zu äng stigen. Kann ich dich zehn Minuten allein lassen? Ich möchte nur ge hen und deinem Mann telegrafieren.« Xenia richtete sich halb in den Kissen auf. »Nicht, Mama … bitte nicht!« Ihre Hand beschrieb eine fahrige Bewegung durch die Luft. Dann spürte sie die kühle, feste Hand ihrer Mutter. »Wenn du nicht willst«, sagte Frau Ganzer sofort, »natürlich lasse ich dich nicht allein.« »Das ist gut.« Xenia ließ sich zurücksinken, ohne die Hand ihrer Mutter loszulassen. »Ich sehe so schlecht … bitte, gib mir meine Bril le.« »Sie ist entzweigegangen, Kind.« »Entzwei?« »Ja. Als du die Treppe hinunterfielst. Hast du gar nichts davon ge spürt? Du hast mir einen entsetzlichen Schreck eingejagt.« »Die Brille«, sagte Xenia, »meine Brille …« »Sei froh, daß nichts Schlimmeres passiert ist. Die Brille läßt sich er setzen. Vielleicht hast du eine kleine Gehirnerschütterung. Ich habe bis jetzt noch keinen Arzt geholt, weil ich nicht wagte, dich allein zu lassen …« »Nein, Mama, bitte, nein … keinen Arzt!« »Ganz wie du willst«, sagte die Mutter beruhigend. »Es geschieht al les so, wie du willst, Xenia. Hast du Hunger … soll ich dir etwas zu es sen zurecht machen?« »Nein, Mama, jetzt nicht. Bleib bei mir, bitte …« »Gut. Dann versuch zu schlafen.« »Nein, Mama. Erst will ich wissen …« »Morgen, Xenia, morgen werde ich dir alles erklären.« »Was ist geschehen? Warum seid ihr hier? Wo ist Vater? Oder ist er … ist er tot?« 201
»Nein, Xenia, dein Vater lebt.« Frau Ganzer sagte es ohne Bitterkeit, aber auch ohne Freude. »Wann kommt er nach Hause?« »Ich weiß es nicht, Kind …« Sie streichelte sacht die Hand ihrer Toch ter. »Was du nur für Sachen machst! Dein Mann ist in großer Sorge. Er hat mir telegrafiert.« »Otto!« Xenia riß die Augen auf, aber das schwache Bild verschwamm nur noch mehr. »Was geht mich Otto an! Er hat mich all die Jahre be logen.« »Weil er dich liebt, Xenia«, sagte Frau Ganzer sehr ernst, »so darfst du nicht sprechen.« »Du nimmst ihn also noch in Schutz?« »Er hat viel für uns getan.« »Das verstehe ich nicht …« »Ich weiß, Kind. Wir haben versucht, dir die Wahrheit zu verbergen. Du hast genug Schlimmes durchgemacht. Deshalb … aber vielleicht war es falsch.« »Ich werde es Otto nie verzeihen, daß er euch nicht zu mir gelassen hat.« »Otto? Mein Gott, Kind, in was hast du dich da verrannt? Dein Mann hat mich wieder und wieder gebeten, dich zu besuchen. Aber ich habe es nicht über mich gebracht.« Die Stimme der Mutter zitter te. »Ich bin eine schlechte Schauspielerin. Ich war immer eine schlech te Schauspielerin.« »Aber warum? Warum? Was ist geschehen? Warum habt ihr das Haus verkauft? Warum wohnt ihr hier? So primitiv, so …« Xenia schluckte. »Du irrst dich, Xenia«, sagte ihre Mutter mit neuer Festigkeit, »wir haben eine sehr hübsche kleine Wohnung. Uns geht es besser, als wir verdient haben …« »Mama! Wie kannst du so etwas sagen!« »Ich dachte, du wolltest die Wahrheit hören«, sagte Frau Ganzer still. »Entschuldige, Mama, aber … ich bin so durcheinander. Ich begreife gar nichts … bitte, erzähl mir alles! Die ganze Wahrheit!« 202
»Da gibt es nicht viel zu berichten«, sagte Frau Ganzer müde. »Wir sind ruiniert, das ist alles. Dein Vater … ich weiß, wie sehr du ihn liebst, du mußt jetzt sehr tapfer sein … dein Vater hat uns ruiniert. Schon bevor du geheiratet hast, waren wir am Ende. Wir konnten nur eben noch den Schein wahren. Dein Mann hat uns dabei geholfen.« »Das ist nicht wahr!« »Doch. Wir haben alles verloren. Dein Vater hat alles verloren. Ver spekuliert, verspielt. Du weißt, ich verstehe nichts von Geschäften. Ich habe mich nicht leicht von dir getrennt, Xenia, aber ich war froh, daß du einen guten Menschen gefunden hattest. Einen Menschen, der dir alles bieten konnte, woran du gewöhnt warst. Vater mußte, gleich nach deiner Hochzeit, das Haus verkaufen. Nicht nur das Haus. Mei nen Schmuck, meine Pelze. Alles. Es reichte gerade, um die Schulden zu decken. Nicht einmal das. Otto mußte einspringen. Er hat uns auch die Wohnung hier gesucht, unseren Umzug finanziert.« »Und dafür bist du ihm dankbar?« Xenias Stimme klang ungläubig. »Ja, Kind. Wenn man plötzlich ganz allein dasteht, wenn alle Freun de einen verlassen haben, dann ist man für jede Hilfe dankbar.« »Ach, Mama«, sagte Xenia, »arme Mama. Was mußt du gelitten ha ben! Dankbar zu sein für eine solch schäbige, kleinliche Hilfe! Otto hat ja Geld genug, er hat ein großes Haus … er hat alles, alles! Und euch hat er darben lassen.« »Wir leben von ihm, Xenia.« »Aber wie! Hätte er nicht Vater helfen können, eine neue Existenz aufzubauen? Hätte er ihm nicht Arbeit in seinem Betrieb geben kön nen, hätte er nicht …« »Er hat alles versucht, Xenia. Aber es ging nicht. Vater ist ein gebro chener Mann. Und …« Frau Ganzer machte eine kleine Pause, es war ihr anzumerken, wie schwer ihr diese Eröffnung fiel: »Er ist ein Spie ler, Kind!« »Ein … was?« »Ein Spieler. Er verspielt alles Geld, das er in die Hände bekommt. Ganz gleich, ob es ihm selber gehört oder ob es ihm nur anvertraut ist. Nachher ist er voller Reue. Immer und immer wieder hat er mir Besse 203
rung versprochen. Aber sobald er Geld in Händen hält, muß er es aufs Spiel setzen. Er glaubt … einmal muß ihm der große Coup gelingen, einmal kann er mit einem Schlag wieder ganz reich werden. Aber es gibt keine Hoffnung, Xenia. Ich habe mich längst damit abgefunden.« »Mein Gott«, sagte Xenia erschüttert und begann langsam das Aus maß der Tragödie zu begreifen, »das ist ja … grauenhaft!« Frau Ganzer sprach weiter, froh, endlich einem vertrauten Menschen gegenüber ihrem Herzen Luft machen zu können. »Anfangs hat uns dein Mann jeden Monat Geld geschickt, genug, daß wir gut davon le ben konnten. Aber auch das ging nicht. Dein Vater hat es mir abge nommen, abgebettelt, abgezwungen. Er hat alles verspielt. Jetzt bezahlt Otto die Miete direkt an den Hauswirt. Der Lebensmittelhändler und der Fleischer schicken ihm monatlich ihre Rechnungen. Das Geld, das ich bekomme, muß ich vor deinem Vater verstecken.« »Und er? Bekommt er gar nichts?« »Doch. Otto überweist ihm genug, daß er einmal oder zweimal im Monat nach Lindau fahren kann. Jedes Mal fährt er voll neuer Hoff nung los. Und immer kommt er mit leeren Taschen zurück.« »Aber man müßte ihm doch klarmachen können …« »Nein, Kind, das kann man nicht. Glaubst du, ich habe nicht alles versucht? Aber diese Spielleidenschaft ist eine Krankheit, eine Sucht. Heute weiß ich … wenn ich ihn nicht mehr spielen ließe, würde er ster ben. Das Leben hat nur noch diesen einzigen Reiz für ihn.« Sie seufz te tief. »Sei froh, Xenia, daß du einen so guten, vernünftigen Mann hast!« »Mama«, sagte Xenia und klammerte sich an die Hand der Mutter, »Mama! Ich will nie mehr zu ihm zurück! Ich … ich kann es nicht!« Frau Ganzer schwieg. »Ich werde arbeiten, ich werde Geld verdienen, aber … ich will nie mehr zu ihm zurück! Nie mehr!« Xenia schluchzte auf. »Aber warum nicht, Kind? Was hat er dir getan?« »Ich schäme mich so. Ich … ich könnte ihm nicht mehr in die Augen sehn. Ach, Mama, du weißt ja nicht … wie ich ihn gequält habe!« Trä nen strömten über Xenias Wangen, heiße, erlösende Tränen. 204
»Du darfst nicht weinen«, sagte ihre Mutter erschrocken, »bitte, wei ne nicht, Xenia! Denk an deine Augen. Diese Operation … soll denn alles umsonst gewesen sein?« Xenia schlug beide Hände vor das Gesicht, schluchzend stieß sie her vor: »Ich wünschte, ich wäre ewig blind geblieben!«
Auch Vera Bergmeister, die sich jetzt mit ihrem Mädchennamen Vera Herbst nannte, hatte ihren Auftritt in dem kleinen Fernsehspiel in der Sendung zwischen sieben und acht Uhr gesehen. Aber sie hatte sich anders betrachtet als ihr Mann, ohne Sentimentalität und ohne Eitel keit, kühl und kritisch. Sie fand sich langweilig, durchschnittlich, uninteressant und – was das Schlimmste war – nicht mehr jung. Nicht mehr jung genug, um mit all den nach vorn drängenden Talenten aus dem Nachwuchs zu konkurrieren. Sie war mit ihrer eigenen Leistung sehr unzufrieden. Sie war unzufrieden mit dem ganzen Leben, das sie führte. Wie schwer war es gewesen, wieviel Gänge hatte es gekostet, wie viel Worte, wieviel Überzeugungskraft, um diese kleine Rolle zu be kommen. Und alles nur, damit ihr Bild in wenigen Minuten auf dem Fernsehschirm vorüber flimmerte. Lohnte sich das? Für wen lohnte es sich? Sie verdiente Geld. Mal beim Fernsehen, mal beim Funk. Hartnäckig kämpfte sie um kleine und kleinste Rollen, die nicht bedeutend genug waren, ihr zum Durchbruch zu helfen, nicht einmal genug einbrach ten, um davon leben zu können. Nach wie vor war sie auf den monat lichen Wechsel ihres Mannes angewiesen. Was hatte das Ganze für einen Sinn? Sie war frei, ja, das war sie. Sie hatte die Enge der kleinen Univer sitätsstadt hinter sich gelassen, lebte in einer anderen Welt. Aber war diese Welt besser? Die Menschen, mit denen sie jetzt verkehrte – Schauspielerinnen, Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner – sprachen von Inszenierun 205
gen, ereiferten sich über Ideen, die sie schlecht oder gut fanden, verris sen die Leistungen ihrer Kollegen, rangen um Anerkennung. Vera langweilte das alles. Wie oft hatte sie an der Seite ihres Mannes Diskussionen über Dia gnosen, über Heilverfahren, über neue Methoden mit angehört, ohne sich dafür interessieren zu können. Heute erschien es ihr, als wenn das alles viel, viel wichtiger gewesen wäre als jene mehr oder weni ger künstlerischen Probleme, über die sich die Menschen ihres jetzi gen Kreises den Kopf zerbrachen. War das überhaupt Kunst, was sie machten? Jagte nicht jeder einzel ne im Grunde genommen nur dem Erfolg, der großen Gage, dem Bei fall der Menge nach? Vera versuchte sich anzupassen, versuchte sich Freunde zu schaffen, versuchte dabeizusein. Dennoch blieb zwischen ihr und den anderen immer so etwas wie eine gläserne Wand bestehen – eine Wand, die nicht nur sie, sondern auch die anderen spürten. Sie konnte mit ihnen lachen, streiten, fachsimpeln, und dennoch gehörte sie nie ganz dazu. Oft und immer häufiger überfielen sie Depressionen. Sie hatte viel aufgegeben – eine bürgerliche Ehe, eine gesellschaftliche Stellung, Si cherheit – und wenig oder gar nichts dafür gewonnen. Noch war ihre Haut klar und straff, ihre Figur elastisch und attraktiv, aber keine Se kunde verließ sie das Bewußtsein, daß sie von Tag zu Tag älter wurde. Es kostete sie Überwindung, morgens in den Spiegel zu schauen. Vol ler Angst wartete sie auf die erste Falte, das erste graue Haar, und ihre Erleichterung, daß es noch nicht soweit war, war immer nur von kur zer Dauer. Wie sollte es enden? Was sollte aus ihr werden? Was war ihr Ziel? Hatte sie überhaupt noch ein Ziel? Nachdem sie sich selber auf dem Fernsehschirm gesehen und sich wieder einmal ihrer eigenen Unbedeutendheit bewußt geworden war, hatte sie noch lange still dagesessen, ohne sich vom Fleck zu rühren. Sie hatte sich so niedergeschlagen gefühlt, daß sie sich am liebsten in eine dunkle Ecke verkrochen und keinen Menschen gehört und ge sehen hätte. Aber dann, kaum eine halbe Stunde später, hatte sie es 206
nicht mehr ausgehalten. Das Gefühl, daß ihr die Wände ihres kleinen Schwabinger Pensionszimmers auf den Kopf zu fallen drohten, war überstark geworden. Sie hatte sich angezogen und war ausgegangen – nur um nicht allein zu sein. Sie kam an diesem Abend erst gegen zwölf, und ziemlich unsicher auf den Beinen, zurück – sie hatte mehr getrunken, als sie vertragen konnte, aber dem Alkohol war es nicht gelungen, ihr inneres Missbe hagen hinwegzuspülen. Sie war nicht heiterer geworden, sondern nur noch elender. An der Haustür hatte sie einem jungen Regisseur, der – ebenfalls leicht betrunken – darauf bestanden hatte, mit ihr nach oben zu ge hen, eine Ohrfeige gegeben. Sie war zu müde, zu gereizt, zu traurig ge wesen, um ihn auf andere Art loszuwerden. Aber selbst in ihrem leicht benebelten Kopf war es ihr ganz bewußt, daß sie damit einen schweren Fehler gemacht hatte. Sie hatte diesen Mann, der einigermaßen wich tig für sie war, in seiner Eitelkeit verletzt. Das war unverzeihlich. Sie schloß die Tür hinter sich, zog sich aus – ihr Kleid, ihre Unter wäsche, ihre Strümpfe, alles roch nach kaltem Rauch, widerlich und durchdringend. Angeekelt ließ sie alles zu Boden fallen, lief nackt und barfuss in ihr kleines Bad, stellte sich unter die Brause. Erst als sie Men gen heißen und eiskalten Wassers auf sich nieder hatte prasseln lassen, fühlte sie sich besser. Sie putzte sich lang und ausgiebig die Zähne, spülte den Mund mit einem aromatisch scharfen Wasser, nahm mit langgeübter Sorgfalt ihr Make-up ab, massierte Wangen, Kinn, Stirn und Hals mit einer Nährcreme. Dann erst schlüpfte sie ins Bett. Sie nahm ein Buch vom Nachttisch, versuchte zu lesen, aber sie war immer noch nicht so nüchtern, wie sie selber geglaubt hatte; die Buchstaben verschoben sich vor ihren Au gen. Sie dachte an ihren Mann, der einmal versucht hatte, ihr dieses Phä nomen zu erklären – wie es ihm gehen mochte? Wie er wohl ohne sie auskam? Vielleicht fühlte er sich viel glücklicher ohne sie – ohne ihre ewigen Ansprüche, ihre Nörgelei, ihre Unzufriedenheit. Vera Bergmeister war sich längst darüber klar geworden, daß sie kei 207
ne gute Ehefrau gewesen war. Jedenfalls in den letzten Jahren nicht. Eine schlechte Ehefrau, eine mittelmäßige Schauspielerin, eine Versa gerin auf der ganzen Linie. Zu was taugte sie überhaupt? Sie legte das Buch aus der Hand, löschte das Licht, lag, die Arme hin ter dem Kopf verschränkt, und starrte in die Dunkelheit. Das Telefon schrillte. Eine jähe Hoffnung durchzuckte ihr Herz – konnte das Klaus sein, ihr Mann? Sie hatte so intensiv an ihn gedacht, daß sie gar nicht er staunt gewesen wäre, seine Stimme zu hören. Sie nahm den Hörer ab, meldete sich. Eine sehr vertraute Stimme klang an ihr Ohr. Aber es war nicht die Professor Bergmeisters, sondern das männliche, ein wenig spröde Or gan ihres Stiefsohnes. »Hallo, Vera«, sagte er nur. Mit einem Schlag war sie hellwach, spürte eine seltsam süße Erre gung. »Michael«, sagte sie mühsam, »von wo rufst du an?« »Hast du mich gleich erkannt?« Er lachte ein wenig, ein dunkles, jun genhaftes Lachen. »Natürlich«, sagte sie. »Wo bist du?« »In Berlin.« »Deine Stimme klingt so nah.« »Kaum zu glauben, was? Als wenn ich dich vor mir sähe.« »Woher hast du meine Telefonnummer?« »Ganz einfach. Ich habe deinen Produzenten angerufen.« »Ach so.« »Ich habe dich heute abend nämlich gesehen. Im Fernsehen. Du warst ganz große Klasse.« »Sag doch so was nicht.« »Doch. Wirklich.« »Michael«, sagte sie, und es klang heftiger, als sie beabsichtigt hat te, »ich mag vielleicht verdreht sein. Aber so ohne Selbstkritik, wie du glaubst, bin ich doch wieder nicht.« »Für mich warst du ganz große Klasse«, sagte er hartnäckig. 208
Sie waren sich beide bewußt, wie banal dieses Gespräch war. Aber sie fühlten sich zu befangen, um ausdrücken zu können, was sie bei diesem ersten Kontakt nach so langer Zeit empfanden. Je stärker ihre Herzen schlugen, desto spröder wurden ihre Worte. Es entstand eine lange Pause. »Hallo, Vera«, sagte er schließlich, »bist du noch da?« »Natürlich.« »Wie geht es … dem alten Herrn?« »Ich weiß nicht. Ich bin schon seit ein paar Monaten fort.« »Du auch?« Seine Stimme klang so freudig überrascht, daß sie er schrak. »Ja, Michael«, sagte sie hastig, »aber ich glaube manchmal, es war ein schwerer Fehler.« »Wieso?« »Nur so. Ich kann dir das schlecht erklären.« Wieder entstand eine winzige Pause. Dann sagte er: »Ich verstehe schon. Warum hast du dich nicht an mich gewandt? Ich hätte mich doch um dich gekümmert.« Sie mußte lächeln. »Aber Michael, das wäre doch …« Sie stockte, aus Angst, ein falsches Wort zu sagen. »Was wäre das?« hakte er sofort ein. Sie wollte diese Frage nicht beantworten. »Ich bin froh, daß du mich angerufen hast«, sagte sie statt dessen. »Kannst du nicht nach Berlin kommen?« »Ausgeschlossen. Ich habe ein paar Funkaufnahmen.« »Sind die wirklich so wichtig?« »Für mich schon.« »Schade. Ich kann hier auch nicht weg. Wir machen Show. Aber in vierzehn Tagen komme ich nach München … kann ich dich dann se hen?« »Warum nicht?« »Vera«, sagte er, und seine Stimme klang seltsam zwingend, »ich will mich dir nicht aufdrängen. Das nicht. Wenn du meinst, daß du mich lieber nicht sehen möchtest …« 209
»Aber davon habe ich doch kein Wort gesagt!« »Gut. Dann bin ich sehr froh.« »Ich auch.« »Gute Nacht, Vera, und träum was Schönes … wenn möglich von mir!« »Gute Nacht, Michael«, wollte sie noch sagen, da hatte er schon auf gehängt. Vera Bergmeister saß noch lange, den Hörer in der Hand. Die zwie spältigsten Gefühle zerrissen ihr Herz. Sie spürte dunkel, daß Michael ihre Worte als Ermutigung aufgefasst haben konnte. Dennoch bereu te sie sie nicht. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder jung und le bendig.
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ünf Tage nach Xenia von Schöllers Flucht aus der Augenklinik traf eine Nachricht von ihr ein, ein kurzer Brief mit großen, ein wenig ungelenk geschriebenen Buchstaben, in dem sie nichts entschuldigte noch erklärte, sondern lediglich darum bat, ihre Koffer an ihre Fried richshafener Adresse nachzusenden. Aber Xenias Sachen waren schon fort, ihr Gatte, der Bankier von Schöller, hatte sie mitgenommen. Dr. Hilpert erfuhr davon durch Schwester Karla. Im gleichen Augen blick war sein Entschluß gefaßt, nach Friedrichshafen zu fahren und Xenia aufzusuchen. Die ganze Affäre hatte ihn mehr mitgenommen, als er zugeben woll te. Er glaubte zwar nicht, daß der Bankier seine Drohung wahr ma chen und Anzeige gegen ihn bei der Ärztekammer erstatten würde, dennoch hatte der Zwischenfall ein nagendes Unbehagen bei ihm hin 210
terlassen. Er fühlte, daß er als Mensch und als Arzt versagt hatte. Sein Selbstbewußtsein war in den Grundfesten erschüttert. Obwohl er wußte, daß er damit dem Gerede in der Klinik neue Nah rung gab, bat er Professor Bergmeister um Urlaub. Der Professor fragte nicht nach den Gründen, er sagte nur, überra schend milde und väterlich: »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun, Nor man!« »Jawohl, Herr Professor!« »Noch vor einem Jahr hätte ich wahrscheinlich versucht, Ihnen gute Ratschläge zu geben. Jetzt verzichte ich ganz darauf. Ich habe begrif fen, daß jeder Mensch seine eigenen Dummheiten machen muß. Man kann weder raten noch richten.« »Ich danke Ihnen, Herr Professor.« »Nichts zu danken, Kollege … ich werde einfach alt.« »Nein«, erwiderte Dr. Hilpert mit einem jungenhaften Lächeln, »ich denke eher … weise!« Professor Bergmeister legte ihm die Hand auf die Schulter. »Weise, mein lieber junger Kollege, wird der Mensch wahrscheinlich erst auf dem Sterbebett. Wenn er mit allem abgeschlossen hat. Ansonsten stek ken auch die ältesten Herren noch voller Heiterkeit und Illusionen.« Als Dr. Hilpert die Klinik verließ – in Hut und Mantel, einen kleinen Koffer mit dem Notwendigsten in der Hand – begegnete er Gabriele Zerling. Das junge Mädchen hatte gerade sein Sportkabriolett abgeschlossen und überquerte jetzt den Hof. Dr. Hilpert schien es, daß sie den Schritt sekundenlang verhielt, als sie ihn gewahrte, dann aber warf sie den Kopf in den Nacken und ging mit entschlossenen Schritten weiter. Seinen Gruß erwiderte Gabriele nur mit einem kühlen, kurzen Nik ken. Sie war schon halb an ihm vorbei, als er sich aus einem plötzlichen Impuls heraus zu ihr umwandte. »Gabriele!« Sie blieb stehen, sah ihn an, mit einem Gesicht, das äußersten Gleich mut ausdrücken sollte, aber das Funkeln ihrer schönen dunklen Au gen verriet ihre innere Erregung. »Sie wünschen, Herr Doktor?« 211
»Gabriele … ich möchte mich bei dir entschuldigen!« »Ich verstehe nicht«, sagte sie kalt. »Ach, Gabriele, du weißt doch genau, wovon ich spreche! Ich habe dich verdächtigt, mich bei Professor Bergmeister denunziert zu haben. Ich … es tut mir furchtbar leid, Gabriele.« »Sie sollten lieber bedauern, daß ich es nicht getan habe … ich hätte Ihnen, denke ich, eine Menge Ärger erspart.« »Ja, das stimmt«, gab er zögernd zu. »Also …« »Ich danke dir trotzdem, Gabriele. Ich weiß, du wolltest mich schüt zen.« »Wiederum ein Missverständnis. Ich wollte nicht in Ihre fragwürdi gen Affären verwickelt werden, Herr Doktor.« Er spürte, wie ihm das Blut zu Kopf schoß. »Es ist dein gutes Recht, wütend auf mich zu sein.« Plötzlich zuckte es um ihren Mund. Die Maske von Gleichgültigkeit und Härte, hinter der sie ihre verletzten Gefühle zu verbergen gesucht hatte, zerbröckelte. »Fährst du … zu ihr?« fragte sie leise. »Ja.« »Für immer?« »Ich weiß es nicht … frag mich nicht, Gaby, ich weiß es wirklich nicht.« Sie sahen sich an, und einen Atemzug lang wünschte er, sie möge ihn bitten zu bleiben. Plötzlich erschien ihm die ganze Fahrt nach Fried richshafen, die Verfolgung einer verheirateten Frau, die sich so offen sichtlich von ihm abgewandt hatte, ganz unsinnig. Wenn Gabriele Zer ling nur ein Wort gesagt hätte, wäre er geblieben. Aber sie reagierte anders, als er gehofft hatte. »Willst du mit meinem Wagen fahren?« fragte sie. »Du meinst … du willst mich begleiten?« fragte er überrumpelt. Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Aber wenn du willst, gebe ich dir die Autoschlüssel. Der Tank ist auch noch fast voll.« Jetzt erst begriff er. »Nein, Gaby, nein … das ist wirklich furchtbar nett von dir! Aber das kann ich nicht annehmen.« 212
»Wie du meinst. Ich dachte nur, daß es bequemer für dich wäre.« »Ja, natürlich, aber …« Sie reichte ihm mit einer versöhnlichen Geste die Hand. »Gute Rei se, Norman!« Ehe ihm noch etwas einfiel, womit er sie zurückhalten konnte, hatte sie sich schon umgedreht und war gegangen.
Dr. Hilpert traf am frühen Nachmittag vor dem Haus Tulpenstraße 12 b in Friedrichshafen ein. Ihm war beklommen zumute. Er stand lange vor der Tür, konnte sich nicht überwinden, auf die Klingel zu drücken. Dann sah er Xenia. Sie kam die stille Siedlungsstraße entlang, am Arm einer zierlichen alten Dame, ihrer Mutter. Sie schritt mit anmutiger Unsicherheit aus, schöner denn je in einem Kleid aus blauer fließender Seide. Ihr blondes Haar umrahmte wie ein Heiligenschein ihr schmales edles Gesicht. Dr. Hilpert trat ein paar Schritte auf sie zu. Dann stutzte er. Xenia von Schöller schien seltsam verändert. Kein Lächeln des Wiedersehens zeigte sich auf ihren Zügen, sie sah durch ihn hindurch, als wenn er gar nicht existierte. »Xenia!« sagte er erschüttert. »Xenia!« Sie streckte die Hand aus, wie um ihn zu ertasten, sagte leise und fra gend: »Ja?« Jetzt erst begriff er, warum sie ihn nicht erkannt hatte. Sie trug eine dunkle Brille, wie damals, als sie ihm in der Augenklinik nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder gegenübergestanden hatte. Er ergriff ihre Hand. »Ich bin es«, sagte er, »Norman Hilpert!« Ihr Lächeln schnitt ihm ins Herz. »Wie schön, daß du gekommen bist!« »Du hättest nicht fliehen dürfen, Xenia! Ich habe mir furchtbare Sor gen um dich gemacht.« Sie schüttelte sacht den Kopf. »Und doch war es gut, daß ich es getan habe … es hat mich gelehrt, die Dinge richtig zu sehen!« 213
»Ich verstehe nicht …« Xenia wandte sich an ihre Mutter. »Das ist Norman Hilpert, Mama … ich denke, du erinnerst dich noch an ihn?« »Ach ja«, sagte Frau Ganzer und reichte ihm eine weiche, kraftlose Hand. »Xenia hat mir alles erzählt. Sie haben viel Gutes für sie getan.« »Ich hätte besser auf sie aufpassen müssen.« »Sie entschuldigen uns jetzt sicher, Herr Doktor«, sagte Frau Gan zer, »wir müssen ins Haus.« Nach einer winzigen Pause fügte sie hin zu: »Xenia erwartet ihren Mann.« »Deinen Mann?« »Ja«, sagte Xenia ruhig, »er ist gekommen, um mich nach Hause zu holen.« »Aber du wirst doch nicht mit ihm fahren!« Xenia drückte den Arm ihrer Mutter. »Bitte, Mama, lass uns allein. Ich möchte mit Norman einen kleinen Spaziergang zum See hinun ter machen, zu der kleinen Bank, du weißt schon. Wenn Otto kommt, dann sag ihm, wo ich zu finden bin.« Frau Ganzer zögerte. »Wenn du das wirklich für richtig hältst …« »Ja, Mama!« Xenia küßte ihre Mutter rasch auf beide Wangen, löste sich dann sacht von ihr. »Komm, Norman!« Er reichte ihr seinen Arm, verabschiedete sich mit einer leichten Ver beugung von ihrer Mutter. Er spürte den Blick der alten Frau in sei nem Rücken, als er mit Xenia zum See hinunterging. »Ich bin sehr froh, daß du gekommen bist«, sagte sie noch einmal. »Es wäre mir schwer gefallen, mich so von dir zu trennen … ohne Ab schied zu nehmen.« Er blieb stehen. »Xenia, ich bin gekommen, um dir zu sagen … bit te, hör mich jetzt ganz ruhig an! Ich will dich heiraten. Sobald du von deinem Mann geschieden bist …« »Aber ich will mich gar nicht mehr scheiden lassen, Norman, versteh mich doch! Es ist … es ist einfach alles anders, als ich gedacht habe. Ich habe Otto furchtbar unrecht getan. Er ist der einzige Mensch auf der Welt, der mich wirklich liebt.« »Und ich? Glaubst du, daß ich …« 214
»Du hast in mir immer nur deine Jugendliebe gesehen … das ver wöhnte, egoistische, sorglose junge Mädchen. Aber das bin ich nicht mehr, Norman, längst nicht mehr. Ich bin eine Frau.« »Ja, ja, Xenia, ich weiß das alles. Ich habe deinen Mann immer ver teidigt, nicht wahr? Du weißt doch, wie oft ich dir gesagt habe, daß du ihn ganz falsch siehst. Aber das ändert doch nichts an meiner Liebe.« Er packte sie bei den Schultern. »Xenia, ich flehe dich an, tu jetzt nichts Unüberlegtes! Wir könnten so glücklich miteinander sein … Xenia!« »Nein, Norman«, sagte sie still, »unser Glück war vergiftet, von An fang an. Ich bin keine Frau für dich. Ich würde dir zur Last fallen … schon nach ein paar Wochen.« »Sei nicht grausam, Xenia! Warum quälst du mich so? Nur weil ich dir nicht zur Flucht verholten habe. Kannst du denn nicht begrei fen …« Sie schnitt ihm das Wort ab. »Doch, Norman, doch! Ich verstehe jetzt alles. Auch wie richtig es von dir war, meine Verrücktheit nicht zu unterstützen. Ich kenne jetzt meinen Weg, Norman … versuch nicht mehr, mich aus dem Gleis zu bringen.« »Aber du liebst doch deinen Mann gar nicht, Xenia!« »Ich glaube, daß ich es lernen werde«, sagte sie sehr ruhig, »jetzt, wo ich ihn wirklich kenne.« Sie waren eine Zeile der schnurgerade aus gerichteten Siedlungshäuser entlanggeschritten. »Siehst du die Bank?« fragte sie. »Nein. Wo?« »Dann müssen wir noch ein Stückchen weiter gehen.« »Xenia«, sagte er, »ich habe mich schon gewundert … siehst du denn selber nichts?« »Nein«, sagte sie, »ich habe meine Brille zerbrochen … meine Star brille meine ich.« »Aber die läßt sich doch reparieren!« Sie lächelte schwach. »Das hat meine Mutter schon besorgen las sen.« »Und warum trägst du sie dann nicht?« »Muß ich es dir sagen?« 215
»Xenia! Du willst doch nicht etwa behaupten …?« »Doch. Sie nutzt mir nicht viel. Meine Augen haben schon wieder … nachgelassen.« Er schwieg, konnte nicht sogleich das passende Wort finden. Dann sagte er und empfand selber, daß es sehr schwach klang: »Es tut mir leid, Xenia …« Sie drückte seine Hand. »Das braucht es nicht, Norman, ich bin ganz froh, daß es so gekommen ist. Anscheinend gibt es Menschen … Menschen wie mich … die sich mit blinden Augen besser zurechtfin den.« Sie schritten schweigend weiter. Erst als sie die kleine Bank tatsäch lich erreicht hatten, von der aus man ein gutes Stück des Bodensees übersehen konnte, fuhr sie, ganz aus ihren Gedanken heraus, fort: »Wenn ich gesund wäre, hätte ich mich vielleicht doch verführen las sen … nicht von dir, sondern von meinen eigenen romantischen Vor stellungen … meinen Mann zu verlassen und mit dir ein neues Le ben anzufangen. So bleibt es mir erspart, Unrecht zu tun an den Men schen, die ich liebe … Schuld auf mich zu laden, die ich nicht genug hätte büßen können. Ich bin glücklich, daß du mich verstehst.« »Ich hoffe, daß du es nie bereuen wirst.« »Sicher werden Stunden kommen, wo es mir leid tut, verzichtet zu haben … wo ich mich sehnen werde … nach dir, Norman, und nach meinem Augenlicht. Aber wer ist schon ganz glücklich? Man darf nicht zuviel verlangen.« »Vielleicht darf man das wirklich nicht«, sagte er und spürte eine tie fe verzweifelte Hoffnungslosigkeit. Sie saßen nahe beieinander auf der kleinen Bank und wußten beide, daß sie sich nichts mehr zu sagen hatten. Ihre Wege hatten sich schon getrennt. Er war es, der vorschlug, aufzubrechen, und sie stimmte deutlich er leichtert zu. Sie kamen gerade zurecht, um den schweren Wagen des Bankiers von Schöller vorfahren zu sehen. Der gedrungene Mann kam mit kleinen, hastigen Schritten auf sie zu, und obwohl Xenia ihn noch gar nicht se 216
hen konnte, löste sie sich aus Dr. Hilperts Führung, tat ein paar freie Schritte auf ihn zu. Das graue schwammige Gesicht des Bankiers leuchtete so von inne rer Zärtlichkeit, daß es mit einemmal geradezu schön schien. Er küßte seine Frau auf die Stirn, und Dr. Hilpert fühlte sich auf seltsame Wei se beschämt. Herr von Schöller streckte Dr. Hilpert die Hand hin. »Ich nehme an, Sie sind gekommen, meiner Frau Lebewohl zu sagen. Das war sehr an ständig von Ihnen.« »Ich wünsche Ihnen beiden viel Glück«, sagte Dr. Hilpert mühsam. »Danke schön. Wir können es brauchen. Komm schon, Xenia, steig gleich ein.« Herr von Schöller half seiner Frau behutsam in den Wa gen. Dann wandte er sich noch einmal Dr. Hilpert zu. »Ich fürchte, ich war ziemlich ungerecht Ihnen gegenüber. Xenia hat mir alles erklärt. Ich weiß jetzt, daß Sie keinerlei Schuld trifft. Vergessen Sie, was ich im Zorn gesagt habe.« »Sie waren im Recht.« »O nein, durchaus nicht. Ich hätte meine Frau besser kennen müs sen. Nur die Sehnsucht nach ihren Eltern … aber sprechen wir nicht mehr darüber. Jetzt ist ja alles gut.« Dr. Hilpert sah zu, wie Frau Ganzer die Koffer herunterbrachte. Der Bankier ließ nicht zu, daß er half, sie im Gepäckraum zu verstauen. Er beobachtete den zärtlichen Abschied zwischen Mutter und Toch ter. Für ihn hatte Xenia kein Wort mehr. Vielleicht glaubte sie, er sei schon gegangen. Dann fuhr der schwere Wagen ab, verschwand in einer Staubwolke. Frau Ganzer schluchzte auf, wandte sich ab und ging aufs Haus zu. Dr. Hilpert fühlte sich so elend wie nie zuvor in seinem Leben. Er marschierte den ganzen weiten Weg in die Stadt hinein und zum Bahnhof zu Fuß. Es war ihm, als wenn es ihm im Ausschreiten leich ter würde, mit seiner Niederlage fertig zu werden.
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Niemand in der Augenklinik fragte Dr. Hilpert nach dem Verlauf sei ner Reise, und er war dankbar dafür. Manchmal hatte er das Gefühl, daß hinter seinem Rücken über ihn getuschelt wurde, daß die Schwe stern – besonders die jungen – ihn mit teilnahmsvollen und neugieri gen Augen musterten. Aber er beachtete es nicht. Er suchte Vergessen und Erfüllung in seiner Arbeit. Drei Tage nach seiner Rückkehr wurde ein kleines Mädchen zu ihm gebracht, Erika Hofner, fünf Jahre alt. Sie kam in Begleitung ihrer Mutter, einer kräftigen, resoluten Frau. »Gib dem Herrn Doktor das Händchen, Erika«, sagte sie, »das schö ne Händchen! Ja, so ist's recht!« Sie seufzte leicht. »Daß man den Kin dern die gleichen Dinge immer wieder sagen muß!« Dr. Hilpert lächel te die Kleine an. »Ich glaube doch, du bist eine sehr brave junge Dame, wie?« Erika errötete und steckte sich verlegen den Zeigefinger in den Mund. »Na, und wo fehlt's denn?« fragte Dr. Hilpert die Mutter. »Erika hat's an den Augen. Ich habe immer gedacht, es ist eine Binde hautentzündung und hab' ihr die Augen mit Borwasser gespült. Aber dann ist es nicht besser geworden, und ich bin zu Dr. Leiser gegangen. Und der hat mich hierher geschickt.« »Sehr schön. Dann wollen wir uns mal die Äuglein angucken.« Dr. Hilpert schritt Mutter und Kind voraus in das Dunkelzimmer für op tische Geräte. Er öffnete ihnen die Tür und ließ sie in den fensterlosen, nur gedämpft beleuchteten Raum eintreten. »Ein bißchen dunkel hier, Erika! Aber du brauchst keine Angst zu haben. So eine Augenuntersuchung tut ganz bestimmt nicht weh, ich verspreche es dir!« Er trat ans Hornhautmikroskop, schraubte die Stüt ze herab. »So, und jetzt setz dich mal hierhin … leg das Kinn auf, ja, so ist's recht … ganz still sitzen, bitte!« Er setzte sich Erika gegenüber an den Kreuztisch, schaltete die Spaltlampe ein. »Sie können sich auch setzen, Frau Hofner.« »Noch nichts Auffälliges … so, jetzt mal das andere Auge!« Dr. Hil pert schaltete die Spaltlampe aus. »Nein, das genügt mir nicht. Ich 218
muß mir mal den Augenhintergrund ansehen.« Er stand auf. »Du kannst dein Kinn von der Stütze nehmen, Erika.« Er nahm ein Fläsch chen von einem Tisch neben der Untersuchungsliege, die rechts an der Wand stand. »Ich werde dir jetzt in jedes Auge ein Tröpfchen geben … tut auch nicht weh, nur keine Sorge. Davon werden die Pupillen groß. Du weißt doch, die Pupillen, das sind Fensterchen, durch die du in die Welt hineinschaust … und ich muß jetzt durch die Pupillen ins Häus chen hineinsehen.« Er knipste ein Licht an, Frau Hofner hielt den Kopf ihrer Tochter, sag te: »Mach schön die Augen auf … der Herr Doktor tut dir ja nichts.« Erika gehorchte, obwohl ihr Mund sich verdächtig zum Weinen ver zogen hatte. »Na, das war doch wirklich nicht schlimm«, sagte Dr. Hilpert, »so, jetzt kannst du ein bißchen bei deiner Mutter bleiben, bis die Tropfen gewirkt haben …« Er machte sich daran, Hruby-Linse, Kulisse und Fixierleuchte an der Spaltlampe aufzusetzen. Als er damit fertig war – er hätte diese Hand griffe an dem komplizierten Instrument auch im Traum durchführen können –, wandte er sich wieder Erika zu. Ihre Pupillen hatten sich übergroß geweitet. »Sehr schön«, sagte er, »jetzt sind deine Fensterchen ganz, ganz weit geöffnet, daß ich richtig hineinsehen kann. Setz dich mal wieder hin, ja, genauso wie eben … und schau in die Öffnung hinter dem weißen Knopf … siehst du die kleine Glühlampe? Da mußt du genau hinblik ken, ja?« Er hatte sich ihr auf der anderen Seite des Kreuztisches wieder ge genübergesetzt, stellte das Spaltbild durch den Steuerhebel auf Pupil lenmitte ein, legte die Schärfenebene auf die Iris. Er hatte für die erste Orientierung eine mittlere Beleuchtungsschärfe und sechzehnfache Vergrößerung eingestellt. Langsam bewegte er den Steuerhebel nach vorn und brachte die Schärfenebene auf den Augenhintergrund. Er sah ein auffallend erweitertes Gefäßpaar, Vene und Arterie, die sich deutlich von dem rot leuchtenden Hintergrund abhoben und am äußeren Ende in ein kugeliges Gebilde einmündeten. 219
Er preßte die Lippen zusammen, untersuchte das linke Auge. Er er blickte, was er befürchtet hatte. Im anderen Auge ergab sich fast das gleiche Bild. Aber seine Stimme klang ganz unbefangen, als er sagte: »Sehr inter essant … ich glaube, davon möchte ich mir eine Aufnahme machen! Ruh dich ein bißchen aus, Erika, gleich ist's soweit!« »Was haben Sie gesehen, Herr Doktor?« fragte Frau Hofner. »Ist es etwas Schlimmes?« »Ich bin nicht sicher … um eine Bindehautentzündung handelt es sich bei Ihrer Tochter jedenfalls nicht, soviel steht fest. Ich werde jetzt erst mal zwei Fotos machen vom Augenhintergrund … und wenn die fertig und entwickelt sind, werden wir sie uns zusammen anschauen und ent scheiden, wie wir Ihrem Töchterchen am besten helfen können.«
Die Bilder, die Dr. Hilpert mit der Funduskamera gemacht hatte, ka men noch am Nachmittag desselben Tages aus dem Labor zurück. Dr. Hilpert hatte damit gerechnet. Trotzdem hatte er Frau Hofner erst für den übernächsten Tag bestellt. Er wollte gern vorher noch mit Profes sor Bergmeister über den Fall sprechen. Die Gelegenheit dazu ergab sich, als Dr. Hilpert noch am Abend ei nen Spaziergang vor dem Schlafengehen machte und beim Heimkeh ren Licht im Arbeitszimmer des Professors sah. Er stieg die Treppen hinauf, holte die Fotos aus seinem Zimmer und klopfte an. »Ja … herein?« sagte Professor Bergmeister. Er hatte aufs Magneto phonband diktiert, hielt das Mikrophon in der Hand. »Ach, Sie sind's, Kollege! Was haben Sie auf dem Herzen?« Dr. Hilpert blieb in der geöffneten Tür stehen. »Ich wollte nicht stö ren …« »Das tun Sie ja gar nicht!« Professor Bergmeister stellte den Appa rat ab, stand auf. »Kommen Sie herein und machen Sie die Tür zu! Sie trinken doch einen Cognac mit mir?« 220
»Gern, Herr Professor!« Professor Bergmeister holte die Cognacflasche und zwei Gläser aus dem Schrank hinter dem Rauchtisch, goß ein. »Immer noch Herzens kummer?« »Nein, Herr Professor.« Dr. Hilpert überwand sich und fügte hinzu: »Frau von Schöller hat sich mit ihrem Gatten ganz ausgesöhnt.« »Ach«, sagte Professor Bergmeister nur, und dann: »Na, Prost!« Er hob sein Glas, trank. Dr. Hilpert tat es ihm nach. Beide Herren setzten sich. »Übrigens sagte mir Frau von Schöller«, fuhr Dr. Hilpert, jetzt leich ter, fort, »daß ihre Sehkraft schon wieder nachgelassen hat.« »Schade.« Professor Bergmeister nahm sich eine Zigarette, schob sei ne Schachtel Dr. Hilpert zu. »Wir jedenfalls haben das Menschenmög liche getan.« »Ganz gewiß, Herr Professor!« Dr. Hilpert gab seinem Chef Feuer, bediente dann erst sich selber. »Wollten Sie darüber mit mir sprechen?« fragte der Professor. »Nein. Ich hatte heute morgen einen interessanten Fall in der Praxis. Ein kleines Mädchen, fünf Jahre alt. Ich habe Bilder mit der Funduska mera gemacht …« Er zog die Fotografien aus einem großen Umschlag, reichte sie Professor Bergmeister über den Tisch. Professor Bergmeister führte die Bilder dicht zu den Augen, sagte dann, mit einem kleinen, beschämten Lächeln: »Wenn Sie mir, bitte, die Lupe bringen würden, Herr Kollege … ich muß sie auf meinem Schreibtisch gelassen haben!« Dr. Hilpert sprang auf und brachte ihm das Instrument. Jetzt betrachtete Professor Bergmeister die Aufnahmen mit etwas größerem Abstand. »Angiomatosis retinae cystica …« Er hob den Kopf. »Was war Ihre Diagnose?« »Die gleiche.« »Ist es schon zu Ausschwitzungen gekommen? Zu Blutungen?« »Nein.« »Na ja, das ist immerhin etwas. Eine schlimme Sache. Wie alt ist die Kleine, sagten Sie?« 221
»Fünf Jahre.« »Ein tragischer Fall. Haben Sie schon mit den Eltern gesprochen?« »Nein. Ich wollte mich vorher mit Ihnen besprechen, und dann …« Dr. Hilpert zögerte. »Ich weiß, was Sie sagen wollen, Kollege! Der Fall bietet sich gerade zu für einen Versuch mit Lichtkoagulation an, nicht wahr?« »Ja, Herr Professor.« Professor Bergmeister stand auf, begann in dem großen Raum auf und ab zu gehen. »Sie wissen sicher, lieber Kollege, meine wissen schaftliche Arbeit hat allenthalben ein starkes, ein gutes Echo gefun den. Natürlich gibt es auch geschworene Gegner dieser neuen Metho de, wie wäre das auch anders zu erwarten. Immerhin wird an den mei sten Universitäten in der von mir eingeschlagenen Richtung weiterge arbeitet …« »Um so mehr, Herr Professor …« »Ja, um so mehr liegt mir selber daran, meine Heilmethode an einem Patienten anzuwenden. Zumal ich mit Beginn des nächsten Sommer semesters als Chef der Augenklinik abtrete.« »Ist das bereits … beschlossen?« »Ja. Ich habe mich noch einmal untersuchen lassen. Wenn meine Sehkraft vielleicht auch für das tägliche Leben noch ein paar Jahre aus reicht, als Augenchirurg muß ich abtreten, bevor jede Operation zu ei nem Vabanquespiel wird.« Auch Dr. Hilpert war aufgestanden. »Ich verstehe, Herr Profes sor …« »Jetzt möchten Sie sicher wissen, wen ich als meinen Nachfolger vor geschlagen habe?« Professor Bergmeister machte eine Pause, aber da Dr. Hilpert nichts zu sagen wußte, fuhr er fort: »Sie natürlich, Kollege. Obwohl ich nach den letzten Ereignissen leider zweifeln muß …« Jetzt fand Dr. Hilpert die Sprache wieder. »Aber der Bankier von Schöller hat gar keine Anzeige gegen mich erstattet! Im Gegenteil, er hat sich in aller Form für seine Vorwürfe entschuldigt!« »Ausgezeichnet. Das ändert aber nichts daran, daß ein gewisses Ge rede im Schwange ist. Und lassen Sie sich aus meiner Erfahrung sa 222
gen … nichts ist schwerer zum Verstummen zu bringen als ein Ge rücht, hinter dem nichts Reales steckt.« Er trat zum Tisch zurück, trank sein Glas leer. »Aber lassen wir das. Ich habe nicht die Absicht, Sie zu entmutigen. Ich möchte nur verhindern, daß Sie enttäuscht wer den.« »Ich weiß, Herr Professor … und ich danke Ihnen.« Professor Bergmeister nahm wieder Platz. Dr. Hilpert folgte seinem Beispiel, drückte seine Zigarette aus. »Also, Herr Professor, darf ich die kleine Patientin mit Lichtkoagula tion behandeln? Ich würde Ihnen natürlich das Ergebnis zur genauen wissenschaftlichen Ausarbeitung zur Verfügung stellen.« »Das müssen Sie nicht mich, das müssen Sie die Eltern fragen.« »Aber, Herr Professor, wie soll man absoluten Laien klarmachen …« »Anders geht es nicht. Sie müssen das Vertrauen dieser Leute gewin nen. Das sollte Ihnen, einem guten Arzt, doch nicht schwerfallen.« »Jawohl, Herr Professor.« Dr. Hilpert spürte die Verabschiedung, stand auf, steckte seine Fotos wieder in den Umschlag zurück. Professor Bergmeister beobachtete seinen Abgang mit einem feinen Lächeln. »Noch eines, Doktor Hilpert … würden Sie mich bei der Be handlung zuschauen lassen?« »Aber, Herr Professor«, sagte der Assistenzarzt bestürzt, »entschul digen Sie, aber so habe ich es natürlich nicht gemeint! Ich würde ja glücklich sein, wenn ich Ihnen assistieren dürfte!« Professor Bergmeisters Lächeln vertiefte sich. »Machen wir's diesmal umgekehrt, ja? Schließlich sind Sie der kommende Mann, und ich wer de bald zum alten Eisen gehören. Nein, nein, widersprechen Sie mir jetzt nicht, ich mag keine Schmeicheleien, und ich habe sie auch nicht nötig … noch nicht, Norman. Gehen Sie jetzt schlafen. Ich bin sehr ge spannt, was die Eltern der kleinen Patientin zu Ihrem Vorschlag sagen werden.«
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Herr Hofner war ein schmaler, stiller Mann, Buchhalter, wie sich her ausstellte, und Dr. Hilpert merkte sehr rasch, daß er allem zustimmen würde, womit seine Frau einverstanden war. Er wandte deshalb seine vordringlichste Mühe darauf, sie zu überzeugen. Die kleine Erika wur de während dieses entscheidenden Gespräches von einer der Schwe stern in einem anderen Zimmer betreut. Er versuchte den Fall behutsam zu erklären, aber Frau Hofner zeig te sich sehr ungeduldig. »Sagen Sie uns endlich, was eigentlich los ist, Herr Doktor! Ich hab' das nicht gern, wenn man so um den heißen Brei herumgeht … ist es etwas sehr Schlimmes?« Dr. Hilpert entschloß sich, offen zu sein. »Ja«, sagte er. »Was?« »Beide Augen sind von einer Gefäßerkrankung der Netzhaut befal len. Es handelt sich um Angiome …« »Was sind das?« »Cystische Gefäßtumoren …« Frau Hofners Augen öffneten sich angsterfüllt. »Tumoren?« »Ja.« »Aber, um Gottes willen … das ist ja entsetzlich!« »Ja, leider. Es ist sehr schlimm.« Jetzt zum ersten Mal griff Herr Hofner ein: »Herr Doktor, sagen Sie uns ehrlich … was kann man da tun?« »Man kann operieren. Die Tumoren werden bei diesem Eingriff mit der Diathermienadel verödet. Diese Operation ist nur deshalb sehr schwierig, weil die Krankheitsherde im Fundus … also ganz im Au genhintergrund liegen, verstehen Sie?« »Und wenn man nun gar nichts tut, die Sache auf sich beruhen läßt?« »Dann kommt es zwangsläufig zu Augenblutungen und Ausschwit zungen, schließlich zu bindegewebsartigen Wucherungen. Es kann sich auch eine Netzhautablösung entwickeln oder ein Sekundarglau com, also ein grüner Star, der aus dem Tumor entsteht.« Herr Hofner war sehr blaß geworden. »Und dagegen hilft nichts als eine Operation?« 224
»Doch«, sagte Dr. Hilpert, »es gäbe noch eine andere Möglichkeit. Allerdings ist sie noch nicht sehr erprobt …« »Keine Experimente«, sagte Herr Hofner sofort, »ich bin nicht bereit, meine Tochter für irgendwelche Experimente herzugeben.« Frau Hofner hatte sich schon wieder einigermaßen gefaßt, sie putz te sich kräftig die Nase, sagte verweisend: »Nun hör dir doch erst mal an, was der Herr Doktor vorschlagen will, Karl. Nein sagen kannst du dann ja noch immer.« Etwas ermutigt versuchte Dr. Hilpert zu erklären: »Es handelt sich um Lichtkoagulation … nein, nein, ich weiß, darunter können Sie sich nichts vorstellen. Aber daß sich das Licht aus vielen, vielen Strahlen zusammensetzt, das ist Ihnen doch ein Begriff, nicht wahr? Profes sor Bergmeister hat nun ein Verfahren entwickelt, durch das man ein Bündel Lichtstrahlen auf einen einzigen Punkt konzentrieren kann … nämlich auf den Tumor.« Frau Hofner hatte ihm aufmerksam zugehört. »Aber Sie haben doch eben gesagt, daß die Tumoren ganz im Augenhintergrund liegen?« »Stimmt auch. Aber das ist gerade das Großartige an dieser Metho de. Das Licht geht durch das Auge hindurch … völlig schadlos natür lich … die Strahlen treffen sich erst auf dem Punkt, auf den es an kommt, und dort können sie den Tumor vernichten …« »Mit Licht? Mit nichts weiter als Licht?« »Ja. Das klingt ein bißchen unwahrscheinlich. Aber denken Sie mal an ein Brennglas. Vielleicht haben Sie als Kind mal so etwas in der Hand gehabt. Durch dieses Glas werden die Sonnenstrahlen auf einen einzigen Punkt konzentriert, und dadurch wird ihre Kraft so groß, daß ein Stück Papier, das darunter liegt, Feuer fangt.« Frau Hofner sah ihren Mann ein wenig zweifelnd an. »Meinst du, wir könnten es versuchen?« »Also wenn du mich fragst …« begann Herr Hofner. Aber seine Frau ließ ihn nicht aussprechen. »Wenn es nicht klappt, können wir ja noch immer operieren lassen, nicht wahr, Herr Dok tor?« »Selbstverständlich. Wir werden die Entwicklung der Angiome ge 225
nau verfolgen. Sollte sich herausstellen, daß die Behandlung nicht an schlägt, ist eine Operation natürlich unausweichlich.« »Wenn das so ist … dann haben wir doch eigentlich gar nichts zu verlieren?« »Sehr richtig, Frau Hofner, Sie haben nichts zu verlieren, und alles zu gewinnen. Wollen Sie uns Ihre Tochter anvertrauen?« »Ja, Herr Doktor, wenn mein Mann einverstanden ist!« Aber das war natürlich nur eine Höflichkeitsformel. Wie Dr. Hilpert vorausgesehen hatte, akzeptierte Herr Hofner ohne weiteres die Ent scheidung seiner Frau. Noch am gleichen Tag wurde die kleine Erika in die Augenklinik eingeliefert, und am nächsten Morgen begann ihre erste Behandlung mit Lichtkoagulation.
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ein Gott, bin ich froh, Mike!« Monika Ebers reckte die schlanken weißen Arme, so daß die Stola halb von ihren Schultern rutschte. »Schluß der Vorstellung … und morgen sind wir schon wer weiß wo!« Sie fuhren miteinander im Lift hinauf zu ihren Zimmern im zehnten Stock des Berliner Hilton Hotels. »Warum siehst du mich so an, Mike?« fragte sie. »Freust du dich denn gar nicht?« »Doch«, sagte er unbehaglich, »nur … wollen wir nicht noch etwas zusammen trinken, Moni?« »Warum nicht?« sagte sie vergnügt. »Heute können wir ja mal bum meln gehen … endlich! Ich hätte nie gedacht, daß das Leben als Schla gersängerin so anstrengend sein würde. Immer bloß drauf zu achten, daß man fit und in Form ist … allmählich hängt mir das zum Hals heraus.« 226
Der Lift hatte den zehnten Stock erreicht, blieb stehen. »Was nun?« fragte Monika. »Hinauf oder hinunter?« »Fahren wir auf die Dachterrasse.« »Na schön.« Monika drückte den Knopf mit der Aufschrift: »Restau rant.« – »Lange werde ich es sowieso nicht mitmachen …« Sie gähnte verstohlen hinter der Hand. »Ich bin nämlich hundemüde.« Er lächelte mit gutmütigem Spott. »Und ich dachte, du wolltest das Nachtleben von Berlin genießen.« Sie lachte unbekümmert. »Meine übliche Angabe!« Der Lift hielt, und sie stiegen aus. Sie waren zum Finale der Revue in großer Garderobe erschienen und hatten sich heute, nach der letzten Vorstellung, nicht mehr umgezogen. Er betrat vor ihr das elegante Dachlokal, fand einen freien Tisch nahe den großen Aussichtsfenstern. Als er sich zu ihr umdrehte, war sie noch einige Schritte von ihm entfernt. Er beobachtete, daß die Blik ke aller Männer ihr folgten, als sie – sehr zerbrechlich in einem wei ßen, perlenbestickten Seidenkleid mit weitem, schwingendem Rock – auf ihn zu trippelte. Es ging ihm durch den Kopf, wie sie sich in den letzten Monaten ver ändert hatte. Aus der kleinen, ein wenig schlampigen Studentin war eine sehr schöne, sehr gepflegte und sehr selbstbewusste junge Dame geworden. Und doch war der Kern ihres Wesens von all den Erfolgen, die sie errungen, von all den Intrigen, die sie durchgestanden hatte, nicht im geringsten berührt worden. Sie war sein guter Freund und Kamerad geblieben, und der Gedanke an die Enttäuschung, die er ihr bereiten mußte, erfüllte ihn mit Abscheu vor sich selber. Er schob ihr einen Stuhl zurecht, wartete, bis sie sich gesetzt hatte, bestellte bei dem Ober, der beflissen herbeigeeilt war, zwei Whisky. Er bot ihr eine Zigarette an, rauchte selber, lauschte ihrem unbefan genen Geplauder, bis der Ober die Gläser und ein Schälchen mit Salz mandeln brachte. Die Band, die etwas erhöht nahe der gläsernen, von unten beleuchte ten Tanzfläche spielte, intonierte einen langsamen Walzer. 227
Monika begann unruhig zu werden. »Du, Mike … wollen wir tan zen?« fragte sie hoffnungsvoll. Er hatte mit gerunzelten Brauen auf die Lichter der tief unter ihnen liegenden Großstadt gestarrt. Bei ihrer Frage fuhr er zusammen. »Was hast du gesagt?« »Ob wir tanzen wollen!« »Monika«, sagte er, »ich wollte etwas mit dir besprechen …« »Ja …?« fragte sie erwartungsvoll. »Es ist wegen unserer Reise!« »Soll ich die Karten heraufholen?« Sie hatte sich schon halb erho ben. »Bitte, bleib sitzen. Darum geht es nicht.« Sie sah ihn aus weit geöffneten tiefblauen Augen an. »Nicht?« fragte sie, und hinter dieser kleinen Frage lauerte schon jähes Erschrecken. Er zerbrach sich den Kopf, wie er es ihr möglichst schonend beibrin gen konnte, aber nicht das geringste wollte ihm einfallen. »Ich kann nicht mitfahren«, sagte er schließlich rau, fast brutal. Sie schwieg, senkte den Blick. Erst nach einer langen Pause sagte sie, statt der Szene, die er erwar tet hatte, leise und ganz gefaßt: »Schade.« »Es tut mir auch leid, Moni, das mußt du mir glauben«, sagte er und litt unter seiner eigenen Unaufrichtigkeit. Sie drehte das Glas in ihren schmalen, sorgfältig manikürten Fin gern. »Ich frage dich nicht, warum es nicht geht«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Das kannst du aber ruhig. Ich habe eine Verabredung, eine sehr …« er mußte sich räuspern, »… wichtige Verabredung.« »Den ganzen Urlaub?« Er brauste auf, weil er sich selber nicht wohl in seiner Haut fühlte. »Willst du mir Vorwürfe machen?« »Nein«, sagte sie sehr ruhig, »obwohl ich ein Recht …« Er ließ sie nicht aussprechen. »Ein Recht?« sagte er zornig. »Schließ lich sind wir nicht verheiratet.« Jetzt erst hob sie den Kopf und sah ihn an, mit einem Blick, der ihn 228
mitten ins Herz traf. »Wir haben gemeinsame Pläne für diesen Urlaub gemacht«, sagte sie, »schon vor Wochen.« »Ist das meine Schuld?« »Nein. Aber es wäre fairer gewesen, mir von Anfang an zu sagen, daß du nicht mitkommen willst …« »Aber das habe ich ja selber nicht gewußt!« Monikas mühsam zur Schau getragene Ruhe zerbrach. »Jetzt sag nur noch, daß du es erst heute erfahren hast!« rief sie erregt. »Monika, bitte!« Er versuchte, beruhigend ihre Hand zu fassen. Aber sie ließ es nicht zu. »Ich bin kein kleines Kind, das man zur Vernunft bringen muß«, sagte sie wütend, »und auch kein Spielzeug!« »Das habe ich ja niemals gesagt!« »Aber du behandelst mich so! Wie ein Spielzeug, mit dem man sich beschäftigt, wenn man grade Lust dazu hat … und das man in die Ecke stellt, wenn man etwas Besseres vorhat!« Das, was sie da in ihrem Zorn herausbrachte, war so wahr – so nahe zu wahr –, daß er betroffen verstummte. Sie versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen, sagte beherrschter, aber immer noch mit bebender Stimme: »Ich habe es satt … so satt, mich von dir herumschubsen zu lassen. Wenn dir nur ein bißchen an mir läge …« »Aber das tut es doch, Moni! Sehr viel sogar!« Sie ließ sich nicht unterbrechen, »… würdest du diese verdammte Verabredung aufgeben und mit mir kommen!« »Das kann ich nicht.« Sie setzte ihr Glas an, leerte es mit einem Zug. »Na schön. Ganz wie du willst. Dann mußt du aber schon erlauben, daß ich mir einen ande ren Begleiter suche.« »Moni! Warum mußt du die Dinge immer auf die Spitze treiben? Das ist doch alles Quatsch! Weißt du, was ich tun würde, wenn ich du wäre? Nach Hause fahren, meine Eltern besuchen … du hast sie jetzt doch schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.« »Ja«, sagte sie bitterböse, »und darauf warten, ob Herr Michael Berg meister mich nicht doch noch mal aus dem Eckchen herausholt, in das 229
er mich wieder mal geschubst hast. Nein danke, Mike. So geht's nun doch nicht. Entweder du kommst mit mir oder …« »Ich lasse mich zu nichts zwingen, was ich nicht wirklich möchte!« sagte er kalt. Monika erhob sich. »Leb wohl, Mike«, sagte sie fast sanft, »dann ha ben wir uns nichts mehr zu sagen!« Sie raffte ihre saphirblaue Stola en ger um die Schultern und wandte sich zum Ausgang. Er sah ihr nach, wie sie mit wiegenden Schritten, den Kopf mit der leuchtend roten Mähne hoch erhoben, zwischen den Tischreihen hin durchschritt. Er wollte aufspringen, ihr folgen – aber dann spürte er, daß es sinnlos gewesen wäre. Er konnte ihr immer nur dasselbe sa gen. Er leerte sein Glas, starrte in die Nacht hinaus. Etwas in seinem Leben war zu Ende gegangen. Er empfand es mit unerwarteter Trauer.
Vera Bergmeister kam am frühen Nachmittag nach Hause. Sie hatte mit einem Produzenten zu Mittag gegessen. Sie war erschöpft, versuchte dennoch, jede einzelne Phase des Ge spräches zu rekonstruieren, um festzustellen, ob sie das Richtige gesagt und getan, ob sie wohl wirklich den erwünschten Eindruck gemacht hatte. Aber sooft sie das Gespräch auch in allen Einzelheiten noch ein mal in ihrem Kopf ablaufen ließ, es ergab sich kein klares Bild. Sie hat te viele höfliche Lügen gehört, Versprechungen, an die sie längst nicht mehr glaubte. Vera war so sehr mit sich selber und den vergangenen Stunden be schäftigt, daß sie das weiße Sportkabriolett gar nicht sah, das gegen über dem Schwabinger Mietshaus geparkt hatte, in dem sie wohnte. Aber Michael Bergmeister sah sie, und sein Herz krampfte sich zu sammen. Sie sah älter aus, als er sie in Erinnerung gehabt hatte, müder, schma ler. Sie hatte viel von dem Glanz verloren, mit dem seine Phantasie sie 230
umgeben hatte. Hatte sie sich wirklich so verändert? Oder trog das Bild seiner Erinnerungen? Zum ersten Mal sah er sie nicht verwöhnt und umhegt in dem ge pflegten Haus seines Vaters. Jetzt war sie nichts als eine nicht mehr ganz junge, sehr einsame Frau, die gegen ein Schicksal ankämpfte, das immer stärker sein würde als sie selber. In dieser Sekunde des Wiedersehens verflog das Gefühl leidenschaft licher Bewunderung, das bisher sein Herz für die schöne Vera erfüllt hatte, machte brennendem Mitleid Platz. »Hallo, Vera!« rief er und sah, wie sie den Kopf hob, wie ihr Blick auf leuchtete. Mit einer eleganten Flanke sprang er über die Wagentür, überquerte die Fahrbahn und kam auf sie zu. Sie reichte ihm beide Hände. »Michael!« war alles, was sie sagen konnte, und noch einmal: »Michael!« Er zog ihre Hände, eine nach der anderen, an seine Lippen, küßte sie zärtlich auf das Handgelenk zwischen Handschuh und Ärmel. »Du siehst wunderbar aus«, log er, »die Freiheit scheint dir unwahrschein lich zu bekommen.« »Ach, Michael … ich zähle jeden Morgen meine Falten!« »Du machst Witze! So wie du aussiehst, könnte ich dich überall für … na, sagen wir … höchstens achtundzwanzig verkaufen!« Er hielt ihre Hände immer noch fest, als wenn er Angst hätte, sie im nächsten Augenblick wieder zu verlieren. »Ich würde dich bitten, mit hinauf zu kommen«, sagte sie, »aber ich muß te heute morgen sehr früh aus dem Haus. Ich habe nicht aufgeräumt.« »Macht nichts«, sagte er, »ich warte, bis du gepackt hast.« Unwillkürlich entzog sie ihm ihre Hände. »Gepackt? Wovon sprichst du?« Er lächelte sein jungenhaft vertrautes Lächeln. »Ich habe gerade ein paar Tage frei. Ich möchte dich gern entführen … irgendwohin, wo es schön ist. An einen See vielleicht …« Sie zögerte, wußte nicht gleich, wie sie sich zu dieser unerwarteten Aufforderung stellen sollte. 231
»Ich denke, wir haben eine Menge zu besprechen«, sagte er drän gend, »oder brauchst du etwa keinen Manager?« »Doch, Michael«, sagte sie, »doch!« »Na also!« »Aber können wir das nicht ebensogut in München besprechen?« »Nein«, sagte er, »ich brauche Landluft … am Siebzehnten gehe ich mit einem Film ins Atelier, und bis dahin muß ich mich erholt ha ben.« Sie lächelte zu ihm auf. »Du siehst gar nicht so erholungsbedürftig aus.« »Der Schein trügt.« Er strich sich mit einer eckigen Bewegung über das dichte, kurz geschnittene Haar. »Also beeil dich! Jede Stunde ist kostbar …« Plötzlich verfinsterte sich sein Gesicht. »Oder gibt es ir gend etwas hier, was dich hält?« »Ich habe eine Rolle versprochen bekommen …« »Aber du hast sie noch nicht fest. Demnach besteht kein Grund, hier zu bleiben.« »Michael …« sagte sie, immer noch zögernd. »Was gibt's?« Sie holte tief Luft. »Gut. Ich komme mit!« Während sie ins Haus hineinging, kehrte er zu seinem Auto zurück, lehnte sich gegen den Schlag, zündete sich eine Zigarette an. Vera sah vom Fenster aus auf ihn hinunter. Zweifel zerrissen ihr Herz. War es richtig, mit diesem großen unvernünftigen Jungen auf und davon zu fahren? Ihr Gefühl warnte sie, aber ihr Verstand suchte sie zu beruhigen. Was war denn schon dabei? Sie waren Stiefmutter und Sohn. Warum sollten sie nicht miteinander verreisen? Und von allem anderen ganz abgesehen – was hatte sie schon zu verlieren? Michael besaß all das, was sie selber nicht hatte – Erfolg, Geld, Bezie hungen. Warum sollte sie sich von ihm nicht helfen lassen? Sie preßte die geballten Hände vor die Brust. Wie ähnlich er seinem Vater sah! 232
Als er vorhin auf sie zugekommen war, war sie fast erschrocken über die übergroße Ähnlichkeit. Genauso hatte Professor Klaus Bergmei ster gewirkt, damals, als er ihr zum ersten Mal begegnet war – die glei che hohe, lässig geneigte Figur, die gleichen schlaksigen Bewegungen, das gleiche männliche, verschlossene Gesicht. Als Michael vor einem Jahr das Haus verlassen hatte, war er noch ein Junge gewesen, und so hatte sie ihn in Erinnerung behalten. Aber er hatte sich sehr verändert. Er war ein Mann geworden. Und sie selber? Sie fühlte sich zum ersten Mal so alt, daß sie wirklich seine Mutter hätte sein können. Sie seufzte tief. Man mußte sich an das Leben klammern. Die Zeit, da man aufs Ab stellgleis geschoben wurde, kam früh genug.
Professor Bergmeister und Dr. Hilpert betrachteten die Bilder, die der Oberarzt am Morgen vom Augenhintergrund der kleinen Patientin Erika Hofner gemacht hatte. »Das sieht ja ganz so aus«, sagte Professor Bergmeister fast ungläu big, »als wenn die Erkrankung tatsächlich zum Stillstand gekommen wäre!« »Nicht nur das!« Dr. Hilpert schob eifrig die Aufnahmen vor, die er seinerzeit nach der ersten Untersuchung der kleinen Patientin gemacht hatte. »Vergleichen Sie, bitte! Die Angiome sind sichtbar kleiner gewor den … und auch das erweiterte Gefäßpaar hat sich deutlich verengt.« Professor Bergmeister blickte von den Bildern auf seinen Assisten ten. »Ich wage es nicht zu glauben!« »Es ist Ihr großer Triumph, Herr Professor!« »Triumph, Norman? Weil man einem Menschenkind … vielleicht … hat helfen können? In unserem Kampf gegen die Krankheit gibt es Sie ge, ja, aber gewonnen haben wir nie …« »Trotzdem … es bleibt ein großer Erfolg, Herr Professor! Sie haben recht gehabt. Die Lichtkoagulation eröffnet uns ganz neue Möglichkei ten, Erkrankungen des Augenhintergrundes ohne Operation zu heilen.« 233
»Ich weiß, Norman, ich weiß …« Professor Bergmeister lächelte schwach. »Es ist schwer zu verstehen … jahrelang habe ich mich mit dem Einsatz meiner ganzen Persönlichkeit für die Entwicklung dieser neuen Methode eingesetzt. Und nun, wo es so aussieht, als ob wir am Ziel wären … ja, lassen Sie mich's gestehen … da frage ich mich, ob es sich wirklich gelohnt hat.« »Herr Professor!« »Es geht mir nicht um meine Sehkraft … wer würde die nicht gern opfern, wenn er unzähligen anderen damit helfen kann. Aber wir wol len uns doch nichts vormachen, ich habe an den wichtigsten Dingen vorbeigelebt. Als Wissenschaftler habe ich mein Ziel erreicht … aber das Beste habe ich darüber verloren.« Dr. Hilpert verstand, worauf er anspielte. Er räusperte sich. »Ihr Sohn Michael hat sich, soviel ich weiß, in der Schlagerbranche durch gesetzt.« »So … hat er das?« Professor Bergmeister zündete sich eine Zigaret te an. »Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen oder ärgern soll. Er ist mir leider weit entrückt. Merkwürdig, es gibt eine Zeit, wo so ein kleiner Junge einem alles bedeutet, wirklich alles … alle Gegenwart und alle Hoffnung und alle Verheißung auf die Zukunft. Und wenn er dann ein Mann geworden ist, muß man erkennen, daß man sich selber betrogen hat. Die Söhne gehen ihre eigenen Wege, Norman, das wer den auch Sie eines Tages erkennen müssen. Man bleibt allein zurück.« Schwester Karla trat in das Zimmer, einen Stoß Briefe in der Hand. »Die Post, Herr Professor!« »Danke, Schwester!« Schwester Karla legte die Briefe auf den Schreibtisch und wollte sich wieder zurückziehen. »Nein, bitte, bleiben Sie, Schwester«, sagte Professor Bergmeister, »ich möchte gleich das Wichtigste erledigen …« Und zu Dr. Hilpert ge wandt: »Sie führen die Behandlung der Kleinen also genauso weiter … sollte irgendein neues Moment auftreten, bitte ich Sie, mich sofort zu unterrichten.« »Selbstverständlich, Herr Professor!« 234
»Ich danke Ihnen!« Noch bevor Dr. Hilpert das Zimmer verlassen hatte, nahm der Pro fessor im Stehen den Briefstoß in die Hand, blätterte ihn durch. Schwe ster Karla hatte Stenogrammblock und Bleistift aus der Kitteltasche ge zogen und sich gegenüber seinem Schreibtisch auf einen Stuhl gesetzt. Zwei, drei Briefe riß Professor Bergmeister auf, überflog sie, reichte sie der Schwester. »Anmeldungen von Patienten … erledigen Sie das, wie immer, selbständig.« Er ließ sich in seinen Sessel hinter dem Schreibtisch sinken. »Mal se hen, was mein Kollege aus Hamburg schreibt …« Es war ein kurzer Brief. Schwester Karla sah, daß die Rückseite nicht beschrieben war. Dennoch hielt Professor Bergmeister ihn sehr lange dicht vor die Augen. Mit leiser Sorge stellte Schwester Karla fest, daß seine Hände zitter ten. Neugier und Besorgnis kämpften einen schweren Kampf in ihr mit ihrer jahrelang geübten und erprobten Geduld. Endlich, als sie es schon fast nicht mehr aushalten konnte, ließ Pro fessor Bergmeister den Brief sinken und sah sie an. »Es gibt Tage, an denen alles zusammenkommt«, sagte er mit einem merkwürdigen Ausdruck seiner hellen Augen hinter den dicken Bril lengläsern. »Ist etwas passiert, Herr Professor?« »Noch nicht, Schwester Karla, noch nicht … und es würde mich nicht wundern, wenn nie etwas draus werden würde! Aber die Idee al lein ist natürlich schon eine … bemerkenswerte Sache!« Schwester Karla platzte fast vor Wissbegierde. Aber sie hätte sich jetzt eher die Zunge abgebissen als eine Frage gestellt. Professor Bergmeister spürte, was in ihr vorging. Er lächelte ein we nig. »Ich bin zum Nobelpreis vorgeschlagen …« »Nein!« rief Schwester Karla überrascht, dann verbesserte sie sich rasch: »Ich wollte nur sagen … das ist ja wunderbar! Wir alle haben längst damit gerechnet.« »So?« Professor Bergmeisters Lächeln vertiefte sich. »Dann wart ihr alle entschieden schlauer als ich.« 235
Schwester Karla strahlte. »Wenn einer den Nobelpreis verdient hat, dann sind Sie es, Herr Professor!« »Vorsicht, Vorsicht! Ich habe ihn ja noch nicht!« »Aber Sie werden ihn bestimmt bekommen …!« Schwester Karla war aufgesprungen. »Bleiben Sie ruhig sitzen, Schwester, wir sind noch nicht fertig mit der Posterledigung.« Schwester Karla sah ihren Chef verwundert an. »Jetzt können Sie langweilige Briefe beantworten?« »Ja. Und ich bin gar nicht sicher, daß sie unbedingt langweilig sein müssen.« »Das verstehe ich nicht! Der Nobelpreis … so etwas Großartiges! Und das viele Geld! Wissen Sie denn überhaupt schon, was Sie damit anfangen werden?« Professor Bergmeister dachte an seine Frau und wie glücklich er ge wesen wäre, wenn sie diesen Erfolg miterlebt hätte. Ich muß nach München, dachte er, ich muß es Vera erzählen! Aber dann wurde ihm klar, daß dieser Brief eines Hamburger Kollegen noch gar nichts bedeutete – nichts als eine neue Hoffnung, der die gewohn te Enttäuschung folgen würde. »Lassen wir die Dinge an uns herankommen, Schwester Karla«, sag te er müde, »es tut mir schon leid, daß ich Ihnen überhaupt davon er zählt habe …« »Aber, Herr Professor!« »Ich hoffe nur, daß die Sache unter uns bleibt, hören Sie? Sobald sich auch nur das leiseste Gerücht hier in der Klinik ausbreitet, mache ich Sie dafür verantwortlich!« Er hatte es nicht vermocht, Schwester Karlas Freude zu dämpfen. »Ich werde schweigen wie ein Grab«, erklärte sie fest, »bis es offiziell ist … und ich wette, das wird gar nicht mehr so lange dauern!«
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Dr. Hilpert war seit jenem Tag, als er nach Friedrichshafen aufgebro chen war, um Xenia von Schöller zu suchen, nicht mehr dazu gekom men, ein privates Wort mit Gabriele Zerling zu sprechen. Anfangs hielt er es für Zufall, aber es dauerte nicht lange, bis ihm klar wurde, daß Gabriele ihm bewußt auswich. Er gab sich zu, daß er sie lange Zeit schlecht behandelt und vernachlässigt hatte. Wenn sie böse auf ihn gewesen wäre, hätte er das verstanden. Aber daß sie ihn so völlig links liegenließ, irritierte ihn. Endlich gelang es ihm, sie zu stellen, als sie am späten Nachmittag die Augenklinik verlassen wollte. »Gabriele!« rief er ihr zu und eilte mit raschen Schritten hinter ihr her. Sie blieb stehen, drehte sich um. »Oh, hallo!« Jetzt hatte er sie erreicht. »Könntest du mich ein Stückchen mit in die Stadt nehmen?« »Gern«, sagte sie ruhig. »Wo soll ich dich absetzen?« Er hatte Widerspruch erwartet, Ausflüchte. Jetzt mußte er erst über legen, was er sagen sollte. »Am Bahnhof.« »Gut.« Sie schloß ihren hübschen kleinen Sportwagen auf, setzte sich hinters Steuer, öffnete die gegenüberliegende Tür. »Komm!« Er stieg ein, brauchte einige Zeit, bis er seine langen Beine einiger maßen bequem untergebracht hatte. Währenddessen hatte Gabriele den Wagen schon zum Tor hinaus gelenkt und war in den spärlichen Vorortverkehr auf der Fahrbahn eingeschert. »Hast du heute abend etwas vor?« fragte er. »Ja«, erwiderte sie kurz. »Schade.« Darauf antwortete sie nichts, fuhr schweigend und scheinbar ganz konzentriert weiter. Er beobachtete ihr pikantes Profil unter dem dunklen Haarschopf. Es verging eine ganze Weile, bis er wieder sprach. »Ich habe den Ein druck, Gaby … du bist mir immer noch böse.« »Durchaus nicht«, erwiderte sie ruhig. Er legte seine Hand auf ihre schmale Rechte, die das Steuerrad um 237
schlossen hielt. »Gaby … wollen wir nicht versuchen, noch einmal ganz von vorn anzufangen?« Sie lächelte plötzlich. »Das sagst du als Chirurg? Ein verpatzter Ein griff ist nicht mehr rückgängig zu machen, und eine verpatzte Liebe auch nicht.« Mehr noch als ihre Worte verwirrte ihn ihr Lächeln. »Gaby, ich weiß ja, es war alles meine Schuld …« »Eben drum«, sagte sie ungerührt. »Gaby, hör mal … ich sehe alles ein, und ich möchte alles wiedergut machen! Mehr kannst du doch nicht von mir verlangen.« »Verlangen?« Sie warf ihm einen raschen, erstaunten Seitenblick zu. »Ich habe niemals irgend etwas von dir verlangt.« Sie waren beim Bahnhof angelangt, sie steuerte den Wagen geschickt durch den immer dichter werdenden Verkehr, bremste sanft: »So, da wären wir.« Er machte keine Anstalten, auszusteigen. »Bitte, hör mich doch an …« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ein andermal mit Ver gnügen. Heute habe ich leider sehr wenig Zeit.« »Gabriele, es ist möglich, daß ich Chef der Augenklinik werde«, sag te er drängend, »… du weißt, Professor Bergmeister will sein Amt nie derlegen, er hat mich zu seinem Nachfolger vorgeschlagen … Gaby, wenn das wirklich was wird, können wir heiraten.« »Wir?« Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ja, wir! Was ist dabei so verwunderlich?« »Wenn ich mich recht erinnere, war zwischen uns von einer Heirat nie ernsthaft die Rede.« »Es hat sich eben einiges geändert.« Er schluckte. »Gabriele Zerling, ich bitte Sie meine Frau zu werden.« In ihren dunklen, übergroßen Augen blitzte es auf. »Ihr Antrag ehrt mich, mein Herr«, sagte sie mit freundlichem Spott, »aber leider …« »Gabriele! Sag nichts, was du später bereuen müsstest! Ich weiß, du hast mich einmal geliebt …« »Ja«, sagte sie, wieder ganz ernst geworden, »aber Liebe und Ehe sind 238
zweierlei. Niemals würde ich einen Mann heiraten, der mit der ersten besten hübschen Patientin …« Er richtete sich kerzengerade auf. »Wenn du von Xenia von Schöller sprichst … sie war keineswegs die Erstbeste, die einem über den Weg läuft. Xenia ist ein wundervolles Wesen, und ich gestatte nicht …« »Du hast mir weder etwas zu erlauben noch zu verbieten«, sagte sie, jetzt selber ziemlich erregt, »aber eines möchte ich wirklich wissen … wie kannst du es wagen, mir einen Heiratsantrag zu machen, wenn du über diese unglückselige Geschichte immer noch nicht hinweg bist?« »Wenn du von mir verlangst, daß ich sie beleidigen lasse …« »Nicht die Spur. Aber da du schon unbedingt mit mir reden wolltest, möchte ich dich bitten, jetzt mich einmal anzuhören. Ich weiß, eine Verliebtheit kann man einem Menschen nicht zum Vorwurf machen, und Xenia war nun mal deine große Jugendliebe. Du hast in ihr immer nur das Mädchen sehen wollen, das sie einmal gewesen ist … obwohl ihr Verhalten damals dir ja schon beide Augen hätte öffnen sollen!« »Gabriele …« »Jetzt rede ich! Sie hat dich damals stehen lassen … warum? Weil du ein armer Junge warst und ihr nichts bieten konntest. Sicher fand sie dich sehr nett, vielleicht sogar mehr als das … aber nicht nett genug, um deinetwegen auf die Glücksgüter dieser Welt zu verzichten.« »Nur weiter«, sagte er böse, »sprich dich nur aus.« »Und wie war es bei eurer letzten Begegnung? Ganz genauso. Sie hät te ihren Mann um deinetwillen stehen lassen, wenn … ja, wenn sich nicht herausgestellt hätte, daß sie und ihre liebe Familie vollkommen von ihm abhängig waren. Gegen das Geld des Bankiers von Schöller konntest du nicht anstinken, du hättest es gar nicht erst zu probieren brauchen.« Sie machte eine Pause, mußte tief Luft holen. »Ich danke dir«, sagte er zornig, »ich danke dir von ganzem Her zen, daß du mir die Augen geöffnet hast. Wer so schlecht von anderen denkt wie du, kann nur selber schlecht sein.« »Ich lege nicht den geringsten Wert auf deine gute Meinung«, sag te sie wild, »denn daß du von Frauen nicht das geringste verstehst, hast du ja zur Genüge bewiesen. Du weißt ja gar nicht, was du für ein 239
Glück gehabt hast, daß alles so gekommen ist. Dir wären noch die Au gen übergegangen, wenn du dich wirklich an dieses egozentrische Ge schöpf gekettet hättest.« »Du sprichst von einer bemitleidenswerten kranken Frau!« »Nicht alle Kranken sind gut, mein lieber Norman, das solltest du als Arzt doch wohl wissen! Aber ich habe es satt, mich mit dir zu strei ten … es ist so sinnlos. Steig jetzt aus!« Er riß die Wagentür auf. »Mit dem größten Vergnügen!« Er zwängte sich aus dem Sitz, kletterte auf die Straße, warf die Autotür zu. Das kleine Auto schoß mit einem Satz davon. Er stand da und sah den verschwindenden Schlusslichtern nach, fühlte sich elend und gedemütigt.
Michael Bergmeister und Vera waren nicht so weit gefahren, wie er ur sprünglich vorgehabt hatte. In Steiningen am Grünsee, 75 Kilometer von München entfernt, hatten sie haltgemacht. Das kleine romantische Städtchen am Ufer des grün umwaldeten Sees hatte ihnen auf Anhieb zugesagt. Vera wartete im Wagen, wäh rend Michael in den Gasthof ›Zum goldenen Ochsen‹ ging, um Zim mer zu besorgen. Fünf Minuten später kam er zurück. »Alles bestens in Ordnung«, sagte er vergnügt, »steig aus, Vera, wir haben die Fürstenzimmer bekommen.« Er half ihr aus dem Auto, schloß den Kofferraum auf, übergab dem Hausdiener ihr Gepäck. »Willst du eine Kleinigkeit essen? Etwas trinken? Ich richte mich ganz nach deinen Wünschen, Vera.« »Am liebsten möchte ich erst meine Sachen auspacken.« »Sehr schön. Ich bleibe noch unten und genehmige mir ein kühles Helles … mir klebt die Zunge geradezu am Gaumen.« Einen Aufzug gab es in dem alten, sehr gepflegten Haus nicht. Vera folgte dem Mann mit der grünen Schürze die ausgetretenen Stufen der 240
breiten geschwungenen Treppe hinauf, einen langen Gang entlang, der um zwei Ecken und verschiedene Stufen hinauf- und hinunterführte. Dann blieb er stehen, stieß die Tür zu einem altmodisch und behaglich eingerichteten Zimmer auf. Vera bat ihn, ihr Gepäck auf dem Koffertisch abzustellen. »Das ande re bringen Sie, bitte, in das Zimmer meines … Sohnes«, sagte sie. Das Wort kam ihr mühsam über die Lippen, und sie hatte das unan genehme Gefühl, daß der alte Mann ihr nicht glaubte. Vera hängte ihre beiden Mäntel in den Schrank, packte ihren klei nen Koffer aus. Sie nahm ihre Toilettentasche und ging damit ins Badezimmer. Sie stellte ihre Schönheitsutensilien auf die gläserne Platte über dem Waschbecken, wusch sich die Hände, machte sich frisch. Zwischen Badewanne und Handtuchständer war eine zweite Tür. Sie rüttelte an der Klinke, um sich zu vergewissern, daß sie abgeschlos sen war. Aber sie gab nach. Vera stieß sie auf und sah sich Michael gegenüber. Er war nicht im geringsten überrascht. »Schon fertig?« fragte er lä chelnd und hängte den Anzug, den er über dem Arm gehabt hatte, in den Schrank. »Du?« fragte sie verwirrt. »Ich meine … du bist schon oben?« Sein Lächeln vertiefte sich. »Ich habe mich beeilt.« »Ja, natürlich«, stotterte sie, »nur …« »Es gibt hier nur ein einziges Badezimmer, wir müssen es uns tei len … ist das so schlimm?« Sie war außerstande, ihre Abwehr in Worte zu kleiden, die ihn nicht verletzt hätten. Er deutete ihre Verwirrung falsch, war mit wenigen Schritten bei ihr, nahm sie in die Arme. »Ach, Vera«, sagte er, »manchmal kommst du mir vor wie ein ganz kleines Mädchen!« Er küßte sie, und ganz plötzlich vergaß sie den Altersunterschied, vergaß, daß er ihr Stiefsohn war, vergaß alle vorgefaßten Absichten und Bedenken. 241
Seine zärtliche, bedingungslose Liebe war wie eine lang ersehnte Heimkehr. Endlich war sie nicht mehr allein. Es dauerte lang, bis er sie losließ, und sie wünschte, daß dieser Kuß nie ein Ende nehmen würde. Wenn er jetzt versucht hätte, sie zu ver führen, hätte sie nicht mehr die Kraft aufgebracht, ihm zu widerste hen. Aber er tat es nicht. Er ließ sie los, sah ihr mit lächelndem Ernst in die Augen. »Keine Angst mehr, Vera?« Sie schüttelte den Kopf. »Keine.« »Willst du mich heiraten?« Er fragte es leichthin, als wenn es die selbstverständlichste Sache wäre, und dennoch erstarrte sie bei seinen Worten. »Aber, Michael …« sagte sie hilflos. Er wischte ihre Bedenken mit einer Handbewegung fort. »Wir wer den heiraten, sobald du geschieden bist, und ich werde dich glücklich machen, ich weiß es.« »Michael, ich …« »Ich bin kein Dummkopf. Ich weiß alles, was du jetzt sagen willst. Aber glaube mir, ich habe es mir gründlich überlegt.« Er packte sie bei den Schultern. »Ich brauche dich, Vera … du darfst mich nie mehr ver lassen. Versprichst du mir das?« Sie war zu verwirrt, zu überrumpelt, um ihm irgend etwas entgegen setzen zu können. »Ja«, sagte sie leise. Er küßte sie noch einmal, diesmal fast behutsam. »Komm jetzt«, sagte er dann, »wir wollen nach draußen gehen, so lange es noch hell ist …« »Aber … wolltest du nicht auspacken?« »Dafür ist immer noch Zeit!« Er faßte sie bei der Hand und zog sie zum Zimmer hinaus, lief mit ihr durch den langen Gang, die breite Treppe hinunter und durch die holzgetäfelte Halle ins Freie. Sein jugendlicher Schwung riß sie mit. In diesen Minuten glaubte sie, daß alles so werden könnte, wie er es sich vorstellte. 242
Am Landungssteg hinter dem Hotel lag ein Motorboot. Der Haus diener war dabei, die Vertäuung zu lösen. Der Motor war schon ange lassen. »Hast du Lust?« fragte Michael. »Ich habe es für eine Stunde gemietet.«
»Ja«, sagte sie atemlos, »ja …«
Er half ihr hinein, gab dem alten Mann ein Trinkgeld, stieß das Boot
mit einem langen Ruder in den See hinaus. Dann schaltete er den Gang ein, und das Boot schoß über den See. Sie saß neben ihm, klammerte sich an seinen Arm. »Herrgott, ist das Leben schön!« brüllte er durch den Motorenlärm. In diesem Augenblick geschah es. Ein Feuerstrahl züngelte aus dem Motor, gleichzeitig ertönte ein oh renbetäubender Knall. Vera fühlte sich weit durch die Luft geschleu dert. Grelle Lichter zuckten durch nachtschwarze Dunkelheit. Dann wußte sie von nichts mehr.
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A
ls Vera Bergmeister erwachte, fühlte sie eine seltsame Bewegung, als wenn sie sacht, ganz sacht geschaukelt würde. Sie begriff we der, wo sie sich befand, noch, was geschehen war. Mühsam öffnete sie die Augen, hob den Blick – die helle Decke des kleinen Raumes, in dem sie sich befand, war seltsam niedrig. Sie versuchte, sich aufzusetzen, aber bei dieser jähen Bewegung be gann es in ihrem Kopf zu dröhnen und zu hämmern, daß sie mit ei nem unterdrückten Schmerzenslaut aufgab und den Kopf auf die fla che weiße Unterlage zurücksinken ließ. Das schmale Gesicht eines jungen Mannes mit fahlem, kurz gestutz tem Haar beugte sich über sie. »Ganz still liegen bleiben«, sagte er, »wir sind gleich da.« 243
Vera begriff, daß sie sich in einem Gefährt befand, das sich stetig voranbewegte und so das leichte Schaukeln verursachte, das sie sich anfangs nicht zu erklären gewußt hatte. Dennoch hatte sie das Ge fühl, daß dies nicht Wirklichkeit sein konnte, daß alles um sie herum Ausgeburten eines phantastischen Alptraums waren. »Wo?« fragte sie mühsam, fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. »Wo bin ich? Wohin bringen Sie mich?« »Wir fahren ins Kreiskrankenhaus«, sagte der Mann, »ich bin Dr. Hölter.« »Ins Krankenhaus?« stammelte Vera. »Aber …« »Sie hatten einen Unfall.« Unfall – Das Wort erweckte eine Erinnerung in Vera, die sie nicht zu fixieren vermochte. Sie brachte es in Verbindung mit einem Auto. Au tounfall, ja, das mußte es ein, sie hatten einen Autounfall gehabt. Aber wie war das möglich? Sie selber besaß ja gar kein Auto, also mußte sie mit jemandem gefahren sein. Sie schloß die Augen, versuchte sich zu entspannen, die Erinnerung lebendig werden zu lassen. »Es war ein Motorbootunfall«, hörte sie die Stimme des Arztes sa gen, und plötzlich – blitzartig – kam ihr alles wieder zu Bewußtsein. Die brausende Fahrt über den abendlichen See, Michael an ihrer Seite, sein jubelnder Ruf – und dann nichts mehr, gar nichts mehr, schwar ze Nacht. Wieder versuchte sie sich aufzurichten, und wieder warf der Schmerz sie zurück. »Wo ist Michael?« keuchte sie. »Er liegt neben Ihnen«, sagte der Arzt, »bitte, halten Sie sich ganz ru hig! Sie haben Glück gehabt, aber …« Vera hörte seine letzten Worte nicht mehr. Trotz des Schmerzes, der ihren Schädel zu sprengen drohte, hob sie den Kopf. Ihre Augen such ten Michael und sie sah – ein weiß bandagiertes, entsetzliches Unge heuer, das nichts Menschliches mehr an sich hatte außer zwei Nasen löchern und einem blassen verzerrten Mund. Dort, wo die Augen sein mußten, waren blutige Flecken, die sich von Sekunde zu Sekunde zu vergrößern schienen. 244
Vera schrie auf. »Michael!« Etwas detonierte in ihrem Kopf, und dann erlosch ihr Denken. Gnä dige nachtschwarze Stille nahm sie auf.
Als Vera Bergmeister erwachte, lag sie in einem Krankenzimmer, das noch drei andere Frauen mit ihr teilten. Eine junge Schwester eilte ge schäftig hin und her, verteilte Fieberthermometer, zog Bettlaken glatt, schüttelte Kissen auf. Durch die offenen Fenstervorhänge fiel grelles Morgenlicht. Diesmal brauchte sich Vera nicht zu besinnen, was geschehen war. Der gräßlich bandagierte Kopf Michaels hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis geprägt. »Schwester!« rief sie halblaut. Das junge Mädchen kam sofort, mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht, zu ihrem Bett geeilt. »Ja?« »Wo ist mein Sohn?« fragte Vera. »Bitte, bringen Sie mich sofort zu meinem Sohn …« Die Schwester drückte sie sanft in die Kissen zurück, sprach zu ihr wie zu einem ungezogenen Kind. »Das geht jetzt nicht … in ein paar Tagen! Wir müssen schon ein bißchen Geduld haben.« »Aber ich muß zu ihm! Ich muß!« »Wir haben eine schwere Gehirnerschütterung«, sagte die Schwester im mer noch lächelnd, »deshalb müssen wir jetzt ganz still und geduldig lie gen bleiben und dürfen uns auch jetzt nicht im geringsten aufregen …« »Sie können mir nicht verbieten …!« Die anerzogene Geduld des jungen Mädchens begann zu zerbrök keln wie eine allzudick aufgetragene Schicht Schminke. »Nun neh men Sie aber mal Vernunft an«, sagte sie ärgerlich, »Sie sind schließ lich nicht die einzige Patientin hier. Wenn jede mir soviel Ärger ma chen würde …« »Aber ich will Ihnen ja gar keinen Ärger machen, Schwester! Begrei fen Sie denn nicht! Ich will meinen Sohn sehen, das ist alles.« 245
»Er liegt auf der Männerabteilung, und da können Sie nicht hin.« »Und warum nicht?« »Weil es gegen die Vorschrift wäre.« »Vorschrift! Vorschrift! Hören Sie auf mit Ihren Vorschriften!« Vera schrie, ohne Rücksicht darauf, daß bei jedem lauten Ton ein kleiner Hammer in ihrem Schädel anzuschlagen schien. »Ich will wissen …« Die Schwester fiel ihr, jetzt ebenfalls bis aufs Äußerste gereizt, ins Wort. »Wenn Sie sich so unvernünftig benehmen, werde ich die Ober schwester holen!« »Tun Sie das! Wer hindert Sie denn daran?« Mit hochrotem Kopf rauschte die junge Schwester aus dem Zimmer. Totenstille blieb im Raum zurück. Vera sah ablehnende, feindliche, verständnislose Augen auf sich ge richtet. »Entschuldigen Sie, bitte«, murmelte sie, dann gab sie es auf. Sie hat te begriffen, daß sie von diesen Menschen, die sie nur als einen Stören fried betrachteten, der sie aus der eigenen wichtigen Krankenrolle ver drängen wollte, kein Verständnis erwarten konnte. Die Oberschwester, eine hagere Frau mit fast männlichen, sehr en ergischen Zügen, erschien so schnell, als ob sie nur auf diesen Ruf ge wartet hätte. »Sie haben einen Wunsch?« fragte sie in einem Ton, der deutlich machte, daß sie es gewohnt war, allein durch ihr Auftreten jedes Auf begehren schon im Keim zu ersticken. Aber Vera war so außer sich vor Angst, daß nicht einmal Gewalt sie zum Nachgeben gebracht hätte. »Ich muß meinen Sohn sehen«, verlangte sie, »Michael Bergmeister. Er ist mit mir zusammen eingeliefert worden …« »Ja, ich weiß.« »Sie müssen mich zu ihm lassen!« »Es tut mir sehr leid, Frau Bergmeister«, erwiderte die Oberschwe ster mit großer Gelassenheit, »das ist absolut unmöglich.« »Aber warum? Warum?« Plötzlich durchzuckte ein entsetzlicher Ge danke Veras verstörtes Hirn. »Ist er … tot?« 246
»Nein, Frau Bergmeister, da kann ich Sie beruhigen. Ihr Sohn lebt, und es besteht keine unmittelbare Lebensgefahr.« »Keine unmittelbare …? Was soll das heißen?« »Es besteht wirklich kein Grund zur Aufregung. Ihr Sohn befindet sich in den besten Händen. Er wird noch heute morgen operiert …« »Das dürfen Sie nicht! Sie dürfen ihn nicht operieren, ohne mich vor her in Kenntnis zu setzen!« Die Oberschwester lächelte nur. »Nun, das ist hiermit geschehen.« »Nein! Ich muß wissen, um was für eine Operation es sich handelt, ich muß …« »Das wird Ihnen der Chef später alles bei der Visite erklären.« »Nicht später! Jetzt will ich es wissen! Holen Sie Ihren Chef! Sofort! Ich bin die Frau von Professor Klaus Bergmeister …« Ohne zu zögern, warf Vera diesen Namen ins Gewicht, von dem sie geglaubt hatte, daß sie ihn nie mehr benutzen würde. »Mein Mann wird … wenn irgend etwas geschieht …« Vera fand keine Worte mehr, sie spürte, daß ihr kalter Schweiß auf die Stirn getreten war, Aufregung und Anstren gung drohten sie zu überwältigen. Nur jetzt nicht wieder ohnmächtig werden, betete sie, nur jetzt nicht …! Die Oberschwester hatte keine Miene verzogen. Aber ihr Ton klang merklich anders, als sie jetzt sagte: »Bitte, beruhigen Sie sich, gnädige Frau. Ich werde den Chef sofort verständigen.« Sie verließ das Zimmer, war aber wenige Minuten später mit einer Trage zurück. Zwei junge Schwestern hoben Vera aus dem Bett, rollten sie aus dem Zimmer, einen langen Gang entlang, öffneten eine Tür. Vera, die erwartet hatte, zum Chef geführt zu werden, wurde bitter enttäuscht, als sie feststellen mußte, daß der ganze Umzug nur dazu gedient hatte, sie in ein Einzelzimmer zu bringen. Sie wollte protestie ren, aber die Oberschwester kam ihr zuvor. »Ich habe Dr. Suttermann schon benachrichtigt. Er wird gleich hier sein.« »Ist das der Chef?« »Nein. Der Chirurg.« 247
Vera versank in den kühlen Kissen, die Schwestern verließen das Zimmer. Ihr Körper sehnte sich danach, der wachsenden Mattigkeit, die sich seiner bemächtigte, nachzugeben, aber ihr Wille bäumte sich dagegen auf. Sie mußte jetzt wach bleiben, ganz wach! Wenn nur die ses Hämmern in ihrem Schädel nachgelassen hätte! Mit einer verzweifelten Bewegung klopfte sie mit den geballten Fäu sten gegen die Stirn. Die Oberschwester kam zurück, brachte ein Tablett mit einem Glas Wasser und zwei Tabletten. »Bitte, nehmen Sie, gnädige Frau …« »Nein!« sagte Vera brüsk. »Es ist ja nur gegen die Schmerzen …« Die Versuchung war groß, aber Vera gab nicht nach. »Erst wenn ich mit Dr. Suttermann gesprochen habe!« Die Oberschwester begriff, daß Vera befürchtete, man könnte sie zum Schlaf zwingen wollen. »Sie sind sehr mißtrauisch«, sagte sie eher be wundernd als gekränkt. »Na, ich lasse Ihnen die Tabletten hier liegen. Nehmen Sie sie, wann Sie wollen.« Sie stellte das Glas neben die Tablet ten auf den Nachttisch, klemmte sich das leere Tablett unter den Arm. Noch ehe sie die Tür erreicht hatte, trat Dr. Suttermann ein, ein schlanker Mann in weißem Kittel, glatt rasiert, einen tiefen Schmiss auf der Wange. »Guten Morgen, gnädige Frau«, sagte er mit berufsmäßiger Freund lichkeit, »entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht eher begrüßt habe, aber ich habe erst jetzt erfahren … bitte, lassen Sie uns allein, Schwester!« Die Oberschwester zog sich zurück, und Dr. Suttermann ließ sich auf den Rand von Veras Bett sinken, prüfte mechanisch ihren Puls. »Na, Sie haben einen ganz schönen Schock hinter sich«, sagte er, »kein Wunder, daß sie jetzt ein bißchen durcheinander sind …« »Ich bin ganz klar«, sagte Vera, die jedes Wort schmerzte, mit müh samer Beherrschung, »und ich will wissen, was Sie mit meinem Sohn vorhaben.« »Nun, eigentlich wollten wir Ihnen die Aufregung ersparen«, begann der Arzt vorsichtig, »bis …« 248
»Was hat er für Verletzungen?« »Sie wurden bei der Explosion des Motors aus dem Boot geschleu dert, gnädige Frau, das war Ihr Glück …« »Was hat Michael?« »Nun, verschiedene Verletzungen. Um genau zu sein … eine zwei Zentimeter lange Risswunde im rechten Oberlid, Holzsplitter in der rechten Wange, zahlreiche kleinere Schürfwunden an der ganzen rech ten Kopfhälfte …« »Und die Augen? Was ist mit den Augen?« »Sie sind Arztfrau …« »Ja, ja, ja! Reden Sie endlich!« »Die Augen sind … schwer betroffen. Zahlreiche perforierende Ver letzungen. Wir haben gestern abend sofort Tetanus gespritzt, dennoch besteht die Gefahr einer Sepsis. Außerdem … seien Sie überzeugt, gnä dige Frau, wir lassen es natürlich nicht dahin kommen … steht zu be fürchten, daß einzelne Splitter ins Gehirn wandern könnten und …« »Sind Sie Augenarzt?« »Nein. Aber ich bin Chirurg mit einiger Erfahrung, und jeder Prak tiker wird mir zustimmen, daß in einem solchen Fall nicht rasch ge nug eingegriffen werden kann, damit das Hirn nicht in Mitleiden schaft gezogen wird …« Jetzt erst verstand Vera ganz. »Sie wollen … das rechte Auge entfer nen?« fragte sie, atemlos vor Entsetzen. »Leider nicht nur das rechte, auch das linke ist …« »Nein!« Vera schrie es fast. »Das lasse ich nicht zu … niemals!« »Wenn Ihnen das Leben Ihres Sohnes lieb ist …« »Es ist mir lieb. Wie mein eigenes. Gerade deshalb kann ich meine Zustimmung nicht geben.« »Der junge Mann ist mündig. Ich habe schon mit ihm gesprochen.« »Soll das heißen, er hat … zugestimmt?« »Nachdem ich ihm den Ernst seines Zustandes klargemacht habe.« »Das war … grausam!« »Wer heilen will, muß manchmal grausam sein.« Vera schloß für einen Augenblick erschöpft die Augen. Sie wußte, 249
was sie zu tun hatte, aber alles in ihr sträubte sich gegen dieses quälen de, demütigende Muß. Und doch war ihr bewußt, daß es ihr nicht er spart bleiben würde. Dr. Suttermann deutete ihr Schweigen falsch. »Nun, ich denke, wir haben uns verstanden, gnädige Frau«, sagte er, und sie spürte, wie er sich erhob. Sie öffnete die Augen. »Ich werde meinen Mann anrufen …« »Aber ja, natürlich«, sagte Dr. Suttermann mit unerwarteter Bereit willigkeit, »ich hätte selber darauf kommen sollen.« Er hob den Hö rer des Telefons auf dem Nachttisch ab. »Bitte, verbinden Sie mich mit Professor Klaus Bergmeister …« Er wandte sich an Vera. »Haben Sie die Telefonnummer vielleicht im Kopf?« Vera nannte sie ihm mit tonloser Stimme. Sie wußte, daß sie mit die sem Anruf, der einem Bekenntnis glich, alle Brücken hinter sich ab brach. Niemals würde Klaus Bergmeister ihr verzeihen können, niemals! Und doch mußte sie es tun, wenn sie nicht noch schuldiger werden wollte.
Professor Bergmeister war im Gespräch mit einem hohen Regierungs beamten, der nach einer schweren Hornhautentzündung erblindet war und von seiner Sekretärin begleitet wurde. Sie kamen aus dem Untersuchungszimmer und hatten in der Sitzek ke Platz genommen. »So leid es mir tut, Herr Präsident«, sagte Professor Bergmeister, »ich kann die Diagnose meines Kollegen nur bestätigen … von der über standenen Keratitis sind Narben und graue Trübungen zurückgeblie ben, die medikamentös nicht zu beheben sind.« »Und eine Operation?« sagte die Sekretärin, eine elegante junge Frau, eifrig. »Es gibt doch Hornhautübertragungen …« »Hornhautübertragungen«, erklärte Professor Bergmeister, »kennen 250
wir schon seit mehr als einem Jahrzehnt, aber in dem vorliegenden Fall …« »Ich zahle jeden Preis!« warf der Präsident ein. »Das glaube ich Ihnen gern«, sagte Professor Bergmeister. »Es gibt nichts, was uns so wertvoll ist wie unsere Sehkraft, besonders wenn wir fürchten müssen, sie zu verlieren.« »Wäre denn eine solche Operation so schwierig?« fragte die Sekre tärin. »Nicht einmal. Ich meine … durchaus nicht schwieriger als ande re Augenoperationen. Die trübe Hornhaut wird abgehoben und durch eine gesunde ersetzt.« »Ah, ich verstehe«, sagte der Präsident, »wer wird schon seine gesun den Augen opfern?« »Das ist durchaus nicht nötig. Wir haben hier in der Klinik eine gut eingerichtete Augenbank … sozusagen eine Gefriertruhe, in der die Augen Verstorbener, die uns meist testamentarisch vermacht sind, aufbewahrt werden.« »Ja, aber wenn das so ist«, sagte die Sekretärin, »dann begreife ich nicht …« »Der Übertragung an sich«, erklärte Professor Bergmeister, »stehen keine Schwierigkeiten im Wege. Wenn ich einen solchen Eingriff nur ungern durchführe, dann deshalb, weil das Ergebnis häufig entmuti gend ist. Besonders dann, wenn die Hornhauttrübung nicht Folge ei nes äußeren Eingriffs, sondern einer Entzündung ist. In mehr als fünf zig Prozent aller Fälle … ich halte es für meine Pflicht, das ganz deut lich zu sagen … findet nach absehbarer Zeit eine erneute Eintrübung der Hornhaut statt.« Das Telefon klingelte. »Es besteht aber doch eine Chance?« fragte der Präsident. »Ja. Aber sie ist minimal.« »Müßte man nicht jede Chance ergreifen?« Das Telefon klingelte wieder. »Das zu entscheiden liegt bei Ihnen.« Professor Bergmeister zuckte die Achseln. »Immerhin bedeutet jeder Eingriff in den menschlichen 251
Organismus ein gewisses Risiko, die Behandlung ist langwierig, sie ist mit beträchtlichen Kosten verbunden und … was schlimmer ist … sie bedeutet eine schwere seelische Belastung. Dieses Schwanken zwi schen Hoffnung und Befürchtungen, das Aufatmen, wenn die Opera tion dann doch gelungen scheint, und schließlich die oft unausbleibli che gewaltige Enttäuschung …« Zum ersten Mal lächelte der Präsident. »Ich muß sagen, Sie machen es einem nicht grade schmackhaft, Herr Professor!« »Das lag auch nicht in meiner Absicht, Herr Präsident!« Professor Bergmeister erhob sich und trat zu seinem Schreibtisch. »Sie sollten es dennoch machen lassen«, sagte die Sekretärin, »ich glaube fest …« Der Präsident erhob sich unsicher. »Nein«, sagte er, »nein … ich den ke, ich werde es nicht tun. Es ist besser, man findet sich mit Haltung in das Unabänderliche … war es nicht das, was Sie mir sagen wollten, Herr Professor?« Professor Bergmeister reichte ihm abschiednehmend die Hand. »Sie haben mich richtig verstanden.« »Ich danke Ihnen!« Der Präsident erwiderte den Händedruck kräf tig. »Ich danke Ihnen für Ihre Ehrlichkeit!« Während er, sanft geführt von seiner Sekretärin, das Zimmer ver ließ, nahm Professor Bergmeister den Hörer ab. »Ein Ferngespräch …« sagte Schwester Karla, »ich verbinde!« Dann war die Stimme seiner Frau in der Leitung, und Professor Bergmeister durchzuckte dieser unerwartete Anruf so, daß er beinah den Hörer hätte fallen lassen. »Klaus«, sagte Vera atemlos, »Klaus … es ist etwas Entsetzliches pas siert! Du mußt kommen … sofort!«
Erst als Professor Bergmeister auf dem Weg zum Krankenhaus von
Steiningen war – er saß neben dem Fahrer des Krankenwagens –, kam
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ihm zu Bewußtsein, daß dieser gemeinsame Unfall seiner Frau und seines Sohnes etwas Merkwürdiges an sich hatte. Der Krankenwagen brauste, wie Professor Bergmeister es befohlen hatte, in überhöhtem Tempo über die schmale, gewundene Landstra ße. Aber immer wieder forderte ein Überholmanöver einen Zeitver lust, der Professor Bergmeisters Geduld auf die äußerste Probe stellte. Er wußte, jede Minute war kostbar, konnte über Leben und Tod ent scheiden. Er spürte einen feinen Schmerz bei dem Gedanken, daß Vera und Michael hinter seinem Rücken zusammengewesen waren – wobei er den Ausdruck ›hinter meinem Rücken‹ im Geiste sofort revidierte. Die beiden lebten in einer anderen Welt, einer Welt, zu der er keinen Zu tritt besaß. Was war natürlicher, als daß sie sich dort begegnet waren? Hätten sie ihn erst um Erlaubnis bitten sollen, bevor sie einen Aus flug miteinander machten? Es war lächerlich, sich deswegen verletzt zu fühlen. Es kränkte ihn dennoch. Nie wäre er auf die Idee gekommen, daß Michael etwas mehr in Vera gesehen hätte als einen Mutterersatz, noch weniger, daß Vera seinen Sohn, der für ihn immer noch ›der Junge‹ war, als Mann ernst nehmen könnte. Dieser Gedanke kam ihm auch jetzt noch nicht. Er empfand weder Misstrauen noch Eifersucht, nur ein demütigendes Gefühl des Ausgeschlossenseins, eines Verrates, dessen Bedeutung er sich nicht bewußt war. Wahrscheinlich wäre er noch irritierter gewesen, wenn nicht die Sor ge um Michael, die bohrende Angst um Leben und Gesundheit seines einzigen Sohnes jedes andere Gefühl übertönt hätte. Dr. Suttermann hatte ihm die Augenverletzungen nicht mit der Prä zision des Spezialisten schildern können, und die Ungewissheit über das Ausmaß der Katastrophe steigerte noch die Unruhe des Professors. Immer wieder ließ er sich alle Möglichkeiten, von den ungefährlich sten bis zu den absolut hoffnungslosen, durch den Kopf gehen, über prüfte, ob seine Maßnahmen richtig gewesen waren. Dr. Suttermann hatte gute Gründe gehabt, die rasche Entfernung beider Augäpfel zu fordern. Ein Splitter, der durch die Augenhöhle 253
in das Gehirn weiterwanderte, konnte den Tod oder lebenslängliches Siechtum verursachen. Dennoch – er hatte diesen radikalen Eingriff nicht zulassen können, ohne die Verletzungen nicht wenigstens selber begutachtet zu haben. Er wußte, daß er sich richtig entschieden hatte – aber noch niemals hatte ihn die Verantwortung für einen Patienten so schwer belastet wie diesmal, da es um sein eigenes Fleisch und Blut ging. Als der Krankenwagen zwei Stunden später – für die Rückfahrt wür den sie länger brauchen, da der Patient keinerlei Erschütterung ausge setzt werden durfte – in den Hof des Kreiskrankenhauses einfuhr, kam Dr. Suttermann dem Professor schon auf der Freitreppe entgegen. Die beiden Herren begrüßten sich, und Professor Bergmeister ließ sich sofort zu seinem Sohn führen. Michael war bei Bewußtsein. Als er die Stimme seines Vaters er kannte, machte er eine tastende Bewegung mit der Hand. Der Professor ergriff sie. »Michael«, sagte er, einmal mehr bemüht, die Erschütterung, die er beim Anblick eines vom Schicksal getroffe nen Menschen empfand, so gut wie möglich zu verbergen, »mein lie ber Junge …« Michael klammerte sich fast an ihn. »Vater, ich muß dir etwas sagen! Vera …« Er stockte vor der Schwierigkeit, das Unaussprechliche beim Namen zu nennen. »Ihre Mutter hat Glück gehabt«, sagte Dr. Suttermann an Stelle des Professors. »Sie ist bei der Explosion aus dem Boot geschleudert wor den. Eine Gehirnerschütterung, nichts weiter …« »Vera und ich …« versuchte es Michael noch einmal. Aber diesmal war es der Vater, der ihm das Wort abschnitt. »Sie hat mich angerufen, Michael«, sagte er, »sonst wäre ich ja gar nicht hier. Mach dir keine Gedanken.« Dr. Suttermann hatte inzwischen mit geschickten Händen die Ver bände entfernt. »Wir haben die Hautwunden im Gesicht versorgt«, sagte er, »auch den Oberlidriß genäht …« Professor Bergmeister sah die armen, blutenden, zerfetzten Augen seines Jungen. 254
»Es ist … sehr schlimm, nicht wahr, Vater?« sagte Michael, mit dem übermenschlichen Willen, tapfer zu sein. »Dr. Suttermann meinte, sie müssen …« Seine Stimme brach. Professor Bergmeister hatte sich ganz dicht über seinen Jungen ge beugt, betrachtete die Augäpfel durch die Lupe. »Die Linsen sind un verletzt«, sagte er. »Aber …« begann Dr. Suttermann, besann sich dann aber eines bes seren und schwieg. Professor Bergmeister richtete sich auf. »Sie haben Tetanus ge spritzt?« »Ja, weil ich annahm, daß es sich möglicherweise nicht nur um Holz , sondern vielleicht auch um Glas- und Metallsplitter handeln kann.« »Penicillin?« »Eine Depotspritze.« »Ausgezeichnet. Bitte, lassen Sie meinen Sohn sofort zur Überfüh rung fertigmachen. Wie lange wird das dauern?« »Fünf Minuten.« »Vater«, sagte Michael mühsam, »du nimmst mich mit?« »Ja. Wir werden alles daransetzen, deine Sehkraft zu erhalten …« »Vater!« »Nicht aufregen, Michael. So Gott will, kommt alles wieder in Ord nung. Würden Sie mich jetzt, bitte, Herr Kollege, zu meiner Frau füh ren?« Während zwei Schwestern sich um Michael bemühten, verließen Professor Bergmeister und Dr. Suttermann das Krankenzimmer. »Ich fürchte, es wird nicht viel Sinn haben«, sagte der Arzt, »ich habe Ihrer Gattin gleich nach unserem Anruf ein starkes Sedativ gegeben. Ich nehme an, daß sie schläft.« Professor Bergmeister zauderte den Bruchteil einer Sekunde. Dann sagte er: »Ich möchte sie trotzdem sehen.« Sie fuhren im Lift nach oben. »Vom Gasthof ›Goldener Ochse‹ ist heute früh angerufen worden«, berichtete Dr. Suttermann, »der Wirt möchte wissen, was mit dem Ge päck und dem Auto der Verunglückten geschehen soll.« 255
»Aufbewahren«, erklärte Professor Bergmeister kurz, »ich habe jetzt weder Sinn noch Zeit, mich um diese Dinge zu kümmern. Ich wäre Ih nen sehr dankbar, wenn Sie das dem Mann ausrichten wollten, lieber Kollege … die Kosten übernehme natürlich ich.« »Na ich denke, das dürfte umgekehrt sein. Das Motorboot gehört zum Hotel, und der Wachtmeister, der die Sache untersucht hat, sag te mir, daß das Unglück eindeutig durch einen Defekt des Motors ver ursacht worden sei. Da wird also der Wirt … oder, wenn er Glück hat, seine Versicherung … ziemlich tief in die Taschen greifen müssen.« Professor Bergmeister ging nicht darauf ein. Er war selten so weit von finanziellen Erwägungen entfernt gewesen wie in diesem Augen blick. Sehr leise folgte er Dr. Suttermann, der die Tür zum Krankenzim mer seiner Frau geöffnet hatte. Der Chefarzt hatte sich nicht getäuscht. Vera Bergmeister schlief. Sie lag auf dem Rücken, den Mund leicht geöffnet, mit einem sol chen Ausdruck tiefer Erschöpfung, daß ihr Gesicht fast kindlich wirk te. Sie sah so ungeschützt, so ausgeliefert aus, daß Professor Bergmei sters Herz sich bei ihrem Anblick zusammenkrampfte. »Am liebsten würde ich sie auch gleich mit nach Hause nehmen«, sagte er leise. »Unmöglich, Professor«, sagte Dr. Suttermann impulsiv, dann fügte er beherrschter hinzu: »Ich meine, ich würde es für richtig halten …« »Sie haben natürlich recht«, gab Professor Bergmeister sofort zu, »es war nur so ein … Wunschgedanke. Wann, denken Sie, wird sie soweit sein, daß ich sie holen kann?« »In vierzehn Tagen. Wenn keine Komplikationen auftreten. Sie wird sich zu Hause natürlich auch noch schonen müssen.« »Ich werde Sie anrufen und um einen Zwischenbescheid bitten.« Die beiden Herren verließen, so leise wie sie gekommen waren, das Krankenzimmer. Professor Bergmeister hätte gern seinen Kollegen gebeten, Vera in seinem Namen einen Strauß Rosen überreichen zu lassen, er hatte das Bedürfnis, ihr in irgendeiner Form seine Liebe zu zeigen. 256
Aber eine uneingestandene Hemmung – die Hemmung eines nicht mehr jungen Mannes, der fürchtet, sich durch Sentimentalitäten lä cherlich zu machen – hielt ihn davon ab. Ich werde ihr schreiben, dachte er, ja, ich werde ihr schreiben!
Für die Rückfahrt brauchten sie knappe drei Stunden. Als der Kran kenwagen im Hof der Augenklinik eintraf, war Mittagszeit. Aber Dr. Hilpert und Schwester Karla waren bereit. Professor Bergmeister führte seinen erblindeten Sohn vorsichtig, Schritt für Schritt, in das Röntgenzimmer. Die ersten Aufnahmen, die als Übersicht gemacht wurden, ergaben schattengebende Fremdkörper sowohl im rechten wie im linken Auge. Dr. Hilpert sagte, was der Professor schon nach erster flüchtiger Un tersuchung angenommen hatte: »Gott sei Dank, die Linsen sind un verletzt!« »Wir brauchen Spezialaufnahmen nach Comberg«, sagte Professor Bergmeister, »bitte, Schwester Karla … Novocain!« Während er die Oberflächenanästhesie beider Augen vornahm, hat te Dr. Hilpert die Comberg-Schale bereitgelegt. »Was wollt ihr jetzt machen?« fragte Michael nervös. »Du scheinst tatsächlich dein ganzes schwer erarbeitetes Wissen ver gessen zu haben«, sagte Professor Bergmeister mit dem mühsamen Versuch, zu scherzen, »erklären Sie es ihm, Norman!« »Wir können erst operieren«, sagte Dr. Hilpert, »wenn wir die Fremdkörper im Innenauge genau lokalisiert haben. Das machen wir mit der Comberg-Schale. Sie besitzt vier kleine metalldichte Punkte in bestimmter Anordnung.« »Aha«, sagte Michael, »und an diesen Punkten orientiert ihr euch, nicht wahr?« »Ja«, bestätigte Dr. Hilpert, »diese gegebenen Punkte ermöglichen uns festzustellen, wo sich die Fremdkörper genau befinden.« Professor Bergmeister prüfte die Augenoberfläche, stellte fest, daß 257
sie unempfindlich geworden war, gab Schwester Karla einen Wink. Sie setzte die Comberg-Schale auf das rechte Auge. Professor Bergmeister überzeugte sich, daß die Röntgenkamera haar scharf eingestellt war, bevor Dr. Hilpert mit den Aufnahmen begann. »Bitte nach rechts blicken«, sagte Dr. Hilpert, »ja, ganz nach rechts, so ist's gut!« Er knipste. »Und jetzt nach links … danke! Nach oben … und nach unten!« »In Ordnung?« fragte Schwester Karla. »Ja.« Sie setzte die Comberg-Schale auf das linke Auge. »Und nun die gleiche Prozedur noch einmal«, sagte Dr. Hilpert, »nach rechts blicken …« Wenige Minuten später hatte er alle Aufnahmen. »Gehen Sie damit sofort ins Labor und lassen Sie sie so rasch wie ir gend möglich entwickeln«, befahl Professor Bergmeister, »um keine Zeit zu verlieren, werden wir den Patienten inzwischen in den Vor bereitungsraum bringen … ich hoffe, Dr. Hesse ist nicht mehr bei Tisch?« »Sicher nicht. Ich habe ihm Bescheid gesagt, als Sie kamen … auch Schwester Ethel ist im Bilde.« »Sehr gut«, sagte Professor Bergmeister, dann, als Dr. Hilpert den Raum schon verlassen wollte, fügte er noch hinzu: »Ich hoffe, Sie ha ben nichts dagegen, wenn ich Ihnen assistiere?« »Aber, Herr Professor, wollen Sie nicht selber …?« »Lieber nicht. Ich fürchte, daß auch der beste Chirurg nicht der ge eignete Mann ist, sein eigenes Kind zu operieren!« »Vater«, sagte Michael, »kann ich dich einen Augenblick sprechen? Allein?« Professor Bergmeister wechselte einen raschen Blick mit Dr. Hilpert, dann sagte er: »Natürlich. Soviel Zeit haben wir noch!« Michael wartete, bis die sich entfernenden Schritte und das Türenschlagen erkennen ließen, daß Schwester Karla sich mit Dr. Hilpert zu rückgezogen hatte. »Die Operation kann tödlich ausgehen, nicht wahr?« fragte er dann. 258
»Die Operation nicht …« »Aber?« »Es besteht die Möglichkeit … und das waren auch Kollege Sutter manns Bedenken, warum soll ich nicht ehrlich sein … daß einer dieser spitzen Fremdkörper durch die Erschütterung der Fahrt schon zu weit nach hinten gedrungen sein könnte. Aber du darfst dich nicht unnö tig beunruhigen. Es besteht durchaus kein Grund, das Allerschlimm ste anzunehmen.« »Ich danke dir, daß du es mir gesagt hast, Vater …« »War es das, was du wissen wolltest?« »Auch. Aber …« Es war dem jungen Mann anzumerken, wie unsag bar schwer ihm das Sprechen fiel, »… ich muß dich um Verzeihung bitten.« »Daß du dein Studium an den Nagel gehängt hast? Damit habe ich mich längst abgefunden.« »Nein, nein, das meine ich nicht! Vater, du mußt mir glauben, es war nicht Veras Schuld …« »Was?« fragte Professor Bergmeister plötzlich tief beunruhigt. »Von was sprichst du eigentlich?« »Ich bin verantwortlich, nur ich!« sagte Michael leidenschaftlich. »Ich habe sie geliebt … eigentlich weiß ich jetzt gar nicht mehr, ob ich sie wirklich geliebt habe, aber ich habe mich in ein Gefühl für sie ver rannt … kannst du das verstehen, Vater?« Professor Bergmeister war es, als ob ihm der Boden unter den Füßen fortgezogen würde. Er mußte sich setzen. »Hat sie mich … deshalb verlassen?« fragte er mit einer Stimme, die fremd in seinen eigenen Ohren klang. »Nein, nein, sie wollte nichts von mir wissen … deshalb bin ich ge gangen, Vater, damals, weil ich glaubte, ich könnte es zu Hause nicht mehr aushalten. Ich hatte keine Ahnung, daß sie auch … aber als ich dann erfuhr, daß sie in München lebte, allein war … ich mußte sie ein fach wieder sehen!« »Und dann«, sagte Professor Bergmeister voller Bitterkeit, »dann war sie wohl nicht mehr so zurückhaltend!« 259
»Sie war allein, Vater, schrecklich allein … du mußt dich um sie kümmern, wenn mir etwas passiert, hörst du? Du mußt …« Es kostete Professor Bergmeister ungeheure Willensanstrengung, die Selbstbeherrschung zu bewahren. »Mach dir keine Gedanken, Mi chael«, sagte er, »ich werde immer für Vera sorgen …« »Aber das genügt nicht, du mußt … ach, weißt du denn gar nicht, daß sie dich immer noch liebt?« Professor Bergmeister schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Diese Eröffnung machst du mir, wie du wohl selber zugeben wirst, im ungeeignetsten Moment …« »Ich wußte, du würdest mir nicht glauben«, sagte Michael, seine Stimme klang plötzlich erschöpft und hoffnungslos. Plötzlich war Professor Bergmeister mit seiner Kraft am Ende. »Was ist zwischen euch passiert?« fragte er heftig. »Ich will es wissen! Rede nicht so herum, sag mir endlich … begreifst du denn nicht, daß ich ein Recht habe, das zu erfahren?« »Aber Vater«, sagte Michael, »was glaubst du denn? Es ist ja gar nicht so, wie du denkst, es war alles ganz anders. Ich wollte dir doch bloß sagen, daß ich mich schäbig benommen habe … ja, schäbig. Ich wuß te, daß sie mich nicht liebt, ich wußte es jeden Augenblick, aber ich habe versucht, ihre Lage auszunutzen, ihre Einsamkeit und … ach, ich habe mit meinen Beziehungen geprahlt und daß ich sie managen woll te! Passiert ist nichts, gar nichts … nicht das geringste! Nur dieser Un fall … er war meine Strafe! Und ich habe sie verdient … mein Gott, wie ich sie verdient habe!«
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ls Michael Bergmeister in den Operationsraum geschoben wurde, war er ganz gefaßt. Er hatte sich eine Last von der Seele geredet, die in all den vergangenen Jahren sein Leben vergiftet hatte. Die Begegnung mit Vera, der Unfall und jetzt das befreiende Ge spräch mit seinem Vater hatten ihn, das spürte er ganz deutlich, an ei nen Wendepunkt seines Schicksals gebracht. Er war zu jung und zu ge sund, um an den Tod zu glauben. Aber er wußte, daß – wie immer die Operation auch ausgehen würde – sein Leben sich von Grund auf än dern mußte, sollte das alles einen Sinn gehabt haben. Dann, als die Wirkung der Oberflächenanästhesie nachzulassen be gann, setzte der Augenschmerz wieder ein, dieser glühende, bohrende, verzehrende Schmerz, gegen den es keinen Widerstand gab. Michael preßte die Lippen zusammen, um nicht laut aufzustöhnen. Er wußte, was um ihn herum vorgegangen war – Schwester Ethel hatte die Au genpartien sorgfältig desinfiziert, den Kopf mit einem weißen, sterilen Tuch abgedeckt, so daß nur zwei runde Ausschnitte für die Operati onsgebiete freiblieben –, aber er konnte nichts erkennen. Er spürte, daß jemand an den Operationstisch trat, versuchte die Au gen aufzureißen, sah aber nichts als einen großen weißen, in den Kon turen verzerrten Flecken. Plötzlich, ganz unvermittelt, fiel ihn Angst an. Er bäumte sich auf. Schwester Ethel packte ihn mit eisernem Griff beim Arm, schob die Schlafanzugjacke zurück – der Schmerz seiner verletzten Augen war so groß, daß er den Einstich in die Vene kaum empfand. »Ruhe, mein Junge«, sagte eine männliche Stimme, »ich habe Ihnen was injiziert … gleich wird's besser.« Michael begriff, daß der weiße verzerrte Fleck Dr. Hesse sein mußte, 261
der Anästhesist, der sich in weißem Kittel, weißer Kappe, Mundschutz vor dem Gesicht, über ihn beugte. »Entschuldigen Sie«, murmelte er beschämt, »ich …« »Ich weiß, ich weiß …« Dr. Hesse nahm die aufgezogene Spritze, die Schwester Ethel ihm reichte, stach rasch und geschickt viermal hinter einander in der Augengegend zu, ließ die betäubende Flüssigkeit – No vocain, gemischt mit Corbasil, das die Gefäße zusammenziehen soll te – auslaufen. Er prüfte den Puls des Patienten, öffnete die Schlafanzugjacke, leg te sein Stethoskop auf die Brust, horchte die Herztöne ab. »Ihre kör perliche Verfassung ist ausgezeichnet«, lobt er. »Prächtig, prächtig! Ich wollte, wir hätten alle Tage solch hervorragendes Material auf dem Operationstisch.« Es tat Michael unerwartet wohl, den altvertrauten schnoddrigen Me dizinerjargon zu hören, den er selber und seine Kommilitonen so gern angewandt hatten. »Ich spüre gar nichts mehr«, sagte er, »ich meine, die Augen tun nicht mehr weh.« »Sehr gut!« Dr. Hesse überzeugte sich, daß die Empfindungsfähig keit der Augen tatsächlich schon sehr gedämpft war. Schwester Ethel reichte ihm die neu aufgezogene Spritze. »Augen öffnen, bitte … so weit wie möglich!« Er schob die Lider be hutsam auseinander, stach diesmal direkt in das linke Auge, von hin ten in die Bindehaut hinein, dann in das rechte. »Das wär's!«
Professor Bergmeister und Dr. Hilpert betrachteten unter der Lampe die Röntgenspezialaufnahmen nach Comberg. »Gar nicht mal so schlimm wie ich dachte«, sagte Dr. Hilpert, »im rechten Auge perforierende Bulbusverletzung, temporal, am Horn hautrand bei Uhrzeiger 9 … das ist alles! Auch die kleinere Perfora tion am linken Auge, in der Skiera nasal, bei 7 Uhr, macht mir kein Kopfzerbrechen …« 262
»Ja«, sagte Professor Bergmeister, »wenn es sich um Metallsplitter handelt …« Dr. Hilpert zuckte die Schultern. »Andernfalls muß ich sie eben her auspräparieren, das scheint mir bei dieser Lage ohne Verletzung der Hornhaut möglich zu sein.« Er schob die Aufnahmen, eine nach der anderen, unter die Lampe, betrachtete sie sehr aufmerksam, um sich die genaue Lage der Fremdkörper einzuprägen. »Aber sehen Sie sich das mal an«, sagte Professor Bergmeister plötz lich. »Ja, verdammt!« »Eine Perforation des Bulbus im Hornhautbereich!« »Hm ja, bei 5 Uhr.« »Wollen Sie da zuerst drangehen?« Dr. Hilpert strich sich mit der Hand über das glattrasierte Kinn. »Nein, lieber zuletzt …« »Ich will Ihnen nicht dreinreden«, sagte Professor Bergmeister. »Es ist Ihre Operation!« Sie gingen in den Waschraum hinüber, wuschen sich, jeder in einer Schüssel voll Desinfektionsflüssigkeit, die vorgeschriebenen fünf Mi nuten die Hände. Sie sprachen dabei kein Wort. Professor Bergmei ster wußte, daß Dr. Hilpert sich jetzt schon ganz auf die bevorstehende Operation konzentrierte, und er achtete sein Schweigen. Schwester Gerda reichte ihnen die sterilen Tücher zum Abtrocknen, half erst dem Professor, dann Dr. Hilpert in die Operationskittel, die sie hinten zuband. Sie setzten sich ihre Kappen auf, banden den Mund schutz vor. Hintereinander traten sie in den OP. Dr. Hesse, der noch einmal die Herztöne des Patienten abgehorcht hatte, richtete sich bei ihrem Eintritt auf. »Wir können«, sagte er kurz. Professor Bergmeister setzte den Lidsperrer, den Schwester Ethel ihm reichte, in das rechte Auge. Es war jetzt weit geöffnet. »Bitte, sieh nach innen, Michael … ganz zur Nase hin!« sagte er. »Ja, so ist's gut …« 263
Er nahm die feine, sterile Nadel mit dem Perlonfaden aus Schwester Ethels Hand, stach mit zwei, drei Stichen in die Bindehaut und fixierte das Auge in der nach innen gedrehten Stellung. Das Ende des Fadens behielt er in der Hand. Schwester Gerda hatte den Riesenmagneten herangeschoben. Dr. Hilpert ergriff das metallische, griffelartige Instrument, das am oberen Ende in ein elektrisches Kraftfeld ragte. Bevor er es an das Auge heranführte, schaltete er mit dem Fuß den Strom ein. In dem großen Raum war jetzt nichts mehr zu hören als das leise Summen des Magneten. Sehr behutsam brachte Dr. Hilpert das feine Instrument an das Auge des Patienten heran, führte die Spitze in die Perforationswunde ein. Bange Sekunden hindurch geschah gar nichts. Die Ärzte und Schwe stern hielten den Atem an. Dr. Hilpert führte den Magnetgriffel vorsichtig tastend tiefer und tiefer in die Wunde ein. Dann – ein kaum merkliches Zucken seiner Augenbrauen verriet es – spürte er einen leisen Widerstand. Vorsichtig, ganz vorsichtig hob er das Instrument an, zog es zurück und – hatte den Splitter. »Den kann er sich an die Uhrkette hängen«, sagte er. Aber die Spannung war zu groß. Niemand lachte. Dr. Hilpert schaltete den Strom ab, reichte das Instrument Schwester Gerda, die den Splitter entfernte, das Instrument neu desinfizierte. Professor Bergmeister zog behutsam den Perlonfaden aus der Bin dehaut, mit dem er das Auge seitlich fixiert hatte, löste den Lidsper rer. Schwester Ethel legte einen provisorischen Verband mit entzün dungshemmender Salbe an. Professor Bergmeister setzte den Lidsperrer im linken Auge ein, fi xierte es mit Nadel und Perlonfaden nach oben. Dann trat der Riesenmagnet wieder in Aktion. Dr. Hilpert schaltete den Strom ein, führte das feine Instrument erst in die kleine Perforation, in der Skiera nasal, bei 7 Uhr, ein. Bange Se kunden vergingen. Dr. Hilpert spürte keinen Widerstand. Er versuch 264
te es weiter, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er merkte kaum, daß Schwester Gerda hinter ihn trat und ihm mit einem sterilen Tuch über die Schläfen wischte. Endlich sah er auf und begegnete dem Blick Professor Bergmeisters. Es folgte eine jener wortlosen Verständigungen, die nur unter Män nern möglich sind, die in jahrelanger Zusammenarbeit gelernt haben, auch den leisesten Gedanken des anderen zu erraten. Beide wußten: es mußte sich um einen Holz- oder Glassplitter han deln, die Präparation war unumgänglich. Wieder setzte Dr. Hilpert den Riesenmagneten an, aber diesmal führte er das griffelartige Instrument in die größere Perforation, bei 5 Uhr, im Hornhautbereich. Die Spannung im Raum war jetzt so stark, daß allen im Raum der Vorgang unendlich lange zu dauern schien. Tatsächlich spürte Dr. Hil pert überraschend schnell, schon nach wenigen Sekunden, den erhoff ten Widerstand, konnte den Splitter – er war fast einen halben Zenti meter lang und leicht gekrümmt – herausziehen. Er schaltete ab, reichte das Instrument Schwester Gerda. Schwester Ethel stand schon mit dem haarfeinen Skalpell bereit. Ei nen atemlosen Moment lang starrten alle auf das Auge des Patienten, das im schattenfreien Licht der Operationslampen gleichsam nackt vor ihnen lag. Dann setzte Dr. Hilpert das Skalpell zum ersten, feinen Schnitt, bei 7 Uhr, durch die Bindehaut an. Es blutete stark. Eine kleine Ader war getroffen. Dr. Hilpert griff ohne hinzusehen nach der winzigen silbernen Klem me, die Schwester Ethel ihm reichte. Er klemmte erst das eine, dann das andere Ende der durchschnittenen Ader ab, zog beide Enden mit einem Faden zusammen, entfernte die Klemmen. Das Operationsgebiet lag jetzt offen und ohne Blutung frei. Aber noch war kein Fremdkörper zu entdecken. Dr. Hilpert führte den Schnitt tiefer, erweiterte ihn, rief leise: »Pin zette!« Er beugte sich jetzt ganz tief – nein, er hatte sich nicht getäuscht, es 265
handelte sich bei dem Fremdkörper, wie er vermutete hatte, um einen haarfeinen Holzsplitter. Es gelang ihm, ihn zu packen, er zog ihn heraus, reichte Pinzette und Splitter Schwester Gerda. Schwester Ethel hielt schon Nadel und Seidenfaden zum Vernähen bereit. In einer knappen Minute war es geschehen. »Ende!« sagte Dr. Hilpert aufatmend und richtete sich hoch. Professor Bergmeister entfernte den Lidsperrer und den Faden, mit dem er das Auge fixiert hatte. »Du bist erlöst, Michael, es ist vorbei«, sagte er. »Sie wissen Bescheid, Schwester … Atropintropfen zur Ruhig stellung und entzündungshemmende Salbe. Noch bis Freitag täglich Penicillin intramuskulär.« »Jawohl, Herr Professor«, sagte Schwester Ethel und verriet mit kei nem Ton, daß sie diese Anweisung im Grunde für selbstverständlich und damit für überflüssig hielt. Professor Bergmeister wandte sich wieder an Michael. »Es ist alles gut gegangen. Schwester Ethel macht dir jetzt einen doppelseitigen Verband, dann kommst du auf dein Zimmer. Versuch jetzt erst mal zu schlafen …« Ehe Michael noch etwas sagen konnte, war er mit raschen Schritten Dr. Hilpert gefolgt und hatte den Operationsraum verlassen. Monika Ebers erfuhr von Michaels Unfall in Rom, als sie sich am Bahnhof Termini eine deutsche Zeitung kaufte. Sie war mit dem festen Vorsatz nach Rom gekommen, Michael Berg meister nie wieder zu sehen und sich in Italien eine neue, ganz selb ständige Karriere aufzubauen. Sie hatte ein paar Adressen von Agen turen und Produzenten in der Tasche, an die sie sich gewandt hatte, und das schöne und talentierte Mädchen wurde mit offenen Armen aufgenommen. Der Anfang schien verheißungsvoll. Dennoch war für Monika alles vergessen, schien weit weg und ganz und gar unwichtig, als sie las: »Mike Masters schwer verunglückt – ist das Augenlicht des jungen Schlagerstars für immer erloschen?« Sie eilte in ihre Pension nahe der Via Véneto zurück, rief die Gram mola, ihre Schallplattenfirma an, erfuhr, daß der Film, der in Salzburg 266
gedreht werden sollte, schon umbesetzt war, daß Michael sich in der Augenklinik seiner heimatlichen Universitätsstadt einer Augenopera tion unterzogen hatte. »Und?« fragte Monika, atemlos vor Erregung. »Ist alles in Ordnung? Ich meine … wird er wieder gesund?« »Keine Ahnung«, erwiderte Winterstein grob. »Aber Sie müssen sich doch erkundigt haben! Schließlich ist Mike doch …« »Er war, Kindchen, er war! Ein aufgehender Stern am Schlagerhim mel, ja, das stimmt, aber als Krüppel kann ich ihn nicht mehr brau chen.« »Aber es ist doch gar nicht gesagt …« »Doch. Bis er wieder gesund ist, ist er vergessen. So viel Geld, daß ich noch mal einen ganz neuen Propagandafeldzug starten könnte, habe ich nicht. Außerdem … kalten Kaffee soll man nicht aufwärmen. Das war von jeher mein Prinzip.« »Sie haben Hunderttausende mit ihm verdient!« »Na, wenn schon! Ist er selber denn dabei schlecht weggekommen?« »Nein … aber …« »Wozu regen Sie sich eigentlich auf, Kindchen? Mit Ihnen hat das doch gar nichts zu tun! Sie bleiben natürlich auch weiter bei mir im Vertrag, wenn auch …« »Ich pfeife auf Ihren Vertrag, Sie … Sie halsabschneiderischer Blut hund!« schrie Monika außer sich. Winterstein, weit davon entfernt, beleidigt zu sein, lachte nur wohl gefällig. »Wie Sie wollen. Von mir aus. Ohne Mike Masters sind Sie sowieso nur noch die Hälfte wert. Und die Hälfte genügt mir nicht.« Er ließ Monika gar nicht mehr zu Wort kommen. »Also, machen Sie's gut, Kindchen … und lassen Sie es sich von einem alten Mann gesagt sein: Suchen Sie sich einen Dummen, der Sie heiratet. Das ist das Be ste, was Sie jetzt tun können. Eine wie Sie wird nie Karriere machen.« Er hatte den Hörer eingehängt, ehe Monika noch etwas sagen konn te. Sie bestellte sich eine Flugkarte, packte ihre Koffer, bezahlte ihre 267
Rechnung und verließ Rom, ohne sich von einer Menschenseele zu verabschieden. Am frühen Nachmittag des nächsten Tages betrat sie die Augenkli nik. Sie ließ sich vom Pförtner die Zimmernummer Michael Bergmei sters sagen und suchte sich zielbewusst ihren Weg. Zwar war noch kei ne Besuchszeit, aber der Mann an der Pforte sah keinen Anlass, ein so hübsches Mädchen, besonders wenn es zum Sohn des Professors woll te, zurückzuhalten. Monika öffnete die äußere Doppeltür, klopfte kurz an und trat ein. Michael schreckte aus unruhigem Halbschlaf hoch. »Schwester …?« sagte er unsicher. »Ich bin's … Monika!« Ihre junge Stimme klang so lebensvoll wie eine Fanfare. Michael versuchte, sich aufzurichten, ließ sich dann mit einer hoff nungslosen Bewegung wieder zurücksinken. »Ich dachte, du wärst … in Italien!« »Aber jetzt bin ich hier.« »Die Papagallos haben wohl nicht angebissen?« sagte er, entschlos sen, sie lieber zu verletzen, als ihr Mitleid zu erwecken. »Nimm es immerhin an, wenn es dir Freude macht«, sagte sie gelassen und trat nah an sein Bett, betrachtete prüfend sein zerschundenes Ge sicht. »Außer mit den Augen scheint dir nicht viel passiert zu sein!« Er stieß ein amüsiertes Lachen aus. »Du hast Nerven!« »Bist du enttäuscht?« Sie setzte sich dicht zu ihm auf den Bettrand. »Du hattest wohl erwartet, daß ich vor Mitleid zerfließen würde? Aber da bist du schiefgewickelt. Warum sollte ich dich bejammern? Ob du blind bist oder sehend, an deinem Charakter wird das leider nichts än dern.« Er mußte wieder lachen, diesmal schon freier. »Und der ist mies, meinst du?« »Und ob! Du bist der rücksichtsloseste, grausamste, egozentrischste Schuft, der mir je begegnet ist!« »Danke für die Offenheit. Es würde mich bloß interessieren, was du dann überhaupt noch bei mir willst?« 268
»Leider brauche ich dich. Für unsere Nummer. Winterstein hat mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, daß er mit mir allein nichts anfan gen kann. Ich bin ja nur die schwächere Hälfte oder, besser gesagt, ein schwaches Drittel.« »Winterstein hat mir auch geschrieben«, sagte er, plötzlich wieder sehr ernst. Sie spürte, daß sie ihre Betroffenheit nicht verbergen konnte und war zum ersten Mal froh, daß er sie nicht sah. Aber er durchschaute sie trotzdem. »Du fragst gar nicht, was?« frag te er mit bitterem Spott. »Das spricht für dich. Denn du erwartest wohl nicht, ich werde dir abnehmen, daß du nicht weißt, wie rasch und voll kommen er sich nach dem Unfall von mir distanziert hat.« »Winterstein ist ein Schwein.« »Na eben …« Sie ließ ihn nicht weitersprechen. »Aber das heißt doch nicht, daß unsere Karriere geplatzt ist! Wir werden wieder von vorn anfangen, auch ohne Winterstein. Ich weiß, daß wir unser Publikum haben … du hast es wenigstens. Deine Fans werden auf Tische und Bänke klet tern, wenn du mit dunkler Brille auftrittst … der blinde Sänger! Was für ein Gag! Du brauchst bloß zu singen, für alles andere werde ich sorgen … bei den Verträgen und so weiter mußt du mich natürlich be raten, ich werde sie dir vorlesen …« Erst als sie all das hervorgehaspelt hatte, fiel ihr auf, daß er ganz still geblieben war, nicht einen einzigen Versuch gemacht hatte, ihr zuzu stimmen oder sie zu unterbrechen. »Was hast du?« fragte sie irritiert. »Paßt dir mein Vorschlag etwa nicht?« »Sag mal, Moni … wieso nimmst du mit solcher Sicherheit an, daß ich blind bleiben werde?« »Warum? Ich hab's in der Zeitung gelesen …« »Du hast also noch nicht mit meinem Vater oder mit Oberarzt Dr. Hilpert oder sonst wem hier in der Klinik gesprochen?« »Nur mit dem Pförtner. Ich bin gradewegs zu dir hier hereingekom men.« 269
Ihre Stimme sagte ihm deutlich, daß sie nicht log, und er konnte sei ne Erleichterung nicht verbergen. »Das ist gut!« sagte er aufatmend. »Ich versteh' dich nicht …« »Aber sehr einfach! Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich wieder sehen können. Die Operation ist gut verlaufen, die Hornhaut ist kaum verletzt, die Linsen sind ganz intakt … falls ich nicht ausgesprochenes Pech habe, das heißt, falls kein Contusion Cataract dazu kommt, eine nachträgliche Trübung der Linsen durch den heftigen Schlag bei der Explosion, werde ich wieder sehen können, Moni …« Jetzt war es an ihr, zu schweigen. »Was ist los?« fragte er. »Bist du enttäuscht?« »Ein bißchen«, erwiderte sie, und es war ein Körnchen Wahrheit in diesem Scherz, »ich hätte soviel besser auf dich aufpassen können.« »Vielleicht hast du Glück und kannst mich wie einen dressierten Af fen vorführen … andernfalls, wenn es so kommt, wie ich es hoffe … werde ich aus dem Schaugeschäft aussteigen. Ich werde mein Studium wieder aufnehmen … hältst du das für sehr verrückt?« »Überhaupt nicht.« »Gut, daß du das verstehst … weißt du, als mir das passiert war, das Unglück, als ich so dalag mit den Schmerzen … da habe ich überhaupt erst begriffen, was der Beruf des Arztes bedeutet, was es heißt, Augen arzt zu sein, Kranken die Sehkraft zu erhalten, Helfer der Menschheit zu sein. Was wir getan haben, war ja nur Pipapo.« »Hast du es deinem Vater schon gesagt?« fragte sie sehr ruhig. »Nein, ich wollte erst abwarten, ob … du bist der erste Mensch, mit dem ich darüber spreche.« »Das ist schön«, sagte sie und saß, ohne sich zu rühren. »Es tut mir natürlich leid, daß ich dich allein lassen muß … ich weiß, es wäre zuviel von dir verlangt, auf mich zu warten, bis ich fer tig bin …« Röte schoß ihr in die Wangen. Wie gut, daß er sie jetzt nicht sehen konnte. »Was willst du damit sagen?« »Na ja, fragen kostet nichts … also frage ich dich hiermit offiziell: Willst du meine Frau werden?« 270
»Ist das dein Ernst?« »Ich weiß, ich habe mir die blödeste Situation für einen Heiratsan trag ausgesucht, aber erst seit ich auf der Nase liege, habe ich über haupt angefangen, über mich und mein Leben und die Menschen, die mir etwas bedeuten, richtig nachzudenken …« »Ach, Mike!« Sie beugte sich zu ihm herab, gab ihm sehr vorsichtig, um ihn nicht zu verletzen, einen Kuß. Seine langen, kräftigen Finger tasteten ihr zartes Gesichtchen ab. »Heißt das, du willst?« »Hast du auch nur eine Sekunde daran gezweifelt?« fragte sie, la chend und schluchzend vor Glück. »Ich werde auch wieder zur Uni zu rückkehren … nein, ich werde umsatteln, auf medizinisch-technische Assistentin oder irgendwas, womit ich dir später nützlich sein kann … ach, Mike, wie habe ich diesen Unfall verflucht, und wie dankbar bin ich jetzt, daß es so gekommen ist! Wir werden fest zusammenhalten, nicht wahr?« Er führte ihre Fingerspitzen an den Mund, küßte sie eine nach der anderen. »Ich liebe dich, Moni … ich habe lange gebraucht, bis ich es begriffen habe … aber ich liebe dich von ganzem Herzen!«
Acht Tage nach Michael Bergmeisters Operation wurden die ersten Fä den entfernt, im Laufe der folgenden Woche die restlichen. Monika besuchte ihren Patienten jeden Tag, sie war auch dabei, als die ersten Sehprüfungen gemacht wurden. Langsam wurden die Ver bände weggelassen. Aber es verging noch eine bange Zeit für Michael und die Menschen, die ihn liebten, bis sich herausstellte, daß seine Sehkraft genügen wür de, um den erwählten Beruf des Augenarztes zu ergreifen. Am rechten Auge war kein Sehverlust zurückgeblieben, da die Perforationswunde lateral gelegen war und Linse und Hornhaut nicht verletzt hatte. Am linken Auge hatte Narbenbildung in der sonst völlig klaren Hornhaut das Sehvermögen auf zwei Drittel herabgesetzt. Michael würde in Zu 271
kunft gezwungen sein, eine Brille zu tragen, da die Narbenbildung zu einer Verziehung der Hornhaut und damit zu einer Refraktionsände rung geführt hatte. Dieser Astigmatismus konnte durch ein Zylinder glas ausgeglichen werden. »Macht nichts, Mike«, sagte Monika glücklich, »wenn wir abends ausgehen, kannst du ja ein Monokel tragen … das wird dir eine inter essante Note geben!« Michael lachte nur. Seine Freude war zu groß, als daß er sie in Wor te hätte kleiden können. »Sie haben das wunderbar gemacht, Herr Professor«, sagte Monika und sah ihren künftigen Schwiegervater strahlend an. »Na, erstens dürftest du mich ruhig ein bißchen familiärer anreden«, sagte Professor Bergmeister schmunzelnd, »und zweitens habe ich nur assistiert … im übrigen wird das wohl endgültig meine letzte Operati on sein, an der ich teilgenommen habe. Mit Ende dieses Semesters zie he ich mich ganz auf meine wissenschaftliche Arbeit zurück.« »Wird Ihnen das nicht leid tun, Papa?« »Ich müßte lügen, wenn ich es leugnen wollte. Aber immer noch besser, ein schmerzlicher Entschluß, als das Gefühl, daß ich in die Reihen der unfähigen alten Herren gehöre, die nicht wissen, wann es an der Zeit ist abzutreten, obwohl sie nur noch Unheil anrichten können.« Er spürte, daß er ein wenig zu ernst geworden war, und fügte in leichterem Ton hinzu: »Jetzt, wo ich weiß, daß Michael in meine Fußstapfen treten wird, fällt's mir kaum noch schwer … ganz abgesehen davon, daß ich in Dr. Hilpert einen würdigen Nachfolger weiß … ich habe durchgedrückt, daß er Chef der Klinik wird, wenn auch vorläufig nur kommissarisch. Aber das scheint mir ganz rich tig so.« Dr. Hilpert nahm Michaels und Monikas Glückwünsche entgegen. »Ich hoffe, Sie werden doch noch hin und wieder bei uns nach dem Rechten sehen, Herr Professor!« sagte er. »Niemals! Ein Ende muß ein Ende sein! Was aber nicht heißen soll, daß ich nicht jederzeit für Sie da sein werde, wenn Sie einen Rat brau chen, Norman!« 272
»Wie wär's, wenn wir alle vier heute abend zur Feier des Tages mit einander essen gingen?« schlug Monika vor. »Vielleicht ins Bahnhofs restaurant?« »Keine schlechte Idee«, sagte Michael sofort, »wir haben ja unsere Verlobung auch noch gar nicht begossen!« »Ja, tut das nur, ich lade euch ein«, sagte Professor Bergmeister, »nur auf meine Anwesenheit müßt ihr leider verzichten. Ich muß mit dem Mittagszug fort.« »Zu einem Patienten?« fragte Monika. »Wie schade, dann warten wir mit der Feier, bis Sie zurück sind.« »Lieb von euch, Kinder, aber das kann ein paar Tage dauern. So, und jetzt verschwindet, denn draußen warten noch ein paar andere Pati enten.« Michael hatte begriffen, daß sein Vater nach München fuhr, um Vera heimzuholen. Er wunderte sich, daß er nichts als Erleichterung bei die sem Gedanken empfand. Seit jener großen Aussprache hatte er mit sei nem Vater nicht mehr über Vera gesprochen, und das Gefühl, für ihr Schicksal verantwortlich zu sein, hatte ihn, ohne daß er es sich selber zugab, gequält. »Du siehst ja so nachdenklich aus«, sagte Monika, als sie den langen Gang der Klinik entlangschritten. »Ich denke auch nach«, sagte er, »ob es wirklich richtig ist, hier zu bleiben … ob wir nicht lieber anderswo studieren sollen.« »Willst du schon wieder davonlaufen?« fragte sie. Er fuhr herum. »Wie meinst du das?« »Nun, weil du doch damals eigentlich bloß aus Ärger über deine Stiefmutter …« Er ließ sie nicht aussprechen. »Ich habe dich belogen«, sagte er, »die ganze Zeit …« »Endlich! Ich dachte schon, du würdest es nie zugeben!« »Was?« »Fragst du das noch? Daß du in deine Stiefmutter verliebt warst, na türlich.« »Du hast es gewußt?« 273
»Nicht von Anfang an. Es hat sogar ziemlich lange gedauert, bis mir ein Licht aufgegangen ist.« »Und … du hast mich trotzdem genommen?« »Ja. Weil ich gespürt habe, daß es jetzt vorbei ist!« Sie klammerte sich an seinen Arm. »Oder?« »Doch«, sagte er und küßte sie auf den Mund, »es ist vorbei. End gültig. Für mich gibt es nur noch eine einzige Frau … einen einzigen Menschen, der wirklich zu mir gehört.«
Am Nachmittag des gleichen Tages trat Gabriele Zerling in das Ar beitszimmer Dr. Hilperts. Er sprang auf, bot ihr einen Stuhl an. Sie wehrte ab. »Nein, danke, ich bin nur gekommen, um mich zu ver abschieden … ich gehe zum nächsten Semester nach Göttingen.« »Warum?« »Ich möchte mir mal einen anderen Wind um die Nase wehen las sen.« »Das glaube ich dir nicht.« »Wieso? Scheint dir das so unnatürlich?« »Du gehst fort, weil du immer noch böse auf mich bist … nein, lass mich jetzt mal sprechen! Inzwischen ist mir aufgegangen, daß alles, was du über Xenia von Schöller gesagt hast, voll und ganz richtig war. Im Grunde habe ich es immer gewußt. Aber es gibt Dinge, die man sich eben nur höchst ungern eingesteht.« »Na ja«, gab sie zu, »vielleicht habe ich auch ein bißchen übertrieben. Aber dein Getue um diese Dame konnte einem schon auf die Nerven gehen.« »Also … alles in Ordnung? Wollen wir uns wieder versöhnen?« Er hielt ihr die offene Hand hin. Sie schlug ein. »Ehrlich gestanden«, sagte sie mit einem kleinen ver schmitzten Lächeln, »ich wäre nur sehr ungern im Unguten mit dir von hier fortgegangen.« Er zog seine Hand zurück. »Du willst also … immer noch fort?« 274
»Unbedingt.« »Aber … hör mal …« »Glaub mir, es ist besser so. Wir würden uns nur gegenseitig behin dern.« »Würdest du es etwa auch als eine Behinderung auffassen, wenn ich dich bitten würde, mich zu heiraten?« »Genau. Ich will ja Ärztin werden und keine Hausfrau.« »Gabriele!« »Starr mich nicht so an wie ein Ungeheuer mit sieben Köpfen. Ich habe jetzt neun Semester studiert. Wie kannst du erwarten, daß ich deinetwegen aufgebe?« »Aber begreifst du denn nicht, daß es viel schöner sein würde …« »Nein!« »Dann … habe ich dir nie etwas bedeutet?« »Unsinn! Es hat sogar eine Zeit gegeben, wo ich ganz verrückt war vor Eifersucht und Liebeskummer. Aber gerade das ist eine heilsame Lehre für mich gewesen. Man soll sich niemals voll und ganz einem Mann in die Hand geben, dann ist man verloren.« »Was für hirnverbrannte Ideen!« »Mir scheinen sie ganz vernünftig …« »Nein! Sie sind unausgegorener Quatsch!« Sie lächelte. »Warum schreist du so mit mir? Hatten wir uns nicht ge rade versöhnt? Und jetzt sind wir schon mitten im schönsten Zank!« »Ja, aber doch nur, weil du …« »Selbstverständlich liegt die Schuld bei mir! Aber wenn ich wirklich solch eine Xanthippe bin … warum willst du mich dann heiraten?« »Weil ich dich liebe!« sagte er aufgebracht. »Begreifst du das denn nicht?« »Doch. Du glaubst jetzt, mich zu lieben, jedenfalls so lange, bis die nächste hübsche Patientin kommt …« »Gaby!« »Nein! Keine falschen Schwüre, bitte! Nachdem, was du mir aufzulö sen gegeben hast, muß ich schon verlangen, daß du mir deine Gefühle ein bißchen anders erhärtest als nur mit leeren Worten!« 275
»Wie soll ich denn …« »Sehr einfach. Ich gehe jetzt nach Göttingen und komme erst wieder, wenn ich Staatsexamen und Doktorat in der Tasche habe, dann …« »Aber das dauert doch noch Jahre!« »Um so besser. Wir sind ja beide noch jung, benutzen wir also die Gelegenheit, unsere Gefühle zu prüfen … im übrigen, eines mach dir bitte von vornherein klar: Auf meinen Beruf werde ich nicht verzich ten. Auch um deinetwillen nicht.« »Und wenn Kinder kommen?« Sie lachte sehr vergnügt. »Du hast es ja gut vor! Kinder! Und dann gleich ein paar auf einmal!« »Im Ernst!« »Na glaubst du, daß ich die einzige berufstätige Mutter in Deutsch land wäre?« »Du bist eine herzlose Person!« »Gott sei Dank! Wenn ich ein Herz hätte, würdest du es mir längst gebrochen haben!« Er nahm sie in die Arme und küßte sie. Noch einmal erlebten sie et was wie den Nachklang ihres früheren Glücks. »Ich werde dir schreiben!« sagte sie, als er sie losließ. »Ja, tu das … sofort!« Sie küssten sich noch einmal, aber diesmal anders, fast freundschaft lich. Sie sprachen es nicht aus, aber beide wußten sie, daß es zu Ende war. Dann brachte er sie zur Tür, sah, wie sie, eine schmale dunkle Ge stalt, mit hocherhobenem Kopf davonschritt.
Vera Bergmeister war jetzt die vierte Woche im Kreiskrankenhaus Steiningen, aber obwohl ihr die Ärzte immer wieder versicherten, daß sie gute Fortschritte machte, fühlte sie sich immer noch sehr elend. Am liebsten wäre sie im Bett geblieben und nie mehr aufgestanden. Man mußte sie fast dazu zwingen, jeden Tag wenigstens ein paar Stun 276
den herumzugehen. Sie tat es, weil sie weder Kraft noch Lust hatte, sich zu wehren, war jedes Mal erleichtert, wenn die Schwester kam und an kündigte, daß es wieder Zeit war, sich hinzulegen. Sie wußte selber nur zu gut, daß es nicht die Folgen der Gehirner schütterung waren, die sie lähmten, sondern das quälende Bewußt sein, alles, aber auch alles im Leben falsch gemacht zu haben. Sie frag te nicht wie die anderen Patientinnen: »Wann werde ich entlassen?«, sondern sie war dankbar, so lange wie nur möglich in der Geborgen heit ihres Krankenzimmers bleiben zu können. Ihr graute vor der Un persönlichkeit ihrer Münchner Pension, vor dem grausamen Konkur renzkampf mit Rivalinnen, deren Jugend und Raffinesse sie nicht mehr gewachsen war. Und sie machte sich große Sorgen um Michael. Obwohl sie sich im mer wieder sagte, daß es unsinnig war, konnte sie das Gefühl nicht los werden, daß sie schuld an seinem Unglück war. Sie hatte allen, die sie geliebt hatten, nur Unglück gebracht. Als die Schwester zu ihr ins Zimmer kam und mit einem verhei ßungsvollen Lächeln sagte: »Ich glaube, wir sollten uns ein bißchen schön machen, Frau Professor, wir bekommen Besuch!« – galt ihr er ster Gedanke Michael. Ihr Herz tat ein paar heftige Sprünge bei dem Gedanken, daß er ge sund sein mußte, wenn er den Weg zu ihr gefunden hatte. Aber als die Schwester ihr das Haar bürsten wollte, ihr das Beautycase reichte, wei gerte sie sich. »Nicht nötig, Schwester, wirklich nicht«, sagte sie mit einem schwa chen Lächeln. Michael sollte sie so sehen, wie sie wirklich war – das würde ihn viel leicht von seiner verhängnisvollen Leidenschaft heilen. Aber dann, als es ihr Mann war, der ins Zimmer trat, hätte sie ge wünscht, auf den Rat der Schwester gehört zu haben. Sie versuchte zu sprechen, aber die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Auch er war sehr verlegen. »Ich hoffe«, sagte er und räusperte sich, »daß ich nicht ungelegen komme!« Sie traute ihren Ohren nicht. »Klaus!« 277
»Na, es wäre doch immerhin denkbar, daß du … ich meine … eine Frau wie du …« Sie verstand. »Seit ich hier im Krankenhaus liege, habe ich nicht ei nen einzigen Besuch gehabt.« Er zog sich einen Stuhl an ihr Bett, setzte sich. »Ich wäre früher ge kommen, aber Michael …« »Wie geht es ihm?« »Alles in Ordnung. Er muß eine Brille tragen, aber sonst …« »Mein Gott, Klaus, bin ich froh!« »Das verdanken wir nur dir, Vera, wenn du nicht gewesen wärst …« Er räusperte sich wieder. »Übrigens hat Michael mir alles erzählt. Es war …« er suchte nach Worten, »großartig von dir, daß du mich trotz dem sofort angerufen hast. Sag nicht, daß es selbstverständlich ist … das weiß ich besser.« Sie schwieg, sah ihn nur an … seine hohe, leicht vornübergebeugte, Gestalt, seine schönen, sehr lebendigen Hände, die klugen Augen hin ter den dicken Brillengläsern. Erst als die Pause lastend zu werden begann, fragte sie: »Wie geht es deiner Gesundheit, Klaus?« »Ich habe die Klinik zum Ende des Semesters aufgegeben. Aber du brauchst dir trotzdem keine Sorgen zu machen. Das Geld, das du brauchst, werde ich schon zusammenbringen.« »Es tut mir leid, ich hatte so gehofft, auf eigenen Beinen stehen zu können.« »Ich weiß.« »Tatsache ist«, sagte sie mit Überwindung, »ich bin ein Versager. Ich hatte mich immer für eine Schauspielerin gehalten, aber es sieht ganz so aus … na eben, ich habe den Anschluss verpasst.« »Das tut mir leid.« »Aber irgendwo werde ich schon eine Stellung finden, in der ich ge nügend verdiene, um davon leben zu können …« Die Reaktion, die sie erwartet hatte, blieb aus. Er fragte nur sehr ru hig: »Als was, etwa?« »Du hast recht, ich habe nichts Vernünftiges gelernt … aber not 278
falls gehe ich auch als Haushälterin! Solche Leute werden ja immer ge sucht.« »Stimmt. Und wenn es dir ernst ist … da wüsste ich schon was für dich.« »Wirklich?« fragte sie zögernd, mit zusammengezogenen Augen brauen. »Ja. Es handelt sich um einen Professor … noch nicht alt, Anfang fünfzig, sehbehindert. Die Frau ist ihm weggelaufen. Jetzt braucht er dringend eine weibliche Kraft, die sich auch um ihn persönlich küm mert.« »Klaus!« sagte sie und wußte nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. »Na, wie wäre es?« Plötzlich änderte er den Ton, wurde sehr ernst. »Willst du nicht zu mir zurückkommen, Vera? Ich brauche dich sehr!« »Ach, Klaus«, konnte sie nur sagen, »ach, Klaus …« »Soll das heißen …?« »Ja, ja, ja … ich komme nach Hause! Wenn du mich nur noch haben willst!« Sie stand auf, warf sich ihm in die Arme. Er küßte sie zärtlich. »Denk an deine Gehirnerschütterung! Der Kol lege sagte mir, du seist noch sehr leidend!« »Jetzt nicht mehr, Klaus … jetzt nicht mehr! Kannst du mir wirklich verzeihen … all das, was ich dir angetan habe? All meine Torheiten?« »Wenn man liebt, Vera, verzeiht man noch viel mehr … und dann, ich war ja auch nicht ohne Schuld. Wir alle verirren uns manchmal … es kommt nur darauf an, daß man noch den richtigen Weg findet!« »Ich glaube, das haben wir!« Sie schmiegte sich zärtlich in seine Arme. Dann ließ sie ihn los, fragte unvermittelt: »Und Michael?« »Er hat sich verlobt. Mit einem reizenden Mädchen. Er will jetzt noch fertig studieren und sie dann heiraten. Ich habe ihnen schon meinen Segen gegeben.« »Sie sollen nicht zu lange warten«, sagte sie nachdenklich, »das Glück ist so kostbar … man muß es festhalten, wenn man es findet, ganz, ganz fest!« 279