Mit dem eigenen Charakter umgehen Karl König E-Book-Version by SportFreund23
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Mit dem eigenen Charakter umgehen Karl König E-Book-Version by SportFreund23
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme König, Karl: Mit dem eigenen Charakter umgehen / Karl König. Düsseldorf; Zürich: Walter, 2001 ISBN 3-530-40117-X c 2001 Patmos Verlag GmbH & Co. KG Walter Verlag, Düsseldorf und Zürich Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks sowie der fotomechanischen und elektronischen Wiedergabe, vorbehalten. Umschlaggestaltung:Groothuis & Consorten, Hamburg Satz:Fotosatz Moers, Mönchengladbach Druck: Wiener Verlag, A-Himberg ISBN 3-530-40117-X www.patmos.de 2
Inhaltsverzeichnis 1
Einleitung
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Die verschiedenen Ausprägungen des Charakters 2.1 Schizoide Struktur . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Narzißtische Struktur . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Depressive Struktur . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zwanghafte Struktur . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Phobische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Hysterische Struktur . . . . . . . . . . . . . .
3
Sexualität und Charakter 3.1 Schizoide Struktur . 3.2 Narzißtische Struktur 3.3 Depressive Struktur . 3.4 Zwanghafte Struktur 3.5 Phobische Struktur . 3.6 Hysterische Struktur
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33 33 33 35 36 37 37
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Persönlichkeitsstruktur und Dominanz
39
5
Zum Umgang mit Nähe
43
6
Fixierung auf die Zweierbeziehung
47
7
Kontaktaufnahme, Kontaktgestaltung, Kontaktbeendigung
49
8
Zum Umgang mit interpersonellen Konflikten
55
9
Geld und die Spielarten des Charakters 9.1 Schizoide Struktur . . . . . . . . . 9.2 Narzißtische Struktur . . . . . . . . 9.3 Depressive Struktur . . . . . . . . . 9.4 Zwanghafte Struktur . . . . . . . . 9.5 Phobische Struktur . . . . . . . . . 9.6 Hysterische Struktur . . . . . . . .
10 Krisen und Persönlichkeit
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11 Zum Umgang mit Trennung 11.1 Schizoide Struktur . . . 11.2 Narzißtische Struktur . . 11.3 Depressive Struktur . . . 11.4 Zwanghafte Struktur . . 11.5 Phobische Struktur . . . 11.6 Hysterische Struktur . .
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12 I.ernen und Persönlichkeit 13 Freizeit und Charakter 13.1 Schizoide Struktur . 13.2 Narzißtische Struktur 13.3 Depressive Struktur . 13.4 Zwanghafte Struktur 13.5 Phobische Struktur . 13.6 Hysterische Struktur
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14 Charakterstruktur und der Umgang mit Kindern
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15 Kombinationen der verschiedenen Charakterstrukturen
95
16 Schlußbemerkung
99
Literatur
100
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Kapitel 1
Einleitung Unter "Charakter" kann man sich verschiedenes vorstellen. Wenn man von jemandem sagt, er "habe Charakter", meint man damit, daß er oder sie sich nach festen, ethisch hochwertigen Prinzipien richtet. Entsprechend bezeichnet "charakterlos" das Gegenteil. Wenn man sagt, jemand sei "ein Mensch mit Charakter", versteht man darunter, daß er "eine ausgeprägte Persönlichkeit besitzt". In diesem Buch verstehe ich unter "Charakter", etwas anderes, nämlich die für einen Menschen typischen Erlebens- und Verhaltensweisen. Statt "Charakter" kann man auch "Persönlichkeit" sagen. Der Begriff "Persönlichkeit" ist aber weiter gefaßt und bezeichnet auch die Geschlechtseigenschaften von Männern und Frauen, während der Begriff "Charakter" meist geschlechtsneutral gebraucht wird. An der Entstehung des Charakters sind Vererbung und Umwelt beteiligt. Zu welchen Anteilen, weiß man noch nicht genau. Als gesichert kann gelten, daß unser Erbgut einen Einfluß darauf hat, wie wir mit Erfahrungen in der Kindheit und auch im späteren Leben umgehen. Unsere Interaktionen mit der Umwelt prägen den Charakter und haben einen Einfluß darauf, wie wir in der Folgezeit mit der Umwelt interagieren. Bekanntlich sind Kinder formbarer als Erwachsene; deshalb haben die ersten Lebensjahre den größten Einfluß auf die Charakterentwicklung. Der Charakter ändert sich aber auch im Erwachsenenalter; zum Beispiel kann als sicher gelten, daß sich manche Charakterzüge im Alter stärker ausprägen. Von der aktuellen Lebenssituation hängt ab, welche Charaktereigenschaften aktiviert werden oder in den Vordergrund treten. So kann jemand, der nicht besonders auf Ordnung und Pünktlichkeit achtet, dies dennoch tun, wenn er in ein Land kommt, wo weniger Pünktlichkeit und Ordnung herrscht als bei uns in Mitteleuropa. Es gibt mehrere psychoanalytische Charaktertypologien. Die Psychoanalyse befaßt sich vorwiegend mit den Umwelteinflüssen auf die Charakterentwicklung. Hier wähle ich eine Einteilung der Charaktere, die Bezug zu den Neurosen hat: zur schizoiden Neurose, zur narzißtischen Neurose, zur neurotischen Depression, zur Zwangsneurose, zur Phobie und zur Hysterie. Diese Typologie ist seit dem Buch Grundformen der Angst von Fritz Riemann, das in mehr als 700 000 Exemplaren verbreitet wurde, in Deutschland die gebräuchlichste. Daß die Strukturen aus ihren pathologischen Überspitzungen abgeleitet sind, ist insofern ein Nachteil, als vielleicht der falsche Eindruck entsteht, daß eine Struktur schon etwas Krankhaftes sei. jeder Mensch hat aber ei5
ne Charakterstruktur, meist hat man es mit Kombinationen von Strukturen zu tun. In diesem Buch werden die Strukturen aber idealtypisch beschrieben. Man kann von einem depressiv Strukturierten sprechen, um ihn von jemandem mit einer Depression zu unterscheiden; von einem phobisch Strukturierten, um ihn von jemandem mit einer Phobie zu unterscheiden. Nicht jeder depressiv Strukturierte ist depressiv, nicht jeder phobische Charakter hat auch eine Phobie. Dagegen erübrigt sich, von einem schizoid Strukturierten zu sprechen, weil sich die Bezeichnung "schizoid" von "schizophren" unterscheidet, das gleiche gilt für "zwanghaft" und "Zwangssymptome haben". Es gibt keine Krankheit "Hysterie", allerdings wird darunter oft eine hysterische Charakterneurose verstanden. Man kann sagen, daß in den Charakterstrukturen Grundkonflikte enthalten sind, die zur conditio humana gehören. In der schizoiden Struktur ist es der Konflikt zwischen dem Wunsch, seine Individualität aufzugeben, mit anderen zu verschmelzen, und dem Wunsch, Individuum zu bleiben und sich abzugrenzen. Bei der narzißtischen Struktur findet man den Wunsch, anderen wichtig und von ihnen anerkannt, und dem Wunsch, von anderen unabhängig zu sein. Bei der depressiven Struktur findet man den Wunsch, von anderen versorgt zu werden und wichtig zu sein, im Konflikt mit dem Wunsch, den wichtigen Anderen zu versorgen. Bei der zwanghaften Struktur findet sich der Wunsch, eigene Triebimpulse ungehemmt durchzusetzen, und der Wunsch, sich selbst und andere unter Kontrolle zu halten. Bei der phobischen Struktur ist es der Konflikt zwischen dem Wunsch, eigene Triebwünsche auszuleben, und dem Wunsch, sozial akzeptiert zu sein. Bei der hysterischen Struktur findet man einen Konflikt zwischen dem Wunsch, vom gegengeschlechtlichen Elternteil als vollwertiger Partner akzeptiert zu werden, besonders was die Geschlechtseigenschaften angeht, und dem Wunsch, die Liebe des gleichgeschlechtlichen Elternteils zu behalten, sowie umgekehrt den Konflikt zwischen dem Wunsch, als vollwertiger Partner des gleichgeschlechtlichen Elternteils anerkannt zu werden, und dem Wunsch, die Liebe des gegengeschlechtlichen Elternteils zu behalten. Man findet auch einen Konflikt zwischen dem Wunsch, so zu sein wie die Mutter, und dem Wunsch, so zu sein wie der Vater. Diese Konflikte beschreiben die Struktur noch nicht vollständig. Sie markieren aber Grundbedürfnisse, die bei den einzelnen Strukturen eine besondere Bedeutung haben. Während in meinem Buch Kleine psychoanalytische Charakterkunde (König 1992) der Entstehung von Charakterstrukturen viel Raum gewidmet wird, möchte ich hier das Hauptgewicht auf die verschiedenen Ausprägungen der Charakterstruktur beim Erwachsenen legen und Hinweise geben, wie man mit den Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Struktur besser umgehen kann, welche Nachteile zu beachten sind und welche Handlungsmöglichkeiten genutzt werden können. Für die Ausführlichkeit oder Kürze der Darstellung der einzelnen Charaktere in diesem Buch waren neben Unterschieden in der tatsächlichen Komplexität auch Fragen der Vermittlung maßgebend. Es geht ja darum, daß der Leser sich in den Beschreibungen erkennen kann, wenn sie inhaltlich auf ihn zutreffen, weniger darum, daß er eine Übersicht über alle Strukturen bekommt. Aus diesem Grund sind die einzelnen Kapitel auch nicht nach dem gleichen Schema aufgebaut. In der Darstellung habe ich Erfahrungen mit Menschen verschiedener Struktur genutzt, denen meine Mitarbeitet und ich in Therapie oder Beratung begegnet sind und bei denen wir versucht haben, Einsichten in die Besonderheiten ihre Struktur zu vermitteln. 6
Psychoanalytiker erwarteten ursprünglich, daß Selbsterkenntnis Veränderungen bewirkt. Das tut sie oft, häufig ist aber ein Durcharbeiten der Konflikte erforderlich: die Anwendung des Erkannten auf immer neue Situationen des täglichen Lebens. Dieses Buch gibt Hinweise, wie ein Wissen um die eigene Charakterstruktur im Alltag umgesetzt werden kann. Viele Menschen schöpfen ihre Lebensmöglichkeiten nicht aus, obwohl man nicht sagen könnte, daß sie Symptome von Krankheitswert aufweisen, die eine Therapie rechtfertigen würden. Nur wenige Menschen machen eine Psychoanalyse, die ihnen ihr Potential zugänglicher machen könnte. Allerdings könnte dieses Buch mit Nutzen von Menschen gelesen werden, die sich aufgrund bestimmter psychischen Symptome in Therapie befinden und ihre eigene Mitarbeit in dieser aktivieren möchten. Für die gemeinsamen Erfahrungen, aber auch für viele kreative Ideen, wie mit Erkanntem umzugehen wäre, habe ich meinen Patientinnen und Patienten und meinen Lehranalysandinnen und Lehranalysanden zu danken, aber auch den Therapeutinnen und Therapeuten, die sich mir zur Supervision anvertraut haben. Für anregende Diskussionen danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Abteilung für klinische Gruppenpsychotherapie der Universität Göttingen, in der ein Schwerpunkt die Paartherapie war. Probleme am Arbeitsplatz habe ich nicht nur in den Therapien, die ich selbst durchführte oder supervidierte, sondern auch in klinischen Einrichtungen als Teamsupervisor kennengelernt. Auch dabei habe ich viel Neues erfahren. Frau Erika Dzimalla und Frau Elisabeth Wildhagen danke ich für das rasche und genaue Schreiben des Manuskripts in verschiedenen Versionen. Frau Dipl. Psych. Gerda Reinhold danke ich für Hilfe bei der Organisation des Manuskripts. Frau Dr. Mathilde Fischer danke ich für Beratung in Darstellungsfragen. Meiner Frau, Dr. Gisela König, und meinem Sohn, AIP Peter König, danke ich für Diskussionen und Geduld.
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Kapitel 2
Die verschiedenen Ausprägungen des Charakters 2.1 Schizoide Struktur Die schizoide Struktur entsteht in der menschlichen Entwicklung sehr früh, etwa wenn das Kind im ersten Lebensjahr wenig zwischenmenschlichen Umgang hatte oder vernachlässigt wurde. Ein schizoid Strukturierter wünscht Nähe zu anderen Menschen und fürchtet sie gleichzeitig. Würde er gleichsam mit dem anderen verschmelzen, würde er seine Individualität verlieren, fürchtet er. Deshalb sucht er nach Menschen, die so sind wie er oder zu denen er eine sogenannte Seelenverwandtschaft empfindet. Mit ihnen könnte er eins sein, ohne seine Individualität zu verlieren. In den mehr oder weniger bewußten Fantasien Schizoider findet sich oft die Fantasie eines Kontakts ohne trennende Haut, so daß ein Eins-Sein möglich wird. Körperliche Kontakte von Menschen geschehen aber "Haut an Haut". Zwei Individuen kommen sich nahe, ohne ineinander überzugehen. Menschen ohne schizoide Persönlichkeitsanteile oder mit geringen solchen Anteilen genießen dabei das Anders-Sein des anderen; ein Mann genießt das Anders-Sein einer Frau, eine Frau genießt das Anders-Sein eines Mannes. In homosexuellen Paarbeziehungen scheint Anders-Sein ebenfalls genossen zu werden. Unterschiede im Alter, in der sozialen Stellung oder in einem mehr männlichen oder mehr fraulichen Rollenverhalten machen den anderen durch Andersartigkeit interessant. Der Schizoide blendet Unterschiede zwischen sich und anderen aber aus, indem er die Unterschiedlichkeiten des anderen ignoriert oder von Unterscheidendem abstrahiert und etwa als Mann eine Beziehung zu einer Frau als einen Kontakt zwischen Mann und Frau in einem allgemeinen Sinne erlebt. In einer bestimmten Frau sieht er "die Frau" oder, in einer altertümlichen Redeweise, "das Weib". Er kann aber auch die Geschlechtsunterschiede ausblenden und als Mann die Beziehung zu einer Frau als irgendeine Beziehung zwischen zwei Menschen sehen, die sich darin gleichen, daß sie Menschen sind. Frau-Sein oder Mann-Sein werden so durch Mensch-Sein abgelöst, in einer allgemeinen, von den Besonderheiten des Männlichen oder Weiblichen abstrahierenden Weise. So erscheinen ihm Menschen als Manifestationen der conditio humana. Abstraktion bestimmt das Denken und Erleben des Schizoiden zentral. Ähnlich wie er in Beziehungen von Details abstrahiert, die ja nur stören könnten, geht er 9
mit seiner sonstigen Umwelt abstrahierend um. Er merkt sich z.B., wenn er eine fremde Stadt besucht, eher einen Eindruck oder eine Atmosphäre als Einzelheiten; manche Schizoide erinnern sich an bestimmte Szenen als typisch für jene Stadt, Szenen, in denen sich Beziehungskonstellationen oder Beziehungsmodi ausdrucken. Hier werden Details nicht als solche gesehen, sondern als Repräsentanten einer Beziehung. Sehr deutlich kommt das in einer berühmten Stelle eines Romans von Marcel Proust zum Ausdruck, wo ein Detail, ein bestimmter Geruch, eine Beziehung wieder auftauchen läßt. Eine Aversion gegen Details in ihrem eigenen Recht behindert Schizoide oft beim Arbeiten. Hier kommt es darauf an, das Beachten von Details zu trainieren. Manche Schizoide schaffen sich sogenannte Eselsbrücken, die ihnen dabei helfen, sich an wichtige Details zu erinnern, die sich anderen ohne eigene Mühe einprägen würden. In Arbeitsgebieten, wo es notwendig ist, eine Übersicht über viele Details zu haben, von denen jedes für sich wichtig ist, wie zum Beispiel in der Inneren Medizin, behelfen sich manche Schizoide mit der Konstruktion eigener Schemata, denen sie bei der Untersuchung eines Sachverhalts folgen. Schizoid Strukturierte sollten auch das Nähe-Distanz-Regulieren üben, besonders das Aufnehmen und das rechtzeitige Beenden eines Kontakts. Dafür sind soziale Kompetenzen notwendig, die der Schizoide wegen seiner primären Kontaktstörung oft nicht erlernt hat. Als Übungsfeld eignen sich Beziehungsfelder, wo durch Rituale ein bestimmtes Beziehungsverhalten vorgegeben ist und wo es darum geht, gemeinsame Interessen zu verfolgen oder eine gemeinsame Aufgabe zu bewältigen. So sind Schizoide oft am Arbeitsplatz in ihrem Kontaktverhalten unauffällig; es ist für sie aber notwendig, daß sie sich in Pausen oder während eines Betriebsausflugs zurückziehen. Kontakte herstellen, managen und beenden sollte von Schizoiden geübt werden. Wichtig ist hier der "Small talk", das Sprechen über Alltäglichkeiten, ohne irgendwelchen Tiefgang. Schizoide, denen es besonders wichtig ist, zum Kern der Dinge vorzudringen, und nur über Wesentliches reden wollen, lehnen Small talk oft ab, obwohl ein Gespräch über das Wetter bewirken kann, daß man in ersten Interaktionen miteinander vertraut wird. Man hört den anderen sprechen und spricht selbst, man lernt die nonverbalen Signale des anderen kennen, erfährt, wie der andere auf die nonverbalen Signale reagiert, die man selbst aussendet. Wer Small talk als ein Kommunikationsmedium erkennt, als ein Vehikel, das indirekt oder implizit auch Träger von Wesentlichem sein kann, wird sich eher für Small talk erwärmen können. Es geht jedenfalls darum, hinter dem banal Erscheinenden Beziehung zu entwickeln. Dabei wird oft auch deutlich, ob die "Chemie" stimmt oder nicht. Für den Schizoiden ist es wichtig, seinen Wunsch nach Übereinstimmung mit dem anderen kritisch zu betrachten. Der Schizoide sehnt sich nach jemandem, der so ist wie er selbst und mit dem er sich wortlos versteht und dem er deshalb sehr nahe sein kann, weil er keine Gefahr sieht, seine Identität zu verlieren, wenn er mit ihm eins würde. Die Illusion der Übereinstimmung wird erzeugt, indem alles, was den anderen vom Schizoiden unterscheidet, nicht wahrgenommen oder bagatellisiert wird. Wird Nähe zu groß, kann die Wahrnehmung sich im übrigen ins Gegenteil verkehren. Dann werden vor allem Unterschiede wahrgenommen, Trennendes wird betont. 10
2.2 Narzißtische Struktur Wahrscheinlich entsteht die narzißtische Struktur aus einem Defizit an Wertschätzung in der Kindheit. Dieses Defizit kann in einem kühlen, unpersönlichen, Leistung über die Person stellenden Verhalten der Eltern bestehen, bis hin zu grober Vernachlässigung durch die Eltern, ohne daß eine Beziehung zu einer anderen, wertschätzenden Person bestand. Grob ist die Entwicklung der narzißtischen Struktur als ein kompensatorischer Prozeß aufzufassen. Selbstüberschätzung als Kompensation mangelnder Wertschätzung durch andere bleibt auch im Erwachsenenleben eine zentrale Persönlichkeitseigenschaft des narzißtisch Strukturierten. Hier verhält er sich entgegengesetzt zu einem depressiv Strukturierten, der andere für viel wichtiger hält als sich selbst. Man spricht vom narzißtischen Größenselbst; der Betreffende schreibt sich herausragende Eigenschaften zu. Andere werden als Personen wenig oder kaum wahrgenommen, nur in ihren Funktionen. In glücklichen Sonderfällen werden die hohen Erwartungen eingelöst, die der narzißtisch Strukturierte an sich selbst hat. Der narzißtisch Strukturierte erhält dann genügend Anerkennung, zum Beispiel als Künstler oder als Politiker. Die meisten narzißtisch Strukturierten haben aber gerade wegen der übersteigerten Erwartungen an sich selbst wenig Erfolg im Beruf. Wenn sie den Erwartungen an sich selbst nicht entsprechen können, kränkt sie das, und die Kränkungen hemmen sie beim Arbeiten. Sie vermeiden dann alle Situationen, wo ihre Selbsteinschätzung objektiviert werden könnte, zum Beispiel melden sie sich nicht zu Examina an. In den Führungsetagen der Industrie finden sich viele erfolgreiche narzißtisch Strukturierte, zu deren Begabung es gehört, geschickt mit Menschen umzugehen. Geschickt heißt hier: manipulativ. Ein Personalchef in einem großen Industriebetrieb, mit dem ich an der Bar eines Kongreßhotels ins Gespräch kam, erzählte mit Stolz, daß er in den vergangenen Wochen dreitausend Leute entlassen hätte, ohne deutlichen Protest der Betroffenen. Das Schicksal dieser Leute schien ihm gleichgültig zu sein; er wollte den Job nur "hinbekommen", ohne daß "Schwierigkeiten" auftraten. Oft geht Erfolg im Beruf bei narzißtisch Strukturierten mit Mißerfolgen in Beziehungen einher. Viele narzißtisch Strukturierte gehen Beziehungen ein, von denen sie sich versprechen, daß sie ihnen ermöglichen werden, mit der Partnerin oder dem Partner zusammen ein "bewundertes Paar" zu bilden. Wenn sich diese Erwartung nicht erfüllt, wird die Beziehung gelöst, auch wenn sie für die Ewigkeit geschlossen zu sein schien. Andere tun sich mit Partnerinnen oder Partnern zusammen, die Anerkennung und Bewunderung bieten, und verlassen sie wieder, wenn Anerkennung oder Bewunderung von anderswo herkommen, zum Beispiel durch berufliche Erfolge. Die große Abhängigkeit von der Anerkennung durch andere wird von den meisten narzißtisch Strukturierten geleugnet, weil sie, ihrer phantasierten Großartigkeit entsprechend, nur von sich selbst abhängig sein möchten. Viele narzißtisch Strukturierte sind auf eine kontinuierliche Zufuhr von Anerkennung angewiesen, auf frühere Anerkennung können sie schlecht zurückgreifen. Es scheint, daß sie keinen "Speicher" für Anerkennung haben. Bleibt die Anerkennung aus, umgeben sie sich oft mit konkreten Zeugnissen besserer Tage, in Form von Fotos und Zeitungsausschnitten. Viele narzißtisch Strukturierte, die sich die notwendige Anerkennung zu verschaffen wußten, bleiben bis ins hohe Alter kompensiert. Sie leiden 11
erst, wenn der Zustrom an Anerkennung altersbedingt versiegt. Funktional wichtige andere, die für ihn arbeiten, darf der narzißtisch Strukturierte nicht als eigenständig erleben. Er integriert sie gleichsam in sein Körperschema, jemand wird "die rechte Hand". Wenn nun die "rechte Hand" eigene Ziele verfolgt und sich nicht genauso verhält, wie der narzißtisch Strukturierte es erwartet, fühlt er sich in hohem Maße bedroht, ähnlich wie wenn seine reale Hand sich plötzlich selbständig machen und eigenmächtig Bewegungen ausfahren würde. Oft wird narzißtischen Strukturen zugeschrieben, daß sie sich ausbeuterisch verhalten. Sie können so arrogant wirken, daß man ihnen unterstellt, sie verachteten ihre Mitmenschen. Das trifft aber nicht zu; sie sehen andere nur als - durchaus oft wichtige Funktionsbündel. Während schizoid Strukturierte einer übergeordneten Sache dienen möchten, dienen narzißtisch Strukturierte in erster Linie sich selbst. Frauen, die am Ruhm eines erfolgreichen narzißtisch strukturierten Mannes partizipieren, können unscheinbar bis häßlich sein. je häßlicher sie sind, desto mehr bewundern sie den Mann, was dieser dringend braucht. Narzißtische Frauen werden oft als hysterisch (s. unten) verkannt. Von den hysterisch Strukturierten unterscheidet sie die Art der Anerkennung, nach der sie streben. Sie wollen nicht nur bezüglich ihrer Geschlechtseigenschaften, sondern in jeder Hinsicht anerkannt und bewundert sein, wobei sie ihre Geschlechtseigenschaften einsetzen können, um Bewunderung zu erreichen. Ihr Verhalten gleicht dann dem hysterischer Frauen; die Motivation, sich so zu verhalten, ist aber existentieller. Entsprechendes gilt auch für Männer. Narzißtisch Strukturierte, denen es gelingt, sich die benötigte Anerkennung zu verschaffen, empfinden meist keine Notwendigkeit, sich zu ändern. Das betrifft eine Minderheit Begabter. Die meisten leiden an den Kränkungen, die der Vergleich ihres realen Selbst mit dem phantasierten Größenselbst immer wieder verursacht. Manchen gelingt es, die Erwartung auf Anerkennung in die Zukunft zu verlegen und sie phantasierend vorwegzunehmen. So kommt es zu einer Art narzißtischer Selbstbefriedigung. Sie phantasieren Szenen, wo Anerkennung, etwa in der Form: "Ich nehme den Nobelpreis in Empfang" imaginiert wird, ähnlich wie bei der Masturbation eine Partnerin oder ein Partner imaginiert werden können. Wenn es einem narzißtisch Strukturierten gelingt, einzuräumen, daß er Anerkennung braucht, kann er bewußt bemüht sein, sie sich zu verschaffen. Von Karajan, der in seinem Leben viel Anerkennung erfuhr, wird berichtet, daß er in einer bestimmten deutschen Stadt keine Gastspiele gab, weil die Leute dort zu wenig klatschten. Bei ihm fielen Begabung und Beruf zusammen. Narzißtisch Strukturierte wählen aber oft Berufe, für die sie vielleicht gar nicht geeignet sind, nur weil sie sich von ihnen mehr Anerkennung versprechen. Die Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung und dem realen Können führt oft zu Versagen im Studium. Die Arbeitsstörung resultiert daraus, daß der Betreffende glaubt, Stoff aufnehmen zu können, ohne ihn sich erarbeiten zu müssen. Die Vorstellung, man könne Großes leisten, wenn man nur die Gelegenheit dazu hätte, findet sich nicht nur in akademischen Berufen, sondern auch in anderen Bereichen. Da kann es von Vorteil sein, wenn die Verhältnisse es nicht gestatten, die Probe aufs Exempel zu machen. So erinnere ich mich an einen Waldarbeiter mit einem IQ von 80, der die feste Überzeugung hatte, seine Intelligenz hätte ausgereicht, um Hochschullehrer zu werden. Er hatte keinen Hauptschulabschluß. Es bestand so kaum die Gefahr, daß er infolge einer Konfrontation mit der Realität je gezwungen gewesen wäre, auf die Vorstellung zu verzichten, daß er unter günstigen Verhältnissen Professor 12
hätte werden können. Beim Umgang mit einer narzißtischen Struktur ist eine soziale Begabung, im Unterschied zu den schizoid Strukturierten, häufig zu beobachten, weil sie einen taktischen oder strategischen Umgang mit Menschen, der in zwischenmenschlichen Kontakten realisiert wird, gut aushalten können. Das Manipulieren von Menschen macht ihnen wenig Skrupel. Ein Versagen in Beziehungen läßt sich dennoch schwer vermeiden. Es gibt zwar durchaus Beziehungen, bei denen die Partnerin bzw. der Partner die bewundernde Rolle einnimmt und damit zufrieden ist, doch selten bleibt es dabei. Meist wünschen sich narzißtisch Strukturierte, die Einblick in ihre Schwierigkeiten im interpersonellen Umgang gewonnen haben, eine Therapie. Diese kann dann sehr aufwendig, aber auch erfolgreich sein. In allen Bereichen kann es dem narzißtisch Strukturierten zum Problem werden, daß er sich mehr am Wie und am Erfolg als am Inhalt der Arbeit freut. Da kann es nützlich sein, wenn er sich klarmacht, daß ein Interesse am Inhaltlichen bei vielen Tätigkeiten eine Voraussetzung des Erfolges ist. Zum Interessiert-Sein kann man sich nicht zwingen, man kann aber nach interessanten Aspekten suchen. So kann es das Interesse an einem Gegenstand erhöhen, wenn man sich dafür interessiert, wie andere Leute damit umgegangen sind, wie etwa andere Leute geschrieben oder gemalt oder wie andere ihre Arbeit zweckmäßig verrichtet haben. Dem narzißtisch Strukturierten liegt es nicht, andere nachzuahmen. Darum soll es aber auch nicht gehen. Der narzißtisch Strukturierte sollte sich Vorbilder suchen, die er akzeptieren kann, weil sie über ein genügendes Maß an Prominenz verfügen. Er wird Vorbilder, deren Arbeitsweise er studieren kann, am leichtesten unter den schon Verstorbenen finden oder unter den sehr Alten, deren aktive Zeit schon zurückliegt. Er kann dann vielleicht der Beste seiner Generation sein, oder, bei bescheideneren Ansprüchen, der Beste in seinem Bereich. Man denke an Caesar, der lieber in einem Dorf der Erste als in Rom der Zweite sein wollte. Manche narzißtisch Strukturierte finden auch über das Studium von Vorbildern Zugang zu einem Interesse an Menschen, zunächst an Menschen, die ihnen zeitlich fern, sehr alt oder schon tot sind. Dabei erfährt man aber etwas über die Lebensumstände und Motive dieser Menschen, und mancher narzißtisch Strukturierte kann dieses Interesse dann auf seine Alltagsbeziehungen übertragen.
2.3 Depressive Struktur Ein depressiv strukturierter Mensch ist auf andere Menschen in besonderer Weise angewiesen. Im Grunde hat er noch nicht gelernt, sich selbst zu versorgen, oder besser: sich selbst zu betreuen. Mit dem Wort "betreuen" möchte ich ausdrucken, daß es nicht nur um materielle, sondern auch um emotionale Versorgung geht, wie es in der Redewendung "für andere sorgen" zum Ausdruck kommt. Der Depressive, der also in seiner Kindheit nicht ausreichend "umsorgt" wurde nicht in einer Art und Weise, die es ihm ermöglicht, dieses Umsorgen als ein Sorgen für sich selbst zu übernehmen -, wird sich um andere kümmern, die er wichtig nimmt; vielleicht aber nicht so gut, wie wenn er das Umsorgen selbst erfahren hätte. Andere sind für ihn wichtig, weil er auf ein Geliebtwerden wartet, das er zu wenig erfuhr. Er wird andere materiell umsorgen können in der Hoffnung, etwas zurückzubekommen. 13
Voraussetzungslos und erwartungslos lieben ist seine Sache nicht. Um das zu können, mag er sich selbst zu wenig. Es gibt depressiv strukturierte Menschen, die für sich zu sorgen scheinen, etwa indem sie viel essen. Dieses Essen ersetzt Emotionales, das der Depressive sich in der Beziehung zu sich selbst nicht geben kann und das er von anderen fordert, aber oft nicht erhält, eben weil er es fordert. Wenn Depressive andere versorgen, kommt ihre Art der Versorgung oft nicht gut an. Versorgung wird aufgedrängt, oder sie ist mit einer Erwartung an Gegenleistungen in Form von Dankbarkeit verknüpft. Dankbarkeit entsteht aber freiwillig, sie entsteht nicht, weil sie gefordert wird. Unter den hier beschriebenen Umständen sind Partnerbeziehungen depressiv Strukturierter schwierig. Depressive erleben sich oft als Menschen, die zu viel lieben und nichts Entsprechendes zurückbekommen. Das Buch von Norwood (1986) Wenn Frauen zu sehr lieben beschreibt im Grunde Frauen mit einer depressiven Struktur. Ihre Tragik ist, daß die Art von Liebe, die sie dem Partner entgegenbringen, nicht geeignet ist zu bewirken, daß sie intensiv wiedergeliebt werden. Zwar sind vielen Männern depressive Frauen ganz recht, vor allem Männern, die eine materielle Versorgung und eine die Beziehung sichernde Abhängigkeit wünschen. Doch auch diese Männer haben meist den Eindruck, daß ihnen in der Beziehung etwas fehlt: wirkliche Wärme und ein Stehen zum Partner aus freiem Entschluß. Roger Whitacker singt in einem seiner englischen Lieder: "A woman, warm and free, standing by my side". Depressiv strukturierte Männer "opfern sich für die Famille", aber nicht in einer Art und Weise, die ihnen so gedankt werden kann, wie sie es erwarten. Wer sich verausgabt und auf eigene Interessen verzichtet, wird auf die Dauer uninteressant, weil er als Person, abgegrenzt und frei, nicht vorhanden ist. So wundern sich Männer wie Frauen, die sich für Partner und Kinder "aufopfern", oft, daß sie verlassen werden, wenn der Partner sie nicht mehr braucht. Viele Frauen in den Fünfzigern machen diese Erfahrung, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Wahrscheinlich würden in diesem Lebensabschnitt auch viele Ehefrauen von depressiven Männern das Weite suchen, wenn die Chance, einen neuen Partner zu finden, besser wäre - Männer dieser Altergruppe suchen erfahrungsgemäß nach jüngeren Frauen. In Grenzen kann auch ein Erwachsener noch lernen, für sich selbst u sorgen. Dabei geht es nicht nur um materielle Versorgung ("Ich koche mir was"), sondern auch um emotionale Versorgung, die eine Sympathie für sich selbst zur Voraussetzung hat. In der Werbung wird damit geworben, daß Frauen bestimmte Kosmetika oder Kleidungsstücke kaufen sollen, "weil ich es mir wert bin". Man kann tatsächlich beobachten, daß ein materielles Für-sichSorgen die Selbsteinschätzung des depressiv Strukturierten zum Positiven hin verändert. Für jemanden sorgen bedeutet für sie jemanden mögen. Wenn sie für sich selbst sorgen, scheinen sie sich mehr zu mögen. Wirksam kann für den depressiv Strukturierten auch sein, wenn er ein Angenommensein erfährt. Der Begründer der Gesprächspsychotherapie Carl Rogers, betonte, daß ein Gesprächspsychotherapeut sich um eine vorbehaltlose Wertschätzung des Patienten bemühen soll. Im Grunde ist das ein Prinzip aller Psychotherapien. Ein Therapeut, der einen depressiven Patienten nicht schätzen kann, wird ihm auch nicht helfen können. Wenn er sich aber vorstellen kann, wie ein Depressiver sich zum Positiven hin entwickeln könnte, wird er den Patienten auch wegen seiner prospektiven Chancen mögen. Er gibt dem Patienten gleichsam Kredit auf die Zukunft. Erhebliche Probleme in Beziehungen ergeben sich aus der latenten Gier scheinbar bescheidener depressiv Strukturierter. Orale Wünsche, die blockiert sind, 14
stauen sich auf. Außerdem bleiben geblockte Wünsche archaisch. Weil sie nicht wahrgenommen werden und das Handeln nicht bestimmen, können sie auch nicht in Interaktion mit anderen Menschen sozialisiert werden. Ein depressiv strukturierter Mensch ist im bewußten Persönlichkeitsbereich oft bedürfnislos. Im unbewussten ist er gierig. Manchmal zeigt sich diese Gier indirekt und ohne daß der depressiv Strukturierte es merkt, oder sie kann erschlossen werden. So ist bei depressiv Strukturierten immer wieder zu beobachten, daß sie trotz aller Bescheidenheit und ohne es zu wollen, mehr Raum einnehmen, als ein anderer ihnen geben will: Depressiv strukturierte Patienten, die einen Arzt oder Rechtsanwalt konsultieren, breiten sich auf dessen Schreibtisch mit allerlei persönlichen Gegenständen aus. Depressiv Strukturierte beanspruchen die Aufmerksamkeit anderer für ihre Erzählungen, aber auch für Klagen und Vorwürfe. Obwohl sie so bescheiden sind, bekommen sie aber gerade dann oft noch weniger, als sie bewußt beanspruchen. Wünsche, deren Begrenztheit in Auseinandersetzungen mit der Realität nicht erfahren werden konnte, verbleiben im Stadium kindlicher Unbegrenztheit. Daß Grenzen zu beachten sind, muß ein Kind erst erfahren und erlernen. Der depressiv Strukturierte hat gelernt, seine Wünsche zu unterdrücken. Sie bleiben in seiner unbewußten Wunschwelt kindlich unbegrenzt. So finden sich in Träumen depressiv Strukturierter, wo Verdrängtes sich zeigen kann, Fantasien in unbegrenzter Fülle. Bei anderen depressiv Strukturierten, deren Abwehr dichter hält, herrscht auch in den Träumen eine karge Welt. Der Wunsch nach Unbegrenztheit äußert sich dort, wo der depressiv Strukturierte meint, ihn sich gestatten zu können, zum Beispiel was die Dauer von Beziehungen angeht. In unserer Gesellschaft sind Beziehungen, die ein Leben lang dauern, positiv konnotiert. Treue ist etwas Gutes. Depressiv Strukturierte fordern aber in einer jeden Beziehung unbegrenzte Dauer, auch wenn der andere an keine Dauerbeziehung denkt. Daraus ergeben sich Konflikte. Auch in therapeutischen Beziehungen fällt es depressiv Strukturierten schwer, sich auf ein zeitlich begrenztes Angebot einzulassen. Insgeheim wünschen sie sich einen Therapeuten oder eine Therapeutin, der oder die ihnen zeitlich unbegrenzt zur Verfügung steht, ein Leben lang und am liebsten Tag und Nacht. Solche Wünsche klingen unvernünftig, und wenn man einem depressiv Strukturierten direkt unterstellt, solche Wünsche zu haben, wird er sich mißverstanden fuhren Lind beleidigt sein. Der Wunsch nach Dauer zeigt sich aber auf Schritt und Tritt, zum Beispiel eben in der Zurückweisung eines zeitlich begrenzten therapeutischen Angebots, wobei dann oft andere Gründe vorgeschoben werden, zum Beispiel, daß mit dem Therapeuten, der ein zeitlich begrenztes Angebot machte, "die Chemie nicht stimmte". Die Chemie hätte aber "gestimmt", wenn der Therapeut ein zeitlich unbegrenztes Angebot gemacht hätte. Im Berufsleben zeigt sich der Wunsch nach unbegrenzt dauernden Beziehungen in einer Einschränkung der Mobilität. Depressiv Strukturierte werden einen Betrieb, in dem sie Beziehungen eingegangen sind, ungern verlassen, denn das würde heißen, sich von vielen Menschen zu verabschieden. An einer neuen Arbeitsstelle versuchen depressiv Strukturierte oft, festere und engere Bindungen mit Vorgesetzten und Mitarbeitern einzugehen, als diese anbieten wollen, was auch wieder zu Konflikten führt. Eine wesentliche Aufgabe des depressiv Strukturierten, der in Beziehungen besser zurechtkommen will, wäre also, sich den Wunsch nach Unbegrenztheit bewußtzuma15
chen und sich damit auseinander zusetzen, daß alles im Leben endlich ist, wobei nicht nur der Tod eine Beziehung beenden kann, sondern auch der Entschluß eines Partners, Mitarbeiters, Kollegen oder Vorgesetzten. Für den depressiv Strukturierten ist Dauer ein Gut an sich, für andere ist sie nur dann von Bedeutung, wenn das, was erhalten bleiben soll, gut ist. Damit will ich nicht behaupten, daß Menschen, die nicht depressiv strukturiert sind, Beziehungen leichtfertig aufgeben. Sie tun das nur leichter als Depressive. Das Unbewußte wirkt indirekt, auf nicht faßbaren Wegen auf das Bewußte ein, wobei es sich der Kontrolle durch das Ich entzieht. Für den depressiv Strukturierten ist es wichtig, sich über die unrealistische Grenzenlosigkeit seiner Wünsche klar zu werden. Die Nichterfüllung der grenzenlosen Wünsche wird vom depressiv Strukturierten nämlich als Bestätigung dafür genommen, daß er nichts wert sei. Er merkt nicht, daß seine Erwartungen das sozial Übliche oder das real Mögliche übersteigen. Wäre er mehr oder auch nur etwas wert, würde der Partner, der Arbeitskollege, der Therapeut ihm mehr Interesse entgegenbringen und ihm mehr Zeit widmen, so meint er. Die Nichterfüllung grenzenloser Wünsche stabilisiert auf diese Weise das schlechte Selbstwertgefühl des depressiv Strukturierten. Das schlechte Selbstwertgefühl depressiv Strukturierter wird ebenfalls durch die frustrierte Erwartung stabilisiert oder verstärkt, daß Arbeit Liebe bewirken könne. Wenn man für jemanden arbeitet, kann das Dankbarkeit oder Bewunderung hervorrufen, nicht aber Liebe. Das gilt für Liebe im erotischen und sexuellen Sinne ebenso wie für allgemeinere Formen der Zuneigung. So kann ein Mitarbeiter, der besonders viel arbeitet, erwarten, vom Chef oder von Mitarbeitern geliebt zu werden, während die Kolleginnen und Kollegen seine Einstellung zur Arbeit als konkurrenzmotiviert, als "Arbeitssucht" oder als ein Mittel ansehen, sich beim Chef einzuschmeicheln und der Chef sie nicht schon deshalb, weil sie viel arbeiten, sympathisch findet. Die unausgesprochene Erwartung, für Arbeit geliebt zu werden, ist auf die Dauer denen, an die sie sich richtet, meist lästig, oder man findet sie komisch. Der depressiv Strukturierte wird in seiner Erwartung, durch Arbeit Liebe zu gewinnen, enttäuscht, weil die Vorstellung, man könne für Arbeit geliebt werden, auf einem kategorialen Denkfehler beruht. Liebe ist etwas anderes als Arbeit und kann durch Arbeit nicht erkauft werden. Dagegen kann ein sympathisches Aussehen oder Verhalten Liebe auslösen. Eine weitere Problematik liegt darin, daß die Arbeitsproduktivität depressiv Strukturierter oft nicht dem Arbeitseinsatz entspricht. Ein depressiv Strukturierter meint, es komme vor allem darauf an, viel zu arbeiten und sich dabei anzustrengen, während den Arbeitgeber mehr die Ergebnisse interessieren. Sind die Aufmerksamkeit und das Streben vor allem darauf gerichtet, viel zu arbeiten, wird die rationelle Einteilung der Arbeit oft vernachlässigt, und die Arbeitsproduktivität leidet darunter. Ein depressiv Strukturierter kann es als "ungerecht" empfinden, daß Menschen, die viel weniger arbeiten, mehr Erfolg haben. Sie haben mehr Erfolg, weil sie die Arbeit effizienter gestalten, sich auf das Wesentliche konzentrieren. Es fällt den meisten Menschen mit anderen Strukturen (außer der phobischen, s. unten) leichter, eine Arbeit zu beginnen. Das hat mehrere Ursachen: Zum einen steht ihnen Initiative zur Verfügung, zum anderen können sie es sich gestatten, Funktionslust zu empfinden. Der Depressive hat Mühe, eine Arbeit zu beginnen, weil seine Initiative blockiert 16
ist. Er muß von außen, durch andere Personen oder durch die Verhältnisse oder von innen, durch sein Leistungsgewissen, zur Arbeit gezwungen werden. Eine weitere Ursache für die oft unterdurchschnittliche Arbeitsleistung liegt in mangelhafter Arbeitsplanung. In der Sicht des depressiv Strukturierten formen sich komplexe Arbeitsaufgaben, die sich aus verschiedenen Tellarbeiten zusammensetzen oder in verschiedene Detailarbeiten aufgeteilt werden könnten, zu einem Berg auf, von dem der Depressive sich schwer vorstellen kann, daß er ihn bewältigen wird. Es ist ein "Haufen Arbeit", der den Depressiven erwartet. Die Hemmung der Initiative läßt sich beim Depressiven am besten über eine Freisetzung der oralen Kernimpulse verstehen, mit denen Initiative in der menschlichen Entwicklung beginnt. Initiative kann gewonnen werden, indem der depressiv Strukturierte an seinen oralen Blockierungen arbeitet, etwa indem er lernt, für sich selbst zu sorgen, orale Impulse zuzulassen und mit ihnen gestaltend umzugehen, nachdem er sie mit dem faktisch Möglichen in Beziehung gesetzt hat. Solange da noch wenig erreicht ist, kann der depressiv Strukturierte sich damit helfen, daß er durch Terminkalender oder mit Hilfe seiner Sekretärin, die ihn auf bestimmte Aufgaben hinweist, einen Anstoß bekommt, einen Arbeitsgang zu beginnen. In manchen Arbeitsfeldern sind solche Anstöße durch die Arbeitsorganisation gegeben. Bei einem ambulant tätigen Arzt sitzen Patienten im Wartezimmer und fordern schon durch ihre Anwesenheit auf, sich mit ihnen zu befassen. In einer Klinik beginnt die Visite zu einer bestimmten Zeit, die Mitarbeiter versammeln sich, und der Stationsarzt wird durch sie angestoßen, Visite zu machen. Auf anderen Stationen kommt die Stationsschwester und sagt: "Wollen wir nicht mit der Visite anfangen?" So findet man unter Ärzten viele depressiv Strukturierte, die mit dem Teil ihrer Arbeit gut zurechtkommen, zu dem sie von außen angestoßen werden. Sie haben eher Schwierigkeiten mit Arztbriefen. Die Akten auf einem Schreibtisch können ja nicht sprechen, und man kann sich ihres Anblicks entledigen, indem man etwas drauflegt oder sie in einer Schublade verschwinden läßt, "um sie später zu bearbeiten". Die Arbeitsorganisation selbst sollten depressiv Strukturierte überprüfen und mit der anderer vergleichen, die dieselbe Arbeit tun. Bei einer übersichtlichen Arbeitsplanung entfallen oft schon Tätigkeiten, die nicht erforderlich sind, weil sie zum Arbeitsergebnis nichts beitragen. Ähnlich wie den Zwanghaften fällt es den Depressiven, wenn auch aus anderen Gründen, schwer, eine Hierarchie der Prioritäten aufzustellen. Der Zwanghafte findet alles wichtig, er kann Wichtiges von Unwichtigem nicht gut unterscheiden. Dem Depressiven widerstrebt es prinzipiell, Arbeit zu verweigern oder an andere abzugeben. Im Gegenteil, er akquiriert Arbeit. In diesem Zusammenhang erzähle ich immer von einem Kollegen, der, als ich noch Assistent an einer Klinik war, auf meinem Schreibtisch eine Akte liegen sah und mit den Worten an sich nahm: "Da steht mein Name drauf, das ist wohl für mich." Tatsächlich stand nicht sein, sondern nur ein ähnlicher Name auf der Akte. Depressiv Strukturierte sagen bei Arbeiten, die schnell zu erledigen sind, oft: "Das ist keine Arbeit." Diese Einschätzung hat zur Folge, daß solche Arbeiten bei der Arbeitsplanung nicht berücksichtigt werden. Depressiv Strukturierte tun dann eine Menge Dinge, die "keine Arbeit" sind. So kann jemand seine Fotokopien prinzipiell selbst machen, weil das Gerät ja unweit seinem Arbeitszimmer auf dem Korridor steht und die Arbeit schnell erledigt ist, obwohl er sie an eine Sekretärin abgeben könnte. Hier kommt oft auch eine Schwierigkeit hinzu, andere zu bitten, eine Arbeit zu tun. 17
Der Depressive empfindet, daß die Arbeit "für ihn" getan wird, auch wenn es eine Arbeit ist, die in Wahrheit für den Betrieb getan wird. Alles, was er selbst tun kann, muß er auch tun. Er darf möglichst niemanden damit belasten. Diese Motivation unterscheidet sich von der Motivation des Zwanghaften, der meint, er müsse alles selbst machen, weil es niemand so gut macht wie er. Hier kann ein Depressiver sich damit helfen, daß er seine tägliche Arbeit daraufhin überprüft, was von der Sache her er selbst tun muß und was andere für ihn tun könnten. Depressiv strukturierten Vorgesetzten liegt es nicht, Übersicht über die anliegenden Aufgaben herzustellen und die Aufgaben zu gewichten. Es kann dann auch zweckmäßig sein, Aufgaben zurückzustellen. Da fürchtet der depressiv Strukturierte allerdings, mit einem gewissen Recht, daß aus einer verschobenen Arbeit eine ewig aufgeschobene wird, die den Berg des Unerledigten vergrößert. Arbeit zurückweisen wird der depressiv Strukturierte nur, wenn er sich krank fühlt oder "wirklich nicht mehr kann". Da depressiv Strukturierte nicht nur ihren Anspruch auf Liebe, sondern auch ihren Selbstwert in viel Arbeit finden, berauben sie sich auch einer Möglichkeit, ihr Selbstwertgefühl zu verbessern, wenn sie Arbeit abgeben. Wenn man den Arbeitsstil von depressiv Strukturierten betrachtet, fällt seine Unzweckmäßigkeit auf, und man fragt sich, wie es kommt, daß dem Betreffenden nicht auffällt, wie unnötig angestrengt er arbeitet. In westlichen Industriegesellschaften hängt das vermutlich auch damit zusammen, daß angestrengte Arbeit positiv konnotiert wird. Wenn man von jemandem sagt: "Er strengt sich nicht an", ist das eine negative Beurteilung. Daß jemand Arbeit mit wenig Anstrengung erledigen kann, weil er zweckmäßig arbeitet, findet wenig Platz in einer Arbeitsethik, bei der es mehr um die Anstrengung geht als um die Ergebnisse. In ein solches Umfeld paßt der Depressive gut hinein. Natürlich gibt es auch ein Gegenstück zu der Vorstellung, man müsse sich anstrengen: die Vorstellung, man könnte mit ganz wenig Arbeit ganz viel erreichen. Diese Vorstellung findet sich in vielen Märchen, wo durch Zauberei viel bewirkt wird. Durch Zauberei entsteht ein Haus, ein Schloß, wird ein Pferd hergezaubert, werden Feinde besiegt. Diese Vorstellungen stehen der mitteleuropäischen Arbeitsethik entgegen. Bei depressiv Strukturierten findet man sie dennoch oft, weil sie von der Vorstellung entlasten, zum Arbeiten verpflichtet zu sein. Fantasien von einem großen Lottogewinn, der bewirkt, daß man nie mehr zu arbeiten braucht, entsprechen dem Märchen vom Sterntalermädchen, das arm und frierend unter freiem Himmel steht und auf das dann die Sterntaler herabregnen, die es mit seinem Kleidchen auffängt. Daß ein Depressiver, der tatsächlich zu Geld käme, die Arbeit sehr vermissen würde, steht auf einem anderen Blatt. Ein Märchen, in dem die Gier des Depressiven zum Ausdruck kommt, ist das Märchen Vom Fischer und seiner Frau. Der Mann rettet den Butt, der Butt erfüllt Wünsche der Frau, die ihm der Mann übermittelt, und die Frau ist mit dem, was sie bekommt, nie zufrieden, bis sie schließlich so viel fordert, daß der Butt böse wird und alles wieder wegnimmt. Natürlich ist Unzufriedenheit ein wesentlicher Motor des Fortschritts. Es gibt depressiv Strukturierte, deren Unzufriedenheit sie unter günstigen Umständen zu Leistungen antreibt. Die Regel ist das aber nicht, weil die depressive Struktur sich ja auf die Leistungsfähigkeit selbst negativ auswirkt. Eine andere Möglichkeit, wie sich die Leistungsfähigkeit des Depressiven steigern kann, besteht in der sogenannten "altruistischen Abtretung". Wer das Erreichte nicht selbst genießen kann, sich aber daran freut, wenn das Erreichte anderen nutzt, kann 18
sich so zu einem sinnvollen Arbeitseinsatz motivieren lassen. Die Fähigkeit, sich mit anderen mitzufreuen, wenn man sich schon selbst nicht freuen kann, "rettet" viele Depressive, die sonst nicht nur wegen ihr s Mangels an Initiative und ihrer schlechten Arbeitsorganisation, sondern auch mangels der Freude am Erreichten in Passivität versinken würden. Das ist sicher einer der Gründe, warum man depressiv Strukturierte viel in sozialen Berufen findet. Ein weiterer Grund dürfte sein, daß in sozialen Berufen der andere Mensch wichtig genommen werden soll. Der depressiv Strukturierte nimmt sich selbst ja eben nicht wichtig, wohl aber andere.
2.4 Zwanghafte Struktur Eine Zwangsstruktur entsteht durch eine Erziehung, die wenig Freiräume läßt und Willkür bestraft. Es findet drastisch gesagt eine Art Dressur statt. Der Anteil von Menschen in einer Gesellschaft mit einer Zwangsstruktur variiert je nach Kulturen. Deutsche und Deutschschweizer gelten als eher zwanghaft, ebenso die Japaner. Infolge der westlichen Einflüsse hat in Westdeutschland der Anteil Zwanghafter nach dem Zweiten Weltkrieg abgenommen, in Ostdeutschland infolge der östlichen Einflüsse. In diesem Buch geht es um den Umgang und um die Veränderungsmöglichkeiten des eigenen Charakters. Wer sich verändern will, muß einen Grund sehen, sein gegenwärtiges Fühlen und Handeln in Frage zu stellen. Zur Zwangsstruktur gehört aber gerade, daß man den Eindruck hat, alles richtig zu machen. Die Vorstellung, er könne manche Dinge nicht richtig machen oder in manchen nicht recht haben, beunruhigt und ängstigt den Zwanghaften. Ganz allgemein ist er kein Freund von Veränderungen; das bezieht sich nicht nur auf Beziehungen, wie dies bei depressiv Strukturierten der Fall ist. Der Zwanghafte scheut jede Art von Veränderung. Die geringe Veränderungsmotivation Zwanghafter äußert sich deutlich in Psychotherapien. Zwanghafte zeigen wenig Neugier auf sich selbst. So wie es ist, ist es eigentlich "richtig". Veränderungen würden ein unkalkulierbares Risiko bedeuten, das sie nicht eingehen möchten. Dies ist mit ein Grund, warum die Therapien von Zwanghaften oft lange dauern und wenig Veränderung bewirken. Die Probleme Zwanghafter in ihren Beziehungen und in der Arbeit müssen groß sein, um einen Leidensdruck zu erzeugen, der stärker ist als der Wunsch, alles so zu belassen, wie es ist. Als ich 1968 meine psychoanalytische Ausbildung begann, wurde von einer Untersuchung erzählt, die belegte, daß bezüglich des Faktors Rigidität deutsche Grundschullehrer höhere Werte erreichten als englische Patienten mit einer SymptomZwangsneurose. Es ist mir leider nie gelungen, die Quelle zu eruieren; das Ergebnis dieser Untersuchung entsprach aber den damaligen Einschätzungen des deutschen Volkscharakters; man denke auch an Adornos Untersuchungen über den autoritären Charakter 1969. Heute gleichen sich die Menschen in Europa mehr und mehr einander an, und damit hat die deutsche Bevölkerung viel an Zwanghaftigkeit verloren; man könnte auch sagen, daß sie sich davon ein Stück weit befreit hat. Nun hat Zwanghaftigkeit auch etwas Positives. Ein britischer Psychoanalytiker (Smith 1999) schreibt Freud einen Zwangscharakter zu und betont dessen positiven Seiten. Ich kann mir schwer vorstellen, daß ein deutscher Psychoanalytiker, der die Zwanghaftigkeit der Väterund Großväter-Generation kennengelernt hat, zu einer derart positiven Einschätzung zwanghafter Persönlichkeitseigenschaften kommen würde. Genauigkeit, Zuverlässig19
keit und Sachlichkeit sind aber positive Sekundärtugenden. In Deutschland haben wir sie überspitzt als Pedanterie, Rigidität und Gefühllosigkeit kennengelernt. Unter einem Zwanghaften stellen wir uns eher einen Eichmann vor als einen Freud. Andererseits sind wir stolz auf die gute Verarbeitung und die Zuverlässigkeit unserer Autos, die in diesen Punkten nur von den Autos eines anderen ziemlich zwanghaften Volkes übertroffen werden, des japanischen. Wir freuen uns über die im Vergleich zu vielen südlichen Ländern immer noch hervorragende Pünktlichkeit unserer Züge, die Sauberkeit unserer Gaststätten und Hotels. So wie sich jede Charakterstruktur mit jeder anderen kombinieren kann, gibt es auch verschiedene Kombinationen von Zwangsstrukturen mit anderen Strukturen. Wir kennen die schizoid-zwanghafte, die narzißtisch-zwanghafte, die depressiv-zwanghafte, die phobisch-zwanghafte und die hysterisch-zwanghafte Struktur. Letztere Kombination kann für die Arbeitsbeherrschung fruchtbar sein, weil sich in ihr Zuverlässigkeit und Spontaneität verbinden können. Die Erscheinungsformen der Zwangsstruktur sind vielfältig. Zu den oben genannten Eigenschaften kommt noch eine Neigung, eigene unbewußte Gefühle und Handlungsimpulse, die Angst- oder auch Schuldgefühle hervorrufen würden, anderen zuzuschreiben. Man spricht von einer Neigung zur Projektion. Das ist ein Abwehrmechanismus, der bei Zwanghaften häufig vorkommt. Er äußert sich zum Beispiel darin, daß Zwanghafte in ihrer Umwelt nicht nur Ordnung schaffen wollen, um eine bessere Übersicht zu bekommen und die Umwelt besser kontrollieren zu können, sondern auch deshalb, weil Unordnung in ihrer Umwelt sie anregt, eigene "unordentliche" Impulse und Verhältnisse im unbewußten Bereich ihrer Persönlichkeit nach außen zu projizieren. Die vorhandene Unordnung wirkt gewissermaßen als Projektionsauslöser. Wenn der Zwanghafte in seiner Umwelt Ordnung schafft, versucht er auch, die eigene innere, nach außen projizierte Unordnung in Ordnung zu verwandeln. Da alles, was mit spontanen Impulsen zusammenhängt, blockiert werden muß, weil der Umgang damit als Kind nicht geübt werden konnte, legt der Zwanghafte großen Wert darauf, rational zu handeln. Er fürchtet einen Durchbruch seiner unbewußten, andrängenden Willkür. Weil er diese Impulse auf andere projiziert, legt er großen Wert darauf, daß Menschen, mit denen er umgeht, ihr Handeln rational begründen. Manche Zwanghafte projizieren auch ihre eigene unbewußte Tendenz nach außen, Dinge schmutzig zu machen - eine Tendenz, die man bei vielen ganz kleinen Kindern beobachtet. Bei Zwanghaften wurden die Impulse früh abgeblockt, etwa weil derartige Handlungen bei Eltern, die selbst zwanghaft waren, Abscheu hervorriefen. Die Impulse blieben in ihrer ursprünglichen abgekapselten Form im Unbewußten erhalten. Bei Zwanghaften kann man auch beobachten, daß sie sich durch Schadstoffe in der Umwelt stärker gefährdet fühlen als andere. Sie streben eine reine Umwelt an. Zu den realen Gründen, die dafür sprechen, kommt bei ihnen noch etwas Irrationales hinzu. Sie projizieren das Ergebnis eigener abgewehrter Beschmutzungstendenzen auf ihre Umgebung. Natürlich sind Menschen, die "grüne" Ziele mit einem fundamentalistischen Fanatismus verfolgen, schwer oder gar nicht davon zu überzeugen, daß ihre Sichtweise auch mit ihrem Unbewußten zu tun haben könnte. Sie meinen, daß nur sie die Umwelt richtig sehen. Eine andere Tendenz, die man bei Zwanghaften beobachten kann, ist die Verschiebung der Aufmerksamkeit auf das Kleinere oder das Kleinste. Hier wird ein Ab20
wehrmechanismus eingesetzt, der zum Beispiel Konflikte in einem weniger wichtigen Bereich stattfinden läßt, wo man hofft, eine Lösung zu finden. Eine solche Tendenz konnte man, als die Spannungen zwischen Ost und West größer waren als heute, in den Diskussionen um die Atomkraftwerke beobachten. Diese Diskussionen haben an Intensität verloren, seit die Spannungen zwischen Ost und West geringer geworden sind. Es gibt in den ehemaligen Ostblockstaaten noch Atomkraftwerke, die ebenso unsicher sind wie das von Tschernobyl und die noch nicht abgeschaltet wurden. Auch die deutschen Atomkraftwerke mit höheren Sicherheitsstandards sind nicht ungefährlich. Man ist aber eher bereit, diese Gefahren zu akzeptieren und sich auf vieljährige Laufzeiten einzulassen, weil die Angst vor der Gefahr eines Atomkrieges mit seinen katastrophalen Folgen jetzt nicht mehr in gleichem Maße auf die Atomkraftwerke verlagert wird. im täglichen Leben wirkt sich diese Verschiebung oft in Diskussionen um unwesentliche Details aus, die plötzlich wichtig werden. Wer merkt, daß er um Dinge von zweit- oder drittrangiger Bedeutung intensiv streitet, sollte deshalb überlegen, woher die Intensität kommt, mit der die Auseinandersetzung geführt wird. Ein jeder Leser kann vermutlich in seinem Arbeitsbereich Verschiebungen auf Kleineres oder Kleinstes entdecken. So wird in Betrieben, bei denen an der organisatorischen Grundstruktur etwas geändert werden müßte, um die Produktion und damit die Qualität der Produkte zu verbessern, die Diskussion oft auf die Werbung verlagert. Man brauche die Qualität der Produkte nicht zu erhöhen, man müsse mir stärker für sie werben. Es kommt dann zu Diskussionen darum, welche Werbefirma beauftragt werden sollte, ob die Entwürfe passend sind und ob der Werbeetat nicht erhöht werden sollte. Das sind wichtige Fragen, aber das Kernproblem der Qualitätsverbesserung berühren sie nicht. Auch in privaten Beziehungen, besonders in Partnerschaften, werden grundsätzliche Differenzen oft ausgeklammert, und dies auch dann, wenn sie lösbar wären, eben weil eine Diskussion dieser Bereiche zunächst einmal zu erheblichen Konflikten führen würde. Statt dessen streitet man sich um weniger zentrale Dinge. So kann in einer Partnerschaft, wo ein Konflikt darüber besteht, ob man in der Stadt oder einem nahegelegenen Dorf wohnen soll, eine Diskussion darüber ausbrechen, ob im Badezimmer der Wohnung, die man zur Zeit hat, Fliesen oder Teppichboden verlegt werden sollen. Manche Streitpunkte wirken auf den Außenstehenden dann komisch wegen der Diskrepanz zwischen der Geringfügigkeit des Inhalts und der Intensität, mit der darum gestritten wird. Da der Zwanghafte eigene Willkürimpulse fürchtet, hat er auch Angst vor sozialen Bedingungen, in denen Willkürimpulse wirksam werden könnten. Deshalb fühlt er sich in Hierarchien wohl, wo sein Handeln von oben her begrenzt wird und klar ist, was jeder zu tun hat. Außerhalb einer Hierarchie fürchtet der Zwanghafte Verantwortung. Es liegt ihm eher, die Aktivitäten anderer zu behindern und Veränderungen zu boykottieren, als selbst aktiv zu sein. Konflikte, bei denen nicht von vornherein klar ist, wer gewinnt, versucht er zu vermeiden oder zu umgehen. Das gilt auch für innere Konflikte. Er legt sich auf eine "richtige" Sichtweise und Vorgehensweise fest. Mit inneren Widersprüchen geht er so um, daß er das einander Widersprechende "kompartimentalisiert". Wünsche oder Handlungen, die miteinander in Konflikt kommen können, haben in seinem Erleben "nichts miteinander zu tun". So kann ein solider Ehegatte und treusorgender Familienvater eine Geliebte haben. Darauf angesprochen, sagt er: "Das hat nichts miteinander zu tun". Die Geliebte sitzt in dem einen Kompartiment, die Familie im anderen. jemand kann für den Schutz des Lebens und für eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs sein. In diesen 21
beiden Einstellungen liegt ein Konflikt begründet, der wohl nur dadurch zu lösen ist, daß man den Schutz des Lebens genauer definiert und dadurch einschränkt. Meint man aber, Abtreibung und Schutz des Lebens hätten nichts miteinander zu tun, erspart man sich den Konflikt. Im Kontrast dazu steht die starke Neigung Zwanghafter zur Ambivalenz. Zwanghafte können sich oft schwer entscheiden. Sie wollen die einzig richtige Entscheidung treffen, ob es um die Berufswahl, die Partnerwahl oder die Wahl eines Kleidungsstücks geht. Manchmal flüchten sie sich dann in überstürzte Entscheidungen, um den Entscheidungskonflikt zu beenden. Diese Angst sich zu entscheiden ist in der schönen Literatur oft beschrieben worden, am eindrücklichsten vielleicht in der Erzählung von Tschechow: Der Mensch im Futteral. Entscheidungen fallen dann am treffendsten aus, wenn man alle Faktoren, die Einfluß auf sie haben können, berücksichtigt und nach ihrem Stellenwert gewichtet. Dem stellt sich aber die Neigung des Zwanghaften zur Kompartimentalisierung entgegen. Sie verhindert, daß er sich einen Oberblick verschafft. Er sieht immer nur den einen oder den anderen Faktor. Während der hysterisch Strukturierte alles, was ihm nicht paßt, bagatellisiert ("Von einmal, das kann ja nicht sein", heißt es in einem Bänkellied, gesungen von einer Frau, die ungewollt schwanger wurde), ist für den Zwanghaften alles wichtig. Viele Zwanghafte treffen unzweckmäßige Entscheidungen, die sie dann mit Macht vertreten, weil sie es nicht aushalten können, es nicht "richtig" gemacht zu haben. Andere wieder bezweifeln jede von ihnen getroffene Entscheidung, möchten sie am liebsten rückgängig machen und von vorn anfangen. Eine bessere Obersicht über das zu Entscheidende kann der Zwanghafte auf einem schematischen Wege erreichen, zum Beispiel indem er in einer Liste aufschreibt, was für und was gegen eine Entscheidung spricht, und die einzelnen Faktoren zu bewerten versucht, etwa mit Schulnoten. Manche Zwanghafte fahren mit einem solchen Procedere gut, andere verheddern sich beim Gewichten der einzelnen Faktoren, weil sie doch einen jeden Faktor für sich betrachten müssen, auch wenn auf dem Papier die anderen Faktoren benannt sind. Die Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen, sind ein wesentlicher Grund dafür, daß sich Zwanghafte in Hierarchien wohlfühlen können. In einer Behörde sind die Entscheidungskriterien und Entscheidungswege festgelegt, der eigene Entscheidungsspielraum ist gering, zumindest auf den unteren Ebenen der Hierarchie. Der Zwanghafte braucht nur den Vorgaben zu folgen. Wenn er sich mit seiner Institution identifiziert, kann es ihm gut gehen. Anders ist es natürlich, wenn er einen Konflikt mit seinem Chef hat, so daß er dessen Anordnungen schwer übernehmen kann. Das passiert besonders häufig, wenn ein neuer Chef kommt, der seine eigenen Entscheidungskriterien und Entscheidungswege einbringen möchte und nun von den zwanghaften Mitarbeitern zu hören bekommt, die beabsichtigten Veränderung sei unzweckmäßig oder irrelevant, oder: "Wir haben es schon immer so gemacht". Übernimmt der Zwanghafte die Vorgaben des neuen Chefs, hat er das Gefühl, sich ihm zu unterwerfen - er hatte noch nicht die Zeit, sich mit ihm zu identifizieren. Da der Zwanghafte einerseits in seinen Freiheiten eingeschränkt sein, andererseits aber selbst bestimmen möchte - ein Konflikt, der durch eine Identifizierung mit den Repräsentanten einer Institution gelöst werden kann -, wird neuen Chefs von zwanghaften Mitarbeitern, die sich ja in bestimmten Arbeitsbereichen, zum Beispiel in Behörden, ansammeln, oft empfohlen, eine Zeitlang alles beim alten zu belassen und zunächst eine gute Beziehung zu den Mitarbeitern 22
herzustellen, als Basis für eine Identifizierung.
2.5 Phobische Struktur "Phobos" ist das griechische Wort für Angst. Eine phobische Struktur disponiert zu Angstkrankheiten, die dann in einer bestimmten auslösenden Situation auftreten. Menschen mit einer solchen Disposition haben bestimmte Charaktermerkmale, die auch dann nachzuweisen sind, wenn der Betreffende noch nicht in eine spezifische auslösende Situation geraten ist, die eine Angstsymptomatik hervorrufen könnte. Zentrales Thema bei der phobischen Struktur ist, von anderen Menschen mit seinem Verhalten akzeptiert oder abgelehnt zu werden. In jeder Gesellschaft gibt es Verhaltensweisen, die als unakzeptabel gelten. Im Englischen spricht man von "social disapproval". Dabei kann es um sexuelle oder aggressive Handlungen gehen. Ungesteuerte Aggression wird in fast allen Gesellschaften abgelehnt; man darf nur unter bestimmten Voraussetzungen und nach bestimmten Regeln aggressiv sein. Die Anforderungen an das sexuelle Verhalten variieren interkulturell stark. In Mitteleuropa hat sich im 20. Jahrhundert bekanntlich eine sexuelle "Revolution" vollzogen; das sexuelle Verhalten zu Anfang und zu Ende dieses Jahrhunderts lassen sich fast nicht miteinander vergleichen. Dennoch werden bestimmte sexuelle Verhaltensweisen nach wie vor abgelehnt. Auch in Westeuropa sind die Menschen sexuell nicht so "frei", wie sie gerne sein möchten. Das ist auch nicht verwunderlich, weil Regeln und Normen konservativ tradiert werden und die Zeit, die seit der sexuellen Revolution verstrichen ist, bezogen auf die Menschheitsgeschichte als extrem kurz bezeichnet werden muß. Die Entkriminalisierung der männlichen Homosexualität ist noch keine fünfzig Jahre her, ähnliches gilt für die Verbreitung relativ sicherer Verhütungsmittel und die Liberalisierung der Abtreibung. Die Diskriminierung Homosexueller ist noch reichlich zu spüren. In den Entwicklungsländern besteht eine konservative Sexualmoral, die zum Teil wesentlich strenger ist als im bürgerlichen Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts. Im Grunde geht es bei der phobischen Struktur um Willkürhandeln. Darum geht es auch bei der Zwangsstruktur. Der Zwanghafte hat Angst vor seinem inneren Chaos und den eigenen, nicht sozialisierten, unbewußten Impulsen. Er wehrt sie ab oder läßt sie nur, vom Affekt und aus dem Motivationszusammenhang isoliert, ins Bewußtsein treten - in den sogenannten Zwangsgedanken und Zwangsimpulsen, zum Beispiel in einem Tötungsimpuls ohne Affekt und ohne ein Motiv, das dem Betreffenden erkennbar wäre, und die ihn deshalb erschrecken und befremden. Der Phobische geht mit seinen Willkürimpulsen anders um. Man kann sich vorstellen, daß diese aus den unbewußten Anteilen seiner Persönlichkeit in Richtung der bewußten Anteile seiner Persönlichkeit vordringen. Zwar werden sie selbst nicht bewußt; bewußt wird aber die Angst, die sie dann hervorrufen. Ich benutze gern einen Vergleich: Der Impuls schiebt die Angst vor sich her wie ein Schiff seine Bugwelle. Während der Zwanghafte seine Impulse mit einem Gewissen in Zaum hält, das oft sehr streng ist, macht der Phobische es anders: Er sucht sich Personen, die ihn davor beschützen, sich sozial inadäquat zu verhalten - sich etwa in sozial abgelehnte sexuelle Beziehungen einzulassen oder ungesteuert gewalttätig zu werden. Diese Personen werden Schutzfiguren (Hoffmann und Hochapfel 1999) oder äuße23
re steuernde Objekte (König 1981) genannt. Die erstere Bezeichnung will theoriefrei sein; sie läßt offen, auf welche Weise der Schutz geleistet wird; die von mir eingeführte Bezeichnung weist auf die Art des Schutzes hin. Das äußere steuernde Objekt schützt vor Willkürimpulsen, man spricht auch von einem Begleiter (Westphal 1872). Warum kann der Phobische nicht selbst besorgen, was er von der Schutzperson erwartet? Die Ursachen sind in seiner Entwicklungsgeschichte zu suchen. Man findet in diesem Fall regelmäßig zwei Arten von Müttern oder Mutterersatzpersonen, mit denen es das Kind zu tun hatte. Ich spreche von Müttern vom Typ A und Typ D. Die Mütter vom Typ A sind anklammernd. Sie lassen dem Kind wenig Freiheit, nehmen ihm die Dinge aus der Hand, reagieren mit Angst und Beunruhigung, wenn das Kind den Raum exploriert - es könnte ja etwas kaputtmachen oder sich verletzen. Man kann sagen, daß die Mütter auf eine unzweckmäßige Art Schutz gewähren: auf eine Art, die das Kind daran hindert, gewisse Funktionen selbst zu übernehmen. Die Exploration des Raumes wird, wenn das Kind heranwächst, durch ein Explorieren im sozialen Feld abgelöst. Hier reagieren die Mütter auf jede Gefahr eines sozial inadäquaten Handelns mit Beunruhigung, ja Angst. Sie versuchen, den Heranwachsenden oder die Heranwachsende daran zu hindern, eigene Erfahrungen zu machen und durch "Trial and error" zu lernen. Die Mütter vom Typ D sind distanziert. Sie halten sich von dem Kind zurück, oder sie sind wenig anwesend. Obwohl sie dem Kind wenig Lernmöglichkeiten in der Interaktion bieten, erwarten sie von dem Kind die gleichen Entwicklungsschritte, die es machen könnte, wenn es diese Lernmöglichkeiten hätte. Das Kind fühlt sich überfordert und traut sich noch weniger zu, als es kann. Auch das überbeschützte Kind mit einer Mutter vom Typ A lernt nicht, eigenen Kompetenzen zu vertrauen, einmal, weil es weniger Kompetenz entwickelt hat als andere, zum anderen, weil es von der Mutter erfahren hat, daß sie ihm nicht zutraute, selbständig zu handeln, und dieses als Selbsteinschätzung übernimmt. Der Erwachsene, der eine Mutter vom Typ A oder vom Typ D hatte, wird nach Menschen Ausschau halten, die seine Mutter in verschiedenen schätzenden Funktionen ersetzen könnten. Schützen besteht hier darin, daß ein sozial inadäquates Willkürhandeln verhindert wird. Ein solches Verhalten kann dadurch entstehen, daß die Schutzperson auf den Betreffenden "aufpaßt", das heißt, daß ihn aktiv oder schon durch ihre Gegenwart daran hindert, sie Dinge zu tun, die ihn in Schwierigkeiten bringen könnten. Eine Schutzperson kann auch durch ihre Wirkung auf andere Personen Schutz geben, zum Beispiel wird eine Frau auf der Straße in Begleitung seltener oder gar nicht angesprochen. Auch eine Frau, die einen Kinderwagen schiebt, wird in der Regel nicht "angequatscht", jedenfalls, wenn angenommen wird, daß es sich um ihr eigenes Kind handelt. Das ist ein Grund, weshalb auch ein Säugling im Kinderwagen als Schutzobjekt wirken kann. Im Kapitel "Zum Umgang mit Trennung - phobische Struktur" werde ich weitere Beispiele für Schutzobjekte bringen. Hat eine phobische Disposition zu einer Angstsymptomatik geführt, muß diese behandelt werden, sei es durch Psychoanalyse oder ein von der Psychoanalyse abgeleitetes Verfahren, sei es durch Verhaltenstherapie. Aber auch mit den Persönlichkeitsmerkmalen einer phobischen Struktur ohne eine Phobie muß umgegangen werden. Worin bestehen sie? Man kann beobachten, daß Menschen mit einer phobischen Struktur bereits vor dem Ausbruch einer Angstsymptomatik - und manche entwickeln nie eine - nach Schutzfiguren suchen. Wenn sie solche Schutzfiguren entbehren müssen, entwickeln 24
sie zwar noch keine ausgeprägte Angstsymptomatik, fühlen sich aber ängstlich. Diese rudimentären Formen von Angst werden oft nicht als Angst erkannt; der Betreffende "fühlt sich unwohl", "fühlt sich nicht sicher", hat "so ein schummeriges Gefühl" oder fühlt sich "deprimiert". Die Bezeichnung "deprimiert" wird ja im Volksmund für alle Gefühlszustände angewandt, deren Ursache nicht klar ersichtlich ist. Die phobische Struktur weist oft eine Arbeitshemmung auf, wenn keine Schutzfigur bzw. kein steuerndes Objekt zugegen ist. Im Unterschied zum Depressiven empfindet der Betreffende den Wunsch, etwas zu tun, er erlebt also Initiative, setzt sie aber oft nicht in Handeln um, weil er eben dieses schummerige Gefühl bekommt oder sich bei dem Gedanken, selbständig zu arbeiten, diffus unwohl fühlt. In Fremdenverkehrsorten werden Täfelchen verkauft, auf denen Sinnsprüche stehen, oft mit einem humoristischen Gehalt. Einer dieser Sinnsprüche lautet: "Wenn ich den Drang verspüre zu arbeiten, setze ich mich in eine Ecke, bis er vorüber ist." Menschen mit einer phobischen Struktur sind gute Zweite und oft schlechte Erste. Häufig versuchen sie, ihre Beförderung in eine leitende Position zu verhindern. Gelangen sie doch in eine solche Position, kann es ihnen gelingen, ihre Mitarbeiter zu steuernden Objekten zu machen, indem sie diese um Rat fragen oder zumindest von ihren Entscheidungen laufend in Kenntnis setzen. Das wird von den Mitarbeitern oft als demokratischer Führungsstil geschätzt. Allerdings gibt es für einen Chef immer wieder Situationen, wo er selbst rasch entscheiden muß, und dann zeigt sich eine Entscheidungshemmung. So ein Chef kann schwer selbständig handeln, wenn niemand da ist, der ihn beraten oder "begleiten" könnte. Ihm wäre zu empfehlen, für derlei Situationen eine Vorkehrung zu treffen:zum Beispiel, indem er in solchen Fällen Telefonkontakte zu einem guten Freund oder Bekannten herstellt. Der kann ebenfalls eine leitende Position haben oder auch der Mitarbeiter eines anderen Chefs sein und so den nicht zur Verfügung stehenden eigenen Mitarbeiter ersetzen. Manche phobische Chefs sprechen in derlei Situationen auch mit ihrer Frau, und das selbst dann, wenn sie von der Materie, um die es geht, nichts versteht. Es genügt oft schon, sich darüber auszusprechen; die Frau hört zu, sagt vielleicht, was sie denkt, auch wenn es fachlich nicht gehaltvoll ist, weil sie einen ganz anderen Beruf hat. Manche Chefs fühlen sich auch auf ihre Sekretärin angewiesen, die sie daran hindert, in irgendwelche Fettnäpfchen zu treten. Eine Sekretärin hält sich ja meist in unmittelbarer Nähe des Chefs auf und kann von ihm jederzeit angesprochen werden, im Unterschied zu anderen Mitarbeitern, die vielleicht dringende Kundengespräche führen oder gerade nicht im Hause sind. Für die Sekretärin hat der Chef absolute Priorität. Bei anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist das mit Recht nicht immer der Fall. Diese ständige Verfügbarkeit macht sie für die Funktion eines steuernden Objekts bei einem phobischen Chef besonders geeignet. Ein Student mit einer phobischen Arbeitsstörung hat keine Sekretärin. Vielleicht hat er aber eine gute Bekannte oder einen guten Bekannten, die dabei sein können, wenn er arbeitet. Dabei ist es wieder nicht notwendig, daß es sich um jemanden handelt, der von dem Fach etwas versteht. Auch ein Kommilitone oder eine Kommilitonin, die etwas ganz anderes studieren, können als "Begleiter" dienen. Stehen keine guten Bekannten zur Verfügung, tun es oft auch Fremde. So gibt es phobische Studenten, die in Bibliotheken wesentlich besser arbeiten können als allein zu Hause. Man kann sich natürlich fragen, in welches soziale Fettnäpfchen ein Student treten kann, der zu Hause sitzt und versucht zu arbeiten. Darum geht es in diesem Fall nicht direkt. Die Angst, sozial Nachteiliges zu tun, besteht hier nicht unmittelbar, sondern für die Zu25
kunft. Wenn jemand etwa falsch lernt oder nicht das Richtige vorbereitet, kann er sich bei einem Seminarvortrag oder einer Prüfung blamieren. Die blamabel konnotierte Situation, eine Situation des "social disapproval" wird antizipiert. Ist jemand zugegen, hat er vielleicht keinen realen Einfluß darauf, was und wie gelernt wird; die einfache Gegenwart genügt. Hier haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das nur unter Rückgriff auf die weiter oben beschriebenen Kindheitserfahrungen verstanden werden kann. Wenn die Mutter da ist und nichts sagt, macht man es schon richtig. Die phobische Struktur bietet im Vergleich zu anderen Strukturen bessere Möglichkeiten, mit ihr in einer zweckmäßigen Weise umzugehen. Wenn jemand eine Arbeit zur Zufriedenheit anderer ausführt, weil jemand da ist, der bei der Arbeit gar nicht mitmacht, liegt der Schluß ja nahe, daß der Betreffende keine Kompetenzen ersetzt, sondern nur das Gefühl gibt, es schon richtig zu machen. In dem Kapitel "Zum Umgang mit Trennung - phobische Struktur" gehe ich noch einmal ausführlicher auf die Probleme ein, die sich ergeben können, wenn eine wichtige Beziehungsperson als einzige die Funktion des steuernden Objekts übernehmen soll, und daß es besser sein kann, diese Funktion auf mehrere zu verteilen. Bei den sozialen Phobien, von denen die Errötungsfurcht (Erythrophobie) die bekannteste ist, wird die Angst vor sozialer Geringschätzung durch andere bewußt erlebt. Der Erythrophobe hat die unbewußte Angst, er könnte sich so verhalten wie eine wichtige Person in seiner Kindheit, die sich in einer sozial gering zu schätzenden Weise verhielt und mit der er identifiziert ist. Das kann ein alkoholkranker Vater oder eine alkoholkranke Mutter sein, es können Diskrepanzen zwischen dem öffentlichen Verhalten eines Pfarrers und seinem privaten Verhalten sein; da gibt es viele Möglichkeiten. Ein Psychiater, Sohn eines Psychiaters und Direktor eines auf dem Land gelegenen Landeskrankenhauses, hatte als Kind in der Schule mitbekommen, daß die mit den psychisch Kranken Beschäftigten als ähnlich krank eingestuft wurden wie die Patienten ("Nur der Schlüssel unterscheidet sie"). Als Dozent hatte er die Befürchtung, man könnte von ihm denken, er selbst habe die Symptome, von denen er in seinen Vorlesungen gerade sprach, er könnte erröten und dadurch die den Zuhörern unterstellte Vermutung nur bestätigen. Gefürchtet wird dann, durch Erröten aufzufallen. Soziale Phobien können das Leben eines Menschen sehr einschränken. Soziale Angst ist eine der Ursachen von Alkoholismus. Menschen trinken sich Mut an, um in Gesellschaft nicht zu gehemmt aufzutreten. Für Erythrophobien ist charakteristisch, daß man an den Patienten nicht viel beobachten kann. Erythrophobe werden seltener rot, als sie befürchten. Ein Soziophober, der fürchtet zu zittern, wenn er ein Glas an den Mund führt, zittert nicht oder nur so wenig, daß man es kaum sieht. Ich erinnere mich an einen Patienten, der mit seinem Vater identifiziert war. Der Vater machte mit seinem Geschäft Pleite. Nach außen hin mußte man den Kopf hoch tragen und so tun, als ob alles in Ordnung wäre. Der Patient entwickelte dann später in einer spezifischen auslösenden Situation, bei der es darum ging, daß er etwas Unangenehmes und sozial Abgelehntes verheimlichen wollte, die Phobie, mit dem Kopf zu zittern. Ein Kopfzittern war nicht wirklich zu beobachten, vielleicht entstand es gelegentlich, wenn er sich besonders bemühte, den Kopf ruhig zu halten. Dennoch lebte er dauernd in der Angst vor dem Kopfzittern. Viele soziale Phobien werden nie behandelt. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, daß es Behandlungsmöglichkeiten gibt und daß sie wahrgenommen werden sollten. Aber der Gang zum Therapeuten fällt Menschen mit einer sozialen Phobie schwer, weil sie sich ihres Symptoms schämen. Sie verheimlichen es lieber vor aller 26
Welt. Andererseits gibt es auch leichte Formen der Soziophobie, denen man keinen Krankheitswert zuschreiben würde und die von selbst verschwinden, wenn der Betreffende mehr Umgang mit Menschen hat und erfährt, daß die negative soziale Beurteilung nicht eintritt. Menschen mit einer Soziophobie von Krankheitswert lassen sich davon aber schwer überzeugen.
2.6 Hysterische Struktur Die hysterische Struktur entsteht im vierten und fünften Lebensjahr. In der sogenannten ödipalen Entwicklungsphase wendet sich die Aufmerksamkeit des Kindes den Geschlechtsunterschieden zu. Das weiß man aus Analysen, aus Kinderbeobachtungen und Kindertherapien. In der ödipalen Entwicklungsphase geht es um Heterosexualität, aber auch um gleichgeschlechtliche Wünsche und Fantasien, die sich im sogenannten negativen Ödipuskomplex zeigen. Im positiven Ödipuskomplex sucht der Junge eine enge Verbindung zur Mutter und empfindet den Vater als Rivalen, die Tochter sucht eine enge Verbindung zum Vater und empfindet die Mutter als Rivalin. Unter negativem Ödipuskomplex versteht man, daß der Junge auch dem Vater nahe sein möchte und die Mutter dabei als Rivalin empfindet; die Tochter möchte der Mutter nahe sein und empfindet den Vater als Rivalen. Alle diese Wünsche nach einer engen Beziehung sind erotisch gefärbt, freilich nicht im Sinne der Erwachsenensexualität, sondern in einer kindlichen Form, die dem erreichten Entwicklungsstadium entspricht. Für Freud stellte sich im Ödipuskomplex die angeborene Bisexualität des Menschen dar. Männer und Frauen haben hetero- und homosexuelle Wünsche. Bei der großen Mehrzahl überwiegen die heterosexuellen Wünsche, es gibt aber auch Übergänge auf einem Kontinuum zwischen den beiden Polen Heterosexualität und Homosexualität. Wie viele Menschen sich in der Mitte zwischen beiden Polen aufhalten, ist nicht bekannt. In unserer Gesellschaft existiert, außer in pornografischen Filmen, noch kein rechter Platz für bisexuelle Menschen, also Menschen mit zwei Geschlechtsidentitäten. Vielleicht entscheiden sich Menschen in der Mitte des Kontinuums zwischen Homo- und Heterosexualität für die eine oder die andere Möglichkeit, um eine geschlossenere Identität entwickeln zu können. Was nicht zu der gewählten Identität paßt, wird unterdrückt. Die Identifikation mit der eigenen männlichen oder weiblichen Geschlechtsrolle geschieht dann auf der Basis einer guten Beziehung zum gleichgeschlechtlichen Elternteil. In der ödipalen Entwicklungsphase kann es nun zu Problemen kommen. Der gegengeschlechtliche Elternteil kann aus irgendwelchen Gründen, die im Verhalten oder in der Stellung innerhalb der Familie liegen, unattraktiv sein, so daß ein Kind nicht so werden möchte. Wenn das Kind erkennt, daß es nicht der Partner von Vater oder Mutter sein kann, liegt es ja im Zuge der normalen Entwicklung, daß es sich dann mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil identifiziert und hofft, einmal so zu werden wie dieser. Der Junge möchte so werden wie der Vater, das Mädchen so wie die Mutter. Ist nun der Vater wenig attraktiv, ist er zum Beispiel schwach, läßt er sich von der Mutter herumkommandieren, dann wird der Junge wenig Interesse daran haben, so zu werden wie er. Entsprechendes gilt für die Mutter: Wenn ihre Rolle in der Familie unattraktiv ist, wird die Tochter wenig Neigung haben, so werden zu wollen wie sie. 27
In den patriarchalischen Familien muß die Rolle der Mutter nicht unattraktiv sein, wenn sie zu Hause "regiert" und es dem Vater überläßt, außerhalb der Familie seine Meriten zu erwerben, die Familie zu schützen, ihr eine gute materielle Versorgung und eine angesehene soziale Stellung zu verschaffen. Allerdings identifiziert sich dann das Mädchen mit einer Frau, die auf das Haus beschränkt ist; eine Rollenvorstellung, die mit dem heutigen Bild der berufstätigen Frau, Hausfrau und Mutter wenig zu tun hat. In einer solchen Familie lernt der Junge auch nicht, mit einer "modernen" Frau umzugehen. Da sich die Rollen von Frauen und Männern heutzutage weniger unterscheiden als vor 30 oder 50 oder gar 100 Jahren, so daß Frauen wie Männer in fast allen Berufen tätig sein können, kommt es in Familien, wo beide Eltern berufstätig sind, zu Schwierigkeiten bei der Aufteilung der Arbeit, zum Beispiel im Haushalt, die es in der patriarchalischen Familie nicht gegeben hat. Wer kocht oder putzt, ist nicht von vornherein festgelegt. Die Kinder bekommen dann mit, daß es schwer sein kann, eine "moderne" Beziehung zu leben. Eine hysterische Struktur entsteht aber nach wie vor dadurch, daß der Sohn an die Mutter gebunden bleibt und sich nicht mit der väterlichen Männerrolle identifiziert und die Tochter an den Vater gebunden bleibt und sich nicht mit der mütterlichen Frauenrolle identifiziert. Wenn keine Identifikationsangebote außerhalb der Familie das ausgleichen, was in der Familie fehlt, kommt es zu Unsicherheiten in der männlichen oder weiblichen Identität. Diese sind, neben der Bindung an den gegengeschlechtlichen Elternteil, ein Hauptmerkmal von Menschen mit einer hysterischen Struktur. Zu der Unsicherheit bezüglich der weiblichen Identität gehört bei den Frauen eine Blockierung sexueller Fantasien und Wünsche, die bewirken kann, daß sexuelle Signale, die sie aussenden, keine Entsprechung in ihrem Erleben haben. Geht ein Mann auf diese Signale ein, reagieren sie mit Ekel und Abscheu. Sexualität hat auch die Konnotation, inzestuös zu sein, weil sie sich eben nach dem ödipalen Modell der Beziehung zum Vater entwickelt, einer Beziehung, in der Sexualität nicht gelebt werden darf. Störungen der Sexualität von erwachsenen Frauen haben so oft ihre Wurzel in der unerfüllten und verbotenen Liebe zum Vater. Kommt es zu sexuellen Übergriffen von Seiten des Vaters, wird Sexualität noch stärker tabuisiert. Die hysterisch strukturierte Frau hat sich auf zweierlei Weisen identifiziert: einmal mit dem Vater; sie möchte in ihrer Partnerschaft die Große und Starke sein, und einmal mit ihrer Rolle als kleines Mädchen in der Beziehung zum Vater. Sie sucht nach einem starken Partner, der ihr überlegen ist und zu dem sie eigentlich keine sexuelle Beziehung haben darf. Wird eine sexuelle Beziehung aufgenommen, muß der große und starke Mann zu einem kleinen gemacht werden, damit er dem Vater unähnlicher wird. Die Frau wirft dem Mann dann vor, daß er schwach ist, obwohl sie ihn in die Rolle des Schwachen hineinmanövriert hat. Das ist ein Grundproblem vieler Ehen hysterischer Frauen. Bei den hysterischen Männern zeigt sich die Unsicherheit in der Geschlechtsidentität, wie bei Frauen auch, in Zweifeln bezüglich der Qualität von Geschlechtsmerkmalen. Während Frauen ihren Busen zu klein oder ihre Beine zu dick finden, hat der Mann Probleme mit der Einschätzung seines Genitals, das er als zu klein oder wenig funktionstüchtig fantasiert. Auch sonstige männliche Merkmale schätzt er bei sich negativ ein. Diese Vorstellungen behindern ihn in der Konkurrenz mit Männern. Hat ein Mann aber von der Mutter viel Anerkennung, ja sogar Bewunderung erfahren und den Vater bei der Mutter ausgestochen, nährt das in ihm die Illusion, es 28
genüge, Frauen zu gefallen, um im Leben Erfolg zu haben. Man brauche nicht zu arbeiten und etwas zu leisten. Dem Vater habe das bei der Mutter auch nicht viel genützt. Man spricht von einem ödipalen Triumph, der sich oft in großen Arbeitsschwierigkeiten ausdrückt, weil nicht genug Zeit oder Anstrengung auf Ausbildung und Beruf verwendet wird. Da der Mann nun aber nicht wie die Frau die Option hat, sich auf die Hausfrau- und Mutter-Rolle zu konzentrieren - der Hausmann hat auch heute noch wenig Ansehen, die Hausmann-Rolle wird in der Regel nur begrenzte Zeit durchgehalten -, kommt es zu Bilanzkrisen, wenn der Mann erkennen muß, daß er im Beruf etwas leisten sollte, um von Frauen als Partner geschätzt zu werden. Auch von Frauen wird heute erwartet, daß sie einen Beruf zumindest erlernen und auch ausüben, solange keine Kinder da sind. Eine Frau, die glaubt, es genüge, mit Männern zu flirten, um beruflich voranzukommen, irrt heutzutage meist. Eine hysterisch strukturierte Frau, die sich begehrt fühlt, kann mit diesem Gefühl der Attraktivität schon zufrieden sein. Diese Selbsteinschätzung wird durch das Flirten verbessert. Ein hysterisch strukturierter Mann, mit dem eine Frau nur flirtet, wird sich damit selten zufrieden geben. Er fühlt sich abgewiesen, wenn die Frau nicht mit ihm ins Bett geht. Dadurch erst fühlt er sich anerkannt. Die Frau muß dann in ihn verliebt bleiben, so verliebt wie in den ersten Tagen und Wochen. Sonst verläßt er sie und sucht sich eine neue. Er braucht die intensiven Gefühle einer Frau in der ersten Verliebtheit als Anerkennung seiner Männlichkeit. Wird, wie das im Laufe der Entwicklung einer Beziehung normalerweise der Fall ist, die Verliebtheit geringer und durch die Notwendigkeit, eine gemeinsame, konkrete Lebensplanung aufzustellen, überlagert, sucht der Mann das Weite und versucht, eine andere Frau für sich zu gewinnen. Der hysterischflirtenden Frau, die viele Männer anzieht und keinen zu ihrem Geliebten macht, entspricht die Don Juan-Figur beim Mann. Die beiden unterscheiden sich darin, daß die Frau den sexuellen Vollzug eher fürchtet - sie befürchtet auch, daß der Mann von ihr im Bett enttäuscht sein könnte. Dagegen drängt ein Don Juan auf den Vollzug des Geschlechtsakts, weil er sich nur dann als Mann bestätigt und voll anerkannt fühlen kann. Die sogenannte ödipale Fixierung führt bei Männern und Frauen also zu mannigfachen Störungen bei den Beziehungen zum anderen Geschlecht. Entsprechende Beziehungstypen finden sich auch bei homosexuellen Frauen und Männern, obwohl man über sie, was die Partnerschaften angeht, weniger weiß als bei den heterosexuellen. Frauen scheinen in homosexuellen Beziehungen weniger zu einem häufigen Partnerwechsel zu neigen als Männer. Die durch eine frühe Fehlentwicklung bedingten Prägungen sind auch in langen psychoanalytischen Therapien nur schwer zu beeinflussen. Freud sprach vom "gewachsenen Fels" und meinte, daß einige Aspekte der ödipalen Fixierungen biologisch bedingt seien. Aus heutiger Sicht würde man zurückhaltender sagen, daß die ödipalen Prägungen mit ihren Folgen für die Identitätsentwicklung mit den derzeit zur Verfügung stehenden therapeutischen Mitteln schwer beeinflußt werden können. Allerdings kann ein Verständnis der Entstehung solcher Prägungen dabei helfen, mit ihnen in adäquaterer Weise umzugehen. Damit ist gemeint, daß ihre Nachteile vermieden werden können, wenn die Unsicherheit in der Geschlechterrolle als zentrales Problem erkannt wird und auch die Illusion, man könne als attraktiver Mann und als attraktive Frau Leistung durch Charme ersetzen, als Illusion erkannt wird. In der Berufsarbeit spielen auch die sogenannten "hysterischen Denkstörungen" 29
eine Rolle. Bei hysterisch strukturierten Männern und Frauen, die eine solche Denkstörung "haben" - oft leiden sie nicht darunter -, fällt auf, daß sie aufgrund von wenig Informationen zu einer festen Meinung kommen, die sie dann mit Verve vertreten. Hier handelt es sich um eine kindliche Form des Denkens. Kinder reagieren ja viel mehr als Erwachsene aus ihrem Gefühl heraus. Daß eine Situation dann am besten verstanden und beurteilt werden kann, wenn man sich Informationen über sie verschafft hat, und daß es Sinn machen kann, sein Urteil aufzuschieben, bis Informationen zur Verfügung stehen, ist etwas, das man erst im Zuge des Erwachsenwerdens lernt. Natürlich kann man das Informationensammeln übertreiben und so den günstigen Zeitpunkt für eine Entscheidung verpassen. Das findet man vor allem bei Zwanghaften mit ihrem großen Sicherheitsbedürfnis. Zum Informationensammeln gehört auch, daß man gelernt hat einzuschätzen, wie viele Informationen in einer bestimmten Situation tatsächlich erforderlich sind. Das variiert ja erheblich. Man muß auch beurteilen lernen, welche Informationen relevant sind, um zu einer richtigen Beurteilung oder zutreffenden Erkenntnis zu gelangen. Bekanntlich genügen Angaben über die Farbe eines Schiffes, die Zahl seiner Schornsteine und die Zahl der Bruttoregistertonnen nicht, um auf das Alter des Kapitäns schließen zu können. Daß nicht die relevanten, sondern irrelevante Informationen zum Begründen einer Beurteilung herangezogen werden, ist ein weiterer Aspekt der hysterischen Denkstörung. Menschen mit einer hysterischen Denkstörung machen sich oft darüber lustig, daß ein anderer erst Informationen haben möchte, ehe er urteilt. Sie können "spontan sein", schnell zu einer Beurteilung kommen. Manchmal handeln sie, ehe sie gedacht haben. Wer noch "im Ödipus steckt", sieht die Welt vielfach, wie er sie mit vier oder fünf Jahren gesehen hat. Auch wenn er sich viel Wissen erwerben konnte, über das er als Kind nicht verfügte, hat er beim Beurteilen einer Situation seine "Spontaneität" bewahrt. Neben der Fixierung der kognitiven Entwicklung auf einem Kleinkind-Niveau, was das Beurteilen von Situationen angeht, werden für die Entwicklung einer hysterischen Denkstörung auch Blockierungen des Neugier-Verhaltens verantwortlich gemacht. Kinder sind ja neugierig darauf, was die Eltern im Schlafzimmer miteinander tun; es kann sie faszinieren oder auch ängstigen. Daß Eltern die Kinder an ihrem Sexualleben in der Regel nicht als Zuschauer teilnehmen lassen, kann bei manchen Kindern zu dem Schluß führen, daß Sexualität etwas Verbotenes sei. Sexuelles Neugierverhalten wird von vielen Eltern überhaupt negativ beurteilt und abgelehnt. Die Blockierung des Neugierverhaltens weitet sich dann auch auf das Sammeln von Informationen aus. Der hysterische Denkstil ist, sobald die ideologischen Verhärtungen ("Man muß spontan sein") in Frage gestellt werden, durch Training veränderbar. Hysterisch Strukturierte müssen manchmal erst lernen, welche Informationen notwendig sind, um in einer bestimmten Situation eine begründete Entscheidung zu treffen. Wenn sie genügend Geduld aufbringen, das zu tun (oft sind sie in kindlicher Weise auf schnelle Erfolge aus), kann sich einiges zum Zweckmäßigen ändern. Was die Berufswahl angeht, finde ich es wichtig, daß der hysterisch Strukturierte einerseits seine Persönlichkeitsstruktur bei der Entscheidung für einen bestimmten Beruf oder Berufszweig mit in Rechnung stellt - hysterisch Strukturierte sind im allgemeinen schlechte Buchhalter, technische Zeichner oder Juristen -, sich aber auch klar macht, daß die Sympathie für einen Beruf allein nicht ausreicht, um eine Berufswahl zu begründen. Bei hysterisch strukturierten Menschen ist die Berufswahl häufig durch 30
bewunderte Personen beeinflußt, zum Beispiel durch einen bewunderten Lehrer in einem bestimmten Fach, wobei zu wenig danach gefragt wird, ob die eigene Begabung die Wahl eines entsprechenden Berufes nahe legt oder ob man in einem anderen Beruf besser zurechtkäme. Da der hysterisch Strukturierte auf schnelle Erfolge aus ist - er hat ja wenig Geduld mit sich selbst -, wirft er bald die Flinte ins Korn, wenn nicht alles sofort klappt. Leistung ist in unserer Gesellschaft mit der männlichen Identität enger verknüpft als mit der weiblichen, obwohl sich darin viel geändert hat. Ein Mann, der im Beruf beziehungsweise schon in einer Ausbildung oder in einem Studium versagt, wird viel eher meinen, daß er als Mann nichts taugt, als eine Frau in der gleichen Situation an ihrem Frausein zweifeln würde. Wenn ein hysterisch strukturierter Mann, vor allem einer, der einen ödipalen Triumph erlebt hat, sich darauf verlegt, seine Männlichkeit durch Leistung im Beruf zu beweisen, wird das für sein weiteres Schicksal in der Regel besser sein, als wenn er bei Enttäuschungen im Beruf Trost durch Erfolge bei Frauen sucht - eine Verhaltensweise, die man bei Menschen, die einen ödipalen Triumph erlebt haben, oft findet. Wenn hysterisch Strukturierte älter werden, fällt es ihnen oft besonders schwer, sich mit den Einschränkungen des Alt-Werdens abzufinden. Bei Männern geht es mehr um die körperliche Leistungsfähigkeit, bei Frauen mehr um das Aussehen. Während die körperliche Leistungsminderung meist nicht zu verkennen ist und hysterisch strukturierte Männer oft dazu bringt, eine geliebte Sportart aufzugeben, die von anderen gleichen Alters noch mit Freude weiter betrieben wird, ist es leichter, sich über das eigene Aussehen hinwegzutäuschen. Zwar wirft der Spiegel ein wirklichkeitsgetreues Bild zurück, doch geht es bei der Wahrnehmung des Spiegelbildes ähnlich zu wie sonst bei der Wahrnehmung von Realität: Man kann manches ausblenden, sich in einer vorteilhaften Körperhaltung oder Kopfhaltung vor den Spiegel stellen, einen Spiegel wählen, der nur einen Teil des Körpers zurückwirft, während zuvor ein Spiegel benutzt wurde, der es gestattete, den ganzen Körper zu sehen, und vielleicht auch ein zweiter Spiegel zu Hilfe genommen wurde, um die seitlichen und hinteren Partien des Körpers ins Bild zu bringen. Oder die Frau betrachtet sich nur noch angezogen im Spiegel. Da das eigene Verhalten vom Selbstkonzept beeinflußt wird, verhalten sich Frauen, die ihr Alter leugnen, meist wie wesentlich jüngere Frauen, was nicht immer gut ankommt, sondern peinlich wirken kann. Solchen Frauen ist schwer zu helfen, weil die Konfrontation mit ihrem tatsächlichen Aussehen ja nicht ohne Grund geleugnet wird. Es ist oft schwer, ein Selbstkonzept zu verändern. Die Vorstellung von der "reifen Frau", womit nicht eine Frau in der Blüte ihrer fertilen Jahre, sondern eine ältere Frau gemeint ist, kann von älteren Frauen mit einem Jugendlichen Selbstkonzept schwer akzeptiert werden, zumal in den Medien Frauen auftreten, die ihr Aussehen durch kosmetische Chirurgie in Richtung ihres Selbstkonzepts verändert haben. Ob eine Frau sich operieren lassen soll, kann nur im Einzelfall entschieden werden, sie muß sich aber darüber im klaren sein, daß der Alterungsprozeß damit nicht aufgehoben oder aufgeschoben wird, sondern nur seine sichtbaren Folgen, und daß ihr die Konfrontation mit ihrem tatsächlichen Alter auch dann noch bevorstehen wird, wenn sie den Alterungsprozeß in seinen sichtbaren Folgen ein Stück weit aufhebt. Männern, die unter der Einschränkung ihrer Leistungsfähigkeit leiden, wäre zu empfehlen, sich eine Sportart zu suchen, die sie noch gut ausüben können, und auf Sport nicht zu verzichten. Für Männer, die ihr Leben lang Sport betrieben haben, bedeutet das Aufgeben von Sport ja ein Ge31
sundheitsrisiko. Solche Männer nehmen oft rasch an Gewicht zu, mit entsprechenden gesundheitlichen Folgen, und werden unbeweglich. Chirurgische Eingriffe halte ich dann für sehr gerechtfertigt, wenn es sich um Schauspieler handelt, die ihre Berufsarbeit nur fortsetzen können, wenn sie jünger aussehen. Im besonderen Maße gilt das für Schauspielerinnen, für die es nur noch wenige Rollen gibt, wenn sie die Fünfzig erreicht haben.
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Kapitel 3
Sexualität und Charakter 3.1 Schizoide Struktur Aus der Sicht des Schizoiden kann Sexualität eine besondere Art der Eigenständigkeit entwickeln, die sie als ein Endzweck oder auch als eine Kunst erscheinen läßt, die ausgeübt und kultiviert wird, wobei es auf die Partnerin oder den Partner nicht wirklich ankommt. Eine Frau steht für "die Frau" ein Mann steht für "den Mann". Wer Sexualität "macht", verhält sich aus der Sicht des Schizoiden ähnlich wie jemand, der ein Musikstück auf einer Geige spielt. Eine Geige ist notwendig, "es geht", aber nicht nur auf einer bestimmten Geige, viele Geigen sind möglich. Das kommt auch in Masturbationsfantasien zum Ausdruck, wo die Frauen oder Männer, die ein oder eine Masturbierende sich vorstellt, anonym bleiben. So wird Sexualität ins Allgemeine transportiert. Sie gewinnt eine besondere Art von Wirklichkeit. Als Vertreter "der Männer" oder "der Frauen" bekommt auch die Partnerin oder der Partner eine große Bedeutung, ähnlich wie der Repräsentant eines Staates, zum Beispiel ein Gesandter, der als Vertreter des Staates gesehen und als solcher behandelt und respektiert wird. Sexualität auf dieser allgemeinen Ebene erlaubt dem Schizoiden, Sexualität zu leben, ohne daß die Beziehung zu persönlich wird. Ein Zugang zu anderen Formen der Sexualität läßt sich nur über eine Verbesserung der Fähigkeit, sich abzugrenzen, erreichen. Wer in Beziehungen die Erfahrung macht, daß er sich aus ihnen zurückziehen und wieder in sie hineingehen kann, wer seiner Individualität So sicher ist, daß er in der Lage ist, Nähe ertragen, ohne befürchten zu müssen, sich zu verlieren, kann Nähe eher ertragen als jemand, der auf Distanz bleiben muß, um sich "zu bewahren". Es geht also, wenn man so will, nicht um ein Training von Nähe an sich, sondern um ein Training des Sich-Abgrenzens und des Sich-Öffnens. Das Sich-abgrenzen-Können in eine Voraussetzung dafür, daß der Schizoide sich öffnen kann.
3.2 Narzißtische Struktur Der narzißtisch Strukturierte kann Sexualität durchaus genießen. Wichtig ist sie ihm aber in erster Linie zur Stützung seines überhöhten Selbstkonzepts. Hier unterscheidet er sich allerdings vom hysterisch Strukturierten der phallisch-narzißtischen Form. Letzterer sucht Bestätigung seiner Männlichkeit, die er immer in Frage gestellt fühlt 33
und immer wieder bestätigen lassen muß. Für den narzißtisch Strukturierten ist Sexualität eine Möglichkeit unter vielen, positive Rückmeldungen zu erlangen. In dem Film Adulère, mode d’emploi schläft eine Architektin zum ersten Mal mit einem von ihr umworbenen Mann, als das Telefon läutet und ihr mitgeteilt wird, daß sie zusammen mit einem Kollegen einen wichtigen Archltekturpreis gewonnen hat. In diesem Augenblick verliert der Mann, mit dem sie schläft, für sie anscheinend jede Bedeutung. Sie denkt nur noch daran, den Preis entgegenzunehmen. In dieser Szene drückt sich eine Hierarchie von Bedeutsamkeiten aus: Der Archltekturpreis bringt viel mehr narzißtischen Gewinn als der Mann, mit dem sie schläft. Bei dem Anruf handelt es sich nicht um einen Appell, mit dem eine Ärztin oder eine Polizistin aufgefordert wird, ihren beruflichen Pflichten nachzukommen, einen Patienten zu besuchen oder sich auf den Weg zu machen, um einen Verbrecher zu jagen. Tatsächlich gibt es in vielen Filmen die Szene, wo zwei im Bett liegen und einer der Partner abgerufen wird. Die Architektin hätte den Koitus nicht zu unterbrechen brauchen, sie hätte sich auch einige Minuten später auf den Weg machen können, um den Preis entgegenzunehmen, vielleicht Stunden später. Das Verhalten der Frau wird durch eine Hierarchie der Bedeutsamkeiten bestimmt. Von Talleyrand wird berichtet, daß er behauptete, mit manchen Frauen "par politesse" geschlafen zu haben. Nun verursacht Höflichkeit noch keine Erektion. Die Frauen müssen also auch als Frauen auf ihn gewirkt haben. "Höflichkeit" steht hier "um mir Vorteile zu verschaffen". Ein Mann kann aus den verschiedensten Gründen mit einer Frau schlafen, mit denen man ohne diese Gründe nicht geschlafen hätte, deren Attraktivität für sich genommen also nicht ausgereicht hätte. Für den narzißtisch strukturierten Menschen scheint es aber charakteristisch zu sein, daß er sein sexuelles Verhalten bestimmten Zielen unterordnet, die er erreichen will, letztendlich um Bestätigung zu erlangen. Man kann auch mit einer Frau schlafen, um sie nicht zu kränken, und das wäre auch eine Möglichkeit, wie man die "Höflichkeit" von Talleyrand verstehen könnte. Ober die eigentlichen Wünsche Talleyrands wissen wir nichts, wir können sie nur versuchen zu erschließen, indem wir seine Biographie heranziehen. Es ist aber nicht nötig, so weit in die Geschichte zurückzugehen, weil ein taktisches Verhalten im Umgang von Männern mit Frauen und natürlich auch von Frauen im Umgang mit Männern, bei homosexuellen Paaren entsprechend, auch heute beobachtet werden kann. Man kann beobachten, daß Frauen oder Männer Sexualität funktionalisieren und sie zum Beispiel in den Dienst der eigenen Karriereziele stellen. In früherer Zeit war eine "reiche Heirat", die den eigenen Sozialstatus erhöhte, ein probates Mittel, beruflich voranzukommen. Die Schauspielerin, die mit einem Regisseur schläft, damit er sie für eine bestimmte Rolle einsetzt, ist ebenso wie die reiche Heirat zu einem Klischee geworden. Daß eine Schauspielerin ihren Weg auf diese Weise macht, ist vielleicht seltener, als angenommen wird. Der narzißtisch Strukturierte funktionalisiert die Sexualität, und er funktionalisiert die Partnerin, die narzißtische Frau den Partner. Ich will nicht sagen, daß Geld oder Status bei Liebesbeziehungen anders strukturierter Menschen keine Rolle spielen. Was ich deutlich machen will, ist nur, daß sie bei den narzißtisch Strukturierten eine große Rolle spielen, während anderes dahinter zurücktritt. 34
3.3 Depressive Struktur Beim depressiv Strukturierten ist Sexualität mit Beziehung eng verknüpft, und zwar auf eine besondere Weise. Mit Sexualität, die dabei genossen werden kann, wird Beziehung erkauft. So wie Depressive für andere Menschen arbeiten können, um geliebt zu werden, kann ein depressiv Strukturierter, besonders eine depressiv strukturierte Frau, Sexualität bieten, um geliebt zu werden. Dieses Angebot ist problematisch, weil für die depressiv strukturierte Frau eine gute Beziehung eigentlich Voraussetzung dafür ist, Sexualität ungestört erleben zu können. Manche helfen sich damit, daß sie die Illusion aufbauen, geliebt zu werden. Daß dies noch nicht der Fall ist und daß sie Sexualität bieten, damit eine Beziehung zustande kommt, blenden sie aus. Andere wieder verzichten auf Sexualität, wenn noch keine Liebesbeziehung besteht. Sie halten damit an ihrer Forderung einer Beziehung als eine notwendige Basis für Sexualität fest, wobei sie mit der Einstellung vieler Männer in Konflikt geraten, die sich erst auf dem Wege über einen sexuellen Kontakt verlieben können und ein Angebot von Sexualität als Zeichen der Liebe auffassen. Bietet eine depressiv strukturierte Frau Sexualität an, ohne daß eine persönliche Beziehung schon gewachsen ist, riskiert sie, daß der Mann glaubt, ihr komme es vor allem auf Sexualität an und sie lege auf eine Dauerbeziehung nicht unbedingt Wert. Viele Männer möchten ja, daß Frauen auf ihre sexuellen Initiativen eingehen, reagieren aber verschreckt, wenn die Frau den ersten sexuellen Schritt macht. Hier hält die Evolutionspsychologie Erklärungen bereit. Die zurückhaltende Frau und der aktive Mann entsprechen in ihrem Verhalten den unterschiedlichen Rollen in der Reproduktion. Der Mann kann seine Gene an viele Frauen weitergeben, die Frau muß selektiver sein, weil sie nur eine begrenzte Zahl von Kindern haben kann und eine Schwangerschaft eben neun Monate in Anspruch nimmt. Entsprechend der Grundtendenz, vor allem auf das Wohlergehen des anderen zu achten, kümmern sich Depressive mehr um die Lust des Partners bzw. der Partnerin als um die eigene. Männer, die im Geschlechtsverkehr erleben, mehr zu geben, als sie bekommen, was ja der körperliche Vorgang nahe legt, können gegen diese Ungleichheit unbewußt protestieren. Beim Mann hemmt das die Erektion und macht den Koitus damit unmöglich, bei der Frau bleibt er möglich, die Lustempfindung wird aber blockiert. Andererseits erleben viele depressive Frauen den Koitus als etwas Nährendes. Sie empfangen Substanz, die in Vorwegnahme einer Schwangerschaft als erfüllend oder ausfallend fantasiert wird. Für sie ist die Schwangerschaft auch eine Möglichkeit, das Kind als Vertreter des Partners immer bei sich zu haben und sich nicht allein zu fühlen. Diese Fantasie kann unbewußt existieren, obwohl bewußt keine Schwangerschaft angestrebt wird. Das ist auch ein Grund, weshalb viele depressiv strukturierte Frauen den Gebrauch von Kondomen ablehnen. Die größte Gefahr in sexuellen Beziehungen besteht für depressiv Strukturierte darin, sich ausgebeutet zu fühlen. Der Weg zu besseren sexuellen Beziehungen geht über eine Abgrenzung im Bereich des Gebens und Nehmens. Erst wenn der depressiv Strukturierte sich da abgrenzen kann, fühlt er sich in sexuellen Beziehungen wohl, wo es ja um eine spezielle Art des Gebens und Nehmens geht. In einer guten sexuellen Beziehung ist das Geben und Nehmen ausgeglichen, was nicht heißt, daß man dem anderen nicht auch Kredit geben kann: aber eben einen rückzahlbaren Kredit, nicht 35
Geschenke aus der eigenen Substanz.
3.4 Zwanghafte Struktur Da der sexuelle Akt, wenn er voll erlebt wird, mit einem Kontrollverlust verbunden ist, zumindest während des Orgasmus, und der Zwanghafte einen Kontrollverlust in besonderem Maße fürchtet, muß er versuchen, seine Sexualität zu zähmen. Dazu hat er verschiedene Möglichkeiten. Die eine besteht darin, daß er das sexuelle Erleben "herunterregelt". Dazu setzt er den Mechanismus "Isolierung vom Affekt" ein, die Erregung wird nicht voll bewußt. Der Zwanghafte kann sich während des gesamten Geschlechtsverkehrs, auch während des Orgasmus, gut in der Hand behalten. Spontaner Geschlechtsverkehr ist seine Sache nicht. Sexualität sollte geplant und eingerahmt sein, zur rechten Zeit, am rechten Ort und unter adäquaten Vorbedingungen stattfinden. Das genaue Gegenstück dazu wäre der Koitus auf dem Küchentisch in dem Film The postman always rings twice. Er findet ungeplant an einem ungewöhnlichen Ort zwischen zwei Menschen statt, die sich eben kennengelernt haben. Im Film wird der Kontrollverlust beider deutlich gemacht. Nicht erst während des Orgasmus, sondern während des gesamten Koitus wirkt das Verhalten der Partner wenig kontrolliert. Leidenschaft ist nichts für den Zwanghaften. Er befürchtet wie gesagt, die Kontrolle über sich selbst und andere zu verlieren. Andererseits verhilft ihm, wie schon im einfahrenden Kapitel zur Zwangsstruktur erwähnt, der Abwehrmechanismus "Isolierung aus dem Zusammenhang" dazu, zwei Beziehungen nebeneinander führen zu können, die in seinem Erleben nichts miteinander zu tun haben, solange es ihm gelingt, sie örtlich und zeitlich auseinander zuhalten. Der Alptraum eines zwanghaft strukturierten Liebhabers mehrerer Frauen ist, daß die Frauen aufeinandertreffen. Das wird in dem französischen Theaterstück Boeing, Boeing dargestellt, wo ein Mann sexuelle Beziehungen zu mehreren Flugbegleiterinnen hat. Er kann die Termine auseinanderhalten, solange es keine Jet-Flugzeuge gibt. Die Propellermaschinen fliegen langsam. Mit der Einführung der schnelleren Jets bleiben die Stewardessen nicht lang genug unterwegs, und sie treffen in der Wohnung des Mannes aufeinander. Zwanghaft Strukturierte erleben bekanntlich oft Angst und Abscheu, wenn sie mit Schmutz konfrontiert sind. Sie haben Probleme mit der Tatsache, daß die Sexualorgane gleichzeitig eine Ausscheidungsfunktion haben; bei der Frau kommt hinzu, daß Anus und Vagina benachbart sind. Bei Mädchen in der Frühadoleszenz findet man oft noch die sogenannte Kloakenfantasie, also die Vorstellung, Urin und Kot würden über einen Kanal ausgeschieden, und dieser Kanal sei gleichzeitig das Sexualorgan, wie das bei Vögeln der Fall ist. Sie werden auch durch die Tatsache beunruhigt, daß vom Anus aus sexuelle Gefühle erzeugt werden können. Bei erwachsenen Frauen wirkt sich diese Problematik oft in einer Ablehnung der eigenen Sexualität aus, bei Männern in der stillschweigenden oder ausgesprochenen Entwertung der Frau als ein schmutziges Wesen. Insgesamt kann man sagen, daß sexuelle Handlungen und auch sexuelle Gefühle bei Zwanghaften oft die Konnotation des Schmutzigen haben und daß der mit Sexualität im Normalfall verbundene partielle Kontrollverlust sie ängstigt, sowohl der eigene Kontrollverlust als auch der Kontrollverlust der Partnerin bzw. des Partners. 36
Hier handelt es sich um tief verwurzelte Persönlichkeitseigenschaften, die ohne eine Bearbeitung der unbewußten Determinanten kaum modifiziert werden können.
3.5 Phobische Struktur Die unbewußte, bei manchen auch bewußte Angst vor einem Kontrollverlust teilt der phobisch Strukturierte mit dem Zwanghaften. Im Unterschied zum Zwanghaften wird die Angst bewußt, der Impuls nicht, während beim Zwanghaften der Impuls ohne Motivationszusammenhang und ohne die motivierenden Gefühle bewußt werden kann. Sexualität wird vom phobisch Strukturierten gefürchtet als ein Motiv, sich willkürlich zu verhalten und sozial geächtet zu werden. Bei einer phobischen Struktur ohne phobische Krankheitssymptome äußert sich die Angst vor Sexualität in einem vermeidenden Umgang mit dem anderen Geschlecht, und zwar bei Männern und Frauen. Sie manifestiert sich auch in deutlicher Zurückhaltung bezüglich der Masturbation. Nicht alle Frauen, die nie masturbieren, haben eine phobische Struktur. So gibt es auch depressiv strukturierte Frauen, die das nicht tun, weil ihnen Sexualität ohne einen real anwesenden Partner schwer vorstellbar ist. Dagegen waren alle Männer, die mir als Patienten versicherten, nie masturbiert zu haben, phobisch strukturiert. Sie hatten Angst vor der sexuellen Erregung, wenn niemand dabei war. Dagegen konnten sie in Gegenwart einer Partnerin, die ihnen gleichzeitig als Schutzperson diente, Sexualität ungestört erleben. Da ein Mann, der Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr hat, nicht darunter leiden muß, daß er nicht masturbieren kann, und weil bei alleinstehenden Männern die Pollution an die Stelle der Masturbation tritt, sind sexuelle Probleme bei phobisch Strukturierten eher selten. Sie finden sich vor allem bei Männern mit einer sogenannten Herzneurose, die ihre Partnerin oft ähnlich wie eine Mutter erleben. Aggressive Gefühle gegenüber diesem Mutterersatz richten sie gegen sich selbst, und zwar nicht wie der Depressive in Form von Depressionen und Selbstvorwürfen, sondern sie attackieren unbewußt das eigene Herz als Repräsentant der Partnerin. Neben dem Inzesttabu liegt der sexuellen Abstinenz, die ich bei vielen herzneurosekranken Männern gefunden habe, eine Angst zugrunde, sich gegenüber der Partnerin im Geschlechtsverkehr aggressiv zu verhalten. Hier haben wir es mit Phänomenen von ausgesprochenem Krankheitswert zu tun. Sie sind nicht eigentlich Gegenstand dieses Buches, soweit von ihnen die Rede ist, sollen sie der Verdeutlichung dienen. Während sich die depressive Struktur wenig auf sexuelles Erleben auswirkt, wenn es mit einem Partner zusammen geschieht, kann es für phobisch Strukturierte wichtig sein, einen Partner oder eine Partnerin zu finden, der oder die Erfahrungen mit Sexualität hat und die Rolle des anleitenden Begleiters spielen kann, oder einen Zwanghaften, der oder die Gewähr dafür bietet, daß er oder sie auch beim Erleben stärkster Gefühle nie "den Kopf verliert".
3.6 Hysterische Struktur Schon im einführenden Kapitel zur hysterischen Struktur bin ich auf die Sexualität ausführlicher eingegangen als in den anderen einführenden Kapiteln. Das hängt damit zusammen, daß Sexualität (in ihren kindlichen Vorstufen) schon bei der Entstehung 37
der hysterischen Struktur eine Rolle spielt und die hysterische Struktur sich mehr als andere in Störungen der Sexualität bemerkbar macht. Bei Frauen kommt es zu Blockierungen der Sexualität, bei Männern zu einer Instrumentalisierung der Sexualität. Der hysterisch strukturierte Mann möchte von Frauen als Mann anerkannt werden. Die Sexualität dient ihm dabei als Mittel dazu. Hier möchte ich noch darauf hinweisen, daß das sexuelle Verhalten und das sexuelle Erleben bei hysterisch strukturierten Männern und insbesondere bei hysterisch strukturierten Frauen oft weit auseinander klaffen. Eine Frau mit vielen, wechselnden sexuellen Kontakten möchte als Frau anerkannt und auch als Frau "genommen" werden, empfindet aber wenig dabei. Wie Karasek in einem Spiegel-Artikel (2000) schreibt, sagte die ausgesprochen promiskuitive Marlene Dietrich im Alter, Sexualität habe bei ihr nie eine große Rolle gespielt; mit Männern habe sie sich darauf eingelassen, weil die das so wollten. Promiskuitive Frauen können den Eindruck erwecken, daß sie sexuell unersättlich seien. Tatsächlich gibt es die sexuell unersättliche Frau in dem Sinne, daß sie keine sexuelle Befriedigung finden kann und deshalb niemals "satt" wird. Es gibt aber auch Frauen, die nur Bestätigung und Anerkennung als Frau suchen, wobei es für sie nicht so entscheidend ist, ob sie selbst sexuelle Gefühle empfinden. Auf den sexuell promiskuitiven Mann im Sinne des Don Juan-Syndroms bin ich bereits im einfahrenden Kapitel eingegangen. Die Einschränkung des Selbstkonzepts auf Kriterien der erotischen Attraktivität bei Frauen mehr bezüglich ihres Aussehens, bei Männern mehr bezüglich ihrer körperlichen oder sozialen Stärke ist schwer zu ändern. Die Vorstellung, der andere oder die andere wolle "nur das eine" weshalb er oder sie diese Kriterien anwendet, hält sich hartnäckig. Der Protest gegen die dem anderen zugeschriebene Verengung der Bewertungskriterien stört die Entwicklung von Beziehungen, die andere Erfahrungen ermöglichen könnten. Manchen hilft es aber, wenn sie sich darauf konzentrieren, die Anwendung weiter gefaßter Kriterien beim anderen zu erkennen.
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Kapitel 4
Persönlichkeitsstruktur und Dominanz Bekanntlich spielen Dominanz und Unterwerfung schon im Tierreich eine große Rolle. Dem Dominanzstreben der Menschen werden Ideale wie "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" entgegengesetzt. Tatsächlich ist eine Symmetrie zwischenmenschlicher Beziehungen schwer zu verwirklichen. In Partnerbeziehungen sind die Bemühungen, Beziehung so symmetrisch wie möglich zu gestalten, bekanntlich jüngeren Datums; man kann sagen, daß sie erst im 20. Jahrhundert in nennenswertem Umfang wirksam geworden sind. Natürliche Asymmetrie gibt es in den Beziehungen zwischen Kindern und Eltern. Kinder sind keine Erwachsene, Erwachsene sind keine Kinder. Obwohl in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Bestrebungen im Gange waren, die Eltern-Kind-Beziehung durch eine Art Geschwisterbeziehung zu ersetzen, sind sie auf eine Minderheit in der Bevölkerung beschränkt geblieben. Es zeigte sich bald, daß diese Art der Beziehung für die Entwicklung der Kinder nicht von Vorteil war. Die tatsächlich vorhandenen, schwer zu leugnenden Unterschiede zwischen Männern und Frauen oder zwischen Eltern und Kindern können aber auch als Begründung dafür herangezogen werden, daß Asymmetrien konserviert werden, die durch solche Unterschiede nicht begründet sind. Verschiedene Charakterstrukturen bedingen einen unterschiedlichen Umgang mit Dominanz. Daß in verschiedenen Ländern unterschiedliche Charakterstrukturen gehäuft vorkommen, hat wieder etwas mit äußeren Realitäten zu tun. So kann man vermuten, daß die starke zwanghafte Komponente des japanischen Volkscharakters etwas damit zu tun hat, daß auf den japanischen Inseln wenig Platz ist und man nur dann konfliktarm miteinander umgehen kann, wenn das Verhalten stark strukturiert wird. Menschen mit einer Zwangsstruktur neigen zu einer Hierarchisierung von Beziehungen. Sie möchten, daß Klarheit darüber herrscht, wer oben und wer unten ist. Eine Kooperation auf gleicher Ebene fällt ihnen schwer, weil sie sich Beziehungen ohne den Aspekt des Oben- oder Unten-Seins nicht vorstellen können. Von den Einflüssen auf die persönliche Entwicklung, die zu einer Zwangsstruktur führen, wird von Seiten der Psychoanalytiker am häufigsten eine strenge Sauberkeitserziehung genannt. Man könnte auch von einer Sauberkeitsdressur sprechen, die mit dazu führt, daß Dominanz und Unterwerfung im Denken und Fühlen des Zwanghaften eine so große Rolle spie39
len. Während zwanghaft Strukturierte Dominanz oder Unterwerfung anstreben, streben schizoid Strukturierte nach Autarkie. Sie möchten sich keiner Person unterordnen, weil sie fürchten, dann ihre Individualität zu verlieren, nicht mehr sie selbst zu sein. Frei sein ist deshalb auch Bestandteil ihres Selbstkonzepts, ihrer Identität. Dagegen ordnen sie sich einer Idee unter; wenn sie sich anderen Menschen unterordnen, dann nur als Vertretern einer Idee. Narzißtisch strukturierte Menschen haben nur scheinbar wenig Schwierigkeiten damit, sich unterzuordnen. Das tun sie, solange das Selbstkonzept eines omnipotent unabhängigen Individuums erhalten bleiben kann, aus taktischen Gründen. Oft tun sie eigentlich nur so, als würden sie sich unterordnen, um etwas zu erreichen, zum Beispiel um in ihrem Beruf voranzukommen. Dieses Unterordnen wird ihnen dadurch leicht gemacht, daß sie andere eher in ihren Funktionen sehen denn als Personen. So kann sich ein narzißtisch strukturierter Mensch einem Skilehrer oder Bergführer ohne weiteres unterordnen. Der hat ja die Funktion, ihm das Skilaufen beizubringen oder ihn auf einen Berg zu führen. Schizoid Strukturierte können so etwas nicht. Wenn sie sich unterordnen, fühlen sie sich in ihrer Autarkie unmittelbar bedroht. Während für den narzißtisch Strukturierten eine Überbewertung der eigenen Person und die Unterbewertung anderer charakteristisch sind, ist es bei den Schizoiden die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Ich und Du. Wer Macht über den Schizoiden bekommt, kann Nähe und Distanz bestimmen. Er kann dem Schizoiden auf den Leib rücken, wobei die Grenzen, fürchtet dieser, verschwimmen und er sich als Individuum verliert. Ist das Selbstkonzept des narzißtisch Strukturierten instabil, kann es in Konfrontation mit der Realität der eigenen Machtlosigkeit, die auf realer Schwäche beruht, zu schweren Kränkungen kommen. Der Kränkende wird dann rächend verfolgt. Depressiv Strukturierte haben wenig Schwierigkeiten damit, sich unterzuordnen, weil sie generell zur Selbstunterschätzung und zur Überschätzung anderer neigen. Allerdings erleben sie eine Forderung, sich zu unterwerfen, als Bestätigung ihres Unwerts, was eine Selbstwertkrise auslösen kann: Die Liebe dessen, dem sie sich unterordnen oder unterwerfen, suchen Depressive oft durch Arbeit zu gewinnen. Andernorts in diesem Buch habe ich ausführlich dargestellt, weshalb das nicht funktionieren kann: Liebe kann durch nicht arbeiten verhindert werden, sie wird aber nicht durch Arbeiten hervorgerufen. Oben habe ich schon darauf hingewiesen, daß "Oben" und "Unten" im Denken und Erleben des Zwanghaften eine große Rolle spielen und seine Beziehungen wesentlich strukturieren. Wenngleich er meist versucht, in die Oben-Position zu kommen, kann er doch akzeptieren, sich unterzuordnen, wenn der andere sich als stärker erweist und wenn es bei einer eventuellen Auseinandersetzung "gerecht" zugegangen ist. Zwanghafte, die Unterordnung schwerer ertragen können, weil sie sich dann als versklavt empfinden - Untensein gewinnt so eine besondere Färbung und Bedeutung -, bewahren sich oft die Vorstellung, es sei bei der Auseinandersetzung nicht mit rechten Dingen zugegangen, oder die Regeln der Fairneß seien nicht beachtet worden. Andererseits gibt es eben Zwanghafte, die aus der Unterwerfung eine Tugend machen und zum Beispiel den blinden Gehorsam, wie er in vielen Armeen dieser Welt gefordert wird, zu einer Tugend erheben, die sie aufwertet. Andere Zwanghafte tun nur so, als würden sie sich unterwerfen; im Innern bleiben sie aber heimliche Rebellen, die auf eine Gelegenheit 40
warten, die Beziehung umzukehren. Phobisch Strukturierte versuchen, eine Harmonie in der Beziehung zu ihren Schutzfiguren herzustellen. Da Zwanghafte gern die Rolle einer Schutzfigur einnehmen und wegen ihrer zur Schau getragenen Verläßlichkeit oft als Schutzfiguren gewählt werden, sind phobisch Strukturierte häufig mit dem Problem konfrontiert, daß die Schutzfigur ihre Machtposition ausnutzt. Sie schützt nicht nur, sie bestimmt auch. In solchen Fällen braucht der Protest des phobisch Strukturierten oft lange Zeit, bis er sich manifestiert, und dann oft in unbewußt determinierten Fehlleistungen. Mir ist in meiner paartherapeutischen Praxis deutlich geworden, daß die Ehe eines phobisch Strukturierten mit einer Schutzfigur oft sehr stabil ist, daß die Beziehung aber häufig auseinandergeht, wenn der phobisch Strukturierte eine Therapie macht und Schutzfiguren nicht mehr braucht. Das hat sicher damit zu tun, daß ein wesentliches Kriterium der Partnerwahl überflüssig geworden ist. Zusätzlich handelt es sich oft um einen Protest gegen das Dominiertwerden, der sich Bahn bricht, wenn eine Schutzfigur nicht mehr benötigt wird. Die Komplexität der Entwicklungsmöglichkeiten, die determinieren, welche Art von hysterischer Struktur am Ende entsteht, habe ich im einfahrenden Kapitel ansatzweise dargestellt. Eine Frau, die sich vorwiegend mit der Rolle der kleinen Tochter als Partnerin eines starken Mannes identifiziert hat, kann sich ihren Partnern gerne unterordnen, sofern diese nur stark genug sind - so stark, daß sie das nicht kränkt. Allerdings gibt es oft Schwierigkeiten im sexuellen Bereich, weil die Beziehung zu einem starken Mann mit dem Inzesttabu verbunden wird. Ist die Frau daneben aber mit dem Vater identifiziert und möchte sie deshalb auch eine Beziehung vom Starken zum Schwachen hin, also von einer Frau, die so stark ist wie der Vater, hin zu einem Partner, der so schwach ist, wie sie als kleines Mädchen war, wird sie versuchen, den Mann klein zu machen und selbst in die dominierende Position zu gelangen. Der hysterisch strukturierte Mann wünscht sich Dominanz über Männer, deren Rache er aber fürchtet, weshalb er sich oft aus Konkurrenzsituationen zurückzieht. Er hat es oft auch nicht gelernt, zu konkurrieren, weil ihm die Liebe der Mutter zugefallen ist, wobei sie ihn dem Vater vorzog. Eine unmittelbare Konkurrenz mit dem Vater war da nicht nötig. Solche Männer versuchen dann oft, Frauen zu "erobern", an denen sie aber schnell das Interesse verlieren, wenn die erste, bewundernde Verliebtheit abgeklungen ist. Im Erobern der Frauen dominieren sie. Liebt die Frau sie weniger, können sie der Macht ihrer Männlichkeit auch nicht mehr sicher sein, und das ist ein weiterer Grund, warum sie sich dann oft einer weiteren Frau zuwenden. Andere wieder suchen ihr Heil in der dienenden Beziehung zu einer Frau, die sie bewundern, der sie aber nicht sexuell nahe kommen dürfen, weil das Inzesttabu es verbietet. Werden sie von der Frau "erhört", verlieren sie das Interesse an ihr. Die Beziehung war ja durch ihre dienende Rolle und die dominierende Rolle der Frau bestimmt. Läßt die Frau einen Geschlechtsverkehr zu, darf die Beziehung nicht mehr so sein wie zur Mutter, weil das Inzesttabu sonst wirksam würde. Von Männern, die eine dienende Rolle zu einer Frau anstreben, kann man in Therapien oft hören, daß sie in Gegenwart der verehrten Frau zunächst keine Erektion bekamen. Gelingt der Geschlechtsverkehr erst einmal nicht, hat die Beziehung Aussicht auf weiteren Bestand; gelingt er doch, dauert die Beziehung meist nur noch kurze Zeit. Die Rolle des dienenden, bewundernden Mannes wurde durch die deutschen Minnesänger verkörpert. Auch heute gibt es den Mann, der eine Frau "anbetet", sie aber nie für sich gewinnt und vielleicht kurzdauernde Beziehungen zu anderen Frauen hat, 41
die sich an Bedeutung für ihn aber mit der Beziehung zu dieser einen Frau nicht messen können; er ist nicht imstande, eine Dauerbeziehung zu einer Frau herzustellen, die er gleichzeitig schätzt und körperlich liebt. Ein Mann, der eine wichtige Beziehung zu einer Frau hat, die er auch körperlich liebt, aber gelegentlich kurze Beziehungen zu anderen Frauen eingeht, tut das vielleicht, um zusätzliche Bestätigung zu erhalten. Die Evolutionspsychologie verweist allerdings darauf, daß ein solches Verhalten für das Weitergeben der eigenen Gene zweckmäßig ist. In den hochentwickelten Industrieländern haben sich die Beziehungen zwischen Männern und Frauen im 20. Jahrhundert bekanntlich verändert. Die Männer scheinen weniger zu dominieren, die Frauen mehr. Wie weit die vielfach beklagte Abnahme sexuellen Interesses bei Männern und Frauen mit einem Konflikt zu tun hat, der zwischen einem gesellschaftlich determinierten Rollenverhalten und den im Laufe der Evolution entwickelten angebotenen Verhaltensprogrammen zusammenhängt, ist eine Frage, die diskutiert wird, ohne daß man bisher eine überzeugende Antwort gefunden hätte. Ein Hinweis könnten die Fantasien vieler Frauen sein, mit Gewalt "genommen" zu werden. Untersuchungen darüber, wie das etwa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, liegen nicht vor, so daß die Frage unbeantwortet bleiben muß, ob etwas in der Realität nicht Gelebtes, von der evolutionären Grundausstattung aber Vorhandenes im Bereich der Fantasie ein Stück weit ausgelebt wird. Ähnlich wie die Sexualität sind das Dominanzstreben und die Tendenz, sich anderen zu unterwerfen, zentraler Ausdruck der Persönlichkeit. Sie können nur in engen Grenzen beeinflußt werden. Hiervon ist allerdings das Dominanzstreben aus Angst und auch ein Unterwerfungswunsch aus Angst zu unterscheiden. Wer Angst hat, dominiert zu werden, kann versuchen, selbst zu dominieren, und wer sich keine Chancen ausrechnet, zu dominieren, kann üben, sich taktisch zu unterwerfen. Bei verschiedenen Strukturen kommt die Angst aus verschiedenen Quellen. Soweit sie nicht den Realitäten entspricht, kann sie durch Realitätsprüfung gemindert werden. Eine Tatsache, die sich zum Beispiel die kognitive Verhaltenstherapie zunutze macht, bei der es viel um Realitätsprüfung in Alltagssituationen geht. Teilweise gilt das auch für die psychoanalytisch orientierten Kurztherapien, während bei einer Psychoanalyse die Realitätsprüfung in der Beziehung zum Therapeuten eine dominierende Rolle spielt.
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Kapitel 5
Zum Umgang mit Nähe Persönliche Nähe bedeutet für die verschiedenen Persönlichkeitsstrukturen ganz Unterschiedliches. Deshalb kann Nähe aus verschiedenen Gründen gefürchtet werden. Für den narzißtisch Strukturierten geht es nicht darum, daß jemand, der einem nahe kommt, den Wunsch aufkommen läßt, mit ihm zu verschmelzen, oder die Befürchtung aktiviert, er könnte eindringen und die eigene Person gleichsam von innen heraus besetzen. Der narzißtisch Strukturierte wird durch Nähe vielmehr deshalb beunruhigt, weil jemand, der ihm nahe kommt, sich als Person deutlicher zu erkennen gibt, was der Tendenz des narzißtischen Menschen, andere zu funktionalisieren und sie nur als ein Funktionsbündel zu sehen, durch die Profilierung des anderen als Person "mit ihrem eigenen Recht" konterkariert wird. Von den privaten Dingen der Mitarbeiter möchte ein narzißtisch strukturierter Chef im allgemeinen nichts wissen, außer dann, wenn Informationen über das Privatleben eines Mitarbeiters ihm dabei helfen, ihn besser zu manipulieren, weil er dessen Motive, etwas zu tun oder zu lassen, besser versteht. Für den Zwanghaften bedeutet persönliche Nähe eine Möglichkeit zu Konflikten. Wenn jeder seinen abgegrenzten Bereich hat, gibt es weniger Konflikte. Der Zwanghafte erstrebt deshalb mehr als andere Abgrenzungen der Zuständigkeitsbereiche. Zwanghaft strukturierte Chefs werden auch durch Nähe zwischen Mitarbeitern beunruhigt: Man könnte sich ja gegen ihn zusammenschließen, sich gegen ihn zusammenrotten. Es könnte aber auch zu Konflikten zwischen Mitarbeitern kommen, die vom Chef schwer zu beherrschen und zu bereinigen sind. Auch deshalb achten zwanghafte Chefs darauf, daß die Zuständigkeitsbereiche der Mitarbeiter ganz deutlich voneinander abgegrenzt sind. Wenn jeder weiß, was er zu tun hat, gibt es weniger Streit. In einer Partnerschaft ist der Streit um Zuständigkeiten zwischen Männern und Frauen häufiger geworden, weil die Zuständigkeiten nicht mehr so selbstverständlich voneinander abgegrenzt sind wie vor fünfzig oder hundert Jahren. Auch die Männlichkeitsund Weiblichkeits-Stereotypen überschneiden sich. Es ist heute nicht mehr von vornherein klar, wer einen Nagel in die Wand schlägt oder das Kind wickelt. Für phobisch Strukturierte ist Nähe zum steuernden Objekt angstmindernd. Die Nähe zu anderen Personen kann vor allem Angst hervorrufen, wenn kein steuerndes Objekt zugegen ist. Wegen ihrer unbewußten Tendenz zu Willkürhandlungen halten manche phobisch Strukturierte Abstand von anderen Menschen, oder sie vermeiden Orte, wo Menschen ihnen nahe kommen und sie zu einem Willkürhandeln veranlassen könnten. 43
Für hysterisch Strukturierte bringt Nähe die Gefahr mit sich, daß der andere enttäuscht wird. Bei Frauen findet man oft die Befürchtung, ein Mann, dem sie sich in einer intimen Situation nackt zeigen, könnte von ihrem Aussehen enttäuscht sein; Männer fürchten das gleiche, aber darüber hinaus ein sexuelles Versagen, was Frauen weniger fürchten, weil es bei ihnen weniger eindeutig zu erkennen ist, ob die sexuellen Erregungsabläufe gestört sind. Überhaupt findet man bei Hysterischen oft die Vorstellung, in persönlicher Nähe würden sie enttäuschen. Natürlich haben viele Hysterische auch die Erfahrung gemacht, daß eine enge Beziehung unbefriedigend verlief. Der Mann war enttäuscht davon, daß die Frau nicht so begeistert von ihm blieb, wie sie es zu Anfang schien, und die Frau ist enttäuscht, wenn der Mann sie nicht mehr so umwirbt, wie er das zu Beginn der Beziehung getan hat. Für Schizoide ist wichtig, daß sie Grenzen setzen können, wenn ihnen andere zu nahe kommen. Hier handelt es sich wieder um soziale Kompetenzen, die bei Schizoiden oft nicht gut entwickelt sind, aufgrund ihrer primären Kontaktstörung. Gerade sie brauchen aber die Fähigkeit, Kontakte zu regulieren. Depressive, die befürchten, ausgebeutet oder aufgefressen zu werden - eine Befürchtung, die etwas mit der Projektion eigener unbewußter Wünsche und Impulse zu tun hat -, sollten ihrer Tendenz entgegenwirken, sich "auffressen" und ausbeuten zu lassen. Sie können mehr Nähe vertragen, wenn sie in einer nahen Beziehung etwas abzuschlagen gelernt haben. So können sie ihrem Wunsch nach räumlicher Nähe, auch dem nach körperlicher Berührung dann eher nachgeben, jedenfalls so weit, wie der Partner oder die Partnerin das toleriert oder selbst wünscht. Beim Zwanghaften geht es metaphorisch gesprochen darum, in seine Grenzwälle Türen und Fenster einzubauen. Sie dienen dann der Dosierung von Durchlässigkeit, können geöffnet und wieder verschlossen werden. Wie man das sozial kompetent löst, kann auch für Zwanghafte ein Problem sein. Das Problem besteht nicht wie beim Schizoiden darin, daß die primäre Kontaktstörung den Erwerb sozialer Kompetenzen behindert hat. Ein Zwanghafter, der sich durch Grenzziehung vor Angriffen schützen und mögliche Gegner, etwa unter den Mitarbeitern, voneinander isolieren will, kommt gar nicht auf den Gedanken, Flexibilität zu üben. Daß es zweckmäßig sein kann, über Flexibilität zu verfügen, Fenster und Türen auf- und zumachen zu können, muß er sich erst deutlich vor Augen halten. Die Ängste hysterisch Strukturierter, sich so zu zeigen, wie sie sind, kann man schwer beeinflussen, weil sie eng mit der Identifizierung mit zwei Geschlechtern verbunden sind: bei der hysterischen Frau mit dem Vater und mit sich selbst als kleinem Mädchen, beim hysterischen Mann mit der Mutter und mit seiner Rolle als Rivale des Vaters in der ödipalen Entwicklungsphase. Es kann aber nützlich sein, wenn hysterisch Strukturierte sich die Gefahr deutlich machen, daß die Befürchtung, als Mann oder Frau bei näherem Kennenlernen abgelehnt zu werden, sich als selbsterfüllende Prophezeiung auswirkt. Helfen kann es auch, sich darüber klarzuwerden, wie man "eigentlich" sein müßte. Bei Männern findet man Cowboy- oder Spitzensportler-Fantasien, auch die Vorstellung, man sollte eigentlich Bundeskanzler sein; bei Frauen finden sich irreale Vorstellungen über das geforderte Aussehen beim Vergleich mit den in Zeitschriften und im Fernsehen und Film auftretenden Models und Schauspielerinnen, die sorgfältig geschminkt abgebildet werden aus vorteilhaften Perspektiven. Ich bin immer wieder beeindruckt davon, daß Selbsteinschätzungen hysterischer Frauen bezüglich ihres Aus44
sehens wenig - manchmal habe ich den Eindruck, gar nicht - mit dem tatsächlichen Aussehen korrelieren, sondern weitgehend unabhängig davon sind. Dies ist wohl ein Hinweis darauf, daß die Selbsteinschätzung bezüglich des Aussehens unter stark irrationalen Einflüssen steht. Eine Unsicherheit bezüglich der eigenen Geschlechtsidentität bewirkt eine Unsicherheit bezüglich des Aussehens. Die Erkenntnis, was Nähe für einen bedeutet, ist oft ein erster und wesentlicher Schritt zu einem besseren Umgang mit ihr.
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Kapitel 6
Fixierung auf die Zweierbeziehung Manche Menschen fühlen sich nur in Zweier-Beziehungen wohl. Mehr-Personen-Beziehungen beunruhigen sie. Wenn sie sich mit einer Person unterhalten, und eine dritte kommt hinzu, fühlen sie sich schon abgemeldet, wenn ihr Gesprächspartner sich zum neu Hinzugekommenen wendet, um ihn zu begrüßen. Man spricht von einer Fixierung auf die dyadische Beziehungsform. Sie entsteht aus verschiedenen Gründen, zum Beispiel wenn das Kind im ersten Lebensjahr immer nur mit einer wichtigen Person gleichzeitig umgegangen ist. Dazu kommt es bei alleinerziehenden Eltern, die nicht mit anderen Frauen oder Männern zusammenwohnen. Die triangulierende Person, also die Person, die als zweite hinzutritt und die Mutter für sich beansprucht, ist im Regelfall der Vater. Fehlt er, ist er wenig präsent oder wechselt er sich mit der Mutter des Kindes in dessen Betreuung ab, so daß Mutter und Vater selten oder nie in Gegenwart des Kindes miteinander umgehen, erfährt das Kind nicht, daß der Mensch eine wichtige Beziehung zu einem anderen Menschen haben kann, ohne daß es "abgemeldet" wäre. Die Eltern sollten für das Kind auch als Paar in Erscheinung treten. Wenn beide Eltern halbtags berufstätig sind und halbtags das Kind betreuen, das sie wie eine Art Stafettenstab weiterreichen, und miteinander Zeit nur verbringen, während das Kind schläft, wird dem Kind eine wichtige Erfahrung vorenthalten. Entwicklungsschritte, die eine erlebte Dreierbeziehung zur Voraussetzung haben, werden verzögert oder finden nicht statt. Später wird die ödipale Rivalitätssituation als besonders gefährlich erlebt, weil zu einer gesunden Verarbeitung des ödipalen Konflikts gehört, daß ein Kind sich die Eltern als Elternpaar vorstellen kann, als zwei Personen, die auch füreinander wichtig sind. Kinder mit solchen ödipalen Erfahrungen empfinden Rivalität mit anderen Menschen als besonders gefährlich. Als Erwachsene sind sie auf einen reiferen Umgang mit Rivalität nicht durch eine Bewältigung der ödipalen Konfliktsituation vorbereitet worden. Im übrigen gibt es auch Fixierungen auf die Mehrpersonen-Beziehung, zum Beispiel im Kibbuz, wo die konstantesten Beziehungspersonen die Gleichaltrigen sind. Kinder aus dem Kibbuz kommen mit Mehrpersonen-Situationen gut zurecht, zum Beispiel in der israelischen Armee. In Schwierigkeiten geraten sie, wenn sie in einer Zweipersonen-Beziehung leben sollen, nachdem sie aus der Armee entlassen wurden und geheiratet haben. Eine dyadische Fixierung wirkt sich in vielerlei Weise aus. So konzentrieren sich dyadisch fixierte Frauen während der Schwangerschaft ganz auf das werdende Kind, 47
der Partner ist "abgeschrieben", weil sie nicht imstande sind, eine Beziehung zu zwei wichtigen Menschen zu unterhalten. Ein dyadisch fixierter Vater fühlt sich auch dann abgeschrieben, wenn die Partnerin nicht dyadisch fixiert ist, weil er sich nicht vorstellen kann, daß er ihr wichtig bleibt, wenn sie sich dem werdenden Kind zuwendet. Viele Väter gehen dann fremd, was man schwer nachvollziehen kann, wenn man um die Auswirkungen einer dyadischen Fixierung nicht weiß oder nicht weiß, daß eine solche vorliegt. Ist das Kind geboren, wenden sich dyadisch fixierte Frauen häufig noch mehr von ihrem Partner ab, weil das Kind jetzt Betreuung braucht. Viele Väter fühlen sich dann von der Beziehung zum Kind ausgeschlossen. Oft findet auch kein Geschlechtsverkehr zwischen den Eltern mehr statt. Wenn das Kind älter wird, kann sich die Beziehungssituation verändern, wenn der Vater des Kindes durchgehalten hat und das Interesse der Mutter wieder für sich gewinnen kann. In solchen Fällen ist auch eine persönliche Nachreifung der dyadisch fixierten Mutter möglich. Im allgemeinen wird eine Partnerschaft durch eine dyadische Fixierung des Vaters stärker gefährdet, wenn es zur Schwangerschaft und zur Geburt eines Kindes kommt und die Frau sich dem Kind zuwendet. Aus der dyadischen Fixierung einer Frau ergibt sich hingegen kein Motiv, fremdzugehen. Die Erkenntnis, daß jemand auf die dyadische Beziehungsform fixiert ist, führt noch nicht dazu, daß sich daran etwas ändert. Eine solche Fixierung ist ja das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses. Die Erkenntnis, daß hier etwas fehlgelaufen ist, beseitigt das Problem aber noch nicht. Frauen und Männern mit einer dyadischen Fixierung kann nur empfohlen werden, die Fantasie, der andere werde sich ganz abwenden, wenn ein Dritter dazu kommt, an der Realität zu überprüfen. Es handelt sich, wenn der andere nicht auch dyadisch fixiert ist, um eine Fehlinterpretation von beobachtetem Verhalten, die auf eigene Beziehungsvorstellungen zurückzuführen ist. Wenn zwei dyadisch Fixierte sich finden, was nach meinen Beobachtungen häufig ist, wird die Beziehung so lange stabil bleiben, wie die Partner füreinander die einzige wichtige Person bleiben. Solche Beziehungen können harmonisch wirken, sie sind aber gefährdet, zum Beispiel eben, wenn ein Kind kommt oder wenn die Frau oder der Mann sich im Rahmen eines Studiums oder einer Ausbildung für Kollegen, Vorgesetzte oder Lehrer zu interessieren beginnt und Zeit mit ihnen verbringt. Sich aus einer dyadischen Fixierung zu befreien ist auch deshalb nicht leicht, weil die Vorstellung, ein Mensch sei ganz für den anderen da, etwas Faszinierendes hat. Dyadisch Fixierte können die Vorstellung, Beziehungen zu mehreren Personen würden das Leben interessanter und farbiger gestalten, zunächst nicht entwickeln. Hier kann die Beobachtung anderer und deren Lebensweise ein Stück weiterhelfen, übrigens auch in Filmen, Theaterstücken und Romanen, wo mehrere Personen interagieren. Zunächst geht es ja darum, es Oberhaupt für möglich zu halten, daß man befriedigend mit mehreren Personen leben kann.
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Kapitel 7
Kontaktaufnahme, Kontaktgestaltung, Kontaktbeendigung Ein großer Teil der zwischenmenschlichen Interaktionen findet nicht im Rahmen von Dauerbeziehungen statt. Wenn jemand in ein Geschäft geht, um sich eine Ware zeigen zu lassen, sie dann kauft oder nicht, sieht er den Verkäufer vielleicht nur dieses eine Mal. Jemand kann aber auch zu einem Dauerkunden werden, der dem Verkäufer bekannt ist, von ihm als Bekannter begrüßt und verabschiedet wird. Das Verhalten eines Kunden in einem Geschäft und das Verhalten des Verkäufers entsprechen bestimmten Regeln. Der Verkäufer fragt etwa: "Was kann ich für Sie tun?"; der Kunde sagt was er will. Das Verkaufsgespräch wird durch einen Kauf oder Nichtkauf beendet. Man kann ein Wiederkommen in Aussicht stellen oder nicht. Auch die Intentionen, mit denen man ein Geschäft betritt, können verschieden sein. Man kann die feste Absicht haben, etwas zu kaufen, oder man kann beabsichtigen, sich die in Frage kommenden Waren in verschiedenen Geschäften zeigen zu lassen und den Kauf zu tätigen, der bezüglich der Qualität der Ware und des Preises am günstigsten erscheint. Man kann eine bestimmte Preisvorstellung haben oder keine. Man kann sich innerlich ein Preislimit setzen oder nicht. Auf einer Party kann man jemanden kennenlernen, den man aller Voraussicht nach nicht wiedersehen wird, oder man kann mit ihm bekannt werden und sich dann auch bei anderen Gelegenheiten treffen, oder es kann sich um jemanden handeln, der mit dem Gastgeber gut bekannt ist und den man auf dessen Partys voraussichtlich immer wieder treffen wird. Was auf den Partys geschieht, ist durch soziale Konventionen standardisiert, der Inhalt der Gespräche ist aber offen; man kann über "Gott und die Welt" sprechen. In bestimmten Ländern sind bestimmte Themen tabu, zum Beispiel Religion, Geld oder Sexualität. Welche Themen das sind, variiert interkulturell sehr stark. In Mitteleuropa wird man relativ allgemeingültige Normen finden, die sich dann aber wieder nach der sozialen Schicht, dem Alter, dem Beruf des Gastgebers und der Gäste unterscheiden. Beim Aufnehmen und beim Beendigen eines Kontakts, der nicht in eine Dauerbeziehung mündet, können nun Charaktereigentümlichkeiten deutlich werden. Der schizoid Strukturierte wird sich eher unkonventionell verhalten, ein zwanghaft Strukturier49
ter eher konventionell. Depressiv Strukturierte werden ein persönliches, sich selbst zurückstellendes Interesse am anderen haben, hysterisch Strukturierte werden eher Interesse daran haben, ob sie als Mann oder Frau gut "ankommen", narzißtisch Strukturierte werden sich vielleicht fragen, ob es nötig und zweckmäßig sei, mit einem bestimmten Menschen zu sprechen. Schizoide kommen schwer ins Gespräch, weil sie Small talk ablehnen, so daß sie unkonventionell lange schweigen oder gleich auf Wesentliches kommen möchten. Sie haben oft wenig gesellschaftliche Routine. Ihre primäre Kontaktstörung hat den Erwerb von Routine in Interaktionen mit anderen Menschen verhindert. Dagegen haben narzißtisch Strukturierte oft eine hohe soziale Kompetenz erworben und die Fähigkeit entwickelt, auch dann am anderen interessiert zu wirken, wenn sie es nicht sind. Depressiv Strukturierte interessieren sich mehr für die Angelegenheiten anderer Leute, während narzißtisch Strukturierte eher ihre eigenen Angelegenheiten ausbreiten. Zwanghafte achten sehr darauf, wer in einem Gespräch "unten" oder "oben" ist, damit sie sich "richtig" verhalten, richtig bezüglich der sozialen Rolle und Stellung des anderen. Hysterische Männer vom phallisch-narzißtischen Typ geraten rasch mit anderen in Konkurrenz - wer hat das stärkere Auto, das größere Haus, die meisten und spektakulärsten Reisen gemacht? Hysterisch strukturierte Frauen haben schon bei der Vorbereitung der Party sorgfältig überlegt, was sie anziehen könnten, auf der Party selbst setzen sie Charme und Lebhaftigkeit ein, wenn sie nicht einer gesellschaftlichen Gruppierung angehören, die es "cool" findet, kühl zu wirken. Auf einer Party ins Gespräch kommen zu wollen ist schon dadurch gerechtfertigt, daß man Gast auf dieser Party ist. Die Situation ist hier anders als auf der Straße, in einer Kneipe oder in einem Hotel. Menschen auf der Straße haben zunächst wenig gemeinsam. Das gilt auch für Menschen am Strand; auf der Straße gehen die verschiedensten Leute, und ein Strand wird von den verschiedensten Menschen besucht. Ein "Anquatschen" oder "Anbaggern" erfordert um so mehr soziale Kompetenz, je weniger Gemeinsames man mit dem Anzusprechenden hat. Im allgemeinen wird jemand, der an zwischenmenschlichen Kontakten ein besonderes Interesse hat, mehr darauf achten, eine solche Kompetenz zu entwickeln, als jemand, der darauf wenig Wert legt. Schizoide legen meist wenig Wert auf direkte, potentiell nahe Kontakte. Auch deshalb und nicht nur wegen ihrer primären Kontaktstörung wirken sie beim Aufnehmen von Kontakten, wenn sie das doch einmal wollen, oft unbeholfen. Der narzißtisch Strukturierte entwickelt soziale Routine, die auch dann nicht kühl wirken muß, wenn seine Intentionen kühl sind. Er weiß oft sehr genau, welche Art von persönlicher Anteilnahme bei wem gut ankommen wird. Das gilt natürlich vor allem für diejenigen, die im Beruf und gesellschaftlich gut zurechtkommen: für narzißtisch Strukturierte vom kompetenten Typ, nicht für narzißtisch Strukturierte, die immer wieder an der Diskrepanz zwischen ihrem überhöhten Selbstkonzept und der Realität ihres Selbst scheitern. Bei Depressiven läuft die Kontaktaufnahme oft unauffällig. Ihr Interesse an anderen Menschen und ihre zur Schau getragene Bescheidenheit lassen erwarten, daß sie ein angenehmer Gesprächspartner sein werden. Der Zwanghafte kann unauffällig oder förmlich wirken, letzteres wird von den Gesprächspartnern unter Umständen als liebenswert altmodisch geschätzt. Phobisch strukturierte Menschen in Gegenwart eines Begleiters sind unauffällig. Sie verhalten sich meist mit einer Facette ihrer Persönlichkeit. Das hängt mit ihrer Tendenz zusammen, in einer Gruppe die Rolle des 50
blinden Passagiers anzunehmen, der nicht auffallen will. Ohne Begleiter suchen phobisch Strukturierte meist keine Orte auf, wo Menschen sich ansammeln. Sie sagen, das sei nichts für sie, sie fühlten sich dort nicht wohl. Für Menschen mit sozialen Phobien ist die Kontaktaufnahme eine auslösende Situation für ihre Symptomatik. Hysterisch Strukturierte versuchen, als Kommunikationsstil Spontaneität und Lebhaftigkeit vorzugeben. Der andere muß dann, oft schon in den ersten Sekunden und Minuten einer Interaktion, "Mitmachen" oder "mitgehen", sonst ist der hysterisch Strukturierte gekränkt oder hält den, der nicht mitgeht, für steif oder zwanghaft konventionell. Schizoide beenden eine Kommunikation oft abrupt. Sie sagen etwa: "Na dann ... " und verabschieden sich kurz. Der narzißtisch Strukturierte zieht sich routiniert oder, wenn er zu den kränkungsempfindlichen narzißtisch Strukturierten gehört, oft gekränkt zurück. Depressiv Strukturierte haben meist Schwierigkeiten, einen Kontakt zu beenden. Sie können sich schwer aus einer Interaktion lösen, zu der sie eine Beziehung fantasieren, die noch gar nicht vorhanden ist. Im Grunde haben sie keine inneren Modelle für kurze Kontakte. Eher, als daß sie sich ablösen, reißen sie sich los. Manche Depressive weisen auf die Möglichkeit hin, daß man sich doch wieder treffen könnte, irgendwo oder irgendwann, auch wenn das ganz unwahrscheinlich ist. Allerdings haben Depressive oft auch Angst davor, ausgenutzt zu werden. Sie projizieren ihre innere Gier und achten ängstlich auf Anzeichen, daß der andere etwas von ihnen haben will. Hysterische Männer vom phallisch-narzißtischen Typ verabschieden sich ungern, wenn sie in ihrer Rivalität mit anderen Männern noch keinen Erfolg errungen haben; wenn sie - auch in bezug auf einen einzelnen Mann - nicht das Gefühl haben, ihn besiegt zu haben oder ihm doch in manchem überlegen zu sein. Sie haben beim Abschied ein gutes Gefühl, wenn sie das Interesse von Frauen gefunden haben und sich vorstellen können, daß Frauen ein attraktives Bild von ihnen mitnehmen. Dann sind sie "in den Frauen drin". Hysterisch strukturierte Frauen reagieren ähnlich. Sie möchten sich vorstellen können, daß diese Männer ihnen alles, was sie wünschen, "zu Füßen legen" würden. Hysterische Frauen achten sehr darauf, wie sie im Vergleich zu den anderen Frauen abschneiden, und zwar in den Augen der Frauen, die ihre unmittelbaren Rivalinnen sind, und in den Augen der Männer. Wenn mehrere Personen anwesend sind, richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Personen. Dagegen ist das Kontaktverhalten der Schizoiden und Depressiven meist durch die Konzentration der Aufmerksamkeit auf eine Person charakterisiert, oder beim Schizoiden auf eine Gruppe von Personen, die wie ein Wesen erlebt wird ("Neulich war ich auf einer interessanten Party", und damit hat es sich). Bei narzißtisch Strukturierten vom kompetenten Typ hängt es von Zweckmäßigkeitserwägungen ab, ob ein Mensch oder eine ganze Gruppe von Menschen in das Interesse und in die Interaktion einbezogen wird. Bei phobischen Menschen ist die Zweiersituation in Beziehung zu einem äußeren steuernden Objekt bzw. einer Schutzfigur wichtig; sonst hängt es von den auch noch vorhandenen anderen Strukturanteilen ab, ob Zweiersituationen oder Mehr-Personen-Situationen interessieren und bevorzugt werden. Die Probleme, die sich aus dem Verhalten beim Herstellen und beim Beenden eines Kontakts ergeben können, rechtfertigen, daß man sich mit den Modalitäten der Kontaktaufnahme und Kontaktbeendigung beschäftigt, natürlich auch mit den Modalitäten der Gestaltung kurzdauernder Kontakte. 51
Dem Schizoiden kann man raten, sich im Umgang mit Menschen zu üben, die ihn nicht so sehr interessieren, damit er in der Lage ist, Kontakte zu den Menschen aufzunehmen, die ihn interessieren. Wichtig ist für ihn auch, sich der Funktion des Small talk bei der Kontaktaufnahme klar bewußt zu werden und Small talk zu lernen, auch wenn man ihn unoriginell findet. Er sollte auch versuchen, im sozialadäquaten Beendigen eines Kontakts eine gewisse Kompetenz und Routine zu erlangen. Der narzißtisch Strukturierte vom kompetenten Typ braucht meist keine Hinweise; außer vielleicht den, daß manche Menschen doch ein feines Gespür dafür haben, ob ein zur Schau getragenes Interesse einem inneren Interesse entspricht. Narzißtisch Strukturierte vom kränkbaren Typ sollten versuchen, sich klar darüber zu werden, was ein Gespräch ihnen bringen soll und was es ihnen bringen kann, damit sie sich nicht abgelehnt fühlen müssen, wenn unrealistische Erwartungen nicht erfüllt werden. Depressive, die ja die größten Schwierigkeiten beim Beenden einer Interaktion haben, sollten das üben und sich auch überlegen, wie sie die Beendigung eines Kontakts gestalten könnten. Wichtig für sie ist auch die Differenzierung zwischen der Beendigung des Kontakts mit einem Menschen, zu dem keine Dauerbeziehung zu erwarten ist, und Menschen, zu denen sie eine Dauerbeziehung erwarten können und haben möchten. Der Zwanghafte ist für Empfehlungen bezüglich seines Interaktionsstils meist ebenso wenig zugänglich wie für Empfehlungen anderer Art, weil er ja meint, es schon richtig zu machen. Er könnte sich aber überlegen, was ein Verlassen des konventionellen Rahmens für ihn bedeuten würde und wie weit die damit verbundenen Befürchtungen realitätsgerecht sind. Er könnte den Umgang mit Menschen suchen, die sich zwar auch konventionell, aber im Sinne einer anderen Konventionalität verhalten. Das tun oft jüngere Menschen. Phobisch strukturierten Menschen wäre anzuraten, sich die Unterschiede zwischen einer Situation mit und einer Situation ohne Begleiter deutlich zu machen. Sie können sich dann dazu entscheiden, immer nur mit einem Begleiter auf andere Menschen zuzugehen oder zu üben, solche Situationen allein zu bewältigen. Hysterisch strukturierten Männern vom phallischen Typ kann man empfehlen, zu üben, ihr Rivalisieren etwas einzuschränken und nach Möglichkeit einen Blick dafür zu entwickeln, wann das Rivalisieren auch den Männern, mit denen sie rivalisieren, Spaß macht und wann sie es als lästig empfinden. Hysterisch strukturierte Männer, die Wert darauf legen, von Frauen positiv beurteilt zu werden, sollten sich deutlich machen, daß Frauen auf einer Party durch den Charme eines Mannes beeindruckt werden können, daß sie im täglichen Leben aber auch darauf achten würden, wie er als Mann unter Männern zurechtkommt, weil das ja für den Berufserfolg wichtig ist. Vom Berufserfolg hängt ja für viele Frauen die Attraktivität eines Mannes auch heute noch entscheidend ab. Frauen, die mit anderen Frauen um Männer rivalisieren, sollten einsehen, daß Rivalisieren eine Frau nicht unbedingt attraktiv erscheinen läßt. Hysterisch strukturierte Frauen, die phallisch identifiziert sind und deshalb mit Männern rivalisieren, sollten sich klarmachen, daß Männer, die zum Rivalisieren nicht aufgelegt sind, eine rivalisierende Frau ebenso lästig empfinden wie etwa einen Mann, der rivalisiert, ohne daß sie darauf eingehen möchten. Frauen, die alle Männer durch Charme für sich interessieren möchten, sollten bedenken, daß sie bei Männern leicht den Eindruck erzeugen, sie meinten keinen von ihnen im besonderen. Hysterisch Strukturierte haben meist keine großen Schwierigkeiten, Kontakte einzuleiten. Sie wirken allerdings leicht aufdringlich, vor allem eben dann, wenn sie der 52
anderen Person einen "hysterischen", durch Lebhaftigkeit und Impulsivität gekennzeichneten Umgangsstil aufdrängen wollen. Beim Beenden von Kontakten haben sie meist auch keine großen Schwierigkeiten. Allerdings kann es passieren, daß Männer sich wundern, wie schnell eine hysterisch Strukturierte von ihnen loskommt, obwohl sie doch scheinbar ein starkes persönliches Interesse gezeigt hat.
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Kapitel 8
Zum Umgang mit interpersonellen Konflikten Unter interpersonellen Konflikten versteht man Konflikte zwischen Menschen. Daneben gibt es auch innere Konflikte, zum Beispiel den Konflikt zwischen Pflicht und Neigung. Ein solcher innerer Konflikt spielt sich in einer einzigen Person ab. Hier soll es nun um Konflikte gehen, die sich zwischen Personen abspielen, wobei auch auf innere Konflikte Bezug genommen wird, die mit den interpersonellen Konflikten etwas zu tun haben. Schizoide fallen in interpersonellen Konflikten durch ihr radikales Verhalten auf. Menschen, die sich ihnen entgegenstellen, sind ihnen entweder nicht wichtig; dann werden sie ignoriert, oder sie sind wichtig; dann wird versucht, radikale Mittel gegen sie einzusetzen. Man kann sagen, daß Schizoide sich in Konflikten nach dem Allesoder-Nichts-Prinzip verhalten. Um einen Konflikt zu beenden, setzen sie oft das Mittel des Beziehungsabbruchs ein. Sie trennen sich, statt einen Konflikt auszutragen. Narzißtisch Strukturierte vom kompetenten Typ sind interpersonelle Konflikte nicht gewohnt, bei denen sich Personen begegnen. Es geht mehr um Funktionen, die der andere zur Verfügung stellt oder nicht. Seine Motive interessieren nur, soweit der narzißtisch Strukturierte sie kennen muß, um Einfluß zu nehmen. Bei narzißtisch strukturierten Menschen vom kränkbaren Typ spielen Kränkungen in interpersonellen Konflikten die wesentliche Rolle. Dabei kommt es, wenn der narzißtisch Strukturierte sich gekränkt fühlt, zu entsprechenden Attacken, die den anderen kränken sollen, um die eigene Kränkung auszugleichen. In diesen Fällen wird nach dem Prinzip: "Auge um Auge, Zahn um Zahn" verfahren. Dabei fällt die Rache oft schlimmer aus, als ein Außenstehender sich die Kränkung vorstellen kann; sie entspricht aber dem Empfinden des narzißtisch Gekränkten. Narzißtische Wut kann grenzenlos sein. Das verhindert aber nicht, daß die Rache präzise ausgeführt und unter Umständen auch von längerer Hand geplant wird. Eine Figur des öffentlichen Lebens sagte in einem Interview: "Ich halte jahrelang still, aber dann fällt das Beil." Depressiv Strukturierte neigen in interpersonellen Konflikten dazu, sich selbst und nicht dem anderen die Schuld zu geben. Da sie ein strenges, wirkungsstarkes Überich haben, versuchen sie aber oft, dem anderen ein schlechtes Gewissen zu machen, weil sie annehmen, daß dieser ähnlich reagiert wie sie selbst; zum Beispiel dadurch, daß sie ihr Leiden ohne direkten Vorwurf demonstrieren. Bei Zwanghaften laufen interperso55
nelle Konflikte oft in Form von Rechthaberei. Es geht darum, wer die Dinge "richtig" sieht. Was von Psychoanalytikern als "Narzißmus der kleinen Differenzen" gesehen wird, findet man eher bei Zwanghaften als bei narzißtisch strukturierten Menschen: Man streitet sich um Kleinigkeiten, "um des Kaisers Bart", und es kommt darauf an, wer recht behält. Andere Zwanghafte versuchen, bei interpersonellen Konflikten taktisch oder strategisch vorzugehen. Auch hier kommt es darauf an, zu gewinnen und nicht, einen Kompromiß auszuhandeln, der beide Seiten befriedigen kann und zu einem dauerhaften Frieden führt. Wie schon im einführenden Kapitel über die Zwangsstruktur dargestellt, kommt es oft auch zur Verlagerung von Konflikten, vom Hauptthema weg auf Kleines oder Kleinstes. Wenn der Zwanghafte den Streit um das Kleine dann gewinnt, freut ihn das ähnlich stark, wie wenn er sich in der Hauptsache durchgesetzt hätte. Der phobisch Strukturierte ist meist ausgesprochen harmoniebedürftig. Interpersonelle Konflikte möchte er "unter den Teppich kehren". Er sucht nach Kompromissen um des Kompromisses Willen, oft kommen Scheinkompromisse dabei heraus. Die übertriebene Kompromißfreudigkeit des phobisch Strukturierten ist im wesentlichen darauf zurückzuführen, daß er seine eigenen Aggressionen fürchtet, weil er Angst hat, mit ihnen nicht sozialadäquat umgehen zu können. Er schließt einen Frieden, wenn es eigentlich angebracht wäre, einen Konflikt auszutragen, und die Chancen, dabei gut abzuschneiden, groß sind. Hysterisch Strukturierte neigen dazu, interpersonelle Konflikte zu dramatisieren. Das tun sie schon damit, daß sie ihren Standpunkt in Superlative fassen und auch die Standpunkte des Konfliktpartners in Superlativen beschreiben. Auch neigen sie zu ausuferndem Verhalten. Sie greifen den Konfliktpartner körperlich an oder zerstören Sachen. Allerdings gilt das vor allem für solche hysterisch Strukturierte, die eine "kindliche" Denkweise behalten haben. Gefühle werden mit Wörtern bezeichnet, die stärkere Gefühle vermuten lassen, als tatsächlich erlebt werden. Man kann sagen, daß hysterisch Strukturierte oft intensivere Gefühle empfinden als andere, weil sie in ihrem Gefühlsleben weniger rational gesteuert sind, diese aber noch einmal stärker sprachlich, mimisch oder gestisch ausdrücken. Hysterisch Strukturierte, die nach dem Prinzip leben, daß sie sich so verhalten, wie man sie haben möchte, können sich in einer Umgebung, wo ein "cooler" Kommunikationsstil gepflegt wird, auch "cool" verhalten. Die Ausdrucksweise läßt dann weniger Gefühle vermuten, als tatsächlich vorhanden sind. Typisch für hysterisch Strukturierte ist jedenfalls eine Diskrepanz zwischen Ausdruck und innerem Erleben. Der Ausdruck kann überschießend intensiv oder aber unterkühlt sein. Schizoid Strukturierten wäre zu empfehlen, nach einer kritischen Einstellung gegenüber ihrer Radikalität zu suchen oder zumindest ihre Reaktion auf bestimmte Provokationen mit denen anderer Menschen zu vergleichen. Das ist leichter gesagt als getan, weil das Radikale zum Wesen des Schizoiden gehört. Das Beste, was ein Schizoider erreichen kann, ist vermutlich ein Üben abgestuften Handelns, wenn schon nicht abgestuften Reagierens, also eines taktischen Handelns, das die Folgen radikalen Handelns zu berücksichtigen sucht. Der kompetente narzißtisch Strukturierte ist für Empfehlungen, wie er sich anders verhalten könnte, meist unzugänglich. Er kommt ja gut damit zurecht, wie er sich verhält, und unsere Gesellschaft bietet narzißtisch Strukturierten geeignete Betätigungsfelder, zum Beispiel im oberen Management. 56
Narzißtische Menschen vom kränkbaren Typ, die im Unterschied zum Schizoiden aus einer Kränkungswut heraus intensiv reagieren und nicht etwa, weil ihnen für ihr Handeln nur "alles" oder "nichts" zur Verfügung steht, sollten es sich angewöhnen, eine gewisse Zeit verstreichen zu lassen, ehe sie ihre Wut ausleben. Der narzißtisch Gekränkte hat zunächst die Tendenz, den anderen oder "die ganze Welt" zerstören zu wollen. Manchmal hilft es, "darüber zu schlafen". Ein großer präventiver Schritt wäre das vorsichtige Infragestellen des überhöhten Selbstkonzepts, damit die Konfrontation in der Realität des Selbst weniger gefährlich wird. Der Depressive sollte versuchen, in Beziehungen aggressiver zu handeln. Meist macht er die Erfahrung, daß die Beziehungsabbrüche, die er befürchtet, nicht eintreten. Selbstanschuldigungen haben etwas damit zu tun, daß der Ärger auf andere gegen das eigene Selbst gerichtet wird. Das negative Selbstkonzept, ein Gegenstück des überhöhten Selbstkonzepts beim kränkbaren narzißtischen Typ, verhindert auch, daß der Depressive sich durchsetzt. Er verdient ja nichts Besseres. Also müßte man dem Depressiven raten, mit sich selbst freundlicher umzugehen, was eine Verbesserung des Selbstkonzepts zur Folge haben kann, wie ich das im einfahrenden Kapitel über die depressive Struktur dargestellt habe. Mangelnde Durchsetzungskraft verstärkt eine Depression, weil die Enttäuschungswut, die daraus resultiert, daß der Depressive vom andern nicht bekommt, was er sich wünscht, wieder gegen das eigene Selbst gerichtet wird. Dem Zwanghaften wäre zu empfehlen, daß er sein Bedürfnis, recht zu haben, in Frage stellt. Ein Weg dazu ist, sich klarzumachen, daß es zu vielen Dingen im Leben verschiedene Meinungen und Präferenzen gibt, die alle für bestimmte Menschen ihre Berechtigung haben können. Das gilt nicht nur im Bereich der Kunst, der Literatur, des Wohnens, des Urlaubsverhaltens und der Hobbys. Verschiedene Hobbys passen zum Beispiel zu verschiedenen Persönlichkeiten. Wenn jemand ein anderes Hobby hat als der Zwanghafte, muß nicht eines der beiden Hobbys falsch sein. Der Phobische sollte Auseinandersetzungen üben, zunächst an Dingen, die nicht so wichtig sind. Er kann sich auf diese Weise langsam an die Gefühle gewöhnen und sie aushalten lernen, die entstehen, wenn "dicke Luft" ist, andere Menschen "vergrätzt" sind oder einem etwas nachtragen. Gleichzeitig erwirbt er so soziale Kompetenzen in der Durchsetzung, die Phobische oft nicht entwickelt haben. Hysterisch Strukturierte sollten mehr Sachlichkeit trainieren. Das gelingt in der Regel nicht, wenn der hysterisch Strukturierte versucht, sein ganzes Leben umzustellen. Es gelingt zunächst meist nur in kleinen Bereichen, die nicht zentral wichtig sind. Bei einer kleinen Provokation ist es leichter, sachlich zu bleiben, als bei einer großen. Dem hysterisch Strukturierten kann es kaum darum gehen, daß er seine Liebe zur Spontaneität aufgibt. Er kann sie aber auf bestimmte Lebensbereiche beschränken. In interpersonellen Auseinandersetzungen sind Spontaneität und eine übertriebene Darstellung von Affekten nicht angebracht; es sei denn, daß es nur darum geht, sich emotional zu entlasten.
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Kapitel 9
Geld und die Spielarten des Charakters 9.1 Schizoide Struktur Für viele Schizoide bedeutet Geld "nichts". Geld scheinen sie zu verachten. Ein frugales Leben gibt ihnen Freiheit. Der Prototyp eines solchen Schizoiden war Diogenes in seiner Tonne. Geld gewinnt für einen Schizoiden dann einen Wert, wenn er es für Ideen ausgeben kann. Da ist er auch bereit, es sich illegal anzueignen, zum Beispiel überfällt er eine Bank aus politischen Motiven. Oder er ist bereit, zu hungern und seine Familie darben zu lassen, wenn es gilt, eine Idee zu verwirklichen. Nicht selten findet man eine solche Einstellung bei Künstlern oder Wissenschaftlern, aber auch Schizoide aus anderen Berufen geben oft für Ziele, die sie unterstützen wollen, überraschend viel Geld aus. So kommt es vor, daß arme Schizoide viel Geld an eine religiöse Sekte geben, deren Ideen sie für richtig halten und fördern wollen. Dabei fühlen sie sich nicht ausgenutzt; sie sind froh und glücklich, mit ihrem Geld einer Institution dienen zu können, mit der sie sich identifizieren und die wertvoll für sie ist. Ein Patient, der eine Zeitlang zu den Baghwan-Jüngern gehörte und das Gemeinschaftsgefühl, das er in der Sekte erleben durfte, als wertvoll empfand, wußte, daß Baghwan eine große Zahl Rolls-Royce-Limousinen besaß. Diese Verwendung des Geldes erschien ihm aber adäquat, weil er der Meinung war, daß er von Baghwan so viel immaterielles Wertvolle bekam, daß die Rolls-Royce-Limousinen daneben fast keinen Wert hatten. Im Privaten haben Schizoide oft eine naive Einstellung zu Geld. Sie leihen etwas her, obwohl sie sich denken können, daß sie nichts wiederbekommen, bezahlen überhöhte Preise oder bezahlen eine falsche Rechnung, weil es sich für sie nicht lohnt, den Rechenfehler zu reklamieren. Ein frugales Leben wird ihnen auch dadurch erleichtert, daß sie von ihrer Umwelt nicht viel wahrnehmen. Wie sie wohnen und wie sie gekleidet sind, ist ihnen egal. Einstein, der manche Züge eines Schizoiden hatte, lief nach seiner Ankunft in New York in einem alten Mantel herum. Ein Freund sagte ihm, er solle sich doch einen neuen kaufen. Einstein antwortete: "wieso, hier kennt mich doch niemand." Nach einer Woche war Einstein in New York bekannt, weil in den Zeitungen und im Rundfunk täglich über ihn berichtet wurde. Der Freund traf ihn im gleichen Mantel an und fragte ihn, warum er sich noch keinen neuen gekauft habe. Einstein antwortete: "Wieso, hier kennt mich doch jetzt jeder". Von Einstein wird auch berichtet, 59
daß er keine Socken trug, weil Löcher hineinkommen könnten, und seine Frau scheint ihm öfters vorgeworfen zu haben, daß er sich selten wusch. Die Vernachlässigung des Äußeren, die man bei Schizoiden nicht selten findet, hat etwas mit einer nach innen gerichteten Wahrnehmung zu tun. Schizoide leben oft in ihren eigenen Fantasiewelten. Was außen ist, wozu auch ihre äußere Erscheinung gehört, verblaßt daneben. Solange der Schizoide es sich leisten kann, sein Äußeres zu vernachlässigen - und das liegt ja auch in der zweiten Antwort von Einstein -, hat er keine Probleme mit seiner Materielles verachtenden Lebensweise. Es kann aber auch sein, daß es ihm schadet, unpassend gekleidet am Arbeitsplatz zu erscheinen, oder seine Gäste wundern sich über die dürftig eingerichtete Wohnung. Wenn die Ideologisierung des frugalen Lebens nicht zu stark ist, kann man bei Schizoiden gut mit Zweckmäßigkeit argumentieren. Wenn ein nachlässiges Äußeres sie beruflich beeinträchtigt und sie damit behindert, ihre Ideen zu verwirklichen, können sie sich aus Zweckmäßigkeitsgründen veranlaßt sehen, mehr Sorgfalt auf ihre Kleidung zu verwenden. Wenn sie dafür Geld ausgeben, ist es dann eine Investition in die Aufgaben, die sie sich vorgenommen haben.
9.2 Narzißtische Struktur Dem narzißtisch Strukturierten gibt Geld eine Möglichkeit, sich Geltung zu verschaffen. Veblen (1900) sprach von "Conspicuous Consumption"; ein Terminus, der sich im angelsächsischen Sprachraum eingebürgert hat. "Conspicuous" heißt auffällig. "Conspicuous Consumption" bedeutet, daß Dinge oder Dienstleistungen eingekauft werden, die anderen auffallen. Narzißtisch Strukturierte sprechen gern von Dingen, die sie sich leisten können, zum Beispiel von einer Fernreise mit Aufenthalt in einem Luxushotel (oder: "Nur vier Sterne, aber schön gelegen"). In der Unterschicht wird das Auto mit allerlei sichtbaren Accessoires ausgestattet, in der Mittelschicht soll es teuer, aber nicht protzig sein, während in der Oberschicht auf das Auto als Statusmerkmal oft verzichtet wird; hier drückt sich der Rang in anderen Dingen aus, zum Beispiel in der Kleidung oder in bestimmten, aufwendigen Hobbys. In Deutschland sind die Besoldungsstufen im öffentlichen Dienst mit bestimmten Tätigkeitsmerkmalen verbunden, man kann im Dienst aber auch auf einer höheren Besoldungsstufe das gleiche tun wie auf der nächstniedrigeren: Narzißtisch Strukturierte legen oft großen Wert darauf, daß sie einer bestimmten Besoldungsstufe "angehören", selbst wenn der finanzielle Abstand zu den benachbarten Besoldungsstufen gering ist. Geld kann dem narzißtisch Strukturierten auch dazu dienen, Anerkennung einzukaufen, indem er Angestellte dafür bezahlt, seinen Status zu heben; zum Beispiel leistet sich ein Neureicher einen Butler. Die Firma, in der jemand arbeitet, kann den Status beeinflussen, was zum Beispiel im Schwabenland in Äußerungen wie: "Ich schaff’ beim Daimler" oder: "Ich schaff’ beim Bosch" zum Ausdruck kommen. Es ist sicher nicht schädlich, wenn jemand auf den Betrieb stolz ist, in dem er arbeitet, oder wenn der Leiter eines Betriebs möchte, daß die Angestellten mit Stolz von dem Betrieb sprechen. Aber beim narzißtisch Strukturierten sind die Geltungsaspekte überwertig. So kann ein narzißtisch Strukturierter ein Auto kaufen, das er eng, schlecht gefedert und laut erlebt, wenn sich damit nur Prestige verbindet. Narzißtisch Strukturierten wäre anzuraten, daß sie versuchen, eine gewisse Distanz 60
zu ihren Geltungswünschen zu erlangen und ihr Geld zweckmäßiger und wirksamer für angestrebte Ziele einzusetzen, zu denen Geltung durchaus gehören kann - im Sinne eines Kompromisses zwischen Nutzwert und Geltungswert.
9.3 Depressive Struktur Depressiv strukturierte Menschen fantasieren oft, was sie sich alles kaufen würden, wenn sie zu mehr Geld kämen. Leider hindert sie der generelle Mangel an Genußfähigkeit daran, gut zu leben, wenn sie wirklich zu Geld kommen. Depressive wünschen sich auch oft, Geld zu haben, das sie dann für andere Menschen ausgeben können. Sie entwickeln die Fantasie, unerkannt durch eine Stadt zu gehen und den Armen Geldscheine in den Briefkasten zu werfen oder einem Bettler eine größere Geldsumme zu schenken. Depressive, die viel essen, wobei sie Qualität durch Quantität ersetzen - die Qualität können sie wenig genießen -, sehen Geld als Äquivalent für ein Nahrungsmittel. Manche depressiv Strukturierte sammeln Geld an, indem sie wenig für sich verbrauchen, und erfreuen sich an der Vorstellung, was ihre Kinder alles mit dem Geld machen können, wenn sie es nach ihrem Tode erben. Darin unterscheiden sie sich von den Zwanghaften, die ihr Geld niemandem gönnen. Bei depressiv Strukturierten, die nicht reich sind, aber Geld ansammeln, um es später weiterzugehen, findet sich oft ein zwanghafter Strukturanteil der auch für diese Art, andere glücklich machen zu wollen, mitverantwortlich ist. Der Depressive sammelt aber, um auszugeben; der Zwanghafte, um zu behalten. Da ein uneigennütziges Verhalten in unserer Gesellschaft oft positiv erlebt wird, läßt es sich leicht ideologisieren und ist einer Korrektur nur dann zugänglich, wenn ein selbstschädigender Aspekt offenbar wird und dem depressiv Strukturierten verdeutlicht werden kann. Selten wird den Depressiven ein freigebiger Umgang mit Geld gedankt. Die daraus resultierenden Enttäuschungen motivieren sie manchmal, vorsichtiger zu sein und sich im günstigen Falle auch selbst etwas zu gönnen.
9.4 Zwanghafte Struktur Ein auffälliger, meist auffällig zurückhaltender Umgang mit Geld wird als ein wesentliches Merkmal der Zwangsstruktur gesehen. Direkter als bei anderen Strukturen wird der Umgang mit Geld mit körpernahen Erfahrungen in einer bestimmten Entwicklungsphase in Verbindung gebracht: mit der Sauberkeitserziehung, bei der es darum geht, Materie zu einer vorgegebenen Zeit und am vorgegebenen Ort abzugeben und sonst zurückzuhalten. Bei Zwangsstrukturen ist gelegentlich auch das unkontrollierte Hergeben von Geld zu beobachten, in einem Protest gegen die früheren Anforderungen der Sauberkeitserziehung. Manche Zwanghafte sammeln auch Geld über längere Zeit, um es dann in kurzer Zeit auszugeben; auch bei diesem Verhalten ist eine Ähnlichkeit mit dem, was bei der Sauberkeitserziehung erfahren und gelernt wird, schwer zu übersehen. Man nimmt an, daß ein Kleinkind im Frühstadium der Sauberkeitserziehung das Abgeben von Stuhl wie das Abgeben eigener Substanz erlebt, daß es also zwischen Stuhl und eigener Körpersubstanz noch nicht unterscheiden kann. Jedenfalls findet man bei Menschen mit einer ausgeprägten Zwangsstruktur oft, daß das Hergeben von 61
Geld für sie eine traumatische Bedeutung hat, als ob sie ein Stück von sich selbst hergeben müßten. Neben der Tatsache, in der man für Geld etwas kaufen kann, hat es also für den Zwanghaften eine besondere, dieser Persönlichkeitsstruktur eigene Bedeutung. Der Zwanghafte freut sich am Geld selbst, wobei es heutzutage keine Gold- oder Silbermünzen mehr sind, sondern Geldscheine oder Zahlen auf einem Bankkonto oder in einem Aktiendepot. Er freut sich darüber hinaus an jedwelcher Art von Besitz und hat große Schwierigkeiten, etwas wegzuwerfen. Geld kann ererbt, gefunden oder gewonnen werden, in der Regel wird es aber durch Arbeit verdient. Wenn der Zwanghafte sein Geld sieht oder es sich vorstellt, denkt er aber wenig an die Arbeit, die er leisten mußte, um das Geld zu bekommen. Geld wird etwas, das man als eine besondere Substanz bezeichnen könnte, ähnlich wie Goethe Mephisto im ersten Teil des Faust sagen läßt: "Blut ist ein ganz besonderer Saft." Eine Äquivalenz zwischen Körpersubstanz und Geld wird zum Beispiel von Shakespeare in seinem Kaufmann von Venedig dargestellt, wo Shylock "ein Pfund Fleisch" aus dem Körper des Schuldners haben will. Es gibt reiche Geizige, die ganz kleine Summen zurückhalten oder solche von anderen fordern, Summen, die im Vergleich zu ihrem Vermögen verschwindend gering sind. So wurde von dem Milliardär Getty berichtet, er habe in seinem Haus Münztelefone eingerichtet, weil er die Telefongespräche seiner Gäste nicht bezahlen wollte. Ein solches Verhalten kann man verstehen, wenn Geld und Körpersubstanz gleichgesetzt werden. Manche Zwanghafte haben auch Angst vor der Freiheit, die Geld ihnen gewährt, und geben für ihre persönlichen Bedürfnisse deshalb nur wenig aus. Kaiser Franz Joseph von Österreich-Ungarn, dem die Mentalität eines zwanghaften Buchhalters nachgesagt wurde, war in manchem sehr bescheiden. Noch heute wird das Eisenbett gezeigt, in dem er schlief. Gegenüber seiner Geliebten war er sehr großzügig; ihre Spielschulden hat er immer bezahlt. Vermutlich wußte er über die Staatsausgaben Bescheid, im Bereich des persönlichen Bedarfs war er, was Geld anging, eher naiv. So wird berichtet, daß seine Geliebte, Katharina Schratt, ihn fragte, was ein Ring, den sie trug, wohl gekostet habe. Er schätzte: "Fünfzig Kronen", worauf sie sagte: "Nein, fünfzigtausend." Franz-Joseph antwortete: "Auch nicht teuer.". Bei Zwanghaften findet man nicht selten, daß sie in manchen Bereichen sparsam sind und in anderen Bereichen das Geld hinauswerfen. Hier scheinen Verstopfung und Durchfall zu alternieren. Andere Zwanghafte können nicht Nein sagen, wenn man sie um ein Geschenk oder ein Darlehen bittet. Fast alle, die ich kennengelernt habe, zeigten aber irgendwelche Auffälligkeiten im Umgang mit Geld, wenn man ihn mit dem der Durchschnittsbevölkerung bei ähnlichen finanziellen Verhältnissen vergleicht. Bei den Schwierigkeiten im Umgang mit Geld kann Zwanghaften nur in Grenzen geholfen werden und nur durch eine längere psychotherapeutische Behandlung. Helfen kann, wenn sie sich die symbolische Bedeutung von Geld etwas deutlicher machen und versuchen, Geld mehr unter dem Aspekt der Zweckmäßigkeit zu betrachten. Wenn sie anderes als Geld sammeln, zum Beispiel Briefmarken, Porzellan oder Bilder, können sie das Ansammeln von Substanz in ihrer Sammelleidenschaft ausleben. Ihr Umgang mit Geld wird entspannter und kann dadurch etwas zweckmäßiger werden. 62
9.5 Phobische Struktur Der phobisch Strukturierte kann Geld fürchten, weil Geld für ihn Freiheit bedeutet. Seine Möglichkeiten, sich durch ein willkürliches Verhalten in schwierige Situationen zu bringen, nehmen dadurch zu. Manche phobisch Strukturierte legen ihr Geld so an, daß sie schwer an es herankommen können, etwa in Sparverträgen. Manchen dient ein Spielautomat als Geldvernichtungsmaschine. Sie möchten das gefürchtete Geld loswerden. Haben sie alles verloren, sind sie erleichtert und froh. Andere lassen sich bei ihren Geldausgaben sorgfältig beraten. So kann es sein, daß sie Geld immer wieder anlegen und mit der Zeit zu einem beträchtlichen Vermögen kommen, ohne das Geld je zur freien Verfügung gehabt zu haben. Andererseits kann Geld für den phobisch Strukturierten auch Sicherheit bedeuten. Wenn er auf der Straße Angst bekommt, kann er etwa ein Taxi nehmen. Über einen reichen Londoner Analysepatienten wird berichtet, daß er hundert Taxis kaufte, hundert Fahrer engagierte und diese mit den Taxen an bestimmten Punkten der Innenstadt parken ließ (was zu der Zeit, als dies passierte, noch möglich war, weil genügend Parkraum zur Verfügung stand). Er konnte jederzeit von einem Taxi zum anderen gehen und sich so in der City frei bewegen. Die Taxis waren für ihn wie eigene Wohnungen, in deren Nähe er sich nicht fürchtete. Phobisch Strukturierte tun meist gut daran, die Verantwortung für das Finanzielle mit einer anderen Person, einer Partnerin, einem Partner oder einem professionellen Berater, zu teilen. Sie gewinnen dann, nur scheinbar paradoxerweise, mehr Freiheit im Umgang mit Geld. Am Beispiel des Mannes mit den hundert Taxen kann man erkennen, daß Geld auch eingesetzt werden kann, um sich - trotz der dem Phobischen eigenen Tendenz zur Vermeidung und zum Rückzug - freier bewegen zu können.
9.6 Hysterische Struktur Der Umgang hysterisch strukturierter Männer und Frauen mit Geld ist durch Planlosigkeit und Impulsivität gekennzeichnet. Auch wenn sie immer wieder das Konto überziehen, bringen sie es oft nicht fertig, ihre Ausgaben aufzuschreiben, um sich einen Überblick zu verschaffen. Das tun übrigens auch manche Depressive nicht, weil sie sich die unbewußte Phantasie unbegrenzt verfügbarer materieller Mittel erhalten wollen. Der hysterisch Strukturierte weigert sich, das zu tun, weil er die Illusion behalten möchte, sich seinen Impulsen überlassen zu können. Würde er die Ausgaben planen, könnte das seine Impulsivität und damit seine Spontaneität und Freiheit einschränken. Hier zeigt sich wieder eine kindliche Form der Einschätzung des eigenen Verhaltens, die auf die teilweise Fixierung in der ödipalen Entwicklungsphase zurückgeht. Daß Geld verdient werden muß, stört viele hysterisch Strukturierte; sie möchten es lieber geschenkt erhalten, jedenfalls sollte es keine Verbindung zu ihrer Arbeit haben und nicht von der Arbeitsleistung abhängig sein. Das ist wieder eine kindliche Einstellung, weil das vier- oder fünfjährige Kind ja in der Regel kein Geld verdient und die materiellen Güter von den Eltern bekommt. Oft geben hysterisch Strukturierte auffallend viel Geld für Sachen aus, um die eigene Attraktivität zu steigern. Bei Frauen sind es oft Kleidungsstücke und Kosmetika, bei Männern Autos oder Motorräder. Solche Gegenstände zu besitzen wird von den 63
hysterisch Strukturierten als existentiell wichtig erlebt. Spricht man sie auf die hohen Ausgaben für solche Dinge an, erfolgt als Reaktion oft eine wütende Rechtfertigung, wobei der Abwehrmechanismus des Rationalisierens eingesetzt wird. Die beim Rationalisieren vorgebrachten Begründungen klingen meist etwas naiv. Das Kleidungsstück war günstig zu haben und mußte deshalb gekauft werden, das Auto sei zwar schnell, aber doch sicherer als eines mit einem schwächeren Motor und einem weniger sportlichen Fahrgestell. Man bekommt den Eindruck, daß immer dort, wo es um die Darstellung von Weiblichkeit oder von Männlichkeit geht, das erwachsene Denken aussetzt, auch und gerade im Umgang mit Geld. Die Vorstellung und der Wunsch, mit geringem Aufwand viel zu erreichen, verführt manche hysterisch Strukturierte zu leichtsinnigen Investitionen, die massenhaft Geld versprechen. Ähnlich kann man auch die Neigung sehen, besonders günstige Einkäufe zu machen. Die Relation zwischen eingesetztem Geld und erzieltem Warenwert ist das Wichtige, auch wenn ein gekauftes Kleidungsstück gar nicht benötigt wird und nur herumliegt oder lediglich einmal angezogen und dann in den Schrank gehängt wird. Hysterisch strukturierte Männer kaufen Gebrauchtwagen, deren Unterhaltung sie sich eigentlich nicht leisten können, weil der Preis so günstig war. Hysterisch strukturierte Menschen sind von der Unzweckmäßigkeit ihres Verhaltens meist erst zu überzeugen, wenn sie sich damit in erhebliche Schwierigkeiten gebracht haben. Männer fühlen sich in solchen Situationen als Versager. Frauen sind oft weniger einsichtig, weil zum Konzept einer attraktiven Frau der kompetente Umgang mit Geld nicht unbedingt gehört. Eine Frau, die sich auch als kompetente Hausfrau fühlen möchte, ist von der Unzweckmäßigkeit ihres Verhaltens eher zu überzeugen. Hilfreich ist in solchen Fällen ein guter Freund oder ein Berater, der freundlich, aber konsequent auf die Grenzen hinweist, durch deren Oberschreitung die Schwierigkeiten entstehen. Wir haben es dann allerdings wieder mit der Lösung zu tun, daß eine hysterisch strukturierte Person andere damit beauftragt, ihr Grenzen zu setzen. In Therapien muß so etwas bearbeitet werden, im täglichen Leben kann dieser andere leicht in die Position des lebenslangen Beraters kommen, der immer angerufen wird, wenn es Probleme gibt.
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Kapitel 10
Krisen und Persönlichkeit Krisen können nicht nur durch Verluste und Trennungen hervorgerufen werden, sondern auch durch berufliche und finanzielle Probleme. Ein jeder Mensch kann damit konfrontiert werden, daß seine äußere Lebensgrundlage zerstört wird. Arbeitslosigkeit bedeutet heute nicht mehr das gleiche wie zu einer Zeit, als es noch kein soziales Netz gab, Kriegsversehrte betteln mußten und Arbeitslose vor Suppenküchen um einen Teller Suppe anstanden. Die Folgen sind aber auch heute schwerwiegend genug. Der Verlust des Arbeitsplatzes kann viele treffen, praktisch alle, die außerhalb des öffentlichen Dienstes beschäftigt sind. Nicht immer geht gleich der Arbeitsplatz verloren. Auch wenn jemand bei einer Beförderung übergangen wird, sonstige Berufsziele nicht erreicht oder eine neue Tätigkeit ausfährt, die weniger Ansehen hat als die frühere, bedeutet das eine Belastung, mit der man mehr oder weniger gut fertig, werden kann. Von äußerer Anerkennung wenig abhängig sind materiell bedürfnislos sind viele Schizoide, die noch mit Arbeitslosengeld oder mit Sozialhilfe zufrieden sein können. Sie leben innerlich in einer anderen Welt als äußerlich, und die innere Welt hat gegenüber der äußeren Priorität. Eine Sache, die sie vertreten, ist ihnen wichtiger als das eigene materielle Wohlergehen oder die Anerkennung von außen. .Sie dienen einer Idee, die sie sich vom Leben und von ihrer Aufgabe im Leben machen. So anspruchslos sie im Materiellen sind, so anspruchsvoll sind sie freilich, wenn es um ihre Ziele geht. Gegen äußere Schicksalsschläge sind sie aber relativ immun. Ganz anders geht es den narzißtisch Strukturierten, die auf äußere Anerkennung angewiesen sind. Narzißtisch Strukturierte vom kompetenten Typ haben ihr Leben auf äußeren Erfolg ausgelegt. Sie trifft es schwer, wenn der äußere Erfolg ausbleibt oder ihnen durch eine Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen in den Händen zerrinnt, wie das passieren kann, wenn die Konjunktur sich ändert und "ihr Typ nicht mehr gefragt ist". Schizoiden ist in einer Krisensituation schwer zu raten - pragmatische Vorschläge, wie sie mit äußeren Problemen zurechtkommen können, werden nicht immer dankbar aufgenommen. Sie weisen ja auf das Reale hin, das der Schizoide ausblenden möchte. Einsichtige Schizoide lassen sich aber raten, wenn es um Schadensbegrenzung geht, wenn der Schaden ihren Tagesablauf drastisch verändert und sie daran hindert, in ihren Fantasien zu leben. Narzißtisch Strukturierten kann es helfen, wenn sie auf vergangene Erfolge zu65
rückblicken. Eine Anerkennung der vergangenen Erfolge oder ein Hinweis darauf kann sie trösten. So kann man beobachten, daß Schauspieler, deren Zeit vorüber ist, ihr Zimmer mit Plakaten von Stücken pflastern, in denen sie gespielt haben, mit Fotos, die sie in ihrer großen Zeit zeigen, oder mit Zeitungsausschnitten, die lobende Kritiken ihrer früheren Arbeit enthalten. Narzißtisch Strukturierte vom kränkbaren Typ sind durch die Konfrontation mit ihren realen Möglichkeiten in einer schwierigen Lebenssituation stark gefährdet. Die Kränkung kann sie zum Suizid treiben, wenn sie jemand anderen für ihre mißliche Lage verantwortlich machen, zum Totschlag. Meist überwiegt aber der Selbsthaß. Ein Suizid verspricht Entlastung dadurch, daß sie ihrem Kränkungsleiden ein Ende setzen könnten, während ein Totschlag eine mißliche äußere Situation, in der sie sich befinden, nicht verbessert, sondern verschlimmert. Kränkbare narzißtisch Strukturierte sollten versuchen, sich klarzumachen, daß ihre Erwartungen an sie selbst, ernährt von Omnipotenzfantasien, irreal waren. Depressive in einer krisenhaften äußeren Situation klagen sich im allgemeinen selbst an. Sie machen sich Vorwürfe, die Ihren ebenfalls in eine schlimme Lage gebracht zu haben - die Familie, aber auch Freunde, Vorgesetzte, ihre Arbeitskollegen. Es kann natürlich eine Art Omnipotenzgefühl bedeuten, wenn man an allem schuld ist. Insofern können Selbstvorwürfe depressiv Strukturierte sogar stabilisieren. In einer solchen Situation brauchen sie aber oft professionelle Hilfe. Das hängt außer mit der Suizidgefährdung auch damit zusammen, daß depressiv Strukturierte eben in eine Depression geraten, die ihre Initiative weiter lähmt und sie daran hindert, sich aus der Situation zu befreien, auch wenn dies möglich wäre. Zwanghafte in Krisensituationen können, wie übrigens jeder Mensch, in eine reaktive Depression fallen. Eine solche Depression entsteht aus Gefühlen der Hilflosigkeit. Diese Hilflosigkeit ist für Zwanghafte besonders schlimm, weil es ihnen ja wichtig ist, alles unter Kontrolle zu haben. In einer Krisensituation, wo sie sich nicht helfen können oder wo es zumindest so aussieht, als könnten sie es nicht, kann ein Erleben des Verlusts der Kontrolle über andere zu einer tiefen Verzweiflung führen. Wenn professionelle Hilfe nicht verfügbar ist, können sie sich manchmal dadurch stabilisieren, daß sie versuchen, unter den gegebenen Umständen weiter ihre Pflicht zu tun, zum Beispiel dabei mitzuhelfen, den Konkurs eines bankrott gegangenen Betriebes abzuwickeln. Die Pflichterfüllung unter widrigen Umständen ist etwas, das für viele Zwanghafte einen besonderen Wert darstellt. Phobisch Strukturierte suchen in einer Krise naturgemäß Hilfe beim steuernden Objekt, von dem zu hoffen ist, daß es rät, professionelle Hilfe aufzusuchen, wenn der phobisch Strukturierte auch zusammen mit dem Begleiter keinen Ausweg aus der verfahrenen Situation erkennen kann. Hysterisch Strukturierte werden sich zunächst von den Affekten zu entlasten suchen, die eine Krise in ihnen hervorruft. Starke Gefühle der Verzweiflung, die laut geklagt werden, sind aber nicht immer das Beste, wenn es um Krisenbewältigung geht. Einem hysterisch Strukturierten muß man empfehlen, sich, wenn möglich, auf das sachliche Denken zu verlegen und nach Auswegen zu suchen. Es gibt allerdings hysterisch Strukturierte, die in einer Krise nach der Methode des lieben Augustin verfahren, von dem ein Lied ja sagt: Frau ist weg, Geld ist weg, und der Augustin liegt im Dreck ... (und bleibt ganz lustig dabei). Ein Vorteil des hysterisch Strukturierten ist, daß er am Gescheiterten nicht festhält. Eher als andere ist er bereit, neu anzufangen. 66
Kapitel 11
Zum Umgang mit Trennung 11.1 Schizoide Struktur Der schizoid Strukturierte geht nur selten enge persönliche Bindungen ein, so daß es auch selten zu Trennungen kommen kann. Er fühlt sich mehr "der Menschheit", "den Frauen" oder "den Männern" verbunden, "der Wissenschaft", einer Religion, seiner philosophischen oder politischen Weltanschauung. Trennungen haben hier einen anderen Charakter als Trennungen von einer Person. Die Trennung von einer Weltanschauung oder einer Religion erfolgt dann, wenn sich Weltanschauung oder Religion nicht als haltbar erweisen; wenn der Betreffende also seinen Glauben oder seine politische Überzeugung verliert. Während Religionen auf Erden nicht auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden können, ist das Scheitern von politischen Utopien etwas, das wir am Beispiel des Kommunismus im 20. Jahrhundert erlebt haben. Manche, für die die kommunistische Utopie viel bedeutete, haben sich damit getröstet, daß der real existierende Sozialismus nicht gut verwirklicht wurde und die Utopie dadurch nicht berührt werden könne. Enttäuschungen an einer Utopie können von Enttäuschungen an ihren Repräsentanten getrennt werden. Eine derartige Trennung bewirkt, daß die Utopie an Wert zu verlieren scheint. Bindet ein schizoid Strukturierter seine Existenz an eine Utopie oder Religion und sieht er es als seine Lebensaufgabe an, ihr zu dienen, kann das Leben für ihn seinen Sinn verlieren, wenn die Utopie scheitert. Es kann dann passieren, daß er seine sinnlos gewordene Existenz beendet. In einer solchen Krise ist Hilfe von außen notwendig. Dem Schizoiden fällt es besonders schwer, solche Hilfe anzufordern, auch wenn das Gesundheitssystem sie ihm zur Verfügung stellt, weil er mit seinen Problemen allein fertig werden möchte. Präventiv kann man einem schizoid Strukturierten raten, sich genau anzusehen, woran er glaubt. Ein solcher Rat stößt aber meist auf taube Ohren. Ein Schizoider versucht, mit seinem Leben und der Welt souverän umzugehen; ein "souveräner" Umgang mit seinem Charakter ist ihm meist nicht möglich.
11.2 Narzißtische Struktur Für Menschen mit einer narzißtischen Struktur haben Trennungen eine ungleich geringere Bedeutung als für Menschen mit einer depressiven Struktur. Ich habe bereits erwähnt, daß narzißtische Menschen andere Menschen eher als Funktionsbündel denn 67
als Person wahrnehmen. Eine Trennung kann ihnen Probleme bereiten, weil dann die betreffenden Funktionen, zu denen Anerkennung und Bewunderung gehören, nicht mehr erfüllt werden. In den Funktionen ist die verlorene Person aber durch andere Personen ersetzbar. Problematischer ist für narzißtisch strukturierte Menschen, wenn ein Mensch sich von ihnen ab- und anderen zuwendet, z. B. wenn ein geschätzter Mitarbeiter eines narzißtischen Chefs die Stelle wechselt. Auch wenn der Mitarbeiter dadurch seine äußeren Arbeitsbedingungen wesentlich verbessert, so daß der Wechsel gerechtfertigt erscheint, nimmt der narzißtisch strukturierte Chef den Weggang persönlich. Seine unbewußte Fantasie war ja, für den Mitarbeiter so attraktiv zu sein, daß ein Minus in den Arbeitsbedingungen oder ein Minus an Bezahlung durch ihn als Chef aufgewogen werde. Das Kränknisserlebnis kann zur Kränkungswut führen, die sich als Selbsthaß gegen den narzißtisch Strukturierten richten kann. Er denkt dann etwa: "jetzt zeigt es sich, ich bin den anderen nichts wert", Im Unterschied zum depressiv Strukturierten hat er erwartet, wertgeschätzt zu werden. Der Depressive erwartet das nicht. Er muß sich sehr anstrengen, für den anderen arbeiten, um etwas an Wertschätzung zu erfahren. Der narzißtisch Strukturierte denkt, daß ihm die Wertschätzung zusteht. Eine Konfrontation damit, daß die Wertschätzung nicht so groß ist, wie er erwartet hat, kann ihn stärker treffen als den Depressiven, der nichts Besseres erwartete.
11.3 Depressive Struktur Der problematische Umgang mit Trennungen ist für die depressive Persönlichkeitsstruktur charakteristisch und von zentraler Bedeutung. Im einfahrenden Kapitel über die depressive Struktur habe ich dargestellt, daß für depressiv Strukturierte eine Trennung mit der unbewußten, gelegentlich auch bewußten Angst verbunden ist, ohne das versorgende Objekt nicht überleben zu können. Während ein narzißtisch Strukturierter unter Trennungen leiden kann, weil ihm durch die Trennungen wichtiger "Funktionsträger" Personen in ihren Funktionen genommen werden, kann er ein Funktionsbündel doch durch ein anderes, ähnliches ersetzen - für narzißtisch Strukturierte kann der Verlust einer wichtigen Person durch eine andere Person mit etwa den gleichen Funktionen ausgeglichen werden. Im Gegensatz dazu ist für den Depressiven eine Person erst einmal unersetzbar. Zur depressiven Entwicklung des Kindes ist es eine Voraussetzung, daß eine Pflegeperson, meist die Mutter, als einigermaßen verläßlich erlebt werden konnte, wenn sie auch im emotionalen Bereich unzulänglich war. Der depressiv Strukturierte erwartete alles Heil von dieser einen Person. Steht später eine Person an der Stelle der Mutter - es kann auch ein Mann sein, der eine Mutterrolle übernimmt -, erlebt der oder die Depressive den Verlust dieser Person als existenzgefährdend und kann sich nicht damit trösten, daß es einen Ersatz geben könnte. So sind die Beziehungen Depressiver zu wichtigen Personen für die Ewigkeit oder zumindest für ein Leben gedacht. In meiner einführenden Darstellung zu der depressiven Struktur habe ich darauf hingewiesen, daß gerade die hohen Erwartungen, die depressiv Strukturierte an ihre Beziehungen richten, den Partner oder die Partnerin belasten und zur Trennung führen können. Das Modell der Beziehung zur Mutter dient als Modell für alle Beziehungen zu wichtigen Personen, zum Beispiel auch zur Beziehung zu den Kindern, die schwer losgelassen werden können. Gehen sie aus dem Haus, fühlt sich die depressiv strukturierte Mutter nicht nur der mütterlichen Aufgaben 68
beraubt. Sie verliert auch Menschen, von denen sie, wie sie zumindest hoffte, gemocht wurde. Die Arbeit für die Kinder und die Sorgen um die Kinder haben ihrem Leben einen Sinn gegeben, den sie nun verliert. Oft richtet eine solche Mutter ihre emotionalen Wünsche dann verstärkt auf den Partner in der Regel geht es solchen Müttern am besten, wenn sie bald wieder Personen finden, für die sie sorgen können. Das ist in der heutigen Zeit aber nicht einfach. Manche Frauen suchen sich soziale Aufgaben, durch die sie sich stabilisieren können. Enkelkinder, die eigene Kinder ersetzen könnten, kommen heutzutage meist erst lange nachdem die Kinder das Haus verlassen haben. Als in den bürgerlichen Familien wenige Frauen außerhalb der Familie berufstätig waren, bekamen die Töchter oft um die Zwanzig bereits eigenen Nachwuchs, kurz nachdem sie von zu Hause fortgegangen waren. Die Söhne gingen in früheren Zeiten vorher oft auf die Wanderschaft, als Studenten oder als Handwerksburschen, gründeten aber nach Ende der Berufsausbildung bald ihren eigenen Hausstand und bekamen Kinder. Heute gehen die Kinder oft mit 18 oder 19 Jahren aus dem Haus und bekommen Kinder erst, wenn sie schon 30 oder älter sind. Müttern, die sich nicht darauf verlassen wollen, daß Enkelkinder kommen - ein Wunsch, der sich ohnehin oft spät, wenn Oberhaupt erfüllt -, könnte man raten, daß sie die Trennung von den Kindern vorbereiten, indem sie sich auch andere Aufgaben suchen. Das hat nicht nur eine Ersatzfunktion, die andere Personen an die Stelle der Kinder setzt. Es entlastet auch die Beziehung zu den Kindern, so daß die Kinder, wenn sie aus dem Haus gegangen sind, gern zu Besuch kommen, während Kinder, deren Mutter ihren Auszug mit Vorwürfen begleitete hat und ihn möglicherweise zu hindern suchte, meist froh sind, wenn sie der Mutter fernbleiben können. Ihre Besuche beschränken sie dann oft auf Pflichtkontakte. Für den Vater ist der Auszug der Kinder in der Regel kein so traumatisches Ereignis wie für die Mutter, weil die Kinder meist weniger den Lebensmittelpunkt des Vaters darstellen, als es bei einer Mutter der Fall ist. Um so schwerer wiegt ein Verlust der Partnerin. Das ist schon für Männer ohne erhebliche depressive Strukturanteile der Fall, weil sie sich, vor allem in traditionell strukturierten Ehen, durch die Frau versorgen ließen. Eine Frau kann sich, wenn sie den Mann verliert, besser selbst betreuen, weil sie das Betreuen ja erlernt und praktiziert hat. Der Verlust wird oft dadurch noch größer, daß die Frau in ihrer versorgenden Funktion wie eine Mutter erlebt wurde. Der Verlust einer persönlich wichtigen Person wird nur dann bewältigt, wenn um sie getrauert werden kann. Im trauernden Abschiednehmen löst sich der Trauernde von dem betrauerten Menschen, behält aber ein Bild von ihm, das ihn bereichern kann. Depressive sind in ihrer Fähigkeit zu trauern eingeschränkt. Daß ein Mensch von ihnen gegangen ist, erleben sie auch als ein aktives Verlassenwerden, ähnlich wie ein Kind nicht verstehen kann, daß die Mutter, die ins Krankenhaus geht, das nicht freiwillig tut. Die Mutter wird als aktiv verlassend erlebt. Dieses aktive Verlassen ruft eine Enttäuschungswut hervor, die sich bei depressiv strukturierten Kindern nicht gegen die existentiell wichtige Mutter, sondern gegen das eigene Selbst richtet und in Form depressiver Gefühle erlebt wird. Das ist überhaupt eine zentrale Reaktionsweise depressiv strukturierter Menschen. Trauern unterscheidet sich von Depressivsein dadurch, daß ein Verlust zwar beklagt, aber nicht als aktives Verlassenwerden erlebt wird. Wenn jemand an seinem Tode selbst mit schuld zu sein scheint, vielleicht weil er ungesund gelebt hat, werden Vorwürfe manifest; sie richten sich dann doch gegen ihn und nicht gegen die eigene Person. Eine Depression als Folge einer Trennung ist im allgemeinen behandlungsbedürf69
tig, in der Regel durch Psychotherapie; manchmal müssen auch Medikamente eingesetzt werden. Mit Ratschlägen allein kommt man hier nicht weiter. Wird eine Trennung psychotherapeutisch behandelt, kann das für die Zukunft eine präventiven Wirkung haben. Manche depressiv Strukturierte haben solche Angst vor Trennungen, daß sie es vermeiden, einen Abschied vorweg zu fantasieren; auch dann, wenn sie eigentlich wissen, daß er bevorsteht. So wird das bevorstehende Ende einer wichtigen Person durch eine Krankheit, die zum Tode führen wird, von ihnen geleugnet. Der Verlust trifft sie dann um so schwerer. Hier kann ein depressiv strukturierter Mensch, beraten durch Ärzte, etwas tun, um sich auf den Abschied vorzubereiten. Wegen der Unterschiede in der Lebenserwartung trifft die meisten Frauen das Schicksal, nach ihrem Partner zu sterben. Daß dies wahrscheinlich ist, wird gerade von depressiven Frauen oft geleugnet. Das heißt, die Information ist vorhanden, sie wird aber nicht wirksam wahrgenommen. Daß hohe Erwartungen an einen Partner ungewollte Trennungen begünstigen können, habe ich schon im einfahrenden Kapitel dargestellt.
11.4 Zwanghafte Struktur Von Menschen mit einer zwanghaften Charakterstruktur wird Trennung vor allem unter dem Aspekt der Veränderung erlebt. Die Konstanz der Beziehungen gehört zu einer Konstanz der Lebensverhältnisse. Trennungen bringen die Notwendigkeit einer Umstellung mit sich. Jemand, den man kennt und dessen Verhalten voraussehbar ist, geht. Er hinterläßt eine Lücke oder wird durch einen Neuen ersetzt, den man erst im einzelnen kennenlernen muß. Der Zwanghafte kann aber um einen Menschen trauern. Allerdings sind bei vielen Zwanghaften die Gedanken und Handlungsimpulse von den Affekten isoliert. Zwanghafte wirken manchmal so, als ob ihnen der Verlust eines Verstorbenen gleichgültig wäre. Das ist so aber nicht der Fall. Sie können trauern, die Trauer aber auch begrenzen. Sie wird nicht ihr ganzes Leben bestimmen. Daneben können sie oft gut noch Aufgaben in Beruf und Familie verrichten. Trauer erfahren sie in Intensität und Ausdehnung eingeschränkt, sie wird aber erlebt und führt dann zu einer Verarbeitung des Verlusts. Je älter Zwanghafte werden, desto mehr tritt die Veränderung der Lebensverhältnisse in den Vordergrund, wenn Menschen gehen, ob das eine Partnerin oder ein Partner oder eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter ist. Weil Zwanghafte im Aufnehmen engerer persönlicher Beziehungen vorsichtig sind, kommt es oft nicht mehr zu einer neuen Beziehung, auch wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Viele Menschen fühlen sich durch Zwanghafte mißbraucht, weil diese ihre Beziehungen vorwiegend unter dem Aspekt von Macht und Kontrolle sehen. So kann jemand leicht den Eindruck bekommen, nur den Machtinteressen des Zwanghaften zu dienen. Die Oben-Unten-Beziehungen des Zwanghaften müssen menschlicher Wärme aber nicht entbehren, wie man das bei manchen zwanghaften Lehrern sieht, die ihre Schüler beherrschen und kontrollieren wollen, sich aber auch für sie einsetzen und für ihr Wohlergehen sorgen wollen. Weil ein Zwanghafter sich in einer klaren Hierarchie wohlfühlt, liegt ihm eine patriarchalische Familienstruktur am meisten. Die Rolle als verantwortlicher Pater familias füllt er gerne aus, benötigt aber eine Partnerin, die eine komplementäre Stellung einnehmen will. Solche Partnerinnen sind selten geworden. 70
Ein Pater familias, den seine Frau verläßt, sucht einen Ersatz, weil es für die Familie gut sei, wenn wieder eine Frau ins Haus kommt. Er sucht eine Partnerin, aber auch und oft vorrangig eine Mutter für seine Kinder, für die er als Pater familias zu sorgen hat. Da er am besten zu wissen meint, was für Menschen gut ist, die ihm anvertraut sind oder sich ihm anvertrauen, ist er überrascht und entrostet, wenn sie gegen ihn opponieren. Die Opponierenden "wissen nicht, was sie tun". Trennen sie sich von ihm, empfindet er sie als undankbar. Menschen, die gegen ihn opponieren, läßt er ungern gehen. Er behält sie möglichst in einer Position seines Machtbereichs, in der sie ihm nicht mehr gefährlich werden können. Daß er sie nicht verstoßen hat, empfindet er als großzügig. Auch hier erwartet er Dankbarkeit. Wenn jemand sich trotzdem selbständig macht, kann es dem Zwanghaften vorkommen, als verstünde er die Welt nicht mehr. So sind Trennungen für den Zwanghaften auch ein Teil des Kontrollproblems. Anders als beim narzißtisch Strukturierten, formal ähnlich aber anders begründet, erträgt der Zwanghafte es nicht, wenn sich Leute von ihm trennen, ohne daß er es will. Ungewünschte Trennungen verarbeiten bedeutet eine Auseinandersetzung mit seinem Wunsch, daß nichts geschehe, was er nicht will. Manchen Zwanghaften hilft es, Regeln der Fairneß heranzuziehen, die vorschreiben, daß man dem anderen ein Maß an Freiheit läßt.
11.5 Phobische Struktur Bei phobisch Strukturierten haben Trennungen eine doppelte Bedeutung. Einmal kann der Verlust einer wichtigen Person Trauer hervorrufen. Wie Menschen mit einer Zwangsstruktur sind Phobiker durchaus in der Lage zu trauern, weil sie Beziehungen zu einem ganzen Menschen und nicht nur zu einer Abstraktion (wie der schizoid Strukturierte) oder zu einem Funktionsbündel (wie der narzißtisch Strukturierte) aufnehmen können. Der depressiv Strukturierte kann eine solche Beziehung aufnehmen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß wichtige Personen eine unrealistische, existenznotwendige Bedeutung erlangen und daß im Trennungsvorgang oft nicht der reife Trauerprozeß stattfindet, der nach geleisteter Trauerarbeit und nach einer ausreichenden Trauerzeit zur Ablösung von dem verlorenen Menschen führt. Wie Zwanghafte können phobische Menschen also eine Ganz-Objekt-Beziehung herstellen und um den Verlust eines ganzen Menschen trauern. Sie verlieren aber auch wichtige Funktionen, über die sie selbst nicht oder nur teilweise verfügen und die von außen Substituiert werden müssen. Im einfahrenden Kapitel über die phobische Struktur habe ich dargestellt, daß phobisch Strukturierte im Laufe ihrer Entwicklung bestimmte Funktionen nicht ausbilden konnten, die nun substituiert werden müssen. Diese Funktionen verliert der phobisch Strukturierte, wenn eine Person sich von ihm trennt, die diese Funktion in Stellvertretung der Mutter und als Ersatz für die fehlenden inneren Funktionen übernommen hat. Weil die Angst zunimmt, wenn das äußere steuernde Objekt fehlt, muß sein Verlust gefürchtet werden. So erinnere ich mich an eine Patientin, die wegen pathologischer Eifersucht in Behandlung kam und bei der es sich dann herausstellte, daß sie an einer Agoraphobie litt. Sie befürchtete, ihren Mann in der Funktion des steuernden Objekts zu verlieren. Die dadurch hervorgerufene Angst addierte sich zu einer als normal aufzufassenden Angst vor dem Verlust eines Partners, wie sie in vielen Beziehungen auftritt, wenn ein Partner sich mit möglichen 71
anderen Rivalen vergleicht und befürchtet, dabei schlecht wegzukommen. Das steuernde Objekt muß nicht der Lebens- oder Lebensabschnittspartner sein. Ich erinnere mich an einen Fußballspieler, der seine Aggressionen im Spiel kontrolliert ausleben konnte, wegen einer Verletzung nicht mehr spielen konnte und Schiedsrichter wurde. Der Verlust seiner Mannschaft und seiner ursprünglichen beruflichen Tätigkeit führte dazu, daß eine Agoraphobie ausbrach. In einem anderen Fall war das steuernde Objekt ein Kind mit einem angeborenen Herzfehler. Der Vater trug es, wenn er das Haus zu einem Spaziergang oder zum Einkaufen verließ, mit sich herum, weil es wegen des Herzfehlers nur kurze Strecken laufen konnte. Das Kind wurde operiert und brauchte nicht mehr herumgetragen zu werden. Jetzt wurde eine Agoraphobie deutlich, die vorher kompensiert geblieben war. Hier blieb das Objekt erhalten, verlor aber seine steuernde Funktion. Der Vater liebte sein Kind vor und nach der Operation. Wäre das Kind bei der Operation gestorben, hätte er um das Kind getrauert. Die Agoraphobie wäre vermutlich ebenfalls manifest geworden. Ein steuerndes Objekt kann durch ein anderes ersetzt werden. Das heißt aber nicht, daß die Person, die diese Funktionen ausübt, ohne weiteres durch eine andere Person ersetzt werden kann, ohne daß ihr Verlust betrauert würde. Daß meist solche Personen steuernde Objekte sind, zu denen eine enge persönliche Beziehung besteht, liegt einfach daran, daß sie aufgrund der persönlichen Beziehung bereit sind, die Funktion eines Begleiters zu übernehmen. In Österreich gibt es den Ausdruck: "Begleitwurzen". Damit ist eine Person gemeint, die sich in der Form ausnutzen läßt, daß sie jemanden in Lokale begleitet, ohne daß sie aus eigenem Antrieb ausgehen möchte. Die "Begleitwurzen" kann von dem, den sie begleitet, ökonomisch oder sonst wie abhängig sein. Zu Zeiten, als Frauen allein keine Lokale aufsuchen konnten, weil sie dann für Prostituierte gehalten wurden, gab es Frauen, die Männern "Hoffnungen machten", in Wahrheit aber nur daran interessiert waren, einen Begleiter zu haben, um bestimmte Orte der Geselligkeit aufsuchen zu können. Die "Begleitwurzen" des Phobikers hat natürlich die Funktion, als steuerndes Objekt auf ihn aufzupassen oder Menschen abzuschrecken, die problematische Kontakte mit ihm aufnehmen könnten. Zu einer "Begleitwurzen" kann sich eine persönliche Beziehung entwickeln, auch wenn die ursprüngliche Motivation, sich mit ihr abzugeben, sich zunächst einmal nur auf die steuernden Funktionen bezog. So etwas kann man ja auch bei Ehen beobachten, die aus äußeren Gründen geschlossen wurden. Auch in Ländern, wo die Heirat von den Familien arrangiert wird, ist es ja nicht selten, daß die Partner sich lieben lernen. Menschen mit einer phobischen Struktur ist zu empfehlen, sich darum zu bemühen, die Aspekte "Funktion eines steuernden Objekts" und "persönliche Beziehung" auseinander zuhalten. Sie können dann auch Strategien entwickeln, wie sie neben den persönlich wichtigen Personen andere in der Funktion eines steuernden Objekts beanspruchen können, damit sie diese wichtigen Personen nicht überlasten. Merkt der Partner nämlich, daß die Partnerin nicht ohne ihn sein kann, kann das ständige Gebrauchtwerden als Zwang empfunden werden. Manchen Menschen - dazu gehören vor allem Zwanghafte - ist es aber sehr recht, wenn die Partnerin oder der Partner von ihnen abhängig ist, weil er oder sie dann besser unter Kontrolle gehalten werden kann. Andere empfinden die Abhängigkeit der Partnerin als lästig. Sie möchten lieber eine selbständige und freie Person neben sich haben. 72
11.6 Hysterische Struktur Für einen hysterisch strukturierten Menschen ist es wichtig, ob durch eine Trennung die Attraktivität als Mann oder als Frau in Frage gestellt wird. Mit Trennungen, die nicht aus freien Stücken erfolgen, sondern durch Krankheit, Tod oder infolge schwer veränderbarer Lebensumstände, etwa wenn jemand sich beruflich schaden würde, wenn er an einem bestimmten Ort bliebe, kann er meist umgehen. Er kann auch um Menschen trauern, die er verliert. Verläßt den hysterisch Strukturierten aber eine Frau um eines anderen Mannes willen oder wird eine hysterisch strukturierte Frau wegen einer anderen Frau verlassen, kann das eine tiefe Kränkung bedeuten, mit der oft durch Entwertung des Verlassenden umgegangen wird. Die Frau oder der Mann taugt eben nichts, ist zu einer Beziehung gar nicht fähig, sieht nur auf Äußerlichkeiten, ist über die Maßen anspruchsvoll oder brauchte die Bestätigung durch eine neue Liebe. Wenn es sich um zwei hysterische Partner handelt, kann einiges davon zutreffen. Man findet es selten, daß hysterisch strukturierte Männer oder Frauen nach außen hin unzureichende eigene Attraktivität als Ursache dafür benennen, daß die Partnerin oder der Partner sich abgewendet hat. Eher gibt der verlassene Mann oder die verlassene Frau zu, wegen beruflicher Verpflichtungen habe man sich um die Partnerin oder den Partner nicht ausreichend kümmern können. Hysterisch strukturierten Menschen in einer Trennungssituation kann man empfehlen, die ursprüngliche und die jetzige Einschätzung der Partnerin oder des Partners einander gegenüberzustellen und sich Gedanken zu machen, wie es zu diesem Umschwung gekommen ist. Für die Zukunft ist einem solchen Verlassenen oder einer Verlassenen zu wünschen, daß er oder sie mehr in die Beziehung investiert. Auch wenn die mangelnde eigene Attraktivität insgeheim für entscheidend gehalten wird, können die Gründe für das Verlassenwerden doch in ganz anderen Bereichen liegen, an denen sich vielleicht etwas ändern läßt, zum Beispiel daran, daß von der Partnerin oder dem Partner eine übersteigerte Bewunderung verlangt wurde. Manche hysterisch Strukturierte suchen sich auch Partner aus, die als Mann oder Frau deutlich weniger attraktiv sind. Das ist vor allem dann der Fall, wenn auch ein narzißtischer Strukturanteil vorhanden ist. Kommt dann, zum Beispiel durch einen beruflichen Erfolg, äußere Anerkennung in hohen Dosen hinzu, kann es sein, daß der oder die hysterisch Strukturierte die Bewunderung durch die Partnerin oder den Partner nicht mehr braucht.
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Kapitel 12
I.ernen und Persönlichkeit Zu wissen, wie man unter Berücksichtigung der eigenen Persönlichkeitsstruktur am besten lernt, kann nicht nur Schülern und Studenten nützlich sein. In vielen Berufen ist heute ein dauerndes Lernen neben dem Beruf notwendig. Die Aneignung von Wissensstoff wird an unseren Schulen wenig trainiert. Lernen muß man lernen; an den Schulen wird es aber nicht gelehrt. Hochschullehrer klagen nicht nur über Wissensmängel, sondern auch über einen Mangel an Lernkompetenz bei ihren Studenten. Beim geistigen Arbeiten wird besonders deutlich, daß die Vorteile einer Struktur in Nachteile umschlagen können, wenn ihre Ausprägung ein gewisses Maß überschreitet. Bei der schizoiden Struktur gilt in der Regel, daß Zusammenhänge leicht gemerkt werden können, leichter als einzelne Fakten, was dazu führen kann, daß ein Teil der Fakten, die zum Anwenden nötig sind, nicht präsent ist. Die Zusammenhänge schweben gleichsam frei in der Luft. Die gute Abstraktionsfähigkeit vieler Schizoider macht sie für abstrakte Wissenschaftsbereiche, etwa für Mathematik, geeignet. Studieren sie aber ein Fach, wo es auch auf Faktenwissen ankommt, von dem bei Bedarf abstrahiert wird, haben sie Schwierigkeiten, sich die einzelnen Fakten zu merken. Narzißtische Persönlichkeiten vom kompetenten Typ haben beim Lernen meist keine besonderen Schwierigkeiten. Schwierigkeiten treten eher bei der Studienwahl auf, wenn ein Fach nicht nach den eigenen Interessen, sondern nach den erzielbaren Erfolgen gewählt wird. Natürlich sind die Berufsaussichten wichtig und sollten berücksichtigt werden, doch variieren sie über die Zeit. Gegenwärtig besteht ein Mangel an Ingenieuren und Physikern, vor weniger als zehn Jahren waren Ingenieure und Physiker oft arbeitslos. Manche narzißtisch Strukturierte haben die Fantasie, sie könnten eigentlich alles lernen, wenn sie nur wollten. Was sie tatsächlich lernen können, hängt aber von den formalen Begabungen und von außerdem vorhandenen Strukturanteilen ab. Als ein Medizinstudium noch ein sicheres Einkommen versprach, konnte man als Hochschullehrer Medizinstudenten begegnen, die besser Mathematik oder Physik studiert hätten, sich im Medizinstudium langweilten und Schwierigkeiten beim Lernen der Details hatten. Die meisten medizinischen Fächer erfordern eine Kombination von Detailwissen und Verständnis der Zusammenhänge. Diese Kombination ist nicht bei jedem zu finden. Außerdem erfordert die Ausübung der praktischen Medizin ein Interesse an Menschen. 75
Depressiv Strukturierte sind an Menschen oft sehr interessiert, von daher eignen sie sich als Ärzte gut. Tatsächlich findet man einen depressiven Strukturanteil bei vielen Medizinern, die mit ihrem Beruf zufrieden sind. Allerdings kann der Versuch, Menschen zufriedenzustellend, dazu führen, daß unangenehme medizinische Maßnahmen unterlassen oder aufgeschoben werden, was den Patienten am Ende schadet. Depressiv Strukturierte neigen auch dazu, mehr Arbeit anzunehmen, als sie bewältigen können. Dazu gibt es im Arztberuf viel Gelegenheit. Manche Ärzte "arbeiten sich tot". Wenn Patienten zu einem anderen Arzt gehen, entwickeln sie große Ängste. Sie haben den Eindruck, daß der betreffende Patient sie nicht liebt, daß sie vielleicht nicht liebenswert sind und daß bald alle davonlaufen werden. Beim depressiv Strukturierten treten die Schwierigkeiten meist erst während der praktischen Berufsausübung auf, beim Lernen gibt es die üblichen Probleme mit dem Anfangen einer Arbeit. Es ist zweckmäßig, daß der depressiv Strukturierte in Gruppen lernt oder sich zu bestimmten, nicht weit auseinanderliegenden Terminen den Lernstoff abfragen läßt. Die Vorstellung, das, was er gelernt hat, einem anderen zu erzählen, kann einen Depressiven zum Lernen motivieren. Depressive neigen übrigens dazu, mehr Wissen anzuhäufen, als sie anwenden können. Der Beruf kommt ihnen wie ein Schlaraffenland vor. Um das Berufsziel zu erreichen, müssen sie sich - wie im Schlaraffenland - durch einen Wall von "Nahrung,", also Wissensstoff, hindurchfressen. Zwanghaft Strukturierte haben das Problem, Wesentliches von Unwesentlichem schwer unterscheiden zu können, so daß die Fußnote den gleichen Stellenwert bekommt wie der Text. Nur wenn sie meinen, alles zu wissen, was man sie fragen könnte, fühlen sie sich sicher. Ein souveräner Umgang mit dem Lernstoff ist ihre Sache nicht. Zusammenhänge können sie schwer erkennen und sich merken, weit sie ja die Tendenz haben, Fakten voneinander zu isolieren. Hier stellen sie in gewisser Weise einen Gegenpol zu den Schizoiden dar, die sich mehr für Zusammenhänge interessieren. Zwanghafte neigen wenig zur Abstraktion, sie wollen etwas Greifbares in der Hand haben. Andererseits liegt ihnen die trennende Systematisierung. Ein Wissensgebiet teilen sie in Einzelfakten oder einzelne Teilgebiete auf, die sie in eine Hierarchie bringen. Tatsächlich bietet eine Hierarchie jene Art formalisierten Zusammenhangs, mit der sie gut umgehen können. Wenn sie eine Hierarchie aufstellen, können sie am besten den Überblick bekommen, den sie brauchen, um Wissen zur Verfügung zu haben. Allerdings ist die Hierarchie dann oft mit einer Datenreduktion verbunden. Was nicht paßt, wird weggelassen, so daß Sachverhalte unvollständig und damit fehlerhaft wiedergegeben werden. Mehrere Fakten nebeneinander zu sehen und sie in ihrer Wichtigkeit oder Unwichtigkeit auf einen Blick einzuschätzen bringen sie nicht fertig. Da der Zwanghafte wenig Adaptationsmöglichkeiten an die Erfordernisse seiner Umwelt hat, ist es für ihn besonders wichtig, ein Studienfach zu wählen, mit dem er von Anfang an gut zurechtkommt. Viele sehr Zwanghafte findet man unter den Juristen, allerdings nicht unter den wirklich guten, weil zum guten Juristen ja die kreative Anwendung von Gesetzen auf den Einzelfall gehört. Zu zwanghafte Juristen verfahren zu schematisch. Phobisch Strukturierte sind in ihrem Lernen relativ frei, wenn ein Begleiter vorhanden ist. Ich habe schon im Einleitungskapitel Hinweise gegeben, wie mit dem Bedürfniss nach einem Begleiter umgegangen werden kann. Hysterisch strukturierte Männer und Frauen haben Schwierigkeiten durchzuhalten. Ihre Anfangsbegeisterung wird oft von Langeweile abgelöst, wenn der Reiz des Neuen 76
vorbei ist. Mit Details haben sie nicht viel im Sinn, allerdings aus anderen Motiven als der Schizoide. Der Schizoide achtet Details gering, weil er sich von der konkreten Außenwelt abschotten möchte, zu der Details gehören. Der hysterisch Strukturierte sieht sich als das Gegenteil von einem Pedanten, und damit als das Gegenteil von einem zwanghaften Menschen. Er möchte großzügig sein. Das Problem ist, daß sich seine Art von Großzügigkeit leicht als Schlamperei auswirkt. Wichtige Detailfragen werden oft übergangen oder vergessen. Ein weiteres Problem kann sich aus der Emotionalität eines hysterisch Strukturierten ergeben. Er möchte nach den Worten des Mephisto leben: "Grau, teurer Freund, ist alle Theorie / und grün des Lebens gold’ner Baum.". Trockene Fächer verabscheut er. Da es aber in fast allen Fächern etwas zu lernen gibt, das er als trocken empfindet, führt diese Einstellung fast immer zu Schwierigkeiten. Unterscheiden muß man aber zwischen den mehr männlich identifizierten und den mehr weiblich identifizierten hysterisch strukturierten Menschen. Ein Mann, der Männer besiegen möchte, um Frauen für sich zu gewinnen, wird im allgemeinen eher auf Leistung aus sein und das Arbeiten gelernt haben im Gegensatz zu einem anderen, der Frauen durch Charme beeindrucken möchte. Entsprechendes gilt für Frauen, die mit dem Vater identifiziert sind, in Unterschied zu Frauen, die mit ihrer Rolle als kleine Partnerin des Vaters identifiziert sind. Letztere haben oft die Vorstellung und den Wunsch, in mündlichen Prüfungen den Prüfer durch Charme zu beeinflussen, was nicht immer gelingt. Generell kann man sagen, daß es für das Lernen wichtig ist, die Stärken der eigenen Struktur zu kennen, aber auch deren Schwächen und das, was fehlt und eventuell trainiert werden könnte. Beim schizoid Strukturierten handelt es sich um das Aufnehmen von Details und den Umgang mit ihnen, beim narzißtisch Strukturierten um die zwei Pole Berufsaussichten und persönliches Interesse an dem Studienfach oder um die Kränkung des Lernenmüssens. Beim Zwanghaften findet man eine Neigung zur Analyse, also zur Aufgliederung und zur Systematisierung nach einem festen Schema. Es fehlt oft der Gegenpol: die Fähigkeit, Fakten in ihrer Bedeutung flexibel einzuschätzen; sie ist zu der in vielen Bereichen gefragten geistigen Synthese erforderlich. Beim phobisch Strukturierten kann man eine analoge Polarität nicht finden, hier geht es darum, bestimmte Funktionen durch einen Begleiter zu substituieren und ansonsten das selbständige Arbeiten zu üben. Phobisch Strukturierte lassen sich gut anleiten; sie kommen dann in Schwierigkeiten, wenn es darum geht, selbständig zu arbeiten. Den hysterisch Strukturierten wäre eine sorgfältige Wahl des Studienfaches und ein Training bezüglich der kognitiven Aspekte des Studienfaches zu empfehlen, und zwar zu Beginn des Studiums und nicht erst, wenn es darum geht, das Schlußexamen abzulegen.
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Kapitel 13
Freizeit und Charakter 13.1 Schizoide Struktur Der Schizoide ist kein "Freizeitmensch". Da ihm daran liegt, sich mit "wesentlichen" Dingen zu beschäftigen, und da er vieles, womit andere ihre Freizeit verbringen, als banal und der Aufmerksamkeit nicht wert beurteilt, vertieft er sich auch in der Freizeit gern in "wesentliche" Dinge. Die Freizeitbeschäftigungen anderer Menschen sieht er auf gleichem Niveau wie den von ihm abgelehnten Small talk. Mit Lappalien möchte er sich nicht beschäftigen. Aufenthalte in freier Natur, das Wandern in einsamen Wäldern, das Verweilen an einem Strand, wenn die Badenden gegangen sind und man sich auf das Meer einstellen kann, ohne abgelenkt zu werden, sind Schizoiden unterschiedlichen Bildungsstandes zugänglich. Ein schizoid wirkender Skilehrer in einem Schweizer Skiort hat mich einmal mit der Aussage: "Ich horche in die Stille" überrascht, eine poetische Formulierung, die manches Erleben des Schizoiden in der Natur gut erfaßt. Der Aufenthalt in freier Natur gestattet es den Schizoiden, mit dem großen, nicht bedrängenden, nicht zudringlichen, ihn nicht persönlich ansprechenden Objekt "Natur" in Gedanken zu verschmelzen, mit ihr eins zu werden. Eine Lieblingsbeschäftigung Schizoider ist oft auch das Lesen. Sie fressen den Lesestoff nicht in sich hinein, wie es viele depressiv Strukturierte tun, denen es gelungen ist, einen Teil ihrer Oralität im Lesen unterzubringen; sie kommunizieren mit dem Autor, der den Text geschrieben hat, auf dem Umweg über den Text, der sie auf Distanz mit dem Autor verbindet. Der Text läßt, im Unterschied zu einer Vorlesung, der viele Schizoide nicht folgen mögen, weil sie sich dem Gedankenfluß des Vortragenden anpassen müßten, dem Lesenden Freiheit: Er kann das Lesen jederzeit beginnen und unterbrechen, er kann es wiederholen, er kann Textpassagen auslassen, andere mehrmals lesen. Der Schizoide hat ja einen großen Bedarf an Autarkie. Der narzißtisch Strukturierte möchte nicht abhängig sein, um die Fantasie seiner Einzigartigkeit nicht zu gefährden. Der Schizoide möchte nicht beeinflußt werden. Menschen, von denen er abhängig wäre, würden Einfluß auf ihn ausüben, würden mit ihren Wünschen und Handlungen in seinen Lebenskreis eindringen, Ansprüche an ihn stellen, unter Umständen Dankbarkeit fordern. Zugehörigkeitswünsche beziehen sich beim Schizoiden fast nie auf eine einzelne 79
Person, sondern, wenn überhaupt, auf Gruppen von Personen, auf Institutionen, Völkerschaften oder schließlich auf die Menschheit, der man sich zugehörig fühlen kann, ohne mit ihr in eine Interaktion zu treten. So sucht der Schizoide auch in seiner Freizeit eine Lebensform zu verwirklichen, die seiner Persönlichkeitsstruktur gemäß ist. Dabei kann man ihm kaum etwas Konkretes raten. Allenfalls wäre die Empfehlung zu geben, das Aufnehmen und vor allem auch das Beenden von Kontakten zu üben, damit er mit Menschen in einen dosierten Kontakt treten kann, wenn er sich einsam fühlt. Es ist oft auch leichter, zu einer Gruppe zu gehören, wenn man mit Angehörigen dieser Gruppierung spricht, als wenn man nur dabeisitzt, was die anderen oft auch nicht tolerieren. Andererseits kann man in Therapiegruppen beobachten, daß schweigende schizoide Gruppenmitglieder lange Zeit in ihrer schweigenden Rolle toleriert werden. In der besonderen Situation einer Kleingruppe mit einer therapeutischen Aufgabe verstehen die Gruppenmitglieder leichter als im Alltagsleben, daß es manchen Menschen schwer fallen kann zu interagieren und daß ein Gruppenmitglied sich dann darauf beschränken muß, in Gedanken dabei zu sein. Solche schweigenden Gruppenmitglieder wirken engagiert, obwohl sie nichts sagen, und das ist es wohl, was bewirkt, daß sie als zugehörig empfunden werden. In alltäglichen Gruppierungen geschieht so etwas seltener. Man erwartet ein Verhalten, das den Kommunikationsregeln einer Alltagsgruppierung entspricht. Schweigende werden im Alltag oft als arrogant oder als schmarotzerhaft erlebt und ausgestoßen. Der Wunsch dazuzugehören ist bei schizoid Strukturierten verschieden ausgeprägt. Manchen ist es genug, wenn sie sich in freier Natur aufhalten können und sich als zur Natur gehörig empfinden, andere wieder suchen den Kontakt mit anderen Menschen. Von dem Dichter Gottfried Benn wird erzählt, daß er abends mit seiner Frau schweigend in einer Kneipe an einem Tisch saß, sein Bier trank und die Leute beobachtete. Er tat das mit Interesse, aber ohne mit den Fremden in der Kneipe in Interaktion zu treten. Seine Frau neben ihm tolerierte anscheinend dieses Verhalten, auch seine Art des Umgangs mit ihr.
13.2 Narzißtische Struktur Der narzißtisch Strukturierte, in vielem ja ein Gegenstück zum depressiv Strukturierten, hat keine Probleme mit seiner Initiative. Deshalb kann er Dinge, die er sich vornimmt, ohne größere Schwierigkeiten anfangen. Der Umgang mit anderen Menschen interessiert ihn unter dem Aspekt, daß sie ihn anerkennen und bewundern sollen. So eignen sich für den narzißtisch Strukturierten Sportarten, die in Gegenwart anderer betrieben werden und die er leicht lernen kann, wobei er in der Anfangsphase des Lernens in Schwierigkeiten kommt, wenn er die üblichen Anfangsfehler macht und die üblichen Anfangs-Ungeschicklichkeiten begeht, etwa in einem Skikurs oder einem Segelkurs. Narzißtisch strukturierte Menschen neigen deshalb dazu, sich in einen Skikurs einzutragen, der etwas unter ihrem Niveau liegt. Andere narzißtisch Strukturierte betreiben Bodybuilding. Hier zählen die Veränderungen des Körpers, die man erreichen kann. Der narzißtisch Strukturierte läßt sich dann wegen seiner Muskeln bewundern. Wer dazu neigt, seine Arbeitstechnik zu perfektionieren, wird das im allgemeinen auch bei den Hobbys tun, die er betreibt. Ein Skilehrer des Dirigenten Karajan, der in seiner Arbeit mit den Orchestern ein Perfek80
tionist war, soll einmal gesagt haben, daß er noch nie einen so ehrgeizigen Schüler hatte wie Karajan. Diese Form des Ehrgeizes sollte der narzißtisch Strukturierte akzeptieren. Es macht ihm Spaß, etwas immer besser zu machen, und warum sollte er das nicht bei einem Hobby tun? Schlechter dran sind solche narzißtisch Strukturierte, die über keine besonderen Talente verfügen und sich für keine Tätigkeit wirklich gut eignen. Allerdings sind Menschen, die in keinem Bereich gut sein können, in der Minderzahl. Für den narzißtisch Strukturierten gilt es herauszufinden, was er gut machen kann. Hier kommt es auch darauf an, mit welchen anderen Strukturanteilen die narzißtische Struktur kombiniert ist. Bei der Kombinationen mit einem zwanghaften Strukturanteil besteht vielleicht eine Tendenz dazu, alles sehr genau zu machen. Ein gewisses Maß an Genauigkeit ist in vielen Berufen gefordert, aber nur so weit, wie Genauigkeit einen funktionalen Sinn hat. So müssen die Schrauben, mit denen ein Rad an einem Auto befestigt wird, mit einem bestimmten Drehmoment angezogen werden. Es schadet aber nichts, wenn das Drehmoment einige Prozent von der Norm abweicht. Die Kontrollen eines Flugzeugs vor dem Start müssen mit der erforderlichen Genauigkeit durchgeführt werden. Eine Genauigkeit, die darüber hinausgeht und nur durch einen höheren Zeitaufwand erreichbar wäre, könnte zu Schwierigkeiten führen. Man stelle sich einen Piloten vor, der eine Stunde länger als vorgesehen braucht, um die Kontrollen durchzufahren, während die Fluggäste auf den Abflug warten. In seiner freien Zeit kann ein narzißtisch-zwanghafter Mensch seine Lust an der Genauigkeit ausleben; er kann alles so genau machen, wie er will, Fotos millimetergenau einkleben, Gebasteltes millimetergenau ausfahren. So kann die Freizeitbeschäftigung es dem narzißtisch Zwanghaften ermöglichen, seine Freude an Perfektion voll auszukosten, während er das in seinem Beruf, wo zweckmäßige Genauigkeit gefragt ist, nicht kann.
13.3 Depressive Struktur Freizeit ist eigentlich Zeit, die von Arbeit frei ist, eine Zeit ohne Anforderungen. In einer so verstandenen Freizeit könnte man nichts tun oder etwas tun, das man gern tut. Mit einer solchen Definition von Freizeit hat aber Zeit, die ein depressiv Strukturierter außerhalb der beruflichen Arbeitszeit verbringt, oft wenig zu tun. In der freien Zeit könnte er sich beruflich fortbilden, könnte den Schreibtisch aufräumen, Privatbriefe schreiben, die er aufgeschoben hat - die Zeit ist nicht wirklich frei. Ein depressiv Strukturierter, der mit freier Zeit konfrontiert wird, erlebt seinen Mangel an Initiative und die Einschränkung seiner Genußfähigkeit. Dieser Mangel an Initiative und Genußfähigkeit bewirkt, daß "Ihm nichts einfällt", wenn er überlegt, was er mit der freien Zeit anfangen soll. Viele Depressive fangen dann an, aufzuräumen, oder sie suchen sonst nach Arbeit. Andere suchen in Kneipen Kontakt. Wieder andere rufen Freunde und Bekannte an, die aber vielleicht schon ausgegangen sind oder etwas anderes vorhaben. Manche betreiben an freien Tagen ein zeitaufwendiges Hobby, um sich beschäftigen zu können. Der Mangel an Initiative und die Tatsache, daß das Hobby oft nicht wirklich interessiert, führen aber dazu, daß aus dem Hobby ein Berg unerledigter Aufgaben wird. Briefmarken werden nicht eingeklebt, Dias nicht geordnet. Ungelesene Bücher, mit denen der depressiv Strukturierte sein Wochenende 81
verbringen wollte, sammeln sich in den Regalen oder häufen sich auf dem Fußboden. Der depressiv Strukturierte sagt sich dann: "Diese Bücher müßte ich alle lesen." Die Bücher, ursprünglich gekauft, weil ein angenehmes Lesen erwartet wurde, werden zur Aufgabe, die Erledigung fordert und ein schlechtes Gewissen macht, wenn sie nicht erledigt wird. Depressiv Strukturierte, denen es - wie schon erwähnt - im Laufe ihrer Entwicklung gelungen ist, einen Teil ihrer Oralität zu sublimieren und in dieser Form dem freien Erleben zugänglich zu machen, können die gekauften Bücher eher genießen. Schon in der Buchhandlung erleben sie: "Das alles könnte ich lesen" während Depressive, deren Oralität in der Gänze blockiert ist, eher erleben: "Das alles müßte ich lesen." Beim depressiv Strukturierten tritt, wie schon im einfahrenden Kapitel dargestellt, das Gewissen als Impulsgeber für die blockierte Initiative ein. Leider hat das aber den Nachteil, daß die Forderungen des Gewissens als ein Zwang empfunden werden, der zu Aktivität antreibt, im Unterschied zu den frei entstehenden Impulsen und Interessen, die an das, was getan werden könnte, mit Freude denken lassen. Was dann getan wird, erzeugt Funktionslust. Sie ist dem Depressiven nicht ganz und gar fremd. Wenn er erst einmal beim Tun ist, kann es ihm in begrenztem Maße Freude machen. Aus dieser Tatsache ergibt sich schon ein Hinweis darauf, wie depressiv Strukturierte ihre freie Zeit besser nutzen könnten. Es hat keinen Zweck, daß sie warten, bis sie auf irgend etwas Lust bekommen. Depressiv Strukturierte kommen mit ihrer Freizeit am besten zurecht, wenn sie sich eine Arbeit vornehmen, die wenig Anfangsinitiative erfordert und bei der man sich zu Beginn nicht überlegen muß, wie sie durchzufahren wäre, also eine vertraute Arbeit, die nur anders sein muß als die Arbeit, mit der sie ihr Brot verdienen. In diesem Unterschied liegt der Erholungswert. Eine andere Möglichkeit besteht darin, daß die Erholung unter einem gesundheitsfördernden, für die Arbeit fit machenden Aspekt gesehen wird. Tatsächlich kann jemand, der sich am Wochenende erholt hat, seine Arbeit in der folgenden Woche meist besser verrichten. Da der depressiv Strukturierte den Lebenszweck überwiegend im Arbeiten für andere sieht, kann er sich der Erholung überlassen, wenn er sich dabei für die Arbeit fit macht. Die Sonne, die auf ihn scheint, erzeugt Vitamin D; der Spaziergang oder die Fahrradtour stärkt den Kreislauf und verbessert dadurch das Allgemeinbefinden; das pure Nichtstun verhilft dem Gehirn dazu, sich zu regenerieren. Auch ein Hobby kann im Hinblick auf den "Ausgleich", den es bringt, betrieben werden. Durch den Streß, den ein schlechtes Gewissen erzeugt, kann es aber zu einem Erschöpfungsgefühl kommen, so daß das Nichtstun zu einer Verminderung der Arbeitsfähigkeit führt.
13.4 Zwanghafte Struktur Da der Zwanghafte über Initiative verfügt, solange seine Ideen, was er tun möchte, in bekannten und geregelten Bahnen verlaufen können, hat er meist keine Probleme, sich auszudenken, was er an den Wochenenden und sonst in seiner freien Zeit unternehmen könnte. Die "Fahrt ins Blaue" liegt ihm nicht. Menschenansammlungen, wo alles durcheinandergeht, meiden Zwanghafte lieber, um sich nicht den Unvorhersehbarkeiten zufälliger Kontakte auszusetzen. Sie besuchen regionale Fußballspiele, wo Ausschreitungen nicht zu befürchten sind, auf dem Fußballplatz alles nach festen Regeln zugeht, Verstöße gegen die Regeln geahndet werden und die Blicke aller auf 82
das Fußballfeld gerichtet sind. Den Ausgang eines Spiels sagen sie voraus und sind irritiert, wenn es anders ausgeht, als sie erwartet haben. Zu Hause lieben sie handwerkliche Tätigkeiten, das Durcharbeiten von Büchern, das Einkleben von Briefmarken, Fotos von Pflanzen, von Landschaften oder von Stilleben. Manche machen sogar Aktaufnahmen von einem Modell, das ihren Anweisungen folgt und die gewünschten Positionen ohne zu "maulen" einnimmt. Oft haben sie eine Vorliebe für Schwarz-Weiß, weil Farben sie irritieren und beunruhigen können und ein Foto mit Informationen überladen. Die Informationen, die sie in sich aufnehmen, möchten sie begrenzen. Darin sind sie den Schizoiden ähnlich, wenngleich aus anderen Gründen. Der Schizoide fühlt sich durch eine Fülle an Details überlastet, der Zwanghafte eher belästigt oder geängstigt. Deshalb fotografiert er auch nicht gern Straßenszenen, wo die Leute die gewünschten Positionen nicht von sich aus einnehmen. Bearbeitet er Bilder am Computer, hat er die Möglichkeit, störende Personen zu entfernen und auch sonst das Bild seinen eigenen Vorstellungen anzupassen. Ansonsten wählt er eben Ausschnitte ohne störendes Beiwerk und kann durchaus ansprechende Bilder erzielen. Sein Tagesablauf an den Wochenenden ist ritualisiert. Er stellt auch an Wochenenden gern den Wecker, weil er nicht "irgendwann" aufwachen möchte, sondern zu einer von ihm vorgeplanten Zeit. Wenn er nicht in der Familie ißt, sofern er eine hat, geht er in ein Restaurant und sitzt nach Möglichkeit immer am gleichen Platz. So stellt für ihn die freie Zeit eigentlich kein Problem dar. Arbeitszeit und Freizeit sind auch klar voneinander getrennt: "Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps." Nur wenn Probleme, die in der Arbeit aufgetreten sind, ihn weiter beschäftigen, wird die Grenzziehung durchbrochen. Von ungelösten Problemen kann er sich oft schwer trennen. Hat er besondere Schwierigkeiten beim Entscheiden, neigt er dazu, seine Entscheidungen noch einmal durchzuspielen und zu prüfen, ob er "richtig" gehandelt hat. Entscheidungen können auch kreative Lösungen erfordern. Situationen, für die man solche Lösungen braucht, beunruhigen und überfordern ihn. Er möchte nach bestimmten Regeln entscheiden. In seinem Urlaub fürchtet er, daß in seinem Betrieb falls er einen hat - alles "drunter und drüber" geht, wenn er die Kontrolle nicht einem Vertreter überlassen konnte, der so entscheiden wird, wie er selbst es getan hätte. Hier unterscheidet er sich vom narzißtisch Strukturierten, der sich prinzipiell für unentbehrlich hält und, wenn eine höhere Managerposition ihm das gestattet, mit dem Betrieb auch im Urlaub in dauernder Verbindung bleibt. In seiner Freizeitgestaltung und in seinem Urlaubsverhalten ist der Zwanghafte wie auch in anderen Dingen schwer zu beeinflussen. Man kann ihm nur empfehlen, daß er die Dinge tut, die er gern tut, auch wenn andere darüber lächeln. Gegen die Tendenz, die Arbeit in der Freizeit in irgendeiner Form fortzusetzen (bei Frauen findet das oft in der Form von Putzen statt), kann es helfen, wenn der Zwanghafte die Grenzen zwischen Freizeit und Beruf verstärkt, indem er dem Prinzip: "Arbeit ist Arbeit, Freizeit ist Freizeit" konsequent folgt. Von der drohenden Frage, ob er immer die richtige Entscheidung getroffen hat, kann er sich im günstigen Falle befreien, wenn er den festen Plan faßt, bestimmte Entscheidungen zu einem festgelegten späteren Zeitpunkt zu überprüfen. 83
13.5 Phobische Struktur Phobisch strukturierte Menschen sind in ihrem Freizeitverhalten oft unauffällig. In einer Gruppe von Freunden können sie weite Reisen unternehmen, Abenteuerurlaube machen, unternehmungslustig wirken. Sie können gern unter Leuten sein, in die Kneipe gehen oder sich sonst unter Bekannte oder Unbekannte mischen, wenn sie nur jemand begleitet. Es gibt Menschen, die in ihrer Freizeit möglichst unabhängig sein möchten. Der phobisch Strukturierte sucht auch in der Freizeit Aktivitäten, die er mit anderen teilen kann, wobei er diese zu steuernden Objekten macht. Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Freizeit treten auf, wenn der phobisch Strukturierte umzieht und noch keinen Freundeskreis hat, aus dem er seine Begleiter rekrutieren könnte. Dann sitzt er abends und am Wochenende oft allein in der Wohnung und kann nichts unternehmen. Das ist übrigens mit ein Grund, weshalb phobisch Strukturierte Umzüge mehr als andere scheuen, zumindest solche, die sie von ihrem Bekannten- und Freundeskreis entfernen. Wenn sie den bisherigen Bekannten- und Freundeskreis verlassen und noch keinen neuen gefunden haben, sitzen sie gleichsam zwischen zwei Stühlen. Dem phobisch Strukturierten ist anzuraten, daß er die Notwendigkeit des Begleiters bei sich erkennt und die Konsequenz daraus zieht, das Rekrutieren von Schutzfiguren konkret zu planen. Manche phobisch Strukturierte fühlen nämlich nur undeutlich, was ihnen fehlt.
13.6 Hysterische Struktur Im Gegensatz zu einem Menschen mit einer Zwangsstruktur plant der hysterisch Strukturierte seine Freizeit nur ungern. Wenn die Freizeit beginnt, geht oder fährt er los. Die Fahrt ins Blaue wird von Menschen mit einer hysterischen Persönlichkeitsstruktur mehr geschätzt als die geplante und vorbereitete Reise. Da es dem hysterisch Strukturierten sehr darauf ankommt, sich als Mann oder als Frau darzustellen, werden im allgemeinen Orte aufgesucht, wo "was los ist", das heißt, wo Menschen zusammentreffen, die sich miteinander vergnügen wollen. Es werden Lokalitäten aufgesucht, wo man tanzen und Kontakte knüpfen kann, die von vornherein erotisch gefärbt sind und in denen ein erotisches Abenteuer möglich ist. Wie schon in dem Einleitungskapitel über die hysterische Struktur erwähnt, kommt es Männern dabei darauf an, eine Frau "abzuschleppen", während es Frauen oft genügen kann, daß man sich für sie interessiert. Eine Frau in auffallender Bekleidung zieht die Blicke mehr auf sich als eine unauffälliger gekleidete. Männer verstehen eine offenherzige oder auffallend bunte Aufmachung oft als Einladung zum Geschlechtsverkehr mit jedem. Das ist ein grobes Mißverständnis. Viele Männer können sich nicht vorstellen, daß der Frau die begehrlichen Blicke schon ausreichen können, um ihre Attraktivität zu bestätigen. Viele Freizeitsportarten, die am Strand betrieben werden, geben Männern und Frauen die Gelegenheit, sich als Frauen oder Männer in Bewegung zu zeigen und bewundernde Blicke auf sich zu ziehen, wobei es wieder offen bleibt, ob sexuelle Kontakte eingeleitet werden sollen oder nicht. 84
Für hysterisch strukturierte Frauen kann es nützlich sein zu wissen, daß Männer ein Verhalten mit erotischer Signalwirkung auch dann als Aufforderung verstehen können, wenn sexuelle Kontakte nicht beabsichtigt sind, und für Männer kann es nützlich sein zu wissen, daß dies nicht zwingend der Fall ist, wenn eine Frau sich erotisch einladend verhält. Gegen "Fahrten ins Blaue" kann man eigentlich wenig haben, zumindest in unseren Breiten, wo diese zwar zu Unannehmlichkeiten führen können, aber selten Gefahren bergen. Immerhin erinnere ich mich an einen hysterisch strukturierten Mann, der im Gebirge in Straßenkleidung einen Berg hinaufstieg, um ein Restaurant zu erreichen, zu dem eine Seilbahn hinführte. Als der Seilbahnbetrieb eingestellt wurde, war er immer noch unterwegs. Er geriet dann in einen Schneesturm und wäre fast umgekommen. Bergwanderungen ohne zweckmäßige Ausrüstung können gefährlich sein, ebenso wie Skifahren außerhalb der Piste in einem lawinengefährdeten Gebiet. Diese Dinge sind den meisten bekannt. Dennoch werden sie oft außer acht gelassen, entweder von narzißtischen Menschen, die fantasieren, es könne ihnen nichts passieren, oder eben von hysterischen Menschen, die einfach losgehen, ohne zu bedenken, worauf sie sich einlassen. Hysterisch strukturierte Menschen sind für ihre Reisebegleiter oft eine Quelle von erheblichem Streß. Sie stehen morgens nicht rechtzeitig auf, verschätzen sich in der Zeit, die sie im Badezimmer und beim Ankleiden brauchen werden, und lassen die anderen warten. Beim Gang durch eine Stadt bleiben sie vor jedem Schaufenster stehen, das sie interessiert, ohne daran zu denken, daß ihre Begleiter andere Interessen haben könnten. Oberhaupt werden sie oft von ihrer Begeisterung fortgerissen und meinen dann, die anderen sollten sich halt bemerkbar machen, wenn es ihnen nicht passe. Hier zeigt sich eine allgemeine Tendenz hysterisch strukturierter Männer und Frauen, ihr eigenes Verhalten nicht zu begrenzen, sondern dies anderen zu überlassen, nach dem Motto: "Ich stelle mich auf seinen Fuß; wenn ihm das nicht paßt, soll er sich melden.". Manche hysterisch Strukturierte, die eine Ideologie der Spontaneität entwickelt haben, fordern dieses begrenzende Verhalten von den Menschen ein, mit denen sie umgehen, und sind überrascht, wenn diese von ihnen fordern, das eigene Verhalten selbst zu begrenzen und dabei auf die Interessen der anderen zu achten. In gewisser Weise ähneln hysterisch Strukturierte hier den phobisch Strukturierten, die an andere Menschen die Steuerung ihrer Triebimpulse delegieren. Der Unterschied zum phobisch Strukturierten ist, daß die Handlungsimpulse beim Hysterischen nicht lediglich andrängen und Angst machen, sondern kritiklos ausgeführt werden. Menschen, die durch die Handlungen beeinträchtigt werden, sind aufgefordert, die Grenzen zu setzen. Mit einer solchen Einstellung können sich hysterisch Strukturierte eine Menge Ärger einhandeln. Bei Ausflügen und insbesondere auch bei längeren Reisen macht sich oft auch mangelnde finanzielle Planung bemerkbar. Das Geld ist verbraucht, ehe die Reisezeit beendet ist. Das Gefühl, frei in den eigenen Entscheidungen zu sein, sich spontanen eigenen Regungen überlassen zu können, wiegt viele Unannehmlichkeiten auf. Es kann aber auch passieren, daß die Relation zwischen Kosten und Nutzen nicht mehr stimmt. Deshalb muß man den hysterisch Strukturierten wohl anraten, auf ein Minimum an Planung nicht zu verzichten. Die Neigung hysterisch Strukturierter zu einem ungesteuert impulsiven Verhalten, das als Spontaneität ideologisiert wird, äußert sich in der Freizeit, bei gemeinsamen Unternehmungen, meist deutlicher als während der Berufsarbeit, wo der oder die hy85
sterisch Strukturierte sich doch meist den Regeln unterwirft, die am Arbeitsplatz gelten. Dort kann man eben doch nicht so, wie man möchte. Anders sieht es dann in der Freizeit aus. Dort möchten sich hysterisch Strukturierte ausleben und den eigenen Impulsen folgen können.
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Kapitel 14
Charakterstruktur und der Umgang mit Kindern Den Umgang mit Kindern beeinflussen viele Faktoren. Erziehungsstile variieren zwischen den Kulturen. Ein Kind wird für die Gesellschaft sozialisiert, in der es als Erwachsener leben soll. Die Erziehungsstile variieren aber auch über die Zeit. So erziehen viele Eltern ihre Kinder für die Gesellschaft, in der sie selbst aufgewachsen sind und von der sie sich wünschen, daß sie heute noch bestünde. Wertvorstellungen in einer Gesellschaft verändern sich. Sie entwickeln sich nicht kontinuierlich in eine bestimmte Richtung, etwa zum Konservativen oder zum Progressiven hin. Oft verläuft die Entwicklung zyklisch; konservative und progressive Wertvorstellungen wechseln einander ab. So kann es sein, daß jemand mit "linken" Wertvorstellungen als konservativ gilt, als "konservativ links". Was gestern revolutionär war, kann heute als veraltet eingestuft werden, wie das bei den "alten 68ern" heute oft geschieht. Insgesamt kann man aber sagen, daß die Erziehungsstile in den letzten fünfzig Jahren liberaler geworden sind. In manchem mag sich die Entwicklung wieder umgekehrt haben, unter dem Strich besteht aber doch eine Fortentwicklung zum freieren Erziehungsstil hin. Wenn sich die gesellschaftlichen Vorstellungen relativ schnell ändern, wie das in den letzten fünfzig Jahren der Fall war, kommt es leicht zu Diskrepanzen zwischen den Erziehungsstilen der Eltern und den Wertvorstellungen in der Peer-Group. Es gibt auch eine scheinliberale Erziehung, die nicht wirklich frei ist, sondern aus Hilflosigkeit resultiert. Was die eigenen Eltern vermittelten, paßt nicht mehr. Man kann heute Eltern-Sein kaum noch von den eigenen Eltern lernen. Wenn Eltern aber nicht gelernt haben, wie es heute "gemacht wird", tun sie vielleicht gar nichts, das heißt, sie lassen die Kinder einfach aufwachsen, statt sie zu erziehen, so daß die Kinder manches nicht lernen, was sie später brauchen könnten, zum Beispiel eine kontinuierliche Beschäftigung mit einem Arbeitsgegenstand über längere Zeit, ein Minimum an Ordnung und ein Minimum an Planung. Auch die Aufgabe, den Kindern eine moralische Orientierung vorzugeben, mit der sie sich auseinandersetzen können, wird oft nicht in Angriff genommen. Natürlich bekommt ein Kind mit, wie die Eltern denken, aber indirekt, unausgesprochen und deshalb unklar. Gesellschaftliche Faktoren wirken auf alle Eltern ein, wobei es Schichtunterschie87
de gibt. Von der Unterschicht wird ja eine andere Sozialisation erwartet als von der oberen Mittelschicht oder der nach oben mobilen oberen Unterschicht und unteren Mittelschicht. Daneben spielt die Charakterstruktur der Eltern eine große Rolle. Sie wirkt sich in der Interaktion mit den Kindern aus und bestimmt auch die Art der Vermittlung gesellschaftlicher Anforderungen an das Kind. Schizoide Eltern leben in ihrer eigenen Welt. Ihre Vorstellungen von einer optimal strukturierten und optimal funktionierenden Gesellschaft weichen oft stark von den gängigen Vorstellungen ab. Zur schizoiden Struktur gehört ja, daß sie sich eher durch Ideen als durch Menschen bestimmen läßt. Schizoiden kommt es darauf an, ob die Ideen ihnen einleuchten, und es interessiert sie wenig, was die Mehrheit der Bevölkerung meint und für richtig hält. Durch die Mehrheitsmeinung fühlen sie sich eher unfrei gemacht als etwa in ihr geborgen. Minderheitenmeinungen ziehen sie an, überhaupt alles, was jemand anders macht als die große Mehrheit der Bevölkerung. So unterscheiden sie sich oft von anderen durch die Inhalte, die sie den Kindern vermitteln wollen, natürlich auch durch die Art der Vermittlung. Da mögen sie "sich nichts sagen lassen". Das bringt sie auch in Konflikte mit Kindergärtnerinnen und Lehrern. Mit den Kindern sind sie sich oft einig, daß die Schule viel Unsinn verzapft und die eingesetzten didaktischen Mittel ungeeignet sind. Da Schizoide sich um Details wenig kümmern, fallen ihre Kinder im Klassenverband auf, wenn es sich bei den Details um die Körperpflege, die Kleidung, die äußere Form der Hausaufgaben handelt. Es gibt schizoide Eltern, die sich mit ihren Kinder eingehend beschäftigen, auf diese Dinge aber nicht achten. Unweigerlich geraten die Kinder dann früher oder später in einen Konflikt nicht nur mit den Lehrern, sonder auch mit den Peers, als sogenannte weiße Raben, die anders sind als die anderen. Haben auch die Kinder selbst eine schizoide Charakterstruktur, wird ihnen die Außenseiterposition vielleicht gefallen. Haben sie eine andere Struktur, etwa eine depressive, weil der eine Elternteil, der die formale Erziehung bestimmt, schizoid ist, und ein anderer, der die Kinder betreut, depressiv strukturiert ist, leiden sie wahrscheinlich unter der Außenseiterposition. In einer Art Oppositionshaltung entwickeln sich die Kinder schizoider Eltern gegen die Schule, die Lehrer und die Klassenkameraden, allerdings oft in eine andere Richtung als die durch ihre schizoiden Eltern gewollte. Dabei ändert sich oft nur der Inhalt des für richtig und wertvoll Gehaltenen; der schizoide, radikale Modus des Umgangs mit Menschen und Sachen wird von gleichfalls schizoid strukturierten Kindern übernommen. Die Kinder gehen dann radikal in eine andere Richtung. Von ihren Erziehungsprinzipien und Erziehungsmethoden sind Schizoide schwer abzubringen. Hinweise auf die äußere Realität ändern wenig, weil Schizoide diese Realität selektiv wahrnehmen. Zu ihren Überzeugungen kommen sie weniger aufgrund von Informationen über das faktisch Gegebene und tatsächlich Mögliche. Eher als bei anderen Menschen kommen ihre Überzeugungen von innen. Mehr als bei anderen Menschen beeinflussen innere Überzeugungen die Wahrnehmung der Außenwelt. Es fällt ihnen leichter, ihre inneren Überzeugungen in der Außenwelt bestätigt zu sehen, weil sie die Außenwelt theoriegeleiteter sehen, als andere das tun. Schizoid Strukturierte sollten sich aber damit konfrontieren, daß ihre Überzeugungen, mögen sie mit der Realität übereinstimmen oder nicht, die Kinder in eine Außenseiterposition bringen. Sie sollten dann entscheiden, ob sie das in Kauf nehmen wollen oder nicht. Einen Konflikt zwischen schizoiden Überzeugungen, die etwas Bewun88
dernswertes haben können, und einer pragmatischen Realitätsbezogenheit stellt das Schauspiel Antigone von Sophokles dar. Antigone ist überzeugt, daß es vor allem darauf ankommt, ihren Bruder zu beerdigen; Kreon argumentiert aus einer pragmatischen Position, die durch die Staatsräson bestimmt wird. Schizoide verachten das Pragmatische. Sie lassen sich durch ihre Überzeugungen leiten, ohne Rücksicht auf Verluste, und das wirkt sich auch in der Erziehung ihrer Kinder aus. So entscheiden sich Schizoide, wenn sie vor die Alternative gestellt sind, ihre Kinder in eine Außenposition zu bringen oder der Realität nachzugeben, oft für ihre innere Überzeugung. Es geht ihnen ja mehr um die Menschheit als um einzelne Menschen. Narzißtisch strukturierte Eltern sehen ihre Kinder oft ganz überwiegend unter dem Aspekt von Prestigegewinn. Es ist gesund und zweckmäßig, daß Eltern sich an ihren Kindern freuen und stolz über die Entwicklungsfortschritte der Kinder berichten. Das eigene Baby ist das schönste der Welt, auch wenn es andere Menschen nicht entzückender finden als viele andere Babys. Narzißtisch strukturierte Eltern sind aber nicht unzweideutig stolz auf ihre Kinder. Man hat oft den Eindruck, daß sie das Aussehen und die Entwicklungsschritte der Kinder übertreiben müssen, weil sie gierig nach Bestätigung von außen sind. Kinder solcher Eltern werden auch oft dazu gedrängt, Dinge zu lernen, an denen sie kein Interesse haben. Nicht alle Kinder wollen ein Instrument spielen, nicht alle Mädchen wollen am Ballettunterricht teilnehmen, und nicht alle Jungen zieht es in den Sportverein. Die Interessen des Kindes werden bei der Planung ihrer Freizeit vernachlässigt. So werden Kinder zum Ballettunterricht, zum Musikunterricht, dann vielleicht zum Reiten gekarrt, die lieber lesen würden. Lesen ist eine unspektakuläre Tätigkeit. Allerdings kann auch reichliches Lesen das Ansehen der Eltern mehren, die dann berichten, daß ihr Kind viel, schnell und gute Literatur liest. Die gleiche Problematik findet man, wenn es darum geht, den Schultyp auszusuchen. Freilich sind Kinder nicht in der Lage, allein zu entscheiden, welcher Schultyp für sie der beste wäre. So kann es vorkommen, daß das Kind nur deshalb auf eine bestimmte Schule möchte, weil der Freund oder die Freundin dorthin geht. Die Entscheidung für einen Schultyp kann aber nur zweckmäßig sein, wenn sie die Anlagen des Kindes berücksichtigt. Es werden manche Kinder aufs Gymnasium geschickt, die dort schlecht zurechtkommen und dann mit Nachhilfeunterricht bis zum Abitur geschleppt werden. Anschließend müssen sie natürlich auch studieren, und zwar auch wieder ein Fach, das Ansehen genießt. Ich habe Patientinnen und Patienten erlebt, die von den Eltern durchs Gymnasium gedrückt und zu einem Studium gedrängt wurden, die im Studium versagten und einen praktischen Beruf ergriffen, in dem sie viel zufriedener waren, als sie in einem akademischen Beruf hätten sein können. Freilich ist es bei solchen Männern und Frauen oft ein Problem, daß sie den Auftrag der Eltern nicht erfüllen und sich das vorwerfen. Sie haben ihren Eltern "Schande gemacht", auch wenn es eher die Eltern sind, die sich schämen sollten, weil sie das Kind auf einen Weg gebracht hatten, der ihm nicht entsprach. Narzißtisch strukturierte Eltern sollten sich darüber im klaren sein, daß beruflicher Erfolg nur dann erreicht wird, wenn die berufliche Tätigkeit der Begabung entspricht und daß es auch zufriedene Handwerker gibt. Kinder narzißtisch strukturierter Eltern haben oft große Schwierigketten damit, den Eltern einzugestehen, daß eine Schulnote nicht so gut ausgefallen ist, wie sie es 89
erwarteten. Solche Kinder müssen in jeder Situation die strahlenden Sieger sein. Das macht sich dann auch im Erwachsenenleben bemerkbar, wo es ihnen schwerfällt, Fehler oder Schwächen oder Mißerfolge zuzugeben, auch wenn man ihnen das gar nicht übel nehmen würde. Das führt dazu, daß sie in schwierigen Situationen wenig unterstützt werden, weil jeder glaubt, daß sie schon allein zurechtkommen und alles schaffen werden. Narzißtisch strukturierten Eltern ist deshalb anzuraten, Fehler und Leistungsschwächen als einer normalen Entwicklung zugehörig zu begreifen und die Kinder in solchen Situationen zu stützen, statt ihnen zu vermitteln, daß ein Kind mit Fehlern und Schwächen "nicht ihr Kind ist". Depressiv strukturierte Eltern beziehen eine Befriedigung daraus, sich für ihre Kinder anzustrengen. Wenn sie imstande sind, durch den Einsatz des Abwehrmechanismus "altruistische Abtretung" das Wohlergehen der Kinder mitzugenießen, verwöhnen sie diese. Wenn sie materielles Wohlergehen nicht für wichtig halten, weil sie es selbst nicht genießen können, werden die Kinder frugal erzogen. Wenn depressiv strukturierte Eltern sagen, den Kindern solle es einmal besser gehen als ihnen, meinen sie damit, daß es ihnen materiell an nichts fehlen soll (während aufstiegsorientierte Eltern oft meinen, daß sie mehr Geltung erlangen sollen). Den Kindern wird im übrigen die Vorstellung vermittelt, daß sie sich für andere einsetzen und sich selbst nicht so wichtig nehmen sollen. Probleme gibt es, wenn die Kinder sich verselbständigen und dann weniger abhängig von den Eltern sind. Daß depressiv strukturierte Eltern schwer "loslassen" können, macht sich auf allen Entwicklungsstufen der Kinder bemerkbar. So kann man von depressiv strukturierten Eltern hören, es sei doch schade, daß die Kinder so schnell groß werden, und das schon beim Übergang vom Säuglings ins Kleinkindalter, beim Eintritt in den Kindergarten oder in die Schule. Am schlimmsten wird es für depressiv strukturierte Eltern, wenn die Kinder aus dem Haus gehen. Sie versuchen oft unbewußt, ihre Kinder festzuhalten, auch wenn sie sich bewußt darüber beklagen, daß die Kinder noch von ihnen abhängig sind. Zwischen depressiv strukturierten Eltern und den erwachsenen Kindern kommt es oft zu Konflikten um die Besuche im Elternhaus. Die depressiv strukturierten Eltern möchten, daß die Kinder häufig zu Besuch kommen und lange bleiben. Ist das nicht möglich, erwarten sie lange Telefonate. Wenn diese Wünsche in einer zwingenden Form vorgetragen werden, ruft das den Widerstand der Kinder hervor, die dann nicht gern kommen, so daß die Kontakte zwischen Kindern und Eltern kürzer und weniger erfreulich sind, als sie sonst wären. Depressiv strukturierte Eltern sollten sich vor Augen halten, daß ihre Tendenz, Kinder festzuhalten, oft das Gegenteil von dem bewirkt, was es bewirken soll. Für diese Eltern ist auch wichtig, sich klarzumachen, daß sie ihren Kindern schaden, wenn sie verhindern, daß die selbstständig werden. Für solche Eltern klingt es paradox, wenn man ihnen sagt, daß man sich doch am Selbstständigwerden der Kinder freuen kann. Schwierig wird es, wenn die Tendenz zum Festhalten unbewußt bleibt, während bewußt vernünftige Erziehungsprinzipien vertreten werden, die auf ein Selbständigwerden der Kinder abzielen. Die Signale, die das Selbständigwerden verhindern sollen, werden dann unbewußt motiviert und auch unbemerkt ausgesandt. Solche Eltern reagieren entrüstet, wenn man ihnen sagt, daß sie die Kinder unselbständig halten. Sie wollen ja das Gegenteil. Sie übertreiben sogar die Aufforderungen, doch selbstständig zu werden, weil sie eine gegenteilige Tendenz in sich selbst niederhalten müssen. Das 90
Unbewußte setzt sich so indirekt durch, weil die in bezug auf die erwartete Selbständigkeit überforderten Kinder erst recht unselbständig bleiben. Hier ist es manchmal nötig, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn es zu Schwierigkeiten mit den Kindern kommt, etwa in Form einer Kindertherapie unter Einbeziehung der Eltern. Zwanghaft strukturierte Eltern werden durch ein ungesteuertes kindliches Verhalten beunruhigt, das sie als chaotisch empfinden. Nun ist Selbststeuerung eine Fähigkeit, die im Laufe der Entwicklung erst dann gelernt werden kann, wenn sich die biologischen Voraussetzungen dafür entwickelt haben. Sich unter kompromißhafter Berücksichtigung eigener Wünsche und realer äußerer Gegebenheiten selbst zu steuern ist erst mit Abschluß der Adoleszenz, also nach dem 23. Lebensjahr, voll möglich. Lange vorher, bereits in den ersten Lebensjahren, ist aber Dressur möglich, die ja auch bei Tieren funktioniert. Kinder können dressiert werden, ein bestimmtes, erwartetes Verhalten zu zeigen. Ein bekanntes Beispiel ist die Sauberkeitserziehung, die schon im zweiten Lebensjahr möglich ist und von manchen Eltern bereits gegen Ende des ersten Lebensjahres versucht wird. Spielt Dressur in der Kindererziehung früh und lange eine große Rolle, wird das andressierte Verhalten oft vom Gewissen gestützt. Das Kind fühlt sich schuldig, wenn es sich nicht so verhalten hat, wie es sollte. Ein selbstgesteuertes Verhalten richtet sich nach Zweckmäßigkeit und nach den allgemeinen Regeln der Fairneß, die befolgt werden, weil man sie als berechtigt erkennt oder zu erkennen glaubt. Was Philosophen als ethisch vertretbares Verhalten fordern, ist immer ein ichgesteuertes Verhalten. Man verhält sich nach ethischen Prinzipien, die man eingesehen hat. Ein ichgesteuertes Verhalten ist auch flexibler als ein Verhalten, das durch das Gewissen gesteuert wird. Es kann verschiedenen Umwelten zweckmäßig angepaßt werden. Ein andressiertes Verhalten ist starr oder rigide. Dressur trägt zum Entstehen einer zwanghaften Struktur bei. Zwanghafte Menschen möchten ihr eigenes wertgeschätztes Verhalten, zum Beispiel fleißig zu sein, im Ausland starr verwirklicht sehen. Sie verstehen es nicht, wenn die Verhältnisse dort anders sind. So kann ein Zwanghafter die Siesta, den Mittagsschlaf während der heißesten Zeit des Tages, als Zeichen von Faulheit ansehen, obwohl es sich um eine zweckmäßige Anpassung an die klimatischen Verhältnisse handelt und es unvernünftig wäre, gerade während der heißen Mittagszeit zu arbeiten. Zwar können zwanghafte Eltern das Kind anhalten, nach vernünftigen Grundsätzen zu leben, aber die Dressur hat schon eingesetzt, ehe dem Kind ein rationales Verhalten möglich ist, und so bilden Ergebnisse der Dressur die Basis der Verhaltensregulation dieser Kinder. Weil zwanghafte Menschen große Schwierigkeiten haben, Verhaltensalternativen als gleichberechtigt anzusehen, kommt das Kind zwanghafter Eltern regelmäßig in Konflikt mit der Peer-Gruppe, die zumeist andere Verhaltensregeln vertritt. Zwanghafte Kinder sind oft brave Kinder, so daß es mit den Lehrern wenig Konflikte gibt, wenn die Rebellion der Kinder ganz unterdrückt wurde. Allerdings kann sie sich dann auch noch indirekt, etwa durch Fehlleistungen im Sinne von Aufgaben-Vergessen, durch Bummeln und Trödeln bemerkbar machen. Zwanghafte Eltern sozialisieren ihre Kinder nicht für Teamarbeit. Mit Teamarbeit ist hier eine Arbeitsform gemeint, deren Arbeitsteiligkeit nicht auf einer starren Hierarchie oder einem strengen Befolgen von Arbeitsplatzbeschreibungen beruht, sondern in einem zweckmäßigen Zusammenwirken verschiedener Menschen mit unterschied91
lichen Kompetenzen und festgelegten, aber doch flexiblen Zuständigkeiten ausgeführt wird. Durch zwanghafte Eltern sozialisierte Kinder fühlen sich in Hierarchien wohl. Ist ihre Eigenständigkeit so weit reduziert, daß ihnen nichts Kreatives einfallen darf, weil Neues Unruhe und Unordnung bringen könnte, bleiben die Kinder unter ihren anlagebedingten Möglichkeiten. Für zwanghafte Eltern ist das aber weniger wichtig als das Befolgen moralischer Prinzipien. Sie wollen ihre Kinder zu "anständigen Menschen" erziehen. Man wird an den Spruch Schillers erinnert: "Mut zeiget auch der Mameluck, Gehorsam ist des Christen Schmuck." Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein gab es einen großen Bedarf an Menschen, die gehorsam ihre Arbeit verrichteten. Den Bedarf wird es in den unteren Chargen eines Betriebs immer geben, aber selbst dort, und mehr noch auf den mittleren und höheren Hierarchieebenen werden Eigeninitiative und Flexibilität immer mehr gefragt, weil sich Produkte, Arbeitsmethoden und Arbeitsbedingungen immer rascher ändern. Von zwanghaften Eltern erzogene Kinder können solchen Anforderungen schwer gerecht werden. Während bei Depressiven Eigeninitiative blockiert ist, ist bei Zwanghaften Eigeninitiative nicht blockiert, aber auf ganz bestimmte, vorgegebene Bereiche eingeschränkt. Der Zwanghafte fühlt den Wunsch, tätig zu werden nur, wenn er das auf vorgegebenen Wegen oder Geleisen tun kann. Insgesamt läßt sich sagen, daß eine zwanghafte Sozialisation die Lebensmöglichkeiten der Kinder einschränken und den beruflichen Erfolg verhindern kann. Andererseits sind Sekundärtugenden wie Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Loyalität auch heute noch wichtig. Sie durften aber nicht zum Lebenszweck werden. Eine zwanghafte Erziehung macht Sekundärtugenden zu Primärtugenden, und das ist unzweckmäßig. Zwanghaften Eltern sollte man nicht raten, ihre Ausrichtung nach starren oder "festen" Prinzipien aufzugeben. Dazu sind sie in der Regel nicht imstande. Man kann ihnen aber raten, bei der Erziehung ihrer Kinder ein vernünftiges Maß an Flexibilität einzuplanen und zu bedenken, daß Flexibilität im Sinne einer zweckmäßigen Anpassung an wechselnde reale Situationen von Eltern an die Kinder vermittelt werden kann. So mag es in der Regel zweckmäßig sein, daß ein Kind seine Hausaufgaben macht und lernt. Es gibt aber Situationen, wo es zweckmäßiger ist, daß es diese Dinge vernachlässigt, um Erfahrungen zu machen, die seinen Horizont erweitern, zum Beispiel eine Reise zusammen mit Freunden. Es kann auch zweckmäßig sein, daß das Kind nicht nur liest, was ihm im Gymnasium aufgegeben wird, sondern auch das, was es sonst noch interessiert. Erziehungsprinzipien können nicht einfach übernommen werden. Es ist wichtig, ja notwendig, daß die Eltern hinter den Erziehungsprinzipien stehen, die sie anwenden. Man wird zwanghaft strukturierte Eltern schwer davon überzeugen, daß Unvernunft sich als vernünftig herausstellen kann. Was sie verstehen können, ist ein weiter gefaßter Begriff von Vernünftigsein und vernünftig handeln. Vernunft umfaßt dann auch ein gewisses Maß von Anpassung an die äußere Realität. Vielleicht gelingt es den Eltern auch zu akzeptieren, daß Freiheit des Handelns nicht im Chaos enden muß, sondern daß sie einen abgegrenzten Platz haben kann. Ein gutes Beispiel ist, meine ich, der Karneval oder Fasching: Man verhält sich närrisch während einer bestimmten Zeit, und am Aschermittwoch ist alles vorbei. Auch die Maxime: "Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps" ermöglicht es immerhin, daß auch dem Schnaps ein Raum zugewiesen wird. 92
Phobisch strukturierte Eltern haben, ebenso wie zwanghaft strukturierte Eltern, Angst vor einem willkürlichen Verhalten; nicht, weil es zu einem Chaos führen könnte, sondern weil dieses Verhalten als sozial inakzeptabel abgelehnt und zurückgewiesen werden könnte; diese Ablehnung und Zurückweisung würde sich darin auf die ganze Person beziehen. Der Zwanghafte bekämpft sein inneres unbewußtes Chaos, indem er äußeres Chaos anderer bekämpft, auf das er sein inneres, unterdrücktes Chaos projiziert. Der phobisch Strukturierte hat Angst vor dem eigenen willkürlichen Verhalten und vermeidet deshalb Situationen, wo er sich willkürlich verhalten könnte. Ein zweiter Faktor beim Entstehen einer phobischen Persönlichkeitsstruktur besteht in einer allgemeinen Ängstlichkeit, die oft von den eigenen Eltern übernommen und dann an die Kinder weitergegeben wird. Phobisch strukturierte Eltern haben Angst, daß dem Kind etwas zustoßen könnte oder daß es etwas kaputt machen könnte. Das Leben ist für sie eine gefährliche Angelegenheit. Nun sagt ja Erich Kästner mit Recht: "Leben ist immer lebensgefährlich". Phobisch strukturierte Eltern sehen im Leben aber vorwiegend das Gefährliche. Ihren Kindern vermitteln sie, daß auf Schritt und Tritt Gefahren lauern. Sie halten die Kinder fest, weil ihnen sonst etwas passieren könnte. Es ist eine andere Art des Festhaltens, als man es bei depressiv strukturierten Eltern findet. Depressiv strukturierte Eltern halten die Kinder fest, um nicht allein zu sein. Allerdings kommt es auch bei phobisch strukturierten Eltern vor, daß sie Kinder festhalten, weil sie diese brauchen, nämlich dann, wenn die Kinder für sie steuerndes Objekt oder Schutzfigur sind. Im einfahrenden Kapitel zur phobischen Persönlichkeitsstruktur habe ich dargelegt, daß auch Kinder Schutzfiguren sein können: am Beispiel des Vaters, der sein Kind, das einen angebotenen Herzfehler hatte, mit sich herumtrug. Alleinstehende Mütter oder Väter haben oft niemand als die Kinder, der sie begleiten könnte. Haben Kinder diese Funktion, reagiert die allein lebende Mutter oder der allein lebende Vater mit Angst, wenn das Kind beginnt, eigene Wege zu gehen. Ähnlich wie es auch bei der Zwangsstruktur der Fall ist, wird die phobische Struktur besonders häufig durch Eltern vermittelt, die eine ebensolche Struktur haben, während bei der Entstehung der schizoiden, der narzißtischen und der depressiven Struktur eine durch die Lebensverhältnisse der Eltern bedingte Vernachlässigung der Kinder oft eine große Rolle spielt. Zur Entwicklung einer phobischen Struktur bei den Kindern kann es auch kommen, wenn die Eltern ein Kind nach dessen Geburt verloren haben, etwa durch einen Unfall oder durch eine Infektionskrankheit. Ein solches Ereignis führt den Eltern vor Augen, daß ein Kind tatsächlich ums Leben kommen kann, mit der Konsequenz, daß sie ängstlich bemüht sind, Gefährdendes von den Kindern fernzuhalten. Das wirkt sich am stärksten bei dem Kind aus, das als nächstes geboren wurde und das verstorbene Kind oft ersetzen soll. Hysterisch strukturierte Eltern halten es im Unterschied zu den zwanghaft und phobisch strukturierten Eltern gerade für wichtig, daß ein Mensch sich spontan verhält. Diese Bewertung geht auch in den Erziehungsstil mit ein. Im Umgang mit den Kindern lassen hysterisch strukturierte Eltern oft Vorhersehbarkeit und Konstanz vermissen, ihr Verhalten ist eher von Emotionen abhängig als bei anderen Menschen. Bei ihren Kindern bewirken sie oft eine Entwicklung zum Gegenteil hin. Kinder von hysterisch strukturierten Eltern suchen die Voraussehbarkeit, Verläßlichkeit und Konstanz, die sie im Elternhaus vermißt haben, in der Schule oder im Freundeskreis, wo sie sie aber nicht immer finden. Da die Geschlechtsmerkmale hoch bewertet werden, möchten hysterisch struktu93
rierte Eltern, daß ihr Kind stark und sozial erfolgreich wird, ohne die dazu notwendigen Sekundärtugenden zu vermitteln, zum Beispiel Durchhaltevermögen, die Fähigkeit, bei einer Sache zu bleiben, auch wenn das mit Routine und Langeweile verbunden ist. Wie ein hysterisch strukturierter Mann seinen Sohn dazu bringen kann, daß er im Beruf scheitert, zeigt Arthur Miller in seinem Stück Tod eines Handlungsreisenden. Am Beruf des Handlungsreisenden gefiel der Hauptfigur, daß man mit wenig Aufwand - mit einigen Telefonaten - viel Geld verdienen kann. Seinem Sohn vermittelt der Handlungsreisende, daß es nicht so wichtig sei, zu arbeiten; Glück und Geschick reichten aus. In dem gleichen Stück wird kurz der Sohn eines Nachbarn gezeigt, der ein Jurastudium abgeschlossen hat, als ein Gegenstück zu dem mißratenen Sohn. Es gibt aber auch hysterisch Strukturierte, die sich ihrer Umwelt insofern anpassen, als sie die Ideale übernehmen möchten, die als Sekundärtugenden bezeichnet werden, wie eben auch Verläßlichkeit und Durchhaltevermögen. Manche erkennen den Wert dieser Sekundärtugenden widerstrebend und spät an, jedenfalls zu einem Zeitpunkt, wo es ihnen selbst nichts mehr nützt. Sie raten dann vielleicht den Kindern, sie sollten versuchen, es nicht so falsch zu machen wie der Vater oder die Mutter. Manche Kinder halten allerdings die Lebensweise der Eltern für anziehend und übernehmen sie. Neben dem im einfahrenden Kapitel über die hysterische Struktur beschriebenen ödipalen Triumph ist eine solche direkte Übernahme von Lebensformen und Verhaltensweisen der zweite wichtige Weg, auf dem es zu einer Entwicklung hysterischer Lebensformen bei den Kindern kommen kann, die sich im Berufsleben ungünstig auswirken. Als die klassische Form der Partnerbeziehung noch die verbreitetste war, waren Schwierigkeiten im Beruf in erster Linie bei den Söhnen auszumachen. Ein chaotischer Haushalt wurde meist eher toleriert als ein Versagen des Mannes im Beruf. Außerdem war Hauspersonal leichter zu finden und billiger als heute, so daß die Mängel einer Hausfrau durch Fremdhilfe ausgeglichen werden konnten. Mangelnde Kompetenz im Beruf war nicht so leicht auszugleichen; vor allem verhindert sie einen Aufstieg in Positionen, wo man Mitarbeiter damit beauftragen kann, eigene Mängel auszugleichen. Hysterisch strukturierten Eltern wäre anzuraten, zu überprüfen, wie weit ihre Vorstellungen bezüglich der Voraussetzungen beruflichen Erfolgs mit der Realität übereinstimmen und was sie tun könnten, um ihren Kindern mehr Konstanz und Zuverlässigkeit vorzuleben. Oft geschieht es ja, daß die Eltern, wenn sie meinen, nun sei genug Spontaneität praktiziert worden, plötzlich die Zügel anziehen und von den Kindern Sekundärtugenden verlangen, die diese von den Eltern nicht kennen. Ein solcher Wechsel zwischen Extremen von Spontaneität und Kontrolle verunsichert die Kinder, die schon durch das schwer vorhersehbare Verhalten der Eltern verunsichert sind, noch mehr.
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Kapitel 15
Kombinationen der verschiedenen Charakterstrukturen Wie schon im Vorwort erwähnt, können sich die in diesem Buch idealtypisch beschriebenen Persönlichkeitsstrukturen kombinieren. Man kann sagen, daß die schizoide Struktur eine jede andere Struktur radikalisiert. Ein depressiv Strukturierter mit schizoiden Persönlichkeitsanteilen wirkt deutlicher gierig, seine Ansprüche an die Menschen in seiner Umgebung sind stärker; gelebte Bedürfnislosigkeit ist stärker ideologisiert. Zwanghafte mit einer schizoiden Struktur wirken in ihren Prinzipien radikaler als andere Zwanghafte, auch rechthaberischer. Sie neigen zu radikalen Maximen. Der Spruch: "Fiat Justitia, er pereat mundus" (Gerechtigkeit geschehe, und wenn die Welt untergeht) könnte von einem schizoid-zwanghaften Menschen stammen. Die Kombination mit einer phobischen Struktur verstärkt das Vermeldungsverhalten, das bei diesen Menschen aus zwei Quellen gespeist wird: aus einer schizoiden Kontaktscheu und aus dem phobischen Vermeiden von Situationen, die Willkürimpulse wecken könnten. Die schizoid-hysterische Struktur wirkt sexualisierter als andere hysterische Strukturen, Sexualität gewinnt hier einen absoluten Wert, auch wenn sie nicht eigentlich genossen werden kann. Menschen mit einer depressiven Struktur mit narzißtischen Anteilen ziehen einen narzißtischen Gewinn aus ihrer Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit und ihrer aufopfernden Tätigkeit für andere. Sich selbst werten sie ab, doch ziehen sie aus der Abwertung insgeheim auch wieder Gewinn. Depressive Strukturanteile mildern andere, später entstehende Strukturen ab. Ein Zwanghafter mit depressiven Anteilen wirkt meist nicht so rechthaberisch, wie viele andere Zwanghafte das tun, Depressiv-Zwanghafte stellen ihre Prinzipien weniger über die Beziehung. Menschen mit einer depressiv-phobischen Struktur neigen mehr als andere mit einer phobischen Struktur zum Klammern. Ihre Tendenz zu klammern speist sich aus zwei Quellen: aus der Notwendigkeit eines Schutzobjekts und aus der existentiellen Notwendigkeit des anderen, weil nur der andere dem Depressiven seine materielle und emotionale Existenz sichert. Für den Depressiven sind Menschen ja nicht nur weniger ersetzbar als für den narzißtischen Menschen, sie sind eigentlich nicht ersetzbar. Die depressiv-hysterische Struktur wirkt weniger hysterisch, weniger auf Bestä95
tigung der Geschlechtseigenschaften ausgerichtet, den anderen eher als ganzen Menschen sehend. Die depressiv-hysterische Struktur findet man übrigens häufig bei guten Schauspielern. Die zwanghafte Struktur macht alle anderen Strukturen konservativer und auch stabiler. Sie macht den Schizoiden konstanter, weniger begeisterungsfähig für abstruse Ideologien, im ganzen realitätsbezogener, und insofern weniger radikal. Den Narzißtischen macht sie machtbewußter, wobei der Wunsch nach Macht sich aus zwei Quellen speist: aus dem narzißtischen Wunsch, andere für sich und für die eigenen Zwecke einzusetzen, und dem zwanghaften Wunsch "oben" zu sein, Macht um ihrer selbst willen auszuüben. Mit der phobischen Struktur kombiniert sich die Zwangsstruktur häufig, beide entstehen ja auch zur gleichen Zeit, bei beiden geht es um den Umgang mit Willkür. Zwanghaft-Phobische haben Probleme mit ihren Schutzfiguren, da sie ja "oben" sein möchten, während sich als Schutzfiguren meist Menschen zur Verfügung stellen, die dominieren wollen. So kommt es zu Machtkämpfen, in denen der Zwanghaft-Phobische schlechte Karten hat, weil er die Schutzfigur nötig braucht und insofern von ihr abhängig ist. Bei der phobisch-hysterischen Struktur gibt es analoge Probleme, wenn eine mit dem Vater identifizierte phallisch-narzißtische Frau ihren Partner als Schutzfigur braucht. Bei der phobisch-zwanghaften Struktur geht es um einen Wunsch zu dominieren, bei der phobisch-hysterischen Struktur um den Wunsch, der Stärkere zu sein; nicht um Macht auszuüben, sondern weil Stärke mit dem männlichen Teil der Identität verbunden wird und Schwäche diese Identität in Frage stellt. Phobisch-hysterische Männer vom phallisch-narzißtischen Typ bleiben länger in Beziehungen als andere phallischnarzißtische Männer, weil sie die Partnerin als Schutzfigur brauchen. Das führt zu Problemen, weil eine Beziehung aufrechterhalten wird, nachdem die Frau ihre Anziehungskraft für den phallisch-narzißtischen Mann längst verloren hat, der phallischnarzißtische Mann ihr das oft vorwirft, sie aber auch nicht gehen lassen kann. Am besten kommen wohl noch die phobisch-hysterischen Männer und Frauen vom charmanten Typ zurecht; bei ihnen lassen sich die Funktionen des Partners als Schutzfigur und der Wunsch, durch ihn bestätigt zu werden, am besten vereinen. Bei Marlene Dietrich waren wie die Biographie von Donald Spoto (2000) dokumentiert verschiedene Strukturanteile in einer Persönlichkeit kombiniert. Wie sich das auswirken kann, will ihrem Beispiel kurz zeigen. Sie hatte intensive Liebesbeziehungen, fast alle mit begabten Männern und Frauen, die prominent waren oder versprachen es zu werden, mit Schauspielern und Schauspielerinnen, Schriftstellern, einem General. Die Beziehungen waren heftig, die Partner waren aber rasch durch andere ersetzbar. Marlene Dietrich war auf Beifall und Bewunderung angewiesen. So berichtet der Biograph davon, daß Marlene Dietrich Gästen eine Schallplatte vorspielte, auf der sich nur Aufnahmen des Beifalls bei ihren Bühnenauftritten befanden. Das ist sicher ein deutliches Beispiel für die Vorlieben narzißtisch strukturierter Menschen. Für einen hysterischen Strukturanteil spricht, daß es ihr sehr um die Bewunderung ihrer Geschlechtseigenschaften ging und sie sich in eine selbstgewählte Einsamkeit zurückzog, als sie nicht mehr bewundert werden konnte. Für eine ödipale Problematik spricht, daß ihre konstantesten Beziehungen die mit Männern waren, mit denen sie nie oder nur sehr kurz sexuelle Beziehungen gehabt hatte (Hemingway; ihr Ehemann). Für einen zwanghaften Strukturanteil spricht, daß sie als pflichtbewußt und zuverlässig galt, daß sie sich in ihrer Arbeit entweder bedingungslos unterordnete (unter den Regisseur Sternberg) oder, in der späteren Zusammenarbeit mit anderen Regisseuren, die 96
Arbeitssituation völlig unter ihre Kontrolle bringen wollte. Eine Zusammenarbeit auf einer kollegialen, im wesentlichen gleichen Ebene scheint sie nicht gekannt zu haben. Auch ihre Tendenz, überall, wo sie hinkam und es schmutzig war, aufzuräumen und zu putzen, könnte auf einen zwanghaften Strukturanteil schließen lassen. Marlene Dietrich war eine hochbegabte und intelligente Frau, die nicht nur aus ihrer Begabung, sondern auch aus ihren Strukturanteilen viel Positives machte. Ihr Angewiesensein auf Bewunderung brachte sie dazu, ihre Arbeit zu optimieren, so daß sie mit Recht bewundert wurde. Die Fähigkeit, ihre körperlichen Vorzüge perfekt darzustellen und einzusetzen, hatte einen großen Anteil an ihrem beruflichen Erfolg. Solange sie für Männer attraktiv blieb, was ihr anscheinend bis in ein Lebensalter gelang, wo viele Frauen es nicht mehr sind, konnte sie Männer für sich gewinnen, nicht nur als Publikum, sondern auch in persönlichen Beziehungen, denen aber immer etwas fehlte, was der Biograph als "Tiefe" bezeichnet. Ihre Fähigkeit zur Unterordnung, am deutlichsten unter ihrem Entdecker und ersten Filmregisseur Sternberg, ermöglichte ihr, rasch zu lernen. In dieser Unten-Oben-Beziehung konnte sie vieles von Sternbergs Kompetenz in sich aufnehmen. Als sie später mit anderen Regisseuren arbeitete, wandte sie immer noch an, was sie von Sternberg gelernt hatte. Ihre Zuverlässigkeit trug zu ihrem beruflichen Erfolg wesentlich bei. Auch wenn es in ihrer Karriere nicht nur Höhen, sondern auch Tiefen gegeben hat, ist sie doch nie an einem Mangel an Zuverlässigkeit gescheitert, wie etwa Marilyn Monroe. Ein depressiver Strukturanteil scheint wenig ausgebildet gewesen zu sein. Ihr Einsatz für verwundete Soldaten im Zweiten Weltkrieg könnte dafür sprechen, dagegen spricht ihre Bemerkung, eine Frau könne einen einzelnen Mann nicht glücklich machen, sie aber habe viele Männer glücklich gemacht (Männer, die sie im Lazarett besuchte und küßte). Für einen schizoiden Anteil spricht ebenfalls wenig. Marlene Dietrich war nie kontaktgestört, sie suchte Kontakte und konnte viel Kontakt mit Menschen aushalten. In ihren Ansichten wirkte sie oft hysterisch-impulsiv, dabei kaum unrealistisch-radikal. Gegen schizoide Anteile spricht auch, daß sie anscheinend über etwas verfügte, das man als "gesunden Menschenverstand" bezeichnen kann. Sie war einerseits exzentrisch, andererseits aber auch lebenspraktisch. Wie bei vielen narzißtisch Strukturierten kam die Dekompensation im Alter. Sie blieb berühmt, war aber nicht mehr in aller Munde, und vor allem konnte sie Bewunderung für ihre äußere Erscheinung nicht mehr im früheren Maß erwarten. Unmittelbare Bewunderung, wie sie sich im Beifall ausdrückt, war ihr unzugänglich geworden. Neben Erfolgen hatte Marlene Dietrich in ihrem Leben viele Mißerfolge, so waren viele ihrer Beziehungen Fehlschläge, und sie wurde von Männern und Frauen auch verlassen. Das Scheitern als Bewältigung des Alters war ihr größter persönlicher Mißerfolg, der das, was sie geleistet hat, nicht aufhebt und auch nicht ungeschehen machen kann, daß sie in vielfacher Hinsicht ein reiches Leben hatte.
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Kapitel 16
Schlußbemerkung Dieses Buch soll zur Auseinandersetzung mit der eigenen Charakterstruktur anregen. Wenn Sie probiert haben, den Hinweisen zu folgen, die ich in den einzelnen Kapiteln und Abschnitten gegeben habe, werden Sie mit dem Ergebnis zufrieden oder unzufrieden sein. Wenn Sie zufrieden sind, soll mich das freuen. Wenn Sie nicht zufrieden sind, rate ich, eventuell psychoanalytisch orientierte Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wenn mein Buch Sie dazu motiviert hat, wird mich das freuen.
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Literatur Adorno, T. W. (1995): Studien zum autoritären Charakter. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Freud, S. (1999): Die endliche und die unendliche Analyse. G.W. XVI. S. Fischer, Frankfurt a. M., S. 99 ff. Hoffmann, S. O.; Hochapfel, G. (1999): Neurosenlehre. Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin. Schattauer, Stuttgart/New York. König, K. (1981): Angst und Persönlichkeit. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (6. Aufl. 2000). König, K. (1992): Meine psychoanalytische Charakterkunde. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (5. Aufl. 1999). Norwood, R. (1986): Wenn Frauen zu sehr lieben. Die heimliche Sucht, gebraucht zu werden. Rowohlt, Reinbek. Riemann, F. (1961): Grundformen der Angst. Reinhardt, München. Smith, D. (1999): Approaching Psychoanalysis. Karnac Books, London. Spoto, D. (1992): Marlene Dietrich. Wilhelni Heyne, München. Tannen, D. (1991): Du kannst mich einfach nicht verstehen. Warum Männer und Frauen aneinander vorbeireden. Ernst Kabel, Hamburg. Veblen, T. (1900): Theorie der feinen Leute. Fischer Frankfurt a. M. Westphal, C. (1872): Die Agoraphobie; eine neuropathische Erscheinung. Arch. Psychiatrie, 3, 138-161.
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