Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Wainer, A.+ G. Medizin gegen die Angst
Kriminalroman
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Wainer, A.+ G. Medizin gegen die Angst
Kriminalroman
Sagt Hauptmann Posdnjakow die Wahrheit, als er versichert, man habe ihm Dienstausweis und Pistole geraubt, nachdem man ihn betäubt hattet Inspektor Tichonow wird dieser Fall übertragen, denn inzwischen führt eine Bande mit den gestohlenen Dokumenten Haussuchungen durch und beschlagnahmt Geld und Wertsachen. Tichonow stößt bei seinen Ermittlungen auf ein Medikament, das laut Aussage von Wissenschaftlern noch gar nicht existiert – das Metaproptisol, ein hochwirksames Präparat, das in der Psychiatrie Verwendung finden soll. Zwei Probleme muß Tichonow lösen: Wer befindet sich im Besitz dieses Metaproptisols, und wer steckt hinter diesen mysteriösen Haussuchungen?
Arkadi und Georgi Wainer
Medizin gegen die Angst
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: Лекарство против страха Aus dem Russischen von Aljonna Möckel Von den Autoren überarbeitete Fassung
Moskau, Hauptverwaltung im Ministerium für Innere Angelegenheiten, Personalabteilung. Protokoll über die Vernehmung des Abschnittsbevollmächtigten Hauptmann der Miliz A. F. Posdnjakow Frage: Wann sind Sie zu sich gekommen? Antwort: Sonntag morgen. Frage: Wo genau? Antwort: In der medizinischen Ausnüchterungsanstalt Nummer drei. Frage: Haben Sie den Mitarbeitern der Ausnüchterungsanstalt sofort gesagt, wer Sie sind? Antwort: Nein, Name und Arbeitsstelle gab ich erst an, als sich herausstellte, daß meine Pistole und mein Dienstausweis verschwunden waren. Frage: Warum nicht schon eher? Antwort: Ich weiß nicht. Mein Denkvermögen war getrübt, ich hatte starke Kopfschmerzen. Frage: Haben Sie Waffe und Dienstausweis nicht vielleicht auf der Strecke zwischen Stadion und Park verloren, wo Sie in trunkenem Zustand von der Besatzung eines Streifenwagens aufgegriffen wurden? Antwort: Nein, nein, nein! Ich war nicht im geringsten betrunken! Frage: Schauen wir uns das ärztliche Gutachten an. Hier steht es: „Stadium hochgradiger Trunkenheit mit Verlust der räumlichen und zeitlichen Orientierung …“ 6
Sind Sie der Meinung, der Arzt könnte sich geirrt haben? Antwort: Ich weiß es nicht. Aber betrunken war ich keinesfalls! Frage: Gut, berichten Sie noch einmal, weshalb Sie ins Stadion gingen. Antwort: Am Freitag war das Pokalendspiel, die Begegnung zwischen „Spartak“ und „Torpedo“. Das Spiel begann um achtzehn Uhr. Ich bin ein großer Fußballanhänger und lasse kein interessantes Spiel aus. Da ich jedoch die Woche über viel Arbeit am Hals hatte, war ich nicht dazu gekommen, mir beizeiten eine Eintrittskarte zu kaufen. Ich hoffte, noch eine an der Abendkasse zu bekommen. Aber ich mußte feststellen, daß dafür nicht die geringste Chance bestand – die Karten waren restlos ausverkauft. Interessenten dagegen gab’s jede Menge. Plötzlich trat ein Mann an mich heran und sagte: „Hören Sie, ich hab’ eine Eintrittskarte übrig, aber ich kann es einfach nicht wagen, sie hier vor aller Augen aus der Tasche zu holen – diese Fanatiker reißen mich in Stücke. Kommen Sie mit, ich geb’ sie Ihnen am Eingang, und da können Sie sie auch bezahlen.“ Nun, ich bedankte mich natürlich. Als er sie mir dann aushändigte – für sich hatte er noch eine zweite –, erzählte er, sein Kumpel könne nicht kommen, und ich gab ihm einen Rubel. Es war furchtbar heiß, über dreißig Grad. Etwa fünf Minuten vor der Halbzeitpause bat er mich, ihm seinen Platz frei zu halten, er wolle vom Kiosk einen Schluck Bier besorgen. Bald darauf kam er zurück und brachte mir eine Flasche Bier und ein Wurstbrot mit. Ich bedankte mich für seine Aufmerksamkeit, und er antwortete mit einem lateinischen Sprichwort – ich weiß nicht mehr, wie es hieß –, sinngemäß lautete es jedenfalls: Wer einmal gibt, der gibt auch ein zweites Mal. Ich trank die Flasche leer, und wir unterhielten uns ein wenig über Fußball. Dabei merkte ich, daß das Bier meinen Durst 7
nicht gelöscht, sondern erst richtig entfacht hatte. Die Hitze wurde unerträglich, in meinem Kopf begann sich alles zu drehen, mir wurde schwarz vor Augen. Ich wollte meinem Begleiter sagen, daß ich nahe am Umkippen sei, hörte aber meine eigene Stimme nicht mehr. Die Dinge um mich her begannen zu tanzen, und das ist alles, woran ich mich erinnere … Frage: War die Bierflasche verschlossen oder schon geöffnet? Antwort: Das weiß ich nicht mehr. Frage: Wieso nicht? Sie müssen sich doch erinnern, ob Sie die Flasche geöffnet haben oder nicht? Antwort: So genau kann ich mich einfach nicht entsinnen. Frage: Ist Ihnen dieser Mann früher schon mal begegnet? Antwort: Nein, nie. Frage: Können Sie ihn beschreiben? Antwort: Nur schlecht. Er ist ungefähr fünfunddreißig Jahre alt. Frage: Könnten Sie ein Identi-Kit von ihm anfertigen? Antwort: Vielleicht, obwohl ich mir da nicht sicher bin. Mir ist noch immer schwindlig. Frage: Glauben Sie, diesen Mann im Falle einer erneuten Begegnung mit Sicherheit wiederzuerkennen? Antwort: Ich denke schon. Frage: Haben Sie eine Erklärung für das Vorgefallene? Antwort: Nein, nicht die geringste. Frage: Sie sind sich darüber im klaren, daß man Sie – vorausgesetzt, Ihr Bericht entspricht der Wahrheit – vergiften wollte? Antwort: Ich weiß nicht, ob man mich vergiften wollte, doch was ich gesagt habe, ist die volle Wahrheit. Das schwöre ich beim Leben meiner Tochter …
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1 Ich legte das Protokoll auf den Tisch zurück, und Scharapow sagte mit erhobenem Zeigefinger: „Genau. Er sollte vergiftet werden! Doch weshalb?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Da würde ich eher fragen – wozu?“ „Was ist da für ein Unterschied?“ „Den gibt’s meiner Ansicht nach schon“, ich konnte mir einen spöttischen Unterton nicht verkneifen. „Das Wörtchen ‚weshalb‘ enthält ein Moment der Abgeschlossenheit, deutet vielleicht auf einen Racheakt hin. Das ‚wozu‘ hingegen zielt auf den Beginn irgendwelcher bevorstehender Ereignisse.“ „Ach, laß doch die Wortklauberei, du Klugscheißer. Versuch dich lieber in dem Salat zurechtzufinden. An dem Fall werden wir ganz schön zu knabbern haben.“ „Völlig deiner Meinung. Nur was mich betrifft – ich bin noch krank geschrieben.“ „Was denn, sind durch die Krankschreibung vielleicht deine kleinen grauen Zellen lahmgelegt worden? Du sollst im Augenblick nicht arbeiten, sondern überlegen.“ „Wenn Sie gestatten, Genosse Scharapow, möchte ich über diese Geschichte nicht weiter nachdenken …“ Scharapow schob die Brille auf die Stirn, musterte mich eindringlich und sagte gedehnt: „Wie darf ich das verstehen?“ Ich begann unruhig auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen, nahm dann aber all meinen Mut zusammen und erwiderte: „Na wie schon? Immerhin verlangen Sie von mir, daß ich gegen einen meiner Kollegen ermitteln soll.“ „Na und? Bist du mit Posdnjakow näher bekannt?“ „Nein, das nicht … Ich hab’ seinen Namen heut zum erstenmal gehört. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß wir nolens volens Kollegen sind. Und ich müßte 9
gegen ihn einzig aus dem Grund ermitteln, weil die Vorgesetzten wissen wollen, ob Posdnjakow die Wahrheit sagt.“ Der Chef lehnte sich in seinem Sessel zurück, setzte sich bequemer zurecht, schob die Brille wieder zurück auf die Nase und sah mich aus blinzelnden Augen aufmerksam an. „Sprich dich nur aus, du kannst das sehr schön …“ „Was soll ich weiter sagen? Sie wissen sehr gut, daß ich noch nie einen Auftrag abgelehnt habe. Doch wenn’s bisher immer darum ging, Verbrechern auf die Schliche zu kommen, würde meine Arbeit hier darauf hinauslaufen, einem Kollegen auf den Zahn zu fühlen. Ich müßte feststellen, ob er nicht vielleicht selbst ein Spitzbube ist. Bei diesem Gedanken wird mir hundeelend.“ Ausdruckslos, ohne jede Regung in der Stimme, fragte Scharapow: „Und warum wird dir dabei hundeelend?“ „Ist das so schwer zu erraten? Nicht nur die Mönche lieben einen guten Tropfen! Sehr wahrscheinlich wird sich doch herausstellen, daß Posdnjakow auf Grund der Hitze einfach dem Bier zu kräftig zugesprochen, schlappgemacht und dann seine Pistole verloren hat. Und nichts da von Vergiftung! Posdnjakow kommt vor Gericht, Tichonow aber erntet Dank und die Aussicht auf Beförderung.“ Scharapow schüttelte den Kopf und sagte leicht tadelnd: „Du bist wirklich ein wertvoller Mensch, Tichonow. Erstens begreifst du in deiner Güte, daß jedem so was im Leben widerfahren kann. Zweitens bist du anständig: willst nicht eigenhändig einen deiner Kumpel vor Gericht bringen. Drittens bist du natürlich auch selbstlos: hast kürzlich erst einen Orden bekommen, nun sollen andere Gelegenheit erhalten, sich hervorzutun. Daß Posdnjakow bis zum Hals im Schlamassel steckt, ist schließlich nicht deine Schuld, du hast ja sei10
nen Namen heut zum erstenmal gehört. Und wenn auch unklar bleibt, ob er durch eigenes Verschulden in diesen Schlamassel geraten oder von einem anderen hineingestoßen worden ist, der ihm nach dem Leben getrachtet hat, so sind das bereits Detailfragen. Weshalb sich ihretwegen den Kopf zerbrechen, den guten Ruf aufs Spiel setzen, daß man ein rechtschaffener Kerl und prima Kollege ist? Soll doch lieber Posdnjakow seine Lehren aus dem Vorfall ziehen und künftig die Stadionlauferei sein lassen …“ „Wenn man Sie so reden hört, könnte man annehmen, ich müßte vor Gericht gestellt werden.“ „Vor Gericht würde ich dich schon deshalb nicht stellen, weil ich dann selber auf der Anklagebank Platz nehmen könnte. Weil ich den gleichen Fehler gemacht, mich mit denselben Problemen herumgeschlagen habe, die du mir eben so schamhaft vorgetragen hast. Ich sage dir aber, daß unsere Gedanken gar nicht so edel sind, wie du glaubst.“ „Und wieso nicht?“ „Ich hab’s bereits anzudeuten versucht. Weil du den Auftrag mit Vergnügen annehmen würdest, wüßtest du nur, daß Posdnjakow die Wahrheit sagt. Du befürchtest bloß, daß er lügt!“ „Nehmen wir an, es wäre so, was ändert sich?“ „Es ist so, ganz ohne Zweifel. Du hast Angst, dich mit dieser Geschichte zu beschmutzen, und überläßt das mir. Irgendwie werden sich die Zuständigen durchfitzen, wird der Alte eine Entscheidung treffen, du aber hast mit dieser Angelegenheit nichts zu schaffen, brauchst Posdnjakow nichts am Zeug zu flicken … Sehe ich das richtig?“ „Ja … so ungefähr.“ „Na also. Nur hast du nicht bedacht, daß meine Angst, Posdnjakow könnte gelogen und uns dieses Märchen aufgetischt haben, um sich herauszuwinden, genauso 11
groß ist wie deine. In dieser Angelegenheit darf nicht der Schatten eines Zweifels bleiben.“ „Und ich soll den Schatten aufhellen.“ „So ist es. Wenn Posdnjakow lügt, müssen wir das wissen; seine Zugehörigkeit zu uns wäre dann nicht tragbar, wäre sogar gefährlich. Es handelte sich in diesem Fall um einen potentiellen Verbrecher. Wenn er aber die Wahrheit sagt, ist es erst recht wichtig, Bescheid zu wissen. Der Täter wäre dann ein besonders dreister Ganove, den man so schnell wie möglich fassen sollte. Das ist klar wie der liebe Sonnenschein, oder nicht?“ „Ja doch, einverstanden. Ich verstehe nur nicht, weshalb ausgerechnet ich …“ „Erklärungen würden uns jetzt nur aufhalten. Es muß einfach sein, also fang an …“ Hauptverwaltung im Ministerium für Innere Angelegenheiten, Personalabteilung Erklärung in der Ermittlungssache A. F. Posdnjakow, abgegeben von der Bürgerin Anna Wassiljewna Shelonkina. Angaben zur Person siehe Akte. … September 197 … Bezug nehmend auf die mir gestellten Fragen, gebe ich folgendes zu Protokoll: Andrej Filippowitsch Posdnjakow ist mein Mann. Wir führen eine standesamtlich registrierte Ehe, der unsere Tochter Darja, zweiundzwanzig Jahre alt, entstammt. Die Beziehungen in der Familie sind normal. Soweit ich mich erinnere, hat mein Mann, A. F. Posdnjakow, noch nie übermäßig Alkohol genossen. Über seine dienstlichen Probleme ist mir nichts bekannt, Auffälligkeiten in seinem Verhalten gab es nicht. Von dem Vorfall im Stadion weiß ich nur, was mein Mann mir selbst erzählt 12
hat, ich kann seinen Worten also nichts hinzufügen. Ich habe keine Vermutung, was die Gründe für diesen Vorfall betrifft. Gelesen und auf Richtigkeit überprüft A. W. Shelonkina Ich schlug die Akte Posdnjakow auf, bestrebt, durch das Umschlagen des Pappdeckels jene unangenehme Empfindung abzuschütteln, die ein unfreiwilliges Einmischen hervorruft und gegen die ich ankämpfte, seit meine Teilnahme an der Untersuchung beschlossene Sache war. Einem Außenstehenden hätte ich dieses Gefühl unmöglich klarmachen können. Meinen eigenen Leuten dagegen – Kollegen, denen ich seit Jahr und Tag im Moskauer Milizamt und in den Milizämtern der Gebiete begegnete – brauchte ich nichts zu erklären. Wir waren durch feste kameradschaftliche Bande verknüpft, wie sie sich in unserem Beruf notwendigerweise ergaben. Dabei waren die Leute, die ich als „meine eigenen“ bezeichnete, grundverschieden: Gute und weniger gute Kriminalisten befanden sich darunter, die einen großzügig, die anderen eher kleinlich, die einen umgänglich, die anderen brummig, die einen klug, die anderen weniger intelligent. Doch wie dem auch immer war, ich hatte mit ihnen zusammen in Hinterhalten gehockt, bewaffnete Banditen festgenommen, Diebesgut aus Geheimverstecken geholt, dessen Wert in Geld umgerechnet nicht selten jene Summe beträchtlich überstieg, die ein Milizangehöriger im Laufe seiner ganzen Dienstzeit an Gehalt ausgezahlt bekam. Aber auch Jahre mühseliger Kleinarbeit verbanden uns, wie sie nun einmal zum Alltag des Kriminalisten gehörte: Wache schieben, Außeneinsätze, Protokolle aufnehmen und sich zur Klärung wichtiger Details ungezählte Male mit Kollegen, die man gar nicht kannte, in Verbindung setzen. Das alles jedoch war nicht ohne ein sehr tiefes, mitunter sogar unbewußtes Zu13
sammengehörigkeitsgefühl jener Leute möglich, die von der Gesellschaft beauftragt waren, der Unehrlichkeit in all ihren Formen entgegenzutreten. Und diese kameradschaftliche Verbundenheit wiederum gründete sich auf dem Glauben an die unbedingte Ehrlichkeit eines jeden von uns – würde sich immer darauf gründen. Deshalb quälte ich mich so mit der Akte Posdnjakows. Die Besonderheit unserer Arbeit und ebendieser Glaube an die Ehrlichkeit sorgten im allgemeinen dafür, daß man über die dienstlichen Probleme nicht mehr verlauten ließ, als einem gut schien. Bei uns ging es nach der Devise: Wenn du was erzählen willst, so tu’s, wenn nicht, laß es bleiben, niemand wird dir das verübeln oder Fragen stellen. Hier aber konnte von einem Wunsch Posdnjakows, mir Einzelheiten aus seinem Leben mitzuteilen, gar keine Rede sein. Er war nicht einmal gefragt worden, man hatte einfach seine Personalakte genommen und sie Hauptmann Tichonow zum gründlichen Studium übergeben. Womit der unerschütterliche Glaube an die Ehrlichkeit Posdnjakows zwangsläufig ins Wanken geraten war. Meine Aufgabe aber bestand darin, diesen Glauben – abstrakt heißt es so schön die Ehre – voll wiederherzustellen oder ihn ein für allemal gänzlich auszulöschen.
2 Hauptmann Posdnjakow hatte vom Aussehen her Ähnlichkeit mit einem alten, ausgewachsenen Eber, und ich sagte mir mehrmals, daß der ABV eigentlich einen wenig sympathischen Eindruck machte. Vor einigen Jahren hatten mich einmal Freunde zur Jagd mitgenommen, und noch heute ist mir der gewaltige längliche Kopf eines erlegten Ebers unangenehm deutlich in Erinnerung: 14
der spitz vorgestreckte Rüssel, die blinzelnden rötlichen Lider mit den langen weißen Wimpern, die Pupillen darunter, die schon trübe wurden, und die gelben gefletschten Zähne, im letzten Todesschmerz gebleckt, noch immer drohend und doch schon ungefährlich. „Andrej Filippowitsch“, fragte ich, „haben Sie Feinde?“ „Wahrscheinlich“ – ein Zucken der weißblonden Wimpern. „Wenn man wie ich zehn Jahre lang ein und denselben Abschnitt betreut, bekommt man Freunde wie auch Feinde. In meinem Revier wohnen fast zwölftausend Menschen.“ „Könnten wir den Kreis der vermeintlichen Feinde einengen?“ „Wie sollten wir das anstellen? Nur ein schlechter ABV hat nicht mehr als zwei Feinde – die Frau und die Schwiegermutter! Ich aber hab’ mich in all den Jahren mit vielen Leuten herumstreiten müssen. Ich hab’ Schwarzbrenner gefaßt und Rowdys zur Räson gebracht, Nichtstuer ausgesiedelt und Kerle, die aus der Haft getürmt waren, am Schlafittchen gepackt, sie in die Anstalt zurückbefördert. Ich hab’ Strafmandate wegen streunender Hunde verteilt und unverbesserliche Ruhestörer in ihren Betrieben gemeldet, hab’ Betrunkene von Höfen und Straßenecken verjagt und verantwortungslose Eltern zur Miliz oder in die entsprechenden Kommissionen geschleift. Auch mit Dieben hatte ich’s zu tun, ich hab’ hier und da an Haussuchungen teilgenommen. So gesehen …“ Posdnjakow verstummte, rümpfte gekränkt und kummervoll zugleich die breite Nase mit den gewaltigen Nasenlöchern, die direkt der wulstigen Oberlippe zu entspringen schien. „Was – so gesehen?“ fragte ich. „Früher wären mir solche Gedanken nie in den Sinn gekommen, jetzt aber grüble ich ständig nach. Da leben 15
nun Tausende anständiger Menschen in meinem Abschnitt, und kein einziger von ihnen kennt mich genauer, schließlich sind wir nie miteinander in Berührung gekommen. Und jetzt, wo mir ein Mißgeschick widerfahren ist und ich jemanden gebrauchen könnte, der Gutes über mich aussagt, stellt sich heraus, daß mich außer allem möglichen Gelichter niemand wirklich kennt. Von den Spitzbuben aber werd’ ich schwerlich ein gutes Wort zu erwarten haben.“ Ich schüttelte den Kopf. „Da muß ich Ihnen widersprechen. Wenn die anständigen Leute Sie nicht kennen, so bedeutet das, Sie haben Ihren Dienst gut versehen, haben die Guten vor den Schlechten beschützt. Aber lassen wir das jetzt. Erklären Sie mir bitte, warum Sie im Stadion die Pistole bei sich trugen – Sie waren doch nicht im Dienst und nicht in Uniform.“ „Das ist noch eine Angewohnheit aus dem Krieg. Außerdem wohne ich ja in meinem Abschnitt, so daß ich, bei Licht besehen, stets im Dienst bin. Wenn’s nämlich irgendwo brenzlig wird, kommen sie um Mitternacht und noch später zu mir gelaufen, bitten, daß ich ihnen helfe. Da gibt’s alles mögliche zu tun – erst kürzlich hab’ ich drei bewaffnete Banditen in meiner sogenannten dienstfreien Zeit dingfest gemacht …“ „Wir können also voraussetzen, daß viele von der Pistole Kenntnis hatten, die Sie immer bei sich trugen?“ „Aber gewiß doch!“ Der ABV sah mich verwundert aus seinen runden rötlichen Augen an. „Schließlich bin ich ein Vertreter der Staatsgewalt, da müssen alle von meiner Stärke wissen.“ Ich unterdrückte ein spöttisches Lächeln – in bezug auf die Staatsgewalt war ich entschieden anderer Meinung. Aber ich ging nicht näher auf diesen Punkt ein. „Trinken Sie einen Tee mit?“ fragte Posdnjakow. „Vielen Dank, sehr gern.“ 16
Ich hatte zwar keinen Durst, hoffte jedoch, daß unser Gespräch bei einem Glas Tee weniger quälend und offiziell verlaufen würde. Posdnjakow erhob sich vom Sofa, auf dem er die ganze Zeit unnatürlich starr gesessen hatte, den langen, hageren Rücken durchgedrückt – ein alter Soldat, dem es erst im fünften Lebensjahrzehnt gelungen war, vom Sergeanten zum Offizier aufzurücken, und der deshalb das ehrerbietige Gebaren gegenüber seinen Vorgesetzten beibehalten hatte, mochten sie noch so jung sein. Sein Fuß suchte unterm Sofa nach den Pantoffeln, fand sie aber nicht. Gewiß hielt er es für wenig angebracht, in meiner Gegenwart auf Knien über den Fußboden zu kriechen, deshalb winkte er einfach ab und ging gleich in Strümpfen in die Küche. An der Ferse der linken Socke prangte ein Loch von der Größe eines Zweikopekenstückes. Der ABV hantierte lautstark mit dem Teekessel; dumpf schlug der Wasserstrahl aus dem Hahn. gegen den Boden des Gefäßes. Streichhölzer schabten an der Reibfläche der Schachtel und verloschen zischend wieder, so daß Posdnjakow leise zu fluchen begann. Unterdessen sah ich mich im Raum um. Aus der Personalakte des ABV wußte ich, daß er verheiratet war und eine Tochter von zweiundzwanzig Jahren hatte, die studierte. Seine Frau, Anna Wassiljewna, Kandidat der chemischen Wissenschaften, war elf Jahre jünger als er und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für organische Verbindungen tätig. Posdnjakows Bildung hingegen beschränkte sich auf sieben Klassen Grundschule vor und den Besuch der Milizschule nach dem Krieg. Das gab mir zu denken, denn wenn ich mir auch in dieser nicht eben alltäglichen Partnerschaft eine gewisse Harmonie vorstellen konnte, so deutete die Ordnung in Posdnjakows Zimmer doch kaum auf die fürsorgliche Hand der Hausfrau hin. Ich wurde eher an die strenge Akkuratesse eines Kasernendaseins erinnert, 17
an den ein für allemal eingeschliffenen soldatischen Hang zur pedantischen Sauberkeit. Das kleine Loch in der Socke sprach ja gleichfalls für sich. Posdnjakow brachte zwei Gläser in Metalleinfassungen und die Zuckerdose. Er stellte den Teekessel auf einem gitterförmigen Eisenuntersatz ab. Einige Zeit saßen wir schweigend, dann fragte der ABV: „Möchten Sie den Tee stark?“ Ich nickte, und Posdnjakow schenkte mir eine helle, fast durchsichtige Flüssigkeit ein. Ich hätte gar zu gern gewußt, was mein Gegenüber unter schwächerem Tee verstand, und meine Neugier wurde auch befriedigt: Sein Glas füllte der ABV mit klarem Wasser. „Nehmen Sie doch Zucker.“ Er schob mir die Dose hin. „Danke, ich trinke immer ohne.“ Posdnjakow angelte sich mit dem Löffel zwei Stückchen heraus und legte sie auf seine Untertasse. Er zerbiß eins dieser Stücke in zwei Teile, legte die eine Hälfte auf die Untertasse zurück, schob die andere in den Mund. Dann nahm er einen Schluck heißen Wassers und begann an dem Zucker zu lutschen. Bei dieser Prozedur blähte sich die rechte Wange, und die Lippen stülpten sich vor, so daß die rötlichblonden Bartstoppeln deutlicher hervortraten und Posdnjakow noch mehr Ähnlichkeit mit einem Eber bekam. Mit einem mageren, wütenden und irgendwie unglücklichen Tier. „Die Leute haben nichts für Disziplin übrig“, begann der ABV nachdenklich, „und das bringt alle möglichen Unannehmlichkeiten mit sich. Dabei ist es viel leichter, ein bißchen diszipliniert zu sein, als dauernd herumzurandalieren und gegen die Ordnung, gegen die Gesetze zu verstoßen. Alles Unheil auf Erden kommt von dieser gottlosen Schlamperei, davon, daß gewisse Leute in ihrer Kindheit nicht zu Disziplin und bestimmten Verhaltensweisen erzogen wurden, sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber.“ 18
„Ist Ihre Frau der gleichen Ansicht?“ fragte ich, und Posdnjakow zuckte bei meinen Worten zusammen, als hätte ich mich überraschend über den Tisch gebeugt und ihm einen heftigen Schlag ins Zwerchfell versetzt. Ob nun durch die Hitze, von dem Getränk oder meiner Frage – jedenfalls bedeckte sich sein Gesicht schlagartig mit vielen kleinen Schweißtröpfchen. „Wahrscheinlich nicht … das heißt, ich frage mich da selber … vielleicht wohl doch nicht …“ Dann verstummte er, und das Gespräch, das gerade in Fluß hatte kommen wollen, versiegte wieder. Nach einer kurzen Pause stellte ich eine Frage, die möglichst gleichgültig klingen sollte, wie nebenbei gesagt: „Sie leben mit Ihrer Frau wohl nicht besonders gut zusammen?“ Doch dieses „wie nebenbei“ gelang mir nicht recht, und Posdnjakow verstand das auch, begriff, daß er die Frage ausführlich beantworten mußte, weil dieser Hauptmann von der Petrowka schließlich nicht zum Teetrinken hergekommen war, sondern wegen einer Vernehmung. Wie man es auch immer bezeichnen mochte – Unterhaltung, Gespräch, Befragung, Klärung eines Sachverhalts –, der Sinn blieb derselbe: Es war eine Vernehmung. „ ‚Nicht besonders gut‘, wie Sie es ausdrücken, ist kaum der richtige Ausdruck“, antwortete der ABV schließlich. „Genaugenommen leben wir schon lange nicht mehr zusammen …“ „Wie darf ich das verstehen?“ „Na, wie schon: Wir leben zwar unter einem Dach, aber mit Familie und so ist seit geraumer Zeit nichts mehr.“ „Wie lange?“ „Bereits eine solche Ewigkeit, daß ich’s selbst nicht genau sagen kann. Vielleicht seit sechs, sieben Jahren. Wir grüßen uns höflich, wenn wir uns begegnen, aber 19
das ist auch alles.“ In Posdnjakows Stimme war nichts mehr von soldatischer Härte, nur chininrauhe Bitterkeit und Müdigkeit klangen darin. „Aber warum lassen Sie sich nicht scheiden?“ „Das kann ich nicht mit zwei Worten erklären …“ „Na, dann eben nicht mit zwei Worten, sondern ausführlicher“, sagte ich und bemerkte in den Augen des ABV ein kurzes Aufglimmen von Verdruß, von nur schlecht verhohlenem Unbehagen. Bevor er zu sprechen begann, klopfte ich deshalb mit der Hand leicht auf den Tisch und sagte: „Bloß eins noch. Wir haben zwar schon zu Beginn unserer Unterhaltung darüber gesprochen, aber ich wiederhole es: Sie sind ganz zu Unrecht ärgerlich über mich. Ich stelle Ihnen diese Fragen nicht, weil mich Ihre ehelichen Beziehungen interessieren, sondern weil etwas passiert ist, das es bei uns noch nie gab. Alles, was nur im entferntesten damit im Zusammenhang stehen könnte, muß geklärt werden …“ „Was soll es da für einen Zusammenhang geben! Schließlich arbeite ich nicht das erste Jahr bei der Miliz und verstehe ein bißchen was davon.“ „Ich zweifle nicht im geringsten an Ihrer Erfahrung, doch kein Arzt kann sich selber kurieren.“ „Das stimmt.“ Posdnjakow schüttelte seinen länglichen Kopf. „Vor allem, wenn ihm nicht so recht getraut wird – ist er nun wirklich krank, oder verstellt er sich bloß?“ Ich trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte, sah Posdnjakow voll an und sagte langsam: „Einigen wir uns doch darauf, Andrej Filippytsch, die Frage des Vertrauens zu Ihnen von jetzt an aus dem Spiel zu lassen. Sie sind schließlich kein Fräulein auf der Parkbank, dem ich alle zehn Minuten meine Liebe und Freundschaft versichern muß. Ich sage es frei heraus: Die Geschichte, die Ihnen passiert ist, grenzt ans Unwahrscheinliche, und ich bin hergekommen, Ihre Unschuld zu beweisen. 20
Deshalb möchte ich Ihren Worten nur allzugern Glauben schenken. Doch lediglich Fakten können meinen Glauben bestärken oder ins Wanken bringen. Lassen Sie uns also gemeinsam nach Fakten suchen. Vorerst in Hinsicht auf Ihre Familie …“ „Meine Frau ist ein wertvoller Mensch. Sie ist selbständig, ordentlich.“ „Und weshalb haben Sie sich zerstritten?“ „Das ist es ja gerade, wir haben uns gar nicht zerstritten. Ich bin im Laufe der Zeit wohl einfach in ihrer Wertschätzung gesunken. Das glaub’ ich jedenfalls. Sie geniert sich meinetwegen.“ „Aber aus welchem Grund?“ Ich stellte Posdnjakow diese peinlichen, fast taktlosen Fragen, obwohl ich seinem Gesicht ansah, wie schwer ihm die Antwort fiel. Der Schmerz, den ich ihm bereiten mußte, war mir sehr gut begreiflich, und ich schloß die Augen, um nicht das schweißnasse, bleiche Gesicht dieses Mannes sehen zu müssen. Auch fürchtete ich, aus dem Rhythmus zu kommen und die Zielrichtung meiner Fragen zu verlieren. „Nun, schließlich stellt sie jetzt etwas dar, ist Wissenschaftlerin geworden, wenn man so will, während ihr Mann ein kleiner Pinscher geblieben ist, ein vertrottelter Kämpe.“ Posdnjakow antwortete leise, ohne jeden Groll auf seine Frau; es war, als wollte er die Berechtigung seiner Worte beim Sprechen überprüfen. Er sah mir dabei sogar in die Augen, war sich offenbar nicht sicher, ob ich ihn überhaupt gehört und richtig verstanden hatte. Dann, nach einer kurzen Pause, fügte er hitzig hinzu: „Und denken Sie nicht sonstwas, so ist sie eben.“ „Ist das schon lange so?“ „Das kann ich nicht genau sagen. Wahrscheinlich. Wie war’s denn anfangs? Als wir uns kennenlernten, arbeitete sie als Laborgehilfin in einem Chemiebetrieb. Das ist nun mehr als zwanzig Jahre her. Sie war hunde21
müde abends, dennoch ging sie anschließend in die Schule der Arbeiterjugend. Nicht selten passierte es, daß sie in der Schulbank einschlief, doch sie erreichte ihr Ziel und begann ein Studium am MendelejewInstitut. Sie arbeitete und lernte unermüdlich – bis eines Tages klar wurde: Sie hatte es zu etwas gebracht, während ich …“ „Und wo haben Sie die Flasche hingetan?“ fragte ich unvermittelt. Posdnjakow sah mich verblüfft an. „W-was für eine Flasche?“ stotterte er. „Na, die Bierflasche, die vom Stadion“, erklärte ich ungeduldig. „Ach so …“ Der ABV dachte angestrengt nach, seine weizenblonden, buschigen Brauen stießen auf der Nasenwurzel fast zusammen, und sein Gesicht bedeckte sich noch mehr mit Schweiß. „Ich glaube, ich hab’ sie in die Tasche gesteckt“, sagte er schließlich, und in seiner Stimme schwangen Erstaunen und Unsicherheit. „Sicherlich in die Tasche, wohin sonst … Aber dort hat man sie später ja nicht gefunden, nicht wahr?“ Ich ließ seine Frage unbeantwortet und sagte nach kurzem Schweigen: „Und jetzt versuchen Sie sich zu erinnern. Haben Sie die Flasche selber geöffnet?“ „Ich glaub’ schon …“ Posdnjakow dachte abermals nach, plötzlich kam Bewegung in ihn, er sprang sogar von seinem Sitz. „Aber ja doch! Mit den Zähnen hab’ ich sie geöffnet! Wir sehen gleich mal nach, vielleicht hab’ ich den Verschluß noch irgendwo in meiner Jacke.“ Er ging hastig zum Kleiderständer, und während er ein schon ziemlich abgetragenes Jackett aus grauem Wollstoff vom Haken nahm, murmelte er leise vor sich hin: „Schließlich werf ich den Verschluß nicht unter die Bank. Nein, so was würde ich nie tun. Also muß ich ihn in die Tasche gesteckt haben.“ 22
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen“, sagte ich. Wir breiteten das Jackett auf dem Tisch aus, betrachteten es aufmerksam, stülpten die Taschen um, tasteten sämtliche Nähte ab. Das Futter der linken Tasche war in einem Maße fadenscheinig, daß es schon ein Netz bildete. Ich steckte meinen Finger durch eine der Öffnungen und begann die Innenfläche des Jackenschoßes Zentimeter um Zentimeter abzutasten. Als ich fast am rechten Jackenschoß angelangt war, stieß ich auf ein gezacktes, ungleichmäßig gerundetes Ding. Den Gegenstand sacht zu dem Loch in der Tasche schiebend, beförderte ich ihn schließlich ans Licht – es war ein braunes, flaches, leicht verbogenes Stück Blech, an dem noch die runde Plastscheibe klebte. Jene übliche Einlage, die man den Metallverschlüssen von Bierflaschen beigibt. „Hetzen Sie mich nicht so, Tichonow“, sagte Chalezki ruhig, „das ist eine dumme Angewohnheit.“ Im Labor war es fast finster, die Fenster waren dicht verhangen, und nur ein einzelner Sonnenstrahl, blendend hell, zerschnitt den Raum in zwei Hälften, sein Widerschein tanzte auf dem goldenen Brillengestell des Chemikers, der seine Worte wie üblich mit einem Kopfschütteln begleitete. „Ich brauche das Ergebnis Ihrer Untersuchung unbedingt bis morgen früh“, sagte ich. „Warum denn diese Eile?“ fragte Chalezki verwundert. „Es gibt da ein altes Sprichwort: ‚Hüte deine Ehre besser als den Augapfel.‘ In meinem Fall geht es genau darum.“ Chalezki schüttelte wieder den Kopf, und es schien mir, als lächelte er dabei. „Sie waren doch auf der Universität, Tichonow, kennen gewiß den Gesetzeskodex des babylonischen Kaisers Hammurabi.“ 23
„Ja und?“ „Dort steht wörtlich, daß einem Arzt die Hände abgeschlagen werden, wenn ein Patient durch seine Schuld ein Auge verliert. Wenn Sie mich nun so hetzen, kann es passieren, daß mir ein Fehler unterläuft und unser Patient nicht nur ein Auge verliert, sondern auch seine Ehre, die man ja noch viel mehr hüten sollte.“ Chalezki öffnete den weißen Umschlag, holte mit einer Pinzette den Verschluß heraus und betrachtete ihn aufmerksam, indem er ihn gegen das Sonnenlicht hielt, das durch die Gardine in den Raum fiel. „Was werden Sie damit machen?“ fragte ich. „Zunächst eine mikrochemische Analyse unter Verwendung von Fluoreszenzindikatoren. Wenn das kein Resultat bringt, führen wir eine Röntgendiffraktion durch. Irgendein Ergebnis werden wir schon herausholen. Die Wissenschaft kennt viele Tricks.“ Er lachte. „Sie glauben also, daß man aus diesem Stück Metall noch etwas herausholen kann?“ fragte ich hoffnungsvoll. „Wer weiß, es kommt auf einen Versuch an. Trinker sind der Meinung, daß eine Flasche noch vierzig Tropfen hergibt, und wenn sie leerer als leer ist. Uns würde bei diesem Verschluß schon der vierzigste Teil eines Tropfens genügen.“ Das Labor schien der einzige kühle Ort weit und breit zu sein, und ich hatte nicht die geringste Lust, von hier wegzugehen. Chalezki konnte mir das wohl nachfühlen, denn er drängte mich nicht. Er wandte sich zu mir, und wieder tanzte der Sonnenstrahl auf seiner goldenen Brilleneinfassung. Obwohl ich seine Augen nicht sehen konnte, wußte ich, daß er mich aufmerksam musterte. „Nun, Tichonow“, sagte er, „was halten Sie von dieser Angelegenheit?“ „Keine Ahnung.“ Ich zuckte die Schultern. „Glauben Sie, daß Posdnjakow die Wahrheit sagt?“ „Ich weiß es nicht, ich hab’ keinen blassen Schimmer. 24
Uns allen ist ja bekannt, daß Milizangehörige ebensowenig wie andere Leute Heilige und vor Versuchungen gefeit sind. Obwohl ich einen solchen Gedanken gern weit von mir schieben möchte.“ Dennoch war Hauptmann Posdnjakow im Unrecht gewesen, als er mir neulich erklärt hatte, einzig das miese Pack würde ihn kennen. Es fanden sich eine Menge Leute, die ein gutes Wort über ihn zu sagen wußten. Gewiß, es wurden nicht gerade Lobeshymnen auf ihn gesungen, doch anerkennende Äußerungen gab es zur Genüge: von den Hausverwaltungen, den Mietern, vom Milizrevier, in dem er diente. Bei meinen Ermittlungen war ich einem früheren Kollegen wiederbegegnet, den ich noch von meiner Ausbildungszeit her kannte und der Posdnjakow jetzt unmittelbar vorstand. Dieser Tschigarenkow hatte mir geraten, sämtliche Arbeitsunterlagen des ABV auf eventuelle Vorkommnisse hin zu durchkämmen, die Licht auf diese mysteriöse Angelegenheit werfen könnten. Und so saß ich nun stundenlang über den zahllosen Rapporten, Berichten, Eingaben, Akten und Protokollen, die sich im Laufe der letzten Jahre bei Posdnjakow angesammelt hatten. Ich las, machte mir Notizen und stellte mir den Hexenkessel vor, in dem ein ABV Tag und Nacht zu schmoren hatte. Das Studium der Unterlagen beschäftigte mich bis zum Mittag, am Nachmittag suchte ich verschiedene Wohnungen auf und zog vorsichtig Erkundigungen über den Milizionär ein. Es war eine ausgesprochen langweilige und wenig produktive Arbeit, doch stellte sie eine der möglichen Verfahrensweisen dar, zum Erfolg zu kommen, und ich war es gewohnt, jede Variante bis zu Ende durchzuspielen. Das aber tat ich weniger aus dienstlicher Gewissenhaftigkeit, sondern um nicht auf halbem Wege umkehren und alles von vorn beginnen zu müssen. 25
Ich las auch die Beschwerden, die einige Bürger über Posdnjakow vorgebracht hatten. Wie ich feststellen mußte, gab es recht viele solcher Klagen. Ich sprach mit dem ABV darüber, vertiefte mich erneut in alle möglichen Papiere, befragte wieder Bürger … „… Ein gebildeter Mann, das sieht man gleich, er grüßt mich immer als erster.“ „… Ein Tier ist das und kein Mensch.“ „… Für stinkendes Geld hat er ein Gespür wie ein Jagdhund.“ „… Dieser lausige Kerl, er hat meinen Mann, unsern Ernährer Pjotr Fedjunin, für zwei Jahre in den Knast gebracht.“ „… Bei der Gerichtsverhandlung hat er mit keiner Silbe erwähnt, daß Petjka Fedjunin mit dem Messer auf ihn losgegangen ist. Ihm hat wohl die Familie leid getan, immerhin haben sie drei Kinder.“ „… Diesen gewalttätigen Kerl sollte man aus der Miliz feuern – den Arm hat er meinem Jungen ausgerenkt.“ „… Ja, das war der Sohn von unserm Nachbar. Er und sein Freund waren in einer Toreinfahrt über eine Frau hergefallen und wollten sie ausziehen. Von wegen ‚Junge‘ – zwei Meter groß ist der Kerl.“ „… Was heißt, er trinkt nicht. Klar trinkt er, auf der Hochzeit meiner Tochter hat er auch getrunken, aber gesittet wie ein Mensch.“ „… Er ist sehr verschlossen, man kommt schwer mit ihm ins Gespräch. Mit seiner Familie lebt er anscheinend nicht gerade glücklich zusammen.“ „… Wenn Posdnjakow nicht endlich aufhört, mich dauernd zu drangsalieren, bin ich gezwungen, mich an übergeordnete Dienststellen zu wenden.“ „… Er hält auf Ordnung, läßt keinerlei Schlamperei zu.“ „… Mit einem Wort – ein Waldschrat! Ein Wilder! Mit dem ist doch nicht vernünftig zu reden, über ’nen Kin26
derabzählreim geht sein Verstand nicht hinaus: Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs – sieben, in der Schule wird geschrieben … So ungefähr. Ich mach’ ’nen kleinen Scherz, der aber hat mich schon beim Genick und ’rein in den ‚Käfig‘.“ „… Statt einen Schmarotzer, der aus der Arbeitskolonie getürmt war, zu verhaften, wie es das Gesetz vorschreibt, hat der ABV Posdnjakow ihm die Möglichkeit gegeben, ungestraft zu entkommen, und das, obwohl wir Meldung darüber erstattet hatten …“ „Weshalb haben Sie den Flüchtigen damals eigentlich nicht verhaftet, Andrej Filippowitsch?“ fragte ich Posdnjakow. „Das wäre doch Ihre Pflicht gewesen.“ Der ABV schüttelte verwirrt den Kopf. „Gewiß, das Gesetz schreibt es so vor …“ „Und doch haben Sie ihn laufenlassen?“ „Ja.“ „Aus welchem Grund?“ „Nun, das Gesetz ist schließlich für alle da. Und wenn es zehnmal ein Gesetz ist, so ist es noch lange nicht der liebe Gott, es kann nicht jeden einzelnen im Auge haben. Und die Strenge des Gesetzes soll den Leuten zum Wohl ausschlagen – so sehe ich das wenigstens.“ „Und wo lag das Wohl für diesen Schmarotzer? Darin etwa, daß er sich über das Gesetz hinwegsetzte?“ Posdnjakow zwinkerte nachdenklich mit den weißlichen Wimpern, kaute auf der dicken Oberlippe herum. Ich mußte daran denken, daß Leute, die sich lieben, mit der Zeit die Unzulänglichkeiten des andern gar nicht mehr bemerken, sie sind ihnen so vertraut, daß es ohne diese Unvollkommenheiten nicht ginge. Posdnjakows Frau hingegen, Kandidat der chemischen Wissenschaften Shelonkina, registrierte diese hellblonden Wimpern und die dicken vorgestülpten Lippen bestimmt jeden Tag aufs neue, und gewiß erschienen ihr die langen gel27
ben Hauer ihres Mannes noch viel größer, als sie in Wirklichkeit waren. Er war ihr fremd geworden, und wahrscheinlich empfand sie bei seinem Anblick heftige Antipathie. Schließlich sagte Posdnjakow unwillig: „Er ist kein Schmarotzer!“ „Ach nein. Und wieso nicht?“ „Ein Mörder bleibt auch nach Verbüßung der Strafe ein Mörder, weil er nämlich etwas getan hat, was nicht wieder rückgängig zu machen ist. Wenn aber ein ehemals Arbeitsscheuer heute gut arbeitet – warum soll er dann ein Schmarotzer sein?“ „Ihr Flüchtiger hat gut gearbeitet?“ „Ja, das hat er. Er hatte bloß noch vier Monate abzusitzen. Aber seine Freunde hatten ihm geschrieben, daß sein Mädchen einen andern heiraten will – da ist er ausgerissen.“ „Und Sie?“ „Ich habe nachts vor dem Haus auf ihn gewartet, bin absichtlich nicht in die Wohnung gegangen.“ „Das verstehe ich nicht. Wieso sind Sie draußen geblieben?“ „Die Nachbarn hatten mir doch schon den entsprechenden Schrieb auf den Tisch gelegt. Das sind ganz hinterhältige Leute. Wenn die gesehen hätten, daß ich ihn in der Wohnung hopp nehme, wäre mir nichts anderes übriggeblieben, als schriftlich Meldung zu erstatten.“ „Und so?“ „So hab’ ich ihm einen Puff in den Nacken gegeben und ihn zum Bahnhof gebracht.“ „Sie wußten doch aber, daß das gesetzwidrig ist?“ fragte ich vorsichtig. „Wäre es vielleicht besser gewesen, wenn er wegen diesem verdammten Gesetz noch mal zwei Jahre abschrubbte?“ Ich zuckte unbestimmt mit den Schultern, fragte: 28
„Wieso sind diese Nachbarn eigentlich hinterhältig? Sie haben doch nur ihre Pflicht getan …“ „Von wegen …“ Posdnjakow schüttelte den Kopf. „Da haben sie sich an die falsche Pflicht gehalten. Sie wollten mir bloß wegen dem eignen Sohn eins auswischen, wollten’s mir heimzahlen …“ „Was hat das nun wieder mit dem Sohn zu tun?“ „Ach, er schreibt dauernd Beschwerden über mich, weil ich ihn angeblich bedrohe. Ich will aber nichts anderes, als daß er ein anständiger Mensch wird, lebt und arbeitet, wie es sich gehört, heiratet, Kinder in die Welt setzt …“ „Erzählen Sie mir mehr über diesen Burschen.“ Posdnjakow richtete seine wäßrigen Augen auf mich, als wollte er in mir lesen, dann sagte er entschieden: „Wenn Sie glauben, daß er mit meiner Geschichte etwas zu tun haben könnte, so irren Sie bestimmt. Im übrigen … ach was soll’s, ich weiß wirklich nicht …“ „Erzählen Sie trotzdem, es interessiert mich.“ „Da gibt’s im Grunde gar nichts zu erzählen. Sein Name ist Tschebakow. Sein Vater ist Lagerverwalter, die Mutter Invalidin dritten Grades, sie arbeitet als Aufsicht in einem Museum. Der Bursche kam zur Welt, als sie beide schon weit über die Vierzig waren. Jetzt ist er fünfundzwanzig, ein Schandmaul, wie’s im Buche steht – für sie aber ist er nach wie vor der liebe Boretschka. Zwei Vorstrafen hat er.“ „Ein Rowdy?“ „Ach i wo! Deshalb hab’ ich mich doch so mit ihm abgeplagt. Er war immer ein stiller, unauffälliger Bursche, und gerade dadurch hab’ ich mich hinters Licht führen lassen. Mit Leuten, die randalieren und stehlen, ist es viel einfacher – die fallen einem sofort auf. Man riecht ihnen die Flegelhaftigkeit schon von weitem an, besonders wenn sie betrunken sind. Natürlich hab’ ich meine Pappenheimer immer im Visier und, wenn sie was ver29
bocken, gleich beim Wickel. Der Tschebakow aber ist ein Heimlichtuer – er hat die Grundschule zur Zufriedenheit abgeschlossen, besuchte dann eine Fachschule. Plötzlich aber nahmen sie ihn hopp, wegen Schwarzhandels. Er hatte sich mit Ausländern zusammengetan, ihnen alles mögliche Zeug abgekauft und weiterverhökert. Für mich kam das wie ein Blitz aus heiterm Himmel. Weil er noch minderjährig war, ist er mit Bewährung davongekommen. Seither lass’ ich ihn natürlich nicht aus den Augen – jeden Tag schau ich bei ihm vorbei. Beim Gebietsmilitärkomitee hab’ ich vorgesprochen, damit sie den Tschebakow zur Armee holen. Die Armee treibt alle Dummheiten aus, lehrt einen, anständig mit den andern zusammen zu leben, bringt einem nicht zuletzt einen Beruf bei. Aber sie nehmen keinen, solange die Vorstrafe nicht gelöscht ist.“ „Und wie ist die Geschichte ausgegangen?“ „Schlecht natürlich. Seine Familie stürzte wie eine wilde Horde über mich her, weil ich Borja angeblich zu den Soldaten abschieben und damit verhindern wollte, daß ein gebildeter Mensch aus ihm wird. Dabei hatte ich doch nur sein Bestes im Auge. Sie haben ihn nach Riga geschickt, um ihn vor mir, dem Ungeheuer, in Sicherheit zu bringen. Und dort ist er dann mit einer Valutageschichte eingebrochen …“ „Die Beschwerden über Ihre angeblichen Drohungen stammen doch aber aus jüngster Zeit?“ „Ja. Er hat seine Strafe inzwischen abgesessen und ist wieder hierher zurückgekehrt. Sein Vater ist von einer Behörde zur andern gerannt, um die Genehmigung dafür zu erwirken. Und er hat’s geschafft. Borja ist wieder hier registriert. Nur daß er nach wie vor nicht daran denkt, einer anständigen Arbeit nachzugehen.“ „Haben Sie denn keinen Arbeitsnachweis von ihm verlangt?“ „Doch, zweimal. Er konnte mir keinen geben, und da 30
drohte ich ihm mit einer Klage wegen Bummelantentums. Als ich das drittemal kam, streckte er mir sofort einen Wisch entgegen und sagte: ‚So, Posdnjakow, nun kannst du beruhigt schlafen. Ich bin jetzt ein durch und durch arbeitsamer Mensch.‘ “ „Und was macht er?“ fragte ich neugierig. Posdnjakow bleckte die gelben Zähne, und sein bleiches, unschönes Gesicht verzog sich angewidert. „Man schämt sich direkt, es auszusprechen. Ein junger, kräftiger Kerl wie er arbeitet als … äh … als Aktmodell. In einer Kunsthochschule. ‚Was denn, Borja‘, hab’ ich zu ihm gesagt, ‚schämst du dich nicht, dein Geld auf diese erniedrigende Weise zu verdienen? Und außerdem, was sind schon sechzig Rubel für einen erwachsenen Menschen?‘ Na, er hat mir nur frech ins Gesicht gelacht und sinngemäß geantwortet, daß ich unkultiviert sei, keine Ahnung von der wahren Kunst hätte und mir über sein Gehalt keine grauen Haare wachsen lassen sollte.“ Sicherlich, es lag eine gewisse Komik in Posdnjakows Entrüstung, doch wenn ich ehrlich sein wollte, hörte auch ich zum erstenmal davon, daß ein Mann in unserer heutigen Zeit das Modellstehen als Beruf ausübte. Auf so eine Idee war ich bisher einfach nicht gekommen. „So tief können einen Faulheit und Schmarotzertum sinken lassen“, sagte Posdnjakow ehrlich empört, „trotzdem – bösartig ist Tschebakow nicht.“
3 Ein eigenartiger September war das in diesem Jahr. Nach einem verregneten Juli und einem farblosen August plötzlich stickige Hitze. Und hier im Außenbezirk, wo alles noch in üppiger Blüte stand, war der Herbst gleich gar nicht zu spüren. 31
Irgendwo fern der Chaussee kam ein dumpfes, doch kräftiges Donnergrollen auf – im verwaschenen Himmelsblau zeichneten sich plötzlich ein paar kleine, unbewegliche Wolken ab. Eine von ihnen pirschte sich an die Sonne heran und wischte sie blitzschnell wie mit einem Lappen fort, woraufhin sofort ein leichter, kühler Wind blies. Er verlieh mir neue Kräfte, die ich freilich auch nötig hatte. Die Hitze und Eintönigkeit der hinter mir liegenden Befragungen hatten mich schon daran denken lassen, für heute Schluß zu machen, die letzten der beiden fünfstöckigen Zwillingshäuser in dieser Straße, die mit hübschen kleinen Balkons und dem schwarzen Netz der Hydroisolation versehen waren, für den nächsten Tag aufzusparen. In einem der Häuser wohnte das Aktmodell Tschebakow. „Ich bin kein bösartiger Mensch, bin ungefährlich wie ein Schwalbenschwanz-Schmetterling.“ Boris Tschebakow schüttelte seine lange, prachtvoll schwarze Mähne und lachte unbekümmert. „So urteilen Sie nur selbst, Inspektor, Sie machen mir den Eindruck eines durchaus gebildeten Mannes: Es kann doch vorkommen, daß jemand seine Berufung auf einem Gebiet verspürt, das außerhalb der Produktionssphäre liegt, hab’ ich recht?“ „Und wozu fühlen Sie sich berufen“, fragte ich interessiert, „zum Modellstehen?“ „Aber ich bitte Sie, was soll diese Frage! Sie arbeiten ja wohl auch nicht bei der Kriminalpolizei, weil es Ihnen Vergnügen bereitet, stinkige Diebe und betrunkene Ganoven einzufangen.“ „Nicht direkt.“ „Na sehen Sie. Genausowenig wie ich als Modell arbeite, weil ich mir nichts Schöneres vorstellen könnte. Wenn ich auch die Vorurteile mancher Leute über diese Tätigkeit ganz und gar nicht teile.“ Offenbar hatte ich meine Gesichtsmuskeln nicht rich32
tig in der Gewalt, denn Tschebakow bemerkte mein spöttisches Lächeln und sagte: „Großer Gott, verehrte Genossen und Mitbürger, wann werdet ihr endlich begreifen, daß das Modellstehen eine körperlich sehr schwere und zugleich schöpferische Tätigkeit ist!“ „Schöpferisch?“ fragte ich verblüfft. „Na, was dachten Sie denn! Weshalb, glauben Sie, ist die klassische Kunst so geistig durchdrungen und nicht bloß schnöde sexuell? Doch nur, weil Giordano oder Michelangelo, anstatt ihre Werke nach einem x-beliebigen, gut anzusehenden Stück Fleisch über geschmeidigem Knochengerüst zu gestalten, bestrebt waren, in der Schönheit des Körpers die der menschlichen Seele zu erkennen! Sie haben jahrelang nach ihren Modellen gesucht!“ „Warum ereifern Sie sich denn so, ich widerspreche Ihnen ja gar nicht. Freilich würde ich den Wagen nicht vor die Pferde spannen. Im Gegensatz zum Modell schafft der Künstler ja tatsächlich etwas. Doch zurück zu Ihrer Berufung …“ Das Zimmer von Boris Tschebakow war nicht sonderlich groß, quadratisch und erinnerte an ein dreidimensionales Farbfoto aus einem Journal für kulturvolles Wohnen. Eine breite Liege, zwei tiefe Sessel, ein farbenfroher Perserteppich auf dem Fußboden, eine elegante Schrankwand, Stereoplattenspieler mit modernster Verstärkeranlage, an den Wänden Ikonen, in den Regalen stapelweise Langspielplatten in grellbunten Hüllen, vier Kruzifixe – eins davon in der Form eines ausgesucht schönen antiken Bronzeleuchters. Auf der Zimmerdecke prangten, mit Kohlestift gezeichnet und von der Tür bis zum Fenster reichend, die Abdrücke riesiger nackter Füße. Und in diesem Gemisch von Salon, Boudoir, Musik- und Betstube herrschte er – ein kerngesunder, gutaussehender Bursche mit dem verschämt-frechen Lächeln um die Lippen. 33
„Zu meiner Berufung?“ sagte Tschebakow nachdenklich. „Ich weiß nicht, ob man das als Berufung bezeichnen kann, aber ich hätte große Lust, etwas über Jazz zu schreiben …“ Er verstummte, und ich fragte: „Einen Essay? Oder ein Buch?“ „Nichts von beidem. Ich möchte gewissermaßen mich selbst niederschreiben, meine Persönlichkeit, widergespiegelt im Jazz – ein Strom von Empfindungen, Bildern, Gedanken, kurz, jene Welt, die sich mir in der Musik erschließt.“ „Spielen Sie denn ein Instrument?“ „Nein, meine Berufung liegt im Zuhören. Im Hören und Fühlen …“ Weiß Gott, dieser Bursche brachte mich aus der Fassung. Wir leben mit festgefügten Vorstellungen, und ein scharfes Abweichen von der Norm ist schon dazu angetan, sie ins Wanken zu bringen. So musterte ich ihn nahezu ehrfurchtsvoll, war ich doch bislang felsenfest davon überzeugt gewesen, daß ein Mensch seine parasitären Neigungen um jeden Preis verbergen will. Mir war noch nie jemand untergekommen, der sein Faulenzertum dermaßen freimütig formulierte, es so offen zur Lebensmaxime erklärte. Ein König gewissermaßen, Seine Hoheit der Schmarotzer! „Sie können mir wohl nicht ganz folgen?“ fragte Tschebakow liebenswürdig. „So ist es.“ Ich nickte. „Ich wär Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir das ein bißchen genauer erläutern würden.“ „Aber bitte.“ Der Bursche rauchte eine Zigarette an, setzte sich bequemer im Sessel zurecht. „Wir alle leben in einer sehr reichen, einer materiell reichen Welt, und es besteht deshalb nicht die geringste Notwendigkeit, daß jeder einzelne von uns auf Biegen und Brechen materielle Werte schafft. Die Menschen jagen der technischen Entwicklung hinterher, was nicht ernster zu neh34
men ist als der Versuch einer Katze, ihren eigenen Schwanz zu erhaschen. Der Mensch beneidete den Vogel – und bekam den Segen der Bombenflugzeuge am eigenen Leib zu spüren. Er strebte danach, noch schneller zu denken und zu rechnen – bitte sehr: Der Bomber wurde durch eine elektronische Maschine ferngesteuert. Er träumte davon, im Finstern zu sehen – das Radarsystem gewährleistete höchste Treffsicherheit. Man könnte auch noch Einstein und die Atombombe ins Feld führen, doch um es kürzer zu formulieren: Die Menschen, statt sich mit ihren geistigen Interessen zu begnügen, streben nach einem Auto, und wenn’s ein Saporoshez ist.“ „Und wie sieht’s mit Ihren geistigen Interessen aus?“ fragte ich geduldig. „O danke, ich kann nicht klagen“, erwiderte Tschebakow gelassen. „Das hier sind meine Freunde, meine Erzieher des Gefühls.“ Er nahm mehrere Platten vom Bord und reichte sie mir. Auf einer der Hüllen prangte das meisterhaft gemachte Foto eines Pop-Musikers: ein junger Farbiger in der bekannten Ramses-Pose, die Gitarre auf den Knien, die Augen geschlossen. „Das ist Jimi Hendrix, ein großer Musiker. Sehen Sie den grünlichen Glorienschein um seinen Kopf? Ein Zeichen dafür, daß er damals nicht mehr lange zu leben hatte. Meine Güte, was für ein göttlicher Gitarrespieler! Zweifelsohne die erste Sologitarre der Welt. Hendrix hatte sie wie ein kleines Tier gezähmt – sein Instrument konnte geradezu sprechen. Wenn er spielte, griff er nicht einfach in die Saiten, nein, er schlug seine Gitarre, liebkoste, kniff und streichelte sie …“ „Haben Sie ihn denn mal spielen sehen?“ Tschebakow lachte spöttisch auf. „Wozu mußte ich ihn sehen, ich hab’ ihn gehört, ihn empfunden!“ Er zeigte auf eine andere Platte. „Das da ist ein Konzert von Janis Joplin. Und hier Frank Zappa, B. B. 35
King, George Harrison, Clayton-Thomas, Pink Floyd … Wollen Sie mal hören?“ fragte er überraschend. „Ach nein, danke, für solche ernsthaften Dinge fehlt mir offenbar die Berufung und mehr noch – die Zeit. Was mich betrifft, so gäbe es da gewiß einige Schwierigkeiten, denn leider bekomme ich mein Gehalt nicht für jenen Strom von Empfindungen, Bildern und Gedanken, die sich mir im Jazz offenbaren können. Aber ich wollte Sie noch was andres fragen …“ „Bitte sehr, ganz zu Ihren Diensten.“ „Wieviel kostet eigentlich eine solche Platte auf dem schwarzen Markt?“ Tschebakow lächelte gewinnend. „Angekratzt oder neu?“ „Neu.“ „Zwischen hundert und zweihundert Rubelchen.“ Das stimmte – über die einschlägigen Preise war ich bestens unterrichtet, denn ich hatte des öfteren mit Schwarzhändlern zu tun gehabt. „Wenn ich mir Ihren Plattenspieler betrachte, die Ikonen, die vielen Schallplatten und nicht zuletzt Sie selbst, Tschebakow, so bietet sich meinen Augen der Anblick eines modernen jungen Mannes, der nach dem letzten Schrei gekleidet ist: ein Hemd der Marke ‚Super-Ralph‘, auf Taille gearbeitet, mit vierzackigem Kragen und Goldnieten, Jeansanzug, doch nicht irgend so ein simpler nachgemachter, sondern ein original ‚Wrangler‘ …“ „ ‚Levis cotton‘ “, berichtigte Tschebakow gelassen. „Und nicht zu vergessen: weiße Leinenhose mit Schlag und Reißverschlüssen am unteren Saum.“ „Na schön, dann eben ‚Levis cotton‘, seien wir nicht kleinlich. Und Sie selbst sind so entrückt von der armseligen Geschäftigkeit des Durchschnittsbürgers, schweben dermaßen in hohen geistigen Sphären, daß ich unwillkürlich Neid verspüre – ich wollte auch immer ein solch bemerkenswerter Mensch, sein. Nur nagt da eine 36
kleine häßliche Frage in meinem Innern und verdirbt diesen herrlichen Eindruck …“ „Sie wollen wissen, wo ich die Mäuse für all das Zeug hernehme, ja?“ Tschebakow grinste unverschämt. „Genau. Sie haben’s erraten. Klären Sie mich doch bitte auf, sonst gehe ich, schüchtern wie ich bin, womöglich noch von hier weg, ohne mich danach erkundigt zu haben, und verschwitze auf diese Weise mein Glück. Dabei könnt’ ich mir vielleicht selber einen ‚Wrangler‘ leisten, Niethemden und Schallplatten, die nicht angekratzt sind und zweihundert das Stück kosten. Im Augenblick wird da nämlich einfach kein Schuh draus: Mein Gehalt ist höher als Ihrs, und doch kann ich mir nur Schallplatten mit Yves Montand leisten.“ „Aber gern klär’ ich Sie auf“, sagte Tschebakow bereitwillig. „Um reich zu werden, muß man stets drei Dinge beherzigen. Erstens: sparen. Zweitens: sparen mit dem Gesparten. Drittens: sparen mit dem sparsam Gesparten. Das ist das ganze Geheimnis.“ Ein cleverer Bursche. Arrogant und unverschämt. Offenbar hat er gerade einen einträglichen Coup gelandet und sich zeitweilig zur Ruhe gesetzt. Seine Selbstsicherheit war nur damit zu erklären, daß er sich im Augenblick außer Gefahr fühlte. Hinzu kam natürlich, daß er dem Wesen nach ein Schwätzer war; es gibt solche Männer, die in einer Tour gescheit daherreden müssen. Schweigen ist für sie gleich Zuchthaus; und wenn’s den Kopf kostet – sie können das Parlieren nicht lassen. „Wenn aber jemand Wert auf schönes Wohnen legt, auf einen ehrlich erworbenen Wohlstand, so verdreifacht sich das in den Augen der andern gleich, und Leute wie zum Beispiel unser ehemaliger ABV Posdnjakow sagen sofort: Du lebst über deine Verhältnisse!“ „Wieso ‚ehemaliger‘?“ fragte ich schnell. Tschebakow zögerte nur einen winzigen Augenblick 37
mit der Antwort, doch diesen Augenblick vermerkte ich wie einen kaum hörbaren Schnitt auf einem Tonband. „Nun, man sieht ihn eben nicht mehr. Früher kam er jeden Tag zu mir gelaufen, jetzt läßt er sich schon die zweite Woche nicht blicken.“ Eins war klar: Selbst wenn ihm etwas über die Geschichte mit Posdnjakow zu Ohren gekommen sein sollte, würde er nicht darüber reden. Da müßte ich schon was gegen ihn in der Hand haben, um ihn in die Ecke drängen zu können. Freilich würde sich ein Typ wie der auch dann noch herauswinden und das Blaue vom Himmel herunterlügen. Der Teufel sollte ihn holen! Ein Parasit, wie er im Buche stand. „Na, wie sieht’s aus, Tschebakow, hätten Sie nicht Lust, mir reinen Wein einzuschenken? Ich hab’ ganz den Eindruck, daß unsere Besserungsanstalten mit Ihnen keinen sonderlichen Erfolg hatten, oder?“ Tschebakow brach in schallendes, nahezu vergnügtes Lachen aus, und ich gelangte endgültig zu der Überzeugung, daß er sich völlig sicher vor uns fühlte. „Da trügt Sie Ihr Eindruck aber entschieden, Inspektor. Ich hab’ Ihnen doch schon vorhin gesagt, daß ich absolut ungefährlich bin, wie ein Schmetterling. Zwar haben Sie nicht viel Nutzen von mir, doch auch keinen Schaden …“ Er begann die Schallplatten wieder ins Regal einzuräumen. Plötzlich glitt aus einem der Stapel ein Foto, drehte sich im Hinunterfallen mehrmals und flatterte direkt neben meinem Sessel zu Boden. Ich hob das Bild auf und betrachtete es aufmerksam: Es zeigte ein hübsches, noch sehr junges Mädchen, das mit der einen Hand die Augen gegen die Sonne abschirmte. Den anderen Arm hatte sie dem lächelnden Boris Tschebakow um die Schulter gelegt. Ich habe sehr viel für Kriminalfilme übrig. Egal, ob sie gut oder schlecht sind – sie gefallen mir schon deshalb, 38
weil ich nie errate, wer nun eigentlich der Täter ist. Es gibt immer eine Menge Personen, die als Kandidaten für den Hauptbösewicht in Frage kommen, jeder hat etwas Verdächtiges an sich, und wenn ich dann wirklich jemanden ins Visier genommen habe, stellt sich unweigerlich heraus: Da ist noch wer im Spiel, der in seiner Schlechtigkeit alle andern übertrifft. Und am Ende ist stets der Sympathischste und Ruhigste von allen der Schurke. Die Schwierigkeit meiner Arbeit bestand freilich gerade darin, daß es solche Kandidaten gar nicht erst gab. Was die Sache um vieles schwieriger machte, als wenn ich es mit einem Dutzend ehrenwerter Verdächtiger zu tun gehabt hätte, unter denen sich mit Sicherheit der eine Bösewicht befand. Nach meinem Besuch bei Tschebakow, und zwar noch während ich die Treppe seines Hauses hinunterstieg, begriff ich endgültig: Keinen Schritt würde ich weiterkommen, wenn ich nicht wenigstens einen halbwegs realen Kandidaten zur Hand hatte. Die naheliegende Variante, den Verbrecher unter den möglichen Feinden Posdnjakows zu suchen, war trotz der aufwendig geführten Ermittlungen ein Schlag ins Wasser gewesen. Das hier war keine der klassischen Konstellationen, wo ein Verbrechen in einem Zugabteil, einem Wochenendhaus, das durch eine Lawine von der Außenwelt abgeschnitten ist, oder einem kleinen Hotel stattgefunden hat, das niemand betreten oder verlassen konnte, weil es zugesperrt war. In Posdnjakows Abschnitt lebten zwölftausend Menschen – soviel wie in einem kleinen adretten Außenbezirk, und es war einfach unmöglich, den Ruhigsten, Bescheidensten und Nettesten unter ihnen herauszufinden, um ihn des Verbrechens zu überführen. Der schlimmste Geselle der Gegend, wäre er mit dem ABV verfeindet gewesen, hätte ihm notfalls in einem finsteren Torbogen aufgelauert und einen Ziegelstein 39
über den Schädel gehaun. Aber eine solche Geschichte – nein! Keiner von denen wäre imstande gewesen, einen so dreisten Anschlag am hellichten Tag auszuführen. Und noch ein anderer Gedanke war mir gekommen. Wenn wir nun das Ganze nur deshalb in ein so böses Licht rückten, weil wir willkürlich zwei Dinge zusammenbrachten, die nicht das geringste miteinander zu tun hatten? Nach den Worten Posdnjakows stellte sich uns die Angelegenheit doch so dar, daß ihm jemand eine Falle gestellt, Gift gegeben und dann aus dem Stadion geschleppt hatte, um ihm Waffe und Dienstausweis zu stehlen. Doch konnte es nicht genausogut anders gewesen sein? Ohne Posdnjakow zu unterstellen, daß er log, lag ja auch eine weit weniger sensationelle Version im Bereich des Möglichen. Ich hatte schon des öfteren von Fällen pathologischer Trunkenheit gehört, bei denen jemand nach minimalem Genuß von Alkohol das Bewußtsein verlor. Im Zustand einer Neurose zum Beispiel, bei Überhitzung oder vorangegangener Lebensmittelvergiftung. Falls Posdnjakow so etwas passiert war und er sich vielleicht, ohne zu wissen wie, aus dem Stadion geschleppt hatte, wäre es durchaus denkbar, daß ihm Waffe und Ausweis von einem „Filzer“ entwendet worden waren. Bei den „Filzern“ handelte es sich um eine besonders widerwärtige Sorte von Dieben, die sich nur über Betrunkene hermachten … Über all das nachgrübelnd, kam ich in meiner Dienststelle an und wählte sofort Chalezkis Nummer. „Neuigkeiten für Sie“, brummte er kurz. „Und zwar gute.“ „Was denn, ich bin doch nicht etwa zum Major befördert worden?“ „Nach solchen Überraschungen müßten Sie sich schon in der Kaderleitung erkundigen. Bei mir geht’s um ernsthafte Dinge.“ 40
„Na, dann schießen Sie mal los.“ „Aber gern! Unsere Chemiker haben Posdnjakows Aussage bestätigt. Das beste wäre, Sie kämen auf einen Sprung bei mir vorbei.“ Zwei Minuten später war ich bereits bei Chalezki im Labor. „Gift?“ fragte ich noch von der Schwelle aus. Chalezki zögerte einen Augenblick, bevor er langsam erwiderte: „Tja, eigentlich nicht. Es ist mehr ein Medikament.“ „Ein Medikament?“ „Ja, die Chemiker halten es für einen Tranquilizer.“ „Klingt hübsch, aber unverständlich. Wie sagten Sie – ein Tranqui …“ „Tranquilizer. Das ist ein Beruhigungsmittel. Wie ich’s bei Ihnen auf dem Tisch gesehen habe.“ „Bei mir?“ „Ja, Andaxin. Das ist so etwas.“ „Was denn, Sie meinen, Posdnjakow sollte mit Andaxin betäubt werden? Dafür hätte man mindestens ein Kilo von dem Zeug gebraucht.“ „Andaxin ist ein schwaches Dämpfungsmittel, eine einfache Verbindung. Am Flaschenverschluß hingegen fand sich ein sehr kompliziertes Gemisch … Aber so setzen Sie sich doch.“ Chalezki nahm mir gegenüber Platz und zog einen Stapel Papier sowie einen dicken Fallstift mit weicher Mine zu sich heran. „Was hat’s denn nun mit dem Andaxin auf sich?“ fragte ich. „Nichts Besonderes. Das hab’ ich bloß als Beispiel angeführt, damit Sie sich was drunter vorstellen können.“ Chalezki zeichnete mit kurzen, leichten Strichen einen Hund aufs Papier. „Nur – während Andaxin oder Helenium zur Gruppe der ‚kleinen‘ Tranquilizer gehören, stellt das Präparat, das durch unsere Experten unter41
sucht worden ist, einen sogenannten ‚großen‘ Tranquilizer dar …“ Der Hund auf dem Blatt Papier sah ausgesprochen wütend und aufgebracht drein, wild und ängstlich zugleich. „Und worin unterscheidet sich ein ‚großer‘ Tranquilizer vom ‚kleinen‘?“ „Im Prinzip bestehen sie aus völlig unterschiedlichen chemischen Verbindungen. Die ‚kleinen‘ Tranquilizer gehören zur Gruppe der Karbamate, während die ‚großen‘ den Tiazinen zuzuordnen sind.“ Chalezki rückte mit dem Bleistiftende seine goldgefaßte Brille zurecht, schob das Blatt Papier mit dem wütenden Hund beiseite und machte sich daran, einen anderen Hund zu zeichnen. Dieser zweite hatte große Ähnlichkeit mit dem ersten, nur daß er still und friedlich dreinblickte und sein Schwanz lustig zusammengeringelt war. „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich von Ihren Hundezeichnungen losreißen und mir die Sache ein bißchen genauer erklären könnten“, sagte ich höflich. „Nach Hunden steht mir der Sinn im Augenblick nicht so sehr.“ „Schade“, erwiderte Chalezki gelassen, „ich fertige die Zeichnung extra für Sie an, weil ich Ihrem abstrakten Denkvermögen nicht allzuviel zutraue. Ihr Kriminalisten könnt doch nur in konkreten Kategorien denken: Der und der hat was gestohlen; ist geflüchtet, wurde verhaftet, hat ausgesagt.“ „Besten Dank für Ihre hohe Meinung über uns.“ Ich verbeugte mich leicht. „Ich möchte lediglich bemerken, daß meine konkreten Kategorien Grundlage für Ihre Abstraktionen sind …“ Chalezki lachte. „Diesmal ist freilich leider das Gegenteil der Fall. Aus meinen verschwommenen Abstraktionen müssen Sie irgendwelche konkreten Folgerungen 42
suchen, und da spreche ich Ihnen schon jetzt mein Beileid aus. Eins nämlich haben die ‚großen‘ wie auch die ‚kleinen‘ Tranquilizer gemeinsam – sie wirken beide auf die Psyche. Über die schwachen Präparate wie Helenium, Andaxin, Trioxazin wissen Sie selbst Bescheid, mit den starken aber behandelt man schwere Erkrankungen: Wahnvorstellungen, Depressionen, Halluzinationen. Unter diesen starken Mitteln ist das Aminazin am bekanntesten.“ „Und was haben die Hunde damit zu tun?“ „Das kann ich Ihnen sagen. Gibt man einem tobenden Hund eine Tablette Trioxazin ins Futter, wird er sofort sanft und lustig.“ „Das liegt nur am Futter! Wenn Sie mir jetzt eine Kleinigkeit zu essen vorsetzten, würde ich auch ohne Medikament sanft und lustig werden.“ „Das seh’ ich Ihnen an der Nasenspitze an. Der Unterschied ist nur, daß der Hund einzig durch das Medikament, ohne jede Nahrung selig würde.“ „Gut, das ist klar. Also hat man Posdnjakow eine tüchtige Dosis Aminazin verabreicht?“ „Da liegt eben der Haken. Unsere Chemiker haben ein Präparat ermittelt, das in keinem einzigen Nachschlagewerk verzeichnet ist. Bei dem, was sie gefunden haben, handelt es sich nicht schlechthin um einen großen Tranquilizer, sondern um eine Art Tiazin-Giganten. Im Prinzip gleicht er dem Aminazin, nur ist sein Molekül sechsmal größer und viel komplizierter. Mit einem Wort, die Experten haben gewisse Schwierigkeiten, ein eindeutiges Gutachten über dieses Präparat abzufassen.“ „Tja, und wie soll ich nun weitermachen?“ „Mit mir Freundschaft halten und an mich glauben.“ „Das will ich gern tun, Noj Markowitsch, sogar zu einem Bestechungsgeschenk wäre ich bereit.“ „Bestechungsgeschenke nehm’ ich nur in Gestalt von alten Briefmarken an, aber Sie sind ja viel zu hektisch 43
veranlagt, um sich mit Philatelie zu befassen. Darum verrate ich Ihnen uneigennützig, was Sie unternehmen können.“ „Ich lausche dem Propheten der Wissenschaft und Philatelie mit Ehrfurcht.“ „Fahren Sie morgen früh ins Forschungszentrum für Neuropsychiatrie, die Leute dort haben ein großes Laboratorium und arbeiten an solchen Präparaten. Man wird Ihnen eine qualifiziertere Konsultation gewähren, als ich das kann, und Sie werden sich im Gespräch bestimmt Klarheit über verschiedene undurchsichtig scheinende Dinge verschaffen.“
4 Das Forschungszentrum erwies sich als ein moderner Bau, der fast ausschließlich aus Plast und Glas bestand. Von außen besaß es Ähnlichkeit mit einem Flughafengebäude, von innen mit einem Eisstadion. So weit das Auge reichte – Glas: die Pförtnerloge, die Wände, teilweise sogar die Decken aus Glas, einzig das Drehkreuz am Eingang hinter der Glastür war aus Metall und schien Bestandteil des Pförtners zu sein, eine vervollkommnete Fortsetzung seines knorrigen Körpers, eine glänzende Verlängerung seiner Arme. Der Wächter besah sich meinen Dienstausweis sehr aufmerksam, prüfte ihn ein ums andere Mal, so als hoffte er, irgend etwas darin zu finden, das ihm gestattete, mich nicht passieren zu lassen. Doch ich besaß einen Passierschein, meine Papiere waren in Ordnung, und so sagte er schließlich: „Na, dann gehen Sie mal durch.“ In seiner Stimme schwang Bedauern mit. Die Treppe hinauf – zweiter Stock, endloser Korridor, Biege nach rechts, dann eine Glastür mit der Aufschrift 44
„Sekretariat“. Diese Bezeichnung verwundert mich bei Empfangsräumen jedesmal aufs neue. Nie ist der Name des Leiters an der Tür zu finden, aber stets steht „Sekretariat“ daran, so als wäre die Sekretärin die Hauptperson, der Mann jedoch, dessen Eingang sie bewacht, nicht weiter wichtig. In diesem gläsernen Aquarium regierte ein märchenhaft schönes tropisches Fischchen. Das Fischchen war ungefähr zwanzig, und es bemühte sich, streng zu wirken. Was sie freilich nur noch jünger und hübscher erscheinen ließ. Ich begrüßte sie und sagte: „Sie haben Ähnlichkeit mit einer Sonnenblume. Langes blondes Haar, schwarze Augen, schlanke Figur im grünen Kostüm.“ Doch sie erwiderte nüchtern: „Sie waren für dreizehn Uhr bestellt, Sie haben sich um sieben Minuten verspätet.“ „Daran ist Ihr Pförtner schuld“, sagte ich. „Achteinhalb Minuten hat er mich aufgehalten, so gründlich mußte er meine Papiere studieren.“ „Das erklären Sie bitte alles Professor Panafidin. Alexander Nikolajewitsch verspätet sich nämlich niemals, und er kann es auf den Tod nicht leiden, wenn seine Besucher es tun. Jetzt müssen Sie eine Weile warten; er hat Kollegen drin und wird erst in etwa vierzig Minuten wieder frei sein.“ „Na wunderbar“, sagte ich, „gibt’s hier wenigstens so was wie ein Büfett oder eine Kantine?“ „Ja, auf unserer Etage befindet sich ein Büfett“, erwiderte das Fischchen, nun endlich mit einem Lächeln, das sie nicht mehr unterdrücken konnte. Offenbar belustigte es sie, daß ich bemüht war, aus dem Mißerfolg einen konkreten Nutzen zu ziehen. „Dann mal guten Appetit.“ „Danke.“ Ich machte mich auf, in dieser Einöde von Glas und Plast die gastronomische Oase zu suchen. In einem Aquarium, das aufs Haar dem Wasserbecken mit dem tropischen Fischchen glich, stand eine elektri45
sche Kaffeemaschine, und die Tischchen davor, etwa zwölf an der Zahl, waren meist besetzt. Mein Erscheinen wurde von niemandem weiter zur Kenntnis genommen, ich kaufte mir eine Tasse Kaffee und ein paar belegte Brote, fand einen freien Tisch in der Mitte des Raumes und begann in aller Ruhe, meine Umgebung zu mustern. Die Leute, die hier saßen, hatten nichts Besonderes an sich, sie waren teils jünger, teils älter, schienen besorgt oder weniger besorgt zu sein, die einen aufgeräumt, andere bedrückt, und die Gesprächsfetzen, die ich aufschnappte, schwebten wie eine aus Mosaiksteinen zusammengesetzte durchsichtige Kuppel über meinem Kopf: „… Was quasselst du mir dauernd die Ohren voll? Der Mößbauer-Effekt hat damit nicht das geringste zu tun!“ „… Im Schuhsalon haben sie gestern Stiefel mit Plateausohlen verkauft. Achtzig Rubel das Paar, ein sündhafter Preis!“ „… Perzowskis Kontrahent wird ihm noch die Promotion vermasseln.“ „… Haben Sie das Produkt noch nicht mit dem Kernresonanzspektrometer getestet?“ „… Er hätte die Finger von den Phasphozenen lassen sollen. Er hat doch nicht die blasseste Ahnung davon.“ „… Ein Glückspilz ist das, nichts weiter. Der ‚Ararat‘ und die Goldmedaillen sind ihm nur so zugeflogen.“ „… Wir haben sämtliche Kurven auf dem Oszillographen aufgenommen. Nein nein, mit der Kinetik gibt’s keine Probleme.“ „… Walka Tabakman hat in Tschussowoj im Ural Urlaub gemacht. Eine blödsinnige Ikone hat er sich mitgebracht – ein Stück zum Zusammensetzen, aus fünfzehn Teilen. Da kann man bloß den Kopf schütteln. Er reinigt sie mit Glyzerinaldehyd.“ „… Das ist vielleicht ’ne Bande! Pronjakin war kaum ins Institut für anorganische Chemie abgedampft, da 46
haben sie in einem Dewargefäß fünf Liter Bier rangeschafft und in der Muffel Schaschlyk gebraten – herrlich!“ „… Das braucht gar nichts zu besagen. Saschka Kopytin war hier jahrelang ein kleiner Assistent, im Petrolchemischen Institut aber hat er in kürzester Zeit seinen Doktor gemacht.“ „… Der neue Shiguli ist natürlich besser als der alte, aber daß er gleich um zwei Tausender teurer wird!“ „… Alles hab’ ich mir versagt, hab’ überall Schulden gemacht und das ganze Geld in die AWG gesteckt.“ „… Panafidin ist dabei, eine tolle Apparatur zu konstruieren.“ „… Ein Schaumschläger ist euer Panafidin.“ „… Begabte Leute haben stets Neider.“ „… Die Mädchen aus seinem Labor jammern ganz schön – keine Minute kommen sie zum Ausruhn.“ „… Für Faulenzer hat Panafidin eben nichts übrig.“ „… Er hat sich übrigens einen neuen Shiguli gekauft, einen roten.“ „… eingebildeter Fatzke.“ „… Laßt nur, er weiß jedenfalls, was er will.“ „… Panafidin.“ „… Panafidin …“ Panafidins Arbeitszimmer, das von einer sterilen Sauberkeit war, wies nicht einmal andeutungsweise jene gemeinhin als schöpferisch bezeichnete Unordnung auf. Jeder Gegenstand befand sich an dem ihm offenbar genau zugemessenen Platz, man spürte förmlich, wie heftig darüber nachgedacht worden war, ob er gerade hier und nicht woanders stehen sollte. Am besten freilich paßte der Hausherr selber in diesen Raum. Einen solchen Professor sah ich zum erstenmal in meinem Leben – er war wahrscheinlich noch keine vierzig. Ein muskulöser, athletisch gebauter Mann mit eleganter 47
Brille, noch eleganterem dunkelgrauem Anzug für „everytime“, farbenfrohem Schlips mit großem Knoten und einer Platinspange. Am markantesten aber war zweifelsohne sein Gesicht – ich betrachtete es voller Neid. Langes weizenblondes Haar, kräftige Backenknochen, leicht hagere Wangen, das Kinn ein unerschütterlicher Granitblock. Hinter den länglichen, bläulich schimmernden Brillengläsern blitzten die eiskalten, ruhigen Augen eines intelligenten Menschen, der sich seines Wertes wohl bewußt ist. Dieser Monolith in Menschengestalt, der ungezwungen in seinem bequemen Sessel hinter dem blankpolierten leeren Schreibtisch thronte, strahlte solch eine eiserne Selbstsicherheit, Wohlsituiertheit und unerschütterliche Entschlossenheit aus, die Vorzüge des Lebens zu nutzen, daß ich ein wenig aus der Fassung geriet und leicht verunsichert sagte: „Man hat mir versprochen, mich bei Ihnen anzumelden. Ich bin Inspektor Tichonow von der Moskauer Miliz.“ „Sehr angenehm. Professor Panafidin. Bitte setzen Sie sich.“ Sofort gewann ich meine für Sekunden verlorene Fassung zurück, denn hinter diesem Block geballten Willens wurde eine gewöhnliche menschliche Schwäche sichtbar, die übliche kleine Eitelkeit. Zwar entsprach seine Begrüßungsfloskel rein äußerlich der Norm, doch war mir nicht die stolze Befriedigung entgangen, mit der er laut seinen Titel genannt hatte, als Zeichen gewissermaßen, einem besonderen Kreis gottbegnadeter Menschen zuzugehören. Auch begriff ich, daß Panafidin diesen Professorentitel noch nicht lange trug. Ich nahm im Sessel Platz und reichte dem Professor das Gutachten unserer Experten. Dazu ein Blatt Papier mit der Formel jenes Präparats, das am Verschluß der Bierflasche entdeckt worden war. „Wir hätten uns gern wegen dieser chemischen Ver48
bindung mit Ihnen beraten. Wer stellt sie her, wer arbeitet damit, wo findet sie Anwendung?“ Panafidin überlas flüchtig das Gutachten, griff dann zu dem Blatt mit der Formel und studierte es aufmerksam. Dabei bewegte er die Lippen und rückte mit dem Zeigefinger die Brille auf der Nasenwurzel zurecht. Inzwischen betrachtete ich das Zimmer. Auf dem Fensterbrett lag ein prachtvoller finnischer Tennisschläger, und in der Ecke des Raumes, nahe beim Garderobenständer, stand eine weiße Sportlertasche mit der Aufschrift „Adidas“, um die ihn jeder Fan beneidet hätte. Panafidin richtete seine blaugrauen Augen auf mich, die, nassem Asphalt vergleichbar, kaum merklich glänzten, und fragte: „Ja und, besitzen Sie dieses Präparat?“ Ich glaubte zu erkennen, daß er erregt war. „Ich? Nein.“ Ich hätte schwören mögen, daß Panafidin innerlich Erleichterung verspürte. Er schob das Blatt beiseite und sagte kalt lächelnd: „Ihre Experten haben sich geirrt. Es handelt sich hier um einen Artefakt.“ Und herablassend erklärte er: „Das ist ein Pseudofakt, ein wissenschaftlicher Fehler.“ „Wieso das?“ fragte ich und horchte auf, war mir doch keinesfalls der jähe Stimmungswechsel des Professors entgangen. „Weil ein solches Präparat leider noch nicht existiert.“ Panafidin nickte zu dem Blatt mit der Formel hin. „Diese Verbindung hat die Bezeichnung 5,6-Dimethylaminopropyliden-10,17-dihydroxybenzocycloheptan. Sie besitzt Ähnlichkeit mit dem stark dämpfenden Medikament Triptisol, ist jedoch um ein vielfaches stärker, auf Grund der Aminketten …“ „Wie können Sie sich das bloß alles merken?“ fragte ich in aufrichtiger Verblüffung. Panafidin lächelte von oben herab. „Erstens merke ich mir das nicht, sondern lese es einfach aus der Formel 49
heraus, und zweitens befassen wir uns selber mit diesem Präparat, ziemlich lange schon. Bis jetzt jedoch leider ohne Ergebnis.“ „Sie wollen also sagen, daß dieses Präparat der Wissenschaft unbekannt ist?“ Wahrscheinlich hatte ich mich falsch ausgedrückt, denn um Panafidins Mundwinkel spielte erneut jenes mokante Lächeln. Er erwiderte: „Den Chemikern ist diese Verbindung schon bekannt, aber nur auf dem Papier. Es ist uns bisher nicht gelungen, sie wenigstens unter Laborbedingungen, in vitro, herzustellen.“ „Und weshalb interessieren Sie sich so dafür?“ „Nach unseren Vorstellungen müßte das ein Tranquilizer von immenser Indikationsbreite sein. Die Existenz eines solchen Medikaments könnte die gesamte Psychotherapie revolutionieren.“ „Worin unterscheidet sich denn dieser Tranquilizer von den bereits existierenden?“ Panafidin spielte nachdenklich mit seinem Feuerzeug, einem hübschen, stromlinienförmigen Gegenstand, und sah mich aufmerksam an. „Wie es scheint, sind Sie in diesen Fragen nicht ganz kompetent, deshalb will ich mich bemühen, die Dinge ein bißchen vereinfacht darzustellen. Die Geschichte begann damit, daß vor zwanzig Jahren ein gewisser Doktor Berger einen Geist aus der Flasche ließ, dem die Gelehrten die Bezeichnung ‚Tranquilizer‘ gaben, was soviel bedeutet wie ‚Beruhiger‘. Damit wurde eine Ära eröffnet, die der Chemie die unmittelbare Einwirkung auf den psychischen Zustand des Menschen erlaubte. Im großen und ganzen war das durchaus eine zeitbedingte Erfindung, denn die schädlichen Begleiterscheinungen des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts – geistige Überforderung, Informationsüberflutung, Lärmpegel, höheres Lebenstempo – überstiegen die Fähigkeit unserer Psyche, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen, um ein vielfaches.“ 50
Das Telefon klingelte. „Entschuldigen Sie“, sagte der Professor und nahm den Hörer ab. „Ja, Panafidin am Apparat. Ah, du! Das ist ja eine Ewigkeit her! Wenn man in unserer heutigen Zeit Freundschaft halten will, muß man entweder zusammen wohnen oder gemeinsam arbeiten … Vielleicht kannst du heute abend ins Stadion ‚Schachtjor‘ kommen, dort ist ein herrlicher Tennisplatz … Nein, zur ‚Wissenschaft‘ fahr’ ich nicht, das ist wenig reizvoll. Na wunderbar! Also dann bis heute abend, laß dich umarmen.“ Panafidin legte den Hörer wieder auf und fuhr ohne jede Überleitung fort: „Da unsere Psyche diesen modernen Anforderungen nicht mehr gewachsen war, tauchten immer häufiger nervliche Überlastungen, Depressionen, unerklärliche Angstzustände auf. Die Tranquilizer nun vermochten solche Erscheinungen aus der Welt zu schaffen. So ist es nur verständlich, daß diese Medikamente in der ganzen Welt breite Anwendung finden …“ Ich unterbrach Panafidin: „Auf welche Organe wirken die Tranquilizer ein?“ Panafidin klickte mit dem Feuerzeug, rauchte eine Zigarette an, blies geräuschvoll den Rauch aus und wedelte die blaue Wolke beiseite. Dann sagte er ohne große Eile: „Speziell auf das limbische System, das sich zwischen den großen Hirnhemisphären und dem Hirnstamm befindet. Vereinfacht ausgedrückt, ist genau das der Sitz unserer Empfindungen. Deshalb begannen, kaum daß Berger seine Entdeckung gemacht hatte, Chemiker, Psychiater und Psychologen in allen Richtungen nach analogen Medikamenten zu suchen.“ „Sie sagten eben: ‚Die Chemiker begannen zu suchen …‘ Bedeutet das, sie tasteten sich blindlings heran?“ „Nein, das bedeutet es nicht. Ganz und gar nicht. Natürlich wohnt das Element blinden Suchens einem jeden Experiment inne, wir aber befassen uns mit Stoffen ein und derselben Klasse und Gruppe. Wenn wir auf ein 51
Präparat hinarbeiten, dann sind seine Eigenschaften schon im vorhinein programmiert.“ „Diese Verbindung“, ich deutete auf das Blatt mit der Formel, „mußte also nach dem vorgegebenen Mechanismus reagieren?“ „Ja, damit rechnen wir felsenfest. Doch wie gesagt, leider existiert der Stoff vorerst nur in unseren wissenschaftlichen Plänen und Wünschen. Freilich ist das Interesse der Chemiker und Ärzte an diesem Präparat so groß, daß es bereits einen Namen hat – wir nennen es Metaproptisol. Nur ist es chemisch eben noch von niemandem aufbereitet worden, jedenfalls nach meinen Informationen, und wir verfolgen sämtliche internationalen Veröffentlichungen auf diesem Gebiet.“ „Und weshalb glauben Sie, daß dieses Medikament die Psychiatrie revolutionieren würde?“ „Hm. Ich will versuchen, das volkstümlich zu erklären. Sie kennen doch das Märchen von der traurigen Prinzessin?“ „Nun ja …“ „Die Prinzessin war traurig, bedrückt und unglücklich, sie lachte nie. Dann aber erschien der Dummkopf Iwanuschka und schenkte ihr einen Frosch oder so etwas, ich weiß es nicht mehr genau. Und die Prinzessin mußte lachen. Merken Sie, worauf ich hinauswill?“ „Noch nicht ganz …“ „Die Mythen basieren stets auf Grundwahrheiten. Die traurige Prinzessin war psychisch krank. Der Dummkopf Iwanuschka gab ihr ein unbekanntes Beruhigungsmittel, und das Mädchen wurde gesund. Soweit die Legende. Die Wirklichkeit aber sieht so aus … Tja, wie soll ich es erklären … Mit Hilfe eines ‚großen‘ Tranquilizers könnte man die Hypertonie angehen, Geschwüre heilen, Depressionen und Neurosen. Und nicht zuletzt die Schizophrenie. Die wichtigste Wirkung des Medikaments bestünde darin, nervliche Überlastungen 52
völlig abzubauen. Der Mensch würde von solchen Zuständen wie Angst, Schrecken, Niedergeschlagenheit befreit werden.“ „So einfach ist das also“, sagte ich. „Die Wissenschaft braucht das Medikament bloß in die Hand zu bekommen, und schon stimmt die Sache wieder. Es gilt gewissermaßen nur, das Geheimnis des Dummkopfs Iwanuschka zu entschlüsseln.“ „Ganz so einfach ist es leider auch wieder nicht. Dazu kennen wir den Iwanuschka noch viel zu schlecht. Die Menschheit ist durch ihre mikroskopisch kleinen wissenschaftlichen Siege eitel geworden. Sie platzt fast vor Stolz, weil ihr Fuß den Mond betreten hat, den Grund des Ozeans, weil sie um ein Haar das Neutrino in die Hand bekam. Über sich selbst aber weiß sie so gut wie nichts. Fast nichts oder zumindest katastrophal wenig.“ Ich hob abwehrend die Hand. „Enttäuschen Sie mich nicht, Professor. Bislang hatte ich eine bessere Meinung über die Errungenschaften der Medizin.“ „Sie dürfen mich nicht zu sehr beim Wort nehmen. Die moderne Wissenschaft teilt keineswegs die Ansichten Zarathustras, der die Leber für den Sitz sämtlicher Leidenschaften und Kümmernisse hielt. Wir befinden uns auf einer anderen Position. Doch wenn wir einigermaßen nüchtern urteilen, müssen wir zugeben: So übermäßig weit von diesen Vorstellungen haben wir uns gar nicht entfernt.“ „Sie sehen den Menschen ja noch simpler als ein Pathologe“, erwiderte ich ein wenig spöttisch. Panafidin zuckte die Achseln. „Und weshalb sollte ich ihn anders sehen?“ Abermals schrillte das Telefon; Panafidin entschuldigte sich und griff zum Hörer. „Wladimir Petrowitsch, ich grüße Sie! Selbstverständlich denk’ ich dran, und ich wiederhole: Wer seine Schulden bezahlt, vermehrt sein Gut. Aber ja doch, das versteh’ 53
ich. Allerdings müssen auch Sie mich verstehen – ich hab’ da gleichfalls einiges zu berücksichtigen. Ich persönlich wäre schon morgen bereit zu opponieren, aber ich kann nicht das ganze Institut hineinziehen … Und ich sag’ Ihnen ganz unverblümt: Mach’ ich’s so, handle ich mir für meine Mühen Ehren wie Tadel ein, mach’ ich’s anders, ist die Sache gleich gar für die Katz. Meine Zeit aber ist zu knapp bemessen, als daß ich jemanden auf meinem Buckel ins Paradies tragen kann … Also bitte, lassen Sie sich das noch mal durch den Kopf gehen. Ich umarme Sie, mein Lieber …“ Er legte den Hörer auf und brummte: „Jaja, diese Herren Funktionäre, immer suchen sie einen Dummen. Na, Schwamm drüber. Sie stießen sich an meiner, wie Sie glauben, zu simplen Einstellung zum Menschen?“ „Ach, lassen wir das.“ Ich lenkte ein, denn ich begriff, daß uns eine solche Diskussion zu weit weg führen würde. Ich nahm abermals das Blatt mit der gigantisch anmutenden Formel zur Hand und betrachtete es – ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen. Schließlich fragte ich: „Alexander Nikolajewitsch, Sie sagten vorhin, daß dieser Stoff von der Formel her dem Triptisol gleicht. Wie groß müßte nach Ihren Erfahrungen die Dosis Triptisol sein, damit ein völlig gesunder Mensch zehn bis fünfzehn Minuten nach der Einnahme das Bewußtsein verliert?“ Panafidin sah mich verblüfft an. „Seltsame Frage“, sagte er. „damit bin ich noch nie konfrontiert worden. Aber das haben wir gleich.“ Er nahm den Füller zur Hand, notierte ein paar Zahlen, multiplizierte. „Ich denke, etwa dreißig Tabletten, wenn man von dem üblichen Anteil von null-Kommafünfundzwanzig Milligramm pro Tablette ausgeht. Aber warum fragen Sie danach? Wenn’s kein Geheimnis ist, versteht sich.“ 54
Ich überlegte kurz und kam zu dem Schluß, daß ich es ihm sagen konnte. „Mit diesem Präparat, von dem Sie glauben, es existiert nicht einmal in Labormengen, wurde ein Mensch vergiftet. Uns interessiert natürlich, wie der Verbrecher an diesen Stoff gelangen konnte.“ Panafidin sah mich an, und ich hatte den Eindruck, er sei eine Spur blasser geworden. „Vergiftet?“ fragte er gepreßt. „Einen Augenblick mal … Wieso glauben Sie, daß er gerade mit Metaproptisol …?“ „Nicht ich glaube das, unsere Sachverständigen behaupten es.“ „Mir ist schon klar, daß nicht Sie das glauben“, sagte Panafidin unerwartet barsch. „Auf welcher Grundlage aber sind Ihre Leute zu dieser Schlußfolgerung gelangt? Haben sie die Leiche untersucht?“ „Nein, nein, das brauchten sie zum Glück nicht“, erwiderte ich, und der Schreckgedanke, Posdnjakow hätte tot sein können, überflutete mich. „Der Mann ist mit dem Leben davongekommen.“ „Aber was, zum Teufel haben sie dann untersucht?“ rief Panafidin. In diesem Augenblick klingelte erneut das Telefon. Er riß den Hörer auf und bellte, ohne erst hinzuhören: „Ich bin beschäftigt! Später!“ Dann knallte er den Hörer mit solcher Wucht auf die Gabel, als wollte er seine Wut über meine Begriffsstutzigkeit an ihm auslassen. „Also was ist, wie sind sie zu dieser Formel gelangt? Auf Grund welcher Ermittlungen?“ „Unsere Chemiker haben den Verschluß einer Bierflasche untersucht“, erwiderte ich gelassen. „Das Gift war in der Flüssigkeit dieser Flasche aufgelöst.“ „Einen Flaschenverschluß? Das sind doch verschwindend geringe Spuren! Und Ihre Experten wollen …“ „Sie haben“, antwortete ich gewichtig und dachte an Chalezki. „Unsere Sachverständigen können eine ganze Menge.“ 55
Panafidin erhob sich abrupt. „In diesem Falle muß ich sofort mit ihnen sprechen. Und in die Protokolle der Analysen einsehen … wenn es möglich ist.“ „Unsere Experten sind heute leider nicht zu erreichen“, sagte ich sicherheitshalber. „Sie haben eine Konferenz im Republikmaßstab. In ein, zwei Tagen – bitte sehr.“ Panafidin setzte sich wieder. „Der Teufel soll diese Konferenz holen …“, sagte er mechanisch und verfiel in Nachdenken. Dabei massierte er sich mit den langen, kräftigen und sehr gepflegten Fingern heftig die Stirn. „Nein, einfach unmöglich … ein Artefakt ist das, verstehen Sie, ein Artefakt … ein Irrtum …“ Ich zuckte die Achseln, Panafidin aber murmelte weiter vor sich hin: „Also gut, angenommen, sie wollten den Mann vergiften, warum dann ausgerechnet mit Metaproptisol? Das ist weiß Gott ein Irrsinn! Es gibt doch genug andere Mittel! Oder etwa nicht, Inspektor?“ „Sie wissen das bestimmt besser als ich“, erwiderte ich neutral. Panafidins Gedanken liefen offenbar schon in eine andere Richtung, denn er fragte hastig: „Ist der Verbrecher gefaßt?“ „Wir ermitteln in dieser Angelegenheit“, sagte ich ausweichend. „Doch vorausgesetzt, unsere Experten irren sich nicht und der Stoff existiert tatsächlich, steht jedenfalls fest, daß die erste Dosis ganz und gar zweckentfremdet und wahrscheinlich nicht im Sinne des Erfinders verabreicht wurde.“ „Und wer sollte vergiftet werden? Falls es kein Geheimnis ist.“ „Mit diesem Präparat ist ein Anschlag auf einen Angehörigen der Miliz verübt worden“, sagte ich. „Der Verbrecher hat ihm Waffe und Dienstausweis abgenommen.“ 56
„Zustände wie in Asien“, knurrte Panafidin und schien sich endlich wieder in die Gewalt zu bekommen, „wie bei den Wilden. Hunderte von Leuten strampeln sich ab, damit Kranke geheilt werden können, irgend so ein Unzivilisierter aber flößt das Zeug einem Gesunden ein.“ Er verstummte und fuhr dann nach einer Weile fort: „Und dennoch glaube ich, daß es sich hier um ein Mißverständnis handelt. Mir will einfach nicht in den Kopf, daß ein Chemiker diesen Stoff synthetisiert haben könnte, ohne zu begreifen, was er da in Händen hält.“ „Sie glauben also nicht daran, daß diese Verbindung zufällig entdeckt wurde?“ Panafidin drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus und lächelte herablassend. „Ihre Frage beweist einmal mehr, wie sich die Leute unsere Arbeit im allgemeinen vorstellen. Wir tappen allesamt im dunkeln, plötzlich aber lacht einem von uns das Glück, und bums! – ist eine große Entdeckung gemacht. Wie bei einem Schatz, den man hebt und dann der Öffentlichkeit zum Bestaunen überläßt. Nein, nein, so funktioniert das heute nicht mehr …“ „Und wie funktioniert es dann?“ fragte ich friedlich, obwohl mir sein gelehrtes Gehabe mittlerweile bis zum Hals stand. Mir ging es einzig darum, nicht die Brücken hinter mir abzubrechen, wenn ich von hier fortging. Außerdem hatte die kaum merkliche, von mir aber doch wahrgenommene Unruhe Panafidins mein kriminalistisches Gespür angestachelt. Der Mann wußte oder ahnte zumindest etwas, hatte möglicherweise sogar konkrete Vermutungen, mit denen er nicht herausrücken wollte. „Die Wissenschaft hat sich außerordentlich spezialisiert“, erklärte Panafidin, „und auf jedem Teilgebiet befassen sich Spezialisten von Rang mit den Detailfragen. Wenn die Gesamtheit ihrer Kenntnis ein bestimmtes Niveau erreicht hat, setzt einer dieser Leute den letzten, 57
oftmals winzigen, aber entscheidenden Mosaikstein, und fertig ist das große Gebäude einer Entdeckung.“ „Und wenn inzwischen jemand beim Metaproptisol den letzten Stein gesetzt hat?“ „Ausgeschlossen.“ Panafidin schüttelte den Kopf. „Ich selbst bin Vorarbeiter auf diesem Bau und weiß, wer woran arbeitet. Wir haben das Haus noch nicht bis zum Dach hochgezogen.“ „Wär’s denn aber nicht denkbar, daß jemand den Tempel, den Sie aus Ziegelsteinen errichten, an anderer Stelle bereits einfach in Beton hingeklotzt hat?“ „Gewiß, denkbar wäre das schon. Aber da müßte dieser Jemand ein Mathematiker wie Lobatschewski, ein Physiker wie Einstein und ein Chemiker wie Liebig in einem sein. Haben Sie einen solchen Mann bei der Hand?“ Panafidin erhob sich und fügte hinzu: „Ich denke oft über den erstaunlichen Sinn meines Berufs nach. Ich bin Chemiker, vielleicht erklärt dieser Umstand einen gewissen Hang zum Chemozentrismus in mir und meiner Weltanschauung. Ungeachtet dessen aber ist die Chemie tatsächlich allgegenwärtig. Was Sie auch hernehmen: Strickjacken, Gummireifen, Kleider, Anzüge, die industrielle Produktion, Ernte und Düngemittel, ja selbst die Liebe und das Kinderkriegen – alles ist heute abhängig von der Chemie. Die Chemie ist nun einmal die Nummer eins unter den Wissenschaften …“ „Und wenn man davon ausgeht“, unterbrach ich ihn, „daß alles Neue – Medikamente, Ideen, Theorien, Maschinen, die Mode schließlich – von der Wissenschaft bestimmt wird, dann stehen Sie als Chemiker an der Spitze der Menschheit.“ Ich lächelte spöttisch und fragte, ohne Panafidin die Möglichkeit einer Erwiderung zu geben: „Können Sie mir Ihr Labor zeigen? Die Abteilung, in der Sie über dem Metaproptisol arbeiten.“ „Warum nicht? Selbstverständlich …“ Panafidin ging zum Wandschrank, holte seinen blü58
tenweißen, in Waschblau gespülten, bis zu knackender Steife gestärkten und gebügelten Kittel hervor und streifte ihn sich über die breiten athletischen Schultern. „Gehen wir. Sie bekommen einen Kittel im Labor.“ In dem großen Raum mit dem mehrflügligen Fenster arbeiteten vier Personen. „Guten Tag, Kollegen“, sagte Panafidin. Die Laboranten schauten flüchtig von ihrer Arbeit auf und gaben ein mehrstimmiges „Guten Tag, Alexander Nikolajitsch“ von sich. Sie unterbrachen ihre Tätigkeit für keine Sekunde. Eine Frau baute auf einem langen Tisch vor einer Gitterwand eine komplizierte Apparatur zusammen, in deren Innern sich etwa fünfzig verschiedene Kolben befanden sowie Reagenzgläser, gläserne Verbundröhren, Absperrhähne und Heizkörper. An mehreren Knotenpunkten dieses zerbrechlichen und doch sehr harmonisch wirkenden Gebildes waren alle möglichen elektrischen Meßvorrichtungen und Signallampen angebracht, und in den ovalen, hermetisch abgeschlossenen Zehnliterballon hatte man Elektroden eingelötet, die an kleine Spielzeugschaufeln erinnerten. An einem anderen Tisch am Fenster hantierte gleichfalls an einer Vorrichtung ein untersetzter Busche mit modischer Langhaarfrisur. „Na, wie sieht’s aus, Ljoscha?“ erkundigte sich Panafidin bei ihm. Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Das Produkt zerfällt, Alexander Nikolajewitsch.“ „Ich hab’ dir Molsiebe 3 Å besorgt, kannst sie nachher bei mir abholen.“ In dem Gefäß brodelte aufschäumend eine Flüssigkeit. Der Zentralteil der Apparatur, offensichtlich ihr Kernstück, war ein Dreihalskolben, unter dem ein Wasserbad dampfte. In den mittleren breiten Hals war die biegsame Zuleitung eines kleinen Motors eingeführt – ein zweiflügeliger Rührer hielt den Gefäßinhalt in stän59
diger Bewegung. Durch die rechte Kolbenöffnung war ein Tropftrichter eingelassen, der einzelne schwere gelbe Tropfen zudosierte. In den linken Hals war ein Intensivkühler eingebracht – die beständig im Rohr aufsteigenden Dämpfe setzten sich als Tropfen an dem vom Kühlwasser benetzten Glas ab und flossen langsam in den Kolben zurück. Panafidin, der hinter mir stehengeblieben war, sagte: „Das ist die sogenannte Grignardsche Synthese. Unsere größte Hoffnung setzen wir allerdings in das dort“, er wies auf die Apparatur an der Gitterwand, „mit diesem System müssen wir es schaffen …“ Aus seinen Worten glaubte ich Kummer, Erschöpfung, ja fast so etwas wie Resignation herauszuhören. „Worin liegt denn die Hauptschwierigkeit für Sie?“ fragte ich. „Das Molekül ist nicht stabil. Laut Schema besteht es aus mehreren sehr großen Blöcken. Um diese jedoch fest zusammenzufügen, muß ein ganz bestimmtes Regime im Kolben eingehalten werden – Temperatur, Druck, Licht, Katalysatoren. Für die einzelnen Bindungen des Moleküls ist es uns auch gelungen, diese Parameter zu bestimmen, doch für ihre Gesamtheit – einfach nichts zu machen … Das ist unwahrscheinlich schwierig.“ Nun ja, es war wohl in der Tat sehr schwer, an der Spitze der Menschheit zu marschieren. In diesem Augenblick kam jene Frau auf uns zu, die das komplizierte, phantasieanregende Gebilde an dem länglichen Tisch montiert hatte. Sie nickte mir kurz zu und sagte zu Panafidin: „Ich hab’ um zwei ein Seminar mit Praktikanten.“ „In Ordnung, Anjuta, du kannst gehen. Darf ich bekannt machen – Inspektor Tichonow“, und zu mir gewandt: „Anna Wassiljewna Shelonkina, mein Stellvertreter im Labor.“ 60
Shelonkina? Eine zufällige Namensgleichheit? Ich konnte mich an Vor- und Vatersnamen von Posdnjakows Frau, deren Erklärung ich in der Akte des ABV gelesen hatte, nicht mehr genau erinnern. So fragte ich sicherheitshalber rundheraus: „Entschuldigen Sie, wie war doch der Name Ihres Mannes?“ „Posdnjakow“, antwortete sie schnell und fügte hinzu: „Man könnte meinen, Sie wüßten das nicht.“ Panafidin ließ den Blick erstaunt zwischen der Frau und mir hin und her gehen, dann sagte er: „Ach ja, ich vergaß, daß Anna Wassiljewnas Mann ebenfalls bei der Miliz arbeitet.“ Die Shelonkina warf ihm einen kurzen Blick zu und murmelte: „Offenbar sind Sie der Meinung, sämtliche Mitarbeiter der Miliz wären persönlich miteinander befreundet!“ „Ich muß mit Ihnen sprechen, Anna Wassiljewna“, unterbrach ich die beiden. „Gut, ich werde um vier in meinem Arbeitszimmer sein.“ Posdnjakows Frau wußte von der Geschichte, die ihrem Mann widerfahren war, doch sie glaubte ihm nicht. Natürlich sagte sie mir das nicht so deutlich, aber ich sah es ihr an, merkte auch, daß sie keinerlei Mitleid mit ihm empfand. Überhaupt schien mir Anna Wassiljewna Shelonkina ein Mensch, der felsenfest überzeugt war, Mitleid sei mit der Würde eines Menschen unvereinbar. Sie war von einer herben Schönheit, obwohl deutliche Falten an Augen und Nasenflügeln bereits jenen sichtbaren Einschnitt kenntlich machten, dessen Überschreiten die Frauen – selbst wenn sie hübsch sind – augenblicklich zur majestätisch-steinernen Greisin werden läßt. In dem Bestreben, vor mir zu verbergen, daß sie kein Mitleid mit ihrem verlogenen, dummen Mann hatte, vielleicht auch, weil sie sich für ihn schämte, versuchte 61
sie die Geschichte ins Lächerliche zu ziehen: Was soll ich da noch sagen, schien sie ausdrücken zu wollen, in einem solchen Fall könntet ihr weiß Gott etwas mehr Verständnis zeigen, denn wer von euch Männern ist schon gegen so was gefeit? Der Eindringlichkeit halber wedelte sie mit einem kleinen Zeigestock in der Luft herum, der bei ihrer Antwort – eher war es ja eine vorwurfsvolle Frage an mich – eine Schleife in der Luft beschrieb, um dann demonstrativ einen Punkt zu setzen: Also tatsächlich, wer von euch ist schon dagegen gefeit! Ich fing das Ende des Stockes ab, drückte es gegen den Tisch und sagte friedfertig: „Ich glaube, Anna Wassiljewna, Sie verstehen den Sinn unserer Unterhaltung nicht …“ „Und der wäre?“ „Daß uns, ich meine uns von der Miliz, so etwas nie und nimmer passieren darf. Und wenn es einmal geschehen sollte, kommt man dafür vor Gericht. Genau das aber ist die Situation, in der sich Ihr Mann jetzt befindet! Ist Ihnen das klar?“ Sie riß den Zeigestock unter meinen Fingern hervor und begann damit auf die Tischplatte zu klopfen. Ihr war anzusehen, daß sie ihn viel lieber gegen meine Stirn geschlagen hätte, je heftiger, desto besser. Sie mußte es jedoch bei der Tischplatte bewenden lassen und erwiderte: „Was mich betrifft, so versteh’ ich sehr wohl, fürchte allerdings, daß Sie nichts begriffen haben. Unsere Familie existiert faktisch seit vielen Jahren nicht mehr. Ich kann Ihnen also nichts Nachteiliges über Posdnjakow mitteilen.“ „Und Gutes?“ „Über seine guten Seiten müßten Sie doch besser Bescheid wissen, Sie bekommen ihn wahrscheinlich viel häufiger zu Gesicht.“ Als ich das Zimmer, mit dem Glasschildchen an der Tür „cand. d. chem. Wiss. A. W. Shelonkina“ betreten 62
hatte, war Posdnjakows Frau gerade mit einem Diplomanden beschäftigt gewesen. Sie hatte mich gebeten zu warten und währenddessen einem nachdenklich dreinschauenden Studiosus etwa fünf Minuten lang eingehämmert, daß das Radikal Dimethylaminopropyl bei der Sublimation aus der Ortostellung sofort in die Parastellung umlagert, ohne die Metaposition zu durchlaufen, dabei die C-C-Bindung schwächt, wodurch das Radikal durch ein freies Stickstoffatom ersetzt wird. Und weiter? Das Molekül zerfällt augenblicklich … Während sie gesprochen hatte, war ihr Zeigestock ununterbrochen über eine Skizze gewandert, auf der ein riesiges Molekül abgebildet war. Die Abbildung hatte mich an ein unsanft abgetrenntes Stück Bienenwabe erinnert. Dann hatte sie gefragt: „Ja, was gibt’s denn da nicht zu verstehen? Das ist doch augenscheinlich, es liegt geradezu auf der Hand …“ Dem Studiosus schien das nicht auf der Hand zu liegen, und ich mußte gleich passen. Die paar Schulkenntnisse, die man mir von dieser rätselhaften, damals für mich so uninteressanten Wissenschaft vermittelt hatte, waren längst verblaßt. Das Bewußtsein meiner Unfähigkeit aber, in eine Welt einzudringen, deren Beschaffenheit sich dem „cand. d. chem. Wiss. A. W. Shelonkina“ so leicht erschloß (eine gewaltige, unglaublich komplizierte Mikroweit, wo jeder winzige Strich der Formel einen Dachsparren oder Stützpfeiler im Gebäude eines bestimmten Stoffs darstellte), ließ mich Posdnjakows verzweifelte Ehrerbietung seiner Frau gegenüber und seine Hoffnungslosigkeit, im Verhältnis zu ihr noch etwas zu verändern, jetzt direkt körperlich begreifen. Seine Worte: „Sie stellt etwas dar, ist Wissenschaftlerin geworden, wenn man so will, während ihr Mann ein kleiner Pinscher geblieben ist.“, nahmen plötzlich Gestalt an. Der Student war gegangen, und wir tauchten in das Räderwerk eines an Windungen und Verworrenheit rei63
chen Lebens zweier Menschen ein, die nicht mehr gar so jung waren. Zwanzig Jahre lang hatten sie am unbegreiflichen Gebäude ihres Lebens gebaut, und unmerklich war der eine Partner unter den Bedingungen der starken menschlichen Sublimation vom Zustand der Ortostellung in den der Parastellung übergegangen. Sie waren Jahre hindurch beieinander gewesen, auf einmal jedoch befanden sie sich an entgegengesetzten Polen, und ihre Bindungen erschlafften. Der scheinbar unzerstörbare Stoff ihres Bundes zerfiel in Augenblicken. Und weshalb? War der gewohnte Platz von einem freien Atom eingenommen worden? Oder hatten hier andere, viel simplere beziehungsweise auch kompliziertere Prozesse stattgefunden? Möglicherweise stand dieser Vorgang wirklich in keinerlei Beziehung zum Fall Posdnjakows. Zu der Tatsache, daß er bewußtlos aufgefunden worden war. Oder betrunken? Oder auch vergiftet? „Das geht Sie nichts an“, sagte Anna Wassiljewna in diesem Augenblick. Die lebhaften Augen unter den langen Wimpern ihres kantigen Gesichts huschten unmerklich hin und her. „Ich wiederhole nochmals, daß Sie kein Recht haben, mir solche Fragen zu stellen.“ „Und warum nicht?“ erwiderte ich und spürte langsam eine Wut in mir hochsteigen, die meine Beharrlichkeit noch mehr anstachelte. Nun gerade erkundigte ich mich, weshalb sie sich nicht hatten scheiden lassen, wo sie doch ohnehin schon seit Jahren nicht mehr zusammen lebten. „Das ist unsere persönliche Angelegenheit.“ „Ja, das war sie, bis diese Geschichte passiert ist. Jetzt aber ist es auch unsere geworden.“ „Dann soll er sich vor Ihnen rechtfertigen. Mich lassen Sie da gefälligst heraus …“ Ein eigenartiges Frauenzimmer! Irgendwie bedauerte ich es, daß sie so viele faszinierende Kenntnisse über die Geheimnisse jenes Stoffes besaß, der mich auf der er64
staunlichen Skizze vorhin an eine Bienenwabe erinnert hatte, an das Fragment eines gigantischen Bauwerkes, an ein antikes Labyrinth oder ein phantasievolles kosmisches Gebilde. Natürlich wäre es schöner gewesen, hätte ein sympathischerer Mensch all dieses Wissen besessen. Doch Wissen erwarb man nun mal nicht durch Vererbung. Nur der bekam es, der es sich verdient hatte. „Manchmal schlief sie in der Schulbank ein …“
5 Das Signallämpchen der Sprechanlage flammte auf. „Augenblick, wir unterhalten uns gleich weiter“, sagte Scharapow zu mir und nahm den Hörer ab. „Ich höre. Guten Tag. Ja, man hat mir davon berichtet. Ich weiß Bescheid. So erzählen Sie doch nicht alles noch mal von vorn – ich hab’ Ihnen eben gesagt, daß ich informiert bin. Ja, wohin denn sonst, doch wohl nicht in ein Sanatorium für Magenkranke. In Untersuchungshaft natürlich! Ein verantwortungsbewußter Kollege? Ja und? Verantwortungslose Kollegen sollte es gar nicht erst geben, und wenn doch, muß man sie mit dem Besen davonjagen. Hören Sie, das ist ganz und gar unseriös: Versehentlich kann man mit beiden Füßen in dasselbe Hosenbein fahren, nicht aber in einem Restaurant mit Flaschen um sich werfen. Da hat sich ja der richtige Fürsprecher gefunden! Was gibt’s denn da nicht zu verstehen – ich begreife sehr wohl. Aber ich bin der Meinung, man muß die Dinge in Übereinstimmung mit dem Gesetz regeln. Ihre persönliche Ansicht tut dabei nichts zur Sache – ob Ihnen das nun gefällt oder nicht. Meine Verehrung …“ Der Chef legte wieder auf und fragte mich nachdenklich: „Sag mal, Stass, gehst du häufig ins Restaurant?“ „Die ersten zehn Tage nach der Gehaltszahlung, ja.“ 65
„Ich dagegen fast nie. Also komm, machen wir uns mal gemeinsam auf, ich lad’ dich ein.“ „Wollen wir uns etwa auch mit Flaschen bewerfen?“ „Ich hoffe doch, daß wir ohne solche Mätzchen auskommen. Wenn wir bloß schon einige Dinge vom Hals hätten. Aber nun wieder zu dir. Du schreckst also vor den wissenschaftlichen Anforderungen zurück, die dieser Fall stellt. Du glaubst, daß du dich in all den Feinheiten nicht zurechtfindest, ist es so?“ „Ja, ungefähr. Und was Posdnjakow betrifft, den halte ich für unschuldig.“ „Das ist gut.“ Scharapow nickte und lächelte. „Nur bringst du einiges durcheinander …“ „Was bringe ich durcheinander?“ „Die verschiedenen Aspekte deiner Aufgabe. Wäre zum Beispiel Posdnjakows Frau zu dir gekommen und hätte dich aus alter Freundschaft gebeten, zu überprüfen, ob ihr Mann ihr nicht vielleicht untreu ist, so hätte sie deine Antwort ‚Ich halte ihn für unschuldig‘ höchstwahrscheinlich zufriedengestellt. Mich jedoch befriedigt eine solche Antwort nicht, das mußt du schon großmütig entschuldigen. Dein Glaube in Ehren, nur brauche ich Beweise.“ „Aber ich bin mit Problemen konfrontiert worden, von denen ich nicht die geringste Ahnung habe. Nicht den blassesten Schimmer.“ „Und wieso nicht?“ fragte Scharapow ungerührt. „Was soll das heißen – wieso? Für diesen Fall braucht man eine spezielle Vorbildung, bestimmte Kenntnisse …“ „Die hast du. Alles hast du.“ Allmählich verlor ich die Geduld. „Was habe ich! Eine spezielle Vorbildung? Auf der juristischen Fakultät werden keine Vorlesungen über hochmolekulare Verbindungen gehalten, die organische Chemie steht ebenfalls nicht im Lehrplan, und das riesige Gebiet der Gerichtspsychiatrie wird in sechzig Stunden abgehandelt.“ 66
„Das weiß ich nicht so genau“, Scharapow zuckte mit den Schultern, „ich hab’ mein Examen im Fernstudium gemacht. Hier bei uns aber, im Moskauer Kriminalamt, ist die Menschenkenntnis Mutter aller Wissenschaften, und darin werdet ihr hauptsächlich ausgebildet. Ich hatte mehrfach Gelegenheit, mich zu überzeugen, daß du dir diese Wissenschaft bereits in gewissem Maße angeeignet hast.“ Ich saß da und schaute zu Boden. Scharapow lachte. „Na, was sitzt du da wie ein begossener Pudel. Nicht mit den Formeln hättest du dich herumschlagen sollen.“ Er warf einen Blick in den vor ihm liegenden Bericht. „Dieses Metaproptisol ist schließlich kein Selbstgebrannter, den man mit einer lumpigen Saftpresse in jedem Schuppen herstellt. Den letzten Mosaikstein, von dem Panafidin sprach, kann nur ein erstklassiger Spezialist gelegt haben. Dieser Mann interessiert uns, den müssen wir zuallererst suchen.“ „Na gut, ich werde ihn suchen. Nur fürchte ich, daß alles mehr oder weniger auf einem Mißverständnis beruht …“ „Keine Bange, es liegt nicht das geringste Mißverständnis vor. Gerade heute ist uns eine hübsche Meldung auf den Tisch geflattert. Bei einer gewissen Patschkalina tauchten kürzlich zwei Männer auf, gaben sich als Mitarbeiter der Miliz aus und nahmen eine Haussuchung vor, in deren Verlauf sie alles Geld und sämtliche Wertsachen beschlagnahmten.“ „Ja aber, was hat das mit meinem Fall zu tun?“ „Das wirst du gleich sehen. Die Männer legten nämlich einen Dienstausweis vor, der auf einen ‚Hauptmann der Miliz Posdnjakow‘ ausgestellt war.“ Aus der Anzeige und dem Vernehmungsprotokoll der Geschädigten wußte ich bereits, daß die Bürgerin Jekaterina Fjodorowna Patschkalina zweiunddreißig Jahre 67
alt und als Gasarbeiterin in einem Heizwerk angestellt war. Sie lebte in der Wohnung ihrer Mutter, einer Rentnerin, hatte die Siebenklassenschule absolviert und war nicht vorbestraft. Mein Blick ruhte auf ihrer Frisur, die an einen Honigzopf erinnerte, auf den mohrrübenrot geschminkten Lippen, ich hörte mir ihr Gerede an, das monoton, ohne jede Intonation dahinplätscherte, und suchte mich fieberhaft zu erinnern, wo ich ihr schon einmal begegnet war. Mein Berufsgedächtnis, darauf trainiert, alles zu speichern, verwandelte sich mitunter geradezu in einen Peiniger, waren doch ein halbvergessenes Gesicht, auf das ich vor Jahren einmal gestoßen war, ein Name, der mir auf der Zunge lag, imstande, mein armes Hirn unablässig, mitleidlos und systematisch zu martern wie ein schmerzender Zahn. Ich bekam erst Ruhe, wenn es mir gelungen war, jenen weit zurückliegenden Augenblick aus dem Dunkel des Vergessens ans Tageslicht zu holen, wenn ich mich wieder erinnerte, wann, wo und unter welchen Umständen dieses Gesicht aufgetaucht, jener Name gefallen war. Und nun betrachtete ich diese Patschkalina, hörte ihr zu, und das vage Gefühl, ihr früher schon mal begegnet zu sein, wurde zur Gewißheit. Nur wo und wann das gewesen war, wollte mir nicht einfallen. „… Ich bin eine einsame Frau. Jawohl, einsam. Natürlich besuchen mich hin und wieder junge Männer, warum auch nicht. Aber meine Mutter ist sozusagen ein bösartiges Weibsbild. Ja, bösartig ist sie, und unser Verhältnis deshalb nicht gerade gut. Nein, gut ist es nicht …“ So palaverte sie, jeden Satz wiederholend, als wollte sie sich selber davon überzeugen, daß sie die Wahrheit sagte, alles richtig darlegte, sich nicht irrte. „Lassen Sie uns noch mal überlegen, was die Verbrecher im einzelnen mitgenommen haben“, sagte ich. „Was gibt’s da zu überlegen?“ fragte die Patschkalina verwundert, „wozu denn überlegen? Hab’ ich die Dinge 68
etwa vergessen? Vergißt man so was vielleicht? Ich erinnere mich an alles. Sie sind gekommen und haben gesagt, daß sie von der Miliz sind, vom OBCHSS, der Abteilung zur Bekämpfung von Vergehen am sozialistischen Eigentum, sozusagen. Wir werden eine Durchsuchung vornehmen, haben sie gesagt, alle Wertgegenstände beschlagnahmen, die nicht ehrlicher Arbeit entstammen …“ „Das weiß ich bereits“, unterbrach ich sie. Mich belustigte, daß die Patschkalina den OBCHSS wie ein lebendiges Wesen behandelte, wenn sie ein ums andre Mal sagte: „Der O-be-cha-es ist gekommen“, „Der O-be-chaes hat die Wohnung durchsucht“, „Der O-be-cha-es hat gesagt …“ „Nun, und dann haben sie die Sachen eben mitgenommen, sozusagen. Einen Karakulpelz, neu sozusagen, so gut wie nicht getragen, nun ja, so gut wie neu also …“ Die Patschkalina seufzte, aus ihrer Kehle kam ein tiefer gurgelnder Laut, und ihr Gesicht schien plötzlich in seine Bestandteile zu zerfallen: Die Nase rutschte nach unten, der große, kräftig geschminkte Mund fuhr zur Seite, und die Lider sperrten weit auseinander, damit die Wimperntusche von den Tränen unberührt blieb. Ein Außenstehender konnte meinen, jemand hätte bei der Frau einen Bolzen gelöst, irgendwo im Nacken, so daß ihr Antlitz jetzt auseinanderfiel wie ein Steckspiel. Sie weinte in tiefer Stimmlage, fast im Baß, erzürnt und gekränkt. Ich reichte ihr ein Glas Wasser, das sie in einem Zuge leerte. Während ich auf ihr gurgelndes Geschluchze hörte, entsann ich mich plötzlich wieder, woher ich die Frau kannte. Ich war erstaunt, daß es mir nicht schon eher eingefallen war – sie hatte sich auch äußerlich kaum verändert, war höchstens etwas voller geworden. „So beruhigen Sie sich doch, Jekaterina Fjodorowna“, sagte ich, „Tränen helfen da nicht weiter. Wir müssen überlegen, wie wir die Gauner am schnellsten finden.“ 69
Die Patschkalina fing sich genauso prompt, wie sie zu weinen angefangen hatte. „Wie soll man die finden“, erwiderte sie finster. „Ist ja doch alles futsch. Denen kann man pfeifen wie dem Wind im freien Feld. Nun also … außer dem Pelz haben sie zwei Ringe von mir mitgenommen, der eine war ein Brillantring, der andere hatte einen kleinen grünen Stein. Nun ja, einen grünen Stein also. Und Ohrringe, die haben sie auch mitgenommen …“ „Dieser grüne Stein, war das ein natürlicher Edelstein?“ „Wieso natürlicher Edelstein? Ein Smaragd!“ „Hmm, ist klar, ein Smaragd. Und der Brillant, wie war der beschaffen?“ „Wie soll der beschaffen gewesen sein? Ganz gewöhnlich. Ich bin doch kein Juwelier.“ „Denken Sie noch mal nach. Wir müssen den Ring genau beschreiben, wenn wir nach ihm suchen wollen. Das liegt doch auch in Ihrem Interesse.“ „Na, wie ich schon sagte, ein gewöhnlicher Brillant. Ja also, zwei Karat hatte er.“ Ich lächelte. „Ein Brillant von zwei Karat ist schon kein gewöhnlicher Brillant mehr, das ist ein großer Stein. Gut, lassen wir das. Was haben die Betrüger an Geld mitgenommen?“ „Das hab’ ich doch alles schon gesagt – Sparkassenbücher mit viereinhalbtausend drauf. Drei Sparbücher waren es, sozusagen.“ Ich nahm Füller und Papier zur Hand: „In welchen Sparkassen sind die Einlagen eingezahlt?“ „Das weiß ich nicht. Also, nun ja … ich erinnere mich nicht mehr, welche Sparkasse das war.“ Ich starrte sie ungläubig an. „Was heißt das – Sie erinnern sich nicht mehr? Sie wissen nicht, in welcher Sparkasse Sie viereinhalbtausend Rubel aufbewahren?“ „Nein, ich erinnere mich nicht! Wozu sollte ich mir 70
das merken, wenn doch im Sparbuch Adresse und Telefon stehn, sozusagen. Wer konnte denn wissen, daß die vom O-be-cha-es, nun ja … diese Gauner also … daß die bei mir auftauchen …“ Und sie begann erneut zu schluchzen – es war ein aufrichtiges, kummervolles, haßerfülltes Weinen. Genau wie damals vor zehn Jahren, als ihr ein blutjunger Leutnant namens Tichonow den Bierkiosk auf der Bahnstation Lianosowo versiegelte, weil sich dort vierzig Kilogramm schwarzgehandelten roten Keta-Kaviars fanden. Bei dem Wert, den vierzig Kilo gestohlenen Keta-Kaviars ausmachten, drohte ihr der Absatz zwei Paragraph zweiundneunzig des Strafgesetzbuches – Freiheitsentzug zwischen fünf und zehn Jahren, woraufhin mir die Patschkalina, damals noch Krasnuchina – bei den Stammgästen ihrer Bierbude aber unter dem Spitznamen Katjka-Katafalk bekannt – umständlich und mit all ihren „sozusagen, na ja, nun also“ auseinanderzusetzen versuchte, daß es sich nicht um vierzig, sondern nur um zwanzig Kilo Kaviar handle – der Rest wäre Bier. Lange konnte ich mir keinerlei Reim auf ihr Gerede machen, verstand nicht, was das Bier zur Sache tat, bis ich endlich nach vielen Erklärungen begriff: Das Bier, das sie dem Kaviar beigab, diente als Füllung. Die einzelnen Kaviarkörnchen sogen sich voll, quollen auf und wurden dadurch noch appetitlicher. Wichtig war bloß, die Ware sofort abzusetzen, damit sie nicht sauer wurde. Am besten ließ sich das mit belegten Broten bewerkstelligen – die Portion war viel zu klein, als daß man sich den Magen daran hätte verderben können, und selbst der sparsame Käufer griff zu. Gemeinsam mit einem finster dreinschauenden Mann von der Handelsinspektion und einem ehrenamtlichen Kontrolleur beschlagnahmte ich den Rest, nahm die Kasse an mich und versiegelte den Kiosk. In diesem Augenblick fing die Krasnuchina wütend und erschrocken mit Baßstimme zu weinen an. Ich 71
brachte sie zur Miliz und sah sie nie wieder – eine andere Aufgabe wartete auf mich. Jetzt freilich war sie die Geschädigte. Eine alleinstehende Frau, Angestellte in einem Heizwerk, schlicht: Kesselwärterin, die zwei wertvolle Ringe, Ohrgehänge, einen Karakulpelz und viereinhalbtausend Spareinlagen an Betrüger verloren hatte … Ich trommelte eine Weile mit den Fingern auf den Tisch, schließlich sagte ich: „Erklären Sie mir doch, Jekaterina Fjodorowna, wie so was passieren kann. Zu Ihnen, einer einsamen, armen Frau, die ehrlich ihre Arbeit tut, kommen zwei Leute, geben sich als Milizionäre aus, führen eine Haussuchung durch und beschlagnahmen Dinge im Wert von mehr als zehntausend Rubeln. Sie aber, ein werktätiger Mensch, der nichts zu verlieren oder zu fürchten hat, geben alles brav und ohne Widerstand heraus.“ „Ja und?“ „Nichts weiter, ich versteh’ das bloß nicht. Ich zum Beispiel hab’ leider keine zehntausend, aber wollte mir jemand auch nur zehn Rubel wegnehmen – egal, um wen sich’s handelt –, ich würde mich ganz schön zur Wehr setzen.“ „Ja-a-a! Sie haben gut reden, Sie sind ein Vorgesetzter. Doch ich, wenn so ein O-be-cha-es zu einer alleinstehenden Frau kommt, soll ich mich vielleicht prügeln mit ihm?“ „Prügeln sollte man sich nie. Aber ich habe den Eindruck, daß Sie sich das unter anderen Umständen hätten nicht so leicht gefallen lassen. Hätte jemand im Heizwerk versucht, Ihnen Ihr Gehalt abzuknöpfen, Sie hätten ihm bestimmt die Augen ausgekratzt.“ Der stumpfsinnig-bekümmerte Ausdruck wich aus ihrem Gesicht. „Wie darf ich das, sozusagen, verstehen? So, wie Sie es darstellen, kommt, nun ja, noch heraus, daß diese 72
Gauner im Recht sind und nicht ich? Und nicht ich, wollen Sie sagen?“ „Aber nicht doch, Sie haben mich falsch verstanden. Oder wollen mich nicht verstehen. Ich versuche Ihnen bloß klarzumachen, daß jemand von Ihren Reichtümern gewußt haben muß. Wissen jedoch konnte das nur jemand, der mit keiner Silbe glaubt, daß Sie einzig von Ihrem Gehalt als Kesselwärterin leben.“ Die Patschkalina wurde puterrot im Gesicht, sie streckte den Kopf vor, als wollte sie mit Hörnern stoßen. „Was ich an Wertsachen und Geld habe, geht Sie nicht das geringste an! Ich lebe nach dem Gesetz und lass’ mir nichts zuschulden kommen. Nichts, sozusagen, lass’ ich mir zuschulden kommen!“ Ich schüttelte den Kopf. „Hätten Sie mit diesem Feuereifer mal die Ganoven abgewehrt! Mit mir brauchen Sie sich nicht anzulegen. Schließlich ist es nicht meine Aufgabe, herauszufinden, von welchen Geldern Sie leben. Warum haben Sie übrigens angegeben, daß Sie nicht vorbestraft sind?“ „Weil inzwischen die Amnestie war! Seither bin ich gleichberechtigter Bürger! Nicht vorbestraft, sozusagen!“ „Ah so. Daran hab’ ich nicht gedacht. Haben Sie mich eigentlich wiedererkannt, Jekaterina Fjodorowna?“ „Natürlich hab’ ich Sie, sozusagen, wiedererkannt. Sofort hab’ ich das. Nur waren Sie damals noch ein junger Dachs, einer, der sich mit Lappalien abgab. Jetzt aber sind Sie wohl, nun ja … aufgestiegen, haben ein Arbeitszimmer für sich, sozusagen …“ „So ist es. Und nun wollen wir mal rekonstruieren, wie die beiden Betrüger aussahen.“ „Sie waren noch jung. Jawohl, jung waren sie. Und beide groß, wieso auch nicht. Der eine war ganz schwarzhaarig, so was wie ein Armenier oder Grusinier, vielleicht war er aber auch, nun ja, jüdischer Ab73
stammung. Der andere dagegen war ein ganz Blonder, und auf der einen Backe hatte er einen Schmiß, sozusagen …“ Allmählich zur Ruhe gekommen, saß die Patschkalina da und beschrieb ohne jede Hast das Äußere der beiden Männer. Ich aber grübelte die ganze Zeit, weshalb die Frau nicht wußte, in welchen Sparkassen sie ihr Geld deponiert hatte. Vergessen haben konnte sie das unmöglich, das war einfach Unsinn. Vielleicht war es nicht das eigene Geld? Aber wem gehörte es dann? Das mußte ernsthaft nachgeprüft werden, vielleicht ergab sich eine Spur, die zu den beiden Eindringlingen führte. Doch halt, bei den beiden handelte es sich ja nicht einfach um Betrüger, sie hatten immerhin den Dienstausweis Hauptmann Posdnjakows vorgezeigt! Eins war klar: Bei allem Drum und Dran galt es, den Mann zu suchen, in dessen Hand sich das hochwirksame, der Wissenschaft noch unzugängliche Medikament mit der Bezeichnung Metaproptisol befand. Dieser Mann wußte anscheinend, daß der ABV Posdnjakow niemals ohne Waffe ausging, er wußte gewiß auch, daß die Patschkalina einiges an Wertsachen im Haus haue. Ihn zu finden war eine Aufgabe, die alles in allem nicht gar so schwierig schien, in gewisser Weise sogar ihren Reiz hatte. Zunächst jedoch mußte ich mit der Patschkalina zur Miliz fahren und ihr das Album mit den Fotos jener Männer vorlegen, die der Miliz als Betrüger bekannt waren. Das war der erste Schritt zur Lösung des komplizierten Falles.
6 Am Bereshkowskikai, dort wo er bis an die Eisenbahnbrücke heranführt, läßt es sich gut nachdenken. Der 74
Bürgersteig entlang der schmiedeeisernen Streben ist meistens menschenleer. Es gibt kaum Wohnhäuser hier – ausschließlich Institutionen sind in dieser Gegend untergebracht. Die Angestellten aber haben keine Zeit, am Fluß spazierenzugehen: Morgens eilen sie zur Arbeit und abends nach Hause. So stand ich auch jetzt allein da, stützte mich aufs Geländer und sah auf das graue Wasser, das von einer frischen Septemberbrise und einem schneeweißen, am Kiewer Bahnhof vorbei in Richtung Lushniki fahrenden Ausflugsdampfer aufgewühlt wurde. In der Ferne ragte im dunstigen Blau der Dreizack der Universität auf, deren Konturen auf diese Distanz hin in den schrägen Strahlen der Herbstsonne verschwammen, so daß der Bau an ein unwirkliches, märchenhaft schönes Gebilde erinnerte, an das Schloß Pierrefonds in Frankreich etwa. Auf der anderen Seite des Flusses aber schimmerten golden die prallen Zwiebeltürmchen des Nowodewitschje-Klosters, dessen rote Ziegelmauern einen eindrucksvollen Kontrast zu dem satten, schweren Grün der Parkanlagen bildeten. Hier ließ es sich in der Tat gut überlegen, wenn es auch nicht so war, daß ich nur diesen und keinen anderen Ort zum Grübeln gefunden hätte. Ich befand mich einfach hier, weil ich erst vor zehn Minuten die Zentrale Patentbibliothek verlassen hatte, die genau in meinem Rücken lag. Deshalb verweilte ich auf dieser ausgestorbenen Uferstraße, wo es still war und der Wind den leicht fauligen Geruch des Flusses zu mir herüberwehte. In meiner Tasche steckte eine Liste mit den Nummern und Bezeichnungen von elf Patenten, die man mir innerhalb von drei Stunden herausgesucht hatte – ich selber hätte sie wohl in drei Jahren nicht zusammenbekommen. Scharapow pflegte zu sagen: „Alles auf unserer Welt ist lange bekannt, man muß nur wissen, wo und 75
wen man danach fragen soll.“ Doch als ich heute morgen erwacht war, hatte ich unvermittelt, schlagartig und so, als hätte es jemand laut ausgesprochen, das Allerwichtigste begriffen: daß es nämlich für mich nicht darauf ankam zu wissen, wo und wen, sondern wonach ich zu fragen hatte. Ja, das war es. Nach den Arbeiten Panafidins mußte ich mich erkundigen, nach seinen Arbeiten des letzten Jahres. Der letzten zehn Jahre. Seiner gesamten wissenschaftlichen Laufbahn. Sechzehn Jahre schon befaßte sich der Chemiker mit der Synthese und Anwendung von Tranquillizern. Insgesamt vierundzwanzig Autorenrechte waren auf seinen Namen eingetragen, alle in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern erworben. Was freilich nur natürlich schien – die Epoche der Alchimie war längst vorbei. Ohne Spezialist auf dem Gebiet der Chemie zu sein, galt es für mich nun – einfach vom gesunden Menschenverstand oder, was aufs gleiche hinauslief, dem kriminalistischen Gespür ausgehend –, ein Prinzip zu erarbeiten, nach dem jene Leute aussortiert werden konnten, die an der Herstellung des Metaproptisols beteiligt waren. Unter den Gelehrten, die für das Wohl der Menschheit wirkten, mußte ich den einen Verdächtigen finden. Dabei brauchte der Kandidat jedoch keinesfalls um jeden Preis charmant und sympathisch zu sein. Mit einem unsympathischen Menschen hätte ich mich genausogern unterhalten. Und nun hielt ich, zum erstenmal in meinem Leben, eine Urheberrechtsbescheinigung für eine Erfindung in den Händen – ein Dokument, das wir gewöhnlich als Patent bezeichnen. Es war ein Heft, mit einer Seidenschnur zusammengebunden und einem großen flammendroten Wappensiegel auf dem Umschlag. Das Titelblatt, ein grünlichblaues Papier mit Wasserzeichen, erinnerte an einen alten Wertschein aus der Kriegszeit: 76
Unter einer Ranke von Lorbeerlaub waren Hochöfen, Kraftwerke, Kombines und Türme abgebildet. Patent-Nr. 297 657 Das Komitee für Erfindungen und Entdeckungen beim Ministerrat der UdSSR erteilt das vorliegende Patent auf die Arbeit „Methoden zur Herstellung und Anwendung der Polyamidine in der Psychotherapie“. Anmeldungsnummer 138 293 mit Priorität vom 24. November 1963. Autoren der Arbeit: Panafidin, Alexander Nikolajewitsch, sowie andere, die auf beigefügtem Blatt genannt sind. Registriert im Staatlichen Amt für Patent- und Erfindungswesen der UdSSR: 18. Dezember 1970 Das Autorenpatent wird auf dem gesamten Gebiet der UdSSR anerkannt. Der Vorsitzende des Komitees Dem Titelblatt folgte eine ausführliche Beschreibung, der eine Rubrik Autoren vorangestellt war. Dabei handelte es sich um eben jene „anderen“ außer Panafidin. Unter ihnen befand sich auch Posdnjakows Frau A. W. Shelonkina. Als Panafidins Mitautoren bei insgesamt vierundzwanzig Patenten waren zweiundvierzig Wissenschaftler verzeichnet. Ihre Zahl schwankte bei den jeweiligen Arbeiten zwischen eins und sieben. Bei den ersten drei Arbeiten bildete Panafidins Name den Schluß der Autorenliste, bei den letzten sieben dagegen stand er an der Spitze der Gelehrten. Während der dazwischenliegenden Arbeiten war sein Name kontinuierlich vom Ende zur Spitze vorgerückt. So ergab sich ein recht anschauliches Diagramm über einen Mann, der die Sprossen der wissenschaftlichen Leiter systematisch emporklomm. Freilich interessierte mich Panafidins schöpferische Karriere im Augenblick nur insofern, als ich seinen er77
folgreichsten Widersacher bei der Erforschung des Metaproptisols herausfiltrieren mußte. Hatte Panafidin doch am verbissensten und zielstrebigsten über diesem Problem gearbeitet und dabei alle anderen Wissenschaftler, wie’s schien, weit hinter sich gelassen. Dennoch hatten wir eines Tages eine chemische Substanz am Verschluß einer Bierflasche gefunden, die zu erzeugen sich ein ganzes Laboratorium erfolglos abmühte. Wenn es sich bei dem besagten Stoff aber tatsächlich um Metaproptisol handelte, wenn es kein „Artefakt“ war, wie Panafidin das ausdrückte, warum hatte sein Erfinder es dann nicht zum Patent angemeldet? Und weshalb war damit ein Anschlag auf Posdnjakow unternommen worden? Doch halt, meine Gedanken schweiften ab. Ich mußte davon ausgehen, daß das Metaproptisol wirklich existierte, auch wenn kein Patent darauf angemeldet war. Daß ein Chemiker das Präparat rein zufällig entdeckt hatte, ohne dieses Ziel angestrebt zu haben, war so gut wie unmöglich. Daraus folgte: Diesen Stoff hatte jemand synthetisiert, der auf die eine oder andere Weise an der Arbeit über den Tranquillizern beteiligt gewesen war. Panafidin befaßte sich mit dem Problem bereits, seit es aufgetaucht war. Fast alle Wissenschaftler, die ernsthaft an dieser Frage arbeiteten, standen in Kontakt mit ihm, sie kannten sich, tauschten Informationen aus, reichten gemeinsame Arbeiten und Patentanträge ein. Ein Genie im Alleingang, jemand, dem es erst am Tag zuvor in den Sinn gekommen war, das Metaproptisol zu gewinnen, hätte dieses Präparat nie und nimmer herstellen können. Ja, es gab keinen Zweifel: Der Entdecker dieses Tranquilizer-Giganten mußte wenigstens ein einziges Mal unter den Mitarbeitern Panafidins genannt sein. Doch wer unter den zweiundvierzig war dieser eine? Ich zog Erkundigungen ein und kam einen Schritt weiter. Einige der angeführten Personen arbeiteten noch 78
immer mit Panafidin zusammen, andere waren in artverwandten Labors und Institutionen angestellt. Unter den Mitautoren des Professors befanden sich welche, die ein oder zwei Arbeiten gemeinsam mit ihm unterzeichnet hatten und dann für immer aus seinem Wirkungskreis verschwunden waren, und andere, die sich über längere Zeit hin an den Forschungen beteiligt hatten. Einige der Mitautoren bekleideten offensichtlich einen hohen Rang in der Welt der Wissenschaft, andere einen weniger bedeutenden. Insgesamt jedoch war aus diesem Schema nicht genau abzulesen, wieso ausgerechnet Panafidin systematisch zur obersten Sprosse der Stufenleiter emporgeklettert war. Dabei hegte ich gegen Panafidin selbst keinerlei Verdacht. Nicht etwa, weil ich ihn zu sympathisch dafür gefunden hätte, sondern weil ich wußte, daß er sonstwas dafür geben würde, nur ein einziges Molekül dieses Metaproptisols zu besitzen. Nur – er hatte es eben nicht. Lange grübelte ich über den einzelnen Namen, schließlich hatte ich drei ausgewählt: Professor Ilja Petrowitsch Blagolepow, Doktor der chemischen Wissenschaften; Wladimir Konstantinowitsch Lyshin, wissenschaftlicher Mitarbeiter; Anna Wassiljewna Shelonkina, Kandidat der chemischen Wissenschaften. In den ersten Urheberrechtsurkunden war Posdnjakows Frau freilich noch nicht als Kandidat der chemischen Wissenschaften genannt, nicht einmal ihr Dozententitel war erwähnt – diese Patente lagen schon sehr lange zurück. Sie stammten vom August neunzehnhundertzweiundsechzig beziehungsweise vom Januar neunzehnhundertdreiundsechzig. Die Laborantin war damals noch eine einfache wissenschaftlich-technische Mitarbeiterin ohne jeden Rang gewesen; sie wurde schlicht unter der Bezeichnung „Ingenieur A. W. Shelonkina“ 79
geführt. Zeitlich lagen diese Patente und die Arbeit am Hypertranquilizer fast zehn Jahre auseinander – eine sehr lange Spanne, in deren Verlauf die Frau ihre Dissertation geschrieben hatte und Wissenschaftlerin geworden war. Damals dürfte sie kaum davon gesprochen haben, daß ihre Familie zerfallen sei. Ihr Mann aber war zu jener Zeit noch unermüdlich damit beschäftigt gewesen, illegalen Schnapsbrennern auf die Spur zu kommen, Rowdys zur Räson zu bringen, arbeitsscheue Elemente auszusiedeln, Häftlinge, die flüchtig wurden, zu ergreifen und Jagd auf Trunkenbolde zu machen. Bis zu jenem Tag, da er plötzlich ein erstaunliches Pulver geschluckt hatte, das imstande war, Tausende Menschen von geistiger Umnachtung und unerträglicher Angst zu befreien. Ihm selbst freilich hatte es eine außerordentliche Demütigung zugefügt, hatte ihn zu der qualvollen Notwendigkeit verdammt, seine Umwelt von der Glaubwürdigkeit dieser unwahrscheinlichen Geschichte zu überzeugen. Obwohl Posdnjakows Frau schon seit vielen Jahren gemeinsam mit Panafidin urheberrechtlich registriert war, hielt ich es für richtig, sie in meine Verdächtigenliste aufzunehmen. Ich konnte einen Zusammenhang zwischen der Arbeit der Shelonkina über dem Tranquilizer, dem Zerfall ihrer Familie und dem Anschlag auf Posdnjakow einfach nicht ausschließen. Nicht daß ich einen ernsthaften Verdacht gegen die Frau gehabt hätte – es schien mir nur unumgänglich, sie ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen. Als ein zweiter Anwärter auf den sehr fragwürdigen Preis meines Turniers erwies sich der wissenschaftliche Assistent Lyshin. Drei Gründe sprachen dafür, den Mann in die nähere Auswahl zu ziehen. Erstens hatte er intensiver als alle andern mit Panafidin zusammengearbeitet – insgesamt elf Schriften hatten sie gemeinsam unterzeichnet –, zweitens fungierte er als Mitautor 80
überall dort, wo auch die Shelonkina aufgeführt war, drittens lag ihr letztes gemeinsames Patent jetzt ungefähr fünf Jahre zurück. Danach war in Panafidins wissenschaftlicher Produktion eine vielsagende Pause von drei Jahren eingetreten; der wiederum ein gewaltiger Sprung nach vorn folgte. Lyshin dagegen verschwand gänzlich aus dem Blickfeld. Auf den dritten und letzten Platz in meiner Verdächtigenliste setzte ich Professor Blagolepow, einen Mann, dessen Name bei den früheren Arbeiten stets an erster Stelle gestanden hatte. Ich zog daraus die Schlußfolgerung, daß der Professor eine Art wissenschaftlicher Mentor für Panafidin gewesen sein mußte. Die beiden hatten sieben Patente zusammen eingereicht. Das also waren die Dinge, mit denen ich mich – über das Geländer am herbststillen Fluß gebeugt – in Gedanken beschäftigte. Die Möwen stießen von Zeit zu Zeit im Sturzflug auf das graue, ölige Wasser nieder, gaben kurze, durchdringende, an Katzenmiauen erinnernde Schreie von sich. Ein massiger, asthmatisch schnaufender Schlepper zog einen großen Lastkahn gegen die Strömung hinter sich her, auf dem ein komplettes Häuschen installiert war. Unter den Fenstern dieses Hauses stand eine kleine Bank, aus dem Ofenrohr quoll Rauch, auf einer Leine trocknete Wäsche. Bei Lichte besehen, war das Prinzip, nach dem ich meine Figuren ausgewählt hatte, nicht eben glanzvoll – es gab darin bedeutend mehr Arithmetik als eine Analyse von Ursache und Wirkung. Dennoch enthielt die so zustande gekommene Konstellation einigen Stoff zum Nachdenken. Immerhin waren sich Panafidin und Lyshin nicht zufällig begegnet, hatten nicht von ungefähr viele Jahre zusammengearbeitet und elf gewichtige wissenschaftliche Arbeiten gemeinsam verfaßt. Dann jedoch war Lyshin plötzlich verschwunden. Verschwunden aber doch wohl nur aus der Kartothek des Patentbüros und 81
nicht aus dem Leben! Was war der Grund für den Bruch mit Panafidin? Oder hatte es gar keinen Bruch gegeben? Möglicherweise war das alles Unsinn – er hatte einfach geheiratet und war Gott weiß wohin verzogen. Das war wohl das ganze Geheimnis. „Und warum interessieren Sie sich dafür?“ fragte Professor Blagolepow vorsichtig. „Weil ich das unangenehme Gefühl habe, daß ein Verbrecher dieser großen wissenschaftlichen Entdeckung ans Licht der Welt verholfen oder sie zumindest zur Anwendung gebracht hat.“ Der alte Professor zog die Wattejacke an seinem Körper glatt, steckte die Daumen tiefer hinter den Soldatengurt, warf den großen, kahlen Kopf zurück, so als wollte er mich eingehender mustern, und ließ ein unbestimmtes Brummen hören. „Nun, der Geschichte sind auch solche Fälle bekannt.“ „Können Sie ein Beispiel nennen?“ „Ja, etwa die Erfindung des Schweißbrenners. Als Jean Picard seine Arbeit veröffentlichte, wurde er von seinen Kollegen verlacht. Londoner Bankräuber aber, die nicht genügend Vorbildung besaßen, um seine wissenschaftliche Kompetenz anzuzweifeln, ließen sich einen Autogenschweißer nach dem beschriebenen Schema anfertigen und knackten damit einen Monat später den Panzerschrank der Commerce-Bank.“ Blagolepow bückte sich vorsichtig, hob Schaufel und Harke vom Boden auf, lehnte die Geräte sorgsam gegen den graubraunen Stamm eines Apfelbaums und wies auf eine Bank. „Setzen wir uns“, sagte er, „im Stehen findet sich die Wahrheit nicht leichter.“ Und als sie dann Platz genommen hatten: „Rauchen Sie?“ „Nein, ich hab’ gar nicht erst damit angefangen.“ „Das ist löblich. Ich dagegen war lange Zeit leidenschaftlicher Raucher – die letzte Kippe hab’ ich an der 82
Trage ausgedrückt, auf der ich mit dem dritten Herzinfarkt fortgebracht wurde. Jedenfalls ist es gut, daß Sie nicht rauchen, so werden wir uns besser unterhalten können, ohne daß einer den andern mit seinem unterdrückten Verlangen quält. Aber einen Kaffee trinken Sie doch mit?“ „Sehr gern.“ „Wollen wir ins Haus gehen oder lieber an der frischen Luft bleiben?“ „Im Garten wär’s natürlich schöner, wenn Ihnen das nicht zuviel Umstände bereitet.“ „Aber nein, wieso denn! Wir werden’s uns hier ganz gemütlich machen. Warten Sie einen Augenblick auf mich, atmen Sie mal kräftig durch.“ Blagolepow begab sich ins Haus. Er ging sehr langsam, den Blick auf den Boden gerichtet; seine Schritte waren stockend, so als gäbe es auf dem Pfad vor ihm kleine Gruben, die nur er erkennen könne, und als überlegte er jedesmal aufs neue, ob er über sie hinwegschreiten oder den Fuß auf Grund ihrer geringen Tiefe hineinsetzen sollte. Dabei hielt er sich unnatürlich gerade; es war, als dürfe er das kleine verängstigte Tier in seiner Brust um keinen Preis aufschrecken. Nach einigen Minuten klappte die Haustür, und Blagolepow, ein Tablett in den Händen, erschien auf der Vortreppe. Und wieder ging er hochaufgerichtet, hielt das Tablett wie ein Hohepriester, der eine Opfergabe zum Altar trägt. Ich nahm es ihm ab und stellte es auf den Tisch. „Zurück zur Kompetenzfrage“, sagte Blagolepow ohne jede Überleitung. „Mir will scheinen, daß Ihre Nichtkompetenz in diesem speziellen Fall geradezu von Vorteil ist – Sie sind in bezug auf die Meinung der Koryphäen unbelastet.“ „Wie die Londoner Bankräuber?“ Der Professor lachte. „So ungefähr. Gestatten Sie eine 83
Frage – hegen Sie irgendeinen Verdacht gegen Professor Panafidin?“ „Nein. Aber er weiß bedeutend mehr, als er sagt. Panafidin verschweigt mir etwas, und das mißfällt mir.“ „Es braucht Ihnen ganz und gar nicht zu mißfallen“, erwiderte Blagolepow. „Alle Leute, die klugen jedenfalls, wissen mehr, als sie von sich geben. Und Panafidin ist ein Muster von einem Wissenschaftler, ja, ich würde sogar sagen, ein Symbol für das, was wir heute unter einem ‚homo scientificus‘ verstehen.“ „Und wodurch verdient Panafidin in Ihren Augen eine solche hervorragende Bewertung?“ „Er ist jung, und ich bin fest davon überzeugt, daß die goldene Zeit eines Gelehrten in der Spanne zwischen Jugend und reifem Alter liegt. In jenen Jahren werden die großen Entdeckungen gemacht. Panafidin ist ehrgeizig. Ehrgeiz aber – dieser bösartige Vogel – verhilft nicht wenigen Forschern, die Höhen des Wissens und des Ruhms zu erklimmen. Auch versteht er es, seine Mitarbeiter in der für ihn notwendigen Richtung wirken zu lassen, und zwar so, daß er maximalen Nutzen von ihnen hat. Er besitzt ein gutes theoretisches Rüstzeug und steckt voller Ideen. Und nicht zuletzt weiß er die Gelder, die man ihm bewilligt, vernünftig einzusetzen – eine Eigenschaft, die bei Wissenschaftlern von großem Wert, doch sehr selten anzutreffen ist.“ Diese Dinge führte Blagolepow irgendwie lustlos an, als bloße Behauptung, und ich vermißte die innere Überzeugung in seinen Worten. Als er verstummt war, wartete ich einen Augenblick ab und fragte dann: „Ist das alles, Ilja Petrowitsch?“ „Das ist doch nicht wenig. Außerdem ist Panafidin recht agil und bar jeder Sentimentalität. Vor Jahren hatte er einen sehr fähigen, freilich ein bißchen hitzigen Mitarbeiter – Nil Petrowitsch Gorowoj, der sich in dem Maße, wie er sich mauserte, mit Panafidin anzulegen 84
begann. Panafidin glaubte mit seinem so widerborstigen Untergebenen nichts anfangen zu können und feuerte ihn kurzerhand. Das war ein Fehler – normalerweise hat er seine Interessen besser im Auge.“ „Und was sind seine Interessen?“ „Große wissenschaftliche Entdeckungen zu machen.“ Aus den letzten Worten Blagolepows glaubte ich leisen Spott herauszuhören. Ich fragte: „Will Professor Panafidin eine bestimmte Entdeckung machen, die ihn als Wissenschaftler seit langem bewegt, oder strebt er nach Erfolg und Ruhm?“ „Ihre Frage ist naiv.“ Blagolepow lachte. „Außerdem, junger Mann, habe ich im Gespräch die Tür nur einen Spalt breit geöffnet, Sie aber stellen gleich den Fuß dazwischen und versuchen auch noch, die Schulter hindurchzuschieben.“ „Das leugne ich gar nicht.“ „Sie würden’s bestimmt zu verschweigen suchen, wüßten Sie, daß Alexander Panafidin mein Schwiegersohn ist …“ Ich hatte die Empfindung, einen heftigen Stoß vor die Brust zu bekommen. Ich hatte plötzlich Panafidins Fragebogen vor Augen, ausgefüllt mit einer kräftigen, steilen Handschrift, sah die Rubrik „Ehefrau – Panafidina, Olga Iljinitschna, geb. 1935“. Blagolepow fuhr fort, als wäre nicht das geringste geschehen: „Nun, da Sie mir versichern, keinerlei Verdacht gegen Alexander Nikolajewitsch zu hegen, kann ich ja weiterhin offen und mit der größtmöglichen Objektivität sprechen.“ „Stimmt“, erwiderte ich, „die Situation gibt uns tatsächlich die Möglichkeit, offen miteinander zu reden. Darum auch gleich meine Frage: Mir scheint, Ihrer Charakteristik des zeitgenössischen Wissenschaftlers oder des ‚homo scientificus‘, wie Sie ihn nennen, liegen nicht so sehr die eigene Überzeugung als vielmehr gängige Vorstellungen zugrunde. Oder täusche ich mich da?“ 85
„Nun ja, wie soll ich sagen. Die Wissenschaft ist eine Welt für sich, und wir sind in der Hektik des Alltags oftmals geneigt, die Leute, die darin leben, gleich als Sonderlinge und Supergescheite zu bezeichnen. Dabei knien sie sich nur verbissen in ihre Probleme, und dieses ständige Grübeln bewirkt ihre sprichwörtliche Zerstreutheit, läßt sie leicht lächerlich erscheinen. Die Folge ist – sie werden noch gehemmter, vergraben sich immer tiefer in ihre Arbeit, was mit den Jahren zu einer Art Besessenheit führen kann. Die zum Bestandteil ihrer Existenz wird, sie nicht zur Ruhe kommen läßt, allgegenwärtig ist: im Schlaf, in der Arbeit, beim Teetrinken, im Kino …“ „Sie meinen“, unterbrach ich den Professor, „daß Panafidin auch solch ein besessener Wissenschaftler ist?“ Blagolepow schenkte mir Kaffee nach, drehte seine eigene, leere Tasse unschlüssig in den Händen und stellte sie dann mit entschiedener Geste auf den Tisch zurück. „Ihr Praktizismus ist einfach niederschmetternd“, erwiderte er leicht verstimmt, lächelte aber dann plötzlich – etwas schien ihn belustigt zu haben – und fügte hinzu: „Nein, Alexander ist weiß Gott kein schüchterner, versponnener Sonderling. Er liebt das Leben, liebt es sogar sehr. Wenn er ins Kino geht, sieht er sich den Film für seine fünfzig Kopeken bis zum Schluß an, auch wenn er noch so langweilig ist. Er ißt stets mit dem größten Appetit und schläft seine acht Stunden fest und ruhig durch. Die Wissenschaft beschäftigt ihn nur während der Arbeitszeit.“ „Sie glauben also, daß ihm die große, entscheidende Entdeckung nicht glücken wird?“ „Ich fürchte, nein. Es gibt eine Sorte von Männern, die großen Erfolg bei nicht eben intelligenten Frauen haben, und dieser Umstand bringt sie in den Ruf, unwiderstehlich zu sein. In der Wissenschaft gibt es gleichfalls einen Clan von Leuten, die vom ersten Schritt an 86
eine Menge kleiner, vernünftiger, erfolgreicher und obendrein nützlicher Dinge tun. Solche einigermaßen fähigen Burschen bedenken wir recht großzügig mit dem Epitheton ‚Talent‘. Die wissenschaftliche Laufbahn eines wirklich großen Gelehrten aber muß mit Mißerfolgen beginnen, so wie wirkliche Männer in ihrer ersten Liebe für gewöhnlich unglücklich sind …“ Der Alte verstummte, die Abenddämmerung war inzwischen gänzlich am Verglühen, und dort, wo sich noch vor kurzem der helle Streifen des Abendrots befunden hatte, flammte plötzlich ein gelber Stern auf; er blinkte böse und unheilverkündend. Im Garten wurde es dunkel, durchdringender Wind erhob sich. Blagolepow fröstelte und steckte die klamm gewordenen Hände unter die Achseln. Da gab ich mir einen Ruck und brachte meine entscheidende Frage an: „Sagen Sie, Ilja Petrowitsch, könnte dieser Lyshin das Metaproptisol im Alleingang synthetisiert haben?“ Der Professor antwortete rein mechanisch: „Das ist unglaublich schwierig, aber Wolodja …“ Er hielt jäh inne, sah mich voll an und sagte kopfschüttelnd: „Nun haben Sie die Tür also aufgestoßen. Aber es fällt mir schwer, Ihre Frage zu beantworten. Ich bin alt, mein Leben ist so gut wie zu Ende – ich habe nicht mehr die Zeit, mich in irgend etwas einzumischen. Und was Lyshin betrifft, ich weiß nicht. Ich habe im Leben sehr viele Fehler gemacht, ich möchte nicht noch einen hinzufügen. Sie werden sich auch ohne mich Klarheit verschaffen.“ „Ich weiß nicht mehr, von wem diese Worte stammen“, sagte lachend Gorowoj, „von Lassalle oder Pasteur, von Pascal oder gar von Lassar, jedenfalls hat der Betreffende wahr gesprochen … leider …“ „Nanu. Sie machen mir doch gar nicht den Eindruck eines Pessimisten, Nil Petrowitsch.“ 87
„Nicht um den Pessimismus geht es. Sie selbst werden in Ihrer Arbeit gewiß oft genug mit dem Problem der Gerechtigkeit konfrontiert, die von jeher ein umstrittener Gegenstand ist, im Gegensatz zur weit klareren Frage der Macht. Darum ist es auch bedeutend leichter, das Starke gerecht zu nennen als umgekehrt die Gerechtigkeit stark.“ „Nun, da wir schon mal von der kriminalistischen Arbeit sprechen: Eine unserer Aufgaben besteht ja gerade darin, der Gerechtigkeit die ihr gebührende Stärke zu verleihen.“ „Das bestreite ich gar nicht. Doch geraten glücklicherweise die wenigsten Leute, denen die Gerechtigkeit in ihrer ganzen Stärke not täte, mit dem Gesetz in Konflikt.“ Gorowoj sah mich listig an, wobei er den mächtigen, bereits kahl werdenden Kopf zurückwarf. Für seine mittelgroße, aber schmächtige Statur war der Kopf entschieden zu gewaltig geraten. Wenn beispielsweise die Notwendigkeit bestünde, auf einem Foto die Identität dieses Mannes festzustellen, würde das selbst der Patschkalina nicht die geringste Mühe bereiten, und wäre das Bild noch so schlecht. „Da will ich Ihnen gern recht geben. Aber ich möchte Sie etwas anderes fragen. Welche Umstände haben eigentlich dazu geführt, daß Sie der Chemie den Laufpaß gaben?“ „Ich würde sagen, das Leben selbst ist schuld.“ Gorowoj lachte. „Im Sack befanden sich nicht nur zwei Katzen, verstehen Sie, sondern ein ganzes Rudel. Und diese Katzen waren zu verschieden …“ „Eine solche Situation mag dem Vorwärtskommen hinderlich sein“, gab ich zu, „dennoch kann man auch unter diesen Voraussetzungen ein guter Spezialist werden …“ „Aber nein!“ Gorowoj hob abwehrend die Hände. „Sie haben mich falsch verstanden. Ich schiebe es ja gar nicht 88
auf die Umstände. Es lag an meinen nicht eben guten Beziehungen zum Leiter des Labors. Sie führten dazu, daß ich von meiner Stelle flog, noch ehe ich ein anständiger Fachmann werden konnte.“ „Und wer war Ihr Vorgesetzter?“ „Ein außerordentlich rühriger Mann der Wissenschaft, er heißt Alexander Nikolajewitsch Panafidin. Inzwischen ist er eine Leuchte in seinem Fach.“ „Hatten Sie Differenzen mit ihm?“ „Tja, wie sag’ ich’s meinem Kinde. Das Ganze hat sich sehr kultiviert und streng nach Etikette abgewickelt: Ich hab’ meine Arbeit nicht in der vorgeschriebenen Aspirantenzeit geschafft, und er hatte einen Grund, mich augenblicklich zu feuern – so daß für stürmische Szenen weder Zeit noch Gelegenheit blieb.“ „Und wie begründete Panafidin diese harte Entscheidung?“ „Na, wie schon. Formal gesehen, war er ja im Recht, und all denen, die ein gutes Wort für mich einzulegen versuchten, erklärte er kurz und bündig: ‚Gorowoj hat für die Chemie nichts übrig‘. Und wissen Sie, was das Komische daran ist? Meiner Meinung nach hat er sogar recht damit gehabt …“ „Wieso denn das?“ „Damals schäumte ich vor Kränkung, Zorn und Betrübnis. Ich beschloß, für ein Jahr als Lehrer zu arbeiten, denn die Stelle in einem anderen Forschungslabor, die man mir versprochen hatte, war noch nicht frei. Inzwischen sind fast fünf Jahre vergangen. Ich habe nicht mehr die Absicht, die Schule aufzugeben.“ „Sie finden Ihre neue Tätigkeit also interessanter?“ „Interessant ist wohl nicht das richtige Wort. Ich habe einfach durch Zufall meine wirkliche Berufung entdeckt. Niemals vorher hatte ich mit dem Gedanken gespielt, Kinder zu unterrichten. Nun aber kam ich zu dem Schluß: Das ist eine wunderbare, erstaunliche Welt! 89
Wenn meine Zeit und Kraft ausreichen, würde ich gar zu gern ein Buch über die Schule schreiben …“ „Ein belletristisches Werk?“ fragte ich. „Aber nein, dafür bin ich nicht der Mann! Einfach so – diese und jene Überlegung zur Pädagogik, über die Vermittlung sogenannter langweiliger Fächer, über das Verhalten des Lehrers …“ „Was war eigentlich der Grund für Ihre schlechten Beziehungen zu Panafidin?“ Es wurde Zeit, das Gespräch wieder in Bahnen zu lenken, die mich zuallererst interessierten. „Meine Unbesonnenheit.“ Gorowojs flinke, verschmitzte Augen blitzten. „Damals wußte ich noch nicht, daß die großen Koryphäen sehr oft gegen eine prinzipielle Reformation ihrer Ideen protestieren, weil sie darin einen Anschlag auf ihren Titel als ‚Bester‘ sehen.“ „Und Sie, haben Sie Panafidins Ideen angegriffen oder seinen Titel?“ „Ach, damals war ich doch viel zu schwach auf den Beinen, um mich mit einem Mann wie Panafidin zu messen. Eigenartig übrigens, er ist nur wenige Jahre älter als ich. Aber er gehört zu jenen seltenen Menschen, die gewissermaßen schon in den Windeln ausersehen sind, einmal eine Führungsrolle zu übernehmen. Sie müssen einfach über Leute bestimmen, die nicht von dem verzehrenden Verlangen erfüllt sind, stets und überall die ersten zu sein.“ „Was war es aber nun genau, Nil Petrowitsch, womit haben Sie Panafidins Unzufriedenheit hervorgerufen?“ „Er besitzt eine sehr gefährliche Eigenschaft – eine fast unkontrollierte Fähigkeit, sich für die eigenen Ideen zu begeistern. Na ja, ich hab’ mir den Luxus geleistet, mich vor anderen darüber lustig zu machen. Dabei stammte die Idee, um die es ging, nicht mal von ihm selbst, er hatte sie zusammen mit Wolodja Lyshin erarbeitet, einem Mann, der damals gleichfalls in unserem Labor war.“ 90
„Folglich machten Sie sich auch über Lyshin lustig?“ „Um das so aufzufassen, muß man schon sehr tief graben, denn erstens hatte Lyshin jeden Tag ein Dutzend Ideen, zweitens lächelte er bloß, wenn sie verrissen wurden; am nächsten Morgen wartete er bereits mit neuen Gedanken auf. Panafidin allerdings hätte um nichts in der Welt zugegeben, daß die Grundlage für sein System eigentlich von Lyshin stammte.“ „Betraf diese Idee das Metaproptisol?“ Gorowoj nickte. „Ja, Lyshin verfügt meines Erachtens über ein fabelhaftes theoretisches Denkvermögen, nicht zu vergleichen mit Panafidin. Als exzellenter Experimentator war Panafidin bestrebt, Lyshins Konzeption über die nach einzelnen Radikalgruppen differenzierte Synthese des gigantischen Tiazinmoleküls Metaproptisol zu realisieren. Ich befaßte mich mit einem Teilproblem dieser Arbeit.“ „Sie glaubten nicht an den Erfolg?“ „Zunächst glaubte ich noch daran. Bei einzelnen Fraktionen kamen wir nämlich ganz gut voran. Und dann – wozu es verhehlen – war ich auch von der Aussicht angestachelt, mit Riesenschritten auf die Verteidigung meiner Kandidatur zuzugehen. Die Sache schien absolut erfolgversprechend, hatten wir doch eine ganze Familie neuer Stoffe synthetisiert. Nach und nach aber …“ Gorowoj verstummte und setzte sich bequemer auf dem Fensterbrett zurecht. Er hockte da, den Kopf gegen die Wand gelehnt, sein Blick ging über mich hinweg, eilte zurück in jene unwiederbringlich verflossenen Jahre, da er noch nicht die Berufung in sich verspürt hatte Kinder zu klugen und guten Menschen zu erziehen. „Nach und nach aber begriff ich, daß wir in eine Sackgasse geraten waren. Ich hatte zufällig ein Gespräch mit angehört. Lyshin schlug neue Wege vor, doch Panafidin setzte sich wie ein Löwe zur Wehr, und je mehr ich über die Argumente Panafidins nachdachte, desto deutlicher 91
begriff ich: Er war bewußt bestrebt, Lyshins neue Gedanken den bereits vorhandenen Ergebnissen unserer Experimente einzuverleiben. Dabei ging er wie ein Schüler vor, der sich gewitzt an die schon gefundenen Lösungen am Ende einer Aufgabensammlung heranpirscht.“ „Sie halten Panafidin für einen unehrenhaften Wissenschaftler?“ „Nein, das wäre entschieden zu stark. Ich glaube einfach, daß er, nicht eben zimperlich mit anderen, mit sich selbst aber zuviel Nachsicht übte. Er nahm Wunschvorstellungen für Realität. Wahrscheinlich wäre ich nie dahintergestiegen, hätte ich nicht Lyshins Gegenargumente gehört. Die gaben dann auch den Ausschlag für meine eigenen Überlegungen. So begriff ich endgültig, daß wir auf dem falschen Weg waren.“ „Haben Sie mit Panafidin über Ihre Zweifel gesprochen, Nil Petrowitsch?“ „Natürlich. Er hörte mich an und stellte mir anheim, eigene Versuche durchzuführen, die seine Vorstellungen widerlegten. Das war eine ziemlich aufwendige Arbeit, die kaum Ergebnisse brachte. So schaffte ich weder die früheren Aufgaben, noch bekam ich etwas Neues zustande. Drei Aspirantenjahre vergingen im Nu, und eines schönen Tages rief mich Panafidin zu sich, dankte mir für meine Mitarbeit und erklärte, ich sei nun frei …“ „Sagen Sie, Nil Petrowitsch, halten Sie Panafidin für einen begabten Wissenschaftler?“ „Zweifelsohne.“ Gorowoj nickte bestimmt. „Er ist ein Mann mit Talent. Allerdings wäre für ihn eine Tätigkeit besser, die ihm weniger Raum für sein Selbstgefühl ließe.“ „Weshalb glauben Sie das?“ „Nun ja … Die wissenschaftliche Arbeit verlangt, daß man Ergebnisse stets neu in Zweifel zieht, sie immer wieder überdenkt, überprüft; sie setzt die Fähigkeit voraus, die Suche nach der Wahrheit über all unsere kleinen menschlichen Leidenschaften zu stellen …“ 92
„Panafidin aber kann das nicht?“ Gorowoj zuckte mit den Schultern. „Als talentierter Mensch strebt Panafidin im Streit nicht nach der Wahrheit, sondern nach dem Sieg. Das kann ihn als talentierten Wissenschaftler sehr weit führen …“ „Weit oder hoch hinaus?“ fragte ich mit Nachdruck. „In der Wissenschaft fallen diese Vektoren nicht selten zusammen. Der Disput über den Unterschied zwischen jenen Menschen, die in der Wissenschaft nur sich lieben, und denen, die in sich die Wissenschaft lieben, ist noch nicht beendet …“ „Lyshin haben Sie nicht wiedergesehen?“ „Nein, aber ich habe gehört, daß Panafidin und er mächtig aneinandergeraten sein sollen und daß Lyshin das Labor verlassen hat. Einzelheiten sind mir nicht bekannt.“ „Was meinen Sie, Nil Petrowitsch, könnten Panafidin oder Lyshin unabhängig voneinander auf das Metaproptisol gestoßen sein?“ Gorowoj zuckte abermals die Achseln. „Das ist eine sehr komplizierte Frage. Panafidin hat bedeutend mehr Chancen, was die wissenschaftlich-technische Basis und seine experimentelle Begabung betrifft. Lyshin dagegen ist ein Mann von großartiger Phantasie, von nahezu künstlerischer Vorstellungskraft. Er verfügt über ein unglaubliches Gedächtnis und die Fähigkeit, in sehr weiten Kategorien zu denken.“ „Wie konnte aber ein Wissenschaftler mit solchen Vorzügen in der Anonymität versinken?“ „Gelehrte sind keine Filmstars, deren Porträts an allen Litfaßsäulen hängen. Im Bereich der Wissenschaft wird Lyshin von seinem ehemaligen Partner nach allen Regeln der Kunst zu Boden gedrückt. Immerhin ist Panafidin Mitglied sämtlicher Redaktionskollegien und wissenschaftlicher Beiräte, an die sich sein Gegner wenden muß, will er etwas publizieren.“ Ich schüttelte unwillig den Kopf. „Mir will nicht ein93
leuchten, daß die gesamte wissenschaftliche Öffentlichkeit so einstimmig und widerspruchslos hinter Panafidin stünde, würde der eine falsche Theorie verfechten.“ Gorowoj warf mir einen unzufriedenen Blick zu. „Kommen Sie mir doch nicht mit solchen Verallgemeinerungen: die ganze wissenschaftliche Öffentlichkeit, einstimmig und widerspruchslos, eine falsche Theorie! Wissenschaftlicher Fortschritt ergibt sich durch den Sieg neuer Ideen, und nicht selten hängt der Erfolg solcher Ideen von der Autorität ihres Urhebers ab. Hätte der berühmte Petersburger Physiologe Paschutin die Forschung Lew Sobolews über die Funktionsweise der Bauchspeicheldrüse seinerzeit nicht als perspektivlose Verirrung abgetan, wäre der Nobelpreis für die Entdeckung des Insulins wohl eher an Sobolew gegangen als an Frederick Banting. Doch die ‚ganze wissenschaftliche Öffentlichkeit‘, wie Sie es ausdrücken, zog es vor, das Urteil der anerkannten Leuchte auf diesem Gebiet zu akzeptieren, anstatt die Meinung eines unbekannten Neulings anzuhören. Deshalb kann es kaum verwundern, daß den Worten Panafidins mehr Wert beigemessen wird als den unwirklich scheinenden Phantastereien eines Lyshin, der für niemanden ein Begriff ist …“ Noch lange unterhielt ich mich an jenem Abend mit Gorowoj, kam jedoch der Lösung dieser verwickelten, mir völlig unverständlichen Angelegenheit keinen Schritt näher. Nur mein Interesse für Lyshin wuchs, diese rätselhafte, ein wenig ins Dunkel getauchte, für mich bisher noch ziemlich konturlose Gestalt.
7 Das Telefon schrillte, und noch ehe ich den Hörer am Ohr hatte, vernahm ich eine tiefe, ölige Stimme, die sag94
te: „Tichonow? Hier der Wachhabende vom Dienst Suchanow. Da haben gestern gegen zwanzig Uhr zwei Betrüger so ein Ding gedreht.“ Die Worte des Wachhabenden dröhnten aus der Hörmuschel, und mir kam flüchtig in den Sinn, daß jede menschliche Stimme eine bestimmte Farbe hat. Die von Suchanow war dunkelbraun. „Der Chef hat aus irgendeinem Grund Anweisung gegeben, die Sache an dich zu melden“, fuhr Suchanow fort. „Du wüßtest schon, weshalb. Ich war ein bißchen überrascht. Du befaßt dich doch sonst nicht mit solchen Delikten.“ „Stimmt schon“, erwiderte ich, „im allgemeinen hab’ ich nichts damit zu schaffen …“ „Na, dann weiß ich auch nicht“, sagte Suchanow, „ihr werdet euch gewiß was dabei gedacht haben.“ „So ist es. Und nun die Adresse.“ „Von wem? Von der Geschädigten?“ „Aber woher denn … Deine Privatadresse, mein Lieber“, sagte ich friedfertig und wußte nun immerhin, daß es sich bei dem Opfer wieder um eine Frau handelte. Die Geschädigte Patschkalina und die Geschädigte … „Wie ist ihr Name?“ „Du immer mit deinen Witzchen“, rügte mich Suchanow. „Schreib auf: Ramasanowa, Raschida Abbassowna, Stschipkowgasse zwölf, Wohnung sechsundvierzig. Die Einsatzgruppe ist bereits draußen. Der Chef läßt dir einen Wagen schicken.“ „Wie rührend. Also dann in aller Form – vielen Dank für die Aufmerksamkeit.“ „Ich hab’ doch nichts damit zu schaffen. Kommst du nachher ins Kriminalamt?“ „Das weiß ich noch nicht.“ „Na, dann mach’s mal gut. Und beleg den Wagen nicht so lange mit Beschlag.“ 95
Die Befragung der Geschädigten hatte Gnesdilow übernommen, ein Inspektor aus der Abteilung IV des Moskauer Kriminalamtes. Er erledigte diese Aufgabe geschickt und schnell. Ich saß rittlings auf einem Stuhl in der Ecke, hatte die Arme auf die Stuhllehne gelegt, das Kinn in die Hände gestützt, und hörte aufmerksam zu. Dabei ließ ich den Blick durchs Zimmer schweifen. Ich musterte die Frau und die beiden Kinder auf dem Sofa und dachte unwillkürlich daran, wie ähnlich doch die unterschiedlichsten Behausungen der Menschen durch ein schlagartig hereinbrechendes Unglück werden. Egal ob es sich nun um gute, mit Geschmack ausgestattete Wohnungen oder um ärmliche, geschmacklos eingerichtete Räume handelte. Nach einer Durchsuchung ist die schönste Wohnung genauso zugerichtet wie die verkommenste Diebeshöhle. Schranktüren sperren auf, und ihr Inhalt ist auf dem Fußboden verstreut, Schubladen sind herausgezogen, und auf Bett und Stühlen, überall liegen irgendwelche Blätter herum, Wäschestücke, die durchgeschüttelt, Bücher, die einfach vom Bord gefegt worden sind; dazu kommen ausgehobene Dielenbretter und aufgeschlitzte Tapeten. Die größte Gemeinsamkeit aber ergibt sich aus jener bitteren Atmosphäre des Schreckens, einer häufig von Tränen begleiteten Erregung, aus der Scham, dem Schmerz und der Hoffnungslosigkeit, die die Betreffenden befällt, wenn sie sich den Blicken wildfremder Leute schonungslos ausgeliefert sehen. Die Wohnung der Ramasanowa gehörte zu den guten, geschmackvoll eingerichteten – jetzt freilich herrschten Chaos und Zerstörung darin. Kein Stück, das auf seinem Platz geblieben wäre. Auf einem niedrigen Polsterhocker neben einem dreiteiligen Spiegel lag eine Lockenperücke, die mich dauernd ablenkte – dreimal verdammt sollte sie sein. Sie hinderte mich in meiner Aufmerksamkeit, denn von dem Platz aus gesehen, wo ich saß, 96
hatte sie große Ähnlichkeit mit einem abgehackten Kopf. Eine akkurate Frisur auf abgetrenntem Kopf, die mir keine Ruhe gab. Den beiden Knaben, etwa fünf und zehn Jahre alt, blickte Angst aus ihren Glitzeraugen. Die Ramasanowa selbst dagegen hielt sich wacker. Sie war eine junge, schlanke Frau mit flinken, blauen Augen, hatte nur etwas viel Goldzähne im Mund. Es kam einem so vor, als hätte sie sich die gesunden Zähne alle ziehen lassen, um sie durch zwei vollständige Goldprothesen zu ersetzen. „Nein, außer diesen hundertzwanzig Rubeln und meinem Ring haben sie nichts mitgenommen.“ Sie haspelte diese Worte zum wiederholten Male herunter und legte stets aufs neue großen Nachdruck auf die Tatsache, daß die beiden ohnehin nichts weiter hätten holen können. Sie schien große Angst zu haben, die Anwesenden könnten nicht mitbekommen, wie arm und verwaist sie sei. Sonst aber machte sie einen ruhigen, selbstsicheren Eindruck, hatte lediglich ihre Finger nicht unter Kontrolle, und gerade sie beobachtete ich nun schon die ganze Zeit sehr aufmerksam. Die Ramasanowa hatte schöne, gepflegte, fast zarte Hände, die im Augenblick um so unangenehmer anzuschauen waren, als sich ihre Finger vor Angst und Aufregung unaufhörlich zusammen- und ineinanderverkrampften. Sie waren von einem hysterischen, feinen Zittern durchdrungen, und um dieses Zittern zu unterdrücken, verflocht die Frau sie, ballte die Hände zur Faust, rieb hektisch die Handflächen aneinander. Und eben diese Hektik ihrer zu Tode erschrockenen Hände, eine Hektik, die sich verselbständigt hatte, ließ mich vermuten, daß die Frau bei weitem nicht alles erzählte, was sie wußte. Ich trat an den Tisch heran, warf über Gnesdilows Schulter hinweg einen Blick ins Protokoll, räusperte mich, riß ein Blatt Papier aus dem Block und schrieb darauf: „Umar Ramasanow, Absatzleiter im Industrie97
kombinat ‚Angel- und Freizeitsport‘.“ Dann winkte ich den jungen ABV zur Tür, reichte ihm den Zettel und flüsterte: „Rufen Sie den OBCHSS an, Hauptmann Sawostjanow. Fragen Sie an, ob das hier der Kunde ist, der seinerzeit das Weite gesucht hat.“ „Zu Befehl.“ Der ABV ging, ich aber kehrte zu meinem Stuhl in der Ecke des Zimmers zurück. „Und was haben die Leute als Grund für die Durchsuchung angegeben?“ fragte Gnesdilow gerade. „Sie müssen doch irgendwas gesagt haben.“ Die Finger fuhren auseinander, erstarben in ihrer Bewegung, zuckten erneut und preßten sich wieder zusammen. „Nichts haben sie gesagt“, erwiderte die Ramasanowa gedehnt. „Sie haben lediglich erklärt, sie hätten einen Haussuchungsbefehl vom Staatsanwalt, und mir ein Blatt Papier mit einem Stempel unter die Nase gehalten.“ „Ja, aber da hätte doch der Grund für die Durchsuchung draufstehen müssen.“ Die Frau zuckte mit den Schultern. „Ich war mächtig erschrocken. Vor meinen Augen begann alles zu tanzen, so daß ich überhaupt nichts mehr begriff.“ „Raschida Abbassowna“, sagte ich da, „kommen Sie doch bitte mal hierher, und setzen Sie sich. Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen.“ Die Ramasanowa blitzte mich böse aus ihren blauen Augen an und kam näher, setzte sich aber nicht. „Ihren Antworten gegenüber Inspektor Gnesdilow konnte ich entnehmen, daß Ihr Mann, Umar Ramasanow, nicht hier wohnt und daß Sie für den Unterhalt der beiden Kinder allein aufkommen. Ist es so?“ „Ja.“ „Wann haben Sie sich von Ihrem Mann getrennt?“ „Vor etwa anderthalb Jahren.“ 98
„Sie müssen schon entschuldigen, was war der Grund?“ Die Ramasanowa zuckte unwillig mit der einen Schulter und sagte mit goldblitzenden Zähnen: „Bitte sehr, ich entschuldige. Dennoch, mit dieser Sache hat das nicht das geringste zu tun.“ „Vielleicht nicht. Vielleicht aber doch. Sie können mir ruhig glauben, daß ich all diese Fragen nicht stelle, um mich abends mit Nachbarn über Details aus Ihrem Privatleben zu unterhalten. Also, warum haben Sie sich vom Ihrem Mann getrennt? Wann und unter welchen Umständen war das? Von wem ging der Bruch aus?“ Wären nicht die Finger gewesen, unkontrolliert und fliegend, von der Miene der Frau hätte man ablesen können: Meine Güte, um welche Lappalien kümmert ihr euch bei einer solch ernsten Angelegenheit! „Vor ungefähr anderthalb Jahren, den genauen Zeitpunkt weiß ich nicht mehr, hat mein Mann offenbar eine andere Frau kennengelernt. Er begann abends spät heimzukommen, blieb manchmal auch die ganze Nacht weg, betrank sich. Die Szenen zwischen uns häuften sich, und eines Tages ging er dann endgültig fort. Wo er sich jetzt aufhält, weiß ich nicht.“ „Hmm, Sie wissen also nicht. Schreib auf, Gnesdilow, daß sie es nicht weiß. Und Sie haben sich in den letzten anderthalb Jahren nicht gesehen?“ „Nein, das haben wir nicht, und ich kann auch nicht sagen, wo er jetzt steckt.“ „Nun gut. Bewohnen Sie diese Wohnung schon lange?“ „Etwa ein Jahr.“ „Sehr gut“, murmelte ich. „Ich bitte erneut um Entschuldigung, aber auch die nächste Frage muß ich Ihnen noch stellen: Kommen ab und zu andere Männer hierher – Freunde, Bekannte oder auch ehemalige Freunde Ihres Mannes?“ „Nein, nicht. Kei-ner-lei Männer – weder Freunde noch Bekannte.“ 99
Ich erhob mich, ging, scheinbar gedankenversunken, ein paar Schritte durchs Zimmer, blieb neben dem Polsterhocker stehen und griff wie mechanisch nach der Perücke. Dann aber kniete ich mich unvermittelt hin und holte zwei funkelnagelneue Spielzeugautos unter dem Sofa hervor. Es waren zwei hübsch lackierte Feuerwehrautos ausländischer Produktion – mit einer Ausziehleiter, Schläuchen und einem Feuerwehrmann mit Helm. „Wem gehören denn diese tollen Autos?“ fragte ich die Jungs. „Mir“, antwortete der Kleinere mit tiefer Brummstimme, der Größere dagegen sagte nichts, sah mich nur scheel mit seinen anscheinend von der Mutter vererbten flinken Augen an. „Und wer hat sie dir geschenkt?“ fragte ich. Wieder sagte der Ältere kein Wort, gab statt dessen dem Jüngeren einen Rippenstoß. Der aber verstand solche Hinweise noch nicht. Er kam zu mir gelaufen, griff nach den Autos und sagte bereitwillig, ja sogar stolz: „Die hat mir mein Papa geschenkt!“ Ich drehte mich zur Ramasanowa um und stellte fest, daß ihre Finger nicht mehr zitterten. Sie schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch und rief mit einer schrillen Stimme, an der sie sich beinahe selbst verschluckte: „Wie … wie können Sie es wagen! Was fällt Ihnen ein, Kinder zu verhören! Woher nehmen Sie das Recht, das Gesetz mit Füßen zu treten?“ In diesem Augenblick klappte die Tür, und der ABV kam ins Zimmer. Die Ramasanowa verstummte jäh, und in die entstandene, fast theatralische Pause hinein sagte der Milizionär: „Sie haben recht, Genosse Hauptmann, er ist es.“ Die Ramasanowa schien vor meinen Augen zu schrumpfen, dahinzuwelken, selbst die Farbe ihrer Haut wurde um eine Nuance blasser. In Bruchteilen von Sekunden nahm ihr Gesicht einen so erschöpften Ausdruck an, als 100
hätte ihr einzig die nervliche Anspannung Haltung verliehen. Nun, da diese Anspannung dahinschmolz, von ihr genommen wurde, stürzte ihre gesamte nicht eben stabile Persönlichkeit, der Glaube, Wahrheit und Überzeugung entzogen waren, kraftlos in sich zusammen. Ich setzte mich wieder auf meinen Stuhl in der Ecke und sagte leise: „Sie haben Ihren Mann zu Unrecht verleumdet, Raschida Abbassowna. Es hat keinerlei andere Frauen für ihn gegeben, er war und ist jetzt noch ein liebender Gatte und Vater. Leider kann diese hoch einzuschätzende Tugend sein hauptsächliches Vergehen nicht rechtfertigen, seinen Hang, in großem Maßstab staatliches und gesellschaftliches Eigentum an sich zu bringen. Weswegen er sich bis zu diesem Zeitpunkt ja der Miliz und dem Gericht entzieht … Nun also, Sie sehen ihn ab und zu?“ „Ich seh’ ihn nicht. Ich weiß nichts und sag’ kein Wort mehr dazu. Aber ein Kind zu verhören ist widerlich! Es ist würdelos, einfach eine Schuftigkeit! Kein anständiger Mensch bringt es über sich, die Naivität eines Kindes auszunutzen!“ „Regen Sie sich nicht künstlich auf, Raschida Abbassowna. Sie tun das doch nur, weil ich Sie einer Lüge überführt habe und Sie sich ertappt fühlen. Was aber das Verhör von Kindern betrifft – das Gesetz gestattet es durchaus. Ihren Jungen allerdings habe ich keineswegs einem Verhör unterzogen – ich habe ihn lediglich etwas gefragt, um mich von der Richtigkeit meiner Vermutung zu überzeugen. Sie dagegen sollten mal darüber nachdenken, was für eine große Verantwortung Sie auf sich nehmen, wenn Sie ihre Kinder von klein auf zum Lügen erziehen, zu einem Doppeldasein, wenn Sie sie zwingen, ständig in Furcht vor der Miliz zu leben …“ Die Frau sagte das erstbeste, was ihr in den Kopf kam: „Die Kinder können nicht für ihre Eltern zur Verantwortung gezogen werden.“ 101
„Sie sollten sich schämen!“ Allmählich geriet ich in Zorn. „Sind Sie sich darüber im klaren, was für einen Unsinn Sie da zusammenreden? Wer spricht denn von der Verantwortlichkeit der Kinder! Im Augenblick geht’s nicht einmal um die Ihres Mannes.“ „Und worum geht es dann?“ Die Ramasanowa stellte sich stur. „Es geht um die beiden Männer, die in betrügerischer Absicht bei Ihnen eingedrungen sind. Nur eins ist für uns wichtig: wie wir sie finden können!“ „Aber klar doch, das ist das einzige, was Sie im Augenblick interessiert.“ Die Ramasanowa ließ ein sarkastisches Lachen hören. „So wie Sie sich aufführen, drängt sich mir die Frage auf, weshalb Sie die Miliz überhaupt gerufen haben.“ „Sie hat sie ja gar nicht gerufen“, warf der ABV ein, der das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte. „Die Hausmeisterin hat die Miliz geholt.“ Da ich den Anfang der Befragung nicht mitgehört hatte, war ich ziemlich verblüfft. „Ja, aber … wieso denn das?“ fragte ich. „Die Gauner waren fast fertig mit ihrer Arbeit, als die Hausmeisterin an der Wohnungstür klingelte – sie brachte die Mietbücher von der KWV zurück. Die Betrüger ließen sie ein, fragten, wer sie sei, und erklärten ihr, daß hier eine Haussuchung stattfände, zu der sie ohnehin als Zeugin gerufen worden wäre. Bevor sie dann verschwanden, schärften sie ihr ein, sich nicht vom Fleck zu rühren, bevor die Miliz einträfe, sie solle auch aufpassen, daß die Ramasanowa keinerlei Telefongespräche führe, um vielleicht ihre Helfershelfer zu warnen. Die Hausmeisterin harrte vier Stunden lang aus, erst dann rief sie bei der Miliz an, um zu erfahren, wann die endlich käme … Auf diese Weise platzte der Schwindel.“ „Ach, so ist das.“ Ich hatte begriffen. Ich ging im Zimmer auf und ab, nahm aber dann der Ramasanowa 102
gegenüber am Tisch Platz und begann ruhig, fast sanft auf sie einzureden: „Hören Sie mir gut zu, Raschida Abbassowna. Ich bin mir sehr wohl im klaren darüber, daß ich jetzt nicht mit Ihrer Hilfe rechnen kann, aber versuchen Sie wenigstens, ernsthaft über meine Worte nachzudenken, wenn wir gegangen sind. Die Helfershelfer Ihres Mannes sind im Zusammenhang mit den Diebstählen im Kombinat ‚ Angel- und Freizeitsport‘ inzwischen abgeurteilt. Der Umstand, daß Ihr Mann flüchtig ist, zieht ein gesondertes Verfahren nach sich. Die Sache hat seinerzeit viel Staub aufgewirbelt, und ich bin zur Genüge darüber unterrichtet. Doch die Geschichte, die Ihnen jetzt hier widerfahren ist, hat nicht das geringste mit den früheren Manipulationen Ihres Mannes zu tun. Sie sind das Opfer von besonders dreisten Betrügern geworden. Halten wir also fest: Ihr Mann, Umar Ramasanow, ist flüchtig und wird gesucht, das wissen Sie sehr genau. Als Kriminalist bin ich selbstverständlich daran interessiert, daß er möglichst bald gefunden wird. Aber – und das dürfen Sie mir glauben – es ist jetzt nicht mein Fall. Mich interessiert im Augenblick nicht einmal die Herkunft der Wertsachen, die die Betrüger Ihnen abgenommen haben, mich interessieren die Diebe selber, denn es handelt sich um überaus gefährliche Verbrecher. Sie sind übrigens nicht ihr erstes Opfer. Sie haben es zwar nicht für nötig befunden, mir etwas über den Tathergang zu erzählen, doch wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ziemlich genau schildern, wie das Ganze vonstatten gegangen ist. Na, was ist?“ Die Ramasanowa zog ein schiefes Gesicht, als gäbe sie zu verstehen: Erzählen Sie doch, was Sie wollen, mir ist das völlig egal. „Sie haben gestern abend einen Anruf erhalten. Der Anrufer hat sich auf irgendwelche gemeinsame Bekannte berufen, und es ist durchaus möglich, daß es eine Frau war, die mit Ihnen sprach. Man sagte Ihnen, daß 103
Ihr Mann, Umar Ramasanow, soeben verhaftet worden sei und daß Sie unverzüglich sämtliche Wertsachen, die sich im Haus befinden, zusammensuchen und fortschaffen sollten, denn in spätestens einer halben Stunde würde eine Haussuchung bei Ihnen stattfinden und alles beschlagnahmt werden. Sie machten sich in fieberhafter Hast ans Werk, doch bereits nach zwanzig Minuten klingelte es an Ihrer Wohnungstür. Es waren die Betrüger, Sie aber hatten bei ihrem Eintreffen alle Wertgegenstände bestens parat … So ungefähr hat sich die Sache doch abgespielt?“ „Ja und, was wollen Sie denn noch von mir?“ fragte die Ramasanowa. „Daß Sie gemeinsam mit mir darüber nachdenken, wer die Leute sein könnten, die so überaus gut über die Angelegenheiten Ihres Mannes informiert sind.“ „Ich kann Ihnen da nicht im geringsten helfen. Alles, was ich weiß, hab’ ich Ihnen bereits gesagt. Sollte mir noch irgend etwas einfallen, ruf ich Sie an.“ „Also gut. Und geben Sie sich auch Mühe, daß Ihnen noch etwas einfällt, es ist sehr wichtig. Wichtig für Sie.“ Hatten mich früher vage Zweifel wegen der Rolle und Schuld Posdnjakows geplagt, so war ich mittlerweile endgültig überzeugt, daß er für die Verbrecher nicht das Zielobjekt, ja nicht einmal das Opfer eines Racheakts gewesen war. Er hatte für sie nur als Mittel zum Zweck gedient, und zwar als sehr effektives Mittel für weitere, entscheidendere Fischzüge. Der Dienstausweis und die Pistole des ABV waren den Betrügern hundertmal wichtiger gewesen als Posdnjakow mitsamt seiner Ehre und Würde. Um in aller Ruhe und mit hundertprozentiger Aussicht auf Erfolg in den Wohnungen solcher Leute wie der Patschkalina, der Ramasanowa und anderer herumwühlen zu können, von denen ich bisher noch nichts wußte, begingen sie ein Verbrechen, das doppelt schäbig war: Sie bauten darauf, daß nicht sie für die Straftaten 104
geradestehen müßten, sondern der ABV, jener Mann also, der ohnehin durch sie geschädigt war. Diese tückische Spitzfindigkeit aber weckte meinen Zorn und meine professionelle Leidenschaft, sie machte mich steinhart in meiner Entschlossenheit, die Kerle aus dem Dunkel der Anonymität ans Licht zu befördern und sie bei der Kehle zu packen. Und gerade nach dem Verbrechen bei der Ramasanowa war ich, mir selbst unerklärlich, felsenfest davon überzeugt, daß mir diese Männer nicht entkommen würden. Tamara, unsere Sekretärin, öffnete die Tür und reichte mir einen Briefumschlag. Mit den Worten „Das läßt Ihnen der Chef geben“, war sie sofort wieder verschwunden. Der Brief war bereits geöffnet, auf dem Kuvert prangte der violette Sekretariatsstempel. Hinter der nichtssagenden Eingangsnummer verbarg sich jedoch eine bemerkenswerte Sendung. Auf dem Umschlag stand: „An den obersten Leiter des Kriminalamts Moskau, Petrowka 38.“ Im Kuvert selbst befand sich ein schmuddliges gelbliches Blatt Papier, das voller Flecken war, Fett- und Schmierstellen aufwies und hier und da von einer unbestimmbaren Lake durchtränkt schien, wie Zeitungspapier, in das man Salzheringe eingewickelt hat. Sogar der Geruch, der von diesem Zettel ausging, war unangenehm. Der Wortlaut des Briefes hingegen entschädigte für alles. „Herr Vorgesetzter“, stand da, „das Pulver, mit dem man Ihrem Kerl das Maul gestopft hat, damals im Stadion, wird von einem Früchtchen in einem Shiguli spazierengefahren, und zwar in einem Geheimfach in der hinteren Stoßstange. Die Nummer des Wagens: 38-42.“ Der Brief betäubte mich geradezu. Ich las ihn ein ums andre Mal und versuchte einen Hinweis auf seinen Verfasser zu entdecken. Außerdem, wen hatte man sich unter jenem „Früchtchen“ vorzustellen, der angeblich Metaproptisol im Geheimfach transportierte? Hatte viel105
leicht einer aus der Bande einen andern ans Messer liefern wollen? Doch das war unwahrscheinlich, er würde sich damit selbst in Gefahr bringen, gefaßt zu werden. Ein zufälliger Zeuge? Oder einer, den ich bereits befragt hatte und der mir nun behilflich sein, dabei aber selber im Schatten bleiben wollte? Vielleicht auch umgekehrt jemand, der mich auf eine falsche Fährte locken wollte, damit ich kostbare Zeit verlieren beziehungsweise überhaupt einen falschen Weg in der Ermittlung einschlagen sollte? Wer also war der Absender dieses Schreibens? Ein Verbrecher? Waren die Finger, die gestern mit zittriger Schrift das Kuvert beschriftet hatten, nicht vielleicht mit jenen identisch, die zwei Wochen zuvor genauso sorgsam das Metaproptisol in die Bierflasche Posdnjakows geschüttet hatten? Ein willensschwacher Mensch, dem ein abscheuliches Geheimnis bekannt war und der sich nach quälenden Zweifeln plötzlich zu diesem Schritt entschlossen hatte? Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß er diesen Entschluß unvermittelt gefaßt hatte: Dafür sprach das Aussehen des Zettels, der offenbar in der Küche gelegen hatte und ihm als erstbester unter die Finger gekommen war. Er hatte seinen Text draufgeschrieben, das Kuvert sofort zugeklebt und in den Briefkasten gesteckt, ehe er es sich vielleicht anders überlegen würde. Doch nein und nochmals nein! Es war ausgeschlossen, daß er die Nummer unserer Dienststelle so griffbereit zur Hand hatte. Die erfuhr man nur auf der Post oder per Telefon im Auskunftsbüro, was meine Hypothese von dem plötzlich gefaßten Entschluß hinfällig machte – dieser Jemand hatte durchaus Zeit gehabt, sich die Sache noch anders zu überlegen. Das Schreiben aber neu, auf einem sauberen Blatt Papier abzufassen wäre sinnlos gewesen: Er begriff sehr wohl, daß der Inhalt des Briefes sein Äußeres absolut rechtfertigte. 106
Und wenn ich nun dabei war, den Knoten am falschen Ende zu entwirren? Vielleicht wehte der Wind aus einer ganz anderen Richtung. Woher aber dann? Es konnte doch nicht Panafidin sein – oder Professor Blagolepow! Gorowoj und die Shelonkina schieden gleichfalls aus, für sie bestand keinerlei Veranlassung für solch ein Schreiben. Und wenn es nun Lyshin war, der Mann, den ich noch gar nicht kennengelernt hatte? Ein verdammter Teufelskreis tat sich da auf! Doch halt, war das nicht vielleicht gar ein Gruß von der Patschkalina? Nur die Ruhe bewahren, immer schön der Reihe nach. Ich griff zum Telefon und ließ mich mit Sascha Dugin verbinden, der in der Staatlichen Autoinspektion arbeitete. Ihn bat ich, mir sämtliche Eigentümer von Shigulis mit der Nummer 38-42 herauszusuchen. „Und die Serie?“ wollte er wissen. „Was denn für eine Serie?“ fragte ich verblüfft zurück. „Jede Autonummer besteht aus vier Ziffern und drei Buchstaben, zum Beispiel MKA, MKP, MKE. Diese Buchstabenkombination bezeichnen wir als Serie. Ist sie dir bekannt?“ „Nein, keine Ahnung.“ „Nun, dann wird’s ’ne Weile dauern. Wenn du wüßtest, wie aufwendig es ist, sämtliche Nummern aus dem Register herauszusuchen.“ „Sascha, mein Lieber, ich bitte dich inständig, beeil dich. Du glaubst gar nicht, wie dringend ich diese Auskunft brauche.“ „Also, heute wird’s unter Garantie nichts mehr – es geht bereits auf achtzehn Uhr, und immerhin ist Freitag.“ „Was denn“, explodierte ich, „soll ich etwa bis Montag warten?“ „Na, reg dich schon ab. Ich hab’ morgen Dienst. Ruf 107
mich gleich früh an, dann kriegst du deine Liste. Aber sag mir noch mal die Nummer.“ Ich diktierte sie ihm und beschwor ihn händeringend, mich nicht zu versetzen. Er versprach mir hoch und heilig, bis zum anderen Morgen sämtliche Besitzer von Shigulis mit der Nummer 38-42 ausfindig zu machen. Ich überlas nochmals den Brief, steckte ihn zurück ins Kuvert, legte den Umschlag in einen Hefter und den wiederum in den Safe, den ich mit meinem eigenen Siegel verschloß – ich hatte bis Montag ohnehin nichts mehr hier zu tun. Dann machte ich mich zur Wohnung der Patschkalina auf. „Jekaterina Fjodorowna“, sagte ich, „es ist mir gelungen, etwas über Ihre Wertgegenstände in Erfahrung zu bringen, die von den Betrügern entwendet worden sind, oder genauer: über Ihre Sparbücher.“ „Nicht möglich!“ Die Patschkalina schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Sie haben sie gefunden?“ „Bisher noch nicht.“ „Ach so …“, sagte sie enttäuscht, „und was haben Sie dann erfahren?“ „Ich weiß jetzt, wem das Geld gehört“, erwiderte ich gelassen. „Wie soll ich das, nun also, verstehen – wem das Geld gehört. Was meinen Sie damit? Es ist mein Geld, jawohl, mein Geld ist das, hören Sie, meins …“ „Aber nicht doch.“ Ich schüttelte den Kopf. „Das Geld gehört nicht Ihnen, sondern einem gewissen Nikolaj Sergejewitsch. Er war es, der die Einzahlungen vorgenommen hat, deshalb wußten Sie auch nicht, um welche Sparkassen es sich handelt.“ „Was erzählen Sie denn da, das ist doch, gewissermaßen …“ „Einen Augenblick, Jekaterina Fjodorowna“, ich sah auf die Uhr. „Es ist jetzt neun durch, das bedeutet, ich 108
hab’ heute bereits mehr als dreizehn Stunden Dienst auf dem Buckel. Mein Geld für heute hab’ ich mir weiß Gott verdient. Darum hab’ ich weder die Kraft noch die Lust, mich mit Ihnen rumzustreiten. Ich werde Ihnen jetzt in knappen Worten die Situation darlegen, und es hängt dann von Ihnen ab, ob wir ein ernsthaftes Gespräch führen oder ob ich lieber nach Hause fahre und mich aufs Ohr lege. Also hören Sie zu: Beraubt wurden Sie entweder durch Bekannte dieses Nikolaj Sergejewitsch oder aber von jemandem, der durch diese Leute den Wink mit Ihrer Wohnung bekommen hat. Was den Pelz und die Schmucksachen betrifft, so kann ich Ihnen nichts Konkretes versprechen, die Sparbücher sind der einzige Anhaltspunkt, um die Spitzbuben zu schnappen. Sie werden nämlich unter allen Umständen nach einer Möglichkeit suchen, an das Geld heranzukommen. Ist Ihnen das klar?“ „Aber ja doch, natürlich ist mir das klar.“ Die Patschkalina nickte. „Ich habe die Banken bereits angewiesen, alle Kunden genau unter die Lupe zu nehmen, die große Summen abheben. Freilich ist das ein sehr grobmaschiges Netz. Wichtig ist es, jene Sparkasse im Auge zu behalten, an die sich die Betrüger aller Wahrscheinlichkeit nach wenden werden. Das ist die einzige Möglichkeit für Sie, Ihr Geld wiederzubekommen, und für mich, die Verbrecher dingfest zu machen. Wir sind nämlich sehr interessiert an ihnen, weil sie sich viel mehr haben zuschulden kommen lassen als die Gaunerei bei Ihnen.“ „Aber was kann ich dabei tun?“ fragte die Patschkalina. „Mir soviel wie möglich über diesen Nikolaj Sergejewitsch erzählen. Er sitzt doch, nicht wahr?“ „Ich kenne keinen Nikolaj Sergejewitsch“, sagte die Frau langsam, und ich verspürte, ungeachtet des Ärgers, der in mir hochstieg, so etwas wie Mitleid mit ihr: Ihr 109
nicht eben wendiger Geist mußte in diesem Augenblick eine Unmenge aller möglichen Denkoperationen vollführen, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob dieser Inspektor die Wahrheit sagte oder ob er nicht mit einem der üblichen Tricks an ihren hochverehrten Nikolaj Sergejewitsch herankommen wollte. Rein instinktiv – wie all jene, die auf irgendeine Weise mit dem Gesetz auf Kriegsfuß stehen – hatte sie ihr Verhalten in einer bestimmten Richtung festgelegt: am besten alles leugnen. Man sah ihr förmlich an, wie schwer ihr das Denken fiel. Mit dem Busen müßte sie denken können, dachte ich, mit ihren üppigen Brüsten, die sie so freigebig zur Schau stellt. „Hören Sie, Patschkalina“, sagte ich schließlich, „ich hab’ das langsam satt. Ihnen wär’s am liebsten, ich würde Pelzmantel, Ringe und Sparbücher einfach aus dem Ärmel zaubern. Wie ich das anstellen soll, ist Ihnen gleichgültig. Am besten wohl mit den Mitteln der Staatlichen Versicherung. Nur pflegt man sich selbst dort zu erkundigen, unter welchen Umständen der Verlust eingetreten ist.“ „Aber was soll ich denn machen?“ fragte die Patschkalina erschrocken. „Von mir aus nichts. Wenn ich will, finde ich Ihren Nikolaj Sergejewitsch auch so.“ „Und wie?“ Die Patschkalina hakte sofort ein, und ich mußte innerlich schmunzeln. „Ganz einfach. Ich würde an sämtliche Haftanstalten Moskaus eine Anfrage schicken: Hat ein gewisser Nikolaj Sergejewitsch, äußere Merkmale so und so, in den letzten zwei Jahren bei Ihnen eingesessen? Ich würde sein Foto unter Ihren Nachbarn herumzeigen und auf diese Weise sehr schnell in Erfahrung bringen, was mich interessiert. Aber ich hab’ zuviel anderes am Hals, um mich auch noch mit dieser Angelegenheit verrückt zu machen, schließlich geht’s nicht um meine Wertsachen, 110
sondern um Ihre. Deshalb erlaube ich mir jetzt, mich von Ihnen zu verabschieden. Sollten wir die Betrüger irgendwann mal fassen, werde ich Sie verständigen. Sie können ja eine Zivilklage gegen sie anstrengen. Im Laufe von achtzig Jahren werden sie Ihnen in fleißiger Arbeit den Verlust dann vielleicht ersetzt haben.“ Ich erhob mich. Das Gesicht der Patschkalina spiegelte Qualen wider – sie war gezwungen nachzudenken, und zwar nicht einfach so lala, sondern sehr schnell; sie mußte zu einem Entschluß kommen. Sie konnte nicht ahnen, daß ich, unabhängig davon, ob sie sprechen würde oder nicht, die Fahndung nach diesem Mann schon morgen genau in der Art einleiten würde, wie ich es ihr auseinandergesetzt hatte. Ich würde herausfinden, ob eine Verbindung zwischen ihm und Umar Ramasanow bestanden hatte, dessen Haus ja gleichfalls in betrügerischer Absicht ausgeräumt worden war. „So warten Sie doch“, sagte die Patschkalina, „wird Nikolaj Sergejewitsch auch kein Schaden daraus erwachsen?“ „Wieder dieselbe Leier! Was soll ihm denn für ein Schaden erwachsen, wenn er schon längst abgeurteilt ist.“ Die Frau atmete schwer, sogar die Nasenflügel bebten von der Anstrengung des gefaßten Entschlusses. „Also gut, ich werd’s Ihnen sagen. Sein Name ist Obojmow. Geboren neunzehnhundertdreiundzwanzig. Er war Meister in einem Werk … Na Sie wissen schon … für Sportartikel, gewissermaßen … das heißt, er war fürs Inventar verantwortlich, so nennt man das wohl … Er hat auch … nun also … eine Familie, aber er wollte nicht bei seiner Frau bleiben, nein, das wollte er nicht. Sie ist krank, mit dem Unterleib, sozusagen. Er wollte mich heiraten, hat es mir … nun ja … versprochen. Er ist ein sehr feiner Mann, stellt was dar, ist nicht irgendwer, nein, das ist er nicht …“ 111
Die Patschkalina brach in Weinen aus. Es war ein stilles, echtes Weinen mit vielen Tränen, und es war ihr sichtlich unangenehm, daß ich es mit ansah. Ihr kräftiger, gesunder Körper – für Krankheiten gewiß weniger anfällig als der jener anderen – wurde von einem krampfartigen Zittern geschüttelt, und wieder verspürte ich, mir selbst unerklärlich, großes Mitleid mit ihr.
8 An den Sonnabenden ist es auf unseren Korridoren ruhig – kein Hin und Her geschäftiger Kriminalisten, kein Absatzgeklapper der Sekretärinnen, die mit irgendwelchen Papieren unterwegs sind, entlang der Wände keinerlei Zeugen oder von Vergehen Betroffene, die auf ihren Aufruf warten. Das dumpfe Echo meiner Schritte begleitet mich durch den Flur bis hin zu meinem Arbeitszimmer. Wenn ich an solchen Tagen hier zu tun habe, kommt es mir immer so vor, als wäre ich Herr über ein riesiges, leeres Haus, könnte voll und ganz darüber verfügen. Diese Empfindung verstärkt sich noch in meinem Zimmer, herrscht hier doch eine Stille besonderer Art, eine Lautlosigkeit, wie sie nur für große, ausgestorbene Gebäude charakteristisch ist. Sie wird vor allem durch ferne Geräusche deutlich, durch ein kaum wahrnehmbares Klopfen und Glucksen in den Heizungsrohren oder das plötzliche Klirren des Fensterglases, wenn ein Autobus vorbeifährt. Ursprünglich wollte ich sofort die Autoinspektion anrufen und mich nach den Shiguli-Besitzern erkundigen, doch mein Finger wählte mechanisch Lyshins Nummer. Sehr wahrscheinlich war der Mann um diese Zeit am ehesten zu Hause zu erreichen: Heute war Sonnabend, 112
und es war auch noch relativ früh am Tage, es ging auf zehn. Lange Zeit hörte ich nur das monotone Rufzeichen in der Leitung, und niemand kam an den Apparat, aber als ich schon auflegen wollte, wurde das Signal plötzlich doch noch unterbrochen. Ich vernahm eine gereizte Altweiberstimme: „Wen wollen Sie?“ „Wladimir Konstantinowitsch, bitte.“ „Der ist nicht da.“ „Wann könnte ich ihn erreichen?“ „Keine Ahnung. Soll ich was ausrichten?“ „Ja, er möchte bitte Hauptmann Tichonow von der Miliz anrufen.“ Ich war bestrebt, meiner Stimme einen Beiklang honigsüßer Höflichkeit zu verleihen, um die Alte gnädig zu stimmen und sie zu veranlassen, meine Bitte auf jeden Fall weiterzuleiten. „In Ordnung“, sagte die Frau kurz und knallte den Hörer auf die Gabel. Danach rief ich in der Autoinspektion an, und Sascha Dugins Stimme war kaum weniger gereizt, als er fragte: „Bist du’s, Tichonow? Hast mir ja ganz schön was eingebrockt mit deinem Auftrag. Ich hab’ so schon alle Hände voll zu tun, und nun noch das. Stundenlang mußte ich in der Kartei wühlen …“ „Ja und, hast du die Nummern?“ „Hab’ ich. Aber nur die Nummern der Shigulis.“ „Na bestens, Saschalein, die brauch’ ich ja bloß.“ „Also los, schreib’ auf, ich diktiere. Serie MKL – Dadaschew. Hast du?“ „Ja, weiter.“ „MKP – Sadownikow …“ „Weiter.“ „MKU – Schnejer …“ „Weiter.“ „MKE – Panafidin …“ 113
„Wie bitte, was? Sag den Namen noch mal.“ „Panafidin, Alexander Nikolajewitsch, wohnhaft Mersljakowgasse Nummer …“ „Das reicht, Sascha, kannst aufhören, die andern interessieren mich nicht mehr.“ „Keine Fragen weiter?“ erkundigte sich Dugin. „Nein, und vielen Dank noch mal, mein Lieber, hast mir aus der Klemme geholfen.“ „Na, dann mach’s mal gut“, sagte Dugin und legte auf. Sieh an, dachte ich, daß die Dinge eine solche Wende nehmen, hätte ich nicht geglaubt. Dieser Brief hat mich also auf Panafidins Fährte gebracht. Was soll das bloß bedeuten? Hat da jemand die Absicht, mir oder der Justiz zu helfen, oder will er uns vielleicht im Gegenteil schaden? Und wer weiß, ob’s hier überhaupt um Frau Justitia geht. Möglicherweise will jemand einfach die Situation nutzen und Panafidin eins auswischen? Wenn in dem Brief jedoch die Wahrheit steht, überlegte ich weiter, so kann das nur bedeuten: Das Metaproptisol existiert tatsächlich, und Panafidin hat mich zum Narren gehalten. Warum aber gibt er dann nicht zu, daß er dieses Präparat entwickelt hat? Und wer ist in ein solches Geheimnis eingeweiht – ein persönlicher Feind Panafidins, ein Widersacher, ein angeblicher Freund, der ihn zu Fall bringen will? Und wenn es sich nun trotz allem um Verleumdung handelt, jemand Panafidin bewußt etwas in die Schuhe schieben will? Oder mich in die Irre führen? Falls ich Panafidins Wagen durchsuche und nichts finde, könnte das skandalöse Auswirkungen haben. Was sollte ich tun, welchen Entschluß fassen? Dem Hinweis nicht nachzugehen wäre gleichfalls sträflich gewesen. Ich ging erregt in meinem Zimmer auf und ab, unschlüssig, wie ich mich verhalten sollte. Kein Gedanke mehr an die Patschkalina, die Ramasanowa und die Be114
trüger, die bei ihnen eingedrungen waren … Wenn man dem Brief Glauben schenken konnte, war das Metaproptisol greifbar nahe. Und doch, wie herankommen? Vielleicht, zum Teufel, war alles auch nur Unsinn, ein übler Scherz. Wenn es sich freilich um dieselben Männer handelte, die seinerzeit hatten Posdnjakow vergiften wollen – dann waren das gewiß keine Spaßvögel. Ihnen war’s damals nicht ums Vergnügen gegangen. Und wenn der Brief nun von jemandem stammte, der zufällig von der Sache Kenntnis hatte, es aber nicht wagte, offen aufzutreten? Jemand, der uns wohlgesinnt war, aber Furcht hatte, den Verbrecher laut beim Namen zu nennen? Es war vorbei mit meiner Ruhe und dem Gefühl, Herr im Haus zu sein. Sogar die Stille selbst war anders geworden – sie erschien mir lauernd, drohend, meinen Entschluß herausfordernd, dabei aber der Tatsache gegenüber völlig gleichgültig, ob ich nun eine richtige oder falsche Entscheidung traf. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich schlug die Tür hinter mir zu und begab mich in die dritte Etage hinunter, zu Scharapow. Hoffentlich war er da, ich brauchte unbedingt einen vernünftigen Rat! Tamara, unsere Sekretärin, war nicht im Raum, die Tür zum Chefzimmer aber angelehnt. Ich schaute hinein, mein Vorgesetzter saß am Tisch und schrieb. „Einen schönen guten Tag, Genosse Scharapow.“ Er hob den Kopf von den Papieren und betrachtete mich einen Augenblick, als erkenne er mich nicht sofort. Er musterte mich gerade so lange, wie der letzte Gedanke in ihm nachhallte, einem Wort gleich, das in uns nachklingt, obwohl man es beim Ausschalten des Fernsehers mitten in der Silbe zerhackt hat. „Nanu“, sagte Scharapow und lächelte leicht spöttisch, „wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehn. Wieso drückst du dich in deiner Freizeit hier ’rum?“ 115
Wenn auch eine Spur Ironie in seinem Lächeln war, es drückte Zufriedenheit über mein Auftauchen aus. „Freizeit haben wir erst, wenn wir in Rente sind“, erwiderte ich. „Ihr eigenes Zitat, fast schon klassisch.“ „Was für eine Freude für mich – da hab’ ich’s ja nicht mehr weit bis zur Freizeit. Was führt dich zu mir?“ „Ich möchte mich mit Ihnen beraten“, sagte ich friedfertig „Ach so. Das ist begrüßenswert.“ Scharapow nickte. „Wenn ich recht verstehe, brauchst du meine Einwilligung für was Unerlaubtes. Gewöhnlich drückst du dich ja um Beratungen mit mir herum.“ „Das Unerlaubte meiner geplanten Handlung ist eine Folge Ihres eigenen Verhaltens“, sagte ich dreist. „Wie darf ich das verstehen?“ „Sie haben mir da gestern einen Brief übergeben lassen …“ „Ach ja, stimmt. Ein interessantes Schreiben übrigens, bemerkenswert sogar. Ein anonymer Brief der Klasse ‚de luxe‘. Glaubst du denn, was drinsteht?“ „Ich weiß nicht recht. Ich habe den Wagen in der Kartei überprüfen lassen – er gehört Panafidin.“ „Was denn, diesem Professor? Dem jungen?“ Ich nickte. „Sieh einer an. Demzufolge informiert uns ein unbekannter Freund darüber, daß Panafidin in seinem Wagen dieses – wie heißt es gleich – Metaproptisol mitführt. So ist es doch, ja?“ „Sieht ganz so aus“, sagte ich. „Allerdings gibt er sich nicht für unseren Freund aus.“ „Hast du dich übrigens mal erkundigt, ob dieser Panafidin ein Fußballanhänger ist, ob er ins Stadion geht, um sich Spiele anzusehen?“ „Nein, das hab’ ich nicht. Der Gedanke ist mir gar nicht gekommen.“ 116
„Schade. Je mehr Gedanken du dir in deinem weisen Kopf machst, desto besser. Weshalb du hergekommen bist, hab’ ich aber noch immer nicht begriffen.“ „Das weiß ich selber nicht. Die Genehmigung, Panafidins Wagen zu durchsuchen, werden Sie mir ja wohl nicht erteilen.“ „Da hast du recht“, sagte Scharapow nahezu fröhlich, doch mit eiserner Entschlossenheit. „Natürlich geb’ ich sie dir nicht. Wo kämen wir hin, wollten wir auf der Grundlage solchen Geschreibsels bei geachteten Leuten Durchsuchungen vornehmen!“ „Aber was soll ich denn machen?“ fragte ich, der Verzweiflung nahe. „Wenn nun die Wahrheit drinsteht?“ „Das wäre verwunderlich.“ „Diese Bemerkung hilft uns auch nicht weiter. Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?“ „Ich?“ Scharapow sagte es, als wäre meine Frage einmalig naiv gewesen und als sähe selbst ein Blinder, was an meiner Stelle zu tun wäre. „Ich würde zu Panafidin gehen und offen mit ihm reden. Versuchen, eine gemeinsame Sprache mit ihm zu finden.“ „Als wenn man mit dem eine gemeinsame Sprache finden könnte!“ Ich schüttelte ärgerlich den Kopf. „Gelingt es dir nicht, dann verstehst du nichts von deinem Handwerk“, erwiderte Scharapow entschieden. „Man kann mit jedem eine gemeinsame Sprache finden, nur braucht es für diese Brücke unterschiedliches Baumaterial. An einer Stelle ist Aufmerksamkeit am Platz, an der andern Güte und Mitgefühl, an einer dritten wiederum Dreistigkeit und, wo nötig, auch mal eine Drohung. So sieht’s aus. Du mußt lediglich wie ein guter Vorarbeiter schon vorher berechnen, welches Material du wo einzusetzen hast.“ „Wie in dem schönen Lied ‚Wir beide sind zwei Ufer eines Flusses‘. Ich fürchte nur, in diesem Fall wird’s ’ne Hängebrücke, wir beide sind Ufer verschiedener Flüsse.“ 117
Scharapow lachte und schüttelte, mit seinen listigen Mongolenaugen blinzelnd, den Kopf. „Da liegst du falsch, mein Lieber“, sagte er, „wir alle sind Ufer ein und desselben Flusses; wir, die Ufer, sind’s, die sich voneinander unterscheiden. Der Fluß aber, der uns vereint, ist das Leben.“ Wieder in meinem Arbeitszimmer angelangt, rief ich Panafidin zu Hause an. „Er ist in der Stadt und wird so bald nicht wieder hier sein“, sagte eine angenehme Frauenstimme. „Wer spricht denn dort?“ „Mein Name ist Tichonow“, antwortete ich und überlegte, daß es gewiß nicht von Schaden wäre, sich auch mal mit Panafidins Frau zu unterhalten. „Und Sie sind Olga Iljinitschna?“ „Ja, das bin ich.“ In ihrer Stimme schwang leichtes Erstaunen. „Also dann einen schönen guten Tag, Olga Iljinitschna, ich bin Inspektor der Miliz …“ „Ach ja … Alexander hat mir von Ihnen erzählt.“ „Wenn es Ihnen nicht allzu ungelegen kommt, würde ich mich gern auch mal mit Ihnen unterhalten. Inzwischen wird Alexander Nikolajewitsch bestimmt eintreffen …“ „Na, wenn Sie wollen, von mir aus … Wissen Sie die Adresse?“ „Ja, vielen Dank, ich komme sofort.“ Ich ging auf die Straße hinunter und wartete auf den Dienstwagen. Es war ein farbloser Tag, grau in grau, kalt und windig. Ein feiner Regen peitschte in Böen über den Asphalt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite werkte ein Bursche in verschmutzter Joppe an einem Saporoshez herum. Dieses drollige Miniauto hat den Motor nicht wie die meisten Wagen vorn, sondern im Heck, und da der Bursche den Motor mit einer Handkurbel in 118
Gang zu bringen suchte, sah es so aus, als drehe er am Schwanz eines kleinen bockigen Esels. Gelbliches Laub fegte über den Bürgersteig, Papierfetzen und aller möglicher Unrat wurden umhergewirbelt, und dieser düstere Tag mit seinem durchdringenden Regen und kalten Wind drückte meine Stimmung auf den Nullpunkt. Ich war unzufrieden mit mir und der Welt und hatte das undeutliche Gefühl, etwas Wichtiges versäumt zu haben. In dieser miserablen Verfassung langte ich bei Panafidins in der Mersljakowgasse an. Noch im Korridor fragte Olga Panafidina: „Was möchten Sie trinken – Tee, Kaffee?“ Ich hob abwehrend die Hände. „Nein, nein, vielen Dank, gar nichts. Ich möchte Ihnen keinerlei Umstände bereiten.“ „Aber ich bitte Sie, das macht doch nicht die geringste Mühe. Gehen Sie schon mal ins Gästezimmer, ich komme gleich nach.“ Ich nahm im Sessel vor einem niedrigen Klubtisch Platz, und bereits wenige Minuten später erschien Panafidins Frau mit einem Tablett, auf dem zwei Täßchen Kaffee standen. Dazu servierte sie Zwieback und Käsestücke. „So, nun können wir uns unterhalten“, sagte sie und setzte sich mir gegenüber. „Mein Mann sagte mir schon, daß Sie bei ihm waren und sich nach Lyshin erkundigt haben …“ Ich spannte mich innerlich, denn in meinem Gespräch mit Panafidin war Lyshins Name nicht nur nicht gefallen, ich hatte zu jenem Zeitpunkt noch gar keine Ahnung von der Existenz dieses Mannes gehabt. Folglich mußte dem Professor bereits damals bekannt gewesen sein, daß Lyshin an der Herstellung des Metaproptisols arbeitete oder es gar schon gewonnen hatte. Aber ich ließ mir nichts anmerken. „Stimmt“, sagte ich, „mich interessiert die Richtung 119
von Lyshins Arbeit.“ Ich beschloß, Olga Panafidina die Initiative zu überlassen, und nahm unterdessen noch einen Schluck des überaus schmackhaft zubereiteten Getränks. „Tja, wissen Sie, da wir schon seit Jahren keinen Kontakt mehr mit Lyshin haben, können wir Ihnen so gut wie nichts über ihn erzählen.“ Panafidins Frau zündete sich eine Zigarette an. „Nanu, wie kam denn das?“ „Wolodja Lyshin hat sich unwahrscheinlich verändert.“ Olga Iljinitschna seufzte. „Mit ihm ist eine Metamorphose vonstatten gegangen, die, wenn auch betrüblich, so doch wieder nicht ungewöhnlich ist – er ist zu einem professionellen Pechvogel geworden.“ „Sie meinen, daß es solch einen Beruf gibt?“ fragte ich ernsthaft. „Ich kann’s nicht beschwören, doch wenn Liebhaberei zur Hauptbeschäftigung wird, ist das eben Profession.“ In dem schulmeisterlich dahingesagten Satz fing ich die mir bekannten Intonationen ihres Mannes ein. „Wolodja hatte in den letzten Jahren Pech auf der ganzen Linie, und das mußte sich ja in seinem Verhalten niederschlagen.“ „Und wie lange hat er dieses Pech nun schon?“ „Genau kann ich das nicht sagen, anfangs jedenfalls war er sehr erfolgreich. Aber das gibt’s ja oft im Leben. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gelingt einem alles, was man anpackt, Erfolg reiht sich an Erfolg, und es heißt: Ach, was ist das doch für ein begabter Mensch, der wird mal Zukunft haben! Plötzlich aber ist’s aus damit, alles geht in die Binsen, und man hat nur noch Mißerfolge. Es ist, als wäre ein Grenzstrich gezogen worden …“ „Entschuldigen Sie, erinnern Sie sich vielleicht daran, wann dieser verhängnisvolle Grenzstrich bei Lyshin eingetreten ist?“ 120
Olga Panafidina zuckte mit ihren hübschen Schultern. „Natürlich nicht auf den Tag genau, aber fest steht, daß Wolodja sehr gut und ausgesprochen erfolgreich arbeitete, solange er noch im Labor meines Mannes war. Alexander hat ihm nämlich in verschiedener Beziehung geholfen, er hat ihm Tips gegeben, die Richtung für seine Forschung gewiesen, kurz: sein Talent gelenkt. Lyshin aber machte eines schönen Tages einen Riesenskandal, und von da an ging ihm alles schief.“ „Und was war der Grund für den Skandal?“ „Ach, irgendeine Geschichte in der Klinik, mit der sie zusammenarbeiteten. Wolodja hatte eine Patientin falsch behandelt, und Alexander mußte sich einschalten, mußte gewissermaßen ein Machtwort sprechen. Er hatte keinesfalls die Absicht, Lyshin in irgendeiner Weise zu belangen, dennoch stellte der sich plötzlich bockbeinig und kündigte.“ „Und Sie glauben nicht, daß Lyshin, sagen wir mal, Gründe ethischer Art für sein Verhalten hatte?“ „Aber wo denken Sie hin! Meiner Meinung nach war er nur sehr aufgewühlt, so daß mit einemmal der lange zurückgehaltene Neid hervorbrach …“ „Neid?“ fragte ich. „Aber aus welchem Grund hätte Lyshin Ihren Mann beneiden sollen?“ Olga lachte aus tiefster Seele über die Naivität meiner Frage. Der Dümmste verstand doch, weshalb ein kleiner Laborangestellter einen jungen Doktor der Wissenschaften beneidete, mit dem er vor Jahren einmal die gleiche Institutsbank gedrückt hatte und der jetzt den Ton im Labor angab. Olga lachte und zeigte dabei ihre prächtigen weißen Zähne, die noch ohne jede Plombe waren. Der einzige Schönheitsfehler – ihre Schneidezähne ragten etwas hervor. Sie waren wahrscheinlich sehr scharf. „Natürlich zweifelte Lyshin keinen Moment daran, genauso begabt wie Alexander zu sein. Es fuchste ihn einfach, daß mein Mann im Gegensatz zu ihm stets und 121
in allem Erfolg hatte. Doch leider ist sich der Neidische selbst der schlimmste Feind“, schloß Olga Iljinitschna bestimmt. „Sie glauben, Lyshin hat sich geschadet?“ „Das steht außer Frage! Er ist ein überaus fähiger Mensch, doch furchtbar unpraktisch veranlagt. Unter Alexanders Anleitung, mit seiner Hilfe und Unterstützung hätte er sehr viel erreichen können. So aber hat er eine ausgezeichnete Stellung eingebüßt, arbeitet in irgendeinem mickrigen Labor und trägt sich mit verrückten Ideen …“ Ich unterbrach sie: „Wie kommen Sie darauf, daß Lyshins Ideen verrückt sind? Soweit ich begriffen habe, befaßt sich Ihr Mann mit dem gleichen Problem?“ Es war Olga Iljinitschna direkt anzusehen, daß ich in ihrer Achtung sank. Wie sollte man sich ernsthaft mit jemandem unterhalten, der so dummes Zeug von sich gab! „Sie können diese beiden Dinge doch nicht miteinander vergleichen“, sagte sie nahezu gönnerhaft. „Ein ganzes Labor, ein Kollektiv hochqualifizierter Fachleute, die sich jahrelang bemühen, ohne noch handfeste Ergebnisse zu erzielen, und das Abstrampeln eines wenn auch begabten Autodidakten.“ „Moment mal“, sagte ich, „ist denn Lyshin Autodidakt?“ „Nein, natürlich nicht, ich hab’ mich unkorrekt ausgedrückt. Ich wollte nur sagen, daß er ganz für sich allein werkelt. In unserer Zeit kann man so keine Wissenschaft machen.“ „Möglich“, erwiderte ich, „durchaus möglich, daß die Forschung heute anders betrieben werden muß. Obwohl ich fest davon überzeugt bin, daß Wissenschaft zu allen Zeiten von etwa denselben Menschen gemacht wird.“ „Das verstehe ich nicht, was wollen Sie damit sagen?“ „Zum Beispiel, daß selbst ein ganzes physikalisches Institut schwerlich vollbracht hätte, was Einstein gelun122
gen ist. Ich habe von einem alten Odessaer Buchhalter namens Gubermann gehört, der neunzehnhundertzweiundzwanzig gewissermaßen auf der Grundlage der elementaren Algebra die Relativitätstheorie formulierte. Als er dann erfuhr, das alles sei bereits bekannt, erhängte er sich vor Kummer. Die Natur hatte diesen Menschen als Reserve für Einstein geschaffen.“ „Das ist ein unwissenschaftliches Herangehen“, sagte Olga Iljinitschna starrköpfig, und ihre gleichmäßigen kleinen Zähne blitzten unter den sorgsam nachgezogenen Lippen hervor. „Und es hat erst recht keinen Bezug zu Lyshin.“ „Schon möglich“, bestätigte ich, „ich habe ja auch nicht die Absicht, meine Meinung in den Rang einer wissenschaftlichen Theorie zu erheben. Was freilich Lyshin betrifft, so soll er durchaus ernst zu nehmende Ergebnisse erzielt haben.“ „Das ist Unsinn“, erklärte die Frau kategorisch, „simples Gerücht. Selbst wenn Lyshin etwas erreicht haben sollte, ist das noch lange keine wissenschaftliche Entdeckung. Es ist purer Zufall, wenn nicht gar ein Artefakt.“ Ich mußte an den alten Ausspruch denken, daß Eheleute, die viele Jahre gemeinsam verbracht haben, einander sehr ähnlich werden. Auf die Panafidins angewandt, wirkte das Sprichwort eher lächerlich, denn wenn Olga Iljinitschna Ähnlichkeit mit ihrem Mann besaß, so die einer meisterhaften Karikatur. Ihr naives und zugleich kategorisches Herangehen an Dinge, Erscheinungen und Verhaltensweisen, von denen sie nicht das geringste begriff, die sie folglich auch nicht richtig werten konnte, ärgerte mich. Dennoch fragte ich sie ungerührt weiter aus: „Kennen Sie Lyshin eigentlich schon lange?“ „Na und ob, ich kenne ihn eine Ewigkeit. Wir waren bereits befreundet, bevor ich mit meinem Mann zu123
sammenkam. Sogar den Hof hat er mir eine Zeitlang gemacht.“ „Tatsächlich?“ „Mein Gott, wie lange das schon her ist! Kaum zu glauben, daß es Wirklichkeit war. Aber vielleicht liegt es daran, daß unsere Beziehungen damals mehr kindlichen Charakter trugen. Für Wolodja war ich lediglich eine kleine Jugendliebe, die große, ernsthafte Liebe traf ihn unglücklicherweise erst viel später …“ „Warum unglücklicherweise?“ Olga Panafidina stockte, so als sei sie im Überschwang der Gefühle übers Ziel hinausgeschossen, habe etwas geäußert, das man besser für sich behalten hätte, das zumindest nicht für die Ohren eines Milizbeamten bestimmt war. Sicherlich dachte sie, daß es überhaupt Unsinn war, den Schorf alter Kümmernisse und Wunden aufzukratzen. Doch dieses „unglücklicherweise“ war ihr nun einmal entschlüpft, und so mußte sie das Thema zu einem Abschluß bringen. „Ja, damit hat er auch großes Pech gehabt“, sagte sie. „Aber glauben Sie mir, es hat nicht den geringsten Bezug zu der vorhin erwähnten Geschichte.“ „Verstehen Sie mich bitte richtig, Olga Iljinitschna, ich habe keinesfalls die Absicht, Material gegen Lyshin zusammenzutragen. Nur scheint der Tranquilizer, an dem Lyshin und Ihr Mann gearbeitet haben – natürlich könnte es sich auch um ein ähnliches Präparat handeln –, in die Hände gefährlicher Verbrecher gefallen zu sein. Ich muß unbedingt die Wahrheit herausfinden …“ „Aber das ist doch Unsinn!“ Olga Panafidina hob ärgerlich die Hände. „Keiner von beiden kann auch nur andeutungsweise mit diesen Verbrechern in Zusammenhang gebracht werden.“ Ich lächelte spöttisch. „Selbstverständlich bin ich genau wie Sie weit entfernt von der Annahme, Professor Panafidin sei Mitglied einer Betrügerbande geworden. 124
Doch ich muß den Spalt finden, durch den sich die Verbrecher an die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse Lyshins oder Ihres Mannes herangepirscht haben. Und ich bin der Ansicht, daß dieser Spalt irgendwo in der Vergangenheit zu suchen ist. Auf Ihre Offenheit und Unterstützung rechne ich in der festen Überzeugung, daß es einem Wissenschaftler nicht gleichgültig sein kann, was aus seiner Entdeckung wird.“ „Aber es gibt keine Entdeckung!“ rief Olga Panafidina aus. „Ebensowenig wie ein Präparat! Das ist eine Täuschung, ein Artefakt! Und unsere Vergangenheit oder unser Privatleben hat damit schon gar nichts zu schaffen!“ „Mit einem Artefakt kann man keinen Menschen vergiften.“ „Sie müssen da etwas verwechseln – die beiden arbeiten nicht an einem Gift, sondern an einem Medikament.“ „Das hängt ganz von der Dosis ab“, erwiderte ich achselzuckend. „Und was ich über Lyshin in Erfahrung zu bringen suche, ist jene Dosis, die ich brauche, um die Wahrheit zu finden. Nur deshalb frage ich Sie so hartnäckig und ausführlich über ihn aus.“ „Bitte sehr, ich werde Ihnen erzählen, was ich weiß. Sie werden selbst sehen, es hat mit Ihrer Angelegenheit nichts zu tun.“ „Ich bin Ihnen dennoch schon jetzt verbunden. Also – Sie sagten: unglücklicherweise. Warum?“ „Weil das möglicherweise jener Markstein ist, der am Beginn von Lyshins Pech steht. Vielleicht hat das sein Leben so durcheinandergebracht. Vor zehn, zwölf Jahren lernte Wolodja ein Mädchen kennen. Ich hab’ sie ein paarmal gesehen – eine sehr hübsche, zierliche Brünette. Sie war, glaube ich, Archäologin oder Ethnographin und befaßte sich mit der Kultur der Sarmaten. Ich erinnere mich noch, was sie uns für drollige Geschichten 125
über die Amazonen erzählte, es waren die reinsten Märchen. Aber auch sie selbst war irgendwie seltsam. Ich hatte den Eindruck, daß Lyshin ihr in seiner Liebe hoffnungslos und für immer verfallen war. Vielleicht um das zu bemänteln, machte er sich immer ein wenig lustig über sie. Sie lebten zusammen, die beiden, und manchmal gingen Alexander und ich sie besuchen. In ihrem Zimmer herrschte stets ein sagenhaftes Durcheinander: Überall lagen Masken herum, Gipsabdrücke, alle möglichen steinernen Mißbildungen und auf den Stühlen verstreut Lyshins Manuskriptseiten. Es ging recht munter bei ihnen zu – Lyshin ist erst in letzter Zeit so griesgrämig geworden, früher war er ein ausgesprochen fröhlicher Bursche, ein Draufgänger, er war der Schwarm sämtlicher Mädchen am Institut. Wann man auch zu den beiden kam – stets hatten sie irgendwen zu Besuch; jemand übernachtete gleich auf dem Fußboden, ein Tonband lief in voller Lautstärke, und Tag für Tag brachte Lyshin einen verkannten Dichter oder freischaffenden Maler angeschleppt. Alexander liebte die Besuche bei ihm nicht sehr, ich dagegen war gern dort … Wir waren damals eben noch sehr jung.“ Olga Panafidina fügte das hinzu, als wollte sie sich rechtfertigen. Sie nahm eine Zigarette aus der Packung, und ich bemerkte, daß ihre Finger zitterten. „Und was geschah weiter?“ fragte ich. „Sie wurde stumm“, sagte die Frau kurz und gepreßt. „Wie meinen Sie das?“ „Wie ich’s sage. Sie war auf einmal stumm geworden. Endgültig.“ „Wurde sie krank?“ „Ja. Die Krankheit steckte wohl schon lange in ihr. An jenem Abend waren sie in einem Konzert mit Rudolf Kehrer gewesen. Sie kamen bester Laune nach Hause, nachts aber wachte er von ihrem Weinen auf. Sie saß auf ihrem Bett und schluchzte leise vor sich hin. Lyshin 126
sprach auf sie ein, wollte sie trösten, beruhigen, doch sie schwieg nur. Sie preßte sich in schrecklicher Angst an ihn, weinte und schwieg. In jener Nacht war sie stumm geworden. Für immer.“ Mir widerstrebte es, der Frau im Augenblick weitere Fragen zu stellen, und sie schien es zu spüren, sprach von allein weiter: „Lyshin brachte sie zu den besten Spezialisten auf dem Gebiet der Psychiatrie, doch die waren machtlos – manisch-depressive Psychose, sagten sie, Verfolgungswahn. In der Folge wurde ihr Zustand weder schlechter noch besser. Bei Wolodja aber bildete sich die fixe Idee heraus, sie selber heilen zu müssen. Irgendwo hatte er mal gehört oder gelesen, daß auch Paracelsus die Frau, die ihm alles auf der Welt bedeutete, vom Wahnsinn geheilt hätte. Wir versuchten nicht, ihm diese Hirngespinste auszureden, denn auf diese Weise blieb ihm wenigstens noch eine Hoffnung. Er arbeitete wie ein Wilder; er und Alexander publizierten in jenen Jahren eine ganze Reihe hervorragender Arbeiten. Dann jedoch schien Wolodja zu merken, daß seine Chancen nicht gar so gut standen, und da gingen ihm wohl die Nerven durch. Jedenfalls kam es bald darauf zu diesem Skandal …“ „Eine andere Frage, Olga Iljinitschna – ich bin ja kein Spezialist auf diesem Gebiet. Können Sie mir erklären, weshalb es um das Metaproptisol soviel Aufregung gibt?“ „Daran ist nichts Verwunderliches – es wird die wissenschaftliche Entdeckung sein. Eines jener Ereignisse, die man mit goldenen Lettern eingraviert.“ „Und könnte es nicht sein, daß ein anderer als Ihr Mann dieses Präparat zuerst gewinnt?“ „Er hat mir mal erzählt, daß man in Japan und der Schweiz gleichfalls daran arbeitet. Sie haben dort sehr einflußreiche Konzerne.“ „Ich spreche nicht von ausländischen Firmen. Was 127
würden Sie dazu sagen, wenn es bei uns hergestellt würde?“ „Ach was, das ist ganz unmöglich!“ erwiderte die Frau ungläubig. „So sicher wäre ich da nicht, im Leben passieren ganz unvorhergesehene Dinge.“ Ich stand auf, ging ein paar Schritte durchs Zimmer, blieb am Fenster stehen und sah hinaus. Vor dem Haus bremste gerade ein grellroter Shiguli. Die Tür ging auf, und aus dem Wagen stieg Professor Panafidin. Von hier, aus der Sicht des fünften Stockwerks, besaß das Auto mit seinen offenstehenden Türen Ähnlichkeit mit einem großen eisernen Schmetterling, der die Flügel ausbreitete und sich anschickte davonzufliegen. Gewissermaßen, ohne sein Gewicht zu spüren, dem blauen Horizont entgegen. Panafidin schraubte die Scheibenwischer ab und packte sie ins Wageninnere. Dann nahm er eine hellbraune Aktenmappe vom Sitz und schlug erst links, dann rechts die Türen zu. Der Schmetterling, die Flügel angelegt, wurde augenblicklich schwer und friedlich. Der Besitzer des gebändigten rotlackierten Insekts aber drehte den Schlüssel im Schloß herum, überquerte festen Schrittes das Trottoir und verschwand im Hauseingang. Ein Mann mit selbstsicherem Gang, der um seinen Wert und den seiner Arbeit wußte, einer, der sich seiner Zeit um dreißig bis vierzig Jahre voraus wähnte und sich für den Nobelpreisträger von morgen hielt, ein wissenschaftlicher Leiter mit schier unbegrenzten Perspektiven! „Ah, sieh da“, sagte er jovial, als er mich bemerkte, „unser unermüdlicher Fährtensucher. Nett, Sie zu sehen; kommen Sie, wir essen zusammen Abendbrot.“ „Vielen Dank, aber das geht nicht, ich muß gleich wieder weg. Ich bin nur bei Ihnen vorbeigekommen, um Ihre Meinung über Lyshin zu erfahren.“ „Über Lyshin?“ fragte Panafidin gedehnt zurück, und in seinen Augen hinter den getönten Brillengläsern blitz128
te es eisig auf. Er sprach so, als suchte er sich qualvoll zu erinnern, wer der Mann dieses Namens sei, eines Namens, den er – ja, gewiß doch – irgendwann schon mal gehört hatte, er konnte sich nur nicht mehr entsinnen, wo und bei welcher Gelegenheit. Doch Panafidin überzog entschieden – selbst ein weniger geübter Beobachter hätte bemerkt, daß er in bezug auf Lyshin alles andere als überlegen mußte, daß er diesen Kollegen im Gegenteil sehr gut kannte und nicht gerade selten an ihn dachte. „Jawohl, über Lyshin“, sagte ich, „über Wladimir Konstantinowitsch Lyshin. Das war mal einer Ihrer Mitarbeiter, Sie haben eine Reihe von Aufgaben gemeinsam gelöst. Erinnern Sie sich jetzt?“ „Stimmt, ich erinnere mich.“ Panafidin schwieg einen Augenblick und sagte: „Natürlich erinnere ich mich.“ Er steckte sich eine Zigarette an, machte es sich in einem Sessel bequem, stand dann wieder auf, um einen Aschenbecher zu holen, und setzte sich erneut. Ich aber sah, daß all diese Manöver nur das eine Ziel hatten: wenigstens ein paar Sekunden Zeit zu gewinnen, um die nächsten Antworten zu durchdenken. Er hatte nicht erwartet, daß ich so schnell auf Lyshin stoßen würde. „Haben Sie eine Ahnung, was Ihr ehemaliger Mitarbeiter jetzt macht?“ fragte ich. „Ich glaube, er ist Leiter eines biochemischen Labors in einer Nervenklinik.“ „Das glaube ich auch, nur ist er nicht Leiter, sondern verantwortlicher Laborant.“ „Wenn Sie’s wissen, warum fragen Sie mich dann?“ erwiderte Panafidin gereizt. „Ich weiß, genau wie Sie, nicht alles. Wir werfen unser Wissen in einen Topf und kommen so zur Wahrheit“, sagte ich. „Die Wahrheit ist keine Apfelsine. Aus zwei Hälften kriegen Sie noch lange kein Ganzes.“ 129
„Lassen Sie’s uns dennoch versuchen. Mich interessiert, woran Lyshin in seinem Labor arbeitet.“ „Einzelheiten weiß ich natürlich nicht, aber ich vermute, daß auch er sich mit der Herstellung und Anwendung von Tranquilizern beschäftigt.“ Mit einer lässigen Handbewegung schien Panafidin unterstreichen zu wollen, daß dieser Fakt alles andere als interessant sei. „Und Sie wissen nicht zufällig, um welches Präparat es Lyshin konkret geht?“ „Sehen Sie“, Panafidin lachte, „es gibt da so etwas wie die wissenschaftliche Ethik. Alles, was ein Gelehrter seinen Kollegen mitzuteilen wünscht, kann er auf Kongressen darlegen oder in den einschlägigen Periodika publizieren. Interesse für Dinge zu bekunden, die darüber hinausgehen, ist bei uns nicht üblich. Das fällt eher in den Bereich der Kriminalisten.“ „Na gut“, sagte ich. „Dann also eine Frage aus meinem Kompetenzbereich.“ „Bitte sehr.“ „Sind Sie hundertprozentig davon überzeugt, daß das Metaproptisol noch nicht gewonnen worden ist?“ „Ja, das bin ich.“ „Dann möchte ich, daß wir unser beider Interesse auf einer Grundlage vereinen, die Ihrem und meinem Beruf gemeinsam ist.“ „Und das wäre? Mir ist noch nie in den Sinn gekommen, daß unsere Berufe etwas Gemeinsames haben könnten.“ „Dennoch besteht diese Gemeinsamkeit. Zwar sehen die dienstlichen Verpflichtungen bei jedem von uns anders aus, doch werden Wissenschaftler wie auch Kriminalisten von der Neugier angetrieben. Von meiner Warte aus ist sie eine nicht unwesentliche Triebkraft beim Finden der Wahrheit.“ Ohne sein spöttisches Lächeln zu verbergen, erwiderte Panafidin akzentuiert und mit Arroganz: „Nur daß wir beide nach unterschiedlichen Wahrheiten suchen.“ 130
„Es handelt sich um ein und dieselbe Wahrheit“, bemerkte ich friedfertig. „Sie besteht darin, die Welt zu erkennen. Sie hat nur verschiedene Gesichter.“ „Sieh einer an“, brummte Panafidin, „die Lösung der Galoisschen Gleichungen und die Festnahme eines Taschendiebs in der Metro sind zwei Seiten ein und derselben Wahrheit. Nicht übel.“ Ich wollte es auf keinen Streit mit ihm ankommen lassen, durfte das gerade jetzt unter keinen Umständen, deshalb sagte ich besänftigend: „Natürlich sind diese beiden Dinge nicht gleichwertig. Doch stellen Sie sich vor, ich würde einen Taschendieb fangen, der einem Professor ein Manuskript über die Galoissche Theorie gestohlen hätte. Das würde den Kontrast gewiß abschwächen. Aber wir sind vom Thema abgekommen, wir sprachen von der Neugier.“ „Sie möchten herausfinden, wie stark bei mir die professionelle Neugier des Wissenschaftlers entwickelt ist?“ Panafidin spielte mit dem silbernen Kaffeelöffel. „Ich möchte Sie etwas fragen. Was würden Sie tun, klopfte ein Mann an Ihre Tür und sagte: Ich weiß, wo das Metaproptisol liegt, kommen Sie mit, ich zeig’s Ihnen. Würden Sie gehen?“ Panafidin schluckte ein Stück Torte hinunter, trank Kaffee nach, leckte die Löffelspitze ab und sagte gelassen: „Natürlich nicht.“ „Warum nicht?“ „Weil dieser Vorschlag nichts weiter als Scharlatanerie wäre, ein dummer Witz, um Leichtgläubige hereinzulegen und Ignoranten, die stets und überall darauf hoffen, eine volle Geldbörse zu ihren Füßen zu finden. Es gibt nämlich Leute, die von Kindheit an von sowas träumen, wissen Sie?“ „Ja, ich weiß. Und dennoch: Wie sähe es mit Ihrer wissenschaftlichen Neugier aus?“ „Von wissenschaftlicher Neugier kann hier keine Re131
de sein. Ein intelligenter Mensch wird schwerlich etwas betrachten wollen, das es nicht gibt und nicht geben kann. Nein, ich würde es gleichfalls nicht sehen wollen.“ Er sprach scheinbar ruhig, er leckte die Krem vom Löffel, trank in kleinen Schlucken Kaffee nach, versuchte geistreich zu sein – doch ich sah seine Augen: In seinem Hirn arbeitete es fieberhaft, die Antworten kamen mechanisch, von vornherein darauf ausgerichtet, alles zu leugnen und abzustreiten, was Verdacht erwecken könnte; er wollte um jeden Preis herausfinden, ob ich ihn nicht etwa in eine Falle lockte. Und er wehrte sich mit allen Kräften, teilte blind Schläge aus wie ein Boxer, der einen starken Hieb kassiert hatte, kein Knockout zunächst, aber doch einen Treffer, der ihn halb betäubte, seine Knie wie Watte werden ließ – er sah das Gesicht des Gegners nur noch als Schemen vor sich, wußte aber, er mußte bis zum rettenden Gong durchhalten. Dann würde er verschnaufen und neue Kräfte für die Fortführung eines Kampfes sammeln können, der nicht wie bei den Amateuren drei Runden währte, sondern nach dem harten Reglement der Profis bis zum endgültigen Sieg des einen Partners geführt wurde. „Ich würde es nicht sehen wollen“, wiederholte ich gedehnt und freute mich über die Brücke, die er mir gebaut hatte. „Wenn Sie sich erinnern – fast dieselben Worte gebrauchte der gelehrte Mönch Thomas Lupian, als Galilei, nachdem alle Argumente nichts geholfen hatten, ihn aufforderte, einen Blick durchs Fernrohr zu werfen.“ Den Mund geringschätzig verzogen, sagte Panafidin: „Sieh an, wie gebildet die Kriminalisten von heute sind … Na, da kann man eben nichts machen, ich bin halt genauso ein sturer Obskurant wie dieser Lupian.“ O nein, kein Obskurant bist du, verehrter Professor für saure und alkalische Verbindungen, dachte ich, sondern ein höchst eingebildeter Kerl, frech und voller 132
Heuchelei wie alles in diesem Haus, Bemüht, mich zu beherrschen, sagte ich leise: „Nun gut. Dann erkläre ich Ihnen hiermit offiziell, daß ich über eine Information verfüge, nach der sich im Wagen eines geachteten Bürgers, versteckt in einem Geheimfach, Metaproptisol befindet.“ Jetzt hielt es Panafidin nicht mehr auf seinem Sitz. Er strebte mit dem Körper nach vorn, und seine angespannte Haltung, die Abruptheit seiner Bewegungen standen in schreiendem Gegensatz zu dem unbewegten, maskenhaften Gesicht und der betont gelassenen Stimme. „In wessen Wagen, wenn ich fragen darf?“ „In Ihrem.“ Einen Augenblick lang schwieg er und musterte mich eingehend. Ich spürte direkt körperlich, mit jeder Faser meiner Haut, wie massiv sein Blick auf mir lastete, ein Blick voller unverhohlener Verachtung, voll Zorn und zugleich gewaltigem Interesse. „Haben Sie den Verstand verloren?“ fragte er leise und vollkommen ernst. „Nein, das hab’ ich weiß Gott nicht.“ „Ich meine, doch. Sonst würden Sie es nicht wagen, einen so himmelschreienden Unsinn auszusprechen.“ „Schon möglich, daß es Unsinn ist. In diesem Falle müßte ich mich für den Ärger und die Unruhe entschuldigen, die ich Ihnen mit meinem Besuch bereitet habe. Sollte ich aber doch recht behalten, und ich betone das ‚sollte‘, denn schließlich passiert im Leben so manches, dann würde Ihnen nie jemand abnehmen, Sie hätten nichts von dem Geheimfach gewußt. Und was noch wichtiger ist – Sie würden das Metaproptisol, mit dem Sie ja angeblich nichts zu schaffen haben, nie wiedersehen, denn ich müßte es natürlich beschlagnahmen.“ „Ich will Ihnen mal was sagen“, schrie Panafidin los, „Sie stehen mir bis hier!“ Er gab sich nicht die geringste Mühe mehr, Haltung zu bewahren. „Kommen Sie mit 133
’runter zum Wagen, in die Garage, von mir aus auch zum Teufel oder sonstwohin, nur lassen Sie mich mit Ihrer Klugscheißerei und Ihren Moralpredigten in Frieden!“ Ich weiß nicht mehr, wie wir aus der Wohnung gelangten. Wir stürmten los, und da der Fahrstuhl nicht auf unserer Etage stand, rannte Panafidin zu Fuß nach unten, er lief leicht, mit kräftigen, federnden Sprüngen, gleich zwei, drei Stufen auf einmal nehmend. Ich begriff, daß die Tennisschläger in seinem Arbeitszimmer nicht nur zur Zierde da lagen. „Wo? Im Wageninnern?“ Er schloß auf und öffnete weit die Tür. „Unter der Motorhaube? Im Kofferraum? Im Wanst des Teufels?“ Ohne mich weiter um ihn zu kümmern, kniete ich hinter dem Auto nieder und steckte die Finger in den schmalen Spalt zwischen Stoßstange und Karosserie. Die untere Leiste der Stoßstange lag fast völlig am Metall an, es gab lediglich eine feine Rinne für den Abfluß des Wassers. Während ich sämtliche Fugen abtastete, jagten sich in meinem Schädel die Gedanken. Wenn dieser anonyme Brief eine bewußte Provokation war und ich hier nichts fand, konnte ich einpacken. Niemand würde mir einen so skandalösen Reinfall nachsehen. Plötzlich aber, in der Krümmung der Stoßstange, stießen meine Finger auf ein winziges Päckchen, das mit Klebeband am Metall befestigt war. Ich holte es vorsichtig hervor – es handelte sich um eine Plasttüte, in der sich ein kleines Reagenzglas mit einem weißen, sodaähnlichen Pulver befand. Ich sah Panafidin an – sein Gesicht war kreidebleich und spiegelte qualvolles Erstaunen wider. „Sie wissen nichts von diesem Päckchen?“ fragte ich. „Ich habe es nie gesehen.“ Er schüttelte langsam den Kopf, und ich versuchte mir beim Anblick dieser Maske aus Kummer und quälendem Nichtverstehen vergeblich 134
schlüssig zu werden, ob er nur schauspielerte oder tatsächlich eine Art Schock erlitten hatte. Hervorgerufen durch die Tatsache, daß ich eine Ampulle in der Hand hielt, deren Inhalt sich als Metaproptisol erweisen könnte, als ein Präparat, das nicht von seinen Händen hergestellt worden war und das er zum ersten Mal im Leben sah!
9 Ich betrat mein Arbeitszimmer, legte den Regenmantel ab, und im gleichen Augenblick klingelte das Telefon. „Guten Tag, Tichonow. Hier Chalezki.“ „Ich grüße Sie, Noj Markowitsch. Haben Sie gute Nachrichten für mich?“ „Ja, es handelt sich bei dem Präparat in der Ampulle tatsächlich um Metaproptisol. Unsere Chemiker haben es hundertprozentig bestätigt.“ „Hmm … Das ist interessant. Und Sie haben in der Hitze des Gefechts auch nichts verwechselt?“ „Wenn ich solche Fragen in der Hitze des Gefechts lösen wollte“, erwiderte Chalezki ärgerlich, „würde ich schon längst an der nächsten Straßenecke Stiefel putzen.“ „Entschuldigen Sie, Noj Markowitsch, ich bin aufgeregt und hab’ mich wohl nicht exakt ausgedrückt.“ „Was regt Sie an der Sache eigentlich so auf?“ erkundigte sich Chalezki. „Die erste Tugend eines Kriminalisten sollte unerschütterliche Gelassenheit sein.“ „Bei dieser Geschichte kann man nicht gelassen bleiben. Wenn es sich wirklich um Metaproptisol handelt, nehmen die Dinge einen völlig anderen Verlauf. Dann muß die ganze Ermittlung neu angesetzt werden!“ Ich hörte Chalezkis leises Schniefen am anderen Ende 135
der Leitung, sah förmlich sein leicht ironisches Lächeln und das nihilistische Aufblitzen seiner goldenen Brilleneinfassung vor mir. „Darf ich Ihnen einen Rat geben?“ fragte er. „Als Kollege oder als Mensch?“ fragte ich vorsichtig zurück. „Als Mensch.“ „Na los.“ „Man sollte seine Entschlüsse niemals endgültig fassen, sich nach Möglichkeit stets eine kleine Zeitreserve lassen, eine gewisse Freiheit im Manövrieren, eine Geldrücklage und eine offene Tür, um Entschuldigungen anbringen zu können. Das bewahrt die Eigenliebe vor einem schmerzhaften Stich und die Wahrheit davor, verletzt zu werden.“ „Was hat die Wahrheit damit zu schaffen?“ fragte ich erbost. Chalezki lachte. „Sie wissen doch, daß sich manche Leute, gelehrte zum Beispiel“, er machte eine effektvolle Pause, ehe er gelassen fortfuhr, „oder auch weniger gelehrte, nur um ihre Eigenliebe vor schmerzhaften Stichen zu bewahren, eine Wahrheit nach ihren Bedürfnissen zurechtschneidern, damit die sie nirgends einengen oder drücken kann. Sie hoffen, so jeden Flecken auf dem Gewand ihrer Selbstgefälligkeit zu vermeiden.“ „Hübsch gesagt“, erwiderte ich finster, „es trifft aber nicht auf mich zu. Und eine Tür, um mich bei Panafidin zu entschuldigen, brauche ich mir gleichfalls nicht offenzulassen. Na schön, er ist ein geachteter Mann und so weiter und so fort, doch vor dem Gesetz sind alle gleich, soll er also wegen gewisser eigenartiger Umstände ruhig Rede und Antwort stehen.“ „Immer schön mit der Ruhe, Tichonow, fallen Sie nicht so wild über mich her. Schließlich bin ich weder Ihr Vorgesetzter noch der Staatsanwalt und schon lange nicht Ihr Vater. Sie brauchen sich nicht vor mir zu recht136
fertigen, sollten jedoch einen kameradschaftlichen Rat wenigstens in Betracht ziehen.“ „Aber was raten Sie mir denn, Noj Markowitsch?“ rief ich fast verzweifelt aus. „Denken Sie gut nach, übereilen Sie nichts. Die Geschichte ist irgendwie merkwürdig, es gibt da Strömungen unter der Wasseroberfläche, das sagt mir meine langjährige Erfahrung. Ich rate Ihnen, nicht überstürzt etwas zu tun oder zu sagen, was sich schwer wieder rückgängig machen läßt. Ich kann nur wiederholen: Denken Sie gründlich nach.“ „Nichts übereilen? Na großartig. Ich möchte wissen, wie Posdnjakow Ihren Ratschlag aufnehmen würde. Er würde mich im Gegenteil bestimmt um Eile bitten.“ „Seien Sie doch kein Kind!“ knurrte Chalezki aufgebracht. „Wir befinden uns hier nicht unter barmherzigen Schwestern! Sie sind mit der hohen Mission betraut, die Menschheit von ihren moralischen Wunden zu heilen, also richten Sie sich danach und erfüllen Sie Ihre Pflicht mit der gebührenden Klugheit und Achtung! Ihre Waffe ist nicht die Hast, sondern die Weisheit. Der Weise aber sollte, anstatt blindlings unter den Menschen umherzutappen und dumm dreinzuschauen, seine Umwelt durch die Linse des Verstandes und des Gewissens betrachten …“ „Hören Sie, Noj Markowitsch, mit Hilfe meines Verstandes soll ich die Wahrheit in den Beziehungen von Menschen herausfinden, deren Welt mir mehr als fremd ist. Käme ich der Wahrheit hier nicht näher, wenn ich diesen Fall abgäbe?“ Chalezki schwieg, ich hörte, wie er den Kopf von der Sprechmuschel abwandte und dumpf hustete. Dann seufzte er und sagte bekümmert: „Eine solche Wahrheit erfordert weder Verstand noch Liebe zum Beruf, weder Gerechtigkeitssinn noch Mut …“ „Aber ich trete auf der Stelle! Zuerst glaubte ich nicht, 137
was im Brief stand. Später, als ich im Geheimfach die Ampulle mit dem weißen Pulver fand, zweifelte ich daran, daß es sich wirklich um Metaproptisol handeln könnte. Jetzt bin ich mir einfach nicht im klaren, ob Panafidin tatsächlich nichts von dem Päckchen gewußt hat oder nur so tut. Und schließlich beschäftigt mich noch ein Umstand …“ „Der wäre?“ „Stellen Sie sich bitte vor, wie gewichtig die Gründe sein müssen, die Panafidin davon abhalten, sich zum Metaproptisol zu bekennen, wenn er wirklich dessen Erfinder ist. Diese Gründe müssen unvorstellbar schwer wiegen, schwerer als alles, was sein bisheriges Leben ausmachte!“ „Darüber habe ich auch schon nachgedacht und bin nicht zuletzt deshalb zu der Überzeugung gelangt, daß es verfrüht wäre, die Ermittlungen in eine andere Richtung zu lenken. Erinnern Sie sich an Maria Issakowa, die Weltklasseläuferin im Eisschnellauf?“ „Ja, was ist mit ihr?“ „Vor vielen Jahren sah ich einmal, wie sie bei einem Wettkampf stürzte. Es war in einer Kurve; bei dem Tempo, das sie angeschlagen hatte, überschlug sie sich; wurde mehrfach herumgewirbelt. Schließlich fing sie sich aber, sprang auf die Beine und … lief in der verkehrten Richtung weiter.“ „Nun, in die verkehrte Richtung werd’ ich bestimmt nicht galoppieren, das versichere ich Ihnen.“ „Das nehme ich auch gar nicht an. Ich wollte lediglich Ihre Aufmerksamkeit wachrufen, wie Sie das so gern ausdrücken.“ „Vielen Dank. Dann werde ich mich jetzt also mit wacher Aufmerksamkeit an die laufenden Arbeiten machen. Übrigens wollte ich kurz bei Ihnen vorbeikommen und diesen anonymen Brief bringen. Vielleicht können Sie noch irgendwas aus ihm herausholen.“ 138
„Ganz zu Ihren Diensten. Bis gleich.“ Ich legte auf, ging zum Safe und entsiegelte ihn. Ich schloß den Panzerschrank auf und holte die Akte Posdnjakow hervor, der ich den besagten Umschlag mit der Anschrift „An den obersten Leiter des Kriminalamts“ entnahm. Ich legte das Kuvert auf meinen Schreibtisch. Danach rief ich unsere Sekretärin an und bat sie, Scharapow zu fragen, wann er mich empfangen könne. „Er ist für etwa zwei Stunden in die Stadt gefahren“, sagte Tamara. Gedankenverloren öffnete ich den Umschlag, um den Brief noch einmal zu überlesen, bevor ich ihn Chalezki brachte. Doch da erwartete mich eine Überraschung. Es gab nichts, was ich hätte lesen können. Der Brief war weg. Ich begriff es nicht sofort, spreizte das Kuvert nur weiter auseinander und stierte hinein, als handelte es sich nicht um einen gewöhnlichen kleinen Briefumschlag, sondern um einen vollen Bücherschrank, in dem ein so kleiner, mit zwei Maschinenzeilen beschriebener Wisch schon mal verlorengehen kann. Statt des Briefs befand sich nur etwas grauer Schmutz in dem Umschlag, und die Tatsache, daß aus meinem verschlossenen und versiegelten Stahlschrank ein wertvolles Beweisstück verschwinden konnte, war so unglaublich, daß es mir einfach nicht in den Kopf wollte. Alle möglichen konfusen Gedanken jagten mir durchs Hirn, sie waren einer idiotischer als der andere. Nur eins schien klar, mir war etwas Unverzeihliches passiert. Das Unerwartete dieses Ereignisses, mein Unvermögen zu begreifen, wie das hatte geschehen können, ließen mich die Selbstbeherrschung verlieren. Dafür aber wurde ich sofort ein zweites Mal bestraft. Ich kann mir mein Versagen bis zum heutigen Tag nicht verzeihen, erinnere mich noch jetzt mit Scham daran, daß ich, in eine außergewöhnliche Situation gera139
ten, augenblicklich den Kopf verlor. Vergessen waren die in langen Jahren mühevoll gesammelten Erfahrungen, war die ganze kriminalistische Wissenschaft, die mir bewährte Kollegen eingetrichtert hatten. Dabei war die goldene Regel des Kriminalisten, angeeignet in einem Kampf mit Verbrechern, in dem ein Irrtum den Tod bedeuten konnte, so einfach. Schau genau hin, lautete sie, und überlege zweimal, ehe du handelst. In jenem Moment aber waren alle kriminalistischen Tugenden wie weggeblasen. Ich war nichts weiter als ein erschrockener, aufs höchste irritierter Zivilist. Mit zitternden Fingern langte ich ins Kuvert und holte hervor, was ich für undefinierbaren Schmutz gehalten hatte. Und erst, als ich das Zeug direkt vor der Nase hielt, begriff ich, daß es kein Schmutz war. Es war bräunlichgraue Asche. Eine hauchdünne Schicht von Asche, die einst Papier gewesen war und nun zwischen meinen Fingern zerfiel. Das war alles, was von dem Brief übrigblieb: dunkle Flocken, die einen unangenehmen Geruch nach Jod, Schwefel und einem Anflug von Verbranntem ausströmten. Und in meinem panischen Schrecken vernichtete ich auch noch diese restlichen Spuren. Die Asche mit den Fingern zerreibend, schnitt ich mir selbst den Weg zur Wiederherstellung des verbrannten Papiers ab – in meinen Händen wurde alles zu Staub.
10 Es war Viertel zwölf in der Nacht, als ich an Lyshins Wohnungstür klingelte: Meine Geduld war erschöpft, und so pfiff ich auf allen Anstand. Eine alte Frau mit plattem Gesicht öffnete. 140
„Ach, Sie sind’s! Diesmal ist er zu Hause.“ Die Alte ließ mich, wenn auch mürrisch, ein, und während sie durch den Korridor voranschlurfte, knurrte sie vor sich hin: „Woher soll ich wissen, ob’s ein Bekannter oder einfach ’n Wildfremder ist. Heutzutage klingeln alle möglichen Leute, man muß dauernd zur Tür rennen, als hätt’ man nichts andres zu tun. Und alle sind sie so gescheit …“ Ich ging mit Trippelschritten hinter der Alten her, den einen Arm vorgestreckt, um nicht im Dunkeln irgendwo anzurennen, und doch stieß ich mit der Schulter einen Kinderschlitten von der Wand und prallte mit dem Knie schmerzhaft gegen eine Holztruhe. Die Frau blieb stehen und sagte: „Da hinten ist es, die letzte Tür vor der Küche.“ Ich klopfte, und eine leise heisere Stimme rief: „Kommen Sie herein!“ Ich trat ein und sah einen Mann am Tisch sitzen, mit dem ich – so schien es mir wenigstens – schon unendlich lange bekannt war. Dabei lag jener Tag, da ich am Bereshkowskikai gestanden und überlegt hatte, noch gar nicht so weit zurück. Die letzten Tage waren so mit Arbeit angefüllt gewesen, daß sie mich eine Ewigkeit dünkten. „Guten Tag“, sagte ich, „ich bin Inspektor Tichonow vom Moskauer Kriminalamt.“ „Guten Tag“, erwiderte Lyshin nicht eben laut, und wiederholte: „Guten Tag. Nehmen Sie bitte Platz.“ Doch es gab nichts, worauf ich hätte Platz nehmen können. Das Zimmer war nicht sehr groß, in der Ecke stand, aufgebockt und mit einer grauen Decke überzogen, eine Matratze. An den Wänden hingen, aus rohem Eichenholz gezimmert, Borde, in denen sich ungeordnet Hunderte von Büchern, Zeitschriften, mit Schnur zusammengehefteter Zeitungsausschnitte sowie Manuskriptmappen aus Pappe und Kunstleder türmten. Einige der Mappen waren fast leer, andere hingegen so prall, 141
daß sie kaum zugingen. Dasselbe Durcheinander herrschte auf dem Tisch, und auch auf den beiden alten Korbstühlen stapelten sich Bücher und Mappen. Lyshin aß gerade zu Abend. Der elektrische Teekessel stand kochend auf der einen Ecke des Tisches; eine geöffnete Konservendose „Flunder in Tomatensauce“ sowie ein paar Scheiben Weißbrot lagen auf einer sorgsam ausgebreiteten Zeitung vor ihm. „Entschuldigen Sie, ich komme ungelegen …“ „Aber, ich bitte Sie!“ erwiderte Lyshin hastig und stand auf. „Setzen Sie sich ruhig.“ Da bemerkte er, daß die Stühle belegt waren, und kam hinter dem Tisch hervor. Er dachte einen Augenblick nach, wohin er die Bücher am besten legen sollte, doch offenbar fiel ihm kein geeigneterer Platz ein. Schließlich packte er sie in einem großen Haufen zu den übrigen auf den Tisch. Der Raum war von einer Tischlampe mit grünem Glasschirm nur schwach erhellt, und dieses unwirkliche Licht ließ Lyshins Gesicht erschöpft und krank erscheinen. Er stand in der Mitte des Zimmers mir gegenüber und fuhr sich mit den Händen fröstelnd über die Schultern, die unter der ärmellosen Pelzweste hervorsahen. Hager und hochgewachsen, wie er war, dazu mit der Pelzweste, in die er die Hände schob, erinnerte Lyshin an die Parodie eines männlichen Mannequins, das irgendwelche idiotischen Kleidungsstücke vorzuführen hatte. Dieser Eindruck wurde noch durch seine Bewegungen verstärkt, die fahrig und unbeholfen wirkten, so als würden seine Extremitäten nicht von langen, geschmeidigen Muskeln in Bewegung gesetzt, sondern von spröden Metallfedern. Die geknautschten Hosen des Chemikers, die offenbar nie ein Bügeleisen gesehen hatten, waren an den Beinen ausgefranst. Aber auch seine Schuhe verblüfften mich – es waren gewaltige Schnürstiefel, Größe fünfundvierzig etwa, wie sie Bauarbeiter trugen. 142
„Möchten Sie einen Tee trinken?“, fragte Lyshin mit seiner belegten Stimme. „Wenn ich mich nicht irre, habe ich sogar Konfekt da.“ „Danke, sehr gern.“ Lyshin öffnete ein Fach seines Schreibtisches, holte ein geschliffenes Glas hervor und hielt es, kurzsichtig blinzelnd, gegen das Licht – es war sauber. Dann machte er sich abermals geräuschvoll in dem Fach zu schaffen und förderte schließlich einen Teelöffel sowie eine Tüte mit einer Art Schokoladenkonfekt zutage. Lyshins Teekessel besaß offenbar keinen gesonderten Behälter zum Brühen der Teeblätter, denn er schüttete sie aus der Büchse direkt in den Kessel. Das Getränk war nicht allzu schmackhaft, doch sehr kräftig: In meinem Glas schwammen braune, aufgeweichte Flocken. „Womit kann ich dienen?“ fragte Lyshin mit zurückgeworfenem Kopf, und ich sagte mir, daß sein Gesicht die Mängel seiner Gestalt voll und ganz aufwog: dichtes kastanienbraunes Haar, ein kleiner Kinn- und Lippenbart sowie unglaublich traurige, dabei aber sehr beredte helle Augen. „Ich interessiere mich für Professor Panafidin“, begann ich, „für einige Aspekte seiner Arbeit, seines wissenschaftlichen Wirkens, für seinen Kollegenkreis. Ich möchte aber gleich vorausschicken, daß Sie meinem Interesse keine zu große Bedeutung beimessen dürfen. Ich frage lediglich, weil ich in einer bestimmten Angelegenheit ermitteln muß.“ Lyshin strich sich mit dem Daumen das Schnurrbärtchen glatt – zuerst die linke, dann, in aller Gelassenheit, die rechte Hälfte. Danach kam der Kinnbart an die Reihe – die ganze Zeit aber blickte der Chemiker über den grünen Lampenschirm hinweg in die eine Zimmerecke, wo ein im Halbdämmer schlecht erkennbares Männerporträt hing. Dabei lächelte er unmerklich. „Sooo? Das wär’ ja, soweit ich das beurteilen kann, 143
mal was ganz Neues. Und warum fragen Sie gerade mich nach Panafidin?“ „Weil Sie viele Jahre mit ihm zusammengearbeitet haben.“ „Genauso gut kann man sagen, daß wir schon viele Jahre nicht mehr zusammenarbeiten.“ „Das eben ist der Grund, weswegen ich zu Ihnen komme. Ihre Wege haben sich doch gewiß nicht zufällig getrennt?“ „Stimmt“, Lyshin nickte, „es war kein Zufall.“ „Weshalb also?“ „Ach, nicht der Rede wert. Ich möchte nicht darüber sprechen.“ Wir schwiegen. Im Zimmer war es still, lediglich das leise Klingen des Löffels war zu hören, mit dem Lyshin den Tee in seinem Glas verrührte. Ich betrachtete nun gleichfalls das Porträt, das Lyshin ständig anstarrte. Meine Augen hatten sich mittlerweile an das Zwielicht gewöhnt, und so konnte ich ziemlich deutlich ein dunkles, in Öl gemaltes Bild erkennen, das einen grauhaarigen Greis mit kräftiger Stirn, einem ausgezehrten Gesicht und wildem Raubvogelblick darstellte. „Natürlich sind Sie nicht verpflichtet zu antworten“, sagte ich, „doch die Gründe, die mich zu Ihnen führen, sind so außerordentlich wichtig, daß …“ Lyshin ließ mich nicht ausreden. Er schob heftig das Glas zurück, so daß es beinahe umkippte, sprang hinter dem Tisch hervor und schimpfte heiser los: „Ich glaub’ Ihnen nicht, nie und nimmer glaub’ ich Ihnen! Das geht wieder mal von Panafidin aus! Warum will mich dieser Mensch nicht endlich in Frieden lassen! Ich bin selbst an allem schuld – das geb’ ich gern zu, denn ich bin ein Feigling, ein Pechvogel, ein Nichts! Aber ich füge niemandem Schaden zu, bin im Gegenteil bestrebt, den Menschen Gutes zu tun. Warum stellt er sich mir immer in den Weg und gibt keine Ruhe? Was also wollen Sie 144
von mir. Ich hab’ nicht das geringste mit der Miliz zu tun, Sie aber kommen, um mich zu verhören! Nicht einmal falsch über die Straße bin ich je in meinem Leben gegangen …“ Vor Erregung traten krankhaft rote Flecken auf seine Wangen, seine Lippen zitterten, und er krallte die Hände, von Chemikalien zerfressen, mit Brandwunden hier und da, zerschrammt und mit eingerissener Nagelhaut, so fest ineinander, als habe er Furcht, sie könnten sich von den Gelenken lösen. „So beruhigen Sie sich doch bitte“, sagte ich leise und senkte den Blick. Es fiel mir schwer, auf einen Mann zu schauen, der, wie Laokoon von den Schlangen, von Angst, Abneigung und Haß umwunden war. „Panafidin hängt die Bekanntschaft mit Ihnen weiß Gott nicht an die große Glocke. Und schon gar nicht mir gegenüber. Deshalb hatte ich ja auch so große Mühe, auf Ihre Spur zu stoßen.“ „Aber weshalb bloß? Womit könnte ich Ihnen dienen?“ „Ich brauche Ihren Rat.“ Lyshin ließ ein bitteres Lachen hören. „Wem um Himmels willen sollte ich raten können! Da sind Sie wirklich an der falschen Adresse.“ „Schon möglich. Nur müssen Sie mir bitte glauben, daß ich Ihnen nichts Böses wünsche. Mich interessiert Panafidin. Ich will auch ihm nicht an den Kragen, doch bin ich mir über seine Rolle in einer bestimmten Angelegenheit im unklaren. Deshalb möchte ich soviel wie möglich über ihn in Erfahrung bringen.“ „Ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen, denn ich werde nichts über ihn sagen. Von Toten spricht man entweder Gutes oder gar nicht.“ „Gestern war er aber noch quicklebendig und kerngesund inmitten seines Wohlstands“, erwiderte ich spöttisch und dachte, daß ein Teil von Panafidins Wohlstand Lyshin bestimmt nicht schaden würde. 145
Ohne den Blick von dem Bildnis des Alten zu lösen, so als berate er sich mit ihm, sagte Lyshin nachdenklich: „Nur im Standesamt werden Geburt und Tod eines Menschen registriert. In Wirklichkeit kann ein Mensch viele Male sterben und aufs neue geboren werden.“ „Und wie ist das mit Panafidin?“ „Sie haben gestern mit einem völlig anderen Panafidin gesprochen. Ihr Panafidin hat nichts mit jenem gemein, mit dem ich viele Jahre zusammengearbeitet habe. Jener Mann ist langst gestorben – für mich zumindest.“ „Das ist sehr bildhaft gesprochen. Doch in der kriminalistischen Praxis kommt, wer der Wahrheit ans Licht verhelfen will, mitunter nicht um eine sehr unangenehme und unnatürliche Prozedur herum: Er muß das Grab öffnen und den Toten herausnehmen …“ „Man nennt das Exhumierung“, sagte Lyshin mechanisch. „Genau.“ Ich nickte. „Und deshalb bitte ich Sie, eine moralische Exhumierung jenes Panafidin vorzunehmen, der nach Ihren Worten schon lange tot ist.“ Lyshin saß jetzt still da, die Hand über die Augen gelegt, so als wollte er sich vor dem unerträglich grellen Licht weit zurückliegender Erinnerungen schützen, die Freude wie auch Bitternis in sich bargen. Sein Gesicht zeigte in schnellem Wechsel eine Vielzahl von Gefühlsregungen, einem Film vergleichbar, in dem ein Mosaikstein zum andern kommt und letztlich ein Ganzes hervorbringt: das Bild großen seelischen Schmerzes. Dann begann Lyshin stockend zu sprechen; die Erinnerungen schienen hinter einem unsichtbaren Wall verborgen zu sein; gewiß verlangte es ihm nicht wenig Kraft ab, ihre schwere Last bis zu dem heutigen Herbstabend in diesen verwahrlosten, mit Büchern und Manuskripten vollgestopften Raum emporzuholen, um sie in dem gedämpften grünen Schein der Tischlampe nochmals Re146
vue passieren zu lassen und mir zu Gehör zu bringen. Ich notierte innerlich, daß Lyshin, während er sprach, kein einziges Mal zu dem Porträt hinübersah. „Es gab einmal einen patenten Burschen“, sagte Lyshin, „er hieß Saschka Panafidin, war begabt und ein treuer Kumpel. Doch eines Tages widerfuhr ihm ein Unglück, von dem damals niemand etwas bemerkte. Er wurde krank. Er hatte sich mit einem furchtbaren Virus infiziert – dem Bazillus der Angst. Noch lebte er, arbeitete, liebte, pflegte Freundschaften, der Bazillus in seinem Innern aber wuchs und hatte es eilig, ihn zu verschlingen. Er ergriff mit all seiner bösen Macht Besitz von ihm, saugte das Blut aus seinem Körper, dem Hirn und der Seele. Bis der Bazillus größer wurde als er selbst – sich nun zur gewaltigen Angst aufblähte. Da starb der Freund, der gütige Mensch, der vom Forscherdrang beseelte Gelehrte, und übrig blieb nur die Hülle, von jener gewaltigen Angst umschlossen. Sie aber ist es, die heute hier auf Erden wandelt und allen Leuten weismachen will, sie sei Saschka Panafidin …“ „Mir freilich kommt Panafidin alles andere als verschreckt vor“, sagte ich. „So?“ erwiderte Lyshin teilnahmslos. „Dann haben Sie mich wohl mißverstanden. Seine Angst ist keine Reaktion auf einen bestimmten Vorfall, sondern ein Verhaltensgradient. Sie beherrscht ihn stets und überall, hat ihn sich wie einen Sklaven Untertan gemacht.“ „Und was war der Grund für diese gewaltige Angst? Eine innere Veranlagung, schlechte Gesellschaft, in die er geriet? Oder ein bestimmtes Ereignis in seinem Leben?“ „Niemand von uns ist vor dieser Krankheit gefeit, die eine natürliche Reaktion unserer Urahnen auf die sie umgebenden Rätsel und Gefahren war. Wir tragen sie in unseren Genen. Doch während die einen ein Leben lang gegen die Angst kämpfen und den Sieg über sie davon147
tragen, beugen sich ihr die anderen entweder sofort oder erst nach und nach. Panafidin war in mehreren Schlachten gegen die Angst der Unterlegene: Immer wenn es galt, eine Entscheidung zu treffen, griff ihm die Furcht ans Herz, umwölkte gleich giftigen Sumpfgasen seine Seele, und so war ihm jeder Preis recht, sich von ihr loszukaufen. Er opferte seine Freunde, die Liebe, sein Gewissen als Gelehrter. Auch sein Talent hat er dem unersättlichen Moloch Angst in den stinkenden Schlund geworfen …“ Während Lyshin sprach – hastig und aufs höchste erregt, die Endsilben der Wörter verschluckend und mit glänzenden Augen, nahezu versessen –, kam mir unvermittelt der Gedanke, er sei nicht ganz bei Verstand. Ich unterbrach ihn und fragte: „Und Sie selbst, sind Sie ein mutiger Mensch?“ „Ich?“ Lyshin zeigte sich verwundert. „Ich – ein mutiger Mensch? Ich war schon seit jeher ein Feigling. Ich hatte Angst vor der Dunkelheit und vor meinem Vater, ich fürchte auch jetzt Gott und alle Welt: meine Nachbarin, meinen Vorgesetzten im Dienst, meine Kollegin im Labor sogar und die Frauen insgesamt, weil sie sich über mich lustig machen könnten. Ich hatte stets Angst, mich zu raufen und dabei vielleicht Prügel zu beziehen.“ „Worin liegt dann der Unterschied zwischen Ihnen und Panafidin?“ „Ich habe meine Angst gehaßt, mich ihr nie ergeben. Ich habe stets gegen sie angekämpft und mich verachtet, wenn sie die Oberhand über mich zu gewinnen drohte.“ „Und Panafidin?“ „Er hat sich aus seiner Angst eine bequeme Lebenshaltung und ein Dasein voller Komfort gezimmert.“ „Das verstehe ich nicht – wie kann man auf der Angst etwas aufbauen?“ „Ganz einfach. Er hat sich der Angst angepaßt, während ich davon träume, sie auszurotten. Die Menschheit 148
ist unsagbar reich, gut und klug, nur hindert sie eins daran, glücklich zu sein – eben die Angst.“ „Meinen Sie das wieder gleichnishaft?“ „Nein, es ist die Wahrheit, schlicht und konkret wie das Bohrsche Atommodell. Wenn es gelingt, die Angst auszurotten, wird der Mensch für alle Zeiten glücklich sein.“ „Ich war immer der Meinung“, erwiderte ich, „das Glück des Menschen werde auch noch von anderen Dingen bestimmt: von der Liebe zum Beispiel, von unsterblichem Ruhm oder auch ganz einfach vom täglichen Brot.“ Lyshin schüttelte ärgerlich den Kopf. „Das alles geht nur nebenher, denn die Angst hat viele Gesichter. Sie ist Schmerz und Finsternis, Hunger und Unwissen, Betrug und moralische Haltlosigkeit. Sie ist die Tyrannei der Starken und die Machtlosigkeit der Armen. Sie weckt die Bereitschaft, sich selbst und andere zu erniedrigen. Angst – das ist Faschismus, der sich nicht auf der Stärke einer Handvoll Verbrecher gründet, sondern auf der Tatenlosigkeit von Millionen gelähmter Menschen. Angst – das ist die Kraft, die Henker, Mörder, Diebe hervorbringt. Sie ist es, die die Leute hindert, sich ungetrübt zu lieben und ihr Talent in der Arbeit zu entfalten …“ „Cyrano de Bergerac zum Beispiel vereinigte beides in sich: Begabung und Furchtlosigkeit.“ „Die Welt ist niemals absolut, sonst würde ja ihr weiser Mechanismus der Selbstregulierung ins Wanken geraten.“ „In dem, was Sie sagen, und auch in Ihrem eigenen Verhalten fällt mir ein großer Widerspruch auf.“ „Und der wäre?“ fragte Lyshin mit gerunzelten Brauen. „Wollte man Ihre Behauptungen vereinfachen, gewissermaßen auf einen Nenner bringen, so käme letztlich heraus, daß unser geschätzter Professor Panafidin ein Verbrecher ist. Verstehe ich Sie da richtig?“ 149
„Na, wissen Sie …“ „Genauso ist es, machen wir uns doch nichts vor. Ihre Theorie über die Angst verlangt diese Schlußfolgerung, geben Sie es zu.“ „Nun ja …“ „Warum haben Sie Ihre Ansicht dann nicht schon damals lautstark verkündet? Warum ließen Sie es nicht auf einen gewaltigen Krach mit Panafidin ankommen, sondern schnürten klammheimlich Ihr Bündel und verließen das Labor, dazu noch auf eigenen Wunsch, wie ich gehört habe? Warum arbeiten Sie jetzt nicht als Leiter der dortigen Forschungsgruppe, sondern als Cheflaborant in einer gewöhnlichen Klinik?“ „Ihre Fragen sind berechtigt, und ich will sie Ihnen beantworten. Das hatte zwei Gründe: Erstens, weil ich selber ein Feigling war. Ich dachte voller Grauen an das aufreibende, würdelose, sich über Monate oder gar Jahre erstreckende Hin und Her der Untersuchungen, und vor dieser Vorstellung graute mir! Zum zweiten aber hatte ich keine Zeit. Ich mußte arbeiten und nochmals arbeiten, um mein Recht nicht durch Worte, sondern durch Ergebnisse zu beweisen. Wissenschaftliche Ideen sind kein Degen, mit dem man sich schlagen kann … Und außerdem, ich hätte in jener Zeit kein einziges Wort gegen Panafidin über die Lippen gebracht …“ „Wieso nicht?“ „Weil Panafidin eine bodenlose Gemeinheit begangen hat, einen Verrat. Auch diesen Preis hat er an die Angst gezahlt. Er hatte sich von seiner Vergangenheit losgesagt, und hätte er begriffen, daß ich seine Angst durchschaute, die er auf Biegen und Brechen zu verbergen suchte – er hätte vor Schreck sonstwas angestellt …“ „Inwiefern beging Panafidin nach Ihrer Meinung Verrat?“ Lyshins Gesicht verzog sich, als hätte er einen Löffel Essig geschluckt. „Darüber spreche ich äußerst ungern … 150
Ach was, es spielt jetzt schon keine Rolle mehr. Wir erprobten damals ein neues Präparat, das heute für sechzehn Kopeken in jeder Apotheke zu haben ist und auch eine gewisse Wirkung besitzt. Seinerzeit freilich glaubten wir, damit ein Allheilmittel in der Hand zu haben, und noch dazu ein recht gefährliches. Und dann geschah es: Eine Frau, die mit diesem Medikament behandelt wurde, starb. Sie war dreißig Jahre alt und ungewöhnlich robust. Sie litt an Depressionen, und unser Präparat half ihr zweifellos. Drei Tage vor ihrem Tod aber machten sich plötzlich Mattheit und Unkonzentriertheit bei ihr bemerkbar. Ich führte das auf eine leichte Grippeerkrankung zurück und ließ die Behandlung mit unserem Medikament weiterlaufen. Eines Morgens jedoch stand sie zum Frühstück nicht auf, und als die Pflegerin an ihr Bett trat, sah sie, daß die Frau tot war. Ja sogar die Leichenstarre war schon eingetreten. Das kam sehr unerwartet, und wir fanden einfach keine Erklärung dafür. Natürlich begannen sofort die Untersuchungen – es mußte ja geklärt werden, wodurch der Tod der Frau herbeigeführt worden war. Die Angst aber hatte sich bereits wie ein wildes Tier über Panafidin gestürzt, und er beeilte sich, in einer offiziellen Erklärung mitzuteilen, daß die Frau gestorben wäre, weil ich eigenmächtig die Dosis dieses stark wirkenden Medikaments erhöht hätte.“ „Was fürchtete Panafidin denn?“ „Ganz einfach, daß sie ihm den Forschungsauftrag entziehen würden und es dann aus wäre mit dem eigenen Labor. Später hat er mir selbst gestanden, er ‚habe das Teuerste für die Wissenschaft geopfert – den Freund‘.“ „Und zu welcher Einschätzung ist die Untersuchungskommission gelangt?“ „Sie stellte fest, daß der Tod der Kranken in keinerlei Zusammenhang mit meiner Behandlung stand – sie war 151
an einer Thrombose gestorben. Im Schlaf hatte sich ein Gerinnsel gelöst und die Lungenarterie verstopft.“ „Das heißt also, wenn Panafidin einige Stunden gewartet und die Ergebnisse der Obduktion abgewartet hätte …“ „Genau. Nur für ein paar Stunden hätte er seine Angst im Zaum halten müssen. Doch seine Furcht war riesengroß, er selbst dagegen viel zu schwach.“ Unvermittelt fragte ich: „Haben Sie schon mal was von einem Präparat namens Metaproptisol gehört?“ Lyshin zuckte zusammen, als hätte ich einen Pistolenschuß an seinem Ohr abgefeuert. „Ja. Weshalb fragen Sie?“ Ich hatte Lyshins Reaktion sehr wohl bemerkt und begriff, daß er eine Menge über diesen geheimnisvollen Stoff wissen mußte. Er preßte die Hände so fest ineinander, daß die Knöchel weiß und deutlich hervortraten wie die gezackten Knorpel auf einem Störrücken, wandte den Blick von mir ab und starrte erneut durch den unwirklich grünen Lichtschein seiner Lampe in jene Zimmerecke im Halbdunkel, wo deutlich sichtbar das alte Bildnis des grauhaarigen Greises mit der kräftigen Stirn und dem Adlerblick hing. Ich entschloß mich zu einem taktischen Manöver und fragte teilnahmslos: „Wer ist der Mann auf dem Bild?“ „Das ist Paracelsus. Ein berühmter Arzt, Naturforscher und Philosoph. Und ein Märtyrer. Er hat die jahrtausendealten Vorstellungen über die Medizin reformiert …“ Dann herrschte wieder Schweigen, doch ich hatte mich nicht verrechnet: Lyshins vorgetäuschte Teilnahmslosigkeit konnte sich gegen den Ansturm der in ihm tobenden Leidenschaften nur kurz behaupten. Schon bald kam seine Frage: „Weshalb erkundigen Sie sich nach dem Metaproptisol?“ „Weil ich wissen will, ob es Panafidin gelungen sein könnte, das Präparat herzustellen.“ 152
„Nein“, rief Lyshin heiser. „Nein und nochmals nein!“ „Wieso glauben Sie das?“ Ich beugte mich zu ihm. „Weil ich weiter bin als er. Ich habe das Metaproptisol gewonnen und niemand anders! Das kann ich beweisen! Ich habe dieses Präparat hergestellt, und niemand außer mir besitzt es! Niemand, hören Sie, das ist ausgeschlossen!“
11 Der Tag begann mit Büroarbeit – ich hatte allen möglichen Papierkram zu erledigen. Zunächst setzte ich mit einem Stoßseufzer eine Anfrage an das Moskauer Stadtgericht auf. Mich interessierte der Fall Ramasanow: seine Mittäter und was aus ihnen geworden war. Dann verfaßte ich ein Schreiben an die Zentralverwaltung der Arbeits- und Besserungskolonien mit der Bitte um Mitteilung, in welcher Anstalt ein gewisser N. S. Obojmow seine Strafe verbüßte. Schließlich schrieb ich einen Auftrag für eine gerichtschemische Expertise, holte ein Röhrchen mit Metaproptisol, das mir Lyshin zur Verfügung gestellt hatte, aus meinem Safe und begab mich in die sechste Etage, in die technisch-wissenschaftliche Abteilung, zu Chalezki. Der alte Chemiker freute sich, mich zu sehen. „Na, darf man gratulieren?“ fragte er. „Wieso das? Ihre Behauptung, ich würde zum Major befördert werden, war alles andere als stichhaltig.“ „Sie sollten sich was schämen!“ Chalezki spielte den Entrüsteten. „Ich spreche über eine ernsthafte Sache mit Ihnen, Sie aber haben nichts als Ihre Witzchen im Kopf. Wenn Sie so weitermachen, glaub’ ich am Ende noch, daß Ihnen die Beförderung nicht gar so gleichgültig ist, wie Sie vorgeben.“ 153
„Natürlich ist sie mir nicht gleichgültig! Bis zur nächsten Gehaltszahlung hab’ ich noch ganze zehn Rubel …“ „Wenn Sie meinen, daß mit Erhöhung des Gehalts das Defizit in Ihrer Brieftasche geringer wird, irren Sie sich aber gewaltig.“ Ein Weilchen frotzelten wir noch, dann fischte ich das Röhrchen aus meiner Jackentasche und legte es mit einer so würdevollen Miene vor Chalezki auf den Tisch, als hätte ich das wundertätige Präparat darin höchstpersönlich erdacht und gewonnen. „Wissen Sie, was das ist?“ fragte ich unschuldsvoll, so als könnte Chalezki in diesem sodaähnlichen Pulver tatsächlich jenen Tiazin-Giganten erkennen, dessen Wirkungsweise er mir kürzlich auf einem Stück Papier demonstriert hatte. „Etwa dieser Tranquilizer?“ fragte der Chemiker. „Jawohl, Noj Markowitsch, genau der. Jenes Präparat, das Sie vergeblich in sämtlichen Nachschlagewerken gesucht haben. Es gibt bis jetzt noch keine Beschreibung davon, doch ich denke, daß sie unser gemeinsamer Bekannter, Professor Panafidin, bestens nachliefern kann …“ Bei diesen Worten lachte ich; Chalezki freilich begriff nicht, weshalb ich so vergnügt war. „Was denn, hat er es hergestellt?“ „Nein, mein Lieber, nicht er. Dazu reichte seine Puste nicht aus. Er liebt das Leben viel zu sehr und ist hundertprozentig davon überzeugt, das würde auf Gegenseitigkeit beruhen. Ich möchte Sie bitten, das Produkt genau abzuwiegen und eine sorgfältige Expertise darüber anzufertigen, ob dieser Stoff mit jenem am Verschluß der Bierflasche Posdnjakows identisch ist.“ „Als Gegenleistung verlange ich aber eine ausführliche Information über die ganze Angelegenheit.“ „Wird gemacht, Noj Markowitsch, das verspreche ich Ihnen. Jetzt freilich muß ich schnellstens noch mal den 154
Urheber dieses Pülverchens aufsuchen. Und vorher möchte ich unbedingt beim Chef vorbeischauen. Verschieben wir unsere Unterhaltung deshalb auf den Abend. Um eins möchte ich Sie allerdings noch bitten: das Pulver jetzt gleich abzuwiegen.“ Chalezki ging zu der analytischen Waage. „Daß Sie’s immer so eilig haben“, brummte er und warf mehrere winzige dreieckige Gewichte in die Waagschale. „Grob gemessen sind es einundzwanzig-Komma-sechs Gramm.“ Ich traf Scharapow nicht an – unsere Sekretärin Tamara teilte mir mit, daß der Chef gerade eine Delegation des Berliner Polizeipräsidiums empfange. Da es sich um ausgesprochen gewissenhafte, ja fast pedantische Leute handle, würde es gut und gern zwei Stunden dauern, ehe sie die notwendigen Fragen in allen Einzelheiten geklärt hätten. So lange konnte ich nicht warten und fuhr deshalb gleich zu Lyshin ins Labor. Ich hoffte, ihn über eine Reihe von Details ausfragen zu können, die für mich große Bedeutung hatten. Ich passierte den Flur der Klinik, verließ das Gebäude und steuerte über den Wirtschaftshof das Labor an. Es war ein einstöckiger Ziegelbau, der früher einmal als Lagerschuppen gedient hatte. Seine Mauern waren wie von einem Brand schwärzlich verfärbt, die Holzrahmen der kleinen staubigen Fenster hatten sich verzogen, und das Holzgatter im Vorgärtchen quietschte in den Angeln. In einem der Fenster surrte asthmatisch ein Ventilator – folglich war jemand da. Ich klopfte an die Tür und öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten. Ein durchdringender, unerträglich scharfer Geruch nach Schwefel oder Jod schlug mir entgegen. Auf dem Tisch stand ein tiefes Porzellangefäß, von dem graugelber Dampf aufstieg. Eine Frau, die mir den Rücken kehrte, streifte sich Gummihandschuhe über, packte das Gefäß und trug es im Laufschritt, mit abgewandtem Gesicht, zu einem offenstehenden Schrank. Sie schob das 155
stinkende Zeug hinein und schlug behende die Tür zu. Dann zog sie die Gummihandschuhe wieder aus, ließ sie achtlos zu Boden fallen und drehte sich zu mir um. „Unbefugten ist der Eintritt verboten“, sagte sie ärgerlich, „können Sie nicht lesen?“ „Nur ein paar Silben“, antwortete ich scherzhaft und fügte hinzu: „Außerdem hab’ ich um Erlaubnis gefragt.“ „So? Wen denn?“ Sie war noch nicht freundlicher geworden. Quer über ihre Stirn zog sich bis zur Nasenwurzel eine dunkle Rußspur – man hätte sie für eine Strähne ihres pechschwarzen Haares halten können –, und ihre Augen tränten von dem beißenden graugelben Dampf. Es war eine jener jungen, ausgesprochen gutgebauten Personen, die von Kennern mit begehrlichen Blicken verfolgt und als „direkt zum Anbeißen“ bezeichnet werden. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. „Wladimir Konstantinowitsch hat mir erlaubt herzukommen.“ „Wann soll denn das gewesen sein?“ „Vorgestern. Wieso?“ „Lyshin ist krank.“ „Etwas Ernstliches?“ „Was wollen Sie eigentlich von ihm?“ „Verschiedenes. Ist er jetzt zu Hause?“ Ich war wütend über mich: Statt hierher auf die Preobrashenka zu rennen, hätte ich vorher bei ihm anrufen sollen – von meinem Dienstgebäude aus bis zu ihm nach Hause waren es nur fünf Minuten Weg. „Nein“, sagte die junge Frau, „das ist er nicht.“ Sie hatte, obwohl der ätzende Geruch längst verflogen war, noch immer Tränen in den Augen. „Er liegt hier.“ Eine böse Vorahnung gab mir einen Stich ins Herz. „Was meinen Sie mit ‚hier‘?“ „Hier in der Klinik.“ In der Nervenklinik also … Ich war noch nicht imstande, den furchtbaren Sinn ihrer Worte zu erfassen. In 156
diesem Krankenhaus lagen Patienten, die den Verstand verloren hatten. Psychisch Leidende, Leute mit Epilepsie, Schizophrenie, Depressionen, Nervenschocks. Hier wurde man von der Furcht geheilt, von der Angst … Ach, Lyshin, armer Kerl! Was ist bloß mit dir passiert! Hat dich die Müdigkeit gepackt? Oder die Angst, die sich stärker erwies als deine Träume, deine Liebe …? „Sie heißen Alexandrowa?“ fragte ich, und als sie nickte, sagte ich: „Ich bin Hauptmann Tichonow, Inspektor beim Moskauer Kriminalamt. Hier ist mein Dienstausweis. Wann ist Lyshin erkrankt?“ „Gestern früh.“ „Wie äußerte sich seine Krankheit?“ „Einzelheiten weiß ich nicht. Als ich kam, war er bereits im Krankenzimmer. Er erkennt niemanden.“ „Wer außer Ihnen und Lyshin war in die Arbeit am Metaproptisol eingeweiht?“ Die Alexandrowa ging zum Schaltbrett, stellte den Motor der Apparatur ab, und im Labor wurde es beklemmend still. Dann setzte sie sich an den Tisch und holte ein dickes Heft aus der Schublade. Es machte einen ziemlich zerflederten Eindruck, war voller Flecken und Eselsohren. „Hier – unser Laborbuch mit den Aufzeichnungen sämtlicher Versuche, die wir an Kaninchen und Meerschweinchen durchgeführt haben. Sie finden darin auch alle Unterschriften – etwa zehn Mann haben unterzeichnet.“ „Die Unterschriften tauchen aber erst gegen Ende der Versuche auf. Was ist mit der Zeit, als noch an der Herstellung des Präparats gearbeitet wurde?“ „Da haben nur der Chefarzt Doktor Chlebnikow unterzeichnet, die Leiterin der somatischen Abteilung Doktor Wassiljewa, dann Professor Blagolepow als Konsultant und schließlich …“ „Blagolepow war Konsultant für die Versuche?“ 157
„Nein, er ist Konsultant der Klinik. Mit Lyshin hat er mehr inoffiziell zusammengearbeitet, auf freundschaftlicher Grundlage gewissermaßen.“ „Ah, so ist das … Wer hatte eigentlich Zugang zu den Unterlagen, wer war voll und ganz in die Versuche eingeweiht?“ Die Alexandrowa zuckte unwillig die Schultern. „Unser Experiment war nicht geheim, und es mußten keine besonderen Vorkehrungen getroffen werden. Auch Lyshin selbst war nicht auf Geheimhaltung bedacht, er wollte lediglich vermeiden, daß die Sache vorzeitig an die große Glocke gehängt wurde.“ „Gut. Zeigen Sie mir jetzt bitte das Heft.“ Das Laborbuch machte nur äußerlich einen vernachlässigten Eindruck; seine grauen, linierten Seiten waren Tag für Tag in schwungvoller, gut leserlicher Handschrift mit detaillierten Eintragungen gefüllt worden. Eine Eintragung vom sechzehnten Mai war rot umrandet: „Die Kontrolluntersuchung des Präparats ‚Metaproptisol‘ mit dem Kernresonanzspektrometer hat den Erhalt von eins-Komma-vierunddreißig Gramm dieses Stoffs bestätigt. Wladimir Lyshin“. Den weiteren Notizen war dann zu entnehmen, daß die Gewinnung des Metaproptisols kontinuierlich weiterging. „Wieviel Metaproptisol haben Sie insgesamt erhalten?“ fragte ich die Alexandrowa. Die Frau schien aus einer Art Erstarrung aufzutauchen und sagte verwirrt: „Ich weiß nicht.“ „Wieso nicht“, fragte ich verblüfft, „es muß doch irgendwo bei Ihnen vermerkt sein!“ „Ich habe die gewonnenen Mengen nicht registriert“, sagte die Alexandrowa unsicher. „Sie vielleicht nicht, doch Lyshin hat genau Buch geführt. Bis in die Hundertstelgramm hat er alles vermerkt. Lassen Sie uns also gemeinsam danach suchen …“ 158
Tatsächlich stießen wir am Ende des Heftes, wo Lyshin eine Tabelle angefertigt hatte, in der tageweise die gewonnenen Mengen des Metaproptisols vermerkt waren, auf die gewünschte Information. Die letzte Notiz war drei Tage alt, und Lyshin hatte zusammengerechnet: Vierundsechzig-Komma-zwei Gramm. Ich hatte auch keinerlei Zweifel daran gehabt, daß der Stoff in dem Röhrchen, das ich Chalezki zur Untersuchung dagelassen hatte, nur ein kleiner Teil war. Die Verbrecher, die den Anschlag auf Posdnjakow verübt hatten, mußten das Präparat ja gleichfalls besitzen. „Auf welche Weise wurde das Metaproptisol verbraucht?“ fragte ich die Alexandrowa scheinbar gleichgültig. „Keine Ahnung“, erwiderte sie hastig. „Ich hatte damit nichts zu tun.“ Diese nervöse Reaktion verwunderte mich – immerhin war die Frau ja nur Laborantin und hatte wohl tatsächlich nichts mit der Verwendung des Präparats zu schaffen. Ich sagte möglichst ruhig: „Versuchen Sie sich trotzdem zu erinnern. Vielleicht hat Lyshin mal erwähnt, was er mit dem Metaproptisol vorhatte.“ „Ich pflege Lyshins Gespräche nicht zu belauschen. Jedenfalls bewahrte er den gesamten Stoff im Safe auf.“ „Wieviel Schlüssel gibt es dazu?“ Ich wies mit einem Kopfnicken auf den Stahlschrank in der Ecke des Raumes. „Nur einen.“ Die Frau überlegte kurz und fügte dann hinzu: „Wenigstens hab’ ich immer nur einen gesehen, und den hatte Lyshin. Aber warum fragen Sie mich überhaupt danach?“ „Weil sich in einem Röhrchen, das mir Lyshin zur Untersuchung ausgehändigt hat, nur ein Drittel des insgesamt gewonnenen Metaproptisols befand. Mich interessiert, wo der Rest abgeblieben sein könnte.“ „Erstens benutzte er einen Teil des Produkts, um es 159
wieder in seine Bestandteile zu zerlegen – ihn interessierte der rückläufige Vorgang. Zweitens erinnere ich mich, daß Lyshin eine gewisse Menge an den Chefarzt gab …“ „An den Chefarzt? Wozu das?“ „Wie hätten sonst die biochemischen Versuche an den Tieren durchgeführt werden sollen?“ Gar zu gern hätte ich die Frau nach ihrem Verhältnis zu Lyshin befragt, doch in der augenblicklichen Situation wäre das taktlos gewesen. So unterließ ich es. Vielleicht hielt mich auch die Tatsache ab, daß ihr Gesicht jetzt, da sie sich wieder beruhigt hatte, nicht mehr so resolut wie vorhin wirkte und ich erneut vermeinte, ja sogar fest überzeugt war, sie irgendwo schon einmal gesehen zu haben.
12 „Nun bilden Sie sich bloß nicht ein, das Metaproptisol wäre ein Allheilmittel“, sagte Doktor Chlebnikow, der Chefarzt der Klinik. „Sie glauben nicht an seine gewaltigen Möglichkeiten?“ „Doch, natürlich, nur haben im Laufe der letzten hundert Jahre lediglich das Penicillin, das Streptomyzin und mit Abstrichen das Strophantin als bedeutsame Medikamente Weltruf erlangt. Ob das Metaproptisol jemals in eine Reihe mit ihnen gestellt werden kann, ist nicht gewiß. Aber das ist ja auch nicht das ausschlaggebende …“ „Und was ist ausschlaggebend?“ „Die Tatsache, daß das Metaproptisol nicht im Meer jener Präparate untergehen wird, die alljährlich zu Hunderten neu auf den Markt kommen.“ 160
Doktor Chlebnikow war von kleinem Wuchs, ziemlich dick, rotgesichtig und behende wie ein Kugelblitz. Wir waren auf dem Weg in die Versuchsabteilung, und auf einen meiner Schritte kamen zwei von ihm: Er überholte mich, drehte sich um, schaute mir ins Gesicht, und wenn er die Bemerkung angebracht hatte, die ihm fällig schien, eilte er wieder voraus. „Schön, aber ist dann der Wirbel um diesen Tranquilizer nicht etwas zu groß?“ fragte ich. Chlebnikow fuhr herum und blieb so unvermittelt vor mir stehen, daß ich ihn um ein Haar umgerannt hätte. „Sie sind wohl der Meinung, ein gutes, wenn auch nicht geniales Medikament sei wenig? Wie viele Präparate, glauben Sie, entwickeln die Chemiker im Laufe eines Jahres? Ich spreche von wirklich guten, wirksamen Mitteln, von solchen, die Bestand haben. Also los, was schätzen Sie, im Weltmaßstab.“ „Woher soll ich das wissen?“ Ich hob die Hände. „Da haben wir’s – woher sollt ihr, die ihr ständig die Apotheken aufsucht, wissen, wie viele solcher Präparate es gibt und welcher Schweiß an all den Medikamenten hängt, die euch Linderung bringen. Ich aber kann’s Ihnen sagen: Es sind nie mehr als zehn pro Jahr …“ Er hastete voran, kam wieder zurück, pflanzte sich vor mir auf und rief in einer Lautstärke, als wäre ich am anderen Ende des Korridors: „So ist es, jawohl, und wenn das Metaproptisol eins davon werden könnte, würden sich Hunderttausende, ja Millionen Menschen vor dem unbekannten Wladimir Lyshin bis zur Erde verneigen!“ Ich erinnere mich nicht mehr, wie wir Lyshins Krankenzimmer betraten, ich weiß nicht mehr, ob Chlebnikow bei meiner Unterhaltung mit dem Chemiker zugegen war und wie ich das Gespräch begann, ich kann nicht einmal sagen, ob ich Lyshin überhaupt begrüßte. Nur eins habe ich noch in aller Deutlichkeit im Sinn – Lyshins Worte, die scharf artikuliert und wie in Metall 161
geätzt klangen: „Mein Name ist Theophrastus Bombastus von Hohenheim …“ Lyshin saß, in eine gelbe Wolldecke gehüllt und in ziemlich unbequemer Haltung – die Beine unter sich gezogen –, auf dem gemachten Bett und schaute mit leerem Blick über meinen Kopf hinweg durchs Fenster, in das weiche, zitronenhelle Licht des Septembermittags. „Ein schöner Name“, erwiderte ich und war selber erschrocken, wie belegt meine Stimme klang. „Ja.“ Lyshin nickte kaum merklich und kniff die Augen zusammen, als blende ihn der fahle Schein der Herbstsonne. „Aber noch häufiger nennt man mich Paracelsus.“ Dann, nach einem Augenblick des Überlegens, fügte er ruhig und verständig hinzu: „Und das ist berechtigt, denn ich bin dem berühmten Römer Celsus in der Kunst des Heilens schon um vieles voraus …“ Sein ohnehin hageres Gesicht war noch schmaler geworden, es spiegelte maßlose Erschöpfung und Schwäche wider. Sein kastanienbraunes Bärtchen hing schlaff herab, zerzaust und in Büscheln, und erst jetzt, da ich Lyshin bei Tage sah, bemerkte ich, daß sein helles Kopfhaar zur Hälfte ergraut war. Ich hatte Furcht vor dem Schweigen, das wie eine Axt im Raum hing, und fragte, um diese furchtbare, lastende Stille zu durchbrechen: „Was für Krankheiten heilen Sie?“ Lyshin fixierte mich für den Bruchteil einer Sekunde, und ich sah das Auflodern seiner Augen. „Ich befreie die Menschen von den Leiden, die ihnen Wassersucht, Aussatz, Fieber, Gicht, gefährliche Wunden und ein krankes Herz bringen …“ Ich konnte mir über Lyshins augenblicklichen Zustand nicht schlüssig werden und hätte gern herausgefunden, ob er etwas mit meiner Person anzufangen wußte. Deshalb fragte ich: „Haben Sie Gehilfen bei dieser Aufgabe?“ 162
„Meinen Verstand und die Erfahrung“, erwiderte er schlicht und traurig, „sowie mein Herz, das mit allen Leidenden dieser Welt fühlt …“ Auf seinem Gesicht lagen Kummer und Stolz. „Sind Sie einsam?“ Lyshin ließ ein abgehacktes, heiseres Lachen hören. „Wenn ich auch weder Frau noch Kind habe, wenn mir auch keine Freunde mehr blieben – sind etwa nicht die Menschen um mich? Erwärmt nicht die Dankbarkeit der Patienten mein Herz, vermag mich etwa der Haß meiner Neider – all der Kurpfuscher und habgierigen Apotheker – niederzudrücken? Haben mich nicht Hunderte von Schülern dank meiner Lehre Tausenden von Unbekannten nahegebracht?“ „Sind Sie wohlhabend?“ Lyshin schüttelte bedächtig den Kopf, und mir zog sich das Herz zusammen, ich spürte einen schmerzhaften Kloß in der Kehle. Mit schlaffer Hand wies der Chemiker auf eine leerstehende Truhe, in der er etwas zu entdecken schien, was mir verborgen blieb. Wir lebten gegenwärtig in verschiedenen Welten. „Das da ist mein ganzer Reichtum. Dazu ein alter Gaul im Stall und ein rostiger Säbel in der Scheide. Ich selbst aber vegetiere krank und schwach dahin, angewiesen auf die Hilfe des letzten mir verbliebenen Freundes und Schülers, Andreas Wendl, der aus Anhänglichkeit und Barmherzigkeit für mich sorgt …“ Lyshins Fieberphantasien waren zusammenhängend, folgerichtig und angefüllt mit Kenntnissen über irgendwelche mir unbekannte Menschen, so daß er mir durchaus nicht geistesgestört vorkam – er lebte und agierte einfach in einer anderen Epoche. Es war, als sei er hinter das Geheimnis der Zeitmaschine gekommen, als habe er den lang gehegten Wunschtraum der Physiker verwirklicht und während unserer Begegnung neulich das RaumZeit-Kontinuum durchbrochen. Nicht seine Krankheit 163
schien uns zu trennen, sondern die kompakte Schicht mehrerer Jahrhunderte … Und unerwartet für mich selbst, fragte ich: „Man erzählt, Sie hätten es verstanden, simple Metalle in Gold zu verwandeln. Warum schaffen Sie dann nicht welches für sich und Ihren einzigen Freund Wendl?“ Die Sonne war jetzt über das Dach weitergewandert, quadratische Lichtreflexe sprangen von der Mauer zum Fenster herein, blauviolette Schatten fielen in die Zimmerecke, und gar nicht weit weg, irgendwo auf der Preobrashenka, ertönte das unbekümmert-fröhliche Gebimmel einer Straßenbahn. „Ich, Paracelsus, bin in der Tat ein großer Magier und Alchimist, und wenn es der ehrenwerte Herr wünscht, kann er ohne Schwierigkeiten mehrere Leute ausfindig machen, die mit eigenen Augen gesehen haben, wie ich reines Gold aus dem Schmelztiegel nahm.“ Über sein Gesicht huschte ein spitzbübisches Lächeln, und ich hätte schwören können, bei dem gesunden Lyshin noch nie einen solchen Ausdruck von Übermut gesehen zu haben. Doch schon im nächsten Augenblick war sein Gesicht wieder zur Maske von Würde und Trauer erstarrt. Vor meinem inneren Auge tauchte, wie aus der Tiefe eines Gewässers, das strenge Greisenantlitz mit der markanten Stirn auf, jenes dunkle, brüchige Porträt in Lyshins Zimmer, das jetzt freilich in einer mattgrünen Welle zu verschwimmen schien. „Doch der Herrgott hat mir ein großes Wissen über die heilkundliche Chemie zuteil werden lassen, und als ich in meinem Tiegel Medikamente gewann, die Todgeweihte zu retten vermochten, begriff ich, daß das ein Zeichen des Himmels war: Gab doch eine einzige Prise meiner Heilmittel dem Menschen mehr als alles Gold der Welt zusammengenommen. Damals schwor ich mir, diesen Born der Weisheit und Barmherzigkeit nicht durch schnöde Geldgier zu besudeln …“ 164
Ich schaute Lyshin ins Gesicht, er aber bemerkte mich gar nicht. Voller Bestürzung dachte ich, daß Panafidin recht hatte, wenn er sagte: Sich selbst kennt der Mensch nur sehr wenig. Freilich schien er über Lyshin gleich gar nichts zu wissen, nicht ein Quentchen, so als wären sie beide an verschiedenen Enden des Universums zur Welt gekommen. „Wie sind Sie eigentlich hierhergeraten?“ fragte ich und merkte, daß Lyshin erstmals Mühe hatte, eine Antwort zu finden. Seine Stirn legte sich in Falten, er fuhr sich nachdenklich durch den Bart und sagte dann langsam, unsicher: „Ich trat aus meinem Haus auf dem Platz, überquerte die Hängebrücke, die über die Salzach führt, gelangte zur Kaigasse und verlor plötzlich das Bewußtsein … Erst hier, im Hotel ‚Zum Weißen Roß‘, kam ich wieder zu mir …“ „Und wie fühlen Sie sich jetzt?“ „Mein Verstand, meine Empfindungen sind frisch wie ehedem, aber ich bin zu schwach, auch nur ein Glied zu rühren. Die Entelechie, jene geheime Lebenskraft, deren Vorhandensein ich entdeckt und nachgewiesen habe, entweicht lautlos aus meinem Körper.“ Mit leisem Knarren öffnete sich die Tür, ein Pfleger kam herein und stellte ein Glas Kefir, auf dem drei „Marie“-Kekse lagen, auf den Nachttisch. Mit matter Stimme fragte Lyshin: „Warum haben Sie für meinen Gast nichts zu essen mitgebracht?“ Der Pfleger verließ den Raum, ohne eine Antwort gegeben zu haben, ich aber erhob mich und sagte: „Vielen Dank, beunruhigen Sie sich nicht meinetwegen, ich habe gerade erst Mittag gegessen. Es wird sowieso Zeit für mich. Lassen Sie sich’s schmecken. Na, ich geh’ dann …“ Lyshin nickte mir teilnahmslos zu, und als ich schon an der Tür war, sagte er beiläufig: „Alles Gute für Sie. Wie heißen Sie eigentlich?“ „Stanislaw Tichonow“, antwortete ich, und eine wahn165
witzige Hoffnung preßte mir die Brust zusammen. Doch es geschah nichts, ihm kam keinerlei Erinnerung. Unter halbgeschlossenen Lidern hervor und mit Lippen, die ihm nicht recht gehorchen wollten, flüsterte er nur: „Besuchen Sie mich wieder, Gesprächsstoff haben wir genug.“ Lyshin war im Sitzen eingeschlafen. Der Schlaf war unvermittelt über ihn gekommen, so als hätte ein Illusionist einen schwarzen Sack über ihn geworfen. Ich ging zum Bett zurück, faßte ihn vorsichtig unter und legte ihn behutsam hin. Als ich mich über ihn beugte, um ihn zuzudecken, öffnete Lyshin die Augen und sagte kaum hörbar: „Ich habe eine Medizin gegen die Angst entwickelt.“ „Zu welcher Diagnose sind Sie gekommen, Lew Sergejewitsch?“ fragte ich Doktor Chlebnikow. „Handelt es sich bei Lyshin um Schizophrenie?“ „Nie und nimmer!“ Der Chefarzt rannte mit schnellen Schritten in seinem Arbeitszimmer auf und ab, blieb dann vor mir stehen und begann eindringlich auf mich einzusprechen: „Es handelt sich lediglich um einen reaktiven Zustand, hervorgerufen durch äußerste Erschöpfung und eine starke seelische Erschütterung.“ „Aber wie erklären Sie dann …“, begann ich unsicher. „Seine Wahnvorstellung, daß er Paracelsus sei? Das ist noch lange kein Anzeichen für Schizophrenie. Lyshin besitzt eine Gabe, die höchst selten unter den Menschen anzutreffen ist – den Eidetismus. Haben Sie schon mal was davon gehört?“ „Nein, noch nie.“ „Wir Psychiater und Neurologen verstehen unter Eidetismus ein schier unbegrenztes Gedächtnis, eine Eigenschaft, über die unter einer Million Menschen nur ein einziger verfügt. Solche Leute speichern nicht nur eine Unmenge von Fakten und Details in ihrem Hirn, 166
sondern auch die Empfindung von Farben und Gerüchen. Was nun Lyshin betrifft, so besitzt er speziell fürs Visuelle ein phänomenales Gedächtnis. Ich glaube, daß sich in seinem Hirn einfach ein Schutzmechanismus eingeschaltet hat: Sein Bewußtsein hat auf Grund der Übererregung vollkommen auf die Erinnerung umgeschaltet, die ihm besonders teuer oder nah ist. Er muß nur behandelt werden – ich habe die Hoffnung, daß er wieder vollständig gesund wird.“ „Sie werden ihn mit Tranquilizern behandeln?“ „Ja“, erwiderte der Arzt, und sein sonst gerötetes Gesicht schien um eine Spur blasser zu werden. Die Backenknochen traten deutlicher hervor, er selbst war auf einmal ganz Abwehr. Flüchtig kam mir der Gedanke, daß er … Aber ich verwarf ihn wieder. Und dennoch, ich weiß nicht, was mich dazu trieb, jedenfalls fragte ich: „Und mit welchen?“ „Mit seinem eigenen, dem Metaproptisol.“ Ich schwieg niedergeschmettert, dann sagte ich unsicher: „Das Präparat ist doch aber noch gar nicht durch das Pharmazeutische Komitee freigegeben.“ „Stimmt, das ist es nicht, aber die biochemischen Versuche haben hervorragende Resultate gebracht.“ „Formal gesehen, ist das ohne jede Bedeutung. Wenn ein Unglück geschieht, werden Sie entlassen und verlieren Ihre Approbation. Begreifen Sie, auf was Sie sich da einlassen?“ „Da ich hier Chefarzt bin – nicht Sie, nebenbei gesagt –, ist mir die rechtliche Seite der Angelegenheit bestens bekannt. Was jedoch das Unglück betrifft, von dem Sie sprechen, so ist es Lyshin bereits widerfahren, und zwar in einem Maße, wie es kaum schlimmer auszudenken wäre. Die Folgen, die sich für mich ergeben könnten, wären dagegen eine Lappalie.“ „Aber die Verantwortung, die Sie auf sich nehmen, ist 167
riesengroß! Nicht nur für Lyshins Schicksal, sondern auch für das seiner Erfindung!“ „Gegenwärtig ist eins vom andern nicht zu trennen. Doch genug der Worte – mein Entschluß steht fest, ich kann nicht mehr zurück.“ Der Arzt verstummte für einen Augenblick, dann fügte er leise hinzu: „Ich glaube an Lyshin, glaube mit all meiner Kraft an ihn. Er kann sich einfach nicht geirrt haben …“
13 „Was denn“, sagte der Mann, „ein Mitarbeiter des OBCHSS hatte mich aufgefordert, aufs Milizrevier zu kommen, warum sollte ich mich da sträuben? Zumal es sich um einen Hauptmann handelte, wenn auch in Zivil. Ich hab’ mir nicht das geringste dabei gedacht, und, wie gesagt, warum hätte ich mich widersetzen sollen? Ich hab’ der Miliz gegenüber noch nie Widerstand geleistet. Was ist schon dabei, hab’ ich mir gedacht. Man wird hinbeordert, ein bißchen ausgefragt und kann wieder seiner Wege gehen …“ Die Fragen, die der Mann herunterhaspelte, waren nicht etwa an mich gerichtet. Er schien sich selbst überprüfen zu wollen, wo er welchen Fehler begangen hatte, wann und auf welche Weise er hätte erraten sollen, daß es sich bei dem angeblichen Milizionär um einen Betrüger handelte und nicht um einen Vertreter jener Instanz, der gegenüber er noch nie Widerstand geleistet und die ihm – wie unsympathisch er sie vielleicht auch finden mochte – noch nie einen so entsetzlichen Verlust – fast fünftausend Rubel – zugefügt hatte. Der Mann trug den seltsamen Namen Salomon Iwanowitsch Pontjaga, war vor achtundfünfzig Jahren in der schönen Stadt Odessa geboren, hatte fünf im Krieg 168
erworbene Medaillen aufzuweisen und war bereits seit vielen Jahren im Handel tätig. Ernsthafte Unannehmlichkeiten durch die Miliz hatte er bisher noch nicht gehabt, bis zum heutigen Tag nicht, an dem zu früher Stunde dieser angebliche Hauptmann in seinen Verkaufspavillon für Galanteriewaren im Lushnikipark aufgetaucht war. „Nun ja … er hat mir so ein rotes Büchlein gezeigt und gesagt, er hätt’ was mit mir zu besprechen. Na und, dachte ich, was ist schon dabei, warum ein Gespräch verweigern, wenn sich unsre Organe für innere Angelegenheiten für was Wichtiges interessieren. Ich brauch’ mich vor der Miliz nicht zu fürchten, hab’ die Anstecknadel für ‚Verdienste im Handel‘, weil ich schon zwölf Jahre dabei bin, der Herrgott hat mich aus dem Elend herausgeführt. Nun ja, da hab’ ich ihn eben in mein Dienstzimmer gebeten, und er fragte mich, ob ich Pontjaga sei. Und da ich das nun mal bin, erklärte ich rundheraus: ‚Jawohl, Pontjaga steht vor Ihnen, ich bin hier bekannt wie ein bunter Hund.‘ Worauf er sagte: ‚Hier, unterschreiben Sie diese Vorladung, machen Sie den Laden dicht, und kommen Sie mit …‘.“ Ich stellte mir unwillkürlich sein „Dienstzimmer“ vor – ein winziges Kabuff in diesem Blechkasten von Verkaufsbude –, darin den dreisten Betrüger und den schmächtigen, traurig dreinblickenden Pontjaga, der rotentzündete Augen hatte und dauernd die Nase hochzog, als quälte ihn ständig der Schnupfen. „Haben Sie sich den Ausweis gut angesehen, den Ihnen der Mann hinhielt?“ „Natürlich hab’ ich das – dort stand, daß er Hauptmann der Miliz sei.“ „Erinnern Sie sich an den Namen?“ „Wenn ich ehrlich sein soll, ich hab’ nicht drauf geachtet. Denn wenn jemand von den staatlichen Organen zu unsereinem kommt, wird’s einem unwillkürlich flau im 169
Magen, selbst wenn man so unbescholten ist wie ich. Man sagt sich zwar, daß nichts dabei ist, daß der Mann bloß ein paar sachliche Fragen an einen hat, und doch ist’s irgendwie unangenehm. Man fühlt sich verdächtigt …“ Ich sah mir die fingierte Vorladung aufmerksam an – es war ein gewöhnliches Blatt Papier, auf dem in kleiner, offenbar mit einer Reiseschreibmaschine getippter Schrift stand: „Vorladung. Der Bürger S. I. Pontjaga wird hiermit aufgefordert, sich zwecks Klärung eines Sachverhalts unverzüglich bei der Serpuchowsker Stadtmiliz, Untersuchungsführer Hauptmann Sewastjanow, einzufinden.“ Tja, mein lieber Salomon Iwanytsch, anstatt verängstigt und mit einem flauen Gefühl im Magen deine krakelige Unterschrift unter diesen Wisch zu setzen, hättest du fragen müssen, was das zu bedeuten habe. Doch du hast nur gehorsam dein „Dienstzimmer“ zugesperrt, um mit diesem Pseudohauptmann nach Serpuchow zu fahren … „Haben Sie den Mann um Erlaubnis gebeten, zu Hause in Ihrer Wohnung anzurufen, oder schlug er Ihnen das vor?“ Pontjaga zwinkerte betrübt mit seinen rötlichen Lidern, an denen ein paar spärliche Wimpern saßen. „Er schlug es mir vor, doch so, daß es wie mein eigener Wunsch herauskam.“ „Könnten Sie das nicht ein bißchen genauer formulieren?“ „Als ich ihn fragte: ‚Weshalb soll ich denn zur Miliz, ist was passiert?‘, sagte er, es wäre besser für mich, wenn ich alles an Ort und Stelle erführe. Da wollte ich wissen, wie lange es ungefähr dauern würde und ob ich nicht besser zu Hause Bescheid geben sollte, damit sie sich keine Sorgen machten. Meine Frau hat nämlich ziemlich schwache Nerven, wissen Sie, und nicht gerade das stärkste Herz.“ 170
Ich hatte Pontjagas Frau im Flur vor meinem Arbeitszimmer kurz zu Gesicht bekommen. Sie war etwa genauso groß wie ich, hatte aber ein entschieden breiteres Kreuz. Eine sympathische Frau, die mit Ragulin, dem Hockeyspieler, Ähnlichkeit besaß. „Ja und, wie lange, meinte er, würde man Sie festhalten?“ Pontjaga war die Erinnerung daran sichtlich unangenehm. Er erwiderte: „Der Mann lachte und sagte: ‚Mit ein bißchen Glück vielleicht nicht mehr als sieben Jahre …‘ “ Um aufrichtig zu sein, hätte ich für Pontjagas professionelle Ehrlichkeit nicht gerade meine Hand ins Feuer legen mögen. Doch ich mußte an den skrupellosen Betrüger denken, dem er in die Hände gefallen war, und wurde von Zorn gegen diesen Lumpen erfaßt. „Das war ein Spaßvogel“, sagte ich zu Pontjaga, „aber seien Sie beruhigt, ihm wird das Scherzen bald vergehen.“ „Was denn, Sie hoffen ihn zu schnappen?“ fragte Pontjaga mit einem ungläubigen, ein wenig ironischen Lächeln, das sich aber plötzlich, übergangslos, in einen Ausdruck von Kummer, Scham und Haß verwandelte. Zwei farblose, trübe Tränen quollen unter den rötlichen Lidern des Händlers hervor und brannten ihm auf der Haut wie schmelzendes Glas. Mit einer Stimme, die graugelb von Bitterkeit schien, sagte er kaum hörbar: „Geb’s Gott, daß er, wenn Sie ihn fassen, dasselbe durchmacht wie ich auf dem Weg zur Miliz …“ Ich erhob mich vom Tisch und trat ans Fenster, um ihm Gelegenheit zu geben, sich wieder zu fangen. Er schniefte hinter meinem Rücken, schneuzte sich, hüstelte. Dann fragte er: „Darf man bei Ihnen rauchen?“ „Aber bitte, soviel Sie wollen.“ Pontjaga holte Zigaretten hervor und versuchte, ein Streichholz nach dem andern zu entzünden. Doch er171
folglos: Die dünnen Stäbchen zerbrachen unter seinen zitternden Fingern. Da griff ich selbst nach den Streichhölzern und gab ihm Feuer. Die züngelnde weiße Flamme leckte gierig an der Zigarette, und Pontjaga nahm einen tiefen Zug, so daß sich die Flügel seiner schnupfroten Nase an die Scheidewand preßten. Er legte die Zigarettenschachtel auf den Tisch, und ich bemerkte, daß er die gleiche Sorte wie Lyshin rauchte. „Stört Sie der Rauch auch nicht?“ erkundigte sich Pontjaga höflich und wedelte das blaue Wölkchen fort. „Nicht im geringsten. Wir waren bei Ihrem Telefongespräch stehengeblieben.“ „Ach ja, bei dem Anruf. Ich bat ihn, zu Hause anrufen zu dürfen. Zuerst lehnte er ab, und da drängte ich ihn noch mehr. Wegen meiner Frau und der sieben Jahre. Meine Güte, wie ich ihn angefleht hab’, diesen Banditen, geb’s Gott, daß er bald hopp genommen wird.“ Pontjaga inhalierte fieberhaft, sein ausgetrocknetes, farbloses Gesicht erglühte wie eine Zauberlampe von der durchlebten Pein. Dann fuhr er fort. „Schließlich sagte der Kerl: ‚Na, von mir aus, rufen Sie an. Aber kein Wort, daß Sie festgenommen sind. Wenn man den Zeitpunkt für gekommen hält, wird Ihre Frau schon benachrichtigt werden …‘ “ „Was haben Sie Ihrer Frau denn nun gesagt?“ „Was ich ihr gesagt hab’? Ich hab’ gesagt: ‚Hör zu, Shenja, es ist was Schlimmes passiert, aber mach dir um Himmels willen keine Sorgen. Ich muß mal kurz zum OBCHSS, weiß selber nicht, warum. Geh derweil zu den Nachbarn …‘ In diesem Augenblick drückte er auf die Gabel und trennte uns.“ „Alles klar. Und wie ging’s weiter?“ „Wir gingen hinaus, auf der Straße stand ein Moskwitsch, und wir nahmen beide auf dem Rücksitz Platz. In Serpuchow stiegen wir aus, und er sagte zu dem Chauffeur: ‚Warte hier auf mich, ich bin bald wieder zu172
rück.‘ Dann führte er mich ins Gebäude der Stadtverwaltung, ließ mich auf einem der Korridore Platz nehmen und sagte, ich solle hier so lange sitzen bleiben, bis ich aufgerufen würde. Danach ging er, ich aber tat, wie mir geheißen. Schade, daß er mir nicht einen Korb mit Eiern untergelegt hat, da wär’ bei der Warterei vielleicht was Gescheites rausgekommen …“ Während der eine Betrüger Pontjaga nach Serpuchow gebracht hatte, waren zwei andere in dessen Wohnung aufgetaucht und hatten seiner Frau erklärt, ihr Mann sei verhaftet. Sie durchsuchten die Wohnung und „beschlagnahmten“ Geld sowie Wertsachen, die sich auf eine Summe von fast fünftausend Rubel beliefen. Die Frau dachte überhaupt nicht daran, irgendwelche Zweifel an der Berechtigung dieses Vorgehens anzumelden, hatte ihr Mann doch eine halbe Stunde zuvor selber angerufen und mitgeteilt, er sei zum OBCHSS bestellt, weil etwas Schlimmes passiert wäre. „Ach, zum Teufel mit dem Geld“, seufzte Pontjaga erschöpft, „die fünf Stunden, die ich dort gesessen habe, sind mich teurer zu stehen gekommen …“ Geschlagene fünf Stunden hatte er im Korridor der Stadtverwaltung zugebracht, bis schließlich jemand aufmerksam auf ihn geworden war und gefragt hatte, wen er zu sprechen wünsche. Doch einen Hauptmann Sewastjanow gab es nicht, soviel Pontjaga auch redete, um deutlich zu machen, daß er wegen irgendwelcher Auskünfte zu keinem anderen als gerade diesem Mann beordert und auf seinen Befehl hin festgenommen worden sei. Man führte Pontjaga in die Wache, wo er die ganze Geschichte noch einmal von vorn erzählen mußte, und dort begriff man die Sachlage sofort. Der Wachhabende setzte sich mit uns in Verbindung und rief auch zu Hause bei der Frau des Händlers an … Der Name „Sewastjanow“ interessierte mich in diesem Zusammenhang besonders. Die Ähnlichkeit mit 173
dem Namen unseres OBCHSS-Inspektors Sawostjanow drängte sich mir auf. „Eigentlich verwunderlich“, sagte ich. „Sie haben diesen mysteriösen Sewastjanow nie gesehen, sich aber dennoch seinen Namen gemerkt. Den Namen des Betrügers dagegen, der Ihnen seinen ‚Dienstausweis‘ vorzeigte, haben Sie sich nicht eingeprägt.“ „Der Name Sewastjanow war mir schon von früher her bekannt“, erwiderte Pontjaga aufgelebt. „Vor zwei Jahren hat mich ein Angehöriger des OBCHSS befragt, der hieß so.“ „In welcher Angelegenheit?“ „Er führte die Ermittlungen in der Unterschlagungssache ‚Sport- und Anglerbedarf ‘.“ Also doch, ich hatte mich nicht geirrt: Er erinnerte sich an meinen Kollegen Sawostjanow. Auf der Vorladung hatte aber der Name „Sewastjanow“ gestanden. „Was hatten Sie denn mit dieser Unterschlagungssache zu tun?“ „Ach, bei uns wurden einige Erzeugnisse verkauft, die sie in ihrem Werk herstellten.“ „Ja und? Hatte mein Kollege irgendeinen Verdacht gegen Sie?“ „Gottbewahre! Es handelte sich lediglich um eine Revision sämtlicher Unterlagen und um ein paar Gespräche. Viel Lärm um nichts. Ich schaufel’ mir doch nicht mein eigenes Grab, ‚faule‘ Ware von diesen ‚Anglern‘ zu nehmen!“ In der Tat, ich mußte mich unbedingt mit Sawostjanow in Verbindung setzen. Er wußte in dieser Angelegenheit am besten Bescheid, kannte sämtliche Beteiligten, und es war nicht ausgeschlossen, daß ihm eine Idee kam, die mich voranbrachte.
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14 Auf der obersten Stufe des Haupteingangs zu unserem Dienstgebäude stand, mit all seinen Orden angetan, der wachhabende Milizionär Onkel Serjosha, den ich kannte, seit ich das Haus in der Petrowka 38 zum erstenmal betreten hatte. Hier, im zentralen Empfang, versah Onkel Serjosha seinen Dienst – man hatte sich im Laufe der Jahre so daran gewöhnt; daß man eins vom anderen nicht mehr trennen konnte. An Sprechtagen war der alte Milizionär stets von Besuchern umringt: Er erteilte Auskünfte, stellte Fragen, gab Antworten, zeigte Anteilnahme, war zu Ratschlägen bereit und wies auch mal jemanden zurecht – es gab ja tausenderlei Dinge, die die Leute zur Petrowka 38 führten. Dabei brachte es Onkel Serjosha, der sich in Milizangelegenheiten einmalig gut auskannte, zuwege, die Besucher ohne jede Hast und mit einer gewissen Würde so zu „filtern“, daß sich ihre Zahl von Anfang an um ein gutes Drittel verringerte. Mir gegenüber legte der alte Mann eine Art nachsichtiger Güte an den Tag – weshalb er mir so gewogen war, hätte ich selber nicht sagen können. Auch heute grüßte mich Onkel Serjosha vorschriftsmäßig, denn immerhin stand ich ja um fünf Dienstränge über ihm. Dafür gestattete er es mir dann, ihm ehrerbietig die Hand zu schütteln. „Ist Sawostjanow schon durch, Onkel Serjosha?“ fragte ich. „Das kann man wohl sagen. Er bringt doch Tag und Nacht hier zu, dein Sawostjanow. Als er heute kam, waren die Fußböden noch gar nicht gewischt …“ Ich stürmte im Laufschritt zur vierten Etage hoch, denn das Warten auf den Fahrstuhl dauerte mir viel zu lange, und durchquerte den endlosen Korridor bis zur Biege. Sawostjanow saß in einem Eckzimmer, dessen Fenster nicht wie die anderen zur Straße hinausführten, 175
sondern auf eine Terrasse mit einer Kolonnade. Wohl aus Gründen der Baufälligkeit war diese Terrasse stets abgesperrt. Sie war ein überflüssiges architektonisches Beiwerk und nahm eine Menge Licht weg. Im Zimmer mußte ihretwegen fast den ganzen Tag über die Lampe eingeschaltet bleiben. „Ach darum geht’s“, sagte Sawostjanow, nachdem er sich meine Geschichte angehört hatte, öffnete seinen prächtigen Bücherschrank und entnahm ihm einen dicken Hefter. „Hier habe ich die Kopien sämtlicher Unterlagen der ‚Angler-Affäre‘. Die Sache hat sich vor fünf Jahren abgespielt, und weißt du, wie? Sie hatten dort einen Produktionsleiter, einen gewissen Umar Ramasanow. Er, der Werkmeister und ein Brigadier waren übereingekommen, ein gewisses Warensortiment schwarz zu handeln: Strickjacken, Trainingsanzüge und andere Mangelware. Sie beschlossen, das Zeug über sechs Geschäfte abzusetzen; den Erlös teilten sie nach vorher vereinbarten Prozenten unter sich auf …“ „Mich interessieren sämtliche Einzelheiten dieses Falles“, unterbrach ich ihn. „Bei uns setzen auch die Einzelheiten keinen Rost an“, erwiderte Sawostjanow, „nichts geht verloren.“ Er blätterte in dem Hefter und wies schließlich auf ein mit Buntstiften gefertigtes Schema. „Hier, sieh dir das an.“ Es war eine interessante Skizze, die mich an ein Billardfeld mit Kugeln erinnerte, die vom Stoß des Queue durcheinandergewirbelt worden waren. Nur daß es sich hier um Kreise handelte, in deren Innern Name und Tätigkeit jedes der „Kompagnons“ eingetragen waren. Ich vertiefte mich in die Zeichnung, hörte mir die ausführlichen Erläuterungen Sawostjanows an, und allmählich füllte sich die Skizze mit Leben. So wie die Lichtreklamen an den Außenmauern des Zentralen Telegrafenamts, bevor sie in vollem Lichterglanz stehen. Langsam, aber sicher begann ich die Zusammenhänge in dieser 176
verworrenen Angelegenheit zu begreifen, vergegenwärtigte mir die raffinierte Funktionsweise dieser Diebesmaschinerie … Das Telefon im Arbeitsraum von Doktor Chlebnikow schwieg, und so machte ich mich um halb zwölf kurzerhand selber zum Krankenhaus auf. Das unwiderstehliche Verlangen, Lyshin zu sehen, mit ihm zu sprechen, trieb mich zur Preobrashenka in das schattige Halbdämmer seines Krankenzimmers, wo eine völlig fremde Welt existierte, die mir rätselhaft und sehr fern war. Ich wollte wenigstens einen kurzen Blick in diese Welt werfen, in der Hoffnung, einen Zipfel davon zu erhaschen und meinen Platz darin zu bestimmen. Ich traf Chlebnikow an der Tür zur Direktion – er kam gerade von der Station. Er wirkte bei der Begrüßung ziemlich zerstreut und antwortete auf meine Frage nach Lyshin nur knapp: „Er schläft. Zur Zeit schläft er sehr viel.“ „Sie sprachen neulich von Eidetismus“, fuhr ich fort, „ist das vom Standpunkt des Psychiaters aus eine krankhafte Erscheinung?“ „Aber nicht doch, wo denken Sie hin! Ich sagte ja – das ist ein Geschenk!“ „Waren Ihnen das erstaunliche Gedächtnis Lyshins und seine starke Phantasie schon früher aufgefallen?“ „Natürlich. Wer Lyshin näher kannte, wußte, daß er im Grunde ein großes Kind war, märchenhaft begabt, von unsagbarer Güte und fröhlichem Naturell.“ „Ist das für einen einzelnen Menschen nicht ein wenig zuviel des Guten?“ „Nein, absolut nicht. Ich kenne Wolodja bereits seit dem ersten Studienjahr. Da ich mich schon damals für Psychologie und Psychiatrie interessierte, beobachtete ich sein Verhalten mehr als einmal.“ „Wieso das?“ fragte ich erstaunt, denn mir fiel mein 177
Gespräch mit Olga Panafidina ein. „War denn bereits zu jener Zeit eine Abweichung von der Norm erkennbar?“ „Ach was“, Chlebnikow winkte ärgerlich ab, „was hat die Norm damit zu tun. Wolodja war von jeher ein erstaunlicher Mensch, das ist alles. Seine Einbildungskraft – die figürliche, gefühlsbetonte Phantasie eines Kindes – vollbrachte Wunder an ihm. Wenn er zum Beispiel meinem Söhnchen vom unglücklichen Kai erzählte oder von der eingefrorenen Schneekönigin, bekam er selber eiskalte Hände. Sah er Strelzow, einen Fußballspieler, übers Feld laufen, schlug sein eigener Puls fasthundert. Er konnte einzig deshalb nicht als praktizierender Arzt arbeiten, weil er die Schmerzen seiner Patienten physisch mitempfand …“ „Aber mit solchen Fähigkeiten ausgestattet, hätte er sich doch eine herrliche Welt schaffen können – frei von Sorgen, Aufregung und Kummer, eine Welt unvergänglicher Illusionen.“ „Nein, das hätte er nicht.“ Chlebnikow schüttelte den Kopf. „Die Philosophie mancher Leute, die da denken: Was gehn mich die Zahnschmerzen der andern an, paßte rein physisch nicht zu ihm. Ihn gingen die Schmerzen eben an. Er fühlte mit jedem mit, und das mit nie nachlassender Intensität.“ „Was ich Sie noch fragen wollte, Lew Sergejewitsch, kennen Sie eigentlich eine Frau namens Shelonkina?“ „Anja?“ „Ja, Anna Wassiljewna Shelonkina.“ „Natürlich kenne ich die. Ich schätze sie sehr, eine Seele von Mensch.“ Eine solche Einschätzung durch Chlebnikow hätte ich am allerwenigsten erwartet. „Wie lange kennen Sie sie denn schon?“ „Ach, eine Ewigkeit. Zuerst hat sie bei Blagolepow gearbeitet, und nun ist sie an Panafidins Institut. Einen 178
regelrechten Narren hat sie an ihm gefressen, der Teufel soll ihn holen!“ „Wen – Panafidin?“ „Na ja doch. Irgendwie hat sie im Leben Pech gehabt …“ „Inwiefern?“ „Als sie heiratete, war sie noch ein ganz junges Mädchen. Ich hab’ ihren Mann ein paarmal gesehen – ein finsterer, schweigsamer Onkel, ungefähr fünfzehn Jahre älter als sie. Auf dem Bankett, das anläßlich ihrer Habilitation stattfand, hat er’s doch tatsächlich fertiggebracht, kein einziges Wort von sich zu geben.“ „Ja, ich kenne ihn.“ Ich nickte und stellte mir vor, wie sehr sich Posdnjakow an jenem Abend, der zu Ehren seiner Frau stattfand, gequält haben mußte. War sie doch nun endgültig in die Reihen der Wissenschaftler aufgerückt, stand den um sie versammelten Kollegen in nichts mehr nach – Leuten, die gebildet waren, reden konnten, sich ausgelassen und ohne jeden Zwang bewegten und ihm, Posdnjakow, schon deshalb nicht ganz geheuer erschienen. „Na, dann können Sie sich ja vorstellen, wie schwer es der lustigen, spitzbübischen Anja gefallen sein muß, mit so einem Griesgram zurechtzukommen. Nun ja, große Liebe war da wohl nie im Spiel, sie lebten einfach so dahin. Ein Mädelchen haben sie …“ „Dieses Mädelchen ist mittlerweile zweiundzwanzig“, sagte ich. „Das kann doch nicht wahr sein!“ Chlebnikow war verblüfft. „Wie rasend schnell die Zeit vergeht – damals war sie fünf oder sechs Jahre alt …“ „Was meinen Sie mit ‚damals‘?“ „Die Zeit, als Panafidin auftauchte. Er war noch nicht verheiratet und sah verteufelt gut aus.“ Chlebnikow sprach von Panafidins äußeren Vorzügen mit der Gelassenheit eines Mannes, der nie besonderen Erfolg bei Frauen gehabt hat. „Dazu noch sein selbstsicheres Auf179
treten, die feste Überzeugung, etwas Einmaliges darzustellen – kurz und gut: Anja hat reinweg den Verstand verloren.“ „Und Panafidin, wie stand der dazu?“ „Sie gefiel ihm, und er wußte wohl auch, daß kaum eine andere besser zu ihm passen würde. Aber da begann sein Janusproblem: Er. mußte seine Dissertation schreiben und fürchtete die Scherereien, die er sich mit dieser Liebesgeschichte eingehandelt hätte. Immerhin galt es damals noch als amoralisch, eine Ehe auseinanderzubringen. So hat er dann Olga Blagolepowa geheiratet, bald darauf seine Doktorarbeit verteidigt und eine Tätigkeit im Forschungszentrum aufgenommen.“ „Aber warum ließ sich die Shelonkina nicht wenigstens später scheiden, wenn sie ihren Mann nicht geliebt hat? Sie war doch noch jung und hätte ihr Leben anders einrichten können.“ „Ja, gewiß. Nur ist das ihre Sache, man behelligt die Leute nicht gern mit solch indiskreten Fragen. Einmal freilich bin ich mit Anja darüber ins Gespräch gekommen, und wissen Sie, was sie gesagt hat? Wenn sie ihren Mann verlassen hätte, wäre das Leid, das ihr Panafidin zufügte, nur noch auf ihren Mann übertragen worden. Können Sie das begreifen?“ „Bis zu einem gewissen Grade schon …“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich nicht. Ich bin der Meinung, daß das Zusammenleben mit einem Menschen, den man nicht liebt, noch schlimmer ist. Bei solch erzwungenen Verbindungen kommt nie etwas Gutes heraus.“ Ich rief unsere Sekretärin an und bat sie, einen Termin mit dem Chef zu vereinbaren, zu dem er Posdnjakow und mich empfangen könnte. Eine Weile war nur ein leises Rauschen in der Leitung zu hören, dann sagte die Frau: „Der Chef erwartet Sie um fünfzehn Uhr dreißig.“ 180
Als wir Scharapows Zimmer betraten, war er in das Studium irgendwelcher Unterlagen vertieft. Er warf uns über seine Brille hinweg einen Blick zu, nickte kurz und beantwortete unseren Gruß mit einem brummigen „Ja, gut“. Dann sagte er: „Setzen Sie sich.“ Ich begriff, daß unser bevorstehendes Gespräch nicht gerade lustig verlaufen würde. Aus mir unerfindlichen Gründen kehrte Scharapow immer dann den Vorgesetzten heraus, wenn er sich seiner Sache selbst nicht sicher war. In solchen Fällen pflegte er statt „Guten Tag“ „Ja, gut“ zu sagen und statt „Auf Wiedersehen“ „Also dann“. Als er uns jetzt auf diese Art begrüßte, spürte ich Ärger in mir aufsteigen. Wußte ich doch nach all den Jahren gemeinsamer Arbeit, daß er sein Ich wenigstens teilweise mit einem schützenden Panzer umgeben hatte, wodurch es so gut wie unmöglich wurde, ihn durch Argumente auch nur umzustimmen. Selbst Posdnjakow, der unseren Chef nicht kannte, fiel merklich in sich zusammen, sein Gesicht nahm einen Anflug von Grau an, und er war die ganze Zeit bemüht, unauffällig den immer wieder neu ausbrechenden Schweiß von der Stirn zu wischen. Dabei war es kühl im Zimmer – die Heizperiode hatte noch nicht begonnen, und in der Mitte des Raumes stand mit rotglühender Spirale eine Heizsonne auf dem Fußboden. Scharapow hatte das letzte Papier durchgelesen, setzte in die linke obere Ecke des Blattes seine ausladende Unterschrift und packte den ganzen Stapel in einen braunen Ordner mit der Aufschrift „Zum Vollzug“. Dann schaute er uns mit einer so undurchdringlichen Miene an, als sähe er mich zum erstenmal. „Ich höre“, sagte er und ließ ohne jede Hast die Flamme seines Feuerzeugs aufzüngeln. In aller Gelassenheit nahm er einen tiefen Zug und stieß mit vorgestülpter Unterlippe eine Rauchwolke aus, die flach wie ein Messer war. 181
„Genosse Scharapow, das Material, das ich im Verlauf meiner Ermittlungen zusammengetragen habe, beweist hinlänglich, daß auf Hauptmann Posdnjakow tatsächlich ein Anschlag verübt wurde, ein Anschlag mit einem stark wirkenden Medikament. Deshalb bin ich der Meinung, daß das Untersuchungsverfahren gegen ihn eingestellt werden kann und ihm die Erlaubnis erteilt werden sollte, wieder seinen Dienstobliegenheiten nachzugehen.“ Scharapow kam hinter seinem Schreibtisch vor, und wir erhoben uns gleichfalls. Der Chef ging um die Heizsonne herum zum Fenster und schaute, uns den Rücken zukehrend, auf die Straße. Gar zu gern hätte ich jetzt sein Gesicht gesehen. Unvermittelt drehte er sich um und fragte knapp: „Ist das alles?“ „Ja.“ „Abgelehnt!“ Hastig, beinahe über den Heizkörper stolpernd, ging Scharapow zurück zum Schreibtisch und setzte sich. Posdnjakow war noch eine Spur blasser geworden, ich aber schwieg und starrte in das rote Geschlängel der Heizsonne – es stand mir nicht an, den Chef im Beisein Posdnjakows nach Gründen zu fragen. Scharapow hatte die Finger ineinander verflochten und drehte die Daumen. Dann begann er vor sich hin zu sprechen, so als denke er laut über eine unerhört komplizierte Frage nach und fordere uns auf, dasselbe zu tun, weil er ohne unseren Rat zu keiner Entscheidung kommen könne. „Bei der Untersuchung von Diebstahlsdelikten“, begann Scharapow, „interessiert sich die Ermittlung stets für das, was gestohlen wurde.“ Er verstummte und fragte dann wie beiläufig: „Was hat man Ihnen eigentlich entwendet, Andrej Filippowitsch?“ „Meine Pistole und den Dienstausweis.“ Posdnjakow brachte diese Worte so mühsam heraus, als müßte er riesige Steinbrocken mit der Zunge fortwälzen. „Ihr Geld haben die Leute nicht zufällig genommen?“ 182
fragte Scharapow interessiert. Er tat, als höre er zum erstenmal von dieser Geschichte. „Nein, Geld nicht.“ „Hatten Sie viel bei sich?“ „Etwa zwei Rubel.“ Posdnjakow war nun nicht mehr blaß – vielmehr hatte eine purpurne, fast schon ins Bläuliche spielende Röte seinen knochigen Nacken überzogen. „Na, Gott sei Dank“, stieß Scharapow scheinbar erleichtert aus, „wenigstens Ihr Geld haben sie nicht angerührt. Die Frage ist nur, wie wir mit Pistole und Dienstausweis verfahren, da fällt mir einfach nichts ein. Und du, Tichonow, hast du nicht vielleicht zu diesem Punkt eine gescheite Überlegung zur Hand?“ Ich schwieg, verstand es sich doch von selbst, daß er auf meine gescheite Überlegung gut und gern verzichten konnte. „Angenommen, wir machen’s so, wie du vorschlägst. Wir stellen das Verfahren gegen Posdnjakow ein, und ich geb’ ihm ein Schreiben, mit dem er in die Waffenkammer beziehungsweise zur Kaderleitung marschiert. Dann verläßt er unser Haus ganz stolz mit Pistole und Dienstausweis, wie ein richtiger Inspektor, und nicht etwa wie ein nasses, wehrloses Huhn …“ „Ich … ich … niemals …“, brach es aus Posdnjakow heraus. Erstaunlich behende für seinen massigen Körperbau, kam Scharapow hinter dem Tisch hervorgeschossen und stürzte auf Posdnjakow zu. „Na los, sagen Sie schon, was Sie auf dem Herzen haben! Wenn Sie damit hinterm Berg halten, muß ich mich sonst noch fragen, ob Sie mich nicht vielleicht für ungerecht halten, für jemanden, der über Sie zu Gericht sitzt, ohne Ihnen auch nur die Möglichkeit einer Erwiderung zu geben!“ „Ach, egal …“, krächzte Posdnjakow und winkte resigniert ab. 183
Scharapow rannte im Zimmer auf und ab, wäre abermals beinahe über die Heizsonne gefallen, fluchte, bückte sich ächzend, hob das Gerät vom Boden auf und stellte es auf den Schrank. Dabei sagte er, scheinbar an niemanden gewandt: „So ähnlich kann es untauglichen Mitarbeitern ergehen – man schiebt sie außer Reichweite, damit sie einem nicht dauernd zwischen die Füße geraten.“ Dann kam er wieder zu uns zurück, die wir reglos am Tisch standen, pflanzte sich vor uns auf und sagte deutlich akzentuiert: „Wenn an der Front eine Truppe ihre Fahne oder die Waffe einbüßte, wurde sie zur Strafe aufgelöst und aus der Armee gestrichen. Ihr Dienstausweis, Posdnjakow, steht für die rote Fahne der Miliz, ist die Fahne jenes Kämpfers, dessen Bezeichnung ‚Offizier der sowjetischen Miliz‘ lautet. Die Macht der Arbeiter und Bauern hat Ihnen diese Fahne in die Hand gegeben und damit außerordentliche Rechte. Außerordentliche – haben Sie das begriffen? Jetzt aber nehmen Verbrecher diese Rechte gegen jene in Anspruch, die zu schützen Ihre Pflicht ist! Sie tun es unter Ihrer Fahne und mit Ihrer Waffe in der Hand! Ersatzfahnen aber, das müssen Sie schon entschuldigen, habe ich nicht zu vergeben und Ersatzwaffen ebensowenig …“ Die lastende Stille wurde nur durch Posdnjakows schweres Atmen unterbrochen. Schließlich fragte er hilflos: „Was soll ich denn jetzt machen?“ „Die Banditen fassen!“ bellte Scharapow und drehte sich heftig zu ihm um. „Ehre und Waffe im Kampf zurückerobern!“ Posdnjakow machte eine Gebärde, die besagen sollte: Etwas anderes will ich ja gar nicht, ich bitte Sie nur um die Möglichkeit dazu. „Tichonow übernimmt die Verantwortung für Sie“, sagte Scharapow. „Und denken Sie daran, was er damit riskiert.“ Er ging zum Safe, holte ein ledernes Schlüssel184
etui aus der Tasche, suchte lange nach dem richtigen Schlüssel und steckte ihn dann in die dafür vorgesehene Öffnung. Das Schloß klickte, die Tür, die einen halben Meter dick war, schwenkte auf, und Scharapow entnahm dem Innern des Schranks ein in Zeitungspapier eingewickeltes Päckchen. Er legte es auf den Tisch und sperrte den Safe wieder zu. „Eine Schwierigkeit gibt’s freilich noch“, sagte er dann, „ohne Waffe wird’s tatsächlich nicht gehen, wenn Tichonow Sie in die Aktion einbeziehen soll.“ Posdnjakow schluckte an seinem Speichel, und sein Kehlkopf hüpfte wie ein Ball auf und ab, als er sagte: „Wenn der Genosse Hauptmann Tichonow die Verbrecher nur stellt, mit bloßen Händen werd’ ich sie in Stücke reißen!“ Ich streifte Posdnjakows gedrungene, sehnige Gestalt mit einem kurzen Blick und glaubte ihm aufs Wort. „Das lassen Sie mal lieber bleiben.“ Scharapow lachte hart und ließ dabei ein paar blitzende Goldkronen sehen. „Es würde mir gerade noch fehlen, daß die Verbrecher einen Milizoffizier mit dessen eigener Dienstwaffe über den Haufen schießen. Zum Glück habe ich hier etwas, das mich beruhigt.“ Er wickelte die Zeitung auseinander, und ich erblickte ein altes, schon ziemlich abgeschabtes Armeekoppel mit einer TT-Pistole, wie sie seit langem nicht mehr in Gebrauch waren. „Ich kann Sie nicht unbewaffnet in den Kampf gegen Männer gehen lassen, die unter Garantie eine Waffe bei sich haben, doch eine nagelneue Pistole kann ich Ihnen genausowenig geben. Ich will es auch nicht, ehrlich gesagt …“ Während er weitersprach, öffnete Scharapow mit langsamen, doch sicheren Bewegungen das Koppel und holte die Pistole heraus, die früher einmal lackschwarz gewesen sein mußte, jetzt aber bis zu einem hellen stählernen Glanz abgenutzt war. Sie war sorgfältig geölt, 185
Scharapow nahm das Magazin heraus, zählte, die Fingernägel zu Hilfe nehmend, die Patronen, schaute in den Lauf, legte das Magazin wieder ein und sicherte die Waffe. Dann trat er auf uns zu und reichte Posdnjakow die Pistole mit den Worten: „Da, meine eigene. Vier Jahre hat sie mir an der Front treue Dienste geleistet, aber auch später, als ich bereits hier arbeitete, hat sie mich nie im Stich gelassen. Geben Sie sie mir wieder, wenn Sie Ihre im ehrenvollen Kampf mit den Banditen zurückerobert haben …“
15 „Was führt Sie denn wieder zu mir“, fragte Panafidin, „erwarten Sie, daß ich ein Geständnis ablege? Sie gehören nämlich zu jenen relativ sympathischen Kriminalisten, denen man gern entgegenkommen würde.“ „Nein, ich brauche kein Geständnis von Ihnen, sondern Ihre Hilfe.“ „Also gut, ich höre. Worum geht es?“ „Lyshin ist schwer erkrankt, und es wäre unverantwortlich, seine wissenschaftlichen Unterlagen unbeaufsichtigt zu lassen. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, daß sie eine neue Entdeckung oder zumindest die Vorarbeiten dazu enthalten.“ Ich merkte, wie sich Panafidin innerlich spannte, ja förmlich zum Sprung ansetzte. Er sah mir nicht mehr ins Gesicht, sondern betrachtete seinen Tennisschläger auf dem Fensterbrett mit einer solchen Aufmerksamkeit, als sei das ein artfremder Gegenstand, eine Beinprothese etwa, die ich ihm untergejubelt hätte. Dann fragte er: „Was fehlt Lyshin eigentlich?“ Es widerstrebte mir, dem Professor von Lyshins Krankheit zu erzählen, andererseits konnte ich ihm je186
doch nichts vormachen. Auch wenn ich wußte, daß ich ihm mit der Wahrheit einen kräftigen Knüppel in die Hand gab, mit dem er entweder Lyshin endgültig zu Fall bringen oder über den er selbst stürzen würde. Deshalb sagte ich teilnahmslos und in aller Gelassenheit: „Er ist nervlich erschöpft.“ Panafidin schwieg. Er lehnte sich im Sessel zurück und schaute nun nicht mehr auf den Tennisschläger. Statt dessen tastete sein Blick ohne Scheu mein Gesicht ab, Zoll für Zoll, ohne auch nur das kleinste Fältchen auszulassen. Ich war überzeugt, daß er jedes von der Morgenrasur unberührte Härchen auf meinem Kinn bemerkte. Seine Miene allerdings drückte nur eins aus: Hast dich vergaloppiert, Spürhund! Dennoch leuchtete in seinen Augen keine Freude auf, kein Triumph – lediglich eine große Erleichterung las ich darin. Sie verrieten, was sein jahrelang trainierter Wille verbergen wollte: daß er nämlich in Gedanken befreit aufatmete, weil endlich die schreckliche Last von ihm genommen war. Das stete Gefühl, sich bedroht zu fühlen, das tagtäglich über ihm und seinen Zukunftsplänen geschwebt hatte. Endlich verstummt war das Keuchen jenes Mannes in seinem Rücken, der ihm all die Jahre auf den Fersen gewesen war … Ruhe und Friede zogen in Panafidins Inneres ein – das Schicksal hatte ihm eine Verschnaufpause gewährt, noch bestand für ihn die Möglichkeit, im Finish entscheidend voranzukommen. Wichtig war einzig, das ersehnte Zielband selber zu zerreißen, ganz gleich, ob Lyshin es bereits berührt hatte. Später würde sich dann schon zeigen, wer die Anerkennung als Sieger bekam – in solchen Fällen wurde ja nicht mit dem Zielfoto gearbeitet, niemand würde also an Hand von Zeitlupenaufnahmen überprüfen, wer das Band nun wirklich gesprengt hatte. Außerdem hatten bei solchen Entscheidungen Tatkraft, Ansehen und Beziehungen auch noch 187
ein Wörtchen mitzureden. Besonders wenn der Kontrahent nervlich erschöpft war. Nervlich erschöpft – nun ja, vielleicht hatte er sich vor dem Wettkampf gedopt …? Doch wer wußte es, vielleicht lagen Panafidin solche Gedanken auch fern. Alles war möglich. Jedenfalls sagte er: „Schade um Wolodja, er war schon immer ein schwacher Mensch.“ „Ich bin zu Ihnen gekommen, weil Sie früher mit Lyshin befreundet waren, mit ihm zusammengearbeitet haben. Und nicht zuletzt, weil Sie der führende Spezialist auf dem Gebiet der Tranquilizersynthese sind. Ich möchte, daß Sie gemeinsam mit mir Lyshins wissenschaftliches Archiv durchsehen, mir behilflich sind, das für mich Notwendige auszusondieren, damit ich dann das restliche Material bis zu seiner Gesundung versiegeln kann. Wären Sie dazu bereit?“ „Ehrlich gesagt, würde ich mich aus ethischen Erwägungen heraus lieber nicht in diese Angelegenheit mischen. Böse Zungen könnten darüber reden. Wenn ich freilich recht überlege, ist das Ganze andererseits viel zu ernst, als daß man sich von solchen Vorbehalten leiten lassen sollte …“ „Richtig. Dann erwarte ich Sie also morgen vormittag um zehn Uhr in Lyshins Labor.“ „Gut, ich werde dasein.“ Ich verabschiedete mich von Panafidin und ging zur Tür, machte dann aber wieder kehrt, als sei mir noch zur rechten Zeit etwas eingefallen. „Wissen Sie was“, sagte ich, „ich lasse Ihnen die Schlüssel vom Labor gleich da, es könnte nämlich passieren, daß ich aufgehalten werde und erst eine halbe Stunde später komme. Fangen Sie inzwischen ohne mich an, einverstanden?“ „Einverstanden.“
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16 Die Tatsache, daß Panafidin die Schlüssel zu Lyshins Labor genommen hatte, bestätigte meine Vermutung! Noch vor dem vereinbarten Termin, aller Wahrscheinlichkeit nach sogar nachts, würde er dorthin kommen, davon war ich überzeugt. Er würde die Gelegenheit, sich ohne meine lästige Anwesenheit gründlich umzuschauen, beim Schopf packen und sich dann morgens ein zweites Mal mit „reinem Gewissen“ hinbemühen – das war ihm die Sache wert. Ein Schlüsselbund befand sich jetzt in seinen Händen, und einer der Schlüssel, mit seinem kompliziert gefeilten Bart für einen Safe bestimmt, beschäftigte ihn gewiß besonders stark. Nur zwei Umdrehungen dieses Schlüssels trennten ihn von jenem Labortagebuch, in dem ausführlich Tag für Tag und von Versuch zu Versuch die Entstehungsgeschichte des Zaubermittels gegen die Angst, des Tranquilizers namens Metaproptisol, beschrieben war, eines Präparats, das seinem Erfinder eine glanzvolle wissenschaftliche Karriere verhieß. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß Panafidin – vorausgesetzt, er besaß das Metaproptisol nicht selber – dieser Versuchung zu widerstehen vermochte. Ich schaute aus dem Fenster der zuckelnden Straßenbahn auf die Stromynka hinaus, auf den zu dieser Abendstunde allmählich verebbenden Passantenstrom, und dachte an den Widerstreit von Verstand und Gefühl, der sich jetzt sicherlich in Panafidin abspielte. In den Händen des Professors befanden sich jene Schlüssel, die das Tor zur Märchenwelt verwirklichter Träume öffneten. Doch um die Tür aufzustoßen, bedürfte es eines Schritts, der aus einem seriösen Wissenschaftler einen gewöhnlichen Dieb machen würde. Eine solche Handlungsweise aber mußte selbst für Panafidin unerträglich sein, der nach dem Motto lebte: Sich was zuschulden 189
kommen lassen, macht noch lange keinen schlechten Ruf. So würde er heute viele Stunden im Widerstreit mit sich selbst liegen, immer die Tatsache vor Augen, daß ihm der Einblick in die Gewinnung des Metaproptisols ein für allemal versagt bliebe, sobald ich die Unterlagen beschlagnahmen und in meinem Safe deponieren würde. Auf diese Art versuchte ich mich in Panafidin hineinzuversetzen und fuhr in Lyshins Labor, um endgültig herauszufinden, ob der Gelehrte Panafidin den Sieg über den Menschen Panafidin davontrug oder ob Janus die Oberhand gewann und ihn in den eisigen Abgrund der Gewissenlosigkeit stieß. Ja, ich müßte mir im Laufe dieser langen Nacht in Lyshins ausgestorbenem Labor Klarheit über verschiedene Punkte verschaffen, und ich war mir auch bewußt, daß zwei Seelen in meiner Brust wohnten. Der Kriminalist Tichonow harrte voller Ungeduld des Augenblicks, da der Professor heimlich die Tür öffnen und damit einen Schlußpunkt unter viele in dieser Geschichte noch ungeklärte Fragen setzen würde; der Zivilist Tichonow dagegen wünschte sich nichts sehnlicher, als daß der Kriminalist die ganze Nacht umsonst auf Panafidin wartete, was bedeuten würde: Der Professor hatte den bösen Dämon Angst, der sich wie ein Vampir an ihm festgesaugt hatte, endgültig abgeschüttelt. In den Fenstern von Chlebnikows Arbeitszimmer brannte Licht. Ich stieg zur zweiten Etage hinauf und klopfte. Der Chefarzt blinzelte mich geblendet an und sagte: „Na, Sie lassen sich ja heute reichlich spät bei uns blicken.“ Ich drückte seine Hand – sie fühlte sich kräftig, warm und ein wenig rauh an. Als ich dann in einem Sessel Platz genommen hatte, sah ich ihn voll an und stellte fest, daß er beträchtlich älter und erschöpfter aussah als 190
Panafidin, der doch ein Altersgenosse von ihm war. Eine andere Konstitution oder eine andere Art zu leben? Panafidin arbeitete gleichfalls sehr viel, fand aber die Zeit für Tennis und Sauna. Oder lag es daran, daß jemand, der tagaus, tagein mit fremdem Leid konfrontiert wurde, schneller alterte? „Ich wollte zu Lyshin“, sagte ich. Chlebnikow schob die Ärmel zurück, sah auf die Uhr und erwiderte: „In vierzig Minuten geb’ ich ihm die fällige Spritze, da können Sie mitkommen.“ „Führen Sie denn die ganze Behandlung selbst durch?“ „Ja.“ „Aber könnte Ihnen das nicht der diensthabende Arzt oder die Schwester abnehmen?“ „Das könnten sie schon. Aber Ihr Arbeitstag ist ja auch zu Ende, und Sie kommen trotzdem noch mal hier vorbei.“ „Nun ja … Ich wollte sehen, wie es Lyshin geht.“ „Ist das der einzige Grund?“ „Tja, wie soll ich das ausdrücken …“ Ich schwankte einen Augenblick, ob ich Chlebnikow die Wahrheit sagen sollte, doch dann entschloß ich mich – es wäre unsinnig gewesen, dem Arzt etwas vormachen zu wollen. „Ich möchte die heutige Nacht in Lyshins Labor zubringen.“ Chlebnikow sah mich verblüfft an, zwinkerte ein paarmal mit seinen entzündeten Lidern und brach unvermittelt in Lachen aus. „Sie glauben, daß sich Besuch einstellt?“ „Ja, so ungefähr.“ Der Arzt nickte, als sei er mit mir einverstanden, sagte dann aber entschieden: „Falls Sie auf Panafidin warten – der kommt nicht.“ „Weshalb glauben Sie das?“ „Weil ich Panafidin kenne.“ „Das müssen Sie mir schon genauer erklären.“ 191
„Panafidin hat ein ausgeprägtes Gespür für die Gefahr. Ich weiß zwar nicht, womit Sie ihn ködern wollen, aber er ist noch nie auf so etwas hereingefallen.“ „Ginge es nicht ein bißchen konkreter?“ „Das ist gar nicht so einfach.“ Chlebnikow zuckte die Achseln. „Als wir noch jung waren, sah es mit Abwechslung und Vergnügungen hier ziemlich trübe aus. Deshalb brachen wir Studenten oftmals nach Kuskowo zum Tanz auf, wo sich freilich auch regelmäßig und reichlich angetrunken die stadtbekannten Rowdys von Perowo einfanden …“ Ich hörte interessiert zu, fand ich es doch seltsam, mir Chlebnikow als jungen Burschen vorzustellen, mit vollem Haarschopf, ohne das feine Netz sklerotischer Äderchen im Gesicht, ohne Bauch und Falten, beim Tanz in Kuskowo, einem Ort, der in unserem Kriminalamt noch heute als einstiger Treffpunkt besonders dreister Rowdys bekannt war. „Wir fingen nie von uns aus an“, fuhr Chlebnikow fort, „sie aber ließen keine Gelegenheit aus, uns anzurempeln, und dann zahlten wir’s ihnen natürlich heim, nach allen Regeln der Kunst.“ „Und was war mit Panafidin, suchte er das Weite?“ „Das nun gerade nicht. Aber er hatte ein erstaunliches Gespür dafür, wann eine Schlägerei zu erwarten war, und verschwand, lange bevor es die ersten Anzeichen dafür gab, von der Bildfläche. Die Fähigkeit, eine Gefahr zu erahnen, muß ihm direkt angeboren sein.“
17 Doktor Chlebnikow war nach Hause gegangen, und das Licht in fast allen Fenstern des Klinikgebäudes erlosch, so daß mich, als ich in dem ausgestorbenen Hof mit der 192
kleinen Grünfläche stand, die von einer Menge dünner, niedriger und jetzt zum großen Teil entlaubter Bäume bepflanzt war, ein Gefühl großer Einsamkeit befiel. Keine Menschenseele weit und breit, über den Dächern war der matte rötliche Abglanz von Bahnhofslichtern zu sehen, von fern erscholl der weiche einschmeichelnde Ruf einer E-Lok, und auf der Straße hörte man das Rattern übers Pflaster holpernder Räder. Hier dagegen war es völlig still. Ein frischer Oktoberwind hatte die grauen Säcke tiefhängender Wolken auseinandergetrieben, und am tiefen Himmel blinkten Sterne, groß und durchsichtig wie Hagelkörner, die in der Luft erstarrt waren. Es roch nach Johannisbeersträuchern, Regen, Jod, frisch gesägtem Holz und Chlor – jenem seltsamen Gemisch, das Krankenhaushöfen im Herbst eigen ist. Ich ging die schmale Allee entlang zu Lyshins Labor, gelangte von der Rückseite her zu dem flachen Ziegelbau und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen – im Labor brannte Licht. Ich drückte mein Gesicht ans Fenster, bemüht zu erkennen, was da drinnen vor sich ging, doch durch die Mattglasscheiben hindurch konnte ich nur eine große männliche Gestalt erkennen, die ohne Hast mein Blickfeld passierte. Demnach hatten die Überlegungen, die ich Panafidin zuschrieb, bedeutend weniger Zeit in Anspruch genommen, als ich dachte. Oder hatte ich bloß ein weiteres Mal den Verstand des Chemikers unterschätzt? Denn in der Tat – weshalb sollte er warten, bis es Nacht würde, um sich klammheimlich wie ein Dieb herzuschleichen und womöglich in eine Falle zu laufen, wenn er die Sache genausogut noch am Abend erledigen konnte. Ich drückte vorsichtig gegen die Tür – sie war verschlossen. Bestrebt, keinerlei Geräusch zu verursachen, steckte ich den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn sacht 193
herum. Dann aber sagte ich mir, daß all diese Vorsichtsmaßnahmen im Grunde sinnlos waren, hatte sich der Mann doch schon bloßgestellt, als er selbst hinter sich zusperrte. Ich stieß die Tür auf und betrat den Raum; für Bruchteile von Sekunden kniff ich die Augen zusammen, weil ich von der plötzlichen Helligkeit geblendet war. Am Schreibtisch in der Ecke des Zimmers saß Ilja Petrowitsch Blagolepow. Die Zigarette in seiner Hand qualmte, er sah mich unter halbgeschlossenen, faltigen Lidern hervor an, und in seinen Augen las ich die Frage: Was hast du denn hier zu suchen? Ich ging quer durchs Labor auf den Schreibtisch zu, und über die gewölbte Zimmerdecke sprang, mich immer wieder überholend, ein hoher, eckiger Schatten, als wollte er mir zuvorkommen und selber fragen, erbost und herausfordernd: Und Sie, was sitzen Sie des Nachts in einem fremden Labor herum? Doch ich fragte nichts, nahm nur gelassen auf einem Stuhl Platz. Der Schatten stürzte von der Decke herunter, preßte sich zu einem formlosen Knäuel hinter meinem Rücken zusammen, streckte sich lautlos auf dem Fußboden aus, erstarrte. Er wußte, dieser Schatten, daß die wichtigste Waffe eines Menschen im Hinterhalt der Überrumpelungseffekt war, und diese Waffe war jetzt gegen mich gerichtet, denn jeden anderen hätte ich hier erwartet, bloß nicht den alten Professor mit seinem zerbrechlichen Herzen, der sich auf seiner kleinen Oase der Ruhe und Stille von den Leidenschaften der Welt zurückgezogen hatte. Offenbar war der Ausdruck von Verblüffung auf meinem Gesicht stärker als der Schreck, den Blagolepow bei meinem Auftauchen verspürt haben mußte. Jedenfalls gab er sich den Anschein, als sei nichts Besonderes daran, daß ich ihn spätabends in einem fremden, für seinen 194
Schwiegersohn interessanten Labor angetroffen hatte. Er tat vielmehr so, als sei ich bloß mal auf einen Sprung bei ihm zu Hause vorbeigekommen – kein teurer Gast, gewiß, aber doch einer, bei dem der Anstand gebot, höflich zu sein. Deshalb senkte er langsam seinen großen, kahlen Schädel und sagte leise: „Guten Abend …“ „Ich würde eher sagen: gute Nacht“, erwiderte ich und fuhr fort, ohne noch länger Zeit mit Höflichkeitsfloskeln zu verlieren: „Bei unserer letzten Begegnung rieten Sie mir, mißtrauisch gegenüber den eigenen Augen zu sein, würden die uns doch hin und wieder täuschen. Wie sieht’s nun heute damit aus, ist es vielleicht möglich, daß ich nicht Sie, sondern einen anderen vor mir sehe? Professor Panafidin vielleicht?“ „Da sei Gott vor“, sagte der Alte spöttisch lächelnd, „mein Name war schon seit jeher Blagolepow.“ „Ein Glück, dann täuschen mich meine Augen also nicht. Allerdings will mir scheinen, daß es für Sie, in Ihrem Alter und mit Ihrem Herzen, ein wenig riskant ist, sich in ein solches Unternehmen einzulassen …“ „Für eine gute Tat ist es nie zu spät“, erwiderte Blagolepow und nahm einen tiefen Zug. Auf seinem Gesicht las ich weder Furcht noch Scham oder Erregung, es drückte lediglich die Befriedigung eines leidenschaftlichen Rauchers aus, der nach langer Enthaltsamkeit endlich zu seinem Tabak gekommen und dem alles andere gleichgültig ist. „Würden Sie es nicht für nötig halten, Ilja Petrowitsch, mir eine Erklärung für Ihre Anwesenheit hier zu geben?“ Der Professor trommelte eine Zeitlang mit den Fingern auf die Tischplatte, rauchte und schaute wie blind vor sich hin. Dann, als sei meine Frage erst in diesem Augenblick in sein Bewußtsein gedrungen und habe ihn aus fernen Welten zurückgeholt, gab er sich einen Ruck und sagte mit einem Kopfnicken: „Nun ja, es war für Sie 195
wohl sehr überraschend, mich hier anzutreffen. Mit einiger Überlegung freilich ist es nicht gar so verwunderlich …“ „Nicht verwunderlich?“ rief ich aufgebracht. „Lyshin ist krank, Sie aber kommen mit den Schlüsseln, die ich Ihrem Schwiegersohn gab, hierher!“ Blagolepow schüttelte den Kopf. „Es sind nicht diese Schlüssel. Ich hab’ einen eigenen Schlüssel zum Labor.“ „Um so unverständlicher ist mir, wie Sie die Krankheit eines Schülers und Kollegen ausnutzen können …“ „Nun mäßigen Sie sich mal.“ Blagolepow schloß halb die Augen. „Ihr Zorn ist verständlich, aber unangebracht. Nahezu ein Leben habe ich gebraucht, um mit dem Herzen, mit meinem Gewissen und schließlich mit dem Verstand zu begreifen, wie recht Francis Bacon hatte, als er sagte, die Wissenschaft sähe die Welt mit Augen, die von jedweden menschlichen Leidenschaften verschleiert seien.“ „Und was sagte Bacon über nächtliche Besuche in fremden Labors?“ Blagolepow senkte den Blick. „Wer im Glashaus sitzt“, erwiderte er, „soll nicht mit Steinen werfen. Im übrigen fällt es mir schwer, Ihnen die Beweggründe zu erklären, die mich hergeführt haben.“ „Möglich, daß ich Ihre Beweggründe nicht verstehe, aber eins will ich Ihnen schon jetzt sagen: Ich werde eine offizielle Zeugenaussage darüber machen, unter welchen Umständen ich Sie hier angetroffen habe.“ Blagolepow musterte mich eingehend, und ich hatte plötzlich das Gefühl, daß in seinen matten Augen, die kaum etwas zu sehen schienen, eine Art Sympathie zu mir aufglomm. „Es gibt kaum noch etwas, womit man mich erschrecken könnte“, sagte er versonnen, „auf eine offizielle Zeugenaussage aber sollten Sie verzichten.“ „So, und weshalb?“ 196
„Wählen Sie sich eine aktivere und interessantere Rolle im Leben als die eines Zeugen. Zeugen tragen die Last fremder Geheimnisse in sich, in ihren Herzen setzt sich der bittere, unauflösliche Sud fremder Leidenschaften ab, und ihr Gedächtnis belagern Erinnerungen an Handlungsweisen, die nicht ihnen selbst gehören. Überhaupt erkennt das Leben nur Kläger an und solche, die Rede und Antwort stehen. Zeugen dagegen laufen bloß nebenher mit, sie sind stets nur Begleiter fremder Ideen und Leidenschaften.“ „Dann gestatten Sie mir die Frage, in welcher Eigenschaft Sie selbst hier sind – als Kläger oder als einer, der Rede und Antwort steht?“ „Eine berechtigte Frage. Ich hätte es niemals gewagt, Ihnen Ratschläge zu erteilen, hätte ich diese Erfahrung nicht am eigenen Leib gemacht. Ein Leben lang war ich bemüht, mich mit einem Zeugenplatz zu begnügen. Ein Leben lang hatte ich große Furcht, Rede und Antwort stehen zu müssen, und war deshalb sehr froh, daß die Kläger mich in Ruhe ließen. Nun ist Schluß mit dieser Angst – mein Lebensfaden ist fast abgespult, und so bin ich hier als Kläger und Verantwortlicher in einem.“ „Gegen wen, wenn ich fragen darf, klagen Sie, und wem stehen Sie Rede und Antwort?“ „Mein Gewissen klage ich an, Rede und Antwort aber stehe ich dem Leben.“ „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, könnten Sie mir das ein bißchen genauer erklären.“ „Als ich herkam, hoffte ich, Ihnen nicht zu begegnen.“ „Sie haben also mit einer solchen Möglichkeit gerechnet?“ „Ja natürlich, ich war fast sicher, Sie zu treffen. Dennoch hoffte ich, es würde nicht der Fall sein und ich um dieses Gespräch mit Ihnen herumkommen. Doch meine Hoffnung hat sich nicht erfüllt …“ „Na, wissen Sie“, murmelte ich. 197
Blagolepow fuhr fort, ohne meinen Einwurf zu beachten: „Ich habe zu Hause eine alte Statuette – die bekannte Triade, wo sich einer die Augen zuhält, der zweite die Ohren, der dritte den Mund. Blindheit, Taubheit, Stummheit – das war das Gebot der Ruhe, wie es die alten Chinesen empfahlen. Ich habe so lange an diesen Talisman geglaubt, bis ich begriff: Wollte man Ruhe erlangen, müßte es noch eine vierte Person geben, eine, die das Gewissen in der Faust hält …“ „In diesem Falle würde das absolute Ruhe, also geistigen Tod bedeuten“, sagte ich. „So ist es.“ Blagolepow nickte melancholisch. „Aber ich habe es zum Glück noch begriffen, bevor sich mein Lebensfaden ganz abgespult hat.“ „Bitte, warum sind Sie hierhergekommen?“ „Um das Werk meines Schülers Wolodja Lyshin zu behüten und meinen Schwiegersohn Sascha Panafidin daran zu hindern, ihn endgültig zu vernichten. Ich bin gekommen, um hier bis zum Morgen auszuharren, bis zu dem Zeitpunkt, da Sie erscheinen und das gesamte Material beschlagnahmen würden.“ „Woher wußten Sie denn, daß Panafidin die Schlüssel zum Labor hat?“ „Von Ljowa Chlebnikow. Er rief mich an und sagte, Sie wollten Panafidin eine Falle stellen …“ Ich ärgerte mich über die Handlungsweise des Chefarztes – niemand hatte ihn gebeten, sich da einzumischen. „Und Sie haben natürlich Panafidin angerufen?“ „Ja. Ich habe ihm angekündigt, daß ich im Labor sein würde.“ „Nun gut, das mag von Ihnen ein loyales Vorgehen gegenüber einem Familienmitglied gewesen sein. Für mich aber ist Panafidin kein Blutsbruder …“ Blagolepow unterbrach mich: „Glauben Sie mir, junger Mann, die Welt besteht nicht nur aus Kriminalisten 198
und Dieben. Es gibt viel diffizilere Beziehungen, und nicht selten tritt der Fall ein, daß jemand mit Gewalt oder durch Drohung vor einer Handlung bewahrt werden muß, die sein ganzes Leben zunichte machen kann.“ „Ist ja großartig, daß Sie und Chlebnikow das begriffen haben. Somit fällt die Rolle des ausgemachten Bösewichts mir zu.“ „Ach was, Bösewicht.“ Blagolepow schüttelte betrübt den Kopf. „Es ist nur so, daß Sie schon allein durch Ihre Anwesenheit hier die ganze Unerbittlichkeit des Gesetzes verkörpern und dem anderen so die Möglichkeit nehmen, sich zu besinnen, einen verhängnisvollen Fehler oder Schritt rückgängig zu machen.“ „Sie sprachen vorhin von Ihrer Rolle eines Klägers beziehungsweise Angeklagten, der Rede und Antwort steht.“ Ich lachte sarkastisch. „Vorerst freilich treten Sie mehr als Panafidins Anwalt in Erscheinung, obgleich niemand Sie in dieser Eigenschaft hergebeten hat.“ „Das Gericht des Gewissens verschickt keine Vorladungen“, sagte Blagolepow leise. „Ich selbst trage ein gut Teil Schuld daran, daß Alexander zu dem wurde, was er ist. Und nicht nur darauf beschränkt sich meine Schuld. Wie sagte doch Plinius? Das Wasser ist so beschaffen wie sein Flußbett. Er hat sich viel Schlechtes von mir abgesehen …“ „Und das wäre?“ „Feigheit und die Bereitschaft zu Ausflüchten und Kompromissen.“ „Ein empfänglicher Mann, Ihr Schwiegersohn.“ „Ja, empfänglich für das Schlechte. Andererseits ist er ein fähiger Mensch, und ich konnte mich nie von einem Gefühl der Schuld ihm gegenüber frei machen.“ „Und deshalb faßten Sie den Entschluß, sicherheitshalber neben Lyshins Safe zu übernachten?“ „Ja, deshalb.“ „Eins habe ich noch immer nicht begriffen: Was woll199
ten Sie eigentlich beschützen – Lyshins Arbeiten oder Panafidin vor sich selbst?“ „Das eine wie das andere. Wäre es Alexander gelungen, nur einen einzigen Blick in Lyshins Unterlagen zu werfen, so hätte Wolodja nicht die geringste Chance mehr gehabt zu beweisen, daß er der erste war, der das Metaproptisol gewonnen hat.“ „Aber Lyshins Notizen, das Labortagebuch, das Präparat selbst – das sind doch Dinge, die nicht aus der Welt zu schaffen sind?“ „Leider hat Lyshin seine Urheberschaft nicht angemeldet. Die Idee aber, die er entwickelt hat, ist in sich so geschlossen, so harmonisch und ausgearbeitet, daß Panafidin, hätte er sie erst mal begriffen, das Präparat innerhalb eines Monats, ach was, in zwei Wochen selbst hergestellt und das Patent in aller Form angemeldet hätte, noch ehe das Metaproptisol in seinem Labor getrocknet wäre. Die Urheberschaft an einer Erfindung wird nun einmal – das ist in der ganzen Welt so üblich – stets dem zuerkannt, der das Patent als erster eingereicht hat.“ Blagolepow verstummte und fuhr dann fort, so als müßte er mir etwas besonders Schwieriges erklären, das ich zu begreifen nicht imstande sei: „Ich will nicht, daß Sascha Lyshins Unterlagen durchsieht. Das würde seinen Tod bedeuten – als Mensch wie auch als Wissenschaftler. Er würde damit sämtliche Brücken hinter sich abbrechen, es gäbe für ihn keinen Weg mehr zurück. Um sein vorgebliches Recht zu beweisen, würde er zu allem bereit sein, vor keiner Schurkerei zurückschrecken, und dieser Sumpf würde ihn schließlich völlig in sich einsaugen.“ Ich schwieg finster, Blagolepow aber, den Blick auf Greisenart in sich gekehrt, schien mit sich allein zu reden, keine Notiz mehr von mir zu nehmen: „Er ist noch jung und kann noch viel im Leben leisten. Natürlich 200
wird es ein Tiefschlag für ihn sein, daß nicht er die Menschheit mit dem Metaproptisol beglückt hat. Er wird sich quälen und fast den Verstand verlieren vor Kummer, Zorn und gekränkter Ehrsucht. Dennoch, ein Mensch kann, ein Mensch darf nicht mit schädlichen und gefährlichen Illusionen leben. Für die Welt den Gönner spielen zu wollen – danach streben gewöhnlich schlechte Charaktere, deren Talent zur Unfruchtbarkeit verdammt ist. Mir kam es darauf an, Sascha rechtzeitig zum Stehen zu bringen, die Ungerechtigkeit aufzuhalten, die sich anbahnte und die Lyshin unglücklich, Alexander selbst aber zu einem gestrauchelten Menschen gemacht hätte …“
18 „Ich hätte gern Inspektor Tichonow gesprochen.“ – „Am Apparat.“ „Meine Frau hat mir Ihre Nummer gegeben.“ „Ja, ich höre …“ „Ich heiße Umar Ramasanow …“ „Guten Tag, Umar Scharafowitsch“, sagte ich, selber verwundert darüber, daß ich mir Vor- und Vatersnamen des Mannes gemerkt hatte. Die Schläfrigkeit, die mich schon den ganzen Morgen geplagt hatte, bewahrte mich vor einem Fehler – sie verlangsamte mein Reaktionsund dämpfte mein Empfindungsvermögen, so daß ich nicht jenem Jagdfieber verfiel, das einen gewöhnlich packt, wenn man jemanden plötzlich greifbar nahe hat, der drei Jahre lang erfolglos gesucht wurde. Die Schläfrigkeit bewahrte mich vor dem natürlichen Reflex des Kriminalisten, sofort zuzufassen. Genauso zurückhaltend und gelassen wie er fragte ich: „Was verschafft mir die Ehre?“ 201
„Ich möchte mich stellen“, sagte der Mann mit farbloser Stimme. „Wie mir scheinen will, ein vernünftiger Entschluß“, erwiderte ich vorsichtig. Ich versuchte meine Benommenheit abzuschütteln und dahinterzukommen, warum sich Ramasanow gerade bei mir meldete. Er kannte unsere Organisation gut genug, um zu wissen, daß seine Angelegenheit Sache des OBCHSS war. Was mich betraf, so war ich mit seiner Familie ja nur wegen der Betrugsaffäre in Berührung gekommen. Als hätte der Mann meine Skepsis gespürt, fuhr er sogleich fort: „Sie sind gewiß erstaunt, daß ich mich ausgerechnet bei Ihnen melde.“ „Aber nein, wieso denn“, sagte ich ausweichend, „ich bin Offizier der Miliz wie jeder andere, folglich ist es gleich, bei wem Sie sich …“ „Nein, das ist es nicht. Ich möchte aus einem ganz bestimmten Grund zuerst mit Ihnen sprechen.“ „Gut, wir können uns jederzeit unterhalten. Wollen Sie hierherkommen oder sich lieber in der Stadt mit mir treffen?“ „Was soll das, Inspektor. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich mich stellen will, also besteht kein Grund, mich mit Ihnen in der Stadt zu treffen. Nur eins bereitet mir Kopfzerbrechen, und ich möchte da gern auf Ihre Fairneß bauen können …“ „Was ist es?“ „Ich fürchte, daß man mich festnehmen wird, sobald ich am Eingang meinen Ausweis vorzeige. Die Fahndung, die seit zwei Jahren läuft, würde dann mit Erfolg abgeschlossen sein – und nichts da mit freiwilligem Stellen.“ „Hören Sie, Ramasanow, wenn Sie sich schon durchgerungen haben, zu uns zu kommen, müßten Sie auch begriffen haben, daß es nicht unsere Art ist, mit solchen Tricks zu arbeiten. Ich werde Sie persönlich am Eingang erwarten.“ 202
Ich legte auf, und langsam fiel die Erstarrung von mir ab. Ich begriff, daß etwas außerordentlich Wichtiges geschehen sein mußte, wenn Ramasanow nach zweijährigem Versteckspiel plötzlich bei mir anrief und den Wunsch äußerte, sich zu ergeben. Nein, es konnten nicht nur Erschöpfung, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit sein, die ihn zu diesem Entschluß getrieben hatten – mußte er doch bereits beim ersten Klingelzeichen in der Leitung das Gefühl haben, das Gefängnisschloß schnappe hinter ihm zu. Ich stellte mir vor, wie der Mann jetzt über den Strastny Boulevard ging, der von farblosem Herbstregen benetzt und um diese Zeit nicht allzu bevölkert war. Der Duft feuchter Erde und faulender Blätter umfing ihn, die kahlen, schwarzen Bäume hatten sich lautlos in ihren Winterschlaf zurückgezogen. Er überquerte die Fahrbahn, die von kleinen Benzinflecken übersät war, und dieser graue, trübe Herbsttag mußte ihm in diesen letzten Minuten seiner Freiheit unsagbar schön und unwiederholbar erscheinen! Großer Gott, wie verfluchte er jetzt vielleicht all die zusammengestohlenen Rubel, das Kristallgeschirr, die Besuche in teuren Restaurants und die Reisen, für die er nun bezahlen mußte – bezahlen mit dieser letzten Stunde seiner Freiheit … Ich rief beim Wachhabenden an und ließ einen ordnungsgemäßen Passierschein für Ramasanow ausstellen. Nicht etwa, daß ich besondere Sympathien für ihn hegte – natürlich hätte ich ihn einfach mit der Bemerkung „Er ist verhaftet“ an dem Posten vorbeiführen können –, doch ich rechnete ihm an, daß er sich von selbst gemeldet hatte. Damit hatte er sich in meinen Augen das geringfügige, für ihn aber wohl sehr wichtige Privileg erobert, unser Dienstgebäude in der Petrowka nicht als Gefangener zu betreten. Ich warf meinen Mantel über, schloß die Tür hinter mir zu und ging die Treppe hinunter zum Eingang. Ich mußte daran denken, daß wir uns einer dem anderen 203
mit jedem Schritt um zwei Schritte näherten und daß, sobald wir uns trafen, eine Haft für ihn begann, deren volle Dauer das Gericht erst sehr viel später festlegen würde. Und obwohl ich eigentlich so etwas wie Freude oder Genugtuung hätte empfinden müssen, weil wieder ein Verbrecher gefaßt war, stellte sich dieses Gefühl diesmal nicht ein. Vielleicht waren die flinken, schwarzen Augen der beiden Knaben auf jenem Sofa schuld daran, unter dem die rotlackierten Feuerwehrautos ausländischer Produktion gestanden hatten. Obgleich wir uns, Ramasanow und ich, noch nie vorher gesehen hatten, erkannten wir uns sofort. Wir begrüßten uns, und er bekam ohne Umstände seinen Passierschein ausgehändigt. In die Rubrik „Ankunftszeit“ wurde 9.45 Uhr eingetragen, die Spalte „Weggang“ freilich würde leer bleiben, denn wenn Umar Ramasanow auch zu Fuß gekommen war, verlassen würde er diesen Ort in einem geschlossenen Wagen, im Volksmund „Grüne Minna“ genannt. Die Begleitposten würden ihn nicht durch den Haupteingang führen, sondern durch den Diensteingang im Hof, wo er keinen Passierschein mehr benötigte. Auch einen Personalausweis würde er dann nicht mehr besitzen – der befände sich in einem Spezialkuvert an der Rückseite seiner Akte. All diese Gedanken bedrückten mich, was nur der richtig verstehen kann, der wie ich von Zeit zu Zeit eine Verhaftung vornehmen muß. Eine Sache, die einem mehr an die Nieren geht, als man im allgemeinen wahrhaben will, und die wirklich keinen Raum für positive Empfindungen läßt. Wir gingen schweigend die Treppe hinauf und durchquerten den Korridor. Ich schloß meine Zimmertür auf, ließ den Mann vorangehen und sagte: „Setzen Sie sich.“ Ramasanow legte den Mantel ab und erwiderte mit einem bitteren Lächeln: „Danke, obwohl … bei Licht besehen, sitze ich ja schon. Darf ich rauchen?“ 204
„Bitte.“ Er hatte eine Aktenmappe bei sich, und als er sie öffnete, um die Zigaretten herauszuholen, bemerkte ich akkurat zusammengelegte Wäsche und so etwas wie ein Stullenpaket. Treusorgende Hände hatten ihn für diesen bitteren Gang gerüstet. Warum, Raschida Abbassowna, dachte ich, haben sich deine treusorgenden Hände nicht schon eher geregt, damals, als es um die gestohlenen Rubel ging, die sie hätten zerreißen sollen, warum hast du deinen Mann nicht neben den schwarzäugigen Kindern festgehalten? Doch was fruchtete es, jetzt war nichts mehr daran zu ändern … Ramasanow rauchte eine Zigarette an und räusperte sich dann, als wollte er ein Gedicht rezitieren oder etwas vorsingen. Er gab sich alle Mühe, Haltung zu bewahren und das Gesicht nicht zu verlieren. Aber bevor er noch zu sprechen anfangen konnte, klopfte es an die Tür, und Posdnjakow schaute ins Zimmer: „Darf man?“ fragte er. „Ja, kommen Sie ruhig herein.“ Posdnjakow ging um Ramasanow herum, der seitlich vom Tisch saß, streckte mir seine wie ein Eichenknorren sperrige, feste Hand entgegen, fuhr sich dann mit einem Kämmchen durch das helle Haar und nahm schließlich korrekt auf einem Stuhl Platz; die Hände legte er auf die Knie. Ich sah zur Uhr – es war eine Minute vor zehn. „Also dann, Umar Scharafowitsch“, sagte ich, „ich höre.“ Posdnjakow zwinkerte verdutzt, doch schon im nächsten Augenblick verschwand jegliche Spur der Verwunderung von seinem länglichen Gesicht. Es sah fast so aus, als hätte er sich am Abend zuvor hier mit Ramasanow verabredet, sei aber ein paar Minuten zu spät gekommen, so daß erst jetzt, nachdem sich der andere hatte eine Weile mit meiner Gesellschaft begnügen müssen, mit der Arbeit begonnen werden konnte. „Über mein Vergehen sind Sie aller Wahrscheinlich205
keit nach informiert“, sagte Ramasanow halb fragend. Ich hatte nun Gelegenheit, sein Gesicht genauer zu betrachten: Es war groß, mit scharfgeschnittenen Zügen, Augen so dunkel, daß sie fast schon ins Violette spielten, eine gewölbte Stirn, die langsam kahl zu werden begann. Er hatte eine leicht bräunliche Haut, die auf den Wangen freilich durch den kräftigen Bartwuchs fast bläulichschwarz wirkte. „Es gibt mehrere Gründe für mein Kommen“, fuhr Ramasanow fort, „ausschlaggebend aber ist wohl, daß ich endgültig begriffen habe, in welcher Sackgasse ich mich befinde. Dabei trieb mich mehr mein Verstand als mein Herz, denn ich war feige, versuchte diesen Tag solange wie möglich hinauszuschieben. Doch heute morgen hat dann der Haß gesiegt, das Verlangen, mich an diesen Schurken zu rächen, diesen Leichenfledderern und Aasgeiern, die weder Gewissen noch Ehre im Leib haben, die nicht einmal davor zurückschrecken, Witwen und Waisen zu berauben …“ Da war nichts mehr von Räuspern und Deklamieren, in seiner Stimme klang Schluchzen mit und brennender Zorn; Ramasanow war nun kaum noch auf Haltung bedacht, er fürchtete auch nicht mehr, das Gesicht zu verlieren. Er schüttelte die Fäuste, und sein dunkelhäutiges, poriges Gesicht war jetzt aschfahl. „So beruhigen Sie sich doch, Umar Scharafowitsch“, sagte ich, „erzählen Sie der Reihe nach.“ „Also gut, der Reihe nach“, sagte er und schien auf einmal in sich zusammenzufallen. „Ich bin bereit, die volle Verantwortung für meine Vergehen zu tragen, und bedaure nur, daß ich mich um weitere zwei Jahre beraubt habe – um jene Zeit, da ich mich dem Gesetz entzog, in der törichten Hoffnung, irgendwie aus der Sache herauszukommen. Jetzt freilich sehe ich, daß es von Anfang an eine große Dummheit von mir war: Bin ich vielleicht ein Spion, der jahrelang illegal leben kann?“ 206
Ich schwieg, weil ich ihn nicht durch Fragen oder Bemerkungen aus dem Konzept bringen wollte. Und so fuhr Ramasanow fort: „Was das für ein Leben war, können Sie daran ermessen, daß ich in diesen zwei Jahren achtzehn Kilo abgenommen habe. Dabei habe ich stets genügend zu essen gehabt, hatte meine Ruhe, lag mitunter tagelang auf dem Sofa und las. Aber die Gedanken an meine Frau, die Kinder, an mich selbst brachten mich um den Verstand. Die Angst war es, die mich so abmagern ließ.“ „Wo haben Sie sich denn die zwei Jahre verborgen gehalten?“ fragte plötzlich Posdnjakow, und ich begriff, daß ihn die Nachlässigkeit und Schlamperei des zuständigen ABV empörten, der es einem strafrechtlich Verfolgten ermöglicht hatte, so lange Zeit unangetastet zu bleiben. Ramasanow drehte sich zu ihm um, sah ihn abschätzend an und erwiderte langsam: „Zuerst lebte ich bei einem Freund in Kassimowo und dann in Kratowo. Auf der Datsche meiner Schwägerin.“ „Hat denn in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal der ABV bei Ihnen vorbeigeschaut?“ fragte Posdnjakow. „Doch, das hat er. Doch die Datsche ist ziemlich groß, ich hatte mich im zweiten Stock eingerichtet. Ich ging nur aus dem Haus, wenn es unumgänglich war, und auch dann bloß bei Dunkelheit. Ich lebte sehr zurückgezogen, ohne die geringste Aufmerksamkeit auf mich zu lenken …“ „Dennoch eine Schlamperei.“ Posdnjakow schüttelte seinen länglichen Kopf. „Ein ABV hat nicht nur am hellichten Tag auf seinem Abschnitt zu sein, er muß wie eine Katze auch bei Nacht alles mit seinen Blicken durchdringen …“ Ich mischte mich noch immer nicht ein, denn ich begann langsam zu ahnen, weshalb mich Ramasanow aufgesucht hatte. Der allerdings war bestrebt, den zudring207
lichen Frager abzuschütteln. „Nicht darum geht es jetzt! Ich bin gekommen, weil mir zwar nicht der ABV, dafür aber diese Banditen auf die Spur gekommen sind …“ „Wann war das?“ Posdnjakow und ich beugten uns gleichzeitig vor. „Gestern abend. Sie jedenfalls haben sich die Mühe gemacht, in den zweiten Stock hochzukommen und mich dort aufzuspüren.“ Ramasanow saß da, die Hände vors Gesicht geschlagen, und schwankte mit dem Körper hin und her wie bei einem Gebet. Ohne die Finger von den Augen zu nehmen, sagte er dumpf: „Richtige Schakale sind das. Sie haben fünftausend verlangt, sonst würden sie mich bei der Miliz anzeigen. Sie wollten aus meiner Angst noch mehr Gewinn schlagen, diese Verbrecher. Allerdings konnten sie nicht wissen, daß ich auch so schon zu Tode verängstigt und eine Steigerung nicht mehr möglich war. Sie wußten nicht, was es heißt, die Kinder nie sehen, die eigene Frau nur des Nachts wie eine Diebin empfangen zu können. Sie wußten nicht, in welchem Maß die Angst an einem zu zehren vermag. Zum Teufel mit einer solchen Freiheit, die tausendmal schlimmer ist als jedes Gefängnis.“ „Und was haben Sie ihnen geantwortet?“ fragte ich. „Was ich geantwortet habe?“ Ramasanow richtete seinen zorngetrübten Blick auf mich. „Ich hab’ gesagt, ich würde ihnen das Geld heute geben – schließlich hätte ich eine solche Summe nicht einfach bei mir. Und ich war fest entschlossen, nicht mit leeren Händen zu Ihnen zu kommen, sondern sie am Schlafittchen zu packen, diese verdammten Räuber, damit ich wenigstens die Genugtuung hätte, sie in der Nachbarzelle zu wissen. Das würde mir die Haft nur halb so bitter machen!“ „Wo wollten Sie ihnen das Geld aushändigen?“ fragte ich. „Im Café ‚Landysch‘ am Kirower Tor.“ 208
„Und wann?“ „Um zwölf. Deshalb hab’ ich mich ja gerade bei Ihnen gemeldet – ich wußte, daß Sie hinter ihnen her sind. Los, fahren wir in das Café, fassen Sie dieses Pack, diese Bestien, und ich gehe leichten Herzens ins Gefängnis …“ Posdnjakow begann unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Ich drehte mich zu ihm um und glaubte auf seinem Gesicht so etwas wie Mitgefühl für Ramasanow zu erkennen. Ich selbst aber war unzufrieden. Ich sagte mir, daß Ramasanow ein wenig zu eifrig gewesen war: Hätte er mehr Vertrauen zu uns gehabt und mir das alles am Telefon erzählt, würden wir die Ganoven mit allergrößter Wahrscheinlichkeit schnappen. So freilich zweifelte ich ernsthaft daran, daß sie zum vereinbarten Treffpunkt kämen. Es war ihnen durchaus zuzutrauen, daß sie Ramasanow gefolgt waren und gesehen hatten, wie er das Gebäude betrat. Doch es wäre sinnlos gewesen, ihm das jetzt zu sagen. „Und nehmen Sie auch das noch“, sagte er unvermittelt und reichte mir ein Notizbuch. „Wem gehört es?“ „Ich fand es in dem Mantel dort“, Ramasanow nickte zu dem Regenmantel an dem Garderobenständer hin, „er gehört ihnen, das heißt einem von ihnen. Der Kerl war ja so verblendet von dem Coup, den sie landen wollten. Außerdem war es warm draußen. Vielleicht ist er aber auch gestohlen, der Mantel, und der Mann hatte sich noch nicht an ihn gewöhnt – jedenfalls vergaß er ihn mitzunehmen. Das Büchlein hier lag in der Tasche …“ Ich blätterte es durch – unter dem Buchstaben „L“ stand Lyshins Dienstnummer. Die Einsatzgruppe, die zusammen mit Ramasanow ins Café „Landysch“ gefahren war, harrte zweieinhalb Stunden aus. Während dieser Zeit saß Ramasanow mit resignierter Miene am Tisch, trank Kaffee und Mineralwasser 209
und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Doch niemand ließ sich blicken – die Ganoven hatten ihn aller Wahrscheinlichkeit nach beobachtet, als er zur Petrowka gegangen war. Am Nachmittag brachten sie Ramasanow wieder zu mir; der Mißerfolg hatte alle Beteiligten verdrießlich gestimmt und ermüdet. „Und Sie kennen wirklich keinen von den Burschen?“ fragte ich, um mich nochmals zu vergewissern. „Ich hab’ sie zum erstenmal gesehen.“ Ramasanow hob die Hände. „Und überhaupt hätte sich wohl schwerlich jemand von den Leuten, die ich kenne, bei mir blicken lassen …“ Er sagte es ohne jeden drohenden Unterton, doch als ich in sein Gesicht schaute, das schmal und kantig war, mit einem gebieterischen Zug um den Mund und böse funkelnden Augen, war ich von der Wahrheit dieser Worte überzeugt. Wer ein bißchen mehr von ihm wußte, würde sich gewiß hüten, ihn auf diese unverschämte Weise zu erpressen. „Gut, dann versetzen wir uns jetzt mal in die Lage der Kerle“, sagte ich und fügte, als ich den verwunderten Blick von Ramasanow sah, erklärend hinzu: „Ich meine, versuchen wir mal, ihrem Gedankengang zu folgen. Damit wir eine neue Begegnung mit ihnen arrangieren können.“ Ramasanow hatte begriffen. Er sagte: „Frage Nummer eins wäre, bei wem von unsern Leuten es Sinn hat abzusahnen. Mit anderen Worten, wo würde sich der Fang lohnen?“ „Wunderbar. So kommen wir der Sache näher.“ „Wen haben sie denn noch alles gerupft – ich meine wenn’s kein Geheimnis ist, natürlich …“ „Es ist kein Geheimnis. Außer Ihnen waren sie auch bei Obojmow.“ „Ist denn so was möglich?“ rief Ramasanow entrüstet 210
aus. „Raschida hat doch extra …“ Er stockte, winkte dann aber ab und fuhr mit einem schiefen Lächeln fort: „Raschida hat seine … äh … seine Frau doch extra gewarnt …“ Ich begriff, daß er sicherheitshalber nicht von der Patschkalina sprechen wollte, und half ihm auf die Sprünge: „Sie waren ja auch nicht bei seiner Frau, sondern bei seiner Geliebten, Jekaterina Patschkalina. Sie haben, nebenbei gesagt, keine schlechte Beute gemacht.“ „Ist klar.“ Ramasanow nickte. „Das geht von jemandem aus, der uns alle genau kennt. Aber wer kann es sein, wer …?“ Die Frage beschäftigte ihn dermaßen, daß er sogar meine Anwesenheit zu vergessen schien. Er blickte durch mich hindurch und murmelte halblaut Namen vor sich hin. Dabei bog er die Finger wie beim Abzählen nach hinten. „Lassen Sie uns gemeinsam nachdenken, Umar Scharafowitsch“, sagte ich, „da kommt bestimmt mehr ’raus.“ „Ach ja, natürlich.“ Er gab sich einen Ruck. „Wen haben die noch aufgesucht?“ „Pontjaga.“ „Was denn, den auch?“ Ramasanow konnte sein Erstaunen nicht verbergen. „Seltsam, wirklich seltsam … Und wen noch?“ „Das wären vorerst alle, vorausgesetzt, es hat nicht jemand vorgezogen zu schweigen.“ „Dann hören Sie mir jetzt mal zu. Natürlich kann ich Ihnen kaum was grundsätzlich Neues bieten, die Sache ist ja schon so gut wie zu den Akten gelegt, doch es gibt da einige Einzelheiten … Details, wenn man so will, die Ihnen vielleicht weiterhelfen. Kann ich mal ein Blatt Papier haben?“ Ich gab Ramasanow den gewünschten Bogen, und während ich seine Personalien ins Vernehmungsprotokoll eintrug, machte er sich eifrig ans Schreiben und Skizzieren. Bald darauf war er fertig und sagte: „Aus den 211
Akten ist Ihnen gewiß bekannt, daß wir vom Lagerverwalter Chasanow Rohmaterial zu erhöhten Preisen erhielten und in unserer Werkstatt daraus ‚schwarze Ware‘ herstellten – in der Hauptsache Damen- und Trainingsanzüge. Es waren ziemlich teure Sachen: etwa fünfzig Hosenanzüge pro Monat und genausoviel Trainingsanzüge – das brachte uns im Schnitt zehn Riesen ein … na ja, zehntausend also … Abgesetzt wurde die Ware in sechs Läden. Unsere Fahrer Jesskin und Tanzjura brachten das Zeug hin. Sie waren es auch, die dort das Geld kassierten und an uns weitergaben. Die Verkäufer bekamen dreißig Prozent vom Gewinn …“ „Dreitausend also“, konstatierte ich. „Fünfhundert pro Laden.“ „Nicht so schnell, Inspektor. Es wurde nicht zu gleichen Teilen geteilt. Die Läden sieben und einundzwanzig erhielten je siebenhundertfünfzig im Monat, die Nummer zweiundfünfzig bekam fünfhundert, die einunddreißig und die neunzehn je vier- und die Nummer hundert zweihundert.“ Seit sich Ramasanow in die Zahlen und Berechnungen vertieft hatte, war er ruhiger geworden, die hektische Röte auf seinen Wangen hatte sich gegeben. Er rechnete schnell und bewies dabei ein gutes Gedächtnis. Geschäftig erklärte er: „Der Buchhalter Ryshkow, der Werkmeister Lyssoiwanenko und Remesow erhielten je zwei Prozent der ‚Prämiengelder‘ – macht insgesamt sechshundert. Der Brigadier Belowol und der Lagerverwalter Chasanow waren mit je fünf Prozent beteiligt; genausoviel bekamen auch Jesskin und Tanzjura …“ „Sie wollen auf diese Weise herausfinden, bei wem es sich am meisten lohnte?“ fragte ich. „Das weiß ich auch so“, erwiderte Ramasanow spöttisch. „Ich möchte vor allem den Gedanken dieser Kerle folgen, herausfinden, wer nach ihrer Meinung die dicksten Brieftaschen hat.“ 212
„Klingt vernünftig“, sagte ich, „und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?“ „Werfen wir einen Blick auf die Liste und lassen die ‚Ärmeren‘ gleich mal weg. Das sind der Buchhalter Ryshkow, Lyssoiwanenko und Remesow. Und auf die Geschäfte bezogen, sind das die Nummern zweiundfünfzig, einunddreißig, neunzehn und hundert.“ „ ‚Ärmer‘ ist gut“, sagte ich empört, „die Kerle haben vier- bis fünfhundert im Monat kassiert. Und das zusätzlich zum Gehalt!“ „Nicht so voreilig, Inspektor“, sagte Ramasanow belehrend, „man sieht gleich, daß Sie sich in diesen Dingen nicht auskennen. In den betreffenden Läden hatten wir jeweils drei Kompagnons, in der Nummer zweiundfünfzig waren es sogar vier. Da reichten die Mäuse mal grade für einen Besuch in der Schaschlykstube und für die Sauna.“ Ich zuckte mit den Schultern, und Ramasanow fuhr friedfertig fort: „Befassen wir uns besser mit den anderen, mit dem Brigadier Belowol zum Beispiel. Wenn diese Schakale ihn nur ein bißchen kennen, lassen sie die Hände von ihm.“ „Wieso denn das?“ fragte ich. „Nach Ihren eigenen Berechnungen konnte er in drei Jahren an die fünfzehntausend kassieren!“ „Sogar noch mehr. Doch bei ihm würde die Nummer nicht ziehen.“ „Und weshalb nicht?“ „Früher wurden im Kino manchmal Kulaken gezeigt – im langen Schafpelz und mit einer Axt oder einem Gewehr bewaffnet. Dieser Belowol ist so ein Typ, er kann einem direkt Angst einjagen. Keinen Groschen haben Ihre Leute bei ihm gefunden. Ein wackliger Tisch und ein verrostetes Eisenbett – das war seine ganze Habe. Dabei wußte jeder in der Werkstatt, daß er sich wegen ’ner Kopeke fast umbrachte oder, besser gesagt, den andern an den Kragen ging.“ 213
„Ist klar, weiter …“ „Oder der Lagerverwalter Chasanow. Bei dem sieht’s noch anders aus. Ich will nicht zuviel sagen, aber er hat außer bei uns seine Hände auch bei anderen im Spiel gehabt. Bei dem wär’ also hundertprozentig was zu holen. Und nun zu Jesskin und Tanzjura, die die Ware ranschafften: Trotz genauer Haussuchung wurde nicht allzuviel bei ihnen gefunden – etwa anderthalbtausend pro Mann. Das heißt also, es muß noch was dasein. Sie sind ja ordentliche Burschen und trinken mit Verstand …“ Ramasanow lächelte spöttisch, und in seine Augen kam so etwas wie ein warmer Glanz, als er fortfuhr: „Hauptsächlich auf meine Kosten übrigens. Aber ich hab’ nichts dagegen, sie waren gute Gehilfen und sind ehrliche Kerle.“ „Bleiben noch die Läden sieben und einundzwanzig“, sagte ich nach einem Blick in Ramasanows Notizen. „Ja, die verstanden sich aufs Geschäft“, erwiderte Ramasanow bedauernd. „Sieben- bis achthundert Rubel im Monat allein von uns. Dazu noch andere Einnahmen, über die sich hier aber nicht zu reden lohnt …“ „Wieso lohnt das nicht?“ fragte ich mehr mechanisch. „Weil das mit unsrer Sache nichts zu tun hat und ohnehin nicht in Ihren Bereich fällt.“ „Ah so, na auch gut. Zurück zu denen aus den Läden.“ „Die sieben entfällt“, sagte Ramasanow nachdenklich. „Das Ehepaar Abramow ist bereits bei der Haussuchung bis aufs Hemd ausgezogen worden. Sie hatten ihren Anteil bis zur letzten Kopeke zu Hause deponiert, und Ihr Genosse Sawostjanow hat auch alles einkassiert. Selbst die Steine – ein paar Brillanten, die die beiden in einer Büchse mit Salz aufbewahrten – haben sie gefunden. Übrigens sind sie nicht nur losgeworden, was sie durch uns verdient hatten, sondern auch alles andere.“ „Bleibt also noch die Nummer einundzwanzig. Geschäftsführer dort war Lipkin.“ 214
„Ja. Dieser Lipkin ist ein Mann mit Verstand“, sagte Ramasanow bestimmt und mit einer gewissen Achtung. „Ich an Stelle der Banditen würde mich an ihn halten …“ „Bleibt noch eine ungeklärte Frage“, sagte ich. „Wie ist das mit Pontjaga? Hat der denn so viel durch euch kassiert?“ „Eben nicht!“ Ramasanow zog ärgerlich die Brauen zusammen. „Ich überlege ja selber die ganze Zeit, warum sie den aufs Korn genommen haben. Aber ich kann mir schon denken, warum.“ „Ja und?“ „Da gab’s mal vor langer Zeit so ’ne Geschichte. Eines Tages hatte ich ihm einen Posten Waren abgetreten, den er selbst vom Lager abholen mußte. Nun weiß ich nicht – hat er’s mit der Angst zu tun bekommen oder war sonstwas, jedenfalls hat er die Sachen nicht schwarz gehandelt, sondern ganz regulär verkauft. Der Teufel soll ihn holen, dachte ich damals, danach aber brachte irgendwer das Gerücht auf, ich hätte über Pontjaga einen großen Batzen Ware abgesetzt, und zwar heimlich, hinter dem Rücken meiner Leute. In die eigene Tasche, gewissermaßen. Es gab einen Riesenkrach, Obojmow hätte mir in der Sauna beinahe mit der Bierflasche eins über den Schädel gegeben. Ich hab’ die Sache richtiggestellt, war ja nicht allzu schwierig, und er hat sich beruhigt. Die andern waren uns egal … Wie wir freilich jetzt sehen, hat das Gerücht seine Wirkung nicht verfehlt.“ Ich schrieb hastig das Protokoll zu Ende. Ramasanow war verstummt und sah nachdenklich durchs Fenster. Er schaute betrübt zum Himmel, an dem graue Wolkenfetzen dahinzogen. Sawostjanow rief mich an: Der Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft war gekommen, um Ramasanow abzuholen. An der Tür blieb Ramasanow noch einmal stehen, sah mich mit einem langen Blick an, und es war deutlich zu spüren, daß er noch etwas sagen wollte. 215
Doch er unterließ es, seine Lippen verzogen sich kläglich, er winkte resigniert ab und ging hinaus – in die Unfreiheit, vor der er sich so beharrlich versteckt und zu der er sich doch selbst verurteilt hatte … Wenn ich Erfolge hatte, dann waren sie selten dem Zufall zuzuschreiben, sondern meistens ein Ergebnis von Fleiß und Beharrlichkeit. Diesmal jedoch meinte es der Zufall gut mit mir; er erleichterte mir die Arbeit, indem er die Anzahl der möglichen Varianten stark einschränkte. Jesskin, der Fahrer, war vor seiner Verhaftung ledig gewesen und hatte auch sonst keine Bindungen, so daß sein Zimmer versiegelt und nach dem Prozeß an einen Fremden vermietet worden war. Die Betrüger hatten an dieser Wohnung folglich keinerlei Interesse. Stepan Tanzjura hingegen war, wie sich herausstellte, gar nicht in Moskau gemeldet, sondern wohnte außerhalb, bei einem Bruder, zu dem er, wie mir der zuständige ABV bereitwillig erklärte, „ausgesprochen schlechte Beziehungen hatte“. Sie hätten fast schon zu Handgreiflichkeiten geführt. Die nüchterne Information der Gebietsmiliz lautete, daß „N. Tanzjura im Zusammenhang mit seiner Festnahme der oben erwähnte Wohnsitz entzogen sei“. Der liebende Bruder hatte es mit diesem Rechtsbeschluß sehr eilig gehabt – er hatte ihn gleich am ersten Tag nach Tanzjuras Verhaftung erwirkt. Mit dem Lagerverwalter Chasanow verhielt es sich etwas komplizierter: Er hinterließ in Moskau Familie und Wohnung sowie, nach Ramasanows Berechnungen, eine hübsche Summe. Gleichzeitig aber hatte Ramasanow erzählt, daß seine Familie mit der Chasanows befreundet war. Sie gingen bisweilen gemeinsam in ein Restaurant oder besuchten sich gegenseitig. Die Betrüger mußten diesen Fakt in Rechnung stellen und darauf gefaßt sein, daß die Ramasanowa ihre Freundin warnte. Natürlich war nicht ausgeschlossen, daß die Dreistigkeit der Kerle überwog und sie entgegen aller Logik bei 216
den Chasanows aufkreuzten. Diese Möglichkeit durfte ich nicht außer acht lassen. Dennoch stellte sie nur eine Nebenvariante für mich dar, so daß für den nächsten Fischzug der Betrüger „der Mann mit Verstand“ – Lipkin – in Frage kam.
19 Die Fenster des Labors waren nicht beleuchtet. Ich trat ein und erkannte im abendlichen Halbdunkel den kantigen Rücken Posdnjakows, der am Tisch einer Frau gegenübersaß. Ich knipste das Licht an, und nach der Finsternis erschien mir der Schein der verstaubten Kugellampe blendend hell. Die Frau führte unwillkürlich die Hand an die Augen, um sich abzuschirmen – es war die Laborantin Alexandrowa. Und in diesem Augenblick fiel mir endlich ein, wo ich sie früher schon mal gesehen hatte. Posdnjakow und die Alexandrowa tranken Tee. Auf dem Elektrokocher summte gemütlich ein kleiner blauer Teekessel, ein Schälchen mit Würfelzucker stand auf dem Tisch. Ich aber lehnte am Türrahmen und fürchtete, die unerwartet aufgetauchte Erinnerung durch eine versehentliche Bewegung zu verschütten. Die Alexandrowa warf mir einen scheelen Blick zu und sagte: „Unter gesitteten Menschen ist es üblich, guten Tag zu sagen …“ „Guten Tag“, sagte ich, „entschuldigen Sie, ich war noch nicht dazu gekommen.“ „Aha.“ Sie nickte. „Demnach bringen Sie Ihren Gruß wohl erst an, wenn Sie wieder gehen?“ „Auch das kommt vor“, erwiderte ich. „Sie zum Beispiel habe ich in der Tat einmal begrüßt, als ich bereits im Aufbruch begriffen war.“ 217
Sie zuckte verständnislos die Schultern. „Es fiel mir noch zur rechten Zeit ein“, fügte ich leise hinzu. „Lieber spät als gar nicht.“ „Das ist wahr. Es wär’ mir wahrscheinlich auch so noch eingefallen, aber dann hätte es in der Tat zu spät sein können.“ Ich lachte und nahm ebenfalls am Tisch Platz. Die Alexandrowa schaltete den Kocher aus und drehte mir den Rücken zu. Posdnjakow schlürfte voller Wohlbehagen den restlichen Tee aus und sagte gemessen: „Der Arbeitstag dieser Dame ist zwar schon zu Ende, doch ich hab’ sie gebeten, mir noch ein bißchen Gesellschaft zu leisten, bis Sie kommen.“ Dabei zwinkerte er mir unauffällig zu. Gut gemacht, Alter, dachte ich. Folglich täuschte ich mich nicht, sie kommt ihm gleichfalls bekannt vor. Aber klar doch, als der pflichtbewußte ABV, der er ist, muß er sie einfach gesehen haben! Auch wenn sich ihm diese markante Geste, wie sie die Hand an die Augen führt, nicht einprägen konnte. Er hat die Frau zwar nicht wie ich auf dem Foto gesehen, dafür aber in natura! „Ich müßte Sie mal kurz sprechen, Stanislaw Petrowitsch“, sagte Posdnjakow verlegen: Er wollte mir seine Entdeckung mitteilen, denn er konnte nicht wissen, daß ich mich an ein Foto erinnerte, das in einer gewissen Situation durch die Luft gewirbelt und mir schließlich vor die Füße gefallen war. „Später, Andrej Filippytsch, jetzt hab’ erst mal ich was mit der Bürgerin Alexandrowa zu besprechen.“ „Aber ich muß Ihnen etwas mitteilen.“ Er wies mit den Augen zur Tür. Er hatte keine Ahnung, wie lange mir schon das Gesicht dieser Frau geistig vor Augen war, wie sehr ich mich abgequält hatte, es mit der Patschkalina in Beziehung zu bringen, ohne auch nur im entferntesten auf die Idee zu kommen, daß der Betrüger unter der Telefonnummer Lyshins, die in seinem Notizbuch 218
stand, ja nicht unbedingt hatte den Chemiker selbst anrufen müssen. „Ich weiß, was Sie mir sagen wollen, Andrej Filippytsch“, sagte ich beruhigend und wandte mich wieder der Frau zu. „Wird das noch lange so weitergehn?“ fragte die Alexandrowa ärgerlich. „Ich muß jetzt nach Hause, ich hab’ nicht die Absicht, noch länger hier herumzuhocken.“ „Tut mir leid“, sagte ich, „aber Sie müssen uns schon noch ein Weilchen Gesellschaft leisten.“ „Wie soll ich das verstehen?“ fragte sie herausfordernd. „Genau so, wie ich es gesagt habe. Setzen Sie sich wieder hin, wir haben eine Menge miteinander zu besprechen.“ „Ich denk’ nicht dran!“ Sie funkelte böse mit den Augen. „Ich hab’ genug von dem Unsinn und werde jetzt nach Hause gehn.“ „Setzen Sie sich“, sagte ich, ohne die Stimme zu heben. „Sie sind festgenommen – in einer Stunde fahre ich zum Staatsanwalt und hole den Haftbefehl für Sie ab. Anschließend schicke ich Sie ins Gefängnis.“ „Sie haben wohl den Verstand verloren“, flüsterte sie mit blassen Lippen – sie waren vor Schreck starr geworden und gehorchten ihr nicht mehr. „Sie müssen den Verstand verloren haben …“ „Nein, der ist gottlob noch intakt. Und nun antworten Sie, aber ein bißchen schnell: Kennen Sie Professor Panafidin?“ „Natürlich. Er hat ein paar Vorlesungen bei uns gehalten, und wir hatten auch sonst immer mal miteinander zu tun.“ „Eine andere Beziehung existiert zwischen Ihnen nicht?“ Ich gab mir Mühe, die Frau nicht anzusehen. „Wieso fragen Sie danach? Mit welchem Recht? Und was soll der drohende Unterton?“ „Ich drohe Ihnen keineswegs. Wie ich schon sagte – 219
in einer Stunde lege ich Ihnen die offizielle Beschuldigung vor …“ „Aber was werfen Sie mir vor?“ „Ihre Teilnahme an einem besonders schweren Verbrechen. Sie haben achtzehn Gramm Metaproptisol gestohlen, durch das Hauptmann Posdnjakow, den Sie eben so freundlich mit Tee bewirtet haben, beinahe umgebracht worden wäre.“ Die Alexandrowa richtete ihren Blick voller Entsetzen auf den ABV, der ungerührt auf einem Hocker vor der Tür saß und eingehend seine dreckverschmierten Schuhe musterte. Er tat das, als bestünde seine einzige Furcht darin, sich vor der Laborantin wegen dieses Schmutzes, dieser Schlamperei zu blamieren. „Ich frage Sie noch einmal: Welche Beziehungen bestanden zwischen Ihnen und Panafidin?“ „Er hat mir ein bißchen den Hof gemacht“, sagte sie, und in ihrer Stimme schwang Unsicherheit. „Was heißt – den Hof gemacht? Hat er Sie zum Tanzen ausgeführt, Ihnen Maiglöckchen geschenkt? Oder war es mehr?“ fragte ich mit Nachdruck. Mein Gott, wie war ich doch im Finstern herumgetappt, wo sich die Sache so einfach verhielt! Wieso war ich bloß nicht früher draufgekommen? „Also was ist, war es mehr?“ „Ja“, preßte sie mühsam hervor. „Wir waren intim miteinander …“ Fein hast du das wieder hingekriegt, Alexander Panafidin, du meisterst das Leben! Hofftest du den Tag zu sprengen, Jahre oder gar das ganze Leben wie ein erfolgreicher Spieler die Bank? „Wollen Sie selbst erzählen, oder soll ich Ihnen Fragen stellen?“ „Ich weiß doch nicht, was Sie interessiert“, sagte sie und sah mich nun nicht mehr wütend, sondern eher ängstlich, ja fast verzeihungheischend an. „Wann begann Ihr Verhältnis mit Panafidin?“ 220
„Vor zwei Jahren. Wir begegneten uns zufällig, kamen ins Gespräch und vereinbarten einen Treff.“ „Zeigte Panafidin Interesse an Lyshins Forschungen?“ „Ja, wir sprachen des öfteren über die Arbeit.“ „Dennoch haben Sie ihm nichts über Lyshins Versuche erzählt. Warum nicht?“ „Weil ich allmählich den Eindruck gewann, daß ihn an unserer Beziehung nur das interessierte. Ich hatte nicht die Absicht, mich von ihm wie eine dumme Gans an der Nase herumführen zu lassen. Von seiner Frau wollte er sich ohnehin nicht trennen. Das hat unseren Bruch dann auch beschleunigt …“ Wieder führte sie nervös die Hand an die Augen, und ich sagte mir, daß wohl vieles nicht passiert wäre, hätte ich mich rechtzeitig dieser Geste entsonnen. Aber ich hatte sie die Bewegung ja vorhin zum erstenmal ausführen sehen, früher war nur dieses Foto mit dem hübschen jungen Mädchen gewesen, das sich mit der einen Hand gegen die Sonne abschirmte, mit der anderen einen schmucken Burschen um die Schulter faßte. Einen Burschen, ungefährlich wie ein Schwalbenschwanz-Schmetterling, der für Jazz schwärmte und als Malermodell arbeitete: Boris Tschebakow. „Und Ihr Bruch mit Panafidin hat dann die Bekanntschaft mit Boris Tschebakow beschleunigt“, sagte ich langsam. „Einen feinen Freund haben Sie sich zugelegt – einen Banditen und Betrüger. Na, jedenfalls ging die Trennung von Panafidin aus.“ „Wie kommen Sie zu dieser Annahme?“ begehrte die Alexandrowa auf. „Weil Sie Tschebakow zur Eifersucht anstachelten, um sich an Panafidin zu rächen. Ich lege meine Hand ins Feuer, daß Sie Ihrem neuen Freund des öfteren drohten, zu Ihrem Professor zurückzukehren. So lange, bis Sie ihn dazu gebracht haben, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.“ 221
„Was denn für Fliegen?“ „Tschebakow hat damit gerechnet, daß er uns in die Irre führte, wenn er das restliche Metaproptisol Panafidin unterjubelte. Gleichzeitig hoffte er, dem Professor eins auszuwischen. Doch nicht darum geht’s im Augenblick. Ich will wissen, weshalb Sie Tschebakow das Metaproptisol gaben.“ „Ich hab’s ihm nicht gegeben, er hat es sich selbst genommen.“ „Wie ist denn das möglich?“ „Lyshin fuhr eines Tages nach Woskressensk ins Chemiekombinat, und Boris besuchte mich hier im Labor. Kurz vorher hatten wir das Präparat erstmals gewonnen, und ich war natürlich gleichfalls stolz darauf. Ich konnte mich nicht zurückhalten, prahlte ein bißchen und zeigte ihm das Reagenzglas mit dem Metaproptisol. Er nahm es in die Hand, betrachtete es, fragte mich über seine Eigenschaften aus, dann schüttete er plötzlich ein Teil davon in ein leeres Röhrchen. Ich schimpfte, schrie ihn an, aber er gab es mir nicht wieder. Was sollte ich tun – ich konnte mich deswegen doch nicht mit ihm prügeln! Außerdem konnte ich mir einfach nicht vorstellen, was er damit hätte anstellen sollen.“ „Und er, wozu brauchte er nach seiner Meinung das Metaproptisol?“ „Er sagte halb im Scherz, halb im Ernst, daß er sich damit vergiften würde, wenn ich mich von ihm trennte. Er würde eine große Dosis davon einnehmen und für immer einschlafen.“ Posdnjakow machte sich in seiner Ecke zu schaffen, hüstelte und sagte dumpf: „Die Drohung hat er wahrgemacht, allerdings nicht an sich selbst. Die Hälfte von dem Zeug hat er in mich reingekippt, den Rest dem Professor angehängt. Solche Parasiten legen niemals Hand an sich – die kann man selbst mit Arsen nicht ausrotten …“ 222
„Sagen Sie“, fuhr ich fort, „sind Sie hier im Labor von jemandem angerufen worden mit der Bitte, Tschebakow etwas auszurichten?“ „Ja, ein Mann hat mehrmals angerufen.“ „Und was sollten Sie ausrichten?“ „Ach, nichts Besonderes. Ich sollte Boris sagen, daß Nikolaj gekommen sei.“ „Das war alles?“ „Ja.“ „Wie reagierte Tschebakow darauf?“ „Er gab irgendwelche Erklärungen ab, an die ich mich nicht mehr erinnere. Ich nahm das nicht so wichtig.“ Ich überlegte einen Augenblick, dann fragte ich möglichst gleichgültig, so als würde ich diesem Punkt keine sonderliche Bedeutung beimessen: „Wann kam der letzte Anruf?“ „Gestern.“ „Und Sie haben Tschebakow benachrichtigt?“ „Noch gestern. Wir waren verabredet, und ich hab’s ihm ausgerichtet.“ „Dann lassen Sie uns jetzt mal gemeinsam nachdenken – wann erfolgten die früheren Anrufe?“ Die Alexandrowa gab sich redliche Mühe. Sogar die Angst hatte sich etwas verloren; in ihren Augen brannte ein fiebriger, trockener Glanz. Sie war ganz Konzentration und versuchte sich der winzigsten Details zu entsinnen, um sich an die genauen Daten heranzutasten, an denen die Freunde ihres geliebten Boris wegen telefoniert hatten. Sie leistete keinerlei Widerstand, spielte, wie’s schien, ein ehrliches Spiel mit mir – ihr lag plötzlich viel daran, ihren schönen Galan zu entlarven. Sie holte aus ihrer Erinnerung herauf, was sie an dem jeweiligen Tag getragen und im Kaufhaus GUM erstanden hatte, in welchem Kino sie welchen Film sahen und daß es damals Lachsbrötchen am Büfett gab, sie entsann sich, am Morgen mit ihrer Mutter gestritten und der 223
Freundin ihren japanischen Miniknirps geliehen zu haben. Bei ihrem Reden aber ging eine erstaunliche Wandlung mit ihr vor – sie war überhaupt nicht mehr hübsch. Ich führte diese Befragung noch eine Weile fort und kam – einige Ungenauigkeiten in ihren Aussagen einkalkuliert – zu dem Ergebnis, daß sämtliche Fischzüge zwei bis drei Tage nach jenem Zeitpunkt erfolgt waren, da der unscheinbare und jetzt so stille Telefonapparat dort auf dem vollbepackten Schreibtisch geklingelt und eine unbekannte Männerstimme mitgeteilt hatte, daß Nikolaj eingetroffen sei. Was einigen Leuten in der Folge Kummer bereitet hatte. Es war halb acht. Ich erhob mich und sagte zu Posdnjakow: „Sie, Andrej Filippytsch, fahren jetzt mit der Bürgerin Alexandrowa zur Petrowka. Ich rufe den Wachhabenden an und veranlasse, daß ihre Aussagen zu Protokoll genommen werden. Ich selbst knöpfe mir Tschebakow vor, diese Schabe, und bringe ihn gleichfalls ins Amt. Eine kleine Gegenüberstellung der armen Verliebten.“ „Wär’s nicht besser, ich würde Sie begleiten?“ fragte Posdnjakow. „Nein, ausgeschlossen – wir haben keine Zeit mehr. Halten Sie sich gar nicht erst in der Petrowka auf, fahren Sie sofort zu den Lipkins – unseren Berechnungen zufolge wird der nächste Coup bei ihnen stattfinden. Wenn der Mann gestern angerufen hat, so bedeutet das, sie werden morgen oder übermorgen dort aufkreuzen. Sprechen Sie mit den Leuten, bereiten Sie sie auf die Sache vor, prüfen Sie die Möglichkeiten für einen Hinterhalt durch uns. Sie rufen mich von dort aus an, dann sprechen wir ab, was weiter zu tun ist. Durchaus möglich, daß wir schon heut nacht ein paar unsrer Leute hinschicken.“ „Zu Befehl“, sagte Posdnjakow, und in seiner undurchdringlichen soldatischen Gelassenheit glaubte ich 224
so etwas wie Verdruß zu erkennen. Er wandte sich zur Alexandrowa und sagte leise, doch trocken und bestimmt: „Ziehen Sie Ihren Mantel an, Bürgerin. Wir fahren zur Petrowka …“
20 Ich stand vor der Tür und überlegte, ob Tschebakow die Pistole des ABV bei sich zu Hause aufbewahrte. Doch die Wahrscheinlichkeit war gering. Was sollte er mit ihr, wo er doch so ungefährlich war wie ein SchwalbenschwanzSchmetterling, der Bandit. Ich drückte auf den Klingelknopf, und die Tür wurde augenblicklich geöffnet, so als wäre ich erwartet worden. „Ach Sie …“ Boris Tschebakow konnte einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken. Natürlich war nicht ich es, den er erwartet hatte. „Guten Tag“, sagte ich. „Tag.“ Er nickte. „Inspektor Tichonow, wenn ich nicht irre?“ „Sie irren nicht, Tschebakow. Sie irren sich überhaupt selten.“ „Was verschafft mir die Ehre?“ Tschebakow stemmte unbeeindruckt die Arme in die Seiten; er trug einen eleganten, gestickten Hausrock und Goldpantoffeln mit Schnabelspitze an den bloßen Füßen. Mich ins Zimmer zu bitten, beabsichtigte er anscheinend nicht – wir unterhielten uns im Korridor. In seinem Prachtstück von Morgenrock und den Sultanspantoffeln, umgeben von unzähligen Fotos und Skizzen, die seine hübschen Muskeln und den wohlgebauten Körper zur Schau stellten, fühlte er sich mir gegenüber, der ich durchnäßt, erschöpft und ausgehungert war, offensichtlich überlegen. Zumal ich kein solch schmuckes Kleidungsstück trug wie 225
er, sondern einen gewöhnlichen grauen Regenmantel ungarischer Produktion, wenn ich nicht irre. „Was verschafft mir die Ehre?“ fragte er zum zweitenmal. Seinem Gesicht war nicht anzumerken, ob ihn mein Auftauchen beunruhigte oder ob er es für einen Zufall hielt. Ich war nahezu sicher, daß er keine Waffe im Haus hatte, andererseits wollte ich jegliches Risiko ausschalten. „Was Ihnen die Ehre verschafft?“ sagte ich und entsicherte meine Pistole in der Jackentasche. „Ihre erstaunliche Fähigkeit, sparsam zu leben. Und nun Hände hoch, Tschebakow, Sie sind verhaftet!“ Er hob langsam wie ein Schlafwandler die Hände, der Hausrock öffnete sich über der Brust und gab den Blick auf die muskulöse Brust unter der glatten weißen Haut frei. Wie er so dastand, Tschebakow, mit erhobenen Armen, bekam er Ähnlichkeit mit einem seiner Fotos, auf dem er eine Kugel über den Kopf hielt – offenbar hatte er da Modell für eine Sportskulptur unter dem Motto „Schneller, weiter, höher!“ gestanden. „Umdrehen!“ befahl ich, und er gehorchte augenblicklich. Ich tastete die Taschen seines Hausrocks ab – nichts. „Gehen Sie ins Zimmer!“ Ich nahm im Sessel Platz und sah mich im Raum um. Nichts hatte sich hier verändert, noch immer schritten die riesigen schwarzen Füße über die Zimmerdecke. „Ziehen Sie sich an, und packen Sie ein paar Sachen zusammen“, sagte ich. „Kann ich die Hände wieder herunternehmen?“ „Sie können. Gürtel und Schnürsenkel lassen Sie gleich weg, die brauchen Sie nicht. Auf die Krawatte können Sie ebenfalls verzichten, ziehen Sie am besten einen Pullover an.“ „Aber die Hose rutscht doch ohne Gürtel?“ „Dann halten Sie sie mit den Händen fest, das hindert Sie wenigstens daran, zu türmen oder sonstwelche 226
Dummheiten zu machen. Was Sie reingeritten hat, ist der Müßiggang. Unser Chef, mit dem Sie gleich Bekanntschaft schließen werden, pflegt zu sagen, daß ein müßiger Geist die Werkstatt des Teufels ist.“ „Könnten Sie nicht rausgehen, bis ich mich angezogen habe? Es ist mir peinlich, mich vor Ihnen zu entkleiden.“ Ich lachte schallend. „Das sagen Sie, Tschebakow? Woher auf einmal dieses Schamgefühl? Na, los jetzt, ein bißchen dalli. Hören Sie auf mit den Mätzchen, die ziehn bei mir nicht.“ Er setzte sich aufs Sofa, legte den Hausrock ab, streifte sich ein Hemd über. Dann nahm er eine Hose zur Hand, überlegte es sich aber und zog eine andere an. Er bückte sich, holte ein Paar Socken unter dem Sofa hervor, zog die Schuhe zu sich heran und dabei, wie versehentlich, auch eine Hantel. Ich klopfte mit der Pistole auf den Tisch und sagte: „Für Übungen mit der Hantel ist jetzt keine Zeit, Tschebakow. Glauben Sie mir, es ist besser, Sie rühren sie gar nicht erst an. Bei Ihrem Beruf würden ein paar Löcher in diesem Schmuckstück von Körper nur der Karriere schaden. Und überhaupt möchte ich Sie warnen. Lassen Sie sich ja nicht einfallen, einen sportlichen Wettkampf mit mir zu veranstalten – egal, in welcher Disziplin. Ich schieße Sie einfach nieder, ist das klar!“ „Klar“, sagte er und schleuderte die Hantel mit einem kräftigen Stoß unters Sofa. „Ich möchte Sie was fragen.“ „Bitte sehr.“ „Unter welcher Beschuldigung nehmen Sie mich fest? Was werfen Sie mir vor, und welche Beweise haben Sie gegen mich?“ Ich musterte ihn aufmerksam, denn ich wollte herausfinden, was er mit seinen Fragen bezweckte: Wollte er sich vergewissern, wie es um ihn stand, oder war das die übliche Tour eines Ganoven, der die Litanei von der Beschwerde bei höheren Instanzen anstimmt, wenn er 227
gefaßt wird. Ich war mir nicht sicher, dennoch wagte ich es, in die Offensive überzugehen. Immerhin war er noch halb geschockt durch die Überrumpelung. „Ihnen wird vorgeworfen“, sagte ich, „eine Verbrecherbande gegründet und mit dem Ziel angeführt zu haben, sich auf betrügerische Weise Geld und Wertsachen zu verschaffen. Indem Sie sich als Angehöriger der Miliz ausgaben, diskriminierten Sie deren Ansehen. Um Ihre Pläne verwirklichen zu können, benötigten Sie eine Waffe und einen entsprechenden Dienstausweis. Deshalb wurde der Abschnittsbevollmächtigte Posdnjakow Ihr erstes Opfer. Nun, habe ich alles richtig dargelegt?“ „Horrender Unsinn ist das, wenn auch nicht uninteressant. Sehen Sie nicht den gewaltigen Widerspruch? Selbst wenn wir spaßeshalber einmal annehmen wollten, daß Sie recht hätten – weshalb sollte ich ausgerechnet über Posdnjakow herfallen? Kein Wolf jagt im eigenen Dorf!“ „Aber nicht doch. Wölfe sind Tiere ohne Verstand. Sie dagegen sind ein Mann, der denken kann und seinen verbrecherischen Plan genau durchdacht hat. Es ist doch erwiesen, daß Ihnen Posdnjakow schon lange ein Dorn im Auge war. Sie hatten alle Veranlassung, ihn ernstlich zu fürchten. Das zum ersten. Außerdem kannten Sie seine Gewohnheiten gut genug, um ihm im Stadion eine Falle stellen zu können. Das zum zweiten. Die Möglichkeit aber, Dienstausweis und Waffe einem anderen Milizoffizier abzunehmen, war für Sie äußerst gering. Sie hätten ihn auf offener Straße umlegen müssen, was gar nicht so einfach ist. Nachdem Sie dann von der Alexandrowa das Medikament namens Metaproptisol bekommen hatten, reifte Ihr Plan endgültig.“ Als ich den Namen der Frau erwähnte, zuckte es im Gesicht Tschebakows – wahrscheinlich hatte er begriffen, daß alles verloren war. Ich aber fuhr ungerührt fort: „Von dem Augenblick an, da Ihre Komplizen auf Ihre 228
Anweisung hin Posdnjakow um ein Haar vergiftet hätten, wurden Sie zu einer Bande. Sie drangen auf betrügerische Weise bei Leuten ein, über die Sie sich vorher informiert hatten, beraubten sie, fügten ihnen Leid zu und zogen damit die Ehre der sowjetischen Miliz in den Dreck.“ „Das müssen Sie mir erst mal beweisen.“ „Was soll der Quatsch, Tschebakow. Begreifen Sie denn wirklich nicht, daß ich, wenn ich schon all Ihre Machenschaften durchschaut habe, auch die entsprechenden Beweise bis aufs I-Tüpfelchen zusammentragen werde?“ „Warum dann diese endlosen Tiraden?“ Er ballte die Fäuste. „Sie wollen Ihren Sieg wohl so richtig auskosten!“ „Davon kann bei einem Lumpen wie Ihnen weiß Gott keine Rede sein! Schon Ihr Anblick ist mir ein Greuel. Warum ich mit Ihnen rede? Weil ich auf Ihren, wenn auch dreckigen, so doch scharfen Verstand baue. Ich denke, daß Sie draufkommen, was ich meine …“ „Doch nicht etwa auf den Gedanken, daß es bei einem freiwilligen Geständnis mildernde Umstände gibt? Da können Sie bei mir lange warten …“ „Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Tschebakow, und stellen Sie sich nicht schon im vorhinein auf die Hinterbeine. Es ist in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie gründlich nachdenken. Die Situation ist doch die, daß Ihre Komplizen morgen oder übermorgen die Wohnung der Lipkins ausräumen wollen. Dort aber wartet bereits Hauptmann Posdnjakow mit einigen Leuten, derselbe Mann, den Sie schon einmal umzulegen beziehungsweise so reinzureißen suchten, daß er mit Schimpf und Schande aus der Miliz fliegt. Ihre Kerle sind mit seiner Pistole bewaffnet. Sollte bei dieser Aktion ein Schußwechsel erfolgen und einer meiner Genossen verwundet oder gar getötet werden, so droht Ihnen als dem Kopf 229
der Bande …“ Ich legte eine Pause ein. „Wissen Sie, was Ihnen droht?“ „Mir? Weshalb glauben Sie, ich wäre der Anführer?“ Sein langes, schwarzes Haar war zerzaust und hing in Strähnen ins Gesicht. „Bringen Sie mal Ihre Frisur in Ordnung“, sagte ich, „durch dieses Gebüsch kann ich Ihre Augen nicht sehen.“ Er schüttelte gehorsam seine Mähne und brachte sie mit einer zärtlichen, fast liebkosenden Bewegung wieder in Form. „Ich hatte geglaubt, Sie wären ein bißchen klüger“, fuhr ich fort, „daß Sie sich sperren, ist doch völlig sinnlos. Wenn wir durch unsere Diskussionen Zeit vergeuden und das Furchtbare geschehen sollte, haben Sie endgültig ausgespielt. Ihre Rechnung ist ohnehin nicht aufgegangen …“ „Welche Rechnung?“ „Daß Sie unangreifbar sind. Sie bauten darauf, daß Ihre Kumpane nichts von Ihnen wissen, daß Ihnen sogar im Falle ihrer Verhaftung keine Gefahr drohen würde. Sie glaubten, daß die Kerle, selbst wenn sie wollten, nichts über Sie aussagen könnten. Jetzt aber ist genau das Gegenteil eingetreten: Sie sitzen schon so gut wie im Gefängnis, während Ihre Komplizen noch in Freiheit sind. Sie sind ein Zyniker, Sie werden sich doch gewiß überlegen, ob es sinnvoll ist, die andern zu decken. Vergessen Sie nicht, was für schlimme Folgen das für Sie persönlich haben kann …“ Tschebakow rauchte eine Zigarette an, seine Hände zitterten. Er machte ein paar gierige Züge und sagte dann, sich halb am Rauch verschluckend: „So ein Blödsinn, verdammt noch mal. Wer konnte denn ahnen, daß Sie so ein Gewese um die Sache machen. Was bringt Sie eigentlich so auf – schließlich hab’ ich doch nur reiche Ganoven gefilzt …“ 230
„Da hat sich ja ein feiner Robin Hood gefunden. Na, lassen wir das. Also los, wann wollen Ihre Leute zu Lipkin – morgen oder übermorgen?“ Tschebakow drückte die halb aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und sagte zähneknirschend: „Ach was, morgen! Die Aktion wird heute gestartet! Vor einer halben Stunde sind sie los …“ Unser Wagen raste durch eine dunkle Nebenstraße, die voller Schlaglöcher war; in den Kurven gaben die Reifen ein jämmerliches Kreischen von sich. Wir passierten eine kleine Brücke, auf einem Bahndamm linker Hand war der Pfiff einer E-Lok zu hören; die Lichter dahinrollender Waggons huschten an uns vorüber, und ich konstatierte, daß das hier Chowrino sein mußte. „Schneller doch“, rief ich dem Fahrer zu, „er ist allein dort.“ Der Chauffeur gab keine Antwort, beugte sich nur tiefer übers Lenkrad. Lauter, durchdringender heulte der Motor auf, noch härter wuchteten die Räder über das abgenutzte Pflaster. Tschebakow saß schweigsam auf dem Rücksitz, eingekeilt zwischen mir und einem Leutnant, den Posdnjakows Vorgesetzter Tschigarenkow zur Verstärkung mitgenommen hatte. Tschigarenkow selbst saß vorn und sprach über Funk mit der Petrowka. Dabei wandte er uns seinen tadellos gezogenen Scheitel zu, und im schwachen Widerschein einer am Straßenrand vorübergleitenden Laterne blitzten an seiner Uniform gleich mehrere Abzeichen, Knöpfe und Medaillen auf. „Die Petrowka hat bereits einen Wagen losgeschickt“, sagte er, „das Revier hundertsiebenundvierzig ebenfalls. Trotzdem werden wir als erste eintreffen – von hier aus sind’s noch etwa vier Minuten: an der Müllkippe vorbei und an der Elektrozentrale sechzehn …“ Ach, Posdnjakow, dachte ich, Andrej Filippytsch, zwei bewaffnete Banditen, zwei gegen einen. Hat es dir das Schicksal denn wirklich zugedacht, von einer Kugel aus 231
der eigenen Pistole getötet zu werden? Nein, das darf nicht geschehen, wir werden rechtzeitig zur Stelle sein … In diesem Augenblick sagte Tschigarenkow zu dem Leutnant: „Leg dem Festgenommenen Handschellen an und binde ihm sicherheitshalber die Füße mit einem Riemen zusammen. Dort werden wir keine Zeit für ihn haben …“ Halte durch, Andrej Filippytsch, nur noch ein paar Minuten. Mit schmerzhafter Deutlichkeit kam mir plötzlich in Erinnerung, wie er mir einmal von einem treuen und tapferen Foxterrier erzählt hatte, der von seinem dummen Herrn versehentlich in eine Pantherhöhle geschickt worden war. Der Hund war dort nicht mehr herausgekommen … „Schneller doch“, sagte Tschigarenkow zum Fahrer, „gib Gas. Nach dem Bauplatz hier bieg rechts ab, wir fahren von hinten ’ran, durchs Gelände der Milizschule.“ Der Wagen jagte in eine schmale Straße hinein. Sie führte zum Haus der Lipkins, wo Posdnjakow auf mich wartete und zu dem auch die Banditen aufgebrochen waren. Wir fuhren noch etwa hundert Meter, die Häuserzeile lief aus, und unser Wolga kam zum Stehen – ein offener Graben für Gasarbeiten versperrte uns den Weg. Hinter dem Graben befand sich ein freier Platz, an den das Haus der Lipkins grenzte. „Leuchten Sie mir“, rief ich Tschigarenkow zu, „ich spring’ gleich hier ’rüber, das geht schneller. Sie umfahren inzwischen die Stelle und kommen nach.“ Der Chauffeur schaltete das Fernlicht ein, in seinem Schein perlten bläuliche Regentropfen. Ich nahm Anlauf, stieß mich kräftig vom Boden ab und setzte über den schwarzen Graben. Fiel hin, sprang wieder auf – und erblickte im Licht der Scheinwerfer Posdnjakow. Aus mir unerklärlichen Gründen kam er nicht vom Haus her, sondern ging darauf zu, und direkt vor ihm konnte ich deutlich die Umrisse zweier Männer erken232
nen. Posdnjakow lahmte und breitete im Gehen die Arme aus, so als scheuche er Hühner vor sich her. Ich hörte, daß er den Männern etwas zurief, doch ich konnte nicht verstehen, was es war. Ich stürzte auf ihn zu. Sie wichen im Rückwärtsgang vor Posdnjakow zurück, immer den asphaltierten Weg entlang – es gab keine Möglichkeit für sie, das Weite zu suchen, doch das wollten sie wohl auch gar nicht. Sie bewegten sich wahrscheinlich nur deshalb rückwärts, weil sie den ABV im passenden Moment überrumpeln wollten. Und plötzlich schienen sie ihren Entschluß gefaßt zu haben: Der eine stieß einen durchdringenden Schrei aus, dann fielen sie gleichzeitig über Posdnjakow her. Eine lächerliche Entfernung von fünfzig Metern trennte mich von der Gruppe, doch sie wollte erst überwunden sein. Diese wenigen Sekunden dünkten mich eine Ewigkeit. Posdnjakow ging in die Hocke und stellte dem einen der Banditen ein Bein. Doch da schlug der andere zu! Sogar von hier aus, im Laufen, hörte ich den wuchtigen, wie von einem Metzger geführten Hieb, der den Kopf des Abschnittsbevollmächtigten traf. Posdnjakow schwankte, hielt sich aber auf den Beinen und schleuderte den Kerl mit großer Kraftanstrengung beiseite. Ich sah, daß etwas Dunkles über das Gesicht des ABV lief, so als wäre ein Fäßchen mit Tinte an seinem Kopf zerschlagen worden. Ich begriff nicht gleich, daß Blut im Finstern ja schwarz aussieht. Posdnjakow wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, bekam den Arm des einen Kerls zu fassen, versetzte dem Mann einen Schlag und zog ihn dann mit eisernem Griff dicht zu sich heran. Er prügelte sich, wie er arbeitete – mit der Ruhe und Gewissenhaftigkeit eines Bauern, bemüht, in dieser wichtigen Tätigkeit weder Schnitzer noch Schlamperei zuzulassen. Er hämmerte mit ineinandergelegten Fäusten wie mit einem Dreschflegel auf die Kerle ein und schleuderte sie ein ums an233
dere Mal zu Boden; er legte größtes Augenmerk darauf, daß sie nicht beide gleichzeitig zum Hochtauchen kamen. Kaum machte einer von ihnen Anstalten aufzustehen, da erhielt er auch schon einen Hieb von unglaublicher Wucht versetzt, der weder aus dem Box- noch aus dem Samborepertoire stammte, den Gegner aber nichtsdestoweniger in den Dreck warf. „Achtung“, rief ich verzweifelt noch im Laufen, „Achtung, sie haben eine Pistole!“ Posdnjakow hatte gerade den zweiten Burschen zu Boden gestreckt. Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht, betrachtete seine blutverschmierten Finger und sagte ruhig: „Nein, die Pistole habe ich. Ich hab’ sie ihnen abgenommen, sie hatten lange genug ihren Spaß daran …“ Und er zeigte mir die schwarze, matt glänzende Waffe. In diesem Augenblick kam auch Tschigarenkow mit dem Auto. Posdnjakow packte den untersetzteren der Banditen am Genick, zog ihn vom Boden hoch und sagte: „Na, ein Schluck Bier gefällig? Ich spendier’ dir’s gern, du Schweinehund …!“ Mittlerweile waren auch der Wagen von der Petrowka sowie der Einsatzwagen vom hundertsiebenundvierzigsten Revier eingetroffen. Auf der Freifläche setzte geschäftiges Treiben ein. Mieter der umliegenden Häuser steckten ihre Köpfe aus den Fenstern oder kamen angelaufen, die Verhafteten wurden von Milizionären zu den Autos gebracht, ein Arzt verband Posdnjakows Kopf. Motoren heulten auf, und unvermittelt überfiel mich die Empfindung angenehmer Leere, das Gefühl, frei zu sein, Pflichten erfüllt zu haben, die mir, wenn auch nicht immer ganz verständlich, so doch sehr wichtig gewesen waren. Die Festgenommenen wurden in verschiedenen Räumen gleichzeitig verhört. Anspannung und Müdigkeit hatten mich in einen seltsamen Zustand versetzt – mir schwin234
delte, in den Öhren war ein Rauschen, ich schwankte, als wär’ ich betrunken. Ich setzte mich auf einen Stuhl neben den Untersuchungsführer, hörte ein paar Minuten lang der Vernehmung zu, erhob mich dann wieder, ging in eins der anderen Zimmer und begab mich schließlich auf den Treppenabsatz, wo einsam und in dem Trubel von allen vergessen Posdnjakow stand, mit einem weißen Turban um den Kopf, gelassen seine „Sewer“ rauchend. Er sagte etwas zu mir, doch das Rauschen in meinen Ohren hinderte mich, seine Worte zu verstehen. Ich drückte ihm die Hand und begab mich in mein Arbeitszimmer. Im Flur traf ich Scharapow – auch er hatte es eilig gehabt, sich einzufinden. Er sprach mich an, ich aber fing wie in einem Stummfilm nur die lautlosen Bewegungen seiner rauhen Lippen ein. In meinem Kopf war ein Summen und Brummen von allen möglichen Stimmen … „… Mein Bruder Stepan Tanzjura arbeitete als Fahrer in der Genossenschaft ‚Sport- und Anglerbedarf ‘. Er kannte die Betrugsgeschichte und erzählte Boris davon, der dann auf die Idee kam, die Familien der Verurteilten auszunehmen.“ „… Boris zeigte mir unauffällig den ABV. Ich trat auf den Mann von der Miliz zu und bot ihm eine Eintrittskarte an. Als ich in der Pause aufstand, erwartete mich Boris schon an der Tribüne mit dem gemanschten Bier. Er warnte mich noch: ‚Paß auf, daß du die Flaschen nicht verwechselst.‘ “ „… Kolka Tanzjura und ich faßten ihn unter den Achseln, schleppten ihn zu dem kleinen Park und ließen ihn dort unter einem Busch liegen. Ich hatte den Eindruck, er sei schon tot.“ „… Boris bat mich um ein chemisches Präparat, das imstande ist, Papier zu zersetzen, und so gab ich ihm ein Benzylgemisch, das Zellulose bei Lichteinwirkung zum Oxydieren bringt.“ 235
„… Boris sagte, die Betroffenen hätten größere Angst vor der Miliz als wir und würden den Vorfall deshalb bestimmt nicht melden.“ „… Boris gab mir die Nummer des roten Shiguli und die dazugehörige Adresse mit der Anweisung, an der hinteren Stoßstange des Wagens ein kleines Päckchen anzubringen. Das hab’ ich dann auch gemacht.“ „… Wo wir diesen Tataren, Ramasanow, finden können, schrieb uns Stepan Tanzjura aus der Arbeitskolonie. Wir hängten uns seiner Frau an die Fersen und stießen so auf die Datsche in Kratowo …“ Ich schloß die Tür meines Arbeitszimmers hinter mir, setzte mich an den Tisch und spürte die Müdigkeit wie einen Ozean über mich herfallen. In meinem Kopf verschwammen Gesichter und Worte, lautlos sprach Lyshin auf mich ein, beklagte sich Blagolepow, suchte Chlebnikow Unterstützung, tobte Panafidin, wisperte seine Frau Olga, knirschte, dunkel vor Zorn und Erniedrigung, Posdnjakow mit den Zähnen, stürzte der so unerschütterlich scheinende steinerne Wall zusammen, der Anja Shelonkinas Seele umgab, weinte in stummem Grauen Lyshins Geliebte … Lyshins Geliebte. Hier hatte diese Geschichte vor vielen Jahren ihren Anfang genommen. Ihre Liebe und ihre Krankheit waren zum Zeitmesser geworden, sie hatten Lyshin Kraft und Wagemut verliehen. Ich aber hatte diese Frau nie zu Gesicht bekommen. Und würde es wohl auch künftig nicht. Jene Frau, derentwegen ein Gelehrter eine große Entdeckung gemacht, eine Medizin gegen die Angst erfunden hatte. Eine gewisse Zeit würde vergehen, und die pharmazeutischen Fabriken würden mit dem Ausstoß von Millionen Tabletten in bunten Packungen beginnen. Die Leute würden sie schlucken: wenn sie zu ihrem Vorgesetzten mußten, wenn die Arbeit beendet war, während ei236
nes Streits mit dem Ehepartner. Die Ausschüttung des Adrenalins ins Blut würde unterbunden werden, die Nerven kämen zur Ruhe, die Leute würden dann tapferer und gütiger werden. Doch wie war das vorhin mit Posdnjakow gewesen – hatte er vielleicht solche Tabletten geschluckt, bevor er sich in den Kampf gegen die beiden bewaffneten Banditen stürzte? Auch Lyshin hatte keinerlei Tranquilizer eingenommen, als er Panafidins Labor verließ, seine Karriere aufgab und sich in seinem Zimmer vergrub, um auf Biegen und Brechen das Metaproptisol zu entdecken. Das aber konnte nur bedeuten, daß es noch eine andere Medizin gegen die Angst geben mußte, eine, die man nicht im Reagenzglas gewann. Und daß das Adrenalin im Blut keine Gewalt über sie besaß! Durchdringend schrillte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab. „Sind Sie’s, Tichonow? Hier spricht Chlebnikow.“ Ich sah auf die Uhr – es war zwanzig Minuten nach drei. „Ich habe versucht, Sie zu Hause zu erreichen, aber es hat sich niemand gemeldet. Deshalb ruf ich hier an.“ „Ja, was gibt’s denn, Lew Sergejewitsch?“ „Lyshin ist wieder bei vollem Bewußtsein. Wenn Sie wollen, können Sie gleich mal vorbeikommen.“ Und schon hatte er aufgelegt.
21 Im Krankenzimmer brannten die beiden Nachttischlampen, deren gelber Widerschein symmetrisch starr auf Fußboden und Decke lag. Doktor Chlebnikow saß an Lyshins Bett und zählte den Puls des Kranken. 237
„Guten Tag, Wladimir Konstantinowitsch“, sagte ich. Lyshin sah mich mit durchsichtigen Augen an, lächelte verlegen und flüsterte kaum hörbar: „Entschuldigen Sie, mit meinem Gedächtnis ist irgend etwas nicht in Ordnung …“ „Ich heiße Stanislaw Tichonow.“ Ich trat auf ihn zu. „Ach ja“, sagte Lyshin unsicher, „ich erinnere mich …“ Ich aber begriff voller Erschütterung und mit einem Stechen in der Herzgegend, daß er sich keinesfalls erinnerte – nicht die Spur einer Erinnerung hatte er an mich, es war, als hätte er mich nie gesehen. Chlebnikow wandte sich mir zu, machte eine beruhigende Geste. „Es gibt noch einzelne Lücken in seinem Gedächtnis, aber auch die werden verschwinden …“ Lyshin sah nachdenklich zur Decke, an der die gelben Lichtpunkte wie zwei plattgedrückte Monde klebten, und sagte langsam: „Ich habe die Empfindung, aus einem langen, sehr farbigen Traum erwacht zu sein, der schön und zugleich schrecklich war. Aber ich hab’ mir nichts davon merken können. Ich wollte so gern etwas in Erinnerung behalten, doch alles ist zerronnen, wie Wasser in der Hand …“ Chlebnikow fragte: „Erinnerst du dich, Wolodja, wer Paracelsus war?“ „Paracelsus?“ Lyshin warf ihm einen erstaunten Blick zu. „Das war ein berühmter Arzt und Chemiker. Er starb vor sehr langer Zeit. Aber warum fragst du?“ „Ach, einfach so. Du hast dich eine Zeitlang stark für ihn interessiert.“ „Ja, aber das ist schon lange her, ich habe inzwischen alles vergessen.“ Er lag eine Weile still da, mit fest zusammengepreßten Lidern, dann öffnete er die Augen wieder und sagte: „Mir scheint, als hätte ich vor dem Erwachen aus diesem erstaunlichen Traum, in dem ich so lange Zeit gelebt und von dem ich mir doch nichts eingeprägt habe, jemanden rufen hören. Mit Worten, die 238
an mich gerichtet waren und die ich deutlich verstand, sie lauteten: ‚Seid wie die Kinder, schüttelt eure drückende Vergangenheit ab, dann wird eure Zukunft voll Sonne sein …‘ “ „Aber können wir denn unsere Vergangenheit abschütteln, Wolodja?“ fragte Chlebnikow. „Wahrscheinlich nicht.“ Lyshin schüttelte den Kopf. „Von der Vergangenheit befreit einen nur die Bewußtlosigkeit …“ Still flossen die Minuten dahin. Chlebnikow hatte sich von seinem Stuhl erhoben, ich warf einen Blick auf Lyshin – er war eingeschlafen. Sein Gesicht auf dem weißen Kissen drückte Ruhe und Frieden aus, es schien nahezu sorglos, und im Schlaf erinnerte er tatsächlich an ein Kind, das keine Vergangenheit besaß, dem nur verheißungsvoll die Zukunft winkte. Chlebnikow und ich gingen auf den Korridor. Wir umarmten uns zum Abschied, ich ging die Treppe hinunter und trat auf die Straße. Die Morgendämmerung zog herauf, schwach, herbstlich, doch der Horizont war klar, mit einem rosa Schimmer – bald würde die Sonne aufgehen. Und während ich die Richtung zur Preobrashenka einschlug, am Ausgang dieser unendlich langen und hektischen Nacht, sagte ich mir, daß Lyshin im Traum betrogen worden war – die Zukunft lag offen vor jenen, die niemals ihre Vergangenheit vergaßen.
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1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1977 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/140/77 • LSV 7204 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 344 5 DDR 2.- M