Max Scheler (1874-1928), der Begründer der „materiellen Wertethik" und Neubegründer der philosophischen Anthropologie, h...
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Max Scheler (1874-1928), der Begründer der „materiellen Wertethik" und Neubegründer der philosophischen Anthropologie, hat ein einflußreiches und vielseitiges Werk hinterlassen, dessen Bedeutung für Philosophie und Soziologie unbestritten ist. Wolfhart Henckmann geht in diesem Buch der nicht eben geradlinigen Entwicklung in Schelers Denken nach - von seinen Anfängen im Zeichen des Neukantianismus über die phänomenologische Philosophie in den mittleren Jahren bis hin zu seinem Evolutionären Panentheismus im Spätwerk. Wolfhart Henckmann ist Professor für Philosophie an der Universität München. Bei C.H. Beck ist von ihm erschienen: Lexikon der Ethik (mit K. Lotter), 1992 (BsR 466). Die Reihe der „Denker" wird herausgegeben von Otfried Hoffe, Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Über die weiteren Bände der Reihe siehe S. 272.
WOLFHART HENCKMANN
Max Scheler
VERLAG C.H.BECK
Mit 6 Abbildungen
Für Gisela, Joachim und Antje
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Henckmann, Wolßart: Max Scheler / Wolfhart Henckmann. - Orig.-Ausg. - München : Beck, 1998 (Beck'sche Reihe ; 543 : Denker) ISBN 3 406 41943 7
Originalausgabe ISBN 3 406 41943.7 Umschlagentwurf: Uwe Göbel, München Umschlagabbildung: L. Lechner, Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin. ©C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München 1998 Gesamtherstellung·. C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany
Inhalt Zitierweise I. Einleitung II. Leben und philosophische Entwicklung 1. Jugend, Studium und erste Dozentenzeit . . . . 2. Von der Münchner Dozentur zum freien Schriftsteller 3. Vom Theismus zum Panentheismus III. Vom Wesen der Philosophie 1. Philosophie als Wertkritik des Bewußtseins . . 2. Phänomenologische Philosophie 3. Philosophie als Einheit von Phänomenologie und Metaphysik 4. Zur Einteilung der Philosophie IV. Grundzüge der Ersten Philosophie 1. Die Evidenzordnung und die Lehre von den Arten des Seins 2. Geist und Welt oder die Funktionalisierung der Aktarten des Geistes und das Sphärenproblem 3. Das Problem der Seinsrelativität 4. Wissen und Bewußtsein 5. Transzendente Erstreckung der Wesenserkenntnis 6. Das Aprionsmusproblem V. Erkenntnistheorie 1. Der ontologische Begriff des Wissens
8 9 16 16 20 29 40 40 43 49 53 57 63 68 73 75 76 77 79 83
2. Die Lehre von den Wissensarten 3. Ekstatisches und reflexives Wissen 4. Die obersten Wissensformen 5. Von den Maßstäben der Erkenntnis 6. Philosophie und Wahrnehmung . . 7. Spezielle Erkenntnistheorie 8. Zur deskriptiven Weltanschauungslehre VI. Philosophie der Werte 1. Über Wesen und Erkenntnis der Werte 2. Die objektive Rangordnung der Werte 3. Relativität und Absolutheitsanspruch Werte
85 87 87 90 93 97 98 100 102 107 der
VII. Materiale Wertethik 1. Die Akte des Werterkennens und die Rangordnung der Werte a) Gut und Böse b) Zur Differenzierung der Wertrangordnung c) Ethischer Personalismus d) Schelers Kritik der Sollensethik 2. Der Begriff der sittlichen Handlung 3. Zur Tugendlehre 4. Das Problem der Freiheit 5. Solidarität als höchstes Prinzip der Sozialethik 6. Absolutismus und Relativismus in der Ethik. . 7. Moral und Religion VIII. Religionsphilosophie 1. Die Wesensontik des Göttlichen 2. Die Formen der Selbstmitteilung Gottes und die Wesensformen der homines religiosi 3. Die Phänomenologie des religiösen Aktes und die Lehre von den Erweisarten Gottes 4. Wesenslehre von den Strukturformen religiöser Gemeinschaften und der geschichtlichen
110 115 119 121 122 122 123 125 127 129 130 132 136 138 143 148 150
Ordnung der Offenbarungsformen des Göttlichen
153
IX. Probleme der Sozialphilosophie 1. Zur phänomenologischen Grundlegung des Sozialen a) Über die Wesensformen menschlicher Verbände b) Die Lehre von Vorbild und Führer 2. Aspekte der Geschichtsphilosophie a) Zur Wesensontologie von Geschichte . . . . b) Die Lehre von den geschichtlichen Wirkfaktoren c) Zur Lehre von der Funktionalisierung des Geistes d) Die Perspektive auf das Weltalter des Ausgleichs 3. Zur Philosophie des Politischen a) Die Lehre von Führer und Gefolgschaft... b) Das Verhältnis von Politik und Moral . . . . c) Krieg und Frieden 4. Zur Kritik der modernen Sozialverhältnisse . . a) Zum Problem der Arbeit b) Zur Kritik des Kapitalismus
156
169 170 171 172 173 175 175 177
X. Kultur- und Wissenssoziologie 1. Grundzüge der Kultursoziologie 2. Grundzüge der Wissenssoziologie a) Die obersten Axiome der Wissenssoziologie b) Die obersten Wissensarten
179 181 184 186 188
XL Anthropologie 1. Zur Typologie des Selbstbewußtseins des Menschen 2. Zur Wesensontologie des Menschen 3. Systematischer Vergleich zwischen Mensch und Tier
191
157 159 162 163 164 166 168
194 198 201
a) Das Stufenreich des Psychischen b) Der Geist c) Über die Monopole des Menschen 4. Über den zeitlichen Ablauf des Menschenlebens 5. Über den Ursprung des Menschengeschlechts. 6. Fragen der vergleichenden Anthropologie . . . XII. Metaphysik 1. Der Begriff der Metaphysik 2. Zur Metaphysik erster Ordnung: die Metaszienzien 3. Metaphysik zweiter Ordnung: Die Lehre vom Ens a se
201 205 207 208 210 211 213 218 220 224
XIII. Zur Wirkung 1. Ethik 2. Religionsphilosophie 3. Anthropologie 4. Wissenssoziologie
230 235 236 237 239
Anhang 1. Anmerkungen 2. Zeittafel 3. Literaturverzeichnis 4. Abbildungsnachweise 5. Personenverzeichnis 6. Sachverzeichnis
242 242 252 255 264 264 267
Zitierweise Schelers Werke werden nach der von Maria Scheler und ab 1970 von M. S. Frings betreuten Ausgabe der Gesammelten Werke mit bloßer Band- und Seitenzahl zitiert. Gelegentlich habe ich auf die Erstveröffentlichung und auf den Nachlaß zurückgegriffen. Schelers Nachlaß befindet sich in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek München (BSB) unter der Signatur Ana 315; die Detailsignierung geht auf E. Avé-Lallemants Nachlaßverzeichms zurück (vgl. Bibliographie). Die Hervorhebungen innerhalb der Zitate stammen alle von Scheler selbst.
I. Einleitung Es gibt keine glanzvollere Würdigung Max Schelers als Martin Heideggers in „In memoriam Max Scheler", kurz nachdem er von seinem plötzlichen Tod erfahren hatte: „Max Scheler ist tot. Mitten heraus aus einem großen und weitschichtig angelegten Arbeiten, im Stadium eines neuen Anlaufes zum Vordringen in das Letzte und Ganze, am Beginn einer neuen Lehrtätigkeit, von der er sich viel erhoffte -. Max Scheler war - vom Ausmaß und der Art seiner Produktivität ganz abgesehen - die stärkste philosophische Kraft im heutigen Deutschland, nein, im heutigen Europa und sogar in der gegenwärtigen Philosophie überhaupt. [...] Entscheidend und kennzeichnend für sein Wesen war die Totalität des Fragens. Mitten im Ganzen des Seienden stehend hatte er eine ungewöhnliche Witterung für alle neu aufbrechenden Möglichkeiten und Kräfte. Ihm eignete ein unbezähmbarer Drang, immer im Ganzen zu denken und zu deuten. Und so war es kein Zufall, daß er, von Hause aus katholisch, in einer Zeit des Zusammenbruches erneut seinen philosophischen Weg nahm in die Richtung des Katholischen als einer universalhistorischen Weltmacht, nicht im Sinne der Kirche. Neue Bedeutung gewannen Augustinus und Pascal — neu als Antwort auf und gegen Nietzsche. Aber auch diese Möglichkeit zerbrach für Max Scheler wieder. Erneut trat ins Zentrum seiner Arbeit die Frage, was der Mensch sei - diese Frage wieder gestellt im Ganzen der Philosophie, im Sinne der Aristotelischen Theologie. Ungeheuer kühn gesehen die Idee vom schwachen Gott, der nicht Gott sein kann ohne den Menschen, so daß der Mensch selbst gedacht wird als ,Miterwirker Gottes'. Dies alles blieb weit entfernt von einem platten Theismus oder verschwommenen
Pantheismus. Schelers Plan ging auf die philosophische Anthropologie, eine Herausarbeitung der Sonderstellung des Menschen. War seine Wandlungsfähigkeit Zeichen einer Substanzlosigkeit, einer inneren Leere? Aber man erkennt - was freilich nur wenige unmittelbar erfahren durften in tage- und nächtelangen Auseinandersetzungen und Kämpfen mit ihm -: eine wahre Besessenheit durch die Philosophie, der er selbst nicht Herr wurde und der er folgen mußte; was ihn, bei der Zerrissenheit des heutigen Daseins, oft in Ohnmacht und Verzweiflung trieb. Aber diese Besessenheit war seine Substanz. Und bei allem Wandel ist er dieser inneren Richtung seines Wesens in immer neuen Anläufen und Anstrengungen treu geblieben. Und diese Treue muß die Quelle gewesen sein, der die kindliche Güte entsprang, die er zuweilen zeigte. Keiner unter den heute ernsthaft Philosophierenden, der ihm nicht wesentlich verpflichtet wäre - keiner, der die lebendige Möglichkeit an Philosophie, die mit ihm dahingegangen ist, ersetzen könnte. Diese Unersetzlichkeit aber ist das Zeichen seiner Größe [...]."' Inzwischen sind siebzig Jahre vergangen. Schelers Gestalt steht nicht mehr alles überragend vor unseren Augen. Andere Gestalten, keineswegs minder große, sind hinzugetreten und geben ein eindrucksvolles Gesamtbild der philosophischen Bestrebungen des 20. Jahrhunderts. Mancher wird unter ihnen nur noch bei genauerem Hinsehen Schelers Gestalt erkennen können. Da die Philosophie der Gegenwart nicht mehr, wie Heidegger es von der Philosophie der zwanziger Jahre bezeugt hat, unter Schelers lebendiger und wegweisender Wirkung steht, ist in der Tat ein genaueres Hinsehen auf sein Werk und sein Leben erforderlich, um zu erkennen, was eigentlich Schelers ,Besessenheit durch die Philosophie' in Bewegung gehalten hat. An die eigentliche „Substanz" seines Philosophierens, das Heidegger noch unmittelbar erlebt hat, gelangt ein Leser Ende des 20. Jahrhunderts nur noch indirekt, durch die Vermittlung 10
seiner Schriften und Lebenszeugmsse, wenn er sie überhaupt noch zu erfassen vermag und nicht Schelers „Weg der Philosophie ins Dunkel" zurückgefallen ist, wie es am Ende von Heideggers Nachruf heißt. Der Weg über die von Scheler selbst veröffentlichten Schriften, einschließlich derjenigen Schriften und Fragmente, die seit den fünfziger Jahren aus dem Nachlaß herausgegeben worden sind, ist nicht nur ein mühseliger Weg, sondern er bricht in Schelers Schriften auch immer wieder ab und verläuft sich immer wieder in Digressionen, mit denen man sich unverhofft an ganz anderen Orten der philosophischen Problemlandschaft wiederfindet. Aus der Ferne betrachtet zeigen sich jedoch übergreifende Zusammenhänge. Die Linien von Schelers Denkwegen versuche ich in dieser einführenden Schrift nachzuzeichnen. Schelers Philosophie stellt in einem besonderen Maße ein .Lebenswerk' dar: Leben und Philosophie, Denken und literarischer Ausdruck bilden ein komplexes Spannungsgefüge, das sich fortwährend ausbildet und umgestaltet. In späteren Jahren bekannte sich Scheler gerne zu Goethes Wort: Nur wer sich wandelt, ist mit mir verwandt. Diejenigen, die sich mit ihm geistig verwandt fühlten, erkannten oft zu spät, daß er sich schneller gewandelt hatte, als mit ihren Vorstellungen von einer selbstverantwortlichen geistigen Existenz vereinbar erschien. Schelers Wandlungen erfolgten jedoch nicht willkürlich oder zufällig, sondern folgten einem tieferliegenden, in den Wandlungen nur mittelbar zum Ausdruck kommenden Gesetz, seinem persönlichen „Daimonion". Sein Philosophieren war nur zum Teil den Problemen zugewandt, die er behandelte; zum anderen Teil war es geleitet von der ständig gegenwärtigen, aber nicht immer explizit gestellten noch überhaupt bewußten existentiellen Frage Schelers, ob sein ganzes Philosophieren, dem er sich mit der phänomenologischen Maxime „zurück zu den Sachen" verschrieben hatte, jenes dunkle, Zusammenhang und Konsequenz verleihende Gesetz zum Ausdruck bringe. Von daher erklärt sich auch der „barocke" Stil von Inhalt und Form seines Lebenswerks. Philosophie, das hat 11
Scheler immer wieder betont, hat ihre tiefere Einheit in der Person ihres Autors, die keineswegs bloß eine rein geistige Person ist - wie Scheler erst nach und nach zuzugeben bereit war. Philosophie folgt allein dem inneren personalen Gesetz, nicht dagegen, wie die positiven Wissenschaften, einem unpersönlichen Fortschrittsgesetz. Man hat Schelers philosophisches Lebenswerk, da es nicht die explizite Struktur eines geschlossenen Systems aufweist, auf eine Reihe von Grundproblemen zurückgeführt, um die sein Denken lebenslang kreiste: Liebe, Wert, Person, Welt, Gott, um nur die wichtigsten fünf zu nennen. Will man aber nicht nur erschließen, worin Scheler den philosophischen Sinn dieser Grundprobleme in der einen oder anderen Schrift gesehen hat, sondern wie sie untereinander und darüber hinaus mit anderen Themen von Schelers Lebenswerk zusammenhängen und wie sie sich infolge von Schelers Wandlungen in sich selbst und in der Stellung zueinander wandelten, muß man einen anderen Ansatz als den bei den „Grundproblemen" wählen. Deshalb sollen in dieser Schrift der Behandlung der in der Regel als in sich konsistent aufgefaßten Grundprobleme zwei andere Gesichtspunkte vorgeordnet werden: der Gesichtspunkt einer gewissen Systematik philosophischer Disziplinen und der Gesichtspunkt der zeitlichen Entwicklung; beide lassen sich zwanglos vereinigen im Begriff eines dynamischen „offenen Systems", zu dem sich Scheler auch immer wieder bekannt hat. Mit der offenen Disziplinensystematik soll, wenn man so will, ein sechstes Grundproblem herausgestellt werden. Scheler hat seit seiner Dissertation in immer wieder neuen Ansätzen über die Stellung der philosophischen Disziplinen zueinander und zu einem Sinnganzen der Philosophie nachgedacht. Dabei gingen seine Überlegungen auch über den Bereich der Philosophie hinaus, indem sie die Stellung der Philosophie zum persönlichen und sozialen Leben und zu den Wissenschaften zu bestimmen suchte - nicht zuletzt auf diesen Überlegungen beruhte seine Überzeugung, daß nur ein offenes System dem Wesen der Philosophie angemessen sei. 12
Ähnlich rigoros wie die These von den Grundproblemen ist die These von den zwei oder drei „Perioden" von Schelers Lebenswerk vertreten worden. Einige Interpreten sind allerdings der Auffassung, daß Schelers Lebenswerk im Grunde eine Einheit bilde, andere unterscheiden immerhin eine frühere Periode von einer späteren, die Anfang der zwanziger Jahre mit Schelers Absage an den Theismus und die katholische Kirche einsetzte, wiederum andere gliedern die frühere Periode in zwei Abschnitte: in die neukantianische Periode, die unter dem Einfluß der Philosophie von Schelers Doktorvater R. Eucken stand, und in die phänomenologische Periode, die nach seiner Begegnung mit Husserl (1902) und insbesondere nach seiner Umhabilitation an die Universität München (1906) einsetzte. Heidegger hat in seinen Gedenkworten diese Wandlungen anklingen lassen. Aber auch die dem Entwicklungsgang Schelers wohl angemessenere Einteilung in drei Perioden darf nicht allzu streng genommen werden. Von Schelers markanteren Standpunktwechseln waren nicht alle seine Lehren in gleicher Weise betroffen, worauf er 1922 im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Habilitationsschrift oder 1926 im Vorwort zur dritten Auflage des Formalismusbuchs selber hingewiesen hat. Einige seiner Lehren haben sich relativ konstant erhalten, andere haben sich modifiziert, einige haben sich auch in ihr Gegenteil verkehrt, ohne daß Scheler über alle diese Vorgänge genau Buch geführt hätte. In den zwanziger Jahren ließ ihn sein zunehmendes Interesse, Einheit in sein Werk zu bringen, über manche Brüche und Widersprüche hinwegsehen. Deshalb müßte jeder seiner Lehren eine detaillierte Entwicklungsgeschichte vorangestellt werden, bevor ihr eigentlicher Lehrgehalt dargestellt wird. Um einigermaßen die Grenzen einer Einführungsschrift einzuhalten, habe ich mich darauf beschränkt, nur den verschiedenen philosophischen Disziplinen und einzelnen wandlungsreicheren Problemauffassungen einige Hinweise auf ihre Entwicklung voranzustellen. Die Linienzüge von Schelers Denkwegen sind jedoch nur unvollständig durch ein Netzwerk diachroner und synchroner Verflechtungen darzustellen. Näher an die besondere Gestalt 13
philosophischer Problementfaltung, wie Scheler sie immer wieder in mehr oder weniger konsequenter Durchführung vorgeführt hat, kommt man vielleicht mit einem Denkmodell, das den inneren Aufbau seiner Art von Problementfaltung wiedergibt. Den sachlichen Ursprung eines Problems suchte Scheler stets in der Ebene auf, die er „Wesensontologie" oder „Eidetik" nannte. Sie gab ihm die Grenzen und die Richtung vor, in der sich ein Problem unter den Bedingungen realer Erfahrungen entfaltete. Um dieser Entfaltung angemessen nachgehen zu können, unterzog er die überlieferten Lehrmeinungen einer Kritik, die er häufig zu einer Typik der maßgeblichen (Irr)Lehren zu verdichten suchte. Anschließend konnte er darauf eingehen, wie sich ein Problem im Horizont dessen darstellte, was er die natürliche Weltanschauung nannte, sowie im Rahmen der Einzelwissenschaften, die für das behandelte Problem zuständig waren. Hierbei ließ er es an Kritik nicht fehlen, doch ging es ihm in erster Linie darum, mit seinem in sich strukturierten Verfahren das Problem in eine angemessene Form zu bringen. Wenn er die verschiedenen Maßnahmen zur Rekonstruktion einer angemessenen Problemauffassung durchgeführt hatte, ging er zur eigentlichen Problementfaltung über. Hierbei berief er sich oft auf ein Wort von Hegel, daß die rekonstruierten Problemfassungen „Fenster ins Absolute" öffneten - das meint, durch sie eröffneten sich die metaphysischen Problemdimensionen. Sie verlangten nicht allein, daß man tatsächlich auch durch das Fenster hindurchsehe auf das Absolute, sondern es mußte auch die gesamte Wegstrecke der Problementfaltung - von der Wesensontologie an über die Bereiche der Realverhältnisse hinweg bis zum „Fenster ins Absolute" - mit dem „absoluten Weltgrund" vermittelt werden, so daß sich am Ende die philosophische Problementfaltung als ein notwendiger Bestandteil des Werdeprozesses des Weltgrundes selbst darzustellen hätte. Ein solches Modell philosophischer Problementfaltung muß in konfliktreicher Spannung zu den Gesetzmäßigkeiten stehen, die die synchrone und diachrone Entwicklung von Ideen und Theorien bestimmen. Andererseits kann sich eine philosophi14
sehe Problementfaltung, wie Scheler sie paradigmatisch praktizierte, nicht unabhängig von Synchronie und Diachronie realisieren. Im Gegenteil: in diesem gesamten Spannungsgefüge von Diachronie, Synchronie und Tiefenstruktur philosophischer Problementfaltung haben sich Schelers Reflexionen über die disziplinäre Ordnung der Philosophie artikuliert, und in diesem Sinne und in dieser Lagerung sind sie ein wesentlicher Bestandteil und ein Grundproblem seiner - wie Heidegger sagte — aufs „Letzte und Ganze" ausgerichteten Philosophie.
II. Leben und philosophische Entwicklung 1. Jugend, Studium und erste Dozentenzeit Max Ferdinand Scheler wurde am 22.8. 1874 als Sohn des Rittergutsbesitzers Gottlieb Scheler (1831-1900) und seiner Ehefrau Sophie geb. Further (1844-1915) in München geboren. Seine Mutter soll eine strenggläubige Jüdin gewesen sein, „orthodox genug, um einen Rabbiner zum Antisemiten zu machen", wie Schelers Nichte Ciaire Goll meinte,1 doch Scheler selbst hat dies ganz anders gesehen: seine Mutter habe das Verhältnis zu ihrer Konfession verloren und nie in dieser Richtung auf ihn eingewirkt.2 Das religiöse Problem wird Schelers ganzes Leben und Denken begleiten. Von seinem Vater hat Scheler keine religiöse Orientierung erhalten. Um Sophie Further heiraten zu können, konvertierte er vom protestantischen zum jüdischen Glauben. Dabei soll die Aussicht auf die Erbschaft Sophie Furthers eine maßgebliche Rolle gespielt haben. So eng auch die familiäre Beziehung zum Erbonkel Hermann Further gewesen sein mag - zu Hause, schreibt Scheler, wurde er in „christlichen Gebeten" (welcher Konfession?) erzogen, so daß er zur „jüdischen so verehrungswürdigen Tradition" keine innere Beziehung gewann. „Erwachsen, trat ich aus der jüdischen Gemeinde aus, da ich mich nicht als Jude empfand, auch von meinen jüdischen Kameraden nie als solcher empfunden wurde." Schon während der Gymnasialzeit im Alter von vierzehn, fünfzehn Jahren hat sich Scheler der katholischen Religion zugewandt. Allzu eng •wurde diese Bindung zunächst nicht. Es scheint, daß sein zeitweilig starkes religiöses Bedürfnis die institutionalisierten Glaubensformen daraufhin testete, welche seinem Wesen am meisten entspräche, auf der Suche nach einem „persönlichen Gott". In seinen letzten Lebensjahren fühlte er 16
sich in keiner institutionalisierten Rehgionsform mehr geborgen. Schul- und Gymnasialzeit in München verliefen nicht ohne Probleme. Seine undisziplinierte Natur ließ ihn zu keiner geordneten Arbeitsweise finden. Da sich seine Eltern wenig um ihn kümmerten und insbesondere seine luxusgewöhnte Mutter ihr kleines Prinzchen nach Belieben gewähren ließ, nahm sich ein Onkel, Ernst Further, seiner Erziehung an. Er wies den hochbegabten, geistig vagabundierenden Jungen unter anderem auf die Schriften von Nietzsche und Schopenhauer hin. Schon damals muß Scheler wähl- und maßlos gelesen haben. Wegen seiner mangelhaften schulischen Leistungen wurde er für zwei Jahre auf eine private Paukanstalt gegeben. 1894 konnte er schließlich am Ludwigsgymnasium in München die Reifeprüfung ablegen. Auf einer Reise nach Südtirol, die ihm sein Onkel Ernst zum Schulabschluß schenkte, lernte er die getrennt von ihrem Mann lebende Amélie von Dewitz-Krebs (geb. 1867) aus Berlin kennen. Es entstand eine leidenschaftliche Beziehung, die beide zuerst auf Gedeih, später auf Verderb aneinander fesselte. Gedeihlich war Améhes Einfluß, indem sie Schelers unstetes Wesen zu zügeln und auf ein alles in allem geordnetes Studium zu konzentrieren wußte. Im Wintersemester 1894/95 schrieb sich Scheler an der Universität München für Medizin ein, doch galt sein Interesse bereits überwiegend der Philosophie, Psychologie und den Naturwissenschaften, vor allem der Biologie. In München hörte er hauptsächlich bei Th. Lipps, einem der prominentesten Vertreter des Psychologismus. Ein Jahr später zog er nach Berlin, wo Amélie lebte, und studierte zwei Semester an der Universität, was nur für eine Vorlesung über Sozialpsychologie bei Simmel und eine über Geschichte der Philosophie bei Dilthey bezeugt ist. Im Wintersemester 1896/97 setzte er sein Studium in Jena beim Naturphilosophen E. Haeckel und dem Neukantianer O. Liebmann fort. Im Neoidealisten R. Eucken fand er nicht nur seinen Doktorvater, sondern auch einen väterlichen Freund. Im Dezemoer 1897 promovierte Scheler mit 17
einer schon in Berlin begonnenen Dissertation über Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien (1899), eine systematisch ausgerichtete erkenntnistheoretische Schrift, in der er bereits eine auffallende geistige Selbständigkeit zeigte. Nach einem kurzen Studienaufenthalt in Heidelberg 1898 arbeitete Scheler in Jena seine Habilitationsschrift über Die transzendentale und die psychologische Methode (Jena 1900) aus, mit der er sich 1900 habilitierte. Seinen philosophischen Standpunkt identifizierte er mit Eukkens „Noologie", einer vom Neukantianismus inspirierten Geistphilosophie. 1899 konvertierte er zum katholischen Glauben und heiratete die inzwischen geschiedene Amélie. Die Ehe führte jedoch schon bald zu heftigen Zerwürfnissen, teils wegen Amélies ins Krankhafte gesteigerten Hysterie und Eifersucht, teils wegen Schelers bohèmehaftem Lebenswandel, der ihn über seine Verhältnisse leben ließ und in allerlei Amouren verwickelte - in allen Situationen, auch in seinen gut besuchten Lehrveranstaltungen, lernte er die suggestive Wirkung seines genialischen Geistes kennen, und er gefiel sich darin. Als Privatdozent las Scheler über Erkenntnistheorie und Ethik, außerdem über die neuere Geschichte der Philosophie. Eucken suchte den begabtesten seiner Schüler zu geordneter Arbeit anzuhalten, die aber Scheler ebenso floh wie sein Zuhause, dessen unleidliche Zustände seinen Geist mehr und mehr lähmten. Die von Eucken vermittelte Funktion in der Redaktion der Kantstudien (1903/4) gab Scheler bald wieder auf, ebenso den ehrenvollen, wiederum von Eucken vermittelten Auftrag, für die Festschrift für Kuno Fischer (Die Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 1905) einen Forschungsbericht über die Ethik zu schreiben. Einen auch wieder von Eucken vermittelten Verlagsvertrag für ein Buch über Logik suchte er über Jahre hinweg zu erfüllen, bis er den bereits gedruckten ersten Band zurückzog und auch dieses Projekt fallen ließ. Scheler war in eine Schaffenskrise geraten, deren Ursachen er in den psychisch belastenden häuslichen Verhältnissen sah, doch spielte wohl auch eine Rolle, daß sein unruhevoller Geist in der weichen, idealisierenden Atmosphäre von 18
Euckens Philosophie keine wesensgemäße Heimstatt gefunden hatte. Im Januar 1902 begegnete Scheler auf einem Empfang, den H. Vaihinger den Mitarbeitern der Kantstudien gab, dem Philosophen Edmund Husserl (1859-1938) - eine für seinen weiteren Lebensweg entscheidende Begegnung.3 Scheler fand bei Husserl das gleiche Erkenntnisinteresse, das sein eigenes Denken beherrschte: Überwindung des lebensfernen Methodologismus und Konstruktivismus der beiden herrschenden neukantianischen Schulen durch den Rückgang auf einen über die bloße sinnliche Erfahrung hinausreichenden Begriff der Anschauung, der als Fundament nicht bloß des Ganzen wissenschaftlicher Erkenntnisse, wie es Husserl vorschwebte, sondern des Ganzen der Kultur fungieren könnte. Husserls Einfluß auf die zeitgenössische Philosophie stand damals noch weit hinter dem der Lebensphilosophie von Dilthey, Nietzsche und Henri Bergson zurück. Zunächst war es hauptsächlich der fundamentalphilosophische Ansatz der Lebensphilosophie, der Scheler über die Noologie Euckens hinausführte. Gerade in der Zeit, in der Eucken Scheler drängte, die Logik zu vollenden, damit er ihn für den Titel eines außerordentlichen Professors vorschlagen könne, führte Amélie, veranlaßt durch Schelers leichtsinnigen und unbürgerlichen Lebenswandel und ihre extreme Reizbarkeit, einen öffentlichen Skandal herbei, der zur Folge hatte, daß sie selber in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde und Scheler gezwungen war, sich mitten im WS 1905/06 von der Universität beurlauben zu lassen. Scheler setzte sogleich alle Hebel seiner weitläufigen Beziehungen zu einer Umhabilitation an eine andere Universität in Bewegung - Berlin, Göttingen, Heidelberg faßte er ins Auge, doch am Ende nahm ihn die Universität seiner Geburtsstadt München auf. Dem Inhaber des Münchner Konkordatslehrstuhls G. v. Hertling stellte er seine philosophische Position selbstbewußt und strategisch geschickt folgendermaßen dar: „1. Ich ordne die Einzelprobleme den Weltanschauungsfragen unter. 2. Ich gehe von Kant aus insofern, als ich es für richtig halte, daß die Gegenstände der Erkenntnis, wie Kant gezeigt 19
hat, in Denk- und Anschauungsgesetzen gründen, die nicht auf Erfahrung gründen, sondern diese möglich machen; ich suche von hier aus eine radikale Überwindung des subjektiven Idealismus [...], insbesondere der subjektivistischen Elemente in Kants eigener Philosophie, anzubahnen, indem ich zu zeigen suche, daß die Gesetze des Geistes, um dessen Begriff es sich hier handelt, von aller Sonderbeschaffenheit der menschlichen Gattung und ihrer Organisation unabhängig sind [...]• Der noch in Kant steckende Sensualismus soll durch diese hier nur anzudeutende Theorie völlig überwunden werden. In diesen Fragen bin ich von der französischen Philosophie der Gegenwart, besonders von Bergson, vielfach belehrt worden [...]. 3. Ich halte dafür, daß es Ziel der exakten Naturwissenschaft sein muß, die Natur soweit als möglich mechanisch zu verstehen; daß aber die mechanischen Naturbilder selbst einen nur technisch utilitaristischen Wert haben [...], keineswegs aber einen Wahrheitswert [...]. 4. In der Ethik und Religionsphilosophie stehe ich Kant ferner wie in der theoretischen Philosophie [...], da ich die Gemeinschaft der individuellen Vernunftperson voranstelle und die reine Liebe für eine von den sinnlichen Empfindungen und Gefühlen, mit denen sie Kant zusammenwirft, unabhängige Funktion des Geistes halte, die dem Vernunftprinzip der Gerechtigkeit übergeordnet ist [...]. Meine Lehrmeister sind in diesen Dingen, vor allem der Augustinismus, Pascal, von neueren Eucken [...]. Ich bin Theist und Realist, suche aber den großen Wahrheiten der christlichen Mystik nach Möglichkeit gerecht zu werden."4 Im Dezember 1906 gelang die Umhabilitation nach München, für die Scheler auch eine Empfehlung von Husserl zu gewinnen wußte.
2. Von der Münchner Dozentur zum freien Schriftsteller In München schloß sich Scheler dem Schülerkreis von Th. Lipps an, dessen Mitglieder sich unter dem Einfluß von J. Daubert seit 1902/03 im Ausgang von Husserls Logischen Untersuchungen um die Entwicklung einer phänomenologi20
Abb. 1: Göttinger Phänomenologiekreis 1909
sehen Philosophie bemühten - neben A. Pfänder und M. Geiger gehörte Scheler bald zu den führenden Köpfen dieses Kreises. Die Arbeitsprojekte aus der Jenaer Zeit - die Ethik, die Erkenntnistheorie - versuchte Scheler nun aus einer phänomenologischen Einstellung heraus zu vollenden, auch neue Projekte traten hinzu: eine Grundlegung der Geisteswissenschaften, der Geschichtsphilosophie, der Biologie. Doch haben ihn die vielerlei Pläne nicht aus seiner geistigen Schaffenskrise befreit. Er versöhnte sich mit Amélie und veranlaßte sie leichtsinnigerweise, ebenfalls nach München zu kommen. Die Unverträglichkeit beider Naturen trat schon bald wieder zutage. Scheler reichte 1907 eine Scheidungsklage ein, zog sie aber kurz darauf wieder zurück. 1908 gab er die häusliche Gemeinschaft mit Amélie endgültig auf. Als diese erfuhr, daß er sich wenige Wochen nach der Trennung auf ein Verhältnis mit einer erheblich jüngeren Frau eingelassen hatte, für die er außer21
dem großzügig Geld ausgegeben haben soll, während er ihr gegenüber vorgab, die Alimente für seinen 1905 geborenen Sohn Wolfgang nicht oder nicht pünktlich zahlen zu können, verwandelte sich ihr verletzter Stolz in einen ungehemmten Vernichtungswillen. Sie verleumdete Scheler bei der Universität, ließ den unsittlichen Lebenswandel des „Professors für Ethik" in der sozialdemokratisch orientierten Münchener Post anprangern, und als Scheler durch den Druck der öffentlichen Meinung und des Senats der Universität gezwungen wurde, 1910 gegen die Münchener Post einen Beleidigungsprozeß anzustrengen, trat im Laufe der gerichtlichen Verhandlungen ein höchst zweifelhaftes Bild von der „Würde des Hochschulprofessors" zutage, das in allen Tageszeitungen detailliert geschildert wurde. Unmittelbar nach dem Freispruch des Journalisten wurde Scheler seines Amtes als Privatdozent enthoben. Er kündigte in unverständlicher Verkennung der Sachlage eine Berufung an, zog sie aber wieder zurück, weil er hoffte, in dem nun in die Wege geleiteten Scheidungsprozeß ein geeigneteres Forum für den Erweis seiner immer noch öffentlich beteuerten Unschuld zu finden. In dem Scheidungsprozeß wurde er 1912 jedoch als alleinschuldiger Teil von Amélie geschieden. Ein dreiviertel Jahr nach der Scheidung heiratete Scheler Märit Furtwängler (1891-1971), Tochter des Archäologen Adolf Furtwängler und Schwester des Dirigenten Wilhelm Furtwängler. Trotz seines üblen Leumunds wurde die Ehe kirchlich geschlossen. Scheler verließ mit seiner 17 Jahre jüngeren Frau München und ließ sich in Berlin als freier Schriftsteller nieder. Die Scheidung von Amélie wirkte wie eine Katharsis und löste den Bann, der zehn Jahre lang Schelers geistige Kräfte gelähmt hatte. Zwar führten all seine Bemühungen um eine akademische Lehrstelle, in die er eine Vielzahl von ihm näher oder ferner stehenden Personen von einigem Einfluß einbezog und selbst Universitäten in Japan, Kairo, New York in Erwägung zog, zu keinem Erfolg, aber sein genialischer Geist, vollkommen unberührt vom Ausgang des Münchner Skandalprozesses, ergoß sich in eine Vielzahl von größeren und kleineren Schriften, die zum Teil, bezeichnenderweise, Krankheitser22
Abb. 2: Das Ehepaar Märit und Max Scheler
scheinungen der menschlichen Psyche und des modernen gesellschaftlichen Lebens behandelten. Die drei wichtigsten Arbeiten waren die Aufsätze „Über Selbsttäuschungen" (1912, später unter dem Titel „Die Idole der Selbsterkenntnis", III, 213-292), „Über Ressentiment und moralisches Werturteil" (1912; später u.d.T. „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen", III, 33-147) und die Schrift Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß (1913; 2., wesentlich veränderte und erweiterte Auflage 1922 u.d.T. Wesen und Formen der Sympathie, VII, 7-258). Hinter allen diesen Arbeiten stehen auch persönliche Erfahrungen, die durch die phänomenologische Sichtweise ihrer individuellen Veranlassung entkleidet und auf apriorische Wesensgesetze zurückgeführt wurden. Die phänomenologische Anschauungsund Denkweise war wie geschaffen für die Freisetzung des philosophischen Impetus von Scheler. Durch die Vermittlung seines Freundes und Schülers Dietrich v. Hildebrand wurde Scheler von Husserls Schülern, die an der Universität Göttingen eine Gesellschaft für Philosophie gegründet hatten, vom Sommersemester 1910 an regelmäßig zu Vorlesungen eingeladen. Schelers Vorträge mußten in Gasthöfen stattfinden, weil er wegen seiner unehrenhaften Entlassung nicht an der Universität lesen durfte. Scheler war inzwischen im phänomenologischen Denken so sicher geworden, daß Husserl ihn zusammen mit A. Reinach, A. Pfänder und M. Geiger zum Mitherausgeber seines Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung (1913 ff.) machte. Alle vier Herausgeber stellten sich im ersten Band des Jahrbuchs mit paradigmatischen Untersuchungen vor, die ihr spezielles Arbeitsgebiet und ihre persönliche Auffassung von Phänomenologie dokumentierten. Scheler veröffentlichte den ersten Teil seiner berühmten Abhandlung über den Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, deren zweiter Teil 1916 im zweiten Jahrgang des Jahrbuchs erschien; beide Teile zusammen erschienen 1916 auch als selbständiges Buch, von dem zu Lebzeiten Schelers noch zwei weitere Auflagen gedruckt wurden (1921 und 1927). 24
Abb. 3: Edmund Husserl Durch Husserls Abhandlung über Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie kam es unter den München-Göttinger Phänomenologen zu einer Trennung: die meisten von ihnen machten Husserls Wendung zur Transzendentalphilosophie, zum „subjektiven Idealismus" nicht mit. Pfänder, Geiger, Hedwig Conrad-Martius, D. v. Hildebrand und Scheler vertraten eine „Wesensanalyse", die mit Hilfe der phänomenologischen Betrachtungsweise zu einer Freilegung der ontologischen Voraussetzungen aller geistigen Akte überhaupt zu gelangen suchte. Husserl warf ihnen erkenntnistheoretische Naivität und Unverständnis seiner eige25
nen philosophischen Intentionen vor, doch versagte er ihnen nicht, auch weiterhin im Jahrbuch zu veröffentlichen. Das Formalismusbuch gilt mit Recht als Schelers Hauptwerk. Es sollte eine positive „Grundlegung der philosophischen Ethik bezüglich aller wesentlichen für sie in Frage kommenden Grundprobleme" darstellen (II, 9). „Grundlegung" bedeutete dabei weder „vollständigen Ausbau" der Ethik noch eine streng wissenschaftliche Verknüpfung der behandelten Grundprobleme zu einer systematischen Einheit. Das Buch setzt sich vielmehr aus sechs relativ selbständigen Abhandlungen zusammen, die, wie Scheler schreibt, „mit stark komprimierten Gedanken und Digressionen in verschiedene philosophische Sachgebiete" ausgreifen (II, 12). Die erste Abhandlung über „Materiale Wertethik und Güter- resp. Zweckethik" stellt eine kritische Auseinandersetzung mit der sog. Güterethik dar, entwickelt aber auch grundlegende Gesichtspunkte für eine allgemeine Werttheorie, womit die Grenzen der Ethik beträchtlich überschritten sind. Die zweite Abhandlung über „Formalismus und Apriorismus" setzt die Grundlegung einer allgemeinen Werttheorie fort, geht aber zugleich auf erkenntnistheoretische Grundprobleme ein, die ebenfalls weit über die Ethik hinausgehen. Die dritte Abhandlung über „Materiale Ethik und Erfolgsethik" kann als die erste spezifisch ethische Abhandlung bezeichnet werden. In kritischer Abhebung vom Utilitarismus entwirft Scheler die Grundzüge einer Handlungstheorie und einer Theorie materialer ethischer Werte. Auch die vierte Abhandlung über „Wertethik und imperative Ethik" ist einer grundlegenden ethischen Problematik gewidmet: der Entfaltung des ethischen Wertbegriffs und seiner Abgrenzung vom Sollensbegriff - hier wendet sich Scheler hauptsächlich gegen die Ethik Kants. Die fünfte Abhandlung über „Materiale Wertethik und Eudaimonismus" läßt sich eher einer Theorie der Gefühle als der Ethik zuordnen. Die sechste Abhandlung, die umfangreichste, stellt mit „Formalismus und Person" die Grundlegung einer phänomenologischen Philosophie überhaupt und einer Sozialphilosophie dar. Sie entwickelt den Begriff der Person im Unterschied zum Ich und stellt den 26
Zusammenhang zwischen Person und Gottesidee sowie den grundsätzlich möglichen Sozialformen des Menschen dar. Die perspektivenreiche, aber unsystematische Darstellungsweise des Formalismusbuchs ist wiederholt kritisiert worden. Scheler hat die Kritik anerkannt, aber keine Konsequenzen daraus gezogen. Seine wegweisenden Ideen zu einer neuartigen Theorie des Geistes, der Person, der Werte, der Gefühle, der Erkenntnis, der Gottesidee und Soziallehre haben die formalen Mängel weit überstrahlt. Der Ausbruch des ersten Weltkriegs versetzte Scheler wie die meisten Deutschen in eine nationalistische Euphorie. Scheler betrachtete den Krieg vornehmlich als „deutschen" Krieg (IV, 139). Die Eigenart der deutschen Nation, die er als kulturelle, geistige Gesamtperson auffaßte, liege im „Kosmopolitismus", der mit „Internationalismus" nicht verwechselt werden dürfe: er stelle eine geistige Einstellung dar, die auf eine Vergemeinschaftung unverwechselbarer geistiger Individualitäten ausgerichtet sei. Hinter den kämpfenden Parteien stünden „große, historisch bewährte Kulturideen" (IV, 108), die, weit über bloß politisch-ökonomische Interessen hinausgehend, um ihre Vormacht kämpften (Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, Aufsatzsammlung, Leipzig 1915, 3 1917). In einer kurz darauf erschienenen neuen Aufsatzsammlung Krieg und Aufbau (Leipzig 1916) sah er den Sinn des Weltkriegs als „erstem Gesamterlebnis der Menschheit" darin, sie zu innerer Umkehr und Reue aufzurufen. In dem umfangreichen Aufsatz über die „Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Kriege", mit dem Scheler 1916 in der Zeitschrift Hochland missionierend für die katholische Kirche auftrat, versuchte er „Leitlinien zu geben, nach denen die in der katholischen Kirche latenten Kräfte des Glaubens, des Geistes und Gemütes zum Wiederaufbau einer europäischen Ordnung und zur Heilung unseres todkranken Vaterlandes entbunden werden könnten" (VI, 223). Von seiner enthusiastischen Deutung des „deutschen Krieges" distanzierte sich Scheler im Laufe des Krieges mehr und 27
mehr, nicht aber von der Überzeugung, daß der Krieg ein gottgewolltes Ereignis in der Geschichte der Menschheit darstelle und daß es darauf ankomme, Gottes Plan zu begreifen und die gesamten Lebens- und gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechend zu erneuern. Aus seiner im katholischen Glauben fundierten Weltanschauung und Geschichtsphilosophie heraus nahm Scheler in den Kriegsjahren Stellung zu aktuellen gesellschaftlichen Problemen - zu Kapitalismus, Sozialismus, Militarismus bis hin zur Frauenbewegung und zum sexuellen Liberalismus. In dieser Zeit seiner engagierten Mitarbeit am Hochland (1916-1919) fand seine größte geistige Annäherung an die katholische Kirche statt. Seine meist aus Vorträgen und Rezensionen hervorgegangenen Aufsätze hatte Scheler in einer zweibändigen Sammlung von Abhandlungen und Aufsätzen (Leipzig 1915) zusammengestellt, die er 1919 unter dem bezeichnenderen Titel Vom Umsturz der Werte in zweiter Auflage erscheinen ließ. Während der Kriegsjahre, in denen er wegen seiner Kurzsichtigkeit nicht aktiv dienen konnte, setzte er seine Bemühungen um eine akademische Anstellung fort. Es gelang ihm jedoch nur, 1917 und 1918 im Dienst des Auswärtigen Amtes in der Schweiz und in Holland vor internierten Deutschen Vorträge über aktuelle gesellschaftlich-weltanschauliche Probleme zu halten, doch bedeutete dies bereits eine partielle Rehabilitation. Als ihm Ende 1918 in Berlin der Titel eines Honorarprofessors verliehen wurde, waren die letzten Auswirkungen des Münchner Skandals behoben. Scheler war durch seine Aufsätze im Hochland, durch seine Vortragsreisen und seine Bücher zu einem der einflußreichsten katholischen Publizisten geworden. Für Konrad Adenauer, damals Oberbürgermeister von Köln, schien er der geeignete Mann zu sein, die deutsch-katholische Kultur in den linksrheinischen Gebieten gegen die französische Propaganda lebendig zu halten. Er setzte es durch, daß Scheler 1919 als einer von drei Direktoren an das neu gegründete „Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften" berufen wurde. In dem kulturpolitisch ausgewogenen Dreiergremium sollte Scheler neben 28
dem Sozialisten Hugo Lindemann und dem Liberalen Leopold v. Wiese der katholischen Weltanschauung Einfluß auf die Forschungen des Instituts verschaffen. Im gleichen Sinne sollte Scheler als Professor für Philosophie an der wiedereröffneten Kölner Universität wirken. Scheler empfand die Berufung als lange ersehnte Wiedergutmachung der in München erfahrenen Unbill. Durch die Befreiung von den Sorgen um einen standesgemäßen Lebensunterhalt hoffte er, Muße für die Ausarbeitung großangelegter philosophischer Untersuchungen zur Erkenntnistheorie, Sozialphilosophie und Religionsphilosophie zu finden.
3. Vom Theismus zum Panentheismus Seine vom Katholizismus überformte phänomenologische Philosophie fand ihren abschließenden Ausdruck in dem Buch Vom Ewigen im Menschen (Leipzig 1921), wiederum einer Aufsatzsammlung, die Scheler als Vorarbeiten für größere systematisch zusammenhängende Werke konzipiert hatte. Dem ersten Band über das Ewige im Menschen sollte ein zweiter mit einer Fortsetzung der Ethik und ein dritter mit Schelers Erkenntnistheorie folgen; diese beiden Bände, die auf der geistigen Grundlage „vom Ewigen im Menschen" beruhen sollten, hat Scheler schon nicht mehr ausgearbeitet. Der erste Band ist vor allem durch die umfangreiche Abhandlung „Probleme der Religion. Zur religiösen Erneuerung" (V, 101-354) einflußreich geworden. Nachdem Scheler die phänomenologische Betrachtungsweise für die Ethik und die Wertphilosophie fruchtbar gemacht hatte, tat er es nun für die Religionsphilosophie. Seine Abhandlung enthält die „ersten Fundamente des systematischen Baus" (V, 8) der Religionsphilosophie. Der programmatische Aufsatz „Vom Wesen der Philosophie" (V, 61-99), der einen Gegenentwurf zu Husserls Aufsatz über „Philosophie als strenge Wissenschaft" (1911) darstellt, entwickelt die Grundzüge eines personalistischen Philosophiebegriffs, der als Einleitung zu einer - nicht vollen29
deten - Schrift über Phänomenologische Reduktion und voluntativen Realismus — eine Einleitung in die Theorie der Erkenntnis dienen sollte (V, 11). Unabhängig von, aber gleichzeitig mit Scheler führte N. Hartmann eine ähnliche Konzeption in seinem Buch Metaphysik der Erkenntnis (1921) aus, während er in Anlehnung an Scheler die Idee einer materialen Wertethik in seiner Ethik (1926) ebenso umfassend wie detailliert ausgeführt hat. N. Hartmann kann mit diesen Werken als der systematisierende Vollender von Schelers genialischen Visionen gelten. So sehr Scheler auch N. Hartmanns Schriften begrüßte, wurde er durch sie doch mit der Gefahr konfrontiert, durch die systematischen Vollender seiner Ideen zu einem bloßen Anreger und Vorläufer herabgesetzt zu werden. Er versuchte dieser Gefahr dadurch zu begegnen, daß er sich mit so großer Energie, wie seine vielen Vortragsreisen, Lehrverpflichtungen und seine angegriffene Gesundheit zuließen, dem systematischen Ausbau seiner Philosophie widmete. Doch zwangen ihn finanzielle Probleme, immer wieder Gelegenheitsarbeiten zu übernehmen und kleinere Aufsatzsammlungen herauszugeben. Anfang der zwanziger Jahre plante Scheler, statt einer erneuten Auflage von Krieg und Aufbau (1916) eine Sammlung von Aufsätzen unter dem Reihentitel Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre unter aussagekräftigeren Untertiteln herauszugeben und mit neuen Aufsätzen zu ergänzen. 1923/24 sind drei von vier geplanten Bändchen mit den Titeln Moralia, Nation und Weltanschauung und Christentum und Gesellschaft erschienen. Der vierte Band sollte Schelers Geschichtsphilosophie enthalten - er blieb eines seiner vielen ungeschriebenen Werke. Aufsehen erregte ein Passus aus dem vom „Dezember 1923" datierten Vorwort zu den beiden Halbbänden Christentum und Gesellschaft, in denen Scheler die „Auswertungsmöglichkeiten religiöser Ideen und religiöser Energien für die Gestaltung gesellschaftlichen Daseins" (VI, 224) prüfen wollte. Dort heißt es: „Obgleich sich der Verfasser stets klar bewußt war, daß er nach den strengen Maßen der Theologie der römischen Kirche sich einen .gläubigen Katholiken' 30
zu keiner Zeit seines Lebens und seiner Entwicklung nennen durfte (hatte er doch schon in seinem Buche ,Der Formalismus in der Ethik usw.' den Bestand einer göttlichen Strafgerechtigkeit restlos bestritten und geleugnet), so wußte er sich während der Niederschrift dieser Aufsätze dem kirchlichen Gedankensystem immerhin erheblich näher als heute. Über das Maß und die Art der Entfernung des Verfassers von diesem System (die bereits Inhalt und Begründungsform der Gottesidee mitbetrifft) werden eine Reihe metaphysischer Abhandlungen, insbesondere der in Vorbereitung befindliche zweite Band von ,Vom Ewigen im Menschen' der Öffentlichkeit seinerzeit genauen Aufschluß erteilen. Wenn aber gleichwohl der Verfasser gefragt würde, welcher von den religiösen und geistigen Kollektivmächten, die überhaupt noch einen Richtung und Gestalt gebenden Einfluß auf die Gesellschaft und ihre Fortbildung geben können, er am meisten wertvolle praktische und erzieherische Kraft und Heilsamkeit zugleich zuschreibe, so würde er auch heute nicht anstehen zu antworten: der christlichen Kirche in der Form, die sie im römischen Katholizismus angenommen hat. Wer in diesen beiden Positionen des Verfassers einen einfachen sog. .Widerspruch' sehen würde, würde unseres Erachtens die Kompliziertheit dieser Welt unterschätzen." (VI, 224 f.) Daß einer der prominentesten Vordenker der katholischen Erneuerungsbewegung, die sich seit dem Kulturkampf aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im kulturellen Leben erfolgreich entwickelt hatte, dem katholischen Glauben nur noch eine gesellschaftsformierende Bedeutung zusprach, sich selber aber von zentralen Lehrgehalten lossagte, mußte im katholischen Köln und in der Öffentlichkeit überhaupt, nicht zuletzt unter denen, die unter Schelers Einfluß zum katholischen Glauben übergetreten waren, und unter denen, die ihn als Erneuerer katholischen Geistes in einer dem Pragmatismus und Kapitalismus anheimfallenden Industriegesellschaft nach Köln gerufen hatten, als Zusammenbruch eines einstmals großen Geistes, wenn nicht gar als Betrug erscheinen. Einige, wie der konvertierte katholische Schriftsteller Th. Haecker, erklärten 31
sich diesen Umbruch dadurch, daß Scheler im Grunde nie ein Katholik gewesen sei. Andere dagegen erklärten ihn aus der zwiespältigen Persönlichkeit Schelers: „Es liegt ein Bruch in seiner Philosophie vor, wie er radikaler nicht gedacht werden kann, ein Bruch, an dem nicht zu deuten ist. Zu verstehen ist derselbe nur aus dem Menschen Scheler, aus der ganzen Tragik seiner Natur und seines Lebensschicksals." So der einstige Freund Schelers, Dietrich v. Hildebrand,6 der sich nun brüsk von Scheler abwandte (was er später bereut haben soll). In Köln kursierten Gerüchte, daß Schelers Gesinnungswandel allzu menschliche Ursachen habe. Denn kurz nach seiner Berufung nach Köln 1919 hat er die junge Studentin Maria Scheu kennengelernt, zu der ihn eine schnell aufflammende Leidenschaft hinzog. Maria Scheu wurde Hilfsassistentin am Forschungsinstitut und arbeitete eng mit Scheler zusammen. Seine Liebe zu Märit hatte sich schon seit längerem ins Seelische sublimiert. In dem Konflikt zwischen vitaler Leidenschaft und geistiger Liebe faßte Scheler die Idee einer Liebe zu dritt, sah sich aber im katholischen Köln innerlich gezwungen, hierfür eine andere, eine, wie er meinte, tiefere Rechtfertigung zu suchen, als katholischer Glaube und bürgerliche Moral ermöglichten. Lebensdrang und Geist machte er zu gleichsam gleichberechtigten metaphysischen Mächten, die danach streben, sich miteinander zu versöhnen, wodurch sich in und mit ihnen eine jenseitige, überpersönliche, schlechthin absolute Gottheit mehr und mehr zur Wirklichkeit bringe. Märit, die unter Schelers Einfluß zum Katholizismus übergetreten war, versagte sich einer Liebe zu dritt. Scheler ließ sich von ihr scheiden (1923). Maria Scheu und ihre gutbürgerliche Familie drängten auf eine Legalisierung des Verhältnisses, so daß sich Scheler schließlich bereit fand, Maria zu heiraten (1924). Freunde zogen sich von ihm zurück, die katholische Publizistik griff ihn an, die kirchlichen Kreise verschlossen sich vor ihm. In der gleichen Zeit nahmen seine Erschöpfungszustände zu, langwierige Krankheiten stellten sich ein, mehrfach ließ sich Scheler, nachdem es ihm gelungen war, sein Extraordinariat in einen ordentlichen Lehrstuhl umwandeln zu lassen, von seinen Lehrverpflichtun32
gen beurlauben. Die Befürchtung, sein philosophisches Lebenswerk, das auch eine Rechtfertigung seiner gewandelten Weltanschauung sein sollte, nicht mehr vollenden zu können, nahm zu, was ihn wiederum veranlaßte, ein noch vor dem Weltkrieg konzipiertes kleines Werk über Tod und Fortleben neben seinen anderen Werkplänen weiterzuführen - es wuchs sich in immer weiter ausgreifende anthropologische und metaphysische Dimensionen aus, wurde aber nicht vollendet. Den Bruch in seiner philosophischen Weltanschauung sah Scheler selbst nicht ganz so radikal wie seine katholischen Kritiker. Im Vorwort zur dritten Auflage des Formalismusbuchs schrieb er 1926: „Es ist der Öffentlichkeit nicht unbekannt geblieben, daß der Verfasser in gewissen obersten Fragen der Metaphysik und der Philosophie der Religion seinen Standort seit dem Erscheinen der zweiten Auflage dieses Buches [1921, W. H.] nicht nur erheblich weiterentwickelt, sondern auch in einer so wesentlichen Frage wie der Metaphysik des einen und absoluten Seins (das der Verfasser nach wie vor festhält) so tiefgehend geändert hat, daß er sich als einen ,Theisten' (im herkömmlichen Wortsinne) nicht mehr bezeichnen kann [...]. Um so wichtiger erscheint es dem Verfasser, an dieser Stelle scharf hervorzuheben, daß die im vorliegenden Werke niedergelegten Gedanken durch diese Umbildung der metaphysischen Grundansicht des Verfassers nicht nur nicht mitbetroffen -wurden, sondern daß im Gegenteil sie ihrerseits einige der Gründe und geistigen Motive darstellen, die diese Umbildung erst herbeigeführt haben. [...] Die Änderungen der metaphysischen Ansichten des Verfassers sind außerdem überhaupt nicht auf irgendwelche Änderungen in seiner Philosophie des Geistes und der gegenständlichen Korrelate der geistigen Akte, •sondern auf Änderungen und Erweiterungen seiner naturphilosophischen und anthropologischen Anschauungen zurückzuführen." (II, 17) Aus den verwickelten Problemstellungen und Denkwegen, denen er gefolgt war, traten in den zwanziger Jahren mehr und mehr drei philosophische Disziplinen in den Vordergrund: die Erkenntnistheorie, die Anthropologie und die Metaphysik. 33
Alle drei weisen eine sehr komplizierte Binnenstruktur auf, durch die sie außerdem vielfältig miteinander verzahnt sind. Die Erkenntnistheorie, an der Scheler seit seiner Jenaer Dozentenzeit durch die Wandlungen seines Philosophieverständnisses hindurch weitergearbeitet hatte, trat nun einerseits unter die Perspektive eines der großen Forschungsprojekte des Kölner Instituts, der Wissenssoziologie, andererseits unter die Perspektive der Metaphysik. Im Vorwort zu seinem Werk über Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926), das die beiden Untersuchungen „Probleme einer Soziologie des Wissens" (VIII, 15-190) und „Erkenntnis und Arbeit. Eine Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen Motivs in der Erkenntnis der Welt" (VIII, 191-382) enthält, schreibt Scheler unter Anspielung auf eine berühmte Formulierung Kants: „Die gleichzeitige Aufnahme einer wissenssoziologischen Abhandlung und einer ausgedehnten erkenntnistheoretischen und ontologischen Arbeit in ein und dasselbe Werk könnte auf den ersten Blick Verwunderung erregen. Sie hat ihren tieferen Grund in der mich leitenden prinzipiellen Überzeugung, daß erkenntnistheoretische Untersuchungen ohne gleichzeitige Erforschung der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung der obersten Typen menschlichen Wissens und Erkennens zu Leere und Unfruchtbarkeit verurteilt sind; eine Entwicklungslehre und Soziologie des menschlichen Wissens aber [...] richtungs- und haltlos und ohne letztes Fundament bleiben muß, wenn nicht klar bewußte erkenntnistheoretisch sachliche Überzeugungen das Unternehmen führen." (VIII, 9) Prinzipientheorie und Empirie ergänzen sich, und das Ergebnis ist eine Lehre der Vernunft, die in Geschichtsphilosophie und Metaphysik zugleich begründet ist. „Beide größeren Abhandlungen aber haben im Zusammenhange der Veröffentlichungen des Verfassers und seiner geistigen Entwicklung [...] den gewichtigen Sinn, ein Eingangstor zu eröffnen für streng methodisches metaphysisches Erkennen und Denken. [...] Man wird die Metaphysik des Verfassers nur verstehen, wenn man dieses Buch gelesen hat." (VIII, 11) In den Kontext der Erkenntnistheorie, Ontologie und Metaphysik gehört auch die 34
Abb. 4: Martin Heidegger, 1927
Bruchstück gebliebene Abhandlung über „IdealismusRealismus", die 1927 in Plessners Philosophischem Anzeiger erschienen ist (IX, 183-241). Wie die Erkenntnistheorie, ja mehr noch als sie, stand die Anthropologie im Mittelpunkt von Schelers Denken. „Die Fragen: Was ist der Mensch, und was ist seine Stellung im Sein? haben mich seit dem ersten Erwachen meines philosophischen Bewußtseins •wesentlicher beschäftigt als jede andere philosophische Frage", heißt es im Vorwort zu der aus einem Vortrag hervorgegangenen Schrift über Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928; IX, 9). Sie stellt eine „kurze, sehr gedrängte Zusammenfassung meiner Anschauungen über einige Hauptpunkte der philosophischen Anthropologie' dar, die ich seit Jahren unter der Feder habe, und die zu Anfang des Jahres 1929 erscheinen wird" (IX, 9) - was nicht mehr geschah; am 19. Mai 1928 war Scheler überraschend an einem Herzversagen gestorben, und der Nachlaß enthielt keine druckreifen Ausarbeitungen. 35
Für Scheler schien sich in seinem letzten Lebensjahr alles noch zum Besseren wenden zu wollen, denn 1928 war es seinen Freunden nach jahrelangen Bemühungen gelungen, ihn aus dem ungeliebten, düsteren, katholischen Köln an die junge Universität Frankfurt auf einen Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie zu berufen. Hier wollte er, ähnlich wie bei seiner Ankunft in Köln 1919, die vielen angesammelten Materialien und Teilausarbeitungen von Problemstellungen endlich zu einer großangelegten systematischen Philosophie vereinigen. Ihre Krönung sollte die Metaphysik darstellen, die er parallel zur Anthropologie auszuarbeiten begonnen hatte. Von ihr ist nicht einmal ein so gedrängter Abriß erschienen wie von der Anthropologie, doch hat Scheler in Vorträgen, die er noch zu einer kleinen Sammlung Philosophische Weltanschauung zusammenstellen konnte - sie erschien posthum 1929 —, einige Grundzüge seiner Metaphysik angedeutet, vor allem in den Vorträgen über „Spinoza" (1923; IX, 171-182), „Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs" (1927; IX, 145-170) und „Philosophische Weltanschauung" von 1928, dem letzten von Scheler veröffentlichten Aufsatz (IX, 75-84). Aus den Fragmenten zur Metaphysik, die M. S. Frings 1979 aus dem Nachlaß herausgegeben hat, sind die Grundzüge von Schelers später Metaphysik nur andeutungsweise erkennbar (Bd. XI). In den Nachrufen ist häufig darauf hingewiesen worden, daß Schelers Spätphilosophie ein getreues Spiegelbild seiner Person darstelle. Sein persönliches Auftreten bot selten einen einheitlichen Gesamteindruck; etwas Flackerndes, Irritierendes mischte sich ein, das sich auch auf seine physische Erscheinung bezog: in den zwanziger Jahren war er klein, beleibt, kahlköpfig, fast ohne Hals, so daß der Kopf unmittelbar auf dem massigen Körper aufsaß, mit einer breiten, fleischigen, brutal wirkenden Kinnlade, die beim Essen, dem sich Scheler gern und ungehemmt hingab, unerhörte Mengen wahllos zusammengegriffener Eßwaren zu bewältigen vermochte. Doch über seiner massigen, formlosen Animalität leuchtete ein hellblaues, leicht aus dem Kopf hervortretendes Augenpaar so ausdrucksstark und faszinierend, daß es die Anwesenden in Bann schlug und sie 36
Abb. 5: Max Scheler über die unsauber wirkende physische Erscheinung hinwegsehen ließ. 1926 malte ihn Otto Dix - das Bild hängt in der Universität Köln - Gadamer nannte es treffend „ein begeisterndes Dokument des Stils der neuen Häßlichkeit".7 Scheler akzeptierte das Porträt: „Dix hat mich also gemalt", schrieb er am .17.3.1926 an Märit Furtwängler, „überlebensgroß, ernst, schwer - mehr die härteren Züge meines Wesens - wie mich ein genialer Proletarier sieht. Aber sehr treu und genau" (Mader 1980, 96). Dem Betrachter fällt wie allen, die Scheler noch persönlich gekannt haben, der Widerspruch zwischen den aktiven, geradezu stechenden, weit geöffneten Augen und der schweren Kinnpartie auf - ein Porträt des Widerstreits 37
zwischen Geist und Lebensdrang. Chr. Eckert, Geschäftsführer des Kölner Forschungsinstituts, mit Scheler spannungsreich befreundet, faßte den Gesamteindruck so zusammen, wie er sich bei vielen anderen auch findet: „Ein Geistes- und Triebmensch in einer Person, dämonisch in einzelnen Zügen, zugleich kindlich naiv."9 Seine geschichtsphilosophische Vision, daß durch die Äonen hindurch die beiden Weltprinzipien von Geist und Lebensdrang einer wechselseitigen Durchdringung und damit einer Versöhnung entgegenstrebten, mochte ihm in seiner eigenen Zerrissenheit Trost gewährt haben. Für seine Freunde stellte sich aber nur einmal mehr die Frage, ob so ein „metaphysischer Trost" der Täuschbarkeit des menschlichen Geistes enthoben ist. Den Christen unter den (einstigen) Freunden bedeutete Schelers Lebensweg die dämonisch getriebene Selbstzerstörung eines reichen Geistes. Für den Philosophen P. F. Linke, der ebenfalls über die Phänomenologie hinausgegangen war, stellte Scheler den lebendigsten Beweis für die Vermittlung von Geist und Leben dar - „naiv in dem doppelten Sinne des Kindlichen und des Triebhaften, konnte er in Freude wie in Leid den urtümlich-einfachen Seiten des Daseins zugewandt sein und dabei doch Geist bleiben". Für Moritz Geiger, Schelers Freund aus den Tagen der Münchner Phänomenologen-Gruppe, schienen die beiden Prinzipien nicht zu Konflikten führen zu müssen. Er sieht das Auszeichnende Schelers darin, „daß er vom Leben erfüllt war wie wenige, und doch zugleich vom Geiste besessen wie kaum einer" (Voss. Zeitung, Berlin 1. 6. 1928). Und N. Hartmann, der Kölner Kollege und Freund Schelers, hat Schelers Stärke gerade in der Kraft stetigen Umlernens, unentwegter Wandlung und Neugestaltung gesehen, aus der heraus er sorglos frühere Behauptungen aufgeben konnte, als Ausdruck einer spezifischen „Lebensphilosophie" (Kantstudien 1928, S. X, XIV). Die Besessenheit im Sinnlichen und Geistigen empfanden viele, wie Scheler übrigens selber auch, als etwas Dämonisches, andere als etwas Genialisches. Edith Stein hatte Scheler vor dem Ersten Weltkrieg in Göttingen gehört. „Nie wieder ist mir an einem Menschen 38
Abb. 6: Die Totenmaske
so rein das ,Phänomen der Genialität' entgegengetreten", schrieb sie in ihren Erinnerungen" - wobei offen bleibt, ob sie mit dem Phänomen der Genialität wirklich etwas so Positives gemeint hat, wie es sich anhört. Sieht man Scheler als „Phänomen des Genialischen" zusammen mit seinem Lebensschicksal vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Stellungnahmen, dann nimmt sein Bild tatsächlich dämonische Züge an, die ebenso gut auf einen „Ikarussturz" 12 wie auf einen Weg zur Selbstdeifikation gedeutet werden können; der Fall entzieht sich einem eindeutigen Urteil.
III. Vom Wesen der Philosophie Schelers geistige Entwicklung, die ihn vom Neukantianismus zur Phänomenologie und Metaphysik sowie durch die verschiedensten philosophischen und nicht-philosophischen Problemkreise geführt hat, wirkte sich auch auf seine Reflexionen über Wesen und Aufgabe der Philosophie aus. Deshalb muß, abgesehen von der inhaltlichen Differenzierung, parallel zur Entwicklung seines Denkens mindestens zwischen drei verschiedenen Philosophiebegriffen unterschieden werden. Allerdings muß man sich auch darauf einstellen, daß die theoretische Bestimmung des Philosophiebegriffs nicht immer übereinstimmt mit Schelers Praxis des Philosophierens; diese Dimension des Problems soll im folgenden jedoch ausgeklammert bleiben.
1. Philosophie als Wertkritik des Bewußtseins Die erste Periode von Schelers Entwicklung ist bereits geprägt von einer umfassenden, hoch differenzierten und durchgehend reflektierten Auffassung der Philosophie. Wie sein Lehrer R. Eucken beschränkt Scheler sich nicht darauf, den Begriff der Philosophie Standpunkt-immanent zu bestimmen, was meistens verbunden ist mit dem Entwurf eines Ideals, das dem Publikum zum Nachvollzug angepriesen wird, Scheler reflektiert vielmehr die Philosophie zugleich von außen. Er stellt die Philosophie von Anfang an in übergreifende Kontexte: in den Kontext ihrer eigenen Geschichte mit der Mannigfaltigkeit verschiedener Standpunkte, in den Kontext nicht-philosophischer Wissenschaften und in den Kontext weltanschaulicher, kultureller, religiöser und auch politischer Bestrebungen der Zeit. So zeichnet sich bereits in Schelers erster Periode ab, daß 40
die Frage nach dem Wesen und der Aufgabe der Philosophie zu einer Ortsbestimmung der Philosophie in der Gegenwartskultur überhaupt führt. Schon in der Dissertation (1899) und mehr noch in der Habilitationsschrift (1900) nimmt Scheler die Auseinandersetzung mit Standpunkten auf, die die Philosophie in Abhängigkeit von positiven Wissenschaften zu bringen suchen, insbesondere von Psychologie und Mathematik. Wenn Scheler die Philosophie definiert als „Wertkritik des Bewußtseins" (I, 12, 14), dann ist die engere, vom südwestdeutschen Neukantianismus ausgehende Aufgabe, die Gesetzmäßigkeiten und Grenzen der menschlichen Vernunft kritisch zu bestimmen, zugleich auf die allgemeinsten kulturellen Wertsysteme der modernen Gesellschaft bezogen. Ähnlich wie Eucken geht es ihm um den „Kampf um einen geistigen Lebensinhalt".1 Scheler trat der Tendenz der Moderne zur Verselbständigung der drei wichtigsten Kulturbereiche, die sich unter den Wertsystemen des Guten, Wahren und Schönen entwickelt haben, dadurch entgegen, daß er die Beziehungen herauszuarbeiten begann, die zwischen ihnen bestehen und ein fruchtbares Zusammenwirken ermöglichen könnten. Mit dieser Aufgabenstellung bekannte sich Scheler nicht nur zu einem umfassenden, systematischen Philosophiebegriff, sondern setzte sich in einer metaphysikfeindlichen Zeit auch schon für die Wiedergeburt der Metaphysik ein, die die Sinn-Einheit der Kultur gewährleisten sollte - auch dies ein Erbe Euckens. Seine über die aktuellen Zeitverhältnisse hinausgreifenden Intentionen ließen ihn auf philosophische Bemühungen früherer Epochen zurückgreifen — er war überzeugt, daß diese nicht als .überwunden' gelten konnten. In seinen Augen unterlag vielmehr die Philosophie, ebenso wie die anderen grundlegenden Kulturleistungen, nicht wie die exakten Wissenschaften und die Entwicklung der Zivilisation einem einlinigen Fortschrittsgesetz, das frühere Leistungen unwiederbringlich der Vergangenheit überantwortet. Vielmehr folgten die Kulturleistungen insgesamt dem ganz andersartigen Gesetz eines überhistorischen Wachstums, einer „steten Bereicherung des geistigen Le41
bens" (1,11). So versuchte er schon frühzeitig die Grenzen zwischen dem philosophischen und dem positiv-wissenschaftlichen Erkennen sowie zwischen den verschiedenen Formen des Wissens und anderen Ausdrucksformen von Sinngehalten zu bestimmen, wie der Kunst und Religion. Doch fand sein umfassendes Philosophieprogramm auch schon Gegner. O. Liebmann warf ihm in seinem Gutachten zur Habilitationsschrift eine universalistische Tendenz vor. Sie gehe immer wieder in eine bunte Polyhistorie über und eröffne im Ganzen gesehen eher nur programmatische Ausblicke, als daß sie die Fruchtbarkeit des projektierten Standpunkts für die Überwindung der Unzulänglichkeiten der beiden wichtigsten methodologischen Ansätze der Gegenwart, des psychologischen und transzendentalen Standpunkts, erweise.2 Scheler ließ sich durch Liebmanns Kritik jedoch nicht beirren. In einem Ferienkurs über „Einleitung in die Philosophie", den er im August 1901 hielt, faßte er die Aufgabe, „Wesen, Definition und Einteilung der Philosophie" zu bestimmen, in folgenden Punkten zusammen: „1. Motive zum Philosophieren: Weltstellung des Menschen. (Piaton, Aristoteles, Pascal, Kant.) 2. Gleichartigkeit der geschichtlichen Lagen, in denen Philosophie entstanden ist. 3. Schwierigkeiten der Definition. Historisch genetischer Weg zur Definition. Vier Hauptgestaltungen der Philosophie: Indische Philosophie, Philosophie der Griechen und Römer, Mittelalterliche Philosophie, Philosophie der Neuzeit. Die Definitionen von Aristoteles und Kant. 4. Welt- und Schulbegriff der Philosophie. Ihr Verhältnis. 5. Einteilung der Philosophie: Normwissenschaften, Erkenntnislehre, Psychologie, Metaphysik. Historische Variabilität der Beziehungen dieser Wissenschaften zu einander und der Philosophie überhaupt zu den Einzelwissenschaften. Der gegenwärtige Stand der Frage."3 Mit diesem Fragenkatalog hat er Inhalt und Aufgaben einer Metatheorie der Philosophie umrissen, an der er zeit seines Lebens fortgearbeitet hat. 42
2. Phänomenologische Philosophie Erst in seiner Münchner Dozentenzeit (1906ff.) konnten sich die Anregungen entfalten, die Scheler nach seiner persönlichen Begegnung mit Husserl (1902) durch die Logischen Untersuchungen (1900/01), aber auch durch Bergsons Philosophie der Intuition erhalten hatte. In dem posthum erschienenen „Aufsatz über die Lehre von den drei Tatsachen" (1910/11), der im Kontext seiner nie vollendeten Einführung in die Erkenntnistheorie entstanden ist, unterscheidet er die Philosophie sowohl vom alltäglichen Erkennen, das er als „natürliche Weltanschauung" bezeichnet, als auch von den Erkenntnissen, die die positiven Wissenschaften erbringen. Beide sind Erkenntnisarten realer Gegenstände, die relativ sind auf den psychophysischen Organismus des Menschen. Die als Phänomenologie aufgefaßte Philosophie führt durch die sog. „Reduktion" zu einer Neutralisierung der Realitätsdimensionen aller erfahrbaren Dinge, weil durch das Realitätsmoment einschränkende oder irreführende Erkenntnisinteressen evoziert werden. Durch die Neutralisierung der Realitätsdimension und ihrer Modifikationen (des Wahrscheinlichen, Unwirklichen usw.), die sowohl das Subjekt als auch die Objekte umfaßt, bleibt allein der auf pure Bedeutungen bzw. „reine Tatsachen" oder „Phänomene" ausgerichtete Bewußtseinsakt übrig, für den Scheler schon sehr bald den Begriff „Akt des Geistes", und zwar speziell der „geistigen Anschauung" verwendet. Das der Wirklichkeit enthobene Phänomen muß durch Akte der Analyse von seinen mehr oder weniger zufälligen Bedeutungsaspekten gereinigt werden, bis schließlich durch alle mögliehen Variationen der Erscheinungsweisen der Gegenstände hindurch ihr invariabler Bedeutungskern, ihr „Wesen" geistig anschaubar wird (X, 443 ff.), und zwar in „reiner Intuition" (X, 445). Die gesamte Sphäre der der Realitätsdimension enthobenen geistigen Erkenntnisakte und der ihnen korrelierenden Gegenstandsarten, d.h. der Wesenheiten und ihrer gesetzmäßigen Zusammenhänge, wurde das eigentliche For43
schungsgebiet der phänomenologischen Philosophie. Scheler gliederte es gemäß der „Intentionalität" des Geistes, der zufolge die Bewußtseinsakte stets auf bestimmte, ihnen wesensmäßig entsprechende Sachverhalte ausgerichtet sind, in drei Bereiche: in die „Sachphänomenologie", in die „Aktphänomenologie" und in die Phänomenologie der Korrelationen zwischen Akt und Gegenstand, also dem Feld der Intentionalität (II, 90). Anfangs war Scheler mit Husserl noch der Auffassung, daß die Reduktion ein bloßes „Absehen von" der Realitätsdimension, also ein bloßer Abstraktionsakt sei. Phänomenologie war ihm deshalb auch eher eine geistige „Einstellung" denn eine Methode, so daß er Reflexionen über eine phänomenologisch fundierte Philosophie für zweitrangig halten konnte - der „Erkenntniswert der in der phänomenologischen Einstellung gefundenen Sätze auf allen Gebieten der Philosophie" sei ganz unabhängig „von der Klärung der Frage nach dem allgemeinen Wesen der .Phänomenologie', von Angaben, was Phänomenologie ist und wolle" - so 1914 in dem erst posthum veröffentlichten Bericht über „Phänomenologie und Erkenntnistheorie" (X, 379). Als er an sich selbst erfahren hatte, daß sich die Realitätsthematik keineswegs einfach durch Abstraktionen neutralisieren ließ, begann er, die Reduktion zu einer wohlüberlegten geistigen Praxis und Methodik zu entwickeln. In seinem Aufsatz über das Wesen der Philosophie, der das geplante Buch über Phänomenologie und Erkenntnis einleiten sollte, schrieb er: Erst wenn der Begriff der Philosophie bestimmt ist, „können die philosophischen Disziplinen entwickelt und kann das Verhältnis der Philosophie zu allen Arten nichtphilosophischer Erkenntnisart: 1) zur natürlichen Weltanschauung, 2) zur Wissenschaft, 3) zu Kunst, Religion, Mythos entwickelt werden" (V, 83). Hier kehrt das gesamte Programm seiner Jenaer Einleitungsvorträge wieder. Scheler hat diese Konzeption eines sehr weitgefaßten und vielgestaltigen Wissensbegriffs bis zuletzt für seine Vorlesungen über die Einleitung in die Philosophie beibehalten. Die Philosophie ist für ihn nicht eine Fachdisziplin neben anderen, er will sie vielmehr wieder in ihre 44
alten Rechte als Königin aller Wissenschaften, aller Wissensformen einsetzen. Der Frage nach dem Wesen der Philosophie spricht er dann auch folgerichtig die Aufgabe der Selbstkonstitution der Philosophie zu (V, 63). Was Scheler in dieser Zeit unter der „phänomenologischen Reduktion" verstanden hat, kommt im Untertitel seines Aufsatzes „Vom Wesen der Philosophie und der moralischen Bedingung des philosophischen Erkennens" (1917) zum Ausdruck: die Reduktion wird zu einem moralischen Verhalten. Um den Standpunkt jenseits der Realitätsverflechtungen zu erreichen, von dem aus allein Philosophie als voraussetzungsfreie, reine Wissenschaft möglich ist, bedarf es einer Art von Befreiungsaktion aus den Netzen der Realität. Scheler legt seiner Theorie der Reduktion, die mehr und mehr das zentrale Bestimmungsstück seiner Auffassung von Phänomenologie wird, das an Piaton orientierte Modell des geistigen Aufstiegs zugrunde, weicht aber zugleich erheblich von ihm ab: „Im Gefüge dieser moralischen, die philosophische Erkenntnis wesensmäßig disponierenden Grundakte unterscheiden wir eine positive Grundaktart und zwei negativ gerichtete Grundaktarten, die nur in ihrem einheitlichen Zusammenwirken den Menschen an die Schwelle möglicher Gegebenheit des Gegenstandes der Philosophie gelangen lassen: 1. die Liebe der ganzen geistigen Person zum absoluten Wert und Sein, 2. die Verdemütigung des natürlichen Ich und Selbst, 3. die Selbstbeherrschung und dadurch erst mögliche Vergegenständlichung der die natürliche sinnliche Wahrnehmung stets notwendig mitbedingenden Triebimpulse des als leiblich' gegebenen und als leiblich fundiert erlebten Lebens." (V, 89) Wenn Scheler die Liebe als die positive Grundaktart schlechthin bezeichnet, dann erstreckt sich dies zwar prinzipiell auf alle verschiedenen Aktarten des Geistes, soll hier aber nur für die Aktarten reiner Erkenntnis in Anspruch genommen werden, für die Aktarten der geistigen Anschauung und des Ideen-Denkens. Unter der Liebe versteht Scheler, weit 45
über den umgangssprachlichen Wortsinn hinausgehend, etwas wie eine grundsätzliche Offenheit zur Welt, ein selbstloses Interesse an erkennender Teilhabe an der Welt im Ganzen und an allen ihren Details und eine uneingeschränkte Bejahung all dieser erkennbaren Gegebenheiten in ihrer eigentümlichen Beschaffenheit, vergleichbar Gottes Schau auf die Welt am sechsten Schöpfungstage: „und siehe da, es war sehr gut" (1. Mos. 1, 31). Ohne das Vertrauen auf die Fundiertheit der Liebe in der Liebe Gottes zur Welt ist die Liebe als Grundakt des Geistes nicht zu verstehen. Die beiden klassischen Tugenden der Demut und der Selbstbeherrschung legt Scheler auf eine sehr ungewöhnliche Weise aus. Die Demut soll uns vom zufälligen Dasein irgendeines Etwas der Umwelt „in die Richtung zum Wesen, zum puren Wasgehak der Welt" führen und die Selbstbeherrschung von einem nur mittelbaren Meinen der Gegenstände „in die Richtung der vollen Adäquation der anschauenden Erkenntnis" (V, 90). Zweierlei fällt hierbei auf. Erstens, daß Scheler die beiden Tugenden allein nach den Bedingungen auslegt, wie der Mensch die Möglichkeit reiner Erkenntnis erreichen kann, und zweitens, daß er von den klassischen Kardinaltugenden nur zwei auswählt, also die für Piaton so wichtigen Tugenden etwa der Tapferkeit und vor allem der Gerechtigkeit und die für die christliche Lehre so wichtigen Tugenden von Glaube und Hoffnung übergeht - warum wählt Scheler nur die Demut und die Selbstbeherrschung aus? Vermutlich deshalb, weil die Befreiung, die er durch diese Tugenden erreichen möchte, sich allein auf die Verformungen der reinen Erkenntnis bezieht, die diese durch die Involvierung des Menschen in die alltägliche Umwelt (die natürliche Weltanschauung) und in die auf Beherrschung der realen Welt ausgerichteten positiven Wissenschaften erfährt. Die Tugenden der Demut und der Selbstbeherrschung lösen die geistige Person des Erkennenden von den Formen menschlicher Subjektivität ab, die der natürlichen Weltanschauung und der Welt der wissenschaftlichen Erkenntnis zugeordnet sind, sie machen sie frei für die geistige Liebe. Demut und Selbstbeherrschung überwinden die Zwän46
ge, die vom psychophysischen Ich und dem sich zum Herrn der Welt aufwerfenden Selbst ausgehen. Ihnen stellt Scheler die mit emphatischen Ausdrücken apostrophierte „geistige Person" gegenüber, die zum Grundbegriff seiner gesamten phänomenologischen Philosophie geworden ist. Hier bezeichnet er sie als das „konkrete Ganze des menschlichen Geistes" (V, 84) bzw. als den „ganzen Menschen mit der konzentrierten Gesamtheit seiner höchsten geistigen Kräfte" (V, 84). Philosophische Erkenntnis ist nicht Erkenntnis bloß des isolierten Verstandes oder Gemüts, auch nicht Erkenntnis eines besonders zum Philosophieren veranlagten Charakters, sondern Erkenntnis des noch nicht in verschiedene Aktarten und Lebenstätigkeiten geschiedenen „Zentrums" der geistigen Person, das durch die Liebe der reinen, „selbst-losen", überindividuellen Erkenntnis des Ganzen der Welt entgegenstrebt und einer solchen universalen Erkenntnis auch prinzipiell fähig ist - die Korrelativität und grundsätzliche Kompatibilität von Geist und Welt kann man als das Grundaxiom von Schelers phänomenologischer Philosophie bezeichnen. Am Ende seines Aufsatzes stellt Scheler folgende, ziemlich terminologiebefrachtete Definition der Philosophie auf: „Philosophie ist ihrem Wesen nach streng evidente, durch Induktion unvermehrbare und unvemichtbare, für alles zufällig Daseiende ,a priori' gültige Einsicht in alle uns an Beispielen zugänglichen Wesenheiten und Wesenszusammenhänge des Seienden, und zwar in der Ordnung und dem Stufenreich, in denen sie sich im Verhältnis zum absolut Seienden und seinem Wesen befinden. " (V, 98) Es geht der phänomenologischen Philosophie wohlgemerkt allein um apriorische Erkenntnisse bzw. um Wesenserkenntnisse und die ihnen korrelierenden reinen Erkenntnisakte, nicht dagegen um Erkenntnis der Realität durch ein empirisches, individuelles Ich. Und es geht um voraussetzungsfreie Erkenntnis, die nicht im Dienst irgendwelcher ideologischer oder lebensweltlicher Ziele steht. Scheler grenzt die Philosophie ausdrücklich ab vom „Traditionalismus" (Dominanz überlieferter autoritärer Lehren - Neukantianismus, Neothomismus), „Scientifismus" (Dominanz naturwissenschaftlicher oder mathematischer Er47
kenntnis -,more geometrico'), „Fideismus" (Dominanz des religiösen Glaubens - „christliche Philosophie")4 und vom besonders hartnäckigen „Dogmatismus des gesunden Menschenverstandes", der durch die Dominanz der natürlichen Weltanschauung entsteht („naiver Realismus", V, 64). Scheler hat sich in seinen Untersuchungen stets auf die aktuelle Forschung bezogen und sich nie „mit geschlossenen Augen und Ohren" (Descartes) seinen Intuitionen überlassen. In fast allen seiner Schriften beginnt er mit einer kritischen Auseinandersetzung mit überlieferten Lehren - Heidegger nennt diesen Aspekt der phänomenologischen Methode „Destruktion". Die Destruktion führt bei Scheler bis hin zur Kennzeichnung des eigenen Standpunkts und der Eröffnung zukünftiger Aufgaben und Entwicklungsmöglichkeiten. Am ausführlichsten hat er seinen Standpunkt im Kontext der zeitgenössischen Philosophie 1922 am Ende seiner phänomenologischen Periode in „Die deutsche Philosophie der Gegenwart" dargestellt (VII, 259-326): „Eine universale, durch die nationalen Mythen nicht gebundene, mit traditionalistischen Schulstandpunkten und ihren terminologischen Geheimsprachen prinzipiell brechende S
tig aber das neue positive Wissen, das die Einzelwissenschaften erarbeitet haben, in sich aufnimmt. Diese Philosophie wird nicht sein wollen die Despotin der Einzelwissenschaften, wie in der sogenannten ,klassischen' Epoche der deutschen Spekulation (z.B. Hegel), noch bloße Dienerin der Einzelwissenschaften (als Erkenntnistheorie und Methodologie), sondern wird in dem daseinsfreien ,Wesen' aller Seinsgebiete der Welt einen selbständigen, nur der Philosophie zugänglichen Gegenstand besitzen, den sie mit eigenen Methoden zu erkennen unternimmt." (VII, 261 f.) Konsequente Orientierung an Sachproblemen, Wiedergewinnung des Ideenobjektivismus, Anerkennung der Metaphysik, Berücksichtigung des Erkenntnisstandes der positiven Wissenschaften, Bekenntnis zur Philosophie als einer autonomen Wissenschaft, die sich dem Primat des Seins vor dem Erkennen verpflichtet weiß - dies sind die wichtigsten Kennzeichen von Schelers Philosophie. Der Begriff der Philosophie ist nun keineswegs mehr beschränkt auf die phänomenologische Philosophie, die es nur mit realitätsfreier, apriorischer Erkenntnis zu tun hat - inzwischen soll die Philosophie auch den Wissensstand der positiven Wissenschaften und die Metaphysik berücksichtigen, also Problembereiche, die erst durch die Gebundenheit der Erkenntnis und des Lebens an die Realitätsdimension entstehen. Führt Scheler nun immer noch die Philosophie auf den „ganzen Menschen" zurück (V, 65, 84), dann kann dies nicht mehr allein auf das Zentrum der geistigen Person begrenzt, sondern müßte auf den ganzen Menschen in einem anthropologisch-vollständigen Sinne erweitert werden. Diesen Schritt vollzieht Scheler jedoch noch nicht (vgl. V, 85).
3. Philosophie als Einheit von Phänomenologie und Metaphysik Bereits in dem Aufsatz über „Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung" (1922) unterscheidet Scheler die Metaphysik von der Phänomenologie („Wesenseidetik") 49
und verbindet beide zu dem nun erweiterten Begriff von Philosophie (VI, 19). Die Einbeziehung der Metaphysik verstand er als kritische Distanzierung sowohl von Husserls Verabsolutierung des Begriffs einer strengen Wissenschaft als auch von Max Webers Reduktion der Philosophie auf Erkenntnistheorie und Methodologie. Er stimmt mit Husserl zwar darin überein, daß Philosophie „strenge Wissenschaft" sein müsse, begrenzt diese Form von Philosophie aber auf die apriorischen Erkenntnisse der Phänomenologie. Anders als Husserl aber, der die „Weltanschauungsphilosophie" der Schule Diltheys heftig angegriffen hatte, verteidigt Scheler die Aufgabe der Philosophie als „positive Setzung von Weltanschauung" (VI, 20), wodurch philosophische Denkerpersönlichkeiten Vorbild für die Sinnorientierung des Menschen in der Welt werden. Die Spannung zwischen unpersönlicher „strenger Wissenschaft" und persönlich zu verantwortender Weltanschauung wurde für Scheler in den zwanziger Jahren immer größer - in der Idee vom Menschen als einem „Mikrokosmos" suchte er sie aufzufangen. Philosophie entfaltet sich demzufolge zwischen den beiden Polen der „Eidologie" (Lehre von den Ideen, Wesenseidetik bzw. Wesensontologie) als phänomenologischer Grunddisziplin und der abschließenden Metaphysik, die ein in sich strukturiertes, aber auch sich umstrukturierendes offenes System persongebundener Erkenntnis des Ganzen der Wirklichkeit und des absolut Realen darstellt. Da alles Seiende zwei Seiten habe, „Wesen" und „Dasein", kann sich die Philosophie nicht auf die Seite der Wesenheiten beschränken, sondern muß auch die gesamte Dimension der Realität einbeziehen, und was noch weiter geht: Sie muß die prinzipielle Möglichkeit der je schon bestehenden Vermittlung von Wesen und Dasein zu begreifen suchen. Scheler nimmt das Problem der Realität nun nicht nur einfach aus der Erfahrung auf, wie sie sich einem jeden im Horizont der natürlichen Weltanschauung darstellt, sondern verlangt von der Metaphysik, daß sie auch die Diskussion des Realitätsproblems in den Einzelwissenschaften, und zwar in deren aktuellen Forschungsstand, aufgreift. Dieser schon da50
mais nicht mehr zu genügenden Forderung ging Scheler insbesondere in der Psychologie, Biologie, Humanmedizin, Soziologie nach; auch setzte er sich mit den zeitgenössischen Grundlagendebatten in der Physik und Mathematik auseinander. All dies erschloß er sich am Leitfaden der Wesensontologie, die die Gebietskategorien bereitstellt, die durch die Ergebnisse der Einzelwissenschaften kritisch variiert werden konnten. So sehr sich die Metaphysik auch auf die Wesenserkenntnisse der Phänomenologie stützte, so konnte sie durch die Einbeziehung der stets nur hypothetischen Realitätserkenntnisse der natürlichen Weltanschauung und der positiven Wissenschaften ebenfalls nur zu hypothetischen Aussagen gelangen. Die wichtigere Aufgabe der Metaphysik bestand jedoch darin, die immer weiter auseinandergehenden Erkenntnisbestrebungen der positiven Wissenschaften und die Erfahrungen der natürlichen Weltanschauung auf den Menschen zu beziehen und ihnen aufgrund des Korrelationsgesetzes zwischen Mensch und Welt („Mikrokosmos") eine wesensgesetzliche Zuordnung zur Gesamtstruktur des Menschen zu verleihen. Die Anthropologie nahm dadurch eine ebenso fundamentale wie integrierende Rolle an. Doch kann man auch umgekehrt sagen: erst durch die Ansprüche der Metaphysik konnte sich die Anthropologie zu derjenigen philosophischen Disziplin entwickeln, die ihrer fundamentalen und integrierenden Aufgabenstellung gerecht zu werden versprach. Die durch die phänomenologische Reduktion aufgewiesene grundsätzliche Differenz zwischen dem Reich der Wesenheiten und dem Reich der Realität ließ sich jedoch im Horizont der aus metaphysischen Gründen postulierten Anthropologie nicht klären. Im gleichen Maße konnte auch die Reduktion nicht mehr nur im Rahmen freier Entscheidungen für bestimmte Tugenden gedacht werden - sie mußte sozusagen dem Gewicht von Schelers später Seinsphilosophie gewachsen sein. Dies glaubte Scheler — unter Beibehaltung der personhaft gebundenen und verantworteten Metaphysik - dadurch erreichen zu können, daß er die Reduktion nun als „technische 51
Herstellung der Gemüts- und Geistesdispositionen für die philosophische Wesenserkenntnis" auffaßte (VIII, 138) - ein Übergang von einer moralischen Tugend zu einer geistigen Technik. Scheler plante, eine „eingehende Theorie und Technik der Ausschaltung des Realitätsmomentes", also eine Theorie der phänomenologischen Reduktion im ersten Band seiner Metaphysik darzulegen.5 Er sieht diese Ausschaltungstechnik zwar noch immer in der platonisch-augustinischen Tradition, führt sie nun aber auch auf die Lehren Buddhas zurück, mit denen er sich schon seit mehreren Jahren beschäftigt hatte, und interpretiert sie als eine Ausschaltung triebhaft-dynamischer Akte des Menschen: „Immer handelt es sich dabei um eines: durch einen Akt der Ausschaltung der das Realitätsmoment der Gegenstände [...] gebenden Akte und Triebimpulse reine Contemplatio der echten Ideen und Urphänomene und - in der Deckung beider - daseinsfreies „Wesen" herzustellen." (VIII, 138) Wie die Reduktion, so konnten auch die hinter den beiden Reichen stehenden Seinsmächte, die Scheler als „Geist" und als „Lebensdrang" oder „Alleben" bezeichnete, nicht mehr innerhalb des individual-anthropologischen Horizonts angemessen erfaßt, geschweige denn in ihrer Vermittlung begriffen werden. Sie mußten auf ein Absolutes zurückgeführt werden, in dem ihre prinzipielle Vereinbarkeit als notwendig einzusehen wäre. Hierin besteht die Aufgabe der Metaphysik als Vernunftwissenschaft des Einen Absoluten. Metaphysik in diesem Sinne würde sich als die eigentliche „Königin der Wissenschaften" erweisen. Die Vermittlung zwischen Drang und Geist konnte sich Scheler jedoch nur als einen universalgeschichtlichen Prozeß der „Vergeistigung" des Dranges und der „Verleibhchung" des Geistes vorstellen. In diesem Prozeß sah er schließlich, unter Anregungen von Spinoza, Schelling, Schopenhauer, Nietzsche und E. v. Hartmann, den Realisierungsprozeß der Gottheit sich vollziehen, der zugleich als Bewußtwerdungsprozeß der Gottheit zu verstehen sei. Ein geschichtsmetaphysisch ausgelegter evolutionärer Panentheismus war die Form seiner letzten Philosophie. Da der Mensch mit den in ihm zur 52
Erscheinung kommenden Seinsmächten von Geist und Drang im „Ur-Einen" und seinem Werdeprozeß wurzelt, muß auch die Reduktion letztlich als ein panentheistisch fundiertes Aktgefüge verstanden werden, und die als „Bildungswissen" definierte Philosophie erscheint als „Selbstdeifikation" des Menschen.
4. Zur Einteilung der Philosophie Scheler hat sich zeitlebens zu einer systematischen Philosophie bekannt und eine „Bilderbuchphänomenologie" (II, 10), wie sie von den meisten seiner München-Göttinger Mit-Phänomenologen praktiziert wurde, ausdrücklich abgelehnt. In keiner Periode seines Philosophierens hat er jedoch eine enzyklopädisch vollständige Einteilung des Philosophiebegriffs wirklich ausgearbeitet. Er hat sich auf den „systematischen Zusammenhang" verlassen, der in den erforschbaren Sachen der Welt selber liege, und er hat immer wieder in summarischen Überblicken diesen Zusammenhang darzustellen versucht, indem er über die Vor- und Nachordnung verschiedener Disziplinen reflektierte. Da aber die Disziplinen der Philosophie meistens mehrere andere Disziplinen zur Voraussetzung haben, die unterschiedliche Stellen im Ganzen der ontologisch fundierten Systematik innehaben, konnte Scheler aus sachlichen Gründen nie zu einer deduktiv oder dialektisch strukturierten Systematik gelangen, sondern beleuchtete statt dessen die disziplinären Konfigurationen, auf die sich eine besondere Disziplin stützte. Scheler-Interpreten, die von N. Hartmanns einfacher Unterscheidung zwischen System- und Problemdenkern ausgehen und Schelers Lebenswerk auf fünf oder sechs „Grundprobleme" reduzieren, übersehen das siebente oder eher das erste, freilich nur in Fragmenten sichtbare, Grundproblem: den „Systemort" und die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen den verschiedenen philosophischen Disziplinen zu bestimmen. Die Einteilungsprinzipien der Philosophie sind bei Scheler nicht in den logisch-gesetzmäßigen Schritten des 53
Erkennens von einem absolut gewissen Erkenntnisprinzip bis zum letzten Bedingten zu finden, sondern in den apriorischen Voraussetzungs- und Fundierungsverhältnissen, die unter den Wesenheiten selbst bestehen. Wie Scheler sich dieses System im einzelnen und im Laufe der Jahre gedacht hat, ist allerdings eine offene Frage geblieben. Ich beschränke mich in der folgenden Skizze auf einige Gesichtspunkte, die er verschiedentlich über die Unterscheidung und Zuordnung philosophischer Disziplinen geäußert hat. Durch den Primat des Seins vor dem Erkennen muß die Ontologie der Erkenntnistheorie vorangehen. Die Ontologie oder „Erste Philosophie" hat die Begriffe und ontologischen Grundverhältnisse zu bestimmen, die allen anderen philosophischen Disziplinen zugrundeliegen. Da den Erkenntnisakten immer der Akt der geistigen Liebe vorangeht, auf dem alle Wertsetzungen beruhen, müßte auch noch die Wertphilosophie der Erkenntnistheorie vorangehen. Da aber Scheler die Wesensontologie und die Erkenntnistheorie vielfach ineinander übergehen läßt, muß die Erkenntnistheorie nahe an die Wesensontologie gerückt werden. Die Wertphilosophie gliedert sich in eine allgemeine Wertlehre sowie in die speziellen Lehren der sittlichen, religiösen, ästhetischen und kulturellen Werte, doch hat Scheler die beiden zuletzt genannten Disziplinen (Ästhetik und Kulturtheorie) kaum behandelt. Alle diese Disziplinen verbleiben in der Sphäre der Wesenheiten, sind also eidologische Wissenschaften. Die in der Wesensontologie entwickelte „Sphärentheorie" weist als ursprüngliche Seinsdimension das Du-, Wir- und Fremdbewußtsein aus. Diese Seinsdimension wird besonders durch die Sozial- und Geschichtsphilosophie ausgearbeitet. Die von den eidologischen Disziplinen ausgeklammerte Realitätsdimension stellt ein eigenes grundsätzliches Problem dar, das in den Aufgabenbereich der Metaphysik fällt. Sie hat die Grundkategorien der Realitätsdimension zu untersuchen, die empirisch von den positiven Einzelwissenschaften er54
forscht wird - hier eröffnet sich der Aufgabenkreis der „Metaszienzien", d.h. der Grundlagendisziplinen der positiven Einzelwissenschaften. Von ihnen hat Scheler besonders die Wissenssoziologie behandelt. Schließlich sind die beiden allgemeinsten Grundbegriffe, Geist und Drang, auf ein einziges Grundprinzip zurückzuführen, in dem beide vermittelt sind. Das ist zum einen der Mensch selber, so daß die Anthropologie eine Schlüsselstellung im Ganzen der Philosophie einnimmt; in ihr finden auch die Psychologie, Sozial- und Geschichtsphilosophie ihr Fundament. Zum anderen ist es das Ens a se bzw. die Gottheit, die der höchste Gegenstand der Metaphysik ist. So ergibt sich die folgende Einteilung: Erste Philosophie Erkenntnis- und allgemeine Wissenstheorie Wertphilosophie (Axiologie, Ethik, Religionsphilosophie) Sozial- und Geschichtsphilosophie Wissenssoziologie Anthropologie Metaphysik Die Einteilung der Philosophie bleibt indessen ein offenes Problem - nicht nur, weil Scheler sie nicht detailliert ausgeführt hat, sondern auch wegen ihrer vielfältigen inneren Schwierigkeiten, von denen drei hervorgehoben seien. 1. Die Einteilung der Philosophie hat die Spannung zwischen allen eidologischen philosophischen Disziplinen und den Metaszienzien auszugleichen, die zu den unablässig sich fortentwickelnden Einzelwissenschaften hin offen sind. 2. Sie hat die Spannung zwischen der Einen Philosophie, die auf dem idealen philosophischen Persontypus beruht, und den vielen Abschattungen der Einen Philosophie in den verschiedenen Persönlichkeiten der Philosophen auszugleichen. 3. Sie hat schließlich den geschichtsphilosophisch ermöglichten Horizont philosophischer Selbsterkenntnis mit dem zweipoligen Gesamtprozeß der Vergeistigung der Welt und der Realisierung des Geistes zu vermitteln. 55
In den inneren Schwierigkeiten der Einteilung spiegeln sich die Schwierigkeiten von Schelers Philosophiebegriff, die aus dem Anspruch der Metaphysik resultieren, Königin der Wissenschaften und zugleich Entwicklung einer personzentrierten Weltanschauung zu sein.
IV. Grundzüge der Ersten Philosophie Scheler verwendet den auf Aristoteles zurückgehenden Ausdruck der Ersten Philosophie („prima philosophia") in den zwanziger Jahren immer häufiger - ein Zeichen zunehmender Konsolidierung seiner ontologischen Anschauungen. Die genauere Bezeichnung dessen, was er unter der Ersten Philosophie verstanden wissen wollte, ist „reine Logik und Wesensontologie" oder auch „Wesenseidetik" - eine rein phänomenologische Wissenschaft also, ja identisch mit der phänomenologischen Philosophie als Grundlegungswissenschaft überhaupt. Scheler war sich über die Aufgabenstellung einer Ersten Philosophie jedoch nicht ganz im klaren, so daß er allgemeine ontologische Fragestellungen mit spezielleren erkenntnistheoretischen vermischte, obwohl er immer wieder deutlich machte, daß die Wesensontologie der Erkenntnistheorie vorherzugehen habe. So wurde die Erste Philosophie zu einem Sammelbecken von unterschiedlichen Problemstellungen, die als solche jedoch hochreflektierte Vorstöße in das fundamentalphilosophische Problemfeld darstellen und im Ganzen betrachtet mehr oder weniger weit ausgeführte Grundzüge der universal ausgerichteten Grundlagendisziphn der Philosophie überhaupt erkennen lassen. Aus der allmählichen Entstehung von Schelers Erster Philosophie läßt sich der Problemhorizont ermessen, aus dem heraus sie ihrer Konsolidierung entgegenging, ohne sie jedoch ganz zu erreichen. Erörterungen der ersten Prinzipien alles Seins finden sich bereits in dem Logik-Fragment von 1905/06, das sich keineswegs auf die Logik im engeren Sinne beschränkte, sondern in die Erkenntnistheorie und Prinzipienlehre übergriff. Nach der phänomenologischen Wende faßte Scheler seine grundlegungstheoretischen Erörterungen unter dem Titel „Phänomenologie und Erkenntnistheorie" zusammen (III, 57
138). Eine auf 1913/14 datierte Disposition gliedert das Buch in drei Teile: einen formalen, einen materialen und einen historisch-kritischen Teil. Der formale Teil umfaßt die Fragestellungen, die später von der Ersten Philosophie aufgenommen wurden. Er beginnt 1) mit einer Bestimmung des Wesens der Phänomenologie, grenzt von ihr 2) als nachgeordnete Disziplinen Psychologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik ab und kommt dann 3) auf die Sachfragen: „Wahrheit (Kriterium), Erkenntnis, Täuschung, Irrtum. Reine Logik. Sein; Gegenstand; Einteilung der Gegenstände; Wahrnehmung und Urteil. 4) Daseinsstufen. Gegen ,Idealismus'. 5) Die drei Arten von Tatsachen. Das Reale (Külpe)." (X, 517) Man sieht dieser Disposition ihren rein additiven Charakter an. Wenn der erste Abschnitt mit einer Bestimmung des Wesens der Phänomenologie beginnt, dann bedeutet das, daß sich die Erste Philosophie mit Hilfe einer Theorie der Phänomenologie allerst selbst zu konstituieren hat, und zwar als eine voraussetzungslose Wissenschaft. Infolgedessen bleiben alle ihre Fragestellungen im Horizont phänomenologischer Untersuchungen. Darüber hinaus hatte sich Scheler jedoch noch nicht entschieden, welche phänomenologischen Wesensuntersuchungen im Rahmen seiner sich wandelnden Philosophie der Ersten Philosophie und nicht vielmehr der Erkenntnistheorie, der Wertphilosophie oder anderen Disziplinen zuzuordnen seien und worin genau sich die Erste Philosophie von der Metaphysik als der höchsten Disziplin der Philosophie unterscheiden sollte. Die Darstellung der Ersten Philosophie hat Scheler in den zwanziger Jahren dem ersten Teil seines geplanten zweibändigen Buchs über Metaphysik zugewiesen, das er bereits 1922 als „demnächst erscheinend" angekündigt hatte. In der Metaphysik-Vorlesung von 1923 hat er das Gesamtprojekt der Metaphysik näher erläutert; es weicht erheblich von dem früheren Projekt ab. Der erste Teil gliedert sich in zwei Abschnitte: in die „Wesenslehre und Typologie der metaphysischen Systeme und Weltanschauungen (Weltanschauungslehre)" und in die „Erkenntnis- und Methodenlehre der Metaphysik als positive Erkenntnis (Auseinandersetzung mit ihren Leugnern)"; der 58
zweite Teil in die beiden Abschnitte „Die Metaszienzien (auch der2 Logik und Erkenntnis)" und die „Lehre vom Grunde aller Dinge (Gotteslehre)". In diese vier Abschnitte nimmt Scheler sehr frei Lehren aus den traditionellen Subdisziplinen der Metaphysik auf, die er seinem Standpunkt zu assimilieren sucht: Lehren aus der Ontologie, Kosmologie, Psychologie und Theologie. Scheler will sich als Phänomenologe natürlich freihalten von allem „Traditionalismus", doch die Untersuchungen seiner Ersten Philosophie bewegen sich in Problemkreisen, die im Abendland seit der Antike auf höchst differenzierte Weise erörtert worden sind, so daß sein eigener Ansatz zum Teil nur schwer von ihnen abzuheben ist. Von dem ersten Abschnitt, der sich mit den Aufgaben der Weltanschauungslehre befaßt, können -wir hier absehen, da er besser der Erkenntnistheorie zuzuordnen ist. Der zweite Abschnitt führt mit der Erkenntnis- und Methodenlehre der Metaphysik schon näher an die Erste Philosophie heran. Das phänomenologische Korrelationsapnon strukturiert die Aufgabenstellung: Erkennen und Gegenstand stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis und begrenzen sich gegenseitig auf die Problemdimension metaphysischer Fragen. Scheler bekennt sich zu einer „kritischen Metaphysik", also zu einer Metaphysik, die das menschliche Erkenntnisvermögen auf seine Grenzen, aber auch auf seine Möglichkeiten hinsichtlich metaphysischer Erkenntnisaufgaben untersucht. Da aber auch umgekehrt der aristotelische Grundsatz gilt, daß es vom Gegenstand abhängt, was für eine Erkenntnis von ihm möglich ist, muß einer Kritik metaphysischer Erkenntnis immer auch eine Ontologie möglicher Gegenstände der Metaphysik an die Seite gestellt werden. Hier liegt der Ansatz von Schelers Versuch, die prinzipientheoretischen Standpunkte des Idealismus und Realismus miteinander zu vermitteln. Scheler geht jedoch noch einen Schritt weiter. Erkenntniskritik der Metaphysik und Ontologie ihrer möglichen Gegenstände versteht er als zwei gleichursprüngliche und gleichberechtigte Wege der Erkenntnis, die sich gegenseitig zu rechtfertigen haben. „Beide Theorien aber, die der Metaphysik und 59
die der Erkenntnistheorie haben über sich eine Grunddisziplin, die weder Metaphysik noch Erkenntnislehre ist, - die reine Logik und Wesensontologie, die weder Bewußtseinsnoch Daseinswissenschaft ist, sondern den Versuch macht, die vom zufälligen Dasein und Bewußtsein unabhängige Ideenordnung der Weltinhalte zu erfassen." (XI, 19) „Reine Logik und Wesensontologie" als Untersuchung der Ideenordnung der Weltinhalte und der ihnen korrelierenden Geistesakte umschreibt den Inhalt, den Scheler schließlich als Aufgabenstellung der Ersten Philosophie festgelegt hat. Die Unabhängigkeit vom zufälligen Dasein und zufälligen Bewußtsein (bei Scheler identisch mit der Sphäre des empirisch Erfahrbaren) bedeutet die Abweisung nicht-reduzierter, d.h. mcht-phänomenologischer Erkenntnis-Gegenstands-Verhältnisse von der Schwelle der Wesensontologie, nicht dagegen soll die Ideenordnung als unabhängig von Wissen überhaupt erklärt werden. In seinem Aufsatz „Philosophische Weltanschauung" (1928) beschränkt Scheler allerdings die Erste Philosophie auf den objektiven Teil der Korrelation, indem er sie als „Wissenschaft von den Seinsweisen und der Wesensstruktur alles dessen, was ist" bestimmt (IX, 78). Sie bildet die Fundamentalwissenschaft der gesamten Philosophie; jede philosophische Disziplin muß in ihr die einsichtige und evidente Ausweisung ihrer materialen Grundlagen finden, so daß umgekehrt auch alle philosophischen Disziplinen eine Probe auf die Vollständigkeit und Gültigkeit der Erkenntnisse der Ersten Philosophie darstellen. Scheler charakterisiert die Erste Philosophie durch sechs Hauptmerkmale (IX, 79 f.): 1. durch den Versuch nach möglichster Ausschaltung „alles begierlichen triebhaften Verhaltens", das die Erfahrung der Realität und aller ihrer Modifikationen ermöglicht - die Theorie der Reduktion ist das Eingangstor zur Wesensontologie, 2. durch die spezifische Erkenntnisweise, nämlich der Wesenserkenntnis, 3. durch die Charakterisierung der Wesenserkenntnis als apriorischer Erkenntnis, 60
4. durch die weitere Charakterisierung der Wesenserkenntnis hinsichtlich ihrer transzendenten Erstreckung über den Bereich der realen Welt hinaus, 5. durch die Rückführung der Wesenserkenntnisse auf die Vernunft bzw. den Geist, die beide der Verstandeserkenntnis (dem „Intellekt") entgegengesetzt werden, 6. durch eine zweifache Anwendungsmöglichkeit der Wesenserkenntnisse: zum einen auf die Grundlagen der positiven Wissenschaften („Metaszienzien"), zum anderen auf das absolut Seiende, „auf den gemeinsamen obersten Grund der Welt und des Selbst" - diese Anwendungsbereiche sind bereits Gegenstand der „Metaphysik zweiter Ordnung" und sollen deshalb später behandelt werden (vgl. Kap. XII). Die drei letzten Hauptmerkmale - die transzendente Erstreckung der Wesenserkenntnisse über die reale Welt hinaus in das Reich der Wesensmöglichkeiten überhaupt, die Rückführung aller Wesenserkenntnisse auf den Geist und die Anwendungsmöglichkeiten der Wesenserkenntnisse - stellen Perspektiven für die Einbindung der Ersten Philosophie in das systematische Ganze der Philosophie dar, durch die rückwirkend auch die Erste Philosophie strukturiert wird. Jedenfalls ist die Erste Philosophie, wie Scheler ausdrücklich hervorhebt, noch nicht Metaphysik, die er ihr als „Metaphysik zweiter Ordnung" entgegensetzt, wohl aber die notwendige Grundlage der Metaphysik und aller Disziplinen der Philosophie. Das grundlegende Strukturierungspnnzip der Ersten Philosophie sind die materiale Ideenordnung und die ihr korrelierenden Aktarten des Geistes. Da über die Reduktion als konstitutivem Moment der Phänomenologie bereits bei der Frage nach dem Wesen der Philosophie gesprochen worden ist (vgl. Kap. III), kann als die grundlegende Fragestellung der Ersten Philosophie die Evidenzordnung und die mit ihr verbundene Seinslehre angesehen werden - an ihr stellt sich die Tiefenstrukturierung der Ideenordnung dar. Im Aufsatz „Idealismus - Realismus" (1928), der bis zu einem gewissen Grade die Grundzüge der Ersten Philosophie darlegt, folgen auf den Abschnitt über die Evi61
denzordnung die Abschnitte über „Wissen und Bewußtsein", „Transzendenz des Gegenstandes und Transzendenzbewußtsein", sodann das für die materiale Strukturierung des Systems der Philosophie grundlegende „Sphärenproblem" und das hieran sachlich, aber nicht in der Reihenfolge der Themen anschließende Problem der Seinsrelativität, während Scheler mit dem Abschnitt über die Maßstäbe der Erkenntnis bereits in die Erkenntnistheorie hinüberwechselt. Das als nächstes angeführte Apriorismusproblem muß hingegen wegen der ontologischen Fundierung des Apriorismus wieder der Ersten Philosophie zugeordnet werden. Das in „Idealismus - Realismus" zuletzt angeführte Problem der Realität stellt ein Problem der Metaphysik zweiter Ordnung dar. Somit lassen sich der Ersten Philosophie die folgenden Hauptprobleme zuordnen, die ich hier aus sachlichen Gründen ergänze und umgruppiere: 1. Die Evidenzordnung und die Lehre von den Seinsarten 2. Geist und Welt oder die Funktionalisierung der Aktarten des Geistes und das Sphärenproblem 3. Das Problem der Seinsrelativität 4. Wissen und Bewußtsein 5. Transzendenz des Gegenstands und Transzendenzbewußtsein 6. Das Apriorismusproblem Diese sechs Themen stehen in keinem deduktiven Zusammenhang und können auch nicht beanspruchen, das Problemfeld einer Ersten Philosophie vollständig zu erfassen, sie beleuchten vielmehr theoretisch zwanglos verschiedene Aspekte von unterschiedlicher Tragweite. So bleibt der Problemhorizont der Ersten Philosophie fluktuierend, übernimmt aber dennoch eine grundlegende Funktion in Schelers Konzeption der Philosophie als eines offenen Systems.
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1. Die Evidenzordnung und die Lehre von den Arten des Seins In Schelers Lehre von der Evidenzordnung wird die These von der Priorität des Seins vor dem Erkennen, die sich als eine bestimmte Konzeption der überlieferten Theorie der ersten Prinzipien des Seins und Erkennens darstellt, nicht bloß behauptet, sondern auch auf das Wissen hin reflektiert, für das die behauptete hierarchische Ordnung von Evidenzen einsichtig ist. In seinem Aufsatz über das Wesen der Philosophie (1917) hat Scheler die sachliche Priorität der Lehre der Evidenzordnung aus dem Begriff der Philosophie als voraussetzungsloser Wissenschaft abgeleitet. Die erste und unmittelbarste Evidenz bestehe darin, daß überhaupt Etwas sei und nicht vielmehr Nichts (V, 93).5 In seiner ersten Periode hat Scheler sich noch über Malebranche, Schelling, Lotze lustig gemacht, die sich immer wieder bemüht haben, uns den Schauer des transzendenten Zufalls nachfühlen zu lassen (Logik I, 136). Von der zweiten Periode an hat er sich mit dem transzendenten Zufall, daß überhaupt etwas ist, vollständig identifiziert, freilich unter einer Voraussetzung, die die metaphysische Dimension seines Begriffs von Voraussetzungslosigkeit allererst sichtbar macht: „Wer gleichsam nicht in den Abgrund des absoluten Nichts geschaut hat, der wird auch die eminente Positivität des Inhalts der Einsicht, daß überhaupt Etwas ist und nicht lieber Nichts, vollständig übersehen." (V, 93 f.) Mit der evidenten Einsicht, daß nicht Nichts, sondern überhaupt Etwas ist, nämlich sie selbst, wird ein allgemeinster Begriff des Seins (den Scheler nicht weiter analysiert hat) unmittelbar mit der Vernunfteinsicht des Geistes zusammen „aktuiert" und „intuiert". Der geistige Akt der Einsicht und der gemeinte Sinngehalt eines schlechthin unbezweifelbaren Seins muß als identisch gedacht werden mit dem Sein der Einsicht, das dieser jedoch unverfügbar vorgegeben ist. Er enthält noch keine weiteren Bestimmungen und ist in dem gesetzmä63
ßigen Strukturverhältnis von vorgegebenem Sein und davon differierender Einsicht das erste, ursprüngliche Datum überhaupt. Scheler betont, daß Identität und Differenz in der ersten, obersten Evidenz unhintergehbar seien. Die sich bereits in der ersten Evidenz manifestierende Korrelation von Sein und Einsicht (Vernunft, Geist), die auch bei Husserl ein Fundamentalgesetz der Phänomenologie ausmacht, ist eines der wichtigsten heuristischen Erkenntnismittel, um die weiteren wesensontologischen Grundverhältnisse zu erschließen: Wo immer eine bestimmte Wesenheit erschaut wird, muß ihr auch eine ihr wesensgemäße Aktart entsprechen. Wenn Scheler die Phänomenologie in drei Bereiche aufgliedert (Aktphänomenologie, Sachphänomenologie und Korrelationsphänomenologie, II, 90), dann muß man sich noch vor Augen halten, daß alle drei nur die unterscheidbaren Seiten ein und des gleichen wesensgesetzlichen Zusammenhangs darstellen. Die zweite Grundevidenz, die die erste zur Voraussetzung hat, besteht darin, „daß ein absolut Seiendes ist, oder ein Seiendes, durch das alles andere nichtabsolute Sein sein ihm zukommendes Sein besitzt" (V, 95).6 Mit der evident einsehbaren Differenz zwischen dem vorauszusetzenden absoluten und dem in der ersten Evidenz gegebenen relativen Sein beginnt Schelers Unterscheidung verschiedener Seinsarten, die er jedoch nie zu einer konsistenten Theorie ausgebaut hat. Wohl aber hat er mehrfach ganze Listen von Seinsarten angeführt, z.B. im Aufsatz über das Wesen der Philosophie: „Sosein - Dasein; Bewußt-sein - Natursein; reales Sein oder objektives nichtreales Sein; Gegenstand-sein - Aktsein, desgleichen Gegenstandsein - Widerstandsein; Wertsein oder wertindifferentes ,existenziales' Sein; substantielles, attributives, akzidentielles oder Beziehungsein; Möglichsein, Notwendigsein oder Wirklichsein; zeitfreies, schlechthin dauerndes oder Gegenwärtig-, Vergangen-, Zukünftigsein; das Wahrsein (z.B. eines Satzes), Gültigsein oder vorlogisches Sein; ausschließlich mentales .fiktives' Sein (z.B. der nur vorgestellte .goldene Berg' oder das nur vorgestellte Gefühl) oder außermentales resp. beiderseitiges Sein." (V, 93) Aber eine Ontologie, die alle 64
diese (und noch andere?) Seinsarten in gesetzmäßige Relationen zueinander und schließlich zum absoluten „Ens per se" gesetzt hätte, hat Scheler nicht ausgeführt.7 Die lange Liste, die eine große Vertrautheit mit der Logik, Kategorienlehre und allgemeinen Ontologie verrät, sowie die ontologischen Erörterungen, die er verstreut in seinen Schriften durchgeführt hat, zeigen zur Genüge, daß seine Lehre von den Seinsarten keine bloß zusammengewürfelte Nomenklatur, sondern eine differenzierte, wenn auch nicht ausgearbeitete Theorie darstellt. Die dritte Grundevidenz, die Scheler in seinem Aufsatz noch angeführt hat und die wiederum die beiden anderen voraussetzt, besteht darin, „daß alles mögliche Seiende ein Wesensein oder Wassein (Essentia) und ein Dasein (Existentia) notwendig besitzt, und dies ganz gleichgültig, was sonst es sein mag und welcher Sphäre des Seins es nach anderen möglichen Scheidungen der Seinsarten und -formen auch angehören mag" (V, 96 f.).8 Scheler verwendet hierbei einen Begriff von „Dasein", der weit über die Sphäre des von der phänomenologischen Reduktion ausgeklammerten Daseins hinausreicht, d.h. der so allgemein ist, daß er alle Seinsarten einschließt womit dann allerdings fraglich wird, in welchem Sinne dem Wesen-sein ein Dasein zugesprochen wird. Mit der Unterscheidung der verschiedenen Evidenzarten und ihren hierarchisch angeordneten Reflexionsstufen hat Scheler allerdings noch nicht viel zur erkenntniskritischen Rechtfertigung der Evidenzen beigetragen. Troeltsch hat ihm vorgeworfen, sich in seinen Schriften viel zu häufig auf Evidenz zu berufen, die doch nur den Charakter subjektiver Gewißheit habe (V, 17). Scheler widerspricht jedoch der Auffassung der Evidenz als bloß subjektiver Gewißheit oder auch der psychologischen Auffassung von Evidenzgefühlen. Für ihn bedeutet Evidenz ein objektives Erkenntniskriterium - das Hineinleuchten des Soseins eines Gegenstands in den Geist. Im Sinne eines obersten Erkenntniskriteriums bedeutet Evidenz die Einsicht in die „vollständige Deckungseinheit zwischen den Gehalten aller Denk- und Anschauungsakte", die angesichts eines bestimmten Gegenstands stattfinden (V, 17). Er 65
ist sich dabei durchaus bewußt, daß es auch Evidenz-Täuschungen geben kann. Das setzt jedoch den Evidenzanspruch nicht außer Kraft, im Gegenteil: nur im Rekurs auf Evidenz läßt sich eine Evidenztäuschung erkennen. Darüber hinaus lehnt Scheler es ausdrücklich ab, eine bestimmte Art von Evidenz für alle Evidenzarten zum Maßstab zu machen. Hier, wie in so vielen anderen Fällen, begegnet er apodiktischen Behauptungen mit seiner Kunst des Unterscheidens und der Öffnung von Diskussionshorizonten. So hat er für verschiedene Wissenschaften die ihren Erkenntnisgegenständen entsprechenden obersten Evidenzarten aufgestellt: für die (phänomenologische) Philosophie die „unmittelbare Erkenntnisevidenz", für die Mathematik und andere Formalwissenschaften die „deduktive mittelbare Evidenz", für die empirischen Wissenschaften die „Vermutungsevidenz", für die Theologie die „Glaubensevidenz"und für die Metaphysik zweiter Ordnung die „Ahnungsevidenz" (X, 216f.). In der Lehre von den Seinsarten ist für die Phänomenologie die wichtigste Unterscheidung die zwischen Wesen (essentia, ens intentionale) und Dasein (existentia, ens reale). Erst durch diese Unterscheidung, die durch die phänomenologische Reduktion herbeigeführt wird, läßt sich der Forschungsbereich der Wesensontologie von der Welt der Empirie abgrenzen. Die „Existentia", die der sinnlichen Wahrnehmung korreliert, umfaßt das zufällige Jetzt-Hier-Sosein der Dinge, also ihre Zeit-, Raum- und Eigenschaftsbestimmtheit, zusammen damit auch ihre Realität, die sich durch Widerständigkeit gegenüber unserem vitalen Streben und geistigen Wollen zeigt. Das Moment des Daseins bleibt wesensnotwendig allen Erkenntnisakten gegenüber transzendent. Die „Essentia" hingegen kann nicht durch die sinnliche Wahrnehmung, sondern nur durch geistige Anschauung erfaßt werden, und durch sie gewinnt der Erkennende nicht nur teil an ihr, sie wird vielmehr „in mente" ein Teil des Bewußtseins. Scheler sieht in seiner Erweiterung des Anschauungsbegriffs eine Parallele zum Begriff der „kategorialen Anschauung", den Husserl in den Logischen Untersuchungen entwickelt hat. Die geistige Anschauung erfaßt als 66
„Wesen" die geordnete Gesamtheit derjenigen So-seinsEigenschaften der Gegenstände, die sich im Unterschied zu den Veränderungen, die in Raum, Zeit und sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften an den Dingen auftreten, als invariant zu erkennen geben. Das zufällige Jetzt-Hier-Sosein der Dinge erweist sich als ein bestimmter „Sinngehalt", der durch die realen Gegenstände, die unter ihn fallen, eine unabsehbare Vielfalt von Variationen erhalten kann. Anders als Husserl definiert Scheler die Wesenheiten nicht generell durch „Allgemeinheit" gegenüber der Menge von einzelnem Seienden, weil es auch eine Wesenheit von einem Seienden geben kann, das es nur als Einzelnes gibt. Unter das zufällige JetztHier-Sosein und damit unter die Kategorie der Existentia fallen bei Scheler auch fingierte Gegenstände, so daß er Wesensanalysen am Beispiel von gemalten Objekten durchaus zuläßt. In der Sphäre der Washeiten unterscheidet Scheler zwischen Phänomenen, Ideen, Urphänomenen und Ur-Wesen. „Phänomene" oder „Wesenheiten" sind die Gehalte, die in der phänomenologischen Anschauung „selbstgegeben" oder „evident" aufgefaßt werden (II, 68). „Ideen" sind demgegenüber Bedeutungen, die vom Denken erfaßt werden. „Urphänomene" sind letzte geistig-anschauliche Wesenheiten wie z.B. „Räumlichkeit", „Zeitlichkeit", „Bewegung", die auch anschauliche Erscheinungszusammenhänge darstellen können. „Ur-Wesen" hingegen sind die Deckungseinheiten von Urphänomenen und den ihnen korrelierenden Ideen (XI, 36ff.; 88 f.). Die Unterscheidung zwischen Urphänomen und Phänomen weist darauf hin, daß es im Gesamtbereich der Wesenheiten einen gesetzmäßigen Zusammenhang von Über-, Unter- und Nebenordnungen gibt, der, an sich betrachtet, als ein unveränderliches, lückenloses System zu denken ist. Die Wesenheiten und ihre Zusammenhänge sind „vor" aller Erfahrung gegeben und umgrenzen durch ihre Sinngehalte apriori den Bereich erfahrbarer Gegenstände, die als Exempel und Varianten der Wesenheiten fungieren.
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2. Geist und Welt oder die Funktionalisierung der Aktarten des Geistes und das Sphärenproblem In der Reduktion wird progressiv alles begierliche triebhafte Verhalten nach Herrschaft über die Welt ausgeschaltet. Das fördert nach und nach ein Verhalten zutage, das an nichts weiter interessiert ist, als die Dinge und Verhältnisse so zu betrachten, als wären sie ebenfalls allen Verflechtungen in die Wirklichkeit enthoben. In der Reduktion manifestiert sich ein gänzlich nicht-natürliches Verhalten des Menschen zur Welt, das gleichwohl sich durch die gesamten Weltverhältnisse hindurchzieht und an ihnen teilhat. Die Ausübung der Reduktion weckt das Interesse, sie selbst als ein ganz andersartiges Weltverhalten vollständig und in seiner prinzipiellen Unabhängigkeit von den realen Weltverhältnissen zu erkennen. Das gänzlich unnatürliche, dennoch aber gerade die spezifische Natur des Menschen kennzeichnende Vermögen der Einsicht in die andere Seite der Dinge nennt Scheler „Geist" oder „Vernunft", die „andre Seite" der Dinge ihr „Wesen", und das reine Interesse, unabhängig von aller Begierde nur aufzunehmen, was die Dinge in ihrem schlichten So- und Nicht-anders-Sein sind, nennt Scheler „Liebe". Geist, Liebe und Wesen bilden einen „Wesenszusammenhang". Alle drei haben ihre natürlichen Seitenstücke: der Geist den mit der Naturseite des Menschen gegebenen Zusammenhang von Trieben, Begierden usw. bis hin zum Verstand, die Wesenheiten die Existenzdimensionen der Dinge, deren „Dasein", und die Liebe hat als reales Gegenstück das begierliche Streben (Eros) in allen seinen Erscheinungsformen, worüber die Anthropologie Genaueres zu sagen hätte. Durch die Reduktion treten zunächst diejenigen Aktarten des Geistes in Erscheinung, durch die er zur Erkenntnis der Wesenheiten gelangt. Es sind die Aktarten des geistigen „Anschauens" und „Denkens", bzw. des Bilder-habens und Bedeutungen-habens (VIII, 204). Ihnen korreheren die Wesenheiten und die Zusammenhänge, die entweder zwischen 68
den einzelnen Momenten einer Wesenheit oder zwischen den verschiedenen Wesenheiten bestehen. Der Geist besteht aber nicht nur aus Aktarten des theoretischen Verhaltens zur Welt. Welche Aktarten der Geist außerdem noch besitzt, ist nach Scheler nicht hinreichend durch eine Analyse des Geistes zu erkennen, sondern, gemäß dem Primat des Seins vor dem Bewußtsein, nur durch eine Untersuchung der Weltgegebenheiten, denen kraft des Korrelationsgesetzes je spezifische Aktarten entsprechen müssen. Welche Weltgegebenheiten es außer den Theorie-relevanten Gegenständen oder ihren Theorie-relevanten Aspekten gibt, muß ebenfalls durch die Reduktion freigelegt werden - die Reduktion ist bei Scheler also nicht auf theoretische Geist-Welt-Verhältnisse begrenzt, sondern offen für alle je in der Weltgeschichte hervorgetretenen und noch hervortretenden daseinsfreien Wesenheiten. Scheler findet daseinsfreie Wertgegebenheiten vor - also muß der Geist ein werterfassendes und wertsetzendes Vermögen haben. Scheler nennt es das „intentionale Fühlen", also ein Fühlen, das bestimmte Qualitäten erfaßt; außerdem führt er noch die Aktarten des Vorziehens und Nachsetzens an, durch die die Rangstufen unter den Werten erfaßt werden (vgl. Kap. VI). Scheler findet überbegierliche Verhaltensweisen und Bestrebungen vor - also muß der Geist über ein begierdefreies reines Wollen verfügen (vgl. Kap. V). Scheler findet die Anerkennung absoluter, den Gesetzen der Natur schlechthin übergeordneter Macht-Wesen vor - also muß der Geist jenseits von Angst und Daseinsnot über reine religiöse Akte verfügen, wie z.B. den Glauben. Was darüber hinaus noch in der Welt an eigengesetzlichen Beschaffenheiten oder Verhältnissen anzutreffen ist - es müssen ihnen jeweils ebenfalls eigengesetzliche Aktarten oder ihre Derivate korrelieren, die nicht einer anderen Aktklasse subsumiert werden können. Scheler hält die Welt noch nicht für ausdefiniert, ebenso wenig den Geist beide bilden in ihrer wechselseitigen Korrelativität ein offenes System, das sich weltgeschichtlich weiterentwickelt. Allen Aktarten des Geistes liegt als die ursprünglichste Aktart die Liebe zugrunde.9 Deshalb muß man ihr Grundwesen 69
von ihren speziellen Auswirkungen in den einzelnen Aktarten unterscheiden. Sie ist schlechthin uneigennützige Hingabe und uneingeschränkte Aufgeschlossenheit für den gesamten Kosmos des geistig Schaubaren, die unhintergehbare Grunddisposition des menschlichen Geistes. Scheler schreibt der Liebe ein „Aufsuchen" der Urphänomene zu - ein mehrsinniges Wort, das ein eingeschränktes, zielbestimmtes „Streben" allein der Erkenntnis zu bezeichnen scheint, aber zugleich einschließt, daß sich der Geist auf das Erstrebte zubewegt und an ihm teilhaben will. Im allgemeinsten Sinn definiert Scheler die Liebe als „das bewegungsbestimmende Moment für den Vollzug der Akte, die zu irgendeiner Form der Teilhabe führen" (VIII, 204). Durch die Teilhabe an den Urphänomenen wird der menschliche Geist ein „anderer" - dieses Anderswerden hat Scheler jedoch nur wenig analysiert. Teils bedeutet es eine Erweiterung des Geistes auf mehr und mehr Wesenheiten, eine progressive, wenn auch nie zu vollendende Überführung des Mikrokosmos des menschlichen Geistes in den Logos des Makrokosmos, teils bedeutet es eine Höherbildung des Geistes, die Scheler als Teilhabe an Gott und in seiner Spätphilosophie auch als „Selbstdeifikation", „Selbstvergöttlichung" bezeichnet. Jedenfalls ist das durch Liebe motivierte Verhalten des Geistes auf einen höheren Wert bezogen. Eine wertfreie Tätigkeit des Geistes gibt es für Scheler nicht. Wie die Weltbeschaffenheiten, so unabhängig voneinander sie auch sein mögen, nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern in einem wenn auch dunkel gebliebenen Zusammenhang, so auch die Aktarten des Geistes: sie bilden ein geordnetes Aktgefüge, das in einem allen Aktarten vorgeordneten „Zentrum" fundiert ist. Scheler bezeichnet es als „geistige Person". In ihr ist der Ursprung der Liebe zu denken. Dieser rein geistige Personbegriff ist gemeint, wenn Scheler seinen Standpunkt als „Personalismus" bezeichnet hat. Die geistige Person ist nicht zu verwechseln mit dem psychophysisch inkorporierten „Ich", denn die geistige Person ist vermittels der Reduktion allen psycho-physischen Dimensionen enthoben. 70
Der Geist ist für Scheler keine zum Abschluß gekommene, vollständige Wesenheit, sondern ein Aktgefüge, das einem unendlichen Wachstum offensteht. Das Wachstum ist wesentlich mitbedingt durch die Gegenstände, an denen sich der Geist aktualisiert. Ursprünglich ist der Geist unendlich offen und ungeformt - erst die Wesensgesetzlichkeiten der Gegenstände veranlassen ihn in dem Augenblick, in dem er ihnen begegnet, die ihnen entsprechenden Aktarten zu entwickeln. Scheler nennt diesen schicksalhaften Vorgang die „Funktionalisierung" des Geistes. Haben sich einmal bestimmte Aktarten „funktionalisiert", dann behalten sie die Form ihrer Tätigkeit für alle kommenden Erfahrungen gleicher Wesensart bei. Hält sich der Geist bei der Untersuchung seines eigenen Wesens an die Grenzen der bereits vollzogenen Funktionahsierungen, dann versteht er sie irrtümlich als unveränderliche, ewige Formen seiner selbst. Kulturvergleichende Untersuchungen haben Scheler jedoch davon überzeugt, daß die vermeintlich ewigen Gesetze des menschlichen Geistes nur kulturspezifische Funktionahsierungen eines unabsehbar reichhaltigen Reservoirs weiterer Formungsmöglichkeiten darstellen. Die Funktionalisierung reicht bis hinunter zum Grundakt der Liebe, die durchaus eine kulturspezifische Form annehmen kann.10 Aus der universalen Grundkorrelation von Geist und Welt hebt Scheler noch ein weiteres Differenzierungssystem hervor, nämlich das Ordnungsgefüge von „Sphären". „Sphäre" in dem hier gemeinten Sinn (bei Scheler finden sich auch andere Verwendungsformen des Begriffs) bedeutet soviel wie eine unreduzible, letztfundierende „Wesensregion", die apriori bestimmte Bereiche möglicher Gegenstands- und/oder Wirklichkeitserfahrungen umgrenzt.11 Es kann deshalb auch nur eine begrenzte Anzahl solcher Sphären geben. Sie bilden jedoch kein geschlossenes System, es können vielmehr durch fortschreitende Erkenntnis noch bislang unentdeckte Sphären freigelegt werden. In „Idealismus - Realismus" (1928) stellt Scheler vier solcher Sphären des Seins auf: 1) die Sphäre des Ens a se, im Unterschied zu allem relativen Sein, 2) die beiden Sphären der Au71
ßen- und der Innenwelt (Descartes: res extensa und res cogitans), 3) die Sphäre von Lebewesen mit ihrer Umwelt, 4) die Ich-, Du- und Gemeinschaftssphäre.12 In anderen Texten spricht Scheler von fünf Sphären, wobei er Außen- und Innenwelt als zwei verschiedene Sphären darstellt (VII, 301). Gemeinsames Grundgesetz der Sphären sei, „daß das Sein der Sphäre allen empirischen £z«ze/gegenständen, die durch Wahrnehmungen und Anschauungen aller Art gegeben werden, stets vorgegeben ist". (IX, 194) Es wird deutlich, daß Scheler die Sphären mit der Lehre von den Seinsarten verbunden wissen wollte, doch hat er nicht gezeigt, wie diese Beziehung zu denken ist. Die Sphärentheorie schließt außerdem eine hierarchische Vorgegebenheitsordnung ein, die an die Evidenzordnung erinnert. Scheler weist die Vorgegebenheitsgesetze der Sphären an der Gegebenheit von Realem auf. Demzufolge sei die Realität der Absolutsphäre der Realität aller anderen Sphären vorgegeben, die Realität der Mitwelt (Du- und Wir-Sphäre) der Realität der Natur in der Außenwelt- und Innenwelt-Sphäre, die Realität von etwas in der Außenwelt der Realität der Innenwelt und schließlich das Lebendigsein dem Totsein (VIII, 373-375). Im Blick auf die Aufbaugesetze des Kosmos ließe sich denken, daß Scheler die Sphären als Stufen des sich progressiv realisierenden absoluten Seins aufgefaßt hat, wie er sie in seinem Abriß über die Stellung des Menschen im Kosmos dargestellt hat. In allen drei Hinsichten ließen sich Weiterführungen der Sphärentheorie denken, die zu den genannten vier bzw. fünf Sphären noch weitere hinzufügen - durch Prüfung der unterschiedenen Seinsarten auf ihre Sphärenfähigkeit, durch Verbindung der Sphärentheorie mit der Evidenzordnung, durch Reflexion auf kosmologische Stufen und Formen von Realitäten, die ebenfalls Anspruch erheben können auf eine unreduzible Seinsweise. Der -wichtigste Gesichtspunkt einer Fortführung der Sphärentheorie ergibt sich erneut aus dem Korrelationsapriori: allen Sphären müßte eine je spezifische Aktart entsprechen, die auf analoge Weise irreduzibel sein müßte wie die Sphären. Auf 72
diese Zusammenhänge ist Scheler nur beiläufig eingegangen, indem er etwa der Außenweltsphäre die äußere, der Innenweltsphäre die innere Wahrnehmung zugeordnet hat. Daß aber seine Sphärentheorie trotz des apodiktischen Tons von „Idealismus - Realismus" noch im Fluß war, zeigen Äußerungen, die noch ganz andere Sphären benennen: in der Wissenssoziologie führt er als eine fünfte Sphäre die der toten Körperwelt an (VIII, 56), die nicht mit der Außenweltsphäre identifiziert wird, und zur Ich- Du- und Gemeinschaftssphäre rechnet er nun ausdrücklich auch die Geschichtssphäre mit Vor- und Nachwelt, während er an anderen Stellen die Sphäre der Zeiterlebnisse ausdrücklich von der Gemeinschaftssphäre absetzt (IX, 212, 228). Unabhängig von ihrer Unabgeschlossenheit stellt die Sphärentheorie einen wesentlichen Bestandteil der inneren Systematik von Schelers Philosophie dar. Die Sphäre des absoluten Seins liegt der Religionsphilosophie zugrunde, die Sphäre der Gemeinschaft der Sozial- und Geschichtsphilosophie, die Sphäre der Innenwelt der Psychologie, während die übrigen Sphären entsprechenden Bereichen der Naturphilosophie zuzuordnen wären. Die Aufbauordnung der Sphären untereinander ließe sich der Binnenstruktur des Systems der Philosophie zugrundelegen, doch würde sich diese Fundierung von Schelers System als zu starr und undifferenziert erweisen und vielen der unterschiedenen Seinsarten nicht gerecht werden.
3. Das Problem der Seinsrelativität Das Problem der Seinsrelativität hat Scheler erneut mit Hilfe des Korrelativitätsgesetzes strukturiert, doch auch dieses Lehrstück ist unabgeschlossen geblieben, es stellt eher Forschungsaufgaben denn Forschungsergebnisse dar. Es geht darum, bestimmte Eigenschaften von Dingen und auch allgemeine Gesetzmäßigkeiten von Sphären den ihnen entsprechenden Wahrnehmungs- oder Erkenntnisakten eines Lebewesens zuzuordnen. Das Gesetz der Seinsrelativität erweist sich dadurch 73
als ein Korrektiv gegenüber unkritischen Verallgemeinerungen z.B. von Erkenntnissen der positiven Wissenschaften. Scheler führt die Problemgenesis auf Kants Unterscheidung zwischen drei Ebenen von Seinsrelativität zurück: zwischen den Ebenen des Dings an sich, der objektiven Erscheinungswirklichkeit und der Bewußtseinserscheinungen (IX, 197 f.). Scheler wirft Kant jedoch vor, die rein ontologisch aufzufassende Problemstellung mit erkenntnistheoretischen Fragen vermischt zu haben. Außerdem müßten sehr viel mehr Relativitätsebenen unterschieden werden. Wenn Scheler einmal am Beispiel des Menschen vier Anknüpfungspunkte für Daseinsrelativitäten unterscheidet: 1) das Ego, 2) den Menschen als Glied von Gruppen wie Volk, Kulturkreis, Generation, 3) das Leibwesen, 4) den endlichen Geist (XI, 100), dann dient dies nur der Skizzierung eines Beispiels. In seinem Aufsatz über „Phänomenologie und Erkenntnistheorie" (1914) hat er die Frage der Daseinsrelativität als eine „Aufgabe von fast unermeßlicher Ausdehnung" bezeichnet (X, 399). Es handelte sich nicht bloß um eine Aufgabe der Unterscheidung, sondern auch des Aufweises einer Stufenordnung der Daseinsrelativität bzw. um den Aufweis der Fundierungsordnung von Daseinsebenen. Da Scheler die Daseinsrelativitäten jeweils konkret auf bestimmte Lebewesen bezieht, gestaltet sich die Lehre von den Daseinsrelativitäten viel differenzierter als die Lehre von den Seinssphären, durch die sie sozusagen hindurchreicht: innerhalb jeder Sphäre stellt sich die Frage nach den Daseinsrelativitäten. In „Phänomenologie und Erkenntnistheorie" hat Scheler z.B. von Erlebens- und Auffassungsstrukturen gesprochen, die daseinsrelativ sind auf bestimmte Rassen oder Kulturepochen, sogar auf Mann und Frau (X, 400f.). Die Lehre von der Daseinsrelativität sollte unter anderem der Weltanschauungslehre der Dilthey-Schule ontologisch gesicherte Grundlagen bereitstellen. In den Kontext der Daseinsrelativität lassen sich Schelers Unterscheidungen zwischen verschiedenen Weltanschauungsformen aufnehmen: die „natürliche Weltanschauung", die er Anfang der zwanziger Jahre in die „absolut natürliche" und in 74
die „relativ natürliche Weltanschauung" differenziert hat,13 zeigt die Welt aus der Erlebnisstruktur des Alltagsmenschen heraus (dieses Lehrstück weist eine enge Verwandtschaft mit Heideggers Analyse des In-der-Welt-Seins auf), die positiven Wissenschaften zeigen die Welt aus der Perspektive ihrer Beherrschbarkeit, die Bildungsweltanschauung aus der Perspektive interesseloser Kontemplation, usw.14
4. Wissen und Bewußtsein Auf den ersten Augenschein hin gehört die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Bewußtsein in die Erkenntnistheorie, doch aus zwei sachlichen Gründen läßt es sich der Ersten Philosophie zuordnen. Erstens erstreckt sich diese Thematik weit über die Erkenntnisakte im engeren Sinne hinaus, was freilich durch die beträchtliche Erweiterung der Erkenntnistheorie, die Scheler vorgenommen hat, aufgefangen werden könnte. Zweitens interpretiert Scheler das Verhältnis als ein ontologisches, so daß allenfalls die Erste Philosophie mit der Erkenntnistheorie vereinigt werden müßte, was Scheler allerdings zeitweilig im Sinn gehabt zu haben scheint. Wir haben es im Grunde mit einem Grenzproblem zu tun, das für Scheler überdies die polemische Bedeutung hatte, die im Neukantianismus und auch bei Husserl herrschende „Bewußtseinsphilosophie" zu unterlaufen und ihr, ähnlich wie es N. Hartmann getan hat, eine Ontologie oder Metaphysik der Erkenntnis voranzustellen. Scheler versucht zu zeigen, daß das Bewußtsein keineswegs eine unhintergehbare, ursprüngliche Sphäre darstellt, sondern etwas Abgeleitetes. Der erste Schritt besteht in der These, daß das Bewußtsein nur eine der verschiedenen Seinsarten ausmacht. Die Evidenzordnung, systematisch durchgeführt, hätte die dem Bewußtsein vorausliegenden Bestimmungsstufen des Seins aufzuweisen. Der zweite Schritt, den Scheler in seiner Spätphilosophie bevorzugt, besteht in der These, daß es ein Wissen gibt, das „keinerlei Art des Bewußt-Seins einschließt" 75
(IX, 189). Scheler nennt es das „ekstatische Wissen", „das wir beim Tier, bei den Primitiven, beim Kind, ferner in bestimmten pathologischen und sonstigen an- und übernormalen Zuständen" finden (IX, 189).15 Es stellt einen einfachen „vorbewußten, teils über-, teils unterbewußten Seins-Zustand der Wissensinhalte" dar (IX, 190), ein Teilhaben an Dingen „ohne Wissen des Habens und dessen, wodurch und worin gehabt wird" (IX, 189). Scheler greift mit dieser Theorie auf Ergebnisse positiver Einzelwissenschaften zurück, insbesondere auf Lévy-Bruhls Untersuchungen der Mentalität der Primitiven und auf die zeitgenössische Psycho-Pathologie. Das eigentliche Bewußtsein, das Wissen des Wissens, entstehe erst durch einen reflexiven Akt, der durch ein Leiden an den Widerständen der Welt hervorgerufen werde - alles Bewußtsein gehe hervor aus dem im ekstatischen Wissen erfahrenen Leid: das Wissen um die Dinge, das Wissen um das Wissen der Dinge, das Wissen um die Art des Wissens (Erinnerung, Vorstellung usw.), schließlich das Wissen um den Ich-Bezug des Wissensaktes. Analog zur Entstehung des reflexiven Wissens sind andere Aktarten zu analysieren, die aus dem ekstatischen Wissen hervorgehen können, z.B. die künstlerische Darstellung oder das religiöse Wissen. In welchem Verhältnis solche Genetisierung des Wissens zur Lehre von der Funktionalisierung des Geistes steht, hat Scheler nicht gezeigt.
5. Transzendente Erstreckung der Wesenserkenntnis Es liegt bereits in Schelers Auffassung von Wesenserkenntnis, daß ihre Geltung über den Bereich der erfahrbaren realen Welt hinausreicht, nicht nur im Sinne unendlicher Erweiterung für alle möglichen realen Gegenstände gleichen Wesens, sondern auch im Sinne der Erkenntnis der Wesenheiten an sich selbst und in sich selbst (IX, 79 f.). Die Möglichkeit zu Wesenserkenntnissen schließt nach Scheler ein, daß diese auch Gültigkeit beanspruchen können für Daseiendes, „das jenseits und außerhalb der Sphäre unserer möglichen Daseinserfahrung 76
gelegen ist" (V, 97). Darüber hinaus ist es eine Gesetzmäßigkeit der Wesenserkenntnis als eines intentionalen Aktes, daß in ihm sowohl über den gemeinten Bewußtseinsinhalt als auch über den Aktvollzug hinausverwiesen wird auf die in Akt und Gegenstand noch nicht realisierten, aber implizierten Horizonte, wodurch letztlich jede phänomenologische Erfahrung auf die universale Ur-Korrelation von Geist und Welt verweist.
6. Das Apnonsmusproblem Die Phänomenologie hat den von Kant zu eng ausgelegten Bereich des Apriorischen beträchtlich erweitert.16 Apriorität schreibt Scheler sowohl allen Wesenheiten selbst als auch den ihnen korrelierenden Erkenntnisakten zu. In beiden Fällen bestimmt sich der Sinn des Apriorischen primär aus dem Verhältnis, das die Wesenheiten zum Empirischen einnehmen: das Apriorische geht der Sache nach dem zufälligen Jetzt-HierSosein voraus, entweder als ontologisches oder als erkenntnistheoretisches Fundierungsverhältnis. Schelers wesensontologische These von der Gebundenheit des Wesens an die Existentia führt zu einer Einschränkung von Kants Anspruch der Geltung einer apriorischen Erkenntnis unabhängig von aller Erfahrung, da die Wesenserkenntnis immer nur an der Erfahrung gewonnen werden könne; als apriorische Erkenntnis sei sie aber unabhängig vom Quantum aller Erfahrungserkenntnis, und damit unabhängig von aller induktiven Erkenntnisgewinnung. Apriorische Erkenntnis ist evident und absolut gültig, sie könne durch keinerlei empirische Erkenntnis in Frage gestellt werden. Apriorische Erkenntnisse sind „,a priori', d.h. ,νοη vornherein' für alle zufälligen beobachtbaren Tatsachen des betreffenden Wesens in unendlicher Allgemeinheit und Notwendigkeit" gültig (IX, 79). Da Scheler allen Wesenserkenntnissen Apriorität zuspricht, ist Apriorität auch nicht, wie bei Kant, an die bloße Form möglicher Erkenntnis gebunden, sondern erstreckt sich auf ein unendliches Feld materialer (Wesens-)Gehalte. Scheler be77
schränkt die Apriorität, analog zu Kant, nicht nur auf die Erkenntnisakte, sondern spricht sie grundsätzlich allen Aktarten des Geistes zu. Deshalb kann es überall dort materiale Aprioritäten geben, wo sich Geist in irgendeiner seiner Aktarten aktuiert. Dies schließt ein, daß sich Apriorität nicht bloß eindimensional manifestiert, sondern daß es im Reich der Wesenheiten ein Stufensystem von Aprioritäten gibt. Im Unterschied zu Kant ist es demzufolge sinnvoll, von einem Mehr oder Weniger des Apriorischen zu sprechen. In diesen Fällen bestimmt sich der Sinn des Apriori nicht speziell aus dem Verhältnis zum Empirischen, sondern generell aus dem „Fundierungsverhältnis", das auch unter rein geistigen Wesenheiten vorkommen kann.
V. Erkenntnistheorie Erkenntnistheoretische Probleme haben Scheler seit seinem Studium stark beschäftigt, doch unterlagen die Standpunkte, von denen aus er seine Lösungsversuche unternahm, mehreren Wandlungen. Den neukantianischen Idealismus von Euckens Noologie vertrat Scheler noch im Logik-Fragment von 1906. Zur Zeit seiner Umhabihtation nach München umreißt er ihn im Brief an G. v. Herding vom 27. 4. 1906 folgendermaßen: „Ich gehe von Kant aus insofern, als ich es für richtig halte, daß die Gegenstände der Erkenntnis, wie Kant gezeigt hat, in Denk- und Anschauungsgesetzen gründen, die nicht auf Erfahrung gründen, sondern diese möglich machen." Den „subjektiven Idealismus" von Kant und anderen Denkern, zu denen Scheler später auch Husserl gerechnet hat, sucht er jedoch schon in diesen Jahren dadurch zu überwinden, daß er zeigt, „daß die Gesetze des Geistes [...] von aller Sonderbeschaffenheit der menschlichen Gattung und ihrer Organisation unabhängig sind. Die Körperwelt existiert nach meiner Meinung schlechthin unabhängig vom Menschen, seinen spezifischen Vorstellungs- und Denkformen, und wird weder durch einen Kausalschluß, noch durch eine Hypothese erst, sondern genau so unmittelbar wie die Innenwelt, erkannt. [...] Die Materie ist uns [...] in ihrer Existenz durch einen Akt reiner Anschauung gegeben, der in unseren sinnlichen Empfindungen eigentümlich eingewickelt ist, aber von den Sinnesorganen und dem Gehirn logisch (wenn auch nicht in seiner konkreten Funktion) völlig unabhängig ist." Dem Brief an v. Hertling, ja sogar schon dem Aufsatz über „Arbeit und Ethik" von 1899 (I, 171 ff.) läßt sich entnehmen, daß die Unterscheidung zwischen philosophischer und positivwissenschaftlicher Erkenntnis bereits seit den Anfängen von 79
Schelers akademischer Laufbahn ein Grundproblem seines Denkens gewesen ist; aus ihm wird später die Unterscheidung zwischen den drei obersten Wissensformen und überhaupt die Unterscheidung verschiedener Wissensformen hervorgehen. Einen Einfluß der Phänomenologie erkennt man in seinen Arbeiten erst, nachdem er in München (1906ff.) mit den Schülern von Th. Lipps in Kontakt getreten war. Im Aufsatz über die Lehre von den drei Tatsachen (1910/11) unterscheidet er drei Erkenntnisformen: die Erkenntnis der „natürlichen Weltanschauung", die der positiven Einzelwissenschaften und die „reine Erkenntnis" der Philosophie. Schon diese Unterscheidungen geben der Erkenntnistheorie einen ungewöhnlich weiten Umfang: sie umfaßt die Erkenntnisleistungen des alltäglichen Lebens, der positiven Wissenschaften und der Philosophie. Während des ersten Weltkriegs plante Scheler, eine Darstellung der Erkenntnistheorie unter dem Titel Phänomenologie und Erkenntnistheorie zu schreiben (IV, 80; II, 468), von der der posthum veröffentlichte Aufsatz gleichen Titels einen Eindruck vermittelt (X, 377-430). Die Phänomenologie wird als Grundlagentheorie vorausgesetzt. In der Ausführung hat das zur Folge, daß der Umfang der Erkenntnistheorie erneut erweitert wird. Scheler definiert sie als die „Lehre von der Erfassung und der denkenden Verarbeitung objektiver Seinsinhalte überhaupt, also z. B. auch Lehre vom Werterfassen und von der Beurteilung von Werten, d.h. Theorie der Wertung und Bewertung" (X, 396). Zu dieser Zeit führt Scheler noch das Erkennen auf ein „Bewußtsein von . ..", d. h. auf intentionale Akte zurück. Im Aufsatz über das Wesen der Philosophie von 1917 vertritt er jedoch bereits die These, daß Wissen ein Seinsverhältnis sei - spätestens seit diesem Aufsatz strebt er eine ontologische Erkenntnistheorie an, die er unter dem Titel Die Welt und ihre Erkenntnis. Versuch einer Lösung des Erkenntnisproblems (V, 94; 99) ankündigt. Das Problem der Realitätsgegebenheit verlangte aber nach einer noch umfassenderen Thematisierung als in dem Aufsatz vorgesehen war, so daß sich der Titel von Schelers Erkenntnistheorie schließlich in Phäno80
menologische Reduktion und voluntativer Realismus. Eine Einleitung in die Theorie der Erkenntnis wandelte (V, 11). Dieser Titel gibt am prägnantesten die erkenntnistheoretische Option von Schelers letzten Jahren an. Da die im Widerstandserlebnis konstituierte Realität allem Erkennen immer schon vorgegeben sei, kann die Erkenntnistheorie nicht wie im Neukantianismus als die grundlegende Disziplin der Philosophie aufgefaßt werden, sie muß vielmehr die Ontologie voraussetzen (X, 396; IX, 200). Da das Widerstandserlebnis auf dem in der Existenz des Menschen angelegten Streben beruht und da es dem Streben stets um Werte geht, die jedoch im Geist fundiert sind, muß die „Wertnehmung" der „Wahrnehmung", muß ganz allgemein die Liebe jeder Erkenntnis vorhergehen (V, 206, 350), da ja die Liebe die Grundaktart des Geistes ist. Fragen der Erkenntnistheorie finden sich in fast allen späten Schriften Schelers. Am ausführlichsten werden sie in Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926) behandelt, vor allem in den beiden großen Abhandlungen über „Probleme einer Soziologie des Wissens" (VIII, 15-190) und „Erkenntnis und Arbeit. Eine Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen Motivs in der Erkenntnis der Welt" (VIII, 191-382), sowie in dem Aufsatz „Idealismus - Realismus" (IX, 183-241). Doch läßt sich diesen und anderen Spätschriften keine durchgegliederte Gesamtkonzeption der Erkenntnistheorie entnehmen. Wie schon bei der Ersten Philosophie sind auch die Grenzen und Aufgaben der Erkenntnistheorie fließend geblieben. Versucht man, Schelers Ansätze und Ideen in eine disziplinäre Gesamtkonzeption zu bringen, ist als erstes der Systemort der Erkenntnistheorie zu bestimmen. In der Vorlesung über Erkenntnistheorie vom Sommersemester 1920 stellt Scheler eine knappe Übersicht philosophischer Disziplinen auf: 1. formale Eidetik oder reine Logik oder Wissenschaft von den Gegenständen überhaupt; 2. die reine Mathesis als die sukzessive Weiterbestimmung des Gegenstandes; 3. die materiale Eidetik der Sachgebiete; 81
4. die Erkenntnistheorie; 5. die Metaphysik.2 Die drei ersten Disziplinen lassen sich der Ersten Philosophie zurechnen; zu ihr gehört auch die Theorie der Phänomenologie, die Scheler in dem Aufsatz über Phänomenologie und Erkenntnistheorie (1914) als erste Fragestellung der Erkenntnistheorie behandelt hat. In der Gliederung zu dem gleichnamigen Buchprojekt (X, 516-518) fällt jedoch die Erkenntnistheorie bereits unter diejenigen Disziplinen, die von der Phänomenologie abgegrenzt werden, wie z.B. die Psychologie und Metaphysik. Im formalen Teil dieses Buchs werden Fragestellungen der Erkenntnistheorie mit Fragen der Ersten Philosophie additiv zusammengestellt (vgl. Kap. IV). Den materialen Teil gliedert Scheler in fünf Abschnitte, die sich aus seiner Sphärentheorie ergeben: „1. Welt der äußeren Anschauung [...]. 2. Welt der inneren Anschauung [...]. 3. Welt des fremden Bewußtseins. 4. Welt des Lebens [...]. 5. Metaphysik [...]" (X, 517). In allen diesen Sphären stellen sich spezifische erkenntnistheoretische Probleme, so daß Scheler eine spezielle Erkenntnistheorie von der allgemeinen unterschieden hat. Zur allgemeinen Erkenntnistheorie wären die folgenden Lehrstücke zu rechnen: der Begriff des Wissens und der Wissensarten; die Lehre von den Maßstäben der Erkenntnis, zusammen mit der Lehre von Täuschung und Irrtum; Wahrnehmung und Urteil. Das Problem der Realität ist wegen der Lösung, die Scheler gegeben hat, der Metaphysik zuzuordnen. Zur speziellen Erkenntnistheorie würden außer den Problemen, die mit der Sphärentheorie verbunden sind, auch die deskriptive Weltanschauungslehre gehören, außerdem die Lehre von den drei Tatsachen und die spezielleren Erkenntnisprobleme einzelner positiver Wissenschaften sowie allgemeiner materialer Sachprobleme, die durch mehrere Disziplinen hindurchreichen. 82
1. Der ontologische Begriff des Wissens Schon mit der These, daß das „Wissen" und nicht die - meist an den exakten Wissenschaften ausgerichtete - „Erkenntnis" die Gebietskategorie der Erkenntnistheorie sein müsse (weshalb Scheler auch gelegentlich den Ausdruck „allgemeine Wissenslehre" vorzieht), geht Scheler über die damals herrschenden neopositivistischen und neukantianischen Auffassungen von Erkenntnistheorie hinaus; allenfalls in E. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923 ff.) anerkannte er ein geistesverwandtes Streben. „Wissen ist ein Seinsverhältnis", behauptet Scheler in seiner Spätphilosophie immer wieder, weshalb das Wissen ohne Rückgriff auf irgendwelche Erkenntnisbegriffe, die „Wissen" bereits voraussetzen, mit rein ontologischen Begriffen bestimmt werden müsse. Mit kaum mehr veränderten Worten pflegte Scheler folgende Erläuterung zu geben: „Wissen ist ein Seinsverhältnis - und zwar ein Seinsverhältnis, das die Seinsformen Ganzes und Teil voraussetzt. Es ist das Verhältnis des Teilhabens eines Seienden am Sosein eines anderen Seienden, durch das in diesem Soseienden keinerlei Veränderung mitgesetzt wird. Das .Gewußte' wird ,Teil' dessen, der ,weiß', aber ohne dabei in irgendeiner Hinsicht von seiner Stelle zu rücken oder sonst irgendwie verändert zu werden. Diese Seinsbeziehung ist keine räumliche, zeitliche, kausale Beziehung. ,Mens' oder .Geist' heißt uns das X oder der Inbegriff der Akte im .wissenden' Seienden, durch die solches Teilhaben möglich ist; durch die ein Ding, oder besser: das Sosein - und nur das Sosein — irgendeines Seienden ein ,ens intentionale' wird, im Unterschied vom bloßen Dasein (,ens reale'), das stets und notwendig außerhalb und jenseits der Wissensbezogenheit bleibt. Wurzel dieses X, bewegungsbestimmendes Moment für den Vollzug der Akte, die zu irgendeiner Form der Teilhabe führen, kann nur die sich selbst und sein eigenes Sein transzendierende Teil-nahme sein, die wir im formalsten Sinne ,Liebe' nennen. Wissen ist also da und nur da, wo das Sosein als streng 83
Identisches sowohl extra mentem, nämlich in re ist als auch und zugleich in mente - als ens intentionale oder als ,Gegenstand'." Durch die Bestimmung des Wissens als Seinsverhältnis nimmt Scheler die Seinslehre als Voraussetzung der Erkenntnistheorie in Anspruch. Es fehlt jedoch eine explizite Ableitung des Wissen-Seins aus der Ordnung der Seinsarten. Auch die Aufgabe entweder der Wesensontologie oder der Erkenntnistheorie, die anderen im Zitat genannten ontologischen Begriffe (Ganzes und Teil, Teilhabe, Sosein - Dasein, Geist - Realität, Liebe) auf das Seinsverhältnis des Wissens hin zu bestimmen, ist nur sehr ungleichmäßig durchgeführt worden. Deshalb konnte Schelers Versuch nicht die gewünschte Überzeugungskraft gewinnen, alle diejenigen Erkenntnistheorien, die vom „Bewußtsein" als der unhintergehbaren Fundamentalkategorie ausgehen, durch seine ontologische Hinterfragung aufzuheben. Wissen als „Seinsverhältnis" stellt eine letzte, nicht weiter ableitbare Seinsart dar (IX, 189). In dem Streit um die Priorität von Sein oder Bewußtsein vertritt Scheler die These, daß schon im Ausdruck „Bewußtsein" ein „Sein" ausgesagt werde. Die im Wissen und Bewußtsein manifestierte Relation hat die spezifische Form eines „Teilhabe"-Verhältnisses zwischen verschiedenen Seienden, wobei das wissende Seiende A notwendigerweise die Aktivität und Fähigkeit besitzen muß, an einem anderen Seienden Β die Teilhabeart des Wissens herzustellen. Dies geschieht durch die an allen Β durchführbare Unterscheidung zwischen Sosein und Dasein - nur das Sosein kann in das Wissen aufgenommen werden. Das Streben nach Wissen ist motiviert durch die Liebe, die aufgefaßt wird als uneigennützige Hingabe an das zu erkennende Seiende B, an dessen Sosein A teilhaben möchte. Β wird um seines objektiven Wertes willen als Gegenstand der Erkenntnis ausgewählt. Dieser Wert ist nicht zu verwechseln mit dem Nutzwert einer Erkenntnis für den Erkennenden oder für die Erreichung irgendeines Zweckes. Ebensowenig aber kann das reine Wissen als wertfrei aufgefaßt werden. Doch handelt es sich hierbei um die „reine Liebe" als eines begierdelosen 84
Strebens nach wissender, kontemplativer Auffassung des Soseins eines Seienden um seines eigenen, ihm innewohnenden Wertes willen. Die These vom Wissen als einem dynamischen Seinsverhältnis schließt ein, daß es kein gegenstandsfähiges Seiendes gibt, dessen Sosein prinzipiell dem Wissen entzogen ist, daß aber auch nicht alles Seiende auf ein und die gleiche Weise gewußt werden kann. Deshalb muß die Lehre vom Wissen weitergeführt werden zu einer Lehre von den Wissensarten. Das Verhältnis zwischen Ganzem und Teil ist so zu verstehen, daß das Gewußte stets nur einen Teil des Ganzen des Gegenstands ausmacht. Deshalb verweist das Teil-Wissen stets auf das Ganze, von dem es einen Teil darstellt, ohne daß aber von einem endlichen Geist das Ganze als Ganzes gewußt werden kann. Das Ganze fungiert nur als die notwendige Idee von der im Grunde des Seienden liegenden Abgeschlossenheit desjenigen Wissens, von dem das Gewußte ein Teilwissen darstellt. Die Ausrichtung auf das Ganze ist in der Liebe als einem Streben begründet, das gewußte Teilwissen zu erweitern und einem Wissen des Ganzen anzunähern.
2. Die Lehre von den Wissensarten Der ontologische Begriff des Wissens als einer Art der Teilhabe eines Seienden an einem anderen, ohne daß in diesem anderen eine Änderung seines Soseins bewirkt wird, führt zu einer beträchtlichen Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Wissenstheorie. Scheler begrenzt die Wissenstheorie nicht auf die Wissensarten der Theorie (rationale Erkenntnis), sondern erweitert sie auch auf nichttheoretische Wissensarten wie ζ. Β. auf das Werterfassen, was ihm den verständnislosen Vorwurf eingebracht hat, eine „irrationalistische" Erkenntnistheorie zu vertreten. Die Wissens- und Erkenntnisarten lassen sich auf vielfältige Weise erforschen. In Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926) unterscheidet Scheler fünf Ansätze: 85
1. den historisch-soziologischen, 2. den erkenntnistheoretischen im engeren Sinne, 3. den entwicklungsphysiologischen und entwicklungspsychologischen, 4. den arbeitsphysiologischen und 5. den pädagogischen Ansatz (VIII, 196 ff.). Diese Ansätze sind nicht systematisch aufeinander bezogen, reflektieren vielmehr die für Scheler wichtigsten Ansätze der damaligen Diskussionslage. Den erkenntnistheoretischen Ansatz (2) führt Scheler in phänomenologisch-philosophischer Einstellung durch,4 was nicht ausschließt, daß er nicht auch Ergebnisse und Perspektiven anderer Ansätze übernimmt. Nach Maßgabe der „Künstlichkeit" (was zu dieser alles gehört, hat Scheler nicht gesagt) werden in aufsteigender Linie von den untersten, undifferenziertesten bis zu den obersten, durchgebildetsten Wissensarten folgende Arten angeführt: 1. das ekstatische Wissen oder die „Einsfühlung", 2. die „natürliche Weltanschauung", die er als die (materiale) Grundlage aller Arten des Wissens auffaßt (die Unterscheidung zwischen absolut und relativ natürlicher Weltanschauung scheint im Sinne der vorliegenden Aufzählung nicht erforderlich zu sein). Aus ihr gehen durch „Transformation" die höheren Wissensformen hervor: 3. Mythos und Sage, 4. das in den natürlichen Volkssprachen enthaltene Wissen, 5. das religiöse Wissen in seinen verschiedenen Aggregatzuständen zwischen vagen Intuitionen und den fixierten Dogmen der Priesterrehgionen, 6. die Grundarten des mystischen Wissens, 7. das philosophisch-metaphysische Wissen, 8. das positive Wissen der Natur- und Geisteswissenschaften und schließlich 9. das technologische Wissen (VIII, 63). Alle diese Wissensformen hat Scheler nicht aus dem allgemeinen ontologischen Begriff des Wissens hergeleitet, so daß er strenggenommen auch nicht von einem „System alles Wissens", sondern höchstens von einem „offenen", im Laufe der 86
Menschheitsgeschichte allmählich in Erscheinung tretenden System von wesensverschiedenen Wissensarten sprechen kann (VIII, 201). Die gemeinsame Grundbestimmung des Wissens, die in allen Wissensarten enthalten ist, besteht in einem „Haben objektiven Seins-Sinnes". Im folgenden beschränke ich mich auf die beiden wichtigsten Teile von Schelers Lehre von den Wissensarten: auf die Lehre von der Priorität des „ekstatischen Wissens" vor dem reflexiven Wissen und auf die Lehre von den obersten Wissensarten.
3. Ekstatisches und reflexives Wissen Bei der Ausarbeitung der zweiten Auflage des Sympathiebuchs ist sich Scheler über die fundamentale Bedeutung vorreflexiver Wissensarten klar geworden, wie sie in verschiedenen Formen des „Einsfühlens" mit einem Gegenstand bzw. mit der Natur gegeben sind - freilich weniger dem zivilisierten, erwachsenen Menschen als vielmehr Menschen auf früheren Entwicklungsstufen: primitive Völker, Kinder, oder bei Menschen, bei denen aufgrund von Entwicklungsstörungen oder Verletzungen das reflexive Wissen nicht funktionsfähig ist. Alle vorreflexiven Wissensformen faßte Scheler unter dem Begriff des „ekstatischen Wissens" zusammen. Sie sind u.a. dadurch charakterisiert, daß ihnen ein expliziter Subjektbezug fehlt. Der Begriff des ekstatischen Wissens wurde für ihn zu einem wichtigen Argument in der Begründung der Abkünftigkeit des „Bewußtseins" und damit in der Kritik der Bewußtseinsphilosophie.
4. Die obersten Wissensformen Die obersten Wissensarten grenzt Scheler nicht bloß gegenüber dem ekstatischen Wissen ab, sondern auch gegenüber allen Wissensarten der „Gruppenseele" in Mythos, Märchen, Volks87
spräche, Volksreligion (VIII, 54 f.). Diesen Wissensarten stellt Scheler die Wissensarten des „Gruppengeistes" entgegen, zu denen er das Wissen rechnet, das in den Staatsformen, im Recht, in der Bildungssprache, Kunst, öffentlichen Meinung zum Ausdruck kommt, in der höchsten, klarsten Form aber in den drei Wissensarten der Hochrehgionen, der Philosophie und der positiven Wissenschaften. Erkenntnistheoretische Untersuchungen einzelner Wissensarten haben Scheler im Laufe der Jahre zur Isolierung von verschiedenen Gesichtspunkten geführt, die er schließlich zu einem Kanon zusammengefaßt5 und mit einiger Regelmäßigkeit seinen Analysen zugrundegelegt hat: 1. das affektive Motiv, aus dem eine bestimmte Wissensart hervorgeht, 2. die die jeweilige Wissensart ausmachenden Akte des erkennenden Geistes, 3. die erkenntnistheoretische Struktur der Wissensart mit ihren Quellen und Methoden des Wissenserwerbs, 4. ihr wesensmäßiges Erkenntnisziel, 5. ihr Person- oder Führer-Typus, 6. die soziale Gruppenform (Klassen, Berufe, Stände) der Gewinnung und Tradierung des jeweiligen Wissens, 7. die geschichtliche Bewegungsart, 8. die Rangordnung, die die Wissensarten untereinander innehaben, und 9. das Verhältnis der Wissensart zu den am gleichen Wissen interessierten Menschen anderer Nationen und Kulturen. Man erkennt an diesen Gesichtspunkten, daß seine Untersuchungen nicht nur materialiter, sondern auch methodologisch weit über den Rahmen einer rationalen Analyse der Bedingungen, unter denen gültige Erkenntnis möglich ist, hinausgehen. Gelang es Scheler dadurch zwar, die philosophische Disziplin der Erkenntnistheorie mit den positiven Wissenschaften und anderen Disziplinen der Erforschung des menschlichen Erkennens und der Wissenschaften zu verbinden, so blieben bei ihm umgekehrt die Fragen der eigentlichen rationalen Analyse der Erkenntnis relativ unentwickelt.
Aufgrund seiner dynamischen Wissensauffassung, derzufolge Scheler das Wissen im Dienst eines Werdens sieht, fragt er als erstes nach dem Werdens- bzw. Erkenntnisziel (4). Er bestimmt diese Ziele nicht empirisch, sondern ontologisch. Es gebe drei oberste Werdensziele: Wissen kann und soll dienen „Erstens dem Werden und der Entfaltung der Person, die weiß das ist ,Büdungswissen\ Zweitens dem Werden der Welt und (vielleicht) dem zeitfreien Werden ihres obersten Soseins- und Daseinsgrundes selbst, die in unserem menschlichen Wissen und jedem möglichen Wissen um Welt und Weltgrund zu ihrer eigenen Werdens,bestimmung' kommen oder doch zu etwas, ohne das sie ihre Werdensbestimmung nicht erreichen können dieses Wissen um der Gottheit willen heiße ,Erlösungswisseri'. Und es gibt drittens das Werdensziel der praktischen Beherrschung und Umbildung der Welt für unsere menschlichen Ziele und Zwecke [...] - das ist das Wissen der positiven ,Wissenschaft', das ,Herrschafts-' oder ,Leistungswissen'." (VIII, 205) Unter diesen Wissensarten besteht eine Rangordnung (8). Den untersten Rang nimmt des Beherrschungswissen ein, weil es auf die Veränderung „nur" der Welt abzielt; höher steht das Bildungswissen, das der Ausbildung der geistigen Person zu einem geistigen Mikrokosmos dient, in dem sich die Wesensstrukturen der Totalität der Welt spiegeln, und am höchsten rangiert das Erlösungswissen, durch das der innerste Kern der Person teilhat am obersten Grund der Dinge selbst, an der Gottheit. Wenn Scheler nach dem „affektiven Moment" (1) fragt, aus dem die Wissensarten hervorgehen, dann rekurriert er nicht auf eine Psychologie der Erkenntnis, sondern fragt nach der Wesensart des Wertstrebens, das einer bestimmten Wissensart zugrundeliegt. Mit dem „affektiven Moment" geht es um das daseinsrelative Pendant der geistigen Liebe, die allen Aktarten zugrundeliegt. Das philosophische Bildungswissen führt Scheler auf das Staunen zurück, das Herrschaftswissen auf den Machttrieb und das religiöse Wissen auf die metaphysische Angst des Menschen und sein Bedürfnis nach Erlösung. Den Zusammenhang zwischen dem Grundakt der Liebe und den 89
verschiedenen Ursprungsemotionen hat Scheler unerörtert gelassen. Doch hat er die allgemeine These von der Priorität der Liebe vor jeglicher Erkenntnis auch noch in seiner Spätphilosophie beibehalten. Mit der Frage nach der geschichtlichen Bewegungsart (7) relativiert Scheler den Alleingeltungsanspruch des Fortschrittsgedankens. Von geschichtlichem Fortschritt der Erkenntnis könne man nur in einigen positiven Wissenschaften sprechen. In der Philosophie dagegen veralten die einstigen Lehrsysteme nicht, sondern behalten ihre relative, personbezogene Aussagekraft, werden aber durch andere Lehrsysteme ergänzt. Im Ganzen betrachtet steht die Philosophie unter dem Gesetz des „Wachstums" ihrer Erkenntnisse über Gott, Welt und das Selbst. Die Religionen wiederum orientieren sich rückwärts an der absoluten, für alle Zeit und Ewigkeit verbindlichen Offenbarung der Gottheit durch die „homines religiosi". Wie diese unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklungsformen konfliktfrei zusammen existieren können, ist ein offenes Problem geblieben. Ebenso die Möglichkeit einer Vermittlung der geschichtlichen Bewegungsformen mit der Lehre von der Funktionalisierung der geistigen Aktarten. Beide Fragen wären im Zusammenhang mit dem interkulturellen Austausch (9) zu entwickeln (vgl. Kap. IX).
5. Von den Maßstäben der Erkenntnis Die Lehre von mehreren Maßstäben der Erkenntnis hat Scheler schon früh gegen eine einseitig scientifistische Auffassung zu entwickeln begonnen. Im Logik-Fragment wehrt er sich gegen fehlende logische Wertabstufungen im Reiche der Wahrheit. Die Lehre von den verschiedenen Maßstäben der Erkenntnis bildet ein Kernstück seiner Erkenntnistheorie.7 Sie sollte seine Erkenntnistheorie einleiten (IX, 200), blieb jedoch fragmentarisch, wie so vieles in Schelers Werken. Der Begriff von Erkenntnis, den Scheler der Lehre von den Maßstäben zugrundelegt, definiert er mit N. Hartmann als 90
„gegenseitige Deckungseinheit von Bild und Gedanke" (IX, 200), wodurch er eine einseitige Priorität der Anschauung oder des Begriffs vermieden wissen wollte. Die Maßstäbe, nach denen eine behauptete Deckungseinheit und ihre Derivate zu beurteilen sind, stehen in einer Stufenordnung, in der die früheren jeweils die sachliche Grundlage der folgenden bilden, alle aber insofern voneinander unabhängig sind, als sie nicht auf andere zurückgeführt werden können: 1. Der höchste, schlechthin grundlegende Erkenntnismaßstab ist die „Selbstgegebenheit", die Evidenz der vollkommenen Entsprechung von Bild (Anschauung) und Gedanken. Ist der Maßstab der Selbstgegebenheit erfüllt, so liegt eine absolute Erkenntnis vor (X, 398). 2. Erkenntnisse können dem Grad der Adäquation (Fülle) der Anschauung eines Wesens nach von der Selbstgegebenheit abweichen, doch lassen sich Grade der Adäquation nur unterscheiden, wenn der Maßstab der Selbstgegebenheit vorausgesetzt wird. 3. Bestimmte Erkenntnisse bemessen sich nach der Daseinsrelativität, in der ihre Gegenstände erscheinen (vgl. Kap. IV). Durch die Daseinsrelativität sind sie abgegrenzt von der absoluten Realität des Ens a se. Wahrnehmen und Denken können daseinsrelativ sein auf das „Menschenmilieu" bzw. auf Lebewesen überhaupt, wie in den positiven Wissenschaften, oder auf endliche Geister, wie in der Philosophie (X, 404 f.); dementsprechend lassen sich drei verschiedene Arten von Tatsachen unterscheiden, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen. Letztlich ist der Unterscheidung von Daseinsrelativitäten, die eine Korrelation von bestimmten Erkennenden und den ihnen entsprechenden Gegenstandsarten darstellen, keine Grenze gesetzt (X, 400). 4. Der Maßstab einsichtigen Wahr-seins bezieht sich auf die Deckungseinheit zwischen dem in einem Urteil gemeinten und dem bestehenden Sachverhalt. 5. Demgegenüber bezieht sich der Maßstab matenalen Wahrseins auf die Deckungseinheit zwischen einem wahren Satz und dem Gegenstand eines Urteils. 91
6. Der Maßstab der Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit gilt in Beziehung auf das Verfahren eines Subjekts, das zu wahren Urteilen führen soll. Scheler behauptet einerseits eine generell gültige, strenge Stufenordnung, andererseits aber auch eine Veränderung der Reihenfolge der Maßstäbe in Abhängigkeit von der Wissensart (VIII, 209). In der Philosophie ist z.B. der oberste Maßstab die Selbstgegebenheit (1), im Erlösungswissen dagegen die absolute Realität des Wissensgegenstandes (3). Die Lehre von den Erkenntnismaßstäben steht somit in einem Spannungsverhältnis zu der grundsätzlichen Anerkennung einer Mehrheit von selbständigen, nicht aufeinander rückführbaren oder durcheinander ersetzbaren Wissensarten. Scheler hat noch weitere Maßstäbe aufgestellt, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit erhoben zu haben: die Maßstäbe der Eindeutigkeit, des Apriori und Apostenon, von sinnhaft und sinnfrei (VIII, 202). Die Lehre von den verschiedenen Maßstäben der Erkenntnis, insbesondere die von der Daseinsrelativität, ist die Grundlage für Schelers Unterscheidung zwischen „Täuschung" und „Irrtum". Eine „metaphysische Täuschung" liege vor, „wenn in der Reihe der Daseinsrelativitäten ein Gegenstand auf einer anderen Stufe erscheint als diejenige ist, zu der er gehört." (IX, 199; X, 409) Ein Urteil wie „Die Sonne ist untergegangen" ist wahr innerhalb der Sphäre der natürhchen Welt; in der Sphäre astronomischer Urteile ist es zwar nicht falsch, stelle aber eine Täuschung dar. Eine „erkenntnistheoretische Täuschung" liege vor, wenn etwas inadäquat Gegebenes als selbstgegeben mißverstanden wird (X, 409), und eine „gewöhnliche Täuschung" liege vor, wenn man meint, daß ein gegebener Gegenstand A in derselben Fülle gegeben sei wie ein in geringerer Fülle mitgegebener Gegenstand B. Liegen die Täuschungen in der Art, wie Gegenstände gegeben sind, also in einer vor-logischen Sphäre, so gehören „Irrtümer" in die logische Sphäre; sie beziehen sich auf das Verhältnis von Urteilen zu Sachverhalten. Für Scheler ist das Phänomen der Täuschung über die Schicht der Daseinsrelativität ein wichtiges Argument für die Not92
wendigkeit der Priorität der Wesensontologie vor der Erkenntnistheorie und Logik.
6. Philosophie der Wahrnehmung Die Philosophie der Wahrnehmung gehört zu den ältesten Lehrstücken von Schelers Philosophie. Schon während der Jenaer Dozentenzeit sollte sie ein zentrales Lehrstück seiner Einführung in die Erkenntnistheorie ausmachen. Ihre grundlegende Bedeutung hat sie bis in die späte Erkenntnistheorie des voluntativen Realismus behalten. Scheler geht von der durch die Biologie (Uexküll) und Psychologie seiner Zeit erwiesenen Erkenntnis aus, daß die sinnliche Erfahrung nicht einseitig entweder die sinnlich erfahrbaren Dinge oder die sinnlichen Erkenntnisvermögen zur Erklärung des Gegebenen voraussetzen darf, vielmehr ist Gegebenes in Relation zu den sinnlichen Vermögen und beides im Kontext der organischen Lebensbewältigung zu sehen. Das bedeutet, daß erstens alle sog. Sinneserfahrungen und das durch sie Gegebene relativ sind auf den menschlichen Organismus (Daseinsrelativität). Zweitens bedeutet es, daß sinnliche Empfindung und Wahrnehmung grundsätzlich von der Anschauung von SoseinsGehalten zu unterscheiden ist. Die Sinnesfunktionen haben überhaupt keine Erkenntnisfunktion - sie vermitteln nichts als Reize, und diese Reize vermitteln auch nichts Sachhaltiges von den Dingen, sondern nur Indices für unser Verhalten zu ihnen. Die Sinnesfunktionen machen durch Zeichen dem Organismus die Anwesenheit oder Abwesenheit, Nähe oder Ferne, Vorteil oder Nachteil der ihn umgebenden Dinge und Ereignisse kenntlich und bereiten dadurch unsere Reaktionen auf die Umweltdinge vor. Die Sinne selegieren auf diese Weise nur Seiten und Teilinhake aus der tatsächlich bestehenden Wirklichkeitsfülle, die für unsere Lebensfunktionen relevant sind, d.h. sie haben nur eine „analysatorische Bedeutung" (X, 437), wie Scheler im Anschluß an Pawlow sagt; sie haben Bedeutung nicht für eine mögliche Erkenntnis, sondern für ein mögliches Leben. 93
Hat aber ein Lebewesen wie der Mensch ein Erkenntnisvermögen, dann folgt daraus, daß für seine Lebensbewältigung Erkenntnis wichtig ist, daß Erkenntnis primär im Kontext der Lebensdienlichkeit zu sehen ist. Das Subjekt der natürlichen Wahrnehmung ist deshalb auch nicht das Bewußtsein, sondern das „Vitalseelenzentrum", das für die Steuerung des gesamten Lebensprozesses zuständig ist. Das Vitalseelenzentrum ist spontan und triebhaft tätig, wodurch die Richtung, die Art, das Quantum der Zuwendung des Lebewesens auf die Umwelt von vornherein vorgegeben sind. Hierauf beruht Schelers These, daß ein Vorziehen und Nachsetzen, also eine Wertung bereits aller Wahrnehmung vorausgeht und die Wahrnehmung lenkt (VIII, 230). Dies impliziert Schelers These vom Apriori der „praktischen Intelligenz" (VIII, 258). Sie liegt aller möglichen Erfahrung zugrunde, „die für die zweckmäßigen spontanen Bewegungen eines Lebewesens überhaupt, also motorischpraktisch .bedeutsam' oder .wichtig' ist" (VIII, 258). Die Vorordnung der praktischen Intelligenz gilt für das natürliche und das positiv-wissenschaftliche Wissen, nicht aber für Wissensarten, die nicht daseinsrelativ sind auf das Vitalwesen Mensch. Die natürliche Erfahrungswelt baut sich gemäß einer anthropozentrisch gebildeten Fundierungsordnung auf (VIII, 259). Diese erstreckt sich auf alle Grundgegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten: auf „Realität, Wert, Zeit, Raum, Bewegung, Substanz, Kraft, Gleichförmigkeit des Geschehens und auf die Rolle der Qualitäten, Beziehungen, Formen und Gestalten" (VIII, 259). Empfindungen sind nicht, wie allgemein angenommen wird, das primär Gegebene, sondern das Nachgegebene, das das vorgegebene Fundierungsschema nur „ausfüllt" (VIII, 259). Dieses Schema wird aktiviert durch das Grunddatum von Schelers Wahrnehmungstheorie, die Bewegung, die das Lebewesen mit der Welt in Beziehung bringt - objektiv durch die Reizbewegung, subjektiv durch die motorische Innervation der schema-gelenkten Reizverarbeitung und der psychischen Aufmerksamkeitsrichtung: Bewegung ist „die oberste und notwendige Grundbedingung schon für das Eintreten aller nur 94
möglichen Empfindungen und Wahrnehmungen" (VIII, 263). Scheler bezeichnet deshalb seine Wahrnehmungstheorie als eine „motorische" (VIII, 261, 265) bzw. „triebmotorische Theorie" (VIII, 282 ff.). Dieser Theorie zufolge gibt es keine unabhängig von der inneren Verarbeitung erkennbaren Dinge an sich, aber auch keine innere Verarbeitung ohne eine objektive Bewegung der Dinge auf das Lebewesen hin. Vielmehr stehen beide Bewegungsabläufe in einer funktionalen, durch Gleichungen ausdrückbaren Relation, so daß es eine unbegrenzte Zahl möglicher Wirklichkeitsdeutungen geben kann. Alle drücken nur die Relationen aus, keine das Sosein der Wirklichkeit und Natur. Alles steht in Relationen - Scheler sieht hierin eine Verwandtschaft mit Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie (VIII, 267). Um die objektive und subjektive Seite der Bewegung, die das Lebewesen mit seiner Welt vermittelt, zu erklären, nimmt Scheler die metaphysische Hypothese (VIII, 271) eines einzigen, überartlichen und überindividuellen Lebens-Agens an, das die individuelle Vitalseele und die je individuellen „Körperbilder" (die realen Dinge) miteinander vermittelt. Die Lehre von den „Bildern" oder „Körperbildern" ist ein zentrales Lehrstück seiner Philosophie der Erfahrungswelt. Analog zu der produktiven Einbildungskraft der Vitalseele produziere die „Körperphantasie" des überindividuellen Lebens-Agens die verschiedenen Körperbilder. Unter „Körperbild" versteht Scheler eine „in den Schranken wesensgesetzlicher Regelung liegende je besondere und einmalige Aufbauordnung von Soseinsbestimmtheiten (Gestalten, Qualitäten usw.), die [...] in letzter Linie in einer bestimmten Konstellation dynamischer Faktoren verwurzelt ist" (VIII, 293). Der jeweilige konkrete Wahrnehmungsinhalt besteht aus einem Teil des von unseren Wahrnehmungsinteressen dekomponierten objektiven Körperbildes (VIII, 293, 294). Daß ein Körper ausgedehnt ist, Dauer hat, eine bestimmte Gestalt, Farben, eine bestimmte Stelle in Raum und Zeit und im Verhältnis zu anderen Körpern und vieles andere mehr 95
diese Bestimmungen sind nicht zufällig und nicht Resultat induktiver Erfahrung, sondern beruhen auf einer ontischen Aufbauordnung, die genau „der wesensgesetzlichen Gegebenheitsordnung der konstitutiven Bestimmtheiten des Körpergegenstandes oder des ,Bildes'" entspricht (VIII, 296). Die Gegebenheitsordnung hat Scheler in elf Stufen zwar in systematischer Absicht, aber wiederum unabgeschlossen aufgestellt (vgl. VIII, 296ff.): 1. Die Ausdehnung, verstanden als Zustand und als Actio des Sichdehnens, ist der letztfundierende Soseinsfaktor jedes Körperbildes. 2. Es folgt die Erscheinung (Urphänomen) des Wechsels solcher Soseinsbestimmtheiten. 3. Der Wechsel wird, wenn er umkehrbar ist, reine „Bewegung", als nicht umkehrbarer wird er „Veränderung". 4. Räumlichkeit ist reine Möglichkeit der Bewegung, Zeitlichkeit reine Möglichkeit der Veränderung. 5. Veränderung wie Bewegung sind ontologisch und der Gegebenheitsordnung nach vor den räumlichen und zeitlichen qualitativen Punkterfüllungen, zwischen denen sie stattfinden. 6. Veränderung und Bewegung fundieren Raum und Zeit und ihre gegenseitige Beziehung in einer vierdimensionalen Ordnung der Jetzthierpunkte. 7. Das „Auseinander" der Soseinsbestimmtheiten des Körpers ist unabhängig von und vor den speziellen Formen des Nacheinander und Nebeneinander. 8. Das Nächstfundierte ist die Raumzeitgestalt eines Körpers, durch die ebensowohl der Kern und Grund seiner räumlichen Gestalt als auch die rhythmische Gestalt seiner möglichen Veränderungen bestimmt ist. 9. Die räumliche Gestalt liegt sämtlichen Qualitäten zugrunde und bestimmt apriori, welche Empfindungen möglich sind. 10. Die primären Qualitäten sind die Farbigkeiten, die allen anderen zugrundeliegen. 11. Unter den Farbigkeiten hat die Schwarz-Weiß-Reihe vor anderen einen Vorrang. 96
12. Die anderen Qualitäten stehen ebenfalls in einer bestimmten Gegebenheitsordnung.
7. Spezielle Erkenntnistheorie Auf der Grundlage der allgemeinen Wissens- und Erkenntnislehre bauen die speziellen Erkenntnistheorien auf, die durch die ontologischen Besonderheiten spezieller Gebiete erforderlich werden. In der Vorlesung über Erkenntnistheorie (1920) hat Scheler vier Grundprobleme einer speziellen Erkenntnistheorie unterschieden: 1. die Lehre von den Erkenntnisarten des Menschen, 2. die Lehre von der Erkenntnis der Werte und ihrer verschiedenen Arten, 3. die Erkenntnislehre der verschiedenen Wissenschaften (Natur-, Geisteswissenschaften, Biologie), 4. eine reine und eine angewandte Erkenntnistheorie. Der erste Punkt ist durch die Lehre von den Wissensarten erfüllt, der zweite gehört in die Axiologie, der vierte behandelt die von Scheler nur wenig ausgeführte Lehre der einzelwissenschaftlichen Methodologie und Technik der Erkenntnis, so daß allein der dritte Punkt für unseren Zusammenhang von Interesse ist. Der Abschnitt des geplanten Buchs über Metaphysik, der den Metaszienzien gewidmet werden sollte, kann als eine systematische Darstellung der Grundlagen aller speziellen Erkenntnistheorien angesehen werden. Ausgewählte Bruchstücke dieses Projekts hat M. S. Frings aus Schelers nachgelassenen Manuskripten veröffentlicht.9 Der Aufgabenbereich der speziellen Erkenntnistheorie ist jedoch noch in zwei Hinsichten zu ergänzen. Zum einen liegen ihm allgemeinere Fragestellungen zugrunde: die deskriptive Weltanschauungslehre, in die auch wieder die Lehre von den drei Tatsachen hineinspielt. Zum anderen folgen ihm speziellere erkenntnistheoretische Fragestellungen, die Scheler in der Erörterung verschiedener, durch mehrere Disziplinen hindurchreichender Grundprobleme entwickelt hat, z.B. in der 97
Philosophie des Todes (Χ, 16 ff.), in der Erkenntnistheorie der Metaphysik (XI, 17ff.) oder des fremden Ich (VII, 212ff., 219ff.). Von diesen Fragestellungen soll hier nur die zuerst genannte vorgestellt werden.
8. Zur deskriptiven Weltanschauungslehre Die Weltanschauungslehre stand in der damaligen Diskussion zwischen der Front des von Dilthey artikulierten metaphysischen Skeptizismus, wonach die Zeiten, in denen die Philosophie noch Metaphysik sein konnte, der Vergangenheit angehören und die Philosophie nur noch die Aufgabe habe, die prinzipiell möglichen Formen der Metaphysik und deren geschichtliche Abwandlungen zu beschreiben, und der Front der wiedererstehenden Metaphysik als einer Lehre des Absoluten, die als Religionsersatz dienen sollte. Scheler konnte sich mit dem metaphysischen Skeptizismus Diltheys nicht begnügen, anerkannte aber den Sinn einer beschreibenden Theorie der prinzipiell möglichen und historisch bereits in Erscheinung getretenen Typen von Metaphysik. Von dieser Lehre grenzte er die Aufgabe einer „setzenden Weltanschauungslehre" ab, die er gegen Husserls Verdikt mehr und mehr als unverzichtbare Aufgabe der — dann aber auch über die Phänomenologie hinausgehenden - Metaphysik ansah. In seinem Aufsatz über Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung (1922) entwarf er die Aufgabenstellung einer deskriptiven Weltanschauungslehre. Er ging von einer im Sinne der oben angeführten Stufenordnung von Wissens- und Weltanschauungsarten aus, die er nun aber auf drei Stufen vereinfachte. Die unterste Stufe bildet die „absolut natürliche Weltanschauung", die als historisch-soziologisch unveränderliche Konstante allen Weltanschauungsformen zugrundeliegt. Über ihr bauen sich zweitens die „relativ natürlichen Weltanschauungen" auf, die sich in großen Perioden rassen- und kulturkreisspezifisch ausbilden und umgestalten. Auf deren Formierungen bauen sich drittens die „Bildungswelt98
anschauungen" auf, die den geistigen Überbau der Nationen und Gesellschaften in den kulturgeschichtlichen Epochen ausmachen. Diese Bildungsweltanschauungen sind der eigentliche Gegenstand der deskriptiven Weltanschauungslehre. Sie setzt eine philosophische Disziplin von den wesensmöglichen Weltanschauungen voraus, in denen die ihr zugehörigen Gott-, Welt- und Selbstanschauungen wesensgesetzlich miteinander verbunden sind. Auf der Grundlage eidologischer Untersuchungen kann dann die deskriptive Weltanschauungslehre in zwei Richtungen arbeiten, die Scheler zwar zu zwei unterschiedlichen Disziplinen macht, die aber aufgrund des Korrelationsgesetzes zusammengehören. Die eine bezeichnet er als die „positive, aber rein ,sinndeskriptive Weltanschauungslehre'", die den idealen objektiven Sinngehalt etwa einer positiven Religion, eines philosophischen Systems usw. zu beschreiben hat. Die andere bezeichnet er als die „subjektiv verstehende Weltanschauungslehre, welche die idealtypischen geistigen Aktzusammenhänge nachzuleben und dann darzustellen hat, in denen Weltanschauungen in Personen und Kulturgemeinschaften ursprünglich geboren wurden" (VI, 23). Mit diesen beiden Teilen der deskriptiven Weltanschauungslehre und der ihr zugrundeliegenden eidologischen Weltanschauungslehre entwickelt Scheler die Grundlagen für die Erforschung von Wesensverwandtschaften zwischen verschiedenen Bereichen einer Kultur, etwa zwischen mechanistischer Weltansicht, Geldwirtschaft, bürgerlichem Führertum, Machtwillen über die Natur (Technik), Roman usw. (VI, 25). Vor einem solchen Hintergrund nimmt sich das, was seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als geistesgeschichtliche Forschung aufgetreten ist, sehr bescheiden aus.
VI. Philosophie der Werte „Wert" und „Werterkennen" gehören zu den konstanten Problemen von Schelers Denken. Bereits in seiner Dissertation hat er sich dem Wertproblem zugewandt, einerseits mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem psychischen Erleben und den das bloß Psychische übersteigenden Werten (ein Problem der zeitgenössischen Psychologismuskritik), andererseits mit der Frage nach den Beziehungen, die zwischen den drei Grundklassen von Werten bestehen - den logischen, ethischen und ästhetischen Werten. Beide Fragen faßte er zum Gesamtproblem einer „Wertkritik des Bewußtseins" zusammen (I, 12). Von Anfang an interessierte ihn, auf welche Weise sich die verschiedenen Weltklassen auf ein einheitliches, die verschiedenen Wertarten miteinander verbindendes Weitbewußtsein zurückführen lassen, und ob die Religion als die gesuchte einheitstiftende Grundlage zu verstehen sei (I, 14). Seine wertphilosophischen Untersuchungen waren also von Anfang an systematisch ausgerichtet. Dementsprechend stellte er eine allgemeine Werttheorie („Axiologie") den speziellen Wertdisziplinen Logik, Ethik, Ästhetik (und Religionsphilosophie) voran. In der Dissertation stellte Scheler auch schon die Frage nach dem Sein der Werte, die er mit Lotze als ein auf nichts anderes rückführbares „Gelten" auffaßte.1 Er unterscheidet zwischen dem objektiven Geltungsgehalt und dem subjektiven Erleben der Werte, das im „Gefühl" gegeben ist (I, 99). Die Wertgefühle grenzt er wiederum ab von Gefühlen, die weitindifferent sind und bloß psychische Fakten darstellen, wie die Gefühle von Lust und Unlust. Diejenigen Gefühle, die Wert-Organe sind, unterscheiden sich von den anderen dadurch, daß sie eine objektive, gegenständliche Bedeutung haben. Scheler stimmt Lotze zu, daß „in dem Gefühl für die Werte der Dinge unsere Vernunft eine ebenso ernst gemeinte Offenbarung besitzt, wie sie in den 100
Grundsätzen der verstandesmäßigen Forschung ein unentbehrliches Werkzeug der Erfahrung hat".2 Lotze sieht die gegenständliche Bedeutung nur in Lust bzw. Unlust, die eine Wahrnehmung begleiten, Scheler dagegen hält dieses „Begleiten" für nichtssagend. Er sucht die gegenständliche Bedeutung der Wertgefühle in einer lebendigen Synthese von Wahrnehmung und einer Allgemeinvorstellung nachzuweisen, die er als ein Urteil auffaßt (I, 101 ff.). Indem er diese lebendige Synthese als „die letzte Triebkraft unseres intellektuellen und die letzte Triebkraft unseres sittlichen Lebens" versteht (I, 103), vertritt er praktisch bereits seine spätere Lehre vom Primat des Wertfühlens vor den anderen geistigen Akten. In der Habilitationsschrift spielt zwar das Wertproblem nur eine untergeordnete Rolle, doch ist diese Schrift für die Werttheorie dadurch wichtig, daß sie als den einheitstiftenden Ursprung aller Wertarten bereits den „Geist" anführt, „in welchem sowohl die Erkenntnisfunktionen als die Funktionen des sittlichen Handelns [und, wie hinzuzufügen wäre, des künstlerischen und religiösen Verhaltens, W. H.] letzten Endes wurzelnd vorgestellt werden müssen" (1,280). Die systematischen Leitlinien seiner Wertphilosophie hat Scheler dann vor allem in seiner mittleren Periode entfaltet. Im Formalismusbuch hat er die Wertproblematik überwiegend in Beziehung auf die sittlichen Werte behandelt, aber keineswegs ausschließlich: Er greift auch Fragen der allgemeinen Werttheorie auf, um die Grundlagen zu klären, und andere Wertarten werden vergleichend mitreflektiert. Als Ergänzungen zur Weittheorie des Formalismusbuchs sind zu betrachten der Aufsatz über „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen" (1912, III, 33-147), die Schrift Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß, der posthum erschienene Aufsatz „Ordo amoris" (1914-16; X, 345-376) und die 1921 erschienene Abhandlung über „Probleme der Religion" (V, 101-354). In den zwanziger Jahren treten schließlich geschichtsphilosophische und metaphysische Fragestellungen in den Vordergrund, die auf das Wertproblem jetzt über die Lehre von den Vorbild typen und vom Wandel der Wertsysteme eingehen. An einem Ausbau der 101
allgemeinen Wertphilosophie oder einer der speziellen Wertdisziplinen war Scheler jedoch nicht mehr interessiert. Scheler hat seit seiner Dissertation zwar grundsätzlich zwischen der Axiologie als der „Wissenschaft von den Werten überhaupt" (I, 95) und den speziellen Werttheorien (Logik, Ethik, Ästhetik, Kulturphilosophie) unterschieden,3 in der Ausführung aber hat er die Axiologie fast nur als Einleitung zur Ethik behandelt.4 Will man der systematischen Grundintention seiner Philosophie gerecht werden, muß man jedoch die Axiologie aus der Vermischung mit der Ethik lösen. Scheler hat im Kontext spezieller Fragen verschiedene Übersichten der Axiologie entworfen,5 von denen er freilich keine ausgeführt hat. Zu Beginn der Vorlesung über „Grundprobleme der Ethik" von 1921 hat er drei Fragen genannt, die - unter Umstellung der zweiten und dritten - am klarsten die Aufgabenstellung der Axiologie umreißen: 1. Was sind Werte - und wie werden sie erfaßt? 2. Die Lehre von der objektiven Rangordnung der Werte. 3. Das Problem des Relativismus und Absolutismus der Werte.6
1. Über Wesen und Erkenntnis der Werte Die Frage nach Wesen und Erkenntnis der Werte bringt das für die Phänomenologie grundlegende Prinzip der Korrelativität von Erfahrungsakt und Erfahrungsgegenstand zum Ausdruck. „Werte" bezeichnet Scheler als „unreduzierbare Grundphänomene der fühlenden Anschauung" (II, 270) - eine typisch phänomenologische Bestimmung. Die Wesensontologie hat das Wertsein zusammen mit dem Sosein und Dasein als unreduzible Seinsarten auszuweisen. Sie seien unterscheidbar „nur im Geiste und durch den Geist, nicht an sich und ontologisch" (XI, 242). Dennoch bezeichnet er in einem Vorgriff auf die Metaphysik alle drei als Attribute eines Seins. „Also muß ein summum aestimativum auch da sein - wenn es ein Ens a se gibt" (XI, 242), woran Scheler nicht zweifelt. 102
Die „reine Axiologie", die die apriorischen Wertverhalte unabhängig von allen Wertarten und der Idee von Wertträgern untersucht, stellt eine Reihe von Grundsätzen auf. Es sei eine „Wesenstatsache", daß alle Werte in positive und negative Werte zerfallen (II, 100). Von Brentano übernimmt Scheler die Axiome, die das Verhältnis des Seins zu positiven und negativen Werten apriori festlegen: daß die Existenz eines positiven Wertes selber ein positiver Wert sei und die Existenz eines negativen Wertes ein negativer Wert, daß die Nichtexistenz eines positiven Wertes ein negativer Wert, dagegen die Nichtexistenz eines negativen Wertes ein positiver Wert sei. Sodann führt Scheler als Wesenszusammenhänge an, daß derselbe Wert nicht zugleich positiv und negativ sein kann, aber jeder nicht negative Wert ein positiver und jeder nicht positive Wert ein negativer Wert sei (II, 100; XI, 242). Was für die Wesenszusammenhänge der Werte gilt, das gilt entsprechend auch für die ^Anerkenntnisse: „Es ist unmöglich, denselben Wert für positiv und negativ zu halten usw." (II, 100) Sachphänomenologisch betrachtet stellen Werte Qualitäten einer besonderen Art dar, die von sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten, etwa den Farben, scharf zu unterscheiden sind (II, 183 f., 249). Es sind Qualitäten, weil sie nicht wie Begriffe oder Urteile auf theoretischen Akten beruhen, sondern unmittelbar gegeben und durch einen fühlbaren Gehalt, den „Wertgehalt" oder die „Wertmaterie", bestimmt sind. Durch den Wertgehalt sind alle Werte „objektiv" oder „gegenständlich" bestimmt und nicht weiter rückführbar auf andere Gegebenheiten: Werte sind „Urphänomene", Letztgegebenheiten. Der Wertgehalt kann nur deskriptiv vermittelt werden für diejenigen, die ihn zu fühlen fähig sind - definierbar sind sie nicht, nur „erfahrbar". Im Verhältnis zur konkreten Erfahrung sind die Wertqualitäten „apriori" und gänzlich unabhängig von der psychophysischen Organisation der Subjekte, die die Werte erleben. Deshalb bestehen und gelten sie auch unabhängig davon, ob sie erfahren werden oder nicht. Die Werte zerfallen in positive und negative Werte, die unterschiedliche Graduierungen ihrer Wertigkeit zulassen. Wie die sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten erscheinen die Wertqualitäten immer „an" etwas, an den „Weitträgern". Die 103
Einheit von Wertqualität und Wertträger bildet ein „Gut" oder „Wertding", und die Art, wie Wertqualität und Wertträger verbunden sind, bezeichnet Scheler nicht sehr glücklich als ein „Haften" der Werte am Träger; gemeint ist ein Durchdrungensein des Trägers von einer bestimmten qualitativen Wertigkeit. Die Unterscheidung zwischen Wertqualität und Wertträger ist erforderlich, weil die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften des Trägers auf eine ganz andere Art als die Werte erfahren werden und weil sie sich verändern können, ohne daß sich zugleich und auf die gleiche Weise auch der Wert ändert. Zwischen Wertmaterie und Wertträger bestehen apriorische Wesenszusammenhänge: Werte treten nur an solchen Trägern in Erscheinung, die ihrem Wertgehalt entsprechen, z.B. sittliche Werte nur an Personen. Für jede Wertklasse sind deshalb die allgemeinen Merkmale zu bestimmen, durch die sich die Träger qualifizieren müssen, damit an ihnen die spezifische Wertart erscheinen kann. Aktphänomenologisch betrachtet sind die Werte gegeben im „Fühlen", und zwar in einem „intentionalen Fühlen", das ein Erfühlen eines qualitativ bestimmten Wertgehalts ist. Das intentionale Fühlen stellt ein spezifisches Erkenntnisvermögen dar. Um diese eigentümliche Erkenntnisleistung nicht dem Verdacht des Irrationalismus auszuliefern, haben es Husserl und D. v. Hildebrand vorgezogen, parallel zum „Wahrnehmen" von einem „Wertnehmen" zu sprechen, und Scheler hat sich ihnen darin angeschlossen.7 Scheler nennt für die Anerkennung der spezifischen Erkenntnisleistung des Fühlens einige Vorläufer: Pascals Lehre, daß es außer und unabhängig von der logischen Vernunft auch eine „raison du coeur" gebe, Lotzes Hinweis auf das Gefühl als Erkenntnisquelle der Werte und Fr. Brentanos Anerkennung eines Gegenstandsbezugs bei „gewissen Gefühlen". Schelers Begriff des intentionalen Fühlens steht im Kontext einer umfassenden „Phänomenologie des emotionalen Lebens" (II, 331), die er noch Anfang der zwanziger Jahre in einem umfangreichen Werk über „Die Sinngesetze des emotionalen Lebens" darstellen wollte (VII, 10).8 Es ging ihm dabei auch um die Frage, welche Aktarten des 104
Fühlens für die Erkenntnis der verschiedenen Dimensionen der Wertewelt zuständig sind: Für die Wertqualitäten nahm er verschiedene „Fühlfunktionen" an, für die Ranghöhe der Werte Gefühle des Vorziehens und Nachsetzens und für die Entdekkung neuer Werte und Wertbereiche die Liebe. Nicht alle Akte, Funktionen und Zustände, die zum emotionalen Leben gehören, weisen einen intentionalen Gehalt auf (womit sie für das Wertproblem irrelevant werden), und nicht alle emotionalen Funktionen und Akte haben den gleichen Grad von Intentionalität. Scheler hat vier „Schichten" des emotionalen Lebens unterschieden, die mit zunehmender „Tiefe" eine zunehmende Intentionalitätsfähigkeit zeigen: die Schicht der sinnlichen Gefühle, der Vitalgefühle, der seelischen und der geistigen Gefühle. Die sinnlichen Gefühle bzw. die „Empfindungsgefühle" (C. Stumpf) haben keinen intentionalen Gehalt. Sie sind extensiv und lokal leiblich bestimmte Gefühle der Lust oder Unlust (II, 247). Zu ihnen rechnet Scheler z.B. die Empfindungen von Schmerz oder Kälte, die „zuständlichen Gefühle", die Affekte und Leidenschaften, aber auch emotionale „Antwortreaktionen" (z.B. Rache), weil ihre Gehalte nicht gefühlsimmanent, sondern durch andere Quellen (z.B. Vorstellungen) gegeben sind.9 Die „vitalen Gefühle" beruhen auf der Gesamtlebensbetätigung eines Organismus. Zu ihnen gehören z.B. die Gefühle von Gesundheit oder Müdigkeit, die ebenfalls an den Leib gebunden, aber nicht lokalisierbar sind (II, 340ff.). Nach Scheler können auch einzelne Tiergattungen vitale Wertgefühle haben. Die „seelischen Gefühle" wie Wehmut, Trauer, Freude sind nicht mehr leibgebunden, sondern gehören dem psychischen Ich an (II, 340). Die „geistigen Gefühle" wie Achtung, Seligkeit, Verzweiflung beruhen auf Akten der geistigen Person (II, 344 f.). Das Gesetz der Korrelativität besagt, daß die Unterscheidung verschiedener Arten des intentionalen Fühlens nicht einseitig vom Akt- oder Gegenstandspol abgeleitet werden kann, sondern durch die gesamte Korrelation von Akt und Gegenstand bestimmt ist. So ordnen sich den intentionalitätsfähigen Arten des 105
Fühlens spezifische Wertarten zu (II, 122-126). Darüber hinaus ordnet Scheler aber auch dem sinnlichen Gefühl spezifische Werte zu. Er stellt also vier Wertklassen auf, die durch die für alle Wertarten charakteristische Gegensätzlichkeit von positiven und negativen Werten geprägt sind. Die sinnlichen Werte gliedern sich in die beiden Grundwerte angenehm und unangenehm (und nützlich/nutzlos), die vitalen (psychischen) Werte in edel und gemein, die geistigen Werte nach ihren Hauptarten in die ethischen Grundwerte recht/unrecht, in die ästhetischen Grundwerte schön/häßlich und in die Grundwerte der reinen, nicht zweckgebundenen Erkenntnis wahr/falsch; viertens schließlich die religiösen Werte in die Grundwerte des Heiligen und Unheiligen. Die von Scheler nur skizzenhaft ausgeführte Systematik der „Wertmodalitäten" hat einige Unklarheiten hinterlassen. 1. Den rein seelischen Emotionen ist keine objektive Wertklasse zugeordnet, obwohl seelische Emotionen wie Trauer oder Freude durchaus intentionale Wertgehalte erfassen können. 2. Während die seelischen Emotionen in der Ausführung der Systematik zu kurz gekommen sind, hat Scheler die geistigen Gefühle gleich in drei Unterklassen eingeteilt. Unvollständig ausgeführt blieb die Frage, welche Arten geistigen Fühlens den Grundwerten der drei großen Kulturgebiete von Recht und Sittlichkeit, Kunst und Wissenschaft korrelieren. Bei den sittlichen Werten spricht Scheler gelegentlich von Billigung und Mißbilligung, bei den ästhetischen von Gefallen und Mißfallen (II, 125), doch handelt es sich hierbei um „Antwortreaktionen" (II, 125). Scheler betont zwar, daß wir keine Wertarten voraussetzen dürfen, „wo sich nicht auch zum Erleben dieser Wertarten zugehörige Akt- und Funktionsarten finden" (II, 115), und daß absolute Werte nur in einem „reinen", von unserem organischen Leben unabhängigen Fühlen gegeben sind. Aber auf die Frage, welche besonderen Arten des Fühlens den geistigen Werten entsprechen, ist er nicht weiter eingegangen. Schelers Bemerkungen über die „Antwortreaktionen" hat D. v. Hildebrand zu einer detaillierten Theorie der „Wertantwort" ausgearbeitet.10 106
3. Schließlich das Problem der religiösen Werte — welcher Schicht des emotionalen Lebens sind sie zuzuordnen? Scheler bezeichnet „Verzweiflung" und „Seligkeit" mehrfach als religiöse Gefühle und definiert diese als Person- oder geistige Gefühle - sollen also die geistigen Gefühle noch um eine vierte Hauptart erweitert werden? Dadurch würde aber der absolut höchste Rang der religiösen Werte gegenüber den anderen geistigen Werten nivelliert, was Scheler nicht einmal in seiner Spätphase vertreten hat. Die genannten Schwierigkeiten konvergieren in dem Grundproblem des Korrelationsgesetzes: Wie lassen sich die verschiedenen Gefühlsarten mit den unendlich vielen, in der Ranghöhe vielfach abgestuften Werten in Einklang bringen, ohne daß der evident einsehbare eigenständige Sinn der noetischen und noematischen Aspekte des Wertphänomens unter- oder mißinterpretiert wird? Das Problem ist über die wertphilosophische Problematik hinaus auch insofern von Bedeutung, als von der widerspruchsfreien Durchführung der Korrelationsthematik die Gültigkeit des Korrelationsgesetzes überhaupt betroffen ist.
2. Die objektive Rangordnung der Werte Bereits die 1912 erschienene, von Nietzsches „Genealogie der Moral" angeregte Abhandlung über das „Ressentiment im Aufbau der Moralen" beruht auf der Lehre, „daß es evidente ewige Vorzugsgesetze und eine ihnen entsprechende ewige Rangordnung unter den Werten" gibt (III, 69). Die Grundzüge einer objektiven Wertrangordnung hat Scheler im Formalismusbuch entworfen. Die Korrelation zwischen den verschiedenen Arten des Fühlens und ihren objektiven Wertgehalten baut noch keine einheitliche und alle Werte umfassende Rangordnung auf. Ob ein Wert höher oder niedriger ist, erfahren wir durch geistige Akte, durch die wir bestimmte Werte als vorzuziehen oder nachzusetzen erfassen. Diese zweite Erkenntnisart des Fühlens setzt die erste, das intuitive Erfühlen einzelner Wertgehalte, voraus, obwohl sich 107
Scheler hierüber widersprüchlich geäußert hat. Das durch Vorziehen und Nachsetzen nach und nach freigelegte, in sich gegliederte und dem Rang nach abgestufte Wertreich macht das eigentlich Materiale jeder Werttheorie aus - Scheler hat diesem Lehrstück eine zentrale Bedeutung für jede Werttheorie zugesprochen. In der angeführten Reihenfolge der emotionalen Schichten drückt sich bereits die Rangordnung aus: Die obersten Werte sind die religiösen, denen die geistigen, seelisch-vitalen und sinnlichen Werte folgen. Was für eine Erkenntnisweise den Rang ganzer Wertklassen und nicht bloß einzelner Werte bestimmt, hat Scheler nicht gesagt. Die globale, von gesellschaftlichen und geschichtlichen Faktoren unabhängige Wertrangordnung kann durch zusätzliche Gesichtspunkte erheblich differenziert werden. Scheler geht insbesondere auf drei weitere Gruppen von Wertrangkriterien ein: 1. auf die apriorischen Beziehungen, die zwischen dem Höherbzw. Niedriger-Sein und anderen Wesenseigentümlichkeiten der Werte bestehen; 2. auf die apriorischen Beziehungen, die zwischen dem HöherNiedriger-Sein der Werte und den möglichen Wertträgern bestehen; und 3. auf den materialen Gehalt der einzelnen Werte selbst. Die dritte Gruppe ist die wichtigste. Auf ihr beruht „das eigentliche materiale Apriori für unsere Werteinsicht und Vorzugseinsicht" (II, 122), weil die Werterkenntnisse nur vermitteln, was objektiv und apriori gegeben ist. Scheler geht indessen nur sehr kurz auf die Bestimmung der verschiedenen Wertmodalitäten ein (II, 122-126). Die grundlegende Bedeutung, die er immer wieder der objektiven Rangordnung der Werte zuspricht, steht in einer auffallenden Diskrepanz zu den skizzenhaften Ausführungen, die er zu ihrer Entfaltung und Begründung gegeben hat. Es sei jedoch daran erinnert, daß Scheler das Formalismusbuch nur als eine vorbereitende Untersuchung aufgefaßt hat, der die Entwicklung einer materialen Ethik „auf der breitesten Basis phänomenologischer Erfahrung" (II, 29) erst noch folgen sollte. Den obersten systematischen Rückhalt der Wertrangordnung auf der Gegenstandsseite sieht Scheler in der Idee eines zeitlos 108
gültigen, unveränderlichen und absoluten Weitreichs, auf der Aktseite korrelativ dazu in der Idee einer absoluten Geistperson. Durch die Anerkennung der Notwendigkeit einer absoluten Geistperson wahrt Scheler das Korrelationsapriori und unterscheidet sich dadurch grundsätzlich von N. Hartmanns Ontologisierung eines von möglichen geistigen Akten unabhängig bestehenden Ideen- und Wertehimmels. Wie sich die in der Menschheitsgeschichte erschlossenen Werte in die objektive Weitrangordnung einfügen, so fügen sich die endlichen Personen im Vollzug der geistigen Akte in das Aktgefüge der absoluten Person ein (X, 361). Der das Aktgefüge der endlichen Personen fundierende Akt ist die Liebe. Die Sphäre des Wertnehmens geht allen anderen Weltverhältnissen des Menschen, dem theoretischen, moralischen, ästhetischen Weltverhältnis voraus: „Der Mensch ist, ehe er ein ens cogitans ist oder ein ens volens, ein ens amans." (Χ, 356) Die richtige, nicht die „vergaffte", durch Ressentiment abgelenkte und verfälschte Liebe, führt den Menschen tiefer und tiefer in das Wertreich hinein und läßt ihn progressiv konform werden mit der als objektiv bestehend aufgefaßten Wertrangordnung. Die Erschließung neuer Werte aus der Wertrangordnung vollzieht sich nicht jederzeit und durch beliebige Menschen, sondern nur durch geniale Geister in geschichtlichen Situationen, die für neue Werte und Wertsysteme reif sind. Jeder Wertklasse entspricht ein bestimmter Vorbild-Typus: die sinnlichen Werte werden erweitert durch die „Künstler des Genusses", die vitalen durch „Helden", die geistigen durch „Genies", die religiösen durch „Heilige".11 In der Korrelation der Wertrangordnung und dem in der Liebe fundierten Aktgefüge der Person, also mit der durch die Wertthematik konkretisierten letzten und grundlegenden Korrelation von Person und Welt, findet Schelers Axiologie ihren Abschluß. Da aber für Scheler die Frage der Relativität der Werte von vornherein eine grundlegende Bedeutung besaß und sich zu der Frage nach der Vereinbarkeit von Absolutheitsanspruch und Geschichtlichkeit zugespitzt hat, darf sie nicht unberücksichtigt bleiben. 109
3. Relativität und Absolutheitsanspruch der Werte Scheler hat sich wiederholt und unzweideutig zu einer „absoluten Ethik" bekannt.12 Er weiß jedoch, daß eines der wichtigsten Ergebnisse der neueren Ethik in der Erkenntnis besteht, „daß es in der Welt nicht eine, sondern verschiedene .Moralen' gegeben hat" (III, 68), und daß empiristische und relativistische Werttheorien die zeitgenössische Diskussion beherrschten.13 Den Relativismus hat Scheler durch seine „Lehre von der Daseinsrelativität der Werte" zu überwinden versucht. Sie kann als ein Versuch verstanden werden, eine absolute Lehre des Relativen aufzustellen - „eine Aufgabe von fast unermeßlicher Ausdehnung".14 Der entscheidende Ansatz besteht in der Unterscheidung zwischen der Sphäre des Apriorischen und des Daseins. Scheler greift auf seinen Grundsatz zurück, daß die objektive Rangordnung der Werte unabhängig bestehe von den „am" Menschen (als Träger) vorkommenden Akten des Wertfühlens und der Werterkenntnis. Das Korrelationsgesetz ist dadurch zwar nicht aufgehoben, weil die These unangetastet bleibt, daß Werte nur im intentionalen Fühlen und den anderen Aktarten des Wertens zur Erscheinung kommen, aber sie ist relativiert insofern, daß das intentionale Fühlen nicht Bedingung für das objektive Sein, sondern nur für das Erkennen der Werte ist. Demzufolge kann von der Absolutheit der Werte und ihrer Rangordnung nur in zweierlei Beziehung gesprochen werden: in Beziehung auf das Sein und Sosein der Werte in ihrem idealen An-sich-Sein, und in Beziehung auf adäquates Fühlen der an sich seienden Werte und Wertordnungen. In der gesamten Sphäre der daseinsrelativen Werterkenntnis kann es nur induktive Erfahrungserkenntnis geben. Alle Aussagen über die Relativität von Werten, sollen sie sich nicht selber relativieren, können nur absolute Gültigkeit beanspruchen, wenn sie auf apriorischen Wesenserkenntnissen beruhen und innerhalb des durch die apriorischen Erkenntnisse vorgegebenen Rahmens von daseinsrelativen Variationen bleiben. Theorien, die eine un110
eingeschränkte Relativität aller Werterfahrungen behaupten, wie z.B. die Evolutionstheorie der menschlichen Werterfahrungen, unterliegen dem Fehler, die Relativität ihrer eigenen Position absolut zu setzen (II, 275 f.). Dabei anerkennt Scheler seinerseits, daß überall dort, wo von Werterfahrungen der real existierenden Menschen gesprochen wird, ihr relativer Charakter zugestanden werden muß, und zwar apriori. Der Umfang der Sphäre daseinsrelativer Wertaussagen läßt sich bis in metaphysische Problemdimensionen hinein an dem folgenden Satz ermessen: „Die Menschheit ist wie jede Rasse, jedes Volk und jedes Individuum ein prinzipiell veränderliches und in ihrer psychophysischen Konstitution durchaus gewordenes Ergebnis der universellen Lebensentfaltung." (II, 275 f.) Sofern Wertungen einzelner Individuen zur Diskussion stehen, ist den wertrelativistischen Aussagen der Psychologie zuzustimmen; desgleichen der Soziologie in ihren Aussagen über die gesellschaftliche Bedingtheit von Werten, der Ethnologie in Aussagen über die Unterschiede der Wertmaßstäbe der verschiedenen Rassen, der Geschichtswissenschaft und Kulturgeschichte in ihren Aussagen über den Wandel der Wertmaßstäbe - Scheler geht sogar so weit zu behaupten, daß die gesamte Menschheit, die irgendwann einmal in der Geschichte des Universums aufgetreten ist, ein durch und durch zufälliger Träger von Werterfahrungen sei. Er lehnt deshalb jede sogenannte „humane Ethik" und damit auch jede „humane Axiologie" als Anthropologismus ab, die behaupten, daß Weiterkenntnisse nur relativ auf den Menschen gedacht werden können.15 Metaphysische Dimensionen nimmt die Frage an, wenn Scheler die Menschheit als ein Ergebnis der universellen Lebensentfaltung bezeichnet, sie also auf ein universales, nicht unbedingt nur irdisches Lebensprinzip (II, 288) zurückführt - keineswegs erst in seiner Spätphilosophie hat sich der Begriff des Lebens (später: „Drang") als der eigentliche Gegenbegriff des Geistes herausgestellt.16 Dem im Vergleich zum Absolutheitsanspruch negativ belasteten Begriff der Relativität steht bei Scheler die positive Entwicklung der Lehre von der Daseinsrelativität der Werte gegenüber, die er anhand „eines reichen phänomenologischen Begriffsgefü111
ges über die möglichen Dimensionen der Relativität der Wertschätzungen" auf das Maß von Sinn und Harmonie hin zu beurteilen versucht, „die in den historischen Schätzungen und ihren Systemen (des „Geschmacks" und „Stils", des „Gewissens" und der „Moralen" usw.) liegen mögen" (II, 301). Scheler hat im Ethik-Bericht (1914) drei Problemkreise genannt, in denen sich das Relativitätsproblem konzentriert: in den Variationen des Ethos, der Ethik und der praktischen Moralität (I, 386). Im Formalismusbuch - noch nicht aber im Aufsatz über das Ressentiment17 - hatte er diese Problemkreise als Beispiele für analoge Probleme in anderen Wertsphären, also als eine Frage der allgemeinen Werttheorie aufgefaßt. Darüber hinaus hat er noch zwei weitere Problemkreise genannt: die Variationen der „Institutions-, Güter- und Handlungseinheitstypen", d.h. der Typisierungen von komplexen, wiewohl einheitlichen Wertverhaltensweisen (die Wertschätzung der Ehe, des Diebstahls etc.), und schließlich die Variationen von Handlungs- und Ausdrucksformen, die durch lebendige Traditionen vermittelt werden (Sitten, Bräuche). Von diesen fünf Problemkreisen der Relativität der Werte hat die Frage des Ethos die größte Bedeutung, vor allem in Schelers Spätphilosophie, aber auch in sachlicher Perspektive. Das Ethos stellt den in einer Zeit herrschenden Inbegriff der dem sittlichen Bewußtsein immanenten Regeln des Vorziehens und Nachsetzens von Werten dar, die die Normen des Handelns und die Gesetze der sittlichen Billigung und Mißbilligung beherrschen (I, 373); es liegt also allen anderen Problemkreisen zugrunde. Analog zum Ethos, das die Regeln des Vorziehens sittlicher Werte umfaßt, liegt der theoretischen Sphäre die „natürliche Weltanschauung", der „Glaube" der religiösen Sphäre und der „Geschmack" der ästhetischen Sphäre zugrunde.18 Diese sphärenspezifischen Inbegriffe von Vorzugsregeln sind Beispiele, deren Gemeinsamkeiten durch das „phänomenologische Begriffsgefüge" erfaßt werden sollen - „phänomenologisch" und nicht empirisch-hypothetisch ist das Begriffsgefüge nur dann, wenn die Gemeinsamkeiten nicht auf dem Wege der Abstraktion, sondern auf dem der Wesensschau gewonnen werden. Scheler geht also 112
nicht von einer Art platonischer Unterscheidung zwischen einer Welt des Apriorischen und einer Welt daseinsrelativer Erfahrungen aus, sondern überbrückt diese gleichwohl grundsätzliche Differenz durch seine Lehre vom „relativen Apriori".19 Die materialen Wesensgehalte stehen in einer hierarchisch geordneten Fundierungsordnung, in der die fundierenden gegenüber den fundierten Gehalten immer relativ apriori sind. Die Lehre vom Wandel der Ethosformen in verschiedenen Kulturen und Zeiten versteht Scheler als die radikalste Form des Wertperspektivismus. Sie bezieht sich nicht auf den Wandel der einzelnen Wertungen, die von bestimmten Individuen, gesellschaftlichen Klassen oder Völkern vorgenommen worden sind, sie betrifft auch nicht die Anpassung der Weltvorstellungen an veränderte gesellschaftlich-geschichtliche Verhältnisse, sondern sucht den Wandel in der „Erlebnisstruktur der Werte und der ihr immanenten Vorzugsregeln" aufzudecken (II, 306), der gleichsam hinter der praktizierten Moral oder der ausformulierten Ethik bestimmter Völker oder Zeiten stattfindet. Wie Scheler in der theoretischen Sphäre eine „Funktionalisierung der Vernunft" behauptet, muß es in der Wertsphäre eine „Funktionalisierung des (geistigen) Fühlens" geben. In diesem Sinne spricht er vom Ethos der altindischen Kastenordnung, vom Ethos des griechischen Volkes, der christlichen Welt (II, 306 f.) oder der modernen bürgerlichen Moral (III, 70). Er nimmt diese Ethosformen auch nicht bloß empirisch zur Kenntnis, sondern versteht sie als eine notwendige Folge aus der absoluten Werttheorie — der Absolutismus fordere geradezu einen Relativismus radikalstmöglicher Art.20 Wenn Scheler sagt, „daß das volle und adäquate Erleben des Kosmos der Werte und seiner Rangordnung, und damit die Darstellung des sittlichen Sinnes der Welt wesenhaft an eine Kooperation verschiedener und sich eigengesetzlich historisch entfaltender Formen des Ethos geknüpft" sei (II, 307), dann bedeutet das nichts anderes als die Behauptung der Notwendigkeit des geschichtlichen Hervortretens verschiedener Ethosformen, und zwar so vieler und so lange, bis der gesamte Gehalt der absoluten Wertordnung in Erscheinung getreten ist - dies aber ist ein unendlicher Prozeß. Scheler schreibt, daß „die ganze Fülle der sittli113
chen Werte und der zwischen ihnen bestehenden Rangordnungen dem Menschen erst sukzessiv und allmählich und gleichsam von verschiedenen Seiten her und mit besonderen, der Volksveranlagung je entsprechenden Durchblicken zu fühlbarem Bewußtsein komme und eben dieser Prozeß niemals als abgeschlossen gelten kann" (I, 387; vgl. II, 307f.). Aufgrund der Notwendigkeit verschiedener Ethosformen bestreitet Scheler auch, daß jemals in einer Zeit und in einer Theorie der Gehalt der objektiven Wertrangordnung und die Fühlfähigkeit des menschlichen Geistes für Werte vollständig realisiert werden könne (II, 308). Er lehnt daher jede Ethik ab, die in Anspruch nimmt, das gesamte sittliche Sein erschöpfend auf den Begriff gebracht zu haben. Eine Ethik bzw. Werttheorie könne nur begrifflich fassen, was ihr im Ethos und im sittlichen Verhalten vorgegeben sei. Konsequenterweise muß auch seine eigene Ethik und Werttheorie als geschichtlich begrenzt angesehen werden.
VII. Materiale Wertethik Seit der Dissertation Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien (1899) gehörte die Ethik zu den zentralen Interessengebieten Schelers. In der Habilitationsschrift (1900) und in dem Aufsatz über „I. Kant und die moderne Kultur" von 1904 (I, 354-370) beginnt er seine Abweichungen gegenüber Kants Ethik, Geschichts- und Religionsphilosophie zu entwickeln. In Kants Ethik „treten Vorurteile seines Zeitalters, Nachwirkungen seiner pietistischen Erziehung, Einflüsse der ostpreußischen Heimat, Merkwürdigkeiten seines durch seine physische Konstitution mitbedingten Temperaments, insbesondere aber Reste von ihm selbst innerlich überwundener philosophischer Entwicklungsstadien, die er in dem ihm eigentümlichen Konservativismus für Einteilungen und Terminologien als Hintergrund des Neuen beizubehalten liebte, bestimmend hervor" (I, 369 f.) - die kritische Auseinandersetzung mit Kants „formaler", „legalistischer", „preußischer" Ethik bildet ein konstantes Motiv in Schelers Schriften, ebenso die Hauptargumente, die er ihr entgegenstellt: daß die „Gemeinschaft" der individuellen Vernunftperson vorgeordnet sei, daß die „Liebe" nicht zu den sinnlichen Empfindungen und Gefühlen gehöre, sondern eine unabhängige Funktion des Geistes darstelle, und daß sie dem Vernunftprinzip der Gerechtigkeit übergeordnet sei (so bereits im Brief an G. v. Herding vom 27. 4. 1906). Im August 1905 hielt er einen Ferienkurs zur „Einführung in die historischen Grundlagen und die gegenwärtigen Hauptrichtungen der Ethik". Der „rationalen Gewissensethik" von Kant bis Natorp stellte er die „Forderung und Begründung des rationalen, objektiven Idealismus als Grundlage der Ethik" entgegen. Von dieser Grundlage aus behandelte er das Verhältnis von ethischem Empirismus und Apriorismus, Gesinnungs- und Erfolgsethik, Altruismus und Egoismus und die „objektiven Formen des sittlichen Lebens und 115
den Wert der Persönlichkeit" ' - lauter Themen, die er acht Jahre später im Formalismusbuch ausführlich entwickeln sollte. Aufgrund der Ferienkurse und der Vorlesungen über Ethik an der Universität Jena (SS 1903, WS 1905/6) konnte Scheler in der Zeit seiner Umhabilitation nach München bereits eine „demnächst erscheinende Einleitung in die Ethik" ankündigen (Logik I, 22, Anm. 2). In der München-Göttinger Phänomenologengruppe war er außer Husserl zunächst der einzige, der sich mit Problemen der Ethik befaßte. Später arbeiteten vor allem A. Pfänder und D. v. Hildebrand auf phänomenologischer Grundlage an Problemen der Ethik, bis 1926 N. Hartmann eine systematische Ethik veröffentlichte. Schelers Versuch, eine materiale Wertethik auf phänomenologischer Grundlage zu begründen, steht am Anfang dieser Entwicklung. Scheler hat seine „Ethik auf phänomenologischer Basis" nicht fertiggestellt, sondern „nur" Vorarbeiten veröffentlicht: die Aufsätze „Über Ressentiment und moralisches Werturteil" (1912), „Zur Rehabilitierung der Tugend" (1913), die Schrift Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß (1913), und selbst das große Buch über den Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/16) versteht Scheler nur als „Grundlegung der philosophischen Ethik", nicht dagegen als „Ausbau der ethischen Disziplin in die Breite des konkreten Lebens" (II, 9; vgl. II, 99). Man wird sie nicht einmal als eine abgeschlossene Grundlegung bezeichnen dürfen, da sie zu unsystematisch angelegt ist. Doch sind die Beiträge des Formalismusbuchs zur Grundlegung einer materialen Wertethik so gewichtig, daß sie eine neue Orientierung in der EthikDiskussion herbeigeführt haben. Nach dem zweiten Teil des Formalismusbuchs (1916) hat Scheler keine Arbeit zu ethischen Problemen mehr veröffentlicht, doch hat er in Köln noch viermal über Ethik gelesen (SS 1919, SS 1921, WS 1923/24, WS 1924/25). Leyendeckers Nachschrift der Vorlesung vom SS 1921 zeigt, daß Scheler der Auffassung war, im Formalismusbuch das Wesentliche über die Ethik gesagt zu haben. Er greift so gut wie keine neuen Fragestellungen mehr auf,2 doch hebt er in Disposition und Ausführungen zwei Pro116
bleme stärker hervor: die Tugendlehre und das Verhältnis zwischen Ethik und Religion. An einen systematischen Ausbau der Ethik, in dem die ethischen Sachprobleme zu einem wesensgesetzlich fundierten Ganzen verbunden sind, hat er offenbar nicht mehr gedacht. Im Ethik-Bericht von 1914 hat Scheler seine ethischen Untersuchungen als Versuch bezeichnet, „die Idee einer absoluten Ethik, und zwar materialer Art, neu zu begründen" (I, 386). „Absolute, materiale Ethik" ist der Titel, unter den er alle seine positiv-aufweisenden Untersuchungen gestellt hat. Der Begriff der „materialen Ethik" ist als Gegensatz zur „formalen Ethik" zu verstehen, die Kant und die Neukantianer begründet haben. Scheler hielt diese für die einzige Form von Ethik, die bis dato streng wissenschaftlich begründet worden ist. Wenn er ihr nun eine nicht minder streng begründete materiale Ethik entgegensetzen wollte, mußte er einerseits die Grundlagen der formalen Ethik aufheben und andererseits zeigen, daß seine eigene Auffassung von materialer Ethik nicht unter die Kantische Kritik an allen empirischen materialen Willensbestimmungen falle. Unter einer materialen Ethik wird im allgemeinen eine Theorie verstanden, die alle sittlichen Gesetze auf eine inhaltliche, d. h. materiale Bestimmung des höchsten Gutes der Menschen oder eines allgemeinen Endzwecks aller menschlichen Willensbestrebungen zurückführt. Scheler anerkennt, daß Kant alle materialen Ethiken widerlegt habe, die einen außerhalb des Sittlichen liegenden, dadurch fremdgesetzlichen (heteronomen) Grund der Moral in Anspruch nehmen. Für Scheler ist damit aber noch keineswegs alle materiale Ethik überhaupt widerlegt. Es geht ihm um den Nachweis von materialen Prinzipien, die weder auf der empirischen Natur noch auf religiös oder kulturgeschichtlich vorgegebenen Auffassungen vom Glück oder Endzweck des Menschen beruhen. Das von Kants Kritik nicht betroffene Gebiet matenaler Prinzipien findet Scheler in den Werten - seine Ethik ist deshalb eine „Wertethik". Sie leitet sich her von Fr. Brentanos Schrift Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis (Leipzig 1889). Zeitgenössische Arbeiten von ähnlicher Zielsetzung, wenn auch von ganz anderer Ausführung, finden sich in den Arbeiten der Grazer 117
Schule, die ebenfalls von Brentano ausging (Chr. v. Ehrenfels, A. Meinong), und bei C. Stumpf, H. Münsterberg und F. Krueger. Im Ethik-Bericht nimmt Scheler in Anspruch, „die Ethik auf die Idee einer apriorischen Gesetzmäßigkeit des intentionalen Fühlens und Vorziehens und einer ihr entsprechenden objektiven Rangordnung der Werte selbst" aufgebaut zu haben (I, 384). Damit sind die beiden Seiten des Korrelationsverhältnisses der ethischen Werterkenntnis bezeichnet, das die Grundlage von Schelers Ethik darstellt: einerseits die apriorischen Gesetzmäßigkeiten des intentionalen Fühlens und Vorziehens, andererseits die diesen Aktarten korrelierende objektive Rangordnung der Werte. Man erkennt hieran formaliter die Systematik des phänomenologischen Vorgehens, und materialiter, daß die Grundlegung der Ethik im Rahmen einer allgemeinen Wertlehre erfolgt, nicht dagegen unmittelbar auf die sittlichen Erfahrungen zurückgeht. Scheler nennt im Ethik-Bericht drei weitere Problemkreise seines Grundlegungsversuchs: das Verhältnis zwischen Relativismus und Absolutismus in der Ethik, die Unterscheidung der Werte nach ihren wesenhaften Trägern und schließlich die Einteilung der Wertqualitäten in vier Modalitätenkreise, womit die Rangordnung der Werte gemeint ist. Damit sind jedoch die Beiträge des Formalismusbuchs zu einer Grundlegung der materialen Wertethik nicht vollständig angeführt. Nicht genannt sind die Analyse des Begriffs der sittlichen Handlung und die Lehre von der Person. Die Lehre von den Vorbildern und Führern, die Scheler im Formalismusbuch skizziert hat, behandelte er erst später ausführlicher. Das Thema verselbständigte sich und sollte in einer eigenen Abhandlung im zweiten, nicht mehr erschienenen Band über das Ewige im Menschen dargestellt werden (V,9). Scheler hat keine Gliederung der Ethik hinterlassen, die seinen systemtheoretischen Forderungen entsprochen hätte. Auf der Grundlage seiner Vorlesungen und Schriften läßt sich die folgende Disposition aufstellen: 1. Die Akte des Werterkennens und die Rangordnung der Werte 2. Der Begriff der sittlichen Handlung 3. Die Tugendlehre 118
4. Solidarität als höchstes Prinzip der Sozialethik 5. Relativismus und Absolutismus in der Ethik 6. Moral und Religion
1. Die Akte des Werterkennens und die Rangordnung der Werte Die Frage nach dem Wesen der sittlichen Werte und ihrer Erkenntnis stellt die Grundlegungsfrage der Ethik dar, und zwar in der für die Phänomenologie charakteristischen Korrelation von Sache und Akt. Eine Grundlegung muß alles das umfassen, was „in streng apriorischen Wesensideen und Wesenszusammenhängen aufweisbar ist" (II, 9). Fragen der geschichtlichen und gesellschaftlichen Realität des Sittlichen bleiben dabei ebenso ausgeschlossen wie metaphysische Fragen, obwohl Scheler beide Untersuchungsebenen berücksichtigt hat. Scheler hat die Ethik von der Sittlichkeit bzw. der Moral unterschieden, insbesondere von der „sittlichen Erkenntnis". Die sittliche Erkenntnis ist die Quelle aller jener Phänomene, die von der Ethik wissenschaftlich untersucht werden. Deshalb braucht der Ethiker als Ethiker auch nicht den sittlichen Gesetzen zu folgen, die er wissenschaftlich untersucht. Innerhalb der philosophischen Ethik sind die grundlegenden axiomatischen Probleme von den matenalen Problemen zu unterscheiden. Die axiomatischen Probleme umfassen die formalen Verhältnisse und Gesetze, die die sittlichen Erkenntnisse unabhängig von ihrem Sondergehalt bestimmen. Die philosophische Disziplin, die sich mit den axiomatischen Problemen beschäftigt, bezeichnet Scheler in Analogie zur „reinen Logik" als „reine Ethik". Scheler hält sich in dieser Disziplin hauptsächlich an die Lehren, die bereits Brentano in seiner Wertaxiomatik aufgestellt hat (vgl. Kap. V). In der Axiologie hat Scheler die sittlichen Werte zusammen mit den kulturellen und ästhetischen Werten der Gruppe der geistigen Werte zugerechnet, die in unterschiedlichen Akten und Funktionen des geistigen Fühlens erfahren werden. 119
Die sittlichen Werte müssen als Gegebenheiten des geistigen Fühlens unabhängig von ihrer Besonderheit die allgemeinen Merkmale der geistigen Werte aufweisen: Sie sind objektiv gegeben, haben einen deutlich erfahrbaren materialen Gehalt, dieser materiale Gehalt ist „apriori", unabhängig von der psychophysischen Organisation des Subjekts der sittlichen Erkenntnis und der raum-zeitlichen Gelegenheit der Werterfahrung und überhaupt der Menge der empirischen Erfahrungen. Die Werte gliedern sich in positive und negative Werte, sie sind, um erfahren werden zu können, an „Träger" gebunden, und diese Träger stehen in einer gesetzmäßigen Zuordnung zu den Wertgehalten. Die Lehre von der objektiven Rangordnung der Werte macht das zentrale Lehrstück jeder Ethik aus. Da Scheler nur einzelne Beiträge zu einer „Grundlegung", aber nicht zu einem systematischen Ausbau der Ethik gegeben hat, bewegen sich seine Ausführungen zu diesem Problemkreis fast nur im Bereich grundsätzlicher Überlegungen. Er nennt die Kriterien, nach denen sich eine objektive Rangordnung aufbaut, er sagt aber nicht, was er für die (heute) gültige Rangordnung hält. Dies zeigt, wie sehr der historische, kulturelle und gesellschaftliche Relativismus Bestandteil seiner „absoluten Ethik" ist. Eine objektive Rangordnung wird nicht durch die unmittelbare sittliche Erkenntnis von Wertqualitäten konstituiert, sondern durch das geistige Fühlen des Vorziehens und Nachsetzens, wodurch der höhere bzw. niedrigere Rang von bestimmten Werten im Verhältnis zu anderen Werten erfahren wird. Das System der in einem Kulturkreis, einer Epoche, einer Gesellschaft herrschenden Regeln des Vorziehens und Nachsetzens sittlicher Werte nennt Scheler „Moral" oder „Ethos". Einfluß auf das Ethos haben die Werte aller Modalitätenkreise. Diese stehen aber, wie die allgemeine Wertlehre zeigt, in einer hierarchischen Reihenfolge, die von den sinnlichen Werten des Angenehmen und Unangenehmen, des Nützlichen oder Unnützen über den Kreis der Lebenswerte des Edlen und Gemeinen, den Kreis der geistigen Werte des Guten und Bösen bzw. Rechten und Unrechten usw. schließlich zum höchsten Modalitätskreis des Heiligen aufsteigt. Dem religiösen Wert des Heiligen 120
sind in Konfliktfällen alle anderen Werte unterzuordnen, den geistigen Werten wiederum alle Lebenswerte, so daß für die geistigen und religiösen Werte auch das Leben zu opfern wäre. a) Gut und Böse Der Fundamentalwert des Sittlichen ist als positiver Wert das Gute, als negativer Wert das Böse. Diese Werte sind nach Scheler nicht isoliert, sondern wesensnotwendig als Bestandteile einer umfassenden Wertrangordnung gegeben. Der Bestimmung der sittlichen Werte legt er die Axiome der formalen Axiologie zugrunde. Das führt zu folgenden Sätzen, die zunächst die Werte (1 und 2), sodann die Realisierung betreffen (3 und 4): „1. Gut ist der Wert in der Sphäre des Wollens, der an der Realisierung eines positiven Wertes haftet. 2. Böse ist der Wert in der Sphäre des Wollens, der an der Realisierung eines negativen Wertes haftet. 3. Gut ist der Wert, der in der Sphäre des Wollens an der Realisierung eines höheren (höchsten) Wertes haftet. 4. Böse ist der Wert, der in der Sphäre des Wollens an der Realisierung eines niedrigeren (niedrigsten) Wertes haftet." (II, 48) Mit anderen Worten: „Der Wert ,gut' erscheint, indem wir den (im Vorziehen gegebenen) höheren positiven Wert realisieren; er erscheint an dem Willensakte. Eben darum kann er nie die Materie dieses Willensaktes sein." (II, 48) Die These, daß das Gute schlechthin nicht Inhalt des Wollens sein kann, daß es vielmehr immer nur in der relativen Form des höheren Wertes erscheint, den eine Person realisieren will, beruht auf der sittlichen Überzeugung, daß das Gute nie eine Vorschrift sein darf, sondern in sittlicher Kreativität gefunden werden will; daß es als der jeweils höhere Wert an eine objektive Wertrangordnung gebunden ist, die das Wertreich zunehmend zur Erscheinung bringt, und vor allem, daß es im Sinne eines absoluten und unendlichen Wertes, als „summum bonum", allein der Gottheit zukommt, an dessen Gutheit jedoch die Wertrangordnungen teilhaben.
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b) 7.UY Differenzierung der Wertrangordnung Die konkrete geschichtliche und gesellschaftliche Ausgestaltung der sittlichen Wertrangordnung, auf deren Grundlage sich der jeweilige Gehalt von gut und böse bestimmt, erfolgt nach einer Vielzahl von Gesichtspunkten, von denen hier nur die wichtigsten in Schelers Zusammenfassung angeführt werden können: „Als .höher' erweisen sich hierbei die dauerhaften Werte gegenüber den flüchtigen, diejenigen, die eine tiefere Befriedigung geben, gegenüber jenen, die eine flache Befriedigung gewähren, die ihrem Wesen nach weniger teilbaren, aber hierdurch der Teilnahme einer steigenden Mehrheit von Personen zugänglicheren Werte, die Werte, die andere Werte fundieren', gegenüber den fundierten' Werten." (I, 385; vgl. II, 104 ff.). Für die Differenzierung der Erkenntnis der Wertrangordnung spielt die Klassifikation der wesenhaften Träger sittlicher Werte eine wichtige Rolle. Scheler scheidet die Werte generell in „Person- und Sachwerte; in Eigen- und Fremdwerte; in spontane Aktwerte, Funktionswerte und Reaktionswerte; in Gesinnungswerte, Handlungswerte und Erfolgswerte; in Intentions- und Zustandswerte; in Fundamentwerte, Formwerte und Beziehungswerte; in Individual- und Kollektivwerte; in Selbst- und Konsekutivwerte, zwischen denen wieder apriorische Höhenunterschiede (bzw. Verhältnisse der Gleichheit der Höhe) bestehen, die von der positiven oder negativen Natur der Werte sowie von ihrer Größe unabhängig sind." (I, 385; vgl. II, 117ff.) c) Ethischer Personalismus Die sittlichen Werte sind im Unterschied etwa zu den ästhetischen Werten nicht Sach-, sondern Personwerte. Insofern versteht sich Scheler als Vertreter eines „ethischen Personalismus", wie es im Untertitel des Formalismusbuchs heißt. „Person" definiert Scheler als „konkrete Einheit aller nur möglichen Akte" (II, 50), also auch der nicht-sittlichen, ζ. Β. der theoretischen oder religiösen Akte. Das Moment der „Einheit" steht für die hierarchische Ordnung, zu der eine Person ihre 122
Aktarten fügt. Die Grundaktart ist die Liebe, so daß man eine Person auch als „ordo amons" definieren kann. Die Liebe kann sich in der objektiven Wertrangordnung vergreifen, so daß es zu reduzierten oder verfehlten Person-Formen kommen kann - hier offenbart sich etwas von dem normativen Gehalt von Schelers Ethik, Spiegelbild des Absolutheitsanspruchs hinter allem Relativismus. Im Grunde ist die Person nicht bloß als eine individuelle, für sich stehende Person aufzufassen, sondern auch als eine, die sich ursprünglich mit Gott verbunden weiß, in Liebe auf die Welt ausgerichtet ist und sich mit dem Ganzen der Geisteswelt und der Menschheit solidarisch geeint fühlt - die Person ist durch die universal ausgreifende, auf die absolute Person Gottes ausgerichtete Liebe gleichsam zum Mikrokosmos und Mikrotheos berufen (II, 15). d) Schelers Kritik der Sollensethik Die größten Gegner von Schelers materialer Wertethik sind der „Eudämonismus", der die sittlichen Werte mit den Werten des sinnlichen oder vitalen Fühlens verwechselt, und die Kantische „formale Ethik", die die material en Willensbestimmungen aus dem Sittengesetz ausschließt und die Apriorität der Werte bestreitet. Im folgenden soll nur Schelers Auseinandersetzung mit einer Position der formalen Ethik, der Sollensethik, illustriert werden. Die Auseinandersetzung mit der Sollensethik erfolgt durch eine Untersuchung des Verhältnisses, das zwischen Wert und Sollen besteht. Scheler beruft sich auf drei Gesetzmäßigkeiten, einer materialen und zwei formalen: 1. Das Sollen muß im Wert fundiert sein; 2. positive Werte sollen sein; 3. negative Werte sollen nicht sein (II, 100). Wo immer von einem Sollen die Rede ist, muß bereits das Erfassen eines Wertes stattgefunden haben (II, 193). Den positiv vertretbaren Kern der Sollensthematik sieht Scheler in dem, was er das „ideale Sollen" nennt. Scheler grenzt seine Lehre vom idealen Sollen ab gegenüber „Pflicht" und „Norm", sofern diese für die grundlegenden pri123
mären Gegebenheiten des Sittlichen ausgegeben werden. Beide setzen bereits das Sein der Werte, deren Realisierung sie fordern, voraus (II, 195). Scheler charakterisiert das „Pflichtethos" als Grundlage der Ethik in vier Punkten, die seine Widerlegung einer reinen „Pflichtethik" enthalten. 1. Pflicht ist die Nötigung oder der Zwang in Hinsicht auf die „Neigungen" eines Menschen, also seine Sinnlichkeit, und in Hinsicht auf sein Wollen (II, 200). Demgegenüber schließt die Einsicht in den Gehalt eines Wertes keinerlei Imperativ oder Nötigung ein, sondern besteht als unabhängige sittliche Erkenntnis. 2. Es gehört zum Wesen eines Wollens aus Pflicht, daß die auf Einsicht ausgerichtete sittliche Überlegung abgeschnitten oder ausgeklammert wird - die Pflicht gebietet unabhängig von der Erkenntnis des Wertgehalts. Scheler hält sie für eine innere subjektive Nötigung, die nicht in objektiven Wertverhalten begründet ist (II, 201). 3. Die Pflicht besteht in der inneren Nötigung auch insofern, als sie die Berücksichtigung äußerlicher Instanzen ablehnt. Gehorsam gegenüber einer äußeren Autorität kann aber durchaus auf der Einsicht in den Wert des Gehorsams beruhen und ist insofern keineswegs „blind", während ein blinder Gehorsam gegenüber dem Pflichtgesetz durchaus denkbar ist (II, 201). 4. Die Pflicht hat in der Regel einen einschränkenden, negativen Charakter, ist mehr verbietender als gebietender Natur (II, 218 ff.). Ihr stellt Scheler die schlichte Einsicht in einen Wertverhalt entgegen, die aus sich heraus verständlich ist und nicht einer Rechtfertigung gegenüber negativen Instanzen unterworfen werden muß (II, 202). Scheler stellt also durchgehend der Pflichtethik eine Ethik aus sittlicher Einsicht entgegen, leugnet jedoch nicht, daß dem Pflichtbewußtsein eine ganz bestimmte Bedeutung in der Ethik zukommt - als „Ökonomisierung" von bereits vollzogenen sittlichen Einsichten, nicht aber als Prinzip der Ethik (II, 202). Auf den gleichen Prämissen beruht Schelers Kritik an der Normethik, nach der dem psychischen Erleben von außen eine 124
Norm, ein sittlicher Maßstab entgegengehalten wird. Dem Gehalt nach sind Normen auf zwei Faktoren zu beziehen: auf die idealen Sollensgehalte, die selbst "wieder in Werten gründen, und auf eine faktische Strebensrichtung (II, 224). Diese Normen werden dann notwendigerweise von außen auferlegt, rekurrieren damit auf eine bestehende Moral, deren Legitimität allererst aufzuweisen wäre. Schließlich stellt Scheler der „Imperativischen" Pflicht- und Normethik die Unterscheidung zwischen dem „idealen" und dem „Imperativischen" Sollen entgegen. Pflicht- und Normethik verstehen das Sollen immer nur als imperativisches Sollen, während die sittliche Einsicht zeige, daß jeder Imperativ in einem Wert fundiert sei - im „idealen" Sollen, d.h. in einem apriorischen Wertgehalt, der unabhängig von seiner Realisierung gegeben ist. Das Imperativische ist also nicht identisch mit dem Wertgehalt, sondern ist seine Folge (II, 211).
2. Der Begriff der sittlichen Handlung Scheler versteht die Handlung, durch die sich Sittlichkeit in konkreten Situationen realisieren soll, als eine erlebte Sinneinheit. Er unterscheidet an ihr sieben Aspekte, die unabhängig voneinander variieren und die auf je spezifische Weise Träger von sittlichen Werten und deshalb auch je für sich sittlich beurteilt werden können (II, 137ff.). Mit dieser Lehre wendet er sich gegen die sehr viel simplere Auffassung, wonach eine Handlung nur aus der inneren Willensbestimmung und dem sich zeitlich daran anschließenden äußeren Verhalten besteht. Als ersten Aspekt nennt er die „Gegenwart der Situation und den Gegenstand des Handelns" (II, 137). Die Situation ist der Ausgangspunkt der Willensbildung und der Handlung (II, 148ff.). Sie ist nicht ein •wertneutral -wahrgenommener Raum/ Zeitpunkt, sondern eine als werthaft gefühlte, in der Gesinnung mit dem Handelnden vermittelte, pragmatisch auf Willensbildung und Handlung angelegte Umwelt, die ein ganz bestimmtes Wertprofil aufweist. Zum Gegenstand des Wollens wird etwas, 125
wenn es meinem Streben einen Widerstand entgegensetzt. Die Gegenstände des Wollens sind eingebettet in die „Umwelt" („Milieu"), die das wesenhafte Gegenglied zum Organismus darstellt - die im Widerstand erlebten Dinge sind relativ auf meinen Leib als der Verkörperung meines Lebenswillens. Die Milieudinge ihrerseits sind bedingt durch den Aufbau der Triebeinstellungen eines Lebewesens; das Milieu mit seiner spezifischen Ordnung ist das genaue Gegenbild zum Aufbau der Triebeinstellungen (II, 170 f.). Den zweiten Aspekt bildet der Wollens-"Inhalt", der durch die Handlung realisiert werden soll. Er darf nicht verwechselt werden mit dem empirischen Gehalt, der später durch die Handlung verwirklicht sein wird. Der dritte Aspekt ist das „Wollen". Scheler definiert es als ein Streben, „in dem ein Inhalt als ein zu realisierender gegeben ist" (II, 139). Er unterscheidet am Wollen nicht weniger als fünf Bildungsstufen: Gesinnung, Absicht, Überlegung, Vorsatz, Entschluß. Die wichtigste und erste Bildungsstufe ist die „Gesinnung", die Scheler als „Gerichtetheit des Wollens auf den jeweilig höheren (bzw. niedrigeren) Wert und seine Materie" versteht (II, 130). Die Gesinnung, die er in seiner Dissertation noch als den Fundamentalbegriff der Ethik überhaupt bezeichnet hat (1,112), stellt einen material apriorischen Spielraum für die Bildung möglicher Absichten, Vorsätze und Handlungsintentionen dar und durchdringt alle anderen Stufen der Willensbildung und der Ausführung der Handlung. Sie trägt eine von aller Erfahrung unabhängige Materie von Werten in sich (II, 171). Die „Absicht" definiert Scheler als Willen, etwas Bestimmtes zu tun (II, 151). Die „sittliche Überlegung", die Scheler nicht immer berücksichtigt, besteht in einem inneren fühlenden Durchleben und Durchprüfen möglicher Absichten und ihrer Werte (II, 131). Der „Vorsatz" wählt eine dieser Möglichkeiten für die Handlung aus. Erst jetzt tritt der Wille mit der empirischen Wirklichkeit in unmittelbare Berührung (II, 152), und der „Entschluß" führt sie in die Handlungssphäre ein. 126
Den vierten Aspekt stellt die „Gruppe der auf den Leib gerichteten Tätigkeiten [dar], die zur Bewegung der Glieder führen"; Scheler faßt diese Tätigkeiten auch unter dem Begriff des „Tunwollens" zusammen (II, 137). Das Tunwollen unterscheidet sich vom „Wollen" durch das Wissen, daß das bloße Wollen ohne Erfolg bleiben kann, wenn nicht ein spezifisches RealisierenWollen hinzutritt; durch das Tunwollen unterscheidet sich Wünschen von Wollen. Im Laufe des Lebens entwickelt sich das Tunwollen zu einem selektiven Kriterium, das aus dem Inhalt des Wollens diejenigen Aspekte auswählt, die erfahrungsgemäß als realisierbar erscheinen. Als fünften Aspekt führt Scheler die mit dem Tunwollen verbundenen „Zustände von Empfindungen und Gefühlen" an (II, 137), also einen weiteren Aspekt der empirischen Situation. Der sechste Aspekt ist die „erlebte Realisierung des Inhaltes selbst", die „Ausführung" der Handlung. Schließlich gehören für Scheler noch als siebenter Aspekt „die durch den realisierten Inhalt gesetzten Zustände und Gefühle" zur Handlung. Die Handlung stellt trotz der vielen unterscheidbaren Momente eine erlebte „phänomenale" Einheit dar, die als solche ebenfalls Träger sittlicher Werte sein kann. Zu der phänomenalen Einheit gehören dagegen nicht die Folgen und Erfolge einer Handlung (Π, 137).
3. Zur Tugendlehre Die Tugendlehre ist in der neuzeitlichen Ethik, spätestens seit Kant, in Mißkredit geraten, außer in der neothomistischen Ethik. Scheler hat sich unabhängig von ihr um eine „Rehabilitierung der Tugenden" bemüht (1913, III, 13-31). Schon in seiner Dissertation hatte er sich ausführlich dem Problem der Tugenden zugewandt (I, 112ff.). Im Formalismusbuch spielen sie jedoch nur eine geringe Rolle. Scheler definiert sie als ein „Können" „in Hinsicht auf das Realisierenkönnen der durch die letzten Wertqualitätenarten differenzierten Gebiete des idealen Sollens" (II, 127
50). An einer späteren Stelle nimmt er auch noch das Wollen des ideal Gesollten in die Definition der Tugend auf (II, 245). Merkwürdigerweise hat Scheler das Tunkönnen nur sehr beiläufig in seine Analyse der Handlung aufgenommen. Die Tugend hat zu ihrer Voraussetzung das sittliche Sein der Person. Die Person aktualisiert sich Scheler zufolge allein im Vollzug ihrer Akte. Die Stufe der Tugend (oder des Lasters) ordnet Scheler in die Ausrichtung des sittlichen Könnens der Person ein. Dadurch geht die Tugend den Akten des Wollens und Handelns voraus. Scheler orientiert seinen Tugendbegriff am griechischen Begriff des Ethos und dem scholastischen Begriff des „habitus": die Tugend sei ein „dauernd lebendiges, glückseliges Könnens- und Machtbewußtsein zum Wollen und Tun eines in sich selbst, und gleichzeitig für unsere Individualität allein Rechten und Guten", als ein „Machtbewußtsein, das frei aus unserem Sein selbst hervorquillt" (III, 15). Dieses Sein, das weder gewollt noch erworben werden könne, versteht Scheler nicht als eine Naturanlage, sondern als eine „Haltung des Gemüts", die allein durch die Gnade Gottes möglich werde. Von ihr hänge die „Ausdehnung und Fülle der Verantwortlichkeit für mögliche Handlungen" ab (III, 16). Tugend, in diesem trans-ethischen Sinne aufgefaßt, geht jeder Pflicht voraus. Nur was im Bereich des Tunkönnens einer Person liegt, könne zur Pflicht gemacht werden. Es überrascht deshalb nicht, daß Scheler, ohne eine vollständige Tugendlehre entwickeln zu wollen, gerade die christlichen Tugenden der Demut und Ehrfurcht genauer interpretiert und von anderen Tugenden abgrenzt (die Demut z.B. von Bescheidenheit und Scham). An ihrem Beispiel stellt er die Vorzüge einer mittelalterlich-augustinischen Geisteshaltung den Defizienzen einerseits der antiken, andererseits der neuzeitlichen Geisteshaltung entgegen. In seiner Dissertation hatte er sich noch mit den Tugenden Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Gehorsam, Treue, Selbstbeherrschung, vor allem aber mit dem Mut beschäftigt, dem er damals unter allen Tugenden den höchsten Rang zuerkannte (I, 111, 118f.). Von der biologistischen Interpretation der Tugenden (Spencer, Darwin) hat er sich kritisch distanziert, wenn er auch Nietzsches im Willen zur Macht fundierte Tugend128
lehre (Kühnheit, Wagemut, Großherzigkeit, Vornehmheit usw.) mit Sympathie begegnete (I, 395). In seinen Ausführungen über Vorbilder und Führer deutet sich an, daß Scheler eine systematische Tugendlehre durch eine Klassifikation der Tugenden gemäß den verschiedenen Vorbildtypen der Wertrangordnung durchgeführt hätte. So spricht er von den Tugenden des Heiligen, des Genius, des Helden usw., aber mehr illustrierend als mit systematischem Interesse. In einer systematischen Untersuchung hätte er sicherlich auch deutlicher unterschieden zwischen Tugenden und Gemütsbewegungen, zu denen er zeitweilig auch die Liebe und das Wohlwollen gerechnet hat (I, 400).
4. Das Problem der Freiheit Es überrascht, daß Scheler eine sehr differenzierte Analyse des Handlungsbegriffs entwickelt hat, ohne den Begriff der Freiheit zu berücksichtigen. Im Formalismusbuch deutet sich an, daß für Scheler das Freiheitsproblem tiefer liegt als die für eine Grundlegung der Ethik erforderliche Dimension des Personbegriffs (II, 477). Im Ethik-Bericht hat er die Willensfreiheit als das „dunkelste Problem der Ethik" bezeichnet (I, 405) - aber immerhin der Ethik, nicht z.B. der Religion oder Metaphysik. In verschiedenen Textpassagen des Formalismusbuchs, ebenso in Maria Schelers Zusammenstellung mehrerer nachgelassener Fragmente unter dem Titel „Zur Phänomenologie und Metaphysik der Freiheit" (X, 155-177), nähert er das Freiheitsproblem stark an das Könnensbewußtsein an, so daß die Freiheit, als Voraussetzung der Tugenden und Laster sowie der Willensbildung verstanden, mit der Auffassung göttlicher Gnade in Widerspruch geraten würde. Das Könnensbewußtsein erweist sich als die eine Seite des Freiheitsbewußtseins - die andere liegt im Bewußtsein, auch anders zu können (Wahlfreiheit). Indem Scheler zwischen der Freiheit des Wollens, der Freiheit des Tunkönnens und der Freiheit des Tuns unterscheidet (X, 170 f.), zeigt er, daß sich das Freiheitsproblem nach Maßgabe der Analyse der Handlung auf 129
jeder unabhängig variablen Bildungsstufe des Wollens und der Handlung neu stellt und entsprechend ausgearbeitet werden müßte. Von hier aus ist es dann auch nicht mehr weit, das Freiheitsproblem in den Stufenbau des Weltalls einzuordnen und ihm eine metaphysische Problemdimension zu erschließen (X, 163). In seinem Buch über das Ewige im Menschen skizziert Scheler eine Hierarchie von Realisierungen der Freiheit durch Handlungen, die den verschiedenen Wertrangstufen zugeordnet sind: nur dadurch, daß sich die Handlungen frei in den Dienst der je höheren Wertrangstufe stellen, können sie die innerhalb ihrer Wertrangstufe mögliche Freiheit voll realisieren (V, 116). Die relativ wenigen Reflexionen zeigen zweierlei: daß Scheler sich immer wieder einmal dem Freiheitsproblem zugewandt hat, nicht nur in phänomenologischen Analyse-Ansätzen, sondern auch in metaphysischen Reflexionen, daß er aber weder in seinen Schriften noch in seiner Philosophie diesem Problem einen festen Platz gegeben hat. Dennoch hat er 1914 recht mit seiner Einschätzung der Forschungslage, daß ein Fortschritt in der Frage des Freiheitsproblems erst erreicht werden kann, wenn erstens die herkömmlichen Äquivokationen aufgehoben sind, zweitens eingehendere Analysen des Könnens- und Freiheitsbewußtseins und drittens genaue Sonderungen der für die anorganische, organische und psychische Natur gültigen Kausalgesetze durchgeführt worden sind (I, 407).
5. Solidarität als höchstes Prinzip der Sozialethik Jede endliche, individuelle Person ist immer schon Mitglied eines Sozialverbandes. Die Sozialdimension des Menschen ist für Scheler nicht ein äußerliches Sich-Vorfinden unter anderen Menschen, sondern ein Wesensmerkmal des Personseins überhaupt: jede Person ist gleichursprünglich Einzelperson und Glied einer Gesamtperson (II, 514). Scheler unterscheidet im Formalismusbuch vier Wesensformen von Sozialität (II, 515ff.): Masse, Lebensgemeinschaft, Gesellschaft und Gesamtpersonen (Kollektivsubjekte wie Kirche, Staat 130
usw.). Jede von ihnen weist eine charakteristische Form des MitSeins auf (vgl. Kap. IX). Durch sie werden prinzipielle Ausprägungsmöglichkeiten der Solidarität vorgegeben, d.h. Ausprägungen der Mitverantwortlichkeit des Einzelnen für das Wollen, Handeln und Wirken des Sozialverbandes und des Sozialverbandes für den Einzelnen. Das Solidaritätsprinzip („einer für alle" und „alle für einen") hat Scheler besonders in seiner mittleren, dem Katholizismus nahestehenden Periode aus der christlichen Liebesidee entwickelt.3 Er nannte es auch das Prinzip der moralisch-religiösen Gegenseitigkeit (V, 375) und sah in ihm das oberste Axiom aller Sozialphilosophie und Sozialethik (VII, 210). Die Sozialform der Masse gibt keinen Raum für eine wechselseitige Verantwortlichkeit, weil das Individuum fühlend und handelnd ganz im Leben der Masse aufgeht. Mitverantwortlichkeit setzt die Differenz zwischen Individuum und Sozialverband voraus. In der „Lebensgemeinschaft" entwickelt sich die Form der „vertretbaren Solidarität", in der „die Erlebnisse des Einzelnen zwar als solche gegeben sind, aber nach Ablauf und Gehalt rein abhängig von den Variationen des Gesamterlebens variieren" (II, 516). Deshalb kann der Einzelne ohne weiteres durch andere Einzelne vertreten werden, die die Werte und Strebensziele der Gemeinschaft (Sitten und Gebräuche) ausüben. Die „Gesellschaft" stellt ein Beziehungsgeflecht mündiger und selbstbewußter Einzelpersonen dar, so daß sich das Mit-sein auf bloße Konventionen oder auf Verträge reduziert (II, 517ff.). Die Mitverantwortlichkeit nimmt die Form des von allen Individuen gleichermaßen vertretenen Prinzips der ausschließlichen Selbstverantwortlichkeit oder der „Interessensolidarität" an. Die „Gesamtperson" läßt sich als Verbindung von Lebensgemeinschaft und Gesellschaft auffassen (II, 522 ff.). In ihr sind sowohl die Einzelperson als auch die Gesamtperson selbstverantwortlich, doch sind beide jeweils für einander mitverantwortlich. Die Mitverantwortlichkeit nimmt hier die Form der „unvertretbaren Solidarität" an: „Die Einzelperson ist für alle anderen Einzelpersonen nicht nur ,in' der Gesamtperson und als deren Glied mitverantwortlich als Vertreter eines Amtes, einer Würde oder 131
sonst eines Stellenwertes in der SoziAstruktur, sondern sie ist es auch, ja an erster Stelle, als einzigartiges Personindividuum und Träger eines individuellen Gewissens." (II, 523) In den zwanziger Jahren entwickelte Scheler das moralischreligiöse Prinzip der Gegenseitigkeit mehr und mehr zum geschichtsphilosophisch-kosmischen Prinzip der Mitverantwortlichkeit der Menschheit für das Werden der Gottheit in der wechselseitigen Durchdringung von Lebensdrang und Geist.4
6. Absolutismus und Relativismus in der Ethik Scheler bekennt sich zum Absolutismus in der Ethik, der einen „prinzipiellen Bruch mit der die neuzeitliche Philosophie fast allgemein beherrschenden Lehre von der sog. Subjektivität und Relativität der Werte" darstellt (I, 384). Die modernen relativistischen Lehren interpretiert er als Ergebnis einer Fehlentwicklung der abendländischen Wertvorstellungen, die auf einer tiefliegenden „désordre du coeur" beruhen. Sie kulminiert im Ethos der bürgerlichen Gesellschaft des Kapitalismus, mit dem sich Scheler zeit seines Lebens kritisch auseinandergesetzt hat. Scheler anerkennt grundsätzlich, daß die Werte nicht schon alle vom Anfang der Menschheitsgeschichte an und bei allen Völkern und Individuen in gleicher Weise gegeben sind. Deshalb werde (und dürfe) die Ethik nie mehr das falsche Ziel anstreben, „eine einzige, absolut gültige und alle möglichen ethischen Werte umfassende Formel an irgendeinem Zeitpunkt der Geschichte aufzustellen." (I, 386; vgl. II, 308f.) Vielmehr sieht er die dringlichste Aufgabe einer materialen Wertethik darin, die als positiv aufgefaßten Wandlungs- und Entwicklungsgesetze des sittlichen Bewußtseins in Geschichte und Gesellschaft zu erforschen (vgl. II, 22). Dieser Aufgabe hat er sich theoretisch-grundsätzlich im Formalismusbuch in den Kapiteln über die „historische Relativität der ethischen Wertschätzungen und ihre Dimensionen" (II, 300—321) und über „die sogenannte Gewissenssubjektivität der sittlichen Werte" gewidmet (II, 321-331). Beide Kapitel hängen eng zusammen: so wie sich der persönliche Geschmack zum 132
Epochen-Stil verhält, so verhält sich das Gewissen zum bestehenden sittlichen Wertsystem, d.h. die subjektiven Akte bilden und wandeln sich in Abhängigkeit von der Beschaffenheit und den Wandlungen des Gegenstands. Will man die Veränderungen der sittlichen Wertsphäre untersuchen, dann muß diese allererst von all jenen Wirklichkeitsdimensionen und Faktoren unterschieden werden, die nicht mit ihr unmittelbar verbunden sind, wie die Verhältnisse der intellektuellen Bildung, die Techniken und Institutionen des Handelns usw. In dem auf diese Weise freigelegten Bereich erkennt Scheler fünf Hauptschichten, die in allen historischen Untersuchungen unterschieden werden müssen (II, 303 f.): 1. Die Variationen des „Ethos", d.h. die Variationen des Fühlens der Werte selbst, sowie der Struktur des Vorziehens und Nachsetzens von Werten und der Struktur des Liebens und Hassens. 2. Die Variationen der „Ethik", d.h. der Variationen, die in der Sphäre des theoretischen Urteils und der Beurteilungsregeln der im Ethos gegebenen Wertsachverhalte stattfinden. 3. Die Variationen der sittlichen „Typeneinheiten", der Institutions-, Güter- und Handlungs-Einheitstypen (Ehe, Diebstahl, Mord usw.), die fundiert sind in bestimmten Wertsachverhalten. 4. Variationen der „praktischen Moral", d.h. der sittlichen Normen, nach denen sich das faktische Handeln und Verhalten der Menschen richtet. Die praktische Moral ist jeweils fundiert im Ethos einer Epoche, eines Volks, einer Rasse usw. 5. Variationen der Sitten und Bräuche, die nicht im Ethos, sondern in der Tradition wurzeln. Scheler hat sich nur zu den ersten drei Aspekten näher geäußert. Von diesen dreien ist die Frage des Ethos für seine Philosophie am wichtigsten - die innere Geschichte des Ethos selbst sei die „zentralste Geschichte in aller Geschichte" (II, 309). Scheler versteht unter „Ethos" die „Erlebnisstruktur der Werte und der ihr immanenten Vorzugsregeln" (II, 306). „Struktur", „Erlebnis-Form" - diese Ausdrücke machen deutlich, daß das Ethos nicht nur als die herrschende Ordnungseinheit von histo133
nsch bestimmten Werten zu verstehen ist, sondern zugleich als die Gesetzmäßigkeit, die dazu führt, daß bestimmte Werte auf je spezifische Weise erlebt und für gültig gehalten werden und daß zwischen den Werten eine ihnen spezifische Rangordnung besteht. Die Wandlungen des Ethos sind nicht als eine Anpassung der Wertgehalte an wechselnde gesellschaftliche oder kulturelle Verhältnisse zu verstehen (II, 305). Scheler sieht sie vielmehr wesenhaft gebunden an die progressive Realisierung der Gehalte des Werte-Kosmos und seiner wesensmöglichen Rangordnungen in Epochen, Rassen und Völkern. Völker und Rassen „kooperieren" in der Realisierung der absoluten Wertgehalte - auf diese Weise lassen sich nach Scheler Wert-Relativismus und Absolutismus der Werte miteinander verbinden (II, 307f.). Wegen der Unendlichkeit des Werte-Kosmos ist die Geschichte der Entwicklung verschiedener Ethos-Formen unabschheßbar. Fragt man, auf welche Weise sich überhaupt eine Entwicklung des Ethos ergeben kann, so verweist Scheler auf die „radikalste Form von Erneuerung und Wachstum des Ethos", die sich „in und kraft der Bewegung der Liebe" als Entdeckung und Erschließung von höheren Werten vollzieht, „höher" im Verhältnis zu den herrschenden Werten. Die Entdeckung neuer Werte werde durch „sittlich-religiöse Genies" (II, 309) herbeigeführt. Sie stellen eine vorbildgebende Minorität dar, an deren Entdeckungen und Handlungen sich die große Zahl der Mitglieder einer Gesellschaft orientiert. Dadurch werden die Vorzugsregeln des alten Wertereichs zwar nicht aufgehoben, da die alten Werte auf absoluten Erkenntnissen des Wertgehalts und der Rangabstufungen beruhen, aber im Verhältnis zu den neuen Werten relativiert sich ihre Geltung (II, 309). Scheler hält es für ein Zeichen des „désordre du coeur", daß das Gewissen heutzutage als oberste Instanz der sittlichen Erkenntnis angesehen wird. Demgegenüber unterscheidet Scheler zwischen sittlicher Erkenntnis einerseits, die nicht täuschen könne, und dem Gewissen als der „Fähigkeit" zur sittlichen Erkenntnis, bei der „Gewissenstäuschungen" durchaus möglich seien (II, 324). Das Gewissen könne auch deshalb nicht die oberste 134
Instanz sittlicher Erkenntnis sein, weil es wesentlich negativ fungiere - es wehrt sich zwar gegen ein bestimmtes Verhalten, es sagt aber nicht positiv, was gut sei (II, 325). Scheler versteht das Gewissen schließlich als „Inbegriff dessen, was die eigene individuelle Erkenntnisbetätigung und sittliche Erfahrung zur sittlichen Einsicht beiträgt - im Unterschied zu der in Überlieferung und der in Autorität und Tradition gleichsam kumulierten und aufgestapelten Erkenntnis dieser Art -, also auch nur eine Ökonomisierungsform der letzten sittlichen Einsicht unter anderen; und nur ein Zusammenwirken seiner mit den Sätzen der Autorität und den Gehalten der Tradition, sowie eine gegenseitige Korrektur all dieser nur subjektiven Erkenntnisquellen garantiert ein Höchstmaß der subjektiven Gewinnung dieser Einsicht" (II, 325 f.)· Alle subjektiven Erkenntnisquellen lassen sich aber erst dann als gültige Instanz anführen, wenn sie sich rechtfertigen lassen durch die ursprüngliche sittliche Erkenntnis. Die eigentliche Erkenntnisfunktion des Gewissens sieht Scheler in denjenigen Fällen gegeben, in denen die herrschende Moral und ihre Normen keine objektive Entscheidung ermöglichen. In diese Lücke tritt das Prinzip der Gewissensfreiheit — der individuelle Mensch ist allein gelassen und deshalb frei, sich nach seinem eigenen Gewissen zu richten (II, 327f.). Das Prinzip der Gewissensfreiheit negiert deshalb auch nicht das Prinzip allgemeingültiger sittlicher Erkenntnis, sondern ergänzt es. Dem Einwand, daß seine eigene Ethik bedingt sei durch eine gesellschaftlich oder sogar konfessionell begrenzte Moral, begegnet Scheler außer mit der Berufung auf die Evidenz seiner Ausführungen mit einer Theorie des Ausgleichs zwischen Absolutheitsanspruch und Relativität. Weil er die geschichtlichgesellschaftliche Relativität der „Moralen" erklären könne, unterliege er nicht ihrem einschränkenden und relativierenden Einfluß. Es geht ihm überhaupt nicht um die Legitimierung irgendeiner Moral, sondern um die Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten, die in jeder wirksam sind (II, 258). Den letzten Punkt der Rechtfertigung des Absolutheitsanspruchs sieht Scheler schließlich in der höchsten Wertebene, in der Ebene der Werte des Heiligen. Dabei legt er den größten 135
Nachdruck darauf, den absoluten Wert des Heiligen von allen geschichtlich relativen - „Bildgehalten" frei zu halten. Im Grunde bleibt nur der Grundbezug der Liebe auf ein Absolutes überhaupt, die „Gottesliebe", übrig, die allen konkreten Ausbildungen der Gottesideen zugrundeliegt: „Das Wertmoment bildet daher nicht ein Prädikat einer schon gegebenen Gottesidee, sondern ihren letzten Kern, um den sich alle begrifflichen Fassungen und Bildvorstellungen vom Wirklichen erst sekundär herum kristallisieren. Es sind die im Fühlen und in der Intention der Gottesliebe allein gegebenen, eigentümlich nuancierten Wertqualitäten des Göttlichen, die für die Ausbildung der Gottesideen und Gottesbegriffe leitend werden." (II, 298)
7. Moral und Religion Das Verhältnis zwischen Moral und Religion wurde für Scheler vor allem in der mittleren Phase seiner Entwicklung wichtig, in der er das letzte Fundament seiner Geistphilosophie in einer absoluten Person sah und den Wert des Heiligen den geistigen Werten, darunter den sittlichen, überordnete. Dennoch vertrat er auch in dieser Periode die These, daß das Sittliche allein in sich begründet und auf kein anderes Fundament zurückführbar sei. 1926 betonte er rückblickend, daß er an eine Begründung der Ethik auf irgendeine Art Voraussetzung über Wesen und Dasein, Idee und Willen Gottes nie einen Augenblick gedacht habe (II, 17). Im Formalismusbuch, auch schon in seinen Jenaer Ferienkursen hat Scheler die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Moral und Religion mehrfach angesprochen, doch ist er erst in Vom Ewigen im Menseben auf das Problem näher eingegangen.5 Das Verhältnis zwischen Religion und Moral löst sich für ihn nach Maßgabe seines „Konformitätssystems", das er in der Abhandlung über das Wesen der Religion entwickelt hat (V, 142— 151). Diese Theorie betrifft zwar primär die Frage der Vereinbarkeit von Wissen und Glauben, Religion und Metaphysik, doch sind implizite alle Dimensionen des Geistes mitbetroffen. 136
Das Verhältnis zwischen Moral und Religion ist letztlich abhängig von der Ordnung, die Scheler unter den verschiedenen Akten des Geistes aufgewiesen hat. „Die Grundlage dieses Satzes ist die Einheit des Menschengeistes und die notwendige Widerspruchslosigkeit aller seiner Setzungen." (V, 136) Demzufolge müssen die sittlichen und die religiösen Akte grundsätzlich miteinander kommensurable, selbständige und irreduzible Akte ein und des gleichen Geistes sein. Nicht nur dies: in jedem religiösen Akt werde auch ein moralischer und in jedem moralischen auch ein religiöser Akt „partiell mitgeübt" (V, 259). Da aber die religiösen Akte die ursprünglichsten sind, fundieren sie alle anderen Geistesakte. Dies bedeutet für Scheler nicht, daß die Ethik durch die Religion, in Kantischen Worten: heteronom begründet sei, denn die Autonomie des Sittlichen beruhe auf der Irreduzibilität der sittlichen Werte und der ihnen korrelierenden Akte. Wenn er aber das Gute definiert als den höheren Wert, der sich in einer gegebenen Situation als vorzuziehen zu erkennen gibt, dann bedeutet dies soviel wie die These, daß durch ein sittliches Verhalten nur dann der Wert des Guten realisiert werde, wenn es aus einem Wollen religiöser Werte geschehe, durch ein „velle in Deo". Deshalb können auch die materialen Gehalte der sittlichen Werte den religiösen Werten nicht widersprechen. In Zweifelsfällen haben sie an ihnen ein Richtmaß. Die „Vereinbarkeit" beider Wertsysteme bemißt sich eindeutig an den religiösen Werten: Gott ist das „summum bonum", durch das „ein notwendiger Wesenszusammenhang zwischen Religion und Moral" bestehe.6 Das summum aestimativum bilde den Abschluß der Ethik (XI, 242). Aus dem Konformitätssystem ergibt sich, daß der ideal vollkommene Zustand in einer möglichst tiefen und reichen „Harmonie von Religion und Geisteskultur" überhaupt bestehe (V.323).
VIII. Religionsphilosophie Scheler hat sich in seiner Jugend dem Judentum entfremdet und dem katholischen Glauben angenähert. Seine Konversion im Alter von 25 Jahren, seine fortwährende Auseinandersetzung mit dem Gottesproblem und den Heilsaussichten der Menschheit offenbaren ein starkes religiöses Bedürfnis. In den zwanziger Jahren zog er sich allerdings aus dem kirchlichen Leben zurück. Die meditativen Praktiken des Buddhismus erschienen ihm nun heilsamer. Die Religion galt ihm nicht mehr als eine essentielle Kategorie des menschlichen Geistes (VIII, 73). Dies ist aber nur als ein Zeichen für den Übergang des Heilswissens an das metaphysische Wissen zu verstehen. Schelers Religionsphilosophie ist aus konkreten religiösen Erlebnissen hervorgegangen. Als ihm später die überlieferte Gestalt religiöser Praxis überholt zu sein schien, verlor er das philosophische Interesse an der Religion. Wie keine andere philosophische Disziplin beschränkt sich Schelers Religionsphilosophie auf seine mittlere Periode. Schelers erste religionsphilosophische Überlegungen finden sich in zwei Besprechungen von R. Euckens Buch Wahrheitsgehalt der Religion (1903,1, 339-353). Wenn er in diesen Gelegenheitsarbeiten auch seine eigenen Anschauungen zurückhält, so wird doch deutlich, daß er Euckens Ansatz teilt, die Kulturbereiche der logischen, sittlichen und ästhetischen Werte aus einem „übernatürlichen Geistesleben", also aus der Sphäre des Göttlichen abzuleiten, ohne jedoch Religion und Kultur zu identifizieren. Von der Frage eines persönlichen Gottes, die für ihn in der mittleren Periode so wichtig werden sollte, ist hier noch nicht die Rede. Der Brief an G. v. Herding von 1906 zeigt, daß Scheler die religionsphilosophische Thematik in allen Jenaer Jahren beibehalten hat: „Ich trete mit meinem Lehrer Eucken für einen organi138
sehen Zusammenhang der religiösen und sittlichen Grundwahrheiten ein und halte zwar Ethos ohne Religiosität, aber nicht (objektiv) Ethik ohne eine Religion für möglich. Die Religion ist für mich keineswegs bloß ,Lebenswert',,Kulturwert' oder zu praktischer Abzweckung (Kant) da, sondern gründet in einer Reihe metaphysischer Wahrheiten, die indes erst im Zusammenhang mit der Tradition des christlichen Lebens und persönlichen Akten gläubiger Hinnahme religiösen Wert erhalten."1 In den Münchner Jahren scheint Scheler an der Ausführung seiner rehgionsphilosophischen Anschauungen, trotz seines Versprechens gegenüber v. Herding, nicht weitergearbeitet zu haben. Erst im Zusammenhang mit dem Formalismusbuch nimmt er sie wieder auf. Scheler versteht jetzt den Menschen wesentlich als Gottsucher (II, 296 ff.) und will eine „Phänomenologie der Gottesidee" ausarbeiten (II, 299; 395f.). Das Heilige nimmt nun den obersten Rang unter den Werten ein. Es ist leitend für alle positiven Vorstellungen, Ideen und Begriffe von Gott, die in der Geschichte aufgetreten sind und auftreten werden. Scheler glaubt in diesen Jahren nachweisen zu können, daß mit der Einheit, Identität und Einzigkeit des Makrokosmos wesensnotwendig auch eine konkrete absolute Person, ein personhafter Gott gedacht werden müsse. Am Ende des Formahsmusbuchs kündigt er ein Buch „Vom Wesen des Göttlichen und den Formen seiner Erfahrung" an (II, 580). Teile dieses nicht vollendeten Buchs sind posthum unter dem Titel „Absolutsphäre und Realsetzung der Gottesidee" erschienen (X, 179-240, Zusätze 240ff.). Schelers religionsphilosophisches Hauptwerk, das er während und kurz nach dem ersten Weltkrieg ausgearbeitet hat, erschien 1921 in Vom Ewigen im Menschen: „Probleme der Religion. Zur religiösen Erneuerung" (V, 101-354). Ähnlich wie das Formalismusbuch bestand es aus grundlegenden Untersuchungen, denen eine systematische Gesamtdarstellung der Religionsphilosophie folgen sollte; sie ist ebensowenig wie die systematische Ethik erschienen. 1922/23 fand eine Wandlung seines metaphysischen und religionsphilosophischen Denkens statt, deren eigentliche Ursa139
chen nach wie vor ein Rätsel sind. Im Vorwort zur 2. Auflage des Formalismusbuchs (1921) hatte er noch geschrieben: „Selbst ein geistiger Weltgrund verdient - was er auch sonst sein möchte - ,Gott' nur zu heißen, wenn und soweit er persönlich' ist." (II, 16) Im Vorwort zur dritten Auflage (1926) bekannte er dann aber: „Es ist der Öffentlichkeit nicht unbekannt geblieben, daß der Verfasser in gewissen obersten Fragen der Metaphysik und der Philosophie der Religion seinen Standort seit dem Erscheinen der zweiten Auflage dieses Buches nicht nur erheblich weiterentwickelt, sondern auch in einer so -wesentlichen Frage wie der Metaphysik des einen und absoluten Seins (das der Verfasser nach wie vor festhält) so tiefgehend geändert hat, daß er sich als einen .Theisten' (im herkömmlichen Wortsinne) nicht mehr bezeichnen kann." (II, 17) Die aufgeschlossenen, zukunftsoffenen Katholiken, die sich um Scheler gesammelt hatten, hatte er schon zwei Jahre zuvor durch das Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung Christentum und Gesellschaft (1924) brüskiert. Scheler bekannte im Dezember 1923, daß er „nach den strengen Maßen der Theologie der römischen Kirche sich einen ,gläubigen Katholiken' zu keiner Zeit seines Lebens und seiner Entwicklung nennen durfte". Über „das Maß und die Art der Entfernung des Verfassers von diesem System (die bereits Inhalt und Begründungsform der Gottesidee mitbetrifft)" wollte er in einer Reihe metaphysischer Abhandlungen, insbesondere in dem geplanten zweiten Band Vom Ewigen im Menschen Rechenschaft ablegen (VI, 224). Dieser Band ist nie fertiggestellt worden. Aus dem Nachlaß sind Bruchstücke eines Manuskripts über Vorbilder und Führer veröffentlicht worden, in denen auch das Vorbild des Heiligen erörtert wird (X, 274-288). Von einem Wandel der religionsphilosophischen Anschauungen Schelers ist hier jedoch noch nichts erkennbar. In den Ausführungen „zur Soziologie der Religion", die Scheler 1926 in seiner Wissenssoziologie veröffentlicht hat (VIII, 69-84), wandte er sich gegen diejenigen Kräfte der römisch-katholischen Kirche, die „gegen jede selbständige Regung metaphysischer und freireligionsspekulativer Gedankenbildung verschworen" seien (VIII, 83). 140
Das katholische Lager ließ es an Kritik nicht fehlen. Sehr verbreitet war die Meinung, die D. v. Hildebrand in einem Aufsatz über Schelers Stellung zur katholischen Gedankenwelt zum Ausdruck brachte: „Die Werke Schelers nach 1922 stellen, gemessen an seinen früheren Leistungen, einen ungeheuren philosophischen Niedergang dar".2 Dagegen stimmte der katholische Schriftsteller Theodor Haecker, ebenso wie Scheler und D. v. Hildebrand Konvertit, 1926 Scheler insofern zu, als er sagte, er habe ihn nie für einen Katholiken gehalten, „auch damals nicht, als er als Katholik, ja gewissermaßen als ein geistiger Führer der Katholiken galt; denn niemals hatte ich in ihm [...] was zum Christen, also wesentlich zum Katholiken gehört, gefunden: den Glauben, den Gehorsam des Glaubens, die bedingungslose Annahme der Offenbarung, nie bei ihm verspürt ein verborgenes, unsichtbares Leben der Gnade, nie den Hauch eines Gebetslebens".3 In seiner religionsphilosophischen Hauptschrift läßt Scheler der Bestimmung des Begriffs der Rehgionsphilosophie, wie er es auch bei anderen philosophischen Disziplinen zu tun pflegte, eine „Typik" der bereits aufgetretenen Lehren vorangehen, hier also eine Typik der bisherigen Anschauungen über das Verhältnis zwischen Philosophie, speziell der Metaphysik, und der Religion (V, 124-157). Er schließt die Typik mit der Darstellung eines „Konformitätssystems" (V, 142 ff.), das von der prinzipiellen Gleichberechtigung und partiellen Identität von Metaphysik und Religion ausgeht. Scheler faßt die Religionsphilosophie im wesentlichen als Nachfolgerin der früheren „natürlichen Theologie" auf, als eine philosophische Disziplin, die im Unterschied zur Metaphysik als reiner Vernunftwissenschaft des Ens a se die verschiedenen Formen der Offenbarung des Göttlichen und die ihnen korrelierenden religiösen Akte untersucht. Die Wesensgrundlagen der Religionsphilosophie wie aller anderen Wissenschaften, die sich mit den Religionen beschäftigen (die Theologie verschiedener Religionen und Konfessionen, Religionspsychologie, Religionssoziologie, Religionsgeschichte usw.), werden von der Religionsphänomenologie aufgewiesen; 141
mit dieser Grundlegungsdisziplin der Religionsphilosophie hat sich Scheler hauptsächlich beschäftigt. Die Rehgionsphänomenologie definiert er als „philosophische Wesenslehre (Eidologie) des religiösen Gegenstandes und Aktes" (V, 126; 156). Die innere Gliederung der Rehgionsphänomenologie führt Scheler am Leitfaden der „Folgeordnung der Probleme" durch (V, 159). Sie ergibt sich prinzipiell aus dem Wesenszusammenhang von Gegenstand und Akt, muß aber zusätzliche Einteilungsgründe aus der geschichtlich entstandenen gegenwärtigen Problemlage übernehmen. Zunächst unterscheidet Scheler drei Erkenntnisziele: 1. die Wesensontik des Göttlichen, 2. die Lehre von den Offenbarungsformen, in denen sich das Göttliche dem Menschen zeigt, und 3. die Lehre vom religiösen Akt (V, 157). Der Lehre von den Offenbarungsformen fügt er als Korrelat die Lehre von den „verschiedenen Wesenstypen der homines religiosi" hinzu (V, 158). Da sich das Religiöse notwendigerweise in Gesellschaft und Geschichte offenbart, greift er noch zwei weitere Lehrstücke auf: die „Wesenslehre von den soziologischen Strukturformen der Gemeinschaften", die die Wesensgrundlagen der „Religionssoziologie" bildet, und die Lehre von der „geschichtlich sukzessiven Ordnung der natürlichen und positiven Offenbarungsformen des Göttlichen" (V, 159), die die eidologischen Voraussetzungen für die Geschichtsphilosophie der Religion umfaßt. Bei dieser Einteilung hat es Scheler nicht bewenden lassen. Unmittelbar an die Eidologie wollte er eine „konkrete Religionsphänomenologie" anschließen, die den Sinngehalt historisch gegebener Religionen verstehend rekonstruieren sollte (V, 155 f.). Noch unbestimmter ist der Ort für die Behandlung der Gottesbeweise geblieben - wohl ein Zeichen dafür, daß Scheler den Gottesbeweisen ablehnend gegenübersteht. Dennoch hat er sich mehrfach zu diesem Problemkreis geäußert. Seiner Auffassung nach sind Gottesbeweise im Prinzip nur deshalb möglich, weil sich Gott vor allem Bedürfnis nach Beweisen als Gott offenbart hat, also nur als Antwort auf den 142
freien Akt der Selbstoffenbarung Gottes. Deshalb können sie der Lehre vom (antwortenden) religiösen Akt angeschlossen werden. So ergibt sich die folgende Gliederung: 1. Die Wesensontik des Göttlichen 2. Die Formen der Selbstmitteilung Gottes und die Wesenstypen der homines religiosi 3. Die Phänomenologie des religiösen Aktes und die Lehre von den Erweisarten Gottes 4. Die Wesenslehre von den Strukturformen religiöser Gemeinschaften und die geschichtliche Ordnung der Offenbarungsformen des Göttlichen
1. Die Wesensontik des Göttlichen Da Scheler generell von dem Grundsatz ausgeht, daß es die Gegenstände sind, die die Aktarten bestimmen, muß die Phänomenologie der Religion mit einer Wesensontik des Göttlichen beginnen. Aus der Sphärentheorie übernimmt Scheler den Satz, daß dem menschlichen Geist notwendigerweise die irreduzible Sphäre des Absoluten vorgegeben ist: „Die religiösen Akte und ihr objektiver Gegenstands-, Seins-[und]Wertbereicb stellen also ein ebenso ursprüngliches in sich geschlossenes Ganzes dar, wie etwa die Akte vom Wesen der äußeren Wahrnehmung und die Außenwelt." (V, 169) Die Sphäre des Absoluten wurde später, nachdem sich Schelers Glaube an die Persönlichkeit Gottes aufgelöst hatte, fast nur noch von der Metaphysik und dem Sinngehalt historischer Formen von Religion ausgefüllt, die im Verhältnis zur Metaphysik als überholt gelten müssen. Das Wesen des Göttlichen läßt sich in zwei grundsätzlich verschiedenen, nicht aufeinander reduzierbaren Wissensarten bestimmen: im metaphysischen und im religiösen Wissen. Durch diesen Dualismus werde die Einheit des menschlichen Geistes nicht aufgehoben; beide Wissensarten konvergieren vielmehr in ein und dem gleichen identischen Realen (V, 136). Einige fundamentale Momente des Göttlichen werden von 143
beiden Wissensarten erfaßt, zeigen sich aber in unterschiedlichem intentionalen Gehalt. Die Identität des absolut Realen in intentionaler Verschiedenheit der beiden Wissensarten stellt eine partielle Identität von Metaphysik und Religion dar. Sie bildet die Grundlage von Schelers Konformitätssystem der Metaphysik und Religion. Die partielle Identität beruht auf drei fundamentalen Bestimmungen des Absoluten. Wesensontologisch gesprochen handelt es sich um die „formalsten Bestimmtheiten eines Seins und Gegenstandes vom Wesen des .Göttlichen'". Es sind die Bestimmungen: Ens a se (,Ich bin, der ich bin'), Allwirksamkeit (Schöpferkraft) und Heiligkeit (V, 169). Sie bringen die Seinsart, die Gegenständlichkeit und das Wert-sein des Absoluten zum Ausdruck. Das wichtigste Moment des Göttlichen in der Perspektive des religiösen Glaubens, das für die Metaphysik schlechthin unzugänglich bleibt, ist die Persönlichkeit Gottes (V, 141, 146). Die radikale Unterscheidung zwischen Metaphysik und Religion, die dem Konformitätssystem zugrundeliegt, läßt bereits erkennen, daß in dem Augenblick, in dem die Persönlichkeit Gottes entfallen würde, auch die anthropopathischen Aussagen der Religion über Gott (Zorn, Rache, Liebe Gottes usw.) sinnlos werden und schließlich die Sphäre des Absoluten nur noch durch das metaphysische Wissen bestimmt werden würde. Anfang der zwanziger Jahre ist von dieser Tendenz jedoch noch nichts erkennbar, im Gegenteil: das Konformitätssystem erlaubt Scheler, in großem Umfang die Gotteslehre des christlichen Theismus in seine Religionsphilosophie aufzunehmen. Dazu verhilft ihm auch der Grundsatz, den er schon im Formalismusbuch und im Aufsatz über das Wesen der Philosophie vertreten hatte, daß die religiösen Akte und Werte vor den Erkenntnisakten der Vernunft und den geistigen Werten einen wesensgesetzlichen Vorrang haben. Konsequenterweise behauptet er, daß die Religion stets den Spielraum für die Ausbildung einer Metaphysik vorgebe (V, 149). Für alle materialen Bestimmungen des Göttlichen, die über die drei formalen Momente der absoluten Seinsmächtigkeit 144
(Ens a se), der Allmächtigkeit (Schöpferkraft) und der Heiligkeit hinausgehen, ist die jeweilige Welt- und Selbsterfahrung des Menschen mitbestimmend (V, 169-195). Die Zuschreibung von materialen Momenten wie Geist, Vernunft, Wille, Liebe, Barmherzigkeit, Allwissenheit, Schöpfer usw. geschieht prinzipiell „analogisch". Die Berechtigung dazu beruht auf der symbolischen Spiegelung Gottes in der Welt, die für Scheler damals noch axiomatische Gültigkeit besaß. Es trifft also nicht zu, wie u.a. Th. Haecker behauptet hat, daß sich Scheler des traditionellen Erkenntnismittels der Analogie auf eine unreinliche Weise bedient hätte. 4 Scheler bezeichnet die analogen Bestimmungen als grundsätzlich inadäquat, weil Gott unendlich viel reicher sei, als aus der geschaffenen Welt erkennbar sei. Außerdem können die analogen Bestimmungen nur unausdrücklich auf Gott bezogen werden. Sie setzen eine Unterscheidung zwischen Substanz und Attribut voraus, die der Wesensidentität Gottes mit allen seinen Attributen widerspricht. Die materialen (Scheler spricht auch von „überformalen") Bestimmungen Gottes gehen zurück auf die „natürliche Religion", die jederzeit abhängt von der „natürlich-geschichtlichen Weltanschauung" der Epochen und ihrer religiösen Gemeinschaften (V, 176). Die natürlich-geschichtliche Weltanschauung verbirgt sich aber hinter den ausformulierten Lehren (Dogmatik) und ist oft nur schwer zu erkennen. In dem Abschnitt über „Wachstum und Abnahme der natürlichen Gotteserkenntnis" (V, 195-210) skizziert Scheler die Grundlinien einer Geschichte der Weltanschauungsformen, die den ausführlichsten Entwurf seiner Lehre von der Funktionalisierung der Vernunft darstellt. Für die Frage der Attribute Gottes ergibt sich daraus vor allem zweierlei. Zum einen, daß die Erkenntnis Gottes zurückbezogen werden muß auf den menschlichen Geist, der nicht nur in der Erkenntnis der Wesensgehalte, sondern auch in der Freisetzung neuer Erkenntniskräfte wachsen kann, so daß es nie eine abgeschlossene Erkenntnis der Wesensgehalte Gottes und des menschlichen Geistes geben kann. Zum anderen, daß jede einmal gewonnene Wesenserkenntnis ein für allemal gültig ist, durch weitere aber 145
ergänzt und in neue Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge gebracht werden kann. Deshalb sollte, wie jede Geisteserkenntnis, so auch jede Gotteserkenntnis aus der Kooperation aller Völker und aller Zeiten hervorgehen. Dadurch verwirkliche sich allmählich eine wahrhafte „philosophia perennis". Nach der Erörterung der formalen Bestimmungen, der erkenntnistheoretischen und der geschichtsphilosophischen Bedingungen der Erkenntnis materialer Attribute des Göttlichen stellt Scheler nicht nur die für die gegenwärtige weltgeschichtliche Epoche gültigen materialen Bestimmungen des Göttlichen auf, sondern reflektiert auch darauf, in welcher Ordnung sie widerspruchsfrei miteinander verbunden werden können (V, 210-240). Scheler entwickelt die materialen Bestimmungen in Analogie zum Ganzen des menschlichen Geistes. Er lehnt jede Bestimmung des Göttlichen in Abhängigkeit von nur einer Aktart des Geistes ab (z.B. Verstand, Wille). Wie beim menschlichen Geist ist deshalb auch beim göttlichen als die ursprünglichste Wurzel aller geistigen Aktarten die Liebe anzusehen (V, 219; vgl. X, 233 ff.). Von ihr sind abgeleitet die göttliche Seins- und Willensgüte: Gott ist „summum bonum". Ebenfalls von der Liebe abgeleitet ist der Verstand, den Scheler als Allweisheit und Allwissenheit dem Wollen Gottes vorordnet. Aus dem von Liebe, Güte, Weisheit geleiteten Wollen gehe die Schöpfung der Welt und des Menschen hervor. Wie aber läßt sich unter solchen Prämissen der Ursprung des Bösen denken? Die Beantwortung dieser Frage nimmt nicht weniger als die Hälfte von Schelers Überlegungen zu den materialen Attributen des Göttlichen ein (V, 225-240). Es gilt ihm als eine sichere Wahrheit der Vernunft, daß die uns bekannte Welt „durch eine freie geistige Ursache nach ihrer Schöpfung in eine grundlegend andere Verfassung geraten sei, als diejenige war, in der sie sich unmittelbar befand, als sie aus den Schöpferhänden hervorging". (V, 225) Die Ursache hierzu liege im Sündenfall beschlossen. Scheler hält diesen mit einer göttlichen Schöpfung nur dann für vereinbar, wenn er auf eine zwischen dem Menschen und Gott existierende Person zurückgehe, die 146
sich gegen Gott auflehnt und Macht über die Welt hat. Daraus folgt, daß Welt und Mensch auch nur durch eine Erlösungstat gerettet werden können, die auf einen freien Willensakt Gottes zurückgeht. Der Sündenfall stellt nicht nur ein einmaliges Ereignis dar, sondern- auch „eine immer und überall vorhandene Tendenz im Weltsein und Weltgeschehen" (V, 231). Auf dieser metaphysischen Erkenntnis beruht der pessimistische Teil von Schelers Philosophie, wonach das stete „Fallen" ein so tiefes Charaktermerkmal des Daseins ausmache, „daß es alles durchdringt, was wir kennen, alle Gebiete des Wirklichen - von der toten Natur angefangen bis hinauf zu den höchsten Exemplaren des Menschentums" (V, 231). Aus dem Dasein, aus der gefallenen und immerwährend fallenden Natur dürfe man deshalb keine analogischen Bestimmungen für das Göttliche ableiten, sondern nur aus den durch den Geist einsehbaren Wesensmerkmalen der Welt oder des Menschen. Blickt man jedoch auf die daseiende Welt, auf das „Drama des Weltprozesses", so zeigt sich eine „aus dem Fall resultierende universale stetige Grundtendenz zur Abnahme der Werte" (V, 232) „Geschichte" also als eine sich dem Nichts annähernde Entwicklung, analog der asymptotischen Annäherung des Weltprozesses an den Wärmetod - wenn die Welt „nicht durch die positive Tat Gottes gleichsam immer neu erhalten wird" (V, 233) und sich nicht die Hoffnung auf eine progressive „Vergeistigung des Lebens" böte (V, 234); vorausgesetzt, daß „der Geist des Menschen aus Gott immer neue Kraftströme erhielte" (V, 235). Am Ende bleibt vom Geschichtsverlauf das Bild eines hilflosen Stolpergangs, das Scheler gleichermaßen der These Spenglers vom Untergang des Abendlandes und dem Glauben an einen ewigen Fortschritt des Menschengeschlechts entgegenstellt: „Die Welt ist nicht darauf angelegt, durch ihre eigenen Kräfte sich im Sinne steter Werterhöhung zu entwikkeln. Wenn sie nicht durch Erlösung emporgehoben wird, wenn nicht je höhere Kräfte auf sie frei heruntersteigen, die sie immer neu emporheben, so - fällt sie ins Nichts. Stete Gefahr des Todes und mögliche Wiedergeburt nur durch Erlösung — stetes in-die-Knie-Sinken und ,Gehen' nur durch eine empor147
hebende Kraft, die sich erbarmend herabsenkt, uns immer wieder auf die Füße zu stellen: Das erscheint uns als ein zutreffenderes Bild des sich geschichtlich bewegenden Menschen als das des munteren Laufjungen, der in ein immer schöneres Land aus eigenen Kräften ins Unbegrenzte läuft." (V, 240) Genau dies aber wird die Perspektive von Schelers Spätphilosophie sein - die progressive Selbsterlösung und Selbstdeifikation der Menschheit.
2. Die Formen der Selbstmitteilung Gottes und die Wesensformen der homines religiosi Die Selbstmitteilung Gottes hat ein fundamentales erkenntnistheoretisches Gewicht: „Wenn etwas vom Wesen des Göttlichen auch real existiert, so gibt es nur eine Art, nach der seine Realität endlichen Personen zur Gegebenheit (irgendwelcher Art) kommen kann: daß es sich diesen (oder irgendeiner von ihnen) spontan selbst zu erkennen gebe oder sich ihnen in rezeptiven resp. reaktiven Akten zur Erfassung bringe. Ist dieses Reale - wie es sein muß, so es der Idee der Gottheit entsprechen soll - eine Person, so kann dieses Sich-als-real-zuerkennen-Geben nur die Selbstoffenbarung dieser Person sein." (X, 185) Scheler unterscheidet die Formen der Selbstmitteilung Gottes nach den sozialen Verbänden, an die sie ergeht. Die Offenbarung richtet sich an die Gesamtperson des solidarischen Ganzen der Kirche und ist deshalb „allgemeingültig". „Gnade" und „Erleuchtung" sind die Mitteilungsformen an einzelne Personen, die nur „individualgültig" sind. Relativ allgemeingültig und zugleich individualgültig sind die Mitteilungsformen, die an außerkirchliche Gesamtpersonen wie Nation, Staat, Kulturkreis ergehen. Ebenfalls gemischt sind die Mitteilungsformen, die sich auf bestimmte Arten von Sozialpersonen beziehen, wie Stände, Berufe u. dgl. Alle Selbstmitteilungen sind fundiert in der Alhebe Gottes und haben zum Inhalt nur solche Wahrheiten, die sich auf das spezifische Heil der Personen beziehen. 148
Den in der Alliebe fundierten, freien Akten der Selbstmitteilung Gottes müssen auf sehen der einzelnen Person freie Akte der Annahme oder aber der Verwerfung entgegenkommen. Über Annahme oder Verwerfung entscheidet die Person in ihrem höchsten Aktzentrum: in den Grundakten von Anbetung und Gebet macht sie sich frei für ein mögliches Verstehen der Selbstmitteilung Gottes. Dieses innere Frei-Sein der Person hat nichts mit einem Frei-Sein für ein bestimmtes Wollen und Handeln zu tun, ist auch nicht gebunden an das psychische Ich oder die Antriebsarten des Leibes - von all diesen Bindungen und Zwängen hat sich die Person freigemacht, um sich in einem allmählich zum Habitus werdenden inneren Frei-Sein für die Mitteilung Gottes zu öffnen: „Das Freisein der Person vom Zwange aller Sachfaktoren ist vielmehr der Habitus der Person, der den Aktus des Sichöffnens der Person in der Richtung auf mögliche göttliche Selbstmitteilung notwendig setzt und den Eintritt der Gnade notwendig macht." (X, 236) Da dieser Habitus nicht an einen bestimmten einzelnen Akt gebunden ist, muß er auch zu keinem einzigen in Gegensatz treten. Vielmehr kann er alle einzelnen Akte frei fundieren - die „Gnade" widerspricht also keineswegs der Freiheit des Menschen, zumindest nicht in Beziehung auf sein Verhältnis zur Welt, in dem die freie Hingabe an Gott zum letzten „Quellpunkt aller freien und spontanen Akte in der Richtung auf Welt überhaupt" wird (X, 236). Bereits im Formalismusbuch ist Scheler auf die „Idee einer Rangordnung reiner Wertpersontypen" (II, 568 ff.) eingegangen, die er als reine Modelle für alle faktischen Vorbilder versteht. Das reine Modell für alle homines religiosi, der „ausgezeichneten gottinnigen Menschen" (V, 339), ist der Heilige, von dem es eine Vielzahl von Untertypen gibt (Gottmensch, Prophet, Seher, Lehrer des Heils, Gesandter Gottes, Berufener, Heiland, Heilsarzt usw.). Scheler versprach 1916, eine „schon seit einigen Jahren fertig geschriebene Ausführung" dieser Lehre in kurzem gesondert zu veröffentlichen (II, 579). In seinem Nachlaß fand sich jedoch nur der unvollendete Aufsatz über „Vorbilder und Führer" (X, 255-318), in dem 149
kurz der Heilige und seine Untertypen behandelt wurden (274-288). In „Probleme der Religion" wird der Heilige als eine Person definiert, „deren geistige Gestalt uns in ausgezeichnetem Maße ein, wenn auch noch so inadäquates Abbild der Person Gottes also darstellt, daß alle seine Aussagen, Ausdrucksäußerungen, Handlungen nicht mehr gemessen •werden an einer Norm allgemeingültiger Form, die wir schon vorher kraft der Vernunft anerkennen, sondern ausschließlich darum als göttlich, heilig, gut, wahr, schön hin- und angenommen werden, weil „Er" es ist, der aussagt, ausdrückt, handelt." (V, 338; vgl. 130f.) Durch den Heiligen teilt sich Gott selbst mit. Alle religiösen Erkenntnisse gehen letztlich auf den Heiligen zurück. Sie vermitteln sich an andere Glaubensgenossen primär durch lebendige Nachfolge, d.h. durch ein Eindringen in den Sinn der Glaubenssätze. Hieraus ergibt sich die Reihe immer neu auftretender homines religiosi, die durch die Nachfolge des Einen eine einzige, alle Gläubigen umfassende Kirche bilden. In seiner Spätphilosophie hat Scheler den Heiligen als Pionier der „Selbstvergottung" des Menschen interpretiert, was von Seiten der katholischen Kirche natürlich auf heftigen Widerspruch gestoßen ist.
3. Die Phänomenologie des religiösen Aktes und die Lehre von den Erweisarten Gottes a) Zur Phänomenologie des religiösen Aktes Die Phänomenologie des religiösen Aktes behandelt den gleichen Gegenstand "wie die bis auf D. Hume zurückgehende Religionspsychologie. Dieser gegenüber versteht sich die Phänomenologie wesentlich als Noetik (V, 151) oder Sinnlogik der religiösen Akte (V, 157), d.h. als Untersuchung der ihnen immanenten Bedeutung- oder Sinn-gebenden Leistungen. Diese Leistungen sind von den unterschiedlichen Psychologisierungen abzuheben, wonach z.B. Schleiermacher das Wesen des re150
ligiösen Akts im „Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit", Ritschi in einem willens-, andere in einem denkartigen Erlebnis oder auch in einer durch das Unterbewußte bedingten psychischen Einstellung gesehen haben (V, 151 ff.). Scheler hat sich für die Phänomenologie des religiösen Aktes besonders interessiert, weil er glaubte nachweisen zu können, „wie es zu einer in sich selbst ruhenden religiösen Glaubensevidenz kommt und die Religion sich nach ihren autonomen Gesetzen entfaltet, fortbildet und höherbildet" (V, 159). Sein ausgeprägtes Interesse steht aber im Widerspruch zu den relativ wenigen Seiten, die er diesem Problem gewidmet hat (V, 240-264). Er kündigte zwar noch eine Reihe von „religionsphänomenologischen Analysen" an, die genaue Untersuchungen der wichtigsten religiösen Akte enthalten sollten (V, 264), doch dazu ist es nicht mehr gekommen. Für Scheler sind die religiösen Akte insgesamt geistiger Natur, und unter den geistigen Akten die tiefsten. Sie gehören wesensmäßig zur Natur des Geistes, so daß der Mensch notwendigerweise glaube (V, 261) - entweder an den wahren Gott oder an einen Götzen. Daß er überhaupt an einen Götzen glauben kann, erklärt Scheler durch die Täuschbarkeit der Glaubensakte - selbst im Kern des Geistes bleibe der Mensch täuschbar - eine These, die wie ein Selbstbekenntnis Schelers klingt. Der religiöse Akt unterscheidet sich von allen anderen geistigen Aktarten durch drei Merkmale: durch „1. die Welttranszendenz seiner Intention, 2. die Erfüllbarkeit nur durch das ,Göttliche', 3. die Erfüllbarkeit des Aktes nur durch die Aufnahme eines sich selber erschließenden, dem Menschen sich hingebenden Seienden göttlichen Charakters" (V, 244f.). Mit dem ersten Moment ist nicht die jeder Intention eigentümliche Transzendenz über den je erfaßten Intentionsgehalt, sondern die Transzendenz über das Ganze der Welt hinaus gemeint. Das zweite Merkmal stellt die Grundformel für alle religiösen Akte dar: sie beruhen auf der unmittelbaren Einsicht, daß 151
ihre Intentionen durch nichts erfüllt werden können, was zur Welt gehört: „In jedem dieser Akte also: Lob, Dank, Furcht, Hoffnung, Liebe, Glück, Streben, Vollkommenheitsstreben, Anklage, Gericht, Vergebung, Bewunderung, Verehrung, Bitte, Anbetung, überschreitet unser Geist nicht nur dieses oder jenes, sondern den Wesensinbegriff endlicher Dinge." (V, 247) Dasjenige, was den religiösen Akt allein zu erfüllen vermag, ist im Verhältnis zu allen Dingen dieser Welt das „ganz Andere". Das dritte Merkmal kennzeichnet den religiösen Akt als angelegt auf einen Gegenakt seitens des Göttlichen selbst. „Und damit ist schon gesagt, daß von .Religion' nur die Rede sein kann, wo ihr Gegenstand göttliche personale Gestalt trägt und wo Offenbarung (im weitesten Sinne) dieses Persönlichen dem religiösen Akt und seiner Intention die Erfüllung gibt." (V, 248) Wie die Offenbarung aus Liebe erfolgt, so ist die primäre Erkenntnis Gottes auch nur in der Gottesliebe möglich - auch hier erweist sich der Primat der Liebe vor der (theoretischen) Erkenntnis, der Primat der Werterkenntnis vor der theoretischen Erkenntnis (vgl. X, 184 ff.). Zu einer Religionsphänomenologie im Sinne Schelers gehört deshalb auch wesentlich eine Erkenntnis- und Wertungstheorie der religiösen Akte, auf die er aber nur sporadisch eingegangen ist. b) Über die Erweisarten Gottes Im Anschluß an die Lehre von den religiösen Akten, aber auch an anderen Stellen hat Scheler die Frage der Gottesbeweise aufgegriffen (V, 249ff.). Scheler geht von dem Grundsatz aus, daß der Gegenstand der religiösen Akte zugleich die Ursache ihres Daseins ist. „Alles Wissen von Gott ist notwendig zugleich ein Wissen durch Gott." (V, 255) Wie umfassend Scheler das Problem der Gottesbeweise konzipiert hat, deutet eine Stelle aus dem Vortrag über die christliche Liebesidee (1917) an: „Es gibt sehr verschiedene und vielartige natürliche Erweisarten von Gottes Existenz. Jeder Faden, den wir aus dieser Schöpfung herausnehmen - sei es aus Seele, Natur, Geschichte, Gewissen, Vernunft —, führt auf 152
Gott zurück, wenn wir ihn nach dem Gesetze des uns bekannten endlichen Stückes bis ins Unendliche ausgezogen denken." (V.374) Von der Vielzahl der möglichen Erweisarten Gottes hat Scheler nur einige wenige näher ausgeführt. Sie alle beruhen auf der Voraussetzung der freien Selbstoffenbarung Gottes. Ohne diese sind sie alle nichtssagend - es gibt keinen Schluß von welchem Akt auch immer auf das Dasein Gottes (X, 183, 194). Die wichtigste Erweisart ist für Scheler die werttheoretische. Wenn irgendeinem Wesen die Realität der Gottheit zur faktischen Erfahrung werden soll, dann wird „diese Realität primär als Wertrealität, d.h. als höchstes Gut, und erst sekundär als Seinsrealität zur Erfahrung kommen". Auf der höchsten Stufe möglicher Religion werde diese Wertrealität außerdem „nicht die einer ,Idee', einer Sache, eines Dinges oder eines Aktes, sondern die einer Person sein" (X, 184). Ein besonderes Gewicht hat Scheler in dem Vortrag über die christliche Liebesidee auch noch auf den soziologischen Gottesbeweis gelegt, der „ausschließlich aus der Idee einer möglichen Gemeinschaft persönlicher geistiger Wesen geschöpft ist". Er beruht auf der These, daß alle Gemeinschaft direkt oder indirekt in Gott gegründet sei (V, 374; 261).
4. Wesenslehre von den Strukturformen religiöser Gemeinschaften und die geschichtliche Ordnung der Offenbarungsformen des Göttlichen Diesen Teil der Rehgionsphänomenologie hat Scheler in seiner mittleren Periode nur mit wenigen Bemerkungen ausgeführt. Mit der Entwicklung seiner Sozialphilosophie und Wissenssoziologie in den zwanziger Jahren gewann er für ihn - unter verändertem Vorzeichen - zunehmend an Bedeutung. Jeder religiöse Akt ist ursprünglich ein ebenso individueller wie sozialer Akt (V, 260; 287). Der Bezug auf Gemeinschaft ist deshalb auch den religiösen Akten wesentlich, wodurch sie sich von allen anderen Aktarten unterscheiden, wie Scheler im 153
Unterschied zu früheren Auffassungen (z.B. im Vortrag über die christliche Liebesidee 1917, V, 371 ff.) und vor allem zum Formalismusbuch sagt. Dort hieß es, daß eine Person nicht bloß im religiösen, sondern in jedem ihrer Aktvollzüge gleichursprünglich auch als Glied einer umfassenden Persongemeinschaft gegeben sei (II, 509; 522). Im Kapitel über „Einzelperson und Gesamtperson" (II, 509-548) hat Scheler kurz die Kirche durch die ihrem Wesen entsprechende Tätigkeit, dem solidarischen Gesamtheil zu dienen (II, 536), charakterisiert und von anderen Sozialformen (Staat, Lebensgemeinschaften usw.) abgegrenzt. Eine „soziale Mannigfaltigkeitslehre" des Religiösen (II, 543) hat er aber nicht entwickelt, wenn er auch in der Wissenssoziologie angedeutet hat (VIII, 69-84), daß die religiösen Gruppenbildungen in Abhängigkeit zu sehen sind von der geschichtlichen Entwicklung der religiösen Anschauungen — in den „natürlichen Religionen" weisen sie ganz andere Formen auf als in den Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum). Die Frage nach der geschichtlichen Folgeordnung der religiösen Offenbarungsformen gehört zur Geschichtsphilosophie, die Scheler in den zwanziger Jahren ausarbeiten wollte. Die Fundierung der allgemeinen Geschichtsphilosophie in den einzelnen matenalen Sachbereichen zeigt, daß er jeder vorschnellen abstrakten Verallgemeinerung entgegenwirken wollte. Am Ende der „Probleme der Religion" wie auch schon in dem einleitenden Abschnitt über die religiöse Erneuerung erörtert Scheler die Frage, inwiefern es, etwa in Verlängerung von Comtes Theorie eines gesetzmäßigen Fortschreitens vom Mythos über die Religion zur Wissenschaft, in der Geschichte der Menschheit eine „neue Religion" geben könne, durch die die christliche Religion zu einem der Vergangenheit angehörenden Faktum reduziert würde. Eine neue Religion hält er jedoch für „äußerst unwahrscheinlich" (V, 345). Da für ihn feststeht, daß sich zwar unter dem Einfluß der positiven Wissenschaften die religiösen Erkenntnisorgane zurückgebildet haben, keineswegs aber die religiöse Sehnsucht, stellt sich 154
der Menschheit die Aufgabe, die einst erfolgte Offenbarung lebendig zu bewahren. Die Offenbarung sei - wenn man den ursprünglichen Status der Religionen im Schamanismus usw. außer Acht lasse - in den notwendigen Stufen von einer universalen natürlichen Offenbarung über die im Alten Testament dokumentierte Offenbarung eines persönlichen Gottes bis zur Erscheinung Christi fortgeschritten, in dem sich die Heilsgeschichte vollendet habe. Diese Selbstoffenbarung Gottes sei vollkommen und unüberbietbar (V, 352; 339 f.).
IX. Probleme der Sozialphilosophie Scheler hat sich bereits in der Jenaer Zeit, wie sein Aufsatz über „Arbeit und Ethik" zeigt (1899, I, 161-195), mit sozialphilosophischen Problemen beschäftigt. Im Vordergrund stand die Frage nach der rechten Gestaltung des wirtschaftlichen Lebens und der damit verbundenen allgemeinen Lebensstimmung. Beeinflußt von R. Euckens Kampf um einen geistigen Lebensinhalt (1896) setzte sich Scheler mit der sozialistischen Wert-, Gesellschaftsund Geschichtstheorie auseinander. Mit dem Problem der körperlichen und geistigen bzw. der qualifizierten und nichtqualifizierten Arbeit hat er sich sein Leben lang beschäftigt. In seiner phänomenologischen Periode hat Scheler, angeregt durch F. Tönnies' Buch über Gemeinschaft und Gesellschaft (1887), seine Lehre von den vier Wesensformen menschlicher Sozialverbände (Masse, Gemeinschaft, Gesellschaft, Gesamtperson) entwickelt, so schon im Ressentiment-Aufsatz (1912) und im Sympathiebuch (1913), systematisch schließlich im zweiten Teil des Formalismusbuchs (1916). Der Ausbruch des Weltkriegs und die Überzeugung von der Gerechtigkeit der deutschen Sache motivierten ihn, die Notwendigkeit von Kriegen nachzuweisen.1 Seine Auffassung wurde jedoch modifiziert, als er sich der Untersuchung der über die nationalen Grenzen hinausreichenden „Querschichtungen" von Sozialformen (Gesellschaften, Kirchen usw.) und den höheren Wertegruppen zuwandte. In seinem Aufsatz über die „soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Kriege" (1916, IV, 373-474) trat er für epochale sozialreformerische Ziele ein, insbesondere für das im christlichen Liebesbegriff und in der katholischen Gemeinschaftsidee fundierte Prinzip der „Solidarität" unter allen Menschen, Nationen, Kulturen und sogar unter den Religionen. Seine Ideen zur sozialen Differenzierung wollte er mit einer Lehre von den idealtypischen „Vorbildern und Führern" (posthum, 156
Xj 255-344) und einer Wesenslehre menschlicher Berufe weiterführen. In Vorträgen, die er im Auftrag des Auswärtigen Amtes vor internierten Deutschen in der Schweiz und in Holland hielt, entwickelte er seine Kritik an Kapitalismus und Sozialismus, denen er den „Solidarismus" entgegenstellte. Seine Überlegungen reichten über die Sozialphilosophie im engeren Sinne hinaus auf Fragen der Sozialethik, Pädagogik, Politik (Vorträge 1927 über „Politik und Moral", XIII, 7-74; „Zur Idee des ewigen Friedens und des Pazifismus", XIII, 77-121) und Geschichtsphilosophie („Mensch und Geschichte" 1926, IX, 120-144; „Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs" 1929, IX, 145-170). Scheler hat wie stets so auch in seinen sozialphilosophischen Abhandlungen und Vorträgen über die Rang- und Fundierungsordnung der Probleme reflektiert. In Aufzeichnungen zu einer Vorlesung über Sozialphilosophie vom WS 1921/22 definiert er die Sozialphilosophie sehr eng als die „Lehre vom Wesen, von den Formen und den Einrichtungen menschlicher , Gesellschaft', menschlicher .Gemeinschaft', menschlicher ,Gruppen' und Verbände" (XIV, 365). Diese Definition wird jedoch der Grundlegung der Sozialphilosophie in der Sphärentheorie nicht gerecht. Die detaillierte Disposition (XIV, 368 f.), die weit über die vorangestellte Definition hinausgeht, hat er nur fragmentarisch ausgeführt. Auch sie umfaßt noch nicht den gesamten Problemhorizont seiner Sozialphilosophie. Aus der Fülle seiner Überlegungen können hier nur die allgemeinen Fragestellungen herausgestellt werden, die, wie Schelers Vorlesung selbst, vom Abstrakten zum Konkreten führen: 1. zur phänomenologischen Grundlegung des Sozialen 2. Aspekte der Geschichtsphilosophie 3. zur Philosophie des Politischen 4. zur Kritik der modernen Sozialverhältnisse
1. Zur phänomenologischen Grundlegung des Sozialen Eine der irreduziblen Sphären in Schelers Wesensontologie ist die »Sphäre einer Mitwelt, Vor- und Nachwelt überhaupt, d.h. die 157
Sphäre von Gesellschaft und Geschichte, resp. des .anderen'" (VIII, 56). Drei Aspekte treten hervor: die gegenwärtige Mitwelt (Gesellschaft), die zeitlich abgesetzte Vor- und Nachwelt (Geschichte), und das Problem des „anderen", das konsumtiv ist für Gesellschaft und Geschichte überhaupt. Sozial- und Geschichtsphilosophie beruhen auf ein und derselben Sphärengesetzlichkeit der Sozialität des Menschen. Die Sphäre des Sozialen ist in der Ordnung der Sphären der Sphäre von Innen-Außen und der Sphäre der Körperwelt vorgeordnet. Daraus folgt, daß die Erkenntnis des Sozialen nicht an die Wahrnehmung von (menschlichen) Körpern oder an die innere oder äußere Wahrnehmung gebunden ist - „Gemeinschaft und Geschichte sind mithin psychophysisch indifferente Begriffe" (II, 510). Es folgt daraus ebenfalls, daß sich eine Sozialsphäre nicht nur bei Menschen findet, sondern auch bei allen „möglichen endlichen Geisteswesen", z.B. auch bei Engeln (V, 371) - der Begriff des „anderen" wird offensichtlich nur als „endliches Geistwesen" interpretiert. In den zwanziger Jahren hat Scheler jedoch auch bei Tieren eine Sozialsphäre aufgewiesen (vgl. VIII, 42 f.), die sich analog zur Sozialform der Masse bildet (X, 265). Der Lehre von den Wesensformen des Sozialen legte Scheler eine „strenge Systematik" zugrunde (IV, 379). Sie beruht auf der Verbindung von zwei Ordnungssystemen: dem axiologischen, das die wesensgesetzlichen Werte und Güter bestimmt, auf die hin die sozialen Verbandsformen angelegt sind, und dem sozialen, das den wesentlichen Arten der Vereinigung von Menschen zu sozialen Verbänden zugrundeliegt. Zu ihnen gehören außer den geistigen Aktarten auch das „Nach- und Miterleben, Nachund Miteinanderfühlen als den Grundakten der inneren Fremdwahrnehmung" (II, 509). Wenn die Wahrnehmung des Fremden im Sinne des Anderen als eines endlichen Geistwesens zu verstehen ist, muß das Nach- und Miterleben, das Nach- und Miteinanderfühlen der Ebene der intentionalen Aktarten angehören, so daß es nicht abhängig ist von den psychophysischen Besonderheiten der Individuen.
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a) Über die Wesensformen menschlicher Verbände Scheler hat die „strenge Systematik" seiner Theorie der Wesensformen menschlicher Verbände im Kapitel über Einzelperson und Gesamtperson des Formalismusbuchs entwickelt (II, 515ff.). Vorstufen dieser Theorie finden sich im Ressentimentaufsatz (1912) und im Anhang des Sympathiebuchs (1913). Die Lehre von den Sozialformen beruht auf der These, daß sich jede Person in jedem ihrer Aktvollzüge „auch als Glied einer umfassenden Persongemeinschaft irgendwelcher Art, in welcher Gleichzeitigkeit und Folge (der Generationen) zunächst noch ungeschieden sind, im Selbsterleben gegeben" ist (II, 509). Die Fremderfahrung ist der Selbsterfahrung vorgeordnet. „Akt" und „Erleben" lassen erkennen, daß Scheler die Sozialformen prinzipiell in allen sozialitätsfähigen Schichten des Menschseins verankern will. Von den Wesensformen sind die faktisch gegebenen Sozialverbände zu unterscheiden - hierzu rechnet Scheler z.B. Familie, Stamm, Volk, Rasse, Nation, Staat, Kirche, Kulturkreis, Beruf, Stand, Klasse, aber auch negativwertige Verbände wie Räuberbanden. Die faktisch gegebenen Verbände werden Scheler zufolge erst voll verständlich, wenn sie auf die Wesensformen zurückgeführt werden. Dementsprechend ist die Sozialphilosophie der Soziologie vorzuordnen (II, 515). Scheler unterscheidet idealtypisch vier Wesensformen möglicher Sozialverbände: Masse, Lebensgemeinschaft, Gesellschaft und Gesamtperson. Mit dieser Lehre, die eine erhebliche Erweiterung der Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft von F. Tönnies2 darstellt, wendet sich Scheler einerseits gegen alle Versuche, jeweils nur eine von ihnen zum Maßstab der anderen zu erheben, andererseits dagegen, die Wesensformen induktiv aus den realen Verbandsformen zu gewinnen, die sich in einer Gesellschaft entwickelt haben. Die „Masse" hat keinen eigentlichen Wertbezug. Sie bildet sich gleichsam körperlich-mechanisch durch bloße, aber durchschlagend wirkende Gefühls- oder Ideenansteckung, ohne daß dabei irgendein Verstehen des anderen als eines besonderen Individuums stattfindet. Das Verhalten und Handeln der Masse ergibt 159
sich durch unwillkürliche Nachahmung. Meistens bildet sich eine Masse zufällig und nur für kurze Dauer (VI, 335). Eine theoretische Verabsolutierung der Masse sieht Scheler in den Theorien des „Kollektivismus", die zum erstenmal von Condorcet entwikkelt worden sind: Kollektive wie der „Volksgeist" oder ein anonymer „Gesamtwille" werden verabsolutiert und zum primären Motor der menschlichen Zivihsations- und Kulturentfaltung erhoben (X, 264). Unter der „Gemeinschaft" bzw. „Lebensgemeinschaft" versteht Scheler einen vitalseelisch verbundenen, dauerhaften Sozialverband, in dem im Unterschied zur Masse in leibhaftorganischem Miterleben und Mitfühlen ein unmittelbares Verstehen des anderen gegeben ist, der andere aber nicht als selbständig handelndes Individuum erfaßt wird; vielmehr gehen die Individuen in gemeinschaftlichem Erleben und Handeln auf. Die maßgeblichen Werte der Lebensgemeinschaft sind die „Lebenswerte" der Wohlfahrt und des Edlen (II, 529). Zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft baut sich eine Mitverantwortlichkeit jedes Einzelnen für das Wollen, Denken, Handeln, Wirken des Ganzen auf. Durch Tradition, die in Treue und Pietät aufrechterhalten wird, teilen sich die Werte den Mitgliedern der Gemeinschaft und den Nachkommen mit. „Tradition" hatte Scheler im Sympathiebuch noch allein der Masse zugeordnet (1913, 126). In der Zeit bis zur Abfassung des zweiten Teils des Formalismusbuchs (1916) hat sie offenbar eine Aufwertung erfahren. Einseitige Bevorzugungen der Lebensgemeinschaft gegenüber anderen Sozialverbänden fanden sich in der Romantik und Neuromantik. Die „Gesellschaft" stellt gegenüber der organisch-naturhaften Gemeinschaft eine auf dem individuellen Bewußtsein beruhende, verstandesmäßige Sozialform dar. Die Verbindungen zwischen den als selbständige und mündige Individuen agierenden Einzelpersonen bestehen in rationalen Akten, die Verbindungen erfolgen nach konkreten Zweckvorstellungen und Nützlichkeitserwägungen. Die Verbindlichkeit der sozialen Verhältnisse beruht in der Regel auf Verträgen oder konventionellen Übereinkünften. In der Gesellschaft gewinnen aber zum erstenmal die Personwer160
te eine maßgebliche Bedeutung - wenn auch nur in Beziehung auf die Einzelperson (II, 518). An die Stelle der Mitverantwortlichkeit tritt die Alleinverantwortlichkeit der Individuen oder eine „Interessensolidarität". Eine Gesellschaft, die keine das Leben der Einzelpersonen überdauernde Verbindung zuläßt, hat nur unter der Voraussetzung der Gemeinschaft Bestand - die Gesellschaft ist fundiert in der Gemeinschaft. Rationalismus und Liberalismus haben alle Sozialformen einseitig nach dem Maßstab der Gesellschaft beurteilt. Die höchste Sozialform ist nach Scheler die geistige „Gesamtperson", die eine Verbindung von Lebensgemeinschaft und Gesellschaft darstellt. Sie beruht auf einem alle Daseinsgebiete umfassenden Gesamtgeist und Gesamtwillen: „Diese Einheit ist zugleich diejenige, von der wir behaupten, daß sie und sie allein den Kern und das ganz Neue des echten altchristlichen Gemeinschaftsgedankeps ausmache und hier gleichsam zuerst zur historischen Entdeckung kam - eines Gemeinschaftsgedankens, der Sein und unaufhebbaren Selbstwert der individuellen (kreationistisch gefaßten) .Seele' und Person [...] in ganz einzigartiger Weise mit dem auf die christliche Liebesidee gegründeten Gedanken der Heilssolidarität Aller im corpus christianum (gegenüber allem bloß gesellschaftlichen, jede sittliche Solidarität leugnendem Ethos der .Gesellschaft') vereinigt." (II, 522) Die maßgeblichen Werte dieser Sozialform sind die geistigen Werte und der Wert des Heiligen (II, 529 f.), die sich in den beiden Grundformen der Kultur- und der religiösen Gemeinschaft realisieren (Kulturkreis, Nation einerseits und Kirche andererseits, II, 533). Doch hebt Scheler ausdrücklich hervor, daß sie die Werte der anderen beiden höheren Sozialformen mitumfaßt, wenn auch nur im Rahmen der Souveränität der Gesamtperson über die beiden anderen (II, 531, 532 f.). Die Werte der Lebensgemeinschaft stehen in einem analogen Verhältnis zu den Werten der Gesamtperson wie der Leib zum Geist, die Werte der Gesellschaft wie der Verstand zum Geist. Da die Gesellschaft aber nur unter der Voraussetzung der Lebensgemeinschaft bestehen kann und da für Scheler die Einzelperson trotz ihrer absoluten Geltung der Gesamtperson untergeordnet ist, scheinen auch die 161
Werte der Gesellschaft denen der Lebensgemeinschaft untergeordnet zu sein. Die Wesenszusammenhänge zwischen Gemeinschaft, Gesellschaft und Gesamtperson sind durch die Wertrangverhältnisse bestimmt, doch sollen sie in der Gesamtperson zugleich in das wahre Verhältnis zueinander gesetzt werden. Gemeinschaft und Gesellschaft müssen zwar der höchsten Sozialform untergeordnet werden (II, 527), doch soll gerade dadurch ihre wesensfundierte Eigenständigkeit bewahrt bleiben (II, 532f.). b) Die Lehre von Vorbild und Führer Wie in jedem komplexen Lebensorganismus, so gibt es auch im Zusammenleben der Menschen stets ein Verhältnis von herrschenden zu dienenden Funktionen. An die Stelle von Theorien, die die sozialen Ordnungen nur als Machtverhältnisse interpretieren, setzt Scheler seine differenzierende Lehre von Vorbild und Führer. Während sich das „Vorbild" als personifiziertes Ideal auf die Werteinstellung von Personen bezieht und einer über Raum und Zeit hinwegreichenden Sphäre angehört, ergibt sich das Verhältnis zwischen „Führer" und Gefolgschaft jeweils in konkreten gesellschaftlich-geschichtlichen Situationen. Führertypus und die ihm entsprechende Art der Gefolgschaft bestimmen sich je nach der sozialen Verbandsform. Immer aber ist es ein Verhältnis zwischen einer geringen Zahl von Tonangebenden zu einer großen Zahl von Gehorchenden. Der Führer den Begriff will Scheler ausdrücklich nur als deskriptiv-soziologischen, wertindifferenten Begriff verstanden wissen - wird gewählt und zum Führer erhoben aufgrund eines bestimmten Vorbildes, einer personal geformten Wertgestalt. Deshalb ist für Scheler die Lehre von den Vorbildern fundamentaler als die Lehre von den Führern. Während die Führer das Handeln der Menschen ausrichten und ihren Willen bestimmen, prägen Vorbilder das allem Wollen und Handeln vorhergehende Wertbewußtsein. Für jede Wertart hat Scheler einen bestimmten Vorbild-Typus aufgestellt: für die Wertsphäre des Angenehmen und der Luxuswerte den „Lebenskünstler", für die Wertsphäre des Nützlichen 162
und der Zivilisationswerte den „Führer" (in einem engeren Sinn), für die Sphäre der Vitalwerte den „Helden", für die Sphäre der geistigen Werte (des Wahren, Schönen, Rechten) den „Genius" und für die Sphäre der religiösen Werte den „Heiligen", den „homo religiosus". Innerhalb des Rahmens dieser Wertsphären kann es zu unterschiedlichen Ausformungen von Vorbild-Typen kommen, die dem herrschenden Ethos unterliegen, und gemäß dieser Vorbild-Typen können die unterschiedlichsten realen Führerpersönhchkeiten in Erscheinung treten.
2. Aspekte der Geschichtsphilosophie Mit dem Problem der Geschichte hat sich Scheler schon in seiner Studentenzeit auseinandergesetzt, als er bei Simmel und Dilthey in Berlin und bei Eucken in Jena studierte. Seine Antrittsvorlesung in Jena behandelte die Frage nach dem Fortschritt in der Philosophie, und einer seiner ersten Aufsätze sollte eine Kritik der ökonomistischen Geschichtstheorie enthalten - an beidem zeigt sich, daß Scheler „Geschichte" nicht gleichsam uniform behandelt, sondern auf die verschiedenen Formen bezieht, in denen sich Handlungsweisen, Institutionen, geistige Werte usw. von Mensch zu Mensch, von Gruppe zu Gruppe vermitteln lassen und dabei Wandlungen erfahren. Zerlegte sich „Geschichte" für Scheler also zunächst in regionale Teilgebiete wie Wissenschaftsgeschichte oder Geschichte der Wirtschaftsformen, so stellte sich ihm alsbald auch die Frage nach den generellen Faktoren, von denen alle Arten geschichtlicher Veränderungen abhängen. In seiner mittleren Periode hat Scheler die Grundzüge seiner Lehre von den Real- und Idealfaktoren geschichtlicher Entwicklungen entworfen.3 Dazu gehörte auch seine Theorie von der Geschichtlichkeit des menschlichen Geistes (Funktionahsierungstheorie), die zu seiner späten Lehre vom Weltalter des Ausgleichs geführt hat. Schließlich hat er in seiner Metaphysik die Menschheitsgeschichte als Attribut der werdenden Gottheit aufgefaßt, wobei die gesamte Weltgeschichte mitsamt dem Kosmos nur als 163
eine der möglichen Realisationsformen der Gottheit erscheint. War in der mittleren Periode die Geschichte noch weitgehend als Problem auf der Basis des Sozialen konzipiert, so erweiterte es sich in der Spätphilosophie aufgrund einer universalen Auffassung des Solidarismus zu einem metaphysischen Problem der Erscheinungsweise des Absoluten selbst.4 Die Geschichtsphilosophie stellt sich somit als eines der spannungsvollsten Problemfelder von Schelers Denken dar. Im folgenden können nur vier Teilprobleme behandelt werden: a) die Frage der wesensontologischen Grundlegung von Geschichte („formale Geschichtsphilosophie", XIII, 129) b) die Lehre von den Wirkfaktoren der Geschichte c) die Lehre von der Funktionalisierung des Geistes d) die Perspektive auf das Weltalter des Ausgleichs a) Zur Wesensontologie von Geschichte Gemäß der Sphärentheorie sind die menschlichen Sozialformen und die Geschichte in ein und der gleichen Sphärengesetzlichkeit fundiert. Die Sozialsphäre wird gleichsam diachron und synchron strukturiert. Wie Scheler in der Lehre von den Wesensformen der Sozialverbände prinzipiell auch die geschichtliche Dimension einbezogen hat (die Wesensformen stellen zugleich die Entwicklungsphasen der Sozialwelt dar), so bei der Geschichte auch die Ordnung der sozialen Wesensformen. Das Bewußtsein von „Geschichte" ist gegeben in Akten der Erinnerung an vergangene Ereignisse, die durch Zeichen vermittelt werden. In der Münchner Zeit hat Scheler diese Grundthese noch mit Rickerts Geschichtsauffassung verbunden: „Geschichte ist die durch Zeichen vermittelte auch in Akten reiner Erinnerung vollzogene idiographische Erkenntnis der seelischen und geistigen Tatsachen, sofern sie an die ihrem gattungsmäßigen Wesen nach echtesten Individuen gebunden sind (menschliche Individuen)." (XIII, 220) Durch die phänomenologische Frage nach den Aktarten, die dem Objekt „Geschichte" korrelieren, löste sich Schelers Abhängigkeit von Rickerts und Windelbands kantianischer Geschichtskonzeption auf. 164
Von der gewußten Geschichte ist die unbewußte Geschichte zu unterscheiden, die Scheler als „Tradition" bezeichnet. Sie ist die „in uns noch lebende und wirksame Geschichte, die gerade bewußte Erinnerung an die wirksamen Erlebnisse ausschließt" (II, 161). Traditionen vermitteln sich in den Sozialformen der Gemeinschaft. So führt die phänomenologische Analyse der Erlebnisart „Geschichte" zur Differenzierung des Geschichtserlebnisses nach den Sozialformen, die ihr immer schon zugrundeliegen (II, 529). „Geschichte" nimmt in jeder der intentionalitätsfähigen Sozialformen (die Masse kennt keine Geschichte, wohl aber ist sie Bestandteil von Geschichte) eine spezifische Gegebenheits- und Verlaufsform an: Geschichtlichkeit in Gemeinschaften idealtypisch als Tradition, in Gesellschaften als historischer Fortschritt, in Gesamtpersonen als überhistorisches Wachstum. In allen Sozialformen geht es um die Realisierung von spezifischen Wertgruppen. Sie sind eingebunden in das „Ethos", das die herrschende Wertrangordnung einer relativ geschlossenen Gesamtkörperschaft in einer historischen Epoche ausmacht. Scheler verwendet den Ethosbegriff oft in einem eingeschränkten Sinn als herrschende „Moral" einer Gesamtkörperschaft; dann wären dem moralischen Ethos die analogen Wertrangordnungen anderer geistiger Aktarten, z.B. der „Stil" als herrschende Wertrangordnung der künstlerischen Sphäre, an die Seite zu stellen. Wenn Scheler im Wandel des Ethos die „zentralste Geschichte in der Geschichte" sieht (II, 309), dann ist Ethos im weiten Sinn als die herrschende Rangordnung aller Wertarten, also die geschichtliche Gestalt des gesamten Wertekosmos zu verstehen. Alle diese verschiedenen Formen von geschichtlichem Wandel, die im Zusammenleben der sozialen Gruppierungen stattfinden und zum Ausgleich gebracht werden müssen, unterliegen dem Prozeß der Welt-Geschichte, in dem alle Wertsphären und qualitativen Differenzierungen progressiv abgebaut und in quantitative Verhältnisse umgesetzt werden - der Kosmos gehe unaufhaltsam dem „Wärmetod" entgegen. Im Widerspruch hierzu behauptet Scheler später, daß die Grundrichtung in der Geschichte der Selbstauffassung des Menschen in einer wachsenden Steigerung des menschlichen Selbstbewußtseins bestehe (IX, 121). Wie die 165
Geschichte der Steigerung des menschlichen Selbstbewußtseins mit der makrokosmischen Geschichte und schließlich mit dem dritten Grundtypus, der Vergeistigung des Drangs und der Verlebendigung des Geistes, in Einklang zu bringen ist, bleibt eine ungeklärte Frage der Metaphysik der Geschichte. b) Die Lehre von den geschichtlichen Wirkfaktoren Scheler hat in der Wissenssoziologie (1926), aber auch schon in seiner mittleren Periode, auf der Grundlage einer dualistischen Anthropologie und der phänomenologischen Unterscheidung von Dasein und Sosein zwei Klassen von Wirkfaktoren unterschieden, die die geschichtlichen Prozesse regeln. Mit seiner polyfaktoriellen Theorie weist er alle monofaktoriellen Erklärungen von Geschichtsprozessen zurück. Von Seiten des Menschen als Leibwesen (Sphäre des Daseins, der Realität) wirken die Grundtriebe auf die Sozialwelt und die Geschichte ein: der Selbsterhaltungs- oder Nahrungstrieb auf die Wirtschaftsverhältnisse, der Fortpflanzungstrieb auf die gesellschaftlichen Institutionen von Ehe und Aufzucht von Nachwuchs, der Machttrieb auf die gesellschaftlichen und staatlichen Herrschaftsformen. Die Grundtriebe und ihre Derivate stellen die „Realfaktoren" der Geschichtsprozesse dar; sie bilden den „Unterbau" der Geschichte. Die „Idealfaktoren" beruhen dagegen auf dem Menschen als Geistwesen (Sphäre des Soseins). Die verschiedenen geistigen Aktarten objektivieren sich in Religion, Wissenschaft, Kunst, Rechtswesen usw. und bilden den „Überbau" der Geschichte. Die Geschichte entwickelt sich durch das Zusammenwirken von Real- und Idealfaktoren, nie nach den Faktoren nur einer der beiden Klassen. Scheler hat versucht, ein „ Gesetz der Ordnung der Wirksamkeit der Idealfaktoren und Realfaktoren" aufzustellen, „aus dem zu jedem Zeitpunkt des historisch-zeitlich sukzessiven Ablaufs sozial-menschlicher Lebensprozesse das ungeteilte Ganze des Lebensinhalts der Gruppen sich aufbaut" (VIII, 20). Seine Ontologie hat ihn gezwungen, die provozierende These von der Ohnmacht des Geistes aufzustellen - die Idealfaktoren 166
seien nur Determinationsfaktoren des Soseins, nicht dagegen Realisationsfaktoren (VIII, 21). Sie sind vielmehr darauf angewiesen, von den Realfaktoren ergriffen und verwirklicht zu werden. Dies fordert die nicht minder provozierende Gegenthese heraus: die Realfaktoren sind ursprünglich blind, sie brauchen in ihrem unablässigen Drängen eine geistige Orientierung, damit sie gestaltend wirksam werden können. Der Geist vermag also immerhin indirekt auf die Geschichte einzuwirken, indem er seine Sinnund Wertbestimmungen den Realisationskräften vorhält und sie dadurch „leitet" oder indem er sie ihnen vorenthält und die Triebkräfte „lenkt", ihre Triebimpulse enthemmt oder hemmt (VIII, 40). Die geist- und wertblinden Mächte der Realgeschichte hingegen wirken als negativ-selegierende Faktoren, die bestimmte, ihnen entsprechende Idealfaktoren in die Wirklichkeit überführen; sie öffnen, wie Scheler mit einem wiederholt verwendeten Bild sagt, die Schleusen des geistigen Stromes" (VIII, 40). Dabei werden die geschichtlichen Prozesse innerhalb relativ geschlossener Kulturkörper durch die Dominanz einzelner Grundtriebe in eine gesetzmäßige Phasenordnung gebracht. Der Fortpflanzungstrieb, die Blutsverhältnisse und Geschlechterverhältnisse dominieren als „Rassennativismus" die erste Periode, der Machttrieb, die Herrschaftsverhältnisse dominieren als „Politismus" die zweite Periode, der Ernährungstrieb bzw. die Wirtschaftsverhältnisse dominieren als „Ökonomismus" die Endphase einer Kultur (VIII, 42 ff.).5 Diese Phasengesetze, die jedoch auf den verschiedenen Ebenen der Sozialformen einer Kultur mannigfach gebrochen sind, fügen sich zusammen zu einem Prozeß, den Scheler als das „Altern der Kulturen" bezeichnet (VIII, 49). In allen Kulturentwicklungen hat Scheler das Zusammenwirken des ersten Realfaktors und des höchsten Idealfaktors als die stärksten Entwicklungsfaktoren verstanden: „Religion und Blut, Glaube und Rasse sind nach meiner Meinung die stärksten Bewegkräfte der Geschichte." (VI, 293)
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c) Zur Lehre von der Funktionalisierung des Geistes Die Lehre von der Funktionalisierung des Geistes deutet sich schon in Schelers erster Periode an, als er zur Überzeugung gelangte, daß in Kants Kategorientafel nicht die Verstandeshandlungen der menschlichen Vernunft überhaupt, sondern allenfalls die der europäischen Vernunftform zu sehen sind. In der Abhandlung über „Probleme der Religion" (1921, V, 198ff.) führte Scheler zum erstenmal in systematischer Absicht seine Lehre aus (V, 194 ff.). Sie besagt, daß aus einmal gewonnenen Wesensanschauungen die Anschauungs/orme«, die sich in der Wesensanschauung gebildet haben, heraustreten und sich verselbständigen. Sie liegen strukturierend allen folgenden Wesensanschauungen zugrunde und bilden das Reich der entstandenen, nichtsdestoweniger apriorischen Vernunftfunktionen - der ursprünglich amorphe Geist (VIII, 26) hat sich zu bestimmten apriorischen Aktarten und Aktartordnungen funktionalisiert. Die Verselbständigung der Vernunftfunktionen bedeutet den Beginn der Erschließung eines unabsehbaren Horizontes möglicher Erkenntnisse und weiterer Funktionalisierungen. Scheler sieht hierin die Möglichkeit zu einem im Prinzip unbegrenzten echten Wachstum des Geistes. Diese Lehre hat drei Erweiterungsformen. „Noologisch" dadurch, daß die am theoretischen Vernunftgebrauch entwickelte Funktionalisierungstheorie auf alle Aktarten des Geistes ausgedehnt wird, d.h. auf die Sphäre des Emotionalen, des Volitiven, des Religiösen usw. Kulturtheoretisch dadurch, daß jeder Kulturkreis auf die für ihn charakteristischen Funktionalisierungsformen und deren ursprüngliche Wesensanschauungen zurückgeführt wird. Geschichtsphilosophisch-metaphysisch dadurch, daß alle bereits in Erscheinung getretenen Funktionalisierungsbereiche zurückbezogen werden auf den unendlichen Gehalt des Geistes als eines der Attribute der Gottheit, die durch diesen Rückschluß in einer weit über die Grenzen aller positiven Religionen hinausgehenden unendlichen Fülle gedacht werden muß.
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d) Die Perspektive auf das Weltalter des Ausgleichs In seinem Vortrag über den Menschen im Weltalter des Ausgleichs (1927, IX, 145-170) hat Scheler sich an einer geschichtsphilosophischen Deutung der Gegenwart versucht. Er glaubte Zeichen für den Beginn einer neuen welthistorischen Epoche zu sehen, in der sich die bestehenden Antagonismen ausgleichen und Hand in Hand mit dieser Entwicklung einen neuen Menschentypus formen werden. Scheler bezeichnet ihn nicht wie Nietzsche als Übermenschen noch wie die Positivisten als „homo faber" oder sonst einen der bisher in Erscheinung getretenen Grundtypen des Menschseins6 - alle diese Typen sind ihm zu eng, sie vermögen nicht den ganzen Menschen zu fassen. Scheler bezeichnet den sich ankündigenden Grundtypus als „Allmenschen", den er ohne irgendwelche Einengung als eine „Richtung der Bewegung des Universums selbst, ja seines Grundes" auffaßt (IX, 151). Da dieser Allmensch aber ein Absolutum darstellt, das universalhistorisch betrachtet noch in weiter Ferne liegt, spricht er von einem „relativen Allmenschen", der eine spezifische Gestalt der Teilhabe am absoluten Allmenschen darstellt. Aus der gegenwärtigen Perspektive wird er der Menschentypus sein, der die zur Zeit noch bestehenden Antagonismen zum Ausgleich bringt - diese Aufgabe komme als ein unentrinnbares Schicksal auf ihn zu. Die zu überwindenden aktuellen Antagonismen hat Scheler nur additiv angeführt, doch stellen sie insgesamt die Titel einer umfassenden Kritik der Gegenwart dar: „Ausgleich in fast allen charakteristischen spezifischen Naturmerkmalen, physischen wie psychischen, die den menschlichen Gruppen als solchen zukommen, in die man die ganze Menschheit einteilen kann; und - gleichzeitig - eine mächtige Steigerung der geistigen, individuellen und relativ individuellen, z.B. nationalen Differenzen. Ausgleich der Tfossewspannungen, Ausgleich der Mentalitäten, der Selbst-, Welt- und Gottesauffassungen der großen Kulturkreise, vor allem Asiens und Europas. Ausgleich der Spezifitäten der männlichen und weiblichen Geistesart in ihrer Herrschaft über die menschliche Gesellschaft. Ausgleich von Kapitalismus und Sozialismus, und damit der Klassenlogiken und Klas169
senzustände und -rechte zwischen Ober- und Unterklassen. Ausgleich zwischen den politischen Machtanteilen von sogenannten Kultur-, Halbkultur- und Naturvölkern; Ausgleich auch zwischen relativ primitiver und höchst zivilisierter Mentalität. Relativer Ausgleich von Jugend und Alter im Sinne der Wertung ihrer Geisteshaltungen. Ausgleich von Fachwissenschaft und Menschenbildung, von körperlicher und geistiger Arbeit. Ausgleich zwischen den nationalen ökonomischen Interessensphären und dem Beitrag, den die Nationen geistig und zivilisatorisch für die Gesamtkultur und Zivilisation der Menschheit liefern. Ausgleich endlich auch zwischen den einseitigen Ideen vom Menschen, von denen ich soeben einige Typen nannte."7 All dies zeigt, wie sehr die Geschichtsphilosophie auf Schelers philosophischer Anthropologie beruht, ja daß sie, wie in gewisser Weise sogar die Sphärentheorie, einen Bestandteil des Scheler'schen Selbstverständnisses des Menschen ausmacht.
3. Zur Philosophie des Politischen Wie sein Lehrer R. Eucken war auch Scheler der Überzeugung, daß die Philosophie mitzuwirken habe nicht bloß an der Gestaltung der geistig-kulturellen Verhältnisse, sondern ideenbildend und gesellschaftskritisch auch an der Gestaltung des politischen Lebens. Das politische Leben ordnet Scheler primär der Sphäre der Vitalwerte und den oberen Sozialformen der Gemeinschaft, Gesellschaft und Gesamtperson zu. Auch wenn er keine explizite Theorie des Politischen entwickelt hat, so weisen seine verschiedenen Beiträge doch eine systematische Grundstruktur auf. Am ausführlichsten ist er auf die folgenden drei Problemkreise eingegangen: a) die Lehre von Führer und Gefolgschaft b) das Verhältnis von Politik und Moral c) Krieg und Frieden.
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a) Die Lehre von Führer und Gefolgschaft Schelers Lehre von Führer und Gefolgschaft gehört in die allgemeine Sozialphilosophie, erstreckt sich also auf alle Formen von Sozialverbänden, bis in die Tierwelt hinein. Die Führerschaft obliegt immer nur einzelnen oder einigen wenigen, denen eine größere Anzahl von Menschen folgen. Diese haben ihre Führer erwählt. Der Wahlvorgang ist für Scheler nicht das eigentliche Signifikante, weil er die Führerschaft nicht an ein bestimmtes Modell von Herrschaftskontrolle bindet. Entscheidend ist vielmehr, daß die Führerschaft im Wertprofil eines Vorbilds gründet, dem sich der Führer verpflichtet. Die Zustimmung zu den Werten, die der Führer zu realisieren verspricht, und die Überzeugung, daß der Führer sein Versprechen zu realisieren vermag, vereint die Anhänger zu einer Gefolgschaft. In seinen Ausführungen über Vorbilder und Führer hat Scheler vom „Helden" als den für die „Lebenswerte" (das Edle, darüber hinaus Wohlfahrt, Gesundheit usw.) charakteristischen Vorbildtypus drei Haupttypen angegeben: den Staatsmann, Feldherrn und Kolonisator (X, 314). Der Held gibt den Rahmen ab für die Charakterisierung des Spielraums politischen Verhaltens, das Scheler allein von Seiten des Politikers, kaum dagegen von Seiten der Gefolgschaft oder des Volks aus erörtert. Obwohl Scheler dem Staatsmann in erster Linie das Streben nach Macht zuspricht, betont er seine hohe Verantwortung: „Gewissenhafte Verantwortung vor Gott, dem Geiste seines Volkes und der Zukunft der Menschheit als solidarischem Ganzen ist also gleich notwendig." (X, 342) Ebenso betont er die Gebundenheit „an die majestätische Idee des Rechtes und an die objektive Rangordnung der Werte überhaupt" (ebd.). Hinter der Idee des Rechts steht die Gesamtperson des Staates. Der Staat stellt keine vollkommene Gesamtperson dar, weil er nicht alle Wesensarten geistiger Akte ausübt. Sein Personzentrum bestehe im geistigen Gesamtwillen, „und zwar des Herrschaftsw'Alens über eine natürliche Lebensgemeinschaft (Volk) oder eine Mehrheit solcher" (II, 533). Idealiter ist der Herrschaftswille auf die Realisierung von drei Weitarten gerichtet: 171
1. auf die Rechtsordnung, 2. auf das Wachstum der Körperschaft durch das Militär nach außen und durch Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik nach innen, 3. auf die Erhaltung und Förderung der Gesamtwohlfahrt. Hiervon sind nur die Rechtswerte geistiger Natur, die Machtund Wohlfahrtswerte gehören dagegen zu den vitalen Lebenswerten. Eine kulturschaffende Funktion spricht Scheler dem Staate ab, der Staat habe hier nur die Aufgabe, die Bedingungen für die Erhaltung und Förderung einer geistigen Kultur zu schaffen (II, 534). Die Interessen der Wirtschaftsverbände ordnet Scheler der Politik unter - im Sinne seines geschichtsphilosophischen Phasengesetzes wäre seine politische Theorie noch dem Zeitalter des Politismus, nicht dagegen dem Zeitalter des Ökonomismus, aber auch nicht dem anbrechenden Weltalter des Ausgleichs zuzuordnen. b) Das Verhältnis von Politik und Moral In seinen Vorträgen über Politik und Moral (1927) hat Scheler seine Auffassung in vier Thesen zusammengefaßt (XIII, 43 f.). Die Grundthese lautet, daß sich politisches und moralisches Verhalten wesensbegrifflich ausschließen: keinerlei Art von Politik unterliege moralischen Normen. Die uneingeschränkte Autonomie von Politik und Moral wird durch die zweite These begrenzt, daß nämlich beide, Moral und Politik, sich am herrschenden Ethos ausrichten, in dem die zeittypische Auffassung von der universalen und ewigen Bestimmung des Menschen zum Ausdruck kommt. Die dritte These führt die beiden vorangegangenen zusammen: die Führer eines Staates handeln - unabhängig von den herrschenden Moralvorstellungen - „objektiv recht" dann, wenn „sie die für diesen Staat gültige .Forderung der Stunde' richtig erkennen, und zwar auf Grund einer möglichst vielseitigen und tiefen Hineinversetzung in die allgemeine historische Weltsituation und die Stellung ihres Staates in ihr" (XIII, 43). Das Rechtfertigungsargument für divinatorisches Erfassen der Forderung der Stunde wird durch die vierte These unter ein 172
oberstes Prinzip gestellt: „Alles politische Handeln ist positiv in seiner Zielsetzung durch die Interessenlage des konkreten Staates - aber nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den Interessen aller anderen Staaten (nicht der sogenannten .Weltinteressen') zu bestimmen, findet aber in einem obersten Prinzip seine Begrenzung. Dieses Prinzip nenne ich das .objektive Solidaritätsprinzip aller menschlichen werthaften Verhaltungsweisen'." (XIII, 44) In Anwendung auf die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Moral besagt es: „1. Die Interessenrealisierung jedes Staates ist zu begrenzen in dem Sinne, daß nichts geschehen darf, was das solidarische Gesamtheil der ganzen Menschheit zu schädigen vermag. 2. Der Staatsmann ist verantwortlich nicht nur für das objektive Heil (bonum commune) seines Staates, sondern auch a priori mitverantwortlich für das Gesamtheil der Menschheit im Stande ihrer jeweiligen Art der Gliederung." (XIII, 44) c) Krieg und Frieden In den sog. Kriegsschriften von 1915 und 1916 hat Scheler die Notwendigkeit von Kriegen auf die „Macht- und Willensauseinandersetzung der geistigen Kollektivpersönlichkeiten, die wir Staaten nennen", zurückgeführt (IV, 13). Staat und Krieg seien überall gleichzeitig entstanden (IV, 18). In den Kriegen gehe es letztlich um nichts anderes als „maximale Geistesherrschaft auf Erden und allem voran: Bildung und Erweiterung irgendeiner der vielen Formen von echten Liebeseinheiten, die als ,Völker', .Nationen' usw. das Gegenteil von bloß faktischen oder rechtlich geformten Interessengemeinschaften darstellen. Aus dem Geiste entspringt und für den Geist ist der Krieg in seinem tiefsten Kern!" (IV, 14f.) Der Geist in seiner Lust, seine Macht an der Umwelt zu erproben (in dieser Zeit spielt die spätere These von der Ohnmacht des Geistes noch keine Rolle), ist die eine Wurzel von Kriegen. Die andere liegt in der Daseinssphäre des Menschen, im Lebensprinzip, dem „eine Tendenz zur Steigerung, zum Wachstum und zur Entfaltung seiner Manmgfaltigkeitsarten (Organ, Funktion 173
usw.) innewohnt" (IV, 31). Kriege sind demzufolge in der Wesensstruktur des Menschen als eines geistigen Lebewesens begründet und bilden eine „dauernde Welteinrichtung" (IV, 44). In seinen Vorträgen über die Idee des Ewigen Friedens und den Pazifismus (1927) war von der Notwendigkeit, dem Wert und der dauernden Welteinrichtung des Krieges nicht mehr die Rede. Scheler bestreitet nun ausdrücklich, daß der Krieg im Wesen der Menschennatur begründet liegt (XIII, 83). Er stellt demgegenüber ähnlich wie Kant die These auf, daß der ewige Friede ein unbedingter positiver Wert sei und ein ideales Sollen darstelle; darüber hinaus sei ein ewiger Friede in der Menschengeschichte auch real möglich. Dafür sprechen drei Entwicklungsschrittgesetze, die die Einschätzung des Machttriebs verändern: daß sich erstens geschichtlich die Herrschaft über Personen immer mehr zur Herrschaft über Sachen wandele, daß sich zweitens zunehmend die Bio- und Seelentechniken Asiens mit der äußeren materiellen Produktionstechnik Europas ausgleichen, und daß sich drittens der Machttrieb zunehmend vergeistige - die Entwicklung gehe vom Recht der Macht zur Macht des Rechts, vom Herrschaftsstaat zum Wohlfahrtsstaat (XIII, 93 f.). Die historische Stunde für die Errichtung eines ewigen Friedens sei jedoch noch nicht gekommen. Keine der vielen Varianten von Pazifismus hält Scheler bereits für realisierbar, doch sei Pazifismus als Gesinnung unverzichtbar. Für die Dimension der realpolitischen Realisierung eines ewigen Friedens bekennt sich Scheler zu einem „Instrumental-Militarismus", den er in seinem Aufsatz „Über Gesinnungs- und Zweckmilitarismus" (1916, VI, 187ff.) noch dem „feindlichen Ausland" zugeschrieben hatte. Unter einem Instrumental-Militarismus versteht er eine Einstellung, die das Heer als Instrument einer Politik auffaßt, deren „Ethos von Hause aus wesentlich unmilitaristisch [...] bestimmt ist" (VI, 191). Wie ein Heer im Dienst einer Politik des ewigen Friedens einzusetzen ist, hat Scheler nicht weiter ausgeführt.
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4. Zur Kritik der modernen Sozialverhältnisse Schelers Kritik der Sozialverhältnisse seiner Zeit entwickelte sich an den verschiedensten Zeitfragen: an den Moralvorstellungen einschließlich der Sexualmoral, an der Frauenbewegung, an den Verfallsformen des Gemeinschaftslebens, an der Bevölkerungspolitik usw. In den Jahren vor und während des ersten Weltkriegs konzentrierte sie sich auf die allen Negativerscheinungen zugrundeliegende kapitalistische Denkweise, der er seit den Kriegsjahren mehr und mehr die christliche Weltanschauung entgegenstellte. Verstand sich Scheler in seiner mittleren Periode bewußt als Arzt der Zeit, so zog er sich in den zwanziger Jahren einerseits auf die Aufgaben einer Weltanschauungs/e^re zurück, nahm andererseits aber die weit über eine bloße Zeitkritik hinausgehende Aufgabe einer Metaphysik als Weltanschauungsseiz»«g in Anspruch. Für die „angewandte Sozialphilosophie" Schelers sind vor allem zwei Themenkreise aufschlußreich: a) das Problem der Arbeit b) die Kritik des Kapitalismus a) Zum Problem der Arbeit Der Aufsatz über Arbeit und Ethik (1899) war von Euckens Idealismus inspiriert. Scheler zeigt, daß Arbeit, im Unterschied zum Schaffen, auf einer „ innige[n] Verbindung von Zweck, Tätigkeit und Sache" beruhe (I, 167). Schon damals hat er den Begriff des Arbeitens auch auf dem Gebiete der Wissenschaftslehre verfolgt und eine Kritik der positivistischen Wissenschaftsauffassung als „Arbeitswissenschaft" entwickelt. Scheler ist nicht nur an den sozialen und wirtschaftlichen Arbeitsverhältnissen interessiert, sondern sieht die Arbeit auch im Zusammenhang mit Naturdeutung und -beherrschung, Technik, allgemeiner Werttheorie, Politik, Ethik, Zivilisationsgeschichte und „Weltanschauungen" wie Liberalismus oder Sozialismus. Im Frühjahr 1909 hielt er im Münchner Volksbildungsverein eine Serie von Vorträgen über den Pragmatismus. Der letzte 175
Vortrag behandelte den Ursprung des modernen Arbeitsgeistes im Calvinismus und den Wert der Arbeit. Scheler sieht ihn in der „Befreiung und Enthüllung der geistigen Person und der Herstellung eines Reiches geistiger Personen".8 Die geistige Person wird mit einer differenzierten Wertrangordnung in Verbindung gebracht; bezeichnenderweise fehlen in ihr noch die religiösen Werte. Ganz anders nach dem Erscheinen des Formalismusbuchs (1916) und in den ersten Jahren nach dem Weltkrieg. In seinem Vortrag über „Arbeit und Weltanschauung" (1921) entwickelt Scheler eine christliche Auffassung vom Wert der Arbeit im geistig-seelischen Gesamtleben des Menschen (VI, 273 ff.). Er greift anfangs die alte Lehre auf, daß die Arbeit als Strafe für den Sündenfall Mühe und Last mit sich bringe. Er stellt ihr aber als erstes die Arbeitsfreude entgegen, die aus einer geistigen Auffassung der Arbeit entstehe: Arbeit als Heil- und Läuterungsmittel für den gefallenen Menschen (VI, 279). Als zweites stellt er den „Opfersinn" der Arbeit heraus. Gott habe den Menschen zum „Mitvollstrecker, als Erlöser und Herauslöser des in den geschaffenen Substanzen und Kräften potentiell schlummernden Vernunftsinnes" erwählt, vorausgesetzt, daß der Mensch sich wie Christus aufopfere für den universalen Bestimmungssinn der untermenschlichen Welt (VI, 280). Schließlich weist Scheler auf die Beziehungen zwischen Arbeit und christlichen Tugenden hin: Arbeit erweise sich als eine Schule der Demut, erziehe zu Ehrfurcht und Dankbarkeit gegenüber den Leistungen der vergangenen Generationen und ermögliche eine „nur religiös wurzelnde heitere Sorgenfreiheit über das zukünftige Schicksal seines Arbeitsproduktes und seinen Nutzen für sich selbst und die Familie" (VI, 281). Wie in „Sünde, Schuld, Verdienst, Verantwortung ist auch in der Arbeit die ganze Menschheit ein solidarisches Ganzes" (VI, 282). Der Solidarismus ersetzt nun den kantianisierenden Gedanken eines Reiches geistiger Personen. Scheler weist außerdem auf die Grenzen hin, die nach christlicher Auffassung eine Absolutsetzung der Arbeit verhindern. Der modernen Tendenz zu grenzenloser Warenproduktion stellt er die Bindung des Eigentumerwerbs an den standesgemäßen Lebensbedarf der Familien 176
entgegen, womit er sich implizit für eine ständische Gliederung der Gesellschaft ausspricht.9 Er erinnert daran, daß nicht in der Arbeit, sondern in der Sorge um das Heil der Seele und in der Anschauung Gottes der Sinn des Lebens liege. In seinem ersten Aufsatz über das Arbeitsproblem (1899) hieß es noch ganz religionsneutral, daß der Arbeiter die Pflicht habe, „an der Bestimmung der objektiven Zwecksysteme Familie, Organisation, Gemeinde, Staat, Kirche mitzuwirken" (I, 189). Die Arbeit stelle nicht bloß einen ökonomischen Faktor dar, sondern auch das Objektivieren einer Vernunftform, die die Ehre des Arbeiters ausmache. Schließlich hebt Scheler noch hervor, daß auch ein vernünftiger Lebensgenuß des Erarbeiteten dem Arbeiten eine Grenze setze. In der Wissenssoziologie (1926) herrscht wieder eine weitgehend religions-indifférente Auffassung der Arbeit vor. In der Moderne habe sie den Wesensbegriff des Menschen umgestaltet („homo faber" anstelle von „homo sapiens"). Die auf dem Arbeits- und Leistungswissen beruhende moderne Wissenschaft habe durch Technik, Industrie und Wirtschaft die Herrschaft über die Natur perfektioniert. Das Arbeits- und Herrschaftswissen habe sich aber nur im Abendland so einseitig entwickelt - im indischen Kulturkreis dagegen war es das Erlösungswissen, im ostasiatischen und in Griechenland das Bildungswissen. Die verschiedenen Wissensarten tendieren in allen Kulturen zu einem Ausgleich. Mit der Lehre von den obersten Wissensarten und dem Hoffnungsprinzip des Ausgleichs hat Scheler eine ganz andere Art von Begrenzung und Sinngebung der Arbeit vertreten als in seiner christlichen Periode. b) Zur Kritik des Kapitalismus Bereits im Ressentimentaufsatz (1912, III, 33ff.) und in den Aufsätzen über den Bourgeois (1914, III, 341 ff.) hat sich Scheler eingehend mit dem Kapitalismus auseinandergesetzt. Er versteht ihn als ein neues Ethos, das nicht nur die Wirtschaftsgesinnung umgestaltet, sondern auch die Religion, Wissenschaft, Kunst, das soziale und sittliche Verhalten. Seine innerste Motivation liege im Geist der Rechenhaftigkeit und der systematischen Lebensratio177
nalisierung, die ganz auf die Erreichung irdischer Ziele ausgerichtet sei - das Prinzip der Subjektivität und der Selbstverantwortlichkeit werden einseitig gegen das Gemeinschaftsprinzip ausgespielt, das das mittelalterliche Sozialleben beherrscht habe. Geschichtlich-soziale Gebilde wie Kapitalismus, Individualismus, Liberalismus, Sozialismus10 usw. seien „Weltanschauungen", die nicht „gemacht" werden und über die man nichts beschließen kann, sondern die aus dem Dunkel der Geschichte auftauchen, wachsen, leben und schließlich auch absterben (VI, 291). In seinem Vortrag „Prophetischer oder marxistischer Sozialismus?" (VI, 259-272) hat Scheler den „prophetischen christlichen Sozialismus" - sonst zieht er den Begriff „Solidarismus" vor dem Individualismus, Liberalismus, Kapitalismus und Marxismus entgegengestellt. Im prophetischen Sozialismus gehe es um die Gestaltung der konkreten historischen Wirklichkeit im Sinne ewiger Vernunftgesetze und des göttlichen Willens. Im Gegensatz zum Marxismus verkündet der Solidarismus nicht eine notwendig eintretende bessere Zukunft, sondern lasse die Zukunft frei in Hinsicht auf das Tun der Menschen und das Wirken Gottes. „Prophetisch" ist der christliche Sozialismus durch seine Berufung, aus dem gegenwärtigen Geschehen das warnende Wort Gottes herauszuhören und in der Geschichte einen geistigen Zusammenhang zu erkennen, durch den die Menschen zur Umkehr veranlaßt werden können. Das Grundprinzip des Solidarismus liegt für Scheler im Gedanken der Unvertretbarkeit und Unersetzlichkeit jedes Einzel- und jedes geistigen Kollektivindividuums. Da das Sein der Gesamtpersonen darauf angewiesen ist, immer neu aktualisiert zu werden, ist der Solidarismus seinem Wesen nach aktivistisch. Da die faktische solidarische Kooperation aus der Gesinnung hervorgeht, ist sie nicht, wie in der Gesellschaft, als Folge von bewußten Zwecksetzungen zu verstehen, „sondern im Sinne einer Gesamtleistung, die erst in und nach ihrer Realisierung erkannt wird" (XIV, 386). Durch den Solidarismus hindurch vollziehe sich das Wachstum des Reiches Gottes.
X. Kultur- und Wissenssoziologie Scheler hat die von ihm begründete „Wissenssoziologie" als Teil der Kultursoziologie aufgefaßt (VIII, 17, 52). Deshalb hat er in Die 'Wissensformen und die Gesellschaft (1926) auch eine allgemeine Grundlegung über „Wesen und Begriff der Kultursoziologie" aufgenommen. „Kultur" umfaßt noch weit mehr als nur die verschiedenen Wissensformen, nämlich alle Arten von Objektivationen des Geistes, wie Scheler mit Dilthey sagt. Er hatte vor, in Fortsetzung des mit der Wissenssoziologie begonnenen Projekts weitere Teile der Kultursoziologie zu behandeln - das Verhältnis von Staat und Gott, den Mythos 1 —, und bis zuletzt trug er sich mit dem Plan einer Schrift über das Altern der Kulturen (VIII, 62). Die Gesichtspunkte, nach denen Scheler seine Untersuchungen in der Kultur- und Wissenssoziologie durchgeführt hat, stammen nicht alle aus der Zeit seiner Spätphilosophie; sie finden sich zum Teil bereits in seiner Dissertation und Habilitationsschrift und stellen ein Erbe von R. Euckens Untersuchung der Entstehung, Eigenart und Wirkung von Kulturschöpfungen im geistigen Haushalt der Menschheit dar. Die langjährige Beschäftigung mit dem Pragmatismus Bergsons und amerikanischer Philosophen wie William James und F. C. S. Schiller hat wesentlich dazu beigetragen, daß Scheler die Objektivationen des Geistes in Religion, Philosophie, Wissenschaft, Recht, Kunst usw. auf ihre Entstehungsbedingungen, Wesensunterschiede, auf das sie umgreifende Ethos, die geschichtlichen Bewegungsformen und vor allem auf die Gesellschaften hin untersuchte, von denen die kulturellen Leistungen erbracht und getragen werden. Spezifisch wissetissoziologische Betrachtungen finden sich bereits in seiner Lehre von den drei Tatsachen (1910/11). In ihr ordnet er die natürliche Weltanschauung den Lebensgemeinschaften des 179
Volkes zu, die Wissenschaft hingegen den entsprechenden gesellschaftlichen Institutionen mit ihren Gelehrten. In den Wissenschaften werden die Erkenntnisse, die den Kriterien der Allgemeingültigkeit, Nachprüfbarkeit und Mitteilbarkeit entsprechen, in einer künstlichen Sprache formuliert, die der internationalen Gelehrtenrepublik verständlich ist, während die Gehalte der natürlichen Weltanschauung sich durch Tradition, unwillkürliche Nachahmung und durch die natürliche Sprache verbreiten, die national gebunden ist. Allein die phänomenologischen Einsichten entstehen und gelten „unabhängig von allen sozialen Bedingtheiten" (X, 465). Diese These konnte Scheler jedoch nicht mehr aufrecht erhalten, nachdem er in der Sphärentheorie die wesensgesetzliche Vorordnung der Gemeinschaft vor dem Individuum behauptet hatte. Die Reflexion auf die Sozialstruktur aller geistigen Objektivationen und Aktarten erhielt seit dem zweiten Teil des Formalismusbuchs (1916) eine weitere phänomenologische Fundierung in der „Gesamtperson" und ihrem obersten Axiom, der Solidarität. Während des Weltkriegs beschäftigte sich Scheler nicht nur mit Fragen der nationalen Gebundenheit aller Kultur, sondern auch mit den sozialen Querschichtungen, die die Kulturen durchziehen und strukturieren. Wie die ab 1916 erschienenen Kriegsschriften zeigen, nehmen seine Ideen über Kirche, Religion, Nation, Europa und andere Kulturbereiche auch nationalpädagogische, kultur- und weltpolitische Zielsetzungen auf. Nach dem Krieg geht aus seinen vielfältigen sozial-, wert- und geschichtsphilosophischen, auch erkenntnisphilosophischen Überlegungen seine „Weltanschauungslehre" hervor, die sich in verschiedene Reflexionsstufen gliedert. Im Aufsatz über Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung (1922) hat Scheler vier solcher Ebenen unterschieden (VI, 23 f.): 1. Die unmittelbar an die Wesensphänomenologie anknüpfende Lehre von den wesensmöglichen Weltanschauungen überhaupt, 2. die rein sinndeskriptive Weltanschauungslehre, die den objektiven Sinngehalt von Kulturobjektivationen (Religionen, 180
philosophische Systeme, Rechtssysteme, Kunst usw.) zu beschreiben hat, 3. die subjektiv verstehende Weltanschauungslehre, die die geistigen Aktzusammenhänge nachzuleben und zu beschreiben hat, aus denen die Kulturobjektivationen ursprünglich hervorgegangen sind, und 4. die real und kausal erklärenden Disziplinen wie Psychologie, Ethnologie, Soziologie, die die Realfaktoren zu bestimmen haben, unter denen Kulturobjektivationen verwirklicht worden sind.
1. Grundzüge der Kultursoziologie In seinem kultursoziologischen Hauptwerk Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926) hat Scheler die vier Reflexionsstufen der Weltanschauungslehre auf die beiden korrelativen Disziplinen der Kultur- und der Realsoziologie verteilt. Der neuen Einteilung liegt im Unterschied zu 1922 der Dualismus von Geist- und Triebsphäre des Menschen, von Ideal- und Realfaktoren der Kulturprozesse zugrunde. Jetzt sind auch nicht mehr nur die „Weltanschauungen" der Gegenstand der beiden soziologischen Teildisziphnen, sondern viel umfassender und unbestimmter „die ganze Fülle des (vorwiegend) menschlichen, objektiven und subjektiven Lebensinhaltes" in seiner tatsächlichen „Determiniertheit durch die zeitlich sukzessiven und gleichzeitigen Verbindungs- und Beziehungsformen [...], die zwischen Menschen sowohl in Erleben, Wollen, Handeln, Verstehen, Aktion und Reaktion als auch in objektiv realer und kausaler Art bestehen" (VIII, 17). Der für die Soziologie maßgebliche Gesichtspunkt liegt in der Determiniertheit der Sinngehalte durch die sozialen Verhältnisse. Deshalb bildet die Sozialphilosophie die Voraussetzung der Kultur-/Realsoziologie, wie diese wiederum die MetaWissenschaft für die empirische Soziologie darstellt. Während die Abgrenzung der Kultursoziologie zur empirischen Soziologie einsichtig ist, verliert sich die Grenze zwi181
sehen der Sozialphilosophie, zu der nach Scheler auch die Geschichtsphilosophie gehört, und der Kultursoziologie (im folgenden als Einheit der von Scheler unterschiedenen Teildisziplinen der Kultur- und Realsoziologie verstanden) sowohl hinsichtlich der Sache als auch der Erkenntnisform. In dem grundlegenden Abschnitt über „Wesen und Begriff der Kultursoziologie" (VIII, 17-51) bezeichnet er als die letzte und eigentliche Aufgabe der Soziologie die „Erkundung der Arten und Ordnungsfolgen des Zusammenwirkens der idealen und der realen, der geistig und der triebhaft bedingten Bestimmungsfaktoren des stets sozial wesentlich mitbedingten Lebensinhaltes des Menschen" (VIII, 20). Das mit den Ordnungsfolgen des Zusammenwirkens gemeinte „Gesetz der Ordnung der Wirksamkeit der Ideal- und Realfaktoren" war aber bereits die zentrale Fragestellung der Geschichtsphilosophie. Scheler weist selber darauf hin, daß er erst in seiner Geschichtsphilosophie eine eingehende Begründung dieses Gesetzes vorlegen werde (VIII, 20, Anm. 1; 50, Anm. 1). Die Kultursoziologie unterscheidet sich hingegen in einem anderen Punkt nicht unwesentlich von der Sozialphilosophie: die Lehre von den vier Wesensformen der Sozialität verlagert Scheler ins Genetische. An erster Stelle des systematischen Aufbaus der Kultursoziologie erscheint die Lehre von den Aktarten des Geistes (VIII, 24 f.), der Scheler unmittelbar die These gegenüberstellt, daß Geist „von vornherein nur in einer konkreten Vielheit von unendlich mannigfachen Gruppen und Kulturen" existiere (VIII, 25). Er greift auf die Differenz zwischen Sosein und Dasein, zwischen Geist und Realität zurück. Der ursprünglich amorphe Geist wird durch die Aktarten funktionalisiert, eine Leistung von Pionieren und Eliten, die durch die ihnen anhängenden Massen Breitenwirkung erhält (VIII, 26 ff.). Die durch die Pioniere funktionalisierten Kulturbereiche hat Scheler durch seine Lehre von den Vorbildern und Führern differenziert (VIII, 29). Den Hauptaktarten des Geistes, exemplifiziert an den obersten Wissensarten, hat er bestimmte soziale Körperschaften zugeordnet (VIII, 31 f.). Erst mit dem Gedanken, daß die geistige Kooperation in jedem 182
Kulturganzen einer ganz bestimmten Phasenordnung unterliegt, geht Scheler auf die vier Wesensformen der Sozialität ein: Horde, Lebensgemeinschaft, Gesellschaft und personalistisches Solidaritätssystem bestimmen die Phasen, die jede Kulturentwicklung durchlaufe (VIII, 33). Es ist bezeichnend für die Genetisierung der Sozialformen, daß Scheler unmittelbar im Anschluß an diese Phasenordnung (die nur eine von mehreren anderen Konzeptionen ausmacht) Gedanken zur soziologischen Dynamik der Kultur vorträgt und zwischen dem „Wachstum" von Kulturbereichen wie Philosophie, Kunst, Religion und dem „kumulativen Fortschritt" der exakten Naturwissenschaften unterscheidet (VIII, 35ff.)> ohne noch einmal auf die durch die sozialen Wesensformen bedingten Entwicklungsphasen zurückzukommen. Im Grunde kann man von einer Depotenzierung der Lehre von den sozialen Wesensformen durch die kultursoziologische Betrachtungsweise sprechen. Die Depotenzierung wird noch deutlicher in den Überlegungen, die Scheler der Wirkung widmet, die die Realfaktoren auf die Kulturprozesse ausüben (VIII, 41 ff.). Zunächst spricht er in einem weiteren Phasenkonzept von drei Hauptphasen jeder relativ geschlossenen Kultur, die sie mit Blüte, Reife und Verfall durchläuft - die Leitbarkeit und Lenkbarkeit der Kulturprozesse nehme dabei progressiv ab, bis hin zur Desintegration und Verselbständigung einzelner Kulturbereiche; es vollzieht sich etwas wie eine Sklerotisierung des kulturellen Gesamtorganismus. Sodann vertritt er die These, daß die Menschheitsgeschichte nicht durch eine der drei Realfaktorengruppen allein (Geschlechterverbände, politische Herrschaftsverhältnisse, Wirtschaftsverhältnisse), sondern jede relativ geschlossene Kultur durch die Folgeordnung der drei Realfaktoren bestimmt werde — ein weiteres Phasenkonzept. Die Folgeordnung sieht Scheler begründet in der Entwicklungsordnung der Triebe des Menschen - die Anthropologie und nicht die Sozialphilosophie erweist sich somit als die Grundlegungsdisziplin der Kultursoziologie (vgl. VIII, 49). Idealiter durchläuft die Entwicklung eines kulturellen Orga183
nismus eine erste Phase, in der die Blutsverhältnisse bestimmend sind und den Spielraum für die Entfaltung der anderen Real- und Idealfaktorengruppen vorgeben, dann durchläuft sie eine zweite Phase, in der primär die politischen Machtfaktoren herrschen, um schließlich in die dritte Phase auszulaufen, in der nur noch die Wirtschaftsverhältnisse die primär wirkenden Faktoren ausmachen; von ihnen hängt es nun ab, welche geistigen Gehalte in die gesellschaftliche Wirklichkeit eintreten (VIII, 24 ff., 43 ff.). Scheler bezeichnet dieses dritte Phasengesetz (er hätte auch das zweite hinzunehmen können) als ein Gesetz des Alterns der Kultursubjekte, die den Kulturprozeß austragen (VIII, 49). Im Verlauf eines solchen Prozesses verändert sich die Wirkung, die die Realfaktoren hemmend oder entbindend auf die geistigen Potenzen ausüben. In der ersten Phase ist die hemmende Wirkung am größten, die Entbindung von geistigen Potenzen am geringsten, in der dritten Phase, dem Ökonomismus, ist die Hemmung am geringsten, die Entbindungsleistung am größten — Scheler beruhigte seine Zeitgenossen, daß es ihnen keineswegs bange zu sein brauche „um die geistige Kultur im herannahenden ausgeprägten und rein ökonomischen Zeitalter" (VIII, 51), es bestehe ein unzerreißbarer „Zusammenhang von Ökonomismus und maximaler Freiheit und Ausladung des Geistes" (ebd.). Er fügt allerdings hinzu, daß in den Altersperioden der Kulturen die Geisteskultur zwar die differenzierteste und verbreitetste, aber nicht die wertvollste sei, mit anderen Worten: die unteren Wertklassen verdrängen im Alterungsprozeß einer Kultur die höheren Wertklassen, der Alterungsprozeß führt zu einer Erosion der Wertehierarchie.
2. Grundzüge der Wissenssoziologie Die Wissenssoziologie stellt eine Anwendung kultursoziologischer Untersuchungen auf einen allerdings sehr großen Teilbereich der Kultur dar; ebenso gut hätte Scheler sich auch der 184
Kunst, dem Recht usw. zuwenden können. Die Wahl des Wissensbereichs erfolgte aber nicht bloß aus dem äußeren Anlaß, daß sich das Direktorium des Kölner Instituts für Sozialforschung entschloß, das damals noch wenig bearbeitete Feld der Wissenskultur zu untersuchen und Scheler zum Leiter dieser Untersuchung zu bestellen, vielmehr hat Scheler schon seit seiner Jenaer Zeit Wissen und Erkenntnis immer auch als kulturgeschichtliche Phänomene betrachtet. Die Kultursoziologie erfährt durch ihre Anwendung auf den Bereich des Wissens zugleich eine Differenzierung und Modifikation. So steht die Wissenssoziologie im Ganzen für die These ein, daß die Kultursoziologie nicht als ein starres Paradigma aufgefaßt werden darf, sondern als ein Modell, das sich in seinen Anwendungen weiterzubestimmen und ggf. zu korrigieren hat. Dies führt Scheler in den knappen, sehr komprimierten Bemerkungen durch, die er den „formalen Problemen", d.h. der Grundlegung der Wissenssoziologie gewidmet hat (VIII, 52-69). Nach einigen einleitenden Thesen geht er auf zwei Problemkreise ein, die sein Hauptinteresse an Grundlegungsfragen der Wissenssoziologie ausmachen: die obersten Axiome der Wissenssoziologie und die Lehre von den obersten Wissensarten. Scheler stellt drei Grundbeziehungen zwischen Wissen und Gesellschaft auf (VIII, 52): 1. die menschliche Gesellschaft ist grundsätzlich mitkonstituiert durch wechselseitiges Verstehen der Mitglieder untereinander; 2. das Wissen, das eine Gesellschaft besitzt, bestimmt ihr Sosein; 3. umgekehrt ist das Wissen auch durch die Gesellschaft und ihre Struktur bestimmt. In den beiden folgenden Abschnitten des Kapitels über die formalen Probleme hat Scheler diese Thesen beträchtlich radikalisiert und differenziert.
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a) Die obersten Axiome der Wissenssoziologie Bereits mit dem ersten von insgesamt drei Axiomen radikalisiert Scheler den einleitenden Satz, daß Gesellschaft durch Wissen „mitkonstituiert" sei: Das Wissen eines jeden Menschen, Glied einer Gesellschaft zu sein, sei ein apriorisches Wissen (VIII, 52). Er greift hiermit auf die in der Sphärentheorie als irreduzibel aufgewiesene Sphäre der Sozialität jedes Menschen zurück. Demzufolge gibt es keinen einzigen Geistesakt, der nicht durch die Sozialität des Menschen bestimmt ist, jedoch nicht vollständig - gegen den Soziologismus behauptet Scheler, daß das Wissen durch die Gesellschaft nur „mit"-konstituiert sei. Das zweite Axiom betrifft das empirische Teilhabeverhältnis eines Menschen am „Erleben" seiner Mitmenschen: das Teilhabeverhältnis realisiere sich „je nach der Wesensstruktur der Gruppe in verschiedener Weise" (VIII, 53). Mit dem Begriff des Erlebens dehnt Scheler den Begriff des Wissens von anderen Menschen („soziales Wissen") bis in vorreflexive Dimensionen des „Habens von etwas" aus, wie er es in der Erkenntnistheorie mit dem Begriff des ekstatischen Wissens getan hat. Hier wie dort geht es ihm um die Überwindung der Bewußtseinsphilosophie. Er stellt ihr eine Stufenlehre von sozialen Wissensformen entgegen, die bis ins Tierreich zurückgeht. Eine soziale Übertragung von Wissens- und Sinngehalten erfolge bereits durch „Gefühlsansteckung" und im unwillkürlichen Nachahmen von Handlungen; beides finde sich auch bei höheren Tierarten. Der rein menschliche Bereich sozialen Wissens beginnt beim unmittelbaren subjektiven Verstehen fremden Erlebens und dem objektiven Verstehen von Sinngehalten und setzt sich fort mit reproduzierbaren Tätigkeiten des gegenständlichen Meinens und Nennens, dem Sprechen und Sprachverstehen bis hinauf zu den spezifisch sozialen sinnerfüllten Akten des Geistes. Diejenigen Formen des MiteinanderDenkens, -Wollens, -Liebens usw., die „sich vollziehen", ohne daß dazu eine bewußte Absicht des Subjekts erforderlich wäre (Entstehung von Mythen, Märchen, Volksliedern, Volksreli186
gionen, Bräuchen, Sitten), führt Scheler auf das vermittelnde Wirken einer „Gruppenseele" zurück, während er diejenigen Formen des Miteinander-Wissens, die bewußt vollzogen werden, dem „Gruppengeist" zuschreibt (Recht, Staat, Kunst, Wissenschaft, Philosophie usw.). Die Wissenssoziologie habe es vornehmlich (nicht ausschließlich) mit dem Gruppengeist zu tun. Sie geht den Gesetzen und Rhythmen nach, in denen sich das Wissen gesellschaftlich ausbreitet, wobei sie insbesondere auf die Institutionen achtet, die Wissen verbreiten, aber auch selegieren oder sogar verhindern. Das dritte Axiom betrifft das Ordnungsgesetz, das den Ursprung unseres Wissens von Realität sowie die stufenweise Ausfüllung der verschiedenen Seins- und Gegenstandssphären beherrscht. Mit der uneingeschränkten Aufnahme der Sphärentheorie unter die Axiome der Wissenssoziologie erübrigt sich das erste Axiom. Aufgrund der hierarchischen Ordnung, in der die Sphären zueinander stehen, ist die Überzeugung des Menschen von der Realität der Gesellschaft dem Wissen um die Realität aller anderen Seins- und Gegenstandsbereiche vorgeordnet; sie macht die fundamentalste Realitätsdimension aus. Daraus folgt für Scheler, „daß erstens der soziologische Charakter alles Wissens, aller Denk-, Anschauungs-, Erkenntnisformen unbezweifelbar ist: daß zwar nicht der Inhalt alles Wissens und noch weniger seine Sachgültigkeit, wohl aber die Auswahl der Gegenstände des Wissens nach der herrschenden sozialen Interessenperspektive; daß ferner die ,Formen' der geistigen Akte, in denen Wissen gewonnen wird, stets und notwendig soziologisch, d.h. durch die Struktur der Gesellschaft mzibedingt sind" (VIII, 58). In der wissenssoziologischen Adaption der Sphärentheorie ist schließlich Schelers grundlegendes wissenssoziologisches Forschungsprogramm begründet, den „Strukturidentitäten von Weltbild, Seelenbild, Gottesbild mit sozialen Organisationsstufen nachzugehen" und diese Strukturidentitäten bei allen Grundarten des Wissens und auf allen Entwicklungsstufen der Gesellschaft nachzuweisen (VIII, 59). 187
b) Die obersten Wissensarten Die obersten Wissensarten umfassen drei Kulturbereiche, die in der Regel nicht unter ein und demselben Begriff des Wissens zusammengefaßt werden: die Religion, die Philosophie und die positiven Wissenschaften einschließlich der Technik. Scheler fragt zunächst nach der Grundlage, von der die künstliche Ausbildung der obersten Wissensformen ausgeht (VIII, 60 f.). Sie müßte zugleich verständlich machen, warum sich die drei obersten Wissensformen einheitlich als Formen des Wissens verstehen lassen. Den Ursprung aller künstlich-absichtlichen Ausbildung von Wissensarten sieht Scheler in der „natürlichen Weltanschauung". Im Unterschied zu anderen zeitgenössischen Denkern begreift er sie jedoch nicht als absolut konstante Basis, mäßigt diese vielmehr zur „relativ natürlichen Weltanschauung" (VIII, 61). Dadurch stellt sich die Aufgabe, Transformationsgesetze zu finden, nach denen sich die Struktur der natürlichen Weltanschauung verändert. Ihre Veränderungen, die sich über sehr große Zeiträume hinziehen, kann sich Scheler allein durch Rassenmischung, eventuell auch durch Sprach- und Kulturmischung erklären; jedenfalls liegen die Ursachen der Veränderungen in „den untersten Zentren der automatisch arbeitenden .Gruppenseele'" (VIII, 63). Auf den Fundamenten der relativ natürlichen Weltanschauungen erheben sich die zunehmend künstlicher ausgebildeten „Bildungsweltanschauungen". Scheler zählt die folgenden, nach dem Grad der Künstlichkeit der Aus- und Durchbildung gestuften Wissensarten des Gruppengeistes auf (die ersten drei hatte er allerdings zuvor nur der Gruppenseele zugeschrieben): 1. Mythos und Sage, 2. das den Volkssprachen immanente Wissen, 3. das religiöse Wissen,2 4. die Grundarten des mystischen Wissens, 5. das Wissen der Stifterreligionen, 6. das philosophisch-metaphysische Wissen, 188
7. das positive Wissen der Mathematik, der Natur- und Geisteswissenschaften, 8. das technologische Wissen (VIII, 63). Dieser Stufung zufolge würden auch die Grundarten mystischen Wissens zu den obersten Wissensarten gehören, und in der Tat hatte Scheler vor, eine Studie dieser Wissensarten auszuarbeiten. Für die Erforschung der unterschiedlichen Wissensarten hat Scheler einen Kanon von Fragestellungen aufgestellt, der acht Punkte umfaßt:3 1. die Frage nach dem je spezifischen Ursprung einer Wissensart in der Trieb- und Affektsphäre des Menschen; 2. die Frage nach den besonderen idealtypischen Vorbildern und Führerschaften einer Wissensart; 3. die Frage nach dem Wesen einer Wissensart, ihrem Ursprung und den Methoden ihres Wissenserwerbs; 4. die Frage nach dem ihrem Wesen entsprechenden Verhältnis zur Sprache; 5. die Frage nach der besonderen Bewegungsart der geschichtlichen Entwicklung einer Wissensart; 6. die Frage nach den besonderen sozialen Gruppenformen, in denen Erwerb, Bewahrung und Verbreitung des Wissens erfolgt; 7. die Frage nach den besonderen Funktionen einer Wissensart in der Gesellschaft; 8. die Frage nach dem soziologischen Ursprung einer Wissensart aus Klassen, Berufen, Ständen (VIII, 68). Der überwiegend summative Charakter dieser Auflistung hält sie offen für Ergänzungen, die vor allem aus der Erörterung der matenalen Probleme der Wissenssoziologie zu erwarten wären. Schelers Fragekanon repräsentiert eine Auffassung von Wissenssoziologie, die schon ohne die Berücksichtigung der Wissensarten der Gruppenseele weit über das hinausgeht, was man heute unter Wissens-, Wissenschafts- oder Erkenntnissoziologie versteht. Ausschlaggebend für die weite Auffassung Schelers ist es, daß er die Wissenssoziologie in die Kultursoziologie 189
einordnet und diese wiederum auf Anthropologie, Geist- und Sozialphilosophie gründet. Schelers Wissenssoziologie ist deshalb gerade wegen der sachlich begründeten Weite ihrer Konzeption gut geeignet, die Verkürzungen späterer Konzeptionen sichtbar zu machen.
XL Anthropologie „Die Fragen: Was ist der Mensch, und was ist seine Stellung im Sein? haben mich seit dem ersten Erwachen meines philosophischen Bewußtseins wesentlicher beschäftigt als jede andere philosophische Frage." (IX, 9) Diese Aussage aus dem Vorwort zu Schelers berühmter Schrift über die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) läßt sich allerdings erst seit der phänomenologischen Periode seines Denkens bestätigen. Die Untersuchungen des Formalismusbuchs und des Buchs über die Sympathiegefühle sind zwar von einer anthropologischen Grundauffassung getragen, die aber selber nicht thematisiert ènrd noch indirekt die Untersuchungen organisiert. Mehrere Grund- und Teilprobleme des Formalismusbuchs haben jedoch eine bedeutende Rolle in der Ausgestaltung von Schelers späterer Anthropologie gespielt, wie er sich mit einigen von Ihnen auch schon in Jena beschäftigt hat, damals aber noch ohjfte expliziten Bezug auf die Zentralfrage nach dem Wesen des Menschen und seiner Stellung im Sein: die Lehre von Geist !$(nd Leben, vom Schichtenaufbau des Gefühlslebens, das Verhältnis zwischen Psychisch und Physisch. Schelers erste eigentlich anthropologische Schrift ist der Aufsatz „Zur Idee des Menschen" (1914; III, 171-195). In der Grundfrage, „was der Mensch sei und welche metaphysische Stelle und Lage er innerhalb des Ganzen des Seins, der Welt und Gott einnehme", kommt zum erstenmal der kosmologisch-metaphysische Ansatz von Schelers Anthropologie zum Ausdruck (III, 173). Diesen Ansatz entwickelt Scheler vor dem Hintergrund seiner viel zitierten Gegenwartsanalyse, die mit seiner geschichtsphilosophischen These von der progressiven Steigerung des Selbstbewußtseins der Menschheit auffallend kontrastiert: „Wir sind in der ungefähr zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig 191
und restlos problematisch' geworden ist; in dem er nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, daß er es nicht weiß." (IX, 120; vgl. 10; XII, 5). Scheler hat sich schon 1914 gegen jeden Versuch gewandt, das Wesen des Menschen zu definieren - „gerade die Undefinierbarkeit gehört zum Wesen des Menschen" (III, 186). Von dieser These aus ist auch seine damalige Universalformel zu verstehen, daß der Mensch das Wesen sei, „das betet und Gott sucht" (III, 186). Wenn Scheler unter Berufung auf Augustinus gesagt hat, daß „die einzige sinnvolle Idee von .Mensch' ganz und gar ein ,Theomorpbismus'" sei (III, 187),1 dann bedeutet dies nicht, daß die Auffassung des Menschen von einem vorgegebenen positiven Gottesbegriff abzuleiten sei, sondern daß sich der Mensch nach der Idee formt, die er selber von Gott zu gewinnen sucht. Das Transzendieren als Wesensverfassung des Menschen grenzt ihn ab von einseitigen Bestimmungen, sei es von Gott (Fideismus), sei es vom Tier aus (Biologismus bzw. Naturalismus), und wenn beide Ansätze mit ihren Derivaten abzulehnen sind, dann bleibt nur noch übrig, das Transzendieren selbst als die grundlegende Bestimmung aufzufassen. In den zwanziger Jahren rückten die anthropologischen Probleme in den Mittelpunkt von Schelers Philosophie und Metaphysik - die Anthropologie wird zur Schlüsseldisziplin. Scheler wirkt entscheidend daran mit, der Philosophie seiner Zeit eine Wende zur Anthropologie zu geben, obwohl er nur einige mehr oder weniger umfangreiche Fragmente aus seiner großangelegten Anthropologie veröffentlichen konnte: die Vorträge „Mensch und Geschichte" (1926; IX, 120-144), „Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs" (1929; IX, 145-170) und den überdimensionierten Vortrag über die „Stellung des Menschen im Kosmos" (1927; 1928 überarbeitet, später in IX, 971), in dem er die Spannweite seiner Anthropologie von der biologisch-natürlichen bis zur metaphysischen Dimension der menschlichen Existenz entworfen hat. In der bereits zitierten Vorrede zu dieser Schrift, die häufig als Inbegriff seiner Anthropologie aufgefaßt wird, schreibt Scheler, „daß der Großteil aller Probleme der Philosophie, die ich schon behandelt, in 192
dieser Frage [Was ist der Mensch?] mehr und mehr koinzidierten" (IX, 9). „Der Großteil aller Probleme" - dieser Ausdruck nimmt in Hinsicht auf das umfangreiche Problemfeld, das Scheler zur Anthropologie rechnet, einen leicht resignativen Ton an: allzu groß scheint die Aufgabe zu sein, die Anthropologie als eine alles umfassende, nichtsdestoweniger einheitliche Disziplin zu entwickeln. Am Anfang des Aufsatzes „Mensch und Geschichte" hat Scheler einen Überblick über das Forschungsfeld und die Aufgabe der Anthropologie gegeben: „Wenn es eine philosophische Aufgabe gibt, deren Lösung unser Zeitalter mit einzigartiger Dringlichkeit fordert, so ist es die einer philosophischen Anthropologie. Ich meine eine Grundwissenschaft vom Wesen und vom Wesensaufbau des Menschen; von seinem Verhältnis zu den Reichen der Natur (Anorganisches, Pflanze, Tier) wie zum Grunde aller Dinge; von seinem metaphysischen Wesensursprung wie seinem physischen, psychischen und geistigen Anfang in der Welt; von den Kräften und Mächten, die ihn bewegen und die er bewegt; von den Grundrichtungen und -gesetzen seiner biologischen, psychischen, geistesgeschichtlichen2 und sozialen Entwicklung, sowohl ihrer essentiellen Möglichkeiten als ihrer Wirklichkeiten. Das psychophysische Leibseeleproblem und das noetisch-vitale Problem ist hierin enthalten. Eine solche Anthropologie allein vermöchte allen Wissenschaften, die mit dem Gegenstand .Mensch' zu tun haben, den naturwissenschaftlichen und medizinischen, den prähistorischen, ethnologischen, geschichtlichen und Sozial-Wissenschaf ten, der Normal- und Entwicklungspsychologie wie der Charakterologie ein letztes Fundament philosophischer Natur und zugleich auch bestimmte sichere Ziele ihrer Forschung zu geben." (IX, 120) Scheler hat in den zwanziger Jahren wiederholt die Veröffentlichung seiner Anthropologie in Aussicht gestellt, die den zweiten Band Vom Ewigen im Menschen ausmachen sollte (III, 11); zuletzt kündigte er das Erscheinen der Anthropologie für das Jahr 1929 an (IX, 9). Seine nachgelassenen Fragmente, die 1987 durch M. S. Frings herausgegeben worden sind, zei193
gen, daß Scheler 1928 nicht einmal angefangen hatte, sein großes Werk niederzuschreiben. In der Anthropologie-Vorlesung vom SS 1925 hat er unter dem Titel „Probleme, Methode, Einteilung I und II" (XII, 16-23)3 eine systematische Gliederung des Stoffs entworfen; sie läßt sich in der Aufzählung von Problemen zu Beginn des Vortrags über „Mensch und Geschichte" (1926) und in der Gliederung des Vortrags über „die Stellung des Menschen im Kosmos" von 1927 wiedererkennen. Scheler unterscheidet neun Problemkreise: 1. Einleitung: Typologie des Selbstbewußtseins des Menschen von sich 2. Wesensontologie des Menschen 3. Systematischer Vergleich des Unterschieds von Mensch und Tier 4. Lehre vom zeitlichen Ablauf des Menschenlebens zwischen Geburt und Tod 5. Lehre vom Ursprung des Menschen 6. Philosophie des Menschen als soziales und historisches Wesen 7. Die Zukunft des Menschen 8. Wesensgrundlagen der vergleichenden Anthropologie 9. Verhältnis des Menschen zum Weltgrund Im folgenden sollen diejenigen Punkte, deren Schwerpunkt nicht eher in einem anderen als dem anthropologischen Problemkreis liegt, in aller Kürze vorgestellt werden. Anderen Problemkreisen sind zuzuweisen Punkt 6 (Sozialphilosophie), Punkt 7 (Geschichtsphilosophie) und Punkt 9 (Metaphysik).
1. Zur Typologie des Selbstbewußtseins des Menschen Scheler stellt eine Reihe von Grundtypen der Selbstauffassung des Menschen auf, von denen jede das Wesen des Menschen, sein Verhältnis zu allen wesenhaften Seins- und Gegenstandsbereichen sowie die Auffassung des Sinns und des Ziels der Menschheitsgeschichte bestimmt. Die Vorstellung dieser Grundtypen hat außer einem anthropologiegeschichtlichen 194
auch einen phänomenologisch-methodologischen Sinn: sie soll „die geistigen Augen reinigen von der Macht traditioneller Begriffsschemata, die jede rein sachliche Untersuchung unmöglich machen" (XII, 16). Sie weist metatheoretisch auf eine idealtypisch differenzierte - Gebundenheit aller anthropologischen Ansätze hin. Im Vortrag über „Mensch und Geschichte" (1926) unterscheidet Scheler fünf Grundtypen: die christlich-jüdische, die klassisch-humanistische („homo sapiens"), die neuzeitlichpositivistische („homo faber") und die beiden jüngsten, noch nicht allzu prägnant hervorgetretenen Lehren einer vitalistischen Panromantik sowie die Idee des „postulatorischen Atheismus des Ernstes und der Verantwortung".4 a) Die christlich-jüdische Auffassung (vgl. IX, 124 f.; XII, 3644) umfaßt die Aussagen des Alten Testaments und antiker religionsgeschichtlicher Überlieferungen von der Schöpfung des Menschen durch einen persönlichen Gott, der Abstammung der Menschheit von einem Paare, der Vorstellung von einem ursprünglich paradiesischen Zustand, vom Sündenfall und der endzeitlichen Erlösung, von der Unsterblichkeit der Seele und der Auferstehung des Fleisches usw. Dazu heißt es überraschend bei Scheler, daß es kaum gesagt zu werden brauche, „daß diese religiöse Anthropologie für eine autonome Philosophie und Wissenschaft in jedem Sinne ganz bedeutungslos ist" (IX, 124). Dies gilt für eine autonome Philosophie, wie Scheler sie anstrebt, aber nicht für das nicht- oder vor-philosophische Selbstverständnis des Menschen. Etwas wie eine religiösmetaphysische Angst laste noch immer auf den Menschen und beeinflusse die anthropologischen Untersuchungen. Trotzdem stellt Scheler diesen Grundtypus so distanziert dar, daß diejenigen, die von ihm eine katholische Gesamtphilosophie oder auch eine prinzipielle Anerkennung der jüdischen Tradition erwartet hatten, enttäuscht sein mußten. b) Die Lehre vom ,Homo sapiens' (IX, 125-129; XII, 31-35) hat ihren Ursprung bei den griechischen Philosophen und bestimmt die philosophische Anthropologie bis hin zu Kant und Hegel. Der Mensch wird wesentlich von der Vernunft her de195
finiert. Vier Aussagen bilden den durch die Geschichte hindurch konstanten Kern: 1. der Mensch hat ein gotthaftes Agens, den Logos bzw. die Vernunft in sich, das andere Lebewesen nicht haben; 2. dieses Agens ist wesensgleich mit dem Agens, das die Welt formt; 3. es bewirkt seine Realisierung auch unabhängig von der Triebhaftigkeit und Sinnlichkeit des Menschen und der Tiere; 4. es ist geschichtlich, volkhaft und ständisch absolut konstant. c) Die Ideologie des ,Homo faber' (IX, 129-134) ist neuzeitlichen Ursprungs und wesentlich von der modernen Naturwissenschaft und Evolutionstheorie bestimmt: der Mensch ist das Werkzeug-schaffende Tier, das sich die Welt unterwirft; zwischen Tier und Mensch besteht nur ein gradueller Unterschied, weshalb der Mensch wesentlich als Triebwesen aufgefaßt wird; Denken, Wollen, die höheren emotionalen Akte werden letztlich aus Sinnesempfindungen und Triebimpulsen abgeleitet, die auch den Tieren eigen sind. Drei Urtriebsysteme konkurrieren um die Dominanz über die anderen: der Fortpflanzungstrieb mit seinen Derivaten (Geschlechtstrieb, Brutpflegetrieb, Libido), der Machttrieb und der Selbsterhaltungs- bzw. Ernährungstrieb. Einseitige naturalistische Theorien haben je einen dieser Triebe als dominant aufgefaßt: den Fortpflanzungstrieb u.a. Schopenhauer und Freud, den Machttrieb Machiavelli, Hobbes, Nietzsche, den Ernährungstrieb als Grundlage der Ökonomie Marx und Engels. Alle naturalistischen Anthropologien beruhen auf der Überzeugung von der Einheit der Menschheit und Menschengeschichte sowie einer sinnvollen Evolution. d) Die Auffassung der vitalistischen Panromantik vom Anfang des 20. Jahrhunderts (IX, 134-141) stellt den fortschrittsorientierten naturalistischen Theorien die Auffassung von der unvermeidbaren Dekadenz der Menschheit entgegen: der Mensch sei eine verhängnisvolle Fehlentwicklung des Lebens, eine Sackgasse der Natur (Nietzsche, Th. Lessing, L. Klages), es sei denn, es entstehe der Übermensch, eine dionysische Stei196
eerung des Lebensprinzips, durch die die verhängnisvolle Überintellektualisierung der Menschheit rückgängig gemacht werden kann. e) Die Auffassung des postulatoriscben Atheismus, ebenfalls erst im 20. Jahrhundert aufgetreten, wird vor allem von D. Kerler und N. Hartmann vertreten (IX, 141-144). Die Geschichte wird der sittlichen Verantwortung der großen Genies untergeordnet, die den Sinn der Geschichte erzeugen - ein Gott darf und soll nicht existieren, damit nicht die Verantwortung von den Menschen genommen und dadurch die Idee der Sittlichkeit depotenziert werde. Da Scheler in den fünf Grundtypen eine „wachsende Steigerung des menschlichen Selbstbewußtseins" glaubt erkennen zu können (IX, 121), erweist sich seine Anthropologie jetzt, im Unterschied zur mittleren Periode, durchdrungen von einem geschichtsmetaphysischen Optimismus, wie er ihn am eindrucksvollsten im Vortrag über „Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs" zum Ausdruck gebracht hat. Scheler hat nicht gesagt, •welchem Typus seine eigene Anthropologie zuzuordnen wäre - sie paßt zu keinem der Typen. Seine Anthropologie ist vielmehr in die Offenheit einer Geschichtsphilosophie zu stellen, die die Entwicklung des Selbstbewußtseins der Menschheit als Funktion des Werdens der Gottheit auffaßt. Den Typus, der sich dabei herausbildet, nennt er den „Allmenschen": „Der Allmensch im absoluten Sinne freilich - die Idee des alle seine Wesensmöglichkeiten ausgewirkt in sich enthaltenden Menschen - er ist uns kaum nahe; ja er ist uns so ferne wie Gott, der, soweit wir in Geist und Leben sein Wesen erfassen, ja nichts ist als die Essentia des Menschen - nur eben in unendlicher Form und Fülle." (IX, 151) Vom Allmenschen im absoluten Sinne grenzt Scheler den „relativen Allmenschen" ab, der in sich die einem Weltzeitalter zugänglichen Formen des menschlichen Daseins verkörpert.
197
2. Zur Wesensontologie des Menschen Die Wesensontologie bezeichnet Scheler als das „Kernstück der philosophischen Sach-Anthropologie" (XII, 17). Sie soll zeigen, aus welchen nicht mehr aufeinander rückführbaren Grundformen des Seienden der Mensch besteht und in welchen Wesensverhältnissen diese Grundformen zueinander stehen. Als phänomenologische Wissenschaft darf die Wesensontologie nur solche Begriffe enthalten, deren Gegenstände echte Wesenheiten sind. Scheler legt seiner Anthropologie drei solcher Wesenheiten zugrunde: a) Körper, b) Leib-Seele, c) Geist. Das Grundproblem der Wesensontologie besteht in der Frage, ob der Mensch einen einheitlich fundierten Wesensaufbau aufweist oder ob er aus einer mehr oder weniger zufälligen Verbindung verschiedener Wesenheiten besteht, die auch sonst im Gehalt der Naturwesenheiten vorkommen. Wenn dies der Fall ist, hat der Mensch im Kosmos keine Sonderstellung und stellt kein solitäres metaphysisches Problem dar. Da Scheler jedoch von der Sonderstellung des Menschen überzeugt ist (in diesem Aspekt ist der Mensch dann doch „definierbar"), öffnet sich ihm durch die Wesensontologie ein „Fenster zum Absoluten", so daß Anthropologie und Metaphysik in enger Wechselbeziehung zueinander stehen. a) Der Mensch ist, was immer er sonst sein mag, auch ein Körperding, wodurch er teilhat an der physikalischen Körperwelt. Die Körperdinge sind nach einem bestimmten Fundierungsschema schichtweise aufgebaut: Zuunterst liegt das im Widerstandserlebnis erfaßte „Wirkzentrum", es folgen 2) Ausdehnung und Dauer in der physikalischen Zeit, 3) räumliche Gestalt und Rhythmus der Veränderung, 4) Farbigkeit, 5) die anderen Qualitäten (XII, 152). Inwiefern dasjenige, was am Menschen „Körper" ist, ontisch ebenso aufgebaut ist wie anderes aus der anorganischen Natur, bleibt offen. Gelegentlich ist Scheler auf Gestaltgesetzlichkeiten eingegangen, die von „Kraftzentren" gesteuert werden und Körperstrukturen aufbauen (vgl. XII, 141 ff.). 198
b) Als Lebewesen erfaßt sich der Mensch nur in sich selbst, und zwar durch das „Innesem", in dem er sich als „Leib" erlebt. Das Innesein ist das Urdatum des Psychischen, eine der in der Sphärentheorie aufgestellten irreduziblen Sphären. Scheler hat der Untersuchung der Innen-Sphäre des Menschen und des Psychischen überhaupt seit seiner Jenaer Zeit große Aufmerksamkeit gewidmet. Die phänomenologische Erschließung der psychischen Welt stellt eine seiner großen Leistungen dar. Sie ist hauptsächlich dokumentiert in Wesen und Formen der Sympathie (1922; VII, 7-258); unausgeführt geblieben sind die zusätzlich zu diesem Buch schon seit 1913 geplanten Bände zu der Reihe über „Die Sinngesetze des emotionalen Lebens".5 Die Anregung zu diesen Untersuchungen geht auf Pascals Wort von der „raison du coeur" zurück. Mit Pascal stimmte Scheler auch in der religiös-metaphysischen Grundauffassung überein, daß sich das Psychische nicht auf den Menschen beschränkt, sondern sich über die gesamte Stufenordnung des Lebendigen von den Tieren bis zu Gott erstreckt. In den zwanziger Jahren begrenzte Scheler seine Aufgabenstellung dagegen mehr und mehr auf die Entwicklung der psychischen Differenzierung des Menschen zwischen seiner Triebsphäre und den intentionalen Gefühlen sowie dem Verstand. Der Mensch erlebt seinen Leib von einem Tätigkeitszentrum oder „Lebenszentrum" aus, durch das ihm zugleich mit seinem Leib auch seine Umwelt gegeben ist. Der wesensgesetzliche Zusammenhang zwischen Leib und Körper besteht darin, daß der Leib immer in Körpern und Körperformen erscheint, sich diesen gegenüber aber als „mein Leib" abgrenzt. Gegen die auf Descartes zurückgehende äußerliche Zusammenbindung einer Körper- und einer Seelensubstanz stellt Scheler die Grundanschauung, daß es ein und dasselbe Leben ist, das in seinem Innesein eine psychische, in seinem Sein-fürandere eine leibliche Gestalt besitzt, so daß der gesamte Körper als physiologisches Parallelfeld der seelischen Geschehnisse aufzufassen ist (IX, 57). Der Leib hat eine doppelte Erscheinungsweise: einerseits im psychischen Innesein („Leibseele" als Inbegriff aller Innenzu199
stände, XII, 158) als Für-mich-Sein, andererseits als Ausdruckssphäre des Psychischen im Für-andere-Sein (XII, 172; IX, 57). Entsprechend dieses Leib-Seele-Monismus stellt sich die Frage, welche physiologischen Korrelate die verschiedenen psychischen Tätigkeiten und Funktionen haben und welche funktionellen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen ihnen bestehen (XII, 147 f., 160 ff., 163 ff.). Inneseinssphäre und Ausdruckssphäre bilden einen strengen Wesenszusammenhang, so daß uns mit dem Leib eines anderen zugleich sein Innesein gegeben ist, wie ihm ebenso unmittelbar mit unserem Leib auch unser psychisches Sein gegeben ist. Scheler meint hiermit nicht eine unmittelbare Entsprechung von Ursache und Wirkung dazu sind ihm sowohl das erkenntnistheoretische Problem, inwiefern von einer gegebenen Wirkung sicher auf ihre Ursache geschlossen werden kann, als auch die Phänomene der Täuschbarkeit und Illusionsbildung in der psychischen Sphäre aus eigener und aus Fremderfahrung viel zu vertraut -, er meint vielmehr ganz allgemein, daß der Leib wesensgesetzlich „Ausdrucksfeld" ist. Als Erkenntnisziel schwebte ihm eine „universale Grammatik und Pantomimik des Ausdrucks" vor (XII, 124), die auch die Ausdruckserscheinungen des Allebens umfassen sollte (VII, 91, 112). c) Hypnose und Suggestion lassen einen deutlichen Unterschied zwischen Seele und Geist erkennen: alles, was in Hypnose und Suggestion als lenkbar erscheint, ist „Seele", was schlechthin nicht von einem anderen Ich lenkbar erscheint, ist Geist (XII, 175, 181). Geist ist reines Akt-Sein („creatio continua", „causa sui", XII, 160, 182), das aber weder auf die Psyche noch auf den Leib unmittelbar einzuwirken vermag, ebensowenig umgekehrt. Der Geist besteht aus einer Fundierungsordnung von Aktarten, die im „Personzentrum" vereinigt sind (XII, 181). Geist ist im Unterschied zum Psychischen und Physischen nicht zu vergegenständlichen; er kann nur persönlich vollzogen, intersubjektiv mitvollzogen oder als Korrelat seiner Werke studiert werden (XII, 176). Im Unterschied zum zeitlichen Vitalzentrum des Psychischen ist das Personzentrum überzeitlich (XII, 175, 181,182). 200
Scheler hat die Wesensontologie des Menschen nur skizzenhaft ausgeführt. In der Regel hat er wesensontologische Fragen im Zusammenhang mit der Wesensdifferenz zwischen Mensch und Tier behandelt, sie reichen der Sache nach jedoch weit über diesen Fragenkreis hinaus. Unentwickelt ist insbesondere die Frage nach dem Zusammenhang der drei „Zentren", d.h. die Frage nach der Einheit des Menschen geblieben.
3. Systematischer Vergleich zwischen Mensch und Tier Dem Vergleich zwischen Mensch und Tier ist ein großer Teil der Abhandlung über die Stellung des Menschen im Kosmos gewidmet. „Systematisch" ist der Vergleich, weil der Mensch in das Ganze des Psychischen eingeordnet wird, weil Scheler von Wesensbegriffen ausgeht und weil er zeigt, wie sich im Menschen die allgemeine Stufenordnung des Psychischen wiederholt (IX, 16; 54). In methodologischer Hinsicht kann der systematische Vergleich zwischen Mensch und Tier insofern nicht einheitlich sein, als er unterschiedliche ontologische Regionen durchschreitet und sich nicht im Bereich phänomenologisch reduzierter Gegenstände bewegt. Vielmehr wird es für Scheler gerade in diesem Teil wichtig, die Ergebnisse der positiven Wissenschaften vom Menschen und von den Lebewesen zu berücksichtigen, insbesondere die Tierpsychologie, die vergleichende Entwicklungspsychologie und die Evolutionstheorie. Dabei ist die Tendenz erkennbar, in kritischen Auseinandersetzungen wesensontologische Grundbegriffe teils zu gewinnen, teils zu präzisieren. a) Das Stufenreich des Psychischen Scheler unterscheidet vier Entwicklungsstufen des Psychischen: 1. (Gefühls-)Drang, 2. Instinkt, 201
3. assoziatives Gedächtnis, 4. (praktische) Intelligenz. Von diesen grenzt er 5. die Sphäre der Vernunft, des Geistes ab (IX, Uff.; XII, 19, 296). Das Psychische selbst faßt er so weit wie das „Lebendige überhaupt" (IX, 12), wodurch sich die Seelenlehre zu einer „Biologie von innen" erweitert (XII, 143). Die objektiven wesensphänomenalen Eigenschaften des Lebendigen sind Selbstbewegung, Selbstformung, Selbstdifferenzierung und Selbstbegrenzung in zeitlicher und räumlicher Dimension; die subjektive Eigenschaft des Lebendigen, das „psychische Urphänomen des Lebens" überhaupt (IX, 13), ist das „Fürsich und Innesein". Durch das Innesein unterscheidet sich das organische Leben von den anorganischen Gegenständen. Zwischen den objektiven und subjektiven Phänomenen des Lebens besteht in „Struktur und Ablaufsform die innigste Seinsgemeinschaft" (IX, 13). α) Die unterste Stufe des Psychischen ist der bewußtlose, empfindungs- und vorstellungslose „Gefühlsdrang", der allen Stufen des Psychischen und auch noch den Akten des Geistes die „Tätigkeitsenergie" liefert. Gefühl und Trieb sind in ihm noch nicht geschieden. Er kennt nur zwei Zuständlichkeiten des Inneseins: ein bloßes Hingenchtetsein auf etwas, eine „objektlose Lust", und ein bloßes Abgewendetsein, ein „objektloses Leiden" (IX, 13). Diese erste Stufe des seelischen Werdeseins kann bereits den Pflanzen zugesprochen werden. An ihnen zeigt sich, daß der Urdrang des Psychischen auf Fortpflanzung und Tod ausgerichtet ist (IX, 14). Bei den Pflanzen ist der Gefühlsdrang „ekstatisch" nach außen gerichtet, da den Pflanzen jede Art von „Rückmeldung" des Lebens fehlt. Die „reflexio" und damit die Entstehung eines bewußten Innenzustands beginnt erst bei den Tieren. Bei höheren Organismen vereinigen sich alle reich gegliederten Affekte und Triebe im Gefühlsdrang zu einer ursprünglichen Einheit. Organologisch wird die Einheit durch das vegetative Nervensystem repräsentiert. Der Gefühlsdrang ist nach Scheler zugleich 202
das Subjekt des Widerstandserlebnisses, durch das sich für den Menschen Realität konstituiert (IX, 16 f.). ß) „Instinkt" faßt Scheler als ein Verhalten auf, das durch folgende Merkmale bestimmt ist: Er ist für das Ganze des Lebensträgers zweckmäßig, läuft in einem festen, unveränderlichen Rhythmus ab, spricht auf typisch wiederkehrende Situationen an, die für das Artleben, nicht dagegen für das Leben des Individuums bedeutsam sind, ist angeboren, erblich und fertig ausgebildet. Der Instinkt stellt eine höhere Form der Spezialisierung des Gefühlsdrangs dar. Er reguliert apnori die Empfindungen, Vorstellungen und sogar das reproduktive Gedächtnis eines Lebewesens in Beziehung auf seine Umwelt. In psychischer, subjektiver Deutung ist das instinktive Verhalten eine untrennbare Einheit von Vor-Wissen und Reagieren (IX, 21; XII, 296). Als eine Art von Wissen ist es jedoch kaum mehr denn ein Fühlen der - anziehenden oder abstoßenden - Wertigkeit von Widerständen für das Lebewesen. Aus dem instinktiven Sinnverband des Verhaltens differenzieren sich durch einen Vorgang, den Scheler „schöpferische Dissoziation" nennt (IX, 21), die Triebe aus, die zugleich die Ablösung des individuellen vom artgebundenen Verhalten ermöglichen. Triebbedingtes Verhalten läßt sich auch bei höheren Tieren feststellen (IX, 26 f.). Scheler unterscheidet beim Menschen drei „Urtriebsysteme": 1. den Fortpflanzungs- und Geschlechtstrieb als den ursprünglichsten und ältesten (XII, 308), dem antagonistisch gegenüberstehen 2. der Nahrungstrieb und 3. der Macht- und Herrschaftstrieb (IX, 132; VII, 46; XII, 308). Von jedem dieser Grundtriebe hängen eine Vielzahl untergeordneter Triebe ab. γ) Ein assoziatives Gedächtnis muß all denjenigen Lebewesen zugesprochen werden, die ihr Verhalten aufgrund früheren Verhaltens gleicher Art in einer lebensdienlichen Weise langsam Und stetig abändern können. Die Grundlage des assoziativen Gedächtnisses ist der von Pawlow nachgewiesene „bedingte Reflex". Das assoziative Gedächtnis steht unter der determinie203
renden Wirkung von Trieben und Bedürfnissen. Es tritt in verschiedenem Grade bei allen Tieren auf, nimmt aber beim Menschen als Prinzip der Assoziation und des reproduktiven Gedächtnisses die größten Ausmaße an. Auf dem Wiederholungstrieb, angewandt auf fremdes Verhalten und Erleben, beruht die Ausbildung von Traditionen, doch treten Traditionen nicht erst beim Menschen auf, sondern schon bei Rudeln, Horden oder anderen Gesellschaftsformen von Tieren (IX, 25). In Beziehung auf den Instinkt ist das assoziative Prinzip ein Instrument der Befreiung und der Bereicherung des Lebens. Dies gilt auch in Beziehung auf Triebe, Affekte und Gefühle, die relativ unabhängig werden vom Ganzen der Lebensbedürfnisse, ô) Unter der „praktischen Intelligenz" versteht Scheler die ebenfalls noch organisch und triebhaft gebundene Fähigkeit eines Lebewesens, sich auf neue, weder art- noch mdividualtypische Situationen plötzlich und unabhängig von der Zahl der Probierversuche so einzustellen, daß es triebhaft bestimmte Aufgaben für seine Existenz sinnvoll lösen kann. Zu diesen „intelligenten" Lösungen gehört auch die organisch gebundene Wahlfähigkeit und Wahlhandlung, unter vorhandenen Gütern bestimmte zu bevorzugen oder hintanzustellen. Subjektivpsychisch betrachtet ist Intelligenz die „plötzlich aufspringende Einsicht in einen zusammenhängenden Sach- und Wertverhalt innerhalb der Umwelt" (IX, 28), also in ein Beziehungsgefüge, „dessen Fundamente zu einem Teil in der Erfahrung gegeben sind, zum anderen Teile antizipatorisch in der Vorstellung [...] ergänzt werden" (IX, 28). Gegenüber dem assoziativen Prinzip wird die praktische Intelligenz in Situationen aktiv, die nicht nur der Art von Lebewesen, sondern dem einzelnen Individuum unbekannt sind. Scheler hält es durch W. Köhlers Versuche mit Schimpansen für erwiesen, daß praktische Intelligenz bereits den höchstorganisierten Affen zugesprochen werden kann. In allem Affektiven stehe das Tier dem Menschen sogar noch viel näher als in bezug auf die Intelligenz. Dadurch stellt sich die Frage, ob „überhaupt noch mehr als ein nur gradueller Unterschied zwischen Mensch und Tier" bestehe, nämlich ein „Wesensunterschied", so daß es 204
„über die bisher behandelten Wesensstufen hinaus noch etwas ganz anderes im Menschen [gibt], [...] was durch Wahl und Intelligenz überhaupt nicht getroffen und erschöpft ist" (IX, 31). Scheler ist überzeugt, daß es tatsächlich ein ganz andersartiges Prinzip im Menschen gibt, nämlich die Vernunft bzw. den Geist. Von diesem Prinzip hängt es ab, daß der Mensch im Ganzen des Seins eine „Sonderstellung" einnimmt. b) Der Geist Das Prinzip des Geistes steht für Scheler nicht nur hoch über aller Intelligenz, sondern stellt „ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip" dar (IX, 31). Anstelle des traditionellen Leib-SeeleDualismus entsteht nun ein ganz andersartiger Dualismus, der gänzlich außerhalb des Kompetenzbereiches der biologischen Wissenschaften liegt: der Dualismus von Seele und Geist. Durch das Geistprinzip tritt eine prinzipielle „Umkehrung" des Verhältnisses zwischen organischem Leben und Umwelt ein (IX, 32 ff.; XII, 126 ff.). Das Tier steht in einem geschlossenen System, in dem von der Umwelt nur dasjenige wahrgenommen wird, was für die Aufrechterhaltung seines Organismus zweckdienlich ist. Beim Menschen besteht durch den Geist die Möglichkeit, die Umwelt völlig enthoben von den Lebenszwecken so wahrzunehmen, wie sie in ihrem So-Sein ist, und sich nach Maßgabe dieses So-Seins zu verhalten. Scheler bestimmt den Geist durch drei Merkmale (ein früherer Ansatz in XII, 298f.). Erstens durch die „existentielle Entbundenheit vom Organischen", die „Weltoffenheit" (IX, 32). Auf ihr beruht die Möglichkeit, die dem Menschen gegebene Wirklichkeit zum Gegenstand der Erkenntnis zu machen. „Geist ist daher Sachlichkeit, Bestimmtheit durch das Sosein von Sachen selbst." (IX, 32) Die durch den Geist gegebene »Weltoffenheit" bedeutet die unbegrenzte Möglichkeit, die „Umwelt" zur „Welt" zu erweitern. Das zweite Merkmal ist die Fähigkeit des Menschen, sich auf sich selbst zu besinnen, sich zu sammeln und ein Bewußtsein 205
seiner selbst zu entwickeln. „Kraft seines Geistes vermag das Wesen, das wir .Mensch' nennen, nicht nur die Umwelt in die Dimension des Weltseins zu erweitern und Widerstände gegenständlich zu machen, sondern es vermag auch - und das ist das Merkwürdigste - seine eigene physiologische und psychische Beschaffenheit und jedes einzelne psychische Erlebnis, jede einzelne seiner vitalen Funktionen selbst wieder gegenständlich zu machen." (IX, 34) Auf den beiden bisher genannten Merkmalen des Geistes beruhen eine Reihe weiterer Besonderheiten („Monopole"), durch die sich der Mensch vom Tier unterscheidet: Der Mensch besitzt eine voll ausgeprägte konkrete „Ding- und Substanzkategorie" (IX, 36), er hat einen von vornherein „einigen Raum", zu dem sich Tastraum, Sehraum, Hörraum usw. vereinigen, er hat „Leerformen" von Raum und Zeit, in die hinein er sich bewegen und entwickeln kann, er hat einen unabhängig von seinen Bewegungen stabil und identisch verharrenden „Weltraum". „So ist der Mensch als Geistwesen das sich selber als Lebewesen und der Welt überlegene Wesen. Als solches ist er auch der Ironie und des Humors fähig, die stets eine Erhebung über das eigene Dasein einschließen." (IX, 38) Das dritte wesentliche Merkmal des Geistes ist sein PersonSein als Aktualität: „Der Geist ist das einzige Sein, das selbst gegenstandsunfähig ist - er ist reine, pure Aktualität, hat sein Sein nur im freien Vollzug seiner Akte. Das Zentrum des Geistes, die ,Person', ist also weder gegenständliches noch dingliches Sein, sondern nur ein stetig selbst sich vollziehendes (wesenha.it bestimmtes) Ordnungsgefüge von Akten." (IX, 39) Die Akte des Geistes sind jeweils auf eine Gegenstandsklasse bezogen, mit der sie in einer gesetzmäßigen Korrelation stehen. Scheler unterscheidet drei Grund-Aktarten: Erkennen, das auf die Ordnung von Wesenheiten bezogen ist, Lieben, das auf die Ordnung von Werten, und Wollen, das letztlich auf die Zielordnung des Weltprozesses bezogen ist (IX, 39f.). Alle diese Aktarten stehen miteinander in einem Ordnungsgefüge, dessen Fundierungsgesetze sich evolutionär konstituieren und abwandeln können, ein Thema der Geschichtsphilosophie, 206
insbesondere der Lehre von der Funktionalisierung des Geistes. Auf Widerspruch aus fast allen Lagern ist Schelers These von der „Ohnmacht des Geistes" gestoßen. Alle Tätigkeitsenergie, behauptet Scheler, gehe zuletzt auf den Gefühls- bzw. Lebensdrang des Menschen zurück. Der Geist, der das Gegenprinzip des Lebens darstellt, vermag durch einen Willensakt das Zentrum des Gefühlsdrangs zu inaktualisieren; insofern ist der Mensch der „Neinsagenkönner", der „Asket des Lebens" (IX, 44). Zu diesem Willensakt braucht der Geist nach Scheler offenbar keine Energie, denn in seiner reinen Form ist der Geist „ursprünglich schlechthin ohne alle ,Macht', ,Kraft', .Tätigkeit'". Um überhaupt Kraft und Tätigkeitsenergie zu gewinnen, muß er eine Triebverdrängung oder Triebhemmung leisten, die gleichzeitig eine „Triebsublimierung" darstellt. Woher aber soll die Energie für die vom Geist zu leistende Triebhemmung kommen? Scheler geht von der These aus, daß der (allgemeine, überindividuelle) Gefühlsdrang unablässig tätig ist. Die von ihm ausgehenden Lebens- und Triebimpulse brauchen bestimmte Vorstellungen oder Bilder, nach denen sie ihr Streben ausrichten können. Der Geist kann ihnen die dem Lebensprozeß dieHenden Bilder entziehen und stattdessen andere vorhalten, denen dann das Tnebleben folgt. „Diesen Grundvorgang nennen wir ,Lenkung', die in einem .Hemmen' (non fiat) und .Enthemmen' (non non fiat) von Triebimpulsen durch den geistigen Willen besteht, und,Leitung' die Vorhaltung - gleichsam éer Idee und des Wertes selbst, die dann je erst durch die Triebbewegungen sich verwirklichen." (IX, 49) c) Über die Monopole des Menschen Auf der Grundlage eines systematischen Vergleichs zwischen Mensch und Tier ist es möglich, die Frage nach den unableitbaren „Monopolen" zu stellen, die die Sonderstellung des Menschen im Reich der Natur ausmachen. Zu ihnen gehören Sprache, Kunst, Mythos, Religion, Werkzeug, Zeichenfunkti207
on, Gewissen, Geschmack, soziale Organisation, Politik, Wirtschaft, Recht, Fortschritt, Geschichte usw. Scheler hat diese Lehre nicht zu einem Abschluß gebracht, ein eigenes Buch wäre dazu erforderlich gewesen (XII, 19, 185-203, 296f.; IX, 97f.). Daß diese Gegebenheiten in der Tat Monopole des Menschen darstellen, wäre durch eine umfassende Untersuchung ihrer Grundlagen im menschlichen Geiste zu sichern. Scheler war überzeugt, die Monopolstellung durch Analyse der geistigen Aktarten sowie der konstitutiven Gesetzmäßigkeiten der einzelnen Objektbereiche erweisen zu können (XII, 19), auch durch die Untersuchung von Zwischengliedern zwischen Tier und Mensch, teils der primitiven Völker, teils der Entwicklungspsychologie vom Kind zum Erwachsenen. Die Monopole beruhen letztlich auf der durch den Geist bedingten Enthobenheit des Menschen von der Sphäre des Psychischen und Lebendigen (XII, 188).
4. Über den zeitlichen Ablauf des Menschenlebens Schelers Lehre über die verschiedenen zeitlichen Phasen des menschlichen Lebens ist Bestandteil seiner Lehre vom Leben überhaupt. Jeder Lebensprozeß weist die Grundstruktur von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sowie eine Grundtendenz zu Altern und Tod auf (X, 16 ff.): „Jedes Lebewesen hat qua Lebewesen (gleichgültig ob Einzelleben oder Lebensgemeinschaft) Geburt, Wachstum, Reife, Niedergang, Tod: jedes .altert'." (X, 222) Die Frage nach der Struktur des zeitlichen Ablaufs des individuellen Menschenlebens faßte Scheler primär nicht als ein Problem der Biologie auf, sondern phänomenologisch als Frage nach der Art der Erfahrung, in der uns das Leben als etwas Vergängliches gegeben ist. An Erfahrungen von Ermüdung, Schlaf, Krankheit, Altern, ja an jeder beliebigen Erfahrung kann uns die Zeitlichkeit des Lebens bewußt und gewiß werden: zu jedem gegenwärtigen Augenblick gehört das Bewußt208
sein des vorübergegangenen und die Erwartung des kommenden Augenblicks (X, 18 f.) wie auch die Erfahrung, daß der Lebensprozeß ausgerichtet ist auf die Zukunft, sowie das Bewußtsein, daß mit der Zunahme der bereits verlebten Lebenszeit die noch zu erwartende Zeit progressiv abnimmt. Diese Grundstruktur des Zeiterlebnisses verändert sich in den einzelnen Lebensphasen. Scheler unterscheidet vier Phasen, die mit den Phasen auch nicht-menschlicher Lebewesen parallellaufen: Kindheit, Jugend, Reife, Alter (III, 49). Das Kind erlebt die Zeitdimensionen des Lebens auf wesentlich andere Weise als der Erwachsene und der alte Mensch: „Der Spielraum seines Leben-könnens nimmt ab an Reichtum und Fülle, und der Druck der unmittelbaren Nachwirksamkeit wird größer." (X, 20) Zum Wesen der Erfahrung jedes Lebens gehöre also, daß es „die Richtung auf den Tod hat" (X, 22). Für jede Lebensstufe kommt es darauf an, den Übergang in die neue Lebensphase in der erforderlichen Weise zu vollziehen: überlebte Erlebnismuster abzutun und neue anzunehmen und zu erfüllen. Dies betrifft auch die Einstellung zu den für die verschiedenen Lebensphasen maßgeblichen Werten und Werthierarchien. „Der Prozeß des Alterns vollzieht sich nur dann in einer innerlich befriedigenden und äußerlich fruchtbaren Weise, wenn bei den wichtigsten schubartigen Übergängen die freie Resignation auf die den vorhergehenden Altersstufen jeweilig spezifischen Werte rechtzeitig einsetzt, und sowohl die von dem Prozeß des Alterns unberührbareren seelischen und geistigen Werte, als die der kommenden Altersstufe spezifischen Werte einen genügenden Ersatz für das Entschwindende bieten." (III, 54) Scheler berücksichtigt auch die Frage der Umstrukturierung der Ordnung der drei Triebsysteme zueinander, der RaumZeiterfahrung, der Veränderungen im psychischen Leben, der Ich-Konstitution (XII, 308ff.). Er überträgt die Thematik des Alterns außerdem vom Individuum auf Gruppen und Gemeinschaftsformen, auf Zivilisationen und Kulturen (X, 219 ff.; XII, 312, 332 ff.), schließlich auf die Menschheit selbst als einer irdischen Gattung: nichts spreche dafür, daß sie ewig bestehen 209
werde, im Gegenteil: sie zeige deutliche Alterserscheinungen (XII, 115 f., 256, 309). Hinter all diesen Problemaufweisungen steht das wohl persönlichste Werkprojekt Schelers, das er unter dem Titel „Über Tod und Altern" seit 1914 vergeblich zum Abschluß zu bringen suchte. Die aus dem Nachlaß veröffentlichten Fragmente vermitteln nur eine unzureichende Vorstellung dieses Vorhabens.
5. Über den Ursprung des Menschengeschlechts Schelers Lehre vom Ursprung des Menschengeschlechts ist Bestandteil seiner Auffassung vom Kosmos als Geschichte: das Sein aller endlichen Dinge sei nicht etwas Konstantes und Bleibendes, sondern ein „geschichtliches Werdesein in der Zeit" (XII, 83). Er lehnt in den zwanziger Jahren die christliche Lehre von der Schöpfung des Menschen durch Gott strikt als eine „Oberklassenideologie" ab. Die positivistische Abstammungslehre Darwins lehnt er ebenfalls ab, sie sei einseitig und werde dem sehr viel reicheren Wesen des Menschen nicht gerecht. Diesen Lehren gegenüber führt Scheler das Auftreten des irdischen Menschen auf das metaphysische Prinzip des Lebensdrangs zurück (XII, 100): die Menschwerdung sei das Ergebnis der „größten Not, in die das Leben je auf diesem Planeten gelangt war, der größte .Sprung ins Dunkle', den es je gewagt: Das neue Leben durch Verleugnung des Lebens" (XII, 107). Der Ursprung des Menschen sei durch einen Mutationssprung aus dem Leiden des Allebens erfolgt, aus dem Spannungsdruck zwischen Drang und Geist in der Gottheit selbst.6 Die Seinssphäre des Lebendigen hat ein ihr eigentümliches Werdesein. Es gliedert sich von Anfang an auf in eine Vielzahl von Formen- und Artenkreisen (polyphylogenetische Abstammungslehre, nach der die verschiedenen Rassen der Menschen nicht blutsverwandt sind, XII, 108), die die Manifestationen des einen, metaphysischen Lebensdranges sind.7 Die Manifestation des Lebensdrangs in der spezifischen, von anderen (Pflanze, Tier) unableitbaren Wesensrichtung des Men210
sehen ist physiologisch dadurch bestimmt, daß sie den Großteil aller aufgenommenen Energien für sein Zentralnervensystem verbraucht. Der Mensch „ist vital eine ,schöpferische Synthese' aller Möglichkeiten des Lebens und aller Ausprobierung dieser Möglichkeiten" (XII, 101). Die Frage nach dem Ursprung erweist sich zugleich als eine Frage nach der Zukunft der Menschheit (IX, 150ff.; XII, 117). Ist sie so universal gestellt wie bei Scheler, dann erweitert sich die Frage nach der Zukunft zur Frage nach der Rolle des Menschen im zukünftigen Weltzeitalter und in der Welt überhaupt (vgl. Kap. IX).
6. Fragen der vergleichenden Anthropologie Scheler hat die vergleichende Anthropologie nur soweit behandelt, wie sie philosophisch-phänomenologisch relevante Probleme aufweist. Im Mittelpunkt stehen die Unterschiede, die zwischen Mann und Frau sowie zwischen den verschiedenen Rassen der Menschheit bestehen. Scheler spricht gelegentlich von der Aufgabe einer „Charakterologie" der Rassen, dann aber auch von Fragen des Alterns der Rassen und Kulturen, letztlich vom Altern und Tod der Menschheit überhaupt. Seine Auseinandersetzung mit verschiedenen Rassetheorien dienen vor allem der Widerlegung der These von der Einheit der Menschheit und der Menschheitsentwicklung - Scheler hält es für denkbar, daß in unabhängig voneinander verlaufenden Evolutionslinien sich unterschiedliche Menschenrassen gebildet haben. Alle diese Entwicklungen sind biologisch zum Abschluß gekommen, die Entwicklung einer neuen Menschenrasse sei nicht zu erwarten. Die Unterschiede zwischen Mann und Frau hat Scheler zwar durch alle Seinsdimensionen, an denen Menschen teilhaben, verfolgt, aber nicht mehr im Zusammenhang darstellen können. Metaphysisch betrachtet repräsentiere die Frau das Prinzip des Drangs, der Mann das des Geistes (XII, 239 f.). Wie im Werdeprozeß der Gottheit, so fordern sich auch in der Sphäre 211
der Menschheit Mann und Frau; beide sind einander zugeordnet. Die „wahre Aktivität" in der Menschheitsgeschichte hat Scheler bei der Frau gesehen, beim Mann dagegen die Schau der Ideen, der wesenhaften Ziele. Die Rhythmik der Kulturgeschichte sah er analog zu Nietzsche als Abwechslung der Dominanz des Weiblichen (Dionysischen) und des Männlichen (Apollinischen) (XII, 241 f.). Im Weltalter des Ausgleichs stehe ein Ausgleich zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen bevor. „Seit dem Untergang des Kultus der alten Mutter-Erdegöttinnen ist der abendländische Gottesgedanke immer einseitiger männlich und logisch gefärbt worden. [...] solange der Urgrund des Seins nur .reiner Geist' und ,Licht' sein soll, ihm nur ein geistiges Prinzip zuerteilt wird, nicht aber auch das Attribut des .Lebens', des .Dranges', ist er als Sein und Idee de facto ebenso einseitig viril-logisch erfaßt und gefaßt wie die klassische Idee des Menschen als .homo sapiens'." (IX, 159)
XII. Metaphysik In der Zeit, in der Scheler sein Studium absolvierte, galt Metaphysik als eine ihrem Wesen nach widersprüchliche und überholte Disziplin. Eucken war einer der wenigen, die an der Metaphysik festhielten. In seinem Sinne sprach sich Scheler in •seiner Dissertation für eine Metaphysik des Geistes aus (I, 89f.) und vertrat die metaphysische These von der Extramentalität der Wirklichkeit (I, 91). In „Arbeit und Ethik" (1899) erklärte er sogar, daß die Ethik ohne Metaphysik keinen logischen Halt habe (I, 195). In den folgenden Jahren hat Scheler sich jedoch zeitweilig von der Metaphysik fortentwickelt. In der Logik (1906) sagt er in aller Schärfe: „Nicht nur das Wort }Metapbysik', sondern auch die Sache, die damit bezeichnet wird, gründet in einem Gewebe von Mißverständnissen und Irrtümern." (S. 130) Von diesem Urteil ist Scheler in seiner mittleren Periode wieder mehr und mehr zurückgegangen. In den Überlegungen „Zur Phänomenologie und Metaphysik der Freiheit" (1912-14; X, 155-173) faßt er das metaphysische Problem der Freiheit als Frage nach der Realität einer graduell im Stufenbau der Na•turordnung wachsenden Freiheit und als Frage nach der Realität der absoluten Freiheit des Urwesens auf (X, 163). „Realität", eines der Grundprobleme der Metaphysik, wird aufgrund *ler phänomenologischen Reduktion prinzipiell von der Sphäre der Wesenheiten ausgegrenzt. So auch im posthum veröffentlichten Aufsatz über die „Absolutsphäre und Realsetzung der "Gottesidee" (1915-16; X, 179-253). Nur ist jetzt nicht die ^Realität überhaupt, sondern die Realität Gottes das zentrale Problem der Metaphysik, situiert im Grenzbereich zwischen Phänomenologie, Religionsphilosophie und Religion. Scheler bestreitet die Existenzberechtigung der natürlichen Theologie, »sofern unter diesem Namen nicht nur eine Wesenslehre vom 213
Göttlichen und Heiligen samt einer Phänomenologie der religiösen spontanen und aufnehmenden Akte (Anbetung, Beten, Glauben etc., Aufnahme der Gnade, der Offenbarung usw.) verstanden wird" (X, 183). Von der Realität Gottes erfährt der Mensch dagegen allein durch die Selbstoffenbarung Gottes. Da aufgrund der apriorischen Sphärenordnung jeder Mensch teilhat an der Sphäre des Absoluten, kann er nicht umhin, die Wesensidee des Absoluten realiter auszufüllen, selbst dann, wenn Gott sich dem Menschen nicht offenbart: der Mensch glaubt entweder an Götzen oder an Gott, nie aber an nichts. Indem Scheler die Metaphysik von der Religion abgrenzt, wird sie ihm zu einer Philosophie des Absoluten ohne Glauben (X, 207). Metaphysik sei „wahr" nur als Vor-Religion, angewiesen auf die Offenbarung, durch die sie zugleich überflüssig wird so hält Scheler die Metaphysik als Philosophie des Absoluten auch jetzt noch für eine „widersinnige Sache" (X, 215). Dies betrifft indessen nicht die „relative Metaphysik", die die apriorischen materialen Grundbegriffe der verschiedenen daseinsrelativen Sphären (Seele, Natur, Leben, Geschichte usw.) mit dem Absolut-Realen zu vermitteln sucht. Die gewonnenen Erkenntnisse behalten einen hypothetischen Charakter, beanspruchen aber eine spezifische Evidenz, die Scheler als „Ahnungsevidenz" bezeichnet (X, 216f.). Mit der in den Jahren 1915/16 entworfenen Skizze der relativen Metaphysik nimmt Scheler vorweg, was er später als Problem der Metaszienzien entwickeln wird. Zur mittleren Periode gehört auch die Lehre von der geschichtlichen Entwicklung der „natürlichen Befriedigungsformen" des „metaphysischen Hanges" (Kant), wie er sich in der „natürlichen Weltanschauung" vorfindet. Die Befriedigungsformen des metaphysischen Hanges kommen in verschiedenen Formen zum Ausdruck - in Völkermythen, Weltanschauungsund Ethosformen der geistig herrschenden Schichten oder in den metaphysischen Systemen einzelner Denker. Sie alle stimmen darin überein, daß sie „gewisse Sachen endlichen Wesens" (Seele, Denken, Wille, Leben usw.) in die Absolutsphäre setzen (X, 218). Durch die christliche Offenbarung weiß sich Scheler 214
jedoch diesen Formen natürlicher Weltanschauung enthoben. Deshalb erhält die Philosophie die Aufgabe, die überlieferten Metaphysiken als „metaphysische Täuschung" aufzudecken und gleichsam als Arzt eine Purgation des Zeitgeistes herbeizuführen (X, 217 ff.). Nach einer solchen Vorgeschichte muß es überraschen, daß Scheler in der nach 1917 entstandenen Abhandlung über die Probleme der Religion eine Lehre vom „Konformitätssystem" zwischen Religion und Metaphysik entwickelt hat. In dem einleitenden Abschnitt, der wie üblich die Typik der bisherigen Anschauungen behandelt, in diesem Fall die Anschauungen über das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie (V, 124-142), beschreibt er die „Traditionalisten" als diejenigen, die die Metaphysik in die Offenbarungslehre aufgehen lassen, indem sie die metaphysischen Lehren dazu benützen, den Glaubensgehalt formal zu rationalisieren und zu systematisieren (V, 131). Die Gnostiker hingegen lösen den Glaubensgehalt in Metaphysik auf. Beiden setzt er nun die Überzeugung vom selbständigen Ursprung der Metaphysik im Geiste des Menschen entgegen - selbständig in Hinsicht auf die Problemstellung, den Gegenstand, die Methode und die geschichtlichen Entwicklungsgesetze der Metaphysik (V, 131; 134 ff.). Scheler behauptet die Identität wenigstens eines Teilmomentes von Religion und Metaphysik, nämlich die „Realidentität des Weltgrundes der Metaphysik und des Gottes der Religion" (V, 136). Daß die religiöse Gottesidee und der philosophische Begriff des Ens a se nicht nur „an sich", sondern auch „für uns" konvergieren, führt Scheler auf den apriorischen Satz von der Einheit des Menschengeistes in allen seinen Akten (z.B. den religiösen und philosophisch-geistigen Akten) zurück (V, 136; 143). Der „adäquateste Gottesbesitz" könne erst durch die „widerstreitlose und widerspruchslose Zusammenschau des religiösen Gottes und des metaphysischen .Weltgrundes' erzielt werden" (V, 137). Trotz der prinzipiellen Selbständigkeit sowohl von Religion als auch von Metaphysik behauptet Scheler, daß in der hierarchischen Ordnung der GeistAkte der religiöse Akt der ursprünglichste sei und der meta215
physische Erkenntnisakt dem religiösen nachfolge (V, 148 f.). Alle metaphysischen Systeme bewegen sich im Spielraum vorgegebener religiöser Grundkategorien. Sie vermögen deren Geltung niemals zu sprengen, es sei denn, es treten neue Religionen auf, wofür es aber in der Gegenwart keine Anzeichen gebe. In dem Bericht über die deutsche Philosophie der Gegenwart (1922) nennt Scheler als erstes Moment einer Philosophie, „auf die hin das beste der gegenwärtigen Arbeit zielt", die „universale, durch die nationalen Mythen nicht gebundene, mit traditionalistischen Schulstandpunkten und ihren terminologischen Geheimsprachen prinzipiell brechende S
Religion, sondern die sehr viel breiter ausgreifende Wissenssoziologie soll das Eingangstor öffnen „für streng methodisches metaphysisches Erkennen und Denken" (VIII, 11). Seine neue Metaphysik sei „in tiefreichenden Erschütterungen insbesondere seiner religiösen Gedankenwelt in den letzten fünf Jahren in ihm langsam zur Reife und zur Klarheit gekommen" (VIII, 11). Scheler will versuchen, das Daseinsrecht der Metaphysik „gegen die sie eng begrenzenden und zugleich erstarrenden Ansprüche der Offenbarungskirchen neu zu begründen" (VIII, 11). Die Offenbarungsreligion umgrenzt nun nicht mehr den Spielraum metaphysischen Wissens, sondern wird in den geschichtlichen Prozeß der Kirchen- und Dogmenbildung zurückversetzt, der „das selbständige metaphysische Erkennen und Denken noch weit tiefgehender und machtvoller untergraben hat als selbst die Theorie und die einseitige, ja zeitweise fast ausschließliche Praxis einer nur positivistisch-pragmatischen Arbeits- und Leistungswissenschaft" (VIII, 12). Gegenstand der Metaphysik sind nun nicht mehr die traditionellen Fragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, sondern die jeweiligen Gott-, Welt- und Selbstauffassungen, die eine unzerreißbare Struktureinheit bilden (IX, 68). Die moderne Metaphysik sei nicht mehr „Kosmologie und Gegenstandsmetaphysik, sondern Metanthropologie und j4&tmetaphysik" (IX, 83). Im folgenden beschränke ich mich überwiegend auf die späte Metaphysik, die Scheler nach der Aufgabe des theistischen Standpunkts (1922/23) zunächst in Vorlesungen, dann fragmentarisch in verschiedenen Veröffentlichungen entwikkelt hat, vor allem in der Schrift über die Stellung des Menschen im Kosmos und in seiner letzten Veröffentlichung, dem Artikel „Philosophische Weltanschauung" (1928; IX, 75-84). Seine Ausführungen zeigen, daß er sich - allerdings nicht streng und nicht ausschließlich - nach den Gesichtspunkten richtet, die er in der Wissenssoziologie für die Erörterung der obersten Wissensarten zusammengestellt hat: Ursprungsemotion, Person- oder Vorbildtypus, Erkenntnisquellen und -methoden, Bewegungsformen der Entwicklung, soziale Grund217
formen des Wissenserwerbs und der Wissensvermittlung, die gesellschaftlichen Funktionen (vgl. XI, 14 f.).
1. Der Begriff der Metaphysik In der Vorlesung von 1923/24 definiert Scheler die Metaphysik als Versuch der „Teilhabe des Menschen am absolut Wirklichen durch spontane Vernunftserkenntnis" (XI, 11). Als spontane Vernunfterkenntnis stellt sie ein ursprüngliches Wissen dar, das unabhängig von aller Religion besteht. Teilhabe am „absolut Wirklichen" bedeutet primär Erkenntnis des Weltgrundes als einer unbedingten Realität, dann aber auch die Erkenntnis, daß jeder Teil der Wirklichkeit und alle Wirklichkeitssphären im absolut Realen verwurzelt sind. Als Realerkenntnis unterscheidet sich die Metaphysik von allen bloßen Formal- und Ideenwissenschaften (Logik, Mathematik, Wesensontologie). Mit der Aufgabe, die Verwurzelung der Teilbereiche der Wirklichkeit im absolut Wirklichen nachzuweisen, entstehen die Erkenntnisaufgaben der „Metaszienzien" - Metabiologie, Metapsychologie, Metahistorie usw. Diese den Objektbereichen, d.h. der Welt zugewandte Bestimmung des Metaphysikbegriffs hat auch eine dem erkennenden Subjekt zugewandte Dimension: Die Metaphysik hat zu erkennen, wie „der Mensch am absolut Wirklichen der Dinge teilgewinne, und wie an seinen verschiedenen Seiten, sei es durch Denken, Sinneswahrnehmung, Intuitio, durch Gefühl, Trieb, Wille, ob mittelbar oder unmittelbar (mystisch irrationaler Metaphysik, z.B. Schopenhauer), ferner durch welche Praxis und Technik des Lebens und seines geistigen Verhaltens" die Teilhabe erfolgt (XI, 12) - nur das Ganze des Menschen kann am Ganzen der Wirklichkeit teilhaben, dem Makrokosmos muß der Mikrokosmos der Erkenntnisakte genau entsprechen. Die Fähigkeit zur Totalität muß der Mensch allererst freisetzen. Den „metaphysischen Hang", seine metaphysische Naturanlage, erfährt der Mensch durch das Staunen, in dem schon 218
Platon und Aristoteles den Ursprung der Philosophie gesehen haben. Scheler bestimmt das Staunen als emotionalen Ursprung der Metaphysik, sofern es zur radikalsten aller Fragen führt, warum „ überhaupt Etwas ist und nicht lieber Nichts" (V, 134 u.ö.). Die Antwort, daß überhaupt etwas und nicht Nichts ist, bildet die erste und die grundlegende Evidenz der Evidenzordnung (vgl. Kap. 4). In der Metaphysikvorlesung 1923/24 hat Scheler das gesamte, zwischen dem Subjekt metaphysischer Erkenntnis und dem absolut realen Ens a se sich erstreckende Problemfeld der Metaphysik in einen formalen und einen materialen Teil gegliedert. Der formale Teil umfaßt die „Wesenslehre und Typologie der metaphysischen Systeme und Weltanschauungen", d.h. die sog. Weltanschauungslehre, sowie die „Erkenntnis- und Methodenlehre der Metaphysik als positive Erkenntnis" (XI, 14). Hierzu gehört auch die kritische Auseinandersetzung mit den Gegnern der Metaphysik. Beide Abschnitte dienen der Vorbereitung des materialen Teils, indem sie die überlieferten Fragestellungen der Metaphysik systematisch einer kritischen Revision unterziehen. Der materiale Teil stellt Schelers eigene positive Lehre der Metaphysik dar. Sie gliedert sich ebenfalls in zwei Abschnitte. Der erste umfaßt die Lehren der Metaszienzien, einschließlich der Logik und Erkenntnistheorie, auch der Erkenntnistheorie der Metaphysik selbst. Der zweite Abschnitt stellt den krönenden Abschluß der Metaphysik dar: die Lehre vom Grunde aller Dinge, dem Ens a se, bzw. die „Gotteslehre". Diese beiden Abschnitte hat Scheler auch als Metaphysik erster und zweiter Ordnung bzw. erster und zweiter Art bezeichnet (IX, 81; XI, 125). In der Vorlesung von 1920/21, in der sich Scheler noch weitgehend an seine Lehre vom Konformitätssystem gehalten hat, ist der zweite Abschnitt der materialen Metaphysik ohne Hervorhebung in die Reihe der Metaszienzien eingeordnet worden.1 Nun aber hat sich dieser von den Metaszienzien abgelöst und ist zum eigentlichen Schwerpunkt von Schelers Metaphysik geworden: „Im Teile II werde ich also diejenige Metaphysik entwickeln, die sich meiner Forschung allmählich 219
im Laufe der Jahre (insbes. der letzten drei Jahre) herausgestellt hat, und ich werde damit zum ersten Male in einer Vorlesung einen Gesamtüberblick geben über den systematischen Gedankenbau meiner philosophischen Welt- und Gottesansicht, einen Überblick, in dem alle meine weitschichtigen [Untersuchungen über die verschiedenen]2 Gebiete der Philosophie ihren letzten Sinn erst gewinnen werden." (XI, 14) Scheler hat den Gesamtüberblick über den systematischen Gedankenbau seiner philosophischen Welt- und Gottesansicht nicht mehr ausführen können. Es sei dahingestellt, ob und ggf. inwieweit es möglich ist, aus den überlieferten Fragmenten seiner Spätphilosophie den von Scheler visionär vorweggenommenen „systematischen Gedankenbau" zu rekonstruieren. Die folgenden Bemerkungen beschränken sich auf Angaben zu den Grundzügen der beiden genannten Abschnitte der materialen Metaphysik.
2. Zur Metaphysik erster Ordnung: die Metaszienzien Inhalt und Erkenntmsaufgabe der Metaszienzien ergeben sich aus ihrer Mittelstellung zwischen den Einzelwissenschaften und der Metaphysik zweiter Ordnung: die matenalen Grundbegriffe bzw. die Grenzprobleme der positiven Wissenschaften sollen mit der Lehre vom Weltgrund vermittelt werden (XI, 12) - so hat Scheler die Aufgabe der Metaphysik bereits in seiner mittleren Periode bestimmt. Um eine einseitige Abhängigkeit der Metaphysik von der Erkenntnisform einer einzigen Wissenschaft (z.B. der Mathematik) zu vermeiden und um dem der Metaphysik innewohnenden Anspruch auf Erkenntnis des Grundes der gesamten Wirklichkeit gerecht zu werden, hat die Metaphysik erster Ordnung die Aufgabe, die Metaszienzien in toto zu entfalten. Deshalb können sie auch nicht bloß additiv nebeneinander gestellt werden, müssen sich vielmehr in ein durchstruktunertes System einordnen lassen, weil nicht von vornherein als gesichert gelten kann, daß in den bestehenden Wissenschaften auch 220
tatsächlich alle Bereiche der Wirklichkeit und die ihnen korrelierenden Erkenntnisformen berücksichtigt sind. Erst die „Wesenssystematik der Welt" (VII, 296) stellt das von Scheler geforderte adäquate Sprungbrett zur Metaphysik dar. Wenn Scheler immer wieder einmal verschiedene Metaszienzien aufzählt, wie z.B. „Metapsychologie, Metamathematik, Metahistorie, Metabiologie, Metasoziologie usw., Metanoetik" (XI, 12),3 dann läßt sich dem zweierlei entnehmen: daß sich erstens die Metaprobleme nicht auf die Bereiche der äußeren Wirklichkeit beschränken, sondern sich auf alle Seinsbereiche erstrecken sollen, einschließlich der psychischen Realität, des geistigen Aktseins und des Wert-Seins (XI, 54-71); demzufolge wäre die erste Quelle metaphysischer Erkenntnis in der Wesensontologie der Sphären und des Menschseins zu sehen. Zweitens liegt eine Erkenntnisquelle in den Grund- und Grenzproblemen der aufgezählten Wissenschaften, wie sie sich auf dem erreichten Stand der Forschung darstellen. Da es illusorisch ist, daß ein Metaphysiker alle Wissenschaften in ihrem aktuellen Forschungsstand zur Kenntnis nehmen kann, hat Scheler, um dem Universalitätsanspruch einigermaßen zu entsprechen, seine Forderung auf exemplarische Wissenschaften der beiden Hauptgruppen beschränkt (Natur- und Geisteswissenschaften). Er selber hat sich überwiegend an den Naturwissenschaften orientiert. Ihre wichtigsten, wegweisenden Ergebnisse sah er in der Elektronentheorie, in Einsteins Relativitätstheorie, Max Plancks Quantentheorie und in den neovitalistischen Versuchen, den Organismus mit übermechanischen Agenden zu erklären (VII, 268). Man erkennt aus der Gegenüberstellung der beiden Ansätze, daß die ahistorische Wesensontologie einerseits und die fortschreitende positivwissenschaftliche Forschung andererseits leicht in ein Spannungsverhältnis geraten können, das von der Metaphysik nur schwer auszugleichen ist. Scheler hat, wenn auch nicht durchgängig, noch eine dritte Erkenntnisquelle der Metaphysik angeführt: die „natürliche Weltanschauung", wobei er vermutlich die „relativ natürliche Weltanschauung" im Auge gehabt hat.4 Der Grund, der natür221
lichen Weltanschauung eine so wichtige Rolle zuzuerkennen, liegt wohl darin, daß allein durch sie der gemeinsame Ursprungsboden der positiven Wissenschaften und der Wesensontologie mit der „natürlichen" Art von Wirklichkeitskonstitution in die metaphysische Aufgabenstellung einbezogen werden kann. Vom systematischen Universalprogramm der Metaszienzien hat Scheler nur einzelne Teilbereiche behandeln können,5 aus denen nicht einmal erkennbar ist, ob er wirklich die Absicht gehabt hat, alle Bereiche der Metaszienzien einer einheitlichen kategorialen Durchdringung zu unterziehen. Die metaphysischen Erkenntnisse der Metaszienzien können nur eine Form und Geltung annehmen, wie sie den Erkenntnisquellen und der Brückenfunktion der Metaszienzien entsprechen: der Vermittlung zwischen apriorischen wesensontologischen Einsichten, dem geschichtlichen Stand der Wissenschaften und der natürlichen Weltanschauung einerseits und den Vernunfterkenntnissen des Weltgrundes andererseits. Scheler hat die Erkenntnisform der Metaszienzien im ersten Band der geplanten Metaphysik kritisch rechtfertigen wollen, doch ist er kaum weiter als bis zur Umschreibung ihrer Aufgabenstellung gelangt.6 In seinem Aufsatz über Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung (1922) schreibt er generalisierend: „Metaphysik besteht in einer Integrierung dieser drei Formen des Welterkennens, insofern sie - gerichtet auf das absolute Daseiende - dessen Formen den Daseinsformen der Gegenstände natürlicher Weltanschauung gleichsetzt, allen stets nur anthropozentrischen, menschhch-daseinsrelativen Gehalt natürlicher Weltanschauung aber verwirft; insofern sie die materialen Prädikate ihrer Urteile und die Obersätze ihrer Schlüsse ausschließlich der apriorischen Erkenntnis der reduzierten Wesenswelt entnimmt; insofern sie endlich die Subjekte ihrer Urteile und die Untersätze ihrer Schlüsse aus den Realitätserkenntnissen der positiven Wissenschaft aufnimmt." (VI, 20) Die Integration des Wissens der drei unterschiedlichen Erkenntnisquellen erfolgt also nicht nach Maßgabe einer dieser Erkenntnisquellen allein, sondern durch eine für die Metaphy222
sik spezifische Form der Urteilsbildung. Die Möglichkeit, aber auch die Problematik dieser Urteilsbildung beruht auf dem Subjekt metaphysischer Erkenntnis, der endlichen Person, die einerseits als geistige Person ein monarchisches Gefüge von geistigen Akten darstellt, als Vitalwesen aber mit den Realitätsdimensionen der natürlichen Weltanschauung und der positiven Wissenschaften verbunden ist. Die phänomenologische Reduktion reißt eine radikale Kluft zwischen dem Sosein und dem Dasein, zwischen der Geistsphäre mit ihren wesensontologischen Erkenntnissen und der Realitätssphäre mit der Vielfalt der natürlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisformen auf. Die gesuchte Einheit metaphysischer Erkenntnis, das philosophische Bildungswissen als Mikrokosmos, ist auf der Ebene der Metaszienzien allein nicht zu gewinnen. In den späteren zwanziger Jahren hat Scheler nicht mehr allein die geistige Person, sondern den Menschen, konstituiert aus Geist und Drang, zum Subjekt metaphysischer Erkenntnis erhoben - Metaphysik ist nur möglich aufgrund der Doppelteilhabe des Menschen am Weltgrund (XI, 90). Er kann erst dann den Anspruch erheben, Mikrokosmos zu sein, wenn er in seiner eigenen Existenz das Prinzip des Geistes mit dem Prinzip des Dranges zum Ausgleich gebracht hat und dadurch zum Spiegel der Einheitsstruktur der Gottheit geworden ist („Mikrotheos") - falls es eine solche Einheitsstruktur überhaupt gibt. Von einem solchen Standpunkt aus muß der Gedanke des Ausgleichs als der Schlüssel zum gesamten Werdeprozeß der Gottheit erscheinen. Zugleich wird sichtbar, in welchem Maße Metaphysik persongebunden ist - und wie wenig überzeugend es ist, wenn Scheler das Korrelationsgesetz Zwar in allen Dimensionen der Philosophie aufrecht erhält, aber gerade an diesem entscheidenden Punkt der Metanthropologie ersatzlos streicht: die Person des Metaphysikers läßt als ihren Gegenpol anstelle eines persönlichen Gottes nur mehr ein unpersönliches Walten des Werdeprozesses der Gottheit ZU, die aus Gründen, die menschlicherseits nicht einzusehen sind, sich ab und an zur Person eines Metaphysikers „konzentriert". 223
Die Eigentümlichkeit des metaphysischen Wissens bedingt auch das Wachstumsgesetz metaphysischer Erkenntnis. Während das Wissen aus der ersten und dritten der genannten Quellen Evidenz beanspruchen, prinzipiell auf jeder Stufe der Geschichte erreicht werden und sich fortschreitend, wenn auch nicht kontinuierlich erweitern kann, ohne daß dadurch frühere Erkenntnisse entwertet werden, ist die Metaphysik durch die zweite Erkenntnisquelle an den Forschungsstand der positiven Wissenschaften gebunden. Sie ist dadurch notwendigerweise geschichtlich bedingt, so daß ihre Erkenntnisse immer den Charakter von nur hypothetischer und wahrscheinlicher Erkenntnis haben und, vermittelt durch und begrenzt auf den Stand einzelwissenschaftlicher Forschung, Ausdruck des Zeitgeistes ist. Das Wissen der Metaphysik „wächst" noch in einer anderen Dimension. Die Integration des positiven Wissens mit den beiden anderen Erkenntnisquellen vollzieht sich nach dem Gesetz einer der grundsätzlich möglichen Typen der Metaphysik, wie Scheler mit Dilthey sagt. Durch die Geschichte und die verschiedenen Persontypen hindurch wächst sie als Ausgestaltung eines der wesensgesetzlich möglichen Grundtypen der Metaphysik, so daß ihr auch hierdurch eine bestimmte Zeitbedingtheit bzw. Gestaltung des Ausdrucksgehalts einer Zeit zukommt.
3. Metaphysik zweiter Ordnung: Die Lehre vom Ens a se Die letzten Seiten über die Stellung des Menschen im Kosmos geben einen Ausblick auf Schelers Metaphysik zweiter Ordnung. Dies ist auch formell aufschlußreich: Allein über die Anthropologie erschließt sich die Lehre vom Ens a se, d.h. allein nach Maßgabe der Teilhabe, die der Mensch am Ens a se gewonnen hat. Die Anthropologie kann aber nur dann angemessen das Wissen des Absoluten eröffnen, wenn sie sich zur „Metanthropologie", zu einer Erkenntnis der metaphysischen Struktur des Menschseins gewandelt hat. Die enge Wechselbeziehung zwischen Anthropologie und Metaphysik ist be224
zeichnend für die Ablösung der Metaphysik von der religionsphilosophischen Thematik in Schelers Spätphilosophie: Aus dem Strukturaufriß des menschlichen Wesens ergibt sich mit „innerer Notwendigkeit" die „formalste Idee eines überweltlichen unendlichen und absoluten Seins" (IX, 67). Die Struktur des Menschseins besteht nicht aus der psychophysischen Organisation des Menschen; dieses würde nur zu einer einseitig naturalistischen Metaphysik führen, die bereits auf der Ebene der Metaszienzien zu kritisieren wäre. Vielmehr muß der Gegenpol zur psychophysischen Organisation mitberücksichtigt werden, nämlich der Geist. Ohne die Erfahrung seiner selbst als Geistwesen bliebe der Mensch in den universalen Gesamtorganismus der Naturvorgänge eingebunden: „Hat sich der Mensch - das gehört ja zu seinem Wesen, ist der Akt der Menschwerdung selbst - einmal aus der gesamten Natur herausgestellt und sie zu seinem .Gegenstande' gemacht, so muß er sich gleichsam erschauernd umwenden und fragen: ,Wo stehe ich denn selbst? Was ist denn mein Standort?' Er kann nicht eigentlich mehr sagen: ,Ich bin ein Teil der Welt, bin von ihr umschlossen' - denn das aktuale Sein seines Geistes und seiner Person ist sogar den Formen des Seins dieser ,Welt' in Raum und Zeit überlegen. So schaut er gleichsam bei dieser Umwendung hinein ins Nichts: er entdeckt in diesem Blicke gleichsam die Möglichkeit des ,absoluten Nichts' - und dies treibt ihn weiter zur Frage: ,Warum ist überhaupt eine Welt, warum und wieso bin ,ich' überhaupt?'" (IX, 67f.) Hat der Mensch die Kontingenz der Welt und seiner selbst entdeckt, und diese Entdeckung ist wesensgenetisch vorgeprägt in der Erkenntnis seiner selbst als eines Natur- und Welt-enthobenen Geistwesens, dann ergeben sich prinzipiell zwei Verhaltensmöglichkeiten. Er kann sich zum einen darüber wundern, daß in ihm ein Prinzip der Distanzierung von den Naturprozessen und zugleich ein Prinzip der Erkenntnis aller Dinge gegeben ist - der Mensch kann danach streben, sich dieses Geistprinzips systematisch und vollständig zu vergewissern und es als das Absolute überhaupt zu begreifen - dies wäre der Ursprung der Metaphysik. 225
Der Mensch kann sich aber auch zum anderen dem aus der Erkenntnis der Kontingenz entstandenen Drang nach Bergung und Rettung überlassen und aufgrund des ungeheuren Phantasieüberschusses, den er im Unterschied zum Tier hat, die durch die Entdeckung des Nichts aufgerissene Absolutsphäre mit „beliebigen Gestalten bevölkern, um sich in deren Macht durch Kult und Ritus hineinzubergen, um etwas von Schutz und Hilfe .hinter sich' zu bekommen, da er im Grundakt seiner Naturentfremdung und -vergegenständlichung - und dem gleichzeitigen Werden seines Selbstseins und Selbstbewußtseins - ins pure Nichts zu fallen schien" (IX, 69). Der sich als unbezwinglich erweisende Drang nach Rettung und Bergung führt zur Religion. Scheler leugnet in seiner Spätphilosophie die theistische Voraussetzung eines geistigen, in seiner Geistigkeit allmächtigen persönlichen Gottes. Die metaphysische Lehre, die er dem Theismus entgegensetzt, ist ein Panentheismus des werdenden Gottes: „Für uns liegt das Grundverhältnis des Menschen zum Weltgrund darin, daß dieser Grund sich im Menschen - der als solcher sowohl als Geist- wie als Lebewesen nur je ein Teilzentrum des Geistes und Dranges des ,Durch-sich-Seienden' ist ich sage: sich im Menschen selbst unmittelbar erfaßt und verwirklicht." (IX, 70) Der Mensch ist der Ort der Selbstverwirklichung des Absoluten. Wesensontologisch qualifiziert er sich dazu deshalb, weil er, wie Scheler unter Berufung auf Aristoteles sagt, in gewissem Sinne alles ist. „Nach dieser Idee ist der Teil Mensch mit dem Ganzen der Welt zwar nicht daseins-, wohl aber wesensidentisch, und das Ganze der Welt im Menschen als einem Teile der Welt voll enthalten. Die Wesenheiten aller Dinge schneiden sich im Menschen und alle sind im Menschen solidarisch." (IX, 90) Der Mensch ist dabei nicht bloß ein Durchgangsmedium, sondern er ist Miterzeuger des werdenden Gottes. Der Mensch ist somit „der einzige Ort der Gottwerdung, der uns zugänglich ist - aber ein wahrer Teil dieses transzendenten Prozesses selbst. Denn obzwar alle Dinge im Sinne einer kontinuierli226
chen Kreation in jeder Sekunde aus dem Durch-sich-seiendenSein hervorgehen aus der funktionellen Einheit des Zusammenspiels von Drang und Geist, so sind doch erst im Menschen und seinem Sein diese beiden - uns erkennbaren — Attribute des Ens per se lebendig aufeinander bezogen. [...] So wenig der Mensch zu seiner Bestimmung gelangen kann, ohne sich als Glied jener beiden Attribute des obersten Seins und dieses Seins sich selbst einwohnend zu wissen, so wenig das Ens a se ohne Mitwirkung des Menschen." (IX, 70f.) Geist und Drang stellen sich als die beiden einzigen uns erkennbaren Attribute des transzendenten Absoluten dar, das an sich selbst, wie Scheler mit Spinoza sagt, noch unendlich viel mehr Attribute haben mag. Als Attribute sind die beiden Attribute nicht von der gleichen Absolutheit wie das Ens a se. Sie müssen sich erst im Laufe der Geschichte gegenseitig durchdringen, und sie müssen in diesem Durchdringungsprozeß selber noch wachsen und sich entfalten - ein Wachstumsprozeß, an dem sowohl die Manifestationen in der Geschichte des menschlichen Geistes mitwirken als auch die Evolution des Lebens in der Welt. Nach Maßgabe des im Menschen zur Selbsterkenntnis gelangenden Dualismus von Geist und Leben konzipiert Scheler die Eigenschaften des Ens a se. Den Rückschluß von dieser Basis auf das Absolute bezeichnet Scheler in seinem Aufsatz über die „Philosophische Weltanschauung" als „transzendentale Schlußweise" (IX, 82). Sie beruht auf der Einsicht, daß das Sein der Welt von uns endlichen, kontingenten Lebe- und Geistwesen unabhängig ist, gleichwohl aber strenge Wesenszusammenhänge zwischen Aktarten einerseits und Seinsregionen andererseits bestehen. Deshalb müsse dem Weltgrund „alles das an Akten und Operationen zugeschrieben werden, •was uns vergänglichen Wesen diesen Zugang gibt. [...] Wir können nichts anderes tun, als die Seinsbereiche, die unabhängig vom kurzlebigen Menschen sind und bestehen, auf die Akte eines einzigen übersingulären Geistes beziehen, der ein Attribut des Urseienden sein muß, im Menschen tätig ist und durch ihn wächst" (IX, 82). 227
Die transzendentale Schlußweise muß sich aufgrund der Doppelteilhabe des Menschen am Weltgrunde auf zwei Seinsebenen vollziehen: auf der des Geistes und auf der des Lebensdranges. Beide müssen so erfolgen, daß sie im ersten Grundbegriff von Schelers Metaphysik überhaupt, dem Ens a se, als koinzidierend gedacht werden können. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, daß Scheler sowohl den Geist als auch die Wirklichkeit dynamisiert: die Wirklichkeit geht letztlich auf das Alleben, den Lebensdrang des Ens a se zurück, der Geist auf dessen geistige Aktvollzüge. Beide, der Geist und der Drang, faßt Scheler als Attribute des Ens a se auf - als die einzigen Attribute des Ens a se, die für uns, die sterblichen und endlichen Menschen, erkennbar sind. Die Frage, inwiefern dem Ens a se noch weitere Attribute zuzusprechen sind, und falls es dafür Gründe gibt, in welchem Verhältnis sie zu den uns erkennbaren stehen, würde zu Spekulationen führen, die (noch) nicht zu beantworten sind. Da Geist und Lebensdrang gleichursprünghch das Wesen des Menschen bestimmen und beide auf das Ens a se zurückgehen, ist auf beiden Wegen eine Teilhabe des Menschen am Ens a se möglich. Den Weg über den Lebensdrang bezeichnet Scheler als den „dionysischen Weg" zu Gott (IX, 83). Durch das Sich-Versenken und ekstatische Einsfühlen mit dem Triebleben der Natur erfährt der Mensch den gotthaften Drang der „Natur in Gott", wie Scheler in stillschweigender Übernahme Schellingscher Ideen sagt. Der dionysischen Grundrichtung gehöre die Zukunft (XII, 242). Der Weg über das Geistprinzip erfolgt über den Vollzug der geistigen Aktarten, die Scheler als wesensidentisch mit dem göttlichen Geist versteht, und zwar in dem Sinne, daß erst der Mensch die geistigen Bestimmungen vollzieht, die im Ens a se nur potentialiter bestehen. Auf welche Weise die im Geist des Ens a se potentialiter gegebenen Bestimmungen eine maß-setzende Funktion gegenüber den Aktvollzügen des endlichen Geistes ausüben können, hat Scheler nicht gezeigt. Auf der Basis der Metanthropologie ist es möglich, eine „Aktmetaphysik" zu entwickeln, derzufolge das Ens a se als 228
absolutes Akt-Sein aufgefaßt wird, das sich einerseits als Lebensdrang, andererseits als Geistesakt entfaltet. Eine solche Aktmetaphysik läßt keinerlei „Statik" zu, die Ding-Kategorien lösen sich in Energien und Prozesse auf, ebenso lösen sich die Grenzen zwischen dem Endlichen und Unendlichen auf: „Der Mensch also ist nicht Nachbildner einer an sich bestehenden oder schon vor der Schöpfung in Gott fertig vorhandenen .Ideenwelt' oder .Vorsehung', sondern er ist Afiibildner, Mitstifter und Λ/zfvollzieher einer im Weltprozeß und mit ihm selbst werdenden ideellen Werdefolge." (IX, 83) Der Mensch übernimmt, analog zu den Realfaktoren, die Funktion des Öffnens der Schleusen für das Werden der Gottheit, denn er ist „das Seiende, in dessen freier Entscheidung Gott sein bloßes Wesen zu verwirklichen und zu heiligen vermag. [...] In seinem Menschsein, das ein Sein der Entscheidung ist, trägt der Mensch die höhere Würde eines Mitstreiters, ja Mitwirkers Gottes, der die Fahne der Gottheit, die Fahne der erst mit dem Weltprozeß sich verwirklichenden ,Deitas', allen Dingen vorzutragen hat im Wettersturm der Welt." (IX, 84)
XIII. Zur Wirkung Martin Heidegger hat in seinen Gedenkworten vom 21. 5. 1928 Max Scheler als „die stärkste philosophische Kraft im heutigen Deutschland" bezeichnet, nicht nur in Deutschland, „nein, im heutigen Europa — sogar in der gegenwärtigen Philosophie überhaupt."1 Ähnlich lautete es in einigen Nekrologen, andere fielen dagegen sehr viel nüchterner, zum Teil kritisch aus.2 Die weit auseinandergehenden Würdigungen des Lebenswerkes zeigen, daß das „Phänomen Scheler" zwar nach wie vor umstritten war, aber eine ungewöhnlich breite und starke Präsenz im öffentlichen Bewußtsein hatte. Scheler hat nicht Schule gemacht, dazu war seine Philosophie zu sehr an seine Person gebunden, und die durchlief zuviele Metamorphosen. Viele, die ihn kennengelernt hatten, bezeugten, daß das gesprochene Wort in Vorträgen und Gesprächen unvergleichlich viel inspirierender gewesen ist als seine Schriften. Scheler war sich dessen bewußt und er hat sein Talent genutzt - keiner seiner Kollegen ist zu Vorträgen soviel unterwegs gewesen wie er. Keyserling sprach von seiner Sanyassi-Zeit, als er wie ein indischer Wanderer von Stadt zu Stadt zog3 - sein Leben lang. Keiner der zeitgenössischen Philosophen war ein so gesuchter Redner, selbst dann nicht, als sich herumgesprochen hatte, daß er viele Zusagen zu öffentlichen Auftritten nicht einhielt. Man soll Wetten darauf abgeschlossen haben, daß er zu einem festgelegten Termin nicht kommen werde. Er ist als ein verschwenderischer Geist bezeichnet worden, der in seinen Vorlesungen und Vorträgen freigiebig seine Ideen ausstreute, mit denen andere dann gewuchert haben.4 Doch so verschwenderisch war Scheler wiederum auch nicht, daß er nicht eifersüchtig darüber gewacht hätte, wer seine Gedanken aufnahm und welche Früchte sie zeitigten. In den Vorworten 230
zu den Neuauflagen seiner Schriften hielt er es für seine Pflicht, dem Publikum über die Wirkung seiner Lehren Bericht zu erstatten; so wurde er der erste Chronist seiner Wirkung. Da zählte er dann auch so manchen Autor auf, der sich eines nennenswerten Einflusses von Schelers Philosophie gar nicht bewußt war, etwa Spranger oder Jaspers. In Briefen konnte er sich sehr über vermeintliche Plagiatoren erbosen, z.B. über seine Münchner Mit-Phänomenologen (A. Fischer, A. Pfänder), über P. Wust oder Plessner. In den Vorworten tritt jedoch noch eine andere Seite seines Wesens in Erscheinung: mit einer seltenen Unbekümmertheit um Renommee und Werk trennte er sich von früheren Überzeugungen und stellte dadurch die Anhänger bloß, die er durch sie gewonnen hatte. Indem er bedenkenlos den Augenblickseingebungen seines philosophischen Daimonions folgte, wurde er selbst zum größten Hindernis einer kontinuierlichen Ausbreitung seiner Philosophie. Wer Schelers Ideen übernahm, mußte es auf eigene Gefahr tun, wer Scheler folgen wollte, durfte sich nicht zu seinem Schüler machen. Unter solchen Umständen erschien es vielen nicht ratsam, Scheler als Quelle ihrer Anschauungen zu nennen. Man muß deshalb eine anonyme, schwer identifizierbare Wirkung von Schelers Lehre in Rechnung stellen, die gelegentlich in Aufsätzen und Schriften an unerwarteter Stelle zutage tritt. Die anonyme Wirkungsgeschichte Schelers kann hier nicht weiter verfolgt werden. Nur auf drei Wirkungssphären sei kursorisch hingewiesen. Die erste bildet seine missionierende Tätigkeit vor allem während des ersten Weltkriegs, nicht die politische, sondern die religiöse. Damals setzte sich Scheler in Wort und Schrift für eine Wiederbelebung katholischen Geistes aus augustimscher Inspiration ein. Nicht zuletzt unter seinem Einfluß traten eine Reihe bedeutender Frauen und Männer zum katholischen Glauben über (E. Stein, D. v. Hildebrand, O. Klemperer). In der katholischen Welt galt er als einer der hoffnungsvollsten und fortschrittlichsten Geister - ein Ruf, den er 1923 durch seine Absage an die katholische Kirche selber ruinierte. Nichtsdestoweniger blieb er ein zutiefst religiöser Mensch. 231
Eine zweite Sphäre einer gewissen Breitenwirkung liegt im akademischen Bereich. Schon zu seinen Lebzeiten erschienen eine Vielzahl von Dissertationen über seine Lehren, selbst noch in der Zeit des Nationalsozialismus, als die Werke Schelers, der als Halbjude gebrandmarkt war, nicht mehr gedruckt werden durften.5 Eine dritte, sehr vielfältige Wirkungssphäre kam durch die Übersetzungen seiner Schriften zustande, die seit den zwanziger Jahren erschienen sind, Übersetzungen ins Französische, Englische, Spanische, Italienische, Russische. Durch die Übersetzungen bahnten sich viele nationale Wirkungsgeschichten an.6 Spiegelberg hat durchaus recht, wenn er schreibt, daß Scheler bis zum zweiten Weltkrieg für die Verbreitung der Phänomenologie im Ausland mehr als irgendein anderer Phänomenologe getan hat.7 So ist es auch kein Wunder, daß die ersten Gesamtdarstellungen seiner Philosophie aus dem Ausland stammen.8 Die folgenden Hinweise beschränken sich indessen auf die Wirkung im deutschsprachigen Raum.9 Scheler ist zweifellos eine der großen Gestalten der phänomenologischen Bewegung. In der Zeit des langen Schweigens von Husserl (1913-1929) und vor dem Erscheinen von Heideggers Sein und Zeit (1927) galt er als ihr führender Denker. Ironie des Schicksals, daß er sich schon damals nur noch halb als Phänomenologe verstand. Mit seinen dunklen Hin-weisen und Vorgriffen auf seine „demnächst erscheinende" Metaphysik trat auch seine andere Seite wirkungsvoll in Erscheinung, wenn er darin auch in einer metaphysikfeindlichen Zeit ohne Echo blieb, ebenso wie andere zeitgenössische Denker, die sich für eine Wiedererweckung der Metaphysik einsetzten. Die Wirkungsgeschichte stellt kein gerechtes Urteil über das Werk eines wegweisenden Geistes dar. Innerhalb der phänomenologischen Bewegung hat Scheler sich das Verdienst erworben, Husserls Grundlegungs- und Methodenreflexionen fruchtbar gemacht und wesentlich zu ihrer Verbreitung beigetragen zu haben. Die Frage, in welchem Maße Heideggers Hermeneutik der Faktizität durch Schelers Lehre von der natürlichen Weltanschauung und der Umwelt232
lehre beeinflußt worden ist, wird auch in Zukunft noch manche Untersuchungen nach sich ziehen.10 Scheler führte die phänomenologische Betrachtungsweise in viele aktuelle Sachfragen ein, vor allem in die Religionsphilosophie und die religiöse Erneuerungsbewegung, in ethische und allgemein werttheoretische Fragestellungen sowie in die Untersuchung des emotionalen Lebens, aber auch in die Grundlagendiskussionen der Einzelwissenschaften, insbesondere der Psychologie und der Sozialwissenschaften. Durch Scheler ist die Phänomenologie sogar für die nicht-akademische Öffentlichkeit interessant geworden. Seiner ganzen Orientierung nach gehört er der sog. München-Göttinger Phänomenologie an, die Husserls Entwicklung zur transzendentalen Phänomenologie nicht mitmachte. Sie sah darin einen Verrat an der ursprünglichen Maxime, „zurück zu den Sachen" zu gehen und jeden methodologischen Konstruktivismus zu vermeiden. Pfänder, Geiger, Reinach, D. v. Hildebrand, Scheler - sie alle bauten auf je spezifische Weise ihre objektivistische und realistische phänomenologische Grundeinstellung aus und bestärkten sich gegenseitig darin, ohne daß man von einer Wirkung des einen auf die anderen sprechen könnte. Der somit aus mehreren Quellen zusammenfließende „phänomenologische Realismus" der München-Göttinger Richtung wird heute am intensivsten durch die Gruppe von Wissenschaftlern aus Ost und West vertreten, die J. Seifert, hauptsächlich dem Lebenswerk D. v. Hildebrands verpflichtet, an der Internationalen Akademie für Philosophie in Liechtenstein um das Jahrbuch „Aletheia" versammelt. In Deutschland ging die Ausstrahlung von Schelers Philosophie bald nach seinem Tode deutlich zurück, wenn auch Autoren wie E. R. Curtius, P. L. Landsberg, H. Lützeler, H.-E. Hengstenberg sich weiterhin für sie einsetzten. Aber schon seit den zwanziger Jahren hatte sich eine grundsätzliche Kritik gegen Scheler formiert. H. Rickert polemisierte gegen seine irrationalistische Lebensphilosophie,12 J. Kraft gegen seine unkritisch-intuitionistische Erkenntnismystik,13 und Adorno deutete Schelers Entwicklung zur Metaphysik des Drangs als dialektische Selbst-Zurücknahme der Phänomenologie.14 Doch 233
alle diese Kritiken stellten nur Standpunkt gegen Standpunkt, ohne es mit dem existentiellen Problemaufriß von Schelers philosophischer Weltanschauung aufnehmen zu können. Schelers Religionsphilosophie stieß ebenfalls schon Anfang der zwanziger Jahre auf Kritik, insbesondere bei den Anhängern des Neothomismus und der katholischen Kirche. Kaum geringer waren die Angriffe auf die matenale Wertethik seitens der immer noch herrschenden Schulen des Neukantianismus.15 Es schien kaum der Philosophiefeindhchkeit des Nationalsozialismus zu bedürfen, um die Auseinandersetzung mit Schelers Werk zum Erliegen zu bringen.16 Im Grunde aber vermochte kaum einer der zeitgenössischen Denker Schelers geschichtsphilosophische Vision nachzuvollziehen, geschweige denn zu teilen. Heidegger hatte recht: mit Schelers Tod fiel der Weg seiner Philosophie, die so sehr durch seine Person geprägt war, ins Dunkel zurück. Nach dem zweiten Weltkrieg gelang es weder der Gedenkveranstaltung zu Schelers zwanzigstem Todestag auf dem zweiten Nachkriegs-Philosophenkongreß 194817 noch der nur für kurze Zeit existierenden ersten Scheler-Gesellschaft (1948/49), die produktive oder kritische Auseinandersetzung mit Schelers Philosophie nachhaltig zu beleben.18 Zum Teil lag das an dem simplen Faktum, daß seine Schriften nicht mehr im Handel waren. Maria Scheler, die dritte Frau des Philosophen, schaffte durch unermüdliche Herausgeberschaft Abhilfe. Im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg erschienen Neuauflagen von wichtigen Einzelschriften (Stellung des Menseben im Kosmos 1947, Wesen und Formen der Sympathie 1948, Philosophische Weltanschauung 1954). Vor allem aber besteht ihr Verdienst darin, die Ausgabe der Gesammelten Werke ins Leben gerufen zu haben. Als erstes erschien Schelers Hauptwerk, das Formalismusbuch (1954), es folgten Vom Ewigen im Menschen (1954) und Umsturz der Werte (1954), Schriften aus dem Nachlaß Bd. 1 (1957) und die Wissenssoziologie (1960). Ein stärkeres Interesse an Schelers Philosophie vermochten die Gesammelten Werke vorerst jedoch nicht zu wecken. Schelers Philosophie war durch die aktuellen Philosophien, insbesonde234
re die Existenzphilosophie, später durch die Frankfurter Schule verdrängt worden, und innerhalb der phänomenologischen Bewegung stand sie deutlich im Schatten der ebenfalls in den fünfziger Jahren neu erscheinenden Werke von Husserl und Heidegger. Immerhin gelang es der stetig fortschreitenden Ausgabe, die nach Maria Schelers Tod (1969) von M. S. Frings weitergeführt wurde, Schelers Lehre für ein neuanknüpfendes Gespräch in Bereitschaft zu halten. Von den siebziger Jahren an, nachdem einige größere Studien erschienen waren (Dahm 1971, Hammer 1972, Brenk 1975, Leonardy 1976), P. Good ein ideelles Scheler-Symposion zusammengestellt (1975) und E. Avé-Lallemant Schelers umfangreichen Nachlaß erschlossen hatte (1975), begann sich die Erforschung von Schelers Werk zu konsolidieren, so daß 1993 durch die Initiative von M. S. Frings, G. Pfafferott und anderen die zweite Max-SchelerGesellschaft gegründet werden konnte. Sie versucht, durch ihre alle zwei Jahre stattfindenden internationalen Tagungen nicht nur Schelers Werk wissenschaftlich zu erschließen, sondern auch seine Philosophie in die gegenwärtigen Diskussionen einzubringen und sie dabei fortzubilden.19 Bisher hat sich Schelers Denken vor allem in vier Problemfeldern als anregend und weiterführend erwiesen: in der Ethik, Religionsphilosophie, Anthropologie und Wissenssoziologie.
1. Ethik Schelers ethische Untersuchungen haben allen jenen Bemühungen die Bahn gebrochen und Anregungen gegeben, die über die engen Grenzen, auf die Kant die philosophische Ethik zurückgenommen hatte, hinausdrängten. Der Ausdruck „materiale Wertethik" wurde dabei im Bereich der Ethik und Wertphilosophie auf analoge Weise zum Leit- und Orientierungsbegriff, wie Husserls „zurück zu den Sachen" für die gesamte phänomenologische Bewegung. Die befreiende Wirkung, die von Schelers Formalismusbuch ausging, zeigte sich besonders durch die Rückführung des Sollens und der Pflicht 235
auf die Einsicht in ein ideales Sein-sollen, durch die Rechtfertigung der emotiven Erkenntnisleistungen, insbesondere der Liebe, durch die Freilegung eines hierarchisch aufgebauten Kosmos von sittlichen Werten, durch die Rehabilitierung der Tugenden und durch die geschichtlich-gesellschaftliche Konkretisierung von ethischen Wertverhalten. E. Stein und D. v. Hildebrand waren die ersten, die Schelers Anregungen zu einer materialen Wertethik weiterführten, aber erst N. Hartmann gab in seiner mehrfach aufgelegten Ethik (1926) den vielfältigen Anregungen und subtilen Unterscheidungen Schelers diejenige systematische Gestalt, durch die sie als wissenschaftliches Paradigma auftreten konnte. Hans Reiner, vorerst der letzte Vertreter einer materialen Wertethik, knüpfte zwar vielfach an Scheler an, war aber mehr durch Husserl und D. v. Hildebrand geprägt. Nach dem zweiten Weltkrieg führte ihn die Bemühung um eine Ethik, die den sittlichen Problemen der modernen Industriegesellschaft gerecht zu werden versprach, in die Nähe einer empirisch begründeten Ethik.20 Unter all diesen Auseinandersetzungen und Kritiken, unter denen die Auseinandersetzung mit Schelers scheinbar rein relativistischer Bestimmung des Guten am wichtigsten war, nahm Scheler selber mehr und mehr die Stellung eines Klassikers der neuzeitlichen Ethik ein.21
2. Rehgionsphilosophie Scheler wird zu den „säkularen Gestalten des katholischen Denkens unseres Jahrhunderts" gezählt.22 Seit der problemgeschichtlichen Studie von H. Fries (1949) läßt sich im einzelnen nachvollziehen, inwiefern Scheler zum Ausgangspunkt einer katholischen Religionsphilosophie geworden ist.23 Mit seiner Schrift Vom Ewigen im Menschen (1921) bahnte er eine werttheoretische Begründung der Religionsphilosophie an, die eine Alternative zu der Polarisierung zwischen Modernismus und Scholastik anbot. Hierin bestand seine größte, seine grundlegende Leistung in den religionsphilosophischen Richtungskämpfen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der wegwei236
senden inspirierenden Wirkung stehen aber auffallend wenige konkrete Rezeptionen gegenüber. In dem von Scheler eröffneten phänomenologischen und werttheoretischen Denkhorizont verfolgten katholische Theologen wie K. Adam oder J. Hessen eigene Wege. Nachdem sich Scheler von der katholischen Kirche losgesagt hatte und Th. Haecker und D. v. Hildebrand vom katholischen Standpunkt aus die pantheistische Spätphilosophie Schelers massiv kritisiert hatten,24 war eine Anknüpfung an Schelers religionsphilosophische Schriften der mittleren Periode auch nicht mehr gut möglich. Erst durch K. Wojtylas Habilitationsschrift „Über die Möglichkeit, eine christliche Ethik in Anlehnung an Max Scheler zu schaffen" (1953) und andere ist Schelers Philosophie wieder in das katholische Denken zurückgekehrt — selbst wenn dabei herauskommt, daß mit Scheler eine christliche Philosophie nicht zu begründen ist.25
3. Anthropologie Mit der Schrift über die Stellung des Menschen im Kosmos wurde Scheler der Wegbereiter der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert. Er leitete die „Wende zur Anthropologie" ein, die sich trotz Heideggers und Husserls Kritik an der Anthropologie durchsetzte und in Plessners Stufen des Organischen (1928) sowie in A. Gehlens Der Mensch (1940) bedeutende Fortsetzungen fand. Beide jedoch, Plessner wie Gehlen, haben Schelers Entwurf wegen seiner spekulativen Geistphilosophie als einen Rückschritt in die Metaphysik des Mittelalters kritisiert.26 Beide versuchen, die Sonderstellung des Menschen aus der Natur heraus verständlich zu machen und dadurch den metaphysischen Geist-Leben-Hiatus Schelers zu vermeiden. Den Begriff der Weltoffenheit, der zum wirkungsvollsten Element von Schelers Anthropologie wurde, übernehmen sie trotz der Kritik an Schelers Geistbegriff, der sein philosophisches Fundament darstellt. Demgegenüber hat Werner Sombart seine Darstellung der »Taten des Geistes" ausdrücklich als Ausführung von Schelers 237
Programm verstanden, die „Monopole des Menschen" (Sprache, Technik, Kultur usw.) aus der Grundstruktur des Menschseins verständlich zu machen.27 Schelers Kollege L. v. Wiese hat diesem Fortsetzungsversuch jedoch erhebliche Bedenken entgegengebracht, mit denen er seinerseits Scheler verteidigte: Sombarts Buch sei ein allzu persönliches Werk, das sich in wesentlichen Punkten von Schelers Entwurf unterscheide: Schelers Anthropologie behandele die Stellung des Menschen im Kosmos in ihrer Totalität, Sombart nur nach ausgewählten Perspektiven; Scheler berücksichtige die Tneblehre, Sombart nicht; Schelers Werk gipfele in einer Metaphysik, wovon Sombart sich fernhalte.28 W. Brüning hat Schelers Anthropologie in die Reihe von Versuchen zu einer personalistisch und existenzphilosophisch begründeten Anthropologie eingeordnet, zu der auch Schelers Schüler P. L. Landsberg und der französische Philosoph E. Mounier gehören.29 Schelers personahstische Fundierung der Anthropologie im Formalismusbuch hat auch auf die Anthropologie, Psychologie und Psychotherapie von V. E. Frankl einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt; das Formalismusbuch hat Frankl, als er sich Ende der zwanziger Jahre von seinem Psychologismus befreite, wie eine Bibel mit sich herumgetragen. Ebenso überzeugte ihn Schelers Unterscheidung zwischen zuständlichen und gegenständlichen Gefühlen und die Weltoffenheit als menschliche Grundverfassung,30 während L. Binswanger, wie so viele von Scheler zu Heidegger übergewechselt, von Schelers Psychologie des fremden Ich angeregt worden ist.31 A. Dempf orientierte sich hingegen in seiner Theoretischen Anthropologie (1950) vor allem an Schelers objektiver Wertrangordnung, die überhaupt in katholischen Kreisen große Verbreitung fand. Ihre Fundamente liegen Dempf zufolge in Schelers christlicher Geistphilosophie, die noch zu wenig Beachtung gefunden habe.32 Ihrem Wesen nach sei sie eine Philosophie der Liebe.33 Schelers Anthropologie ist berüchtigt/berühmt geworden durch eine These, durch die sie in allen •weltanschaulichen und wissenschaftlichen Lagern empörten Widerspruch hervorgeru238
fen hat: die These von der Ohnmacht des Geistes. Es sind naturgemäß in erster Linie die Vertreter der homo-faberAnthropologien, die sich durch Schelers These brüskiert fühlen mußten. Daß die Ohnmachts-These auch für christlich inspirierte Anthropologien unannehmbar ist, zeigt sich u.a. an Schelers Weggenossen P. Wust und J. Hessen.34 Schelers Lehre von der Schichtung des emotionalen Lebens, in der A. Dempf und viele andere die eigentliche und entscheidende Entdeckung Schelers sehen,35 wie überhaupt die Lehre vom Schichtenaufbau des Seelischen und des Geistes wurde unter den Vertretern der Schichtentheorie der menschlichen Person vielfach diskutiert (vgl. E. Rothacker).36 Sie ist in den Kreisen der Psychiatrie und Sexualwissenschaft, die der Phänomenologie nahestanden, besonders von Kurt Schneider37 aufgenommen und weitergeführt worden. H.-E. Hengstenberg hat in seiner Philosophischen Anthropologie (Stuttgart 1957, 4. Aufl. 1984) Schelers Geistlehre zu einer „Philosophie der Sachlichkeit" produktiv-kritisch fortgebildet und Schelers Begriff des Ich als realpsychisches Einheitsprinzip übernommen, dagegen Schelers aktualistischen Personbegriff durch einen substantiahstischen Begriff ersetzt. Trotz dieser folgenreichen Differenz hat er in Scheler stets seinen eigentlichen philosophischen Lehrer gesehen.38 Ebenso wie in der Entwicklungsgeschichte der Ethik des 20. Jahrhunderts ist Scheler, trotz der Kritik, die an ihm geübt worden ist, auch in den anthropologischen Diskussionen in den Rang eines Klassikers aufgestiegen.
4. Wissenssoziologie Scheler gehört zusammen mit W. Jerusalem und K. Mannheim zu den Begründern der Wissenssoziologie.39 Die Wirkung seiner Wissenssoziologie wurde auch hier, ähnlich wie bei der Anthropologie, von der spekulativen Geistphilosophie belastet. Je mehr man die Funktion der Wissenssoziologie im Ganzen von Schelers Spätphilosophie anerkannte, desto geringer 239
schätzte man ihren Wert für die eigentliche Forschungspraxis ein. Charakteristisch das Urteil von K. Mannheim, der in Schelers Wissenssoziologie zwar einen großzügigen systematischen Entwurf mit tiefen Intuitionen sah, „nicht aber eine eindeutig handhabbare Forschungsmethode für eine soziologisch orientierte Geisteswissenschaft."40 In diesem Urteil reflektiert sich das nach wie vor problematische Verhältnis zwischen philosophischer Metaszienz und positiver Einzelwissenschaft. Bei drei Autoren haben Anregungen aus Schelers Wissenssoziologie gleichwohl eine positive Aufnahme gefunden: bei A. Dempf, Berger/Luckmann und I. Srubar. A. Dempf stützt sich in Die Einheit der Wissenschaft (Stuttgart 1955, 2. Aufl. 1962) bei seinem Versuch, die Idee eines „Studium universale" wiederzugewinnen, auf zwei Lehrstücke Schelers, die er als epochemachende Entdeckungen preist: die Rangordnung der Werte und die Rangordnung der drei obersten Wissensformen.41 Scheler habe die Voraussetzungen geschaffen, die große Synthese von Naturphilosophie, Geistphilosophie und Anthropologie herbeizuführen, die unser Zeitalter brauche. In der weiteren Ausgestaltung der Idee einer universalen Einheit der Wissenschaft ging Dempf jedoch eigene Wege. P. L. Berger und Th. Luckmann werfen Schelers Wissenssoziologie zwar ebenfalls ihre spekulative Dienstfunktion vor, heben demgegenüber aber um so mehr die Konzeption der „relativ natürlichen Weltanschauung" hervor. Es handele sich um einen Begriff, „der noch heute von entscheidender Bedeutung für die Wissenssoziologie ist".42 Plessner stimmt ihnen in seinem Vorwort zu - Scheler habe diesen Begriff in einem seiner lichtesten Momente geprägt und darunter die ethischsoziokulturell variable Selbstverständlichkeit eines Sich-geborgen-Wissens verstanden, das mehr oder weniger zu sozialer Gerinnung neige (a. a. O. S. XIV). In dieser Interpretation sind die anthropologischen und geschichtsphilosophischen Implikationen von Schelers Konzeption gänzlich ausgelöscht. Man sieht daran, in welchem Maße Schelers Konzeptionen nicht als 240
solche, sondern in rezeptionsgeschichtlichen Adaptionen weitergewirkt haben. I. Srubar zeigt, indem er sich von den überlieferten Interpretationsperspektiven befreit, daß Schelers Wissenssoziologie ein Forschungsprogramm darstellt, das weit über den Horizont des traditionellen (Mannheim'schen) Konzepts der Seinsverbundenheit des Wissens hinausgeht.43 Für ihn ist nicht so sehr die Lehre von den obersten Wissensformen oder das Zusammenwirken von Real- und Idealfaktoren wichtig, sondern die soziale Genesis von Wissen, die Scheler mit seiner anthropologisch fundierten Lehre von der Umweltbestimmtheit des Menschen und der relativ natürlichen Weltanschauung dargestellt hat. Scheler entwickelt dadurch ein sehr weites Konzept von Wissenssoziologie, das nur in interdisziplinärer Kooperation ausgeführt werden kann. Zum Untersuchungsgegenstand wird die „Genese des sozialen Wissens in der Vielfalt ihrer kulturellen, sozialen, anthropologischen, psychologischen und sprachlichen Aspekte" (S. 354). Durch diese Konzeption hat Scheler allererst die Grundlage geschaffen, von der aus die engere Auffassung der Wissenssoziologie als einer Theorie der Seinsverbundenheit und Sozialität des Wissens neu aufgebaut werden kann. Srubar stellt Schelers Wissenssoziologie somit nicht eigentlich als Alternative dar, sondern als Metawissenschaft zu einer nach dem empirisch-rationalen Modell Mannheim'scher Prägung ausgerichteten Wissenssoziologie. Srubars Vorgehensweise, sich durch Schelers Werk motivieren zu lassen, die eingespielten Interpretationsansätze zu verlassen, um „Alternativen" zu finden, läßt erwarten, daß sich in Schelers Lebenswerk noch manche Schätze entdecken lassen, wenn man nur mit dem richtigen „Sesam öffne dich" an seine Schriften herantritt.
Anhang 1. Anmerkungen I. Einleitung 1 M. Heidegger, In memoriam Max Scheler, in: Ders., Gesamtausgabe Bd. 26, Frankfurt/Main 1978, S. 62-64.
II. Leben und philosophische Entwicklung 1 Ciaire Goll, Ich verzeihe keinem, München 1978, S. 92. 2 Schelers Erklärung vom 4. 1. 1909 an den Senat der Universität München (Universitätsarchiv München, E-II-N-Scheler). 3 Scheler hat 1922 rückblickend das Datum der ersten persönlichen Begegnung mit Husserl auf das Jahr 1901 verlegt (VII, 308), doch der Brief an H. Vaihinger vom 14. 12. 1901, in dem Scheler die Einladung zum Mitarbeitertreffen am 3. 1. 1902 annimmt, zeigt, daß das Treffen 1902 stattgefunden hat. 4 H. Finke(1932), S. 49 f. 5 Vgl. hierzu E. Avé-Lallemant (1975b), S. 19-38. 6 D. v. Hildebrand (1954), Max Schelers Stellung zur katholischen Gedankenwelt (1928), S. 608. 7 H.-G. Gadamer, Max Scheler - der Verschwender, in: P. Good (1975), S. 12. 8 Abbildungen bei Mader (1980), S. 99; Good (1975), Frontispiz. 9 Chr. Eckert, Das Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften in Köln, in: L. Brauer (et a l , Hrsg.), Forschungsinstitute, ihre Geschichte, Organisation und Ziele, Hamburg 1930, Bd. 2, S. 293. 10 P. F. Linke, Zum Tode Max Schelers, in: Die Jenaer Studentenschaft 1928, Nr. 2, S. 31 f. 11 E. Stein, Aus dem Leben einer jüdischen Familie, in: Werke Bd. 7, Louvainl965, S. 182. 12 So bei H. U. v. Balthasar (1939), S. 85.
III. Vom Wesen der Philosophie 1 Vgl. R. Eucken, Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Neue Grundlegung einer Weltanschauung, Leipzig 1896. 2 Das Gutachten Liebmanns befindet sich im Universitätsarchiv Jena, Bestand M, Nr. 649. 242
3 Ein Exemplar des Programms des Ferienkurses von 1901 befindet sich im Universitätsarchiv Jena, Bestand C, Nr. 25. 4 Zeitweilig vertrat Scheler sehr wohl eine christliche Philosophie, deren eigentliches Wesen aber allererst zu gewinnen sei. Vgl. den Aufsatz über „Liebe und Erkenntnis" (1915), VI, 77-98, bes. 87 ff. 5 IX, 117 Anm. - Das Problem der technischen Herstellung der philosophischen Geistesdisposition will Scheler zwar schon in einzelnen Punkten im Formalismusbuch angesprochen haben (VIII, 138 Anm. 2), es tritt aber erst im Zusammenhang mit den wissenssoziologischen Untersuchungen der zwanziger Jahre in vollem Umfang in Erscheinung. Etwa ab 1926 verkündet Scheler in seinen Publikationen, daß dieses Problem im ersten Band seiner Metaphysik behandelt werde (VIII, 138 Anm. 1). 6 Vgl. besonders die Spätschriften Schelers: Mensch und Geschichte (1926), Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), Philosophische Weltanschauung (1928), alle in GW IX.
IV. Grundzüge der Ersten Philosophie 1 Im gedruckten Text steht irrtümlich „Gegnern" (XI, 14); das Manuskript trägt die Signatur Ana 315, Β Ι 151. 2 Dagegen in XI, 14 vom Hrsg. ergänzt: „die der". 3 Vgl. besonders die Abhandlung „Idealismus - Realismus" (1928), IX, 185 ff. 4 Diese und die weiteren Unterstreichungen des Zitats sind dem Manuskript entnommen. 5 In IX, 187, Anm. 1, muß es statt „Daß, wenn Nichts ist, es eine Seinsart geben muß eines Seienden [...]" heißen: „Daß, wenn nicht Nichts ist, es eine Seinsart geben muß eines Seienden [...]". 6 In „Idealismus - Realismus" hat Scheler diese zweite Evidenz übersprungen. 7 Es gibt jedoch Ansätze dazu, z.B. in dem auf 1926 datierten Entwurf über „Das Sein und seine Grundarten", XI, 234-237. 8 In ,Idealismus - Realismus' als zweite Evidenz angeführt, IX, 187 f. 9 Vgl. zu Schelers berühmter, besonders auf Augustinus und Pascal zurückgehende Philosophie der Liebe die Aufsätze „Liebe und Erkenntnis" (1915, VI, 77-98) und „Ordo amoris" (1914-16, X, 345-376). 10 In „Liebe und Erkenntnis" (1915) hat Scheler eine „welthistorische Typik" des Verhältnisses zwischen Liebe und Weltanschauung dargestellt (VI, 77-98). 11 Vgl. den posthum veröffentlichten Entwurf über „Das Problem der Sphären des Soseins", in XI, 103-107. 12 IX, 194-197; ähnlich in VIII, 373-375. 13 Die absolut natürliche Weltanschauung sei als historisch-soziologische Konstante nur durch „ein (schwieriges) Abschälen der in jeder konkre243
ten Gruppenweltanschauung immer in sie hineingewebten ,echten' und lebendigen' Traditionen" zu erfassen (VI, 15). Die Konstanz widerstreitet unter anderem der Funktionalisierungstheorie und der Lehre vom geschichtlichen Wandel der Moralen; die „relativ natürliche Weltanschauung" entsteht begriffsgenetisch aus Schelers Bemühen um systematische Konsistenz seiner Philosophie und kann als ein Einlassen von Geschichtlichkeit in die ahistorische absolut natürliche Weltanschauung verstanden werden. Vgl. Schelers Aufsatz über Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung (1922), VI, 13-26. 14 Vgl. hierzu Schelers Lehre von den drei Tatsachen (1910/11, X, 431502) und seine Wissenssoziologie (1926, VIII, 17ff.). 15 Zum ekstatischen Wissen vgl. vor allem die Analysen der „Einsfühlung" in VII, 27 ff. 16 Vgl. hierzu im Formahsmusbuch den Abschnitt über Formalismus und Apnorismus (II, 65 ff.) und „Phänomenologie und Erkenntnistheorie" (X, bes. 415ff.).
V. Erkenntnistheorie 1 Scheler an G. v. Herding 27. 4. 1906, in: H. Finke (1932), 49 f. 2 Nachschrift von H. Leyendecker in der Bayer. Staatsbibl. (BSB), Signatur Ana 375, Β III 16, S. 24. 3 VIII, 203 f. Vgl. Probleme der Religion (V, 68 ff.); Die Formen des Wissens und die Bildung (IX, 111 ff); Idealismus - Realismus (IX, 188 ff., 227, 251 u.ö.); Zur Wesenslehre und Typologie der metaphysischen Systeme (XI, 11 ff.). 4 Doch sei darauf hingewiesen, daß Scheler ausdrücklich die „reine Erkenntnissoziologie" als einen Teil der philosophischen Erkenntnistheorie verstanden hat; vgl. VI, 28. 5 Vgl. die Auflistungen in VI, 31 f.; VIII, 68. 6 Logik I (1906), 145 f. 7 Zur Lehre von den Erkenntnismaßstäben vgl. X, 398-410, 413; VIII, 202 f., 209, 228; IX, 200-204; XI, 113-117. 8 Nachschrift von H. Leyendecker in der BSB, Signatur Ana 375, Β III 16, S. 24. 9 Vgl. bes. XI, 125 ff.
VI. Philosophie der Werte 1 H. Lotze, Logik (System der Philosophie, Teil I), Leipzig 1874, Kap. 2. 2 H. Lotze, Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie, Bd. I, Leipzig 1856, S. 267. Vgl. Scheler 1,101. 244
3 Im Sinne des Neukantianismus hat Scheler in seiner Frühphase die Logik noch als eine Normwissenschaft aufgefaßt (I, 13, 96 ff.), sich später davon aber insofern distanziert, als er die Wahrheit nicht mehr als Wert gelten läßt (II, 197), trotzdem aber noch von „Erkenntniswerten" spricht. Vgl. den Ethik-Bericht von 1914 (bes. I, 382). 4 Dies ist vermutlich auch der Grund dafür, daß E. Shimomissée Axiologie und Ethik ineinander verfließen läßt, wenn er von „Schelers Ausarbeitung der Axiologie bzw. der Grundlegung der Ethik" spricht (1971, S. 67). 5 Auf die „reine Axiologie", die er im Sinne Husserls der „reinen Logik" an die Seite stellt, ist Scheler am ausführlichsten im Formalismusbuch eingegangen (II, 99 ff.). Eine systemtheoretische Reflexion über die „philosophische Axiologie" findet sich in einem nachgelassenen Fragment aus dem Jahr 1923 (XI, 54 ff.). 6 Vorlesungsnachschrift von H. Leyendecker in der BSB, Signatur Ana 375, Β III 23, S. 11 f. 7 Vgl. D. v. Hildebrand, Die Idee der sittlichen Handlung, in: Jahrbuch f. Philosophie u. phänomenologische Forschung 3, 1916, bes. 199 ff. Hildebrand beruft sich auf eine Vorlesung Husserls über „formale Axiologie und Praktik" (S. 164, Anm. 1; S. 195, Anm. 1). Husserls „Vorlesungen über Ethik und Wertlehre" sind inzwischen erschienen in Husserliana Bd. 28, hrsg. v. U. Meile, Dordrecht 1988. 8 Im Anschluß an Wesen und Formen der Sympathie (1922) sollten in Einzeluntersuchungen die „Hauptstämme besonders unseres ethisch, sozial und religiös bedeutsamen emotionalen Lebens" behandelt werden. Scheler hatte drei Bände geplant: Wesen und Formen des Schamgefühls, Wesen und Formen der Angst und Furcht, Wesen und Formen des Ehrgefühls (VII, 10). 9 Vgl. Scheler, „Ordo amoris", X, 370-373, und Formalismusbuch II, 334 ff. 10 Vgl. D. v. Hildebrand a. a. O., bes. S. 162 ff. 11 Vgl. hierzu das posthum veröffentlichte Manuskript „Vorbilder und Führer" (1911-1921, X, 255-344). 12 Vgl. „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen", III, 68 Anm.; den Ethik-Bericht von 1914,1, 386, u. ö. 13 Vgl. den Ethik-Bericht 1914,1, 381, 383, 384, 386. 14 X, 399. Vgl. hierzu das Kapitel über „Historische Relativität der ethischen Wertschätzungen und ihre Dimensionen" (II, 300-321) und den nachgelassenen Aufsatz über „Phänomenologie und Erkenntnistheorie" (1914, bes. X, 399ff.). 15 Vgl. II, 275, 279 f., und die Kritik am „Humanitarismus" im Vortrag über „Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt" von 1917 (V, 365 ff.). 16 Vgl. II, 294; Ressentiment-Aufsatz 1912 (III, 76). 17 Im Ressentiment-Aufsatz nannte Scheler „Ethos" noch „Moral" und stellte diese nur der wissenschaftlichen Systematisierung und Darstellung entgegen (III, 70). 245
18 Vgl. Π, 303 Anm. 2; Χ, 357. 19 Scheler hat die Unterscheidung zwischen relativem und absolutem Apriori im Formalismusbuch angedeutet, aber nicht systematisch entwickelt; auch nicht in seinen anderen Schriften. In dem Artikel „Phänomenologie und Erkenntnistheorie" (1914) bestimmt Scheler das relative Apriori in Beziehung auf die feste Ordnung, in der uns apriorische Wesenheiten gegeben sind (X, 415—419). 20 Vgl. den Ressentiment-Aufsatz 1912 (III, 69), Formalismusbuch (II, 307 f.), Ethik-Bericht 1914 (I, 386 f.).
VII. Materiale Wertethik 1 Vgl. das gedruckte Programm „Ferienkurse in Jena" vom August 1905 (Universitätsarchiv Jena, Bestand C, Nr. 25). 2 Scheler hat seine Vorlesung in folgende Abschnitte gegliedert: 1. Was sind Werte - und wie werden Werte erfaßt? 2. Das Problem des Relativismus und Absolutismus in der Ethik. 3. Die Lehre von der objektiven Rangordnung der Werte selbst. 4. Ob die Sachwerte für die Person da sind - oder umgekehrt. 5. Das Problem der Tugenden und Laster. 6. Das Problem des Eudaimonismus. 7. Welches ist das höchste Prinzip der Sozialethik? 8. Die Sympathieethik. 9. Das Verhältnis von Geschichtsphilosophie und Ethik - von Metaphysik und Ethik und Religion und Ethik. (Nachschrift von H. Leyendecker, in der BSB, Signatur Ana 375, Β III 23, S. 11-15) 3 Vgl. bereits den Ressentimentaufsatz von 1912 (III, 119) und das Sympathiebuch von 1913 (VII, 166), bes. aber den Vortrag über „Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt" (1917, V, 355-401, bes.375ff.,38lff.). 4 Im Vorwort zur zweiten Auflage des Formalismusbuchs (1921) kündigte Scheler ein Buch über den Solidarismus als Grundlage der Sozialund Geschichtsphilosophie an (II, 14), das bereits den Übergang von der Sozialethik in die Geschichtsphilosophie signalisiert. 5 Vgl. II, 14;V,258f.,284ff.,301ff,320ff. 6 Nachschrift von H. Leyendecker a. a. O. S. 165 f.
VIII. Religionsphilosophie 1 H. Finke(1932), S. 49 f, 2 D. v. Hildebrand (1954), S. 10. 3 Th. Haecker, Geist und Leben. Zum Problem Max Scheler, in: Hochland 23 (1926), Bd. 2, S. 135. 4 Th. Haecker, Geist und Leben a.a.O., S. 138.
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IX. Probleme der Sozialphilosophie 1 Zu Schelers „Philosophie des Weltkrieges" vgl. H. U. ν Balthasar (1939), S. 89 ff. 2 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887; 2. verm. u. veränd. Aufl. Berlin 1912. 3 Noch nicht dagegen in seiner Münchner Vorlesung über die Grundlagen der Geschichtswissenschaft von 1909 (vgl. XIII, bes. 223 ff.). 4 Vgl. zur Gliederung der Geschichtsphilosophie den Text „Probleme der Ontologie und Erkenntnislehre der Geisteswissenschaft", der vermutlich zu Schelers Vorlesung zur „Einleitung in die Geisteswissenschaften und die Philosophie der Geschichte" vom WS 1920/21 gehört (XIII, 129 f.). 5 Im Formalismusbuch hat Scheler der Phasenordnung noch die vier Sozialformen zugrundegelegt: Irgendwelche positiv bestimmten geschichtlichen Gesamtgebilde weisen ceteris paribus die Tendenz auf, „diese Formen in der Richtung vorwiegenden Massen-(Herden-) daseins, Lebensgemeinschafts-, Gesellschafts- und Persongemeinschafcsdaseins zu durchlaufen" (II, 529). 6 Zu Schelers Lehre von den Grundtypen des menschlichen Selbstverständnisses vgl. Kap. XI. 7 Zitiert nach der Erstveröffentlichung in: Ausgleich als Aufgabe und Schicksal, mit e. Vorw. ν. Ε. Jäckh, Berlin 1929, 39 f. In GW IX, 151 f. einige Abweichungen. 8 Ein Exemplar des gedruckten Programms befindet sich im Nachlaß Aloys Fischers in der BSB; den Hinweis verdanke ich E. AvéLallemant. 9 Scheler greift damit auf das Korporationswesen des vorkapitalistischen Mittelalters zurück; vgl. III, 348. 10 Über die liberale und die sozialistische Weltanschauung hat sich Scheler u.a. in seinem Vortrag über Bevölkerungsprobleme als Weltanschauungsfragen geäußert (1921, VI, bes. 312 ff.). Über das (protestantische) Ethos des Individualismus und das (katholische) Ethos des Solidarismus vgl. auch die Vorlesung über Sozialphilosophie (1921/22, XIV, 370 ff.).
X. Kultur und Wissenssoziologie 1 Im Notizheft 63 des Nachlasses hat Scheler eine Liste von mehr als dreißig Veröffentlichungsvorhaben zusammengestellt (BSB, Ana 315, Β II 67, S. 2-A). 2 Es ist nicht klar, ob Scheler mit dem an dieser Stelle genannten religiösen Wissen die Volksreligionen meint, die er zuvor der Gruppenseele zugeordnet hatte, oder das hochentwickelte Wissen der Stifterre247
ligionen, das natürlich dem Gruppengeist zuzuordnen wäre und das er auch kurz darauf im Abschnitt über die materialen Probleme der obersten Wissensarten behandelt. Die Ratio der Stufenordnung spricht dafür, daß er die Volksreligionen gemeint hat, so daß das religiöse Wissen der Stifterreligionen, das auf einer seelenhaft gebundenen, anonymen Volksreligion aufbaut (VIII, 69), an späterer Stelle in die Stufenordnung einzufügen wäre. 3 Die Aufzählung der sechs Fragen in VIII, 68 ist unvollständig; sie ist zu ergänzen durch die zuvor erörterten Fragen (VIII, 63 ff.).
XI. Anthropologie 1 Vgl. auch II, 293; V, 370. 2 Im Manuskript, nicht aber in der Erstveröffentlichung, heißt es: geistiggeschichtlichen (BSB, Ana 315, D IX 4, S. 1). 3 Eine ausführlichere Gliederung hat Scheler seiner AnthropologieVorlesung vom WS 1927/28 zugrundegelegt (BSB, Ana 315, Β Ι 25). 4 In der Einteilung I unterscheidet Scheler sieben, in der Einteilung II sogar dreizehn „homo"-Theorien (XII, 22f.) - insgesamt also ein sich progressiv entfaltendes und differenzierendes Programm. 5 Scheler plante noch drei weitere Bände für diese Reihe: Wesen und Formen des Schamgefühls, Wesen und Formen der Angst und Furcht, und Wesen und Formen des Ehrgefühls (VII, 10). Teile zum Buch über das Schamgefühl sind aus dem Nachlaß ediert worden (X, 65-152), einige wenige Fragmente auch über das Ehrgefühl (X, 152-154). 6 Vgl. XII, 109f., 112ff., 126f. u.ö. 7 XII, 84, 89 ff.
XII. Metaphysik 1 Vgl. H. Leyendeckers Nachschrift in der BSB, Ana 375, Β III 19, S. 4-6. 2 [...JistinXI, 14 ausgelassen worden; vgl. BSB, Ana 315, Β Ι 151, S. 7. 3 Die an der zit. Stelle zusätzlich angeführten Disziplinen „Metaphysik der Kunst, Metaphysik des Staates und Rechts" (XI, 12) sind zwar von einer anderen Stelle des Manuskripts dorthin versetzt worden, müssen aber sachlich in der Tat hinzugezählt werden. Vgl. ähnliche unvollständige Aufzählungen in IX, 82; XI, 125. 4 Vgl. dazu die Ausführungen zu den „drei Weltbildern" der Metaphysik, positiven Wissenschaften und natürlichen Weltanschauung in XI, 45-54. Im Aufsatz über Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung (1922) hat Scheler die „absolut natürliche Weltanschauung" als historisch-konstantes Substrat dargestellt, das nur durch einen entsprechend ausgerichteten „Abschälungsprozeß" aus den relativ natürlichen Weltanschauungen gewonnen werden kann. Sie tritt 248
nie als solche, sondern immer nur gleichsam eingewebt in die relativ natürliche Weltanschauung in Erscheinung (VI, 15 f.). 5 Aus dem Nachlaß sind Fragmente besonders zur Meta-Physik (XI, 125 ff.) und zur Meta-Biologie (XI, 156 ff.) ediert worden. 6 Zur Erkenntnislehre der Metaphysik vgl. XI, 17—22.
XIII. Zur Wirkung 1 M. Heidegger, Gesamtausgabe Bd. 26, Frankfurt/Main 1978, S. 62. 2 Vgl. vor allem die Nekrologe von M. Geiger (Vossische Zeitung 1. 6. 1928), N. Hartmann (Kleinere Schriften, Bd. 3, Berlin 1958, S. 350357), D. v. Hildebrand (M.S. als Persönlichkeit, in: Die Menschheit am Scheideweg, Regensburg 1954, S. 622-639), P. Honigsheim (M. S. als Sozialphilosoph, in: Kölner Vierteljahrshefte f. Soziologie 8, S. 94-108), A.Koyré (Revue d'Allemagne 10, S. 97-108), P. F. Linke (Zum Tode M. S.s, in: Die Jenaer Studentenschaft 1928, Nr. 2, S. 31-33), J. Ortega y Gasset (Neue Schweizer Rundschau 21, S. 725-729), P. A. Schupp (Philosophical Review 28, S. 574-588). 3 A. Keyserling (Hrsg.), Das Erbe der Schule der Weisheit, Bd. 2: 19271946, Wien 1946, S. 536. 4 H.-G. Gadamer, Max Scheler - der Verschwender, in: Good (1975), S. 11 ff. Ähnlich H. Kuhn, Max Scheler als Faust, in: Good (1975), S. 34 f. 5 Vgl. die chronologische Bibliographie der Sekundärliteratur von G. Caronello (1996) und das Verzeichnis von Übersetzungen in der Bibliographie von W. Hartmann (1963), S. 23 ff. 6 Vgl. Lenz-Medoc (1951) und Leroux (1994) für die französische, Dahm (1971) für die russische, Caronello (1996) für die italienische, W. Hartmann (1968) für die englisch-sprachige, Pintor Ramos (1994) für die spanisch-sprachige Rezeption der Philosophie Schelers. 7 Spiegelberg (1982), S. 268. 8 Vgl. J.Nota (1995), M. Dupuy (1959), M.S.Frings (1965), G. Ferretti(1972). 9 Vgl. den bis 1964 reichenden Forschungsbericht von G. Ferretti, Rassegna di studi Scheleriana in lingua tedesca, in: Rivista di filosofia neoscolastica 57 (1965), S. 483^t98, 808-847. 10 Vgl. jetzt bes. O. Pöggeler, Ausgleich und anderer Anfang. Scheler und Heidegger, in: Phänomenologische Forschungen 28/29 (1994), S. 166— 203. 11 „Aletheia. An International Yearbook of Philosophy" erscheint in unregelmäßiger Folge seit 1977. 12 H. Rickert, Philosophie des Lebens, Tübingen 1920. 13 J. Kraft, Von Husserl zu Heidegger. Kritik der phänomenologischen Philosophie (1932), 2., erw. Aufl. Frankfurt/Main 1957, S. 52-83. 14 Th. W. Adorno, Die Aktualität der Philosophie (1931), in: Gesammelte Schriften I, Frankfurt/Main 1973, S. 328 f. 249
15 Die Kritik begann mit J. Cohns Rezension des Formalismusbuchs: Recht und Grenzen des Formalen in der Ethik, in: Logos 7 (1917/18), S. 89-112. Die ausgearbeitetste Form erreichte sie bei K. Alpheus, Kant und Scheler. Phänomenologische Untersuchung zur Ethik zwecks Entscheidung des Streites zwischen der formalen Ethik Kants und der materialen Wertethik Schelers, Diss. Berlin 1936; Neuauflage hrsg. v. B.Wolandt, Bonn 1981. 16 In der angelsächsischen Diskussion tauchte die gänzlich unbegründete These auf, daß Scheler zu den Vordenkern der nationalsozialistischen Weltanschauung gehöre. Vgl. z.B. G. N. Shuster, Symposium on the Significance of Max Scheler for Philosophy and Social Science, Introductory Statement, in: Philosophy and Phenomenological Research 2 (1942), S. 269-272. 17 Vgl. G. Schischkoff (Hrsg.), Philosophische Vorträge und Diskussionen, Wurzach 1948. 18 Im Verhältnis zur Auseinandersetzung mit Scheler während der Zeit des Nationalsozialismus mag es berechtigt erscheinen, von einer „Scheler-Renaissance" zu sprechen (J. Molitor, Max Schelers Kritik am Pragmatismus, Frankfurt/Main 1961, S. 8; G. Ferretti 1965, S. 483), doch die öffentliche Präsenz, die Scheler in den zwanziger Jahren inne hatte, ist seinem Werk nie mehr zuteil geworden. 19 Die Tagung von 1993 ist dokumentiert in E. W. Orth; G. Pfafferott (Hrsg.), Studien zur Philosophie von Max Scheler, Freiburg 1994 (Phänomenologische Forschungen 28/29), die Tagung von 1995 in G. Pfafferott (Hrsg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997. 20 W. Henckmann, Das Problem der intersubjektiven Geltung von Werten bei Hans Reiner, in: Phänomenologische Forschungen 30 (1996), S. 141-170. 21 Vgl. A. Pieper (Hrsg.), Geschichte der neueren Ethik, 2 Bde., Tübingen/Basel 1992. 22 Vgl. H. M. Schmidinger, Max Scheler (1874-1928) und sein Einfluß auf das katholische Denken, in: E. Coreth (u.a., Hrsg.), Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 3, Graz 1989, S. 89-111, hier 110. Vgl. bes. R. Schaeffler, Die Werte, die Religion und das Christentum - Max Scheler und die katholische Theologie, in: Ders., Die Wechselbeziehungen zwischen Philosophie und katholischer Theologie, Darmstadt 1980, S. 142-186. 23 H. Fries, Die katholische Religionsphilosophie der Gegenwart. Der Einfluß Max Schelers auf ihre Formen und Gestalten, Heidelberg 1949. 24 Th. Haecker, Geist und Leben. Zum Problem Max Scheler, in: Hochland 23 (1926), Bd. 2, S. 129-155; D. v. Hildebrand, Max Schelers Stellung zur katholischen Gedankenwelt (1928), in: Ders., Die Menschheit am Scheideweg, Regensburg 1954, S. 605-622. 250
25 Κ. Wojtyla, Papst Johannes Paul II, Primat des Denkens. Philosophische Schriften, Stuttgart-Degerloch 1980, S. 35 ff. M. S. Frings beleuchtet in seiner Einleitung Kerngedanken von Wojtylas Schriften vor dem Hintergrund geistiger Bestrebungen im 20. Jahrhundert (S. 1937). 26 Vgl. H. Plessner, Erinnerungen an Max Scheler, in: Good (1975), S. 19 ff.; Α. Gehlen, Rückblick auf die Anthropologie Max Schelers, in: Good (1975), S. 179 ff. 27 W. Sombart, Vom Menschen. Versuch einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie, Berlin 1938. 28 L. v. Wiese, Das Problem einer Wissenschaft vom Menschen, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 20 (1940), S. 1-19. 29 W. Brüning, Philosophische Anthropologie. Historische Voraussetzungen und gegenwärtiger Stand, Stuttgart 1960. - P. L. Landsberg, Einführung in die Philosophische Anthropologie (1934), 2. unveränd. Aufl. Frankfurt/Main 1960. - E. Mounier, Einführung in die Existenzphilosophien, Bad Salzig/Boppard 1949; Mounier geht in seiner thematisch gegliederten Schrift überwiegend auf französische Existenzphilosophen ein, von den deutschen spielen Heidegger und Jaspers die Hauptrolle. 30 V. E. Frankl, Das Menschenbild der Seelenheilkunde, Stuttgart 1959; Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn (Werkauswahl), München 1979; Autobiographische Skizze, in: Ders., Die Sinnfrage in der Psychotherapie (1981), erw. Neuausgabe 5. Aufl. München 1994, S. 143166. 31 L. Binswanger, Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie, Berlin 1922. 32 Vgl. A. Dempf, Schelers System christlicher Geistphilosophie als Grundlage einer religiösen Erneuerung, in: Good (1975), S. 39 ff. 33 Nicht nur A. Dempf, auch M. S. Frings und viele andere sehen in der Liebe den eigentlichen Angelpunkt von Schelers Philosophie. 34 J. Hessen, Die Philosophie des 20. Jahrhunderts, Rottenburg 1951, bes. S. 165. - P. Wust: Max Schelers Lehre vom Menschen (1928/29), in: Ders., Gesammelte Werke Bd. VII, Regensburg/Münster 1966, S. 243287. Vgl. A. Lohner, Max Schelers Religionsphänomenologie und Peter Wust, in: Ders., Peter Wust: Gewißheit und Wagnis. Eine Gesamtdarstellung seiner Philosophie, 2. durchges. u. erw. Aufl. Paderborn 1995, S. 224-231. 35 A. Dempf, Schelers System christlicher Geistphilosophie a.a.O. S. 40. 36 E. Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, Leipzig 1938, mehrfach überarbeitete Auflagen. Vgl. W. Perpeet, Erich Rothacker. Philosophie des Geistes aus dem Geist der Deutschen Historischen Schule, Bonn 1968. - Ph. Lersch, Der Aufbau des Charakters (1938), 2. umgearb. u. erw. Aufl. Leipzig 1942, geht dagegen nur auf Schelers Analyse der Gefühle beiläufig ein. 251
37 Scheler verweist auf K. Schneider, der bei ihm promoviert hat, in VII, 15, 59. Vgl. K. Schneider, Die Schichtung des emotionalen Lebens und der Aufbau der Depressionszustände, in: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 59 (1920), S. 281 ff.; 72 (1922), S. 391 ff. - Ders., Pathopsychologische Beiträge zur psychologischen Phänomenologie von Liebe und Mitfühlen, in: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 65 (1921) Ders., Bemerkungen zu einer phänomenologischen Psychologie der invertierten Sexualität und erotischen Liebe, in: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 71 (1921); - Ders., Die phänomenologische Richtung in der Psychiatrie, in: Philosophischer Anzeiger 1 (1925), S. 382^104. 38 Vgl. H.-E. Hengstenberg, Struktur und Freiheit. Ansatz einer Selbstdarstellung, in: L. J. Pongratz (Hrsg.), Philosophie in Selbstdarstellungen, Bd. 1, Hamburg 1975, S. 123 f. 39 Vgl. E. Grünwald, Das Problem der Soziologie des Wissens, Wien 1934, Reprint Hildesheim 1967; V. Meja; N. Stehr (Hrsg.), Der Streit um die Wissenssoziologie, 2 Bde., Frankfurt/Main 1982. 40 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, 5. Aufl. Frankfurt/Main 1969, S. 267. 41 2. Aufl. 1962, S. 62 ff. Zu Dempfs Religionssoziologie vgl. H. Fries, Die katholische Religionsphilosophie der Gegenwart, Heidelberg 1949, S. 90 ff. 42 P. L. Berger; Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 3. Aufl. Stuttgart 1970, S. 9. 43 I. Srubar, Max Scheler: eine wissenssoziologische Alternative, in: N. Stehr; V. Meja (Hrsg.), Wissenssoziologie, Opladen 1981 (Sonderh. d. Kölner Zeitschr. f. Soziologie u. Sozialpsychologie), S. 343-359.
2. Zeittafel 1874
1894 1894/95
1897
1898 252
22. 8. Max Ferdinand Scheler in München als Sohn eines zum Judentum konvertierten Protestanten und einer orthodox-jüdischen Mutter geboren. Abitur am Ludwigsgymnasium, München. Studium der Medizin, Psychologie und Philosophie (Th. Lipps) an der Universität München, im WS 1895/96 an der Universität Berlin (W. Dilthey, G. Simmel), ab WS 1896/97 an der Universität Jena: Philosophie (R. Eucken, O. Liebmann), Nationalökonomie (J. Pierstorff), Geographie (Fr. Regel). Promotion bei R. Eucken mit der Dissertation: Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien (Jena 1899). Studienaufenthalte in Heidelberg und Jena.
1899
Habilitation an der Universität Jena mit der Schrift: Die transzendentale und die psychologische Methode (Jena 1900, 2. Aufl. 1922). Im Herbst konvertiert Scheler in München zum Katholizismus; Heirat mit Amélie Ottilie geb. Wollmann gesch. v. Dewitz-Krebs (geb. 1867); Tochter Anneliese, sieben Jahre. 1900/01-1905 Privatdozent an der Universität Jena. 1902 Jan.: Erste Begegnung mit E. Husserl in Halle. 1905 Geburt des Sohnes Wolf gang Heinrich (gest. ca. 1940 im Konzentrationslager Oranienburg). 1905/1906 WS: Beurlaubung Schelers. 1906 Umhabilitation an die Universität München. Scheler zieht eine auf zwei Bände geplante Logik aus dem Druck zurück. 1907-1910 Privatdozent in München. Enger Kontakt mit dem München/Göttinger Phänomenologenkreis (A. Pfänder, M. Geiger, J. Dauben, D. v. Hildebrand). 1910 Mai: In Folge eines Skandalprozesses über die „Würde eines Hochschullehrers" wird Scheler von der Universität verwiesen. Ab 1910 freier Schriftsteller, rege Vortragstätigkeit, bis zum Ausbruch des Weltkriegs auch regelmäßig in der Philosophischen Gesellschaft Göttingen. 1912 Im Feb. Scheidung von Amélie v. Dewitz-Krebs, im Dez. Heirat mit Mark geb. Furtwängler (1891-1971). Die ersten phänomenologischen Arbeiten erscheinen: „Über Selbsttäuschungen" (1912, später u.d.T.: Idole der Selbsterkenntnis), „Über Ressentiment und moralisches Werturteil" (1912, später u. d. T.: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen). 1913-1928 Mitherausgeber (zusammen mit A. Pfänder, M. Geiger, A. Reinach) von E. Husserls Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. - Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß (Halle 1913); Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (Teil I im Jahrb. I, 1913). 1914 „Ethik. Ein Forschungsbericht" (In: Jahrbücher f. Philosophie, 2). 1915 Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg (Leipzig 1915); Abhandlungen und Aufsätze (2 Bde., Leipzig 1915; 2. Aufl. u.d.T.: Vom Umsturz der Werte, 1919). 1916 1916-1922 regelmäßige Mitarbeit an der katholischen Zeitschrift Hochland. Wichtigster Beitrag: Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Kriege (1916). Ostern in Kloster Beuron: Feierliche Aufnahme in die katholische Gemeinschaft; Höhepunkt von Schelers katholischem Glaubensleben. - Krieg und Aufbau (Leipzig 1916). 253
1917 1917/18 1918 1919
1920
1921
1922 1923
1924
1925 1926 1927
254
- Teil II von Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik im Jahrbuch II, 1916; das Ganze des Formalismusbuchs als Monographie (Halle 1916, 21921, 31927). Krieg und Aufbau (Leipzig 1916, Aufsatzsammlung; Neuauflage der meisten Aufsätze 1923/24). Die Ursachen des Deutschenhasses (Leipzig 1917). Im Dienst des Auswärtigen Amtes Betreuung von deutschen Kriegsinternierten in der Schweiz und in Holland. Verleihung des Professoren-Titels durch das Preußische Kultusministerium, wodurch Scheler wieder berufbar ist. Zum 1. April Ernennung zum Direktor der Abteilung Soziologie am Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften in Köln und Ernennung zum Professor für Philosophie an der Kölner Universität (das persönliche Ordinariat wird auf Betreiben Schelers 1923 in ein planmäßiges Ordinariat umgewandelt). Scheler lernt Maria Scheu kennen, Hilfsassistentin am Forschungsinstitut. Im WS 1920/21 erste Vorlesung über Metaphysik. Vom Ewigen im Menschen. Bd. 1: Religiöse Erneuerung, Leipzig 1921, 21923; die angekündigten Bde. 2-4 nicht erschienen). - 1921-1928 Mitherausgeber der Kölner Vierteljahrshefte für Sozialwissenschaften. »Die deutsche Philosophie der Gegenwart" (in: Deutsches Leben der Gegenwart, hrsg. v. Ph. Witkop, Berlin 1922). Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre (Bd. 13, Leipzig 1923/24; zum großen Teil Neuauflage von Krieg und Aufbau, 1916). Der angekündigte vierte Band über Geschichtsphilosophie ist nicht erschienen. Neubearbeitung und Erweiterung des Sympathiebuchs (1913): Wesen und Formen der Sympathie (Bonn 1923). Ein Jahr nach der Scheidung von Märit (1923) Heirat mit Maria Scheu (1892-1969). Scheler sagt sich öffentlich vom Theismus und von der Katholischen Kirche los. „Probleme einer Soziologie des Wissens" in: Versuche zu einer Soziologie des Wissens, hrsg. ν. Μ. Scheler (Leipzig 1924). SS: erste Vorlesung über die Grundzüge der philosophischen Anthropologie. Die Wissensformen und die Gesellschaft (Leipzig 1926). „Mensch und Geschichte" (Sonderdruck: Zürich 1929). Im Reichswehrministerium Berlin Vortrag über „Die Idee des Friedens und der Pazifismus"; an der Berliner Hochschule für Politik über „Moral und Politik" und „Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs"; in H. v. Keyserlings
1928
1929 1933
Darmstädter „Schule der Weisheit" über „Die Sonderstellung des Menschen im Kosmos". Berufung zum Professor für Philosophie und Soziologie an die Universität Frankfurt. Am 19. 5. Tod Max Schelers in Frankfurt. Beerdigt auf dem Südfriedhof, Köln. Am 28. 12. Geburt des Sohnes Max G. Scheler. - „Idealismus - Realismus" (Philosophischer Anzeiger 2, 1928); Die Stellung des Menschen im Kosmos (Darmstadt 1928); „Philosophische Weltanschauung" (Münchner Neueste Nachrichten 1928; Aufsatzsammlung unter diesem Titel, Bonn 1929). „Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs". Schriften aus dem Nachlaß Bd. I: Zur Ethik und Erkenntnislehre.
3. Literaturverzeichnis I. Bibliographien Hartmann, W.: Max Scheler. Bibliographie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1963 (Primär- und Sekundärliteratur bis 1962). Avé-Lallemant, E.: Bibliographisches Verzeichnis, in: M. Scheler: Gesammelte Werke Bd. XIV, hrsg. v. M. S. Frings, Bonn 1993, S. 456^t64 (Primärliteratur). Avé-Lallemant, Ε.: Max Scheler, in: Ders.: Die Nachlässe der Münchener Phänomenologen in der Bayerischen Staatsbibliothek, Wiesbaden 1975, S. 41-124 (ausf. Nachlaßverzeichnis). Frings, M. S. (Hrsg., 1974): Max Scheler. Centennial Essays, Den Haag: Bibliography 1963-1974, S. 165-173. Caronello, G. (Hrsg., Übers., Einl.): Scheler, II formalismo nell'etica e l'etica materiale dei valori, Milano 1996: Nota bibliografica, S. 105*-167* (Primär- und Sekundärliteratur 1915-1995, chronologisch geordnet). Frings, M. S.: The Mind of Max Scheler, Marquette Univ. Press 1997, S. 302-314 (Auswahl von Sekundärliteratur ab 1955).
II. Briefe Scheler an v. Herding, 27. 4. 1906, in: H.Finke (Hrsg.): Internationale Wissenschaftsbeziehungen der Görresgesellschaft, Köln 1932, S. 48-51. Scheler an J. Plenge, 8. 5. 1919, Plenge an Scheler 28. 4. und 15. 5. 1919, in: Schäfers, B.: Christentum und Sozialismus. Ein Briefwechsel zwischen M. Scheler und J. Plenge, in: Soziale Welt 17 (1966), S. 73-76. Scheler an P. Wust, 8. 9. 1921, in: Wust, P.: Gesammelte Werke, Bd. VII: Aufsätze und Briefe, Münster 1966, S. 439-442. 255
Scheler, neun Briefe an C. Muth (Auszüge), in: Good, P. (Hrsg.): Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, Bern/München 1975, S. 45-56. Briefauszüge an Vaihinger, Husserl, ν. Herding, Α. Grimme, Ε. Troeltsch, Α. ν. Gleichen-Rußwurm, J. Plenge, Märit Scheler-Furtwängler u.v.a., in: Mader, W.: Max Scheler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg 1980. Bloch an Scheler, 3.9. 1919, in: E. Bloch. Briefe 1903-1975, hrsg. ν. Κ. Bloch (u.a.), Frankfurt/Main 1985, S. 253-255. Scheler an R. Guardini, 4.7.1919 (Auszug), in: Gerl, H.-B.: Romano Guardini. 1885-1968. Leben und Werk, Mainz 1986, S. 109. Scheler an E. R. Curtius, 1918-1919 (Auszüge), in: Lange, W.-D.: E. R. Curtius und M. Scheler. Eine Skizze, in: Kroll, F.-L. (Hrsg.): Wege zur Kunst und zum Menschen. Festschr. f. H. Lützeler z. 85. Geb., Bonn 1987, S. 270-273. Scheler an Josef Bernhart, 18.5.1917, in: Bernhart, ].: Erinnerungen 18811930, hrsg. v. M. WeitUuff, Weissenhorn 1992, S. 774. Scheler-Husserl-Briefwechsel, in: E. Husserl. Briefwechsel. Bd. 2: Die Münchner Phänomenologen, hrsg. v. K. Schubmann in Verb. m. E. Schuhmann, Dordrecht 1994, S. 211-232.
III. Gesammelte Werke Zuerst im Francke-Verlag, Bern/München erschienen, ab 1986 im BouvierVerlag, Bonn. Bis zu ihrem Tod (1969) hrsg. v. Maria Scheler, seither von M. S. Frings. I (1971): Frühe Schriften: Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien (1899); Arbeit und Ethik (1899); Die transzendentale und die psychologische Methode (1900,21922). II (1954, 6. durchges. Aufl. 1980): Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/16; 31927). III (1955, 51972): Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze: Zur Rehabilitierung der Tugend (1913); Das Ressentiment im Aufbau der Moralen (1912); Zum Phänomen des Tragischen (1914); Zur Idee des Menschen (1914); Die Idole der Selbsterkenntnis (1912); Versuche einer Philosophie des Lebens (1913); Der Bourgeois (1914). IV (1982): Politisch-pädagogische Schriften: Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg (1915); Europa und der Krieg (1915); Der Krieg als Gesamterlebnis (1916); Die Ursachen des Deutschenhasses (1917); Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Kriege (1916); Innere Widersprüche der deutschen Universitäten (1919); Politik und Kultur auf dem Boden der neuen Ordnung (1919); Deutschlands Sendung und der katholische Gedanke (1918). 256
V (1954, 1968): Vom Ewigen im Menschen: Reue und Wiedergeburt (1917); Vom Wesen der Philosophie und der moralischen Bedingung des philosophischen Erkennens (1917); Probleme der Religion (1921); Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt (1917); Vom kulturellen Wiederaufbau Europas (1918). VI (1963, '1986): Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, enthält die drei Aufsatzsammlungen: Moralia (1923); Nation und Weltanschauung (1923); Christentum und Gesellschaft (1924). VII (1973): Wesen und Formen der Sympathie - Die deutsche Philosophie der Gegenwart. VIII (1960, '1980): Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926): Probleme einer Soziologie des Wissens (1926); Erkenntnis und Arbeit (1926); Universität und Volkshochschule (1921). IX (1976): Späte Schriften: Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928); Philosophische Weltanschauung (1929); Idealismus-Realismus (1928). X (1957, '1986): Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre: Tod und Fortleben (1911-14); Über Scham und Schamgefühl (1913); Zur Phänomenologie und Metaphysik der Freiheit (1912-14); Absolutsphäre und Realsetzung der Gottesidee (1915-16); Vorbilder und Führer (1911-21); Ordo Amoris (1914-16); Phänomenologie und Erkenntnistheorie (1913-14); Lehre von den drei Tatsachen (1911-12). XI (1979): Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 2: Erkenntnislehre und Metaphysik. XII (1987): Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 3: Philosophische Anthropologie. XIII (1990): Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 4: Philosophie und Geschichte: Politik und Moral; Die Idee des ewigen Friedens (1926-28); Grundlagen der Geschichtswissenschaft (1909). XIV (1993): Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 5: Varia I: Logik I (1905-06); Biologievorlesung (1908/09); Vorlesung Sozialphilosophie (1921/22).
IV. Sekundärliteratur Alphéus, K. (1981): Kant und Scheler (1936), 2. Aufl. Bonn. Avé-Lallemant, E. (1975a): Die Nachlässe der Münchener Phänomenologen in der Bayerischen Staatsbibliothek, Wiesbaden. Ders. (1975b): Die Antithese Freiburg -München in der Geschichte der Phänomenologie, in: Kuhn, H. (u.a., Hrsg. 1975): Die Münchener Phänomenologie, Den Haag, S. 19-38. Ders. (1975 c): Die phänomenologische Reduktion in der Philosophie Max Schelers, in: Good, P. (Hrsg., 1975), S. 159-178. Ders. (1980): Schelers Phänomenbegriff und die Idee der phänomenologischen Erfahrung, in: Phänomenologische Forschungen 9, S. 90-123. 257
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4. Abbildungsnachweise Abb. 1: Bayerische Staatsbibliothek, München. - Abb. 2: Zitiert nach Wilhelm Mader, Max Scheler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1980, S. 52. - Abb. 3 Foto Felix H. Man, Ullstein Bilderdienst. Abb. 4: Foto Wilhelm Mauss, Deutsches Literaturarchiv, Marbach. Abb. 5: Archiv Wilhelm Mader. - Abb. 6: Zitiert nach Wilhelm Mader, Max Scheler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten,Reinbek 1980, S. 133.
5. Personenverzeichnis Adam, K. 237 Adenauer, K. 28 Adorno, Th. W. 233, 250 Alphéus, K. 250 Aristoteles 9, 42, 57, 59, 219, 226 Augustinus 9, 20, 52, 128, 192, 231, 243 Avé-Lallemant, E. 235, 242, 247 Balthasar, H. U. v. 242, 247 Becher, E. 216 Berger, P. L. 240, 252 Bergson, H. 19, 20, 43 264
Binswanger, L. 238, 251 Brauer, L. 242 Brenk, B. 235 Brentano, Fr. 103, 104, 117f., 119 Brüning, W. 238, 251 Buddha 52, 138 Calvin, J. 176 Caronello, G. 249 Cassirer, E. 83 Comte, A. 154 Condorcet, M. J. A. 160 Cohn, J. 250
Conrad-Martius, H. 25 Coreth, Ε. 250 Curtius, Ε. R. 233 Dahm, Η. 235, 249 Darwin, Ch. 128,210 DaubertJ. 20, 253 Dempf, A. 238, 239, 240, 251 Descartes, R. 48, 72, 199 Dewitz-Krebs, Amélie 17, 18, 19, 21,22,253 Dilthey, W. 17, 19, 50, 74, 98, 163, 179,224,252 Dix, Ο. 37 Driesch, Η. 216 Dupuy, M. 249 Eckert, Chr. 38, 242 Ehrenfels, Chr. v. 118 Einstein, A. 95, 221 Engels, Fr. 196 Eucken, R. 13, 17, 18, 19, 20, 40, 41, 79, 138, 156, 163, 170, 179, 213,242,253 Ferretti, G. 249, 250 Finke, H. 242, 247 Fischer, A. 231,247 Fischer, K. 18 Frankl, V. E. 238, 251 Freud, S. 196 Fries, H. 236, 251,252 Frings, M. S. 36, 97, 193, 235, 243, 249,251 Further, Ernst 17 Further, Hermann 16 Further, Sophie 16, 17 Furtwängler, Adolf 22 Furtwängler, Wilhelm 22 Furtwängler-Scheler, Märit 22, 32, 37, 253 Gadamer, H.-G. 37, 242, 249 Gehlen, A. 237,251 Geiger, M. 21, 24, 25, 38, 233, 249, 253
Goethe, J. W.v. 11 Goll, Cl. 16,242 Good, P. 235, 242,251 Grünwald, E. 252 Haeckel, E. 17 Haecker, Th. 31, 141, 145, 237, 247, 251 Hammer, F. 235 Hartmann, E. v. 52 Hartmann, N. 30, 38, 75, 90, 109, 116, 197,236,249 Hartmann, W. 249 Hegel, G. W. F. 14, 49, 195 Heidegger, M. 9, 10, 11, 13, 15, 48, 75, 230, 232, 234, 235, 237, 238, 242,249,251 Hengstenberg, H. E. 233, 239, 252 Herding, Frh. G. v. 19, 79, 115, 138, 139,244 Hessen, J. 237, 239,251 Hildebrand, D. v. 24, 25, 32, 104, 106, 116, 141, 231, 233, 236, 237, 242,245,247,249,251,253 Hobbes.Th. 196 Honigsheim, P. 249 Hume, D. 150 Husserl, E. 13, 19, 20, 24, 25, 29, 43, 44, 50, 64, 66, 67, 75, 79, 98, 104, 232, 233, 235, 236, 237, 242, 245, 253 Jäckh, Ε. 247 James, W. 179 Jaspers, Κ. 231, 251 Jerusalem, W. 239 Kant, I. 19, 20, 26, 34, 42, 74, 77f., 79, 115, 117, 123, 127, 137, 139, 168, 174, 195,214,235 Kerler, D. 197 Keyserling, H. 231, 249, 255 Klages, L. 196 Klemperer, O. 231 265
Köhler, W. 204 Koyré, A. 249 Kraft, J. 233, 250 Krueger, F. 118 Kuhn, H. 249 Landsberg, P. L. 233, 238, 251 Lenz-Medoc, P. 249 Leonardy, H. 235 Leroux, H. 249 Lersch, Ph. 252 Lessing, Th. 196 Lévy-Bruhl, L. 76 Leyendecker, H. 116, 244, 245, 246, 248 Liebmann, O. 17, 42, 243, 253 Lindemann, Η. 29 Linke, P. F. 38, 242, 249 Lipps.Th. 17,20,80,252 Lohner, Α. 251 Lotze, H. 63, 100 f., 104,245 Luckmann, Th. 240, 252 Lützeler, H. 233 Machiavelli, Ν. 196 Mader, W. 242 Malebranche, Ν. 63 Mannheim, Κ. 239, 240, 241, 252 Marx, Κ. 196 Meile, U. 245 Meja, V. 252 Molitor, J. 250 Mounier, Ε. 238, 251 Münsterberg, H. 118 Natorp, P. 115 Nietzsche, Fr. 9, 17, 19, 52, 107, 128, 169,212 Nota, Jan H. 249 Ortega y Gasset, J. 249 Orth, E. W. 250 Pascal, B. 9, 20, 42, 104, 199, 243 Pawlow, I. P. 93, 203 Perpeet, W. 252 266
Pfänder, A. 21, 24, 25, 116, 231, 233,253 Pfafferott, G. 235, 250 Pieper, A. 250 Platon 42, 45, 46, 52, 113,219 Planck, M. 221 Plessner, H. 35, 231, 237, 240, 251 Pintor Ramos, A. 249 Pöggeler, O. 249 Pongratz, L.J. 252 Reinach, A. 24, 233, 253 Reiner, H. 236 Rickert, H. 164,233,250 Ritschl, A. 151 Rothacker, E. 239, 252 Scheler, Gottlieb 16 Scheler, Max Georg 255 Scheler, Wolfgang Heinrich 22, 253 Scheler-Scheu,Maria8,32,129, 234, 235, 254 Schelling, Fr. W. J. 52, 63, 228 Schiller, F. C. S. 179 Schilpp, P. A. 249 Schischkoff, G. 250 Shimomissée, E. 245 Shuster, G. N. 250 Schaeffler, R. 250 Schleiermacher, Fr. 150 f. Schmidinger, H.M. 250 Schneider, K. 239, 252 Schopenhauer, A. 17, 52, 196 Schwarz, H. 216 Seifert, J. 233 Simmel, G. 17, 163,252 Sombart, W. 22,7i., 251 Spencer, H. 128 Spengler, Ο. 147 Spiegelberg, H. 232, 249 Spinoza, B.de 52, 227 Spranger, E. 231 Srubar, 1.240, 241,252 Stehr, N. 252 Stein, E. 38, 231,236, 242
Stern, W. 216 Stumpf, Κ. 105, 118
Weber, M. 50 Wiese, L.v. 29,238,251 Windelband, W. 164 Wojtyla, K. 237, 251 Wolandt, B. 250 Wust, P. 216, 231,239, 251
Tönnies, Fr. 156, 159,247 Troeltsch, E. 65 Uexküll.J. 93 Vaihinger, H. 19,242
6. Sachverzeichnis Absicht 126 Absolutes 14, 52, 72, 98, 136, 143 ff, 164, 214, 224 ff. Absolutismus 102, 109, 110 ff., 118, 132 ff. Adäquation 46, 91 Ästhetik 54, 100, 102 Akt 25, 33, 45, 60, 64, 68, 72, 78, 105, 107, 109, 137, 142f., 151, 187,206,227 Alleben 52, 200, 210, 228 Allgemeinheit 67, 77 Allmensch 169, 197 Altern 167, 179, 184,208-210,211 Analogie 145,146,147 Analyse 43 Anschauung 19, 20, 24, 43, 45, 65, 66,68,79,82,91,93,102,168 Anthropologie 10, 33, 35, 36, 51, 54, 68, 170, 183, 189, 191-212, 224, 237-239, 240 apriori 24, 26, 47, 50, 54, 60, 62, 67, 77 f., 92, 96, 103, 108, 110, 113, 118 Arbeit 156, 170, 175 ff. Ausdruck 200 Ausgleich 135, 163, 165, 169f., 177, 212,223 Axiologie (vgl. Werttheorie) 97, 100, 102,109, 119 Bewegung 67, 94 f., 96, 206 Bewußtsein 43, 60, 62, 64, 66, 69, 75-76, 80, 84, 87
Bewußtseinsphilosophie 75, 87, 186 Bildungswissen 53, 89, 177, 223 Böse 120, 121, 122, 146 Darstellung (künstlerische) 76 Dasein 46, 47, 50, 60, 65, 66, 76, 83, 84, 102, 110, 166,182 Daseinsrelativität 62, 74, 91, 93, 110 ff., 222 Demut 45, 46, 128, 176 Denken 20, 45, 46, 65, 67, 68, 79, 91 Drang (vgl. Gefühlsdrang, Lebensdrang) 52f., 54, 111, 210, 223, 226 f. EidetikH, 49, 50, 57, 81 Eigentum 176 f. Einsfühlung 86 f., 228 Einstellung, phänomenologische 21,27,44,86 ekstatisches Wissen 75 f., 86 f., 186 Elite 182 Emotion, emotionales Leben 104 f., 106 Empfindung 20, 79, 93, 94, 105, 115 Ens a se 55, 71, 91, 102, 141, 144, 215,219,224 Erfahrung 14, 20, 24, 67, 77, 93, 94, 95, 108, 111, 113, 118, 120, 153, 159, 209 Erkenntnis 27, 45, 46, 54, 73, 77 f., 79 ff., 90 f., 206 267
sittliche Ε. 119, 120, 134 f. Maßstäbe d. E. 62, 82, 90-93 Erkenntnistheorie 21, 29, 33, 34, 57, 75, 79-99 Erlösung 89, 92, 147 Erlösungswissen 89, 92, 177 Eros 68 Ethik 21, 26, 29, 100, 102, 115-137 Ethos 112, 113, 120, 128, 132, 133 f., 139, 165, 172, 177, 179 Evidenz 60, 63, 65, 67, 77, 91, 135, 214,219,224 Evidenzart 65, 66 Evidenzordnung 61 f., 63-67, 72, 75,219 Fortschritt 39, 90, 147, 165, 183, 208 Frau 74, 169, 211 f. Frauenbewegung 28, 175 Freiheit 129-130, 149, 184, 213, 216,217 Frieden 174 Fühlen 69, 104ff., 110, 113, 118, 119 ff., 133, 199,203 Führer 118, 129, 162-163, 171 f., 182 Fundierungsordnung, -Verhältnis 73, 74, 77, 78, 94, 113, 157,200 Funktionalisierung 68-73, 76, 90, 113, 145,163, 168, 182,207 Ganzes 84f., 143, 146,218 Gefühl 20, 26, 27, 100, 104ff., 127, 202,238 Gefühlsdrang 202, 207 Gegebenheitsordnung 96, 97 Geist 27, 32, 33, 38, 43, 45, 47, 52, 55, 61, 68, 69, 71, 77, 83f., 101, 102, 132, 136, 137, 145 f., 166, 168, 173, 182, 198, 200, 205-207, 210,223, 225ff.,237ff. Geisteswissenschaft 21, 240 Gemeinschaft (vgl. Lebens) 20, 72, 73,115,153, 156
268
Genius 109, 129, 134, 163,197 Gerechtigkeit 20, 46, 115, 128 Gesamtperson 27, 130 ff., 154, 156, 159 ff., 170, 180 Geschichte 28, 73, 90, 109, 111, 132, 133, 134, 139, 142, 147, 158, 163-170, 178, 179, 208, 210f., 214,224,226 Geschichtsphilosophie 28, 34, 142, 154, 182,206 Geschmack 112,132, 208 Gesellschaft 99, 130, 156, 160 f., 170 Gesinnung 125, 126, 174, 178 Gestalt 96 Gewissen 112, 132, 134f., 208 Glaube 27, 31, 32, 46, 69, 112, 136, 144, 167 Glück 117 Gnade 128, 129, 148, 149 Gott 9, 12, 16, 27, 28, 46, 70, 99, 123, 128, 136f., 138ff., 171, 179, 197,213,214,215,226 Gottesbeweis 142, 152 f. Gottesliebe 136, 152 Gottheit 32, 52, 55, 89, 90, 121, 132, 153, 163f., 168, 210, 223, 229
Gruppengeist 88, 187, 188 Gruppenseele 87 f., 187, 188, 189 Gut (Wertding) 104 Gute 120, 121, 122, 135, 137, 236 Handlung 26, 112, 118, 125-127, 128, 129f., 186 Heilige 106, 109, 120, 129, 135 f., 139,150, 161, 163 Herrschaftswissen 46, 68, 89, 177 Ich 26, 45, 47, 70, 74, 76, 105, 149, 200,209,216,239 Idealfaktoren 163, 166 ff., 181, 182, 184 Idealismus 20, 25, 48, 59, 79 Idee 45, 50, 67 Instinkt 201, 203
Intellekt, Intelligenz 60, 94,202,204 intentional 44, 77, 80, 83 f., 105 Intuition (intuitiv) 43, 48, 63, 86, 107 Irrtum 58, 92 Judentum 16, 138, 154, 195 Kapitalismus 28, 132, 157, 169, 177 f. Katholizismus 13, 29, 31, 32, 131, 231 Kirche 13, 27, 28, 30 f., 130, 140, 148, 150, 154, 159,231,234 Körper 198 Körperbild 95 f. Konformitätssystem 136, 137, 141, 144,215,219 Korrelation 43, 44, 47, 51, 59, 60, 64, 69, 72, 73, 77, 91, 99, 102, 107, 110, 119,223 Kraft 94, 198,207 Krieg 27, 156, 173 f. Kultur 19, 41, 99, 138, 167, 172, 179 ff, 238 Kulturkampf 31 Kunst 42, 44, 88, 106, 166, 177, 183, 185,207 Leben 45, 95, 111, 202, 207, 208, 210,214,227 Lebensdrang 32, 38, 52, 132, 201 f. Lebensgemeinschaft 130, 154, 160, 170, 179 f. Lebensphilosophie 19, 38, 233 Leib 127,149,161, 193, 198, 199f. Leid 76, 202, 210 Liebe 12, 20, 32, 45 f., 54, 68, 69, 70, 71, 81, 83, 89f., 105, 109, 115, 123, 129, 131, 133, 134, 136, 146, 152, 202, 236, 238 Logik 18, 57, 58, 60, 65, 93, 100, 102,119,219 : Logos 70, 196 ; Lust/Unlust 100, 101, 105, 202
Macht 89, 128, 147, 166, 167, 171, 172, 173 f., 196,207 Marxismus 178 Masse 130f., 156f., 158, 159f., 165, 182 Mensch 9, 10, 49, 51, 55, 68, 169, 191 f., 195 ff., 214, 218, 223-229 Metanthropologie 217, 223, 224, 228 Metaphysik 33, 34, 36, 41, 49f., 52, 58, 59, 82, 98, 141 f., 144, 213229, 232 Metaszienzien 55, 59, 61, 97, 216, 218,219,220-224,240 Methode 44, 48, 49, 58, 59, 88, 97, 215,217 Mikrokosmos 50, 51, 70, 218, 223 Militarismus 28 Milieu 126 Moral 32, 136f., 172f., 175 Mut 128 Mystik 20, 86, 189 Mythos 44, 86, 87, 154, 179, 188, 207 Natur 20, 64, 69, 87, 95, 130, 147, 177, 193, 196, 207, 213, 214, 225, 228, 237 Nation 27, 99, 148,159,173 Neukantianismus 18, 19, 40, 41, 47, 79f., 81,234 Nichts 63, 147,219,225,226 Norm 112, 123, 124f., 133, 135, 172 Offenbarung 90, 141, 148, 152, 155 Ohnmacht des Geistes 10, 166,239 Ontologie 34, 54, 59, 64 f. Opfer 121, 176 Panentheismus 29, 52, 226 Pantheismus 10, 237 Person 12, 26, 27, 45, 46, 47, 70, 89, 105, 118, 122, 128, 130ff., 139, 149, 159,206,223,225,239 Personalismus 70, 122 269
Pflicht 123 f., 128,235 Phantasieüberschuß 226 Phänomenologie 11, 20 f., 24, 29 f., 38, 40, 43-56, 57, 58, 64, 66, 77 f., 80 ff., 98, 119,232,233,235 Phänomen 43, 67 Philosophie 11, 12, 29 f., 36, 40-56, 183, 195 Politiktheorie 170 ff. Pragmatismus 31, 175 f., 179 Psychische 24, 191, 199 ff., 206 Psychologismus 100, 238 Rasse 74, 111, 133 f., 159, 167, 188, 210,211 Raum 66, 67, 94, 95, 96, 206, 209, 225 Rangordnung 69, 88, 89, 102, 107109, HOff., 118, 119ff., 129, 134, 149, 157, 165,171,238,240 Realfaktoren 163, 166 ff., 181, 182, 183,184,229 Realismus 20, 30, 35, 48, 59, 93, 216,233 Realität 43, 44, 45, 47, 49, 50, 60, 62, 66, 72, 76, 80 f., 82, 92, 119, 144, 148, 153, 182, 187,203,213, 214, 222 f. Recht 88, 106, 171 f., 174, 185, 208 Reduktion 30, 43, 44, 45 f., 51 f., 53, 60, 61, 65, 66, 68, 69, 70, 213, 223 Reiz 93, 94 Relativismus 102, 109, HOff., 118, 119, 132ff. Relativitätstheorie 95, 221 Religion 16, 29, 42, 44, 48, 99, 100, 107, 117, 136f., 138-155, 167, 177, 183,207,213,214,218,226 Religionsphilosophie 29, 33, 73, 233, 236 f. Ressentiment 109 Reue 27 Scham 128 Schichtenlehre 105, 159, 191, 239 270
Seele 24, 199 ff., 214, 216 Sein 33, 45, 48, 49, 54, 57, 63, 64, 71,75,83, 100, 110, 140,206,225 Seinsart 62, 63-67, 72, 73, 75, 84, 102, 144 Seinsrelativität (vgl. Daseinsrelativität) 62, 71, 73-75 Selbst 45, 47, 61, 90, 99, 202, 226 Selbstbeherrschung 45, 46, 128 Selbstdeifikation 39,53, 70, 148, 150 selbstgegeben 67, 91, 92 Situation 125 f., 137, 162, 204 Solidarismus 157, 164, 176, 178 Solidarität 130-132, 156, 173, 180, 226 Sollen 26, 123-125, 127, 128, 174, 235 f. Sosein 64, 77, 83, 84, 93, 95, 96, 102, 110, 166, 182, 185,205 Sozialismus 28, 157, 169, 175, 178 Sphäre (Seinsgebiet) 49, 54, 62, 65, 71-73, 82, 143, 157ff., 164, 170, 180, 186, 187, 199, 208, 210, 214, 221,226 Sprache 86, 180, 186, 188, 189, 207, 238 Staat 88, 130, 148, 154, 159, 171, 172 f., 179 Staatsmann 171 Stil 112, 133, 165 Streben 66, 68, 81, 125, 126 Substanz 64, 94, 145, 199, 206 Sündenfall 146 f., 176, 195 System 12, 26, 30, 50, 53 f., 54, 62, 67, 71, 73,86, 220 f. Tatsache 58, 77, 80, 91, 97, 103 Täuschung 58, 66, 82, 92 Technik 52, 86, 99, 174, 175, 177, 188,238 Teilhabe 46, 70, 76, 83 f., 186, 218, 223, 224, 228 Theismus 9, 13, 20, 33, 140, 144, 216,217,226 Tier 76, 201 ff.
Tod 33, 147, 202, 208 f. Tradition 16, 112, 133, 135, 139, 160,165,180,204 Transzendentalphilosophie 25, 42 Transzendenz 61 f., 83, 151, 192 Trieb 45, 60, 68, 126, 166 ff., 181, 183, 189, 196, 199, 203 f., 207, 238 Tugend 46, 51, 117, 127-129, 176, 236 Tunwollen 127 Umwelt 46, 72, 93 f., 125 f., 173, 199,203,205,232,241 Unsterblichkeit 195,217 Urphänomen 52, 67, 70, 96, 103 Urteil 82, 91 Ur-Wesen 67 Vernunft 34, 41, 61, 64, 68, 168, 195, 196, 202, 205 Verstand 47, 61, 68, 199 Verstehen 99, 149, 159, 181, 185, 186 Vitalseele 94, 95, 200 Volk 74, 111, 133, 134, 146, 159, 171, 173 Vorbild 101, 109, 118, 129, 140, 149,162-163, 171, 182, 189 Vorziehen 69, 94, 105, 108, 112, 133 Wachstum 41, 71, 90, 145, 165, 168, 172,178,183,224,227 Wahrheit 58, 91 Wahrnehmung 45, 66, 72, 73, 81, 82,91,93-97,101,158 Welt 12, 46, 47, 61, 68 ff., 77, 89, 99, 123, 146, 205, 211, 221, 225, 226 Weltanschauung 19, 28, 33, 50, 56, 74, 86, 145, 178, 180 f., 214, 221 f. - natürliche W. 14, 43, 46, 48, 50, 51, 74, 80, 86, 92, 98 f., 179 f., 188, 214,215, 221 ff., 232, 240
Weltanschauungslehre 58, 74 82 97,98-99,175,219 Weltgrund 14, 89, 140, 193 215 218,220 Weltoffenheit 46, 205, 237, 238 Wert 12, 26, 27, 45, 54, 64, 69, 70 80, 81, 84 f., 94, 97, 100-114^ 117-130, 132ff., 136f., 206, 207' 209, 240
Wertethik 26f., 30, 115-137, 235f. Wertfühlen 101, 104 Wertnehmung 81, 104 Wertphilosophie (vgl. Axiologie) 26,29,54, 100-114 Wesen 43, 46, 50, 54, 65, 66, 77 f. Wesensanalyse 25, 67 Wesenserkenntnis 47, 60 f., 76 f., 110 Wesensontologie 14, 50, 51, 54, 57, 60, 66, 84, 92, 102, 157, 164ff., 198 ff., 221 f. Wesenszusammenhänge 43, 47, 67, 68,103,104, 119, 142,200,227 Widerstand 64, 66, 81, 126, 198, 203 Wirklichkeit 43, 50, 93, 95, 126, 133, 184,213,222,228 Wissen 42, 75 f., 80, 82, 83-85, 143, 241 Wissensarten 42, 80, 82, 85-90, 97, 143 f., 177, 182, 188-190, 240, 241 Wissenschaft (Einzel-, positive W.) 12, 41, 43, 44, 46, 49, 51, 74, 76, 79f., 80, 82, 86, 88, 90, 91, 154, 177, 220 ff., 240 Wissenssoziologie 34, 55, 239-241 Wollen 66, 69, 121, 124, 125f., 181, 206 Zeit 66, 67, 94, 95, 96, 206, 209, 225 Zentrum 47, 49, 70, 94, 171, 198, 200, 201, 206, 226