ROBERT SILVERBERG
MACHT ÜBER LEBEN UND TOD Science-Fiction-Roman Deutsche Erstveröffentlichung
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WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3282 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe MASTER OF LIFE AND DEATH Deutsche Übersetzung von Werner Gronwald
Redaktion und Lektorat: Günter M. Schelwokat Copyright © 1957 by A. A. Wyn, Inc. Printed in Germany 1972 Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann, München Gesamtherstellung: 1-1. Mühlberger, Augsburg
1. Die Büros des Amts für Bevölkerungsausgleich — abgekürzt ABEG genannt — lagen im 20. bis 29. Stockwerk des Cullen Building, einer hundertstöckigen Monstrosität, die typisch war für den überladenen neuviktorianischen Stil des 22. Jahrhunderts. Jeden Morgen mußte Roy Walton, der stellvertretende Verwaltungsdirektor von ABEG, sich vor sich selber entschuldigen, wenn er das schreckliche Ungetüm betrat. Seit Übernahme des Postens war es ihm gelungen, sein eigenes Büro neu einzurichten, das im 28. Stock direkt unter dem von Direktor Fitz Maugham lag. Doch damit hatte er sich nur eine kleine Oase in dem ästhetisch so abstoßenden Haus geschaffen. Es ließ sich einfach nicht ändern: ABEG war eine unbeliebte, aber notwendige Institution. Und wie den Henkern früherer Jahrhunderte stand dem Amt keine hübsche Unterkunft zu. Walton hatte also die regenbogenfarbig schimmernden Chrom-Ornamente von den Wänden entfernt und die Fenster mit Opalglas versehen lassen. Außerdem ersetzte jetzt indirektes Licht den massigen Deckenleuchter. Aber der Stempel des vorigen Jahrhunderts blieb sowohl dem Gebäude wie dem Büro unauslöschlich aufgeprägt. So sollte es auch sein, hatte Walton schließlich erkannt. Die Dummheit des vergangenen Jahrhunderts war es, die ein Amt wie ABEG notwendig machte. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Berichte, und jede Minute kamen per Rohrpost neue. Der Posten eines stellvertretenden Verwaltungsdirektors war eine undankbare Aufgabe, dachte er. Ebensoviel Verantwortung wie Direktor FitzMaugham, doch nur das halbe Gehalt. Walton nahm einen Bericht von dem hohen Stapel, glättete sorgfältig das zerknitterte Papier und las. Es war eine Nachricht von Horrocks, dem neuerdings in Patagonien tätigen ABEG-Agenten. Der Bericht war vom 4. Juni 2232, also vor sechs Tagen datiert, und nach einer langen und umständlichen Einleitung in der üblichen Art von Horrocks hieß es darin weiterhin: Die Bevölkerungsdichte bleibt hier dünn: 17,3 pro Quadratmeile — weit unter dem Optimum. Scheint für den Ausgleich in erster Linie geeignet zu sein. Walton war der gleichen Meinung. Er griff nach seinem Diktatschreiber und sagte laut: »Notiz vom stellvertretenden Verwaltungsdirektor Walton betreffs Ausgleich von ...« Er hielt inne und wählte willkürlich einen Krisenherd, » ... Belgien. Würde der diensttuende Abteilungsleiter in diesem Gebiet bitte die Ratsamkeit der Übersiedlung des Bevölkerungsüberschusses in die fruchtbaren Gebiete von Patagonien in Betracht ziehen? Empfehlung: Errichtung von Industrien in jenem Gebiet, um die Ansiedlung zu erleichtern.« Fast gewaltsam zwang er sich dazu, nicht an die vielfältigen Probleme zu denken, die sich durch die Verschickung mehrerer hunderttausend Belgier nach Patagonien ergaben. Statt dessen dachte er an eine der von Direktor FitzMaugham oft wiederholten Thesen: Wenn Sie normal bleiben wollen, dann müssen Sie diese Leute als Bauern in einem Schachspiel ansehen — nicht als menschliche Lebewesen. Walton seufzte. Dann war dies also das größte Schachproblem in der Geschichte der Menschheit, und so wie es jetzt aussah, würde das spätestens in einem Jahrhundert zu einem Schachmatt führen. Aber dann drängte sich ein anderer Gedanke in den Vordergrund, und Walton griff wieder nach dem Diktatschreiber. »Notiz vom stellvertretenden Verwaltungsdirektor betreffs neuer Richtlinien für Berichte örtlicher Agenten: Einen Stab von drei intelligenten Mädchen einstellen, die jeden Bericht präzisieren und unwichtige Einzelheiten entfernen.« Er nahm einen weiteren Bericht von dem hohen Stapel. Es war ein Statistikblatt des Züricher Euthanasie-Zentrums, und er überflog es flüchtig. Während der vergangenen Woche waren elf
unterdurchschnittliche Kinder und dreiundzwanzig unterdurchschnittliche Erwachsene ins Schlafglück verschickt worden. Das war die härteste Form des Bevölkerungs-Ausgleichs. Walton zeichnete den Bericht ab und schob ihn in die pneumatische Rohrpostanlage. Der Meldegong ertönte. »Ich habe zu tun«, sagte Walton sofort. »Ein gewisser Mr. Prior möchte Sie sprechen«, sagte eine ruhige Mädchenstimme aus dem Meldelautsprecher. »Er sagt, es sei dringend.« »Richten Sie Mr. Prior aus, daß ich mindestens drei Stunden lang für niemand zu sprechen bin.« Walton starrte düster auf den hohen Stapel unerledigter Meldungen und Berichte. »Sagen Sie ihm, ich hätte zehn Minuten Zeit, um — äh — dreizehn Uhr.« Walton hörte im Bürosaal draußen eine ärgerliche Männerstimme irgend etwas sagen, und dann verkündete die Mädchenstimme: »Er besteht darauf, Sie wegen einer Verschickung ins Schlafglück unbedingt sofort zu sprechen.« »Verschickungen sind unwiderruflich«, sagte Walton. Auf keinen Fall wollte er jetzt mit einem Mann sprechen, dessen Kind oder Ehefrau gerade verschickt worden war. »Sagen Sie Mr. Prior, ich sei überhaupt nicht zu sprechen.« Walton bemerkte, daß seine Finger zitterten, und er legte die Handflächen fest auf die Schreibtischplatte. Hier in diesem häßlichen Haus zu sitzen und Verschickungs-Befehle zu unterschreiben, das war immerhin einfacher als mit einem der Betroffenen tatsächlich zu sprechen und ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen versuchen ... Die Tür wurde aufgestoßen. Ein großer, dunkelhaariger Mann mit offener Jacke kam hereingestürmt und blieb an der Tür stehen. Ihm dicht auf den Ferien waren drei Männer in den grauen Uniformen des Sicherheitsdienstes. Sie hatten ihre Nadelpistolen gezogen. »Sind Sie Verwaltungsdirektor Walton?« fragte der große Mann mit tiefer, voller Stimme. »Ich muß mit Ihnen sprechen. Mein Name ist Lyle Prior.« Die drei Männer vom Sicherheitsdienst hatten Prior jetzt eingekreist. Einer von ihnen wandte sich Walton zu. »Es tut uns schrecklich leid, Sir. Er hat sich einfach losgerissen und ist weggerannt. Wir begreifen gar nicht, wie er hier hereinkommen konnte, aber es ist ihm tatsächlich gelungen.«" Ja, das habe ich gemerkt«, antwortete Walton spöttisch. »Stellen Sie fest, ob er jemand umbringen wollte.« »Walton!« protestierte Prior. »Ich bin ein friedlicher Mensch! Wie können Sie mich beschuldigen . . .«Ein Sicherheitsbeamter versetzte ihm einen Schlag. Walton unterdrück Fe das unwillkürliche Verlangen, den Mann zurechtzuweisen. Schließlich erfüllte der Sicherheitsbeamte nur seine Pflicht. »Durchsuchen Sie ihn«, wiederholte Walton. Prior wurde sorgfältig durchsucht. »Er hat nichts bei sich, Mr. Walton«, meldete ein Beamter. »Sollen wir ihn zu uns mitnehmen oder unten in die Gesundheitsabteilung bringen?« »Nein, lassen Sie ihn hier.« »Sind Sie sicher, daß Sie ...« »Verschwinden Sie!« rief Walton scharf, und als die drei sich zurückzogen, fügte er noch hinzu: »Denken Sie sich lieber eine wirksamere Methode aus, mich zu beschützen. Eines Tages wird sich hier ein Attentäter einschleichen und mich erwischen. Nicht etwa, daß ich so sehr an meinem Leben hänge, aber ich bin unentbehrlich. Es gibt außer mir keinen
Wahnsinnigen mehr in der Welt, der diesen Posten übernehmen würde.« Walton wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte, und drückte dann auf den Schaltknopf für die elektrische Verriegelung. Seine Strafpredigt war völlig ungerechtfertigt gewesen, sagte er sich dabei. Wenn er die Tür vorschriftsmäßig verriegelt hätte, wäre Prior nie hereingekommen. Aber so etwas konnte er den Wachtposten gegenüber nicht eingestehen. »Setzen Sie sich, Mr. Prior.« »Ich muß Ihnen dafür danken, daß Sie mir dieses Gespräch gewähren«, sagte Prior. »Mir ist natürlich klar, daß Sie furchtbar viel zu tun haben.« »Das habe ich.« Seit Priors dramatischem Auftritt hatten sich weitere drei Zoll Papier auf Waltons Schreibtisch aufgehäuft. »Sie haben sich einen psychologisch günstigen Augenblick für Ihren Auftritt gewählt. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich Sie einen Monat lang einsperren lassen, aber im Augenblick brauche ich gerade ein wenig Ablenkung. Außerdem bin ich ein großer Bewunderer Ihrer Arbeiten, Mr. Prior.« »Vielen Dank.« Wieder diese Unterwürfigkeit, die bei einem Mann von dieser Größe und persönlichen Ausstrahlung so beschämend wirkte. »Ich hätte nicht erwartet — ich meine, daß Sie...« »Daß ein Bürokrat Poesie bewundert? Wollten Sie das sagen?« Prior wurde rot. »Ja«, gestand er. »Auch Bürokraten haben ein Innenleben«, erklärte Waltort lächelnd. »Übrigens halte ich Ihr letztes Stück für recht bemerkenswert.« »Die Kritiker waren anderer Meinung«, bemerkte Prior. »Kritiker! Was die schon wissen?« Walton winkte ab. »Die laufen immer im Kreise. Vor zehn Jahren war es Form und Worttechnik, und dann bekam man den Melling-Preis. Jetzt ist es das politische Anliegen, das zählt. Aber das hat nichts mit Poesie zu tun, Mr. Prior — und es gibt bei uns noch einige, die den Wert von Poesie zu schätzen wissen. Nehmen Sie zum Beispiel Yeats ...« Walton war nur zu bereit, sich in eine Diskussion über alle möglichen literarischen Themen einzulassen, um sich von seiner augenblicklichen Aufgabe abzulenken. Aber Prior unterbrach ihn. »Mr. Walton ...« »Ja?« »Mein Sohn Philip ... er ist jetzt gerade zwei Wochen alt ...« Walton begriff. »Nein, Prior. Bitten Sie mich nicht darum.« Aber Prior war nicht mehr aufzuhalten. »Er wurde heute morgen wegen Tuberkuloseverdacht ins Schlafglück verschickt. Der Junge ist völlig gesund, Mr. Walton. Könnten Sie nicht ...« Walton stand auf. »Nein!« rief er halb befehlend, halb beschwörend. »Bitten Sie mich nicht darum. Ich kann keine Ausnahmen machen, nicht einmal für Sie. Ein so intelligenter Mann wie Sie müßte doch unser Programm begreifen.« »Ich habe für ABEG gestimmt«, bekannte Prior. »Ich weiß alles über das Auslese-Programm und den Euthanasie-Plan. Aber ich hatte nicht erwartet ...« »Sie meinten also, Euthanasie sei eine gute Sache für andere Leute. Das haben alle übrigen auch gedacht. Auf diese Weise ist das Gesetz durchgegangen.« Sanfter fügte er hinzu: »Ich kann es einfach nicht tun. Ich kann Ihren Sohn nicht schonen. Unsere Ärzte geben einem Baby jede Lebenschance.« »Ich hatte Tuberkulose. Aber ich wurde geheilt. Wenn man nun die Euthanasie schon eine Generation früher so durchgeführt hätte, was wäre dann aus meinen Gedichten geworden?« Die Frage war unbeantwortbar, und Walton versuchte sie zu ignorieren. »Tuberkulose ist eine äußerst seltene Krankheit, Mr. Prior. Wir können sie völlig zum Verschwinden bringen, wenn wir die Menschen mit den entsprechenden Erbanlagen auslesen.« »Bedeutet das etwa, daß Sie jedes Kind von mir töten würden?« fragte Prior.
»Nur wenn es Ihre Anlagen geerbt hat«, antwortete Walton sanft. »Gehen Sie heim, Mr. Prior. Klagen Sie mich an und verurteilen Sie mich in einem Gedicht. Aber bitten Sie mich nicht um das Unmögliche. Ich kann es einfach nicht tun.« Prior stand auf. Er wirkte jetzt noch massiver als im Sitzen, und sein Blick voll düsterer Intensität veranlaßte Walton unwillkürlich dazu, nach seiner Nadelpistole in der oberen linken Schreibtischschublade zu tasten. Aber Prior war kein gewalttätiger Mann. »Ich gehe jetzt«, sagte er ernst. »Ich empfinde Bedauern, Sir. Tiefes Bedauern. Für uns beide.« Walton drückte auf den Türschlußknopf, um Prior hinauszulassen, und stützte dann den Kopf schwer in beide Hände. Drei weitere Berichte glitten aus der Rohrpostrinne, und Walton seufzte resigniert. In den sechs Wochen seit dem Bestehen von ABEG waren dreitausend Babys ins Schlafglück verschickt worden, und damit hatte man auch dreitausend Gruppen von degenerierten Erbfaktoren ausgelöscht. Zehntausend subnormale Männer waren sterilisiert worden. Achttausend hinfällige Greise hatten vorzeitig den Tod gefunden. Es war ein strenges Programm. Aber warum sollte man Krankheitskeime auf die ungeborenen Generationen übertragen? Warum sollte man einen erwachsenen Idioten subnormale Nachfolger in die Welt setzen lassen? Warum einen hoffnungslos an Krebs Erkrankten dazu zwingen, sich weiterhin mit seinen Schmerzen herumzuplagen und dabei auch noch wertvolle Nahrung zu konsumieren? Eine harte Auslese? Gewiß. Aber die Welt hatte dafür gestimmt. Bis es Lang und seinem Stab gelang, die Venus erdwohnlich umzugestalten, oder bis die Lichtgeschwindigkeitsmauer durchbrochen und die fernen Sterne den Menschen zugänglich waren, mußte etwas gegen die Übervölkerung der Erde unternommen werden. Es gab jetzt hier sieben Milliarden Menschen, und die Zahl wuchs noch ständig. Priors Worte geisterten noch durch sein Gehirn. Ich hatte Tuberkulose . . . was wäre aus meinen Gedichten geworden? Dieser massige und doch so demütige Mann war einer von den großen Dichtern. Keats hatte auch Tuberkulose gehabt. Was sind denn Dichter wert? fragte er sich wütend. Die spöttische Gegenfrage kam sofort: Was ist denn überhaupt das ganze Leben wert? Keaths, Shakespeare, Yeats, Pound ... und Prior. Wieviel grauer und farbloser würde das Leben ohne diese Männer sein, dachte Walton und sah dabei sein Bücherregal vor sich — seineinziges Bücherregal in der Enge seiner kleinen Einzimmer-Wohnung. Er spürte, wie er in Schweiß ausbrach, als er um eine Entscheidung rang. Wenn er jetzt seiner inneren Stimme folgte, handelte er grob pflichtwidrig. Nach dem Bevölkerungsausgleich-Gesetz war das sogar ein Verbrechen. Aber ein einzelnes Baby würde keine Rolle spielen. Nur eines. Priors Baby. Mit einer entschlossenen Handbewegung drückte er auf die Sprechtaste und sagte: »Falls Anrufe für mich kommen, machen Sie sich Notizen. Ich bin in der nächsten halben Stunde nicht im Büro.« 2. Draußen im großen Vorzimmer herrschte lebhafte Geschäftigkeit: Sechs Mädchen beantworteten Telefonanrufe, öffneten Briefe und ordneten Karteien. Walton durchquerte schnell das Vorzimmer und trat auf den Gang hinaus. Tief in seinem Innern war ein kaltes Gefühl von Furcht, als er sich dem Lift zuwandte. Sechs
Wochen erst bekleidete er seinen verantwortungsvollen Posten in ABEG ... und jetzt rebellierte er bereits. Nur dieses eine Mal, versprach er sich. Ich rette Priors Kind, und dann lasse ich mich auf keinen Kompromiß mehr ein. Er drückte auf den Liftknopf und wartete auf die Ankunft der zylinderförmigen Kabine. Die Klinik, die er aufsuchen wollte, lag im 20. Stockwerk. »Roy.« Beim Klang der ruhigen Männerstimme zuckte Walton unwillkürlich zusammen. Er zwang sich dazu, sich ganz langsam umzudrehen. Sein Chef stand vor ihm. »Guten Morgen, Mr. FitzMaugham.« Der alte Mann mit dem vollen, weißen Haarschopf und dem fast faltenlosen Gesicht lächelte freundlich. »Sie sehen so nachdenklich aus, Junge. Stimmt etwas nicht?« Walton schüttelte schnell den Kopf. »Ich bin nur ein wenig müde, Sir. In den ersten Tagen hat es viel Arbeit gegeben.« Schon während er das sagte, spürte er, wie einfältig es klang. Wenn jemand in ABEG noch mehr arbeitete als er, dann war es sein Chef. FitzMaugham hatte fünfzig Jahre lang für das Bevölkerungsausgleich-Gesetz gekämpft, und jetzt im Alter von achtzig Jahren arbeitete er sechzehn Stunden am Tage, um die Menschheit vor den Folgen ihrer eigenen sinnlosen Überfruchtbarkeit zu bewahren. FitzMaugham schüttelte mit sanftem Tadel den Kopf. »Sie haben noch nicht gelernt, mit Ihren Kräften hauszuhalten, Roy. Wenn Sie so weitermachen, sind Sie schon mit vierzig Jahren ein Wrack. Um so besser, daß Sie wenigstens meine Gewohnheit annehmen, am Morgen eine Kaffeepause einzulegen. Wollen wir uns zusammensetzen?« »Ich — äh — ich mache keine Pause, Sir. Ich muß unten etwas erledigen.« »So? Konnten Sie das nicht telefonisch tun?« »Nein, Mr. FitzMaugham.« Walton suchte verzweifelt nach den passenden Worten. »Darum muß ich mich persönlich kümmern.« »Ich verstehe.« Der Blick der dunklen, klugen Augen drang in ihn ein. »Aber hören Sie auf meinen Rat: Treten Sie etwas langsamer, Junge.« »Jawohl, Sir. Sobald der Arbeitsdruck etwas nachläßt.« FitzMaugham lachte leise in sich hinein. »Sie meinen also in ein bis zwei Jahrhunderten? Ich fürchte, Sie werden nie lernen, mal richtig auszuspannen, mein Junge.« Die Zylinderkabine glitt in ihrem Röhrenschacht heran. Walton ließ seinem Chef den Vortritt. FitzMaugham drückte auf 14; dort unten war eine Cafeteria. Nach kurzem Zögern drückte Walton auf die Zahl 20. Als die Kabine lautlos herabzugleiten begann, fragte Fitz Maugham: »Hat Mr. Prior Sie heute morgen besucht?« »Ja«, antwortete Walton einsilbig. »Er ist dieser Dichter, den Sie für so gut halten, nicht wahr?« »Das stimmt, Sir«, bestätigte Walton gepreßt. »Er hat mich zuerst aufgesucht, aber ich habe ihn an Sie verwiesen. Was hatte er denn auf dem Herzen?« Walton zögerte. »Er — er wollte, daß ich die Verschickung seines Sohnes ins Schlafglück rückgängig mache. Natürlich konnte ich mich nicht darauf einlassen.« »Natürlich nicht«, stimmte FitzMaugham ernst zu. »Wenn wir auch nur eine einzige Ausnahme machen, bricht das ganze Gesetzeswerk zusammen.« »Ganz recht, Sir.« Die Liftkabine hielt an, und die Tür glitt auf. Ein großes Schild war zu sehen:
20. Etage Euthanasie-Klinik und Registratur. Walton hatte das Schild vergessen. Nach seinem Gefühl verriet dieses Schild ganz deutlich, was er vorhatte. Aber der Alte blinzelte ihm freundlich zu. »Ich nehme an, Sie müssen hier aussteigen«, sagte er. »Hoffentlich haben Sie bald Ihre Aktenrückstände aufgearbeitet, Roy. Sie sollten sich aber trotzdem jeden Tag eine Entspannung gönnen.« »Ich werde es versuchen, Sir.« Walton nickte seinem Chef zu und trat auf den Gang hinaus. Ein feiner Verbrecher bist du, dachte er, sobald er allein war. Du hast dich schon verraten! Zum Teufel mit seinem väterlichen Lächeln. FitzMaugham weiß Bescheid! Er muß es gemerkt haben! Aber während er das dachte, war ihm schon klar, daß er seine Entscheidung bereits getroffen hatte. Er straffte sich und ging auf die Registratur zu. Es war ein großer Raum mit bis zur Decke empor gestapelten Reihen von Donnerson-MikroMemorial-Röhren an einer Wand und Ständer mit Mikrofilm-Akten an der anderen. In den sechs Wochen seines Bestehens hatte das Amt für Bevölkerungs-Ausgleich bereits eine eindrucksvolle Sammlung von statistischen Daten beschafft. Während Walton noch dastand, blinkten unaufhörlich die Kontrollämpchen des Computers, als neue Daten in die Memorial-Röhren geleitet wurden. So ging das wahrscheinlich Tag und Nacht. »Kann ich Ihnen behilflich sein ... ah, Sie sind es, Mr. Walton«, sagte ein Techniker im weißen Kittel. »Kann ich etwas für Sie tun?« »Ich möchte nur etwas überprüfen. Kann ich die Maschine benutzen?« »Selbstverständlich, Sir.« Der Techniker machte eine einladende Geste und verschwand. Walton trat an den Computer und versuchte, sich an den Namen von Priors Sohn zu erinnern. Philip ... war es nicht so? Er signalisierte die Anforderung für Philip Priors Karteikarte. Es folgte eine kurze Pause, während die Millionen von winzigen Stromleitungen Informationsimpulse gaben und in den Donnerson-Röhren nach Philip Priors Karteikarte suchten. Dann war ein kurzer Signalton zu hören, und eine gelb-braune Karte fiel aus dem Schlitz: 3216847 ABI PRIOR, Philip Hugh. Geboren 31. Mai 2332, New York, General Hospital, New York. Erster Sohn von Prior, Lyle Martin und Prior, Ava Leonard. Geburtsgewicht 5,3 Pfund. Die folgende ausführliche Beschreibung des Jungen endete mit den Kodezahlen für die Blutgruppe, Blutgerinnungsfähigkeit und das Gen-Muster. Unten auf der Karte stand in grünen Großbuchstaben: UNTERSUCHT IN N.Y-EUTHANASIE-KLINIK 10. JUNI 2232 EUTHANASIE EMPFOHLEN. Walton blickte auf seine Uhr. Es war jetzt 10 Uhr 26. Der Junge war jetzt wohl noch irgendwo im Klinik-Laboratorium. Walton hatte selbst den Zeitplan festgesetzt: Das Schlafglück-Gas strömte jeden Tag um elf Uhr und um fünfzehn Uhr in die dafür bestimmten Kammern. Ihm blieb also noch ungefähr eine halbe Stunde Zeit, um Philip Prior zu retten. Er spähte vorsichtig über die Schulter: niemand war in Sicht. Im nächsten Augenblick ließ er
die Karteikarte des Babys in seine Jackentasche gleiten. Nachdem er das getan hatte, tippte er eine Anforderung für die Erklärung des von der Klinik benutzten Zahlenkodes der Erbfaktoren. Zahlen- und Buchstabenreihen mit den entsprechenden Erklärungen begannen aus dem Computer zu gleiten. Walton verglich das mit der entsprechenden Zeile auf Philip Priors Karteikarte. Schließlich fand er, was er suchte: 3f2, Tuberkulose-Anlage. Er riß den Erklärungsstreifen ab und tippte eine neue Botschaft in die Maschine: Berichtigung der Karte Nummer 3216847 ABI folgt. Bitte in allen Stromkreisen ändern. Er tippte die Karte des Kindes neu und ließ dabei sowohl das ratale Zeichen 3f2 und die Empfehlung der Euthanasie aus. Die Maschine registrierte die Daten und gab ihr Zustimmungssignal. Walton lächelte. Das war also erledigt. Dann verlangte er noch einmal die Karteikarte des Jungen. Nach der kurzen Denkpause glitt die Karte mit der entsprechenden Nummer aus dem Schlitz. Er las sie. Das tödliche Zahlenzeichen und die ebenso tödliche Empfehlung fehlten. Was den Computer betraf, war Philip Prior ein normales, gesundes Baby. Walton blickte wieder auf seine Uhr. 10 Uhr 37. Noch dreiundzwanzig Minuten, bis die morgendliche Gruppe von Todgeweihten weggeschafft wurde. Aber jetzt kam erst die schwerste Aufgabe: Konnte er das Baby den Ärzten entlocken, ohne dabei zuviel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Fünf Ärzte eilten geschäftig hin und her, als Walton die Hauptabteilung der Klinik betrat. Mindestens hundert Babys lagen da in ihren kleinen Gitterbetten, und die Ärzte gingen von einem Bett zum anderen, während die ängstlichen Eltern oben hinter den Glasscheiben der Galerie alles beobachteten. Das Bevölkerungsausgleich-Gesetz befahl, daß jedes Baby innerhalb zweier Wochen nach der Geburt zur Untersuchung und Ausstellung einer Bescheinigung in die örtliche Klinik gebracht wurde. Etwa einem von zehntausend Neugeborenen drohte eine Verweigerung der Bescheinigung ... und des Lebens. »Hallo, Mr. Walton. Was führt Sie denn hierher?« Walton lächelte so liebenswürdig wie möglich. »Nur eine Routineprüfung, Doktor. Sie wissen ja, daß ich mit jeder Abteilung immer in Kontakt bleiben muß.« Der Arzt nickte verständnisvoll. »Mr. FitzMaugham hat sich vorhin erst hier unten bei uns umgeschaut«, berichtete er. »Heute werden wir tüchtig unter die Lupe genommen, Mr. Walton.« »Hm ... ja.« Die Auskunft mißfiel Walton, aber er konnte nichts mehr daran ändern. »Haben Sie meinen Bruder gesehen?« »Fred? Er arbeitet in Zimmer 7, macht Analysen. Soll ich ihn holen, Mr. Walton?« »Nein, bemühen Sie sich nicht, vielen Dank. Ich besuche ihn später.« Waltons jüngerer Bruder Fred war Arzt im Dienste von ABEG. Zwischen den beiden Brüdern herrschte kein besonders inniges Verhältnis, und Roy war es lieber, wenn Fred nichts von seiner Anwesenheit hier erfuhr. Während er an der Seite des Arztes durch den großen Kliniksaal schlenderte, warf er hin und wieder einen Blick auf eines der vielen quäkenden Babys und fragte schließlich zögernd: »Hatten Sie heute viel Ausfall?« »Bisher sieben Fälle. Sie sind um elf Uhr dran. Drei Tuberkulose, zwei Blinde, eine erbliche Syphilis.« »Das macht doch nur sechs«, wandte Walton ein. »Ach, ja, noch ein Spastiker«, erklärte der Arzt. »Die größte Anzahl bisher: sieben an einem
Morgen.« »Haben Sie Schwierigkeiten mit den Eltern?« Der Arzt zuckte resigniert mit den Schultern. »Das können Sie sich ja denken. Einige sind zwar recht verständnisvoll, aber einer von denen mit Tuberkulose hat sich furchtbar aufgeführt.« Walton wartete erst, bis er seine Stimme richtig in der Gewalt hatte, ehe er zu fragen wagte: »Können Sie sich an seinen Namen erinnern?« Der Arzt runzelte die Stirn und überlegte. »Nein ...«, sagte er dann gedehnt. »Ich kann mich einfach nicht mehr erinnern. Aber wenn Sie möchten, schaue ich für Sie nach.« »Nicht nötig«, sagte Walton hastig. Er verließ den Saal mit den schreienden Babys und ging den Gang entlang, der in das Revier der Schlafglück-Kammern führte. Falbrough, der Exekutiv-Arzt, musterte gerade eine auf seinem Schreibtisch liegende Namensliste, als Walton eintrat. Falbrough sah nicht wie ein Mann aus, der diese Art von Arbeit gern verrichtete. Er war klein und untersetzt, hatte einen hohen, völlig kahlen Schädel, und die schimmernden Kontaktlinsen gaben seinem blauen Blick etwas leblos Künstliches. »Guten Morgen, Mr. Walton.« »Guten Morgen, Dr. Falbrough. Sie treten bald in Aktion, nicht wahr?« »Um elf Uhr, wie gewöhnlich.« »Gut. übrigens ist da eine neue Regelung in Kraft getreten«, fuhr Walton fort. »Um die öffentliche Meinung zu beruhigen und auf unserer Seite zu halten.« »Und das wäre?« »Bis auf weiteres müssen Sie die Personalien jedes Babys noch einmal mit der Hauptregistratur vergleichen, nur um ganz sicher zu gehen, daß kein Fehler unterläuft. Ist das klar?« »Fehler? Aber die ...« »Das kann durchaus passieren, Falbrough. In einer europäischen Klinik ist das erst gestern passiert. Es könnte uns allen an den Kragen gehen, wenn wir so einen Fehler machen.« Wie leicht mir das alles über die Zunge kommt, dachte Walton verwundert. Falbrough nickte ernst. »Ich verstehe, Sir. Natürlich. Wir werden von jetzt an eine Doppelprüfung machen.« »Gut. Beginnen Sie gleich mit den heutigen Fällen von elf Uhr. Walton nickte dem Arzt zu und verließ die Klinik durch einen Seitenausgang. Wenige Minuten später saß er wieder in seinem Büro hinter den Stapeln von Berichten, aber er konnte einfach nicht arbeiten. In nervöser Unruhe trommelte er mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte, und er mußte an das denken, was FitzMaugham vor kurzem erst gesagt hatte: Wenn wir nur eine Ausnahme machen, dann bricht das ganze Gesetzeswerk zusammen. Nun, der Zusammenbruch hatte schon begonnen. Es ging jetzt nur darum, daß er die Spuren seiner Tat so gut wie möglich verwischte. Der Gong ertönte, und die Mädchenstimme aus dem Lautsprecher sagte: »Dr. Falbrough von Schlafglück möchte Sie sprechen, Sir». "Schalten Sie ein.« Der Bildschirm erhellte sich, und Falbroughs Gesicht erschien. Der sonst so farblos ruhige Mann wirkte sehr erregt. »Was gibt es denn, Doktor?« »Was für ein Glück, daß Sie gerade jetzt diesen Befehl ausgegeben haben, Sir! Sie können sich gar nicht vorstellen, was eben erst passiert ist!« »Veranstalten Sie keine Ratespiele mit mir, Falbrough. Was ist denn los?« »Ich — äh, Sir, ich habe also die Personalien der sieben Babys von heute morgen noch einmal
überprüft. Und stellen Sie sich vor: Eines davon hatte bei mir überhaupt nichts zu suchen!« »Wirklich?« »Genauso ist es, Sir. Tatsächlich ein reizendes kleines Baby. Ich habe seine Karte hier. Es ist ein Junge namens Philip Prior, und sein Gen-Muster ist prächtig.« »Und steht denn eine Euthanasie-Empfehlung auf der Karte?« fragte Walton. »Nein, Sir.« Walton mimte Verblüffung und äußerstes Erschrecken. »Falbrough, das darf auf keinen Fall an die Öffentlichkeit kommen«, zischte er im Flüsterton eines Verschwörers. »Da muß einer im Untersuchungszimmer etwas verpatzt haben. Wenn sich das herumspricht, zerreißen uns die Leute in Stücke.« »Ich weiß, Sir.« Falbrough sah ganz verstört aus. »Was soll ich denn machen, Sir?« »Erwähnen Sie keinem einzigen gegenüber ein Wort davon —nicht einmal den Männern im Untersuchungszimmer. Schreiben Sie eine Bescheinigung für den Jungen aus, entschuldigen Sie sich bei den Eltern und übergeben Sie ihnen das Baby. Und vergessen Sie in Zukunft ja nicht die Doppelprüfung.« »Bestimmt nicht, Sir. Ist das alles?« »Ja, das wäre es«, sagte Walton und unterbrach die Verbindung, nachdem er Falbrough verabschiedend zugenickt hatte. Sobald er unbeobachtet war, atmete Walton erleichtert auf und starrte nachdenklich auf die leere Wand. Philip Prior war gerettet. Aber in den Augen des Gesetzes war Roy Walton jetzt ein Verbrecher. Er war ebenso ein Verbrecher wie etwa der Mann, der seinen gebrechlichen alten Vater vor den Detektiven zu verstecken versuchte, oder wie die ängstlichen Eltern, die einen Untersuchungsarzt bestechen wollten. Während er noch seinen düsteren Gedanken nachhing, ertönte wieder der Gong. »Ihr Bruder ist am Apparat, Sir«, verkündete die Mädchenstimme. Walton konnte ein nervöses Stirnrunzeln nicht unterdrücken, aber er hatte sich gleich wieder in der Gewalt und sagte: »Schalten Sie ein.« Wenn Fred anrief, war es meistens etwas Unerfreuliches. 3. Roy Walton beobachtete, wie Kopf und Schultern seines Bruders in den flirrenden Farbenschleiern auf dem Bildschirm Gestalt annahmen. Fred Walton war untersetzter und kräftiger als der schlanke, ein Meter fünfundachtzig große Roy. Sogar auf dem Bildschirm vermittelten Freds Hals und Schultern den Eindruck von muskulöser Kraft. Als das Bild seines Bruders deutlich geworden war, fragte Roy Walton: »Nun, Fred? Was gibt es Neues?« Der Blick seines Bruders unter den schweren Lidern wirkte trügerisch schläfrig. »Man hat mir erzählt, daß du vor einer Weile hier unten warst, Roy. Warum hast du mich nicht besucht?« »Ich war nicht in deiner Abteilung. Außerdem hatte ich es sehr eilig. « Roy hielt seinen Blick fest auf das Emblem des Äskulapstabs auf dem Jackenaufschlag seines Bruders gerichtet, um ihm nicht in die Augen schauen zu müssen. Fred sagte langsam: »Jedenfalls hattest du aber Zeit, dich mit dem Computer zu beschäftigen.« »Rein dienstlich!« »Wirklich, Roy?« Spott klang in der Stimme seines Bruders mit. »Zufällig habe ich den Computer kurz nach dir benutzt. Ich war so unverzeihlich neugierig, ein Transkript deines Gesprächs mit der Maschine zu verlangen.«
Roy versuchte seine Ruhe zu bewahren, als er sagte: »Das ist ein schweres Vergehen, Fred. Wenn ich einen ABEG-Computer benutze, so ist das streng geheim.« »Ein schweres Vergehen? Vielleicht ... Dann haben wir einander nichts vorzuwerfen. Stimmt es nicht, Roy?« »Wie soll ich das verstehen?« »Du willst doch bestimmt nicht, daß ich das über ein öffentliches Nachrichtensystem verkünde, nicht wahr? Vielleicht hört sich dein väterlicher Freund FitzMaugham jedes Wort unseres Gesprächs mit an, also ist es doch wohl in deinem Sinne, wenn ich schweige. « »Vielen Dank für die Rücksichtnahme — auch wenn sie unnötig ist«, sagte Roy mit falschem Sarkasmus. »Du hast mir diesen Posten besorgt. Du kannst ihn mir auch wieder wegnehmen. Sagen wir also: Im Augenblick sind wir quitt, ja?« »Ich verlange keine Gegenleistungen von dir«, verteidigte sich Walton schwächlich. »Ich wüßte auch nicht, wofür.« Er spürte, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten, und er war froh darüber, daß das komplizierte Exekutiv-Filter in seinem Sendegerät diese Zeichen von Schwäche auf dem Bildschirm seines Bruders auslöschte und ihm nur das Gesicht des stets unerschütterlich gleichmütigen und überlegenen Managers der Macht zeigte. »Entschuldige mich jetzt bitte, ich habe viel zu tun.« Auch in seiner Stimme verriet sich nichts. »Dann will ich dich nicht länger aufhalten«, sagte Fred. Der Bildschirm erlosch. Walton schaltete die Verbindung auch an seiner Seite ab und ging ans Fenster. Eine Drehung an dem Opal-Kontrollknopf, und der frostig weiße Nebel auf dem Glas zerteilte sich und enthüllte die phantastische Silhouette der Stadt. Idiot! dachte Walton grimmig. Narr! Er hatte alles riskiert, um das Leben eines Babys zu retten —eines Kindes, das vielleicht ohnehin zu einem frühen Tod verurteilt war. Fred wußte jetzt darüber Bescheid. Es war nicht abzusehen, wie er dieses Wissen verwenden würde. Schon als Kinder hatten sie einander nie sehr nahegestanden. Als Roy neun und Fred sieben Jahre alt war, hatten sie ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren und waren dann in einem staatlichen Internat erzogen worden. Auch später waren die beiden Brüder getrennte Wege gegangen. Roy hatte Jura studiert und war Senator FitzMaughams Privatsekretär geworden. So ergab es sich fast zwangsläufig, daß er im vorigen Monat nach Schaffung des Amts für Bevölkerungsausgleich auch hier FitzMaughams Stellvertreter wurde. Fred hatte nach seinem Medizinstudium keinen Erfolg mit seiner Privatpraxis gehabt, und er mußte eigentlich froh sein, daß ihm Roy diesen Posten in der Schlafglück-Abteilung von ABEG besorgt hatte. Und jetzt ist er mir zum ersten Male überlegen, dachte Walton. Ich kann nur hoffen, daß er mich in Frieden läßt. Zum ersten Male erkannte Roy Walton mit aller Deutlichkeit das Dilemma seiner Situation. Ein Zug von Milde in seinem Wesen machte ihn einfach ungeeignet für die mitleidlose Härte seiner Aufgabe. Im Geiste hörte er wieder FitzMaugham sagen: Dies ist eine Aufgabe für einen Mann, der nur an die Zukunft denkt. An sich ist ABEG eine der grausamsten Organisationen, die die Menschen je geschaffen haben. Glauben Sie, daß Sie damit fertig werden, Roy? Ich meine schon, Sir. Ich hoffe es jedenfalls. Ganz deutlich erinnerte sich Walton noch an den Tag, als die Vereinten Nationen schließlich zugestimmt hatten, und eine entgeisterte Menschheit mit dem Amt für Bevölkerungsausgleich
beschenkt worden war. Nach der Verkündung des Gesetzes waren Blitzlichter aufgeflammt, und die Reporter waren davongeeilt, um die Nachricht in alle Welt zu verbreiten. Und sechs Wochen danach begann der Haß schon immer deutlicher zu werden. Kein Mensch hatte ABEG gern. Walton seufzte resigniert. Es war ein großer Fehler von ihm gewesen, diesen Philip Prior zu retten. Aber wenn er jetzt von seinem Posten zurücktrat, nützte das auch nichts mehr. Er opalisierte das Fenster wieder und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Es wurde Zeit, die Post durchzuschauen. Der erste Brief auf dem Stoß war handschriftlich an ihn adressiert. Er öffnete ihn und las. Mr. Walton, gestern kamen Ihre Männer und schleppten meine Mutter weg, um sie umzubringen. Sie hat keinem etwas getan und siebzig Jahre lang ein gutes Leben geführt, und Sie sollen wissen, daß ich Sie und Ihre Leute für die gemeinsten Verbrecher seit Hitler und Stalin halte, und wenn Sie selbst alt und krank sind, hoffe ich nur, daß Ihre eigenen Männer Sie holen und recht qualvoll umbringen. Sie sind gemeine Mörder — Sie alle! Ein Empörter Walton zuckte mit den Schultern und öffnete den nächsten Brief, der mit Diktatschreiber geschrieben war. Sir: Aus den Zeitungen entnehme ich, daß die neuesten Euthanasie-Zahlen die höchsten sind, und daß Sie die Welt erfolgreich befreit haben von vielem schwächlichen Gelichter, das nach den Worten des unsterblichen Darwin »für den Kampf ums Dasein nicht geeignet ist«. Meine herzlichsten Glückwünsche, Sir, für die Ziele und Aufgaben Ihres so kühnen und mutigen Programms. Ihr Amt bietet der Menschheit zum erstenmal eine echte Chance, jenes schöne Utopia zu betreten, nach dem wir uns so lange gesehnt haben. Allerdings hoffe ich dabei sehr, daß man sich in Ihrem Amt genau überlegt, welche Bürger geschützt und bewahrt werden müssen. Natürlich müssen diese sich kaninchenhaft vermehrenden Asiaten gewaltig reduziert werden, deren unkontrollierte Fruchtbarkeit der Menschheit schon so großen Schaden zugefügt hat. Das gleiche läßt sich von den Europäern sagen, die sich nicht den Forderungen einer strengen Hygiene unterwerfen wollen. Und in unserer näheren Umwelt bitte ich Sie, die Juden, Katholiken, Kommunisten und anderes Freidenker-Gesindel gehörig zusammenzustutzen, damit unsere neue Welt sauberer und reiner wird und ... Mit einer angewiderten Geste warf Walton den Brief beiseite. Das war der Tonfall der meisten Zustimmungen: engstirnig, von Rassenhaß geprägt und voll dummer Selbstüberheblichkeit. Und dann gab es natürlich diese andere Art von Briefen: von unglücklichen Eltern oder Verwandten, die ihn und ganz ABEG wegen zahlloser Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagten. Eines Tages wird der Bevölkerungs-Ausgleich überflüssig werden, tröstete sich Walton. Dann würde es auch nicht mehr nötig sein, Tausende von Belgiern nach Patagonien zu deportieren. Lang und sein Stab von Erfindern und Experimentierern bemühten sich eifrig, die Venus in eine bewohnbare Welt zu verwandeln. Wenn das gelang, könnten diese Ingenieure der Neu-
landbildung auch den Mars bewohnbar machen, die größere Monde von Jupiter und Saturn und vielleicht sogar den fernen Planeten Pluto — falls eine entsprechende Form von Erwärmung der Planetenoberfläche entwickelt werden konnte. Dann würden weitere Umsiedlungen auf dem Programm stehen. Massenweise würde die überschüssige Erdbevölkerung auf neue Welten transportiert werden. Aufstände und Revolten waren dann zu befürchten, denn nur einige wenige Abenteurernaturen würden freiwillig auf die weite Weltraumreise gehen. Aber immerhin war das eine Notlösung. Und dann die fernen Sonnensysteme. Das Überlicht-Projekt war so streng geheim, daß in ABEG nur FitzMaugham über dessen Entwicklung Bescheid wußte. Aber wenn das gelänge... Walton wandte sich fast gewaltsam wieder seiner Arbeit zu. Berichte mußten gelesen, registriert und weitergeleitet werden. Die Geschehnisse dieses Morgens — seine unvorsichtige und — im Rahmen des Gesetzes — unverantwortliche Tat drängte sich immer wieder in sein Bewußtsein. Fast mechanisch glitt seine Hand in die Schreibtischschublade, tastete umher und fand die offene Schachtel mit den grünen, runden Kügelchen. Er schluckte eine von den Benzolurethrin-Beruhigungsdragees, und die Wirkung machte sich fast sofort bemerkbar: ohne Unterbrechung und Ablenkung konnte er bis Mittag durcharbeiten. Er wollte gerade sein Mittagessen bestellen, als der Privat-Bildschirm sich zu erhellen begann, den FitzMaugham und er in ihren Büros benutzten. »Roy?« Das Gesicht seines Chefs sah unnatürlich ruhig aus. »Sir?« »Um dreizehn Uhr empfange ich einen Besucher: Ludwig. Er will wissen, wie hier alles läuft.« Walton nickte. Ludwig war der Leiter der amerikanischen Delegation bei den Vereinten Nationen: ein hartnäckiger, zielstrebiger Mann, der die Gesetzesvorlage zur Bildung des Amts für Bevölkerungsausgleich jahrelang fantastisch bekämpft hatte. Als er dann merkte, wie der Wind wehte, hatte er ebenso fantastisch für die Annahme des Gesetzes gekämpft. »Soll ich einen Bericht für ihn machen?« fragte Walton. »Nein, Roy. Ich möchte nur, daß Sie dabei sind, damit ich nicht allein mit ihm reden muß.« »Warum?« »Einige Leute bei der UNO meinen, ich leite ABEG zu diktatorisch«, erklärte FitzMaugham. »Natürlich ist das nicht so, wie ja der Berg von Arbeit auf Ihrem Schreibtisch beweist. Aber ich möchte, daß Sie das bestätigen. Er soll sehen, wie sehr ich auf die Hilfe meines Stellvertreters und meiner Assistenten angewiesen bin.« »Ich verstehe. Natürlich komme ich um dreizehn Uhr.« »Vielen Dank, Roy.« Der Bildschirm erlosch. Walton starrte immer noch auf die graue Fläche. Er fragte sich, ob das ein umständliches Täuschungsmanöver seines Chefs war: phantasiereich genug dazu war FitzMaugham jedenfalls. Vielleicht hatte Fred seine Finger im Spiel, überlegte Walton. Nach der Konferenz mit FitzMaugham und Ludwig würde er sich noch einmal mit dem Computer beschäftigen, beschloß Walton. Vielleicht war es noch nicht zu spät, die belastenden Daten zu tilgen und seinen Fehler zu vertuschen. Er bestellte sein Mittagessen und nippte lustlos an den synthetischen Speisen. Mehr als die Hälfte des Essens auf dem unterteilten Plastiktablett wanderte in den Müllschlucker.
4. Genau um 12 Uhr 55 ordnete Walton seinen Schreibtisch, stand auf und verließ zum zweiten Male an diesem Tage sein Büro. Er hatte sich gut genug in der Gewalt, kein Erschrecken zu zeigen, als er draußen auf dem Gang seinen Bruder an der Wand lehnen sah. Fred trug seinen weißen Medizinerkittel, und sein breites Gesicht zeigte wieder dieses undurchsichtige Lächeln. »Hallo, Roy. Welch ein Zufall, dich hier zu finden!« »Das ist doch bestimmt alles andere als ein Zufall.« Fred nickte grinsend. »Ich habe dein Büro angerufen«, bekannte er. »Man hat mir gesagt, du wärest auf dem Weg zum Lift. Warum bist du eigentlich so nervös, Bruderherz? Hast du einen anstrengenden Morgen hinter dir?« »Es gab schon schlimmere«, antwortete Walton. Sie gingen schweigend zu den Lifts, und Walton drückte auf einen der Knöpfe. »Wohin soll die Reise gehen?« fragte Fred. »Eine streng vertrauliche Angelegenheit. Palaver auf höchster Ebene mit Fitz, wenn du es schon wissen mußt.« Freds Blick verengte sich. »Jetzt schwebst du also nur noch in höchsten Regionen, wie? Hast du nicht wenigstens eine Minute Zeit für einen gewöhnlichen Sterblichen übrig?« »Fred, rede doch keinen Unsinn. Du weißt ganz genau ...« »Hör auf ! Meine Mittagspause ist gleich zu Ende. Ich möchte mich aber so klar wie möglich ausdrücken. Ist eine Abhöranlage in diesem Gang?« Walton überlegte kurz. Soviel er wußte, gab es hier keine — er kannte die meisten Abhöranlagen in diesem Haus. Aber vielleicht hatte FitzMaugham noch einige installieren lassen, deren Placierung nur ihm bekannt war. »Ich weiß es nicht genau«, sagte Walton wahrheitsgemäß. »Was hast du auf dem Herzen?« Fred zog einen Notizblock aus der Tasche und begann zu schreiben. Dabei sagte er laut: »Ich riskiere es trotzdem, auch darüber zu sprechen. Ein Mann im Laboratorium hat von einem anderen erfahren, daß du und Fitz Maugham der revolutionären Gruppe der Herscheliten angehören.« Er schrieb die ganze Zeit über weiter. »Natürlich kann ich dir jetzt noch keine Namen nennen, aber du sollst jedenfalls wissen, daß ich mir meine Gedanken mache und auch Nachforschungen anstelle. Natürlich kann der betreffende Informant auch nur sein Maul zu weit aufgerissen haben.« »Glaubst du etwa solchen Unsinn?« fragte Walton empört. Fred zuckte mit den Schultern. »Ich mache mir eben meine Gedanken«, antwortete er ausweichend. Er riß das beschriebene Blatt aus seinem Notizblock und reichte es seinem Bruder. »Aber darüber wollen wir lieber nicht laut sprechen.« Walton las. Die kritzlige Botschaft lautete: Ich weiß alles von dem Prior-Baby. Ich halte den Mund, also mach dir keine Gedanken. Aber riskiere nichts Unsinniges, denn ich habe einen Bericht über die ganze Affäre so versteckt, daß du ihn nicht finden kannst. Walton zerknüllte den Zettel und schob ihn langsam in die Tasche. »Vielen Dank für die Information, Fred«, sagte er und wunderte sich selbst dabei, wie ruhig er sprechen konnte. »Ich werde es mir merken.« »Gern geschehen, Brüderchen.« Die zylindrische Liftkabine glitt herauf. Walton trat hinein und drückte auf die Zahl 29. In der kurzen Zeitspanne, während der Lift eine Etage höher glitt, dachte Walton: Fred hat sich also auf die Lauer gelegt . . . Er wird solange warten, bis er seine Information als
wirksames Druckmittel gegen mich einsetzen kann. Die Lifttür glitt auf; FitzMaughams Büro lag hinter einem Irrgarten von kleinen Zimmern, in denen verschiedene Funktionäre von ABEG untergebracht waren. Walton hatte einige Versuche unternommen, sich mit dem Organisationsschema von ABEG ganz vertraut zu machen, aber seine Erfolge waren in dieser Hinsicht bisher ziemlich gering gewesen. FitzMaugham hatte den Plan vor einem halben Jahrhundert entworfen und das Organisationsschema selbst aufgebaut. Es gab zwar einige Fehler in dem System, aber im großen und ganzen war FitzMaughams Plan so vernünftig gewesen, daß ABEG fast sofort nach der Zustimmung der UNO funktionsfähig wurde. Walton warf einen Blick auf seine Uhr. Er war drei Minuten zu spät; das Gespräch mit seinem Bruder hatte ihn aufgehalten. Aber Ludwig von der UNO war nicht als überpünktlicher Mann bekannt, und wahrscheinlich war er noch gar nicht da. Die Sekretärin in FitzMaughams Vorzimmer schaute hoch, als Walton eintrat. »Ah — Mr. Walton, gehen Sie nur gleich hinein; Mr. FitzMaugham erwartet Sie.« »Ist denn Mr. Ludwig schon da?« »Jawohl, Sir. Er ist vor ungefähr zehn Minuten gekommen.« Merkwürdig, dachte Walton. Das entsprach gar nicht Ludwigs Art. FitzMaugham und er hatten schon vor der Schaffung des Amtes viel mit Ludwig verhandelt, und dabei war er nicht ein einziges Mal pünktlich gewesen. Walton zuckte mit den Schultern. Da Ludwig es ja auch fertiggebracht hatte, sich von einem ABEG-Gegner so schnell zu einem ABEG-Anhänger zu mausern, konnte er sich vielleicht auch in anderer Hinsicht sehr schnell verändern. Walton trat ins Blickfeld der Beobachtungskamera. Jetzt konnte FitzMaugham ihn auf dem Bildschirm in seinem Zimmer mustern, bevor er ihm Einlaß gewährte. Der Chef war in dieser Hinsicht sehr vorsichtig. Fünf Sekunden vergingen; normalerweise dauerte es nicht länger, bis FitzMaugham ihn hereinließ. Aber jetzt war von drinnen nichts zu hören, und Walton räusperte sich diskret. Immer noch nichts zu hören. Er ging zu der Sekretärin zurück, die hinter ihrem Schreibtisch in einen Diktatschreiber sprach. Als sie gerade einen Satz beendet hatte, berührte er leicht ihren Arm. »Ja, Mr. Walton?« »Die Beobachtungskamera scheint nicht in Ordnung zu sein. Würden Sie bitte über die Sprechanlage zu Mr. FitzMaugham hineinrufen und ihm sagen, daß ich da bin?« »Natürlich, Sir.« Sie schaltete, wartete eine Weile und schaute zu Walton hoch. »Er meldet sich nicht, Mr. Walton. Offenbar ist er sehr beschäftigt.« »Er muß sich melden. Gongen Sie noch einmal.« »Es tut mir leid, Sir, aber ...« »Gongen Sie noch einmal.« Sie tat es zögernd, erhielt aber keine Antwort. FitzMaugham nahm immer erst eine Meldung entgegen, wenn er den Gong bestätigt hatte. Es war also schon eine Durchbrechung dieses Tabus, daß Walton dem Mädchen befohlen hatte, noch einmal zu gongen. »Immer noch keine Bestätigung, Sir«, sagte die Sekretärin unruhig. Walton wurde immer ungeduldiger. »Also, zum Teufel mit der Bestätigung. Sprechen Sie hinein und sagen Sie ihm, daß ich hier draußen warte.« »Sie wissen doch, Sir, daß ich die Sprechanlage nicht ohne Mr. FitzMaughams ausdrückliche Bestätigung benutzen darf«, protestierte das Mädchen.
»Ich übernehme die Verantwortung«, sagte Walton entschlossen. »Es tut mir leid, Sir ...« »Schluß damit. Stehen Sie auf und lassen Sie mich mit ihm reden. Falls er Ihnen später Vorwürfe macht, sagen Sie einfach, ich hätte Sie dazu gezwungen.« Sie stand auf und trat zur Seite. Er setzte sich auf ihren Stuhl und stellte die Verbindung her. Keine Bestätigung. »Mr. FitzMaugham, hier ist Roy«, sagte er ins Mikrophon. »Ich bin in Ihrem Vorzimmer. Soll ich hereinkommen oder nicht?« Stille. Er runzelte nervös die Stirn. »Ich gehe hinein«, sagte er entschlossen. Die Tür hatte ein Furnier aus imitiertem Holz und innen wahrscheinlich eine dicke Stahlfüllung. FitzMaugham liebte diese Art von Schutz. Walton überlegte einen Moment und trat dann wieder ins Blickfeld der Beobachtungskamera. »Mr. FitzMaugham? Können Sie mich hören?« fragte er. In das bedrückende Schweigen hinein sagte er: »Hier ist Walton. Ich bin hier mit einer Strahlpistole, und wenn Sie mir keinen Gegenbefehl erteilen, dringe ich jetzt in Ihr Büro ein.« Stille. Das war wirklich ganz außergewöhnlich. Er fragte sich, ob das eine Falle war, die FitzMaugham ihm stellte. Nun, das würde er bald genug herausfinden. Er stellte die Pistole auf kurzen Radius und breiten Strahl ein und schaltete sie an. Die unsichtbare Glut drang in die Tür. Zuerst zerschmolz das synthetische Holz zu einer blauen Masse, und dann begann die Metallfüllung rot zu schimmern und zu schmelzen. Das Schloß wurde jetzt sichtbar. Walton konzentrierte den Strahl darauf und ein leises Knistern und Knacken war zu hören. Es war soweit: Walton schaltete die Strahlpistole ab, schob sie in die Tasche zurück und stieß gleichzeitig kräftig mit dem Fuß gegen die Tür. Sie schwang auf. Einen Moment lang sah Walton den auf die Schreibtischplatte herabgesunkenen, blutdurchtränkten weißhaarigen Kopf — und dann prallte jemand mit aller Gewalt gegen ihn. Der Mann war ungefähr so groß wie er und trug einen mit Goldfäden durchwirkten blauen Anzug. Waltons Geist registrierte das alles mit überraschender Klarheit. Das Gesicht des Mannes war verzerrt vor Angst und Schock, aber Walton erkannte es deutlich genug. Die geröteten Wangen, die breite Nase und die buschigen Brauen: das war Ludwig. Der Delegierte der UNO. Und dieser Mann hatte Direktor FitzMaugham ermordet. Er hämmerte blindlings mit den Fäusten auf Walton los und prallte gegen den Türrahmen, als Walton eine unwillkürliche Abwehrbewegung machte. Ein Hieb in die Magengrube raubte Walton einen Moment den Atem, aber dann packte er wieder zu und riß Ludwig an sich. Der plötzliche Angriff gab ihm keine Gelegenheit zu anderen Überlegungen. Er dachte nur daran, daß er seinen Gegner nicht entweichen lassen durfte. Ein gezielter Faustschlag traf Ludwig dicht am Kinn, und der Mann sank wieder gegen den Türrahmen. Walton nutzte seinen Vorteil aus und stieß Ludwig ins Zimmer zurück. Als er zu einem weiteren Schlag ausholte, wich Ludwig mit überraschender Schnelligkeit aus und rannte dann plötzlich hinter den Schreibtisch. Walton folgte ihm ... und hielt jäh inne, als er sah, wie Ludwig plötzlich stehenblieb, von Krämpfen geschüttelt wurde und dann zusammenbrach. Ein letztes Zucken ging durch den Körper, bevor er mit grotesk verzerrten Gliedern auf dem beigen Teppich liegenblieb. Walton rang keuchend nach Atem. Seine Jacke war zerrissen, er spürte Schweiß und klebriges Blut an seinen Händen, und sein Herz hämmerte hart und schwer. Ludwig hat den Direktor getötet, dachte er dumpf. Und jetzt ist Ludwig tot.
Er lehnte sich gegen den Türrahmen. Ein Teil seines Bewußtseins nahm wahr, daß Menschen an ihm vorbei ins Zimmer gingen und sich über FitzMaugham und den Mann am Boden beugten. »Sind Sie unversehrt?« fragte eine Männerstimme, die ihm seltsam vertraut erschien. »Ziemlich außer Atem«, keuchte Walton. »Trinken Sie einen Schluck Wasser.« Walton nahm das Glas, trank und blickte dann erst auf. Jetzt erst wurde ihm mit einem eisigen Schreck klar, warum ihm die Stimme so bekannt erschienen war. »Ludwig! Wie, in Teufels Namen ...« »Ein Doppelgänger«, erklärte Ludwig schnell. »Kommen Sie und schauen Sie ihn sich gleich an.« Ludwig führte ihn zu seinem am Boden liegenden Doppelgänger. Die Ähnlichkeit war unglaublich. Zwei Büroangestellte hatten den Körper auf den Rücken gewälzt. Der Mund war verkrampft, das ganze Gesicht wie erstarrt zu einer Maske. »Er hat Gift genommen«, erklärte Ludwig. »Wahrscheinlich hat er nicht damit gerechnet, lebend hier herauszukommen. Aber seine schreckliche Arbeit hat er vollbracht. Mein Gott, wenn ich doch nur einmal in meinem Leben pünktlich gewesen wäre!« Noch immer halb benommen blickte Walter von dem toten Doppelgänger Ludwigs zu dem lebenden Original hoch. Allmählich dämmerte ihm die schreckliche Wahrheit. Der Attentäter in der Maske von Ludwig war pünktlich um dreizehn Uhr gekommen und von dem ahnungslosen FitzMaugham in das Büro gelassen worden. Er hatte den alten Mann getötet und dann — im Büro eingesperrt — auf eine Chance gewartet, irgendwie doch noch zu entkommen. »Früher oder später mußte es ja einmal geschehen«, meinte Ludwig düster. »Als er noch Senator war, sind immer wieder Attentatsversuche auf ihn unternommen worden. Und als er das Amt für Bevölkerungsausgleich durchpaukte ...« Walton warf einen geistesabwesenden Blick zum Schreibtisch hinüber, dessen Platte so unaufgeräumt war wie immer. FitzMaughams Oberkörper und Kopf lagen über Papieren und Akten. Die rechte Hand war verkrampft, als hätte sie im letzten Moment noch nach einer Abwehrwaffe zu greifen versucht. Die weiße Haarmähne war blutdurchtränkt. FitzMaugham war erschlagen worden — die primitivste, brutalste Art des Mordes. Jetzt erst begann Walton gefühlsmäßig zu reagieren. Er wollte fluchen, schreien, irgendwie ein Ventil finden für den Aufruhr in seinem Innern. Aber da waren zu viele Menschen um ihn her. Das sonst so streng verschlossene Büro war jetzt voll von ABEGAngestellten, Polizisten und Sekretärinnen. Vielleicht hatte sich auch schon ein Telefax-Reporter eingeschlichen. Walton gab sich gewaltsam einen Anschein von Autorität. »Alle verlassen jetzt den Raum, alle!« befahl er laut. Er bemerkte Sellors, den Sicherheitschef des Hauses und fügte schnell hinzu: »Außer Ihnen natürlich, Sellors.« Die Leute zogen sich widerstrebend zurück. Schließlich waren sie nur noch zu fünft in dem Büro: Sellors, Ludwig, Walton —und die beiden Toten. Ludwig sprach als erster: »Haben Sie eine Ahnung, Walton, wer dahinterstecken könnte?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Walton mit einem Seufzer. »Es gibt Tausende von Menschen, die den Direktor lieber tot als lebendig sehen wollten. Vielleicht war es ein Komplott der Herschelisten. Natürlich wird eine Großfahndung nach den Hintermännern eingeleitet werden.« »Würden Sie bitte zur Seite treten, Sir?« bat Sellors. »Ich muß einige Fotos machen.« Walton und Ludwig traten an die andere Seite des Schreibtisches, und der Sicherheitsbeamte machte sich an die Arbeit. Es war unvermeidlich, dachte Walton mit einem Gefühl von Bitterkeit. Einmal mußte es so
kommen. FitzMaugham war das lebende Symbol für die von vielen gefürchtete und gehaßte Institution von ABEG gewesen. Waltons Blick fiel auf das zerstörte Türschloß. Das mußte schnellstens repariert werden, dachte er zerstreut. Dieser Gedanke führte zwangsläufig zu einem anderen, aber bevor diese Überlegung sich noch richtig in seinem Gehirn gebildet hatte, faßte Ludwig sie schon in Worte. »Das ist eine schreckliche Tragödie«, erklärte der UNO-Delegierte. »Aber eine tröstliche Tatsache bleibt bestehen. Ich bin sicher, daß Mr. FitzMaugham einen würdigen Nachfolger hat. Ganz bestimmt werden Sie, Mr. Walton, FitzMaughams großes Werk erfolgreich weiterführen.« 5. Die Aufschrift des neuen Türschilds lautete: ROY WALTON Amtierender Direktor Amt für Bevölkerungsausgleich Er hatte sich dagegen gesträubt, das Schild anbringen zu lassen. Nach seiner Meinung war seine Ernennung wirklich nur zeitweilig, und es mußte Sache der Generalversammlung sein, einen neuen Leiter für ABEG zu wählen. Aber Ludwig hatte immer wieder darauf hingewiesen, daß bis zur Zusammenkunft der Generalversammlung Wochen oder Monate vergehen konnten, und daß auch in der Zwischenzeit das Amt einen Direktor haben müßte. »Haben Sie sich schon eingearbeitet?« fragte Ludwig am nächsten Tag. Walton musterte ihn verdrossen. »So einigermaßen«, gestand er. »Jetzt muß ich nur noch herausfinden, wie FitzMaughams Karteisystem funktioniert, und dann bin ich im Bilde.« »Wollen Sie damit sagen, daß Sie das nicht wissen?« »FitzMaugham hat nur sehr wenige Menschen in sein Vertrauen gezogen«, erklärte Walton. »ABEG war sein Lebenswerk. Er hat sich so intensiv und lange damit beschäftigt, daß er schließlich geglaubt hat, jeder Außenstehende müsse einfach begreifen, wie das alles funktioniert. Es wird noch eine Weile dauern, bis ich das Organisationsschema ganz genau kenne.« »Das begreife ich«, bestätigte Ludwig. »Übrigens, diese Unterredung, zu der Sie gestern hergekommen sind: worum ging es dabei?« fragte Walton. Ludwig zuckte mit den Schultern. »Ach, das ist im Augenblick unwichtig. Ich wollte mich erkundigen, wie die Forschungsabteilung von ABEG sich entwickelt hat. Aber ich schätze, Sie müssen erst FitzMaughams Organisationsplan genau kennen, bevor Sie mir darüber eine Auskunft geben können, nicht wahr?« Während Ludwig das sagte, musterte er sein Gegenüber mit einer heimlichen Intensität. Plötzlich empfand Walton ein unerklärliches Mißtrauen gegenüber diesem so fröhlich und offen wirkenden UNO-Delegierten. »Ich werde eine gewisse Zeit brauchen, um mich in alles hineinzufinden«, wiederholte er. »Sobald ich die entsprechenden Fragen über ABEG beantworten kann, gebe ich Ihnen Bescheid.« »Selbstverständlich. Ich wollte nicht etwa Ihre Arbeit oder die des früheren Direktors von ABEG kritisieren, Mr. Walton.« »Das habe ich auch nicht angenommen, Mr. Ludwig.« Endlich verabschiedete sich Ludwig, und Walton war wieder allein im Büro seines ehemaligen Chefs. Es war ein seltsames Gefühl, jetzt hinter diesem Schreibtisch zu sitzen, vor dem er bis gestern so oft gestanden hatte, um FitzMaughams Befehle entgegenzunehmen.
Nach dem Alptraum der Ermordnung und den anschließenden Verhören war der gestrige Nachmittag eine einzige Qual für Walton gewesen. Völlig erschöpft war er zeitig heimgegangen und hatte ABEG zwei Stunden lang ohne offizielle Führung gelassen. Die Nachricht vom Attentat wurde über Lautsprecher im Jet-Bus durchgegeben. »Eine brutale Mörderhand löschte heute das Leben des verehrten D. F. FitzMaugham aus, des einundachtzigjährigen Direktors unseres Amts für Bevölkerungsausgleich. Die Sicherheitsbehörden stellen eine baldige Aufklärung des entsetzlichen Verbrechens in Aussicht und ...« Aber die anderen Mitfahrer im Jet-Bus hatten kein Hehl aus ihrer Genugtuung gemacht. »Höchste Zeit, daß ihn einer erwischt hat«, sagte eine fette Frau in schmuddeliger Kleidung. »Dieser Babymörder!« »Früher oder später mußte er dran glauben«, meinte ein dünner alter Mann mit schütterem Haar. »Er hat es verdient.« »Es wird gesagt, daß er in Wirklichkeit ein Herschelist war ...« »Ein junger Bursche übernimmt jetzt ABEG, wird behauptet. Aber den werden sie auch noch erwischen.« Walton drückte sich tiefer in seinen Sitz, schlug den Mantelkragen hoch und versuchte an etwas anderes zu denken. Aber es gelang ihm nicht. Den werden sie auch noch erwischen! Er hatte diese Prophezeiung nicht vergessen, als er endlich in seiner kleinen Wohnung im Oberen Manhattan war. Bis in seine Träume hatte ihn das verfolgt. Jetzt, im sicheren Schutz hinter seiner Bürotür, mußte er wieder daran denken. Auf die Dauer konnte er seinem Schicksal nicht entgehen. FitzMaugham war das nicht gelungen — und bei ihm würde das nicht anders sein. Er mußte sich mit der schrecklichen Tatsache vertraut machen, sagte sich Walton und lächelte grimmig. FitzMaugham war als Märtyrer seines Lebenswerks gestorben, und jetzt war er selbst an der Reihe. Jedenfalls mußte die Arbeit von ABEG weitergehen. Er würde versuchen, die meisten Verhandlungen per Bildschirm zu führen, aber wenn eine persönliche Unterredung sich als notwendig erwies, würde er das Risiko auf sich nehmen. Sein Blick glitt durch das Büro seines ehemaligen Chefs. Der Direktor war ein Kind des vorigen Jahrhunderts gewesen und er hatte die Architektur und Inneneinrichtung des Cullen Building nie häßlich gefunden. Im Gegensatz zu Walton hatte er daher auch sein Büro nicht anders eingerichtet. Das würde eine seiner ersten Aufgaben sein, die schrecklich altmodische Deckenbeleuchtung durch indirektes Licht ersetzen zu lassen. Opalfenster und eine geräuschlose Klimaanlage mußten auch eingebaut werden. Aber das waren die unwichtigsten Probleme. Die Aufgabe, FitzMaugham auch nur vorübergehend zu ersetzen, bereitete Walton viel mehr Kopfzerbrechen. Er griff nach einem Schreibstift und zog den Notizblock heran. jetzt mußte er erst einmal einen Zeitplan aufstellen. Nach kurzem Nachdenken begann er zu schreiben: 1. Alle Verabredungen des Direktors vorläufig absagen 2. Organisationsschema studieren: a) Planetenbesiedlungs-Projekt von Lang b) Überlicht-Problem c) Kann das Budget vergrößert werden? d) Hausspion-Anlagen ausfindig machen 3. Tagung mit Abteilungschefs
4. Pressekonferenz mit Telefax-Dienst 5. Mit Ludwig sprechen ... Probleme klären 6. Neue Büroeinrichtung Er las alles noch einmal durch, strich ein paar Zahlen aus und wechselte Pressekonferenz und neue Büroeinrichtung gegeneinander aus. Dann setzte er noch einmal an und schrieb oben auf das Blatt: O. Prior-Affäre beenden In gewisser Hinsicht hatte FitzMaughams Ermordung Walton im Falle Prior in eine bessere Situation gebracht. Falls sich der Direktor Notizen wegen der Affäre gemacht hatte, würde Walton sie sicherlich bald finden und vernichten können. Und wenn FitzMaugham sich nur Gedanken darüber gemacht hatte, dann würde davon bestimmt nichts der Nachwelt überliefert werden. Der Gong ertönte. Walton wartete ungeduldig auf die Stimme und erinnerte sich dann daran, daß er erst eine Bestätigung geben mußte — wie FitzMaugham das angeordnet hatte. Er drückte auf die Sprechtaste und sagte: »Neue Anordnung des stellvertretenden Direktors: In Zukunft ist im Sprechverkehr keine Bestätigung von mir mehr notwendig.« »jawohl, Sir. Es sind ein Reporter vom Citizen und vom Telefax-Weltdienst hier.« »Sagen Sie den Reportern, ich bin heute für niemand zu sprechen. Geben Sie ihnen folgende Erklärung weiter: Die gewaltige Aufgabe, die Arbeit dort fortzusetzen, wo sie unserem großen Direktor FitzMaugham mit brutaler Gewalt aus den Händen gerissen wurde, wird für die nächsten Tage meine gesamte Energie erfordern. Ich werde meine erste Pressekonferenz abhalten, sobald das Amt für Bevölkerungsausgleich wieder voll funktionsfähig ist. Haben Sie sich das gemerkt?« »Jawohl, Sir.« »Gut. Dringen Sie darauf, daß die Erklärung mit diesem Wortlaut gedruckt wird. Und — ach, hören Sie: Falls heute oder morgen jemand auftaucht, der eine Verabredung mit Direktor FitzMaugham hat, dann sagen Sie ungefähr das gleiche. Nicht in dieser offiziellen Form natürlich, aber dem Sinn nach. Ich muß mich erst noch in die Materie einarbeiten, bevor ich mich mit Besuchern unterhalten kann.« »Gewiß, Direktor Walton.« Beim Klang dieser Worte mußte er unwillkürlich grinsen: Direktor Walton. Er hakte auf dem Notizzettel die erste Nummer ab. FitzMaughams Verabredungen waren jetzt also abgesagt. Dann fiel ihm ein, daß er noch einen weiteren Punkt auf die Liste setzen mußte: einen neuen Assistenten des Verwaltungsdirektors ernennen. Jemand würde seinen früheren Aufgabenkreis übernehmen müssen. Aber am wichtigsten war jetzt das Problem, das er als oberstes auf die Tagesordnung gesetzt hatte: die Affäre Prior erledigen. Er war jetzt in der günstigen Lage, die Beweise seines gestrigen illegalen Verhaltens vernichten zu können. Er drückte auf die Sprechtaste und sagte: »Verbinden Sie mich bitte mit der EuthanasieRegistratur.« Einen Augenblick später sagte eine Männerstimme: »Registratur.« »Hier spricht der amtierende Direktor Walton. Ich brauche eine vollständige Abschrift Ihrer Computer-Tätigkeiten für gestern morgen zwischen neun Uhr und zwölf Uhr. Wie schnell kann ich das haben?« »In ein paar Minuten, Direktor Walton.«
»Gut. Schicken Sie das versiegelt, über Geheimleitung. Es sind da einige sehr wichtige Vorgänge aufgezeichnet. Sorgen Sie dafür, daß keiner die Kopie zu sehen bekommt.« »Jawohl, Sir. Sonst noch etwas, Sir?« »Nein, das ist alles — ach, nein, warten Sie. Schicken Sie mir auch noch eine Liste aller Ärzte, die gestern morgen in der Klinik Babys untersucht haben.« Während Walton wartete, las er die letzten Notizen durch, die FitzMaugham sich gemacht hatte. Obenauf lag ein Zettel mit der Aufschrift: Verabredung mit Lamarre, Juni — 12 Uhr 15. Muß energisch mit ihm sein, aber die Angelegenheit mit großer Diplomatie behandeln. Vielleicht an der Zeit, Walton einzuweihen. Hm, das war interessant, dachte Walton. Er hatte zwar keine Ahnung, wer Lamarre war, aber FitzMaugham hatte einen kleinen Stern auf die rechte obere Ecke des Blattes gezeichnet — ein Hinweis auf größte Wichtigkeit. Er drückte wieder auf die Sprechtaste: »Ein gewisser Mr. Lamarre hatte heute um 12 Uhr 15 eine Verabredung mit Direktor FitzMaugham. Wenn er sich meldet, sagen Sie ihm, heute könnte ich ihn leider nicht empfangen, aber ich würde vorschlagen, die Verabredung auf morgen zu verlegen — zur gleichen Zeit. Sagen Sie ihm das mit diesen Worten.« Einen Augenblick später flammte das grüne Lichtsignal über dem Einlauf-Kasten auf. Im Zimmer des Direktors erfolgte der Einlauf der Hauspost nicht so unangemeldet wie in Waltons früherem Büro. Walton nahm ein versiegeltes Päckchen aus dem Kasten. Er prüfte das Siegel und stellte zufrieden fest, daß es unbeschädigt war. Das bedeutete, daß das Päckchen direkt aus dem Computer kam und der Inhalt nicht einmal dem diensttuenden Techniker bekannt war. Beigefügt war eine Liste von fünf Namen: die Ärzte, die gestern vormittag im Untersuchungslaboratorium gewesen waren. Walton brach das Siegel auf und fand in dem Päckchen sieben eng beschriebene Seiten mit den Arbeitsvorgängen des Computers. Die ersten drei Seiten enthielten reine Routinevorgänge. Dann folgte auf der vierten Seite unter der laufenden Nummer 73 seine Anforderung für Philip Priors Karteikarte. Er hakte die Nummer ab. Nummer 74 war seine Anforderung des Schlüssels für den Erbfaktoren-Kode der Klinik. Die folgenden drei Nummern enthielten seine Veränderung von Philip Priors Karteikarte und die Bestätigung des Computers. Nachdem Walton diese fünf Zahlen sorgfältig abgehakt hatte, las er schnell weiter. Bei dem Arbeitsvorgang 92, der um 11 Uhr 02 registriert war, stutzte er: 92: Vollständige Abschrift aller Transaktionen dieses Morgens, ausgegeben auf Anforderung von Dr. Frederic Walton, 932 K 104 AZ. Fred hatte also nicht geblufft. Er war im Besitz der gefährlichen Beweise. Aber wenn man mit einem Computer zu tun hatte und mit Donnersons Mikro-Memorial-Röhren, dann war die Vergangenheit trotz alledem ein äußerst flüchtiges Element. »Ich möchte eine direkte Verbindung mit dem Computer in der 20. Etage«, sagte Walton ins Mikrophon hinein. Nach kurzer Pause erschien ein Techniker auf dem Bildschirm. Es war derselbe, mit dem er schon zuvor gesprochen hatte. »In den Aufzeichnungen ist ein Fehler enthalten«, erklärte Walton. »Ich möchte nicht, daß dieser Fehler wiederholt wird. Können Sie die Schaltung so einstellen, daß ich einen direkten Befehl in den Computer geben kann?« »Gewiß, Sir. Es ist alles bereit.«
»Das ist streng geheim. Gehen Sie bitte weg.« Der Techniker verschwand. Walton begann zu diktieren: »Die Nummern 73 bis 77 sind vom Aufzeichnungsband des gestrigen Morgens zu löschen, und die entsprechenden Informationen in den Röhren sind ebenfalls zu löschen. Weiterhin ist von diesem Arbeitsvorgang keine Aufzeichnung auf Band zu speichern.« Der Diktatschreiber im 20. Stockwerk rasselte kurze Zeit, und der Computer wurde mit den Befehlen gespeist. Walton wartete kurze Zeit. Dann sagte er: »In Ordnung, Techniker. Kommen Sie jetzt wieder in Sicht.« Der Techniker erschien auf dem Bildschirm. Walton sagte: »Ich will das jetzt überprüfen. Lassen Sie von der Maschine eine Kopie aller Arbeitsvorgänge von gestern morgen zwischen neun und zwölf Uhr herstellen und ebenfalls von heutigen Arbeitsvorgängen der letzten fünfzehn Minuten.« »Sofort, Sir.« Während Walton auf die Ankunft der neuen Kopie wartete, studierte er die Namensliste auf seinem Schreibtisch. Fünf Ärzte: Gunther, Raymond, Archer, Hsi, Rein. Er wußte natürlich nicht, welcher von ihnen gestern Philip Prior untersucht hatte, und das interessierte ihn auch nicht. Alle fünf mußten versetzt werden. Er griff wieder nach Notizblock und Kugelschreiber und schrieb : Gunther ... Zürich Raymond ... Glasgow Archer ... Feuerland Hsi ... Kinshasa Rein ... Bangkok Er nickte. Damit war diese Gruppe soweit auseinandergesprengt, daß ihm nach menschlichem Ermessen keiner von ihnen mehr schädlich werden konnte. Nachher würde er die Versetzungsbefehle erteilen und am Abend würden die Männer dann schon auf dem Wege zu ihren neuen Dienststellen sein. Vermutlich ahnte keiner von ihnen, warum man sie so Hals über Kopf von New York wegversetzt hatte. Die neuen Kopien kamen. Walton las mit nervöser Hast. Nummer 71 der Kopie beschäftigte sich mit einer Pockenstatistik für Nordamerika und Nummer 72 mit der Anforderung von Medikamenten für Klinik III. Keine Spur mehr von Waltons Fragen. Sie waren so verschwunden, als hätte er sie nie gestellt. Auch in der angeforderten Aufzeichnung der vergangenen Viertelstunde des heutigen Tages fand er nichts von den Löschungsbefehlen. Auch diese Aufzeichnung war getilgt worden. Er lächelte erleichtert. Nachdem jetzt die Computeraufzeichnungen gelöscht, der Direktor tot und die Ärzte verschickt waren, konnte ihm nur noch Fred gefährlich werden. 6. Die Registratur des verstorbenen Direktors FitzMaugham war über vier Stockwerke des Gebäudes verteilt, aber Walton interessierte sich nur für die Aufzeichnungen, die einzig und allein vom Büro des Direktors aus zugänglich waren. Ein Schaltbrett und ein Bildschirm waren links vom Schreibtisch in die Wand eingelassen. Walton ließ seine Finger leicht auf den schimmernden Schalttasten ruhen. Sein Hauptproblem war, daß er nicht wußte, wo er anfangen sollte. Obwohl er inzwischen seine Gedanken einigermaßen geordnet und auch schon eine Marschroute festgelegt hatte, verwirrte und erschreckte ihn immer noch das riesige Ausmaß seiner Aufgabe. Er hatte Befehlsgewalt über sieben Milliarden Erdbewohner. Wenn er wollte, konnte er im nächsten
Augenblick ebenso schnell fünfzigtausend New Yorker in die unwirtlichen und dünn besiedelten Nordprovinzen Kanadas schicken, wie er vor einer halben Stunde fünf Ärzte in alle Winde zerstreut hatte. Nachdem er einige Augenblicke unschlüssig überlegt hatte, tippte er folgende kurze Botschaft: Lieferung aller Daten des Lebensraumschaffungs-Projekts. Auf dem Bildschirm erschienen die Worte: registriert und kodifiziert; Empfang erwarten. Im Einlaufkasten raschelten die Papiere. Walton räumte hastig einen ganzen Stapel Manuskripte heraus, um Raum für weitere zu schaffen. Er schüttelte verwundert den Kopf über den scheinbar endlosen Ausstoß von bedrucktem Papier. FitzMaughams Akten über das Problem der Lebensraumbeschaffung füllten offenbar Bände. Er häufte den Stapel von Papieren auf seinen Schreibtisch auf und begann das Material zu sichten. Die Aufzeichnungen begannen vor dreißig Jahren anno 2202 mit der Fotokopie eines Briefes von Dr. Herbert Land an FitzMaugham. In dem Schreiben wurde die Durchführung eines Projekts vorgeschlagen, das die inneren Planeten des Sonnensystems für Menschen bewohnbar machen sollte. Beigefügt war FitzMaughams skeptische und etwas spöttische Antwort. Der alte Mann schien alles aufbewahrt zu haben: sogar Briefe, die kein günstiges Licht auf ihn warfen. Es folgten weitere Briefe von Lang an FitzMaugham mit der dringenden Bitte, das Projekt Lebensraumbeschaffung dem Senat der Vereinigten Staaten zu unterbreiten und FitzMaughams immer enthusiastischere Antworten. Im Jahre 2212 war schließlich notiert, daß der Senat Lang eine Million Dollar für sein Projekt bewilligt hatte. Natürlich war das ein winziger Betrag im Verhältnis zu dem tatsächlichen Bedarf, aber es genügte zur Deckung der vorbereitenden Forschungskosten. Lang war jedenfalls dankbar dafür gewesen. Walton überflog die ihm mehr oder minder vertrauten Fakten über das Lebensraumschaffungs-Projekt. Wenn es ihm seine Zeiterlaubte, konnte er die Einzelheiten später studieren. Jetzt brauchte er vor allen Dingen Informationen über den augenblicklichen Stand des Projekts. FitzMaugham war in dieser Hinsicht erstaunlich schweigsam gewesen, hatte aber in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken verstanden, daß ein Stab von Ingenieuren unter der Leitung von Lang auf der Venus bereits an der Arbeit war. Walton schob ganze Stöße von Briefen beiseite und hielt Aus schau nach den neuesten Daten. Hier war ein Brief vom Februar 2232 von FitzMaugham an Lang: Der Wissenschaftler wurde darüber informiert, daß das Bevölkerungsausgleich-Gesetz bald rechtskräftig werden würde, und daß Lang in diesem Falle von der UNO große Zuwendungen erwarten könnte. Eine zufriedene Antwort von Lang war beigefügt. Am 10. Mai 2232 folgte ein weiterer Brief von FitzMaugham an Lang: Darin wurde Lang offiziell zum leitenden Mitglied von ABEG ernannt, und es wurden ihm für das Forschungsprojekt Lebensraumschaffung fünf Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt. Walton pfiff leise, als er die riesige Summe las. Ein Brief von Lang an FitzMaugham vom 14. Mai enthielt die Mitteilung, daß der Forschungsstab zur Lebensraumbeschaffung in Kürze zur Venus starten würde. Fitz Maugham wünschte am 16. Mai Lang brieflich alles Gute und wies ihn an, sich jede Woche einmal mit ihm in Verbindung zu setzen. Raumfunkspruch von Lang an FitzMaugham vom 28. Mai: Gut auf der Venus gelandet, Operationen wie geplant in Angriff genommen. Damit endete die Akte. Walton suchte in dem riesigen Stapel von Papieren nach einer neueren Mitteilung. Nach FitzMaughams Anweisung hätte sich Lang vor etwa vier Tagen bei ABEG mit seinem ersten Bericht melden müssen. Möglicherweise war dieser Bericht irgendwo unterwegs verlorengegangen, dachte Walton.
Nachdem er weitere zwanzig Minuten das Material gesichtet hatte, fiel ihm ein, daß ihm der Registratur-Computer die gewünschte Auskunft viel schneller geben konnte. Er tippte eine Anforderung für alle Korrespondenz zwischen Direktor FitzMaugham und Dr. Herbert Lang, die nach dem 28. Mai 2232 datiert war. Die Maschine bestätigte und antwortete einen Moment später: Dieses Material ist in den Memorial-Zellen nicht gespeichert. Walton runzelte nachdenklich die Stirn. Dann schichtete er das Informationsmaterial zum Projekt Lebensraumschaffung in ein Karteifach. Der augenblickliche Stand des Projekts war also ungewiß: Die Lebensraumschaff er waren auf der Venus und wahrscheinlich an der Arbeit, aber sie hatten noch keine weitere Nachricht gegeben. Das nächste Projekt von ABEG, mit dem er sich würde beschäftigen müssen, war der Überlicht-Antrieb für Raumschiffe. Aber nach den vielen Informationen, die Walton gerade erst in sich aufgenommen hatte, fühlte er sich außerstande, ein weiteres Projekt zu verarbeiten. Es kam ihm zu Bewußtsein, daß er sich nach direktem menschlichen Kontakt sehnte. Den ganzen Morgen hatte er allein verbracht, und nur per Bildschirm und Lautsprecher mit anonymen Untergebenen gesprochen oder Material von einem noch unpersönlicheren Computer angefordert. Er sehnte sich nach lebendigen Stimmen und echten Menschengesichtern. Nach einem Druck auf die Sprechtaste sagte er ins Mikrofon: »In einer halben Stunde werden alle Abteilungsleiter von ABEG zu einer Konferenz in mein Büro gebeten — um 12 Uhr 3o. Die Abteilungsleiter sollen alle anderen Arbeiten und Verabredungen zurückstellen. « Kurz vor 12 Uhr 3o fühlte Walton eine plötzliche Woge von Unbehagen und nervöser Unruhe. Er zog das Schreibtischschubfach auf und tastete nach dem Schächtelchen mit den Beruhigungstabletten. Einen Moment lang erschrak er, bis ihm klar wurde, daß dies nicht sein Schreibtisch war, sondern FitzMaughams, und FitzMaugham war strikt gegen alle Beruhigungsmittel gewesen. Walton zog seine Brieftasche hervor und entnahm ihr die Tablette, die er für einen solchen Notfall immer bei sich trug. Keine drei Sekunden später erschien die hagere Gestalt von Lee Percy auf dem Bildschirm. »Roy? Ich bin es, Percy.« »Das sehe ich«, antwortete Walton trocken. »Kommen Sie herein, Lee.« Percy leitete die Presseabteilung von ABEG. Er war ein langer, ungelenker Mann mit zerfurchtem Gesicht. Ihm folgten Teddy Schaunhaft, der Klinik-Leiter; Pauline Medhurst, Leiterin der Personalabteilung; Olaf Eglin, der Chef der Außenagenten; und Sue Llewellyn, die Leiterin der Finanzabteilung von ABEG. Diese fünf bildeten den Zentralrat des Amtes. Walton hatte als ihr Koordinator fungiert und gleichzeitig den Bevölkerungsaustausch und die allgemeinen Verwaltungsgeschäfte geleitet. Das alles hatte unter der Oberaufsicht von FitzMaugham gestanden, der im übrigen der Initiator der Projekte Lebensraumschaffung und Überlicht-Antrieb gewesen war. »Ich hätte Sie schon viel früher zu mir bitten sollen«, sagte Walton, als sie sich alle gesetzt hatten. »Aber der Schock und die allgemeine Verwirrung ...« »Wir begreifen das, Roy«, sagte Sue Llewellyn verständnisvoll. Sie war eine mollige kleine Frau Anfang der Fünfzig, deren Privatleben angeblich unglaublich viel turbulenter war, als ihre Erscheinung vermuten ließ. »Es ist für uns alle schwer gewesen, aber Sie haben Mr. FitzMaugham so nahe gestanden ...«
Die anderen nickten zustimmend, aber Walton winkte ab. »Wir haben jetzt keine Zeit für lange Trauerreden. Ich werde nie vergessen, was FitzMaugham mir bedeutet hat. Aber das Leben geht weiter. ABEG steht vor schwierigen Aufgaben, die wir gemeinsam meistern müssen.« Er sah Eglin an, den Chef der Außenagenten. »Olaf, gibt es einen Mann in Ihrer Abteilung, der Ihre Aufgabe sofort übernehmen könnte?« Eglin sah einen Moment lang verblüfft aus, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. »Da kämen mindestens fünf in Frage. Walters, Lassen, Dominic ...« »Ich brauche jetzt keine Namensliste«, unterbrach ihn Walton. »Wählen Sie den Mann aus, der Sie nach Ihrer Meinung am besten ersetzen kann, und schicken Sie seine Personalakte zur Prüfung und Bewilligung zu mir hoch.« »Und was mache ich?« »Sie übernehmen meinen Posten als stellvertretender Verwaltungsdirektor. Als Chef der Außenagenten sind Sie mit den augenblicklichen Problemen meines früheren Postens besser vertraut als jeder andere.« Eglin lächelte geschmeichelt, und Walton fragte sich in diesem Augenblick, ob er die richtige Wahl getroffen hatte. Immerhin mußte der Posten sofort besetzt werden, und Eglin war tüchtig und kannte die Materie. Walton nickte den anderen zu. »Im übrigen geht alles so weiter wie unter FitzMaughams Leitung. Irgendwelche Fragen?« Lee Percy hob langsam die Hand. »Roy, ich habe da ein Problem, das ich gern in Anwesenheit der anderen Abteilungsleiter besprechen möchte. Es wird in der Öffentlichkeit immer wieder darüber gemunkelt, daß Sie und FitzMaugham insgeheim Anhänger der Herschelisten waren.« Er machte eine entschuldigende Geste. »Ich weiß, daß das verrückt klingt, aber ich berichte nur, was ich so gehört habe.« »Die Gerüchte sind mir vertraut«, bestätigte Walton. »Und mir gefällt das ganz und gar nicht. Solche Gerüchte erzeugen Untergrundbewegungen und Aufruhr. Wir wissen ja alle, daß die Herschelisten Extremisten sind, die gnadenlose Sterilisierung aller von der Norm Abweichenden, gesetzliche Geburtenkontrolle und weitere radikale Maßnahmen gegen den Bevölkerungsüberschuß fordern. Wenn man uns nun mit diesen Extremisten in Verbindung bringt, wirft das ein schiefes Licht auf unser Amt. Welche Gegenmaßnahmen würden Sie vorschlagen?« »Nun, wir bereiten entsprechende Nachrufe für FitzMaugham vor«, erklärte Percy. »Wir werden darin andeuten, daß er von den Herschelisten ermordet worden ist.« »Das ist keine schlechte Idee. Wie wollen Sie das begründen?« fragte Walton. »Wir werden sagen: Er war zu human und friedfertig. Aus den Herschelisten machen wir sture Reaktionäre, die der Menschheit diktatorisch ihren Willen aufzwingen wollen und deshalb von FitzMaugham mit aller Härte bekämpft wurden. Dann werden wir bei den Gedenksendungen darauf hinweisen, daß Sie die Aufgabe des großen Mannes übernommen haben und so weiter, und so weiter. In einer kurzen Rede werden Sie dann die grundsätzlich humanitären Ziele von ABEG bestätigen.« Walton lächelte zustimmend und sagte: »Das gefällt mir. Wann soll ich diese Rede halten?« »Dazu brauchen wir Sie nicht«, erklärte Percy. »Wir haben genug Filmmaterial von Ihnen, und wir können die Rede aus von Ihnen gesprochenen Wörtern und Sätzen zusammenschneiden.« Walton runzelte die Stirn. Heutzutage waren zu viele öffentliche Reden synthetisch. Erfahrene Toningenieure mixten Wörter und Silben zu dem Gemisch zusammen, das sie gerade gebrauchten. »Jedenfalls möchte ich meine Rede überprüfen, bevor sie gesendet wird«, befahl Walton.
»Das wird gemacht. Und wir werden diese Kampagne gegen die Herschelisten richtig anheizen.« Pauline Medhurst bewegte sich unbehaglich auf ihrem Stuhl. Walton nickte ihr zu. »Äh, Roy, ich weiß zwar, daß dies im Augenblick nicht auf der Tagesordnung steht, aber ich habe da diesen Versetzungsbefehl von Ihnen bekommen. Es betrifft die fünf Ärzte ...« »Ja, das geht in Ordnung«, sagte Walton hastig. »Haben Sie die Ärzte schon benachrichtigt?« »Ja. Sie waren bestürzt und unglücklich.« »Erinnern Sie die Männer an FitzMaughams Buch. Erklären Sie ihnen, daß sie Rädchen in einer riesigen Maschine sind und zum Wohle und zur Rettung der Menschheit arbeiten. Wir dürfen da persönlichen Gefühlen nicht den Vorrang geben, Pauline.« »Wenn Sie nur erklären könnten, warum ...« »Ja, das möchte ich auch wissen«, warf Schaunhaft, der Leiter der Klinik-Abteilung, ein. »Sie haben die gesamte Morgenschicht meiner Laboratoriumsärzte versetzt. Ich frage mich, was...« »Der Befehl hat seine Gründe«, sagte Walton so fest wie möglich. »Ihre Aufgabe ist es jetzt, die Umsiedlung der fünf Ärzte zu veranlassen und sofort fünf Ersatzmänner zu besorgen. Sie sind nicht verpflichtet, den versetzten Ärzten Erklärungen abzugeben — und ich bin Ihnen gegenüber dazu auch nicht verpflichtet.« Ein unbehagliches Schweigen senkte sich plötzlich über den Raum. Walton hoffte insgeheim, daß er sich durch sein diktatorisches Verhalten nicht zu verdächtig gemacht hatte. »Sie legen sich aber mächtig ins Zeug.« Sue Llewellyn war es, die das bedrückende Schweigen brach und gleichzeitig versöhnlich lächelte. »Wir müssen die Arbeit von ABEG wie bisher weiterführen«, sagte Walton ebenfalls sanfter. »Vorläufig bin ich Direktor und muß das Amt in FitzMaughams Sinne leiten.« Bis die UNO meinen Nachfolger bestimmt hat, fügte er im Geiste hinzu. Dann sagte er laut: »Falls Sie keine weiteren Fragen haben, würde ich Sie jetzt bitten, in Ihre Abteilungen zurückzukehren.« Als die Abteilungsleiter gegangen waren, saß Walton noch lange hinter seinem Schreibtisch und versuchte die inneren Kraftreserven zur Fortführung seiner schweren Aufgabe zu sammeln. Er war jetzt erst einen Tag lang Leiter von ABEG und fühlte sich doch schon so erschöpft und müde, schrecklich erschöpft. Und es würden noch weitere sechs Wochen vergehen, bevor die Vollversammlung der UNO zusammentrat, um den nächsten Direktor von ABEG zu wählen. Natürlich hatte er keine Ahnung, wer dieser Mann sein würde. Es war anzunehmen, daß man ihm den Posten anbieten würde, falls er in seiner Interimszeit als amtierender Direktor gute Arbeit geleistet hatte. Aber er würde wohl dieses Angebot ablehnen müssen, dachte er resigniert. Vielleicht wären seine Nerven der Belastungsprobe dieses Amtes gewachsen, wenn es da nicht noch dieses andere Problem gäbe: sein Bruder Fred. Was hatte Fred vor? Wollte er ihn etwa im entscheidenden Augenblick vor der UNO und der gesamten Welt lächerlich machen? Falls die Prior-Affäre bekannt wurde, war es aus mit Waltons Karriere. Außerdem drohte ihm dann noch eine hohe Strafe. Was sollte er tun? fragte sich Walton. Seinen Posten behalten und die Enthüllungen seines Bruders abwarten? Oder zurücktreten und in der anonymen Masse verschwinden? Beide Möglichkeiten erschienen ihm in gleicher Weise unerfreulich. Mit einem entschlossenen Ruck raffte er sich zusammen und wählte die Flucht nach vorn: in die Arbeit hinein. Als erstes tippte er eine Anforderung an die Registratur betreffs der Daten des Projekts Oberlicht-Antrieb. Schon wenige Augenblicke später begann der Strom des Informationsmaterials irgendwo aus
den Tiefen des riesigen Computers durch das Röhrensystem der Hausrohrpost in das Büro Waltons zu fließen. 7. Als Walton am nächsten Morgen vor dem Cullen Building ankam, hatte sich dort eine Menge zusammengerottet. Es mußten mindestens hundert Leute sein. Walton stieg aus dem Jet-Bus, schlug zur Wahrung seiner Anonymität den Mantelkragen hoch und drängte sich in die Menge. Ein kleiner Mann mit rotem Gesicht stand auf einem wackligen Stuhl an der Seitenmauer des Gebäudes. An Messingfahnenstangen links und rechts von ihm wehten die amerikanische Flagge und das Banner der UNO. Seine Stimme klang hart und rauh. wahrscheinlich wurde dieser Effekt noch verstärkt durch einen Modulator an seiner Kehle, dachte Walton. Eine aufreizend scharfe Stimme übermittelte ihre Botschaft doppelt so wirkungsvoll wie ein angenehmes Sprechorgan. Der Mann brüllte: »Hier geschieht das alles! Dort oben, in jenem Haus, dort treiben sie ihr Unwesen! Das ist das Haus, in dem ABEG unser Geld verschleudert!« Beim Anhören dieser demagogischen Phrasen dachte Walton sofort: Ein Herschelist! Er unterdrückte seinen Ärger und blieb stehen, um sich die Rede des Extremisten zu Ende anzuhören. Bisher hatte er der Propaganda der Herschelisten wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Allerdings war er auch kaum je damit in Berührung gekommen. Als Chef von ABEG mußte er sich jetzt jedoch mit den Argumenten vertraut machen, die gegen sein Amt gerichtet waren. Da gab es die Linksextremisten, die ABEG für eine Tyrannei hielten und als Gegenpol die Herschelisten, die die Arbeit des Amtes noch für zu schwach und wirkungslos hielten. »Dieses ABEG !« Der Mann sprach das wie ein Schimpfwort aus. »Wissen Sie, was das ist? Nichts als eine Niete, ein Lückenbüßer. Es ist ein dummer, schwächlicher, halbherziger Versuch, unsere Probleme zu lösen. Das ganze Amt ist eine nutzlose Mißgeburt!« Hinter den Worten wirkte echte Leidenschaft. Walton mißtraute instinktiv kleinen Männern mit großen Leidenschaften. Diese Möchtegern-Diktatoren hatten in der Welt schon genug Unheil angerichtet. Ein Raunen ging durch die Menge. Die Rede des Herschelisten verfehlte nicht ihre Wirkung auf die Leute. Walton zog sich etwas weiter zurück und schlug den Mantelkragen noch höher vors Gesicht. »Einige von euch haben für ABEG aus diesem oder jenem Grunde nicht viel übrig«, fuhr der kleine Redner mit der scharfen Stimme fort. »Aber lassen Sie mich Ihnen etwas sagen, meine Freunde ... Sie irren sich noch mehr als die Burschen da oben! Wir müssen hart mit uns selbst sein! Wir müssen der Wahrheit tapfer ins Auge schauen! ABEG ist eine unrealistische Scheinlösung unserer großen Menschheitsprobleme. Wenn wir nicht eine strikte Geburtenkontrolle einführen und gesetzlich ganz deutlich festlegen, wer lebenswert ist und wer nicht, dann werden wir ...« Das war unverfälschte Herschelisten-Propaganda. Walton war daher nicht überrascht, als einer der Zuhörer grollend rief: »Und wer soll diese Kontrollen bestimmen und feststellen, wer lebenswert ist und wer nicht? Etwa Sie?« »Sie alle haben sich ja auch der Befehlsgewalt von ABEG unterworfen, nicht wahr? Warum zögern Sie dann, sich Abel Herschel anzuvertrauen und seiner Gruppe von Kämpfern für die Verbesserung und Läuterung der Menschheit?« Walton war mehr als verblüfft. Diese Herschelisten waren in ihren Zielen soviel radikaler als ABEG, daß er sich wunderte, wie sie sich damit überhaupt an die Öffentlichkeit wagten.
Schon die Feindseligkeit gegen ABEG war groß genug; würde die Bevölkerung eine noch radikalere Gruppe akzeptieren? Die Stimme des kleinen Redners wurde schrill vor Erregung. »Vorwärts mit den Herschelisten! Die Menschheit muß fortschrittlicher denken! Die Reaktionäre von ABEG dort oben repräsentieren die Kräfte des Verfalls und Niedergangs!« Walton konnte seinen Protest nicht mehr unterdrücken. Er wandte sich spontan dem neben ihm stehenden Mann zu und sagte: »Aber dieser Herschel ist doch ein Fanatiker. Falls die Herschelisten an die Macht kämen, würden sie uns alle im Namen der Menschheit umbringen.« Der Mann sah ihn zuerst verwirrt an, akzeptierte dann die Idee und nickte. »Ja, da ist wirklich etwas Wahres dran.« Damit hatte Walton das Argument geliefert, das wie ein Funke irrt Pulverfaß wirkte. Während er sich zurückbog, beobachtete er, wie die Parole weitergegeben wurde, während der kleine Mann dort auf dem Stuhl sich ahnungslos in eine immer stärkere agitatorische Beredsamkeit hineinsteigerte. Bis dann der erste Stein von irgendwoher durch die Luft flog und neben dem UNO-Banner an die Hausmauer prallte. Männer und Frauen gingen auf den kleinen Redner zu, während der noch hysterisch kreischte: »Wir müssen der Wahrheit ins Auge schauen!« Dann wurden die Flaggen umgerissen, und der kleine Mann verschwand in der wütenden Menschenmenge. Eine Sirene schrillte. »Polizei!« rief Walton von seinem zehn Meter entfernten Beobachtungspunkt, und im Nu zerstreute sich die Menge in alle Himmelsrichtungen. Ein Sicherheitswagen fuhr heran. Vier Männer in grauer Uniform sprangen heraus. »Was geht hier vor? Wer ist dieser Mann?« Dann sah der eine Beamte Walton dastehen und rief: »He! Kommen Sie doch bitte einmal her!« Walton schlug seinen Mantelkragen herunter und ging auf die Sicherheitsbeamten zu. Im nächsten Moment erspähte er auch schon das Glasauge einer Video-Kamera und blickte in die Optik. »Ich bin Direktor Walton von ABEG«, sagte er laut in Richtung der Kamera. »Vor ein paar Minuten bin ich hier angekommen und habe den ganzen Vorgang beobachtet.« »Berichten Sie uns doch bitte darüber, Mr. Walton«, bat ein Sicherheitsbeamter. »Es war ein Herschelist.« Walton deutete auf das flach am Boden liegende Kleiderbündel, das einmal ein Mensch gewesen war. »Er hat eine aufrüherische Rede gegen ABEG gehalten und insbesondere die Arbeit des früheren Direktors FitzMaugham und meine eigene Tätigkeit gebrandmarkt. Ich wollte Sie gerade anrufen, aber da erkannten die Zuhörer schon, daß dieser Mann ein Herschelist ist. Als sie begriffen, wofür er da Propaganda machte, da ... nun, Sie sehen ja das Ergebnis.« »Vielen Dank, Sir. Es tut uns schrecklich leid, daß wir das nicht unterbinden konnten. Es muß für Sie ein sehr unerfreuliches Erlebnis gewesen sein, Mr. Walton.« »Der Mann ist selbst schuld an seinem Schicksal«, erklärte Walton. »ABEG repräsentiert die Kräfte von Fortschritt und Freiheit in unserer Welt. Herschel und seine Parteigänger wollen die demokratische Ordnung zerstören. Gewalttat jeder Art ist mir natürlich zuwider, aber« — er lächelte entschuldigend in die Kamera — »ich habe meine ganze Arbeitskraft dem großen Werk von ABEG geweiht. Alle Gegner von ABEG muß ich daher mit allen Mitteln bekämpfen.« Er wandte sich ab und betrat sehr zufrieden mit sich selbst das Gebäude. Bei der nächsten Nachrichtensendung würde sein Bild und seine Rede von allen Fernsehschirmen ausgestrahlt
werden. Jeder Nachrichtenlautsprecher in der ganzen Welt würde seine Worte wiederholen. Lee Percy mußte eigentlich stolz auf ihn sein. Ohne Probe oder phonotechnische Manipulation hatte Walton eine aufwühlende Rede gehalten und einen grausigen Zwischenfall zu einer großartigen Propaganda für ABEG umfunktioniert. Und mehr als das: Auch Direktor FitzMaugham würde stolz auf ihn sein. Aber seine Selbstzufriedenheit wich bald nagender Unruhe. Gestern hatte er auf illegale Weise das Leben eines Babys gerettet, und heute hatte er einen Mann getötet, indem er durch eine geflüsterte Anschuldigung die Menge gegen ihn aufgebracht hatte. Das Informationsmaterial betreffs Überlicht-Antrieb lag noch auf seinem Schreibtisch, als er sein Büro betrat. Gestern hatte er nur noch den geringsten Teil dieses Materials sichten können. Die üblichen Routinearbeiten waren dazwischengekommen. Das Projekt des Überlicht-Raketenantriebs war vor etwa zehn Jahren von FitzMaugham inspiriert und gefördert worden. Man ging dabei von der Tatsache aus, daß der zur Raumfahrt zwischen den Planeten benutzte Ionen-Antrieb eine Grenzgeschwindigkeit von hundertfünfzigtausend Kilometer pro Sekunde hatte. Bei dieser Reisegeschwindigkeit würde ein Erkundungsflug zum nächsten Planetensystem und der Bericht von dort ungefähr achtzehn Jahre erfordern ... Nicht sehr wirkungsvoll für einen Planeten wie die Erde, dessen Bevölkerungsexplosion schnelle Umsiedlung auf andere Sterne erforderlich machte. Eine Gruppe von Wissenschaftlern arbeitete nun schon jahrelang an neuen Antriebsmöglichkeiten. Walton verbrachte fast den ganzen Vormittag damit, das entsprechende Material durchzuarbeiten. Erst kurz vor Mittag stieß er auf einen Brief von Oberst Leslie McLeod, einem Militär-Wissenschaftler, der das UltraAntriebs-Projekt leitete. Walton las die kurze Mitteilung, stutzte und las sie noch einmal. Das Schreiben war datiert vom 14. Juni 2231, also vor fast einem Jahr. Es lautete: Mein lieber Mr. FitzMaugham; Ich bin sicher, daß es Sie erfreuen wird, wenn ich Ihnen jetzt mitteile, daß unsere Bemühungen endlich Erfolge gezeitigt haben. Die X-72 hat die letzte Prüfung glänzend bestanden, und wir sind bereit, sofort zu einem ersten Versuchsflug aufzubrechen. McLeod Es folgte ein Brief von FitzMaugham an McLeod vom 15. Juni: Dr. McLeod: Alle guten Wünsche für Ihr großes Abenteuer. Ich nehme an, Sie starten wie gewöhnlich innerhalb der nächsten Tage von der Nairobi-Basis. Bitte lassen Sie vor dem Start noch etwas von sich hören. FitzM. Die Akte schloß mit einem vom 19. Juni 2231 datierten letzten Brief von McLeod an den Direktor: Mein lieber Mr. FitzMaugham: Die X-72 wird in elf Stunden von Nairobi mit sechzehn Menschen an Bord in den Weltraum starten. Wir alle warten ungeduldig auf den Abflug. Ich möchte noch einmal recht herzlich für Ihre uns im Laufe der letzten Jahre gewährte Hilfe danken, ohne die wir nie so weit gekommen wären.
Wir wollen einige der näherliegenden Sterne erkunden und zurückkehren, sobald wir eine bewohnbare Welt außerhalb unseres Sonnensystems gefunden haben. Im anderen Falle spätestens nach einem Jahr. Alle guten Wünsche für Ihr Vorhaben — obwohl ich hoffe, daß unsere Arbeit das Bevölkerungsausgleichsprogramm auf der Erde schon bald überflüssig machen wird! McLeod Es dauerte eine ganze Weile, bis Walton diese überraschende >Neuigkeit in ihrer ganzen Tragweite begriffen hatte. Seine Bewunderung für FitzMaugham wuchs dabei noch. Wie weitblickend und taktisch klug der Alte gehandelt hatte! Er hatte die Projekte des ÜberlichtAntriebs und der Bewohnbarmachung der Venus gleichzeitig vorangetrieben, aber nichts davon in der Öffentlichkeit verlautbaren lassen. Falls sich die Projekte als undurchführbar erwiesen, bedeutete das keinen Rückschlag für ABEG. Im anderen Falle würde es ein triumphaler Erfolg für das Amt und seinen ehemaligen Direktor werden. Der Gong ertönte. »Dr. Lamarre ist zu der verabredeten Besprechung hier, Mr. Walton.« Einen Moment lang war Walton nicht im Bilde. Lamarre? Wer Zum Teufel — ach, ja, das war ja der Mann, der noch eine Verabredung mit FitzMaugham hatte. »Sagen Sie Dr. Lamarre, daß ich ihn gleich empfangen werde. Ich läute, wenn ich bereit bin.« Er raffte hastig die Dokumente über das Raumflug-Programm zusammen und legte sie zu den Daten für die Lebensraumschaffung. Dann drückte er auf die Sprechtaste. »Schicken Sie Dr. Lamarre herein«, sagte er. Dr. Lamarre war ein kleines, dünnes und blasses Individuum mit sandfarbigem, leicht lockigem Haar und gebückter Haltung. Er trug eine zum Bersten volle schwarze Aktenmappe. »Mr. Walton?« »Der bin ich. Sie sind Dr. Lamarre?« Der kleine Mann reichte ihm eine Visitenkarte. T. ELLIOT LAMARRE Gerontologe Walton musterte die Visitenkarte und legte sie auf den Schreibtisch. »Gerontologe? Sie studieren also die Möglichkeiten, die Lebenserwartungen der Menschen zu verlängern, ist es so?« »Genau.« Walton runzelte die Stirn. »Ich nehme an, Sie haben schon Gespräche mit unserem verstorbenen Direktor FitzMaugham geführt?« Lamarre starrte ihn mit offenem Munde an. »Wollen Sie damit sagen, daß er Ihnen nichts davon erzählt hat?« Walton überlegte einen Moment und sagte dann mit betonter Ruhe: »Direktor FitzMaugham hat seine Assistenten in manche Dinge nicht eingeweiht, Dr. Lamarre. Die Plötzlichkeit meiner Beförderung auf diesen Posten hat mir wenig Zeit gelassen, alle Arbeitsunterlagen des früheren Direktors zu sichten. Könnten Sie mir vielleicht einige Aufklärungen geben?« »Natürlich.« Lamarre straffte seine Schultern ein wenig und blinzelte Walton über den Schreibtisch hinweg kurzsichtig an. »Mr. FitzMaugham hat von meiner Arbeit zum ersten Male vor vierzehn Jahren etwas gehört. Seither hat er meine Experimente mit Zuwendungen aus seiner eigenen Tasche unterstützt, später mit Geldmitteln von Behörden und zuletzt mit Spenden von ABEG. In der vergangenen Woche habe ich eine wichtige Versuchsreihe zu Ende geführt, und ich war gestern mit dem Direktor verabredet. Aber ...« »Ich weiß. Gestern war es mir unmöglich, Sie zu empfangen. Ich mußte mich überhaupt
erstmal über alle Arbeitsvorgänge orientieren. Können Sie mir jetzt noch sagen, was Ihre Experimente ergeben haben?« »Gern. Mr. FitzMaugham war von der Hoffnung beseelt, daß eines Tages die menschliche Lebensspanne viel größer sein könnte. Ich darf Ihnen nun anvertrauen, daß ich eine einfache Technik entwickelt habe, die genau das bewirkt.« Der Gerontologe lächelte selbstzufrieden. »Kurz gesagt, was ich entwickelt habe, Mr. Walton, ist das, was man im alltäglichen Sprachgebrauch Unsterblichkeit nennt.« 8. Inzwischen war Walton schon einigermaßen abgehärtet gegen Überraschungen. Aber diese Auskunft raubte ihm doch einen Moment lang die Sprache. Schließlich fragte er vorsichtig: »Wollen Sie damit sagen, daß Sie diese Möglichkeit bereits realisiert haben? Oder ist das noch im Versuchsstadium?« Lamarre tippte auf seine dicke Aktenmappe. »Die Lösung des ganzen Problems ist dort enthalten.« Er schien fast zu bersten vor Selbstzufriedenheit. Walton lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen zusammen und betrachtete seine Hände. »Ich bekleide dieses Amt seit dem 10. dieses Monats 13 Uhr, Mr. Lamarre«, sagte er mit sanfter Eindringlichkeit. Das heißt also, seit zwei Tagen abzüglich einer halben Stunde. Und in dieser kurzen Zeit habe ich schon einige heftige Schocks und auch ein paar kleinere Überraschungen erlebt.« »Was wollen Sie damit andeuten, Sir?« »Ich wollte daran die Frage knüpfen: Warum hat eigentlich Direktor FitzMaugham Ihr Projekt unterstützt?« Lamarre stierte ihn völlig verständnislos an. »Natürlich weil der Direktor ein großer Humanist war. Weil er das Gefühl hatte, die menschliche Lebensspanne sei zu kurz, viel zu kurz. Er wollte seinen Mitmenschen eine längere Lebenserwartung schenken. Was für einen Grund hätte er sonst haben sollen?« »Ich weiß, daß Mr. FitzMaugham ein großer Mann war«, sagte Walton. »Immerhin war ich drei Jahre lang sein Sekretär, (Allerdings hat er nie ein Wort von Ihnen erwähnt, Dr. Lamarre dachte Walton.) »Aber das Projekt der Unsterblichkeit in diesem Stadium der Menschheit zu entwickeln ...« Walton schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollten Sie mir doch noch mehr von Ihrer Arbeit erzählen, Dr. Lamarre.« »Das läßt sich nicht so ohne weiteres in wenige Worte fassen. Ich habe den körperlichen Verfall an der Zellbasis zu bekämpfen versucht, und meine Prüfungsergebnisse waren positiv. Stimulation durch Phagozyten, sogenannte Freßzellen, die schädliche Bakterien vernichten — in Verbindung mit anderen Wirkstoffen. Ich kann Ihnen da eine interessante Aufstellung zeigen, Mr. Walton.« Er begann in seiner dicken Aktentasche hastig nach etwas zu suchen. Schließlich brachte er ein zusammengelegtes Quartblatt zum Vorschein, faltete es auf und schob es über den Schreibtisch zu Walton hin. Ein kurzer Blick zeigte Walton, daß das Blatt mit chemischen Formeln bedeckt war. »Ersparen Sie mir die technischen Einzelheiten, Dr. Lamarre«, wehrte er ab. »Haben Sie denn Ihre Behandlungsmethode tatsächlich schon hinreichend getestet?« »Jawohl: und zwar mit der einzig möglichen Prüfungsmethode — der Zeitprobe. In meinem Laboratorium sind Insekten, die bereits fünf Jahre und länger gelebt haben — wahre Methusalems ihrer Art. Die Unsterblichkeit selbst ist natürlich etwas, was man logischerweise nur in einer unendlichen Zeitspanne testen könnte, aber unter dem Mikroskop kann man die
Zellerneuerung beobachten und feststellen, wie der Zellverfall bekämpft wird.« Walton holte tief Atem. »Ist Ihnen klargeworden, Dr. Lamarre, daß ich Sie eigentlich zum Wohle der Menschheit sofort erschießen lassen müßte?« »Was?« Walton konnte ein nervöses Lachen fast nicht unterdrücken. Dieser Mann wirkte so komisch mit seinem Gesichtsausdruck von völliger Verständnislosigkeit. »Begreifen Sie denn nicht, was die Unsterblichkeit für die Erdbevölkerung bedeuten würde?« fragte er. »Wo noch kein anderer Planet des Sonnensystems für Menschen bewohnbar ist, und die anderen Sonnensysteme uns noch unerreichbar sind? Innerhalb einer Generation würden wir uns gegenseitig auf der zu eng gewordenen Erde zu Tode quetschen. Wir würden ...« »Direktor FitzMaugham war sich dieser Tatsache durchaus bewußt«, unterbrach Lamarre ihn scharf. »Er hatte nicht die Absicht, meine Entdeckung einfach an die ganze Erdbevölkerung weiterzugeben. Außerdem war er davon überzeugt, daß der Überlicht-Antrieb für Raumfahrzeuge auch ferne Planetensysteme bald in erreichbare Nähe bringen würde und daß die Ingenieure der Lebensraumschaffung mit ihrer Arbeit auf der Venus Erfolg haben würden.« »Das sind beides noch ungelöste Probleme«, wandte Walton ein. »Keines der beiden Projekte hat bisher Erfolge gezeitigt. Ihre Entdeckung hat also erst praktischen Wert, wenn wir die Probleme des Bevölkerungsüberschusses befriedigend gelöst haben.« »Sie meinen also ...« »Ich meine, daß ich Ihre Dokumente beschlagnahmen muß«, ergänzte Walton. »Außerdem muß ich Sie zur völligen Geheimhaltung verpflichten, bis es möglich ist, Ihr Serum auch praktisch anzuwenden. « »Und wenn ich mich weigere?« Walton machte eine resignierte Geste. »Dr. Lamarre, ich versuche so vernünftig wie möglich ein sehr schwieriges Amt zu leiten. Sie sind ein Wissenschaftler und auch ein vernünftiger Mann, wie ich hoffe. Ich würde gern mit Ihnen zusammenarbeiten. Aber Sie müssen Geduld haben. Vielleicht hat sich die Situation hinsichtlich des Bevölkerungsproblems schon in wenigen Wochen völlig verändert.« Ein unbehagliches Schweigen folgte. Schließlich sagte Lamarre: »Also meinetwegen. Wenn ich meine Aufzeichnungen behalten darf, bewahre ich Stillschweigen über das ganze Projekt, bis Sie mir Sprecherlaubnis geben.« »Das genügt nicht. Ich muß Sie darum bitten, mir auch Ihre Dokumente zu überlassen.« Lamarre seufzte. »Wenn Sie darauf bestehen«, sagte er leise. Als er wieder allein war, verstaute Walton die dicke Aktenmappe in einem Karteischrank und musterte sie kritisch. FitzMaugham, du warst ein unglaubliches Genie, dachte er. Lamarres Unsterblichkeits-Serum — oder was es sonst sein mochte — war im augenblicklichen Zustand wie eine tödliche Waffe. Ob dieses Mittel tatsächlich so unfehlbar war, wie sein Erfinder behauptet, war dabei nicht einmal so wichtig. Falls bekannt wurde, daß eine solche Unsterblichkeits-Droge existierte, würde das zu Aufruhr und Mord führen. Nun, Lamarre hatte sich seinen Befehlen bereitwillig genug gefügt, dachte Walton. Das nächstliegende Problem für ihn war jetzt, sich mit Lang auf der Venus in Verbindung zu setzen und festzustellen, was dort geschah ... »Mr. Walton«, tönte in diesem Augenblick aus dem Lautsprecher, »eben kam eine KodeBotschaft für Direktor FitzMaugham.« »Von wo?« »Aus dem Weltraum, Sir. Der Absender sagt, er hat Nachrichten, aber er will sie nur
persönlich an Mr. FitzMaugham funken.« Walton fluchte leise in sich hinein. »Wo ist diese Nachricht empfangen worden?« »Im 23. Stockwerk, Sir: in der Nachrichtenabteilung.« »Ich komme sofort hinunter.« Eine Minute später war er im 23. Stockwerk. Die Nachrichtenabteilung war gewissermaßen das Nervenzentrum von ABEG. Von hier aus führten alle Verbindungslinien zu den verschiedenen Abteilungen und zum Außendienst hinaus. Walton öffnete eine Tür mit der Aufschrift Nachrichten-Zentrale und sah vor sich vier aufgeregte Ingenieure, die vor einem großen Empfangsapparat standen. »Wo ist diese Nachricht aus dem Weltraum?« fragte er einen der Ingenieure. »Sie wird immer noch gesendet, Sir«, meldete der blasse junge Mann. »Die Meldung wird ständig wiederholt. Wir versuchen jetzt, die Senderposition anzupeilen. Es muß irgendwo in der Nähe der Umlaufbahn des Pluto sein, Mr. Walton.« »Das interessiert mich jetzt weniger, wo ist die Meldung?« Jemand reichte ihm einen Papierstreifen. Der Text lautete: Rufe Erde. Äußerst dringend. Meldung nur an D. F. FitzMaugham. »Ist das alles?« fragte Walton. »Keine Unterschrift, kein Raumschiffname?« »Dann peilen Sie also den Sender an und schicken Sie eine Antwortbotschaft. Berichten Sie, daß FitzMaugham tot ist und ich sein Nachfolger bin. Nennen Sie meinen Namen.« »Jawohl, Sir.« Er streifte ungeduldig in der Nachrichtenzentrale hin und her, während die Ingenieure die Peilung weiterführten und den Richtstrahl einstellten. Die Funkverbindung in den Weltraum hinaus war ein Tätigkeitsgebiet, dessen verwirrende technische Einzelheiten Walton völlig fremd waren. So beobachtete er also in heimlicher Neugier die Ingenieure, die an den seltsamen Geräten hantierten. Nach einer Weile fragte er einen Ingenieur, der gerade einen Schaltvorgang beendet hatte: »Ist Ihnen etwas von einem Raumschiff in jenem Gebiet bekannt?« »Nein, Sir. Wir erwarteten keine Funknachrichten außer von Lang auf der ...« Der Ingenieur hielt jäh inne, als ihm bewußt wurde, daß er schon zuviel gesagt hatte. Walton lächelte beruhigend. »Das ist schon in Ordnung. Ich bin ja jetzt der Direktor und weiß über Lang und sein Projekt Bescheid.« »Natürlich, Sir«, sagte der Ingenieur erleichtert. »Hier ist eine Antwort, Sir«, verkündete in diesem Augenblick ein anderer Ingenieur. Walton nahm den Papierstreifen und las. Hallo, Walton. Erwarte weitere Identifizierung, bevor ich berichte. McL. »Senden Sie folgende Antwort«, befahl Walton. »McLeod, Nairobi, X-72. Gratuliere! Walton.« Der Ingenieur verschwand. Walton schlenderte wieder zwischen den Apparaten und Funkgeräten hin und her und hörte das Ticken und die leisen Zirplaute der Funkmeldungen. Nach ziemlich langer Zeit kam der Ingenieur und meldete: »Wir empfangen wieder eine Nachricht, Sir. Sie wird so schnell wie möglich dechiffriert.« »Ja, beeilen Sie sich«, sagte Walton. Seine Uhr zeigte 14 Uhr 29. Mit Verwunderung stellte er fest, daß er erst zwanzig Minuten hier unten war. Kurze Zeit später wurde ihm ein Zettel gereicht. Der Text lautete: Hallo, Walton, hier ist McLeod. Ich freue mich, berichten zu können, daß unser Experimentier-Raumschiff X-72 mit der ganzen Mannschaft gesund an Bord nach einer bemerkenswerten einjährigen Kreuzfahrt durch die Galaxis in gutem Zustand heimkehrt . Folgendes wird Sie am meisten interessieren: Wir haben eine wunderschöne und bewohnbare Welt im Prokyon-System gefunden. Es existieren dort keine intelligenten Lebewesen, aber
das Klima ist herrlich. Zu schade, daß der alte FitzMaugham diesen Erfolg nicht mehr miterleben kann. Bis auf baldiges Wiedersehen. Mc.Leod. Waltons Hände zitterten immer noch vor Erregung, als er auf den Elektronenschalter drückte und sein Büro betrat. Jetzt würde er noch einmal sämtliche Abteilungsleiter zusammentrommeln müssen, um mit ihnen darüber zu diskutieren, wie man diese aufregende Neuigkeit am besten der Öffentlichkeit präsentierte. Walton schloß die Tür seines Privatbüros hinter sich und runzelte im nächsten Augenblick verwirrt die Stirn. Habe ich den Karteischrank offengelassen, als ich ging? überlegte er. Normalerweise war er doch nicht so unvorsichtig. Er öffnete die Schranktür ganz und zog die Schubfächer heraus. Die Dokumente zur Venusbesiedlung und McLeods Raumflug schienen unversehrt zu sein. Aber Lamarres Tasche war aus dem dritten Schubfach verschwunden! Eisiger Schreck durchzuckte Walton. Wenn jetzt schon bekannt wurde, was Lamarre entdeckt hatte, dann brach die Hölle los! 9. Das Merkwürdige daran war, daß er überhaupt nichts tun konnte, dachte Walton. Natürlich hätte er Sellors rufen und ihm eine Strafpredigt halten können, weil sein Büro nicht wirkungsvoll genug bewacht wurde. Aber die fehlende Aktentasche ließe sich dadurch auch nicht wieder herbeizaubern. Großalarm zu geben, würde auch nicht sehr sinnvoll sein. Irgendwie würde dann bestimmt auch die Neuigkeit von Lamarres Wunderserum an die Öffentlichkeit dringen, und das konnte katastrophale Folgen haben. Walton setzte sich entschlossen hinter seinen Schreibtisch und drückte die Sprechtaste. »Verbinden Sie mich mit Sellors vom Sicherheitsdienst«, befahl er. Sellors Gesicht erschien auf dem Bildschirm, und Walton versuchte so gelassen wie möglich zu erscheinen, obwohl er ja wußte, daß das Exekutiv-Filter seinem Gesicht auf dem Bildschirm immer die entsprechende Retusche für eine gute Wirkung in der Öffentlichkeit gab. »Sellors, veranlassen Sie sofort eine Geheimfahndung nach einem gewissen Dr. Lamarre. Sie finden sein Bild auf den Eingangs-Filmbändern des heutigen Tages. Er war vorhin bei mir. Sein Vorname ist ... äh Elliot. T. Elliot Lamarre. Gerontologe. Ich weiß aber nicht, wo er wohnt.« »Was soll ich tun, wenn ich ihn ausfindig gemacht habe, Sir?« »Bringen Sie ihn sofort her. Und falls Sie ihn daheim erwischen, versiegeln Sie seine Wohnung. Er könnte im Besitz von sehr wichtigen Geheimdokumenten sein.« »Jawohl, Sir.« »Und benachrichtigen Sie den Schlosser, der meine Bürotür repariert hat. Die SchloßElektronik muß sofort ausgewechselt werden.« »Gewiß, Sir.« Der Bildschirm erlosch. Walton wandte sich den Papieren auf seinem Schreibtisch zu und stürzte sich in sinnlose Büroarbeit, um seinen eigenen unruhigen Gedanken zu entrinnen. Kurze Zeit später ertönte wieder der Meldegong, und gleich darauf zeigte der Bildschirm das Gesicht seines Bruders Fred. Walton musterte das Bild mit kühler Gelassenheit. »Nun?« Fred lächelte mit verhaltenem Spott. »Warum so blaß und unruhig, mein lieber Bruder? Hast
du eine Enttäuschung in der Liebe erlebt?« »Was willst du?« »Eine Audienz bei seiner Hoheit, dem amtierenden Direktor, wenn Euer Gnaden so liebenswürdig sein wollen.« Fred grinste herausfordernd. »Ganz kurz gesagt: eine Privataudienz.« »In Ordnung. Komm herauf.« Fred schüttelte den Kopf. »Das möchte ich lieber nicht. Bei dir im Büro wird alles abgehört und registriert. Treffen wir uns lieber woanders, ja?« »Wo?« »In dem Klub, dem du angehörst. Im Bronze Room.« Walton überlegte kurz. »Meinetwegen«, sagte er. »Aber ich erwarte einen Schlosser. Laß mich den erst abbestellen und dann treffe ich dich unten.« »Du kannst ruhig schon gehen«, erklärte Fred. »Ich komme fünf Minuten später. Und du brauchst auch keinen Schlosser abzubestellen: Ich war das.« Neville Prospect war der eleganteste Boulevard von ganz New York City. Das breite Straßenband führte an der West Side zwischen 11. Avenue und West Side Drive von der 4o. bis zur 5o. Straße. Große Apartementhäuser mit Luxuswohnungen von vier bis fünf Zimmern säumten den Boulevard, und am Ende des Neville Prospect lag das riesige San Isidro wie eine riesige Festung aus schimmerndem Metall und Stein, dessen gewaltige Stahlstützbogen sich hundertfünfzig Meter weit in beide Richtungen wölbten. Im 150. Stockwerk des San Isidro lag der exklusive Bronze Room, durch dessen Quarzfenster man einen herrlichen über das geschäftige Manhattan hinweg bis zum anderen Ufer nach New Jersey hatte. Das Jet-Taxi setzte Walton auf der Landeplattform vor dem Bronze Room ab. Er gab dem Piloten ein fürstliches Trinkgeld und trat ein. An einer hohen Bronzetür drückte er seinen Schlüssel an die Signalplatte, und die Tür schwang geräuschlos nach innen auf. Der Farbton des heutigen Tages war auf Grau abgestimmt: Graues Licht strömte aus schimmernden Wänden, graue Teppiche bedeckten den Boden, und grau war auch der Farbton der Tische und Gedecke. Ein grau gekleideter Kellner von knapp ein Meter zwanzig eilte auf Walton zu. »Was für eine Freude, Sie wieder einmal zu sehen, Sir«, begrüßte er Walton. »Sie sind neuerdings selten hier.« »Stimmt«, bestätigte Walton kurz. »Ich hatte sehr viel zu tun.« »Eine schreckliche Tragödie, dieser gewaltsame Tod von Mr. FitzMaugham. Er war eines unserer angesehensten Mitglieder. Wollen Sie heute wieder Ihr übliches Zimmer haben, Sir?« Walton schüttelte den Kopf. »Ich erwarte einen Gast — meinen Bruder Fred. Wir brauchen ein Zimmer für zwei. Er wird sich bei seiner Ankunft identifizieren.« »Sehr wohl. Würden Sie mir bitte folgen?« Der Zwerg führte ihn durch die silbergraue Dämmerung und durch eine weitere Bronzetür einen Gang entlang, dessen Wände antike Kunstwerke schmückten. Vor einer schmalen Tür mit einer leuchtend roten Signalplatte in der Mitte machten sie halt. »Das ist Ihr Zimmer, Sir.« Walton drückte seinen Schlüssel an die Signalplatte und die Tür faltete sich auf wie ein Fächer. Er trat ein, gab dem Zwerg ein Trinkgeld und schloß die Tür. Der Raum war geschmackvoll eingerichtet, aber auch hier war alles auf graue Farbtöne abgestimmt. Im Bronze Room variierten die Farbtöne jeden Tag — je nach der Stimmung der Stadt. Walton hatte sich schon oft gefragt, wie die Inneneinrichtung des Klubs wohl aussehen
mochte, wenn der elektronische Farbzauber einmal nicht funktionierte. Dieser Klub hatte überhaupt viele Geheimnisse. FitzMaugham hatte ihn hier eingeführt, und Walton war ihm sehr dankbar dafür gewesen. Der Raum war gerade groß genug für ein gemütliches Beisammensein zu zweit. Durch ein einzelnes helles Fenster sah man weit über den Hudson hinweg. Außer Sitzgelegenheiten gab es einen kleinen Onyx-Tisch, einen winzigen, in die Wand eingelassenen Bildschirm und eine Bar. Er wählte auf den Schalttasten einen gefilterten Rum, seinen Lieblingsdrink. Die dunkle, trüb schimmernde Flüssigkeit sprudelte fast sofort aus dem Hahn. Das grünliche Flimmern des Bildschirms unterbrach plötzlich das eintönige Grau. Die Glatze und das mißtrauische Gesicht von Kroll wurden sichtbar, dem Portier des Bronze Room. »Sir, draußen ist ein Mann. Er behauptet, Ihr Bruder zu sein und hier eine Verabredung mit Ihnen zu haben.« »Das ist in Ordnung, Krall; lassen Sie ihn herein. Fulks wird ihn in mein Zimmer bringen.« »Einen Augenblick bitte, Sir. Sie müssen ihn zuerst identifizieren.« Krolls Gesicht verschwand und wurde durch Fred ersetzt. »Ist das der Mann?« fragte Krolls Stimme. »Ja«, bestätigte Walton. »Lassen Sie meinen Bruder herein.« Fred schien ein wenig benommen zu sein von all der Pracht. Er setzte sich zaghaft an den Rand der Couch, versuchte aber dabei blasiert und unbeeindruckt zu wirken, was ihm ganz offensichtlich mißlang. »Ganz nette Sache, dieser Klub«, sagte er schließlich leichthin. Walton lächelte. »Für meine Begriffe etwas zuviel Luxus. Ich bin nicht oft hier. Die Rückkehr in unsere Normalwelt bereitet mir dann jedesmal Unbehagen.« »FitzMaugham hat dich hier eingeführt, nicht wahr?« Walton nickte. »Das habe ich mir gedacht«, sagte Fred. »Nun, vielleicht bin ich hier eines Tages auch Mitglied. Dann könnten wir uns öfter sehen.« »Wähl dir zuerst einen Drink«, schlug Walton vor. »Dann kannst du mir erzählen, was du auf dem Herzen hast. Oder wolltest du etwa nur diesen Klub hier kennenlernen?« Fred schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte mehr als das. Aber erst hole ich mir etwas zu trinken.« Fred wählte sich einen stark nach Absinth riechenden Weesur und trank einen herzhaften Schluck, bevor er sich Walton zuwandte. »Im Laufe meiner Wanderschaft lernte ich etwas von der Kunst eines Türschlossers«, begann er zu erklären. »Das ist an sich nicht sehr schwierig, wenn man nur etwas technisches Geschick besitzt.« »Du hast also das Schloß meiner Bürotür repariert?« Fred grinste schief. »Das war ich. Natürlich trug ich eine Maske und hatte mir eine Uniform geliehen. Masken sind sehr nützliche Hilfsmittel. Die Herstellungsmethoden auf diesem Gebiet sind neuerdings sehr gut. Das hat man ja auch bei dem Mann festgestellt, der sich als Ludwig ausgab.« »Was weißt du davon?« »Nichts! Und das ist die reine Wahrheit, Roy. Ich habe mit FitzMaughams Ermordung nichts zu tun, und ich weiß auch nicht, wer der Täter ist.« Er leerte sein Glas und wählte sich einen neuen Drink. »Ob du es glaubst oder nicht: Der Tod des Alten ist für mich ein ebenso großes Geheimnis wie für dich. Aber ich muß dir dankbar dafür sein, daß du das Türschloß mit deiner Strahlpistole so vollkommen vernichtet hast. Das gab mir die Möglichkeit für eine kleine Manipulation, die ich für sehr wichtig hielt.« Walton ahnte, worauf sein Bruder hinzielte, aber er ließ sich nichts anmerken. Mit lässiger
Ruhe stand er auf, wählte sich einen weiteren gefilterten Rum und fragte dabei über die Schulter: »Möchtest du mir nicht verraten, was du wirklich von mir willst?« »Du weißt, daß es Leute gibt, die das ganze Prinzip des Bevölkerungsausgleichs für falsch halten«, erklärte Fred langsam. »Das ist mir klar«, bestätigte Walton. »Einige sind sogar Mitglieder dieses Klubs.« »Richtig. Es gibt eine gewisse Oberschicht, die noch über Landbesitz und reichlichen Wohnraum verfügt. Solche Leute halten natürlich nichts vom Bevölkerungsausgleich. Sie wissen, daß sie früher oder später auch den Einfluß von ABEG zu spüren bekommen werden. Indem etwa hundert Chinesen auf einem Privatgrundstück angesiedelt werden, oder ein Privatschloß für den Betrieb einer Atomturbine beschlagnahmt wird. Du wirst also zugeben müssen, daß die Abneigung einer gewissen Schicht gegen den Ausgleich verständlich ist.« »Auch die Abneigung der einfachen Leute gegen den Bevölkerungsausgleich ist verständlich«, wandte Walton ein. »Mir ist die Härte dieses Prinzips selbst zuwider. Das hast du ja vor zwei Tagen schon festgestellt. Kein Mensch gibt gern bestimmte Privilegien auf, die er für sein Lebensrecht hält.« »Dann begreifst du also meinen Standpunkt. Etwa hundert von diesen Menschen stehen in enger Verbindung miteinander ...« »Du willst damit doch nicht etwa sagen ...« »Oh, doch«, unterbrach Fred ihn ruhig. »Es ist eine Liga. Man könnte es auch eine Art Verschwörung nennen. Eine sehr dubiose Angelegenheit.« »Das kann man wohl sagen.« »Ich arbeite mit diesen Leuten zusammen.« Walton hatte so etwas Ähnliches erwartet, aber es dauerte doch eine Weile, ehe er seine Stimme wieder in der Gewalt hatte. »Du willst also damit sagen, daß du zwar im Dienst von ABEG stehst, aber gleichzeitig mit einer Verschwörergruppe gegen das Amt konspirierst?« Fred nickte mit einem dünnen Lächeln. »Das ist genau die Situation. Eine schizophrene Geisteshaltung von mir, könntest du einwenden, aber ich werde ziemlich gut damit fertig.« Mit tonloser Stimme fragte Walton: »Wie lange geht das schon so?« »Seit ich bei ABEG bin. Du mußt nämlich wissen, daß diese Gruppe älter als ABEG ist. Sie haben von Anfang an gegen den Bevölkerungsausgleich gekämpft.« »Was erwartest du nun von mir?« fragte Walton ruhig. »Soll ich etwa beide Augen vor diesen Tatsachen verschließen, nur weil du mein Bruder bist? Natürlich mußt du als erstes deinen Posten in ABEG aufgeben.« Spott funkelte in Freds Augen, als er langsam den Kopf schüttelte. »Ich glaube nicht, daß du so etwas tun wirst«, prophezeite er. »Du kannst es dir einfach nicht erlauben, Roy.« »Und warum nicht?« »Du weißt ganz genau, was ich gegen dich in der Hand habe.« »Das braucht mich doch nicht davon abzuhalten, die entsprechenden Maßnahmen einzuleiten. Mein Nachfolger wird dann dafür sorgen, daß deine Verschwörergruppe ausgelöscht wird.« »Mach dir in dieser Hinsicht keine zu großen Hoffnungen«, meinte Fred mit sanftem Hohn. »Dagegen spricht eine Tatsache: ich werde nämlich dein Nachfolger.« 10. Walton mußte ein Gefühl der Panik bekämpfen und sich gewaltsam zur Ruhe zwingen. »Was faselst du da?« fragte er. Fred spielte mit dem Glas in der Hand. »Wir haben über die Zusammenhänge bereits gesprochen«, begann er selbstgefällig zu erklären. »Ich habe heute vormittag deinem Büro
einen Besuch abgestattet. Das war sehr einfach: Als ich das neue Elektronenschloß einbaute, brachte ich auch eine Sperrschaltung an, die es mir gestattet, ungehindert dein Büro zu betreten. Ich hatte gehofft, ein noch stärkeres Druckmittel gegen dich zu finden, als ich schon in der Hand habe. Meine Erwartungen wurden bei flüchtiger Durchsicht des Inhalts der Aktenmappe weit übertroffen. Junge, das ist wirklich Exklusivstoff!« »Wo sind diese Dokumente?« Fred lächelte überlegen. »Der Inhalt der Aktenmappe liegt in sicherem Gewahrsam, Roy. Du brauchst jetzt nicht den wilden Mann zu spielen und leere Drohungen auszustoßen, weil das auf mich überhaupt nicht wirkt. Ich habe nämlich meine Vorsichtsmaßnahmen getroffen.« »Und...« »Und du weißt ebenso gut wie ich, was geschehen würde, wenn dieses Unsterblichkeitsserum an die ganze Bevölkerung verteilt wird«, fuhr Fred ungerührt fort. »Die Menschen würden natürlich außer Rand und Band geraten. Übrigens würde das eure Übervölkerungsprobleme für eine Weile lösen, weil in dem allgemeinen Aufruhr Millionen von Menschen getötet werden würden. Aber später dann, wenn alle Menschen unsterblich wären und unsterbliche Kinder in die Welt setzen würden, was dann?« »Wir wissen noch gar nichts über die Langzeitwirkungen ...« »Keine Beschönigungsversuche. Du weißt verdammt gut, daß dieses Serum die gewaltigste Umwälzung in der Bevölkerungspolitik verursachen würde.« Fred legte eine eindrucksvolle Pause ein und fuhr dann fort: »Meine Auftraggeber sind im Besitz von Dr. Lamarres Formeln.« »Und sie sind mit allem Eifer damit beschäftigt, sich selbst unsterblich zu machen, nicht wahr?« »Nein. Sie haben noch kein Vertrauen zu dem Serum und wollen es erst benutzen, nachdem es an zwei oder drei Milliarden Versuchskaninchen ausprobiert ist: Damit meine ich natürlich menschliche Versuchskaninchen.« »Ihr habt doch nicht etwa vor, dieses Serum an die Bevölkerung zu verteilen?« fragte Walton entsetzt. »Nicht unbedingt«, antwortete Fred. »Falls du zu gewissen Zugeständnissen bereit bist, würdest du Lamarres Aktentasche mit Inhalt zurückbekommen, ohne daß etwas von der Existenz dieses Serums an die Öffentlichkeit dringt.« »Zugeständnisse?« fragte Walton unruhig. »Was sollen das für Zugeständnisse sein?« »Du müßtest eine Garantie dafür geben, daß privater Grundbesitz nicht für Zwecke des Bevölkerungsausgleichs beschlagnahmt werden kann. Im übrigen müßtest du von deinem Posten als amtierender Direktor zurücktreten. Und außerdem müßtest du mich der Generalversammlung der UNO als deinen Nachfolger empfehlen.« „Ich?« »Wer könnte denn besser die Interessen wahrnehmen, die ich vertrete?« Walton lehnte sich zurück und stieß ein gekünstelt wirkendes Lachen aus. »Fein ersonnen, Fred. Aber dieser Plan ist voller Fragwürdigkeiten. Wer garantiert mir denn beispielsweise, daß deine wohlhabenden Freunde nicht etwa eine Abschrift der Formel behalten, um das später wieder als Druckmittel zu benutzen?« »Dafür gibt es keine Garantie«, gab Fred zu. »Natürlich, das habe ich mir gedacht.« Walton lachte wieder auf. »Aber stell dir einmal vor, ich gebe nach, und deine Auftraggeber machen das Serum der Öffentlichkeit zugänglich. Wem würde das schaden? Mir nicht. Ich habe keinen Grundbesitz und kein nennenswertes Vermögen und wohne in einem Einzimmer-Appartement. Aber denk einmal an die Situation deiner wohlhabenden Freunde. Falls die das Serum freigeben, werden ihre kostbaren
Landsitze und Villen innerhalb kurzer Zeit von Heuschreckenschwärmen von Menschen überfallen und besetzt werden. Keine Zäune könnten dann mehr Millionen von hungrigen Leuten zurückhalten.« »Dieses Risiko ist meinen Auftraggebern bekannt«, behauptete Fred. Walton musterte ihn scharf. »Du gibst also damit indirekt zu, daß deine Auftraggeber bluffen. Sie wissen ganz genau, daß sie das Serum nicht freigeben können, aber sie glauben trotzdem, dich auf diese Weise als Strohmann in das höchste Amt von ABEG lavieren zu können. Na gut, ich lasse diesen Bluff platzen.« »Willst du damit sagen, daß du dich weigerst?« »Ja«, sagte Walton fest. »Ich habe nicht die Absicht, meinen Posten aufzugeben, und wenn die Vollversammlung zusammentritt, werde ich mich um den Posten in Dauerstellung bewerben. Man wird ihn mir geben.« »Und meine Beweisstücke gegen dich? Das Prior-Baby?« »Gerüchte. Propaganda. Ich werde das als Lügen meiner Gegner entkräften.« »Willst du auch das Serum als Lüge hinstellen, Roy? Das wird nicht so einfach sein.« »Es wird mir schon gelingen«, sagte Walton. Er ging durch das Zimmer und betätigte einen Schalter. Der Bildschirm erhellte sich, und das verwitterte Gesicht des winzigen Dieners wurde sichtbar. »Sir?« »Fulks, würden Sie bitte diesen Herrn aus dem Klub führen?« »Sofort, Mr. Walton.« »Bevor du mich hinauswirfst, laß mich dir noch eines erklären«, sagte Fred schnell. »Dazu hast du gerade noch Zeit.« »Du handelst einfältig und dumm — obwohl das keine Neuigkeit für mich ist, Roy. Ich gebe dir noch eine Gnadenfrist von einer Woche. Dann beginnt die industrielle Massenproduktion des Serums.« »Ich habe meine Entscheidung getroffen«, sagte Walton ruhig. Die Tür glitt auf, und Fulks stand draußen. Er verneigte sich vor Fred und sagte: »Würden Sie mir bitte folgen?« Zwei Minuten später beorderte Walton noch einmal Fulks herbei. Der Zwerg sah ihn erwartungsvoll an. »Besorgen Sie mir ein Jet-Taxi«, befahl Walton. »Ich warte auf der Jet-Plattform.« »Sehr wohl, Sir.« Fulks hatte nie irgendwelche Probleme, dachte Walton verdrossen. Der kleine Mann hatte seinen geschützten Winkel im Leben gefunden. Er verbrachte seine Tage in der luxuriösen Umgebung des Bronze Room und sorgte für das Wohl der Klubmitglieder. Nie brauchte er eine von jenen Entscheidungen zu treffen, die das Leben so kompliziert machen. Während Walton das noch dachte, kam ihm zu Bewußtsein, daß ihm eine bestimmte Entscheidung inzwischen auch schon abgenommen worden war. Er würde sich um den Posten des Direktors in Dauerstellung bewerben. Eigentlich war das nicht seine Absicht gewesen. Jetzt blieb ihm jedoch keine andere Wahl, als diese Position solange wie möglich zu halten. Er trat auf die Landeplattform hinaus und stieg in das wartende Jet-Taxi. »Cullen Building«, sagte er zu dem Piloten. Die Signallampen auf der Meldetafel in Waltons Büro brannten alle. Das bedeutete, daß ihn mehrere Leute dienstlich sprechen wollten. Er schaltete den Stromkreis ein und nahm das erste Gespräch entgegen. Es war Lee Percy. Sein rundes Gesicht auf dem Bildschirm zeigte ein strahlendes Lächeln. »Ich habe gerade die Rede gehört, die Sie heute morgen vor dem Gebäude gehalten haben, Roy. Das bringen wir ganz groß in den Fernsehnachrichten heraus. Prächtig! Einfach
prächtig! Könnte nicht besser sein, wenn wir es uns selbst ausgedacht hätten.« »Freut mich, daß es Ihnen gefällt«, sagte Walton. »Aber es war tatsächlich ganz improvisiert.« »Um so besser. Sie sind ein echtes Genie. Ich wollte Ihnen übrigens noch mitteilen, daß wir die Gedächtnissendung für FitzMaugham fertig haben. Wir werden das heute abend über alle Medien um Punkt 20 Uhr senden ... eine volle Stunde.« »Ist meine Rede in dem Programm?« »Natürlich, Roy. Und eine feine Rede ist das. Damit erscheinen Sie zweimal an einem einzigen Tag auf allen Bildschirmen.« »Senden Sie mir noch rechtzeitig eine Kopie meiner Rede«, befahl Walton. »Ich will jedenfalls das, was angeblich aus meinem Munde kommt, zuvor lesen und billigen.« »Es klingt ganz natürlich, Roy. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.« »Ich will es zuvor lesen!« wiederholte Walton scharf. »Schon gut. Ich schicke Ihnen sofort eine Kopie. Beruhigen Sie sich. Nehmen Sie eine Pille. Sie sind nicht gelöst genug, Roy.« »Das kann ich mir auch nicht leisten«, antwortete Walton. Er unterbrach die Verbindung, und fast sofort meldete sich der nächste Sprecher auf dem Bildschirm. Es war einer der Ingenieure aus der Nachrichtenzentrale im 23. Stockwerk. »Nun, was gibt es?« »Wir haben wieder etwas von McLeod gehört, Sir. Die Nachricht kam vor einer halben Stunde, und wir haben Sie seither ständig zu erreichen versucht.« »Ich war nicht da. Sagen Sie mir die Nachricht durch.« Der Ingenieur faltete einen Papierstreifen auseinander. »Sie lautet: »Ankomme Nairobi heute abend, bin am Morgen in New York. McLeod.« »Danke. Senden Sie ihm eine Bestätigung und teilen Sie ihm mit, daß ich den ganzen Morgen für eine Besprechung mit ihm freihalten werde.« »Jawohl, Sir.« »Äh, übrigens — etwas Neues von der Venus?« Der Ingenieur schüttelte den Kopf. »Kein einziger Signallaut. Wir können mit Dr. Lang einfach keine Verbindung bekommen.« Walton runzelte die Stirn. Er fragte sich, wie es der Mannschaft dort oben wohl gehen mochte. »Versuchen Sie, die Verbindung mit ihm herzustellen. Organisieren Sie dafür einen Vierundzwanzig-Stunden-Dienst. Natürlich mit Überstundenlohn.« »Jawohl, Sir. Sonst noch etwas?« »Nein. Ende des Gesprächs.« Walton schaltete ab, und sofort erschien das Gesicht von Sellors auf dem Bildschirm. »Wir haben nach diesem Lamarre gefahndet, Sir«, meldete er, »können ihn aber nicht finden.« »Wie kommt das?« »Zuerst haben wir die Fährte bis zu seiner Wohnung verfolgt«, berichtete Sellors weiter. »Dort ist er auch angekommen, dann jedoch verschwunden. In der ganzen Stadt ist er nicht auffindbar. Was jetzt, Sir?« Walton fuhr sich mit einer nervösen Handbewegung über die Stirn. »Geben Sie in ganz Appalachia eine Fahndungsmeldung aus. Nein, Kommando zurück — fahnden Sie im ganzen Land. Strahlen Sie seine Personalbeschreibung überallhin aus. Haben Sie irgendwelche Schnappschüsse von ihm?« »Jawohl, Sir.« »Gut, dann benutzen Sie diese Fotos dazu. Machen Sie den Leuten im ganzen Land klar, daß dieser Mann lebenswichtig für die Weltsicherheit ist. Finden Sie ihn, Sellors.«
»Wir werden es versuchen.« »Es darf nicht beim Versuch bleiben«, wandte Walton scharf ein. »Sie müssen ihn finden! Falls er innerhalb von acht Stunden nicht ausfindig gemacht wird, veranlassen Sie eine weltweite Fahndung. Dieser Mann muß unbedingt gefunden werden!« Walton trennte die Verbindung und schaltete den nächsten Anrufer ab. Statt dessen stellte er den Kontakt mit seiner Sekretärin her. »Teilen Sie allen Anrufern bei mir mit, sie sollen sich an den Stellvertretenden Verwaltungsdirektor Eglin wenden«, befahl er. »Wer das nicht will, soll sich schriftlich mit mir in Verbindung setzen. Ich kann heute keine Gespräche mehr empfangen.« Dann fügte er hinzu: »Verbinden Sie mich zuerst selbst mit Eglin, bevor Sie irgendwelche Anrufer mit ihm sprechen lassen.« Eglins Gesicht erschien auf dem privaten Bildschirm, der die beiden Büros miteinander verband. Der schmächtige Mann sah sehr besorgt aus. »Das ist zwar ein ehrenhafter, aber auch ein höllisch schwieriger Posten, den Sie mir da übergeben haben, Roy«, gestand er seufzend. »Meiner auch«, antwortete Walton trocken. »Passen Sie auf, auf meiner Leitung drängen sich die Anrufer, und ich lasse all diese Gespräche auf Sie umleiten. Geben Sie selbst davon so viel wie möglich an Ihre Untergebenen weiter. Das ist die einzige Möglichkeit, wie Sie Ihren klaren Kopf behalten können.« »Vielen Dank für den guten Rat, Roy«, sagte Eglin mit einem unüberhörbaren Beiklang von Ironie. »Im Augenblick brauche ich nichts weiter als noch ein paar Anrufe.« »Das läßt sich leider nicht ändern. Wen haben Sie übrigens für Ihren früheren Posten als Chef der Außenagenten bestimmt?« fragte Walton. »Lassen. Ich habe Ihnen seine Personalkarte schon vor Stunden geschickt.« »Zum Lesen bin ich überhaupt noch nicht gekommen. Hat er den Posten bereits übernommen?« »Natürlich. Er ist schon dort, seit ich in dieses Büro umgezogen bin«, antwortete Eglin. »Was wollen Sie ...« »Schon gut«, antwortete Walton. Er schaltete ab und ließ sich mit dem neuen Chef der Außenagenten verbinden. Lassen war ein noch sehr jugendlich aussehender Mann mit strähnigem, sandfarbigem Haar, der ernst und tüchtig wirkte. »Lassen, ich möchte, daß Sie eine Aufgabe für mich übernehmen«, erklärte Walton ohne Umschweife. »Lassen Sie von einem Ihrer Männer eine Liste der hundert größten Privatgrundstücke aufstellen, die noch nicht dem Ausgleichsgesetz unterworfen sind. Ich brauche die Namen der Besitzer, Größe und Lage der Grund stücke und entsprechend weitere Angaben. Ist doch klar?" »Jawohl, Sir. Wann brauchen Sie das, Mr. Walton?“ »Sobald wie möglich. Aber das darf keine Pfuscharbeit sein. Es ist von höchster Wichtigkeit.« Lassen nickte ernst. Walton grinste ihm noch einmal aufmunternd zu und schaltete ab. Als nächstes öffnete er den Einlauf-Kasten und zog eine Handvoll Papiere heraus. Die Personalkarte von Lassen und auch seine ganze Akte waren dabei. Walton zeichnete ungelesen ab und schob die Personalakte in den Registraturschlitz. Er mußte sich dabei auf Eglins Menschenkenntnis und Urteilskraft verlassen. Lassen schien jedenfalls ein strebsamer und tüchtiger junger Mann zu sein. Bei den Papieren fand Walton auch das Manuskript für das FitzMaughamGedächtnisprogramm, das an diesem Abend gezeigt werden sollte. Walton überflog das
Manuskript. Es war die übliche Art von Schönfärberei. Nach der ausführlichen Beschreibung von FitzMaughams Leben und seinen großen Tagen folgte dann der Programmteil, in dem der Amtierende Direktor Walton auf dem Bildschirm seine Rede halten sollte. Walton las diese Rede sehr sorgfältig, konnte aber nichts darin finden, was nicht seine Billigung gefunden hätte. 11. In der Stille seines Appartements schaute sich Walton dann am Abend das Gedächtnisprogramm an, während er bequem auf seinem Sofa lag, neben sich ein Glas mit seinem Lieblingsdrink und in der Hand den Text von Percys Manuskript. Der riesige Bildschirm füllte fast eine Wandhälfte aus, und die Szene leuchtete in lebensechten Farben. Fitz Maughams Laufbahn wurde eindrucksvoll und mit pompösen Bildeinblendungen geschildert. Wichtige Regierungsmitglieder traten zwischendurch auf und hielten die üblichen Lobreden. Auch M. Seymour Lanson, der Präsident der Vereinigten Staaten, hielt eine seiner bombastischen Ansprachen. In dieser Hinsicht war der Präsident ein großer Künstler. Walton beobachtete das alles fasziniert. Lee Percy war ein äußerst begabter Propagandamann, das ließ sich nicht leugnen. Schließlich sagte der Sprecher: »Die Arbeit von ABEG geht weiter, auch wenn der Schöpfer dieses gigantischen Werks von Mörderhand vernichtet wurde. Direktor FitzMaugham hat als seinen Nachfolger einen jungen Mann bestimmt, der mit den Idealen von ABEG im Herzen in sein Amt hineingewachsen ist. Wir alle wissen, daß Roy Walton die edle Aufgabe weiterführen wird, die D. F. FitzMaugham begonnen hat.« Dann sah Walton sein eigenes Gesicht auf dem Bildschirm erscheinen. Percys Elektronentechniker hatten eine großartige Arbeit geleistet. Seine Erscheinung wirkte so echt, daß Walton fast selbst glaubte, er habe die Rede tatsächlich gehalten. Zuerst fing es ganz harmlos an. In bescheidenem Tonfall drückte er seine Verehrung für den verstorbenen Direktor aus und knüpfte daran seine Hoffnung, würdig in dessen Fußstapfen treten zu können. Doch dann erschrak Walton und warf einen schnellen Blick auf das Manuskript. »Heute morgen haben wir Nachricht aus dem äußeren Weltraum empfangen!« fuhr der Pseudo-Walton auf dem Bildschirm fort. »Von einem Raumschiff mit ÜberlichtAntrieb, das vor einem Jahr auf Erkundungsflug zu benachbarten Planetensystemen gestartet wurde.« Nein! Aus! Nicht weitersenden! Aber es blieben lautlose Schreie der Empörung, denn Walton auf seinem Sofa in seinem Appartement wußte, daß er die Rede nicht mehr rückgängig machen konnte. »Aus Sicherheitsgründen ist bisher kein Bericht über diesen Raumflug veröffentlicht worden«, fuhr der Pseude-Walton fort. »Aber zu meiner großen Freude kann ich Ihnen heute abend offenbaren, daß Sterne außerhalb unseres Planetensystems jetzt für den Menschen erreichbar sind ... Eine neue Welt erwartet uns dort draußen. Ein großer, fruchtbarer Planet, der nur darauf wartet, von unseren tapferen Pionieren kolonisiert zu werden!« Walton starrte entgeistert auf den Bildschirm. Seine Imitation sprach jetzt so weiter, wie es im Manuskript stand, aber er achtete kaum noch darauf. Percy hatte also in eigener Machtvollkommenheit die Nachrichtensperre durchbrochen. Was würde das für Folgen haben?
Um sechs Uhr früh wurde Walton vom Summen seines Telefons geweckt. Schlaftrunken rappelte er sich aus dem Bett hoch, schaltete den Empfänger ein und gleichzeitig den Bildsender an seinem Ende aus, um sich nicht irgendeinem Anrufer im Zustand der Verschlafenheit zeigen zu müssen. »Hier spricht Walton. Wer ist da?« Der Bildschirm zeigte das Gesicht eines Mannes Ende Vierzig: dunkelgebräunt, untersetzt und mit Bürstenhaarschnitt. »Tut mir leid, daß ich Sie aus dem Bett scheuche, Sir. Ich bin McLeod.« Walton war sofort hellwach. »McLeod? Wo sind Sie?« »Draußen auf Long Island. Ich bin eben erst gelandet. Bin die halbe Nacht unterwegs, nachdem ich meine Kiste in Nairobi abgesetzt habe.« »Es war also eine gute Landung?« »Ausgezeichnet. Dieses Raumschiff läßt sich navigieren wie ein Kinderspielzeug.« McLeods Gesicht wurde ernst. »Beim Frühstück habe ich die Sendung vom Telefax-Weltdienst gesehen. Dabei wurde natürlich die Rede erwähnt, die Sie gestern abend hielten.« »Also, das war ...« »Eine ziemlich aufsehenerregende Rede«, fuhr McLeod ruhig fort. »Aber halten Sie es nicht für etwas voreilig, jetzt schon in der Öffentlichkeit über meinen Flug zu sprechen? Ich meine...« »Sie haben ganz recht, es war voreilig«, bestätigte Walton sofort. »Ein Mitglied meines Stabes hat diese Enthüllung ohne mein Wissen in meine Rede aufgenommen. Er wird disziplinarisch bestraft werden.« McLeod runzelte verwirrt die Stirn. »Aber Sie haben doch die Rede selbst gehalten! Wie können Sie deswegen ein Mitglied Ihres Stabes beschuldigen?« »Die Wissenschaft, die ein Raumschiff innerhalb eines Jahres nach Prokyon und zurück lenken kann«, erklärte Walton, »kann ebensogut auch eine Rede fälschen. Das sind technische Einzelheiten der modernen Elektronik, auf die ich jetzt nicht näher eingehen will. Aber ich nehme an, wir können weitere Sendungen dieser Art unterbinden.« »Das wäre auch besser«, erklärte McLeod seufzend. »Der Planet ist da, und wir haben ihn erreicht. Das ist in Ordnung. Aber dieser Planet gehört fremden Lebewesen, die in jenem anderen Sternensystem wohnen. Und die sind nicht glücklich darüber, daß die Erdbewohner ihren Planeten kolonisieren wollen.« Walton bewahrte seine Selbstbeherrschung, obwohl diese Neuigkeit ein harter Schlag für ihn war. »Konnten Sie Kontakt mit diesen Lebewesen aufnehmen?« fragte er leise. McLeod nickte. »Diese Lebewesen verfügen über ein sehr fortschrittliches Kommunikationsund Übersetzungs-Gerät. Wir haben also ihre Bekanntschaft gemacht.« »Ich glaube, da wird es Schwierigkeiten geben«, sagte Walton düster. »Vielleicht kostet mich das sogar meinen Posten.« »Was sagen Sie da?« Walton winkte verdrossen ab. »Ach, ich habe nur laut gedacht. Frühstücken Sie jetzt in aller Ruhe zu Ende und seien Sie um neun Uhr in meinem Büro. Wir besprechen dann alles.« Während Walton in seinem Büro auf McLeod wartete, blätterte er die Telefax-Nachrichten durch. In einigen Kommentaren wurde ABEG gepriesen, weil das Amt die Initiative zur Entdeckung neuer Sternenwelten ergriffen hatte. In anderen Nachrichten wurde ABEG getadelt, weil es die Entdeckung des Überlicht-Antriebs solange verheimlicht hatte. Walton machte sich seine Notizen und legte sie an den Rand des Schreibtisches. Er würde mit Lee Percy noch ein ernstes Wort darüber sprechen müssen. In den so ausweglos düster erscheinenden Stunden des Morgens hatte er daran gedacht, seinen
Posten aufzugeben. Inzwischen war ihm jedoch klargeworden, daß er seine Position sehr stärken könne, wenn es ihm gelänge, die Geschehnisse zu kontrollieren und in die richtigen Kanäle zu leiten. Der Kopf und die breite Schulterpartie von McLeod erschien auf dem Bildschirm. Walton bat ihn herein. »Vorzustellen brauche ich mich wohl nicht noch einmal.« Walton erwiderte das offene Lächeln. »Natürlich nicht. Wollen Sie sich nicht setzen?« McLeod war typisch Brite und ganz formell in seinem allgemeinen Verhalten. Walton versuchte das Eis zu brechen, indem er so ungezwungen wie möglich sprach. »Wie scheinen da in eine ziemlich schwierige Situation geraten zu sein«, sagte er leichthin. »Aber es gibt keine schwierige Situation, die man nicht irgendwie meistern könnte, nicht wahr?« »Da bin ich durchaus Ihrer Meinung, Sir«, stimmte McLeod zu. »Aber ich habe das Gefühl, diese Schwierigkeit hätte vermieden werden können.« »Das ist schon richtig, Mr. McLeod. Aber es ist nun einmal eine Tatsache, daß irgendein Idiot in meiner Presseabteilung Ihre Raumfunksprüche in die Hände bekommen hat und nach seiner Meinung das beste daraus machen wollte.« Der Meldegong ertönte. »Mr. Percy möchte Sie sprechen", verkündete die Frauenstimme. Lee Percys Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Walton befahl ihm, hereinzukommen. Percy sah ängstlich aus — geradezu entsetzt, dachte Walton. Er ließ nervös einen Papierstreifen durch die Finger gleiten. »Guten Morgen, Sir.« »Guten Morgen, Lee.« Walton sprach so freundlich, als wäre nichts vorgefallen. »Lee, das ist Leslie McLeod, Operationschef unseres erfolgreichen Raumprojekts Überlicht-Antrieb. McLeod, das ist Lee Percy. Der Mann übrigens, der für die kleine Indiskretion hinsichtlich unseres Projektes verantwortlich ist.« Percy zuckte sichtbar zusammen. Er trat vor und legte den Zettel auf Waltons Schreibtisch. »Ich ... ich habe da ein kleines Memorandum zusammengestellt«, stammelte er. »Natürlich ist das trotzdem keine Entschuldigung. Ich hätte diese Nachricht nicht freigeben dürfen.« »Da haben Sie völlig recht«, stimmte Walton zu und vermied dabei jeden Beiklang von Tadel. »Sie haben uns in höllische Schwierigkeiten gebracht, Lee. Wir können nämlich diesen Planeten nicht so ohne weiteres kolonisieren, wie ich das gestern abend so enthusiastisch verkündet habe. Und es dürfte Ihnen ja bekannt sein, wie äußerst heikel es ist, eine gute Nachricht zurückzuziehen, wenn sie erst einmal an die Öffentlichkeit gelangt ist.« »Wir können den Planeten nicht kolonisieren?« fragte Percy erstaunt. »Aber ...?« »Colonel McLeod und seine Raumfahrtmannschaft haben festgestellt, daß der Planet Eigentum intelligenter Lebewesen ist, die auf einer benachbarten Welt leben«, erklärte Walton. »Diese fremden Lebewesen wollen natürlich ebensowenig Eindringlinge in ihr Planetensystem dulden, wie wir selbst fremde Siedler aus dem Weltraum auf dem Mars.« »Sir, ich bin bereit ... bin bereit, meinen Posten zur Verfügung zu stellen«, stammelte Percy. Walton schüttelte lächelnd den Kopf. »Abgelehnt«, sagte er ruhig. »Wir brauchen Sie in unserem Stab, Lee. Ich werde Sie mit einem Bußgeld von zehn Prozent Ihres Wochengehalts belegen, aber weitere Strafen werden nicht ausgesprochen.« »Vielen Dank, Sir«, sagte Percy mit ehrlicher Erleichterung. »Aber leisten Sie sich einen solchen Fehler nicht noch einmal«, warnte Walton freundlich, »sonst sind Sie Ihren Posten tatsächlich los, verstanden?« »Jawohl, Sir.« »Gut. Das wäre geklärt. Und vorerst keine Presseveröffentlichungen hinsichtlich des
Überlicht-Projekts, bis ich meine Einwilligung dazu gebe.« Walton runzelte nachdenklich die Stirn und fügte dann schnell hinzu: »Nein, wir machen es anders. Wir werden jetzt schnell eine Erklärung zu der gestrigen Nachricht herausgeben. Und zwar mit soviel nebulosem Vokabular, daß die Leute überhaupt nicht mehr wissen, woran sie sind. Vor allen Dingen müssen Sie den Eindruck verwischen, daß eine baldige Kolonisierung möglich ist. Es muß schließlich so aussehen, als ob alles noch in der Schwebe wäre.« »Verstanden, Sir.« Percy lächelte matt. »Das will ich hoffen«, sagte Walton. »Wenn Sie die Nachrichten fixiert haben, schießen Sie sie zur Bewilligung zu mir herauf.« »Das werde ich tun, Sir«, versprach Percy und verschwand schnell. »Warum haben Sie das getan?« fragte McLeod verwirrt. »Sie meinen, warum ich ihn so verhältnismäßig ungeschoren gelassen habe?« Mc Leod nickte. »Beim Militär müßte der Mann mit einer harten Disziplinarstrafe rechnen.« »Wir sind hier aber nicht beim Militär«, erklärte Walton liebenswürdig. »Und obwohl sich dieser Mann sicherlich leichtsinnig und dumm benommen hat, sehe ich keinen Grund dafür, ihn hart zu bestrafen. Außerdem ist er ein tüchtiger Fachmann. Ich kann es mir einfach nicht erlauben, ihn zu entlassen.« »Sind Pressemänner so schwer zu bekommen?« »Nein. Aber er ist wirklich gut — und die Aussicht, daß er vielleicht für die andere Seite arbeiten könnte, behagt mir gar nicht. In der jetzigen Situation wird er mir dankbar sein. Aber wenn ich ihn hinausgeworfen hätte, würde er innerhalb der nächsten Woche im Citizen mindestens fünf Artikel gegen ABEG veröffentlichen. Und das könnte sehr störend und schädlich für unser Amt sein.« McLeod lächelte anerkennend. »Sie scheinen Ihren Posten gut auszufüllen, Mr. Walton.« »Das muß ich schon«, meinte Walton mit einem Schulterzucken. »Als Direktor von ABEG erwartet man von mir, daß ich pro Stunde zwei bis drei Wunder bewirke. Im Laufe der Zeit gewöhnt man sich daran. Nun erzählen Sie mir etwas von diesen fremden Welten und Lebewesen, Colonel McLeod.« McLeod legte eine Aktenmappe auf Waltons Schreibtisch, öffnete das Magnetschloß und reichte Walton ein dickes Bündel von Farbfotos. »Die ersten zehn Fotos sind Landschaftsbilder des Planeten«, erklärte McLeod. »Wir haben ihn Prokyon VIII genannt, weil er der achte von sechzehn Planeten dieses Systems ist, es sei denn, wir haben welche übersehen. Zehn davon sind Methangas-Giganten. Wir haben uns gar nicht erst die Mühe gemacht, dort zu landen. Zwei sind Ammoniak-Supergiganten, noch viel weniger einladend. Drei kleine Planeten haben fast keine Atmosphäre und sehen noch weniger bewohnbar aus als der Merkur. So bleibt nur noch einer übrig, den wir Neue Erde genannt haben. Schauen Sie sich die Bilder an, Sir.« Walton musterte die Fotos. Sie zeigten Hügellandschaften mit Sträuchern und Büschen, glitzernde Flüsse und Bäche und einen richtigen Sonnenaufgang. Auf einigen Fotos waren auch Lebewesen zu erkennen: Ein dürrer, kleiner, vierhändiger Affe, ein sechsbeiniges, hundeartiges Lebewesen und ein Vogel mit Zähnen im Schnabel. »Ziemlich originelle Variationen unserer Erdbewohner«, bemerkte Walton. »Aber ist dieser Planet wirklich bewohnbar? Falls Ihre Fotos nicht farbstichig sind, ist dieses Gras blau . . . und das Wasser sieht auch ziemlich eigenartig aus. Was für Versuche haben Sie durchgeführt?« »An den Farbverschiebungen ist das Licht schuld, Sir. Prokyon ist eine Doppelsonne. Der kleine, schwach schimmernde Begleiter stellt merkwürdige Lichttricks mit der Kamera an,
wenn er am Himmel aufsteigt. Das Gras mag zwar blau aussehen, aber es existiert auf Chlorophyll-Basis und Photosynthese. Und das Wasser ist nichts als ganz ordinäres H20, selbst wenn es diesen Purpurschimmer hat.« Walton nickte. »Wie ist die Atmosphäre?« »Wir haben sie eine Woche lang ungefiltert geatmet und keine Schwierigkeiten festgestellt. Die Luft ist ziemlich reich an Sauerstoff — ungefähr 24 Prozent. Man fühlt sich dabei springlebendig — gerade das richtige Gefühl für Pioniere, würde ich sagen.« »Ich nehme an, Sie haben einen vollständigen Bericht über diesen Planeten gemacht, nicht wahr?« »Ja. Hier ist er.« McLeod wollte in seine Aktenmappe greifen. "Noch nicht«, wehrte Walton ab. »Ich möchte mir erst die übrigen Fotos ansehen.« Er musterte die Bilder schnell hintereinander, bis er zu einem Foto kam, auf dem eine seltsam kantige Gestalt von leuchtend grünem Aussehen und mit vier Armen zu sehen war. Über den halslosen Kopf war eine Art von Atemmaske aus durchsichtigem Plastikmaterial gestülpt. Drei kalte, düstere Augen spähten dahinter hervor. »Was ist das?« fragte Walton. »Ach, das.« McLeod lächelte schief. »Das ist ein Dirnaner. Sie leben auf Prokyon IX, einem von den Ammoniak-Giganten. Das sind die fremden Lebewesen, bei denen wir unerwünscht sind.« 12. Walton musterte die Fotos der fremden Lebewesen. Er glaubte Intelligenz zu erkennen ... Ja, Intelligenz und Verständnis und vielleicht sogar eine Art Mitgefühl. Er schürzte nachdenklich die Lippen. »Colonel McLeod, wie lange würden Sie mit Ihrem Raumschiff brauchen, um wieder nach Prokyon zu fliegen?« fragte er. McLeod dachte über die Frage nach. »Überhaupt nicht lange, Sir. Vielleicht ein paar Tage. Warum?« »Es ist nur ein Gedanke. Berichten Sie mir von Ihrer Kontaktaufnahme mit diesen — äh — Dirnanern.« »Das kam so, Sir: Sie landeten, nachdem wir mehr als eine Woche damit verbracht hatten, die Neue Erde zu erkunden. Sie waren zu sechst, und sie hatten dieses komplizierte elektronische Übersetzungs-Gerät bei sich. Nachdem sie sich ganz höflich vorgestellt hatten, fragten sie, wer wir seien. Wir gaben ihnen ebenso höflich Auskunft. Dann machten sie uns klar, daß sie das Planetensystem Prokyon beherrschten und nicht die Absicht hätten, irgendwelche fremde Lebewesen dort eindringen zu lassen.« »Benahmen sie sich feindselig?« fragte Walton. »Nein, das nicht. Wir hatten fremdes Gebiet betreten, und sie baten uns, zu verschwinden. Sie benahmen sich kühl und reserviert.« »Gut«, sagte Walton. »Ich habe folgenden Plan. Meinen Sie, Sie könnten nach Prokyon zurückkehren als eine Art von nun. als ein Botschafter der Erde? In dieser Eigenschaft müßten versuchen, einen der Dirnanern zu Vertragsverhandlungen auf die Erde einzuladen. Halten Sie das für möglich?" »Das könnte gelingen«, antwortete McLeod zögernd. »Wenn es durchaus notwendig ist.« »Es könnte eine sehr dringende Notwendigkeit sein«, erklärte Walton ernst. »In anderen Sonnensystemen hatten Sie kein Glück?« »Nein.« »Dann müssen wir unsere ganze Hoffnung auf Prokyon VIII richten. Natürlich bekommen Sie
und Ihre Mannschaft für diesen Flug Sonderzulagen. Und beeilen Sie sich.« »Der Flug im Hyperraum erfordert praktisch überhaupt keine Zeit«, erklärte McLeod. »Die meiste Zeit verbrachten wir damit, mit dem Ionenantrieb von Planet zu Planet zu fliegen. Das Manövrieren im Hyperraum ist dagegen ein Kinderspiel.« »Gut. Dann erledigen Sie so schnell wie möglich diese Mission. Fliegen Sie nach Nairobi zurück und starten Sie. Denken Sie immer daran, wie wichtig es ist, einen dieser fremden Lebewesen zu Vertragsverhandlungen herzubringen.« »Ich werde mein bestes versuchen«, versprach McLeod. Sobald McLeod gegangen war, wandte Walton sich anderen Aufgaben zu. Als erstes sprach er in den Diktatschreiber ein vertrauliches Memorandum für Eglin. Der Stellvertretende Verwaltungsdirektor sollte sofort eine Untersuchungskommission zusammenstellen, deren Aufgabe es sein würde, zur Venus zu fliegen und Kontakt mit Lang aufzunehmen. Die Forschungsgruppe dort war fast zwei Wochen überfällig, und er konnte nicht länger tatenlos abwarten. Der unvermeidliche Meldegong ertönte, und Walton schaltete um. Es war Sellors, und aus seinem entsetzten Gesichtsausdruck schloß Walton, daß etwas sehr Unangenehmes passiert sein mußte. »Was ist denn los, Sellors? Hatten Sie noch kein Glück bei der Fahndung nach Lamarre?« »Nein, leider nicht, Sir«, gab der Sicherheitschef zu. »Aber es hat sich etwas anderes ergeben, Mr. Walton. Eine sehr ernste Angelegenheit.« Walton schüttelte ungeduldig den Kopf. »Rücken Sie endlich mit der Sprache heraus, Mann!« Sellors sah so aus, als würde er sich am liebsten vor dem Bildschirm in Nichts auflösen. »Einer der Nachrichtentechniker hat heute eine routinemäßige Überprüfung aller Leitungen im Gebäude durchgeführt, Mr. Walton«, begann er zögernd zu berichten. »Er stellte fest, daß mit einer Hauptlinie etwas nicht stimmte. Als er genauer nachprüfte, fand er heraus, daß sie erst neu installiert worden war.« »Und, was hat das zu bedeuten?« fragte Walton nervös. »Es war eine Abhöranlage, die in Ihr Büro führte, Sir«, sagte Sellors gepreßt. »Das bedeutet also, daß alle Ihre Gespräche heute morgen abgehört worden sind.« Walton starrte den Mann entgeistert an. »Nach Ihrer Erklärung konnte also Ihre Abteilung nicht verhindern, daß jemand eine Abhöranlage direkt in mein Büro gelegt hat?« fragte er mit mühsam unterdrücktem Zorn. »Wohin führte das andere Ende dieser Leitung? Und ist sie jetzt unterbrochen?« »Die Leitung ist natürlich sofort unterbrochen worden, Sir. Sie führte in die Männertoilette im 26. Stockwerk.« »Und wie lange war diese Leitung in Betrieb?« »Mindestens seit gestern abend, Sir. Die Nachrichtenabteilung versichert mir, daß die Leitung unmöglich vor gestern nachmittag gelegt sein konnte. Zu dem Zeitpunkt hat nämlich gerade erst eine genaue Überprüfung aller Leitungen stattgefunden.« Walton dachte nur an sein Gespräch mit McLeod und was es bedeuten mochte, wenn davon etwas an die Öffentlichkeit drang. »Ich verstehe, Sellors«, sagte er etwas versöhnlicher. »Das ist natürlich nicht allein Ihr Fehler, aber achten Sie in Zukunft auch genauer auf das, was in der Nachrichtenabteilung vor sich geht. Und geben Sie den Ingenieuren dort von mir aus die Anweisung, daß in Zukunft alle Nachrichtenverbindungen in mein Büro täglich zweimal überprüft werden, und zwar um neun Uhr und um dreizehn Uhr.« »Jawohl, Sir, dafür werde ich bestimmt sorgen«, versprach Sellors mit einem deutlich
sichtbaren Ausdruck von Erleichterung. »Und überprüfen Sie sofort alle Leute, die in der Nachrichtenabteilung beschäftigt sind. Vielleicht können Sie denjenigen, der diese Abhöranlage installiert hat, ausfindig machen und zur Rechenschaft ziehen. Und vergessen Sie nicht, daß Sie immer noch Lamarre finden müssen!« »Ich werde alles versuchen, Mr. Walton.« Sobald der Bildschirm erlosch, machte Walton für sich selbst eine geheime Notiz: Seilers überprüfen. Bisher hatte Sellors zugelassen, daß ein Mörder in FitzMaughams Privatbüro eindringen konnte, daß Prior in Waltons ehemaliges Büro gestürmt war, und Fred in der Verkleidung als Schlosser ungestört das Direktionsbüro hatte durchsuchen können. Ganz zu schweigen davon, daß auch Lee Percy Waltons Privatleitung angezapft haben mußte, und irgendein Unbekannter sogar eine Abhöranlage ins Direktionsbüro hatte legen können. Eigentlich konnte kein Sicherheitschef so unfähig sein. Das mußte eine gezielte Kampagne sein, die von außen her gelenkt wurde und Helfershelfer im Hause hatte. Er ließ sich mit Eglin verbinden. »Olaf, haben Sie inzwischen meine Anweisung wegen der Venus-Untersuchungskommission bekommen?« »Vor ein paar Minuten. Bis heute abend sind alle Vorbereitungen getroffen.« »Das geht mir nicht schnell genug«, sagte Walton ungeduldig. »Lassen Sie alles andere stehen und liegen und schicken Sie dieses Raumschiff mit der Untersuchungskommission sofort los. Ich muß sobald wie möglich wissen, was mit Lang und seiner Mannschaft los ist. Wenn es uns nicht binnen kurzer Frist gelingt, die Venus bewohnbar zu machen, wird man von allen Seiten über uns herfallen.« »Warum?« fragte Eglin verblüfft. »Was ist denn los?« »Sie werden das bald genug sehen. Achten Sie auf die Telefax-Nachrichten. Ich wette, die nächste Ausgabe des Citizen wird höllisch interessant sein.« Das war auch so. Mehrere Millionen New Yorker empfingen kurze Zeit später die Vormittagsausgabe des Citizen, und ein Exemplar davon wurde auch durch die Rohrpostanlage in den Einlauf-Kasten in Waltons Büro geschossen. Die Schlagzeile lautete: WESEN AUS DEM WELTRAUM DURCHKREUZEN GROSSEN ABEG-PLAN Und darunter in kleineren Buchstaben: Grünhäutige Ungeheuer strafen Direktor Walton Lügen Er lächelte grimmig und überflog schnell den Bericht. Er lautete: Mitmenschen, wir sind schon wieder hintergangen worden. Der Citizen weiß aus sicherer Quelle, daß die von ABEGs Amtierenden Direktor Walton gestern abend veröffentlichte große Neuigkeit einen Haken hat. Es stimmt, daß es nicht weit draußen im Weltall einen besiedelbaren Planeten mit für Menschen gut erträglichen Lebensbedingungen gibt. Aber erst heute hat sich herausgestellt, daß auf jenem Nachbarplaneten Lebewesen das Regiment führen, die nichts von uns
Erdbewohnern wissen wollen. Der vorlaute Walton sollte also lieber seinen Dienst quittieren. Weitere Einzelheiten in den späteren Ausgaben. Offensichtlich führte von der in seinem Büro installierten Abhöranlage eine direkte Geheimverbindung zur Nachrichtenredaktion des Citizen. Walton erschauerte, wenn er an die Möglichkeit dachte, daß die Abhöranlage vielleicht schon einen Tag früher installiert worden wäre. Die Nachmittagsausgabe des Citizen brachte noch weitere Einzelheiten der Affäre Prokyon VIII, und die Kommentatoren stellten Walton vor die Alternative, entweder den Dirnanern den Krieg zu erklären oder zurückzutreten. Diese Idioten, dachte Walton verächtlich. Ein Krieg würde den Bevölkerungsüberschuß dezimieren, aber das würde auch der einzige Erfolg sein! Kurze Zeit später meldete sich der UNO-Delegierte Ludwig. »Heute ist es bei uns ziemlich heiß hergegangen«, berichtete er Walton. »Nach Erscheinen dieser Nachricht im Citizen haben mehrere orientalische Delegierte Ihre sofortige Abdankung wegen Unfähigkeit verlangt. Was geht denn eigentlich in ABEG vor, Walton?« »Vor allen Dingen ist eine lebhafte Spionagetätigkeit festzustellen«, erklärte Walton offen. »Das Hauptproblem scheint jedoch mein Stab von unfähigen Assistenten zu sein. Ich werde da sofort radikale Personalveränderungen durchführen.« »Stimmt eigentlich die vom Citizen veröffentlichte Geschichte?« »Natürlich!« rief Walton ärgerlich. »Zur Abwechslung einmal steht in der Zeitung die volle Wahrheit. Ein unternehmungslustiger Telefax-Mann muß gestern abend eine private Nachrichtenverbindung in mein Büro gelegt haben, die man heute vormittag erst zu spät entdeckte. Es ist richtig, daß diese fremden Lebewesen nicht viel von uns wissen wollen.« Ludwig nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. »Haben Sie schon irgendwelche Pläne?« »Dutzende. Wollen Sie einige davon billig kaufen?« Walton lachte unfroh auf. »Nein, ganz im Ernst, Roy. Sie sollten im Fernsehen eine Rede halten und die Gemüter beruhigen. In der Bevölkerung herrscht jetzt schon Kriegsstimmung. Die Leute wollen unbedingt gegen die Dirnaner zu Felde ziehen. Könnten Sie da nicht etwas retuschieren?« »Nein«, lehnte Walton strikt ab. »Es ist schon genug retuschiert worden. Ich werde diesmal im Fernsehen die volle Wahrheit sagen. Sagen Sie Ihren Delegierten, sie sollten sich die Rede anhören. Es dürften einige wichtige Neuigkeiten dabei sein.« Sobald er sich von Ludwig verabschiedet hatte, setzte er sich mit Lee Percy in Verbindung. »Dieses Programm über die Weltraumbesiedlung ist fast fertig«, informierte ihn der Pressebeauftragte. »Ist schon gestorben«, sagte Walton trocken. »Haben Sie denn nicht die Vormittagsausgabe des Citizen gelesen?« »Nein; war zu intensiv mit dem neuen Programm beschäftigt. War was Wichtiges dabei?« Walton verzog sein Gesicht zu einer ironischen Grimasse. »Ziemlich wichtig, würde ich sagen. Der Citizen hat uns damit sozusagen den Teppich unter den Füßen weggezogen. Wenn es so weitergeht, sind wir vielleicht schon heute abend im Kriegszustand mit Prokyon IX. Kaufen Sie mir Sendezeiten in jedem Medium für heute abend 19 Uhr.« »Wird gemacht. Was für eine Rede wollen Sie denn konzipieren?« »Es wird überhaupt nichts konpiziert«, erklärte Walton. »Ich spreche zur Abwechslung einmal frei und ohne Konzept. Kaufen Sie nur die Sendezeit und sparen Sie nicht mit unserem Etat.«
13. Der helle Lichtschein der Video-Kameras durchflutete den Raum. Percy hatte gute Arbeit geleistet. Von jedem Rundfunksender, jeder Telefax-Agentur und allen öffentlichen Lautsprecherstationen waren Vertreter da. Man hatte die Repräsentanten aller Medien in aller Eile zusammengetrommelt. Waltons Worte würden also ein weltweites Echo finden. Er saß hinter seinem Schreibtisch und lächelte in die Kameras. »Guten Abend«, begann er, »ich bin Roy Walton, und ich spreche zu Ihnen aus dem Büro des Amts für Bevölkerungs-Ausgleich. Seit knapp einer Woche bin ich Amtierender Direktor von ABEG, und ich möchte jetzt in aller Öffentlichkeit Bericht erstatten. Wir in ABEG sind der Meinung, ein Mandat des Volkes zu verwalten. Schließlich war es das Ergebnis der weltweiten Wahl im vergangenen Jahr, das den Vereinten Nationen ermöglichte, unser Amt zu etablieren. Und ich möchte Ihnen jetzt berichten, wie die Arbeit von ABEG vorangeht. Unser Hauptziel ist es, Lebensraum für Menschen zu schaffen. Unsere Erde ist mit ihren sieben Milliarden unerträglich übervölkert. Wir wissen auch, daß wir auf die Dauer den Bevölkerungsüberschuß nicht einfach von einem Teil der Erde zum anderen verschieben können. Irgendwann würde jeder Quadratmeter besetzt sein, und was dann? Sie alle kennen inzwischen die Antwort. Wir fliegen in den Weltraum. Wir greifen nach den Sternen. Im Augenblick ist ein Stab von Wissenschaftlern auf der Venus damit beschäftigt, dessen giftige Atmosphäre so umzuwandeln, daß dieser riesige Planet für uns bewohnbar wird. Das wird den Wissenschaftlern gelingen, und wenn sie das auf der Venus erreicht haben, dann werden sie sich auf dem Mars, auf dem Mond und vielleicht auf den großen Satelliten von Jupiter und Saturn an die Arbeit machen. Wir hoffen, daß eines Tages unser gesamtes Planetensystem von Merkur bis Pluto bewohnbar sein wird. Aber sogar das sind nur Planungen für die nahe Zukunft«, fuhr Walton mit ernster Betonung fort. »Eines Tages in nicht zu ferner Zukunft wird vielleicht unser ganzes Sonnensystem so bevölkert sein, wie es die Erde heute schon ist. Mein Vorgänger, der weitschauende Direktor FitzMaugham, war sich dieses Problems durchaus bewußt. Er hat einer Gruppe von Wissenschaftlern und Technikern die Initiative und Starthilfe zur Entwicklung eines Überlicht-Antriebs für Raumschiffe gegeben. Ein solches Raumschiff mit Überlicht-Antrieb ist inzwischen gebaut und auf Erkundungsflug geschickt worden. Direktor FitzMaugham hatte sich entschlossen, diese Tatsache geheimzuhalten. Er wollte keine falschen Hoffnungen erwecken, falls dieses Projekt scheitern sollte. Aber das Projekt ist nicht gescheitert! Im Sternensystem des Prokyon haben Colonel Lesley McLeod und seine Männer einen Planeten mit ähnlichen Lebensbedingungen wie auf der Erde entdeckt. Ich habe Fotos der Neuen Erde gesehen, wie man den Planeten genannt hat, und ich kann Ihnen nur versichern, daß es ein fruchtbarer und schöner Planet ist ... und vor allen Dingen einer, dessen Besiedlung unseren tapferen Pionieren keine Schwierigkeiten bereiten wird.« Walton legte eine kurze Kunstpause ein, bevor er auf den Hauptpunkt seiner Rede hinzielte. »Unglückseligerweise wird der Nachbarplanet dieser Neuen Erde von einer Rasse von intelligenten Lebewesen bewohnt. Vielleicht haben Sie die irreführenden und ungenauen Berichte in den heutigen Nachrichtendiensten bereits gehört und gelesen. Demnach sollen diese fremden Lebewesen sich weigern, ihr Planetensystem von Erdbewohnern kolonisieren zu lassen. Daraufhin ist eine Art Kriegsstimmung in unserer Bevölkerung gegen die Dirnaner, wie diese fremden Lebewesen sich nennen, entfacht wor- den.
Ich gebe ohne weiteres zu, daß die Dirnaner im Augenblick durchaus nicht allzu bereitwillig sind, ihren Nachbarplaneten von uns besiedeln zu lassen. Wir sind für sie ganz und gar fremde Geschöpfe, und daher ist ihre Reaktion durchaus verständlich. Ich habe jedoch inzwischen einen Botschafter von Dirnan zu, uns eingeladen — unser erster diplomatischer Kontakt mit Lebewesen von fremden Sternen! Es ist meine feste Hoffnung, da dieser Botschafter schon bald auf der Erde landen wird. Ebens sicher hoffe ich, ihn davon überzeugen zu können, daß wir friedliche und sozial denkende Geschöpfe sind, und daß es daher im beiderseitigen Interesse liegt, einen Planeten im Prokyon-System von Erdbewohnern kolonisieren zu lassen. Nun brauche ich für dieses große Vorhaben Ihrer aller Hilfe. Falls nämlich unser fremder Gast beim Aufenthalt auf der Erd entdecken sollte, daß irgendwelche irregeleiteten Erdbewohner Krieg gegen Dirnan fordern, dann werden seine Gefühle gegen uns verständlicherweise mehr von Mißtrauen als von Freundschaft beherrscht werden. Die Wichtigkeit dieser Tatsache muß ich Ihnen in aller Deutlichkeit vor Augen führen. Natürlich könnten wir um den Besitz von Prokyon VIII einen Krieg gegen Dirnan führen. Aber warum sollten wir zwei Welten mit Tod und Vernichtung überziehen, wenn wir wahrscheinlich unser Ziel mit friedlichen Mitteln erreichen können? Das ist alles, was ich heute abend zu sagen habe, Bewohner dieser Erde. Ich hoffe, Sie werden über das nachdenken, was ich Ihnen anvertraut habe. In unserem Amt wird unaufhörlich für das Wohl der Erdbevölkerung gearbeitet, aber wir brauchen Ihre volle Mithilfe und Unterstützung, wenn wir unsere Ziele erreichen und der Menschheit Segen und Glück bringen wollen. Ich danke Ihnen für das Zuhören.« Die Scheinwerfer erloschen, und Walton war kurze Zeit wie geblendet. Dann sah er, wie die Kameramänner und Techniker ihre Geräte schnell und geschickt aus dem Büro räumten. Nachdem die Spannung gewichen war, spürte Walton als Reaktion eine dumpfe Enttäuschung. Er hatte seine ganze Hoffnung auf diese Rede gesetzt, aber war sie wirklich so zündend gewesen, hatte er die Menschen mitreißen können? Dessen war er sich jetzt nicht mehr sicher. Bei dem Geräusch von Schritten schaute er hoch. Lee Percy stand vor ihm. »Roy, darf ich etwas sagen?« fragte Percy vorsichtig. »Nur zu«, antwortete Walton. »Wir haben heute abend viel Geld für Ihre Sendezeit ausgeben müssen«, erklärte Percy resigniert, »aber eines weiß ich sicher: Wir haben das ganze Geld umsonst ausgegeben.« Walton seufzte müde. »Warum sagen Sie das?« »Ihre Rede war die Vorstellung eines Amateurs«, erklärte Percy. »Solche großen Spiele sollten Sie von Profis inszenieren lassen, Roy.« »Ich dachte, meine Improvisation hat Ihnen gefallen, als unten vor dem Haus der Herschelist von der Menschenmenge umgebracht wurde. Warum war es dann heute abend nicht gut?« Percy schüttelte den Kopf. »Ihre Erklärung unten vor dem Haus, das war eine andere Sache. Das war mitreißend und erregend! Aber heute abend sind Ihre Worte bestimmt nicht über die Rampe gekommen.« »Nein?« »Darauf würde ich wetten«, bestätigte Percy düster. »Man kann die große Menge nicht mit Vernunft überzeugen. Sie haben eine nette, volkstümliche Rede gehalten. Alles was Sie gesagt haben, hatte Hand und Fuß.« »Und was ist daran falsch?« fragte Walton verdrossen. »Warum soll das nicht richtig sein?« »Weil die Leute auf so etwas nicht hören«, antwortete Percy. »Sie haben sanft gepredigt, wo
Sie hätten geißeln und verfluchen müssen. Die sanfte Macht der Vernunft? Quatsch! Man darf nicht sanft sein, wenn man seine Meinung an sieben Milliarden Idioten verkaufen will!« »Mehr läßt sich von der ganzen Erdbevölkerung nicht sagen?« fragte Walton. »Das sind alles nur Idioten?« Percy grinste schief. »Im großen und ganzen gesehen, ja. Man gebe ihnen ihr tägliches Brot und ihr ein Zimmer zum Schlafen und Wohnen, und keiner von ihnen kümmert sich darum, was mit der Welt geschieht. FitzMaugham hat den Leuten ABEG verkauft, wie ein geschickter Schwindler ein Jet-Auto ohne Düsen verkaufen würde. Er hat ihnen einfach etwas aufgeschwatzt, wofür sie keinen Bedarf hatten, und was sie überhaupt nicht wollten. « »Sie brauchten ABEG, ob sie es wollten oder nicht«, widersprach Walton. »Aber ein Jet-Auto ohne Düsen kann natürlich keiner gebrauchen.« »Ja, der Vergleich hinkt«, gestand Percy. »Aber die Tatsache bleibt bestehen. Der großen Menge ist ABEG völlig egal, es sei denn, der einzelne wird davon in Mitleidenschaft gezogen. Hätten Sie den Leuten hingegen eingeredet, diese fremden Lebewesen wollten die ganze Erdbevölkerung ausrotten, dann wäre der Erfolg Ihrer Rede gesichert gewesen. Aber die sanfte Vernunft und all das Zeug — oh, nein, Roy, das funktioniert nicht.« »Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?« fragte Walton. »So ungefähr. Ich wollte Ihnen nur zeigen, daß Sie eine Chance hatten, aber die ist jetzt vertan. Wir wollten Ihnen helfen, und Sie haben das nicht zugelassen. Fassen Sie das nicht als zu harte Kritik auf, Roy. Ich will Ihnen nur helfen.« »Vielen Dank, Lee«, sagte Walton. »Aber lassen Sie mich jetzt allein.« An der Tür hielt Percy noch einmal inne und sagte: »Sie sind überarbeitet, Roy. Nehmen Sie eine Pille, oder tun Sie etwas für Ihre Nerven.« Die Berichte am nächsten Morgen zeigten, daß Percy mit seiner Voraussage ungefähr recht gehabt hatte. Der Citizen reagierte am heftigsten. Unter der Schlagzeile WER WILL WEN ZUM NARREN HALTEN? fragte das Telefax-Blatt, was denn der ABEG-Direktor gestern abend in seiner windelweichen Art der Welt einzureden versucht habe. Jedenfalls müsse man daraus den Eindruck gewinnen, Walton schlage eine bedingungslose Übergabe an die Dirnaner vor. Dieses Schlagwort von der bedingungslosen Übergabe machten sich die meisten Nachrichtenmedien zu eigen. »Hinter einer rosaroten Wolke von Worten verkauft ABEG-Zar Walton unsere Welt bedingungslos an die Grünhäute«, behauptete eine Zeitung. Die Video-Kommentatoren waren etwas freundlicher, aber auch nicht sehr. Einer verlangte eine genaue Untersuchung der Beziehung zwischen Erde und Dirnan. Ein anderer wollte wissen, wie Walton dazu käme, eigenmächtig solche diplomatischen Verhandlungen auf höchster Ebene zu führen. Dadurch wurde ein neues Thema angeschlagen. »Wieviel Macht hat Walton?« fragte der Citizen in einer späteren Ausgabe. »Ist er der Chef der ganzen Welt?« Das traf Walton härter als alle anderen Schläge. Allmählich war ihm klargeworden, daß er tatsächlich eine Art von diktatorischer Macht über die Erdbevölkerung ausübte. Aber er hatte sich das selbst noch nicht richtig eingestanden, und deshalb schmerzte ihn die öffentliche Anprangerung um so mehr. Eines war jedenfalls klar: Sein Versuch, der Öffentlichkeit ehrlich und klar eine Situation zu schildern, war völlig gescheitert. Die Menschen waren derartig gewöhnt an Verschleierungstaktiken und gigantisches Wortfeuerwerk, daß sie sofort mißtrauisch wurden, wenn ihnen so etwas nicht geliefert wurde.
Als daher in der dritten Ausgabe des Citizen ein öffentliches Kriegsgeschrei gegen Dirnan angestimmt wurde, erkannte Walton, daß er jetzt mit anderen Waffen kämpfen mußte. Er riß ein Blatt aus seinem Notizblock und notierte gewissermaßen als Richtlinie für sich selbst: Der Zweck heiligt die Mittel! 14. Martinez, der Sicherheitschef für das gesamte Appalachia-Gebiet, war ein schmächtiger Mann mit zerzaustem Haar und durchdringendem Blick. Er sah Walton unverwandt an und sagte: »Sellors ist seit zwanzig Jahren im Sicherheitsdienst. Es ist fast unvorstellbar, daß er einen Verrat begehen könnte.« »Neuerdings sind ihm sehr viele Fehler unterlaufen«, gab Walton zu bedenken. »Ich wollte nur darauf hinweisen, daß wenn er nicht völlig unfähig ist, er ganz sicherlich im Sold einer anderen Macht stehen muß.« »Und Sie wollen, daß wir einen Mann absetzen, nur weil Sie eine so kühne Behauptung aufstellen, Mr. Walton?« Martinez schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich sehe die Dinge leider anders. Sie könnten natürlich auf dem üblichen Behördenweg eine personelle Umbesetzung in diesem Bezirk verlangen. Aber ich weiß nicht, wie wir sonst ...« »Sellors muß gehen«, sagte Walton fest. »Wir brauchen hier unbedingt einen neuen Mann. Und ich möchte, daß Sie ihn persönlich auf seine absolute Zuverlässigkeit hin überprüfen.« Martinez stand auf. Aus seinen Augen funkelte abwehrbereite Entschlossenheit. »Ich weigere mich!« verkündete er. »Wir können im Sicherheitsdienst nicht mit Launen und Vermutungen arbeiten. Wenn ich Sellors jetzt absetze, dann unterminiere ich damit das Selbstvertrauen des Sicherheitsdienstes im ganzen Lande.« »Also gut«, seufzte Walton, »dann bleibt Sellors eben. Aber ich werde veranlassen, daß er versetzt wird.« »Diesen Versetzungsbefehl werde ich im bürokratischen Irrgarten verschwinden lassen. Ich verbürge mich persönlich für Sellors. Was den Sicherheitsdienst betrifft, ist ABEG in guten Händen, Mr. Walton. Glauben Sie das bitte.« Martinez ging, und Walton blickte ihm düster nach. Er wußte über die absolute Zuverlässigkeit von Martinez Bescheid. Aber der Chef des Sicherheitsdienstes war ein starrsinniger Mann. Ehe er einen Fehler in dem von ihm aufgebauten Sicherheitsapparat eingestehen würde, ließe er lieber einen schlechten Mann in einer wichtigen Position weiterarbeiten. Da mußte er also seine Gegenmaßnahmen treffen, dachte Walton. Irgendwie mußte er Sellors loswerden und ihn durch einen zuverlässigen Mann ersetzen. Er schrieb eine schnelle Notiz und schickte sie per Rohrpost an Lee Percy. Wie erwartet, meldete sich der Pressechef kurze Zeit später bei ihm. »Roy, was ist das für eine Nachricht, die ich da an die Presse geben soll? Das klingt ja ganz phantastisch: Sellors ein Spion? Er ist ja nicht einmal verhaftet. Ich habe ihn gerade erst vorhin im Haus gesehen.« Walton lächelte geheimnisvoll. »Seit wann haben Sie solche Hochachtung vor Genauigkeit?« fragte er spöttisch. »Geben Sie die Nachricht zur Veröffentlichung frei, und wir werden sehen, was geschieht.« Die Nachrichten-Lautsprecher überall in der Öffentlichkeit brachten die Neuigkeit um 11 Uhr 4o als erste. Es wurde berichtet, Sicherheitschef Sellors von ABEG sei unter der Anklage der Untreue verhaftet worden. Aus gut informierter Quelle verlaute, Sellors sei bereit, die Hintermänner der Verschwörung zu verraten, in deren Dienst er stehe.
Um 12 Uhr 10 kam ein weiterer Bericht: Sicherheitschef Sellors sei vorübergehend aus der Haft entlassen worden. Und um 12 Uhr 30 folgte die nächste Meldung: Sicherheitschef Sellors sei von einem unbekannten Täter vor dem Cullen Building ermordet worden. Walton hörte sich die Berichte mit kühlem, fast zynischem Gleichmut an. Er hatte also alles richtig vorausgesehen: Die Auftraggeber von Sellors waren in Panik geraten und hatten den Mann für immer zum Schweigen gebracht. Der Zweck heiligt die Mittel, dachte Walton düster. Es bestand kein Grund, Mitleid für Sellors zu empfinden. Der Mann war ein Spion gewesen, und er mußte mit einem solchen Ende rechnen. Kaum daß die Nachricht von Sellors' Ermordung an die Öffentlichkeit gedrungen war, rief Martinez bei Walton an. Sein Gesicht auf dem Bildschirm war leichenblaß. »Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte er zerknirscht. »Heute morgen habe ich mich offenbar wie ein Idiot benommen.« »Nehmen Sie es nicht so schwer«, tröstete ihn Walton. »Es war ganz natürlich, daß Sie volles Vertrauen zu Sellors hatten. Schließlich kannten Sie ihn ja sehr lange. Aber heutzutage kann man keinem Menschen mehr trauen, Martinez. Nicht einmal sich selbst.« »Ich werde zurücktreten müssen«, sagte der Sicherheitschef mit düsterer Entschlossenheit. »Nein. Es war nicht Ihr Fehler. Sellors war ein Spion und ein Stümper dazu, und er hat gebüßt. Seine eigenen Männer haben ihn unschädlich gemacht, als sie glauben mußten, er werde sie verraten. Schicken Sie mir jetzt nur einen neuen Mann, wie ich es gewünscht habe. Und sorgen Sie dafür, daß der Mann gut ist.« Der neue Sicherheitschef von ABEG hieß Keeler und war ein dynamisch wirkender Mann von Anfang Dreißig. Er meldete sich sofort nach seiner Ankunft bei Walton. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Keeler«, begrüßte Walton ihn herzlich und musterte ihn dann. »Ich hoffe, Sie werden das böse Erbe schnell beseitigen können, das Ihr Vorgänger hinterlassen hat. Da sind vor allen Dingen zwei Aufgaben, mit denen Sie sich sofort beschäftigen müssen. Sie wissen wahrscheinlich, daß wir nach einem Manne namens Lamarre fahnden. Dazu müssen Sie folgende Einzelheiten ...« »Das ist nicht nötig«, unterbrach Keeler ihn. »Ich habe auf Anordnung von Sellors hin selbst die Fahndung nach Lamarre geleitet. Der Mann ist einfach spurlos verschwunden. Die Fahndung ist inzwischen weltweit angelaufen, aber ohne Ergebnis.« »Hm.« Walton war etwas enttäuscht. Er hatte gehofft, Sellors habe in Wirklichkeit Lamarre gefunden und diese Tatsache bisher nur geheimgehalten. Aber wenn Keeler selbst die Suche geleitet hatte, bestand keine Hoffnung mehr für dieses Wunschdenken. »Also gut«, sagte Walton, »die Fahndung nach Lamarre wird weitergeführt. Dann müssen Sie jetzt gleich noch das ganze Gebäude von den Elektronentechnikern sorgfältig absuchen lassen. Wir haben keine Ahnung, wie viele unregistrierte Abhöranlagen Sellors eingebaut hat. Erstatten Sie mir Bericht, sobald diese Arbeit durchgeführt ist.« Auf Waltons Terminplan war als nächstes ein Anruf der Nachrichtenabteilung vermerkt. Der Anruf kam, und ein Ingenieur erklärte ihm: »Wir haben einen Funkspruch von dem VenusSchiff empfangen. Soll ich Ihnen das vorlesen, Sir?« »Natürlich!« »Der Funkspruch lautet: >Gelandet Venus 15. Juli, noch keine Spur der Lang-Mannschaft. Wir forschen weiter und berichten täglich.< Ein gewisser Spencer hat unterschrieben.« »Gut«, sagte Walton. »Vielen Dank. Und geben Sie jede weitere Nachricht von Spencer sofort durch.« Das Schiff der Lang-Expedition war im Augenblick nicht so wichtig, überlegte Walton. Aber
es interessierte ihn rein menschlich, was aus der Forschungsgruppe geworden war. Hoffentlich folgte morgen ein positiverer Bericht von Spencer. Der Meldegong ertönte. »Dr. Frederik Walton möchte Sie sprechen, Sir«, verkündete die Mädchenstimme. »Er sagt, es sei dringend. « »Geht in Ordnung«, bestätigte Walton. Er schaltete um und beobachtete nervös, wie das Gesicht seines Bruders auf dem Bildschirm Gestalt annahm. »Nun, Fred?« fragte er mißtrauisch. »Du hast ja in den letzten Stunden tüchtig gearbeitet«, lobte Fred höhnisch. »Jetzt hast du also zu deiner Bewachung einen neuen Sicherheitschef.« »Ich habe jetzt keine Zeit, mit dir Einzelheiten meiner Dienstobliegenheiten durchzusprechen«, sagte Walton abweisend. »Viel Zeit habe ich auch nicht. Aber mit diesen Nachrichten über Sellors hast du uns ganz schön hereingelegt. Damit hast du uns gezwungen, einen nützlichen Kontakt vorzeitig abzubrechen.« »So nützlich war dieser Kontakt nicht mehr«, meinte Walton. »Ich war ihm auf der Spur. Wenn er nicht von deinen Leuten umgebracht worden wäre, dann hätte ich mich selbst um ihn kümmern müssen. Ihr habt mir lediglich Unannehmlichkeiten erspart.« »Du meine Güte! Wie unbarmherzig mein Bruderherz wird!« »Wenn es die Gelegenheit erfordert«, sagte Walton. »Dagegen läßt sich nichts sagen. Wir werden aber ebenso handeln.« Freds Blick verengte sich. »Erinnerst du dich noch an unser Gespräch im Bronze Room, Roy?« »Ganz genau.« »Ich habe dich da aufgefordert, deine Entscheidung zu treffen«, fuhr Fred fort. Walton war einen Moment lang unschlüssig. »Aber du hast doch gesagt, ich hätte eine Woche Zeit.« »Wir haben die Frist halbieren müssen«, erklärte Fred. »Es erscheint uns notwendig, die Aktionen zu beschleunigen.« »Und was wollt ihr nun eigentlich von mir?« fragte Walton, nur um Zeit zu gewinnen. »Ganz einfach: Du wirst zurücktreten und mir deinen Posten anbieten. Wenn das nicht bis morgen abend geschehen ist, dann sehen wir uns leider gezwungen, das Lamarre-Serum an die Bevölkerung zu verteilen. Das sind unsere Bedingungen, und es hat keinen Zweck, darum zu feilschen oder zu handeln.« Walton schwieg einen Moment lang und musterte nachdenklich das Gesicht seines Bruders auf dem Bildschirm. Schließlich sagte er: »Wie du dir denken kannst, erfordert es nicht nur Zeit, sondern auch bestimmte Verwaltungsmaßnahmen, um so einschneidende Veränderungen durchzuführen. Ich kann nicht einfach in der Nacht zurücktreten.« »FitzMaugham hat es getan.« »Es ist ziemlich geschmacklos, das einen Rücktritt zu nennen. Aber wenn du nicht dasselbe Chaos wie ich ernten willst, dann solltest du mir lieber ein wenig Zeit lassen, alles vorzubereiten. Aus Freds Augen funkelte heimlicher Triumph. »Soll das heißen, daß du einverstanden bist? Trittst du zu meinen Gunsten zurück?« »Natürlich kann ich nicht dafür garantieren, daß die UNO-Vollversammlung dich akzeptiert«, gab Walton warnend zu bedenken. »Selbst mit meiner Empfehlung kann ich keine hundertprozentige Erfolgschance versprechen.« »Dieses Risiko müssen wir eingehen«, sagte Fred. »Das wichtigste ist, dich erstmal von deinem Sessel herunterzuholen. Wann kann ich die Bestätigung von dir erwarten?« Walton musterte seinen Bruder mit heimlicher Überlegenheit. »Komm morgen um diese Zeit
in mein Büro. Inzwischen habe ich alles vorbereitet und werde dir zeigen können, wie die Maschinerie von ABEG arbeitet. Das ist ein Vorteil, den du mir gegenüber haben wirst: FitzMaugham hatte die Hälfte seiner Organisationsmethoden nur in seinem eigenen Gehirn registriert.« Fred grinste triumphierend. »Also bis morgen, Roy.« Selbstgefällig fügte er hinzu: »Ich wußte ja, daß Unbarmherzigkeit und Härte nicht tief in dir sitzen. Du warst nie ein richtig harter Bursche, Roy.« Nachdem Freds Gesicht vom Bildschirm verschwunden war, warf Walton einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war 11 Uhr. Als blieben ihm noch vierundzwanzig Stunden, um die Verschwörung der Großgrundbesitzer und ihrer bezahlten Söldlinge zu zerschlagen. Als erstes setzte er sich mit Sue Llewellyn in Verbindung, der Leiterin der Finanzabteilung von ABEG. »Sue, wie ist unsere Finanzlage?« »Wieviel brauchen Sie, Roy?« fragte sie zurück. »Sehr viel. Ich muß wissen, daß mir innerhalb der nächsten zwölf Stunden eine Milliarde zur Verfügung steht.« »Eine Milliarde? Sie scherzen wohl, Roy.« »Ganz und gar nicht«, antwortete Walton ernst. »Ich hoffe, ich brauche nicht alles. Aber ich muß da eine große Anschaffung machen ... eine Art Investition. Können Sie das Geld auftreiben? Mir ist es ganz gleich, woher es kommt, denn wenn wir es nicht bis heute abend zur Verfügung haben, dann wird ABEG wahrscheinlich übermorgen überhaupt nicht mehr existieren.« »Jetzt begreife ich überhaupt nichts mehr, Roy.« »Sagen Sie nur ja oder nein. Und wenn Ihre Antwort negativ ausfällt, dann müssen wir uns alle sehr schnell nach einem anderen Posten umsehen, Sue.« Sie stieß einen kleinen Ruf der Bestürzung aus, aber dann sagte sie entschlossen: »Ist in Ordnung, Roy. Ich mache mit, selbst wenn wir dabei pleite gehen. Es steht Ihnen ab sofort eine Milliarde zur Verfügung, obwohl ich dann nicht weiß, wie ich in der nächsten Woche meine Lohnzahlungen und andere Verpflichtungen erfüllen soll.« »Sie bekommen das Geld wieder«, sagte Walton, »zuzüglich der Zinsen.« Sein nächster Anruf galt einem Manne, den er noch von der Zeit her kannte, als er noch Sekretär bei Senator FitzMaugham gewesen war. Dieser Noel Hervey war ein mit allen Schlichen vertrauter Finanzmakler im Versicherungswesen und an der Börse. Hervey war ein schmächtiger, verhärmt aussehender Mann, aber sein klarer, scharfer Blick strafte diesen Eindruck Lügen. »Was haben Sie auf dem Herzen, Roy?« fragte er. »Sie sollen für mich ein Aktiengeschäft durchführen, und zwar schnell. Können Sie das innerhalb der nächsten Stunden erledigen?« Hervey schüttelte sofort den Kopf. »Tut mir leid, Roy. Ich bin da mit einem großen Projekt der Einschienen-Bahn beschäftigt. Mein Terminplan ist bis Mittwoch oder Donnerstag ganz ausgefüllt.« »Wieviel Geld verdienen Sie denn bei diesem großen Projekt, Noel?« fragte Roy unverblümt. »Aber, Roy! Solche indiskreten Fragen stellen ja nicht einmal die Steuerfahnder, wenn sie ...« »Bringt Ihnen das Projekt fünf Millionen Dollar ein, Noel?« »Fünf Millionen? — He, soll das ein Witz sein?« »Das werde ich heute dauernd gefragt«, antwortete Walton trocken. »Dabei war mir noch nie so ernst zumute. Ich will, daß Sie für mich sofort eine ganz große Börsenmanipulation durchführen. Sie haben mein Honorarangebot gehört.« Hervey sah mit einem Mal noch schlauer und unternehmungslustiger als sonst aus. »Ich stehe
zu Ihrer Verfügung, Roy. Schießen Sie los.« Einige andere Angelegenheiten mußten auch in aller Eile geregelt werden. Walton unterhielt sich kurze Zeit mit einem Nachrichteningenieur und bestellte dann vier technische Bücher, zu denen auch Theorie des Psycliedelic-Farbsehens gehörte. Dann bestellte er Lee Percy in einer Stunde zu sich und sagte seiner Sekretärin, daß er in den nächsten sechzig Minuten nicht zu sprechen sei. Die Stunde verging nur zu schnell. Walton war am Ende ganz benommen von zu vielem Lesen und Überprüfen, aber er wußte jetzt schon viel mehr über die vielfältigen Möglichkeiten, die die modernen Massenmedien ihm boten. Er drückte auf die Sprechtaste. »Ist Mr. Percy noch nicht da?« »Nein, Sir. Soll ich ihn benachrichtigen?« »Ja. Ich erwarte ihn sofort. Sind inzwischen irgendwelche Anrufe gekommen?« »Eine ganze Menge. Ich habe alle Gespräche in Mr. Eglins Büro geleitet, wie Sie es befohlen hatten.« »Gut gemacht, Mädchen«, lobte Walton. »Ah, da ist auch schon Mr. Percy. Und auch noch ein Anruf für Sie von der Nachrichtenabteilung.« Walton überlegte einen Moment. »Sagen Sie bitte Percy, er möchte einen Moment draußen warten. Und geben Sie mir das Gespräch.« Das Gesicht eines aufgeregt grinsenden Nachrichteningenieurs erschien auf dem Bildschirm. »Ein Hyperraum-Funkspruch ist eben für Sie durchgekommen, Sir«, verkündete der Mann. »Von der Venus?« »Nein, natürlich viel weiter weg, Sir. Von Colonel McLeod.« »Geben Sie mir den Text«, befahl Walton. Der Ingenieur las: »An Walton von McLeod, via Hyperraum-Radio: Erfolgreicher Flug zum Prokyon-System. Sind mit Botschafter von Dirnan an Bord auf dem Rückflug Ende.« »Gut. Ist das alles?«»Das ist bisher alles, Sir.« »In Ordnung. Halten Sie mich auf dem laufenden.« Er unterbrach die Verbindung und schaltete in sein Vorzimmer um. »Schicken Sie mir jetzt Mr. Percy herein«, befahl er. 15. Walton sah dem Chef der Presseabteilung erwartungsvoll entgegen und fragte: »Wieviel wissen Sie eigentlich über Theorie und Technik des Psychedelic-Farbsehens, Lee?« »Eigentlich nicht sehr viel«, gestand Percy. »Ich sehe mir so etwas fast nie an. Dieses Psychedelic-Farbsehen ist schlecht für die Augen.« Walton lächelte. »Das macht Sie also zu einem Außenseiter der Gesellschaft. Nach den mir vorliegenden Statistiken hat das nächtliche Psychedelic-Programm die höchste Zuschauerquote.« »Das mag schon sein«, gab Percy vorsichtig zu. »Mir gefällt dieser wilde Farbenzauber trotzdem nicht. Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Roy?« »Ich habe das Gefühl, wir könnten das Psychedelic-Farbsehen zu Propagandazwecken benutzen«, begann Walton zu erklären. »Im Laufe der letzten Jahre habe ich feststellen können, wie heftig bestimmte Leute auf Psychedelic-Sendungen reagieren.« Walton dachte da vor allen Dingen an seinen Bruder, den er bei solchen Sendungen früher beobachtet hatte, aber diesen Gedanken behielt er wohlweislich für sich. »Heute habe ich mich nun kurz über den Informationswert von Psychedelic-Sendungen orientiert. Wußten Sie, daß es möglich ist, Nachrichten in die PsychedelicProgramme zu infiltrieren?«
»Natürlich wußte ich das«, sagte Percy unruhig. »Aber die Nachrichten-Kommission würde Ihnen das nie gestatten, Roy!« »Bis die Nachrichten-Kommission etwas davon erfährt, haben wir unseren Zweck schon erreicht«, erklärte Walton ruhig. »Hinterher können sie uns nichts mehr beweisen.« Mit spöttischer Herausforderung fügte er hinzu: »Nachdem Sie Ihr Leben lang als Presseverbindungsmann gearbeitet haben, werden Sie doch nicht plötzlich von moralischen Bedenken geplagt werden, wie?« »Also ... erklären Sie mir, was Sie vorhaben, Roy.« »Das ist ganz einfach«, begann Walton. »Wir blenden eine Wortmeldung ein — etwa wie Hurra für ABEG oder Ich will keinen Krieg gegen Dirnan. Das wird für eine Mikrosekunde eingeblendet und dann sofort wieder mit Psychedelic-Farbmustern überdeckt. Nach zwei Minuten wird das gleiche gemacht. Die Worte werden ihre Wirkung erzielen, wenn man sie nur oft genug einblendet.« »Und sie werden in die Tiefe wirken«, bestätigte Percy erregt. »Ins Unterbewußtsein. Die Leute werden nicht einmal merken, wie man sie unterbewußt beeinflußt, aber plötzlich werden sie eine ganz andere Meinung über ABEG und Dirnan haben.« Percy schüttelte unruhig den Kopf. »Roy, ich denke nur ungern daran, was alles geschehen könnte, wenn diese Möglichkeit der Meinungsmache in die falschen Hände gerät.« »Daran habe ich schon gedacht«, beruhigte ihn Walton. »Wenn die Dirnan-Krise vorüber ist — also wenn wir in diesem Punkt unsere Meinung durchgesetzt haben — werde ich dafür sorgen, daß keiner mehr diese Propagandawaffe benutzen kann. Wir werden uns einen Sündenbock suchen und ihn bei einer Psychedelic-Sendung in flagranti ertappen. Das wird die Nachrichten-Kommission in Alarmstimmung versetzen, und die werden dann schon dafür sorgen, daß so etwas nicht wieder geschieht.« »Das heißt also, Sie wollen diese Technik jetzt anwenden«, stellte Percy fest. »Aber Sie wollen verhindern, daß diese Propagandawaffe je wieder von Ihnen oder einer anderen Stelle benutzt wird, und deshalb geben Sie dieses Geheimnis preis, sobald die Dirnan-Krise vorüber ist.« »Genau das habe ich vor«, bestätigte Walton und schob die technologischen Lehrbücher dem Chef der Presseabteilung zu. »Lesen Sie sich das auch einmal durch. Machen Sie sich mit der Materie vertraut. Dann kaufen Sie eine Stunde Psychedelic-Programm und lassen Sie von den Ingenieuren die Worteinblendungen programmieren. Verstanden?« »Es ist eine üble Masche, aber mir gefällt es. Wann soll das' Programm gesendet werden?« »Spätestens morgen«, sagte Walton. »Heute abend wäre es noch besser, wenn Sie es einrichten können. Und setzen Sie ei Meinungsforschungsinstitut ein, um die Wirksamkeit des Programms zu überprüfen. Zwei Botschaften sollen abwechselnd ein geblendet werden: die eine zur Unterstützung von ABEG, und di andere mit der Forderung nach einer friedlichen Lösung unsere Konflikts mit den Dirnanern. Die Meinungsforscher sollen d Bevölkerung den Puls fühlen und sofort die Reaktion melden. »Verstanden.« »Und noch etwas. Ich fürchte, Sie werden ab morgen mit einer weiteren Verantwortung belastet werden, Lee.« »Und das wäre?« »Ihrem Büro wird ein neues Medium angeschlossen werden: Telefax. Ich kaufe den Citizen, und wir wandeln das Blatt in ein Sprachrohr von ABEG um.« Percy starrte Walton zuerst in fassungslosem Erstaunen an und begann dann zu lachen. »Sie sind ein Wunder, Roy. Ein echtes Wunder.«
Kaum war Percy gegangen, meldete sich bereits der Finanzmakler Noel Hervey. »Nun, was haben Sie erreicht?« fragte Walton ungeduldig. Hervey sah wie ein General aus, der mitten in einer großen Schlacht ist. »Ich habe in der vergangenen halben Stunde zweihundert Millionen von ABEGs Geld erfolgreich ausgegeben, Roy«, meldete er. »Sie besitzen jetzt das größte augenblicklich vorhandene Aktienpaket des Citizen.« »Wieviel ist das?« »Einhundertzweiundfünfzigtausend Anteile. Ungefähr dreiunddreißig Prozent.« »Dreiunddreißig Prozent? Was ist mit den anderen achtzehn Prozent, die uns zur Aktienmajorität fehlen?« »Geduld, mein Junge, Geduld. Ich kenne meinen Beruf. Zuerst habe ich in aller Stille die ganzen kleinen Beteiligungen aufgekauft. Es hat mich eine ganze Menge gekostet, die Aufkäufe weit verstreut durchführen zu lassen.« »Warum haben Sie das getan?« fragte Walton. »Weil das eine Transaktion ist, die mit größter Vorsicht durchgeführt werden muß. Kennen Sie die Besitzverhältnisse beim Citizen?« »Nein.« »Also, die Konstellation ist folgende: Vereinigte Telefax sind mit sechsundzwanzig Prozent beteiligt, und Horace Murlin hält fünfundzwanzig Prozent. Da Murlin aber auch Inhaber der Vereinigten Telefax ist, verfügt er jetzt noch über die nötige Aktienmajorität von einundfünfzig Prozent, obwohl das natürlich nicht offiziell so eingetragen ist. Die anderen neunundvierzig Prozent spielen keine Rolle, nur Murlin ist wichtig. Deshalb kaufe ich für Sie soviel wie möglich im Namen von sechs verschiedenen Maklerfirmen auf. Vermutlich werde ich nicht die Mehrheit zusammenbekommen, aber ich kann wahrscheinlich mindestens fünfundvierzig Prozent aufkaufen. Dann mache ich mich an Murlin mit einem günstigen Angebot heran und verleite ihn dazu, mir sechs Prozent der Citizen-Aktien zu verkaufen. Er wird sich natürlich zuvor erkundigen und feststellen, daß die übrigen Aktienpakete auf neunundneunzig verschiedene Arten zersplittert sind, und er wird wahrscheinlich die sechs Prozent hergeben, weil er meint, immer noch die Majorität zu haben.« »Und wenn er nicht darauf eingeht?« fragte Walton. »Machen Sie sich keine Sorgen«, meinte Hervey zuversichtlich. »Er geht darauf ein. Schließlich kann ich mit einer Milliarde manipulieren, nicht wahr? Ich werde ihm ein so günstiges Angebot unterbreiten, daß er einfach nicht widerstehen kann. Sobald er uns die entscheidenden Prozente des Aktienkapitals überlassen hat, überweise ich Ihnen das ganze Paket. Mit der Aktienmajorität von einundfünfzig Prozent boten Sie Murlin im Aufsichtsrat aus, und die Telefax-Zeitung gehört Ihnen! Ist das nicht einfach? Und klar?« »Ausgezeichnet«, lobte Walton. »Machen Sie also in diesem Sinne weiter, Noel. Und halten Sie mich auf dem laufenden.« »Mr. Ludwig von der UNO hat inzwischen angerufen, Sir«, meldete man Walton, als er nach dem Mittagessen in sein Büro zurückkehrte. »Er würde Sie bitten, zurückzurufen.« »In Ordnung«, bestätigte Walton. »Verbinden Sie mich mit ihm.« Als Ludwigs Gesicht auf dem Bildschirm erschien, sagte Walton: »Tut mir leid, daß Sie mich nicht schon früher erreichen konnten. Was ist denn geschehen?« »Vor kurzen ist eine Sondersitzung des Sicherheitsrats zu Ende gegangen«, berichtete Ludwig aufgeregt. »Es wurde eine einstimmige Resulution gefaßt und sofort an die Vollversammlung weitergeleitet. Es wird sofort eine Beratung über den zu wählenden ständigen Chef von ABEG durchgeführt.«
Walton ließ sich nicht anmerken, daß dies überhaupt nicht in seine Pläne paßte. »Wie kommt das?« fragte er nur. »Die Dirnan-Krise. Man will nicht, daß nur ein Amtierender Direktor diese Affäre behandelt. Ein Mann, der mit den Dirnanern verhandelt, soll auch die volle Billigung der UNO haben.« »Und wie sind meine Chancen dabei?« »Das läßt sich nicht so ohne weiteres sagen«, meinte Ludwig ausweichend. »Augenblicklich neigt die Mehrheit noch dazu, Sie für dauernd in Ihrem Amt zu bestätigen. Ich würde vorschlagen, daß Sie bei der Beratung persönlich erscheinen und Ihr Programm detailliert vorstellen. Im anderen Falle würde man vielleicht einen geschmeidigen Schwätzer von Politiker auf Ihren Posten wählen. Die Beratung ist für übermorgen vormittag elf Uhr anberaumt. Das ist also am Achtzehnten.« Walton ließ sich auch seine Erleichterung über den späten Termin nicht anmerken. »Ich werde kommen«, versprach er. »Und vielen Dank für den Tip.« Walton überlegte ein paar Minuten lang intensiv und begann sich dann Notizen zu machen. Der nächste Tag begann sehr turbulent. Hervey meldete sich als erster. »Die Transaktion mit dem Citizen ist unter Dach und Fach, Roy!« meldete er triumphierend. »Ich habe gestern abend mit Murlin diniert und ihm vier Prozent der Aktien vom Citizen abgeluchst, indem ich ihm als Gegenleistung einen Tip über das neue Einschienenbahn-Projekt in Richtung Nevada gegeben habe. Er war so zufrieden, daß er vor Selbstgefälligkeit wie ein Wolf gegrinst hat — aber heute morgen wird sein Grinsen anders aussehen.« »Es ist alles schon fixiert?« fragte Walton. »Voll und ganz. Ich war schon um sieben Uhr auf und habe meine Anteile unter einen Hut gebracht — Ihre Anteile, meine ich natürlich. Es sind etwas über siebenundvierzig Prozent. Zusammen mit Murlins vier Prozent hat ABEG jetzt die Aktienmajorität vom Citizen Roy!« »Das nenne ich eine prompte und gute Arbeit«, lobte Walton. »Wieviel hat uns das nun eigentlich gekostet?« »Vierhundertdreiundachtzig Millionen«, meldete Hervey. »Zuzüglich meiner üblichen fünf Prozent Kommissionsgebühr, was in diesem Falle ungefähr zwei und eine Viertel Million ausmacht.« »Aber ich habe Ihnen fünf Millionen geboten«, wandte Walton ein. »Mein Angebot gilt noch.« »Wollen Sie etwa, daß ich meine Lizenz verliere?« fragte Hervey ruhig. »Ich habe jahrelang Bestechungsgelder verteilt, um meine Makler-Lizenz zu bekommen, und die soll ich jetzt für ein paar Millionen aufs Spiel setzen? Nein, das machen wir nicht. Ich bekomme von Ihnen zwei und eine Viertel Million, und das ist verdammt viel für einen Tag Arbeit.« Walton grinste. »Sie haben natürlich recht. Und Sue Llewellyn wird froh sein, daß der Citizen nicht die Hälfte von dem kostet, was wir eventuell ausgeben wollten. Kommen Sie nachher mit den Papieren herüber?« »Gegen zehn Uhr«, versprach Hervey. »Ich muß nur noch mit Murlin wegen des Einschienenbahn-Projekts sprechen. Der wird Augen machen! Also bis nachher.« »Bis nachher.« Walton machte sich schnell einige Notizen. Sobald die Übergabedokumente in seiner Hand waren, würde er Murlin mitteilen, daß sofort eine Aktionärsversammlung stattfinden müsse. Dann würde er Murlin von seinem Thron stoßen, den augenblicklichen Chefredakteur des Citizen an die Luft setzen, und in den Redaktionsstab Männer berufen, die treu zu ABEG standen.
Fred war um elf Uhr fällig. Walton rief den neuen Sicherheitschef Keeler an und sagte: »Ich bin mit jemand um elf Uhr verabredet, Keeler. Postieren Sie drei Mann vor meinem Büro und durchsuchen Sie den Besucher bei seiner Ankunft nach Waffen.« »Das würden wir ohnehin tun, Sir«, erklärte Keeler. »das gehört jetzt zu den Vorschriften.« »Gut. Aber ich möchte, daß Sie selbst dabei sind. Und sorgen Sie dafür, daß die beiden anderen ebenfalls absolutes Stillschweigen bewahren. Ich will nicht, daß irgend etwas davon an die Öffentlichkeit dringt.« »In Ordnung, Sir.« »Sie kommen also gegen 10 Uhr 50«, befahl Walton. »Gegen Uhr 15 gebe ich Ihnen ein Signal und drücke auf meinen Türöffner. Dann kommen Sie herein, verhaften meinen Besucher und setzen ihn in eine Zelle des Sicherheitsdienstes. Dort bleibt er bis auf weiteres. Falls Martinez wissen will, was da vor sich geht, erklären Sie ihm, daß ich die Verantwortung übernehme.« Keeler sah zwar etwas verblüfft aus, nickte aber nur. »Wir durchsuchen ihn zuerst nach Waffen und lassen ihn dann fünfzehn Minuten mit Ihnen sprechen«, wiederholte er die Befehle. , »Dann kommen wir auf Ihr Signal herein und verhaften ihn. Ist das richtig?« »Richtig«, bestätigte Walton. »Dieser Mann ist ein gefährlicher Verschwörer gegen ABEG. Betäuben Sie ihn, bevor Sie ihn aus meinem Büro wegschaffen. Ich will nicht, daß er Lärm schlägt.« Der Meldegong ertönte. »Die Nachrichtenabteilung hat eine Botschaft für Sie, Mr. Walton.« Er schaltete von Keeler auf die Nachrichtenabteilung um und sagte: »Was gibt es?« »Es ist eine Meldung von McLeod, Mr. Walton«, berichtete der Nachrichteningenieur. »Wir haben den Funkspruch eben aufgefangen. Er lautet: >Ankomme Nairobi am 15., bin mit dem Botschafter von Dirnan am nächsten Morgen in Ihrem Büro, falls ihm die Strapaze der Reise zuzumuten ist. Würden Sie im anderen Falle nach Nairobi kommen?« »Funken Sie ihm zurück, daß ich, wenn nötig, kommen werde«, befahl Walton. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war 9 Uhr 17. Der Tag schien so turbulent weiterzugehen, wie er angefangen hatte. Und Fred war um elf Uhr fällig. 16. Hervey kam um 10 Uhr 03, mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht. Stolz breitete er einen Stapel von Dokumenten auf Waltons Schreibtisch aus. »Hier sehen Sie vor sich das wichtigste Telefax-Nachrichtenorgan der Welt«, erklärte Hervey mit gespielter Feierlichkeit und lachte dann. »Das gehört alles Ihnen. Ich habe bei Murlin vorhin die Bombe platzen lassen. Den hätten Sie sehen sollen. Ich dachte, er würde selbst platzen.« »Was hat er gesagt?« fragte Walton neugierig. »Was konnte er schon sagen? Zuerst wollte er einfach nicht glauben, daß jemand in dieser Schnelligkeit all die kleinen Anteile zu einem großen Paket zusammengekauft haben könnte. Als ich ihm dann erklärte, daß ich meine vier Prozent auch an diesen anonymen Aufkäufer verkaufen würde, da wurde er abwechselnd blaß und rot. Als ich ihn verließ, telefonierte er eifrig, aber ich fürchte, was er dabei feststellt, wird ihm gar nicht gefallen.« Walton musterte die Dokumente. »Diese Papiere geben nun soviel Macht«, sinnierte er und nickte dann Hervey zu. »Sie haben gut gearbeitet. Genügt es, wenn ich Ihnen die Anweisung in ungefähr einer halben Stunde ausstellen lasse?«
»Genügt völlig«, willigte Hervey ein. »Ihre Sicherheitsmaßnahmen sind ja jetzt sehr streng«, fügte er mit einem nervösen Blick auf die Tür hinzu. »Die beiden Burschen da draußen haben mich ganz schön gefilzt.« »Ich erwarte nachher einen etwas zweifelhaften Besucher«, erklärte Walton leichthin. »Mein Sicherheitsdienst muß vorsichtig sein.« Hervey verabschiedete sich, und Walton sichtete noch einmal die wichtigen Dokumente und heftete sie ab. Fred kam pünktlich um elf Uhr. Inzwischen hatte Walton schon die Maßnahmen zur Übernahme des Citizen eingeleitet. Die Zehn-Uhr-Ausgabe des Citizen war die letzte unter der Leitung des alten Chefredakteurs. Inzwischen hatte Murlin schon in der Redaktion Alarm geschlagen, und als Walton um 10 Uhr 30 die Kündigungen schicken ließ, räumten die Redakteure bereits ihre Schreibtische. Aber diese Zehn-Uhr-Ausgabe hatte es noch in sich. Die Schlagzeile lautete: SIND WIR SCHON SKLAVEN DER GRÜNHÄUTE? Der Leitartikel und die meisten Berichte waren flammende Anti-ABEG-Propaganda. Eine ganze Seite »Leserbriefe« — tatsächlich handelte es sich zumeist um Telefonanrufe, da die Leser des Citizen kaum je Briefe schrieben — spiegelte natürlich getreulich die Meinung des Redaktionsstabes wider. Ein »Brief« fiel Walton besonders ins Auge. Er war von einer Mrs. P. F. aus der Umgebung von New York City, was wahrscheinlich Jersey oder Connecticut bedeutete. Der Brief war kurz und deutlich: An den Herausgeber! Ein Bravo für Sie! ABEG ist eine verdammte Verbrecherorganisation, und dieser Gangster Walton sollte erledigt werden, und wir sollten diese Grünhäute umbringen, bevor sie uns umbringen. Wir brauchen Lebensraum. Wir sollten sie umbringen, bevor sie uns umbringen. Walton , schüttelte mit einem mitleidigen Lächeln den Kopf. Immer wieder brachen in Krisenzeiten in den Menschen diese uralten Panikreaktionen und hysterischen Gefühle hervor. Er warf einen Blick auf seine Hand. Sie war vollkommen ruhig, obwohl ihm seine Armbanduhr zeigte, daß Fred in wenigen Minuten hier sein würde. Noch vor einer Woche hätte er in dieser Situation mehrere Beruhigungstabletten schlucken müssen, um seine Fassung zu bewahren. Er wunderte sich selbst, wieviel härter und gelassener er innerhalb weniger Tage geworden war. Der Zweck heiligt die Mittel, dachte Walton grimmig, während er auf die Ankunft seines Bruders wartete. Fred war völlig in Schwarz gekleidet: von seiner stilisierten Neuviktorianischen Weste und dem Seidenband an seinem Kragen bis zu den schimmernd schwarzen Lackschuhen. Die Eleganz seiner Kleidung schuf einen seltsamen Gegensatz zur Plumpheit seiner Gesichtszüge und seines Körperbaus. Um Punkt elf Uhr betrat er Waltons Büro mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes, der zur absoluten Machtübernahme bereit ist. »Guten Morgen, Roy«, begrüßte er seinen Bruder mit spöttischer Überlegenheit. »Ich bin pünktlich wie immer.« »Und du siehst glänzend aus, mein lieber Bruder.« Walton nickte mit ironischer Anerkennung. »Das kleidet dich bestimmt besser als ein Ärztekittel.«
»Den werde ich auch nie wieder tragen«, verkündete Fred. »Gestern nach dem Gespräch mit dir habe ich unten in der Klinik Bescheid gesagt. Ich bin kein simpler Angestellter von ABEG mehr. Also muß ich mich auch meinem neuen Rang entsprechend kleiden.« Er grinste erwartungsvoll. »Nun, bist du bereit, Krone und Zepter zu übergeben, Roy?« »Noch nicht ganz«, antwortete Walton. »Aber ...« »Aber ich habe dir versprochen, ich würde heute zu deinen Gunsten abdanken, Fred«, ergänzte Walton. »Zwar habe ich nicht genau diese Worte benutzt, aber das dem Sinne nach so ausdrücken wollen, nicht wahr?« »Natürlich hast du das getan«, bestätigte Fred und musterte seinen Bruder mißtrauisch. »Du hast gesagt, ich solle um elf Uhr herkommen, und du würdest dann alles für die Übergabe arrangieren.« Walton nickte. »Stimmt, das habe ich gesagt.« Er legte eine Kunstpause ein und erklärte dann ruhig: »Aber ich habe gelogen, Fred.« Er hatte absichtlich die kürzeste und wirkungsvollste Formulierung gewählt. Wie der Erfolg zeigte, war seine Wahl richtig gewesen. Freds Gesicht wirkte mit einem Male geisterbleich gegen seine schwarze Kleidung. Ein Ausdruck von fast entsetztem Unglauben flackerte in seinem Blick auf. Walton wußte, daß er mit einem Schlag das Bild zerstört hatte, das Fred sich immer von ihm gemacht hatte: der ältere Bruder, tüchtig und fleißig, freundlich zu Tieren und etwas zu gutmütig. Im übrigen auch von äußerster Ehrlichkeit. Eine hinterlistige Lüge dieser Art hatte Fred bei seinem Bruder einfach nicht erwartet. Und das offene Eingeständnis verwirrte ihn noch mehr. »Du hast von Anfang an nicht mitmachen wollen?« fragte Fred mit tonloser Stimme. Walton schüttelte den Kopf. »Du bist dir hoffentlich ganz klar darüber, was das bedeutet? Sobald ich meinen Auftraggebern deine Weigerung mitteile, wird mit der Massenproduktion und Verteilung des Lamarre-Serums begonnen. Wenn ich nachher draußen ...« »Du kommst hier nicht mehr heraus«, unterbrach Walton ihn ruhig. Echte Furcht schwang jetzt in Freds Stimme mit, als er sagte: »Das kannst du doch nicht ernst meinen, Roy. Meine Auftraggeber wissen, wo ich bin. Natürlich wissen sie auch, weswegen ich hier bin. Falls die innerhalb von vierundzwanzig Stunden nichts von mir hören, werden sie mit der Produktion und Verteilung des Serums beginnen. Du kannst einfach nicht hoffen, auf diese Weise...« »Ich riskiere es«, unterbrach Walton ihn scharf. »Zumindest habe ich einen Vorsprung von vierundzwanzig Stunden. Du hast dir doch nicht im Ernst eingebildet, Fred, daß ich dir ABEG auf einer silbernen Platte servieren würde? Ich weiß ja nicht einmal, wie sicher meine eigene Stellung hier ist. Vielleicht muß ich eines Tages eine Etage tiefer in mein altes Büro zurück. Jedenfalls bist' du verhaftet, Fred!« »Verhaftet?« Fred sprang auf und starrte seinen Bruder über den Schreibtisch hinweg an. »Du hast das alles so geplant, nicht wahr?« stieß er hervor. »Du hast mir eine Komödie der Nachgiebigkeit vorgespielt, und ich habe dir geglaubt. Ich dachte, du wärest einer so heimtückischen Tat nicht fähig.« »Aber wie du siehst, bin ich dazu fähig«, sagte Walton herausfordernd. Plötzlich rannte Fred um den Schreibtisch herum und griff Walton blindlings an. Aber Walton hatte Keeler schon das Signal gegeben, und jetzt parierte er Freds Angriff. Sein Faustschlag traf Fred so voll an der Brust, daß er mehrere Schritte zurücktaumelte. Schwer atmend blieb Fred stehen. »Du hast dich wirklich sehr verändert«, keuchte er. »Ich hätte nie gedacht, daß du mir so etwas antun könntest.«
Walton zuckte mit den Schultern. »Schau hinter dich, Fred, dann siehst du, was ich dir alles antun kann.« Fred wandte langsam den Kopf. Keeler und die beiden anderen Sicherheitsbeamten in ihrer grauen Uniform standen an der Tür. »Betäuben Sie ihn und schaffen Sie ihn weg«, befahl Walton. »Behalten Sie ihn in Haft, bis ich weitere Befehle gebe.« Fred starrte ihn entsetzt an. »Du bist ja ein Diktator!« rief er heiser. »Du schiebst Menschen umher wie Schachfiguren, Roy. Wie Schachfiguren.« »Betäuben Sie ihn«, wiederholte Walton ruhig. Keeler hatte seine Betäubungspistole schon in der Hand. Ein leises Zischen war zu hören, als der Betäubungsstrahl in Freds Körper drang. Im nächsten Moment brach Fred lautlos zusammen. »Nehmt ihn auf«, befahl Keeler. Er salutierte zu Walton hin und folgte den beiden Männern. Die Nachricht erschien bereits in der Dreizehn-Uhr-Ausgabe des Citizen, und an dem ganzen Tenor erkannte Walton, daß Lee Percy bereits seine Hände im Spiel hatte. Die Schlagzeile lautete: NEUER ATTENTATSVERSUCH AUF ABEG-CHEF Nach den üblichen Untertiteln folgte dann der Hauptbericht: Heute morgen gegen elf Uhr versuchte ein Attentäter, den neuen Chef von ABEG umzubringen. Die Sicherheitsbeamten griffen so rechtzeitig ein, daß Roy Walton vor dem Schicksal seines früheren Chefs bewahrt wurde. Walton sagt, er ist unversehrt. Der Attentäter ist ihm nicht einmal nahegekommen. Er berichtete auch unserem Reporter, daß er bald gute Nachrichten von der Neuen Erde erwarte. Diese Mitteilung gefällt uns. Vielleicht ist ABEG unter neuer Leitung doch auf dem rechten Wege? Wer weiß? Das war noch immer der für den Citizen übliche Journalistenton, aber die ausgesprochenen Gedanken klangen jetzt ganz anders. Walton rief Percy an, sobald er den Artikel gelesen hatte. »Sie haben das gut hinbekommen, Lee«, lobte er. »Die Diktion ist die gleiche wie früher, nur der Inhalt hat sich fast unmerklich zu unseren Gunsten verändert.« »Morgen wird der Citizen noch besser sein«, versprach Percy. »Gut so«, sagte Walton. »Übrigens können wir diesen Botschafter von Dirnan erst frühestens in vierundzwanzig Stunden erwarten. Inzwischen haben wir ja schon unsere PsychedelicFarbschau abgezogen. Hoffentlich hat sich dann die Volksstimmung entsprechend gebessert.« Percy grinste. »Ganz bestimmt, Chef. Darauf können Sie wetten.« Der Meldegong ertönte wieder. »Ja?« sagte Walton. »Mr. O'Mealia vom Observatorium Mount Palomar möchte Sie sprechen, Sir.« O'Mealia hatte ein rotes, fröhliches Gesicht. Er stellte sich als Mitglied des Forschungsstabes vom Observatorium Mount Palomar vor. »Bin ich froh, daß ich Sie endlich erreichen konnte«, begann er eifrig. »Hänge schon seit einer Stunde an der Leitung. Heute früh haben wir auf der Venus etwas beobachtet, was für Sie vielleicht interessant ist.« »Auf der Venus? Was war da?« »Eine Wolkendecke, die sehr merkwürdig aussieht, Mr. Walton. Wir haben darüber gleich mit dem ganzen Stab diskutiert, und es schaut so aus, als ob sich in der Atmosphäre der Venus eine Art von atomarer Kettenreaktion abspielt. Das könnte mit der Expedition
zusammenhängen, die ABEG zur Venus geschickt hat. Es sieht fast so aus, als hätten sie den ganzen Planeten in die Luft gesprengt!« 17. Walton konnte sich an diesem Abend nicht dazu überwinden, sich in der Stille seiner Wohnung Percys Psychedelic-Programm anzuschauen. Statt dessen las er ein wenig und wartete dann auf die Einundzwanzig-Uhr-Ausgabe des Citizen, die pünktlich aus dem Telefax-Schlitz fiel. Schließlich fand er die Nachricht an unauffälliger Stelle unten auf dem Blatt. Er mußte lange nach dem Bericht von der Venus suchen. ZWISCHENFALL AUF DER VENUS Vor wenigen Stunden hat auf der Venus eine riesige Explosion stattgefunden. Astronomen, die das Ereignis beobachteten, halten es für eine Atomexplosion in der Atmosphäre des Planeten. Inzwischen werden Versuche unternommen, Verbindung mit dem Stab von Ingenieuren aufzunehmen, die auf der Venus arbeiten. Noch ist kein Lebenszeichen von ihnen zu bekommen. Vielleicht sind sie tot. Walton nickte anerkennend. Percy hatte die Nachricht gut frisiert. Erstens einmal hatte er keine Verbindung zwischen Lang und ABEG hergestellt und damit das Amt in der Öffentlichkeit nicht mit Katastrophen und Mißerfolgen in Zusammenhang gebracht. Außerdem war die Nachricht so allgemein gehalten, daß ebensogut irgendein Naturereignis und nicht die Ungeschicklichkeit von Ingenieuren die atmosphärischen Veränderungen auf der Venus bewirkt haben konnte. Walton legte sich ziemlich beruhigt schlafen. Er hatte zum ersten Male das sichere Gefühl, daß das Bewußtsein der Öffentlichkeit in der richtigen Form beinflußt wurde. Als Walton um neun Uhr in sein Büro kam, hatten die Meinungsforscher bereits einen zehnprozentigen Stimmungsumschwung der öffentlichen Meinung zugunsten von ABEG und Walton errechnet. Um zehn Uhr erschien ein Extrablatt des Citizen mit der Ankündigung, die Aussicht für eine friedliche Besiedlung der Neuen Erde seien ausgezeichnet. Der Leitartikel war eine geschickt getarnte Lobeshymne auf Walton. Auch die von Lee Percy sorgfältig ausgewählten Leserbriefe spiegelten einen deutlichen Meinungsumschwung wider. Der Trend setzte sich fort und wirkte wie ein ansteckendes Fieber. Als Walton um elf Uhr das Cullen Building verließ und sich in einem Jet-Taxi zum UNO-Hauptquartier bringen ließ, war der Pro-ABEG-Trend der öffentlichen Meinung schon fast überwältigend. Das Jet-Taxi landete auf der Plattform vor der schimmernd grünen Glasfassade des UNOHauptquartiers. Walton gab dem Piloten einen Geldschein und trat in die helle Halle, wo ihn Ludwig schon erwartete. »Die Sitzung hat schon begonnen«, berichtete Ludwig erregt. »Schon um zehn Uhr.« »Wie ist die allgemeine Lage?« erkundigte sich Walton. »Ehrlich gesagt, ich bin erstaunt, Roy«, gestand Ludwig. »Ein paar Unentwegte schreien zwar immer noch nach Ihrem Skalp, aber andererseits bekommen Sie Hilfe von ganz unerwarteter Seite. Der alte Mögens Snorresen aus Dänemark ist plötzlich aufgestanden und hat erklärt, es sei eine Notwendigkeit für die Sicherheit der Menschheit, Sie zum Ständigen Direktor von
ABEG zu ernennen.« »Snorresen?« Aber war das nicht derjenige, der mich unbedingt aus dem Amt feuern wollte?« Ludwig nickte. »Das ist es ja, was mich in Erstaunen versetzt. Das Klima ändert sich, und zwar ganz deutlich. Lassen Sie sich von der Woge des Erfolges tragen, Roy. So wie es jetzt aussieht, könnte diese Woge Sie auf Lebenszeit in Ihr Amt hinaufbefördern.« Sie betraten den riesigen Versammlungssaal. Am Rednerpult stand gerade ein Neger. »Wer ist das?« flüsterte Walton. »Malcolm Nbono, der Delegierte von Ghana. Er sieht in Ihnen eine Art von Heiligen unserer Zeit.« Walton ließ sich auf einen Galeriesitz sinken und sagte leise: »Hören wir uns das erst einmal von hier oben an, bevor wir hinuntergehen. Ich will die allgemeine Atmosphäre erkunden.« Der junge Delegierte aus Ghana sagte gerade: »... Krisenpunkte sind eine normale Erscheinung in der Menschheitsgeschichte. Als mein Volk vor langen Zeiten das Kolonialjoch abschüttelte und die Freiheit errang, lernten wir sehr bald, daß mühsame Verhandlungen und friedliche Vereinbarungen unendlich viel wirkungsvoller sind als Angriffsaktionen und kriegerische Auseinandersetzungen. Nach meiner Auffassung ist Roy Walton ein hervorragender Verfechter dieser Moralphilosophie. Ich beantrage daher mit allem Nachdruck seine Wahl zum Ständigen Direktor des Amts für Bevölkerungsausgleich.« Ein bärtiger, gewichtiger Mann rechts von Nbono rief an dieser Stelle »Bravo!« und fügte einige unverständliche skandinavische Ausrufe hinzu. »Das ist der gute alte Mögens«, erklärte Ludwig leise. »Wie Sie sehen, steht der Däne heute morgen ganz auf Ihrer Seite.« Vielleicht hatte er gestern abend auch die Psychedelic-Schau gesehen, dachte Walton. Der Delegierte von Ghana schloß seine Rede mit einer kurzen, aber wirkungsvollen Lobeshymne auf Walton. »Also gut, gehen wir hinunter«, sagte Walton entschlossen. Es wurde ein großer Auftritt. Ludwig nahm seinen Delegiertenplatz ein, und Walton setzte sich zu seiner Rechten. Ein leises Gemurmel ging durch die Reihen. Der im Augenblick präsidierende Generalsekretär war Lars Magnusson aus Schweden. »Wie ich sehe, ist Mr. Walton von ABEG angekommen«, erklärte er. »Mit einer einstimmig angenommenen Resolution haben wir gestern Mr. Walton eingeladen, uns heute vormittag einen kurzen Rechenschaftsbericht zu geben. Sind Sie jetzt dazu bereit, Mr. Walton?« »Jawohl, ich bin bereit«, sagte Walton und stand auf. »Und ich danke Ihnen für die Sprecherlaubnis.« Die Gesichter der Delegierten waren aufmerksam auf ihn gerichtet ... und irgendwo dahinter — im Schatten hinter den Scheinwerfern der Kameras — spürte Walton die Hunderte von Augenpaaren der Zuschauer auf den Galerien. Offensichtlich hatten die meisten dieser Galeriebesucher gestern abend auch Percys Psychedelic-Schau gesehen. Eine donnernde Woge von Applaus flutete auf Walton herab, als er ans Rednerpult trat. Das ist fast zu einfach, dachte er ein wenig beklommen. Diese Psychedelic-Schau scheint alle hypnotisiert zu haben. Er befeuchtete seine Lippen und begann: »Herr Generalsekretär, Mitglieder der Vollversammlung, Freunde: Ich bin sehr dankbar für diese Möglichkeit, vor Ihnen über meine Amtsführung zu sprechen. Heute soll hier von der Hauptversammlung ein ständiger Nachfolger für den großen FitzMaugham gewählt werden. In aller Bescheidenheit möchte ich mich als Kandidaten für diesen Posten zur Verfügung stellen.« Eigentlich hatte Walton eine lange, zündende und überwältigende Rede geplant, aber die
Geschehnisse des heutigen Morgens hatten ihn davon überzeugt, daß dies unnötig sei. Die Psychedelic-Schau mit ihren raffiniert eingeblendeten Bewußtseins-Slogans hatte ihm diese Aufgabe abgenommen. »Meine Qualifikation für diesen Posten ergibt sich aus Tatsachen, die Ihnen allen bekannt sein dürften«, fuhr er mit ruhiger Stimme fort. »Ich habe schon für Direktor FitzMaugham gearbeitet, als ABEG sich noch im Frühstadium der Planung und Vorbereitung befand. Nach seinem plötzlichen gewaltsamen Tode mußte ich ohne Vorbereitungen sein Amt übernehmen, und das war bestimmt keine leichte Aufgabe. Gewisse Umstände lassen es ratsam erscheinen, daß ich dieses Amt weiterführe. Wie Sie vielleicht schon wissen, scheinen die Experimente der Lebensraumschaffung auf der Venus mißglückt zu sein. Falls dieses Projekt tatsächlich gescheitert ist, wird es für uns um so dringender notwendig, zu anderen Sternensystemen vorzudringen, um uns von unserem Bevölkerungsüberschuß zu befreien.« Walton ließ eine kleine Pause eintreten und verkündete dann mit eindrucksvoll erhobener Stimme: »In genau vier Stunden wird der Botschafter einer Rasse von fremden Lebewesen auf der Erde landen, um mit dem Direktor von ABEG zu verhandeln. Ich brauche wohl nicht erst zu betonen, wie äußerst wichtig es in diesem Zusammenhang ist, die Aktionsfähigkeit des Amtes eines Direktors von ABEG gerade in dieser kritischen Situation zu erhalten. Ganz klar ausgedrückt: Ich halte es für lebensnotwendig für unsere Erdbevölkerung, daß ich die begonnene Kontaktaufnahme fortsetze. Dazu bitte ich Sie alle um Ihre Unterstützung. Vielen Dank.« Als er sich hinsetzte, starrte Ludwig ihn entsetzt an. »Roy!« zischelte der Delegierte. »Was war denn das für eine Rede? Sie können doch nicht einfach den Posten fordern! Sie müssen genauere Begründungen geben! Sie müssen ...« »Schon gut«, unterbrach ihn Walton mit einem leichten Lächeln. »Machen Sie sich keine Sorgen darüber. Ich glaube, meine Rede wird auch so wirken.« 18. Unter dem Vorwand dringender Dienstgeschäfte verließ Walton die UNO-Vollversammlung um 12 Uhr 15. Die Abstimmung begann um 13 Uhr, und schon eine halbe Stunde später wurde das Ergebnis offiziell bekanntgegeben. Die Vierzehn-Uhr-Ausgabe des Citizen brachte als erste die Nachricht: WALTON ZUM CHEF VON ABEG GEWÄHLT! Die UNO-Vollversammlung sprach Roy Walton heute ihr volles Vertrauen aus. Mit 95 JaStimmen bei keiner Gegenstimme und nur drei Stimmenthaltungen wurde er als Nachfolger des verstorbenen D.F. FitzMaugham als Direktor von ABEG gewählt. Er hat den Posten schon als Amtierender Direktor in den vergangenen acht Tagen innegehabt. Walton rief Percy an. »Wer hat diesen Artikel im Citizen über mich geschrieben?« fragte er. »Ich, Chef. Warum?« »Gut gemacht, aber nicht genug Schwung«, kritisierte Walton. »Nehmen Sie in der nächsten Ausgabe alle schwierigen und vielsilbigen Wörter heraus. Bleiben Sie beim alten Stil des Citizen mit den harten, hämmernden Schlagworten.« »Wir dachten, wir könnten diesen Stil jetzt ein wenig aufpolieren, nachdem Sie im Amt sind«, meinte Percy.
»Nein. Das ist gefährlich. Bleiben Sie beim alten Stil, aber bringen Sie inhaltlich einen neuen Geist hinein. Wir kommen jetzt erst so richtig in Fahrt. Was sagen die Meinungsforscher?« »Ein fünfzigprozentiger Umschwung zugunsten von ABEG. Seit heute mittag sind Sie der populärste Mann im Lande. In den Kirchen wird für Sie gebetet. Man spricht sogar davon, Sie anstelle des alten Lanson zum Präsidenten der Vereinigten Staaten zu wählen.« »Lanson soll ruhig seinen Posten behalten«, meinte Walton lächelnd. »Ich möchte nicht nur als Aushängeschild dienen. Dazu bin ich noch zu jung. Wann ist der nächste Citizen fällig?« »Um fünfzehn Uhr. Wir bringen jetzt bis zur Beendigung der Krise stündlich eine Ausgabe.« Walton überlegte einen Moment. »Ich glaube, fünfzehn Uhr ist zu früh. Der Botschafter von Dirnan landet in Nairobi frühestens um 15 Uhr 30. In der Sechzehn-Uhr-Ausgabe will ich das in großer Aufmachung sehen — aber zuvor kein Wort darüber!« »Wird gemacht, Chef«, sagte Percy und trennte die Verbindung. Der Meldegong ertönte. »Da ist ein Anruf für Sie über Dienstleitung aus Djakarta, Sir«, verkündete die Sekretärin. »Woher?« »Aus Djakarta. Auf Java.« »Geben Sie mir die Verbindung«, befahl Walton. »Ein volles Gesicht erschien auf dem Bildschirm, das Gesicht eines Mannes, der in einem tropischen Klima ein Nichtstuerleben geführt hat. Die heisere Baßstimme fragte: »Sind Sie Walton?« »Ich bin Walton.« »Mein Name ist Gaetano di Cassio. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Signor Direktor Walton. Mir gehören Gummiplantagen in diesem Gebiet hier.« Walton fiel sofort der oberste Name auf der Liste der Großgrundbesitzer ein, die Lassen für ihn aufgestellt hatte: Di Cassio, Gaetano. 57. Landbesitz geschätzt auf etwa ein und eine Viertel Milliarde. Geboren Genua 2175, niedergelassen in Amsterdam 2199. Großen Grundbesitz in Java gekauft 2211. »Was kann ich für Sie tun, Mr. di Cassio?« Der Plantagenbesitzer sah nervös aus; Schweißperlen rollten über seine vollen Wangen. »Ihr Bruder«, begann er zögernd, »Ihr Bruder hat für mich gearbeitet. Ich habe ihn gestern zu Ihnen geschickt. Er ist nicht zurückgekehrt.« »Wirklich?« Walton lächelte spöttisch und zuckte mit den Schultern. »Es gibt da ein berühmtes Sprichwort, das ich jetzt zitieren könnte. Aber das tue ich nicht.« »Für Scherze ist das wohl jetzt nicht der richtige Augenblick«, sagte die Cassio düster. »Wo ist er?« »Im Gefängnis«, antwortete Walton ohne Umschweife. »Versuchte Nötigung eines Mannes im Öffentlichen Dienst.« Di Cassio starrte ihn entgeistert an. »Hat Ihnen Ihr Bruder nicht gesagt, was geschehen wird, wenn Sie seiner Aufforderung nicht Folge leisten?« »Das hat er mir deutlich genug erklärt«, bestätigte Walton. »Und?« Der dicke Mann sah so aus, als hätte er soeben einen Tiefschlag bekommen. »Aber ... aber ...«, stammelte er, »das ... das können Sie doch nicht tun.« »Wegen des Lamarre-Serums?« Jetzt wurde das dicke Gesicht auf dem Bildschirm kränklich blaß. »Von dem Serum habe ich nicht gesprochen«, sagte di Cassio hastig. »Nein? Aber mein Bruder Fred hat da einige Bemerkungen fallengelassen ...« »Das Serum existiert doch gar nicht!« rief di Cassio beschwörend.
Walton lächelte ruhig. »Genauso habe ich es mir vorgestellt«, erklärte er. »Da das Serum gar nicht existiert, ist es auch als Druckmittel gegen mich wirkungslos gewesen. Sie können mir nicht drohen, di Cassio, und Sie können mich auch nicht nötigen. Ich habe Ihren Bluff durchschaut. Gehen Sie jetzt und machen Sie einen Spaziergang durch Ihre Plantage — solange sie Ihnen noch gehört.« »Wir werden Maßnahmen ergreifen«, sagte die Cassio, aber die Drohung klang so schwach und hilflos wie die Stimme. Walton lachte nur und unterbrach die Verbindung. Er rief Martinez vom Staats-Sicherheitsdienst an. »Ich habe befohlen, meinen Bruder Fred unter Ihre Obhut zu stellen«, erklärte er ohne Umschweife. »Ich weiß.« Martinez wirkte etwas verdrossen. »Wir können aber einen Mann nicht einfach so in Haft behalten, selbst wenn Sie es anordnen, Direktor Walton.« »Die Anklage lautet auf Verschwörung«, erklärte Walton ernst. »Verschwörung gegen die wirkungsvolle Funktion des Amts für Bevölkerungs-Ausgleich. In einer halben Stunde haben Sie eine Namensliste der Verschwörer auf dem Schreibtisch. Machen Sie Psycho-Tests mit den Leuten und führen Sie die nötigen Verhaftungen durch.« »Manchmal meine ich, Sie überschreiten Ihre Machtbefugnisse, Direktor Walton«, sagte Martinez langsam. »Aber schicken Sie mir die Liste, und ich werde das Erforderliche unternehmen.« Die Nachmittagsstunden schleppten sich träge dahin. Walton führte die üblichen Routinearbeiten durch, empfing Anrufe und gab Anweisungen. Um 15 Uhr 35 ertönte wieder einmal der Meldegong. »Ein Anruf aus Nairobi, Mr. Walton.« »Ich bin sprechbereit.« McLeods Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Wir sind gelandet«, berichtete er. »Alles in bester Ordnung.« »Wie geht es dem Dirnaner?« »Wir haben ihn in einer Spezialkabine untergebracht. Wie Sie ja wissen, atmet er Wasserstoff und Ammoniak. Er ist sehr daran interessiert, mit Ihnen zusammenzutreffen. Wann können Sie kommen?« Walton zögerte. »Es besteht wohl keine Möglichkeit, ihn herzutransportieren, wie?« »Das würde ich nicht raten«, erklärte McLeod. »Der Organismus der Dirnaner reagiert sehr empfindlich bei Flügen in einem so schwachen Schwerkraftfeld. Meinen Sie nicht, Sie sollten lieber herkommen?« »Gut, ich komme mit dem nächsten Jet«, sagte Walton entschlossen. Nairobi, die Hauptstadt der Republik Kenia, liegt am Fuße der Kikuyo-Hügel, und der Kilimandscharo ragt in prächtiger Erhabenheit darüber empor. Vier Millionen Menschen wohnen in dieser schönsten der vielen blühenden Städte nahe der Ostküste Afrikas. Die afrikanischen Negerrepubliken hatten sich nach der Befreiung vom Kolonialjoch zu soliden, aufstrebenden Staatswesen entwickelt. Nächtliche Ruhe herrschte in der Stadt, als Waltons Spezial-Jet zur Landung auf dem riesigen Flughafen von Nairobi ansetzte. Er war um 15 Uhr 47 New Yorker Zeit gestartet; der Transatlantikflug hatte zwei Stunden und einige Minuten gedauert, und zwischen Kenia und New York bestand ein Zeitunterschied von acht Stunden. In Nairobi war es daher 3 Uhr 13, und der Regen des frühen Morgens setzte planmäßig ein, als das Jet-Flugzeug in Richtung der großen Flughafenhalle rollte. McLeod erwartete ihn. »Das Raumschiff ist in den Hügeln, acht Kilometer außerhalb der Stadt«, meldete er. »Wir haben hier einen Hubschrauber für Sie bereitgestellt.« Er begleitete Walton in den wartenden Jet-Hubschrauber. Die Rotorflügel wirbelten, und der
Hubschrauber stieg senkrecht empor, bis er durch die künstlichen Regenwolken in viertausend Meter Höhe gestoßen war. Dann setzte der Düsenantrieb ein, und sie schossen in Richtung der Hügel dahin. Hier regnete es nicht bei der Landung. Wie McLeod erklärte, war der Nachtregen in diesem Gebiet für zwei Uhr geplant, und die sogenannten »Regenmacher« waren mit ihren Flugmaschinen und den darin installierten komplizierten Geräten bereits weitergeflogen, um der Großstadt selbst den erwünschten Regen zu bringen. Ein Wagen stand für sie neben der Landepiste zwischen den Hügeln bereit. McLeod lenkte geschickt den Turbo-ElektrikWagen. »Dort ist das Raumschiff«, erklärte er mit einer stolzen Handbewegung. Walton konnte einen Ausruf der Anerkennung nicht unterdrücken. Das Raumschiff ruhte mit dem Heck auf der riesigen, düsengeschwärzten Betonrampe und ragte im bleichen Licht des Mondscheins mindestens einhundertfünfzig Meter in den Nachthimmel empor. Die Heckdüsen wirkten dabei wie Stützpfeiler. Männer vom technischen Personal arbeiteten im Scheinwerferlicht eifrig auf der Rampe. McLeod fuhr um das Raumschiff herum zur Hinterseite. Dort führte ein dünnes Leitergerüst an der Hülle empor bis zu einer großen Schleusenluke in ungefähr fünfundzwanzig Meter Höhe. Daneben führte ein Liftgestänge bis zu der gleichen Einstiegluke. Die Männer grüßten McLeod beim Verlassen des Wagens ehrerbietig. Walton wurde von verwunderten und neugierigen Blicken gestreift. »Wir werden lieber den Lift benutzen«, sagte McLeod. »Auf dem Leitergerüst sind die Männer an der Arbeit.« Schweigend glitten sie in der Liftkabine an der Außenhülle des Raumschiffs empor. Durch die Einstiegluke kamen sie zuerst in eine getäfelte Diele und dann in einen schmalen Gang. McLeod blieb stehen und drückte auf eine Schaltertaste in einer Wandnische. »Ich bin wieder zurück«, verkündete er. »Berichten Sie Thogran Klayrn, daß ich Direktor Walton mitgebracht habe. Stellen Sie fest, ob Klayrn jetzt bereit ist, herauszukommen und mit ihm zu sprechen.« »Ich dachte, er brauche eine besondere Atematmosphäre«, sagte Walton verwundert. »Wie kann er dann herauskommen?« »Die Dirnaner haben Atemmasken konstruiert, die sie ja auch beim Aufenthalt auf dem Planeten Prokyon VIII brauchen«, erklärte McLeod. »Aber sie benutzen diese Masken nicht gern.« McLeod lauschte einen Moment in den Hörer und nickte dann. »Der Dirnaner wird Sie in der Diele empfangen«, sagte er zu Walton. Walton hatte kaum Zeit gefunden, sich mit einem Schluck gefilterten Rum zu stärken, als ein Mann vom Bordpersonal am Eingang der Diele erschien und pathetisch ankündigte: »Seine Exzellenz, Thogran Klayrn von Dirnan.« Das fremde Lebewesen trat ein. Walton hatte zwar die Fotos gesehen und war daher teilweise vorbereitet — aber auch nur teilweise. Die Fotos hatten ihm keinen Eindruck von der Größe vermittelt. Der Dirnaner war zwei Meter vierzig hoch und wirkte erstaunlich mächtig und massiv. Sein Gewicht mußte zwischen vierund fünfhundert Pfund liegen, aber er stand auf zwei dicken Beinen von knapp ein Meter zwanzig Länge. Nahe der Mitte des säulenförmigen Rumpfes wuchsen vier kräftige Arme seltsam hervor. Ein halsloser Kopf krönte den riesigen Körper — ein Kopf, der völlig mit einer durchsichtigen Atemmaske bedeckt war. In einer Hand hielt der Dirnaner ein Gerät: die Übersetzungsmaschine, vermutete Walton.
Die Haut des Dirnaners war leuchtend grün und wirkte lederartig. Ein scharfer Geruch machte sich schwach bemerkbar, wie von einem Gegenstand, der lange in Ammoniak gelegen hatte. »Ich bin Thogran Klayrn«, verkündete eine dröhnende Stimme. »Diplomasiarch von Dirnan. Man hat mich zu Verhandlungen mit Roy Walton ermächtigt. Sind Sie Roy Walton?« »Der bin ich.« Waltons Stimme klang ihm selbst merkwürdig spröde und fremd. Er wußte, daß er vor einer schwierigen Aufgabe stand und sich zur Ruhe zwingen mußte. »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Thogran Klayrn.« »Bitte setzen Sie sich«, forderte ihn der Dirnaner höflich auf. »Ich tue das nicht. Mein Körper ist dafür nicht geschaffen.« Walton setzte sich. Es war ihm zwar unbehaglich, jetzt den Hals so verrenken zu müssen, um zu dem Dirnaner emporzuschauen, aber das ließ sich nicht ändern. »Hatten Sie eine angenehme Reise?« Die Frage kam Walton einfältig vor, kaum daß er sie gestellt hatte. Thogran Klayrn stieß ein zustimmendes Brummen aus. »Die Reise war angenehm. Aber wir wollen uns jetzt nicht mit diesen Kleinigkeiten aufhalten. Ein wichtiges Problem ist zu lösen, und darüber müssen wir diskutieren.« »Einverstanden.« Was auch immer ein Diplomasiarch auf Dirnan sein mochte, jedenfalls war er kein typischer Diplomat. Walton war erleichtert, daß sie nicht erst lange Stunden mit Formalitäten verschwenden mußten, ehe sie zu dem Hauptproblem kamen. Der Diplomasiarch steuerte auch ohne Umschweife auf das Thema los. »Vor einiger Zeit ist eines Ihrer Raumschiffe in unser Planetensystem eingedrungen. Das Kommando führte Ihr Colonel McLeod, den ich inzwischen gut kennengelernt habe. Was war der Grund für diesen Flug in unser Planetensystem?« »Wir wollten die näheren Sternenwelten im Universum erkunden und einen Planeten finden, auf dem Erdbewohner sich ansiedeln könnten«, erklärte Walton ebenso unverblümt. »Unsere Erde ist sehr überbevölkert.« »Das hat man mir erklärt«, bestätigte Klayrn. »Sie haben sich Labura — oder wie Sie es nennen Prokyon VIII — als Ihre neue Kolonie gewählt. Ist es so?« »Ja«, gab Walton zu. »Dieser Planet wäre ausgezeichnet für unsere Zwecke geeignet. Aber Colonel McLeod hat mir mitgeteilt, die Dirnaner würden die Kolonisierung dieses Planeten nicht gern sehen. « »Ja, wir würden das in der Tat nicht gern sehen.« Die Stimme des Dirnaners klang jetzt abweisend. »Sie sind eine junge und aktive Rasse. Wir haben keine Ahnung, was für Gefahren Sie uns bringen könnten. Wenn wir Sie als unsere Nachbarn haben ...« »Wir könnten einen Friedensvertrag auf unbegrenzte Zeit abschließen«, gab Walton zu bedenken. »Worte. Nichts als Worte.« »Aber wissen Sie denn nicht, daß wir nicht einmal auf Ihrem Planeten landen können? Atmosphäre und Schwerkraft sind dort für uns unerträglich. Wie könnten wir da den Dirnanern überhaupt gefährlich werden?« »Es gibt Rassen, die sehen Gewalttat gewissermaßen als eine heilige Handlung an«, meinte der Dirnaner gewichtig. Sie haben Langstrecken-Raketen. Wie sollten wir je Vertrauen zu Ihnen haben?« Walton überlegte in verzweifelter Hast. Dann kam ihm ein plötzlicher Einfall. »Wir haben einen Planeten in unserem Sonnensystem, der den Lebensbedingungen der Dirnaner so entspricht wie Labura unseren eigenen. Ich meine Jupiter. Wir könnten Ihnen Kolonialrechte auf dem Jupiter einräumen als Gegenleistung für das Privileg der Kolonisierung von Labura.« Der Diplomasiarch von Dirnan schwieg lange Zeit. Dachte er über den Vorschlag nach? Es
war nicht zu ahnen, was für Gefühle und Gedanken hinter diesem maskenhaft starren Gesicht lebten. Schließlich sagte Klayrn abweisend: »Das ist keine Verhandlungsbasis. Unsere Rasse hat längst Geburtenkontrolle und Bevölkerungsstabilität eingeführt. Wir brauchen keine Kolonie. Im übrigen sind wir schon vor Tausenden von Jahren in den Weltraum vorgedrungen.« Walton spürte ein beklemmendes Gefühl von Ehrfurcht und Demut. Schon seit Tausenden von Jahren! Die Dirnaner waren also in ihrer technischen Zivilisation viel weiter als die Erdvölker. »Wir haben es gelernt, Geburt und Tod unter Kontrolle zu bringen«, erklärte der Dirnaner ernst. »Es ist ein fundamentales Gesetz des Weltalls, und eines, das ihr Erdbewohner früher oder später lernen müßt. Wie ihr das bewerkstelligt, das ist eure eigene Sache. Aber wir brauchen jedenfalls keinen Planeten in Ihrem Sonnensystem, und wir schrecken aus verständlichem Mißtrauen davor zurück, Ihnen eine Siedlungsmöglichkeit in unserem Planetensystem zu geben. Das Problem ist leicht zu erklären, aber schwer zu lösen. Wir sind jedoch nach wie vor bereit, von Ihnen Vorschläge zur Lösung des Problems entgegenzunehmen.« Walton überlegte in wilder Hast. Vorschläge? Was für einen Vorschlag konnte er noch machen? Plötzlich fiel ihm das richtige Stichwort ein. »Ja, wir haben etwas anzubieten«, erklärte er. »Das könnte für eine Rasse von Wert sein, die bereits die Bevölkerungsstabilität erreicht hat. Das würden wir Ihnen als Gegengabe für die Kolonisationsrechte überlassen.« »Und was für ein wertvolles Gut ist das?« fragte der Dirnaner. »Unsterblichkeit«, antwortete Walton lakonisch. 19. Spät in der Nacht kehrte Walton nach New York zurück. Er war so übermüdet und aufgeregt, daß er keinen Schlaf finden konnte, und das hatte gute Gründe. Der Dilplmasiarch von Dirnan hatte sein Angebot angenommen. Das war die eine positive Tatsache, an die er sich auf dem Rückflug von Nairobi immer wieder gehalten hatte. Das übrige waren Hoffnungen, Vermutungen und Wünsche. Falls Lamarre auffindbar war ... Falls das Serum tatsächlich irgendeinen Wert hatte ... Falls es ebenso auf den Organismus von Dirnanern wirkte wie auf den von Erdbewohnern… Vier Koffein-Tabletten halfen Walton am Morgen über die erste Müdigkeit hinweg. Nach den ersten Dienstobliegenheiten des Tagesbetriebs rief Walton Keeler vom Sicherheitsdienst an. Der Sicherheitsbeamte lächelte merkwürdig und sagte: »Ich wollte Sie gerade anrufen, Sir. Wir haben endlich Neuigkeiten.« »Was für Neuigkeiten?« »Betreffs Lamarre. Heute wurde seine Leiche vor ungefähr einer Stunde gefunden — ermordet. Die Leiche wurde in Marseille in ziemlich stark verwestem Zustand gefunden, aber eine genaue Überprüfung hat ergeben, daß es ganz bestimmt Lamarre ist.« .»Aha, ganz bestimmt Lamarre«, wiederholte Walton mit dumpfer Betroffenheit. »Vielen Dank, Keeler. Gut gearbeitet, sehr gut.« »Stimmt etwas nicht, Sir? Sie sehen so ...« »Ich bin nur sehr müde«, unterbrach Walton ihn hastig. »Das ist alles. Ich bin müde. Vielen Dank, Keeler.«
»Sie wollten mich wegen irgend etwas sprechen, Sir«, erinnerte Keeler ihn höflich. »Oh, ja, ich hatte wegen Lamarre angerufen«, bestätigte Walton. »Das hat sich ja jetzt erledigt, vielen Dank, Keeler.« Er unterbrach die Verbindung. Zum ersten Male in seinem neuen Amt fühlte Walton sich der völligen Verzweiflung nahe. Aber aus dieser Verzweiflung erwuchs seltsamerweise eine stoische Ruhe. Nachdem Lamarre tot war, bestand jetzt für ihn nur noch die Hoffnung, Fred irgendwie das Geheimnis des Serums zu entlocken. Er überlegte eine Weile und drückte dann auf die Sprechtaste. »Ich bin in der nächsten Stunde nicht im Büro«, erklärte er. »Legen Sie alle Gespräche auf Mr. Eglin um.« Das Gefängnis des Sicherheitsdienstes war ein massiger, fensterloser Turmblock in der Nähe von Nyack, New York. Waltons Düsen-Hubschrauber senkte sich lautlos auf die Landeplattform vor dem Gebäude. »Soll ich hier warten?« fragte der Pilot. »Ja«, befahl Walton. Als Direktor von ABEG standen ihm ein Dienstflugzeug und ein Pilot zu. »Es wird nicht allzulange dauern.« Er verließ die Landeplattform und trat in den Bereich der Elektronik-Sucher. Viele Sekunden lang geschah gar nichts. Die Luft hier oben ist frisch und rein, dachte Walton geistesabwesend, nicht wie die Stadtluft. Eine unpersönlich klingende Stimme fragte: »Was für ein Anliegen haben Sie?« »Ich bin Walton, Direktor von ABEG. Ich habe eine Verabredung mit Sicherheitschef Martinez.« »Warten Sie einen Moment, Direktor Walton.« Walton hörte ein leises, elektronisches Surren; sein ganzer Körper wurde jetzt nach irgendwelchen verräterischen Waffen oder Geräten abgetastet. Kurze Zeit später glitt die Metalltür lautlos nach oben in die Mauer hinein, und er sah vor sich eine Innentür von schimmernd poliertem Kupfer. Ein Bildschirm war in die Tür eingelassen. Das Gesicht von Martinez schimmerte ihm entgegen. »Guten Morgen, Direktor Walton. Sie wollten mit mir sprechen?« »Ja, das auch.« Die Innentür öffnete sich, und Martinez trat ihm entgegen. »Es hat doch sicherlich einen besonderen Grund, wenn Sie mich in meinem eigenen Reich besuchen?« »Ja, das stimmt«, bestätigte Walton. »Ich möchte einen Gefangenen besuchen. Meinen Bruder Fred.« Martinez runzelte die Stirn und fuhr sich mit der Hand über seinen wirren Haarschopf. »Gefangene zu besuchen ist streng verboten, Mr. Walton. Das heißt, sie persönlich zu besuchen. Sie könnten sich natürlich per Bildschirm mit ihm unterhalten.« »Verboten? Aber der Mann ist hier, weil ich es befohlen habe. Ich...« »Ihre Macht, Mr. Walton, ist immer noch irgendwie beschränkt«, unterbrach ihn Martinez ruhig. »Das ist immer noch ein Gesetz, das von uns streng beachtet wird. Die Gefangenen hier stehen unter der Bewachung des Sicherheitsdienstes, und Ihre Anwesenheit im Zellenblock würde unser ganzes System unterminieren. Genügt denn nicht eine Unterredung per Bildschirm?« »Unter diesen Umständen wird es wohl genügen müssen«, meinte Walton seufzend. Er fühlte sich einfach nicht kräftig genug, jetzt hier einen Machtkampf auszufechten. »Dann begleiten Sie mich bitte«, sagte Martinez. Der schmächtige Mann führte ihn einen matt erhellten Gang entlang in ein Zimmer, dessen eine ganze Wand ein ausgeschalteter Bildschirm war.
»Sie sind hier völlig ungestört, und die Leitung ist so geschaltet, daß keiner Ihr Gespräch abhören kann«, erklärte Martinez, während er eine Schaltanlage an der rechten Wand bediente. Der Bildschirm begann sich zu erhellen. »Sie können mich rufen, wenn Sie fertig sind«, sagte Martinez, bevor er ging. Der riesige Bildschirm war jetzt wie ein Fenster, durch das er direkt in Freds Zelle schaute. Walton sah den Blick seines Bruders in düsterer Anklage auf sich gerichtet. Die Haft hatte schon ihre Spuren in Freds Gesicht gezeichnet. Seine Augen wirkten tief eingesunken unter schwarzen Schattenringen, sein Haar war schmutzig und ungekämmt, und sein breites Gesicht war von einer teigigen Blässe. »Willkommen in meinem Palast«, sagte er mit einer Ironie, die seltsam fehl am Platze wirkte. »Fred, mach es mir nicht zu schwer«, sagte Walton beschwörend. »Ich bin hergekommen, um gewisse Dinge zu klären. Es war nicht heimtückische Absicht oder freier Wille von mir, dich hierherzubringen. Ich mußte es einfach tun.« Fred lächelte kläglich. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es war ganz und gar mein Fehler. Ich habe dich einfach unterschätzt. Es ist mir nicht in den Sinn gekommen, daß du dich verändert haben könntest. Ich hielt dich immer noch für den gleichen gutmütigen, nachgiebigen Trottel, an dessen Seite ich aufgewachsen bin. Das war mein Irrtum.« »So ist es«, bestätigte Walton und sah dann seinen Bruder scharf an. »Heute habe ich erfahren, daß Lamarre tot ist.« »Und?« Walton ging ohne Umschweife auf sein Ziel los. »ABEG hat jetzt nur noch die Möglichkeit, von dir etwas über dieses Unsterblichkeitsserum zu erfahren. Fred, ich brauche das Serum. Ich habe es den Dirnanern als Gegengabe für die Kolonisationsrechte auf Prokyon VIII versprochen. Du weißt, was dieses Kolonisationsrecht für die gesamte Erdbevölkerung bedeutet. In deiner Macht liegt es jetzt, der Menschheit einen großen Dienst zu erweisen.« »Einen Dienst?« Fred stieß ein kurzes, hartes Lachen aus. »Was du mir da anbietest, das ist ein schäbiger Tauschhandel. Aber ohne mich. Die Serum-Formel ist hier in meinem Gehirn gut aufgehoben — und da bleibt sie.« »Ich könnte eine Bewußtseinsanalyse bei dir durchführen lassen«, drohte Walton. »Man wird dein Bewußtsein Schicht um Schicht untersuchen und schließlich doch finden, was du zu verbergen suchst. Von deiner Persönlichkeit wird dann nicht mehr viel übrig sein, aber wir haben die Formel.« »Du kannst mich nicht einschüchtern«, sagte Fred. »Auch deine Macht ist begrenzt. Für eine Bewußtseinsanalyse brauchst du die persönliche Genehmigung des Präsidenten. Das dauert mindestens einen Tag — im günstigsten Falle zwölf Stunden. Und inzwischen bin ich nicht mehr hier, Roy.« »Was?« »Du hast mich deutlich genug gehört. Du weißt, daß du mich hier unter ziemlich dürftigem Verdacht in Haft hältst. Die Habeas-Corpus-Akte ist noch nicht aufgehoben, Roy, und ABEG ist nicht mächtig genug, das zu bewirken. Ich habe Haftbeschwerde eingelegt. Heute um 15 Uhr werde ich freigelassen.« »Und um 15 Uhr 30 bist du wieder verhaftet«, sagte Walton ärgerlich. »Wir knöpfen uns di Cassio vor und seine ganze Verschwörerbande. Das wird genügen, um dich auch wieder hinter Schloß und Riegel zu bringen.« »Aha! Das könnte sein«, gab Fred zu. »Aber mindestens eine halbe Stunde lang bin ich frei. Das reicht, um die Welt wissen zu lassen, wie du mit illegalen Mitteln einen gewissen Philip Prior vor der Aktion Schlafglück bewahrt hast. Ich möchte gern wissen, wie du dich da herauswinden willst.« Walton hatte alle Mühe, ein Pokergesicht zu bewahren. Fred brachte ihn damit wirklich in
Zugzwang. Um 15 Uhr war Fred frei, und bis dahin konnte Walton bestimmt noch keine Genehmigung für eine Bewußtseins-Analyse erwirkt haben. Präsident Lanson mußte diese Genehmigung selbst unterschreiben, und der alte Zögerer würde sich damit bestimmt Zeit lassen. Bewußtseinsanalyse schaltete also aus, aber dem Direktor von ABEG blieb immer noch eine Waffe, wenn er die wirklich benutzen wollte. »Das klingt alles sehr nett«, sagte Walton mit einer Ruhe, die ihm selbst unnatürlich erschien. »Aber achte auf meine Worte: Ich frage dich nur noch ein einziges Mal, ob du zum Wohle der Menschheit die Formel für das Unsterblichkeitsserum nennst?« »Nein!« sagte Fred fest. »Endlich habe ich dich richtig in die Enge getrieben, Roy. Du bist jetzt dort, wo ich dich mein ganzes Leben lang hingewünscht habe. Und aus dieser Falle kannst du dich nicht herauswinden.« »Ich glaube, du hast mich wieder einmal unterschätzt, Fred«, sagte Walton mit resignierter Ruhe. »Und zwar zum letzten Male.« Er stand auf, wandte sich grußlos ab und verließ das Zimmer. Ein Sicherheitsbeamter in grauer Uniform wartete vor der Tür. »Würden Sie Mr. Martinez sagen, daß ich wieder gehe?« bat Walton. Sein Pilot blickte ihm erwartungsvoll entgegen, als Walton auf die Landeplattform trat. »Zurück zum Cullen Building«, befahl Walton, als er sich auf seinem Sitz festschnallte. »Und zwar schnell.« In seinem Büro griff Walton sofort nach dem Mikrofon des Diktatschreibers und begann einen jener Befehle zu diktieren, zu denen sein hohes Amt ihn ermächtigte: Frederic Walton sollte wegen des Verdachts der verbrecherischen Geisteskrankheit sofort aus dem Gefängnis des Staatssicherheitsdienstes in die Euthanasie-Klinik von ABEG überführt werden. 20. Auch nachdem er diesen Befehl erteilt hatte, fühlte Walton sich seiner Sache durchaus noch nicht sicher, und die Spannung lastete schwer auf ihm. Martinez rief einige Stunden später an und teilte ihm mit, daß die Verschwörerclique der Großgrundbesitzer verhaftet sei. »Sie schlagen ziemlichen Krach«, berichtete Martinez. »Und sie haben gute Beziehungen zu höchsten Stellen. Ihre Anklage muß also schon hieb- und stichfest sein, Direktor Walton.« »Ich lasse mir sofort die Genehmigung zur Bewußtseinsanalyse eines gewissen di Cassio erteilen«, erklärte Walton. »Das dürfte in diesem besonderen Falle nicht allzu schwierig sein.« Er zögerte einen Moment und fragte dann: »Hat einer von unseren Dienst-Hubschraubern Frederic Walton abgeholt?« »Ja«, bestätigte Martinez. »Um 14 Uhr 06. Ein Anwalt erschien etwas später mit einem HaftAufhebungsbefehl, aber dafür waren wir ja nicht mehr zuständig.« Der Blick des Sicherheitschefs war anklagend auf Walton gerichtet, aber der nickte nur ernst. »Um 14 Uhr 06?« wiederholte er. »Das ist in Ordnung, Martinez. Vielen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft.« Er schaltete ab. Wegen der Bewußtseinsanalyse mußte er mit Präsident Lanson persönlich sprechen. Nun, jetzt stand er nicht mehr unter Zeitdruck und konnte das in aller Ruhe erledigen. Schon eine Stunde später saß Walton dem schmächtig und zerbrechlich wirkenden Präsidenten in seinem Amtszimmer im Weißen Haus gegenüber. Walton trug schnell und ohne Umschweife seinen Fall vor. Die Wichtigkeit der Angelegenheit schien den Präsidenten nervös und unsicher zu machen. Er blinzelte einige Male mit seinen milden, wasserhellen
Augen und hüstelte nervös. Nach langem Nachdenken fragte er schließlich: »Also Sie halten diese Bewußtseinsanalyse für absolut notwendig?« »Von größter Wichtigkeit«, bestätigte Walton. »Sie wissen jetzt, Herr Präsident, welche Bedeutung dieses Serum für uns Erdbewohner haben könnte.« Lanson seufzte schwer. »Dann erteile ich Ihnen die Genehmigung, Direktor Walton«, sagte er resigniert. Eine halbe Stunde später war Walton schon wieder in New York. Mit der wertvollen Genehmigung in Händen konnte er sofort erwirken, daß die Bewußtseinsanalyse bei di Cassio durchgeführt wurde. Es dauerte achtundfünfzig Minuten. Walton wartete in einem der kahlen, nüchternen Büros des Staatssicherheits-Gefängnisses, während die Techniker sich mit di Cassios Gehirnzellen beschäftigten. Inzwischen war Walton über alle Zweifel und alle Selbstanklagen hinweg. Wie ein Instrument des Schicksals führte er bestimmte Aufgaben durch, die für das Wohl der Menschheit unerläßlich waren. Um 19 Uhr 50 kam Martinez und reichte Walton zwei Manuskriptseiten. »Hier, lesen Sie das selbst«, sagte Martinez. »Das ist die Auf-zeichnung eines Gesprächs zwischen Ihrem Bruder und di Cassio. Ich glaube, das ist genau das, was Sie suchen.« Walton nahm die Papiere und begann schnell zu lesen: Di Cassio: Sie haben was? Fred Walton: Ein Unsterblichkeitsserum. Die Möglichkeit des ewigen Lebens. Das hat ein Wissenschaftler im Auftrag von ABEG entwickelt, und ich habe mir das Notizbuch aus dem Büro meines Bruders geholt. Di Cassio: Gut gemacht! Ausgezeichnet! Unsterblichkeit, sagen Sie? Fred Walton: Ganz recht. Und mit dieser Waffe können wir Roy aus seinem Amt vertreiben. Ich brauche nur damit zu drohen, daß ich im anderen Falle das Serum auf die Menschheit loslasse. Er ist ein Idealist, müssen Sie wissen. Er wird dann keinen Widerstand zu leisten wagen. di Cassio: Das ist prächtig. Nachher werden Sie uns natürlich die Serum-Formel zur Aufbewahrung übersenden, nicht wahr? Fred Walton: Das werde ich ganz bestimmt nicht tun. Ich behalte diese Formel dort, wo sie hingehört: in meinem Gehirn. Alle schriftlichen Aufzeichnungen sind vernichtet, und der Wissenschaftler ist auf meine Veranlassung hin getötet worden. Ich kenne also jetzt als einziger Mensch auf der Welt diese Formel. Das ist für mich auch eine Rückversicherung Ihnen gegenüber, di Cassio. Di Cassio: Fred, mein Junge ... Fred Walton: Jetzt keine Gefühlsduseleien. Sie haben mir freie Hand gelassen. Versuchen Sie jetzt nicht, mir in die Quere zu kommen. Walton ließ die Manuskriptseiten aus schlaffen Händen auf den Tisch gleiten. »Mein Gott«, sagte er nur leise. »Wenn ich das gewußt hätte...« Martinez musterte ihn scharf. »Was ist denn los? Sie haben doch Fred in Ihrem Gewahrsam, nicht wahr?« »Wissen Sie denn nicht, was der Befehl bedeutet, den ich Ihnen geschickt habe?« fragte Walton dumpf. Martinez nickte ernst. »Nun, ja — Sie hätten damit natürlich auch die Befehlsgewalt, ihn der
Abteilung Schlafglück zu übergeben. Aber ich dachte, Sie wollten damit nur der Haftentlassung entgegenwirken, ich meine, es ist doch Ihr eigener Bruder, Mann?« »Mein Bruder war ein machtgieriger Egoist«, erklärte Walton. »Er hätte die gesamte Menschheit seinen eigenen ehrgeizigen Plänen geopfert. Der Befehl ist von mir mit allen Konsequenzen erteilt worden. Falls sich nicht irgendeine Verzögerung ergeben hat, ist mein Bruder schon vor vier Stunden in die Schlafglück-Kammer geführt worden. Und er hat die Serum-Formel für immer mit sich genommen.« Allein in seinem Büro im nächtlich stillen Cullen Building starrte Walton auf sein verzerrtes Spiegelbild in der Scheibe des Opal-Fensters. Auf seinem Schreibtisch lag der Zettel mit den Namen derer, die um 15 Uhr in die Schlafglück-Kammern gegangen waren. Frederic Walton stand als vierter Name auf der Liste. Es hatte diesmal keine Verzögerungen gegeben. Walton dachte über die Geschehnisse der letzten neun Tage nach. Er hatte in jener kurzen Zeitspanne schon ziemlich bald erkannt, daß der Direktor von ABEG gleichzeitig Herr über Leben und Tod der Menschen war. Göttergleich hatte er die beiden Verantwortungen übernommen. Er hatte Philip Prior das Leben geschenkt und damit eine Kettenreaktion von Geschehnissen eingeleitet. Jetzt hatte er Frederic Walton in den Tod geschickt, was zwar an sich eine gerechte Entscheidung war, sich nun jedoch als einer seiner folgenschwersten Fehler erwies. Alle seine Pläne und Aktionen waren wirkungslos geworden. Hilfe konnte jetzt nur noch ein Wunder bringen. Er trat an den Schreibtisch zurück, drückte auf die Sprechtaste und bat um eine Verbindung mit Nairobi. Das Tauschabkommen mit den Dirnanern mußte rückgängig gemacht werden. Walton konnte sein Tauschobjekt nicht liefern. Am Ende triumphierte Fred noch über seinen Tod hinaus. Einige Minuten später hatte Walton Verbindung mit McLeod. »Ich bin froh, daß Sie anrufen«, sagte McLeod sofort. »Den ganzen Tag über habe ich Sie zu erreichen versucht. Unser Diplomasiarch von Dirnan wird allmählich ungeduldig. Die schwache Schwerkraft hier auf Erden macht ihm zu schaffen, und er will in seine heimische Welt zurückkehren.« »Lassen Sie mich mit ihm sprechen. Er wird bald genug starten können. « McLeod nickte und verschwand vom Bildschirm. Das fremdartige Gesicht von Thogran Klayrn erschien hinter dem Plastikhelm auf dem Bildschirm. »Ich bin sehr ungeduldig«, sagte der Dirnaner ohne Umschweife. »Sie haben versprochen, heute anzurufen. Warum lassen Sie mich warten?« »Es tut mir sehr leid«, entschuldigte sich Walton. »Den ganzen Tag über habe ich versucht, das wichtige Dokument für Sie aufzutreiben.« »Ah, und haben Sie es jetzt?« »Nein«, gestand Walton. »Das Serum existiert nicht mehr. Sein Erfinder ist tot, und der einzige Mann, der die Formel im Kopf hatte, ist auch vor kurzem gestorben.« »Vor kurzem, sagen Sie?« fragte der Dirnaner erregt. »Ja. Leider. Es war ein schrecklicher Irrtum von mir.« »Das ist jetzt unwichtig«, sagte der Dirnaner hastig. »Ist die Leiche des Mannes noch intakt?« »Ja, sicherlich«, sagte Walton verwundert. »Er liegt jetzt in unserer Leichenhalle. Aber ...« Das Gesicht des Dirnaners verschwand plötzlich vom Bildschirm, und Walton hörte, wie er schnell mit jemand außerhalb des Blickfeldes sprach. Dann war das fremdartige Gesicht unter dem Plastikhelm wieder zu sehen.
»Es gibt die Möglichkeit, aus den Gehirnen vor kurzem erst gestorbener Lebewesen noch Informationen zu empfangen«, erklärte Thogran Klayrn. »Haben Sie diese Technik auf Ihrer Erde noch nicht entwickelt?« »Gehirninformationen von Toten?« stammelte Walton. »Nein, davon ist auf der Erde nichts bekannt.« »Aber es ist technisch durchaus möglich. Sie haben doch ein elektronisches Gerät, das man Enzephalograph nennt?« »Natürlich.« »Dann ist es immer noch möglich, die Formel aus dem Gehirn des Toten zu rekonstruieren.« Der Dirnaner stieß einen Laut aus, der wie ein aufgeregtes Hüsteln klang. »Sorgen Sie dafür, daß die Leiche unversehrt bleibt. Ich werde die Strapazen der Reise auf mich nehmen. In kurzer Zeit bin ich bei ihnen.« Einen Moment lang begriff Walton gar nichts. Dann dachte er plötzlich: Das Wunder! Es ist also doch geschehen! Obwohl er noch nicht wußte, ob das Experiment tatsächlich glücken würde, spürte er überströmende Dankbarkeit diesem fremden Lebewesen gegenüber, das ihn und damit die ganze Menschheit retten konnte. »Danke«, sagte er aus tiefstem Herzen. »Ich danke Ihnen im Namen der Menschheit!« 14. Mai 2233 ... Roy Walton, Direktor des Amts für Bevölkerungs-Ausgleich, stand im strahlenden Sonnenschein auf dem Raumhafen von Nairobi und sah die lächelnden Gesichter der Auswanderer, die auf die golden schimmernde Hülle des riesigen Raumschiffes zugingen. Ein großer Mann mit einem Kind auf den Armen löste sich aus der Reihe und kam auf ihn zu. »Hallo, Walton«, rief er mit seiner kräftigen Baßstimme. Walton musterte den Mann verblüfft. »Prior!« rief er nach einem Augenblick des Zögerns. »Und das ist mein Sohn Philip«, erklärte Prior stolz. »Wir gehen beide als Kolonisten in die Neue Welt. Meine Frau ist bereits an Bord, aber ich wollte Ihnen noch einmal danken ...« Walton musterte den rotwangigen kleinen Jungen auf dem Arm von Prior. »Alle freiwilligen Kolonisten sind untersucht worden«, sagte Walton verwundert. »Wie haben Sie denn den Jungen diesmal durchbekommen?« »Ganz legitim«, erklärte Prior grinsend. »Er ist ein völlig gesunder, normaler Junge. Von der Anlage für Tuberkulose ist nichts übriggeblieben. Philip hat die Gesundheitsbescheinigung A-1 bekommen. Die Familie Prior kann also die unermeßlichen Weiten der Neuen Erde erobern!« »Ich freue mich für Sie«, sagte Walton herzlich. »Ich wünschte, ich könnte auch mitreisen.« »Und warum können Sie das nicht?« »Ich muß meinen Posten hier auf der Erde ausfüllen«, antwortete Walton. »Falls Sie übrigens wieder einmal Gedichte schreiben, würde ich sie gern lesen.« Prior schüttelte mit einem verlegenen Lächeln den Kopf. »Ich habe das Gefühl, zum Gedichte schreiben werde ich kaum kommen. Poesie ist doch tatsächlich nur ein Ersatz für wirkliches Leben, ist mir neuerdings klargeworden. Ich werde mich dort oben dem Leben widmen und nicht dem Schreiben.« »Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte Walton langsam. »Aber gehen Sie jetzt lieber. Das Raumschiff startet ziemlich bald.« »Noch einmal vielen Dank für alles«, sagte Prior und schloß sich wieder der Menschenschlange an, die auf das Raumschiff zustrebte. Walton schaute den beiden nach. Er dachte an die Geschehnisse, die nun schon fast ein Jahr zurücklagen. Also hatte ich damals doch das Richtige getan, dachte er zufrieden. Der Junge
hat es verdient, am Leben zu bleiben. Der Lift glitt mit einer neuen Gruppe von Auswanderern zur Einstiegluke des gigantischen Raumschiffs empor. Eintausend Kolonisten werden diesen ersten Flug machen, tausend weitere werden morgen folgen und immer so weiter, bis eine Milliarde der überschüssigen Erdbevölkerung in der Neuen Welt angekommen war. Ein riesiges Ausmaß von Verwaltungsarbeit gehörte natürlich dazu, eine Milliarde Menschen durch den Weltraum zu transportieren. Auf Waltons Schreibtisch türmten sich die unerledigten Akten zu Bergen. Er blickte empor. Natürlich waren am hellen Mittagshimmel keine Sterne zu erkennen, aber er wußte, daß die Neue Erde dort draußen irgendwo war. Und in der Nähe kreiste der Planet Dirna mit seinen geheimnisvollen Bewohnern. Eines Tages werden wir das Bevölkerungswachstum auch genau kontrollieren können, dachte Walton. Und das wird der Tag sein, an dem die Dirnaner uns unsere Unsterblichkeitsformel zurückgeben werden. Drei Signale ertönten in Abständen von einer Minute, und das erste Raumschiff mit Kolonisten löste sich donnernd von der Startrampe, schien einen Moment lang wie auf einer Feuersäule zu schweben und verschwand dann im glühend hellen Tageshimmel. Direktor Walton blickte noch eine ganze Weile lang dorthin, wo das Raumschiff am hellen Mittagshimmel verschwunden war. Mit einem Seufzer wandte er sich schließlich ab. In New York erwartete ihn viel Arbeit.