^ F E R D I N A N D
LION
LEBENSQUELLEN FRANZÖSISCHER METAPHYSIK
DESCARTES ROUSSEAU BERGSON
DON
EUROPA
VERLAG
ZÜR...
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^ F E R D I N A N D
LION
LEBENSQUELLEN FRANZÖSISCHER METAPHYSIK
DESCARTES ROUSSEAU BERGSON
DON
EUROPA
VERLAG
ZÜRICH/WIEN
Aus dem Französischen übertragen von
INHALT
Ruth Gillischewski
DESCARTES Die Lebensquellen des cartesianischen Rationalismus
7
Gedächtnis und Schöpfung bei Descartes
. .
Die cartesianischen Gewebe
21 36
ROUSSEAU Frühlingsmorgen bei Rousseau
49
BERGSON Frankreich um die Jahrhundertwende
. .
81
Die doppelte Lebensrichtung
SS
2* c
der Bergsonschen Philosophie
96
Barres und Gide als Führer in die Vergangenheit und Zukunft
. .
. .
107
. ,
. .
118
NACHWORT Über den Zusammenhang der französischen Philosophie
Alle Rechte rorbehalten Copyright 1949 by Europa Verlag A.-G., Zürich
. .
DESCARTES
Die des
Lebensquellen
cartesianischen
Rationalismus
w enn als Schlußwort des Cogito ergo sum der Begriff des Sein laut ertönt, so liegt der Grund darin, daß Descartes persönlich Träger eines Lebens von überzeugender Stärke und Dichte war. Er empfindet es so stark, daß er gar nicht die
Notwendigkeit
sieht, das Sein als solches beweisen oder seinen Grad bestimmen zu müssen. Ihm geht es nur um das Wissen, ob das Sein an die Dinge und an seine Person geknüpft sei, die es bereits in einem solchen Grade enthielt, daß ihn Bedenken nur vorübergehend zu beunruhigen vermochten. Man braucht nur die Qualität des Sum, bei dem er Halt macht, mit der seines anfänglichen allgemeinen Zweifels zu vergleichen: wenn dieses auch bis an die Grenzen des Möglichen vorgetrieben wird, so bleibt es doch offenbar ein Experiment, ein Spiel, ein geistiges Abenteuer.
Seine innerliche unabänderliche
Uberzeugung steht bereits fest. Mit den ersten Worten des Discours und der Meditations, unverkennbar schon am Tonfall seines Stils, ist das Sein, zu dem er strebt, bereits bestimmt. Er imaginiert nur alle Phasen eines Lebens voll möglicher Zweifel, um sich und anderen vor A u g e n zu führen, wie schwierig es ist, zum Sein zu gelangen. Möglicherweise hatten ihn in seinen Jugendjahren Zweifel befallen, die sein Leben höchstens vorübergehend erschüttert hatten. Als er sich nach seinen mathematischen und Studien und Entdeckungen deren philosophische
physikalischen Untermauerung
zur Aufgabe machte, kehrte er im Geiste in jene
Jugendjahre
zurück, und wenn er je die schwankende Welt des Skeptizismus erlebt hatte, so übertrieb er jetjt in der Erinnerung diese Erfahrung um seines augenblicklichen Anliegens willen. Derjenige, der dauernd das Gefühl des Zweifels gehabt hatte, war dreißig Jahre vor ihm gekommen. Montaigne stellt eine höchst seit-
same Mischung dar: während er selbst ein Ich besitjt, das immer
beteiligt daran war der Religionsfriede unter Heinrich IV. W e n n
gegenwärtig und also trotj aller Schwankungen und Wandlungen
Descartes später die D o g m e n der Kirche mit Respekt behandelte, so
von Sein erfüllt ist, hat die übrige Welt bei ihm ein Sein von äußerst
tat er e s zweifellos aus Klugheit und um bei seinen, w i e er schon
gebrechlicher und minderer Qualität, dessen Fluidität und mangelnde
voraussah, weitläufigen Forschungen keine Unannehmlichkeiten be-
Kohäsion und Festigkeit sie dem Nichtsein nähert. D i e anderen
fürchten zu müssen. Aber abgesehen von diesen rein persönlichen
Ichs, mit Ausnahme seines Freundes de la Boetie, haben für ihn
Gründen hat er sicher sehr genau gewußt, welche Bedeutung eine
weniger teil am Sein als sein eigenes Ich, und er dringt nicht etwa
einzige Religion als Grundlage einer Gesellschaft haben m u ß , die
darauf, daß sie ihm ähnlich zu sein hätten, so wenig liegt ihm am
nur so die seinem ganzen System zugrunde liegende Seinsqualität
Vorherrschen oder gar am Überwältigen. Einen h o h e n Seinsgrad
erhalten konnte. A u s dem gleichen Grunde ist er Anhänger des ab-
erkennt er dagegen der Antike zu, vor allem R o m , das es zum Ent-
soluten Königtums. Er braucht solche Ballungen v o n Solidität. Als
zücken Montaignes in ungewöhnlichem Maße besessen hat.
Sein
er das Land wechselte, wodurch er den Wirren in Frankreich zu
Zweifel ist indessen stärker als seine Verehrung, und so macht er
entgehen vermochte, hatte er das Glück, daß er Holland fand, im
die antiken D i n g e , indem er ihnen durch Levitation alle Schwere
Stande der Reife damals, voller Selbstsicherheit und bedächtiger
nimmt, hauchleicht, so daß sie jugendlich werden und zu tanzen an-
Kraft. Es zog ihn dahin wie später nach dem nordischen Schweden,
heben. Ebenso verwandelt er auch den Seinsgrad der Natur, obwohl
dessen für ihn allzu hartem Klima er erliegen sollte, weil der Win-
sie ihm fast über sein liebes Ich geht und eigentlich das Sein im
ter mit seiner weißen Reinheit, seiner harten, strengen Konsistenz
höchsten Grade besitjen müßte: sobald er ihr gegenübersteht, erhebt
seine liebste Jahreszeit war. D a s gleiche Verlangen nach einem h o h e n
er sie, verwandelt er sie ins Aetherische. Gar menschlichen Zu-
Seinsgrade zwang ihn, sich parallel mit dem Frankreich Corneilles
ständen wie religiösen und politischen Überzeugungen, Sitten, Ge-
von Griechenland ab- und R o m , sei es dem ältesten, sei es dem
wohnheiten gegenüber läßt er seiner N e i g u n g freien Lauf. Rings-
imperialen R o m , zuzuwenden. Immer, wenn Frankreich das Sein
umher hatten das Leben in den Religionskriegen und die daraus
erreicht, mißt es sich an diesem Vorbild.
resultierenden Erschütterungen der Gesellschaft ihm die Unsicherheit
Das
des Seins handgreiflich vor A u g e n geführt. Sein Zweifel war nicht
sianische die N e i g u n g , sich von allen D i n g e n zu lösen und nach
nur das Vermächtnis der antiken Skeptiker. Es wäre gar zu seltsam,
Einsamkeit zu streben, die es offenbar zu seiner Entfaltung braucht:
Ich.
Viel mehr als das Ich Montaignes hat das carte-
daß ein noch junges Volk sich die Philosophie der athenischen Ver-
stolzes Ich, von einer bisher noch nicht dagewesenen Fülle und
fallszeit zu eigen gemacht hätte. Aber er durchlebte mit seinem
Weite. Bei Piaton wird die Wahrheit in Gesprächen zu zweien oder
jungen Volk eine trübe Epoche. U n d so findet m a n ihn geteilt zwi-
zu mehreren geboren, bei Descartes einzig in der Einsamkeit; er
schen all den Gefahren des Sichverlierens im Nichtsein, die ihn von
kennt den D i a l o g nur in seinen Briefen oder in seinen Erwiderun-
allen Seiten umbranden, und einer Lebensfreude, die er in seinem
gen auf die Einwände gegen seine Meditationen, aber selbst dann
Ich und in dem an Seinsreserven so reichen Frankreich empfand,
ist sein H a n g zur Einsamkeit so stark, daß er tro^ seiner außeror-
und in die er sich willig versinken ließ. So wurde er zum positiven
dentlichen Höflichkeit ständig in den M o n o l o g verfällt. Kein Mysti-
Skeptiker, der an allem zweifelte, doch an das Leben glaubte.
ker in seinen ekstatischen Visionen war jemals einsamer als Des-
In der nächsten Generation tritt eine W e n d u n g zum Besseren ein.
cartes in seinen rationalen Intuitionen.
Ein Sein, v o n einer ganz anderen Kraft wie bei Montaigne, berei-
bin ich" (in der französischen Version tritt das Ich stärker hervor
tete sich vor, war i m Keim für einen so wissensdurstigen und eifri-
als in der lateinischen) erscheint das zweimal vorkommende Ich als
gen Geist, wie
Mitte der Gleichung.
8
Descartes ihn besaß, schon wahrnehmbar. Nicht un-
In dem „Ich denke, also
Stufenweise dehnt dann Descartes das Sein 9
auf alle Gebiete aus, aber sicherlich ist es das Ich, das die größte
Wie stand es in Frankreich um diese beiden Möglichkeiten?
Quantität desselben besitjt und gleichsam sein dauerndes Reservoir
kannte sie beide, hatte sie erlebt, die Renaissance vor allem durch
bleibt. Es hat, nachdem es bei Montaigne so eng mit dem flüchtig-
die Aristokratie, die Reformation durch die Hugenotten. Weder die
sten und wogendsten Werden verknüpft gewesen war, nun seine
eine noch die andere befriedigte es ganz. Es hatte die N e i g u n g , sie
Konturen fest umrissen. Während der zwanzig Jahre, in denen sich
im richtigen Maß zu vereinen. Rabelais war schon ein Kreuzweg,
Descartes über sein Ich gebeugt hatte, hatte er dessen Pflege mit
wo beide einander begegneten: sein Ich ist ein Kentaur, halb Re-
soviel Eifer betrieben, daß es unangreifbar, dicht, ohne jeden R i ß
naissance, halb Reformation; vielleicht überwiegt bei ihm,
und stahlhart geworden war; es hatte sich in ein derart mächtiges
seiner üppigen Fülle, das antike Element. Bei Montaigne herrscht
Sein verwandelt, daß alles Werden in der Welt von diesem unver-
sanfte Ausgewogenheit. Hätte m a n ihn gefragt, zu welcher von bei-
rückbaren Mittelpunkt magnetisch berührt und beherrscht wurde.
den Möglichkeiten er neige, würde er wie immer entgegnet h a b e n :
Das dominierende Ich
teilte allem, was es u m g a b , seinen Festig-
weiß ich e s ?
Es
kraft
U m beide miteinander zu vereinen, hat es eines
keitsgrad mit. Andererseits stellte sich alles, was draußen Sein besaß,
gewissen Abstandes v o n beiden bedurft. D a s Ich, das die weltliche
in der Politik wie in der Natur, zur Bildung dieses neuen Ich zur
Kraft der Renaissance und die geistliche Macht der Reformation
Verfügung und bestärkte es so in seinen Strebungen, daß Ich und
umschließen und vermählen würde, sollte erst später heranreifen.
Sein geradezu identisch miteinander wurden. D a s war das heimlich
Descartes erscheint in dem einzigen Augenblick, da sich die beiden
Betörende und Verlockende, das die von Jahr zu Jahr, v o u Winter zu
Arten miteinander verschmelzen konnten. W a s in seinen
Winter fortschreitende Entwicklung des cartesianischen Ich begleitete.
einfache Einheit ohne Schichtung, ohne den geringsten Riß, den
Descartes hat vergessen, wie lange schon das Leben an der Er-
mindesten Bruch ist, war das Ergebnis des Zusammenflusses
schaffung seines Ich, das er naiv wie ein unverdientes Geschenk hin-
italienischen Lebens des ganzen Quattro- und Quintocento mit dem
nimmt, gearbeitet hatte. Ein mächtiges Ich findet man bei den grie-
Protestantismus, der nur noch in einer Minderheit fortlebte, aber in Atmosphäre
Frankreichs
spürbar
war.
Zu
Augen des
chischen Tyrannen, befleckt von Hybris gegen die Stadt und die
der ganzen
Götter, dann bei den Cäsaren ganz veräußerlicht und auf das Uni-
kam infolge der Reisen, die Descartes unternahm, die Atmosphäre
dieser
versum ausgedehnt, das sie in ihrer Person verkörpern wollten,
der in Deutschland, Holland und Schweden dem Protestantismus
während Christus ein höchst demütiges, ganz verinnerlichtes Ich ge-
gewonnenen Gebiete. Vielleicht wird sich niemals wieder eine solche
lehrt hat. Im Mittelalter war es im Begriff sich zu verlieren. Gerettet
Lebensfülle in den engen Bezirk eines einzigen Ich ergießen, das
wurde es durch die beiden großen, gegen das Mittelalter gerichteten
gerade durch diese Vereinheitlichung die Möglichkeit erhielt, den
Bewegungen, in zwei verschiedenen, ja e n t g e g e n g e s e h e n Richtun-
höchsten Seinsgrad zu erreichen.
gen : die italienische Renaissance verlieh ihm eine gewalttätige, wag-
Die
halsige, verwegene Unabhängigkeit, eine Virtuosität mit plötzlichen
cartes gehören das Gedächtnis, der Glaube, die Imagination, der
Sprüngen über die Grenzen des Menschenmöglichen hinaus, wäh-
Wille
rend die Reformation zwar ebenfalls dem Ich zur Autonomie ver-
Seele mit unserem Körper ist eine ständige Quelle der Verdunke-
half, doch mit dem Gefühl der Zerknirschung und Sündhaftigkeit,
lung; das ist die eine dauernde Gefahr. Eine weitere, nicht minder
Klarheit. 1
Der Imperativ des Denkens — und für Des-
zum Denken — heißt: klar sein. Die Verbindung unserer
mit Grübeleien über die Auslegung von Gottes Wort und endlosen
große, bedeutet die mittelalterliche Scholastik, die durch das Gegen-
Gewissenserforschungen. Miteinander verglichen war das italienische
teil guter Erziehung die natürliche Klarheit getrübt hat. Es gilt, über-
Ich reicher an äußeren Möglichkeiten, während das protestantische sich in sein Inneres vertiefte. 10
i In seiner Entgegnung auf den fünften Einwand gegen die Meditationen sagt er ausdrücklich: ich denke, daß ich will. 11
haupt alle historischen Anschwemmungen zu beseitigen: der primitive Mensch denkt klar. Descartes lehnt auch die Antike a b : mit ihrer Häufung von Zeit, von Dauer wird sie zu einem Strom dunkler Lava. Schöpfen wir unmittelbar aus uns selbst. So versucht er mit Hilfe seines Ich als einzigem Berater und Führer die Wiederherstellung der ursprünglichen Reinheit. Während die Renaissance nach einer echten Antike und die Reformation nach dem ursprünglichen Evangelium geforscht hatten, geht er noch weiter. Wollte m a n die Zeitschicht, nach der er sich zurückwendet, bestimmen, so wäre es die des ersten Ich, a priori jeder Geschichte. In seinem Ofen
1
winterlichen
hat er sich wahrhaft eine Troglodytenhöhle geschaffen.
Während m a n das Sein immer gleich ganz und gar besitzt und es nicht in unterschiedlicher Weise auf Menschen und D i n g e verteilt ist, und während die Ichs sich nicht von einander unterscheiden (das meine und das der Menschen aller Klassen und Geschichtsepochen ist das gleiche), sind bei der Klarheit viele N u a n c e n möglich.
Es gibt eine ganze Skala, ein A b - und Aufsteigen v o m fast
völligem Dunkel (vollkommene Nacht kommt für den Liebhaber des Tages nie in Betracht) bis zu strahlender Helle. V o n dieser Staffelung, die wir in uns erreichen können, soll der höchste Grad zur Gewohnheit werden — nein, eine solche würde durch die Wiederholung Verdunkelung zur F o l g e haben, so daß es besser ist, jenen Grad von Augenblick zu Augenblick entstehen zu lassen. War diese Klarheit, die das Meisterstück Descartesscher Philosophie wird,
eine
in
blitdiaft
blendender
Erleuchtung
plötdich
gefun-
dene Entdeckung und gehörte sie ihm allein im Sinne einer seiner Lieblingswendungen, daß „noch keiner vor mir darauf gekommen wäre"? W i e sein Ich war sie, ohne daß er sich dessen bewußt war, eine lange vorbereitete
Gegebenheit.
Ihre
Ursprünge liegen
in
Frankreich, auf dessen Boden sie sich, da sie keineswegs universal ist, genau lokalisieren läßt. Es sind keine sehr bewußten Einzelichs, die sie geschaffen haben. Sie ist ein Ausfluß des Volkes selbst. Ohne i Vgl. B. Russell, Western Philosophical Thought, S. 582: „The w e a t h e r belng cold, he g o t into a S t o v e in the m o r n i n g . . ." Dazu A n m e r k u n g ebenda: „Descartes s a y s , ist w a s a S t o v e (poele), but most commentators think this impossible. Those w h o k n o w oldfashioned Bavarian houses, h o w e v e r , assure m e that this is entirely credible." (Anm. d. Ubers.) 12
Zweifel hat Descartes von kleinauf bei Leuten in den bescheidensten Stellungen den bon sens beobachten k ö n n e n : die Mägde des Hauses mögen jene Klarheit, die Moliere später seiner Nicole, seiner Dorine verlieh, gehabt haben. Jedermann hatte hier von jeher das Verlangen, sich Rechenschaft zu geben, sich nicht übertölpeln zu lassen, klar zu sehen. Der Philosoph brauchte nur zum Theorem umzuwandeln, was weltliche Lebensweisheit war. Ein erster Gipfel an Klarheit wurde in der gotischen Kunst erreicht: Lichtungen und Ausweitungen durchbrechen den Stein, lassen ihn dünn bis zur Durchsichtigkeit werden; eine Kathedrale strebt zu einem Gott, der die Klarheit selber ist. Später kommt es im Stil der Spätgotik zu einem Niedergang.
Descartes aber ist die lange Erziehung ferner Generationen
zustatten gekommen. In seinen T r ä u m e n werden sie wieder lebendig, freilich nicht in solchen, die er, gutgläubig übrigens, der Öffentlichkeit mitgeteilt hat und in denen möglicherweise Allegorien, die ihn tagsüber besonders beschäftigt hatten, bildhafte Gestalt gewannen:
dies waren wohl seine Träume gegen Ende der Nacht, wenn
Morgenröte und Bewußtsein sich einander zu nähern beginnen. Echte mitternächtliche Träume sind v o n anderer Art; und wenn Descartes erwachte, war ihm jegliche Erinnerung daran, die die festen Konturen seines transparenten Ichs hätten zerstören können, geschwunden. Aber gerade sein leidenschaftliches Verlangen nach Klarheit m a g , da e i n sehr heimliches Ahnenerbe darin obsiegt, als sein eigentlicher Traum gelten. Er, der Enkel gotischer Baukünstler, hat das Verdienst, alle ihre Wanddurchbrechungen, ihre länglichen Fenster, ihre Metamorphosen des Gesteins in Blatt- und Knospenwerk, ihre kaskadengleich aufspringenden Türme auf einen abstrakten Nenner gebracht zu haben. D i e cartesianische
Klarheit,
die sich aus sich selbst zu erschaffen meinte, ohne jede Verbundenheit mit der Vergangenheit, war die Frucht einer langen Dauer, vielleicht unter allen Gegebenheiten Descartes' diejenige, die aus der tiefsten Tiefe seines unterbewußten Lebens emporgestiegen war. Die
Ordnung.
D i e 3 . Regel der Methode gebietet: „. . . alle
meine Gedanken zunächst in eine gewisse Ordnung zu bringen . . ., um allmählich, gleichsam stufenweise, aufzusteigen . . . " Es handelt sich um eine vertikale Ordnung. Durch die 4 . Regel, welche „überall 13
vollständige Aufzählungen . . . allgemeine Übersichten" vorzunehmen empfiehlt, kommt eine horizontale Ordnung hinzu. Kaum hat Descartes das Wort Ordnung
ausgesprochen, kommt
er
wieder
darauf zurück. D i e Uberschrift des viertes Teils des Discours lautet „Ordnung der physikalischen Fragen". ( D i e Methode wird nämlich zunächst auf Moral und Politik, dann auf die Metaphysik
und
schließlich auf die Physik angewandt, woraus ersichtlich wird, daß für Descartes, nach dessen Grundregel man von den einfachsten Objekten zur Erkenntnis der kompliziertesten aufsteigen soll, die Moral das Einfachste wäre, während Gott die Mitte zwischen ihnen einnimmt.) Woher stammte dieses plötzliche Bedürfnis nach Ordn u n g ? War es nur eine utopische Kühnheit, ein selbstherrlicher Vorstoß des reinen Denkens, oder wurde sie wie beim Sein, bei der Klarheit oder beim Ich vom Leben selbst dargeboten? Im wirklichen Leben unter der Herrschaft Ludwigs XIII., das den Philosophen u m g a b , begegnete man ihr nicht, weder am Hof noch in Stadt oder Provinz. Man hatte gerade eine der größten Unordnungen, die Frankreich je gekannt, hinter sich. D i e Spaltung in zwei Religionen und die inneren Kriege, die darauf folgten, waren durch Heinrichs IV. friedenstiftende und einigende Geste beendet worden. Aber die Erinnerung an dieses Chaos schwelte weiter, und bald sollten die unfruchtbaren ordnungsfeindlichen Wirren der Fronde anheben. Solche Atmosphäre scheint für die Schöpfung der Ordnung wenig günstig. Auf der Suche nach ihren Ursprüngen m u ß man bis
Gewohnheit aufgeprägt. D i e angeborene Erinnerung daran wird jedesmal mächtig aufgerufen, wenn sie v o n der Entwicklung des Lebens gefordert wird. U m 1 6 2 0 erscheint sie, parallel zu einem Bedürfnis nach Ordnung. Jenes „Gedenke, daß du ein Römer bist" war vielen Zeitgenossen des cartesianischen Denkens auf bewußte Weise vertraut. Vor allem dem größten, Corneille, der, nachdem er in die spanischen Träume versunken gewesen war, sich dem römischen Traum zuwandte,
dessen er niemals mehr
überdrüssig
wurde. Form und Inhalt seiner Stoffe genügen ihm noch nicht, er begeistert und berauscht sich an der Idee v o n R o m . Als ob es ein magisches Zauberwort wäre, setjt er darauf seine ganze Hoffnung, wiederholt es in den Verfluchungen der Camille in seiner HoraceTragödie (in Wirklichkeit sind es S e g n u n g e n ) ; es beseligte ihn schon, es nur auszusprechen. Descartes hat weder in den Prinzipien noch in den Regeln noch in der Methode je in dieser Weise davon Gebrauch gemacht; die große Belebung, die R o m auch für ihn bedeutet, wird nicht unmittelbar genannt. W i e er in allen
Dingen
tabula rasa machen will, damit seine Philosophie nur seinem Ich gehöre, so duldet er keine Erinnerung an die Aquädukte
und
Triumphbögen, an den Tritt der Legionen, an die Geseke und an das römische Recht. All dies scheint vergessen — und ist bei ihm gegenwärtig wie bei niemand sonst mit Ausnahme Corneilles. In seinem „Ordnung in meine Gedanken bringen" steckt ein sie volo, sie iubeo.
zu der Zeit der Gotik zurückgehen, die soviel Ordnung in der ge-
Eine vergleichende Untersuchung, was Italien und Frankreich an
sellschaftlichen Struktur, in der Stufung ihrer Wissenschaften wie
reiner Latinität besit;en, würde zu dem überraschenden Ergebnis
in ihrer Baukunst gekannt hatte. Daraus ergibt sich eine zeitliche
führen, daß es Frankreich ist, das ihr am nächsten gekommen ist,
Konkordanz mit der Entstehung der Klarheit, die auch aus dieser
obwohl es mit ihr weniger direkt verwandt ist. In manchen Teilen
Epoche stammt. W a s aber die Ordnung anbelangt, so haben wir in
hat die französische Renaissance den Mut gehabt, der italienischen
noch anderen Tiefen zu forschen.
nicht zu folgen und sich getreulicher dem antiken R o m anzuschließen
Descartes, der so leidenschaftlich an der Autonomie seines Denkens festhält, daß er nicht nur die Autorität von Aristoteles sondern der ganzen antiken Welt ablehnt, —
von ihr ist er abhängig.
Die
Erinnerung an R o m ist schicksalsbestimmt, man m u ß sich ihr unterwerfen, R o m hat Frankreich seinen Stempel zunächst mit Gewalt, dann auf dem W e g e der Überredung und schließlich vermöge der 14
als Italien selbst. W e n n es einst eine bedeutsame Sprachneuerung gewesen war, als sich zur Zeit der Gotik die Ordnung, dabei über das lateinische Vorbild hinausgehend, auf die Satjfolge zu erstrecken begann,
so wurde jetjt, als Descartes den Imperativ
der Ord-
nung als eine seiner Hauptgegebenheiten verkündete, von ihm eine Sprache geformt, die als Gewand seines Denkens dessen vornehm15
lichster Triebfeder genau zu entsprechen hatte. D a s Erbe der Ord-
hängt diese Hypothese
nung in der französischen Sprache wurde damals noch vermehrt
Augenblick zusammen.
und zum Extrem gesteigert. Bei welchem lateinischen Schriftsteller
rung, die in der italienischen Renaissance begonnen hatte und die
hat Descartes am meisten gelernt, bei Sallust, bei Cicero oder bei
man zu Unrecht einzig und allein auf die Vorherrschaft des Ver-
Tacitus? Er hat uns nicht verraten, w e m seine besondere Liebe ge-
standes zurückführen würde. D a s Leben selbst vermag bald den
hörte. Vielleicht hat er sie alle in einer Summe aller Summen ver-
Charakter der Dauer, bald den der Augenblicklichkeit anzunehmen.
einigt, drang doch seine Philosophie bis ins Herz der Latinität vor,
Es hatte während des Mittelalters so sehr die Dauer erprobt, daß
wie es in gleicher Weise weder Florenz noch Venedig je versucht
ein Rückschlag eintrat und man in der Renaissance eine auf der
hatten. Hier entwickelt sich R o m lebendig weiter, so wie parallel
beflügelten Schwerelosigkeit des flüchtigen Augenblicks schwebende
dazu die französische Tragödie in einem Maße sich der Ordnung
vita nuova schuf.
unterwarf, wie es die Antike selbst nicht zu fordern gewagt hatte. Der Augenblick.
Jeder Augenblick steht unabhängig für sich.
D i e Rolle Gottes wird dadurch bedeutender, als wenn nach dem Schöpfungsakt die Natur aus eigener Kraft kontituierlich handeln würde.
Ständig interveniert Gott, schafft sie in jedem Augenblick
ganz und gar neu. Bergson hält sich besonders an diesen Teil des cartesianischen Systems, um zu beweisen, daß das Cogito nicht bis zur Erkenntnis der Dauer vorzudringen vermag, und daß es, um die Kontinuierlichkeit der Welt zu erklären, zu einem räumlichen Nebeneinander einzelner Punkte greifen m u ß . U m Descartes gerecht zu werden, wird man entgegnen müssen, daß ihm keineswegs die
mit seinem allgemeinen
Verhältnis
zum
Hier handelt es sich um eine Lebenserfah-
Hier lag das Reizvolle und Gefährliche
für
Florenz und alle, die nach ihm sich an diesem N e u e n versuchten. Es war fern der wirklichen römischen Antike, die voller Traditionen und zuverlässiger Kontinuität des Gedächtnisses gewesen war. Es glich vielmehr dem Kairos und der Tyche, dem Zufall, der Griechen. Ein solch flüchtiges Leben wird bei Montaigne sehr deutlich, dem es gefällt, sein Ich von einem Augenblick zum andern wechselnd entstehen zu lassen. D i e Religionskriege, die einen Rückfall ins Mittelalter bedeuteten, brachten eine Zunahme der Dauer,
wogegen
man im Jahre 1 6 2 0 zu der Vorstellung eines sich in höchsten Augenblicken
ballenden
Lebens zurückkehrte. Nicht
das
Cogito
Dauer als persönliche Erfahrung unbekannt war. W i e gern erinnerte
zwang Descartes, auf die Konzeption der Dauer zu verzichten; es
er sich jener neun Jahre der Unschlüssigkeit und der innersten Ar-
ist im Gegenteil das als Spifrje aufgefaßte Leben, das sein Denken
beit, bis er seine Methode gefunden hatte! Er hat in seinen Lehr-
bestimmte.
D a s Sein gewinnt dadurch an Dichtigkeit, wird ganz
jahren die keineswegs augenblicksweise sich vollziehende Aggregie-
erfüllt von der Gewalt des Augenblicks, die so groß ist, daß man
rung und den fließend innigen Zusammenhang seines Ich gepflegt
seine Wiederkehr nur wünschen kann. D i e Reinheit und leuchtende
und beschrieben.
Ebenso weiß er, welche Bedeutung für die lange
Klarheit des Ich, die in der undurchsichtig strömenden Dauer ver-
Reihe von Erfindern und Schöpfern, die er am Schluß der Methode
schwinden würden, sind nur einen Augenblick lang festzuhalten.
voraussieht, ein Zusammenhang zwischen den Geschlechtem hat, die
Nur noch zehn Jahre, und man sollte erleben, wie der Hof von
in den Laboratorien und Werkstätten der Zukunft arbeiten werden
Versailles auf dünner Spitje die Sonnenhöhe seiner Macht erreichte.
und, um sich die Früchte ihrer Arbeit weiterzureichen, ineinander
Man wird sich dann nicht scheuen, dort selbst das Tragische, das
übergehen müssen. W e n n Descartes trotj dieser doppelten Erfah-
wesensmäßig an lange Strecken von Dauer gebunden ist, in den
rung der Dauer nicht zugeben will, daß die Entdeckung
seiner
Zeitraum eines T a g e s zusammenzudrängen: höchst kühne Beschrän-
Methode langsam und in Absähen v o m Jahre 1 6 1 0 ab begonnen
kung, die wie so viele Gegebenheiten der italienischen Renaissance
hat, wenn er im Gegenteil sie im Laufe eines einzigen Winters
nur einer Aristokratie geziemt. W e n n Descartes in der Bedeutung,
oder gar in blitjhafter Erleuchtung entstanden wissen möchte, so
die er dem gesunden Menschenverstand gab, im Einklang mit dem
16
2 LION
Volk als Ganzem seine philosophische Welt erschuf,
so blieb er
mit der Substanz der Seele wäre, zu glauben. D i e andere entgegen-
durch seine Vorliebe für den Augenblick der Aristokratie treu und
gesetzte und unabhängige Substanz mußte ein anderer Gott sein.
transponierte das von ihr versuchte Leben ins philosophische Denken.
Hinsichtlich dieses zweiten Absoluten macht Descartes einen Vor-
Die
mit
behalt: er läßt ihm nicht seine Fülle wie dem D e n k e n ; er entblößt
einer solchen Inbrunst dem reinen Denken ergeben ist, sich von den
es von fast allem, was zu ihm zu gehören scheint. Es bleibt dem
Körpern voller Verachtung abwenden würde. Für Piaton sind sie
Körper nur eine einzige Eigenschaft, die Ausdehnung. D a s cartssia-
nur Schatten, amorphe und passive Hyle. In seiner Epoche verlor
nische Denken nimmt ihm nahezu alles und erhebt es zugleich, so
bei den Griechen, die einst zu Zeiten Homers nicht abließen, die
daß diese Theorie sowohl für die Verehrer der Sinnlichkeit wie
D i n g e in ihrer Dinghaftigkeit bestaunten, sie wägend in die H a n d
Gassendi als auch für deren Gegner wie Arnauld nicht annehmbar
Körper.
Man sollte eigentlich erwarten,
daß, wer
nahmen, ihre körnige Substanz befühlten, der Körper seine Be-
sein konnte. Stand das ganze Frankreich hinter dieser Verleugnung
deutung.
Es bedurfte nur eines Schrittes, und Griechenland, im
von allem, w a s unseren Sinnen zugänglich ist? Liest man Corneille
Begriff, seinen politischen Körper einzubüßen, neigte gänzlich dazu,
wieder, so wird man bei ihm etwas A n a l o g e s finden: alle seine
die Existenz dessen zu bezweifeln, was er selbst nicht mehr besaß.
Gestalten sind sehr leidenschaftlich, doch ohne den unwidersteh-
W e n n die Bedeutung
lichen Ruf
des menschlichen Körpers abnahm,
dann
wirklicher
Sinnlichkeit
zu vernehmen.
Seltsame
Ge-
hatten alle anderen D i n g e , Vasen, Edelsteine, Möbel, die Berge
schöpfe: bei ihnen gibt es nur das Spiel der sie verbindenden
und das Meer und alle Atome, die seit der Zeit Demokrits die
Leidenschaften: alle sind bei Corneille ( w i e bei Stendhal Julien und
Welt erfüllten, nur noch ein gebrechliches Sein. Der cartesianische
Mathilde) große Mathematiker; sie rechnen, sie messen sich, die
Standort
körperlichen Bedürfnisse zieht m a n nur in Betracht, um sie in
war,
seiner
Epoche
entsprechend,
ein
ganz
anderer. Nicht
meßbare Quantitäten umzusehen. Warum drängte sich der Zeit um
nur er selbst, der mächtige Knochenbau seiner prächtig gekrümm-
1 6 2 0 diese Vorstellung vom Körper a u f ? Sie ist der Konzeption
ten N a s e ,
Rabelais' konträr, des großen Kenners alles dessen, w a s jeder Kör-
Hier ist der Punkt, w o er Piaton wird aufgeben müssen. seine v o m
Denken
gleichermaßen
zerarbeitete
Stirn, Frank-
per an dynamischer Kraft v e r m a g ; er sah gewiß nicht im Tier- und
reich besaß eine körperliche Kraft, die noch viel zu mächtig war,
Pflanzenreich nur ein mechanisches Getriebe. Auch der Stil Montaig-
seine W a n g e n zeugen von substanziellem Gewicht. Ganz
Alles um Des-
nes enthielt eine wenn auch verfeinerte ständige Sinnlichkeit: auf
cartes besaß die Kraft des Absoluten: das Land, die Felder, die
leichtem Nachen gleitet der Leser dahin, sich den Windungen des
um ihr die Wirklichkeit absprechen zu können. Städte,
die
Exerzierplätze,
noch in vollem Saft,
und
die
Flüsse,
morgen,
die
unter
Häfen,
alles
stand
der Regierung Lud-
wigs X I V . würde diese Kraft so stark sein, daß die klassische Form von der Lebensfülle gesprengt zu werden drohte. D i e innere Gewißheit der unzweifelhaften Gegebenheit war für die Körper genau so stark wie für das Ich. Sie selbst zwangen durch die ihnen immanente Kraft, an ihre Existenz zu glauben. Es herrschte gleichsam ein gegenseitiges Einverständnis zwischen Körper und Seele, daß jeder des anderen Sein anzuerkennen habe. Vitaler Dualismus, der den Philosophen zwang, nicht nur a n einen alleinzigen Gott, der eins 18
Wassers überlassend, während die Hand, hinabtauchend, die geschmeidig sich biegenden Wasserpflanzen streift und unablässig ihn sanfter Frühlingswind umschmeichelt; der große Zweifler stellt nicht die Wirklichkeit all jener sinnlichen D i n g e in Frage, ohne die er nicht zu leben vermöchte.
Dieses ganze Erbe, das von der süßen
Sinnlichkeit des ältesten Frankreich getragen war, scheint plötzlich von Descartes aufgegeben. Es ist eine strenge Auffassung, die im Körper nur A u s d e h n u n g erblickt. Zum Teil wurde sie ihm v o m Protestantismus
als
hugenottisches
Vermächtnis
auferlegt
(alles
Protestantische in Descartes wurde durch seinen Aufenthalt in Holland noch gesteigert und gefördert). Vielleicht sind die Ursprünge 19
dieser Konzeption in dem zu logischer und mathematischer
1
Ab-
straktion neigenden französischen Geiste zu suchen. D i e E r f a h r u n g.
Es ist cartesianischer Grundglaube, daß un-
ser Ich nur mit Hilfe des Verstandes, mit seinen Mitteln der Induktion und Deduktion eine Welt errichten kann und daß diese Verstandesschöpfung der wirklichen Welt so sehr gleicht, daß e s schwer hält, zu bestimmen, welche von beiden die Priorität beanspruchen kann. D a s Denken allein wäre also mit eigenen Kräften, die ebenso groß wie Gottes Kräfte sind, imstande, jeden Augenblick die Welt zu rekonstruieren. In den „Prinzipien der P h i l o s o p h i e " ist der von Descartes der Erfahrung zugestandene Part minimal, verglichen mit dem, den er dem reinen Geist einräumt. Erinnern wir uns dabei nicht an Lullus und die anderen Logiker, die ebenfalls zur Wahrheit durch die bloße Mechanik ihrer Logik
gelangten?
Descartes aber bedient sich auch des Experiments, was ihn, den Platoniker, Aristoteles eigentümlich naherückt. Doch ist seine A b neigung gegen diesen von der Scholastik entstellten Philosophen so groß, daß es ihm selbst dann, wenn er die experimentelle Methode anwendet, nie in den Sinn kommt, daß er sich in dieser N e i g u n g mit dem größten aller Realisten begegnet. V o n einer anderen Seite kam
ihm
der
Lebensströmung
Imperativ
D i e Quellen
dieser
sind schon in den abenteuerlichen u n d
der
Erfahrung.
fanati-
schen Versuchen der Alchimisten zu finden.
telle Methode, und ganz in der N ä h e v o n Descartes war Harvey, dessen Experimente bezüglich des Blutkreislaufs größten Eindruck auf ihn machten. Er begann mit ihm zu konkurrieren, machte sich mit Leichtigkeit seine Resultate zu eigen, verwarf auch einen Teil derselben; er steht mitten in der Auseinandersetzung der großen Menge der Experimentatoren seiner Zeit. Es war eine europäische Auseinandersetzung.
die gleiche wie bei den Menschen des 1 2 . und 1 3 . Jahrhunderts, deren letjter der historische Faust um 1 5 0 0 war. N u r hat er seine Seele nicht jenem verkauft, den er den möglichen Täuscher nennt: klüglich will er es mit Gott nicht verderben. Auch seine unmittelbaren Vorgänger hatten am lebenden Objekt gearbeitet: Rabelais als großer Anatom des menschlichen Körpers und aller D i n g e und Montaigne, obwohl ganz antiken Traditionen gehorsam, lag, was i Nichts ist für Descartes v o n größerer B e d e u t u n g als sein Erscheinen in einem Augenblick, in dem die Mathematik in Frankreich den Hang einer ersten Wissenschaft erhält, den zur Zeit der Humanisten die Altphilologie und vorher, während der Scholastik, die Logik innegehabt hatte. D i e Philosophie hält es i m m e r mit einer n e u e n Wissenschaft, die ihrerseits auf den g e e i g n e t e n Moment wartet, sich über irdische Kontingenzen zu erheben.
In seiner Korrespondenz
mit dem Pere
de
Mersennes wie mit seinen holländischen Freunden findet man ihn fast ebenso um seine Versuche besorgt wie um seine mathematischen Probleme.
Der leidenschaftliche Eifer, der Descartes ergriff, be-
schränkte sich also nicht nur auf seine Methode. W i e sollte er dem Lebensstrom seiner Zeit widerstehen?
Infolge seiner übermäßigen
Vorliebe für das Experiment ist er auf die Körper angewiesen. Wenn man sich ihn gern während seines germanischen Winters in der Einsamkeit seines Ofens vorstellt, darf man auch einen anderen Descartes nicht vergessen, der sich in Rembrandtschem Helldunkel über Leichname beugt.
Gedächtnis
D i e Begeisterung, mit
der sich Descartes in den Sturzbach solcher Experimente stürzt, ist
20
sein Ich betraf, beständig auf der Lauer, um alle seine Neuigkeiten zu erspähen. Dann kam Bacon u n d seine ausschließlich experimen-
Descartes,
und Schöpfung
bei
Descartes
der seinen ganzen Stolz in die Autonomie seines Ver-
standes setzte, würde mit Entrüstung die Einmischung von Sendboten der Vergangenheit, des Mittelalters gleichermaßen wie der Antike, ablehnen.
Beide würden eine Last bedeuten, und wenn er
auch starke Schultern besaß, sie zu tragen, wieviel leichter und beflügelter
wird
sein
Schritt
sein, wenn
er nicht die
ungeheure
Säule der Vergangenheit auf sich spürte, die unendlich viel schwerer w o g als die Luft. Für Descartes gibt es weder nahe noch ferne Geschichte. D a s Gedächtnis ist für ihn nur ein Modus des Denkens, ein durch den Strom der Bilder, die es mitschleppt und die es mit dem Körper verbinden, beschränktes, beflecktes und herabgemindertes Vermögen. Mißtraut er ihm, weil er selbst die Erfahrung gemacht hatte, daß es bisweilen versagte, und bedient er sich seiner 21
nur als eines schwachen und unzulänglichen Instruments?
Oder
So hat das Verhältnis Descartes' zu den platonischen Ideen einen
wollte seine Zeit, die sich zu großen Schöpfungen rüstete, nicht mehr
zweideutigen Charakter.
von weit zurückreichenden Erinnerungen beschwert sein? V o m Ge-
Ideen äußerst häufig vor. Sie sind aber nicht mehr auf griechische
In seinen Meditationen kommt das Wort
dächtnis, da es unrein ist, (Reinheit ist bei ihm höchstes Lob, Un-
Weise unabhängige Objektivationen u n d befinden sich auch nicht
reinheit schärfster T a d e l ) , macht er lieber nur beschränkten Gebrauch:
außerhalb unseres Ich, das von ihnen nur einen Widerschein oder
in seinen Regeln empfiehlt er, bei der Deduktion sich daran zu ge-
Schatten zu empfangen fähig wäre. Für Descartes sind sie unserem
wöhnen, einen Sprung von der ersten zur letzten Gegebenheit zu
Denken inhärent; er hat als Ideen die einfachen Begriffe bezeichnet,
machen, um bei den Zwischengliedern nicht auf das Gedächtnis an-
die nach der ersten Regel der Methode unserem Geist klar und deutlich
gewiesen zu sein.
erscheinen müssen.
Er läßt den Gebrauch dieses Vermögens nur in
Sie sind unmittelbar mit unserem Ich verbun-
den seltenen Fällen zu, in denen es ihm unvermeidlich scheint. D a s
den, das sie aktiv erzeugt; jeder besitzt sie kraft des gesunden
sich von Augenblick zu Augenblick erschaffende Leben kann das
Menschenverstandes, der also ein guter Platoniker ist. In diesem
Gedächtnis entbehren.
Sinne werden bald eine Nicole, eine D o r i n e bei Moliere
Also wäre das ganze cartesianische System
voller
kompromittiert, wenn sich wirklich beweisen ließe, daß es zum Teil
Ideen sein.
aus der Vergangenheit geschöpft habe.
gebraucht, ist nicht als eine nur wörtliche Anlehnung an Piaton zu
Seine Überzeugung, daß er nur aus seinem Ich schöpfte, ist ge-
erklären. D a s Leben rings um ihn lud ihn ein, die Ideen auch im
rechtfertigt. N u r daß dieses Ich etwas höchst Ehrwürdiges
war,
D i e Treue jedoch, mit der Descartes das Wort Idee
rein platonischen Sinne aufzufassen.
D e n n die sich ankündigende
nicht durch Parthenogenesis in einem bli^haft erleuchteten Augen-
neue Zeit hatte die Vision künftiger Vollkommenheiten, die in der
blick entstanden. W e n n wir die Ursprünge seiner Ordnung in das
Luft wie schöne Wolken an einem Sommertage schwebten.
Woher
antike R o m und die seiner Klarheit ins 1 4 . Jahrhundert und die
kamen jene seltsamen Abstraktionen, die Corneille magnetisch be-
Lebenserfahrung seines Augenblicks in die italienische Renaissance
rührten und sursum ad astra geleiteten und die er als existent
verlegen, so wird dadurch nicht in Frage gestellt, daß er sich
empfand, die Idee R o m s oder d i e Ideen der T u g e n d oder
während jenes im Ofen verbrachten Winters nur auf der Ebene
R u h m s ? Es gab damals eine Schöpfung übermenschlicher Entitäten,
seines Ich aufgehalten habe.
In diesem aber stieg er, seltsamster
denen man nachstrebte, so daß neben der abweichenden Auslegung
aller Träumer, wie in einem Förderkorbe in unterirdische Schichten
des Wortes Ideen durch Descartes sie auch bei ihm den N i m b u s
hinab.
Jeder
Philosoph
ist
ein
Heros
des Gedächtnisses.
Die
des
einer echt platonischen Wirklichkeit erhielten.
Aufmerksamkeit, die er ihm entgegenbringt, ist die andächtigste,
Anderer Akt lebendigen Gedächtnisses bei Descartes: seine Rück-
wie die eines Priesterkollegiums; er läßt sich, darüber gebeugt,
kehr zu R o m durch einen Kopfsprung in den dunklen Zeitenstrom.
nichts von ihm entgehen.
D a s ist in
In seiner Abgeschlossenheit hat Des-
Frankreich der häufigste Traum, der immer wieder-
cartes so tief wie nur möglich in seinem Ich geschürft. D i e tabula
kehrt, wenn
rasa, auf der er sich wie auf azurner Fläche zu bewegen glaubte,
scheint.
hatte wie ein Gletscher tiefe Spalten.
W e n n wir alle von Ver-
ment innerhalb des Gedächtnisses zu fördern. Der Dichter hat sich
gangenheit erfüllt sind, so ist der Philosoph vor allen dazu aus-
dessen nicht geschämt, während Descartes, der ebenso sehr Zu-
ersehen,
flucht
ihr zu verfallen. W a s ihm
das intellektuelle
Gedächt-
auch mit
Intervallen, w o
er vergessen
zu werden
Plö^lich hatte die Zeit Corneilles den Hang, dieses Frag-
in dieser
in seinem Ich verschütteten Schicht fand,
sich
nis an Fragmenten vergangener Philosophien bietet, gewinnt nur
selbst diese Verwurzelung nicht eingestanden hat, die ihn in die
dann wirkliche Bedeutung, wenn diese von lebendigen Erfahrungen
Nacht der Zeiten zurückführte. Er handelt umgekehrt wie Rousseau,
oder vom Unterbewußtsein ergänzt werden.
der sich, obwohl bei ihm die Verwandtschaft mit R o m bedeutend
22
23
weniger eng ist, demonstrativ darauf beruft.
Descartes war ein ohne es zu
niger jener Helligkeit der Zwischenräume zwischen den Säulen als
Seine Ordnungstheorie war ein pietätvoll vollstrecktes Ver-
vielmehr jener der durchbrochenen Mauern und länglichen Fenster.
vollkommener Römer, ohne es zu wissen, vor allem sagen.
die Säulen." Der andere: „ D i e cartesianische Klarheit gleicht we-
Er hatte in seinen Lehrjahren die Texte der Stoiker
Sie hat deren leidenschaftliche Kühnheit, die es ihr ermöglicht, die
kennen gelernt; dann hatte er in dem radikalen Wunsch, alles
Geheimnisse des Lichts voll auszunutzen. So behaupten wir, ohne
mächtnis.
zu vergessen, sich auch von ihnen entfernt, aber parallel mit der
sein System untergraben zu wollen, daß er mit seiner Klarheit der
Isolierung seines Denkens fand er darin wieder, was die Basis
gelehrigste Sohn des 1 4 . Jahrhunderts war."
des ihren gewesen war.
Indem er mit seinem lebendigen
Ge-
dächtnis bis zur Essenz des römischen Lebens vorstieß, trug er
Er ist auch der Sohn des 1 2 . und 1 1 . Jahrhunderts:
hypothe-
tisch nimmt er an, „daß ein gewisser böser, ebenso listiger und
daraus den kostbaren Schatz der Ordnung an die Oberfläche eines
betrügerischer wie mächtiger Genius alles daran gesetzt habe, ihn zu
bewußten
täuschen", es ist der Teufel, der aus einer auf die Ahnen zurück-
Denkens empor.
Als er dann bei den Stoikern
das
Ebenbild des eigenen Fundes entdeckte, konnte er manches von
reichenden Erinnerung sich ihm w i e einem Faust naht. W e n n sein
ihrer Terminologie benutzen
Glaube an die Existenz der Welt erschüttert ist, so ist sein Zweifel
(seine dritte Moralmaxime „ E s gilt
zu versuchen, eher mich als das Schicksal zu beherrschen
und
womöglich nur die Maske, unter der dieser Feind sich ihm naht.
ändern"
W i e soll er sich seiner erwehren? Dieser Gegner ist allmächtiger
enthält ihre wichtigsten Begriffe: Welt, Ordnung, Schicksal, Herr-
als Gott, da er „Widerspruchsvolles und Unmögliches vollbringen
eher meine eigenen Wünsche als die Weltordnung zu
schaft), scheinbar ohne daß seine Unabhängigkeit, auf die er in
könnte." Daher der tragisch düstere u n d urtümliche Charakter des
gutem Glauben bedacht ist, dadurch eine Einbuße erlitt.
cartesianischen Zweifels, ganz anders als der von Montaigne, der
Moderne Kommentatoren, die ihn vor allem der Scholastik tribut-
ihn aus seiner Erinnerung an die späte Hochkultur der skeptischen
pflichtig machen und von dort aus seinen Anspruch auf A u t o n o m i e
Schulen geschöpft hatte.
untergraben möchten, berufen sich auf die Identität seines ontologi-
nauen Sinne mittelalterlicher Konzeption, als von einem verschla-
Descartes spricht v o m Täuscher, im ge-
schen Gottesbeweises mit dem des Anselm von Canterbury. In der Tat
genen Logiker, der die Menschen irre macht, um sich besser ihrer
m a g er ihn traumhaft in den untersten Schichten seines Ich vorgefun-
Seele zu bemächtigen und sie zu verderben.
den haben. Wievieler anderer D i n g e aus gut mittelalterlicher Zeit hat
nachdem er ihn erst zitiert hat, plötzlich verschwinden läßt,
er sich erinnert! Seine Klarheit, Basis und Regel seiner Methode,
zwingt ihn gerade dieser Traum zur A n n a h m e eines Gottes, der die
ist vielleicht der wichtigste Akt dieser Treue.
W e n n er ihn auch, so
Er freilich würde
Existenz des Ich, des Denkens verbürgt und selbst die des Körpers
sich dagegen verwahren: „ D i e Scholastik verlor sich in Ehrfurcht
als einer Substanz, obwohl dieser, so sollte es scheinen, eher dem
vor den alten Autoritäten, die schon infolge ihres Alters dunkel
Revier des Anderen angehören müßte.
waren; sie lehrte die qualitates occultae, die Substanzen. Ironisch
So enthält eine Philosophie das vergangene Leben. Sie enthält auch
gebrauche ich bisweilen ihre Ausdrücke. W i e nirgends sonst habe
das künftige, noch unerschaffene Leben.
Descartes, der verlebt ge-
ich mich hier von allen Residuen des Gedächtnisses freigemacht."
wesen wäre, wenn m a n behauptet hätte, daß das, w a s er vorzu-
Worauf
schlagen hatte, zum Teil dem Gedächtnis zu verdanken war, wäre
der
Gesprächspartner
entgegnen
würde:
„Die
gotische
„Was
bedeutet
es noch mehr, w e n n man ihm bewiese, daß er etwas geschaffen
Ich liebe eine andere Baukunst, die ich heute vor meinen
hatte, was es vor ihm noch nicht gegeben hatte. W e n n jemals ein
Epoche hat durchsichtige Bauwerke aufgeführt." das m i r ?
Augen nach den Regeln Vitruvs in drei Ordnungen entstehen sehe. 24
übereinandergelagerten
Philosoph den Mut hätte haben dürfen, die Unabhängigkeit seiner
Ich bin gegen die Strebepfeiler und für
Schöpfung zu gestehen, so ist es Descartes. Er hat tabula rasa ge25
macht, und da er jede Teilhaftigkeit der Vergangenheit an der Ent-
kenntnis des Cogito vorausgeht. Auch in der Natur entsteht eine
deckung sowohl des Cogito als auch der Körper ablehnte, hätte er
Schöpfung unter A b n a h m e oder Zerstörung dessen, was sie umgibt.
daraus den Schluß ziehen müssen, daß diese beiden Substanzen
Descartes analysiert die Seele u n d reduziert sie, Sinnne, Imagi-
durch einen Akt seines eigenen Geistes oder durch die schöpferische
nation, Gedächtnis und Wille beiseite lassend, auf das D e n k e n .
Entwicklung
seiner
Epoche entstanden
wären.
Aber mit
einem
1
Infolge dieser äußersten Spezialisierung erhielt dann dieses kraft
Sprung se^t er über die ganze, von ihm geleugnete Geschichte hin-
seiner Isolierung eine noch nicht dagewesene Weite.
w e g bis zu einem ersten Menschen, einem Adam, und gibt den
sich diese Ausweitung
beiden Substanzen Denken und Körper dadurch eine Vergangen-
einzelnen Phasen lassen sich durch soviel Philosophien hindurch
heit
verfolgen: einen großen Sprung tat das Denken durch
von
einer
Zeittiefe,
die nicht
größer
wenn er die Geschichte hätte gelten lassen.
hätte
sein
können,
Er irrte nicht, wenn
goras,
einen
anderen
nicht allmählich
durch
die
Nicht, daß
vorbereitet hätte!
Dianoia
bei
Piaton.
Ihre
AnaxaDann
er sein Absolutes auf diese uralte Basis stellte: es gab wirklich bei
erfolgte ein zweiter großer Schub vorwärts in der Scholastik; wenn
diesem ersten Menschen ein Denken, einen Körper — anders frei-
es hier eine Verminderung infolge der blind übernommenen Tra-
lich als diese beiden Schöpfungen bei Descartes, aber dennoch ihnen
ditionen und Doktrinen erfuhr, so stieg es doch in
ähnlich, sie vorbereitend und so zum H u m u s taugend für die Er-
Spindeln sehr hoch wie die Türme der Kathedralen, durch bestän-
kenntnis dieser beiden neuen Götter, die Descartes aus Bescheiden-
diges Üben wurde die Denkfähigkeit unendlich verfeinert. D a s alles
imaginären
heit nicht hatte selbst geschaffen haben wollen.
kam Descartes zugute. Eine schöpferische Gegebenheit braucht nicht
D i e Idee der Schöpfungsmodalitäten interessiert ihn überhaupt nicht.
bis in ihre Grundlagen neu zu sein.
D a s Lebensgefühl, mit dem er das Sein als vollendeten Zustand
setjung. Der jeweilige Schöpfer lebt selber in der Illusion, sich nicht
empfand, war bei ihm so stark, daß ihn die Erkenntnis des Wer-
mit einer heftigen B e w e g u n g auf eine höhere Stufe hinaufgeschwun-
dens gar nicht lockte.
gen zu haben.
W e n n er einen Gegenstand untersucht, er-
faßt er ihn nicht im Augenblick seines Auf- oder Abstiegs, sondern
Sie ist beinahe immer Fort-
Piaton hat seine Ideenlehre Sokrates zuschreiben
können, weil mit ihr die Entwicklung nur um eine Kerbe über die
auf dem Höhepunkt seines Seins. Er sieht das Licht, die Erde, die
von Sokrates geschaffenen
Welt, Gott im Zustande der Endgültigkeit, ebenso das Denken, das
Descartes enthält das Denken die progressive Summe aller Stadien,
Definitionen hinausgediehen war. Bei
bei ihm keine langsame mühselige Vorbereitung erfährt: sobald es
die der menschliche Verstand durchlaufen hatte: es ist die Frucht
erscheint, ist es da, unabänderlich. N i e geht Descartes, einen so h o h e n
seines Gedächtnisses, das die ganze Geschichte umfaßt.
R a n g er der ratio auch immer einräumen mag, so weit, zu behaupten,
der Philosoph noch über die Maxima, die alle seine Vorgänger
daß sie etwas N e u e s erschaffen könne oder selbst etwas N e u e s , so-
erreicht hatten, hinaus.
eben Entstandenes sei. Er behauptet, sie nur aufgefunden zu haben.
Denken von absoluter Reinheit
Wir jedoch dürfen uns erlauben, den Prozeß noch einmal aufzu-
purete!) erreicht werden, das das Sein vor allen anderen D i n g e n
rollen und uns die Frage vorzulegen, ob er nicht dort schöpferisch
besitzt.
gewesen ist, wo er nur eine bereits vorhandene Wirklichkeit anzu-
nahe daran, zuzugeben, daß ein anderer Gott über dem, dessen
nehmen oder sich ihr zu unterwerfen meinte.
Träger der Mensch ist, nicht notwendig sei.
D a s Denken, die Hauptgegebenheit seiner Philosophie — wo findet
über
es sich vor ihm in gleichem Grade? Damit es diesen Grad erreichte, mußte zunächst alles andere ringsum aufgehoben werden; das ist die positive Seite des zerstörenden Zweifels, der bei ihm der Er26
Noch weiter! Noch höher! Es muß ein (wie liebt Descartes
Ein solches Denken ist göttlich.
dem
Denken
D a n n geht
besi^en,
das
in
das
Wort
Zeitweilig ist Descartes
sich
W a s sollte er noch
vollendet
ist?
Wenn
i Die Identifizierung g e h t so weit, daß er sagt: „Eher k ö n n t e ich glauben, daß eine Seele zu b e s t e h e n aufhört, als begreifen, daß sie ohne das D e n k e n sein könnte." 27
Descartes sich entschließt, einen höchsten Gott außer dem von ihm
festen und dauernden Entschluß fasse, auch nicht ein einziges Mal
erschaffenen anzunehmen, so geschieht es aus einem Schamgefühl,
ihre Beobachtung zu versäumen."
das fast immer die Philosophen zwingt, das Licht des neuen Abso-
einziges Mal", aus dem sein Sorgen um den Augenblick spricht:
luten unter den Scheffel eines älteren, schon geheiligten zu stellen
das Denken soll sich bei jeder neuen A n w e n d u n g neu erschaffen
(mit Ausnahme der Vorsokratiker, die die Kühnheit besaßen, ihre
und wiedererschaffen;
Schöpfungen unverhüllt vor aller A u g e n darzustellen; bei
wie jeder Kult eine Bezugnahme auf die Dauer.
ihnen
Er
erteilt
M a n beachte dieses „nicht ein
andererseits enthält das Wort
Ratschläge,
Weisungen
an
„dauernd"
So spricht ein
gibt es kein larvatus p r o d e o ) . Descartes hegt die berechtigte Be-
Priester.
fürchtung, daß seine kostbare, infolge ihrer Jugend so verletzliche
Jünger, an alle, die ihm nachfolgend ihr Denken bis zum R a n g e
seine
künftigen
Schöpfung zugrunde gehen könnte. So wahrhaft mutig er g e w i ß
des Absoluten erheben werden.
während seiner militärischen Laufbahn war, so vorsichtig, ja ängst-
näherungen an die Vollendung seines D e n k e n s ; m a n sieht, w i e er
lich besorgt war er um das W o h l seiner Person, mit der das Schick-
es Schritt für Schritt immer schärfer, immer exakter, immer scharf-
Seine Schriften bedeuten ihm An-
sal seiner Werke eng verknüpft war, die gefährdet waren, wenn er
blickender und durchsichtiger werden läßt, niemals müde, einem
in Gefahr geriet. In einer Art sublimen Spiels kehrte er, nachdem er
möglichen Gipfel zuzustreben.
das Denken als Absolutes gesetzt hatte, zu einem alten Gott als dem
erscheint, um so mehr hat das D e n k e n Gelegenheit, sich zu üben.
Vater seines Zeus zurück.
Als er mit seinem Traktat von den Leidenschaften der Seele das
N u n schöpft er im Gedächtnis aus dem
Je unerreichbarer der Gegenstand
Vollen: einer der Gottesbeweise, der ontologische, datiert aus dem
Denken auf das ihm Konträrste anwandte,
Jahrhundert der Scholastik, ein anderer, de consensu omnium, aus
gung neuen Schwung; so kraftvoll war es noch nie gewesen. W e n n
der Schule der Stoiker.
wir aufmerksam der Kurve eines jeden seiner Werke folgen, er-
Er läßt sich v o m eigenen Spiel fangen:
gab ihm die Anstren-
dieser höchste Gott gibt dem Denken, das bereits eine unangreif-
leben wir Kindheit, Jugend und Reife dieses neuen Absoluten.
bare und vollendete Basis gewesen war, einen Zuwachs an Sicherheit.
sehen das Werden dessen, was für Descartes das unveränderliche
Wir
Descartes brauchte einen älteren Gott, wie der Staat Ludwigs X I V . ,
Sein darstellt.
obwohl er sich selbst genügte und unerschütterliche Grundlagen besaß,
Als zweite, dem Denken gleiche Substanz hat er den Körper gesetzt.
die Notwendigkeit der Kirche erkannte, um noch fester zu stehen.
Abermals war er Schöpfer ex nihilo. Er würde sich dagegen ver-
Man braucht aber nur die Leidenschaft Descartes' für das Denken
wehren:
mit seiner kühlen Haltung gegenüber dem anderen Gott zu ver-
geschaffen; mein Verdienst besteht nur darin, daß ich nach langen
gleichen, um zu erraten, welcher für ihn der wahre Gott war.
Zweifeln seine Existenz erkannt h a b e . "
N e u n geheimnisvolle Jahre seines Lebens hat er auf die Geburt
lichen Verwandlungen und tiefgehenden Einmischungen! Alles, was
„Der Körper ist das älteste D i n g .
Nicht ich habe ihn
Aber mit welch willkür-
dieses Denkens verwendet, und als er es nach dieser langen Vorbe-
am Körper
reitungszeit als Prinzip gefunden hatte, arbeitete er weiter an seiner
dunstig ist, wurde ausgeschieden.
Vollendung.
lichen leugnender Asket war so streng wie dieser Mathematiker.
D i e vier Regeln der Methode und die vierundzwanzig
der Regulae sollen nicht nur die A n w e n d u n g der Methode
sinnlich,
verführerisch,
reizvoll,
flüssig,
dicht
oder
Kein die Existenz des Körper-
auf
D i e qualitates occultae der Scholastiker beließen dem Körper eine
konkrete Probleme erleichtern; das Denken selbst soll von jeder
rätselhafte Fülle. Descartes schleift ihn ab, indem er ihm nur eine
seiner Ü b u n g e n profitieren, so wie ein Gott durch den Kult, den
einzige Eigenschaft, die Ausdehnung, läßt, die freilich in ihrer Iso-
man ihm widmet, an Existenz zunimmt. Daher die fast religiöse Be-
lierung wie genährt von allen anderen fortan verbotenen Eigen-
sorgnis Descartes' wie um die Einhaltung von R i t e n ; die Regeln
schaften erscheint und eine Weite gewinnt, wie sie ihr bis dahin
werden ihn die Wahrheit finden lassen, „vorausgesetzt, daß ich den
noch keine Philosophie zuerkannt hatte. D i e allgemeine Verarmung
28
29
hat also in einer Hinsicht eine Bereicherung zur Folge.
Descartes
schädigen, aber sie bleiben unabhängig
von einander und
sich
Er, der einer Biene gleich den
fremd; wie zwei Parallelen werden sie sich niemals begegnen. Er
H o n i g des Denkens bereitete, wählt das Wachs als Beispiel, um
verleiht beiden den gleichen Zeitrang, als hätten sie unabänderlich
nimmt dem Körper nahezu alles.
an seinem Schmelzen die Irrealität aller seiner Eigenschaften mit
von jeher existiert.
Ausnahme der künstlich abgetrennten Ausdehnung zu demonstrie-
d i e dank der einen, dem Denken, als zwei ewige Wahrheiten er-
Er macht sie zu zwei statischen Substanzen,
ren. Der Körper als solcher wurde in dieser Philosophie etwas an-
kannt werden können.
deres, als er je in der Vergangenheit gewesen war. D i e s e cartesianische
sein prodeo ist nicht nur eine B e w e g u n g in Richtung auf eine pro-
Schöpfung läßt sich nur mit zwei früheren Versuchen vergleichen,
gressiv v o m Denken zu erobernde Wahrheit, sondern reißt beide
Andererseits drängt es ihn vorwärts, und
mit dem der Pythagoreer, der die Macht der Zahlen vergrößert
Substanzen im gleichen Rhythmus mit sich fort. Beide, Klarheit wie
hatte, und mit dem Timäus, worin Piaton die mathematischen Er-
Ausdehnung, haben ein unendliches Feld vor sich.
kenntnisse seiner Zeit auf die Physik übertrug, was aber auf eine
ihnen die Möglichkeit, sich zu vergrößern und setjt ihnen keinerlei
leichte und willkürliche Weise geschah, die nur fantastische Schatten
Grenze.
auf die Körper warf, sie aber nicht endgültig umprägte. Piaton hatte
Verglichen mit diesen beiden Meisterstücken seines Systems erschei-
in diesem Augenblick nicht das Verlangen, etwas N e u e s zu schaf-
nen seine anderen
fen. Descartes dagegen hat ebenso viel schöpferische Kraft auf die
einem Fall hat er selbst eingestanden, daß er schöpferisch
Schöpfungen von geringerer
Descartes gibt
Bedeutung.
In sein
Konzeption der Körper wie auf die seines Denkens verwendet.
wollte und mußte und zwar gerade da, w o man es am wenigsten er-
Der Abstand zwischen beiden ist unendlich, und was dazwischen ist,
warten sollte.
In der dritten Regel seiner Methode beschließt er
das verworrene, tumulthafte, vergängliche, bewegte, unreine Leben
„Ordnung in seine Gedanken zu bringen, und zwar mit dem Ein-
— dessen Existenz wird von Descartes geleugnet. D i e s e große Zwi-
fachsten zu beginnen . . . um allmählich, gleichsam stufenweise auf-
schenzone ist zerstört, aufgehoben zugunsten der beiden äußersten
zusteigen . . .", was noch als Gedächtnisrückkehr zu R o m und zu
Ränder, denen als Zuwachs alle jene Kräfte zuströmen, die sich in
einem gotischen Aufbau gedeutet werden kann. Doch m a n staunt,
Es ist eine Umkehrung
wenn er weiter sich zum Prinzip macht, „auch bei solchen Din-
der Werte zugunsten der beiden äußersten Spitjen des Lebens.
gen, die nicht von Natur aus in einem Folgeverhältnis stehen, eine
Wenn sie jetjt zum Range von zwei Flankenmassen erhöht sind, so
Ordnung vorauszusehen". Hier wird ganz offen eine schöpferische
saecula saeculorum dazwischen befanden.
bedeutet es, daß sie dank der Vermehrung ihrer Kraft alle beide im-
Imagination eingeführt, die zu der bereits in der Welt vorhandenen
stande sein werden voranzuschreiten. D a s Leben wird sich in diesen
Ordnung eine weitere ergänzende hinzufügen würde.
beiden Richtungen vorwärtsbewegen. D i e Koexistenz der beiden Ab-
Augenblick sind wir weit von R o m , dessen sichere gemessene Kraft
soluta wird die Kluft zwischen ihnen immer mehr vergrößern: nie
auf seiner Verankerung in den wirklichen Dingen beruhte, ohne
In diesem
ist das Denken so unteilbar geistig gewesen, weil noch nie zuvor
Verlangen, sich über sie zu erheben: Ordnung, die nicht von außen
der Körper in solchem Maße auf seine einzige Leidenschaft,
aufgezwungen, sondern aus der Körnigkeit und Stofflichkeit
die
der
Raumteiligkeit, reduziert worden war. Es bedarf der ganzen Kunst
Substanzen selbst hervorgegangen war. Daher, infolge der Verkup-
Descartes, nicht eine Substanz auf Kosten der anderen zu steigern,
pelung mit der schweren Materie, bei den Römern das Wuchtige,
damit sich das Leben der Körper im selben Rhythmus entwickelt wie
Schwere und der besondere Respekt vor der Grenze und dem Ge-
das des Denkens (es entsteht ein Gleichgewicht, wie e s Hellas ge-
setj — alles geheiligt durch völligen Einklang mit der Natur.
kannt hat, zwischen Geist und Körper, nur daß dieser hier allzu
dessen deuten die cartesianischen Worte „nicht von Natur a u s "
abstrakt aufgefaßt w i r d ) .
darauf hin, daß die neue Philosophie, obwohl sie sich durchaus die
30
Niemals werden sich beide gegenseitig
In-
31
römische, den irdischen D i n g e n nachgebildete Ordnung zu eigen machte, den Versuch machen wird, über sie
hinauszugelangen.
Descartes erhebt sich, schon schwebt er, und da sein Motor ein Wille ist, der sich selbst für „unendlich" hält, könnte er im leidenschaftlichen Drange, in der H ö h e eine Ordnung zu errichten, sich im Leeren oder Unklaren verlieren.
Pietätvoller Respekt aber vor
dem, was R o m geraten hatte, zwang ihn, sich bei seinen imaginären Konstruktionen Zurückhaltung aufzuerlegen. A u s dem Text ist ersichtlich, daß er sich klar darüber war, daß er in jener dritten Regel über die Grenzen des Seienden hinausging und in die reine Schöpfung eintrat, was für seine Ordnung neue Möglichkeiten der Erweiterung und Wandlung bedeutete, ihr aber andererseits auch eine größere Gebrechlichkeit verlieh. Es scheint Augenblicke gegeben zu haben, wo Descartes geschwankt hat, ob er nicht statt des Denkens das Ich zum Angelpunkt seiner Gewißheit machen sollte. Er war ganz nahe daran, es zu einem A b soluten zu erklären.
Gestern erst hatte Montaigne der langen Ent-
wicklungsreihe des Ich, die v o m Urchristentum bis zur Renaissance reichte, eine fließende Anzahl von Fühlern hinzugefügt. D a s Neue, das von Seiten Descartes', der sie alle akzeptierte, hinzukam, war, daß er sie alle wie in einem Bündel vereinigte und fest zusammenschnürte. Übrigens hat er selbst nie den Unterschied zwischen diesem festeren Ich, das er erlebte, und dem seines Vorgängers erkannt. Ein Schöpfer braucht Unbefangenheit; zu bewußt auf sein Vorhaben gerichtete Aufmerksamkeit wäre ihm schädlich. Oft glaubt der Philosoph, sich vortastend wie b e i m Blindekuhspiel, das N e u e an einer bestimmten Stelle berührt zu haben u n d wird nicht gewahr, daß er an ganz andrem Ort seine große Entdeckung gemacht hat, die eine W e i l e noch im günstigen Halbdämmer verbleibt. Ein Descartes, der genau gewußt hätte, bis wohin die Konzeption der von ihm passiv angenommenen früheren Ichs reichte und an welchem Punkte er sie als aktiver Erfinder überholte, wäre durch dieses allzu klare W i s s e n nur verwirrt worden. A u s diesem Grunde haben auch solche Schöpfungen von ihm, die weniger bedeutend sind oder heute im Hinblick auf die Autorität Descartes' eher peinlich anmuten, ihre eigene Bedeutung: derartige Irrtümer hüllen andere 32
fruchtbarere Teile seiner Philosophie in einen N e b e l ; eine irrtümliche Erfindung wie die der Zirbeldrüse wurde
unbeabsichtigter
Weise für ihn zur Maske, die ihm sein prodeo, sein Vorwärtsschreiten erleichterte. Auf einer einzigen Straße? Er selbst hat nur eine einzige gewollt: jene in der Methode vorgezeichnete Hauptstraße, die nach den Krümmungen und Windungen, die dem Zweifel inhärent sind, eine geradlinige Ordnung vorschlägt, von der er nicht mehr abweichen zu wollen scheint. Lüften wir auch diese M a s k e ! Es ist der schöpferischen Entwicklung eigen, daß sie zwischen mehreren keiten schwankt,
Möglich-
sich an einer versucht, sie dann aufgibt
zurückweicht, dann erneut die gleiche Arbeit an einer Stelle beginnt, um sie wiederum aufzugeben,
und
anderen
bedrängt —
ohne
es zu wissen — von der Vorstellung verschiedener Ziele. Sind sie erreicht —
Descartes hat deren zwei in seinem Dualismus
des
Denkens und des Körpers verwirklicht — , dann ist immer noch ung e w i ß , welcher von diesen in das Meer des Unbekannten sich vortastenden Fühler am widerstandsfähigsten und am anpassungsfähigsten an das Leben sein wird. Oft verleiht der Philosoph, u m den in Fülle ihn bedrängenden Vorstößen gerecht zu werden, einzelnen seiner Begriffe einen je nach den Umständen verschiedenen Sinn. Welcher darf a l s ' seiner intentio ipsissima entsprechend gelten?
Die
Kommentatoren, die sich um solche Zweifelsfälle bemühen, vergrößern noch die schon gegebene Vielfalt durch ihre verschiedenen Deutungen, von denen jede den Anspruch erhebt, die alleingültige zu sein.
Der Schöpfer selber wird, wenn er, was er in e i n e m ,
allenfalls in zwei Strahlen emporschießend glaubte,
fächerförmig
sich entfalten sieht, diesen Pluralismus nicht anerkennen w o l l e n ; er wird protestieren und behaupten, nur einen einzigen
Begriff
vorgeschlagen zu haben. So sind bei Piaton die Ideen bald Formen oder Modelle, bald Hypostasen unserer Begriffe, bald seltsame Verwobenheiten des Abstrakten und Konkreten, zugänglich nur dem reinen Denken, gleichzeitig aber auch sieht- und berührbar Statuen.
wie
Der Reichtum einer Philosophie bemißt sich nach der
Zahl der von ihr ausgestreckten Fühler, von denen jeder gesondert und unabhängig der Zukunft zueilt. 3 LION
Selbst der treueste Platoniker 33
wird sich nicht v o n der Uniformität des einen Wortes Idee verführen lassen.
Auch bei Descartes gibt es einen über seinen ein-
nicht mehr ein immerfliehendes Werden, sondern das Sein sich in diesem Bewußtsein spiegelte. Descartes war noch auf einsame Selbst-
gestandenen Dualismus hinausgehenden Pluralismus. Nachdem er
betrachtung angewiesen,
das Denken als absolut gesetjt hat, nimmt er gleichsam als Gegen-
ganzen Hof v o n Cartesianern im bestimmten Sinne geben, die durch
Bald sollte es unter L u d w i g X I V . einen
bürgschaft für dessen Wahrheit seine Zuflucht zu Gott. Diese bei-
Hochmut, durch forschende Blicke, durch Mißtrauen und Ehrgeiz
den Absoluta erscheinen sukzessive; das Denken kommt bei ihm
eine höchste Stufe des Bewußtseins entstehen ließen, die nach der
vor Gott, ist diesem also überlegen. D a n n folgt die Substanz des
einen der möglichen Auslegungen seines Cogito der Philosoph pro-
Körpers.
phetisch vorausgesehen und vorbereitet hätte.
W i e der delphische Wagenlenker seine Quadriga, so zü-
gelt der Philosoph den Ungestüm seiner Absoluta und versucht,
Der Part des Gedächtnisses und der der Schöpfung variieren bei
sie auf einer Linie zu halten. Bald hebt mit ständigen Wechselfällen
jeder Philosophie. Bisweilen kommt es zur Ausgewogenheit w i e bei
das Rennen zwischen den miteinander wetteifernden
Schöpfungen
Piaton, worin eine der großen Schönheiten seines Systems besteht.
wieder an. Besonders die neueste seiner Schöpfungen, das Cogito,
Welches waren die Proportionen des Gedächtnisses und der Schöp-
spaltet sich in Vielfalt.
fung bei Descartes? Jedes Gedächtnis ist ihm verdächtig; er erklärt
Er hat offenbar darunter den
geistigen
Akt ganz allgemein verstanden, denn in seinen Texten gebraucht er
allem, w a s Vergangenheit heißt, den Abschied.
die Begriffe „Denken", „Geist", „Begriffsvermögen",
gangenheit glitt gegen sein Wollen und Wissen in seine Philosophie
„Vernunft",
Aber die
Ver-
„Verstandeserkenntnis", „gesunder Menschenverstand" ohne Unter-
hinein.
schied. Es finden sich indessen Stellen, nach denen er unter dem
seinen platonischen Erinnerungen und seine Konzeption der römi-
Cogito das bewußte, sich in sich selbst spiegelnde Denken verstan-
schen Ordnung zum gesunden Menschenverstand, den er dem ewi-
den haben kann. D i e ganze Zukunft seines Werks hängt von diesen
gen Frankreich verdankte, dann könnte man annehmen, daß er
Auslegungen ab.
eher zur Vergangenheit neigte.
Zwei große Entwicklungslinien künftiger Philo-
Fügt m a n , was er an gotischer Klarheit ererbt hatte, zu
Er ist von ihr ebenso erfüllt wie
sophien gehen von diesen beiden Deutungen a u s : Spinoza setjt den
Plotin, der größte Philosoph des vollkommensten
einen Descartes fort, Kant und Hegel den anderen. Wollte er zwei
Andererseits aber hat Descartes ein Sein von einer neuen Qualität
Cogito erschaffen?
Gedächtnisses.
W e n n wir uns in den schöpferischen Augen-
und als Träger desselben ein neues Ich und ein bis zum Äußersten
blick seiner winterlichen Klausur versehen, sehen wir, als wäre
vorgetriebenes Denken sowie einen als Maschine funktionierenden
ein Maulwurf an der Arbeit, die Erde sich rasch an zwei verschie-
Körper geschaffen.
denen Stellen heben. Zwischen beiden wählen zu müssen, wäre ihm
wandt, daß sein Leben allein ihm nicht genügt. W e n n er seiner
Er ist dermaßen der fernsten Zukunft zuge-
höchst peinlich g e w e s e n ; nie hat er diese Dualität zugegeben, die
Erhaltung die größte Bedeutung beimißt, um tagaus, tagein weiter
die dichteste seiner Masken ist.
W e n n er mit seinem Cogito die
erfinden, weiter entdecken zu können, so weiß er, daß er nicht fertig
bewegliche, lebhafte, selbstsichere, transparente Verstandeserkennt-
wird und einen unendlichen Nachwuchs von Nachfolgern braucht;
nis meinte, so hat er eine Hinterlassenschaft der Scholastik, die
Schlußvision seines Discours und schönster seiner Träume. Viel-
Generationen hindurch den reinen, v o n allen Wirklichkeiten gelö-
leicht hat auch seine Philosophie das schöne Gleichgewicht zwischen
sten Geist geschärft hatte, weitergeführt. D a g e g e n gehört die andere
Vergangenheit und Zukunft erreicht.
Möglichkeit, die des Bewußtseins mehr der Zukunft als der Vergangenheit an. Im Mittelalter war es schwach g e w e s e n : Montaigne hatte als erster das fließende Werden seines Ichs in einem Spiegel aufgefangen. 34
N u n bereitete sich ein schärferes Bewußtsein vor, weil 35
Die
Die
cartesianischen
würden, erführe das Leben
Gewebe
Da
gemeinsame Herkunft aus der Vergangenheit allein genügt
nicht, um einzelne Teile einer Philosophie zu verbinden. Ausgangspunkte gelegen:
so
Gegebenheit dem
Ich,
haben
besteht der
das
unter
im
Ordnung,
ein
Umständen
zu
cartesianischen die
Vermächtnis
System
römischen anderer
weit
zwischen
Ursprungs
Zeiten,
Ihre
voneinander ist,
anderer
der und Jahr-
hunderte war, kein notwendiger Zusammenhang. D a s Anciennitätsprinzip allein reicht nicht aus, um Annäherungen in diesem Sinne zu bewirken. Oft erkennen sich bei zufälliger Begegnung zwei Gegebenheiten als alte Gegner, die seit Urzeiten jede Zusammenarbeit ablehnten; möglicherweise hat sich der gegenseitige Groll mittlerweile noch vertieft. Oft haben zwei Vorstöße des Gedächtnisses, der Oberfläche der Gegenwart zustrebend, nur die Tendenz, einander zu fliehen.
Bisweilen rufen sie bei kurzen Begegnungen einander z u :
Woher kommst d u ? W o h i n gehst d u ?
Einem
flüchtigen
Einklang
folgt ein Mißklang, und schon sind die zufälligen Gefährten wieder getrennt.
jedoch
in
diesen
gleichsam
beiden
eine
Lagern
mittägliche Teilung.
bestimmte
Elemente
in-
different bleiben, andere einander entgegengesetzt sind und wieder andere sich bis zur Identifikation miteinander vereinigen, so ergibt sich eine allgemeine Bewegungsfreiheit. N e u e Schöpfungen können eine Affinität mit einer Schöpfung aus dem tiefsten Altertum finden. Alles vermischt sich. D i e Lebensströme der Vergangenheit und der Zukunft nähern sich, begehren wie in einem geheimnisvollen Delta zusammenzufließen, entfernen sich voneinander. W o bleibt der Meister, der ihre Vereinigung befiehlt? Handelt Künstler,
es sich um die ihn
Kunstwerke,
umgebenden
dann
kann
Lebensströme
der
schöpferische
in eine
utopische
Idealität transponierend, nach Belieben Gewebe aus Elementen herstellen, die er, ohne Widerstand befürchten zu brauchen, durcheinandermischt: der Künstler ist der Weber par excellence.
(Das
Leben rächt sich oft nur unter der schönen Hülle der Form, in arcanis, wo e s die ganze ihm eingeborene tumulthafte Mannigfaltigkeit entfaltet). Der Philosoph ist zu einer anderen Haltung gegenüber den Lebensbewegungen, die aus Vergangenheit und Zukunft auf ihn zuströmen, gezwungen. Auch er transponiert; er hebt sie in die
Ebenso bilden die Vorstöße in die Zukunft nicht notwendig eine
Sphäre des Denkens hinauf, wo jede der Lebensgegebenheiten auf
Gruppe durch die ihnen eigene Neuheit des Ungeschaffenen. Ihre
eine abstrakte Entität reduziert wird. Aber dort oben m ö g e n sie
Ziele sind zu verschieden. Etwas Werdendes hat andere Sorgen als
sich weigern, sich einander anzupassen, gerade weil dort der alles
sich zu seinem Nachbarn zu neigen. Der Rhythmus ihres Vormar-
Leben umgebende und die Verbindungen erleichternde Dunst fehlt.
sches ist allzu ungleich; bisweilen herrscht überstürzte Eile, wäh-
Wir brauchen nur das Gewebe einer Philosophie mit dem eines
rend ein anderer Vorstoß mit bedächtiger Langsamkeit
erfolgt.
zeitgenössischen Kunstwerks zu vergleichen: bei beiden die gleichen
Bei Descartes könnte man Elemente unterscheiden, die sich seinem
Elemente, aber wieviel leichter lassen sich im Kunstwerk konkrete
vorsichtigen larvatus prodeo anpassen, und andere, die, stärker als
D i n g e miteinander verweben! N e h m e n wir beispielsweise das Sein
er, ihn in tollem Ritt davontragen, als wäre er noch der Kaval-
oder das Ich oder die Ordnung oder den Augenblick in einer Cor-
lerist seiner Militärzeit; so das Schlußkapitel der Methode mit dem
neilleschen T r a g ö d i e : keine der Personen legt besonderes Gewicht
kühnen
auf ihr S e i n ; alle haben genügend Bewußtsein, um ständig zu wis-
Titel:
„Was
not
tut,
um
weiterzukommen!"
Manchr
mal bricht plötzliche Feindseligkeit zwischen zwei neuen Schöpfun-
sen, über welchen Seinsgrad sie verfügen; aber ein
gen aus, eine Sucht, einander zu vernichten, wie
scheint ihnen, die im Konkreten leben, zu verbieten, wie der Philo-
wenn bereits v o m
ersten Keimen an das Fortschreiten des einen das des
anderen
Schamgefühl
soph das nackte „Ich b i n " auszusprechen. Oder sie sind v o m Den-
verhindere.
ken erfüllt, und fast überschreiten sie die Schwelle der Abstraktion,
W e n n die Vorstöße des Gedächtnisses einerseits u n d die der Schöp-
wenn sie sich anschicken zu s a g e n : „Ich kenne mich"; sie werden
fung andererseits sich sämtlich in zwei einzigen Garben vereinigen 36
37
es sogar schließlich sagen, später, bei Racine, aber nur innerhalb
Gotik ererbter Traum. V o n Jahr zu Jahr, von Werk zu Werk gilt es,
des warmen Bezirks ihres Blutes; dieses von ihrem Leben über-
nicht nur die Wandlungen der Qualität dieses Seins oder dieses
schwemmte „Ich denke" löst sich v o m Ganzen ihrer Persönlichkeit
Ichs und der anderen Gegebenheiten, die v o n der Methode und den
nicht ab. Dasselbe gilt für die Ordnung: sie stellen sie durch Ge-
Meditations bis zu den Regulae und den Principia sich dauernd
bärden oder durch Exaktheit ihrer Auftritte und A b g ä n g e
verändern, zu studieren.
oder
Wichtig ist vor allem das ständige Va-
durch die Verteilung ihrer Argumente dar. Weil also sowohl ihr
riieren des Sichentfernens oder -näherns zwischen den
Sein wie ihr Cogito im Verborgenen bleiben, vermählen beide sich
Elementen, zum Beispiel zwischen S e i n und Ich oder zwischen der
einzelnen
mit Leichtigkeit mit jener Ordnung, die auch v o n niemand unmittel-
Ordnung und der Gegebenheit des Augenblicks. D i e Arbeit des We-
bar genannt und mithin nicht fixiert wird, aber schweigend w i e mit
bens hat e i n sehr bewegtes Geschick. D a s wirkliche Leben
Zaubermacht alles in ihren Bann zieht. Sie kann sich sogar mit dem
die menschliche Schöpfung sind immer in einem Wettlauf begriffen.
ihr Konträrsten verschmelzen, mit ungezügelten Leidenschaften oder
Der eifrigste, kühnste aller Philosophen — und das war Descartes,
und
den Bedürfnissen und Begierden des Körpers. Auch sie sind da,
trotzdem er bedächtig und langsam scheint, i m höchsten M a ß
ohne daß das Wort Körper je ausgesprochen würde, so wie die
kann häufig kaum mit der Eile Schritt halten, mit der zwei oder
Handlung auf der feinen Spitje eines einzigen T a g e s abrollt, aber
mehrere Lebensströme zusammenfließen.
nie spricht man, wie es der Philosoph tut, von einer Theorie des
lysen vollendet, findet schon ihre Synthese statt. Darf er eigen-
Augenblicks. Alle Gegebenheiten in ihren Anonymitäten feiern ihre
sinnig weiter getrennt sehen, was bereits seine Lösung in einer Be-
Vermählung. Eine Philosophie dagegen legt jede Gegebenheit durch
gegnung und einer vielleicht sehr fruchtbaren Mischung gefunden
eine eindeutige
den
hat? W a s das cartesianische Sein und Ich betraf, so kam es in den
Augenblick, die Ordnung unterscheidet u n d sie auf eine Weise, die
zwanzig Jahren zwischen 1 6 1 0 und 1 6 3 0 , die für das beginnende
unwiderruflich scheint, differenziert. Es komme der W e b e r ! Er wird
Frankreich L u d w i g s X I V . so bedeutsam waren, zu ständigen Wand-
mit größerem Geschick, mit größerer List zu Werke gehen müssen
lungen, die ununterbrochen das leidenschaftliche Interesse Descartes
als der Dichter. A u s Teilen, die er noch disparater gemacht hat, als
erregten.
sie ohnehin waren, wird er sich mühen, das zusammenhängende
Eifer seiner Seele die Schwankungen, denen das Verhältnis dieser
Ganze eines Systems zustandezubringen.
beiden Gegebenheiten unterworfen war, wie sie sich beispielsweise
Bezeichnung
bloß, die
das Ich, das Sein,
Bisweilen ist die Verschmelzung von Lebenselementen in profundis vor sich gegangen, während das bewußte Denken sich noch darin gefällt, sie einzeln zu betrachten oder gar ihre Vereinzelung noch zu vertiefen. Der Fall glücklichster Übereinstimmung ist gegeben, wenn die Verwebung gleichzeitig im wirklichen Leben und im Denken des Philosophen geschieht, so daß dieser, ohne zu große Ängstlichkeit oder Kühnheit, nur aufzumerken braucht, was sich rings u m ihn her entwickelt. D i e Entstehungsgeschichte eines Systems wird Lebensströme erst analytisch darzustellen haben, w i e bei Descartes das zu einem bestimmten Grade erhöhte Sein, dann ebenso vereinzelt das Werden des Ichs, dann auch für sich den Wert der von R o m datierenden Ordnung u n d die Klarheit als großer v o n der 38
—
Während er noch Ana-
Selbst fern der Heimat beobachtete er mit dem ganzen
a n den Charakteren der Personen der Corneilleschen Tragödie oder an historischen Gestalten der Fronde verfolgen ließen. Welches war, verglichen mit diesem sich vorbereitenden Lebensgewebe, die Bedeutung und Tragweite dessen, was zwischen diesen beiden Gegebenheiten im Denken des einsamen Descartes heranreifte?
Man
wird seine Ergebnisse an denen des Lebens zu messen haben und den entscheidenden Punkt ausfindig machen müssen, wo er sich von diesen entfernt oder sich ihnen wieder angeschlossen hat.
Bei
einem philosophischen Werk kann die Qualität des Gewebes in den einzelnen Abschnitten auch wechseln: es kann im einen über das Leben hinausgehen, im anderen unterhalb desselben verbleiben. W a s bei Descartes die Arbeit des W e b e n s überall erschwert, ist, 39
daß seine ganze Methode darin besteht, gerade das Prinzip dessel-
rungsmöglichkeiten zu erhalten, dabei zugleich die Integrität der
ben abzulehnen. U m die D i n g e „deutlich", wie er imperativ fordert,
Vereinzelungen durchaus zu wahren, schien gelöst.
zu verstehen, m u ß man sie unterscheiden, das heißt isolieren. Durch
Aber ohne Wissen Descartes entstanden Gewebe in seiner Philoso-
einen dauernden Kunstgriff oder vielmehr durch einen von Augen-
phie.
blick zu Augenblick wiederholten Kunstgriff (denn Dauer würde Ver-
sophie, und beständig regiert hier D i o n y s o s , den wir in extremis
mischung gestatten) will er jedem D i n g e seine A u t o n o m i e sichern.
haben erscheinen sehen, auf eine verborgene Weise. In der höheren
Sie enthält deren nicht weniger als eine vitalistische Philo-
Durch die leichteste Hinneigung zu einem anderen wäre sie schon in
Sphäre seines Systems gibt es die Isolierung der Phänomene um
Frage gestellt. W e n n sie sich berühren würden, wäre die Klarheit ge-
der von ihm geschaffenen Klarheit und Tageshelle willen; in der
fährdet; die geringste D i o s m o s e wäre verderblich; in dem Maß, in
niederen und unterirdischen Sphäre se^t das Leben seine Mischun-
dem die Vermischung von zwei oder mehreren D i n g e n fortschreitet,
gen fort, die in Antithese zu dem, was droben geschieht, sogar über
verliert das Denken, das mit seinem Pfeil nur ein einziges D i n g zu
die schon vorhandenen hinausgehen.
durchbohren vermag, die Kontrolle, die Herrschaft; Fusion ist Kon-
voller Metamorphosen, wie Ovid sie besang. W e n n D a p h n e sich in
fusion. Wollte m a n unter den griechischen Göttern Umschau halten,
einen Lorbeer verwandelt, sehen wir, wie ihr Leib noch unverän-
D a s cartesianische Werk ist
welchen von ihnen Descartes opfern würde, so wären es Apollo
dert ist, während ihre Arme und Beine schon zu Stengeln und Blät-
und Artemis in ihrer jungfräulichen Reinheit.
Er ist der geborene
tern geworden sind. Solche Verwandlungen sind noch erstaunlicher
Feind des D i o n y s o s , der nur am Schluß des Discours de la Methode
und folgenschwerer, wenn es sich nicht mehr um eine konkrete Frau
in seinem rauschhaft-maßlosen Frohlocken bei der Perspektive der
oder Pflanze handelt, sondern um Abstraktionen, die sich ver.
zahllosen Entdeckungen erscheint. Natürlich hat Descartes mit sei-
mischen.
nem nie zu trübenden Scharfblick gewußt, daß man mit völliger
ganze heimliche Arbeit seiner Metamorphosen gewußt hätte, deren
Vereinzelung zu keinem Resultat käme.
Prinzip er zu den Fabeln oder Märchen, „ins Reich der R o m a n e "
Er selbst läßt, wenn er in
seiner dritten Regel die Stabilisierung der Ordnung zwischen den Dingen vorschlägt und in der vierten ihre Aufzählung
empfiehlt,
Descartes wäre nicht erbaut gewesen, wenn er um diese
verwies. Indessen hat er selbst eine ganz einzigartige Verbindung vorge-
sie hiermit aus ihrer Vereinzelung heraustreten. Aber ist das schon
schlagen, die der Geometrie und der Algebra.
ein Gewebe? Seine Kunst besteht darin, sie gleichsam an der Grenze
euklidische Geometrie, datierte aus Griechenland, hatte dann große,
möglicher Vermischung zu halten.
D i e erstere, die
Bei der Ordnung wie bei der
mehr praktische als theoretische Fortschritte durch den gotischen
enumeration bleibt jedes D i n g an seinem Platj, unbeweglich, un-
konstruktiven Geist und weiter sowohl theoretische wie praktische
veränderlich, starr, wie auf sich selbst konzentriert . Es hat zu einem
während der italienischen Renaissance gemacht, während die Al-
anderen benachbarten oder entfernten D i n g nur
„Beziehungen".
gebra sich durch die Araber fortentwickelt hatte und mehr zum
Diese sind zahlreich, nach allen Seiten sich erstreckend: so ent-
Orient gehörte. Es waren mit Deutlichkeit zwei getrennte Wissen-
steht ein Net} dünner Fäden, so fein wie die gotischen Gewölberip-
schaften.
pen oder die Nerven des menschlichen Körpers, die die Aufmerk-
sie anwenden wollte, die Integrität ihrer getrennten Bahnen belassen
samkeit Descartes' so sehr gefesselt haben.
l
U m konsequent zu sein, hätte Descartes ihnen, wenn er
Doch alle diese Be-
müssen. Er schuf jedoch sie vereinigend eine neue Wissenschaft aus
ziehungen bleiben außerhalb der D i n g e und berühren sie nur tan-
ihnen, ein zweideutiges und hybrides Monstrum, und dieses selt-
gential.
same Gewebe senkte er wie ein Fischnetj in die tiefen Wasser der
Das
Problem,
dem
Leben
seine
gewohnten
Annähe-
i Eine Idee ist unklar (confuse), w e n n sie ohne bestimmte Grenzsetzung auf andere Ideen übergreift oder sich v o n ihnen überwältigen läßt." 40
Natur. — Anderes Gewebe, das er vorzuschlagen wagte, ohne zu bedenken, welche Dunkelheit es zur Folge haben konnte: auf der AI
einen Seite können wir, da das Denken, das uns gegeben ist, das
die in ihm einander die Hand reichen. Vielleicht hat man in die-
Absolute ist, allein dadurch, daß wir von ihm und seinen Deduk-
sem cartesianischen Gewebe eine Mischung zu erblicken, die schon
tionen Gebrauch machen, die Welt wiedererschaffen.
Kein Werk-
in der Kunst der Gotik zustande g e k o m m e n war, welche die kühn-
zeug der Laboratorien oder der Anatomie, keine Erfahrung ist er-
sten Vorstöße gewagt hatte, die in Hochflügen des reinen Denkens
forderlich, um dieses Gebäude des reinen Denkens zu errichten.
die Gesetje der Materie und des Seins überschritten; zugleich aber
„ S o habe ich, wie mir scheint, die Himmelsgewölbe, Gestirne, eine
fügte sie sich auf das gehorsamste in die strikteste Beobachtung der
Erde und auf der Erde Wasser, Luft, Feuer, Mineralien gefunden."
Natur des Gesteins.
Auf der anderen Seite können, da der Körper eine Substanz genau
A n manchen Stellen entstehen bei Descartes heimliche Gewebe ohne
wie das Denken ist, die von diesem vorgenommenen Deduktionen
sein Wissen. So ergab sich eine zweite geheimnisvolle Vermählung
nicht zur Erkenntnis der möglichen Schicksale dieser Körper in allen
zwischen Klarheit und Ordnung.
Einzelheiten ausreichen.
das
Denken und Ich, die durch ein ergo miteinander verbunden werden,
Doppel-
der erste Faktor der Gegenwart, der zweite dem Mittelalter und
heißt: der Experimente.
Dazu bedarf
es der Beobachtung,
Kann derselbe Philosoph den
charakter des kühnsten Idealismus und demütigster, Unterwerfung
unter das Wirkliche haben?
chote und Sancho Pansa zugleich sein?
W i e in der Dreiheit von Sein,
ängstlicher
der dritte dem 1 6 . Jahrhundert Montaignes angehörte, so könnte die
Kann man D o n Qui-
Verbindung zwischen der Klarheit, deren Anfänge im 1 4 . Jahr-
Man hätte erwarten kön-
hundert lagen, und der Ordnung, die von R o m stammte, zunächst
nen, daß Descartes im Bewußtsein dieser Differenzen entsprechend
recht problematisch erscheinen. Descartes stellt getrennt das Gebot
seinen Regeln von der Klarheit und Deutlichkeit eine Teilung vor-
der Klarheit in der ersten Regel der Methode, das der Ordnung in
nehmen und in bestimmten Fällen nur die Deduktion, in anderen
der dritten auf.
dagegen nur die experimentelle Beobachtung anwenden würde. „ D i e
verweisen, die schon beides verwoben hatte: ihre großen Auswei-
Macht der Natur ist so gewaltig und umfassend . . . daß ich fast
tungen der undurchsichtigen Mauern, ihre Wanddurchbrechungen,
Hier aber wäre auf die gotische Architektur zu
bei jeder besonderen Wirkung, die ich beobachte, sogleich sehe,
das freie Hineinströmenlassen der Lichtfluten sind bedingt durch ein
daß sie sich auf verschiedene Arten deduzieren läßt, und gewöhnlich
wohlgeordnetes System von Strebebogen und Strebepfeilern.
Die
besteht die größte Schwierigkeit für mich darin, herauszufinden, auf
cartesianische Klarheit kommt auf gleiche Weise durch ordnungs-
welche dieser Arten das Wirkliche entstanden ist." So schwächt er
mäßig verteilte Zwischenräume zustande, vertikale, wenn man „mit
keineswegs die Bedeutung des Denkens ab, doch bedarf es einer
dem
Ergänzung.
D i e beiden Methoden müssen sich gegenseitig helfen;
oder horizontale, wenn die D i n g e durch enumeration nebeneinan-
die Beobachtung allein würde sich verlieren, also m u ß ihr das
dergestellt w e r d e n ; dann ist zwischen ihnen genügend Raum, u m
Denken zu Hilfe kommen, um sie zu leiten. D a n n schwingt e s sich
das Licht hindurchfluten
auf, wobei die Wirklichkeit nur ein Sprungbrett bedeutet; aber bald
Vermählung v o n Ordnung und Klarheit am Stil Descartes' be-
Einfachsten
beginnt....
um
allmählich
zu lassen. A m
aufzusteigen". . . .
besten läßt sich
diese
m u ß es wieder auf die Erde zurückgeholt werden, da der Rhythmus
obachten: jedes Wort hat bei ihm sein volles Gewicht, wie es der
seines Schwungs und seine zu große Freiheit ins Leere
Tradition der Muttersprache, des Lateins, entspricht, das in bäuer-
führen
könnten. Es gilt, sich wieder auf die einfachste Wirklichkeit zu be-
lichem Geiz niemals etwas hatte sich verflüchtigen lassen;
ziehen — m o r g e n m a g sich das Denken zu neuem Fluge erheben!
betonte die Ordnung des lateinischen Stils noch das Seinsgewicht
Vereinigt
Un-
jedes Dinges. Bei Descartes aber steigen die Perioden wie Spindeln
klares, ein Fabelwesen, wie Descartes es verpönt, gleichsam einen
e m p o r ; kaum werden die Säulenringe, die sie zerlegen, sichtbar.
Kentaur. Er hält die genaue Mitte zwischen Piaton u n d Aristoteles,
W o h i n schwingt sich dieser Stil?
42
ergeben
diese beiden
Methoden
etwas Unreines,
eher
Je höher er steigt, desto mehr 43
Himmelsbläue saugt er in sich. D i e Klarheit durchglüht mit ihrer Flamme das Sein und trägt es zu Höhen empor, w o sich wie bei den Türmen der Gotik nicht mehr unterscheiden läßt, ob das Licht oder die Struktur das Übergewicht hat. Andere Gegebenheiten dieser Philosophie bleiben getrennt, wodurch die Klarheit aufs beste gewahrt wird, und an diesen Punkten völliger Trennung ist Descartes selber der treueste Cartesianer. So bleibt sein Gott ein Einzelphänomen.
Insofern ist zwar seine Stel-
lung um so majestätischer und furchtgebietender, gleichzeitig aber seine Bedeutung auch geringer. Man hätte erwarten können, daß er zum Ich in Beziehung träte.
Dieses war vor ihm da, gleichsam
als Schöpfer des Schöpfers und so geliebt und angebetet v o n Descartes, d a ß er beständig zu ihm zurückkehrt: T a g und Nacht war es sein U m g a n g . Warum und weshalb ergeht kein persönlicher unmittelbarer Ruf dieses Gottes an das Ich oder von diesem an jenen, mit allen Ängsten, aller Furcht, mit dem Gefühl der Minderwertigkeit und der UnWürdigkeit, dann mit der Freude möglicher Annäherung und endlich den Seligkeiten der Einswerdung?
Durch
diese Verwebung hätte Descartes wieder die Verbindung mit der neuen protestantischen Religion gefunden, der er sich teilweise bei der Bildung seines Ichs angeschlossen hatte.
Er hätte nur dieses
mit Gottvater zu verbinden brauchen. Aber er hat nicht den geringsten
Versuch
gemacht,
beide einander zu nähern.
Niemals
richtet dieses Ida, das eine solche Meditationsfähigkeit besaß, ein Gebet an Gott. D a s ist verständlich: da das Ich reines Denken ohne Empfindung und andererseits Gott, im Gegensat; zu dem Gott des Alten Testaments, keiner Leidenschaft zugänglich ist, konnte es zwischen ihnen keine Gefühlsverbundenheit geben. Höchstens wäre die Betrachtung des menschlichen Denkens im göttlichen w i e in einem größeren Spiegel möglich g e w e s e n
1
Aber diese Verbindung fehlt.
In dieser Beziehung hat Descartes nicht die geringste N e i g u n g zu einer Verwebung gezeigt. In einem anderen Fall hat er sogar eine so radikale Trennung i „Ich b e k e n n e offen, daß d i e Idee, die w i r v o m göttlichen Verstand haben. In nichts mir v o n der verschieden scheint, d i e w i r v o n u n s e r e m eigenen Verstand haben."
zwischen zwei seiner Gegebenheiten vorgenommen, daß er ihre Verwebung in aeternum unmöglich gemacht zu haben schien: zwischen Seele und Körper. Er legt so großes Gewicht auf diesen Dualismus, daß er i h n in den Titel seiner Meditationen aufgenomm e n hat, „ i n welchen die wirkliche Verschiedenheit v o n Seele und Körper des Menschen klar bewiesen w i r d . " In schöpferischer Gebärde hatte er beide bis zu ihrem Extrem gesteigert. Ein Abgrund trennt s i e : hier alles, w a s Seele ist, dort alles, w a s zum Körper gehört. D i e Natur ist unbeseelt; die Gestirne haben im Gegensatj zur Astrologie der Renaissance keine
Seele, ebenso w e n i g das
Feuer und die Elemente entgegen dem Alchimistenglauben, und Pflanzen und Tiere sind nichts weiter als bloße Körper, Maschinen. So teilt sich die Welt in zwei einander entgegengesetzte Hemisphären. In einem einzigen Fall aber m u ß Descartes zugeben, daß sie zusammengeschweißt sind: im Menschen nämlich, der so (höchster Humanismus) zum Mittelpunkt der Welt wird und allein w e i ß , w a s im heimlichsten Innern der Seele w i e des Körpers geschieht.
Er
besitjt beide. Warum haben sich beide i n diesem einzigen Wesen genähert, denn der Körper, obgleich v o n Gott geschaffen, hat sich von diesem entfernt und ist ihm entfremdet, während er dem Menschen ebenso nahe ist w i e seine Seele? Descartes stellt sich diese Frage nicht und macht daraus kein Mysterium; er sieht in dieser Vereinigung keinen Abstieg, keine Prüfung w i e Piaton oder Plotin. Es gibt i m Gegenteil keine höhere Ehre als Träger der beiden gleichwertigen Substanzen zu sein. D i e Stellung des Menschen wird durch die kostbare doppelte Bürde erhöht. D i e große Versuchung (hat der Täuscher seine Hand im Spiel g e h a b t ? ) sollte für Descartes nicht in der A n n a h m e einer nur gelegentlichen Zusammenarbeit, w i e sie alsbald Malebranche vorschlug, oder in einer künstlichen w i e die prästabilierte Harmonie bei Leibniz, sondern in einer wirklichen Vermischung beider Substanzen bestehen. W a s er selbst mit Gewalt getrennt hatte, das webt er aufs neue, ein zum Vitalisten bekehrter Rationalist, mit eigenen Händen zusammen.
Er spricht v o n „der
engen Verbindung" zwischen Körper und Seele.
Er fand sie ver-
wirklicht in seiner eigenen Erfahrung, die T a g und Nacht währte und vor der er sich beugte. Er, der immer das Verworrene ablehnt, 45
läßt es in diesem Ausnahmefall gelten und hat alles daran gesetzt,
ehrung oder Verachtung, die er für die Eifersucht, die Liebe, den
den Punkt zu finden, an dem die Verbindung der beiden Substan-
H a ß empfand.
zen die größte Intensität erreicht. Er hätte ihn im Gedächtnis fin-
leidenschaftliches Leben, wie es uns bei Corneille und Descartes
den können, das einerseits Bilder mitschleppt, die dem körperlichen
begegnet, sich über das Niveau der Epoche hinausgehoben hätte.
Man darf aber nicht meinen, daß ein so übermäßig
Leben entlehnt sind, und andererseits am Denken teilhat, so daß
Im Vergleich zu der italienischen war die französische Renaissance,
das Gedächtnis als Paradigma
von Ronsard bis Montaigne, gebrechlicher, voll holder Scheu, die
dieser Verbindung
hätte
dienen
Anscheinend hat es ihn nicht so beschäftigt, daß es ihm
von den Erinnerungen an die Zeit der Gotik diktiert war. D i e Fülle
dieser großen Rolle würdig erschienen wäre; er hegte ihm gegen-
der Leidenschaften, wie sie Italien um 1 5 0 0 gekannt hatte, gab es
können.
über immer ein gewisses Mißtrauen und hielt es für schwach und
in Frankreich erst nach 1 6 0 0 , also gerade in jenem Augenblick, wo
kraftlos.
Ebenso verdient nach seiner eigenen Lebenserfahrung die
eine andere Lebensströmung die Entdeckung der Ordnung und des
Imagination nicht diesen hohen R a n g ; sie hat ihn nie geplagt, ihn
reinen Denkens herbeiführte, die scheinbar beide in Widerspruch
nie mit Bestürzung erfüllt; er spricht geringschätzig von ihren anti-
zu dem Aufruhr der Seele stehen müssen. Aber wenn das Denken
ken Erzeugnissen: Fabeltieren und Abgöttern. D a g e g e n erkennt er
das Rennen gewann und sich an die Spitze der schöpferischen Ent-
dem Willen große Bedeutung zu, den er als unendliche Größe setjt:
wicklung setzte, so wurde das leidenschaftliche Leben darunter da-
ohne Zweifel hat er ihm Körper und Seele durchwühlt, und er ist
durch nicht beeinträchtigt. Descartes' Größe liegt darin, daß er den
durch ihn von einem Ort zum andern, von einem Problem zum
Umfang der Stoßkraft dessen, w a s bei ihm und seinen Zeitgenossen
andern umgetrieben, gejagt worden. Er hat ihn auch in seinen Ein-
unterhalb des Cogito existierte, nicht in Abrede stellte. D e m An-
samkeiten oder in der N o t des Zweifels aufrechterhalten. D i e Schluß-
schein nach war dieses Sieger. Aber wenn droben auch die Ordnung
hymne des Discours auf die Perspektive praktisch nutzbar zu ma-
herrschte, so wurden die D i n g e drunten dadurch noch tumulthafter.
chender Erfindungen trägt das S i g n u m des Willens und zwar des
Freilich aus Treue zu einer dualistischen Grundhaltung hat Descar-
Willens zur Macht. Dennoch bedeutet auch er für ihn noch nicht die
tes, nachdem er die Leidenschaft als Treffpunkt von Körper und
wichtige Verbindungsstelle von Seele und Körper.
Seele anerkannt hatte, die körperlichen Symptome von ihr getrennt.
Er verlegt sie in die Leidenschaften. In diesem Augenblick reißt der
Er studiert die Tränen, das Lachen, die Blässe, die Ohnmacht als
Liebhaber der Masken die seine herunter und zeigt sein nacktes
entsprechende Reflexe in der Maschine des Körpers, die sich nach
Antlitj.
den Gesehen der Kausalität folgen. (Ein guter cartesianischer Schau-
Er besaß ein leidenschaftliches Ich.
In jedem Augenblick,
selbst wenn er völlig im Banne des reinen Denkens stand, war
spieler
Descartes durchwühlt — von welchen Leidenschaften? Gekannt hat
äußeren Bewegungen wie eine Marionette ausführen; die Zuschauer
er alle.
würden der Aufführung
D i e größte für ihn war, wie wir daraus schließen dürfen,
müßte
alle
von
seinen Leidenschaften eines
hervorgerufenen
regelrechten Ballets
beiwohnen).
daß er ihr den obersten Platj in seinem Katalog zuerkannte, die
Andererseits hat er, immer aus seiner dualistischen Einstellung her-
Verwunderung.
aus, die Leidenschaften
Er m u ß sie ständig empfunden haben, vor allem
behandelt, als gehörten sie zum reinen
in jenem höchsten Augenblick, wo er in anscheinend kalter Ab-
Denken, indem er ihnen mathematische Regeln aufzwang und sie
straktion sein Cogito ergo sum fand. Besonders geliebt hat er auch
jede für sich in einer Klarheit betrachtete, die sie transparent wer-
die Hochsinnigkeit, la generosite, was beweist, wie sehr er der
den läßt; der zweite Teil des Traktats ist überschrieben „ V o n Zahl
Zeitgenosse Corneilles war. M a n kann allein schon aus den Nüan-
und Ordnung der Leidenschaften".
cierungen seiner Wertungen die Geheimnisse seiner inneren Psy-
reine Denken aus, das sie bis in ihr Innerstes hätte zerstören kön-
chologie erraten. Wir erkennen, wie er gesinnt war, an der Ver-
nen.
46
So dehnt er auch auf sie das
Logisch hätten sie im Augenblick, da der Traktat erschien, 47
ROUSSEAU
zunächst i m Herzen Descartes', dann allmählich am Hof, in Paris, in den Provinzen, in ganz Frankreich verschwinden müssen.
Sie
hätten nicht mehr zum Leben und seiner Entwicklung gehört. Descartes aber liebte sie zu sehr, u m sie zu zerstören. Er erfand, eigens um die Einheit wiederherzustellen, die „Lebensgeister", die ihm
Frühlingsmorgen
gleichsam als fliegende Brücke dienen: einerseits entstammen diese dem
mechanischen Körper, andererseits
deutet die
bei
Rousseau
Bezeichnung
„Geist" darauf hin, daß sie sich, in die Höhlen des Kopfes gelangt,
An
gleichsam an der Schwelle des Denkens befinden werden, das sie
heimkehrend die Tore seiner Vaterstadt verschlossen fand, betrat
jenem Abend, da der junge Lehrling Jean-Jacques verspätet
aufnehmen und ihnen das Wunder seines Bewußtseins wie einen
er die Gesellschaft des 1 8 . Jahrhunderts. Alle seine künftigen Be-
Spiegel vorhalten wird, in dem sie sich spiegeln können. Mit seinem
gegnungen, seine wunderbaren Abenteuer waren nur möglich, weil
Scharfblick hatte Descartes erkannt, daß er mit dieser coniunctio
seine Partner einer milden, leichtlebigen, heiteren, neugierigen, tän-
oppositorum des Unmögliche wollte: „ D i e Erfahrung lehrt, daß die
zerischen, gelöst dahinwehenden Gesellschaft angehörten. Daher die
am meisten v o n ihren Leidenschaften Beherrschten nicht die sind,
Wunder, die ihm laut seinen Confessions widerfuhren: weil er sich
die sie am besten kennen." W e n n das Denken so mächtig ist, läuft
nicht in einer schweren, harten, widerspenstigen Substanz bewegte.
es Gefahr, sie zu zerstören. Er und alle, die ihm gefolgt sind und
Als seine hohen Herrschaften in Turin sich über die lateinische Devise
seine Philosophie auf die Politik, die Kunst oder das Alltagsleben
auf ihren W a p p e n unterhielten, hatten sie doch soviel wohlwollende
übertragen haben, haben diese Gefahr gestreift. Aber wenn es ge-
Aufmerksamkeit
länge, sie zu retten, wieviel größer würden sie d a n m
Triumph!
schwache Andeutung eines Lächelns auf seinen Lippen zu bemerken;
Zwischen die beiden Schöpfungen Descartes, zwischen Seele und
er erklärt die Devise, Almaviva und die Gräfin tragen diesem jungen
Körper, schiebt sich als dritte die Vereinigung beider in der Leiden-
Figaro seine Überlegenheit nicht nach; man bewundert ihn, wird
schaft, die zum Mittelpunkt des Menschen, mithin zum Mittelpunkt
ihm Unterricht geben lassen, ihn in die Anfangsgründe der Bildung
des Weltmittelpunkts wird.
Sie profitiert vom Dualismus, indem
sie einerseits das ganze maschinelle Getriebe der Körper und der
für den unbekannten
jungen Lakaien, um
einweihen, u m ihm als Arrivisten den Aufstieg in
die
einer Gesell-
schaft zu ermöglichen, die auch Passanten wie ihresgleichen emp-
Natur und andererseits die ganze Macht des Bewußtseins an sich
fing.
zieht. Der Doppelzustrom des reinen Körpers und des reinen Den-
in
Alle Stürze Rousseaus, der sich so oft wie ein
schwindelnder H ö h e bewegte, wären von Anbeginn
Seiltänzer furchtbar
kens hat sie unendlich vergrößert. Es war ein Vorstoß der schöpfe-
oder gar tödlich gewesen, hätte diese Gesellschaft nicht über dem
rischen Entwicklung, der den Leidenschaften mehr Leben verlieh,
allzu harten Boden unsichtbare Seidennetje gespannt, aus denen
als sie jemals in einer früheren Epoche gehabt hatten. D i e Leiden-
der Waghalsige wieder emporschnellen konnte.
schaft, um einen Lieblingsausdruck Descartes' zu gebrauchen, „schrei-
de Warens gab es damals in Frankreich! Rousseau wird der Ge-
tet vorwärts".
Wieviele Madame
liebte der einen, die sich ihm ohne Liebe, aus Güte schenkte. Später erzeigten sich ihm die Großen so huldreich und harmlos, daß sie lächelnd die schlimmsten Angriffe von seiner Seite duldeten; er durfte der Marschallin von Luxembourg aus seiner Nouvelle Heloi'se die Satire auf Paris und aus seinem Emile die Schmähungen gegen den Adel vorlesen. 4 LION
Er malt in den Confessions die Gestalten des 49
1 8 . Jahrhunderts mit den Pastellfarben von La Tour. „ E s war un-
können, so kommt es daher, daß er ihr teilweise im Rationalen
möglich", sagt er von einer von ihnen, „eine gleichmäßigere, mil-
unterlegen war, aber niemals klagt er, daß sich das Zartgefühl dieser
dere Heiterkeit, echtere, natürlichere Anmut, angenehmere und mit
Gesellschaft v o n dem seiner eigenen Seele unterscheide. Sobald er
noch größerem Geschmack gepflegte Talente zu b e s t e n .
Genf verlassen hatte, begann für ihn die Schule verfeinerter Empfind-
Er hatte
Liebschaften in allen Ständen, war überall beliebt, von aller Welt
samkeit.
begehrt, ohne je beneidet oder gehaßt worden zu sein, und starb,
er auf vertraulichem Fuße mit Aristokraten, bis diese Education
glaube ich, ohne in seinem Leben einen einzigen Feind gehabt zu
sentimentale bei seinen Pariser Aufenthalten noch vervollkommnet
haben."
wurde. Schließlich, etwa kurz vor dem Jahre 1 7 4 9 , das ihn zum Die
Gegner seines Jahrhunderts machte, hatte er alles gelernt, was es
bleiben.
zwi sdien den Gestalten Marivaux' an unmerklichen Berührungen,
Liebe dich selbst, lautete das milde Gebot dieser Gesellschaft. Selbstliebe wird immer die Basis von Rousseaus Ethik
Als ein Parasit des Hauses der Frau von Warens stand
D a aber jeder leidet, und man den Anderen ebenso verwundbar
geflüsterten Worten, leisen Schauern geben mochte.
weiß wie sich selbst, ist man von den wirklichen oder möglichen
Aber an dem geheimnisvollen T a g seiner Erleuchtung — das Jahr
des Andern ergriffen und sucht seine Leiden zu ver-
1 7 4 9 wird für ihn zum Jahr seiner Revolution oder besser seiner
hüten. D i e Nächstenliebe ist also nur ein Ausfluß der Selbstliebe.
Reformation, ein Wort, das in ihm in Erinnerung an seine Vater-
Höflichkeit gebot äußerste Aufmerksamkeit,
stadt aufklingt —
Wunden
um nicht die leich-
wurde er Sendbote einer neuen
Gesellschafts-
teste N u a n c e des Vergnügens, das man andern bereiten könnte,
klasse. Es waren nicht nur private Gründe seiner ersten Theater-
oder des Kummers, den man von ihnen fernzuhalten trachtete, zu
mißerfolge,
übersehen: ständige Besorgnis, nicht wehzutun. D i e Egalite, später
Seine Sensibilität ließ ihn den Atem einer steigenden Flut ver-
die ihn bewogen,
die alte Gesellschaft
aufzugeben.
das große revolutionäre Panier, war das Charakteristikum der herr-
spüren. Sein Ohr, das die leise Rokokomusik in den Lüften bis an
schenden Klasse, in der sich alle wie Doppelgänger glichen: jede
sein
Abweichung hätte einen Grund zur Traurigkeit oder zum Mitleid
Geräusch erfüllt, von einem Brausen, das betäubender war
als
bedeuten können, der auf alle Fälle zu vermeiden war. W e n n m a n
das ständige krankhafte
das
infolge der Eile, die der allgemeinen quecksilbrigen Beweglichkeit
er so oft klagte.
Lebensende
hörte,
war
auch
von
einem
weniger
zarten
Sausen, das ihn quälte und über
des Rokoko eigen war, einander mit Leichtigkeit verließ, so war e s
Das
die Lebenskunst, niemals zu leiden oder leiden zu lassen. D i e Lie-
cieren sollte und ihm das Besondere seines Charakters nur langsam
bes- und Freundschaftsbünde im ersten Teil der Confessions enden,
zum Bewußtsein kam. W e n n Rousseau ihn spät begriff, so m u ß
ohne daß der eine Partner dem anderen grollt. Der Naturmensch Rousseaus, ein untätiger Träumer, gleicht einem Mitglied dieser sterbenden Aristokratie, harmlos in ihrem Müßiggang, der ihr erlaubte, auf die geringsten Regungen und Seelennuancen acht zu geben. Freilich waren diese nicht starker Natur, weder in der Freude noch im Schmerzlichen. Es handelte sich eher um eine aufs äußerste zugespitzte Aufmerksamkeit, die auch dem Geringsten Bedeutung zu geben vermochte. So war viel verzweigt, mit dünnster Membran, die Form bereit, in die sich die Leidenschaft ergießen konnte. W e n n Rousseau seufzt, dem raschen Gespräch seiner Zeit nicht folgen zu 50
Schicksal
wollte,
daß
das
Bürgertum
nur
langsam
avan-
man ihm zugute halten, daß das Bürgertum selbst, dem Charme des Adels tributpflichtig geblieben, die Neigungen, den T o n , den Rhythmus, die Grazie jener Klasse nachzuahmen suchte. In Chambery, in Annecy, in L y o n , bei seinem ersten und zweiten Pariser Aufenthalt und auch
während
des venezianischen
Intermezzos
war
Rousseau stets entweder nur Aristokraten begegnet, die bereit waren, Reisende, Abenteurer, Deklassierte bei sich aufzunehmen, oder aristokratisch gewordenen Bürgern, die es der höheren Klasse so vollendet gleichzutun wußten, daß der Neuankömmling keinen Unterschied gewahren konnte.
In Paris verkehrten die zwei jungen 51
Unentschiedenen, Diderot und Rousseau, mit zahlreichen Leuten
W i e war das Verhältnis dieser neuen Klasse zum Gefühl? D i e bür-
v o m Theater, die ebenso wie sie Anschluß an die herrschende Ge-
gerliche Empfindsamkeit hing mit der Innigkeit des Familienlebens
sellschaft suchten, und Rousseau teilte die Assimilationsbestrebungen
zusammen; sie produzierte sich mit einer gewissen Selbstgefällig-
des Freundes, bis das Bürgertum etwa 1 7 5 0 begann, sich seiner
keit gern offen und war weder spielerisch noch verhüllt. W e n n die
möglichen Macht tatsächlich bewußt zu werden, in medio saeculo,
Tagesarbeit, bei der man für seine Interessen gekämpft hatte, been-
zugleich auch Rousseaus Lebensmitte.
D i e Verzögerung war dem
det war, die Stunde des Herzens, der man sich ohne Scham und Scheu
Akzent, dem T o n , den er nun annehmen sollte, nur dienlich. Künst-
überließ; m a n lacht, weint ausgiebig, m a n ergeht sich unablässig in
lich war seine Entwicklung zurückgehalten w o r d e n ; nun sprangen
Gefühlen. In jahrhundertlanger Stubenhockerei hatten sie an Dichtig-
ihre Knospen, und es geschah mit Donnergetöse, so wie der Früh-
keit gewonnen. D a s Gefühlsleben trägt das Gepräge der Schwere.
ling Augenblicke hat, da er sich nicht auf leisen Sohlen naht, son-
Auch Rousseau besaß sie dank seiner ersten bürgerlichen Erzie-
dern wie ein Mörder in die Welt einbricht.
hung, hatte dann allerdings versucht, sie als einen Fehler abzulegen
V o n w o genau erging der Ruf an ihn, der ihn fortriß?
Zu den
und die tänzerische Leichtigkeit des Rokoko zu gewinnen.
Jetjt
niederen Klassen, zum Volk hatte er wenig Beziehungen gehabt.
übertrieb er absichtlich im entgegengesetzten S i n n : so bin ich, so
Seine Bedientenzeit war nur eine peinliche Erinnerung und hatte
will ich scheinen. D i e neue Klasse schämt sich ihrer Eigenheiten
ihn eher an die gute Gesellschaft gefesselt.
Er be-
nicht mehr, und Rousseau, als ihr Führer, überschreitet das M a ß .
Bauern
Bewußt produziert er, der soviel Feinheiten geerbt hatte, nun das
in der U m g e b u n g von Lyon etwas zu essen fand; das dürfte eine
Schwere, ja das Grobe und Plumpe, was ihn zu brüsker W a n d l u n g
seiner wenigen Begegnungen mit dieser Klasse gewesen sein. Bei
seines noch von voltaireschen Erinnerungen erfüllten Stils zwingt.
L y o n trifft der Herumtreiber einen Seidenarbeiter.
Er spricht auch
N u n da das Bürgertum sich der Macht näherte, vergaß es, daß
zufällig mit einem Schmied, wie er in der fünften Reverie erzählt.
seine Leidenschaften unter der Herrschaft der Aristokratie als ko-
D a s alles waren Einzelfälle. Sein Verhältnis mit Therese, das für
misch gegolten hatten. Nun begehrte es tragische Leidenschaften.
ihn zur Promiskuität mit einer ganzen Kleinbürgerfamilie führte,
Aber würde es bei seinem eher ängstlichen und vorsichtigen Cha-
war v o n größerer Bedeutung.
rakter nach Verausgabung seiner Kräfte in der
richtet,
wie er
als
hungriger
D i e Bauern?
Landstreicher
bei
einem
W e n n er von dieser
ausgebeutet
wirtschaftlichen
wurde, so hatte er doch den Gewinn, die Wünsche des Dritten
und politischen Anstrengung noch weitere in Reserve haben, um
Standes kennen zu lernen
überhaupt große neue Gefühle zu erschaffen und sich ihnen hinzu-
(Diderot erriet sie ohne Zweifel
viel
schneller als er, da seine Arbeit an der Enzyklopädie ihn zu stän-
geben?
digem U m g a n g mit Handwerkern n ö t i g t e ) . So ist er nun Führer
Rousseau den latenten Charakter der neuen Klasse aufgedeckt, halb
des Dritten Standes, er, der niemals ein festes, anständiges Zu-
hat er sie mit fortgerissen. Sein Katalog der Leidenschaften beginnt
hause gehabt hatte und auch nie haben sollte. Der Parasit der
nicht mehr nach dem cartesianischen Schema mit der admiration,
Aristokratie, der von Stadt zu Stadt irrende Landstreicher wird
der Verwunderung, einer intellektuellen Leidenschaft. Jet^t steht der
Sprachrohr derer, die ihr Haus, ihre Straße nie verlassen. D i e neuen
Enthusiasmus an erster Stelle. Rousseau, der bis zum Jahre 1 7 4 9
Klassen erfreuten sich robuster Gesundheit; Rousseau war zart,
ein Spötter u n d Zyniker wie Rameaus Neffe oder von höchster An-
anfällig
(im Vorwort zur Lettre ä d A l e m b e r t behauptet er nur
mut und Leichtigkeit gewesen war, bekommt mit fast vierzig Jahren
noch die Konsistenz eines Schattens zu h a b e n ) ; er bedurfte unend-
plötjlich den naiven Elan eines Jünglings. D a s Bürgertum hat sich
licher Zärtlichkeit, um überhaupt leben zu können. Er mußte also
nicht geweigert, seinem improvisierten Führer zu folgen, der es in
Kraft vortäuschen, wenn er seiner Rolle gewachsen sein wollte.
unbekannte
52
D i e s ließ sich nicht ohne weiteres voraussagen.
Bezirke
leitete.
Eine
Klasse
wandelt
sich
Halb hat
in
dem 53
Augenblick, wo sie sich ihrer Herrschaft nähert: dann verjüngt sie
Absolutum, g e k o m m e n ? (Er hat W a n d l u n g e n und eine Entwicklung
sich. W e n n sie nur ihre alten Eigenschaften bewahrt hätte, hätte sie
des Menschen gelten
nicht die nötige Werbekraft besessen; sie brauchte mehr, damit ihre
änderlich,
Ideen an Stelle der Verdüsterung der ihr eigenen Schwere die Töne
größten aller Erbinnen, sie hat nicht mehr die Sorge, die Welt
der Morgenröte annähmen.
vermittels
fest neuer
lassen, aber die Natur glaubte er
gegründet
ruhte
Schöpfungen
sie
führen
mit
der
unver-
Gelassenheit
zu müssen,
während
der der
Leidenschaften
Mensch, dem diese Pflicht obliegt, die Vorteile genießt, aber auch
Rousseaus stammten also teils aus der alten, teils aus der neuen
die Lasten trägt: wer Schöpfer ist, läuft Gefahr, böse sein zu müs-
Gesellschaft.
sen.)
Alle
Sensibilitäten,
Empfindungen,
Gefühle
und
Sie bilden ein homogenes Ganzes, worin er sich un-
W i e mild darf die Natur sein, da sie nicht mehr an der
gezwungen bewegte. Selbst Empfindeleien, so lächerlich sie an sich
Spitze der Entwicklung steht!
Sie besteht aus vielen übereinander
erscheinen müßten, sind für seine Lebenserschaffung
so bedeu-
ruhenden Schichten, alle in holder Schläfrigkeit befangen. Aus lang-
tungsvoll wie der Meerschaum für die Geburt der Aphrodite. Noch
gewohnter Vertrautheit erwächst allgemeine Duldung. Noch geschehen
nie war das Gefühl so weit erhöht worden, daß man es, w i e er es
Übergriffe: das Tier lebt auf Kosten der vegetativen Natur und ver-
tat, mit dem Absoluten identifizierte.
Tränen, Freuden, Ekstasen
verschlingt sie voll Bosheit, aber da das Pflanzenreich fortbesteht, ver-
werden nun die direkten Boten des Absoluten. Wir berühren durch
söhnen sich die Feinde in der ungeheuren Dauer ihrer Existenz. Ak-
sie den B o d e n der Wahrheit.
als die aufs
korde entstehen. Rousseau täuschte sich nicht, wenn er hier eine Har-
äußerste gesteigerten Gefühle, sind der Gottheit noch näher. Man
monie gewahrte, so schön und gut wie die der himmlischen Sphären.
D i e Leidenschaften,
m u ß ihnen allen ihr Recht lassen. W e n n die corneilleschen oder
Heute war es die allermildeste Natur, lauter liebliches W o g e n und
racineschen Helden sie gegen ihren Willen gehabt hatten, sie be-
Botschaftsenden zwischen ihren einzelnen befriedeten Reichen. Man
kämpfend oder ihnen in schmerzlicher Wollust erliegend, so eilt
vernahm nicht mehr das gellende Gelächter Pans, vor dem die
man ihnen jetjt entgegen, m a n begrüßt sie, erstaunt über sie, rühmt
Griechen erschraken. Ein ewiger Friede war geschlossen, „ohne Sie-
sich ihrer. Sobald man sie im Herzen keimen fühlt, läßt man sie
ger und Besiegte".
nicht nur wachsen, sondern übertreibt sie, läßt sie sich bis zum
Natur diesen Gipfel der Vollkommenheit noch nicht erreicht: zum
Ein Jahrhundert zuvor hatte die französische
äußersten entfalten. Unter diesem allgemeinen Aspekt begreift man,
Garten verwandelt war sie nur in der unmittelbaren U m g e b u n g des
daß Rousseau den Glauben nicht ablehnen konnte; er bedeutet für
Hofes, auf der Ile-de-France, vielleicht noch an den Ufern der Loire
W a s man glaubt, ist nahezu
und in der Provence. Noch gab es weite Provinzen, wo sie ihre
gleichgültig; es genügt, sich den ungeheuren Gewinn des Glaubens
üppige Kraft bewahrt hatte. U m 1 7 5 0 aber war ihr unkultivierter
als solchen nicht entgehen zu lassen, der die ganze Skala der Emp-
Teil so klein geworden, daß er zur Ausnahme wurde. Ein Städtchen
ihn einen möglichen Gefühlsmodus.
enthalten kann, die die Seele erschüttern und sich mit
wie Chambery war von Gärten umgeben. Einer gefährlichen Natur
der ersten aller Leidenschaften, mit dem Enthusiasmus, verbinden.
begegnete Rousseau nur in einer Schlucht bei Annecy, die er im
„Ich glaube an eine Gottheit" wäre ein Pleonasmus, da der Glaube
V I . Buch der Confessions beschreibt, oder in einer Landschaft voller
an sich schon göttlich ist. W i e für Descartes der Wille, die Imagi-
Abgründe und Seeadler
nation, das Gedächtnis nur Modi des Denkens waren („Ich denke,
Glaube verdunkelt worden wäre; die Möglichkeit einer solchen Na-
findungen
( V I I . R e v e r i e ) , ohne daß dadurch sein
daß ich will; ich denke, daß ich mich e r i n n e r e " ) , so führt Rousseau
tur, die in der Gesamtlandschaft des 1 8 . Jahrhunderts nur noch in
alles auf das Gefühl zurück. „Ich kenne den Willen nur, weil ich
einzelnen Fragmenten verwirklicht war, hat ihn nur gestreift.
den meinen fühle", „ich fühle meine Seele".
Parallel dazu hatte auch die Gesellschaft jedes Gelüst nach Gewalt
Wie ist Rousseau 54
zu seinem
Naturbegriff,
als seinem
anderen
verloren; sie hatte genau die Reife, die dieser natura
naturata 55
entsprach, so daß beide wie geschaffen waren, einander zu lieben,
die ephemerste Weise eben durch den Einklang mit dieser Gesell-
was die Summe der Milde in der Welt noch vergrößerte. Wenn es
schaft war.
wohl geschehen mag, daß sich die Natur v o m Menschen trennt,
W a s die aufsteigende neue Klasse als Natur empfand, war dagegen
hinter ihm zurückbleibt oder ihm vorauseilt, hier herrschte wie selten
etwas ganz anderes und glich eher jener natura naturans, die sich
ein nahezu vollkommenes Einvernehmen. D a s Leben der dekadenten
im Erdbeben von Lissabon, als fordere sie das Jahrhundert heraus,
Aristokratie, die seit drei Generationen das Klima des Ungebän-
in jäher Vision in ihrer legten Tiefe offenbart hatte: als wilde un-
digten nicht mehr gekannt hatte, war das vollkommene Gegenstück
bändige Natur von erbarmungslos grausamer Kraft. Rousseau hatte
der höchst gepflegten, ganz in Rosa und Blaßblau getauchten Natur.
darin nur ein zufälliges Ereignis sehen wollen: sein Optimismus
Jedes Immergrün, jedes Pfirsichspalier, jeder Fluß, jedes Wäldchen,
blieb dem Geist der alten Gesellschaft zum Teil treuer als der pes-
durch
simistische Scharfblick Voltaires. Bald sollte die Revolution, die so-
eine Analogie in einer Gesellschaft, die sich ihrerseits von der Natur
ziologisch einer vulkanischen Eruption entsprach, ein Zeugnis ab-
bestätigt sah. W e n n Rousseau die Seen so sehr geliebt hat, so ge-
legen, das dieses Erdbeben bestätigte.
schah es, weil sie in höchstem Maße die moralische Eigenschaft der
hätte sich das Bürgertum geweigert, darin ein Vorzeichen dessen
Selbstliebe besitzen: unermüdlich mit Genauigkeit ihre Konturen be-
zu sehen, was in ihm schlummerte. Bezwungen vom Charme der
schreibend, die sie nie zu überschreiten begehren; sie trachten, sich
Aristokratie, sah es mit deren A u g e n die Natur, die jene nach
jedes Frühlingslied der Nachtigall fand seine Bestätigung
In jenem Augenblick aber
so wenig wie möglich zu regen und lassen sich an den Bildern
ihrem Bild geformt hatte.
der Uferlandschaft genügen, die sie verliebt widerspiegeln. Ebenso
dieser Vorstellung einer guten, harmlosen, bezaubernden
sind die B l u m e n , diese göttlichen Egoisten, andächtig-langsam nur
faszinieren, als er sich, anfällig und von schwacher Gesundheit, mehr
mit sich beschäftigt.
Je unscheinbarer und bescheidener sie aus-
zu ihr, die ihm Trost bedeutete, hingezogen fühlte, als zu jener
sehen, um so mehr sind sie dem glühenden Herzen auf dem Grunde
anderen, die ihn durch ihre Heftigkeit getötet hätte, wenn er sie als
ihres Kelches hingegeben. Sie sind den Sternen gleich: für Rous-
die einzig wahre hätte gelten lassen. Als er aber dank seiner Emp-
1
Rousseau ließ sich um so mehr von Natur
seau gleicht eine Wiese der Milchstraße. D e n n die Natur spiegelt
findlichkeit
sich in sich selbst.
Sie ist also wie Rousseau, der in V o r a h n u n g
und sich mit seinem Wesen ihr verschrieben hatte, war plötzlich
das Emporkommen der aufsteigenden Klasse gewahrt
des eigenen Wesens, noch sehr jung, eine Komödie „ L A m a n t de
auch in ihm eine kraftvolle Natur erwacht, wovon seine Schriften
lui-meme" verfaßt hatte. Er sieht sie lieber in Spiegeln als, w i e
nur zu deutlich zeugen. D e n n er, der Führer, mußte stärker und
Diderot, in progressiven Metamorphosen sich entwickeln. W i e pa-
feuriger sein als die, die ihm folgen sollten. Er steigerte sich künst-
die
lich in einen T o n , der ihn berauschte, da er ihm das Ansehen einer
ihre Güte nur dadurch erhielt, daß sie bis in ihre Tiefenschichten
Kraft verlieh, die er in Wirklichkeit nicht besaß. W i e lange währt
der Charakter dieser Gesellschaft fortsetzte! Er irrte nicht, indem er
dieses sehr gewagte Spiel? Er spricht von sechs Jahren der Tu-
die Natur gerade in diesem Augenblicke gut nannte, sondern weil
gend, und es gelingt ihm in der Tat, vor der Öffentlichkeit wie vor
radox, daß er die Gesellschaft im N a m e n einer Natur angriff,
er glaubte, daß sie so e w i g sein werde, während sie es doch nur auf i Rousseau überspringt die Tierwelt, die zum Teil s e i n e m Ideal der Güte und der Sorge n i e m a n d e m Leid anzutun, nicht entsprechen würde. Nicht daß ihm da der Beobachtungssinn gefehlt hätte, er interessiert sich für jede Regung seines Hundes, der ihn auf seinen Spaziergängen begleitete. Aber mit Grausen spricht er gelegentlich v o n den Raubvögeln. Für ihn ist die Vegetation „das schönste der Naturreiche". 56
sich selbst tugendhaft zu scheinen — nicht nur, wie er selbst glaubt, im Sinne bürgerlicher Moralität, sondern auch in der Bedeutung der machiavellistischen virtü, das heißt der Kraft. Er wußte noch in späten Werken, so im Contrat Social, diesen T o n anzunehmen. Dann fiel er mehr denn je (auch dieses eine Rückkehr)
in seine
eigenste Natur zurück, mit süßer unschuldiger Schwäche, würdig 57
eines Frühlingsmorgens der natura naturata: so in seiner Botanik, in den Confessions, den Reveries. D a s Spiel war umso komplizier-
deutige
und
fragwürdige, die von
ebensoviel
zersetzenden
wie
schöpferischen Tendenzen erfüllt war.
ter, als er selbst in jenen Augenblicken, da er auf das wirksamste
Wann und auf welche Weise verwob er diese drei, die in eins ver-
und deutlichste die natura naturans verkörperte, den philosophi-
schmolzen zu d e r Natur wurden, mit dem Gefühl, das für ihn,
schen Begriff der guten Natur beibehielt. Auch er hätte sagen kön-
über das menschliche Herz hinaus, nicht nur eine der zahlreichen
nen „larvatus prodeo".
Hätte er sich als Träger zweier entgegen-
Triebfedern der ganzen Natur, sondern ihre einzige wurde? Jede
gesetzter Naturen bekannt, wäre er der Wahrheit näher gekommen.
Träne, die man vergoß, jedes Lächeln, jedes Erschauern begleitete
Es war besser für alle, daß er sich über seinen inneren Dualismus
sie
täuschte: für die Aristokratie, weil sie so alle seine Lehren, selbst
Schichten
mit
dem
ungeheuren Widerhall
einander
zuwarfen.
Für
aller Echos, die
flüchtigste
das
alle
ihre
Empfindung
die für sie untragbaren, insofern annehmen konnte, als sie sich
wie
hinter einer scheinbaren Zugehörigkeit zu jener unschuldigen Natur
Verständnis, Halt und Nachsicht: „ D u bist verschwenderisch. Ich
verbargen, die die Schöpfung dieser Gesellschaft war — und für
streue mit vollen Händen in toller Frühlingsüberfülle meine Samen
für
die
heftigste
Leidenschaft
findet
der Mensch
bei
ihr
das Bürgertum, weil es sich unter dieser Maske der Güte ruhigen
und Blüten. D u empfindest Freude —
Gewissens seinem Aufstieg widmen konnte.
freudig der Morgenröte. D u nennst Freundschaften dein e i g e n ?
Doch Rousseau kam mit einer noch wilderen Natur in Berührung.
Jede meiner Landschaften birgt tausend Freundschaften, die nicht
Wenn er in seinen Pariser Lehrjahren, nachdem er wie der künftige
müde werden, einander ihr Herz auszuschütten und sich ihre heim-
Figaro v o n Beaumarchais alle Gewerbe durchprobiert hatte, allein
lichen Erlebnisse ins Ohr zu flüstern. Ihren höchsten Triumph aber
oder
feiert meine auf allzu viele D i n g e sich verströmende Seele in den
in Begleitung
Diderots
die Kneipen
und Cafes
besuchte,
jeder Kelch erschließt sich
mischte er sich unter die hauptstädtische B o h e m e ; hier begegnete
Sehnsüchten und Annäherungen der Liebe.
er den Unzufriedenen, den Rebellen, den verkommenen
Blatt den Tautropfen trinkt, Liebe, wenn die Staubfäden sich der
Genies,
Liebe ist es, wenn ein
den Verbrechern, dem Neveu de Rameau, den rates (Rousseau selbst
Bürde ihres Blütenstaubs entledigen, Liebesleidenschaft
bis
zum
gehörte zu ihnen, sein Opernerfolg des D e v i n du Village kam um
Wahnsinn, wenn die Heimsuchung nicht gelingt und die ganze ewig
ein Jahr zu spät, als er öffentlich den entscheidenden Schritt gegen
mitfühlende Natur die Verschmähung beseufzt.
die Kultur schon getan h a t t e ) , den Zuchthäuslern und Spionen.
dender noch als heiter und
trotz meiner
D e n n ich bin lei-
Größe so verwundbar, daß
Eine solche Gesellschaft hatte es seit dem Versailles Ludwigs X I V .
immerfort mein Blut verströmt, als wäre ich an mir selbst ans
gegeben; aus ihr hatte einst der Hof Giftmischer und
Kuppler
Kreuz geschlagen. Seist du Mensch oder gar Gott, rühme dich nicht
N u n war die Eisdecke, auf der die höhere, die glück-
deines T o d e s . A n Schmerz und Leidensfähigkeit bin ich dir voraus.
rekrutiert.
lichere Gesellschaft tanzte, viel dünner und durchsichtiger geworden,
Ich sterbe selbst an meiner Freude."
so daß man leicht einen Blick von oben nach unten und umgekehrt
Man könnte sagen, daß Rousseau, der mildeste aller Caesaren,
aus der Tiefe auf die Großen, die Generalpächter, die Spekulanten
der Natur
werfen konnte. Eine B o h e m e besteht aus Primitiven, aus Menschen,
daß, während Descartes ihr Unrecht tat, indem er ihr zu wenig
seinen persönlichen Willen aufgezwungen habe,
die außerhalb der ganzen Gesellschaft und ihrer historischen Er-
Gefühl
fahrung leben und verkörpert also die unverfälschte Natur. So war
immer folgsam und bereit, mit ihrer ganzen Fülle dem letzten
zusprach,
Rousseau
ihr
zuviel
davon
beimaß.
Sie
und ist
Rousseau der Kreuzweg, an dem sich drei Naturen begegneten,
Saum der schöpferischen Entwicklung zu folgen. Ein Jahrhundert
die der Aristokratie, die des Bürgertums und jene dritte, sehr zwei-
zuvor hatte sie sich aus Gehorsam gegen die Vernunft dem Gesetz der Ursachen und Wirkungen gefügt und war zur Maschine gewor-
53
59
den. Gewiß hatte diese in ihr geschlummert, aber Menschenschöp-
es als Absolutes anzuerkennen, und werden göttlich dafür belohnt
fung war es, daß die Kausalität in ihr einen solchen Zuwachs er-
werden: sie, die Stubenhocker, die ewig in ummauerten
hielt, daß alle ihre anderen Eigenschaften zu Gunsten dieser einen
Eingesperrten, werden sich in Scharen in die Natur ergießen, und
abnahmen, einschrumpften und verschwanden. Vor dem Herrscher-
die Kräfte, die ihnen aus ihr zuströmen, werden ihre Macht noch
stolz des Menschen hatte sie ihren besten Schatz vergraben müssen.
vergrößern. Aber von hier bis zur Leugnung der Vernunft,
Welcher Quellensucher, welcher Zauberer würde ihn dereinst he-
Rousseau niemals vorzuschlagen gewagt hätte, war es noch weit.
Städten
die
ben? Durch leidenschaftliche Küsse auf die harte Schale der ratio-
Er selbst hatte ihrer von Jugend auf bei allen Disziplinen nicht
nalen Scheinmaschinen wird das in ihnen verschüttete Gefühl er-
entraten können, trieb Anatomie wie Descartes, wollte sezieren,
wachen und an die Oberfläche emporsteigen. Neue Übersteigerung:
machte Chemieexperimente wie Voltaire; er hat auch eine rationale
denn um des Gefühlsexzesses willen wird sich die Natur abermals
Notenschrift für seine geliebte Musik erdacht, und wenn er auch
spezialisieren und auf alle ihre sonstigen Möglichkeiten verzichten
bei all diesen Versuchen nur ein schwacher Epigone geblieben war,
müssen. Dieser Appell bot ihr Entfaltungsmöglichkeiten, von denen
unfähig, etwas Neues zu schaffen, so hatte er doch den guten Willen
sie bisher nichts gewußt hatte, selbst in jenen sehr fernen Zeiten
zum Rationalismus gehabt. Später in seinen Briefen an d A l e m b e r t
nicht, wo sie vor der Erschaffung des Menschen noch nicht das Joch
und Mr. de Beaumont gebrauchte er die reine Vernunft, in kühnen
seiner Einmischung gespürt hatte. Sie anwortete dem leise drän-
Pointen, mit voltairescher Sicherheit.
genden Ruf. Rousseau hatte eine Auferstehung beschleunigt, die nur
krankhafter Spaltung seines Ich in D i a l o g e n Jean-Jacques sich mit
auf diesen Augenblick gewartet hatte: Frühling, zu dem er nur das
Rousseau besprechen ließ, da war es nicht das Zwiegespräch der
Als er dann, noch später, in
Signal gab. Sobald die allgemeine Rückkehr zum Gefühl erlaubt
Vernunft gegen das Gefühl, da sprach die Vernunft gegen die Ver-
war, erstand es neu in der Natur und in allen ihren Schichten.
nunft, als wäre Rousseau Träger zweier Intelligenzen. Persönlich
Bald überflutete sie mit dem überströmenden Gefühl, das der Mensch
leidet er geradezu am Verstand; mühsam schwingt er sich zu die-
in ihr entfesselt hatte, das menschliche Herz.
sem Stadium höherer Entwicklung auf und seufzt und klagt über
Bei alledem hat Rousseau, der Schöpfer des mit der Natur ver-
die „Pein des Denkens", als hätte er immer aufs neue bei jedem
wobenen Gefühls, doch nicht den Verstand geopfert. Alles machte
Versuch die Qualen einer Geburt jenseits der Natur zu bestehen
eine solche Preisgabe unmöglich. D a s Jahrhundert des Cartesianis-
gehabt.
mus, von langer Hand vorbereitet, war dem Gedächtnis
seiner Fähigkeit, sich zu entwickeln, das heißt, den entscheidenden
Frank-
Aber das besondere Merkmal des Menschen erblickt er in
reichs zu tief eingeprägt, als daß das Cogito hätte völlig vergessen
Schritt über die Natur hinaus mit dem Verstände zu tun, den
werden können. Auch hätte Rousseau als Haupt und Führer des
sie nicht besi^t.
Bürgertums die ratio nie ganz verleugnen können, ohne sich in
Freund sich im Prestissimo bewegen, nicht allein um Rondos aus-
Widerspruch zu dem dominierenden Charakterzug einer Klasse zu
zuführen, sondern um zu unbekannten, neuen Dingen vorzustoßen,
setzen, die seit ihrer Entstehung im Mittelalter sehr gescheit, sehr
so zog es auch ihn unwiderstehlich vorwärts. W i e sollte er für eine
gewitzigt war, eifrigst
berechnete, klar sehen wollte, Schritt für
Rückkehr zum Gefühl plädieren, von dem er immer wieder betont,
Schritt tat, feste Regeln liebte, allem Zwielichtigen mißtraute und
daß es „älter als unser Verstand" sei, was ihn, der alle frühlings-
zum Zweifel neigte: lauter Züge, die sie a priori der cartesianischen
haften
Methode geneigt machten. N u n wandten sich die Bürger, um sich
Kunstgriffe
von der herrschenden Klasse zu distanzieren, die sich völlig mit dem
zwischen Gefühl und Verstand begreiflich zu machen.
Denken identifiziert hatte, dem Gefühl zu. Sie werden bereit sein,
steht, daß seine Gegner die Geduld verloren gegenüber
60
Anfänge
Wie
so
das
ganze
sehr liebte,
seiner Dialektik
Jahrhundert
gerade
und
angezogen
sein
hatte?
wurden nötig, um seinen
bester
Alle
Standort Man verdiesem 61
Rationalisten, der beide Lager zu verraten schien; niemand wußte,
ständige Schwanken zwischen Bejahung und Ablehnung des Ver-
w o h i n das nächste Werk dieses beunruhigenden Wanderers führen
standes zwang übrigens Rousseau, Paris ebenso z u fliehen wie z u
würde.
suchen. Sind die Städte die erste Ursache, daß der Mensch durch
„Meines Erachtens ist es der Vorzug des Verstandes, daß er dem
die Kultur zu Fall gekommen ist und ist eine Kapitale die größte
Wort „Ist" einen Sinn verleiht." Er hatte erkannt, daß nur das
Feindin der gütigen Natur, so hat er doch Paris so adoriert, daß
Denken die Zentripetalkraft hat, den Dingen, indem er sie verdich-
er
tet, die Eigenschaft des Seins zu verleihen, die sie v o n sich aus
hielt, wo er noch einen Hauch von dort verspüren konnte.
nicht besitzen. So ist die Natur, die schöne, gute, herrlich empfind-
seiner Flucht in die Schweiz und nach England kehrte er wie magne-
same Natur zu träge, um die Stufe reflektiver Kohärenz zu errei-
tisch gezogen nach Paris zurück. „ E s ist der Geist der Gesellschaften,
chen. Sie existiert \
aber sie ist nicht.
Nur das Denken verleiht
ihr, was sie von sich aus nie erreichen würde.
Selbst die Bezeich-
sich
auf
dem
Lande
am
liebsten
an
solchen
durch den sich ein denkender Kopf entwickelt.
Orten
aufNach
W e n n ihr einen
Funken von Geist habt" (er gebraucht nicht den Vergleich mit dem
nung Natur, die Rousseau ständig im Munde führt, wäre nicht
Wasser
möglich ohne den prüfenden, verdichtenden Blick des sie ganz um-
„verbringt ein Jahr in P a r i s : bald werdet ihr alles sein, was ihr
fassenden Verstandes. — D a s Gefühl ist nicht dazu geschaffen, einen
sein könnt, oder ihr werdet nie etwas sein".
Entschluß zu fassen; e s schwankt, es ist zu sehr den D i n g e n ver-
D i e Natur ermöglicht dem Menschen durch das Gewissen, das eines
haftet,
zu können.
seiner Instinkte ist, die Erkenntnis von Gut und Böse. Sie läßt ihn
Rousseau nimmt eine Teilung v o r : das Gefühl allein hat die Gabe,
beides voneinander unterscheiden, ohne aber denjenigen, der diese
die Wirklichkeit in ihrer Fülle zu begreifen, während es dem Ver-
Intuition besitzt, zu zwingen, sie in eine aktive Wahl umzusetzen.
um sie zu meistern oder über sie verfügen
stände gegeben ist, zu sichten und zu entscheiden. N e i g u n g zu Fenelon
Trotz seiner
(gemäß den Confessions stand er ihm zu
sondern mit
dem Feuer und seiner blendenden
Helle)
Sie ist so milde, daß die Anstrengung, etwas fortzustoßen,
ihr
konträr wäre. W e n n m a n sich versehentlich dazu verleiten läßt, das
einem bestimmten Zeitpunkt sehr nahe) ist Rousseau kein Quietist.
Böse zu tun, wird man Gewissensbisse empfinden; infolge einer un-
Wenn er selbst auch in seinem tiefsten Wesen zur
Untätigkeit
absichtlichen Verirrung hat man mehr zu der einen als zu der an-
neigte, so drängte es doch die neue Klasse zu handeln, die sich gerade
deren Seite geneigt (im übrigen sind selbst solche Gewissensbisse,
deswegen überlegen fühlte, weil sie ihre Zeit nicht im M ü ß i g g a n g
als ein Gefühl, ein Teil Gottes). Ganz anders die Funktion
verschwendete.
Er
Verstandes, der allein die aktive Kraft zum Entschluß verleiht.
selbst handelt fast n i e ; dafür sind seine Werke um so leidenschaft-
W a s das Gewissen in edler Großzügigkeit erlaubt, wird von der
lichere Handlungen gewesen.
verständigen Tugend verboten.
Rousseau hatte sich diesem Drang zu fügen.
Der selbe Rousseau, der die Natur
des
D i e Liebe aus Leidenschaft ist im
anbetete, weil sie „weder Herrschaft noch Knechtschaft" kennt, und
Einklang mit
sich botanisierend auf den Boden streckte, um mit seiner Menschen-
so erzählt Rousseau in seinen Confessions, „war ich gut, fortan
gestalt nicht über das Pflanzenreich hinauszuragen, empfand
es
wurde ich tugendhaft oder zumindest tugendtrunken" (man sieht,
als
zu
Glück,
daß der Mensch
über
der Natur
eine
Stellung
erreichen vermag, die er durchaus nicht verkleinern möchte. Dieses i Er unterscheidet auch für den Menschen zwischen Existenz und Sein und stellt jene,die Descartes niemals nennt noch kennt, über dieses. „Das erste Gefühl des Menschen w a r das seiner Existenz." „Was genießt man? Nichts so sehr w i e die eigene Existenz. So lange dieser Zustand dauert, ist man sich selbst genug w i e ein Gott." 62
der Natur, die Tugend
verwehrt s i e .
1
„Bisher",
i Die Verwebung aller dieser Widersprüche ist Rousseau philosophisch bei allem sophistischen Geschick nicht gelungen. Er hat dazu das Spiegelbild eines Romans gebraucht, das Leben in der Kunst ist leichter als im abstrakten Denken. Sein Meisterstück im Durcheinanderwirbeln von Leidenschaft und Tugend ist die Novelle „Les Aventures du Mylord Edouard", die ursprünglich ein Kapitel der „Nouvelle Helolse" war, das er aus privaten Gründen herausnehmen zu müssen glaubte. 63
Gelegenheit
war in den endlosen Spaziergängen, unterbrochen von Ruhe, w e n n
erblickt, ein Gefühl entstehen zu lassen, die Trunkenheit), „ich war
er im Boote liegend sich treiben ließ. Durch diese infinitesimalen
wahrhaft verwandelt, meine Freunde und Bekannten kannten mich
Einwirkungen werden wir „modifiziert", zunächst in unseren Sinnen
wie er selbst in der kalt-vernünftigen
T u g e n d eine
nicht wieder." Welches ist die Haltung, das neue Antlitj des Men-
und Organen, dann in unseren Gefühlen, sogar in unseren Handlungen.
schen, der die milde Natur aufgegeben hat, um tugendhaft zu wer-
Daher m u ß der Lehrer des Emile, dieser seltsamste aller Erzieher,
den? „Ich war nicht mehr der ängstliche und schon mehr blöde
jeden Windhauch zu dosieren suchen, der seinen Zögling streift.
als bescheidene Mensch . . . Kühn, stolz, furchtlos zeigte ich mich
Aber nachdem Rousseau also die Natur ohne Einschränkung bejaht
allenthalben von einer unerschütterlichen Sicherheit."
Er hat seine
hat, soll sie, in einer Peripetie gleich der in der Nouvelle Helo'ise,
Führerrolle mit der Kunst des vollendeten Komödianten gespielt und
nur der Tugend dienen. Wird es möglich sein, diese zahllosen Emp-
sich, wie er versichert, sechs Jahre lang auf dem verlangten Niveau
findungen zu beherrschen? Sie bilden eine zu schwankende, eine
wie auf der Bühne eines Theaters gehalten, auf dem er sich agieren
unendlich veränderliche Grundlage. „ D i e Entstehung wie vieler Laster
s a h ; er spricht von sich selbst wie von einem andern, halb spöttisch:
ließe sich verhüten, wenn m a n die animalische Ökonomie
„In meinen antidespotischen und republikanischen Zeiten." W e n n er
zwingen könnte" (da haben wir ihn, den Passiven, Indolenten, der
dazu
aber bei der Tugend hätte bleiben wollen, hätte er das instinkthaft-
zwingen m ö c h t e ) , „ d i e moralische Ordnung zu bestimmen."
passive Gefühl aufgeben müssen, das seine größte Schöpfung w a r ;
Dieser doppelte Reichtum wird auf Gott übertragen. W e n n dieser
so kehrte er zu seinem Zögern und Zagen zwischen Gut und Böse
nur reines Gefühl wäre, wäre er identisch mit der Natur (Rousseau
zurück.
erklärt uns übrigens nie, wodurch sich beide unterscheiden
Aber ebenso w e n i g hat er je vergessen, daß ihm
das
und
Denken die Tugend ermöglichte. In der Verwirrung dieser Neigun-
warum die Natur, die er uns als vollendet und vollkommen hin-
gen findet er sich selbst nicht mehr wieder und ruft: „Fortgerissen
stellt, transzendiert werden mußte. Er war dem natura sive deus
und im inneren Hader zwischen zwei konträren Bewegungen, sagte
ganz nahe.
ich m i r : N e i n , der Mensch ist keine Einheit. Ich sehe das Gute, ich
Schritt zum Pantheismus zu wagen, der bei ihm weniger einförmig,
W e n n er den Mut gehabt hätte, den entscheidenden
liebe es, und ich tue das B ö s e . " Seine ideale Liebe zum möglichen
weniger
Guten erlöst ihn vom Bösen, das er wirklich tut.
sensibel als bei Spinoza gewesen wäre, wäre er immer
Er allein wußte,
hart-kausal
und mehr leis-beweglich
und
frühlingshaft Diderots
wie sehr bei ihm unter der Oberfläche das Gute gegenwärtig war.
Freund g e b l i e b e n ) . Aber ein solcher Gott, der nur Gefühl ist, wäre
Während er die Tugend besaß, vergaß er nicht den paradiesischen
dem Menschen unterlegen gewesen, der in seinem Verstand eine
Zustand der Passivität, und als er in dieser vegetierte, befiel ihn
dem Gott unbekannte Eigenschaft gehabt hätte, die, selbst wenn sie
Heimweh
etwas Fluchwürdiges
nach
der Aktivität
des tugendhaften
Verstandes.
In
wäre, eine Überlegenheit bedeuten
würde.
einem geplanten Buch Morale Sensitive (er beklagt in den Con-
So bedurfte es, teils um die Herkunft des Verstandes zu erklären,
fessions
seine
teils um ihn zu heiligen und ihm gleichsam seinen Giftgehalt zu
Sensibilität auf die unterirdischen Schichten der Natur, auf
das
nehmen, seiner Hypostase, die zu der göttlichen Sensibilität hinzu-
Klima, die Elemente, die Töne,
den
Verlust
des
Manuskripts)
übertrug
er
die
kam. Vermöge seines Verstandes hat Gott nicht nur die Existenz
man findet in dieser Nomenklatur alles wieder, woran
der Natur, sondern auch das Sein. Ohne ihn wäre er ein Träumer.
er sich mit Entzücken erinnerte: in dem Wort Dunkelheit sind seine
Er erlaubt ihm, zur Schöpfung überzugehen, die die höchste Form
Ruhe —
die
Stille, die Bewegung,
schlaflosen Nächte; bei den Elementen denkt er ohne Zweifel an das
des Handelns darstellt. Doch Rousseau erwartet auch von Gott, daß
Wasser der Seen, bei den Jahreszeiten an den geliebten Frühling,
er zur guten Natur zurückkehre: unter den göttlichen Eigenschaften
während die Töne die Luft um diesen Musiker erfüllen; Bewegung
nimmt bei ihm die Güte den ersten P l a g e i n ; Gott gebraucht seine
64
5 LTON
65
Macht nur, um besser seine Güte walten zu lassen, die auch beim
Keimen des Samens anzog, das Sichentfalten der Blätter und der
Jüngsten Gericht als Fürsprecherin erscheinen wird. Ein solcher
Blüten, das Sichneigen der Staubfäden in Liebe zueinander; er hat
Gott ist sowohl der Vater durch seine Macht als der Sohn durch
seine Briefe über Botanik an ein junges Mädchen gerichtet, also
seine Güte. Nichts erinnert mehr an die furchtbare Prädestinations-
Frühling an Frühling. — Betreffs seiner Ichschöpfung irren wir,
lehre des Calvinismus oder an den düsteren Gott der Rache des Alten
wenn wir annehmen, daß sie früh vor sich gegangen sei.
Testaments. Rousseau gibt schon dem Vater alles Erbarmen, alle Zart-
Irrtum, daß er e s von jeher besessen habe, rührt daher, daß er
Unser
heiten des N e u e n Testaments in solchem Maß, daß der Sohn meta-
seine Kindheits- und Jugenderinnerungen sehr spät geschrieben hat.
physisch keine notwendige eigene Person mehr zu sein braucht,
wobei er die ganze Fülle seiner Persönlichkeit auf die fernen D i n g e
da er von A n b e g i n n schon da ist; er ist die Natur, ist immer in ihr
seiner Vergangenheit zurückströmen ließ. Welche Quantität, welche
gewesen. D a s Verdienst seines Erscheinens war nur, daß er sie in
Qualität konnte sein Ich vor 1 7 4 9 gehabt h a b e n ? In der Gesellschaft
Menschengestalt verkörperte. Rousseau malt das Bild eines Chri-
des 1 8 . Jahrhunderts war man bestrebt, sich nicht zu differenzieren;
stus, dem gleich er auf staubigen Straßen irrte und die Nächte in
alle Gesichter ähneln sich: die gleiche Stimme, der gleiche Ausdruck
Gärten verbrachte; auch er hat sich über Quellen gebeugt und Seen
der A u g e n , die gleichen Gesten, der gleiche Rhythmus des Schreitens
umwandelt; auch er hat die öffentlichen Tempel zerstört und schon
und Sprechens. Originalität, die Anstrengung heischte, um verstanden
lange, bevor er verfolgt wurde, um seinen Opfertod für die Natur
zu werden, wäre Unhöflichkeit gewesen.
gewußt.
vinz wie in Paris Zugang zur Gesellschaft suchte, mußte er alles,
Als Rousseau in der Pro-
D a s Ich als Träger der Gefühle mußte ein ganz anderes sein als
was ihn von ihr unterschied, möglichst zurücktreten lassen. Erst
das von Descartes, bei dem es das Gefäß des Denkens gewesen war.
nachdem seine ersten Werke ein Erfolg gewesen waren, begann er,
N u n wurde seine feste Form loser und gesprengt, so daß es eher
die Unterschiede mehr zu betonen.
dem Ich von Montaigne glich. Es wurde wieder wogend, unsicher,
Sehnsucht, auf dem Lande als eingebildeter Wilder zu leben, und
schwebend.
da seine Freunde in anmutig-geistvollem Spiel seine Position, die
Gefühl. Neuerer.
D a s Verhältnis des Ich zu sich selbst wurde zu einem
Also wurde Rousseau auch in dieser Beziehung zu einem D e n Frühling hat er so sehr geliebt, weil er für ihn ein
ihnen durch das ihr anhaftende
N u n verwirklichte er seine
Künstliche gefallen mochte,
in
das helle Licht ihres Verstandes rückten, zeichnete sich sein Ich mit
Gleichnis war. „ D i e Freude, mit der ich die ersten Knospen erlebte,
dem Einverständnis seiner U m g e b u n g immer deutlicher ab. Man
war unsagbar", er wartete darauf das ganze Jahr, der klare Win-
pflegte ihn „le citoyen" zu nennen und ihn so zum Bewohner einer
ter, den Descartes geschäht hatte, war für ihn die kahle, feindliche
zeitfernen mittelalterlichen Stadt zu machen, oder den „Bären", ihn
Jahreszeit. — W e n n er so sehr die Primitiven geliebt hat, so war
ins Tierreich versehend, noch bevor er zu den Seen oder zu der
es, weil sie einer frühlingshaften Zeit angehören.
Pflanzenwelt zurückgekehrt war.
Ebenso hat er
jeden Moment der Entwicklung seines Emile studiert, wohl
um
D a n n kamen die Entzweiungen,
die stärkere Distanzierung, die Anfeindungen, die Verfolgungen,
wie ein Alchimist in einer Retorte auf künstliche Weise den Natur-
wodurch die Besonderheit seines Ich immer rascher anwuchs. W i e
menschen zu erzeugen. Aber seine eigentliche Freude dabei war, zu
Witterungsunbilden das Drängen des Frühlings fördern, so waren
erforschen „ w i e ein junges Herz zum Leben erwacht" oder „um
Rousseaus Feinde seine besten Freunde, indem sie immer neue Ge-
einzudringen in das Herz eines Jünglings und hier die
ersten
fühle in ihm weckten, die er ohne sie nicht gekannt hätte, die Bitter-
Regungen der Natur zu wecken". Er hat sich schließlich der Botanik
keit, die Verzweiflung, die Tiefsichten eines Königs Lear im Ge-
zugewendet, nicht nur weil dieses Reich der Natur am besten seinem
witter. Welche Wohltat, sich gegen die französische Gesellschaft stel-
Ideal der Milde entsprach, sondern weil ihm an jeder Pflanze das
len zu können, g e g e n die Vaterstadt, gegen England, gegen Europa
66
67
(mit Ausnahme Italiens, das ihm immer nur eine Quelle der Freude
Über die Wirtschaft hinaus, d i e von ihr bereits beherrscht wurde,
geblieben i s t ) ! Alles, was später die romantische Phantasie an Ver-
lockte die Politik.
gleichen mit Verbannten, Pestkranken, Verfluchten, Bettlern, Unsteten ersann, war ihm vom Schicksal bestimmt. Schließlich fand er im Zentrum Europas, unberührt wie am ersten Schöpfungstag, die Insel St. Pierre im Brienner See. In diesem Augenblick befanden sich die beiden Lebenskonzeptionen, die Natur und das Ich, in ihm in genauem Gleichgewicht.
D a n n verschwand nach und nach die
Natur. Auf seiner Reise v o n Neufchätel nach London interessierten ihn nur die Städte und die Aufnahme, die er jeweils fand.
Die
Natur ist groß, das Ich wird noch größer. Mächtiger als alle anderen Lebensmöglichkeiten schoß es in Rousseau empor. D a s Meer sah er nicht während der Überfahrt. W e n n er in England auf dem Lande Zuflucht suchte, so war es mehr aus Erinnerung an frühere Bucolica. Er unternimmt, parallel zu der ihm von außen aufgezwungenen, eine innere Flucht, und die Natur hat daran nur indirekt teil, insofern als die einst durcheilten Landschaften und Orte in Schwärmen wiederkehren u n d eine schürende W o l k e um ihn bilden. Während sein Emile einen Durchschnittsmenschen darstellte, ohne abenteuerliche, ihn von anderen Menschen absondernde Erlebnisse, lehrte er in den Confessions, daß einem jeden, in unvorhersehbarem Auf und A b , Glück und Traurigkeit
beschieden
sein können, mit hunderten von Zufällen, die für niemanden die
W e n n Rousseau auf seinen R o m a n seinen Trak-
tat über die Erziehung hatte folgen lassen, w o er mit dem Kinde in der W i e g e begann, um die mögliche Genesis des neuen Menschen zu demonstrieren, so handelte es sich um Einzelwesen; er brauchte m e h r : tausend Saint-Preux und Julie, tausend Emile und Sophie. W i e werden sie leben? D i e Frau verschwindet wie im antiken Staat, die E m d e s genügen sich selbst. W i e werden sie handeln? Rousseaus eigene Gestalt nimmt i m Contrat den kleinen R a u m ein, der auf mittelalterlichen Votivgemälden für den Stifter bestimmt ist. Nach den wenigen Worten zu Beginn über sich selbst: „ W e n n ich ein Fürst wäre, hätte ich dieses Buch nicht geschrieben", erscheint sein Ich nicht wieder.
Er, der in den Confessions nicht müde wird,
von sich zu sprechen, schildert den K ö n i g , den Diktator, den Tribun, ohne sich für die verschiedenen Möglichkeiten des Ich, die sich in diesen politischen Formen entwickeln können, zu interessieren. Er verweilt nicht einmal wie Piaton fasziniert bei der Gestalt des Tyrannen, bei dem sich ihm doch Gelegenheit geboten hätte, das schreckliche Ich dem bezaubernden Ich gegenüberzustellen. Im Staat verschwindet auch das sonst v o n ihm vergötterte
Gefühl:
dort gibt es weder Zartheit noch W o n n e n und Ekstasen noch mitfühlendes Erbarmen; das Leiden ist ausgeschlossen; wenn es er-
gleichen sein sollen. Er bietet sein Leben, das er hinter der Schein-
schiene, wäre es schon das Zeichen, daß das vollkommene Gebäude
objektivität so vieler früherer Werke verborgen hatte, als eine Auf-
einen R i ß hätte. Es gibt keine T o t e n ; unmittelbar tritt der Sohn an
forderung dar, sich ein analoges Ich zu schaffen.
Descartes
die Stelle des dahingegangenen Vaters. D i e zahlenmäßige Zunahme
mußten alle Ichs in der vollkommenen Klarheit ihres Denkens gleich
der Bevölkerung gilt als Beweis für den Wert des Staates; es m u ß
sein. Rousseau hat ein Ich vorgeschlagen, das einmalig ist und von
also Liebe geben, doch mit keinem Wort wird das Erwachen der
ungeheurem Wert, weil es sich nie wiederholt: Frühlingsschöpfung
Sinne oder die Wollust erwähnt. Keine Freundschaft. Alle Gefühle
am A u s g a n g seines Lebens, die er in seiner Jugenr" und selbst in der
sind zugunsten eines einzigen, des Bürgergefühls, aufgehoben, als
Bei
Fruchtbarkeit seiner Reife noch nicht gefunden hatte.
dessen Funktion Freude, Schmerz, Verzweiflung, Trauer nur erlaubt
Es hätte aber eine ungeheure vitale Lücke in Rousseaus System ge-
sind, sofern sie v o m Schicksal ausgelöst werden, das alle berührt.
klafft, und er hätte sich die Gunst und das Vertrauen, auf die er
Während das Ich sich in überströmendem Gefühl an Gott wandte,
Anspruch erhob, teilweise verscherzt, w e n n er nicht über das Ich
sich zu ihm aufschwingen sollte, von Angesicht zu Angesicht, ohne
hinaus zum Staat vorgestoßen wäre. D i e neue Klasse, mit Leben
Priester, im universalen Tempel der Natur, genügt dem Gott des
geladen, wollte es nicht nur auf eine persönliche W e i s e spüren.
Staates, der wie dieser selbst nur aus Verstand besteht, ein strenger
68
69
und starrer K u l t . 1
Auch die D i n g e , die Rousseau am meisten ge-
liebt und denen er zur Geburt oder zur Wiedergeburt
verholfen
hatte, wenn er die Grenzen des einsamen Ichs überschritt, an eine Gemeinschaft von Erfindern gedacht,
die in den Laboratorien ar-
hatte, hören auf zu existieren: sein Lieblingselement, das Wasser,
beiten würde, geeint durch leidenschaftlichen Glauben an die Fort-
sieht er nur noch vom pragmatischen Gesichtspunkt, e i n Strom oder
schrittsmöglichkeiten der Wissenschaft: e i n wunderbares, aber sehr
das Meer bieten Gelegenheit zur Anlage eines Hafens. D i e Berge
schmales und begrenztes Wir. Bei Rousseau wird das „Ich denke"
bedeuten praktische Vorteile. Der Staat, von Mauern umgeben, ist
zum Kriterium und zur Grundbildung für das gesamte Volk. Schon
ohne Gärten, ohne Blumen. D i e Luft bleibt unbewegt. W e n n m a n
der Akt der Gesellschaftsgründung ist ein auf cartesianischen Regeln
schon überrascht ist, daß dieser Musiker nicht für eine gründliche
und Prinzipien errichteter juristischer Vertrag: ein schlechthin Ge-
musikalische Ausbildung seines Emile Sorge getragen hatte,
so
gebenes, für das alle das gleiche bewußte Verständnis haben, und
wird man sich noch mehr darüber wundern, daß er den Staat aller
diese Klarheit, die am ersten Tage der Gesellschaft herrscht, bleibt
T ö n e berauben will. In seinem Entwurf zu einer polnischen Verfas-
in allen ihren Phasen immer die gleiche, selbst während der Revo-
sung spricht er von Militärmärschen, einziger Rhythmus, der übrig-
lutionen. —• Im Staat dröhnt e s v o n Tätigkeit: keine
bleibt. Freilich gibt es noch einen anderen immerwährenden Rhyth-
Träumereien, keine Beschaulichkeit, außer zugunsten des Wir, das
m u s : Harmonie soll unter allen Teilen des Staates, vor allem zwi-
sich, letzte Erinnerung an den Narziss, unablässig selbst bespiegeln
schen Exekutive und Legislative herrschen. V o n Venedig hat sich
darf. N e b e n der Vernunft erscheint eine andere Fähigkeit: Rousseau,
Rousseau, dessen süßeste Melodien vergessend, nur die Erinnerung
voll heftigen Mißtrauens gegen den Willen, den er in konzentrierter
an die Machtverteilung zwischen Großem und Kleinem Rat und an
Form seinen Feinden zuschrieb, hatte bisher in ihm
die Stufung der anderen Amtsstellen bewahrt. Vielleicht sollte das
das Fördermittel des Bösen g e s e h e n ; er galt ihm als Merkmal
Fehlen jeder anderen Musik dieses geheime Zusammenspiel noch
des Kulturmenschen;
vergrößern.
Willensregungen.
Rousseau errichtet den Staat auf dem reinen Denken. D i e von Des-
Wille
(volonte
beim Primitiven gibt es nur
flanierenden
überhaupt
unbestimmte
Im Staat aber wird er beständig als allgemeiner generale)
betätigt werden.
Wenn
das
Ich
mit
cartes bevorzugte Fähigkeit nimmt wieder eine beherrschende Stel-
diesem nicht übereinstimmt, soll es begreifen, daß es sich geirrt
lung ein, und der Lebenselan des Verstandes, der zugunsten des
habe
Gefühls gesunken war, gewinnt seine alte Kraft zurück, um höher
Der Zunahme dieser Fähigkeit entspricht eine A b n a h m e des all-
und
sich bedenkenlos
dem
Willen
des Wir
unterwerfen.
als je zu steigen, so hoch, wie man es noch nicht erlebt hatte.
gemeinen Gedächtnisses.
Descartes hatte darauf verzichtet, das Denken mit dem Staat oder
geben, die ihm für die Kontinuität und Fülle seines Ichs die kost-
der Kirche in Beziehung zu setzen, in der stillschweigenden, sehr
barste war.
ehrfürchtigen Annahme, daß diese beiden großen Wir es besäßen,
und möglichen Unterschiede des Gedächtnisses bei Königtum, Ari-
ohne daß man befugt sei, diesen Besitz näher zu prüfen; oder er
stokratie und Demokratie.
i Der Contrat, w i e er uns vorliegt, ist nur ein Torso. Daran anschließend war auch eine Utopie für die äußere Politik geplant, die Rousseau einer allgemeinen föderativen Verfassung zutreiben lassen wollte, in einer Harmonie, die seiner Auffassung einer milden Natur entsprochen hätte, die er für die innere Politik eher verleugnet hat: da war er hart und streng. — Merkwürdig die Voraussage im Contrat, 30 Jahre vor Napoleon, daß „aus der Insel Korsika etwas erscheinen würde, das Europa in Staunen versetzen werde." Von dort erwartete Rousseau s e i n e n großen Naturmenschen, doch wohl in d e m Sinne der Güte und Milde, Napoleon entsprach der anderen Natur. 70
Rousseau hat plötzlich die Gabe aufge-
Er studiert im Contrat nicht einmal die Abstufungen D a s wiederholte Abhalten von Ver-
sammlungen wird empfohlen, damit das Wir, das kein Erinnerungsvermögen besitzt, sich wiedererschaffe. Gute Politik soll neu sein von Moment zu Moment, womit der Begriff des Augenblicks aus dem cartesianischen Rationalismus wiederaufgenommen wird. Aber das von ihm verworfene Gedächtnis dringt wider seinen Willen von allen Seiten in seinen Traum eines Zukunftsstaates ein. Vor allem die Fülle der Erinnerungen an seine Geburtsstadt.
In der 71
Lettre ä d'Alembert und in seinen Lettres de la Montagne hatte er
Metastasio unaufhörlich zitiert
und der besonders seiner schmerz-
die profundeste Kenntnis der Geschichte seiner Vaterstadt an den
vollen Empfindsamkeit lag und sein Meister für alle Tränen gewesen
Tag gelegt. Im Contrat kommt diese nur ein einziges Mal beiläufig
war, in Betracht.
N u n galt es einen der großen lateinischen Pro-
v o r ; aber latent ist sie immer gegenwärtig. Unter ihr wird ihm das
saiker zu studieren: anstatt sich aber zur Ü b u n g einen Autor aus
V e n e d i g jener sechs Jahre, in denen er als Gesandtschaftssekretär die
der Zeit der Republik zu wählen, entschloß er sich, Tacitus zu über-
Maschinerie eines fremden Staates aus der N ä h e beobachtet hatte,
setzen, bei dem er die ihm jetjt notwendige Schärfe der Satire, die
zum Vorbild und Lehrmeister.
Kürze des Epigramms und den hochmütigen Imperativ fand.
Unter der Rokokooberfläche
von
Eins
Musik, Wollust, spielerischer Maske, die er selbst gern dort trug,
seiner vielen P a r a d o x e : Tacitus, der Späte und Imperiale wird
erriet er den naturfernen, einst mächtigen,
durch ihn Führer eines aufsteigenden Bürgertums, das sich an der
verständigsten er
zum
Staat.
antiken
Von
Rom
ersten Mal gesehen? nie stattgefunden.)
Venedig
und
streng-tugendhaften,
seiner
Lagune
taucht
politischen Macht versuchen sollte!
zum
Man sollte meinen, daß ein solcher Rousseau aus lauter Gehorsam
( D i e mit Diderot geplante Italienreise hat
gegen R o m Griechenland (mit Ausnahme Spartas) vergessen würde.
hinab.
Wo
und
wann
hat
er
es
In seinen Confessions hat er eine erste Er-
Da
das
1 8 . Jahrhundert
der Zeit des Hellenismus glich, hätte
griffenheit durch R o m beim Anblick des Pont du Gard beschrie-
er sich, als er in die Opposition ging, für immer von allem lösen
ben und in Anlehnung an die Herkulessage daran den heroischen
müssen, was Griechenland hieß. Er machte auch eine Anstrengung
Entschluß geknüpft,
in
gegen sein Jahrhundert den W e g
der Tu-
diesem
Sinn.
Aber
seine
Vergötterung
der
Seen,
Quellen,
seiner
Ströme, seine fiebernde Beweglichkeit, sein Gefallen an Sophismen,
Kindheit Plutarch durch seine Beispiele bürgerlich-heroischer Le-
alles führte ihn zu einem Athen zurück, das er fliehen wollte. Durch
gend
einzuschlagen, wie er auch behauptet, daß ihn in
bensläufe beeinflußt habe. Vielleicht ist diese Einwirkung römischer
Montaigne hatte er die Schulen der Epikureer und Skeptiker ken-
Erinnerungen von ihm a posteriori erfunden worden. D e n n durch
nen gelernt, die zusammen mit der Schule des Stoizismus, den er
seine mittelalterliche Vaterstadt war er weniger, als man es in
durch die römische Geschichte hindurch geahnt hatte, ihm die Ge-
aber
samtheit der nachplatonischen Schulen übermittelten. Seinen größten
Haupt und Führer einer neuen französischen Klasse geworden war,
griechischen Schatj aber hat er gerade im Augenblick gefunden, als
konnte es für ihn nichts Wichtigeres geben, als, gleichviel wie, Bin-
er fest entschlossen war, sich ausschließlich R o m zuzuwenden. Er
dungen an R o m ausfindig zu machen. Es galt, dem R o m des Adels
hat Piaton, den er in seinen Confessions unter den von ihm in
ein neues
Chambery
Frankreich
ist, in
der Latinität
gegenüberzustellen.
verwurzelt.
Es würde
Nachdem
nicht
mehr
er
das
des
augusteischen Imperiums sein noch das sehr kultivierte der cicero-
studierten
Philosophen
noch
nicht erwähnt,
ziemlich
spät entdeckt: seiner Lettre ä d A l e m b e r t hat er e i n Verzeichnis
nianischen Zeit, sondern urtümlich. W e n n die Verknüpfung gelang,
aller Platonstellen gegen die Theaterkunst beigefügt.
so war die Revolution im Sinne der heiligsten französischen Tradi-
er dann die verlorene Zeit wieder eingebracht, denn er kennt nicht
Offenbar hat
tion legitimiert.
Für die Gleichung zwischen dem R o m der bäuer-
nur die berühmten Dialoge, er zitiert auch den Kratylos in seinem
lichen Aristokratie und dem Bürgertum brauchten nur bestimmte
Essay über den Ursprung der Sprache und spricht vom Politikos in
gemeinsame Eigenschaften wie die Strenge, die Sparsamkeit, die
dem Kapitel des Contrat, das vom Königtum handelt. Vielleicht hat
Freude an harter Arbeit, die pünktliche Sorgfalt, die gravitas her-
er sich nach 1 7 4 9 mit keinem zweiten Philosophen so eingehend
vorgehoben zu werden. Rousseau hat das gewagte Spiel dieser An-
beschäftigt.
näherung mit vollem Erfolg getrieben. D a es dazu eines besonderen
was es an Idealität in der B e w e g u n g einer aufsteigenden
Stils bedurfte, kann nicht mehr Vergil, den er wie Tasso
gab, die sich noch nicht mit der praktischen Ausübung der Politik
72
und
Er hat nie die Ideenlehre ganz akzeptiert, aber alles, Klasse
73
befleckt hatte, erwachte in ihm. Ohne die Intervention Piatons hät-
wonnenen Einfachheit zugleich e i n lauschender junger Levit und ein
ten sich die von Rousseau gepflegten Gefühle in ihrer Beweglichkeit
antiker Priester, der sich von Bergeshöhe herab an ein künftiges
und in einzelnen Schauern verlieren k ö n n e n ; mit Hilfe
Piatons
Volk wendet. Im Contrat sieht er sich als einen ersten Gesetzgeber,
transzendierte er seine Freundschaften, seine unbeständigen, un-
einen Lykurg. W i e ein Patriarch erteilt er später Ratschläge an die
ruhigen Liebschaften und schuf aus ihnen die Freundschaft,
Polen, an die Korsen.
Liebe an sich.
die
Sein Naturbegriff wäre in tausend Bemerkungen
Auf seiner Flucht von Montmorency nach
Genf, nach der Verdammung des Emile durch alle offiziellen Mächte,
über die Ufer der Seen oder die Blumen oder bestimmte Züge aus
schreibt er trotj aller Angst und Pein über ein Motiv des Alten
dem Leben der Kinder oder der Primitiven zerbröckelt, wenn er
Testaments „Le Levite d'Ephraim" e i n homerisches E p o s ; er hat
nicht alle diese verschiedenen Manifestationen in der Idee der Natur
die Epoche gefunden, in die er gehört.
vereinheitlicht hätte.
W i e oft steckt er, als ein echter Platoniker,
Sturzes ( 5 . Reverie) erlebt er — holdere Auferstehung als 1 7 4 9 -—•
das Ziel so weit, daß er, der Wanderer und Läufer, die Verwirk-
eine Wiedergeburt, als er, durch einen rasenden Hund zu Boden
lichung des Ziels an einem utopischen Horizont nur ahnen k a n n !
geworfen, aus seiner Ohnmacht erwachend, über sich den hohen
In der Erzählung seines
Alle seine Freundschaften waren von dem Kummer begleitet, daß sie
Sternenhimmel, das Zeichen der ältesten Natur erblickt. W i e es den
nur ein schwacher Abglanz vollkommener Freundschaften wären.
größten Zauber der griechisch-römischen Antike bedeutet hatte, daß
Schon bevor seine Beziehungen zu Diderot, zu Madame d'Epinay,
sie sich selbst in Zeiten höchster Verfeinerung die Erinnerung an
zu Grimm oder H u m e getrübt waren, plagte er sie mit Klagen und
eine
Seufzern, daß sie nicht alles hielten, was er von ihnen erwartete, so
durch seine zunehmende Einfachheit, wenn sie auch oft komödian-
daß der Bruch, der unfehlbar eintrat, ihm eine gewisse Befriedi-
tisch sein mochte, den echt klassischen Stil gefunden. D i e Kürze
gung gab.
Seine Leidenschaft für Madame d'Houdetot war ein
seiner Sätje hat nicht mehr die gefährliche Eile Diderots, Voltaires;
Greifen nach einem Besitz, den er, nicht w i e er glaubte aus Tugend,
er reicht an Racine heran; sein Satj ist von einer Ordnung, einer
nicht zu verwirklichen trachtete, er war aus physisch-metaphysischen
Regelmäßigkeit
Gründen gezwungen, sich mit Eros, mit der Sehnsucht, zu begnügen,
wie man sie seit Esther und Athalie nicht mehr gekannt hatte.
wodurch er Piaton am nächsten kam.
Der gleiche Rousseau ist der Erfinder der Romantik gewesen.
Er hat Griechenland und R o m noch auf tiefere Weise
seinen Reveries gebraucht er gleich nacheinander die zwei Aus-
berührt.
ursprüngliche
Einfachheit
der Proportionen,
bewahrte,
einer
so
Klassik
hat
der
Rousseau
Konturen, In
Durch seine ständige Forderung, der Mensch solle primitiv sein, und
drücke: „ D i e Ufer des Bieler Sees sind romantischer
durch die Natur, die er täglich besuchte, wurde er ein einfacher
mantiques) und wilder als die des Genfer S e e s " und gleich darauf:
Mensch.
Der von seinen Leidenschaften, seiner
Empfindsamkeit,
„les romanesques rivages".
(plus ro-
W i e sehr Rousseau dem genre ro-
fand die
manesque, für das er seine Vorbildung durch eine wahllose Lektüre
zu Homer zurück.
von Romanen in seiner Kindheit erhalten hatte, zuneigte, sehen wir
Er erreichte dadurch genau die zweite Station in der Entwicklung
daran, daß er seinem auf Beobachtung aufgebauten Emile einen
seinem Ich, seinem Groll, seinen Sehnsüchten Gequälte antike Ruhe und
kehrte bis weit hinter Piaton
des Primitiven, die er in seinem Discours sur l'Inegalite beschreibt
phantastischen R o m a n hat anfügen wollen, von dem wir ein Fragment
und für die er eine besondere Vorliebe hatte: es ist der Augenblick,
besitjen: Emile wird von Piraten geraubt, und seine Sophie verirrt
wo der Mensch, ohne schon schuldig zu werden, seine unbewußte
sich in Wüsten, bis sich beide in Tempelruinen wiederfinden. Frei-
Unschuld verliert und zum Frühling beginnender Kultur erwacht;
lich hat bei ihm nicht wie bei Y o u n g und später bei Novalis die
er hält sich dann w i e in der Schwebe zwischen Gut und Böse. Im
Nacht ein Übergewicht. Er spricht in seinen Confessions nur zwei-
„Glaubensbekenntnis des V i k a r s " ist Rousseau infolge seiner neuge-
mal von ihr: eine Nacht, wo er als irrender Vagabund am Straßen-
74
75
rand einschläft und frierend v o m Liebesruf unzähliger Nachtigallen
kehrter Frühling, der nicht mehr vorwärtseilte wie bei der Schöp-
erwacht, und jene andere ebenfalls musikalische Zaubernacht, w o
fung seiner utopischen Bücher und der Zukunft entgegendrängte,
er in einer Loge der venezianischen Oper aus dem Schlummer er-
sondern seine Vergangenheit in neuer Vielheit wiedererblühen ließ.
wachend sich im Paradiese wähnt. Aber die Deutung der Nacht als
D i e Epoche vor 1 7 4 9 , die er in der Theorie so angegriffen u n d
A n b e g i n n der Welt und als Grab alles Bewußten hat er nicht vor-
verspottet hat, wird somit in den A u g e n dieses in seine Vergangen-
ausgeahnt. Auch hat er (im Gegensatz
heit
z
u
Descartes, dem Rationali-
zurückgedrängten
Avant-Gardisten
Gegenstand
der
größten
sten) uns nicht einen einzigen seiner Träume hinterlassen: er liebte
Sehnsucht. Mehr als je wird er zum Liebhaber seiner selbst, zum
nur das Träumen am hellen Tag, ohne die Transpositionen und
ewigen Narziß.
rätselhaften Vertiefungen
findet m a n auch Anlaß zu Gewissensbissen,
des echten Traums.
Er benutzte
seine
langen Zeiten der Schlaflosigkeit dazu, um e m s i g seine Perioden als
Doch, Schmerz ohne Ende, in der Vergangenheit die er, wie
später
Chateaubriand, wie Byron genießerisch übertreibt, damit sie sein
großer rationalistischer Ingenieur zu konstruieren, so daß ein auf-
Ich ausfüllen und noch vergrößern.
merksames A u g e hätte gewahren können, wie über der Hütte dieses
keit plädierend, macht er sich plötzlich davon frei und wandelt sie
Simili-Wilden Garben von Licht die Nacht zerstörten. Züge, die für
zu Ruhmestiteln. Alle diese Anstrengungen des Gedächtnisses sind
die künftige romantische Psychologie sehr charakteristisch sein soll-
freilich bei ihm alle nur auf seine private Vergangenheit gerichtet.
ten, fehlen bei i h m : so die Schwermut (dieser besondere Spezialist
Kein oder nur sehr geringes Interesse für die Geschichte. Der großen
des Frühlings hat nicht den Zauber des Herbstes begriffen)
Epoche der Romantiker, dem Mittelalter, steht er völlig gleichgültig
oder
D a n n , für seine Schuldlosig-
der Weltschmerz oder die Mischung v o n Wollust und Tod. Gewisse
gegenüber; nie hat er sich vor einer gotischen Kirche oder den ge-
romantische Züge scheinen bei ihm nur wie fröstelnde
Knospen
brochenen Fensterbogen venezianischer Paläste aufgehalten. Ebenso
eines Vorfrühlingstages angedeutet. Aber indem er den platonischen
war er immer ein Feind von Wundern und Riten. Eher begriff er
Eros schmerzlicher und wehleidig machte, ist er in der Entdeckung
schon den Sinn der M y t h e n : er bewundert die Hochzeit des D o g e n
der romantischen Sehnsucht sehr weit gekommen. Niemals besitjt
mit dem Meer, und als er von einem bestimmten Zeitpunkt ab um
er, bleibt immer unbefriedigt — selbst die so sehr geliebte Natur
seine Person einen Mythos entstehen sah, gab er sich dazu her.
erfüllt seine Seele nicht ganz; er braucht ein Jenseits: „Ich ersticke
So hätte Rousseau wie einst die Origines de l ' I n e g a l i t e
im Universum." Er ist immer über sein Ich gebeugt, das wie später
sprünge der Romantik beschreiben können. Es waren kühne An-
bei den Romantikern, zu etwas Gewaltigem, Monströsem wird, das
sähe bei ihm, noch ohne Zusammenhang, als tauche eine Reihe un-
das Gleichgewicht der Welt zerstört.
bekannter Inseln aus dem Meere auf.
D a die Gegenwart ihm nicht
1
die Ur-
Hätte er als Haupt des reali-
genügt, stürzt er sich bald (im Emile, im Contrat) auf die Zukunft,
stischen Bürgertums nicht auf so seltsame Neuerungen verzichten
bald wendet er sich, mit seiner Konzeption des primitiven Menschen
sollen? Aber wie immer die schöpferische Entwicklung
oder indem er den Blick auf R o m , auf Sparta richtet, der Vergan-
verschlungene W e g e geht, war das Bürgertum in einem Augenblick,
genheit zu.
seltsamst
N u r schwer wäre zu entscheiden, welche der beiden
da es dicht vor der Machtergreifung stand, bereit, romantisch zu
Richtungen er bevorzugte; ihr Reiz lag darin, daß sie ins Unend-
werden. Trot5 seiner ihm angeborenen Vorsicht sehnte es sich nach
liche führten und unerschöpflich schienen.
D a s Halbdämmer des
dem Unmöglichen und Unendlichen. Nicht Rousseau allein hat es
Gedächtnisses mit seinen in der Vergangenheit ruhenden Schätzen
dazu verführt; das Bürgertum kam seinen Winken entgegen. Revo-
hat ihn schließlich am meisten angezogen.
Während er an seinen
Memoiren arbeitete, wurde seine Vergangenheit von T a g zu T a g reicher wie die Natur nach einem Maigewitter; es war ein umge76
i Wie es ihm fortwährend darauf ankam, nicht nur bis zur Natur, sondern bis zu den Anfängen der Natur, also noch bis zur natura naturans zu dringen, so hat er auch einen Essay über Les Origines der Sprache geschrieben. 77
lution und Romantik werden im gleichen Augenblick geboren werden:
ließ Leidenschaften im N a m e n der Natur aus der Tiefe des Volks
die eine sucht ganz bestimmte Vorrechte, die andere liebt das V a g e .
aufflammen, die er im N a m e n der bürgerlichen T u g e n d bekämpfte,
D i e eine verlangt nach Arbeit und greifbaren wirtschaftlichen Resul-
so daß, reizvoll zu beobachten, sein R o m a n der Nouvelle Helo'ise im
taten (auch Rousseau verstand zu rechnen, zu sparen, mit seinen
Laufe der Handlung seinen Autor selbst überraschte, indem
Verlegern zu verhandeln, sich eine Rente zu verschaffen, die er durch
Heldin
seinen Dictionnaire d e M u s i q u e erreichte), die andere kennt nur Muße,
Plebejer und Naturmenschen hingibt, um in plötzlichem Umschlag
ätherische Leichtigkeit und Verachtung alles Materiellen. volution
sucht
die
Gegenwart;
gangenheit oder Zukunft.
die
Romantik
kennt
D i e Renur
Ver-
Diese beiden einander so fernen Lebens-
aus
aristokratischem
Hause
sich
erst
ihrer
Liebe
die zum
die von ihrem Vater gebotene Ehe einzugehen und eine tugendhafte Gattin zu werden.
Rousseau steht auf beiden Seiten, plädiert für
die eine Partei, doch ebenso für die Gegenpartei und für die Rück-
ströme haben ihren Ursprung im Ich desselben Menschen gehabt,
fälle in die Leidenschaft.
was den Schluß gestattet, daß zumindest zeitweise ihr Zusammen-
er sich als großer Sophist verteidigen,
fließen möglich ist.
Rokokokultur, einen R o m a n schreibe, er selbst verfängt sich in
D a jede echte Philosophie ein Chaos von Lebenselementen ist, so
seine allzukünstlichen Gewebe.
1
Im Vorwort zur Nouvelle Helo'ise mußte daß er, der Feind
der
D e m Wir des Contrat folgten die
würde derjenige, in dem sich diese Elemente begegnen, von dieser
icherfüllten Confessions, die Reveries und die botanischen Studien
Vielfalt zerrissen werden, wenn sie ihm deutlich zu Bewußtsein
mit einer Rückkehr zur mildesten Natur (höchstens bei den com-
käme. Rousseau hat nie gewußt, daß es nicht nur den einen Jean-
posita könnte m a n an ein soziales Zusammensein
Jacques
und
Gesprächspartner
wie
Er
seinen
war gleichermaßen für wie gegen die Natur. Er sagt: „ D i e guten so-
sein
Verfol-
zialen Einrichtungen sind die, die am weitesten den Menschen von
gungswahn hätte zugenommen, hätte er gesehen, wie alle diese Dop-
der Natur entfernen" (denaturer) „ u n d ihm seine absolute Existenz
g a b , sondern
Rousseau
denken).
in
Dialogues
seinen
zehn, zwanzig R o u s s e a u s ;
pelgänger seinen Spuren folgten.
D i e Memoiren eines Philosophen
nehmen und sie durch eine relative ersetzen." Man könnte bei einer
sind immer bedeutsam, weil sie uns die inneren Kämpfe zwischen
solchen widerspruchsvollen Vielfalt ihn als einen Ehrgeizbesessenen
den verschiedenen Themen zeigen, deren Träger er ist und die er
verurteilen, der voll Ressentiment gegen die Mächtigen der Zeit sich
unbewußt zu verweben sucht.
weit
bald ihnen unterwirft, bald gegen sie rebelliert und als Vorwand
mehr als eine Selbstverteidigung und ein Plädoyer für seine Tugend
den Aufstieg einer neuen Klasse gebraucht, oder m a n könnte in
oder seine
ihm den Artisten sehen, der über alles den Stil setjend nicht nur
Rousseaus Confessions sind
angeborene Unschuld;
seiner Lebensquellen.
Es
gab
sie zeigen
einen
uns die
Rousseau,
Vielzahl
der ein
treuer
seine Kinder, sondern auch die Einheit seines Ich geopfert hat,
bezaubernder S o h n des 1 8 . Jahrhunderts und ein Parasit dieser Gesellschaft war, es gab den deklassierten Bohemien, den Vagabunden, der er immer geblieben ist, auch noch als Haupt des Bürgertums. Es gibt einen instinkthaften, sensiblen, doch auch einen äußerst intelligenten Rousseau, dessen Denken so aggressiv ist, daß seine Dialektik erbarmungsloser als die Voltaires ist. Er dient dem alten Gott, dem Denken, den er um seines neuen Absoluten, des Gefühls willen, gestürzt hatte. Es gibt einen klassischen und einen romantischen Rousseau. Er war passiv w i e die Adligen der sterbenden Gesellschaft, aber auch aktiv wie die aufsteigende Klasse. Er 78
l Diesen Widerspruch zwischen d e m ersten und dem z w e i t e n Teil des Romans hat am besten Schinz in „La P e n s ö e de Rousseau" aufgedeckt. Rousseau hatte zuerst ganz imaginär Handlung, Charaktere und Gefühle ersonnen, doch während er schon an der Niederschrift war, überfiel ihn die Liebe zu Madame d'Houdetot, deren Geliebter einer seiner besten Freunde war, so daß er aus Tugend sich zum Verzicht aufraffen mußte. Doch w ä r e er der Versuchung unterlegen, w e n n nicht die beiden, sein Freund und die Geliebte, sich v o n sich aus von ihm distanziert hätten, so daß ihm nichts übrig blieb, als die Briefe über die Moral, die er privat für Madame d'Houdetot verfaßt hatte, in den Roman dann einzubauen: merkwürdigster Wettlauf zwischen Kunst und Leben, wobei, w i e so oft bei Romanen, nicht das Leben und die Natur, sondern die Kunst siegte. 79
BERGSON
oder auch einen Schwächling, der vor lauter leidvoller Sensibilität den verschiedensten Impulsen folgte, keinem Widerstand leistend. W o täuscht er und wo ist er w a h r ?
Richtungen kreuzen sich in
ihm wie die Blitje eines Nachtgewitters zur Zeit der TagNachtgleiche.
und
Ein einziges seiner Werke, der Discours sur l'InegaFrankreich
lite, enthält w i e im Zustand glühender Lava alle Absoluta, die er
um die
Jahrhundertwende
vorzuschlagen hatte: die Natur und den Staat, das Wir und das Ich, das bis zur Leidenschaft reichende Gefühl und die Tugend. (Ein
Das
Leben.
solches Werk mußte natürlich das besondere Wohlgefallen Diderots
Descartes
erregen, der hier die Vielfalt des eigenen Genies wiederfand.)
Selten erscheint es als philosophischer
gebraucht
das
Wort
weder
in
der
Begriff.
„Methode" noch
Ein
im „Monde", ja nicht einmal im Traktat „ D e s Passions". Rousseau
Philosoph m u ß aus all den einzelnen Strömen des Lebens, die in
bekümmert sich nur um die Natur; ohne Zweifel liebt er sie als
ihm konvergieren, ein logisch geschlossenes System errichten oder
den großen Behälter des Lebens, doch umfaßt seine Natur auch die
zu errichten scheinen. Zuviel des Reichtums!
Es gibt Epochen, die
Schichten der anorganischen Welt diesseits des Lebens.
Warum
zuviel an kostbarstem Altem u n d Neuaufkeimendem, erst der Zu-
begann es ein Jahrhundert später, sich der Philosophie als Basis
kunft Angehörendem in sich tragen. Descartes als echter Rationalist
aufzudrängen, die sich von ihm fast immer gleichgültig abgewandt
hatte es leichter, dem Pluralismus des Lebens eine Ordnung auf-
hatte, um die Ideen oder die A t o m e , das Denken (Descartes) oder
zuzwingen, insofern das Prinzip des Reduzierens ein Teil seiner
das Gefühl (Rousseau) zu erforschen?
Methode selbst war, während es für Rousseau und sein Gefühl fast
In der zweiten Hälfte des 1 9 . Jahrhunderts entstand die Biologie.
unmöglich wird, sich mit dem Kreis eines einzigen Systems zu be-
Einer neu entstehenden und sich fortentwickelnden
g n ü g e n ; um im Einklang mit der guten Natur
auch ihr gegenüber
pflegt sich alsbald, unwiderstehlich angezogen, die zeitgenössische
gütig zu sein, mußte er eine Reihe von einander folgenden Kreisen
philosophische Forschung zuzuwenden. So mußte die neue Biologie
schaffen.
bei Bergson die gleiche Rolle spielen wie bei Rousseau die neuen
So gewährte er den Vorstößen des schöpferischen Lebens jene Gleichheit, die er im Contrat für die Gesellschaft wünschte. Im Frühling läuft
die Natur durch allerholdeste Unordnung Gefahr,
Rausche reiner Schöpfung zu vergehen. diese gefährliche Verschwendung.
im
D a n n dämpft ein Brodem
Auch Rousseau hätte nicht allzu
schöpferisch sein wollen. Mehrfach wiederholt er, seine Vorschläge und Empfehlungen seien nur private Träume, U t o p i e n ; er wollte weniger schöpferisch sein als er in Wirklichkeit w a r ; halb aus gespielter Bescheidenheit und Vorsicht, um nicht zu sehr die gegnerischen Mächte zu reizen, halb aus Angst hüllte auch er sich in frühlingshaften Brodem.
Wissenschaft
Kenntnisse primitiver Völker, die die Reisenden des 1 8 . Jahrhunderts mitgebracht hatten, oder die analytische Geometrie bei Descartes oder die Infinitesimalrechnung
bei Leibniz, nur mit dem
Unterschiede, daß die beiden letzteren sich parallel mit ihrer Philosophie die Wissenschaft selbst schufen, die ihr als Nahrung dienen sollte, während Rousseau und Bergson nur passiv die ihnen dargebotenen Resultate rezipierten.
Daß
es sich aber auch bei
Bergson um eine persönliche Erfahrung handelt, spürt man an dem unermüdlichen Eifer, mit dem er wie eine Beschwörung das Wort Leben wiederholt, an der Aufmerksamkeit, die er der geringsten seiner Erscheinungen widmet, an der verehrenden Neugier, mit der er sich ihm nähert und alle seine Besonderheiten entdeckt. In hymnis et canticis ist es sein tiefster Glaube wie bei Rousseau die Natur oder wie das Denken bei Descartes. 6 LION
gl
U m eine so kategorische Liebe zum Leben zu haben, m u ß man es in seiner ganzen Fülle um sich spüren, es quellen fühlen wie den Saft der Frucht, wenn volle Reife ihre Schale sprengt.
Andere
Möglichkeit: das Leben verarmt, fließt nur noch träge. D i e Dekadenten wünschen und fürchten zugleich sein Schwinden, sein Erlöschen.
In der Hellsichtigkeit des nahen Endes weigern sie sich,
über alle Zwischendinge zu reflektieren.
D a s ist der auserwählte
Augenblick, da das Leben selbst, im Begriffe zu verschwinden, eine Deutlichkeit annimmt, die dem Betrachter ins A u g e springt.
Die
vitalistische Philosophie ist die Philosophie der Dekadenten, die weder von der Substanz und dem Sein mehr geplagt werden, die sie nicht mehr in sich selber spüren und also auch nicht mehr hypostasieren können, noch von der Form oder den Ideen.
Für sie
handelt es sich um eine andere, dringlichere S o r g e : es gibt das Leben, ich fühle es allmählich in mir verebben, ohne Zweifel hat es auch Flutzeit, Hochflut.
Doch mir bleibt in diesem Augenblick, da
ich von ihm scheide, Haß gegen dieses Leben und — auch Liebe, die ich noch zu ihm hege. Dadurch gewinnt es eine Weite, die es vorher noch nicht besessen hatte. Es ist ein das Leben transzendierendes Leben. Barres sagt in seinem Jardin de Berenice: ,,Es wird zum Schlüssel, Möglichkeit:
zum Mittelpunkt jeder Metaphysik".
m a n kann aus Schwäche, infolge von
oder anderer unglücklicher
Und
dritte
Demütigung
Umstände sehr tief, fast ad
inferos
hinabsinken, einen Blick in den Abgrund werfen und im Geiste den Vorgeschmack des Todes kosten. Ein Volk kann aber auch noch Lebensreserven in sich h a b e n : es besitzt verborgene Kräfte;
aus
seiner müde gewordenen Landschaft entspringen noch Quellen der Ermutigung; bestimmte Gesellschaftsklassen haben sich noch nicht in Ausübung der Macht verbraucht; so manche Elite ist noch bereit, neue Möglichkeiten zur Mehrung des Lebens zu entdecken. kreuzen sich die W e g e des A b - und des Aufstiegs.
Dann
Ein jeder wird
zum auferstandenen Lazarus. W e n n er sein Leichentuch auseinanderschlägt und emporsteigt, wird er mit holder Scheu aufs neue lernen, was der Tag, die Morgenröte, die Schwäne, der Sang der Vögel, alle Blumen und Quellen bedeuten.
Er wird sein wie ein
Blinder, der wieder sehend wird. Er wird sich auch wieder eine 82
Sprache machen müssen und versuchen, jedem Wort eine seinem ursprünglichen Gebrauch ähnliche Bedeutung zu geben. Alle Erdennahrung wird köstlich sein für diesen Primitiven
(nur er kann
Anspruch darauf erheben, den Naturmenschen, den Rousseau suchte, zu verkörpern), der so kindlich-einfältig und zugleich am wissendsten ist, da er die Erfahrung des höchsten Alters hinter sich hat. Er allein kennt den ganzen Preis eines verlorenen, dann wiedergewonnenen Lebens. Noch ist dieser Besitz nicht sicher. Sicherheit würde dazu verführen, anderen Werten nachzujagen, während gerade das Schwanken zwischen diesem wiedergefundenen Gut und seinem jeden Augenblick noch wahrscheinlichen Verlust dazu zwingt, ständig wachsam zu hüten und leidenschaftlich zu lieben, was so leicht wieder verloren werden kann. Dies war in Frankreich gegen 1 8 9 0 am äußersten Rande seiner Entwicklung der Stand des Lebens. Literatur, Malerei und Sprache durften nicht verfehlen, sich zu seinen treuen Interpreten zu machen. Dies war auch der Augenblick, da der kühne Neuerergeist eines Philosophen nicht zur Entdeckung der Ideen oder der Substanz, sondern einzig und allein des Lebens berufen sein konnte, das nach dieser letzten Erfahrung als aller D i n g e Basis und Fundament erschien, als Voraussetzung jeglicher Existenz, so daß alles, w a s durch andere Philosophien Vorrang erhalten hatte, nichts weiter war als etwas daraus Abgeleitetes, dessen Wert sich nach der Hilfe bemessen würde, die es dem Leben leistete. Die
Materie.
Man war ihrer überdrüssig geworden. Fünfzig
Jahre lang hatte eine erst realistische, dann naturalistische Literatur willfährig die Macht der Materie, ihr Maß und Gewicht beschrieben; der geringste Gegenstand, die Möbel, ein Gewand, ein Haus wurden bedeutsam durch ihre Materialität. Auch das Geld gehörte zu diesen zahllosen festen Körpern.
Uberall, wo Körper und Geist ge-
mischt waren, vertrat man leidenschaftlich den Vorrang des Körpers. man
Alle seine möglichen Schönheiten und Häßlichkeiten hatte ausgeschöpft.
Konnte
dieser
Haufen
Materie
jemals
Sprungbrett werden, das Leben wiederzugewinnen, das zu oder abzunehmen schien?
zum fliehen
Eine äußere Bürde drohte den Aufstieg
zu ihm zu verwehren. 83
D a trat ein Umschwung ein. Man ging vielleicht weiter, als es vom rein vitalen Gesichtspunkt aus nötig gewesen wäre. Nicht die ganze Gesellschaft war so kühn, die Materie zu verwerfen. D a s Bürgertum, damals noch die herrschende Klasse, blieb ihr treu; die Städte bewahrten ihr Gepräge majestätischer Dichte, und auf dem Lande wandelte sich der lateinische Wirklichkeitssinn des Bauern g e w i ß nicht.
Doch neigte eine Elite, die am stärksten die Schrecken des
möglichen Todes erfahren hatte, dazu, das Gewicht der materiellen D i n g e eher als Gefahr denn als Wohltat zu empfinden. die
von
stigung.
der
neuen
symbolistischen
Schule
Daher
überspi^te
Vergei-
W e n n aber die Dichter, denen jedwede Utopie gestattet
ist, schließlich gar die Existenz der antiken Hyle leugneten und ihr
französische Werden in dieser Richtung bewegt! D i e von der Bergsonschen Philosophie dem Verstand zudiktierte Rolle wb r unendlich neuer.
Er
wurde
verachtet,
deklassiert,
herabgezogen,
aufge-
geben, er, der die ganze Geschichte hindurch gleichsam die Essenz des französischen Lebens gewesen war.
D i e hohe Stellung,
Descartes ihm angewiesen hatte, war nur die Bestätigung
die eines
langsam entstandenen realen Tatbestandes. Mit der Fülle, die die ratio in jenem Augenblick erreicht hatte, verdiente sie göttlichen Rang. Im 1 8 . Jahrhundert erfuhr ihre Macht eine
Erweiterung,
verbreitete sie sich auf alle D i n g e . D a n n sank in den Wirren der vulkanischen Revolutionsjahre der Verstand. Nur N a p o l e o n entlieh ihm den Herrscherblick, um allem seine Ordnung wiederzugeben.
nicht die geringste Beachtung mehr schenken wollten, so durfte doch
W a s war geschehen, daß man um 1 8 8 9 dem Verstand eine Stellung
der Philosoph so weit nicht gehen. Für Bergson bestand die Materie
anweisen konnte, noch weit unter der, die ihm die Romantik zuge-
fort.
wiesen hatte? Auf alle Fälle war dies nicht die persönliche Tat eines
Zwischen ihr und dem Leben herrscht für ihn ewiger Kampf.
Seit Erschaffung der Welt spielt das Drama des Lebens zwischen
Philosophen.
diesen beiden Gegnern. Wer wird obsiegen? Bergson läßt darüber
diates de la Conscience und Le Jardin de Berenice, dessen Heldin,
Im gleichen Jahre erschienen Les D o n n e e s
imme-
keinen Zweifel: in jedem Stadium ihrer Entwicklung m u ß die Ma-
durch ihren N a m e n mit der Racineschen Gestalt verknüpft,
terie weiter zurückweichen, bis sie zuletjt völlig von dem triumphie-
gleiche Zartheit und Sensibilität wie jene besitjt; die neue Berenice
die
renden Leben aufgesogen sein wird. Wir erraten, kennen schon im
aber war nahezu ohne Verstand; sie erseht ihn durch die Ahnungen
voraus diesen S i e g ; unsere ganze Aufgabe besteht darin, an ihm
ihres Instinkts, umgeben von ihren instinkthaften Tieren, in einer
teilzunehmen oder sein K o m m e n mit all unseren Kräften zu be-
halbdunklen, v o n den Reflexen und Dünsten der Auflösung erfüll-
schleunigen.
ten Sumpflandschaft.
Träte das Gegenteil ein, so wären wir zu einer Tragödie geladen. In seinem ganzen Werk hat der Philosoph nie den Versuch gemacht, das Tragische zu erklären. In seiner fragmentarischen Ästhe1
tik hat er nur dem Lachen eine Untersuchung gewidmet: wir lachen über alles, was erstarrt, und wenn wir es auch dadurch noch, nicht vernichten, so bedeutet es doch eine Entlastung, eine Befreiung, die unseren zukünftigen Sieg über die Materie ankündigt und als sicher vorausnimmt und vorbereitet. Der Verstand.
D i e negative Einstellung zur Materie war in
Frankreich keineswegs etwas Neues. W i e oft hatte sich das ganze i Merkwürdig, daß Bergson nicht seinen Begriff der Dauer auf eine neue Auffassung der Geschichte angewandt und an eine Philosophie der Geschichte gedacht hat. Ebenso erstaunlich, daß er auf das Verhältnis der Dauer zum Epos oder zur Lyrik nie zu sprechen kommt.
84
„Tiefe des Unbewußten", sagt Barres, „darin
alles künftige Leben sich braut." „ K a u m durchdringt das Licht des Verstandes einen leichten Saum jener Masse, die ich b i n . " U n d nicht nur Barres, die ganze symbolistische Schule hatte diese Uberzeugung, die über diese Schule hinaus sich nicht nur auf den kleinen Kreis einer Elite beschränkte.
Auf der einen Seite war die
Qualität des Verstandes seit der dritten Republik unter der Herrschaft der neuen Schichten, wie Gambetta sie bezeichnet hatte, im Sinken begriffen: dieses Kleinbürgertum besaß zwar noch Klugheit, Scharfblick, Urteilskraft, erreichte aber darin nicht den Hochstand der Aristokratie des 1 7 . und 1 8 . Jahrhunderts oder des Großbürgertums von 1 8 3 0 ; m a n befand sich vor einer Verarmung. W i e um diese A b n a h m e auszugleichen, brachte der Volksgeist eine Zunahme in einer ganz anderen Sphäre zuwege. Mit der Niederlage von 1 8 7 0 85
hatte m a n die tiefste Demütigung, die Preisgabe jeder Hoffnung
sich meines Erachtens verlassen k a n n ; der andere wohnt in uns,
erlebt. Der Sieg ist dem Licht verschwistert und mit dem Verstände
insofern wir tierisch sind." Zwischen diesen beiden Intuitionen ent-
verbunden, der ebenfalls zu herrschen weiß. N u n versank man in
scheidet sich Bergson für den animalischen Instinkt, der durch un-
das entgegengesetzte Element, in Nacht. Diese Erfahrung des mög-
mittelbare Berührung mit dem Leben dessen heimlichste Absichten
lichen Todes, dann das langsame Sichemporschaffen zu einem ge-
errät. Bei seiner Rückkehr zur Natur steigt er nicht wie Rousseau
brechlichen, zögernden, ängstlichen Leben, das jeden
Augenblick
zu den Seen hinab, um unser Herz dem Wellenschlage anzugleichen,
wieder verloren gehen konnte, dieses Kreisen um den A b - und den
noch zu den Blumen und ihrer stillen Übereinstimmung mit den
Aufstieg ist dem Verstand durchaus fremd, der solches H i n u n d Her nicht duldet und fest auf der gleichen hohen Ebene verbleibt. 1 8 8 9 wußte jedermann, daß Rettung lediglich von einer gesteigerten Sensibilität zu erwarten sei. Selbst wenn der Verstand die hohe Qualität v o n einst gehabt hätte, hätte er in dieser Krise nicht ausgereicht.
Sternen. Er schlägt uns vor, zum Leben der Insekten zurückzukehren. D i e Wissenschaft eines Zeitgenossen, des Entomologen Fabre, bot ihm Beispiele für die Konnivenz, mit der wir vermöge des Instinks in den Strom des Lebens tauchen. V o n Rousseau unterscheidet sich Bergson insofern, als er sich nicht scheut, die Grausamkeit mancher Instinkthandlungen
aufzuzeigen,
für die er aber
einen
So neigte m a n sich dann gänzlich mit dem Hang zur Übertreibung,
Ausgleich in den Augenblicken inniger Annäherung und gegenseiti-
der sich immer einstellt, wenn m a n eine lang gehegte
gen Verstehens findet, wodurch es im Endeffekt möglich wird, wie
Hoffnung
aufgibt, zur anderen Seite.
Frankreich war zu verständig und zu
wenig instinkthaft gewesen.
Es wird also aus Selbstliebe, die ihm
Rousseau an die Güte der Natur zu glauben. Im Kampf zwischen Leben und Materie macht der Verstand ge-
diese W a n d l u n g diktiert, eine Korrektur an sich vornehmen. „Wir
meinsame Sache mit dieser.
werden es wenigstens versuchen.
tetste Gewebe seiner Philosophie.
W i r werden sehen, ob wir durch
D i e s war das kühnste, das unerwarAlles, was der Verstand berührt,
den Instinkt zur gleichen Überlegenheit kommen können, wie einst
womit er sich befaßt, erstarrt, erhärtet, materialisiert sich. Er will
durch den Verstand.
und kann nur das Feste begreifen.
Vielleicht können wir in jenem uns an sich
so fremd anmutenden Bezirk noch einmal Meister sein.
So erlangt der Verstand eine
Nach der
Herrschaft, aber nur in dem sehr engen Ausschnitt eines vermin-
Niederlage von 1 8 1 4 hatten wir manches von der Romantik gelernt.
derten Lebens, während man mit dem Instinkt das ganze Leben
N u n aber, nachdem wir noch mehr gelitten und an den Nachtseiten
berührt und küßt.
des Lebens teilgehabt haben, werden wir weiter-, werden wir diese
Die
Lehre ganz erproben.
W i r werden u n s übermäßig auf den In-
nen war, nachdem man es fast verloren hatte, hatte sich eben da-
Beweglichkeit.
D a s Leben, das soeben wiedergewon-
stinkt verlassen. Bis jetjt hatte man ihn Wille genannt — im Jardin
durch als ständig von Ebbe und Flut beherrscht offenbart. Es ließ
de Berenice wird er Petite Secousse, Leises Erbeben heißen, was
sich nur noch unter diesem Aspekt ewigen W o g e n s begreifen. Man
das gleiche ist, nur aufgelöst in eine Garbe köstlichholder Momente.
hatte während des ganzen 1 9 . Jahrhunderts ein Auf und A b von
Berenice wird man einen Monsieur de Transes („Herr v o n B a n g e n " )
Erfolgen und Mißerfolgen erlebt, hatte Lebensmaxima und -minima
zum Geliebten geben, um anzudeuten, wie sehr das Leben mit leid-
erreicht, hielt dies heftige Oszillieren mit jeder Art Leben für ver-
vollem Bangen verbunden ist. Für Schopenhauer war der Verstand
bunden. Man m u ß es entweder ganz und gar ablehnen oder dieses
nur ein Untergebener des Lebens — wir werden noch weitergehen."
ewige Werden bejahen und lieben. Würde man es transzendieren,
Descartes hatte „zwei Arten von Instinkt" unterschieden (Briefe an
um ein Sein zu erreichen, so würde man das Gegenteil des Lebens,
Mersenne 1 6 3 9 ) : „ D e n einen, rein intellektuellen besit}en wir, in-
den T o d erreichen.
sofern wir Menschen sind, das ist der intuitus mentis, auf den man
beweglichkeit.
86
Sie
D i e Materie erhielt den Charakter der Unwar dem
Sein näher als das Leben.
Alles 87
Feste und Starre ist diesem feindlich und gehört zum Gegenreich.
Lebens ist. Flaubert freilich sehnt sich nach dem Unbeweglichen, an
So sollte also dieses Werden, das m a n so oft gefürchtet und ge-
das er sich leidenschaftlich klammert und das er in der starren
schmäht hatte, als göttlicher Wert angesehen werden. D a s Absolute
Schönheit einer idealen Form entdeckt. Andere wie die Goncourts
ist die ständige Bewegung.
und die impressionistischen Maler überließen sich bedenkenlos ent-
Es scheint, als habe Frankreich eine Vorliebe für die Beweglichkeit.
zückt der neuen Gebrechlichkeit. D i e Republik erbte sie vom Kaiser-
U n d doch hat es Augenblicke gehabt, in denen es auch in der Un-
reich und ließ sie noch anwachsen. D i e im Laufe des Jahrhunderts
beweglichkeit einen notwendigen Wert gesehen hat. Wenn Descartes
erlangte Beweglichkeit übte sich, sei es, indem sie mit den Nerven
so leidenschaftlich dem Sein in seinem Ergo sum nachforschte, so
spielte und die Schauer der Epidermis g e n o ß , sei es, indem sie auf
geschah es, weil man gerade die Zeit der Religionskriege erlebt
Lichtfluten dahinglitt, die die Dinge in jeder Sekunde verwandelten.
hatte; diesem U b e r m a ß des Werdens stellte der Philosoph seinen
Parallel dazu hatte der Verstand, der ständige Mitarbeiter der Ma-
theoretischen Imperativ des Stillstands des Seins entgegen, in Ein-
terie, dieses ganze Jahrhundert hindurch Maschinen mit wachsender
klang mit dem Leben, das damals ein Bedürfnis nach Ruhe emp-
Geschwindigkeit erfunden, die den Rhythmus des modernen Lebens
fand.
bestimmte.
Bald sollte es unter Ludwig X I V . ein Hochplateau unver-
änderlichen Daseins geben.
Starke feste Schichtung hat bis zum
Ende des Ancien R e g i m e zur politischen Geologie gehört. Ein neuer
Doch
darf
diese scheinbare
Beweglichkeit
nicht
mit
wirklichem Werden verwechselt werden. Maschinen erzeugen nach Bergson nur das Unbewegliche.
Seltsame
Philosophie
inmitten
Rhythmus begann mit der Revolution. D a n n kam wohl die kurze
einer Welt, die an den Nu^en der Technik glaubte. W e n n sie als
Sicherheit eines sehr römischen Cäsarismus, doch mit soviel Wand-
modern galt, so geschah es einem Quiproquo zufolge, das die Be-
lungen, soviel Unvorhergesehenem, Sprunghaftem; selbst die Gestalt
weglichkeit, wie Bergson sie verstand, mit jener anderen verwech-
Napoleons besaß unter der Cäsarenmaske
selte, die er verachtete.
Dann gab
es die Herrschaft
eines
größte
Beweglichkeit.
sehr verständigen
und
nur
Die
Freiheit.
Oft mischt sich die Kausalität auf
seltsame
nach Ruhe verlangenden Bürgertums, aber begleitet von der Ent-
Weise mit der Freiheit. So machte sich die italienische Renaissance
stehung vieler neuer Wirtschaftsformen
unaufhörlichen
von allen bindenden D o g m e n und Riten frei; andererseits hat sie
Unruhe des Kapitalismus: Balzac bewegte sich wie ein Rasender
und der
Politik und Physik dem Prinzip der Verkettung von Ursachen und
in dieser glühenden L a v a ; nie vermochte er innezuhalten und eine
Wirkungen unterworfen: eine Mischung, die besonders reizvoll bei
friedliche Stunde zu genießen, antirevolutionär dem Ancien R e g i m e
Leonardo, bei Macchiavell erscheint.
nachtrauernd aus Sehnsucht nach einem ruhigen Augenblick und
taigne der Notwendigkeit auf den anmutigen Schlupfwegen seines
doch heraklitisch wider Willen, so mischte er Beweglichkeit und
Skeptizismus zu entrinnen, während Descartes die Kausalität zu
In Frankreich verstand Mon-
Unbeweglichkeit. D a s Zweite Kaiserreich hatte von Anbeginn an in
einem Pfeiler seiner Ordnung machte. Voltaire ging in beiden Rich-
der Unsicherheit seiner Existenz etwas Ephemeres, Hasardhaftes. Zum
tungen bis zum Extrem: größte Freiheit des Denkens verwoben mit
Bilde dieser Politik gehört ein lebhaftes Gefühl von noch nicht dage-
einer Kausalität, die alle Wesen zu von sehr sichtbaren Fäden ge-
wesener Wandelbarkeit, der die nervöse Ungeduld von Rennpferden
lenkten Marionetten machte. W e n n die große Revolution politische
und die schwebenden Ü b u n g e n der Tänzerinnen von D e g a s entspre-
und wirtschaftliche Freiheiten schenkte, so schloß das nicht aus,
chen. Man kann sich am besten einen Begriff von diesem neuen Leben
daß das 1 9 . Jahrhundert die Maschen des dem Leben übergewor-
machen, wenn man die Dichte der Madame Bovary, deren Konzeption
fenen Kausalne^es dichter zog, weil es sich nichts mehr davon ent-
noch in die Zeit Louis-Philippes fiel, mit dem Stil der Education Sen-
schlüpfen lassen wollte.
timentale vergleicht, deren Hauptthema die ewige Beweglichkeit des
gime so e n g mit soziologischen oder wirtschaftlichen Wandlungen
88
V o n 1 7 8 9 an war jedes französische Re-
89
verknüpft, mochte.
daß ihre Geschichte der Kausalität als Stütje dienen
Schließlich überboten sich in Übereinstimmung mit dem
fenden Fluß, der dem Werden entspricht, das hiermit selbst zum Absoluten erhoben wird.
Schauspiel des Zweiten Kaiserreichs, das die Kurve des Niedergangs
So sehr war Bergson von seiner Entdeckung überzeugt, daß er jede
mit der peinlichen Genauigkeit einer kausalen Fatalität
durchlief,
der vorhergehenden Philosophien danach wertete, o b u n d inwie-
Frankreich
weit sie in der Einsicht der Dauer vorgedrungen sei oder nicht. Er
noch die Kunst Flauberts, die Wissenschaft T a i n e s :
hebt i m Widerspruch zu seiner Theorie diese philosophische Er-
führte die Welt einer immer größeren Kausalität entgegen. Aber die empfindlichen, so leicht erschütterten Gemüter von 1 8 8 9
kenntnis aus dem Werdensstrom
errieten, in welchem Maß das drängende Leben die Erwartungen
heraklitischen
übertrifft und für Überraschungen sorgt. Der erstaunliche Reichtum
dem er die Dauer aus der allgemeinen Wandelbarkeit ausschließt,
der Spontaneität kam ihnen zu Bewußtsein. V o n allen Freiheiten,
also
die das Jahrhundert gebracht hatte, war diese Befreiung von der
für sein Cogito, Rousseau für das Gefühl postuliert.
für
sie
heraus
und macht bei
seiner
Deutung aller D i n g e eine einzige Ausnahme, inein
gleichmäßiges,
ewiges
Dasein
wie
Descartes Er täuscht
Kausalität die größte, und sie vollzog sich auf dem W e g e der Anti-
sich dabei. Auch sie hat im Laufe der schöpferischen
these, eben weil die Kausalität so weit getrieben worden war. Hatte
lung sowohl in der Natur wie in der Geschichte objektiv ein Auf
Entwick-
man nicht soeben in der eigenen Seele erfahren, daß das Leben ohne
und A b . Es hat Epochen gegeben, wo sie kaum noch bestand,
physische
Im
wie in Athen, das den Kairos, den flüchtigsten Augenblick als Er-
Moment, wo es nach allen Voraussetzungen der Kausalität hätte
lebnis hatte, während die Gegenpolis Sparta aufs engste mit ihr
oder psychische Ursachen
wiedererstehen
könne?
versiegen müssen, sprudelte es aufs neue, — ein Wunder, und wenn
verschwistert war und alles daran setzte, sie bei sich und im Reflex
es Ein solches Wunder g a b , würde es immer wieder Wunder geben.
auch bei den anderen zu erzeugen.
Nun wurden Tote wiedergeboren, und sie waren es, die im Glauben
sicheren Abfolge der Cäsaren eine Schöpfung des römischen Im-
an das, w a s sie in sich selbst gefühlt hatten, das Ende der Kausali-
periums; wir sehen noch ihr Abbild, also in Bergsonschem Sinn
1
Ebenso war sie trotz der un-
tät verkündeten. Es konnte eine Wirkung geben, die nicht an eine
das göttliche Angesicht, in den römischen Aquädukten, i n der V i a
Ursache geschweißt war. D a s Leben, das in den Seelen eine Wieder-
Appia und den anderen Straßen, in den Triumphbogen, in der
geburt erfuhr, war Künder und Vorläufer eines allgemeinen Kei-
west-östlichen Synthese des Pantheon.
m e n s : die Natur hat immer die Möglichkeit, wieder natura na-
hat die Kirche alles auf das Erzeugen der Dauer gesetzt, die, wie
Als getreue Erbin von R o m
turans zu werden.
in einer geheimsten cella verborgen, die Gottheit ist, der sie am
Die
Bergson betrachtet die Zeit als eine Form unseres
meisten huldigt und die sie in einem solchen Grad verwirklicht hat,
Verstandes, als P h a e n o m e n o n . Soweit ist er ein getreuer Kantianer
daß Bergson zuletzt zu ihr zurückgekehrt ist, wohl angezogen von
und Erbe der langen Reihe der französischen Spiritualisten
der wunderbaren Dauer, die er in ihr verkörpert
Dauer.
des
finden
konnte.
D a n n geschieht bei ihm eine W e n d u n g
Dennoch hat keine der vorhergehenden Epochen sie unmittelbar
mit dem Ruf eines Heureka wie dem von Descartes in der Nacht,
zum R a n g des Absoluten erhoben wie Frankreich auf dem Stand
wo er das Cogito fand: unter der uns vom trügerisch nur auf das
seiner Entwicklung v o n 1 8 8 9 .
neunzehnten Jahrhunderts.
Pragmatische gerichteten Verstand
gegebenen Zeit gibt e s
eine
Das
Gedächtnis.
Für Bergson ist das Gedächtnis der aus-
andere. D i e Dauer ist für Bergson das D i n g an sich. Sie ist nicht
erwählte Teil des Ichs, den man nicht genug pflegen kann, und der
mit dem R a u m verkoppelt, der auch eine v o m Verstand geschaffene
bei ihm dieselbe Bedeutung gewinnt wie bei Descartes das Denken,
Form ist, und besteht nicht aus räumlich aneinandergereihten Einzelmomenten, sondern hat einen kontinuierlichen, 90
ineinandergrei-
l Ahnliche simultane Produktion von Kairos und Dauer hier in Florenz, dort in Venedig. 91
bei Rousseau das Gefühl. Mit ihm verglichen verschwinden in seinen A u g e n alle anderen Möglichkeiten oder sind zweiten Ranges. Welchen Schaf} besaßen wir, ohne bisher davon gewußt zu haben! Ein Schat;, der besonders gut verborgen war, weil auf das echte Gedächtnis ein anderes aufgepfropft ist wie die Zeit auf die wirkliche Dauer.
Es gilt, es in seiner ursprünglichen Reinheit wiederherzu-
stellen, um in den Reichtum
des ganzen Lebens eintauchen
zu
können. Hat Bergson theoretisch die für die philosophische Verbindung mit der Dauer zugänglichste menschliche Fähigkeit willkürlich ausgewählt und dann künstlich vergrößert oder war es nicht vielmehr so, daß in jenem Augenblick, wo seine Philosophie ans Licht trat, das Gedächtnis in Frankreich eine Kraft besaß, die es vorher nicht gehabt hatte? Ein solches Gedächtnis kann sich als äußerster Saum der Entwicklung nur am geschichtlichen Abend eines Volkes herausbilden. Solange es jung ist, könnte es nicht ein Ganzes von Erinnerungen großen Stils schaffen. Descartes hätte dem Gedächtnis nicht diese metaphysische Rolle anweisen können, aus dem sehr einfachen Grunde, weil es für ihn keine zwingende persönliche Erfahrung war, die ihn völlig ausfüllte und beschäftigte und ihm Tag und Nacht, bis er sich ihr völlig überließe, keine Ruhe gelassen hätte. Es war objektiv weder in ihm noch um ihn so stark, daß es sein Verlangen, alles nur auf das im Augenblick geborene Denken abzustellen, gezügelt hätte.
D i e Epoche Ludwigs X I V .
setzt
sich aus
verschiedenen Elementen zusammen: teils lebten K ö n i g und Hof als gute Cartesianer nur im Augenblick und schöpften ihren Mut und ihre Kraft aus der Nichtbezugnahme auf die ganze Vergangenheit, teils mühte m a n sich um Genealogien oder wollte sich dem imperialen R o m angleichen. Im 1 8 . Jahrhundert tritt dieser Doppelcharakter noch stärker hervor: auf der einen Seite ein Verstand, der über die ganze Vergangenheit triumphiert:
dadurch erhält Voltaire
seine
souveräne Leichtigkeit; gleichzeitig aber war man voller Geschichte, also ohne es zu wissen, voller D a u e r : die Monarchie war so alt! In der Zeit der Revolution erscheint das Bürgertum zunächst jung und ohne Gedächtnis; bald aber übertrifft es an Reife fast
die Aristo-
kratie. Während des Zweiten Kaiserreichs war Frankreich noch älter 92
als während der Restauration.
Würde die junge Republik nicht
fern von solch vergangenheitstrunkenen Betrachtern sein? D i e Liebhaber der hohen Schule des Gedächtnisses mußten sich voll Verachtung von diesem Staat abwenden. Dennoch reihte auch er sich schon der Abfolge der einander ablösenden Regimes des französischen 1 9 . Jahrhunderts an. Wenn Frankreich um 1 8 8 9 seine Geschichte durch die Große Revolution in zwei Teile gespalten sah, so war der neue Teil bereits lang genug, um selber schon wieder Dauer zu verkörpern.
Man konnte ihn dem ancien regime gegen-
über in die Waagschale legen, beide Schalen würden das gleiche Gewicht tragen.
Es bedarf einer langen Dauer, schließlich einer
letzten Schicht des Leidens und der Verpflichtung zur Untätigkeit, um ein vollkommenes Gedächtnis entstehen zu lassen. W i e in Mosaiken die zum Handeln geschaffenen Hände und Füße übermäßig klein und die schauenden A u g e n übergroß erscheinen, so wird m a n zugunsten der einen Fähigkeit alle anderen verkümmern lassen. D a s Bedürfnis, es zum Hauptorgan des Menschen zu machen, findet sich in Bergsons erstem Buch, den D o n n e e s Immediates, noch nicht angedeutet.
Der Leser dieses Buches ahnt noch nicht, daß sich die
wirkliche Dauer mit dem Gedächtnis identifizieren läßt, das zum Hauptthema erst in Matiere et Memoire ( 1 8 9 5 ) wird. 1 8 8 9 aber, im Erscheinungsjahr des ersten Buches, war L'Homme Libre von Barres und 1 8 9 0 sein Jardin de Berenice erschienen, die beide bereits die Lehre von der in den weiten Untergründen des Ichs als Summe kostbarsten Lebens aufgehäuften Vergangenheit enthielten. Barres
besitzt
deckung.
also mit anderen Symbolisten die Priorität der Ent-
Ein wenig später sollte dann der Philosoph die gleiche
Lebensballung im Vergangenen mit den Mitteln seiner
Disziplin
darlegen. Die
Schöpfung.
Ganze Epochen, vor allem die schöpfungs-
fähigsten, lassen sich am Schöpfungsakt genügen. einzugestehen,
wieviel
U m sich nicht
Neues man hervorzubringen
gewagt
hat,
verkleidet m a n es lieber als etwas Gewesenes. Larvatus prodeo ist eine Maske, die ihre Vorzüge hat: würde man unmittelbar mit etwas noch nie Dagewesenem konfrontiert, würde man ängstlich zurückweichen; die Verantwortung wäre so groß, man würde zö93
gern. W e n n m a n das Festland verläßt und die Anker lichtet, ist es besser, wenn man wie Kolumbus des Glaubens ist, daß man nach einem durch altes Wissen geheiligten Land aufbricht und nur nach der neuen Straße sucht.
Man würde erschrecken, wenn m a n sich
unmittelbar der Schöpfung gegenübergestellt fände. Etwas wie ein Schamgefühl zwingt einen, sie zu verhüllen. D i e Schlachten mit Sieg und Untergang, die feinen Berechnungen der Diplomatie, die Kunstwerke, der Alltag mit seinen ständigen Zufällen und spontanen Bewegungen, alles ist erfüllt von Unvorhergesehenem und Unvorhersehbarem, das die Gewebe der Gewohnheiten zerreißt. Selbst seine Wünsche für den kommenden Tag gestaltet man lieber nach dem, was man sich bereits vorzustellen vermag. Unser Verstand leugnet die Möglichkeit dessen, was sein Vermögen übersteigt, und will nur Veränderungen durch Verschiebungen und Permutationen innerhalb bereits fixierter Elemente gelten lassen. Daher seine Selbstsicherheit. Alle dagegen, die sich die Komplexität und Vielfalt der Fühler vergegenwärtigen, die der nächste Augenblick entstehen lassen kann, müßten vor Angst zittern wie die Blinden bei Maeterlinck, oder die Freude müßte einem den Atem benehmen wie bei Gide in den Nourritures Terrestres ausschließlich dem
(erschienen i m Jahre 1 8 9 7 , als Bergson noch Gedächtnis zugewandt w a r ;
das Thema
der
Schöpfung war bereits im Kapitel von der Freiheit der Donnees Immediates angeschlagen worden, aber erst im Jahre 1 9 1 0 veröffentlichte er als Frucht aller seiner vorhergehenden Jahre die Evolution Creatrice, die die S u m m e alles dessen darstellte, was in Frankreich seit zwanzig Jahren erarbeitet worden war.) U m diese Rückkehr zur Natur im Moment ihrer Erschaffung zu erlauben
(Rousseau war auf halbem W e g e zwischen der natura
naturans und der natura naturata stehen g e b l i e b e n ) , bedurfte es geduldiger, auf das geringste Teilchen des Werdens achtender Sensibilität.
Man begriff damals, daß Schöpfung nicht bloß Kompo-
sition bereits vorhandener D i n g e ist: alle ihre Elemente sind neu mit langsamen Fortschritten in mühseliger Arbeit: dann versdiwindet wieder, w a s i m Werden begriffen: seltsames Wechselspiel des Wachsens und Schwindens des Lebens.
Alles zergeht wieder in
Dunst, die Auflösung ist nahe — e i n neuer Aufschwung folgt. D i e 94
Erziehung durch die Impressionisten hatte gelehrt, wie die D i n g e , in flutendes Licht getaucht, vergehen und sich verflüchtigen können. Bei diesen Malern aber war alles noch der Materie verhaftet.
Es
galt, das Werden der Schöpfung im reinen Geiste zu erkennen. D i e Generation, die sich zum ersten Male an die Probleme des Schöpferaktes wagte, mußte zugleich sehr schwach und kraftlos und von kühnster Wißbegier erfüllt sein. Sie mußte gleichzeitig lebensfremd sein und doch bis in die legten Tiefen des Lebens vordringen, auf die Gefahr, es vielleicht durch diese allzu große Kühnheit zu verlieren; wofern man nicht, indem man sich so weit vorwagte, seiner besser habhaft werden würde als die Robustesten und seines Bes g e s Sichersten.
Dieses Oszillieren zwischen Tod und Leben war
um 1 8 8 9 das große Erlebnis. D i e Schrecken des Todes erfahren zu haben und auferstanden zu sein, bedeutete eine Selbstschöpfung, die tiefer und innerlicher als die Schöpfung irgen deines äußeren Werkes empfunden
wurde.
Sobald man durch diese persönliche
Erfah-
rung hindurchgegangen war, wurde sie die Basis, von der aus man über die Schöpferkraft gebieten und einen jungen Blick auf das Universum werfen konnte, das sich nach dem gestalten würde, was man an der eigenen Seele, am eigenen Leibe erfahren hatte. In tausend Ängsten aber, daß die Quelle dieser geistigen Kraft versiegen könnte, m a ß man, über sie gebeugt, ihrem Quellen größere Bedeutung bei als allem, was ihr entfließen mochte. Es war — seltsame Fortsetjung der Epoche des l'art pour l'art — um die Schöpfung für die Schöpfung.
ein Sorgen
Ein Volk cupidus rerum no-
varum, das sich nur im tollkühnen Verlassen allzu bekannter Geleise gefällt, aber sich klar darüber ist, daß es beginnt, zu müde zu sein, um das W a g n i s der Schöpfung auf sich zu nehmen und dem eine solche Lethargie, ein solches Stocken seines Saftes schlimmer dünkt als alle Schatten des physischen Todes, tröstet sich damit, das N e u e zu abstrahieren und es als unabhängige Gegebenheit zu studieren. In der Hoffnung, wenn es sich auf den Schöpfungsakt an sich hypnotisiere, das Geheimnis seiner Konkretisierung wiederzufinden!
Man gab sich der Illusion hin, wieder Zeitgenosse derer zu
werden, die, ohne es zu wissen, Schöpfer gewesen waren.
Man
fühlte sich zu ihnen gehörig. U n d da das Faktum des Schaffens das 95
sicherste, evidenteste Zeichen des Lebens ist, so kehrte m a n durch
neben allem, was sich bis zu dieser Minute auf der Erde und allen
den Zugang der Erkenntnis des schöpferischen Aktes zu ihm zurück.
Gestirnen zugetragen hat? Man schleppt eine unermeßliche Bürde.
Man brachte es nicht mehr zu dem herrlichen Ungestüm des „Vor-
W o sind die Schultern, stark genug, sie zu tragen? Weder der Leib
wärtsschreitens" von Descartes noch von Rousseau, der sich v o n
noch selbst die leibgebundene Seele vermöchte d i e s ; einzig
die
Frühling zu Frühling stürzte und in fernen Zeiten nach den Ur-
Seele der Seele kann der ungeheure Behälter sein, der ihrer würdig
sprüngen dessen suchte, was er erschaffen wollte. Jetjt sollte das
ist, so daß die unleugbare Existenz des Gedächtnisses der evidente
Faktum des Ursprungs der Schöpfung selbst erforscht werden. Ohne
Beweis für die Existenz unserer Seele ist.
Gehäuse, ohne jede schürende Hülle wird sie etwas unendlich Hol-
man die Lust am Handeln oder besser: nur die Versenkung in das
des, Zartes, Verwundbares, ständig Gefährdetes. Gerade weil ihr
Gedächtnis ist regste Tätigkeit, die uns alles andere T u n verges-
die äußere Verwirklichung fehlt, ist m a n ihr näher als man in wirk-
sen läßt.
lich schöpferischen Epochen war.
Wir können uns dazu erziehen, daß uns das Gedächtnis vollständig zu Gebote steht.
Die doppelte der Bergsonschen
Seltsamster
Lebensrichtung
In seinem Besitz verliert
Erst dann wird der T a g reicher als eine Nacht
voller Träume. Freilich legt es uns die Verpflichtung auf, für die
Philosophie
Gegenwart tot zu s e i n ; wir opfern uns ihm, stürzen uns unter Verlust von Leib und Seele in die Vergangenheit.
Gott, wie ein Janus mit doppeltem Antlitz! Einerseits
Sie hat aber eine
solche Lebensweite, daß wir in ihr und mit ihr nur einen Scheintod
starrt er mit zwei seiner A u g e n nur auf die Vergangenheit, ver-
erleiden.
langt er, sich nur in rückwärtiger Richtung zu bewegen. Apoll irrte,
eng mit ihm verbunden, Auferstehung,
wenn er, um dem Imperativ Erkenne dich selbst zu genügen, die Helle
Lebenszuwachs.
besonnter Gegenwart empfahl; denn gerade im Halbdämmer und
gen erkennen sich untereinander wie die Anhänger des cartesiani-
gar
schen Denkens oder die, welche im Frühling wie Rousseau
in der Nacht gelingt
die
Selbstdurchdringung,
findet
man
die ununterbrochene Folge aller Ichs wieder, eines i m Schlepptau
Alsbald, wie es Schicksal der Götter ist, feiern wir, so Neuwerdung mit
einem
D i e Priester des Gedächtnisses und seine Gläubidas
Gefühl kultivierten. D i e Philosophieen verhüllen das Bild des von
des andern. Unendlicher Reichtum! W i e arm ist m a n am T a g e !
ihnen geschaffenen
Durch das eigene Gedächtnis erreicht man die Fülle des Mensch-
menschliche Fähigkeit berufen, die sie zu gebrauchen raten, um mit
Gottes;
sie wollen sich
lieber
nur
auf
die
seins. Oder besser: durch das Gedächtnis transzendiert man sich
dem Gott in Verbindung zu treten. So hat Rousseau niemals direkt
und verwandelt man sich zu Gott. Ist das noch mein einfaches Ich
gesagt: gottgleiches Gefühl; er lehrte lediglich, sich Gott auf dem
in dieser Überfülle des Gedächtnisses? Indem ich ihm die ihm ge-
W e g e des Gefühls zu nähern; dieser W e g war von dem Ziel, zu
bührende Stellung anweise, nutze ich die größte Chance, die mir
dem er führte, nicht verschieden; sobald man ihn beschritt, ver-
geboten werden kann. U m seinetwillen bin ich bereit, alle meine
wandelte m a n sich in einen Gott.
übrigen Fähigkeiten zu opfern, sind sie doch alle trügerisch oder
Philosophie es vermieden, dem Gedächtnis endgültig göttlichen R a n g
minder wertvoll im Vergleich zu ihm. D a s cartesianische Denken?
zu verleihen. S i e ließ sich an der Erklärung genügen, daß man
So hat auch die Bergsonsche
Sein Reich war nur v o n dieser Welt und umfaßte davon nur einen
durch das Gedächtnis zur Erkenntnis der Dauer komme, die das
Ausschnitt, v o n dem es nur die Oberfläche berührte: eingebildete,
Leben selber ist.
fragmentarische, eitle Herrschaft.
wie das Gedächtnis am besten zu stärken oder zu isolieren ist. Im
D a s Gedächtnis birgt —
auser-
Man wird sich mit der Beschreibung begnügen,
wähltes Gefäß — das ganze Leben. Nichts hat sich je ereignet, w o v o n
Grunde handelt es sich um eine Liturgie, einen kultischen Apparat
es nicht wüßte: nihil mihi alienum puto. W a s wiegt die Zukunft
und heilige Riten.
96
7 LION
Der Neophyt des Gedächtnisses wird sich vor 97
allem von Gegenwart und Zukunft fernhalten müssen. Er wird freiwillig blind für alles, was nicht reine Vergangenheit ist.
gleitet werden. Viel besser, es mit Kälte, auf rauhe, strenge Weise zu
Die
behandeln. D a n n nur ist es offenbar vollständig, ohne Halbschatten,
Romantiker hatten den Erinnerungen eine ganze Skala verschiede-
ohne alles Nächtliche, es flieht nicht romantisch wie ein Horizont,
ner Gefühle beigemischt:
Sehnsucht nach der verschütteten Ver-
man findet es unter der rationalen Zeit, braucht diese nur mit leich-
gangenheit, aus der nur noch Trümmer hervorragen, und Schwer-
ter Geste aufzuheben, um das Wirkliche auf klassische Weise zu
mut, und die Lust an der Gebrochenheit der Gefühle, die im Ele-
besi^en.
ment des Sich-er-innerns eine andere Färbung annehmen, als sie
Bergsons Lieblingsphilosoph war Plotin, dem er eine Vorlesung
im Augenblick ihrer Auslösung besaßen; die harte Gewalt der D i n g e
am College de France ( 1 9 0 1 ) gewidmet hat. W e n n er später in der
erschien ihnen durch einen Dunst, einen Nebel, der ihre Konturen
Evolution Creatrice im Kapitel über die Geschichte der Philosophie
verwischte, im Gedächtnis gemildert; so wurde es für die e w i g v o n
von den antiken
der Wirklichkeit enttäuschten und immer verwundeten Romantiker
hat er Plotin nur scheinbar vergessen. Er allein war ständiger Gast
zum Trost.
Philosophen nur
Piaton und Aristoteles nennt,
Wurde aber alles, in ein allzu sanftes zartes Mond-
der Bergsonschen Tage und Nächte. Woher dieser seltsame Appell
licht getaucht, nicht unwahrhaft und gefälscht? Ein auf diese Weise
des Philosophen des betagten Frankreich an den Philosophen der
behandeltes Gedächtnis hat nichts Absolutes. Seine sehr relative
ausgehenden Antike?
Plotin hat in seiner Hierarchie den platoni-
Funktion besteht nur in der Schaffung von Gelegenheiten, um eine
schen Ideen eine der höchsten Stellen angewiesen. Bergson dagegen
bestimmte Qualität von Gefühlen zu empfinden: sie sind es, die ab-
hat sie wegen ihrer Unbeweglichkeit aus seinem Lebensbegriff ver-
soluter Mittelpunkt bleiben, zu dem m a n auf dem Umweg über die
bannt. W a s für Unterschiede zwischen Bergson und seinem Lehrer!
Vergangenheit strebt. Rousseau erklärt, daß ihm dort, w o er sich für
Selbst in der Konzeption des Gedächtnisses scheinen sie einander
seine Confessions nicht mehr auf die Tatsachen habe besinnen kön-
entgegengesetzt: für Plotin als guten Platoniker bedeutet es nur ein
nen, die Erinnerung „an die Abfolge der Gefühle in i h m " auszu-
Mittel, zu den Ideen zu kommen.
helfen vermochte. W a s ihn an dieser Gedächtnisflut, dem schönsten
hat jedoch einen mit dem Gedächtnis zusammenhängenden Grund:
seiner Seen, bezaubert, ist nicht die metaphysische Seite, daß m a n
die Plotinische Philosophie stellt die S u m m e aller früheren antiken
mit dieser einen
Philosophen dar, so daß er unabhängig von seiner Theorie des
Fähigkeit die wahre Dauer erfassen kann.
Eine
Bergsons Anhänglichkeit an ihn
ganz andere Bedeutung hat das Gedächtnis in der Bergsonschen
Gedächtnisses dieses praktisch in jener Fülle verkörperte, die Berg-
Philosophie. Hier geht es nicht mehr um Gefühle, die nur noch als
son der von ihm vergötterten Fähigkeit zuschreibt.
Beiwerk
es
alle nachplatonischen Schulen und durch Piaton alle Vorsokratiker.
nicht mehr auf das Genießen an oder das Bedauern oder auf den
Er häuft sie aufeinander; wie im Rauschen des Waldes vernimmt m a n
Zauber,
in jeder seiner Enneaden eine Polyphonie, in der bald ein Stoiker
beschworener Erinnerungen der patinahaft
existieren. Hier kommt
vrgangenes Geschehen
bedeckt,
sondern
Plotin umfaßt
auf die objektive Substanz dieses Geschehens an sich. Im Augen-
dem Aristoteles, bald ein Skeptiker dem Epikur antwortet.
blick, wo es da war, haben wir es nicht in seiner Fülle erlebt;
ganze Reichtum antiker Dauer erscheint hier in der vollendeten
unsere Seele war zu zerstreut, und erst später, zu einem oft sehr
Form eines Systems. —
fernen Zeitpunkt, wird uns dieses unserer Seele eingeprägte Ge-
er hätte das Gedächtnis in einer evidenten Form weder bei Descar-
Der
Weiteres besonderes Glück für Bergson:
schehen wahrhaft gegenwärtig. W e n n diese Fülle uns Befriedigung
tes finden können, der sich
gewährt, wie Rousseau sie so sehr empfand, wenn er sich erinnerte,
braucht zu haben, noch bei Spinoza, obgleich dieser ein doppeltes
so brauchen wir sie uns nicht zu versagen.
D a s Gedächtnis im
Bergsonschen Sinne darf aber davon höchstens gelegentlich 98
be-
(mit Unrecht)
rühmte, es nicht ge-
Gedächtnis besaß, ein sehr tiefes, das bis zur Zeit des Alten Testaments, und ein anderes, das bis zu Descartes reichte, noch bei 99
Kant. Bergson fand, was er suchte, i m „Rapport de la Philosophie
wicht. Der Mensch hat, wenn er schöpferisch ist, die Befriedigung,
frangaise" von Ravaisson, der ihm hinsichtlich des legten Abschnitts
die Geburt von etwas Neuem zu erleben und den holden Laut des
der Neuzeit eine Erinnerungsarbeit hinterließ gleich der Plotins be-
Schreiens des Neugeborenen zu vernehmen.
züglich der Antike. W i e sehr wurde ihm seine Aufgabe, dem Ge-
Freude: durch diesen Akt hat er sich in die ungeheure B e w e g u n g
U n d noch
größere
dächtnis treu zu sein, erleichtert, wenn seine Vorgänger ihm in
der allgemeinen Schöpfung eingereiht, nimmt er teil an ihr, die ein
Form einer Gedächtnissummierung präsentiert wurden!
Gott ist wie das Gedächtnis.
W e n n er schwach wird, kann er a n
Keine andere menschliche Fähigkeit kann eine solche Annäherung
alle Kräfte appellieren, die im gleichen Augenblick auf die Zukunft
an das Göttliche ermöglichen —
Ausnahme.
gerichtet sind. Oder es geben ihm, wenn ihm eine Schöpfung ge-
U n d diese Fähigkeit schlägt die der Vergangenheit entgegengesetzte
lingt, die unendlich vielen D i n g e , die selber im Werden sind, das
mit einer einzigen
Richtung ein. Janus hat noch zwei A u g e n , die er zugleich mit den
Geleit. Er ist wie ein Bergwanderer mit anderen, die den gleichen
beiden ersten gebraucht.
D a s Leben ist nicht nur im Gedächtnis.
Aufstieg wagen, zusammengeseilt. Bergson nennt dieses D r ä n g e n
Es hat auch die Gabe des Schöpferischen, wodurch es etwas aus
den elan vital, den Lebensschwung. Hinauf! V o r a n ! Keinen Schritt
dem Nichts, ex nihilo entstehen lassen kann. Auch da können Ge-
zurück! D u hast nur einem einzigen Gott, der ungeheuren Zukunft
fühle diesen außergewöhnlichen Akt begleiten und u m s ä u m e n : m a n
zu dienen! „ K a n n ich es ertragen, allein oder mit Hilfe der anderen
kann Freude oder Bewunderung gegenüber dem Werdenden emp-
einen Blick auf das Ungeschaffene zu werfen? Ich brauche einen
finden oder e i n e R e g u n g von Hochsinnigkeit (generosite, das carte-
vollendeten Gott, an dem ich mich halten k a n n ! " Der Gott ant-
sianische Gefühl par e x c e l l e n c e ) , in dem Gedanken, das verschen-
wortet: „ W e n n ich vollendet wäre, wäre ich das Starre, das Unbe-
Aber
diese
wegliche, das Gegenteil des Lebens.
schöpferischen
Akte
endliche und hätte mir gegenüber gleichsam als Ebenbild meines
selbst, wenig Bedeutung. Zunächst scheint das Erschaffene
allein
Antliges eine Schöpfung vollbracht, die so vollendet wäre wie die
ken zu können, Empfindungen
was man geschaffen
haben,
verglichen
mit
haben dem
wird.
Ich wäre nicht mehr das U n -
bleiben zu m ü s s e n : eine schmale Landzunge ragt ins Meer des Un-
reife Frucht, die v o m Spalier fällt, und e w i g wäre ich der gleiche,
bekannten und bewegt sich vorwärts, bahnt sich oft m ü h s a m unter
versteinert in alle Ewigkeit, der größte aller Toten, ein Leichnam,
Schmerzen
einen
Weg.
Bei
näherem
Hinsehen
gewahrt
man
neben diesem einen Ausgangspunkt einen zweiten, die Natur ist voll
allen im W e g e !
Laß mich l e b e n ! "
„Seltsamer Gott, der nicht
w e i ß , was im nächsten Augenblick sein wird." „Diese Unwissen-
davon, alles bricht auf und strebt vorwärts, nichts kann sich der
heit ist m e i n R u h m . Ich fühle mich frei, bin ich doch nicht einmal
allgemeinen fortwährenden Schöpfung entziehen, so daß alle diese
mir selbst verpflichtet. Ich will noch wachsen!" „Wozu deine All-
anscheinend unzusammenhängenden Geburten zusammen eine Kraft,
macht, wenn du nicht Herr über dein eigenes Morgen b i s t ? " „Keine
eine Dichte gleich der des Gedächtnisses ergeben.
W i e dieses sich
Grenzen, keine Schranken! Ich habe die Kühnheit, ein andrer sein
aus unendlich kleinen Einzelheiten zusammensetzt, die wir in un-
zu wollen." „Fürchtest du nicht, dich zu verlieren und mich mit dir,
serem individuellen Gedächtnis sammeln, und sich dann alle Ge-
wenn durch deine Nachsicht ein Morgen entsteht, das dich ver-
dächtnisse untereinander und mit der Natur mit all ihren Schichten
l e u g n e t ? " „Ich werde es lieben als das N e u g e b o r e n e ! "
und Träumen vereinigen, so daß daraus ein allgemeines Gedächtnis
D a s neugeborene Naturgebilde an der äußersten Spitze der Ent-
entsteht, ebenso bilden alle schöpferischen Akte des Menschen und
wicklung atmet die Meeresluft des Unendlichen vor ihm. W a s es
seiner U m g e b u n g eine Einheit. M a n könnte das Ganze der Ver-
auch sein m ö g e , immer ist es oder vielmehr wird es zum Gott.
gangenheit und das Ganze der Zukunft auf die beiden Schalen einer
Aber nur wenig gehört dazu, daß es aufhört, es zu sein, kaum ge-
Waage legen. Beide Janusgesichter haben das gleiche göttliche Ge-
schaffen, sei es, daß es erstarre oder sich verhärte —
100
welcher 101
Sturz! der flügelleichte Gott wird Materie! — Sei e s , daß es in das
scheinens ist. D i e Schönheit der Blumen besteht darin, daß sie i m
Gedächtnis eingeht. In diesem Fall verliert es seine göttliche Ur-
Augenblick, da sich ihr Kelch erschließt, sich selber täuschend des
form, erhält dafür aber eine gleichwertige, als werde der selbe Zug
Glaubens sind, ganz neu zu sein.
aus dem einen der beiden Janusgesichter in das andere zurückge-
Jegt ist die Natur längst natura naturata. Nicht gänzlich. Immer
drängt. Durch diese Versegung in das Gedächtnis findet das Gött-
noch schafft sie, entwirft sie, verbessert sie, strauchelt sie, versucht
liche ein Refugium in einer anderen göttlichen Möglichkeit.
sie sich an etwas N e u e m oder sinnt zumindest über die schöpferi-
Für jedes Naturding kam eine Stunde, da es die äußerste S p i g e des
schen Augenblicke der Vergangenheit nach. Aber die schöpferische
Werdens verkörperte. Einmal war es das Veilchen. Wir müssen uns
Gottheit mit all ihrer Macht ist in die H ä n d e des Menschen über-
den Augenblick vorstellen, wo e s geschaffen wurde oder vielmehr,
gegangen.
Gerade
dadurch erhält
die
Evolutionstheorie
gemäß
(da das Gotthafte in dem Akte selber i s t ) , wo es sich erschuf, w o
Bergson, obwohl er auf diesem Punkt nicht besteht, einen extrem
es zögernd seinen Duft, seine Farbe versuchte, und dann das so Un-
menschlichen
Charakter. Wir sind die zulegt Gekommenen,
die
scheinbare, so Bescheidene mit wilder Kühnheit vorwärtsstrebte,
Herren der Natur, nicht um sie zu beherrschen, wie unser Verstand
um alsbald sich in sich versenkend in innerer Glut sein Herz zu
uns rät, sondern um sie in ihrem Schöpferwerk fortzusetzen. Jede
entflammen und die ungeheure Verantwortung, das neueste D i n g
dieser Stationen hatte dieses Vorrecht besessen. Werden wir unsere
zu sein, zu tragen.
Chance, Götter zu sein, zu n u g e n wissen, können wir unsere eige-
So schön und frisch es auch in jedem der un-
zähligen späteren Frühlinge sein mag, niemals wird es jene Frische
nen Theologen sein?
und Leichtigkeit haben, die es bei seiner ersten Geburt besaß.
von u n s ; wir stehen zu ihr i m innig-liebevollen Verhältnis der
D i e Göttlichkeit ist nicht fernab, außerhalb
Damals g a b es noch nichts über ihm, was auf ihm hätte lasten kön-
Identität. Daraus ergeben sich neue Möglichkeiten, sie zu fürchten,
nen. Einmal war auch unser kleines Veilchen der Hauptschöpfer
zu bewundern, zu lieben, Gebete an sie zu richten.
des Universums an der Spige eines Zuges, zu dem die Kristalle ge-
Freilich ist e s nicht das Ich, das sich fassen oder beschreiben läßt
hörten, ja selbst das Meer, das um die Dämmerung violett sich
wie bei Montaigne, dem es immer noch gelingt, sein vor ihm auf
tönend, vor Freude erbeben mußte, daß es ein Vorspiel zu der
sanftest gewundenen Pfaden
fliehendes
Sie ist im Ich.
Ich zu erhaschen.
Unser
Farbe dieser neugekommenen Kleinwelt gegeben hatte. Alles lief
göttliches Ich existiert nur i m nächsten Augenblick. W i e wird es
herbei, es zu bewundern, vor i h m zu k n i e n : ein Glück, zu groß,
beschaffen sein? Ungeduldig erwarten wir es, schauen wir nach ihm
um von Dauer zu sein. Schon hebt ein seltsames Arbeiten an, aus
aus. Heute noch wird es uns überraschen wie ein D i e b . Es gilt bereit
dem nach unendlich tastenden Versuchen die weiße Lilie oder die
zu sein! W e n n es schön und gut ist, werden wir durch uns selbst
Rose, diese wilde Mänade, hervorgehen. N u n waren sie es, deren
Auserwählte sein. Vielleicht ist es schrecklich, dann werden wir uns
Umrisse sich der schon vorhandenen Natur einprägten, die aus
selbst verdammen.
Es gibt keine Möglichkeit, dem zu entgehen
Folgsamkeit stolz oder dionysisch wurde wie sie. D e n n es ist un-
und die eigene Geburt zu verhindern. Aber wie das neue Ich auch
möglich, dem neuen Gott nicht zu folgen. Heute sind die Veilchen,
beschaffen sein m ö g e , schon seine Erschaffung ist Gnade.
die Rosen nur armselige Erben, geschickte Komödianten, die nur
hält die geringste menschliche Handlung größte Bedeutung, weil sie
wiederholen, was sie im ersten Augenblick, da sie auf dem Theater
unendliche Rückwirkungen haben wird. Niemals ist sie abgeschlossen;
des Lebens erschienen, gespielt haben. Dennoch lebt in ihnen ein
frei erzeugt sie, ohne Kausalität, einen anderen schöpferischen Akt,
Abglanz v o n Erinnerung an dieses erste Erscheinen, an die Stellung,
der sich infolge der Vielfalt der Entwicklung zur Garbe ausbreitet.
auf die sie einmal Anspruch erheben durften, so daß die heutige
S o gehen die F o l g e n ins Unendliche: ein wahres Drängen, ein Kei-
Rose ein w e n i g mehr als nur starre Wiederholung ihres ersten Er-
m e n , ein bunter Frühlingsteppich. Laßt uns Obacht geben (und das
102
So er-
103
wäre die Ethik der Evolution Creatrice, die Bergson nicht zum Sy-
Maschine erscheinen, sondern sie wurde es auch in völligem Einver-
stem zusammengefaßt hat) auf jede heimliche Tat um ihrer unab-
ständnis.
sehbaren Folgen willen, auf jedes sich über unsere Lippen ver-
Denkens gewartet, um in dem neuen Gebäude den ihr angewiesenen
Sie hatte gleichsam geduldig auf dieses Erscheinen des
irrende Wort, v o n dem die künftige Sprache abhängt, auf jedes
P l a g einzunehmen: so unterstügte und bestätigte sie den absoluten
Liebesverlangen, das nur Begierde ist zu wissen, was aus einem K u ß
Wert dieses Denkens.
entsteht.
gut.
Jedes politische oder wirtschaftliche Ereignis erhält un-
Ebenso wurde die Natur Rousseau zuliebe
Bergson brauchte nur das Zauberwort Schöpfung auszuspre-
abhängig von seinem Erfolg oder Mißerfolg die Bedeutung einer in
chen, und schon vergaß die Natur die Güte, deren sie fähig ist, und
die Zukunft weisenden Spige. Es handelt sich dabei immer um mehr
verlegte sich ganz und gar auf ihr Schöpferisches. Welch eine Er-
als eine Spitje; es sind zahlreiche Spigen, im Wettstreit miteinan-
lösung für sie, der ihr seit Leonardo aufgezwungenen Zucht entrin-
der; sie können Parallelen zum Unendlichen beschreiben oder Para-
nen zu dürfen, und was würde sie alles anzufangen wissen mit so-
beln oder sich in unvorhersehbaren Windungen vereinen.
viel Freiheit, deren sie sich so wohl zu bemächtigen verstehen w i r d !
Nichts bürgt dafür, daß der Mensch dieses Vorrecht, die Welt zu
Zweifellos hatte sie nie ihre Schöpfermacht, die sie in Verfolg an-
führen, immer behalten darf. So g a b es nach dem Sturz des römi-
derer Philosophien vernachlässigt hatte, ganz aufgegeben. Jedesmal
schen Reichs ein Interregnum, w o nach so viel Politik die Macht
vermag ein solcher Anstoß von oben gleichsam eine Flut offenbaren-
wieder zur Natur zurückkehrte, die offenbar leichter atmet, wenn
den Lichts über das zu ergießen, was ihr bereits gehört.
die schöpferische Gebärde niemanden über ihr gehört. W e n n wir
W i e soll sich ein Gott, stampfend vor Ungeduld wie ein junger
einmal weichen sollten, würde die Natur an unsere Stelle treten:
Kentaur, begierig auf alles Neue, zephyrleicht und so beschwingt,
„Ich bin die natura naturata, das schon Geschaffene. Ich wiederhole
daß er ganz Flügel ist, mit einem Gedächtnis vertragen, das über-
mich nur. D a s Meer ist das gleiche wie zur Zeit des Thaies, die
schwer an seiner eigenen Last trägt, sich langsam regt, niemals von
In-
sich genug hat, ewig sich wiederkäuend? Offenbar hat man sich für
dessen gibt e s unwahrnehmbar oberhalb jeder meiner Wiederho-
eines der beiden Janusgesichter zu entscheiden. Bergson hätte das
Blumen sind unwandelbar die gleichen, die Rousseau pflückte.
lungen einen unmerklichen Saum von N e u e m . Wer weiß, wie mein
Recht gehabt, seinen Begriff des in Garben hochschießenden Lebens
nächster Frühling sein wird? Ich bin meiner selbst überdrüssig.
zur Erklärung seiner eigenen Philosophie anzuwenden. W e n n sich
Ich werde mich wandeln.
Morgen werden die Menschen mich nicht
die eine seiner Gegebenheiten mit der anderen nicht vertrug, war
mehr wiedererkennen; sie werden sich an das Wissen klammern,
das nicht ein Beweis für die Vitalität seiner Philosophie, gerade
das sie von mir bewahrt haben — ich werde ins Unbekannte ent-
weil sie in zwei unabhängigen Strahlen emporstieg?
weichen!"
dem er die logischen Folgerungen aus seiner Theorie zog, auf das
Er hätte, in-
Sobald eine neue Philosophie, Ausfluß einer Lebensballung, entsteht,
Suchen nach dem inneren Zusammenhang seiner Gegebenheiten frei-
übt sie eine gewaltige Anziehungskraft aus auf alles, w a s diesem
willig verzichten und ihnen ihre Unabhängigkeit lassen können.
äußersten Saum gleicht. So war, als nach 1 8 8 9 das Lebensgefühl auf-
Aber ihm zum T r o g war sein Verstand stärker als sein Glaube an
merksam auf die Beweglichkeit wurde, die Natur sogleich bereit, dem
das Leben, und ihm zuliebe mühte er sich, die Verbindungen zu
Menschen zu folgen. Sobald sich ein solcher Saum zeigt, kennt sie sich
finden, die seinem Denken Einheit verleihen würden. D a s schwie-
darin aus und wirft ihr ungeheures Gewicht in die Waagschale des
rigste Problem war für ihn die conjunctio oppositorum zwischen
möglichen Zukünftigen. Ohne diese Unterstügung bliebe eine Philo-
Gedächtnis und Schöpfung.
sophie nur ein vergeblicher geistiger Versuch. Als Descartes seine
Richtungen zu teilen, so wäre ich weder nach der Zukunft noch
kausale Welt errichtete, mußte die Natur nicht nur zwangsläufig als
nach der Vergangenheit hin mächtig; beide würden in der Schwebe
104
Würde ich versuchen, mich in beide
105
bleiben, vielleicht sich sogar aufheben. Oder sollte ich sie abwech-
Barres
seln lassen und mich auf mögliche Schöpfungen verlegen, um dann,
als Führer
und
Gide
in die Vergangenheit
und
Zukunft
nachdem ich mit einem Teil meines Wesens einem der beiden Janusgesichter geopfert hätte, zu dem anderen zurückzukehren und mich
Den
nur noch ihm allein zu w i d m e n ?
über Menschenkraft.
offensichtliche
Antithese
Bergson hat bisweilen für diese
eine Versöhnungsformel
vorgeschlagen:
doppelten Bergsonschen Imperativ auszuführen, geht vielleicht Es gilt eine Teilung vorzunehmen: wer sich
der Vergangenheit ergibt, m u ß sich voller Entsetjen von der Zu-
der
kunft fernhalten, die ihn von ihr nur ablenken würde. D i e geringste
Dauer sein, Janus gleich Chronos, nicht im Sinne äußerer und
Hinwendung zur Zukunft und ihren Neuerungen würde Verrat an
Gedächtnis und Schöpfung
sollten zwei Anwendungsformen
räumlicher Zeit, wie unser Verstand sie sich vorstellt, sondern im
den Traditionen bedeuten. So m a g er zum Spezialisten des reinen
Sinne der darunter befindlichen wirklichen Zeit.
Gedächtnisses werden! Dazu war Barres berufen. Aber in der Li-
D a s Gedächtnis
würde alles Geschehene bewahren, ohne Scheidewand, die es von
turgie des Lebens sollte ein Anderer, der leidenschaftlich der Zu-
dem trennt, w a s in diesem Augenblick erschaffen wird. U n d eine
kunft zugewandt war, kommen, um Respons zu erteilen: es war Gide,
Schöpfung gehört alsbald nach ihrer Vollendung, noch bebend von
der Spezialist für das Werdende.
Leben, zur Masse der Erinnerungen in einer einzigen Kontinuität. D a s N e u e andererseits entsteht aus der Summierung der gesamten
Man täte Barres Unrecht mit der Annahme, der Verzicht auf die
Vergangenheit. W e n n sich das Erschaffene beruhigt und im Erstar-
eine der beiden Richtungen wäre ihm leicht gefallen. Begonnen hatte
ren ist, segt sogleich eine neue Schöpfung das Ganze in Bewegung,
er als Skeptiker des fin de siecle, als ein Verfeinerter, voller Neu-
und da es keinerlei Bruch zwischen beiden Gruppen gibt, teilt es
gier auf alle Seinsmöglichkeiten. In seinem U n H o m m e Libre hatte
seinen Rhythmus dem ungeheuren Strom der Vergangenheit mit.
er die Notwendigkeit der Einsamkeit geschildert, aus Furcht vor der
Dieser befindet sich ihrerseits immer in einer das Werdende vor-
geringsten Verlegung der Fühler seines Ich, die von ihm als ebenso
wärtstreibenden Bewegung.
D i e Rückwirkung ist dergestalt, daß
zahlreich empfunden wurden wie später bei Bergson die Spring-
wenn das Gedächtnis in seiner Tiefe mit A beginnt und bis P reicht
brunnen der schöpferischen Entwicklung. Noch während er nach
und eben ein neu erschaffenes R sich anreiht, die Bewegung dieses
dem freien Menschen forschte, kam er zu der Erkenntnis, wie rand-
R die ganze vorhergehende Folge von P bis A durchdringt und über
voll von Erinnerungen sein Ich w a r : unzählige Fühler, ausgestreckt
A hinaus Erinnerungen wachruft, die unter dieser
in die andere Richtung, aber so zögernd, so fieberhaft spielend, daß
schlummerten.
Anfangsbasis
Andererseits überträgt sich die geringste Verände-
rung in der Tiefe des Gedächtnisses auf den äußersten Saum, der bis in seine neueste Schöpfung erbebt.
er, von Wißbegier verzehrt, keinen Unterschied merkt.
Noch hält
er sich für vorwärtsschreitend und meint, Führer einer an nervöser Ungeduld krankenden Jugend sein zu dürfen. D a s Neue aber, das er sucht, ist das sehr Alte, Antike, das m a n in sich trägt. Voller Entzücken stürzt Barres sich in den süßesten, unersättlichsten aller A b gründe.
Hätte er, nachdem er zunächst zur Zukunft aufgebrochen
war und sich dann nach der anderen Seite wandte, jenen Augenblick ausgedehnt, in dem sein Ich sich nach beiden Richtungen teilte, so hätte er die beiden Schalen der W a a g e genau in der Schwebe halten können. Im Jardin de Berenice spürt man, daß Barres fürchtet, das Schwanken könne aufhören. Bald wird es verschwunden 107
sein. Aber sein ganzes Werk bewahrt eine Erinnerung daran. Sein Ich, das einmal das berauschende Ausschreiten dem Unbekannten entgegen gekannt hatte, ist ihm verblieben. In die Vergangenheit transponiert, bewahrt es die N e i g u n g zum Zukünftigen, die es einmal besessen hatte.
Selbst als die Wahl zwischen beiden W e g e n
absolut entschieden scheint, empfindet Barres noch die Schauer des Zögerns als Genuß.
Er war ein wider Willen zum Reaktionär ge-
wordener Neuerer. Hellsichtig ahnte
mosphäre der Großeltern fühlte er sich schon eher in seinem Element.
D a n n dringt er gemäß der Geschlechterfolge des qui genuit
. . . qui g e n u i t . . . mit großen Schritten zu den Ahnen vor, deren Masse nicht mehr differenziert wird. Seine Psychologie des Gedächtnisses, das über individuelle Erinnerungen hinaus sich auch auf solche von
allgemeiner
Bedeutung
ausdehnt,
Weite und Tiefe haben als das Bergsonsche.
wird
eine
andere
D i e A h n e n , die die
ideellen Grundschichten des Ich bilden, ruhen materiell in der Erde,
er einen möglichen A u s w e g : zunächst müßte man
auf der man sich bewegt. W i e soll man ausschreiten und laufen,
sich der Vergangenheit völlig hingeben und tätig die Sendungen
wenn dieses Seltsame, Schreckliche an den Schuhen klebt? Auch die
erfüllen, die sie uns aufträgt, dann aber, wenn dieser Pflicht genügt
Luft ist erfüllt von Miasmen, die mit körperlichen und seelischen
war, sollte der erste barressche Genius, der vorübergehend einzig um
Überbleibseln der A h n e n behaftet sind. Daher das
der Vergangenheit willen zurückgestaut worden war, sich wieder
Barres' für das Festland und die von der Pflugschar bewegte Scholle,
seiner N e i g u n g erinnern dürfen, die er insgeheim weitergehegt hatte.
aber auch für die Lagune von Venedig.
Doppelgefühl
Werden wir Führer in eine Zukunft, die wir scheinbar für immer aufgegeben hatten! D a s wäre die Verwandlung eines Barres in einen Gide gewesen, in der Hoffnung, den Sprung in eine werdende Zukunft um so besser ausführen zu können, als er ihn v o m Sprungbrett eines gesättigten Gedächtnisses unternommen hätte.
Es ist
tragisch für Barres, daß er starb, bevor er seine dritte Periode erreicht hatte, in der er seinen einstigen Schwung hätte.
wiedergefunden
Er hat sich sehr danach gesehnt, Deutschland besiegt zu
sehen, um den langen Kampf zu beenden und als Sieger zu wagen, mit ihm vereint Neues zu schaffen.
Er hat seinen Kreis
nicht
schließen können und scheint zu früh gestorben. Doch täuschen wir uns nicht! Seine große Rückkehr zur Zukunft wäre nie erfolgt. W e r sich so wie er der Vergangenheit ergeben hat, kann nicht zurückkehren.
Immer andere Aufgaben hätte er dort gefunden, und da
er sich verpflichtet geglaubt hätte, sie zu erfüllen, so wäre er so verblieben: den Blick der unerschöpflichen Vergangenheit zugewandt.
Als er sich einseitig der Zukunft zugewandt hatte, hatte er die Unbeständigkeit seines Ichs empfunden: „Ein Bewußtseinszustand kann in uns nur entstehen, wenn das Individuum stirbt, das wir gestern waren.
Der Ubergang zu diesem neuen Wesen segt den
T o d des vorhergehenden voraus." Vor allen diesen T o d e n seines Ichs hatte ihn panische Angst, Verwirrung erfüllt.
Er suchte nach
einer möglichen Verbindung in der rasenden Aufeinanderfolge der Ichs, für die er, jenseits des Werdens, das cartesianische „Ich b i n " wiedergewinnen wollte.
Nur um dieses Sein zu erreichen, hat er
alle in die Zukunft ausgestreckten Fühler geopfert und sich völlig den Ahnen zugewandt. Jeder von diesen hat ein Ich sein können, unabhängig, voller Fährnisse. Im Leben getrennt, aber im T o d e vereinigt (in dieser Beziehung ist Barres egalitär) bilden sie unbewußt einen Chor.
Wenn unser Ich sich mit ihnen
verbindet,
wird es noch zu seinen Lebzeiten etwas gefunden haben, was dauert. Es braucht nicht mehr zu seufzen: „Ich, der nicht die Emotionen
D a s Bergsonsche
Gedächtnis bleibt privat;
Barres entdeckt
die
Möglichkeit eines Gemeinschaftsgedächtnisses. Er verweilt kaum auf
von gestern und heute in Einklang zu bringen vermag." Der einst der allerfreieste hatte sein wollen, ist freilich dann an eine
der ersten Stufe der Kindheitserinnerungen, die sich an die Gestal-
Kausalität gekettet. Weil seine Altvorderen etwas gedacht oder ge-
ten von Vater u n d Mutter knüpfen. Geschwind trachtet er über die
wünscht haben, m u ß er den selben Gedanken, den selben Wunsch
ersten Schichten der Vergangenheit hinauszukommen; in der At-
haben.
108
Er m u ß ihre Gebärden ausführen; er darf nichts bessern; 109
er hat Schatten von Schatten zu s e i n ; er kann nur wiederholen. Augenblicksweise hat Barres sich g e g e n das Geseg, das er sich selbst auferlegt hatte, aufgelehnt (er hat sogar ziemlich spät den Ennemi des Lois geschrieben). Für gewöhnlich aber hat er sich ihm unterworfen. Er rät dem, was die Altvorderen gelebt haben, genau nachzuleben. W a s sie getan haben, ist g u t ; was sie nicht getan haben, ist das Böse, so daß ihre Handlung zum alleinigen Kriterium der moralischen Werte wird. Große Sünde wäre es, wollte man wagen, die geringste substanzielle Sache einem Erbe hinzuzufügen,
das
man nur durch Wiederholung vergrößern darf. N u n sind also die Toten Lebende.
Aber die Lebenden werden zu Toten. D i e s e Lei-
denschaft für die Vergangenheit läßt nur noch Starres, Festes, U n bewegliches gelten. Barres hat das Gedächtnis ebenso w i e Bergson angebetet, ihm aber dadurch, daß er es zu etwas Starrem machte, seine Geistigkeit genommen und es zur Materie herabgewürdigt. D i e Fülle des wahren Bergsonschen Gedächtnisses macht jede Aktivität unmöglich, da ihm, beglückt über seinen Reichtum, die Kontemplation seiner selbst genügt. Barres hingegen verwebt das Gedächtnis mit seinem anderen Lieblingsthema, der Energie. Er will in dem ungeheuren Gefäß der Erinnerungen einen Zuwachs irdischer Kräfte finden.
Anstatt uninteressiert in die Tiefe hinabzutauchen, tut er es
in der heimlichen Hoffnung auf zeitliche Vorteile. W e n n Bergson dem Verstand vorwirft, ständig auf militärische Absichten gerichtet zu sein, so versucht Barres diese mit Hilfe des Gedächtnisses zu erreichen.
Es soll dem Handeln in der Gegenwart dienlich sein. Er
ist pragmatischer Memorialist. Daher die eigenartige Reinheit und Unreinheit, die sein Werk so zweideutig macht. D a s göttliche Gedächtnis wird ihm zum innen- und außenpolitischen
Instrument.
Oft hört er gegenüber dem in den Landschaften angesammelten unerschöpflichen Erinnerungsschatj auf,
Pragmatiker zu sein,
wird
zum ehrlichen Betrachter. So bewegt er sich auf der Grenze zwischen dem Göttlichen und dem Sakrileg. Bei Bergson hat das Gedächtnis ununterbrochene Kontinuität. Bei Barres besteht die Geschichte Frankreichs aus einer F o l g e abgeschlossener Epochen: ummauerte Festungen, 110
entsprechend seiner
Lieblingsformel von den Bollwerken.
Es gibt nebeneinander das
Frankreich Ludwigs X I V . und das Ludwigs X V . Es gibt ein klassisches Frankreich; Barres knüpfte mit seiner Berenice gern an die Racinesche Berenice, und im Schlußkapitel nähert sich seine Colette Baudoche Corneille an. Aber wie sehr war er auch der Rene Chateaubriands: es gibt also auch ein romantisches Frankreich. In der Colline Inspiree sieht er auf der einen Seite die ältesten französischen Glaubensüberzeugungen aus der Scholle aufsteigen und auf der anderen die römische Kirche als ein fremdes Element, geheiligt für ihn nicht durch ihren Eigenwert, sondern nur weil
sie
so
viele französische Generationen begleitet hat. Welche von all diesen französischen Epochen hätte er wieder lebendig machen wollen? Der Macht Ludwigs X I V . scheint er die imperiale Macht vorzuziehen. Er ist ein Napoleonverehrer. Zwar hätte ein Cäsar, der immer wie aus dem Nichts entstanden, frei v o n jeder Tradition erscheint, für jemand, der den Ahnen opfert, eine entsetzliche Gestalt sein müssen.
Aber der erste N a p o l e o n war in die Geschichte ein-
g e g a n g e n ! D a s Mißgeschick Napoleons III., der die Wiederholung einer Tradition bedeutete, entmutigte Barres nicht. M ö g e er kommen, der Schatten des Schattens! Als General Boulanger dann verschwunden war, empfand Barres keineswegs Beschämung, sei es, weil jede Beschwörung der Vergangenheit für ihn einen vom Erfolg unabhängigen Wert behielt, sei es, weil ihm jede Niederlage durch die von 1 8 7 0 , die die Grundlage all seiner Erinnerungen blieb, geheiligt war. (Seine N e i g u n g zum Ideal des Imperiums b e w o g ihn jedoch nicht, sich dem antiken R o m zuzuwenden; er blieb Venez i a n e r ) . Der Gotik hat er sich bewußt erst sehr spät, anläßlich innenpolitischer Ereignisse, in seiner Pitie des Eglises de France zugewandt.
Indessen finden wir in vielen seiner Schöpfungen Spuren
gotischer Bildniskunst, die Barres kostbarster Traum ist, obwohl sie seinem Gedächtnis zuströmten, ohne daß er sie bewußt
gerufen
hätte: Berenice wie auch später seine Colette Baudoche haben das Lächeln, die Unbeholfenheit, die Anmut des 1 4 . Jahrhunderts.
Gide in den Nourritures Terrestres: „Gott ist, was vor uns ist." „ D i e Erinnerung ist eine unheilvolle Erfindung."
Für Gide ist 111
das Vergangene in seinem Ich Materie, das Zukünftige göttlich. Ein Problem, seine Erinnerungen zu schreiben, wenn m a n das Gedächtnis verachtet!
U m sie zu schreiben, verwandelt er das Gestern
nicht nur in ein Heute, sondern in ein noch vor ihm
liegendes
sich noch nicht gebildet hat: Landschaft ohne Vergangenheit, w o das Göttliche der Zukunft sich braut. So weit war Rousseau in seinem Verlangen nach dem Neuen nicht g e g a n g e n ; er ließ sich am Drängen der heutigen Natur genügen.
Morgen, und läßt das Gestern wiedererstehen mit allen Zweifeln, allem Tasten und all den vielfältigen Möglichkeiten dessen, was
W e n n Gide trog seiner völligen A b n e i g u n g gegen die Vergangen-
noch nicht existiert.
heit —
in den Nourritures bezieht er sich sehr selten auf Kunst-
werke, er ist Ikonokiast und würde die Bücher vernichten, wenn Eine Landschaft berauscht Barres durch ihr hohes Alter. Sie ist die vollkommenste Bewahrerin des Gedächtnisses. Sie ist nicht nur nach Tainescher Methode die erste Ursache der Kunstwerke; sie ist reicher geworden um alles, was sie erschaffen hat und was ständig in ihren Schoß zurückkehrt. Sie ist durch die Unendlichkeit unsichtbarer, heimlicherer Erinnerungen bedeckt von einem ganz feinen beweglichen Staubregen, einem goldenen Nebel wie bei Claude Lorrain. W a s sie Barres so anbetungswürdig erscheinen läßt, ist, daß sich alle fernen Epochen, die sich auf dem Grunde unseres Ich begegnen und sich dort noch widersprechen können, im Umkreis der Landschaft versöhnen.
Alle Stimmen der Vergangenheit ver-
einigen sich in ihrer Harmonie.
Sie spiegelt das ganze Antlig des
Gottes. Sie erstreckt sich nur in eine Richtung, ad infernos.
Nichts
in ihr weist mit dem Finger in die Zukunft. Sie bewegt sich, schreitet fort nach rückwärts. D i e Jahreszeit, die dieser allgemeinen Richtung am gemäßesten ist, ist der Herbst, wo die Natur sich wollüstig zu den Schichten ihrer Vergangenheit hinabgleiten läßt. Auch Gide erhellt seine Methode durch Landschaften.
Ihn zieht
weniger das Ganze als ein einziges Glied der Landschaft an, das jüngste, zarteste, das mit seinem Vorwärtsdrange sich am weitesten zum Unbekannten vorwagt.
Er vergißt wie Rousseau alle anderen
Jahreszeiten über dem Frühling, der utopisch immer währt. Seine liebste Stunde: „Morgenröten, ihr wart meine höchste W o n n e ! " und sein H i m m e l : durchsichtiges Blau, aus dem sich der Adler des Zeus
am besten
auf
herabstürzen kann.
seine Beute,
den allerschönsten
Ganymed
N i e kommt er auf den Gedanken, daß der
H u m u s aus unzähligen Schichten der Natur- und Menschheitsgeschichte bestände; seine Aufmerksamkeit gilt nur der Schicht, die 112
sie der künftigen Entwicklung hinderlich wären — sich bereit fände, in einer vergangenen Epoche Wurzel zu fassen, würde er zweifellos die französische Renaissance wählen.
Sie stand der Antike freier
gegenüber als die italienische, die aus allzu großer Ehrfurcht
in
die Vergangenheit sich versinken ließ. Er würde sich nicht auf die Hochrenaissance berufen und noch weniger auf ihre legte Entfaltung. Er sucht bei allem das allererste Dämmern, den ersten Sproß, den ersten Keim.
Keine Liebe zu R o m .
W a s bedeuten ihm das
Imperium, die Legionen, Cäsaren, Geseg und Grenze?
Aber Grie-
chenland? W e n n Barres auf die Feste Sparta und ihren starren Traditionalismus segte, so wendet Gide sich Athen zu, das sich dem Ubermaß seiner Beweglichkeit geopfert hat, und mit der gefährlichen Eile eines Alkibiades wechselnden Zielen zu jagte, nie Genüge findend, voll unmöglicher Wißbegier, ohne befriedigtes Verweilen. D a g e g e n hat Gide keinen Sinn für die Anhänglichkeit der Griechen zu ihrem alten traditionellen Mythos. Ihn entzückt nur ihr Gefühl für den flüchtigen Augenblick, den K a i r o s .
1
Damit das N e u e entstehe, darf es durch nichts behindert werden. Man m u ß es durch einen imaginären Akt von allem Vorhergehenden abtrennen.
In dieser Beziehung geht Gide weiter als Bergson,
i Bergsons Stellung zu Griechenland w a r eine zwiespältige. Seiner Theorie entsprechend war er genötigt, es abzulehnen, war es doch seit Anaxagoras Vorkämpier des Verstandes als des Absoluten g e w e s e n . Apoll mit seiner Klarheit ist a priori Cartesianer, desgleichen Zeus mit seiner Ordnung, die er d e m Universum auferlegt, und A t h e n e hat die Klugheit des gesunden Menschenverstandes und die Freude an den Regeln, die den Geist leiten. So bleibt als instinkthaft nur Dionysos, der Fremdling. Also mußte B e r g son Griechenland ablehnen. K a u m aber hat er sich in seiner Geschichte der Philosophie (4. Kapitel der Evolution Cr6atrice) gegen Piaton und Aristo8 LION
113
bei welchem die Schöpfung aus dem ganzen Gedächtnis gespeist wird, das als Ganzes die Ursache ist und also bindet. Gide forscht nach dem Akt schöpferischer Ungebundenheit, den nichts ankündigt, nichts vorbereitet.
Der cartesianische Augenblick wurde als unver-
änderliche Wiederholung verstanden; bei Gide ist jeder Augenblick anders. A u s unzähligen ungebundenen Momenten entsteht eine fortwährend neue Welt.
D i e sieben Schöpfungstage von einst interes-
sieren ihn nicht: extremer Nihilismus, wenn er nicht durch den positivsten Glauben an ein ewiges Morgen aufgewogen würde. U m seinetwillen, um die Ankunft des göttlichen Bräutigams willen muß man nach dem Gleichnis des Evangeliums bei Nacht wachen und die Lampe angezündet sein lassen, die des Verstandes nämlich, der von ferne erkennt und bisweilen zu erraten vermag, was im Werden ist und es im Voraus durchleuchtet. W i r müssen immer „disponibles" völlig freie Menschen sein wie Descartes in der Nacht seiner Entdeckung, die sich auf dem Nichts aufbaute.
wie auch Bergson konsequenterweise von seiner Ästhetik nur Le Rire geschrieben hat. D i e schwere Materie der Welt soll sich verflüchtigen. Nach dem Beispiel des Demiurgen darf der schöpferische Künstler keinen fertigen Plan für seine Schöpfung h a b e n : er m u ß sich selber durch eine Reihe motivloser Akte überraschen, daß, was zunächst in seinem Buch geschieht, zur
ohne
Verpflichtung
würde für das, w a s folgt (so in Gides Caves du Vatican, die er Narrenspiel (sotie) nannte, eine Bezeichnung, die freilich entgegen dem Gideschen Imperativ dieses Werk mit einer mittelalterlichen Gedächtnishinter-
grund verleiht). teles ausgesprochen, als ihn auch schon tausendfältige Reue zur U m k e h r zwingt. Mögen die Griechen die Wahrheit der reinen Dauer nicht erkannt und sogar das Gedächtnis mit den Ideen, also dem Starren und U n b e w e g lichen, v e r w o b e n haben; sie haben aber mit beweglichem Eifer diesen Verstand in ständiger B e w e g u n g v o n einer Station zur anderen getrieben, so daß der n e u e heraklitisehe Philosoph diesen unermüdlichen Läufern seine B e w u n d e r u n g nicht versagen konnte. Haben sie sich nicht dermaßen bei ihrem Lauf ausgegeben, daß man ihnen ihr Ruhebedürfnis verzeihen kann? 114
Wettlauf entwickeln: doppelte Beweglichkeit, die jede Materialisation verbietet.
Immer liegt ihm vor allem daran, freie Hand zu
behalten, um i m nächsten Augenblick retuschierend abzuschwächen, was er in einem bereits vergangenen Augenblick gesagt hat. Noch während er seine Schöpfung vollendet, wandelt sich das Leben, was ihn zu dauerndem Widerruf nötigt: höchste Wahrhaftigkeit! Er besorgt nicht, seine Verführungskünste durch das Geständnis, sich soeben geirrt zu haben, zu vermindern. D i e Entwicklung des Künftigen vollzieht sich für ihn fächerförmig. Bis zum Pluralismus geht er nicht. Aber wie die Manichäer glaubt er an zwei Mächte, an das Gute und a n das Böse. Aus Liebe zur Totalität des Lebens schließt er das Böse nicht aus, hält er es für ebenso wertvoll w i e das Gute. Spielt nicht mit dem Teufel nach Art
Die Gidesche Theorie sollte in der Kunst nur Komisches ergeben,
literarischen Gattung verknüpft und ihm einen
In den Faux Monnayeurs hat er dann gezeigt, wie sein schöpferisches Ich und das schöpferische Leben sich parallel zueinander im
von Anatole France, sondern nimmt ihn sehr ernst, wie Dostojewski, ohne ihn jedoch wie dieser mit dem Verstände zu identifizieren
(was übrigens ganz bergsonistisch gewesen w ä r e ) . Für ihn
ist das Böse ein immanenter Teil des Lebens selbst.
Manchmal
neigt er aus Rancüne gegen die intoleranten Anhänger des NurGuten (und weil er sich von dem Protestantismus seiner A h n e n befreien möchte, der für ihn eine peinliche Erinnerung
bedeutete)
dazu, das Böse zu bevorzugen, als enthielte e s ein heftigeres Leben. Seine tiefere Wahrheit aber ist, frei zu bleiben, damit weder das eine noch das andere zu einer die Zukunft präjudizierenden Regel würde.
Er möchte Frankreich beide Mächte schenken: auf daß e s
an der Vereinigung von Gut u n d Böse genese! Barres verweilt aus eingewurzelter
Romantik heraus gern
beim
T o d , in V e n e d i g und überall. Bei Gide ist er völlig vergessen, es gibt nur Auferstehung. der Kreuzigung Christi.
Er verweilt nicht bei den Leiden u n d Für ihn ist alsbald Ostern, ohne das
Vorspiel von Begräbnis und Trauer. Jedes Ich soll diesem Beispiel folgen, indem es ständig sich v o n allem, v o n seiner ganzen Vergangenheit, v o n seiner U m g e b u n g und selbst von seiner Landschaft 115
löst. „ M e i n ganzes Wesen ist e i n ungeheures Verlangen, im Neuen
durch eine solche intellektuelle Fiktion nicht.
aufzuerstehen." D i e s e Auferstehung vollzieht sich nicht wie in der
damit nicht Genüge geschehen.
katholischen Messe zu bestimmten Stunden, sondern in
daß die Entwicklung getrennte Fühler ausstreckte und Frankreich
innerer
D e m Leben würde
Vielleicht hat das Leben gewollt,
Kontinuität, was sehr protestantisch ist. — Für Gide gibt es nicht
zwei
wie in der paulinischen Lehre Auserwählte und Verworfene. Nichts
schwanken würde.
widerspricht so sehr der schöpferischen Entwicklung wie die Prä-
beiden entscheiden und die Seite des Gedächtnisses aufzugeben su-
destination. Jedem kann die Gnade zuteil werden, die der motivlose
chen, um sich der reinen Zukunft entgegenzustürzen? D a n n hätte
Akt par excellence ist. Man kann n i e mit Gewißheit s a g e n : „Mir
Gide über Barres gesiegt.
ist sie geworden", so sehr befindet sie sich auf dem Wellengipfel
Denkens, seine Rückkehr zur Kirche scheint diese A n n a h m e
noch ungeschaffener Morgen.
widerlegen.
verschiedene
Absoluta
besigen
sollte,
zwischen
denen
es
Oder wird sich die Entwicklung für eines v o n
Aber das Schicksal des Bergsonschen zu
In seiner Entwicklung lassen sich drei Perioden unter-
scheiden: eine erste, die bis zu Matiere et Memoire reicht, w o er Eine Kritik an Barres sollte von einer Kritik Gides begleitet sein.
zur Vergangenheit neigte, eine zweite auf dem Höhepunkt seiner
Beide haben einen Gott verheißen, und beide waren außerstande,
Reife, w o er in der Evolution Creatrice die Vergangenheit völlig
ihn zu einer lebendigen Gestalt zu machen.
Sie waren eher Ver-
vergaß und sich heliotropisch nur der Zukunft zuwandte, und eine
künder als Verwirklicher. Hat Barres vermocht, trog aller v o n ihm
dritte, w o er mit seiner Bekehrung zu dem früheren Stadium von
angehäuften Erinnerungen das Ganze einer französischen Antike zu
Matiere et Memoire zurückkehrte. Er selbst ist seiner N e i g u n g zum
schaffen?
Künftigen dann untreu geworden: er ist zu Barres übergetreten.
Politisch war sein Cäsarismus mit einer wunderlichen
Jammergestalt verknüpft, und seine Lehre v o m Nationalismus, die Gemeingut so vieler Völker geworden ist, bedeutet einen geistigen Abstieg, einer Materialisation.
Ähnlich verhält es sich bei Gide.
Welches Verständnis, welches Sehnen nach Schöpfung!
Wirklich
geschaffen hat er aber weder eine T h e o l o g i e noch eine Politik. wohlsten fühlt er sich an der Grenze einer möglichen
Am
Botschaft.
D a g e g e n schwankt er, sobald er ihre Schwelle überschreiten soll. So haben beide mehr die theoretische Form des Gedächtnisses und der Schöpfung gelehrt als ihren Inhalt. Sie haben denen, die ihnen folgten, das vollständige Leben nicht gebracht, über das sie zu verfügen behaupteten.
Es handelt sich bei ihnen mehr um Sehnsucht
nach dem Gedächtnis oder der Schöpfung als um deren wirklichen Besig. Ihre ganze Fülle erhielte die Lebenshäufung der Epoche erst durch eine imaginäre Vereinigung und Verschweißung der Werke der beiden, des Jardin de Berenice mit den Nourritures Terrestres, der Colline Inspiree mit den Faux Monnayeurs, der Cahiers von Barres mit dem Journal v o n Gide. Sollte m a n sie rasch abwechselnd lesen, damit beide nur mehr eins wären? Aber eine Vereinigung gelänge 116
sianische Absolute in Frankreich erschienen war, verschwand es daraus
NACHWORT
nicht mehr. Rousseau läßt, versöhnlichen Geistes, den Verstand gelten und weist ihm einen R a n g sei es unter dem Gefühl, seinem neuen Absoluten, sei es sogar gleichgeordnet neben ihm an. D a s Verständnis für das cartesianische Absolute ist bei ihm um so beÜber
den
lebendigen
der französischen
Zusammenhang
merkenswerter, als er, an Frankreichs Grenzen geboren, in seinen
Philosophie
Kinder- und Jugendjahren nicht langsam in dieses ehemalige A b solute hineingewachsen sein konnte, sondern erst später in L y o n , in
Der
äußerste Saum des Lebens ist ein ständig sich wandelndes
Paris in einer zweiten Lehrzeit davon berührt worden war. Indessen
Absolutes. Jedem dieser Absoluta entspricht eine Philosophie, die als-
mochte das Studium Malebranches, dessen Werke er in der Biblio-
bald langsam diesem Gott zu folgen beginnt, um treulich sein Bild
thek von Chambery gefunden hatte, für ihn eine erste Annäherung
abzuzeichnen.
an das cartesianische Denken herbeigeführt haben.
flohen
Doch schon ist er, im Begriff sich zu wandeln, ent-
—• die Philosophie kommt zu spät.
Oft aber erhascht sie
Auch
seine
Kenntnis Fenelons und der Quietisten war sehr bedeutend.
Von
ihn, beflügelt wie er, oder eilt i h m sogar voraus. Ist der Philosoph
allen Absoluta, die in Frankreich von 1 6 2 0 bis 1 7 5 0 einander ab-
dann nicht Theopoietes?
gelöst hatten, war i h m nichts entgangen.
S o wäre der Stolz eines Heraklit, der sich
in den Tempel der Artemis zurückzog, oder eines Empedokles, der
Der Fall Bergson lehrt uns das Gleiche mit größerer Evidenz.
sich majestätische Ehren erweisen ließ, berechtigt.
Antagonismus gegen den Verstand, gegen das Cogito also, war von
N u r zu leicht
Der
befällt den Philosophen ein Gefühl von Allmacht. Selbst Rousseau,
Anbeginn die Hauptgegebenheit seiner Philosophie.
schüchtern von Natur, bemitleidenswert, lächerlich, an Leib und
wir acht: bei seiner ganzen Polemik gegen das Cogito gebraucht er
Seele krank, ein Verfolgter, hat gewußt, daß er künftige Welten in
pietätvoll die Regeln des Discours de la Methode, die Analyse, die
Aber geben
seinen Händen hielt, die ans Licht drängten und um so mehr sein
Enumerationen und in einem Stil, dessen Klarheit allein schon be-
Eigen waren, als er so sehr unter ihrer Geburt gelitten hatte. Aber
weist, daß Bergson sein eigenes neues Absolutes, Instinkt und In-
fast jeder Philosoph kennt noch ein anderes Gefühl, das er nicht
tuition, unbewußt verratend, vom reinen Denken a b h ä n g i g geblieben
einmal seinen besten Freunden und Vertrauten gesteht: er ahnt,
ist. In zunehmendem Maße macht er sogar theoretische Konzessio-
daß das von ihm verkündete Absolute nicht sein durch aktives Ver
n e n : er gibt zu, daß der Verstand bei all seinen Mängeln die Gabe
dienst erworbenes Eigentum ist, sondern daß er, passiver als alle
der Geschwindigkeit besitjt, während der Instinkt sich nicht auf
seine Zeitgenossen, dem ganzen Leben, dem in der Vergangenheit
variable Fälle einzustellen vermag. Nachdem er bewiesen hat, daß
gehäuften wie dem an der Zukunft wirkenden, erlegen ist.
das Leben sich in zwei Äste, Instinkt und Verstand, teilt, wovon
In der Vergangenheit findet jedes Absolute eine lange Ahnenreihe,
der eine das Wahre und Gute, der andere aber das Falsche und
die es vorbereitet und deren Endpunkt es darstellt.
Böse sei, scheinen ihm Bedenken gekommen zu sein.
Unter diesem
Seine Ehr-
Gesichtswinkel, daß der neue Gott v o n dem Gedächtnis der ver-
furcht vor dem cartesianischen Absoluten, das er hatte zerstören
gangenen Absoluta durchdrungen ist, begreift man, daß Descartes,
wollen, ist zu g r o ß ; er beugt sich vor i h m ; häufig kommt er auf
der das Denken als neuen Gott geschaffen hatte, nicht widerstehen
seine ursprüngliche Annahme, daß beide einander bekämpfen, zu-
konnte, es aus Gehorsam zu dem ehemaligen Absoluten dem Gott zu
rück. Aber gern hätte er die Formel guten Einvernehmens und
affiliieren, dem er als Zeichen seines geheiligten Alters sogar den An-
Zusammenarbeitens zwischen seinem neuen u n d dem alten Abso-
selmschen Beweis zuzugestehen gezwungen war. Dann, als das carte-
luten gefunden.
118
119
D a die Philosophieen einerseits ihre sich überkreuzenden und mit-
zu der sich, ohne sich von den anderen zu differenzieren, die Geschichte
einander verschlungenen Erinnerungen an die Vergangenheit und
der Philosophie gesellen würde. Auf verschiedenste W e i s e konnte
andererseits ein Gewimmel von in die Zukunft ausgestreckten Füh-
m a n durch diese Systematisierung in die Abfolge der Absoluta ein-
lern besitzen, so wird ein so einfaches Schema wie die Dreiheit von
dringen. Der Bergsonianer dagegen sorgt dafür, daß das Bündel aller
These, Antithese und Synthese durch dieses doppelte Wuchern ge-
dieser vereinigten Historien geöffnet und einer jeden ihre Bewe-
sprengt. D i e bei Hegel auf einen von vornherein fixierten Gott sich
gungsfreiheit wiedergegeben wird.
zubewegende Entwicklung mochte sich in ihrem Verlauf mit ge-
allen anderen Historien, wird nicht einmal von einem
Oft trennt sich die Politik von
schlossenen triadischen Zyklen vertragen.
Der Bergsonianer wird
Vorgang in der Wirtschaft begleitet und versucht einen Fortschritt
wohl zugeben, daß die Antithese schöpferisch sein k a n n : so erhielt
in unbekannter Richtung. Vielleicht wird die politische Begebenheit
analogen
das Gefühl bei Rousseau seine Kraft und Intensität dadurch, daß
in ihrer Vereinsamung zugrunde gehen, sofern nicht plötzlich ein
sich zuvor das Denken in äußersten Vorstößen erschöpft hatte, so
Kunstwerk oder ein wirtschaftliches Ereignis, von der Linie der
daß die Entwicklung, da sie in dieser Richtung nicht mehr fort-
eigenen Geschichte abweichend, der v o m Untergang bedrohten zu-
schreiten konnte, sich in die entgegengesetzte stürzte: das Absolute
hilfe kommt.
erzeugt ein Gegenabsolutes.
Der Bergsonianer wird sich aber wei-
zu der Möglichkeit eines künftigen Absoluten vor als die zeitgenös-
gern zuzugeben, daß die Zeugung sich notwendig und immer nur
sische Wissenschaft und P h i l o s o p h i e : so hat die gotische Baukunst
dieser Möglichkeit der Antithese bedient.
Noch weniger wird er
über die mittelalterliche Theologie und Mathematik hinaus eine
zugeben, daß eine dritte Philosophie die Synthese der beiden vor-
Transparenz und Klarheit erreicht, die drei Jahrhunderte später
hergehenden Philosophien darstellen solle. Auch sie wird nur eine
zum neuen cartesianischen Absoluten geworden ist. Oft ergibt sich
v o n vielen Möglichkeiten sein.
Angewandt auf die
französische
Philosophie müßte die Dreiheit das cartesianische Denken als These
Oft dringt die feine Spitze eines Kunstwerks weiter
ein Wettlauf zwischen philosophischer und künstlerischer
Schöp-
f u n g : so empfanden Descartes und Corneille ein Bedürfnis nach
und das Rousseau-Gefühl als Antithese segen, während Bergson, in-
Ordnung. Bereitete sie sich gleichzeitig in der politischen Geschichte
sofern er die Versöhnung zwischen Instinkt und Verstand anstrebt,
vor?
die Synthese bedeuten würde. Durch eine solche gleichsam als un-
tisch ist eine Realisierung immer auch von fremden Mitspielern ab-
umgänglich aufgenötigte Algebra würde jede schöpferische Freiheit
hängig, und innenpolitisch waren die Wirren der Fronde im Kom-
in Frage gestellt. Weder das zweite noch das dritte Absolute wären
men.
noch Schöpfungen. Durch einen Akt des Verstandes müßten sich aus
voran, bis die Tragödie ihm zuhilfe kam.
dem ersten dieser Absoluta die beiden anderen deduzieren lassen.
R e n n e n ; in bestimmten Augenblicken überholt ihn Corneille; die
Richelieu versuchte sich in dieser Richtung, aber außenpoli-
So schritt der Philosoph allein in seinem römischen Traum Descartes führt
das
Ein unfehlbarer Denker hätte, noch während Descartes am Werke
Freimütigkeit, mit der sich dieser ganz offen R o m zuwendet, ver-
war, das K o m m e n von Rousseau und Bergson vorhersagen können.
vielfacht seine Kraft und seinen Schwung. Schließlich verwirklichte
D a s Leben aber, das die Gottheiten erzeugt, hält sich dafür a n keine
sich eine Generation später diese Ordnung in Versailles mit einer
Regel. Jeder Gott erscheint — sich selbst zur Überraschung.
Macht der Entfaltung, wie sie allein die Politik ermöglicht.
Eine weitere Hegelsche Starrheit rührt aus seiner Identifizierung der
war die Fülle der Lebensvorstöße, für die immer die Möglichkeit
verschiedenen Geschichtssektoren her: für ihn hat die Kunst die
besteht, daß sie sich in verschiedene Richtungen verlieren, in Ge-
Nun
gleiche Entwicklung wie Politik und Wirtschaft. Eine Lücke in der einen
stalt eines einzigen Strahls vereinigt.
ließe sich daher durch das in der anderen besser bewahrte Wissen
für, daß die Politik sich mit der Tragödie und der Philosophie ver-
ausfüllen. Vereinigt würden alle nur eine einzige Historie darstellen,
einigen würde.
120
Nichts bürgte im voraus da-
121
Durch die Hegelsche Uniformität erhält jedes Volk die begrenzte Sendung, eine einzige neue Station in der Entwicklung des Gottes darzustellen. Er läßt die Stunde, da dieses gelingt, mit dem Augenblick politischer Macht zusammenfallen, wie wenn Gott der zunehmenden irdischen Macht bedürfe, zunächst um sich zu schütjen, solange er noch schwach ist, dann, um im Schatten einer H e g e m o n i e oder eines Imperiums seine ganze Fülle zu erreichen. W i e oft aber gefiel das Leben sich bei den Besiegten, sei es, weil sie das meiste Gedächtnis haben, einziger Schatj, der ihnen geblieben und der günstig für die Entstehung des künftigen Gottes werden mag, sei es, weil sie in das Elend der Tiefe zurückgeschleudert worden sind, wo sie wieder zu Primitiven werden — was ihnen die Freiheit gibt, das Legte zu w a g e n und ex nihilo zu schaffen. Auf jeden Fall m u ß m a n sich hüten, politische Macht als sicheres Zeichen für die Ankunft eines Gottes anzusehen.
Oft ist sie nur späte Nutmießerin
eines schon im Sinken begriffenen Gottes; so war das römische Imperium der vollkommene, aber späte Ausdruck des Absoluten der Ordnung, das seine Vollendung zur Zeit der Republik
erreicht
hatte. Ein neuer Gott ersteht am ehesten zwischen Macht und Ohnmacht, wie bei Rousseau Gefühl und Natur weder zu der sterbenden alten noch zu der aufstrebenden neuen Klasse gehörten, sondern eine Mischung aus beiden waren.
Ebenso hätte die Bergsonsche
Dauer mit ihrem doppelten, halb dem Gedächtnis, halb der Schöpfung zugewandten Janusantlitj niemals v o n einem Siegervolk erfunden werden k ö n n e n : dazu mußte erst die allzutiefe D e m ü t i g u n g von 1 8 7 0 fast bis zu den Schrecken des T o d e s ihren Schatten über Frankreich werfen; zugleich mußte es wieder Mut fassen und fühlen, daß es inmitten
seiner mächtigen
politischen
Verbündeten
emporstieg und sich allmählich einem Siege näherte. D a man mit Hilfe der Geschichte der Philosophie am tiefsten in die Geheimnisse der Seele eines Volkes einzudringen vermag, gilt es mit Ehrfurcht und Behutsamkeit die Wandlungen der Absoluta und ihr leisestes Beben, das
eben durch
die Abfolge
der
Philosophien
uns übermittelt wird, zu erforschen. Wieviel wichtiger ist ein kaum
in Künstlerwerkstätten geschieht!
Man untersuche, worin die sich
ablösenden Absoluta e i n und desselben Volkes sich gleichen oder wann und wie sie sich verändern.
Hegel irrte, wenn er in jedem
Volk nur den Träger eines einzigen Absoluten sah.
Oft erschafft
das Volk einen Gott, der das Gegenteil des vorhergehenden ist. D i e einander ablösenden Absoluta folgen sich oft wie bei der Abfolge der Vorsokratiker so eilig, daß eines das andere bedrängt und ihm scheinbar nicht Zeit läßt, sich zu entfalten.
D a g e g e n sind die
verschiedenen französischen Absoluta durch lange Zwischenräume voneinander getrennt: anderthalb Jahrhunderte zwischen Descartes und Rousseau. D a s cartesianische Denken hätte sich nicht so rasch verdrängen lassen; Ordnung und Klarheit würden durch die Konkurrenz eines anderen rasch einsehenden Lebens gestört werden. Man könnte sich nicht einen alten Descartes im Gespräch mit Rousseau vorstellen, so wie Piaton gewagt hat, e i n e n D i a l o g zwischen Parmenides und Sokrates zu erfinden.
Zwischen Rousseau
und
Bergson erneute Pause von mehr als hundert Jahren. Einen wahren Wirbel schöpferischen Lebens nach griechischer Weise oder wie in Deutschland zwischen 1 7 9 0 und 1 8 2 0 hat es in Frankreich nur im Augenblick der ungefähren Gleichzeitigkeit von Descartes und Pascal gegeben.
Unterhalb ihrer beiden Philosophien zeichneten sich
gleichsam zwei schöpferische Entwicklungen ab, einander ähnlich, weil beiden eine bestimmte Anzahl neuer Gegebenheiten gemeinsam war: das Sein, das Ich, die Ordnung, die Klarheit und das progressive Eindringen in die Mathematik.
Pascal aber kehrte in sei-
nem Gedächtnis zur großen religiösen Begeisterung des Mittelalters zurück und richtete, ohne der modernen Erfahrung ihre Gültigkeit abzusprechen, seine nach der Zukunft ausgestreckten Fühler auf einen Gott, der von Descartes mit Kälte behandelt wurde, und auf Christus, den Descartes ganz v e r g a ß ; er verwob das mittelalterliche Absolute und die Tiefe des Alten und Neuen Testaments mit allem N e u e n : ein ungeheures Gewebe, eins der größten Absoluta, die Frankreich erschaffen hat. D i e schöpferische Entwicklung aber stellte sich auf Seiten von Descartes.
wahrnehmbares Detail ihrer Entwicklung als alles, was auf Schlacht-
Descartes, Rousseau und Bergson arbeiten alle drei mit zwei gegen-
feldern und Diplomatenkongressen, in Kaufmannskontoren oder gar
sätzlichen Substanzen.
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Ein Monismus würde ein einförmiges, zu 125
wenig bewegtes Leben voraussehen, das Frankreich mißfallen wür-
W a s bei Descartes die Scholastik, das ist bei Rousseau die Gesellschaf t.
de, während der allzu reiche Pluralismus, ungeordnet und jegliches
Ihre Verfehlung ist nicht auf eine einzige schuldhafte
Maß zerbrechend, mit der alten Erinnerung an die römische Ord-
zurückzuführen; langsam, in einer Art verkehrten Fortschritts ist
nung unvereinbar ist.
Leben
man vom rechten W e g abgewichen; plötjlich findet m a n sich außer-
heraus dreimal ein Dualismus und zwar in allen drei Abwandlun-
halb der Natur, gegen sie, in abysso, ein Verworfener unter Ver-
So entsteht aus dem französischen
gen mit freundlichen und friedlichen Begegnungen unter den Anta-
worfenen.
gonisten.
Menschen fortlebende Rousseau.
Bei Descartes wiegt das Denken ebenso viel wie der
Handlung
D a greift Rousseau ein oder vielmehr der in jedem W e n n dieser Philosoph einen be-
Körper, nicht mehr und nicht w e n i g e r ; beide bewegen sich in ver-
gnadeten Stil hatte, so war es nur der Abglanz der höheren, der
schiedenen Richtungen vorwärts, ohne sich zu bekämpfen oder auf
Natur immanenten Gnade.
entscheidende Weise zu beeinträchtigen oder zu stören. — Rousseau
werden, und nicht erst, wenn er das Heil erlangt, wird ihm Freude
Jeder Mensch kann ein Auserwählter
scheint die Kultur zu verfluchen, ergibt sich ihr aber durch seine
widerfahren; schon der W e g dorthin besteht aus lauter Einladungen
eigenen Werke; er ergoßt sich an dem Spiel, die Gewichte der bei-
zur Fröhlichkeit. — Bei Bergson hat das Leben den Verstand er-
den Gegensätze in die Wagschale zu werfen: manchmal w e i ß m a n
schaffen. Durch ihn ging das Paradies des Instinkts verloren.
nicht mehr, ob er sich nicht wie die Enzyklopädisten das Wachsen
ein jeder kann diese gesegnete Fähigkeit wiedererlangen. Der Ver-
der Kultur wünschte —
lust, dem eine Wiedergewinnung folgt, kommt einem T o d e gleich,
was eine proportionale Zunahme seiner
Liebe zur Natur bedingt hätte.
Seine Lehre würde lauten: werden
wir kultivierter, um noch natürlicher sein zu müssen. —
Bergson
Aber
dem die Auferstehung folgt, die von allen dreien verheißen wird. Sie haben das christliche Mysterium säkularisiert; bei dem einen
schildert den Kampf zwischen dem Leben und der Materie, der
stirbt man im Fleisch der Scholastik, um in der Klarheit aufzu-
antiken Hyle.
erstehen. Rousseau schlägt das schwere Leichentuch der Kultur zu-
Zugrunde liegt aber dem Bergsonschen Dualismus
der Gedanke, daß der Geist ohne zu grausame Demütigung oder
rück und empfängt die Taufe der Seen.
Vernichtung seines Gegenspielers allmählich die Ubermacht erhalten
unbewegliche Materie, mit der unser Verstand einen Pakt geschlos-
wird; die Materie selbst habe die N e i g u n g , zum Leben emporzustei-
sen hat, um die Freiheit in der äußersten Beweglichkeit wiederzu-
gen und sich in diese zu verwandeln; der Geist eilt ihr entgegen, um sie zu sich emporzuheben: hochherzige V e r s ö h n u n g ! Bei allen dreien handelt es sich um einen Sündenfall des Menschen. Er wird gerettet werden. Durch w e n ? Bei allen dreien: durch sich selbst.
D i e Gnade wird bei ihnen nicht durch Gott geschenkt, der
die Wahl zwischen Auserwählten und Verdammten trifft. D i e Erbsünde braucht nicht nurch eine höhere Macht getilgt zu werden. D i e Natur, die außen und zugleich in jedem Menschen ist, ist gut. Es gilt nur, sie in ihrer Reinheit wiederherzustellen. Lieblingsworte v o n Descartes wie v o n Rousseau wie am meisten von Bergson sind „pur" und „la purete". Bei Descartes hat das Böse sich historisch in den Wissenschaften
des Mittelalters zusammengeballt;
es bedarf
nur
einer Anstrengung, einer befreienden Bewegung, um in der Klarheit des Denkens und des natürlichen Lichts Auferstehung zu feiern. 124
Bergson flieht die starre
finden. Tod, wo ist dein S i e g ? D a jede Philosophie eine Garbe von Motiven umgreift, müßte man der Schicksalskurve eines jeden einzelnen Motivs nachgehen.
Wie
hat sich das Ich von Descartes und das Leben, das dahinter steht und es erschaffen hat, zu dem weniger einheitlichen, auch weniger scharf konturierten, von Gefühlen geschwellten Rousseau-Ich umgemodelt?
Man müßte jede Phase dieser W a n d l u n g
erhorchen.
D i e Intervalle zwischen zwei Philosophien, bestehend aus unzähligen schöpferischen Momenten, sind ebenso wichtig wie sie selbst, die nur die für unsdeutlicherenEndpunkte und Eckpfeiler der Entwicklung sind. — W i e waren die Wandlungen des Seins, das Descartes zum Range des Absoluten erhöht hatte? Beim Verlust dieses Ranges kann das Leben eines Landes selber getroffen werden.
Es gibt
nichts Gefährlicheres als den T o d eines Gottes. Mit welcher Angst 125
m u ß man seinen Nachfolger erwarten!
Wird er ein Freund oder
ein Feind des Lebens sein? Noch während der evidenten Herrschaft eines Absoluten herrscht schon ständige Wandlung.
D a s cartesia-
nische Sein hat zwischen 1 6 2 0 und 1 7 5 0 die mannigfaltigsten Schicksale gehabt: die Komödien des 1 8 . Jahrhunderts ( M a r i v a u x ) , die philosophischen R o m a n e und Schriften Voltaires zeugen von ständigen Schwankungen und Wellenbewegungen des Seins. D a n n verschwindet es bei Rousseau, und an seine Stelle tritt die mit dem Gefühl und der Natur verwobene Existenz. Welches ist der Lebenswert dieser neuen göttlichen Erscheinung? Handelt es sich, gemessen am wahren Sein, nicht um einen Verlust? D a s Ich bei ihm existiert bebend, einen jeden Hauch des Lebens in sich aufnehmend, während sein Wir, g e m ä ß dem Contrat Social, die strikte Fortsetzung der cartesianischen Gegebenheit des Seins darstellt: in seinem Staat fand der gefallene Gott eine Zuflucht, eine ungeheure Cella. Es kommt also einerseits zu einer Verminderung, andererseits zu einer Vermehrung des Seins. W o wäre die W a a g e , um beides abzumessen? — Ebenso hat das Verhältnis zur Tathandlung fortwährend gewechselt. Bei Descartes nahm die Kontemplation kein E n d e ; T a g um T a g erlebte er mystische Freuden bei der Betrachtung
seiner langen
Deduktions-
reihen. Aber plötjlich wird die ganze Methode, die nur auf Erforschung der Wahrheit abzielte, i n den Dienst praktischer Zwecke gestellt: „Anstelle der spekulativen P h i l o s o p h i e " (gestern noch und in den vier ersten Teilen des Discours war Descartes nur spekulativ gewesen) „läßt sich eine andere finden, die uns die Kraft und die Aktionen des Feuers, der Luft, der Gestirne, des H i m m e l s und aller Körper, die u n s umgeben, kennen lehrt . . . . und uns so zu Herren und Besitzern der Natur macht." Dieser Faust, dem es zu genügen schien, wenn er Gott oder den Teufel schaute, hat plötzlich nur noch einen W i l l e n : zu herrschen.
Also war das französische
Leben gespalten — ein Dualismus tiefer noch als der von Seele und Körper. Wird das Schauen obsiegen oder das T u n ?
A m Hof Lud-
w i g s X I V . hielt sich beides auf klassische Weise die W a a g e .
Im
1 8 . Jahrhundert gab e s Tiefpunkte des Pragmatischen, die
uns
durch die Philosophie von Fenelon, der Rousseau sehr beeinflußt hat, und durch Madame Guyon u n d die Quietisten deutlich werden. 126
D i e Revolution und das Empire dagegen waren einseitig pragmatisch. D i e Kontemplation (Glück für die Schöpferkraft Stendhals) erwuchs erst wieder nach der Niederlage aus der erzwungenen U n tätigkeit. Für Bergson hält das Gedächtnis von allem T u n ab und genügt sich selbst.
W i e mißtrauisch ist er gegen jedes T u n !
Er
verbindet es mit dem von ihm verachteten, die Welt verfälschenden, starren, unbeweglichen Verstand, dem er allein die eigentlich pragmatische Fähigkeit zuschreibt. Wird Frankreich nach seinen drei großen Philosophien eine vierte zu erschaffen v e r m ö g e n ?
Man m u ß immer den neuen Gott erseh-
nen, um ihm zur Geburt zu verhelfen, aber durch Vergewaltigung der Vergangenheit oder der Zukunft magische Kraft über ihn gewinnen kann man nicht. Man könnte ihn nur zutraulicher machen, ihn ansprechen. wird.
N i e weiß m a n , w o das nächste Bethlehem sein
Es nüljt auch nichts, den wahrscheinlichen Geburtsort des
Gottes zu erraten, weil die Landschaft in das, was sich in ihr vorbereitet, miteinbezogen wird und sich derart wandelt, daß sie nicht mehr wiederzuerkennen ist. — D i e Absoluta gleichen uns, denn sie sind ephemär wie wir. W i r können sie u m ihrer Schwachheit willen nur um so mehr lieben.
W e n n sie wie in jenen drei Fällen mit
unserem Ich verwoben sind, verlieren sie ihre Furchtbarkeit und sind keine so fernen Mächte mehr, daß der Mensch nur in Anbetung vor ihnen niederzuknien vermöchte. Wir sind die Vertrauten dieser Absoluta. Wir tauchen bis in ihr Innerstes hinab.
Nur
an einen künftigen Gott kann m a n ein Gebet richten, denn nur er, der noch nicht ist, wäre einer Beeinflussung zugänglich und könnte seine noch unerlassenen Gebote mit der demütig an ihn gerichteten Bitte in Einklang bringen. ten?
W i e würde das französische Gebet lau-
„Erhalte uns unsere Existenz, auf daß wir dich weiter lieben
können.
U m das wunderbare Jahr 1 8 8 9 warst du Gedächtnis und
Schöpfung. Wir haben beide verstanden, doch mehr als Form und Methode.
Offenbare dich uns und dann lehre uns, wie wir die
ganze Vergangenheit umfangen sollen, um durch ihre Fülle unverwundbar zu werden.
Gib uns auch mehr als nur die Theorie einer
möglichen Schöpfung. Mit dir, in dir möchten wir eine substanzielle Zukunft
finden.
Unser Wissen um die Form des Werdens hat uns 127
als Netj gedient, das wir über das, was sich bei anderen vorbereitete, werfen konnten. Aber wir begehren selber die köstliche Konkretisierung des nächsten Gottes, der du sein wirst, zu finden. W e n n wir sie besi^en, werden wir sie, das geloben wir, über die Welt verbreiten, ohne Gewalt, in der allerholdesten Tatenlosigkeit. Vielleicht aber wird der künftige Gott nur handeln und auf das praktisch Nütjliche sehen?
Werden wir beiseite stehen, trunken v o m An-
schauen der Tätigkeit der anderen, oder müssen wir uns, um dich zu besitzen, mit ihnen vereinen?
U n d noch eine Bitte erhöre: laß
uns unseren Verstand nicht verlieren.
Es ist vielleicht der beste,
der größte der von uns geschaffenen Götter.
Selbst wenn er ab-
nähme, bliebe er das Mark unserer Sprache, die uns als ideale Gedächtnisstühe dienen könnte.
Erspare uns die Schande der Preis-
gabe dessen, was unser R u h m war und uns vor allen auszeichnete. Wir waren die Auserwählten des Denkens.
Möge es die F o l g e un-
serer künftigen Gottheiten begleiten! Eine davon wird vielleicht das Nichts sein, das wir noch nie erfahren haben.
Jetzt haben wir in
übergroßen N ö t e n sein N a h e n gespürt, es könnte uns führen und für uns und die Natur zum Absoluten werden.
Der Verstand aber
könnte sich mit ihm verweben und sein Forschungsinstrument werden —• oder vielleicht sein Gegengewicht.
Oder wird der künftige
Gott höchste Freiheit sein, eine Freiheit, wie es sie noch nie gegeben hat, strahlend nach allen Seiten und die Natur in unbekannte Bezirke führend?
D a n n wollen wir hoffen, daß der Verstand, aus
unserer lebendigen Vergangenheit aufsteigend, ihr Berater w e r d e ! "